HERMANN LOTZE
Logik
(System der Philosophie L)
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Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
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Immanuel Kant.
Sämtliche Werke.
Herausgegeben von
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THE UNIVERSITY
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W. Kinkel,
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schone Stunden sichtlich wachsender Erkenntnis genießen. Und so wird in un^e-
IZlfH' ''°T,?"J^"S^u^-'; d^«" Sinn weiter Schichten sich der Philosophie öffnet,
w nfc^^'^i'-' ^""^ philosophischen Lektüre oftmals durch geringere Schwierig-
Knm,^St?r"'^''{T"' besü"imt wird, und darum ins Allgemeine geht, Cohens
Kommentar viel Segeq stiften. Er sei vielen empfohlen. Leipziger Zeitung.
Kritik der Urteilskraft
Neu herausgegeben und eingeleitet von Prof. Dr. Karl Vorländer.
8. Auflage. 1902. 38, 378 u. 36 S.
Preis M. 3.50, gebunden M. 4.10.
U«^ ,I?,i^, "H"^'^1'^?^^' r/'^^^f ^''^ '^*^*<^ ^" ^^"^s Lebzeiten erschienene (3.) Auf-
lage zugrunde legt, beruht auf erneuter genauer Textrevision. Außerdem bietet
sie eine knappgefaßte historische und systematische Einleitung, die iSer die
^i^S""f^'^•^''^•^l.^'^^^'■.'^'^• "^^'•'^'" ästhetisches und tele^o og sches Prin!
führ^ches pJ^nP^'';^^'*l"i'*''?'?'^"^*I'^^ orientiert, sodann ein aus-
Ti^ri. nf Di^-i°"^"u""u Sachregister. .Ich stehe nicht an, diese Ausgabe eine
Zierde der Philosophischen Bibliothek zu nennen.« ^
Ferd. J, Schmidt in den Preuss. Jahrbüchern.
Verlag
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Lotest Date stamped below.
University of Illinois Library
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M. 3.60, in vornehmem Geschenkbd. M. 4.20.
Kants Leben entbehrte vielleicht der in die Augen fallenden großen Mo-
mente und, abgesehen von dem Zusammenstoß mit der preußischen Reaktion unter
Friedrich Wilhelm II., der äußeren Erschütterung oder leidenschaftlichen Bewe-
gungen. Trotzdem wird es für jeden Kantliebhaber von Wert sein , an der Hand
eines unserer ersten Kantkenner dieses stille Gelehrtenleben näher kennen zu lernen ;
man sieht dann bald, daß es innerer Bewegung nicht entbehrt hat.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Kirchner's
Wörterbuch der philosoph. Grundbegriffe.
6. Aufl., bearbeitet von C. Michaelis.
1911. VIII, 1124 S. Preis M. 12.50, geb. M. 14.-.
Die Festigkeit der Grundlagen, die umfassende Vollständigkeit des Stoffes,
die durchsichtige Anlage und vortreffliche Form, sowie die würdige Ausstattung
machen das Buch zu einem treuen Führer auf den verschlungenen Pfaden der
Philosophie. Man kann ihm nur weitere und weitere Verbreitung wünschen.
Zeitschrift für das Gymnasialwesen igii,
Einführung in die Erkenntnistheorie.
Von August .Messer.
1909. VI, 188 u. 11 S. Preis M. 2.40, geb. M. 3.—.
Das ist die beste einführende Schrift in die Erkenntnistheorie, die Ref.
kennt. Sie zeichnet sich besonders dadurch aus, daß sie trotz des kleinen Umfanges
eine Anschauung erweckt von der Fülle der Probleme, die der Erkenntnistheorie
erwachsen; ferner daß sie stets auf die richtige Problemstellung hinweist; endlich
ragt sie noch durch große Klarheit und Übersichtlichkeit hervor.
Viertel Jahrsschrift f. wissensch. Philosophie u. Soziologie.
Grundlinien der Psychologie.
Von Stephan Witasek.
Mit 15 Figuren im Text.
1908. VIII, 370 u. 22 S. Preis M. 3.—, geb. M. 3.50.
Was Witasek bietet, ist so gefaßt, daß niemand sein Buch ohne Gewinn
aus der Hand legen wird. Der Stil ist einfach und durchsichtig, die erläutern-
den Beispiele sind anschaulich und belebend, neue Begriffe werden so erklärt,
daß auch der Laie bei einiger Aufmerksamkeit gut folgen kann. Besonders wohl-
tuend ist die Präzision, mit der überall zwischen gesicherten Erkenntnissen und
vorläufigen Hypothesen unterschieden wird. Alles m allem: ein tüchtiges Buch,
dem auch wegen seines ungemein billigen Preises weiteste Verbreitung zu gönnen
»St. Christliche Welt.
Die Einteilung des Werkes ist ganz trefflich, die Schreibart klar. Es
bietet die neuesten Forschungsergebnisse und ist wahrscheinlich der beste und
vollständigste Grundriß dieser Wissenschaft, den wir zurzeit besitzen.
Natur e {London).
Grundlinien der Logik.
Von A. Döring.
XU, 181 S. Preis M. 2.50, geb. M. 3.—.
Diese kleine »Logik" bemüht sich, die Mitte zu halten zwischen den allzu-
knappcn »Leitfäden« und den voluminösen ..Lehrbüchern". Das pädagogische Ge-
schick des als Gymnasial- und Hochschullehrer bewährten Verfassers dürfte das
Buch zu einer vorzüglichen Einführung und zu einem bequemen Kompendium
dieser Wissenschaft machen.
Kant-Schiller-Goethe.
Von Karl Vorländer.
1907. XIV, 294 S. Preis M. 5.—, geb. M. 6.—.
Das Buch wird durch seine ganze Anlage für lange Zeit, wenn nicht für
immer, den Anspruch erheben dürfen, als das grundlegende Werk über dies
Thema zu Rate gezogen zu werden. Zeitschrift für Gymnasialwesen.
Philosophische Bibliothek
Band 141
Lotze. Logik
Hermann Lotze
System der Philosophie
Erster Teil
Drei Bücher der Logik
Leipzig
Verlag von Felix Meiner
1912
Hermann Lotze
Logik
Drei Bücher
vom Denken, vom Untersuchen
und vom Erkennen
Mit der Übersetzung des Aufsatzes: Philosophy in
the last forty years, einem Namen- und Sachregister
Herausgegeben und eingeleitet von
Oeorg Misch
Der Philosophischen Bibliothek
Band 141
Leipzig
Verlag von Felix Meiner
1912
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.
Inhä^ltsübersicht.
Seite
Vorwort des Herausgebers VEC
Einleitung des Herausgebers '\. . . IX — XCII
I. Lotze's Ausgangspunkte > Xu
IL Der erste Entwuif des Systems in Metaphysik und Logik XXII
. j Ontologie XXVI
Kosmologie, Logik und Erkenntnistheorie XXXV
III. Der Fortgang in der Psychologie, Geistesphilosophie
imd Wertlehre una der Entwicklungsgang Lotze's . . IL
IV. Logik und Metaphysik als Glieder des „Systems der
Philosophie" ./...... LXXI
Literatur ^ XCn
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren (aus dem Eng-
lischen übersetzt vom .Herausgeber) XCIV
Lotze's Logik.
Vorwort Lotze's , CXXV
^ Inhalt des Werkes OXXVII
Erstes Buch. Vom Denken I
Zweites Buch. Vom Untersuchen 187
^ Drittes Buch. Vom Erkennen 477
c Namenregister 609
Sachregister 611
2Ji0i94
Verbesserungen
von Druckfehlem der zweiten Auflage von Lotze's Logik (1880).
Seite 23 Zeile 5/6: Denkarbeit statt Denkbarkeit.
„ 53 „11 von unten: Subsumption statt Subsumtion.
„ 262 „ 21 „ „ der letzte Buchstabe der Formel
hei 3t x' statt x.
„ 395 „ 16 „ ,. ihn statt sie.
„ 522 „ 22: untheilbar statt urtheilbar.
Vorrede.
Die Logik ist nach der zweiten Auflage (Leipzig,
S. Hirzel, 1880) abgedruckt, der Bequemlichkeit halber so,
daß die Seitenzählung mit der des Originals überein-
stimmt. Das Namensregister ist von Herrn stud. phil. R.
Barth, das Sachregister von Herrn stud. phil. C. Fran-
kenberger angefertigt.^ Für die Sorgfältigkeit der Kor-
rektur bürgt der Verlag, der auch den Nteudruck der Meta-
physik vorbereitet.
Der Gedanke dieser Ausgabe ging aus den Studien zur
Erneuerung des (inzwischen in andre Hände übergegan-
genen) 4. Bandes von Überweg's Grundriß der Geschichte der
Philosophie hervor und aus der Arbeitsgemeinschaft für
dieses Buch mit Herman Nohl- Jena, die auch der
Einleitung zugute gekommen ist.
Beigegeben habe ich der Einleitung eine Übersetzung
von Lotze's Abhandlung Philosophy in the last forty
years, die 1880 in der Contemporary Review erschienen
ist als Anfang einer nicht weiter fortgesetzten Artikel-
reihe; sie erfolgte nach dem Abdruck von Peipers in
Lotze's kleinen Schriften Bd. III, 2 (Leipzig, Hirzel, 1891)
mit Benutzung von dessen* Anmerkungen. Lotze schrieb
deutsch imd ließ übersetzen, aber sein Originalmanuskript
ist verloren, so daß eine Rückübersetzung nötig war.
Das Porträt — verkleinert nach der im Berliner Psycho-
logischen Institut hängenden Photographie — ist von Herrn
Geheimrat C. Stumpf freundlichst zur Verfügung gestellt
worden ; die Original-Aufnahme ist vom Mai 1870, es ist die
Aufnahme VII B in Rehnisch's Verzeichnis der Lotze-Bilder
(Anhang zu den Vorlesungen über Grundzüge der Prak-
tischen Philosophie, 3. Aufl. S. 96).
Marburg, im März 1912.
Georg Misch.
Einleitung.
Die Logik und die Metaphysik sind von Lotze ent-.
worfen als die beiden ersten Teile seines »Systems der
Philosophie', das dreigliedrig gedacht war. Der dritte Teil,
der nicht mehr zur Ausführung kam, sollte die Ethik,
Ästhetik und Religionsphilosophie umfassen. Die Logik ist
1874, die Metaphysik 1879 erschienen. Als Glieder des
Systems gehören beide Werke zusammen. So werden sie
hier wieder vorgelegt, und zwar nicht bloß um eine histo-
rische Gestalt der Philosophie dem Studium zugäng-
licher zu machen, sondern in der Überzeugung, die von
verschiedenen. Seiten her durchzudringen beginnt: daß die
begriffliche Arbeit, die Lotze vornehmlich in diesen beiden
Werken geleistet hat, nicht genügend in den Vermögens-
bestand unserer Wissenschaft aufgenommen ist und doch
noch berufen scheint, aufklärend und fördernd einzugreifen
in die gegenwärtigen Bestrebungen des wieder intensiver
gewordenen Denkens. Denn diese Arbeit bildet zu ihnen
die Brücke von der ,Deutschen Bewegung' i) her, deren
Leistungen und Tendenzen in der Wissenschaftslehre nur
vorübergehend, in einer empiristischen Übergangs-Lage, aus
dem Horizont des philosophischen Bewußtseins haben
schwinden können. Lotze hat, als der entscheidende syste-
matische Kopf der mittleren Zeit des 19. Jahrhunderts, diese
Tendenzen fortgesetzt und in die modernen Problemstel-
lungen hinübergeführt. Und grade der Sinn für die Begriff-
lichkeit ist es, was ihn auch gegenüber dem gleichstreben-
den Fechner auszeichnet.
1) Mit dem Ausdruck Deutsche Bewegung soll — gegenüber den
engeren Begriffen Deutscher Idealismus oder Idealistische Systeme —
der ganze Zusammenhang der philosophischen Arbeit von Kant, Jakob!
und Goethe bis He^el und Herbart bezeichnet werden. Vgl. H. Nohl,
Die Deutsche Bewegung u. die idealist. Systeme in Logos II, 3 (1912).
X Einleitung.
Das jSystem der Philosophie* ist die langsam gereifte
Frucht gedanklichen Ringens, das durch vier Jahrzehnte
hindurch fortgegangen war, seit der junge Lotze mit
24 Jahren in einem ersten genialen Wurf die Meta-
physik (1841) und alsbald auch die Logik (1843) ver-
faßt hatte. Er hat dabei eine Entwicklung durchgemacht,
"und ihre Kenntnis kann zum Verständnis des Werkes mit-
verhelfen. Denn sie betrifft einen wesentlichen Punkt,
an dem auch gegenwärtig noch erst Entscheidung ge-
funden werden muß, nämlich die Art des Aufbaues der
Philosophie, ihre systematische Struktur, die nach der
Auflösung der konstruktiven Form von Systembildung aus-
zubilden ist. Die verschiedenen Einsätze und Gredanken-
gänge, die Lotze in seinem System zu verbinden suchte,
sind vom ersten Entwurf seiner Logik und Metaphysik
an fast alle da, wie sie denn einfache typische Gr€-
danken sind, die von der Deutschen Bewegung wieder
neu entwickelt waren und ihm von da aus zuflössen.
Bis auf einen erkenntnistheoretischen, den er erst später
im Apriorismus entdeckte und der dann auch die Ent-
wicklung mit bestimmt hat, in der sich die Fügungs-
weise seiner Gedanken wesentlich veränderte.
Zuerst, als er inmitten der Auflösung der idealistischen
Systeme festen Fuß faßte und sich in jenen zwei Jugend-
schriften die Grundlage gab, von vorn herein klar über
die Unmöglichkeit der konstruktiven Systematik, aber eben-
so überzeugt von dem dauernden Gehalt, der in dieser Form
an's Licht getreten war, hat er das, was ihm blieb, zu-
sammen gepackt in der typischen massiven Struktur eines
ethischen Idealismus, mit der Wurzel in der praktischen
Vemimft, dem Vorantritt der Metaphysik vor der Logik
imd der Spitze in der Religionsphilosophie. Er nannte es:
teleologischer Idealismus. Auch der ,Mikrokosmos* — die
Anthropologie, in der er den Ertrag des vielseitigen Unter-
suchens und Nachdenkens seiner ersten Epoche in popu-
lärer Zusammenfassung zur Wirkung aufs Leben brin-
gen wollte — zeigt im wesentlichen noch dieses Gefüge,
nur nicht mehr so streng geschlossen, sondern noch mehr
auf Versöhnung gestellt, Versöhnung zwischen theoretischer
und praktischer Philosophie, Versöhnung zwischen Erkennt-
nis und Gemütsbedürfnis. Aber es ließ sich nicht halten,
wenigstens nicht in dieser ursprünglichen Form. Weder
vor dem Herbartschen Ansatz der Philosophie beim Ge-
gebenen, noch vor dem Platonischen bei der Wahrheit, noch
Die Entwicklung des Systems. XI
auch vor dem Prinzip der sachlichen Einsicht, das ihm in
Kant aufging. Es löste sich auf in den complizierten
Bau, der dem ,System* eigen ist und der nun in neuer
Weise Raum ließ für die Mehrheit der Ansätze und für die
Fülle der Einfälle, die diesem produktiven Kopf zuströmten.
So sind diese Bücher nicht ohne weiteres durchsichtig,
trotz der außerordentlichen Sprachgewandheit von Lotze's
Darstellung. Sie fließt nur scheinbar so leicht und be-
weglich hin, fordert vielmehr an jedem Punkt extensiv
interpretiert zu werden aus dem Zusammenhang des Gan-
zen. Wer das Werk studiert, wie es studiert sein will: als
ein Hauptwerk der gegenwärtigen logischen Bewegung, mit
dem man sich auseinandersetzen muß und das die Aus-
einandersetzung mit den Mitteln der modernen Logik ver-
trägt, wird oft genug auf Stellen stoßen, an denen Lotze's
scharfer Blick seinem, synkretistischen Bestreben zum Opfer
gefallen scheint, und wird geneigt sein, das Ganze als ein
Zwittergebilde 1) abzuweisen, um nur die vielen wertvollen
Einzel-Gedanken und Einfälle gelten zu lassen. Begreift
man aber das System als die Vollendung einer Entwick-
lung, ^1 der das Suchen eines tiefen Denkers auch nur
relativ zum Stehen gebracht ist, so heben sich aus dem
scheinbaren Gemenge die Gedanken heraus, in denen die
ursprünglich viel härteren Bindungen abgeschwächt fort-
wirken, und die andern, in denen sich die Linien weiteren
Fortgangs markieren.
In diesem Sinne soll die Entwicklung von Lotze's
Werk hier überblickt werden.
1) Husserl, Log. Untersuchungen I (1900) S. 219.
I. Lotze's Ausgangspunkte.
Eine Wurzel von Lotze's Kraft liegt sicher in seiner
naturwissenschaftlichen Bildung. Der Sohn eines Arztes,
hatte er die Medizin zum Fach gewählt, als er mit 17
Jahren 1834 die heimische Universität Leipzig bezog (er
war Sachse aus der Niederlausitz wie Fichte und Les-
sing). Dort wurde E. H. Weber sein Lehrer, Fechner sein
Freund. Abhandlungen, Kritiken, Vorlesungen und zusam-
menfassende Darstellungen auf dem Gebiete der Physiologie
und Pathologie gingen während seiner ersten Epoche stän-
dig neben seinen philosophischen Arbeiten her, bis dann,
über die Biologie hinaus, 1852 seine ,Medizinische Psycho-
logie* kam. Sie ist aus seiner ,Allgemeinen Physiologie des
körperlichen Lebens* (1851) hervorgegangen, als ein zu
selbständiger Behandlung abgelöster Teil derselben (abgelöst
aus dem Kapitel, das die Leistungen der lebendigen Körper
zu behandeln hatte) — < ein Markstein der physiologischen
Psychologie, die sich damals in Deutschland konstituierte
und nun alsbald durch Fechners Psychophysik (1860) in die
modernen Bahnen experimenteller Forschung geführt wurde.
Und über die physiologische Psychologie hinaus ist dann
sein Gang zum ,Mikrokosmos' gegeben durch den Ge-
danken, den er mit der von Herbart ausgehenden Völker-
psychologie teilt und so formulierte: „Die Philosophie der
Geschichte ist die notwendige Ergänzung der Psychologie."
So gehört die Hauptmasse seiner Schriften aus seiner
ersten und mittleren Zeit der Anthropologie an, in
dem weiten Sinne, in dem er Anthropologie von vornherein
verstanden und schließlich im ,Mikrokosmos* zur Darstel-
lung gebracht hat; und diese Orientierung gab seinen
Arbeiten von dem Unterbau der Physiologie aus einen
fortschreitenden inneren Zusammenhang. Für die Philo-
sophie eingeschätzt, bedeutet das zunächst den typischen
Ausgangspunkt vom menschlichen Subjekt, angepaßt an die
Sein Ausgang von der Naturwissenschaft. XIII
neue Lage der Naturwissenschaft, wie er damals allgemein
ergriffen wurde als die Rettung der Philosophie aus dem
Zusammenbruch der spekulativen Geistesverfassung.
Liegt hier der entscheidende Ansatz Lotze's in der
Philosophie ? Eröffnet er also die Reihe der Denker, die mit
der 15 Jahre später geborenen Generation sich nun auch in
Deutschland mehrten: die von der Biologie und Physik
zur Philosophie kamen, auf dem Wege der Wahrnehmungs-
theorie oder der Kritik des Materialismus oder allgemein
durch die universale Richtung und methodische Haltung
in der positiven Forschung selber? wie Helmholtz, Wundt,
Mach und die vielen Naturforschesr, die in den 70er Jahren
an der Kant-Bewegung und der Grenzbestimmung ihrer Wis-
senschaft teilnahmen ? Oder hat er wie sein viel älterer
Freund Fechner (geb. 1801), der auch mit der Medizin be-
gonnen hatte, den Weg zur Philosophie durch eine be-
freiende Krisis gefunden, in der ihm „ein neues Licht auf
einmal die ganze Welt und die Wissenschaft von der
Welt zu erleuchten schien" ?i) Lotze selbst hat bekundet,
seine Neigung zu Poesie und Kunst sei es gewesen, was ihn
von Haus aus zur Philosophie hintrieb; er war in ihr be-
reits darinnen, als er mit seinen biologischen Arbeiten
hervortrat. Aber es bleibt die wesentliche Frage, ob
und wieweit diesem ästhetisch, kontemplativ gerichteten
Geist die Schulung in der Naturwissenschaft, das Er-
fülltsein von ihrem Stoff und Geist, zu seinen philo-
sophischen Leistungen verholfen habe? Auch die Tatsache
seiner Abhängigkeit von Herbart, wie sie jeder, der da-
mals in der Psychologie etwas vorwärts bringen wollte,
erfahren mußte, läßt diese Frage offen. Lotze hat sich da-
gegen gewehrt, als Herbartianer eingeordnet zu werden; 2)
nicht ganz mit Recht, wenn er auch seinen letzten philo-
sophischen Willen bei Herbart nicht berührt fand. Sein
Ausgang vom Gegebenen, seine Methode der Bearbeitung der
Begriffe, seine Gedankenführung, seine Lehre von der Rück-
wirkung, seine metaphysische Conception von der Wech-
sehvirkung der Wesen und das Charakteristischste, seine
Terminologie, zeigen entscheidende Spuren Herbarts. Lotze
hat nun aber diese Verwandtschaft, soweit er sie gelten
ließ, darauf zurückgeführt, daß die fraglichen Anschauungen
bei ihm wie bei Herbart gleichermaßen in der Physik ihre
^) Fechner über sein Erlebnis, in Kuntzes Biographie (1892) S. 39.
2) Lotze, Streitschriften, Heft 1 (1857) S. 5f.
XIV Einleitung. I. Lotze's Ausgangspunkte.
überpersönliche Quelle gehabt hätten. So scheint das Urteil
begründet, das einer der besten Kenner Lotze's ausspricht:
daß auch bei ihm von der Naturwissenschaft aus, „von
einer in naturwissenschaftlichem Geiste betriebenen Psycho-
logie neues Leben in die Philosophie kam."^) Es handelt
sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung: die Frage
nach den Kräften, die bei der Wiedererneuerung der Philo-
sophie am Werke waren und sind und ein Recht auf
Pflege in ihr haben.
Tatsache ist, daß die bestimmte Gestalt der Natur-
wissenschaft, an der auch Kant orientiert war, die Physik
der Zentralkräfte mit Wirkungen und Gegenwirkungen
nach dem Vorbilde der Himmelsmechanik, für ihn leitend
gewesen ist. Er hat ihr mächtiges Aufsteigen in Deutsch-
land, das Anwachsen ihres Selbstbewußtseins nicht nur
miterlebt, sondern mit gefördert. So fest stand er in
dieser Bewegung, daß er mit seinem klaren, philosophisch
erzogenen Denken gleich durch seine erste Schrift, kaum
21 Jahre alt, führend in sie eingreifen konnte. Seine Promo-
tionsschrift zum Dr. med. handelte De futurae biologiae
principiis philosophicis (1838); er entwarf und begründete
darin das Programm einer strengen mechanischen Theorie
unter Ausschluß der Rede von der Lebenskraft. Und dies
in einer Zeit, wo der größte Physiologe Deutschlands,
Johannes Müller, noch schwankte und seinen Schülern
die entscheidenden Feststellungen überließ. Das Prinzip
des Mechanismus — das Wort in dem weiten, von Kant
geprägten Sinne: kausal erklärende Theorie — hat er
nicht nur in der Biologie zuerst und allgemein durch-
geführt, in den berühmten Abhandlungen, in denen er
die Grundbegriffe und Grundsätze einer wissenschaftlichen
Gestaltung seiner Fachdisziplin ausarbeitete 2), sondern
es geht durch seine ganze anthropologische Schriften-
reihe hindurch. Auch hierüber war er sich von Anfang an
klar. In seiner ersten philosophischen Hauptschrift, der
Metaphysik von 1841, forderte er es wie für die Physiologie
so auch für die Psychologie, in der richtigen Einschätzung
von Herbart's Verdienst: die Idee seiner Seelenmechanik
1) Carl Stumpf, Die Wiedergeburt der Philosophie, Rektoratsrede
Berlin (1907) S. 6; Philos. P.eden u. Vorträge, Lpz. (li>10) S. 1()6.
2) .Leben und Lebenskraft' 1843: die Abb. wurde aus dem Text
von Wagners Handwörterbuch der Physiologie heraus an die Spitze
dos Werkes gestellt.
Philosophie und Naturwissenschaft. XV
bedeute einen der wenigen reellen Fortschritte der neueren
Philosophie, die Durchführung aber sei nur „ein untergeord-
netes Moment der eigentlichen Psychologie, die wir noch
suchen." Und zugleich forderte er mit Herbart dies Prin-
zip auch für die Geschichte; ein zeitgemäßer Gedanke,
der dann im ,Mikrokosmos* wiedererscheint als die Auf-
gabe einer „Mechanik der Gesellschaft, welche die Psycho-
logie über die Grenzen des Individuums erweiterte."^)
Den Mechanismus so allgemein zu fordern und die For-
derung zu rechtfertigen, war Sache der ,Metaphysik' — da-
mit ist schon gesagt, daß ihm die Philosophie der syste-
matische Ort war, von dem die Einzelwissenschaften die
Prinzipien der Beurteilung zu entnehmen haben. Er selber
hat für alle seine spezialwissenschaftlichen Arbeiten bis
zur ,Medizinischen Psychologie* hin den Titel Philosophie
abgelehnt: sie sollten „das medizinische Studium von
Seiten philosophischer Betrachtung" fördern. Als Lehrer
wie als Autor wollte er „mit eiserner Konsequenz" den
methodischen Weg festhalten: „Allgemeine Grundsätze, die
bestimmen, wie etwas sein muß, wenn es überhaupt sein
soll, und wie etwas untersucht werden muß, wenn es über-
haupt untersucht werden soll, gehören an den Anfang der
Beschäftigung mit dem Gegenstande" — ,metaphysische An-
fangsgründe' der Wissenschaften.
Aber nun hat Lotze weiter die Umkehrung dieses
wissenschaftlichen Bewußtseins in Deutschland miterlebt,
die durch die Ausbreitung des Empirismus in den Einzel-
wissenschaften und insbesondere durch das Vordringen
der Naturforschung gegen die Philosophie kam. Mit der
construierenden Vernunft schien die philosophierende über-
haupt gerichtet. Sollte die Philosophie aus ihrer Ohnmacht
erweckt werden, so müßte sie zunächst naturwissenschaft-
lich denken lernen; in einzelnen ihrer Disziplinen, wie Ästhe-
tik, Ethik, Geschichtsphilosophie begann man schon damit,
von der Psychologie zu schweigen. Diese seit den 50er
Jahren vorherrschende Meinung, durch die die Philosophie
als Ganzes in Frage gestellt war — man sieht leicht, es ist
dieselbe Meinung, die den uns problematischen Gesichts-
punkt für die Einschätzung Lotze's gab — , stand tat-
sächlich allenthalben im Vordergrunde, wo zu Lotze's
Zeit abseits von den metaphysiko-theologischen Seiten-
gassen, in die sich die reaktionär erstarrte Deutsche Be-
1) Metaphysik 1841, S. 251. Mikrokosmos III 5, S. 71f.
XVI Einleitung. I. Lotze's Ausgangspunkte.
wegung verrannt hatte, etwas für die Erneuerung der Philo-
sophie geleistet wurde. Unter diesem Zeichen breitete sich
damals der genetisch-psychologische Betrieb der Erkenntnis-
theorie von Beneke und Herbartschülern her in der kriti-
schen Philosophie und bei Naturforschern aus als einer
der verschiedenen Anfänge, mit denen man, zunächst von
speziellen Seiten her herankommend, sich um eine wissen-
schaftliche Philosophie bemühte. Es bildete sich die eigen-
tümliche Konstellation, unter der Kant ,erneuert* und sein
Apriorismus mit gewissen Ergebnissen der physiologischen
Wahrnehmungslehre identifiziert wurde. Aber auch nach-
dem der rationale Sinn des Apriori wieder entdeckt war
und die verschiedenen Richtungen des Kritizismus und
Positivismus sich sonderten, die das negative Band der
Antimetaphysik zusammengehalten hatte: blieb der An-
schluß der Philosophie an die Naturwissenschaft mit Hilfe
von Kant als der Heilsweg zur Wiedergeburt bestehen i).
Und dieselbe Tendenz machte sich auf einer ganz anderen
Linie, die abseits von der Kant-Bewegung zu wissenschaft-
licher Philosophie hinführte, geltend: in einer Richtung,
die trotz ihrer Ferne vom Deutschen Idealismus Lotze nahe-
stand und schließlich berufen war, sein Werk zu ergänzen.
Einer der bedeutendsten Denker aus der damals einsetzen-
den Generation, Franz Brentano, der die vorkantische,
aristotelische Tradition der Philosophie in das moderne ana-
lytische Denken hinübergeführt hat auf dem Boden einer
„phänomenalen Psychologie"; der mit dem distinguieren-
den, klärenden Denken und der Richtung auf „bescheiden
sorgsame Einzelarbeit von engumgrenzten Fragen aus" eine
in ihrer Exaktheit geschlossene methodische Haltung be-
gründete, die ihn und seine Schüler instand setzte, trotz
des Ausgangs von der Psychologie über die „subjek-
tivistische Fälschung der Begriffe des Wahren und des
Guten" hinauszukommen — Brentano führte diese Denk-
haltung auf dem Katheder ein (1865) mit dem Motto: Vera
methodus philosophiae nulla alia nisi scientiae naturalis
est.i)
1) Riehl, über Begriff und Form der Philosophie 1872. Wundt,
Ü. d. Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart 1874 u. a.
2) Gegenüber der von Windelband (Große Denker, hrg. v. E. v.
Aster 1911, II S. 3T6; ähnlich Lask, die Logik der Philos. 1911,
S. 12) ausgesprochenen Ansicht, die die Orientierung der gegenwärtigen
Philosophie vereinfacht: daß insbesondere auch Hus^erl's Leistungen
hauptsächlich von Lotze (und Bolzano) aus zu sehen seien, muß die ße-
Naturwissenschaft und Philosophie. XVII
Die Wirrungen jenes Synkretismus von Kant und
Naturwissenschaft auf dem Boden der Psychologie hat
Lotze nie mitgemacht; er hat zeitlebens im Kampf gegen
die psychologisierende Erkenntnistheorie gestanden, die er,
groß in der Kritik, fortdauernd in seinen Rezensionen
verfolgte. Er wußte zu gut von der alten guten Tradition
des Kritizismus her den Unterschied von Apriorität der
Giltigkeit und des Angeborenseins, den die neuere Kant-
Bewegung erst allmählich wieder heraufarbeitete; er konnte
bei seinem Lehrer Weiße lernen, daß das Prinzip der
kritischen Philosophie bestehe in dem „reinen und strengen
Begriff des Apriori oder der formalen Vernunftnotwendig-
keit", welche „die notwendige Pr.ämisse jedes wissenschaft-
lichen Erkennens ist.i) Aber auch die Gleichsetzung der
philosophischen Methode mit der der Naturwissenschaft
im Sinne Brentano's hätte Lotze abgelehnt, als eine mißver-
ständliche Redeweise, wie er den Titel ,nach naturwis-
ziehung zu Brentano besonders betont werden. Brentano stimmt mit
Lotze's späterer Lehre (s. unten S. LXIlIfif.) in dem Hauptpunkt überein,
daß sich das Urteil — und das parallel behandelte Werturteil —
durch die Sachlichkeit hindurch auf die Wirklichkeit bezieht. Die
Unselbständigkeit der sachlich -idealen Sphäre drückt Lotze durch den
Terminus Gelten aus. Brentano faßt jetzt die selbständige Behandlung
der Urteils- und Interesse- Inhalte als methodische Fiktion (V. d.
Klassifikation der psych. Phänomene 1911, S. 147 ff.); aber in der
Gruppe von Denkern, die von Brentano ausgegangen sind, kann man
die ganze Reihe in der Entscheidung der Frage finden, in welchem
Sinne den objektiv- idealen Bedingungen der Erkenntnis und Sittlichkeit
eine unabhängige Existenz zuzusprechen ist (Stumpf— Husserl — Marty
— Meinong) ; schon dies allein sollte zeigen, daß hier eine geschlossene
Entwicklung von einem gemeinsamen Ausgangspunkt vorliegt, die
durch die Natur der Sache vorwärtsgetrieben wurde (wobei dann
liOtze einerseits, Bolzano anderseits herein wirkte). Wird dann aber
in der Rede von der zeitlosen Existenz mehr gesehen als eine „An-
zeige für die Geltung gewisser Urteile" (Husserl), so fragt sich durch-
aus, ob dies ein Fortschritt ist. — Auch die „Phänomenologie" im
Sinne Husserl's, die von der Reinen Logik zu scheiden ist, kommt
von Brentano's „Gedankenkreis einer Deskriptiven Psychologie" (Bren-
tano, Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis, 1889, S. VI) her, wenn
auch das hermeneu tische Verfahren erst durch die selbständige Be-
handlung der Phänomenologie in seiner universalen Bedeutung als
Methode der Grundlegung rein herausgearbeitet wurde; Lotze ist zwar
auch auf diesen Punkt gestoßen, hat aber grade an dieser Stelle die
Methode nicht reinlich von der Spekulation gesondert.
1) Chr. Weiße, In welchem Sinne die deutsche Philosophie jetzt
wieder an Kant sich zu orientieren hat, Lpz. 1847 S. 6 f. 11 f.
Lotze, Logik. II
XVIII Einleitung. I. Lotze's Ausgangspunkte.
senschaf tlicher Methode* auf Lehrbüchern der Psychologie
aus Herbart's Schule und für seine eigenen Arbeiten ab-
gelehnt hat. Sei dieser Titel im eigentlichen engen Sinne
gemeint, dann bedeute dies eine falsche Übertragung von
Methoden, die für die Erforschung speziell physischer
Gegenstände ausgebildet sind; solle damit aber nur die all-
gemeinste Regel logischer und methodischer Genauigkeit
gemeint sein, dann sei der Ausdruck unberechtigt, weil zu
eng.i)
So scheint von der philosophischen Bedeutung seines
naturwissenschaftlichen Anfangs nur dies zu bjeiben: daß
er die allgemeine Forderung wissenschaftlicher Strenge
und Durchsichtigkeit, die in der Deutschen Bewegung im
Ringen um die geistige Bewältigung eines neu aufgehenden
Gehalts vernachlässigt worden war, hier am ehesten er-
füllt vorfinden und dieses Vorbild in sich aufnehmen konnte.
In Wahrheit bleibt doch mehr; aber etwas, was ihm nicht
bloß Frucht trug, sondern ihn auch gehemmt hat. Es han-
delt sich um die Bedeutung des Mechanismus. Aus all-
gemeinen Gesetzen kausal erklärende Theorie und Wissen-
schaft sind für Lotze wie für Kant äquivalente Begriffe;
So bleibt er in der Wissenschaftslehre bei dem natura-
listischen Monismus stehen, wenn er auch, Herbart fol-
gend, den Begriff des Mechanismus durch Abstraktion von
den Momenten, die durch die spezifische Natur der physi-
schen Objekte bedingt sind, erweitert hat zu der Idee
einer „allgemeinen Statik und Mechanik der Veränderungen
von Wesen überhaupt", einer „metaphysischen Dynamik*',
als deren Zweige Physik und Psychologie einander gleich-
geordnet wären. 2) Daß er diese Stellung festhielt, hatte
zur Folge, daß er überall da, wo er in philosophischer
Betrachtung eine Grenze der Gesetzeswissenschaft er-
kannte, sich nun nicht um eine Erweiterung des Begriffs
der Wissenschaft für die Philosophie bemühte, sondern
die Wissenschaft abwies, um eine spezifisch spekulative
Behandlung Platz greifen zu lassen. Und durch diese
Trennung von Philosophie und Wissenschaft wurde er ge-
hemmt, seine eigenen fruchtbaren Ansätze zu einer Theorie
des geistigen Lebens, insbesondere in der Wertlehre, voll
auszunützen. Sie führen uns zu dem andern Pol seiner
geistigen Entwicklung.
1) Lotze, Kleine Schriften H S. 5, 479, HI S. 261 o. m.
*) Medizin. Psychologie S. 34, 450 u. in s. anderen Schriften pasflim.
Die Deutsche Bewegung. XIX
Denn nicht sein fachmännisches Verhältnis zur Natur-
wissenschaft allein, sondern — und damit wäre die positive
Antwort auf die oben gestellte Frage gegeben — daß er zu-
gleich ein Lebensverhältnis zu der Deutschen Bewegung be-
saß, bestimmte seine Anfänge. Sie war für ihn noch volle
Gegenwart, während für die um ein Jahrzehnt später Ge-
borenen schon die Tradition verschüttet war, so daß erst
die historische Erinnerung wieder die Kontinuität herstellen
konnte, wo sie überhaupt von den Weiterschreitenden noch
gesucht wurde, wie bei Sigwart, Dilthey, Eucken, Win-
delband. Und sie blieb ihm dauernd gegenwärtig mit der
universalen Problemlage, in die er hineinkam: die Kritik
Hegel's seitens der Logik von ihrer formalen Tradition
her wie von ihrer Erneuerung aus der Methodenlehre der
Wissenschaften (Trendelenburg); der Ansturm gegen Hegel
durch den Antirationalismus des späteren Schelling, durch
den Lotze wie so viele damals intensiv hindurchgegangen
ist, und die Auseinandersetzung beider mit Herbart, dessön
Bewältigung eine Hauptangelegenheit seiner ersten Arbeiten
war; endlich die schon beginnende Rückwendung zu ihren
Grundlagen in Kant, den er mit Plato zusammen sehen
lernte. Grade daß er mitten in die Auflösung der Systeme
hineinkam, auch schon aus vorzüglichen historischen Dar-
stellungen eine Orientierung über den Gang der ganzen Be-
wegung mitbekam!), ermöglichte ihm von Anfang an die
freie Stellung : nur im Bruch mit den „traditionellen Formen
des Philosophierens" könne er seinen Weg gehen.
Er fand hier das Wesentliche — die Philosophie noch
als Ganzes. Er ergriff die idealistischen Systeme nicht
als eine Abfolge von Lehrsystemen, sondern als eine Einheit
im Aufbau einer geistigen Welt, als „eine charakteristische
Art der Bildung überhaupt". So wenig zeigte der Natur-
wissenschaftler in ihm dem Philosophen den Weg, daß
der Leipziger Student an Drobisch und Hartenstein vor-
überging, um sich ausschließlich an die Vorlesungen des
Hegelianers Weiße zu halten; erst viel später, nachdem,
sein Lehrer den ,Mikrokosmos* hart kritisiert hatte, ist
ihm überhaupt aufgegangen, daß zwischen dessen und
^) Chalybäus. Historische Entwicklung der spekulativen Philosophie
von Kant bis Hegel, 18^1, giebt am Schluß ein Programm für die
weitere Fortbildung der Philosophie und Lotze erklärt darüber (1847,
8. KL Schriften II S. 303). daß es sehr nahe auf den von ihm selbst
betretenen Weg traf. Auch bei Weiße hörte Lotze Geschichte der
Philosophie seit Kant, s. Falckenberg, H. Lotze 1901, S. 18.
n*
XX Einleitung. I, Lotze's Ausgangspunkte.
seiner Richtung ein wesentlicher Unterschied bestehe, i) Und
doch gehört diese Gasse, durch die er in die Philosophie
eingeführt wurde, mit Recht zu den verrufenen: wo die
Harmonisierung der Philosophie mit der Theologie zwecks
Befriedigung der Gemütsbedürfnisse betrieben wurde 2) und
daher das Wort Metaphysik den reaktionären Klang be-
kam, den es, auf die Deutschen Systeme angewandt, nicht
verträgt. Denn diese neue Art von Metaphysik gehörte
nicht wie die alte, gegen die man im Ausland kämpfte, einer
überwundenen Stufe an, sondern war eine produktive Kraft.
Diese Tatsache wirkte denn auch hindurch. Gewiß zieht
sich auch durch Lotze's Werk bis zu Ende die Tendenz,
Unvereinbares zu harmonisieren, um die Bedürfnisse des
Gemüts in einer Weltansicht zu befriedigen; nach der
Auflösung der metaphysisch-objektiven Logik Hegel's und
gegenüber der Zerfällung der Philosophie bei Herbart suchte
er die Einheit der Philosophie anthropologisch in dieser
Richtung auf Weltansicht. 2) Aber das Eigentliche, was er
in jenem Kreise der ,spekulativen Theisten* fand, war doch
die durch die Metaphysiko-Theologie hindurchscheinende
Richtung auf den „ganzen Geist", das von Schelling ge-
nährte Bewußtsein, daß „der einzig richtige Weg sei, durch
das Denken über die Annahme, daß das Denken selbst das
einzig Absolute sei, herauszukommen",*) und vor allem
die metaphysische Grundüberzeugung, für die er sich immer
an Hegel gehalten hat, die Überzeugung von der Einheit
des Wirklichen als eines sinnvollen Ganzen.
Er w^ar in eine Zeit hineingeboren, in der eine der
größten schöpferischen Epochen der Philosophie zu Ende
ging. Aber er brauchte dieser historischen Stellung wegen
noch nicht ein Epigone zu sein. Und jeder der ihn kennt,
wird das Gefühl haben, daß dieser Mann das Zeug dazu
hatte, der große Philosoph des 19. Jahrhunderts zu werden
— wo er dann auf ähnlicher Höhe wie Plato und Leibniz
gestanden hätte. Er ist es nicht geworden, und nur Fäden
sieht man zu Plato und Leibniz sich ziehen, nicht die
1) Lotze, Metaphysik v. 1879, § 88.
*) Auch ia Weiße's oben zitierter Kant-Rede ist die Bestimmung
des Apriori nur eine Seite, die andere liegt in der Tendenz, mittels
des „idealen Universums" der reinen Vernunft den absoluten Grund
alles Seins (in Gott) zu erreichen.
») Lotze, Metaphysik v. 1841 S. 16. und Met. v. 1879 § 94.
*) Chalybäua a. a. 0. 2. Aufl. 1839, S. 426.
Historische Stellung", XXI
Gestalt als Ganzes ihnen gleichgeordnet. Es bleibt eben
bei ihm eine letzte Grenze in dem Maß von Freiheit,
Härte und Ursprünglichkeit. Deshalb gehört er aber nicht
in die Niederung des , spekulativen Theismus*, ^j Er hat
sich aus ihr herausgearbeitet, und mit den Größten teilt
er die philosophische Verfassung, die nie stehen bleibt,
sondern bis zum Ende weiter sucht.
^) So oharakterisiert ihn Ed. v. Haxtmann, IiOtzes Philosophie,.
188S, als den „Erkenntnistheoretiker des spekulativen Theismus". •
II. Der erste Entwurf des Systems i^i Meta*
pliysik und Logik.
Auf die historische Situation, die wir darlegten, ant-
wortet Lotzes Metaphysik mit dem Satz: Die Widersprüche
der Systeme sind nur scheinbare, sie lassen sich auflösen
in verschiedene Aspekte des Einen in sich festen Gegen-
standes der Metaphysik. Die Prinzipien, mit denen sie
gegeneinander streiten, gehören in Wahrheit alle zu der
„allgemeinen Rüstkammer" für das Weltbegreifen, die die
Metaphysik darstellt, und haben in ihr jedes für sich eine
feste stelle. Metaphysik ist eine formale Wissenschaft —
eine inhaltvolle Weltansicht zu geben, muß sie der „leben-
digen Bildung der Kunst und des Lebens" «überlassen. Man
muß nur diesen formalen Charakter festhalten, dann ent-
fällt die Ausschließlichkeit der Systeme; denn nur der
Glaube, mit den Mitteln der Begrifflichkeit das wahrhaft
Seiende inhaltlich bestimmen zu können, ist es, was den
Metaphysiker verleitet, aus den verschiedenen intellektuellen
Koordinatensystemen, auf die das Eine unverwüstliche
Weltall mit gleichem Recht bezogen werden kann, eins als
das allein berechtigte auszuwählen, die „geheime In-
klination", die die Auswahl leitet, mit Gründen zu ver-
decken und so ein immer einseitiges Prinzip absolut zu
setzen, am sichtbarsten in Hegels Panlogismus mit seiner
„Auflösung des Inhalts in bloße Formen." i) So rechtfertigt
sich das Unternehmen des Eklektikers. Überall findet er
eine Seite der Wahrheit: bei Hegel in seiner Idee der
Welt als Entwicklung eines Geistigen, das zum Bewußt-
sein seiner selbst im „Fürsichsein" strebt, in Schellings
Wendung zu der Individualität des konkret Wirklichen, in
dem von Herbart präzisierten Gedanken einer durch Systeme
') Metaph. S. 135, 141 u. a. Vgl. Kl. Schriften lU S. 3 (1862).
Lotze's teleologischer Idealismus. XXTTI
von Gründen bedingten Weltordnung, in dem Mechanis-
mus der Naturwissenschaft. Sie müssen verbunden werden.
Der Gedanke, der die Verbindung ermöglicht, ist die
Unterscheidung verschiedener Begriffe vom Sein, deren
jeder eine wahre Bestimmung des Wirklichen abgibt: das
logische Sein des Begründungszusammenhangs, das reale
des Kausalnexus und der teleologische Zusammenhang,
dessen Sein aus der Transzendenz hervorgeht — die drei
Welten von Wahrheit, Wirklichkeit und Wert. Den Ge-
danken, der die Verbindung herstellt, gibt der Satz, den
er späterhin als seine Übereinstimmung mit Fichte so
formuliert hat: „daß die Welt der Werte zugleich der
Schlüssel für die Welt der Formen sei"i) — zusammen
mit dem andern Satz, den er mit Leibniz teilt und den
die Völkerpsychologen ähnlich aussprachen: daß die Ver?
wirklichung von Werten, wie alle Realisierung überhaupt>
notwendig an einen Kausalnexus gebunden ist. Es ist
der Satz, durch den er das Prinzip der Naturwissenschaft
zur Geltung brachte gegenüber dem Verstehen der Be-
deutung nach, das er in der Deutschen Spekulation irrig
mit dem Kausalerklären vermengt sah, sein Satz von der
universalen, aber untergeordneten Mission des Mechanis-
mus. So ist seine Annäherungsformel für den Begriff des
wahrhaft Seienden: „der durch seine kausalen Mittel er-
füllte Zweck." Und damit bekennt sich die Metaphysik zu
dem Standpunkt des teleologischen Idealismus.
Aber der Wert- oder Zweck-Gedanke kommt von
zwei Seiten her herein, die wir sondern : Einmal bei dem
Problem der konkreten Wirklichkeit mit ihren individuellen
Gestalten, also analog wie in Kants Kritik der Urteils-
kraft; hier werden sich wesentliche Ansätze für die philo-
sophische Theorie ergeben. Anderseits aber von dem Ver-
hältnis her, in das die Metaphysik zu der „Weltansicht
des Gemütes" gesetzt ist. In den Ahnungen des religiösen
Gefühls von einem absoluten Wert findet Lotze eine ge-
sunde Voraussetzung, deren Recht er gegen Herbart und
die Naturwissenschaft erweisen will : D a s allein kann wahr-
haft sein, was nicht bloß mit logischer Notwendigkeit zur
Erklärung des Gegebenen vom Denken gesetzt werden muß,
sondern zugleich die Forderung erfüllt, „um seiner selbst
willen sein zu sollen". Das ist der typische Ansatz einer
ethisch-idealistischen Metaphysik und mit ihm ist der diesem
1) Streitschriften 1857.
XXIV Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
Standpunkt eigene Weg in die Transzendenz gegeben. Lotze
befindet sich hier innerhalb der moralisch-religiösen Oppo-
sition, in der neben den , spekulativen Theisten' damals auch
Fries und Herbart gegen den Pantheismus der Deutschen Be-
wegung standen. Und rein von hier aus angesehen, scheint
seine Metaphysik nur die Arbeit eines Unterbaus zu leisten,
wie das klar ausgesprochen liegt in ihrer Problemstel-
lung: „Den Geist zur Verständigung über die Voraus-
setzungen zu bringen, die er über die Natur und die Be-
dingungen alles Seienden macht, damit ... es sich zeige,
ob es einen solchen Punkt gibt, wo mit einer Form des
Seins zugleich der Anspruch auf an und für sich seiendea
Wert zusammenfalle." (S. 14.) l
Aber gerade hier liegt der kritische Punkt seiner
Philosophie, derselbe kritische Punkt, auf den der ethische
Idealismus immer, auch in seinen modernsten Formen,
stößt, sobald er von seinen handfesten Lebensursprüngen
loskommen und sich vom rein logischen Ansatz aus be-
weisen will. Lotze hat diesen wesentlichen Ansatz schon
hier genommen. Welches ist das Verfahren?
Es ist nicht das der Erkenntniskritik. „Die ganze Frage
nach der Wahrheit der Dinge, die Kritik der Vernunft,
ist nicht eine der Metaphysik vorangehende, sondern ihr
immanente Frage." i) Lotze nimmt den überkantischen
Piatonismus der Deutschen Bewegung, 2) die Lehre von der
in sich wesenden Wahrheit, soweit auf wie Hegel und
sein Antipode Bolzano^) zusammengehen: die kritische
Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkennt-
nis ist sekundär gegenüber der metaphysischen nach den
Voraussetzungen, die den Begriff des Seins konstituieren.
Er hat dafür zwei Argumente, abgesehen von seinem
Kampf gegen eine genetisch-psychologische („anthropolo-
gische") Erkenntnistheorie. So gewiß die Rede von einer
„bloß auffassenden", der ontologischen Voraussetzungen
entledigten Betrachtung der Erkenntnis ein Widersinn ist,
also Philosophie nur eine Verständigung der Gedanken
M Metaphysik (1841) S. 280. T
. «) Vgl. Nohl a. a. O. S. 369.
3) Vgl. die Kant- Kritik des Bolzano-Schülers Prihonsky, Neuer
Antikant 1850; „Nicht darf zuerst analysiert werden das Erkenntnis-
vermögen des Menschen oder der denkenden Wesen überhaupt,
sondern es ist nötig zu erforschen die Natur der Wahrheiten an
sich . . . Erst dann läßt sich über das Erkennen "und die Be-
dingungen des Erkennens mit Nutzen abhandeln."
Die Methode der Ontologie. XXV
über sich sein kann, „müssen wir das, was die fak-
tische Grundlage des Erkennens bildet, seine Voraus-
setzungen über die Natur der Dinge, vorher zum Gegen-
stande der Untersuchung machen, um diesen allgemeinen
Gesetzen, den einzigen, die wir haben können, das einzelne
Problem der Erkenntnis zu unterwerfen."^) Der erkenntnis-
kritische Ansatz mit dem Gegensatz Subjekt-Objekt fällt
bereits unter den Begriff der Beziehung, u. zw. der Beziehung
realer Wesen zueinander; tritt an die Stelle des einen
Terminus der Relation, als das Fundament derselben, das
erkennende Subjekt, dann muß dieser Spezialfall des Ich,
das „zugleich Schauplatz und Zuschauer der Erscheinung"
ist, doch immer den allgemeinen Bestimmungen unter-
worfen bleiben, die für „das Verhalten des Objektiven
gegen einander" gelten. Und dann das Argument mit
dem Zirkel der Erkenntnistheorie. Muß die Giltigkeit der
Erkenntnis vorausgesetzt sein, um sie überhaupt in Frage
zu stellen, so kann auf alle Fälle das Verbot eines trans-
zendenten Verstandesgebrauchs erst begründet werden,
nachdem die Begriffe Sein, Wesen, Erscheinung, Objek-
tivität usf. in ihrer Bedeutung und ihrem Zusammen-
hang aufgeklärt sind. Das alles sind Sätze, die in der
Linie der Gedanken über den Weg zur Fortbildung Kant's
liegen, die unter anderm auch sein Lehrer Weiße vertrat.
Die weiter führende Einsicht, die hier ihren Ort hat: daß
der objektive, vom erfassenden Subjekt unabhängige Zu-
sammenhang der Kategorien ein sachlicher ist, reifte ihm
erst allmählich, verbaute ihm dann aber auch notwendig
jenen ethisch-subjektiven Weg in die Transzendenz. — -
Das Verhältnis seiner Ontologie zu Kant, das trotz
allem entscheidend bleibt, ist leicht eingesehen. Er hatte
schon als Student den kritisch-rationalen Begriff des Apriori
gelernt und zugleich, daß man hinter die Trennungen
Kant's auf den Zusammenhang der apriorischen Vernunft-
formen zurückgehen müsse. 2) Bei Herbart war mit der
Methode der Begriffsbearbeitung der Anschluß an die vor-
kritische Tradition zu finden; sie sollte nun dazu helfen,
Kant's „kopernikanische Tat" aus der psychologischen Ein-
stellung herauszuheben. Lotze fügt die Beziehung auf die
Struktur der Wissenschaft hinzu. Ihre Grundstruktur be-
steht in der Gesetzlichkeit, die das Hinausgehen über
1) Metaphysik (1841) S. 281.
«) Vgl. Weiße a. a. O. S. llf. 18.
XXVI Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
das Gegebene (,Gegebenes* = der erlebte Inhalt der Emp-
findung), den „Fortgang vom Gegebenen zu Nichtge-
gebenem" bindet. Wird diese Gesetzlichkeit von der psycho-
logischen Beziehung auf das Subjekt freigemacht, was
durch Herbart's Auflösung der Vermögenstheorie vorbereitet
war, und universal gefaßt, so ergibt sich der Standpunkt der
Ontologie, die nach den das Sein konstituierenden
Kategorien fragt. So nimmt die Metaphysik von 1841
den Weg, auf dem späterhin der Neokritizismus das ra-
tionale Wesen von Kant wieder entdeckte, was nur natür-
lich ist bei L'otze's Einstellung auf Kant von Hegel aus.
Aber er macht nun, durch Hegel's Schicksal gewitzigt,
die Rationalisierung nicht mit, die sich ergibt, wenn der
logische Ansatz für sich durchgeführt wird und bis zur
Wirklichkeit hintragen soll, wie das gegenwärtig in zwei
parallelen Formen versucht wird; durch Auflösung der
Tatsächlichkeit in bloße vXt] für unendliches Problemstellen
oder so, daß das Urteil über Tatsächliches bis in die
Evidenz der Wahrnehmung hinein angebunden wird an
die Formen, die den rein begrifflichen Sätzen eigen-
tümlich sind. Er wußte vom Deutschen Pantheismus her
zu gut, daß die Rätselhaftigkeit der Wirklichkeit nicht darin
besteht, sondern nur darin sich kundgibt (und auch nur
nach einer Seite hin sich kundgibt), daß sie ein unendliches
Feld für den verhältnisbestimmenden Zug der Reflexion
darbietet. Dem entspricht sein zweiter Hauptsatz, der nun
wieder aus dem Mittelpunkt der Deutschen Bewegung
kommt : die vTio^eoeig wurzeln nicht im reinen Denken,
sondern ihr Ursprung ist ,der ganze Geist*. „Er und nicht
das Erkennen, die sich wissende Wahrheit, regiert die Ent-
wicklung der Metaphysik."!) Es ist wieder der Satz von
der Unselbständigkeit der Metaphysik ihrer rationalen Natur
nach, der vorhin im Sinne des ethischen Idealismus als
Sprungbrett zu dem absoluten Wert diente, hier aber nun
die andere, positive Bedeutung gewinnt, die Philosophie
über den Rationalismus zu erheben. Und diese Doppel-
heit blieb ihm.
^ Ontologie.
Welches ist nun aher der Weg der Ontologie, diese
Voraussetzungen aufzufinden, die die Vernunft über das
Seiende als solches machen muß? Es ist die Aufklä-
1) Metaphysik S. 328.
Die Dialektik. XXVIl-
rung der Begriffe von den sprachlichen Ausdrücken
aus, also die Aufklärung des mit dem Ausdruck , Sein* Ge-
meinten. Und hier sieht sich nun Lotze wieder (oder auch
er schon) auf Hegel's Dialektik angewiesen; sie bleibt
ihm die Methode zum Erfassen der Wahrheit, nachdem ihre
Hypostasierung zu der Form der Selbstentwicklung der
Wahrheit aufgelöst ist. Lotze's Metaphysik entwickelt die
ontologischen Voraussetzungen und dann parallel die An-
schauungsformen in einem streng systematischen Aufbau,
der von der einfachen „abstraktesten Gegenständlichkeit"
stufenweis zu zusammengesetzteren Bestimmungen auf die
konkrete Wirklichkeit hin führt, und dieser zielsichere
Stufengang von Seinsbegriffen — auf ihre verschiedene
Bedeutung weist die Sprache durch Ausdrücke wie Sein,
Dasein, Wirklichkeit hin — kommt kraft der Negativität
des vergleichenden Denkens zustande : jeder vorher-;
gehende Seüisbegriff zeigt eine Schranke, durch die er
etwas von dem mit Sein Gemeinten noch unbestimmt läßt
und dieser Mangel muß durch einen neuen Begriff ge-
deckt werden. So ist die Dialektik „die Bewegung des
Geistes, durch die er einen Inhalt der Meinung allent-
halben in Inhalt des Begriffes umwandelt." . »Meinung*
und Inhalt oder Gegenstand der Meinung sind bei Lotze
technische Ausdrücke. Der Inhalt der Meinung — „als
was etwas gemeint ist" — ist, solange der Gegenstand
nur in Gestalt der Meinung gegeben ist, nicht nur unbe-
stimmt, sondern unbekannt und doch ein „unendlicher
Inhalt", den der menschliche Geist irgendwie besitzt, so
daß das Denken, indem es den Inhalt sucht, nichts anderes
zu leisten hat, als „den wahren Sinn der Meinung voll-
ständig aufzuhellen". Die Möglichkeit jeder suchenden
Untersuchung ist dadurch bedingt, daß wir irgendwie wissen
müssen, welche Begriffe dem Gesuchten zukommen können,
welche nicht. „Diese innere Gesetzmäßigkeit des gesuchten
Inhalts, weil sie noch eine unbekannte ist, ist nicht in
einzelnen Bestimmungen des Gedankens gegenständlich für
uns da; aber vorhanden in Gestalt der Meinung, besitzt sie,
obwohl selbst unangebbar, doch die abwehrende Kraft,
das zu verneinen, was ihr nicht gemäß ist . . . Wo. der unter-
geschobene Erklärungsbegriff ein falscher "war, wird er durch
das Gemeinte selbst zurückgewiesen, an dem nun durch
die Kraft des Gegensatzes eine bestimmte Seite seines
Wesens ins Bewußtsein tritt..."
So fordert die Dialektik, auf den „ganzen Geist" zu-
XXVIII Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
rückzugehen, und wehrt damit zugleich das rationale Ideal
eines voraussetzungslosen Anfangs der Philosophie ab.
Der ganze Geist besitzt kraft der „in der Meinung inne-
wohnenden Wahrheit" ein „nicht erst methodisch zu er-
zeugendes Prinzip der Gewißheit und Entscheidung". Damit
tut sich das Platonische Problem der ävdjuvrjoig auf. „Wir
müssen voraussetzen, daß in der Philosophie nicht die
Gesetze der Entscheidungen erst entstehen, sondern der
ganze Geist bereits vorhanden ist, der sich seiner Wahrheit
nur erinnert und sie eher besitzt und ausübt als er sie
wissenschaftlich erkennt." i) Lotze löst das Problem hier
noch einfach platonisch-ethisch aus der Transzendenz : 2)
Der letzte Zusammenhalt der Wirklichkeit muß aus der Idee
des Guten hervorgehend gedacht werden, und der mensch-
liche Geist ist „tätige Kraft von der Substanz des Guten".
So hat die Methode, die scheinbar mit logischer Genauigkeit
durch die Begriffsstufen hindurch zu der Bestimmung
des wahrhaft Seienden als des Seinsollenden hinführt,
dieses Ziel bereits von vornherein vorausgenommen in
sich. Auch hier sollte ihm später das Prinzip der immanent
sachlichen Selbstverständlichkeit hinweghelfen. 3)
Der systematische Aufbau der Ontologie ist somit von
Anfang an nicht rein logisch, sondern ethisch gebunden.
Aber innerhalb dieser Bindung hat nun die Systematik
einen rein theoretischen Kern, der wieder nur scheinbar
aus der formalen Dialektik, in Wahrheit kantisch aus
ihrer Beziehung auf die Strukturformen des Wissens
gewonnen wird. Man kann an seine Ontologie mit den-
selben Mitteln herangehen, mit denen er selber und
Trendelenburg damals Hegel kritisierten. Lotze hat die
verschiedenen Auffassungen des Seins bei den Philosophen
und die der Naturwissenschaft vor Augen, er erkennt in
den historischen Gestalten nicht nur das Typische, sondern
auch das giltige Moment von Wahrheit, und nun versucht
er — und das ist das Bedeutende — für jeden dieser Seins-
begriffe den Ort festzustellen, der ihm im System des
Wissens zukommt.
Als den ersten legt er die Gegenständlichkeit fest. Er
hat von der Wolf fischen Schultradition her ihren weiten
Begriff, der gegenwärtig wiedergewonnen wird: „Die ein^;
: O
1) ». a. O. S. 33 ff. 42 ff. 281. Vgl. Kleine Schriften II 400.
*) Am Schluß der Metaphysik.
«) Siehe § 358 dieser Logik, S. 595.
Gegenständlichkeit. Der Beziehungsbegriff des Seins. XXIX
fache Setzung, die frei von aller Behauptung des Daseins
und der Wirklichkeit nur die Bejahung ist, die jedem Inhalt
des Denkens zukommen muß." Und er gibt die moderne
Terminologie 1): „Das Seiende ist das, was gemeint ist oder
werden kann." So hat die Metaphysik denselben Aus-
gangspunkt wie die Logik: bei der logischen Vorstellung,
deren sprachliches Zeichen der Artikel ist, und sie scheidet
sich von der Logik dadurch, daß sie nicht auf das Vor-
stellen, das den Gegenstand setzt, sondern auf den Gegen-
stand selber geht. Aber über diese Stelle, an der sich
gegenwärtig eine philosophische Grundwissenschaft anbaut,
geht er schnell hinweg, analog wie er auch in seiner zweiten
Logik den Anfang mit der Begriffslehre gegen das Zeit-
alter der Empirie festgehalten und doch das Urteil in den
Mittelpunkt gerückt hat. Er will trotz des Ansatzes bei
der Wahrheit über den Rationalismus hinaus auf die Wirk-
lichkeit hin. Und hier macht sich nun seine naturwissen-
schaftliche Orientierung geltend. Er führt als die nächste
Stufe der ontologischen Formen, also an dem entscheiden-
den Punkt, wo die erste Scheidung im Bereich der Gegen-
ständlichkeit zu treffen, Seiendes vom Nichtseienden ab-
zugrenzen ist, den Reiationsgedanken ein: die Be-
stimmtheit des Daseins entspringt für das Denken durch
die allgemeine logische Form der Reihenbildung. Dasein
. bedeutet „die Gleichartigkeit der Beziehung, durch die ein
Kreis des Gesetzten sich von einem andern Kreise ab-
trennt". „Alles ist nur seiend, sofern es eine bestimmte
Form des Daseins, der Beziehung zu anderem oder ein
Sein in einer Reihe von Verhältnissen mit anderm Seienden
hat." „Der Begriff des Seins ist nur ein beziehungs-
weiser." (S. 48 f. 55 f.)
In dieser Wendung liegt zweierlei. Einmal die Be-
hauptung, daß alle Bestimmungen in Verhältnissen be-
stehen, es also keine absoluten Beschaffenheiten gibt, die
in gegenständlicher Weise als innere Bestimmtheiten er-
faßt werden könnten. Diese Behauptung kommt wie bei
Kant dadurch, daß dem gesuchten allgemeinen Begriff
des Wissens der naturwissenschaftliche untergeschoben
wird, und ist nur präzisiert mittels des Funktionsbegriffs,
wie er im Positivismus seit d'Alembert und Lagrange zu-
grunde gelegt war. Damit ist über den Gang der Ontologie
1) Vgl. A. V. Meinong. Über Annahmen, 1910 S. 220 ff., 238 u.
in früheren Schriften zur Gegenstandstheorie.
XXiX Einleitung. IL Der erste Entwurf des Systems.
entschieden. Denn wenn die universale Beziehungsfonn
des Wissens nicht bloß eine höhere Stufe des Objektivi-
tätsbewußtseins konstituiert, die sich auf dem Gegebenen
aufbaut, um es aufzuklären i), sondern konstitutiv ist für
Dasein überhaupt und wenn nun trotzdem die Wirklichkeit
nicht bloß zu einer idealen Grenze für den unendlichen
Prozeß der nach Einheit des Reihensystems strebenden
Wissenschaft werden soll, so bleibt nur der Überschritt der
Philosophie über die Wissenschaft übrig. Wohl hat Lotze
auch den Unterschied zwischen „cognitio rei" und „cognitio
circa rem" festgehalten; in der Psychologie war der natür-
liche Ort, ihn aufzudecken. Aber wir werden sehen, wie
er dort von der „cognitio rei" aus abbiegt zu spiritualisti-
scher Spekulation. Das ist in seiner Ontologie vorge-
zeichnet.
Aber anderseits hat er hier nun die rationale Tiefe
der deutschen Philosophie, die Leibniz-Kantsche Intention,
den Zusammenhang des Wissens rein auf die dem Gedachten
als solchem notwendigen Formen zu begründen, systema-
tisch ausgeschöpft. Er führt den Relationsgedanken durch
bis zur Auflösung des Substanzbegriffs in den Gesetzes-
begriff — immer aber mit dem Hegeischen Bewußtsein, bei
diesen Festsetzungen auf der Stufe der Reflexionsphilo-
sophie zu verbleiben, die nicht das Letzte ist. Er stellt
zunächst die Bedeutung des Substanz begriffes fest.
Die ontologische Form der Beziehungsreihen, die „Re-
flexionsbestimmungen über Verhältnisse verschiedener Sei-
enden gegeneinander", dürfen nicht verabsolutiert werden.
Sie sind formale, auf jeglichen Inhalt anwendbare „Unend-
lichkeiten der Vorstellung", oder mit den Terminis Sub-
stanz und Attribut ausgedrückt, „an anderem seiend" gegen-
über dem Fürsichsein. Und Lotze weiß nun, antipositivistisch
wie er ist, daß auch der Appell an die Mathematik als das
Orgran der Naturerkenntnis hier nicht weiterhilft aus der
Reflexionssphäre heraus. Denn die Größen Verhältnisse,
durch die den Beziehungsreihen die unterschiedliche, un-
endlich variable Bestimmbarkeit zugebracht wird, sind
wiederum ihnen gegenüber „nur abstrakt seiende" formale
Bestimmungen, sozusagen attributiv in zweiter Potenz.
Würde doch durch den Dühringschen Gedanken, daß die
Größengleichung auch eine Verbindungsform der Natur
selber ist, die ungeheuerlich metaphysische Vorstellung von
1) Vgl. Husserl, Logische Untere. Bd. II (1901), S. 616 ff. vu ».
Der Beziehungsbegriff des Seins. XXXI
der rechnenden und messenden Natur dekretiert werden!
und zugleich die Leistungen der Naturwissenschaft ein
permanentes Wunder werden I Denn welche Chancen hätten
wir, das Rechen- und Maßsystem der Natur, ihren General-
nenner und Maßstab wiederzufinden, um damit die wechsel-
seitigen Relationen und die Variablen zu bestimmen, die
die Natur hier gewählt hätte i)? Lotze stellte fest: „Nur
aus dieser doppelten Negativität, Bestimmungen des an
anderem Seienden zu sein, ist die Breite der Mathematik"
als apriorischer Wissenschaft zu verstehen. (S. 59.)
So bleibt dieser „Reihe der Grenzbestimmungen'* gegen-
über, die den „objektiven Schein" an der Erscheinung aus-
machen, als ein echtes Problem die Frage bestehen nach
dem Seienden selber, nach den Trägern der Relationen.
Und das ist der metaphysische Ort, an dem die Begriffe
Substanz, Monade, Herbart's einfache Qualitäten usf. stehen
Aber Lotze stellt sie nur fest, um sie aufzuheben. Sie sind
Reflexionsbegriffe, die zwar auf etwas Wahres abzielen — auf
die Notwendigkeit, ein vom Denken Unabhängiges zu setzen,
das den sonst auseinanderfallenden Beziehungsreihen die
Einheit gibt — , die aber auch nur Ausdruck dieser Forde-
rung sind. Sofern sie dieselbe für erfüllt ausgeben durch
Konstruktion realer Wesenheiten oder einer unendlichen
Substanz, springen sie aus der Sphäre der Reflexionsbe-
stimmungen in die der Realität hinüber und behalten da-
bei für die Konstruktion des Ansich unmöglich mehr als
die leere Gesetzlichkeit zurück, falls die ganze Arbeit nicht
in einer Verdoppelung der Erscheinungswelt ausläuft. Die
kritische Aufgabe ist dagegen, die Form der Dingheit zu
bestimmen, d. h. zu fragen: „unter welchen Bedingungen
die Komplexionen des Scheines, die Vereinigungen mannig-
faltiger Bestimmtheiten, die aus einer Substanz nun ein-
mal nicht erklärt werden können, vielmehr umgekehrt aus
sich den Schein der Substantialität hervorbringen". Und
diese Bedingungen liegen jenseit des Seienden, nämlich
darin, daß es „sich zur Wahrheit aneinander gefügt hat".
Wobei unter Wahrheit „nicht die relative gemeint ist, die
in der Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Vor-
stellung besteht, sondern die transzendentale, daß in den
Bestimmungen des Dinges eine Ordnung und Gesetzlichkeit
sei. Sie ist ein wesenhaftes oder nicht seiendes Gesetz.
Das Gesetz des Scheines ist selbst die Substanz." (S. 89ff.)
1) Vgl. H. Bergson, Evolution Cr^atriceß 1909, S. 238.
XXXIl Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
Damit ist die Zweiweltentheorie gewonnen, die
das Wesentliche von Lotze's erster Ansicht ausmacht; nur
daß der Ausdruck „Gelten", den auch schon Herbart brauchte,
noch nicht terminologisch fixiert ist und auch die An-
knüpfung an Plato's ideenlehre erst später hinzuwuchs.
Der Grundsatz der Ontologie war, daß die Bestimmbarkeit
jedes Seienden von seiner Stellung in einer Mehrheit von
Beziehungsreihen abhängt; dies konnte auf die allgemeine
logische Form der Reihenbildung begründet werden. Hin-
zu kommt, daß eine Konvergenz der Reihen zu „allge-
meinen Begriffen" (nicht = Gattungsbegriffen!) gefordert
werden muß, in denen der Inbegriff der Bestimmtheiten
eines Seienden sich darstellt als gesetzmäßig ineinander-
gefügte Komplexion, die den „Schein der Substanz" gibt,
lind dies kann die Metaphysik nicht aus ihren eigenen
Mitteln bewahrheiten, sondern nur als notwendige Forde-
rung für das öv (bg dXtji^eg feststellen; in den Gesetzen
der Wahrheit selber liegen die bestimmten Komplexionen
nicht — „nur wenn ein Schein ist, ist sie es, die ihn
ordnet". Die empirischen Gesetzeswissenschaften müssen
hier eintreten und ermitteln „welche Komplexionen des
Scheines die Wahrheit in sich aufnehmen, die, ohne in
ihnen zu sein, überhaupt nicht wäre". Das führt nicht
zum Nominalismus: die Allgemeinbegriffe sind deshalb,
weil sie auf empirischen Inhalt angewiesen sind, noch nicht
bloße Formen des zusammenfassenden Denkens, so wenig
wie sie anderseits unmittelbar das Seiende bilden : sie bilden
die Gründe des Seienden und haben als solche „den
übergreifenden Sinn, daß jede Welt unmöglich sein würde,
in der die Form des Allgemeinbegriffs nicht diejenige ob-
jektive Geltung hätte", die darin besteht: „Alles was ist,
hat sein Dasein darin, ein Mittelpunkt vieler sich durch-
schneidender Allgemeinheiten der Gründe zu sein." Und
weil die Gründe nicht bloß für das beziehende Denken be-
stehen, sondern objektiv „gelten", liegt in ihrem Begriff
implizite die Voraussetzung einer „Welt der Wirklichkeit",
auf die hin sie gelten. Die metaphysische Reflexion
reicht nur bis an den Ursprung der Wissenschaft, nicht der
Wirklichkeit. Die Wissenschaften selber aber enthalten
wiederum die Voraussetzung einer Wirklichkeit unaufgelöst
in sich als eine bloße Faktizität; denn sie sind eben durch
ihre logische Struktur als Gesetzeswissenschaften gebunden
an die hypothetische Urteilsform: „sie erzählen nirgends,
was wirklich ist, sich begibt, sondern in einem allgemeinen
Die Zweiweltentheorie. XXXIII
subsumtiven System von Gründen zeigen sie, was geschehen
muß, wenn gewisse Bedingungen auf eine der Wissenschaft
gleichgültige Art realisiert werden". So steht dem „Reich
der möglichen Notwendigkeit", der Welt des Geltenden, das
„Reich der freien Wirklichkeit" gegenüber, frei, weil es
„den formalen Bestimmungen der Gründe die Möglichkeit
und Bestimmtheit seines Seins und den Schein der Sub-
stanz, sich selbst aber die Wirklichkeit verdankt".
Aber über die Zweiweltentheorie hinaus führt nun das
Problem der Wirklichkeit als solcher. Um es aufzu-
lösen, also wesentlich zur Überwindung der bloßen Tat-
sächlichkeit des Individuell-Wirklichen greift Lotze auf das
Prinzip des teleologischen Zusammenhangs zurück. Auch
hier sind wieder zwei Ansätze verflochten. Die Wirklich-
keit ist charakterisiert als Causalnexus gegenüber der Ord-
nung von Gründen und Folgen und ist nicht deren bloße
Wiederholung, nur an einem Wirklichen gesetzt. Zwar
bedeutet Ursache nichts anderes als „das Vehikel der Wirk-
lichkeit eines Grundes"; und wie der Begründungszusam-
menhang an jeder Stelle vielgliedrig ist, ist der Wirkungs-
zusammenhang mindestens dreigliedrig, da das von der
Ursache influierte Ding selber mit zu dem ganzen Real-
grund des Effektes gehört — eine Aufklärung der Kausali-
tät, die durch alle Hauptschriften Lotze's weiter fortgeht
und gegenwärtig von einem tiefbohrenden Analytiker wieder-
gewonnen isfi). Aber lediglich der ruhenden Ordnung
des Begründungszusammenhanges gehört die Vorstellung
an, daß jedes Reihenglied durch die Vielseitigkeit seiner
Beziehungen in unendlichem Zusammenhange mit der Totali-
tät der Denkinhalte stehe. Die Universalität der Kausal -
Verhältnisse bedeutet nicht eine universale Wechselwirkung
alles Seienden mit allem Seienden ; eine solche „Panspermie
der Ursachen" ist vielmehr nur eine Hypostase eines Re-
flexionsbegriffs von der Kausalität. Damit vollzieht sich
die Abkehr vom Rationalismus; es ist ein Punkt, an dem
Lotze rastlos weitergearbeitet hat im Durchdenken der
Kausalvorstellung. Vorläufig kommt er schnell zum Ziel.
Der faktische Hauptzug der kausal zusammenhängenden
Wirklichkeit ist das Geschehen, die Veränderung; er ist
nicht denkbar ohne die Voraussetzung, daß die Ursachen
nur mit bestimmter Auswahl zusammen wirken. Das aber
darf nicht fatalistisch hingenommen werden, will die Philo-
1) Rehmke, Philosophie als Grundwissenschaft, 1909, S. 245 ff.
Lotze, Logik. UJ
XXXIV Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
Sophie nicht im Positivismus stecken bleiben, sondern ver-
langt ein eigenes Prinzip, das „als eine individuelle Form
auftritt, welcher als einem zu verwirklichenden Gesetze
das Wirkliche sich als Mittel fügen muß". „Daß die wirken-
den Ursachen so zusammengetrieben werden, um nach den
in ihnen liegenden Bestimmungen des Grundes durch den
Prozeß der Kausalität das bewirkte Seiende hervorzubringen,
dafür kann das entscheidende Moment nicht selbst wieder
eine Ursache sein, sondern muß in einer andern Art des
Seins als der bewirkende Zweck begriffen werden." Und
hier greift nun der andere Ansatz ein, mit dem er von
Schelling's Antirationalismus her an das Problem der Wirk-
lichkeit herangeht, die Wendung gegen den Primat der
theoretischen Vernunft. Den ontologischen Formen über-
haupt, bis zu der Wurzel des naturwissenschaftlichen Ge-
setzesbegriffs, eignet zwar Notwendigkeit, aber nur die
schlechte Notwendigkeit der faktischen allgemeinen Geltung,
„jenes Notwendige allein, das um der Allgemeinheit und
Unendlichkeit seines Daseins willen durch keine andere
Erfahrung seiner Notwendigkeit beraubt werden kann". Ihr
steht die echte Notwendigkeit gegenüber, nun aber nicht
die des sachlich Einsichtigen, sondern die moralische Not-
wendigkeit dessen, was um seines Inhalts willen zu sein
verdient: „das seiner Natur nach schlechthin Seinsollende".
Lotze hebt mit Recht heraus, daß die Reflexion sich über-
springt, wenn sie das Einzelwirkliche deshalb, weil es
Ergebnis von Wirkungen ist, für das letzte und abhängigste
Glied im Geschehen hält, so daß es nur ein zufällig wirk-
licher Erfolg der abstrakten Gesetze wäre; das gilt ihm
als logischer Fatalismus. Aber von diesem Gedanken, daß
die Individualität alles konkreten Seins als innere Be-
stimmtheit der Wirklichkeit selber einen Sinn des Ganzen
fordert, aus dem allein sie verstanden werden könnte,
strebt er hinüber zu dem Postulat eines absoluten Wertes,
von dem derKausalzusammenhangderDinge seinen Sinn aus
der Transzendenz vorbestimmt erst zu Lehen erhielte. Und
die Ontologie, die vorsichtig bei der formalen Bestimmung
des orTcog öv als des Seinsollenden Halt macht, will damit
nur Raum schaffen für die inhaltliche Bestimmung des-
selben aus der ethischen Gewißheit, die das Gute kennt
, als das Einzige was unbedingt sein soll.
Soweit die Grundlegung seines Standpunktes in der
Ontologie. Sie hat den „teleologischen Idealismus" so
entwickelt, daß in den umfassenden Begriff der Zweckbe-
Kosmologie und Logik. XXXV
stimmtheit des Wirklichen die beiden andern Begriffe des
Seins, die Ordnung nach Gründen und der Kausalprozeß,
als gleichfalls wahrhafte Bestimmungen eingeordnet sind,
und dieser dreigliedrige Beziehungszusammenhang erweist
sich dann am Schluß des Ganzen, wo der ethische Unter-
grund des Idealismus frei hervortreten darf, als ein Er-
füllungszusammenhang, in welchem die Idee des Guten
— oder, in Lotze's späterer Terminologie, die Werte —
durch das Mittel der Kausalität zur Verwirklichung gelangt.
Kosmologie, Logik und Erkenntnistheorie.
Von der Ontologie aus gabelt sich nun Lotze's Weg
in diesem ersten Entwurf seines Systems nach zwei Seiten
hin: einerseits zur „Kosmologie", die den zweiten Teil
der Metaphysik bildet, und anderseits zur Logik, die erst
etwas später und als selbständige Schrift herauskam
(1843)^). Auf beiden Linien ist der ethische Idealismus
mit der Richtung auf die rein theoretischen Zusammenhänge
verknüpft; er gibt der Logik den iVnfang und er hilft in
der Kosmologie die Brücke herstellen, die zu dem er-
kenntnistheoretischen Teil hinüberführt, mit dem die Meta-
physik abschließt 2) und der nun den Idealismus der Sub-
jektivität erst voll auftut. Wir lassen ihn in dieser inneren
Folge hervortreten und zeigen daher zunächst das andere,
mit ihm verknüpfte, rein theoretische Motiv, durch welches
Kosmologie und Logik auf der Ontologie aufgebaut sind.
Dieses erscheint in der Kosmologie als die Intention, die
den schon berührten rationalen Grundgedanken des Kritizis-
mus weiter fortsetzt: die Begründung der Prinzipien der
(exakten Wissenschaften auf die ontologischen Formen bis
zu Ende durchzuführen. Lotze leistet das hier in einer
Weise, die den Arbeiten des Neokritizismus verwandt
ist 3). Aber auch die reinen Formen der Logik erfaßt er
als sekundär gegenüber den ontologischen. Und zwar findet
er das Mittel, das beide Disziplinen mit der Ontologie ver-
bindet, in Kant's Lehre vom Schematismus. Er hat
1) Sie giebt nur die formale Logik, nimmt also nur das erste
Buch der hier vorliegenden Logik von 1874 vorweg.
2) Im Unterschied von der Anordnung des späteren Systems, wo
die Erkenntnistheorie in die Logik aufgenommen ist.
') Vgl. insbesondere Natorp, Die logischen Grundlagen der
exakten Wissenschaften 1910 mit Lotze's Metaphysik Teil II (Die
Lehre von der Erscheinung) 1841.
m*
XXXVI Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
sie zu universaler Anwendung von der psychologischen
Fassung freigemacht.
Unter dem Titel „Formen der Anschaulichkeit" faßt
die Kosmologie den Inbegriff der Prinzipien der Natur-
wissenschaft in einem systematischen Aufbau zusammen,
der der dreigliedrigen Architektonik der Ontologie nach-
gebildet ist: Zeit, Raum, Bewegung; dann Materie, Masse,
Kraft, Anziehung; zu dritt Mechanismus und Teleologie.
Ihr gemeinsames Wesen besteht darin, daß sie Regeln der
Verbildlichung für die ontologischen Formen sind. Die
letzteren bilden die tiefste uns erreichbare Schicht des
Theoretischen; sie sind „die Formen des Seienden, wie
es für uns an sich ist". Von ihr getragen ist die uns
näherliegende Schicht der Formen der Erscheinung,
„unter denen für uns das Seiende unser Objekt ist". Durch-
wirkt von der Struktur der tieferen Schicht, geben sie
selber wieder mit ihren allgemeinen Bestimmungen, „denen
die ontologischen Begriffe als immanente Gesetze einge-
bildet sind", die Grundlage für die erscheinende Wirklich-
keit ab. So löst er mit Kant die Aufgabe, die Überein-
stimmung der frei bestimmten Wirklichkeit mit den denk-
notwendigen Beziehungen der Ontologie zu begreifen, da-
durch, daß er die anschaulichen Formen des Zusammen-
hangs dazwischenschiebt als „Bestimmungen des Inhalts
als solchen, durch die sich an ihm die Linien der Be-
ziehung selbst ziehen". Hinzu kommt die Einsicht, die
über Kant hinausführt und den Gedanken des Schematis-
mus erst frei macht: daß die sog. Anschauungsformen der
Raum, die Zeit nur Reflexionseinheiten darstellen, die
aufzulösen sind in die darunter befaßten einfachen Verhält-
nisbestimmungen. Alle kosmologischen Formen sind „keine
Ganzen, die sich gegenseitig abgrenzen, sondern ineinander-
fließende Gruppen einzelner Momente". So sucht er nun
mit seinem ganzen Scharfsinn „die Vernunft im Räume"
und in der Zeit aufzuweisen. In das allein gegebene mo-
mentane Jetzt strahlt als notwendiger Vor- und Nachschein
die Beziehung auf die nichtgegebenen Gründe und Zwecke
ein und läßt in den intensiven Einheiten einen immanenten
Zusammenhang rhythmischer Ordnung sehen. Von dem
allein gegebenen Hier geht ein Strahlenbüschel der Rich-
tungen aus, in welchem die ontologisch geforderte Ver-
knüpfungsmöglichkeit eines Seienden mit unbegrenzt vielen
anderen schenaatisiert ist. Der Auflösung des Substanz-
begriffs Entspricht dann einfach die positivistische Reini-
Der transcendentale Schematismus. XXXVXX
gung des Kraftbegriffs zum funktionalen Gesetzesbegriff.
„Die Dinge sind ähnlich optischen Instrumenten, die für
gar nicht konvergierende Strahlen dennoch einen geometri-
schen Mittelpunkt in einer Richtung abbilden, wohin jene
nicht gelangen."
Der logische Schematismus hat eine andere Be-
deutung. Lotze's erste Logik zeigt im Unterschiede von
der Mehrfältigkeit der späteren noch fast ganz rein den
Typus des Idealismus der Subjektivität, entsprechend der
Situation, in der die Befreiung von Hegel die erste An-
gelegenheit war, die die Logiker beschäftigte. Die Spon-
taneität, von Kant und Fichte her, ist der entscheidende
Begriff. „Das Wesen des Logischen ist in die Selbsttätig-
keit zu setzen." Von ihr gesondert ist der psychologische
Mechanismus des Vorstellungsverlaufs, der bloßes Material
von Impressionen für das erkenntnisschaffende Denken her-
anspült. Das vieldeutige Wort Logos soll die innere Leben-
digkeit der Vernunft bezeichnen, gegenüber der Zweck-
mäßigkeit der Mechanik. So stellte Lotze zunächst Herbart's
Begriff der reinen Logik, die auf die einfachsten Verhält-
nisse des Gedachten geht, zurück und nimmt Herbarts präzise
Fassung der Begriffslehre nur auf, um die Spontaneität
der „logischen Auffassungsformen" noch weiter nach unten
zu erstrecken, als es bei Kant geschah: „auch schon das
Einfache der Apprehension muß, um ein Einfaches der
Apperzeption zu werden, eine Behandlung durch logische
Auffassungsweisen erleiden", und das leistet die logische
Vorstellung, die die einfachsten Einheiten von identischer
Bedeutung schafft, ohne die das Denken dem Erkenntnis-
zweck nicht dienen könnte. Nicht die Denkleistungen^
sondern die Denkakte sind das, was er unter den „Denk-
formen als solchen" versteht; er definiert dieses subjektive
Tun als die „Reduktion des Gegebenen auf seine Gründe";
„das logische Denken ist nichts anderes als eine kritische
Erläuterung oder Bearbeitung des gewöhnlichen Vorstel-
lungsverlaufs". Und er führt sie nun von der logischen
Vorstellung bis zu den höchsten Formen des zusammen-
fassenden Denkens (Klassifikation, erklärende Theorie,
spekulatives Verstehen) wie in der späteren Bearbeitung
auf in einer systematischen Entwicklung, die ihren Duktus
aus den Aufgaben empfängt, die aus dem Zweck einer
logischen Fassung des psychologischen Tatbestandes her-
vorgehen. Die theoretische Bewältigung des Gegebenen
legt sich auseinander in einer Reihe stufenweis gesteigerter
XXXVIII Einleitung, II. Der erste Entwurf des Systems.
Formprobleme, zu deren Lösung immer höhere logische
Gebilde gefordert sind. Die logischen Grundsätze wie der
der Identität ergeben sich dabei als „der reine Ausdruck
des Sinnes der Denkformen".
Aber von diesem Ansatz aus, mit dem er zwischen den
Extremen Hegels und des traditionellen Formalismus, gleich
der Mehrzahl der damaligen Logiker, vermitteln will, bahnt
er sich nun den Weg zur reinen Logik zurück. Und
hier greift der Gedanke des Schematismus ein. Subjektiv
als Betätigung des Logos, ist das Denken seinem formalen
Bestände nach abhängig von den ontologischen Foniien,
die ihm erst die Motive für seine Kritik des Gegebenen
liefern. Das Denken „besteht in der ausübenden Technik,
welche die absoluten Voraussetzungen über die Natur alles
Objektiven in den gegebenen Inhalt der Vorstellungen hin-
einzuarbeiten sucht". Wohl beruht auf diesem Verhältnis
zur Ontologie auch „die reale Seite" des Logischen; sie
besteht in der teleologischen Beziehung auf den Zweck
objektiver Erkenntnis. Aber anderseits unterscheiden sich
die logischen Formen von den kosmologischen Vermitte-
lungen gerade dadurch, daß ihr Schematismus nicht auf
die Konstituierung von Gegenständen der Erfahrung be-
schränkt ist, sondern sich auf Gedachtes als solches be-
zieht ohne Frage nach der objektiven Bedeutung der so
„gestifteten" Verhältnisse des Gedachten. Und hier liegt
der Ursprung der rein logischen Begriffe wie Gleichheit,
Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Gegensatz, Widerspruch, Be-
dingung. Zum Wesen der logischen Formen gehört nicht
bloß, die Materie der Kategorien unbestimmt zu lassen,
sondern die kategoriale Form, d. h. Kantisch die abstrakte
Regel der Synthesis, auch noch völlig abstrakt, ohne Bezug
auf Anschauungsformen überhaupt, zur Anwendung zu
bringen und so einen „transzendenten Gebrauch" der Kate-
gorien zu ermöglichen, der die schrankenlose Natur des
Denkens kennzeichnet. So gelangt Lotze zur reinen
Logik, indem er das Denken sich von seiner Ursprung
liehen Bestimmung, ausübende Technik des Erkennens zu
sein, emanzipieren und damit seiner „realen Bedeutung*'
sich entledigen sieht in einem selbständigen Spiel seiner
Fähigkeiten. Die ontologischen Formen, an die es von
jener Zweckbeziehung her gebunden bleibt, werden bei
diesem schrankenlosen Gebrauch „zu einem Gleichnis",
aber diese Abschattung der konstitutiven Kategorien zu
Symbolen ist es eben, was das rein Logische ausmacht. In
Der teleologische Idealismus in der Kosmologie. XXXIX
den rein logischen Begriffen „fixiert der Verstand sein
eigenes Vorstellen des formalen Teils der Kategorie abge-
trennt von dem realen Teil und ebenso von den Formen
der Anschauung 1)". So stellte Lotze die Aufgabe, statt
den gesamten Bestand des Apriori zusammenzunehmen,
die rein logischen von den „metaphysischen" Formen zu
sondern. Die Philosophie würde dadurch von den Über-
griffen logischer Bestimmungen über reale Verhältnisse
befreit werden. Und „eine bestimmte philosophische
Sprache wird sich erst entwickeln können, wenn diese
logischen Begriffe vollständiger zusammengestellt sind".
Während so die Logik mit dem Idealismus der Sub-
jektivität beginnt, um sich aus ihm herauszuarbeiten, führt
umgekehrt die Metaphysik zu ihm hin. Und dies ist nun der
andere Zug der Kosmologie und weiter dann der be-
herrschende in der Erkenntnistheorie. Er setzt da ein,
wo die erste Tendenz, die Ableitung der Prinzipien der
Naturwissenschaft, zum Ende kommt, bei den „Regeln des
Zusammenhangs der Erscheinungen", Mechanismus und
Teleologie. Es ist der systematische Ort für die Begrün-
dung seines Satzes, den wir schon kennen: Mechanismus
und Organismus sind nicht zwei Reihen von Erschei-
nungen, sondern Auffassungsformen für alles Erschei-
nende, beide notwendig, aber die organische von über-
geordneter Bedeutung. Die Notwendigkeit des Mechanis-
mus folgt aus dem Ergebnis der Ontologie, daß für die
Reflexion die Setzung eines vom Denken Unabhängigen
sich in dessen Abhängigkeit von den Reihen der Gründe auf-
lösen muß. Aber der reine Mechanismus bedeutet Fata-
lismus: „Der absolute Zufall, der nur in sich selbst eine
Konsequenz hat, muß als Moment eingehn in eine andere
Ansicht, die ihm die Notwendigkeit sichert, ihm aber auch
zugleich seine Schranken setzt." Dies leistet der Begriff
des organischen Zusammenhangs. Was Lotze an dem
Vitalismus bekämpft, ist nur die Annahme von Kräften,
die nach nichtmechanischen Gesetzen wirkten: „Das Or-
ganische ist niemals etwas anderes als eine bestimmte
Richtung und Kombination des Mechanischen." Hier wird
ganz deutlich, daß für sein Prinzip des teleologischen
Zusammenhangs der sachliche Ansatz bei dem Problem
^) Vgl. die Unterscheidung der reflexiven und konstitutiven
Kategorien bei Windelband, Vom System der Kategorien, Philos.
Abh. für Sigwart 1900.
XL Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
der konkreten Wirklichkeit liegt, daß es also zunächst
unmetaphysich, methodisch als individuelle Form auftritt.
Die Formen der Zusammenfassung der Massen und Kräfte
zu „Gestalten" des Geschehens, welche „qualitative
Einheiten verbundener mechanischer Prozesse sind", geben
das Problem, das über den Mechanismus hinausführt. Die
empirischen Wissenschaften haben in dem tatsächlichen
Naturgeschehen wenige einfache, überall hindurchklingende
Grundformen nachgewiesen, die aus den mannigfaltigen
denkbaren Konstruktionsmöglichkeiten wie ausgewählt er-
scheinen, und geben damit den Umriß einer „Lehre vom
Leben der Welt". Lotze bildet einen allgemeinen Begriff
»organische Formen des Geschehens*; unter ihn fällt schon
die Regelmäßigkeit und Periodizität der Gestimbahnen,
unter ihn fallen insbesondere die psychischen Verhaltungs-
weisen, Wille, Gefühl usf. : diese sind das in unserm Innen-
leben eigentlich Gegebene und lassen sich nicht in hypo-
thetische Seelenmechanik auflösen, das bleibt gegen Her-
bart als der Kern der Vermögenstheorie bestehen. (S. 260 f.)
Allgemein erklärt er: „Soll eine wahrhafte Welt der Er-
scheinung, ein geordneter Kosmos sein, so müssen sich
die Elemente des Geschehens und ihre Kombinationen
auf ein System innerer Bedeutungen zurückwerfen, durch
welches allein jenen Komplexen das Recht ihres Daseins
gesichert ist."
Aber nun ist sein entscheidender Satz: der Sinn der
Erscheinung ist ihr transzendent. Die organische Gestalt
erscheint dem betrachtenden Verstehen als ein Sinnvolles,
bietet ihm den Schein von etwas Wesenhaftem, wie die Ge-
setze, die in ihr sich durchkreuzen, für die reflektierende
Anschauung den Schein eines dinghaften substanziellen
Seins ergeben. Aber während die Dingheit, diese „Reflektion
in das Innere des Einzelnen", sich auflöste als eine meta-
physische Illusion gleich dem Bild hinterm Spiegel und
ihren Platz abgab an die Gesetzlichkeit, die von der
objektivierenden Wissenschaft aufgebaut wird, führt die
Deutung der organischen Form in eine andere Welt, in
welche nach Lotze die Wissenschaft nicht mehr hineinreicht.
„Alle organischen Tätigkeiten, wie sie auch sich in Gestalt
der Kräfte oder Triebe auf ein Inneres reflektieren, haben
doch als solches Innere nicht Etwas, das selbst innerhalb
der Erscheinung verbliebe, eine Masse oder Materie, die
im Räume oder der Zeit ihre eigentümlichen Bestimmungen
hätte. Vielmehr tritt das Substantielle hier aus dem Be-
Die Transzendenz und die metaphysische Ideenlehre. XTJ
reiche der kosmologischen Erscheinung über in ein ihr
transzendentes Gebiet, und die organischen Funktionen
in ihren mannigfaltigen Verschlingungen inhärieren dem
Sinne der Erscheinung, der als ihr allgemeiner Be-
griff ihnen die Grenzen ihres Tuns und Lassens vorschreibt,
ohne durch mechanische Mittel sie dahin zu treiben."
Hier ist der Punkt, wo die Ideenlehre, der er selbst die
wissenschaftliche Prägnanz durch den Begriff des Geltens
gegeben hatte, nunmehr in ganz anderem Sinne, mit speku-
lativer Wendung eintritt und der logische Idealismus mit
dem ethisch-metaphysischen verschmilzt.
Es ist der letzte kritische Punkt dieses Standpunktes
überhaupt. Die Lehre von den Ideen in Natur und Ge-
schichte war in der Deutschen Bewegung hervorgegangen
aus der Richtung auf Verstehen des Lebendigen seiner Be-
deutung nach, gegenüber der Kausalerklärung. Sie hatte
sich in Lotze's Zeitalter aus der fortschreitenden Wissen-
schaft zurückgezogen, und wo sie, wie in der Geschichts-
philosophie von Humboldt bis Droysen hin erhalten blieb,
hielt sie sich spekulativ an denselben massiven meta-
physisch-religiösen Hintergrund, in welchem der ,speku-
lative Theismus* von Lotze's Lehrern feststand in dem
Glauben an einen unbedingten Zusammenhang aller Dinge
in Gott. Diese Verquickung aufzulösen, für die nach der
Lage des wissenschaftlichen Bewußtseins kein Raum mehr
in der Philosophie ist, ist eine Hauptarbeit der Gegenwart
grade auf dem Gebiete des geistig-geschichtlichen Lebens,
auf dem allein die von dieser Ideenlehre gemeinten Pro-
bleme sinnvoll gestellt werden können. Und auch Lotze
arbeitete im Grunde in dieser Richtung. Aber immer
wieder erscheint die Gefahr, daß die, welche das Be-
stehen idealer Zusammenhänge gegenüber dem Positivis-
mus einsehen, bei spekulativ-metaphysischem Bauen enden.
Lotze hatte, dank seinen logischen Einsichten in der Be-
griffslehre, die Metaphysik der Gattungs-Ideen von vorn-
herein hinter sich gelassen. Aber er ist hier noch nicht
der Lockung widerstanden, die auch manchen Neueren
fortzieht: mittels der aufweisbaren Idealität des Logischen
die ethisch - idealistischen Überzeugungen ins Reine zu
bringen. Und man blickt nun hier bei diesem scharfen
Denker in eine merkwürdige Vermengung, in der die be-
schränkende Macht der zeitgeschichtlichen Lage sichtbar
wird.
Er nennt die innere Bedeutung, die er jedem orga-
XLII Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
nisch gefügten Effekte von Kausalprozessen zuschreibt,
den „Begriff" der Erscheinung. Er meint die ,konkreten Be-
griffe*, die er als teleologische Wesensbegriffe faßt und
als die wahren und konstitutiven Begriffe den „zufäl-
ligen Ansichten" gegenüberstellt, die sich für jeden Gegen-
stand mehrfältig nach den verschiedenen Rücksichten seiner
Stellung im Begründungszusammenhang bilden lassen
(S. 117, 262 ff.). Er kennzeichnet sie als „ideale Einheiten".
Er macht klar, daß in ihnen der Eigenwert der Sachen und
ihre Bedeutung im Zusammenhang des Ganzen erfaßt sein
würde. Aber diese Wesensbegriffe werden ihm nun, mittels
eines äquivoken Gebrauchs des Ausdrucks Bedeutung, selber
zu „idealen Wesen, die eine Apodiktizität ihres Daseins
in der Reihe anderer genießen" um ihrer Bedeutung willen:
als „seinsollende"; ihre Identität wird zu der ,Selbst-
erhaltung*, die Herbart seinen , Realen* zuschreibt, und der
Gegensatz ideal real springt über in den einer „inner-
lichen Seite des Geschehens" und einer „äußerlichen" im
Sinne von sinnlich-geistig und mechanisch. Er hat dabei
das erkenntnistheoretische Verhältnis des Geistigen zu dem,
worin es sich ausdrückt, im Auge, das ihm aber zu einem
realen Verhältnis der Verwirklichung idealer Einheiten wird,
wie er denn an anderer Stelle i) fonnuliert: „Die Äuße-
rung des innerlichen Geistes ist die Bedeutung der Er-
scheinung". So nimmt das Zentralproblem, „wie die be-
herrschenden Ideen in das Getriebe der Erscheinungs-
welt sich ihren Eingang bereiten", nun geradezu die Form
an: das Dasein der erscheinenden Wirklichkeit, die ,,ganze
Pracht des Lebens" und insbesondere die Sinnlichkeit, auf
der alle qualitative Erscheinung basiert ist, zu kon-
struieren als einen notwendigen Erfolg des transzendenten
Bedeutungszusammenhangs idealer Wesen. Er konstruiert
das mit den Mitteln von Herbart; es ist der erste Entwurf
der Spekulation, die in seiner letzten Metaphysik besonnen
eingegrenzt ist; sie unterscheidet sich hier nur in dem
einen wesentlichen Punkte von Herbart, daß dessen Fest-
setzungen über Reale auf werthafte Wesen beschränkt sind.
Die idealen Wesenheiten sind, um zur Verwirklichung
kommen zu können, gebunden an eine mechanische Grund-
lage; „sobald ihre mechanischen, durch organische
Richtungen beherrschten Grundlagen durch den Anstoß
anderer umgewandelt werden, erleidet der transzendente
1) Kl. Schriften II, 200 (Seele und Seelenleben, 1846).
Erkenntnistheorie. XLIII
Sinn, die Bedeutung, der Begriff der Dinge ebenfalls eine
Veränderung", welche die Wesen als eine , Störung* ihrer
idealen Natur setzen und in Gestalt von Sinnesqualitäten
„auf idealem Gebiete von sich abstoßen".
Die Absicht dieser Konstruktion ist: nach der Zen-
trierung der Kosmologie auf die Grundlagen der mathe-
matischen Naturwissenschaft den Weg zurückzufinden zum
Konkreten, das mittels des transzendentalen Schematismus
nicht erreichbar ist, also eine Brücke von Kant zu Schelling
zu bauen. Ihr Sinn ist in dem Satze ausgesprochen:
„Die Natur bringt so als iliren Gipfel notwendig die Emp-
findung hervor," erst in ihr „erhebt sich der tote und
erscheinungslose Zusammenhang des Kosmologischen zu
der wahrhaften Erscheinung. In dem sinnlichen Spiel der
Gestalten, dem farbigen Abglanz der Natur und den
Verknüpfungen ihres Geschehens haben wir die ganze
Erscheinung eines Wesenhaften vor uns".
Damit ist der Übergang zur Erkenntnistheorie ge-
geben. Ihr Hauptbegriff ist die Wirklichkeit der dem Subjekt
erscheinenden Welt. Diese ist als Erscheinung dem Ansich
gegenübergestellt, von dem die Wahrheit des Erkennens
abhängt. Aber sie ist kein bloßes Epiphänomen und des-
halb auch kein bloßes Zeichensystem für das Subjekt,
das an ihr einen zufällig-menschlichen Stützpunkt hätte, um
die Brücke zum transzendenten Gegenstand der Erkennt-
nis zu schlagen. Sondern sie ist selber eine Erfüllung des
Ansich in der Subjektivität und muß in dieser ihrer Be-
deutung als Verwirklichung von Werten, sie selber etwas
Wertvolles und in sich Beschlossenes, wahrhaft Wirkliches
verstanden werden. So hat hier Kant's ,kopernikanische' Um-
kehrung des Gegenstandsproblems den besonderen Sinn be-
kommen, den später von Lotze aus Windelband als die
wahre Meinung Kant's und Fichte's zu erweisen suchte. In
Lotze's erstem Gang von der Ontologie durch die Kos-
mologie hindurch zur Erkenntnistheorie kommt die Rück-
wendung auf das erkennende Subjekt nicht dadurch herein,
daß nach dem objektiven Ansatz bei der Wahrheit nun die
Frage nach dem Erfassen der Wahrheit sich auftäte,
sondern in der Ausbreitung der Subjektivität gipfelt
der ganze teleologische Zusammenhang der Seinsweisen
und Anschauungsprinzipien, und er gipfelt in ihr, weil er,
der das Gelten der Wahrheit nur als ein Moment in sich
enthält, sich vor dem sittlichen BcAvußtsein als ein realer
Erfüllungszusammenhang erweist.
XLIV Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
Dabei trägt jedoch die Voranstellung der Ontologie,
die Wendung zu einer „immanenten Kritik der Kategorien"
noch eine wesentliche Frucht: der Idealismus der Sub-
jektivität sondert sich scharf vom Anthropologismus ab.
Eine fundierende Sinnlichkeit gehört zur Natur der ,,wahren
Erscheinung", nur die Eigentümlichkeit ihrer Qualitäten
ist etwas Anthropologisches. Und von den ,Kategorien*
(er braucht jetzt noch diesen Ausdruck, den er später ab-
lehnte) gilt, daß sie zwar als Bestimmungen der Be-
ziehung nur „für die davon wissende Erkenntnis sind,
die durch ihr Zusammenfassen die Beziehungen setzt",
aber sie „sind nicht ein beschränktes Eigentum unserer
Organisation, sondern der jedes Subjekts". So spottet er
über die „anthropologischen Begründungen", die den „meta-
physischen Neid" auf die Erkenntnis höher organisierter
Subjekte nähren, indem sie „Momente metaphysischer Be-
stimmungen zu Schranken der Erkenntnis verdichten".
In dem eigentlichen Duktus der Erkenntnistheorie aber
tritt nun der ethische Idealismus noch ganz einfach mit
seinen typischen Hauptsätzen heraus. Die Methode ist:
„die Wahrheit des Gedankens in einem teleologischen Zu-
sammenhang zu suchen". Die Voraussetzung der Trans-
zendenz ist die oben entwickelte: „ein unsagbares Für-
einandersein der Wesen, das nur ihren unbekannten
qualitativen Inhalt angeht, durch den sie Bedeutung für
einander hahen". Zu diesen Wesen gehört das erkennende
Subjekt — nicht in seinem erfahrbaren Dasein, sondern
seiner inhaltvollen idealen Natur nach. Die Wesen in
ihrer Bedeutung intellektuell erfassen zu wollen, sie mit
den Kategorien, diesen bloßen Relationsgedanken, prädi-
kativ bestimmen zu wollen, wäre ein Widersinn; nach den
eigenen Aussagen der Kategorien gehört ja der Vorzug
wesenhaften Seins einem über sie hinausliegenden Inhalt
an. So präzisiert sich die Frage nach der Objektivität
der ontologischen Formen: ob die Beziehungen, die mit
ihnen erfaßt werden, den Wesen nur fremdartig oder
aber derartig sind, „daß die unbekannten Qualitäten der
Wesen um ihrer Natur willen es fordern, auf diese und
keine andere Weise in dem Subjekt zusammengesetzt zu
werden". Und die Antwort gibt die moralische Gewiß-
heit von der Würde der Subjektivität: deren Ausbreitung
in der Erscheinung, die selbst zum wahren Geschehen mit-
gehört, muß einen Sinn haben. Das ist „der letzte Punkt,
den eine Verständigung über das Erkennen erlangen kann.
Die Erkenntnistheorie und der ethische Idealismus, XLV
Die Formen desselben werden wahr sein, sobald sie dem
dienen, was sein soll". Dessen Evidenz ist weit größer als
die dessen was ist. „Die immanente Bestimmtheit der
Erkenntnis ist die Folge aus zwei Prämissen: aus der
Natur des Subjekts, welches zur Objektivierung seiner
Störungen nur bestimmte Formen besitzt, und aus der
der Dinge, welche gleichgiltig und zufällig an den Platz
der zweiten Prämisse gekommen, dennoch ihrem Inhalt
nach nur unter eigenen Verhältnissen in jene Formen
eingehen können." Es bleibt noch die Frage nach dem
Recht, einen transzendenten Inhalt der Wesen anzusetzen,
wo doch die ganze Rede von Wesen auf den Kategorien,
selber wurzelt.
Und hier hilft wieder die Wendung gegen den Primat
des Logischen und deckt damit zugleich die abschließende
Lösung auf, indem nun der Zweckgedanke, in den die onto-
logische Theorie auslief, übergeführt wird in die ethische
Realität. Der Gedanke eines transzendenten Bestehens von
Wesen würde nur dann mit in die Relativität des Für-
misseins hineingezogen werden, wenn die Kategorien, deren
notwendiges Ergebnis er ist, „als ein absolutes Prius aus
sich selber da wären". Aber die Bestimmungen der Meta-
physik sind „keine alleinstehende Gruppe fatalistisch vor-
handener Begriffe". Aus sich selbst erzeugt sie nur den
formalen Gegensatz von wesenhaftem Wert und kate-
gorialer Wirklichkeit und braucht sich daher nicht im
Dualismus zu verfangen; denn da die formale Bestimmung
des Ansich als des zugleich Seienden und Seinsollenden
nicht erst aus einer außertheoretischen Quelle in sie
hineinkommt, ist jener Gegensatz „selbst als ein Moment
in dem Wesen zu fassen". „Untersuchungen über die
Verwirklichimg logischer Formen" sind unabweislich ; nur
darf nicht mit einer „Theorie der Erkenntnis physika-
lischer Art" nach dem Mechanismus geforscht werden,
„durch den das Wesen durch seinen Inhalt die Erschei-
nung in logischen Formen vom Bewußtsein erzwingt",
isondem der Sinn dieses Zusammenhangs steht in Frage.
Die Kategorien sind zu begreifen als „das System von
Gründen, welches der seinsollende wahrhafte Inhalt der
Welt seiner inneren Bestimmtheit nach verlangt, um durch
das Zusammenwirken des Seienden nach jenen Gründen
sich selbst zu verwirklichen". Aber auch nur bis zur for-
malen Bestimmung ,Seinsollendes* gelangt die Theorie aus
eigenen Mitteln; ihrem Gedanken einer „leeren prädesti-
XLVI Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
nierenden Position" würde das Eleatische eV oder Spinoza's
Substanz auch genügen. Und hier ist der Punkt, wo die
metaphysische Theorie über sich hinausführt kraft der
ethischen Gewißheit — ganz so wie die Neueren schließ-
lich die Realität des kritisch vorsichtig abgeleiteten
,Normalbewußtsein* durch den religiösen Glauben verbürgt
finden. „Der sittliche Geist weiß, daß dem unergründ-
lichen Ansich solcher Wert nicht zukommt. Die for-
male Bestimmtheit des Inhalts, die rela-
tive Form des Sollens, die er im Vergleich mit
anderen Bestimmungen des Gedankens hat, ist zu-
gleich seine reale Form. Nur in dieser Form
des Unerfüllten, das durch die Erscheinung in die Erfüllung
übergeht, ist die Substanz des Geschehens das, was sie
ist. Die Natur des Seinsollenden ist die Entwicklung." Erst
durch diese ethische Spitze erhält dieser Typus von Meta-
physik überhaupt Einheit in sich selbst. Denn alle ihre Be-
stimmungen sind Formen des Überganges, der Beziehung,
der Entwicklung, so ist ihre Seele „der fortwährende Prozeß
der teleologischen Erfüllung". Aber sie selber kann sich
diesen Abschluß nicht geben, sondern erhält ihn aus der
Einheit des Geistes. „Unabhängig von der Metaphysik und
für immer in diesem JPunkt von ihr unabhängig zu erhalten,
weiß der ganze, nicht bloß der metaphysische, der er-
kennende Geist, daß es einen solchen Inhalt gibt, der
nicht bloß der absolute Zweck des Geschehens ist, son-
dern zugleich zu seiner realen Form dieselbe Form der
Zweckerfüllung hat... Das Gute ist das, was es ist,
dadurch daß es nur in diesem Übergange der Entwick-
lung durch die Tat sein kann . . . Die Wahrheit hängt
daran, daß das Reich des Guten sie hervorbringt . . . Das
wertvolle und allein substantielle Wesen des Seinsollenden
geht im Bewußtsein auf. Der Wert der Subjektivität besteht
darin, die Verwirklichung jenes Ansich zu erschaffen. So
sind die Kategorien von der höchsten Wahrheit, weil
sie subjektiv sin d."
Lotze endet bei der typischen Problematik von Trans-
zendenz oder Immanenz, die zugleich zwischen ontolo-
gischer und erkenntnistheoretischer Fassung schwankt. Den
„imaginären Gedanken" vom notwendigen Dasein eines
Transzendenten fortzuwerfen, ist ihm wie den Theisten
der Radikalfehler Hegels; „wir bedürfen den Anfang der
Bewegung und die Ursachen, die sie fortführen" — im
Mikrokosmos schränkt er das dahin ein, daß in dem ein-
Der ethische Idealismus in der Logik. XLVII
mal vorhandenen Zusammenhang der Welt die organische
Bildung sich durch mechanische Tradition forterhält, aber
die erste Stiftung der Keime nicht ohne die Voraus-
setzung eines ordnenden Bewußtseins begreifbar ist. i) Aber
da er die Metaphysik nicht mehr in die Religion auf-
lösen will, behält er nur die Voraussetzung eines „unbe-
kannten, nach dem Gebote der vorbestimmten Wirklich-
keit angeordneten Zusammenhangs der Positionen" zurück,
als Grundlage der Objektivität der Erkenntnis. Zugleich gibt
er dem modernen Fichteschen P r o z e ß gedanken Recht;
er drückt ihn mit den von Schelling aufgelösten aristo-
tehschen Begriffen dvvajuig und ivegyeia so aus: „Das
Wesen ist nur, was es als- Schein sein wird".
Schließlich holt die Logik aus dem Idealismus der
Subjektivität noch ein letztes fruchtbares Motiv heraus.
Es handelt sich um das wesentliche philosophische Pro-
blem, für dessen Lösung jüngst durch Husserl in der
, Phänomenologie' ein Weg neu ausgebaut worden ist: die
objektive Geltung der logischen Formen durch Rückgang
auf ihren ,Ursprung' zum Verständnis zu bringen. Lotze
erkennt die Bedeutung dieser Problemstellung, die er be-
reits genetisch-psychologisch umgebogen vorfand, um den
Formalismus zu überwinden. Die traditionelle Logik kenn-
zeichnet er, im Zuge von Schelling,^) als eine „begriff-
lose Empirie". Aber nicht auf der formalen Natur ihres
Gegenstandes beruht das philosophisch Ungenügende an
ihr, sondern auf dem Mangel einer wissenschaftlichen
Behandlung desselben: daß sie sich mit der Evidenz ihrer
Sätze begnügt, sie hinnimmt als auf sich allein beruhende
Notwendigkeiten und sich dadurch den Weg abschneidet,
ihren normativen Charakter auch zu begründen. Das
ist es eigentlich, was ihm ein Stehenbleiben bei Herbart's
rein logischer Verhältnislehre unmöglich macht. Aber diesen
Blick gibt ihm nun wieder nicht ein rein theoretisches Be-
dürfnis nach Verstehen des Logischen, sondern der speku-
lative Zug, den der ethische Idealismus vorwärtstreibt. „Der
moralische Idealismus stößt ein solches Gängeln des Geistes
an dem Leitfaden eines für ihn völlig zufälligen Kom-
plexes absolut notwendiger Formen mit entschiedener Evi-
1) Mit Metaph. S. 328 vgl. Mikrok. II ß S. 24.
2) Schelling, Vorl. ü. d. Methode des akad. Studiums 1803 (Werke I, 5
S. 269): „Ganz zu den empirischen Versuchen in der Philosophie gehört
auch, was man insgemein Logik nennt."
XLVm Einleitung. II. Der erste Entwurf des Systems.
denz zurück.** Und dem entspricht die Aufgabe, die er der
„philosophischen Logik** stellt: eine teleologische Durch-
forschung des Systems der geistigen Tätigkeiten, die zu
zeigen hätte, „daß die logischen Formen allerdings aus dem
Wesen des subjektiven Geistes hervorgehen, aber nicht als
ein Ergebnis schlechthin vorhandener Seelenkräfte, sondern
als ein Erzeugnis, eine Tat, deren Notwendigkeit darin liegt,
daß nur durch sie der Geist seine ethische Natur verwirk-
licht**. Seine Logik folgt dieser Intention nur sporadisch,
bei der Deutung des Satzes der Identität. Dieser ist das
höchste Denkgesetz „nur deswegen, weil er zugleich die
tiefste Natur des Geistes ausdrückt nach der Seite hin, wo
er nicht als bloße Intelligenz, sondern als sittlicher Geist er-
scheint" — das denkende Ich soll das in sich Treue und
Unwandelbare sein und kann deshalb das Objekt nur
unter der nämlichen Form der Sichselbstgleichheit auf-
fassen. Aber die Intention selber greift durch die Logik
hindurch und in die Metaphysik hinüber: in dem ganzen
Bestand des Apriorischen sind schließlich „nur Nachbil-
dungen des innerlichsten Wesens des Geistes** zu sehen,
der z. B. die Kategorie der Kausalität „nur hat und an-
wendet, weil er von Haus aus ein handelnder ist**.
Dies ist seine ursprüngliche Stellung, die er in der
Formel ausgeprägt hat: „So wie der Anfang der Meta-
physik, so liegt auch der der Logik in der Ethik und zwar
durch das Mittelglied der Metaphysik selbst.**
III. Der Fortgang in der Psychologie, Geistes-
philosophie und Wertlehre.
Dies waren die Grundlagen, mit denen er als Philo-
soph anfing, nicht seine Lebensarbeit festlegte. Auf ihnen
baute nun der positive Forscher. Er hatte nicht wie die
nächste Generation sich überhaupt erst einen Weg zur Philo-
sophie von der Empirie her zu bahnen brauchen; vielmehr
hatte er Ordnung zu schaffen in der Fülle von gedanklichen
Motiven, die in jener Auflösungszeit frei geworden waren.
„Nach einer so langen Entwicklungsgeschichte der Philo-
sophie, die alle möglichen Standpunkte mehr als einmal
entdeckt und wieder verlassen hat, gibt es kein Verdienst
der Originalität mehr, sondern nur das der Genauigkeit." i)
Aber dieser feste Begriffszusammenhang diente ihm nun
als Werkzeug, seine positiv wissenschaftliche Arbeit zu
gliedern. Das erscheint fast schematisch durchgeführt:
überall wo er ansetzt, von der Psychologie bis zur
Ästhetik hin, legt er den dreigliedrigen Nexus der Ontologie
— Wirklichkeit, Grund und Zweck — zugrunde und teilt
damit die Geschäfte der Philosophie und Einzelwissenschaft
ab. Auf jedem Forschungsgebiet, auch in der Biologie,
kennt er neben und über der wissenschaftlichen Bear-
beitung noch eine philosophische, d. h. spekulative „Unter-
suchungsweise", die auf Sinn und Bedeutung der kausal
erklärten Erscheinungen geht. Und dem wissenschaftlichen
Teil selber geht Philosophie logisch voran, nach dem
Schema: die Einzelwissenschaft darf positivistisch sein,
sie bedarf nur Begriffe und Grundsätze, die fiir die Er-
klärimg der Tatsachen brauchbar sind; aber mit ihrer
Brauchbarkeit sind die Begriffe wie Materie, Kraft oder
Seele noch nicht gerechtfertigt, sie dürfen vielmehr nur
als handliche Abbreviaturen der eigentlichen Zusammen-
hänge gelten, und diesen Nachweis zu geben, ist Aufgabe
der Philosophie.
1) Streitschriften 1857 S. 5.
Lotze, Logik. IV
L Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
Wie viel hat ihn trotz dieser Trennung die Berührung
mit dem Stoff auch philosophisch weitergebracht? was
doch der Natur der Sache nach kommen muß. An zwei
Stellen berührt der Idealismus der Subjektivität das Grenz-
gebiet positiver Forschung: bei der Einheit des Seelen-
und Geisteslebens, die die entscheidende wissenschaftliche
Instanz dieses Standpunktes ist, und bei der Lehre von
den Werten, deren empirische Basierung nun Lotze's
Leistung wurde.
Psychologie.
Eine „Phänomenologie des Selbstbewußtseins" sollte
den Grundgedanken der Erkenntnistheorie zur Klarheit
führen. 1) Lotze hat sich bereits in der Abhandlung , Seele
und Seelenleben* an ihr versucht, und die , Medizi-
nische Psychologie* geht nun in ihrem philosophi-
schen Teil, diesen Versuch fortsetzend, darauf aus, den
•wahren Zusammenhang zu bestimmen, dessen Ab-
breviatur der Begriff Seele ist. Sie tut das in dem für
Lotze charakteristischen suchenden Gang der Unter-
suchung. 2) Als den Tatbestand, der ein selbständiges,
mit Seele bezeichnetes Prinzip fordert, erkennt er mit den
Klassikern der rationalen Psychologie die Einheit des Selbst-
bewußtseins, „welches das Mannigfaltige zusammenfaßt".
Aber auch nur sie allein. Das Erlebnis der Freiheit des
Willens ist zu problematisch, um als wissenschaftliche
Grundlage zu dienen. Erst die Tatsache, daß es ein „be-
ziehendes Wissen" gibt, entscheidet gegen den Empiris-
mus; denn „dem Wechsel der Eindrücke würde nur ein
Wechsel des Wissens, nicht aber ein Wissen von diesem
Wechsel nachfolgen können". Soweit steht er zu Kant,
in der Widerlegung des Empirismus einstimmig mit den
Späteren, die, wie Sigwart oder die ersten Führer der Kant-
bewegung selber, Psychologie und aprioristische Erkennt-
nistheorie in Verhältnis zu setzen suchten. Lotze nimmt
zwar für die seelische Einheit wieder den Begriff im-
materielle Substanz auf, aber — entsprechend der Auf-
lösung des Substanzbegriffs in der vorangegangenen On-
1) Vgl. Metaphysik (1841) Schluß mit der Abh. Seele und Seelen-
leben (1846 HWB. der Physiologie Bd. III) ia Kleine Schriften II
S. 134.
*) Nnr aus der Verkennung dieses Ganges erklärt sich das Miß-
verständnis von Külpe, Paulsen u. a., Lotze sei zunächst von einer
substantialen , nicht aktualen Seelenauffassung ausgegangen; das wird
schon durch seine Ontologie widerlegt.
Phänomenologie des Selbstbewußtseins. LI
tologie — nur ökonomisch, als „sekundäres Prinzip", um
der empirischen Psychologie, die nicht weiter zurück
zu fragen braucht, die Selbständigkeit gegenüber materiali-
stischer und panpsychistischer Metaphysik zu sichern.^)
Und auch nur, nachdem er klar gemacht hat, daß es sich
um keine Hypostasierung handelt, sondern: „der Name
Seele ist ein phänomenologischer Ausdruck, der
gleich den chemischen Begriffen der Säure oder des Alkali
eine Reaktionsform bezeichnet, die einer Reihe ihrer
übrigen Natur nach unbestimmt gelassener Elemente ge-
meinsam zukommt". „Seele ist oder heißt Etwas, so-
fern dies übrigens unbestimmt gelassene Etwas die Tätig-
keitsformen des Vorstellens, Fühlens, Strebens in sich
zu erzeugen vermag." Nur schärfer ist, nichts Neues
bringt die Formel der späteren Metaphysik: „die Tat-
sache der Einheit des Bewußtseins ist es, die eo ipso
zugleich die Tatsache des Daseins einer Substanz ist.
Jede Substanz ist das als was sie sich gibt, in bestimmten
Vorstellungen, Gefühlen und Strebungen lebende Einheit".
So steht er von Anfang an auf dem Boden der von
Wundt sog. Aktualitätstheorie.
Aber dieser Seelenbegriff, der für die empirische, d. h.
naturwissenschaftliche Psychologie den Ansatz gibt, um an
die Erforschung des psychophysischen Mechanismus 2) zu
gehen, ist nun für die philosophische ein Problem:
^) Lotze gibt die Bestimmung des Gegenstandes : „Die psychischen
Erscheinungen*' und sagt von ihr (wie Brentano 1874 angesichts der
, Psychologie ohne Seele*): sie würde „den tai sächlich vorhandenen
Gegenstand vorurteilslos bezeichnen'*. Aber die Rede von der Seele
ist als vorwissenschaftliche Vorstellung da unJ darf nicht uniufgeklärt
im Rücken bleiben ; sie erweist sich dann als z^ eckmäßig, um den
Ansatz für de Fragestellung der ph siologischen Psychologie freizu-
legen: mit der Einheit des Bewußtseins ist die Rede von der Seele
gegenüber der Mal erialit - 1 gerechtfertigt und nun kann gefragt werden,
unter welchen Bedingungen die psych. Phänomen in ihr auftreten.
2) Loize's methodische Faltung ist hier: die Theorie des Paral-
lelismus arbeitet mit unberechtigten Analogien, ist im Grunde
dualistisch, strandet an der Einheit des Selbstbewußtseins, ist unver-
träglich mit dem BegrifP einer kausal zusammenhängenden Wirklichkeit
(vgl. s. Kiitik Fechneis in Kl. Schriften III 470, 1879). Die Theorie
der Wechselwirkung ist der gegebene Ausgangspunkt für die
Forschung. Sie wird durcii die Ungleichartigkeit des Physischen u.
Psychischen nicht unm" glich gemacht, da der innere Nexus der Kausalität
überhaupt der Wissenschaft undurchdringlich ist. Die Ungleichartigkeit
schließt nur die Möglichkeit einer Konstruktion des Psychischen aus
IV*
1^ Einleitung, III. Der Fortgang in der Psychologie.
welche Art von Sein kommt der mit Seele bezeichneten
Einheit zu? Und hier, bei dem positiven Problem, hellt
sich nun die Rede der Erkenntnistheorie von Wesen, Ideen
und der Beziehung der Subjektivität auf sie auf. Wir
entwickeln diese Darlegung in ihrem eigenen Zusammen-
hang 1).
Lotze unterscheidet drei Bedeutungen des Ausdrucks
Ich: „gefühltes Selbst", Selbstbewußtsein und Seele. Sie
ordnen sich in einen Stufengang zu dem Inhalt hin, der
„den Begriff des Ich erfüllt". Das „Gefühl der Ichheit" oder
„Selbstheit" ist das elementare Phänomen; es reicht ins
animalische Leben hinab und ist charakterisiert durch die
innige „Energie der Zweckbeziehung" gewisser erlebter
Inhalte auf uns selbst; der Unterschied von Ich und Nicht-
Ich kann primär nur im Gefühl gegeben sein, kein rein
vorstellendes, bloß objektivierendes Wesen könnte ihn ge-
winnen; er ist undeutlich, aber „im Gefühl evident" 2).
„Hierzu reichen einfache sinnliche Gefühle ebenso aus wie
jene feiner gegliederten intellektuellen, durch welche ent-
den Ursachen aus, die Seele muß als eine Unbekannte miteingestellt
werden, aber strenger Kausalzusammenhang bleibt denkbar: ,,jede
Empfindung als ein umgeformtes Äquivalent der Wirkungsgröße zu
betrachten, die vorher in Gestalt einer Bewegung vorhanden war, jede
Kontraktion eines Muskels als ein Äquivalent der Erregung, die in
der Form eines psych. Strebungsprozesses voranging." Nur als vor-
sichtige Beschränkung auf das derzeit Beantwortbare legt er die
positivistische Fragestellung (nach den gesetzlichen Abhängigkeitver-
hältnissen) zugrunde, die er als „occasionalisiische Theorie des physisch-
psych. Mechanismus bezeichnet. (Medizin Ps. S. 15).
1) Mediz. Psych. S. 494—504. 4ff., 57 ff., 160 f., 136—164, 535 f.
Vgl Abh. Seele usf. Kl. Schriften n 123—135. Mikr. 1 278f., II 146f. u. a.
^) Vorangegangen waren Lotze hierin die Analysen des Glaubens
an die Außen-Realität bei den französ. Ideologen Destutt de Tracy
und Maine de Biran. Vgl. dann Dilthey, Vom Ursprung unseres
Glaubens an die Realität usf. Sitzgeber. Berl. Akad. 1890.
Lotze lehnt dem entsprechend die „veraltete Annahme" einer
Projektion der Empfindimgen ab, die dann wieder nach 20 Jahren
in den Anfängen der Kantbewegimg von Helmholtz und Schopenhauer
her bis zu Liebmann hin eine Hauptrolle spielte, um Kants Be-
gründung der Wirklichkeit auf das Kausalgesetz zu erreichen. —
„Ursprünglich sind sie alle, Empfindungen sowohl wie Gefühle, nur
mit ihrem qualitativen Inhalt im Bewußtsein und geben sich weder
subjektiv noch objektiv, d. h. sie werden immittelbar weder auf
äußere Objekte bezogen noch auch im Gegensatz zu dieser Beziehung
als Bestimmungen des subjektiven Daseins wahrgenommen." Med.
Psych. S. 282 u. 418 vgl. KL Sehr. II S. 129.
Phänomenologie des Selbstbewußtseins. LHOL
wickelte Geister zugleich den Wert und das eigentümliche
Verdienst ihrer Persönlichkeit sich zur Anschauung bringen.
Der geringste Wurm, wenn er getreten sich krümmt, unter-
scheidet im Schmerze sein eigenes Leben von dem Dasein,
der übrigen Welt in ebenso kraftvoller Weise als der ge-
bildete Geist." Von dieser atomistischen Vergeistigung
physiologischer Prozesse geht es über die musikalische
Form des Selbstgefühls, mit der eine Pflanzenseele der
Melodie ihres Daseins lauschen würde, und über das
Sichfühlen in Instinkten, im Banne unüberwindlicher
Traumideen, zu dem reflektierten Selbstbewußtsein, der
Ich-Vorstellung. Das Selbstbewußtsein „ist nur eine
theoretische Ausdeutung des Selbstgefühls". Lotze hebt
heraus, daß dieser Fortgang erst durch die Einheit des Be-
wußtseins ermöglicht wird. Aber der Aufbau von den
emotionalen Erlebnissen aus trägt nun die Frucht, daß
diese ,Bedingung der Möglichkeit* vor der Intellektuali-
sierung zu einer reinen Form bewahrt wird — „das Selbst-
bewußtsein ist keine Tatsache des bloßen Erkenntnislebens"
— und vielmehr als seelischer Zusammenhang sich dar-
stellt, der die erlebten Inhalte in ihrer Bedeutsamkeit ge-
nießen läßt. Die „Begründung und Festhaltung des Selbst-
bewußtseins" ist bedingt durch den „ununterbrochenen
gleichmäßigen Strom der Teilnahme an uns selbst, in
welchen uns die stets mit Empfindungen und Vorstel-
lungen sich verknüpfenden leisesten Regungen des Ge-
fühls hineinziehen". Die theoretische Ausdeutung, die dieser
seelische Zusammenhang in der Ichvorstellung erfährt, ist
selber wiederum nur ein Phänomen im Subjekt, ein Bild,
das die Seele von sich faßt, also nicht die Seele selber,
diese ist vielmehr das mit der Ichvorstellung Gemeinte.
Es fragt sich, ob das Bild auch wirklich das darstellt, was
wir mit dem Namen Ich zu bezeichnen meinen: das
Wesen der Seele.
Dies zu beantworten, dient die Methode einer be-
grifflichen Aufklärung der Vorstellungen, wie in der On-
tologie für das mit Sein Gemeinte. Und diese dialektische
Methode wird wieder .ergänzt durch den Blick auf die tat-
sächlich vorhandenen, in Leben und Wissenschaft ausge-
bildeten Ichvorstellungen. Sie ordnen sich nach dem Grade
der Verinnerlichung. Lotze geht hier analog vor wie die
Neueren, die durch schrittweise Abstraktion von allem, was
als Objekt vorgestellt werden kann, den Grenzbegriff des
erkenntnistheoretischen Subjekts gewinnen — nur daß er
jLIV Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
eben dieses reine Ich nicht als den wahren Schlußpunkt der
Aufklärung gelten läßt. Als Ichvorstellung dienen stufen-
weis und dann sich gabelnd: das Bild des umgrenzenden
Leibes, der Leib mit einer Seele als ein dunkler Mittel-
punkt der Erlebnisse, die psychologisch-historische Indi-
vidualität mit der Einreihung der Ereignisse in die Lebens-
geschichte; dann der Allgemeinbegriff der denkenden Sub-
stanz und diesem theoretischen wie jenem empirischen
Inhalt gegenüber der nur im Gefühl erfaßbare des
„ästhetischen Charakters" (Temperament, Phantasieform
usf.). Und das Suchen nach dem wahren Selbst ruht
nicht, bis alles was „zwar etwas im Ich, aber nicht das
Ich selbst ist", abgetan ist. „So entsteht die abenteuer-
liche Sucht, das Ich als vollkommen bestimmun gs los von
Natur, als bestimmt nur durch seine eigene freie Tat zu
denken." Hier greift die Aufklärung ein. Die verschiedenen
Motive, die sich bei dieser inhaltlichen Variation des
Selbstbewußtseins durchkreuzen, müssen festgehalten
werden, die Frage nach der spezifischen Natur der In-
dividualität darf nicht der Frage nach der allgemeinen
Natur der Seele geopfert werden. Lotze steht hier wieder
auf dem Boden der Deutschen Bewegung, von Goethe
her, wie er denn auch in dem ersten Programm seiner
Psychologie unter ihre Aufgaben aufnahm : „Eine Psycho-
logie der Individualitäten, die bisher den Werken der
Dichter überlassen blieb". ^)
Die Individualität kann als Moment in den Begriff
der Seele aufgenommen werden, weil dieser, sofern er ein
Allgemeines bezeichnet, nur ein ,phänomenologischer* Aus-
druck ist: er hält sich an das Vorhandensein eines
Wesens, ohne es zu bestimmen, er faßt nur dessen stabile
Leistungen an Inhalten (die sog. Seelenvermögen) und
die von ihm bestimmten „allgemeinen Formen der Schick-
sale" von Inhalten (z. B. die konkreten Gesetze des Ge-
dächtnisses) in einer Nominaldefinition zusammen. So
dient dieser erste Seelenbegriff nur als Ausgangspunkt,
um ;z;u einem inhaltvollen, konkreten Begriff, der das Wesen
faßt, vorzudringen. Und hier benutzt nun Lotze die damals
geläufige Unterscheidung von Seele und Geist: d. h.
„die 3eele abgesehen von dem Inhalt ihrer Erfahrung
und dieselbe Seele, wie sie durch das Leben zu einem
ihrer Bestimmung entsprechenden Inhalt des Wissens, Füh-
1) Kleine Schriften II 204 (1846).
Phänomenologie des Selbstbewußtseins. LV
lens, Wollens gelangt ist". Gegen die Ansicht von den
Seelen als „ii^haltloser Befestigungspunkte, an die die
öden und allgemeinen Fähigkeiten einer richtungs-
losen Intelligenz und eines gegenstandslosen Wol-
lens angehängt sind", kehrt sich die Einsicht, daß „alle
Verbindung und Umgestaltung der Eindrücke wesentlich
unter der Herrschaft von inhaltvollen Gedankenkreisen, Ver-
stellungsmassen und Maximen geschieht, in denen eine
mannigfaltige Anwendung jener allgemeinen und abstrakten
Fähigkeiten auf bestimmten und konkreten Inhalt bereits
enthalten ist". Diese Erkenntnis wurde entscheidend für
seine Begründung der Wertlehre. Es ist dieselbe Einsicht,
die alsbald von den Begründern der Zeitschrift für Völker-
psychologie entwickelt wurde, die Vertiefung von Her-
bart's Apperzeptionslehre durch die historische Fülle des
Geistigen, die von der Deutschen Bewegung bis zu Hum-
boldt hin gesehen worden war. Die Zustände, die inner-
halb des seelischen Zusammenhangs auftreten, können nicht
analytisch aus deti Vorzuständen abgeleitet werden, son-
dern stets muß von neuem das ganze Wesen der Seele in
Rechnung gezogen werden. Ihre Inhaltlichkeit wächst ihr
nicht rein aus den Empfindungen zu, sondern ist mitbe-
dingt durch die „unmittelbare Tiefe unserer geistigen Natur",
auf der die logischen und metaphysischen Grundsätze, die
ästhetischen Gefühle und das Bewußtsein ethischer Ver-
pflichtungen beruhen. Und zu dieser inhaltvollen Natur
gehört die Individualität als ein „spezifischer Koeffizient";
sie geht nicht in der physiologisch bedingten individuellen
Verbindungs- und Sukzessionsform von Reizen auf.
Damit ist der Punkt erreicht, wo die Fragen der
Erkenntnistheorie beginnen. Der individuelle Geist ist ein
Wesen von „idealem Gehalt", aber hat Realität. „Die
Seele ist ideal in Bezug auf die Natur ihres Gehalts,
und im Gegensatz zum Materialen, nicht in Bezug auf die
Form ihres Daseins." So unterscheidet er sie von den
Ideen, die auch ihrem Dasein nach ideal sind, also ideal
grade im Gegensatz zur Realität, „auf die sie deshalb
unmittelbar kein bewegendes Moment ausüben". Die realen
geistigen Einheiten dagegen sind Mittelpunkte von Wir-
kungen; sie werden erfaßt unter der logischen Form der
Idee oder des , Gedankens*, unter dieser bestimmten Form
von Wesensbegriffen,!) die das Bildungsgesetz veränder-
1) Vgl. diese Logik § 129 u. a.
LVI Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
lieber Gestaltungen, „den beständigen Sinn eines Ge-
scbebens" ausdrücken, aber sie sind nicht selber Gedanken,
sondern „das was dieser Gedanke meint". 2j
Und hier greift nun die Unterscheidung des unmittel-
baren Wissens vom Wesen und der Erkenntnis durch Re-
lationen, der cognitio rei und circa rem ein. In Lotze's
psychologischen Arbeiten steht neben den verschiedenen
Ansätzen — dem Verhältnis der Psychologie zur Natur-
wissenschaft, der Abwehr des Materialismus — an erster
Stelle regelmäßig das Verhältnis der wissenschaftlichen
Psychologie zu der im Leben, in Dichtung usf. vor-
handenen Seelenkenntnis. Durch diese ist ein „Verstehen"
verbürgt, das cogitio rei gibt. Der Unterschied ist durch
die verschiedene Stellung des Objekts zu uns bedingt.
Auf die Relations-Erkenntnis, wie sie in der Natur-
wissenschaft ausgebildet ist, sind wir beschränkt, „wo
unserer Wahrnehmung ein Objekt bloß in seinem äußer-
lichen Verhalten gegenübersteht"; sie ermöglicht zwar, den
Sinn, in welchem der Gegenstand als seiend gesetzt werden
muß, genau zu bestimmen, durch Einordnung in ein helles
Netz von Relationen nach Gesetzen, die eine Voraussage
ermöglichen, aber sie gibt auch nur formale Beziehungen,
„was wir nicht richtig das Wesen der Sache nennen" —
das Materielle ist für uns stets eine fremdartige Larve.
„Von einer cognitio rei kann nur die Rede sein, wo ein
Objekt uns in so unmittelbarer Anschauung gegeben ist,
daß wir den Mittelpunkt seiner eigentümlichen Natur in
unser Gefühl gleich sehr wie in unsere Vorstellungen
aufnehmen können, daß wir uns in sie hineinzuversetzen
und nachzuempfinden wissen, wie einem solchen Dasein
vermöge seines innerlichsten spezifischen Wesens zumute
sein muß. Eine positive und unmittelbare Anschauung
haben wir nur von dem Lebendigen und Tätigen, dies
allein verstehen wir." Was vom geistigen Leben so er-
faßt wird, ist „der eigentliche Sinn und Wert" desselben,
sein idealer Gehalt, die Idee oder „der Gedanke". Das
Organ dieses Verstehens ist die Phantasie. Sie „ist die
bewegliche Urteilskraft des Gefühls, die nicht wie das
gleichgiltige Erkennen nur die Tatbestände von Eigen-
schaften, Verhältnissen und Beziehungen auffaßt, sondern
in jedem dieser Gegenstände ihres Schauens zugleich seinen
Wert mitempfindet, in jeder Form überhaupt das Glück und
1) Vgl. Mikr. II S. 166 ff.
Cognitio rei und circa rem. LVII
Leid der Regsamkeit, welcher sie natürlich ist, unmittelbar
gegenwärtig fühlt", i) Und Lotze bereits macht an den
idealistischen Systemen klar, daß dieser „vollkommen
schneidende Unterschied zwischen einer idealen Ausdeutung
des Wertes der Wirklichkeit und einer kausalen Unter-
suchung ihrer Bedingungen" zu lange namentlich in
Deutschland übersehen wurde.
Aber nun kommt seine eigentümliche Wendung, mit
der er dem Wissenschaftsbegrifi" der Naturerkenntnis und
damit zugleich der spekulativen Geistesverfassung Tribut
zahlt — was beides auch heute dort zusammengeht, wo
die Psychologie ganz dem naturwissenscha'ftlichen Be-
triebe überantwortet und in der Philosophie Raum ge-
wonnen wird für das Bauen. Lotze's klarer Gang bis
zum Begriff des Verstehens läuft nach diesen zwei Rich-
tungen hin aus : zur physiologischen Psychologie und
zu spiritualistischer Metaphysik. Er folgert: weil uns von
dem idealen Gehalt des seelischen Lebens nichts entgeht
als durchaus unfaßbar, sei unglaublich, „daß jemals eine
Psychologie uns in dieser Beziehung einen Zuwachs der
Erkenntnis verschaffen könnte". Jene ,Urteilskraft' der
Phantasie behält auch bei ihm nur ästhetische Bedeutung,
sie ist nicht für die Wissenschaft zu disziplinieren, sondern
um zu einer wissenschaftlichen Psychologie zu kommen,
muß gerade die cognitio circa rem auch für das Seelen-
leben möglich gemacht werden. So sieht er hier nur das
methodologische Problem 2): die geistige Realität, deren
Wesenhaftigkeit im Verstehen aufgeht, nun ihrem Dasein
nach auch formal zu bestimmen, also einen brauchbaren
Begriff von der Seele nach der Art des naturwissenschaft-
lichen Seinsbegriffs festzustellen und damit die Beziehungs-
punkte zu gewinnen für die Erforschung des „Mechanismus
ihres Verkehrs mit allen übrigen Bestandteilen der Welt".
Nur eine solche kausal erklärende Theorie ist Wissenschaft.;
sie allein ist gemeint, wenn Pädagogik oder Psychiatrie
nach psychologischen Grundlagen verlangen.
Und die Kehrseite? Die logische Struktur des Ver-
stehens von Geistigem tritt zwar heraus, aber wird sofort als
metaphysischer Weltzusammenhang gefaßt. Die realen Ein-
heiten geistigen Gehalts, Gehalt und Formen des seelischen
Lebens sind nicht in ihrer Eigenbedeutung in sich selbst
1) Kl. Sehr. III S. 305 (in e. Rezension).
2) Mediz. Psych. S. 60, 67, 169.
LVIII Einleitung III. Der Fortgang in der Psychologie.
zu erforschen — das hieße, sie als primitive Sachlichkeit
hinnehmen — , sondern müssen von einem absolut wert-
vollen Inhalt aus verstanden werden, der sich notwendig
in psychischen Formen verwirklicht, aber selber jenseits
der geistigen Realität liegt als „eine noch weit innerlichere
Wahrheit, die der Geist an der Umgebung des irdischen
Lebens zu bewähren strebt". So nimmt der Sachverhalt,
daß alles Geistige aus einem Ganzen übergreifender Zu-
sammenhänge zu verstehen ist — oder, anders gewandt : daß
das Individuum erst durch seine objektive Bedeutsamkeit
innerhalb des Ganzen, in das seine Lebensäußerungen ver-
flochten sind, dauernde Gestalt als individueller Geist hat
— dieser Sachverhalt nimmt die spekulative Form an: die
Seelen sind nur relativ reale Gestalten der absoluten ewigen
Idee, die den Sinn des Weltzusammenhangs bestimmt, und
ihre Realität ist verschieden intensiv nach dem Grade dor
Bedeutung, die sie als wesentliche Glieder der Entwicklung
der Idee gewonnen haben. Das teleologisrhp Verhältnis
des Idealen zum Realen kann er nun auch direkt theologisch
ausdrücken mit der Rede von der Gnade der höchsten Idee,
deren Auftrag die Seelen zu erfüllen haben. Es ist hierin
Konsequenz. Den idealen Gehalt der geistigen Wirk-
lichkeit samt den Genuß dieses Gehalts erkennt er als etwas
wahrhaft Wertvolles an; die Realität des Geistigen aber
ist nun in die Relativität hinabgezogen: so muß er für den
geistigen Gehalt als solchen eine Existenzform finden, und
da doch Gedankliches nur als Gedachtes existieren kann,
endet er bei dem schaffenden Weltgeist und den „Gedanken,
die er hegte". Also einfach bei neuplatonisch-christlicher
Metaphysik. Doch behält er auch inmitten der Spekulation
seinen Blick und sagt mit Goethe: „Die Seele ist ein
Moment der Idee, dessen Inhalt nicht in der Form einer
Jiomogenen Qualität, sondern in der eines Gedankens ge-
faßt werden muß, der gleich dem Geiste der Melodie eine
Einheit bildet, obgleich er vielleicht für kein Erkennen
anders als durch eine Mannigfaltigkeit verbundener Be-
stimmungen erschöpfbar ist".
Wo der Wissenschaft der Beruf abgesprochen wird, in
die geistige Wirklichkeit einzudringen, wird immer, sofern
nicht der Positivismus allmächtig ist, aber auch bei dem
besten Vertreter des Positivismus, bei Comte selber, an die
Kunst appelliert, damit sie den Mangel decke. So geht I/otze*s
vorhin angeführter Satz über die werterfassende Phantasie
weiter fort : „In dieser Phantasie werden die \\ erke der
. Die Geschichtsphilosophie des Mikrokosmos. LIX
Kunst geboren, welche die Welt der Werte in die
Welt der Formen einführen, und sie ist ebenso das
Organ des Verständnisses, durch das wir allein die äußer-
lichen Formen, mit denen alle Kunst spielt, auf jenes in-
tensive Reich zurückzuführen vermögen, in welchem unser
eigenes Wesen seine wahre Heimat hat."
Oeschichtsphilosophie.
Ganz analog läuft nun auch die Philosophie der
Geschichte aus, mit der der ,Mikrokosmos' den Gang
von der Biologie zur Psychologie vollendete. Die Geschichte
brachte damals, wo in Deutschland die anthropologische
Einstellung über Hegel's Objektivismus siegte und von Frank-
reich und England die Versuche ausgingen, das geistige
Leben mit der positivistischen Theorie zu bewältigen, allent-
halben den Bemühungen um eine wissenschaftliche Psycho-
logie neue Nahrung mit ihrem reichen Stoff. Lotze konnte
seiner ganzen wissenschaftlichen Verfassung nach gerade
auch die naturalistisch-psychologische Behandlung der Ge-
schichte schätzen, er nimmt die Tendenz zu einer Mechanik
der Gesellschaft von Herbart her auf, aber zugleich stellt
er sich ihr prinzipiell entgegen, in den Spuren von Herder,
mit seinem Begriff von Sinn und Wert. So kehrt denn,
das Heterogene zu verbinden, sein Grundgedanke über das
Verhältnis von Mechanismus und Teleologie hier wieder
oder findet sich vielmehr hier nun auf seinem eigent-
lichsten Feld. Denn der ideale Gehalt des Lebens, den die
Metaphysik mit ihrem Begriff der Wertverwirklichung for-
derte und dessen Realität die Psychologie nachwies, wird
seiner Inhaltlichkeit nach erst in der Geschichte sichtbar.
Geschichte aber könnte nicht wirklich sein ohne die psycho-
physischen Bedingungen (denn Geschichte ist nicht im-
manente Selbstentwicklung des Geistes); sie spielen die
Rolle, die nach der Ontologie dem Kausalzusammenhang
-der Natur als einem Haushalt größten Stils zukam : die
eigentümliche Art der Erfüllung, welche das Seinsollendc
,auf unserem Planeten findet, mitzubestimmen.
Er wendet sich also von der Psychologie zur Geschichte
auf Grund der Einsicht, daß es schwerlich gelingen werde,
„die still fortwirkenden Antriebe unserer tiefsten Natur
anderswo deutlich zu gewahren, als in den größeren Er-
folgen, welche sie im Ganzen der menschlichen Bildung,
wie sie im Laufe der Geschichte sich entfaltet hat, hervor-
gebracht haben". Und so breitet sich im Mikrokosmos
LX Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
erst die Lehre vom Geiste eigentlich aus. Er studiert
die ganze Breite der Kultur von Sprache und Geselligkeit
an als Lebensäußerungen eines Geistigen, er stellt als den
durchgreifenden und entscheidenden Zug die Richtung des
Menschen auf den „Aufbau eines geistigen Universums'*
fest. „Der menschliche Geist baute über der greifbaren
sinnlichen Welt des tatsächlich Vorhandenen die nicht
minder reiche Gliederung einer Welt von Verhältnissen auf,
die dasein sollen, weil ihr eigener ewiger Wert ihre Ver-
wirklichung gebietet". Lotze braucht den Hegeischen Spott
über das Seinsollen, das immer soll und nie ist, nicht zu
fürchten; denn die Ideale erhalten und haben nur Wirk*
lichkeit „in dem Körper bestimmter Verhältnisse" — wie
das Kunstwerk nicht als Konzeption, sondern nur als Ge-
bilde ist. „Wir denken nicht bloß diskursiv, sondern leben
auch so."
Aber die vor ihm liegende Aufgabe, nun die geistige
Welt in ihrer objektiven Gliederung sichtbar zu machen,
ergreift er nicht, trotz seiner Schulung in Hegel. Sondern
er teilt wieder die Aufgaben so ab, daß die Wissenschaft,
die auf Objektivität zielt, von der Philosophie gesondert
wird, für die dann nur die spekulative Verwertung des
Gehalts der Geschichte für die Weltansicht des Gemüts
übrig bleibt. Also er sieht die Notwendigkeit, in der Ge-
schichte zur Objektivität zu kommen, nicht bloß „anschau-
liche Bilder von dem Aussehen einzelner geschichtlicher
Entwicklungsstufen und ihrer Reihenfolge zu erhalten, son-
dern" — Regeln zur Vorausberechnung. Und diesem ein-
seitig positivistischen Begriff von historischer Objektivität
entspricht es, daß er nur durch naturwissenschaftlich er-
klärende Theorie das Desiderat erfüllbar findet. „Eine
Mechanik der Gesellschaft täte uns not, welche die Psycho-
logie über die Grenzen des Individuums erweiterte und
den Gang, die Bedingungen und die Erfolge der Wechsel-
wirkungen kennen lehrte, die zwischen den inneren Zu-
ständen vieler durch natürliche und gesellige Verhältnisse
verknüpften Einzelnen stattfinden müssen." Seine eigene,
philosophische Betrachtung aber verbleibt bei einem Ge-
schichtsgemälde. Er sieht in der Geschichte der verschie-
denen Kultursysteme wie auf einer Ebene ausgebreitet in
mannigfachen Formen Äußerungen des Bewußtseins der
Menschen von der Bedeutung des Lebens im Zusammen-
hang der Welt. Im Grunde monoton, umkreisen sie in
stetiger Bewegung die ewigen Rätsel, in deren Mittelpunkt
Geschichtsphilosophie. Wertlehre. LXJ
das Verhältnis von Werten, Gesetzen und Wirklichkeit steht.
Das bloße Denken arbeitet sich vergeblich an ihnen ab,
die Menschheit ist seit ihren ersten Schritten zur Aus-
bildung einer Weltansicht nicht wesentlich weitergekommen.
Es bleibt nur die Möglichkeit, die Ideen, zu denen sich die
„Stellungen des menschlichen Bewußtseins der Wirklichkeit
gegenüber" abgeklärt haben, zu verknüpfen. Ein solcher
Versuch kann zwar, sofern er über die formalen Bestim-
mungen der Ontologie hinausgeht, keinen Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit machen, aber kann dafür auf dem
breiten Boden der religiösen Überzeugungen fußen. So
rechtfertigt er, wie man das seit Hegel und Comte allgemein
tat, seine eigene Richtung mit Hilfe der Geschichte. „Die
Betrachtung des ganzen Lebens wird immer zu einem re-
ligiösen Glauben führen, in dessen Evidenz und nicht in den
theoretischen Überzeugungen der eigentliche Grund aller
Gewißheit liegt." Und das Gemälde der Universalgeschichte
zeigt, daß das Denken immer nur das nachkommende Organ
war, das den erlebten Sinn der Wirklichkeit in einen ob-
jektiven Zusammenhang bringt. Nachdem das wissenschaft-
liche Denken die lebendige mythenbildende Phantasie dis-
zipliniert hat, darf und muß es sich selber wieder darauf
besinnen, daß das, was von ihm gelenkt werden soll, mehr
ist als es selber. Das Christentum soll auch in der Philo-
sophie über die Griechen siegen. —
Die Wertlehre und der Entwicklungsgang Lotze's.
Lotze's subjektiver Idealismus versperrte seiner Ge-
schichtsphilosophie den Weg zu dem Begriff des objektiven
Geistes, der damals, nachdem Hegel's System aufgelöst war,
innerhalb des Gedankenkreises der Völkerpsychologie wieder-
gewonnen wurde. Aber anderseits eröffnet dieser Stand-
punkt, wie er ihm den Blick für den gefühlsmäßigen Zu-
sammenhang und die willentliche Lebendigkeit des Seeli-
schen gab, nun, da er empirisch basiert werden soll, einen
andern wissenschaftlichen Weg, abseits von der Gesell-
schaftsmechanik : die W e r 1 1 e h r e. Der Ausdruck Wert,
praktischer, ästhetischer, moralischer, religiöser Wert, ge-
hört neben der Rede von der Wechselwirkung zu den
häufigsten in allen Schriften Lotze's i) und ist hauptsächlich
von ihm aus zu der Vorherrschaft gekommen, die er heute
im wissenschaftlichen Sprachgebrauch genießt. Auch hier
*) Für die Kleinen Schriften s. das Sachregister von Peipers.
LXII Einleitung. 111. Der Fortgang in der Psychologie.
stand ursprünglich die moralisch-religiöse Spekulation da-
hinter, wie denn in der Theologie der nachkantischen Gene-
ration eine der Hauptquellen der Lehre von den Wert-
urteilen lag. Auch hier finden wir eine Entwicklung, die
das spekulative Moment zurückdrängte. Und wir wollen
diesen Gan^ verfolgen, um eine Vorstellung von den
Leistungen zu geben, deren Durchführung dem nicht mehr
geschriebenen dritten Teil seines Systems vorbehalten war.
Den Anfang gibt die Psychologie, die die Befreiung
von Herbart's Intellektualismus brachte. „Unser Gedanken-
lauf richtet sich beständig nach dem Interesse, das wir
an den Vorstellungen nehmen." „Das Sittliche beruht auf
diesem Grunde des Gefühls, das weit eigentümlicher als die
Erkenntnis die wahre Natur des Geistes kennzeichnet." Für
praktische Vernunft sagt Lotze „wertempfindende Ver-
nunft" : sie ist es, die in der Weltansicht über die bloßen
Denkmöglichkeiten hinausbringt, vyeil sie zu dem logischen
Prinzip der Widerspruchlosigkeit die Gewißheit von der
Unmöglichkeit des Absurden fügt. Von der „Urteilskraft des
Gefühls", in der die Werte erfaßt werden, hörten wir ihn
schon reden. Daß der Genuß der Werte im Gefühl sach-
lich-notwendig mit ihrem Begriff verknüpft ist, ist einer
seiner Hauptsätze. Aber gerade bei diesem psychologischen
Anfang erhebt sich die eigentliche philosophische Schwierig-
keit: Wie kommt Lotze über den Subjektivismus hinaus,
dem die Philosophie scheinbar verfallen ist, wo das Gefühl
an der Grundlegung beteiligt wird? Er mußte aus ihm
herausstreben, als Philosoph überhaupt, aber auch als
Wissenschaftler jener Zeitlage: die Einführung des Zweck-
gedankens, die damals verschiedentlich, wenn auch zu*
nächst noch isoliert in einzelnen Geisteswissenschaften wie
Jurisprudenz oder Ästhetik, vollzogen wurde, hatte ja ihren
Sinn darin, von dem historischen Relativismus wieder zur
Systematik zu verhelfen.
Bei Lotze erscheinen zwei Wege zu diesem Ziel — es
sind dieselben Wege, die sich beim späteren Fortgang der
Erkenntnistheorie wieder geltend machten, wo trotz des
Ausgangs vom Subjekt (gegenüber dem von der Wissen-
schaft oder Wahrheit) der Bruch mit dem Subjektivismus
erzielt wurde. Das eine Verfahren entspricht einem Haupt-
zuge der neueren Kant-Bewegung und besteht darin, daß
an der Beziehung auf das Subjekt festgehalten wird, aber
ein normales Bewußtsein an den Platz des empirischen
tritt. So sucht Lotze im Verfolg jenes Gedankens seiner
Die Objektivität der Werte. LXIII
Erkenntnistheorie von der Würde der Subjektivität die
Gültigkeit der ästhetischen Werte zu retten durch Be-
ziehung auf eine „allgemeine Subjektivität". Das Ideal
eines ethisch vollendeten, alles aus dem Ganzen verstehen-
den Gemütes ist unser Maßstab bei dem Anspruch des
ästhetischen Urteils auf Allgemeingültigkeit. „Die Objek-
tivität der Schönheit liegt darin, daß sie nicht eine Coin-
cidenz der Gegenstände mit der zufälligen Organisation des
einzelnen endlichen Subjekts ist, sondern ein Zusammen-
treffen mit den Formen des Daseins und der Tätigkeit,,
welche die ideale Bestimmung des geistigen Lebens über-
haupt zu ihrer Erfüllung überall fordert i)." Diesen Weg
ist er nicht weiter gegangen; Sigwart und Windelband
setzten hier ein.
Der andere Weg aber, den er nun festhielt, eröffnet
sich dadurch, das die Analyse des empirischen Bewußt-
seins selber auf eine objektive Region sachlicher Inhalte
und Verhältnisse derselben stößt. Hier liegt der Punkt,
wo gegenwärtig der innerlich umgebildete Apriorismus.
Kant's in einer entscheidenden Einsicht zusammentrifft mit
der objektiven Logik und Wertlehre, die durch den Forscher-
kreis, der von Brentano's Analytik ausging, zum Siege ge-
führt wird 2). Lotze unterscheidet, wenn auch nicht termino-
logisch, Akt und Inhalt oder Gegenstand der Gefühle: „als
was" etwas erlebt wird. Im Zuge seiner Psychologie, die
die Vorstellung von einem gegenstandlosen Wollen abwehrte
und in dem allgemeinen Zuge seiner Abwehr der Re«
flexionsbegriffe kehrt er sich gegen die Abstraktionen einet
„unbenannten" Lust und Unlust, die nur quantitativ vari-
iere. Es gibt keine Lust als solche, jede Lust hat einen
eigenen qualitativen Inhalt — das was in ihr genossen
wird — „dessen Verherrlichung und Lebendigkeit sie selbst
ist". Wie die Bestimmtheit der Empfindungen und
ihrer Verhältnisse, so weist auch die der Gefühle — „ob-
wohl unsere Lust von unserer eigenen Natur insofern ab-
hängen muß, als wir nur das fühlen können, wozu wir
fähig sind" — auf die Objektivität. „Das spezifische Ge-
fühl ist unmittelbar die unteilbare Übertragung des Wertes,
welchen nur dieser bestimmte Fall der Anregung enthält,,
in diese Sprache der Lustempfänglichkeit." Lotze erblickt
*) Kl. Sehr. III S. 204 (Rezension von Hanslick, Vom Musikalisch-
Schönen, 1855) u. a. ästhetische Abhandlungen.
«) Vgl. oben S. XVI Anm. 2.
LXrV Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
das in der ganzen Breite der menschlichen Werthaltungen
als den entscheidenden Zug. Eben diese Beurteilungs-
weise unterscheidet schon die menschliche Sinnlichkeit
von der tierischen: „Wir empfinden in den Gefühlen, die
die Sinneseindrücke begleiten, niemals bloß ihren Wert
für uns, sondern ihren Wert an sich", und entsprechend
dient menschliches Handeln nicht bloß der Selbstförderung,
sondern „unabtrennbar davon dazu, in dem eigenen Ge-
nießen dem Wert der Dinge und Ereignisse selbst eine
Stätte des Daseins zu bereiten". „Man betrügt sich theore-
tisch um das Beste der Lust, wenn man meint, sie könne
irgendwie darin bestehen, daß man an etwas seine Freude
habe. Von dem eigenen Werte der Dinge werden wir be-
zw^ungen; er wird durch die Lust nur anerkannt^)."
Damit ist das Thema angeschlagen, das, in der Logik
parallel verlaufend, das System erneuern sollte.
Und Jji Wahrheit steht nun auch hinter Lotze's
Formel für die Philosophie, Weltanschauung zur „Befriedi-
gung der Gemütsbedürfnisse", diese Intention: die Werte,
die das Gefühl im Leben erfaßt, philosophisch sicherzu-
stellen : die Richtung auf eine Lehre von den Lebenswerten.
Sie ist schon früh bei ihm vorhanden 2), sie galt ihm als
die Aufgabe, die nach der Auseinandersetzung mit Hegel
für seine Fortsetzer zurückbliebe — eine „Phänomenologie
des Gemüts" 3). ^,Der Geist hat sich als Geist zu begreifen
gelernt; das Gemüt weiß sich nicht zu fassen als Gemüt."
Die Wissenschaft soll die Werturteile, die aus dem un-
befangenen „sinnenden Gefühl" erwachsen, klärend „in Er-
kenntnisse umwandeln, damit sie, nun nicht mehr un-
beschränktes Eigentum des einzelnen Gemüts, sondern über
allen Wechsel der Stimmungen erhabene Wahrheiten, sich
besser gegen . . . Zudringlichkeit schützen mögen"*).
Aber das Konzept wird ihm nun wieder verdorben
durch die spekulative Verfassung, die der geistigen Welt
gegenüber nicht auf wissenschaftliche Objektivität ausgeht.
1) Mediz. Ps. S. 233 ff. Mikrok. Buch 5 cap. 2 u. 5, Buch 7 cap. 2.
Kl. Sehr. II S. 282. I S. 307.
2) Vgl. das Jugend- Fragment „Geographische Phantasien", in KL
Schriften III 2.
') „Hegels Philosophie war in diesem Sinne phänomenologisch,
sie kümmerte sich weder im Einzelnen, noch im Ganzen um die
Verwirklichungsweise der Realität, deren idealen Sinn sie betrachtete",
KL Sehr. II 313.
*) Kl. Schriften II 207 (1847) u. III S. 568 (Jugendfragment).
Lebensdeutung und Spekulation. LXV
Das Wertverständnis wird nicht beschränkt auf das Leben,
in dem wir darinnen sind, und bedeutet nicht rein das Er-
lebte seiner Bedeutung nach aus geistigen Zusammenhängen
verstehen und die geistige Wirklichkeit als solche gewahren
lernen, sondern ist verschmolzen mit der Tendenz, das
Dasein einer geistigen Wirklichkeit als Argument für die
Gläubigkeit auszunutzen, und richtet sich daher nicht auf
das Geistige, sondern gleich auf den Sinn der Welt über-
haupt, als eine universale Methode für die spekulative
Ausdeutung aller Erscheinungen, eben durch diese uni-
versale Anwendung unsachlich gemacht; ja der theoretische
Ansatz wird aufgezehrt durch diese Tendenz, deren Kraft
in typischer Weise aus dem Kampf gegen das naturalistische
Weltbild kommt. Durch den ganzen „Mikrokosmos" zieht
sich das Bestreben, der ursprünglich in mythischen Formen
schaltenden Lebendigkeit der spekulativen Phantasie des
Gemüts ein Recht gegenüber dem naturwissenschaftlichen
Seinsbegriff zu sichern.
Wie hat sich gegenüber dieser Verquickung die sach-
liche Natur des Wertgedankens geltend gemacht? Das ist
die Hauptfrage.
Zunächst führt hier, da die Kunst wieder eingreift, wo
die Wissenschaft verzagen muß, die Ästhetik weiter,
mit der Einfühlungstheorie. „Die Fähigkeit, unter Formen
das Glück und Unglück des Daseins zu bemerken, macht
für uns die Welt erst lebendig." Sie legt nicht bloß anthro-
pomorphes Leben hinein, sondern in diesen Formgefühlen
geht die primäre Erfahrung eines unverbrüchlichen eigenen
Rechts der Dinge und ihrer inneren Gesetzlichkeit auf^).
Und so steht neben dem metaphysisch-kosmischen Sinn der
Schönheit, die „Versöhnung von Wirklichkeit und Wert"
zu sein, die Funktion der Kunst als Lebensdeutung, die
wiederum nicht bloß subjektive Beleuchtung ist, sondern:
„Jedes echte Kunstwerk ist eine Eroberung einer neuen
Erfahrungswelt 2)."
Aber die entscheidende Angelegenheit bleibt die Be-
gründung der Ethik. Und hier überblicken wir noch
einmal den fortschreitenden Zusammenhang seines Denkens.
Die erste Metaphysik hatte, auf ein psychologisches Apriori
der praktischen Vernunft zurückgehend, sich zu dem reinen
1) Mikrokosmos II S. 190ff., 139. Über den Begriff der Schönheit,
Kl. Schriften I 320 ff. (1845).
2) V. d. Bedingungen der Kunstschönheit (1847) Kl. Sehr. II 220.
Lotze, Logik. V
LXVI Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
Typus des ethischen Idealismus bekannt: der Ursprung des
menschlichen Geistes liegt in der Idee des Guten oder in
dem Reich der Werte, deren Verwirklichung der Sinn der
Welt ist; in diesem teleologischen Zusammenhang ist die
Bestimmung des Menschen begründet, ein sittliches Uni-
versum aufzubauen, in dem die Werte zum Genuß kommen
und damit erst wahrhaft wirklich werden. In diesen speku-
lativen Gedankenkreis brach die Medizinische Psycho-
logie mit der Lehre von der Lust als dem Maß des Wertes
ein; damit war ein heterogener, der typische empirische
Ansatz der Ethik gegeben, in dessen Konsequenz der Eudä-
monismus liegt. Und die eudämonistische Ethik drang
auch schon in Deutschland wieder vor, als ein Hauptmoment
in der Reaktion des Erfahrungsstandpunkts gegen den
Idealismus der Deutschen Bewegung, haltbarer gemacht
durch die Lehre der englischen Moralisten von den sym-
pathischen Gefühlen 1). Lotze ging auch hier nicht bis
zu Ende mit: so sicher das Streben nach Lust die feste
empirische Basis abgibt, da Unlust als Zweck, nicht als
bloßes Mittel zu denken, eine Absurdität ist, so sicher
weiß das Gewissen, daß die Maximation der Lust als
solcher nichts Moralisches ist. Die psychologische Gefühls-
lehre selber zeigte ihm einen andern Weg, vermöge der
Einsicht in den qualitativen Charakter der Lust: das Ge-
fühl ist das psychische Verhalten, durch das wir in Be-
ziehung zu einer Welt der Werte treten. Es blieb die Auf-
gabe, das moralische Apriori mit dieser empirischen Ge-
dankenführung zu verbinden, also den festen rationalen
Zusammenhang der Sittlichkeit, die unbedingt verbindlichen
Forderungen des Gewissens zu lokalisieren. Und hier be-
nutzt er nun zunächst wieder, bis zum Mikrokosmos 2), die
teleologische Struktur seiner ersten Ontologie, die dem
Begründungszusammenhang eine notwendige Stelle inner-
halb der Wertverwirklichung gab. Analog behandelt er
die moralischen Gesetze. Sie sind aus dem Lustprinzip
zu begründen, aber nicht auf dem gewöhnlichen indirekten
Wege des Empirismus, dem auch Fechner gefolgt war —
wonach sie bloß relativ wertvoll sind, durch ihre Nützlich-
keit gerechtfertigt als Durchschnittsmaximen der Lebens-
*) Fechner, Über das höchste Gut (1847) und Lotzes Rezension,
Kl. Sehr. II 272 fT. — Eine rationa'e Herleitung des Glückseligkeits-
prinzips versuchte damals Bolzano, Religionswissenschaft 1S39, § 87.
2) Mikr.6 II S 44, 320 ff. III 422 ff. u. a. Vgl. die Rezension v.
Pechners Ethik (1847) a. a. O.
Die Entwicklung der Ethik. LXVII
klugheit — , sondern sie sind die rationalen Bedingungen,
an die Gefühl und Wille unmittelbar in ihrer qualitativ-
gegenständlichen Richtung gebunden sind, um ihren Zweck,
die Wertverwirklichung, zu erfüllen. So lassen sie sich,
weil das Gefühl in sich selbst ein „morphotisches Motiv"
hat, begreifen als „Formen des Guten", denen moralische
Würde immanent ist. „Das Prinzip der Lust selbst bewährt
sich als ein so gestaltendes, daß es sich bestimmte unver-
rückbare Formen der Wirklichkeit fordert, innerhalb deren
heiligen Schranken allein das realisiert werden kann, was
qualitativ ein Maximum der Lust heißen kann, eine ihrem
Sinne nach höchste Lust^)." Das ist nicht bloß subjektiv
gemeint (nur der Rechtschaffene kann glücklich sein), son-
dern will sagen, daß die ganze Inhaltlichkeit der Werte
im Gefühl nur aufblühen und vermöge der Urteilskraft des
Gefühls in der Lebenserfahrung nur aufgebaut werden kann
innerhalb des rationalen moralischen Gefüges, das die
„Ideale des Gewissens" darstellen. Also sein Satz ist:
der Organisation unseres Gefühlslebens ist die allgemeine
Vernunft immanent — es ist derselbe Satz, auf den der
erste Entwurf seiner Erkenntnistheorie gestellt war. Und
so muß die Lustlehre, um das Apriori der praktischen
Vernunft aufnehmen zu können, sich metaphysisch be-
gründen, durch die Voraussetzung, daß „das, was als
höchstes Prinzip unseres Handelns gelten soll, auch als
Prinzip des Daseins betrachtet werden muß". Der Welt-
lauf ist darauf angelegt, daß Werte im Gefühl aufgehn und
aufgehn nur können in den unverrückbaren Formen des
Guten.
Lotze will durch diese Teleologie zwei Schwierigkeiten
überwinden : den schlimmsten Dualismus, auf den das natur-
wissenschaftliche Weltbegreifen führt, der „zuerst eine
Welt der Realität annimmt, und hinterher in ihr zerstreut
das Wertvolle nur findet"; aber auch den Objektivismus
der Deutschen Bewegung und Hegel's zumal, der in Staat,
Religion, Wissenschaft und überhaupt in den geistig-ge-
schichtlichen Gebilden als solchen das Höchste gegenwärtig
findet. Die Aufgabe, das geistige Leben nicht für ein zu-
fälliges Epiphänomen zu nehmen, womit dann alles in die
Subjektivität versänke, scheint ihm nur erfüllbar durch
die Lösung: nicht nur, daß das allein wahrhaft sein kann,
was sein soll; auch was sein soll wie Religion, Staat
*) Kl. Schriften II 282 (1847).
V*
LXVIII Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
oder Wissenschaft, hat Existenzrecht nur durch den „re-
ellen Lebensgenuß", der in diesen „Formen" menschlichen
Ringens pulsiert. Es ist der Standpunkt des subjektiven
Idealismus, vom Erkennen auf das Gefühl übertragen. In
diesem Sinne lehnt Lotze den Begriff eines absoluten Wertes
ab. Er lehnt ihn nicht ab, weil er die geistig-geschichtliche
Wirklichkeit in ihrer objektiven Struktur vor Augen hätte
mit der Gebundenheit aller Erfüllung an unwiederbringliche
individuelle Gestalt und Fülle des Werdens, sondern um-
gekehrt, weil ihm die Wertgestalten nur als Inhalte indivi-
dueller Erlebnisse Realität haben. „Der Gedanke eines
irgendwie unbedingt Wertvollen, das seinen Wert nicht
durch seine Fähigkeit zur Erzeugung von Lust bewiese,
überfliegt sich selbst und das was er meint." Und Lotze
kann nun den menschlichen Annäherungsbegriff für das
mit dem absoluten Werte Gemeinte — der Inbegriff der
sittlichen Ideen in Verbindung mit dem Genuß ihres Wertes
— in der christlichen Formel ausdrücken: „Der verschmol-
zene Begriff der Heiligkeit und Seligkeit". In dieser Rich-
tung liegen dann die bezeichnenden Schlußgedanken des
Mikrokosmos wie die beinahe scholastisch anmutende Speku-
lation über die Persönlichkeit Gottes und die These seiner
Geschichtsphilosophie: die Rede von einem Fortschritt in
dor Geschichte habe nur dann einen Sinn, wenn eine Mög-
lichkeit bestehe, daß die von den Späteren heraufgearbeiteten
"Werte von den Früheren, Seligen mitgenossen werden.
J(3doch ließ sein ethischer Gedanke, daß die Wirklichkeit
]iichts fertig Vorgefundenes ist, so daß die Werte nur spora-
disch zu ihr hinzukämen, auch die andere Wendung zu,
für die sich der idealistische Pragmatismus auf Lotze be-
rufen konnte 1): daß durch das Schaffen der Werte die
Wirklichkeit selber erhöht wird.
Der Abschluß dieser Entwicklung liegt uns nicht voll
vor, da der dritte Teil des Systems ungeschrieben blieb.
Aber was von ethischen Arbeiten aus seiner letzten Zeit
da ist 2), zeigt das Zurücktreten der metaphysischen Teleo-
logie und damit eine veränderte Struktur — dieselbe, die
die ausgeführten Teile des Systems haben. Es bleibt beim
Anfang mit dem Gefühl, aber am Gefühl wird nun eine
zweifache Richtung gesehen, die den Weg zur Objektivität
öffnet : mit der Richtung auf bestimmte Werte hin, die
1) W. James, Pragmatismus, deutsch v. Jerusalem 1908, S. 113.
«) Die Prinzipien der Ethik (posthum), Kl. Schriften III 2 u. die
Diktate s. Vorlesungen (1880) über d. Grundzüge der prakt. Philosophie.
Die Entwicklung der Ethik. LXIX
dem Handeln sein Ziel geben, ist verbunden das Erfassen
der idealen Zusammenhänge, die als Normen des Handelns
dieses zur Sittlichkeit binden. So geht nun einerseits der auf
der psychologischen Stufe gewonnene Gedanke vom ge-
staltenden Charakter der Wertgefühle weiter fort; von dem
lustempfindenden Geiste heißt es: „Obwohl all diese Werte
nur in seinem Gefühle Wirklichkeit haben, so stehen
ihm doch seine eigenen Gefühle als ein System mannig-
facher Glieder gegenüber, deren jedes seinen besonderen
Charakter und seinen besonderen Wert hat, ohne daß der
Geist imstande ist, die Verteilung zu ändern i).*' Ander-
seits aber vollendet sich nun erst die objektive Wendung,
indem — analog wie in der letzten Darstellung seiner Er-
kenntnistheorie — das Prinzip des Als-was benutzt wird,
um trotz des empirischen Anfangs die Apriorität der
moralischen Prinzipien zu erreichen.
„Alles kommt uns darauf an, als was jedesmal das-
jenige erfahren wird, dessen wir uns allerdings immer
nur auf diesem Wege einer inneren Erfahrung bemäch-
tigen"; der Wert eines Inhalts unseres geistigen Lebens
bestimmt sich nicht nach der Art der Entstehung — ob
oder ob nicht aus Erfahrung — , sondern „nur nach dem,
was er selbst ist und bedeutet, nachdem er da ist". Die
Gültigkeit der moralischen Prinzipien ist unabhängig von
der Erfahrung, weil sie, sobald die Reflexion sie heraus-
hebt, kraft der Evidenz des Gewissens, die „schon auf
Veranlassung einer einzigen Erfahrung sich in uns erhebt",
als etwas unbedingt Verbindliches erfahren werden. „Was
wir hauptsächlich sagen wollen, wenn wir die moralischen
Ideen angeboren nennen, das ist wirklich nur dies, daß sie
von unbedingt verpflichtender Heiligkeit sind."^ Sie haben
dieselbe Sicherheit wie die Prinzipien der Mathematik —
diesen Grundsatz der Aufklärungsphilosophie kann Lotze
nun aufnehmen — , nur daß für die Ethik dieser Keim
von Erkenntnis nicht ausreicht, um in „einheimischer Ent-
wicklung" der Prinzipien bis zu einem unzweifelhaften
Ideal des sittlichen Lebens hinzuführen. Und weil hier
das unbedingt verbindliche rationale Gefüge nur die For-
men der Gesinnung betrifft, wird ihre Apriorität nicht
widerlegt durch die historische Mannigfaltigkeit der Wert-
gebungen; so unsittlich diese oft erscheinen und mit Recht,
nachdem das moralische Bewußtsein über sich selbst auf-
1) Prakt. Philos. § 8.
LXX Einleitung. III. Der Fortgang in der Psychologie.
geklärt ist; sie lassen sich doch immer so verstehen, daß
die Richtung auf das Sittliche der Intention nach da war
und bloß assoziative oder intellektuelle Verwirrung die
Einsicht in das eigentlich Gemeinte trübte. Neben dieser
Apriorität der Geltung, die das Fundament der Ethik stellt,
bleibt die psychologische Ursprünglichkeit, das Angeboren-
sein der moralischen Ideen nur noch als „Corrolar" : daß
der menschliche Geist nur das als unbedingt gut erfassen
kann, was er seiner seelischen Natur nach so beurteilen
muß. Auf diese Position hat sich nunmehr die meta-
physische Teleologie zurückgezogen, die nun auch nur eine
offene Stelle bezeichnen will für das spekulative Bedürfnis,
das Dasein der in sich evidenten Grundsätze aus dem Welt-
plan zu begreifen. Sie stößt damit zugleich auf das Pro-
blem des Bösen, d. h. der Möglichkeit der Verwirrungen
des sittlichen Bewußtseins, also nach der typischen Dialektik
dieses Standpunktes auf das Problem der Theodizee, das
der religiöse Glaube lösen muß.
Die Vorlesungen über Praktische Philosophie zeigen
dann, wie er zu den formalen Vorbedingungen sittlichen
Handelns, die sich aus der Analyse des Willens und seiner
Einheit in der Person ergeben (Mittel und Zweck, Kon-
sequenz der Persönlichkeit usf.), nun aus dem qualitativ-
morphotischen Charakter des Lustgefühls „das einzige Ideal
von ganz voraussetzungslosem Inhalt" gewinnt: die in-
dividualisierende Pietät; das Wohlwollen im Verhältnis
von Person zu Person und allgemein „Schonung und Scheu
vor den Verhältnissen der Wirklichkeit". Die moralischen
Ideen gelten auf konkrete Erfüllung hin, für diese aber gilt
der Salz der Ontologie, daß das Konkrete nicht bloßes
Beispiel eines Gesetzes, sondern die eigentliche Leistung
ist, die in ihrer bestimmten Lebendigkeit „mehr wert ist
als jene Regeln in ihrer Allgemeinheit". So nimmt er den
Übergang zu den Lebensverhältnissen, die „ein selbst inner-
lich organisiertes System von Anregungen" für die Ver-
wirklichung eines sittlichen Universums sind. Er erreicht
damit den Schleiermacherschen Begriff einer in Gütern,
Pflichten, Tugenden sich bildenden Kulturwelt, auf dem
Wege vom Ausmalen und Ausgleichen der sittlichen Ver-
hältnisse zum Struktursehen nur wieder aufgehalten durch
die mehrfach berührte Schranke in seiner Stellung zur
geistigen Welt, womit zusammenhängt das Nichtsehen des
Dämonischen im Leben.
TV. Logik und Metaphysik als Glieder des
„Systems der Philosophie'^
Die neue Darstellung der Ergebnisse seiner Lebens-
arbeit, zu der der Sechzigjährige schritt, trägt den Titel
„System". Was bedeutet dieser Urtitel der Philosophie
bei Lotze, der mit den „traditionellen Formen des Philo-
sophierens" brechen wollte? An diesen Formen gemessen,
ist das System weit weniger „systematisch" gebaut als der
erste Entwurf. Die Logik geht jetzt voran — dies be-
deutet, daß der Standpunkt nicht sogleich innerhalb
der Philosophie genommen wird, sondern die Logik soll
zur Metaphysik hinführen. Nur für den formalen Teil der
Logik ist der geradlinig geschlossene Aufbau, der den teleo-
logischen Idealismus ausdrückt, beibehalten, aber auch diese
fertige Rundung hat nur den Sinn einer ersten Behauptung,
deren Beweis dem erkenntnistheoretischen Teil obliegt, und
dieser zieht dann in einen Prozeß schrittweisen Suchens
und Abwägens hinein, der erst in der Metaphysik zum Ab-
schluß kommt. In der Metaphysik aber ist die ursprüng-
liche dreimsd dreigliedrige Architektur ganz zusammen-
gefallen, und der untersuchende Gang, der sich nun fi;ei
ausbreitet, ist so vielverschlungen, daß die Gedanken sich
beim ersten Blick „von Kapitel zu Kapitel zu verändern"^)
scheinen. Das Bewußtsein des Problematischen färbt die
Darstellung selbst in den Punkten, über die Lotze, wie über
die Phänomenalität des Raums und die innere Lebendigkeit
alles Wirklichen ,,sicher zu sein glaubt". Und auch die
Teilung in je drei Bücher ist kein letzter Nachhall von
Hegel her, bedeutet nicht mehr Architektonik : auf die reine
und die angewandte Logik, die er mit Kant unterscheidet,
folgt die Erkenntnistheorie nicht so als Abschluß, wie das
durch den Bandabschnitt erscheinen möchte. Und die Drei-
teilung der Metaphysik drückt nunmehr nur die natürliche
*) Vgl. die Kritik von Teichmüller, die wirkliche u. die scheinbare
Welt, 1882 S. 73. In Wahrheit ist Lotzes Redeweise zunächst viel-
fach lassig, um erst allmählich präzisiert zu werden.
LXXII Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
Gliederung des Gegenstandes aus, die aus der vorkritischen
Tradition stammt: das Seiende als solches — Natur —
Geist. Dieser veränderten Anordnung entspricht von innen,
daß die Systemform des subjektiven Idealismus aufgelöst
ist. Es ist nur scheinbar ein letztes rückhaltloses Bekennt-
nis zu diesem Standpunkt, wenn Lotze zum Schluß des
Ganzen das Prinzip herausstellt, „in dem was sein soll,
den Grund dessen zu suchen, was ist". Nach dem wie das
durchgeführt ist, bedeutet es nur das Festhalten an dem
Grundsatz des Idealismus, daß die Wirklichkeit ein sinn-
volles Ganzes ist, und insbesondere an dem Prinzip der
Deutschen Bewegung, das Lotze gerade als Hebel gegen
die Systembildung benutzte: daß nur mit der Einsicht in
diesen einheitgebenden Sinn ein philosophisches Weltver-
stehen vollendet wäre.
Ist nun hierdurch der Titel System zu einem bloßen
Titel geworden, der seinem eigenen Sinn zuwider nur einen
persönlichen Versuch bezeichnete, Resultate langen Nach-
denkens als „persönliche Überzeugungen" zusammenzu-
fassen, und das Bedürfnis nach einheitlicher Weltansicht
subjektiv zu befriedigen? wie das scheinen möchte nach
Lotze's eigenen Angaben vom Anfang an bis zu dem Schluß-
satz der Metaphysik: „Gott weiß es besser"? Im Unter-
schied zum ersten Entwurf tritt vielmehr hervor, daß die
reine Theorie von dem Hintergrund ethisch-religiöser Über-
zeugungen abgelöst ist. Das Werk hat eine feste Struktur,
die seine beiden Glieder zusammenhält und die Ver-
schlungenheit der Fäden drückt den Versuch aus, nicht
durch formal-systematische Zurüstung den Sachverhalt zu
verhüllen, daß die philosophische Einheit, im Denken über
die Wirklichkeit wurzelnd, ein ,weitstrahlsinniges Ganzes*
ist. An stelle des geometrischen Bildes tritt bei ihm der
qualitative Zusammenhang im Reich der Töne als Symbol
für die Weltordnung ein — die „polyphone Musik" des
Universums.
Die Reine Logik.
Die Reine Logik verbindet die drei Motive: das
psychologisch-ethische der Spontaneität, das objektiv-ideale
der Sachlichkeit und das kritisch-realistische der Bezogen-
heit des Denkens auf Wirklichkeitserkenntnis. Der Einsatz
mit der Aktivität der Denkarbeit gegenüber dem asso-
ziativen Vorstellungsverlauf bleibt erhalten, aber die „Denk-
tätigkeiten" sind nicht mehr metaphysisch fundiert auf den
apriorischen Formen der Ontologie, sondern „die Verhält-
nisse vielmehr, die zwischen den bewußt gewordenen Ein-
Aufbau der Reinen Logik. LXXIII
drücken bestehen, sind es selber, welche die Tätigkeit des
Denkens als ein stets nur rückwirkendes auf sich ziehen
und nur darin besteht diese Tätigkeit, so vorgefundene Ver-
hältnisse zwischen den Eindrücken, die wir leiden, in Be-
ziehungen der Inhalte umzudeuten" (§ 9). Es bleibt die
Charakteristik des logischen Denkens als eines durch
„Nebengedanken" beseelten: diese sind die Voraussetzungen
über Identität und Zusammenhang, die innerhalb jener
durchgreifenden Tendenz des Denkens, „gegebenes Zusam-
mensein in Zusammengehörigkeit zu verwandeln", auf jedem
Schritt neu zum Ausdruck kommen; aber sie werden jetzt
zunächst in diesem ihren Ausdruck, in den Denkleistun-
gen aufgesucht, und die Metaphysik lehrt dann den Her-
vorgang des Denkens aus der Wirklichkeit. So ist eine
Bresche geschlagen in die Kant'sche Fassung von Form und
Inhalt und ein Weg eröffnet, die formal-logischen Zusam-
menhänge, obwohl sie aus synthetischen Funktionen des
Subjekts erklärt werden, in den objektivierten Inhalten
selber, d. h. in der Sachlichkeit zu lokalisieren. Die Art,
wie diese verschiedenen Motive zusammengehen, hat Lotze
unmittelbar durch den Bau der reinen Logik zur Dar-
stellung gebracht, wie in einem Kunstwerk, das den Gegen-
stand einfach hinstellt.
Jede der drei Denkformen wird als eine dreifältige
Einheit gezeigt. Der logische Akt, das Vergegenständlichen,
Urteilen, Folgern, sucht die eindeutige Richtung des Denkens
auf begründeten Zusammenhang durch eine Form am In-
halt zu markieren, er kann das nur, wenn er im Inhalt
eine sachliche Grundlage findet — abgesehen von der
primären Leistung, der Objektivierung des Eindrucks zur
logischen Vorstellung: das Identitätsprinzip ist das Gesetz
des Vorstellbaren überhaupt, während der Satz vom Grunde
nur den Charakter einer vjiod^eoig hat, deren sachliche
Durchführbarkeit „eine glückliche Tatsache" ist. Und aus
dieser immer in die Mitte gestellten „eigentümlichen Ab-
hängigkeit der logischen Arbeit von der Natur des Inhalts,
dem sie jeweils gilt", ergeben sich erst die bestimmten
Aufgaben, denen nun die vollen logischen Formen zuge-
ordnet sind, der Funktionsbegriff, das hypothetische Ur-
teil, das sachlich Identisches unter verschiedenen Formen
auf faßbar macht, und die „systematischen Formen", in
deren Zusammenhang die formale Struktur der Wissenschaft
selber eingestellt wird, von der Klassifikation zur erklären-
den Theorie und bis hinauf zur „spekulativen Denkform".
So läuft von der primären Vergegenständlichung bis zum
LXXrV Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
höchsten Ideal von Systematik eine wesentlich einheitliche
Tendenz fort, die stufenweis an dem Gegebenen sich aus-
prägt; aber nachdem sie sich mit der logischen Vorstellung
die Formelemente gegeben hat, vermag sie sich nicht weiter
aus eigenen Mitteln zu erfüllen: daß in dem Reich der In-
halte Gliederung gefunden wird, dieser Tatbestand ist,
obwohl er die unentbehrliche Grundlage für Denkleistungen
überhaupt ausmacht, nicht selber denknotwendig, sondern
vorgefunden und kann vom Denken nur anerkannt und
weiterentwickelt werden; denkbar wäre auch ein Reich
identischer aber absolut disparater Inhalte i). So ist der
Stufengang der Denkformen nicht ein ihnen immanenter
Zusammenhang, sondern ist durch ihre Beziehung auf die
Aufgaben, die das Gegebene für seine formale Bewältigung
stellt, bestimmt und weist somit von Haus aus auf die
Wirklichkeit hin. Die Logik beschränkt sich nur ihrer
formalen Natur nach darauf, die Gesetze des Zusammen-
hangs des Gedachten rein in der Zwischenregion der Sach-
lichkeit aufzusuchen, sie hat dabei ständig als Ziel die
Wirklichkeit vor Augen, die auch für die erkenntnistheore-
tische Logik nur ein TiQog ^juäg nicht rfj (pvoei voteqov ist.
So hält Lotze zwar an dem Beginn mit der Begriffslehre
fest und weist den damals schon unter der Vorherrschaft
des Erfahrungsstandpunkts vordringenden Anfang mit dem
Urteil für die reine Logik ab; für sie ist der Platonische
Blick in das „Reich der ideell gefaßten Inhalte" das Erste 2).
Aber er legt die Logik nicht darauf fest, er lehnt es ab,
sie in der Begriffslehre zu zentrieren und zwar mit dem
Argument, das zum Urteil eilt : „auch die vollständige Kennt-
nis der Ideenwelt würde uns wenig in der Begreifung des
Wirklichen unterstützen" (§ 34).
1) Vgl. Kant, Kr. d. R. V. (Ros. S. 607 f.): „Wäre unter den
ErBcheinungen, die sich uns darbieten, eine so große Verschiedenheit
dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit existierender Wesen naoh,
daß auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vergleichung . . .
nicht die mindeste Ähnlichkeit ausfindig machen könnte (ein FaU, der
sich wohl denken läßt), so würde das logische Gesetz der Gattungen
ganz und gar nicht stattfinden und es würde gar kein allgemeiner
Begriff, ja sogar kein Verstand stattfinden."
*) § 2f. Entsprechend im Anfang der Angewandten Logik, Kap. 2
§ 171 ff., die qualitativen Reihen der Töne und Farben. Für die
Hineinnahme dieser Verhältnisse in die Logik vgl. Stumpfs Be-
griff der Phänomenologie, Zur Einteilung der Wissensch., Abh. der
Berl. AK. 1907, S. 26.
Erkenntnistheorie. Das Gelten der Wahrheit. LXKV
Die Erkenntnistheorie.
Während die letztere Wendung erst in der Metaphysik
zu begründen war, wird nun der Gedankenzusammenhang,
der in jenem Aufbau der reinen Logik selber enthalten ist,
expliziert in der Erkenntnistheorie. Sie geht von der
Ideenlehre nicht nur aus, sondern erschöpft sich darin,
deren Bedeutung herauszuarbeiten, in den verschiedenen
Kapiteln von verschiedenen Seiten her herangehend, um
schrittweis den Sinn des Apriori klarzustellen. So nimmt
sie das Wahrheitsproblem, wie es in den idealistischen
Systemen diskutiert war, auf und hält im Gegensatz zum
damaligen Betrieb der Erkenntnistheorie daran fest, aus
ihrem Anfang Gegensätze wie den von Subjekt und Objekt,
Vorstellungswelt und transzendenter Dingwelt, innerer und
äußerer Erfahrung auszuschließen. Und zwar nimmt Lotze
nun Plato mit Kant zusammen, indem er den Apriorismus
auf das Prinzip der sachlichen Einsjchtigkeit gründet.
Durch Plato's Entdeckung ist gesichert, daß es eine
Wahrheit und Erkenntnis gibt, ganz unabhängig von der
skeptischen Frage nach der Erkennbarkeit einer transzen-
denten W^irklichkeit — Wahrheit „nicht in dem beschränk-
ten Sinn einer Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem
vorgestellten Inhalt, sondern in der Bedeutung einer Folge-
richtigkeit'*, die innerhalb der Ideenwelt besteht; also im
Sinne von logische|- Notwendigkeit, die in dem Begrün-
dungszusammenhahge als solchem ihren Ort hat. Unter
der Ideenwelt versteht Lotze die systematischen Relationen
zwischen den ideell gefaßten' Inhalten, das „Inhaltssystem",
dessen logische Gesetzlichkeit er von der kausalen sondert,
die für die Abfolge der Inhalte in der veränderlichen Wirk-
lichkeil der Erscheinungen vorausgesetzt wird. Für diesen
Grundgedanken seiner ersten Ontologie hat er nunmehr
den Terminus „Gelten" geprägt und zwar zunächst als
Interpretation von Plato's Meinung bei der Rede von der
ovoia der Idee xcoQig rcbv örtcov}) Er operiert mit seinem
anfänglich an Herbart gebildeten allgemeinen Begriff der
1) Logik § 316fiE., vgl. Mikrok. lU^ S. 200ff. Zu L.'s Plato-
Interpretation vgl die Wendung gegen die substantial-transzendente
Fassung der Ideen bei G. Teich müller, Studien zur Gesch. der
Begriffe, 1874 („die umwandelbaren Ideen bilden gerade die Vernunft,
die dem All zukommt." S. 139 u. a.) und L.'s Anerkennung Kl. Sehr. III
S. 367.
LXXVI Einleitung IV, Das System der Philosophie.
„Bejahtheit, Position oder Wirklichkeit" und stellt inner-
halb desselben das Gelten als eine spezifische Art
der Wirklichkeit der des Seins, Geschehens oder Be-
stehens gegenüber. Und wie nun einer seiner Hauptsätze
gegen die Reflexionsphilosophie ist, daß die Position nicht
abgetrennt werden darf von dem Inhalt, zu dem sie ge-
hört, läßt er die objektivierten Inhalte in dem Reich des
Geltenden ^teh^n, jedoch so, daß er' die Terminologie, mit
der er zunächs^t auch ihnen, imd nicht nur ihren Relationen/^
das Ansichgültigsein zusprach (§ 2), nunmehr auf die letz-j
toren einschränkt (§ 321), Die logische Form für Gründe,
die als Gesetze des Zusammenhangs der Inhalte ,gelten',
ist das Urteil; j,nur mit halber Deutlichkeit läßt sich
dieser Ausdruck auf einzelne Begriffe übertragen, von ihnen
können wir nur sagen, daß sie etwas bedeuten, sie be-
deuten aber dadurch etwas, daß von ihnen Sätze gelten".
So sucht er den Fortgang über Plato (und entsprechend über
die begriffliche Fassung der Kategorien bei Kant) darin,
daß die wesentlichen Bestandteile der Ideenwelt statt vor-
nehmlich in der Form des isolierten Begriffs , in dieser \
Gestalt als Sätze aufgewiesen werden. Und diese Unter-
suchung der „in dem Bau der Ideenwelt herrschenden all-
gemeinen Gesetzlichkeit, durch welche auch in ihr ,schon
die einzelnen Bestandteile allein zu einem Ganzen ver-
bunden sein können" — dies ist die Form,, in der die
Frage nach der Wahrheit und ihren Ursprung zu stellen
ist — ist nicht auf den S^ndesmos der Begriffe für sich
gerichtet, sondern will dem von der Reinen Logik heraus-
gehobenen Verhältnis des Logismus zu der Sachlichkeit
gerecht werden, ausdrücklich entgegengestellt einem „un- '
fruchtbaren Spiel mit leeren von ihren' zukömmlichen Unter-
lagen abgelösten Vorstellungen". Und nun führt er in diese
Einsicht wieder seine Theorie von den Denktätigkeiten als-"*
Rückwirkungen unserer geistigen Natur ein und \egi die
damit als maßgebend für das Erfassen der Wahrheit ge-
gebenen Verhältnisse auseinander durch Unterscheidung der
formalen, sachlichen und realen Bedeutung des
Logischen.
Wie er die Charakteristik der Vorstellung gibt : „Das Vor-
stellen ist nicht das, was es vorstellt, die Vorstellung nicht
das, was sie bedeutet. . . Gleichwohl ... ist es nur, indem es
vorstellt was es selbst nicht ist" (337), so unterscheidet er
die jlogischen Denkhandlungen* und ihre ,Resultate^ die ,Ge-
danken'. Jene sind subjektiv, weil sie die durch unsere
Das Gelten der Wahrheitsbeziehungen. LXXVII
Natur bedingten inneren Bewegungen sind, durch die wir
einen Gedanken erfassen; aber sie haben forpiale Be-
deutung, „weil ihre Eigentümlichkeiten zwar nicht die eige-
nen Bestimmtheiten der Sachen sind, aber doch Formen
des Verfahrens, eben die Natur der Sachen zu erfassen und
deshalb nicht außer jedem Zusammenhang mit dem sach-
lichen'Verhalten selbst". Jedoch auch nur formale Bedeu-
tung : „weil es ihrer mehrere und gleichtriftige geben kann,
die zu demselben Endgedanken führen". Die Denkleistun-
gen haben, wenn die Frage nach dem Erkenntniswert
zunächst .auf die Ideenwelt als das primäre Objekt der
Logik beschränkt wird, sachliche Bedeutung. Lotze
drückt das auf Grund einer psychologischen Beschreibung,
nach welcher die Verhältnisse der Eindrücke ' an den Ver-
änderungen des Vorstellens beim Übergang von einem Inhalt
zum andern bewußt werden, so aus : „die gefundenen Gleich-
heiten, Unterschiede und Verhältnisse unseres Vorstellens
bezeichnen zugleich ein sachliches Verhalten unserer Vor-
stellungsinhalte, das folglich unabhängig von unserem Den-
ken besteht und von ihm nur aufgefunden und anerkannt
wird." Und diesen Tatbestand bezeichnet er als das un-
mittelbare Gelten der Belationen von den Denkinhalteh
als solchen. Die Rede von dem , Enthaltensein' der Re-
lationen in den Inhalten oder von ihrem Ansichbestehen
lehnt er ab: Relationen können nur als gedachte , be-
stehen'. So hält er immer die zwei Fundamente der Ob-
jektivität zusammen: Einerseits „kein Verhältnis könnte
zwischen zwei Inhalten gefunden werden, wenn es nicht
durch beider Naturen begründet wäre, aber keines wird
gefunden, ehe es gesucht wird". Anderseits: „Eine Be-
ziehung zwischen ihnen besteht nur insofern wir sie denken.
Aber so ist unsere eigene Seele beschaffen . . ., daß die-
selben a und b, so oft und von wem sie auch vorgestellt
werden mögen, stets im Denken dieselbe Beziehung her-
vorbringen werden. Unabhängig ist diese daher von dem
einzelnen denkenden Subjekt und von einzelnen Momenten
seines Denkens; hierin allein liegt das was wir meinen^
wenn wir sie als an sich bestehend zwischen a und b be-
trachten . . ., sie steht wirklich so fest, aber nur als ein
Ereignis, das im Denken stets unter gleichen Bedingungen
gleich 'sich erneuern wird." (342 f, vgl. Metaph. 80). ;
Dieser Rekurs auf die Seele ist — außer daß er einen
Ansatz für die Teleologie offen hält — darauf gerichtet,
den Anspruch der logischen Formen auf ,reale Bedeutung',
LXXVIII Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
d. h. unmittelbare Geltung für Wirkliches abzuwehren. Da
jede Beziehung nur in dem Geist des Beziehenden existiert,.
so ist sie, „wenn wir sie in dem Sein selbst anzutreffen
glauben, hier allemal mehr als bloße Beziehung" — „die
wir eigentlich nur sprachlich so bezeichnen, aber nicht
als für sich bestehende Wirklichkeit denken können". Das
ist seine These, von Kant her, aber er kehrt sich mit ihr
vom Kantianismus ab, der hier das »Bewußtsein überhaupt'
als imaginären Begriff einführt, um schließlich doch, zur
Religionsphilosophie fortgezogen, bei der Realität desselben
zu enden — wenn er nicht die antimetaphysische Haltung
dadurch wahrt, daß er die Philosophie auf Methodologie
der Naturwissenschaft beschränkt, um nun wieder von der
Wirklichkeit nichts als ein großes Fragezeichen zurückzu-
behalten. Für Lotze gibt es keinen Ausweg, nachdem er
die Gleichung Wissenschaft = Naturerkenntnis = Relations-
system akzeptiert hat. Die Unmöglichkeit, Verhältnisse,
Differentialgleichungen als realiter existierend zu denken,
wird ihm zum Eckstein, auf dem sich die metaphysische
Spekulation aufbaut mit der Tendenz, an Stelle der von der
Naturwissenschaft aufgebauten Welt von Verhältnissen die
Ansicht von „lebendigen Wirksamkeiten" zu setzen. Da-
gegen hat jener Rekurs nicht mehr den Sinn, einen
Apriorismus der Subjektivität vorzubereiten. Im Gegenteil
schaltet Lotze — und hier vollendet sich nun die objektive
Wendung, die wir verfolgten — aus dem Wahrheitsproblem
die Frage nach der Entstehung der Denk- und Anschauungs-
formen als bedeutungslos aus und begründet die A p r i o r i -
tat synthetischer Urteile auf das Was, auf die „sachliche
Selbstverständlichkeit ihres Inhalts" — daß sie, einmal
gedacht, als unbedingt gültig gedacht werden und nicht
erst durch Induktion oder Summati on aus ihren einzelnen
Beispielen entstehen. Das ist in § 357 festgelegt.
Diese apriorische Erkenntnis, in der ein Sachverhalt
in unmittelbarer Einsicht als allgemeingültig erfaßt wird,
bezeichnet Lotze als Anschauung — in Erweiterung
des Sprachgebrauchs, von der ,intellektuellen Anschauung*
der Deutschen Bewegung her — und charakterisiert die-
selbe gegenüber dem diskursiven Denken: ihre Leistung
vollzieht sich so mit einem Schlage, „daß keine Schritte
zu unterscheiden sind, die zu einer Beschreibung Veran-
lassung gäben". Nur für die Anschaulichkeit im engeren
Sinne, die die schlichte Wahrnehmung gibt, hat er die
Charakteristik, die die Beschaffenheit des Inhalts heraus-
Das Prinzip der Sacheinsicht und des Apriorismus. TiXXTX
hebt^): „unbefangen sich selbst darstellend, auf Nichts
außer sich hindeutend um verstanden zu werden, nicht
^ Forderung eines noch zu suchenden Inhalts, sondern volle
^ Erfüllung".
Lotze unterscheidet die Einsicht, in der ein sach-
lieber Zusammenhang als selbstverständlich aufgeht, als
„ästhetische Evidenz" von der spezifisch logischen, die
auf dem Identitätsgesetz beruht, er stellt ihre Sicher-
heit auf gleiche Stufe mit dieser, er begründet auf sie
Kant's Lehre von dem synthetischen Charakter der mathe-
matischen Urteile (§ 353 ff.), er bestimmt von ihr aus das.
Ziel der Erkenntnis: nicht Reduktion aller synthetischen
Verknüpfungen auf analytische ist die Aufgabe, sondern.
Aufsuchen der einfachsten synthetischen Wahrheiten. Denn,
Zusammenhänge, die das Denken in der Sachverhaltswahr-
nehmung erfaßt, weiter zurückführen zu wollen, wäre ein
gegenstandloses Suchen nach Vermittelungen, die in dem;
Zusammenhang selber nicht enthalten sind: „es gibt sach-
lich ursprüngliche Zusammengehörigkeiten des Verschie-
denen". Und dieser Gedanke ist in der angewandten Logik
fruchtbar gemacht, wenn sie das Ziel der Induktion dahin
bestimmt, „aus den unreinen Beobachtungen den reinen
Fall eines in sich zusammengehörigen Bedingungsverhält-
nisses zu finden" 2). Auch wird von hier aus die Rolle der
Psychologie bestimmt: sie hat durch Kritik der Vorurteile
die Nebenvorstellungen zu entfernen, die den reinen Be-
griffsinhalt verdecken und zu Scheinevidenzen führen; denn
die Erfahrung regt nicht immer an, sondern ist auch oft
— Lotzo verweist auf die Geschichte der Mechanik —
hinderlich zum Erfassen der „reinen Fälle" — ,,die Welt
des Selbstverständlichen liegt nicht von selber selbstver-
ständlich vor uns".
Aber dieses Prinzip der Sacheinsicht ist ihm noch
nicht Garantie genug für die Gültigkeit, sobald, das Denken
über das Erfassen der Wahrheitsbeziehungen hinaus zur
Wirklichkeits-Erkenntnis hintragen soll. Dafür bedarf es
noch einer letzten Garantie, und diese findet er in Fries'
Prinzip des Selbstvertrauens der Vernunft, das d;ann wieder
in der ethisch-metaphysischen Überzeugung vom sinnvollen
Zusammenhang der Welt verankert ist. Insofern behält der
ethische Idealismus seine Position am Anfang der Logik,.
^) Metaphysik § 17; vgl. Husserrs Terminologie..
») Logik § 258 ff.
LXXX Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
in demselben Sinne, in welchem Lotze bei Descartes den
Rückgang auf die veracitas Dei in der Erkenntnistheorie
interpretiert. Und ebenso behält die Teleologie ihre Position
am Schluß, wo die spekulative Denkform steht: die Voll-
endung der Philosophie liegt im Zuge des Ideals von Plato's
und Hegel's Dialektik: die einfachsten synthetischen Wahr-
heiten in der Einheit eines Grundgedankens, ,logisch' un-
beweisbar gleich ihnen selber, aber ,ästhetisch* evident ein-
geordnet zu finden und durch die inhaltliche Natur dieses
höchsten Prinzips die Einzelformen der Wirklichkeit und
auch das Gelten von Gesetzen für sie bestimmt zu sehen.
Die Metaphysik.
So hat die Metaphysik, die nun auf die Wirklich-
keit selber, die des Seins und Geschehens ausgeht, das
Prinzip des Selbstvertrauens und damit die Teleologie im
Rücken. Sie stellt die Frage nach dem övrcog öv in der
kritizistischen Form: welchen Bedingungen das genügen
müsse, von dem die Vernunft mit sich selber einstimmig
sagen darf, das es sei oder geschehe. Und da nun Lotze
realistisch daran festhält, daß die Wirklichkeit nicht darin
aufgeht, das Ziel für den Begründungszusammenhang zu
sein, durch den sie von der Wissenschaft konstruiert wird;
da er, genauer gesagt, zwar an die universale Mission der
Galilei'schen Physik glaubt, aber nicht bis zu der Konsequenz
mitgeht, philosophische Wesenserkenntnis falle zusammen
mit dem Aufdecken der Voraussetzungen, die gemacht wer-
den müssen, wenn diese universale Erstreckung der Diffe-
rentialgleichungen möglich sein soll : so wird er mit dem
Anspruch, von der „auf sich selbst beruhenden Vernunft"
„das innerste Wesen der Wirklichkeit" zu erfragen, zurück-
geworfen auf die Annahme einer Übereinstimmung von
Denken und Sein, also auf den Vernunftzusammenhang der
Welt — der doch ein in sich problematischer Ansatz ist,
nachdem der Gottesglaube aus der metaphysischen Theorie
ausgeschieden wurde. Dem entspricht, daß er den Wahr-
heitsgehalt der Ontologie relativiert und ihr, um das zu
rechtfertigen, statt der Wahrheit noch immer das anthropo-
logische Ziel stellt: Weltansicht zur Befriedigung der Ge-
mütsbedürfnisse (§ 94). Gemindert wird die Problematik,
dia aus diesem Ansatz fließt, dadurch, daß sich Lotze nun-
mehr ausdrücklich in die Kontinuität der Philosophie-Ge-
Die Struktur der Metaphysik. LXXXI
schichte einstellt und seine Ontologie darauf baut, daß
nach der Jahrhunderte langen Selbstbesinnung der Ver-
nunft ein zusammenhängendes Bewußtsein über die Not-
wendigkeiten sich müsse gewinnen lassen. So geht er an
jedes Problem mit den Begriffen heran, die in der Ge-
schichte dafür heraufgearbeitet sind, und entwickelt sie
erst hypothetisch, ehe er zur Entscheidung kommt. Und
eines der sichtbarsten Verdienste seiner Leistung liegt hier-
in: die Begriffsarbeit der großen Metaphysik wird wieder
heraufgehoben, unter seiner leichten Hand von dem ,Staub
der Jahrhunderte' befreit, und in die moderne Stellung
der Probleme hinübergeführt.
Aber dies ist nun nicht der entscheidende Gang dieses
viel verzweigten Werkes, das Lotze's tiefstes und reichstes
ist. Es muß aus dem systematischen Zusammenhang mit
der Logik begriffen werden und zeigt dann ein Gesicht
mit festen Zügen. Die Erkenntnistheorie hatte den Kant-
schen Dualismus von Empfindungen und Denktätigkeiten,
die den Zusammenhang in der Erkenntnis hervorbringen,
dadurch überwunden, daß sie die sachliche Bedeutung der
Denkleistungen dazwischenschob und diese von dem Be-
stehen einer gegliederten Ideenwelt abhängig fand, womit
dann der Logismus der Denkfunktionen auf die Rolle sub-
jektiv-reflexiver Formen herabrückte. Aber der Bestand
der Ideenwelt selber blieb noch als bloße Tatsache stehen:
sie eröffnete den Weg zu der Wahrheit und den Wahrheits-
beziehungen, die kraft sachlicher Einsicht erfaßt werden,
aber schon in dem Terminus ,Gelten' lag die Abwehr der
Rede von der Wahrheit an sich. Die Ontologie führt
nun diesen Gang zu Ende. Sie nimmt den entgegengesetzten
Anfang, den von der Wirklichkeit der Erscheinungen, die
nur „in der Empfindung erlebbar" ist, und bricht die dua-
listische Spitze der Zweiweltentheorie — Wirklichkeit, die
ist, Wahrheit, die gilt, — ab durch den monistischen Satz :
„Alle notwendigen Wahrheiten, denen wir das Seiende unter-
ordnen zu können glauben, sind nur Natur und Konsequenz
des Seienden selbst und werden nur durch Reflexion des
Denkens von ihm abgelöst und ihm als gebietendes Prius
antedatiert."
Hier lebt der Nerv seines Systems. Die konstruktive
Metaphysik liegt hinter ihm, aber mit ihr fäl'.t die Kraft der
Begriff lichkeit nicht dahin. Die antikonstruktive Haltung
empfängt ihre letzte Begründung: die Wirklichkeit als
Lot/e, Loffik. yj
LXXXII Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
Ganzes ist nur einmal da, muß als Einziges gedacht werden,
das Denken kann nicht hinter sie zurückgehen und ihre
durchgreifenden Züge wie die Veränderung, das Werden, die
bestimmte Richtung des Werdens erklären oder um der
Logik willen Herbartisch wegdeuten wollen. Der Radikal-
fehler der Metaphysik, , die den Weltzusammenhang in
Wissen auflöst', wird von Lotze aufgedeckt : „Abstraktionen^
durch welche sie für ihren Gebrauch einzelne Restimmungen
des Wirklichen fixiert, als konstruktive und selbständige
Elemente anzusehen, die sie aus eigenen Mitteln wieder
zum Aufbau des Wirklichen benutzen könnte" (§83). Die
Ontologie muß sich „innerhalb des gegebenen Wunders
der Wirklichkeit" halten und kann nur „die innere Ordnung
des Gegebenen" erforschen wollen. Das aber verrriag sie
durch die Kraft der begrifflichen Aufklärung, in gewissen
Grenzen und in einem andern Sinne als die Einzelwissen-
schaften. Sie kann die vorwissenschaftlichen Voraussetzun-
gen, die die natürliche Weltauffassung konstituieren und
auf die sich schließlich die Arbeit der Wissenschaft zu-
rückbezieht, wie die Tatsache des Seins von Dingen oder
des Wirkens, als etwas mit zum Gegebenen Gehöriges auf-
nehmen und rechtfertigt nun ihren eigenen Reruf, solche
Tatsächlichkeit zu verstehen, so: „Nachdem sie da war,
konnte sie nicht da sein, ohne daß auch das gegolten hätte,
was in ihrem eigenen Regriffe lag und ,uns allein gestattete,
sie von dem zu unterscheiden, was sie nicht ist i)." Die
Grenze, an der der unberechtigte Rationalismus anfängt,
ist durch die idealistische Umkehrung markiert: Redingun-
gen unserer Erkenntnis der Sache für Redingungen der
Sache selbst, die logischen Prinzipien für Schranken des
sachlich Möglichen anzusehen 2). So bleibt es bei der
Wendung gegen den Primat des Logischen, aber der Anti-
rationalismus ist nicht mehr Sprungbrett zur Metaphysiko-
Theologie, sondern geht in dem Kampf gegen die Reflexions-
philosophie auf, und der Primat fällt nicht mehr der Ethik,
sondern der Wirklichkeit zu, die „unendlich viel reicher
als das Denken ist". Dieser Hauptsatz der Deutschen Re-
wegung geht mit dem realistischen des Aristoteles zu-
sammen : „die Wirklichkeit des Seins gehört nur dem Einzel-
dinge", und beide sind verbunden durch den Wertbegriff
der Wirklichkeit als eines konkreten Ganzen. So geht
1) Kl. Schriften III S. 418f. (Kritik Fechners 1879).
2) Zu Metaph. § 76f. u. a. vgl. Mikrok. III^ 8. 542ff.
Der neue Standpunkt der Ontologie. LXXXIII
die Qntologie mit ihrer begrifflichen Arbeit antinomina-
listisch nun im Zuge der Deutschen Bewegung auf „die
ursprüngliche Einheit" der Wirklichkeit mit dem, was als
Idee, oder Wesen von ihr nur auf dem Reflexionsstandpunkt
getrennt wird. Es bedarf keiner ,Tat der Spekulation',
um ,Ideales' und , Reales' erst zu ,verschmelzenV keiner
Vermittelungen, die es auch nicht mehr gibt, sobald die
unrechtmäßige Trennung gesetzt ist, sondern nur der „Rück-
kehr zu einem Gedankenkreis, der , mir als die ursprüng-
lichste und einfachste Wahrheit erscheint, während er der
wissenschaftlichen Bildung als unklare Phantasie zu er-
scheinen pflegt". Ihn zur Klarheit zu bringen, dazu dient
die Einsicht in die verschiedenen Strukturformen, die Gel-
tendes und Seiendes verbinden, und so geht nun die Unter-
scheidung der formal-logischen und der sachlichen Zusam-
menhänge weiter fort und zu den realen, metaphysischen,
hin.
Die logischen Formen des „beziehenden Vorstellens"
sind zwar schon in jeder Kenntnis von etwas Seiendem
enthalten, so daß die . Metaphysik auch hinter sie nicht
zurückgehen, sondern, den Zirkel nur „reinlich begehen"
kann. Aber, wie die. Erkenntnistheorie zeigte, sind sie
bloße Mittel zur Wahrnehmung von Verhältnissen, die
am Gegebenen nichts verändern. Jedoch lassen sie gerade
wegen ihrer universalen Anwendbarkeit auf alles Denkbare
die realen Sachverhalte unbestimmt, wie z. B. die Form
des hypothetischen Urteils nichts darüber aussagt, ob Kau-
salität, Zweckordnung - oder bloße Bedingtheit gemeint ist.
„So oft man Auadrücke wie Einheit, Vielheit, Gleichheit,
Gegensatz, Beziehung und Bedingung auf die Betrachtung
des Wirklichen anwendet, muß man sich erinnern, durch
sie allein noch gar nichts über das Seiende gesagt zu haben;
man hat nur die logischen Handlungen verglichen, die wir
an den Vorstellungen des Seienden vornehmen." Es bleibt
für die Metaphysik die ständige Frage: „durch welche
Leistung beweist sich, als eine Wirklichkeit", „betätigt sich"
als sachlich erfüllt das was wir logisch als Einheit, Be-
ziehung usw. prätendieren?
Während dieses Verhältnis von Denken und Sein sich
auf den Akt des Denkens bezieht, erscheint nun bei der
Anerkennung der sachlichen Bedeutung der Denk-
leistungen am Gegebenen der Gegensatz wieder, da das
Denken nur die .Wahrheitsbeziehungen der Ideenwelt er-
fassen kann und dieses Inhaltssystem von der Wirklichkeit
YL*
LXXXIV Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
sondert. Aber gerade diese Sonderung löst die Metaphysik
jetzt auf als eine bloße Reflexionsform — „die Zerpflückung
des Wirklichen in seinen Inhalt und in seine Wirklichkeit".
Lotze bekämpft als den großen Irrtum seit Kant, essentia
und existentia so zu trennen, als ob deshalb, weil das
Denken den unterscheidenden Inhalt eines Individuell- Wirk-
lichen abgesondert von seiner Wirklichkeit fixieren kann,
die Wirklichkeit diesem Inhalt als eine bloße Form der
Setzung nur zukäme, ohne etwas an der essentia zu
ändern, — so daß sie ihm auch fehlen könnte und er
doch seinen eigenen vollen Sinn behielte. Der Begriff
des reinen Seins ist zwar eine legitim gebildete Abstraktion,
aber eben nur eine Abstraktion, und wird unrechtmäßig
angewandt, wenn nicht die konkrete Erfüllung, in der allein
es Wirklichkeit gibt, mitgedacht wird. Da zur Wirklichkeit
ein Wirkenszusammenhang gehört, von dem die Verände.-
rung unabtrennbar ist, konzentriert sich der Irrtum in der
Annahme, daß „das Was eines Dinges in völliger Ruhe
schon dasselbe Was gewesen wäre, das es in dieser Be-
wegung ist". „Die unaufhörlich fortschreitende Melodie
des Geschehens ist der metaphysische Ort, in welchem die
Systematik der Ideenwelt, die Vielheit ihrer harmonischen
Verhältnisse, nicht bloß von uns gefunden wird, sondern
auch allein ihre Wirklichkeit hat." So spricht er von dem
„geschehenden Inhalt" und von den Ideen als der eigenen
Verfahrungs weise der Dinge: „jede von ihnen ist die Nach-
ahmung, die das Denken von einem der Züge versucht, in
denen sich das ewig Wirkliche ausdrückt". Mit dieser ent-
scheidenden Wendung muß der Weg zusammengehalten
werden, auf dem Lotze sich Kant's Satz aneignet, daß der
Verstand der Natur ihre Gesetze vorschreibe. Zu dem
Ganzen derselben Welt gehörend, in der die mechanisch
erklärbaren Wirkungen geschehen, „drängt die Vernunft
nicht ihre subjektiven Gesetze der Natur auf, sondern sie
errät die eigenen dieser und stellt sie nun als verbindliche
Regeln dem Gewirr der einzelnen Vorgänge zu deren Be-
urteilung und Erklärung voran".
Hier liegt die Abkehr vom ethischen Idealismus voll-
endet vor; sie wird ganz deutlich an dem Gegensatz zu
Sigwart, der den Kantischen Satz von diesem Standpunkt
aus so umformte : „Die allgemeinen Voraussetzungen, welche
die Grundzüge unseres Ideals der Wissenschaft ausmachen,
sind nicht sowohl Gesetze, welche der Verstand der Natur
vorschreibt, als vielmehr Gesetze, welche er sich selbst
Die Ideenwelt und die Realität. LXXXV
in der Erforschung und denkenden Bearbeitung der Natur
gibti)." Lotze erklärt im Zuge seiner Lehre von der sach-
lichen Einsicht: Die Grundsätze der reinen Mechanik sind
apriori, weil die Erfahrung nur Anlaß sein kann für die
Gedankenarbeit, die den ,reinen Fall' aus den mitwirken-
den Nebenbedingungen herauslöst und in ihm mit unmittel-
barer Klarheit das Selbstverständliche sieht. So widerlegt
er bereits die Ansicht, die den demonstrativen Charakter
der reinen Mechanik in der Deduktion aus selbstgemachten
Voraussetzungen beschlossen findet und ihre Gültigkeit für
die Erfahrung dann hypothetisch Ibeschränken muß — wenn
es Wirklichkeiten gibt, die sich den Begriffen genau sub-
sumieren lassen. Diese Skepsis ist untriftig, weil die
Mechanik „unter dem unablässigen Drucke der Erfahrung
entstanden ist, die Erklärung verlangte. Die abstrakten
allgemeinen Bedingungen, aus denen wir in ihr bestimmte
Folgen ableiten, sind nicht problematische Entwürfe von
etwas, das sich vielleicht finden könnte, sondern Reduk-
tionen des assertorisch Gegebenen auf seine allgemein-
gültige Gestalt" (Logik § 359).
Aber dieser realistische Satz, daß die allgemeinen Natur-
gesetze, sobald sie sachlich einsichtig sind, nicht bloß
hypothetisch „gelten", sondern wirkliche Verläufe darstellen,
empfängt nun seinen vollen Sinn erst dadurch, daß die
physische Allgemeingesetzlichkeit als ein Grenzfall der in-
dividuellen Kausalität begriffen wird. Und hier ist nun
wieder einer der Punkte, wo Lotze's Blick den wahren Sach-
verhalt sieht, aber, weil geistige Zusammenhänge in Sicht
sind, spekulativ abgelenkt Vvdrd. Er stellt fest, daß die All-
gemeingesetzlichkeit nur eine logische Forderung ist, mit
der die exakten Wissenschaften ihren Anspruch auf Allein-
herrschaft ausdrücken. Er schränkt ihn ein, aber nun nicht
sachlich auf das Gebiet der Naturerkenntnis, sondern, weil
er ihn als eine Notwendigkeit der Wissenschaft überhaupt
gelten läßt, muß er ihn ganz allgemein einschränken, und
alles Wirken letzlich durch den Sinn bestimmt denken
und zwar sogleich durch den Sinn des Weltganzen.
Er kommt an dieser kritischen Stelle wieder mit Hilfe
der Unterscheidung der formalen, sachlichen und realen
Bedeutung des Logischen vorwärts. Die Annahme der All-
gemeingesetzlichkeit liegt der Naturwissenschaft als Vor-
aussetzung apriori, die auch in der Induktion auf Wahr-
1) Sigwart, Logik II « S. 22.
LXXXVI Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
scheinlichkeit bereits enthalten ist, zugrunde; das ist seit
Kant die Widerlegung des Empirismus. Aber ihre Apriorität
ist nur eine formal-logische, nicht die der sachlichen Ein-
sicht, und bedeutet daher von sich aus noch nicht Gültig-
keit, sondern nur eine souveräne „Rückwirkung'* des Den-,
kens> das sein eigenes Gebiet überschreitend, etwas über
die Natur des Wirklichen allgemein festsetzt. ,^ichts be-
rechtigt uns zu der Gewißheit, ausschließlich durch all-
gemeine Gesetze, die in unzähligen Fällen der Anwendung
dieselben sind, werde dem jedesmaligen Tatbestand der
neue zugemessen, der seine Folge sein soll" (117). So
konzentriert sich das Problem auf das Verhältnis von Ge-
setzlichkeit oder Begründungszusammenhang und Kausalität.
Und die Lösung liegt in der Richtung auf eine ursprüngliche
reale Einheit beider, also in der Aufhebung der Lehre von
der Wahrheit an sich. Kausalität oder Wirken bedeutet
universal gefaßt „das, was dem ganzen Gestaltenreichtum
der beobachtbaren Welt so zugrunde liegt, daß ohne sein
Zugeständnis keine Ordnung des Weltlaufs, welche Form
sie auch immer tragen möchte, verständlich sein würde".
Dieses Ordnungsprinzip darf nicht von der Wirklichkeit,
an der es herausgehoben wird, gesondert und als ein
zeitloser Vernunftzusammenhang hingestellt werden, der
in ,die' Zeit eintretend, erst zur Wirklichkeit käme. Ist
diese Trennung einmal vollzogen, so wird das reale Ge-
schehen unbegteifbar. Denn es bleiben dann nur die zwei
Möglichkeiten: Entweder wird das Bestehen von Wahr-
heitsbeziehungen, das als solches nur ein Gelten für, nicht
ein Herrächen über Wirkliches sein kann, hypostasiert zu
einer Macht der Gesetze, sich selbst zu verwirklichen.
Oder die Naturwissenschaft wird im Verfolg der hypothe-
tischen Form ihrer Gesetze und der Idealität ihrer Gegen-
stände rein auf die systematische Folgerichtigkeit gestellt,
so daß sie mit dem Begründungszusammenhang zusammen-
fällt — man denke an die Weltformel des Laplace'schen
Geistes — : dann ist das reine Denken von der Wirklichkeit
isoliert und es gibt keinen Weg mehr, den Vorzug der
wirklichen Welt vor einer bloß gedachten zu begreifen,
vielmehr muß der Rationalismus, um die gesetzliche Bin-
dung der Wirklichkeit zu verstehen, sich dahin übersteigern,
daß er den Sinn der Welt darin findet, daß sie der Wissen-
schaft einen Gegenstand der Erkenntnis abgibt. In diesem
Zusammenhange hat bereits Lotze erkannt, daß es in der
Konsequenz des selbstgenugsamen Relationsgedankens der
Allgemeingesetzlicbkeit und Kausalität. LXXXVttl
Naturwissenschaft li^gt, das wirkliche Geschehen aufzu-
heben (65). Und seine Kosmologie vollendet dann die
Kritik dieses logischen Relativismus durch den Appell an
die Konstanten, die in die Differentialgleichungen eingehen.
„Durch die unvermeidliche Relativität unserer Bezeich-
nungen solcher Konstanten darf man sich nicht zu dem
Mißgriff verleiten lassen, sie selbst deswegen für unbe-
stimmt zu halten" (166).
Aber das ganze naturwissenschaftliche Erklärungs-
schema — unveränderliche Beziehungspunkte und Rela-
tionen zwischen ihnen — ist metaphysisch unhaltbar. Es
drückt nur die subjektive Bewegung des Denkens aus, das,
zunächst auf die Unterscheidbarkeit der Inhalte achtend^
eine Vielheit ursprünglich gesonderter Elemente ansetzt
und nun die Verbindung wieder herstellt durch ihnen äußer-
liche Relationen, die doch nur für ein beziehendes Vor-
stellen bestehen. Die Kluft ist eine selbstgeschaffene. Die
Frage nach einem Übergang aus Isoliertheit in das Verhält-
nis des Sich nacheinander Richtens ist gegenstandlos, da
„ein NichtZusammensein kein Vorkommen in der Wirklich-
keit hat". Gegeben ist immer nur die konkrete Leistung,
das erfüllte Wirken; „alle räumlichen und zeitlichen Re-
lationen, welche wir als Vorbedingungen künftigen Wirkens
anzusehen pflegen, sind nur Ausdrücke und Folgen eines
bereits geschehenden" (82). Gesetzlichkeit hat nicht an
sich, sondern nur innerhalb eines Wirkenszusammenhanges
einen Sinn. „Die ,Bedingungen' sind die allgemeine Ge-
wohnheit dieses Wirkens selbst i)." Und was liegt im Be-
griff des Wirkens selber? Allerdings die Vergleichbarkeit
der Inhalte, diese „glückliche Tatsache", mit der die Ideen-
welt den Satz vom Grunde bestätigte — aber nicht Ver-
gleichbarkeit nach dem Schema der Unterordnung des Be-
sonderen unter das Allgemeine der Gattung, sondern ent-
sprechend dem Funktionsbegriff, der „die gliedernde Regel
des Zusammenhangs", „das durchgreifende Bildungsgesetz
der Einzelnen" gibt und der individuellen Kausalität Raum
läßt. Also eine notwendige Voraussetzung ist die Rationali-
tät des Wirklichen nur in dem Sinne eines Gewebes von
Reihen, innerhalb dessen nach verschiedenen Richtungen
Fortschritte von angebbarer Größe von Glied zu Glied
fühi'en^). Die analytische Mechanik führt darüber hinaus,
1) Metaph. § 58, 81, 156, vgl. Logik § 349, 359. Kl. Sehr. III S. 419.
2} Zu § 232 vgl. Kl. Schriften a. a. 0.
LXXXVIII Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
indem sie einen Gesamteffekt als Resultante aus isoliert
berechenbaren Einzelwirkungen erklärt. Sie verdankt ihren
konstruktiven Charakter der sachlichen Natur der Größen-
verhältnisse, die den Inhalt eines Allgemeinbegriffs so voll-
kommen aufschließbar machen, daß der Erfolg einer Be-
dingung, die den Begriffsinhalt determiniert, konstruier-
bar ist. Aber die Analytik ist nur ein Spezialfall des
umfassenden Verhaltens, das der Grundsatz eines „er-
weiterten Mechanismus" ausdrückt: „an die Vereinigung
vieler Elemente zu einer gleichzeitigen Wirkung können
Effekte geknüpft sein, welche nicht bloße Konsequenzen
der Einzeleffekte sind, die durch die Wechselwirkung
zwischen je zweien dieser Elemente entstehen" (87, 233).
Auch sie erfolgen nach Regeln, aber nach Regeln, die von
dem konkreten Sinn des Weltganzen unmittelbar, nicht erst
durch das Mittelglied der allgemeinen Gesetze, abhängig
sind. „Das Geschehen im großen und allgemeinen ist syn-
thetische Verknüpfung des qualitativ Ungleichartigen und
nur dem Sinne nach Zusammengehörigen, nicht bloße Com-
bination des Identischen." So bestimmt die Kosmologie
die Grundsätze der Physik nicht als apriorische Voraus-
setzungen, sondern als „Gesetze der Wirkungen", in denen
„große Gewohnheiten der Natur" fixiert sind, und ermög-
licht es sich damit, die rationalen Zusammenhänge nicht
auf die Logik, sondern auf die „konkrete Idee" des Welt-
ganzen zu begründen. Diese Begründung geht dann freilich
wieder darauf aus, das harte Faktum der Naturgesetzlich-
keit mittels des Zweckgedankens zu verflüssigen — und
schließlich bleibt doch für die Schwierigkeit der Teleologie,
„daß das, was durch die Idee a fronte bedingt wird, immer
mit dem identisch sei, wozu durch den Mechanismus ihrer
Verwirklichung a tergo angetrieben wird", nur die Antwort:
So ist es eben (92).
Das Verhältnis der Metaphysik zum Rationalismus stellt
sich nun einfach dar. Die Voraussetzungen, die unserer
Weltauffassung zugrunde liegen, drücken Zusammenhänge
der Wirklichkeit selber aus und sind nicht konstitutive
Kategorien, die die Wirklichkeit logisch bedingten. Lotze
lehnt jetzt die Rede von Kategorien und den Versuch, sie
aus dem System der theoretischen Vernunft zu deduzieren,
konsequent ab (XII). „Alle Begriffe des Bedingens, des
Wirkens und der Tätigkeit fordern uns zur Voraussetzung
von Zusammenhängen der Dinge auf, deren Konstruktion
alles Denken übersteigt" (77). Und er läßt nun auch den
Abgrenzung der Rationalität innerhalb der Wirklichkeit. LXXXIX
ursprünglich und bis zum Mikrokosmus i) eingeschlagenen
Weg, die ontologischen Begriffe gleich den logischen Grund-
sätzen als Projektionen unserer geistigen Natur zu erklären
(womit dann die ethische Ideologie folgte), fallen. Statt
dessen führt er die Klärung der Annahmen, die in der
natürlichen Weltauffassung enthalten sind, soweit, daß das
mit ihnen Gemeinte und die Gedankenformen, die den ge-
meinten Sachverhalten adäquat wären, bestimmt sind, und
entscheidet dann folgendermaßen. Soweit es wie in der
Physik gelingt, Tatbestände der Wirklichkeit rein auf
logische Gestalt zu bringen, so weit reicht die Rationalität
der Wirklichkeit selber. Schließt die deskriptive Natur eines
Gegenstandes, konsequent durchdacht, ein vom Bewußtsein
unabhängiges Dasein desselben aus, so muß, wie bei der
Phänomenalität des Raumes, die logische Einsicht über die
natürliche Anschauung siegen, die dann aber psychologisch
erklärt werden muß, was in diesem Hauptfall mitteis der
Lehre von den Lokalzeichen versucht wird. Ist dagegen ein
Tatbestand, wie z. B. das Werden, durch keine logische
Verbindung von Begriffen faßbar, so ist diese seine Un-
ausdenkbarkeit kein Argument gegen seine Wirklichkeit;
denn eine — gegebene oder auf Grund logischer Einsicht
zu fordernde — Leistung des Wirklichen ist deshalb, weil
ihre Konstruktion an der Unvereinbarkeit der Begriffe
scheitert, noch nicht widersprechend, sondern nur den
logischen Gesetzen überlegen und hebt deren richtige An-
wendung nicht auf. „Das Werden lehrt uns, daß Sein und
Nichtsein eben nicht, wie wir hätten denken müssen, kon-
tradiktorische Prädikate jedes Subjektes sind, sondern daß
es ein Drittes zwischen beiden gibt."
So sucht die Metaphysik den sachlichen Bereich des
Rationalen innerhalb der Wirklichkeit abzugrenzen und
widersteht, wenn auch letztlich in spekulativem Interesse,
den Lockungen des Rationalismus. Und da die Analysen
bei jedem Problem neu mit unbefangener Deskription ein-
setzen, bleibt der Wert dieser begrifflichen Arbeit unab-
hängig von der spekulativen Lösung, die Lotze schließlich
bietet. Das gilt insbesondere auch für die „Kosmologie",
die nunmehr ausdrücklich auf die Grundlagen der Natur-
erkenntnis ausgeht, mit einer tiefen Analyse der Zeit den
,Kantischen Horizont der Phänomenalität' bereits vollständig
durchbricht und auch gegenüber der empiristischen Reduk-
1) Mikr. III 6 S. 543 f. Vgl. oben S. XLVni.
XC Einleitung. IV. Das System der Philosophie.
tion der Unendlichkeit auf einen unvollendbaren Denkprozeß
den deskriptiven Begriff, „das Unendliche als in der Sache
vorhanden und gegeben" (143, 145), wiedergewinnt. Der
Wendepunkt liegt dann bei jedem Problem darin, daß die
„ursprüngliche Einheit" von Idee und Wirklichkeit als Ziel
gesetzt ist, das mit der reinen Kraft der Begrifflichkeit
und zwar gerade an der dinglichen Welt erreicht werden
soll und so doch nur immer als in Wirklichkeit erfüllt
behauptet werden kann, mit Wendungen wie: „das Ding
ist das [individuelle] Gesetz", „der Begriff ist nichts weiter
als das eigene Leben des Wirklichen". Auch die Idee der
Einheit des Weltganzen soll auf diesem Wege, mittels Zer-
gliederung des Begriffes der Wechselwirkung, bestimmt
werden. Hier stehen neben der fruchtbaren Gedanken-
arbeit, mit der Lotze die Kausalvorstellung auf eine höhere,
abstraktere Stufe erhoben und die metaphysische Unzuläng-
lichkeit des positivistischen Funktionsbegriffs dargetan hat,
seine Spekulationen über die „innerlichen Regungen" der
Dinge, die sich stufenweis, von dem Grenzfall der Gravi-
tationsprozesse an aufwärts, in der Ablaufsform des Wirkens
geltend machen, und über den „sympathetischen Rapport"
der Kraftzentren innerhalb der „Einheit des wahrhaft Seien-
den, das für alle Wesen Grund ihres Seins, Quelle ihrer
eigentümlichen Natur und die eigentliche in ihnen wirk-
same Tätigkeit ist". Jedoch ist mit diesem Begriff des
All-Einen analog wie bei dem der seelischen Einheit nicht
eine substanziale, sondern eine Einheit des Sinnes, das
„Sichgeltendmachen als Einheit" gemeint i). Es ist im
Grunde der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus der
Deutschen Bewegung — die Welt als ein lebendiges Ganzes,
in dem „ein Strom innerlichen Wirkens sich von Phase
zu Phase fortpflanzt" und die Aufeinanderfolge der Phasen
und die Gestalt eines jeden dieser „Weltaugenblicke" be-
stimmt ist durch den „ästhetischen oder dialektischen Zu-
sammenhang der konkreten Idee", die als der einfache
Urcharakter des individuellen Weltganzen zu denken ist,
aber immer nur in den bestimmten Ausprägungen ihres
beständigen Sinnes Wirklichkeit hat und in ihrem Ansich
unerforschlich ist. Diese Weltansicht, mit der ihn die
Philosophie empfangen hatte, ist jedoch umgeformt: er
wendet sie zum Panentheismus hin, so daß Raum für einen
allmächtigen Gott bleibt; er bringt seinen Gedanken von
1) Zu § 97 vgl. Kl. Schriften in S. 421.
Die Weltansicht des Panentheismus. XOI
dem Haushalt der Natur mit und. sucht zu zeigen, daß der
dialektische Zusammenhang der Idee, um Wirklichkeit wer-
den zu können, in einen Kausalzusammenhang übergehen
muß ; er rettet schließlich für das Seelenleben ein relativ
selbständiges Dasein: wo Selbstbewußtsein ist oder auch
nur Selbstgefühl^ ist wesenhaftes Eigensein, echte wahre
Bealität des Fürsichseins ; dagegen i?t mit dem Begriff der
bloßen Dingheit eo ipso die absolute Unselbständigkeit des
Daseins gesetzt: die Leistungen, die wir Dingen zuschreiben,
lassen sich als elementare Aktionen des Einen Weltgrundes
begreifen. Doch ist Lotze auch im Spekulieren nicht ein-
seitig und läßt auch die Möglichkeit, mit Fechner's Phantasie
an Allbeseelung zu glauben. In diesem Zuge konnte er
mit Grund enden: „Gott weiß es besser".
Literatur.
Hauptsohriften Lo.tze's.
Metaphysik, Lpz. 1S41.
Logik, Lpz. 1843.
Abhandlungen: Herbart's Ontologie 1843; Leben. Lebenskraft 1843 ;
Seele und Seelenleben 1846; Über den Begriff der Schönheit 1845;
Über Bedingungen der Kunstschönheit 1847.
Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens, Lpz. 1851.
Medizinische Psychologie oder Physiologie der SeeliB, Lpz. 1852.
Streitschriften, Erstes (einziges) Heft, gegen J. H. Fichte, Lpz. 1857.
Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der
Menschheit. Versuch einer Anthropologie. Lpz. Bd. I 1856, II 1858,
III 1864; Fünfte Auflage 1905.
Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868.
System der Philosophie, Lpz. I. Teil. Drei Bücher der
Logik 11874, 2 1879. IL Teil. Drei Bücher der Metaphysik 1879.
Abhandlungen: Philosophy in the last forty years 1880 und (posthum).
Über die Prinzipien der Ethik.
XCII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
Die Abhandlungen findet man mit den aufschlußreichen Rezensionen
und Selbst an zeigen zusammen in Kleine Schriften von H. L., 3 Bde.
hrg. mit einem ausführlichen Sachregister von David Peipers, Lpz.
, 1885—91.
Die Diktate aus Lotze's Vorlesungen über Logik und Encyclopädie der
Philosophie, Metaphysik. Naturphilosophie, Psychologie, Praktische
Philosophie, Ästhetik, Religionsphilosophie, Geschichte der deutschen
Philosophie seit Kant wurden in 8 Heften nach seinem Tode heraus-
gegeben (in den verschiedenen Auflagen sind z. T. Vorlesungen
verschiedener Jahre benutzt) ; im Anhang derselben findet man
biographische und bibliographische Nachweise.
Schriften über Lotze.
Von der Biographie, die Richard Falckenberg in den Klassikern der
Philosophie begann, ist bisher nur erschienen Teil I. Das Leben
und die Entstehung der Schriften nach den Briefen, Stuttgart 1901.
Von Falckenberg angeregt sind eine Reihe Erlanger Dissertationen
über Lotze.
Die zahlreichen Schriften über Lotze sind gesammelt in Überweg-
Heinze's Grundriß der Geschichte der Philosophie Bd. IV. Eine
zusammenfassende Darstellung gaben (mit besondprer Rücksicht auf
das spekulative Moment): J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte
der Philosophie, wo Lotze den Abschluß bildet, in der 4., von
Benno Erdmann herausgeg. Auflage (Berlin 1896) S. 891 — 913;
Edm. Pfleiderer, L.'s philosophische Weltanschauung nach ihren
Grundzügen, Berlin 1884; Ed. v. Hartmann, L.'s Philosophie,
Lpz. 1888; Henri Schoen. La melaphysique de H. L. ou la
Philosophie des actions et des r^actions r6ciproques. These pour
le doctorat ^s lettres, Paris 1901. Von einer Monographie, die
L. Ambrosi vorbereitet, erschien die Einleitung in der Zeitschrift
Cultura f.losofica t. III 1909.
Schule hat Lotze nicht gemacht. Auf ihn beziehen sich innerhalb
der Deutschen Philosophie (seine Wirkung ist auch in Frankreich,
England und Amerika, Italien, Schweden zu bemerken) vornehmlich
Stumpf, Husserl, auch Twardowski, in anderer R chtung (Zwei-
weltentheorie, Wertbegriff der Wahrheit) Windelband. Rickert, Lask
und in der naturwissenschaftlichen Fraktion des Kantianismus be-
sonders Otto Liebmann und H. Driesch; ferner Steinthal, Dilthey
in früheren Arbeiten, Teichmüller, Eucken; auch Frege iet ein
Schüler von ihm.
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren
(1880).
Jede philosophische Ansicht, die den Geist ihrer Zeit
und womöglich den der Zukunft zu beherrschen sucht,
pflegt auf drei Vorzüge Anspruch zu machen: ihr höchstes
Prinzip soll unwiderlegbar sein, ihre Methode, in der
Regel durchgängig ein und dieselbe, soll einfach sein;
und schließlich soll die logische Struktur des Systems,
in welchem sie die von ihr gewonnenen Ergebnisse zu-
sammenfaßt, durchaus auf intuitiver Evidenz beruhen. Ich
würde mich scheuen, auf einen dieser drei Titel den
viel bescheidneren Anspruch zu gründen, daß ich die freund-
liche Aufmerksamkeit meiner englischen Leser für die
Gedanken zu gewinnen suche, die ich ihnen hier vorlege;
aber ich möchte die Gründe auseinandersetzen, aus
denen ich den Wert von allen dreien bezweifle, und die
mich bis jetzt dazu bestimmt haben, daß ich jeden Ge-
danken an einen Versuch, meinen eignen Gedanken einen
solchen Stempel aufzudrücken, aufgegeben habe.
Als ich meine philosophischen Studien begann, war
die herrschende Meinung noch die, der Fichte den
deutlichsten Ausdruck gegeben hat, daß keine Theorie
der Welt als Wahrheit und Wissenschaft gelten könne,
welche nicht imstande wäre, alle besonderen Teile des
Weltlaufs als unselbständige Folgen eines einzigen all-
gemeinen Prinzips zu erklären. Groß geworden in den
Traditionen der Hegeischen Schule, die selber diese
Forderung vollständig erfüllt zu haben glaubte, habe ich
ständig an dem Bestandteil von Wahrheit festgehalten,
den Fichte 's Behauptung mir zu enthalten schien. Aber
gleichzeitig konnte ich mir nicht verhehlen, daß ein
Unterschied besteht, den diese Behauptung vollständig aus-
löschte. Für die Welt selbst — den großen Gegenstand
XCrV Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
unsrer Forschungen — zögerte ich nicht, diese Einheit
vorauszusetzen, welche alle individuellen Besonderheiten
dieser Wirklichkeit aus einer gemeinsamen Quelle zieht;
aber ganz anders schien es mir mit der Philosophie zu
stehen, d. h. mit dem menschlichen Bestreben, von dem
Standpunkt ßtMS, auf den wir uns in der Welt gestellt
finden, für uns einen Einblick in dies allumfassende
System zu , gewinnen. Nur ein Geist, so schien mir, der
im Mittelpunkte des Universums stände, das er selbst
geschg-ffen, könnte mit der Kenntnis des letzten Zwecks,
den er selbst seiner Schöpfung gegeben, alle ihre ein-
zelnen Teile vor sich vorüberziehen lassen in der
majestätischen Folge einer ununterbrochenen Entwicklung.
Wir endlichen Wesen aber sitzen nicht aii der lebendigen
Wurzel alles Seins, sondern irgendwo in den Zweigen, die
aus . ihr erwachsen sind, und nur auf mannigfachen Um-
wegen: und : unter sorgfältiger Benutzung aller Hilfsmittel,
die -unsre Lage uns bietet, können wir hoffen, von dem
Boden, .auf dem wir stehen, von dem System, zu dem
wir gehören, und von der Richtung, in der die Bewegung
des großen Ganzen uns mit sich fortträgt, eine an-
nähernde Kenntnis zu gewinnen. Der menschliche Geist
verdient sicherlich keinen Tadel dafür, daß er auf jedem
Standpunkt, den sein Wissen erreicht,, ein vollständiges
Bild des Ganzen zu entwerfen sucht, das sich mit logischer
Strenge auf der gewonnenen Grundlage erheben soll. Aber
j6ne : Aufgabe einer Entwicklung, die die Mannigfaltig-
keit der Welt von einem einzigen Grundprinzip aus
fortschreitend ableiten soll, ist in sich selbst unvollend-
bar ; die dringendere und größere Arbeit der Philosophie
muß vielmehr meiner Ansicht nach die Gestalt einer regres-
siven Untersuchung tragen, die zu entdecken und sicher
festzustellen sucht,, was als lebendiges Prinzip in dem
Aufbau und Lauf der Welt erkannt und angewandt
werden kann.
; Noch ein andrer Zweifel jedoch steigt in mir auf
und macht es mir sehr ungewiß, ob ich selbst am Ende
meiner Wanderschaft vor demselben Ziel stehe, von dem
die idealistischen Ansichten jener Periode ausgingen. Seit-
deiii die Menschen überhaupt philosophieren, haben sie
sich zwischen zwei extremen Dispositionen bewegt. Düster
und mißtrauisch, hält die eine dafür, daß der wahre Kern
der» Wirklichkeit in einer dunklen Realität bestehe, die dem
Denken nie zugänglich werde; die andre vertraut kühn und
Die Philosophie in den letzten 40 Jähren. XGV
hoffnungsvoll darauf, daß nichts der Wissenschaft un-
durchdringlich sei, und ist überzeugt davon, Ideen als das
innere Wesen von allem entdecken zu können, was auf
den ersten Blick noch so seltsam und unerklärlich er-
scheint. Ich konnte keine von diesen beiden Dispositionen
teilen. Ich war überzeugt, daß die erste von ihnen irrig
ist. Es mag in der Verwicklung der Dinge vieles geben,
was vorübergehend oder dauernd verborgen oder im Dun-
keln bleibt. Aber ganz unglaublich war mir der Begriff eines
derart zwiespältigen Universums, daß das ganze geistige
Leben immer mit einer äußerlichen ihm ewig undurch-
dringlichen Realität zu tun hätte. Jedoch konnte mein
Vorurteil zugunsten der Einheit der Welt, dem die erste
dieser Ansichten so widersprach, mich nicht bestimmen,
mir die zweite ohne Vorbehalt anzueignen. Philosophie
will Wissenschaft sein, und ihr Werkzeug muß daher
einfach die Verknüpfung von Gedanken sein; infolgedessen
verfällt sie leicht in den schweren Irrtum, den Wert dieses
Werkzeugs ihrer Arbeit auf eine doppelte Weise zu über-
schätzen. Sie ist sehr leicht bereit, das Wissen als das
einzige Tor zu betrachten, durch welches das, was das Wesen
der Wirklichkeit ausmacht, mit dem Geiste in Konnex
tritt, und die besonderen Formen der Verknüpfung, durch
welche wir in unsrem eigenen Denken daä Mannigfaltige
begreifen und vereinen, für die Bänder, und die einzigen
Bänder, zu halten, die auch in der wirklichen Natur der
Dinge die verschiedenen Elemente zusammenhalten. Aber
geistiges Leben ist mehr als Denken. Vieles geht in uns
vor, was selbst unser denkender Geist nur von außen
verfolgt und betrachtet und dessen eigentlichen Inhalt
er nicht erschöpfend darstellen kann, weder in der Form
einer Vorstellung, noch durch eine Verbindung von Vor-
stellungen. Wer von der Überzeugung beseelt ist, daß die
Wirklichkeit dem Geist nicht undurchdringlich sein kann,
vermag daher nicht mit gleicher Zuversicht zu behaupten,
daß das Denken grade genau das Organ sei, das imstande
wäre, das Wirkliche in seinem innersten Wesen zu erfassen.
Ich werde etwas später auf den präzisen Sinn dieser Aus-
drücke zurückkommen und will jetzt ihre Bedeutung nur
dadurch erklären, daß ich an die Vielen erinnere, die be-
haupten, daß sie das, was das Höchste in der Welt ist,
vollkommen geistig erfahren, in Glaube, Gefühl, Ahnung,
Offenbarung, und die trotzdem bekennen, daß sie es nicht
im Denken besitzen. Wir werden unsern Standpunkt dieser
XCVl Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
Anschauung gegenüber auf einer späteren Stufe bestimmen,
aber wir wollen schon hier eine Konzession im voraus
machen. Alle Wissenschaft kann natürlich nur mit Ge-
danken operieren und muß den Gesetzen unseres Denkens
folgen; aber sie muß einsehen, daß sie in allen Objekten,
mit denen sie sich beschäftigt, und besonders in jenem
höchsten Prinzip von Allem, das sie voraussetzt, etwas
finden wird, das selbst wenn es geistig ganz vollständig
erfaßt wäre, dennoch nicht in Form einer Vorstellung
oder eines Gedankens erschöpft werden könnte. Die Or-
ganisation dieses Etwas, so wird sie weiter finden, ver-
bindet seine Glieder nach einem Plan, der nicht nach
den gewöhnlichen logischen Gesetzen demonstrierbar ist,
sondern vielmehr, wenn er bekannt ist, die Richtung an-
gibt, in welcher das Denken sich bewegen muß, um die
Verbindung, die es sucht, zu finden.
Man würde mich mißverstehen, wenn man dächte, ich
gäbe diese beiden Ansichten für dauernde Lehrmeinungen
aus, auf deren unzweideutiges Verständnis ich schon hier
rechnen könne; in Wirklichkeit meine ich mit ihnen nur
die Dispositionen und Vorurteile zu beschreiben — Vor-
urteile, die sich ihrer Bedeutung nach nicht klar waren — ,
mit denen ich in den lebendigen philosophischen Strom
meiner Jugend eintrat. Wer sich der Geschichte jener
Periode erinnert, wird sich entsinnen, wieviel Anreize zu
all diesen Zweifeln in der Philosophie Hegel 's liegen.
Diese Philosophie suchte durch ihre dialektische Methode
den ganzen Inhalt der physischen und geistigen Welt
bloßzulegen, jedes besondere Ding genau an dem Platze,
den es im Plan der Welt einnimmt; aber die Auf-
schlüsse, die sie dann gab, besagten nicht viel mehr,
als daß es eben diesen besonderen Platz einnehme. Die
eigentümliche Bestimmtheit, mit der jeder einzelne Teil
des Ganzen seinen Platz im System ausfüllt, blieb ein
überflüssiger, wenig beachteter und für unerklärbar
gehaltener Umstand, und das- Wesentliche in jeder
Tatsache und Erscheinung bestand darin, daß sie als
das n ^® oder n + 1 *^® Beispiel in den Gesamtreihen
aller wirklichen Dinge einen der wenigen abstrakten Ge-
danken wiederholte, die die Hegeische Methode als den
tiefsten Sinn der Welt verkündete. Es ist bekannt, wie
weit die Reaktion gegen diese Herabminderung alles Eigen-
tümlichen und Konkreten um sich griff, und wie sie
ScheUing zu dem unerfüllten Versprechen führte, dieses
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. XGVII
System der Notwendigkeit durch ein System der Frei-
heit zu ersetzen. Zuerst hegte ich einige Sympathie |üb
die Form, in der die Erfüllung dieses Versprechens gedacht
war; aber wirklich befriedigen konnten mich weder die.
Resultate, soweit sie vor mir lagen, noch, auch die Axt
und Weise, wie sie erlangt werden sollten ; und schließ-
lich fand ich mich in vollem Widerspruch zu dieser
Anschauung. ;.
Ich hätte diesen persönlichen Erinnerungen nicht Raum
gegeben, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß mit Atis--
nahme weniger Fälle eine langhin fortgesetzte philo-
sophische Arbeit nichts anders ist als der Versuch, eine
in früher Jugend ergriffene Grundanschauung wissenschaft-
lich zu rechtfextigen. In der Tat ist Philosophie immer
ein Stück Leben, und ebenso wie wir im Handelsaustausch
unis gegenseitig unterstützen, mag auch die Erzählung von
einer Bewegung des Denkens, wie sie sich in eines Men-
schen Brust gestaltet hat, andern nützlich seijx, die dem-
selben Ziel nachstreben. Wenigstens biete ich meine Ge-
danken nur in diesem Sinne an, nicht in der eitlen Hoff-
nung, dem Strom der Forschung nach einem Lauf von
Tausenden von Jahren eine definitive Wendung zu geben;
aber mit der Zuversicht, daß man anerkennen wird, ich
bin nicht am Anfang meiner Wanderschaft müde geworden,,
sondern habe versucht, sie his zum Ende durcbzuführen,
um mir selbst klär zu machen, ob und wieweit es mög-
lich sei, eine wissenschaftliche Rechtfertigung für eine An-
schauung zu gewinnen, die ich natürlich vorläufig nur als
ein Vorurteil von mir, als das subjektive Prinzip, das mich;
antrieb, beschreiben konnte.
Und nun kehrt die Frage, die ich zuerst unbeantwortet
lassen mußte, mit neuer Bedeutung wieder. Wenn es un-
möglich war, von vornherein in kurzem und scharfem
Ausdruck das festzustellen, wovon ich tätsächlich voraus-
setzte, daß es die lebendige Quelle der Wirklichkeit sei,
so war es um so wünschenswerter, sich jenes sicheren
Prinzips der Erkenntnis zu vergewissern, von dem als
einem Ausgangspunkt aus es möglich sein würde, einen
Gedanken zu bestimmen und klarzumachen, dessen Inhalt
noch: so undeutlich bekannt war. Wie oft in der Ge-
schichte der Philosophie haben die Menschen, als sie
sich in die Konsequenzen früherer Irrtümer verstrickt
fanden, den Entschluß gefaßt, auf die Quellen aller Ge-
wißheit zurückzugehen, und wie geringe Frucht haben alle
Lotzc, Logik. ' VII
XCVIII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
diese Versuche getragen? Und diesen Mißerfolg konnte
man voraussehen. In den Erzen einer bisher unzugäng-
lichen Mine kann man vielleicht ein neues Metall oder
Element finden, das die Zahl der bis dahin bekannten ver-
mehrt; aber wie könnten wir ernstlich hoffen, jetzt, nach-
dem das menschliche Denken in Jahrtausenden alles Mög-
liche und Unmögliche durchschritten hat, noch ein neues
Prinzip der Gewißheit zu entdecken, das der Welt vorher
unbekannt war? Alle solche Versuche haben in Wirk-
lichkeit auf dem kürzesten Wege wieder auf längst be-
gangene Pfade zurückgeführt. Wenn Descartes mit
dieser Absicht von der Gewißheit eines C ogito smsging,^)
so setzte er an die Spitze seiner Betrachtungen das Ge-
wisseste von der Welt — denn niemand leugnete es — ,
aber auch das Unfruchtbarste. Niemand verlangt danach,
die Tatsache, daß wir denken, noch einmal bestätigt zu
bekommen; was uns zu wissen not täte, das wäre, welche
von den vielen Gedanken, die wir haben, wahr, und
welche von ihnen falsch sind; für dieses Problem aber
konnte jene Tatsache, die Irrtum so gut wie Wahrheit ein-
schließt, einen Entscheidungsgrund nicht enthalten. Des-
cartes machte dementsprechend einen zweiten oder neuen
Anfang, wenn er das Merkmal der Wahrheit in der Klar-
heit und Deutlichkeit fand; neu, für ihn natürlich, denn
dies zweite Prinzip konnte von dem leeren Cogito und
der Gewißheit desselben nur vermöge einer Analogie ab-
geleitet werden, die, wenn sie schlüssig wäre, selbst ein
Teil der gesuchten Grundwahrheit wäre; aber in Wirk-
lichkeit zieht sich dieses zweite Prinzip so sehr durch die
ganze Geschichte des Philosophierens, daß überhaupt nie
auf einem andern als ihm der menschliche Geist sein
Vertrauen in die Wahrheit seiner Gedanken je gegründet
hat. Und nachdem es erlangt war, war es geradeso un-
fruchtbar wie das erste; denn es hilft uns wenig, die
formalen Bedingungen zu kennen, denen ein Gedanke ge-
nügen muß, wenn man ihn für wahr halten soll; es ist
viel wichtiger, die tatsächlichen Gedanken festzustellen,
die diesen Bedingungen genügen. So sehen wir uns denn
nach dem ganzen Pomp dieses Anfangs wieder zu dem
alten Problem zurückgeworfen. Wieder gilt es hinter der
Wahrheit herzujagen, ohne zu wissen, wo wir sie zu
1) Vgl. diese Logik § 323 (Anmerkung des Herausgebers; so auch
die folgenden Anmerkungen).
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. XCIX
suchen haben; oder höchstens sind wir mit einem Kri-
terium ausgerüstet, das uns gestattet, unter den Gedanken,
die uns grade vorkommen, die wahren von den falschen
zu unterscheiden. Und selbst dieses Kriterium ist nicht
sicher, wie Descartes* eigenes Beispiel zeigt; denn
als er, auf sein gutes Glück vertrauend und nicht länger
von einer Methode geleitet, Umschau hielt nach den Grund-
gedanken, die notwendig wahr sein müssen, da verleß
ihn vollständig der gute Stern, der ihm bei seinen mathe-
mathischen Untersuchungen geleuchtet hatte. Und das ist
auch nichts Überraschendes, denn in bezug auf die Frage,
worin die Evidenz bestehe, sind die Überzeugungen der
Menschen niemals völlig einig gewesen, und üescartes
hatte nicht zu bestimmen versucht, wie die falsche Evidenz
eines geläufigen Irrtums von der echten Evidenz einer
Wahrheit zu unterscheiden sei. Indem er erklärt, wahr
ist, was sehr deutlich (fort distinctement) gedacht ist,
überläßt er unsrer eignen Entscheidung die Aufgabe, den
Grad von Klarheit festzustellen, bei dem unser Vertrauen
auf seine Wahrheit beginnen darf.
Ich werde das Ziel dieser Bemerkungen am ehesten
erreichen, wenn ich noch ein wenig diese historischen
Erinnerungen fortsetze. In den beiden letzten Jahrhun-
derten ist Descartes der Ausgangspunkt eines Intel-
lektualismus geworden, der, in seinem allgemeinsten Sinn
gefaßt, immer eine teils anerkannte, teils abgeleugnete
Voraussetzung alles Philosophierens gewesen ist. Denn
sein allgemeinster Sinn besteht einzig darin, daß jeder,
der eine Untersuchung führt, sich selbst notwendig den
Besitz von Entscheidungsgründen für sein Urteil zuschreibtj
wer irgendeine besondere Frage zu beantworten wünscht,
braucht ein besonderes Prinzip, dessen Giltigkeit irgend-
wie garantiert ist, und dem er sie unterordnet; wer philo-
sophierend seine Untersuchung über das Weltganze er-
streckt, muß einen endgiltigen Maßstab für alle Wahrheit
selber zu besitzen glauben. Woher dieser Besitz stamme,
das ist nicht die dringendste der Fragen, deren Lösung
uns nun fernerhin obliegt, denn aus welcher Gegend er auch
stammen möge, wir könnten ihn nicht ändern, nachdem
er da war. Descartes sprach aus, daß er ein ur-
sprünglicher Besitz des menschlichen Geistes sei, und ich
zaudere nicht, seiner Behauptung beizupflichten in dem
Sinne, in dem allein sie verstanden werden kann. Denn
es ist vom Überfluß, wenn man an dem bequemen Aus-
VII*
G. Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
druck eingeborne Idee viel auszusetzen findet. Mit diesen
Worten sind nicht V orstellungen gemeint, die vor aller
Erfahrung sich in und vor dem sonst noch leeren Be-
wußtsein als erkennbare Gedanken oder Bilder bewegten.
Mir bedeuten sie nichts weiter, als daß die Natur des
Geistes so geartet ist, daß wenn die Aneignung der Er-
fahrung sein Denken weckt, dann, und nur dann, gewisse
Gedanken sich selber in ihm unfehlbar entwickeln müssen.
Sie werden ihm eingeboren genannt, weil sie, wenn seine
Natur anders wäre, sich unter dem Einfluß derselben
Erfahrung entweder überhaupt nicht oder in andrer Form
in ihm erheben würden. Nicht so unschuldig wie das Wort
eingeboren aber ist, wie es hier den Anschein hat, das andere
Wort Idee, das Descartes ausschließlich gebraucht. Wir
verstehen gewöhnlich unter diesem Ausdruck die Vorstellung
von einem einzelnen, wenn auch möglicherweise reich-
haltigen Inhalt, ewig selbständig und selbstgenugsam, nicht
aber einen Gedanken, der ohne eigentlich vorstellbaren
Inhalt rein die gegenseitigen Beziehungen des Mannig-
faltigen fixiert. Und doch können nur Gedanken dieser
zweiten Art, Grundsätze, nicht Grundbegriffe, eine wirk-
liche Hilfe für die Erweiterung unseres Wissens sein, und
waren es in der Tat für Descartes. Wenn er die Ge-
wißheit ausdrückte, daß aus Nichts Nichts werden kann,
daß die Ursache von höherer oder wenigstens von gleicher
Vollkommenheit sein muß, wie die Wirkung, daß Vor-
stellungen vom Unendlichen auf keine Weise von endr
liehen Wesen aus sich selbst hervorgebracht werden können,
so waren diese drei Grundsätze, die er, ohne sie zuvor
gesammelt zu haben, in einem Moment, wo sie nötig
waren, verwandte, zwar in der Tat der innerste Kern
der höchsten Wahrheit, die ihn leitete, aber sie sämt-
lich ermangelten wenigstens teilweise der Klarheit und
Gewißheit, die er als das Merkmal der AVahrheit anerkannte.
Wenn wir diesen Mangel auszugleichen suchen, stoßen
wir auf jenen Unterschied zwischen Inhalt und Form
des Denkens, durch den Kant diesen Intellektualismus
wieder zurechtstellte. Was unserm Geist ursprünglich ge-
geben ist, sind nicht Vorstellungen, die etwas Wirkliches
mit ihrem eignen Inhalt ausdrücken, sondern allgemeine
Gnmdprinzipien, denen gemäß der wechselseitige Zusarn-
menhang aller Wirklichkeiten, den Erfahrung, mid Er-
fahrung allein, uns vorstellig macht, beurteilt werden muß.
Und ich möchte hinzufügen, daß auch diese Grundprin-
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. -Öl
zipien nicht in solcher Weise dem Geist angehören, als
ob sie einen Gegenstand des Bewußtseins vor aller Er-
fahrung bildeten — eine Sammlung von Regeln, die auf
Fälle für ihre Anwendung warteten; sondern die Natur
des Geistes ist so beschaffen, daß er dann, wenn Er-
fahrungseindrücke ihn anregen, unbewußt zu einer rück-
wirkenden Tätigkeit getrieben wird, die teilweise in einer
bestimmten gedanklichen Verbindung des in der Emp-
findung gegebenen Mannigfaltigen, teilweise in instinktiven
Handlungen besteht, deren Beweggründe ihm selbst noch
verborgen sind. Erst auf einer späteren Stufe, wenn die
Reflexion auf die vielen Fälle, in denen ein solcher Ge-
danke und eine solche Handlung auftreten, zurückgeht, sie
sammelt und sie miteinander vergleicht, wird für die
verborgenen Motive, die uns geleitet haben, ein iVusdruck
gefunden, durch den sie nun zum ersten Male Gegen-
stände für unser Bewußtsein werden. Wir haben dann
entdeckt und für uns in Besitz genonmaen, was bis dahin
nur faktisch und unbewußt das Grundprinzip unsres Den-
kens und Handelns war.
Die deutsche Methode zu philosophieren hat lange fest
zu diesen Überzeugungen gestanden und hat sich nicht
beiseite schieben lassen- durch Einwände, die ich hier
nur kurz anmerken kann. Wenn es einfach die Kon-
stitution unsres Geistes ist, dessen rückwirkende Tätig-
keit sich in den höchsten und allgemeinsten Grundprin-
zipien zeigt, was für eine Garantie haben wir dann, daß
die Wahrheit, die für unser Denken notwendig ist, auch
für die Wirklichkeit gelte, auf die wir sie anwenden?
So ausgedrückt, reicht dieser Einwand weiter als beab-
sichtigt ist. 1) Wenn ein Zweifel durch positive Wider-
sprüche oder Dunkelheiten veranlaßt ist, wird sich auch
ein Standpunkt finden lassen, von dem aus die Lösung
möglich wird. Doch die bloße Möglichkeit, ohne allen An-
laß Zweifel zu erheben, ist unbegrenzt, und da dieser natür-
lich für jede entgegenstehende Evidenz unzugänglich ist, be-
streitet er naturgemäß die Sicherheit eines jeden ihm darge-
botenen Beweises. Für die Frage, ob nicht im letzten
Grunde alles ganz anders sei, als wir es zu wissen glauben
und es notwendig denken müssen, gibt es keine wissen-
schaftliche Lösung; aber ein Zweifel dieser Art richtet sich
weder speziell gegen unsre Überzeugung von einer einge-
1) Vgl § 303.
CII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
bornen Wahrheit, noch läßt er sich auf die Frage nach der
Richtigkeit der Anwendung denknotwendiger Urteile auf
den Inhalt der Wirklichkeit beschränken. Denn einerseits,
woher auch immer unser Wissen von der Welt, von ihren
Inhalten sowohl als iliren allgemeinen Grundprinzipien,
stammen mag, immer bleibt es unsre Vorstellung des
Objekts und nicht das Objekt selbst, und so besteht immer
die Möglichkeit des Irrtums, der das Bild dem Objekt un-
ähnlich machte. Und andrerseits: alle unsre Gedanken
könnten falsch sein, nicht nur in ihrer Anwendung, son-
dern in sich selbst; und sogar die Prinzipien unsres
mathematischen Wissens könnten in Wirklichkeit eine
andere Verbindung ihrer Beziehungspunkte fordern, als
es uns scheinen muß. Diesem vollständig ziellosen
Skeptizismus hat die Menschheit ständig den Rücken ge-
kehrt. Die menschliche Vernunft hat immer das lebendige
Selbstvertrauen gehabt, daß sie, wenn sie auch nicht alle
Wahrheit erlangen kann, doch in dem, was denknotwendig
ist, nicht blos notwendigen Glauben, sondern zugleich
Wahrheit besitzt. Sie hat immer an eine solche Ra-
tionalität der Welt geglaubt, daß Denken und Wirklichkeit
einander entsprechen, und daß das erstere sich eines
begrenzten, aber nicht irreführenden Zuganges zu der
letzteren erfreut. Wenn uns dennoch zuzeiten der Zweifel
überschleicht, ob nicht alle unsre Weisheit durch und durch
irrig sei, so wissen wir, daß es keinen Standpunkt gibt für
die Beantwortung dieser Frage und wir müssen uns daher
mit der Einsicht begnügen, so sehr wir das auch be-
klagen mögen, daß Philosophie tatsächlich nur in der Be-
mühung bestehen kann, auf der Grundlage dessen, was
uns notwendig ist, ein Gesamtbild der Welt zu gestalten,
das sich nicht widersprechen darf, oder die Widersprüche
und Lücken vollständig klarzulegen, zu deren Forträumung
unsere Vernunft, die Grenzen ihrer eignen Kompetenz be-
stimmend, sich selbst unfähig erklärt. Denn so hoch wir
auch von der Philosophie denken mögen, es ist doch un-
sinnig, sie als die Krönung oder als eine der höchsten
Mächte in der Weltordnung anzusehen. Sie ist und bleibt
eine historische Tatsache in der Entwicklung des mensch-
lichen Geistes auf dieser Erde, und sie erfüllt ihre Auf-
gabe, wenn sie die Welt so darstellt, wie sie sich uns auf
unserm gegenwärtigen Beobachtungsplatz projizieren muß.
Ich habe soeben angedeutet, daß ich den andern Grund
unhaltbar finde, aus dem man die intellektualistische Vor-
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CIII
aussetzung einer eingeborenen Wahrheit in Zweifel zieht.
In der Tat, die Behauptung, daß eine Denkweise, die dem
Geiste seiner Natur nach notwendig ist, unanwendbar sein
müsse für die Erkenntnis der Dinge, ist von Anfang bis
zu Ende in keiner Weise sichrer- oder wahrscheinlicher,
als die gegenteilige Behauptung. Wer der letzteren An-
sicht ist, hat die wahrscheinliche Überzeugung für sich,
daß die Einheit der Welt Denken und Sein für einander
bestimmt hat; wer die erstere vorzieht, stützt sich einseitig
auf den oberflächlichen Gegensatz, der zwischen dem den-
kenden Subjekt und dem Gegenstand seines Denkens be-
steht; aber über die Bedeutung dieses Gegensatzes für
die Möglichkeit der Erkenntnis kann nur von jemandem
entschieden werden, der mit vollendeter Klarheit den
ganzen Vorgang wahrnimmt, den wir als Erkenntnis eines
Gegenstandes durch den Geist bezeichnen. Er allein ist
in der Lage, zu zeigen, entweder daß der Verstand seiner
Herkunft wegen notwendig die Natur der Dinge verfälschen
muß, oder andrerseits daß er sie innerhalb gewisser Gren-
zen begreiifen kann. Dieser Gedanke ist tatsächlich in der
historischen Entwicklung der Piii.osophie verfolgt worden.
Von John Locke bis zu Kant war die Kritik des
Verstandes der wesentliche Gegenstand der Untersuchung,
und nachdem diese Tradition in Deutschland zeitweilig
durch ein Gedränge anders gerichteter Bemühungen unter-
brochen war. ist ihre Kontinuität wieder hergestellt worden
durch die Lebhaftigkeit, mit der die Gegenwart sich von
physiologischen und psychologischen Untersuchungen jeden
nur möglichen Beistand holt, um über die Entstehung
unseres Begriffes von der Welt Klarheit zu erlangen. Ich
bin vollkommen empfänglich für den Wert aller dieser Be-
strebungen und für die Vertiefung, die sie der Philosophie
der Gegenwart im Vergleich zu der der Vergangenheit
gegeben haben; aber ich zweifle nichtsdestoweniger an
der Möglichkeit dieses Unternehmens^ dessen Verfolgung
uns indes mit manchen guten Früchten beschenkt hat. Das
Vorgehen Kant 's, zuerst das Vermögen der Vernunft zu
untersuchen, ehe von ihr ein Gebrauch zu wirklicher Er-
kenntnis gemacht wird, ist vom deutschen Idealismus
parodiert worden zu der Mahnung, nicht ins Wasser zu
gehen, bevor man schwimmen könne; diese triviale Be-
merkung, die als Entschuldigung des modernen Enthusias-
mus übel angebracht ist, trifft sehr gut den wesentlichen
Irrtum des fraglichen Unternehmens, nämlich die Tau-
CIV Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
schung, daß es möglich sei, vor aller Anwendung des
Denkens, und unabhängig von allen Quellen des Irrtums
bei derselben, eine Bestimmung der Grenzen seines Ver-
mögens auf Grund eines rein empirischen Berichts von
seiner Entstehung zu geben. Ein Blick auf den Inhalt der
Werke, die diesem Versuch gewidmet sind, zeigt uns so-
fort, wie vollständig sie schon im voraus die Fragen ent-
schieden haben, für deren Beantwortung sie nur den Weg
bereiten wollten. Kant 's verschiedene Kritiken überlassen
dem System, dem sie ihrer Versicherung nach rein als
Einleitung dienen, keines der allgemeinen Probleme, die
für die Philosophie von Interesse sind, sondern nur die
weitere Anwendung von schon erlangten Lösungen der-
selben. Auch Locke's Werk zeigt nicht nur die Quellen
des Wissens auf, sondern schließt zugleich den ganzen
Weltbegriff ein, der ihm aus diesen Quellen notwendig
zu fließen schien. Das ist in gewisser Hinsicht ein Über-
schuß der Leistung über das Ver&prechen, für den wir ihm
nur ehrlich dankbar sein können; aber noch etwas anderes
liegt in diesem Umstand verborgen. Es ist unmöglich,
voraussetzungslos und mit vollständig unvoreingenommenen
Augen der Entstehung unsrer Vorstellungen beobachtend
zuzusehen, um daraus die Grenzen ihrer Giltigkeit zu be-
stimmen. Selbst wenn der erste Teil dieses Unternehmens
ausführbar wäre, so könnte doch der zweite Teil nur von
jemandem angegriffen werden, der schon im festen Be-
sitze von allgemeinen Prinzipien wäre, die imstande sind
darüber zu entscheiden, was für Folgen notwendig aus
was für Bedingungen hervorgehen müssen, und ob dem-
gemäß das Erkenntnisvermögen seiner Entstehung zu-
folge entweder immer irren muß, oder in gewissen Grenzen
die Wahrheit zu finden vermag. Es ist unmöglich, ein
Urteil darüber zu bilden, was bei der Berührung eines
Objektes mit dem perzipierenden Geist vor sich gehen
muß, außer wenn man zuvor bestimmte Begriffe über
die Natur jener zwei Faktoren des Falles hat und ebenso
über die Natur des Einflusses, den irgendein Element
der WirklicTikeit, gleichviel welches es sei, auf irgendein
anderes auszuüben in der Lage ist. In der Tat liegen,
teils zu Recht, teils zu Unrecht, solche Voraussetzungen
unabänderlich als anregende Impulse und als bestimmende
Motive dem Denken zugrunde, das die Entwicklung unseres
Erkennens herauszuarbeiten und die Grenzen seiner Wahr-
heitsgeltung festzustellen sucht und sich dabei nur schein-
Die Philosophie in den letzten 40 Jahreri. '1ßV
bär auf dem Wege einer voraussetzungslosen Erfahrung
bewegt.
Wir wollen einräumen, daß der Intellektualismus, wenii
er die Existenz eingeborner Wahrheiten behauptete, nur
eine Hypothese aufstellte, die noch zu beweisen war ;
aber welches war die Begründung für die Gewißheit, mit
der andrerseits alles Wissen aus Erfahrung hergeleitet
und die Seele als eine tabula rasa betrachtet wurde,
die nur mit Eindrücken von außen beschrieben wird ?
Erfahrung könnte, wie auch immer dieser verschieden
verstandene Begriff gedacht sein mag, jedenfalls nur die
Veranlassungen aufzeigen, aus denen sich unsre Vorstel-
lungen ergeben haben; der Vorgang aber, der die Veran-
lassung und das erfolgte Ergebnis verbindet, kommt nicht
durch unmittelbare Wahrnehmung zur Kenntnis. Wer
meint, es sei so, weil er die Seele für rein rezeptiv und
die ganze Inhaltlichkeit ihres Bewußtseins für etwas auf
sie bloß Übertragenes hält, vermag sich zur Begründung
seiner Ansicht nur auf die Analogie andrer Beobachtungen
zu berufen. Aber diese Analogie spricht durchaus gegen
ihn. Überall wo wir einen Fall von dem, was wir Wirken
nennen, beobachten, finden wir unabänderlich, daß der
Erfolg, der aus dem Wirken hervorgeht, verschiedene Ge-
stalt annimmt, wenn dieselbe sogenannte Ursache zu ver-
schiedenen Dingen in Beziehung tritt, daß er also ebenso
sehr durch die Natur desjenigen Beziehungsgliedes be-
stimmt wird, welches wir für leidend oder rezeptiv halten,
als durch die Natur des anderen Gliedes, das uns vor-
zugsweise der tätige Teil zu sein scheint. ; Es ist das ein
Gedanke, der in den Forschungen der Naturwissenschaft
nie außer acht gelassen wird. Und die, die an der son-
derbaren Meinung festhalten, die hier in Frage steht,
könnten ihn auch eben in dem Gleichnis wieder ent-
decken, welches sie vorbringen, um die entgegengesetzte
Vorstellung zu versinnlichen. Denn wie könnte eine Tafel
sich beschreiben lassen oder wie könnte das Wachs, das
der Träger eines alten Gleichnisses ist, den Eindruck des
Stempels aufnehmen und festhalten, wenn die Tafel nicht
eine Adhäsion besäße, mit der sie die Schreibflüssigkeit
festhält, und wenn dem Wachs nicht eine Zusammen-
drückbarkeit seiner Teilchen eignete und eine Indifferenz
gegen die besondere Form des erlittenen Druckes? Kurz,
vermöge ihrer spezifischen Natur machen beide einen
Erfolg möglich, den Luft und Wasser nicht hätten be-
CVI Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
wirken können. Hier scheint mir daher zweifellos zu
sein, daß die Analogie der Erfahrung zugunsten des Postu-
lats des Intellektualismus entscheidet, zugunsten der ein-
gebomen Tätigkeit, mit der der Geist auf äußere Ein-
drücke reagiert und die Vorstellungen und Verbindungen
von Vorstellungen hervorbringt, die unser Denken über
die Welt konstituieren.
Nun kann natürlich dieses Zugeständnis, zu dem in
der Tat auch der Empirismus sich treiben ließ, nichts für
oder gegen die Wahrheit der so entstandenen Vorstel-
lungen entscheiden; denn es ist gewiß ebenso möglich,
daß diese eigentümliche Reaktion des Geistes auf Reize
vx^n außen ständig die Bilder der Dinge, von denen diese
Reize ausgehen, verfälscht, als daß sie zu einer wahren
Auffassung ihrer Natur führt. Inzwischen bin ich zu-
frieden, wenn mir die gleiche Möglichkeit beider Fälle
zugegeben wird. Denn es ist ein sehr gewöhnliches Vor-
urteil, daß ein Denkvorgang, von dem wir gesehen zu
haben glauben, wie er sich aus der subjektiven Natur des
Geistes entwickelt, nicht richtig sein könne. Die Ein-
sicht in seine Entstehung scheint zugleich der Beweis
seiner Ungiltigkeit zu sein. Es sei mir gestattet, über
dies Vorurteil einige Bemerkungen zu machen. Ange-
nommen, eine höhere Macht habe wirklich die Absicht
gehabt, uns eine Erkenntnis zu sichern, die zwar nicht
alle Dinge durchaus begriffe, aber doch nicht notwendig
in dem wenigen irrte, das sie von ihnen begreift; und
angenommen, jene Macht wollte uns die Erkenntnis nicht
als eine fertig vorhandene Offenbarung zuteil werden
lassen, sondern als Frucht von Erfahrungen, die wir im
Leben zu machen hätten: wie müßten wir den Vorgang
uns in Gedanken konstruieren, durch welchen diese Ab-
sicht würde verwirklicht werden? Wenn wir nicht alles
auf einmal wissen, sondern jetzt dies, dann jenes lernen
sollen, sei es, weil in Wirklichkeit ein Ding auf ein
anderes folgt, oder weil die Teile dessen, was im Sein
gleichzeitig ist, für uns nur nacheinander Gegenstände
des Bewußtseins werden, so muß das Erfahrene sich immer
vom Nichterfahrenen unterscheiden vermöge einer Be-
ziehung, in der der Gegenstand unsrer Erkenntnis jetzt
zu uns steht und vorher nicht zu uns stand. Und da
diesen Unterschied kein zweiter Beobachter außerhalb von
uns verwendet, sondern wir selbst durch ihn zu einer
Empfindung, die nichts im voraus Vorhandenes ist, be-
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. ÜVll
stimmt werden, so muß er etwas für uns selbst Emp-
findbares sein und kann nicht in einer rein äußerlichen
Beziehung zwischen uns und den Objekten, sondern muß
in einem innem Zustand unseres eignen Seins bestehen,
den wir erfahren und vorher nicht erfuhren. Die Natur
dieses Zustandes muß jedenfalls sowohl von den ver-
schiedenen Reizen, die ihn hervorrufen, als von dem
eigentümlichen Wesen des Geistes abhängen, der ihn zu
erfahren vermag. Es ist eine sehr einfache Wahrheit,
die ich hier kennzeichne, und wir stimmen alle in ihr
überein. Wenn wir ein Wissen von einem Ding, das
existiert, oder von einem Ereignis, das geschieht, haben
sollen, so genügt dazu nicht, daß das Ding existiert oder
daß das Ereignis geschieht; sie müssen beide einen Ein-
druck auf uns machen und sie können nur eine solche Art
Eindruck auf uns machen als unsere geistige Natur zu er-
fahren vermag. So wird von Anfang an jedes objektive
Element der Außenwelt in uns durch einen elementaren
subjektiven Zustand ersetzt. Soll es nun nicht bei dem
einfachen Wechsel von Empfindungen verbleiben, sondern
im Gegenteil eine richtige Erkenntnis auch der Zusammen-
hänge entstehen, welche die verschiedenen Teile der Wirk-
lichkeit miteinander verbinden, dann darf der Eindruck,
den ein Wirklichkeitsaugenblick auf uns macht, nicht eben-
so verschwinden wie diese Wirklichkeit selber, wenn sie
der des nächsten Augenblickes Platz macht. Der eine
Eindruck, der noch im Gedächtnis aufbewahrt zurück-
bleibt, muß mit den anderen in der Einheit Eines
Bewußtseins durch eine beziehende Tätigkeit verbunden
werden. Diese Tätigkeit, die rückwärts von den Ergebnissen
zu den Bedingungen und ebenso vorwärts von den Be-
dingungen zu den Ergebnissen gehen kann, und sich so
der Verschiedenheit ihrer Richtung bewußt wird, ist etwas
gänzlich anderes als die Bewegung der Vorgänge selbst,
die nur in einer einzigen Richtung, von der Ursache zur
Wirkung hin, statthat. Selbst wenn wir zugeben, daß
die zwei Endpunkte, zwischen denen sich diese beziehende
Tätigkeit bewegt, durch die Assoziationen der Vorgänge
festgelegt sind, welche von der Welt her auf uns innen
einwirken, so beruht doch die Möglichkeit, daß jene Be-
wegung des verbindenden Bewußtseins überhaupt statt-
findet, lediglich auf der Natur des Geistes, in dem sie
stattfindet. Und so beruht auch die Möglichkeit, daß sie im
Denken das verbindet, was in der Wirklichkeit verbunden
CVIII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
ist, auf der Tatsache, daß die Natur des Geistes den Ein-
drücken, die er erleidet, eine gegenseitige Verknüpfung ver-
leiht, die zwar mit der Verknüpfung der Reize nicht über-
einstimmt, aber nicht völlig verschieden von ihr ist.
• So würden wir also selbst bei der Annahme, eine
höhere Macht habe uns dazu bestimmt, die wahren Be-
ziehungen zwischen den Gegenständen unsrer Erfahrung
zu entdecken, doch immer noch nicht diese Beziehungen
einfach empfangen können ohne subjektive mitwirkende
Tätigkeit von uns selbst, sondern würden genötigt sein,
sie de novo zu reproduzieren mittels einer Tätigkeit, die
uns, wenn wir in das Wesen des Geistes eindringen
könnten, als ein notwendiges Ergebnis des Geistes, und
des Geistes allein, erscheinen würde. Nehmen wir ferner
än\ diese gute Macht habe ims noch überdies gewähren
wollen, daß wir uns nicht nur eine getreue Vorstellung von
dem Weltgeschehen im einzelnen und besonderen bilden,
sondern auch die allgemeinen Gesetze begreifen, welche
alledem zugrunde liegen, und sie so begreifen, daß sie
uns zugleich die Empfindung ihrer Notwendigkeit geben,
ja dann würde einer, der alles weiß, imstande sein, dieses
Vollbringen mechanisch aus der Natur unseres Geistes zu
erklären. Denn wenn, gemäß unsrer Annahme, die Er-
keniitnis der höchsten Walirheit uns nicht in vollständig
fertig vorhandener Klarheit eingeboren ist, sondern von
uns erworben werden inuß, dann muß es eine Geschichte
ihrer Entstehung in jedem individuellen Geiste geben. Von
•der Zeit an, als sie noch nicht da war, bis zu dem Moment
ihres Hervortretens muß eine Reihe von Vorgängen abge-
laufen sein, die nicht vor sich gehen konnten, ohne mit der
Natur unseres Geistes etwas zu tun zu haben und dessen
notwendige Konsequenz unter den betreffenden Umständen
zu sein. Dies alles gilt, selbst wenn wir die menschliche
Vernunft ausdrücklich für die vollständige Erkenntnis aller
Wahrheit bestimmt denken — nur nicht zu ihrem ur-
sprünglichen Besitz, sondern um sie zu erwerben; selbst
in diesem Falle ist immer ein psychischer Mechanismus zu
denken, der alle errungene Erkenntnis der Wahrheit als
notwendigen Erfolg der subjektiven Natur des Geistes und
von - Eindrücken, die auf ihn wirken, zeigen würde. Da
es also in jedem Falle so sein muß, kann der Beweis
eines solchen subjektiven Ursprunges unsrer Erkenntnis
eben aus diesem Grunde weder für noch gegen ihre Wahr-
heit entscheiden; und wer glaubt, er entscheide dagegen.
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CIX
tut damit nur den ersten Schritt in den Irrtum, den die
idealistischen Ansichten noch viel weiter treiben. Denn
wenn nur die Beziehung unserer Vorstellungen auf die
Außenwelt in Frage steht, so betont der Idealismus mit.
vollem Recht, daß die Vorstellung von der Außenwelt
nur unsere Vorstellung und nichts mehr ist. Aber wena
er nun weiter geht und die Existenz der Welt wegen dieser
Subjektivität unserer Vorstellungen von ihr leugnet> so
vergißt er ganz, daß es in jedem Falle so sein muß;
Unsere Vorstellung muß subjektiv sein, nicht nur, wenn
es eine Außenwelt nicht gibt, sondern . auch wenn die
Außenwelt existiert. Auch von einer realen Welt könnten
wir keine ß^ndere Art von Vorstellung haben als die wii;
haben, eine Vorstellung, die durch unsere eigne subjektive
Tätigkeit hervorgebracht ist, und die so oft betonte Sub-
jektivität aller unsrer Erkenntnis entscheidet absolut nichts
in bezug auf die Wirklichkeit ihres Gegenstandes und
die Genauigkeit unserer Vorstellung von ihm. : Ti
Ich komme jetzt auf den Punkt, zu dem mich meine
Wanderschaft hingeführt hat und wo ich mich iii voll-
ständigem Gegensatz zu den in unserer Zeit vorherrscheui
den Anschauungen befinde. Es ist üblich geworden von
einer Erkenntnistheo7'ie als dem wichtigsten Werkzeug zu
sprechen, von dessen Vollendung der Fortschritt der Philo-
sophie abhänge, insbesondere hat man gehofft, feste Grund-,
lagen für die fruchtbare Anwendung unseres Denkens zum
Erreichen der Wahrheit würden schließlich in einer voll-
ständigen Darlegung seiner psychologisQhen Entwicklungs-
geschichte gefunden werden. Im Gegensatz zu diesem
Glauben spreche ich die Überzeugung aus, zu der ich mich
schon bekannt habe, daß man über die Gültigkeit einer
Vorstellung auf Grund ihres psychologischen Ursprungs
nur dann entscheiden kann, wenn man bereits die wahre
Beschaffenheit des Gegenstandes kennt, auf welchen sie
sich bezieht;!) denn nur die Kenntnis des Gegenstandes,
der. das Endziel der Vorstellung ist, kann uns ein Urteil
darüber ermöglichen, ob sie auf dem besonderen Wege, die
Wirklichkeit vorzustellen, den sie tatsächlich eingeschlagen
hat, dieses Ziel erreichen oder verfehlen wird. Innerhalb
dieser Grenzen kann die Psychologie zweifellos zu einer
Kritik unserer verschiedenen Erkenntnisarten verhelfen.
Nachdem wir die Gesetze der Bewegung, des Lichts und
i> Vgl. diese Logik § 305 f., 322, 332.
OX Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
den Bau unseres Auges kennen, ist es uns, falls wir nicht
in betreff eines von beiden irren, möglich, eine große An-
zahl optischer Täuschungen zu korrigieren; und nach-
dem wir die Gesetze der Assoziation und Reproduktion
unserer individuellen Eindrücke gelernt haben, können wir
in einzelnen Fällen zeigen, daß sich auf Grund dieser
Gesetze eine regelmäßige Verknüpfung unserer Vorstel-
lungen bilden muß, die der Verknüpfung der objektiven
Elemente der Wirklichkeit nicht entspricht, aus der diese
individuellen Eindrücke hervorgehen. Ebenso ist es mit der
Frage, ob die allgemeinen Begriffe, die wir über die
Natur der Dinge und Ereignisse, die Wirkung, die ein
Ding auf ein anderes ausüben kann, und die Gesetze,
unter denen diese Wirkungen erfolgen müssen, bilden,
ob alle diese Begriffe wahr oder falsch sind. Dieses
Problem vermöchten wir, selbst wenn wir die Geschichte
ihrer psychologischen Entwicklung mit der vollkommensten
Genauigkeit kennen würden, doch noch nicht vermöge
dieser Kenntnis zu entscheiden, es sei denn, daß wir
die Wahrheit in bezug auf alle diese Punkte schon wüßten.
Nur in diesem Falle würden wir aus dem psychologischen
Entwicklungslauf unseres Erkennens zu sagen vermögen,
daß es grade, weil es allgemeinen Gesetzen unterworfen
ist, entweder von den wahren Beziehungen der Dinge,
auf welche es sich bezieht, notwendigerweise abweichen
muß oder mit ihnen in seinen Ergebnissen übereinstimmen
kann. Ich muß aus diesem Grunde den alten Anspruch
erheben, den noch jede spekulative Philosophie erhoben
hat. Psychologie kann, selbst wenn wir sie in voller
Vollendung besäßen, niemals die Grundlage unserer ganzen
Philosophie sein. Vielmehr würden wir nur dann dazu
kommen, die Psychologie in solchem vollkommenen Zu-
stande zu besitzen, wenn erst die Prinzipien selbstevidenter
Wahrheit vollständig festgestellt wären, denen gemäß wir
über die Natur und die Wechselwirkungen der Dinge über-
haupt zu urteilen haben ; denn erst dann könnten wir die Vor-
gänge, die zwischen dem erkennenden Subjekt und dem
zu erkennenden Objekt stattfinden, diesen Pfmzipien unter-
ordnen und nun über die Wahrheit der so entstandenen
Vorstellungen entscheiden. Von einer solchen Vollendung
der Psychologie sind wir noch weit entfernt. Wir können
mit Sicherheit ein paar Schritte in der Entwicklungs-
geschichte unserer Empfindungen tun, und wir können
mit Sicherheit ein paar Prinzipien feststellen über die Wege
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CXI
der Assoziation und Reproduktion unserer Vorstellungen
im Gedächtnis; aber alles, was über die Entwickelung all-
gemeiner Begriffe vorgebracht wird, ist reine Phantasie.
Uns fehlen fast ganz Beobachtungen über den Verlauf, in
dem, von den ersten Tagen der Kindheit an, die einzelnen
Funktionen unseres Intellektes einander folgen. Nachdem
man die vollentwickelte Vernunft vor sich hat, tappt man
nach einem Wege, wie sich ihre allmähliche Entwicklung
mit Wahrscheinlichkeit vorstellen lasse; und die mehr
oder weniger anspruchsvollen Hypothesen, zu denen man
durch unausgesprochene Lieblingsmeinungen geführt wird,
werden mit merkwürdiger Zuversicht als Schätze eines
vorurteilslosen Empirismus feil geboten. Diese Lage der
Dinge wird sich nicht ändern, bis nach dem Beispiel der
neueren psychologischen Forschungen, die vorliegenden Tat-
sachen der psychologischen Erfahrung in Zweifel gezogen
werden und dadurch das Material geschaffen wird, das
jenen allgemeinen und immer bereits eingeschlossenen
Wahrheiten untergeordnet werden kann. Wir würden des-
halb die Psychologie für das letzte und schwierigste Pro-
dukt der philosophischen Forschung oder der wissenschaft-
lichen Forschung überhaupt halten.
Um. zu der andern Lieblingsbeschäftigung unserer Zeit
zurückzukehren, dem Entwurf einer Erkenntnistheorie im
allgemeinen als eines ersten Erfordernisses, um dann
hinterher die Philosophie darauf zu gründen, so ist es
überflüssig, noch einmal auf den unvermeidlichen Zirkel
aufmerksam zu machen, in dem man sich dabei bewegen
muß. Die Vernunft soll über die Genauigkeit ihrer all-
gemeinen Verfahrungsweisen entscheiden und kann doch
als Grund für ihre Entscheidung nur dieselben notwendigen
Prinzipien benützen, über die sie entscheiden soll. Ihre
Arbeit kann also nur in einer Selbstbesinnung und einer
sorgfältigen Reflexion auf ihr eigenes Tun bestehen. Im
täglichen Leben sind wir durch unsere Bedürfnisse ge-
nötigt, uns über viele Tatsachen ein Urteil zu bilden, deren
wahre Bedeutung uns nur sehr unvollkommen bekannt ist
und deren viele Verbindungen mit andern Dingen wir noch
schlechter kennen. Die mannigfaltigen Bedingungen, die
sich im Lauf der Dinge durchkreuzen, zwingen uns oft,
etwas, was so nur halb bekannt ist, als Prinzip zu ge-
brauchen, von dem wir bei der Beurteilung dessen, was
noch weniger bekannt ist, ausgehen. Und endlich verleitet
die Beschränktheit der Erfahrung, die unserer Beobachtung
ßXII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
immer nur ein bestimmtes Merkmal von vielen möglichen
vorführt, uns dazu, daß wir Notwendigkeit in Verknüpfungein
sehen, wo in Wirklichkeit nichts als Tatsächlichkeit ohne
ein entgegengesetztes Beispiel vorliegt. Nehmen wir nun
diese Fälle, in denen das Urteil schwer und der Irrtum
Reicht ist, zusammen, versuchen wir, sie zu vereinen und
durch Abstraktion von der verwirrenden Mannigfaltigkeit
des Gegebenen die einfachsten und reinsten Fälle von Be-
ziehungen zwischen verschiedenen Gliedern festzustellen,
so wird unsere Vernunft, sobald dieselben vergegenwärtigt
werden, ein unzweideutiges Urteil abgeben, dessen Denk-
notwendigkeit ebenso evident ist als die Unmöglichkeit, das
Gegenteil zu denken. Die Vernunft wird sich immer als
einen ständig gegenwärtigen gerechten Richter betrachten,
gegen dessen Urteil es keine Berufung gibt, dessen Spruch
aber nicht eher gefällt werden kann, als bis jede Dunkel-
heit und Zweideutigkeit von der Vorstellung des Falles, über
den er zu urteilen hat, entfernt ist. So hat das Selbst-
vertrauen der Vernunft unvermeidlich allen philosophischen
Forschungen zugrunde gelegen, auch jenen, die sich a^if
die Bestimmung ihrer eigenen Wahrheitskraft beziehen.
Als Locke zwei Quellen aller Erkenntnis unterschied, und
als er dann die Eigenschaften, welche den Dingen selbst
inhärieren, anderen Eigenschaften entgegensetzte, welche
sie nur scheinb£i,r, in unserer Auffassung von ihnen, haben,
hatte ihm keine unmittelbare Erfahrung diese Prinzipien
gegeben. Er gelangte zu seiner Erkenntnis, indem er die
Methode des Denkens befolgte, die für uns bei der Be-
trachtung aller Dinge notwendig ist ; und er fragte sich ent-
sprechend dieser Methode des Denkens, welches die wahr-
scheinlichen Erklärungen der psychologischen Tatsachen
wären, die er entdeckt hatte. Man mißversteht Kant,
wenn man glaubt, er habe seiner „Kritik der Vernunft"
eine psychologische Grundlegung zu geben sich bemüht,
und wenn man beklagt, daß die Psychologie von ihm nur
im Vorübergehen und unvollkommen behandelt worden ist.
Wesentliche Prinzipien, wie seine Unterscheidung zwischen
Form und Inhalt der Erkenntnis, oder seine Lehre von der
rein subjektiven und phänomenalen Natur von Zeit und
Raum, sind nicht Data psychologischer Erfahrung, sondern
Ergebnisse einer metaphysischen Deutung solcher Data,
Darin folgt Kant dem Prinzip, in das ich das Ergebnis^^
dieser Betrachtungen zusammenfasse: daß es sich nicht
darum handelt, woher unsere Vorstellungen kommen und
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. GXIII
wie sie sich in uns psychologisch bilden, sondern von
Wichtigkeit ist nur, zu wissen, ob wir, wenn wir sie haben,
bei ihnen stehenbleiben dürfen, oder weitergehen und sie
einer Kritik unterziehen müssen, um die vollständige Über-
einstimmung unserer Vernunft mit sich selbst und mit den
gegebenen Tatsachen zu sichern, das einzige Ziel, das
uns überhaupt erreichbar ist. Dies ist der Weg, auf dem
die Mathematik immer vorgegangen ist. Sie hat sich nie
darum bekümmert, zu wissen, durch welchen psycho-
logischen Akt die Vorstellung eines Punktes im Raum in
uns entsteht oder durch welchen weiteren geheimnisvollen
Prozeß wir unendlich viele Punkte in einer zusammen-
hängenden geraden Linie vereinigen oder durch welchen
andern Prozeß wir Figuren aus vielen Linien unterscheiden
und die Vorstellung der Winkel bilden, an denen sie aus-
einanderlaufen. Alles dies postuliert sie rein und legt es
zugrunde. Sie ist sich dessen gewiß, daß, nachdem diese
Postulates gebildet sind, gleichviel welches die psycho-
logische Art ihrer Bildung sei, sich die tatsächliche Not-
wendigkeit eines Satzes, der sich auf die Verbindung dieser
Vorstellungen bezieht, auch zwingend ergeben wird; aber
sie fragt nicht, was die Seele tut, um von der bloßen Per-
zeption einer solchermaßen vorgestellten Verbindung zu
dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit zu kommen, und sie
hält eine Antwort auf diese Frage nicht für notwendig zur
Sicherung der Wahrheit ihrer Ergebnisse.
Wer eine Erkenntnistheorie zu besitzen wünscht, ehe
er an die eigentliche Arbeit der Philosophie geht, wird
hier den Einwand erheben, daß eine solche Theorie, wenn
sie erlangt werden soll, notwendigerweise den Beruf hat,
jene allgemeinen und intuitiv evidenten Prinzipien der Be-
urteilung, von denen wir gesprochen haben, darzulegen
und zu sammeln ; und vielleicht würde er weiter verlangen,
sie alle von einem einzigen höchsten Prinzip abgeleitet
zu sehen, um endlich jene phüosophia prima wirklich zu
schaffen, von der die Menschen seit den Tagen des Aristo-
teles geträumt haben. Aber wie denkt man sich, wäre
ein solcher Plan auszuführen ? Wenn wir in einem Examen
dem Prüfling eine bestimmte Frage stellen, können wir
vernünftigerweise eine Antwort erwarten. Aber wenn wir
von ihm verlangen wollten, uns in einer Antwort alles zu
sagen, was er während seines ganzen Lebens gelernt hat,
so würde er entweder nicht wissen, wo in aller Welt be-
ginnen, oder er würde uns, wie die, die aus einer Feuers-
Lotze, Logik. VIII
CXtV Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
brunst etwas retten wollen, Wichtiges und Unwichtiges
in gleicher Weise ohne jede Ordnung und beides sehr un-
vollkommen erzählen. So verhält es sich mit jenen im
höchsten Grade allgemeinen Wahrheiten, welche wir als
ein angeborenes Besitztum unseres Geistes betrachten: sie
stehen nicht vor dem Bewußtsein von Anfang an als eine
vollständige wohlgeordnete Reihe da. Wir werden uns einer
jeden von ihnen erst in dem Augenblicke bewußt, wenn
eine Wahrnehmung ihre Anwendung veranlaßt. Ihre syste-
matische Sammlung zum Aufbau einer Erkenntnistheorie
ist daher kein möglicher x^nfang für die Arbeit der Philo-
sophie, sondern wäre das nur für den Schüler, der eine
schon geleistete Arbeit für sich zu wiederholen hätte. Für
die Philosophie selbst könnte sie, anstatt ein Anfang, nur
ein Ende sein. Und ich zweifle, ob in beiden Fällen ihr
Nutzen oder ihre Wichtigkeit sehr groß sein würden; denn
je mehr wir von ihren speziellen Anwendungen und den
Formeln dafür, in denen die ursprüngliche Wahrheit so in
der Anwendung gezeigt werden muß, zu jenen allgemeineren
Ausdrücken übergehen, denen sie selber sich streng unter-
ordnen lassen, desto mehr nimmt immer die intuitive Evi-
denz ihres Sinnes ab, und sogar das unmittelbare Gefühl
ihrer Notwendigkeit verschwindet, welches wir so stark
überall da fühlen, wo ein bestimmter Vorfall uns nötigt,
eine Anwendung von ihnen zu machen. Auf alle Fälle
aber konnte ich das andere Verlangen — das Verlangen,
alle Wahrheit aus einem höchsten Prinzip mittels einer
Erkenntnistheorie abzuleiten — nicht vor mir rechtfertigen.
Die Einheit der Welt, die ich als den Ausgangspunkt meines
Denkens hinstellte, ist zunächst nur ein Vorurteil, welches
selbst einer Untersuchung bedarf, damit sich zeige, ob es
zu der für uns denknotwendigen Wahrheit gehört oder
aus einer solchen Wahrheit folgt oder nicht; und nur auf
der Gewißheit dieses Vorurteils würde die Forderung der
fraglichen Ableitung beruhen können. Auch dann aber
würde sie nicht in dem Sinne bestehen, den man ihr gibt;
im Gegenteil, man kann nur mittels eines zweiten Vor-
urteils im. voraus bestimmen, welches die Art oder Weise
jener Einheit sein müsse; denn, wie ich schon bemerkt
habe, braucht jene Einheit nicht das Mannigfaltige in ein
Allgemeines zusammenzufassen oder auch Einzelwahrheiten
untereinander so zu vereinigen, daß wir in der Lage wären,
eine aus der andern oder alle aus einer nach logischen
Gesetzen abzuleiten. Sie mag, um einen unvollkommenen
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CXV
Vergleich zu gebrauchen, das Ganze ihrer Organisation in
der Art einer Melodie zusammenhalten, deren Einholt un(i
Zusammenhang faßlich sind, obgleich keine Folgerung be-
weisen kann, daß diese besondere Fortsetzung zu diesem
besonderen Anfang gehört. Ist dem so, dann wird es für
unser Erkennen viele gleich ursprüngliche und gleich ge-
wisse Wahrheiten geben, von denen wir, nachdem sie da
sind, sehen können, daß sie zueinander passen, während
wir dauernd außerstande bleiben, sie durch zwingenden
Beweis aus einer einzigen Quelle abzuleiten. Wir müßten
uns dann damit zufrieden geben, daß wir einzelne Wahr-
heiten mit Gewißheit erkennen, und es wäre töricht, wenn
wir solche Gewißheit gering anschlagen und immer weiter
nach der höchsten Wahrheit jagen wollten, die uns viel-
leicht überhaupt nicht oder wenigstens nicht auf diesem
besonderen Wege erreichbar ist.
Ich komme allmählich zu einem Schluß. Wer ein
Prinzip der Philosophie im Sinne eines sicheren Ausgangs-
punktes für seine Betrachtungen sucht, wird sich nicht in
Verlegenheit befinden, sobald er nur auf den sichere
Gang seiner Gedanken acht zu haben weiß. Nicht eins,
sondern unzählig viele Prinzipien, stellen sich ihm sogleich
zur Verfügung. Denn jeder Teil der Erfahrung kann als
solcher Ausgangspunkt dienen, wenn er sich in der Ge-
stalt, in der er sich unmittelbar darbietet, in Widerspruch
mit jenen eingeborenen Wahrheiten befindet, an die alle
Wirklichkeit gebunden sein soll, und die selbst in dengi
Augenblicke, wo die beobachtete Tatsache mit ihnen streitet,
sich unserm Bewußtsein als unerläßliche Postulate auf-
drängen. Dies ist der Weg, auf dem, ausgehend von der
Erfahrung, jede Philosophie tatsächlich entstanden ist.
Selbst die Ansichten, denen wir mit Recht Schwärmerei
und Kaprize vorwerfen, wurden zu allen Träumen, die in
ihnen sind, doch nur durch die Betrachtung des tatsäch-
lichen Laufs der Welt geführt. Sie suchten durch eine
Reihe erdichteter Zwischenglieder die tiefgefühlten aber
schlecht verstandenen Mängel der Welt in Harmonie mit
dem zu bringen, was ihnen als Amt und Aufgabe aller
wahren Wirklichkeit erschien. Sie irrten nur darin, daß
sie alle jene Züge, in denen der Lauf der Dinge die Vor-
aussetzungen des Verstandes und die Bedürfnisse des
Gemüts verletzt, als ungegliederte Masse auf den Geist
wirken ließen; dann ließen sie sofort ihrer Phantasie die
Zügel schießen, um sich eine andere und wahrere Welt als
vin*
CXVI Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
Grundlage für diese unglückselige Erscheinung auszudenken.
Sie hätten sorgfältiger prüfend in die inneren Zusammen-
hängo der Wirklichkeit eindringen sollen, um die Zwischen-
glieder zu finden, durch die der fragliche Widerspruch
nicht nur hypothetisch, sondern wirklich und in Wahr-
heit, gelöst würde. Es scheint also, daß die wahre Philo-
sophie sich nicht auf ihre Prinzipien, sondern vielmehr auf
ihre Methode der Gedankenentwicklung als den Besitz be-
rufen muß, der sie von allem unwissenschaftlichen En-
thusiasmus unterscheidet. Ich enttäusche vielleicht ganz
wider Erwarten die Voreingenommenheit des Leseis, wenn
ich sage, daß ich glaube, wir müssen auch diesen An pruch
aufgeben, wenigstens in dem Sinne, in dem er oft erhoben
wird.
Eine Methode der ErTcenntnis kann nicht wie die eines
praktischen Unternehmens ein im voraus feststehendes Ziel
verfolgen. Sie sucht die eigentümliche Natur des Dinges,
mit dem sie sich beschäftigt, zu erkennen, und worin diese
Natur bestehe. Ich gebe zu, daß mit Ptücksicht auf unsere
Stellung zu der in Frage stehenden Sache unsere ersten
Schritte im voraus bestimmt werden können. Es müssen
solche sein, die sich dazu eignen, die Hindernisse zu über-
winden, die es uns erschweren, an das Ding überhaupt
heranzukommen; aber sobald das Ding selbst uns ift
Sicht kommt, ist die Methode unseres weiteren Vorgehens
immer durch die Eigenheiten bedingt, die die Natur des
Dinges unserem Erkenntnisstreben bietet. Es ist daher
wahr, daß die Methoden der Erkenntnis so verschieden sein
müssen wie die Natur der Dinge, die wir zu erkennen
wünschen, wie es anderseits klar ist, daß da, wo mehrere
einzelne Objekte dieselben Züge gemeinsam haben, be-
stimmte stereotype Forschungsmethoden sich für solche
Gruppen bilden werden, so daß ein analoger Fall immer
auf dieselbe Weise behandelt und das Suchen nach neuen
Methoden für jeden besondern Fall überflüssig gemacht
werden kann. Aber solche nützlichen Erkenntnismethoden
können niemals ohne Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten
jener verwandten Problem-Gruppen gefunden werden und
es wird niemals eine Universalmethode geben, durch w^elche
die Zwecke der Erkenntnis für alle möglichen Forschungs-
objekte erreicht würden. Die Mathematik hat für bestimmte
Klassen von Problemen ihre ingeniösen Verfahrungsweisen
konstruiert, die bei jeder Anwendung auf einen besondern
Fall seinen Eigenheiten angepaßt werden. Die Mechanik
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CXVH
hat in derselben Weise die Auswahl von Entwürfen aus-
gebildet, welche sie unbedenklich immer wieder benutzt,
wenn dieselbe Art von Arbeit verlangt wird, wenngleich
mit Anpassung an die Forderungen der besonderen Auf-
gabe. Nie aber ist hier die Rede gewesen von einer Uni-
versalmethode, alle mathematischen Probleme zu lösen,
oder eine Maschine für jeden denkbaren und womöglich
für einen noch unbekannten Zweck zu bauen. Es ist klar,
was allein solchen maßlosen Wünschen entsprechen könnte ;
das wäre die Gesamtheit der elementaren mathematischen
und mechanischen Wahrheiten einerseits und anderseits
ein weitblickender Scharfsinn, der sie in jedem vorkommen-
den Falle angemessen zu gebrauchen verstünde. In der
Philosophie ist es nicht anders, und ich bin versucht, hier
ein Wort von Aristoteles zu parodieren. Als Alexander
der Große ihn um einen leichteren Weg, Geometrie zu
lernen, bat, soll er geantwortet haben: Es gibt keinen
besonderen königlichen Weg in der Wissenschaft. Die
Wissenschaft und die Philosophie zumal besitzt keinen ge:
heimnisvoUen methodischen W^eg gegenüber dem, auf weh
chem der einfache Gebrauch unseres Verstandes uns alle
leiten kann. Die vornehmsten Prätensionen auf den Be-
sitz einer Methode spekulativer Erkenntnis, die den Ge-
v^^inn von Ergebnissen sichern sollte, welche mit dem natür-
lichen menschlichen Denken unerreichbar wären, sind auf
die eine oder die andere Art immer untergegangen, so oft
sie aufgetaucht sind. Wenn dabei wertvolle Ergebnisse
erlangt wurden, so lag das daran, daß ein Teil der Natur
des Dinges entdeckt w^urde, der eine Reihe von dessen
mannigfaltigen Erscheinungen bestimmte, und die Methode
kam zu Unrecht in den Ruf einer Fruchtbarkeit an wert-
vollen Ergebnissen, welche in Wirklichkeit aus dieser obr
jektiven Quelle stammten. Andrerseits hat immer, wenn eine
üniversalmethode für alle Forschung vorher festgesetzt
wurde, das nur dazu geführt, daß auf ihre Rechnung den
Dingen Gewalt angetan wurde. Sie sollen sich den Formen
fügen, die eigensinnig im voraus für sie festgesetzt sind,
und alles, was sich dazu nicht bequemen will oder was
auf den Wegen der Methode nicht erreichbar ist, wird
ignoriert. In vielen Fällen endlich sind diese anspruchs-
voll vorgegebenen Methoden nur ein ziemlich müßiger
Zierrat, mit dem die schon getane Arbeit hinterher ge-
schmückt wird, während die Arbeit selbst auf ganz anderen
und natürlicheren Wegen des Denkens verrichtet wurde,
CXVIII Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
die aus der Beschaffenheit der Probleme selber hervor-
gingen. Es liegt ein Zug von Feigheit in dieser Sorge
um vorbereitende Mittel zum Erfolg. Einst haben die
Menschen, wenn sie nicht das Vertrauen auf das Ver-
dienst ihrer eigenen Persönlichkeit hatten, daß ihnen ein
günstiger Erfolg sicher sei, nach Liebestränken gesucht,
um sich die Neigungen ohne Gewalt zu erobern ; jetzt stellen
sie, wenn sie eine angesehene Position im Leben zu ge-
winnen wünschen, am liebsten die ganze Gesellschafts-
ordnung auf unmögliche Grundlagen, mit deren Hilfe uns
der Lauf der Dinge von selbst das bringen soll, was wir
durch die Anwendung unserer eigenen Kräfte erwerben
sollten; um sittliche Mißstände zu verbessern, richten sie
nicht einen zusammenraffenden Appell an den Willen,
der sich kraft seiner Selbsttätigkeit davon lossagen sollte,
sondern sie wählen den Umweg über den Versuch, durch
diätetische Mittel das Gehirn der künftigen Generationen
so zu gestalten, daß das Gute, das unsere eigene Tat sein
sollte, dann von selbst komme als mechanische Folge
der Umstände. Nicht anders ist es mit dem Suchen nach
einer philosophischen Mathode. Nachdem soviele Irr-
tümer begangen worden sind, möchte man gern einen
logischen Kalkül erfinden, der uns der Notwendigkeit ent-
höbe, uns selbst anzustrengen und uns, ohne unseren
persönlichen Scharfsinn anzuspannen, die richtigen Er-
gebnisse in jedem Falle mit der Sicherheit einer Ma-
schine schenken würde. Solche Bemühungen sind ständig
fruchtlos gewesen. Von soviel grober Arbeit uns die Ma-
schinen auch befreien, eine Maschine, die uns die ganze
Arbeit des Lebens auf einmal abnähme, ist bis jetzt noch
nicht erfunden worden. Es muß der Mensch selbst schließ-
lich immer bleiben, der sie zu lenken und sie ihrem Zwecke
anzupassen hat. Ich will hierüber keine Worte mehr ver-
lieren; ich behaupte im Gegensatz zu all diesen Präten-
Sionen einfach, daß jeder Fortgang des Denkens und jede
Methode gut ist, sofern sie sich in jedem Moment sogleich der
Natur des untersuchten Dinges und dem besondern Zweck
anpaßt, den die Untersuchung verfolgt; daß wir nie ver-
säumen dürfen, die Angriffsmethode zu ändern, wenn die
Natur des Gegners sich ändert; und daß wir nie daran
denken dürfen, die zahllosen Einwürfe, die gegen irgend
ein erlangtes Ergebnis erhoben werden, hauptsächlich aus
dem Grunde zurückzuweisen, daß sie aus untergeordneten
Standpunkten der Betrachtung hervorgingen; sondern wir
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CXIX
müssen vielmehr ohne jedes Vorurteil zugunsten einer
methodischen Gedankenparade jederzeit sorgfältig alles be-
nutzen, woran ein beweglicher und scharfsinniger Geist
sich irgendwie halten kann, um das Resultat zu finden,
und müssen die Einwürfe erklären und zunichte machen.
Man fragt vielleicht verwundert, ob denn diese Mißachtung
aller traditionellen Vorurteile der Schule tatsächlich be-
deutet, daß ich den gesunden Menschenverstand zum
Richter über die wissenschaftlichen Arbeiten der Philo-
sophie zu machen wünsche? Nun, ich möchte die Gegen-
frage tun, ob der gesunde Menschenverstand nicht tat-
sächlich immer ihr Richter gewesen ist? Wie viele speku-
lative Systeme sind nicht im Laufe der Zeit mit der
Versicherung hervorgetreten, daß sie mit Hilfe tief grei-
fender Methoden auf Grund noch tiefer liegender Prinzipien
Wahrheiten erlangt hätten, die auf keinem andern Wege
zu finden seien; aber weil sie ihre Ergebnisse dem ge-
sunden Menschenverstände, dem natürlichen Gefühl des
Menschen für Wahrscheinlichkeit, nicht glaubhaft zu
machen vermochten, haben sie nur die Masse des histo-
rischen Materials vermehrt, in das wir uns neugierig ver-
tiefen, und haben keinen dauernden Einfluß auf unser Leben
oder unsere Anschauungen gewonnen. Wenn ich dies sage,
habe ich gewiß nicht die Absicht, unter diesem Namen;
natürlicher Verstand jene Summe von oberflächlichen Ein-
drücken, halben Gedanken und grundlosen Vorurteilen zu
begreifen, die, zusammen mit ein paar unumgänglichen
oder traditionellen Wahrheiten den Schatz der nicht-
wissenschaftlichen Bildung ausmachen. Es ist der Mangel
dieser Bildung, daß sie fragmentarisch ist, und dieser Fehler
kann nicht für die Zwecke der Wissenschaft dadurch aus-
geglichen werden, daß sie, selber durch die Lebensvorgänge
geweckt, sich mit größerer Intensität in diese persön-
lichen Erfahrungen stürzt. Da sie sich nur von den Be-
obachtungen nährt, die in ihren Gesichtskreis fallen, führt
sie die Gedanken, zu welchen sie so angeregt wird, nur
ein paar Schritte weiter und begnügt sich mit Lösungen,
die den dringendsten Bedürfnissen des Falles in gewissem
Maße genügen. Sie beobachtet nicht, daß die verschie-
denen Ergebnisse, zu denen sie durch solche isolierten
Versuche gelangt, kein in sich zusammenhängendes Ganzes
bilden, und daß ein jedes von ihnen noch ungelöste
Rätsel enthält, die bei einem Schritt weiter ans Licht ge-
kommen wären. Aber diese Mängel können nicht durch
CXX Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
die Anwendung einer spezifischen Methode beseitigt werden,
denn sie kommen im Überfluß auch in jenen philosophi-
schen Weltanschauungen vor, die sich ausdrücklich mit
dem Besitze solcher Methoden brüsten. Wenn ich sagen
darf, was ich als den gewöhnlichsten Fehler beim Philo-
sophieren betrachte, so ist es der Mangel an Beharrlichkeit
und Zähigkeit. Man begnügt sich zu oft mit dem Blitz
eines schlagenden Gedankens, der ein merkwürdiges und
blendendes Licht auf einen Teil der Welt wirft, aber die
andern in um so tieferem Dunkel läßt; während es viel
wichtiger ist, jeden Grundgedanken, den man versucht, in
alle seine möglichen Konsequenzen zu verfolgen, um sich
zu vergewissern, wie weit seine Geltung ohne Widerspruch
seitens der Wirklichkeit bleibt, und wo seine Fruchtbarkeit
endet. In diesem unablässigen und konsequenten Ver-
folgen der Aufgabe liegt der Vorzug, den eine wissen-
schaftlich geführte Untersuchung vor den natürlichen Ver-
suchen der nicht-wissenschaftlichen Bildung haben kann
und haben sollte.
In diesem Sinne sucht die Philosophie ganz natur-
gemäß ihre Ergebnisse zu einem systematischen Ganzen
zu vereinigen, und kein gerechter Einwand kann gegen die
Notwendigkeit eines solchen Versuchs gemacht werden.
Sehr unwichtig aber ist für die gesicherten Wahrheiten
die Form der Verknüpfung, der Neben- und Überordnung,
in der man ihre Vereinigung sucht; indem ich dies sage,
will ich lediglich das Vorurteil zurückweisen, das den
gewöhnlich vorgezogenen Typus der Klassifikation als die
einzig wünschenswerte Form systematischer Verknüpfung
betrachten läßt. Ich weiß, daß man für einen Überblick
aller philosophischen Forschungen die Fragen klassifizieren
muß, auf die man Antwort sucht; ich würde mich in dieser
Beziehung ziemlich zufrieden geben mit Kants drei Fra-
gen: Weis können wir wissen? Was sollen wir tun? Was
dürfen wir hoffen ? Diese Einteilung bewahrt zum wenigsten
eine starke und lebendige Erinnerung an die Bedürfnisse,
zu deren Befriedigung alle Spekulation im letzten Grunde
unternommen wird. Ich weiß auch, und es ist dringend
notwendig, das zu erwähnen, daß nahe verwandte Gruppen
von Gegenständen zu einer Vereinigung der ihnen ge-
widmeten Untersuchungen unter den Namen von Einzel-
disziplinen führen ; aber ich vermag keinen Wert auf
subtile Unterscheidungen dieser einzelnen Forschungsge-
biete zu legen, und ebensowenig auf die Konstruktions-
Die Philosophie in den letzten 40 Jahren. CXXI
kunst, die sie dann wieder zu dem Gebäude eines ein-
zigen Systems vereinigt. Diese künstlichen Verknüpfungs-
methoden sind von Vorteil nur für den Fall, daß es
ein Vorteil ist, die Ergebnisse einer Betrachtung dem
Gedächtnis klar einzuprägen ; aber da sie nicht zugleich mit
den Ergebnissen auch die Wege in sich fassen, auf denen
dieselben erreicht wurden, so erwirken sie nur eine äußer-
liche Übermittelung von etwas Fix und Fertigem, ohne
den lebendigen Geist der Forschung zu überliefern. Der
Trieb zu systematisieren kann auf zwei verschiedene
Ziele gerichtet sein. An erster Stelle können die Wissen-
schaften klassifiziert werden als subjektive Bemühungen
des forschenden Geistes, die Erkenntnis der Wahrheit zu
erlangen. Nun ist gewiß nichts gegen dieses Vorhaben
zu sagen, sondern nur gegen die übertriebene Wichtigkeit,
die man ihm beilegt; und für diesen Erfolg können wir
Aristoteles nicht Dank wissen. Es ist eine ganz un-
fruchtbare Weitläufigkeit der Behandlung, wenn man wie
er darüber diskutiert, ob eine gegebene Frage zu dieser
oder jener von den unterschiedenen Disziplinen gehört.
Denn es ist eine grundlose Meinung, daß jede Einzel-
Disziplin eine besondere fruchtbare Methode besitze, die
es ihr und keiner andern ermögliche, eine gegebene Frage
zu beantworten; es ist daher schwer einzusehen, warum
man, wenn man eine Frage zu beantworten weiß, sie nicht
an der Stelle behandeln soll, wo der natürliche Gedanken-
zusammenhang sie aufdrängt und ihre Lösung wünschens-
wert macht; und anderseits, wenn man sie nicht beant-
worten kann, dann ist es nur verlorene Mühe, sie anderen
Disziplinen zu überweisen, die auch keine Aufklärung
geben werden. Statt diesen Weg zu verfolgen, kann man
den zweiten Standpunkt einnehmen, auf den ich anspielte:
daß man versucht, nicht unsere subjektiven Verfahrungs-
weisen, sondern den objektiven Inhalt der entdeckten
Wahrheiten systematisch darzustellen; und daß man auf
diesem Wege auch zu dem Ergebnis gelange, daß jede
Frage, oder besser die Antwort auf jede Frage, ihren
eigenen bestimmten unveränderlichen Platz in dem System
als einem Ganzen hat. Ich kann diesen Anspruch nicht
zugeben. Wir können naturgemäß die Lösung eines Pro-
blems nur an dem Punkte der Forschung unternehmen,
wo die Ergebnisse vorhergehender Untersuchungen uns
die entsprechenden Entscheidungsgründe zur Verfügung
stellen; und wenn wir den eigentlichen inneren Zusammen-
CXXIT Die Philosophie in den letzten 40 Jahren.
hang des Weltinhalts darzulegen streben, so ist diese Vor-
hebe für systematische Klassifikation ein schädliches Vor-
urteil. Die Welt ist sicherlich nicht so eingerichtet, daß
die einzelnen Grundwahrheiten, die wir in ihr herrschend
finden, nach dem armseligen Schema logischer Überord-
nung, Nebenordi\ung und Unterordnung zusammenhängen.
Sie bilden eher ein Gewebe, so gewoben, daß sie alle
gleichzeitig in jedem Stückchen und jeder Falte gegen-
wärtig sind. Man kann, je nachdem man ein Bedürfnis
dazu fühlt, jeden von diesen einzelnen Fäden zum Haupt-
objekt seiner Betrachtung machen ; aber man kann das nicht
oder wenigstens nicht auf eine förderliche Weise tun, wenn
man nicht in jedem Augenblick die anderen Fäden berück-
sichtigt, mit denen er unlösbar vereinigt ist.
Es könnte scheinen, als sagte ich mehr als ich eigent-
lich will; so füge ich hinzu, daß ich nicht den begrenzten
Nutzen dieser traditionellen Formen des Philosophierens
bestreite, sondern nur ihren Anspruch, als die unumgäng-
lichen Erfordernisse aller philosophischen Betrachtung zu
gelten. Doch ich muß mich hier von dem geneigten Leser
mit einer Apologie verabschieden. Ich habe einmal mit
Bezug auf die Theorien der Erkenntnis, mit denen wir
gegenwärtig überschwemmt werden, gesagt, daß das be-
ständige Wetzen der Messer langweilig sei, wenn man nichts
zu schneiden vorhabe. Und jetzt habe ich selber die Auf-
merksamkeit des Lesers so lange für diese einleitenden Be-
trachtungen in Anspruch genommen, daß ich sehr fürchte,
ich werde keinen günstigen Eindruck gemacht haben. Ich
werde mich bestreben, meinen Fehler dadurch zu sühnen,
daß ich mich jetzt ohne weiteres, und mit der erwünschten
Freiheit von scholastischen Formen, zu jenen wesent-
lichen Fragen wende, deren Erörterung zu allen Zeiten,
und nicht zum wenigsten in unserer eigenen, das leb-
hafte Interesse der Menschheit erweckt hat.
Lotze's Logik.
Vorwort Lotze's.
Wenn ich dieses Buch als ersten Theil eines Systems
der Philosophie zu bezeichnen wage, so hoffe ich, daß
man hinter dieser Benennung nicht dieselben Ansprüche
vermuthen wird, die in früheren Zeiten sich durch sie
anzukündigen pflegten. Es kann natürlich nur meine Ab-
sicht sein, das Ganze meiner persönlichen Ueberzeugungen
in einer systematischen Form darzustellen, welche dem
Leser das Urtheil darüber möglich macht, in wieweit sie
nicht nur in sich selbst zusammenstimmen, sondern auch
dazu dienen können, die vereinzelten Gebiete unserer ge-
wissen Erkenntniß über die großen Lücken hinweg, durch
welche dieselben getrennt sind, in den Zusammenhang einer
abschlioßbaren Weltansicht zu verknüpfen. Von diesem
Beweggrund habe ich mich auch in diesem Anfang meiner
Darstellung leiten lassen. Ihr erstes Buch, obwohl völlig
neu geschrieben, wiederholt im Wesentlichen den Gedanken-
gang meiner kleinen längst vergriffenen Logik vom Jahre
1843; ich habe nicht Ursache gefunden, diesen zu ändern,
und noch jetzt wie damals liegt nur in ihm das Interesse,
das ich selbst an der Darstellung der Logik nehme; Er-
weiterungen und Verbesserungen ihres Formalismus zu ver-
suchen, jedoch innerhalb des allgemeinen Characters, den
derselbe einmal hat und haben muß, halte ich jetzt wie
damals für unfruchtbare Arbeit; was von ihm wissenswürdig
ist, sei 6s auch nur in einer Art von culturgeschichtlichem
Interesse, glaube ich dennoch vollständig mitgetheilt zu
CXXVI Vorwort.
haben, und bin bemüht gewesen, es in der einfachsten Form
zu thun. Das zweite Buch, das, aller systematischen Fesseln
ledig, zusammenstellt, was mir nützlich schien, bedarf keines
Vorworts; Vieles läßt sich hier anders auswählen, Manches
hinzufügen, Manches wird auch hinweggewünscht werden;
man muß es wie einen offenen Markt betrachten, auf
welchem man die unbegehrte Waare ruhig bei Seite läßt.
Das dritte Buch war ganz anders beabsichtigt; es sollte
dieselben Gegenstände, die es jetzt bespricht, in Gestalt
einer historisch-kritischen Darstellung der logischen Ge-
sammtansichten behandeln, die in Deutschland und bei
den verschiedenen Nationen des Auslandes in vielen sehr
interessanten und der Theilnahme würdigen Formen auf-
getreten sind. Der Versuch der Ausführung zeigte, daß
diese Aufgabe, wenn sie mit der Gründlichkeit gelöst werden
sollte, die man allen jenen schätzenswerthen Arbeiten
schuldig ist, innerhalb der Grenzen dieses Buches ganz
unerfüllbar blieb; vielleicht findet sich für sie eine andere
Gelegenheit; vor der Hand führt dies Mißlingen mich dazu,
zunächst jeder Rücksichtnahme auf fremde Ansichten zu
entsagen und nur vorzutragen, was entweder Gemeingut
ist oder zu meiner individuellen Anschauungsweise gehört.
Möge nicht Alles, was ich geäußert habe, immer nur dieser
letzten angehören I
Göttingen, 10. Juni 1874.
Außer einigen kleinen Verbesserungen der Darstellung
enthält diese zweite Auflage nur einen größeren Zusatz:
die Anmerkung über logischen Calcül, S. 256; ich bemerke
zu S. 268, daß Jevons von Kalium spricht; warum ich
Natrium vorgezogen habe, erräth man vielleicht.
Göttingen, 6. Sept. 1880.
Der Verfasser.
Inhalt.
Seite
Erstes Buch. Vom Denken (reine Logik) 1
Einleitung- 3
Erstes Kapitel. Die Lehre vom Begriffe
A. Die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen .... 14
B. Setzung, Vergleichung und Unterscheidung der einfachen
Vorstellungsinhalte 24
C. Die Bildung des Begriffs 36
Uehergang zu der Form des Urtheils 54
Zweites Kapitel. Die Lehre vom Urtheil 57
Vorbemerkungen über Bedeutung und gewöhnliche Eintheilung
der Urtheile 57
Die Reihe der Urtheilsformen
A. Das impersonale Urtheil. Das kategorische Urtheil. Der
Satz der Identität 69
B. Das particulare Urtheil. Das hypothetische Urtheil. Der
Satz des zureichenden Grundes 77
C. Das generelle Urtheil. Das disjunctive Urtheil. Das
Dictum de omni et nullo und das Princip. exclusi medii 91
Anhang über die unmittelbaren Folgerungen 101
Drittes Kapitel. Die Lehre vom Schluß und den syste-
matischen Formen 108
Vorbemerkungen über die Aristotelische Syllogistik .... 108
A. Der Schluß durch Subsumption; durch Induction; durch
Analogie 121
B. Die mathematischen Folgerungen: durch Substitution;
durch Proportion; die constitutive Gleichung .... 131
C. Die systematischen Formen: Classification; erklärende
Theorie; das dialektische Ideal des Denkens 148
Zweites Buch. Vom Untersuchen (angewandte Logik) . . . 187
Erstes Kapitel. Die Formen der Definition 192
Zweites Kapitel. Von der Begrenzung der Begriffe . . 212
Drittes Kapitel. Schematische Anordnungen und Bezeich-
nung der Begriffe 232
Anmerkung über logischen Calcül 256
CXXVIII Inhalt.
Seite
Viertes Kapitel. Die Formen des Beweises 269
Fünftes Kapitel. Die Auffindung der Beweisgründe . . 298
Sechstes Kapitel. Beweisfehler und Dilemmen .... 335
Siebentes Kapitel. Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen 353
Achtes Kapitel. Autfiudung von Gesetzen 390
Neuntes Kapitel. Bestimmung singularer Thatsachen und
Wahrscheinlichkeitsberechnung 421
Zehntes Kapitel. Von Wahlen und Abstimmungen . . 459
Drittes Buch. Vom Erkennen (Methodologie).
Vorbemerkung 477
Erstes Kapitel. Vom Skepticismus 485
Zweites Kapitel. Die Ideenwelt 505
Drittes Kapitel. Apriorismus und Empirismus .... 524
Viertes Kapitel. Reale und formale Bedeutung des
Logischen 548
Fünftes Kapitel. Die apriorischen Wahrheiten .... 572
Druckfehler -Verzeichnis.
Seite 104, Zeile 15 : heißt nicht „umgeändert" sondern „ungeändert".
„ 124, „ 10: „eigensinnig".
„ 125, „ 14: „beruht".
167, „ 4 von unten: „logisch".
„ 262, „ 4 ,, ,. statt „auf abenteuerliche" „auf weniger
abenteuerliche**.
Erstes Buch.
Vom Denken,
(Reine Logik.)
I. Auf Anregungen der Sinne entstehen uns fast in
jedem Augenblick unseres wachen Lebens verschiedene Vor-
stellungen zugleich oder in unmittelbarer Abfolge. Von ihnen
haben manche ein Recht, in unserem Bewußtsein so zu-
sammenzutreffen, weil auch die Wirklichkeit, aus der sie
stammen, ilire veranlassenden Ursachen immer zugleich er-
zeugt oder aufeinander folgen läßt'; andere begegnen sich
in uns nur deshalb, weil innerhalb des Bereiches der Außen-
welt, für dessen Einwirkung wir erreichbar sind, ihre ver-
anlassenden Ursachen thatsächlich in demselben Augenblick
zusammentrafen, doch ohne einen inneren Zusammenhang,
d^r 4hre gleiche Verknüpfung in jedem Wiederholungsfalle
sfeiherte. Diese Misohung zusammengehöriger und nur
z u s a-m m e ngerathener Vorstellungen , wiederholt nach
einem Gesetze, welches wir unserer Selbstbeobachtung ent-
lehnen, auch der Verlauf unserer Erinnerungen,' Denn jede
Vorstellung, sobald sie irgendwie im Bewußtsein neubelebt
wird, erweckt auch diejenigen anderen wieder, die früher
einmal, gleichzeitig oder ohne Zwischenglied folgend, mit
ihr zusammengewesen sind, gleichviel ob die frühere Ver-
knüpfung auf jener Zusammengehörigkeit der vorgestellten
Inhalte oder auf dieser bloßen Gleichzeitigkeit ' übrigens
einander fremder; Erregungen beruht haben mag.lDer erste
Fall, die Wiederbringung des Zusammengehörigen, begrün-
det unsere Hoffnung, zu Erkenntnissen zu gelangen; der
zweite, die Leichtigkeit, mit der das Zusammengerathene'
an eiijander haftet und sich wechselseitig ins Bewußtsein
drängt, ist die Quelle der Irrthümer und zunächst jener Zer-
streuung, durch die unsere Gedanken von der Verfolgung
eines sachlichen Zusammenhanges abgehalten werden.
IL Mit dem Namen des Vorstellungsverlaufes
bezeichnen wir das abwechselungsreiche Ganze der Vor-
gänge, zu denen diese Eigenthümlichkeit unseres Seelen-
lebens führt. Nothwendigen Zusammenhang zwischen den
Gliedern dieses Ganzen würden wir, wenn eine allwissende
1*
6 Einleitung.
zu welchem diese Betrachtung des Denkens einleiten soll;
zulässig aber erscheint sie mir, weil sie zwar die allgemeine
Färbung meiner folgenden Darstellung entschieden be-
stimmen, aber die inneren Beziehungen des darzustellenden
Inhalts nicht unnatürlich ändern wird.
V. Es ist nützlicher, einer andern Fassung desselben
Einwurfs zu begegnen, welche die allgemeine Gültigkeit des
fraglichen Gegensatzes zugibt, aber hier nicht Veranlassung
zu seiner Anwendung zu haben glaubt. Die Verknüpfung
des Zusammengehörigen, die Wahrheit also, komme auf
demselben Wege nur etwas später zu Stande, auf welchem
Anfangs die irrigen Verbindungen des zufällig Zusammen-
gerathenen entstehend Denn der Lauf der Dinge selbst sorge
dafür, daß diejenigen Ereignisse, welche ein innerer Zu-
sammenhang mit einander verknüpft, unverhältnißmäßig'
häufiger auf uns verbunden einwirken, als diejenigen, die
ohne inneres Band der Zufall bald so bald anders zu-
sammentreffen läßt. Durch diese öftere Wiederholung , be-
festige sich in uns die Verbindung des Zusammengehörigen,
während die Verknüpfungen des Zusammengerathenen ein-
ander durch ihre Ungleichheiten lockern und zerstören.
Auf diese Weise vollziehe der Vorstellungsverlauf von selbst
jene Scheidung des Zusammengehörigen vom Nichtzusam-
mengehörigen, die wir einer besonderen rückwirkenden
Thätigkeit des Geistes glaubten zuweisen, zu müssen; das
Thier wie der Mensch erwerbe so die Menge, sachentsprechen-
der Kenntnisse, durch welche das tägliche Verhalten beider
im Leben bestimmt wird. Es würde überflüssig sein, aus-
drücklich hervorzuheben, daß diese Schilderung völlig rich-
tig sei, wenn sie nur eine Entstehungsgeschichte dieses
zuletzt genannten Erwerbes sein will; aber ich denke zu
zeigen, daß eben durch diesen die eigenthümliche Leistung
des Denkens weder scharf bezeichnet noch erschöpft ist.
VL Eine gewöhnliche Meinung behält dem Menschen
das Vermögen des Denkens vor und spricht es dem Thiere
ab. Ohne für oder wider diese Annahme ernstlich zu ent-
scheiden, benutze ich sie zur Bequemlichkeit meiner Er-
läuterung. In der Seele eines Thieres, die demgemäß auf
bloßen Vorstellungsverlauf beschränkt wäre, würde der erste
Eindruck eines belaubten Baumes nur ein Gesammtbild
erzeugen, zwischen dessen Bestandtheilen besondere Be-
ziehungen der Zusammengehörigkeit aufzusuchen hier außer
der Fähigkeit auch noch jeder Antrieb fehlen würde. Der
Winter entlaubt den Baum, und eine zweite Wahrnehmung
Einleitung. 7
des Thieres findet nur einen Theil des früheren Gesammt-
bildes wieder, der zwar die Vorstellung des andern wieder
zu erzeugen strebt, darin aber durch den gegenwärtigen
Augenschein bestritten wird. Wenn nun der wiederkehrende
Sommer den alten Thatbestand herstellt, so mag allerdings
das erneuerte Gesammtbild des belaubten Baumes jetzt
nicht mehr die einfache und unbefangene Einheit der ersten
Wahrnehmung besitzen; die Erinnerung an die zweite, sich
zwischendrängend, scheidet es in den Bestandtheil welcher
blieb und den welcher wechselte. Ich halte nicht für an-
gebbar, was eigentlich in der Seele des Thieres sich unter
den angenommenen Umständen ereignen würde; schreiben
wir ihm indessen selbst die Fähigkeit noch zu, vergleichend
den Verlauf seiner Vorstellungen zu überblicken und das
gefundene Verhalten auszudrücken, so würde doch dieser
Ausdruck nicht mehr besagen können als die Thatsache,
daß zwei Wahrnehmungen bald zusammen waren bald nicht.
Der Mensch, wenn er dieselben Gegenstände seiner Be-
obachtung den belaubten und den unbelaubten Baum nennt,
drückt damit nur dieselben Thatbestände aus ; aber die Auf-
fassung derselben, welche er in diesen ihm gewohnten
sprachlichen Formen kundgibt, enthält doch eine ganz
andere geistige Arbeit. Denn der Name des Baumes, dem
er jene nähere Bezeichnung bald hinzufügt bald entzieht,
bedeutet ihm nicht blos einen beharrlichen Theil seiner
Wahrnehmung im Gegensatz zu einem veränderlichen, son-
dern die auf sich beruhende Sache, das Ding im Gegen-
satze zu seiner Eigenschaft. Indem er den Baum und seine
Belaubung unter diesen Gesichtspunkt rückt, läßt er diese
Beziehung, welche zwischen einem Dinge und seiner Eigen-
schaft bestehe, als den Rechtsgrund erscheinen, der sowohl
die Trennbarkeit als die Verbindung beider Vorstellungen
rechtfertigt, und führt so die Thatsache ihres Zusammenseins
oder NichtZusammenseins in unserem Bewußtsein auf eine
sachliche Bedingung ihrer augenblicklichen Zusammen-
gehörigkeit oder NichtZusammengehörigkeit zurück. Man
kann dieselbe Betrachtung über andere Beispiele erstrecken.
In der Seele des Hundes ruft der erneute Anblick des ge-
schwungenen Stockes die Vorstellung des früher erlittenen
Schmerzes zurück; der Mensch, wenn er den Satz aus-
spricht, der Schlag thue weh, drückt damit nicht blos die
thatsächliche Verknüpfung beider Ereignisse aus, sondern
er rechtfertigt sie. Denn indem er in diesem Urtheile den
Schlag als das Subject bezeichnet, von dem der Schmerz
8 Einleitung.
ausgehe, läßt er deutlich das allgemeine Verhältniß eiat-r
Ursache zu ihrer Wirkung als den Grund erscheinen, um
deswillen nicht blos beide Vorstellungen in uns zusammen
sind, sondern die eine berechtigt und verpflichtet ist auf
die andere zu folgen. Endlich mag dem Hunde mit der
Erwartung des Schmerzes zugleich die Erinnerung wieder-
kehren, mit der Flucht, zu der ihn früher ein unwillkürlicher
Trieb anleitete, sei eine Milderung des Schmerzes ver-
bunden gewesen; und gewiß wird diese neue Verkettung
seiner Vorstellungen ihn zu der nützlichen Wiederholung
seiner Flucht ebenso sicher bestimmen, als wenn er über-
legend schlösse: drohende Schläge verhindere insgemein
die Entfernung, ihm drohe der Schlag, also müsse er
flüchten. Aber der Mensch, der in gleichem oder ernst-
hafterem Falle einen solchen Schluß wirklich bildet, vollzieht
doch eine ganz andere geistige Arbeit; indem er im Ober-
satz eine allgemeine Erkenntniß ausspricht und ihr im
Untersatz einen besonderen Fall der Anwendung unter-
ordnet, wiederholt er nicht nur die Thatsache jener nütz-
lichen Verknüpfung von Vorstellungen und Erwartungen,
die das Thier auf sich. wirken läßt, sondern rechtfertigt sie
durch Berufung auf die Abhängigkeit des Besonderen von
seinem Allgemeinen.
VII. Durch diese Beispiele, welche sich auf die all-
bekannten Formen des Denkens, atif Begriff Urtheil und
Schluß erstreckten, glaube ich hinlänglich den Ueberschuß,
der Leistung deutlich gemacht zu haben, welchen das Denken
vor dem bloßen Vorstellungsverlaufe voraus bat : er besteht
überall in den Nebengedanken, welche zu der Wieder-
herstellung oder Trennung einer Vorstellungsverknüpfung
den Bechtsgrund der Zusammengehörigkeit oder Nicht-
zusammengehörigkeit hinzufügen. Diese Leistung bleibt in
ihrem Werthe völlig dieselbe, welche Meinung man auch
über ihre Entstehung haben mag; zögen wir vor, sie nicht
als Ausfluß einer besonderen Thätigkeit, sondern nur als
ein feineres Erzeugniß zu betrachten, welches der Vor-
stellungsverlauf unter' günstigen Umständen von selbst her-
vorbringt, so würde uns Denken diesen Vorstellungsverlauf
eben nur auf derjenigen Stufe seiner Entwicklung heißen,
auf welcher er zur Erzeugung dieser neuen Leistung bereits
gekommen ist. Hierin also, in der Erzeugung jener recht-
fertigenden Nebengedanken, welche die Form unseres Auf-
fassens bedingen, nicht in der bloßen Sachgemäßheit der
Auffassungen, liegt die Eigenthümlichkeit des Denkens, der
Einleitung. ^^
unsere ganze spätere Darstellung gilt. Daß auch ohne dieses
Denken der bloße Vorstellungsverlauf des Thieres eine Menge
nützlicher Verknüpfungen der Eindrücke, viele zutreffende
Erwartungen und passende Rückwirkungen hervorbringt,
leugnen wir nicht; wir geben im Gegentheil zu, daß selbst
vieles von dem, was der Mensch sein Denken nennt, in
der That nur in einem Spiele einander hervorrtt^ender Vor'-
stellungen besteht. Dennoch bleibt hier vielleicht ein Unter-
schied. In den plötzlichen Eingebungen, die uns im Augen-
blick eine entscheidende Ma^egel tre'ffen lassen, in der
raschen Uebersicht, welc]ie verwickeltes Mannigfaltige fast
schneller zergliedert, als die bloße Wahrnehmung seiner
Bestandtheile möglich schien, in der künstlerischen Erfin-
dung endlich, die* sich ihrer treibenden Gründe unbewußt
bleibt: in allen diesen Fällen glauben wir nicht einen Vor-
stellungsverlauf, welcher noch nicht Denken wäre, sondern
ein verkürztes Denken wirken zu sehen. An den bestimmten
Beispielen, an denen diese überraschenden Leistungen voll-
zogen werden, gelingen sie wohl nur, weil ein entwickeltes
Denken längst an andern Beispielen die Gewohnheit jener
Nebengedanken groß gezogen hatte, welche' die gegebenen
Eindrücke unter allgemeine Gründe ihrer Zusammengehörig-
keit bringen; und wie jede Geschicklichkeit, die zur mühe-
losen zweiten Natur geworden ist, hat auch dieäe eirle
vergessene Zeit mühsamer Uebung hifiter sich; "^ ''
VIII. In den Beispielen, die ich benutzte, fielen die
Nebengedanken, durch welche wir die Verknüpfungen der
Vorstellungen rechtfertigten, ersichtlich mit gewissen Voraus-
setzungen zusammen, deren wir uns über den Zusammen-
hang des Wirklichen nicht entschlagen. In der That, ohne
die Gesammtheit des Wahrnehmbaren durch den Gegensatz
von Dingen und ihren Eigenschaften zu gliedern, ohne die
Annahme einer Abfolge von Wirkungen aus Ursaclien^ ohne
die bestimmende Macht endlich des Allgemeinen über das
Besondere, ist uns jede Auffassung der umgebenden Wirk-
lichkeit völlig unmöglich; Von hier aus erscheint es daher
eine ganz von selbst sich ergebende Behauptung, in s.einen
Formen und den si^ beseelenden • Nebengedanken* bildg, das
Denken unmittelbar die allgemeinen Formen des Seienden
selbst und seiner Zusammenhänge ab, und oft genug ist in
der That diese reale Geltung des Denkens und seiner Ver-
fahrungsweisen gelehrt worden. Die entgegengesetzte Be-
hauptung, die man als volles Widerspiel erwarten könnte.
10 Einleitung.
ist nie gleich uneingeschränkt gewagt worden. Zu natürlich
erscheint jedem Unbefangenen das Denken als ein Mittel,
zur Erkenntniß des Wirklichen zu gelangen, und viel zu
sehr beruht alle Theilnahme für die wissenschaftliche Unter-
suchung seines Verfahrens auf dieser Voraussetzung, als daß
man jemals von einer blos formalen Geltung alles
logischen Thuns mit bestimmter Leugnung jeder Beziehung
desselben zu der Natur des Seienden hätte sprechen können.
Indem man daher die Formen und Gesetze des Denkens
zunächst als eigenthümliche Folgen der Natur unserer
geistigen Organisation ansah, schloß man nicht jedes Zu-
sammenpassen derselben zu dem Wesen der Dinge aus, aber
man leugnete jene Beziehung kurzer Hand, nach welcher
die Formen des Denkens unmittelbare Abbilder der Formen
des Seins wären.
IX. Zu dieser viejbehandelten Streitfrage kann eine
Einleitung nur eine vorläufige Stellung nehmen. Gewiß
werden wir recht thun, wenn wir am Anfange unserer Be- ^
trachtung nur das beachten, was hier schon klar sein kann,
die Entscheidung des Ungewissen aber ihrem Fortgange
überlassen. Bleiben wir deshalb bei der natürlichen Voraus-
setzung, welche das Denken als ein Mittel zur Erkenntniß
ansieht; Nun hat jedes Werkzeug die doppelte Verpflich-
tung, sachgerecht und handgerecht zu sein. " Sachgerecht,
sofern es durch seinen eigenen Bau im Stande sein muß,
den Gegenständen, die es bearbeiten soll, überhaupt nahe
zu kommen, sie zu erreichen, zu fassen und an ihnen einen
Angriffspunkt für seine umgestaltende Einwirkung zu finden ;
und diese Forderung erfüllen wir für das Denken durch
(Jas Zugeständniß, daß seine Formen und Gesetze gewiß
nicht bloße Sonderbarkeiten menschlicher Geisteseinrich-
tung, sondern daß sie; so wie sie sind, beständig und durch-
gehends auf das Wesen des Wirklichen berechnet sirld.
Handgerecht aber muß jedes Werkzeug dadurch sein, daß
es durch andere Eigenschaften seines Baues ergreifbar halt-
bar und bewegbar lür die Kraftjdie Stellung und den Stand-
punkt desjenigen ist, der sich seiner bedienen soll; und
diese zweite nothweüdig zu erfüllende Forderung beschränkt
für das Denken den Sinn des vorigen Zugeständnisses.
Nur ein Geist, der im Mittelpunkte der Welt und alles Wirk-
lichen stände, nicht außerhalb der einzelnen Dinge, sondern
sie alle durchdringend und mitseiend, nur ein' solcher möchte
eine Anschauung der Wirklichkeit besitzen, die, weil sie
Einleitung. 11
nichts erst zu suchen brauchte, unmittelbar das völlige
Abbild derselben in ihren eigenen Formen des Seins und
der Thätigkeit wäre. Der menschliche Geist dagegen, um
dessen Denken allein es sich für uns handelt, steht in
diesem Mittelpunkte der Dinge nicht, sondern hat seinen
bescheidenen Ort irgendwo in den letzten Verzweigungen
der Wirklichkeit. Genöthigt, seine Erkenntniß durch Er-
fahrungen, die sich unmittelbar nur auf einen kleinen Bruch-
theil des Ganzen beziehen, stückweis zusammenzubringen
und von hier aus vorsichtig zu der Auffassung de^en vor-
zudringen, was nicht in seinen Gesichtskreis fällt, hat et'
sehr wahrscheinlich eine Menge von Umwegen nöthig, die
der "Wahrheit selbst, die er sucht, gleichgültig, aber ihm,
der sie sucht, unvermeidlich sind. Wie sehr wir mithin die
ursprüngliche Beziehung der Denkformen auf das Ziel der
Erkenntniß, die J\^atur der Dinge, voraijgsetzen mögen : darauf
müssen wir uns doch gefaßt machen, manche Bestandtheile
in ihnen anzutreffen, die das eigne Wesen des Wirklichen
nicht sofort abbilden, zu dessen Erkenntniß sie f ühi:en sollen ;
ja es bleibt die Möglichkeit, daß ein sehr , großer Theil
unserer Denkbemühungen nur einem Gerüste gleicht, das
keineswegs zu den bleibenden Formen des Baues gehört,
den es aufführen half, das im Gegentheil wieder abge-
brochen werden muß, um den freien Anblick seines Er-
gebnisses zu gewähren. Es reicht hin, diese vorläufige Er-
wartung erregt zu haben, mit der wir dem Gegenstande
unserer Betrachtung entgegenkommen wollen; jede bestimm-
tere Entscheidung über die Grenzen, welche die formale
Gültigkeit unseres Denkens von seiner realen Bedeutung
trennt, kann nur von dem Verlaufe unserer Untersuchungen
gefordert werden.
X. Ich vermeide absichtlich, den Beginn dieser letzteren
durch Erörterungen zu verzögern, die mir mit Unrecht den
Zugang zur Logik zu erschweren scheinen. Welche Gemüths-
verfassung dazu gehöre, um die Denkhandlungen mit Glück
zu vollziehen, wie die Aufmerksamkeit zusammenzuhalten,
die Zerstreuung zu verhüten, die Schläfrigkeit aufzuregen,
die Uebereilung zu zügeln sei: alle diese Fragen gehören
so wenig zum Gebiete der Logik, als die Untersuchungen
über die Entstehung unserer Sinneseindrücke und die Be-
dingungen, unter denen Bewußtsein überhaupt und bewußte
Thätigkeit möglich ist. Vorausgesetzt vielmehr, daß es alles
dies gebe, Wahrnehmungen Vorstellungen und ihre Ver-
12 Einleitung.
flechtung nach den Gesetzen eines seelischen Mechanismus,
beginnt die Logik selbst erst mit der Ueberzeugung, daß
es dabei sein Bewenden nicht haben soll, daß vielmehr
zwischen den Vorstellungsverknüpfungen, wie sie auch
immer entstanden sein mögen, ein Unterschied der Wahr-
heit und Unwahrheit stattfinde, daß es endlich Formen gebe,
denen diese Verknüpfungen entsprechen, Gesetze, denen sie
gehorchen sollen. Allerdings kann es eine psychologische
Untersuchung geben, welche auch den Ursprung dieses
gesetzgebenden Bewußtseins in uns aufzuklären strebt; aber
auch dieser Versuch würde die Richtigkeit seiner eignen
Ergebnisse nur nach dem Maßstab messen können, den eben
dieses von ihm zu untersuchende Bewußtsein aufstellt. Zu-
erst muß daher das ermittelt werden, was der Inhalt dieser
gesetzgebenden Ueberzeugung in uns ist; nur in zweiter
Linie kann ihre eigne Entstehungsgeschichte, und dann nur
in Uebereinstimmung mit den Forderungen, welche sie selbst
ausspricht, unternommen werden.
XL Indem ich für erschöpft halte, was ich zur Ein-
leitung meiner Darstellung zu bedürfen glaubte, füge ich
eine vorläufige Uebersicht ihres Ganges hinzu. Die Bei-
spiele, welche wir bisher benutzten, führen von selbst in
einen ersten Haupttheil ein, der unter dem Namen der
reinen oder formalen Logik dem Denken überhaupt und
jenen allgemeinen Grundformen und Grundsätzen desselben
gewidmet ist, die ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit
der zu behandelnden Gegenstände überall sowohl in der
Beurtheilung des Wirklichen als in der Ueberlegung des
Möglichen gelten. Die bloße Nennung von Begriff Urtheil
und Schluß genügt, um zu bemerken, wie natürlich diese
Formen sich als verschiedene Stufen einer und derselben
Thätigkeit darstellen; diesen Faden des Zusammenhangs
wird meine Behandlung der reinen Logik etwas schärfer
als gewöhnlich anzuspannen suchen. Sie wird die ver-
schiedenen Denkformen in eine aufsteigende Reihe ordnen,
in welcher jedes spätere Glied einen Mangel zu tilgen sucht,
den das zunächst frühere übrig ließ, weil es dem allgemeinen
Bestreben des Denkens, Zusammenseiendes auf Zusammen-
gehöriges zurückzuführen, in Bezug auf die Frage, die ihm,
diesem früheren Gliede, vorlag, noch keine vollständige
Befriedigung verschaffte. Diese Reihe von Gliedern wird
von den einfachsten Formungen der einzelnen Eindrücke
bis zu dem Gedanken der umfassenden Ordnung fort-
schreiten, welche wir, wenn es anginge, dem Ganzen der
Einleitung. 13
Welt, auf Grund dieses allgemeinen logischen Triebes, geben
möchten.
XII. Die reine Logik selbst nun wird zeigen und er-
läutern, daß die Formen des Begriffs, des Urtheils und des
Schlusses zunächst als ideale Formen zu betrachten sind,
die dann, wenn es gelingt, den gegebenen Stoff der Vor-
stellungen in sie einzuordnen, die wahre logische Fassung
dieses Stoffes erzeugen. Aber die verschiedenen Eigen-
thümlichkeiten der verschiedenen Gegenstände setzen dieser
Einordnung Widerstände entgegen \ nicht von selbst ist klar,
welche Summe von Inhalt als abgeschlossener Begriff einem
andern entgegengesetzt zu werden verdient; nicht von selbst,
welches Prädicat allgemeingültig welchem Subject zukommt,
noch wie das allgemeine Gesetz zu finden ist, das einer
systematischen Anordnung eines Mannigfachen als Princip
dienen soll. Die angewandte Logik beschäftigt sich mit den
Methoden des Untersuchens, welche diese Mängel be-
seitigen. Als eine Betrachtung von Hindernissen und den
Kunstgriffen zu ihrer Bewältigung muß diese Lehre, mit
Aufopferung der Vorliebe für Systematik, nach Rücksichten
der Nützlichkeit dasjenige auswählen, was die bisherige
Erfahrung der Wissenschaft als erheblich und fruchtbar
kennen gelehrt hat; die Grenzenlosigkeit des hier sich
bietenden Beobachtungsstoffes macht es leider unmöglich,
diesen glänzendsten, der Erfindungsgabe der Neuzeit an-
gehörigen Theil der Logik mit an sich wünschenswerther
Vollständigkeit herzustellen.
XIII. Dem Erkennen wird der dritte Theil sich wid-
men, der Frage also, die unsere Einleitung berührte, ohne
sie zu beantworten: in wie weit kann ein Ganzes von Ge-
danken, das wir durch alle Mittel der reinen und der an-
gewandten Logik aufzubauen im Stande gewesen sind, darauf
Anspruch machen, eine zutreffende Erkenntniß dessen zu
sein, was wir als Gegenstand und veranlassende Ursache
unserer Vorstellungen glauben voraussetzen zu müssen. Je
geläufiger dem gewöhnlichen Bewußtsein dieser Gegensatz
zwischen dem Gegenstande unserer Erkenntniß und unserer
Erkenntniß dieses Gegenstandes ist, um so unbesorgter kann
ich seine Erwähnung als eine vorläufige Bezeichnung der
Betrachtungen gelten lassen, die diesem dritten Theile zu-
fallen werden; ihm selbst mag es aufbehalten bleiben, die
Schwierigkeiten aufzudecken, welche diese scheinbar klare
Gegenüberstellung enthält, und sich darnach die Grenzen
seiner Aufgaben genauer zu bestimmen.
Erstes Kapitel.
Die Lehre vom Begriffe.
A. Die Formung der Eindrücke zu Vorstellungen.
1. In Beziehungen eines Mannigfachen pflegen sich uns
die Leistungen des Denkens zu zeigen; man kann daher
glauben, auch die ursprünglichste seiner Handlungen in einer
einfachsten Art der Verknüpfung zweier Vorstellungen
suchen zu müssen. Eine leichte Ueberlegung räth uns
indessen, noch einen Schritt weiter zurückzugehen. Aus
lauter Kugeln läßt sich ein Haufe leicht zusammenwerfen,
wenn es gleichgültig ist, wie sie liegen; ein Gebäude von
regelmäßiger Gestalt dagegen ist nur aus Bausteinen möglich,
die einzeln bereits jeder in Formen gebracht sind, in welchen
sie einander passende Flächen zu sicherer Anfügung und
Auflagerung zuwenden. Man wird Aehnliches hier erwarten
müssen. Als bloße Erregungen unseres Inneren können die
Zustände, welche den äußern Reizen folgen, ohne weitere
Vorbereitung in uns beisammen sein und auf einander so
wirken, wie es eben die allgemeinen Gesetze unseres Seelen-
lebens gestatten oder befehlen ; um dagegen in der bestimm-
ten Form eines Gedankens verbindbar zu werden, be-
dürfen sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche
sie überhaupt erst zu logischen Bausteinen, aus Ein-
drücken zu Vorstellungen werden. Nichts ist uns
im Grunde vertrauter als diese erste Leistung des Denkens;
wir pflegen nur deshalb über sie hinwegzusehen, weil sie
in der Bildung der uns überkommenen Sprache beständig
schon geleistet ist und darum zu den selbstverständlichen
Voraussetzungen, nicht mehr zu der eigenen Arbeit des
Denkens zu gehören scheint.
Die Lehre vom Begriffe. 15
2. Was unmittelbar unter dem Einflüsse äußerer Reize
in uns entsteht, die Empfindung oder das sinnliche Gefühl,
ist an sich nichts als ein Zustand unseres Befindens, eine
Art, wie uns zu Muth ist. Nicht immer gelingt es uns,
einen Namen zu finden für das, was wir so leiden, und es
dadurch mittheilbar an Andere zu machen; nur die formlose
Interjection, der Ausruf, bleibt uns zuweilen übrig, um dies
Unsagbare, ohne sichere Hoffnung auf Verständniß, wenig-
stens zu verlautbaren. In den günstigeren Fällen aber, in
welchen uns die Schöpfung eines Namens gelungen ist,
welche Leistung ist dann ausgeführt, und verräth sich eben
in dieser Schöpfung selbst? Keine andere, als eben die,
die wir hier suchen, die Verwandlung eines Eindrucks
in Vorstellung. Sobald wir die verschiedenen Erregun-
gen, welche uns Lichtwellen durch unser Auge veranlassen,
grün oder roth nennen, haben wir ein früher Ungeschiedenes
geschieden: unser Empfinden von dem Empfindbaren, auf
das es sich bezieht. Dies Empfindbare stellen wir jetzt vor
uns hin, nicht mehr als einen Zustand unseres Leidens,
sondern als einen Inhalt, der an sich selbst ist was er ist
und bedeutet was er bedeutet, und der dies zu sein und zu
bedeuten fortfährt, gleichviel ob unser Bewußtsein sich auf
ihn richtet oder nicht. Man wird leicht hierin den noth-
wendigen Anfang jener Thätigkeit entdecken, die wir dem
Denken überhaupt zueigneten; sie kann hier noch nicht
darauf gerichtet sein, zusammenseiendes Mannigfaltige in
Zusammengehöriges zu verwandeln; sie löst vor Allem die
Voraufgabe, jedem einzelnen Eindrucke die Bedeutung eines
an sich Gleichgültigen zu geben, ohne welche später eine
sachliche Zusammengehörigkeit mehrerer keinen angebbaren
Sinn im Gegensatze zu bloßem Zusammensein in uns haben
könnte.
3. Man kann diese erste Leistung des Denkens als
Beginn einer Objectivirung des Subjectiven bezeichnen;
ich benutze diesen Ausdruck, um durch Abwehr eines Miß-
verständnisses den einfachen Sinn des Gesagten zu ver-
deutlichen. Objectivität in der Bedeutung eines irgendwie
gearteten wirklichen Daseins, das auch bestände, wenn Nie-
mand es dächte, wird durch die logische That, die sich in
der Schöpfung eines Namens verräth, dem durch eben diese
Schöpfung entstehenden Vorstellungsinhalt nicht zuerkannt;
was in Wahrheit diese erste Denkhandlung sagen will,
machen die Sprachen am leichtesten klar, die sich den Ge-
brauch des Artikels bewahrt haben. Denn durch diesen.
16 Erstes Kapitel.
welcher überall ursprünglich den Werth eines demonstra
tiven Pronomen hatte, wird das mit ihm versehene Wort
als der Name von Etwas bezeichnet, worauf sich hinweisen
läßt; hin aber weisen wir auf das, was einem Andern
ebenso wahrnehmbar werden kann, wie es uns gewesen ist.
Nun freilich geschieht dies am leichtesten in Bezug auf
Dinge, die in der That in äußerlicher Wirklichkeit zwischen
den Sprechenden stehen, aber die gebildete Sprache ver-
gegenständlicht auch jeden andern Uenkinhalt auf gleiche
Weise. Die Objectivität, w^elche sie durch den auch in
solchen Fällen gebrauchten Artikel ajideutet, fällt daher
nicht im Allgemeinen mit der Wirklichkeit zusammen, die
den Dingen zukommt; sie traf vielmehr in den Benennungen
dieser nur mit einem thatsächlichen Anspruch auf eine solche
zusammen, den ihnen die unterscheidende Eigenthümlichkeit
ihrer realen Natur gibt. Von dem Schmerze, der Helligkeit,
der Freiheit sprechen wir nicht so, als könnte der Schmerz
dasein, wenn ihn Niemand fühlt, die Helligkeit, wenn sie
kein Auge sieht, die Freiheit, wenn kein Wesen wäre, das
sich der Uneingeschränktheit seines Handelns entweder
selbst erfreute oder sie fühlbar machte für Andere. Noch
weniger, wenn wir von dem Zwar dem Aber und dem
Dennoch reden, meinen wir durch den Artikel ein Dasein
anzudeuten, das den durch diese Worte bezeichneten Denk-
inhalten irgendwie auch außerhalb jedes Vorstellens zu-
käme; wir sagen durch diese Ausdrucksweisen nur, daß
gewisse eigenthümliche Widerstreite und Spannungen, die
wir im Verlauf unserer Vorstellungen fühlen, nicht blos
Seltsamkeiten unseres Befindens und unabtrennbar von
diesem sind, daß sie vielmehr auf eigenen Beziehungen ver-
schiedener Vorstellungsinhalte beruhen, welche jeder, dei
diese denken wird, el:)enso zwischen ihnen vorfinden wird,
wie wir. Durch die logische Objectivirung, die sich in der
Schöpfung des Namens verräth, wird daher der benannte
Inhalt nicht in eine äußere Wirklichkeit hinausgerückt;
die gemeinsame Welt, in welcher Andere ihn, auf den wir
hinweisen, wiederfinden sollen, ist im Allgemeinen nur die
Welt des Denkbaren; ihr wird hier die erste Spur eines
eigenen Bestehens und einer inneren Gesetzlichkeit zu-
geschrieben, die für alle denkenden Wesen dieselbe und von
ihnen unabhängig ist, und es hier ganz gleichgültig, ob
einzelne Theile dieser Gedankenwelt Etwas bezeichnen, was
noch überdies außerhalb der denkenden Geister selbständige
Wirklichkeit besitzt, oder ob ihr ganzer Inhalt überhaupt
Die Lehre vom Begriffe. 17
nur in den Gedanken der Denkenden, mit gleicher Gültig-
keit dann für alle, Dasein hat.
4. Durch diese Vergegenständlichung des eben so erst
entstehenden Inhalts ist indessen picht der ganze Sinn
dieser ersten Denkhandlung erschöpft; vor sich hinstellen
kann ihn das Bewußtsein nicht blos überhaupt, sondern nur
indem es ihm eine bestimmte Stellung gibt; nicht über-
haupt b'OS kann es ihn von einem Zustand seiner eigenen
Erregung unterscheiden, ohne ihm anstatt der Art des Seins,
die er als solcher Zustand hatte, eine andere Art seines
Bestehens zuzuerkennen. Was mit dieser Forderung ge-
meint ist, denn ich gebe zu, daß es diesem Ausdruck der-
selben an unmittelbarer Klarheit fehlt, zeigt uns am ein-
fachsten die Sprache durch ihre wirkliche Erfüllung. Denn
nur die Interjection, die keines Inhalts Name ist, läßt sie
in der Formlosigkeit, die ihr als bloßem Ausdruck einer
Erregung zukommt; ihren ganzen übrigen Wortschatz glie-
dert sie in die bestimmten Formen der Substantiva der
Adjectiva der Verba, der bekannten Redetheile über-
haupt. Und daß sie durch diese verschiedenartige Aus-
prägung ihres ganzen Schatzes eine Vorbedingung erfüllt,
welche das Denken zu seinen späteren Leistungen nicht ent-
behren kann, bedarf kaum der besonderen Versicherung,
denn offenbar weder die Verbindung der Merkmale zum
Begriff, noch die der Begriffe zum Urtheile oder der Urtheile
zum Schluß wäre möglich, wenn alle Vorstellungsinhalte
gleich formlos oder in gleicher Form gefaßt wären, und
wenn nicht einige von ihnen substantivisch als Bezeich-
nungen für sich feststehender Inhalte anderen adjectivischen
eine Stätte der Anknüpfung gewährten, noch andere verbal«
die flüssigen Beziehungen darstellten, die eines mit dem
andern in Verbindung zu bringen bestimmt sind. Ich halte
nicht für angemessen, diese eigenthümliche Gestaltung des
Vorstellungsinhalts als eine zweite Denkhandlung von jener
ersten zu trennen, der wir die Vergegenständlichung des-
selben zuschrieben; ich fasse vielmehr die erste That des
Denkens in diese untheilbare Leistung zusammen, dem vor-
gestellten Inhalt eine dieser logischen Formungen zu geben,
indem sie ihn für das Bewußtsein vergegenständlicht, oder
auch ihn dadurch eben zu vergegenständlichen, daß sie
ihm eine dieser bestimmten Formungen gibt.
5. Unvermeidlich erinnern die drei Redelheile, die ich
hervorhob, an drei unserer Beurtheilung der Wirklichkeit
unentbehrliche Begriffe. Denn in der That nicht einmal eine
Lotze, Logik. 2
18 Erstes Kapitel.
aussprechbare Uebersicht über die wahrnehmbare Welt ist
uns . möglich, ohne in ihr Dinge als die festen Punkte zu
denken, die einer Vielheit unselbständiger Eigenschaften
als Träger dienen und durch veränderliche Ereignisse, das
Spiel des Geschehens, unter einander verbunden werden.
Ist Metaphysik die Untersuchung nicht des Denkbaren über-
haupt, sondern des Wirklichen oder dessen, was als wirklich
anerkannt werden soll, so sind diese Begriffe des Dinges
der Eigenschaft und des Geschehens metaphysische Be-
griffe; nicht solche vielleicht, welche die Metaphysik am
Ende ihrer Untersuchung in unveränderter Geltung lassen
würde, aber solche gewiß, die am Anfang derselben un-
mittelbar das eigne Wesen und die Gliederung des Seienden
zu bezeichnen vorgeben. Mit ihnen scheinen nun die
logischen Formen der Substantivität Adjectivität und Ver-
balität für den ersten Blick zusammenzufallen; ein zweiter
freilich zeigt zwischen beiden Reihen den gleichen Unter-
schied, welcher die logische Vergegenständlichung eines
Vorstellungsinhaltes von äußerer Wirklichkeit trennte. Denn
für Ding oder Substanz gilt uns nur, was außer uns wirklich
und in der Zeit dauernd theils in Anderem Veränderungen
bewirkt, theils veränderliche Zustände selbst zu erleiden
vermag; substantivisch aber fassen wir nicht die Dinge
allein, sondern ihre Eigenschaften ja auch; substantivisch
sprechen wir von der Veränderung, dem Ereigniß, dem
Nichts selbst, kurz von Unzähligem, was entweder nicht ist,
oder doch nicht selbständig für sich, sondern nur an Anderem
Bestand hat. Durch die Form der Substantivität eignen wir
daher dem in sie gebrachten Inhalt nur in Beziehung auf
das, was von ihm als einem Subject künftiger Urtheile weiter
ausgesagt werden soll, dieselbe Priorität und Selbständigkeit
zu, die dem Dinge gegenüber seinen Eigenschaften Zu-
ständer und Wirkungen zukommt, aber keineswegs die
Realität selbständiger Wirklichkeit und Wirksamkeit, die
dieses vor dem blos Denkbaren voraus hat. Auch Verba
bezeichnen am häufigsten freilich ein in der That zeitlich
verlaufendes Geschehen; aber wenn wir sagen, daß die
Dinge sind oder daß sie ruhen, daß eines das andere bedingt
oder ihm gleicht, so zeigt sich, daß auch die verbale Form
nicht allgemein ihrem Inhalt die Bedeutung eines Ge-
schehens gibt, sondern sie nur gewöhnlich in ihm vorfindet.
Um den Sinn solcher Verba, wie wir sie eben als Beispiele
brauchten, vollständig zu denken, haben wir mehrere ein-
zelne Inhalte durch eine Bewegung unseres Vorstellons zu
Die Lehre vom Begriffe. 19
verknüpfen, eine Bewegung, die ausführlich freilich nur in
der Zeit, aber doch in dem, was sie bedeutet oder sagen
will, von allem Zeitverlauf unabhängig ist. Mit einem Wort:
nicht ein Geschehen, sondern eine Beziehung zwischen
mehreren Beziehungspunkten ist der allgemeine Sinn der
verbalen Form; unü diese Beziehung kann ebenso gut
zwischen Inhalten vorkommen, die stets unzeitlich nur in
der Welt des Denkbaren zusammen, wie zwischen solchen,
die, der Wirklichkeit angehörig, einer zeitlichen Veränderung
zugängiicli sind. Gewil^ bezeichnen endlich die Stamm-
adjectiva der Sprache, wie blau und süß, zunächst das, was
unserer ersten Auffassung als wirkliche Eigenschaft von
Dingen erscheint; aber jede ausgebildete Sprache kennt
docn Worte wie: zweifelhaft parallel und erlaubt; Worte,
die schon der einfachsten Ueberlegung nicht mehr in dem
einfachen Sinne, wie jene, eine an den Dingen selbst haftende
Eigenschaft bedeuten können; sie sind verkürzte und ver-
dichtete Bezeichnungen der Ergebnisse von allerhand Be-
ziehungen, und nur für Zwecke des Denkens bringen wir
ihren adjectivisch gefaßten Inhalt in das formale Verhältniß
zu dem eines Substantivs, in welchem wir uns die Eigen-
schaft zu ihrem Träger stehend vorstellen. Allgemein aus-
gedrückt ist daher der logische Sinn der Redetheile nur ein
Schatten von dem jener metaphysischen Begriffe : er wieder-
holt nur die formalen Bestimmungen, die diese von dem
Wirklichen behaupten ; aber indem er ihre Anwendung nicht
auf das Wirkliche beschränkt, läßt er auch den Theil ihrer
Bedeutung fallen, den sie nur in dieser Anwendung erhalten.
6. Fanden wir endlich in den Formen der Redetheile
die ursprünglichsten Denkhandlungen, so müssen wir sie
nun auch von diesem ihrem sprachlichen Ausdruck zu unter-
scheiden wissen. Jetzt, nachdem einmal der Mensch sich
zur Mittheilung seiner Gedanken der Lautsprache bedient,
jetzt erscheinen jene Denkhandlungen allerdings am anschau-
lichsten in der Form der Redetheile; an sich aber sind sie
nicht unlösbar an das Vorhandensein der Sprache gebunden.
Schon die Entwicklung, deren die Gedankenwelt der Taub-
stummen, wenn auch unter erster Anleitung der Sprechen-
den, fähig ist, beweist uns, daß die innere logische Arbeit
von der Möglichkeit ihres sprachlichen Ausdrucks unab-
hängig ist. Nur darin besteht diese Arbeit, daß wir den
einen Vorstellungsinhalt mit dem Gedanken seiner verhältniß-
mäßigen Selbständigkeit begleiten, einen andern als der An-
2*
20 Erstes Kapitel.
lehnung bedürftig, einen dritten als Mittelglied denken, das
weder tür sich besteht, noch an einem anderen ruht, sondern
die vermittelnde Beziehung zwischen beiden bildet. Nie-
mand bezweifelt die höchst wirksame Unterstützung, welche
für die Ausbildung des Denkens in der Fähigkeit der Sprache
liegt, durch scharfbestimmte Lautbilder und regelmäßige
Umlautungen derselben allen jenen Formungen und Um-
formungen der Gedanken eine für das Bewußtsein anschau-
liche Gegenständlichkeit zu geben; gleichwohl, wäre dem
Menschen anstatt der Lautsprache eine andere Mittheilungs-
weise natürlich, so würden dieselben logischen Neben-
gedanken sich auch in dieser einen entsprecnenden, freilich
ganz anders gearteten Ausdruck zu verschaffen wissen.
Und wenn die Formenarmuth einzelner Sprachen nicht zur
Ausprägung aller dieser Nebengedanken, nicht zum Beispiel
zur Unterscheidung substantivischer und verbaler Fassung
überall zureicht, so ist doch kein Zweifel, daß das Denken
auch der so Redenden die logischen Unterschiede in der
Formung der lautlich ununterscniedenen Vorstellungen fest-
hält. Wo immer diese innere Gliederung ist, da ist Denken;
es ist nicht, wo sie fehlt. Darum ist Musik kein Denken;
denn wie mannigfach und fein abgemessen auch die Ver-
hältnisse ihrer Töne sind, niemals bringt sie doch den einen
zum andern in die Stellung eines Substantivs zum Verbum,
nie in eine Abhängigkeit, die der eines Adjectivs von seinem
Hauptwort, oder der eines Genitivs zu dem Nominativ gliche,
von dem er regiert wird.
7. Ich habe nur drei bisher aus der größeren Anzahl der
Redetheile erwähnt : diejenigen, ohne die auch die einfachste
logische Aussage unmöglich wäre; ich leugne darum den
logischen Werth der übrigen nicht. Aber unser eigner Weg
ist zu weit, um uns in das anziehende Gebiet sprachwissen-
schaftlicher Betrachtung weitere Umwege zu gestatten, die,
nach der eben besprochenen Unabhängigkeit des Denkens
von seinen Ausdrucksweisen, für unsern Zweck doch Um-
wege bleiben würden. Gliederung und Gebrauch der Sprache
deckt eben die Leistungen des Denkens nicht durchaus.
Wir werden später finden, daß sie häufig nicht den voll-
ständigen Bau des Gedankens ausdrückt : und dann müssen
wir für die Zwecke der Logik das Geäußerte ergänzen aus
dem, was gemeint war; die Sprache besitzt anderseits tech-
nisch Bestandtheile, die auf wesentlichen logischen Be-
stimmungen nicht beruhen, oder doch auf solche sich nur
Die Lehre vom Begriffe. 21
mittelbar in verschiedenen Abstufungen beziehen: wir
würden dann unrecht thun, wenn wir ebenso viele logische
Handlungen des Denkens unterscheiden wollten, als uns
die Sprache grammatisch oder syntaktisch verschiedene For-
men des Ausdrucks darbietet. Nicht blos Interjectionen,
sondern auch Partikeln gibt es, die im gewöhnlichen Ge-
brauch, dem Tonfall der Stimme ähnlich, fast nur noch den
gemüthlichen Antheil bezeichnen, den der Sprechende an
seiner Aussage nimmt, nichts dagegen zu der logischen
Fassung ihres Inhalts beitragen. Wenn die Sprache den
Unterschied der Geschlechter in alle substantivischen und
adjectivischen Worte einführt, folgt sie einer logisch ganz
gleichgültigen ästhetischen Phantasie; wenn sie dann aber
das Geschlecht des Adjectivs sich nach dem seines Haupt-
worts richten läßt, deutet sie durch diese Folgerichtiglteit
innerhalb einer willkürlich angenommenen Gewohnheit
wieder auf ein echt logisches Verhalten hin, das wir kennen
lernen werden. Wenn sie in den Beugungen des Zeitwortes
den Redenden von dem Angeredeten und dem abwesenden
Dritten unterscheidet, so hebt sie damit, für den lebendigen
Gebrauch der Rede ganz unentbehrlich, ein vor allem wich-
tiges sachliches Verhalten hervor, dem aber kein eigentlich
logischer Unterschied entspricht. Es ist ganz nur derselbe
Grund, der die Grammatik' berechtigt, Pronomina als eine
eigene Klasse der Redetheile zu betrachten; logisch sind
die persönlichen völlig den Substantiven zuzurechnen, mit
denen sie die Form der Fassung gänzlich theilen: die
possessiven und demonstrativen haben wir keinen Grund
von den Adjectiven zu trennen; das relatire würden wir für
das eigenthümlichste technische Element der Sprache an-
sehen, nur dem Bedürfniß der geordneten Mittheilung ge-
widmet, und auf kein anderes logisches Verbal tniß gegründet,
als auf welchem auch sein Widerspiel, das demonstrative,
beruht. Zahlworte behandelt die Grammatik als besondere
Redetheile; die lebendige Sprache stellt sie den Adjectiven
gleich, und ohne Zweifel gehören sie lopisch zu diesen,
wenn man sich erinnert, daß logisch' die Form der Adjec-
tivität jeder nicht für sich selbständigen Bestimmung eines
Inhalts zukommt, und keineswegs derjenigen allein, welche
an ihm in dem Sinne einer Eigenschaft haftet. Die Ad-
verbien endlich treten zu dem verbalen Inhalt völlig in die-
selbe Beziehung, wie die Adjectiva zu dem substantivischen;
auch sie würde daher die Logik" nicht Veranlassung haben,
als einen besonderen Theil der Rede oder als eine eigen-
22 Erstes Kapitel.
thümliche Form des Gedankeninhalts zu fassen. Nur die
Präpositionen und Conjunctionen blieben mithin übrig, um
diesen Anspruch zu erheben, und sie allerdings glaube ich,
gleichviel welche Ableitungen ihre sprachlichen Ausdrüclce
noch zulassen mögen, zu den unentbehrlichen Bestandtheilen
unserer Vorstellungswelt rechnen zu müssen. Aus dem
Begriffe der Beziehung, dem sie zunächst verwandt scheinen,
sind sie nicht ableitbar; jede Beziehung, indem sie zwei
Glieder verbindet, enthält den Gedanken einer Stellung jedes
dieser Glieder innerhalb dieser Beziehung selbst, und diese
Stellung braucht nicht für beide dieselbe zu sein, sie wird im
Gegentheil am häufigsten verschieden, das eine Glied das
Umfassende, Ganze, Bedingende, das andere das Umfaßte
sein, der Theil, das Bedingte. Man wird nun, wenn man es
versucht, nicht damit zu Stande kommen, die Verschieden-
werthigkeit dieser beiden Endpunkte, ohne welche die Be-
ziehung keinen Sinn hat, durch einen verbal gefaßten Inhalt
allein auszudrücken; man wird irgendwo eine Präposition,
eine Conjunction oder eine der verschiedenen Casusformen
wenigstens bedürfen, in denen viele Sprachen eineni Theile
dieser Nebengedanken einen noch kürzeren Ausdruck geben.
Denn dies freilich ist logisch ganz gleichgültig, in welcher
sprachlichen Form diese Nebengedanken auftretan; sowie
wir Bedingtes bald im Genitiv, bald in anderem Sinne im
Accusativ dem bedingenden Nominativ entgegenstellen, so
könnte ein noch größerer Reichthum der Casus, wenn die
Sprache ihn erzeugt oder bewahrt hätte, jede Präposition,
eine gleiche Mannigfaltigkeit der Modi des Verbum jede
Conjunction überflüssig machen. An den logischen Bedürf-
nissen des Denkens würde hierdurch nichts geändert; so
wie so müßte zu den substantivischen, den adjecti vi sehen
und den verbalen Inhalten noch eine Anzahl von Vorstellun-
gen treten, welche entweder, wie die sprachlichen Prä-
positionen, die Stellung zweier als einfach geltender Inhalte
in einer einfachen Beziehung, oder, wie die Conjunctionen,
die verschiedenwerthige Stellung zweier Beziehungen oder
Urtheile zu einander bezeichnen.
8. Als die unerläßlichste und in diesem Sinne erste
aller Denkhandlungen wird uns die Vergegenständlichung
der Eindrücke und ihre damit verbundene Formung in dem
Sinne der Redetheile dann stets erscheinen, wenn wir mit
einem Blicke auf die ausgebildete Gestalt unserer Gedanken-
welt nach den Bedingungen fragen, auf deren Erfüllung diese
Die Lehre vom Begriffe. 23
Gestaltung beruht. Denn gewiß, von dem einfacheren oder
zusammengesetzteren Satzbau, durch den wir die Arbeit
und die Ergebnisse unseres Denkens ausdrücken, wäre nichts
möglich gewesen ohne diese Leistung. Aber unsere Meinung
kann nicht diese sein, daß im Anfange aller seiner Denk-
arbeit der logische Geist, ehe er einen weiteren Schritt wagte,
diese erste seiner nothwendigen Handlungen ein für allemal
an der Gesammtheit seines Vorstellungsinhalts vollzogen
habe. Schon die Unbegrenztheit der Zahl möglicher Ein-
drücke, deren jeder Augenblick neue bringen kann, hätte
dies Geschäft unausführbar gemacht; es wird noch unaus-
führbarer darum, weil ja das Denken selbst durch seine
Bearbeitung des gegebenen Inhalts unablässig neuen Inhalt
erzeugt und diesen wieder in dieselben logischen Formen
bringen muß, aus deren Anwendung auf einfacheren Denk-
stoff er selbst entstand. Jede gebildete Sprache enthält
daher in der Form eines einfachen Substantiv, eines Ad-
jectiv oder Verbum zahlreiche Vorstellungen, deren Inhalt
nicht ohne vielfache höhere Denkarbeit, nicht ohne Be-
nutzung von Urtheilen und Schlüssen, ja selbst nicht
ohne Voraussetzung zusammenhängender wissenschaftlicher
Untersuchung sich zusammenbringen ließ und nicht ohne
sie völlig verständlich ist. Diese leicht zu machende Be-
obachtung hat die Behauptung hervorgerufen, mindestens
die Lehre vom Urtheile müsse in der Logik der Behandlung
der Begriffe vorangeschickt werden, mit welcher nur altes
Herkommen die Betrachtung des Denkens eröffne. Ich halte
diese Behauptung für eine Uebereilung, die theils aus der
Verwechslung des Zieles der reinen Logik, mit dem der
angewandten, theils aus einer Verkennung dessen überhaupt
entspringt, wodurch sich Denken von dem bloßen Verlaufe
der Vorstellungen unterscheidet. Denn jene Urtheile, aus
denen der begriff entstehen soll, woraus würden sie- selbst
denn, so lange sie wirklich Urtheile sein sollen, bestehen
können, wenn nicht aus Verknüpfungen von Vorstellungen,
die nicht mehr bloße Eindrücke wären, deren jede vielmehr
mindestens diese einfache bisher erwähnte Formung schon
empfangen hätte, deren Mehrzahl aber, wie ein anzustellen-
der Versuch lehren würde, in der That schon die höhere
logische Form besäße, welche die Anhänger jener Meinung
selbst mit dem Namen des Begriffs bezeichnen? Das Bich-
tige dieser vorgeschlagenen Neuerung kommt auf einen sehr
einfachen Gedanken zurück : um Begriffe eines verwickelten
und mannigfachen Inhalts zu bilden, um namentlich die
24 Erstes Kapitel.
Grenzen festzustellen, innerhalb deren es sich lohnt und
rechtfertigt, diesen Inhalt als ein Begriffsganzes zusammen-
zufassen und von anderen zu unterscheiden, dazu freilich
sind mannigfache Vorarbeiten des Denkens nöthig; aber
damit diese Vorarbeiten selbst möglich sind, muß ihnen die
Gestaltung einfacherer Begriffe vorangegangen sein, aus
denen sie ihre Hülfsurtheile zusammensetzen. Ohne Zweifel
hat daher die reine Logik die Form des Begriffes der des
Urtheils voranzusetzen; die angewandte erst hat zu lehren,
wie zur Bildung bestimmter Begriffe sich Urtheile verwenden
lassen, die aus einfacheren Begriffen bestehen. Ein Vor-
schlag zur Umkehrung dieser Ordnung kann sich nur denen
empfehlen, welche das Denken überhaupt nur als Wechsel-
wirkung der von außen uns angeregten Eindrücke betrach-
ten und die rückwirkende Thätigkeit übersehen, die in den
Verlauf der Vorstellungen, Zusammengerathenes scheidend,
Zusammengehöriges verbindend, und darum auch schon
die einzelnen Bestandtheile des künftigen Gedankens for-
mend, überall eingreift.
B. Setzung, Unterscheidung und Yergleichung der einfachen
Yorstellungsinhalte.
9. Erkennen wir nun in diesen ersten Formungen der
Vorstellungen einen Beitrag an, den zu dem Ganzen unserer
Gedankenwelt eben die einwirkende Thätigkeit des Denkens
liefert, so schließt sich leicht hieran die Ansicht, der logische
Geist trete mit ihnen als fertigen Auffassungsweisen den
kommenden Eindrücken gegenüber, und daran dann knüpft
sich die Frage, wie es ihm gelinge, jeglichen Inhalt in die-
jenige dieser verschiedenen Formen zu bringen, die ihm
angemessen ist? Aber jene Ansicht ist unzulässig und des-
halb diese Frage gegenstandlos, oder sie führt wenigstens
zu einer andern als der erwarteten Antwort. Das Denken
steht nicht mit einem Bündel logischer Formen in der Hand
dem Gewimmel der anlangenden Eindrücke gegenüber, rath-
los, welche dem einen, welche dem andern sich wird über-
streifen lassen, und deshalb eines besonderen Hülfsmittels
bedürftig, um die für einander passenden Paarungen zu er-
rathen. Die Verhältnisse vielmehr, die zwischen den be-
wußt gewordenen Eindrücken bestehen, sind es selbst, welche
die Thätigkeit des Denkens als eine stets nur rückwirkende
auf sich ziehen, und nur darin besteht diese Thätigkeit, so
Die Lehre vom Begriffe. 25
vorgefundene Verhältnisse zwischen den Eindrücken, die
wir leiden, in Beziehungen der Inhalte umzudeuten. Nicht
dazu wird man daher eines besonderen Kunstgriffes be-
dürfen, um jedem Inhalt die ihm zugehörige Form zu geben;
wohl aber liegt nach anderer Richtung hin in dieser Ein-
ordnung des mannigfachen Inhalts in logische Formen eine
zweite nothwendige Denkhandlung; kein Name für irgend
einen Inhalt kann geschaffen werden, ohne diesen als mit
sich selbst gleich, als verschieden von anderen, endlich als
vergleichbar mit anderen gedacht zu haben.
10. Auch diese zweite Leistung des Denkens gehört zu
denjenigen, welche für den Redenden die überlieferte Sprache
beständig schon ausgeführt hat; auch sie wird deshalb leicht
übersehen und der Denkarbeit des Geistes nicht zugerechnet.
Aber die logische Wissenschaft, ausdrücklich dem Selbst-
verständlichen gewidmet, darf nicht einen Theil desselben
als noch selbstverständlichere Voraussetzung behandeln, die
aus den eigentlichen Gegenständen ihrer Betrachtung sich
ausschließen ließe. Doch bedarf wenigstens der erste Be-
standtheil des dreigliedrigen Ausdruckes, welchen wir dieser
neuen Denkhandlung eben gaben, einer ausführlichen Er-
läuterung nicht. Es ist zu unmittelbar deutlich, wie jeder
Name, sei es süß oder warm, Luft oder Licht, zittern oder
leuchten, den von ihm bezeichneten Inhalt in irgend einem
Sinne als zusammengehörige Einheit faßt, die für sich etwas
bedeutet; nicht blos den substantivisch geformten hebt, am
eindringlichsten allerdings, der vorgesetzte Artikel zu dieser
Einheit mit sich selbst heraus; dieselbe hinweisende Kraft
liegt, in anderer Art des Ausdrucks, in der Form des verbalen
Infinitiv, und selbst ohne jeden unterscheidenden sprach-
lichen Ausdruck begleitet dieser Nebengedanke der einheit-
lichen Setzung des Bezeichneten jegliche Wortform. Man
kann zweifeln, ob der Vorgang, den wir unter diesem Namen
der Setzung des Inhalts verstehen wollen, nicht schon in
jener Vergegenständlichung enthalten sei, durch welche wir
den erlittenen Eindruck zur Vorstellung werden ließen; und
wirklich kann man weder vorstellen, ohne dem Vorgestellten
diese Setzung zu geben, noch hat diese Setzung einen Sinn
ohne jene Vergegenständlichung dessen, dem sie ertheilt
wird. In der That ist es daher eine sachlich untrennbare
Leistung, die wir von verschiedenen Seiten her betrachten:
dort brachten wir die Vorstellung, auf welche wir vor-
stellend uns beziehen, in Gegensatz zu dem Eindruck,
welchen wir leiden; hier, wo die Mannigfaltigkeit des Vor-
26 Erstes Kapitel.
Stellungsinhaltes unsere Aufmerksamkeit zu erregen beginnt,
legen wir auf die einheitliche und selbständige Bedeutung
Gewicht, mit welcher der so aus unserer Erregung heraus-
gesetzte Inhalt ist was er ist und von allen anderen sich
unterscheidet.
11. Ich habe durch diese letzte Wendung sogleich fühl-
bar machen wollen, in wie enger Verbindung jene bejahende
Setzung des Inhalts mit der verneinenden Ausschließung
jedes anderen steht. Sie ist so eng, daß eben zur Bezeich-
nung des einfachen Sinnes der Setzung uns nur Ausdrücke
zu Gebot standen, die ihre volle Klarheit erst durch Hinzu-
fügung dieses zweiten Nebengedankens erhalten. Denn was
mit jener Einheit des gesetzten Inhalts eigentlich gemeint
war, interpretiren wir einleuchtend nur dadurch, daß wir
seine Verschiedenheit von anderen hervorheben und nicht
nur sagen, er sei was er sei, sondern auch: er sei nicht,
was andere sind. Jene Bejahung und diese Verneinung
sind nur ein untrennbarer Gedanke, und untrennbar ver-
bunden begleiten sie jeden unserer Vorstellungsinhalte, auch
dann, wenn wir nicht mit ausdrücklicher Aufmerksamkeit
dies stillschweigend verneinte Andere verfolgen. Aber dieser
verschmolzene Nebengedanke bestimmt nur die logische
Fassung, die wir unserem Inhalte geben; er erzeugt nicht
den Inhalt selbst erst, dem wir sie ertheilen. Man kann nicht
sagen: roth werde als das was es ist, als roth, erst dann
vorgestellt, wenn es von blau oder süß, und nur dadurch,
daß es von beiden unterschieden werde; blau anderseits
als blau nur durch gleichen Gegensatz zu roth. Weder ein
veranlassender Grund zu dem Versuche dieser bestimmten
Unterscheidung, noch eine Möglichkeit ihres Gelingens wäre
denkbar, wenn nicht das, was jedes der beiden entgegen-
zusetzenden Gheder für sich ist, vorher dem Bewußtsein klar
wäre. Unzweifelhaft wird der eigenthümlich bestimmte Ein-
druck, den wir unter der Einwirkung des rothen Lichtes
erleben, völlig derselbe sein, bevor wir zum ersten Mal ein
blaues Licht erfuhren, wie dann, nachdem wir diese Er-
fahrung gemacht haben; die Möglichkeit der Vergleichung
und Unterscheidung, welche durch die letztere gegeben wird,
kann wohl, wenigstens bei zusammengesetzterem Vor-
stellungsstoff, als diese einfachen Farben sind, die Auf-
merksamkeit auf früher übersehene Theile der Eindrücke
lenken und so den Inhalt beider vervollständigen ; aber selbst
in diesem Falle, der unserer gegenwärtigen Betrachtung
völlig fremd ist, wird das Neue nicht durch die Unter-
Die Lehre vom Begriffe. 27
Scheidung, sondern durch die unmittelbare Empfindung ge-
funden werden, zu welcher die Vergleichung nur Ver-
anlassung gab. Ueberall ist es daher die bejahende Setzung,
welche die verneinende Unterscheidung möglich macht; nie-
mals dagegen entspringt aus der Unterscheidung der Inhalt
des Unterschiedenen. Nur die Nebengedanken, die wir uns
über den vorgestellten Inhalt machen, nur seine logische
Fassung gewinnt an Bestimmtheit durch die Verneinung des
Andern, die zu seiner eignen Bejahung tritt, und selbst
dieser Gewinn würde mir gering scheinen, wenn es bei ihm
sein Bewenden hätte, und wenn nicht jene dritte Leistung
positiver Vergleichung hinzukäme, welche ich in dem früher
gegebenen Ausdruck dieser zuzeiten Denkhandlung zuletzt
erwähnte.
12. Ich leite die Betrachtung dieser dritten Leistung,
die ich für den wesentlichsten Bestandtheil der hier zu
erörternden logischen Arbeit ansehe, durch Erinnerung an
eine bekannte Thatsache ein, die man zu anderen Fol-
gerungen zu benutzen pflegt. Durch die Worte der Sprache
werden Eindrücke niemals so bezeichnet, wie man sie er-
leben kann; denn erleben oder wirklich empfinden läßt
sich immer nur eine besondere Schattirung der Röthe, eine
einzelne Eigenart der Süßigkeit, ein bestimmter Grad der
Wärme, nicht das allgemeine Roth Süß und Warm der
Sprache. Die Verallgemeinerung, welche in diesen und allen
ähnlichen Ausdrücken der empfundene Inhalt erfahren hat,
pflegt man als eine unvermeidliche Ungenauigkeit der
Sprache, vielleicht selbst des Vorstellens anzusehen, das
sich ihrer zu seinem Ausdrucke bedient. Unfähig entweder,
oder nicht gewöhnt, für jeden einzelnen Eindruck einen
bestimmten Namen zu schaffen, verwische sie in ihren
Worten die kleinen Unterschiede des einen vom andern und
halte nur das fest, was in ihnen allen als ein 'Gemeinsames
in der Empfindung unmittelbar erfahren werde. Durch diese
Verminderung ihrer Ausdrucksmittel auf eine mäßige Anzahl
mache sie freilich wohl die Mittheilung der Vorstellungen
überhaupt erst möglich, schädige aber ebenso sehr die Ge-
nauigkeit des Mitzutheilenden. Ich glaube nun nicht, daß
diese Auffassungsweise der Bedeutung der Thatsache volle
Gerechtigkeit widerfahren läßt.
13. Vor allem, indem man die erwähnte Verallgemeine-
rung als eine Art von Verfälschung der Eindrücke ansieht,
geht man zu achtlos über den sehr merkwürdigen Umstand
28 Erstes Kapitel.
hinweg, daß in einer Mehrheit verschiedener Eindrücke
sich eben etwas Gemeinsames vorfindet, das von ihren
Unterschieden getrennt denkbar ist. Denn so selbstver-
ständKch ist doch dieses Verhalten nicht, daß ein entgegen-
gesetztes gar nicht in Frage käme; sehr wohl ließe sich
vielmehr denken, daß jeder einzelne unserer Eindrücke
sich von jedem zweiten so unvergleichbar unterschiede,
wie in der That süß von warm, gelb von weich sich unter-
scheidet. Daß es sich nicht so verhält, ist mithin eine
thatsächliche Einrichtung der Welt des Vorstellbaren selbst,
die in Betracht zu ziehen sich der Mühe verlohnt. Ich kann
ferner keineswegs reinen Verlust in dem Mangel an Ge-
nauigkeit sehen, der allerdings der Mittheilung des Vor-
gestellten durch die Anwendung der sprachlichen Allgemein-
bezeichnungen anhängt. Ohnehin, wo der Werth völlig
genauer Bestimmungen fühlbar wird, kann das, was diese
einfachsten Schöpfungen des beginnenden Denkens zu
wünschen lassen, durch die Leistungen des weiterfort-
geschrittenen immer ergänzt werden; die Wissenschaft hat
uns längst jeden Grad der Wärme messen gelehrt und würde
im Fall des Bedürfnisses auch jede Abstufung der Röthc
oder Süßigkeit zu messen wissen. Die Art aber, wie die
Sprache und das an ihr wirksame naturwüchsige Denken
dieselbe Aufgabe löst, scheint mir logisch sehr bedeutsam.
Denn wenn wir nicht jeden einzelnen wirklich empfundenen
Farbeneindruck mit einem besonderen Namen belegen,
sondern blau roth gelb und wenige andere durch eigne Be-
nennungen bevorzugen, wenn wir da,nn die übrigen Einzel-
empfindungen als blauröthlich oder rothgelblich zwischen
sie einschalten, so liegt in diesem Verfahren nicht blos ein
Nothbehelf der Annäherung an unerreichbare Genauigkeit,
sondern^ wie mir scheint, der Ausdruck der Ueberzeugung,
nur jene wenigen Farben seien in der That feste Punkte,
denen ein eigner Name gebühre, jene anderen aber müsse
man durch annähernde Ausdrücke bestimmen, weil sie selbst
nur Annäherungen zu diesen festen Punkten oder Zwischen-
glieder zwischen ihnen sind. Hätten wir wirklich für alle
einzelnen Schattirungen des Blau besondere von einander
unabhängige Einzelnamen, und entspräche unser Vorstellen
dieser Ausdrucksweise, so würden wir einseitig die Trennung
jedes Inhalts von jedem andern vollzogen, dagegen die
positiven Beziehungen völlig übersehen haben, die zwischen
allen stattfinden. Sprechen wir dagegen von hellblau dunkel-
blau schwarzbkiu, so ordnen wir dies Mannigfache in Reihen
Die Lehre vom Begriffe. 29
oder in ein Gewebe von Reihen, und in jeder von diesen
geht ein drittes Glied aus dem zweiten durch Steigerung
derselben fühlbaren Veränderung eines allen Gemeinsamen
hervor, durch welche das zweite aus dem ersten entstand.
Nun aber ist wohl schon hier vollkommen verständlich, daß
ein Vorstellen, welches diese Vergleichung des Verschiedenen
nicht enthielte, sondern sich auf die nackte Trennung jedes
von jedem beschränkte, den späteren Leistungen des Denkens
die hinlänglichen Beurtheilungsgründe nicht darbieten würde,
nach denen zwei Vorstellungen als irgendwie zusammen-
gehörig zweien andern als nicht zusammengehörigen ent-
gegengesetzt werden könnten. Deshalb fassen wir diese
zweite Denkhandlung, von welcher wir hier sprechen, nicht
blos als Setzung überhaupt des a oder b, nicht blos als
Unterscheidung überhaupt jedes a von jedem b, sondern
zugleich als Bestimmung der Weite und der Eigenthümlich-
keit des Unterschiedes, der nicht überall gleich groß und
gleich geartet, sondern zwischen b und c ein anderer ist
als zwischen a und b. Und hiermit meine ich nicht, daß
jede einzelne Vorstellung a von der entwickelten Vorstellung
aller ihrer Beziehungen zu der unendlichen Anzahl aller
übrigen begleitet werden müsse; nur der allgemeine Neben-
gedanke, daß jede nach allen Seiten hin in ein solches Netz
von Beziehungen eingefangen ist, umgibt allerdings in
unserem logischen Bewußtsein jede; aufgesucht werden
diese Beziehungen in jedem Einzelfalle so weit, als ein
bestimmtes Bedürfniß Veranlassung gibt.
14. Diese Vergleichung nun des Verschiedenen setzt
offenbar ein Gemeinsames voraus, das in den einzelnen
Gliedern der Reihe mit eigenthümlichen Unterschieden be-
haftet ist. So Gemeinsames pflegt die Logik nur in der
Form eines allgemeinen Begriffs zu betrachten, und in
dieser Gestalt ist es ein Erzeugniß einer größeren oder ge-
ringeren Anzahl von Denkhandlungen. Es ist daher von
Wichtigkeit, hervorzuheben, daß dieses erste All-
gemeine, welches wir hier bei der Vergleichung ein-
facher Vorstellungen antreffen, von wesentlich anderer Art,
daß es der Ausdruck einer inneren Erfahrung ist, die von
dem Denken nur anerkannt wird, und daß es eben um des-
willen, wie sich später zeigen wird, eine unentbehrliche
Voraussetzung jenes anderen Allgemeinen ist, dem wir in
der Bildung des Begriffes begegnen werden. Den Allgemein-
begriff eines Thieres oder einer geometrischen Figur theilen
wir einem Anderen dadurch mit, daß wir ihm vorschreiben.
30 Erstes Kapitel.
eine genau angebbare ReiJie von Denivhandlungen der Ver-
knüpiung Trennung oder Beziehung an einer Anzahl als
bekannt vorausgesetzter Einzelvorstellungen auszuführen;
am Ende dieser logischen Arbeit werde vor seinem Bewußt-
sein derselbe Inhalt stehen, den wir ihm mitzutheilen
wünschten. Worin dagegen das allgemeine Blau bestehe,
das wir im Hellblau oder Dunkelblau, oder worin die all-
gemeine Farbe, die wir im Roth und Gelb mitdachten, läßt
sich nicht auf demselben Wege verdeutlichen. Freilich
können wir dem Anderen vorschreiben, er solle alle einzel-
nen Farben oder alle Schattirungen des Blau vorstellen und
durch Absonderung ihrer Unterschiede das in beiden Fällen
Gemeinsame der vorgestellten Inhalte hervorheben; aber
dies ist nur scheinbar eine Anweisung zu logischer Arbeit;
im Grunde muthen wir doch durch sie dem Anderen nur zu,
selbst zu sehen, wie er mit der ganzen Aufgabe fertig wird.
Denn wie er es eigentlich anfangen soll, um zu entdecken,
ob überhaupt in Roth und Gelb etwas Gemeinsames liege,
und wie er es machen müsse, um dies Gemeinsame von dem
Verschiedenen zu trennen: das können wir ihm doch nicht
sagen; wir müssen uns einfach darauf verlassen, er werde
die im Roth und Gelb bestehende Verwandtschaft, das Ent-
haltensein eines Gemeinsamen in beiden, unmittelbar selbst
empfinden fühlen oder erleben; seine logische Arbeit kann
hier nur in der Anerkennung und dem Ausdruck dieser
inneren Erfahrung bestehen. So ist dies erste Allgemeine
kein Erzeugniß des Denkens, sondern ein von ihm vor-
gefundener Inhalt.
15. Ich schalte hier eine Bemerkung ein, die mit ge-
ringer ümdeutung auf jedes Allgemeine sich erstrecken läßt,
am leichtesten aber an diesem einfachsten Falle, dem ersten
Allgemeinen, zu verdeutlichen ist. Das, worin Roth und
Gelb übereinstimmen, und wodurch sie beide Farben sind,
läßt sich von dem nicht abtrennen, wodurch Roth roth und
Gelb gelb ist; nicht so abtrennen nämlich, daß dies Gemein-
same den Inhalt einer dritten Vorstellung bildete, welche von
gleicher Art und Ordnung mit den beiden verglichenen wäre.
Empfunden wird, wie wir wissen, stets nur eine bestimmte
Einzelschattirung einer Farbe, nur ein Ton von bestimmter
Höhe Stärke und Eigenart; nur diese ganz bestimmten Ein-
drücke wiederholt auch die Erinnerung so, daß sie als
inhaltvolle Bilder, die sich anschauen lassen, vor unserem
Bewußtsein stehen. Diese Anschaulichkeit besitzen die all-
gemeinen Vorstellungen niemals. Wer das Allgemeine der
Die Lehre vom Begriffe. 31
Farbe oder des Tones zu lassen sucht, wird sich stets dabei
antreffen, daß er entweder eine bestimmte Farbe und einen
bestimmten Ton wirklich vor seiner Anschauung hat, nur
begleitet von dem Nebengedanken, jeder andere Ton und
jede andere Farbe habe das gleiche Recht, als anschauliches
Beispiel des selbst unanschaulich bleibenden Allgemeinen
zu dienen; oder seine Erinnerung wird viele Farben und
Töne nach einander ihm mit demselben Nebengedanken
vorführen, daß nicht diese einzelnen selbst gemeint sind,
sondern das ihnen Gemeinsame, das in keiner Anschauung
für sich zu fassen ist. Vei-steht man daher unter Vor-
stellung, wozu der gewöhnliche Sprachgebrauch allerdings
neigt, das Bewußtsem eines Inhalts, der ruhig vor uns
steht, oder eine Anschauung dessen, was uns vor uns hin-
zustellen gelingt, so gebührt dem Allgemeinen der Name
einer Vorstellung nicht. Worte wie Farbe und Ton sind in
Wahrheit nur kurze Bezeichnungen logischer Aufgaben, die
sich in der Form einer geschlossenen Vorstellung nicht
lösen lassen. Wie befehlen durch sie unserem Bewußtsein,
die einzelnen vorstellbaren Töne und Farben vorzustellen
und zu vergleichen, in dieser Vergleichung aber das Ge-
meinsame zu ergreifen, das nach dem Zeugniß unserer
Empfindung in ihnen enthalten ist, das jedoch durch keine
Anstrengung des Denkens von dem, wodurch sie verschieden
sind, sich wirklich ablösen und zu dem Inhalt einer gleich
anschaulichen neuen Vorstellung gestalten läßt.
16. Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die
Unterschiede, welche innerhalb des ersten Allgemeinen seine
mannigfachen Beispiele trennen. Eine Wärmeempfindung
unterscheidet sich von einer anderen, ein leiserer Klang
vom stärkeren, hellblau von tiefblau offenbar durch ein
Mehr oder Minder eines fühlbaren Gemeinsamen, das für
sich, ohne jede Gradbestimmung, nicht anschaubar ist. Auf
denselben Unterscheidungsgrund wird man sich bei allen
andern Vorstellungen zurückgeführt finden; nur der Angabe
des Allgemeinen, dem diese Größenvergleichung gilt, be-
gegnet in den einzelnen Fällen eine nach den ebea ge-
machten Bemerkungen verständliche Schwierigkeit. Der
leisere Ton unterscheidet sich vom lauteren ohne Zweifel
durch eine gewisse Steigerung, aber ebenso durch eine
gewisse Steigerung der höhere vom tieferen; was aber
eigentlich das Gemeinsame ist, dem diese Veränderung wider-
lätirt, glauben wir nur im ersten Fall durch die Bezeichnung
32 Erstes Kapitel.
der Stärke unmittelbar, im zweiten nur bildlich durch den
Namen der Höhe ausdrücken zu können. Noch mehr scheint
Roth von Gelb wesentlich verschieden und das eine aus
dem anderen nicht durch Anwachs oder Schwächung eines
Gemeinsamen abzuleiten; nur was zwischen ihnen liegt,
Rothgelb und Gelbroth, ist uns als eine Mischung verständ-
lich, in welcher ein Mehr oder Minder des einen oder des
andern von beiden enthalten ist. Gleichwohl leugnet doch
Niemand, daß eine der Grundfarben einer zweiten ver-
wandter ist als einer dritten, das Roth verwandter dem Gelb
als dem Grün; diese Abstufungen der Aehnlichkeit sind
nicht ohne ein Mehr oder Minder eines Gemeinsamen zu
denken, dessen wir uns bei dem Uebergange von einem
Gliede der Reihe zum nächsten und von diesem zum dritten
bewußt bleiben. Zu bestimmen, worin in den einzelnen
Fällen dies Gemeinsame bestehe, zu beurtheilen, ob 'eine
Mehrheit von Vorstellungen sich nur durch Gradverschieden-
heiten eines einfachen Allgemeinen oder durch Com-
binationen von Werthunterschieden mehrerer einander be-
stimmender Allgemeinheiten von einander sondere, ob also
diese Vorstellungen in eine gradlinige Reihe oder flächen-
förmig oder in Reihen noch höherer Ordnung zusammen-
zufassen sind: dies alles sind anziehende Gegenstände der
Untersuchung, aber sie sind nicht Gegenstände der Logik.
Für diese genügt es, zu wissen, daß eine irgendwo verwend-
bare Größenbestimmung zunächst des Mehr oder Minder das
unentbehrliche Hülfsmittel der Unterscheidung zwischen den
Reispielen eines Allgemeinen ist. Und auch diese Größen-
bestimmung gehört zu dem, was wir nicht durch logische
Arbeit erzeugen, sondern nur vorfinden anerkennen und
weiter entwickeln. Ein Urtheil, a sei stärker als b, ist als
Urtheil freilich eine logische Arbeit; aber der Inhalt, den
es ausspricht, also die Thatsache selbst, daß es überhaupt
Gradunterschiede desselben Vorstellbaren gibt, sowie die
besondere, daß der Grad des a den des b übersteige, kann
nur erlebt empfunden oder als Restandtheil unserer inneren
Erfahrung anerkannt werden. Welches auch die künstlichen
Vorrichtungen sein mögen, durch die wir wissenschaftlich
die Genauigkeit einer Messung zu steigern suchen, zuletzt
beruht doch Alles auf der Fähigkeit, zwei sinnliche Wahr-
nehmungen unmittelbar als gleich oder als ungleich zu
erkennen und sich darüber nicht zu täuschen, nach
welcher Seite hin das Mehr und nach welcher das
Minder liegt.
Die Lehre vom Begriffe. 33
17. Beschränkte sich nun die innere Erfahrung auf das
Vorführen von Aehnlichkeiten und Unterschieden der Inhalte,
so würde das Denken nur zu einer unveränderlichen syste-
matischen Anordnung der Vorstellungen Veranlassung haben,
ähnlich der musikalischen Scala, in welcher alle Töne ihre
festen und unverrückbaren Plätze und wechselseitigen Be-
ziehungen ein für allemal besitzen. Aber die Logik hat sich
nicht mit einem Denken zu beschäftigen, welches unter
nicht vorhandenen Voraussetzungen sein würde, sondern
mit dem, welches ist. Allem wirklichen Denken aber ist
durch den Mechanismus, welcher die Wechselwirkung der
inneren Zustände beherrscht, von Haus aus mehr Anregung
dargeboten, als jene Voraussetzung annahm; der mannig-
fache Inhalt des Vorstellbaren wird ihm nicht blos in jener
systematischen Ordnung, die seinen qualitativen Verwandt-
schaften entspricht, sondern in der buntesten Fülle räum-
licher und zeitlicher Verknüpfungen vorgeführt, und auch
diese Thatsache gehört zu dem Stoffe, der dem Denken zur
Ausführung seiner weiteren Leistungen dient und gegeben
sein mußte. Die Verbindungen ungleichartiger Vorstellungen,
die so herbeigeführt werden, sind die Aufgaben, an denen
das Denken später seine Bemühung zu üben haben wird.
Zusammenseiendes auf Zusammengehöriges zurückführen;
ihrer braucht jetzt nicht weiter gedacht zu werden. Die
gleichartigen oder gleichen dagegen geben Veranlassung,
ihre Wiederholungen von einander zu trennen, sie zu ver-
knüpfen, zu zählen; zu diesen Vorstellungen des Einen und
Vielen fügen endlich die in Raum und Zeit stetig aus-
gedehnten Inhalte die des Größeren und Kleineren hinzu.
In diesen drei Paaren von Größenvorstellungen, denn die
des Mehr oder Minder besaßen wir bereits, sind alle Maß-
stäbe der Unterscheidungen für die Einzelbeispiele jedes
Allgemeinen gegeben.
18. Zweierlei schließe ich hier von den Gegenständen
unserer Betrachtung absichtlich aus. Zuerst jede weitere
Untersuchung über den Gang, den psychologisch die Ent-
stehung und Entwicklung dieser Größenvorstellungen in
unserem Bewußtsein nimmt, über die Reihenfolge, in welcher
die eine die Bedingung für den Ursprung der andern sein
mag, über den verschiedenen Werth endlich, den für ihre
Bildung die zeitlichen und räumlichen Anschauungen haben.
So anziehend diese Fragen sind, so würde doch ihre Be-
antwortung unseren Weg unnöthig verlängern ; nicht darauf
kommt es der Logik an, auf welche Weise die Elemente
Lotze, Logik. 3
34 Erstes Kapitel.
entstehen, die das Denken benutzt, sondern darauf, welchen
Werth sie, nachdem sie auf irgend eine Weise entstanden
sind, für die Ausführung seiner Leistungen besitzen. Dies
nun, was ich mehr als billig vernachlässigt finde, hebe ich
hier hervor und werde es später im Auge behalten: die
unerläßliche Nothwendigkeit, daß alle vom Denken zu ver-
knüpfenden Vorstellungen einer von den drei erwähnten
Arten der Größenbestimmung zugänglich sein müssen. Das
Andere, das ich ausschließe, ist die Untersuchung der Fol-
gerungen, die aus diesen Größenbestimmungen für sich
gezogen werden können; sie haben sich längst zu dem
großen Gebäude der Mathematik entwickelt, dessen reiche
Gliederung jeden Versuch einer Wiedereinschaltung in den
Zusammenhang der allgemeinen Logik verbietet. Aber die
ausdrückliche Hinweisung darauf ist nothwendig, daß alles
Rechnen eine Art des Denkens ist, daß die Grundbegriffe
und Grundsätze der Mathematik ihren systematischen Ort
in der Logik haben, daß wir uns endlich das Recht wahren
müssen, auch später überall, wo das Bedürfniß es verlangt,
unbedenklich auf die Ergebnisse zurückzugreifen, welche
die Mathematik unterdessen, als ein sich für sich selbst fort-
entwickelnder Zweig der allgemeinen Logik, gewonnen hat.
19. Ueberblickt man nun das Ganze dieser zweiten
Denkhandlung, in welcher ich jetzt die bejahende Setzung
des Inhalts, die verneinende Abtrennung von jedem andern,
endlich die vergleichende Größenschätzung der Unterschiede
und Aehnlichkeiten zusammenfasse, so wird man die Be-
merkung machen können, daß der Sinn dieser neuen
logischen Arbeit in etwas von dem abweicht, welcher der
ersten Denkhandlung, der Formung der Vorstellungen, zu-
kommt. Man unterlag dort der allerdings von uns zurück-
gewiesenen Versuchung, die Formen der Substantivität Ad-
jectivität und Verbalität als Auffassungsweisen zu betrachten,
welche das Denken, noch vor aller Aufforderung durch den
gegebenen Inhalt, an diesem zu bethätigen begierig ist;
allein, wenn wir gleich diese Aufforderung abwiesen, so
bleibt es doch richtig, daß in jenen Formen das Denken
nicht blos die auffordernde Thatsache des Vorstellungslaufs
wiederholt, sondern ihr allerdings die Gestalt gibt, in der
sie für den logischen Geist erst gerechtfertigt ist. Denn die
Selbständigkeit, welche die substantivische Form, am kennt-
lichsten durch den Artikel, dem einen Inhalt gibt, lag an
sich nicht in der Thatsache, daß dieser Inhalt ein bleibendes
Die Lehre vom Begriffe. 35
Glied zwischen wechselnden Vorstellungsgruppen war; die
Unselbständigkeit, welche die adjecüvische ausdrückt, war,
als ein solcher Nebengedanke, nicht in der Thatsache vor-
handen, die zur Ausprägung eines andern Inhalts in dieser
zweiten Form anregte; man kann also fortfahren, in ge-
wissem Sinne zu behaupten, daß in dieser ersten Handlung
das Denken seine eignen Gesetze dem vorstellbaren Inhalt
vorschreibe. Bezeichnen wir dies Verfahren mit einem Aus-
druck, den wir übrigens vermeiden werden, als Beweis der
Spontaneität, so trägt die zweite Handlung des Denkens
den Charakter der Keceptivität; sie ist Anerkennung von
Thatsachen, denen sie keine neue Form außer dieser An-
erkennung ihres Bestehens gibt. Keinen Unterschied kann
das Denken da machen, wo es keinen in dem Inhalt der
Eindrücke vorfindet; das erste Allgemeine ließ sich nur in
unmittelbarer Empfindung erleben, und dem erlebten konnte
zwar ein Name gegeben, aber keine andere logische Arbeit
konnte zu seiner weiteren Feststellung unternommen werden ;
alle Größenbestimmungen, wie weit sich auch ihre fernere
Vergleichung durch das Denken erstrecken mag, laufen
immer auf das unmittelbare Innewerden gegebener Be-
stimmtheiten des Vorstellungsinhalts zurück. Von zwei Ge-
sichtspunkten möchte ich diese Thatsache betrachtet wissen.
Zuerst liegt eine gewisse unrichtige Sorglosigkeit der Logik
darin, daß sie in ihrem späteren Verlauf die Vergleichbar-
keit von Vorstellungen und die Möglichkeit ihrer Unter-
ordnung unter ein Allgemeines fast in jedem Augenblicke
voraussetzt, ohne vorher bemerkt zu haben, daß diese Mög-
lichkeit, daß überhaupt das Gelingen aller ihrer Schritte auf
dieser ursprünglichen Einrichtung und Gliederung der ganzen
Welt des Vorstellbaren beruht, einer Einrichtung, die an
sich nicht denknoth wendig, um so nothwendiger freilich für
die Möglichkeit des Denkens ist. Denn ich wiederhole: es
ist an sich nicht widersprechend, daß jede Vorstellung von
jeder anderen unvergleichlich verschieden wäre, daß mit
dem Wegfall der qualitativen Vergleichbarkeit auch jeder
Maßstab für ein Mehr oder Minder fehlte, daß' keine Vor-
stellung zweimal sich der Wahrnehmung darböte, daß mit
dem Mangel dieser Wiederholung des Gleichartigen auch
die Vorstellungen des Größeren und Kleineren verschwänden.
Daß es nicht so ist, daß vielmehr die Welt des Vorstellbaren
eben die Gliederung besitzt, die wir fanden, dies mußte als
eine höhchst wichtige Thatsache hervorgehoben werden,
3*
36 Erstes Kapitel.
nicht aber sollte die Logik da, wo sie dieser Thatsache be-
darf, sich auf sie als auf ein man weiß nicht woher ge-
kommenes Selbstverständliche blos nebenbei berufen. Und
hiermit hängt denn die andere Bemerkung zusammen, die
ich noch vorhatte. Ist das Denken Rückwirkung auf ge-
gebene Anregungen des Vorstellungslaufs, so wird an be-
stimmten Stellen der systematischen Uebersicht seiner Hand-
lungen auch der bestimmende Einfluß deutlich hervortreten,
den auf diese die Gestaltung der Welt des Vorstellbaren
ausübt; wie es hier das zweite Glied der ersten dreitheiligen
Reihe von Denkhandlungen ist, so wird es auch später das
zweite Glied der folgenden höher entwickelten Gruppen
sein, worin sich diese eigenthümliche Abhängigkeit der
logischen Arbeit von der Natur des Inhalts zeigen wird,
dem sie jedesmal gilt. Doch beanspruche ich durch diesen
vorläufigen Hinweis nichts weiter, als der Klarheit der
Uebersicht über den systematischen Bau meiner Darstellung
vorläufig zu Hülfe zu kommen; er selbst wird sich nur durch
das rechtfertigen können, was er in jedem nach und nach
hervortretenden Theile seiner Gliederung nützen wird.
C. Die Bildung des Begriffs.
20. In der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, die uns
gegeben werden, Zusammengerathenes zu scheiden, Zu-
sammengehöriges durch den Nebengedanken des Rechts-
grundes seiner Zusammengehörigkeit neu zu verbinden, ist
die fernere Aufgabe des Denkens. Es wird dienlich sein,
um ihren Sinn zu verdeutlichen, die verschiedenwerthigen
Bedeutungen zu überblicken, in welchen überhaupt eine
Verknüpfung des Mannigfachen in unserer Gedankenwelt
vorkommt. Zuerst ist keine spätere Handlung des Denkens
möglich, ohne daß die verschiedenen Vorstellungen, auf
welche sie sich beziehen soll, in einem und demselben Be-
wußtsein zusammentreffen. Für die Erfüllung dieser Be-
dingung sorgt die Einheit unserer Seele und der Mechanis-
mus der Erinnerung, welcher zeitlich getrennte Eindrücke
zu möglicher Wechselwirkung zusammenbringt. Man kann
diese Vereinigung des Mannigfachen die Synthesis der
Apprehension nennen; sie ist keine logische Handlung,
sondern rafft nur das Mannigfache zu gleichzeitigem Besitz
des Bewußtseins zusammen, ohne in seiner Vielheit eine
Ordnung zu stiften, welche das eine Glied anders mit dem
zweiten als dieses mit dem dritten verbände. Diese Ord-
Die Lehre vom Begriffe. ' 37
nung tritt ein in der zweiten Art der Verknüpfung, der
Synthesis der Anschauung, in den räumlichen Bildern näm-
lich und in der zeitlichen Aufeinanderfolge, worin die Einzel-
eindrücke bestimmte mit einander ungleichwerthige Plätze
einnehmen. Auch diese Verknüpfung wird uns ohne eine
Handlung des Denkens fertig durch den Mechanismus, unserer
inneren Zustände gegeben, und wie festbestimmt und fein-
gegliedert auch die Verbindung des Mannigfachen in ihr
sein mag, so stellt sie doch stets nur eine thatsächliche
äußere Ordnung dar und offenbart keinen Grund der Zu-
sammengehörigkeit, der das Mannigfache zu so geordnetem
Zusammensein berechtigt. Ich gehe von dieser zweiten Stufe
sogleich zu einer vierten über, zu einer Synthese, in welcher
diese letzte Forderung vollständig in Bezug auf den jedes-
maligen Inhalt erfüllt wäre. In ihr würde nicht nur eine
thatsächliche Ordnung des Mannigfachen, sondern zugleich
der bedingende Werth vorgestellt sein, den jeder Bestand-
theil für das Zusammenkommen des Ganzen hat; bezöge
sich diese Auffassung auf einen Gegenstand der Wirklichkeit,
so würde sie zeigen, welche Bestandtheile die vorangehen-
den bestimmenden und wirkenden sind, in welcher Reihen-
folge der Abhängigkeit und Entwicklung die andern aus
ihnen hervorgehen, oder welcher Zweck als der gesetz-
gebende Mittelpunkt zu denken ist, dessen Sinn die gleich-
zeitige Vereinigung aller Bestandtheile oder ihre allmähliche
Nachentstehung fordert; bezöge sie sich auf einen Inhalt,
der keine Wirklichkeit außer unserem Bewußtsein und keine
zeitliche Entstehung oder Entwicklung hat, wie die geo-
metrischen Figuren, so würde sie wenigstens versuchen,
obwohl mit später zu erwähnender Beschränkung des Ge-
lingens, auch hier die Bestandtheile des Ganzen in eine
Rangordnung zu bringen, in welcher das, was in dem vor-
gestellten Inhalt das Bedingende ist, dem Anderen voran-
ginge, was in mannigfacher Abstufung seine Folge ist. Man
bemerkt leicht, daß eine Synthese dieser Art nichts anderes
als die Erkenntniß der Sache selbst sein würde; sie liegt
als das Ziel, zu dem die Arbeit des Denkens führen soll,
um ebenso viel höher über dem Boden der Logik, als die
erste und zweite Weise der Verknüpfung des Mannigfachen
unter ihm lag; in die Lücke dazwischen haben wir die
dritte logische Form der Synthesis zu stellen, deren Eigen-
heit jetzt aufzusuchen ist.
21. Wenn der Unkundige vom Creditwesen oder vom
Bankwesen spricht, so merken wir dieser Ausdrucks weise
38 Erstes Kapitel.
seine Ueberzeugung ab, eine Anzahl von Geschäften und
Einrichtungen bilde ein zusammengehöriges Ganze; aber
er würde nicht anzugeben wissen, worin der Nerv ihres
Zusammenhangs liege oder welche Grenzen dies Ganze von
dem abscheiden, was nicht zu ihm gehört. Durch diesen
Nebengedanken, das Mannigfache sei nicht nur da, wie ein
zusammenseiender Haufe, sondern gebe sich als ein Ganzes
von Theilen gewisse Grenzen, innerhalb deren es eine ge-
schlossene Einheit sei, ist die allgemeine Absicht des
Denkens formell an diesem Inhalt markirt, ohne noch sach-
lich erfüllt zu sein. In derselben Stellung findet sich nun
unser Bewußtsein, wenn wir unsere Gedankenwelt mustern,
zu sehr vielen Inhalten; ja man wird ohne Ueberraschung
finden, daß sehr bedeutungsvolle Worte der Sprache diese
unvollkommene Form der Fassung ihres Gegenstandes ver-
rathen; denn eben je reicher wichtiger und mannigfaltiger
ein Gegebenes ist, um so leichter werden überredende Ein-
drücke vielfacher Wahrnehmungen das Gefühl seiner Eigen-
thümlichkeit Ganzheit und Abgeschlossenheit in sich selbst
erwecken, ohne uns darum sein inneres Gefüge wirklich
aufzudecken. Worte wie Natur Leben Kunst Erkenntniß
Thier und viele andere bedeuten im gewöhnlichen Gebrauch
nichts weiter; sie drücken nur die Meinung aus, daß eine
gewisse meist nicht genau begrenzbare Menge von Einzel-
heiten, seien es Gegenstände oder Merkmale von Gegen-
ständen oder Ereignisse, die sich aneinanderknüpfen, auf
irgend eine Weise durch ein innerliches Band zu einem
Ganzen vereinigt sind, welches sich weder einen Theil seines
Inhalts rauben läßt, ohne zerstört zu werden, noch einen
beliebigen Zusatz in seine abgeschlossene Einheit auf-
nehmen kann. Wie wenig aber die Natur jenes Bandes
wirklich bekannt ist, zeigt das Mißlingen des Versuchs,
Rechenschaft über die Grenzen zu geben, welche das zu
dieser Einheit Zugehörige umschließen und von Fremd-
artigem trennen. So lange nun die logische Arbeit in der
Zusammenfassung des Mannigfachen nicht weiter gediehen
ist, würde ich Bedenken tragen, schon von Begriffen zu
sprechen, ohne deshalb Werth auf die Erfindung eines be-
sonderen technischen Namens für diese noch unvollkommene
Fassung zu legen. Möge sie denn der unvollkommene oder
der werdende Begriff heißen; den vollkommenen oder ver-
wirklichten Begriff werden wir erst dann zu besitzen glauben,
wenn der unbestimmte Nebengedanke der Ganzheit über-
Die Lehre vom Begriffe. ^
haupt zu dem Mitdenken eines bestimmten Grundes ge-
steigert ist, welcher das Zusammensein gerade dieser Merk-
male, gerade diese Verbindung derselben und die Aus-
schließung bestimmter anderen rechtfertigt.
22. Es ist jetzt die Frage, wie wir zu diesem be-
dingenden Grunde gelangen. Blieben wir nun bei der iso-
lirten Betrachtung eines zusammengesetzten Bildes abcd
stehen, so würde keine noch so lange fortgesetzte Be-
obachtung uns entdecken, welche Bestandtheile desselben
nur zusammensind, welche zusammengehören, in welcher
Abstufung das Dasein des einen das des anderen bedingt.
Vergleichen wir aber abcd mit andern seines Gleichen,
d. h. mit solchen, auf welche von ihm aus unsere Aufmerk-
samkeit ohne logisches Zuthun durch Gesetze imseres Vor-
stellungslaufs gelenkt wird, und finden wir, daß in abcd,
abcf, abcg und ähnlichen die Gruppe abc gleichmäßig vor-
kommt unter Hinzufügung verschiedener ungleicher Bestand-
theile, so erscheinen uns diese letzteren als das locker und
trennbar mit dem festen Stamme des abc Verbundene; das
gemeinsame abc aber steht ihnen nicht blos als thatsächlich
gleicher Mittelpunkt ihrer Anknüpfung gegenüber, sondern
unter der allgemeinen Voraussetzung, daß hier ein Ganzes
einander bedingender Theile vorliege, wird dieser feste Kern
zugleich zum Ausdruck der beständigen Regel, die in den
Einzelfällen den Ansatz der verschiedenen Nebenbestand-
theile gestattet und die Art ihrer Anfügung bestimmt. Wollen
wir im Leben und zu praktischen Zwecken desselben er-
mitteln, wo in einem Geschöpfe in einem Gegenstande oder
in einer gegebenen Einrichtung die Grenzlinie verläuft, die
das innerlich Zusammengehörige von zufälligen Anlagerun-
gen scheidet, so setzen wir dies gegebene Ganze irgendwie
in Bewegung; unter dem Einfluß der Veränderung werde
sich zeigen, welche Theile hier fest zusammenhalten, während
die fremden Beimischungen abfallen, und welche allgemeinen
Verknüpfungsweisen jener Theile bestehen bleiben, während
sie im Einzelnen ihre gegenseitigen Stellungen ändern; in
dieser Summe des Beständigen sehen wir dann das wesent-
liche innere Gefüge des Ganzen und erwarten von ihm,
daß es auch die Möglichkeit und die Art und Weise des
Ansatzes veränderlicher Bestandtheile bestimme. Das erste
Verfahren, die Hervorhebung dessen, was verschiedenen
ruhenden Beispielen gemeinsam zukommt, hat die Logik
gewöhnlich befolgt und ist auf diesem Wege zur Aufstellung
40 ' ' Erstes Kapitel.
ihres Allgemeinen gekommen; ich würde den anderen be-
vorzugen, die Bestimmung dessen, was in demselben Bei-
spiel sich unter veränderten Bedingungen forterhält; denn
nur die Voraussetzung, daß diese Selbsterhaltung sich auch
an der Gruppe abc, dem Gemeinsamen vieler einzelnen
Vorstellungsganzen, werde beobachten lassen, rechtfertigt
eigentlich unsere Annahme, dieses Zusammenseiende als
zusammengehörig und als Grund der Anfügbarkeit oder
der Unzulässigkeit anderer Bestandtheile anzusehen.
23. Man nennt Abstraction das Verfahren, nach welchem
das Allgemeine gefunden wird, und zwar, wie man angibt,
durch Weglassung dessen, was in den verglichenen Sonder-
beispielen verschieden ist, und durch Summirung dessen,
was ihnen gemeinsam zukommt. Ein Blick auf die wirkliche
Praxis des Denkens bestätigt diese Angabe nicht. Gold
Silber Kupfer und Blei sind an Farbe Glanz Gewicht und
Dichtigkeit verschieden ; aber ihr Allgemeines, das wir Metall
nennen, finden wir nicht dadurch, daß wir bei ihrer Ver-
gleichung diese verschiedenen Merkmale ohne einen Ersatz
einfach weglassen. Denn offenbar reicht zur Bestimmung
des Metalls nicht die Verneinung aus, es sei weder roth
noch gelb noch weiß oder grau; ebenso unentbehrlich ist
die Bejahung, daß es jedenfalls irgend eine Farbe habe;
es hat zwar nicht dieses nicht jenes specifische Gewicht,
nicht diesen nicht jenen Grad des Glanzes, aber seine Vor-
stellung würde entweder gar nichts mehr bedeuten oder
doch sicher nicht die des Metalls sein, wenn ihr jeder Ge-
danke an Gewicht überhaupt, an Glanz und Härte überhaupt
fehlte. Durch Vergleichung der einzelnen Thierarten er-
halten wir das allgemeine Bild des Thieres gewiß nicht,
wenn wir jede Erinnerung an Fortpflanzung Selbstbewegung
und Respiration deshalb fallen lassen, weil die einen lebendig
gebären, andere Eier legen, manche sich durch Theilung
vermehren, weil ferner jene durch Lungen, diese durch
Kiemen, noch andere durch die Haut athmen, weil endlich
viele auf Beinen wandeln, andere fliegen, einige zur Orts-
veränderung unfähig sind. Im Gegentheil ist dies das Aller-
wesentlichste, wodurch jedes Thier Thier ist, daß es irgend
eine Art der Fortpflanzung, irgend eine Weise der Selbst-
bewegung und der Respiration besitzt. In allen diesen Fällen
entsteht mithin das Allgemeine nicht durch einfache Hin-
weglassung der verschiedenen Merkmale p^ und p^, qi und q^,
die in den verglichenen Einzelfällen vorkommen, sondern
dadurch, daß an die Stelle der weggelassenen die' allgemeinen
Die Lehre vom Begriffe. 41
Merkmale P und Q eingesetzt werden, deren Einzelarten
pi, p2 und qi, q2 sind. Das einfachere Verfahren der Weg-
lassung kommt nur da vor, wo dem einen der verglichenen
Einzelnen in der That gar keine Art eines Merkmals P zu-
kommt, von welchem das andere nothwendig eine Art zu
seinem Merkmal hat. So glauben wir, gleichviel ob mit
Recht oder Unrecht, in der Pflanze keine Spur von Empfin-
dung und Selbstbewegung zu entdecken, die beide wesentlich
für alle Thiere sind ; aus der Vergleichung von Pflanze und
Thier bilden wir daher allerdings die allgemeine Vorstellung
des organischen Wesens durch Weglassung beider Merkmale
ohne einen Ersatz. Eine sachlich eingehende Betrachtung
würde, zwar nicht eben in diesem Beispiele, aber in vielen
verwandten Fällen, vielleicht Veranlassung haben, dennoch
beiden verglichenen Gliedern zwei Merkmale P und Q ge-
meinsam zuzuschreiben, und nur für das eine, die Pflanze,
einen Nullwerth dieser Merkmale anzunehmen, die in dem
Thiere stets mit wirklichen Größenwerthen vorkommen.
Etwas anders gewendet behaupten wir logisch, der Ersatz
der weggelassenen Einzelmerkmale durch ihr Allgemeines
sei die allgemeingültige Regel der Abstraction, die ersatzlose
Weglassung bilde den Sonderfall, in welchem sich ein
logisch gemeinsames Merkmal nicht finden läßt, als dessen
verschiedene Arten der Besitz eines Einzelmerkmals hier
und sein Nichtbesitz dort angesehen werden könnten. So
gefaßt schließt mithin unsere Regel der Abstraction diese
Fälle der bloßen Weglassung mit ein ; umgekehrt, eine Regel,
welche nur von der Weglassung ausginge, fände keinen
Rückweg zu der Forderung jenes Wiederersatzes, dessen
Wichtigkeit für die Bildung des Allgemeinen alle späteren
Schritte der Logik bestätigen werden.
24. Nach den Betrachtungen des vorigen Abschnittes,
von dessen Voraufsendung jetzt die Nothwendigkeit sicht-
bar ist, wird man nicht ernstlich an dem nur scheinbaren
Cirkel Anstoß nehmen, der uns hier Allgemeines durch
Zusammensetzung von Allgemeinem zu bilden befiehlt. Wir
haben gesehen, daß die allgemeinen Merkmale P und Q, die
wir hier bedürfen, das erste Allgemeine des erwähnten
Abschnittes, uns ohne logische Arbeit lediglich als beobacht-
bare Erzeugnisse unseres Vorstellungslebens zufallen; eben
deswegen können sie nun als Bausteine für die Bildung
dieses zweiten Allgemeinen verwendet werden, welches wir
allerdings durch eine logische Arbeit erzeugen. Daß das
Gelb des Goldes das Roth des Kupfers und das Weiß des
42 Erstes Kapitel.
Silbers nur Abwandlungen eines Gemeinsamen sind, das
wir dann Farbe nennen, das empfanden wir unmittelbai* ;
wem es aber nicht empfindbar wäre, dem würde durch
logische Arbeit nie deutlich gemacht werden können, weder
daß diese Eindrücke Arten dieses Allgemeinen sind, noch
überhaupt, was eigentlich ein Allgemeines und die Be-
ziehung seines Besonderen zu ihm sagen will. Denn dies
eben wünschte ich hier noch hervorzuheben, daß auf der
unmittelbaren Anschauung eines ersten Allgemeinen und
auf der Anwendung irgend welcher Größenvorstellungen
die Bildung dieses zweiten Allgemeinen in allen Fällen
beruht, nicht blos da, wo die Merkmale, wie die des Metalls,
Farbe Glanz und Härte, sich ungezwungen als ruhende
Eigenschaften des Bezeichneten fassen lassen, sondern auch
da, wo sie, wie Fortpflanzungs- und Bewegungsfähigkeit
des Thieres, nur kurze adjectivische Bezeichnungen von
Verhaltungsweisen sind, die wir vollständig nur durch viel-
fache Beziehungen zwischen mancherlei Beziehungspunkten
denken können. Man überzeugt sich leicht durch eine Zer-
gliederung, die ich nur um ihrer drohenden Weitläufigkeit
willen hier der Aufmerksamkeit des Lesers überlassen muß,
daß alle Unterschiede der Thiere auch in Bezug auf diese
Merkmale immer auf Größenbestimmungen hinauslaufen,
die entweder der Stärke gelten, mit der ein fühlbar gleicher
oder gleichartiger Vorgang sich in ihnen ereignet, oder der
Anzahl der Beziehungspunkte, zwischen denen er statt-
findet, oder einer der Formverschiedenheiten, die er durch
eben diese verschiedene Anzahl seiner Beziehungspunkte,
durch die größere oder geringere Engigkeit ihrer Beziehung
auf einander, endlich durch die ebenfalls meßbaren Unter-
schiede ihres zeitlichen und räumlichen Verhaltens erfahren
kann. Mit dem Hinwegfall dieser quantitativen Abstufung
und Vergleicht)arkeit, die sich, in verschiedener Weise
natürlich, über Alles, über einfache Merkmale, über ihre
Beziehungen, über Verbindungsweisen des Gleichzeitigen
und des Successiven erstreckt, würde die Bildung eines
Allgemeinen aus der Vergleichung verschiedener zusammen-
gesetzten Vorstellungsgruppen wenigstens in dem Sinne,
in welchem diese Bildung für die Aufgaben des Denkens
Werth hat, unmöglich sein.
25. Ich gedenke jetzt einiger herkömmlichen Kunst-
ausdrücke. Nennen wir Begriff (notio, conceptus) vorläufig
überhaupt die zusammengesetzte Vorstellung, die wir als
ein zusammengehöriges Ganze denken, so heißt Inhalt
Die Lehre vom Begriffe. 43
(niateria) des Begriffes S die Summe der Einzelvorstellungeii
oder Merkmale (notae) a, b, c, d . . ., durch welche S voll-
ständig gedacht und von jedem andern Begriffe Z unter-
schieden wird; Umfang aber (ambitus, sphaera) die Anzahl
der Einzelbegriffe s^, s^, s^. ., in deren jedem der Inhalt
von S, also die Merkmalgruppe a, b, c, d . ., in irgend einer
ihrer möglichen Modificationen enthalten ist. So würden
Farbe a, Gewicht b, Dehnbarkeit d und die übrigen ähn-
lichen zusammen den Inhalt des Metalls S; Kupfer s^ da-
gegen, Silber s^, Gold s^ und ihres Gleichen zusammen-
genommen den Umfang desselben S bilden. Man pflegt
ferner die einzelnen Merkmale a, h, c als coordinirt in dein
Inhalt von S, die einzelnen Arten aber, s^, s^, s^, als
coordinirt in dem Umfange des S zu bezeichnen; in dem
Verhältniß der Subordination endlich stehen die Arten s^,
S", s^ zu dem allgemeinen S selbst, das ihre Gattung bildet;
subsumirt aber sind sie sammt dem S selbst unter jedes
der allgemein ausgedrückten Merkmale, welche den Inhalt
des S und folglich auch den der s^, s^, s^ zusammensetzen.
Zuletzt behauptet man, daß Umfang und Inhalt jedes Be-
griffes in umgekehrtem Verhältniß zu einander stehen;
je größer der Inhalt, also die Zahl der Merkmale, die der
Begriff allen seinen untergeordneten Arten vorschreibt, um
desto geringer die Zahl der Arten, welche diese Forderung
erfüllen; je kleiner der Inhalt des S, um so größer «iie
Menge der Einzelnen, welche die wenigen Merkmale be-
sitzen, die ihnen nöthig sind, um Arten des S zu sein,
oder in seinen Umfang zu gehören. Vergleiche man daher
den allgemeinen Begriff S mit einem andern gleichartigen
allgemeinen T und suche für sie beide das neue dritte
Allgemeine U, dem sie wieder als Arten gehören, und setze
man dies Verfahren fort, so werde jeder Allgemeinbegriff W,
je höher er in dieser Stufenreihe steht, je weiter er nämlich
von den ursprünglich verglichenen S und T absteht, um
so ärmer an Inhalt und um so größer an Umfang sein;
umgekehrt, steigen wir von jenen höchsten Allgemein-
begriffen W durch V und U, S und T bis zu den Arten
von S und weiter herab, so wachse mit abnehmendem
Umfang der Inhalt und werde am größten in jenen Vor-
stellungen des völlig Einzelnen und Individuellen, denen
dann die Logik nicht ohne Bedenken den Namen eines
Begriffes überhaupt noch zugesteht.
26. Diese Bestimmungen sind von ungleichem, über-
haupt aber von geringem Werth. Ich beginne, was über sie
44 Erstes Kapitel.
zu sagen ist, mit der Feststellung des künftig von mir zu
befolgenden Sprachgebrauchs. Ich nenne jeden zusammen-
gesetzten Inhalt s dann begrifflich gefaßt oder Begriff, wenn
zu ihm ein Allgemeines S mitgedacht wird, welches den
bedingenden Grund für das Zusammensein aller seiner Merk-
male und für die Form ihrer Verknüpfung enthält. Nach
dieser Erklärung sprechen wir unbedenklich von Begriffen
auch des völlig Einzelnen, von singularen Begriffen nach
dem alten Ausdruck der Logik und glauben uns dabei in
völliger Uebereinstimmung mit dem Sprachgebrauch. Denn
wenn wir zum ersten Male einen uns neuen Gegenstand s,
vielleicht mit völliger Deutlichkeit der sinnlichen Wahr-
nehmung, beobachten, mit dieser aber uns nicht zufrieden
geben, sondern fragen, was denn nun eigentlich dies s sei,
so wünschen wir offenbar die Regel kennen zu lernen, die
in dem beobachteten Thatbestand die wahrgenommenen
Merkmale verbindet und sie in ein zusammengehöriges
Ganze von bestimmtem voraussagbaren Verhalten ver-
wandelt. Erfahren wir dann, dies s sei ein S, ein Thier
oder eine Pflanze, so glauben wir dies s begriffen zu haben ;
seine Vorstellung ist es. also, die durch das Mitdenken des
allgemeinen S zum Begriff erhoben wird. Jeder Eigenname
bietet hierfür ein Beispiel. Alcibiades bedeutet für mensch-
liche Gedanken niemals blos eine Vielheit verschieden-
farbiger Punkte, die im Raum nach bestimmter obwohl
nicht ganz unverschiebbarer Zeichnung mit einander ver-
bunden sind und dem Versuch zu ihrer Trennung wider-
stehen; ebensowenig drückt der Name blos den Neben-
gedanken aus, diese Vielheit bilde auf irgend eine dahin-
gestellte Weise ein Ganzes; das ganz bestimmte Allgemein-
bild des Menschen vielmehr oder des Mannes wird als das
Schema mitgedacht, nach welchem der Zusammenhang der
hier beobachteten Merkmale unter einander und mit dem
künftig von ihnen zu erwartenden Verhalten aufzufassen ist.
Auf diese Auffassung aber paßt weder der Name der An-
schauung, noch der einer bloßen Vorstellung, sondern nur
der eines singularen Begriffes.
27. Gar nicht finde ich dagegen in der Ordnung, daß
man dem Allgemeinen S selbst, durch dessen Mitdenken
das Einzelne zum Begriff wird, ohne allen Vorbehalt den
Namen eines Allgemeinbegriffes gibt. Diese logische
Form kann das S haben, hat sie aber keineswegs immer,
sondern bleibt häufig ein bloßes allgemeines Bild, dessen
Die Lehre vom Begriffe. 45
Bestand zwar mit dem Nebengedanken seiner zusammen-
gehörigen Ganzheit, aber ohne Angabe der gliedernden
Regel seines Zusammenhangs gedacht wird. Im gewöhn-
lichen Gebrauch der Rede ist schon der Name Mensch nur
Ausdruck für ein solches Bild; einige Ueberlegung macht
aus ihm leicht noch, durch Unterordnung unter das All-
gemeine Thier, einen Begriff; dann bleibt aber Thier ein
allgemeines Bild, das nur der Naturforscher noch durch
Mitdenken der Vorstellung des organischen Wesens für
seinen wissenschaftlichen Gebrauch zum Begriff umbildet.
Auf diesem unfertigen Zustand der logischen Arbeit, die
nur den einen Ring der ganzen Kette, den Zusammenhang
des Einzelnen mit seinem nächsten Allgemeinen scharf
beleuchtet, von da aus aber die übrigen im Dunkel läßt,
beruhen die Begriffe, die im natürlichen Gebrauch des
Denkens vorkommen; da jedoch wissenschaftliche Unter-
suchungen, zu denen die Logik vorzugsweis einleiten will,
wirklich dahin streben, auch jedes höhere Allgemeine eines
gegebenen Begriffs selbst begrifflich zu fassen, so begnüge
ich mich, die vorgetragene Bemerkung gemacht zu haben,
sehe jedoch von ihrer hartnäckigen Durchführung ab und
werde mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch jenen
allgemeinen Bildern den Namen der Begriffe nicht vor-
enthalten. Dies Zugeständniß wird mir dadurch erleichtert,
daß in der Logik der Name des Begriffs nicht jene vornehme
Bedeutung scheint haben zu dürfen, die ihm die Schule
Hegel's gegeben hat, und in welcher er darauf Anspruch
macht, die Erkenntniß der wesentlichen Natur seines Gegen-
standes auszudrücken. Der Unterschied zwischen logischen
Formen und metaphysischen Gedanken ist auch hier zu
beachten. Es mag einen bevorzugten Begriff geben, welcher
die Sache selbst in ihrem Sein und ihrer Entwicklung ver-
folgt, oder zum Standpunkt der Auffassung den in ihr
selbst liegenden Mittelpunkt wählt, von welchem aus sie
ihr eignes Verhalten bestimmt und ihre eigne Wirksamkeit
gliedert ; aber es ist nicht Aufgabe der Logik, ihrer Begriffs-
form stets nur diese auserlesene Füllung zu geben. Der
logische Begriff gilt uns als eine Denkform, welche ihren
Inhalt, von irgend welchem Standpunkte aus, so auffaßt,
daß aus dieser Auffassung Folgerungen zu ziehen sind,
welche an bestimmten Punkten richtig wieder mit dem
zusammentreffen, was aus diesem Inhalt selbst, aus der
Sache selbst fließt; nach der Wahl jener Standpunkte, für
deren jeden sich die Sache anders projicirt, kann es daher
46 Erstes Kapitel.
verschiedene gleich richtige und gleich fruchtbare logische
Begriffe desselben Gegenstandes geben. Mag darum Begriff
immerhin jede Auffassung heißen, die, wenn auch nur mit
Hülfe eines selbst nicht weiter zergliederten Allgemein-
bildes, dies leistet, den gegebenen Gegenstand einer Regel
seines Verhaltens zu unterwerfen, deren i\.nwendung mit
diesem wirklichen Verhalten in Uebereinstimmung bleibt.
28. Ernstliche Bedenken erweckt die behauptete
Coordination der Merkmale im Inhalt des Begriffs. Schon
dies ist ein Uebelstand, daß uns ein passender Name für
die Bestandtheile fehlt, aus denen wir den Begriff zu-
sammensetzen; Merkmal, Theilvorstellung passen nur für
bestimmte Fälle. Sie erwecken die geläufige falsche Mei-
nung, als seien ganz allgemein die Bestandtheile des Be-
griffs gleichwerthig, jeder mit dem Ganzen des Inhalts
ebenso verbunden wie jeder andere, und jeder erste mit dem
zweiten ebenso wie dieser mit dem dritten. Hierzu verführen
besonders die Beispiele, welche die Logik aus dem Kreise
einfacher Naturgegenstände zu wählen pflegt. Zwar ist
Gold gelb nur im Licht, dehnbar nur für eine einwirkende
Zugkraft, schwer nur für den Körper den es drückt; aber
diese verschiedenen Verhaltungsweisen lassen sich doch
für unsere Einbildungskraft leicht als ruhende Eigenschaften
vorstellen, die an einem bestimmten Punkte des Raumes
versammelt sind und dort alle in nicht weiter angebbarer
übrigens gleicher Weise an dem Realen haften, das um
ihretwillen Gold heißt. Hier paßt der Name der Merkmale
und hier sind die Merkmale allerdings in dem behaupteten
Sinne in dem Inhalt coordinirt; nur bedeutet diese
Coordination nichts mehr, als daß sie alle dem Ganzen,
gleich unentbehrlich sind, außerdem aber eine irgendwie
gegliederte Ordnung nicht besteht. Verlassen wir so ein-
fache Beispiele, überlegen wir Begriffe wie Dreieck Thier
oder Bewegung, so bedürfen wir, um ihren Inhalt richtig
zu denken, eine Menge von Theilvorstellungen, die nicht
mehr so gleichwerthig sind, sondern in den verschiedensten
gegenseitigen Stellungen auf einander bezogen werden
müssen. Die drei Seiten des Dreiecks sind nicht blos in
ihm auch da, neben den drei Winkeln, sondern sie müssen
durch ihre Schneidungen die Winkel bilden; der Begriff
der Bewegung enthält nicht blos überhaupt die Theilvor-
stellungen Ort Veränderung Richtung Geschwindigkeit;
sondern Richtung und Geschwindigkeit sind, beide in ver-
schiedenem Sinne, Bestimmungen der Veränderung; der
Die Lehre vom Begriffe. 47
Ort, da er ja verlassen wird, kann am wenigsten ein
Merkmal des Begriffs heißen, er ist ein Beziehungspunkt
für die Vorstellung der Veränderung, zu welcher sein Ver-
hältniß durch den Sinn des Genitivs vergHchen mit dem
regierenden Nominativ ausgedrückt wird. Die Verfolgung
dieser Mannigfaltigkeit ist zu weitläufig; zu der Ueber-
zeugung aber würde sie ersichtlich führen, daß im All-
gemeinen die Merkmale eines Begriffs nicht gleichwerthig
einander coordinirt sind, daß sie vielmehr in den mannig-
faltigsten Stellungen sich auf einander beziehen, einander
verschiedenartige Anlagerungen vorschreiben und so sich
wechselseitig determiniren; daß ein zutreffendes Symbol
für den Bau eines Begriffs nicht die Gleichung S^a-j-b
-j- c -f- d , . ., sondern höchstens die Bezeichnung S = F
(a, b, c, . . .) ist, welcher mathematische Ausdruck eben nur
andeutet, daß a, b, c, . . . auf eine im Einzelfall genau angeb-
bare, im Allgemeinen höchst vielförmige Weise verknüpft
werden müssen, um den Werth von S zu ergeben. Wäre
in irgend einem Einzelfalle
S = a[bc8indJ + ^e — -W.
so würde diese Formel, so läppisch sie sein würde, wenn sie
etwas mehr bedeuten wollte, doch immer noch ein anschau-
licheres Bild, als jene unzureichende Summenformel, für
die Verschiedenheit der Beiträge geben, welche hier die
einzelnen Merkmale a, b, c . . . zum Aufbau des ganzen
Inhaltes von S liefern.
29. Gegen die Coordination von s^ Kupfer, s^ Gold und
s^ Silber in dem Umfang des S Metall ist nichts einzu-
wenden, dagegen der große Werthunterschied zwischen
dieser Unterordnung und der des allgemeinen S sowie jeder
seiner Arten unter die allgemeinen Merkmale a dehnbar,
b farbig hervorzuheben. Die Natur des Allgemeinen S, des
Metalls, beherrscht die Natur seiner Arten, des Goldes und
Kupfers, vollständig, und keine Eigenschaft der letz-
teren entzieht sich ihrem bestimmenden Einfluß: gelb
oder roth ist vieles, aber das schimmernde Gelb und
Roth des Goldes und Kupfers kommt Metallen allein zu;
dehnbar ist vieles, aber Größe und sonstige Eigenthümlich-
keit der Dehnbarkeit, wie sie Gold und Kupfer zeigen, ist
nur bei Metallen erhört; nur die Metallität endlich erklärt
die Höhe des specifischen Gewichts. Ebenso bestimmt das
Allgemeine Thier jede Eigenschaft und jede Regung dessen,
48 Erstes Kapitel.
was seine Art ist: das Thier bewegt sich anders wächst
anders und ruht anders als die Pflanze und das Leblose.
Versinnlichen wir das Allgemeine Metall durch einen Kreis S,
so liegt der kleinere Kreis s^ des Goldes völlig in S ein-
geschlossen; neben ihm, getrennt von ihm, aber ebenso ganz
innerhalb des S, die Kreise s^ Kupfer, s^ Silber. Dies Ver-
hältniß einer wahrhaften Unterordnung unter das maß-
gehende Allgemeine bezeichne ich, indem ich zwei meist
gleichbedeutend gebrauchte Namen verschieden benutze,
als Subordination unter die Gattung; ich nenne da-
gegen Subsumption unter das Merkmal die Unterord-
nung des Goldes unter das Gelb g oder das Dehnbare d.
Diese allgemeinen Merkmale beherrschen und durchdringen
offenbar die ganze Natur des Goldes nicht; jedes drückt
vielmehr nur eine Seite derselben aus, die andern Gegen-
ständen von völlig abweichender Natur ebenfalls zukommt,
und aus der sich, für unsere logische Einsicht, keinerlei
Folgerung in Bezug auf die anderen Eigenschaften des
Goldes ziehen läßt. An den größeren Kreis G des Gelben
tritt daher der kleinere s des Goldes nur an einer bestimmten
Stelle an und schneidet ihn, ohne gänzlich in ihm zu liegen ;
an anderen Stellen wird G durch die Kreise der andern
gelben Gegenstände ebenso geschnitten und sie alle bleiben
theilweis außer ihm.
30. Von dem Allgemeinen S aus, welches die Regel
für die ursprünglich verglichenen s^ s^ s^ war, konnten
wir zu immer höheren Allgemeinbegriffen T U V W auf-
steigen. In der Naturgeschichte, für welche diese Stufen-
reihe Werth hat, sind ihre einzelnen Glieder in der Richtung
nach aufwärts als Art Gattung Familie Ordnung Klasse
bezeichnet worden; doch ist schon dies nicht ganz un-
streitig, was ein Allgemeinbegriff zu leisten habe, um eine
Art, und was, um eine Gattung vorzustellen; noch ver-
schiedener werden die übrigen Benennungen und immer
nach Gesichtspunkten angewandt, die für den Kreis zu
behandelnder Gegenstände jedesmal aus der besondem
Natur derselben eigens gerechtfertigt werden. Ohne diese
Unterstützung, welche die Bedeutung und Wichtigkeit dieser
Abstufungen von Seiten sachlicher Kenntniß erfährt, läßt
sich nur für Art und Gattung einigermaßen ein fester
logischer Werth auf folgende Weise bestimmen. Ver-
anlassung zur Aufsuchung eines Allgemeinen überhaupt
findet das natürliche Denken nur in der Vergleichung von
Einzelfällen, welche nicht gleich, aber ähnlich sind. Einen
Die Lehre vom Begriffe. 49
Begriff zu suchen, der Gurkenfrüchte und mathematische
Lehrsätze unter sich befaßte, ist ein Spiel des Witzes;
aber alle großen und kleinen alten und jungen dicken und
magern schwarzen und weißen Menschen fordern das natür-
liche Denken zu diesem Schritte auf. Denn ihre sinnlichen
Erscheinungen liefern ähnliche Bilder, an deren entsprechen-
den Punkten sich nur Merkmale finden, die unmittelbar
als Arten desselben allgemeinen Merkmales, der Härte oder
Farbe, empfunden werden; auch die Beziehungen zwischen
zweien dieser Punkte sind in ihnen allen nur durch Grad
und Größe verschiedene Modificationen einer und derselben
allgemeinen Beziehung. Die Vergleichung der einzelnen
Menschen erzeugt daher ein allgemeines Bild; nicht in
dem Sinne freilich, als ließe der allgemeine Mensch sich
wirklich malen, aber doch in dem Sinne der naturgeschicht-
lichen Abbildungen, die gar nicht daran zweifeln, durch
ein Pferd alle Pferde und durch ein Kameel alle Kameele
in einer Anschauung, die mehr als bloßes Schema oder
Symbol ist, deutlich darzustellen; oder in dem Sinne der
Geometrie, die durch ein gezeichnetes Dreieck, obgleich
es immer nur ein einzelnes sein kann, neben dem es andere
gibt, doch alle diese andern, und zwar gleichfalls in an-
schaulicher Weise, mit vertritt. Diese Möglichkeit ver-
schwindet aber, wenn wir zu höheren Allgemeinheiten auf-
steigen, die diese allgemeinen Bilder selbst wieder als ihre
Arten unter sich befassen; das allgemeine Säugethier, das
weder Pferd noch Kameel ist noch sonst Namen hat, läßt
sich nicht in einem schematischen Bild'e mehr zeichnen,
und ebenso wenig das Polygon, das weder Dreieck noch
Viereck ist noch eine andere bestimmte Seitenzahl hat.
Diese höheren Allgemeinbegriffe fassen wir mithin nicht
mehr in einer Anschauung, sondern nur noch in einem
Gedanken, durch eine Formel oder eine Gleichung, die im
Wesentlichen dieselbe Beziehungsweise zwischen verschie-
denen Beziehungspunkten vorschreibt, aber zu anschaulich
ganz abweichenden Gestaltungen führt, je nachdem man die
unbestimmt gelassenen Werthe dieser Beziehungspunkte
selbst und ihrer engeren und schlafferen Verbindung so
oder anders bestimmt denkt. Dasjenige Allgemeine nun,
das noch ein Bild gewährt, würde ich eine Art, das erste
von denen aber, die nur noch eine Formel möglich machen,
die Gattung nennen, in Uebereinstimmung, wie ich glaube,
mit dem gewöhnlichen Sprachgefühl und nebenbei mit den
Lotze, Logik. 4
50 Erstes Kapitel.
alten Bestimmungen des Aristoteles. Denn die Wahl seiner
beiden Ausdrücke Eidos und Genos ist ohne Zweifel durch
die ursprüngliche Wortbedeutung bestimmt worden; Eidos,
die Art, welche unter sich nur Individuen befaßt, ist das
Gemeinsame des Aussehens oder der Erscheinung; Genos
begreift das Formverschiedene, das in seiner Entstehung,
oder, wenn es überhaupt nicht zeitlich entspringt, doch in
dem bedingenden Zusammenhang seiner Bestandtheile der-
selben gesetzgebenden Formel gehorcht.
31. Es bleibt uns noch die letzte der früher angeführten
Behauptungen : das umgekehrte Verhältniß zwischen Inhalt
und Umfang der Begriffe; ich finde es unrichtig da, wo
seine Richtigkeit wichtig wäre, und ziemlich unwichtig da,
wo es richtig ist. Die Anzahl der Merkmale, aus denen
wir unsere Begriffe zusammensetzen, ist nicht unendlich;
reicht doch die Sprache mit zwar vielen doch nicht zahl-
losen Worten zu ihrer Bezeichnung aus. Leicht möglich
kann daher eine Gruppe derselben, sagen wir ikl, in mehreren
Allgemeinbegriffen S T und Ü zugleich vorkommen, ohne
daß deshalb ikl einen höhern Allgemeinbegriff darstellte, der
ein Bildungsgesetz für alle Arten von S T und U enthielte.
Man kann Kirschen und Fleisch unter die Merkmalgruppe ikl
röthhcher saftiger eßbarer Körper unterordnen, aber man
wird nicht glauben, damit einen Gattungsbegriff für beide
erreicht zu haben, dessen Arten sie zu heißen verdienten.
Ich behaupte nun nicht, daß die einseitige Hervorhebung
einer solchen Merkmalgruppe überall so wenig Sinn habe,
wie in diesem abgeschmackten Beispiele; im Gegentheil
werden wir ihren Werth später kennen lernen: sie dient
zu dem oft nützlichen und nöthigen Nachweis, daß ver-
schiedene Subjecte, obgleich sonst einander ganz fremd und
keinem gemeinschaftlichen Gattungsbegriffe subsumirbar,
dennoch wegen eines einzigen oder weniger gemeinsamen
Merkmale gewissen unabweislichen Folgerungen gleichmäßig
verfallen sind. Wer nun fortfahren will, diese Merkmal-
gruppen Allgemeinbegriffe zu nennen, hat dann freilich
mit jenem umgekehrten Verhältniß zwischen ihrem Umfang
und Inhalt Recht: je weniger Glieder die Gruppe zählt,
um so sicherer wird sie in allerhand Begriffen anzutreffen
sein; und anderseits je größere Anzahlen verschiedener
Vorstellungsinhalte man vergleicht, um so kleiner wird die
Merkmalgruppe sein, in der sie alle übereinstimmen. Von
Die Lehre vom Begriffe. 51
dem wahren Allgenieiiibegriff dagegen, dem, welcher die
Regel für die ganze Bildung der Arten enthält, ließe sich
eher behaupten, daß sein Inhalt allemal ebenso reich, die
Summe seiner Merkmale ebenso groß ist, als die der Arten
selbst; nur sind im Allgemeinbegriffe, in der Gattung, eine
Menge Merkmale blos in unbestimmter und selbst allge-
meiner Form enthalten, für welche in der Art bestimmte
Einzelwerthe oder besondere Ausprägungen auftreten, bis
in dem singularen Begriffe jede Unbestimmtheit verschwun-
den und jedes allgemeine Merkmal der Gattung durch ein
nach Größe Eigenthümlichkeit und Verknüpfung mit andern
völlig determinirtes ersetzt ist. Allerdings kann man gegen
die Allgemeingültigkeit dieser Behauptung Beispiele wie
das früher erwähnte des organischen Wesens anführen,
unter dessen Begriff wir Pflanze und Thier unterordnen;
man kann es eine logische Willkürlichkeit nennen, in diesem
Begriffe die Merkmale der Empfindungs- und Bewegungs-
fähigkeit beizubehalten, mit dem Hintergedanken, beiden
dann in der Pflanze einen Nullwerth zuzuschreiben; aber
dies Beispiel zeigt eigentlich mehr, daß wirklich die höheren
Allgemeinheiten, von der Gattung aufwärts, aufhören wahre
Allgemeinbegriffe zu sein und in Complexe von Be-
dingungen übergehen, denen der Inhalt verschiedener im
eigentlicheren Sinne so zu nennender Gattungen mit gleichen
daraus fließenden Folgen unterliegt. Der Begriff des orga-
nischen Wesens ist ein solches ikl, eine Gruppe von Merk-
malen, die für sich in keinem gegebenen Beispiel vorkommt,
die aber in den Gattungen, in denen sie vorkommt, in
Thier und Pflanze, dieselben aus ihr entspringenden Fol-
gerungen nothwendig macht.
32. Die vorigen Bemerkungen enthielten weder die Hoff-
nung noch den Anspruch, eine bleibende Aenderung in
dem hergebrachten Sprachgebrauch hervorzubringen; sie
sollten nur der deutlicheren Einsicht in den Bau der
Begriffe überhaupt dienen. Zu gleichem Zwecke füge ich
noch Folgendes hinzu. Ich bezeichne die Gattung G, sofern
ihr Begriff die Verbindungsregel einer Anzahl allgemeiner
Merkmale ABC... darstellt, durch F [A B C], und nehme
an, jedes der Merkmale lasse Einzelformen zu, welche
ai a2 a3 . . h^ b^ b» . . c^ c^ c^ . . heißen mögen; die Ver-
bindungsform F endlich bewege sich gleichfalls in einem
Spielraum veränderlicher Gestaltungen, von denen wir drei
durch f (p und f andeuten wollen. Da nun die Merkmale
4*
52 Erstes Kapitel.
ABC von sehr verschiedenem Werthe für das Ganze von G
sein können, ßo ist es möglich, daß die verschiedenen
Werthe, welche etwa A annimmt, von entscheidender Wich-
tigkeit für die Gestalt des Ganzen sind und sich auch in
der Verbindungsweise der übrigen mit ihrem umformenden
Einfluß gelten machen. Dies kann den Erfolg haben, daß,
wenn A den einen oder den andern seiner Werthe annimmt,
damit auch die Gliederungsweise F des Ganzen von
einem ihrer Einzelfälle sich zu einem andern ändert;
die Gesammtzahl der Arten von G würde dann sein:
G = f (ai B C . .) + cp (a2 B C . .) + f (a3 B C . .), in welcher For-
mel ich der Kürze halber die correspondirenden Aenderun-
gen von B und C unausgedrückt lasse. Diese entscheiden-
den Merkmale a^ a^ a^ sind in diesem Falle die art-
bildenden Unterschiede, differentiae specificae. So pflegt
schon Aristoteles, der dafür den Namen Diaphora hat,
wenn er den Menschen unter die Gattung Thier unter-
ordnet, die Bestimmung zum vernünftigen Denken als die
eigenthümliche Ausprägung a^ des allgemeinen Seelen-
lebens zu bezeichnen, durch die sich der Mensch von allen
andern Thieren unterscheidet; im Sinne meiner obigen
Bezeichnung kommt dann noch hinzu, daß dieses a^ nicht
blos den Menschen von den Thieren abgrenzt, sondern
auch die ihm eigenthümlichen Werthe der übrigen Eigen-
schaften B und C, endlich die Verbindungsweise f derselben
oder den ganzen Habitus bestimmt, durch den der Mensch
sich von den Thieren mit ihrer durch cp oder f charakteri-
sirten Organisation unterscheidet. Es kann ferner ge-
schehen, daß die besonderen Werthe, welche eines oder
mehrere der allgemeinen Gattungsmerkmale in einer ein-
zelnen Art angenommen haben, nur in dieser Art und in
keiner andern möglich sind, daß sie aber dennoch keinen
wichtigen Einfluß auf die Gestaltung der übrigen Merkmale
äußern und deshalb die Natur der Art, an welcher sie
vorkommen, nicht nach ihrer ganzen Bestimmtheit repräsen-
tiren. Eigenheit oder Idion nennt Aristoteles ein solches
Merkmal: es ist das, was wir ein Kennzeichen nennen.
Die Lachfähigkeit führt er als Idion des Menschen an,
Hegel in ähnlichem Sinne das Ohrläppchen; beide unter-
scheiden den Menschen vom Thiere, aber sie erschöpfen
sein Wesen nicht. Noch gibt es nach Aristoteles Merkmale,
die nicht zu dem eisernen Bestand eines Begriffs gehören,
sondern etwas bezeichnen, was seinem Inhalt zustößt oder
Die Lehre vom Begriffe. 53
widerfährt; jedes Verbum, welches sagt, daß Sokrates sitze
oder stehe, gibt davon ein Beispiel. Die Uebersetzer quälen
sich vergeblich, den von Aristoteles dafür gebrauchten Aus-
druck Symbebekos zugleich sachgemäß und in Ueberein-
stimmung mit der ursprünglichen griechischen Wortbedeu-
tung zu übersetzen; was an ihm sachlich wichtig und
richtig ist, wird völlig dem entsprechen, was wir einen
Zustand nennen. Daß dieser Ausdruck dennoch nicht
den Sprachgebrauch des Aristoteles deckt, scheint mir die
Schuld einer von ihm selbst begangenen Ungenauigkeit,
deren Erörterung kaum die Mühe lohnen würde. Die Be-
trachtung des sachlichen Verhältnisses aber, das zwischen
dem Begriffsganzen und dieser Art seiner Merkmale ob-
waltet, gehört der Lehre vom Urtheil an. Man findet in
des Porphyrius Einleitung zur Aristotelischen Logik Stoff
genug, um ein meist freilich nutzloses Nachdenken über
die Aehnlichkeiten und Unterschiede der hier berührten
logischen Bestimmungen noch weiter zu üben; uns dienten
sie wesentlich zur Verdeutlichung der mannigfachen Glie-
derung der Begriffe und sind zu diesem Zweck nicht in
durchgängiger Uebereinstimmung mit Aristoteles vorgetragen
worden.
33. Wohin gelangt man nun zuletzt, wenn man zu allen
gefundenen Allgemeinbegriffen immer höhere sucht? welche
Form nimmt das Gesammtsystem aller unserer Begriffe
an, wenn man sich dieses Geschäft vollendet denkt? Von
einer breiten Grundfläche, welche durch alle singularen
Begriffe oder Vorstellungen gebildet wird, erhebt es sich'
offenbar mit zunehmender Verschmälerung ; die gewöhnliche
Meinung gibt ihm geradezu die Gestalt einer Pyramide,
die mit einer einzigen Spitze, dem alles umfassenden Be-
griffe des Denkbaren, schließe. Ich finde wenig Witz in
dieser Annahme; sie beruht ganz auf der geistlosen Sub-
sumption unter ein Merkmal, deren logischen Werth wir
gering anschlugen. Unter das Merkmal des Denkbaren über-
haupt fällt alles auf einmal und mit einem Schlage; man
kann sich die Mühe ersparen, zu diesem Ergebniß erst
durch eine pyramidale Stufenleiter empor zu klettern; zu-
gleich ist in diesem Endgliede von allem Inhalt und aller
Eigenthümlichkeit des Gedachten auf die gründlichste und
gedankenloseste Weise abgesehen. Folgen wir dagegen dem
Verfahren der Subordination unter die Gattung und ordnen
wir das Mannigfache nur solchen Allgemeinheiten unter,
welche den Gedanken der allgemeinsten Regeln für die Eigen-
54 Erstes Kapitel.
arten seiner Formung noch aufbewahren, so kommen wir
nicht zu einem, sondern zu mehreren auf einander nicht
zurückführbaren Endbegriffen, in denen wir ohne Ueber-
raschung dieselben Bedeutungen der Redetheile wieder-
erkennen, die wir am Anfang dieses Hauptstücks als die
ersten logischen Elemente kennen lernten. Alle substan-
tivischen Inhalte führen auf den Stammbegriff des Etwas,
alle adjectivischen auf den der Beschaffenheit, die verbalen
auf den des Werdens, die andern auf den des Verhältnisses
zurück. Alle diese Stammbegriffe haben freilich das ge-
meinsame Merkmal, denkbar zu sein; aber eine gemeinsame
Gattung, unter der ihre wesentlichen Inhalte verschiedene
Arten bildeten, gibt es weder über ihnen allen, noch ver-
tritt einer von ihnen diese Stelle für die übrigen; es ist
nicht möglich, das Etwas als eine Art des Werdens, oder
das Werden als eine Art des Etwas zu fassen. So an-
gesehen erhebt sich das Gesammtgebäude unserer Begriffe
wie eine Gebirgskette, die von einem breiten Fuße beginnt
und mit mehreren scharf getheilten Gipfeln endigt.
Uebergang zu der Form des Urtheils.
34. Auf diesem Bilde einer zusammenhängend sich auf-
bauenden Begriffswelt hat schon der Blick Piatons geruht.
Ihn, der die ewige Sichselbstgleichheit jedes Begriffsinhaltes
und ihre Bedeutung gegenüber der Veränderlichkeit des
Wirklichen zuerst erkannt, ihn konnte es reizen, alle ein-
fachen Elemente des Denkbaren aufzusuchen, alle Ver-
bindungen der verbindbaren zu vollziehen und in dem
gegliederten Ganzen einer Ideenwelt das ewige Vorbild auf-
zurichten, dem die geschaffene Welt unvollkommen nach-
ahmt. Weder er selbst indessen noch die Folgezeit hat
eine wirkliche Ausführung dieser an sich unvollendbaren
Aufgabe versucht; noch weniger könnten wir jetzt geneigt
sein, in ihr eine wünschenswerthe Leistung zu sehen. Und
dies nicht nur deshalb, weil die Wirklichkeit, das was ist,
uns zu zahlreiche und schwere Räthsel aufgibt, um uns
Zeit zur Aufstellung eines Verzeichnisses dessen zu lassen,
was sein könnte, aber nicht ist; vielmehr auch die voll-
ständige Kenntniß der Ideenwelt würde uns wenig in der
Begreifung des Wirklichen unterstützen. Denn Alles, was
wir im besten Fall auf diesem Wege erreichen könnten,
würde nur das Bild einer ruhenden Ordnung sein, in welcher
Die Lehre vom Begriffe. 55
einfache und zusammengesetzte Begriffe, jeder unveränder-
lich sich selbst gleich und jeder durch unwandelbare Be-
ziehungen zu allen andern an seinen unverrückbaren syste-
matischen Ort gestellt, neben einander ständen; was uns
dagegen die Wirklichkeit vorhält, ist ein wechselndes Durch-
einander der mannigfachsten Beziehungen und Verknüpfun-
gen, die sich zwischen den einzelnen Vorstellungsinhalten,
ohne Rücksicht auf ihre systematische Stellung, bald so
bald anders gestalten. Diese große Thatsache der Ver-
änderung hört nicht dadurch auf dazusein, daß wir im Sinne
des Alterthums sie als eine Unvollkommenheit schelten,
im Gegensatz zu der feierlichen Ruhe der Ideenwelt ; immer-
fort führt sie der Verlauf unserer Vorstellungen uns wieder
vor, und das Denken, das von diesem ja seine Anregung
empfängt, muß sich bemühen, auch dies veränderliche Zu-
sammensein auf Gründe der Zusammengehörigkeit zurück-
zuführen. Hierdurch wird der weitere Weg der Logik be-
stimmt.
35. Verschiedene Erwägungen führen zu demselben
nächsten Schritte. Wo an einen scheinbar unveränderten
Begriffsinhalt neue Merkmale sich anfügen, die wir früher
in ihm nicht mitdachten, werden wir am unmittelbarsten
zu der Frage aufgefordert, welcher Grund eines veränd3r-
lichen Zusammengehörens sich für beide denken lasse.
Aber auch wenn wir verschiedene Beispiele eines All-
gemeinen vergleichen, in dessen allgemeinen Merkmalen
wir die Möglichkeit vieler besonderen bereits eingeschlossen
haben, fragt es sich doch nach dem Grunde, der in jedem
einzelnen dieser Beispiele die Zusammengehörigkeit des
besondern Merkmals mit dem übrigen Ganzen des Inhalts
vermittelt und dieses Merkmal vor den übrigen besonderen
bevorzugt, die als Arten desselben Allgemeinen eben so gut
vorhanden sein könnten, aber nicht vorhanden sind. Zu-
letzt, da wir in jedem Begriffe eine Mehrheit von Merkmalen
vereinigt denken, und zwar solchen, die nicht ihrem eigenen
Inhalte nach, als Glieder e"ner und derselben systematischen
Reihe einander verwandt, die vielmehr einander ungleicli-
artig und fremd sind, die aber dennoch einander deteraiiniren
und in ihrer Verbindung eine bedingende Macht über den
Ansatz anderer ausüben sollen, so kehrt auch hierüber die
Frage nach dem Rechtsgrunde wieder, der dieses Zusammen-
sein des Ungleichartigen als ein Zusammengehören er-
scheinen lasse. Wir werden uns bewußt, daß wir in unserer
56 Erstes Kapitel.
Betrachtung des Begriffs, als wir einer gewissen Verjcnüpfung
von Merkmalen diese Stellung einer beherrschenden
logischen Substanz zuschrieben, welche sich in einer Mannig-
faltigkeit verschiedener oder wechselnder Formen bethätigt.
eine Auffassungsweise gefordert und vorausgenommen
haben, deren logisch rechtliche Ausführbarkeit uns noch
zu erweisen obliegt. Dies also ist unsere Aufgabe nun,
diese vorausgesetzten Verknüpfungen entweder wieder auf-
zulösen, oder, wenn sie sich rechtfertigen lassen, sie noch
einmal, dann aber in einer Form zu vollziehen, welche den
Grund der Zusammengehörigkeit des Verbundenen mit aus-
spricht. Wenn das Denken diese Aufgabe zu lösen sucht,
wird ersichtlich die Form seiner Bewegung die des
ürtheils sein. In ihm tritt ein bleibendes oder bedin-
gendes Glied, das Ganze eines Begriffsinhalts, als Subject
den veränderlichen oder bedingten Gliedern oder der Summe
dieser Theile als Prädicaten gegenüber, die Beziehung
beider aber, welche ihre Verknüpfung erklärt und recht-
fertigt, liegt in der Copula, nämlich in dem Nebengedanken,
welcher, sprachlich mehr oder minder vollständig ausge-
drückt, beide Satzglieder zusammenhält.
Zweites Kapitel.
Die Lehre vom Urtheil.
Vorbemerkungen über Bedeutung und gewöhnliche Eintheilung
der Urtheile.
Der allgemeinen Absicht meiner Darstellung gemäß
würde ich die verschiedenen Urtheilsformen nun syste-
matisch als Glieder einer Reihe von Denkhandlungen zu
entwickeln haben, deren jede durch den von ihr unbewältig-
ten Rest ihrer Aufgabe den Eintritt der nächstfolgenden
begründet. Ehe ich diesen Versuch beginne, habe ich
üblichen anderen Betrachtungsweisen und den Gründen
meiner Abweichung von ihnen einige Worte zu widmen.
36. Jedes Urtheil, welches im natürlichen Gebrauch
des Denkens gebildet wird, will ein Verhältniß zwischen
den Inhalten zweier Vorstellungen, aber nicht ein Ver-
hältniß dieser beiden Vorstellungen aussprechen. Von diesem
sachlichen Verhältniß der vorgestellten Inhalte ist natürlich
ein gewisses Verhältniß der Vorstellungen, durch die wir
es denken, eine unvermeidliche Folge; aber nicht diese
freilich unausbleibHche Beziehung unserer Denkmittel, durch
die wir den sachlichen Inhalt ergreifen wollen, sondern
eben dieser selbst ist der wesentliche Sinn der im Urtheil
vollzcgenen Derkhandlung. Wenn wir sagen: das Geld ist
gelb, so ist es freilich unwidersprechlich, daß nach diesem
Urtheile unsere Vorstellung des Goldes in dem Umfange
unserer Vorstellung des Gelben hegt, daß mithin das Prädicat
von weiterem Umfange ist, als das Subject; aber dies war
es doch gewiß nicht, was man durch dies Urtheil aus-
zusprechen beabsichtigte. Vom Golde selbst vielmehr wollte
man sagen, daß das Gelb selbst ihm als Eigenschaft zu-
komme, und nur deshalb, weil man dieses sachliche Ver-
58 ' Zweites Kapitel.
hältniß, gleichviel jetzt, welche Bedenken es sonst haben
mag, als bestehend schon voraussetzt, kann man es in
einem Satze abbilden, in welchem die Vorstellung des
Goldes von der des Gelben eingeschlossen wird. Daß man
nicht einmal ganz Recht hat mit diesem Satze, hat die
Logik auch sonst schon bemerkt; indem sie von dem, was
man ausdrückt, sich auf das beruft, was man meint, lehrt
sie, daß auch das Subject seinerseits dies allzuweite Prädicat
beschränke; das Gold sei nicht gelb überhaupt, sondern
goldgelb, die Rose rosenroth, ja diese Rose habe eben nur
das Roth dieser Rose. Aber auch diese Verbesserung
ändert nichts an der UnvoUkommenheit dieser ganzen Auf-
fassung des Urtheils; denn welches Verhältniß nun eigent-
lich zwischen den beiden so corrigirten Gliedern stattfinde,
sagt sie doch nicht, und die ganze Mannigfaltigkeit der
verschiedenen Zusammenhangsweisen, die hier stattfinden
können, geht für sie verloren. So ist ja das Gold im
Finstern nicht gelb; seine Farbe hängt also an ihm nur
unter einer Bedingung, der des Lichtzutrittes; wer nun
diese neue Erfahrung mit der vorigen im Stil dieser Aut-
fassung zu verbinden wünschte, würde sagen müssen, die
Vorstellung des Goldes liege gleichzeitig im Umfange des
im Lichte Gelben und im Umfange des im Finstern Nicht-
gelben; aber durch diese Ausdrucksweise würde er, wie
mir scheint, doch nur verrathen, daß es ihm Vergnügen
macht, von dem worauf es ankommt, der Erwähnung jenes
Bedingungsverhältnisses, zu freilich richtigen, aber ganz
bedeutungslosen Folgen abzuschweifen. Natürlich haben
auch diese Umfangsverhältnisse der im Urtheil verbundenen
Vorstellungen ihren logischen Werth; aber wo man diesen
bedürfen wird, ist er nicht so schwierig zu ermitteln, um
sich seiner nicht nebenher augenblicklich zu bemächtigen;
einen Hauptgesichtspunkt für die Betrachtung der Urtheile
aus jenen Verhältnissen zu machen, halte ich für ebenso
irrig als langweilig.
37. Auf die Auffassung, welche ich hier vertrete, weisen
übrigens die technischen Ausdrücke der Logik zurück.
Subject unseres obigen Urtheils ist im Satze, oder gram-
matisch betrachtet, das Wort Gold, logisch angesehen aber,
oder im Urtheile, nicht die Vorstellung Gold, sondern das
Gold; denn nur zu diesem gehört das Gelb als ein Prä-
dicat, das von ihm ausgesagt wird, und zwar in einem
bestimmten Sinne ausgesagt wird, den die Bedeutung der
Copula angibt. Die Vorstellung des Gelben dagegen ist
Die Lehre vom Urtheil. 59
nicht in demselben Sinne eine Eigenschaft der Vorstellung
des Goldes, in welchem Gelb eine des Goldes ist; jene
wird gar nicht von dieser ausgesagt oder prädicirt ; zwischen
beiden Vorstellungen findet zunächst nur die Beziehung
statt, daß immer, oder doch unter bestimmten Bedingungen
immer, die eine dieser Vorstellungen, gelb, sich einfindet,
wo die andere, Gold, gegeben ist; daß aber, wo jene ge-
geben ist, nicht überall diese hinzutritt. Was das aber ist,
was dieses Verhalten ermöglicht rechtfertigt oder noth-
wendig macht, das zu ermitteln und auszusprechen, ist
allein die Aufgabe des logischen Urtheils, und es löst sie,
indem es durch den Sinn seiner Copula die Beziehujig
angibt, die zwischen den beiden vorgestellten Inhalten,
um deswillen, was sie vorstellen, und in verschieden(m
Fällen verschieden, stattfinde; nur zwischen diesen Inhaltcm
ist anderseits eine logische Copula denkbar; zwischen ihren
Vorstellungen besteht nur die psychologische Verbindung,
die ich erwähnte, und außer ihr jenes monotone, in allen
Fällen gleiche Verhältniß der Einordnung der einen in
den Umfang der anderen.
38. Es ist jetzt bereits deutlich, daß es für uns nur
so viel wesentlich verschiedene Urtheilsformen wird geben
können, als es wesentlich verschiedene Bedeutungen der
Copula, d. h. verschiedene Nebengedanken gibt, welche
wir über die Art der Verknüpfung des Subjects mit seinem
Prädicat uns machen und in der syntaktischen Form des
Satzes mehr oder minder vollständig zum Ausdruck bringen.
Manche andere Unterscheidung, der wir in der Logik be-
gegnen, fällt daher für unsere systematische Uebersicht
als unbrauchbar hinweg, ohne deswegen ihren anderweitigen
logischen Werth zu verlieren. Dieser Umstand macht mir
zur Klarheit des Folgenden eine vorläufige Erörterung des
Hergebrachten wünschenswerth ; doch glaube ich sie auf
diejenige Eintheilung der Urtheile beschränken zu können,
die, an sich sehr alt, in Deutschland durch Kant die
üblichste geworden ist. Man weiß, daß Kant jedes Urtheil
nach den vier verschiedenen Rücksichten der Quantität
Qualität Relation und Modalität bestimmt sein ließ und
in jeder dieser Rücksichten für jedes Urtheil eine von
drei einander ausschließenden Formen nothwendig fand.
Von dieser Eintheilung darf ich das dritte Glied aus dieser
vorläufigen Betrachtung ausschließen. Denn die Relation
(zwischen Subject und Prädicat), nach welcher Kant
kategorische hypothetische und disjunctive Urtheile unter-
60 Zweites Kapitel.
scheidet, bezieht sich offenbar auf eben die wesentlichen
Bestimmtheiten des Urtheils, die wir suchen, und die den
weiteren Gegenstand meiner eigenen Darstellung ohnehin
bilden werden. Wenn das kategorische sein Subject S und
sein Prädicat P schlechthin, wie man sagt, oder nach
dem einfachen Vorbild des Verhältnisses eines Dinges zu
seiner Eigenschaft verknüpft, das hypothetische dagegen
dem S an sich nicht, sondern nur unter Voraussetzung
der Erfüllung einer Bedingung sein P beilegt, das disjunctive
endlich dem S gar kein bestimmtes Prädicat ertheilt, ihm
aber die nothwendige Wahl zwischen mehreren einander
ausschließenden auferlegt, so ist ohne. Zweifel in jeder
dieser drei Formen der Sinn der Copula, die Art der Ver-
knüpfung zwischen S und P, verschieden und eigenthüm-
lich; diese drei werden die Glieder der nachher aufzu-
bauenden Stufenreihe der Urtheile bilden; nur die neun
übrigen bedürfen der folgenden Vorerwägung.
39. Ihrer Quantität nach müssen die Urtheile ent-
weder allgemein oder particular oder singular sein.
Drückt man diese Unterschiede durch die üblichen Formeln
aus: alle S sind P, einige S sind P, dieses S ist P, so
zeigen sie offenbar nur die verschiedene Ausdehnung an,
in welcher eine Verbindung von S und P gelten soll; die
Art der Verbindung ist in allen drei Fällen dieselbe, und
muß dieselbe sein, weil das allgemeine Urtheil, in dieser
Fassung seines Sinnes, aus der Summirung der besondern
und particularen soll entstehen können, mithin diesen völlig
gleichartig sein muß. Die quantitative Bezeichnung gilt
deshalb dem Subject allein, aber sie bezieht sich nicht
auf das logische Verhältniß zwischen ihm und seinem
Prädicat; sie ist daher von Wichtigkeit da, wo es gilt,
in dem Zusammenhang der Gedanken von einem Urtheile
eine Anwendung zu machen, deren Tragweite sich nach
dem Umfang richtet, über den seine Gültigkeit sich erstreckt ;
einen eigenthümlichen Fortschritt der logischen Arbeit da-
gegen bezeichnen diese Unterschiede in ihrer hier ge-
gebenen Formulirung nicht. Ich füge diese letztere Be-
schränkung hinzu, weil ja gewiß die quantitativen Unter-
schiede der Urtheile mit logisch wichtigen Unterschieden
auch der Verknüpfungsweise zwischen S und P wirklich
zusammenhängen ; denn was allen S zukommt, haftet an der
Natur seines Subjects ohne Zweifel auch in anderem Sinne,
als das, was nur einigen eigen ist, anderen nicht; aber die
quantitative Formulirung des Urtheils, welche die Subjecte
Die Lehre vom Urtheil. 61
blos zählt, bemächtigt sich eben dieser wichtigen Neben-
gedanken nicht und läßt, häufig gegen die Natur der Sache,
das Verhältniß des Prädicats zu seinem Subjecte überall
als das nämliche erscheinen.
40. In Bezug auf Qualität unterschied Kant affir-
mative, negative und 1 imitative Urtheile. Nun ist
nichts klarer, als daß die beiden Sätze: S ist P, und S ist
nicht P, so lange sie die logische Eigenschaft haben sollen,
einander entgegengesetzt zu sein, nothwendig genau die-
selbe Verbindung von S und P meinen müssen, nur daß
die Geltung derselben von dem einen bejaht, von dem
andern verneint wird. Es ist gewiß nicht nothwendig, aber
nützlich, sich dies Verhalten durch Spaltung jedes dieser
Urtheile in zwei zu verdeutlichen. Eine bestimmte Be-
ziehung zwischen S und P, welcher Art sie auch immer
sein mag, denken wir uns durch ein Urtheil: S ist P, als
einen noch fraglichen Gedanken ausgedrückt; diese Be-
ziehung bildet den Gedankeninhalt, über den zwei einander
entgegengesetzte Nebenurtheile gefällt werden; das eine
affirmative gibt ihm das Prädicat der Gültigkeit oder der
Wirklichkeit, das andere negative verweigert sie ihm. Natür-
lich ist es im Zusammenhang unserer Gedanken von der
größten Wichtigkeit, welches dieser beiden Nebenurtheile
über eine gegebene Verknüpfung von S und P gefällt wird ;
aber zwei wesentlich verschiedene Arten des Urtheils als
solchen begründet dieser Unterschied nicht; Gültigkeit oder
Ungültigkeit sind vielmehr in Bezug auf die Frage, die
uns hier beschäftigt, als sachliche Prädicate zu betrachten,
die von dem ganzen Urtheilsinhalte als ihrem Subjecte
gelten. Dieser Inhalt selbst hat seinen von Bejahung und
Verneinung noch freien Ausdruck im Fragesatz, und dieser
hätte als drittes Glied wohl schicklicher die Dreiheit der
Urtheilsqualitäten ausgefüllt, als das limitative oder un-
endliche Urtheil, das durch eine positive Copula dem Subject
ein negatives Prädicat beilegen soll und durch die Formel:
S ist ein Nicht-P, ausgedrückt zu werden pflegt. Viel
Scharfsinn ist auch in neuerer Zeit zur Ehrenrettung dieser
Urtheilsform aufgeboten worden, in der ich dennoch nur
ein widersinniges Erzeugniß des Schulwitzes finden kann.
Schon Aristoteles hat vollkommen hinlänglich bemerkt, daß
Ausdrücke wie Nicht-Mensch keine Begriffe sind; sie sind
nicht einmal Vorstellungen, die sich fassen ließen. In der
That, wenn Nicht-Mensch Alles bedeutet, was es logisch
bedeuten soll, nämlich Alles, was nicht Mensch ist, mithin
C)2 Zweites Kapitel.
nicht blos Thier oder Engel, sondern auch Dreieck Weh-
muth und Schwefelsäure, so ist es eine ganz unausführbare
Forderung, dies wüste Gemeng des Verschiedenartigsten
in eine V^orstellung zusammenzufassen, die sich dann als
Prädicat zu einem Subject hinzufügen ließe. Jeder Versuch,
dies undenkbare Nicht-P an einem S zu bejahen, schlägt
für das unbefangene Denken stets dahin um, das denkbare P
an demselben S zu verneinen, und anstatt zu sagen: der
Geist ist eine Nicht-Materie, sagen wir alle: der Geist ist
nicht Materie. Selbst in Fällen, wo wir im natürlichen
Denken ein limitatives Urtheil wirklich zu bilden scheinen,
wie z. B. wenn wir sagen, daß Aerzte Nicht-Combattanten
seien, bilden wir in Wahrheit doch nur ein negatives. Denn
dies Nicht-P hat hier nicht die Bedeutung, die ihm der
limitative Satz gäbe; Nicht-Combattanten würden für diesen
auch die Pferde die Wagen die Dreiecke und die Buch-
staben sein; gemeint aber sind doch nur die menschlichen
Personen, die zum Heere gehören, von denen aber die
Theilnahme am Kampfe negirt wird. Und so gibt es nirgends
für das natürliche Denken eine zwingende Veranlassung,
limitative Urtheile zu bilden; jede Folgerung, die aus dem
Satze: S ist ein Nicht-P, möglich wäre, bleibt auch möglich
aus dem andern: S ist nicht P. Es ist nicht der Mühe
werth, hierüber weitläufiger zu sein; offenbare Grillen
müssen in der Wissenschaft nicht einmal durch zu sorg-
fältige Bekämpfung fortgepflanzt werden.
41. Durch die Formen der Modalität soll der zwischen
S und P gedachten Beziehung ein verschiedener Werth
ihrer Geltung gegeben werden; als blos mögliche spreche
sie das problematische, als wirkliche das asser-
torische Urtheil aus, als nothwendige das apodiktische.
Aber man behandelt diese neuen Eigenschaften ganz un-
abhängig von der Art, in welcher die Urtheile bereits nach
jedem der drei andern Gesichtspunkte bestimmt sind. Nach-
dem schon feststeht, ob ein gegebenes Urtheil U seine Be-
standtheile in kategorischer in hypothetischer oder in dis-
junctiver Form verbindet, nachdem schon entschieden ist,
ob es die in einer dieser Formen gedachte Beziehung
bejaht oder verneint, nachdem endlich durch die quan-
titative Bezeichnung auch der Umfang des Subjects begrenzt
ist, für den das ausgesprochene Prädicat gelten soll: nach
alledem hält man es noch für eine offene Frage, ob das
so zusammengesetzte Urtheil problematisch assertorisch
oder apodiktisch sein wird. In dieser Behandlung der Sache
Die Lehre vom Urtheil. 63
liegt ganz offen das Zugeständniß, daß die Möglichkeit
Wirklichkeit oder Nothwendigkeit, von denen hier die Rede
ist, mit dem logischen Gefüge des Urtheils in gar keinem
Zusammenhange stehen. Alle diese Urtheile, die man in
den Formeln: S kann P sein, S ist P, S muß P sein, aus-
zudrücken pflegt, sind in Bezug auf die Geltung, die sie
ihrem Inhalt aus logischen Mitteln geben, einander voll-
kommen gleichartig; sie sind sämmtlich bloße Behauptungen
des Urtheilenden und unterscheiden sich nur nach dem
Inhalt, den sie behaupten. Diesen Inhalt, hier MögUchkeit
dort Wirklichkeit oder Nothwendigkeit einer Beziehung
zwischen S und P, sprechen sie entweder ohne allen Grund
oder aus Gründen einer sachlich richtigen Ueberlegung
aus, welche sie in ihrem logischen Baue auf keine Weise
mehr zum Vorschein kommen lassen; eben deswegen be-
dürfen sie jener hinzugefügten Hülfszeitwörter, um neben-
bei das auszudrücken, was in der Gliederung des Urtheils
selbst nicht liegt. In dem weiteren Zusammenhang unserer
Gedanken haben natürlich auch solche Urtheile ihren Werth ;
denn häufig kommt es eben darauf an, Ergebnisse früheres
Nachdenkens, ohne beständig ihre Begründung mit zu
wiederholen, in die Gestalt einfacher Behauptungen zu-
sammenzuziehen; hier sind jene Hülfszeitwörter am Platz,
welche die einst logisch begründete Möglichkeit Wirklich-
keit und Nothwendigkeit als einen jetzt bekannten Urtheils-
inhalt bezeichnen. Aber für die Unterscheidung wesent-
licher Urtheilsformen und für ihre systematische Anordnung
könnte nur eine solche Modalität von Werth sein, welche
nicht fremd neben dem übrigen logischen Gefüge der Urtheile
herginge, sondern eben aus ihm selbst entspränge und den-
jenigen Anspruch auf blos mögliche oder auf nothwendige
oder wirkliche Geltung ausdrückte, welcher dem Urtheilsinhalte
aus der ^rt der Verbindung seiner Bestandtheile erwächst.
42. Es wäre nutzlos, eine solche Modalität zu ver-
langen, wenn man nicht die Erfüllbarkeit des Verlangens
zeigen könnte. Deshalb greife ich Späterem etwas vor.
Der Satz : alle Menschen müssen sterben, gilt gewöhnlich
für apodiktisch; für mich ist er nur assertorisch; denn er
behauptet nur, aber er begründet nicht die Nothwendigkeit,
von der er spricht; sogar dies läßt seine formelle Fassung
unentschieden, ob alle Menschen aus demselben Grunde
sterben oder jeder um eines besonderen Umstandes willen,
so daß nur thatsächlich alle diese verschiedenen Zufälle
sich dafür vereinigen, keinen am Leben zu lassen. Gemeint
64 Zweites Kapitel.
aber hatten wir mit diesem Satze doch dies, daß nicht alle
blos thatsächlich sterben, sondern daß die Ausdehnung
der Sterblichkeit auf alle ihren Grund in dem Allgemein-
begriffe des Menschen, in der Natur der Menschlichkeit
habe; und diesen Gedanken drücken wir in der That durch
die generelle Form des Urtheils aus: der Mensch stirbt;
denn der Sinn dieses Urtheils, auf dessen Unterscheidung
von dem gewöhnlichen allgemeinen ich zurückkommen
werde, ist natürlich nicht, daß der Allgemeinbegriff Mensch,
wohl aber, daß Alles stirbt, was unter ihm befaßt ist und
deswegen weil es unter ihm befaßt ist. Jedes hypothetische
Urtheil ferner begründet durch seinen Vordersatz den Inhalt
des Nachsatzes und ist deshalb in unserem Sinne eine
apodiktische Urtheilsf orm ; der Nachsatz wird hier nicht
schlechthin, sondern unter der Bedingung der Gültigkeit
des Vordersatzes behauptet, aber diese Gültigkeit voraus-
gesetzt ist dann der Inhalt des Nachsatzes nicht mehr
eine ThatSache blos, sondern eine Nothwendigkeit, mit dem-
selben Rechte, mit dem eben jede Folge aus ihrer Be-
dingung nothwendig entspringt. Aehnliches, nur zu weit-
läufig für diese Vorbemerkungen, würde sich über das
disjunctive Urtheil sagen lassen, und wir würden so in den
drei Formen der Relation zugleich drei verschiedene For-
men apodiktischer Modalität gefunden haben.
43. Ich scheue mich fast, ein gar zu grobes Mißver-
ständniß noch ausdrücklich abzuwehren. Die sachliche
Richtigkeit eines Urtheils kann ja nie durch die logische
Form verbürgt werden, in die wir seinen Inhalt bringen;
sie hängt allezeit davon ab, daß die eignen Beziehungen
zwischen den Bestandtheilen dieses Inhalts selbst schon
in Wahrheit solche sind, wie sie die Urtheilsform voraus-
setzt, wenn sie ihnen eine Geltung von bestimmtem Werth
zutheilen soll. Dies gilt von der gewöhnlichen Modalität
nicht minder als von der, die wir an ihre Stelle setzen
möchten. In der gewöhnlichen Form des apodiktischen
Urtheils: S muß P sein, läßt sich jeder Widersinn aus-
sprechen, ohne dadurch Sinn zu werden; ebenso steht
es uns frei, unsere formell apodiktischen Urtheile zu den
Aussagen zu mißbrauchen : der Mensch sei allmächtig ; wenn
es regne, werde alles trocken; jedes Dreieck sei entweder
krumm oder süß oder jähzornig. Auch diese letzteren
Urtheilsformen machen also nicht jede Begriffsverbindung
wahr oder nothwendig, die man in sie hineinbringt; ihre
Bedeutung besteht nur darin, zu zeigen, unter welchen
Die Lehre vom Urtheil. 65
forinaleii Bedingungen wir dann, wenn ein bestimmter
Inhalt ihnen durch sich selbst genügt, diesem Inhalt apodik-
tische Geltung zuschreiben dürfen. Hierin aber unter-
scheidet sich unsere Auffassung der Modalität zu ihrem
Vortheil von der gewöhnlichen. Diese letztere sagt uns
nur: es gebe apodiktische Erkenntnisse, und wenn man
sie habe, könne man sie in der Form: S muß P sein,
ausdrücken; wie aber eine Erkenntniß aussehen und inner-
lich gefügt sein müsse, um apodiktisch zu sein und diesen
Ausdruck zu rechtfertigen, sagt sie uns nicht; wir erfahren
es dagegen auf unserem Wege. Wir finden: es gibt drei
Formen der Beziehungen zwischen S und P, die, wo sie
stattfinden, zu nothwendigen Erkenntnissen führen; in eine
dieser Formen versucht eure Vorstellungen zu bringen:
entweder bildet generelle Urtheile und sucht das P auf,
welches in einem Gattungsbegriffe S an sich schon mit-
gedacht wird; dies P kommt dann nothwendig jeder Art
des S zu; oder bildet hypothetische Urtheile und zeigt,
daß aus dem Hinzukojnmen einer Bedingung X zu S für
dies S ein P entspringt, das ohne diese Bedingung nicht
vorhanden sein würde; dies P gilt dann nothwendig von
jedem S, auf welches dieselbe Bedingung in derselben
Weise einwirkt; oder endlich bildet disjunctive Urtheile;
sobald ihr eine Frage auf ein scharfes Entweder-Oder zurück-
gebracht habt, seid ihr eurer Sache auch gewiß und es
bedarf dann nur noch einer Erfahrung, um in jedem Einzel-
falle zu bestimmen, welches von zwei Prädicaten, P oder Q,
und zwar dann mit Nothwendigkeit, statthaben werde.
Andere Wege aber, zu nothwendigen Erkenntnissen zu ge-
langen, gibt es nicht, und jedes Urtheil, welches ihr in der
Fonn: S muß P sein, aussprechen mögt, ist nur noch eine
Behauptung, deren Inhalt, wenn er triftig ist, allemal auf
einem jener drei Wege ursprünglich erkannt worden ist.
44. Ich sprach bisher von den apodiktischen Urtheilen;
die Zweideutigkeit der gewöhnlichen Modalitätslehre ist
noch auffallender an den problematischen. Dem Satze :
alle Körper können durch angemessene Kräfte in Bewegung
gesetzt werden, kann man mit ungefähr gleich gutem Rechte
jede der drei Modalitäten zuschreiben. Zuerst, als Be-
hauptung, die den Grund ihres Behauptens nicht beifügt,
ist er assertorisch; aber, was er behauptet, ist doch nicht
ein wirkliches Ereigniß, sondern die Möglichkeit eines un-
wirklichen oder nur in Gedanken gefaßten, und dies reicht
nach gewöhnlichem Herkommen hin, ihn problematisch zu
Loize, Logik. 5
06 Zweites Kapitel.
jieiiiien; apodiktisch endlich kann er heißen, weil er allen
Körpern eine Eigenschaft zuschreibt, die mithin keinem
fehlen kann und deshalb für jeden noth wendig ist; in der
That, dieses Urtheil enthält die Wirklichkeit der Nothwendig-
keit einer Möglichkeit. Nach welcher Rücksicht soll man
nun den Namen wählen ? Ich würde mich dafür entscheiden,
hier ein assertorisches Urtheil zu sehen, die noth wendige
Möglichkeit aber zu dem asserirten Inhalt zu rechnen.
Da jedoch dieselbe Betrachtung sich auf alle problematischen
Urtheile der gewöhnlichen Form ausdehnen läßt, so ent-
steht die Frage, ob es denn überhaupt eine Urtheilsform
gebe, die an sich problematische zu heißen verdiene? Man
hat Fragesatz und Bitte angeführt; beide behaupten in der
That nichts; sie scheinen die Verbindung von S und P,
die ihren Inhalt bildet, durchaus nur als mögliche vor
dem Bewußtsein schweben zu lassen. Ich zweifle gleichwohl,
ob sie überhaupt als eigene logische Urtheilsformen gelten
können. Denn am Ende muß doch die Frage sich wieder
von der Bitte unterscheiden, und das kann sie nur da-
durch, daß das Bewußtsein des Fragenden sich anders
zum Inhalt seiner Frage verhält, als das des Bittenden zu
dem seiner Bitte. Bedeutet nun die Frage: ich weiß nicht,
ob S ein P sei, und die Bitte: ich wünsche, daß S ein P
sei, so würde die Behauptung freilich sehr pedantisch sein,
der Redende selber müsse sich in jedem Falle seine
Aeußerung in diese zweigliedrige Form zerlegen; allein
in dem Gesammtzustand seines Inneren müssen sich doch
in diesen beiden Fällen zwei verschiedene, sagen wir Zu-
stände Stimmungen oder Dispositionen finden, welche,
wenn man sie ausdrücken wollte, sich eben nur so aus-
drücken lassen würden. Dann aber ist sogleich klar, daß
beide Urtheile einen assertorischen Hauptsatz enthalten,
der nichts vom Inhalt sagt, sondern nur die Stellung des
Redenden zu diesem Inhalt seiner Rede bezeichnet; der andere
abhängige Satz, durch die Conjunctionen Ob und Daß ein-
geführt, enthält den ganzen Inhalt ohne irgend eine Aussage
über Art und Werth seiner Geltung. Eben deshalb halte
ich auch diesen abhängigen Satz nicht für ein proble-
matisches Urtheil; denn dazu reicht nicht der Mangel
einer Angabe über die Art der Geltung hin, vielmehr müßte
diese ausdrücklich auf bloße Möglichkeit beschränkt werden.
Von der Bitte ließe sich dies noch sagen, daß sie die Mög-
lichkeit des Erbetenen und nichts als diese einschließt;
die Frage, da sie ja eben nach der Möglichkeit selbst
Die Lehre vom Urtheil. 67
fragen kann, thut auch das nicht immer; in beiden würde
auüerdem die Voraussetzung der Möglichkeit einer zwischen
S und P gedachten Verbindung nur als ein dem Redenden
zuzutrauender Gemüthszustand angerechnet werden können,
in der logischen Form des Urtheils läge sie nicht. Ich
halte vielmehr diesen abhängigen Satz für eine modalitäts-
lose Bezeichnung eines bloßen Urtheilsinhaltes, und eben
weil kein vollständiges Urtheil aussprechbar ist, ohne ent-
weder Möglichkeit oder Wirklichkeit oder Nothwendigkeit
seiner Geltung zu beanspruchen, so kommen diese moda-
litätslosen Sätze nie selbständig, sondern immer von einem
andern selbständigen regiert vor, welcher von ihrem Inhalt
eine dieser Modalitäten asserirt.
45. Problematisch könnten im Sinne unserer Ansicht
nur die Urtheile heißen, welche durch ihre logische Form
eine zwischen S und P gedachte Beziehung als mögliche
und blos als mögliche charakterisiren. Dies thun alle nach
ihrer Quantität particularen und singularen Urtheile. Sätze
von der Form: einige S sind P; einige S können oder
müssen P sein; dieses S ist P oder kann oder muß P sein,
sagen unmittelbar nur von bestimmten Fällen des S das
thatsächliche mögliche oder nothwendige Vorkommen des
Prädicates P aus, und lassen zweifelhaft, wie in dieser
Beziehung die nicht erwähnten andern Fälle des S sich
verhalten; für S an sich ist daher nur die Möglichkeit
jedes von jenen drei Verhältnissen zu P ausgesprochen
und diese particularen Sätze sind gleichbedeutend mit den
assertorischen: S kann P sein können; S kann P sein;
S kann P sein müssen. Deshalb nenne ich die particularen
Sätze problematisch in Bezug auf das allgemeine S; daß
sie zugleich offenbar assertorisch sind in Bezug auf die
einigen S, von denen jeder spricht, streitet gar nicht gegen
meine Auffassung; dieser Umstand macht nur darauf auf-
merksam, daß die bloße Möglichkeit einer Beziehung
zwischen S und P sich in der That auf keinem andern
Wege erkennen läßt, als durch die Beobachtung, daß diese
Beziehung von einigen S wirklich gilt, gelten kann oder
muß, von anderen nicht gilt, nicht gelten kann oder muß.
Es gibt daher allerdings gar keine selbständigen problema-
tischen Urtheile, die nicht in Bezug auf einen Theil ihres
allgemein ausgedrückten Subjectsbegriffes insofern asser-
torisch wären, daß sie von diesem die Möglichkeit Wirk-
lichkeit oder Nothwendigkeit eines Prädicates behaupteten.
68 Zweites Kapitel.
46. Man bemerkt endlich leicht, daß das Kann und
Muß der gewöhnlichen problematischen und apodiktischen
Urtheile und das Ist der assertorischen einerseits zur Be-
zeichnung aller sachlich wichtigen Unterschiede der Geltung
des Urtheilsinhaltes gar nicht ausreichen, anderseits, und
eben deshalb, sehr verschiedene Verhältnisse unter den-
selben Ausdruck zusammenwerfen. Zuerst : welche Modalität
haben Sätze wie diese: S wird P sein; S soll P sein;
S darf P sein; S ist P gewesen? Wirklichkeiten behaupten
sie alle nicht; aber die Unwirkhchkeit des Vergangenen
im letzten ist doch ganz etwas anderes als die des Er-
laubten Befohlenen oder Zukünftigen in den ersteren; mög-
lich ist dies Unwirkliche im dritten, zweifelhaft seine Mög-
lichkeit im zweiten, unvermeidlich seine Wirklichkeit im
ersten, unwiderruflich, aber zugleich unwirklich im letzten.
Hätte man alle diese Schattirungen berücksichtigt, so würde
man die Modalitätsformen noch um viele Glieder haben
vermehren können. Anderseits wie ganz Verschiedenes be-
deuten die gleichgeformten Sätze : es kann . heute regnen ;
der Papagei kann reden; jedes Viereck kann in Dreiecke
getheilt werden! Dort eine Annahme, die möglich ist, weil
man keinen Gegengrund weiß; dann eine Fähigkeit, die
da ist aus Gründen, welche nicht dazusein brauchten; zu-
letzt ein nothwendiges Ergebniß einer Operation, die man
beliebig anstellen oder unterlassen kann. Ich vermeide,
diese Beispiele zu häufen, die sich ins Unbestimmte ver-
mehren ließen; sie alle zergliedern wollen wäre eine ebenso
thörichte Aufgabe, als die eines mathematischen Lehrbuchs,
das alle möglicherweis vorkommenden Exempel im Voraus
auszurechnen unternähme. Im Gebrauch des Denkens fließen
freilich unsere Folgerungen eben aus diesen verschiedenen
sachlichen Bedeutungen der erwähnten Bezeichnungen; aber
es bleibt nichts anderes übrig, als eben in jedem Einzelfalle
zuzusehen, was man vor sich hat, ob eine versuchsweis
annehmbare Möglichkeit wegen Mangels des Beweises der
Unmöglichkeit, ob eine wohlbegründete auf ihren Bedin-
gungen sicher ruhende Fähigkeit, ob eine Nothwendigkeit
wegen Vorhandenseins zwingender Gründe, oder ob eine
solche des Gebotes des Zweckes der Pflicht, ob endlich eine
jener Combinationen von Möglichkeit Wirklichkeit und Noth-
wendigkeit, von denen wir oben ein Beispiel berührten.
Die Lehre vom Urtheil, 69
Die Keihe der Urtheilsformen.
A. Das Impersonale Urtheil. Das kategorische Urtheil.
Der Satz der Identität.
47. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß in der Reihe
der Urtheilsformen das kategorische dem hypothetischen
und dem disjunctiven vorangeht. Das Auftreten eines Prä-
dicates P an einem Subject S von einer vorauserfüllten
Bedingung abhängig zu machen, kann Veranlassung ^ur
durch frühere Erfahrungen gegeben sein, die an einigen S
dies P fanden, an andern nicht; Erfahrungen, die zuletzt
immer in der Form des kategorischen Urtheils: S ist P,
ihren Ausdruck gefunden haben müssen. Ebensowenig kann
daran gedacht werden, dem S die nothwendige Wahl
zwischen verschiedenen Prädicaten vorzuschreiben, ehe
frühere Erfahrungen die immer vorkommende Beziehung
des S zu einem allgemeineren Prädicate festgestellt haben,
dessen Arten jene zur Wahl gestellten sind; auch diese
Erfahrungen würden ihren natürlichen Ausdruck in einem
Urtheil der Form: S ist P, finden. Diese Abhängigkeit
verräth sich bleibend auch in dem Bau der hypothetischen
und der disjunctiven Urtheile; wie verwickelt auch im
einzelnen Falle ihre Gliederung sein mag, sie laufen doch
auf das allgemeine Schema zurück, zwei Urtheile der Form :
S ist P, entweder als Vordersatz und Nachsatz oder als
einander ausschließende Glieder zu einer Gesammtbehaup-
tung zu verknüpfen. Aber fraglich kann sein, ob nicht
eine noch einfachere Form dem kategorischen Urtheile selbst
in der systematischen Reihenfolge vorangehen müsse. Der
Satz: S ist P, kann nur ausgesprochen werden, wo der
Vors tellungs verlauf ein feststehendes und durch seinen
eignen Inhalt gekennzeichnetes S bereits kennen gelehrt
hat, zu welchem der Inhalt eines P als hinzukommendes
Prädicat gedacht werden kann. Dies wird nicht immer ge-
schehen sein; ja man kann fragen, ob nicht in jedem Falle
die Ermittelung des bestimmten S, welches einem kate-
gorischen Urtheile zum Subject dienen wird, die logische
Verwerthung von Erfahrungen voraussetzt, in denen S
in dieser fertigen Gestalt noch nicht vorkommt. Die Be-
antwortung dieser Frage, welche sich auf die psychologische
Entwicklung unseres Donkens bezöge, lasse ich dahin ge-
70 Zweites Kapitel.
stellt; es genügt hier die Thatsache, daß auch in unserem
ausgebildeten Denken sich eine Urtheilsform noch gar nicht
verloren hat, welche diese einfachste Aufgabe behandelt,
einen Inhalt der Wahrnehmung logisch zu fassen, ohne
ihn als Bestimmung oder Veränderung eines schon fest-
gestellten Subjectes anzusehen. Es ist das Impersonale
Urtheil, welches ich, als die erste Urtheilshandlung des
Denkens, hier zur Vorstufe des kategorischen mache.
48. Ich glaube nicht nöthig zu haben, die logische Be-
deutung des impersonalen Urtheils weitläufig gegen eine
Meinung zu vertheidigen, die in ihm nur den sprachlichen
Ausdruck des Wahrnehmungsinhaltes selbst, ohne alle
logische Arbeit, erblicken möchte. Der Naturlaut, mit dem
der Frierende sich gegen seinen frierenden Nachbar schüttelt,
ist ein solches bloßes Zeichen, das nur zur Verlautbarung
seines Zustandes dient; aber sobald er sein Unbehagen in
dem Satze ausspricht: es ist kalt, hat er unstreitig eine
Denkarbeit vollzogen. Indem er dem an sich ungeschiedenen
Inhalt seiner Wahrnehmung diese zweigliedrige Form eines
Prädicates gibt, das durch eine Copula auf ein Subject be-
zogen ist, drückt er aus, daß nur in solcher Gestalt dieser
Inhalt ihm als eine wahrgenommene Wirklichkeit denkbar
ist. Allerdings ist er nicht im Stande, dem Subject einen
für sich bestehenden Inhalt zu geben; nur die leere Stelle
desselben, und daß sie einer Ausfüllung bedürfe, deutet
er an, entweder durch das unbestimmte Pronomen oder
in andern Sprachen durch die dritte Person des Zeit-
wortes, die er statt seines Infinitivs braucht; allerdings
fällt der ganze angebbare Inhalt der Wahrnehmung, die er
ausspricht, in das Prädicat allein; allerdings endlich hat
die Copula, die er zwischen beide stellt, noch nicht den
Sinn einer bestimmten ausdrückbaren Beziehung; sie hält
nur formell als Subject und Prädicat auseinander, was
inhaltlich unaufhaltsam in einander übergeht und ver-
schmilzt. Aber eben durch diesen Versuch, eine Gliederung
herzustellen, der sich der vorgestellte Inhalt noch nicht
fügen will, drückt das impersonale Urtheil um so deutlicher
die Voraussetzung des Denkens aus. Alles, was Inhalt einer
Wahrnehmung sein wolle, sei nur als Prädicat an einem
bekannten oder unbekannten Subjecte zu denken.
49. Warum ich hier wiederholt von Wahrnehmung ge-
sprochen habe, erläutere ich jetzt. Die Unbestimmtheit
des Subjects hat man so gedeutet, daß es nur in sub-
Die Lehre vom Urtheil. 71
stantivischer Fassung dasselbe meine, was das Prädicat
verbal ausdrückt. Nun bezweifle ich nicht, daß Jemand,
darüber befragt, was er unter dem Es meine, von dem
er sagt, es blitze oder donnere, sehr leicht zu der Antwort
getrieben werden kann: eben das Blitzen blitze oder der
Donner donnere. Ich glaube jedoch, daß er dann aus Ver-
legenheit etwas anderes sagt, als er mit seinem impersonalen
Urtheile wirklich wollte. Ganz wesentlich scheint es mir,
daß der, welcher es ausspricht, in der That den bestimmten
Inhalt als haftend an einem unbestimmten Subject be-
trachtet, dessen Umfang viel größer ist und über den des
bestimmten Prädicates hinausreicht; wenn er dann ver-
schiedene Ausdrücke dieser Art aufeinanderfolgen läßt: es
blitzt, es regnet, es ist kalt, so sagt er zwar nicht ge-
flissentlich, daß das unbestimmte Pronomen in allen diesen
Sätzen dasselbe bedeute, aber gewiß würde er, wenn er
sich selbst richtig verstände, diese Antwort eher geben
als die vorige. Dieses Es ist in der That als das gemein-
same Subject gedacht; an welchem alle verschiedenen Er-
scheinungen als Prädicate hängen oder aus dem sie hervor-
gehen; es bezeichnet den allesumfassenden Gedanken der
Wirklichkeit, die bald so bald anders gestaltet ist. Dies
haben diejenigen richtig gefühlt, welche in dem impersonalen
Urtheile einen Existenzialsatz zu finden glaubten und
den Satz : es blitzt, in den andern umformten : das Blitzen
ist. Nur diese Umformung selbst halte ich für unnatürlich;
so drückt man sich eben niemals aus; unser unbefangenes
Denken sieht nicht den Inhalt der Erscheinung so an,
als wäre er vor seiner Existenz schon etwas, wovon man
sprechen und unter Anderem auch die Wirklichkeit aus-
sagen könnte; sondern umgekehrt sieht es den bestimmten
Inhalt der Wirklichkeit als eine Erscheinung ein Prädicat
eine Folge an, die neben anderen aus einem vorausgehenden
bleibenden wenn auch ganz unsagbaren Subjecte hervor-
geht. Aber darin hat doch dieser unzulässige Versuch Recht,
daß jedes echte impersonale Urtheil eine wirkliche jetzt
eben gemachte Wahrnehmung ausdrückt und mithin seiner
Form nach ein assertorisches Urtheil ist. Wir unter-
scheiden dabei von den echten Urtheilen dieser Art jene
anderen Ausdrucksweisen, die zwar mit dem unbestimmten
Es als Subject beginnen, aber sogleich durch einen er-
läuternden Satz seinen Inhalt feststellen, wie die Rede-
formen : es ist nützlich, daß die« oder jenes geschehe,
72 Zweites Kapitel.
50. Je bestimmter nun das Denken die Nothwendig-
keit des Subjects hervorhebt, an dem das Prädicat haften
soll, um so weniger kann es bei dem Ausdrucke dieser
unerfüllten Forderung bleiben. Es gehört nun, wie ich
schon bemerkte, nicht zu meiner logischen Aufgabe, zu
schildern, auf welchem Wege der Vergleichung und Be-
obachtung uns allmählich die Vorstellungen der gesuchten
Einzelsubjecte entstehen, welche in den verschiedenen
impersonalen Urtheilen das unbestimmte Es zu ersetzen
haben; nur die logische Form habe ich aufzuzeigen, in
welcher diese Forderung erfüllt ist. Es ist die des kate-
gorischen Urtheils von der bekannten Form: S ist P,
unter welche die meisten der einfachen Beispiele fallen,
deren die Logik sich gewöhnlich zur ersten Verdeutlichung
des Urtheils überhaupt bedient: das Gold ist schwer, der
Baum ist grün, der Tag ist windig. Zu lehren ist kaum
etwas über diese Form, deren Bau ganz durchsichtig und
einfach scheint; es ist nur zu zeigen, daß diese scheinbare
Klarheit völlig räthselhaft ist, und daß die Dunkelheit,
die über dem Sinne der Oopula in dem kategorischen
Urtheile schwebt, auf lange hinaus den weitertreibenden
Beweggrund zu den nächsten Umformungen der logischen
Arbeit bilden wird.
51. Man bemerkt sogleich eine gewisse Verlegenheit,
welche entsteht, wenn nach dem Sinne der Verbindung
zwischen S und P gefragt wird, durch den sich das kate-
gorische vom hypothetischen und vom disjunctiven Urtheil
unterscheide. Eine häufige Antwort ist: das kategorische
behaupte das Prädicat P von seinem Subjecte S schlecht-
hin; doch diese Antwort befriedigt nur durch den ver-
neinenden Theil ihres Sinnes, welcher von dem l^ategorischen
Satze den Gedanken einer Bedingung und den eines Gegen-
satzes einander ausschließender Prädicate negirt ; aber nach-
dem wir wissen, was diese Urtheilsform nicht thut, er-
halten wir über das, was sie thut, gar keine positive Auf-
klärung durch die Angabe, daß sie ihr P ihrem S schlechthin
zufüge. In der That erwähnt diese Angabe nur die größere
Einfachheit der kategorischen Copula im Vergleich mit der
des disjunctiven und des hypothetischen Urtheils; aber
immer muß doch diese einfachere Verknüpfung ihr S und P
in einem bestimmten angebbaren Sinne verknüpfen, durch
den sie sich von andern denkbaren theils verwickeiteren
theils gleich einfachen Verbindungsweisen derselben unter-
scheidet. Wie nöthig diese Forderung ist, erhellt am ein-
Die Lehre vom Urtheil. 73
fachsten daraus, daß unter allen Verbindungen von S und P
die vollkommene Identität beider diejenige sein würde,
die am allereinleuchtendsten den Namen einer schlecht-
hinigen verdienen würde. Aber gerade diese wird im kate-
gorischen Urtheil im Allgemeinen gar nicht gemeint; der
Satz : Gold sei schwer, will nicht sagen, daß Gold und
Schwere identisch seien; die Sätze: der Baum sei grün,
der Himmel blau, setzen ebensowenig den Baum der Grüne
und den Himmel der Bläue gleich. Im Gegentheil, was
man wirklich mit diesen Urtheilen meint, wird man eifrig
so ausdrücken: P sei nicht das S selbst, sondern nur ein
Prädicat von S, oder: S sei nicht P, sondern habe nur P.
Man gesteht damit ein, daß zwischen S und P hier ein be-
stimmtes von anderen unterscheidbares Zusammengehören
gedacht wird, und es bleibt nur übrig, auch wirklich klar
zu machen, worin jenes Haben besteht, das man dem Sein
gegenüberstellt, oder logischer ausgedrückt: worin das Ver-
hältniß eines Subjects zu seinem Prädicate zu suchen
sei, welches man von dem Verhältniß der Identität beider
unterschieden wissen will.
52. Piaton zuerst berührte diese Aufgabe ; seine Lehre,
die Dinge besitzen ihre Eigenschaften durch Theilnahme
an den ewigen Allgemeinbegriffen derselben, war mehr eine
unzureichende Beantwortung einer metaphysischen Frage
nach dem Baue des Wirklichen, als eine Auskunft über das,
was wir uns dabei denken, wenn wir logisch eine Be-
ziehung zwischen Subject und Prädicat aufstellen. Aristoteles
schaffte die Vorbedingung richtiger Behandlung durch die
Bemerkung herbei, daß die Merkmale vor allem von ihren
Subjecten ausgesagt werden; es stand nun wenigstens
fest, daß eine logische Thätigkeit des Denkenden es ist,
welche den Begriffsinhalt des einen dieser Glieder auf
den des anderen bezieht; aber mehr als diesen Namen des
Aussagens, des xaTi^yopeiv, von dem das kategorische
Urtheil und in lateinischer Uebersetzung das Prädicat den
seinigen herleitet, entdeckte auch Aristoteles nicht. Von
einer Verirrung späterer Logik blieb er allerdings frei :
er schwächte die Verknüpfung von S und P, die er meinte,
nicht aus einer logischen Thätigkeit zu einem blos
psychischen Ereigniß ab, so daß die Beziehung zwischen
beiden nur darin bestanden hätte, daß mit der Vorstellung
von S sich die des P in unserem Bewußtsein lediglich
associirte; ein sachliches Verhältniß zwischen beiden Vor-
stellungsinhalten war vielmehr für ihn der Sinn des Urtheils
74 ' Zweites Kapitel.
und der Grund es auszusprechen. Aber er gab nicht an,
was denn dem S eigentlich dadurch geschieht, daß wir P
von ihm aussagen; das Aussagen selbst, welches doch
diese sachliche Beziehung zwischen S und P nur anerkennen
und zum Ausdruck bringen kann, ließ er zugleich als Be-
zeichnung dieses Verhältnisses selbst gelten, welches den
Gegenstand seiner Anerkennung bilden müßte. Nun ist es
leicht, die völlige Unzulässigkeit dieser Vermischung ein-
zusehen: man kann nicht von dem Sokrates den Begriff
Sklave blos aussagen, so daß das Aussagen selbst das Ver-
hältniß feststellte, in welchem dieser Begriff zu dem des
Sokrates stände; was man mit einem Urtheile wirklich
meint, ist immer dies, daß Sokrates entweder Sklave ist
oder nicht ist, entweder Sklaven besitzt oder nicht besitzt,
sie entweder freiläßt oder nicht freiläßt. Eine dieser ver-
schiedenen Beziehungen, in welche die Inhalte beider Be-
griffe gebracht werden können, bildet in jedem Falle das-
jenige, was die Aussage aussagt, und es ist nur Sache des
Sprachgebrauchs, wenn man gewöhnlich nur die erste dieser
Beziehungen, nämlich daß Sokrates Sklave sei, still-
schweigend verstanden wissen will, wo man den zweiten
dieser Begriffe von dem ersten auszusagen behauptet. Das
Verhältniß mithin, welches in einem kategorischen Urtheil
zwischen S und P stattfindet, wird nicht in seinem Unter-
schiede von andern Verhältnissen dadurch bestimmt, daß
man angibt, P von S auszusagen, sondern die Bedeutung
dieses Aussagens, welche an sich vieldeutig ist, wird viel-
mehr durch den verschwiegenen Nebengedanken bestimmt,
P solle von S als Prädicat vom Subjecte ausgesagt
werden. Worin nun dieses eigenthümliche Verhältniß be-
stehe, bleibt nach wie vor Gegenstand weiterer Frage.
53. Wir Neueren sind gewöhnt, uns hierüber an die
Lehre Kant's zu halten, welcher das Verhältniß eines
Dinges zu seiner Eigenschaft oder der Substanz zu
ihrem Accidens als das Muster bezeichnete, nach welchem
das Denken in dem kategorischen Urtheile S und P ver-
knüpfe. Welchen triftigen Sinn nun immer diese Behaup-
tung in dem Gedankenzusammenhange Kant's haben möge,
so scheint sie mir doch für unsere logische Frage unver-
wendbar. Ohne die Bedenken darüber zu berühren, ob
denn dieses Verhältniß selbst zwischen Substanz und Eigen-
schaft ein so klarer und unmißverständlicher Gedanke sei,
daß durch ihn alle Dunkelheit des kategorischen Urtheils
verschwände, begnüge ich mich zn erinnern, daß logische
Die Lehre vom Urtlieil. 75
Urtheile nicht blos von Wirklichem, von Dingen sprechen;
viele von ihnen haben zu ihrem Subjecte einen nur denk-
baren Inhalt, ein Unwirkliches, selbst Unmögliches. Auf
das Verhältniß dieser Subjecte zu ihren Prädicaten kann
die Beziehung, welche zwischen dem wirklichen Dinge als
solchem und seinen Eigenschaften stattfindet, offenbar nicht
in ihrer vollen Bedeutung, sondern nur gleichnißweise, sagen
wir symbolisch, übertragen werden. Drücken wir uns ge-
nauer aus, so besteht zwischen den hier besprochenen Ver-
hältnissen nur die formelle Gemeinsamkeit, daß beide das
eine ihrer Beziehungsglieder, Ding oder Subject, als selb-
ständig fassen, das andere, Eigenschaft oder Prädicat, un-
selbständig diesem ersten anhaften oder inhäriren lassen.
In Bezug auf das Ding aber hat sich die Metaphysik
wenigstens darum bemüht, nachzuweisen, wie Eigenschaften
entstehen können, die nicht das Ding sind, aber doch an
ihm haften, und worin das besteht, was wir unter diesem
Anhaften verstehen; in Bezug auf das Verhältniß zwischen
Subject und Prädicat vermissen wir den gleichen Nachweis
des Sinnes, den hier die Inhärenz des einen an dem andern
hat. Die Berufung auf die Relation zwischen Ding und
Eigenschaft nützt daher der Logik nichts; es wiederholt
sich die Frage : wieviel bleibt von dieser metaphysischen
Relation als eine im kategorischen Urtheil aussprechbare
logische Beziehung zwischen S und P übrig, wenn an-
statt des Dinges etwas gesetzt wird, was nicht Ding, und
anstatt der Eigenschaft etwas, was nicht Eigenschaft ist?
54. Ohne diesen üblichen, aber untriftig befundenen
Versuchen zur Rechtfertigung des kategorischen Urtheils
neue hinzuzufügen, spreche ich die Folgerung aus, zu der
wir gedrängt werden : diese schlechthinige Verbindung zweier
Begriffsinhalte S und P, so daß der eine unmittelbar der
andere sei und doch auch wieder nicht sei, beide vielmehr
einander als verschieden gegenüber bleiben, ist eine im
Denken ganz unausführbare Beziehung ; durch diese Copula
des kategorischen Urtheils, das einfache Ist, lassen sich
überhaupt zwei verschiedene Inhalte nicht verknüpfen; sie
müssen entweder ganz ineinanderfallen oder ganz getrennt
bleiben, und das unmögliche Urtheil S ist P löst sich in
die drei anderen auf: S ist S, P ist P, S ist nicht P.
Man möge sich nicht zu sehr an das Auffallende dieser
Behauptung stoßen. Kategorische Urtheile von der Form :
S ist P, sind im Gebrauch unseres Denkens so gewöhnlich,
76 Zweites Kapitel.
daß ohne Zweifel das, was man mit ihnen meint, sich
schließlich rechtfertigen wird, und wir werden sehr bald
sehen, wie dies möglich ist. Aber dieser Rechtfertigung
bedarf das kategorische Urtheil auch in der That; in der
Form, in welcher es unmittelbar auftritt, ist es eine wider-
sprechende und sich wiederauflösende Figur des Ausdrucks,
in welcher das Denken entweder eine noch nicht gelöste
Aufgabe, die Beziehung zwischen S und P zu bestimmen,
als gelöst hinstellt, oder die gefundene Lösung so verkürzt
ausspricht, daß ihr Zusammenhang nicht mehr sichtbar
bleibt. Dem gegenüber drängt sich jetzt uns das Bewußtsein
einer Schranke auf, die unserem Denken allgemein gesetzt
ist, oder eines Gesetzes, dem es sich in allen seinen Ver-
fahrungsweisen fügen muß : die Ueberzeugung, daß in kate-
gorischer Urtheilsform jeder Inhalt nur als sich selbst gleich
gedacht werden darf. Durch die Formel A:=A drücken wir
dies erste Denkgesetz, den Grundsatz oder das Princip
der Identität bejahend aus; die verneinende Formel
A nicht = Non A bezeichnet es als Princip des Wider-
spruchs gegen jeden Versuch, A=:B zu setzen.
55. Ich unterbreche meine Darstellung hier noch nicht
durch später nachzuholende Bemerkungen über die ver-
schiedenen Deutungen, welche dies erste Denkgesetz er-
fahren hat, und beschränke mich auf die genaue Bestimmung
des Sinnes, den ich, im Gegensatz zu manchen dieser
Deutungen, ihm beilegen werde. Von einem höchsten Grund-
satz, welcher unser ganzes Denken einschränkt, versteht
es sich von selbst, daß er in der Anwendung des Denkens
auf verschiedene Gruppen seiner möglichen Gegens'tände
sich in eine Anzahl specieller Sätze verwandelt, welche den
allgemeinen Sinn des Princips in den besondern Formen
darstellen, in denen es auf die besonderen Eigenthümlich-
keiten jener Gegenstände anwendbar und für ihre Behand-
lung wichtig ist. Diese Folgerungen aus dem Princip der
Identität, die theils völlig theils gar nicht unzweifelhaft sind,
müssen von seinem eignen ursprünglichen Sinne unter-
schieden werden und haben ihre Heimat an dieser Stelle
der Logik nicht. So ist es ganz nutzlos, den Ausdruck des
Gesetzes bis zu der Formel anzuschwellen: jedem Dinge
könne in demselben Augenblicke und an demselben Theile
seines ganzen Wesens immer nur ein Prädicat A, aber
nicht zugleich ein von A conträr oder contradictorisch
verschiedenes Non A zukommen. Richtig freilich ist auch
Die Lehre vom Urtheil. 77
dieser Satz, aber er bleibt eine besondere Anwendung des
Princips auf Subjecte von dinghafter Wirklichkeit, die aus
Theilen zusammengesetzt und eines zeitlichen Wechsels
ihrer Zustände fähig sind. Unrichtig dagegen ist die schon
in diesem Ausdruck häufig vorausgesetzte, ebenso häufig
offen ausgesprochene Unterscheidung zwischen verträg-
lichen Prädicaten, die demselben Subject gleichzeitig
zukommen könnten, und anderen, die es nicht könnten,
weil sie unter einander und mit der Natur des Subjects
unverträglich wären. In den Anwendungen des Denkens
hat natürlich auch diese Behauptung ihre Gültigkeit, nach-
dem sie sich einmal vor dem Gesetze der Identität gerecht-
fertigt haben wird; unmittelbar aber weiß dies Gesetz gar
nichts von Prädicaten, welche, von S verschieden, dennoch
mit ihm so verträglich wären, daß sie mit ihm in einem
kategorischen Urtheile verbunden werden könnten; jedes
Prädicat P vielmehr, welches sich irgendwie von S unter-
scheidet, wie freundlich es auch sonst gegen S gedacht
würde, ist durchaus unverträglich mit S; jedes Urtheil
von der Form: S ist P, ist unmöglich und es bleibt im
allerstrengsten Sinne dabei, daß nur gesagt werden könne:
S sei S und P sei P. Und diese Deutung muß man auch
gegen andere metaphysische Folgerungen aus dem Princip
aufrecht erhalten. Es kann sein, daß im Verlauf meta-
physischer Untersuchung die Behauptungen nothwendig
werden: Widersprechendes könne nicht wirklich sein, das
Seiende müsse unveränderlich sein, und ähnliche; aber
das logische Identitätsgesetz sagt nur: Widersprechendes
sei widersprechend, Seiendes seiend, Veränderliches ver-
änderlich; alle jene Sätze, welche den einen dieser Be-
griffe zum Prädicat eines anderen machen, bedürfen ihrer
weiteren besonderen Begründung.
B. Das particulare Urtheil. Das hypothetische Urtheil.
Der Satz des zureichenden Grundes.
56. Es würde ermüden, länger auf einem Standpunkt
zu verweilen, auf dem doch unseres Bleibens nicht ist;
wir folgen dem Denken zu den neuen Formen, in denen
es seine kategorischen Urtheile mit dem Gesetz der Identität
in Einklang zu bringen sucht. Synthetisch nennt man
Urtheile von der Form: S ist P, wenn man unter P ein
78 Zweites Kapitel.
Merkmal versteht, welches in der Merkmalgruppe noch nicht
enthalten ist, durch welche man sich den Begriff von S
bestimmt denkt; analytisch heißen sie, wenn P, obgleich
nicht dem ganzen S identisch, doch wesentlich zu jenen
Merkmalen gehört, durch deren Vereinigung der Begriff
des S überhaupt erst vollständig wird. In den analytischen
Urtheilen tand man keine Schwierigkeit; die synthetischen
aber erregten früh die Aufmerksamkeit und smd für uns
besonders durch Kant's Behandlung in den Vordergrund
getreten. Auch ihm kam es jedoch hauptsächlich darauf an,
die Möglichkeit synthetischer ürtheile a priori zu ergründen,
d. h. solcher, welche zwischen S und einem zu dem Begriffe
von S nicht unentbehrlichen P eine dennoch bestehende
und nothwendige Verknüpfung behaupten, ohne sich auf
die Erfahrung eines wirklichen Vorkommens derselben be-
rufen zu müssen ; synthetische Ürtheile dagegen a posteriori,
welche nur erzählen, daß eine solche Verbindung zweier
für einander nicht nothwendiger Begriffsinhalte in der Er-
fahrung vorliege oder vorgelegen haDe, schienen ihm als
bloße AusdrücK:e von Thatsachen unverfänglich. Diese
Unterscheidungen mögen ihre gute Berechtigung innerhalb
des Kreises von Untersuchungen haben, in welchem Kant
sich bewegte; unsere logische Frage nach der Möglichkeit
kategorischer Ürtheile dagegen erstreckt sich auf alle drei
genannten Formen mit gleicher Dringlichkeit. Es ist nur
am meisten augenfällig, daß ein apriorisch-synthetisches
Urtheil sich vor dem Satz der Identität rechtfertigen muß,
dem es formell widerspricht; aber von dem aposteriorischen
gilt dasselbe. Denn ein Urlheil bildet nicht wie ein Spiegel
das Thatsächliche blos ab, sondern schiebt den ])eobachteten
Bestandtheilen desselben allemal den Gedanken einer inneren
Beziehung unter, die nicht mitbeobachtbar ist. Die Erfahrung
zeigt uns immer nur, daß S und P beisammen sind; daß
beide aber durch die innere Beziehung zusammengehören,
welche wir meinen, wenn wir im Urlheil P als Prädicat des
Subjectes S fassen, ist die Deutung, die lediglich unser
Denken jenem Zusammensein gibt. Wie nun dieses Ver-
hältniß zwischen Subject und Prädicat überhaupt, und wie
es zwischen zwei bestimmten Inhalten S und P stattfinden
könne, bleibt gerade so dunkel, wenn uns die Erfahrung
ihr Zusammensein thatsächlich gezeigt, als wenn wir der
Erfahrung vorgreifend es im Voraus behaupten. Die ana-
lytischen Ürtheile endlich erregen dasselbe Bedenken. Wenn
Die Lehre vom Urtheil. 79
noch so sehr das Gelb in dem Begriffe des Goldes schon
mit gedacht wird: das Urtheil, Gold sei gelb, behauptet
nicht blos dies: die Vorstellung des Gelb liege in der Vor-
stellung des Goldes, sondern dem Golde selbst schreibt es
die Gelbheit, als seine Eigenschaft, zu; zu ihr muß also
das Gold ein bestimmtes Verhältniß haben, welches nicht
das der Identität ist. Dies Verhältniß ist zu ermitteln und
es bleibt die Frage noch immer : mit welchem Recht können
wir einem S ein P, welches nicht S ist, in einem kate-
gorischen Urtheile als Prädicat beilegen?
57. Die Antwort kann nur die sein: wir können es mit
gar keinem Recht; die zahllosen kategorischen Urtheile der
Form. S ist P, die wir im täglichen Leben bilden, lassen
sich nur durch den Nachweis rechtfertigen, daß sie etwas
ganz anderes meinen, als sie ausdrücken, und daß sie,
wenn man hervorhebt, was sie meinen, in der That so
identische Urtheile sind, wie sie der Satz der Identität
verlangt. Die erste Form, in welcher sich dies im natür-
lichen Denken verräth, sind die quantitativ bezeichneten
Urtheile überhaupt, die ich künftig kurz die particularen
nennen und als die erste Form dieser zweiten Gruppe von
Urtheilsformen betrachten werde. Ich fasse unter diesem
Namen nicht blos die hergebrachten Formen zusammen,
welche, wie : alle S sind P, einige S sind P, dieses S ist P,
eine Anzahl von Beispielen des Allgemeinbegriffs S zu ihrem
Subjecte haben, sondern auch diejenigen, welche durch Zeit-
partikeln, wie: jetzt, oft, oder durch Raumbestimmungen,
wie: hier, dort, dann durch ein Präteritum oder Futurum
des Zeitworts, endlich durch Nebengedanken überhaupt, die
imv ollkommen oder gar nicht ausgesprochen werden, die
allgemeine Geltung der Verbindung zwischen S und P auf
bestimmte Fälle beschränken, also particularisiren. In der
allgemeinen Formel : S ist P des kategorischen Urtheils sieht
es so aus, als sei der allgemein ausgedrückte Begriff S das
Subject, das allgemeine P sein Prädicat, die beständige un-
veränderliche und uneingeschränkte Verknüpfung von S
und P der Sinn des ganzen Urtheils. Ergänzt man dagegen
ausdrücklich, was durch jene particularisirenden Neben-
gedanken angedeutet, jedenfalls aber gemeint ist, so findet
man, daß das wahre Subject nicht in dem allgemeinen S,
sondern in einem bestimmten Beispiele Tl desselben, das
wahre Prädicat nicht in dem allgemeinen P, sondern in
einer besonderen Modification Tl desselben, daß endlich
die behauptete Beziehung nicht zwischen S und P, sondern
80 Zweites Kapitel.
zwischen ^ und II besteht, und daß diese, wenn jene Er-
gänzungen richtifr gemacht sind, keine synthetische mehr,
ja nicht einmal eine analytische, sondern geradezu eine
identische ist. Dies verdeutlichen wir an einigen Beispielen.
58. Einige Menschen sind schwarz, sagen wir, und
meinen damit ein synthetisches Urtheil zu bilden, weil die
Schwärze P nicht im Begriff S des Menschen liege. Nun
ist aber nicht der Allgemeinbegriff Mensch das wahre Sub-
ject dieses Satzes, denn nicht er ist ja schwarz, sondern
einige Einzelmenschen sind dies Subject; unter diesen
einigen aber, obgleich sie nur als unbestimmter Theil des
ganzen Umfangs der Menschheit bezeichnet sind, ver-
stehen wir doch keineswegs einen so unbestimmt ge-
lassenen Theil; denn es ist gar nicht in unser Belieben ge-
stellt, welche einigen Menschen wir aus der ganzen Menge
der Menschen herausgreifen wollen; durch unsere Aus-
wahl, durch die sie zu „einigen" Menschen werden, werden
sie nicht schwarz, wenn sie es nicht ohnehin sind; man
muß also diejenigen wählen und meint von Anfang an
nur diejenigen, die schwarz sind, kurz die Neger; diese
allein sind das wahre Subject des Urtheils. Daß auch das
Prädicat nicht in seiner Allgemeinheit, daß vielmehr nur
diejenige bestimmte Schwärze gemeint wird, die an mensch-
lichen Körpern vorkommt, ist für sich klar, und ich ver-
folge diese Bemerkung später; hier erinnere ich nur, daß
blos der Mangel an Flexion im deutschen Ausdruck uns
über seinen eigentlichen Sinn täuscht; der lateinische: non-
nulli homines sunt nigri, beweist sogleich durch den Plural
und das Genus von nigri, daß homines zu ergänzen ist.
Der völlige Sinn des Urtheils ist also: einige Menschen,
unter denen jedoch nur die schwarzen Menschen zu ver-
stehen sind, sind schwarze Menschen; es ist dem Inhalt
nach völlig identisch und nur der Form nach dadurch syn-
thetisch, daß ein und dasselbe Subject von verschiedenen
Gesichtspunkten aus bezeichnet wird, einmal als schwarze
Menschen im Prädicat, ein andermal als Bruchtheil aller
Menschen im Subject. Wir sagen ferner: der Hund säuft.
Aber der allgemeine Hund säuft nicht; nur ein bestimmter
einzelner oder viele oder alle einzelnen sind Subject dieses
Satzes. Aber auch das Prädicat meinen wir anders, als
wir es ausdrücken: wir stellen den Hund nicht als Wider-
spiel eines stets laufenden Röhrenbrunnens vor: er säuft
nicht schlechthin, immer und unaufhörlich, sondern dann
Die Lehre vom Urtheil. 8i
und wann. Und dies Dann und Wann ist zwar als eine un-
bestimmte Anzahl von Augenblicken ausgedrückt, aber auch
nicht so gemeint; der Hund säuft nur in bestimmten Augen-
blicken: wenn er Durst hat oder mindestens Appetit, wenn
er etwas Trinkbares findet, wenn Niemand ihn dann durch
Drohung abhält ; kurz : der Hund, den wir mit jenem Urtheil
meinen, ist wirklich nur der saufende Hund, und derselbe
saufende Hund ist auch das Prädicat. Ferner: Cäsar ging
über den Rubico; aber nicht der Cäsar, der in den Windeln
lag, sondern der, welcher aus Gallien kam; nicht der
schlafende sondern der wachende, im Bewußtsein der eben
vorhandenen Weltlage; nicht der unentschlossene sondern
der, der seinen Entschluß gefaßt hatte, kurz: der Cäsar,
den das Subject des Urtheils meint, ist nur derjenige, den
das Prädicat bestimmt: der über den Rubico gehende; in
allen frühern Augenblicken seines Lebens war er nicht das
Subject, an welches dieses Prädicat sich hätte knüpfen
können. Auch leuchtet schwacher Fassungskraft ein, daß
Cäsar, als er über den Fluß gegangen war, nicht fortfahren
konnte, hinüber zu gehen, sondern drüben war; auch in
keinem späteren Augenblicke gedacht kann er also das
Subject sein, welches wir meinten. Ich führe noch zwei
Beispiele an, die durch Kant berühmt geworden sind. Syn-
thetisch, sagt man, sei der Satz : die gerade Linie ist der
kürzeste Weg zwischen zwei Punkten, denn wieder in dem
Begriffe des Geraden noch in dem der Linie liege irgend
eine Hindeutung auf Längenmaß. Aber der wirkliche geo-
metrische Satz sagt ja nicht von einer geraden Linie über-
haupt, daß sie dieser kürzeste Weg sei, sondern nur von
derjenigen, welche zwischen jene beiden Punkte einge-
schlossen ist. Darin aber, daß ihre Ausdehnung durch zwei
Endpunkte begrenzt ist, und mit dieser Nebenbestimmung
erst bildet sie das wahre Subject, darin liegt allerdings jede
in diesem Fall wünschenswerthe Begründung des Prädicates.
Man überzeugt sich leicht, daß der Begriff einer Geraden a b
zwischen den Punkten a und b mit dem Begriff der Ent-
fernung beider Punkte von einander völlig identisch ist;
denn es ist unmöglich, von dem, was wir mit dem Namen
räumlicher Entfernung eigentlich sagen w^ollen, eine andere
Vorstellung zu geben als die, daß sie die Länge der ge-
raden Linie zwischen a und b sei. Es gibt daher nicht
kürzere und längere Entfernungen zwischen a und b, sondern
nur die eine ab, die immer sich gleich ist. Von kürzeren
und längeren Wegen dagegen läßt sich zwischen a und b
Lotze, Logik. 6
S'2 Zweites Kapitol,
«preclieii ; der Begriff des Weges bedeutet nur irgend eine
Art des Fortschreitens, die von a nach b führt ; da hierdurch
die Ueberwindung der Differesz gefordert ist, welche b
von a trennt, so kann es keinen von a zu b führenden Weg
geben, der einen Theil dieser Differenz unüberwunden ließe;
daß mithin der kürzeste aller möglichen Wege die Ent-
fernung, mithin die Gerade zwischen den gegebenen Punkten
sei, ist ein völlig, dem Inhalt nach, identisches Urtheil,
das nur denselben Gedankeninhalt von verschiedenen Stand-
punkten betrachtet. Auch der arithmetische Satz : 1 -\-b = 12
kann nicht deswegen synthetisch sein, weil 12 weder in 7
noch in 5 enthalten sei; das vollständige Subject besteht
in keiner einzelnen dieser Größen, sondern in ihrer durch
das Summenzeichen verlangten Verbindung; in dieser aber
muß, sobald die Gleichung richtig sein soll, der Inhalt des
Prädicats vollständig liegen: sie würde falsch sein, wenn
zu der linken Seite 7-|-5 noch irgend ein x hinzutreten
müßte, um die rechte Seite 12 zu erzeugen. Auch hier
liegt daher ein dem Inhalte nach völlig identischer Satz
vor, der nur seiner Form nach synthetisch wird, indem
er dieselbe 12 einmal als Summe zweier andern Größen,
das andere Mal als ein durch seine Ordnungszahl bestimmtes
Glied der einfachen Zahlenreihe darstellt. Und nun füge
ich noch hinzu, daß nicht Alles sich schicklich auf einmal
sagen läßt; was es eigentlich damit auf sich habe und wie
es möglich sei, daß das Denken den gleichen Inhalt unter
verschiedenen Formen vorstellt, dies zu erwägen findet sich
sehr bald Gelegenheit; eine spätere wird dann noch zeigen,
daß meine letzten Bemerkungen nicht die Absicht hatten,
Kant eines so leicht aufzufindenden logischen Versehens
zu beschuldigen.
59. Unser Ergebniß wäre jetzt dies : die kategorischen
Urtheile von der Form : S ist P, sind im Gebrauch zulässig,
weil sie immer als particulare in dem Sinne unserer Be-
zeichnung gedacht werden, als solche aber schließlich iden-
tische sind. Mit dieser Entscheidung wird sich jedoch
Niemand befriedigt fühlen; man wird mit Recht einwenden,
daß durch sie der wesentliche Charakter eines Urtheils, ein
Verhältniß der Zusammengehörigkeit zwischen den Inhalten
zweier Vorstellungen S und P auszusprechen, überhaupt
wieder aufgehoben wird. In der That, wenn wir durch
die angeführten Ergänzungen unsere Beispiele identisch
machen, ihren ganzen Inhalt mithin schon in ihrem Sub-
Die Lehre vom Ürtheil. 83
jecte ziisanimeiidrängeu, so daß A den schwarzen Menschen,
b den saufenden Hund, G den über den Rubico gehenden
Cäsar bedeutet, so schmilzt die ganze Aussage dieser Ur-
theiie, außer der unfruchtbaren Wahrheit, daß A = A,
B == B, C = C, dahin zusammen, A gebe es in der Wirk-
lichkeit beständig, B zuweilen, C sei einmal in der Ge-
schichte vorgekommen. Mit andern Worten: diese Urtheile
behaupten gar kein wechselseitiges Verhältniß
zwischen den einzelnen Bestandtheilen ihres Inhalts mehr,
sondern nur noch von dem zusammengefaßten Ganzen
dieses Inhalts eine mehr oder minder ausgedehnte Geltung
in der Wirklichkeit; ein offenbarer Rückfall auf den un-
vollkommenen Standpunkt des impersonalen Urtheils. Dieser
Mangel wird noch empfindlicher durch folgende Ueberlegung.
Ich habe zwar eben noch B als Begriff des saufenden Hundes
bezeichnet, aber eigentlich nicht mit Recht; denn dieser
Ausdruck, welcher das Saufen participial zu dem Subject
Hund hinzufügt, ist ja selbst begreiflich und zulässig nur
unter der Voraussetzung, daß wirklich in einem kategori-
schen Urtheile dem Begriff S des Hundes ein in ihm nicht
enthaltenes Merkmal P des Saufens, und zwar in dem
Sinne zugeschrieben werden könne, daß P wie die Eigen-
schaft oder der Zustand an S als Subject oder Träger hafte.
Diese Möglichkeit aber hat unsere vorige Erörterung eben
aufgehoben; es bleibt uns blos die Befugniß, dieses B
lediglich als zusammenseiende Summe seiner Merkmale
abcd zu fassen und zu sagen: diesem nach dem Satz der
Identität stets sich selbst gleichen abcd komme eine be-
stimmte Wirklichkeit zu ; einem anderen Aggregat von Merk-
malen abce komme solche Wirklichkeit ein anderes Mal
zu. Dagegen haben wir gar kein Recht, etwa die gemein-
same Gruppe abc als etwas anzusehen, das innerlich zu-
sammengehörte und zwar in sich mehr zusammengehörte,
als mit den wechselnden Bestandtheilen d und e, noch
weniger als ein solches Etwas, das in der Weise eines
Subjectes diesen wechselnden Elementen als Merkmalen
einen Träger darböte. Sprachlich würden wir freilich fort-
fahren, dieses abc als Hund, acbd als fressenden, abce viel-
leicht als saufenden Hund zu bezeichnen; aber diese Aus-
drucksweisen würden dann ohne logische Begründung sein;
alle unsere Urtheile würden nur einfache oder zusammen-
gesetzte Wahrnehmungen ausdrücken können, und zwischen
diesen einzelnen Wahrnehmungen, ja selbst zwischen den
einzelnen Bestandtheilen jeder zusammengesetzten würde
6*
84 Zweites Kapitel.
gfir keine aiigebbare Verknüpfung bestehen, durch welclie
ihr bloßes Zusammensein sich auf ein Zusammengehören
zurückführen ließe.
60. Gegen dieses vollständige Scheitern seiner logischen
Absicht wehrt sich das Denken durch eine weitere andere
Umformung des particularen Urtheils, die man zunächst
als einfache Leugnung dieses Zerfalls unseres Vorstellungs-
stoffes in lauter nur thatsächlich zusammenseiende Einzel-
heiten auffassen kann. Die Ergänzungen, welche wir dem
ausgesprochenen Subject S des kategorischen Urtheils hin-
zufügten, waren für uns das Hülfsmittel, durch welches sich
dieses Urtheil vor dem Satze der Identität rechtfertigte;
sie werden jetzt auch als der sachlich gültige Grund an-
erkannt, welcher jenes S befähigt, ein Prädicat P anzu-
nehmen, das ihm, so lange es allein vorhanden wäre, nicht
zukommen würde. Die Nebenumstände, durch welche jenes
ausgesprochene S erst zu dem wahren Subject 2 des nun
identischen Urtheils wurde, erscheinen jetzt als die Be-
dingungen, durch deren Einwirken oder Hinzutreten der
Inhalt jenes ausgesprochenen Subjectes S so beeinflußt
wird, daß ein früher ihm fremdes P jetzt ihm angemessen
ist und ihm nun in Uebereinstimmung mit dem Satze der
Identität zugehört. Das hypothetische Urtheil ist es
also, was als zweites Glied dieser zweiten Gruppe von
Urtheilsformen auftritt, zusammengesetzt aus einem Vorder-
satz und einem Nachsatz, die in dem einfachsten typischen
Falle dasselbe Subject S, aber verschiedene Prädicate haben,
im Vordersatz ein Q, welches die zu S hinzutretende Be-
dingung, im Nachsatz ein P, welches das durch diese Be-
dingung an dem S erzeugte Folgemerkmal bezeichnet. Alle
hypothetischen Urtheile mit verschiedenen Subjecten ihrer
beiden Glieder sind sprachliche Verkürzungen des Aus-
drucks und führen durch leicht zu ergänzende Mittelglieder
auf diese Urform zurück : wenn S ein Q ist, so ist S ein P.
Der Wunsch ferner, zugleich die wirkliche Gültigkeit des
an sich nur problematischen Vordersatzes mit auszudrücken,
erzeugt die Form: weil S ein Q ist, so ist S ein P; die
Behauptung endlich, Q sei nicht der Grund für S, ein P
zu sein, bringt die letzte Form hervor, deren Erwähnung
zu thun ist: obgleich S ein Q ist, so ist S dennoch
nicht P. Beide haben logisch nichts Eigenthümliches.
61. Zur Charakteristik der äußeren Formen des hypo-
thetischen Urtheils reicht diese kurze Uebersicht völlig
aus. Aber ein aufmerksamer Leser muß an dieser Stelle
Die Lehre vom Urtheil. 85
nach dem Rechte fragen, mit welchem wir die ergänzenden
Nebenbestimmungen, durch deren Hinzufügung das wahre
Subject T, des dann identischen Urtheils erst entstand, in
Bedingungen umdeuteten, die auf ein schon bestehendes
Subject S wirkend, an diesem das Prädicat P begründen.
Für sich allein nun behauptet der Satz der Identität nur
die Gleichheit jedes Inhaltes mit sich selbst, zwei ver-
schiedene setzt er in keine andere Beziehung als die der
gegenseitigen Ausschließung. Dächten wir uns nun ver-
schiedene einfache Inhalte a b c q p in irgend einer Wirk-
lichkeit zugleich gegeben, aber so, daß sie auch nur zugleich
wären, ohne unter einander in irgend einem innern Zu-
sammenhange zu stehen, so würde in jedem nächsten Augen-
blicke jede beliebige andere Combination einiger dieser
Elemente mit beliebigen anderen ebenso gut auftreten
können, und wir würden daraus, daß a b c q zum zweiten
Male in unsere Beobachtung fielen, nicht darauf schließen
können, daß nun auch p sich einfinden müsse; jedes be-
liebige r oder s würde seine Stelle mit demselben Rechte
einnehmen. Machen wir dagegen die ganz allgemeine Vor-
aussetzung, daß die Gesamtheit aller denkbaren und wirk-
lichen Inhalte eine nicht blos zusammenseiende Summe,
sondern ein zusammengehöriges Ganze sei, so reichen dann
die Folgen des Identitätsgesetzes weiter. Mit genau dem-
selben abcq, mit welchem einmal sich p verbunden fand,
kann dann nach dem Gesetze der Identität weder jemals
ein Non p verbunden sein, noch kann diesem acbq das
frühere Prädicat p jemals fehlen. Wie überhaupt eine
solche Zusammengehörigkeit zwischen verschiedenen Ele-
menten denkbar ist, lassen wir einen Augenblick noch da-
hingestellt; wenn sie aber stattfindet, so findet sie in
allen Wiederholungsfällen identisch statt, und wenn wir
uns auf drei Elemente beschränken, so kann, wenn ab ge-
geben ist, nur c, wenn ac gegeben ist, nur 1), wenn bc, nur
a als nothwendiges neues Glied hinzutreten ; d. h. für jedes
erste dieser Elemente ist jedes zweite die zureichende und
nothwendige Bedingung, unter der das jedesmal dritte zu
ihm sich gesellen kann und muß. Dasjenige Element oder
diejenige Gruppe von Elementen, der wir hier den ersten
Platz geben, erscheint uns dann logisch als Subject, das
Element oder die Gruppe, die wir zu zweit stellen, als die
auf dies Subject wirkende Bedingung, das dritte oder die
dritte Gruppe als die durch die Bedingung an jenem er-
8G Zweites Kapitel.
zeugte Folge. Ich bemerke noch ausdrücklich, daß diese
Wahl der Plätze in unserer Willkür liegt und in der An-
wendung sich nach der Natur der Gegenstände und unserem
Denkinteresse an ihnen richtet; an sich ist jedes Element
einer solchen Combination eine Function der übrigen, und
von jedem kann man folgernd zu diesem übergehen. Ge-
wöhnlich fassen wir eine Mehrheit in vielen Fällen ver-
bunden bleibender Elemente, etwa amn, zusammen als
ein Subject S, welches meistens ein Ding, einen beharr-
lichen Gegenstand der Wirklichkeit bedeutet, ein einzelnes
Element b dagegen, das in einigen Beobachtungen des S
fehlt, in andern vorkommt, als die hinzutretende Bedingung
Q, und ein mit b immer verbundenes c als die durch Q
bedingte Folge P. Es ist einleuchtend, daß man auch anders
verfahren kann; in der That: die mechanische Physik kann
die immer sich gleiche einfache Schwerkraft b oder Q
als Subject behandeln und die verschiedenen Folgen P
untersuchen, die ihr zukommen, wenn man die Körper,
auf welche sie wirkt, amn = S oder amr = S^ als die Be-
dingungen ansieht, unter deren Einfluß sie in verschiedenen
Fällen steht.
62. Wir hätten hiermit jene Deutung, durch die wir
überhaupt zu hypothetischen Urtheilen gelangten, insoweit
gerechtfertigt, als wir sie auf die allgemeinste Voraussetzung
einer Zusammengehörigkeit der verschiedenen Denkinhalte
zurückführten. Diese Voraussetzung selbst als eine zu-
lässige und triftige weiter zu beweisen, kann nicht unsere
Aufgabe sein; offenbar würde jeder Versuch eines solchen
Beweises seinerseits das zu Reweisende voraussetzen; denn
wie könnte man zeigen, es sei erlaubt und nothwendig, das
Gegebene als einen Zusammenhang von Gründen und
Folgen zu fassen, wenn man nicht diese Behauptung
wieder als Folge aus einem Grunde ableitete? Man muß
daher diesen Gedanken der Zusammengehörigkeit des Denk-
baren entweder, als die Seele alles Denkens, mit unmittel-
barer Gewißheit erfassen, oder alles, was auf ihm beruht,
zugleich mit ihm aufgeben. Berechtigt dagegen ist das
Verlangen, weitere Aufklärung über die Möglichkeit und den
Sinn einer solchen Zusammengehörigkeit des Verschiedenen
zu erhalten. Die Möglichkeit nun der Wechselbeziehung
des Verschiedenen wird nicht wirklich durch den Satz der
Identität bedroht, w^elcher jedes Einzelne nur in Beziehung
zu sich selbst setzt; denn nur seinen eigenen Inhalt kann
dieser Satz behaupten, aber andere nicht ausschließen, die
Die Lehre vom Urtheil. 87
mit ihm nicht streiten. Was aber den Siim jener Zu-
sammengehörigkeit betrifft^ so haben wir zwei Aufgaben
zu scheiden. Uns, in der Logik, kümmert es gar nicht,
worin der wirkliche Vorgang bestehen mag, durch den das
uns hier ganz unbekannte Reale, das wir durch unsere
Vorstellungen recht oder schlecht bezeichnen, auf einander
einwirkt und Veränderungen seiner Zustände hervorbringt;
über das Band dieses Zusammenhanges nachzudenken ist
Aufgabe der Metaphysik, und mag in einer Lehre von der
wirkenden Ursache, der causa efficiens, gelöst werden. Die
Logik dagegen, die auch die Beziehungen des nur Denk-
baren zu beachten hat, das niemals in sachlicher realer
Wirklichkeit existiert, hat als ihr Eigenthum nur den andern
Satz vom zureichenden Grunde, das principium
rationis sufficientis, zu entwickeln; sie hat nur zu zeigen,
wie aus der Verbindung zweier Denkinhalte S und Q die
Nothwendigkeit entsteht, auch einen dritten Inhalt P, und
zwar in bestimmter Beziehung zu S, zu denken; fände
sich dann in wirklicher Erfahrung an irgend einem Realen
diese Vereinigung zweier Inhalte S^ und Q^ vollzogen, so
würde sich nach dem Satz vom Grunde das bestimmte P^
folgern lassen, welches zu dieser Combination denknoth-
wendig hinzutreten müßte, im Unterschied von einem P^,
welches zu ihr nicht hinzutreten könnte; wie dagegen es
gemacht wird, daß gerade dies Pi, welches das Denken
fordert, auch, in Wirklichkeit eintritt, diese Frage würde
jenen metaphysischen Untersuchungen überlassen bleiben.
63. Das unendlich oft erwähnte Gesetz des zu-
reichenden Grundes, mit dem wir nun, als dem dritten
Gliede und dem Reinertrag dieser zweiten Gruppe der Ur-
theilsformen, abschließen, hat das wunderliche Schicksal
gehabt, auch von denen, die am häufigsten sich auf es be-
riefen, eigentlich niemals formulirt zu werden. Denn die
gewöhnliche Anweisung, zu jedem Gültigkeit verlangenden
Ausspruche müsse man einen Grund seiner Geltung suchen,
vergißt, daß man das nicht suchen kann, von dem man
nicht weiß, worin es besteht; zuerst muß offenbar klar ge-
macht werden, in welchem Verhältniß Grund und Folge zu
einander stehen, und in welchem Inhalt man folglich den
Grund für einen andern zu entdecken hoffen darf. Ich
werde am kürzesten deutlich sein, wenn ich im Vergleich
mit dem Ausdruck des Identitätssatzes A = A sogleich die
Formel A -f B =: C als Bezeichnung des Satzes vom Grunde
88 Zweites Kapitel.
aufstelle und folgende Erläuterung hinzufüge. Für sich
allein würde A nur = A, B = B sein ; aber nichts hindert,
daß eine bestimmte Verbindung A + B, deren in den ver-
schiedenen Fällen sehr verschiedenartigen Sinn hier sym-
bolisch das Additionszeichen vertritt, dem einfachen Inhalt
der neuen Vorstellung C äquivalent oder identisch sei.
Nennen wir dann A + B den Grund und C die Folge, so
sind Grund und Folge völlig identisch, und der eine ist
die andere ; man hat in diesem Falle unter A -}- B ein be-
liebiges Subject sammt der Bedingung, von der es beein-
flußt wird, unter C aber nicht ein neues Folgeprädicat dieses
Subjects, sondern das Subject selbst in seiner durch dies
Prädicat veränderten Gestalt zu verstehen. Der gewöhn-
liche Sprachgebrauch verfährt anders. Da von dem ganzen
Grunde A + B, wenn wir von Thatsachen der Wirklichkeit
sprechen, gewöhnlich der eine Theil A vorher gegeben zu
sein, der andere B nachher hinzuzukommen pflegt, so be-
zeichnet man die Bedingung B, die nur einen Theil des
ganzen Grundes A + B bildet, gewöhnlich als den Grund
überhaupt, der auf A als leidendes Subject wirkt; unter C
aber versteht man dann meist die neue Eigenschaft allein,
die von B bedingt wird, und nennt dies C die Folge; in-
dessen denkt man doch immer dabei diese Eigenschaft nicht
als für sich, wie in einem leeren Baume, entstehend,
sondern als haftend an dem Subject A, auf welches man B
wirken ließ. Unter anderen Benennungen meint daher der
gewöhnliche Sprachgebrauch dasselbe, wie wir. Wenn wir
mit der Vorstellung A des Pulvers die Vorstellung B der
hohen Temperatur des glühenden Funkens verbinden, mit-
hin in A das Merkmal der gewöhnlichen Temperatur durch
das der erhöhten B ersetzen, so ist dieses A + B die Vor-
stellung C des explodirenden Pulvers, nicht der Explosion
überhaupt; der gewöhnliche Sprachgebrauch läßt zu dem
gegebenen Subject A des Pulvers die hohe Temperatur B
als Grund treten, aus welchem die Explosion C folgt, aber
diese Folge denkt er sich natürlich nicht als einen Vor-
gang, der irgendwo stattfindet, sondern als eine Ausdehnung
desselben Pulvers, auf welches der Funke wirkte. Es ist
nicht nöthig, Erläuterungen so einfacher Art weiter fort-
zusetzen.
64. Ueberlegt man das Ganze unserer Erkenntnisse, so
ist unmittelbar deutlich, daß der Satz der Identität nicht
ihre einzige Quelle sein kann. Für sich allein würde er
jedes Urtheil, ja jeden Begriff vereinzeln und keinen Fort-
Die Lehre vom Urtheil. 89
schritt von der unfruchtbaren Sichselbstgleichheit jedes Vor-
stellungselements zu der fruchtbaren Verbindung ver-
schiedener einleiten. Man irrt sich, wenn man zuweilen
der Mathematik nur diesen einzigen Satz als Grundlage ihrer
Wahrheiten zuschreibt; dem wirklichen erfinderischen Ver-
fahren dient vielmehr auch hier nur der Satz vom Grunde.
Aus einem sich selbst gleichen Obersatze würde gar nichts
neues fließen, wenn es nicht möglich wäre, in mannig-
fachen Untersätzen eine und dieselbe Größe C in unzähligen
verschiedenen äquivalenten Gestalten bald =A + B, bald
= M -f N oder = N — R zu setzen, oder anders ausgedrückt :
wenn nicht die Natur der Zahlen so beschaffen wäre, daß
man jede auf unzählige Weisen theilen und aus den Theilen
in den mannigfachen Combinationen wieder zusammensetzen
kann; wenn ferner nicht die Natur des Raumes so gebildet
wäre, daß jede Linie sich unzähligen Figuren in den ver-
schiedensten Lagen als Bestandtheil oder irgendwie zu-
gehöriges Beziehungsglied einreihen läßt und daß jeder der
Ausdrücke, die für sie aus diesen verschiedenen Relationen
fließen, der Grund zu neuen vielfachen Folgerungen ist. Ich
brauche kaum zu erwähnen, daß auch Mechanik und Physik
den reichlichsten Gebrauch von diesen Zerlegungen und Zu-
sammensetzungen gegebener Thatsachen machen, und daß
der erfinderische Gedankengang auch in diesen Zweigen
unserer Erkenntniß auf Operationen beruht, welche alle zu-
letzt auf diese typische Formel A -[- B = C zurücklaufen.
Her hart gebührt das Verdienst, die Wichtigkeit dieser in
aller Praxis der Wissenschaft offen vorliegenden Ver-
fahrungsweise in den Gesichtskreis der formalen Logik ge-
rückt zu haben.
65. Ich überlasse weitere Beispiele hiervon der an-
gewandten Logik; über die Berechtigung des Satzes vom
Grunde selbst hal3e ich noch eine Bemerkung zu machen.
Wir konnten nur zeigen, eine Erweiterung unserer Erkennt-
niß sei dann möglich, wenn es einen Grundsatz gibt,
welcher A -f B = C zu setzen erlaubt. Man konnte nun ver-
suchen, ohne Weiteres die Gültigkeit dieses Grundsatzes als
eine unmittelbare Gewißheit, gleich der des Satzes der
Identität, zu behaupten. Dies haben wir gethan; aber
zwischen beiden Principien bleibt doch ein bemerklicher
Unterschied. Der Satz der Identität sagt von jedem A eine
Gleichheit mit sich selbst aus, die wir unmittelbar als noth-
wendig und deren Gegentheil wir zugleich ebenso über-
zeugend als denkunmöglich empfinden. Der letzteren Unter-
90 Zweites Kapitel.
Stützung entbehrt der Satz des Grundes; wir emnfinden die
Annahme keineswegs als denkunmöglich, daß jeder Inhalt
nur sich selbst gleich, eine Combination A + B von zweien
dagegen niemals einem dritten C äquivalent sei. Die Geltung
des Satzes vom Grunde ist daher von einer andern Art, als
die des Princips der Identität; nennen wir dies letztere
denknothwendig wegen der Unmöglichkeit seines Gegen-
theils, so ist der Satz vom Grunde vielmehr nur eine dem
Denken zweckmäßige Voraussetzung, welche in dem In-
halt des Denkbaren eine gegenseitige Beziehung annimmt,
für deren wirkliches Bestehen der vereinigte Eindruck aller
Erfahrungen Bürgschaft gibt. Ich wünsche über den letz-
teren Ausdruck nicht mißverstanden zu werden. Ich meine
zuerst nicht, daß das Denken erst durch Vergleichung des
Erfahrungsinhaltes auf die Vermuthung der Gültigkeit eines
solchen Satzes geführt werde; die allgemeine Tendenz des
logischen Geistes, Zusammenseiendes als Zusammengehöriges
aufzuweisen, enthält für sich vielmehr den Trieb, der, auch
abgesehen von aller wirklichen Erfahrung, zur Voraus-
setzung eines Zusammenhanges von Gründen und Folgen
führen würde. Aber daß diese Voraussetzung sich be-
stätigt, daß das Denken in dem denkbaren Inhalt, den es
selbst nicht macht, sondern empfängt oder vorfindet, solche
Identitäten oder Aequivalenzen des Verschiedenen antrifft,
das ist eine glückliche Thatsache, ein glücklicher Zug in
der Organisation der Welt des Denkbaren, der thatsächlich
besteht, aber nicht mit derselben Nothwendigkeit bestehen
müßte, wie die Geltung des Identitätsprincips. Denkunmög-
lich wäre eine Welt gar nicht, in welcher jeder einzelne
Inhalt mit jedem andern so unvergleichbar wäre, wie süß
und dreieckig, in welcher mithin jede Möglichkeit fehlte.
Verschiedenes zur Begründung eines Dritten zusammen-
zufassen; wäre diese Welt, so würde das Denken zwar
nichts mit ihr anzufangen wissen, aber es würde sie, als
eine nach seinem eigenen Urtheile mögliche, anerkennen
müssen. Ich füge ferner hinzu, daß, wenn ich hier -von
einer Art empirischer Beglaubigung des Satzes vom Grunde
spreche, ich doch nicht eine Bestätigung meine, welche
das Ganze unserer nach diesem Satze bereits gegliederten
Gedankenwelt darin fände, daß der beobachtende Gehalt
der äußeren Wirklichkeit mit dieser Gliederung zusammen-
stimmt; ich spreche hier nur davon, daß die Welt des Denk-
baren, die vorstellbaren Inhalte, die wir, woher sie auch
Die Lehre vom Urtheil. 91
immer kommen mögen, in unserer inneren Erfahrung an-
treffen, sich der Forderung, als Gründe und Folgen zu-
sammenzuhängen, wirklich fügen. Es ist an diesem Orte
der Logik ganz gleichgültig, ob überhaupt außer den Vor-
stellungen, die sich in unserem Bewußtsein bewegen, etwas
vorhanden ist, was man äußere Welt oder Wirklichkeit
nennen könnte; auch diese nur in uns sich bewegende in-
haltvolle Vorstellungswelt ist von dem Denken nicht ge-
macht, sondern wird von ihm, als Stoff seiner Thätigkeit,
in uns nur angetroffen, ist also für den logischen Geist
und seine Tendenz ein Gegenstand innerer Erfahrung; daß
nun an diesem empirischen Gegenstand sich ein Ent-
gegenkommen findet, das die Ausführung dieser Tendenz
möglich macht, darin besteht das nicht Denknothw^endige,
sondern Thatsächliche der Geltung des Satzes vom Grunde.
6ß. Worin dies Entgegenkommen liegt, werde ich, wenn
noch einmal hiernach gefragt werden sollte, am kürzesten
erinnern, wenn ich auf die Analogie der systematischen
Stellung, welche der Satz vom Grunde als zweites Denk-
gesetz einnimmt, mit der des zweiten Gliedes in unserer
Betrachtung des Begriffes hinweise. Die Möglichkeit, All-
gemeinbegriffe zu bilden, beruhte auf der nicht selbst denk-
nothwendigen, aber gegebenen Thatsache, daß nicht jeder
Vorstellungsinhalt unvergleichbar mit jedem andern ist, daß
vielmehr Farben Töne Gestalten sich in Reihen mit er-
kennbarer abgestufter Verwandtschaft ihrer Glieder ordnen;
daß es außer den Verwandtschaften auch Gegensätze von
verschiedener Weite des Unterschieds und ein Aufheben des
Entgegengesetzten, daß es endlich vor allem ein System von
Größenbestimmungen in der Welt des Denkbaren gibt, durch
deren Anwendung mittelbar auch die an sich nicht vergleich-
baren Glieder verschiedener Inhaltsreihen in gegenseitige
Beziehungen gebracht werden können. Mit diesem kurzen
Hinweis begnügt, schließen wir die zweite Gruppe der ür-
theilsformen mit dem Satze vom Grunde als dem durch sie
gewonnenen Reinertrage ab.
C. Das generelle Urtheil. — Das disjunctive UrtheiL ^ Das
Dictum de omni et nuUo und das Principium exclusi medii.
67. In jedem Einzelfalle der Anwendung bleibt nun zu
bestimmen, welches A, in welcher Verbindung mit welchem
B zusammengefaßt, den genügenden Grund welches C bilde.
92 Zweites Kapitel.
Die Aufgabe des sachlichen Erkennens hat die Logik der
Erfahrung und den einzelnen Wissenschaften zu überlassen ;
aber eine eigene neue Aufgabe erwächst ihr doch auch.
Von allen Leistungen unseres Denkens würde wenig übrig
bleiben, wenn wir wirklich in jedem Einzelfalle von neuem
die Erfahrung befragen müßten, welche A B und C hier als
Grund und Folge zusammengehören; einen Grundsatz
wenigstens muß es geben, der uns erlaubt, wenn einmal die
eine Wahrheit A -j- B = C gegeben ist, von ihr eine An-
wendung zu machen auf Fälle, über die uns die Erfahrung
noch nicht belehrt hat. Was wir nun hier suchen, ist
leicht zu finden und nebenher schon früher erwähnt worden.
So oft wir A + B als Grund einer Folge C ansehen, denken
wir noth wendig die Verknüpfung dieser drei Glieder als
eine allgemeine; A + B wäre gar nicht eine Bedingung
von C, wenn es möglich wäre, daß in einem zweiten Bei-
spiel seines Vorkommens nicht dasselbe C, sondern ein
beliebiges D mit ihm verbunden würde. Für unsere hier
zu machende Anwendung bedeutet dies nun: überall, in
jedem Subject S, in welchem A + B als Merkmal neben be-
liebigen andern Merkmalen N 0 P enthalten ist, begründet
dies A + B dieselbe Folge C ; und dieses C wird entweder
wirklich als Merkmal dieses S auftreten, oder wo es nicht
auftritt, kann es nur dadurch verhindert sein, daß die
übrigen Merkmale, N -f- 0 oder N + P oder 0 + P, zusammen
den Grund einer dem C entgegengesetzten und dieses selbst
aufhebenden Folge bildeten; für sich allein, ohne diese
Hemmung, geht die das C bedingende Kraft des A -}- B ihres
Erfolges nie verlustig. Fassen wir nun A -|- B unter der
Bezeichnung M als einen Allgemeinbegriff, unter welchen
S untergeordnet ist, so können wir den gefundenen Grund-
satz vorläufig so ausdrücken, daß von jedem Subject nach
rein logischem Recht und ohne Anrufung der Erfahrung
dasjenige Prädicat behauptet werden darf, welches durch
den ihm übergeordneten Gattungsbegriff gefordert wird.
Und es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß eben dieser
Gedanke, die Unterordnung des Einzelnen unter sein All-
gemeines, das umfassende logische Hülfsmittel ist, dessen
wir uns allenthalben zur weiteren denkenden Bearbeitung
des erfahrungsmäßig Gegebenen bedienen.
68. Die Urtheilsform, die erste dieser dritten Gruppe,
in w^elcher das Denken diese Ueberzeugung ausspricht, ist
die des quantitativ unbezeichneten Satzes, in welchem die
Die Lehre vom Urtheil. 9^J
Stelle des Subjectes einfach durch einen Allgenieinbegriff
oder einen Gattungsbegriff M ausgefüllt erscheint: der
Mensch ist sterblich; die Sünde ist strafbar. Ich unter-
scheide diese Urtheile unter dem Namen der generellen
von den universalen: alle Menschen sind sterblich; jede
Sünde ist strafbar. Obgleich der sachliche Inhalt in beiden
Formen derselbe ist, so ist doch die logische Fassung des-
selben in beiden sehr verschieden. Das universale Urtheil
ist nur eine Sammlung vieler Einzelurtheile, deren sämmt-
licho Subjecte zusammengenommen thatsächlich den ganzen
Umfang des Allgemeinbegriffs M ausfüllen; daß mithin das
Prädicat P von allen M gilt, folgt hier nur daraus, daß es
von jedem M einzeln gilt; es kann aber von jedem einzelnen
aus einem besonderen Grunde gelten, der nichts mit der
allgemeinen Natur des M zu schaffen hat. So läßt der
universale Satz : alle Einwohner dieser Stadt sind arm,
ganz zweifelhaft, ob jeder einzelne durch eine besondere
Ursache verarmt ist, oder ob die Armuth aus seiner Eigen-
schaft als Einwohner dieser Stadt fließt; ebenso läßt der
Satz : alle Menschen sind sterblich, noch dahingestellt, ob
sie nicht eigentlich alle ewig leben könnten, und ob nicht
blos eine merkwürdige Verkettung von Umständen, die für
jeden andere sind als für jeden andern, es dahin bringt,
daß zuletzt keiner am Leben bleibt. Das generelle Urtheil
dagegen: der Mensch ist sterblich, behauptet seiner Form
nach: an dem Charakter der Menschheit liege es, daß die
Sterblichkeit von jedem unzertrennlich ist, der an diesem
Charakter theilnimmt. Während daher das universale Ur-
theil eine allgemeine Thatsache blos behauptet und des-
wegen nur assertorisch ist, läßt das generelle zugleich den
Grund ihrer nothwendigen Geltung hindurchscheinen und
kann also, in dem Sinne unserer früheren Festsetzungen,
apodiktisch heißen. Zu unerhörten Entdeckungen wird diese
Unterscheidung beider Urtheilsformen nicht führen; aber
neben so vielen unnützen Distinctionen, welche die Logik
belasten, verdiente sie wohl, nebenher erwähnt zu werden.
Kaum der Erwähnung aber bedarf es, daß im generellen
Urtheil nicht der Gattungsbegriff M, der die Stelle des Sub-
jects im Satze einnimmt, das wahre logische Subject des
Urtheils ist; nicht der allgemeine Mensch M ist sterblich,
sondern der einzelne S, welcher an diesem für sich un-
sterblichen Typus theilhat. Man sieht daraus, daß das
generelle Urtheil eigentlich ein im Ausdrucke verkürztes
hypothetisches ist; es muß vollständig heißen: wenn S ein
94 /Zweites Kapitel.
AI ist, SU ist S ein P; vveiiii irgend ein S ein Mensch ist,
so ist dieses S sterblich. Und hierdurch rechtfertigt sich
die systematische Stellung, die wir diesem Urtheil erst nach
dem hypothetischen anweisen konnten.
69. Ebenso klar wird aber auch sogleich die Nothwendig-
keit eines neuen Schrittes. So lange formell in dem gene-
rellen Urtheil ein allgemeiner Gattungsbegriff M als Sub-
ject auftritt, so lange kann auch das Prädicat P nur in
gleicher Allgemeinheit gefaßt ihm zugeordnet werden. Sagen
wir: der Mensch ist sterblich, so umschließt das Prädicat
alle denkbaren verschiedenen Arten der Sterblichkeit und
bestimmt weder die Art des Todes noch seinen Zeitpunkt;
oder behaupten wir: die Körper erfüllen den Raum, so
bleibt unausgesprochen, mit welcher Dichtigkeit und mit
welchem Grade des Widerstandes jeder einzelne diese all-
gemeine Eigenschalt seiner Gattung realisirt. Aber gerade
die einzelnen Menschen und die einzelnen Körper waren
die wirklichen Subjecte des generellen Urtheils; es ist
also ganz falsch zu behaupten, daß ihnen das Merkmal P
ihrer Gattung in der Allgemeinheit als Prädicat zukommt,
in welcher es zu dem Begriff der Gattung, und zwar hier
nicht als Prädicat, hinzugedacht wird; vielmehr kann P
an jedem dieser einzelnen Subjecte nur in einer der be-
stimmten Arten oder Modificationen vorkommen, in welche
das allgemeine P sich zerfallen oder besondern läßt. Den
gemachten Fehler berichtigt das Denken durch die neue
Behauptung: wenn irgend ein S ein M ist, so ist dies S
entweder p^ oder p^ oder p^; und hier bedeuten pi p^ p3
die verschiedenen Arten eines allgemeinen Merkmals P,
welches in dem Gattungsbegriffe M enthalten ist. Dies ist
die bekannte Form des disjunctiven Urtheils, des
zweiten dieser dritten Gruppe, und für sich keiner weiteren
Erläuterung bedürftig. Man pflegt mit ihm zusammen das
copulative Urtheil: S ist sowohl p als q als r, und das
remotive: S ist weder p noch q noch r, zu erwähnen;
trotz der äußerlichen Analogie der Form haben jedoch beide
nicht den gleichen logischen Werth mit dem disjunctiven;
das erste ist nur eine Sammlung positiver, das andere eine
Sammlung negativer Urtheile von gleichem Subject und ver-
schiedenen Prädicaten, welche letztere in gar keine logisch
wichtige Beziehung zu einander gesetzt werden. Das dis-
junctive Urtheil allein drückt ein eigenthümliches Verhält-
niß seiner verschiedenen Glieder aus : es gibt seinem Sub-
Die Lehre vom Urtheil. 95
ject gar kein i'rädicat, schreibt ihm aber die uothwendige
Wahl zwischen einer bestimmten Anzahl verocniedener vor.
70. Der Gedanke, uen die Form des uisjunctiven urtheiis
ausdrückt, wird gewöhnlich in zwei gesonderten Denk-
gesetzen, dem Dictum de omni et nullo und dem Princip^um
exclusi tertii inter duo contradictoria ausgesprochen; ihre
Verschmelzung in ein einziges drittes Grundgesetz ist
indessen nicht nur leicht, sondern nOchwendig. Völlig falsch
sind tili das erste die oft gehörten lässigen l^'ormuliiungen:
was vom Allgemeinen gelte, gelte auch vom Einzelnen;
was vom Ganzen, auch von den Theilen; es versteht sich
vielmehr von selbst, daß, was vom Aligemeinen als solchem,
oder von dem Ganzen als solchem gilt, nicht von dem
Einzelnen oder von den Theilen als solchen gelten könne.
Richtig ist nur die Formel: quidquid de omnibus valet,
valet etiam de quibusdam et de singulis, und quidquid de
nullo valet, nee de quibusdam valet nee de singulis. Aber
diese Ausdrucksweise (über deren Geschichte man
Rehnisch vergleichen kann, Fichte's Zeitschrilt LXXVI, 1)
ist ebenso uniruchtbar als richtig; denn daß etwas von
allen gelte, heißt und bedeutet gleich von Anfang an
gar nichts anderes, als daß es von jedem Einzelnen gelte;
soll daher anstatt dieser nackten Tautologie etwas gesagt
werden, was der Mühe, werth ist, so muß allerdings an
die Stelle der bloßen Summe aller die Natur des all-
gemeinen Begriffs gesetzt werden. Dann aber läßt sich
in der That der Satz gar nicht anders mit Genauigkeit
ausdrücken, als so, daß er ganz mit dem Sinne der dis-
junctiven Ürtheilsform zusammenfällt: von jedem allge-
meinen P, welches als Merkmal in dem Allgemeinbegriff M
enthalten ist, kommt jedem S, welches eine Art von M ist,
eine seiner Modificationen p^ p^ ps mit Ausschluß der
übrigen als Prädicat zu; und: von jedem allgemeinen P,
welches aus dem Begriffe M ausgeschlossen ist, kommt
jedem S, als einer Art von M, weder die eine noch die
andere seiner Modificationen pi p^ oder p^ zu.
71. Von diesem vollständigen Denkgesetz berücksichtigt
der gewöhnliche Ausdruck des Dictum de omni et nullo
nur den einen positiven, für sich, wie wir sahen, nicht
genau ausdrückbaren Bestandtheil, nämlich den Gedanken,
daß das Besondere sich überhaupt nach seinem Allgemeinen
richte; der andere verneinende Bestandtheil, der erst die
Art und Weise dieses sich Richtens bestimmt, der Gedanke,
daß dem Besondern nur eine Art des allgemeinen Prädicats
96 Zweites Kapitel.
seines Allgemeineu mit Ausschluß der übiigeu zustefie, hat
nur einen partiellen Ausdruck in dem Satze des ausge-
schlossenen Dritten gefunden. Ich glaube hierüber am ein-
fachsten iolgendermaiien zu J:)erichten. Steht tür ein SubjectS
vermöge seiner Unterordnung unter M bereits fest, daß es
sein eigenes Prädicat unter den Arten pi p^ p3 eines all-
gemeinen, dem M zukommenden Merkmals F wählen muß,
und beträgt die Anzahl der möglichen Arten des P mehr,
als zwei, so wird die Bejahung der einen von ihnen pi, als
Prädicat von S, die Verneinung aller übrigen, p^ p» pi^ ein-
schließen, aber durch die Verneinung einer von ihnen wird
keine bestimmte der übrigen als Prädicat von S bejaht;
was nicht p^ ist, hat noch die unentschiedene Wahl zwischen
p2 p3 p4. Prädicaten dieser Art legt man conträren
Gegensatz bei. Gibt es aber überhaupt nur zwei Arten pi
und p2 des allgemeinen P, so wird für ein Subject S, von
welchem schon feststeht, daß es eine Art des P zum Prädicat
haben muß, nicht nur die Bejahung der einen p^ die Ver-
neinung der andern p^, sondern auch die Verneinung der
einen p^ die bestimmte Bejahung der andern p^ als Prädicat
zur Folge haben oder involviren; diese beiden p^ und p^
sind dann contradictorisch entgegengesetzte Prädicate
des S. So sind für die Linie (S), welche eine Richtung
überhaupt (P) haben muß, gerade (pi) und krumm (p^)
contradictorische Prädicate, für den Menschen, dem ein
Geschlecht von Natur gebührt, männlich und weiblich ; beide
würden nur conträr sein für beliebige andere Subjecte,
von denen noch nicht feststeht, ob in ihrem Begriffe das
allgemeine P, Geschlecht oder Richtung, überhaupt vor-
kommt; für sie wird die Eintheilung ihrer möglichen Prä-
dicate immer dreigliedrig, sie sind entweder männlich p^
oder weiblich p^ oder geschlechtslos p^ entweder gerade p^
oder krumm p^ oder gestaltlos p^. Der Satz des aus-
geschlossenen Dritten oder des exclusi tertii inter duo
contradictoria behauptet nun nichts, als was wir eben be-
merkten: von zwei Prädicaten, welche für ein Subject S
contradictorische, sind, hat S immer das eine mit Ausschluß
des andern, und wenn es das eine nicht hat, so hat es
nothwendig das andere mit Ausschluß jedes dritten. So
angesehen ist dieses Gesetz nur ein Sonderfall des all-
gemeineren, welches den Sinn des disjunctiven Urtheils
bildet : von allen conträren Prädicaten, deren Allgemeines P
in dem Gattungsbegriff M eines Subjectes S liegt, hat S
Die Lehre vom Urtheil. 97
immer eines mit Ausschluß der übrigen, und vvenii es das
eine nicht hat, so bleibt ihm nur die nothwendige Wahl
zwischen den übrigen; diese Wahl wird zur bestimmten Be-
jahung, wo sie nur noch auf ein Glied fallen kann, also
m dem Grenzfall, wo die Zahl der conträren Prädicate
nur zwei beträgt. Ohne Zweifel ist dieser Grenzfall, welcher
den Inhalt des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten bildet,
in den Anwendungen des Denkens von besonderer Wichtig-
keit; die logische Systematik dagegen wird ihn doch nur
als ein besonderes Beispiel des allgemeineren Satzes
fassen können, den wir schon mehrfach aussprachen
und kurz als disjunctives Denkgesetz bezeichnen
wollen.
72. Man stellt dies gewöhnlich anders dar. Aus Beweg-
gründen, die ebenfalls nur aus Zwecken des angewandten
Denkens begreiflich sind, ist der logische Wunsch ent-
istanden, die von uns stets festgehaltene Voraus setzurig,
eine nothwendige Beziehung des jedesmaligen Subjects S
zu dem allgememen P stehe bereits fest, unerwähnt lassen
und von zwei Prädicaten sprechen zu dürfen, welche für
jedes beliebige Subject als contradictorische gelten. Man
findet leicht, daß dies nur möglich ist, wenn man die Ge-
sammtheit aller denkbaren Prädicate eintheilt in ein be-
stimmtes Q, und in die Summe aller derjenigen, welche
nicht Q sind oder Non Q sind; von allen beliebigen 3ub-
jecten, was sie auch immer bedeuten mögen, ist dann sicher,
daß sie entweder Q oder Non Q, entweder gerade oder
nicht-gerade sind; denn der letzte Ausdruck begriffe dann
nicht blos das Krumme, sondern auch das Verdrießliche,
das Süße, das Zukünftige, kurz alles, was außerhalb des
Geraden liegt. Ich wiederhole in Bezug hierauf, was ich
bei dem limitativen Urtheil bemerkte: Non Q ist gar keine
wirkliche Vorstellung, die sich als Prädicat eines Subjects
behandeln ließe, sondern nur eine Formel, welche die im
Denken unerfüllbare Aufgabe bezeichnet, alles Denk-
bare, was außerhalb des einen Begriffs liegt, in einen
einzigen zweiten zusammenzuziehen. Man hat außerdem
zur Stellung dieser unlösbaren Aufgabe keinen wirklichen
Grund; alles, was man durch das bejahte Prädicat Non Q
erreichen will, erreicht man durch die verständliche Ver-
neinung von Q. Ich halte daher für ganz unschicklich, von
contradictorischen Begriffen zu reden, d.h. solchen, die
an und für sich in diesem Gegensatzverhältniß ständen
Lotze, Logik. 7
98 Zweites Kapitel.
und des halb in demselben blieben, wenn man sie als
Prädicate eines mid desselben Subjects behandelt, worin
auch immer dieses bestehen möge; will man ein contra-
dictorisches Verhältniß zweier Glieder, welches allgemein,
immer und in Bezug auf jedes Subject gilt, so findet dies
nur zwischen den zwei Ürth eilen statt: S ist Q und
S ist nicht Q. Demzufolge würde der genaue Ausdruck
des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten sein: von jedem
genau bestimmten Subject S gilt entweder die Bejahung
oder die Verneinung eines ebenso bestimmten Prädicats Q,
und es gibt keine dritte Möglichkeit; überall, wo eine
solche stattzufinden scheint, ist S oder Q oder beide ent-
weder von Anfang mehrdeutig und unbestimmt gefaßt oder
ihre Bedeutung im Lauf der Ueberlegung unbewußt oder
unwillkürlich verändert worden.
73. Noch eine Betrachtung füge ich hinzu. Niemand
zweifelt, daß dasselbe Subject roth süß und schwer zugleich
sein kann, daß es aber roth nur ist, wenn es weder grün
noch blau noch andersfarbig ist, und daß es gerade und
krumm nicht zugleich sein kann. Eine unmittelbare Deut-
hchkeit scheint mir nun aber doch die Behauptung nicht
zu haben, daß zwei Prädicate p^ und p^ sich gerade dann
an demselben Subject nicht vertragen, wenn sie übrigens
als conträre Arten desselben Allgemeinen P mit einander
vergleichbar sind, während an demselben Subject andere
Prädicate p q r sich vertragen sollen, die als Arten ganz
verschiedener Allgemeinen P Q und R mit einander un-
vergleichbar sind. Ich versuche hierüber folgenden Ge-
danken. Jedes Prädicat p^ eines Subjectes S müssen wir
nach dem Vorigen und nach der Formel A -|- B = C als Folge
einer in S enthaltenen Merkmalgruppe A^ -{- B^ ansehen,
welche Gruppe überall, wo sie vorkommt, also auch in
diesem S, dieselbe Folge C^, hier p^, hervorzubringen sucht.
Sollte nun demselben S zugleich das mit p^ vergleichbare
Prädicat p^ zukommen, so müßte es, wie leicht zu begreifen,
von einer mit A^ -f- ß^ ebenfalls vergleichbaren Merkmal-
gruppe A2 -(- B2 abhängen, welche neben A^ -{- B^ in dem-
selben S vorhanden wäre und überall, wo sie vorkäme,
also auch in S, die Folge C^, hier p^, begründen würde.
Aber eben, weil A^ + B^ und A^ -j- B^ mit einander ver-
gleichbar sein müssen, so kann es nicht fehlen, daß, nach
einem neuen Satz von der allgemeinen Form A -f- B = C,
nämlich nach dem Satze : [A^ + Bi] + [A2 + B^] = C^ das Zu-
sammentreffen beider in demselben S den zureichenden
Die Lehre vom Urtheil. 99
Grund einer neuen Folge C^ bildet, in welche die
beiden Enizelpräüicate p^ und p^ zusammenschmelzen,
und die wir, weil sie beiden ähnlich sein muß, mit p^
bezeichnen wollen. Zwei conträre, vergleicnnare Prä-
dicate p^ und p=^ würden also nur deshain unvereinbar
sein, weil aus ihnen immer ein drittes einfaches p^ ent-
stehen würde; zwei disparate, unvergleichbare Prädi-
cate p und r dagegen, wie süß und warm, würden deshalb
als zwei bleibende an S vereinbar sein, weil es für die
unvergleichbaren Gründe A-j-B und etwa M + N, von denen
sie einzeln abhängen, keinen Satz (A -j- B) -|- (M -j- N) = C
gäbe, kraft dessen sie wie p^ und p^ ein drittes einfaches
Prädicat bilden könnten. Ich will nicht gegen diejenigen
streiten, die diese ganze Auseinandersetzung überflüssig fin-
den; mir scheint sie nicht gegenstandslos, wenn ich von den
Beispielen hinweg, welche (he Logik herkömmhch braucht,
auf andere blicke, deren sie sich billig erinnern sollte. Wer
vom Golde sagt, es sei gelb, hat freilich keine Veranlassung,
sich diese einlache Eigenschaft als Product zweier anderen
nicht wahrnehmbaren zu denken, die aus zwei im Golde
nebeneinander gegebenen Bedingungen eigentlich hätten ge-
sonuert entstellen müssen, aner gesonaert nicht bleiben
konnten. Wenn aber aut einen Massenpunkt S zwei der Rich-
tung nach conträre oder auch contraaictorische Bewegungs-
antriene wirken, so ist das gegeben, was man vorhin K.eine
Veranlassung hatte vorauszusetzen: man muß hier wirklich
sowohl die bedingung, welche die Bewegung p^, als die
andere, welche die Bewegung p^ hervorzubringen strebt, als in
dem Massenpunkt wirksam und die beiden Bewegungen selbst
in jedem Augennlick als Prädicate dieses Punktes S auf-
fassen, als Pradicate aber, die sich getrennt nicht erhalten
können, sondern in das dritte p^, die Bewegung nach der
Diagonale zusammengehen. Und zuletzt gilt dies doch all-
gemein. Eine krumme Linie kann ebenso gut roth als grün
erscheinen. Wirkten aber die Bedingungen zu beiden Er-
scheinungen gleichzeitig und gleich stark, so würde es uns
wenig helfen, mit dem Satze der Ausschließung zu be-
haupten, das Bild der Linie könne diese beiden conträren
Eigenschaften nicht haben; irgendwie muß es doch aus-
sehen. Da aber jene beiden Bedingungen vergleichbar und
zur Bildung einer Resultante fähig sind, so wird eine dritte
Farbe erscheinen, und durch die Entstehung dieser werden
einestheils die Ansprüche jener beiden Bedingungen beide
lÖÖ Zweites Kapitel.
befriedigt sein, zugleich aber wird in ihr der Grund liegen,
warum die beiden conträren Farben, welche sie einzeln
erzeugt haben würden, nicht neben einander getrennt vor-
handen sein können.
74. Hier schließt die Reihe der Urtheile mit Innerei^
Nothwendigkeit ab. Je bestimmter das disjunctive seinem
Subjecte die Wahl zwischen verschiedenen Prädicaten vor-
schreibt, um so weniger kann es bei diesem Entweder Oder
sein Bewenden haben; die Wahl muß vollzogen werden.
Die Entscheidung aber darüber, welches p^ oder p^ dem S
gebühre, kann nicht aus seiner bisher allein gegebenen
Unterordnung unter M fließen, denn eben als Art von M
hat es noch die freie Auswahl; sie kann nur fließen aus
der eigenthümlichen Differenz, durch welche sich S, als
diese Art des M, von anderen Arten des M unterscheidet.
Zu dem Satze: M (und jedes S, welches M ist) ist P, muß
daher ein zweiter Satz treten, welcher die Eigenthümlichkeit
des jedesmal in Rede stehenden besondern Subjects S zur
Geltung bringt und uns zeigt, welche Art von M es ist;
aus der Vereinigung beider Sätze muß ein dritter fließen,
welcher lehrt, welche bestimmte Modification p des all-
gemeinen P diesem S zukomme, weil es nicht blos eine
Art von M, sondern diese Art von M ist. Die Verbindung
zweier Urtheile aber zur Erzeugung eines dritten ist im
Allgemeinen die Denkform des Schlusses, und zu ihrer
Darstellung sind wir daher nun aufgefordert überzugehen.
Anhang
über die unmittelbaren Folgerungen.
Dem Herkommen zu Liebe schalte ich hier Erörterungen
ein, die ihre richtigere Stelle in der angewandten Logik
haben würden.
Von demselben Subject S und demselben Prädicat P
behauptet das allgemein bejahende Urtheil A : alle S sind P ;
das particular bejahende I: einige S sind P; das allgemein
verneinende E : kein S ist P ; das particular verneinende 0 :
einige S sind nicht P. Es fragt sich nun, welche unmittel-
bare Folgerungen sich aus der Gültigkeit oder Ungültigkeit
des einen dieser vier Urtheile in Bezug auf Gültigkeit oder
Ungültigkeit der drei übrigen ziehen lassen. Aus dem Dictum
de omni et nullo und dem Satze des ausgeschlossenen
Dritten ergibt sich hierüber Folgendes.
75. Zwischen jedem allgemeinen Urtheile und dem
gleichnamigen besondern, also zwischen A und I, und zwischen
E und 0, findet das Verhältniß der Subalternation statt.
In der Richtung vom Allgemeinen zum Besondern, oder
ad subalternatam, schließt man von der Gültigkeit des
ersten auf die des letzteren, aber von der Ungültigkeit
des Allgemeinen weder auf Gültigkeit noch auf Ungültig-
keit des Besondern. Die Rechtmäßigkeit der ersten Fol-
gerung leuchtet sofort, die Unmöglichkeit der zweiten nach
Beseitigung eines Mißverständnisses ein. Wer den all-
gemeinen Satz : alle S sind P, leugnet, wird hierzu ge-
wöhnlich durch die schon gemachte Beobachtung einiger S
veranlaßt, die nicht P sind ; aber er wird diese Beobachtung
doch nicht an allen S gemacht haben. Seine Meinung pflegt
daher die zu sein, nur die Allgemeingültigkeit jenes Satzes
für alle S zu leugnen, seine Gültigkeit für einzelne S da-
gegen unbestritten zu lassen; und deshalb haben in ge-
wöhnlicher Rede Aeußerungen wie diese : es sei nicht wahr,
daß alle S auch P sind, geradezu die Nebenbedeutung, den
particularen Satz : einige S sind P, als richtig zuzugestehen.
102 Zweites Kapitel.
Die Logik dagegen kennt nicht diese ausgesprochenen Neben-
gedanken bei der Leugnung des allgemeinen Satzes, sondern
nur das, was in der ausgesprochenen Verneinung selbst liegt.
Aber eben dies ist an sich zweideutig. Denn die behauptete
Ungültigkeit des Stazes: alle S sind P, besteht gleichmäßig
zu Recht, sowohl wenn der Satz nur für einzelne S, als
auch, wenn er für keines gilt. So lange diese Zweideutigkeit
nicht durch Nebenaussagen gehoben wird, kann man daher
aus der Verneinung des allgemeinen Satzes weder auf
Gültigkeit noch auf Ungültigkeit des besonderen schließen.
76. In entgegengesetzter Richtung, vom Besonderen
zum Allgemeinen oder ad subaltemantem, schließen wir
von der Ungültigkeit des besondern Urtheils auf die des
allgemeinen, aber nicht von der Gültigkeit des besondem
auf die des allgemeinen. Auch hier ist die erste Folgerung
nach Vermeidung der berührten Zweideutigkeit klar. Wer
den Satz verneint, einige S seien P, kann zwar die Absicht
haben, nur die Beschränkung des P auf einige S zu leugnen,
und aus dieser Meinung, nicht blos einige S seien P.
flösse dann die Bejahung des allgemeinen Satzes: alle S
sind P. Aber eben weil diese Folge ja grade die fort-
dauernde Gültigkeit auch des particularen Urtheils: einige
S sind P, einschließen würde, kann die Logik unmöglich
der Leugnung eben dieses particularen Satzes diese Aus-
legung geben. Für sie bedeutet diese Leugnung durchaus
nur: es gibt gar keine einigen S, die P wären; was aber
nicht einmal in einigen Fällen gilt, gilt noch weniger
in allen. Folglich verneint die Verneinung des Besondern
allemal auch das Allgemeine. Die Unmöglichkeit der zweiten
Folgerung ist für sich klar; die Gültigkeit eines P für
einige S kann nie seine Gültigkeit für alle S beweisen;
nur weil diese widerrechtliche Verallgemeinerung einzelner
Wahrnehmungen der gewöhnlichste logische Fehler ist, dem
die Wissenschaft und die Bildung des Lebens ihre meisten
Irrthümer verdanken, ist es der Mühe werth, das Verbot
dieser falschen Folgerung ad subaltemantem besonders zu
betonen.
77. Allgemeine Urtheile stehen zu den ungleichnamigen
besondern, A zu 0 und E zu I und umgekehrt, in contra-
dictorischem Gegensatz; wir schließen ad contradictoriam
sowohl von der Geltung des einen auf Nichtgeltung des
andern, als von der Ufigültigkeit des einen auf die Gültigkeit
des andern. Die erste Folgerung bedarf keiner, die zweite
Die Lehre vom Urtheil. 103
einer kurzen Erläuterung. Verneinen wir den Satz A, alle S
sind P, so bestehen mit dieser Verneinung die beiden An-
nahmen E: kein S ist P, und 0: einige S sind nicht P;
die letzte aber, in der ersten eingeschlossen, ist in jedem
Falle gültig; folglich fließt aus der Ungültigkeit von A die
Gültigkeit von 0 gewiß. Verneinen wir ferner 0 : einige S
sind nicht P, so heißt das nach dem vorhin Bemerkten:
es gibt keine einigen S, die nicht P wären, und dies ist
gleichbedeutend mit A: alle S sind P. Verneinen wir E:
kein S ist P, so sind entweder alle S oder einige S, die
letzteren also in jedem Falle, P, folglich gilt I: einige S
sind P; verneinen wir I, so heißt dies: es gibt keine
einigen S, welche P wären, gleichbedeutend mit der Be-
jahung von E: kein S ist P.
78. Die beiden ungleichnamigen allgemeinen Urtheile
A und E haben nur conträren Gegensatz, und wir folgern
ad contrariam aus der Geltung des einen die Nichtgeltung
des andern, aber nicht aus der Ungültigkeit des einen die
Gültigkeit des andern. Die erste Folgerung leuchtet ein;
die Unmöglichkeit der zweiten ergibt sich nach dem Vorigen
daraus, daß die Verneinung eines allgemeinen Urtheils zwar
ad contradictoriam die Gültigkeit des ungleichnamigen be-
sondern, diese aber nicht weiter ad subalternantem die
Gültigkeit des übergeordneten allgemeinen Urtheils folgern
läßt. Subconträren Gegensatz endlich nennt man das
Verhältniß zwischen den beiden particularen Urtheilen I
und 0. Man folgert ad subcontrariam aus der Ungültigkeit
des einen die Gültigkeit des anderen, aber nicht aus der
Geltung des einen die Nichtgeltung des andern. In der
That : die beiden Sätze : einige S sind nicht P, und : einige S
sind P, können beide zusammien bestehen; wird aber der
eine verneint, so folgt ad contradictoriam die Geltung des
entgegengesetzten allgemeinen und aus dieser ad subalter-
natam die Bejahung des ihm untergeordneten particularen.
79. Ich erwähne ferner eine andere logische Operation
von verwandter Absicht. Beobachtungen, welche sich zu-
letzt immer in der Form eines Urtheils : S ist P, ausdrücken
lassen, stellen uns immer nur diejenige Verbindung von S
und P vor Augen, die in dem Augenblick der Beobachtung
wirklich stattfindet; sie sagen aber nichts darüber aus, ob
in anderen Fällen S und P trennbar sein werden, oder nicht,
ob es also S gibt, welche nicht P, oder P, welche nicht S
sind. Man hat aber ein sehr begreifliches praktisches
Interesse hieran; man will wissen, ob ein P, welches an S
104 Zweites Kapitel.
vorgekommen ist, als ein Kennzeichen betrachtet werden
darf, nach dem sich die Natur des Subjects bestimmen läßt,
an dem es vorkommt; kurz, ob alles, was sich als ein P
darstellt, auch allemal ein S ist. Die auf diese Fragen zu
erwartenden Antworten werden daher die Form haben:
P ist S; man nennt sie deshalb Umkehrungen der
ursprünglichen Urtheile, die zu ihnen Veranlassung gaben.
Es versteht sich dabei, daß es von besonderem Interesse ist,
zu wissen, ob P nothwendi^ und immer oder nur möglicher-
weise und zuweilen auf ein Subject S hindeutet, oder in
gewöhnlicher Bezeichnungsweise, ob alle P oder ob nur
einige auch S sind. Man achtet deshalb besonders auf die
Quantität des gegebenen und des umgekehrten Urtheils
und nennt die Umkehrung rein fconversio pura), wenn die
Quantität des letzten die umgeänderte des ersten ist, unrein
(conversio impura), wenn sie eine andere ist, und zwar
namentlich, wenn zur Triftigkeit des umgekehrten Urtheils
die Allgemeinheit des ursprünglichen in blos particulare
Geltung abgeschwächt werden muß. Man findet Folgendes.
80. Das allgemein bejahende Urtheil: alle S sind P,
versteht unter P entweder eine höhere Gattung, in welcher S
neben andern Arten enthalten ist, oder ein allgemeines Merk-
mal, an dem S neben andern Subjecten theilnimmt. In
beiden Fällen bleibt ein Theil von P übrig, der nichts mit S
zu schaffen hat, und die Umkehrung kann daher nur unrein
geschehen in das particulare Urtheil : einige P sind S. Diese
Regel verdient bemerkt zu werden; denn zu den gewöhn-
lichsten Fehlern der Unaufmerksamkeit und zu den be-
liebtesten Mitteln der Täuschung gehört es, dieser parti-
cularen Folgerung die allgemeine unterzuschieben und zu
behaupten: wenn allen S das P, so komme auch allen P
das S zu. Man trifft allerdings allgemein bejahende Urtheile
an, die diese reine Umkehrung gestatten; es sind diejenigen,
in denen die Umfange von S und P einander genau decken,
mithin nicht blos allen S, sondern auch nur allen S und
keinem andern Subjecte das P zukommt, folglich alle P
auch S sind. Solche reciprocabel genannte Urtheile
sind : alle Menschen sind von Natur sprachfähig ; alle gleich-
seitigen Dreiecke sind gleichwinklige; sie gestatten die Um-
kehrung: alles von Natur Sprachfähige ist Mensch, jedes
gleichwinklige Dreieck ist ein gleichseitiges. Aber daß jenes
Verhältniß zwischen S und P stattfindet, an dem diese
Die Lehre vom ürtheil. 105
Möglichkeit hängt, wird in jedem Einzelfalle dieser Art
nur durch die sachliche Kenntniß des gegebenen Urtheils-
inhalts verbürgt. Mit Recht verlangt daher die Mathematilc,
welche die reine Umkehrung allgemein bejahender Urtheile
häufig vollzieht, für die Richtigkeit des umgekehrten jedes-
mal einen besonderen Beweis und schärft durch dies vor-
sichtige Verfahren die Regel ein, daß aus blos logischem
Recht das allgemein bejahende ürtheil nur unreine Um-
kehrung in ein particular bejahendes verträgt. Es verhält
sich anders mit dem allgemein verneinenden Urtheile : Kein S
ist P. Diese völlige Ausschließung beider Begriffe aus-
einander gilt offenbar wechselseitig und rechtfertigt die
Behauptung, daß auch kein P ein S sei. Allgemein ver-
neinende Urtheile erfahren daher reine Umkehrung in wieder
allgemein verneinende.
81. Aus dem particular bejahenden Satze: einige S
sind P, folgt einleuchtend die reine Umkehrune in den
wieder particularen : einige P sind S. Und diese Folgerung
befriedigt auch in allen Fällen, in welchen P ein allgemeines
Prädicat ist, an welchem S neben andern Subjecten theilhat;
so wird die Behauptung: einige Hunde sind bissig, mit
Recht sich in die andere umkehren: einiges Bissige sei
Hund. Wenn jedoch S die allgemeine Gattung ist, der P
als Art gehört, wie in dem Satze : einige Hunde seien Möpse,
wird die nach allgemein logischem Rechte allein zulässige
ümkehrung : einige Möpse seien Hunde, unvortheilhaft gegen
die sachlich richtige: alle Möpse sind Hunde, abstechen.
Richtig: freilich ist auch sie ; aber sie drückt nur einen Theil
der Wahrheit und zwar in einer Form aus, welche den
andern Theil derselben, daß auch alle übrigen Möpse Hunde
sind, eher zu verneinen als zu bejahen scheint. Dies wird
noch fühlbarer, wenn man sich' das Ürtheil: alle Möpse
sind Hunde, gegeben denkt und es zweimal convertirt.
Aus der ersten Umkehrung: einige Hunde sind Möpse,
kommt man durch die zw^eite Umkehrung nicht mehr zu
dem gegebenen Satze zurück; die logischen Operationen
haben also hier den Erfolg gehabt, einen Theil der Wahrheit
aus dem Wege zu schaffen. Diese Unschicklichkeit wäre
leicht zu vermeiden, wenn man die Quantitätsbezeichnungen,
dem Sinne gemäß, als untrennbar von ihren Substantiven
ansähe; man hätte dann gleich den gegebenen Satz so
geformt: alle Möpse sind einige Hunde: umgekehrt: einige
Hunde sind alle Möpse; zweite Umkehrung: alle Möpse
106 Zweites Kapitel.
sind einige Hunde. Aber es lohnt nicht, diese doch unfrucht-
baren Formeln zu verbessern.
Das particular verneinende ürtheil : einigf^ S sind nicht P,
behauptet an sich nur die Trennbarkeit des S von P. nicht
aber auch die des P von S. Die reine Umkehrung: einige P
sind nicht S, gilt daher nicht allgemein, sondern nur für
solche P. die als gemeinschaftliche Prädicate vers«"hiedener
Subiecte nicht ausschließlich in der Natur d'es< S Redingungen
ihres möglichen Vorkommens finden. Der Satz: einige
Mensrhen sind nicht schwarz, gestattet aus di«^sem Grunde
die ümkehrung: einiges Schwarze ist nicht Mensch: aber
die Urtheile: einige Menschen sind nicht fromm, einige
sind nicht Christen, würden ergeben : einiges Fromme ist
nicht Mensch, einige Christen sind nicht Menschen, beides
unzulässig, da Frömmigkeit und Christenthum zwar nicht
allen, aber doch nur Menschen zukommen. Diese Un-
zuträglichkeiten werden nur dadnrch allgemein vermie'^^n,
daß man in dem gegebenen Urtheil die Negation zum Prä-
dicat schlägt und den nunmehrigen Satz : einige S sind NcmP,
nach Art der particular bejahenden umkehrt in: einige
NonP sind S; einiges Nichtschwarze, einiges Nichtfromme,
einige Nicht-Christen sind Menschen.
82. Dies hier nothwendige Verfahren hat man unter
dem Namen der Umkehrung durch Contraposition auf
alle Urtheile ausgedehnt: in den bejahenden soll die Be-
jahung des P durch Verneinung von NonP, in den ver-
neinenden die Verneinung von P durch Bejahung von Non P
ersetzt, die verwandelten Urtheile dann nach den gewöhn-
lichen Regeln umgekehrt werden. Man erhält auf diesem
Wege zuerst für A : alle S sind P, kein S ist Non P ; daraus :
kein Non P ist S. Für das particular bejahende I dagegen :
einige S sind P, würde die Transformation in: einige S sind
nicht NonP, nach dem Obigen keine Conversion gestatten,
für I also die Contraposition unausführbar sein ; für E da-
gegen erhält man : kein S ist P, alle S sind Non P, einige
Non P sind S ; für 0 endlich : einige S sind nicht P, einige S
sind Non P, einige Non P sind S. Die Durchführung dieser
Operationen an Beispielen würde unförmliche, dem natür-
lichen Denken fremde Ausdrucksweisen erzeugen; was man
mit diesen vier Fällen eigentlich sagen will, läßt sich ein-
facher mittheilen, wenn man die quantitativen Bestimmungen
der vorkommenden Urtheile durch die gleichgeltenden
Die Lehre vom Urtheil. 107
modalen ersetzt; auch die an sich unmögliche Contra-
position von I wird dann noch benutzbar. Es würde nämlich
die Umkehrung von A bedeuten: wenn allen Einzelnen
einer Gattung S das Prädicat P zukommt, so ist es un-
möglich, daß etwas ein S sei, dem dies Merkmal fehlt; die
von I : wenn nur von einigen Arten des S feststeht, P komme
ihnen zu, so ist nicht nothwendig, sondern nur möglich,
daß etwas, dem P fehlt, kein S sei ; die von E : wenn der
Gattung S das Merkmal P allgemein fehlt oder widerspricht,
so ist es nicht nöthig, sondern nur möglich, daß etwas, dem
das P gleichfalls fehlt oder widerspricht, eine Art von S
sei; und eben diese letzte Folgerung ist auch die von 0:
wenn einige S nicht P sind, so wird etwas, das gleichfalls
nicht P ist, ein S sein können, aber nicht müssen.
Drittes Kapitel.
Die Lehre vom Schluß und den syste-
matischen Formen.
Vorbemerkungen über die Aristotelische Syllogistik.
Ich habe die unerledigte Aufgabe angedeutet, die vom
disjunctiven Urtheil weiter treibt. Ehe ich diesen syste-
matischen Zusammenhang verfolge, halte ich für vortheil-
haft, die Lehre vom Schlüsse in der Gestalt vorzutragen,
die sie durch Aristoteles erhalten hat. Doch folge ich nicht
der originalen Darstellungsweise des großen griechischen
Philosophen, sondern der bequemeren später üblich ge-
wordenen. Die Schriften des Aristoteles sind erhalten;
wer Antheil an der ersten Entstehung dieser Lehren nimmt,
hat es leicht, sich an seiner meisterhaften Entwickelung zu
erfreuen; wo es sich dagegen nicht um die Geschichte der
Sache, sondern um die Sache selbst handelt, würde es
nutzlose Coquetterie sein, die unbequemen Ausdrucks-
weisen des Erfinders den kleinen Erleichterungen vor-
zuziehen, welche die Folgezeit zu Gebote stellt.
83. Schluß oder Syllogismus nennen wir im Sinn des
Aristoteles jede Verknüpfung zweier Urtheile zur Erzeugung
eines gültigen dritten, das nicht in der bloßen Summirung
jener beiden besteht. Unmöglich würde diese Erzeugung,
wenn der Inhalt jener vorausgeschickten Urtheile, der beiden
Prämissen, propositiones praemissae, völlig verschieden
wäre; sie wird nur möglich, wenn beide einen gemeinsamen
Bestandtheil M, den Mittelbegriff oder medius terminus
enthalten, welchen die eine mit S, die andere mit P in
Beziehung setzt. Durch diese Vermittelung untereinander
in Zusammenhang gebracht, können die beiden Begriffe S
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 109
und P in dem Schlußsatz, der conclusio, zu einem Ürtheil
von der Form : S ist P, oder kürzer bezeichnet : SP, zu-
sammentreten, aus welchem der Mittelbegriff, der zu seiner
Erzeugung gedient hat, wieder verschwunden ist. In der
Natur der Sache besteht kein Grund, einen Werthunterschied
zwischen den beiden Prämissen SM und PM zu machen;
ein Herkommen jedoch, das geachtet werden muß, wenn
nicht alle festgesetzten Kegeln eine verwirrende Umdeutung
erheischen sollen, hat bestimmt, daß Obersatz oder prop.
major diejenige Prämisse heißen soll, die außer M das
Prädicat P, Untersatz oder prop. minor die, welche
außer M das Subject S des künftigen Schlußsatzes enthält;
dieser selbst wird immer in der Form SP, nicht in der
umgekehrten PS gedacht. Unter dieser Voraussetzung ent-
springen aus den verschiedenen Stellungen, welche die drei
begritfe noch annehmen können, folgende vier verschiedene
Anordnungen, deren drei erste die drei Aristotelischen
Figuren darstellen, während die vierte die Figur des
Galenus bildet.
I) MP II) PM III) MP IV) PM
SM SM MS MS
W SP SP SP
84. Fragen wir nun, ob und miter welchen Bedingungen
diese zunächst nur combinatorisch angenommenen An-
ordnungen der Prämissen einen triftigen Schluß begründen,
so finden wir sogleich die Berechtigung, S und P in diesem
zusammenzubringen, von der völligen Identität des Mittel-
begriffs abhängig; sie wird selbstverständlich hinfällig, so-
bald das M, welches in der einen Prämisse mit S verknüpft
ist, ein anderes ist, als das M, welches in der andern mit P
verbunden ist. Vier Begriffe würden durch diese Spaltung
des M, anstatt der nothwendigen und hinreichenden drei,
in den Prämissen auftreten ; die Vermeidung dieser quatemio
terminorum und die Sicherung der völligen Identität des
Mittelbegriffs ist daher die gemeinsame Bedingung für die
Schlußkraft aller Figuren. Um diese Bedingung zu erfüllen,
ist es zuerst in allen Figuren nothwendig, jede Doppel-
deutigkeit des Wortes auszuschließen, durch welches wir
den von uns gemeinten Mittelbegriff M bezeichnen; außer-
dem aber machen zu gleichem Zweck die einzelnen Figuren
je nach der Eigenthümlichkeit ihres Baues besondere, so-
gleich zu erwähnende Vorsichtsmaßregeln nothwendig.
85. Die erste Figur ordnet im Untersatz ihr S in
110 Drittes Kapitel.
den Umfang von M, im Obersatz dies M in den Umfang
von P, und um deswillen im Schlußsatz S in den Umfang
von P. Der Gedanke, der dieser Folgerung zu Grunde liegt,
ist sichtlich der der Subsumption; jedem Subject kommt
das Prädicat seiner Gattung zu. Schon hieraus kann man
ableiten, daß der Obersatz der ersten Figur allgemein sein
muß; denn er soll die Regel aussprechen, welche auf das
Subject des Untersatzes angew^andt werden soll. Die For-
derung der Identität des Medius terminus führt zu dem-
selben Ergebniß. Denn das S des Untersatzes ist immer
eine bestimmte Art, oder ein bestimmter Fall des M; die
Form des Satzes sagt dies aber nicht, sondern läßt S nur
überhaupt als eine unbestimmte Art des M erscheinen;
soll nun dies unbestimmte M dasselbe sein, wovon der Ober-
satz behauptet, es sei P, so ist dies nur zu .erreichen, wenn
der Obersatz allgemein von allen M spricht, und so jenes
unbestimmte mit umfaßt. Allerdings ist dann das aus-
gesprochene M des Obersatzes nicht identisch mit dem M
des Untersatzes, welches nothwendig, als Prädicat des S,
nur einen Theil vom ganzen Umfang des M bedeutet;
allein diese anscheinende Schwierigkeit hebt sich durch
die Ueberlegung, daß das zur Hervorbringung des Schlusses
benutzte M des Obersatzes ebenfalls nur ein Theil des
dort ausgesprochenen, nämlich genau dasjenige ist, welches
im Untersatz gemeint ist. Da ferner die Folgerung des
Schlußsatzes auf der Unterordnung des S unter M beruht,
so muß diese Unterordnung auch bestehen, der Untersatz
mithin, der sie ausspricht, muß bejahend sein; wäre er ver-
neinend, so würde er einfach das Vorhandensein des Rechts-
grundes leugnen, aus dem die Gültigkeit des Schlußsatzes
fließen könnte. Gleichgültig ist es dagegen für den logischen
Zusammenhang des Schlusses und lediglich seinem jedes-
maligen Inhalte zuzurechnen, ob das, was vom M des Ober-
satzes ausgesagt wird, Bejahung oder Verneinung des P
ist, und ob das Anwendungsbeispiel, welches der Untersatz
für dieses allgemeine Verhalten herbeibringt, alle S oder
nur einige derselben umfaßt. Daher ist die Qualität des
Obersatzes und die Quantität des Untersatzes unbeschränkt.
Im Schlußsatz endlich soll die Beziehung, welche der Ober-
satz dem M zu P gibt, gleichviel ob Bejahung oder Ver-
neinung, unverändert auf das unveränderte, gleichviel ob
allgemeine oder particulare Subject des Untersatzes über-
tragen werden; der Schlußsatz hat daher die Qualität des
Obersatzes und die Quantität des Untersatzes. Denkt man
Die Lebte vom Schluß und den systematischen Formen. 111
sich jede Möglichkeit benutzt, weiche diese Regeln übrig
lassen, so entstehen iiir gültige Arten oder Modi der ersten
Figur. Ihre scholastischen iNamen ßaruara Celarent Darii
und Ferio, in bekannter Weise durch die drei Vooaie der
Reihe nach Qualität und Quantität der Prämissen und der
Conclusion bezeichnend, machen uns die Auszeichnung der
ersten Figur deutlich, Schlußsätze jeder Art erzeugen zu
können.
86. Die Prämissen der zweiten Figur zeigen uns
zwei Subjecte S und P in Beziehung zu dem Prädicate M.
Haben nun beide dies Prädicat oder haben sie es beide
nicht, sind also beide Prämissen positiv oder beide negativ,
so ist hieraus gar keine Folgerung in Bezug auf ein gegen-
seitiges Verhältniß zwischen S und P möglich. Denn an
einem Merkmal M zugleich Theil haben oder zugleich von
ihm ausgeschlossen sein können unzählige Subjecte, ohne
daß außer dieser Gemeinsamkeit irgend eine andere zwischen
ihnen zu bestehen braucht, namendich ohne daß das eine S
eine Art des andern P sein muß. iNur wenn das eine Sunject
immer oder allgemein das Merkmal M hat oder nicht hat,
das andere aner sich zu M entgegengesetzt verhält, ist die
Folgerung begründet, das zweite könne keine Art des ersten
sein. Die Prämissen der zweiten Figur müssen daher von
entgegengesetzter Qualität, und eine von ihnen allgemein
sein. Da aber außerdem herkömmlicher Weise der Untersatz
jenes zweite Sunject liefert, so muß die Prämisse, in der
das erste erwähnt wird, also der Obersatz, die allgemeine
sein. Zusammengefaßt sind daher die Bedingungen der
zweiten Figur: der Obersatz ist allgemein, aber seine Qua-
lität unbeschränkt; der Untersatz hat die entgegengesetzte
Qualität des Obersatzes und ist unbeschränkt in der
Quantität; der Schlußsatz ist stets negativ und hat die
Quantität des Untersatzes. Die möglichen Modi sind
Camestres Baroco Cesare Festino.
87. Die dritte Figur bringt dasselbe Subject M in
Beziehung zu zwei Prädicaten P und S. Hat nun M beide
Prädicate, sind also beide Prämissen positiv, so müssen P
und S vereinbar sein; es folgt mithin, nach dem ge-
bräuchlichen logischen Ausdruck einer solchen Möglichkeit,
der particular bejahende Schluß: einige S sind P. Die
nöthige Identität des M wird in diesem Falle durch die
Allgemeinheit schon einer Prämisse, gleichgültig welcher,
hinlänglich gesichert; denn es ist offenbar kein Unterschied,
ob alle M das Merkmal P und nur einige das S, oder ob
112 Drittes Kapitel.
alle M das S und nur einige das P besitzen: so wie so
gibt es immer einige M, die beide zusammen besitzen und
hierdurch den stets particularen Schlußsatz: einige S sind P,
rechtfertigen. Uebrigens könnte gerade hier, wo M in beiden
Prämissen Subject ist, seine Identität auch leicht durch
völlig individuelle Bedeutung, also durch den Eigennamen
einer Person, verbürgt werden. Man begegnet solchen
Schlüssen oft; um die Vereinbarkeit zweier Leistungen zu
beweisen, die einander auszuschließen scheinen, führt man
ein Beispiel an: Sokrates sei P gewesen, Sokrates auch S;
folglich was S sei, könne auch P sein, oder : einiges S ist P.
Die Logik rechtfertigt solche Schlüsse dadurch, daß sie dem
singularen Urtheile, d. h. dem, dessen Subject nicht ein
unbestimmter Theil eines Allgemeinbegriffs, sondern eine
völlig bestimmte, nur einmal vorkommende Einzelheit ist,
den syllogistischen Werth eines allgemeinen Urtheils zu-
theilt. So tritt dieser Fall unter die obige Regel, welche
bei zwei positiven Prämissen eine allgemeine verlangt,
einen particular bejahenden Schlußsatz vorschreibt und die
Modi Darapti Datisi und Disamis zuläßt.
88. Hat ferner dasselbe Subject M das eine Merkmal,
aber das andere nicht, ist also eine Prämisse positiv, die
andere negativ, so müssen S und P trennbar sein, oder
es folgt nach gewöhnlichem Ausdruck der particular ver-
neinende Schluß: einige S sind nicht P. Zur Identität
des M reicht auch hier die Allgemeinheit einer Prämisse
hin, gleichgültig welcher, aber der Untersatz muß bejahend
sein. Denn ein Merkmal, welches an einem Subject vor-
kommt, ist allerdings immer trennbar von dem andern,
welches an demselben Subject nicht vorkommt; aber dies
letztere braucht nicht trennbar von dem erstem zu sein;
es bleibt denkbar, daß dies zweite nur entweder gar nicht
oder doch blos in Verbindung mit dem ersten bestehen kann.
So ist Lebendigkeit ohne Vernünftigkeit, aber nicht Ver-
nünftigkeit ohne Lebendigkeit ein mögliches Merkmal eines
Thieres. Nur das bejahte Merkmal ist mithin das trennbare;
nur von ihm als Subject kann der Schlußsatz behaupten,
es sei nicht immer mit dem andern als Prädicat verbunden ;
dies Subject des Schlußsatzes aber liefert herkömmlich
der Untersatz; dieser also muß bejahend, nur der Obersatz
darf verneinend sein. Unter dieser Bedingung geben ge-
mischte Prämissen die Modi Felapton Ferison und Bocardo,
auch sie wie die vorigen mit nur particularen Schlußsätzen.
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 113
89. Allgemein behauptet endlich die Logik: aus zwei
negativen Prämissen gebe auch die dritte Figur keinen
gültigen Schluß. Dies ist irrig ; es kann mit Recht aus ihnen
eine Folgerung gezogen werden, die ganz gleichartig und
an Werth völlig ebenbürtig mit denen ist, welche aus
positiven oder gemischten Vordersätzen fließen. Denn wenn
jene beweisen, daß S und P vereinbar, diese, daß sie trenn-
bar sind, so beweisen mit gleichem Recht zwei negative
Prämissen, daJi S und P nicht contradictorisch entgegen-
gesetzt sind, daß mithin, was nicht S ist, darum nicht P
zu sein braucht; nach gewöhnlicher Bezeichnungsweise:
einige Nicht-S sind nicht P. Es ist durchaus nicht einzu-
sehen, warum diese Folgerung an Werth jenen beiden nach-
stände; denn die erste ruft uns doch auch nur zu: wo
ihr S findet, macht euch auf die Möglichkeit gefaßt, auch
P zu finden; die zweite: wo ihr S antrefft, rechnet nicht
darauf, daß auch P sein werde; ganz ebenso diese dritte:
wo ihr S nicht beobachtet, hütet euch zu schließen, daß
um so mehr P da sein werde. Im Leben aber begegnet
man solchen Schlüssen oft; tausendfältig, wo aus dem
Nichtvorhandensein einer Eigenschaft voreilig auf die Noth-
wendigkeit einer andern geschlossen worden ist, beruft man
sich auf Beispiele, in welchen weder die eine noch die
andere angetroffen wird, und berichtigt so ein falsches
Vorurtheil durch einen Schluß nach der dritten Figur aus
zwei negativen Prämissen. Gültig ist daher diese B'olgerung
ohne Zweifel; doch ist es nicht zeitgemäß mehr, nachträg-
lich ihren möglichen Modis Namen zu erfinden.
90. Die Prämissen der vierten dem Claudius Galenus
zugeschriebenen Figur geben formell ein Gegenbild der
ersten Aristotelischen, ohne ihr jedoch an logischem Werth
zu gleichen. Man unterscheidet die Modi Bamalip Calemes
Dimatis Fesapo Fresiso. Die Prämissen von Bamalip : alle
Rosen sind Pflanzen, alle Pflanzen bedürfen Luft, wird jedes
natürliche Denken stillschweigend umstellen und dann aus
ihnen nach Barbara der ersten Figur schließen : alle Rosen
bedürfen Luft. Dieser Schlußsatz ist dann freilich von der
Form PS, aber der andere von der Form SP, welchen die
vierte Figur verlangt, ist aus ihm durch einfache Umkehrung
zu erhalten: einiges Luftbedürftige ist Rose. Dagegen ist
aus dieser letztern Folgerung nach der vierten Figur durch
Umkehrung diejenige nicht wiederzugewinnen, die wir nach
der ersten Figur aus denselben Prämissen zogen, vielmehr
L 0 1 z e , Logik. 8
114 Dritlos Kapitel.
gibt diese Couversioii nur den particularen Satz: einiges,
was Rose ist, ist luftbedürftig. Mithin geht in diesem Falle
durch den Schluß nach der Galenischen Figur geradezu ein
Theil der Wahrheit verloren, die in den Prämissen begründet
ist; eine üble Empfehlung für ein Schlußverfahren, dessen
Pflicht immer ist, aus Gegebenem so viel neue Wahrheit
zu folgern als möglich. Dies Ungeschick zwar könnte man
vermeiden, wie früher gezeigt, natürlicher w^ürde jedoch
auch hierdurch der Schluß nicht. Ebenso unnatürlich sind
Calemes und Dimatis, deren Prämissen jedes unbefangene
Denken umstellen und nach Celarent und Darii der ersten
Figur benutzen wird; einen Wahrheitsverlust freilich ver-
schulden sie nicht, da der negative Schlußsatz von Calemes
reine Umkehrung erlaubt, anderseits der von Darii ebenso
blos particular ist, wie der von Dimatis. Nur Fesapo und
Fresiso lassen sich, wegen des entstehenden negativen Unter-
satzes in beiden, des particularen Obersatzes im zweiten,
minder bequem auf die erste Figur zurückbr'ngen; s'e gihen
dafür durch reine Umkehrung der Obersätze in Felapton
und Ferison der dritten über und geben nach dieser Um-
formung ebenfalls natürlichere Schlußsätze. Nach allem
ist daher die vierte Figur eine sehr entbehrliche Zugabe zu
den drei Aristotelischen.
91. Aristoteles hielt die Folgerungen nach allen drei
Figuren für triftig, aber nur die nach der ersten für voll-
kommen. Denn nur diese Figur lasse in der Gestaltung
der Prämissen auch formell den Rechtsgrund klar hervor-
treten, der die Möglichkeit jeder Folgerung bedingt: die
Unterordnung des Besonderen unter sein Allgemeines. Auch
in den beiden andern Figuren beruhe zwar der Schluß auf
demselben Rechtsgrunde; auch seien die Unterordnungs-
verhältnisse, die zur Folgerung nach diesem Princip noth-
wendig und hinreichend sind, in den Prämissen enthalten
und man bedürfe keiner nebenhergehenden Ergänzung der-
selben durch anderweitige Kenntniß, aber die Gestaltung
der Prämissen lege sie doch nicht von selbst dar; man
müsse sie in ihnen aufsuchen. Diesen formalen Mangel
der beiden letzten Figuren suchte Aristoteles durch An-
gabe der Umformungen zu ergänzen, durch welche ihre
Prämissen ohne Aenderung ihres Inhalts in solche nach
der ersten Figur verwandelt werden können. Man hat dies
überflüssig gefunden und eingew^andt, daß auch die beiden
andern Figuren nach eigenen für sich einleuchtenden Grund-
sätzen schließen ; so sei der Grundgedanke der zweiten :
Die Lehre vom Schluß uiid den systematischen Formen. 115
wenn zwei Dinge sich in Bezug auf dasselbe Merkmal ent-
gegengesetzt verhalten, könne das eine keine Art des andern
sein, iür sich klar und unabhängig von dem Grundsatz der
Unterordnung. Dies bezweifle ich, lasse es aber auf sich
beruhen; denn wenn man überhaupt die beiden letzten
Figuren nach irgend einem Grundsatze schließen läßt,
so gibt man damit schon zu, daß der Rechtsgrund aller
Folgerungen in der Unterordnung des Einzelnen unter das
Allgemeine liegt; denn wozu nützten diesen Figuren ihre
Grundsätze, außer um durch Unterordnung des Prämissen-
inhalts unter sie ihre Gonclusion zu rechtfertigen? Mit
seinem allgemeinen Gedanken über den Vorzug der ersten
Figur hatte daher Aristoteles Recht; auch kann man das
Interesse theilen, welches er daran nahm, ein für allemal
durch jene Umgestaltungen die beiden andern zu recht-
fertigen; in dem Gebrauch des Denkens aber hat freilich
die wirkliche Ausführung dieser Umformungen selten er-
heblichen Werth; einen solchen Fall glaubten wir eben bei
Betrachtung der vierten Figur zu finden; die Schlüsse der
zweiten und dritten sind durchsichtig genug, um dies Hülfs-
mittel entbehren zu können.
92. Es reicht daher hin zu erwähnen, daß die scho-
lastische Logik in den Namen der Modi der beiden letzten
Figuren durch die Buchstaben m s p c die zu diesem Zwecke
nöthigen Operationen angedeutet hat. Und zwar verlangt
ni (metathesis) die Umstellung der Prämissen; s und p be-
fehlen rein (simpliciter) oder unrein (per accidens) den-
jenigen Satz umzukehren, hinter dessen charakteristischem
V'ocal sie stehen ; nur die weniger einfache Bedeutung von c,
die Zurückführung auf das Unmögliche (per impossibile
ductio), ist sogleich durch das Beispiel Baroco zu erläutern.
Die Prämissen sind hier: alle P sind M; einige S sind
nicht M; der Schlußsatz: einige S sind nicht P. An-
genommen nun, dieser Schlußsatz sei falsch, so folgt ad
contradictoriam : alle S sind P. Verhielte sich dies nun so,
und ordnete man dem gegebenen Obersatze: alle P gind M,
diesen neuen Untersatz bei: alle S sind P, so würde nach
Barbara der ersten Figur folgen : alle S sind M. Aber dieses
Ergebniß widerspricht dem gegebenen Untersatz : einige S
sind nicht M; mithin war die Leugnung der Richtigkeit des
nach Baroco gefundenen Schlußsatzes unzulässig; er selbst:
einige S sind nicht P, ist richtig. Die anderen Operationen
bedürfen kaum der Beispiele. Wie Bamalip der vierten
Figur durch Umstellung m der Prämissen und unreine
8*
116 Drittes Kapitel.
Conversion p des Schlußsatzes, der dann nach der ersten
Figur gezogen worden war, auf diese zurückgebracht wird,
haben wir vor kurzem gesehen; Camestres der zweiten:
alle P sind M; kein S ist M; kein S ist P, erhält durch
Umstellung m der Prämissen und durch reine Umkehrung
s des Untersatzes die neuen Prämissen: kein M ist S;
alle P sind M; hieraus folgt nach Celarent der ersten: kein
P ist S; dieser Schlußsatz bedarf noch der reinen Um-
kehrung s^ um den von Camestres verlangten: kein S ist
P, zu ergeben. Darapti der dritten lautet: alle M sind P;
alle M sind S; einige S sind P; die unreine Umkehrung p
des Untersatzes gibt die Prämissen: alle M sind P; einige
S sind M; der hieraus nach Darii der ersten folgende
Schlußsatz: einige S sind P, bedarf keiner weitern Um-
formung, sondern ist unmittelbar mit dem von Darapti
entspringenden identisch.
93. Bisher dachten wir uns die Prämissen als kate-
gorische Urtheile von der Form: S ist P. Aber die Ver-
anlassungen unseres Denkens können sie auch in hypo-
thetischer oder disjunctiver Form darbieten. Diese Unter-
schiede, wichtig für die Urtheile als solche, sind es nicht
für den Zusammenhang des Schlusses; sie gehören hier
stets zu dem Inhalt und erfordern nur Beachtung, nicht
Aenderung der gewöhnlichen Schlußregeln. Am einfachsten
ist dies klar für den Fall zweier hypothetischen Prämissen,
deren jede zwei von den drei Sätzen MSP als Vorder-
und Nachsatz verknüpft. Genau wie bei kategorischen
Prämissen, wo MSP drei Begriffe bedeuten, schließt man
hier nach Darii: immer wenn M gilt, gilt P; zuweilen wenn
S gilt, gilt M; also zuweilen wenn S gilt, gilt P; nach
Camestres : immer wenn P gilt, gilt M ; niemals wenn S
gilt, gilt M; folglich niemals wenn S gilt, gilt P; nach
Disamis: zuweilen wenn P gilt, gilt M; immer wenn S gilt,
gilt M; folglich zuweilen wenn S gilt, gilt P. — Eigen-
thümlicher sind die Fälle, in welchen ein hypothetischer
Obersatz an einen Grund G, welcher den Inhalt seines
Vordersatzes bildet, allgemein eine im Nachsatz ausge-
sprochene Folge F knüpft, ein kategorischer Untersatz aber
für alle oder einzelne Fälle der Art S entweder G oder F
bejaht oder verneint. Man schließt diese Fälle am ein-
fachsten den unmittelbaren Folgerungen aus dem Urtheil
an, denn Grund und Folge verhalten sich wie subalternans
und subalternata. Man kann nun zuerst ad subalternatam
aus der Ungültigkeit der Bedingung G für bestimmte Fälle
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 117
von S nicht auf das Nichtgelten der Folge F in denselben
Fällen schließen; denn dieselbe Folge kann aus andern
äquivalenten Gründen dennoch bestehen. Aber man schließt
aus der Geltung des Grundes auf die Geltung der Folge.
Hieraus entspringen, da G sowohl Geltung als Nichtgeltung
von F begründen kann, zwei Schlüsse: 1) wenn G gilt,
gilt immer F; in allen oder einzelnen Fällen von S gilt G;
also in allen oder einzelnen Fällen von S gilt F; dies ist
ein modus ponendo ponens, der durch Setzung der Be-
dingung die Folge setzt; er entspricht sichtlich den Modis
Barbara und Darii der ersten Figur ; 2) wenn G gilt, so gilt
niemals F; in allen oder einzelnen Fällen von S gilt G;
folglich in allen oder einzelnen Fällen von S gilt F nicht;
ein m. ponendo tollens, sofern er die Folge F durch Setzung
der Bedingung ihres Gegentheils aufhebt; übrigens offenbar
ein Gegenbild von Celarent und Ferio der ersten Figur.
In der entgegengesetzten Richtung ad subaltemantem fließt
aus der Gültigkeit des Satzes F in bestimmten Fällen von
S nicht die Gültigkeit der einzelnen Bedingung G, von
welcher er in andern Fällen abhängig gefunden wurde ; denn
dieselbe Folge F kann aus mehreren äquivalenten Gründen
entspringen. Aber aus der Nichtgeltung des Satzes F für
bestimmte Fälle von S folgt die Ungültigkeit jeder, mithin
auch der einzelnen Bedingung G, von der er begründet
werden könnte. Zulässig sind daher die Schlüsse : 3) wenn
G gilt, gilt F immer; in allen oder einzelnen Fällen von
S gilt F nicht; also in allen oder einzelnen Fällen von
S gilt G nicht; ein m. tollendo tollens, der durch Aufhebung
der Folge den Grund aufhebt, der sie nothwendig begründet
haben würde, wenn er gegolten hätte; übrigens offenbar
Camestres und Baroco der zweiten Figur entsprechend;
4) wenn G gilt, gilt F niemals; in allen oder einzelnen
Fällen von S gilt F; folglich in allen oder einzelnen Fällen
von F gilt G nicht; ein m. ponendo tollens, der durch
Setzung einer Folge die Bedingung leugnet, unter der sie
unmöglich gewesen wäre; er wiederholt Cesare und Festino
der zweiten Figur. Man kann endlich erwägen, daß auch
die Nichtgeltung des Satzes G Grund für Gültigkeit oder
Ungültigkeit des Satzes F sein kann, und erhält dann die
Schlüsse: 5) wenn G nicht gilt, gilt allemal auch F nicht;
in allen oder einigen Fällen von S gilt G nicht; in den-
selben Fällen mithin auch F nicht; ein m. tollendo tollens
ohne Eigenthümlichkeit, der nur ins Negative den ponendo
118 Drittes Kapitel.
ponens übersetzt; 6) wenn G nicht gilt, gilt allemal F;
nun aber in allen oder einigen Fällen von S gilt F nicht;
folglich gilt in diesen Fällen G; ein m. tollendo ponens,
der uns zur Vollständigkeit aller Combinationen von Setzung
und Aufhebung noch fehlte; er setzt die Gültigkeit eines
Grundes durch Aufhebung der nothwendigen Folge seiner
Ungültigkeit. Eine leichte Umformung des Ausdru'ks zeigt,
daß auch diese letzten beiden Fälle der zweiten Figur an-
gehören; der zweite würde lauten können: wenn Non G
gilt, gilt immer F; nun gilt immer oder zuweilen F nicht,
also gilt immer oder zuweilen Non G nicht. — Da hiermit
alles erschöpft ist, was aus dem Verhältniß der Subalter-
nation fließt, so gibt es keine Folgerungen dieser Art, welche
sich der dritten Figur anreihen ließen.
94. Wichtiger als diese syllogistischen Künste ist mir
ein Umstand, dessen ich bei dieser Gelegenheit nirgends
eindringlich gedacht finde: alle diese Schlüsse beziehen
sich nur auf ein Verhältniß zwischen dem Grunde G und
seiner Folge F, nicht auf das einer Ursache G zu ihrer
Wirkung F. Nur in der Welt der Gedanken hat eine Be-
dingung G, wenn sie einmal als gültig gesetzt wird, die ihr
zustehende denknothwendige Folge F immer; in der Wirk-
lichkeit kann die Ursache G, auch wenn sie besteht und
wirkt, ihr Erfolg F stets durch eine Gegenkraft U vereitelt
werden. In ihrer Uebertragung auf wirkliches Geschehen
bedürfen daher alle diese Schlüsse Modificationen, welche
die angewandte Logik lehren wird; so ist es nicht zulässig
zu schließen, überall wo die Ursache G wirke, müsse ihr
Erfolg F wirklich sein; nicht zulässig, wenn G eine
Hemmungsursache von F ist, zu behaupten, wo diese Hem-
mung G wirklich sei, könne F nicht in Wirklichkeit vor-
kommen; auch G kann seinerseits durch ein U gehemmt sein
oder F dennoch durch eine dritte Ursache V verwirklicht.
Es ist deshalb in der reinen Logik ganz unschicklich, die
behandelten Fälle so zu bezeichnen: ihr Untersatz spreche
die Wirklichkeit von G oder F aus; diese beiden einfachen
Buchstaben bedeuten ja hier Urtheile von der Form: S ist
P; nur die logische Zulässigkeit oder Nothwendigkeit dieser
Gedankenverbindung zwischen S und P behauptet der Unter-
satz in Bezug auf gewisse Fälle von S, während der Ober-
satz sie mit einer andern ähnlichen Beziehung zwischen
S und Q zu einem hypothetischen Urtheil von allgemeiner
Geltung verbindet. Ich verfolge dies hier nicht weiter;
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 119
meine in den Bezeichnungen etwas weitläufigere Darstelluüg
hat dies wirkliche Verhalten anzudeuten versucht.
95. Gilt von einem Subject Z : es sei entweder P oder
Q oder R, oder: es sei sowohl P als Q als R, oder: es
sei weder P noch Q noch R, so ersetzen wir zunächst dies
dreigliedrige Prädicat durch das einfache U, und nennen
dies U im ersten Falle disjunctiv, im zw^eiten positiv, im
dritten negativ. Wer sich nun die nicht unerläßliche Mühe
gibt, die Verwendung solcher disjunctiven copulatjven und
remotiven Prämissen im Schlüsse zu verfolgen, wird finden :
1) ist der Obersatz ZU, und ordnet der Untersatz SZ ein
S dem Z unter, so folgen die gewöhnlichen Conclusionen
SU der ersten Figur; in ihnen hat U stets dieselbe Be-
deutung, wie im Obersatze; 2) ist der allgemeine Ober-
satz ZU, der Untersatz SU, und U in dem einen von beiden
positiv oder disjunctiv, im andern negativ, so entstehen die
negativen Schlußsätze SZ der zweiten Figur mit der
Quantität ihres Untersatzes; 3) aus dem Obersatze UZ mit
positivem oder negativem U, und dem Untersatze US mit
gleichem oder entgegengesetztem U folgen die stets parti-
cularen Conclusionen SZ der dritten Figur; 4) in den beiden
letzten Fällen, in welchen das zum Medius terminus ge-
wordene U aus dem Schlußsatz verschwindet, ist seine
Mehrgliedrigkeit ganz bedeutungslos ; was folgt, folgt ebenso
gut, wenn man nur eins seiner Glieder P oder Q nach seinem
Verhalten in beiden Prämissen in Betracht zieht. Ebenso
wenig Neues entsteht, wenn zu dem allgemeinen Obersatz
ZU ein Untersatz tritt, der für das einzelne Subject Z eines
der Glieder von U behauptet oder leugnet. Sagt der Ober-
satz mit blos zweigliedriger Disjunction: alle Z sind ent-
weder P oder Q, der Untersatz aber: dieses Z ist P oder
dieses Z ist nicht P, so folgt: dieses Z ist nicht Q oder
dieses Z ist Q. Diese Folgerungen verstehen sich aus der
Natur des contradictorischen Gegensatzes von selbst; auf
die erste Figur sind sie, ohne denkbaren Nutzen, durch
die Reduction zu bringen: jedes Z, welches nicht P ist,
ist Q; nun ist dieses Z ein Z, welches nicht P ist, also
ist dieses Z ein Q. Dieselben unfruchtbaren Betrachtungen
lassen sich auf mehrgliedriges U des Obersatzes ausdehnen,
denn immer kann man eine beliebige Anzahl seiner Glieder
zum Subject ziehen und mit blos zweigliedrigem U sagen:
jedes Z, welches nicht P und nicht Q ist, ist entweder R
oder T. Polylemmen endlich (Dilemmen, Trilemmen)
120 Drittes Kapitel.
sind Schlüsse mit vielgliedrigem disjunctiven U des Ober-
satzes ZU und einer gleichen Anzahl von Untersätzen, die
zusammen für jedes der Glieder von U dieselbe weitere
Folge T behaupten. Auf diese Fälle, nicht neue logische
Formen, sondern nur eigenthümliche Verwendungen der
bekannten, mag uns die angewandte Logik zurückführen.
96. Gar nicht denke ich dagegen auf die Lehre von
den Schlußketten zurückzukommen. Begreiflich kann
jede Conclusion eines Schlusses Obersatz eines zweiten
werden; Prosyllogismus des zweiten heißt dann der
erste, Episyllogismus des vorigen jeder folgende. Die
bloße Vergleichung der Namen der Schlußmodi lehrt so-
gleich manche Eigenschaften der so entstehenden Kette.
Soll ihr Endglied allgemein sein, so muß der letzte Schluß
einer der beiden ersten Figuren angehören, und da in
diesen der Obersatz ebenfalls allgemein sein muß, so muß
die ganze Reihe der Prosyllogismen, also die ganze Kette
in den beiden ersten Figuren verlaufen; jede Einmischung
eines Gliedes nach der dritten bringt einen particularen
Schlußsatz hervor, der nie wieder zu allgemeinen Con-
clusionen zurückleitet. Hat einer der Schlüsse eine negative
Conclusion, so werden auch die aller Episyllogismen negativ ;
mit positivem und zugleich allgemeinem Endglied kann nur
eine Kette schließen, die durchweg in Barbara verläuft.
Man pflegt nun nach Analogie des einfachen Schlusses noch
weiter zu verlangen, daß der Obersatz des ersten Prosyl-
logismus das Prädicat P, der Untersatz des letzten Episyl-
logismus das Subject S des endlichen Schlußsatzes liefere;
die Regeln aufzufinden, die dann die Bildung dieser Schluß-
kette bedingen, wäre nur Sache der Geduld; ihren Nutzen
wüßte ich nicht anzugeben. Verschweigung des Schluß-
satzes eines Prosyllogismus, der 'zugleich Obersatz des
Episyllogismus ist, erzeugt aus den Ketten die beiden Formen
des Sorites. Der Aristotelische: A ist B, B ist C, C ist D,
also A ist D, ordnet jeden Begriff in den Umfang des folgen-
den, schreitet also vom niederen zum höheren fort und ent-
steht durch Unterdrückung der Schlußsätze, die man aus
je zwei Gliedern so fände: B ist C, A ist B, also A ist C;
dann C ist D, A ist C, also A ist D. Der andere, späte
Erfindung des Professor Goklenius in Marburg [1547 bis
16281 nimmt den entgegengesetzten Gang: seine Prämissen:
B ist A, C ist B, D ist C , . . unterdrücken die Conclusion ;
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 121
C ist A, der beiden ersten Glieder, die als Obersatz zu
dem dritten nach der ersten Figur den Schluß der Kette
liefert: D ist A.
A. Der syllogistische Schluß.
Der Schluß durch Subsumption. — Der Schluß durch Induction. —
Der Schluß durch Analogie.
97. Die logischen Wahrheiten, deren sich das Denken
in seiner Behandlung des Vorstellungsinhalts nach und nach
bewußt geworden war, hatte das disjunctive Urtheil vor-
läufig dahin zusammengefaßt: jedem S, welches eine Art
von M sei, komme von jedem der allgemeinen Prädicate
des M eine besondere Modification mit Ausschluß aller
übrigen als sein Prädicat zu. Die Aufgabe, die nun zu
lösen blieb, war die Auffindung der Denkhandlungen, durch
welche dies geforderte eigenthümliche Merkmal für ein
gegebenes S bestimmbar wurde. Die Aristotelischen Syl-
logismen lösen diese Aufgabe nicht; sie begnügen sich,
das Subject ihres Schlußsatzes nur mit der allgemeinen
Form des Prädicats in Beziehung zu setzen, die ihr Ober-
satz erwähnt hatte; sie sind daher ungeachtet der reichen
Verzweigung, die ihnen und ihren möglichen Verschieden-
heiten der Scharfsinn der früheren Logiker gegeben hat,
doch nur der formell erweiterte und ausführliche Ausdruck
der logischen Wahrheit, die in dem disjunctiven Urtheil be-
reits niedergelegt war. Aehnlich dem impersonalen Urtheile,
welches eine im Begriffe bereits angedeutete Spaltung nur
formell durch die Auseinandersetzung des Subjects und
Prädicats zum Ausbruch brachte, ohne über die gegen-
seitige Beziehung der beiden geschaffenen Glieder Neues
zu lehren, ganz ähnlich setzt in seiner vollkommensten
ersten Figur, auf die wir uns die andern zurückgeführt
denken, auch der Aristotelische Schluß nur in zwei ge-
sonderten Prämissen die allgemeine Regel und den Fall
der Anwendung auch äußerlich auseinander, die in dem
Sinne des disjunctiven Urtheils bereits in denselben gegen-
seitigen Verhältnissen gedacht waren. Sämmtlich auf die
unbestimmte Einordnung eines Begriffes in den Umfang
eines andern gebaut, lassen sich daher die Aristotelischen
Syllogismen, unter dem Namen des Schlusses durch
Subsumption zusammengefaßt, als die erste und ele-
122 Drittes Kapitel.
mentarste Form der neuen Gruppe von Denkhandlungen
betrachten; und wir versuchen, sogleich zu zeigen, zu
welchem weiteren Fortschritte sie nöthigen.
98. Als das sprechendste Beispiel des Gedankens, der
dem Schlüsse durch Subsumption zu Grunde liegt, wähle
ich den Modus Darii, der ausdrücklich dem allgemeinen
Gesetze im Obersatze ein besonderes Beispiel der An-
wendung im Untersatze unterordnet. Alle Menschen sind
sterblich, sagt dieser Modus; Cajus aber ist ein Mensch;
und hieraus schließt er: also ist Cajus sterblich; offenbar
in der Meinung, durch diese Folgerung eine Wahrheit fest-
gestellt zu haben, die vorher noch nicht feststand, nun aber
durch die Wahrheit der beiden Prämissen und ihre Be-
ziehung auf einander gesichert ist. Schon die Skepsis des
Alterthums hat jedoch eingewandt, daß nicht die Prämissen
die Richtigkeit des Schlußsatzes verbürgen, sondern daß
der Schlußsatz bereits gültig sein muß, damit es die Prä-
missen sein können. In der That, wo bliebe die Wahrheit
des Obersatzes : alle Menschen seien sterblich, wenn es in
Bezug auf Cajus noch nicht gewiß wäre, daß er an dieser
Eigenschaft Theil hat? Und wo bliebe die Wahrheit des
Untersatzes, daß Cajus ein Mensch sei, wenn es noch
zweifelhaft wäre, ob er außer andern Eigenschaften des
Menschen auch die der Sterblichkeit hat, die ja der Ober-
satz als allgemeines Merkmal jedes Menschen aufführt?
Anstatt mithin durch ihre für sich feststehende Wahrheit
die des Schlußsatzes zu beweisen, sind vielmehr beide
Prämissen nur unter Voraussetzung seiner Wahrheit richtig,
und dieser doppelte Cirkel scheint zunächst jede logische
Leistung des Syllogismus unmöglich zu machen.
99. Das Gewicht dieses Einwurfs ist nicht hinwegzu-
leugnen; wir verfolgen ihn in Bezug auf verschiedene Fälle.
Wenn wir uns den Obersatz MP als ein analytisches Urtheil
denken, wenn wir also annehmen, P sei ein festes Merk-
mal, ohne welches sich überhaupt der Inhalt des Begriffs M
nicht vollständig denken lasse, so steht allerdings dann die
Allgemeingültigkeit des Obersatzes für sich fest; aber der
Untersatz kann dann ein S nicht dem M unterordnen, ohne
dem S dies unentbehrliche P bereits zuzuschreiben, also
den Schlußsatz vorauszusetzen, der diese Behauptung erst
aussprechen sollte. Wer z. B. es zu dem Begriff des Körpers
rechnet, schwer zu sein, bildet unangefochten den Obersatz :
alle Körper sind schwer; aber er kann die Luft dann im
Untersatze nicht einen Körper nennen, ohne schon mitzu-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 123
denken, was erst der Schlußsatz lehren soll, daß auch die
Luft schwer ist. Allgemein : der Grundsatz der Subsumption
verlangt, daß das untergeordnete Einzelne die Merkmale
seines Allgemeinen theile; aber umgekehrt läßt sich nichts
einem Allgemeinen unterordnen, ohne bereits die Merkmale
zu haben, die dieses ihm vorschreibt. Es würde sich aber
anders verhalten, wenn wir uns den Obersatz MP als ein
synthetisches Urtheil von allgemeiner Geltung dächten. Dann
würde der Inhalt des Begriffes M sich vollständig fassen
lassen, ohne in ihm P mitgedacht zu haben, aber eine Ge-
wißheit von irgend welchem Ursprung lehrte uns zugleich,
daß überall mit diesem M auch P verbunden sei. Darauf
würde der Untersatz an S nur die Merkmale nachzuweisen
haben, durch die es ein M ist, und nun erst der Schlußsatz
das noch nicht mitgedachte P hinzufügen, welches dem S
um seiner Unterordnung unter M willen gebührt. Im wirk-
lichen Gebrauche der Subsumptionsschlüsse macht man
diese Voraussetzungen immer. Wer behauptet, daß alle
Menschen sterblich seien, denkt sich den naturgeschicht-
lichen Charakter der Menschheit durch ihre übrige gegebene
Organisation vollständig bestimmt und sieht die Sterblich-
keit als ein Merkmal an, welches nicht ausdrücklich von
unserem Denken in der Charakteristik des Menschen mit-
gedacht zu werden braucht, weil es als unvermeidliche
Folge ohnehin an jener Organisation hängt, durch die wir
den Begriff des Menschen bestimmen. Darum reicht es
nun im Untersatz aus, auch von Cajus nur diese wesent-
liche Organisation festzustellen, um im Schlußsatze ihm
jene unvermeidliche Folge derselben zuzuerkennen. Noch
deutlicher wird dies, wenn wir uns den Obersatz hypo-
thetisch vorstellen, unter P also nicht ein festes, bleibendes,
sondern ein fließendes Merkmal des M, überhaupt eine Folge
denken, die aus M unter einer gewissen Bedingung x her-
vorgeht, ein Merkmal, welches M unter dieser Bedingung
annimmt oder verliert, einen Zustand, in den es geräth,
oder eine Wirkung, die es ausübt. Dann reicht es hin, im
Untersatz S dem M allein unterzuordnen, um im Schluß-
satz zu folgern, daß auch S, wenn die gleiche Bedingung
X einwirkt, das Merkmal P zeigen müsse. Und auf diese
Form laufen in der That die meisten in der Wissenschaft
wirksamen Anwendungen der Syllogismen zurück; sie zeigen
fast alle, daß S, weil es eine Art von M ist, unter der
Bedingung x im Allgemeinen dieselbe Wirkung P entfalten
oder erfahren werde, die wir an M kennen. Allein, wenn
124 Drittes Kapitel.
es sich vorhin bei analytischem Obersatz fragte, mit welchem
Rechte der Untersatz ausgesprochen werden könne, so fragt
es sich hier bei synthetisch angenommenem Obersatz, mit
welchem Rechte dieser selbst als allgemeingültig behauptet
werden dürfe? Wenn die Sterblichkeit als neues Merk-
mal zu der übrigen Organisation des Menschen nothwendig
hinzukommen soll, so kann doch diese Allgemeingültigkeit
nur unter Voraussetzung der Richtigkeit des Schlußsatzes
bestehen, und sie wird hinfällig, wenn es nun doch einen
eigenesinnigen Cajus gibt, der nicht stirbt. Was man hier-
auf antworten wird, ist klar: natürlich sei jeder allgemeine
Obersatz falsch, der sich in einem einzelnen seiner unter-
geordneten Fälle nicht bestätigt, und diese Gefahr liege
überall nahe, wo jener allgemeine Satz nur durch eine
unberechtigte Verallgemeinerung vieler beobachteten Einzel-
fälle entstanden sei ; wo jedoch die nothwendige Verknüpfung
des M und P an sich nachweisbar sei, da sorge eben diese
gültige Allgemeinheit dafür, daß kein eigensinniger Einzel-
fall vorkommen könne, welcher ihr widerspräche. In dem
angeführten Beispiel liege die Sache zweifelhaft; für die
gemeine Meinung sei die allgemeine Sterblichkeit der
Menschen nur eine Voraussetzung, aus dem überwältigenden
Eindruck unzähliger Beispiele entsprungen, zu denen sich
noch kein Gegenbeispiel gefunden hat ; für den Physiologen
stehe sie zwar, als Folge der gegebenen Organisation, in
seiner Ueberzeugung fest, aber auch ohne sich mit der
wünschenswerthen Genauigkeit darthun zu lassen. In andern
Fällen jedoch sei die Allgemeingültigkeit des synthetischen
Obersatzes entweder durch eine unmittelbare Anschauung
oder durch Beweise verbürgt, die einen gegebenen Inhalt
einer solchen Anschauung unterordnen, und in allen diesen
Fällen reiche der Syllogismus zur sicheren Gewinnung einer
besonderen neuen Erkenntniß hin; denn nichts sei zu ihr
nöthig, als die ausführbare Unterordnung eines S unter
ein M, welches hier wahrhaft den Dienst eines Mittelbegriffs
leiste, S mit einem vorher ihm fremden P zu verknüpfen.
100. Ich lasse hier dahingestellt, ob und in welcher
Ausdehnung überhaupt die unmittelbare Anschauung der
allgemeingültigen Wahrheit eines synthetischen Urtheils
möglich sei; denn ganz unmittelbar klar ist so viel, daß
wir jedenfalls nur sehr selten uns in der Lage befinden
werden, den Inhalt eines allgemeinen Obersatzes auf diesen
Rechtsgrund stützen zu können; unzählige allgemeine Ur-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 125
theiie werden von uns ausgesprochen und zu Folgerungen
benutzt, ohne selbst als unmittelbare Anschauungen gelten
zu können, und ohne daß die Beweise ausführbar wären,
durch welche ihr Inhalt auf solche Quellen der Wahrheit
sich zurückleiten ließe. Diese ganze ausgebreitete Thätig-
keit unseres Denkens kann weder einfach als untriftig bei
Seite gesetzt werden, noch kann sie bestehen ohne logische
Regeln ihrer Gültigkeit. Diesen Regeln haben wir nach-
zuforschen, und zwar sind es ihrer zwei, die wir bedürfen.
Zu dem wirksamen Gebrauche des Schlusses ist es zuerst
nöthig, daß wir allgemeine Obersätze finden lernen, deren
Gültigkeit weder auf einer unmittelbaren Gewißheit, noch
auf der schon gemachten Erfahrung ihrer Richtigkeit in
jedem Einzelfalle beruht; es muß möglich sein, die all-
gemeine Sterblichkeit der Menschen zu behaupten, sowohl
bevor man sie als nothwendige Folge aus ihren Gründen
begreift, als auch bevor man jeden Einzelnen darauf ge-
prüft hat, ob er umzubringen sei oder nicht. Der Unter-
satz aber macht eine zweite Regel nothwendig. Denn mög-
lich ist es zwar in vielen Fällen, ein S dem M deswegen
unterzuordnen, weil man an S alle Merkmale gefunden
hat, welche das M jeder seiner Arten vorschreibt; ausführ-
bar ist aber dennoch in den meisten Fällen diese Leistung
nicht; Niemand wird es für nothwendig oder für vollendbar
halten, auch nur den Cajus unseres Untersatzes in Bezug
auf alle Organisationseigenheiten zu prüfen, um sich das
Recht zu nehmen, ihn der Gattung Mensch unterzuordnen.
Wenn der wirkliche fruchtbare Gebrauch des Denkens mög-
lich sein soll, muß es daher ein Verfahren geben, nach
welchem Untersätze sich finden lassen, die ein gegebenes
Subject einer Gattung unterordnen, noch bevor von ihm
erwiesen ist, daß es vollständig alle Merkmale dieser Gattung
besitze. Die beiden Verfahrungsweisen, die ich hier ver-
lange, lassen sich nun, ohne daß dies indessen von wesent-
licher Bedeutung wäre, an eine etwas veränderte Auffassung
der zweiten und dritten Aristotelischen Figur anschließen.
101. Die allgemeine Aufgabe jedes Schlußverfahrens be-
steht naturgemäß darin, aus gegebenen Datis oder Prämissen
so viel neue Wahrheit zu entwickeln als möglich; wie dies
geschieht, ist an sich völlig gleichgültig; das Verfahren
wird sich nach der Gestalt der Prämissen richten, die wir
nehmen müssen, wie sie uns die Erfahrung, innere oder
äußere, darbietet. Nun ist es ein häufiges Vorkommen,
12Ü Drittes Kapitel.
daß nicht nur an zwei, sondern an sehr vielen verschiedenen
Subjecten P S T V W dasselbe Prädicat M vorkommt oder
nicht vorkommt, und es fragt sich, welche Folgerung aus
diesen Prämissen PM, SM, TM, VM . . . möglich ist, die
sich ihrer Form nach der zweiten Aristotelischen Figur an-
schließen. Es ist klar, daß sie in ihrer Vielzahl nicht zu
einem Schlüsse auffordern, welcher zwei einzelne dieser
Subjecte in ein gegenseitiges Verhältniß brächte; so weit
diese Folgerung beabsichtigt wird, ist sie nur durch die
Aristotelische Beschränkung auf zwei Prämissen und mit
Beachtung der Regeln der zweiten Figur möglich. Aber es
ist ebenso erlaubt zu versuchen, ob nicht dies gemeinsame
Vorkommen des M an so verschiedenen Subjecten uns etwas
über die Bedeutung dieses M selbst lehre, das mithin im
Schlußsatze nicht verschwinden würde. Diesen Versuch
nun macht das natürliche Denken, wo ihm die Erfahrung
solche Prämissen gibt, unfehlbar und wird dabei durch den
allgemeinen Grundsatz geleitet, der alle seine Handlungen
beherrscht : vorgefundenes Zusammensein der Vorstellungen
in Zusammengehörigkeit ihrer Inhalte zu verwandeln. Wo
wir dasselbe Merkmal an verschiedenen Subjecten wahr-
nehmen, haben wir das Vorurtheil, daß diese Ueberein-
stimmung keine zufällige, daß mithin die verschiedenen
Subjecte nicht jedes einzeln für sich durch einen besonderen
Umstand mit dcmsalben Prädicate zusammengerathen sei,
daß vielmehr alle untereinander einen gemeinschaftlichen
Stamm gleiches Wesens haben, von dem jene gleiche Be-
ziehung zu demselben Merkmal die Folge ist. P S T V
werden mithin zwar verschiedene sein, aber doch unter
einen höheren Begriff Z als Arten desselben coordinirt;
nicht sie als verschiedene Einzelne, sondern nur sofern sie
Arten des 2 sind, tragen das gemeinsame Merkmal M als
nothwendiges Merkmal dieser ihrer Gattung. Unser Schluß-
satz lautet demnach: alle S sind M; und in ihm bedeutet
Z das höhere Allgemeine, dem wir die einzelnen Subjecte
unterordnen, und das wahre Subject für jenes M, das wir
vorher gemeinsam an jenen einzelnen vorkommen sahen.
Dies Schlußverfahren ist der einfachste Fall der Induc-
tion und bildet für uns unter diesem Namen das zw^eite
Glied dieser Gruppe von Folgerungen, die sich auf Unter-
ordnung des Mannigfachen unter die Einheit eines All-
gemeinen gründen.
102. Die Aufgabe, die wir diesem Verfahren stellten,
allgemeine Obersätze für Schlüsse der Subsumption zu er-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 127
zeugen, scheint es nun dennoch nur unvollkommen zu
erfüllen. Denn übereinstimmend wirft man der Induction
vor, daß sie Gewisses aber nicht Neues lehre, wenn sie
vollständig, Neues aber nicht Gewisses, so lange sie unvoll-
ständig sei. Sind P S T U alle Arten des 2, die es gibt,
und hat von jeder dieser Arten eine Prämisse schon ge-
lehrt, daß sie M sei, so kann der Schlußsatz nur als
universales Urtheil: alle £ sind M, diese Aussagen der
Vordersätze summiren; aber er kann nicht einmal mit
logischem Recht sich in das generelle Urtheil verwandeln:
jedes D als solches ist M; es nleibt vielmehr ganz zweifel-
haft, ob nicht blos thatsächlich alle Arten des 2), und zuletzt
doch jede Art aus einem besonderen Grunde, dasselbe M
haben oder erleiden, oder ob wirklich in der allgemeinen
Natur des Z selbst der immer gleiche Grund liegt, der dies
Prädicat allen seinen Arten nothwendig macht. Gibt es
aber außer den Subjecten, welche in den Prämissen mit M
verbunden vorkommen, noch andere Arten des 2, von denen
sie nichts aussagen, so ist der Schlußsatz eine unberechtigte
Folgerung ad subalternantem aus der Gültigkeit einer be-
schränkten Anzahl von Einzelfällen auf die Gültigkeit des
allgemeinen Falles, eine Folgerung, die verschiedene Grade
der Wahrscheinlichkeit mag haben können, Gewißheit aber
niemals erlangt. Es scheint mir jedoch, daß diese an sich
richtigen Bemerkungen die reine Bedeutung einer logischen
Form mit den Schwierigkeiten ihrer wirksamen Anwendung
verwechseln und daß derselbe Fehler auch schon in dem
Tadel lag, den man gegen den Werth des Aristotelischen
Syllogismus erhob. Der Gedanke, dem dieser folgte, jedes
Einzelne sei zum Besitz seiner Prädicate durch seine Ab-
hängigkeit von seinem Allgemeinen berechtigt und ver-
pflichtet, ist ohne Zweifel ein logisch durchaus gültiger
Grundsatz, welcher den inneren Zusammenhang des jedes-
maligen Denkinhaltes in seine richtige Beleuchtung rückt.
Diese logische Bedeutung verliert er dadurch gar nicht,
daß die Wahrheit des Allgemeinen, um zu bestehen, die
Gültigkeit desselben in allen Einzelfällen einschließt, oder
wenn man lieber will, voraussetzt; es ist ja vielmehr
der eigene Sinn des Grundsatzes, daß beide unzertrennlich
von einander sind. Mag man daher im Gebrauche des
Denkens zu der Wahrheit der Prämissen gekommen sein,
auf welchem Wege man will; nachdem man sie gefunden
hat, drückt die Unterordnung, welche die erste Aristotelische
Figur ausspricht, die Gliederung aus, die dem inneren
128 Drittes Kapitel.
Zusamineiiliaiigc des fei tigeii Denkiiiliails entispriclit, obgleich
vielleicht gar nicht die Gliederung der Gedankenarbeit,
durch welche wir ihn gewonnen haben. So betrachtet ist
der Schluß der Subsumption das logische Ideal, in dessen
Form wir unsere Erkenntniß bringen sollen, aber nicht
zugleich allgemein die instrumentale Methode, durch deren
Befolgung wir den gegebenen Stoff zu einer Erkenntniß
zusammenschließen. Aehnliches habe ich nun von der
Induction zu sagen; der logische Gedanke, der ihr zu
Grunde liegt, ist gar nicht blos wahrscheinlich, sondern
gewiß und unanfechtbar. Er besteht in der auf dem Satze
der Identität beruhenden Ueberzeugung, daß jede bestimmte
Erscheinung M auch nur von einer bestimmten Bedingung Z
abhängen könne, und daß mithin, wo unter anscheinend
verschiedenen Umständen oder an verschiedenen Subjecten
P S T U dasselbe M vorkommt, es ganz unvermeidlich in
diesen etwas Gemeinsames 2 geben müsse, welches die
wahre identische Bedingung des M oder das wahre Subject
zu M sei. Man würde ganz mit Unrecht einwenden, es sei
eine gewöhnliche Erfahrung, daß dieselbe Folge M von
verschiedenen äquivalenten Bedingungen erzeugt werden,
dasselbe Prädicat M an äußerst verschiedenen Subjecten
vorkommen könne. Eben in diesem Einwurf zeigt sich die
Verwechselung, die wir oben rügten, der logischen Regel
mit ihren Ausführungsbedingungen, Gibt es für eine Folge M
zwei verschiedene äquivalente Bedingungen, so sind diese
beiden eben nicht durch das, wodurch sie verschieden,
P oder S, sind, sondern durch das, worauf ihre Aequivalenz
beruht, wirklich die Bedingungen dieser gleichen Folge M;
so lange man diesen gemeinsamen Grundzug beider nicht
absondern kann, so lange hat man eben das richtige Z des
Schlußsatzes nicht gefunden, mithin die Induction nicht in
der Weise ausgeführt, in welcher sie ausgeführt zu werden
verlangt. Findet sich dasselbe M als Prädicat an sehr vielen
höchst verschiedenen Subjecten und zwar, wie es gewöhn-
lich in der wirklichen Anwendung zu begegnen pflegt,
an solchen Subjecten, von deren jedem nur ein Theil seines
ganzen Merkmalbestandes bekannt ist, so kann man sich
natürlich sehr irren, wenn man das, was in diesen be-
kannten Merkmalen aller Subjecte gemeinsam ist, zu dem Z
zusammenfaßt, dem man nun, als dem wahren Subjecte,
das fragliche Merkmal M zutheilen könnte. Ich leugne
nicht, daß im Gebrauch der Induction wir selir häufig
unter solche ungünstige Bedingungen gestellt sind; aber
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 129
alle diese Schwierigkeiten, welche sich der Ausführung
entgegenstellen, ändern die allgemeine logische Gültigkeit
des Grundsatzes der Induction nicht, der behauptet, überall,
wo verschiedene Bedingungen dieselbe Folge M oder ver-
schiedene Subjecte dasselbe Prädicat M haben, müsse sich
ein und nur ein ganz bestimmtes E auffinden lassen, welches
die einzige immer gleiche Bedingung oder das einzige wahre
Subject sei, dem allgemeingültig und nothwendig das Prä-
dicat M oder die Folge M in einem Schlußsatz von der
Form : jedes S ist M, zuzuschreiben sei. Der angewandten
Logik aber überlassen wir die Beachtung der Regeln, durch
welche die Auffindung dieses 2) gelingen kann.
103. Die dritte Form dieser Gruppe führe ich unter
dem etwas willkürlich gewählten Namen des Schlusses
der Analogie ein. Die Prämissenstellung der dritten
Aristotelischen Figur MP, MS enthält, bei der vöUigen
Gleichheit des Baues beider Vordersätze, wiederum keinen
Grund zur Unterscheidung von Ober- und Untersatz, und
auch keinen, die Prämissen auf zwei zu beschränken. Sehr
häufig wird im Gegentheil uns die Erfahrung eine größere
Anzahl derselben, MP, MS, MT, MU . . ., also die Thatsache
vor Augen stellen, daß an demselben Subject eine Vielheit
verschiedener Merkmale entweder vorkomme oder nicht
vorkomme. Diese Data darf das Denken nicht zurückweisen
und es. benutzt sie zu einer Folgerung, die, nur in um-
gekehrter Richtung, der vorigen völlig ähnlich ist. Auch
hier läßt es sich durch die Voraussetzung leiten, daß nicht
durch viele zusammenhanglose Zufälle die verschiedenen
Prädicate sich an demselben Subjecte M vereinigt haben,
sondern daß es einen Grund geben müsse, der sie alle,
als zusammengehörige, versammelt hat; sie gehören dem M,
weil M ein IT ist, zu der Natur des IT aber gehört es,
diesen vollzähligen Merkmalbestand zu haben, der seinen
Inhalt ausmacht; als eine Art des IT hat M darauf An-
spruch, alle diese Prädicate an sich zu vereinigen. So bilden
wir aus diesen Prämissen den Schlußsatz : M ist ein IT,
und haben mit ihm die zweite Aufgabe erfüllt, für den
Schluß der Subsumption jenen Untersatz zu haben, durch
welchen ein Begriff M, das dortige S, unter den Unifang
eines andern IT, des dortigen M, untergeordnet wird.-;
104. Auch diese Aufgabe scheint aber schlecht erfüllt
zu sein; denn wie die Induction, so unterliegt auch die
Analogie dem Tadel, nichts Neues zu lehren, wetin sie. voll-
Lotz e, Logik. 9
130 Drittes Kapitel.
ständig, und nichts Sicheres, wenn sie unvollständig ist.
Geben die Prämissen bereits dem M alle Merkmale, die
nöthig sind, damit es ein IT sei, so gewinnen wir an
sachlicher Erkenntniß nichts durch die wirkliche Unter-
ordnung desselben unter diesen Begriff; nur die Form
unserer Auffassung des gegebenen Inhalts ändert sich. Aber
in den allermeisten Fällen geben die Prämissen nur einen
Theil der zu IT nothwendigen Prädicate an, und wir schließen
ohne Sicherheit von ihrer Gegenwart auch auf die aller
übrigen, durch welche an M erst der ganze Inhalt eines IT
verwirklicht wird. Wo unsere Betrachtung Gegenständen
der Wirklichkeit gilt, deren ganzes Wesen aus unzähligen
uns zum großen Theil unbekannten zum Theil schwer be-
obachtbaren Merkmalen besteht, ist dies immer der Fall;
aus wenigen Eigenschaften, die wir an einem Gegenstande
wirklich beobachten, schließen wir darauf, er sei ein Metall,
ein Thier bestimmter Gattung, ein Werkzeug zu bestimmtem
Zweck. Daß hieraus im Gebrauch der Analogie zahlreiche
Irrthümer entstehen, bedarf keines Wortes weiter; aber
die Schwierigkeit der Anwendung beeinträchtigt auch hier
den Werth des logischen Grundsatzes nicht. Dieser Grund-
satz behauptet: kein Inhalt eines Begriffes, der richtig ge-
dacht sei, bestehe in einem zusammenhanglosen Haufen
von Merkmalen, den man beliebig vermehren könne durch
Hinzufügung gleichviel welcher neuen Bestandtheile ; zwar
nicht durch ein Merkmal, aber durch eine Verbindung
mehrerer, welche gegeben ist, sei vermöge der durch-
gängigen gegenseitigen Determination aller auch schon
darüber entschieden, welche anderen noch unbeobachteten
sich mit den beobachteten verknüpfen können, welche nicht;
deshalb sei es möglich, aus dem angefangenen Bilde des M,
welches uns die Prämissen geben, auch die weitere Ver-
vollständigung und Fortsetzung desselben zu folgern; es
gebe mithin allemal ein und nur ein IT, welches die Ver-
einigung der gegebenen Merkmale an M zugleich mit der
Hinzufügung nicht gegebener rechtfertige und möglich mache.
Dieses an sich richtige Ideal des Denkens verlangt nur,
wie jede Denkform, nicht durch unpassenden, sondern durch
passenden Inhalt realisirt zu werden. Nicht jede beliebigen
paar Prädicate eines M reichen hin, um auf alle seine
übrigen zu schließen; manche solche Combination mag
nicht nur einem IT, sondern auch einem andern Begriffe
IIi oder 112 zukommen; man wird im Gegensatz zu diesen
unwesentlichen andere wesentliche Merkmale in den Prä-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 131
missen verlangen, eine Forderung, die man in der An-
wendung wirklich allenthalben macht, und deren Erfüllung
man der S9,chlichen Kenntniß des behandelten Inhalts über-
läßt. Aber die wichtigste Quelle der Ungenauigkeit ist der
Mangel aller bishergenannten Schlußformen: die Prädicate
nur in allgemeiner Fassung, ohne Angabe ihres Maßes ihrer
specifischen Modification und ihrer gegenseitigen Deter-
mination anzugeben. So lange die Prämissen nur sagen:
M ist schwer, M ist gelb, M ist schmelzbar u. s. w., so
findet man in diesen Datis freilich keinen Entscheidungs-
grund, um M entweder für Schwefel oder für Gold zu
erklären; aber solche Prämissen haben dafür auch ihre
Heimat nur in der abstracten Logik; im wirklichen Ge-
brauche des Denkens wird vielmehr immer zugleich auf
Größe eigenthümliche Schattirung und Verbindungsweise
der Prädicate geachtet und aus diesem angefangenen
charakteristischen Grundrisse auf seine Fortsetzung zu dem
Ganzen IT geschlossen. Was nun das natürliche Denken
allenthalben wirklich ausübt, das eben ist durch neue
logische Formen, zu denen wir überzugehen haben, auch
für die Theorie seines Thuns festzustellen.
B. Die mathematischen Folgemngen.
Der Schluß durch Substitution. — Der Schluß durch Proportion. —
Constitutive Gleichung.
105. Ich stelle noch einmal, und von verschiedenen
Gesichtspunkten aus, die Veranlassungen zusammen, welche
uns über die Syllogismen hinaus zur Aufsuchung neuer
Denkformen treiben, und berühre zu diesem Zweck zuerst
die Natur der Urtheile, welche die gewöhnliche Lehre sich
als Glieder des Schlusses denkt. Wie ich schon früher
erwähnte, drückt die Sprache in den Urtheilen von der
Form: S ist P, das Prädicat in einer Allgemeinheit aus,
in welcher es seinem wirklichen Subjecte nicht zukommt,
und die Logik pflegt dies durch den Satz einzugestehen,
daß nicht nur das Prädicat zur Bestimmung des Subjectes,
sondern auch dieses zur Bestimmung jenes beitrage. Wer
da sagt, diese Rose ist roth, meint nicht, daß ihr ein
unbestimmtes Roth überhaupt, oder daß ihr jede beliebige
Färbenschattirung zukomme, die unter dem Sammelnamen
des Rothen begriffen wird ; es ist immer nur das Rosenroth,
das er im Sinne hat, ja genauer das ganz bestimmte Roth
9*
132 Drittes Kapitel.
dieser Rose. Wollte er mithin seinen Gedanken genau
ausdrücken, so würde er sagen müssen: diese Rose ist
so roth, wie es diese Rose ist. In diesem scheinbar ganz
unfruchtbaren Satze würde die logische Arbeit darin be-
stehen, daß die wahrgenommene Eigenschaft der Rose nicht
mehr als eine Einzelheit gefaßt wird, die sonst heimatlos
in der Welt wäre; indem das Denken sie als Art eines
allgemeinen Roth betrachtet, das auch sonst vorkommt
und abgesehen von diesem Beispiel gilt, vollzieht es die
früher erwähnte Objectivirung der Wahrnehmung: es gibt
dem Wahrgenommenen eine bestimmte Stelle in dem Welt-
inhalt, durch die es für sich etwas und nicht blos subjective
Erregung des jedesmal Vorstellenden ist. Hierin liegt der
logische Gewinn, der allemal gemacht wird, wenn der be-
sondere Inhalt einer Wahrnehmung im Urtheil durch das
Allgemeine ersetzt wird, dessen Beispiel er ist. Aber zu-
gleich wird natürlich auch ein logischer Verlust eintreten,
wenn es bei dem Ausdruck dieses Allgemeinen bleibt, und
wenn nicht der andere Theil der Wahrnehmung auch sein
Recht erhält durch Hinzufügung der Besonderung, die dem
genannten Allgemeinen höthig ist, um dem gemeinten Ein-
zelnen gleich zu sein. Diesen Verlust machen nun die ge-
wöhnlichen Urtheile der angeführten Form alle ; auch die
Aristotelischen Syllogismen beschränken sich darauf, mit
dem allgemeinen M oder dem allgemeinen P zu rechnen.
106. Hierdurch lassen sie die Aufgabe ungelöst, die
schon das disjunctive Urtheil aufstellte, und befriedigen
überhaupt die Bedürfnisse des Denkens in seiner lebendigen
Anwendung nicht. Denn schon das disjunctive Urtheil be-
hauptete, dem Einzelnen komme nicht das allgemeine Prä-
dicat seiner Gattung, sondern eine bestimmte Modification p
desselben mit Ausschluß jeder andern zu. Dieses p hätte
der Schluß zu ermitteln gehabt; er hätte es nur gekonnt,
wenn er dem allgemeinen Obersatze, der die Gattung mit
dem allgemeinen P verbindet, einen Untersatz gegeben hätte,
welcher die Eigenthümlichkeit des S gelten machte, durch
die es, als diese und nicht eine andere Art der Gattung,
auch nur dieses Prädicat p, nicht eine andere Modification
des allgemeinen P, erhalten mußte. Das ist nicht geschehen ;
auch der Untersatz erwähnte nur die Unterordnung des
Einzelnen unter die Gattung überhaupt, aber nicht seine
speeifische Differenz von andern Arten derselben; daher
konnte der Schlußsatz auch nur sagen, was dem Einzelnen
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 133
zukommt, sofern es überhaupt eine Art seiner Gattung,
aber nicht, was ihm zukommt, sofern es diese Art derselben
und keine andere ist. Daß wir mit einer solchen Leistimg
hinter den Bedürfnissen unseres wirklichen Denkens zurück-
bleiben, bedarf kaum weiterer Verdeutlichung. Wenn wir
schließen: die Wärme dehnt alle Körper aus, das Eisen
ist ein Körper, also dehnt die Wärme auch das Eisen aus;
oder: alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch',
also ist Cajus sterblich, so wird jeder die Unfruchtbarkeit
dieses Verfahrens fühlen und antworten: freilich dehnt die
Wärme alle Körper aus, aber jeden in anderem Maße, als
den anderen ; freilich sterben alle Menschen, aber die Sterb-
lichkeit des einen ist von anderem Maße, als die des
andern; wie das Eisen sich als Eisen ausdehnt, im Unter-
schied vom Blei, wird die Technik zu wissen verlangen;
wie die Sterblichkeit des Cajus als Cajus im Unterschied
von der anderer Menschen zu veranschlagen ist, der Ver-
waltungsrath einer Lebensversicherung. Dies ist also das,
was die neuen Formen zu leisten haben; sie müssen das
Einzelne als bestimmte Art des Allgemeinen gelten machen,
und aus diesem seinem Unterschiede von andern Arten
desselben eine Folgerung auf sein eigenthümliches Prädicat
ermöglichen.
107. Man kann von anderer Seite her daran erinnern,
daß überhaupt die Logik sich etwas einseitig gewöhnt hat,
Urtheile von kategorischer Form als Beispiele zu brauchen
und darum auch die Unterordnungen eines Begriffs in den
Umfang eines andern als die häufigsten und wichtigsten
logischen Operationen erscheinen zu lassen. Im lebendigen
Gebrauch des Denkens sind sie das gar nicht; es handelt
sich selten darum, ein Merkmal zu bestimmen, welches
als festes Prädicat zu dem Inhalt eines Begriffs ein für alle
Mal gehört, oder in dessen Umfang jener Begriff einzureihen
ist ; am häufigsten wollen wir wissen, welches veränderliche
Merkmal P an einem Subject S auftreten wird, wenn auf S
die Bedingung x einwirkt; Fragen dieser Art stellt das
Leben die Wissenschaft die Technik jeden Augenblick. Es
ist nun zuzugeben, daß die gewöhnliche Syllogistik diese
Fälle nicht ganz übersieht ; aber sie behandelt sie doch nur
unvollkommen dadurch, daß sie in einem Obersatze eine
allgemeine Folge P an das Zusammensein des x mit einem M
knüpft, und dann einem S durch Unterordnung unter M
oder unter Mx wieder nur im Allgemeinen jene Folge P
134 Drittes Kapitel.
zuschreibt. Was hilft es zu sagen: wenn ein Mensch be-
leidigt wird, so erzürnt er sich; Cajus ist ein Mensch, also:
wenn er beleidigt wird, wird er sich erzürnen; was wir
wissen wollen, ist, wie Cajus als diese Persönlichkeit sich
erzürnen wird, und wie viel man ihm folglich bieten kann.
Um diese Frage zu beantworten, nützt die Unterordnung
unter den Begriff der Menschheit wenig ; man muß die eigen-
thümlichen Charakterzüge aufsuchen, welche Cajus von
andern Personen unterscheiden, und muß nun Mittel haben,
den Erfolg zu berechnen, den die Beleidigung auf diese
Züge haben wird. Man kann dies kurz so ausdrücken:
unsere Folgerungen können nicht aus Umfangsverhältnissen
der gegebenen Begriffe, sondern aus ihrem Inhalt fließen;
ohne den unfruchtbaren Umweg durch die allgemeine
Gattung zu nehmen, müssen wir unmittelbar aus den ge-
gebenen Merkmalen eines Subjects und aus der hinzu-
tretenden Bedingung x die neuen Merkmale bestimmen,
welche sich zeigen, oder die Veränderungen der alten,
welche stattfinden werden.
108. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet reihen sich
die aufzusuchenden neuen Formen den Folgerungen der
Analogie an. Denn auch diese schlössen von der Gegen-
wart Abwesenheit und Verbindungsweise gewisser Merk-
male an einem S auf die nothwendige Gegenwart Ab-
wesenheit und Anlagerungsweise anderer Merkmale an dem-
selben Subject. Man kann nun den Zweifel erheben, ob
solche Folgerungen von Inhalt zu Inhalt, von Merkmal
zu Merkmal, überhaupt aus blos logischen Gründen möglich
seien, und ob nicht die wenigen wirklich möglichen doch
durch die bekannten Lehren der Logik von der Vereinbarkeit
der disparaten, der Unvereinbarkeit der conträren, der noth-
wendigen Wahl zwischen contradictorischen Prädicaten
bereits vorausgenommen seien; Behauptungen darüber, daß
wo p sei, auch q sein müsse, werde doch immer nur die
Erfahrung liefern, den einzigen Fall ausgenommen, von dem
wir hier nichts mehr wissen wollen, daß q in den Inhalt
des p schon eingeschlossen sei, oder p im Umfange von q
liege. Dieser Zweifel ist an sich richtig; alle Behauptungen
über die nothwendige Verknüpfung oder Ausschließung
zweier Prädicate werden, diese letzten Fälle ausgenommen,
immer nur auf das Zeugniß der Beobachtung gestützt
werden können; aber es fragt sich doch, ob mit den bis-
herigen Mitteln die Logik auch nur diesen vorauszusetzenden
Thatsachen alle die Folgerungen abgewonnen hat, die mög-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 135
lieh sind ; daß es nicht der Fall ist, zeigen wir kürzer durch
die Darstellung der Schlußformen selbst, die wir meinen,
und die, übrigens dem natürlichen Denken sehr bekannt
und geläufig, hier nur eben die ihnen in der systematischen
Logik gebührende Stelle erhalten.
109. Lassen wir dem Obersatze unserer neuen Figur
die Form: alle M sind P, oder M = P; dem Untersatze aber
geben wir nicht die unbestimmte Gestalt : S ist ein M über-
haupt, sondern die bestimmte : S = sM, d. h. S ist die-
jenige Art von M, welche man erhält, wenn man das ganze
Gefüge der in M enthaltenen Merkmale sich durch den
Einfluß einer specifischen Bedingung s determinirt oder
modificirt denkt. Der Schlußsatz wird dann lauten müssen :
S ist aP und sagt, dem S, sofern es diese durch den
charakteristischen Zug s bestimmte und von andern unter-
schiedene Art des M ist, komme nicht das allgemeine Merk-
mal P, sondern diejenige besondere Ausprägung oF des-
selben zu, welche unter dem Einfluß jenes s auf das Gefüge
des M entstehen muß. Zur Vermeidung von Mißverständ-
nissen ist zu beachten, daß die Einwirkung einer Bedingung s
auf den gesammten Bau eines M die verschiedenen Merk-
male des M in äußerst verschiedener Weise umformen
kann; jede dieser Umformungen ist eine Folge von s, und
deswegen habe ich die hier erwähnte aP durch den ver-
wandten Buchstaben o bezeichnet; dagegen hat es im All-
gemeinen nicht, wenn auch in besondern Fällen, Sinn, die
Modification eines Merkmals der modificirenden Bedingung
gleich zu setzen ; daher konnte der Schlußsatz nicht durch sP
angedeutet werden. In dieser Gestalt aber, die wir hier
dem Schlüsse gegeben haben, würde er die bloße Be-
zeichnung einer Aufgabe sein, nicht ihre Auflösung. Darauf
kommt es vielmehr an, dieses aP namhaft zu machen und
zu zeigen, wie sich P durch das Einwirken des s auf M
verändert. Dies ist so lange unausführbar, als man M nur
unter dieser einfachen Form eines mit einem Namen ver-
sehenen Allgemeinbegriffs aufführt; um zu wissen, wie s
auf M einwirkt, müssen wir den Inhalt des M in seine
einzelnen Theile, mit Beachtung ihrer gegenseitigen Ver-
bindungsweise zerlegen. Wie z. B. der Gang einer Maschine
sich ändern wird, wenn man auf sie eine Kraft s wirken
läßt, wird Niemand zu beurtheilen unternehmen, so lange
er die Maschine nur als ein anschauliches Ganze M, als
Dampfmaschine überhaupt, vor Augen hat; man muß den
inneren Bau, die Verknüpfung der Theile, die Lage eines
136 Drittes Kapitel.
möglichen Angriffspunktes für die Kraft s und die Rück-
wirkung der hier erzeugten Erstwirkung auf die mit dem
Angriffspunkte verbundenen Theile zuvor kennen gelernt
haben. Nur dadurch mithin, daß man dem geschlossenen
Ausdruck oder Begriff M die entwickelte Gesammtzahl aller
Inhaltstheile mit Beachtung ihrer wechselseitigen Deter-
minationen substituirt, kann man hoffen, den Einfluß
des s so zu verfolgen, daß man daraus erst die Gesammt-
natur des S, welche =sM ist, und folgeweis auch die
Modification aP des Prädicats P bestimmen kann, welche
diesem S zugehört. In der That ist nämlich stets die letzte
Aufgabe in der ersten eingeschlossen; die specifische Modi-
fication eines einzelnen Prädicates für S läßt sich gar nicht
finden, ohne die durch s erzeugte Gesammtänderung des M,
von der sie abhängig ist, vorher gefunden zu haben; denn
dieselbe Bedingung s würde auf ein P, welches in dem
Gefüge eines andern Begriffes N enthalten wäre, anders
wirken, als auf das, welches sie in dem M antrifft. Aus
diesem Grunde beachte ich fernerhin diese Folgerung auf aP
nicht mehr, sondern betrachte als Aufgabe der neuen Form,
sM zu bestimmen, und gebe ihr darum die Gestalt
Obersatz: M = a + bx + cx2 ...
Untersatz: S = sM
Schlußsatz : S = s(a + bx + ex« . . .)
woraus dann in Bezug auf einzelne Prädicate, z. B. b,
anstatt des unbestimmten Schlusses: S ist bx, der be^
stimmte folgen würde : S ist s. bx.
110. Es hat immer sein Mißliches, sehr verschieden-
artige und dennoch zusammengehörige Fälle durch ein
möglichst einfaches Symbol auszudrücken; ich bemerke
daher zur Vermeidung von Mißverständnissen noch Fol-
gendes. Unter a b c x will ich im Allgemeinen ver-
schiedene Merkmale eines Begriffs M verstanden wissen,
welche, wenn sie vollständig aufgezählt werden, den Ge-
sammtinhalt von M ausmachen. In jedem Begriffe aber
stehen diese Merkmale in den allerverschiedenartigsten Be-
ziehungen zu einander, welche Beziehungen in meiner
Formel nicht ausgedrückt sind; als schwache Andeutung
ihrer möglichen Mannigfaltigkeit ist die Doppelheit der
Zeichen -j- und — angewandt. Zum wirklichen Ausdruck
reichen diese Zeichen nicht einmal dann hin, wenn M nicht
einen Begriffsinhalt aus qualitativ verschiedenen Merk-
malen, sondern ein bloßes Größenganzes aus den vergleich-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 137
baren Größentheilen a b c x bedeutet. Ein erschöpfenderes
Symbol würde nur das früher gebrauchte der mathematischen
Function überhaupt sein : M == F (a, b, c, x . .) ; aber es hätte
den Nachtheil, alle Verbindungsweisen der Theile blos in
Gedanken zu fordern und gar keine durch ein anschau-
liches Schema zu verdeutlichen. Auch die Form der Reihe
a + bx -|- cx2 ist willkürliches Symbol ; die Einführung des x
bedeutet nur wieder die mögliche Ungleichwerthlgkeit der
Merkmale, von denen eines, eben x, nur ein anderes, a,
völlig freiläßt, zu den übrigen aber selbst als eine be-
stimmende Bedingung hinzutritt. Das s des Untersatzes
und Schlußsatzes tritt hier als multiplicirender Factor auf;
ebenfalls nur, um an dem allereinfachsten und bekann-
testen Verhältniß, in welchem eine Größe auf andere ein-
wirken kann, die unzählig verschiedenen zu veranschau-
lichen, in welchen irgend eine concrete Bedingung auf den
mannigfachen Inhalt irgend eines Gegebenen ihren Einfluß
ausüben kann. Drücken wir durch einen rechts unter-
gesetzten Buchstaben die Aenderung irgend welcher Art
aus, welche eine Bedingung in irgend einem Gegebenea
hervorbringt, und bezeichnen wir M als Function von a b c x,
also M = cp (a, b, c, x), so würden wir allgemein den Schluß-
satz nur bezeichnen können durch S ^ cps (as, bs, Cs, Xs),
nicht durch S == cp (as, bs, Cs, Xs) ; denn es ist an sich
deutlich, daß der Einfluß von s nicht immer nur, nach
dem zweiten Ausdruck, die einzelnen Merkmale mit Bei-
behaltung ihrer allgemeinen Verbindungsweise cp, sondern
auch, nach dem ersten, diese Verbindungsweise selbst ändern
kann, so daß die auf einen Begriff wirkende Bedingung
dessen ganzen Bau hinlänglich umgestalten kann, um das
neue Ergebniß nicht mehr dem vorigen Begriffe M, sondern
einem andern Mi oder N subsumirbar zu machen. Hierauf
weiter einzugehen, macht ein Zugeständniß unnöthig,
welches wir nun hinzuzufügen haben.
111. Der Gewinn nämlich, den wir uns von dieser
unserer Schlußfigur durch Substitution, der ersten
dieser zweiten Gruppe, versprechen, hängt doch schließlich
davon ab, daß wir wissen, was die einzelnen Theile der
Conclusion bedeuten, welches also der Werth von as oder bxs
ist, der durch die Einwirkung des s auf den entwickelten
Ausdruck des M entspringt. Dies aber ist, wenn es nicht
einfach aus Erfahrungen bekannt werden soll, im Denken
nur dann zu ermitteln, wenn alle diese aufeinander be-
zogenen Theile reine Größen und die zwischen ihnen be-
138 Drittes Kapitel.
stehenden Beziehungen solche der mathematischen V^er-
knüpfung und Sonderung sind. Hierdurch wird der wirk-
same Gebrauch unserer Figur auf das Gebiet der Mathematik,
und zwar zunächst auf die Verhältnisse reiner Größen
beschränkt. Nur die besondere Natur der Zahlen, deren
jede ein angebbares Verhältniß zu jeder andern hat, ge-
stattet, durch Substitution der Größentheile eines Ganzen,
den vorher verschlossenen Inhalt des M so aufzuschließen,
daß die einwirkende Bedingung s ihre Macht wirklich aus-
üben kann, und daß nach den Regeln der Rechnungsarten,
durch Aufhebung entgegengesetzter und durch Zusammen-
ziehen sich addirender Bestandtheile, die mit jener Be-
dingung nothwendig geforderte Veränderung dieses Inhalts
von M sich wirklich ausführen und die Gestalt des heraus-
kommenden neuen Ergebnisses darstellen läßt. Setzen wir
dagegen an die Stelle vergleichbarer Größentheile die un-
vergleichlich verschiedenen Merkmale eines Begriffes, so
verschwinden diese Vortheile wieder; der Inhalt des M
wird durch eine solche Substitution nur unvollkommen auf-
geschlossen; denn wir besitzen hier nicht, wie bei den
unter sich vergleichbaren Zahlen, eine Regel, nach welcher
sich der Erfolg einer auf diese ungleichartigen Bestandtheile
einwirkenden Bedingung bemessen ließe. Zwar wenden wir
auch in solchen Fällen den allgemeinen Gedanken der
Substitution an; wenn wir wissen wollen, wie eine Be-
dingung s auf ein Ding wirken werde, das uns nur durch
seinen naturgeschichtlichen Begriff M gegeben ist, so zer-
gliedern wir auch M in seine Merkmale; aber die Schätzung
des Erfolgs, den s auf jedes einzelne derselben und auf
die Gesammtheit aller haben werde, erfolgt doch hier nur
noch auf Grund mehr oder minder unbestimmter Analogien,
welche uns die Erfahrung oder ein irgend woher ent-
standenes Gefühl des Wahrscheinlichen darbietet.
112. Die Beschränkung auf mathematischen Gebrauch
kann uns nicht hindern, den Schluß durch Substitution
in der systematischen Reihe der Denkformen aufzuführen.
Denn zunächst muß man doch nicht ganz vergessen, daß
jedenfalls das Rechnen auch zu den logischen Thätigkeiten
gehört und daß nur eine praktisch begründete Spaltung
des Unterrichts die vollkommene Heimatsberechtigung der
Mathematik in dem allgemeinen Reiche der Logik übersehen
läßt. Aber nicht nur deshalb haben diese Formen hier
ihren Platz, weil sie einem Theile unserer Denkarbeit un-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 139
entbehrlich sind; sie bleiben vielmehr auch für diejenigen
Fälle, in denen das nicht ausführbar ist, was sie verlangen,
die Ideale unserer logischen Bestrebung. Denn wenn sie
sich nur auf die Größenverhältnisse unmittelbar anwenden
lassen, so ist es auch anderseits wahr, daß überall da,
wo wir einen Gegenstand unserer Untersuchung in keiner
Weise auf Größenverhältnisse zurückzuführen im Stande
sind, unsere Erkenntniß desselben mangelhaft bleibt, und
daß keine andere logische Form im Stande ist, uns dann
zur Beantwortung der Fragen zu verhelfen, welche uns
die mathematische Behandlung der Sache liefern würde,
wenn sie möglich wäre. Es ist kaum nöthig, in unserer
Zeit darauf aufmerksam zu machen, wie Naturwissenschaft
nur durch Mathematik zu Stande gekommen ist; hat man
doch längst auch in anderen Gebieten die wesentliche Hülfe
schätzen gelernt, welche die statistischen Erhebungen der
Größenverhältnisse für die Auffindung der Gesetze bieten,
nach denen die Zusarmnenhänge der Gesellschaft bestehen;
selbst in den Wissenschaften, die am weitesten durch die
Natur ihres Gegenstandes von der Mathematik abstehen,
empfindet man häufig sehr deutlich das Bedürfniß ihrer
Verknüpfung mit Größenbetrachtungen. Die Sittenlehre mag
jedes Verbrechen strafbar finden, ohne zu diesem Aus-
spruch einer mathematischen Berechtigung zu bedürfen;
aber jede wirklich zu verhängende Strafe muß ein Maß
haben, und dieses muß sich nach dem Maße der zu strafen-
den Bosheit des verbrecherischen Willens richten; wäre
es nur bisher ausführbar, so würde auch das Strafrecht
nach unserer Figur schließen; es würde jedes gegebene
Verbrechen durch Substitution in seine einzelnen Bestand-
theile auflösen und aus dem sM, aus der besonderen
Größenbestimmtheit, in welcher in diesem Einzelfalle die
einzelnen Merkmale des Verbrechens und mithin dessen
Gesammtwerth auftreten, das aP, die Art und Größe der
Strafe, ableiten, die diesem Einzelfalle gebührt.
113. Nun aber gibt es doch nicht blos reine Mathematik,
sondern es ist der Wissenschaft allerdings gelungen, auch
zwischen Erscheinungen oder Merkmalen, die unter einander
unvergleichlich sind, Vermittelungen herzustellen, welche
von dem einen dieser Glieder auf das andere zu schließen
erlauben. Die Formen aufzusuchen, nach denen dies möglich
ist, muß anderseits die nächste Aufgabe der Logik sein,
welche so die Unvollkommenheit des Substitutionsschlusses
zu ergänzen sucht. Zum Theil nun scheint jener Uebergang
140 Drittes Kapitel.
zwischen dem Unvergleichbaren nur dadurch der Wissen-
schaft gelungen, daß sie diese Unvergleichbarkeit aufhob,
und nachwies, daß zwei Thatbestände a und b, die unserer
Wahrnehmung zunächst als qualitativ völlig verschieden
erscheinen, in Wahrheit doch nur auf Größenverschieden-
heiten vergleichbarer Umstände beruhen; ich erinnere daran,
wie die Physik die qualitativen Unterschiede unserer sinn-
lichen Empfindungen der Farbe des Tones und der Wärme
auf nur mathematische Differenzen vergleichbarer Be-
wegungen vergleichbarer Elemente zurückführt. Sieht man
jedoch näher zu, so findet man, daß in diesen Fällen doch
nicht in der That unsere Empfindungen a und b auf unter
sich und mit ihnen vergleichbare Bewegungen a und ß
zurückgebracht werden, sondern nur das wirkliche Eintreten
von a oder ß und sein Einwirken auf uns wird als Be-
dingung bezeichnet, unter welcher uns die Empfindung a
oder b entstehen muß. Die empfundene Farbe a bleibt
nach wie vor völlig unvergleichbar mit der Schwingung a
des Aethers, die man als ihre Entstehungsbedingung angibt,
und wenn uns die Erfahrung nicht lehrte, daß a die Folge
des a ist, so würden wir durch kein logisches Mittel aus a
die Natur dieser seiner Ursache a errathen. Was also in
diesen Fällen die Wissenschaft leistet, besteht in der That
in einer Verknüpfung unvergleichbarer Glieder, die von
dem einen auf das andere zu schließen erlaubt. Dieser
erste Satz nun, daß überhaupt a und a, b und ß in diesem
Verhältniß gegenseitiger Hinweisung auf- einander stehen,
wird, wie ich eben erwähnte, der Erfahrung verdankt,
und aus den Thatsachen derselben zwar durch Anwendung
der Gesetze des Denkens, aber nicht durch eine besondere
Form des Denkens gewonnen, die zu der an sich unmög-
lichen Lösung der Aufgabe bestimmt wäre, wirklich Un-
vergleichbares in Vergleichbares umzuwandeln. Aber nach-
dem die Erfahrung das Zusammengehören zweier solcher
Glieder, a und a, einmal gelehrt hat, schließt das Denken,
daß diese Zusammengehörigkeit sich auch in der Ver-
änderung beider erhalten werde, und daß mithin einer be-
stimmten Aenderung des a in ai allemal eine und nur eine
bestimmte Aenderung des a in a^ entsprechen müsse. Auch
diese Aenderungen a— ai und a— a^ sind unmittelbar weder
ihrer Art noch ihrer Größe nach vergleichbar; nimmt die
Schwingungsanzahl der Schallwelle um die Größe b = a—a^
zu, so hängt von ihr allerdings eine bestimmte Zunahme
d ,= a — ai des gehörten Tones ab ; aber diese Aenderung d
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 141
der Tonhöhe ist der Art nach ein ganz anderem Vorgang,
als die Zunahme b einer Anzahl von Schwingungen, und
mit einer solchen nicht zu vergleichen; jede dieser Größen
kann noch immer nur nach ihrem eigenen Maßstab ge-
messen, ihr wechselseitiges Zusammengehören nur als eine
Thatsache ausgesprochen werden. Aber unter einander sind
die Aenderungen der Tonhöhe, und ihrerseits untereinander
sind auch die Aenderungen der Schwingungszahlen ver-
gleichbar; beziehen wir beide Aenderungen auf d und 5
als ihre bezüglichen Einheiten, so läßt sich fragen, um
welche Anzahl m von Einheiten der Art d sich die Ton-
höhe ändert, wenn die Schwingungszahl sich um |li Ein-
heiten der Art b ändert ; m und jli stehen dann in einem
reinen Zahlenverhältniß. Dies Verhältniß kann unendlich
verschieden sein; aber wie schon früher, deuten wir diese
mögliche Mannigfaltigkeit in der Form nicht weiter an,
die wir diesem Schlußverfahren geben ; wir wählen als
Namen und als Schema derselben die einfachste Gestalt
der Proportion: E:e=:T:t, welche zwar nur den Fall aus-
drückt, in welchen m : fA eine constante Größe ist, aber doch,
als Symbol, hinlänglich den logischen Gedanken dieses Ver-
fahrens verdeutlicht. ■
114. Ich erläutere noch einmal diesen Gedanken an
dem. elementarsten Beispiele. Zwei Winkel E und e sind
unter einander vergleichbar; zwei Kreisbögen T und t sind
es unter sich gleichfalls ; aber ein Winkel und ein Kreis-
bogen sind unvergleichbar und unmittelbar nach keinem
gemeinsamen Maßstab zu messen ; auch die Differenz zweier
Winkel, die wieder einen Winkel darstellt, bleibt unvergleich-
bar mit der Differenz zweier Bögen, die wieder ieinenj
Bogen bildet. Steht jedoch einmal fest, daß zu einem Centri-
winkel e eines Kreises von gegebenem Halbmesser eine
Bogenlänge t gehört, bilden wir ferner aus einer m fachen
Wiederholung von e den Winkel E und aus einer n fachen
Wiederholung von t den zu E gehörigen Bogen T, so sind
die reinen Zahlen m und n vergleichbar, welche angeben,
wievielfäche Wiederholungen der beiden an sich unvergleich-
baren Einheiten t und e nöthig sind, um zwei zusammen-
gehörige Glieder der Reihe der Winkel und der Reihe der
Bögen zu finden. Für den Kreis lehrt die Geometrie, daß
m =: n. Sind uns also die beiden Einheiten e und . t ge-
' geben, so bedürfen wir nur der Angabe einer bestimmten
Vielheit E von e, um nach der Proportion E:e = T:t den
zugehörigen Werth von T zu ermitteln. Als Schlüßfigur
142 Drittes Kapitel.
ausgedrückt würde daher das ganze Verfahren dem Schema
entsprechen :
Obersatz: E:e = T:t
Untersatz: E = g(e)
Schluß: T = ^(e)t
e
115. Ich brauche kaum anzudeuten, daß auf diesem
Schlüsse durch Proportion, in dessen einfachem
Schema ich alle verwickeiteren Verhältnisse zwischen den
obigen m und n mitbegreife, zuletzt alle Möglichkeit beruht,
qualitativ verschiedene Ereignisse in eine gegenseitige Ab-
hängigkeit zu bringen, welche die Berechnung der einen
durch die andern gestattet. Auch bedarf es kaum der
Erwähnung, daß eine völlige Wirksamkeit dieser Figur nur
so weit zu erwarten ist, als die Zurückführung der Ver-
hältnisse des Wirklichen auf reine Größenbestimmimgen
gelingt; die Rechtfertigung dieser Beschränkung würde die-
selbe sein, wie für die ähnliche des Substitutionsschlusses.
In schlafferer Weise wenden wir zur Beurtheilung der
Dinge auch im gewöhnlichen Leben alltäglich ungenaue
Proportionen an, die meist in bloße Gleichnisse übergehen;
indem sie ein Verhältniß zwischen a und b einem andern
zwischen a und ß nur überhaupt ähnlich finden, ohne
jedoch den gleichen Exponenten beider genau anzugeben,
folgern sie mit meist sehr geringer Ueberzeugungskraft :
wenn das eine dieser Verhältnisse unter einer gewissen
Bedingung c eine gewisse Folge y begründe, werde unter
derselben Bedingung auch aus dem andern eine überhaupt
ähnliche Folge entspringen. Nur eine Bemerkung füge ich
noch einmal, mich wiederholend, hinzu: die Form der
Proportion bezeichnet eine Grenze des Erkennens. Wir
finden in ihr die Abhängigkeit zweier Glieder E und T
nur als Thatsache ausgesprochen und als solche weiter
benutzt; dagegen bleibt ganz unerwähnt und unerörtert
die Frage, auf welche Weise, durch welche Mittel, durch
welchen Mechanismus, so zu sagen, das eine Glied E es
anfängt, um das andere T zu sich überhaupt in irgend eine,
und namentlich in diese bestimmte Art der Abhängigkeit
zu bringen. Natürlich läßt sich auch diese Frage, in Bezug
auf allerhand zusammengesetzte Erscheinungen, häufig noch
beantworten; hat doch, wie erwähnt, die wissenschaftliche
Untersuchung manche zwei disparat erscheinende Eigen-
schaften oder Ereignisse auf nur quantitative Verschieden-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 143
heilen vergleichbarer Bestimmungen zurückgebracht, und
dann läßt es sich einsehen, wie es zugeht, daß T überhaupt
mit E, und ein bestimmter Zuwachs des einen mit einem
bestimmten des andern zusammenhängen müsse. Allein
dies gelingt nicht endlos; die letzten auffindbaren Gesetze
der Erscheinungen werden jederzeit schon bestimmte Be-
ziehungen zwischen disparaten Bestandtheilen enthalten,
die man nur als Thatsachen hinnehmen und in der Form
der Proportion benutzen kann, ohne doch den Grund auf-
zeigen zu können, welcher die beiden Glieder zwingt, sich
zu einander proportional zu verhalten. Viele Erscheinungen
führen wir auf das Gesetz der Gravitation zurück, deren
Intensität sich umgekehrt wie die Quadrate der Entfernung
verhalte; bis jetzt wenigstens ist jedoch jeder Versuch miß-
lungen, zu zeigen, wie diese Entfernung es anfängt, jene
Kraft zu schwächen. Wir zeigen, wie mit der steigenden
Schwingungszahl die empfundene Tonhöhe steigt, wie über-
haupt unsere Empfindungen, ja alle unsere geistigen Thätig-
keiten sich proportional physischen Bewegungen unserer
Organe ändern ; dabei bleiben aber Töne und Schwingungen,,
geistige Verrichtungen und physische Bewegungen, ewig an
sich unvergleichbar und wir erfahren nie, wie die einen
es anfangen, die andern zu correspondirenden Aenderungen
zu nöthigen. Von Disparatem zu Disparatem gibt es für
unser Denken keinen Uebergang: alle unsere Erläuterung
des Zusammenhangs der Dinge geht nur bis auf Gesetze
zurück, die sich in der Form der Proportion aussprechen
lassen, und die keinen Versuch machen, die beiden Glieder
in ein auffindbares Drittes zu verschmelzen, sondern beide
in ihrer völligen Verschiedenheit bestehen lassen und nur
anzeigen, daß dies gegeneinander Undurchdringliche dennoch
thatsächlich einem gemeinsamen Gesetze gegenseitiger Be-
stimmung unterliegt.
116. In der wirklichen Anwendung der Schlüsse aus
Proportionen wird ein anderer bisher nur kurz angedeuteter
Mangel durch Beachtung eines nothwendigen Neben-
gedankens stillschweigend ergänzt; in der systematischen
Reihe der Denkhandlungen ist diese Ergänzung als eigen-
thümliches Glied, das letzte dieser Gruppe, ausdrücklich
aufzuführen. Unsere schematische Bezeichnung stellte das
Verhältniß zwischen den Aenderungen zweier Merkmale E
und T so dar, als bestände es immer zwischen beiden
Merkmalen an sich, gleichgültig, an welchem Subject sie
vorkommen. Nun gibt es wohl Prädicate, die aus logischen
144 Drittes Kapitel.
Gründen, um ihres conträren oder contradictorischen Gegen-
satzes willen, oder weil das eine das andere ohnehin in
sich einschließt, an jedem Subject entweder zugleich vor-
handen sein müssen oder nicht zugleich vorhanden sein
können; aber es gibt keine Merkmale, deren Größen und
Größenänderungen immer in demselben Verhältniß zu
einander stehen müßten, gleichviel, welches die Natur des
Subjects sei, an welchem sie vereinigt sind. Diese Natur
vielmehr ist es, welche den Exponenten ihres Verhältnisses
bestimmt, und dieselben allgemein ausgedrückten Merkmale
E und T, die an dem einen S nur in dem Verhältniß n : m
möglich sind, sind an einem zweiten S^ nur in der andern
Proportion n^ : m^ zulässig. Die Wärme dehnt jeden Körper
aus, aber für verschiedenartige Körper sind auch die Ver-
hältnisse verschieden, in denen das Maß der Ausdehnung
zu einem gleichen Zuwachs der Temperatur steht. Die
Anwendung, indem sie sich immer auf bestimmte einzelne
Subjecte bezieht und nur diese bei ihrem ganzen Verfahren
im Sinne hat, braucht diese Beschränkung nicht besonders
auszusprechen; die Logik dagegen muß hervorheben, daß
nur unter ihrer Voraussetzung überhaupt von einem Ge-
brauch der Proportionen die Rede sein kann. Nur der
eigenthümliche Charakter eines gegebenen Subjectes, durch
den es die wechselseitige Determination aller seiner Merk-
male beherrscht, berechtigt uns, von einem bekannten Werthe
des einen derselben nach einer nur für dieses Subject
gültigen Proportion auf den entsprechenden Werth eines
anderen zu schließen. Wir kommen hiermit nur auf den
Gedanken zurück, der schon der Analogie zu Grunde lag;
denn nur um der Zusammengehörigkeit aller einander be-
stimmenden Merkmale eines Begriffes willen glaubten wir,
aus einer beschränkten Gruppe derselben, wie aus einem
angefangenen Muster auf dessen Fortsetzung, auf die noth-
wendige Gegenwart oder Abwesenheit anderer Merkmale
schließen zu dürfen. Der vollständige Ausdruck eines
Schlusses aus Proportionen würde daher die Hinzufügung
dieser mitgedachten Bedingung erfordern und sein Obersatz
müßte lauten: wenn S ein M ist, so ist für dies S immer
T:t = E:e. Unsere logische Aufgabe aber bestände nicht
darin, uns den Inhalt dieses Obersatzes lediglich durch'
-Erfahrung geben zu lassen, um ihm dann einen besondern
Pall in dem Untersatze: S ist M, unterzuordnen, sondern.
•darin vielmehr, nachzuweisen, wie überhaupt sich ein Be-
griff M finden läßt, aus welchem man die Proportionen
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 145
ableiten kann, die zwischen je zweien seiner Merkmale
stattfinden müssen.
117. Die Mittel zur Entdeckung eines solchen gesetz-
gebenden oder constitutiven Begriffes sind durch Früheres
bereits angedeutet; sie liegen in der durchgängigen, aber
sehr verschiedenartigen Determination jedes Merkmals durch
jedes andere; diese Verschiedenartigkeit wird bewirken, daß
in einzelnen Fällen der Besitz einer einzigen Proportion
zwischen zwei beliebigen Merkmalen zur Bestimmung aller
andern hinreicht, daß in anderen dagegen die Kenntniß der
Verhältnisse gewisser wesentlichen Merkmale nöthig wird,
um aus ihnen die unwesentlichen zu bestimmen, nicht aber
die der letzteren zulänglich ist, um den ganzen Merkmal-
bestand des Begriffsinhaltes unzweideutig festzustellen. Aber
ich werde deutlicher sein, wenn ich diesen Betrachtungen
ein Beispiel der wirklichen Ausführung dessen, was wir
verlangen, eine sehr bekannte und einfache mathematische
Gedankenform, voranschicke. Die analytische Geometrie be-
sitzt in den Gleichungen, durch welche sie die Natur
einer krummen Linie ausdrückt, ganz den constitutiven Be-
griff ihres Gegenstandes, welchen wir suchen. Nur sehr
wenige Beziehungsstücke, die unbestimmten Abscissen und
Ordinaten in ihrer Verbindung mit constanten Größen, ent-
halten hier, als eine Urproportion, eingeschlossen in sich
und aus ihnen ableitbar alle Verhältnisse, die zwischen
irgend welchen Theilen der Curve stattfinden müssen. Aus
dem Gesetze, welches die Proportionalität zwischen den
Aenderungen der Ordinaten und Abscissen ausdrückt, läßt
sich jede andere Eigenschaft der krummen Linie entwickeln :
der Verlauf ihres Zuges, ihre Geschlossenheit oder Offen-
heit, die Symmetrie oder Unsymmetrie ihrer Theile, die
Gleichförmigkeit oder das Maß der Veränderlichkeit ihrer
Krümmung in jedem ihrer Punkte, die Richtung, nach
welcher ihre Concavität oder Convexität sieht, die Größe
des Flächeninhalts, den sie zwischen beliebig angenommenen
Grenzen einschließt. An diese Entwicklungen, deren weiterer
mathematischer Gang zu einfach ist, um hier der Erwähnung
zu bedürfen, wollen wir uns halten, wenn wir dem hier
behandelten Verfahren den Namen des Schlusses aus
constitutiven Gleichungen geben. Das Verfahren
selbst ist nicht auf diese geometrischen Aufgaben beschränkt;
aber die anderen zum Theil weit interessanteren Beispiele,
welche andere Gebiete der Mathematik, unter ihnen die
Lotze, Logik. 10
146 Drittes Kapitel.
Variationsrechnung, liefern würden, lassen sich weniger
leicht auf eine so einfache Anschauung bringen, wie sie
zur schematischen Bezeichnung unserer Denkform erwünscht
ist. Auch die Naturwissenschaft könnte wenigstens An-
näherndes darbieten. Für analog zusammengesetzte Körper,
in denen die verschiedenen chemischen Elemente die Stelle
der Coordinaten und der Constanten vertreten, würde die
Chemie constitutive Gleichungen besitzen, wenn es ihr
gelänge, durch ihre Formeln nicht nur die Mengenpropor-
tionen der Bestandtheile, sondern auch genauer, als es jetzt
ihre schematischen Andeutungen thun, die Regel der Grup-
pirung der Atome und das allgemeine Verhalten ihrer
Wechselwirkungen auszudrücken.
118. Den Einwand nun, daß auch dieses ganze Ver-
fahren volle Wirksamkeit nur in der Mathematik habe, geben
wir zu, wie früher, weisen den damit versuchten Tadel
ebenso zurück und beleuchten ihn näher nur zu dem Zweck,
den Hinweg zu neuen Ergänzungen des noch Vermißten zu
finden. Es ist wahr, daß der scheinbare Reichthum der
Entwicklung aus geometrischen Gleichungen logisch be-
trachtet mehr blendend als wahrhaft ist. Wir bestimmen
die Gestalt der Curve, indem wir der einen Coordinate x
beliebige Werthe geben, die zugehörigen Werthe von y
aus der Gleichung berechnen und dann die Endpunkte der
rechtwinklig auf den Endpunkten der x aufgerichteten y
durch einen stetigen Zug zu einer Linie verbinden; die
Curve ist daher nur der geometrische Ort, in welchem die
unzähligen Ergebnisse einer unzähligemal wiederholten Pro-
portion zwischen verschiedenen Werthen der Coordinaten
sich zusammenfinden. Die neuen Eigenschaften aber, die
wir nun daraus schließen: Concavität, gleichförmige oder
ungleichförmige Krümmung, Geschlossenheit oder Offenheit,
Neigung oder Steigung der Curve nach dieser oder jener
Seite, diese alle sehen zwar zunächst aus wie neue Merk-
male, sind aber doch im Grunde auch nur Größen- und
Lagenverhältnisse von Raumgebilden, zwischen andern Be-
ziehungspunkten zwar, aber sonst von derselben Natur, wie
die vorausgesetzten zwischen den Coordinaten. Man ge-
langt hier nicht von einer Proportion zwischen zwei Merk-
malen X und y zur Bestimmung wahrhaft neuer, qualitativ
mit jenen unvergleichlicher Merkmale, sondern man schreitet
nur von gleichartigen gegebenen Verhältnissen zu gleich-
artigen neuen fort, deren Ableitbarkeit aus jenen ebenso wie
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 147
ihre scheinbare Neuheit nur auf der Natur des Raumes und
auf den Regeln beruht, nach denen die geometrische An-
schauung die Beziehungen zwischen den Elementen des
Raumes der allgemeinen Gesetzlichkeit der arithmetischen
Größen unterworfen hat. Diese Folgerungen decken daher
lange nicht unser Bedürfniß. Wo es sich nicht um bloße
Größengebilde, sondern um wirkliche Gegenstände handelt,
die eine Menge qualitativ nicht vergleichbarer Merkmale an
sich vereinigen, und wo es ferner der Wissenschaft nicht
gelingt, diese zunächst unvergleichbaren Bestandtheile auf
bloße Zusammensetzungsverschiedenheiten vergleichbarer
zurückzuführen, da wird das Denken, unter diesen er-
schwerenden Umständen, dennoch eine Form suchen müssen,
die annähernd wenigstens hier dieselben Vortheile ver-
spricht, welche in Bezug auf ihre leichtere Aufgabe die
Mathematik vollständig darbietet.
119. Die Gruppe der mathematischen Schlußformen
endet hier naturgemäß, nachdem das, was sich mathematisch
nicht bewältigen läßt, das Disparate der Merkmale, als das
nothwendig in Betracht zu ziehende Element ausdrücklich
hervorgehoben ist. An die Stelle der Gleichung wird äußer-
lich die Form der Definition treten, welche eine Anzahl
verschiedenartiger Merkmale zu einem Ganzen verbindet,
zwischen ihnen aber eine Gruppe wesentlicher von einer
andern unwesentlicher unterscheidet, in der ersten das
Gesetz für die Verbindung des Ganzen als gegeben be-
trachtet, die andern aber nach Maßgabe dieses Gesetzes von
ihnen abhängig und bestimmbar. Gefunden werden kann
endlich diese bevorzugte Gruppe der wesentlichen Merk-
male nur durch Vergleichung des gegebenen Begriffs mit
seines Gleichen; so werden wir zu systematischen Formen
der Zusammenstellung des Verschiedenen und zunächst zur
Classification getrieben.
10=»
148 Drittes Kapitel.
C. Die systematischen Formen.
Die Classification. — Die erklärende Theorie. — Das dialektische
Ideal des Denkens.
120. Am Eingange des Weges, auf den wir jetzt ver-
wiesen sind, standen wir schon einmal, bei der ersten Er-
wägung der Bildung unserer Begriffe. Schon damals sahen
wir in dem Inhalt einer Vorstellung ein Ganzes verschiedener
Merkmale, die durch eine bestimmte Regel ihres Zusammen-
hanges verbunden sind; schon damals glaubten wir diese
Regel nur in demjenigen Merkmalbestande zu finden, der
verschiedenen vergleichbaren Vorstellungsinhalten gemein-
sam zukam, und vorgreifend haben wir bereits dort der auf-
steigenden Stufenreihe immer höherer Allgemeinbegriffe ge-
dacht, welche aus der Fortsetzung dieser Vergleichung des
Vergleichbaren entspringt. Vorgreifend, denn die später
entwickelten Formen der logischen Thätigkeit haben das
dort Angedeutete noch nicht benutzt. In den Urtheilen
und in den Schlüssen, die sich auf Subsumption gründen,
ist stets nur das eine Verhältniß in Betracht gezogen worden,
welches zwischen einem Begriffe S und seinem nächst-
höheren Allgemeinen M besteht; dies M selbst in seine
Beziehungen zu den höheren Stufen der ihm übergeordneten
Begriffsreihe zu verfolgen, war keine Veranlassung. Denn
immer kam es nur darauf an, ein Prädicat P, welches aus
irgend einem Grunde einem M zugehört, auch jedem S
zu sichern, welches in den Umfang des M fällt. Für diesen
Zweck war die logische Bildung des M selbst in großer Aus-
dehnung gleichgültig; man nannte es zwar Mittelbegriff,
aber es brauchte in nichts das Gepräge eines Begriffs zu
tragen; jedes einfache Merkmal, jede Summe mehrerer,
gleichviel ob nach einer bestimmten Regel verbunden, oder
nur überhaupt zusammengedacht, war gut genug, um jenen
Mittelbegriff zu bilden. Erst die letzten Betrachtungen, die
ich hier nicht wiederhole, haben uns auf die Nothwendigkeit
zurückgeführt, unter dem Mittelbegriff, aus dem wir die
Berechtigung und Verpflichtung eines Subjects zum Besitz
seiner Merkmale herleiten, nur jenen schon damals im
Sinne gehabten Begriff zu verstehen, der in Wahrheit die
vollständige Regel der Zusammengehörigkeit und Gliederung
des ganzen in jenem Subject vorliegenden Inhalts bildet.
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 149
121. Wir kehren hiermit nicht einfach zu einem früheren
Standpunkte zurück. Wenn die Logik die ursprünglichsten
und einfachsten Formen des Denkens überlegt, kann sie
die Ergebnisse derselben fast immer nur an Beispielen ver-
deutlichen, welche bereits mehr logische Arbeit enthalten,
als sie an ihnen veranschaulichen will. Denn der Schatz,
aus dem sie diese Beispiele entnehmen muß, ist die Sprache,
und diese ist nicht der Ausdruck eines in seinem Beginn
stehen gebliebenen, sondern des ausgebildeten Denkens,
welches durch eine Menge nacheinander gethaner Schritte
über die unvollkommenen Ergebnisse seiner ersten An-
strengungen hinausgekommen ist und nun die Erinnerung
an sie unter der erlangten vollkommneren Fassung seiner
Gegenstände verbirgt. Deshalb kann es scheinen, als wäre
bereits an jener früher erwähnten Stelle das, was wir hier
suchen, die Bildung eines wesentlichen Begriffs, geleistet;
aber was wir dort als Beispiel brauchten, war nicht schon
durch diejenigen logischen Handlungen entstanden, die wir
damals, sondern entsteht erst durch die, welche wir hier^
im Uebrigen freilich sehr bekannte Verfahrungs weisen, an
ihrem systematischen Ort zu betrachten haben. Der un-
ermeßlichen Mannigfaltigkeit zusammengesetzter Bilder,
welche die Wahrnehmung darbietet, stand damals das
Denken mit dem Verlangen gegenüber, jedes Einzelne als
ein Ganzes nach bestimmten Gesetz verknüpfter Theile zu
fassen, und mit dem Bewußtsein, dies Gesetz nur durch Ver-
gleichung vieler vergleichbaren Einzelnen und durch Fest-
haltung des ihnen allen Gemeinsamen finden zu können.
Aber der nützliche Erfolg dieser Vergleichung hing davon
ab, ob die vergleichende Aufmerksamkeit auf eine Anzahl
von Gegenständen S R T gelenkt wurde, deren Gemein-
sames wirklich in dem durchdringenden Gesetz ihrer ganzen
Bildung bestand, und nicht auf eine Anzahl anderer, U V W,
die in allem Uebrigen völlig verschieden, nur eine be-
schränkte Merkmalgruppe mit einander theilen. Für diese
auswählende Richtung der Aufmerksamkeit gab es an jenem
Anfang des Denkens keine logische Regel; sie wurde da-
gegen sehr wirksam schon damals durch den psychischen
Mechanismus gesichert, welcher ganz überwiegend die-
jenigen zusammengesetzten Vorstellungen, die in der Total-
form ihres Zusammenhangs ähnlich sind, einander in der
Erinnerung reproduciren läßt, und vorzugsweise sie, nicht
aber die unähnlich gebildeten und nur in einzelnen Merk-
150 Drittes Kapitel.
malgruppen übereinstimmenden, jener vergleichenden Auf-
merksamkeit empfiehlt.
122. Im Laufe seiner Ausbildung nimmt daher das
Denken in der That seine Richtung zuerst auf solche All-
gemeinbegriffe, welche wirklich das durchdringende Bil-
dungsgesetz der Einzelnen enthalten, für die sie gesucht
werden; Allgemeinheiten dagegen, welche sonst Unähnliches
unter eine Minderheit gleicher Bestandtheile unterordnen,
pflegen erst für gewisse Zwecke der Untersuchung auf-
gestellt zu werden. Als wir von der ersten Bildung der
Begriffe sprachen, schienen uns deshalb die landläufigen
Beispiele, die Unterordnung des Cajus und Titus unter den
Begriff des Menschen, die der Eiche und Buche unter den
der Pflanze, vollkommen natürlich und selbstverständlich;
es war, als wenn nichts außer der bloßen Anweisung, das
Gemeinsame von Einzelheiten festzuhalten, dazu gehöre,
um die Richtung auf diese wirklich gesetzgebenden Gattungs-
begriffe M von selbst zu finden. Gleichwohl hätte nichts
gehindert, nach derselben Anweisung für Neger Kohle und
schwarze Kreide einen Gesammtnamen N zu erfinden,
welcher die Vereinigung von Schwärze Ausdehnung Theil-
barkeit Gewicht und Widerstand ausgedrückt hätte ; die An-
triebe des psychischen Mechanismus begünstigten aber nur
die erste und hinderten die zweite dieser Anwendungen der
logischen Vorschrift.
123. Unsere jetzige Aufgabe geht nun dahin, eben diese
Antriebe, welche bisher unbewußt uns auf den Weg des
Richtigen brachten, in logische Thätigkeit zu verwandeln,
uns also der Gründe bewußt zu werden, durch welche wir
uns rechtfertigen, wenn wir ausschließlich einen bestimmten
Allgemeinbegriff M als die gesetzgebende Regel für die
Bildung einer Anzahl von Einzelnen aufstellen, nicht aber
einen andern N, auf den uns eine anders geleitete Ver-
gleichung derselben Einzelnen auch hätte führen können.
Nun hat uns die Logik verschiedene Verhältnisse einer nur
einseitigen Abhängigkeit zwischen mehreren Beziehungs-
punkten kennen gelehrt; aus der Geltung des Allgemeinen
floß die des Besonderen, nicht aus der des Besondern auch
die des Allgemeinen; von einem bestimmten Grunde ließ
sich stets auf eine bestimmte Folge schließen, aber eine ge-
gebene Folge führte nicht nothwendig nur auf einen Grund
zurück, sondern möglicherweise auf verschiedene gleich-
werthige. Wenden wir dies auf die Gliederung eines Be-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 151
griffsinhaltes an, so gibt es in ihm Merkmale a b c, deren
Vorhandensein einen bestimmenden Einfluß auf Gegenwart
Abwesenheit oder Modification anderer ausübt; das Vor-
kommen dieser andern aber, a ß y, bedingt seinerseits
nicht nothwendig jene, sondern ist verträglich auch mit
andern^ p q r. Hierauf beruht der früher schon eingeführte
Unterschied der wesentlichen Merkmale a b c von den
•unwesentlichen a ß y; nur in der Vereinigung der ersten
könnte der gesetzgebende Begriff der verglichenen Einzelnen
gesucht werden, denn nur diese Vereinigung bestimmt auch
die übrigen Merkmale und schließt daher nur solche Einzelne
ein, die in ihrem ganzen Bau einander verwandt sind; die
Gruppe der letzteren Merkmale dagegen ließe die ersten
unbestimmt und würde deshalb, als Allgemeines gedacht,
eine Menge sonst in jeder Rücksicht verschiedener Einzel-
heiten unter sich befassen.
124. Darauf käme es mithin an, jene wesentlichen von
diesen unwesentlichen Merkmalen zu unterscheiden. Dies
ist leicht, so lange wir mit Gegenständen zu thun haben,
die wir in verschiedenen Zuständen beobachten können;
von selbst sondern sich hier die veränderlichen Eigen-
schaften, die unter wechselnden Bedingungen kommen und
gehen, von dem bleibenden Bestand des Wesentlichen ab.
Es ist anders, wenn die Möglichkeit solcher Beobachtungen
fehlt, und mit Ausschluß veränderlicher Zustände sich unser
Verlangen darauf richtet, zwischen bleibenden und unver-
änderlichen Merkmalen desselben Begriffsinhaltes einen
Unterschied wesentlicher von unwesentlichen zu finden;
wir müssen dann die Beobachtung der Veränderungen durch
Vergleichung verschiedener Beispiele ersetzen. Sei nun
a b c d der Merkmalbestand des einen gegebenen Begriffes,
so kann in einem zweiten Beispiel d nicht fehlen oder
durch ein ganz anders gestaltetes b nicht ersetzt werden,
ohne daß, bei der vorauszusetzenden Zusammengehörigkeit
aller Theile des Begriffsinhaltes, auch die übrigen Merk-
male eine Veränderung erfahren; ich bezeichne nun das
zweite Beispiel mit a^ b^ c^ b, um anzudeuten, daß durch
die Variation des d in b keines der allgemein ausgedrückten
anderen Merkmale ganz zu Grunde, jedes vielmehr nur aus
einer seiner möglichen Modificationen in eine andere über-
geht, die Form der Verbindung aller aber die nämliche
bleibt. In diesem Falle gehört d nicht zu den wesentlichen
Merkmalen, sondern die Gruppe ABC, welche abc ufnd
a^ b^ c^ als Modificationen unter sich befaßt, ist diejenige.
152 Drittes Kapitel.
welche die Gliederung des Begriffsinhaltes beherrscht. Aber
dieser erste Schritt lehrt uns nur das thatsächliche Zu-
sammenbleiben, nicht das innerliche Zusammengehören der
in ABC vereinigten Merkmale ; der Werth, den die einzelnen
Bestandtheile dieser Gruppe haben, kann sehr verschieden
sein; möglich, daß nur AB oder AC oder BC das eigentliche
Bildungsgesetz des Ganzen enthalten, das dritte Merkmal
dagegen nur die nothwendige Folge oder ein zulässiger Zu-
satz zu den beiden andern ist. Zur Entscheidung dieses
Zweifels bleibt dem Denken, das hier noch nicht auf die
sachliche Untersuchung des Gegenstandes mit allen Hülfs-
mitteln der Erkenntniß eingehen kann, nur die Fortsetzung
desselben Verfahrens übrig. Auch ABC haben wir mit
Beispielen der Form ABT zu vergleichen; ist mit dem
Unterschied des letzten Merkmals auch hier nur das oben-
gedachte Maß der Abweichung in den übrigen verbunden,
und bleibt die Verknüpfungsweise des Ganzen dieselbe, sd
wird das Zusammensein und das Verhältniß von A und B
die beherrschende Regel des ursprünglich gegebenen abcd
sein, oder die Vereinigung der wesentlichen Merkmale dar-
stellen, von denen das Vorhandensein der übrigen entweder
zugelassen oder gefordert, in jedem Falle ihre Größe Ver-
knüpfung und Verhalten zu dem Ganzen bedingt wird.
Denkt man sich dies Verfahren fortgesetzt, so ist es der
Weg der Classification, auf den wir verwiesen sind.
Nicht mehr die Betrachtung des Einzelnen reicht uns hin,
um seinen Begriff festzustellen, sondern nur diese erste der
systematischen Formen, durch welche wir seine Natur
in ihren Verhältnissen zu anderen untersuchen und aus der
Stelle, welche es in einer geordneten Reihe einnimmt, den
Grad der bedingenden Kraft beurtheilen, welche seine ein-
zelnen Merkmale auf die Gestaltung seiner ganzen Natur
und seines Verhaltens ausüben. Derjenige innere Kreis
von Merkmalen erscheint uns als das gesetzgebende Princip
seiner Gestaltung, der am längsten und unverändert in
seiner allgemeinen Form beisammen bleibt, wenn wir durch
das nächstliegende Allgemeine zu immer höheren Allgemein-
heiten aufsteigen, und wir begreifen die Natur des Be-
sonderen nur dann vollständig, wenn wir uns in einer
umgekehrten Reihenfolge, die der Stufenleiter dieser All-
gemeinheiten entspricht, zu jenem höchsten Gestaltungs-
princip neue Bestimmungsstücke hinzutreten denken, auf
welche dies seine rückwirkende Kraft ausdehnt.
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 153
125. Das Verlangen, durch diese systematische Zu-
sammenordnung Aufklärung über das innere Gefüge des
Zusammengestellten zu erhalten, liegt jeder wissenschaft-
lichen Classification zu Grunde, doch wird es nicht von
jeder Form derselben gleichmäßig befriedigt; ehe ich zu
der Gestalt derselben übergehe, die unseren Zwecken hier
allein dient, erwähne ich deshalb kurz als eine Vorstufe
die künstlichen oder combinatorischen Classifica-
tionen, die mehr dem allgemeinen Bedürfniß nach Klarheit
und Uebersicht und einzelnen besonderen Aufgaben des»
angewandten Denkens entsprechen. Den Inhalt eines ge-
gebenen Allgemeinbegriffs M zerfallen wir durch Partition
zunächst in seine allgemeinen Merkmale AB C ... und
jedes von diesen durch Disjunction in seine verschiedenen,
an demselben Subject einander ausschließenden Modifica-
tionen, A in a^ a,^ a^ . . ., B in b^ b2 b^ . . ., C in c^ c^ c^.
Nach dem Grundsatz des disjunctiven Urtheils muß nun
jede Art des M von jedem der allgemeinen Merkmale des
M eine Modification mit Ausschluß der übrigen besitzen;
beschränken wir uns der Einfachheit halber auf zwei Merk-
male, deren eines A nur in zweigliedrige Disjunction a
und b, das andere B in die dreigliedrige a ß und y zer-
fällt, so werden die in bekannter Weise erhaltenen binären
Combinationen aa aß a^ ba bß by alle denkbaren Arten
des M einschließen. Wir stellen endlich ihre Gesammtheit
übersichtlicher dar, wenn wir die Modificationen des einen
Merkmals, welches dann den Eintheilungsgrund der Classi-
fication bildet, so wie oben geschehen oder in der Form
M = a(a-)-ß-|-T) + b(a + ß-fT) den übrigen Merkmalen
vorangehen lassen. Man hat das einfachste Beispiel dieser
Classification in der Anordnung der Wörterbücher; die un-
veränderliche Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet liefert
hier nicht nur den ersten, sondern immer wiederholt auch
die untergeordneten Eintheilungsgründe für die zahlreichen
Combinationen, die in jeder durch den Anfangsbuchstaben
eingeführten Gruppe enthalten sind. Der an sich deutliche
Nutzen dieser lexicalischen Classification, nicht nur alle
Worte der Sprache, mithin alle Glieder des einzutheilenden
Gegenstandes vollständig zu umfassen, sondern auch ihre
Auffindung leicht zu machen, dieser erste Nutzen der Ueber-
sichtlichkeit ist allen gelungenen Versuchen combinatorischer
Classification gemeinschaftlich; über diese Leistung hinaus,
154 Drittes Kapitel.
dagegen tragen sie in sehr verschiedenem Maße zur Keniit-
niß der eigentlichen Natur ihrer Objecte bei.
126. Man bemerkt zuerst, daß dies combinatorische Ver-
fahren die Merkmale des gegebenen Begriffs nur vereinzelt,
nicht aber die wechselseitige Determination berücksichtigt,
in welcher sie erst den Begriff wirklich bilden. Die Ge-
sammtheit der gefundenen Combinationen schließt daher
zwar alle Arten des M ein, kann aber außer ihnen noch
andere enthalten, die nur gültig sein würden, wenn der
Begriff blos eine Summe seiner Merkmale wäre, aber un-
gültig sind, weil er eine bestimmte Form der Vereinigung
derselben befiehlt, welcher sie widersprechen. Der Begriff
des Dreiecks besteht nicht darin, daß wir drei Winkel und
drei Seiten denken, sondern darin, daß drei Seiten sich
zur völligen Begrenzung eines ebenen Raumes schneiden
und eben hierdurch jene Winkel erzeugen. Durch diesen
Zusammenhang der Seiten und Winkel werden gleichwinklig
ungleichseitige und rechtwinklig gleichseitige Dreiecke un-
möglich; die blos combinatorische Classification würde sie
neben den gleichwinklig gleichseitigen, den rechtwinklig
gleichschenkligen und den übrigen möglichen Arten mit auf-
geführt haben. Ist der Inhalt des M vollständig bekannt,
wie in diesem Beispiele, und einer genauen Construction
zugänglich, so scheidet die Kenntniß der Sache diese un-
möglichen Glieder aus; ihre vorläufige Aufstellung hätte
nur den Nutzen gehabt, die Aufmerksamkeit auf die Natur
des M und auf die Gründe zu schärfen, welche die gültigen
Arten möglich, diese ungültigen unmöglich machen. Ist
dagegen M ein der Erfahrung verdankter Gattungsbegriff,
dessen innere Gliederung nur unvollständig durch Beschrei-
bung, nicht genau durch Construction angebbar ist, so
bleiben die in Wirklichkeit nicht beobachteten Arten, auf
welche das combinatorische Verfahren geführt hätte, nur
zweifelhaft; der Fortschritt der Beobachtung kann sie noch
entdecken, der Fortschritt der sachlichen Erkenntniß ihre
Unmöglichkeit nachweisen; zu einem von beiden angeregt
zu haben, kann auch hier der Nutzen ihrer vorläufigen Auf-
stellung sein.
127. Ist nun das combinatorische Verfahren in Bezug
auf Erfahrungsgegenstände diesem zweifelhaften Ueberschuß
seiner Ergebnisse über das Wirkliche ausgesetzt, so hat es
anderseits in seiner gewöhnlichen Anwendung auch keine
Bürgschaft der Vollständigkeit. Es ist für menschliche Eiii-
bildimgskraft unausführbar, alle Modificationcn. denen ein
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 155
Merkmal p unterworfen sein kann, vollständig im Voraus
zu unterscheiden; unsere Aufmerksamkeit wird sich immer
auf diejenigen pi p^ p3 beschränken, die uns in irgend einer
Beobachtung gegeben sind ; eine andere Modification p-,
die in unserem Erfahrungskreise nicht vorkommt, wird
sammt allen den iVrten, an denen sie vielleicht bestehen
kann, auch in unserer Classification fehlen, und späterer
Zuwachs der Erfahrung erst wird diese Lücke füllen. Dieser
Umstand ist der Grund einer logischen Regel, die von Werth
ist, wo es sich zur Entscheidung einer Frage um er-
schöpfende Kenntniß aller Fälle handelt, die es in Bezug
auf irgend ein Z geben kann: man führt ihre Eintheilüng
und Aufstellung durch lauter contradictorisch entgegen-
gesetzte Eintheilungsglieder hindurch. Die Summe aller
möglichen Fälle von Z ist immer von der Natur Q oder der
entgegengesetzten Non Q ; die Fälle von der Form Q immer
entweder R oder Non R, die Fälle Non Q immer entweder S
oder Non S, so daß diese Eintheilüng an jeder Stelle, wo
man ihre weitere Fortsetzung abbricht, die Anzahl aller
möglichen Fälle vollständig enthält. Fruchtbar freilich wird
dies Verfahren nur dann, wenn man entweder die ersten
Gegensätze Q und Non Q, oder alle in gleichem Abstand
ihnen untergeordneten, also S, Non S, R, glücklich gen-ug
zu wählen im Stande ist, um für jeden dieser Fälle einzeln
das Stattfinden oder Nichtstattfinden des fraglichen Ver-
haltens Z aus leicht zugänglichen Gründen zu beweisen.
128. Es ist ferner ersichtlich, daß es keine logische
Regel geben kann, nach welcher die combinatorische Classi-
fication bestimmte Merkmale als oberste Eintheilungsgründe
für die Unterscheidung der Hauptgruppen, andere nur als
untergeordnete für die Unterabtheilungen der Hauptgruppen
benutzen müßte. So lange der einzutheilende Begriff M
nur als eine Summe seiner Merkmale ohne Rücksicht auf
deren gegenseitige Beziehungen angesehen wird, hat jedes
von diesen das Recht, durch seine Modificationen die Haupt-
eintheilung zu geben, jedes andere kann ihm als Neben-
eintheilungsgrund untergeordnet werden. Die offenbaren
Unzuträglichkeiten dieser Unbestimmtheit werden in der
wirklichen Anwendung der Classification durch nebenher-
gehende Ueberlegung, durch eine Schätzung des verschic:
denen Werthes der Merkmale vermieden, welche auf Kennt-
niß der Sache, auf richtigem Gefühl, oft nur auf einem er-
rathenden Geschmacke beruht; die Logik kommt diesen Be:
156 Drittes Kapitel.
mühungen nur durch die allgemeine Vorschrift zu Hülfe,
nicht notiones communes, nämlich nicht solche Merkmale
zu Eintheilungsgründen zu wählen, welche bekanntermaßen
an den allerverschiedenartigsten Gegenständen vorkommen,
ohne einen erkennbaren Einfluß auf deren übrige Natur zu
äußern. Aber was zu diesem Verbote als bejahende An-
weisung gehören würde, wie man nämlich die entscheiden-
den Eintheilungsgründe zu finden habe, überläßt sie doch
völlig der jedesmaligen sachlichen Kenntniß. Und diese
hat, wenigstens in Bezug auf mannigfach zusammengesetzte
Gegenstände der Wirklichkeit, so lange sie einzelne xMerk-
male zu maßgebenden Eintheilungsgründen machte, niemals
den Vorwurf vermeiden können, nächstverwandte Arten zu-
weilen an verschiedene oft sehr entlegene Stellen des
Systems auseinander gerissen, andere in ihrem ganzen Ver-
halten auffallend verschiedene in eine befremdliche Nach-
barschaft aneinander gerückt zu haben. Dies ist sehr be-
greiflich bei der Verschiedenwerthigkeit der Merkmale für
den Bau des ganzen Begriffsinhaltes. Nichts hindert z. B.,
daß das Merkmal B, so lange es in der Modification b vor-
kommt, einen vorwiegenden Einfluß auf die Bildung des
Ganzen ausübt, und dann werden alle diesem Index b unter-
geordneten Arten unter einander form verwandt bleiben ; aber
dasselbe Merkmal kann diesen bestimmenden Einfluß ganz
verlieren, sobald es in der Modification ß in die übrige
Merkmalgruppe eintritt; dann folgen die dem ß als Index
untergeordneten Arten allen den Schwankungen, welche die
jetzt einflußreich gewordene Verschiedenheit der anderen
Bestandtheile A C D mit sich führt, und die sonst unähn-
lichsten Beispiele des einzutheilenden M finden sich nun in
nächster Nachbarschaft vereinigt. So ist es dem botanischen
System Linne's begegnet, welches die Anzahl der Staub-
fäden zum Eintheilungsgründe wählte; da wo der ganze
Organisationsplan der Pflanze diesem Bestandtheil Wichtig-
keit gab, fanden sich auch nach dieser Auffassung die ver-
wandten Arten zusammen; sie wurden zerrissen im ent-
gegengesetzten Fall und das Verschiedenartige verbunden.
Der sachkundige Geschmack begegnet auch diesem Uebel-
stande theilweis dadurch, daß er für verschiedene Ab-
theilungen des ganzen Systems verschiedene Eintheilungs-
gründe wählt. Nur eine übel angebrachte logische Pedanterie
könnte verlangen, daß in einem Systeme, welches seinen
ganzen Gegenstand zuerst nach den Modificationen a b c
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 157
des einen Merkmals A gespalten hätte, dann jede der durch
a oder b oder c eingeführten Gruppen nach den Modifica-
tionen eines und desselben zweiten Merkmals B weiter
gegliedert werde; vielmehr können für die Gruppe mit a die
Variationen eines Merkmals C, für die mit b die Variationen
eines vierten Merkmals D ausschließlich wichtig werden,
und die Classification, welche nach diesem Gesichtspunkt
verfährt, nähert sich dadurch nur dem wirklichen Wesen
der Sache. Die Gefahr, so nur unvollständig alle Arten
zu finden, ist auf andere Weise zu vermeiden; die Classi-
fication schafft nicht das vollständige Material, sondern
setzt seine anderweit verbürgte Vollständigkeit voraus.
129. Die Classificationen würden ganz der angewandten
Logik angehören, wenn sie nur jene Uebersichtlichkeit und
Vollständigkeit bezweckten, welche entweder eine praktische
Behandlung ihrer Gegenstände oder eine nur erst beginnende
logische Betrachtung derselben verlangen muß. Aber sie
sind mehr als solche Vorbereitungen; sie stellen selbst ein
logisches Ideal dar, welches in der systematischen Reihen-
folge der Denkformen seine nothwendige Stelle hat ; dadurch,
daß eine Mannigfaltigkeit in den Zusammenhang eines
Classensystems gebracht ist, dadurch allein schon soll etwas
über die Natur aller und jedes Einzelnen gesagt und nicht
blos einer künftigen Untersuchung vorgearbeitet sein. Wir
bemerken dies an den Vorwürfen, welche wir gegen ge-
zwungene Classificationen richten; nicht allein der Weg,
den unsere Aufmerksamkeit nehmen muß, um eine be-
stimmte Art des eingetheilten Allgemeinen aufzufinden, soll
durch eine genau vorgezeichnete Reihe von Begriffen hin-
durchgehen, sondern die Orte selbst, an denen wir die
einzelnen Arten antreffen, sollen in ihren Lagenbeziehungen
den eigenen Verwandtschaften derselben entsprechen. Für
jene praktischen Absichten genügt jede beliebige Ordnung,
welche handgerecht ist für den, der sich ihrer bedienen
will; das logische Verlangen des Denkens geht auf eine
solche, die sachgerecht ist. Nun können wir die vollständige
Vorstellung eines zusammengesetzten Inhalts immer hervor-
bringen, gleichviel von welchem seiner Theile wir beginnen,
so lange wir nur die Hinzufügungen jeder neuen Theilvor-
stellung zu den vorigen zweckmäßig nach dem gewählten
Anfangspunkte abändern. Jede so geordnete Vorstellung
bildet einen Begriff des gegebenen Denkinhaltes, hin-
länglich, um ihn von anderen zu unterscheiden und seinen
eigenen Bestand deutlich zu machen. Unter diesen mancher-
158 Drittes Kapitel.
lei Begriffen desselben M suchen wir nun jenen bevorzugten,
welcher von dem herrschenden Gesetze ausgeht, dessen Sinn
die Anordnung aller übrigen Merkmale bestimmt. Con-
stitutiven Begriff haben wir diesen bevorzugten genannt;
man könnte ihn im Gegensatz zu der Form des bloßen Be-
griffs überhaupt die logische Idee des Gegenstandes oder
deutsch seinen Gedanken nennen; denn so unterscheidet
unser Sprachgebrauch allenfalls den Gedanken der Pflanze
oder des Organismus überhaupt als das bildende Gesetz
von dem bloßen Begriffe, welcher den vollen Bestand der
nothwendigen Merkmale und ihrer thatsächlichen Ver-
knüpfungsform zusammenfaßt.
130. Es wird der Anschaulichkeit dienen, hier sogleich
zweier Nebenvorstellungen zu gedenken, welche sich an
diese Aufsuchung des Gedankens oder der Idee eines Gegen-
standes überall leicht anknüpfen, am deutlichsten aber in
jenen naturgeschichtlichen Classificationen, welche die
künstliche Anordnung der Pflanzen und Thiere durch Be-
rücksichtigung der natürlichen Verwandtschaften zu ver-
bessern suchen. Die allgemeine Idee des Thieres oder der
Pflanze erscheint uns hier leicht als eine thätige lebendige
Kraft; stets sich selbst gleich und in demselben Sinne wirk-
sam führt sie zu einer Reihe verschiedener Gestaltungen,
je nachdem außer ihr liegende Bedingungen einen oder
mehrere ihrer Angriffspunkte feststellen und sie so nöthigen,
nach diesem gegebenen Anfangspunkte die Gesammtheit
ihrer Thätigkeit abzuändern. Sie erscheint uns ferner ebenso
leicht als ein sich stets gleichbleibender Zweck, der seine Ver-
fahrungsweisen nach diesen gegebenen Beziehungspunkten
abmißt und in den verschiedenen Formen, zu denen er
durch sie getrieben wird, eine und dieselbe Absicht theils
überhaupt vielgestaltig, theils mehr oder minder dem Maße
nach erreicht. Die verschiedenen Arten, welche die Classi-
fication zusammenordnet, sind dann die Ausdrücke dessen,
was aus der Wechselwirkung des allgemeinen Gedankens
mit den besonderen Beziehungspunkten werden muß, die
ihm als Allgemeinem fremd sind. Man wird zugeben, daß
diese Auffassungsweisen der Sache eine große und anschau-
liche Deutlichkeit verleihen, aber man wird hinzufügen, daß
beide Gesichtspunkte der Logik fremd sind. Dieser Ein-
wurf ist unbestreitbar; allein unsere Absicht geht nicht
darauf, die Vorstellungen des wirkenden Triebes und des
Zweckes für die Logik zu verwenden, sondern auf den Nach-
weis, daß eben diese beiden Vorstellungen auch da, wo sie
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 159
hingehören, nur unter Voraussetzung eines rein logischen
Gedankens etwas bedeuten, den wir an dieser Stelle ver-
deutlichen wollen. -Soll es möglich sein, daß derselbe Zweck
unter wechselnden Umständen in verschiedenartigen Formen
erfüllt werde, so muß es auch möglich sein, den Inhalt
desselben durch eine Vorstellungsgruppe Z zu bezeichnen,
deren Gefüge diese verschiedenen Erfüllungsformen als mög-
liche Arten ihrer selbst enthält und als nothwendige Folge
dann hervorbringt, wenn man der Reihe nach jedem ein-
zelnen Merkmale des Z und jeder Beziehung zwischen
mehreren alle Veränderungen ertheilt, die jenes und diese
innerhalb der gegebenen Gesammtform des Z erfahren
können. Soll ein thätiger Trieb unter wechselnden Be-
dingungen seine Wirksamkeit ändern und in neuen Erzeug-
nissen sich äußern, so muß die Combination von Kräften,
in denen er selbst besteht, durch Gleichungen ausdrückbar
sein, aus welchen alle diese neuen Gebilde als nothwendige
Ergebnisse entspringen, sobald man den in jene Gleichungen
eingehenden Größen nacheinander alle mit ihrer Natur ver-
träglichen Werthe gibt. Absichtliche und unabsichtliche
Wirksamkeit bringt mithin nie etwas anderes hervor, als
das an sich Denkbare, das denknothwendig wird, sobald
man einen Beziehungspunkt bejaht, von dem die übrigen
abhängen; und dies ist eben, was wir hier im Auge haben.
Wir betrachten den Gedanken, den wir suchen, weder als
denkende Absicht eines Bewußtseins, welche nach Erfüllung
strebt, noch als wirkende Kraft, welche ihre Erfolge her-
vorbringt, sondern nur als den gedachten oder denkbaren
Grund, dessen Folgen im Denken, unter Voraussetzung be-
stimmter Bedingungen, dieselben sind, welche als Wirklich-
keiten aus einer zwecksetzenden Absicht oder aus der Ur-
sächlichkeit einer Kraft unter denselben Bedingungen ent-
springen müssen. Behält man diese Bemerkung im Auge,
so kann man duldsam sein gegen eine Ausdrucksweise,
welche die Vorstellung eines Zweckes oder eines Entwick-
lungstriebes in die Logik einführt; aber nützlicher wird es
dennoch sein, diese Bezeichnungen zu vermeiden und das, was
nur die Wirklichkeit kennt, nicht zur Benennung des bloßen
Benkgrundes zu verwenden, auf dem das Wirkliche beruht.
131. Noch einen Punkt, auf den sich ;hier unsere logische
Aufmerksamkeit richten muß, führe ich sogleich im Ver-
folg dieser Nebenvorstellungen ein. Von einem Triebe, der
sich selbst verwirklicht, überrascht es uns nicht, wenn er
unter bestimmten Bedingungen in seinen Bemühungen
160 Drittes Kapitel.
scheitert; von einem Zwecke begreifen wir, daß er unter
verschiedenen Umständen mit verschiedener Vollkommen-
heit zu erreichen ist. An beide Vorstellungen schließt sich
daher sehr natürlich die Voraussetzung, daß verschiedene
Verwirklichungen oder Beispiele der gestaltenden Idee von
verschiedenem Werth sind, und daß sie nicht blos unter
dem Allgemeinbegriff ihrer Idee als Arten überhaupt co-
ordinirt sind, sondern innerhalb dieser Coordination eine
auf- oder absteigende Reihe bilden, in welcher jede ihren
unvertauschbaren Platz zwischen bestimmten andern hat.
Von diesem Nebengedanken sind die Versuche natürlicher
Classification, die unsere jetzigen Bedürfnisse zu befriedigen
streben, allenthalben beherrscht; es ist zu zeigen übrig,
daß diese bekannte Neigung, aus der blos combinatorischen
Classification in die Form einer Entwicklungsreihe über-
zugehen, ihre allgemeine logische Berechtigung, und zwar
eben an dieser Stelle, besitzt. Betrachten wir einen Be-
griff M, wie es leider in den Anfängen der Logik häufig
zu geschehen pflegt, nur als ein Ganzes aus einer Anzahl
allgemein ausgedrückter Merkmale, so hat es keinen Sinn,
eine seiner Arten für besser zu halten, als die andere.
Jedes S enthält entweder alle Merkmale seines Allgemeinen
M und ist dann eine Art desselben, oder es enthält irgend
eines dieser Merkmale nicht, und dann ist es nicht eine
unvollkommene, sondern gar keine Art des M. Mit diesem
trockenen Gegensatz ist das lebendige Denken in seinem
wirklichen Gebrauch gar nicht einverstanden; es unter-
scheidet Arten, die ihrem gemeinsamen Gattungsbegriffe
mehr oder weniger entsprechen oder adäquat sind. Der
erste Grund der Möglichkeit solcher Unterscheidung liegt
nun in den Größenbestimmungen, denen die einzelnen Merk-
male und ihre Wechselbeziehungen entweder zugänglich
oder gar nicht entziehbar sind. Das Gefüge der Gattungs-
begriffe, unabsehbar verschieden im Einzelnen, enthält im
Ganzen doch immer eine Mehrheit von Bestandtheilen oder
Beziehungspunkten, an deren jedem eine Gruppe einfacher
Merkmale vereinigt ist, und die unter einander in allerhand
Beziehungen stehen. Ich nenne hier einfache Merkmale
nicht nur die sinnlichen Eigenschaften roth süß warm,
sondern auch solche, welche, wie schwer ausgedehnt reiz-
bar, allerdings den Ertrag vorangegangener Beobachtungen
zusammengesetzter Verhaltungsweisen, diesen aber doch in
so einfacher Gestalt enthalten, daß unsere logische Phantasie
pich längst daran gewöhnt hat, jeden dieser Ausdrücke als
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 161
ruhendes einfaches Prädicat seinem Subjecte hinzuzufügen.
Die Unterschiede der Größe erstrecken sich nun auf alle
diese Elemente des Gattungsbegriffs. Kein Merkmal irgend
eines seiner Bestandtheile ist überhaupt ohne bestimmten
Grad der ihm eigenthümlichen Art der Intensität denkbar,
und die Grade können unendlich verschieden sein; die An-
zahl der Bestandtheile selbst ist, wie jede Zahl, vermehr-
bar und verminderbar und jeder einzelne Bestandtheil kann
außerdem seinen logischen Werth dadurch verändern, daß
er, dem der Gattungsbegriff einfach zu sein erlaubt, sich
dennoch innerlich zu einem wiederum gegliederten System
mannigfacher Elemente ausdehnt; jede Beziehung endlich,
die zwischen den verschiedenen Inhaltspunkten des Be-
griffs stattfindet, ist verschiedenwerthig je nach dem Werth
dieser oder selbst nach eigenthümlichem Maßstabe einer
größeren oder geringeren Engigkeit fähig. Aus dem Zu-
sammenwirken aller dieser Veränderlichkeiten entspringt
nun eine Vielheit von Arten, zwischen denen ein bemerk-
licher Unterschied ist. Nehmen wir an, daß ein Merk-
mal P des Gattungsbegriffs M die bestimmende Kraft, welche
es stets auf alle übrigen Merkmale äußert, dann, wenn es
den Werth p annimmt, bis zu völliger Umgestaltung des
ganzen Begriffsinhaltes M steigert, so wird die so ent-
stehende Art nicht mehr Art des M, sondern Art einer
andern Gattung N sein. Diejenigen Werthe von P aber,
welche sich diesem entscheidenden Grenzwerthe nur nähern,
ohne ihn zu erreichen, werden Bildungen bewirken, die
zwar noch unter die Gattung M fallen, aber sich stufenweis
dem Gefüge anähnlichen, welches die andere Gattung N
kennzeichnet. Hierauf beruht nun der Unterschied von
Arten, welche ihrem gemeinsamen Gattungsbegriffe mehr
oder minder angemessen oder adäquat sind; jede Art ist
in einer bestimmten Beziehung um so vollkommener, je
weiter sie von dem Uebergang in eine andere Gattung ab-
steht, und diejenige ist die logisch vollkommenste, für welche
die Summe ihrer Abstände von allen nächstverwandten
Gattungen ein Größtes wird.
132. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß dieser Ge-
sichtspunkt ein völlig logischer und unabhängig von den
Ansichten ist, die wir uns aus anderweitiger Kenntniß der
Sache über den Werth die Bedeutung und Bestimmung
dessen bilden, was an irgend einem bestimmten Gattungs-
begriff das Gesetz seines Daseins hat. Ich erläutere daher
Lotze, Logik. 11
162 Drittes Kapitel.
durch Beispiele, für welche diese Nebengedanken keinen
Sinn haben. Die Gleichung der Ellipse a2y2 -f b2x2 = a^b*
läßt die Wahl der beiden Axen a und b willkürlich, und
es wird nach ihrer Aussage immer eine Ellipse entstehen,
welchen Werth man auch für a und b einsetzen mag; sie
wird daher auch entstehen, wenn eine der beiden Axen
zu Null wird. Aber dann geht die Curve in eine gerade
Linie über; das Ergebniß, welches dieser Werth liefert,
ist daher einem Allgemeinbegriff N, dem der geraden Linie,
untergeordnet, welcher von dem der Ellipse verschieden ist.
Aber dies Beispiel zeigt zugleich, was wir oben nicht all-
gemein anführen wollten, daß die äußerste Art einer
Gattung M, welche auf solche Weise entsteht, nicht blos
zu einer neuen Gattung N gehören muß, sondern auch fort-
fahren kann, der früheren M untergordnet zu sein. Denn
die Mittelpunktsgleichung der Ellipse kann uns zwar in
diesem Fall, für b==o, da sie aufhört, eine Curve zu be-
deuten, nichts lehren; aber ein anderer Ausdruck der
wesentlichen Bildung der Ellipse bleibt gültig, der nämlich,
daß die Summe der Fahrstrahlen, die von zwei festen
Punkten der großen Axo nach demselben Punkt der Peri-
pherie gehen, eine constante Größe und gleich dieser Axe
ist. In der geraden Linie, auf welche sich in unserem Fall
die Ellipse zusammengezogen hat, sind ihre beiden End-
punkte jene zwei festen Punkte, die Brennpunkte, geworden,
und für jeden Zwischenpunkt c, den wir auf der geraden
Linie ab annehmen, hat man die Summe der Entfernungen
ac-j-cb, die Summe der beiden Fahrstrahlen also, gleich
der Länge ab. Wenn ein schwerer Stab von der unver-
änderlichen Länge ab mit dem Endpunkt a auf einer glatten
reibungslosen Horizontalebene steht, mit dem andern b an
einer glatten reibungslosen Verticalwand lehnt, so macht
der Antrieb seiner Schwere ihm das Gleichgewicht unmög-
lich und er sinkt. Eine leichte Rechnung lehrt, daß die Bahn,
welche jeder beliebige Punkt c seiner Länge während dieses
Sinkens beschreibt, ein Ellipsenbogen ist. Zugleich aber
ist klar, daß der Endpunkt b senkrecht in gerader Linie
an der Wand herabgleiten, der Punkt a dagegen horizontal
und geradlinig sich auf dem glatten Boden verschieben muß.
Da nun auf alle Punkte dieselbe Gruppe von Bedingungen
einwirkt, so müssen auch diese geradlinigen Bewegungen
als Arten der von diesen Bedingungen allgemein geforderten
elliptischen Bahn angesehen werden. Sie sind in der That
die beiden Grenzfälle, welche man erhält, wenn man ein-
Die Lehie vom Schlui3 uiid den systematischen Formen. 163
mal die eine, dann die andere Axe = Null setzt; der End-
punkt bewegt sich in der andern Axe geradlinig. Ein
anderer ausgezeichneter Fall findet für den Mittelpunkt des
Stabes statt; für ihn werden die Axen seiner elliptischen
Bahn einander gleich und er beschreibt einen Kreisbogen.
Die Natur der vorliegenden Aufgabe nöthigt daher, auch
den Kreis als eine Art der Ellipse aufzufassen, wovon die
angeführte Mittelpunktsgleichung die Möglichkeit sogleich
deutlich macht. Dies Beispiel lehrt uns also, daß die Arten
einer Gattung M durch Größenveränderungen eines ihrer Be-
standtheile sich allmählich dem Bildungsgesetze einer andern
Gattung N nähern, daß es Grenzglieder geben kann, welche
sowohl Arten von M als solche von N sind, weil sie den For-
derungen beider Gattungsbegriffe genugthun ; dem bloßen That-
bestand von Inhalt, der in einem solchen Grenzgliede vorliegt,,
ist gar nicht anzusehen, von welchem gestaltenden Gattungs-
begriffe er eigentlich bestimmt ist; hierüber entscheiden
vielmehr, bis jetzt, Nebenrücksichten irgend welcher Art.
133. Dagegen lassen diese Beispiele eine noch zu
hebende Zweideutigkeit in Bezug auf den Maßstab übrige
nach welchem wir den Grad der Vollkommenheit, sagen
wir kurz: die Höhe jeder Art bestimmen. Die mathe-
matischen Gebilde haben keine Lebens- und Entstehungs-
geschichte; als bloße gesetzliche Denkbarkeiten ohne Wirk-
lichkeit lassen sie sich auf den verschiedensten Wegen für
unsere Einbildungskraft erzeugen, und es ist im Allgemeinen
gleichgültig, im besondern Fall von der Natur der Aufgabe,
die auf sie führt, abhängig, von welchem Anfangspunkt
aus wir ihre Construction beginnen, oder welchem Gattungs-
begriff, welcher allgemeinen Constructionsregel wir sie
unterordnen. Für unsere nicht geometrische, sondern ästhe-
tische Anschauungsweise, ich meine für die, welche den
ganzen Eindruck des fertigen Gebildes, nicht seine Ent-
stehung beachtet, sondern sich Kreise und gerade Linien
von der Ellipse entschieden ab; zu dem Eindrucke der
Ellipse gehört für unsere Anschauung die Ungleichheit der
Axen nothwendig; anderseits freilich, je größer diese wird^
um so mehr nähert sich die Curve den Grenzgliedern, die
wir ausschließen möchten, den beiden geraden Linien, die
in die Richtung der einen oder der andern Axe fallen.
Den charakteristischen Eindruck ihrer Gattung würde uns
diejenige Ellipse am meisten machen, die gleichweit von
der Gleichung a — b = o, die dem Kreise, sowie von der
andern a = b=:a entfernt wäre, die einer Geraden zu-
164 Drittes Kapitel.
kommen würde. Man könnte aus der Verbindung beider
die Bedingung dieses Eindrucks dahin bestimmen, daß eine
Axe das Doppelte der andern sein müsse, und dies würde
leidlich zutreffen; nur läßt sich überhaupt etwas nicht
mathematisch feststellen, was nicht einfach von mathema-
tischen Gründen abhängt. Von ähnlichen Neigungen wird
nun unsere logische Einbildungskraft allenthalben be-
herrscht. Nichts ist gewöhnlicher, als daß, wer vom Vier-
eck spricht, eigentlich das Parallelogramm meint, ja oft
genug das Quadrat; eine sehr natürliche Ungenauigkeit des
Ausdrucks; denn die Phantasie, welche zu dem Begriff eine
Anschauung wünscht, aber doch nur ein Bild auf einmal
festhalten kann, wählt das logisch vollendetste; und in der
That, sowohl durch wachsende Ungleichheit der Seiten als
durch die der Winkel nähert sich allmählich immer mehr
das Parallelogramm der Endform der geraden Linie, in
welche alle vier Seiten zusammenfallen. Die Betrachtung
natürlicher Gegenstände bezeugt dieselbe Neigung; als
typische und ausdrucksvollste Beispiele jeder Gattung er-
scheinen uns immer diejenigen Arten, in welchen alle ein-
zelnen Merkmale die höchsten Werthe erhalten, welche ihre
von der Gattung vorgeschriebene Verknüpfungsweise ihnen
erlaubt, in denen mithin kein Merkmal einseitig hervortritt,
keines bis zum Nullwerth herabgedrängt ist, alle vielmehr
so viel als möglich in gleichmäßiger Stärke ausgebildet sich
zu dem Eindruck eines festen Gleichgewichts des Ganzen
vereinigen.
134. Ich wiederhole hier eine frühere Bemerkung: ich
besorge nicht, daß man diese Schätzung der Höhe der
Arten als der Logik fremd tadeln werde; ihr Mangel be-
steht vielmehr darin, daß sie von unzureichenden logischen
Gesichtspunkten aus sich nicht hinlänglich an die Natur
ihrer Gegenstände anpaßt. Fassen wir uns kurz: dieses
Gleichgewicht der Merkmale, welches wir eben schilderten,
für die Bedingung der größten Vollkommenheit einer Art
zu halten, ist die Meinung, auf die wir aus rein logischen
Gründen kommen müssen, so lange uns eine sachliche
Kenntniß fehlt, welche aus der wesentlichen Bestimmung
der classificirten Gattung einen anderen Maßstab für
den steigenden Werth ihrer Arten ableiten könnte. In der
Natur der Dinge kann es liegen, daß eine Gattung M dazu
bestimmt ist, eben jenes Gleichgewicht der Merkmale nicht
festzuhalten, sondern durch Verminderung des einen und
Uebersteigerung des andern in eine andere Gattung N über-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 165
zugehen ; dann werden ihre Arten um so vollkommener sein,
je näher sie diesem Uebergange liegen, der sie ihrer eigenen
Gattung entzieht. Diesen Gedanken einer zu erreichenden
Bestimmung, durch welche die Gattungen über ihr eigenes
Wesen fortwährend hinausgetrieben werden, findet man in
die bedeutendsten Versuche natürlicher Classificationen tief
verflochten; ich führe ihn deshalb absichtlich hier ein, um
seine Bedeutung für die Logik, welcher er an sich ganz
fremd ist, zu erwähnen. Von dem Begriffe des Triebes
haben wir früher die Vorstellung der hervorbringenden Wirk-
samkeit, von dem des Zweckes die der Absicht abgesondert;
wir sondern ebenso hier von dem Begriffe der Bestimmung
die Vorstellung der Verpflichtung ab. Es entgeht Nie-
mand, daß durch diese Abtrennung der ganze eigenthüm-
liche Sinn dieser drei Begriffe sich überhaupt verflüchtigt;
aber eben dies ist es, was wir beabsichtigen. Gar nicht
jenen Begriff der Bestimmung selbst führen wir in die
Logik ein, sondern eben nur den des logischen Verhält-
nisses, das seinem wesentlichen Inhalt zu Grunde liegt,
und zu dessen bildlicher Bezeichnung er selbst, als aus-
drucksvollstes Beispiel, sich unserem Sprachgebrauch auf-
drängt. Eine Bestimmung nun, welche erreicht werden soll,
unterscheidet sich von einem Endzustande, der nun that-
sächlich durch eine Veränderung erreicht wird; dort ent-
hält der Merkmalbestand, welcher das erreichte Ziel kenn-
zeichnet, auch für alle früheren Stufen der Entwicklung
den gesetzgebenden Grund für den Zusammenhang der
Merkmale und für die Richtung, in der sie sich verändern;
ein Endzustand dagegen läßt möglich, daß die zu ihm
führenden Vorgänge bunt abwechselnd, rechtläufig und rück-
läufig, kreuz und quer verlaufen. Achtet man hierauf, so
ist es nicht mehr zweifelhaft, welchen rein logischen Sinn
es hat, wenn wir von einer Bestimmung sprechen, welcher
die einzelnen Gattungen sich zu nähern haben. Bisher
haben wir als das letzte gesetzgebende Formprincip, welches
in einer Reihe von Arten herrscht, den eigenen Gattungs-
begriff M dieser Arten angesehen, und diejenige Art mußte
dann die vollkommenste sein, welche diesen Gattungsbegriff
im schönsten Gleichgewicht seiner Merkmale darstellt; jetzt
hat eine der Logik ursprünglich fremde Betrachtung erinnert,
daß es auch anders feein kann, daß der wahrhaft bestimmende
Grund für die Bildung der Artenreihe von M nicht in dem
Gattungstypus von M selbst liegen muß, so daß man ihn
in M entdecken könnte, wenn man dies M allein, in dem
166 Drittes Kapitel.
bloßen Bestände seiner Merkmale, ins Auge faßt; daß
vielmehr die Bildung dieser Gattung ihre richtige Deutung
erst dann erhalte, wenn man sie selbst mit einer andern N,
in welche sie übergeht, und einer dritten L, aus welcher
sie durch ähnlichen Uebergang entstanden ist, endlich diese
wieder mit ihren Vorgängern und Nachfolgern vergleicht;
erst aus dieser Vergleichung ergebe sich die Richtung,
nach welcher innerhalb einer höheren Gattung Z, die jene
alle, L M N, als Arten einschließt, der Fortgang vom Un-
vollkommenen zum Vollkommenen stattfinde; in der Arten-
reihe jeder einzelnen Gattung M werden dann diejenigen
Glieder die höchsten sein, die am weitesten in dem Sinne
der Richtung fortgeschritten sind, in welcher sich der ganze
Typus der Gattung M innerhalb der höheren Z nach dem
vollständigsten Ausdruck dieses Z hin entwickelt. Es bleibt
übrig zu zeigen, daß diese Gedankenreihe, auf welche wir
jetzt durch einen äußerlichen Anstoß uns bringen ließen,
ohnehin an dieser Stelle aus den einheimischen Bedürf-
nissen der Logik entspringt.
135. Aber dieser Nachweis ist kaum noch nöthig. Wir
haben gesehen, daß wir den Allgemeinbegriff, der eine i\.n-
zahl Einzelner unter sich befaßt, nur aus der Vereinigung
ihrer bleibenden und gemeinsamen Merkmale erzeugen
konnten; dann: daß diese beständige Merkmalgruppe Be-
standtheile von sehr verschiedenem Werthe enthalten
konnte; um diejenigen auszusondern, welche nicht nur
thatsächlich bleiben, sondern die bedingende Regel für die
Fügung aller einschließen, mußten wir das gefundene All-
gemeine mit anderen Allgemeinen vergleichen, Arten mit
Arten; was dann in diesem größeren Wechsel dennoch fest
bei einander blieb, das erschien uns als das wahre Wesen
einer Gattung M, nach dessen mehr oder minder voll-
konmiener Verwirklichung die Höhe der Arten von M ab-
zumessen war. Aber dieses Verfahren hat keinen natür-
lichen Abschluß; dieselben Zweifel erneuern sich immer
wieder; auch in dem Bestände des M werden die Merkmale
ungleichwerthig sein; die maßgebenden wird man von den
unwesentlichen nur unterscheiden, wenn man abermals M
mit L und N vergleicht, aus dem gemeinsamen Bildungs-
gesetze, das in ihnen allen sich forterhält, die höhere
Gattung Z bildet und den Werth von M L N sowohl als den
ihrer einzelnen Arten nach dem Maße bestimmt, in welchem
sie dies Bildungsgesetz Z verwirklichen, nicht aber nach
(Jem Maße, in welchem jede Art nur das speciellere Gesetz
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 167
ihrer eigenen nächsten Gattung zum Ausdruck bringt. Und
dieser Fortschritt geht ins Endlose oder so weit, bis es
uns gelungen wäre, ein höchstes Ideal A aufzufinden,
welches diejenige Verknüpfungsweise des Mannigfachen dar-
stellte, die allen Gattungen des Wirklichen und des Denk-
baren als gemeinsame Pflicht obläge; aus diesem A würde
sich eine classificatorische Entwicklung ableiten lassen,
welche den ganzen Weltinhalt aus sich hervortriebe, und
diese allein würde, wenn sie möglich wäre, die logische
Bürgschaft dafür bieten, daß in der gesammten Artenreihe
jede an den bestimmten Platz gerückt würde, der ihr durch
den Grad, in dem sie das Wesentliche verwirklicht, zwischen
allen ihren Verwandten zukäme. So führt diese Aufgabe
natürlicher Classification von selbst über die vereinsamte
Behandlung einer besonderen Aufgabe zur systematischen
Gliederung unseres gesammten Denkinhaltes. Und diesem
Antriebe sind in der That die bedeutendsten Versuche
immer gefolgt. Wollte man die aufsteigende Entwicklungs-
reihe der Pflanzen oder der Thiere darstellen, oder die ge-
schichtlichen Ereignisse, denn auch auf das Geschehen er-
streckt sich der Anspruch dieser Denkform : immer mußte
man sich darüber rechtfertigen, warum man diesen, nicht
jenen Maßstab für die Abschätzung des zunehmenden
Werthes der einzelnen Glieder befolgte, und immer fand
man zuletzt diese Rechtfertigung nur in den allgemeinsten
Anschauungen über den Sinn alles Seins oder Geschehens,
die man ausdrücklich an die Spitze der ganzen Untersuchung
stellte, oder unausgedrückt als leitendes Princip hindurch-
fühlen ließ.
136. Die natürliche Classification, um mit diesem her-
gebrachten Namen das nun geschilderte Verfahren zu-
sammenzufassen, unterscheidet sich also von der combina-
torischen oder künstlichen durch die Berücksichtigung der
gegenseitigen Determination der Merkmale, die in jener nur
nebenbei Beachtung fand, in der Gestalt ihres Erfolges aber
durch die Form der Reihe, deren Glieder nicht nur über-
haupt nebeneinander gestellt sind, sondern in bestimmten
Plätzen aufeinander folgend aus dem Umfang oder dem
Herrschaftsgebiet des einen Artbegriffes in das Gebiet eines
andern hinüberleiten; diese Ordnung beginnt mit Gliedern,
welche der logischen Bestimmung des ganzen Systems am
mindesten entsprechen, und endigt mit denen, deren Merk-
malbestand den vollständigsten \und reichsten Ausdruck ihrer
Erfüllung bildet. Doch ist es nicht nothwendig, daß immer
168 Drittes Kapitel.
dieser einfachste Fall stattfinde, den wir hier annehmen^
daß nämlich die Reihe nur eine Richtung habe. Zuerst ist
in jeder einzelnen Art eine Variation einzelner Merkmale
denkbar, durch welche das entscheidende Gefüge der Art,
für unsere Einsicht wenigstens, in nichts geändert wird;
dann sind die verschiedenen Beispiele dieser Art gleich-
werthig, und die Reihe nimmt hier eine Breite durch co-
ordinirte Glieder an, ohne einen Fortschritt in ihrer Länge
zu machen. Ebenso ist es ferner möglich, daß eine Art
M durch verschiedene oder entgegengesetzte Variationen
mehrerer Merkmale nicht nur in eine nächste Art N über-,
sondern in mehrere Arten N 0 Q auseinandergeht, denen
sie gleich verwandt ist, und die für den Sinn der Ge-
sammtentwicklung gleichen Werth haben; diese werden
dann zu Ausgangspunkten neuer Reihen, die entweder
parallel fortlaufen oder irgendwie sich später wieder mit
der gemeinsamen Reihe verschmelzen. So ist die Form
der natürlichen Classification im Allgemeinen die eines
Gewebes oder Systems von Reihen, und nicht einmal der
Gipfelpunkt dieses Systems braucht eine strenge Einheit zu
sein, denn selbst für die vollendetste Erreichung der logi-
schen Bestimmung bleibt die Möglichkeit verschiedener
völlig gleichwerthiger Formen.
137. Da die Gelegenheit es mit sich bringt, erwähne ich
noch zwei oft gebrauchte Begriffe, die hier eine logische
Erläuterung finden können. Die neue Werthbestimmung der
Arten, zu der wir zuletzt kamen, nach dem Maße, in welchem
sie sich dem Ziele der Gesammtentwicklung nähern, schließt
die frühere nicht aus, welche auf dem Gleichgewicht der
Merkmale des nächsthöheren Gattungsbegriffs beruhte. Sie
bestehen beide nebeneinander, obwohl die eine der anderen
Abbruch thut. Dieser Widerstreit wird in unserer ästhe-
tischen Würdigung der Erscheinungen fühlbar. Jede Art,
welche ihre eigene Gattung im festen Gleichgewicht ihrer
Merkmale darstellt, macht uns den Eindruck des verhältniß-
mäßig oder in sich selbst Vollkommenen; sie bildet den
Typus der Gattung, welcher nicht die zureichende, aber
die unerläßliche Bedingung der Schönheit des Schönen ist
und selbst dem an sich Häßlichen die formale Berechtigung
erwirbt, als Häßliches in künstlerischer Darstellung neben-
her verwandt zu werden. Arten dagegen, welche dies Gleich-
gewicht der Merkmale zerstören, indem sie einem höheren
Ziele sich nähern, als innerhalb ihrer Gattung erreicht
werden kann, gewähren uns den zweideutigen Eindruck des
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 169
Interessanten, ähnlich den Dissonanzen, durch welche wir
nicht befriedigt, aber auf eine höhere Befriedigung vor-
bereitet werden. Ideal im Gegensatz zu Typus würde
die Erscheinung bedeuten, in welcher das Gleichgewicht der
Merkmale, welches dieser verlangt, mit der größten Ent-
wicklungshöhe in Bezug auf die logische Bestimmung glück-
lich zusammenfällt, eine Möglichkeit, welche logisch nicht
ausgeschlossen ist, und welche die Kunst vielleicht in einer
ruhigen Erscheinung, wahrscheinlicher nur in einer Situation
dieser Erscheinung wird verwirklicht finden oder verwirk-
lichen können.
138. Man wird endlich fragen, wie nun die entwickelnde
Classification zu jenem Schlußpunkt gelange, dessen sie
bedarf, zu der Gewißheit nämlich, jenes höchste Gesetz,
die logische Bestimmung, richtig gefunden zu haben, welche
innerhalb ihres gegebenen Gegenstandes oder innerhalb des
ganzen Weltinhaltes herrschend ist. Darauf haben wir nur
zu antworten, daß auf blos logischem Wege diese Gewiß-
heit zu erreichen ganz unmöglich ist. Die Form der ent-
wickelnden Classification ist, wie alle logischen Formen,
selbst ein Ideal, welches von dem Denken verlangt wird,
dessen Erfüllung aber, so weit sie möglich, nur von dem
Erkennen geleistet werden kann. In der That liegt hier
kein Ausnahmsverhältniß vor, welches dieser ersten unserer
systematischen Formen zu ihren Ungunsten zur Last fiele.
Auch das Urtheil schreibt uns eine Verbindung von Subject
und Prädicat vor, die im Denken geleistet werden müsse,
sobald der Gedanke sich in seiner Weise dem Verhalten
des Gedachten anschließen wolle; so lehrt uns das hypo-
thetische Urtheil: nur durch Hinzufügung einer Bedingung
zu dem Subjecte S sei es möglich, ihm ein Prädicat P zu-
zuerkennen, welches nicht schon in dem eigenen Begriffe
des S liege; aber die Logik lehrt nicht, welche Bedingung
X nöthig sei, um diesem S dieses P zu erwerben; sie er-
wartet diese Ausführung ihrer Befehle von der Erkenntniß
des jedesmaligen Sachverhaltes. Auch die Theorie der Syl-
logismen lehrt uns Folgerungen ziehen, wenn die Prämissen
gegeben sind, aber sie gibt uns die Prämissen nicht und
steht nicht für deren Wahrheit ein, es sei denn, daß sie
selbst als Folgesätze aus anderen Prämissen entspringen
können; diese letztern dienen dann als das dem Denken
Gegebene und führen auf irgend eine Wahrheit schließlich
zurück, die nicht wieder logisch ableitbar ist. Ebenso
behauptet die natürliche Classification nur dies : jede Gruppe
170 Drittes Kapitel.
zusammengehöriger Mannigfaltigkeiten, und, da alles zu-
sammengehört, zuletzt das ganze Reich des Wirklichen und
des Denkbaren müsse als ein System von Reihen an-
gesehen werden, in denen Begriff auf Begriff in bestimmter
Richtung aufeinander folgt; aber diese Richtung selbst und
das höchste in ihr treibende Princip aufzusuchen, über-
läßt sie den Mitteln der sachlichen Erkenntniß.
139. Nicht dieser Vorwurf, aber ein anderes Bedenken
nöthigt uns zur Fortsetzung unseres Weges. Man wird es
am leichtesten aus der systematischen Stellung der Classi-
fication verstehen. Als Anordnung von Begriffen ent-
spricht sie zunächst unserem ersten Haupttheil, der Lehre
vom Begriffe selbst; aber eben aus diesem mußten wir zur
Betrachtung der Urtheile übergehen, denn der gegebene
Wechsel des Denkinhalts war nicht durch Begriffe allein
zu fassen, im Gegentheil setzte der Begriff Verhältnisse
seiner Merkmale voraus, deren Sinn erst im Urtheil klar
zu machen war. Die Classification entspricht ferner der
ersten Form der Urtheile, der kategorischen; wie in diesen
das Subject seine Prädicate einfach hatte annahm oder ver-
lor, so erscheint hier der gesetzgebende höchste Begriff
für sich allein als der Hervorbringer aller seiner Arten, als
die Quelle, aus welcher sie emaniren; aber dem kate-
gorischen setzte das hypothetische Urtheil gegenüber, daß
aus einem Subject S allein keine Mannigfaltigkeit ent-
springt; ebenso werden alle Lehren der Emanation sich
die Frage vorlegen müssen, welche zweite Bedingung ihr
erstes Princip veranlaßt, sich überhaupt zu entwickeln,
und woher ihm die Data kommen, gegen welche zurück-
wirkend es gerade diese, nicht andere Formen seiner Aus-
gestaltung annehmen muß. Ein ähnlicher Fortschritt steht
uns auch hier bevor; wir können ihn noch in engerem
Anschluß an die geschilderten Eigenheiten der Classification
vorbereiten. Der künstlichen oder combinatorischen warfen
wir vor, daß sie auf unmögliche Glieder führen könne, in
der anderen entwickelnden achteten wir um so mehr auf
die gegenseitige Determination der Merkmale und nahmen
an, daß die Veränderung des einen auf die anderen zurück-
wirke, daß durch sie ein Begriff in den andern übergeht,
daß eine Art dem Begriffe besser als eine andere entspricht.
Dies heißt offenbar: der Begriff hängt in der Bildung seiner
Arten nicht blos von sich selbst, bildlich gesprochen, von
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 171
seiner Absicht, sondern zugleich von einer andern Macht
ab, die darüber bestimmt, welche Verwirklichungen seiner
Absicht möglich oder unmöglich, mehr oder weniger adäquat
ausfallen. Diese Macht haben wir aufzusuchen.
140. Die Aufgaben des Denkens sind erst dann voll-
ständig gelöst, wenn es Formen zur Auffassung alles des-
jenigen entwickelt hat, was ihm die Wahrnehmung als
Gegenstand und Anregung seiner Thätigkeit darbietet. Die
Classificationen genügen dieser Anforderung der Umfassung
alles Inhalts nicht. Ihr natürlicher Gegenstand sind stets
nur die ruhenden Bilder der Gattungen mit ihren festen
Merkmalen, die wir zwar in den Wahrnehmungen als
stehende Ausgangspunkte mannigfaltiger Beziehungen zu
bemerken glauben, die aber weit entfernt sind, die ganze
Fülle der Wahrnehmung auszumachen. In dieser syste-
matischen Gliederung, in welcher die Classification uns
die einzelnen Gattungen geordnet darstellt, kommen sie in
Wirklichkeit nicht vor; sie erscheinen nur, verwirklicht in
unzähligen individuellen Beispielen, die durch Zeit und
Raum zerstreut, einem beständigen Wechsel veränderlicher
Zustände an sich selbst und veränderlicher Beziehungen
untereinander unterworfen sind. Geben wir selbst zu, daß
die Natur jedes Gattungsbegriffs vollständig das Gesetz
enthalte, nach welchem jedes seiner Beispiele sich verhalten
wird, wenn es in diese oder jene Beziehung eintritt, so
liegt doch in demselben Gattungsbegriff eben kein Grund
für das, was wir hier hypothetisch hinzufügen, weder für
das Vorhandensein jenes Beispiels da und zu der Zeit,
wo es vorhanden ist, noch für das Eintreten oder Nicht-
eintreten dieser Beziehung. Durch die Form der Classi-
fication umfaßt daher das Denken nicht alles, was es um-
fassen muß; auch das, was hier nur als eine beiläufige
Reizung der allgemeinen Begriffe zur Erzeugung dieser oder
jener ihrer Arten erscheint, muß als ein wesentlicher Theil
in der Gliederung des Ganzen der denkbaren Welt beachtet
werden.
141. Diese Betrachtung wird nicht dadurch widerlegt,
daß nach einer früheren Bemerkung sich allerdings die ent-
wickelnde Classification nicht auf ruhende Gattungen des
Seienden und des Denkbaren, sondern auch auf den Fort-
schritt des Geschehens erstrecken kann. Was das Ge-
schehen zum Geschehen macht, das Werden des einen Zu-
standes aus den andern, entzieht sich auch hier, in den
Versuchen zu einer Entwicklung der Geschichte, der logi-
172 Drittes Kapitel.
sehen Thätigkeit ganz. Das Vergangene überlegend oder
das Zukünftige voraussagend, können diese Speculationen
die Bilder gewisser Lagen aufstellen, als augenblickliche
Gleichgewichtszustände, die nach ihrer Annahme in dem
Flusse des Geschehens auf einander in festgesetzter Reihe
zu folgen bestimmt sind; allein wie es zugeht, daß dieser
Uebergang geschieht, wissen sie nicht zu sagen. Auch
dann nicht, wenn sie die unvollendbare Arbeit übernehmen
wollten, den Zwischenraum zwischen zwei solchen Gleich-
gewichtslagen in unzählige Stufen zu theilen; sie würden
von jeder derselben, nachdem sie erreicht ist, zeigen
können, daß ihr Begriff eine Vorstufe des Begriffs der
folgenden ist; aber sie würden nicht nachweisen können,
wodurch der wirkliche Inhalt dieses Begriffes die Wirklich-
keit des andern nach sich zieht. Und außerdem muß man
hinzubedenken, daß reine Begriffe sich nicht in Wirklich-
keit vorfinden oder entwickeln, sondern nur ihre Beispiele,
deren jedes eine specifische Bestimmtheit aller seiner Merk-
male besitzt, welche sein Allgemeinbegriff zwar zuläßt,
aber nicht bestimmt. Was daher in Wirklichkeit durch
jenes Werden, das der Classification geheimnißvoll bleibt,
entstehen wird, entsteht überdies nicht aus dem Begriff der
vorangehenden Stufe, sondern aus dieser bestimmten Ver-
wirklichung desselben, für welche jene Denkform ebenfalls
kein Auge hat. Alle die Versuche der alten und der neuen
Zeit, den Weltinhalt auf diesem Wege der Emanation aus
einem Urbegriffe hervorgehen zu lassen, unterliegen dem-
selben Mangel. Ist jener Urbegriff in der That nur ein
reiner Gedanke irgend eines Verhältnisses, das zwischen
noch ganz namenlosen Beziehungspunkten stattfinden soll,
so können sie aus ihm nur als Möglichkeiten, meinetwegen
als nothwendige Forderungen, gewisse ebenso allgemeine
Formen ableiten, die in einer zukünftigen Wirklichkeit so
oder so auftreten müssen ; aber sie haben kein Mittel, dieses
So oder So zu entscheiden, und auch sonst kein Mittel zu
zeigen, woher die gewünschte Verwirklichung kommen
werde. Nehmen sie aber an, daß jener Urgedanke nicht
zwischen so namenlosen, sondern zwischen bestimmt ge-
arteten Beziehungspunkten von Haus aus bestehe, und
theilen sie ihm selbst den Anstoß zur Entwicklung, der
ihnen fehlt, als eine ursprüngliche Unruhe mit, die ihn zur
Entfaltung seiner Consequenzen nöthigt, so gestehen sie
damit nur zu, daß die volle Gestalt jeder neuen Entwick-
lungsstufe nicht allein von dem Begriffe der vorigen, sondern
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 173
von der thatsächlichen und grundlosen speciellen Gestalt
abhängig ist, in welcher bereits dieser Begriff der voran-
gehenden sich verwirklicht hatte. Das heißt mit andern
Worten: sie geben zu, daß neben ihrer kategorischen Ent-
wicklung durch Emanation des Begriffs aus sich selbst noch
eine andere TVIacht thätig ist: ein hier ganz unbeachtet
bleibendes Ganze gesetzgebender hypothetischer Bezie-
hungen, welche gebieten, daß, wenn in einem gegebenen Be-
griffe die Merkmale thatsächlich einen bestimmten Werth
besitzen, und wenn auf diese Merkmalgruppe bestimmte
Bedingungen einwirken, dann die Gestalt des aus jenem
folgenden neuen Begriffs, der neuen Emanationsstufe, voll-
ständig, aber auch dann erst vollständig bestimmt ist. Ver-
gleichen wir endlich diese Emanationslehre mit dem Ver-
fahren der Subsumptionsschlüsse, so können wir kurz sagen,
daß ihr eben die zweite Prämisse mangelt, durch welche
jene aus dem allgemeinen Obersatze den vergleichsweis
specielleren Schlußsatz erst hervorbringen. Dieser hier
verschwiegenen, nur vorausgesetzten Nebengedanken hat
die Logik ausdrücklich zu ergänzen: sie reicht nicht mit
einer Classification von Begriffen aus, sondern muß auch
den gesetzlichen Zusammenhang der Urtheile aufweisen,
durch welche jene bestimmende Kraft eines vorhandenen
Merkmals auf dasjenige ausgesprochen wird, welches aus
ihm entstehen soll.
142. Es ist aber nicht nöthig, die Classification nur in
ihrem Ungenügen zur vollständigen Auflösung der Denk-
aufgabe zu schildern; sie muß zur Erreichung ihres eigenen
beschränkteren Zieles dieselben verschwiegenen Voraus-
setzungen machen. Jeden der Gattungsbegriffe, welche sie
anordnet, setzt sie nothwendig aus Merkmalen zusammen,
welche auch in anderen vorkommen. Denn alle Mühe,
eine Stufenleiter der Gattungen L M N zu bilden, wäre ver-
loren, wenn L Merkmale hätte, die nur in ihm, aber sonst
in der Welt nicht erhört wären, und M und N sich durch
gleiche Originalität auszeichnen wollten. Die Merkmale
müssen vielmehr wie überall bereitliegende Bausteine an-
gesehen werden, die, hier so dort anders zubehauen, ein
vergleichbares Material darstellen, aus dessen verschieden-
artiger Verwendung allein die verschiedenen Gebäude der
Begriffe entstehen. Nun spricht aber die entwickelnde
Classification von einer wechselseitigen Determination der-
jenigen Merkmale, welche in demselben Gattungsbegriffe M
vereinigt sind; die Aenderung des einen zieht Aenderungen
174 Drittes Kapitel.
des andern nach sich; der Fortschritt dieser Aenderungeii
erzeugt nicht nur die einzelnen Arten der Gattung M,
sondern führt über sie selbst auch zur Gattung N hinaus.
Welchen Regeln kann diese bestimmende Macht des einen
Merkmals über das andere folgen, wenn nicht solchen, die
eine allgemeingültige Beziehung zwischen den Naturen
dieser Merkmale enthalten, eine Beziehung, welche, da
die gegebenen Merkmale selbst über den einzelnen Gattungs-
begriff M hinaus Geltung haben, auch von diesem Begriffe M
unabhängig sein müssen? Von dem, was diese allge-
meinen Gesetze des Zusammenhanges der Merkmale
zulassen oder verbieten, ist daher die Bildung, die Mög-
lichkeit oder Unmöglichkeit der einzelnen Arten von M,
zuletzt die von M selbst durchgängig bedingt. Mithin, um
auch nur ihre eigene Aufgabe zu erfüllen, setzt die Classi-
fication der Begriffe ein Reich von Urtheilen oder all-
gemeinen Gesetzen voraus, nach denen sich die Zulässigkeit
die Art der Verbindung und die gegenseitige Determination
aller Merkmale richtet, die in diesem oder in jedem be-
liebigen andern Gattungsbegriffe vereinigt werden sollen.
143. Ich habe hier einen scheinbaren Widerspruch zu
erwähnen, dessen Beseitigung diese Vorbetrachtung zum
Schlüsse bringen wird. Diese gegenseitige Abhängigkeit
eines Merkmals vom andern verlangten wir schon einmal,
bei der Form der Proportion; damals berichtigten wir uns
dahin, daß nicht zwischen zwei Merkmalen überhaupt eine
constante Beziehung bestehe, sondern der Maßstab ihrer
Wechselwirkung erst durch die Natur des Ganzen, an dem
sie vorkommen, oder durch den Begriff dieses Ganzen ge-
geben werde. Hier nun scheinen wir dies zu widerrufen;
in Wahrheit bestätigen wir es. Denn eben dies wird uns
jetzt deutlich, daß der Inhalt jenes Begriffes, dem wir dort
die entscheidende Macht übertrugen, in nichts besteht, als
in einer Anzahl von Merkmalen, deren jedes einzeln weiter
reicht als dieser Begriff selbst, und die in ihm auf be-
stimmte Weise verbunden sind. Zwischen diesen Merk-
malen sind, wie wir sahen, verschiedene Beziehungen mög-
lich; es kann kommen, daß die Vorstellung des einen die
des andern einschließt; dann \.ird an jedem Subject, dem
das erste zukommt, auch das andere sich einfinden; es
kann sein, daß zwei Merkmale als conträre und contra-
dictorische Glieder eines ihnen Gemeinsamen einander aus-
schließen, und dann sind sie an keinem denkbaren Subject
vereinbar; zwischen diesen äußersten Fällen liegen mittlere,
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 175
in denen, ohne eine ähnliche logische Begründung, uns die
Wahrnehmung zwei Merkmale thatsächlich verbunden zeigt,
aber der Werth des einen nicht überall einen gleichen
Werth des andern bedingt. Diesen Fällen galt unsere
frühere Bemerkung; der Grund nun, der diesen Spielraum
verengt und die Proportion genau feststellt, nach welcher
sich in jedem einzelnen Sabject zwei Merkmale determiniren,
liegt in der gleichzeitigen Gegenwart aller übrigen Merk-
male, in ihren Werthen und in ihrer Verbindungsweise.
Was an dem Verhältniß jener zwei unentschieden war, wird
entschieden durch die Verhältnisse derselben zu allen
übrigen; wo den verschiedenen Gleichungen, durch welche
man diese sich ausgedrückt denken kann, nur ein einziger
Werth jedes der Merkmale genugthut, ist die Bildung des
Ganzen vollständig bestimmt; wo die Anzahl der Gleichun-
gen hierzu nicht genügt, bleibt dies Ganze theilweis noch
unbestimmt und stellt einen allgemeinen Begriff dar, in
welchem es noch verschiedene mögliche Arten gibt. Der
Allgemeinbegriff ist es daher allerdings, der seinen unter-
gebenen Arten die Proportion bestimmt, in der je zwei
Merkmale einander determiniren; aber er thut dies nur
kraft der geordneten Summe seiner übrigen Merkmale
und so weit diese selbst als bestimmtwerthige gegeben sind.
In der That ist hierauf unser Verfahren immer begründet
gewesen. Wenn wir classificirend aus einem Gattungs-
begriffe seine Arten entwickeln wollten, haben wir stets
annehmen müssen, einige seiner allgemeinen Merkmale seien
der Reihe nach so oder anders bestimmt; dann erst folgte
die Bestimmtheit der übrigen, durch die das Bild einer
Art im Unterschied von der andern vollendet wurde. Daß
aber diese erste Bestimmtheit stattfand, welche die andere
nach sich zog, war in dem Gattungsbegriff selbst nur eine
Möglichkeit, deren Verwirklichung unabhängig von ihm
durch unser Denken gesetzt wurde.
144. Ziehen wir diese Betrachtungen zusammen, so
können wir sagen: jedes Einzelne und jede Art einer
Gattung ist das, was sie ist, durch das Zusammenwirken
der vollständigen Summe ihrer Bedingungen; diese Be-
dingungen aber bestehen darin, daß eine Anzahl von Ele-
menten oder Merkmalen, welche auch getrennt von einander
sein könnten, thatsächlich in einer bestimmten Verbindung
gegeben sind, neben der auch andere Verbindungen der-
selben denkbar sind, und Größenwerthe besitzen, außer
176 Drittes Kapitel.
denen sie auch andere haben könnten. Aus dieser ge-
gebenen Vereinigung der Bedingungen folgt nach allgemeinen
Gesetzen, die über die Beziehungen jener Elemente gelten,
dieses ganz bestimmte Ergebniß; aus einer Veränderung
dieser Bedingungen jenes andere anders bestimmte. Jedes
dieser Ergebnisse läßt sich, nachdem es da ist, mit anderen
vergleichen und sich ihnen als Art den Arten beiordnen
oder als Art der Gattung unterordnen ; aber man muß diesen
Begriffen, die wir bisher als den Schlüssel zum Verständniß
des Gefüges ihrer Unterthanen betrachten, nicht eine andere
geheimnißvolle Macht der Gesetzgebung zutrauen außer der,
kurze Ausdrücke für eine bestimmte Vereinigung trenn-
barer Bestandtheile zu sein, deren an sich nach allge-
meinen Gesetzen überall gleichartige Wechselwirkung durch
diese Vereinigung zu diesen, durch eine andere zu anderen
Folgen führt.
145. Die Umkehrung der gesammten logischen Auf-
fassung, welche in diesen Betrachtungen liegt, ist deutlich;
sie tritt in der modernen Wissenschaft als die logische
Form der erklärenden Theorie der Form der Classi-
fication gegenüber, welche einseitig das Alterthum be-
herrschte. Ich überlasse der angewandten Logik alles, was
über die Methoden zu sagen ist, welche diese Wendung
unserer Gedanken zur Ausführung ihrer Aufgabe erzeugen
muß, und beschränke mich hier auf die kurze Hervor-
hebung der Züge, durch welche sich die logische Auffassung
des Weltinhalts, wenn sie im Sinne dieser Theorien erreicht
wäre, von jener der Classification unterscheiden würde.
Es ist vor allem nicht mehr von einer kategorischen
Emanation alles Denkbaren und Wirklichen die Rede^
welches aus irgend einem Anfangspunkte, nur getrieben
von dem dort enthaltenen Plane einer Entwicklung, aber
ohne Beihülfe anderer Bedingungen hervorginge; die Form
der Wissenschaft wird wesentlich hypothetisch. Sie
erzählt nicht, was ist und geschieht, sondern sie bestimmt,
was sein und geschehen muß, wenn bestimmte Bedingungen
gegeben sind ; ob dagegen überhaupt und in welcher Reihen-
folge oder Verknüpfung diese Bedingungen vorkommen,
diese Frage schließt sie aus dem logischen Gebiet aus
und überläßt sie der erfahrungsmäßigen Erkenntniß, welche
diese Thatsachen als Anwendungsbeispiele der Theorie
herbeibringen wird. Ich lasse ferner hier dahingestellt,
auf welche Weise sich diese Theorie der allgemeinen Ge-
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 177
setze bemächtigt, nach welchen sie entscheidet, daß überall,
wo ein bestimmter Kreis von Bedingungen gegeben sein
möchte, nur eine bestimmte Folge und keine andere ent-
stehen müsse; es reicht jetzt hin zu bemerken, daß sie
überhaupt von diesem Gedanken eines Gesetzes ausgeht,
welches die bestimmte Folge einer bestimmten Bedingung
allgemein feststellt. Das will sagen: überall, wo die
Bedingung a -(- b sich findet, folgt aus ihr nur c, und die
Natur des Gegenstandes, an dem a -|- b vorkommt, hat nicht
die Macht, dieser Bedingung unmittelbar eine andere Folge
zu geben, als dieses c ; sie kann dies nur, sobald außer a -f- b
sich in ihr noch andere Bedingungen a -j- d vorfinden, deren
Zusammenwirken mit a -|- b gleichfalls nach einer allgemeinen
Nothwendigkeit, die von der Natur dieses Gegenstandes
ganz unabhängig ist und für jeden andern ebenso gelten
würde, die Veränderung von c in y befiehlt. In diesem
neuen Erfolge y ist dann die Wirksamkeit des Gesetzes,
welches c an a-|-b knüpfte, nicht aufgehoben, sondern un-
verändert mit enthalten ; denn für sich allein würde a -|- d
nicht y, sondern b erzeugt haben.
Auf der Grundlage dieser allgemeinen Gesetze beruht
der mechanisirende Charakter, den diese Theorien sich
selbst zum Ruhme anrechnen, von ihren logischen Gegnern
als Tadel angerechnet erhalten. Der Neigung, welche eine
Reihe von Erscheinungen organisch, wie man sagt, aus
dem Sinne eines Gedankens herleiten will, der sich in
ihnen entwickle, treten sie mit der Behauptung gegenüber,
der bloße Sinn, der sich entwickeln will, erzeuge nichts,
sondern alles sei nur, sobald die vollständige Summe der
Bedingungen gegeben sei, von der es nach allgemeinen
Gesetzen als nothwendige Folge abhänge; als Ergebniß
dieser Bedingungen allein müsse man es betrachten, und
die Erklärung bestehe nur darin, ein Gegebenes in seiner
ganzen vollständigen Bestimmtheit als die unvermeidliche
Folge der Anwendung allgemeingeltender Gesetze auf
ebenso bestimmte gegebene Umstände aufzuweisen. Mit
dieser logischen Gesinnung, die wir am meisten ausge-
sprochen in den mechanischen Naturwissenschaften finden,
sind die erklärenden Theorien dem Gebrauch und der Auf-
suchung allgemeiner Gattungsbegriffe sowie dem Unter-
nehmen von Classificationen abgeneigt; sie würden eine
Erscheinung so lange für nur wahrgenommen, aber un-
begriffen ansehen, als sie sich nur auf die Eigenthümlichkeit,
Lotze, Logik. 12
178 Drittes Kapitel.
durch die ein Begriff sich gegen den andern abschließt,
und nicht auf die Vorschriften eines allgemeinen Bedingungs-
rechtes zurückführen ließe, das für allen Denkinhalt und
alles Wirkliche gleichmäßig verbindlich ist; ihr Stolz besteht
darin, der Gattungsbegriffe und ihrer Stellung in einem
Classensystem nicht zu bedürfen, sondern zu zeigen, daß
man mit jeder Erscheinung, wohin sie auch ihrem Sinn
nach gehören möge, fertig werden könne, sobald man die
Summe der in ihr verbundenen Beziehungspunkte kenne;
denn alles, was ist, sei lediglich ein Beispiel dessen, was
da werden muß, wenn die allgemeinen Gesetze auf diese
oder jene bestimmte Gruppe gegebener Elemente angewandt
werden. Und selbst mit dem kann die erklärende Theorie
sich nicht begnügen, was man als äußerstes Zugeständniß
ihr zuweilen entgegenstellt: alles folge zwar allgemeinen
Gesetzen, aber jedes Gebiet der Wirklichkeit doch seinen
eigenen, und die Gesetze des Lebendigen, des Geistigen»
seien andere als die des Unlebendigen und Materiellen.
Selbstverständlich ist es freilich, daß diejenigen speciellen
Gesetze, welche sich, als nächsthöhere allgemeine Regeln,
am engsten an den Inhalt und die Gestalt gegebener Er-
scheinungen anschließen, verschieden sind je nach der Ver-
schiedenheit der Subjecte, deren Verhalten sie ausdrücken;
aber nur zwei Welten, die einander nichts angingen und
aus deren einer keine Wirkungen irgend welcher Art in
die andere hinüberliefen, könnten auf zwei höchsten, von
einander unabhängigen, Gesetzen beruhen; wer von Einer
Welt spricht, welche jene verschiedenen Gruppen sich ent-
wickelnder Dinge und Ereignisse einschließe, muß von
Einem für alles WirkHche gültigen Gesetze oder Einem
zusammengehörigen Gesetzkreise ausgehen, aus dem alle
speciellen Gesetze der verschiedenen Gebiete als particulare
Fälle hervorgehen, sobald man ihm nacheinander, als eine
Reihe verschiedener zweiter Prämissen, die Bedingungen
unterordnet, durch welche sich die Naturen der in den
einzelnen Gebieten wirksamen Subjecte unterscheiden.
146. Gemäß der Theilung der Aufgaben, die ich mir
vorgenommen, habe ich in der letzten Darstellung noch
keines der Mittel der Untersuchung erwähnt, deren die
erklärende Theorie sich bedient, theils um jene allgemeinen
Gesetze zu finden, denen sie jeden zusammengehörigen Kreis
von Inhalt unterwirft, theils um in der Mannigfaltigkeit
des Gegebenen das innerlich Zusammengehörige selbst erst
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 179
zu entdecken, das eine gemeinsame Unterordnung unter
dieselben Obersätze verträgt oder fordert. Ich behielt es
der angewandten Logik vor, mit größtmöglicher Freiheit
der Bewegung diese Anstrengungen zu verfolgen; die
systematische Uebersicht der Denkhandlungen, deren Ab-
schluß wir uns nun nähern, hatte nur die Gestalt ins Auge
zu fassen, welche die erklärende Theorie dem Zusammen-
hange alles Denkbaren zu geben wünscht, und welche,
wenn es gelänge, sie in der That allem Denkbaren zu
geben, als das erreichte letzte Ziel aller Bestrebungen des
Denkens erscheinen würde. Ueber dieses letzte Ziel aber
theile ich nicht die herrschende Ueberzeugung der Gegen-
wart. Fast nur in der erklärenden Form der Theorie be-
wegen sich die wissenschaftlich thätigen Kräfte unserer
Zeit; das spät erst zur Klarheit gekommene Bewußtsein
des in ihr zu befolgenden Grundsatzes unterscheidet mächtig
alle moderne Wissenschaft von der des Alterthums und
des Mittelalters, die von ihr entwickelten Methoden der
Untersuchung bilden den werthvollen Schatz, durch welchen
die Erkenntnißkunst der neuen Zeit die der antiken Philo-
sophie überflügelt. Daß gleichwohl die Ueberzeugung, mit
dieser Form des Denkens am Ende aller Wünsche zu sein,
nicht allgemein ist, beweist der unablässige Widerstand,
der ihrer ausschließlichen Herrschaft über alles Denkbare
entgegengesetzt wird. Betrachten wir diesen Widerstand
zuerst in den kenntlichen Gestalten, die er in der Ge-
sammtheit unserer Weltauffassung annimmt, so werden wir
den Rest rein logischen Bedürfnisses aus ihnen ablösen
können, welchen die erklärenden Theorien unbefriedigt
zurücklassen.
147. Am deutlichsten tritt die ästhetische Abneigung
künstlerisch gestimmter Gemüther gegen die Behauptung
hervor, nur allgemeinen Gesetzen sei alles Seiende unter-
worfen, und jedes Einzelne nur das, was es nach diesen,
Gesetzen werden mußte, wenn Bedingungen, die sich auch
anders hätten fügen können, in einer bestimmten that-
sächlichen Form sich zusammengefügt haben. So meint
man die Schönheit des Schönen nicht fassen zu können;
nur dann scheint sie von Werth, und das zu sein, was
sie ist, wenn die Endgestalt, die wir bewundem, das Er-
gebniß einer einheitlichen Macht ist, _aus der sie zwar
auch als unvermeidliches Ergebniß, aber nicht nur als
solches, sondern als die Erfüllung und Erscheinung eines
|0*
180 Drittes Kapitel.
lebendigen Triebes hervorgeht; sie schiene unverständlich
zu werden, wenn sie nur der Glücksfall einer Harmonie
zwischen zufällig zusammengerathenen Bestandtheilen wäre.
Ich habe anderswo zu zeigen versucht, daß dieser Einwand
der Aesthetik verfehlt ist, wenn er dazu übergeht, die
allgemeine Macht der erklärenden Theorie oder des
Mechanismus zu leugnen. Zufällig ist im Sinne dieser
Theorie das Zusammenkommen der verschiedenen be-
dingenden Elemente niemals ; es ist überall die nothwendige
Folge der vorangegangenen Weltzustände; so führt nach
rückwärts uns diese Ueberlegung entweder zu irgend einer
Combination der Elemente, die wir als den Anfangszustand
der Welt ansehen; und nichts hindert dann die Annahme,
in dieser Combination, die denkbar auch eine andere hätte
sein können, habe der bewundernswürdige Keim der Schön-
heit gelegen, dessen einheitliche Macht, durch allen mecha-
nischen Zusammenhang der Folgezustände hindurchwirkend,
die Schönheit der einzelnen Erscheinungen als einzelne
Zeugnisse seiner selbst hervortreibe. Oder wenn wir den
schwierigen Gedanken eines Anfangszustandes vermeiden
wollen, so hindert uns nichts, in einem beliebigen Zeit-
punkt einen Durchschnitt gleichsam durch die Breite des
Weltlaufs zu legen und anzunehmen, daß die Combination
aller in gleichem Augenblick in ihm wirksamen Kräfte,
eben weil sie diese ist und keine der andern denkbaren,
die sie hätte sein können, den einheitlichen Grund aller
jener einzelnen Schönheiten bildet. Diese Annahme würde
alles einschließen, was unser ästhetisches Gefühl für noth-
wendig hält, um die Würde der Schönheit zu sichern; sie
würde nur den Ort etwas verändert haben, in welchem
sie jene einheitlich treibende Macht fände; nicht mehr
ganz auf sich beruhend läge diese Macht in dem einzelnen
Schönen; sie führe zwar fort in ihm selbst wirksam zu
sein, doch nur als Nachwirkung eines Allgemeinen, das
alle Einzelheiten durchdringt. Diese Verschiebung des Ur-
sprungs der Schönheit aber widerstrebt den Bedürfnissen
der Aesthetik nicht; anderseits die mechanische Theorie,
da sie irgend einen gegebenen Thatbestand voraussetzen
muß, an dem sich die Folgerichtigkeit der allgemeingesetz-
lichen Entwicklung vollzieht, hat kein Interesse, ihn lieber
sinnlos als sinnvoll, lieber unvernünftig als vernünftig,
lieber als Grund eines zwecklosen, denn als den eines
zweckmäßig zusammenstimmenden Weltlaufs zu denken.
Eins aber liegt gleichmäßig in jener Forderung der Aesthetik*
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 181
und in diesem Zugeständniß der erklärenden Theorie: die
zweiten Prämissen, welche wir den allgemeinen Gesetzen
unterordnen und durch die wir die Thatbestände bezeichnen,
auf welche sich die Aussprüche der Gesetze anwenden
sollen, können nicht so zufälliger Herkunft sein, wie sie uns
allerdings erscheinen, wenn wir, in der Untersuchung eines
einzelnen Inhaltsgebietes begriffen, sie aus ihrem Zusammen-
hang untereinander gerissen haben; sie selbst müssen
systematisirt werden und Glieder eines Ganzen bilden, des
Ganzen, welches alle wirklichen Anwendungsobjecte jener
allgemeinen Gesetze umfaßt. Nicht in hypothetischer Form
sollen die Untersätze unserer Weltbetrachtung eine Menge
unzusammenhängender Möglichkeiten denken, deren jede,
wenn sie einträte, in Folge der allgemeinen Gesetze zu
einem bestimmten Erfolge führen würde, sondern asser-
torisch müßten sie jede einzelne dieser Möglichkeiten, die
eintritt, von denen, die nicht eintreten, als ein berechtigtes,
an bestimmte Stelle gehöriges Glied der geordneten Ge-
sammtreihe des Wirklichen vorführen.
148. Theils bestätigt theils weiter umgeformt wird diese
Forderung in Folge metaphysischer Bedenken. Denn was
hieße es doch, auf der einen Seite ein Reich allgemein-
gültiger Gesetze annehmen, auf der andern eine Summe
von Wirklichem, das sich ihnen fügt, wenn zwischen diesen
beiden kein weiteres Verhältniß stattfände und diese Unter-
werfung begreiflich machte? Und worin anders könnte
diese Unterwerfung bestehen, als darin, daß das Verhalten,
welches jene Gesetze vorschreiben, von allem Anlsuig an
eine thatsächliche Eigenschaft alles Wirklichen selbst, ein
constantes Merkmal desselben ist neben den verschiedenen
oder veränderlichen Merkmalen, durch die sich ein Wirk-
liches vom anderen unterscheidet? Niemals läßt sich doch
eine Wahrheit anwenden, wie wir zu sagen pflegen,
auf einen Inhalt, der ihr nicht von selbst entspricht; jede
Anwendung ist nur die Anerkennung, daß das, was wir
anwenden wollen, die eigene Natur dessen ist, in Bezug
auf welches die Anwendung stattfinden soll. Constante
Verhaltungsweisen nun, die in jedem Wirklichen vorkommen>
lassen sich aus einer beschränkten Anzahl von Beobachtun-
gen gewinnen, und da sie nun in unserem Denken als
Erwartungen, die sich bestätigen werden, den weiteren
Beobachtungen vorangehen, so erscheinen sie leicht als
etwas, was auch der Natur der Sache nach in selbständiger
182 Drittes Kapitel.
Geltung dem vorangehe, woran es sich für uns aufs Neue
bestätigen wird; daher jener wunderliche Sprachgebrauch,
der die allgemeinen Gesetze als für sich herrschende Mächte
ansieht, denen alles Wirkliche, woher es auch kommen und
was es immer sein mag, späterhin sich zu unterwerfen ge-
nöthigt ist. Vermeiden wir nun dies Mißverständniß und
verknüpfen wir, was wir an seine Stelle setzen, mit dem,
was aus unserem ästhetischen Bedürfniß floß, so verlangen
wir jetzt als den einzigen und einheitlichen Gegenstand
unseres Denkens ein Seiendes, welches, nicht in Folge
eines noch höheren Gesetzes, sondern weil es das ist,
was es ist, zugleich der Grund der allgemeinen Gesetze ist,
nach denen es überall sich verhalten wird, und zugleich
der Reihenfolge der einzelnen Wirklichkeiten, die nachher
uns sich diesen Gesetzen unterzuordnen scheinen werden.
Ich beabsichtige nicht, diesen Gegenstand hier zu erschöpfen,
und gehe über manche Schwierigkeiten hinweg, deren einige
wir später innerhalb dieser logischen Untersuchungen selbst,
andere im Zusammenhange der Metaphysik zu erwägen
haben werden; es genügt mir, die logische Gedankenform
zu verfolgen, welche das Streben nach Befriedigung des
geschilderten Bedürfnisses suchen müßte.
149. Sie wird nicht mehr ganz die des früheren
Schlusses sein. Das allgemeine Gesetz, welches in diesem
der Obersatz voranstellte, wird als latentes, stillschweigend
überall mitgedachtes, aufhören, diese ausgezeichnete Stelle
des wesentlich bestimmenden Gliedes einzunehmen; an
seine Stelle tritt die allgemeine Natur des in der Welt
sich entwickelnden Gesammtinhalts. Und diese Natur wird
nicht aufgefaßt als der ruhende Inhalt einer Idee, der
fremder Bedingungen bedürfte, um in Bewegung zu ge-
rathen, sondern als begriffen in einer Bewegung, die mit
zu dem gehört, was dieser Inhalt ist, und ohne die er
nicht sein würde, was er ist; in jedem Augenblick aber
ist die einzelne Gestalt, welche dieser bewegte Inhalt an-
nimmt, abhängig von seinem bleibenden Sinne und der
bleibenden Richtung seiner Bewegung einerseits, und von
dem bestimmten Orte oder dem bestimmten Ergebniß seiner
Entwicklung, zu dem er bis dahin, nicht durch fremde
Bedingungen, sondern durch seine eigene Bewegung ge-
kommen ist. Es würde nicht unmöglich, sondern nur weit-
läufig sein, den wesentlichen Sinn dieser Vorstellungsweise
auszudrücken, ohne den Begriff der Bewegung einzumischen;
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 183
wir würden auf die Forderung einer Idee kommen, unter
welcher alle Wirklichkeit als das System ihrer Arten und
Unterarten befaßt ist; aber die Unterschiede und die Rang-
ordnung dieser Arten würden nicht nach unabhängig von
jener Idee vorgefundenen Merkmalen und deren Modi-
ficationen bestimmt; sie selbst vielmehr würde den Grund
des Vorhandenseins dieser Merkmale, der möglichen Ein-
theilungen derselben und der Werthordnung der so ent-
stehenden Varietäten, mithin den ganzen Grund ihrer eigenen
classificatorischen Gliederung in sich selbst enthalten. Am
kürzesten fassen wir uns in die Formel: die gesuchte
Denkform solle nur einen Obersatz für alle ihre Schlüsse
haben, und dieser die Bewegung des gesammten Welt-
inhalts ausdrücken ; die veränderlichen Untersätze aber lasse
sich dieser Obersatz nicht anderswoher geben, sondern
erzeuge sie selbst als die nach seiner eigenen Consequenz
nothwendigen und vollständigen Variationen seines Sinnes,
und lasse so in geordneter Reihe die unendliche Anzahl
der Schlußsätze hervorgehen, die zusammengenommen die
entwickelte Wirklichkeit bilden, welche der Obersatz in
Gestalt eines entwicklungsfähigen Princips gedacht hatte.
150. Man kann nicht sagen, daß der Trieb, das Ganze
unserer Gedankenwelt nach diesem Muster zu gliedern,
dem unbefangenen Lauf unseres Denkens fremd sei; er ist
vielmehr zu allen Zeiten wirksam gewesen, und jedesmal,
wenn in mehr oder minder vollkommener Form sich eine
Weltbetrachtung nach der mechanischen Weise der er-
klärenden Theorien entwickelte, ist er dieser in der immer-
wiederkehrenden Forderung einer Auffassung der Welt und
aller Dinge als einer lebendigen Entwicklung gegenüber-
getreten. Denn das Lebendige ist die Erscheinung, in der
wir die Erfüllung der gemachten Ansprüche vollkommen
verwirklicht zu sehen glauben ; so wie hier der ursprüngliche
Typus des Organismus zur wirkenden Macht wird, die sich
selbst die Anreize und die Bedingungen ihrer folgerechten
Entwicklung erzeugt, so sollte das Ganze der Welt von
innen heraus sich die Gelegenheiten herv^orbringen, die
zur allmählichen Verwirklichung seines Gesammtinhaltes
als nothwendige Bedingungen gehören. Was an diesem
Glauben an die selbständige Entwicklung des einzelnen
Lebendigen irrig ist, braucht hier nicht berührt zu werden;
genug, daß es auf ausdrucksvolle Weise uns das zu sein
184 Drittes Kapitel.
scheint, was wir suchen. An dieses Bild hat sich auch
stets die Lehre angeschlossen, die zum letzten Mal in
unserer Zeit sich ausdrücklich zu dem Streben bekannte,
aus der Einheit einer sich selbst entwickelnden und die
Bedingungen ihres Fortschritts sich selbst erzeugenden Idee
die Gesammtheit des Weltinhaltes entstehen zu sehen. Denn
nicht selbst wollte diese Philosophie Hegel's, nicht als unter-
suchendes und überlegendes Subject, nicht durch die Mittel
eines verständigen oder discursiven Denkens, durch Unter-
ordnung selbständiger zweiter Prämissen unter allgemeine
Obersätze, eine Ableitung des Weltinhaltes aus jenem einen
Princip vollbringen; nur zusehen wollte sie, wie aus eigener
Triebkraft der Idee diese Entwicklung erfolgt. Und für dieses
anschauende, im ursprünglichen Sinne des Wortes specu-
lative Denken glaubte sie in der dialektischen Methode
die Leitung gefunden zu haben, welche in jedem Falle dem
Blicke des Schauenden die wahre Richtung nach der sich
vollziehenden Entwicklung gibt. Ich beharre darauf, in
dieser Uebersicht der logischen Formen noch von den Aus-
führungsmaßregeln zu schweigen, durch welche ihre An-
wendung auf den denkbaren Inhalt gesichert werden kann,
und ich überlasse deshalb, was von jener Methode als
Methode zu sagen ist, einem späteren Zusammenhange;
aber zur Bezeichnung dieser letzten Gestalt, die wir allem
Denkinhalt zu geben wünschen, eigne ich mir den Gegen-
satz zwischen Speculation und erklärender Theorie an und
nenne die Form des speculativen Denkens dies
dritte Glied, mit welchem die Reihe der alles umfassenden
systematischen Denkformen endet.
151. Und doch fühle ich, daß ich nicht ganz so kurz
abschließen darf ; auf eine schon früher gemachte Bemerkung
muß ich noch einmal zurückkommen. Alle Denkformen,
die wir betrachten, sind Ideale ; sie bezeichnen die End-
gestalten, welche das Denken dem geringeren oder größeren
Inhalte seiner Betrachtung zu geben wünscht, oder geben
zu können wünscht, um durch ihn, durch den Nachweis
der Zusammengehörigkeit alles Zusammenseienden, in
seinem eigenen Streben befriedigt zu sein; alle diese Ideale
verlieren nichts an ihrer Gültigkeit dadurch, daß es dem
menschlichen Wissen nicht gelingt, ihnen jeden gegebenen
Inhalt zu unterwerfen. Nicht in jedem Erscheinungskreis
sind wir vielleicht im Stande, die allgemeinen Gesetze zu
Die Lehre vom Schluß und den systematischen Formen. 185
entdecken, die ihn beherrschen, und wenn wir sie entdeckt
hätten, gelänge es uns vielleicht nicht, jeden Einzelfall
ihnen so unterzuordnen, daß die Nothwendigkeit einer ge-
gebenen Folge daraus einleuchtete. Aber wir würden unsere
Forschungen nach dieser Richtung nicht rastlos fortsetzen,
wenn wir nicht überzeugt wären von der /allgemeinen Geltung
dieses Princips der erklärenden Theorie und davon, daß
die Gültigkeit desselben unabhängig von der Möglichkeit
bestehe, sie mit den Mitteln unserer Erkenntniß an jedem
denkbaren Inhalte zu bewähren. Vielleicht ist die Form
des speculativen Denkens noch ungünstiger gestellt; viel-
leicht reichen überhaupt die Bedingungen, die dem
menschlichen Denken gestellt sind, nicht dazu hin, um
auch nur in wenigen, auch nur in einem Falle wirklich
auszuführen, was hier angestrebt wird: immer wird auch
dieses Ideal in verbindlicher Kraft bleiben und die Gestalt
bezeichnen, durch welche, wenn man sie ihm geben könnte,
der Gesammtinhalt der Gedankenwelt alle Ansprüche des
Denkens voll befriedigen würde. Ihre berechtigte Stelle
in der systematischen Reihe der Denkformen hat daher
auch diese; daß sie zugleich das Endglied der Reihe ist,
bedarf eines Beweises nicht : sie hat keine unverbundene
blos zusammenseiende Mannigfaltigkeit übrig gelassen,
sondern alles in jene Zusammengehörigkeit verbunden,
deren Nachweis das beständige Ziel alles Denkens war.
Zugleich aber weist sie über das logische Gebiet hinaus.
Der erklärenden Theorie konnte es noch so vorkommen,
als besäße sie in allgemeinsten Gesetzen, die das Denken
aus sich allein erzeugt, einen Rechtsgrund, um über das
Verhalten des Wirklichen im voraus zu entscheiden; die
Speculation leugnet diese Berechtigung nicht, aber indem
sie alles, die Macht dieser allgemeinen Gesetze selbst, die
Richtung, welche die Entwicklung des Weltinhaltes nimmt,
und die Einzelforaien, welche in Folge dieser beiden in
jedem Augenblicke das Wirkliche annimmt, einzig und allein
in der Natur des Inhalts eines höchsten Princips be-
gründet sein läßt, deutet sie an, daß die endliche Erfüllung
alles logischen Strebens nicht durch neue logische For-
men, sondern nur durch sachliche Erkenntniß dessen
möglich sein würde, was sie als höchstes sich selbst ent-
wickelndes Princip voraussetzt.
186 Drittes Kapitel.
Indem ich diese Darstellung schließe, bin ich mir ihrer
Abweichung von den Lieblingswegen der Gegenwart wohl-
bewußt. So sehr sind wir gewöhnt, uns Geschichten er-
zählen zu lassen und durch wahre oder erträumte Ent-
stehungsweisen irgend eines Gebildes unsere Wißbegier be-
friedigt zu fühlen, daß auch die Logik von psychologischen
Begründungen und Ableitungen ihrer Lehren überschwillt;
veraltet fremdartig und unverständlich dagegen erscheint
jeder Versuch, die Formen des Denkens in eine Reihe zu
ordnen, deren Fortschrittsgesetz in der Natur seiner Auf-
gaben und nicht in der Ordnung liegt, in welcher die zur
Lösung derselben nöthigen Aeußerungen der geistigen
Thätigkeiten in der Entwicklung des einzelnen Seelenlebens
hervortreten. Ich lasse mir gefallen und wünsche, daß
man in der Wahl meiner Darstellungsweise den voraus-
wirkenden Einfluß der idealistischen Philosophie erkennt,
zu der sie einleiten soll; ich fürchte nicht, durch diese
Wahl den Inhalt der logischen Wahrheiten getrübt zu haben,
welche für alle Ansichten gleichmäßig feststehen müssen.
Zweites Buch.
Yom Untersuchen.
(Angewandte Logik.)
Vorbemerkung.
152. So sehr sind wir gewöhnt, unsere Gedankenwelt
in Gegensatz zu einer äußeren Wirklichkeit zu setzen, daß
nur eben diese scheint gemeint sein zu können, sobald von
einem Gegenstande die Rede ist, auf welchen die Formen
unseres Denkens Anwendung finden sollen. Die Erinnerung
an die Naturwissenschaften, die einen so großen Ausschnitt
an dem wissenschaftlichen Gesichtskreis der Gegenwart
einnehmen, bestärkt uns in dieser Meinung; die andere
Erinnerung an Mathematik und Jurisprudenz ist geeignet,
sie zu erschüttern. Aus der äußeren Wirklichkeit empfängt
die Mathematik weder ihre Gegenstände noch die Methoden
ihrer Bearbeitung; nur Anlässe gibt ihr das von dorther
Kommende, ihre Untersuchung nach dieser oder jener Rich-
tung zu wenden; aber die wahren Objecto ihrer Betrachtung
sind immer nur die Gebilde, welche unsere Anschauung
oder unser Denken in sich selbst vorfindet oder erzeugt,
und an welche die Erscheinungen der Außenwelt, immer
nur annähernd, uns erinnern ; und ihre Beschäftigung be-
steht darin, nach Gesetzen der Beurtheilung, die ebenfalls
keiner äußern Erfahrung entnommen sind, die unzähligen
denknothwendigen Folgen zu entwickeln, die aus den
mannigfaltigen möglichen Combinationen jener inneren Ge-
bilde entspringen. Und kurz ist diese Entwicklung nicht;
von selbst, so daß es nur der zuschauenden Aufmerksamkeit
bedürfte, haben sich diese Consequenzen nicht vor uns
entrollt; zu allen Zeiten hat sich vielmehr die Logik an
die gleichalterige Mathematik gewandt, um Beispiele feiner
tiefsinniger und wirksamer Untersuchungsmethoden zu
finden; ein deutliches Zeichen davon, daß das Denken
Gelegenheit zur Arbeit genug findet, auch wenn es, von
einer fremden Außenwelt noch absehend, nur die Natur
seiner eigenen Gebilde ergründen will. Der Jurisprudenz
190 Vorbemerkung.
gaben allerdings die Verhältnisse der irdischen Wirklichkeit,
in welche der Mensch mit seinen Bedürfnissen und An-
sprüchen verwickelt ist, die Veranlassung der Entstehung;
aber zu ordnen sucht sie diese Wirklichkeit und unsere
Beziehungen zu ihr durch Satzungen, die, obwohl der Natur
gegenüber Erzeugnisse der Willkür, dennoch die noth-
wendigen Folgen von Ideen des Rechts und der Billigkeit
sind, Folgen einer seinsollenden Wahrheit, die nur in
unserem Geiste selbst ihre Heimat hat. Nichtsdestoweniger
ist auch hier logischer Scharfsinn beständig beschäftigt,
immer genauer und untadelhafter den Zusammenhang der
einzelnen gefundenen Folgerungen unter einander und mit
jenen höchsten Principien darzulegen, aus denen sie fließen.
Beide Wissenschaften beweisen mithin, daß die Logik, um
Gegenstände ihrer Anwendung zu haben, sich nicht an eine
äußere Wirklichkeit zu wenden braucht, daß sie übergenug
Arbeit findet, wenn sie den Zusammenhang des Denkbaren
und Denknothwendigen durchforscht, daß endlich die innere
Welt unserer Vorstellungen ausgedehnt genug ist, um un-
bekannte Gegenden zu enthalten, die mit den Mitteln einer
geordneten Untersuchung noch zu entdecken sind.
153. Mit dieser Vorstellungsweise kann man sich nun
zu den Naturwissenschaften zurückwenden. Gegenstand
unserer Forschung wird auch die vorausgesetzte Außenwelt
doch nur so weit, als sie auf irgend einem Wege, der uns
hier nichts angeht, zu einer Welt von Vorstellungen in uns
geworden ist; wir betrachten zergliedern und untersuchen
nicht jenes Unsichtbare, das außer uns liegen mag, sondern
das sichtbare Bild, das sich von ihm in unserem Bewußtsein:
entwirft. Welche gesetzlichen Zusammenhänge wir auch
immer, als Ergebniß einer langen Arbeit, zwischen den
unbekannten Bestandtheilen dieses unbekannten Aeußern
glauben annehmen zu müssen: alle diese Behauptungen
gründen sich doch immer auf die nicht minder gesetzlichen
Beziehungen, die zwischen den Inhalten unserer Vorstellun-
gen entweder ein für allemal bestehen, oder veränderlich
wechseln. Was auch immer die hervorbringenden Ursachen
dieses Wechsels sein mögen, die Gesetze, nach denen er
erfolgt, können wir immer nur aus seinem Inhalt selbst,,
aus der Reihenfolge erkennen, in der bestimmte Vor-
stellungen in unserem Bewußtsein auf bestimmte folgen^
aus der beständigen Verknüpfung einiger, der Unvereinbar-
keit anderer. Auch für die Betrachtung der Außenwelt
Vorbemerkung. 191
reicht es daher hin, sie zunächst als eine irgendwie in
uns begründete Vorstellungswelt anzusehen; gleichviel, ob
die Erscheinungen, die uns umgeben, einer wirklichen Welt
äußerer Dinge entsprechen, oder ob sie Erzeugnisse einer
schöpferischen, von unbekannten Antrieben geleiteten Ein-
bildungskraft in uns selbst sind, die Entdeckung des Zu-
sammenhanges zwischen ihnen wird immer dieselben Me-
thoden der Untersuchung nöthig machen. Diese Auffassung
wünsche ich, bei dem Uebergang zur angewandten Logik,
festgehalten zu sehen, Sie soll indessen nur hier, am
Anfang, die systematische Stellung der folgenden Betrach-
tungen bezeichnen; innerhalb dieser selbst thun wir der
gewohnten Vorstellungsweise keinen Zwang an; möge man
immerhin die Anstrengungen des Denkens hier auf eine
wirkliche Außenwelt bezogen denken ; nur wenn man findet,
daß auf das Verhältniß dieser Welt zu unserem Vorstellen
noch gar keine Rücksicht genommen wird, möge man hier-
von die Rechtfertigung in dem Inhalt dieser kurzen Vor-
bemerkung finden, das Eingehen aber auf den Sinn der
hier abgelehnten Frage in dem dritten Theile dieser ganzen
Darstellung erwarten.
Erstes Kapitel.
Die Formen der Definition.
154. Innere Zustände, Empfindungen und Vorstellungen,
Gefühle und Strebungen, lassen sich nicht nach der Weise
von Stoffen überliefern, die ablösbar von dem ersten Be-
sitzer und fertig von Hand zu Hand gereicht werden; wir
theilen sie nur mit, indem wir das Gemüth des Andern
unter Bedingungen versetzen, unter denen er genöthigt sein
wird, sie von neuem selbst in sich zu erfahren oder zu
erzeugen. Geradezu auf Herstellung äußerer Bedingungen
der Wahrnehmung würden wir angewiesen sein, wenn es
sich um die erste Mittheilung eines noch unbekannten
Inhalts handelte, der zu einfach wäre, um durch Denken
erzeugt, oder zu verwickelt, um durch dasselbe erschöpft
zu werden. Hätte die Seele des Andern noch nie Licht
gesehen. Töne gehört oder sinnlichen Schmerz empfunden,
so bliebe jins nur übrig, sein Auge in den Bereich einer
Lichtquelle zu bringen, Schallwellen auf sein Ohr zu leiten
und durch einen auf seinen Körper ausgeübten Reiz ihn
das Wehgefühl erleben zu lassen, das wir selbst auf keine
andere Weise kennen gelernt hatten. Wünschen wir ihm
eine noch ihm unbekannte Person kenntlich zu machen,
so wird die Beschreibung der zahllosen kleinen Merkmale,
die sie von anderen unterscheiden, immer unsicher sein,
aber der hinweisende Finger wird ihm genau diejenige
zeigen, die wir meinen. Daß überall da, wo sie überhaupt
anwendbar ist, diese unmittelbare Hinweisung auf den Gegen-
stand selbst oder auf eine ähnliche Abbildung desselben
nützlich bleibt, bedarf nur dieser Erwähnung. Für die
Fragen aber, welche uns hier angehen, machen wir eine
doppelte weitere Voraussetzung: zuerst die eines reich-
lichen Besitzes früherer Erlebnisse, die denen gemeinsam
sind, zwischen welchen eine Mittheilung stattfinden soll,
dann die einer für beide Theile verständlichen Sprache,
Die Formen der Definition. 193
mit deren einzelnen Worten, in großer Ausdehnung wenig-
stens, das Bewußtsein beider dieselben einzelnen Vor-
stellungsinhalte verknüpft. Durch die Reihenfolge der ge-
sprochenen Worte rufen wir dann in der Erinnerung des
Andern die mit ihnen verbundenen Vorstellungen in der-
jenigen Ordnung hervor, die für ihn die innere Bedingung
ist, das Mitzutheilende in seinem eigenen Bewußtsein zu
erzeugen oder zu erfahren.
155. Auch diese Mittheilungsform schließt noch manches
ein, was unsere logische Betrachtung nur nebenher be-
achten kann. Poesie und die Beredsamkeit des Lebens
suchen beide auf diesem Wege nicht nur Vorstellungsgebilde
mitzutheilen ; sie rechnen darauf, daß an diese vorgeführten
Bilder sich Gefühle der Lust und Unlust, der Billigung und
Mißbilligung, der Begeisterung und des Abscheus anknüpfen
werden. Die Wirkungen, die sie so erzeugen, sind mächtig,
aber unsicher. Denn für die blos vorstellende Auffassung
von Thatbeständen zwar sind die verschiedenen Seelen
gleichmäßig genug organisirt und ihre allgemeinen Gewohn-
heiten des Wahrnehmens ändern sich nicht; in der
Schätzung der Gefühlswerte dagegen, die wir dem Wahr-
genommenen, beilegen, macht sich nicht nur die ursprüng-
liche Verschiedenheit der geistigen Temperamente, sondern
auch die Veränderlichkeit der augenblicklichen Stimmung
gelten, die von dem eben Erlebten abhängig ist. Schon
den wirklichen Thatsachen kommen daher Verschiedene
mit sehr ungleicher Empfänglichkeit entgegen ; noch weniger
können wir hoffen, durch die stets unvollständige Erinnerung,
welche an diese Thatsachen die Rede zu erwecken vermag,
in Andern genau dieselbe Gemüthsbewegung wieder zu
erzeugen, in die sie uns versetzt hatten. Inwieweit kunst-
volle Lenkung des Vorstellungslaufs und wohlabgemessener
sprachlicher Ausdruck die Zweideutigkeit des Erfolgs zu
mindern dienen, mögen Poetik und Rhetorik lehren ; unsere
eigene Aufgabe beschränken wir enger auf die Mittheilung
nur dessen, was in uns aus einem Zustande, den wir leiden,
sich schon zu einer Vorstellung abgeklärt hat, die wir fassen :
der Gedanken also, nicht der Gefühle und Stimmungen,
156. Die Sicherheit auch dieser Mittheilung scheint da-
durch gefährdet, daß dieselben Worte doch nicht immer
dem Sprechenden und defti Hörenden dasselbe bedeuten.
Gibt es doch, noch abgesehen von später entstandenem
Gleichklang ursprünglich verschiedener Wurzeln, in jeder
Lotze, Logik. 13
194 Erstes Kapitel.
Sprache der Worte viele, die mehrere sehr verschiedene
Gegenstände bezeichnen; allerdings in Folge einer Aehn-
lichkeit, die diese Dinge untereinander haben, aber doch
einer Aehnlichkeit, die nicht immer dem, welcher sich der
überlieferten Worte bedient, noch eben so bemerklich ist,
wie dem ersten Urheber so übertragener Bedeutungen. Und
selbst diejenigen Namen, mit denen alle dasselbe bezeichnen,
verbürgen nicht eine gleiche Auffassung des Bezeichneten
in allen; die besonderen Umstände, unter denen jeder Ein-
zelne zur Kenntniß der Sache kam, der eigenthümliche
Standpunkt, von dem aus er sie zuerst ins Auge faßte,
die Verknüpfung mit anderen, in der er sie fand und aus
welcher er sie lösen mußte, geben seiner Ansicht von ihr
eine eigenthümliche Färbung und machen ihn zu anderen
Folgerungen geneigt, als derjenige erwartete, der durch
Nennung des gemeinschaftlich gebrauchten Wortes dem
Gedankengang eine bestimmte Richtung zu geben dachte.
Es ist unmöglich, diese Thatsachen zu leugnen, gefährlich,
sich ganz sorglos über sie hinwegzusetzen, aber doch auch
ungeschickt, sie zu übertreiben; der Verkehr des Lebens
beweist hinlänglich, in wie ausgedehntem Umfange trotzdem
die Sprache zu voller Verständigung über die verschiedensten
Gedanken hinreicht. Gewiß werden Vorstellungen übrig
bleiben, deren genaue Mittheilung schwierig ist ; aber be-
ständen diese Schwierigkeiten nicht, so hätte es ja keinen
Werth, Regeln zu suchen, nach denen durch passende
Benutzung unzweideutiger Worte die Zweideutigkeit anderer
zu beseitigen und ihr Inhalt identisch für jeden Mit-
sprechenden festzustellen ist. Dem freien Scharfsinn des
Mittheilenden bleibt hier überlassen zu beurtheilen, welche
Worte für zweifellos genug gelten können, um andere zu
erläutern ; aber wie weit man auch das Bedürfniß noch
empfinden mag, in diesem Geschäft zurückzugehen und
zuvor die Mittheilungsmittel eindeutig zu machen, deren
man sich bedienen will: immer wird man nur zwei Wege
betreten kt)nnen, den der Abstraction und den der Con-
struction.
157. Wir verdeutlichen den Inhalt eines Begriffes M
durch Abstraction, indem wir zuerst auf eine Anzahl
bekannter Beispiele hinweisen, in deren jedem M mitgedacht
wird, dann aber von diesen Beispielen das abzusondern
befehlen, was zu dem mitzutheilenden Inhalte des M nicht
gehört. Auf diesem Wege sind ursprünglich alle unsere
allgemeinen Begriffe und Vorstellungen entstanden; die
Die Formen der Definition. 195
einen, indem das Gemeinsame vieler Eindrücke sich voii
selbst zum Gegenstand einer neuen gesonderten Vorstellung
heraushob, die anderen, indem die nachdenkende Aufmerk-
samkeit diesen Vorgang mit Absicht leitete. Und auf den-
selben Weg kommen wir alle im Falle des Bedürfnisses
zurück; der logisch Ungebildete, wenn er, die alte Klage
des platonischen Sokrates, die Frage, was er unter M ver-
stehe, nur mit den Beispielen beantwortet, in denen er M
mitdenkt, dem Fragenden aber die Mühe überläßt, ihr Ge-
meinsames, von dem die Rede sein sollte, von Nicht-
zugehörigem zu sondern. Aber auch der logisch geschulte
Verstand verfährt nicht anders; wie sauber auch der Aus-
druck, den er dem Allgemeinen gibt, nur dessen eigenen
Inhalt, ohne Erinnerung an einzelne Beispiele, enthalten
mag : gewonnen ist doch dieser Ausdruck durch eine in der
Stille ausgeführte Vergleichung vieler Einzelfälle. Nur diese
Vergleichung lehrt uns, welche Merkmale des M vollständig
bestimmt sein müssen, damit der Ausdruck seines Begriffs
alles ausschließe, was ihm fremd ist; welche anderen Merk-
male man unbestimmt zu lassen hat, um in M alles ein-
zuschließen, was ihm als Beispiel zugehört; nur die Thiat-
sache endlich, daß Beispiele überhaupt sich finden lassen,
überzeugt uns davon, daß dies M, um dessen Feststellung
wir uns bemühen, einer Feststellung fähig ist, daß es
eine Aufgabe bedeutet, die im wirklichen Vorstellen sich
auflösen läßt, nicht ein Hirngespinst widersprechender Be-
standtheile, deren Vereinigung man zwar in Worten fordernj
aber in der That nicht ausführen kann. -
158. In jedem Falle bleibt es daher nützlich, dieseri
Weg der Abstraction zu betreten und Begriffsbestimmungen,
die man auf andere Weise gefunden hätte, wenigstens nach-
träglich durch Aufweisung ihrer Beispiele zu beglaubigen.
Ausschließlich anwendbar ist dies Verfahren überall, wo
es sich um Festsetzung der einfachsten Begriffe handelt,
die einem zusammengehörigen Kreise von Vorstellungen
zu Grunde liegen. Sie kann man nur aufweisen, indem
man von ihren bekannten Anwendungsbeispielen alles ab-
zieht, was nicht zu ihrer Bedeutung gehört, aber man kann
sie niemals aus Bestandtheilen zusammensetzen, welche
sie nicht besitzen. Die auf diesen unmöglichen Zweck'
verschwendete Mühe endet Immer mit dem fehlerhaften
Cirkel, der unter den Mitteln, die er zum Aufbau brauchen
will, eben das, was aufzubauen war, ganz und vollständig,
wenn auch versteckt unter fremdartigen Bezeichnungen,
13*
196 Erstes Kapitel.
voraussetzt. So sind in unserer Vorstellung des Werdens
ohne Zweifel die Vorstellungen des Seins und des Nichtseins
als zwei zusammengehörige Beziehungspunkte verbunden;
wer aber das Werden als Einheit beider bestimmen wollte,
würde nicht zum Ziele kommen. Er würde zuerst ver-
pflichtet sein, die bestimmte Bedeutung festzustellen, die
hier die an sich sehr vieldeutige Bezeichnung der Einheit
haben soll. Sie kann nicht das bloße Zusammensein der
beiden Vorstellungen des Seins und des Nichtseins in dem-
selben Bewußtsein meinen, denn zu offenbar ist das Werden
der Inhalt einer Beziehung, die zwischen den Inhalten
beider stattfindet. Vereinigen wir aber Sein und Nichtsein
an irgend einem mit sich identischen Subject als zugleich
und in gleicher Weise gültige Prädicate, so erreichen wir
nicht das Werden, sondern sehen uns blos der Unmöglich-
keit gegenüber, diese sich widersprechende Aufgabe im
Denken wirklich auszuführen. Trennen wir darum Sein
und Nichtsein des Subjects wieder und lassen das eine von
ihm gelten, wenn das andere nicht gilt, so schließt auch
dieser Wechsel das Werden nicht ein; es fällt zwischen
beide Zeitpunkte und liegt in keinem von beiden. Man
wird daher beide wieder aneinander rücken; aber so lange
sie außereinander bleiben, wird auch das Werden außer
ihnen liegen; man wird es nur erfassen, wenn man es
weder im Sein noch im Nichtsein, noch in einer ruhenden
Einheit beider, sondern nur in dem Uebergang von einem
zum andern sucht. In dieser Vorstellung des Uebergangs
aber, oder in jeder anders ausgedrückten, die man ihr
substituiren möchte, wird man, nur unter anderem Namen,
den wesentlichen Sinn unserer Vorstellung vom Werden
wiedererkennen. Völlig eigenartig, wie sie ist, kann daher
diese Beziehung zwischen Sein und Nichtsein nur durch
sich selbst gedacht, nur aus den Beispielen, in denen sie
mitgedacht wird, abgesondert, aber nicht durch Zusammen-
setzung aus Vorstellungen, in denen sie noch nicht ent-
halten wäre, erzeugt werden. Ganz dieselbien Betrachtungen
gelten von den gleich einfachen Begriffen des Seins des
Wirkens des Vorstellens der Bejahung der Verneinung;
und ganz in der dargestellten Weise bestimmt die euklidische
Geometrie die Fläche als Grenze des Körperraums, die
Linie als Grenze der Fläche, den Punkt als Grenze der
Linie, indem sie jedesmal die einfachere Vorstellung, deren
Auffassung schwieriger ist, durch Abstraction des nicht zu
ihr Gehörigen aus der zusammengesetzteren finden lehrt.
Die Formen der Definition. 197
welche der Anschauung näher liegt oder eben vorher be-
stimmt worden ist.
159. Das entgegengesetzte Verfahren würde den Namen
der Construction ganz nur dann verdienen, wenn es
ihm gelänge, aus einer bestimmten Anzahl eindeutiger Theil-
vorstellungen durch eine Reihe gleichfalls eindeutig be-
stimmter Denkhandlungen, die es an ihnen vorzunehmen
beföhle, den mitzutheilenden Inhalt vollständig zusammen-
zusetzen. Fast nur die mathematischen Begriffen und einige,
die aus den Anwendungen der Mathematik entspringen,
Begriffe, die als Erzeugnisse unseres Denkens nur ent-
halten, was dieses in ihnen vereinigt hat, sind dieser Be-
handlung wirklich fähig. Sie sind es, weil die Theilvor-
stellungen, die zu dem gemeinten Ganzen gehören, sich
vollzählig angeben lassen und weil nicht blos jede der-
selben, sondern auch jede der Verbindungsweisen, die
zwischen mehreren stattfinden sollen, außer der quali-
tativen Beschaffenheit, durch die sie sich von anders-
gearteten unterscheidet, auch noch die Angabe des Maßes
gestattet, durch welches sie von andern ihres Gleichen
unterscheidbar ist. Nichts bleibt daher hier unbestimmt,
was bestimmt sein sollte ; und wer der gegebenen Anweisung
folgt, muß vor seinem Bewußtsein das zu erzeugende Bild
mit demselben Grade der Individualität oder Allgemeinheit
entstehen sehen, mit welchem der Mittheilende es zu über-
liefern strebte. Beziehen sich dagegen unsere Mittheilungs-
wünsche auf Gegenstände der Wirklichkeit, so begegnen
sie bekannten Schwierigkeiten. Nicht aus einer begrenzten
Anzahl von Beziehungspunkten, die man in Verbindungen
von ebenso begrenzter Zahl zu bringen hätte, sondern aus
unzähligen Theilvorstellungcjn besteht das Vorstellungsbild
eines wirklichen Gegenstandes ; und diese Theilvorstellungen
sind unvergleichbar, so weit sie verschiedenen Sinnen an-
gehören, selbst die gleichartigen aber nur durch allgemeine
Namen zu bezeichnen, genauen Maßbestimmungen schwer
zugänglich, die Verbindungen endlich zwischen allen diesen
Elementen unübersehbar, überhaupt wahrnehmbar nur so
weit sie in äußerlicher räumlich zeitlicher Anordnung be-
stehen, und auch dann wegen mangelnder Kenntniß eines
durchgreifenden Bildungsgesetzes auf keinen zusammen-
fassenden Ausdruck zurückzubringen. Solcher Fülle gegen-
über schwächt sich die Construction zur Beschreibung
ab. Diese, wenn sie ihre Aufgabe versteht, wird sich zuerst
bemühen, die großen Umrisse des ganzen mitzutheilenden
198 Erstes Kapitel.
Inhaltes festzustellen, sei es, daß sie dies noch durch eine
einfache Construction leistet, oder daß sie von bekannten
ähnlichen Inhalten als Gleichnissen ausgeht und durch nach-
trägliche Veränderung und Verschiebung, durch Hinweg-
nahme einzelner und Hinzufügung anderer Züge, aus diesen
den Grundriß ihres mitzutheilenden Bildes zu Stande bringt.
In ihn wird dann die Fülle der Einzelmerkmale eingetragen,
niemals vollständig, denn sie pflegt unermeßlich zu sein,
sondern mit geschickter Auswahl derjenigen, von denen
zu hoffen, daß ihre Erwähnung die Aufmerksamkeit sogleich
bestimmen wird, auch die unerwähnten aus eigener Er-
innerung zu ergänzen. Wie große Wirkungen prägnantester
Anschaulichkeit die Poesie auf diesem Wege erzeugt, bedarf
nur dieser Erinnerung; ebenso deutlich aber ist die Un-
sicherheit dieses Erfolges. Die Ergänzungen des Nicht-
erwähnten fallen in jedem andern Gemüth anders aus; wäre
es ausführbar, die verschiedenen Gesammtanschauungen
sichtbar zu machen, welche dieselbe Beschreibung in ver-
schiedenen Hörern erweckt, so würden ihre Abweichungen
die Unzulänglichkeit jeder Beschreibung zur Begründung
bestimmter auf sie zu stützender Folgerungen beweisen.
Für wissenschaftliche Zwecke bedarf daher die Beschreibung
einer Regelung ihres Verfahrens, welche sie in der De-
finition findet.
160. Man pflegt zur Definition eines Begriffes M
die Angabe seines nächsthöheren Gattungsbegriffs G, des
genus proximum, und die des charakteristischen Merk-
mals d, der differentia specifica, zu verlangen, durch welche
sich M von andern Arten des G unterscheidet. Durch die
Forderung des Gattungsbegriffes G wird der willkürliche
und launenhafte Gang der Beschreibung eingeschränkt; ihr
stand es frei, an jedem beliebigen Punkte ihres Gegen-
standes zu beginnen und ihm, nach welcher Richtung sie
immer wollte, die übrigen Punkte nach und nach anzu-
reihen, wenn sie sich nur zutrauen durfte, am Schlüsse
ihres Verfahrens das deutliche Bild des Gemeinten zu
liefern. Ohne die Anwendung vieler Allgemeinbegriffe würde
indessen auch sie nicht zum Ziele kommen; anstatt diese
nun willkürlich zu wählen, verlangt die Definition, daß
man von demjenigen Allgemeinen ausgehe, in welchem
der größte Theil der zu leistenden Constructionsarbeit schon
fertig und vollzogen vorliegt, und welches, durch einen
eindeutigen Namen sprachlich bezeichnet, in jedem Be-
wußtsein als eine bekannte Anschauung vorausgesetzt
Die Formen der Definition. 199
werden kann, geeignet als Grundriß für die Einzeichnung
der Einzelmerkmale zu dienen, durch welche das mit-
zutheilende Bild vollendet wird. Bezeichnet man uns ein
noch nie gesehenes Geschöpf als Vogel, so gibt dieser
Allgemeinbegriff uns mit einem Male die deutliche Vor-
stellung einer Anzahl untereinander auf charakteristische
Weise verknüpfter Glieder und zugleich der besonderen Art
der Beweglichkeit und des lebendigen Gebrauchs, zu dem
sie dienen ; in diesen Grundriß tragen wir leicht die weiteren
besonderen Merkmale ein, denn er selbst bestimmt die
Stellen, an die jedes gehört. Wir würden dagegen nie eine
gleich deutliche Vorstellung des unbekannten Geschöpfes
erhalten, wenn wir sie aus den Urbestandtheilen zusammen-
setzen sollten; endlos würde die Arbeit sein, alle ver-
schiedenfarbigen Punkte seiner Gestalt nach Lage und dem
Maß ihrer Verschiebbarkeit aufzuzählen, so daß daraus
auch nur das anschauliche Sinnesbild derselben entstände;
noch endloser wäre es, an dies Bild die Eigen thümHchkeiten
der Lebensweise und des Benehmens zu knüpfen, die alle,
wenn nicht zur Anschauung, so doch zur Vorstellung des
tu schildernden Thieres gehören. Man begreift also den
Werth der Abkürzung, welche durch den Ausgang von einem
als bekannt annehmbaren Allgemeinbegriffe entsteht; man
begreift ebenso, daß nun zum Ausgangspunkt nicht mehr
irgend ein höheres Allgemeine, sondern ausdrücklich nur
das genus proximum zu wählen ist, welches sich durch
den Bestand und die Verbindung seiner Merkmale am
engsten an den zu definirenden Begriff anschließt und
mithin für jede der letzten Determinationen, die diesen
endgültig bestimmen, den Punkt, an welchem, und die Art,
in welcher sie anzubringen ist, eindeutig vorschreibt. Von
einem höheren Allgemeinen als von diesem ausgehend,
würden wir nicht nur die noch zu leistende Arbeit wieder
vermehren, auf deren Abkürzung die Definition zielte,
sondern auch den Erfolg gefährden. Denn eine ganze Reihe
weiterer Merkmale würden wir jetzt hinzufügen müssen,
um auf dem weiten Weg von jenem unbestimmteren All-
gemeinen bis zu unserem speciellen Gegenstande herab
alles Fremdartige auszuschließen, und jedes neue Merkmal
Würde eine neue Fehlerquelle öffnen, denn kaum ausführbar
ist es, die Art und Weise, in der jedes sich den früheren
anschließen soll, völlig genau zu bestimmen, ohne sich auf
eine Anschauung zu berufen, die man hierüber in jedem
Bewußtsein schon voraussetzen darf. Wir würden daher
200 Erstes Kapitel.
auf diesem Wege jenes genus proximum in der Bestimmtheit
und Sicherheit nicht wieder erzeugen, in welcher wir es,
sogleich seinen Namen nennend, in der Erinnerung hervor-
rufen können, und deren es bedarf, um als Grundriß für
die Einzeichnung der letzten Charakteristik des mitzutheilen-
den Begriffes zu dienen. Was wir so erreichten, würde
mehr oder weniger ein Räthsel sein. Denn wenn wir
Räthsel aufgeben, verfahren wir so: an ein sehr un-
bestimmtes Allgemeine, an ein Etwas überhaupt, befehlen
wir unmittelbar Prädicate anzuknüpfen, die nur an einem
sehr bestimmten Einzelsubject vereinbar sind, und über-
lassen nun dem Scharfsinn, dies Subject oder zunächst
das genus proximum zu finden, welches diese Vereinbarkeit
begründet.
161. Bisher galt uns die Definition als methodische
Beschreibung. Sollte sie dies bleiben, so müßte sie von M
vollständig die Modificationen p^ qi r^ angeben, in welchen M
die allgemeinen Prädicate P Q R seiner Gattung G enthält.
Anstatt dieser Vielheit verlangt die gewöhnliche Vorschrift
der Definition nur die Bezeichnung des einen Merkmals d,
der specifischen Differenz, durch die sich M von allen andern
Arten der Gattung G unterscheidet. Die Definition stellt
sich hiermit offenbar eine beschränktere und darum aus-
führbarere Aufgabe als die Beschreibung; sie will nicht
mehr den ganzen Gehalt des M positiv darstellen, sondern
nur das Kennzeichen namhaft machen, durch welches M
von allem sich abgrenzen läßt, was nicht M ist; hierauf
beruhen die Namen definitio und ÖQiojuog, beide nur Ab-
grenzung des einen vom andern verlangend. Und hierauf
muß in der That die allgemeine Aufgabe der Definition
beschränkt werden. In den weiteren Anwendungen des
Denkens macht sich allerdings der Trieb gelten, nicht nur
zu unterscheiden, sondern das Unterschiedene vollständig
zu erkennen; dann macht man gesteigerte Ansprüche an
die Definition; dann will man als specifische Differenz
nur eines jener wirklich artbildenden Merkmale zulassen,
dessen Vorkommen einen entscheidenden Einfluß auf die
Modificationen hat, in welchen auch alle übrigen, von der
Definition verschwiegenen, Merkmale des Allgemeinen G
dem Definiendum M zukommen. Diese hohen Forderungen
sind jedoch ganz nur am Ende einer Untersuchung erfüllbar,
welche uns M völlig kennen gelehrt hat und darum die
Aufgabe übrig läßt und möglich macht, einen abschließenden
Die Formen der Definition. 201
und classischen Ausdruck seines Inhalts festzusetzen. Aber
außer dieser gibt es nicht minder dringliche andere Auf-
gaben; für den Beginn einer theoretischen Untersuchung,
die eine Anzahl von M gültiger Sätze noch finden will,
für ein praktisches Verhalten, das an ein gegebenes Ver-
hältniß M ihm angemessene Folgen knüpfen soll: für beide
ist es von äußerster Wichtigkeit und ist zunächst auch
nur dies von Wichtigkeit, daß unzweideutig und leicht Er-
kennbar der Umfang jenes M abgegrenzt werde, von welchem
die zu behauptenden Sätze oder die zu treffenden Ent-
scheidungen gelten sollen. Hierzu reicht jedes Merkmal d,
auch das unbedeutendste hin, sobald es nur wirklich ein
ausschließliches Kennzeichen des M ist. In dem ersten Falle,
dem einer theoretischen Untersuchung, wird dann der weitere
Fortgang dieser selbst entweder den Grund kennen lehren,
welcher die Gültigkeit einer Reihe von Sätzen an dies
unscheinbare Merkmal d knüpft, oder er wird zeigen, daß
deren Geltung weitere oder engere Grenzen hat, d folglich
nicht die passende Charakteristik ihres Subjectes war. In
dem anderen praktischen Falle wird man vorher, da wo
es sich noch de lege ferenda handelt, die ganze volle Be-
deutung eines Rechtsverhältnisses zu erwägen haben, von
dem das zu gebende Gesetz gelten soll ; wer aber die lex lata
auszuführen hat, verlangt mit Recht, daß eben diese Vor-
erwägung ihr die Gestalt einer Definition gegeben habe,
die nicht durch das tiefsinnigste, sondern durch das am
leichtesten erkennbare Merkmal d die Fälle, in denen eine
Entscheidung gelten soll, von denen unterscheidbar macht,
in welchen sie nicht gelten soll. Man übersieht diese un-
abweisbaren Aufgaben angewandter Logik, wenn man zu
geringschätzig von dieser hergebrachten Form der Definition
denkt, und man mißversteht den guten Sinn vieler Beispiele
derselben in praktischer Philosophie und Jurisprudenz, wenn
man in ihnen anstatt der Kennzeichen eines Begriffs M,
welche sie geben wollen und vollständig geben, eine un-
zulängliche Bezeichnung des ganzen Inhalts von M sieht,
welche zu liefern sie überhaupt nicht beabsichtigen.
162. An diese Bemerkungen schließt sich bequem die
Erwähnung des Unterschiedes, den man, nicht ganz über-
einstimmend, zwischen nominaler und realer Definition
macht. Namen lassen sich aussprechen oder übersetzen,
definiren aber können wir immer nur ihren Inhalt: unsere
Vorstellung nämlich von dem, was sie bezeichnen sollen:
202: Erstes Kapitel.
die Sache anderseits ist ebensowenig selbst in unserem
Denken vorhanden, sondern nur das Vorstellungsbild, das
wir von ihr entworfen haben. Beide Arten der Definition
scheinen daher dasselbe bezeichnen zu müssen, und in
der That trifft dies für alles zu, was außerhalb unserea*
Gedanken keine Wirklichkeit hat und dessen ganzer Inhalt
deshalb durch das erschöpft wird, was wir von ihm vor-
stellen. Von einer geometrischen Definition gibt es keine
reale Definition, die von der nominalen noch unterschieden
wäre; jede richtige, die wir geben, drückt zugleich die
ganze Natur dessen, was hier die Sache ist, und zugleich
die ganze Bedeutung des Namens aus. In anderen Fällen
bedeutet jedoch der Unterschied beider Definitionsweisen
etwas, was der Mühe werth ist. Nennen wir die Seele
das Subject des Bewußtseins, des Vorstellens Fühlens und
Wollens, so kann dies schickUch eine nominale Definition
heißen: wir machen damit die Bedingung namhaft, welche
irgend ein Reales erfüllen muß, um Anspruch auf den
Namen einer Seele zu haben. Wer aber oder was nun
dasjenige ist, was durch seine eigenthümliche Natur diese
Bedingung zu erfüllen im Stande wäre, bleibt völlig dahin-
gestellt; erst eine Ansicht, welche bewiese, daß entweder
nur ein übersinnliches und untheilbares Wesen oder nur
ein verbundenes System materieller Elemente den Träger
des Bewußtseins und seiner mannigfachen Erscheinungen
bilden könne, würde die reale Definition der Seele fest-
gestellt haben. Eine nominale Definition gab Kant von
der Schönheit, als er sie nicht in der Angemessenheit
des schönen Gegenstandes zu irgend einem Begriff, nicht
in seiner Fähigkeit, ein Begehren in uns zu befriedigen,
sondern in seiner unmittelbaren und auf kein Interesse
bezogenen Wohlgefälligkeit fand; die reale Definition würde
die bestimmten Verhältnisse zwischen mannigfaltigen Be-
ziehungspunkten oder Bestandtheilen nachweisen müssen,
die jeden Gegenstand, in dem sie vorkommen, zur Erregung
jenes Wohlgefallens befähigen. Allgemein also : wenn ent-
weder die Erfahrung uns eine Merkmalgruppe pqr häufig
vorkommend und beständig beisammen bleibend vorführt,
öder wenn irgend ein Zusammenhang unserer Untersuchun-
gen uns veranlaßt, sie zusammenzusetzen und in ihr einen
Gegenstand weiterer Fragen zu sehen, so bilden wir zuerst
für sie einen Begriff M, dessen nominale Definition immer
möglich sein wird, weil sie nur jene Prädicate, die uns zur
Schaffung seines Namens bewogen, oder die Leistung zu
Die Formen der Definition. 203
bezeichnen hat, die wir von dem so benannten Gegenstande
erwarten. Aber die reale Definition wird nicht immer mög-
lich sein ; denn nichts verbürgt, daß wir nicht in M Merkmale
vereinigt haben, deren Verknüpfung wir zwar aus il'gend
einem Grunde glaubten voraussetzen oder wünschen zu
dürfen, ohne daß sich doch etwas auffinden ließe, worin
sie wirklich verbunden vorkämen oder verbindbar wären.
Da es ein häufiger Irrthum ist, diese bloße Bezeichnung
einer Aufgabe, die wir gelöst sehen möchten, für die Lösung
selbst anzusehen, so ist die Unterscheidung beider Defi-
nitionsarten eine nützliche Warnung.
. 163. Drei Fehler sind zu vermeiden, welche die Defi-
nition unzulänglich machen. Ihre Behauptung, M = 2, soll
zuerst keine Tautologie sein; sie wird aber dazu, sobald
unter den in Z verbundenen Vorstellungen, durch welche M
erklärt werden soll, offen oder versteckt M selbst voraus-
gesetzt wird. Diesen Fehler des circulus in definiendo
verschuldet häufig Unachtsamkeit, gegen die es keine Regel
gibt; mit einer gewissen Nothwendigkeit sehen wir uns
zu ihm geführt, sobald wir in der Form einer Definition
Einfaches bestimmen wollen, für das es einen superordinirten
Allgemeinbegriff nicht gibt. Die Definition, als Bestimmung
eines Begriffes, muß zweitens ein allgemeines Urtheil sein,
gültig von allen Beispielen dieses Begriffes. Sind nun alle
Mi=Z, so muß auch die Contraposition gelten: kein M
ist NonZ; belehrt uns dann weiteres Nachdenken oder neue
Erfahrung, daß es dennoch M gibt, die Non Z sind, so war
die Definition : M = Z zu eng, definiendo angustior und galt
nicht von allen M, von denen sie hätte gelten müssen. Die
Definition soll endlich reciprocabel sein; sind alle M = Z,
so müssen auch alle Z = M sein : sobald daher w;eiteres
Nachdenken oder neue Erfahrung uns zeigt, daß einige Z
nicht M sind, so war die Definition M = Z zu weit,
definiendo latior, und schloß einige Non M mit ein, die sie
hätte ausschließen sollen. Nützlicher als diese Benennung
der Fehler würde eine Anweisung zu ihrer Vermeidung sein ;
wir können jedoch deshalb nur auf ihre gewöhnliche Quelle
hinweisen : auf die Beschränktheit des Beobachtungskreises,
der jedem Einzelnen in der Regel nur einen und denselben
Bruchtheil eines ganzen Begriffsumfanges vorführt, und auf
die Einseitigkeit, in welche unser Gedankengang leicht ver-
fällt, wenn er neuer Anregung von außen entbehrt. In
unserem Himmelsstrich drängt sich das sommerliche Er-
204 Erstes Kapitel.
wachen der Pflanzenwelt und ihr Winterschlummer unserer
lebhaften Theilnahme auf; das thierische Leben scheint,
in stetiger Regsamkeit begriffen, den vollen Gegensatz zu
bilden. Eine wissenschaftliche Unterscheidung nun zwischen
Thier und Pflanze wird man hierauf zwar nicht gründen;
aber unzählige Gleichnisse, deren sich Poesie und Bered-
samkeit bedienen, zeigen doch, daß wir gewohnt sind, die
jährliche Periodicität als wesentlichen Charakter der Pflanze
zu betrachten. Eine Definition, die dies ausspräche, würde
zu eng und zu weit auf einmal sein ; sie würde die tropischen
Pflanzen ausschließen, die in absatzloser Vegetation leben,
und sie würde die winterschlafenden Thiere einschließen,
die in unserem Klima der hauptsächlich auf Hausthiere
gerichteten Aufmerksamkeit leicht entgehen. Wer politische
und sociale Rechte und Pflichten aller Staatsangehörigen
neu begründen möchte, dem begegnet es wohl, nur an die
Männerwelt zu denken, innerhalb deren die Verhandlungen
geführt zu werden pflegen, und seine Vorschläge werden
zu weit, indem sie für alle verlangen, was sie nur für die
Männer meinen, oder zu eng, indem sie nur in Rücksicht
auf diese etwas aussprechen, was für alle Geltung haben
muß. Wir ziehen hieraus die allgemeine Lehre, man solle
keine Aufgabe aus dem Stegreif behandeln, sobald man die
Möglichkeit hat, durch Verkehr mit Anderen oder durch
Berücksichtigung von Gesichtspunkten, welche die über-
lieferte Wissenschaft schon zusammengestellt hat, die Be-
schränktheit der eigenen Erfahrung zu erweitem; die Gre-
lehrsamkeit ist an sich nicht erfinderisch, aber größere
Sicherheit vor extremen Irrthümern hat sie, wie jede
Schulung und Disciplin, vor blos naturalistischem Verfahren
voraus.
164. Man stellt außerdem an die Definition Forderungen
der Eleganz und Kürze, die ich an einem einfachen Beispiele
durchgehen will. Wer den Kreis die krumme Linie nennt,
deren sämmtliche Punkte gleichweit von ihrem Mittelpunkte
entfernt sind, begeht zuerst den wirklichen Fehler einer
zu weiten Definition. Denn ziehen wir, auf der Oberfläche
einer Kugel, eine Schlangenlinie, die mit gleichen und ab-
wechselnd entgegengesetzt gerichteten Bögen einen größten
Kreis umläuft, so sind alle Punkte dieser Linie gleichweit
vom Mittelpunkt der Kugel entfernt. Braucht dann die
Linie eine ungerade ganze Anzahl dieser Doppelbogen, um
wieder an ihren Ausgangspunkt auf dem größten Kreise
zurückzukehren, so besteht sie aus unzähligen Paaren an
Die Formen der Definition. 205
den entgegengesetzten Endpunkten eines Kugeldurchmessers
einander gegenüberliegender Punkte; der Mittelpunkt der
Kugel halbirt also die geradlinige Entfernung zwischen den
beiden Punkten jedes Paares; er würde mithin in jedem
Sinne, dem man hier den Namen des Mittelpunktes geben
könnte, auch der Mittelpunkt der Summe aller Paare,
d. h. jener Linie sein, die gleichwohl kein Kreis wäre.
Es war daher nöthig zu sagen, der Kreis sei die ebene
krumme Linie, die jene Bedingung erfüllt. Weiter gilt es
dann aber als eine Forderung der Eleganz, daß die Definition
nicht mehr Vorstellungen enthalte, als zur völligen Be^
Stimmung des gegebenen Begriffs unentbehrlich sind. Man
kann deshalb verlangen, daß nicht von einer krummen Linie,
sondern von einer Linie überhaupt die Rede sei; erfüllt
sie die hinzugefügte Bedingung, so folgt ohnehin, daß sie
nicht gerade sein kann. Diese Bedingung selbst ist jedoch
nicht correct ausgedrückt. Die Definition soll unter ihren
Verdeutlichungsmitteln nicht solche Vorstellungen enthalten,
welche selbst erst deutlich werden unter Voraussetzung
des zu definirenden Begriffs. Eine solche Vorstellung ist
hier gewiß die des Mittelpunktes. Denn hätten wir die
Anschauung des Kreises noch nicht (und in der That können
wir wenigstens hier nicht veranlaßt sein, uns dieser An-
schauung zu erinnern, naphdem wir das Merkmal der
Krümmung aus unserer Definition weggelassen haben), so
könnten wir unter dem Mittelpunkt einer Linie zunächst
nur den Halbirungspunkt ihrer Länge verstehen, und erst
der Versuch, unter dieser Voraussetzung den Kreis zu
construiren, würde unsern Irrthum entdecken. Diese dem
gewöhnlichen Sprachgebrauch naheliegende Bedeutung des
Mittelpunktes, die uns schon in der Erwähnung unserer
Schlangenlinie oben zu unwillkommener Weitläufigkeit
zwang, muß daher in der Definition durch die genaue
allgemein zutreffende Bestimmung dessen ersetzt werden,
was für alle Raumgebilde unter diesem Ausdrucke zu ver-
stehen ist. Diese Bestimmung läßt sich leicht geben, aber
ich darf sie übergehen, denn es folgt aus ihr, daß, wenn
es für eine ebene Linie einen Punkt derselben Ebene gibt,
von dem alle ihre Punkte gleich entfernt sind, eben dieser
Punkt ihr Mittelpunkt ist. Setzen wir nun diese Definition
des Mittelpunktes in unsere Definition des Kreises ein, so
wird die nähere Bedingung, durch welche die ebene Linie
zum Kreise werden soll, völlig tautologisch und der Sinn
206 Erstes Kapitel.
des Ganzen ist offenbar nur noch der: Kreis ist die ebene
Linie, für die es in derselben Ebene einen Punkt gibt,
von dem alle ihre Punkte äquidistant sind. So ist die
Definition dem Inhalt nach richtig; dennoch läßt sie sich
formell bemängeln. Denn nachdem wir den Begriff des
Mittelpunktes hinweggelassen haben, erinnern wir uns, daß.
nur seine Beibehaltung uns nöthigte, den äquidistanten
Punkt in derselben Ebene zu suchen ; nicht dieser wirkliche
Mittelpunkt allein, sondern jeder Punkt einer durch ihn
senkrecht zu der Ebene der Linie gelegten Axe erfüllt die
Bedingung, gleichweit von allen Punkten der Linie zu sein>
Es reicht daher hin zu sagen : Kreis ist die ebene Linie,
für deren sämmtliche Punkte es einen äquidistanten Punkt
gibt; daß es solcher Punkte viele gibt und wo sie liegen,
kann unerwähnt bleiben; der Versuch, die Linie nach dieser
Anweisung zu construiren, lehrt beides ohnehin. Auch so
endlich entspricht die Definitiim noch nicht allen Wünschen.
Sie sagt zwar, daß alle Punkte des Kreises äquidistant von
einem und demselben Punkte sind, aber sie läßt unent-
schieden, ihrer Form nach, ob alle von diesem Punkte
äquidistanten Punkte auch Punkte des Kreises sind oder
nicht. Sie sind es nun aber, sobald sie in derselben Ebene
liegen, und um dies mit auszudrücken, nennen wir endlich
den Kreis die Linie, welche alle von irgend einem Punkte
äquidistanten Punkte einer Ebene enthält.
165. Ueber die Anforderungen an die Definition, die
wir an diesem Beispiele durchgingen, kann man verschieden
urtheilen. Die Anwendung von Vorstellungen, die un-
abhängig von dem zu definirenden Begriffe sich zwar be-
stimmen lassen, aber doch, wenigstens außerhalb des Zu-
sarhmenhanges einer wissenschaftlichen Behandlung, volle
Deutlichkeit erst durch ihn selbst erhalten, wie hier die
der Vorstellung vom Mittelpunkt, ist ein jedenfalls zu ver-
meidender Fehler. Die Hinzufügung überflüssiger Bestim-
mungen hingegen kann unbedenklich erscheinen, da sie
die Richtigkeit der Definition nicht beeinträchtigt, ihre Ver-
ständlichkeit dagegen erhöht. Dennoch ist sie zu vermeiden.
Denn leicht erweckt der Zusatz einer entbehrlichen Neben-
bestimmung z, eben weil ihre Entbehrlichkeit nicht mit
ausgesprochen wird, den falschen Nebengedanken, sie ge-
höre dazu, um das zu definirende M von einem NonM zu
unterscheiden, von welchem, mit einziger Ausnahme von z*
selbst, alle Behauptungen der Definition auch gültig seienu
Nennen wir den Kreis die krumme ebene Linie, für dereß
Die Formen der Definition. 207
Punkte es einen äquidistanten Punkt gibt, so hat es formell
den Anschein, als gäbe es auch gerade Linien, die derselben
Bedingung genügten. Wenig schadet dies in diesem ganz
einfachen Falle; aber wirkliche Nachtheile können in ver-
wickeiteren aus jener scheinbar harmlosen Hinzufügung
des Ueberflüssigen entstehen. Mindestens hemmt sie uns
in der Ableitung von Folgen, um deren willen wir die
Definition doch überhaupt nur aufstellten. Denn es kann
sich zutragen, daß von einem Q auf irgend eine vielleicht
mittelbare Weise ganz sicher die Prädicatsumme feststeht^
die nach richtiger Definition hinreicht, um Q unter M zu
subsumiren, daß es aber schwer oder unthunlich ist, direct
an Q auch noch das Prädicat z nachzuweisen, welches die
wirklich gegebene Definition überflüssig hinzufügte; dann
wird man ganz unnützes Bedenken tragen, Q dem M unter-
zuordnen und die hierdurch zu begründende Folgerung
wirklich zu ziehen. Es ist daher im Allgemeinen doch
eine richtige Forderung, die Definition solle nur die zur
Bestimmung ihres Gegenstandes unentbehrlichen Vorstellun-
gen enthalten, blos beschreibende Elemente aber aus-
schließen; sie vergütet dann durch Sicherheit der aus ihr
zu ziehenden Folgerungen den Mangel an Anschaulichkeit,
166. Bisher betrachteten wir die übliche Form der
Definition durch Angabe des nächsten Gattungsbegriffs und
der specifischen Differenz als die allein gültige. Der un-
gebildete Verstand definirt zum Aerger der Logiker anders,
etwa in bekannter ungeschickter Bedeweise: Krankheit ist,
wenn mir etwas weh thut. Dies freilich bedarf der Ver-
besserung, aber doch schwerlich so, wie die Logik es etwas
eigensinnig wünscht, sondern so, wie thatsächlich die Physik
viele ihrer Begriffe definirt. Die gewöhnliche Form paßt
leicht sich eigentlich nur einem seiner Natur nach sub-
stantivischen Inhalt an; wo es sich aber um adjectivische.
oder verbale Inhalte handelt, ist es nicht blos kürzer und
klarer, sondern auch richtiger, ihnen im Satzbau der
Definition die Stelle zu geben, an die sie gehören, und sie
auf das Subject bezogen erscheinen zu lassen, als dessen
Zustände oder Eigenschaften sie allein Sinn haben. Mit
Recht definirt man daher Adjective, wie krank oder elastisch,
durch Sätze von der Form: krank ist ein lebendiger:
Organismus dann, wenn seine Functionen von einer be-;
stimmten Grenze abweichen; elastisch ist der Körper,,
welcher nach dem Aufhören äußerer Einwirkung seine
Gestalt herstellt. Und ebenso würden den verbalen Inhalten
208 Erstes Kapitel.
leben und sündigen Definitionen entsprechen, welche
zuerst die Subjecte, von denen beide gelten können, den
organisirten Körper und den bewußten wollenden Geist,
und dann die Bedingungen namhaft machten, unter denen
beide von diesen Subjecten auszusagen sind. Es hat
schlechthin keinen Nutzen, alle diese Vorstellungsinhalte
zuerst in substantivische Form zu bringen und sie etwa
den Allgemeinbegriffen von Zuständen Eigenschaften oder
Verfahrungsweisen unterzuordnen; daß sie unter diese ge-
hören, wird unmittelbar deutlich, wenn man ihnen mit
der ad jecti vischen oder verbalen Form die entsprechende
Stellung im Satze läßt. Dagegen hat die übliche Definitions-
weise den Nachtheil, daß sie viel zu sehr daran gewöhnt,
das, was eben nur Zustand oder Eigenschaft eines Andern
ist, von diesem seinem Subject abzulösen und als etwas
Selbständiges zu betrachten. Nachdem man einmal die
substantivischen Namen der Krankheit der Sünde der Frei-
heit geschaffen hat, ist es schwer, die seltsame Mythologie
gaöz abzuwehren, die von dem Inhalt dieser Begriffe wie
von eigenen Wesen spricht und ihre Entwicklungen verfolgt,
ohne im Lauf solcher Untersuchungen ernstlich auf die
realen Subjecte zurückzukommen, als deren Eigenschaften
Zustände oder Thätigkeiten sie aliein Existenz haben und
an deren wirkliche Entwicklung ihre scheinbare in jedem
Augenblicke gebunden bleibt.
167. Noch immer haben wir als zu definirende Begriffe
verhältnißmäßig einfache im Sinne gehabt, Begriffe von
Figuren Dingen Eigenschaften und leichtfaßlichen Verhält-
nissen; in den Worten der Sprache aber, deren jedes unter
Umständen eine Definition verlangen kann, finden sich
häufig sehr verwickelte Beziehungen zwischen sehr mannig-
fachen Beziehungspunkten in einen einfachen Ausdruck zu-
sammengezogen. Es würde nur Befangenheit sein, die Be-
stimmung solcher Begriffe in der regelmäßigen Form einer
einfachen Definition zu verlangen, und nur nutzlose Pedan*
terie, die sehr vielfältigen anderen Verfahrungsweisen, die
man hier benutzen kann, mit besonderen Namen zu ver-
zieren. Das allgemeine Princip angewandter Logik ist immer
nur dies, daß alle Wege erlaubt sind, die zu dem richtigen
Ziele führen; nur den Zweifel darüber, welcher Weg bis
zu Ende gangbar sein werde, welcher nicht, hofft sie durch
Angabe der längst geprüften zu heben; neue zu suchen, wo
neue Bedürfnisse vorliegen, verbietet sie nie. Immer ist
es daher gestattet, durch vorangehende Beschreibung, durch
Die Formen der Definition. 209
Gleichnisse und Analogien, durch Erörterungen aller Art
in den Sinn der Hülfs Vorstellungen, die man brauchen,
und in die Eigenthümlichkeit der Verbindungen, die man
zwischen ihnen herstellen will, vorbereitend einzugewöhnen,
um dann in einem kurzen und verständlichen, obwohl von
dem Kreise dieser Voraussetzungen nicht ablösbaren Aus-
drucke das aufzuzeigen, was man zu bestimmen wünschte.
Nur noch an eine allgemeine Unterscheidung der Definitionen
werden wir hierdurch erinnert. Man kann M durch den
Thatbestand von Merkmalen charakterisiren, den sein Be-
griff dann aufweist, wenn er fertig vor unserem Bewußtsein
steht, diese Definition, von der die früher erwähnte des
Kreises ein Beispiel war, kann die descriptive heißen;
auf sie sind wir hauptsächlich verwiesen in Bezug auf
Gegenstände der Wirklichkeit, die wir nur äußerlich kennen
und deren Definition daher in der That nur eine methodisch
geregelte Beschreibung ist. Aber man kann M auch dadurch
feststellen, daß man irgend einen Weg angibt, auf welchem,
nicht durch bloße Addition, sondern durch beliebige Be-
nutzung und Verwendung anderer Vorstellungen, die Vor-
stellung seines Inhalts entstehen muß; diese Definiton
würden wir genetische nennen, und wir würden, um
dies ausdrücklich hervorzuheben, unter ihr nicht die An-
gabe des Hergangs verstehen, durch welchen der Inhalt
des Begriffs M wirklich entsteht, sondern nur die Bezeich-
nung des Weges, auf dem die Vorstellung dieses Inhalts
entstehen kann oder muß. Lassen wir eine gerade Linie
in derselben Ebene sich um einen ihrer Endpunkte drehen
und verbinden die successiven Lagen des anderen End-
punkts, so ist dies eine genetische Definition des Kreises;
der Kreis nun als solcher entsteht überhaupt nicht; ein be-
stimmter gezeichneter Kreis aber kann auf andere Weise
wirklich entstanden sein, nur seine Anschauung entsteht
auf dem von dieser Definition angegebenen Wege für uns
gewiß ; sie entsteht aber ebenso, wenn wir beide Axen einer
Ellipse sich ändern und zuletzt = r werden lassen, oder
wenn wir einen geraden Kegel senkrecht auf seine Axe
durch eine Ebene schneiden. Es gibt daher für Vor-
stellungen, deren Inhalt an sich selbst gar keine Genesis
hat, nicht nur eine, sondern so viele genetische Definitionen,
als sich Wege angeben lassen, durch Benutzung anderer
Vorstellungen die Vorstellung dieses Inhalts zu erzeugen.
Diesen genetischen Definitionen nun schließen sich, in
weiterem Sinne, die oben erwähnten gemischten Ver-
Lotze, Logik. 14
210 Erstes Kapitel.
fahrungsweisen an; sie suchen auf Umwegen die Vorstellung
des Mentstehen zu lassen, wenn die directe Angabe
des Inhalts, aus weichem M besteht, unausführbar oder
unbequem wird.
168. Eigentlich immer, sobald wir die Definition eines
M unternehmen, suchen wir seinem Inhalt durch sie einen
höheren Grad der Bestimmtheit zu geben, als er vorher
besaß. Doch beschränkt sich unsere Aufgabe meistens
darauf, eine klare Vorstellung (clara perceptio), die wir
von M schon hatten, in eine deutliche (distincta p.),
oder eine bloße Vorstellung, welche nur überhaupt M
als zusammengehöriges Ganze bekannter Theile faßte, in
einen wirklichen Begriff des M zu verwandeln. Beides
können wir als gleichbedeutend ansehen. Denn klar nennen
wir nach altem Sprachgebrauch einen Inhalt schon dann,
wenn er als einer, als in sich zusammengehöriger, endlich
mit einer Bestimmtheit, welche zur Verhütung der Ver-
wechselung hinreicht, als verschieden von anderen gedacht
wird ; deutlich aber wird er erst dann, wenn die ? allgemeine
Regel, unter die der Zusammenhang seiner Theile fällt,
wenn ferner die Merkmale, die er mit anderen Arten dieses
Allgemeinen gemeinsam besitzt, wenn endlich auch die-
jenigen einzeln mitgedacht werden, die ihn von allen andern
Arten seines Allgemeinen unterscheiden. Diese Steigerung
der Bestimmtheit fiel uns, in der reinen Logik, mit dem
Uebergang aus der Form logischer Vorstellung in die Form
des wirklichen Begriffes zusammen. Nun gibt es aber
Fälle, in welchen die Vorstellung eines zu definirenden M
die Klarheit keineswegs besitzt, die wir hier voraussetzten;
durch UeberlieferUng sind Namen an uns gekommen, welche
die Sprache mit unbestimmten Grenzen ihrer Bedeutung ge-
bildet hat. So pflegen wir von Tugend und Sünde, vom
Guten und dem höchsten Gut, von Erscheinung und wahr-
haft Seiendem zu sprechen, überzeugt, mit diesen Namen
durchaus Bestimmtes zu meinen, und bereit, aus ihnen
wichtige Folgerungen in Bezug auf das abzuleiten, was wir
ihnen unterordnen; zuletzt überzeugen uns die Schwierig-
keiten, in die wir uns verwickeln, daß wir eigentlich nicht
genau wußten, was wir meinten, daß die Bedingungen nicht
vollständig feststanden, die alles erfüllen muß, was diesen
Namen untergeordnet werden soll, daß wir also uns un-
klaren Vorstellungen anvertraut hatten, deren Aufklärung
vor allem Noth thut. Wir suchen diese auf einem sehr
einfachen Wege. Wäre der Sinn dessen, was M bezeichnen
Die Formen der Definition. 211
soll, uns völlig unbekannt, so hätten wir kein Mittel, ihn
zu entdecken; aber wir würden auch nie in den Fall ge-
kommen sein, diesen Namen anzuwenden, wenn nicht irgend
ein Bestandtheil a seiner Bedeutung uns zweifellos fest-
stände, eben der, der uns jetzt veranlaßte, die im übrigen
noch unklare Benennung zu gebrauchen. Dieses a sehen
wir zunächst versuchsweis als vollständige Definition des
M an und überlegen, ob a demjenigen entspricht, was wir
unter M meinen. Bekannte Erfahrungen lehren, daß in
Fällen, wo wir den Inhalt eines M positiv auszusprechen
nicht im Stande sind, wir doch sehr wohl bemerken, ob
eine zu seiner Definition angebotene Vorstellung a ihm
genügt oder nicht. So entscheiden wir, wenn wir einen
vergessenen Namen vergeblich suchen, doch mit Sicherheit
verneinend, daß ein versuchsweis genannter nicht der
richtige ist; aber auch das, was dieser an Aehnlichkeit mit
dem richtigen besitzt, macht Eindruck auf uns, erweckt
zuweilen unmittelbar dessen verdunkelte Vorstellung und
läßt jedenfalls deutlicher werden, worin er sich noch von
dem angebotenen falschen unterscheidet. In gleichem Falle-
befinden wir uns hier; a ist nicht völlig falsch und unver-
gleichbar mit M; die Vergleichung beider führt daher nicht
zur bloßen Verneinung ihrer Gleichheit zurück, sondern
bringt auf die Spur einer Ergänzung b, die zu a hinzu-
zufügen, oder einer Aenderung b, die an a anzubringen ist,
um den Inhalt von M völlig zu treffen. Nun setzen wir in
einem zweiten Versuche M^a + b, und wiederholen den-
selben Gang der Vergleichung und Ergänzung durch neue
Glieder c und d, bis wir eine Definition M = a + b-|-c-}-d
erreicht haben, welche in ihrer entwickelten Merkmalsumme
sich völlig mit dem deckt, was wir unter M gemeint hatten.
In dieser sehr einfachen Gedankenbewegung bestand schon,
viel weniger in einem eigentlich inductiv6n Verfahren, die
Kunst des platonischen Sokrates, unklare Begriffe aufzu-
klären.
14^
Zweites Kapitel.
Von der Begrenzung der Begriffe.
169. Bestimmte Bedürfnisse der Untersuchung können
uns veranlassen, eine Merkmalgruppe ikl durch alle die
übrigens verschiedenen Gegenstände hindurch zu verfolgen,
an denen sie vorkommt, und den Einfluß aufzusuchen,
welchen ihre Gegenwart auf den übrigen Merkmalbestand
dieser mannigfachen Subjecte ausübt. Der Erfolg dieser
Vergleichung selbst belehrt uns dann, ob das Vorhandensein
von ikl die übrigen Merkmale, die jedes dieser Subjecte
vermöge seines Gattungsbegriffes besitzt, in bemerklicher
und zwar in gleichartiger Weise modificirt. Ist dies der
Fall, so bilden wir häufig aus ikl und aus der Vorstellung
eines mehr oder minder bestimmten Subjects einen neuen
Gattungsbegriff M und betrachten als Arten desselben alle
die Vorstellungsinhalte, in denen ikl vorkommt. Nicht
selten aber, und in dem entgegengesetzten Falle immer,
begnügen wir uns, ikl als eine der unzähligen variablen
Bedingungen zu fassen, welche, auf andere Vorstellungs-
inhalte einwirkend, in diesen bestimmte Aenderungen nach
sich ziehen, für sich selbst aber keinen eigenen Begriff
bilden, dem ihre Beispiele als Arten unterzuordnen wären.
Die lebendige Sprache nun glaubt in der Ausprägung ihr^s
Wörterschatzes die beiden Fälle bereits hinlänglich ge-
schieden zu haben, in denen das eine oder das andere Ver-
fahren schicklich ist. Zwar dies wird sie zugeben, daß
fortschreitende Vertiefung der Untersuchung noch manche
Merkmalgruppe ikl von so entscheidendem Einfluß auf das
Gesammtverhalten jedes sie einschließenden Begriffes ent-
decken wird, daß es sich der Mühe verlohnt, aus dieser
Gruppe einen eigenen Gattungsbegriff M zu bilden und
durch einen Namen zu bezeichnen; in der That bereichert
sich ja auch die Sprache beständig durch neue Benennungen
Von der Begrenzung der Begriffe. 213
für so neu entdeckte Vorstellungen. Dagegen wird sie auch
behaupten, daß keiner derjenigen Begriffe, welche sie be-
reits gefunden und durch Schöpfung eines Namens ver-
festigt hat, dieser Auszeichnung unwerth sei; jeder bedeute
vielmehr wirklich etwas in sich Zusammengehöriges, das
er mit Recht von jedem andern gleichfalls in sich zu-
sammengehörigen Inhalte als ein wohlbegrenztes Ganze
abtrenne.
170. Mit diesen in der überlieferten Sprache gegebenen
Begriffen muß nun unser Denken wirthschaften ; nicht blos
weil wir kein Mittel der Verständigung besitzen außer den
Worten, die zu ihrer Bezeichnung geschaffen sind, viel-
mehr enthält dieser Wortschatz das verdichtete Ergebniß
des Nachdenkens, welches von jeher der menschliche Geist
auf die Welt des Vorstellbaren gerichtet hat, und wir können
vermuthen, daß dieselben Antriebe, die ihn zu dieser Fest-
stellung der Begriffe geführt haben, sich zunächst auch in
uns bei der Wiederholung dieser Bemühung gelten machen
würden. Daß gleichwohl diese Antriebe, so natürlich sie
dem Menschen sein mögen, doch dem Zweifel Raum lassen,
zeigt uns der häufige Zwiespalt, der bei der Anwendung
der so gebildeten Begriffe entsteht. Wenn es sich darum
handelt, von irgend einem S ein P zu bejahen oder zu ver-
neinen, so behauptet der eine: S sei eine Art von M, und
darum komme ihm P zu; ein anderer wirft ein: S sei
kein M und darum auch kein P; der dritte gesteht: S sei
zwar kein M, sondern ein N, aber dies thue nichts, und
was dem M zukomme, gelte auch von N; der vierte besteht
darauf, die Verschiedenheit von M und N begründe auch
einen Unterschied beider in Bezug auf P. Der hier sicht-
bare Zwiespalt dehnt sich zu zwei entgegengesetzten Nei-
gungen aus, die unser ganzes Denken beherrschen : die eine
übertreibt jeden gefundenen Unterschied bis zum unbe-
dingten, und mit der bekannten Redensart: dies sei etwas
ganz anderes, sträubt sie sich, von einem Falle a auf einen
zweiten ihm ähnlichen, aber nicht gleichen b irgend einen
Grundsatz der Beurtheilung zu übertragen ; sie wird so
im Leben und in der Wissenschaft das Princip der Pedanterie
und der Philistrosität ; die andere Neigung übersieht den be-
dingten Werth jedes Unterschiedes, der kein unbedingter
ist, und mit dem öden Wahlspruch: im Grunde sei alles
eins, verwischt sie alle festen Grenzen, welche die Um-
fange verschiedener Begriffe scheiden, und damit auch
die Rechtsgründe, welche bestimmte Prädicate ausschließ-
214 Zweites Kapitel.
lieh an bestimmte Subjecte knüpfen, an andere nicht; so
wird sie im Denken und im Handeln zum Princip eines
ebenso verderblichen Libertinismus. Ein Blick auf diese
Verirrungen im Großen erweckt das Bedürfniß, darüber klar
zu werden, welche Gründe uns berechtigen, den ganzen
Bestand des Vorstellbaren in bestimmte Begriffe einzu-
theilen, wo ferner für diese die Grenzlinien ihrer Herr-
schaftsgebiete zu ziehen sind, endlich welcher Werth den
so gemachten Unterscheidungen beizulegen ist.
171. Die Beantwortung dieser Fragen führt schon da,
wo sie am meisten leicht und am wenigsten dringlich ist,
in Bezug auf die einfachen Inhalte sinnlicher Empfindungen,
zu sehr mannigfachen Verhältnissen. Vollen Unterschied
haben wir ein Recht, zwischen einfachen Inhalten A B C
dann anzunehmen, wenn keine Mittelglieder vorstellbar sind,
durch welche das Eigenthümliche des einen stufenweis in
das des andern überginge, wenn ferner keine Mischung
zweier von ihnen denkbar ist, die einen neuen einfachen
Inhalt gäbe, wenn endlich keine Grade des Gegensatzes
zwischen ihnen so stattfinden, daß 'die Weite des Unter-
schiedes zwischen A und B größer oder kleiner geschätzt
werden könnte, als die des Unterschiedes zwischen A und C
oder B und C. Diese Verhältnisse oder vielmehr dieser
Mangel jedes angebbaren Verhältnisses findet statt zwischen
Farbe A Ton B und Geruch C; für diese Inhalte kann die
alte Benennung disparater oder unvergleichbarer bei-
behalten werden. Und dies Verhalten wird nicht geändert
durch verschiedene Nebenbetrachtungen. Zuerst nicht durch
Hinweis darauf, daß diese drei sämmtlich nur als Zustände
unseres Bewußtseins Wirklichkeit haben; alle sind sie zwar
Empfindungen und nach dem Sprachgebrauch der Logik
Arten der Empfindung; allein dem allgemeinen Begriffe der
letzteren sind sie nicht wie einem superordinirten Gattungs-
begriff untergeordnet, der irgend ein Gesetz ihrer Bildung
enthielte. Wer das Bild eines stumpfwinkligen Dreiecks
dem Allgemeinbegriffe des Dreiecks untergeordnet denkt,
hat in diesem eine Bildungsregel, deren Anwendung er blos
innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu variiren braucht, um
zu bemerken, daß es außer jener einen Art des Dreiecks
auch noch rechtwinklige und spitzwinklige gibt. Wer da-
gegen die Farbe dem Allgemeinen der Empfindung sub-
sumirt, denn nur dies, nicht Subordination ist möglich,
-wird aus diesem Allgemeinen niemals folgern können, daß
OS außer den Farben noch Töne und Gerüche gibt. Obgleich
Von der Begrenzung der Begriffe. 215
daher diese drei nach gewöhnlichem Ausdrucke Arten der
Empfindung sind, so bleiben sie doch innerhalb des Um-
fangs dieses Allgemeinen völlig disparat gegen einander.
Als Zustände ferner, als Bewegungen oder Erschütterungen
der Seele mögen diese verschiedenen Empfindungsarten
gewisse vergleichbare Nebenwirkungen hervorrufen, und
man mag immerhin deshalb eine bestimmte Farbe a^ einem
bestimmten Tone b^ oder einem Geschmack c^ vergleichen:
was diese vergleichbaren Nachwirkungen hervorbringt, bleibt
dennoch an sich selbst ganz unvergleichbar. Und dasselbe
ist der Physik und der Physiologie zu erwiedern, wenn sie
die Vorgänge in der Außenwelt oder die in unseren Nerven,
die zur Entstehung der verschiedenen Empfindungsklassen
nöthig sind, auf vergleichbare ja vielleicht sehr nahe ver-
wandte Bewegungen stofflicher Elemente zurückführen;
beide müssen dann nicht mit der wunderlichen Behauptung
schließen: also seien eigentlich diese Empfindungen gar
nicht qualitativ verschieden, sondern eben mit der andern
richtigen: trotz der Aehnlichkeit der Entstehungsweisen
finde nicht die mindeste Aehnlichkeit zwischen den ent-
standenen statt. Ein Zweifel hierüber kann nur insoweit
stattfinden, als die unbefangene Selbstbeobachtung, die hier
allein zu entscheiden hat, ihrerseits einen übrig läßt. Dies
ist der Fall in Bezug auf Geschmack und Geruch. Das Saure
haben beide zweifellos mit einander gemein; auch ihre
übrigen Empfindungen aber scheinen eine zusammen-
hängende Gruppe zu bilden, nur daß einige Glieder dieser
Gruppe blos durch flüssige, andere nur durch gasförmige
Reize erregt werden; deswegen an verschiedene Organe
vertheilt, unterscheiden sich vielleicht die an sich gleich-
artigen Empfindungen beidet Sinne nur durch Nebenemp-
findungen, die von der Lage Gestalt und Functionsweise
des einen oder des andern erregten Organs abhängen. Dies
zu entscheiden ist nicht Sache der Logik; sie hat hier nur
zu ermahnen, man solle sich nie durch Hinweis auf die
Aehnlichkeit dessen, was zwei Inhalte begründet oder
ihnen folgt, sophistisch und der unmittelbaren Wahr-
nehmung widersprechend, die Unvergleichbarkeit dessen ab-
streiten lassen, w^as beide sind.
172. Zu einer ähnlichen Bemerkung veranlaßt mich die
andere Frage, nicht nach dem Rechte der Trennung zwischen
A und B, sondern nach dem Rechte der Vereinigung dessen^
was wir unter A zusammenfassen. Man hat lange mit der
langweiligen Paradoxie geglänzt, Schwarz und Weiß seien
216 Zweites Kapitel.
keine Farben, weil sie nicht wie die prismatischen von einer
bestimmten Zahl der Lichtwellen abhingen. Die neuere
Ausbildung der physiologischen Optik hat diesen Grund hin-
fällig gemacht; aber auch wenn dies nicht geschehen wäre,
hätte man doch kein Recht, auf diese Weise die Sprache
zu meistern. Lange bevor man etwas von den Veran-
lassungsursachen unserer Empfindungen wußte, hatte die
Sprache den Namen der Farbe für eine Gruppe von Inhalten
geschaffen, die durch eine unmittelbar empfundene und un-
widersprechliche Gleichartigkeit, durch ihr Scheinen,
oder wie man es sonst nennen mag, unter sich zusammen-
gehören und sich von dem Klingen oder Schallen der
Töne, dem Duften der Gerüche abscheiden. Mag nun
immerhin der Name des Scheinens nur noch für das Weiß,
nicht für das Schwarz passend erachtet werden: daß beide
doch mit den übrigen Farben den gemeinsamen hiermit un-
vollkommen bezeichneten Grundzug gemein haben, ließe
sich nur mit Worten, nicht in der That bestreiten, und die
Sprache war deshalb vollkommen befugt, gegen den un-
berechtigten Einspruch der Gelehrsamkeit, auch jene beiden
in den Umfang der Farbe einzuschließen. Man begegnet
auch sonst diesen nicht immer unschädlichen Uebergriffen
der Theorie. Auch die Chemie trug eine Zeit lang zur
Sprachverwirrung bei, als sie Oxydation und Verbrennung
für gleichbedeutend ausgab. Von Verbrennung sprach die
Menschheit ebenfalls eher, als sie den Sauerstoff kannte,
und sie verstand darunter immer einen von sichtbarem
Licht und fühlbarer Wärme begleiteten Vorgang, der das
frühere Gefüge eines Stoffes dauernd veränderte ; das Glühen
eines Eisenstabes nannte sie deshalb nicht Verbrennung,
weil sie nach der Abkühlung die bleibende Veränderung
vermißte; sie würde aber auch um der dauernden Ver-
änderung willen einen Vorgang, der sie veranlaßt hätte,
nicht so genannt haben, wenn ihm die bemerkliche Ent-
wickelung vom Flamme und Wärme gefehlt hätte. Der
Begriff der Verbrennung deckt daher den der Oxydation
gar nicht; viele Stoffe oxydiren ohne Verbrennung, ander-
seits, wenn erwärmtes Antimon in Chlorgas sich unter
Flammenerscheinung mit Chlor verbindet, so ist dieser
Vorgang ganz zweifellos eine Verbrennung, obwohl keine
Oxydation. Die Geometrie wußte längst, daß abstract oder
arithmetisch gedachte Ordnungssysteme dann, wenn sie
ihre vielen Elemente nach nicht mehr als drei verschiedenen
Von der Begrenzung der Begriffe. 217
Scalen gliedern, durch Gebilde räumlicher Art sich anschau-
lich darstellen lassen; nichts hindert nun die Mathematik,
Ordnungssysteme zu denken, die nach einer beliebigen
größeren Anzahl von Scalen entworfen sind, nur daß es
für diese Systeme keine räumliche Anschauung mehr gibt,
und daß der Name der Dimensionen, der jenen Scalen in
räumlicher Bedeutung gegeben werden konnte, so lange
sie nur drei waren, jetzt nur noch den abstracteren Sinn
haben kann, den ich mit der Benennung der Scalen zu be-
zeichnen suchte. So gewiß nun der Name des Raumes
für uns nur ein Ordnungssystem bedeutet, von welchem
wir diese ursprüngliche, aus arithmetischen Betrachtungen
allein gar nicht ableitbare Anschauung haben, so gewiß
ist es logische Spielerei, ein System von vier oder fünf
Dimensionen noch Raum zu nennen. Gegen alle solche
Versuche muß man sich wehren; sie sind Launen der
Wissenschaft, die durch völlig nutzlose Paradoxie das ge-
wöhnliche Bewußtsein einschüchtern und über sein gutes
Recht in der Begrenzung der Begriffe täuschen.
173. Man begegnet eigenthümlichen und nicht überall
gleichartigen Verhältnissen, wenn man fragt, wie nun inner-
halb eines jener disparaten Inhalte A B und C die in ihm
zusammengehörigen Glieder zu einander stehen. Es ist bis-
her gelungen, die mannigfachen Arten des Geschmacks C
in eine befriedigende systematische Ordnung zu bringen;
aber der Weg, den die Sprache zu ihrer allerdings unvoll-
kommenen Bezeichnung einschlägt, scheint mir dennoch
der richtige: sie unterscheidet durch eigene Namen einige
feste Grundformen des Süßen |li, des Sauern v, des Bittern tt
und betrachtet die übrigen, das Sauersüße liv, das Bitter-
süße jLi:r, als Zusammensetzungen jener wohlcharakterisirten
Urgeschmäcke. Auf diese Bezeichnungsweise könnte unsere
Einbildungskraft nicht verfallen, wenn sie nicht durch den
unmittelbaren Eindruck angeleitet würde, denn Unterschiede
lassen sich da nicht machen, wo sie in dem Inhalt nicht
entweder vorhanden oder doch möglich sind. Jene Namen
nun setzen voraus, daß sie vorhanden sind, allerdings nicht
so, daß das Saure und das Süße als zwei unterschiedene
Gemengtheile des Sauersüßen so auseinander fallen, wie
sie es thun, wenn eines nach dem andern empfunden wird,
sondern in dem Sinne, in welchem wir Mischung der
Mengung entgegenzusetzen pflegen. Daß diese Mischung
hier möglich ist, daß also Sauer und Süß in einer nicht
wohl beschreiblichen, aber leicht fühlbaren Weise eine
218 Zweites Kapitel.
Einheit der Vorstellung bilden, die aus Süß und Roth nicht
entstehen könnte, unterscheidet das Verhalten der einzelnen
Geschmäcke zu einander von dem der unter sich disparaten
Gruppen ABC. Man kann nun einwenden, der Unter-
schied des Sauern und des Süßen sei im Sauersüßen nur
ein möglicher, nicht ein vorhandener; es könne leicht ein
dritter Eindruck cd, einfach an sich und keineswegs zu-
sammengesetzt, doch ein Mittelglied zwischen p, und v
bilden; um der doppelseitigen Aehnlichkeit willen, die er
mit diesen beiden zeigt, bezeichne ihn dann die Sprache
durch die beiden Grenzen jn und v, zwischen die er fällt,
ohne daß er darum aus der Mischung beider bestände.
Aber ich würde diesen Einwurf für triftig nur dann halten,
wenn in co außer seiner doppelten Aehnlichkeit mit |li und v
noch ein Rest vorhanden wäre, der für sich etwas bedeutete,
was aus der Zusammensetzung von ju, und v nicht be-
greiflich wäre; wo dies nicht der Fall ist, wird dieser dritte
Eindruck co nicht blos durch eine willkürliche und zufällige
Ansicht als eine Mischung jliv gedeutet werden, sondern in
der That nichts anderes sein. Jene Grundformen jii v :t
selbst aber und alle ihre Mischungen gehören zwar durch
das fühlbare Allgemeine der Schmeckbarkeit C zusammen;
aber innerhalb des Umfangs von C kann man sie doch nur
disparat gegen einander nennen. Wer nur das Süße
empfunden hätte, würde durch keine vorstellbare Modifi-
cation dessen, was er in ihm empfindet, die noch nicht
erfahrene Eigenthümlichkeit des Sauern oder des Bittern
entdecken können; es findet also kein Uebergang durch
selbständige Mittelglieder von |li zu v oder n statt, sondern
man muß diese drei vorher kennen, um durch verschieden-
artige Mischungen derselben die überleitenden Mittelglieder
erst zu erzeugen. Gleiche Verhältnisse finden sich bei
den Farben, und ich hatte früher schon Gelegenheit, die
Sprache zu rechtfertigen, wenn sie stets eine begrenzte
Anzahl von Grundfarben unterschied und die übrigen als
Mischungen zwischen sie einschaltete. Allerdings kann man
durch geschickt gewählte Mitteltinten das Auge stetig aus
dem Eindruck der einen Farbe in den einer andern hinüber-
leiten; aber aus dem Roth wird Orange oder Violet doch
nur durch eine Zumischung von Gelb oder Blau, die der
Vorstellung noch als solche fühlbar bleibt; von dem aber,
was Roth zu Roth macht, gibt es an sich keinen Ueber-
gang zu dem, was Blau zu Blau macht; wer nur jenes,
nicht aber dieses empfunden hätte, würde in der einfachen
Von der Begrenzung der Begriffe. 219
Natur des ersten nichts entdecken, was auf irgend eine Art
mpdificirt gesteigert oder vermindert von selbst zur Vor-
stellung des Blau führen könnte; man muß dies letztere
vorher schon kennen, um durch Mischung dieser beiden
Endglieder das Mittelglied des Violet zu finden. Auch die
Modificationen, dei:en jede einzelne Grundfarbe fähig ist,
sind in dieser Weise zu betrachten. Man hat unstreitig
Recht, hellblau und dunkelblau als Arten desselben Blau
zu betrachten, aber auch diese Arten entstehen durch
Mischung der immer sich selbst gleichen, unvermischt frei-
lich niemals sichtbaren Bläue mit Weiß oder Schwarz. Ich
wiederhole nur kurz die Bemerkung, daß alle bisherigen
Betrachtungen sich nur auf die empfundenen Inhalte be-
ziehen, nachdem die Empfindung in unserem Bewußtsein
entstanden ist, und daß sie nichts mit den physischen oder
psychischen Entstehungsbedingungen des Empfindungsactes
zu thun haben.
174. Wesentlich anders verhalten sich die Töne. Die
Vergleichung vieler läßt uns zunächst drei Prädicate sondern.
Der Eigenklang des tönenden Instrumentes, worauf er auch
immer physisch beruhen mag, ist für unsere Empfindung
eine einfache nicht weiter zerlegbare Eigenschaft, am meisten
dem Geschmacke vergleichbar. So groß auch die Neben-
wirkungen dieses Klanges auf unser Gemüth sein mögen,
die wesentliche Natur des Tones scheint er uns ebenso
wenig zu bestimmen, wie die zweite Eigenschaft, die der
Stärke; beide fassen wir nur als verschiedene Vortrags-
weisen desselben Tones, dessen unterscheidende Natur in
seiner Höhe liegt. In dieser dritten Rücksicht aber zerfallen
die Töne nicht wie die Farben in eine Anzahl discreter
Stufen, zwischen denen Uebergänge nur durch Mischung
möglich wären, sie bilden vielmehr eine stetige Reihe, in
welcher zwei von ginander entferntere Glieder sich nur
durch öftere Wiederholung derselben Differenz unter-
scheiden, durch welche zwei nah benachbarte von einander
sich sondern. Man kann keine Proportion aufstellen, nach
der sich Roth zu Blau verhielte, wie Gelb zu irgend einer
vierten Farbe; zwei Töne dagegen unterscheiden sich durch
ein angebbares Multiplum eines als Einheit angenommenen
Unterschiedes. Die Art dieses Unterschiedes selbst ist eigen-
thümlich genug ; wir würden nicht bildlich von höheren und
tieferen Töjaen sprechen, wenn nicht, ganz abgesehen natür-
lich von der Frequenz der Schallwellen, welche wir ja nicht
empfinden, in den Empfindungen selbst eine Steigerung des
220 Zweites Kapitel.
einen Tones über den anderen enthalten wäre; aber diese
quantitative Vorstellung läßt sich hier nicht wie sonst auf
einen von ihr unabhängigen qualitativen Inhalt beziehen;
der Ton d ist eben dadurch auch ein qualitativ anderer
als c, daß er das undefinirbare Allgemeine des Klingens,
das er mit diesem theilt, in jener eigenthümlichen Weise
gesteigert enthält, die wir nur mit dem glücklichen Bilde
der Höhe, in technischerem Ausdruck höchstens als quali-
tative Intensität bezeichnen können. Die Unterschiede der
Töne sind daher gleichartig und in Bezug auf ihre Weite
meßbar, was die der Farben nicht waren; die Mittelglieder
entstehen zwischen zwei Tönen nicht durch Mischung dieser
zwei, sondern sind, als vollkommen ebenbürtige Glieder
der Reihe, gleich selbständig und ursprünglich, wie die,
zwischen welche sie eingeschaltet gedacht werden. Die
ganze Reihe endlich ist unbegrenzt; zu den Farben, die wir
erfahrungsgemäß kennen, kann Niemand eine neue ersinnen,
die sich vorstellen ließe und etwa nur in unserer sinnlichen
Erfahrung nicht vorkäme; die Scala der Töne dagegen,
eben weil jeder aus dem vorigen durch eine fühlbar gleich-
artige Steigerung entsteht, läßt sich ins Unendliche fort-
setzen; es hat noch Sinn, von höheren oder tieferen Tönen
zu sprechen, als jemals in unsere Erfahrung fallen können,
denn wir haben hier, was wir bei dem Versuch, neue Farben
zu ersinnen, nicht haben würden : eine deutliche Vorstellung
davon, wie diese Töne sich ausnehmen müßten, wenn sie
hörbar wären.
175. Ziemlich Aehnliches gilt, mit einigen Abweichungen,
die ich dem Leser überlasse, von der Reihe der Wärme-
empfindungen; sie führt zugleich noch zu einem anderen
Verhalten. Das eigene Wärmebedürfniß des lebendigen
Körpers gibt verschiedenen Strecken dieser Reihe eigen-
thümliche Werthe; wir unterscheiden Kaltes Kühles Laues
AVarmes Heißes, und glauben mit jedem dieser Ausdrücke
etwas Bestimmtes zu meinen; aber nicht blos allgemein-
gültig würden wir die Grenze nicht angeben können, bei
der für Jeden das Kühle endigt und das Laue beginnt,
sondern auch, wenn wir nur unsere eigene Empfindung
befragen, müssen wir uns gestehen, daß wir nur mit einer
gewissen Willkür den einen oder den andern Namen wählen
würden. Man kann an diesen Gegensatz des Warmen und
des Kalten sowie der hohen und der tiefen Töne sogleich
eine große Anzahl anderer Vorstellungspaare anschließen,
deren Inhalt nicht ebenso unmittelbar aus sinnlicher Emp-
Von der Begrenzung der Begriffe. 221
findung entspringt: das Große und das Kleine, das Starke
und das Schwache, das Viele und das Wenige, das Alte
und das Junge, und zahlreiche ihres Gleichen. So ent-
schieden die beiden Glieder solcher Gegensätze wirklich
Entgegengesetztes meinen, so ist doch in keinem eine Grenze
zu finden, welche den Umfang des einen Gliedes von dem
des andern trennte, stetig und unmerklich gehen sie in
einander über. Die Richtungen dagegen, nach denen unser
Vorstellen diese Reihen von a bis z oder von z bis a
durchläuft, sind unzweideutig verschieden und theils einer
Definition fähig, theils wenigstens für die unmittelbare
Empfindung unvertauschbar. Es läßt sich nicht sagen, was
warm und was kalt ist, aber ganz unzweifelhaft ist, ob a
wärmer oder kälter als b ist, und zwar entscheidet in
diesem Fall die Empfindung, die beim Uebergang von a
zu b sich der entgegengesetzten Veränderung von derjenigen
bewußt wird, die sie beim Rückgang von b nach a erfährt;
es läßt sich auch nicht sagen, was groß und klein überr
haupt ist, aber ganz eindeutig ist die Behauptung, a sei
größer als b, und sie läßt sich dahin definiren, daß b von a
abgezogen einen positiven Rest h gibt. Es ist das Näm-
liche mit den übrigen Beispielen; sämmtlich aus der Ver-
gleichung verschiedener Fälle hervorgegangen, nicht aus
der Auffassung eines einzigen, bedeuten alle diese ad-
jectivischen Vorstellungen Beziehungen, die ohne Rücksicht
auf einen zweiten Beziehungspunkt keinen festen Werth
und Sinn haben. Der Positiv dieser Adjective ist daher
unbestimmt; nur ihr Comparativ ist eindeutig. Wo sie im
Gebrauche der lebendigen Rede als Positive vorkommen,
drücken sie aus, daß dem Bezeichneten der Comparativ
ihres Sinnes im Vergleich mit einem nicht ausgesprochenen
Maßstabe zukommt, der entweder nach subjectiver Schätzung
des Sprechenden oder nach allgemeiner Meinung die nor-
male oder die gewöhnliche Beschaffenheit des fraglichen
Gegenstandes bildet.
176. Noch eine Betrachtung knüpft sich an Töne und
Wärmeempfindungen. An sich vollkommen gleichwerthig
bieten die Töne keine Veranlassung, einige wenige von ihnen
als feste Punkte durch eigene Namen hervorzuheben und
vor den anderen zu bevorzugen. Aesthetische Bedürfnisse
aber regen den Wunsch an, die ganze Reihe zu gliedern.
Da nun die einfache Tonempfindung nicht definirbar ist,
so wird sie bestimmt durch die Angabe der Ursache, durch
welche sie in jedem Augenblick mit sich identisch erzeug-
222 Zweites Kapitel.
bar ist, durch die Frequenz der Schwingungen, von denen
sie abhängt. Aber keine Zahl hat einen Vorzug vor der
anderen, und da jedes Glied der Reihe auf dem genannten
Wege mit gleicher Leichtigkeit definirbar ist, so kommt es
in der That in der musikalischen Scala zu keinem absoluten
Anfangspunkte. Andere Verhältnisse, die harmonischen der
Töne, die ich hier trotz des auch logischen Interesses,
welches sie erwecken, übergehen muß, führen allerdings
zu einer Gliederung der Reihe in Octaven ; aber auch diese
Gliederung hat keinen festen Anfangspunkt, sondern kann
von jeder Tonhöhe aus beginnen. Die Wärmeempfindungen
gestatten eine so einfache Definition durch ihre Ursachen
nicht; man mußte sich an die beobachtbaren anderen Er-
folge ihrer unbekannten Ursache, an die Ausdehnung und
Zusammenziehung der Körper wenden. Als man nun den
Schmelzpunkt des Eises zum Ausgangspunkt auf- und ab-
steigender Temperaturgrade machte, war dies ein ganz will-
kürlich, obwohl sehr zweckmäßig gewählter Nullpunkt der
Bezeichnung; denn Flüssigkeit oder Starrheit des Wassers
bildet einen wichtigen Wendepunkt für die Gestaltung der
meteorischen und organischen Vorgänge, die uns umgeben.
Es war aber doch nur ein Nullpunkt der Bezeichnung, nicht
der bezeichneten Sache; von dem unbekannten Werthe x
an, den diese für den Schmelzpunkt des Eises hat, theilen
wir nur ihre positiven und negativen Zunahmen nach An-
zahlen einer für unsere Zwecke passend gewählten Grad-
einheit ein. Daher sind 12° nicht das Doppelte von 6",
aber zwischen 0°=:x und 12° = x-j-12Ax ist die Zu-
nahme der Wärme doppelt so groß, als zwischen O^^x
und 6°:=x-|-6Ax. An diesem einfachen Beispiele wollte
ich bemerklich machen, daß eine Gliederung und gesetzliche
Ordnung einer Reihe oder eines Systems mannigfacher In-
halte allerdings ohne eine entsprechende sachliche Gesetz-
lichkeit ihrer eigenen Beziehungen nicht möglich ist, daß
aber dennoch das Denken häufig eines durchaus willkür-
lich gewählten Ausgangspunktes und willkürlicher Maßstäbe
bedarf, um sich dieser immanenten Ordnung der Sache
fruchtbar zu bemächtigen; daß man endlich diese willkür-
liche Systematik, obwohl sie durch die Natur der Sache
zugelassen und in ihrer Anwendung gerechtfertigt wird,
doch nicht für eine in ihr selbst liegende Bestimmtheit an-
sehen darf.
177. Beispiele für diese Bemerkung bietet das praktische
Leben sehr viele. Es kommen hier Eiojenschaften in Be-
Von der Begrenzung der Begriffe. 223
tracht, die entweder an verschiedenen Personen oder Dingen
in sehr verschiedenen Größen haften oder, an einem und
demselben Subject, eine stetige Reihe von Größenwerthen
nach einander durchlaufen, so zwar, daß an diese Größen-
werthe ihnen proportionale Wirkungen geknüpft werden
sollten. Aber nur Naturwirkungen ändern sich stetig mit
ihren Bedingungen ; soll unser Handeln erst die Wirkungen
hervorbringen, so verbietet sich in der Regel die genaue
Befolgung der gewünschten Proportion um der Arbeit willen,
welche sie im Mißverhältniß zu dem erreichbaren Zwecke
erfordern würde. Man muß sich begnügen, gewisse Strecken
der ganzen Werthreihe der Bedingungen als einheitliche
Werthe zu betrachten und an sie eine gleiche mittlere
Größe der Wirkung zu knüpfen, welche zu groß für die
Anfangsglieder und zu klein für die Endglieder der Strecke
sein wird. So zerlegt man für Zwecke der Besteuerung
die Reihe der Vermögen von der völligen Armuth an bis
zu dem höchsten wahrscheinlich anzutreffenden Reichthum
in eine Anzahl von Klassen; so berechnet man nach Jahren
des Lebensalters oder doch nur nach größeren Theilen der-
selben den zur Erwerbung einer Lebensversicherung
nöthigen Beitrag; so hält die Berechnung der Zinsen bei
dem Tage als untheilbarer Einheit an. Es kann ferner vor-
kommen, daß eine wachsende Eigenschaft allmählich einen
Werth erreicht, an den der Eintritt bestimmter Wirkungen
gebunden sein soll, ohne daß doch der Augenblick angebbar
wäre, in welchem diese entscheidende Bedingung erfüllt
ist. Die körperliche und geistige Reife, die wir in den
Begriffen der Mündigkeit und Majorennität mitdenken, wird
von Verschiedenen gewiß in verschiedenen Lebensaltern
erreicht; aber nicht nur die unüberwindbare Weitläufigkeit,
auch nicht die Unzulässigkeit einer über den Gesammt-
werth der Person zu fällenden Censur, macht die Ermittelung
des wirklichen Zeitpunktes für jeden Einzelfall unmöglich;
während die ausgezeichneten Grade der Reife und Unreife
leicht erkennbar sind, fehlt es wirklich an einem unzwei-
deutigen Kennzeichen, welches in zweifelhaften Fällen eine
von der andern unterschiede. Gleichwohl verlangen die
Bedürfnisse des geselligen Lebens die Feststellung eines
bestimmten Zeitpunktes; die Gesetzgebung hat ihn daher
eigenmächtig zu bestimmen und sie knüpft an vollendete
Tage und Stunden den Beginn von Rechten und Pflichten,
zu denen sachlich allerdings die gestern noch fehlende Be-
fugniß oder Verbindlichkeit nicht über Nacht entstanden ist.
224 Zweites Kapitel.
Obgleich eigenmächtig, verfährt sie doch hier nicht grund-
los; der Spielraum ihrer Wahl beschränkt sich auf Be-
stimmungen, die der Natur des vorliegenden Verhältnisses
ohne angebbaren Unterschied der Genauigkeit entsprechen,
ihre Willkür auf die Bevorzugung der einen unter diesen
gleichberechtigten. Noch andere Fälle gibt es, in denen die
Natur der Sache, welche zur Aufstellung einer Bestimmung^
veranläßte, noch weniger einen genauen Maßstab für sie
darbot, dieser vielmehr nur in den anderweitigen Zwecken
lag, zu deren möglicher Erfüllung die fragliche Bestimmung
höthig wurde. Hierher gehören die Zeitfristen, innerhalb
deren die Bedingung einer zu erlangenden oder zu ver-
meidenden Rechtsfolge zu erfüllen ist; im Großen aller-
dings durch die erwähnte Rücksicht zweckmäßig bestimmt,
haben im übrigen diese Festsetzungen nur die logische
Pflicht der Unzweideutigkeit; ihr genügte die Vorzeit, in-
dem sie wichtige Fristen nicht nach ganzen größeren Zeit-
ieinheiten abmaß, sondern einen Bruchtheil derselben, den
Wochen eine Anzahl von Tagen, dem Tage einige Stunden
zugab; sie verengte dadurch den Zeitraum, innerhalb dessen
man, nach alltäglichem loserem Sprachgebrauch, der Vor-
schrift hätte zu genügen glauben können. Ebenso thun die
Behörden recht, wenn sie zur Verhütung von Ruhestörungen
die Anzahl der Personen, die für eine verbotene Zusammen-
rottung gelten sollen, authentisch auf drei oder fünf fest-
setzen und sich dadurch der Disputation entziehen, die schon
die antike Sophistik übte: wie viele Körner nöthig sind,
um einen Haufen, oder wie vieler Haare Verlust, um einen
Kahlkopf zu machen.
178. Ich kehre von dieser Abschweifung zurück. Ob
irgend ein Ton hoch oder tief, ob eine Flüssigkeit kalt oder
warm zu nennen sei, darüber streitet man nicht; an dem
Inhalt dieser Begriffe haftet kein Interesse, welches uns
zögern ließe, die oben erwähnte Relativität ihrer Be-
deutungen sofort zuzugestehen. Anders denken wir über
den Unterschied von gut und böse. Auf die Festigkeit
und Abgeschlossenheit dieser beiden Begriffe legen wir den
höchsten Werth; jede Handlung muß für sich allein, nicht
blos im Vergleich mit einer andern, unzweideutig in den
Umfang des einen fallen und aus dem Umfang des andern
ausgeschlossen sein; selbst daß es Gradunterschiede der
Güte im Guten und der Bosheit im Bösen gebe, hat man
leugnen zu müssen geglaubt, damit nicht die abnehmenden
Werthe beider zuletzt in einem Nullpunkt des Gleichgültigen
Von der Begrenzung der Begriffe. 225
zusammentreffen und so ein stetiger Uebergang zwischen
zwei Gegensätzen vermittelt werde, zwischen denen viel-
mehr jede Brücke abgebrochen sein soll. Aber diesem
logischen Rigorismus widerspricht durchaus das unbefangene
Urtheil, dem wir im Leben alle folgen. Denn Niemand
zweifelt wohl an Gradunterschieden der Bosheit und der
Güte; und daß keine Handlung gleichgültig sei, überredet
man uns erst, nachdem man den Begriff der Handlung
künstlich beschränkt hat. Es hilft aber in der That nichts,
der drohenden Vermischuiig des Guten und des Bösen durch
eine erste Eintheilung aller Handlungen in sittlich beurtheil-
bare und in sittlich unbeurtheilbare zuvorzukommen, um
dann desto sicherer die erste dieser Gruppen in die beiden
un vermittelbaren Gegensätze des Guten und des Bösen zu
vertheilen; der Zweifel ändert so nur den Ort, denn die
Frage geht nun darauf, wo die Grenzen zu ziehen sind
zwischen dem, was sittliche Beurtheilung herausfordert, und
dem was nicht; und diese Grenzen werden wieder durch
stetigen Uebergang des einen in das andere zu ver-
schwimmen scheinen. Nicht ebenso dringliches aber doch
lebhaftes Interesse hat für ästhetische Betrachtungen das
Verhältniß des Angenehmen zum Schönen und zum Guten.
Für eine unbefangene Auffassung ordnen sie sich, nicht
nur nach dem Werthe sondern auch nach der Bedeutung
ihrer Inhalte, in eine zusammenhängende Reihe; nicht so
zwar, daß durch einfache Steigerung das intensivste An-
genehme zum Schönen oder die höchste Schönheit zur
niedrigsten Stufe des Guten würde, aber doch so, daß es
qualitativ bestimmte Arten des Angenehmen gibt, die be-
ginnen ein Recht auf den Namen des Schönen zu haben,
und Formen der Schönheit, deren ästhetischer Eindruck
der sittlichen Billigung verwandt wird. Aber Moral und
Aesthetik sträuben sich gleichmäßig gegen dieses Zugeständ-
niß , sie halten das Schöne für verfälscht, wenn es mit dem
Guten, das Gute für erniedrigt, wenn es mit dem Schönen,
nnd vollends durch dieses hindurch mit dem Angenehmen,
irgend eine Gemeinschaft habe. Und in Bezug auf das
Schöne wenigstens hat auch hier die Leugnung jeder Grad-
abstufung nicht gefehlt; was einmal schön sei, sei durch-
aus schön, und man denke es eben nicht wahrhaft als
schön, wenn man zulasse, daß es ein Anderes gebe, welches
noch schöner sei.
179. Sehen wir uns zur Beurtheilung dieser Zweifel
nach anderen Beispielen um. Die Geometrie kennt von der
Lotze, Logik. 1,5
226 Zweites Kapitel.
geraden Linie, um der Natur derselben willen, allerdings
nur eine Art, an den Curven aber unterscheidet sie un-
zählige Grade der Krümmung von bestimmbarem Werth;
und so zwar, daß die gerade Linie selbst ihr als der äußerste
Grenzfall erscheint, dem sich die Curve bei immer zu-
nehmendem Wachsthum ihres Krümmungshalbmessers stetig
annähert. Ungeachtet dieses stetigen Ueberganges beharrt
dennoch die Geometrie nicht nur im Allgemeinen auf der
Behauptung, Krummes und Gerades sei entgegengesetzt und
unvereinbar, sondern auch in der Anwendung entsteht in
Bezug auf eine Linie, die man genau kennt, niemals ein
Zweifel; so nahe sie auch der Geraden liegen mag, sie
ist dennoch ganz unwidersprechlich krumm, so lange ihr
Krümmungsradius noch eine endliche Größe hat. Eine Curve
kann ferner eine Strecke ihres Verlaufes concav gegen eine
Axe sein, gegen die sie im weiteren Verlaufe convex wird;
erfährt sie diese Veränderung ihrer Richtung in stetigem
Zuge ohne discontinuirliche Spitze, so ist unzweifelhaft
ihre Tangente am Wendepunkt, mithin das Element der
Linie selbst, zu jener Axe parallel, also weder concav noch
convex; aber obgleich so beide Richtungen sichtlich in
einem Nullpunkt zusammenhängen, der keiner von ihnen
gehört, so wird doch durch ihn der Gegensatz ihrer Be-
deutungen nicht geändert, oder aufgehoben; diesseit dieses
Punktes bleibt die Linie nur concav, jenseit nur convex.
-Noch einfacher: zwischen 1 und 2 lassen sich unzählig©
Brüche einschalten, die von dem Werthe der 1 zu dem
der 2 hinüberführen ; zwischen Tageshelle und Nachtfinsterniß
lassen sich unzählige Abstufungen der Beleuchtung nicht
nur denken, sondern sie treten wirklich ein; zwischen
Wohlbefinden und Schmerz liegt eine stetige Reihe von
Gefühlen, die jenes mit diesem verbinden: aber darum
wird doch nicht 1 = 2, darum hört die Finsterniß und der
Schmerz nicht auf, der volle Gegensatz zu Licht und Wohl-
befinden zu sein; und zugleich sind die Glieder dieser
Gegensätze jedes für sich, auch außer Vergleich mit dem
anderen, etwas so Bestimmtes, daß Niemand das eine mit
dem anderen verwechselt. Diese Beispiele reichen zur Ver-
deutlichung des Satzes aus, daß die Existenz unzähliger
Gradabstufungen, durch welche die Inhalte zweier ent-
gegengesetzten Begriffe A und B in einem gemeinsamen
Nullpunkt zusammenstoßen, den Unterschied oder Gegensatz
dessen nicht aufhebt, was A und B an sich selbst bedeuten.
180. Wäre es daher der Siltenlehre gelungen, was ihr
Von der Begrenzimg der Begriffe. 227
Geschäft ist und nicht hier das unsrige, das was sie unter
dem Guten A und dem Bösen B meint, ebenso unzwei-
deutig zu bestimmen, wie die Geometrie definirt, was sie
unter convex und concav verstehen will, so hätte sie keinen
Grund, um die Festigkeit des Unterschiedes beider Begriffe
zu schützen, die Abstuf barkeit des Guten und des Bösen
und ihr Zusammentreffen am Gleichgültigen zu bestreiten.
Die specifischen Bedeutungen der allgemeinen Begriffe gut
und böse ändern sich nicht im geringsten deshalb, weil die
einzelnen Beispiele, von denen sie prädicirt werden, sich
mit verschiedener Intensität an dem Charakter des einen
oder des andern der Gegensätze betheiligen. Jener Null-
punkt aber des Gleichgültigen kann noch weniger zur Ver-
mischung beider beitragen, denn er findet ja nicht so statt,
daß beide in ihm, sondern so, daß keiner von beiden in
ihm gültig ist; er ist mithin nur ein Trennungspunkt, dies-
seit dessen unzweideutig nur das Gute, jenseit nur das
Böse liegt. Braucht nun die Abstufbarkeit beider Begriffs-
inhalte nicht um ihrer Festigkeit willen geleugnet zu werden,
so muß man anderseits darauf halten, daß sie ausdrücklich
zugestanden wird. Sie zu leugnen, die alte stoische Para-
doxie zu wiederholen, omnia peccata esse aequalia, oder
beständig zu predigen, auch der kleinste Irrthum sei nicht
Wahrheit, sondern ehen Irrthum und weiter nichts, dies
alles sind logische Langweiligkeiten, die, weil sie nur halbe
Wahrheiten enthalten, nach dem eben erwähnten Grundsatz
selber, Irrthümer und nichts weiter heißen könnten. Die
Carven sind nicht blos Curven schlechthin, so daß die
Grade ihrer Convexität oder Concavität sie blos nach einer
Nebenrücksicht unterschieden, welche nichts mit ihrem
Curvencharakter zu schaffen hätte, sondern die eine krumme
Linie ist wirklich krümmer als die andere, thut also dem
gemeinsamen Charakter beider in größerer Intensität Genüge.
Und ebenso wird die gute oder böse Gesinnung, aus der
eine Handlung entspringt, nicht blos nebenbei nach der
Wichtigkeit der Objecte, auf welche die letztere sich bezieht,
oder der Umstände, unter denen sie ausgeübt wird, sondern
nach dem Grade ihrer Bosheit oder Güte selbst meßbar
sein, denn sie ist keineswegs blos eine Form des Ver-
haltens, die überall gleich bleibt, sie ist selbst ein inneres
Thun, das nicht nur einen Grad der Intensität bedarf, um
den Anstoß zum Handeln überhaupt zu erzeugen oder die
Widerstände zu überwinden, sondern auch einen Grad des
Werthes hat je nach der Größe des Wohls oder Wehes,
15*
228 Zweites Kapitel.
auf dessen Erzeugung es sich absichtlich richtet. Auch der
Irrthum ist nicht blos Nichtwahrheit, denn das unterschiede
ihn nicht vom Zweifel, sondern er ist eine Abweichung
von ihr, und hat deshalb eine meßbare Größe, ohne die
er nicht denkbar ist; wer daher sein Denken auf wirkliche
Aufgaben richtet, wird nicht den Widersinn begehen, zwei
Annahmen gleich wegwerfend unter den Begriff der Irr-
thümer überhaupt zu verweisen, von denen die eine der
Wahrheit so fern steht, daß sie gar keine, die andere so
nahe, daß sie fast alle über ihren Gegenstand zu erwartende
Erkenntniß möglich macht.
181. Vielleicht könnte schon die Reihe des Angenehmen
Schönen und Guten, deren Ueberlegung ich übrigens dem
Leser überlasse, noch auf ein anderes Verhalten einer
Begriffsreihe führen, das ich zunächst durch ein geo-
metrisches Bild verdeutlichen will. Wir denken uns zwei
Körperräume, A und B, beide pyramidalisch von einer
Spitze beginnend, zu ähnlichen Querschnitten mit ver-
schiedener Beschleunigung anwachsen; schieben wir sie so
in einander, daß die Spitze eines jeden auf irgend einem
Punkt der Axe des andern liegt, so gehört die Ebene, welche
durch den Durchschnitt ihrer Oberflächen gelegt wird, so-
wohl zu der Reihe der Ebenen, deren Integral A ist, als
zu der Reihe der anderen, deren unendliche Folge B zu-
sammensetzt ; man kann sich ebenso einen dritten Körper C
vorstellen, der in gleicher Weise eine Ebene mit B ge-
meinsam hat. Das Wachsthumsgesetz jedes dieser Körper
läßt sich, bezogen auf die gemeinsame Axe aller drei und
auf die Lage ihrer Gipfel in derselben, durch je eine
Formel darstellen, welche wir der Reihe nach den drei
allgemeinen Begriffen A oder B oder C zu vergleichen
hätten. Und dann würde sich zeigen, daß es in der Reihe
der einzelnen Beispiele von A ein bestimmtes gibt, das
zugleich der Forderung des Begriffes B genügt; daß also
für dieses Beispiel es zweifelhaft oder willkürlich wird,
ob es .dem Begriff A oder B unterzuordnen ist, nicht des-
halb, weil es keinem von beiden, sondern weil es vollständig
beiden zugleich genügt; über diesen Einzelfall hinaus aber
würden alle anderen Beispiele des A, alle jene übrigen
Ebenen, die durch die so zusammengesetzte Körperfigur
gelegt würden, ausschließlich entweder dem A oder dem B
angehören; Gleiches endlich fände statt in Bezug auf die B
und C gemeinsame Ebene. In diesen Fällen liegt es also
an der Natur der wesentlich verschiedenen Begriffe selbst.
Von der Begrenzung der Begriffe. 229
daß einzelne Glieder ihrer Artenreihe zweideutig werden
und an sich, ohne irgend eine Nebenrücksicht, z. B. auf
die Art ihrer Entstehung oder Entwicklung zu nehmen,
mit Sicherheit keinem dieser Begriffe ausschließlich zu^
gerechnet werden können, obgleich, abgesehen von diesen
Einzelfällen, die Verschiedenheit der Bedeutung jener Be-
griffe nicht zweifelhaft ist. So wie wir uns nun hier A B
und C durch Namen bezeichnet, mithin als Begriffe aus-
gedrückt, jene Sonderfälle aber namenlos gelassen dachten,
so kann die Sprache auch zu dem Umgekehrten veranlaßt
sein; sie kann Begriff M N 0 durch Namen fixiren, die
nur in Einzelfällen, welche wir etwa als ausgezeichnete
Punkte, als Maxima oder Minima, einer zusammenhängenden
Reihe versinnlichen könnten, ganz eindeutige von einander
völlig verschiedene Bedeutungen besitzen; dann wird es
umgekehrt in der Wahrnehmung und Erfahrung sehr viele
Inhalte geben, die jedenfalls ihren Platz zwischen, aber
auch nur zwischen zweien dieser Begriffe haben müssen,
vollständig dagegen keinem von ihnen entsprechen.
182. Als Beispiele, die auf dies letzte Verhalten zurück-
geführt werden können, dienen Begriffe zusammengesetzter
Bildung, welche die Sprache erzeugt hat, indem sie nicht
von einem, sondern von vielen Vergleichungsgesichtspunkten
zugleich ausging. Zweifellos stimmt dann mit einem solchen
Begriffe jedes Beispiel überein, welches in jeder dieser
Vergleichungsrücksichten an dem aus ihr entsprungenen
Merkmale des Allgemeinen theilhat; aber die Zugehörigkeit
zu dem Begriffe wird sehr zweideutig für viele andere
Beispiele, die von dem einen Gesichtspunkt aus ganz ent-
schieden ihm zuzurechnen sein würden, aber von einem
anderen zugleich mitgedachten aus gar nicht. In dem Be-
griffe der Krankheit haben sich auf diese Weise verschiedene
Gedanken gekreuzt. Gewiß ist sie vor allem eine Abweichung
des körperlichen Zustandes von einer als feststehend be-
trachteten Norm. Aber eine angeborene Mißbildung, die
von dem natürlichen Bau des Körpers sehr bedeutend ab-
weicht, mögen wir doch nicht Krankheit nennen, so lange
sie nicht auch die lebendigen Functionen der Organe be-
einträchtigt, und so lange sie, immer in derselben Weise
bestehend, keinen natürlichen Verlauf durch verschiedene
Stadien hat. Eine Wunde ändert Bau und Functionen immer
in irgend einem Grade, auch hat sie einen natürlichen
Verlauf; aber eine leichte nennen wir doch nicht Krankheit,
offenbar, weil sie weder Gefahr noch Unbrauchbarkeit des
230 Zweites Kapitel.
Körpers für wesentliche Lebenszwecke einschließt; eine
sehr schwere aber auch nicht, obwohl sie beides thut ;
sie ist zu plötzlich ganz und gar durch äußere Kräfte
entstanden, und wir bemerken jetzt, daß wir uns unter
Krankheit einen Zustand vorstellten, der zwar auf äußerliche
Veranlassung begonnen, aber seine bestimmte Form doch
nur durch die eigenthümlichen Wechselwirkungen der
inneren Kräfte angenommen hat. Eine solche Reaction
der inneren Kräfte gegen den äußeren Reiz bildet nun
jeder Schnupfen; aber auch ihn nennen wir Krankheit
doch kaum, so lange ihm das Moment der Gefahr fehlt;
und ebenso wie wir uns hier mit dem milderen Namen
des Unwohlseins helfen, sprechen wir auch von einer ge-
wissen Breite der Gesundheit, um in ihr eine Menge langsam
sich fortbildender Störungen unterzubringen, die mit einer
ursprünglichen Eigenthümlichkeit der körperlichen Con-
stitution zusammenhängen. Was nun hier Rechtens ist,
ist leicht zu sagen. Unmöglich ist in solchen Fällen eine
Definition, die mit wissenschaftlichen Bedürfnissen und mit
diesen Wunderlichkeiten des Sprachgebrauchs zugleich in
Einklang wäre; bedarf man einer Begriffsbestimmung, so
muß man sie, unbekümmert um den Sprachgebrauch, will-
kürlich festsetzen. In unserem Beispiel ist sie ziemlich
entbehrlich, denn die Pathologie kommt recht gut aus auch
ohne das allgemeine Wesen der Krankheit vorwurfslos
definirt zu haben; die Praxis vollends braucht logische
Allgemeinheiten nicht, aus denen keine Indicationen zum
Handeln fließen. Anders in anderen Fällen. Auch in dem
Begriff des Verbrechens durchkreuzen sich Rücksichten auf
Vorbedacht oder Uebereilung, auf den Grad der bösen Ab-
sicht, auf Versuch oder Vollendung, auf die Größe des
erzeugten Uebels; in dem Unterschiede des Kunsterzeug-
nisses von dem Produkt des Handwerks, in dem Verhältniß
der freien Nachbildung zur Copie finden sich ähnliche
Zweideutungen. Hier hat es mehr Werth, die Grenzen der
Begriffe zu bestimmen, da gesetzlich Vortheile und Nach-
theile sich unmittelbar an die Zugehörigkeit eines gegebenen
Falles zu dem einen von ihnen knüpfen; aber auch hier
wird man sie, zwar mit Berücksichtigung des Sprach-
gebrauchs, im Wesentlichen doch durch Satzung feststellen
müssen.
183. Selbstverständlich kann man jeden Begriff M
jedem beliebigen andern N gleichsetzen, wenn man den
Inhalt von N durch nähere Bestimmungen so umwandelt,
daß er =M ist. Hieraus entspringen vielerlei zufällige An-
Von der Begrenzung der Begriffe. 231
sichten oder Transformationen des Ausdrucks für dasselbe M,
welche wir später nützlich finden werden, um M bald dem
einen bald dem anderen Gesetz suhsumirbar zu machen,
aus dem eine neue Behauptung über M entspringen kann.
Eine Grenze des Erlaubten gibt es an sich für dies Ver-
fahren nicht, so lange das transformirte M wirklich das
ursprüngliche deckt, so lange also N = M. Man könnte selbst
ein Dreieck M dem Begriff des Vierecks N unterordnen,
mit der Nebenbestimmung freilich, daß eine der Viereck-
seiten bis zu Null abgenommen habe; so sehr dies Spielerei
scheint, so ist es doch nützlich zu verwenden; man kann
sehr anschaulich machen, wie jedesmal, wenn zwei Seiten,
die früher durch eine Zwischenseite getrennt waren, durch
das Verschwinden derselben mit ihren Endpunkten zu-
sammenstoßen, zwei rechte Winkel von der ganzen Winkel-
summe des Polygons, hier des Vierecks verloren gehen.
Diese Verwendung der Transformationen wird uns später
interessiren ; hier heben wir hervor, daß durch sie der
Unterschied der beiden so aufeinander zurückgeführten Be-
griffe natürlich nicht geändert wird. Das Viereck bleibt
vom Dreieck so verschieden, wie es immer war, nämlich
so, daß es eben seines wesentlichen Charakters entkleidet
werden muß, um jenem zugeordnet zu werden, und ebenso
wird jede andere Umänderung, die an N nöthig ist, um
daraus M zu machen, die Größe des bleibenden Unter-
schiedes beider Begriffe messen. Handelt es sich nicht,
wie in diesem Falle, um abstracte Gedankengebilde, sondern
um Wirklichkeiten, die in der That eine eigene Entstehung
haben, so ist der Werth solcher Transformationen sehr
gering; sie sind zunächst bloße Einfälle, deren Bedeutung
erst durch besondere Untersuchungen zu ermitteln ist. In
Gedanken kann man jede gegebene Krystallgestalt durch
willkürliches Abschnitzeln hier und da in jede beliebige
andere, in der bloßen Zeichnung die Figur des Krokodils
durch successive Aenderungen der Contouren in die eines
Vogels verwandeln, und aus jedem chemischen Element
kann man jedes andere ableiten, wenn man alle Coefficienten,
welche die allgemeinen physischen Eigenschaften in dem
einen haben, stetig in bestimmte andere Werthe übergehen
läßt. Durch solche Künste kann man nicht die Begriffe M
und N einander nähern, denn ihr Unterschied bleibt immer
so groß, wie die Summe der Schritte, die man vom einen
zum andern machen mußte; man kann aber auch nicht
die wirklichen Dinge, welche Beispiele dieser Begriffe sind,
hierdurch in einen Zusammenhang des möglichen Ueber-
232 Drittes Kapitel.
gehens in einander bringen. Dazu wäre der Nachweis
nöthig, daß die physischen Kräfte derjenigen Elemente,
die einen wirklichen Krystall von der Form M aufbauen,
an demselben Stoff auch ein Gleichgewicht der Lagerung
in der Form N möglich machen; oder daß das verkettete
System von Kräften, welches den Bildungstypus des
Krokodils vorzeichnet und physisch verwirklicht, überhaupt
durch andere natürliche Einwirkungen sich so verschieben
lasse, daß aus ihm die Gestalt des Vogels wirklich heraus-
wachsen kann, daß mit einem Worte in dem Zusammen-
hange der Wirklichkeit Triebe vorhanden sind, welche die
Umänderungen der Begriffsinhalte reaHsiren, die wir in
Gedanken und auf dem Papier willkürlich an ihnen vor-
nehmen können. Man erinnert sich, glücklicherweise als
eines überwundenen Irrthums, der wilden Willkür, mit
welcher man früher etymologisirend jedes Wort der einen
Sprache am Ende aus jedem beliebigen der andern ableitete;
jetzt ist die Warnung vor Aehnlichem in Bezug auf das
neuerwachte Bedürfniß nützlich, die Mannigfaltigkeit der
organischen Wesen, mit Aufhebung aller festen Artunter-
schiede, aus einander entstanden zu denken. Jedenfalls
hat indessen Darwin's Versuch, gleichviel ob zulänglich
oder nicht, sich wenigstens eifrig darum bemüht, die wirk-
lichen Vorgänge aufzuweisen, durch welche die denkbare
Verwandlung der einen organischen Form in die andere
realisirt worden sein mag.
Drittes Kapitel.
Schematische Anordnungen und Bezeichnung
der Begriffe.
184. Ich setze in diesem Abschnitt von etwas ver-
ändertem Gesichtspunkt aus die Betrachtungen des vorigen
fort. Die Weite und die Bedeutung des Unterschiedes
mehrerer Vorstellungsinhalte war nur dann einer näheren
Bestimmung fähig, wenn wir Gelegenheit fanden, mehrere
gleichartige Unterschiede unter einander zu vergleichen,
wenn also die verglichenen Inhalte selbst Reihen bildeten,
deren Glieder nach einem mehr oder minder genau aus-
drückbaren Gesetze fortschritten, und wenn außerdem das
fühlbar Allgemeine, dessen quantitativ und qualitativ ver-
schiedene Modificationen diese Glieder darstellten, nur in
einer und derselben Richtung solche Abwandlungen ge-
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 233
stattete. Zusammengesetzte Begriffe, sei es von Dingen
oder von Eigenschaften, Verhältnissen oder Ereignissen,
lassen sich wegen der Vielheit einander determinirender
Merkmale oder Beziehungspunkte, welche sie einschließen,
nach mancherlei Richtungen hin verändern, theils dadurch,
daß die Merkmale und die Beziehungspunkte, einzeln oder
einige oder alle, die verschiedenen Beschaffenheiten an-
nehmen, deren sie fähig sind, theils dadurch, daß die
zwischen ihnen obwaltenden Determinationen die verschie-
denen möglichen Werthe der Lockerheit oder Engigkeit
und die Formänderungen durchlaufen, denen sie ihrer Natur
nach unterworfen sind. Nun hindert nichts, daß öfters der
Werth und die Weite des Unterschiedes zwischen zwei
so entstandenen Begriffen M und N uns durch unmittel-
baren Eindruck mit dem Grade der Sicherheit deutlich sei,
den wir in dem fraglichen Falle wünschen müssen; hätten
wir jedoch ein wissenschaftliches Interesse an genauerer
Bestimmung, so würden wir die Werthe der verschiedenen
Scalen, nach denen die einzelnen Unterschiede stattfinden,
und aus ihnen den Werth der Gesammtveränderung be-
stimmen müssen, welche M von N oder N von 0 trennt.
Man wird geneigt sein, schon hier einzuwerfen, daß wir,
in den meisten Fällen wenigstens, die Bedeutung einer
Scala, nach welcher die Veränderung eines Begriffsinhaltes
stattgefunden hat, vielmehr umgekehrt nach der Größe der
Umwandlung schätzen, welche diese Veränderung in dem
unmittelbaren Totaleindruck hervorgebracht hat; diese Ein-
wendung kann ich zugeben, ohne sie weiter zu berück-
sichtigen; denn was ich hier erläutern will, ist nicht eine
logische Regel, sondern ein Hang unseres Gedankenganges,
der weit mehr einzuschränken als zu befriedigen sein wird,
der aber um seiner Unaustilgbarkeit willen eine besondere
Berücksichtigung verlangt. Man begreift nämlich leicht, wie
aus jener obenerwähnten Aufgabe der Wunsch entstehen
kann, ein allgemeines Schema zu besitzen, in welchem
nicht nur alle denkbaren modificablen Beziehungen ver-
schiedener Elemente, sondern auch die Werthe der Unter-
schiede je zweier Modificationen dergestalt festgestellt
wären, daß jeden zwei Begriffen M und N der bestimmte
Unterschiedswerth oder zugleich Verwandtschaftswerth zu-
käme, welcher an den von ihnen eingenommenen Stellen
des allgemeinen Schema haftet.
185. Ich gehe zunächst zur Erläuterung auf eine Er-
scheinung des ältesten Alterthums zurück, auf Py thagoras.
Aus den spärlichen und großentheils wenig glaubwürdigen
234 Drittes Kapitel.
Quellen, die wir besitzen, ein sicheres Lehrgebäude pytha-
goreischer Philosophie wieder aufzubauen unternehme ich
nicht; aber den Grundgedanken, der sie belebt haben kann,
und von dem begreiflich ist, daß er eine "ebenso lang-
dauernde als in ihren Aeußerungen oft verkehrte Theil-
nahme erregt hat, glaube ich angeben zu können. Die
Hinneigung der Schule theils zu abstract mathematischen
Untersuchungen theils zur Anwendung derselben auf Natur-
vorgänge ist hinlänglich gewiß ; die erste Richtung der
Studien mußte auf die Vorstellung der Zahlenreihe und
der Gestaltenwelt als zweier großen gesetzlich in sich selbst
zusammenhängenden Ganzen führen, und noch überdies
die Abhängigkeit der räumlichen Gebilde selbst von den
in sie eingegangenen Zahlengrößen lehren ; die andere Rich-
timg hat, neben uns weniger bekannten Erfolgen, zur Auf-
findung des Verhältnisses zwischen der gehörten Tonhöhe
und der Länge der schwingenden Saite geführt und damit
sicher den allgemeinen Gedanken rege gemacht, daß auch
Erscheinungen, deren Verschiedenheiten von uns zunächst
als qualitative empfunden werden, auf mathematischen Ver-
schiedenheiten vergleichbarer Bedingungen beruhen. Zu
schrankenloser Verallgemeinerung so gefundener Ergebnisse
neigt menschliche Einbildungskraft ohnehin ; für den mathe-
matisch gebildeten Pythagoreer kam die Erwägung hinzu,
wenn einmal einer Reihe von Größenveränderungen eine
Veränderungsreihe von Erscheinungen entspreche, so werde
auch keinem anderen denkbaren mathematischen Verhält-
nisse und seinen Modificationen das entsprechende Gegen-
bild in der Erscheinung fehlen, oder umgekehrt: wenn
eine Gruppe von Erscheinungen sich auf Größenbestim-
mungen gründe, so werde der Zusammenhang aller Natur-
vorgänge unter einander auch die übrigen Erscheinungen
zu gleichartiger Abhängigkeit von mathematisch bestimm-
baren Gründen nöthigen. So denken wir uns das philo-
sophische Unternehmen entstanden, dem Aristoteles den
Ausdruck gibt, Pythagoras habe die Principien der Zahlen
für die Principien der Dinge gehalten; aber den Sinn dieses
Ausdrucks selbst haben wir noch weiter zu überlegen.
Die Absicht der pythagoreischen Philosophie ging gewiß
nicht blos darauf, worauf sie nach dem anderen Spruche
ihres Urhebers, Gott habe alles nach Maß und Zahl ge-
ordnet, gerichtet scheinen kann; nicht auf eine bloße An-
wendung der Mathematik auf die Natur in der Art, daß
e])en nur die Größenbestimmtheiten der natürlichen Kräfte
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 235
und Ereignisse im Falle ihres Wechselwirkens nach dem-
selben mathematischen Rechte einander modificiren, das
für Größen überhaupt gilt; vielmehr diese Data selbst,
auf welche unsere mathematische Physik nur Anwendungen
der Mathematik macht, erschienen dem Pythagoras als selbst
schon ein System bildend, dessen innere Gliederung nach
denselben Verhältnissen entworfen ist, nach denen die
Glieder der Zahlenreihe gebildet sind oder sich zusammen-
setzen können. Ich unterscheide in dieser Ansicht einen
allgemeinen Gedanken und seine besondere Ausprägung.
186. Die sogenannte Naturphilosophie der Jonier war
damit beschäftigt gewesen, die Bildung und Rückbildung
der Naturkörper aus ihrem Urstoff und in ihn zu be-
schreiben; da sie sehr allgemein dazu Vorstellungen von
Verdichtung und Verdünnung brauchte, kann sie, um dieser
quantitativ bestimmten Hülfsmittel willen, der pytha-
gorischen Auffassung schon verwandt scheinen. Sie ist
ihr dennoch sehr fremd; denn nirgends findet sich in ihr
ein ausgesprochenes Interesse dafür, daß die Summe dessen,
was auf diese Weise entstand, in irgend einem Augenblicke
seines Bestehens oder in der Reihenfolge seines Werdens
ein zusammengehöriges Ganze bilde, dessen Theile ein-
ander fordern. Pythagoras hingegen scheint sich sehr wenig
um diese Entstehung der Welt gekümmert zu haben, aber
so wie sie bestand, nachdem sie entstanden war, galt sie
ihm für ein System, dessen Theile nicht blos neben einander
da waren, sondern in dem eine Lücke gewesen wäre, wenn
während des Bestandes der einen Erscheinung die Wirklich-
keit der anderen gefehlt hätte. Wenn es in der Wirklichkeit
a b und d gibt, so ist c, falls es da ist, nicht blos auch
da, sondern es ist da, weil es von dem Gesetze, nach
welchem die Reihe ab . . bis d fortschreitet, als nicht fehlen
könnendes drittes Glied zu dem vierten d gefordert wird;
oder falls c nicht ist, so ist es nicht blos thatsächlich nicht,
sondern weil das Bildungsgesetz jener Reihe die Möglichkeit
dieses dritten Gliedes vor d ausschließt. Dieselbe Betrach-
tung würde sich auf andere Reihen des Wirklichen, auf
aßyb und aBcb, anwenden lassen, und diese Anwendung
ist von der pythagoreischen Philosophie gemacht worden.
Welches Verhältniß sie zwischen den verschiedenen Cha-
rakteren dieser Reihen angenommen haben mag, die ich
durch die verschiedenen Alphabete andeuten wollte, wissen
wir allerdings nicht, und seTir wahrscheinlich würden uns
darüber, wie Aristoteles merken läßt, auch die vollständig-
236 Drittes Kapitel.
sten Quellen nicht belehren; was aber das Gesetz betrifft,
welches in jeder dieser Reihen die gleichartigen Glieder
unter einander verbindet, so scheint unzweifelhaft, daß
dies eben als dasselbe identische für alle diese Reihen
angesehen, daß also ein allgemeiner Parallelismus des Ver-
haltens in den verschiedenen Gruppen zusammengehöriger
Erscheinungen behauptet wurde. Dies zeigt sich in der
Erfindung einer unsichtbaren Gegenerde, um die Zahl der
damals bekannten Planeten auf jene Zehn zu bringen,
der einmal die arithmetische Mystik des Systems eine be-
sondere Bedeutung beigelegt hatte, in der Annahme eines
fünften Elements, das mit Wasser Erde Feuer und Luft
den fünf regelmäßigen Körpern Tetraeder Würfel Octaeder
Dodekaeder und Ikosaeder entsprechen sollte, in dem Ver-
suche ferner, die Entfernungen der Planeten nach musi-
kalischen Intervallen geordnet zu denken, selbst in der
ärmlichen Form der Tafeln von Gegensätzen, die für unser
Verständniß freilich nur das häufige Vorkommen des Gegen-
satzverhältnisses selbst an willkürlich zusammengestellten
Begriffspaaren versinnlichen, aber durch die Zehnzahl der
Paare anzudeuten scheinen, daß sie für alle verschieden-
werthigen Stufen einer zehngliedrigen Reihe dies Ver-
hältniß als wesentlich darstellen wollten. Endlich, wenn
der Zahl Sechs das Belebtsein, der Sieben die Intelligenz
und das Licht, der Acht die Freundschaft zugeordnet wurde,
so geht daraus hervor, daß nicht blos die Erscheinungen
der äußeren Natur, sondern auch die des geistigen Lebens,
daß überhaupt alles Denkbare als geordnet nach demselben
Reihengesetze betrachtet wurde. So hat diese Philosophie
ganz dasselbe gesucht und glaubte es gefunden zu haben,
was wir oben aussprachen : ein allgemeines Schema, welches,
vom Einfachen zu Verwickeltem aufsteigend, die Summe
möglicher Bildungen zu umfassen dachte, deren eine jedem
Wirklichen als Muster seiner eigenen dienen mußte, und
das zugleich diese Vorbilder so in eine Reihe ordnete,
daß jedem Wirklichen durch die Stelle seines Vorbildes
in ihr seine eigene Bedeutung und die Größe seines Unter-
schiedes oder seiner Verwandtschaft mit den anderen
Dingen, den Nachbildern anderer Reihenglieder, zukam.
Dies scheint mir der allgemeine Gedanke, den ich der
pythagoreischen Philosophie zueigne : nicht blos eine gleich-
sam später gestiftete Anordnung von Dingen, deren Wesen
ursprünglich ohne Rücksicht auf das Princip dieser Ordnung
gegeben gewesen wäre, sondern eine Harmonie des Kosmos,
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 237
— mit diesem Namen bezeichnete zuerst Pythagoras die
Welt, — begründet darauf, daß alle Dinge von Anfang an nur
verschiedene Verwirklichungen einer Reihe von Typen waren,
welche ein allgemeingültiges Entwicklungsgesetz bestimmte.
187. Die specielle Ausprägung dieses Gedankens ist
weit hinter der unleugbaren Großartigkeit seines allgemeinen
Sinnes zurückgeblieben. Auch die Mathematik der Gegen-
wart, so vielförmig die Größenverhältnisse sind, deren
interessante Wechselbeziehungen sie in Betracht gezogen
hat, würde nicht im Stande sein, in diesen ausreichende
Vorbilder oder Symbole oder abstracte Ausdrücke der
mannigfacheren Verhältnisse zu finden, die zwischen den
Elementen des Wirklichen und den aus ihnen entspringen-
den Combinationen bestehen; die antike Arithmetik aber,
zu deren Ausbildung die pythagorische Schule beigetragen
zu haben scheint, fand in ihrer Kenntniß der Zahlenreihe
nur sehr wenige und ärmliche Beziehungen auf, deren
Werth man sehr überhöhen und schon ziemlich willkürlich
deuten mußte, um sie als dieselben ansehen zu können,
auf welche die Bildungen des Wirklichen gegründet seien.
Die Beobachtungen, daß alle Zahlen aus vielfacher Wieder-
holung der Einheit entstehen, daß in ihrer Reihe die durch
das Princip der Vielheit, die Zweizahl, untheilbaren und
darum vornehmer geachteten ungeraden abwechseln mit
den geraden, daß die erste Einheit des Geraden und des
Ungeraden die Drei, die erste Quadratzahl einer Mehrheit
die Vier, die Summe dieser ausgezeichneten vier ersten
Zahlen die Zehn ist, konnten eigentlich nur für eine Sym-
bolik, der jedes interessante Motiv recht ist auch ohne
Rücksicht auf den Zusammenhang mit anderen, die bekannte
Verehrung der Zehnzahl rechtfertigen, zu der ohne Zweifel
in der Gewöhnung an das dekadische Zahlensystem der
eigentlich wirksame Grund lag. Hätte diese Speculation
alle die algebraischen und transscendenten Functionsformen
gekannt, mit denen jetzt die Mathematik wirthschaftet, wie
viel reicher würde die Mannigfaltigkeit der Symbole ge-
wesen sein, die sie den einzelnen Erscheinungen, mit viel
feinerer Anschmiegung an die Natur derselben, hätte zu-
ordnen können ! , Sind wir doch jetzt noch geneigt, auch da,
wo keine eigentliche Rechnung möglich ist, den Namen
der Potenz für eigenthümliche Steigerungen der Bedeutung
und Wichtigkeit zu brauchen, die ein Begriffsinhalt erfährt,
wenn etwa jeder der Beziehungspunkte, in deren gegen-
seitiger Determination sein Sinn besteht, zu einem kleinen
238 Drittes Kapitel.
Systeme sich vervielfältigt, zwischen dessen Gliedern die-
selbe Determination besteht, welche das Ganze beherrscht;
und wie sehr hätten manche Abhängigkeitsverhältnisse ver-
schiedener Elemente durch die Relation eines Logarithmen
zu seiner Zahl, alle periodischen Regelmäßigkeiten durch
Anwendung trigonometrischer Functionen verdeutlicht
werden können 1 Da dieser Reichthum fehlte, der doch
auch uns noch nicht genügen würde, so hat es gar keinen
Werth, im Einzelnen die Sinnigkeit der pythagoreischen
Symbole zu untersuchen.
188. Die auseinandergehenden Deutungen aber und die
Mißverständnisse, denen die ganze Ansicht unterlag, lassen
sich leicht aus ihr selbst begreifen. Nach der einen
Aeußerung des Aristoteles waren es die Principien der
Zahlen, die Pythagoras den Principien der Dinge gleich-
setzte. Dies ist uns völlig verständlich; unter jenen Prin-
cipien der Zahlen waren die Reziehungen der Einheit zur
Vielheit, die Wiederholbarkeit der ersten, die Theilbarkeit
oder Untheilbarkeit der anderen, überhaupt die Möglichkeit
zu verstehen, durch Renutzung dieser immer gleichen Ver-
hältnissen und Operationen die ganze Zahlenreihe zu er-
zeugen, oder, wie wir sagen würden, jede Zahl als Function
anderer Zahlen darzustellen; dieses innere Gefüge sollten
die Dinge auch haben, nach denselben Principien auch
ihre Reihen so geordnet sein, daß die Natur des einen
sich als eine Function der Natur der anderen darstellen
ließe. Aber Aristoteles behauptet auch mit Anderen, die
Zahlen selbst habe die pythagoreische Schule für Dinge,
jedenfalls die Dinge für Zahlen erklärt. Auch dies ist gar
nicht unbegreiflich für den, der den Gang philosophischer
Gedanken und die Gewohnheiten des Ausdrucks für sie
kennt. Ris zu gewissem Grade hätten die Pythagoreer
sogar mit dieser Rehauptung Recht gehabt, und eben daraus
ist zu vermuthen, daß sie sie wirklich ausgesprochen haben;
denn, wie erwähnt, eine bloße Anwendung der Zahlen
auf Größenbestimmungen von Dingen, deren eigentliches
Wesen von diesen Restimmungen noch unabhängig wäre,
sowie es etwa ähnliche Dreiecke von den verschiedensten
Größen gibt, wollten sie keineswegs machen; ihre Zahlen
sollten das bedeuten, wodurch sich das Wesentliche eines
Dinges von dem Wesentlichen eines anderen unterscheidet;
a war a, weil es seinen Inhalt in der Functionsform a
oder nach dem Rildungsgesetz a der einen Symbolzahl zu-
sammenfaßte, und unterschied sich hierdurch von b, das b
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 239
war, weil es dem Bildungsgesetze ß einer anderen folgte.
Man konnte daher, mit einem nachher zu erwähnenden
Vorbehalt, allerdings sagen, das Wesen eines Dinges, näm-
lich das Wesen in dem Sinne dessen, wodurch eines vom
anderen sich unterscheidet, bestehe in der ihm immanenten.
Zahl. Die andere Behauptung, das Wesen der Dinge, nämlich
das, wodurch sie sämmtlich Dinge sind, oder ihre Realität,
bestehe in diesen Zahlen, oder die Zahlen seien das Reale,
hat vielleicht die Schule positiv so nicht ausgesprochen;
that sie es aber, so konnte sie den letzteren Ausdruck
freilich nicht rechtfertigen, den ersten aber allerdings ; denn
wenn es nichts wirklich gibt, dessen Wesen nicht durch
eine jener Symbolzahlen bestimmt ist, so sind die Zahlen
allerdings die conditio sine qua non jeder Realität; sie für
mehr zu halten und sie selbst Reales zu nennen, ist eine
Ueberspannung des Ausdrucks, von der wir später sehen
werden, wie sehr nahe sie dem philosophischen Gedanken-
laufe aller Zeiten gelegen hat. Eine große Unvollkommenheit
bleibt zurück, die wir schon erwähnten. Dieselbe typische
Zahlenreihe soll sich in sehr vielen parallelen Reihen des
Wirklichen, in abcd, aß^b, aBcb wiederholen; wie unter-
scheiden sich nun die Glieder b ß b von einander, wenn
das ganze Wesen jedes von ihnen durch dieselbe Symbolzahl
erschöpft wird? Hierauf ist keine Antwort möglich; an
diesem Punkte wird die Theorie, welche das Wesen der
Dinge ganz zu umfassen dachte, doch wieder zu einer
Anwendung einer allgemeinen Regel der Bildung auf ver-
schiedene Fälle, deren charakteristische Unterschiede als
gegebene zu betrachten sind; aber eben hierdurch ist sie
ganz das, zu dessen Verdeutlichung wir sie benutzen wollten :
der Versuch, ein allgemeines Schema für die Beziehungen
Verwandtschaften und Unterschiede aller beliebigen even-
tuell in Frage kommenden Inhaltsgruppen aufzustellen.
189. Ich rechtfertige die Ausführlichkeit dieser Be-
trachtung durch Hinweis auf die außerordentliche Zähigkeit,
mit der sich die Vorliebe für diese Schematisirung alles
Denkinhaltes durch den Lauf der Zeiten hindurch erhalten
hat. Zuerst in dieser Form der mystischen Zahlenspeculation
selbst; über diese Bestrebungen können wir flüchtig hinweg-
gehen; da ihnen das Interessante und Ueberraschende,
übrigens aber Sinnlose genügte, so waren sie eigentlich
immer nur auf der Suche nach einer geheimen Wahrheit,
die sie nie fanden, und es gehörte stets viel guter Wille
dazu, in den Symbolen den Sinn, den man in sie legte^
240 Drittes Kapitel.
irgendwie besser ausgedrückt zu sehen, als es ohne Symbol
auch geschehen konnte. Dann ist man nach verschiedenen
Richtungen hin von der blos arithmetischen Basis der
Träumerei abgegangen. Zuerst hat fast regelmäßig jedes
bedeutende Verhältniß zwischen wichtigen Beziehungs-
punkten, dem die fortschreitende Wissenschaft auf die Spur
gekommen war, sich zum Schema für die Gliederung des
ganzen Weltinhaltes ausgedehnt. Lange fand man den
Habitus der antiken vier Elemente in allen Dingen wieder,
und die mystische Bedeutung dieser Vierzahl wurde später
nur auf die neuentdeckten Grundstoffe der Organismen,
Kohlenstoff Wasserstoff Sauerstoff und Stickstoff über-
tragen; sie stimmte vortrefflich mit den vier Himmels-
gegenden, denn Zenith und Nadir fallen ja außer die natür-
liche Visirlinie unseres Blickes; sie stimmte ebenso mit
den vier Jahreszeiten der gemäßigten Zone, in welcher
diese Speculationen geübt wurden, und mit den vier un-
erläßlichen Casus der Declination; später kam mit der
Vollendung der astronomischen Theorie der Gegensatz
zwischen centripetalen und centrifugalen Bestrebungen in
die Vorstellungen aller Dinge und verschmolz mit dem
Gegensatze der Geschlechter und dem Verhältniß zwischen
Säure und Alkali; Magnetismus und Elektricität führten
das Schema der Polarität fast noch weiter in die Betrachtung
alles Denkbaren ein. Entgegengesetzte Bestrebungen gingen
von dem richtigen Gedanken aus, daß auch die Zahlen-
verhältnisse, zum Theil wenigstens, nur Beispiele noch
abstracterer Grundbeziehungen seien; diese müsse man
aufsuchen und werde sie finden, wenn man die Operationen
überlege, durch welche unser Vorstellen eben die Vor-
stellungen aller Inhalte zu Stande bringe. Nun entsteht
mindestens jede zusammengesetzte Vorstellung dadurch, daß
man ein a setzt, ein b von ihm unterscheidet oder ihm
entgegensetzt, beide endlich in eine Beziehung c bringt;
so gilt nun Thesis Antithesis und Synthesis als das Schema
der Bildung alles Wirkhchen und als Rhythmus der An-
ordnung seiner Betrachtung; man sieht aber leicht, daß
diese Symbole, je abstracter sie gefaßt werden, desto mehr
in notiones communes übergehen, die zwar ziemlich von
Allem gelten, aber über Nichts Aufschluß geben. Diesem
ganzen Wirrwarr tritt nun die Logik mit der Anforderung
entgegen, jeder Inhalt sei lediglich nach seiner eigenen
Natur zu betrachten, einzutheilen und zu untersuchen;
es gebe kein verwendbares allgemeines Schema, und die
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe, 241
Benutzung grundlos ausgedachter Schablonen könne nur
der unparteiischen Aufsuchung der Wahrheit Gewalt anthun.
190. An diesem Verwerfungsurtheil ist nichts abzu-
brechen, und einige Bemerkungen, die ich noch machen
will, haben nicht diesen Zweck. Wenn uns der Inhalt M
eines Begriffs einer Vorstellung oder einer Anschauung so
gegeben ist, daß er irgend eine Mehrheit von Merkmalen
Theilen oder Beziehungspunkten in der Form \x vereinigt,
so ist es eine ganz gerechtfertigte wissenschaftliche Neu-
gier, erfahren zu wollen, wie sich seine Beispiele verhalten
oder verändern und unterscheiden werden, wenn man ent-
weder die Theile des Inhalts allein oder zugleich die all-
gemeine Verbindungsform [x, innerhalb der zulässigen
Grenzen ihrer Veränderlichkeit variirt. Bleiben wir zu-
nächst bei der ersten Aenderungsart, so wird es uns
meistens wenig interessiren, alle Arten von M zu ent-
wickeln, die durch verschiedene Größenwerthe von Merk-
malen entstehen, denn sie werden, im Allgemeinen wenig-
stens, einander ähnlich sein und dasselbe nur in ver-
schiedenem Maßstabe wiederholen. Ist aber eines von
diesen Merkmalen m von der Beschaffenheit, daß für das-
selbe der Gegensatz des Negativen zum Positiven einen an-
gebbaren und anschaulichen Sinn hat (sowie etwa rechts
und links, Attraction und Repulsion, Concavität und Con-
vexität, überhaupt Wachsthum über einen Nullpunkt hinaus
und Abnahme unter diesen Punkt hinab, einander gegen-
überstehen), so interessirt es uns lebhaft zu wissen, was
aus M wird, wenn man seinem Bildungsgesetz jetzt diesen
entgegengesetzten Anwendungspunkt — m anstatt -f-m gibt.
Nimmt man y=:fx als Gleichung einer krummen Linie, so
versäumt Niemand, successiv die positiven und negativen
Werthe von x einzusetzen, und nicht eher als bis man
die hieraus entspringenden Resultate vereinigt hat, glaubt
man die Natur der Curve M zu kennen, die sich der An-
schauung hier nicht als Allgemeines, sondern als das Ganze
darstellt, welches aus der Verkniipfung aller möglichen
Beispiele der allgemeinen Gleichung entsteht. Fällt uns
irgendwo, als künstlerisches Ornament vielleicht, eine nach
rechts und unten geschwungene Volute ins Auge, so emp-
findet unsere Einbildungskraft dasselbe Bedürfniß; auch
ohne mathematisch das Bildungsgesetz dieser Curve zu
kennen, begreifen wir doch, wegen der Gleichartigkeit der
Raumrichtungen, daß sie ganz mit gleichem, aber entgegen-
gesetztem Schwünge sich nach rechts und oben, und mit
Lotze, Logik. 16
242 Drittes Kapitel.
noch anderem Gegensatz links sich nach oben und untea
wiederholen könnte. Fehlen nun diese Fortsetzungen, zu
deren Vorstellung der gesehene Anfang anregt, ohne daß
in den Umgebungen ein erklärender Grund für diesen Mangel
sichtbar würde, so fühlen wir uns ästhetisch unbefriedigt;
aber dies Bedürfniß nach Symmetrie hat doch einen Grund
logischer Art. Es gehört zur Natur des Gesetzes, An-
wendung zu haben auf alle Variationen seiner Beziehungs-
punkte; darum liegt ein Widerspruch in der Anschauung,
welche den Gedanken des Gesetzes zugleich mit der Mög-
lichkeit seiner allgemeinen Geltung rege macht, und doch
nur einen Theil seiner Geltung wirklich sichtbar werden
läßt ; was hier in der Anschauung fehlt, scheint in der Sache
zu fehlen; wir suppliren es, um den grundlosen Mangel der
Allgemeingültigkeit zu heben. Ein ähnlicher Trieb be-
gleitet uns in die Betrachtung aller Begriffe. Ueberall, wo
in irgend einem M eines seiner Bestimmungsstücke zwischen
-fm und — m schwanken kann, was nur möglich ist durch
den Zwischenwerth m = o, überall da wird das Bild der
so entstehenden dreigliedrigen Eintheilung für uns ein
Schema, nach welchem wir die Untersuchung des ganzen
Umfangs von M beginnen. Dies nämlich muß hier, zum
Unterschied von den oben zurückgewiesenen Träumereien,
hervorgehoben werden, daß dieses Schema uns nichts als
eine Aufforderung zur Leitung der Untersuchung
sein kann, aber nicht anticipirend ein Bild des heraus-
kommenden Erfolges. Nicht überall, wie in dem Beispiele
unserer Volute, werden sich die Gegenstücke, die wir dort
erwarteten, finden lassen; es hängt von der Natur der Ver-
bindungsform jLi ab, ob M überhaupt noch mögliche Arten
liefert, wenn jenes -|-m in ihm in — m übergeht; noch
weniger ist vorherzusehen, ob und wie die so entstandenen
Arten den Unterschieden ihrer Bedingungen sich propor-
tional verhalten werden; nichts hindert die Möglichkeit, daß
für ein bestimmtes |Li dieser völlige Gegensatz von -{-Tn.
und — m ebenso völlig bedeutungslos ist. Man wird nun
ebenso |li durch alle seine möglichen Arten, die durch eine
vollständige Disjunction seines Begriffs gegeben werden,
variiren lassen; man wird für bloße Größenzunahmen auch
hier nur eine Beihe ähnlicher Resultate, für jeden Wende-
punkt aber, an welchem jj, eine qualitativ andere Bedeutung
annimmt oder einen Sprung zu seinem Entgegengesetzten
macht, auch in dem von ihm abhängigen M das Auftreten
einer ganz neuen Bildung erwarten; man wird endlich für
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 243^
jedes ausgezeichnete Verhalten, welches man in einem
Sonderfalle von M gefunden, als Gegenstück ein gleich aus-
gezeichnetes Verhalten in einem auf ähnlichen Bedingungen
beruhenden Sonderfall eines ähnlich gebauten N erwarten,
wie man denn zu allem, was Lichtwellen begegnet, das
Entsprechende für Schallwellen sucht: aber alles dies bleibt
stets eine Frage an den Gegenstand, auf welche die Ant-
wort zu erwarten ist; sie kann der Erwartung völlig ent-
gegengesetzt ausfallen und muß hingenommen werden, wie
die Untersuchung sie gibt. Darin bestand aber die Täuschung
jener schematisirenden Tendenz, daß sie annahm, jede Stelle
eines als allgemein vorausgesetzten Schema werde bei jeder
Anwendung desselben auf einen beliebigen Stoff stets durch
eine bedeutungsvolle Gestalt desselben ausgefüllt werden,
niemals aber leer bleiben, und daß sie ferner hinzufügte-^
auch die Formen, mit denen wirklich die verschiedenen In-
halte, nach gleichem Rhythmus sich ändernd, dieselben Stelleö
des Schema füllen, würden durch hervorstechende Aehnlich-
keit oder Analogie ihres gesammten Habitus als zusammen-
gehörige, als verwandte oder als Gegenstücke, sich ankün-
digen. Wo dies nicht zutraf, lag dann die Versuchung nahe,
die Lücken durch grundlose Vermuthungen zu füllen und
die mangelnde Correspondenz entsprechender Glieder durch
sachwidrige Hervorhebung von Nebenzügen herzustellen.
191. Die moderne Zeit hat mehrere großartige Beispiele
schematischer Entwicklung des Weltinhaltes gesehen, welche
selbst einen wesentlichen Mangel der pythagorischen Auf-
fassung zu vermeiden schienen. An einem anderen Orte
(Geschichte der Aesthetik in Deutschland S. 176 ff.) habe
ich ausführlicher die Motive erläutert, die zur Ausbildung
der Hegelischen Dialektik, der bedeutendsten unter
diesen Bestrebungen, geführt haben; ich begnüge mich hier
mit wenigen Bemerkungen über ihren logischen Charakter.
Die pythagorische Art und Weise, unzählige parallele Ent-
wicklungsreihen verschiedener Inhalte neben einander vor-
zustellen, gab nicht Rechenschaft von den Unterschieden,
durch welche die correspondirenden Glieder verschiedener
Reihen, ungeachtet ihrer identischen Plätze in dem all-
gemeinen Schema, von einander getrennt sind. Das de^
kadische Zahlensystem, mit seinen aufsteigenden Potenzen
der Zehnzahl, hat hier doch nicht zu dem nahe liegenden
Versuche veranlaßt, jene Parallelreihen selbst wieder als
successive Perioden einer und derselben Hauptreihe zw
fassen, in ihrer innerlichen Structur einander gleich, aber
16*
244 Drittes Kapitel.
gleichsam durch die Höhe des Niveaus, auf dem sie diesen
Bau entfalten, einander so überbietend wie die Octaven der
musikalischen Scala. Die moderne Phantasie hat diesen
Mangel ergänzt; die Vielheit der Parallelen ist in eine
einzige Reihe zusammengezogen, bestehend aus formell
gleichgebauten Cyclen, deren jeder in seinem Endgliede den
charakteristisch neugeformten Anfangspunkt für die Ent-
wicklung des nächstfolgenden erzeugt. Ist es möglich, das
erste Glied der ganzen Reihe und das Formgesetz des
ersten Cyclus zu finden, so läßt sich für die Verschieden-
heiten der Inhalte, welche die Glieder der folgenden Perioden
bilden, ein Grund in der Länge des Abstandes vom Anfang
und in der Umformung finden, die das Anfangsglied bei
jedem Schritte dieses Weges erfahren hat. Man muß nun
Hegel als eine metaphysische Voraussetzung, über deren
Triftigkeit logisch gar nicht zu urtheilen ist, die Gewißheit
zugeben, daß der Weltinhalt nicht eine Summe neben ein-
ander bestehender Dinge und neben einander verlaufender
Ereignisse ist, jene so lange ruhig bestehend, bis sie von
außen zur Veränderung gereizt werden, diese in ihren
Wechselwirkungen und in ihrem Verlauf durch immer gel-
tende allgemeine Gesetze bestimmt; vielmehr ist alle Viel-
heit der Welt nur die rastlose Entwicklung eines nie ruhen-
den Einen, alle Ereignisse nur Stufen seiner Entwicklung
oder Nebenwirkungen derselben, die Dinge selbst entweder
vergängliche oder in jedem Augenblick neu entstehende Er-
scheinungen, deren ganzes Wesen in den thätigen Be-
wegungen jenes Einen besteht, die sich in ihnen als secun-
dären Subjecten seiner Entwicklung kreuzen und sammeln.
Ich mache mit dieser Bezeichnung des Hegelischen Stand-
punktes keinen Anspruch auf vorwurfslose Genauigkeit, die
für eine weitläufige Darstellung schwierig, für einen kurzen
Ausdruck unmöglich sein würde; aber das Gesagte reicht
hin, um begreiflich zu machen, daß innerhalb jedes dialek-
tischen Cyclus sich nicht verschiedene Gestaltungen von
etwa sich immer steigernder Bedeutung blos neben einander
befinden können, sondern jede folgende aus der voran-
gehenden hervorgehen muß; Entwicklung ist der Charakter
dieser Gliederung selbst.
192. Nun ist keine Entwicklung vorstellbar ohne eine
bestimmte Richtung, welche sie nimmt, im Unterschiede
von anderen, welche sie nicht nimmt; ebenso klar aber, daß
in diesem Falle am wenigsten diese Richtung dem sich ent-
wickelnden Einen von außen gegeben werden kann; sie
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 245
muß von seiner eigenen Natur abhängen. Aber hier findet
sich, daß für das volle Wesen dessen, was unter dem Namen
des Absoluten als der eine Weltgrund betrachtet wird, ein
genauer und erschöpfender Ausdruck nicht möglich ist, daß
vielmehr das, was wir mit ihm ahnungsvoll meinen, erst
durch die Entwicklung selbst uns offenbar, ja auch an
sich erst vollständig es selbst werden kann ; begreiflich dem
Wortlaut nach, denn da es nur Entwicklung ist, so kann
es nicht ganz schon es selbst sein, bevor es sich zu ent-
wickeln begonnen hat. Es bleibt daher nichts übrig, als
eben hieran anzuknüpfen, an die Erkenntniß, daß jenes
Absolute nicht Ruhe, sondern Entwicklung ist. Ganz gewiß
wird dann seine Entwicklung in derjenigen Richtung und
Form verlaufen müssen, die aus dem Begriff der Entwick-
lung selbst fließt und daher eigentlich in jedem Beispiele
dieses Begriffes wiederzufinden sein wird. Dies führt auf
sehr einfache Gedanken. Soll irgend ein A sich entwickeln,
so darf es nicht schon sein, wozu es sich erst entfalten soll;
es darf ebenso wenig nicht sein oder inhaltlos sein, so
wäre es ja nicht der bestimmende Grund dessen, was ent-
stehen soll; es muß, noch unentfaltet und gestaltlos doch
die bestimmte Möglichkeit seiner zukünftigen Bildung, kurz :
es muß an sich sein, wozu es werden wird. Aber sein
Wesen würde nicht in Entwicklung bestehen, wenn es in
diesem Ansichsein verharrte; es muß wirklich zu dem
werden, wozu werden zu können seine Natur ist. Das
Werden jedoch, der Vorgang der Entwicklung, ist nur ein
Zwischenglied zwischen Möglichkeit und Erfüllung; nur
werdend, zwischen Ausgangspunkt und Ziel schwebend,
würde das sich Entwickelnde weder sich selbst gleich sein,
wie es in seinem Ansichsein war, noch das schon sein,
wozu es werden soll. Man begreift schon hieraus, warum
dies zweite Glied der Entwicklung, als eine Art der Ent-
zweiung des Ursprünglichen mit sich selbst, den Namen
des Andersseins erhalten hat; er wird noch begreiflicher,
wenn man sich erinnert, daß es der allumfassende Welt-
grund ist, dem eigentlich diese Entfaltung zugeschrieben
wird; es ist nicht eine einfache geradlinige Bewegung, in
der dieses sein Werden besteht, sondern die Erzeugung un-
endlich mannigfacher Gebilde, deren Möglichkeit er war;
jedes einzelne von diesen ist eine seiner Consequenzen,
keines drückt sein ganzes Wesen aus; in der Summe aller
mag wohl ein Ausdruck dieses ganzen Wesens vollständig
liegen, aber doch nur für den Beobachter, der diese Summe
246 Drittes Kapitel.
zieht und das Mannigfaltige in seinem Gedanken zur Ein-
heit verbindet. Für sich selbst aber, nicht blos für andere,
muß das sich Entwickelnde diese Einheit sein, weiin es
wirklich zu dem soll geworden sein, wozu zu werden sein
Wesen war, und so trägt denn den Namen des Fürsichseins
dies dritte Glied des triadischen Cyclus, die Erfüllung des
Werdens bedeutend, die Erreichung des Entwicklungszieles,
die Rückkehr des Ansich zu sich selbst. Einfache Rück-
kehr freilich nicht: nicht in dem Sinne nämlich, daß das
Zwischenglied des Werdens ergebnißlos aufgehoben oder
ausgelöscht wäre; es soll aufgehoben sein in der Bedeutung
des Aufbewahrtbleibens; durch die Geschichte seines Wer-
dens, die es hinter sich hat, steht das Fürsichsein be-
reichert in sich selbst dem Ansichsein gegenüber. Es ist
leicht, hierfür Bilder zu finden; denn so ist die Octave
des Grundtons Rückkehr zu ihm selbst, und doch bewahrt
sie in der Zunahme ihrer Höhe das Ergebniß der durch-
laufenen Intervalle; so würde ein Geist, dem allgemeine
Wahrheiten als instinctiveVerfahrungsweisen seines l3enkens
angeboren wären, nur zu sich selbst und doch in sich
selbst bereichert zurückgekehrt sein, wenn er durch mannig-
faltige Erfahrungen und Untersuchungen hindurch, die den
Zweifel und seine Beseitigung enthielten, für sich jene
Wahrheiten zum Bewußtsein gebracht hätte. Ich vermeide
jedoch, auf weitere Deutung des eigenthümlichen Sinnes
dieser Ausdrucks weisen einzugehen; für uns reicht es hin,
daß in dem dritten Gliede der Entwicklung etwas gegeben
ist, was zwar Consequenz des ersten, aber doch ihm nicht
gleich ist, sondern ihm wie überhaupt Erfüllung der Mög-
lichkeit gegenübersteht. So gefaßt sind die drei Momente
des Ansich des Andersseins und des Fürsichseins nur die
Bestandtheile des Begriffs der Entwicklung, und in allem,
was sich entwickelt, werden sie anzutreffen sein. Daß
aber aller Inhalt der Welt, daß das Reich des Denkbaren,
die Natur und alles geistige Leben, nur Entwicklungsstufen
des einen Absoluten sind, und daß innerhalb jedes dieser
großen Gebiete die einzelnen Glieder desselben nach dem
gleichen Rhythmus aus einander begründet hervorgehen,
daß also eine vollendete Erkenntniß die Summe alles Denk-
baren und Wirklichen als eine große Reihe anschauen würde,
deren einzelne gleichgebaute Perioden an eigenthümlicher
Bedeutung ihres Inhalts sich unablässig steigern: dies ist,
wie oben erwähnt, die metaphysische Ueberzeugung Hegel's,
die wir hier nicht beurtheilen; zu fragen bleibt, welchen
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 247
logischen Werth die so geschilderte dialektische Methode
habe.
193. Es ist nun leicht erkennbar, daß sie nicht eigent-
lich Methode in der Bedeutung einer Vorschrift oder An-
weisung ist, die ein Gesuchtes zu finden lehrt; sie ist viel-
mehr in dem bisher gebrauchten Sinn ein Schema, das
uns nur auffordert zu suchen, ob etwas und was wohl in
einer angegebenen Richtung oder an einem vorausbestimmteA
Platze zu finden sein werde, mit der Zuversicht freilich,
daß nie das Suchen vergeblich sein könne. Soll dies
Schema zur independenten Behandlung eines Allgemein-
begriffs M verwandt werden, um seine verschiedenen Arten
in eine Reihe zu ordnen, die ihren wesentlichen Verwandt-
schaften und Unterschieden entspräche, oder soll es benutzt
werden, um eine Reihe von Begriffen, die durch ander-
weitige Beziehungen, etwa so wie Recht Unrecht Verbrechen
und Strafe zusammengehören, in ihren wahren gegenseitigen
Verhältnissen darzustellen, so empfindet man sogleich die
Ungewißheit, in der man über die einzuschlagende Richtung
der Gedanken gelassen ist. Es ist möglich, daß diese Un-
gewißheit verschwände, wenn man auf die Universalreihe
recurrirte, in welcher die vollendete Philosophie die Ent-
wicklungsgeschichte alles Denkbaren bereits gegeben und in
ihr folglich auch den Begriff des Rechtes so gefunden hätte,
daß aus ihm sich der Sinn und die Richtung seiner eigenen
dialektischen Weiterentwicklung ergäbe. Aber dies hieße
doch nur gleich von Anfang an die Anwendbarkeit der
Methode als allgemeiner Anweisung zur Auffindung der
Wahrheit leugnen; als solche könnte sie sich nur durch
diesen independenten Gebrauch bewähren, den wir hier
verlangen: jeden gegebenen Begriff müßte sie durch die
Kraft ihrer blos formalen Behandlungsweise in alle seine
wahren Consequenzen entwickeln lehren. Denken wir uns
also den allgemeinen Begriff des Rechts gegeben, denn äiif
ihn als ursprünglich feststehenden beziehen sich offenbar
die drei anderen angeführten Begriffe: was ist dann sein
Ansich? in welches Anderssein geht er über? in welches
Fürsichsein kehrt er zurück? Nun ist so viel wohl klar,
daß in dem Recht eine Billigung von Verhältnissen liegt,
welche zwischen den Willensansprüchen verschiedener
geistigen Persönlichkeiten an irgend ein Object stattfinden,
an welchem sie sich begegnen. Es gibt folglich kein Recht,
wenn es keine Welt mit Verhältnissen und Objecten gibt,
auf welche sich ein Wille beziehen, oder wenn es die Person-
248 Drittes Kapitel.
lichkeiten nicht gibt, die in einer und derselben Welt ihren
Willen auf diese gemeinsamen Zielpunkte richten könnten.
Das Recht ist daher nur Recht an sich und noch nicht das,
was es seinem Begriffe nach sein will, so lange es nur
anticipirend Billigung oder Mißbilligung von Verhältnissen
bedeutet, die noch nicht da sind. Nun wird auch das
Anderssein begreiflich; es läuft alles auf die einfache Wahr-
heit hinaus, daß Allgemeinbegriffe nichts bedeuten, wenn
es die Besonderheiten nicht gibt, die sie zusammenfassen;
das Anderssein des Rechts besteht in den verschiedenen
Rechten, deren Bedingungen in dem Dasein dieser Natur,
dieser menschlichen Personen mit diesen bestimmten Be-
dürfnissen und Ansprüchen liegen; dem allgemeinen Theil
der Wissenschaft, welcher den Begriff des Rechtes aufstellt,
wird der besondere folgen, der dessen Anwendungen ent-
hält. Diese Anweisung ist so einfach, daß man sie nicht
erst von der dialektischen Methode zu erwarten brauchte;
zu ihrer weiteren Befolgung leistet aber die Methode nichts ;
denn welche thatsächlichen Bedingungen existiren, die dem
allgemeinen Gedanken des Rechts Veranlassung geben, sich
in specielle Rechtsbildungen zu entwickeln, lernen wir doch
nur aus Erfahrung.
194. Es ließe sich aber doch noch ein anderer Fort-
schritt denken. Uebergang des Allgemeinen in die Fülle
seiner besonderen Gestalten bedeutet allerdings das Anders-
sein oft; aber ich habe schon bemerkt, daß die Methode
Gewicht auf das Gegensatzverhältniß legte, das zwischen
beiden Gliedern, auch zwischen dem Allgemeinen und Be-
sonderen besteht; dieser Gedanke des Gegensatzes, verall-
gemeinert und bis zu dem Begriffe des Widerspruchs ver-
schärft, gibt dem Anderssein auch die Bedeutung des Gegen-
theils überhaupt von dem, was das Ansich ist. Diesem
anderen Antrieb folgend, ließ man Recht in Unrecht über-
gehen; daran schloß sich die Strafe zwar nicht als Für-
sichsein, aber doch als das Mittel, durch Negation des
Andersseins oder des Verbrechens das verletzte Recht zu
seiner Geltung wiederherzustellen. x\uch dies ist einerseits
nichts, was nicht ohne die Zurüstung der Methode für sich
klar gewesen wäre ; anderseits wird es selbst unklarer durch
sie. Die unbefangene Ueberlegung sagt sich, daß alles Recht
eben nur lebendige Wirklichkeit hat, wenn es von lebendigen
Personen nicht blos gewußt, sondern auch in ihrem Handeln
geachtet wird; daß aber die Regungen der Willen nicht
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 249
durch das Ideal thatsächlich beherrscht werden, dem sie
folgen sollen; daher erscheint das Unrecht und das Ver-
brechen nicht als ein Nothwendiges, das da sein müßte,
sondern als ein Mögliches, das da sein kann, und das
freilich, wenn wir nach unserer empirischen Kenntniß
menschlicher Natur urtheilen, niemals fehlen wird. Diese
behutsame Vermittelung beider Begriffe fehlt in jenem
methodischen Uebergamg; er läßt es zu dem Begriffe des
Rechts gehörig erscheinen, daß es in Unrecht übergeht,
und diese Paradoxie wird nicht durch eine nachher zu er-
wähnende Vertheidigung gerechtfertigt. Der Uebergang zu
dem dritten Gliede aber, zur Strafe, befremdet uns blos
deshalb weniger, weil wir die Motive zu ihm ergänzen, die
in Wahrheit durch die Methode selbst gar nicht gegeben
werden. Denn sie verlangt zwar Herstellung des Rechts
und zwar durch Verneinung seiner Verneinung, des Un-
rechts; aber sie gibt gar nicht an, durch welchen Vorgang
diese abstracte Aufgabe der Verneinung des Unrechts aus-
zuführen ist. Warum soll sie die Gestalt der Strafe haben?
Die böse Gesinnung, aus der das Unrecht entsprang, wird
durch Mißbilligung und durch Besserung gleichfalls ver-
neint, das entstandene Uebel durch Schadenersatz, die Ver-
letzung der Würde des Rechts durch Reue und Wieder-
anerkennung seiner Verbindlichkeit. Alle diese Ueber-
legungen zeigen, daß die dialektische Methode hier nur
den Werth eines Schema hatte, für dessen vorherbestimmte
Stellen man sich nach einer Ausfüllung umsehen konnte,
daß aber der Inhalt, mit dem man sie zu füllen hatte, ob-
wohl dies überhaupt hier leidlich gelang, nur aus einer
von diesem Schema ganz unabhängigen Untersuchung der
eigenthümlichen Natur des behandelten Gegenstandes zu
finden war.
195. Daß es zu dem Begriffe des Rechts an sich gehöre,
in Unrecht überzugehen, erschien uns widersinnig; gleich-
wohl ist dies Umschlagen eines Begriffs in sein
G e g e n t h e i 1 so oft und so ausdrücklich als eine durch die
Dialektik aufgefundene höhere Wahrheit behauptet worden,
daß es der Mühe werth ist, hierauf zurückzukommen. Zu-
erst freilich, bemerkt Hegel (S. W. VI, 152 ff.), glaube der
Verstand, die Natur und Wahrheit der Wirklichkeit durch
viele feste in sich abgeschlossene und einander aus-
schließende Begriffe aufzufassen; das Wahre aber sei, daß
verschiedene Begriffe nicht blos neben einander Ansprüche
an das Endliche erheben, sondern durch seine eigene Natur
250 Drittes Kapitel.
hebe dieses sich auf und gehe durch sich selbst in sein
Gegentheil über. So sage man, der Mensch sei sterblich,
und betrachte dann das Sterben als etwas, was blos in
äußerlichen Umständen seinen Grund habe, nach welcher
Betrachtungsweise es dann zwei verschiedene Eigenschaften
des Menschen sein würden, lebendig und auch sterblich
zü sein. Die wahrhafte Auffassung aber sei, daß das Leben
als solches den Keim des Todes in sich trage und daß
überhaupt das Endliche sich in sich selbst widerspreche
und dadurch sich aufhebe. Nicht alle anderen auf Dialektik
bezüglichen Stellen Hegel's gestatten so leicht wie diese die
Unterscheidung zweier hier in einander verfließenden Be-
hauptungen. Von den Begriffen, durch die wir das Wirk-
liche aufzufassen streben, behauptet die erste dieser Perioden
Festigkeit und Abgeschlossenheit; nicht von den Begriffen,
sondern von dem Endlichen, worauf wir sie anwenden,
spricht sie den Uebergang in das Gegentheil aus, und hierin
liegt in der That die ganze Wahrheit, von der dann die
weiteren Sätze verrathen, daß sie eigentlich ohne oder gegen
die Absicht des Sprechenden zum Ausdruck gekommen ist.
Denn eben, wenn das Endliche als solches durch seine eigene
Natur sich aufhebt, so hebt es sich nicht auf, weil die All-
gemeinbegriffe, die von ihm gelten, ihre Bestimmtheit ver-
lören und in ihr Gegentheil umschlügen, sondern deshalb,
weil es selbst, das Anwendungsobject jener Allgemein-
begriffe, als Endliches oder als Wirkliches unfähig ist,
dauernd das zu leisten, was jeder dieser in dem einen
Augenblick von ihm geltenden Begriffe von ihm verlangt;
durch Schuld seiner Natur gleitet es aus dem Umfange
des einen stets mit sich identischen Begriffes in den Um-
fang eines anderen, ebenso mit sich selbst stets identischen,
hinüber. Die Begriffe selbst aber ändern darum ihre ewige
Bedeutung nicht, weil sie nur einen Augenblick vielleicht
das richtige Maß ihrer veränderlichen Anwendungsgegen-
stände sind. Die wahre Auffassung kann daher nicht darin
bestehen, daß das Leben als solches den Keim des Todes
in sich trage und daß überhaupt das Endliche sich in sich
selbst widerspreche; vielmehr beide Glieder dieses Satzes
widersprechen einander. Das Leben als solches stirbt nicht,
und der allgemeine Begriff des Lebens verpflichtet das
Lebendige nur zum Leben, aber nicht zum Tode; nur das
Endliche, welches der zweite Theil des Satzes erwähnt,
nur die einzelnen lebendigen Körper tragen den Keim des
Todes in sich. Und auch sie nicht vermöge der Idee des
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 251
Lebens, die sich ihnen realisirt hat, sondern allerdings nur
um des äußerlichen Umstandes willen, weil die Verknüpfung
der realen Elemente, durch die sich auf der Oberfläche der
Erde das Leben allein verwirklicht findet, im Zusammen-
hang mit den allgemeinen hier wirksamen Naturbedingungen
nicht ausreicht, oder im Zusammenhang mit einem uni-
versalen Weltplan nicht ausreichen soll, um der Idee des
Lebens ein ihr selbst keineswegs widersprechendes ewig
dauerndes Beispiel zu geben. Und ebenso, geht nie das
Recht selbst in Unrecht über, aber theils der Wille der
lebendigen Persönlichkeit, der sein Träger sein soll, wird
durch Mangel der Einsicht oder den Antrieb der Leiden-
schaften zum Unrecht geführt, wo er das Recht zu verwirk-
lichen strebt, theils wird das Gesetz, dessen Allgemeingültig-
keit für unser menschliches Verfahren nothwendig ist, da
ein Unrecht bewirken können, wo Verwicklungen des be^
sonderen Falles vorliegen, für deren Behandlung es keinen
Anhalt bietet. In keiner Weise kann daher die Logik diese
Lehre von der dialektischen Selbstaufhebung der Begriffe
anerkennen; die Thatsache aber, daß die Wirklichkeit so
geordnet ist, wie wir sie finden, so daß das Seiende durch
seine eigene Natur nicht zwar sich selbst aufhebt, aber aus
dem Gebiete des einen Begriffs in den des anderen über-
geht, bleibt für sich der Beachtung werth, als ein Ver-
halten der Dinge nämlich, nicht als eine Eigenthümlichkeit
der Denkmittel, welche wir zur Erkenntniß der Dinge an-
wenden.
196. In jedem Falle, auch wenn nicht alle die hier er-
hobenen Einwürfe stattfänden, würde doch die dialektische
Methode uns zuletzt nur eine Anordnung der Begriffe liefeni,
die wohl einer vergleichenden Reflexion mancherlei Inter-
esse durch den ästhetischen Eindruck aufgefundener Ana-
logien Parallelen und Gegensätze böte, aber sie würde kaum
eine neue Erkenntniß vermitteln, welche zu bestimmten
neuen Urtheilen oder Sätzen, zur besseren und genaueren
Entscheidung vorher zweifelhafter Fragen führen könnte.
Eben diesen hier vermißten Vortheil möchten andere weit-
aussehende Entwürfe sichern, die Entwürfe zu einer logi-
schen Sprache, einer allgemeinen Charakteristik
der Begriffe oder einem philosophischen Calcül, denen
Leibnitz eine fortgesetzte Aufmerksamkeit widmete. Der
Rechnende, der eine Reihe von großen Zahlen auch nur zu
addiren hätte, würde nie mit seiner Aufgabe fertig werden,
wenn er von jedem der Tausende oder Hunderte von Ein-
252 Drittes Kapitel.
heilen, die seine Summanden enthalten, eine gesonderte
Vorstellung haben und durch Wiederholung des Zusatzes
von Einheit zu Einheit sich im Moment des Rechnens jede
einzelne dieser Zahlen und zuletzt ihre Summe aufbauen
müßte. Die Einrichtung unseres Ziffersystems gestattet ihm
aber, ohne von jenen Zahlen sich irgend eine deutliche Ge-
sammtvorstellung machen zu müssen. Einer unter Einer,
Zehner unter Zehner, Hunderte unter Hunderte zu setzen,
und indem er jede einzelne dieser einfachen Verticalreihen
summirt, fehlerlos ein Ergebniß zu Stande zu bringen, das
selbst wieder in einer einzigen Vorstellung durch seine Ein-
bildungskraft gar nicht zu übersehen ist. Nun stimmen
mit den Zahlen unsere Begriffe darin überein, daß auch sie
meistens eine große Anzahl von Einzelvorstellungen ent-
halten, deren gegenseitige Verknüpfung nicht in jedem
Augenblicke deutlich, sondern nur jin einem Gesammtein-
drucke von uns gedacht wird; ihre Bezeichnung durch
Worte aber steht weit hinter der der Zahlen durch Ziffern
zurück. Durch etymologische Verwandtschaft, die doch oft
dem Bewußtsein nicht mehr fühlbar ist, setzen die Worte
der Sprache zusammengehörige Inhalte nur unvollständig
in Beziehung überhaupt, denn auch für Verwandtes brauchen
sie daneben von einander unabhängige Wurzeln; die Art
der Beziehung drücken sie gleich unvollständig durch eine
geringe Anzahl von Ableitungsformen aus, die unzureichend
für die Mannigfaltigkeit der zu bezeichnenden Verhältnisse
sind; von jedem Verhältniß finden sich außerdem Beispiele,
auf welche die Aufmerksamkeit der sprachbildenden Phan-
tasie am frühesten gelenkt war, durch einfache Worte be-
zeichnet, denen die bezeichnende Form jener Ableitung
fehlt; nirgends endlich enthält der Name eines Begriffs die
sämmtlichen Theilvorstellungen seines Inhalts durch ein-
fache Zeichen und in solcher Verbindung repräsentirt, daß
es uns möglich wäre, bei der Verknüpfung verschiedener
Begriffe M N 0 von der Totalvorstellung ihrer Bedeutung
abzusehen und aus der Combination einzelner von ihren
Bestandtheilen doch so zweifellos richtige neue Resultate
zu gewinnen, wie die Einrichtung unseres Ziffersystems sie
bei der Rechnung mit Zahlen möglich macht. Diese Mängel
müßte man zu verbessern suchen ; durch Zergliederung aller
unserer Begriffe müßten die einfachen nicht weiter zerleg-
baren Urvorstellungen aller Art und ebenso die einfachsten
Arten ihrer möglichen Combination aufgefunden und durch
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 253
unwandelbare Zeichen charakterisirt werden, um aus der
Zusammensetzung derselben für jeden Begriff ein seinen
Inhalt adäquat ausdrückendes Symbol zu finden. Auf die
Ausbildung einer neuen sprechbaren Sprache, die doch
niemals die geschichtlich entstandenen und nationalen ver-
drängen würde, braucht man dies Unternehmen nicht ge-
richtet zu denken; nur zu wissenschaftlichem Gebrauch
des Denkens würde es eine Formelsammlung erzeugen, auf
die zur Entscheidung der Zweifel, welche durch die An-
wendung der zweideutigen Sprachausdrücke entstehen, in
jedem Falle zurückgegangen werden könnte; dann, wenn
man dies Hülfsmittel besäße, so schmeichelt sich Leibnitz,
würden alle Streitenden mit dem gütlichen Abkommen:
lasset uns die Sache berechnen, ihre Streitigkeiten ab-
brechen.
197. Ohne Zweifel gehört dieser Entwurf zu denen,
über deren Ausführbarkeit nur die Ausführung selbst voll-
gültig richten kann, und man würde übereilt die Möglich-
keit dessen leugnen, was eine glückliche Erfindungsgabe
doch vielleicht, bis zu gewissem Grade wenigstens, zu
Stande brächte. Der bisherige Mangel jedes Erfolges läßt
uns jedoch die inneren Schwierigkeiten des Unternehmens
vor der Hand deutlicher werden als die Möglichkeit ihrer
Beseitigung. Käme es nur auf systematische Bezeichnung
der Begriffsinhalte an, so könnte die Aufgabe zwar groß,
aber nicht unlösbar scheinen. Denn man würde sie wohl
von Anfang an, mit Uebergehung aller naturgeschichtlichen
Gattungsbegriffe, auf diejenigen Begriffe beschränken, aus
deren Verknüpfung im Denken die Zweifel entspringen,
welche die Wissenschaft oder die praktischen Ueberlegungen
des Lebens belästigen. Gleichwohl ist schon diese Auf-
gabe größer als sie scheint, und ihre Lösbarkeit wird nur
scheinbar durch Hinweisung auf die Zeichensprache der
Mathematik und etwa auf die Symbole der Chemie be-
glaubigt. Die Mathematik rechnet eben nur mit vergleich-
baren Elementen, mit Größen, deren einfachste Verbindungs-
formen sie allerdings vollkommen klar und eindeutig zu
symbolisiren versteht; aber je zusammengesetzter die so
entstehenden Functionen und Gleichungen sind, desto mehr
macht sich schon hier im Gebrauch eine Art rückgängiger
Bewegung merkbar; an die Stelle derjenigen Bezeich-
nungen, welche wirklich den inneren Bau einer in Rede
stehenden Größe vollkommen genügend zur Anknüpfung
der Rechnung darstellen, treten der nothwendigen lieber-
254 Drittes Kapitel.
sichtlichkeit zu Gefallen willkürliche Symbole, die diese
Eigenschaft nicht mehr haben, sondern den Namen der
Sprache gleichen, deren Bedeutung man unabhängig von
ihrem Klange wissen muß. Die Formel ^ — 1 drückt noch
die Herkunft der so bezeichneten Function aus, und aus
ihr läßt sich nach allgemeinen Regeln bestimmen, was ent-
steht, wenn man sie mit sich selbst ein oder mehrere Male
als Factor zusammensetzt; aber schon diese Bezeichnung
ist als zu weitläufig durch die andere i verdrängt worden,
die an sich nicht verräth, was sie bedeutet und deren Sinn
man nebenher kennen muß, um sie richtig zu verwenden.
Wenn femer von B- und F-Functionen die Rede ist, so sind
diese Ausdrücke freilich kurz, aber verständlich nur durch
Wied^rgleichsetzung mit weitläufigen Formeln, die selbst
nur durch eine vorangegangene Erläuterung darüber ver-
ständlich werden, welchen Sinn die in ihnen verwandten
allgemeinen Größenzeichen und die Symbole der Verknüp-
fungen haben. Hierin liegt so wenig ein Tadel für die
Mathematik als ein Beweis der Unmöglichkeit einer all-
gemeinen Begriffscharakteristik ; es wird nur klar, daß die
von der letzteren zu erwartenden Formeln nicht von selbst
alles Nöthige lehren, sondern sehr Vieles voraussetzen, was
man erst lernen müßte, um sie nur zu verstehen. Die
chemischen Symbole machen dies noch deutlicher; sie be-
ziehen sich bis jetzt nur auf die quantitativen Verhältnisse
der zusammensetzenden Elemente und einigermaßen aller-
dings auf die vorausgesetzte Form ihrer Verknüpfung;
welche Buchstaben nun welche Elemente bedeuten, und wie
man durch ihre Reihenfolge die Lagerung derselben be-
zeichnen will, muß man natürlich lernen oder auswendig
wissen, denn beides kann nur conventioneil bestimmt sein;
aber der so zu Stande gekommenen Formel kann Niemand
ansehen, ob sie ein Gas eine Flüssigkeit oder einen festen
Körper bedeutet, nicht welches die Dichtigkeit oder das
specifische Gewicht oder die Farbe des Produkts ist, nicht
ob es feuerbeständig oder flüchtig, in Wasser lösbar oder
nicht sein wird. Wer nach Ansicht der Formel diese Fragen
richtig beantwortet, beantwortet sie auf Grund der Ana-
logien, welche ihm die Erfahrung darbietet, und welche er
den Formeln nicht mit der Sicherheit ihres Zutreffens ent-
nehmen konnte. Und doch würde alles das, was hier ver-
mißt wird, nur die Bestimmung von Eigenschaften oder
Verhaltungsweisen sein, die zwar nicht unmittelbar gleich^
artig, aber doch als physische Vorgänge von einander ab-
Schematische Anordnungen und Bezeichnung der Begriffe. 255^
hängig und Functionen von einander sind, und deshalb
Hoffnung auf Entdeckung von Gesetzen geben, nach denen
ihre Wechselabhängigkeit einer leichten Bezeichnung zu-
gänglich würde ; die Schwierigkeiten steigen aber weit mehr,
wo es sich, bei Bestimmung von Begriffen überhaupt, um
die Verknüpfung ungleichartiger Elemente von dennoch noth-
wendiger Beziehung auf einander handeln würde.
198. Aber die Bezeichnung allein ist nicht das, was
wir bedürfen, und die Mathematik verdankt ihre Erfolge
nicht ihrer Symbolik, obgleich sie gewiß durch die glück-
liche Wahl derselben in ihren Fortschritten unterstützt wird ;
der Nutzen der Bezeichnungen beruht vielmehr hier auf
dem Vorhandensein unzweideutiger Regeln, nach denen
sich bestimmen läßt, was aus den einfachsten Verknüpf ungen
der Größen folgt, und die dann, mit eben derselben Unzwei-
deutigkeit auf die zuerst gewonnenen Resultate von neuem
angewandt, die eleganten und sicheren Verfahrungsweisen
zur Lösung der Probleme hervorbringen. Diese Regeln
sind das, was uns am empfindlichsten fehlt, wenn wir Be-
griffe, die nicht blos Größen bedeuten, zur Erzielung eines
Ergebnisses verknüpfen wollen, und ich glaube, daß man
sich ganz grundlos .mit der Hoffnung schmeichelt, sie würden
plötzlich von selbst unzweideutig klar werden, sobald mau
nur die Inhalte, auf die man sie anwenden will, bis in ihre
letzten Bestandtheile zergliedert hätte. Gewiß ist es nicht
nöthig, noch besonders zu versichern, daß wachsende Klar-
heit der Anwendungsobjecte in jedem Falle nur eine günstige
Wirkung auf die Sicherheit (unserer Folgerungen haben kann ;
aber im Wesentlichen wird es nicht die Analyse unserer
Begriffe und ihre Zurückführung auf Grundbegriffe, sondern
die Zergliederung unserer Urtheile und ihre Zurück-
führung auf einfache Grundsätze sein, worauf die all-
mähliche Feststellung unserer jetzt in Bezug auf so Vieles
schwankenden Ueberzeugungen beruhen muß. Zweierlei
aber werden wir zu wissen verlangen: zuerst, welche denk-
nothwendigen Folgen aus bestimmten, entweder von uns
willkürlich vorausgesetzten oder uns aufgedrängten Be-
ziehungen verschiedener Begriffsinhalte fließen, dann aber:
welche nicht nachweisbar denknothwendigen, aber that-
sächlich gültigen allgemeinen Gesetze verschiedene Inhalte
so verknüpfen, daß unser Denken auf Grund dieser Ge-
setze die dann nothwendig werdenden Folgen gegebener Be-
dingungen ableiten kann. Diese Aufgaben, welche die An-
256 Drittes Kapitel.
Wendung der Urtheilsform angehen, müssen wir zu lösen
suchen, vorläufig ununterstützt durch die schätzbare Bei-
hülfe, welche jene allgemeine Charakteristik, wenn sie voll-
endet wäre, uns ohne Zweifel gewähren würde.
Anmerkung über logischen Calcül.
Die reiche und sorgfältige Ausführung, welche dem oft ge-
hegten und oft wieder fallen gelassenen Entwurf logischer Rech-
nung der Engländer Boole gegeben hat, beginnt auch in Deutsch-
land die Aufmerksamkeit zu fesseln. Bei aller Anerkennung des
erfinderischen Scharfsinns, der sein geistreiches Werk (An in-
vestigation of the laws of thought, Lond. 1854) sehr anziehend
macht, kann ich mich dennoch nicht überzeugen, daß dieser Calcül
Mittel zur Auflösung von Aufgaben darbieten werde, welche den
gewöhnlichen Methoden der Logik unüberwindlich wären.
Allerdings dringt Boole darauf, daß das Ergebniß einer ge-
führten Rechnung logisch deutbar sein müsse; zwischen Aufgabe
und Lösung hält er aher doch einen Gang der Operationen für zu-
lässig, der im Einzelnen eine logische Interpretation nicht vertrüge ;
er beruft sich auf die Erweiterung, welche die Mathematik durch
die Zulassung des Imaginären erfahren hat. Diese Berufung ist
schwerlich triftig. Der imaginären Formel konnte die Mathematik
gar nicht ausweichen, sondern stieß auf sie im Zusammenhang
wohlbegründeter Rechnungen; anderseits ist sie bestrebt gewesen,
die Interpretation des räthselhaften Gebildes zu finden und hat sie
ja auch auf geometrischem Gebiete gefunden. Im logischen Calcül
dagegen würde dies zeitweilige Arbeiten im Finstern mit Sym-
bolen geschehen müssen, die willkürlich zur Bezeichnung logischer
Elemente und Elementarverhältnisse gewählt worden sind; kann
daher eine Rechnung allerdings nur nützen, wenn sie uns die
mechanische Lösung einzelner Aufgaben erlaubt, ohne in jedem
Augenblicke ein Bewußtsein von der logischen Bedeutung des Ge-
schehenen zu erheischen, so ist es um so nothwendiger, eben
die Regeln, welche solche Erleichterungen gestatten, ganz nur aus
rein logischen Grundsätzen und ohne jede gewagte und undurch-
sichtige Analogie aus dem Gebiete der Größenlehre festzustellen.
Hierin ganz einverstanden mit der vortrefflichen Darstellung
Schröder's (Der Operationskreis des Logikcalcüls, Leipz. 1877),
werde ich doch auch ihr nicht ganz folgen; Demonstrationen, welche
man in der Art der Mathematiker den Theoremen folgen läßt,
haben für mich nun die Bedeutung zu zeigen, daß der ganze Calcül
consequent in sich zusammenhängt und daß alle nach ihm zu-
lässigen Umformungen und Verknüpfungen seiner Elemente zu iden-
tischen Resultaten in Bezug auf identische Aufgaben führen; unser
Zutrauen zu der Triftigkeit des Ganzen kann nur auf der unmittel-
baren Nachweisung beruhen, daß jeder allgemeine Satz nur die
Transscription einer logischen Wahrheit in die Sprache der ge-
wählten Svmbole ist.
Anmerkung über logischen Calcül. 257
In dem Kapitel über künstliche Classificationen ist die Logik
längst daran gewöhnt gewesen, Buchstaben zur Bezeichnung der Merk-
male zu verwenden, welche sich in verschiedener Weise zu den- ver-
schiedenen Arten eines Begriffes verbinden. Gehörten zu dem Allge-
meinen M die drei Merkmale ABC, so würde der disjunctive Lehrsatz
uns anweisen, jedes von ihnen in seine Unterarten a^ a2 ag . . .,
bj bo bg . . ., zu zerfallen ; die Gesammtheit der Ternionen von der
Form abc, und zwar selbstverständlich ohne Wiederholungen und
Permutationen, würde die sämmtlichen Arten von M darstellen, welche,
so lange keine näheren Bestimmungen vorliegen, als gleich mögliche
angesehen werden können. Diese combinatorischen Zusammenstel-
lungen sagen an sich nichts weiter aus, als die gleichzeitige Gegenwart
ihrer Elemente; die Art der Verbindung aber zwischen diesen lassen
sie in zweifacher Hinsicht unbestimmt. Sie erwähnen zuerst die End-
form nicht, die aus der vollzogenen Combination hervorgehn soll. In
der Anwendung auf logische Classification wird dieser Mangel durch
das in Gedanken behaltene Bild des Allgemeinen M ergänzt, um dessen
Arten es sich handelt; zu jeder Combination abc ist dieses M als
der gemeinsame Grundriß hinzuzudenken, den die Verknüpfung der
Elemente ausfüllen soll; sehen wir von dieser Veranlassung des com-
binatorischen Verfahrens ab, so bedeutet für sich genommen abc nur
noch jedes irgendwie beschaffene Gedankending, in welchem sich die
Merkmale a b und c, oder, was wichtiger ist, jeden noch nicht näher
characterisirbaren Fall, in welchem sich die Bedingungen ab
und 0 »usajmmenfinden. Für die Mathematik besteht diese Unbestimmt-
heit nicht, denn die Endform, welche das Ergebniß der Rechnung an-
zunehmen hat, wird hier völlig und allein durch die genau angebbare
Art der Verbindung bestimmt, welche sie zwischen ihren Elementen
herzustellen befiehlt. An sich selbst nun enthalten auch über diesen
zweiten Punkt, die gegenseitige Determination ihrer Bestandtheile, die
combinatorischen Formeln keinerlei Aufklärung. Ein Herkommen hat
sie für die Algebra zum Ausdruck der Multiplication gemacht; die
Buchstabenrechnung wenigstens hat das für die Zahlenrechnung bei-
zubehaltende besondere Zeichen dieser Operation entbehrlich und das
Product von Polynomien gleich der Summe der Combinationen ihrer
Elemente gefunden. Die Logik ihrerseits setzt zwar jedes Merkmal
eines Ganzen als in besonderer Weise mit jedem zweiten verbunden
voraus, aber sie hat keine Mittel, diese specifischen Determinationen
wirklich anzugeben, sondern überläßt sie der nebenhergehenden Kennt-
niß der Sache; nur, wus sie aus eignem Rechte Allgemeines über die
Verknüpfung der Merkmale weiß, hat keine Aehnlichkeit mit dem Sinne
einer Multiplication. Ich lege hier wenig Werth darauf, daß der/ ur-
sprünglich ganzzahlig zu denkende Multiplicator den an sich imgeäii-
derten Werth des Multiplicandus nur vervielfältigt, während jedes neue
Merkmal c, das zu einer Combination ab hinzutritt, nicht nur die
gegenseitige Determination dieser schon vorhandenen Bestandtheile
modificirt, sondern durch Vermehrung des Inhalts zugleich den Um-
fang beschränkt, in welchem das Ganze gelten kann; wer Lust am
Disputiren hätte, würde es vielleicht nicht schwer finden, auch hier
Lotze, Logik. 17
258 Drittes Kapitel.
die Analogien des beiderseitigen Verhaltens mehr zu betonen als die
Unterschiede; wesentlich aber ist es für uns, daß die Multiplication
sowohl die Wiederholungen aa, bb, als die Permutationen ab, ba,
als nothwendige Bestandtheile ihrer Producte beibehalten muß, die
Logik dagegen für jene keinen Sinn und für diese keinen Unterschied
zugeben kann. In der Natur der Sache lag daher keine Aufforderung,
von dem neutralen Sinne combinatorischer Formeln abzugehen, die
sehr vielerlei bedeuten können, und auf sie den Rechnungsmechanis-
mus anzuwenden, den sie eigentlich nur als Symbole multiplicirbarer
Größen vertragen; man konnte dies nur in der Hoffinung wagen, die
weitere Anwendung des Calcüls werde durch Ergebnisse, die nur durch
ihn erreichbar wären, für Weitläufigkeiten entschädigen, zu denen
man zunächst gezwungen war; denn man mußte nun durch Ausnahms-
regeln die unpassend gewählte Rechnungsart mit der Natur ihres logi-
schen Anwendungsgegenstandes in Einklang bringen.
Das natürliche Denken hat keine Veranlassung, irgend ein A, das
nacli dem Satze der Identität =A sein muß, noch einmal durch den
Charakter A zu bestimmen in derselben Weise, in welcher A durch
ein zweites Merkmal b determinirt werden könnte. Wir reden zwar wohl
von einem Menschen, der wahrer Mensch, oder emphatisch von einem
Manne, der Mann ist; aber mit solchen Ausdrücken befinden wir uns
auf einem Gebiete, wo es erlaubt ist, den Begriff M eines Ideals von
dem Begriffe jLi desjenigen Thatbestandes zu unterscheiden, der zur
Realisirung des Ideals berufen ist; wir bestimmen daher im Gnmde
nicht dasselbe M durch sich selbst ; der Mensch M [i, der nun wahrer
Mensch ist, genügt nur einmal und vollkommen seiner Bestimmung M
und eben so in anderer Hinsicht einmal und vollkommen seinem natur-
geschichtlichen Begriffe |Li; keine Aehnlichkeit besteht zwischen solchen
Gedanken und dem Versuche, vierbeinige Thiere noch einmal durch
den Character der Vierbeinigkeit zu determiniren. Nur der Mechanis-
mus des Calcüls kann zu dieser Aufforderung führen, a durch a multi-
plicatorisch zu bestimmen; die Formel aa = a oder a2 = a aber,
welche nun zur Herstellung der logischen Wahrheit eingeführt wird,
dürfte wenigstens nicht vorgeben, ein neu aufgefundenes Grundgesetz
des Denkens und nicht bloßer Nothbehelf zur Correction eines un-
passenden Verfahrens zu sein. Denn die Determination des a durch a
ist logisch eine unvollziehbare Aufgabe; nur weil und soweit als im
Zusammenhange unsers Denkens der fruchtlose Versuch das a nicht
aufhebt, an dem er gemacht wird, iat es erlaubt, an die Stelle
des a2, auf welches die Rechnung führen würde, a allein, keineswegs
aber dies a^, als existirte es, dem a gleich zu setzen ; die linke
Seite dieser Gleichung enthält eine unlösbare Aufgabe, die rechte aber
enthält nicht die Lösung, sondern das, wobei es sein Bewenden haben
muß, weil es jene Lösung nicht gibt. Daß dies nicht bloßer Wortstreit
ist, zeigt uns eine Betrachtung, die Boole hier weiter anknüpft, Gilt
einmal a2=:a als Gleichung, so ist der Schritt sehr leicht zu den
Folgerungen a^ — a=:0 oder a — a-=:0; die letzte Formel löste
Boole auf in a (1 — a) = 0. Nun lehrt der Satz vom ausgeschlossenen
Dritten, daß alles Denkbare entweder a oder Non a ist; und diese
Anmerkung über logischen Calcül. 259
Wahrheit hatte Boole, indem er die Gesammtheit alles Denkbaren durch
das Symbol 1 bezeichnete, dahin ausgedrückt, Non a sei dasjenige,
was von dieser Gesammtheit übrig bleibe, wenn wir a von ihr ab-
ziehen ; (1 — a) ist mithin der contradictorische Gegensatz zu a. Da
rmn die Nullsetzung der Gleichung nur bedeuten kann, daß es für die
Combination, welche die linke Seite enthält, gar keinen Umfang gebe,
den sie beherrsche, daß sie also überhaupt nicht vorkommen köime,
so wurde die Formel a (1 — a) = 0 zum Ausdruck des Satzes, daß
nichts Denkbares zugleich a und Non a sein könne. Man kann sich
nun über die Geschmeidigkeit des Calcüls freuen, der für eine be-
kannte Wahrheit diese anschauliche Formel findet; um so weniger
wird man der Deutung beistimmen, die ihr Boole S. 50 seines Werkes
gibt. Sie zeige, daß der Satz, den man für den höchsten Grundsatz
der Metaphysik ansehe, nur die Consequenz eines seiner Form nach
mathematischen Denkgesetzes sei; weil dies Gesetz in einer quadra-
tischen Gleichung sich ausspreche, seien wir genöthigt, unsere Zer-
gliederungen und Classificationen dichotomisch zu vollziehen; wäre
die Gleichung vom dritten Grade gewesen, so würden wir zu einem
trichotomischen Verfahren gezwimgen sein. Ich fürchte nicht der
Trichotomie im Sinne des Haarspaltens schuldig zu sein, wenn ich
gegen diese sonderbare Argumentation Einspruch thue. Boole selbst
erwähnt, daß aus a^ = a auch a^ = a folge, aber er beseitigt diese
cubische Gleichung durch die Bemerkung, daß zwei der" Factoren, die
sie voraussetze, i (1 -|- x), keiner logischen Bedeutung fähig sind ; der-
selbe Grund hatte ihn offenbar bestimmt, nicht an a^ — a = 0, sondern
an a — a^ = 0 seine Folgerungen anzuknüpfen. In diesem Verfahren
liegt der ganz richtige Gedanke: von den mehrerlei Formeln, welche
sich mathematisch aus dem für logisches Grundgesetz gehaltenen
a2 = a ableiten lassen, seien nur diejenigen von Bedeutung, welche
etwas logisch Brauchbares ausdrücken; nicht die Gültigkeit des logi-
schen Gesetzes hängt von der Gestalt der Formel, sondern die sym-
bolische Brauchbarkeit dieser von ihrer Uebereinstimmung mit dem
Sinne des Gesetzes ab. Aber die ganze quadratische Form selbst und
ihre Deutung ist nur ein Spiel der Willkür. Ich will nicht weiter dar-
auf bestehen, daß eben wegen a^ rr= a sogleich a an die Stelle von a^
zu setzen war, womit man auf a — a = 0 verständlich zurückkam ;
selbst wenn man glaubte, a^ als wirkliches Ergebniß einer ausführ-
baren Determination des a durch a beibehalten und es nun dem a
gleichsetzen zu können, so gab es doch gar keine logische Berech-
tigung, a — a2 in a (1 — a) aufzulösen ; mathematisch, wenn wir von
Größen sprechen, war die Umformung richtig und 1 bedeutet dann
wirklich die Einheit ; logisch lag in der Differenz a — a^ nicht die
mindeste Aufforderung, sie als Product zweier Factoren zu fassen;
die 1 aber, die hier eingeführt wird, ist nicht die Einheit, welche
sie sein müßte um die Zerfällung mathematisch richtig zu machen^
sondern sie ist Boole's willkürlich obwohl nicht unpassend gewähltes
Symbol für die Gesammtheit alles Denkbaren; daß a und 1 — a zu-
sammen diese Gesammtheit erschöpfen, mußte daher vorher feststehen
um nur die Interpretation möglich zu machen, durch welche man
eben diese Wahrheit erst aus der Formel gewinnen wollte.
17*
260 Drittes Kapitel.
Diese Träumereien sind nicht nach Deutschland übergegangen;
ich erwähnte sie ausführlich, weil sie mit einem allgemeinen Ge-
danken zusammenhängen, der auch unter uns Zustimmung findet. Die
Unterschiede arithmetischer und logischer Rechnung verkennt man
nicht; aber man hegt den Gedanken eines noch allgemeineren mathe-
matischen Algorithmus für den dieser Unterschied der Anwendungs-
gegenstände gleichgültig wäre. In der That nun, jede einzelne Denk-
handlung, abgesehen von dem logischen Sinne ihres Ergebnisses, läßt
viele gleichartige Wiederholungen, und die Ergebnisse selbst mancher-
lei Verknüpfungen imd Anordnungen zu; die Begriffe der Gleichheit
der Ungleichheit und des Gegensatzes femer haben Bedeutung auch
da wo sie sich nicht auf Größen beziehen; was dann aus ihnen folgt,
wird allerdings für jedes Gebiet aus dessen eigner Natur zu ent-
scheiden sein; nachdem es jedoch bestimmt, nachdem also nach logi-
schem Rechte über das Resultat entschieden ist, welches aus dem
Zusammenkommen oder der Sonderung mehrerer Denkhandlungen und
ihrer Einzelergebnisse fließen muß: dann lassen sich die Wieder-
holungen und Verknüpfungen auph aller dieser Elemente denselben
Regeln der Vereinigung Sonderung und Anordnung unterwerfen, die
in Bezug auf alles Wiederholbare und Mannigfache gelten. Nur die
specifisch logischen Gesetze, welche, wie das des ausgeschlossenen
Dritten, die Bildung der Elemente selbst beherrschen, die in diese Zu-
sammenhänge eintreten sollen, müssen auf eigenen Füßen stehen, und
es ist ein eben so unrichtiger als unklarer Gedanke, für sie Be-
gründung in einer abstractesten Mathematik zu suchen, die doch noch
diesen Namen zum Unterschied von der Logik verdiente. Was eine
solche Wissenschaft zu lehren hätte, würde im Gegenteil nur die
Entwicklung einfachster logischer Wahrheiten sein, die gleichmäßig
von allem Mannigfaltigen und seinen Verknüpfungen, von denen des
Zählbaren und Gleichartigen eben so gut gelten wie von denen des
nur Beziehbaren und Ungleichartigen; diese Wahrheiten, noch ab-
getrennt von ihren Anwendungen, für sich aufzuzählen, kann man ja,
da sich mit Worten viel beweisen läßt, als eine wichtige Aufgabe an-
sehen, ich halte es mehr für langweilig als für unerläßlich.
Unmittelbare Ausdrücke solcher einfachsten Wahrheit sind so-
gleich die Axiome, deren besondere Vorerwähnung fast nur Sache
der Etikette ist. natürlich auch für den logischen Calcül muß ai=ra,
and jede a und b die einem dritten c gleich sind, auch unter
einander gleich sein; nur die Definition der Gleichheit selbst bedarf
eines Wortes. Die Logik bezeichnet durch a ein allgemeines Merk-
mal eine allgemeine Gattung oder einen allgemeinen Fall, und kann
deshalb dem Sprachgebrauch des Calcüls beistimmen, welcher a das
Symbol einer Klasse nennt, deren Umfang alle irgendwie beschaffenen
Einzelheiten oder Einzelfälle umfaßt, welche an dem Character a theil
haben. Nur diese Umfangsverhältnisse berücksichtigt nun der Calcül;
ihm gelten daher zwei Klassensymbole a und b für gleich, wenn die
durch sie vorgestellten Klassen identisch die nämlichen Einzelheiten
lunfassen und deswegen nur zwei Namen für dieselbe Klasse sind.
An sich selbst können dabei a und b verschieden sein, auch wenn
ihre Umfange sich vöUig decken; gleichseitige und gleichwinklige
Anmerkung über logischen Calcül. 261
Dreiecke sind so, ihren Umfang allein betrachtet, allerdings nur
zwei Namen für dieselbe Klasse; logisch würden wir dennoch beide
Begriffe in Bezug auf den Inhalt nicht gleichsetzen, den sie unmittel-
bar durch sich selbst aussprechen. Ebenso einfach folgt aus jenen
einfachsten Wahrheiten, daß es immer möglich ist, in einer Summe
a-|-b zwei Denkhandlungen und ihre Ergebnisse zusammenzufassen;
daß auch a — b logisch möglich ist, wenn b in a enthalten und da-
durch die nöthige Homogeneität hergestellt ist; daß die andere Com-
bination ab, welche beide in eine Vorstellung zusammenzieht, ein
neues Klassensymbol von bestimmtem Umfange darstellt; daß end-
lich, wo nur die Aufgabe einer gleichartigen Verknüpfung überhaupt
gestellt ist, die Ordnung der Summaäiden und Factoren gleichgültig
ist, die wir zur Summe oder zum Producte zusammenstellen. Mehr
als diese begreiflichen Analogien mathematischer und logischer Rech-
nung verdienen die Differenzen Erwähnung, welche die specifische
Natur des Logischen herbeiführt. Ich habe die Gleichung a^zzia be-
reits erwähnt ; in ebenso paradoxer Form verhüllt der Satz a -f- a = a
die logische Wahrheit, daß jeder Allgemeinbegriff nur eimnal vorhan-
den ist, daß mithin jede logische Behauptung über das ihm Unter-
geordnete völlig erschöpft ist, wenn sie einmal von diesem durch-
gängig gilt, und daß keine neue Wahrheit durch Wiederholung des-
selben Verfahrens an demselben Gegenstande gewonnen werden kaim;
ebenso erinnern uns die Theoreme a -j- a- b r= a und a (a -{- b) = a, daß
jede Behauptung, die einmal allgemein von a gilt, auch von jeder
Art des a gilt, die durch irgend ein b noch weiter bestimmt ist,
daß mithin die Erwähnung von a b neben a nutzlos bleibt oder jenes
durch dieses „absorbirt" wird. Nur der unpassende Gebrauch des
Gleichheitszeichens gibt diesen Sätzen den Schein der Sonderbarkeit;
was sie sagen, ist nur dies : überall wo der Mechanismus des Calcüls zu
den Formen a^, a -|- a, a -4- a b, führen sollte, sind diese nutzlosen Neben-
producte desselben für logische Zwecke durch das einfache a zu ersetzen.
Wichtiger ist der ausgedehnte Gebrauch, den der Calcül von dem
Satze des ausgeschlossenen Dritten macht; denn nur dieser wohl-
bekannte Satz steckt hinter dem Princip der Dualität, das hier als
neues Denkgesetz auttritt. Bezeichnen wir mit a' den contradictori-
schen Gegensatz des a, und mit 1 die Gesammtheit alles, Denkbaren,
so gelten, wirklich als Gleichungen, die Formeln a -|- a' = 1, nach
welcher aller Inhalt des Denkbaren durch a und Non a erschöpft
wird, und a a'= 0, welche die Unmöglichkeit einer Verbindung von a
und Non a ausspricht. Weder für diese Sätze noch für den" andern,
daß die Negation von Non a nur auf a zurück und nicht zu irgend
einem Dritten führt, sind weitere Beweise möglich oder nothwendig;
sie sind logische Wahrheiten, die allerdings in jenen Formeln eine
sehr bequeme und anschauliche Bezeichnung erhalten haben.
In ihren Kapiteln von den unmittelbaren Folgerungen, den Um-
kehrungen und Contrapositionen der Urtheile versuchte auch die alte
Logik, auf denselben Grundsatz gestützt, den Inhalt eines ausgespro-
chenen Urtheils in seine Beziehungen zu nicht ausgesprochenen zu
verfolgen ; Boole stellt sich umfassender die Aufgabe, die verschiedenen
einander ausschließenden Abtheilungen des Denkbaren zu entwickeln,
Drittes Kapitel.
welche sich durch Bejahung und Verneinung der in einem Urtheile
verbundenen Begriffe Klassensymhole oder Elemente überhaupt bilden
lassen. Wenn x und y die gegebenen Elemente sind, und x', y' ihre
contradictorischen Gegentheile, so sind selbstverständlich xy, xy', x'y
und x'y' die vier Gattungen, in welche sich alles Denkbar© muß ver-
theilen lassen, oder die Constituenten der gesammten Eintheilung,
welche Boole die Expansion oder Entwicklung des zwischen x und y
gegebenen Verhältnisses nennt. Es hat einige Unbequemlichkeit, daß
er nach mathematischem Herkommen jenes Verhältniß zwischen x
und y als Function beider, /(x, y), bezeichnet; logisch bedeutet ein
solcher Ausdruck erst dann etwas, wenn er als Definition oder JPrädicat
irgend eines M aufgefaßt wird; dann werden aus der gegebenen Ver-
bindung zwischen x und y alle jene Constituenten xy, xy' u. s. w.
liebst den Coefficienten.sich ableiten lassen, durch welche sie, inner-
halb des Umfangs von M, als möglich oder unmöglich bezeichnet
werden. Boole benutzt indessen vorläufig die unabhängige Function
/ (x, y) um aus ihr ebenso allgemein das Gesetz der Bildung jener
Coefficienten zu entwickeln. Seine anfängliche Gleichung x^ = x ver-
anlaßt ihn, da er für sie nur die beiden arithmetischen Analogien
0^ = 0 undl^ z=z 1 findet, zu der Annahme, logischer und mathema-
tischer Calcül würden einander völlig decken, wenn alle Größen nur
diese beiden Werthe annehmen könnten; alle mathematischen Opera-
tionen findet er umgekehrt logisch erlaubt, wenn man die Klassen-
symbole, auf die man sie anwendet, als Größen behandle, die nur
diese beiden Werthe zulassen. Sei nun a x -{- b x' die gegebene Func-
tion /(x) und /(l) und / (0) die beiden Werthe welche sie annimmt,
wenn wir x = 1 und x = 0 setzen, wodurch x' allemal die entgegen-
gesetzten Werthe annimmt, so wird gezeigt, daß /(x) sich durch die
Verbindung beider Werthe herstellen läßt: / (x) = / (1) x + / (0) x'.
Dieselbe Betrachtung führt dann für den Fall, daß die gegebene Func-
tion die beiden Elemente x und y enthält, zu der Formel:
/ (x,y) =. f (1, 1) xy + f (1, 0) xy'-f / (0, 1) x'y + / (0. 0) x'y'
in welcher die beiden eingeklammerten Werthe sich der Reihe nach
auf X und y beziehen.
Wenn man Gewicht auf dies Schema der logischen Entwicklung
einer Function legt, so wäre es leicht gewesen, es auf abenteuerliche
Weise zu begründen. Man muß doch bedenken, daß die Null, welche
jeden Größenwerth verneint, so daß für jedes m immer 0-m = 0, und
die Einheit, die als imausgesprochener Factor in jeder Größe enthalten
ist, so daß für jedes m immer l-m=:m, auch in der Arithmetik eine
Sonderstellung haben und nicht einfach allen andern Größen gleich-
artig zu achten sind; mögen sie, einzeln betrachtet, als Größenwerthe
gelten, so haben sie doch in ihrer combinatorischen oder multipli-
catorischen Verbindung mit andern Größen den allgemeinen logischen
Sinn der Bejahung und der Verneinung. Nur diese auch für die
Arithmetik gültige aber nicht aus ihr stammende logische Bedeutung
brauchte man hier und hätte deshalb nicht den Schein verschulden
sollen, als habe die Logik die Hülfsmittel zu ihren Operationen aus
arithmetischen Specialitäten zu entlehnen. Wie dies zu verstehen
Anmerkung über logischen Calcül. 263
ist, zeige ich an zwei Beispielen. Wenn zuerst M = a x -{- h x' ist, so
erhält man offenbar den Werth der rechten Seite wieder, wenn man
erst das erste Glied unterdrückt und das zweite bestehen läßt, dann
das zweite unterdrückt und das erste bestehen läßt, endlich die
beiden bestehen gelassenen wieder addirt: ax -|- bx'= ax -j- 0-bx'
-f- bx'-[- 0-ax; natürlich sind dann die Coefficienten durch /(l) und
/ (0) ausdrückbar und a x -f- b x'= / (1) x -j- / (0) x'. Sei nun die Func-
tion /"(x, y) = ax-f-by gegeben und ihre Entwicklung nach den Glie-
dern X y, X y', x'y und x'y' verlangt, und sehen wir femer, um zu wissen
wovon wir sprechen, / (x, y) sogleich als ein bestimmtes M an, dessen
Definition oder Umfangsangabe die rechte Seite der Gleichung ent-
hält. Es ist dann, innerhalb dieses M, die Combination xy in drei
Fällen möglich, nämlich für diejenigen ax, welche zugleich y, für
diejenigen by, welche zugleich x, und für diejenigen ax, welche zu-
gleich völlig b y oder die b y, die zugleich völlig a x sind ; denn keine
dieser Combinationen ist durch die rechte Seite der Gleichung aus-
drücklich ausgeschlossen. Man würde also haben axy, bxy, abxy;
da jedoch die ab logisch ohnehin schon sowohl unter a als unter b
enthalten sind, so reicht es hin a -|- b als Coefficienten von x y auf-
zuführen und allerdings ist a-|-b = /(l, 1), gleich dem Werthe der
rechten Seite für xr=l, y = 1. Das zweite Glied der Entwicklung
würde xy' enthalten; die Gleichung lehrt, daß wenn wir by unter-
drücken, welches niemals mit y' combinirt werden kann, es innerhalb
des Umfangs von M kein anderes y' oder Non y geben kann, als ax;
folglich ist a der Coefficient von xy' und a ist allerdings = f{l, 0). Eben
so folgt, daß innerhalb M kein anderes x' oder Non x möglich ist,
als by; folglich ist bx'y das dritte Glied, und b allerdings = f (0, 1).
Endlich lehrt die Gleichung, daß der Umfang von M durch ax und
by völlig erschöpft ist und Nichts enthält, was weder« x noch y wäre;
mithin ist 0 der Coefficient von x'y', und er ist wieder =f{0,0).
Rechtfertigen ließe sich daher aus blos logischen Ueberlegungen
die aufgestellte Formel der Functionsentwicklung allerdings, und ich
würde versuchen, dies allgemeiner zu beweisen, weim mir deutlicher
wäre, wozu dies ganze Verfahren dienen soll. Die nächsten Beispiele,
die Boole anführt, können nur als Uebungsexempel angesehen werden.
Wenn die reinen Thiere x nach jüdischem Gesetz diejenigen sind,
welche den Huf spalten y und wiederkäuen z, und di© Entwicklung
lehrt uns nun, es gebe keine reinen Thiere, die zwar den Huf spalten
aber nicht wiederkäuen, keine, die zwar wiederkäuen aber nicht den
Hui spalten, keine reinen Thiere ferner, die weder das eine noch das
andere thun, endlich keine Thiere, die beides thun ohne doch rein
zu sein ; so bezweifle ich die Häufigkeit des logischen Wunsches, diese
Folgerungen des Gegebenen zu erfahren, hat man aber das Bedürfniß,
so ist es ohne Zweifel ohne Calcül leichter zu befriedigen als mit
ihm. Aber zwei andere Aufgaben hofft Boole durch diese Formu-
lirungen zu lösen ; zuerst, wenn eine Anzahl Elemente irgendwie ,
verbunden gegeben sind, soll die Gleichung, welche diese Verbindung
ausspricht, nach jedem beliebigen der darin erhaltenen Elemente
aufgelöst, und dann jedes beliebige aus der Gleichung eliminirt
264 Drittes Kapitel.
werden können, um die Verhältnisse der übrigen zu einander bloß-
zulegen.
In Bezug auf die erste Aufgabe kann ich nur bedauern, daß
Boole sich rücksichtslos seinem Grundsatz überläßt, alle Rechnungs-
operationen sich zu erlauben, sobald das Resultat nur logisch deutbar
wird. Wenn der Satz: alle Menschen y sind sterblich x, gegeben ist, so con-
traponirt er ihn in: Kein Mensch ist unsterblich: yx'= 0. Da aber x'-j- x
= 1, also x'= 1 — X, so wird y (1 — x) = 0 oder y — xy = 0, xy = y;
V y
und nun weiter x = — und durch Entwicklung von — erhält man:
y y
X = y -|- — (1 — y) oder = y -j- — y'; dies aber heiße, indem die mathe-
matische Bedeutung des Symbols ^ eingeführt wird: Das Sterbliche
schließt ein alle Menschen und eine unbestimmte Menge dessen, was
Nicht Mensch ist. Ergebnisse, die nur auf so unverantwortlichen
Wegen erhaltbar wären, würden sicher keine Erweiterung der Logik
bilden. Zudem waren diese Künste hier nicht einmal nöthig. Denn
nicht die contraponirte Form y (1 — x) = 0, sondern die ursprüngliche
y = X war mit der Vorsicht hier zu brauchen, x sogleich, mit einem
particularisirenden Factor v zu versehen, ymvx; denn nur dies, und
gar nichts anderes, meint der Satz: alle Menschen sind sterblich;
er faßt nur y als untergeordnet dem x, in dessen. Umfang es dann
noch anderes gibt. Es versteht sich nun von selbst, und, es hat gar
keinen Sinn, eben dies, was man voraussetzt, noch einmal zu er-
rechnen, nämlich, daß x außer den vx, welche y sind, noch eine
üichtbestimmbare Anzahl w von Arten umfaßt, welche nicht y sind,
also daß x ^ y -f- wy'.
In Bezug auf das Eliminationsverfahren begnüge ich mich mit
einem Beispiele. Jede logische Gleichung kann durch Contraposition
des durch sie ausgedrückten bejahenden Urtheils auf 0 gebracht
werden; denn Nichts anderes als: kein x ist z, bedeutet die Gleichung
xz = 0. Ich lasse nun dahin gestellt, was über das Verfahren ge-
lehrt wird, alle gegebenen Einzelurtheile oder Gleichungen in eine
einzige resultirende Gleichung zusammenzuziehen und unterdrücke die
Bedenken, die ich gegen die Nothwendigkeit oder Ersprießlichkeit
dieser Operation hege. Gesetzt aber, es sei die Gleichung so ge-
ordnet gegeben : p a b -|- q a b'-j- r a'b -{- s a'b'=: 0, so wird als Resultat
der gleichzeitigen Elimination von a und b das Product der Coeffi-
cienten pqrs = 0 angegeben. Man versteht dies leicht durch die
gewöhnlichen Mittel der Logik. Denn logisch kann diese Gleichung
nur Null sein, wenn jedes ihrer Glieder einzeln =0 ist. Dann sagt
pab = 0: kein pa ist b; aber qab'=0 gibt contraponirt : alle qa
sind b; folglich nach Cesare: kein qa ist pa; oder pqa=:0 und
hieraus: kein pq ist a oder contraponirt: alle pq sind a'. Ferner
gibt ra'b = 0: kein ra' ist b; aber sa'b'=0 contraponirt: alle sa'
sind b; folglich nach Cesare: kein s a' ist r a' oder s r a' = 0, oder :
kein rs ist a'. Ordnen wir dem ersten Schlußsatze: alle pq sind a',
den zweiten unter: kein rs ist a', so folgt nach derselben Figur:
Anmerkung über logischen Calcül. 265
Keiif r s ist p q oder p q r s = 0. Man bemerkt leicht, daß dann, wenn
eine ebenso geordnete auf Null gebrachte Gleichung außer a, b und
a', b' noch andere Paare solcher Gegensätze c, c' enthält, die Eli-
mination auf demselben Wege fortgesetzt werden kann, aber aller-
dings ist, für solche Fälle, die abgekürzte Regel dankenswerth, das
Resultat der Elimination bestehe aus dem gleich Null zu setzenden
Producte der Coefficienten; hätte außerdem die Gleichung ein von den
zu eliminirenden Paaren unabhängiges Glied z = 0 enthalten, so würde
dies unverändert fortbestehen, also dem vorigen so hinzugefügt wer-
den können, daß in pqrs-{-z = 0 jedes der beiden Glieder für, sich
1=0 bleibt. Schröder bemerkt hierbei S. 23 seiner Schrift, die Er-
gebnisse der Elimination eines Symbols a aus mehreren getrennten
Gleichungen seien weniger umfassend als die der Elimination aus
der vereinigten Endgleichung; xa-j-ya'=0 und pa-4-qa'=0 geben
gesondert nur x y ==: 0 und p q = 0 ; die vereinigte Gleichung dagegen :
xy-}-qx-|-py4"Pq = 0; deshalb sei die letztere Geschäftsordnung
vorzuziehen. Schafft man sich hier nicht künstlich kleine Schwierig-
keiten eben durch die Geschäftsordnung, die zul«tzt auf die Ent-
wicklung der Functionen zurückläuft? Warum vereinigt man die vier
Glieder xar=0, ya'=:0, pa=:0 und qa'=0, die doch für sich
gelten müssen, in zwei Gleichungen und betrachtet sie nicht eben als
vier beliebig zu benutzende? Dann fände man ja ohne Schwierigkeit
alle Eliminationsresultate, an deren Aufsuchung man ein Interesse hätte.
Ich behaupte nicht, daß in allen oder in verwickeiteren Fällen
dasselbe syllogistische Verfahren zum Ziele führen würde. Allein wenn
Boole selbst einschärft, man müsse sorgsam zergliedern, was man in
jedem Falle meine, ehe man das Gemeinte in die Sprache der Symbole
übersetze, so glaube ich allerdings, daß die Erfüllung dieser Vor-
bedingung uns des ganzen Calcüls überheben, und daß die Logik reich
genug sein würde, um für besondere Aufgaben auch die Hülfsmittel
der Lösung erfinden zu lassen, selbst wenn diese nicht stereotyp vorher
festgesetzt wären. Ich erwähne in dieser Beziehung eine Aufgabe, die.
Boole stellt und die auch Schröder wiederholt.
Es werde angenommen, man wisse aus einer Bearbeitung von
Erfahrungen, daß in einer Klasse von Natur- oder Kunsterzougnissen
die Combinationen der Merkmale abcde folgenden Regeln dergestalt
unterliegen, daß nicht blos das Vorkommen, sondei^ auch das Nicht-
vorkommen jedes einzelnen Merkmals zu den Bedingungen gehört, aus
denen auf Dasein oder Nichtdasein der übrigen geschlossen w^erden muß.
1. überall wo a und c gleichzeitig fehlen, ist e vorhanden und
zwar mit b oder d, aber nicht zugleich mit beiden;
2. wo a und d vorkommen, e jedoch nicht, sind stets b und c
entweder zugleich vorhanden oder fehlen zugleich;
3. überall wo a mit b oder e oder mit beiden zugleich vorkommt,
ist zugleich c oder d da, jedoch nicht beide zusammen;
4. umgekehrt: wo von c und d das eine oder das andere vor-
kommt, findet sich a mit e oder b oder mit beiden zusammen.
266 Drittes Kapitel.
Man verlange nun zu wissen: •
1. was aus der Gegenwart von a in Bezug auf b c und d ge-
folgert werden kann;
2. ob und welche Beziehungen zwischen b c und d unabhängig
von den übrigen Merkmalen bestehen;
3. was aus dem Vorhandensein von b in Bezug auf a c und d, und
4. was für a c d an sich folgt.
Boole sieht voraus, kein Logiker werde auf syllogistischem Wege
hierauf die richtigen Antworten finden, ohne sie vorher gekannt zu
haben; ich gebe dies völlig zu; allein wer würde diesem Problem
gegenüber versucht sein, diesen Weg zu wählen, da der passendere
sich ganz von selbst darbietet? Wir haben nur alle Combinationen zu
fünf, die sich aus a b c d e und a'b'c'd'e' mit Vermeidung der Wieder-
holungen und des gleichzeitigen Vorkommens contradictorischer Ele-
mente bilden lassen, ganz mechanisch zu verzeichnen und dann, oder
gleich während des Verzeichnens diejenigen zu unterdrücken, welche
durch die Gesammtheit der gegebenen Bedingungen ausgeschlossen
sind. Es bleiben nur 11 Combinationen:
abcd'e ab'cd'e a'bcde a'b'cde
abcd'e' ab'c'de a'bcde' a'b'cde'
abc'de ab'c'd'e' a'bc'd'e
Man liest aus ihnen die Beantwortung der gestellten Fragen ab : 1. aus
der Gegenwart von a ist zu schließen, daß entweder c oder d, jedoch
nicht beide zusammen, da sind, oder daß b c und d zusammen fehlen;
2. zwischen b c und d findet keine unabhängige Relation statt, denn
alle denkbaren Combinationen derselben mit b'c'd' sind gleich gültig;
3. aus dem Vorhandensein von b folgt, daß entweder a c und d zu*
gleich fehlen, oder nur eines von ihnen fehlt; 4. wenn a und c' beide
vorhanden sind oder beide fehlen, so ist d nicht möglich. Außerdem
würden ähnliche Fragen in Bezug auf e, welche nicht gestellt sind,
sich aus derselben Uebersicht ergeben, ohne besondere Arbeit nöthig
zu machen.
Ich entlehne, dem gegenüber, der Schrift Schröder's wenigstens
den Anfang der Auflösung durch Rechnung, nicht sowohl um zu
zeigen, daß diese, wenn alle Zwischenglieder wirklich hergestellt
werden, sich keineswegs durch Kürze auszeichnet, sondern hauptsäch-
lich, um überhaupt den Gebrauch des Calcüls an einem Beispiele zu
erläutern, das doch eine wirkliche Aufgabe enthält und nicht blos
rückwärts das Bekannte in schwerfällige Formeln einkleidet.
Wenn man die positiven Aussagen, welche die gegebenen Be-
dingungen über die möglichen Combinationen machen, contraponirt,
mithin sie als Gleichungen auf Null bringt, so erhält man
aus 1. a'c'[e'+bd + b'd'] = 0
aus 2. ad[bc'+b'c]e'=0
aus 3. a [b 4- ej [cd + c'd'J -f [cd'+ c'd] [a'+ b'e'] = 0.
Da nun die Fragen von e und e' nichts wissen wollen, so ist zuerst
Anmerkung über logischen Calcül. 267
die für uns überflüssig gewesene Elimination dieses Gegensatzpaares
auszuführen. Nach dem Früheren besteht ihr Resultat aus der gleich
Null gesetzten Summe der von e und e' freien Bestandtheile der
Gleichungen und des Productes der Coefficienten von e und e'. Nun
ist zuerst der Coefficient von e in 3. r=: a (c d -j- C d') und der von e'
in 1. 2. und 3. = a'c' + ad [bc'-fb'c] + b' [cd'-f c'd]; das Product
beider wird nach Beachtung der früher erwähnten Regeln = ab'cd und
mit Zufügung der von e und e' freien Glieder, welche =:a'c'[bd-j-b'd']
-|-ab [cd-|-c'd'] -[-a'[cd'-t-c'd] sind, wird das ganze Eliminations-
resultat zusammenzuziehen sein in:
a [cd -f bc'd'] + a'[cd'-f- c'd -f Vc'd'] = 0.
Um nun hieraus zunächst die zweite Frage nach den Relationen
zwischen b c und d zu beantworten, müßten wir a und a' eliminiren;
das hierzu erforderliche Product ihrer Coefficienten ist aber = 0, da
jedes entstehende Einzelproduct wegen der Combination contradicto-
rischer Elemente für sich zu Null wird; das Resultat ist also 0 = 0
und dies müssen wir uns als Zeichen dafür genügen lassen, daß
keine unabhängige Relation zwischen diesen drei Merkmalen statt-
findet. Man sieht jedoch zugleich, daß, wenn wir p den Coefficienten
von a nennen, der von a' zu Non p oder p' wird; wir habe» daher
aus a p -}- a' p' = 0 die beiden Gleichungen : a p = 0 oder kein a ist
p und a'p' = 0, kein Non a ist Non p; die erste gibt sogleich: alle
a sind Non p oder p' ; mithin a = c d'-\- c' d + b' c' d', woraus die
erste Frage zu beantworten ist.
Ich unterlasse die Fortsetzung, welche nöthig wäre, um auch der
dritten und vierten Frage zu genügen, und bemerke nur, daß für
diese ganze Aufgabe jene Entwicklung von Functionen gar nicht in
Anspruch genommen ist, über deren Wichtigkeit ich schon oben meinen
Zweifel aussprach; unmittelbar aus den vorliegenden Aussagen wurden
die zu benutzenden Gleichungen gewonnen und die Eliminationen aus
ihnen erfolgten nach einer Methode, deren Ursprung aus Schlüssen
nach der zweiten Figur uns begreiflich war. Gegen die Triftigkeit dieses
Verfahrens ist daher nichts einzuwenden; aber ebenso wenig gegen
die größere Einfachheit und Anschaulichkeit des von uns innegehal-
tenen, welches, nebenbei bemerkt, nicht erst von Jevons entdeckt
zu werden brauchte, sondern in der Anweisung zu Classicationen vor-
lag, die längst zuerst die combinatorische Zusammenstellung der
Mtjrkmale und dann die Streichung der Combinationen verlangte,
welche durch die nun zu berücksichtigende gegenseitige Determination
der Merkmale unzulässig wurden. Ich kann mich daher von den Vor-
theilen nicht überzeugen, welche aus dem Versuche entspringen wür-
den, alle jene Veranschaulichung s- und Abkürzungsmittel, auf welche
im gegebenen Falle Jeder von selbst verfällt, und die er bald so in
Uebereinstimmung mit der vorliegenden Aufgabe anwendet, zu einem
festen logischen Calcül zu systematisiren. Es wird nicht zu vermeiden
sein, daß eine Methode der Symbolisirung, die für Alles gleichartig
sorgen will, ihre Bequemlichkeit für die Lösung einer Aufgabe durch
unnütze Weitläufigkeit in der Bearbeitung anderer und durch man-
cherlei Zwiespalt mit dem Sprachgebrauche erkauft.
268 Drittes Kapitel.
Schon die quantitative Bestimmung des Prädicats im Urtheile,
von welcher die neuere englische Logik ausging, war keine neue Ent-
deckung, sondern die überflüssige Aufbauschung eines bekannten Ge-
dankens zu übertriebener Wichtigkeit. Daß das Prädicat im Urtheil,
die reciprocablen ausgenommen, größeren Umfang hat als das Sub-
ject, das eben in diesen Umfang eingeordnet wird, daß also nicht blos
das Prädicat das Subject determinirt, sondern auch dieses das Prä-
dicat auf diejenige Modification einschränkt, die ihm, dem Subjecte
zukommt, waren alte Lehren der Logik und in ihren Umkehrungs-
regeln hatte sie auch für die Anwendung derselben gesorgt. Daß diese
Wahrheit in den Schematen der Urtheile ebenso wenig wie in der
gewöhnlichen sprachlichen Form der Sätze besonders ausgedrückt
wurde, was schadete das, wenn man die Sache wußte? hat dieser
Mangel jemals einen besonnenen Denker zum Irrthum verführt? und
mußte man, um solche Kleinigkeiten zu bessern, gleich zu so gefähr-
lichen Anstalten greifen, den natürlichen Ausdruck der Gedanken an
eine neue Symbolisirung und einen neuen Calcül zu knüpfen? Wenn
man den Satz : alle Menschen sind sterblich, durch y = v x ausdrückte,
so wäre ein reeller Gewinn nur gewesen, wenn man nun Mittel gehabt
hätte, dieses v zu bestinmien ; so lange es ein unbestimmter Coefficient
bleibt, ist es eine wirkungslose Bezeichnung dessen, was wir vorher
wußten. In der Umkehrung des Urtheils : einiges Sterbliche ist Mensch,
würde diese unbestimmte Particularität auch nach der alten Logik
weder besser noch schlechter als vermittelst jenes v zum Ausdruck
gekommen sein; nimmt man aber an dem „Einiges" Anstoß, so war
er leicht durch die Betrachtung zu entfernen, daß solche unbestimmt
particulare Urtheile zugleich Formen der Modalität sind, und die Mög-
lichkeit einer Verknüpfung ihres Prädicats mit dem Allgemeinbegriffe
ihres Subjects aussprechen, indem sie diese Verknüpfung für einige
aber nicht für alle Exemplare dieses Begriffs asseriren.
Zu dieser Bemerkung regt unter andern eine Stelle von Jevons
an (Principles of Science, London 1877, Seite 59) : er bildet zwei
Prämissen: Natrium = Natriummetall und Natrium = auf Wasser
schwimmendem Natrium; zu dem daraus gezogenen Schlüsse: Natrium-
metall ==z auf dem Wasser schwimmendem Natrium, fügt er die Be-
merkung hinzu: „dies ist nun wirklich ein Schluß nach Darapti der
dritten Figur, nur daß wir eine Conclusion von exacterem Charakter
erhalten haben, als nach dem „alten" Syllogismus möglich ist. Aus
jenen Prämissen würde Aristoteles gefolgert haben: einiges Metall
schwimmt auf Wasser; wenn man aber fragte, welche Metalle dies
wären, würde er haben antworten müssen: das Natrium. Mithin ent-
hält des Aristoteles Schluß einen Theil der Wahrheit nicht, den die
Prämissen darbieten und behütet uns nicht davor, jenes „einiges
Metall" in weiterem Sinne zu verstehen, als erlaubt ist. Von diesen
deutlichen Fehlern des alten Syllogismus ist unser Schluß frei und
man kann ihm höchstens den Vorwurf machen of being tediously
minute and accurate." 0 nein, höchstens das tediously könnte man
bejahen; außerdem wird Aristoteles Recht behalten. Denn das ganze
Verfahren von Jevons ist eben nur die Wiederholung oder höchstens
die Summirung seiner beiden Prämissen; in einer solchen aber, die
Anmerkung über logischen Calcül. 269
bei dem gegebenen Thatbestande einfach bleibt, hat man nie einen
Schluß gesehen, sondern nur in einer Gedankenbewegung, die das
Gegebene benutzt, um darüber hinauszugehen. Die hier vor-
geschlagene Zusammenstellung von Worten ist daher überhaupt
kein Schluß und folglich auch keiner in Darapti; wenn Aristoteles
den seinigen bildete, so sagte er damit: das Vorkommen des auf
dem Wasser schwimmenden Metalls Natrium beweist, daß die
Eigenschaft solcher Leichtigkeit mit dem Character des Metalls
im Allgemeinen nicht unvereinbar ist; drückte er dies aus durch:
einiges Metall ist schwimmbar, so wollte er natürlich niciht die
Prämissen wiederholen, die man ohnehin wußte, sondern die Mög-
lichkeit einer allgemeinen Verbreitung dieser Eigenschaft unter
den Metallen aussprechen als eine Vermuthung, deren factiscihe
Richtigkeit man weiter zu prüfen Veranlassung hat, weil sie
logisch nicht undenkbar ist. Selbst der Ausdruck: einiges Metall,
ist im Grunde ganz richtig, denn gewiß ist Natrium einiges Metall;
zugleich an andere Metalle zu denken befiehlt dieser Ausdruck
gar nicht; daß er es aber nicht auch verbietet, ist eben so richtig
und hat keinen Irrthum zur nothwendigen Folge.
Wie oft haben solche moderne Unternehmungen schon den
Anbruch einer ganz neuen Epoche für die Logik und den Untergang
der verächtlichen alten verkündigt! Ich bin überzeugt: wenn nun
wirklich einige Menschenalter hindurch die alte Logik ganz ver-
gessen wäre, dann aber von einem Glücklichen wieder entdeckt
würde, so würde man in ihr den so lange gesuchten, nun endlich
gefundenen, naturgemäßen Gang des Denkens begrüßen, aus wel-
chem die Sonderbarkeiten und zugleich die dennoch in gewissem
Maße vorhandene Triftigkeit der logischen Rechnungen begreiflich
würde, mit denen man sich bis dahin beholfen hätte.
Viertes Kapitel.
Die Formen des Beweises.
199. Die verschiedenen Formen der Urtheile hatte die
systematische Logik aufzuführen und die bestimmte Art
der Verknüpfung zu zeigen, welche zwischen S und P in
jeder derselben als vorhandene oder als zu vollziehende
gedacht wurde; die angewandte Logik hat zu überlegen,
welche Inhalte S und P mit Recht in einer dieser Ver-
knüpfungsformen verbunden werden können. Verschiedene
Aufgaben, die wir nicht immer trennen werden, fallen in
diese Richtung. Hauptsächlich Mittheilung fremder Ge-
danken überliefert uns zahlreiche Sätze von der Form:
S ist P, deren Sinn und Inhalt vollständig bestimmt, deren
Gültigkeit jedoch fraglich ist; dann entsteht für uns die
270 Viertes Kapitel.
Aufgabe eines Beweises für den gegebenen Satz T;
eigene Beobachtungen führen uns anderseits auf die Ver-
muthung, zwischen zwei Inhalten S und P müsse eine
Beziehung obwalten, die, wenn sie bekannt wäre, sich
durch ein Urtheil der Form: S ist P, würde ausdrücken
lassen müssen; dann entspringt für uns die Forderung der
Erfindung des noch nicht bekannten Satzes T, der den
genauen Ausdruck dieser vorausgesetzten Beziehung bilden
würde. Beide Leistungen, Beweis und Erfindung, unter-
scheiden sich nur durch abweichende Handhabung derselben
logischen Mittel. Die nämlichen Gedankenverbindungen,
durch welche Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit eines
Satzes T zuerst gefunden worden sind, lassen sich theils
in etwas veränderter Fassung, theils selbst ohne solche
Umformung immer auch zum Beweise der Wahrheit oder
Wahrscheinlichkeit eines gegebenen T verwenden. Auch
bemerkt man sogleich, daß das erfinderische Nachsinnen,
um sein Ziel nicht zu verfehlen, allerhand kleiner
Zwischenglieder von der Form des Beweises bedarf; um-
gekehrt wird dieser, gleichfalls um sein Ziel zu erreichen,
einer erfinderischen Gedankenbewegung nicht entbehren
können. Gleichwohl reicht im Ganzen die Erfindung weiter
als der Beweis; ich trenne deshalb, ohne indessen bei
jeder Gelegenheit ihre natürliche Vermischung zu ver-
meiden, beide Aufgaben. Wissenschaftliche Untersuchungen
führen auf beide ziemlich gleichmäßig; die Bedürfnisse
des Lebens häufiger auf die Erfindung. Aber ich habe
Grund, meinen nächsten Gegenstand noch weiter zu theilen
und den Beweis für allgemeine Sätze von dem für parti-
culare oder singulare zu trennen. Eine allgemeine Be-
ziehung zwischen S und P wird sich allerdings selten fest-
stellen lassen, ohne von Erkenntnissen Gebrauch zu machen,
welche die Erfahrung geliefert hat; aber da diese Er-
kenntnisse, um zu allgemeinen Folgerungen zu führen,
selbst allgemeine Geltung besitzen müssen, so kann man
sie als solche ansehen, die, früher allerdings aus Er-
fahrungen gewonnen, doch jetzt, nachdem man sie mit
dem Zutrauen zu ihrer Allgemeingültigkeit besitzt, zu den
eigenen Hülfsmitteln des Denkens zu rechnen sind. Der
Beweis einzelner Thatsachen dagegen, geschichtlicher Er-
eignisse oder gewöhnlicher Begebenheiten des Lebens, kann
nie aus allgemeinen Sätzen allein fließen, auch aus solchen
nicht, die selbst der Erfahrung entlehnt sind; er setzt die
Kenntniß einer Menge von Einzel umständen voraus, die
Die Formen des Beweises. 271
nur hier vorkamen und nur hier sich in dieser bestimmten
Weise verbanden. Die vorgängige Ermittlung aller dieser
Bedingungen, aus denen zu schließen ist, erfordert eigen-
thümliche Hülfsmittel, deren Betrachtung später folgen wird.
Die Auflösung gestellter Aufgaben dagegen, auch wenn sie
nicht einen allgemeinen Satz, sondern ein ganz singulares
Ergebniß liefern sollen, läßt sich mit dem Beweise all-
gemeiner Sätze verknüpfen; unter den Bedingungen, die
hier nicht gesucht zu werden brauchen, sondern gegeben
sind, und so weit sie gegeben sind, ist der bestimmte Satz T,
welcher sie alle erfüllt, immer durch die allgemeinen Mittel
des Denkens zu finden, und diese theoretischen Ergebnisse
sind nur insoweit ungenau und in praktischer Anwendung
einer Verbesserung bedürftig, als es eben nicht gelungen
war, alle jene Bedingungen anzugeben, denen T genügen
sollte.
200. Jeder Beweis ist ein Schluß oder eine Schlußkette,
welche zu dem gegebenen Satze T die Prämissen ergänzt,
aus deren Ineinandergreifen T als denknothwendige Fol-
gerung hervorgeht. Die Gültigkeit jeder Folgerung aber
hängt ab von der Gültigkeit ihrer Prämissen; auch diese
würde sich durch neue Beweise feststellen lassen, nur
würde dies Verfahren sich fruchtlos ins Unendliche fort-
setzen, wenn es nicht irgend eine Anzahl allgemeiner Sätze
gäbe, deren Gültigkeit für uns unmittelbar feststeht, die
daher eines Beweises weder bedürftig noch fähig sind,
vielmehr selbst die letzten Entscheidungsgründe bilden, nach
denen sich Triftigkeit oder Untriftigkeit jeder einzelnen
Folgerung aus ihren Prämissen beurtheilen läßt. Ich er-
örtere hier noch nicht die Frage, woher unserem Denken
der Besitz so unmittelbar gewisser Wahrheiten kommen
mag; nur die Frage nach dem Kennzeichen geht uns hier
an, das uns berechtigt, einen Satz T zu der Reihe dieser
Axiome zu rechnen, deren Zugeständniß man von jedem
gesunden Denken glaubt fordern zu können. Nun ist be-
greiflich, daß dies Kennzeichen, eben weil jeder Beweis
eines Axioms unmöglich ist, zuletzt nur in der Evidenz,,
in der unmittelbaren Klarheit und Gewißheit bestehen kann,
mit welcher der Inhalt eines allgemeinen Satzes sich uns
als denknothwendig aufdrängt; und in der That ist man
hierauf immer zurückgekommen. Vielfältige Erfahrung lehrt
uns jedoch, daß Sätze, deren Unrichtigkeit spätere Zeiten
nachwiesen, für frühere die größte Evidenz und Ueber-
zeugungskraft besessen haben; Verhältnisse, die wir in
272 Viertes Kapitel.
dem beschränkten Beobachtungskreise, in welchen wir ein-
geschlossen sind, beharrlich bestehen oder wiederkehren
sehen, ohne daß eine Erfahrung des Gegentheils uns an
ihnen irre macht, nehmen sehr allgemein für uns den
Schein der Denknothwendigkeit an. Es gibt nur ein Mittel,
diese falsche Evidenz der Vorurtheile von der echten wahr-
hafter Axiome zu unterscheiden: man muß versuchen, ob
das contradictorische Gegentheil des fraglichen Satzes T
ebenso undenkbar ist, als T selbst uns denknothwendig
scheint. Diese Probe wird oft völlig entscheidend sein; zu
unserer Verwunderung werden wir häufig finden, daß der
Versuch, S und P in der entgegengesetzten Weise von der-
jenigen zu verbinden, welche der gegebene Satz T be-
hauptete, zu gar keinem inneren Widerspruch im Denken
führt. Dann wird T kein Axiom sein, sondern entweder
überhaupt ein Irrthum, oder eine Wahrheit von nur parti-
cularer Geltung, oder eine allgemeine zwar, aber eine solche,
die eines Beweises bedürftig ist. Im anderen Falle, wenn
das contradictorische Non T ebenso undenkbar scheint, wie T
denknothwendig, werden wir mit um so größerem Ver-
trauen T als unmittelbares Axiom betrachten; vollständige
Sicherheit indessen gewährt dann die Probe nicht, denn
nichts hindert, daß die Undenkbarkeit von Non T auf ebenso
falscher Evidenz beruhe, wie die scheinbare Denknoth-
wendigkeit von T. Fände dieser doppelte gleichzeitige Irr-
thum statt, so würde es kein kurzes logisches Mittel zu
seiner Entdeckung geben ; nur das Gewahrwerden der Wider-
sprüche, welche die Erfahrung gegen die angenommene
Gültigkeit von T erhebt, und eine langsame vielseitige Um-
formung unseres Gedankensystems auf Veranlassung dieser
Widersprüche könnte allmählich die Verbesserung unseres
Fehlers herbeiführen. Grundsätze blos theoretischer Er-
kenntniß werden selten von diesem Doppelirrthum behaftet
sein, öfter die, welche unserer ethischen Beurtheilung zu
Grunde liegen, und die man wohl den echten oder schein-
baren Axiomen zurechnen darf, obgleich sie nicht eigentlich
denknothwendig, sondern nur selbstverständlich und ihre
Gegen theile nicht undenkbar, sondern nur absurd erscheinen.
Daß man den Feinden schaden müsse, galt im Alterthum
lange und allgemein als selbstverständlich und das Gegen-
theil für absurd; solche Irrthümer kann am meisten nur
die langsame Umstimmung der Gewohnheiten des Gemüthes
beseitigen.
201. Sei nun T ein allgemeiner Satz von nicht axio-
Die Formen des Beweises. 273
malischer Geltung, ein solcher also, der eines Beweises
bedürfen würde, so wird man doch diesen Beweis nicht
eher antreten, bis man weiß, daß T ihn verdient. In drei
Fällen wird er es nicht. Zuerst dann nicht, wenn sein
Inhalt ein unvollständiger und deshalb unbestimmter Ge-
danke ist. Der ungeschulte Verstand pflegt, so lange er
sich auf die Gegenstände seines natürlichen Gesichtskreises
beschränkt, gewissenhaft in der Aufzählung und Erfor-
schung aller Beziehungspunkte zu sein, welche zum Ver-
ständniß einer Thatsache gehören; er befolgt hier die alte
Regel, die Fragen alle zu beantworten: quis? quid? ubi?
quibus auxiliis? cur? quomodo? quando? Desto unbehülf-
licher wird er, wo er in allgemeine Betrachtungen ab-
schweift, die dem Gebiete der Speculation angehören; er
gelangt dann meist nur zu einem unförmlichen Ausdruck
von etwas, was er vielleicht mit Recht meint verlangt
oder voraussetzt, aber an keine bestimmten oder bestimm-
baren Beziehungspunkte anzuknüpfen weiß. Die Speculation
ihrerseits, in Abstractionen schwelgend, kommt ihm hier
nicht immer helfend entgegen, sondern begnügt sich auch
oft, mit Begriffen zu verfahren, die von ihren natürlichen
Anwendungspunkten abgelöst im Leeren schweben ; nirgends
sind daher unbestimmte Thesen häufiger als da zu finden,
wo der logisch nicht disciplinirte Verstand naturalistisch
zu philosophiren beginnt. Daß Gott und Welt Eins sei,
kann nur der beweisen, der diesen Satz selbst aufgestellt
hat; so weit dann sein Beweis richtig sein wird, hat er
durch ihn ecst interpretirt, was er mit seinem Satze meinte ;
wer diesen aber nicht selbst aufgestellt hat, thut am besten,
ihn weder zu beweisen noch zu widerlegen; denn daß Gott
und Welt in gewissem Sinne Zwei sind, sagt der Satz
selber, sonst könnte er sie nicht unterschieden haben;
daß sie aber in irgend einer der vielen Bedeutungen, welche
der Begriff der Einheit hat, auch Eins sind, läßt sich im
voraus vermuthen. Daß die Dinge Erscheinungen sind,
ist ebenso zweideutig; die scheinbaren Dinge der sinnlichen
Wahrnehmung sind es natürlich, sonst erschienen sie uns
nicht; daß aber diejenigen Dinge, die wir als selbst un-
beobachtbar dem sinnlichen Wahrnehmen unterlegen, auch
Erscheinungen seien, ist so lange ein unvollständiger Ge-
danke, bis hinzugefügt wird, was denn hier erscheinen
soll und wem. Alle diese und ähnliche Sätze verdienen
Beweis und Widerlegung nicht, sondern sind angebracliter
Maßen zurückzuweisen, ganz ebenso wie man im rechtlichen
Lotze, Logik. 28
274 Viertes Kapitel.
Verfahren jeden abweist, der blos über erlittenes Unrecht
klagt, aber nicht angibt, was ihm geschehen sei und von wem.
202. Der zweite Fall findet statt, wenn zwar von dem S
oder P des Satzes T eine völlig scharfe Nominaldefinition
gegeben werden kann, diese aber entweder eine nachweisbar
unmögliche oder eine nicht nachweisbar gültige Vorstellungs-
verknüpfung enthält. Niemand wird sich um Beweis oder
Widerlegung eines Satzes bemühen, dessen Subject der
Begriff eines hölzernen Eisens ist; Niemand untersuchen,
ob dies hölzerne Eisen im Feuer verbrennen werde wie
Holz, und nicht vielmehr schmelzen wie Eisen. Gespenster
und Irrlichter enthalten so logischen Widerspruch nicht;
ob aber jene schlafbedürftig sind, diese von vergrabenem
Metall angezogen werden, läßt man doch dahingestellt, bis
die Existenz beider bewiesen ist. Was man hier verlangt,
läßt sich im Allgemeinen die Rechtfertigung eines Be-
griffes nennen, die dann, wenn von ihm Gebrauch gemacht
werden soll, allemal zu seiner nominalen Definition hinzu-
gefügt werden muß. Sie kann in verschiedener Weise ge-
leistet werden. Bedeutet M etwas, dem äußere Wirklichkeit
zukommen soll, so wird am kürzesten M durch unmittelbare
Aufzeigung eines Beispiels oder einer Thatsache ge-
rechtfertigt, in welcher die Wirklichkeit seines Inhalts ge-
geben und der Beobachtung zugänglich vorliegt. Bezeichnet
M eine Vorstellungsverknüpfung, deren Gültigkeit darin be-
steht, daß sie ausführbar ist und daß ihr Ergebniß sich
vorstellen oder in innerer Anschauung verwirklichen läßt,
so wird eben diese Verwirklichung des von M verlangten
Inhaltes, oder seine Construction, M selbst rechtfertigen;
so legitimirt die Geometrie die Zulässigkeit von Begriffen,
die sie gebildet hat, durch anschauliche Herstellung dessen,
was sie vorher nur als Aufgabe enthielten, und beweist
hierdurch am einleuchtendsten, daß diese Aufgabe lösbar
war. Ist weder ein Beispiel von M nachweisbar, Qoch
seine Construction ausführbar, so muß wenigstens eine
Begründung (Deduction) eintreten, welche zeigt, im Zu-
sammenhang mit welcher nachweisbaren Wirklichkeit oder
im Verfolg welcher Aufgabe wir mit Fug und Recht zu der
Bildung des Begriffes von M veranlaßt werden. Nicht immer
kann diese Begründung die Gültigkeit von M, in der Gestalt,
in welcher sein Begriff vorliegt, unmittelbar beweisen, aber
immer stellt sie M als vorläufige Bezeichnung eines nicht
grundlos, sondern mit Recht gesuchten Inhalts dar; der
Die Formen des Beweises. 275
weiteren Untersuchung, deren Beginn hierdurch gerecht-
fertigt wird, bleibt es überlassen, ob M selbst sich als
gültiger Begriff wird rechtfertigen lassen, oder welche Um-
formung seines Inhalts vorzunehmen ist, um diese Gültig-
keit herbeizuführen. Im Alterthum war die Verdoppelung
des Würfels ein wichtiges Problem; aber auch wenn man
durch geometrische Operationen die gesuchte Seite des
doppelten Würfels nicht construiren konnte, war doch von
Anfang an gewiß, daß die Aufgabe überhaupt lösbar und
die gesuchte Seite eine Größe sei, die sich irgendwie auf-
finden lassen muß. Denn man konnte zeigen, daß mit
stetiger Zunahme der Seite auch das Volumen des Würfels
ohne Aenderung seiner cubischen Gestalt stetig zunehmen
muß; in der unendlichen Reihe wachsender Würfel muß
sich daher auch derjenige finden, welcher das Doppelte
eines gegebenen ist, und somit ist auch seine Seite eine
in der Reihe der Linien existirende. Diese Begründung
der nothwendigen Gültigkeit des Gesuchten ersetzt hier
die wirkliche Ausführung der Gonstruction. Man kann femer
darüber zwar Bedenken haben, ob ein und derselbe Begriff
von Länge auf krumme und gerade Linien passe; setzt
man aber dies Bedenken beiseit, so war es vorläufig eine
nicht unbegründete Hoffnung, durch elementare geometrische
Construction die gerade Linie zu finden, die dem Umfange
eines Kreises von gegebenem Halbmesser gleich ist; denn
gewiß war dies, daß die gesuchte Länge von der dieses
Halbmessers und zugleich nur von dieser abhängt. Die
ausgeführte Untersuchung erst hat diese Hoffnung beseitigt
und gezeigt, daß der Umfang als geschlossene reale und
algebraische Function des Halbmessers nicht herstellbar
ist. Naturwissenschaftliche Hypothesen nehmen häufig That-
sachen an, die man nicht hoffen kann, jemals in unmittel-
barer Beobachtung nachweisen zu können; nicht selten
muß man sogar Gott und der Zukunft überlassen, auch
nur die Möglichkeit und Construirbarkeit dessen zu be-
weisen, was man vorläufig als Annahme gar nicht ent-
behren kann. Dann bleibt nur die Begründung übrig, welche
aus den gegebenen Thatsachen die Dringlichkeit der an-
gewandten Vorstellungsweise ableitet, allerdings dann mit
dem Vorbehalt, sie in Zukunft so ändern zu können, daß
sie construirbar wird, ohne ihre Brauchbarkeit einzubüßen.
Hierauf führen uns andere Gelegenheiten zurück; für den
Augenblick genügt es, auf die zuerst gebrauchten Beispiele
zurückzuverweisen, um deutlich zu machen, welche Art
18*
276 Viertes Kapitel.
der Rechtfertigung wir für Begriffe verlangen, deren Ver-
knüpfungen im Urtheile Beweis oder Widerlegung verdienen
sollen.
203. Haben nun auch die Begriffe, die in dem all-
gemeinen Satze T verbunden sind, die nöthige Bestimmtheit
und Gültigkeit, so wird man sich dennoch auf einen Beweis,
welcher T als nothwendige Folge aufzusuchender Prämissen
darzustellen hätte, nicht eher einlassen, bis man sich einige
vorläufige Bürgschaft für seine thatsächliche Geltung ver-
schafft hat; denn jede Mühe würde verschwendet sein,
etwas zu beweisen, was eben nicht gilt. Ist T ein all-
gemeiner Satz, dessen Anwendungsgebiet sich in Gedanken
nicht leicht übersehen läßt, so versuchen wir zuerst, ob T
in einigen naheliegenden Beispielen zutrifft; ein einziger
Fall, in welchem dies nicht geschähe, würde die Allgemein-
gültigkeit von T aufheben und die Aufgabe würde sich
in die der Auffindung von Bedingungen verwandeln, unter
denen T wenigstens eine particulare Geltung besäße; ist
dagegen, was T behauptet, in allen verglichenen Beispielen
seiner Anwendung gültig, so kann diese hier stets unvoll-
ständige Durchprobirung zwar nicht die Allgemeingültig-
keit des T beweisen, aber seinen Inhalt doch so weit
empfehlen, daß die Aufsuchung eines Beweises der Mühe
werth wird. Dies durchaus nothwendige Vorverfahren, das
später seine Stelle auch unter den Beweisformen selbst
finden wird, versäumen wir in der That nur selten und
meist nur dann, wenn die Gültigkeit von T nicht durch
bloße Ueberlegung in Gedanken aufzufindender Anwen-
dungsbeispiele, sondern nur durch äußere Beobachtung
oder Versuch festzustellen ist. Nicht nur die Höflinge
Ludwigs XIII. erschöpften sich in geistreichen Beweisen
für den Satz, daß ein lebendig hineingeworfener Fisch
ein ganz volles Gefäß zum Ueberlaufen bringe, ein todter
aber nicht, und erst der hinzugerufene Gärtner zeigte durch
den Versuch die Ungültigkeit der ganzen Behauptung; auch
sonst finden sich, in den weniger exacten Theilen der
Naturwissenschaft, tiefsinnige erklärende Beweise genug für
Erscheinungen, deren thatsächliches Vorkommen völlig
zweifelhaft ist.
204. Wäre nun diese Vorfrage erledigt, und T ein
allgemeiner Satz, der eines Beweises würdig ist, so kann
seine Wahrheit oder Unwahrheit entweder in kürzester
Linie oder auf einem Umwege festgestellt werden, und
hiemach unterscheiden wir die Beweise zuerst. Sie sind
Die Formen des Beweises. 277
direct, wenn sie unmittelbar den gegebenen Satz T als
nothwendig oder als unmöglich nachweisen; sie heißen
indirect oder apagogisch, wenn sie Wahrheit oder
Unwahrheit von T mittelbar durch Aufzeigung der Un-
wahrheit oder Wahrheit seines contradictorischen Gegen-
theils Non T begründen. In beiden Fällen kann die Richtung,
welche der Gang der Gedanken nimmt, noch eine doppelte
sein. Ich nenne den Beweis rechtläufig oder pro-
gressiv, wenn er aus dem, was in der Natur der Sache
das Bedingende ist, das Bedingte als Folge entstehen läßt;
er ist rückläufig oder regressiv, wenn er das, was
in der Natur der Sache das Bedingte ist, als Erkenntniß-
grund des Bedingenden benutzt. Der Beweis der ersten
Form, da er a principio ad principiatum geht, mag ebenso-
wohl d e d u c t i V heißen ; für die Beweise der zweiten Form,
die a principiato ad principium fortschreiten, wird man
den entgegengesetzten Namen der inductiven im All-
gemeinen nicht ebenso passend finden. Beide Beweisgänge
lassen endlich noch einen Unterschied zu: man kann pro-
gressiv von allgemeinen Wahrheiten zu T oder von T zu
seinen eigenen Folgen und ebenso regressiv von den Folgen
des T zu T, oder von ihm selbst zu den Wahrheiten
übergehen, die seinen Grund bilden. Ueber den verhältniß-
mäßigen Werth der acht verschiedenen Formen, die so
entstehen, wird man erst dann urtheilen können, wenn
man jede von ihnen mit Rücksicht auf die Aufgaben ins
Auge faßt, für die sie verwendet zu werden pflegt. Hierzu
mag folgende Uebersicht dienen.
205. Die erste Beweisform, direct progressiv, geht
von einer allgemeinen Wahrheit aus, die sie als Obersatz
an die Spitze ihres ganzen Verfahrens stellt; im Untersatz,
oder in einer Reihe von Episyllogismen, wenn der Beweis
nur in einer Schlußkette vollendbar ist, wird dann nach-
gewiesen, in welchem Verhältniß die Bestandtheile S und P
des gegebenen Satzes T zu jenem Obersatz stehen; der
Schlußsatz endlich folgert, daß um dieser Verhältnisse willen
von S und P der zu beweisende Satz T gelten müsse.
Bestimmt man die Aufgabe auf diese allgemeine Weise,
so scheinen alle drei aristotelischen Figuren zu dieser
Beweisform benutzt werden zu können; in der That aber
entspricht dem Sinne derselben doch blos die erste. Die
dritte Figur halte ich nicht deswegen für ungenügend, weil
sie nach gewöhnlicher Bezeichnung blos particulare Schluß-
sätze gibt, während wir hier allgemeine Sätze beweisen
278 Viertes Kapitel.
wollen ; übertragen wir die particulare Conclusion :
einige S sind P, in modale Fomi : was S ist, kann P sein,
so gibt sie allerdings einen allgemeinen Satz, dessen Beweis
von Werth sein kann. Wird zum Beispiel eine Leistung P
verlangt, zu deren Herstellung man an das scheinbar un-
günstige Material S gebunden ist, so wird man gern in
einem Beweise, nach Bamalip, gezeigt sehen, daß an einem
Subject M sich S und P vertragen, folglich S die Leistung P
nicht allgemein unmöglich mache. Aber die dritte Figur
liefert diesen Beweis nicht in progressiver Richtung. Sie
stellt in ihren beiden Prämissen nur ein Beispiel des Zu-
sammenbestehens von S und P auf, aus welchem wir
regressiv, ab esse ad posse, auf die Verträglichkeit beider
zurückschließen. Die zweite Figur erlaubt zwar allgemeine,
aber nur verneinende Folgerungen; auch diese können von
Werth sein, aber um in dieser Figur gewonnen werden zu
können, setzen sie qualitativ entgegengesetzte Prämissen
voraus und befriedigen deshalb nicht. Denn ein allgemein
verneinender Satz T, der von einem S ein Prädicat P blos
deshalb ausschließt, weil, was S und was P ist, sich ent-
gegengesetzt zu einem dritten M verhält, beruft sich auf
ein Kennzeichen, welches die Unvereinbarkeit des S
und P sicher bezeugt, aber nicht auf einen Grund, der
sie erklärt; er drückt nur eine Thatsache aus, die zwar
gilt, aber so lange unverstanden bleibt, bis man in einem
bejahenden Urtheile erfahren hat, was S wirklich ist, und
nun einsieht, daß es, weil es dies ist, jenes andere, P, nicht
sein kann. Auch die zweite Figur liefert daher zwar triftige
und zwingende, aber nicht erklärende Beweise ihrer Schluß-
sätze, auch sie ist mehr von regressivem, als von pro-
gressivem Charakter.' Auf die erste Figur, und zwar vor-
züglich auf ihre bejahenden Modi, für unsere Aufgabe aus-
schließlich auf Barbara, hat sich daher gewöhnlich die
Aufmerksamkeit gerichtet, wenn von direct progressiven
Beweisen die Rede war; nur hier findet die Unter-
ordnung eines gegebenen Inhalts unter eine allgemeine
Wahrheit statt, aus welcher nicht blos begriffen wird,
daß T gilt, sondern auch warum es gilt.
206. So urtheilte schon Aristoteles; es verdient jedoch
angemerkt zu werden, daß nicht blos in diesem Sinne diese
Beweisform als ein Ideal zu betrachten ist: sie hat An-
spruch auf das ihr gespendete Lob nur dann, wenn es uns
gelingt, sie mit dem Inhalt zu füllen, den ihre Gliederung
Die Formen des Reweises. 279
verlangt: wenn wir also im Obersatze ein solches ali-
gemeine Urtheil voranschicken, welchem untergeordnet zu
werden der besondere Fall des Untersatzes seinem eigenen
Inhalte nach fordert, und welcher deshalb wirklich der
bedingende Grund sein würde, aus dem die Gültigkeit des
zu beweisenden Satzes, nicht blos für unsere Erkenntniß,
sondern nach der eigenen Natur der Sache selbst hervorgeht.
Aber es ist klar, daß man die Form dieses Beweises be-
nutzen kann, ohne im mindesten die eben gestellte Be-
dingung zu befriedigen. Gibt es doch, und zwar gerade
auf dem exact zu behandelnden Gebiet mathematischer
Erkenntniß, zahlreiche Sätze T, für die sich verschiedene
gleich triftige Beweise geben lassen, die alle in dieser
subsumptiven Form verlaufen, und von denen daher keiner
beanspruchen kann, ausschließlich den eigenen Zusammen-
hang und Entwicklungsgang der Sache selbst auszudrücken.
Die Möglichkeit, denselben Inhalt in sehr verschiedenen
Formen ohne Veränderung seines Werthes darzustellen,
erlaubt hier, ihn sehr verschiedenen allgemeinen Obersätzen
subsumirbar zu machen und von allen diesen willkürlich
gewählten Ausgangspunkten zu derselben Behauptung T
zu gelangen. Ich wünsche hierüber nicht mißverstanden
zu sein und gehe deshalb ins Einzelne. Ich gebe zuerst
zu, daß sehr viele mathematische Sätze T so offenbar
bloße Anwendungsbeispiele eines bestimmten Obersatzes M
sind, daß nur die Herleitung aus diesem Obersatze natürlich,
die aus jedem andern N als eine Künstlichkeit erscheint.
Ich bemerke ferner, daß da, wo T aus verschiedenen Ober-
sätzen ^, N, 0 mit gleicher Leichtigkeit ableitbar ist, hierin
allein kein Grund für mich liegt, diese verschiedenen Be-
weise dem eigenen Zusammenhange der Sache fremd zu
nennen; denn ich will hier zwar nicht eben lehren, aber
als eine mögliche Ansicht hinstellen, daß das Ganze z. B.
unserer geometrischen Erkenntniß in der That auf einer
Mehrheit ursprünglicher gleich evidenter Anschauungen be-
ruht, von denen keine aus der andern ableitbar ist, die
aber alle zusammen, gleich einzelnen Bestandtheilen eines
ganzen Gedankens, zugleich gelten und unter einander
auf bestimmte Weise zusammenhängen. Dann begreift man,
wie vermöge dieses Zusammenhanges derselbe Satz T ver-
schiedene gleich triftige Beweise zuläßt, je nachdem man
von einer oder der andern jener untrennbar verknüpften
Anschauungen ausgeht; keiner dieser Beweise wird aus-
schließlich die Natur der Sache, aber jeder kann sie doch
280 Viertes Kapitel.
wirklich so darstellen, wie sie sich für den gewählten Stand-
punkt projizirt; die Möglichkeit einer Mehrheit von Be-
weisen beruht hier auf der eigenen Organisation des Inhalts,
der nicht nur nach einer, sondern nach vielen Richtungen
zugleich ein zusammenstimmend gegliedertes Ganze bildet.
Aber ich muß nun doch drittens hinzufügen, daß zahlreiche
Sätze T übrig bleiben, deren Beweis, immer in dieser
subsumptiven Form, nur durch Kunstgriffe gelingt, die sich
rechtfertigen lassen, nachdem sie angewandt sind, von denen
aber nicht erfindlich ist, wie man durch die Natur des
gegebenen Inhalts selbst dazu aufgefordert wird, sie an-
zuwenden. Von diesen Beweisen, deren es manche in der
reinen Mathematik, eine viel größere Anzahl in ihren An-
wendungen gibt, soll die oben gemachte Bemerkung gelten:
namentlich, wenn sie sehr vielgliedrige Schlußketten bilden,
mögen sie zwar an Triftigkeit nichts zu wünschen übrig
lassen, aber sie werden auch so unübersichtlich wie möglich,
und da sie fast nur erlauben, die nothwendige Folge der
Verkettung je zweier nächsten Glieder einzusehen, der
erfinderische Scharfsinn dagegen, der diese Verkettung an-
stiftete, völlig regellos sich zu bewegen scheint, so kann
man nicht in Wahrheit sagen, daß diese Beweise zeigen,
warum der Schlußsatz T gilt; sie nöthigen uns auch nur
zuzugestehen, daß er gilt. Ich habe dies angeführt um
seiner praktischen Bedeutung willen. Das Ideal unserer
Erkenntniß und Beweisführung besteht ohne Zweifel darin,
daß wir jeden gegebenen Satz T aus den bedingenden
Gründen, von denen er wirklich bedingt wird, erklärend
ableiten, nicht aber uns seiner Gewißheit blos durch
eine logische Hinterlist bemächtigen; und wenn diese Auf-
gabe gelöst werden soll, ist sie immer nur in der Form
dieses direct progressiven Beweises zu lösen. Aber sie
ist überhaupt nur innerhalb enger Grenzen lösbar, und
wo sie es nicht ist, wo man mithin sich an der bloßen
Gewißheit von T muß genügen lassen, da hat diese sub-
sumptive Beweisform nicht den mindesten Vorzug vor
anderen. Es ist logische Pedanterie, sie dennoch erzwingen
zu wollen und für einen Satz, der indirect sich mit zwei
Worten schlagend beweisen läßt, eine directe Ableitung
zu suchen, die nur durch eine Kette willkürlich gewählter
Zwischenglieder möglich ist, die Erlangung jener Gewißheit
umständlicher und die Einsicht in den inneren Grund ihres
V^orhandenseins um nichts reicher macht.
Die Formen des Beweises. 281
207. Eine zweite direct progressive Form geht von
dem gegebenen Satze T aus, den sie als gültig voraussetzt^
und entwickelt aus ihm seine nothwendigen Folgen. Findet
sich unter diesen Folgen auch nur eine einzige, welche
entweder feststehenden Thatsachen oder allgemeinen Wahr-
heiten widerspricht, so ist T, als allgemeiner Satz, un-
gültig, und der Beweis gestaltet sich zu einer Form der
Widerlegung eines gegebenen Satzes; er schließt dann,
wie man leicht sieht, jenes früher erwähnte Vorverfahren
ein, welches vor dem Antreten des wirklichen Beweises
sich versichert, daß überhaupt kein gegebenes Beispiel eine
Instanz gegen die Gültigkeit des zu Beweisenden bildet.
Fände die Entwicklung der Folgen des T, so weit sie auch
fortgesetzt würde, keinen Widerspruch mit Thatsachen oder
Wahrheiten, so würde sie dennoch nicht hinreichen, um
die Wahrheit von T festzustellen, denn die nächste Fort-
setzung jener Entwicklung über die Grenze hinaus, bei
der man Halt gemacht hat, könnte das bisher verborgenei
Bestehen eines Widerspruchs nachweisen; aber wenigstens
reicht dies Verfahren auf theoretischem Gebiete zur
Empfehlung einer Hypothese hin, deren weitere Prüfung
man sich vorbehält. Sein wirkliches Anwendungsgebiet hat
aber dieser Beweis im praktischen Leben; durch ihn
empfiehlt man Vorschläge, Einrichtungen die zu treffen,
Entschlüsse die zu fassen sind. Und hier ist die Unvoll-
ständigkeit der Entwicklung der Folgen von T kein Hindemiß ;
in allen menschlichen Angelegenheiten reicht es hin, zu
ermitteln, welche Wirkungen innerhalb einer übersehbaren
Zeit und eines übersehbaren Gebietes der Anwendung aus
einer vorzuschlagenden Maßregel entspringen werden; alle
mikroskopisch erkennbaren Nebenwirkungen oder auf Jahr-
hunderte hinaus alle Folgen unseres heutigen Handelns
in Betracht ziehen zu wollen, ist superciliöse Pedanterie;
^ur Vermeidung kleiner Nachtheile wird man neue Ent-
schlüsse fassen, und die fernste Zukunft hat für sich selbst
zu sorgen.
208. Eine dritte Form, die erste directregressive,
geht von der angenommenen Gültigkeit von T aus und
sucht nach rückwärts die Bedingungen auf, unter denen
diese Gültigkeit stattfinden kann. Der Unterschied dieser
Form von der jetzt behandelten ist nicht erheblich, doch
fehlt er nicht; nicht erheblich deswegen, weil man die
zur Geltung von T nöthigen Vorbedingungen doch auch
nur findet, indem man T als ihren Erkenntnißgrund be-
282 Viertes Kapitel.
handelt und sie aus ihm als Folgen ableitet, ein Verfahren,
welches mit dem vorigen direct progressiven zusammenfällt ;
vorhanden aber ist der Unterschied dennoch, wenn man
(Jie Natur des so Abgeleiteten berücksichtigt. Als Beispiel
für beide Formen zusammen kann die in der Mathematik
übliche Lösung von Aufgaben dienen, denn jede solche
Lösung ist zugleich der Beweis der Lösbarkeit, also der
Gültigkeit der Vorstellungsverknüpfung, welche die gestellte
Aufgabe T enthielt. Nimmt man nun T als gültig an und
entwickelt die aus ihm fließenden Denkfolgen, so werden
diese letzteren selbst verschieden sein können; einige von
ihnen werden Einzelumstände sein, die mit gegebenen That-
sachen stimmen oder streiten, andere werden allgemeine
Verhältnisse zwischen verschiedenen Beziehungspunkten
ausdrücken, die mit anderweit feststehenden Wahrheiten
entweder in Einklang oder in Widerspruch sind. Kommt
man nur auf Einzelfolgen, die mit gegebenen Thatsachen
oder Nebenbedingungen streiten, so wird man daraus zwar
die Ungültigkeit von T mit Gewißheit ableiten, aber ohne
Einsicht in den Grund derselben; ist T ein praktischer
Vorschlag, so kann er selbst ganz annehmbar an sich sein
und ist nur in der Ausführung auf ein Hinderniß gestoßen,
und dies ist der Fall der vorigen Beweisform; kommt man
dagegen auf widersinnige allgemeine Sätze, die wahr sein
müßten, wenn T gelten sollte, so erhält man außer der
Gewißheit, T sei unmöglich, noch eine starke Hindeutung
auf die Gründe dieser Unmöglichkeit; sie liegen in den
allgemeinen Wahrheiten, gegen welche die abgeleiteten
widersinnigen Bedingungen streiten; und hierin würden
wir die Leistung dieser dritten Beweisform finden. Es
wird durch sie nicht nur der späteren Auffindung eines
directen und progressiven Gegenbeweises vorgearbeitet,
sondern es liegt eine ungemein überzeugende und anschau-
liche Verneinung des gegebenen Satzes T in der Aufweisung
aller der widersinnigen Voraussetzungen, die zu seiner
Gültigkeit nothwendig sein würden; und um deswillen ist
dieser regressive Beweis häufig einem progressiven vor-
zuziehen. Etwas anderes als die Ungültigkeit von T kann
er nicht liefern; er bleibt also eine Form der Wider-
legung. Führte der Rückschritt zu den Bedingungen von T
auf lauter zulässige Voraussetzungen, so würde hieraus
nur auf dem Gebiete der Mathematik die Gültigkeit von T
wirklich fließen; denn nur hier ist es möglich, aus einer
gestellten Aufgabe alle zu ihrer Lösung nothwendigen
Die Formen des Beweises. 283
Vorbedingungen zu entwickeln; in anderen Anwendungs-
fällen bleibt der Zweifel, ob man in der That aus T alle
die Denkfolgen erschöpfend abgeleitet hat, die zu den Vor-
bedingungen seiner Gültigkeit gehören; der nächste Schritt,
den man noch weiter thäte, könnte eine vorauszusetzende
Widersinnigkeit zu Tage bringen. Bejahend reicht daher
auf theoretischem Gebiet dieser Beweis nur zur Begründung
der Wahrscheinlichkeit von T hin; das praktische Leben
aber bedient sich seiner zur Empfehlung von Vorschlägen
ebenso wie des vorigen progressiven. Denn nicht nur durch
die zu erwartenden Folgen machen wir einen Vorschlag
annehmbar, sondern ebenso sehr dadurch, daß wir nach-
weisen, die Bedingungen seiner Ausführung seien nicht
im Widerspruch entweder mit allgemeingültigen Bestim-
mungen der Möglichkeit des Bechts und der Sittlichkeit,
oder mit den thatsächlichen Mitteln, die ihr zu Geboto
stehen. Jeder politische Antrag hat diese Doppelpflicht,
theils nach der vorigen Beweisform durch seine nützlichen
Folgen, theils nach dieser durch die rechtliche und sittliche
Zulässigkeit seiner allgemeinen Voraussetzungen sich zu
rechtfertigen; und jedes alltägliche Handeln berücksichtigt
nicht nur den zu erwartenden Vortheil einer Vorkehrung,
sondern auch die Kosten, deren Aufwendung ihn möglich
macht
209. Eine vierte Form, die zweite direct regres-
sive, geht von gegebenen Sätzen aus, um aus ihrer Gültig-
keit die von T als ihrer erzeugenden Bedingung zu beweisen.
Zu einem solchen Gedankengang sind wir überaus häufig
aufgefordert; denn der größte Theil unserer allgemeinen Er-
kenntnisse wird auf diesem Wege des Bückschlusses von
gegebenen Thatsachen auf die Bedingung gewonnen, die
zur Möglichkeit dieser Thatsachen angenommen werden
muß. Man sieht jedoch leicht, daß die bedeutendsten An-
wendungen hiervon dem erfindenden Gedankengange an-
gehören, der ein noch unbekanntes T aus dem Gegebenen
zu ermitteln sucht. Ist der allgemeine Satz T selbst ge-
geben und sieht man sich nach den einzelnen Sätzen um,
die zu seiner Bestätigung dienen können, so beginnt dies
Verfahren eigentlich immer mit der progressiven Entwick-
lung dessen, was als Folge von T gelten muß. wenn T gilt;
und erst nachdem man davon eine Uebersicht gebildet hat,
vergleicht man nun das Gefundene mit der Erfahrung oder
mit anderen Wahrheiten, um aus seiner Gültigkeit auf die
von T regressiv zu schließen. Ich überlasse deshalb manches
284 Viertes Kapitel.
Hierhergehörige späterer Gelegenheit und erwähne nur eine
Art dieser Form, welche aus der Gültigkeit der Einzelfälle
eines T seine allgemeine Gültigkeit folgert : es ist die voll-
ständige Induction oder der collective Beweis.
Man ist zu ihm sehr oft genöthigt; so ist es nicht immer
möglich, einen Satz T zugleich und auf einmal für ganze
und gebrochene, positive und negative, rationale nnd ir-
rationale, reelle und imaginäre Größen zu beweisen; aber
jede einzelne dieser Arten von Größen kann eine 'besondere
Handhabe darbieten, um zunächst für sie allein T fest-
zustellen; sind wir nun sicher, die möglichen einzelnen
Anwendungsfälle von T sämmtlich umfaßt zu haben, also
in diesem Falle: sind wir sicher, daß außer den genannten
keine anderen Arten von Größen denkbar sind, so gilt
nun T von allen Größen überhaupt. Es wird dann ganz
gewiß in dem allgemeinen Begriff der Größe an sich selbst
irgend ein Grund liegen, der diese allgemeine Geltung mög-
lich macht; gleichwohl kann man nicht immer oder doch
nicht immer mit hinlänglicher Evidenz und Klarheit diesen
Grund aufzeigen; dann bleibt der collective Beweis un-
entbehrlich.
210. Die Nothwendigkeit, alle Arten von Anwendungs-
fällen des T vollständig zu umfassen, um T allgemein zu
beweisen, führt hier zu einer interessanten speciellen Form.
Man kann freilich jene Vollständigkeit an sich immer er-
reichen, wenn man alle Fälle in den einen Q und in Non Q,
dies Non Q wieder in R und Non R eintheilt, und dies
Verfahren bei einem beliebigen Gegensatz U und Non U
abbricht; aber dies nützt selten; denn wenn man auch für
die bejahten Fälle Q, R, U leicht noch Einzelbeweise findet,
so findet man doch sehr schwer einen solchen für das
negative Restglied Non U, das eine Menge verschiedener
Fälle zusammenfaßt. Man fühlt daher das Bedürfniß, aus
einem Falle Q, für welchen man irgendwie in den Besitz
eines Beweises von T gekommen ist, die übrigen Fälle R,
U . . so abzuleiten, daß sich zeigt, die Umwandlungen, durch
welche Q in R, R in U übergeht, ändern entweder die Be-
dingungen nicht, auf denen die Gültigkeit von T für Q be-
ruhte, oder sie erzeugen dieselben Bedingungen stets von
neuem wieder. Dies ist der in der Mathematik bekannte,
zuerst von Jacob Bernoulli formulirte Beweis von n
zu n + 1, hauptsächlich anwendbar, wenn die Einzelfälle,
in denen allen T gelten soll, von selber eine Reihe bilden,
in der jedes folgende (n + l)te Glied auf dieselbe genau
Die Formen des Beweises. 285
angebbare Weise aus dem vorhergehenden nten gebildet
wird. Gilt dann T, sobald es von dem Gliede n gilt, auch
von dem Gliede n -f- 1, um der Art willen, wie n -h 1 aus n
entsteht, so gilt es aus gleichem Grunde auch von dem
nächstfolgenden Gliede n + 2 und so fort von allen Gliedern
der Reihe. So pflegt man z. B. im elementaren Unterricht
den binomischen Lehrsatz für ganze Exponenten anschau-
lich zu beweisen, indem man die wiederholte Multiplication
des Binoms mit sich selbst ausführt. Der allgemeine Ge-
danke dieses Beweises ist aber gar nicht auf Mathematik
beschränkt, sondern wird im gewöhnlichen Leben sehr oft,
und zuweilen unter dem nicht ganz passenden Namen eines
Beweises durch Analogie, angewandt. Um einen Vor-
schlag oder eine Behauptung annehmbar zu machen, er-
wähnt man zuerst einen Fall, in welchem jener offenbar
empfehlenswerth, diese offenbar gültig ist; dann zeigt man,
daß die denkbaren anderen Fälle sich von jenem im Grunde
durch gar keinen Zug unterscheiden, welcher im Stande
wäre, hierin eine Aenderung hervorzubringen; folglich gelte
T allgemein. Wie ein unvorsichtiger oder sophistischer
Gebrauch dieses Verfahrens zum Irrthum führt, ist leicht
zu sehen. Zwischen zwei sehr verschiedene Fälle A und Z
schaltet man sehr viele Zwischenfälle ein, die sich um un-
beträchtliche Differenzen d unterscheiden. Man zeigt dann
nicht, daß T, wenn es von A gilt, auch von A-[-d = B
gelten müsse, sondern setzt dies einfach, wegen der Ge-
ringfügigkeit von d, voraus; so schließt man weiter von B
auf C, und trägt endlich die Gültigkeit des T von A, für
welches sie feststand, auf ein Z über, das durch Ansamm-
lung der vielen vernachlässigten Differenzen d von A völlig
verschieden ist und nicht im mindesten zu dem wirklichen
Anwendungsgebiete des T gehört.
211. Ich kann kürzer über die indirecten Beweise sein ;
sie verhalten sich formell zu Non T wie die directen zu T
und erlangen nur darum einige Eigenthümlichkeit, weil wir
durch sie nicht zu Non T, sondern zu T kommen wollen;
sie sind also nicht behauptende, sondern widerlegende Be-
weise in Bezug auf Non T. Die fünfte Beweisform, die
erste indirecte progressive, würde die Ungültigkeit
von Non T aus allgemeinen Gründen nachweisen, was durch
Schlüsse in der ersten und zweiten Figur mit einer all-
gemein negativen Prämisse geschehen kann. Aber man wird
selten Gelegenheit zu dieser Beweisform finden; gibt es
286 Viertes Kapitel.
für T einen directen Beweis, so wird man diesen vorziehen ;
gibt es keinen, so pflegt eine allgemeine Widerlegung von
Non T um nichts leichter zu sein. Für den Gebrauch wichtig
ist daher nur die Nebenform dieses Beweises, welche dem
einen contradictorischen Gegentheil Non T von T die voll-
ständige Summe aller conträren Gegentheile substituirt.
Für jedes dieser Gegentheile, eben weil jedes ein ganz be-
stimmter positiver Inhalt ist, läßt sich eher ein Beweis
seiner Ungültigkeit hoffen, der aus allgemeinen Gründen,
also in progressiver Form geführt werden kann. Die Ver-
einigung aller dieser negativen Einzelbeweise zu dem Be-
weis der allgemeinen Ungültigkeit von Non T ist dann
freilich schon ein regressiver Gedankengang, der dem posi-
tiven cüUectiven Beweise entspricht. Denkt man sich T
und alle conträren Gegentheile desselben vereinigt als die
Summe aller überhaupt denkbaren Beziehungen, die zwischen
den Beziehungspunkten S und P des Inhalts von T vor-
kommen können, so ist die hier erwähnte Beweisform unter
dem Namen des Beweises durch Ausschließung
bekannt : die Geltung von T folgt dann aus der Ungültigkeit
aller anderen Glieder dieser vollständigen Disjunction. Und
von dieser Form selbst ist wieder eine der wichtigsten An-
wendungen der besondere Fall einer dreigliedrigen Dis-
junction, in welcher T zwei Gegentheile hat, oder Non T
in zwei contradictorische Gegensätze zerfällt; es entsteht
dann der Beweis durch Eingrenzung. Man kennt
ihn und seine außerordentliche Wichtigkeit in der Mathe-
matik, und er gehört hier ebenso sehr dem erfindenden als
dem beweisenden Gedankengange an: jede Größe a ist ent-
weder gleich oder größer oder kleiner als eine andere mit
ihr vergleichbare, d ; läßt sich zeigen, daß sie weder größer
noch kleiner als d ist, so ist der Satz a = d erwiesen. In
der Anwendung gestaltet sich dieser Gedanke meistens
anders; denn das Vorige setzt voraus, daß man auf den
bestimmten Werth d, der zuletzt dem a gleich sein wird,
bereits aufmerksam geworden sei. Dies wird in der Regel
nicht der Fall sein, sondern man wird nur wissen, daß a
kleiner als eine zweite Größe b und größer als eine dritte c
ist; gelingt es dann nachzuweisen, daß dasselbe Verhältniß
immer bestehen bleibt, wenn man den Werth von b auf ß
verringert, den von c auf y erhöht, so wird der Werth
von a zwischen einander immer näher rückenden Grenzen
ß und Y liegen und es wird möglich sein, ihn mit un-
Die Formen des Beweises. 287
beschränkt wachsender Annäherung zu berechnen. Das be-
kannteste und elementarste Beispiel bietet die Bestimmung
der Länge des Kreisumfanges durch Einschließung zwischen
die größere des umschriebenen und die kleinere des ein-
geschriebenen Vielecks, von denen man die erste durch
fortgesetzte Vermehrung der Seitenzahl unbegrenzt ab-
nehmen, die zweite zunehmen läßt. Auf Beweisformen
dieser Art muß man seine Aufmerksamkeit richten; sie
sind die mächtigen operativen Hülfsmittel, durch welche wir
wirklich unsere Erkenntnisse erweitern; Ausbildung und
Anwendung dieses Beweises durch Archimedes ist ein
größerer Fortschritt der angewandten Logik, als irgend einer
aus der blos s.yllogistischen Kunst des Aristoteles hervor-
ging.
212. Eine sechste, die zweite progressiv in-
directe Form, würde von der Annahme des Non T aus-
gehen, ihre nothwendigen Folgen entwickeln und aus der
Ungültigkeit dieser, in Bezug auf diesen letzten Schritt
freilich regressiv, auf die Ungültigkeit von Non T zurück-
schließen. Ich verweise auf den zweiten direct progressiven
Beweis und füge in Bezug auf diesen indirecten nur hinzu,
daß alle gültigen Folgen, die sich aus Non T ableiten lassen,
hier bedeutungslos sind ; denn auch aus einem falschen
Satze können über solche Punkte, für deren gegenseitige
Verhältnisse sein Irrthum gleichgültig ist, eine Anzahl zu-
lässiger Consequenzen fließen; aber eine einzige ungültige,
mit Non T nothwendig verbundene Folge hebt dessen all-
gemeine Gültigkeit auf. Widerstreitet diese Folge lediglich
gegebenen Thatsachen, so hat man eigentlich keinen Grund,
diesen Beweis eine deductio ad absurdum zu nennen,
obwohl dieser Name zuweilen allen Anwendungen dieser
Form gegeben wird ; man hat vielmehr nur die thatsächliche
Ungültigkeit eines an sich nicht undenkbaren und auch nicht
absurden Gedankens erwiesen. Absurd oder abgeschmackt
ist aber eigentlich auch nicht das, was als denkunmöglich
bekannt ist, sondern das, was allen probablen Annahmen,
dem allgemeinen Wahrheitsgefühl und einer Menge in diesem
enthaltener, vielleicht beweisbarer, aber nicht wirklich be-
wiesener Wahrheiten widerspricht. Daß 2 = 3 sei, ist mehr
als absurd; es ist unmöglich; daß aber die ganze Welt ein
gedankenloser Spaß sei, daß die Aeltern den Kindern ge-
horchen sollen, daß man Verbrecher belohnen und die Sünde
schonen müsse, sind absurde Behauptungen. Deductio ad
absurdum würde ich daher nur den indirect progressiven
288 Viertes Kapitel.
Beweis nennen, der aus Non T solche nicht denkunmögliche,
<aber unzähligen für Wahrheit geltenden und hinlänglich
jjegründeten Ueberzeugungen widersprechende Folgen ent-
wickelt. So kommt dieser Beweis im Leben tausendfach
vor, namentlich überall da, wo Non T einen an sich viel-
leicht richtigen Gedanken zu allgemein ausspricht, also
von einer zu weiten Definition des Subjects S, dem ein P
zukommen soll, oder von einer zu weiten Definition dieses
F ausgeht; auf diese Weise zeigt man die Unvernunft und
Abgeschmacktheit eines Gesetzvorschlags, gleichviel ob er
Hechte und Pflichten nimmt oder zutheilt, indem man deut-
lich macht, welche unerträglichen und unerhörten anderen
Consequenzen sich aus der Allgemeingültigkeit des Vor-
geschlagenen ergeben würden. Gewöhnlich schließt man
jedoch in die deductio ad absurdum auch die Form des
japagogischen Beweises ein, welche auf denkunmögliche
folgen des angenommenen Satzes führt und ihn durch sie
widerlegt. Es ist ein besonderer Fall hiervon, wenn diese
Entwicklung auf eine Folge führt, welche unmittelbar die
gemachte Voraussetzung selbst aufhebt, so daß der innere
Widerspruch, der in der angenommenen Gültigkeit derselben
Jag, von selbst zu dem Ergebniß ihrer Ungültigkeit treibt.
Ein einfaches Beispiel sei der indirecte Beweis für den
Satz T: auf einer Geraden ab ist in derselben Ebene und
in demselben Punkte c nur eine Senkrechte cd möglich.
J^on T würde also behaupten, in c seien unter denselben
Bedingungen mehrere Senkrechte möglich. Angenommen
nun, dies sei richtig, angenommen femer, cd sei die erste
Senkrechte, d. h. sie bilde mit ab die beiden gleichen
Nebenwinkel a, so wird jede zweite Senkrechte ce, um
von cd unterschieden zu sein, mit ihr am Punkte c irgend
einen Winkel b bilden müssen, zugleich aber, damit sie
senkrecht auf ab sei, mit dieser gleiche Nebenwinkel. Die
Anschauung der Figur lehrt dann, daß die beiden Winkel
a-{-b und a — b gleich und jeder gleich einem rechten sein
müssen; ist aber a4-^ ein rechter Winkel, so ist a, als
Theil dieses rechten, kein rechter Winkel, gegen die Vor-
aussetzung, welche behauptete, er sei einer. Die Gleichung
a -{- b = a — b kann nur bestehen, wenn b = o, also ce
mit cd zusammenfällt. Mithin gilt T: auf demselben Punkt
einer Geraden ist in derselben Ebene nur eine Senkrechte
möglich. Zu Beweisen dieser Art wird man überall geführt
werden, wo es sich um die einfachsten grundlegenden An-
ßchauungen oder Sätze eines zusammenhängenden Gedanken-
Die Formen des Beweises. 289
gebiets handelt; die Unmöglichkeit, die Beziehung zwischen
S und P anders zu fassen, als sie in T ausgedrückt ist,
also die Fruchtlosigkeit des Versuchs, Non T zu behaupten,
wird sich immer dadurch verrathen, daß die daraus fließen-
den Folgen das Subject S oder das Prädicat P aufheben
oder verändern, die man beide für Non T in demselben
Sinne gültig voraussetzte, in welchem sie für T galten.
213. Wie der directe, so ist auch der indirecte Be-
weis zweier regressiven Formen fähig; beide, die
siebente und achte unserer Uebersicht, haben wenig
Eigenthümliches ; sie verhalten sich zur Ungültigkeit von
Non T ganz wie die beiden direct regressiven zur Gültig-
keit von T. Die erste würde von Non T zu den Bedingungen
zurückgehen, die zu seiner Gültigkeit nothwendig wären,
und aus der Ungültigkeit oder Undenkbarkeit dieser Prin-
cipien würde sie dann auf die des Non T zurückschließen.
In der Ausführung ist dies Verfahren wenig von dem vorigen
progressiven verschieden; denn die zur Richtigkeit von
Non T nöthigen Principien findet man doch nur, wenn man
Non T als ihren Erkenntnißgrund benutzt, und sie aus ihm
als Folgen, mithin progressiv, entwickelt. Die zweite Form
würde von gegebenen Sätzen oder Thatsachen ausgehn und
zeigen, daß sie nicht von Non T als ihrem Grunde abhängen
können, vielmehr die Ungültigkeit dieser Annahme aus-
drücklich verlangen. Auch dies läßt sich am Ende nur aus-
führen, wenn man entweder Non T progressiv in seine
Folgen entwickelt und findet, daß das Bestehen derselben
die gegebenen Thatsachen unmöglich machen würde, oder
indem man diese gegebenen Thatsachen als Erkenntniß-
grund verwendet und aus ihnen, ebenfalls progressiv, ihre
nothwendigen Voraussetzungen ableitet; dies aber wird am
seltensten viel nützen, denn meistens wird dann die noth-
wendige Gültigkeit von T als solcher Voraussetzung leichter
direct zu ermitteln sein als indirect die nothwendige Nicht-
geltung von Non T. Ueberhaupt schließe ich diese Ueber-
sicht mit der Bemerkung, daß ich zwar die verschiedenen
Absichten der Beweisführung durch meine Eintheilung
richtig glaube gesondert zu haben, daß aber nicht jeder
dieser Absichten eine gleich wichtige und gleich eigenthüm-
liche mit den andern nicht vermischte Beweisform ent-
spricht; es reichte daher hin, diejenigen eingehender zu
erwähnen, die sich im Gebrauche als häufig anwendbare
Figuren bewährt haben.
214. Man wird in meiner Aufzählung die Beweise durch
Lotze, Logik. 19
290 Viertes Kapitel.
Analogie vermissen; ich glaube allerdings nicht an ihr
Dasein. In allen Fällen wo man glaubt, Beweise durch
Analogie führen zu können, ist die Analogie in der That
gar nicht der Grund für die Richtigkeit des Behaupteten;
sie bildet nur die erfinderische Gedankenbewegung, durch
welche man zur Entdeckung eines zulänglichen Beweis-
grundes gelangt; auf diesem, und dann immer durch Sub-
sumption des Einzelnen unter ein Allgemeines, beruht die
Nothwendigkeit des zu beweisenden Satzes. Obwohl es
weitläufig sein wird, glaube ich doch hierauf eingehen zu
müssen. Als ausnahmslos gültigen Grundsatz strenger Ana-
logie kann man diesen betrachten, daß von Gleichem unter
gleichen Bedingungen Gleiches gelte, eine Behauptung, der
die Mathematik für ihre verschiedenen Aufgaben noch eine
Reihe besonderer Ausdrucksformen gibt. Es ist leicht,
diesen Grundsatz auf den der Subsumption zurückzubringen :
wenn von einem S unter der Bedingung x ein P gilt, so
kann S und x zusammen als ein Allgemeinbegriff M ge-
faßt werden, dem als solchem P zukommt; unter dasselbe
M ist jedes zweite S zu subsumiren, das dem ersten gleich
und der gleichen Bedingung x unterworfen ist; deßwegen
gehört diesem S dasselbe Prädicat, wie dem ersten. Diese
Transformation, die hier willkürlich und überflüssig er-
scheinen kann, wird man schon bei dem zweiten Satze
nicht entbehren können: von Ungleichem unter gleichen
Bedingungen gelte Ungleiches. Man wird geneigt sein,
auch ihn für unbedingt gültig anzusehen, aber in der An-
wendung erwachsen doch Verlegenheiten. Nehmen wir an,
die ungleichen Größen a und b seien durch dieselbe dritte
c dividirt, so wird in diesem ersten Falle der Satz gelten:
die Quotienten werden ungleich sein. Dividiren wir aber
im zweiten Falle jede der beiden ungleichen Größen durch
sich selbst, so scheint er nicht zu gelten, denn die Quotienten
sind beide = 1. Natürlich wird man sogleich erinnern, hier
sei die Bedingung x, der man die ungleichen Elemente a
und b unterwarf, eben nicht die gleiche für beide; denn
wenn wir jede Größe durch sich selbst dividiren, so
führen wir ja ihre Ungleichheit wieder in den Inhalt der
Bedingung ein, die wir für beide gleich denken wollten.
Aber diese Erörterung paßt nicht für den dritten Fall : wenn
wir beide Größen mit 0 multipliciren, so ist das Product
beide male =0. Man wird nicht leugnen können, daß die
Operation, eine Größe Nullmal zu nehmen, durchaus ein-
deutig ist, und nicht, wie im vorigen Falle, abhängig von
Die Formen des Beweises. 291
dem Werthe der Größe, auf die man sie anwendet; dagegen
wird man mit Recht hervorheben, hier sei eben der Sinn
der gleichen Bedingung oder Operation x von der eigen-
thümlichen Art, daß er die Ungleichheit der Größen, auf die
man diese anwendet, unwirksam macht. In dem vierten
Falle, wenn wir die ungleichen a und b quadriren, ist der
Sinn dieser Bedingung, der wir sie unterwerfen, wieder ab-
hängig von den Größen selbst, wie im zweiten Falle, aber
mit dem entgegengesetzten Erfolg: die Quadrate a^ und b^
sind ungleich. Die Erfolge sind endlich wieder gleich und
= 1 in dem fünften Falle, wenn wir a und b auf die nullte
Potenz erheben; und hier scheint die Bedingung, der wir
die ungleichen Größen unterwarfen, von ihrem eigenen
Werth unabhängig; in der That ist aber die Erhebung auf
die nullte Potenz eine für sich ganz unvorstellbare Ope-
ration; man muß sich erinnern, daß allgemein a"*~° eine
andere Bezeichnung für — , folglich auch a^~^=a*' iden»
ä
tisch mit — ist. dieser fünfte Fall also derselbe wie der
a
zweite. Will man alle diese Zweideutigkeiten vermeiden,
so bleibt nur übrig zu sagen: von Ungleichem gilt Un-
gleiches unter gleichen Bedingungen dann, wenn die Natur
der Bedingung der Ungleichheit des Ungleichen ihre Be-
deutung läßt; es gilt Gleiches, wenn die Bedingung so be-
schaffen ist, daß sie diese Ungleichheit wirkungslos macht.
Aber diese beiden Sätze sind ganz unfruchtbare Tauto-
logien; nicht einmal die armselige Entscheidung darüber,
ob Gleiches oder Ungleiches gelten werde, machen sie
möglich ohne eine vorgängige Zergliederung des jedesmal
gegebenen Falles, welche uns lehrt, unter welche allgemeine
Regel MP denn eigentlich hier a und b zu subsumiren
sind, und welche bestimmten Prädicate p^ und p2 ihnen
vermöge der speciellen Werthe zukommen, mit denen sie,
als ungleiche Arten des M, an dessen allgemeinem P theil-
nehmen. Nachdem man diese p^ und p^ gefunden hat, sieht
man, ob beide gleich oder ungleich sind; nicht durch Ana-
logie also, sondern durch Subsumption wird die ganze
Folgerung zu Stande gebracht.
215. Den dritten Satz: von Gleichem gelte unter un-
gleichen Bedingungen Ungleiches, kann man höher schätzen ;
in der That würde es dem Gesetze der Identität wider-
sprechen, wenn ein identisches Subject unter wirklich ver-
19*
292 Viertes Kapitel.
schiedenen Bedingungen keinen Einfluß dieser Verschieden-
heit spüren sollte, und ich werde, weit später, Gelegenheit
haben, diesen Satz als eine nicht unfruchtbare Maxime bei
der Behandlung philosophischer Aufgaben zu benutzen.
Für den Augenblick fallen aber die zahlreichen scheinbaren
Ausnahmen auf. Wie wäre denn die Aufgabe der Maschinen-
technik lösbar, einen Apparat zu construiren, der sich unter
wechselnden Bedingungen selbst regulirt und gleichförmigen
Gang beibehält, wenn schlechthin dasselbe Subject oder
Substrat unter verschiedenen Bedingungen verschiedene
Wirkungen erfahren müßte? Die genauere Betrachtung
entfernt diesen Einwurf ; sie lehrt, daß in den hierher ge-
hörigen Fällen entweder die ungleichen Bedingungen nicht
einfach, sondern Paare von Bedingungen, oder das gleiche
Subject nicht einfach, sondern ein Ganzes von verschiedenen
Theilen ist. Zwei Paare von Bedingungen aber können in
Bezug auf eine bestimmte Wirkung äquivalent sein, weil
die Ungleichheiten der einzelnen Glieder in jedem Paar,
v^ermöge der bestimmten Beziehung, die zwischen ihnen
stattfindet, sich bis zu gleichen Resten aufheben; ander-
seits auf die verschiedenen Theile eines Ganzen können
verschiedene ungleiche Bedingungen so wirken, daß diese
Einzelwirkungen in jedem Falle einander bis zu gleichem
Folgezustand des Ganzen modificiren. Ein einfaches
materielles Element, das außer Beziehung zu anderen steht,
kann niemals unter dem Anstoß der einen Kraft a dieselbe
Bewegung annehmen, wie unter dem einer ungleichen Kraft b.
Aber unter der gleichzeitigen Einwirkung von a und b
kann es dieselbe Geschwindigkeit und Richtung erhalten,
wie unter der verbundenen Einwirkung von c und d;
wirken diese vier Kräfte in derselben geraden Linie, so
reicht die Gleichheit ihrer algebraischen Summen, also die
Bedingung a±b=:cid hin, um dem materiellen Element
die gleiche Bewegung m mitzutheilen ; allgemeiner: jede
Bewegung m läßt sich als Resultante unzähliger ver-
schiedenen Paare von Componenten begreifen. Man kann
sich nun dies Ergebniß verschieden zurechtlegen. Betrachtet
man die Summen a^-b und c i d als die auf das
materielle Element einwirkenden Bedingungen, so sind diese
Bedingungen selbst einander gleich, und unser Fall gehört
unter den Satz, daß von Gleichem unter gleichen Um-
ständen Gleiches gelte; läßt man aber die einzelnen Kräfte
gesondert, so scheint er einen Ausnahmsfall des dritten
Satzes zu bilden. Gleichwohl möchte ich die allgemeine
Die Formen des Beweises. 293
Gültigkeit dieses letzteren aufrecht halten, denn seine wahre
Meinung ist es doch offenbar: die Summe aller Ein-
wirkungen, welche dasselbe Subject oder Substrat unter ver-
schiedenen Bedingungen erfährt, werde immer verschieden
sein. Wenn daher zwei Paare von Bedingungen auch äqui-
valent sind in Bezug auf eine Art der Wirkung, die sie an
demselben Subject erzeugen, so sind sie es deswegen nicht
auch in Bezug auf alle Wirkungen, und wir verfahren un-
gehörig, wenn wir nur jenen gleichen, aber nicht diesen
ungleichen Theil ihres Einflusses in Betracht ziehen. Wenn
a und b in entgegengesetzter Richtung auf ein materielles
Element wirken, ebenso c und d, und wenn die Summen
oder Differenzen a i b und c i d gleich sind, so erfährt
allerdings dies Element die gleiche Bewegung m, und es
bleibt in Ruhe, wenn a = b und c = d ; aber es erleidet
offenbar sehr verschiedene Drucke, je nachdem es von
zwei großen oder zwei kleinen Kräften im Gleichgewicht
gehalten wird. Wenn eine sich selbst compensirende
Maschine unter constanten und unter veränderlichen Be-
dingungen gleichen Gang behält, so ändert sie doch die
Stellung ihrer Bestandtheile mit der Veränderung der Be-
dingungen, und ihre Abnutzung ist größer, wenn sie ge-
nöthigt ist, ihre Compensation auszuführen, als wenn sie
unter immer gleichförmigen Umständen dieselbe unbenutzt
läßt. Wenn auf die eine Schale einer im luftleeren Räume
sich im Gleichgewicht befindenden Wage volles Licht, auf
die andere der Schatten eines Gegenstandes fällt, so wird
das Gleichgewicht nicht gestört, aber die erste Schale wird
doch mehr erwärmt und ausgedehnt als die andere. End-
lich, wenn wir a einmal mit ab, dann mit ba multipliciren,
so sind diese Bedingungen freilich ganz äquivalent in Be-
zug auf die Größe des herauskommenden Produkts, aber
doch nicht in Bezug auf seine Structur, und aab ist immer
eine andere Combination als aba. Man kann diese an sich
schon sehr verschiedenen Beispiele leicht vermehren und
dadurch die allgemeine Gültigkeit des dritten Satzes stützen;
aber sein Nutzen für einen Beweis durch Analogie bleibt
(loch sehr gering; man kann durch ihn nicht darthun, was
doch alle Analogie will, daß in einem zweiten Fall das-
selbe stattfinde, wie in einem ersten, sondern man kommt
nur zu dem negativen Schlußsatz, daß jede Verschieden-
heit der Bedingungen an demselben Subjecte die Gleichheit
der Gesammtwirkung unmöglich mache; wa§ an dieser noch
gleich, was ungleich ist, bedarf allemal ganz andersartiger
294 Viertes Kapitel.
Untersuchung. Den vierten Satz erwähne ich nur; daß von
Ungleichem unter ungleichen Bedingungen Ungleiches gelte,
ist nach allem Vorigen so offenbar unbegründet oder zwei-
deutig, daß eine nützliche Anwendung dieser Behauptung
undenkbar ist. Ich füge nur zum Abschluß hinzu, daß
die Gedanken, die man Beweise durch Analogie nennen zu
können meint, nicht einmal unmittelbar von diesen Grund-
sätzen ausgehen, obwohl sie auf dieselben zurückgeführt
werden müßten. Ihre allgemeine Voraussetzung lautet viel-
mehr: von Aehnlichem gelte unter ähnlichen Bedingungen
Aehnliches. Nun ist Aehnlichkeit immer eine Mischung
von Gleichheit in der einen und Ungleichheit in der anderen
Rücksicht; fällt es daher schon schwer, aus den vorigen
Sätzen, welche doch die Bestandtheile der Mischung sondern,
eine triftige Folgerung zu ziehen, so ist dies noch weniger
möglich, wenn in den Aehnlichkeiten, auf die man sich
beruft, beide ungeschieden verschmolzen sind. Ich glaube
daher hinlänglich gezeigt zu haben, daß es Beweise durch
Analogie nicht gibt; ich leugne damit nicht, daß die Be-
achtung selbst entfernter Aehnlichkeiten ein sehr wirksames
Hülfsmittel des erfindenden Gedankenganges theils zur Ent-
deckung neuer Wahrheiten, theils zur Aufsuchung eines
Beweisgrundes für gegebene ist; denn, um mich kurz zu-
sammenzufassen, nicht die abstracte Gültigkeit der drei
letzten Grundsätze braucht bezweifelt zu werden, sondern
nur ihre Fruchtbarkeit für den Beweis. Man kann nicht
um unzergliederter Aehnlichkeit zweier Subjecte willen das
Prädicat des einen auf das andere übertragen, sondern nur
um nachgewiesener Gleichheit willen, wenigstens der Gleich-
heit in Bezug auf die Bedingungen, an denen dies Prädicat
überall hängt; und dies führt immer auf die Aufstellung
eines allgemeinen Satzes MF und auf die Unterordnung
beider Subjecte unter den bedingenden Begriff M zurück.
216. Ich habe noch der mathematischen Folgerungen
zu gedenken, die man als Schlüsse nach strenger Ana-
logie bezeichnet. Da der Name der Analogie ursprünglich
von den Proportionen herrührt, so hat jedes Verfahren, das
auf diese zurückführt, ein begründetes Recht auf die an-
geführte Benennung ; indessen hat doch der Sprachgebrauch
es dahin gebracht, daß wir unter einem Schluß durch
Analogie eine Folgerung erwarten, welche unmittelbar von
Aehnlichem auf Aehnliches schließt, ohne dazu des Um-
wegs durch ein übergeordnetes Allgemeine zu bedürfen.
In diesem Sinne aber lassen sich die mathematischen Ver-
Die Formen des Beweises. 295
fahrungsweisen den Schlüssen durch Subsumption nicht
entgegenstellen. Eine Proportion zwischen vier bestimmten
Größen, a : b = c : d, ist nur Ausdruck einer Thatsache ; zu
einer Quelle neuer Folgerungen wird sie erst, wenn die
beiden letzten Glieder unbestimmt gelassen werden; in
dieser Form aber : a : b = m : n ist sie der Ausdruck eines
allgemeinen Gesetzes; sie behauptet: diejenigen Größen,
auf welche die im Sinne gehabte Aufgabe führt, gehören
paarweis so zusammen, daß in jedem Paar das eine Glied
zum andern sich wie a : b verhält. Geben wir m und n
irgend einen bestimmten Einzelwerth, so folgt hieraus ein
Schluß nach Darii : alle durch den Sinn der Aufgabe ge-
gebenen Größenpaare (M) haben das Verhältniß P, näm-
lich a : b ; nun sind m und n (das S des Untersatzes) ein
solches Paar, also ist zwischen m und n das Verhältniß a : b.
Ohne Zweifel ist diese Reduction auf die erste Figur sehr
langweilig; aber man täuscht sich, wenn man wegen der
Kürze des formulirten Ausdrucks, den der Mathematik die
Natur ihrer Objecte möglich macht, in der einfachen Pro-
portion auch einen kürzeren Gedankengang als den hier
angegebenen zu finden glaubt; selbst das gewöhnlichste
Exempel der Regel de tri kommt nur durch ihn zu Stande.
Wir sagen: wenn 1 Pfund zwei Thaler kostet, so kosten
10 Pfund 10 • 2 Thaler ; dabei setzen wir voraus, was uns
selbstverständlich scheint, nämlich, daß das Verhältniß
zwischen jeder Quantität der Waare und ihrem Preise das-
selbe sei; wir ordnen also das der 10 Pfund zu dem ihrigen
dem des einen Pfundes zu dem seinigen als einen Anwen-
dungsfall unter; der Kaufmann aber verkauft die 10 Pfund
vielleicht zu 18 Thalern und zeigt dadurch, daß jene Vor-
aussetzung sich nicht unbedingt von selbst versteht, sondern
daß man sie eben zum Behuf jener ersten Berechnung wirk-
lich machen mußte; ebenso versteht sich, daß man still-
schweigend unter m und n Mengen derselben Waare und
derselben Münzeinheiten denkt, wie unter a und b, also
auch in dieser Beziehung den zweiten Fall jenem ersten
als der allgemeinen Regel unterordnet. Jede allgemeine
Gleichung, welche einen und denselben Inhalt unter zwei
verschiedenen Formen darstellt, ist gleichfalls eine all-
gemeine Regel, die nur gültig ist für diejenige Art von
Größen, welche man nach einer in der Formel selbst nicht
mit ausgedrückten Convention durch die gewählten Buch-
staben bezeichnet haben will und für welche Größenart
man die Gültigkeit der Gleichung ursprünglich bewiesen hat.
296 Viertes Kapitel,
Es ist daher nicht erlaubt, an die Stelle der Größen m
oder n, die in einer Gleichung vorkommen, beliebige andere
|Li und V zu setzen und die Gleichung auch dann noch als
gültig anzusehen; man muß zuvor wissen, daß ]li und v
unter den allgemeinen Artbegriff der m und n subsumirbar
sind, in Bezug auf welchen die Gültigkeit der Gleichung
bewiesen ist. Hätte man durch wirkliche Ausführung der
Multiplication und vermittelst des Beweises von n zu n -[- 1
gefunden, daß (1 + x)^= 1 + ^ -f m ^^- x^ . . . ist,
1 1 • Z
so hätte man nicht das Recht zu schließen, daß auch
(1+x) ^=l-f --^+ ^ ^^~^Kx^ sein werde;
1 • m m 1 • 2
denn in jener ersten Formel bedeutete m nur den
Gattungsbegriff der ganzen positiven Zahl, für welche
allein jener Beweis durch Multiplication sich ausführen
ließ; ihm aber ist der Begriff eines Bruches nicht sub-
sumirbar. Hätte man dagegen ein Mittel gehabt, diesen
binomischen Lehrsatz zuerst für den Bruchexponenten — ,
und zwar für jeden positiven Werth der Ganzzahlen m
und n, zu beweisen, so hätte man, da jedes ganze m sich
durch einen unechten Bruch darstellen läßt, hieraus auch
den ersten Lehrsatz unmittelbar entwickeln können.
217. Ich will endlich diese Betrachtungen noch einmal
mit dem Dictum de omni et nullo oder dem disjunctiven
Denkgesetze in Verbindung bringen. Wenn S^ und S^ zwei
Arten des Allgemeinbegriffs M oder zwei Einzelfälle des
allgemeinen Falles M sind, in dem Inhalt von M aber P
allgemein vorkommt, so wissen wir, daß dem S^ und S^
nicht P in dieser Allgemeinheit, sondern dessen Modifi-
cationen pi und p^ als Prädicate zukommen. Es kann nun
der specielle Fall eintreten, daß nach der Art, wie die ver-
schiedenen Prädicate P Q R in M zusammenhängen, die ver-
schiedenen Merkmalgruppen pi qi r^, p2 q2 r^, p» qs r^, die
in den einzelnen Subjecten S^ S^ und S^ entstehen, unter
einander identisch sein müssen; sie stellen dann ein, wenn
wir so sagen wollen, secundäres Prädicat 11 dar, welches
man schon dem M zuschreiben kann, und welches un-
modificirbar ganz ebenso jeder Art des M zukommt. So
erfordert der Begriff M des Dreiecks drei Winkel p q r,
aber die verschiedenen Werthe dieser Winkel combiniren
sich in den verschiedenen unähnlichen Dreiecken immer
Die Formen des Beweises. 297
zu derselben Summe 11 := 2 Rechten ; dieses identische
Merkmal IT kommt daher allen Dreiecken zu und kann
jedem einzelnen durch bloße Subsumption unter seinen
Gattungsbegriff sofort zugeschrieben werden. Abgesehen
aber von solchen Fällen bleibt das p^ oder q-, welches einem
S- gebühren wird, unbestimmt, mit der einzigen Einschrän-
kung, daß es eine Art von Q, und daß es überhaupt, wenn
auch mit einem Nullwerth, dessen Annahme man recht-
fertigen kann, vorhanden sein muß. Soll dies q^ bestimmt
werden, so muß es eine Regel geben, nach welcher die
specifische Eigenthümlichkeit von S^, durch welche es nicht
blos eine Art von M, sondern diese Art von M ist, die
Modification der allgemeinen Merkmale des M, hier die
des Q, mitbedingt, und man muß voraussetzen, daß nach
derselben Regel auch die Eigenheit des S^ die ihm
zugehörige Modification q^ des allgemeinen Q bedingen wird.
Ist diese Regel bekannt, so kann man q^ bestimmen, und
dies ist eben der Fall, den man den Schluß nach strenger
Analogie nennt, der aber, wie sich ergibt, auf nichts
anderem, als auf der Subsumption unter die gleiche all-
gemeine Regel beruht. Ist diese letztere aber nicht be-
kannt, so wird allerdings in uns die Tendenz fortdauern,
q^ durch Berücksichtigung der Aehnlichkeiten und Ver-
schiedeaheiten in dem Verhalten von S^ und S^ zu einander
und zu M zu finden, und die hierauf gebauten Verfahrungs-
weisen nennen wir dann gewöhnlich Folgerungen durch
Analogie; sie reichen jedoch nur aus, das richtige Ergeb-
niß zu errathen, aber nicht es zu beweisen. Der
pythagoreische Satz hatte gelehrt, daß für rechtwinklige
Dreiecke das Quadrat der Hypotenuse h gleich der Summe
der Quadrate der Seiten a und b ist, die den rechten
Winkel einschließen. Da dies Verhalten von nichts anderem,
als von der allgemeinen Natur des Dreiecks, von dem rechten
Winkel und von der Länge der Seiten abhängen kann, so
ist die Tendenz völlig gerechtfertigt, auch für andere Werthe
des Gegenwinkels einen analogen Satz über das Quadrat
der Gegenseite zu suchen. In der Formel h^^ia^-f-b^
findet sich nun keine Erwähnung des rechten Winkels mehr;
die Formel, die wir suchen, muß aber den Gegenwinkel er-
wähnen, denn die einfachste Anschauung lehrt, daß bei
gleichen a und b sich h mit seiner Vergrößerung verlängert
und mit seiner Verminderung verkürzt. Folglich muß die
pythagoreische Formel durch ein Glied ergänzt werden,
welches für den Winkel (p==90o zu Null wird, und da nicht
298 Fünftes Kapitel.
der Winkel selbst, sondern nur eine von ihm abhängige
Länge, oder ein Zahlencoefficient, der eine andere Länge
bestimmt, zur Ausmessung von h dienen kann, so wird
man h^ = a^ -|- b^ ^ m cos cp versuchsweise setzen. Die Zwei-
deutigkeit des Zeichens hebt sich sogleich durch die Be-
obachtung, daß h wächst, wenn 9 über 90° wächst, der
oosinus mithin negativ wird; es kann daher in der Formel
nur das negative Zeichen gelten. Um das unbestimmte m
zu finden, wenden wir uns an die beiden Grenzwerthe
(p = o und (p = TT. Im letzten Falle wird h^ = {a,-{- b)2 und
cos cp = — 1 ; im ersten ist h^ = (a — b)2 und cos cp 1= -f 1 ;
beide Fälle geben gleichmäßig h^ = a^ + b^ — 2 ab cos cp.
Diese Formel ist nun richtig für alle Werthe von cp, aber
bewiesen ist sie keineswegs; sie deckt mit Sicherheit nur
die drei Specialwerthe 9 = 0, cp = 71, cp = n/2, aus denen sie
entwickelt ist; es ließe sich leicht eine andere Formel denken,
z. B. h^ = a^ -f- b^ — 2 ab cos cp. cos^ {k — (p), welche densel-
ben Dienst leistete; welche von beiden auch den Zwischen-
werthen von cp allgemein entspricht, bleibt also unbestimmt,
bis eine leichte geometrische Construction, welche den pytha-
goreischen Satz auch voraussetzt, für die wirkliche All-
gemeingültigkeit der zuerst gefundenen entscheidet. Ich
führte dies einfache Beispiel aus, um an ihm zu zeigen,
wie vielerlei Nebenerwägungen nöthig sind, um unser
Streben, neue Wahrheiten nach Analogie gegebener zu
finden, nur überhaupt in eine Direction zu bringen, die
einen Erfolg verspricht.
Fünftes KapiteL
Die Auffindung der Beweisgründe.
^>. 218. Die wesentlichste Leistung jeder Beweisführung
für einen gegebenen Satz T ist die Auffindung des Ober-
satzes G, aus welchem, durch schickliche Unterordnung, T
als nothwendige Folge hervorgehen soll. Diese Aufgabe,
offenbar eine des erfindenden Gedankenganges, macht keine
logische Regel möglich, nach welcher ihre Lösung, ohne
auf die freie Mitwirkung des individuellen Scharfsinnes zu
rechnen, in allen Fällen mit Sicherheit gefunden werden
Die Auffindung der Beweisgründe. 299
könnte. Man muß nicht nur voraussetzen, daß früheres
Nachdenken überhaupt schon eine Anzahl allgemeiner Er-
kenntnisse geliefert hat, die in einer für diesen Zweck be-
nutzbaren Beziehung zu dem Inhalt des gegebenen T stehen,
und die nun, im Bewußtsein reproducirt durch die Aehn-
lichkeit dieses Inhalts mit ihrem eigenen, dem Suchen ent-
gegen kommen und sich als Erklärungsgründe des Ge-
gebenen anbieten; man wird außerdem zugeben müssen,
daß der Scharfblick, welcher unter ihnen den passendsten
Beweisgrund herausfindet, und die vielleicht nöthigen Um-
formungen übersieht, durch welche das Gegebene ihm unter-
geordnet werden kann, in weitem Umfang Sache des an-
geborenen Talents und nicht einmal unabhängig von der
augenblicklichen Stimmung ist. Indessen muß es doch
möglich sein, aus dem logischen Verhältniß, welches
zwischen den Bestandtheilen eines wahren und deßhalb
beweisbaren Satzes T stattfindet, wengistens eine solche
Anleitung zu gewinnen, durch welche man auf den Weg,
auf welchem man freilich den Beweisgrund immer noch
wird zu suchen haben, einigermaßen hingewiesen und von
gänzlich richtungslosem Tasten abgehalten wird. Nirgends
anders liegt dieser Hinweis, als in dem früher bemerkten
Umstände, daß jedes wahre allgemeine Urtheil T, wenn man
sein Subject und sein Prädicat durch alle angedeuteten
oder unausgesprochenen, aber doch mit gedachten Neben-
bestimmungen ergänzt und vervollständigt denkt, ein iden-
tisches Urtheil bilden muß. Substituirt man daher dem
Begriffe S, welcher in T als Subject auftritt, diese ver-
vollständigte Summe aller in ihm enthaltenen Theilvor-
stellungen in den ihnen zukommenden Formen der Ver-
knüpfung, so muß hierin der Grund liegen, der das Prädicat
rechtfertigt; substituirt man anderseits dem vollständigen P
die Summe der in ihm eingeschlossenen Theilvorstellungen,
so müssen in ihr alle Forderungen vereinigt sein, deren Er-
füllung man von dem Subject, zur Richtigkeit des Satzes T,
zu verlangen hat. Ich versuche, an einigen Beispielen den
Nutzen dieser Anweisung zu verdeutlichen, und da in der
That hier Beweisführung und Erfindung ganz dieselben
Wege gehen, so behandle ich einige dieser Beispiele als
Beweise für den gegebenen Satz T, andere als Beispiele
seiner Erfindung, d. h. der Frage, welches durch einen
Satz T aussprechbare Verhältniß zwischen einem gegebenen
S und P stattfinden müsse?
219. Es möge zuerst der gegebene Satz T, der Winkel
300 Fünftes Kapitel.
im Halbkreis sei ein rechter, zu beweisen sein. Zergliedern
wir das Subject, so finden wir, daß unter dem fraglichen
Winkel ein solcher zu verstehen ist, dessen Schenkel von
den Endpunkten a und b einer Graden ab ausgehen und
sich irgendwo auf der Peripherie eines Kreises schneiden,
der über ab als Durchmesser beschrieben ist. Damit nun
dem zweiten Theil dieser Definition, welcher die Lage des
Durchschnittspunktes e bestimmt, genügt werde, muß die
Entfernung des e von dem Halbirungspunkt c der Graden ab
gleich der Hälfte ac oder cb dieser Graden sein. Diese aus
der Definiton des Subjects fließende Forderung führt un-
mittelbar auf die einzige kleine Hülfsconstruction, deren
wir bedürfen: diese Linie ec müssen wir ziehen, um für
unsere Anschauung deutlich die Verhältnisse hervortreten
zu lassen, auf denen die Nothwendigkeit des gegebenen
Satzes T beruht. Haben wir nun ec gezogen, so ist durch
sie das vorige Dreieck aeb in die beiden gleichschenk-
ligen aec und ecb, der Winkel bei e aber in die beiden a
imd ß getheilt; aus der Gleichschenkligkeit der beiden
Dreiecke folgt und folgt zugleich Nichts anders, als daß
< eac = a und < ebc = ß ; daraus aber, wie beide Dreiecke
das Dreieck aeb zusammensetzen, indem ec ihnen gemein-
sam ist, ac und cb aber in dieselbe Grade fallen, folgt
weiter, daß die vier Winkel a, a, ß, ß zusammen gleich
der Winkelsumme des Dreiecks aeb sind. Man hat also
2 (a -f ß) = 2 R., und da a -|- b eben der gesuchte Winkel
im Halbkreis ist, diesen selbst gleich einem Rechten. Nicht
immer wird eine so leichte Zergliederung des Subjects hin-
reichen, wie in diesem einfachsten Falle; fügen wir deßhalb
ein zweites Beispiel zur Erläuterung eines häufig anwend-
baren Kunstgriffes bei. Man besitzt vielleicht einen Satz T,
welcher uns lehrt, was von einem Subject gilt, welches dem
Subject S des gegebenen Satzes nicht gleich ist, sondern
von ihm um eine angebbare Differenz abweicht; läßt man
dann aus ihm, durch Aufhebung dieser Differenz, das ge-
gebene Subject S entstehen, und kann man nachweisen,
wie sich hiermit das durch T ausgesprochene Verhalten
ändert, so wird man den gegebenen Satz T beweisen, wenn
er richtig ist, oder den richtigen Satz T finden, wenn der
gegebene falsch oder wenn überhaupt keiner gegeben war.
Die Frage sei : wie groß die Winkelsumme des Dreiecks sei ?
Ich nehme an, daß die von den Parallelen und ihrem Durch-
schnitt mit einer Graden geltenden Sätze unabhängig von
der Betrachtung des Dreiecks feststehen, und lasse dann die
Die Auffindung der Beweisgründe. 301
beiden Graden ad und bc einander parallel sein, von einer
dritten Graden ab aber in den Punkten a und b geschnitten
werden. Diese drei Linien bilden so kein Dreieck, sondern
einen offenen Raum, aber die Summe S der beiden Winkel
dab und abc ist bekannt und gleich zwei Rechten. Drehen
wir jetzt die Linie ad um den Punkt a, so daß sie gegen
bc convergirt, so entsteht zwischen ihrer neuen Lage und
ihrer vorigen ein Winkel cp, welcher aus der Winkelsumme S
ausgeschlossen wird; zugleich aber entsteht zwischen der
geneigten Linie und bc ein neuer Winkel, welcher als dritter
Winkel des jetzt entstehenden Dreiecks zu dem Reste der
Winkelsumme S hinzutritt, und nach den Sätzen über die
Parallelen gleich dem ausgeschlossenen <cp ist. Bei dem
Uebergang aus dem Nichtdreieck in das Dreieck erfährt da-
her die Summe der von den drei Seiten eingeschlossenen
Winkel gleichen Gewinn und Verlust cp; sie ist also auch
im Dreieck gleich zwei Rechten.
220. Es sollen die Bedingungen des Gleichgewichts be-
wiesen oder gefunden werden, für einen völlig freien und
absolut festen Körper, auf den in verschiedenen Punkten
verschiedene Kräfte nach verschiedenen Richtungen wirken.
Analysiren wir den Begriff des Körpers, von dem hier ge-
sprochen wird, so bedarf die völlige Freiheit desselben
keiner weiteren Zergliederung; als Abwesenheit jeder be-
dingenden Relation zu andern ist sie für sich klar, und
nur diese Relationen, wenn sie beständen, würden Gegen-
stand weiterer Begriffsbestimmungen sein ; absolut fest aber
ist der Körper, wenn jede beliebigen zwei Punkte desselben
eine imveränderliche Entfernung haben. Stände nun dieser
Körper gar nicht unter dem Einfluß von Kräften, so würde
man von ihm wissen, daß er entweder in Ruhe ist, oder eine
ursprüngliche Bewegung mit der constanten Geschwindig-
keit c fortsetzt ; man hätte nur c = o zu setzen, um die Be-
dingung des Gleichgewichts der Ruhe auszudrücken, welches
wir hier meinen. Um aber zu entscheiden, wie er dies
Gleichgewicht unter dem Einfluß von Kräften behauptet,
müssen wir, analog dem vorigen Falle, zuerst zusehen, wie
er sich bewegen würde, falls er sich bewegte, und dann
müssen wir alle die Bedingungen negiren, die mit dieser
Bewegung unzertrennlich verbunden sein würden. Dies ist
kein blos nützlicher, logisch unmotivirter Einfall; denn das
Gleichgewicht, welches wir hier suchen, ist seinem Begriffe
nach nicht bloße Ruhe, sondern Verneinung der Be-
wegungen, die es zu stören suchen. Da es nun keine
302 Fünftes Kapitel.
anderen Bewegungen gibt, als fortschreitende drehende und
die aus beiden gemischten, so haben wir, um das Gleich-
gewicht des Körpers zu bestimmen, nur die Bedingungen
der beiden ersten Bewegungsarten zu beachten; mit ihrer
Verneinung verschwindet die Möglichkeit der dritten von
selbst.
221. Sprechen wir zuerst nur von der fortschreitenden
oder translatorischen Bewegung und schließen ausdrücklich
jede Drehung aus, so folgt aus der Definition der Festig-
keit, daß alle Theile des festen Körpers sich in gradlinigen
und parallelen Bahnen und deßhalb mit gleicher Geschwin-
digkeit fortbewegen müssen. Auf welche Weise daher auch
immer eine Kraft es dahin gebracht haben mag, dem einen
Theile a des Körpers eine Geschwindigkeit c zu ertheilen,
immer muß, falls es eine fortschreitende Bewegung und
keine Drehung geben soll, die Wirkung dieser Kraft auch
jedem andern Theile b des Körpers dieselbe Geschwindig-
keit mitgetheilt haben. Hieraus entspringt für unsern Zweck
die große Bequemlichkeit, daß wir zur Beurtheilung des
translatorischen Enderfolges aller einwirkenden Kräfte die
Verschiedenheit ihrer Angriffspunkte an dem festen Körper
nicht zu berücksichtigen nöthig haben; es genügt, daß wir
alle Kräfte, jede jedoch parallel mit ihrer gegebenen Rich-
tung, an einen beliebigen Punkt des Raumes versetzen, in
den wir die Masse des Körpers concentriren, und dann nach
den bekannten Regeln über die Zusammensetzung der Be-
wegungen die resultirende Bewegung R bestimmen, welche
sie diesem Punkte ertheilen würden; Größe und Richtung
dieser Resultante R sind dann identisch mit Größe und
Richtung der Bewegung, die der Körper unter dem ver-
einigten Einfluß der Kräfte annimmt, und er bleibt in Ruhe^
wenn R = o ist. Drückt man dies Ergebniß so aus, daß
der Körper ruht, wenn die Wirkungen aller an ihm an-
gebrachten Bewegungsantriebe sich aufheben, so bedarf
dieser Satz, als identischer, überhaupt keiner Begründung;
unsere Erläuterung gab jedoch auch die Bedingung an,
unter welcher jene Aufhebung stattfindet; sie war die näm-
liche, wie in dem Falle, daß alle Kräfte auf denselben Punkt
wirken.
222. Die Mechanik pflegt indessen diese Bedingung nicht
unter dieser Form R = o anzugeben, sondern spaltet sie,
zur Bequemlichkeit der rechnenden Anwendung, in drei
Gleichungen, die ich noch erwähne, weil gewiß die Rück-
sicht auf Ausführbarkeit einer logischen Vorschrift mit zu.
Die Auffindung der Beweisgründe. 303
den Aufgaben einer angewandten Logik gehört. Ist die
Zahl n der auf den Körper wirkenden Kräfte beträchtlich,
so wird es mühsam, die letzte Resultante R dadurch zu
finden, daß man zuerst aus zweien dieser Kräfte eine erste,
aus dieser und der dritten Kraft eine zweite Resultante
sucht und so bis zur Zusammensetzung der letzten Kraft
mit der zuletzt gefundenen Resultante fortfährt. Auch
pflegen die Winkel, welche jede Kraft mit jeder andern
macht, und welche diese Berechnung zu beachten hätte,
selten zu den ursprünglich gegebenen Bestimmungsstücken
zu gehören ; wo aber die Beobachtung eines gegebenen That-
bestandes diese Bestimmungsstücke erst feststellen muß,
wird sie hier wie überall vorziehen, die Richtungen aller
Kräfte durch ihre Beziehungen zu einem einzigen allge-
meinen Maßstabe zu charakterisiren, anstatt die Divergenzen
zwischen je zweien zu messen. Man legt daher drei auf
einander rechtwinklige Coordinatenaxen X, Y, Z zu Grunde,,
bestimmt die Richtung jeder Kraft P durch die drei Winkel
^, ß> T^ welche sie mit diesen Axen oder ihren Parallelen
macht und denkt sich zugleich jede in drei diesen Axen
parallele Seitenkräfte zerlegt, die nach einem bekannten
Satze P cos a, P cos ß un,d P cos y sein werden. Die drei
Summen, welche dann die gleichgerichteten Componenten
aller Kräfte vereinigen, also die Summen Z P • cos a,
Z P • cos ß, Z P . cos Y werden die resultirenden Kräfte sein,
welche den Körper beziehungsweis parallel den Axen X, Y, Z
zu bewegen streben; ist jede dieser Summen für sich gleich
Null, so schreitet der Körper nach keiner der drei Axen-
richtungen, also überhaupt nicht, vorwärts; denn jede Be-
wegung in einer Zwischenrichtung würde eine gleichzeitige-
hier geläugnete Verschiebung nach wenigstens zweien
dieser Axen einschließen. An die Stelle von R = o treten:
also die drei Gleichungen Z P • cos a = o, Z P • cos ß == o,
Z P • cos y = 0 als die Bedingung, welche die translatorische^
Bewegung des Körpers aufhebt.
223. Wir haben noch die andern Bedingungen zu suchen,,
welche die Drehung des Körpers unmöglich machen. Dreht
sich nun eine grade Linie um einen ihrer Punkte, so ändern
außer diesem einen, den wir als fest betrachten, (wodurch
wir zugleich die fortschreitende Bewegung der ganzen Linie
aufheben,) alle ihre übrigen Punkte ihre Raumcoordinaten.
Die Linie kann sich daher nicht drehen, sobald zwei ihrer
Punkte unveränderliche Coordinaten haben. Aber um dieso
304 Fünftes Kapitel.
nun in ihrer ganzen Ausdehnung festliegende Linie kann
sich eine Ebene drehen, in der sie enthalten ist; dann
ändern alle Punkte der Ebene außer dieser Axe ihre Co-
ordinaten; die Drehung der Ebene wird folglich unmöglich,
wenn ein Punkt außerhalb der Axe, wenn also im Ganzen
die drei Eckpunkte eines beliebigen in der Ebene angenom-
menen Dreiecks festliegen. Dieselbe Bedingung genügt offen-
bar, um die Drehung eines festen Körpers unmöglich zu
machen, dessen jeder Punkt eine unveränderliche Entfernung
von jedem Punkt einer beliebig in ihm angenommenen festen
Ebene besitzt. Man könnte daher die Bedingung der Nicht-
drehung dahin aussprechen, daß die drei Eckpunkte eines
willkürlich in dem Körper verzeichneten Dreiecks ihre Co-
ordinaten nicht ändern. Aber der Nachweis, daß diese Be-
dingung erfüllt sei, würde nicht bequem sein; man könnte
ihn durch Anwendung der vorigen drei Gleichungen auf
jeden dieser drei Punkte nur dann führen, wenn man nach-
weisen könnte, zu welcher Resultante sich an jedem von
ihnen alle die Kräfte verbinden, die nicht an ihm selbst,
sondern an andern Punkten angebracht sind; dies aber, wie
man leicht bemerkt, ist eben das, was wir noch zu erfahren
suchen. Man verfährt daher anders, und zwar, da die Lage
jenes Dreiecks ganz willkürlich ist, so wird man am natür-
lichsten darauf verfallen, seine drei Eckpunkte in die drei
Axen X, Y, Z zu vertheilen, in Bezug auf welche man ja
die Richtungen aller zusammenwirkenden Kräfte bereits
bestimmt hat; auch in jeder Axe aber ist die Lage des
dahin versetzten Punktes willkürlich : man kann daher jeden
Punkt jeder Axe als einen Punkt unveränderlicher Lage,
mithin die drei Axen selbst als drei feste Linien ansehen,
in Bezug auf welche, wenn die Drehung ausgeschlossen
sein soll, kein Punkt des Körpers seine Lage und Ent-
fernung ändern darf. Betrachtet man endlich die Axen als
Dimensionen, die innerhalb des Körpers selbst liegen oder
als identisch ihrer Lage nach mit drei auf einander recht-
winkligen Punktreihen dieses Körpers, so folgt aus der De-
finition der Festigkeit, daß nur diese Punktreihen im Räume
festzuliegen brauchen, um jede Ortsveränderung der übrigen
Körperpunkte unmöglich zu machen. Die Aufgabe reducirfc
sich daher auf den Nachweis, daß alle zusammenwirkenden
Kräfte keine der drei Punktreihen oder keine der jetzt gegen
ihre frühere Richtung beweglich gedachten Axen X, Y, Z
nach irgend einer Richtung zu drehen im Stande sind.
Die Auffindung der Beweisgründe. 305
224. Die zuletzt entwickelte Vorstellungsweise würde
jedoch als Unterlage der Berechnung nur dann bequem sein,
wenn die Richtungen aller den Körper treffenden Kräfte
durch die drei Axen gingen. Dies wird im Allgemeinen
nicht der Fall sein; um diejenigen Kräfte mit in Betracht
ziehen zu können, deren Verlängerungen bei jenen Punkt-
reihen vorbeigehen, ohne sie zu schneiden, müssen wir
diesen drei Linien drei einander rechtwinklig schneidende
Ebenen substituiren, deren jede mithin zwei von diesen
Axen einschließen wird; eine dieser Ebenen trifft die
nöthigenfalls verlängerte Richtung jeder Kraft. Die Aufgabe
ist jetzt, zu zeigen, daß alle Kräfte weder die Ebene XY
und XZ um X, noch die YZ und YX um Y, noch die ZY
und ZX um Z zu drehen im Stande sind. Betrachten wir
die Bedingungen der Drehung um Z. Jede Kraft P, welche
in beliebiger Richtung einen Punkt des Körpers angreift,
dessen Coordination x, y, z sind, und welche mit den drei
Axen die Winkel a, ß, y macht, kann, wie früher, in die
drei den Axen parallelen Seitenkräfte P cos a, P cos ß,
P cos Y zerlegt werden. Von ihnen kommt die letzte hier
in Betracht; sie könnte nur eine translatorische Verrückung
des Körpers nach der ZAxe bewirken, die durch die
Gleichungen des § 222 schon ausgeschlossen ist, oder eine
Drehung der XY Ebene um X oder Y, die wir hier noch aus-
schließen. Von den beiden andern Kräften steht P cos a
senkrecht auf der ZY und P cos ß senkrecht auf ZX; beide
streben, wie eine leicht zu entwerfende Figur zeigt, die
Ebenen ZX und ZY, also den Körper, in welchem diese
beiden unveränderlich verbunden sind, nach entgegen-
gesetzten Richtungen zu drehen; die Richtung der wirklich
erfolgenden Drehung würde daher von ihrer Differenz ab-
hängen. Aber nicht einfach von ihrer Differenz, denn ein
Satz, dessen wir uns hier einstweilen nur erinnern, lehrt-, daß
die drehende Wirkung einer Kraft, die senkrecht auf eine
Linie ist, nach dem Product ihrer Intensität in die Ent-
fernung ihres Angriffspunktes von der Drehaxe zu messen
ist. Für P cos a ist diese Entfernung y, und'X für P cos ß;
die Differenz der Produkte yP cos a und xP cos ß, oder die
Differenz der Momente muß gleich Null sein, wenn P keine
Drehung um die ZAxe bewirken soll. Man hat dieselben
Betrachtungen in Bezug auf alle Kräfte zu wiederholen und
findet als Bedingung der Nichtdrehung um Z die Gleichung Z
(yP cos a — xP cos ß) = o. Dieselben Formen werden offen-
bar, bei der völligen Gleichwerthigkeit der drei Raum-
Lot ze, Logik. 20
306 Fünftes Kapitel.
richtungen, auch die andern Gleichungen haben, welche
die Drehung um X und Y aufheben; und da auch
mnemonische Hülfsmittel nicht außerhalb der Aufgaben
angewandter Logik liegen, so führe ich an, daß die Gleichung
für die Nichtdrehung um die eine Axe allemal die Be-
stimmungsstücke, die sich auf diese Axe beziehen, nicht
enthält, sondern aus der Summe von Differenzen zweier
Producte besteht, deren jedes eine Seitenkraft nach der
zweiten Axe mit der Coordinate ihres Angriffspunktes
nach der dritten verbindet. Die Formel Z (zP cos ß
— yPcosY) = o hebt die Drehung um X, die dritte Z
(xP cos Y — zP cos a) = o die um die YAxe auf.
225. Den Satz, den wir über das Gleichgewicht drehen-
der Kräfte oben entlehnten, gewinnt man im Zusammen-
hang der Statik sehr leicht durch einen kleinen Kunstgriff,
der diese Frage auf die Zusammensetzung der Bewegungen
zurückbringt. Ich wähle hier einen andern Weg des Be-
weises, natürlich nicht, um der Statik eine Verbesserung
zu verschaffen, sondern um an einer Behandlung, welche
so viel als möglich von blos glücklichen Einfällen un-
abhängig ist, das Hervorgehen der Beweisgründe aus der
Zergliederung der Aufgabe selbst deutlich zu machen. Die
starre Linie a b, deren Länge n sei, kann sich um ihren festen
Endpunkt a nur drehen, indem alle ihre Punkte Kreis-
bögen pco von gleichem Winkel co mit einem Halbmesser p
beschreiben, der für jeden Punkt gleich seinem Abstand
von dem Drehpunkt a ist. Wirkt nun eine Kraft W an dem
Endpunkt b, und hat sie es, wie auch immer, dahin gebracht,
ihn in der Zeit t den Bogen nco durchlaufen zu machen,
so hat sie allemal zugleich jeden andern Punkt von- dem
Abstand p genöthigt, in derselben Zeit t den Bogen poo
zurückzulegen; und umgekehrt: jede Kraft, die, an dem
Punkte p angebracht, diesen Punkt dazu vermocht hat, sich
durch den kleineren Bogen pco zu bewegen, hat allemal
auch alle übrigen Punkte gezwungen, die ihren Abständen
von a zukommenden Kreisbögen zu durchmessen. Es fragt
sich nun, wie zwei Kräfte P und Q beschaffen sein müssen,
um von den Punkten p und q aus, an welche sie angebracht
sind, diesen ganz gleichen Erfolg hervorzubringen, und
folglich, wenn sie einander entgegengesetzt auf die Linie a b
einwirken, die Drehung derselben zu verhindern. Nun ist
der Begriff der Festigkeit, also der bloßen Unbeweglichkeit
von a zu unvergleichbar mit Begriffen von Bewegungen, um
erkennen zu lassen, wie sie auf diese einwirken kann; man
Die Auffindung der Beweisgründe. 307
müßte zuvor die Festigkeit selbst als Erfolg von Bewegungen
fassen, um sie jenen andern Bewegungen homogen zu
machen, auf welche sie einen einschränkenden Einfluß aus-
üben soll. Man kann femer P und Q liicht vergleichen, so
lange sie unter verschiedenen Umständen wirken, deren
bedingende Macht noch unbekannt ist; man kann sie nur
nach den Geschwindigkeiten cp und \|) schätzen, welche sie
unter ganz gleichen Bedingungen auf ein ganz gleiches
Object übertragen; endlich können P und Q zwar an den
einzelnen Punkten p und q angebracht sein, aber doch
nicht auf sie allein wirken; um eine Drehung hervor-
zubringen oder zu hemmen, muß die Wirkung jeder Kraft
sich auf alle Punkte der Linie ab verbreiten, und die Art
dieser Vertheilung müßte man kennen, um zu verstehen,
wie der Effect einer von ihnen den gleichzeitigen Effect
der andern an jedem Punkte der Linie aufheben kann.
226. Diesen logischen Anweisungen genügen wir durch
folgende Betrachtung. Sei ab = n zuerst eine völlig freie
starre Linie, bestehend aus der imendlichen Anzahl n gleich-
artiger Massenpunkte, welche auf irgend eine uns hier nicht
weiter angehende Weise genöthigt sind, unveränderliche
Entfernungen von einander zu behalten. Eine Anzahl n
gleicher und paralleler Kräfte wirke senkrecht auf diese
Linie so, daß jede einem der n Elemente derselben die
Geschwindigkeit co mittheilte; dann wird diese Gesammt-
kraft W = na) die ganze Linie parallel mit sich selbst fort-
treiben. In eine drehende Bewegung geht diese trans-
latorische dann über, wenn wir den verschiedenen Punkten
der Linie verschieden abgemessene Geschwindigkeiten ent-
gegenwirken lassen, die wir uns wie im Anfang so auch im
Fortgang der Drehung in jedem Augenblick senkrecht auf a b
denken. Dem Endpunkt a stellen wir die Geschwindigkeit
— CO gegenüber, durch welche er, für die vorliegende Auf-
gabe, zum festen Punkte wird; dem Punkte b setzen wir
eine Geschwindigkeit =0 entgegen und er behält mithin
die volle Geschwindigkeit co, welche ihm W ertheilte; den
Zwischenpunkten müssen solche Widerstände entgegen-
stehen, daß sie für jeden Punkt p, dessen Abstand vom
Drehpunkt =p ist, den uns bereits bekannten Rest der
Geschwindigkeit übrig lassen, nämlich den Kreisbogen ^ • co,
dessen Länge sich zu dem Wege co des freien Endes verhält
wie p:n; die Summe der Geschwindigkeiten aller Punkte p,
20*
308 Fünftes Kapitel.
von p =:: o bis p == n, muß = -^ sein. Eine Kraft P nun,
welche einem freien Elemente die Geschwindigkeit 9 zu
geben vermöchte, würde dem Elemente p der starren Linie
die Geschwindigkeit ^ • cp geben, falls es zwar dem oben-
erwähnten Widerstände ausgesetzt, aber doch isolirt für
sich beweglich wäre ; da es dies nicht ist, so muß dieger
ertheilte Anstoß sich über die ganze Linie vertheilen. Auf
welche Weise die Vertheilung zu Stande kommt, kann
dahingestellt bleiben, denn ihr Effect steht vorher fest;
sie muß eine Drehung der ganzen Linie bewirken, in welcher
jeder Punkt p eine seiner Entfernung vom Drehpunkt pro-
portionale Geschwindigkeit erhält und die Summe aller
Geschwindigkeiten = -S-^ ist. Jeder Punkt p wird mithin
2n
die Geschwindigkeit — •
2.1
n n
erhalten. Ganz Gleiches gilt
von einer zweiten Kraft Q, die einem freien Element die
Geschwindigkeit i|), dem Element q der befestigten Linie
dagegen die Geschwindigkeit — • ^ beibringen würde; an q
angebracht, würde sie jedem anderen Element p die (je-
schwindigkeit
q *
geben. Sollen nun die beiden
an p und q einwirkenden Kräfte oder Geschwindigkeiten
entweder in gleichem Sinne gerichtet eine und dieselbe
dritte Bewegung der Linie aufheben, oder in entgegen-
gesetztem Sinne gerichtet einander selbst das Gleichgewicht
halten, so müssen, für jedes p, die beiden gefundenen Auä-
drücke für ihre Wirkung einander gleich, also p cp == q 4>
und cp : t|? = q : p sein. Das heißt: die Hebelarme der Kräfte
müssen sich umgekehrt verhalten wie ihre Intensitäten.
227. Auf sehr scheinbare und dennoch nicht zulässige
Weise würde man denselben Satz folgendermaßen ableiten.
Wenn auf denselben Punkt m des in senkrechter Ebene
beweglichen Hebels a b zwei gleiche entgegengesetzte Kräfte
P und Q einwirken, so ist unter dieser Bedingung Gleich-
gewicht selbstverständlich. Denkt man sich nun, wie ge-
wöhnlich geschieht, Q als ein Gewicht, das durch einen
Haken oder Faden an m aufgehängt ist, und P als einen
von oben wirkenden Zug, so liegt hierin die stillschweigende
Voraussetzung, es sei gleichgültig, ob von den unendlich
Die Auffindung der Beweisgründe. 309
vielen unendlich dünnen senkrechten Streifen, in die man Q
sich zerlegt denken kann, jeder einzeln den Punkt des
Hebels angreift, der in seiner Verlängerung liegt, oder ob
alle diese Einzelkräfte nur durch einen einzigen Repräsen-
tanten, der sie zusammenfaßt, durch den Faden, an den
Hebel kommen. Dies einmal angenommen, ist es dann
auch nothwendig gleichgültig, ob man sich Q als einen
Körper denkt, oder durch eine geometrische Ebene senk-
recht in zwei Hälften getheilt, die einander an der Schnitt-
fläche berühren, und deren jede durch einen besonderen
Faden, der ihre Kräfte als Resultante zusammenfaßt, an
dem Hebel befestigt ist. War nun m die Entfernung des
früheren einzigen Angriffspunktes vom Drehpunkt, so sind
m — X und m-f-x die entsprechenden Entfernungen der
neuen Angriffspunkte dieser zwei Fäden. Und dies heißt
nun : das Gleichgewicht besteht fort, wenn zwei Kräfte Q/2,
deren Summe = P ist, rechts und links gleich weit von dem
Angriffspunkt der entgegengesetzten Kraft P angebracht
werden; denn die Fäden selbst, oder ihre Spannungen,
sind jetzt die unmittelbar angreifenden Kräfte. So lange
nun diese Spannungen die Resultanten der in den beiden Q/2
vereinigten Schwerkräfte sind, ist es ferner offenbar ganz
gleichgültig, wie diese Q/2 übrigens geformt sind, also auch
gleichgültig, ob sie einander noch berühren, wie vorhin,
oder ob sie durch Vergrößerung ihrer senkrechten Dimension
und Verkleinerung ihres Querschnittes jetzt zu zwei ge-
sonderten Körpern werden, die einen Zwischenraum
zwischen einander lassen. Setzt man diese Ueberlegungen
fort, so hindert nichts, die Verschiebung des einen Q/2 nach
links, des andern nach rechts, um gleiche x, nach Belieben
fortzusetzen, bis endlich x = m wird; dann ist das eine,
sagen wir das linkshin verschobene Q/2 unter dem festen
Drehpunkt a angelangt und übt nun keinerlei Wirkung mehr
auf den Hebel aus; das andere Q/2 hat den Abstand 2 m
vom Drehpunkt erreicht, und das Gleichgewicht besteht
jetzt unter der Bedingung fort, daß P, welches =Q ist, aii
dem Hebelarme m, — Q/2 aber an dem Hebelarme 2 m an-
greift. Aber so anschaulich diese Darstellung ist, so ist
sie dennoch gar nicht schlußkräftig. So lange nämlich
x<m, so lange hatte das nach links verschobene Q/2 noch
einen erkennbaren und begreiflichen Einfluß auf das Gleich-
gewicht des Hebels; es blieb klar, daß es im Verein mit
dem entgegengesetzt fortrückenden andern die zureichende
Gegenkraft gegen P war; sobald dagegen x:^m wird und
310 Fünftes Kapitel.
die Wirkung von Q/2 ganz wegfällt, entsteht ein Sprung in
unsern Gedanken, indem einer der Beziehungspunkte ver-
schwindet, auf dessen Verhältniß zum andern unser ganzes
Raisonnement gebaut war. Denn wenn wir zuerst Q in dem
Punkte m selbst anbrachten, dann beide Q/2 symmetrisch
um m vertheilten, so galt, was wir daraus folgerten, zu-
nächst für die freie Linie ab, die in m durch die Kraft P
gehalten wurde; die Befestigung des Endpunktes a war gar
nicht berücksichtigt; freilich galten diese Folgerungen auch
für den Fall des befestigten a, so lange sich nachweisen
ließ, daß ohnehin, um der Vertheilung der Gewichte willen,
Gleichgewicht stattfand; denn wenn es stattfand, so konnte
es dadurch nicht gestört werden, daß man sich a noch zum
Ueberfluß festgelegt dachte. Sobald aber der Einfluß von Q/g
wegfällt, so findet aus jenen vorgedachten Gründen das
Gleichgewicht nicht mehr statt; daß diese weggefallene
Bedingung aber durch die Befestigung des Endpunktes a
genau ersetzt werde, ist gar nicht an sich klar. Man
müßte sich vielmehr für diesen besondem Fall nach einem
Hülfsbeweise umsehen, v/elcher zeigte, daß bei festliegen-
dem a die Wirkung des Q/2 schon vorher immerfort ab-
nahm, je mehr es sich dem a näherte, und daß das Gleich-
gewicht dennoch bestand; daß es folglich auch fortbestehen
werde, wenn der Einfluß dieses Gewichts, bei gleichzeitiger
Verrückung des andern, ganz zu Null wird. Aber genau
zugesehen, würde dieser Nebenbeweis in Wahrheit der
Beweis der Hauptsache sein, nämlich eben des Satzes,
daß die bewegenden Wirkungen gleicher Kräfte am Hebel
sich umgekehrt verhalten wie ihre Hebelarme. So anschau-
lich daher jene Darstellungsweise den fraglichen Satz
machte, so bewies sie ihn dennoch gar nicht, sondern
setzte ihn in einem leichter erkennbaren als kurz aus-
drückbaren Cirkel voraus.
228. Verwickelte mechanische Probleme können nicht
immer durch directe Zusammensetzung aller wirkenden
Kräfte zu ihrem Enderfolge gelöst werden ; man muß häufig
gewisse allgemeine Bedingungen aufstellen, denen dieser
jedenfalls zu genügen, oder Schranken, innerhalb deren
er sich zu halten hat; unter dieser Voraussetzung liefern
dann die Einzeldata des gegebenen Falles Mittel zur voll-
ständigen Bestimmung des Resultats. Diese Methoden, unter
denen nur an die Anwendung des Princips von d'Alembert
erinnert sein mag, sind ganz unschätzbar und unentbehrlich;
da sie aber die Entstehungsgeschichte des errechneten Er-
Die Auffindung der Beweisgründe. 311
folges nicht klar machen, so lassen sie doch den Wunsch
übrig, directe Construction so weit als möglich fortzusetzen.
Ich erwähne, im Zusammenhang mit der vorigen Frage
nach dem Gleichgewicht drehender Kräfte die nach der
Bewegung, die sie erzeugen, wenn ihnen nicht widerstanden
wird. Die Regel zu ihrer Berechnung ist auf die beiden
sehr einfachen Sätze zurückgebracht: 1) wirkt auf einen
frei beweglichen Körper eine Kraft, so nimmt sein Schwer-
punkt dieselbe gradlinige Bewegung an, welche die ganze
Masse des Körpers annehmen würde, wenn sie im Schwer-
punkt vereinigt wäre und dort von der Kraft angegriffen
würde; 2) zugleich erlangt der Körper die drehende Be-
wegung, welche er, wenn sein Schwerpunkt befestigt wäre,
durch dieselbe Kraft erfahren würde. In dieser höchst
übersichtlichen Theilung des Erfolgs liegt nun doch eine
Paradoxie. Wenn nämlich die Richtung der Kraft durch
den Schwerpunkt geht, so entsteht nach dem zweiten Satz
keine Drehung, sondern nur eine gradlinige translatorische
Bewegung, und doch würden wir meinen, daß in diesem
Falle die Kraft unter der denkbar günstigsten Bedingung
angriffe; geht aber ihre Richtung nicht durch den Schwer-
punkt, und in diesem Falle schiene uns die Kraft unter
einer weniger günstigen Bedingung zu wirken, so bringt
sie nicht blos den ganzen vorigen Erfolg, sondern auch
noch eine Drehung hervor, die sich wie eine Zugabe aus-
nimmt ohne deutlichen Grund. Wenn man die zusammen-
gesetzten Geschwindigkeiten, welche die verschiedenen
Theile eines zugleich fortschreitenden und rotirenden
Körpers besitzen, nach der Richtung der gradlinigen Bahn
und nach der Senkrechten auf diese und die Rotationsaxe
zerfällt, so ist die Summe aller der ersten Componenten,
jede in ihr Massendifferential multiplicirt, gleich dem Product
der ganzen Masse in ihre gradlinige Geschwindigkeit, und
man überzeugt sich leicht, daß bei dem drehenden und
zugleich fortschreitenden Körper zwar die einzelnen Elemente
verschiedene Geschwindigkeiten in der Richtung der Bahn
haben, daß aber die Summe aller dieser Geschwindigkeiten
weder vermehrt noch vermindert, sondern nur anders ver-
theilt ist, als in derselben Masse, wenn sie ohne Drehung
fortschreitet. Aber die anderen Componenten bleiben übrig,
und obwohl sie für die beiden Hälften des drehenden Körpers
entgegengesetzte Zeichen haben, so heben sie doch deswegen
einander nicht auf; sie sind wirklich geschehende Be-
wegungen, und es fragt sich, woher sie entstanden sind.
312 Fünftes Kapitel.
229. Es reicht hin, diese Frage für den einfachsten
denkbaren Fall zu becintworten. Es seien a und b zwei
gleiche Massen, die wir uns in ihre Schwerpunkte con-
centrirt denken; wechselwirkende Kräfte zwischen beiden
mögen dafür sorgen, daß ihre Entfernung ab von einander
unveränderlich sei; wir können dann sagen, a und b seien
durch eine starre massenlose unveränderliche Linie ab ver-
bunden. Zur Einfachheit der zu entwerfenden Figur denken
wir uns ab in den Winkel zweier in 0 sich schneidenden
rechtwinkligen Axen so eingepaßt, daß a auf der XAxe,
b auf der YAxe liegt; man wird dann, am Anfang, für die
Masse a haben x = 0 a und y = o, für b dagegen x = o
und y = 0 b, für den Schwerpunkt des kleinen Massen-
systems a -|- b, der in dem Halbirungspunkte von a b liegt :
x=— und y = Wir nehmen nun an, der Masse a
2 -^ 2
werde eine Geschwindigkeit mitgetheilt in der Richtung
der XAxe und es sei aa der Weg, den sie in einem un-
theilbaren Zeitaugenblick unter diesem Antrieb zurücklegen
würde, wenn sie frei wäre. Da unmittelbar auf die Masse b
keine Kraft einwirkt, so würde diese in Ruhe bleiben
und die Linie ab, welche ihre Entfernung von der
fortbewegten a ausdrückt, würde länger werden als die
ursprüngliche ab. Aber die zwischen a und b wirk-
samen Kräfte, welche die Entfernung a b nach unserer
Voraussetzung unveränderlich erhalten, widersetzen sich
in jedem Augenblick dieser beginnenden Verlängerung,
deren Maß ab — ab sein würde, und heben sie auf,
indem sie beide einander in der Richtung der Linie
nähern, an deren Endpunkten sie sich befinden würden,
wenn die Verlängerung stattfände. Da keine der Massen
einseitig die andere zwingen kann, ihr zu folgen, vielmehr
nach dem Grundsatz der Gleichheit der Wirkung und Gegen-
wirkung die so entstehenden Verschiebungen beider nach
unserer Annahme gleichen Massen gleiche Längen sein
müssen, so finden wir die neuen Orte a^ und ß derselben,
wenn wir auf ab von a aus die Länge aa^ und von b aus
die Länge b ß, beide = abtragen. Fällen wir von o^
eine Ordinate, welche dy sein mag, auf die XAxe, von ß
eine Senkrechte, welche dx sei, auf die YAxe, so entstehen
zwei congruente Dreiecke und man hat für die beiden End-
punkte ai und ß der jetzt verschobenen Linie ab die
Ordinaten d y und Ob — d y , folglich für den Schwerpunkt,
Die Auffindung der Beweisgründe. 313
welcher der Mittelpunkt dieser Liüie bleibt, y= — ; dies
2
war aber die Ordinate des Schwerpunkts auch vor der
Mittheilung der Geschwindigkeit; mithin hat der Schwer-
punkt einen Antrieb erhalten, sich parallel zur XAxe, d. h. in
derselben Richtung zu bewegen, in welcher die auf a
wirkende Kraft ihn getrieben haben würde, wenn sie an
ihm selbst angebracht worden wäre. Man hat zugleich für
die Endpunkte a^ und ß die Abscissen : Oa + aa — dx
und dx, also die Abscisse des neuen Ortes des Schwer-
punkts; - -; da die Abscisse seines anfänglichen Ortes
Ca
— war, so hat er die Hälfte der Geschwindigkeit a a
empfangen, welche die an a angebrachte Kraft diesem zu
ertheilen strebte, und dies ist eben die Geschwindigkeit,
welche dieselbe Kraft der ganzen Masse a-j-b oder 2 a des
Systems ertheilt haben würde, wenn sie dieselbe im Schwer-
punkt vereinigt angetroffen hätte. Diese Betrachtung gilt
für den Anfangszeitpunkt der ganzen Bewegung, in welchem,
wie wir vorauszusetzen pflegen, die momentan wirkende
Kraft, welche a angriff, ohne Zeitverlauf diesem eine Ge-
schwindigkeit mittheilte und eben so ohne Zeitverlauf die
corrigirende Rückwirkung der zwischen a und b thätigen
Kräfte erfolgte. Da von jetzt an eine äußere Kraft nicht
weiter einwirkt, so setzen sich alle hervorgebrachten Be-
wegungen nach dem Gesetze der Beharrung einfach fort;
nur die inneren Kräfte zwischen a und b haben beständig
zu thun, um die Fortschreitung von a und b in den jedes-
maligen Tangenten ihrer Bahn zu hindern und sie in un-
veränderlicher Entfernung vom Schwerpunkt zu erhalten;
sie erzeugen hierdurch eine in Bezug auf diesen kreisförmige
Umdrehung, und da sie die beiden Massen ohne unstetigen
Uebergang in eine andere Richtung stetig von ihrer augen-
blicklichen ablenken, so geschieht die Drehung gleichförmig
und mit derselben constanten Geschwindigkeit im Kreise,
mit welcher im ersten Augenblick beide Massen gradlinig
angetrieben wurden. Versetzt man endlich a^ß mit sich
selbst parallel zurück, bis sein Schwerpunkt auf den von ab
fällt, so machen beide Linien am Schwerpunkt einen
Winkel cp, welcher gleich ist jenem, den ab mit ab an dem
Punkte b machen würde, wenn b ein fester Drehpunkt wäre
und die angebrachte äußere Kraft nur die Masse a allein.
314 Fünftes Kapitel.
unter Voraussetzung ihrer unveränderlichen Entfernung ab
von b zu bewegen gehabt hätte. Die Länge des zurück-
gelegten Bogens wäre dann ab(p gewesen; die Bogenlänge,
welche a wirklich, in seiner Umdrehung um den als be-
festigt gedachten Schwerpunkt, zurückgelegt hat, ist — — ,
und dies ist eben die Geschwindigkeit, welche jene Kraft
ihr geben mußte, wenn sie zugleich die andere Masse b
in entgegengesetzter Richtung zu bewegen hatte. Man sieht
hieraus, daß eine äußere momentane Kraft, möge ihre
Richtung durch den Schwerpunkt gehen oder nicht, in dem
Körper immer dieselbe Summe translatorischer Bewegungs-
größen hervorbringt; die Drehung, welche in dem zweiten
Falle hinzutritt, entspringt aus den inneren Kräften, welche
zwischen den Theilen des bewegten Systems wirken. Diese
Wirkungen sind aber auch in dem ersten Falle, in welchem
keine Drehung entsteht, keineswegs Null; sie dienen hier
aber nur dazu, die Massentheile, welche in einer graden
Linie, senkrecht auf die Richtung der mitgetheilten Be-
wegung, angeordnet sind, in dieser Anordnung während
des Fortschreitens zu erhalten, eine Leistung, die sich in
keiner relativen Bewegung der Theile um ihren fort-
schreitenden Schwerpunkt verräth, so lange wir eben von
der Voraussetzung einer absoluten Festigkeit des Körpers
ausgehen; sie würde sich aber sogleich in solchen Be-
wegungen kund geben, wenn wir etwa drei gleiche Massen
abc unter einander durch biegsame Fäden verknüpft
dächten und auf den in b enthaltenen Schwerpunkt dieses
ganzen Systems einen Stoß ausübten.
230. Die zur Auffindung der Beweisgründe zu unter-
nehmende Zergliederung sucht nicht nur die für die Richtig-
keit der zu beweisenden Folge wesentlichen Elemente
herauszustellen, sondern auch die für denselben Zweck
unwesentlichen zu beseitigen. So wird bei der Beantwortung
statischer und mechanischer Fragen häufig von der An-
nahme einer massenlosen starren Linie ausgegangen. Nun
kann man einräumen, daß der Begriff einer begrenzten
graden Linie durch das Merkmal der Begrenztheit die
Forderung der beständigen Berührung jedes Punktes mit
zwei Nachbarpunkten und durch das der Gradheit auch
die Starrheit und Unbiegsamkeit der Linie einschließt; allein
als blos geometrische Linie ist sie kein Object, das durch
Kräfte in Bewegung gesetzt werden könnte; diese Fähigkeit,
Die Auffindung der Beweisgründe. 815
von Kräften zu leiden, kommt nur der linienförmig an-
geordneten Masse zu, und die Wechsel wirkenden Kräfte
der Massentheilchen allein bringen an dieser körperlichen
Linie die in dem geometrischen Begriff nur geforderte
Starrheit und unveränderliche Länge wirklich hervor. Es
ist daher kein glücklicher Ausdruck, hier von einer massen-
losen Linie zu sprechen, und er gibt in der That das
gar nicht wieder, was man wirklich meint und worauf
man in der Ausführung solcher Ueberlegungen baut. Masse
muß die Linie unzweifelhaft haben, die wir durch Kräfte
bewegen oder um ihren Endpunkt drehßa wollen, aber
für die Gesetze, nach denen allgemein die Wirkung dieser
Kräfte erfolgt, ist es nur nothwendig, daß die Masse in
jedem Querschnitt dieser körperlichen Linie dieselbe sei;
jede Unregelmäßigkeit ihrer Vertheilung würde einen be-
sonderen Fall bilden, der nun nach den Regeln jenes ein-
fachsten und reinen Falles unter Berücksichtigung dieser
speciellen Data zu beurtheilen wäre; völlig gleichgültig
ist es dagegen für jene Gesetze, wie groß diese Masse ist;
an einem dicken Hebel sind die Proportionen der Kräfte
und Hebelarme für das Gleichgewicht keine anderen, als
an einem dünnen, an einem specifisch schwereren dieselben
wie an einem leichteren. Man setzt daher, wenn man von
einer massenlosen Linie spricht, die Masse derselben eigent-
lich gar nicht gleich Null, sondern gleich der Einheit, und
zwar gleich einer Einheit, der man jeden beliebigen großen
und kleinen Werth geben kann, und die aus der weiteren
Berechnung deswegen verschwindet, weil sie als gleicher
Factor aller zu einander in Proportion stehenden Glieder
Nichts zur Bestimmung oder Aenderung des zwischen diesen
obwaltenden Verhältnisses beiträgt. Auf diesem Gedanken
beruhte unsere frühere Darstellung. Die Linie ab war als.
eine Massenlinie gedacht, jeder ihrer Punkte ein Differential
der Masse; darum war es möglich, überhaupt von einer
Kraft W zu sprechen, die auf ab wirkt, und dies W=nco,
gleich einer Summe von Einzelkräften zu setzen, deren
jede dem Massendifferential die Geschwindigkeit co ertheilte.
Aber die beständige Berücksichtigung der Masse in der
Rechnung hätte Nichts weiter genützt ; nur der Werth von co
wäre anders ausgefallen, wenn man sich die Masse der
Linie oder jedes ihrer unterschiedenen nTheile größer oder
kleiner vorgestellt hätte ; die Verhältnisse zwischen P und Q,
wenn beide sich immer auf dieselbe Masse bezogen, hätten
keine Aenderung erfahren. Die Theilung der Beweisarbeit,
316 Fünftes Kapitel.
die man hier vorgenommen, besteht daher nicht darin,
daß man zuerst von der Masse überhaupt abstrahirt, das
fragliche Gesetz für die massenlose Linie bewiesen und
dann erst in einem zweiten Anlauf untersucht hätte, was
aus ihm wird, wenn man die Linie auch Masse haben läßt;
vielmehr gleich der erste Schritt nahm auf diese Masse
Rücksicht, und fand nur, daß ihre Größe keinen Einfluß
auf die allgemeine Form des Gesetzes hat; auf diesen Grund
hin kann dann in einer zweiten Untersuchung der Einfluß
erörtert werden, den verschiedene Größen und Vertheilungen
der Masse auf die absoluten Werthe der durch jenes Gesetz
zu bestimmenden Größen haben. Sobald man die Massen-
losigkeit einer zu bewegenden Linie buchstäblich nimmt,
verwickelt man sich in Sonderbarkeiten, durch die kein
rechtliches Durchkommen mehr ist, weil sie auf einer an
sich unmöglichen Combination von Vorstellungen beruhen.
Was soll geschehen, wenn der eine Endpunkt b dieser
Linie a b eine Geschwindigkeit c erhält ? Er kann sich nicht
trennen von der übrigen Linie, denn dann würde nicht
diese bewegt, sondern der freie Punkt b allein; aber wie
soll die Linie ihm folgen, da sie ja keine Bewegung empfing ?
Vielleicht meint man, sie werde sich drehen; dann müßte
der Punkt b seine Geschwindigkeit den übrigen Punkten
mittheilen, und zwar abgestuft den näheren mehr davon,
den entfernteren weniger; aber man sieht nicht ein, wornach
dies abzumessen wäre, denn alle die Kräfte fehlen hier,
die, zwischen Massentheilchen wirkend, es dahin bringen
könnten, daß der von dem einen empfangene Anstoß sich
auf die übrige Reihe fortpflanzte, und in jedem Augenblick
jedes Glied derselben einen bestimmt abgestuften Theil
des Impulses erhielte. Endlich, da zu dieser Abstufung
hier der Grund fehlt, so kann man auch dazu übergehen,
die ganze Linie a b als eine solidarisch verbundene Einheit
anzusehen, so daß jeder nur in Gedanken oder in der
Anschauung unterscheidbare Theil derselben unmittelbar
in dieselben Zustände geräth, die in irgend einem andern
erregt werden; ich lasse dahingestellt, ob dann jeder Theil
c
der Linie n die ganze Geschwindigkeit c oder nur — erhält;
jedenfalls entspringt hieraus die Folge, daß die Linie ab
in Ruhe bleibt, wenn b die Geschwindigkeit c, und der
andre Endpunkt a die gleiche — c empfängt. Diesen Un-
begreiflichkeiten geht man durch das Geständniß aus dem
Die Auffindung der Beweisgründe. 317
Wege, daß nur eine Massenlinie, eine massenlose aber gar
nicht, sich bewegt.
231. Auch bei den Hülfsansichten, den Substitutionen
und Transformationen, durch welche man die gegebenen
Umstände beurtheilbar zu machen sucht, hat man Annahmen
zu vermeiden, denen, so anschaulich sie auch sein mögön,
doch keine reelle Bedeutung gegeben werden kann. Ich
erwähne hierzu einen häufig vorkommenden Beweis für
das Parallelogramm der Kräfte, welcher den be-
wegten Körper sich in einer Ebene von a nach c, gleich-
zeitig aber diese Ebene von a nach b bewegen läßt, und
hierdurch die Bahn ad des Körpers, von a nach dem End-
punkt der Diagonale des Parallelogramms a b c d, gefunden
zu haben glaubt. Es liegen zwei Voraussetzungen hierin
unausgesprochen, die man aussprechen muß; einmal die,
daß die Bewegung der Ebene die des Punktes in der
Linie a b nicht stören, dann die, daß die fortschreitend©
Ebene die ganze Linie ab sammt dem Körper mit sich
fortführen werde. Ist nun schon eine sich bewegende leere
Raumebene Nichts was in Wirklichkeit vorkommen könnte,
so ist noch weniger begreiflich, wodurch der Körper an
ihr kleben bleibt, während sie fortrückt. Und doch ist
diese Befestigung sehr nöthig ; denn es befinde sich der
Körper auf einer sehr glatten Tischplatte, und man gebe
ihm einen Stoß nach ac, gleichzeitig aber der Platte einen
Stoß nach a b, so wird der Körper nicht mit der Plattö
gehen, sondern sich von ihr, die unter Jhm wegfliegt, trennen.
Ergänzt man aber diese nothwendige Bedingung, sagt man
also, daß der Körper nach c ungestört fortgehe, äc aber
gleichzeitig nach b zu gehen und ihn mitzunehmen gc-
nöthigt sei, so wird der ganze Satz eine leere Tautologie,
und das, was er voraussetzt, ist eben das, was man be-
weisen müßte. Er gehört daher nur zu den Mitteln, durch
die man eine bewiesene Wahrheit veranschaulicht.
232. Von den zahlreichen andern Beweisen desselben
Satzes interessirt uns logisch ein Anfangspunkt, von derii
viele auszugehen pflegen. Man stellt den Sonderfall voraus,
in welchem zwei gleiche Kräfte a und b den Körper nach
zwei Richtungen treiben, und findet es hier selbstverständ-
lich, daß die Richtung der resultirenden Bewegung deii
Zwischenwinkel beider Kräfte halbiren werde. Diese An-
nahme schließt aber die andere ein, daß bei ungleichen
Kräften die Resultante den Winkel in ungleiche Theil'e
spalten werde, und da es unmöglich ist, daß die Art dieser
318 Fünftes Kapitel.
Ungleichheit unabhängig von dem Größenverhältniß beider
Kräfte sei, da doch die Ungleichheit selbst von ihm ab-
hängt, so beruht die Annahme auf der allgemeineren : wenn
zwei Bedingungen a und b ein Ergebniß c verschieden zu
gestalten suchen, so wird in der wirklichen Gestaltung des-
selben der erkennbare Einfluß beider ihren Größen pro-
portional sein; sind daher a und b gleich, so wird c von
dem Ergebniß, welches a allein erzeugt hätte, ebenso weit
verschieden sein, wie von dem, welches b allein hervor-
bringen würde. Ich weiß nun nicht, warum man sich auf
diesen Satz nur einmal, zur Einleitung des Beweises, be-
rufen und dann diesen selbst durch verwickelte andere
Ueberlegungen führen soll ; welches auch die Kräfte a und b
und der Grad ihrer Ungleichheit sein mag, wir können
allgemein sagen: die Ablenkungen, welche der bewegte
Punkt durch die Kraft a von dem Wege der Kraft b, und
von dem Wege der Kraft b durch die Kraft a erfährt,
müssen sich direct wie die ablenkenden Kräfte verhalten.
Zur mathematischen Ausbeutung dieses logischen Grund-
satzes hätten wir zunächst zu bestimmen, wie beide Ab-
lenkungen gemessen weiden sollen. Hierzu nach gewöhn-
licher Weise Senkrechte anzuwenden, die von den Rich-
tungen der Einzelbahnen auf die resultirende oder von
dieser auf jene gefällt würden, zeigt sich in der Natur
der Frage keine Aufforderung; alle drei Bahnen kommen
nicht als leere Raumrichtungen, sondern nur als geometrische
Orte in Betracht, welche die successiven Orte des bewegten
Punktes enthalten würden; nur zu folgender Auffassung
führt diese zuletzt gemachte Bemerkung. Seien a und ß
die beiden auf den Bahnen der a und b gelegenen Punkte,
welche der bewegte Körper in gleicher Zeit t erreicht haben
würde, wenn er allein den Kräften a oder b gefolgt wäre,
p aber der in der Resultante liegende Punkt, an welchem
sich nach der gleichen Zeit t der Körper unter der ver-
einigten Einwirkung von a und b befindet, so ist pa die
Ablenkung von der Bahn a durch die Kraft b, pß die von
der Bahn b durch die Kraft a, und es ist p a : p ß = b : a.
Da man die Größen der Kräfte a und b nur nach dem
Raum schätzen kann, den sie in der Zeiteinheit durchlaufen
machen, so ist das Verhältniß a : b, für die Zeiteinheit,
zugleich das der nach a und b durchlaufenen Räume; es
wird aber diese Bedeutung auch für jede Zeit t und für jeden
Theil von t haben müssen; denn die Bewegung in der
Resultante muß, da wir a und b als nur momentan wirkende
Die Auffindung der Beweisgründe. S19
Kräfte betrachten, mit constanter Geschwindigkeit und gerad-
linig geschehen; die durchlaufene Länge der Resultante
wird daher immer den nach a und b bis zu gleicher Zeit t
zurückgelegten Räumen proportional sein, ebenso mithin
auch die Ablenkungen p a und p ß, die dritten Seiten zu
Dreiecken, deren beide andern Seiten in beständig gleichem
Verhältniß zunehmen.
233. Diese Proportion entscheidet aber nichts über die
absoluten Größen von p a und p ß ; beide genügen der Pro-
portion, wenn sie überhaupt mb und ma sind; der Werth
dieses m bliebe zu ermitteln. Nun liegt in allen Bestim-
mungsstücken der Aufgabe nichts, was zur Bestimmung
desselben beitragen könnte; von Einfluß könnten nur die
Größen von a und b und damit ihr Verhältniß, sowie die
Größe des Zwischenwinkels sein; aber gerade die Einflüsse
dieser Elemente scheinen durch die bereits gemachten An-
nahmen völlig berücksichtigt; außerhalb der Data endlich,
welche die Aufgabe enthält, kann der Grund nicht liegen
für etwas, was eben aus dieser Aufgabe fließen soll. In
Fällen solcher Art wird der logische Gedankengang allemal
darin bestehen müssen, die probabelste Annahme zu
versuchen, welche der gestellten Forderung genügt. Was
unter diesem Ausdruck zu verstehen ist, würde sich all-
gemein sehr schwer definiren lassen, und ich habe die
Behandlung dieser Aufgabe nur unternommen, um durch
ein Beispiel die Mängel der allgemeinen Begriffsbestimmung
auszugleichen. Die probabelste Annahme wird das fest-
setzen, was, seinem Begriffe oder seiner Größe nach, al&
ein Minimum das Verhalten überhaupt noch möglich macht,
von dem wir wissen, daß es stattfinden muß, und welches,
wenn es unter andern Bedingungen oder mit anderen Neben-
bestimmungen, als dieser so gewählten, stattfinden sollte,
für diese stets besondere hier eben fehlende Entscheidungs-
gründe nothwendig machen würde. In unserem Falle muß
die Proportion pa:pß=:b:a überhaupt stattfinden; deshalb
kaim jenes m nicht Null sein; damit sie aber stattfinde,
reicht es hin, m = 1 zu setzen, und diesen Werth kann man,
seinem Begriffe nach, als das Minimum ansehen, welche»
der gestellten Forderung genügt, denn jeder größere oder
kleinere Werth m = 2 oder m = V2 läßt sich als m • 1 be-
trachten, d. h. als Wiederholungszahl der Einheit, mit deren
Verschwinden m selbst und das ganze Verhältniß ver-
schwindet. Die Einheit allein aifirmirt das wirkliche Be-
stehen des verlangten Verhältnisses so, daß eben deshalb
320 Fünftes Kapitel.
jene besonderen Werthe von m als weitere specifische
Charakteristiken wirksam hinzutreten können, falls es in
der Natur des behandelten Inhalts Gründe gibt, einen dieser
Werthe vor dem andern zu begünstigen. Wo es nun, wie
hier, diese Gründe nicht gibt, ziehen wir uns auf die
jedenfalls nothwendige, deshalb probabelste Annahme m = 1
zurück, welche unter allen Umständen, selbst dann, wenn m
einen von der Einheit verschiedenen Werth hätte, zugleich
mit diesem Werthe gelten und der verlangten Proportion
genügen würde. Machen wir nun diese Annahme und con-
struiren sie, beschreiben wir also von dem Endpunkt a des
in der Zeit t nach a zurückgelegten Wegs einen Kreisbogen
mit dem in gleicher Zeit nach b zurückgelegten Wege,
von ß einen Bogen mit dem nach a zurückgelegten Wege
als Halbmessern, so schneiden sich beide in der Diagonale
des aus a und b gebildeten Parallelogramms, und sowohl
die Richtung als die Länge der Resultante ist auf einmal
bestimmt.
234. Man wird selten mit unbedingter Gewißheit sagen
können, daß in dem gegebenen Inhalt einer Aufgabe, bei
dessen Zergliederung man Entscheidungsgründe für eine
andere als diese probabelste Annahme nicht gefunden hat,
solche Gründe nicht dennoch vorhanden seien und einer
sorgsameren Zergliederung sich zeigen würden. Deshalb
erspart man sich die Mühe nicht, durch Nebenbeweise ent-
weder von andern Standpunkten aus die gemachte An-
nahme zu bestätigen, oder apagogisch jede andere durch die
Widersprüche, in die sie verwickelt, als unmöglich aus-
zuschließen. Auch diesen Schritt wollen wir noch thun.
Es erscheint selbstverständlich, daß die Resultante nie
größer als die Summe der Seitenkräfte sein kann; sie er-
reicht dies Maximum, wenn beide in derselben Richtung auf
den Körper wirken, ihr Zwischenwinkel also Null ist. Man
hat auch gegen diesen Satz eingewandt, es verstehe sich
doch nicht von selbst, daß eine zweite Bewegung b, die zu
einer ersten a in gleicher Richtung hinzukommt, sich ein-
fach zu dieser addire; es sei denkbar, daß in der Natur
der Bewegung oder in der der Körper, welche sie erleiden,
Bedingungen liegen, welche die Resultante auch hier größer
oder kleiner als die Summe beider machen könnten. Dieses
Bedenken scheint mir unbegründet; vor allem in seiner An-
wendung auf den vorliegenden Fall. Wenn zuerst gleich-
zeitig zwei gleichgerichtete Bewegungen demselben Körper
mitgetheilt sind, so ist es lediglich Sache unserer sub'jectiven
Die Auffindung der Beweisgründe. 321
Auffassung, sie noch als zwei zu unterscheiden; sie waren
zwei außerhalb des Körpers, weil sie vielleicht von zwei
verschiedenen andern Körpern ihm mitgetheilt wurden; es
kann auch sein, daß bei dem physischen Acte der Mit-
theilung von einem Körper zum andern diese Bewegungen
etwas verlieren oder gewinnen; aber wir sprechen hier
nicht von der Art der Mittheilung, sondern von den Ge-
schwindigkeiten, sofern sie dem zu bewegenden Körper mit-
getheilt sind; in diesem Körper, den wir lediglich als be-
wegliches Substrat, ohne alle eigenthümliche andere Eigen-
schaften betrachten, setzen sie sich nicht erst zu einer
zusammen, sondern sie sind gar nichts anderes, als von
Anfang an eine, und die resultirende Geschwindigkeit ist
so gewiß die Summe beider, als überhaupt jede Geschwindig-
keit eben die ist, die sie ist. Befände sich aber der Körper
schon in der Bewegung a, wenn die andere b hinzukommt,
so hätte er, wenn dies einen Unterschied begründen sollte,
dem Gesetze der Beharrung entgegen in jedem Augenblicke
seinen Bewegungszustand ändern müssen ; denn . ändert. (3r
ihn nicht, befindet sich also zur Zeit t in völlig derselben
Verfassung, wie zur Zeit t^, so wird die später hinzu-,
kommende Bewegung b sich mit der fortdauernden a ebenso
verbinden müssen, wie sie es zur Zeit t", also bei gleich-
zeitigem Beginn mit a, gethan haben würde. Man kann
also für sichergestellt ansehen, daß die Resultante R gleich-
gerichteter Kräfte a und b nur r^a + b sein kann. Un-
mittelbar hilft uns dies freilich nichts zur Beurtheilung des
Erfolges von Kräften, deren Richtungen um den Winkel cp
divergiren. Indessen ist doch so viel selbstverständlich,
daß die Resultante nicht mit der Divergenz wachsen kann;
sie wäre sonst am kleinsten für gleichgerichtete Kräfte,
für welche sie nach dem Vorigen am größten ist, und am
gröJ3ten für entgegengesetzte, für die sie selbstverständlich
am kleinsten sein muß. Da sie nun ebensowenig von der
Größe des Winkels cp unabhängig sein kann, so muß sie
nothwendig abnehmen, wenn cp wächst, und wir können,
jetzt für beliebig gerichtete Kräfte sagen, daß ihre Resultante
R ;^ a -f b ist. Auch dieses noch unbestimmte Ergebniß läßt
sich in engere Grenzen durch Anwendung des wichtigen
allgemeinen Grundsatzes bringen, daß sachliche Verhältnisse
unabhängig sein müssen von den Variationen unseres Er-,
kennlnißverfahrens. Wenn wir auf einen beweglichen Punkt
Lotze, Logik. 21
322 Fünftes Kapitel.
in demselben Augenblicke verschiedene Momentankräfte in
beliebiger Anzahl wirken lassen, so kann der Gesammt-
erfolg, der wirklich entsteht, nur einer sein und kann folg-
lich nicht mit den verschiedenen willkürlich gewählten
Reihenfolgen sich ändern, nach denen wir in Gedanken die
gleichzeitig wirkenden Bedingungen zunächst paarweis com-
biniren, um dann wieder die so gefundenen Einzelergebnisse
zusammenzusetzen. Es muß also dasselbe herauskommen,
wenn wir aus a und b zuerst die Resultante R bilden
und dann aus R und — a eine zweite Resultante suchen,
oder wenn wir a, b und — a so combiniren, daß a und -^a
sich selbstverständlich aufheben, worauf uns b als eben
diese zweite Resultante übrig bleibt. Es liegt daher im
Begriff der Resultante R von! a imd b, daß man die Seiten-
kraft b wieder erhalten muß, wenn man R und die in ent-
gegengesetzter Richtung zu ihrer ursprünglichen genommene
Kraft a wieder als Componenten verbindet und ihre Re-
sultante nach demselben Gesetz sucht, nach welchem man
R aus a und b fand; ebenso wird R und — b zusammen-
gesetzt auf a zurückführen. Und diese Betrachtung gilt
allgemein und ganz unabhängig von dem noch unbekannten
Gesetze selbst, nach welchem Größe und Richtung einer
Resultante von den Größen und dem Winkel der Seiten-
kräfte abhängt. Hieraus folgt nun, daß von den drei Kräften
oder Bewegungen a, b, R jede, unter den angegebenen Um-
ständen, die Resultante der beiden andern, jede also kleiner
oder höchstens ebenso groß ist, als die Summe der beiden
andern, alle drei sich folglich in ein Dreieck zusammen-
setzen lassen, das nur im Grenzfall jener Gleichheit in eine
gerade Linie zusammenschmilzt. Aber so aufgefunden drückt
dieser bekannte Satz nur eine Relation zwischen den Längen
von a, b, R aus; wir müssen noch die Winkelverhältnisse
klar machen, für welche diese Beziehung gilt. Sind a, b
und ihr Zwischenwinkel cp gegeben, so ist die uns noch
unbekannte Länge von R an sich völlig bestimmt; für diese
gegebenen Elemente gibt es daher nur ein mögliches Drei-
eck aus a, b und R. Umgekehrt: ist uns ein Dreieck aus
den Seiten a^ b und R gegeben, so gibt es nur einen
Winkel (p der Kräfte a und b, für welchen R die Länge
ihrer Resultante ist. In dem Dreieck nimmt R geometrisch,
wenn a und b constant sind, mit seinem Gegenwinkel p
zu; mechanisch, als Resultante von a und b, nimmt R ab,
wenn cp zunimmt; es muß also zwischen dem Dreieck-
Die Auffindung der Beweisgründe. 323
Winkel p und dem Kräftewinkel cp eine bestimmte Relation
bestehen, die wir aufsuchen. In dem Dreieck aus a, b, R
hat R nicht die Lage, die es als Resultante haben müßte;
alle drei Linien müßten von einem gemeinsamen Scheitel A
beginnen, und, was hier als selbstverständlich gelten kann,
R innerhalb des Zwischenwinkels von a und b liegen.
Nehmen wir also an, zwei Kräfte a und b, zunächst von
unbestimmter Größe, hätten wir unter einem beliebigen
Winkel cp verbunden; ihre der Größe nach ebenfalls noch
willkürlich angenommene Resultante R theile diesen Winkel
ganz beliebig, und ihr anderer Endpunkt sei C. Da nun
die hier aufzusuchenden mechanischen Verhältnisse von
der absoluten Lage im Raum unabhängig sein müssen, so
können wir das ganze zusammengehörige System der drei
Linien a, b, R zunächst so verschieben, daß der Scheitel A
auf C fällt, dann es in der Ebene, in der es enthalten ist^
so um C drehen, daß die Kräfte a und b, die wir in dieser
neuen Lage a^ und b^ bezeichnen wollen, parallel, aber in
entgegengesetztem Sinne zu ihrer früheren Lage, von C aus-
gehen. Dann muß selbstverständlich die Resultante R^
dieser Kräfte a^ und b^ nach Lage und Größe identisch mit
R sein, nur daß sie in entgegengesetztem Sinne. durchlaufen
werden würde. Hierdurch ist nun die Richtung dieser
Resultante bestimmt; sie muß die Diagonale eines Parallelo-
gramms sein, welches entsteht, wenn einerseits die Kräfte a
und b^, anderseits b und a^ entweder einander durch-
schneiden, oder gerade in einem gemeinsamen Endpunkt
zusammentreffen, oder bis zu einem solchen verlängert
werden. Sind aber die Längen von a und b gegeben, so ist
auch die Länge von R bestimmt, sie muß die dritte Drei-
eckseite zu a und bi=r:b oder zu b und ai = a sein, sie
ist also die Diagonale des Parallelogramms, welches aus
den Längen der Kräfte selbst gebildet wird. Die Figur zeigt
dann, daß der Winkel p, dem R in einem dieser Dreiecke
gegenüberliegt, der Nebenwinkel des Winkels der Kräfte,
also cp =:: -JT — p ist.
235. Man kann noch apagogisch zeigen, daß jede
andere Annahme über das Verhältniß zwischen Componenten
und Resultanten unmöglich ist. Setzen wir zunächst voraus,
daß eine so zu prüfende Annahme mindestens in der Be-
stimmung der Richtung von R mit unserer bisherigen Er-
örterung einverstanden sei, und nur die Größe von R die
der Diagonale D übersteigen oder nicht erreichen lasse.
21*
324 Fünftes Kapitel. '
Es sei nun die erste Resultante Ri aus a und b größer als
die Diagonale Dj des Parallelogramms aus a und b und
dem Zwischenwinkel cp, mithin R^ = p • Di, wo p ein un-
echter Bruch ist. Setzen wir nun dies Rj mit der jetzt ent-
gegengesetzt zu richtenden Kraft a unter dem Winkel ti — cp
zusammen, so muß die aus ihnen nach derselben Annahme
abzuleitende neue Resultante Rg größer sein, als die «aus R^
und a unter dem genannten Winkel entstehende Diagonale,
um so mehr mithin größer als die andere Diagonale Dg,
welche aus der Zusammensetzung von Dj < Rj und a unter
demselben Winkel n — cp entspringen würde. Diese Diago-
nale Dg aber ist nach rein geometrischen Gründen, die von
allen mechanischen Annahmen unabhängig sind, nichts
anderes als die gegebene Kraft b; folglich würde R2>b
sein, während es nach den früher gemachten Bemerkungen
= b sein müßte. Setzen wir nun Rg nochmals mit dem ge-
gebenenen a unter dem Winkel cp zusammen, so müßte
die hieraus zu berechnende Resultante R3 nach den letzt-
gedachten Bemerkungen =:= Ri sein; nach der gemachten
Annahme dagegen wäre sie, für den Winkel cp, ^p mal der
Diagonale, die unter diesem Winkel aus R, und a entstände ;
da nun Rg > b, so ist auch diese Diagonale größer als
die Dl, die unter gleichem Winkel aus a und b entstand;
möge sie qDi sein, so ist jetzt Rg^qp-Di, also q mal
so groß, als Ri war. So führt die gemachte Voraussetzung,
die Resultante sei größer als die Diagonale, zu dem wider-
sinnigen Ergebniß, daß sie immer größer wird, je öfter wir
diesen Turnus ihrer Berechnung wiederholen ; die andere
Annahme, sie sei kleiner als die Diagonale, also p und q
echte Brüche, würde zu einer ebenso unmöglichen Ver-
kleinerung führen. Sollte dieser apagogische Beweis voll-
ständig sein, so müßte er noch zeigen, daß auch die An-
nahme einer Resultante von gleicher Länge mit der Diagonale
aber anderen Winkeln mit den gegebenen Kräften, einen ähn-
lichen Widersinn, nämlich fortschreitende Drehung ihrer
Richtung, je öfter man sie berechnete, erzeugen würde;
endlich dürfte man sich drittens den Nachweis nicht er-
sparen, daß es auch keine Combination dieser Annahme
gibt, in welcher die falschen Folgen der einen durch die
der andern ausgeglichen würden. Wie die Sache liegt, reicht
aber die Angabe dieser logischen Forderungen hin; ihre
weitläufige Erfüllung dürfen wir uns ersparen.
236. Operationen der Zusammensetzung lassen sich
Die Auffindung der Beweisgründe. 325
immer zu einem Ende führen, nämlich eben zu dem, das
in jedem Falle entstehen wird; Operationen der Zerlegung
dagegen setzen ein Ziel voraus, zu dem gekommen werden
soll, ohne daß schon feststeht, ob der zu zerlegende Stoff
aus einer Zusammensetzung entstanden ist, welche diese
Wiederzergliederung möglich macht. Schon in der reinen
Mathematik führen daher die inversen Operationen zu
Schwierigkeiten, denen die directen nicht ausgesetzt sindj
ähnliche Bedenken erweckt die häufig ausgeführte Zer-
legung gegebener Kräfte in Componenten, deren Zu-
sammensetzung, wenn sie gegeben wären, keinen Zweifel
erregen würde. Man kann fragen : da jede Kraft in un-
zählige Paare von Componenten zerlegbar ist, worauf be-
ruht nun das Recht zu erwarten, daß eine von uns will-
kürlich gewählte Zerf ällung eine reelle Gültigkeit im Zu-
sammenhang der Thatsachen haben werde, die in der be-
handelten Aufgabe vorkommen? Im Allgemeinen ist dieser
Zweifel leicht zu heben. Denn in der wirklichen Aus-
übung dieser Zerf ällung wählt man die eine Componente
immer in einer Richtung, nach welcher man Widerstände
oder entgegengesetzt wirkende Kräfte voraussieht oder als
gegeben kennt; man bedarf daher der Zerlegung überhaupt
nur zur bequemen Formulirung der Rechnung; was man
wirklich vornimmt, ist eine Zusammensetzung; di6 ge-
gebenen Gegenkräfte oder Widerstände W verbindet man
mit der gegebenen Kraft F, und die Resultante hieraus ist
identisch mit derjenigen, welche aus dem unaufgehobenen
Reste der einen Componente von F und dem ganzen Be-
trag der andern, die keinen Widerstand erführe, entstehen
würde. Eine wirkliche Schwierigkeit entspringt aber dann,
wenn die Richtung des Widerstandes selbst nicht unmittel-
bar gegeben ist, und man versucht, wie mir scheint, nicht
überzeugend, den hier zu befolgenden Grundsatz selbst durch
eine Anwendung des Zerlegungsgesetzes zu gewinnen. Ich
spreche von der Annahme, daß eine Ebene nur in nor-
maler Richtung Widerstand gegen eine ihr mitzutheilende
Bewegung leiste, deren Richtung mit ihr selbst einen
Winkel cp bildet. Es ist ganz leicht zu zeigen, daß diese
Bewegung sich allemal in zwei zerfallen läßt, deren eine,
parallel mit der Ebene, keinen Widerstand findet, weil sie
auf die Ebene nicht einwirkt, während die andere, senk-
recht auf die Ebene, durch den Widerstand derselben auf-
gehoben wird, oder doch Widerstand erfährt. Wie wenig
man aber ein Recht hat, diese Zerfällung hier, als durch
326 Fünftes Kapitel.
die Natur der Sache geboten, vorzunehmen, wird aus folgen-
der Ueberlegung erhellen. Der bewegte Körper sei eine
völlig glatte Kugel und bewege sich unter dem Winkel 9
gegen die völlig glatte absolut widerstehende Ebene E, so
wird die Berührung nur in dem geometrischen Punkte p
stattfinden, dem wir dieselbe unbedingte Widerstandskraft,
wie allen andern Punkten von E, gleichviel auf welche
Weise hergestellt, zuzuschreiben haben würden. Was nun
bei dem hier herauskommenden Erfolge alle diese übrigen
Punkte von E zu thun haben, ist nicht erfindlich; man
denkt zwar an sie mit, wenn man von der Ebene E spricht;
da sie aber nicht berührt werden, so können sie auch un-
mittelbar zu dem Widerstände nichts beitragen, und man
könnte sie, für den abzuleitenden Erfolg, völlig hinweg-
denken, ohne dadurch die Bedingungen geändert zu haben,
von denen dieser abhängig sein soll. Thun wir dies aber
und behalten den Punkt p allein, so wird der Satz von dem
senkrechten Widerstände unmöglich, weil er bedeutungslos
wird; denn auf dem Punkt p ist entweder keine oder jede
der Linien normal, die nach irgend einer Richtung von ihm
ausgehen. Ein anderer Grundsatz aber scheint einleuchtend :
gewiß wird p, wenn es widersteht, nach derjenigen Rich-
tung hin widerstehen, aus der die Bewegung kommt, der
widerstanden werden soll; zu einer Wirkung nach irgend
einer andern Richtung hin gibt es zunächst keinen erdenk-
lichen Grund. Wäre daher in unserem Beispiel p völlig
fest und ginge im Augenblick der Berührung die den Punkt p
und die Richtung der Bewegung enthaltende Linie 1 nicht
durch den Mittelpunkt der Kugel, so würde p die Bewegung
des Massenfadens ganz aufheben, der in dieser Linie 1 läge ;
für die übrige Masse der Kugel, deren Bewegung hierdurch
nicht aufgehoben wäre, entstände dann ein Drehungsmoment,
in Folge dessen sie um den Punkt p herumschwenkte.
Diese Folgerung, daß der Widerstand in der Richtung der
Bewegung stattfinden müßte, läßt sich auch dadurch nicht
abwenden, daß man sich den bewegten Körper prismatisch
gestaltet, vielleicht als einen Würfel denkt, dessen Seiten-
fläche, während die Richtung seiner Bewegung mit E den
Winkel (jp bildet, dieser Ebene parallel bleibt. Allerdings
findet dann eine Berührung zweier Ebenen statt ; aber doch
wird jeder Punkt des berührten Theils von E auch jetzt
dem berührenden Punkt der Würfelfläche nur nach dem
vorigen Grundsatze, also in der Richtung cp widerstehen
können; damit es anders sei, müßte man nachweisen, daß
Die Auffindung der Beweisgründe. 327
auf die Richtung des Widerstandes, den der Punkt p leisten
wird, die Gegenwart der benachbarten Punkte q r s der
Ebene E einen mitbestimmenden Einfluß hat; so allein
käme die Ebene sachlich zur Mitwirkung, von der man
bisher sprach, ohne von ihr zur Ableitung des Resultats
Gebrauch zu machen. Und nun ist wohl deutlich, daß
man diesen Nachweis niemals erbringen wird, so lange
man E als geometrische Ebene ansieht, ohne physische
Masse und doch mit dem Attribut der Widerstandsfähigkeit
ausgerüstet. Es reicht nicht einmal hin, E als Grenzfläche
eines trägen Massenvolums zu betrachten; man ist ge-
nöthigt, eine physikalische Hypothese über die Kräfte hin-
zuzufügen, mit der die Masse ihren Raum zu behaupten
sucht. Man wird daher der Ebene E eine Dicke geben
müssen; die Berührung wird nicht nur in einem Punkte
stattfinden, sondern der bewegte Körper wird wirklich ent-
weder bis zu gewisser Tiefe eindringen und dann durch
den Widerstand aller verschobenen Massenpunkte zurück-
gedrängt werden, oder, ohne zur Berührung zu kommen,
schon aus der Entfernung die zurückstoßenden Kräfte der
in E vereinigten Massen erfahren. Von diesen Kräften aller
Massenpunkte müßte sich dann nachweisen lassen, daß sie
nach allen andern Richtungen einander aufheben, nach der
Normalen auf der Grenzfläche allein sich summiren, und
so den Widerstand zusammensetzen, welcher die in dieser
Normalen entgegengesetzt gerichtete Componente der an-
kommenden Bewegung aufhebt. Auch ist die Noth wendig-
keit, zu einer Voraussetzung dieser Art zurückzukommen,
durchaus nicht zu verwundern; wie Bewegung überhaupt
nur an einem Realen, nicht an einem Punkte oder einer
Linie vorkommen kann, so darf man noch weniger Wider-
stände berechnen wollen, ohne das in Betracht zu ziehen,
was allein widerstehen kann, die physischen Kräfte der
wirklichen Körper; Flächen als Flächen und Linien als
Linien durchschneiden einander immer ohne Widerstand.
237. In dem eben behandelten Falle führte eine sehr
scheinbare Annahme, die Zerfällung einer Bewegung, zu
einem richtigen Resultate, dessen Bedingungen gleichwohl
ganz anderswo lagen ; es gibt andere Fälle, wo eine richtige,
obwohl nicht ganz vollständige Voraussetzung zu scheinbar
falschen Resultaten treibt, deren Triftigkeit sich indessen
durch Interpretation retten läßt. Ein schwerer Stab von
der Länge 2 a und dem Gewicht p sei gegen eine völlig
glatte Verticalwand gelehnt und bilde mit der völlig glatten
328 Fünftes Kapitel.
Horizontälebene, auf der er steht, den Winkel cp. Er wird
hothwendig herabsinken, wenn man nicht seinem Fußpunkt,
der auf der Horizontalebene sich von der Wand zu ent-
fernen sucht, einen Widerstand entgegensetzt. Die Größe
dieses Widerstandes, oder was gleich gilt, des Schieb-
druckes S, welchen der gleitende Stab gegen ihn ausübt,
findet sich S = -8- • cotg. cp. Steht der Stab senkrecht,
cp = 90 °, so ist cotg. cp und also auch S = 0 ; der Stab
balancirt frei über seinem Fußpunkt, übt gar keinen horizon-
taletn Schiebdruck, bedarf keines Widerstandes, und die
Verticalwand ist überflüssig. Nimmt cp ab, neigt sich also
der Stab, so nimmt cotg. cp und mit ihr der Schiebdruck zu;
wird aber cp = 0, wenn der Stab horizontal auf dem Boden
liegt, so gibt die Formel den Schiebdruck unendlich groß,
während die einfache Betrachtung der Sachlage zeigt, daß
er gleich Null sein muß. Dieser anscheinende Widerspruch
ist leicht zu heben. Als man nämlich die Aufgabe stellte,
dachte man sich freilich eine zusammenhängende wider-
standsfähige Horizontalebene, die vom Fußpunkt des Stabes
bis zur Verticalwand reichte, aber in die kleine Rechnung,
die zu der Formel S = -5- cotg. cp führte, ist dieser Theil
der- Annahme gar nicht mit eingegangen ; hier dachte man
immer blos an den einen Fußpunkt, welcher das Gewicht
der Stange zu tragen hatte ; zwischen ihm und der Vertical-
wand lag nichts, worauf diese Rechnung Rücksicht ge-
ßommea hätte. Oder anders ausgedrückt : die a 1 1 g e m e i n e
Formel behandelt die beiden Wände blos als geometrische
Orte, von denen für jeden zu berechnenden Einzelfall nur
je zwei um die Länge 2 a von einander abstehende Punkte,
auf welche die hier in Frage kommenden Kräfte wirken,
in Betracht kommen. Bleiben wir nun bei dem, was die
Rechnung enthält, so befindet sich in dem Augenblicke, wo
cpr^O wird, zwischen dem Fußpunkt des Stabes und der
Verticalwand eine Lücke, die der Länge desselben gleich
ist, und durch diese wird er, da keine senkrechte Kraft
seinem Gewichte entgegenwirkt, hindurchfallen. Einen
Schiebdruck S übt er dann freilich nicht mehr; aber S be-
deutete nicht blos diesen Druck, sondern auch die horizon-
tale Kraft, welche zunächst ihn selbst aufhebt, dann aber
auch das einzige Hindemiß bildet, das überhaupt das Herab-
gleiten des Stabes in die horizontale Lage verhütet, in
Die Auffindung der Beweisgründe. 029
-vv^elcher sein Gewicht keinen Widerstand mehr erfährt. Daß
nun S unendlich wird für cp^O, bedeutet: eine horizontal
nach der Verticalwand wirkende Kraft müßte unendlich
groß sein, wenn sie das Hindurchfallen des Stabes durch
die offene Lücke verhindern sollte ; mit andern Worten, da
unendliche Kräfte nicht vorkommen: es gibt keine horizon^
tale Kraft, die diesen Erfolg haben könnte. Man wird sich
nicht dadurch irren lassen, daß die Praxis ihn gleichwohl
oft durch Klemmungen in horizontaler Richtung erreicht;
denn sie erreicht ihn dann durch die Rauhigkeit der Ober-
flachen, mit denen die klemmen:den und der geklemmte
Körper einander berühren, und durch die Zusammendrück-
barkeit des letztern, die ihm durch kleine Formändeningert
vorher nicht vorhandene Stützpunkte verschafft.
238. Ich füge noch ein mathematisches Beispiel zur Ver-
deutlichung unserer allgemeinen methodischen Anweisungen
hinzu. Der Taylorsche Lehrsatz sucht den Werth F
(x -j- h) zu bestimmen, welchen eine 'Function von x, Fx
dann annimmt, wenn die veränderliche Größe x von dem
Endwerthe an, den sie in Fx besaß, bis zu dem neuen
Werthe x -|- h anwächst. Zu möglichster Einfachheit der
Darstellung unterwerfe ich diese Aufgabe einigen Beschrän-
kungen, von denen es hier viel zu weitläufig wäre, zu unter-
suchen, ob sie überflüssig sind. Ich denke Fx in Gestalt
eines analytischen Ausdrucks gegeben, welcher die mathe-
matischen Operationen oder Relationen anzeigt, aus welchea,
für jeden bestimmten Werth von x, bestimmte Werthe der
Fx fließen ; ich nehme an, daß diese Werthe von Fx endlich:
bleiben für jeden Werth des x von o bis x -|- h, und daß
sie stetig wachsen für die stetigen Zunahmen des x durch
dieses Intervall. In der so bestimmten Aufgabe liegt, weni^
sie in allgemeiner Form lösbar sein soll, unmittelbar die
Voraussetzung, das Wachsthum der Function von ihrem
Werthe Fx bis zu dem neuen F (x -j- h) werde ganz nach
demselben Bildungsgesetze erfolgen, nach welchem jener
frühere Werth selbst, Fx, entstanden ist, während x von o
an bis zu seinem damaligen Endwerthe x anwuchs, und
zwar werde diese Gleichheit des Bildungsgesetzes für jeden
unendlich kleinen Zuwachs dh, um welchen die Function
jetzt zunimmt, gerade so gelten, wie für jedes unendlich
kleine dx, um welches sie vorher zugenommen hatte. Hier-
aus folgt, daß beide Werthe der Function, zunächst aber Fx,
sich durch die Summe einer unendlichen Reihe muß aus-
330 Fünftes Kapitel.
drücken lassen, deren jedes Glied die Zunahme anzeigt,
welche in Folge einer Zunahme des x um je ein dx statt-
findet. Bestände nun die Natur der Fx darin, für jede
kleinste Zunahme des x, also für jedes dx um dieselbe
constante Größe m • dx zuzunehmen, so würde ihr Ge-
sammtwerth am Ende die Summe einer unendlichen Reihe
gleicher Glieder von der Form m dx sein ; die Anzahl dieser
Glieder wäre ebenso unendlich groß als die Anzahl der dx,
in welche man sich den Endwerth von x getheilt, oder aus
deren Ansammlung man ihn entstanden denken will; die
Summe der Reihe ist das Integral y m dx == mx. Hängt da-
gegen der Zuwachs der Fx für jedes dx von dem Werthe
ab, den das wachsende x bis zum Eintritt dieses dx bereits
erreicht hat, so muß, wenn die gesuchte Formel für jedes
endliche x und h gelten soll, die jetzt anzunehmende Reihe
aus lauter gleichgebauten Functionen von x bestehen, welche
sich der Ordnung nach auf die stetig zunehmenden Werthe
von x beziehen; nennen wir diese Function fx oder f^x, so
ist Fx= J* P^xdx. Nichts hindert nun, auf f^x dieselben
Betrachtungen wiederholt anzuwenden, die wir über Fx an-
stellten; bezeichnet jetzt x in f^x einen bestimmten Werth
von den vielen, welche x annehmen kann, so läßt sich
auch f^x als Summe einer Reihe fassen, deren unendlich
viele gleichgebauten Glieder die Zunahmen angeben, um
welche, für jedes dx, die f^x bis zu ihrem, jenem Werthe
des X entsprechenden, Endwerthe anwuchs; man hat dann
auch fix = J'Px- dx und allgemein f "^x == y* f'» + ^ x • dx. Auf
welche Weise aus einer gegebenen Function, Fx, diese ihre
abgeleiteten Functionen verschiedener Ordnung, f^x, f^x, f™x,
und aus diesen rückwärts jene zu gewinnen ist, setzen
wir als bekannte Lehren der Infinitesimalrechnung
voraus.
239. In diesen Vorbemerkungen liegt eigentlich schon
die Auflösung unserer Aufgabe; ich führe sie jedoch noch
auf folgenden einfachen Gedankengang zurück, der zu-
gleich eine andere logische Verfahrungs weise verdeutlichen
mag.
1. Selbstverständlich ist F (x + h) gleich der Summe
ihres früheren Werthes Fx und der positiven oder negativen
Zunahme Ri, welche Fx in Folge des Wachsthums der
Variablen x von x bis x -f h erfahren hat. Zur Bestimmung
des Werthes von Ri machen wir die einfachste Annahme :
für jedes der dh, durch deren Aufeinanderfolge h entsteht,
Die Auffindung der Beweisgründe. 331
wachse Fx um dieselbe Größe niidh; dann ist m^y^dh
^imi-h der Werth von R^ oder der Gesammtzuwachs von
Fx. Dies nii ist nicht unbestimmbar. Denn wenn die Zu-
nahme der Fx, wie wir immer voraussetzen, einzig von der
eignen Natur dieser Function abhängen soll, so muß ihr
gegebener Werth Fx auf dieselbe Weise entstanden sein,
auf welche jetzt die weitere Vergrößerung desselben er-
folgen soll ; während also x alle Werthe von o bis x durch-
lief, mußten schon damals für jedes dx dieselben Zunahmen
der sich erst bildenden Function entstehen, welche jetzt für
jedes dh zu der gebildeten hinzukommen, denn in nichts
als in der Bezeichnung unterscheidet sich dx von dh. Nun
läßt allgemein Fx sich als die Summe einer stetigen Reihe
betrachten, deren allgemeines Glied durch f^x • dx und deren
letztes durch denselben Ausdruck dargestellt wird, wenn
man unter x den bestimmten Endwerth versteht, den die
Variable x in Fx erreicht. Für jedes dx wächst diese Reihe
um fix-dx; diese Größe, f^x, muß constant und =mi sein,
wenn das Wachsthum der Fx bis zu ihrem gegebenen End-
werth in derselben Weise stattgefunden haben soll, wie
über diesen hinaus bis F (x -|- h). Für jedes dh nimmt da-
her Fx um f^x-dh zu, und die Summe oder das Integral
dieser elementaren Zunahmen, also h • f^x, ist der gesuchte
Werth von Rj. Di^ Annahme, die wir machten, f^x sei
constant und =:mi, braucht nicht zuzutreffen; aber da die
allgemeine Formel die Fälle, in denen sie zutrifft, mit ent-
halten muß, so kann dies gefundene zweite Glied als bleiben-
der Bestandtheil derselben gelten.
2. Trifft nun diese erste Annahme nicht zu, so ist doch
immer F (x -f- h) = Fx -f- h • f^x -|- Ro, wenn wir unter Rg die
positive oder negative Ergänzung verstehen, welche zur
Ausmessung des wahren Werthes der Function noch nöthig
ist. Da es dieses neuen Zusatzes nur bedarf, weil Fx nicht
für jedes dh oder dx um denselben Betrag wächst, weil
also f^x keine constante Größe, sondern von dem jedesmal
erreichten Werthe der Variablen x abhängig ist, so bedeutet
in dem zweiten Glied h • f^x ^ Ri unserer Formel f^x jetzt
nur noch den festen Einzelwerth, den die nun veränderlich
zu denkende allgemeine Function f^x für den Endwerth x
der Variablen x oder den NuUwerth der Variablen h be-
sitzt. Nur dann können wir daher dies zweite Glied, h • f^x,
beibehalten, wenn wir zu jedem der Glieder f ^x • dh, deren
332 Fünftes Kapitel.
Summe es ist, die Zunahme hinzufügen, welche der in ihm
enthaltene Endwerth von f^x noch weiter für jeden Zuwachs
dh der Variablen h erfährt. Für diese Zunahme* machen
wir wieder die einfache Annahme: sie sei dieselbe für
jedes dh und ^rmgdh. Auch dieses mg ist bestimmbar.
Denn wieder: wenn unsere Annahme gültig sein soll, so
muß sie auch auf Fx zurückwirken; nach demselben Ge-
setz, nach welchem jetzt diese Function sich vergrößern soll,
muß sie auch entstanden sein; die Zunahme der fix muß
für jedes dx dieselbe und =m2dx gewesen sein. Nun ist
f^x die Summe einer stetigen Reihe, deren allgemeines
Glied f 2x • dx ist ; um eben diesen Betrag nimmt also diese
Reihe, oder ihre Summe f ^x, stets zu für jeden Zuwachs
des X um ein dx; unsere Bedingung ist daher erfüllt, wenn
wir f2x constant und =m2 setzen; dann nimmt Fx über
ihren gegebenen Werth hinaus in derselben Weise zu, in
welcher sie sich bis zu ihm hin vorher gebildet hatte. Ihr
ganzer Zuwachs ist dann die Summe zweier Reihen; die
erste von diesen besteht aus lauter gleichen Gliedern f^x • dh
und ihre Summe ist = R.i ; die zweite, welche R2 vorstellt^
enthält wachsende Glieder ; das erste derselben, f ^x • dh,
stellt die erste neue Zunahme vor, welche Fx erfährt, wenn
d<^r vorige Endwerth x der Variablen x um das erste dh
wächst, oder die Variable h, von 0 aii wachsend, ihren
ersten Werth dh erreicht; jedes folgende (n -]- l)te Glied
fügt denselben Zuwachs f^x • dh zu dem fortbestehenden
Werthe des nten Gliedes hinzu; h-f^x-dh ist daher das
allgemeine Glied dieser zweiten Reihe, das wir als Er-
gänzung zu dem allgemeinen der ersten hinzuzufügen haben.
JDie Gesammtzunahme der Fx ist daher die Summe der
h^
stetigen Reihe (f^x -[- hf^x) dh, oder h • f^x 4- -1— 0 • f^x; das
zweite Glied dieses Ausdrucks ist der gesuchte Werth von Ro.
3. Wäre die Natur einer gegebenen Function Fx so be-
schaffen, daß auch diese zweite Annahme nicht hinreichte,
um ihr Wachsthum zu erschöpfen, so würden wir doch
immer die gefundenen Glieder unserer Formel beibehalten
können, wenn wir ein neues R3 hinzufügten, welches sie
ergänzte. Zur Bestimmung dieses neuen R3 würden wir
denselben Gedankengang wiederholen. Wir können seiner
nur bedürfen, weil auch f^x nicht constant, sondern von
dem jedesmal erreichten Werthe von x abhängig ist und
mit ihm zunimmt. Nehmen wir an, daß doch diese Zu-
Die Auffindung der Beweisgründe. 333
nahmen wenigstens constant für jedes dh und = m^ • dh sind.
Drücken wir dann f^x als Summe einer stetigen Reihe aus,
deren allgemeines Glied f^x • dx ist, so haben wir nur f^x
constant und =:m3 zu setzen, damit unsere allgemeine Be-
dingung erfüllt und Fx bis zu diesem ihrem gegebenen
Endwerth ebenso gewachsen sei, wie sie nun über ihn hin-
aus zunehmen soll. Nun war das dritte Glied Rg unserer
Formel die Summe einer stetigen Reihe, deren allgemeines
Glied h • f 2x • dh ist ; bilden wir daher eine zweite Reihe,
die Zusätze enthaltend, durch welche R2 zu ergänzen ist;
so ist h • f^x • dh die Zunahme, um welches jedes (n -{• l)te
Glied dieser zweiten Reihe größer sein wird, als das nte;
h*
folglich ist y h • f3x dh oder ytö ' ^^^ ^^^ allgemeine Glied
dieser Reihe R3. Man erhält daher den zweiten und dritten
Zuwachs von Fx, wenn man die stetige Reihe summirt,
h*
deren allgemeines Glied jetzt [hf2x:--f-i — n-f^xjdh ist, und
h* h»
findet also Rg + R3 ^^ttö '^^^ ~^ 1 -9 ^ ' ^^^'
4. Es ist unnütz, dies Verfahren fortzusetzen; man her
merkt leicht, daß unter beständiger Wiederholung der hier
gemachten Voraussetzungen die gesuchte Formel die be-
kannte Gestalt der Taylorschen Reihe annehmen wird :
h h^ h3
F(x + h) = Fx-f|.fix + ^.f^x + p^-3f^x...
Aber diese Formel würde wenig Werth haben, wenn wir
die Voraussetzungen eben, auf denen sie beruht, nicht als
ausschließlich zulässige rechtfertigen könnten. Unzweifel-
haft logisch richtig, aber so richtig, wie die unnützeste aller
Tautologien, würde sie ,dann sein, wenn sie blos sagen wollte,
jede Größe M lasse sich allemal durch eine Reihe ganz be-
liebig angenommener Glieder ausdrücken, sobald man sich
vorbehalte, ein Restglied R hinzuzufügen, das alle Irr-
thümer wieder gut zu machen bestimmt sei, die man durch
Gleichsetzung des M mit jener Reihe begangen hatte. Einen
brauchbaren Sinn enthält die Formel erst dann, wenn man
eines solchen corrigirenden Restgliedes nicht bedarf, wenn
334 Fünftes Kapitel.
sich also nachweisen läßt, daß der Werth von F (x + h) ent-
weder durch eine endliche Anzahl der entwickelten Glieder
oder durch eine zwar unendliche, jedoch zur Summirbar-
keit convergente Reihe derselben vollständig ausgedrückt
werden kann. Woher aber erfahren wir, daß dies der Fall
ist? Daraus, daß für eine gegebene Function Fx eine ihrer
abgeleiteten Functionen, f™x, bei wirklicher Berechnung zu
Null wird, die Reihe also vor dem Gliede abbricht, welches
sie enthält, daraus allein folgt selbstverständlich doch nur,
daß es keinen ferneren Zuwachs von Fx gibt, der durch
weitere Entwicklung dieser einmal angenommenen Glieder-
reihe erreicht werden könnte; daß aber überhaupt keine
andere Zunahme vorkommen könne, würde den Nachweis
voraussetzen, daß eben diese Berechnungsweise alle Zu-
nahmen umfassen müsse, welche Fx ihrer Natur nach er-
fahren kann. Diesen Nachweis nun glauben wir jetzt nicht
mehr besonders liefern zu müssen; er liegt in der von uns
gemachten Voraussetzung, daß Fx sich unter keiner andern
Bedingung, als der der stetigen gleichförmigen Zunahme
von X vergrößere, und daß ihr mathematischer Bau für
jeden der erreichten Werthe von x derselbe bleibe. Wächst
dann eine Function dergestalt, daß sie für jedes dh dieselbe
constante Zunahme erfährt, zugleich aber jedes auf diese
Weise in sie eintretende dh der Ausgangspunkt einer neuen
Constanten Zunahme wird, so entsteht als Ausdruck ihrer
Gesammtzunahme durch das Intervall h eine unendliche
h* hm
Reihe, in deren Gliedern die einen Factoren h, t— o , -i— 0
' 1 -2' 1 2- • m
ihrer Form nach nur von dieser allgemeinen Form des
Wachsthums abhängig und daher für alle Functionen gleich-
gestaltet sind. Damit diese Reihe aber das specifische
Wachsthum jeder bestimmten Function im Unterschied von
dem einer andern angebe, treten die andern Factoren, f^x,
f^x, P^x, zu diesen allgemeinen Factoren so hinzu, daß jeder
von ihnen die besondere von der Natur der gegebenen Fx
jedesmal erst abhängige Größe der ersten zweiten dritten
oder mten Zunahme angibt, die für jedes dh stattfindet; die
Reihe bricht, als vollständiger Ausdruck für F (x + h), dann
ab, wenn einer dieser Factoren verschwindet. Die ent-
wickelten Glieder unserer oben angeführten Reihe waren
daher nicht willkürlich angenommen ; sie suchten F (x -f- h)
nicht nach einem Maßstab zu messen, der der Natur dieser
Function fremd gewesen wäre, sondern nach dem, den sie
Die Auffindung der Beweisgründe. 335
selbst und die Natur ihres vorausgesetzten Wachsthums
darbot; ist nach diesem Maßstab der Werth von F(x-|-h)
durch eine endliche oder durch eine summirbare unendliche
Gliederzahl ausdrückbar, so kann es keinen aus anderer
Quelle herrührenden Zuwachs geben, der diesem Resultate
hinzuzufügen wäre. Denn wie auch eine Function wachsen
möge, vorausgesetzt nur, daß sie in keiner Strecke ihres
Wachsthums neu eintretenden äußern Bedingungen unter-
liege: durch die beständige Wiederholung der von uns ge-
machten Annahmen, zuerst einer constanten Zunahme, dann
einer constanten positiven oder negativen Zunahme dieser
Zunahme, dann durch eine neue constante positive oder
negative Zunahme dieser zweiten Zunahme und so fort,
wird man den Gesammtwerth des erfolgten Zuwachses
ebenso gewiß erschöpfen, als man durch passend gewählte
Epicyclen jede krummlinige Bahn, oder durch eine unend-
liche Reihe positiver und negativer Potenzen der Zehn,
jede Irrationalzahl darstellt. So aufgefaßt, als bloße De-
finition des Wachsthums, bleibt die Reihe logisch gültig
auch dann, wenn sie, für eine nachweisbar endliche Zu-
nahme der Function, durch Divergenz mathematisch
unbrauchbar wird. Bliebe sie es nicht, so könnte auch
dann, wenn man durch Umformung der Function ohne
Aenderung ihres Inhalts die Bedingungen der Convergenz
wieder herstellt, das nach ihr berechnete Resultat nur als
thatsächlich zutreffend, falls man dies nachweisen könnte,
aber nicht im Voraus als selbverständlich und nothwendig
richtig angesehen werden; jene Umformung dient nur, daä
an sich Gültige in die Grenzen der Berechenbarkeit zu
bringen.
Sechstes Kapitel.
Beweisfehler und Dilemmen.
240. Schon Aristoteles bemerkte, daß aus falschen Prä-
missen folgerecht wahre Schlußsätze fließen können. In
der That: jeder Lappländer^ versichert uns die erste Figur,
ist geborner Dichter, Homer war Lappländer, darum auch
Dichter; die zweite: alle parasitischen Pflanzen blühen
roth, aber keine Rose thut dies, mithin sind Rosen nicht
Schmarozerpflanzen ; die dritte : Metalle leiten die Electricität
336 Sechstes Kapitel.
nicht, auch sind sie alle unschmelzbar, es gibt also un-
schmelzbare Stoffe, welche Nichtleiter für Electricität sind.
Auch ändert sich hieran nichts, wenn wir die Lappländer
mit Griechen, das Rothblühen mit Explodiren vertauschen
und die Metalle durch Gläser ersetzen, Umformungen, durch
welche je eine Prämisse zur Wahrheit wird; noch weniger
wird natürlich der richtige Schlußsatz ausbleiben, wenn wir
einen Mittelbegriff einsetzen, durch den sie beide gültig
werden. Man findet daher allgemein: so oft man Sub-
ject S und Prädicat P eines ganz richtigen Satzes T und
einen völlig willkürlich gewählten Mittelbegriff M so
in zwei Prämissen zusammenstellt, wie es die Regeln einer
aristotelischen Figur verlangen, so ist T allemal die nach
dieser Figur folgerichtige Conclusion aus den so gebildeten
Vordersätzen. Den Grund dieses Verhaltens begreift man,
wenn man gar keinen bestimmten Mittelbegriff ersinnt,
sondern sich mit dem bloßen Zeichen M begnügt: alle M
sind Dichter, Homer war ein M ; alle parasitischen Pflanzen
sind M, die Rosen sind nicht M ; alle M sind Nichtleiter,
alle M sind unschmelzbar. Diese schematischen Prämissen
sagen dann, in welchen Verhältnissen S und P zu irgend
einem Mittelbegriff stehen müssen, wenn ihre V^erbindung
zu dem Schlußsatz SP gültig sein soll; sie sagen zugleich
umgekehrt, daß der Satz SP immer gültig sein muß, wenn
sich irgend ein M auffinden läßt, zu welchem S und P
in den geforderten Beziehungen stehen. Hätte man dieses M
glücklich gefunden, wären also beide Prämissen gültig, so
würde SP nun nicht blos thatsächlich, sondern nothwendlg
gültig seiih; ließe sich jemals nachweisen, daß es gar kein M
gibt, zu dem S und P diese Beziehungen haben könnten,
so wäre die Unmöglichkeit des Satzes SP sicher, denn er
könnte dann nicht einmal blos thatsächlich in einer Er-
fahrung vorkommen; hat man aber sich nur in der Wahl
des M vergriffen, sind also die angenommenen Prämissen
ungültig, so hindert nichts, daß es irgend ein anderes M
gebe, durch dessen Einsetzung die Prämissen richtig, mit-
hin auch SP nothwendig gültig wird; ist endlich SP un-
gültig, so muß etwas in den Prämissen nothwendig falsch
sein, aus denen folgerecht seine Gültigkeit fließen würde.
Fassen wir zusammen: nicht die Wahrheit eines Satzes T,
sondern nur unsere Einsicht in diese W^ahrheit hängt, dann
wenigstens, wenn T nicht Inhalt unmittelbarer Wahrnehmung
ist, von der Richtigkeit der Prämissen ab, aus denen wir T
Beweisfehler und Dilemmen. 337
ableiten; bewiesen wird daher T nur aus richtigen Prä-
missen, bestehen kann aber begreiflich seine Wahrheit
trotz aller Irrthümer unseres Nachdenkens über sie, und
kann folgerecht aus materiell völlig falschen Prämissen ge-
schlossen werden. Dies mußte erwähnt werden, denn es
gehört selbst zu den häufig begangenen logischen Fehlern,
den Nachweis der Falschheit eines Beweises für T für
einen Beweis der Ungültigkeit des schlecht bewiesenen T
selbst, oder kurz: die Widerlegung eines Beweises
für Widerlegung der Sache auszugeben.
241. Gültig, so fanden wir, ist ein Satz T immer,
wenn er aus gültigen Prämissen folgerecht fließt; be-
wiesen aber doch erst dann, wenn zugleich die gültigen
Prämissen unabhängig von ihm selbst sind. Wir bilden
daher einen richtigen Schluß, aber einen untriftigen Be-
weis, wenn wir in die Prämissen entweder unter veränderter
Form T selbst oder einen andern Satz T^ aufnehmen, der
nur unter Voraussetzung der Gültigkeit von T gelten kann.
So ausgedrückt scheint dieser Fehler, die petitio prin-
c i p i i oder der circulus in demonstrando, leicht vermeidbar ;
er ist es gar nicht, namentlich dann nicht, wenn der Beweis
nur in einer längeren Schlußkette und nur theilweis durch
Verknüpfung von Begriffen, theilweis durch Benutzung von
anschaulichen Constructionen geführt wird; um unter
solchen Umständen formell richtig zu T zu gelangen, reicht
häufig die Voraussetzung einer mittelbaren und entfernten
Folge von T hin, die man sehr leicht für eine unabhängige
zum Beweise des T benutzbare Wahrheit verkennen kann.
Fruchtbare Regeln zur Vermeidung dieses Irrthums gibt
es darum nicht; nur vielleicht ist nützlich zu erinnern,
wie leicht zu ihm der Versuch verleitet, direct und pro-
gressiv Sätze zu beweisen, die für unsere Erkenntniß ein
Letztes und Unableitbares enthalten, sei es eine Denk-
nothwendigkeit oder eine allgemeine Thatsache der Wahr-
nehmung; für diese Fälle passen die apagogischen und
regressiven Beweisformen.
242. Verwandt mit diesem ersten Fehler, oft nur nach
subjectiver Schätzung von ihm unterscheidbar, ist der zweite,
das Hysteronproteron. Wir begehen es, wenn wir
einen Satz, der des Beweises fähig und bedürftig ist, zum
Ableitungsgrund eines andern machen, der des Beweises
nicht bedarf, umgekehrt aber sich zum Beweisgrund für
jenen eignen würde. Gottes Wille, sagt man, sei heilig,
die sittlichen Gebote unseres Gewissens der Ausdruck des
Lütze, Logik. 22
338 . Sechstes Kapitel.
göttlicheii Willens in uns, darum auch sie heilig und ver-
pflichtend. Man wird einwenden müssen : wenn die ver-
pflichtende Kraft und Heiligkeit der sittlichen Gebote nicht
unmittelbar und unbedingt empfunden würde, gleichviel
welches ihr Ursprung sein mag, so möchten zwar andere
Gründe uns noch zu dem Glauben an ein höchstes Wesen
bringen, aber Veranlassung und Möglichkeit würde uns
fehlen, den Begriff des Heiligen zu bilden und dadurch
den Obersatz zu Stande zu bringen, aus welchem wir hier
schließen wollten. Als Beweis ist daher dieser Gedanken-
gang unzulässig; dies hindert indessen nicht, daß er doch
zuletzt der richtige Ausdruck der Wahrheit selbst sei ; denn
in weitester Ausdehnung kann das, was in der Natur der
Sache selbst die Folge oder das principiatum ist, uns als
Erkenntnißgrund, und häufig als einziger, für das dienen,
was an sich das principium oder der Realgrund für die
Möglichkeit jenes Erkenntnißgrundes ist. Selbstverständlich
immer, wenn wir die Summe namentlich einer inductiv
erworbenen Erkenntniß systematisch darstellen, schicken
wir als Beweisgrund des Einzelnen ein Allgemeines voran,
dessen Gewißheit für uns nur auf der des Einzelnen beruht ;
es ist deshalb wichtig, daß solchen Darstellungen andere
zur Seite stehen, welche unsere Erkenntnisse in der Ordnung
aufeinander folgen lassen, in der sie, eine auf die andere
sich stützend, wirklich bewiesen werden können. In den
Beweisversuchen, welche das lebendige Gespräch oder die
eilige Ueberlegung herbeiführt, die im Lauf einer Unter-
suchung sich der Gewißheit eines .zu benutzenden Satzes
schnell versichern möchte, gestatten wir uns ein Hysteron-
proteron sehr oft ; wir folgern dann ex concessis, aus Voraus-
setzungen, deren jetzt ununtersucht bleibende Wahrheit
uns durch ihren Zusammenhang mit andern Erkenntnissen
hinlänglich feststeht, oder auf deren Zugeständniß aus irgend
einem Grunde augenblicklich leichter als auf das anderer
zu rechnen ist, die ihnen als Beweisgrund dienen könnten.
243. Der häufigste Fehler des Beweises ist die Zwei-
deutigkeit des Mittelbegriffs, die mehr oder minder
versteckte Quaternio terminorum oder fallacia falsi medii.
Als die Sophistik der Griechen zuerst auf die syllogislische
Verkettung der Gedanken und ihren sprachlichen Ausdruck
aufmerksam ward, führte man eine große Menge dieser
Fehler auf; von ihnen, die man in der aristotelischen Schrift
über die Trugschlüsse classificirt findet, dürfen wir viele
Beweisfehler und Dilemmen. 339
übergehen, die für unsere Zeit nicht einmal mehr die
Bedeutung eines gelungenen Witzes haben; von denep,
die uns fortwährend drohen, heben wir die doppelte fallacia
de dicto simpliciter ad dictum secundum quid und de dicto
secundum quid ad d. simpliciter hervor. Suchen wir beide
zunächst in den fehlerhaften Gedankenrichtungen im Großen
auf, zu denen ihre öftere Begehung im Einzelnen auswächst,
so finden wir die erste in jenem doctrinären Idealismus
herrschend, der nie einsehen will, daß nicht nur die Aus-
führbarkeit, sondern auch der verpflichtende Werth an sich
zu billigender Ideen durch die Natur der Gegenstände und
der Umstände ihrer Anwendung eine ganz rechtmäßige
Beschränkung erfährt; den andern Fehler erkennen wir
als die Grundlage der Engherzigkeit, für welche die all-
gemeinsten Wahrheiten und Ideale nur in der speciellen
Form Geltung und Werth haben, in der sie sich innerhalb
eines beschränkten Gedanken- und Beobachtungskreises be-
ständig dargeboten haben. Beide Sinnesarten belehrt das
Leben; die letzte, wenn sie neue ihr unerhörte Gestaltungen
der Dinge nicht hindern kann und die Welt darum doch
nicht zu Grunde gehen sieht, lernt endlich, daß man von
einer mit Recht geschätzten particularen Lebens Verfassung
nicht schließen darf, daß sie die einzige würdige Ordnung
menschliches Daseins sei; jene erste Schwärmerei begreift
durch den Abzug, den alle ihre Ideale bei dem Versuche
der Verwirklichung erfahren, was schon die Beachtung des
disjunctiven Lehrsatzes ihr hätte sagen können: jedes all-
gemeine P verwandelt sich bei der Anwendung aus etwas,
das simpliciter galt, in etwas, das secundum quid gilt,
aus P in pi oder p2, ps ; es in irgend einer dieser Gestalten
nicht wollen, in denen es allein sein kann, heißt seine
Wirklichkeit unter einer Bedingung wollen, die schon logisch,
unerfüllbar ist.
244. Die beiden erwähnten Fehler bestehen also darin,
daß wir das P, welches von einem M an sich gilt, von
dem M auch dann behaupten, wenn zu diesem eine vorher
nicht bestandene Bedingung tritt, welche die Anknüpfbarkeit
des P ändert, oder daß wir umgekehrt, was unter irgend
einer Bedingung von M gilt, bedingungslos auf M über-
tragen; so entsteht die Zweideutigkeit des Mittelbegriffs,
der einmal das uneingeschränkte M, dann das durch Be-
dingungen determinirte M^ bedeutet. Aus der Menge von
Beispielen, die man für diesen Fehler mit leichter Mühe
finden oder bilden kann, hebe ich einen von besonderem
340 Sechstes Kapitel.
Nebeninteresse hervor. Die Lüge verdammen wir grund-
sätzlich ; dennoch gibt es kaum Jemand, der nicht praktisch
Ausnahmen zuließe; dies deutet auf einen in der Bildung
des Grundsatzes selbst begangenen Fehler. Sehen wir von
erziehender Belehrung ab, so lernen wir die Lüge in Einzel-
fällen hassen, wo sie begleitet ist von dem Wunsche,
begangene Schuld auf Andere abzuwälzen, von unmittelbarer
Begierde zu schaden, von dem Hochmuth endlich, der das
Selbstgefühl des Andern demüthigt, indem er ihn spielend
in eine Welt falscher Vorstellungen verwickelt ; diese Neben-
züge sind es, die uns gegen die Unwahrheit aufbringen;
nur um ihretwillen nennen wir die Unwahrheit Lüge. Aus
diesen Fällen, in denen das secundum quid sehr deutlich
ist, das unser Urtheil bestimmt, könnten wir, wenn nichts
weiter hinzukäme, nicht mit Recht auf die Verwerflichkeit
jeder simpliciter, ohne Nebenabsicht, vorgetragenen Un-
wahrheit schließen. Aber es kommt freilich etwas hinzu;
Mittheilung unter Menschen kann nur Vorstellungen der-
selben Wirklichkeit in allen erwecken wollen, damit, hier-
nach abgemessen, ihre Handlungen zu gemeinsamem Wirken
richtig zusammentreffen, ihre Sonderbestrebungen einander
aus dem Wege gehen, überhaupt nur unternommen werde,
was im Einklang mit der Wirklichkeit Erfolg verspricht.
Die allgemeine Maxime, Unwahres zu sagen, höbe die Er-
füllbarkeit dieser und aller andern Zwecke auf; denn Wahr-
heit gibt es in jedem Falle nur ,eine, Unwahrheiten unzählige ;
der Austausch der letzteren würde daher nicht verbürgen,
daß nicht die durch ihn rege gemachten Intentionen der
Menschen stets bei einander vorbeigingen, ohne je zur
Erreichung eines Zweckes zusammenzutreffen. So kommen
wir zu dem Urtheile, Behauptung des Unwahren sei an
sich verwerflich, weil sie dem Wesen der Behauptung und
dem sittlichen Zwecke der Mittheilung widerspreche, und
stillschweigend nehmen wir nur die Aeußerungen des Un-
wahren aus, die, in Poesie Scherz und Höflichkeit, den
Charakter der Behauptung nicht haben. Und hier eben
droht der Fehlschluß, den ich erwähnen wollte. Durch
diese Ueberlegung glauben wir die Verwerflichkeit unwahrer
Behauptungen von der Beschränkung durch das frühere
secundum quid befreit zu haben und sie nun simpliciter
aussprechen zu können. Aber dies simpliciter selbst ist
zweideutig. Es kann bedeuten : die Behauptung des Un-
wahren ist an sich tadelhaft und kann nur durch besondere
Gründe, secundum quid, im Einzelfalle gerechtfertigt werden ;
Beweisfehler und Dilemmen. 341
aber es kann auch sagen wollen: sie ist allgemein
verwerflich und es gibt eben deshalb keine Gründe, welche
sie im Einzelfalle rechtfertigen könnten. Diese beiden Aus-
legungen des simpliciter streiten sich in unserem Gemüthe
und bringen jenen Widerspruch hervor, den ich am Anfang
berührte. Nur zur ersten, nicht zur zweiten würden unsere
hier angenommenen logischen Prämissen zureichen; denn
nur als allgemeine Maxime gedacht, hob die Unwahrheit
sittliche Zwecke gewiß auf und war verwerflich; hiermit
aber verträgt sich allerdings der Gedanke, daß sie überall
wieder zulässig sei, wo nicht die Erfüllung, sondern die
Vereitelung eines zu mißbilligenden Bestrebens löblich ist.
Soll jene zweite Auslegung, die bedingungslose Verwerflich-
keit der Lüge, gelten, so muß man sie auf andere Prämissen
zu gründen suchen; überlassen wir dies der Ethik; unser
logisches Interesse ging hier nur auf den Nachweis, daß
wir eine fallacia falsi medii nicht nur durch Verwechslung
des simpliciter und des secundum quid Gemeinten begehen,
sondern daß, nicht blos in dem Falle dieses Beispiels,
sondern in vielen andern ebenso, auch das simpliciter für
sich schon Sitz einer Zweideutigkeit ist. Wir meinen mit
ihm theils das, was nur an sich, aber nicht unter alleix
Bedingungen, oder was nur im Allgemeinen, aber nicht
immer im Besondern gilt, theils aber auch das, was an.
si€h ' und nicht erst unter Bedingungen, oder was all-
gemein und nicht blos im Allgemeinen, was folglich auch
im Besonderen immer und nothwendig gilt.
245. Ich schließe hieran Beispiele der Ausdehnung eines
allgemeinen Satzes auf Fälle, welche die Bedingungen seiner
Anwendung nicht mehr enthalten, dennoch aber formell
sich als Sonderfälle desselben betrachten lassen. Dies
kommt vor, wenn man veränderliche Größen, welche die
Beziehungspunkte des Satzes annehmen können, bis zu
ihren Grenzwerthen, der Null oder dem Unendlichen, ver-
folgt. Am Hebel erzeugt man die gleiche Wirkung, so lange
das Product ph des angehängten Gewichts p in seinen
Hebelarm h dasselbe bleibt; je größer also h, desto kleinerer
Gewichte p bedarf man, um dieselbe Wirkung zu erzeugen ;
und so hat denn in der That, um die Gültigkeit des Hebel-
gesetzes verdächtig zu machen, die feine Folgerung nicht
gefehlt, in unendlicher Entfernung vom Drehpunkt reiche
die Masse o hin, um jedes beliebige Gewicht am andern
Hebelarme im Gleichgewicht zu halten. Man weist diesen
342 Sechstes Kapitel.
Einfall natürlich sehr einfach durch die Bemerkung zurück,
das Hebelgesetz spreche nur von Fällen, in denen wirklich
Kräfte am Hebel angebracht werden, und verliere seine
Gültigkeit, wo dieser Bedingung nicht genügt ist, und
sachlich sind hiermit auch alle Zweifel erledigt. Aber
logisch doch nicht ganz ; denn so verfährt man nicht überall.
Man zweifelt nicht, daß cos o = 1 sei, und doch hat ursprüng-
lich der Begriff des Cosinus nur für einen wirklichen Bogen fjp
Sinn, von dessen Endpunkt sich ein Sinus auf den Halb-
messer durch den Anfangspunkt ziehen läßt; von diesem
Fall ist man hier auf den Endwerth 9 = 0 übergegangen.
Da nun das Hebelgesetz doch bei jeder Annäherung zu
den Werthen h = oo und p = o gültig bleibt, so wäre zu
wünschen, daß es auch für diese Grenzfälle noch irgend
eine Interpretation zuließe, die zeigte, in welche andere
Bedeutung es übergeht, wenn die frühere unzulässig wird,
oder daß es seine völlige Ungültigkeit selbst anmeldete,
d. h. nicht blos durch die Unglaublichkeit von Folgen, die
doch immer nur von einem auswärtigen Gesichtspunkt
beurtheilbar wären, sondern dadurch, daß es sich selbst
aufhöbe. Die Kraft, welche ein Keil ausübt, steht im um-
gekehrten Verhältniß zur Breite seines Rückens; ver-
schwindet diese ganz, so tritt hier derselbe Fall ein: die
Formel gibt unendliche Wirkung, während sie in der That
Null ist. Aber hier kann man doch, freilich mehr spißlend
als ernsthaft, einwenden : in der That gehöre eine unendliche
Kraft dazu, um eine geometrische Ebene, in die sich ja
nun der Keil verwandelt hätte, von der Durchdringung
eines Holzklotzes abzuhalten; daß der Klotz sich darum
nicht spaltet, ließe sich gleichfalls formelgerecht beweisen.
Eine so anschauliche Beruhigung weiß ich nun dem Zweifler
in Bezug auf den Hebelsatz nicht zu verschaffen ; anderseits
hielte ich doch für unbillig, ihn durch die Forderung ab-
zuschrecken, er möge erst den unendlichen Hebelarm
besorgen, dann werde man weiter zusehen; denn offenbar
ist der Gedanke von der Wirkung der unendlich entfernten
Masse Null als Gedanke an sich absurd, und muß, wenn
er nicht interpretirt werden kann, durch sich selbst wider-
legt werden. Und dies kann geschehen. Denn der Sinn
des Hebelgesetzes besteht darin, daß es in jeder bestimmten
Entfernung h vom Drehpunkte der bestimmten Masse p einen
bestimmten Effect zuschreibt, welcher sich ändert, wenn h
sich ändert. Die Masse 0 aber würde in unendlicher Ent-
fernung keine andere Wirkung hervorbringen, als in jeder
Beweisfehler und Dilemmen. 343
beliebigen endlichen ; denn es ließe sich ja gar nicht sagen,
wodurch sich der Fall, daß man am unendlich entfernten
Ende des Hebels nichts wirken ließe, von dem andern
unterschiede, daß man an einem beliebigen andern Punkte
gleichfalls nichts wirken ließe, oder von dem dritten, der
eigentlich immer zugleich bestände, daß man an allen
Punkten des Hebels dasselbe Nichts, und zwar nach be-
liebigen Richtungen wirkend, angebracht dächte. Der Ver-
such also, das Hebelgesetz für ph = o • oo noch festzuhalten^
scheitert nicht blos an unglaublichen Folgen, sondern
daran, daß sein eigner Sinn verschwindet, weil das un-
unterscheidbar wird, auf dessen Unterscheidung er beruhte.
Man kann zu demselben Ergebniß auch anders gelangen;
p h ist keine constante Größe, so daß p sich im umgekehrten
Verhältniß zu h ändern müßte ; sondern für jedes h ändert
sich die Wirkung mit der völlig freien Aenderung von p
und wird für jedes h zu Null, wenn p Null wird; daraus
folgt, daß auch ph = ooo hier nur den Werth o und
keinen andern haben kann. ,
246. Aehnlich den zu engen und den zu weiten
Definitionen, und meist durch solche veranlaßt, können
auch Beweise zu wenig oder zu viel beweisen; beides
sowohl in Bezug auf den Inhalt des zu beweisenden T als
auch in Bezug auf die quantitative Ausdehnung seiner
Gültigkeit. Das zu viel Bewiesene kann richtig sein und
entspricht vielleicht blos nicht der Aufforderung zum Be-
weise, die auf Wenigeres gerichtet war; so, wenn Jemand
für alle Thiere einen Satz deducirt, den man blos für
Menschen sichergestellt wünschte ; man hat dann den zu-
länglichen Beweisgrund in einer allgemeineren Fassung be-
nutzt, in welcher er selbst gültig blieb. Ist aber das zu
viel Bewiesene falsch, so ist man einem irrigen Beweis-
grund gefolgt, der nun auch das in dem Resultat ein-
geschlossene Wenigere zweifelhaft macht, den Beweis des-
selben also nicht liefert. Ist z.u wenig bewiesen, so hat
der Beweisgrund, der hierzu führte, vielleicht eine all-
gemeine Wahrheit, welche wirklich das gegebene T in ge-
wünschter Ausdehnung beweisen würde, nur in einer ihrer
particularen Formen aufgefaßt, und dann bedarf es nur
angemessener Wiederverallgemeinerung derselben, um den
verlangten Beweis zu gewinnen. Aber man kann auch auf
ganz falschem Wege gewesen sein, indem man von Voraus-
setzungen ausging, welche zwar zu dem bewiesenen Special-
falle von T richtig führten, zum allgemeinen Beweise des T
344 Sechstes Kapitel.
jedoch immer untauglich bleiben würden. Im Ganzen ist
daher die Benutzbarkeit des eingeschlagenen Weges immer
zweifelhaft, wenn der auf ihm erlangte Beweis nicht genau
den Inhalt des zu beweisenden T deckt; und man kann
beides sagen: qui nimium und qui parum probat, nihil
probat.
247. Auch hierfür sind Beispiele leicht zu finden ; anstatt
ihrer schließe ich einen Fall an, auf den man, obgleich
nicht in der Form des Beweises, sehr oft in dilettantischen
Versuchen zur Speculation stößt: die unvollständige
Erklärung, welche nur im Allgemeinen einen Grund
für eine Erscheinung angibt, ohne zu untersuchen, ob dieser
Grund auch fähig sei, die Modificationen mit zu begründen,
denen die Erscheinung unterliegt. Das Gesetz der Be-
harrung der Bewegung ist schwerlich aus einem all-
gemeineren Gedanken beweisbar; aber die vulgäre Meinung,
es verstehe sich von selbst, daß jede Bewegung mit der
Zeit aufhöre, ist unmöglich an sich und kann zu einein
apagogischen Beweise für jenes Gesetz führen. Hätte man
die Abnahme der Bewegung auf reale Widerstände in der
Zeit geschoben, so wäre man auf gutem Wege gewesen;
aber von der leeren Zeit konnte man sie nicht abhängig
machen; denn wenn es auch für uns, deren eigne Körper-
bewegungen mit der steigenden Ermüdung erlahmen, etwas
Ueberredendes hat, die Zeit selbst zehre alle Bewegung auf,
so läßt sich doch im Besondern kein Maßstab finden, nach
welchem ihr dies früher oder später gelingen müßte. An-
genommen, jeder der völlig gleichen Augenblicke dt habe
gleiche constante Zehrkraft und hemme an jeder Massen-
einheit die Geschwindigkeit q, so begriffe man wohl, daß
schnellere Bewegungen derselben Masse später aufhören,
als langsamere; aber so lange q eine endliche Größe ist,
würden auch Bewegungen denkbar sein, deren Geschwindig-
keit, für dt als Einheit, kleiner wäre als q, und diese Be-
wegungen würden dann gar nicht zu Stande kommen. Viel-
leicht zöge man vor, die Zehrkraft der Zeit richte sich
nach der zu verzehrenden Geschwindigkeit; aber in welchem
Verhältniß? Ich unterlasse jede weitere Hypothese; theils,
weil man schon einsieht, wie hoffnungslos es ist, bei der
völligen Unvergleichbarkeit von Zeit und Masse die Massen-
einheit festzustellen, für welche q das Maß der hemmenden
Kraft eines dt wäre; anderntheils, weil offenbar in der
leeren Zeit kein Grund liegt, unter den zahllosen denkbaren
Verhältnissen zwischen Geschwindigkeit und Verzögerung
Beweisfehler und Dilemmen. 345
eines vor dem andern zu bevorzugen; endlich, weil stets
etwas übrig bliebe, was alle diese Versuche vereiteln würde.
Denn wenn ein dt diesen oder jenen Theil der Bewegung
aufhöbe, woher stammte der nicht aufgehobene Theil?
Offenbar setzt man für ihn voraus, er habe sich nach dem
Gesetz der Beharrung erhalten; ließe man an diesem Punkt
nicht versteckt die Gültigkeit des Gesetzes schon zu, so
würde man behaupten müssen, schon das erste dt hemrhe
alle Bewegung. Entweder kommt daher Bewegung über-
haupt nicht zu Stande, sondern erlischt sogleich, indem
sie Miene macht, ein dt hindurch zu dauern, oder: wenn
die Bewegung allmählich abnehmen soll, so gilt prin-
cipaliter das Gesetz der Beharrung, und nur secundär nimmt
die Bewegung durch Widerstände ab; diese wird man nun
blos in Gleichartigem, also in entgegengesetzten Bewegungs-
antrieben suchen. Wie dieser Satz, daß jeder erklärende
Beweisgrund nicht blos T allgemein, sondern auch die
Möglichkeit seiner Modificationen begründen müsse, mit
dem disjunctiven Lehrsatz zusammenhängt, deute ich nur
an; seine weitere Verfolgung würde mich zu sehr auf blos
mathematisches Gebiet führen ; es genügt, kurz anzumerken,
wie diese logische Forderung dort sich in dem Princip der
Homogeneität der in eine Gleichung zusammenzustellenden
Functionen einen speciellen und fruchtbaren Ausdruck ge-
geben hat.
248. Collective und indirecte Beweise irren häufig durch
Schuld einer unvollständigen Disjunction. Sie
müßten zeigen, um T sicher zu stellen, daß in allen Einzel-
fällen von T gilt, was sie von dem allgemeinen Fall be-
haupten wollen, oder daß alle Arten des NonT ungültig
sind und so nur die Gültigkeit von T übrig bleibe. Dies
ist nicht immer leicht ; namentlich wird man im praktischen
Leben die Schwierigkeit fühlen, bei Aufstellung einer
Satzung, welche gelten soll, alle Fälle ihrer möglichen
Anwendung im Voraus darauf zu prüfen, ob die vor-
geschlagene Bestimmung sich in ihnen empfehlenswürdig
oder erträglich zeigen würde; nicht minder bekannt ist,
wie oft wir nach Ueberlegung vieler Wege, die wir ein-
schlagen könnten, nur einen möglich, alle andern unmöglich
finden nud doch die Eingebung eines glücklichen Augen-
blicks uns dann noch einen andern übersehenen Ausweg
zeigt. In theoretischen Ueberlegungen werden wir zu dem
Fehler der unvollständigen Disjunction am wirksamsten
dann verführt, wenn wir nicht absichtlich mit der Auf-
346 Sechstes Kapitel.
Stellung aller denkbaren Fälle beginnen, sondern, wie ge-
wöhnlich geschieht, unter dem einseitigen Einfluß einer
uns beherrschenden Gedankenrichtung uns nur zu ihrem
Ziele treiben lassen. So ist es leicht nachzuweisen, daß
unsere sinnlichen Empfindungen subjective Zustände unserer
Erregung sind; eine weit verbreitete Ueberzeugung fügt
hinzu, daß auch die Formen von Raum und Zeit, in denen
wir das mannigfaltige Empfundene zusammenordnen, An-
schauungsweisen unseres Geistes sind; verführerisch ist
endlich, dann auch die Vorstellung uns unbekannter Dinge
und Wirkungen, die diesen Erscheinungen zu Grunde liegen,
als ein Erzeugniß unseres Geistes anzusehen, dessen
Organisation zu dieser Verknüpfung seiner Einzelvorstellun-
gen nöthige. So ist dann die Subjectivität aller Elemente
unserer Erkenntniß nachgewiesen, und von hier aus wagt
man den Schluß: also gebe es keine objective reale Welt,
die unserer Vorstellungswelt entspreche. Er ist falsch;
denn: wenn wir von der Voraussetzung ausgehen, es gebe
diese reale Welt, so ist leicht einzusehen, daß auch dann
alles sich so verhalten müßte, wie wir es fanden. Die
realen Elemente können nie in Substanz in unser Inneres
einziehen ; sie können immer nur Vorstellungen erwecken,
welche, veranlaßt durch den äußern Eindruck und Reactionen
gegen ihn, doch immer ein Erzeugniß unserer subjectiven
Natur bleiben; mag es einen objectiven Raum geben oder
nicht, seine Anschauung in uns ist nicht er selbst, sondern
immer das Product unserer subjectiven Thätigkeit des Vor-
stellens; mag das Causalgesetz objectiv gelten oder nicht,
Gegenstand nothwendiger Anerkennung für uns ist es nur,
sofern es von uns gedacht und sein Inhalt in Ueberein-
stimmung mit den Gesetzen unseres Denkens empfunden
wird. Die vollkommene Subjectivität aller Elemente unserer
Erkenntniß entscheidet daher gar nichts über Sein oder
Nichtsein einer objectiven Wirklichkeit. Um uns vor solchen
Fehlern zu bewahren, sind unsere Gegner in der Welt;
man sieht, wie unerläßlich es ist, neben der folgerechten
Ausbildung des eignen Gedankengangs sich auch in Vor-
stellungsweisen einheimisch zu machen, die von entgegen-
gesetzten Standpunkten ausgehen.
249. Man unterscheidet Paralogismen überhaupt als
unwillkürlich begangene Reweisfehler von Sophismen,
den absichtlich auf Täuschung oder Verwirrung des Urtheils
angelegten Trugschlüssen, ein Unterschied, der, weil er
sich auf die vorausgesetzte Absicht gründet, zweifelhaft
Beweisfehler und Dilemmeri. 347
wird, wo diese es wird. So kann man zu beiden die be-
kannten Zenonischen Beweise gegen die Bewegung
rechnen. Sie berühren zum Theil wirkliche Schwierigkeiten
in dem Begriffe der Bewegung, die ich hier noch nicht
erörtern will; anderseits mögen sie als Beispiele nicht
leicht classificirbarer Beweisfehler noch angeführt sein. Der
eine von ihnen will beweisen, daß der fliegende Pfeil ruht.
Er geht aus von der Vorstellung, die Zeit bestehe aus
untheilbaren Augenblicken; in keinem dieser Augenblicke
kann der Pfeil sicTi bewegen; denn Bewegung setzt das
Spätersein an dem einen, da.s Frühersein an dem andern
Orte voraus; in dem untheilbaren Augenblicke aber gibt
es kein Früher oder Später; der Pfeil ruht also in diesem,
er ruht ebenso in jedem andern Augenblicke; er ruht also
immer. Hiergegen ist einfach einzuwenden, daß auch ruhen
nur das kann, was später an demselben Orte ist, den es
früher einnahm ; da der untheilbare Augenblick kein Früher
und Später hat, so kann der Pfeil sich in ihm weder
bewegen, noch ruhen. Und dies ist denn im Einklang mit
der gewöhnlichen phoronomischen Betrachtungsweise. So
lange d t eine Zeit strecke ist, durchläuft in ihm der Pfeil
einen kleinen Weg v • d t ; sobald d t keine Größe mehr ist,
sondern nur ein Theilpunkt der Zeit, der seinen bestimmten
Platz in der Zeitreihe hat, so macht in ihm zwar der Pfeil
keinen Weg, aber er ruht auch nicht in ihm, sondern geht
durch ihn mit der Geschwindigkeit v hindurch. Außerdem
hatte Zeno kein Recht zu behaupten, in jedem folgenden
Augenblick werde der fliegende Pfeil in demselben Orte
ruhen, in welchem er vorher geruht hatte. In dem Begriff
des Augenblicks und in dem des Pfeiles liegt allerdings
nichts, was einen Wechsel der Orte begründete; wohl aber
liegt dieser Grund in dem Fliegen des Pfeils. Worin
dieser Antrieb freilich besteht, durch den in jedem auch
als untheilbar gedachten Augenblicke der bewegte Körper
sich von dem ruhenden unterscheidet, dies mag dunkel sein,
und darauf hätte sich ein Sophisma wirksam beziehen
können; aber bevor die Unmöglichkeit des Begriffs der
Geschwindgikeit feststand, durfte Zeno sie, von der er
in dem Prädicat des Fliegens ausging, nicht in der Beweis-
führung ganz vergessen. So wie er ist, zeigt sein Beweis
nur, daß Ruhe nicht Bewegung ist, und Bewegung nicht
aus Ruhe gemacht werden kann ; mit jener Ergänzung hätte
Zeno wenigstens eine von Moment zu Moment sprungweis
erfolgende Veränderung des Ortes, eine stetige Bewegung
348 Sechstes Kapitel.
freilich nicht ableiten können, so lange er an den untheil-
baren Augenblicken als Zusammensetzungsbest-andtheilen
der Zeit festhielt. Ein anderer Beweis zeigt, daß der schnell-
füßige Achill die Schnecke nicht einholt, wenn sie einen
Vorsprung hat; denn immer, ehe er sie erreiche, müsse er
zuvor an den Ort kommen, den sie eben verlassen. Diese
Einkleidung ist überflüssig; auch wenn die Schnecke ruht,
erreicht sie Achill nie; denn der Beweis beruht darauf,
daß kein Bewegtes jemals an das Ende irgend einer Weg-
strecke kommt, weil es vorher an die Hälfte derselben,
dann vorher an die Hälfte der Hälfte, und vorher wieder
an die Hälfte dieses Viertels kommen muß. Da diese
Halbirung ins Unendliche fortgesetzt werden soll, so
wird offenbar die endliche Raumstrecke als unendlich
theilbar oder aus unendlich vielen Theilen bestehend voraus-
gesetzt, dann aber angenommen, zum Uebergang von jedem
dieser unzähligen Raumpunkte zum andern sei einer der
untheilbar gedachten Zeitaugenblicke nöthig; mithin ge-
hören unendlich viele Augenblicke zum Durchlaufen jedes
endlichen Weges. So weit ist, wenn man die Voraus-
setzungen zugibt, alles richtig. Aber nun ist es ganz
willkürlich, zu behaupten, diese Summe der unendlich vielen
Augenblicke werde eine unendliche Zeitstrecke sein;
da sie untheilbar sind, keiner von ihnen ein Früher oder
Später enthält, so gibt auch ihre unendliche Summe kein
Früher oder Später, wenn man nicht, wie hier doch wohl
Zeno begegnet ist, zwischen je zwei Augenblicke einen
Zeitverlauf heimlich einschiebt, oder diese Augenblicke in
einer zweiten ausgedehnt gedachten Zeit aufeinander in
bestimmten Intervallen folgen läßt. Man braucht nicht ein-
mal gegen Zeno einzuwenden, was ungefähr Aristoteles
hier äußert, daß nämlich, nach unserer Ausdrucksweise,
das Integral einer unendlichen Reihe stetig in einander
übergehender Größen doch eine bestimmte endliche Größe
sein könne, jene Summe von Zeitaugenblicken also eine
endliche Zeit st recke; die untheilbaren Augenblicke sind
von Zeno nicht nur jeder für sich als größenlos, sondern
zugleich so isolirt gedacht, daß von solchem Uebergehen,
durch welches sie überhaupt erst zu Zeittheilen werden,
gar nicht die Rede ist; die Summe aller dieser Nullen
ist daher an sich Null und wird nur durch eine unberechtigte
Zuthat unserer besser unterrichteten Phantasie für eine
Größe überhaupt und nun gar für eine unendliche Größe
ausgegeben. Achill braucht mithin zwar, um von a nach b
BeweJsfehler und Dilemmen. 349
2u kommen, unzählige Zeitaugenblicke, aber diese setzen
gar keine Zeitstrecke von irgend welcher Dauer zu-
sammen; anstatt einer unendlichen Zeit braucht er viel-
mehr gar keine Zeit; wozu freilich hierbei die Verbrauchung
der Zeitaugenblicke dient und worin sie besteht, bleibt
ganz unsagbar.
250. Das Alterthum hat uns noch interessante Di-
lemmen hinterlassen, Gedankenverknüpfungen, aus denen
entgegengesetzte Folgen gleich nothwendig und gleich un-
möglich fließen. Pseudomenos heißt das Dilemma, das
entstand, als Epimenides, ein Kreter selbst, behauptete,
jeder Kreter lüge, sobald er den Mund aufthue. War nun
der Inhalt seiner Behauptung richtig, so hatte er gelogen
und deshalb war seine Behauptung falsch; ist sie aber
falsch, so bleibt noch die Möglichkeit, daß die Kreter nicht
immer, aber doch zuweilen lügen, Epimenides aber seiner-
seits hier wirklich gelogen hat, indem er diesen allgemeinen
Satz aussprach ; es besteht in diesem Falle keine Unverträg-
lichkeit zwischen der ausgesagten Thatsache und der That-
sache ihres Aussagens, und das Dilemma hat noch einen
rechtlichen Ausweg. Es hat aber keinen mehr, wenn wir
Epimenides und die Kreter weglassen und anstatt dieser
zwei Subjecte, von denen das eine nur in dem andern
enthalten, aber ihm nicht gleich ist, ein identisches setzen:
Ich lüge jetzt. Bin ich hier wahrhaft in meiner Aussage,
lüge ich also, so ist der Inhalt meiner Aussage falsch und
ich lüge nicht; aber der Inhalt meiner Aussage war die
Behauptung der Falschheit meiner Aussage; ist dieser Inhalt
falsch, so wird meine Aussage wieder richtig und ich lüge;
hier beginnt dieselbe Reihe sich selbst aufhebender Fol-
gerungen von neuem und sofort ins Unendliche. Man be-
merkt ihren Grund leicht: logisch ist naturgemäß der aus-
gesagte Inhalt an sich gültig oder ungültig, ganz unabhängig
von der Thatsache seines Ausgesagtwerdens, die hinzu-
kommen oder wegbleiben kann; der Aussage aber kommt
keine andere Gültigkeit oder Ungültigkeit an sich zu, außer
der, die sie durch Wahrheit oder Unwahrheit des von ihr
selbst unabhängigen Inhaltes erhält. Widersprüche, und
zum Theil formell unlösliche, entstehen daher dann,
wenn man den auszusagenden Inhalt so wählt, daß er über
die Thatsache des Aussagens etwas enthält, was mit der
Möglichkeit oder der Gültigkeit derselben in Widerspruch
steht. Die Schwierigkeit verschwindet gleich, wenn wir
statt : ich lüge, sagen : ich log ; ebenso kann man zwar nicht
350 Sechstes Kapitel.
im Präsens sagen: ich schweige, wohl aber im Sinne des
Futurum : ich werde schweigen ; denn nun bezieht sich
die Aussage auf eine von ihr verschiedene Thatsache, die
ihr nicht mehr widerspricht. Es gibt viele Beispiele hier-
von, obgleich kein so klassisches wie dieser Pseudomenos;
wer die Frage, ob er schlafe, bejaht, wer dem lästigen
Besucher entgegennift, er sei ausgegangen, setzt auf dieselbe
Weise seine Aussage mit ihrem Inhalt in Widerspruch.
Als ähnliche Fälle endlich, in denen ein Subject unmöglicher-
weise zugleich beide Beziehungspunkte eines Verhältnisses
bilden soll, das nur zwischen zwei verschiedenen stattfinden
kann, darf man anschließen Jean Paul's kleinen Mann,
der sich selbst blos bis an die Knie ging, geschweige denn
andern Leuten; die Aufschrift der Thierbude: dies ist der
größte Elephant, den es gibt, ihn selber ausgenommen;
endlich Münchhausen's rettende That, sich an seinem eignen
Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Von gleichem Interesse
ist das antike Dilemma vom Krokodil. Der klagenden Mutter
sagt das Thier: ich gebe dir dein Kind zurück, wenn du
mir die Wahrheit darüber sagst, ob ich es dir zurückgeben
werde oder nicht. Es würde keine Schwierigkeit entstehen,
wenn die Mutter nur zu errathen hätte, ob das Krokodil
jetzt den Willen der Zurückgabe hat oder nicht. Räth
sie richtig, so steht der vertragsmäßigen Rückgabe nichts
entgegen; denn auch wenn das Richtige dies war, daß das
Krokodil den Willen der Rückgabe nicht habe, so hindert
doch nichts das Thier, widerwillig den Contract durch sie
zu erfüllen. Räth die Mutter aber falsch, so hat sie jeden
Anspruch verloren; denn wieder: welches auch der wirk-
liche, von ihr falsch errathene Wille des Thieres gewesen
sein mag, im Handeln braucht dieses sich nicht an seinen
Willen, sondern nur an die Bestimmungen des Vertrags zu
binden, welche nun die Rückgabe verbieten. Denken wir
uns aber in der Frage an die Mutter, ob sie das Kind
zurückerhalten werde oder nicht, dieses Futurum als Be-
zeichnung einer feststehenden Zukunft, so daß an sich
gar nicht mehr unentschieden ist, welches der beiden Er-
eignisse eintreten wird oder bevorsteht, so entsteht so-
gleich unlösbare Verlegenheit aus einem ganz deutlichen
Grunde: denn ein Ereigniß, dessen Eintritt bedingungslos
bevorsteht, kann man nicht ohne Widersinn noch an eine
Bedingung knüpfen, deren Erfüllung ja nothwendig wirkungs-
los sein müßte, deren Nichterfüllung aber das Nichteintreten
des unvermeidlichen Ereignisses fruchtlos verbieten würde.
Beweisfehler und Dilemmen. 351
Es gibt daher hier nur einen Ausweg; stände die Rückgabe
des Kindes als dies künftige Ereigniß fest, und erriethe
dies die Mutter, so würde sich alles glücklich auflösen,
aber nicht weil diese ihre Aussage den guten Ausgang
bedingte, sondern weil sie, an sich ganz wirkungslos^
mit dem an sich unvermeidlich bevorstehenden Erfolg und
den Bestimmungen des Vertrags thatsächlich zusammen-
stimmt; bei jeder andern Aussage der Mutter zeigt sich
nur viel deutlicher die völlige Machtlosigkeit des Vertrags,
der Unbedingtes noch bedingen will und deshalb nothwendig
gebrochen werden muß. Die antike Form des Dilemma
geht nun von einer noch andern dritten Voraussetzung aus.
Es soll an sich nicht feststehen, welches Glied jener
Alternative, Rückgabe oder Nichtrückgabe, eintreten wird,
sondern darüber soll die Aussage der Mutter erst ent-
scheiden. Logisch ist nun in jedem hypothetischen Urtheile
die Gültigkeit des Nachsatzes von der Gültigkeit des Vorder-
satzes abhängig; aber dieser muß an sich selbst bestimmt
und eindeutig, und darf weder in seiner Bedeutung, noch,
in seiner Gültigkeit durch Bedeutung und Gültigkeit des
Nachsatzes bedingt sein. Diesem nothwendigen Erforderniß
ist in unserem Falle widersprochen; denn die hier fest-
gesetzte Bedingung ist nicht eine Aussage der Mutter über-
haupt, sondern die Wahrheit derselben, und zwar nicht
die Wahrheit einer Aussage, die sich auf ein von dem
künftigen Erfolge unabhängiges drittes Factum bezöge, und
die deshalb unabhängig von diesem Erfolg wahr oder un-
wahr sein könnte; vielmehr ist der Inhalt der Aussage
das übrigens an keine Bedingung gebundene Eintreten oder
Nichteintreten dieses Erfolges selbst, ihre eigene Wahrheit
mithin von demjenigen abhängig, was sie bedingen soll.
Es gibt daher auch hier nur einen Fall, der logisch ein
rechtliches Durchkommen möglich läßt; antwortet die
Mutter: du wirst das Kind wiedergeben, so macht die
wirkliche Wiedergabe die Antwort zur Wahrheit und erfüllt
zugleich den Vertrag; aber die gegebene Antwort bedingt
den günstigen Ausgang gar nicht; denn wenn das Krokodil
das Kind nun doch nicht wiedergibt, so macht diese That-
Sache eben die Antwort falsch, und dann ist auch für das:
Thier die Nichtrückgabe. durch den Vertrag gerechtfertigt.
Die Mutter antwortet aber unglücklicher Weise: du wirst
es nicht geben; folglich, sagt das Krokodil, kann ich es
nicht geben, vertragsmäßig nicht, wenn deine Antwort für
falsch gelten soll, und auch nicht, wenn sie richtig sein
352 Sechstes Kapitel.
könnte, denn sie würde dann eben durch die Zurückgabe
falsch werden; die Mutter wendet ein: du mußt es auf
jeden Fall geben, vertragshalber, wenn meine Antwort
richtig war, aber auch wenn sie unrichtig war, denn sie
würde eben richtig werden, wenn du die Rückgabe nicht
gewährtest. Hieraus ist kein Ausweg möglich; in der That
berufen sich aber beide Parteien auf undenkbare Gründe;
denn die wirklich gegebene Antwort kann ebenso wenig
richtig oder unrichtig an sich sein, als jene blos glücklichere,
welche die Mutter hätte geben können. Auf ähnlichem
Mißbrauch hypothetischer Gedankenverknüpfung beruht das
Dilemma von Protagoras und Euathlus. Den empfangenen
Unterricht sollte Euathlus nach dem Gewinn seines ersten
Processes honoriren; da er aber nie einen anfing, so bekam
Protagoras nichts und verklagte ihn. Gewann oder verlor
Euathlus diesen Proceß, so war er allemal durch den
Urtheilsspruch zu dem verpflichtet oder von dem los-
-gesprochen, wovon der Vertrag ihn umgekehrt lossprach
oder wozu er ihn verpflichtete. Man hat mehrfach hier
die Lösung so versucht, daß man Euathlus diesen ersten
Proceß gewinnen ließ, weil er vorher keinen andern ge-
wonnen, mithin jetzt noch nicht zahlungspflichtig war;
hierauf habe dem Protagoras eine zweite Klage freigestanden,
welche nun zur Verurtheilung seines Schülers hätte führen
müssen. Dies heißt wohl die Logik von einer Ungereimtheit
befreien, um sie der Jurisprudenz zum Geschenk zu machen.
Ich will dieser nicht vorgreifen; aber ich denke mir, sie
würde in dem Verhalten des Euathlus eine dolose Ver-
eitelung des Eintritts einer Bedingung sehen, die ihn zur
Erfüllung einer Verpflichtung genöthigt hätte; könnte man
daher nur einen Zeitpunkt bestimmen, von welchem an
diese Auslegung seines Benehmens nothwendig gelten müßte,
so würde man wohl, da auch Protagoras doch nicht aus
dem Contract klagen kann, auf die durch den empfangenen
Unterricht dem Euathlus sachlich erwachsene Verbindlich-
keit zurückgehen und ihn zur Zahlung mit derselben Wirkung
verurtheilen, als wäre der zweideutige Vertrag nie in der
Welt gewesen.
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 353
Siebentes Kapitel.
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen.
251. Was mit Nothwendigkeit aus Vorstellungen folgt,
die wir selbst verbunden haben und deren Inhalt und Ver-
knüpfungsweise wir deshalb vollständig übersehen, ist
einem beweisenden oder demonstrativen Verfahren zugäng-
lich, das im Wesentlichen von allgemeineren Wahrheiten zu
besonderen Sätzen als ihren Anwendungen herabsteigt. Die
äußere Welt umgibt uns dagegen mit Verknüpfungen von Er-
scheinungen, deren allgemeine Zusammenhangsbedingungen
sie uns verschweigt; von den particularen Sätzen, durch
die wir jede Einzelerfahrung zunächst auszusprechen hätten,
haben wir einen Rückweg zu den allgemeineren zu suchen,
deren Beispiele sie sind. Wir haben den Schluß durch
Induction als die einfachste Form einer solchen Gedanken-
bewegung kennen gelernt; unter dem Namen der induc-
tiven Logik hat man sich daher in unserer Zeit gewöhnt,
das sehr mannigfaltige Ganze der Verfahrungsweisen, die
zur Lösung dieser Aufgabe dienen, der deductiven oder de-
monstrativen Logik, zum Theil nicht ohne merkliche Ge-
ringschätzung der letzteren, entgegenzusetzen. So gewiß
indessen die inductiven Methoden die wirksamsten Hülfs-
mittel zur Gewinnung neuer Wahrheit enthalten, so beruhen
sie doch gänzlich auf den Ergebnissen der demonstrativen
Logik; was diese über die Triftigkeit der Schlüsse, über die
Umkehrbarkeit und Contraposition der Urtheile, über die
Formen des Beweises lehrte, das ist die Quelle aller jener
Vorsichtsmaßregeln, durch welche das inductive Verfahren
jeden Schritt seines Weges von den gegebenen Wahr-
nehmungen zu den allgemeinen Gesetzen des Wirklichen
so sehr als möglich zu sichern sucht.
252. Einer bleibenden Schwierigkeit glaubt man so-
gleich am Anfange dieses Weges zu begegnen : Erfahrung
könne keine allgemeingültigen Erkenntnisse liefern. Gewiß
wird dieser oft gehörte Satz seinen guten Sinn haben;
aber in dieser F;assung würde er doch einen in Wirklich-
keit nicht vorhandenen Werthunterschied Zwischen der Er-
fahrung als der einen und einer apriorischen Gewißheit
als der andern Erkenntnißquelle behaupten. Ganz umgekehrt
versteht es sich vielmehr von selbst, daß jede Erfahrung,
Lotze, Logik. 23
354 Siebentes Kapitel.
deren zusammengehöriger Inhalt sich ohne Mangel und
ohne Ueberschuß in der Form : S ist P ausdrücken ließe,
auch wenn wir sie nur einmal gemacht hätten, sogleich
den Werth eines allgemeinen Urtheils besitzen müßte. Denn
das Gesetz der Identität bürgt uns dafür, daß an dem-
selben S, wenn es in einer zweiten Erfahrung uns zu
wiederholter Wahrnehmung käme, dasselbe Prädicat P weder
fehlen, noch durch ein anderes Q ersetzt werden könnte.
Aber eben dies, was wir hier voraussetzen, einen Satz
nämlich, der nicht mehr und nicht weniger als ein voll-
ständiges Subject S mit nicht mehr und nicht weniger
als seinem vollständigen Prädicat P verbände, eben dies
pflegt uns die Erfahrung unmittelbar nicht in Form einer
Wahrnehmung darzubieten. Von dem wahren und wirk-
lichen Subjecte Z, an das eine von uns beobachtete Er-
scheinung gebunden ist, nehmen wir einzelne ßestand-
theile s nicht wahr, die dennoch zur Begründung der-
selben nothwendig gehören; der Rest S aber, der in unsere
Beobachtung fällt, pflegt für uns untrennbar mit andern
Bestandtheilen o verbunden zu sein, die in keinerlei Be-
ziehung zu dieser Begründung stehen ; von" dem wahren
Prädicat 11 anderseits, das jenem Z zukommen würde,
bleibt uns nicht minder mancher Zug p verborgen, während
der beobachtbare Rest P mit andern fremdartigen An-
hängseln TT verknüpft ist, die von andern, in d i e s e r Sache
bedeutungslosen, aber zugleich wirksamen Bedingungen ab-
hängen. Denken wir ergänzt und abgezogen, was zu ergänzen
und abzuziehen ist, so würde : S -|- s — o ist P + P — '^,
oder: Z ist 11, der vollständige Ausdruck der Thatsache
sein, deren unvollständige Beobachtung wir zuerst durch
den Satz: S ist P, aussprachen. Nur für den Inhalt jenes
vollständigen Satzes : Z ist H, falls er in einer besonders
glücklichen Wahrnehmung gegeben wäre, würde der Satz
der Identität Bürgschaft allgemeiner Gültigkeit in allen
Wiederholungsfällen leisten; nicht für den des unvoll-
ständigen : S ist P, der zusammenstellt, was so nicht zu-
sammengehört.
253. Diese Betrachtung ist nicht müßig; man würde
ohne sie einen für die Entwicklung der Wissenschaft un-
entbehrlichen logischen Rechtsgebrauch nicht verstehen.
Ueberall nämlich, wo wir sicher überzeugt sind, das ganze
vollständige Subject Z, von dem ein noch zu bestimmendes
Prädicat II erwartet wird, und zugleich nichts anderes
außer Z, in unserer Wahrnehmung vorzufinden, überall da
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 355
zweifeln wir nicht, daß eine einzige Beobachtung, die uns
dieses 11 kennen lehrt, eine ganz allgemeine Bedeutung
habe, und daß in jedem Wiederholungsfalle an dasselbe 2
sich auch unveränderlich dasselbe IT knüpfen werde. Der
Chemiker, der gewiß ist, in einem anzustellenden Versuche
nur einen ganz bestimmten Körper unter den Händen zu
haben, auf ihn nur ein bestimmtes Reagens einwirken zu
lassen und alle fremdartigen Bedingungen von dem Ein-
fluß auf sein erwartetes Resultat ausgeschlossen zu haben,
bezweifelt nicht, daß die Reaction, die er in diesem einen
Versuche beobachtet, sich ganz identisch in allen Wieder-
holungsfällen einstellen werde; die singulare Wahrnehmung
hat für ihn sogleich die Geltung einer allgemeinen Wahr-
heit. Der Physiker, welcher eine Messung vornimmt, weiß
recht wohl, mit wie vielen Fehlerquellen er zu kämpfen
hat; nachdem er aber diese eliminirt hat, kommt es ihm
doch nicht in den Sinn, seine gereinigte Beobachtung, blos
weil sie zuletzt aus sinnlicher Erfahrung stammt, als eine
nur für diesen Augenblick gültige zu betrachten, so daß
dasselbe gemessene Object unter denselben Umständen ein
zweites Mal vieleicht eine andere Größe darbieten würde.
Es ist nicht nöthig, hierüber weitläufiger zu sein. Jede
Möglichkeit, aus Erfahrungen allgemeine Erkenntnisse zu
entwickeln, aber auch jeder Sinn, den man mit dem Be-
griffe selbst eines Gesetzes, abgesehen von seiner Auffind-
barkeit, verbinden könnte, würde zu Grunde gehen mit der
Annahme, daß jede Einzelbeobachtung nur für sich, aber
nicht für ihre gleichen Wiederholungen gelte, daß jede An-
gabe eines Instruments nur für den Augenblick richtig sei,
in dem sie erhalten wird, nicht für die ganz gleichen Um-
stände eines zweiten Augenblicks, daß überhaupt von
Gleichem unter gleichen Bedingungen Ungleiches gelten
könne. Die ganze Kunst des inductiven Verfahrens, welches
zu allgemeinen Gesetzen gelangen will, beruht nun auf dem
Scharfsinn, mit welchem es aus dem unreinen und ver-
worrenen Material unserer Wahrnehmungen von der Form :
S ist P, die reinen und in sich zusammengehörigen Sätze
von der Form : Z ist H, zu entwickeln versteht.
254. Die einzelnen hierzu gehörigen Schritte versuchen
wir in zusammenhängender Reihe zu schildern. In der un-
geschiedenen Masse Q der unzähligen Eindrücke, die wir
zugleich oder nacheinander empfangen, einzelne Gruppen
A B C zu unterscheiden und jede von diesen als eine in
sich zusammengehörige Wahrnehmung zu betrachten,
23*
3Ö6 Siebentes Kapitel.
kann uns nur die Thatsache veranlassen, daß die so zu-
sammengefaßten Eindrücke als bleibend verbundene sich
von dem Hintergrunde der wechselnden übrigen abheben,
oder wiederholt zusammen auftretend mit dem gleich-
mäßigen Bestand dieser anderen contrastiren. Hierin liegt
noch keine Handlung des Denkens ; es ist der mechanische
Vorstellungslauf, der zuerst diese Einzelwahrnehmungen zu
Gegenständen unserer unwillkürlichen Aufmerksamkeit und
zu Stoffen des künftigen Denkens aussondert; und zwar
ebenso oft falsch als richtig, denn häufig genug findet in
ihnen die spätere Ueberlegung Zusammengehöriges unvoll-
ständig vereinigt und mit Nichtzugehörigem gemischt. Ganz
ähnliche Gründe veranlassen uns ferner, auch in jeder
einzelnen dieser Gruppen A oder B die in ihnen enthaltene
Summe von Eindrücken zu spalten und einen Theil der-
selben als ein Subject zu fassen, zu dem der Rest der
übrigen als Prädicat gehört. Auch dies ist anfangs eine
Leistung des psychischen Mechanismus; sehr bald aller-
dings vertieft das sich regende Denken diese Verknüpfung
einer ersten Vorstellung mit einer sich an sie anschließen-
den zweiten zu dem sachlichen Gegensatz eines seiner
Natur nach selbständigen Subjectes zu seinem zugehörigen
und unselbständigen Prädicat; indessen bleibt es doch stets
dem mechanischen Verlauf der Vorstellungen überlassen,
uns in der Anwendung dieses allgemeinen logischen Neben^
gedankens zu leiten und zu bestimmen, welche Gruppe von
Eindrücken im Einzelfalle in den Rang des Subjects, welche
andere in den des Prädicats einzutreten hat. So gegliedert
würde nun der Gesanimtinhalt einer Wahmehniüng A oder B
sich bereits in der Form eines Urtheils, aber eines völlig
singularen Urtheils, ausdrücken lassen; was hier als Sub-
ject s^ oder s^ unterschieden wird, ist nichts als eine
völlig bestimmte Gruppe von Einzeleindrücken, denn diese
allein kann unmittelbarer Gegenstand der Wahrnehmung
sein; daß jedes dieser beiden, s^ oder s^, sich als Exemplar
eines Allgemeinbegriffes S auffassen lasse, ist ein Neben-
gedanke, der nicht aus der einzelnen Wahrnehmung, sondern
nur aus der bald beginnenden Vergleichung vieler ent-
springen kann. Und auch hier wieder ist es im Anfang
der von allgemeinen Gesetzen mechanisch bedingte Verlauf
unserer Vorstellungen, der aus den verschiedenen Subjecten
s^, S-. . die engere ihnen gemeinsame Merkmalgruppe für
unsere Aufmerksamkeit verstärkt als ein allgemeines Bild
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 357
hervortreten läßt, das wir nun mit dem Namen eines S
bezeichnen und jene Einzelsubjecte in unserer Erinnerung
vertreten lassen. Auch diese Auffassung vertieft später
das Denken; das allgemeine Bild, das nur thatsächlich
Gemeinsames der verschiedenen Einzelsubjecte vorstellte,
deutet es um in einen allgemeinen Begriff, der als ge-
setzgebende Regel Zusammengehöriges verknüpft; aber doch
bleibt es für die anfänglichen Anwendungen dieses logischen
Nebengedankens wieder der Verlauf der Vorstellungen, der
darüber entscheidet, welche Bestandtheile der verglichenen
Subjecte als fühlbare Modificationen desselben Allgemeinen
und zugleich als Eindrücke größerer Lebhaftigkeit sich zu
dem allgemeinen Bilde oder Begriffe vereinigen, welche
anderen, einander gegenseitig aufhebend oder unsere un-
willkürliche Aufmerksamkeit weniger erregend, von ihm
ausgeschlossen bleiben. Und diese Leistung wird im Ganzefl
wohl häufiger richtig als falsch ausgeführt; ohne hier weiter
die psychologische Entwicklungsgeschichte unserer Begriffe
zu verfolgen, können wir behaupten, daß von früh an die
eigenen Verschiedenheiten der sinnlichen Eindrücke, aus
denen zuletzt jede Wahrnehmung besteht, für uns an Wich-
tigkeit hinter die Verschiedenheiten ihrer Verbindungsweise
und ihrer Verhältnisse zurücktreten. Ueber den Unterschied
der Farben sieht schon das Kind hinweg und erkennt in
rother Färbung leicht die gesehenen Schriftzüge als die-
selben, die es früher schwarz kennen gelernt hat; die All-
gemeinbilder der Bäume und der Thiere, die ihm wenige
Beispiele geliefert haben, fassen doch schon ihm das
Wesentliche so richtig zusammen, daß neue und ungewohnte
Formen späterer Wahrnehmung sich ihnen mit Leichtigkeit
einordnen. Wie die dennoch begangenen Fehler verbessert
werden, haben die Betrachtungen zu zeigen, zu denen wir
eben übergehen wollen und deren Ausgangspunkt wir durch
die vorigen festzustellen suchten : die Einzelwahrnehmungen,
welche das inductive Verfahren weiter zu verknüpfen suchf,
sind nicht blos Eindrücke, die wir leiden; sie sind
vielmehr logisch bereits so weit bearbeitet, daß wir nicht
nur ihren Inhalt in ein Subject und ein Prädicat scheiden,
sondern auch das erste einem Allgemeinbegriff S bereits
untergeordnet haben, oder ihm mit einer Auswahl von
Allgemeinbegriffen entgegenkommen, unter deren einen wir
es unterzuordnen suchen.
255. Beginnen wir von dem letzten Falle. Ein völlig
neues, noch unbekanntes singulares Subject s™ sei uns in
3SS Siebentes Kapitel.
einer Wahrnehmung durch sinnliche Eindrücke p"^ q^ r'"
gegeben, und sowohl diese Einzelmerkmale als ihre Ver-
knüpfung seien anschaulich völlig klar. Dennoch begnügen
wir uns mit dieser Anschauung nicht, die an sich selbst
nichts Zweifelhaftes enthält; wir ruhen erst, wenn wir
wissen, ob wir den neuen Gegenstand Thier oder Pflanze
nennen dürfen. In diesem Verlangen liegt ein doppeltes
Interesse: das des reinen Denkens, für welches das that-
sächliche Zusammensein der beobachteten Merkmale erst
durch Unterordnung unter jene Allgemeinbegriffe in eine
berechtigte Zusammengehörigkeit verwandelt wird; für uns
viel wichtiger aber jetzt der praktische Wunsch, von dem
beobachteten Thatbestande aus durch den Allgemeinbegriff
hindurch die Berechtigung zur Ergänzung des nicht beob-
achteten zu erlangen. Denn der Name Pflanze oder Thier
würde für das s°^ ein Titel ohne Einkünfte sein, wenn wir
uns nicht vorbehielten, aus ihm für s^^ den Anspruch auf
eine Menge Merkmale abzuleiten, welche die unmittelbare
Wahrnehmung an diesem nicht gefunden hatte. In dieser
Lage befinden wir uns den Gegenständen der Wirklichkeit
gegenüber beständig ; denn jede Wahrnehmung, auch wenn
sie genau genug wäre, um alle gegenwärtigen Merkmale
eines s" aufzufassen, ist. doch zeitlich beschränkt; sie kann
niemals das zukünftige Verhalten des beobachteten Objects
mit darstellen, nur selten und nie vollständig zeigen, wie
e^ unter anderen wechselnden Bedingungen sich ändern
würde. Dies ist es, was wir an dem beobachteten s°^ durch
seine Unterordnung unter die Begriffe der Pflanze oder des
Thieres ergänzen; beide Begriffe, aus unzähligen früheren
Beobachtungen entsprungen, enthalten die Gesammtheit der
simultanen Merkmale, die in einer einzigen Wahrnehmung
höchst selten, und der successiven, die sich in einer solchen
niemals erschöpfen lassen; nur durch die Vereinigung dieser
aller ist uns aber das Wesen des s™ ausreichend bestimmt,
dessen einmalige Wahrnehmung uns immer nur ein un-
deutbares Bruchstück eines zusammengehörigen Ganzen
liefern würde. Formell ist das Verfahren, dem wir hier
folgen, das einer unvollständigen Analogie; uutriftig
mithin nach dem Maßstab der reinen Logik, die uns nicht
yerstattet, ad subaltemantem aus der beobachteten Gleich-
heit einiger Merkmale des S und s°^ auf die Gleichheit
aller zu schließen, die nöthig wäre, um s™ dem S unter-
zuordnen. Wie durchgehend unser tägliches Leben auf der
Anwendung dieser Analogie beruht, wie wir nur durch sie
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 359
zu dem sorglosen Gebrauch aller nützlichen und schädlichen
Stoffe, nur durch sie zu der Ueberzeugung von 'dem Dasein
anderer uns gleichartigen Geister und von gleichartigen
inneren Beweggründen ihrer Aeußerungen kommen, dies
alles bedarf nur der Andeutung; praktisch fragt es sich,
wodurch die bloße Wahrscheinlichkeit solcher Folgerungen
dem Werthe der Gewißheit angenähert werden kann. Da
nun die Gleichheit aller Merkmale der vollständige Rechts-
grund der Unterordnung des s'" unter S sein würde, so
folgt natürlich, daß die Wahrscheinlichkeit der Berechtigung
zu dieser mit der Anzahl der gleichbefundenen Merkmale
zunimmt. Man bemerkt sogleich, daß der Werth dieses
Satzes sehr geschmälert wird durch Berücksichtigung der
Verschiedenwerthigkeit der Merkmale selbst. Aber es bliebe
doch im Allgemeinen eine leere formelle Anweisung, auf
die Gleichheit der wesentlichen Merkmale hauptsächlich zu
achten, so lange man sie von unwesentlichen nicht zu
scheiden wüßte. Nur die Erfahrung verhilft uns hierzu;
selbst die wenigen allgemeineren Regeln, die man noch
aufstellen könnte, stammen aus ihr. Denn nur sie lehrt
ans, daß es eine Anzahl von Merkmalen gibt, die aus weit-
verbreiteten Ursachen an äußerst verschiedenartigen Gegen-
ständen der Wirklichkeit leicht entstehen und deswegen
Weder selbst als unterscheidende Kennzeichen für die Eigen-
thümlichkeit eines zusammengehörigen Begriffsinhalts
dienen können, noch durch ihre Modificationen wesentliche
Unterschiede in den Beispielen desselben hervorbringen;
nur die Erfahrung lehrt uns, daß im Allgemeinen die Be-
deutung bloßer Größendifferenzen der Merkmale gering ist
und an Wichtigkeit zurücksteht hinter den Verschiedenheiten
der formellen Verbindung, in welche wir eine Anzahl von
Beziehungspunkten gebracht finden; die Erfahrung endlich
zeigt uns, daß durch die Wirklichkeit hindurch gewisse
allgemeine Bedingungen wirken, die an vielerlei Substraten,
auf welche sie treffen, gleichartige Veränderungen hervor-
zubringen streben, und daß leben deshalb als charakteristische
Kennzeichen für die Eigenthümlichkeit einer abgeschlossenen
A]ft nur die unerwarteten Formen der Rückwirkung gelten
können, die jede vermöge der Weise, in welcher sie ver-
schiedene Beziehungspunkte in sich vereinigt, unter diesen
gemeinsamen Bedingungen entfaltet; und wieder ist es nur
die Erfahrung, die uns in Bezug auf einzelne Objecte der
Wahrnehmung Ausnahmen von diesen allgemeinen Regeln
360 Siebentes Kapitel,
aufzeigt und uns überzeugt, daß zuweilen höchst unbe-
deutende Variationen eines scheinbar ganz unwesentlichen.
Merkmals doch sichere Kennzeichen eines durch die ganze
Natur zweier Begriffsinhalte hindurchgehenden Unterschiedes
sind. Endlich müssen wir hinzufügen, daß unsere Be-
mühungen, neue Gegenstände der Wahrnehmung bekannten
Allgemeinbegriffen unterzuordnen, durch dieselben Aus-
sagen der Erfahrung nicht selten zu dem entgegengesetzten
Erfolg gedrängt werden: jene Allgemeinbegriffe selbst, des
Thieres der Pflanze des Körpers, ändern sich erweitern oder
verengern ihren Inhalt und ihre Grenzen, je nachdem fort-
schreitende Sachkenntniß in zweifelhaften Fällen, die ihnen
zuzurechnen schienen, bleibende Unterschiede von dem
Habitus der zweifellosen findet, oder in denen, die ihnen
nicht zuzugehören das Ansehen hatten, doch eine stetige,
durch keine Grenze unterbrochene Annäherung zu dem Ge-
sammtcharakter der bekannten sicheren Arten bemerkt. Man
sieht also,, daß wir die richtige Ausführung der unvoll-
ständigen Analogie, durch welche wir ein wahrgenommenes
s°^ einem Gattungsbegriff S unterordnen, nicht von all-
gemeinen logischen Regeln, sondern von der Sachkenntniß
erwarten. In der That muß man die angewandte Logik
selbst als eine wissenschaftliche Lehre noch von ihrer An-
wendung als einer wissenschaftlichen Thätigkeit unter-
scheiden. Jene kann nur allgemeine Gesichtspunkte auf-
stellen, deren Bewußtsein sie der Ausübung der letztem
verdankt; sie kann daher nicht mit dem Anspruch auf-
treten, durch ihre Regeln das gesammte wirkliche Denken,
als finge es jetzt seine ganze Arbeit von vom erst an, leiten
zu wollen; sie wendet sich nicht an den Geist, der noch
gar keine Begriffe hat, sondern an den, der im Besitz einer
mannigfach gegliederten, durch eigne Erfahrung und Ueber-
lieferung erworbenen Vorstellungswelt ist; sie hat nicht
die psychologisch interessante Aufgabe, zu erörtem, wie
alle diese Begriffe entstanden sind, sondern nur die andere,
nachzuweisen, was an den entstandenen und vorhandenen
richtig und sicher ist, und wie das Irrige und Fehlerhafte,
das diesem gegebenen Resultate einer langen Bildungsge-
schichte noch anhängt, in Zukunft verbessert und das noch
Zweifelhafte der Gewißheit genähert werden kanii.
256. Ist nun, wie wir jetzt annehmen, die Einzelwahr-
nehmung A so weit logisch geformt, daß sie ihr anschau-
liches singulares Subject s^" als Exemplar eines Allgemein-
begriffs S auffaßt, so wird sie uns dann nicht weiter be-
Allgemeine Sätze aus- Wahrnehmungen. 361
schäftigen, wenn sie an s™ vollständig oder unvollständig
nur die Merkmale findet, die dem S zukommen; sie wird
dagegen Veranlassung neuen Fortschrittes, wenn sie mit's™
ein Merkmal M verbunden zeigt, das zu dem uns bekannten
Inhalt von S nicht gehört. Drei mögliche Fälle lehrt uns
dann die Erfahrung unterscheiden, auf die ich mich eben
berief (2ö5). Veränderliche Bedingungen, zufällige Um-
stände, können zuerst unserem wahrgenommenen s°^ eine
Eigenschaft, wirkliche oder scheinbare, gegeben haben, die
es unter andern Umständen nicht zeigen würde; über vieles
Derartige sehen wir, durch frühere Erkenntniß belehrt, still-
schweigend hinweg und lassen uns durch die Verschieden-
heiten der Anblicke^ die uns derselbe Gegenständ nacÜ
Lage Stellung Bewegung Entfernung Beleuchtung gewährt,
nicht an der Ueberzeugung von seiner Identität und seiner
Uebereinstimmung mit dem Gattungsbegriff S irre machen;
zweifelhaftere Fälle entscheiden wir dadurch, daß wir uns
Beobachtungen desselben Gegenstandes unter verschiedenen
Bedingungen zu verschaffen suchen ; nur das M, welches
unter allen Umständen ihm verbleibt, wird als beständiges
Merkmal seiner Natur anzusehen sein. Aber es bleibt noch
unentschieden, ob es dann seinen Grund in der individuellen
Natur dieses doch immer noch singularen Subjectes s"^
oder in der allgemeinen des Gattungsbegriffs S hat, dessen
Art oder Beispiel das beobachtete s°^ ist. Zur Entscheidung
zwischen diesem zweiten und dritten Fall bedienen wir uns
der unvollständigen Induction, welche s"^ mit dem
Verhalten anderer bekannten Beispiele s^, s^. . desselben all-
gemeinen S vergleicht, und die in den meisten Fällen da-
durch angeregt wird, daß ungesucht eine Reihe von Einzel-
beobachtungen s^M s^M s^M von selbst sich uns aufdrängte
und die Vermuthung erweckte, dder Grund des M sei all-
gemein in der Natur des S zu finden, an dessen ver-
schiedenen Beispielen wir es beobachten. Widerlegt wird
diese Vermuthung sogleich, wenn sich ein einziges Sub-
ject s^ findet, das unter derselben Mannigfaltigkeit von Um-
ständen das Merkmal M nicht hat, unter welchen es den
Subjecten der übrigen Wahrnehmungen zukam; bestätigt
aber wird die Vermuthung des allgemeinen Satzes: alle S
seien M, dadurch nicht sofort, daß alle der Wahrnehmung
zugänglich gewesenen Beispiele des S dies Prädicat M be-
sitzen ; es bleibt eine untriftige Folgerung ad subalternantem,
aus einer Anzahl particularer Fälle, wie groß sie auch sein
362 Siebentes Kapitel.
mag, auf die allgemeine Geltung dessen zu schließen, was
in ihnen galt. Und doch sind wir, der Wirklichkeit gegen-
über, zu dem Versuch dieser Folgerung genöthigt; denn
wenn selbst die Wahrnehmung alle vorhandenen Beispiele
einer Gattung umfassen könnte, die künftigen entgehen ihr
stets ; es bleibt mithin auch hier nur die Aufgabe, wenigstens
die Wahrscheinlichkeit dieser unvollständigen Induction so
weit als möglich zu steigern. Zwei verwandte Regeln
dienen hierzu. Wir müssen zuerst von einer großen An-
zahl der beobachteten Einzelsubjecte s ausgehen; je größer
diese Zahl, desto mannigfaltiger sind die äußeren Be-
dingungen, die auf sie einwirken, und deren bestimmenden
Einfluß wir hierdurch eliminiren; das M, das allen diesen
Subjecten dennoch gemeinsam bleiben wird, hat nicht äußer-
halb ihrer, sondern in ihrer eignen Natur seinen Grund.
Wir werden zweitens die beobachteten Subjecte so wählen,
daß ihre specifischen oder individuellen Differenzen die
größten innerhalb ihrer Gattung oder Art, des allgemeinen S,
möglichen sind; wir eliminiren so den Einfluß, den zur Er-
zeugung des gemeinsamen Prädicates besondere, durch die
Natur des allgemeinen S nicht gebotene Aehnlichkeiten der
beobachteten Einzelsubjecte haben könnten; das M, das
trotz diesen Unterschieden ihnen dennoch gemeinsam zu-
kommt, wird nur in dem Character der Gattung selbst be-
gründet und damit der gewünschte allgemeine Satz : alle S
sind M, gerechtfertigt sein.
257. Die reine Logik unterschied Analogie und Induc-
tion; die erste schloß von der Gleichheit vieler Merkmale
in zwei Subjecten auf die Gleichheit aller in beiden; die
letztere aus dem gleichartigen Verhalten vieler Beispiele
einer Art auf das gleiche Verhalten aller ; diesen Wort-
bedeutungen sind wir auch hier gefolgt, und es war dem-
nach eine Induction, welche aus den gegebenen Prämissen
s^M s^M... die allgemeine Folgerung SM zog. Aber dieses
Verfahren läßt sich doch einfacher ansehen. Wenn alle
singularen Subjecte s^ s^... unserer wirklich gemachten Be-
obachtungen darin übereinstimmen, einestheils alle die
Merkmale, die zu einem S gehören, anderntheils das eine
Merkmal M zu besitzen, so können wir für jedes nicht-
beobachtete Subject s^, das ebenfalls alle die Merkmale
eines S besäße, auch den Besitz des einen M unmittelbar
durch Analogie folgern; durch sie stellen wir also die in
der Wahrnehmung nicht gegebenen Prämissen s^M s^M. . .
her, deren Subjecte zusammen mit denen der beobachteten
Aligemeine Sätze aus Waiirnelimungen. 36S
s^M- s^M. . . den ganzen Umfang von S erschöpfen, und. das
Geschäft der Induction besteht dann nur darin, die so ge^
gebenen und supplirten Einzelsätze zu dem allgemeinen:
alle S sind M, zu summiren. Es hat daher wenig prak-
tischen Werth, in diesen Anwendungen der Logik den An-
theil der Induction und den der Analogie zu scheiden, den
loseren Sprachgebrauch zu beanstanden, der beide Aus-
drücke verwechselt, überhaupt alle die Gedankenbewegungen,
die man zuletzt unter den weitschichtigen Namen einer
Folgerung bringen kann, auf einfache Typen der reinen
Logik zurückführen zu wollen. Ob ein Seefahrer, der ein
Land ganz umfahren hat, durch Induction Analogie oder
Subsumption schließe, daß es eine Insel sei, möge unter-
suchen, wer Zeitvertreib wünscht. Von mehr Interesse
wäre die Frage, wie wir zu irgend einem allgemeinen Satze T
über die Dreiecke gelangen. Jede Construction, durch welche
wir T beweisen, gibt unserer Anschauung doch immer nur
ein ganz singulares Dreieck s^; nur von ihm zunächst, und
von ihm immer, so oft wir es sich selbst gleich construiren,
würde T gelten. Nun kann man freilich die Zeichnung
variiren ; aber wenn man auch in tausend verschiedeiien
Dreiecken s^ s^ s^. . den Satz T bestätigt fände, so ver-
schwände doch diese Anzahl gegen die unendliche der mög-
lichen Dreiecke, die man nicht durchprobiren kann. Durch
Summirung der Einzelanschauungen, die man sich durch
diese Construction schafft, kommt man mithin hier nicht
zu der allgemeinen Gültigkeit von T für alle Dreiecke ; man
muß berechtigt sein, jedes einzelne verzeichnete als ein
Symbol für alle anzusehen, so daß, was von ihm gilt,
für alle durch dasselbe mitvertretenen andern gilt. Die
Berechtigung hierzu liegt nicht in der besonderen Natur
der räumlichen Anschauung, die vielmehr nur den Inhalt
des Satzes T liefert; sie liegt darin, daß wir von dem
gezeichneten Dreieck in unserem Räsonnement nur die.-
jenigen Bestimmungen beachten, die wir durch den Gang
der Construction selbst hervorgebracht haben, also nur die
Eigenschaft, eine ebene Figur zu sein, die von drei grad-
linigen Seiten eingeschlossen wird. Die wirklich gezeichnete
Figur kann niemals blos diese Eigenschaft allgemein,
sondern immer nur durch Seiten von bestimmter Länge
und durch eine Winkelsumme von bestimmter Vertheilung
darstellen; aber diesen speciellen Beschaffenheiten ge-
statten wir keinen Einfluß auf unsere Folgerungen ; wäre ab-
sichtslos unser construirtes Dreieck rechtwinklig oder gleich-
364, Siebentes Kapitel.
seitig gerathen, so würden wir die Sätze, die hierdurch,
aber auch nur hierdurch, gültig würden, als solche beiseit
lassen, die sich nicht auf das von uns gemeinte Subject
bezögen. Psychologisch ist es ohne Zweifel der unzer-
gliederte Eindruck der Aehnlichkeit, der uns gleich geneigt
macht, das von einem verzeichneten Dreieck bewiesene T
auf alle Dreiecke durch Analogie zu übertragen ; der logische
Grund, es mit Recht zu thun, liegt in dem Bewußtsein, daß
alle nicht construirten Dreiecke doch dem allgemeinen durch
unsere Construction symbolisirten Begriff des Dreiecks sub-
ordinirt sind, und daß wir den fraglichen Satz nur aus
diesem Begriff, ohne Hinzunahme anderer Bedingungen, in
jener einen symbolischen Darstellung fließen sahen.
258. Mit der Erlangung allgemeiner Sätze von der Form :
alle S sind M, hat die Induction ihr nächstes Ziel erreicht
und sie tann hierbei stehen bleiben, namentlich wo es sich
um praktische Fragen des Lebens handelt; denn in diesen
Fällen kommt es uns hauptsächlich darauf an, daß that-
sächlich ein M von allen Beispielen eines S, von allen
Menschen etwa, gültig sei; dagegen kümmert es uns
weniger, warum es von ihnen, und ob es nur von ihnen
und nicht vielleicht auch von Thieren gilt. Der theoretische
tVieb der Erkenntniß begnügt sich jedoch nicht mit dieser
bloßen Anknüpfung des M an sein nächstes Subject, er
möchte innerhalb des S den engeren Merkmalkreis auf-
suchen, der den Grund dieser Anknüpfung enthält, und der
überall, wo er vorkommt, auch außerhalb S vielleicht, das
gleiche Merkmal bedingt. Dann setzt sich die Induction
fort, und indem sie eine Reihe allgemeiner Sätze von der
Form: SM RM TM... als neue Prämissen benutzt, sucht
sie einen allgemeinen Schlußsatz, der in der Form: alle 2
sind M, unter Z das wahre Subject oder denjenigen Gat:
tungsbegriff, oder endlich, anders ausgedrückt, denjenigen
Bestand von Merkmalen versteht und bezeichnet, an welchem
überall das Prädicat M als seine Folge hängt. So wird
man leicht durch eine erste Induction den Satz SM finden:
in allen Säugethieren geschieht ein Gaswechsel durch Re-
spiration; eine zweite Induction, welche an die Stelle von
S nacheinander Vögel Fische Amphibien setzt, wird dies
gefundene Ergebniß schon verständlicher machen durch
ihren Schlußsatz EM: alle Thiere bedürfen des Gasaus-
tausches ; sie zeigt, daß die vorher nur vereinzelt beobachtete
Thatsache in der allgemeinen Natur des thierischen Lebens
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 365
nothwendig sein muß; eine dritte Induction verbindet SM
mit einer neuen gleichartigen Prämisse : alle Pflanzen zeigen,
obwohl andersartig, das Phänomen eines Gaswechsels; ihr
Schluß S^M: alle organischen Wesen überhaupt befinden
sich in gleichem Falle, zeigt uns das fragliche Phänomen
an ein noch allgemeineres Subject gebunden; eine Ver-
gleichung endlich mit dem Verhalten von Stoffen, die den
organischen ähnlich gebaut sind, zu der umgebenden Atmo-
sphäre könnte uns zu dem Gedanken führen, daß unter den
Bedingungen an der Erdoberfläche nur durch diesen Stoff-
wechsel die Entfaltung der zusammenhängenden veränder-
lichen Vorgänge möglich ist, die das organische Leben zu-
sammensetzen. Man bemerkt hierbei, daß, je weiter diese
Inductionen fortgehen, um so mehr unser Interesse ab-
nimmt, ihr Ergebniß in Gestalt eines kategorischen Ur-
theils von der Form: S ist P, zu erhalten; wir suchen nicht
mehr den höchsten Gattungsbegriff, an welchem eine ge-
gebene Erscheinung als Prädicat haftet, sondern wir suchen
ein hypothetisches Urtheil zu gewinnen, welches uns
die allgemeinste Bedingung B kennen lehrt, von der über-
all, wo sie vorkommt, jene Erscheinung als ihre Folge F
abhängt. Und diese neue Aufgabe, den Bedingungszusam-
menhang des Wahrnehmungsinhaltes zu ermitteln, über-
wiegt an Wichtigkeit in den Anwendungen dergestalt, daß
wir von jetzt an das inductorische Verfahren nur in der
Form weiter verfolgen, die es zu ihrer Lösung annimmt.-
259. Wir bezeichnen durch U und W zwei Gruppen von
wahrgenommenen Vorgängen; wir nehmen an, irgend eine
Veranlassung, die in der Art ihres Auftretens liegt, habe in
uns die später zu bestätigende oder zu berichtigende Ver-
muthung erregt, beide Gruppen seien zusammengehörig und
U sei oder enthalte die Ursache von W, W sei oder enthalte
die Wirkung von U; wir erinnern endlich an die erste Be-
merkung dieses Kapitels (252), nach welcher sehr selten U
wirklich die vollständige Ursache von W und nichts als
diese, W selten die ganze Wirkung von U und nichts als
diese enthalten wird; dann können wir als unsere Aufgabe
bezeichnen, aus den unreinen Beobachtungen UW den
reinen Fall BF eiaes in sich zusammengehörigen ße-
dingungsverhältnisses zu finden, und wir definiren den
Begriff dieses reinen Falles dahin, daß in ihm B der zu-
reichende Grund von F, und der Grund von nichts Anderem
außer F, daß anderseits F die vollständige Folge von B
366 Siebentes Kapitel.
und zugleich keines andern Grundes Folge ist. In den
Anwendungen kann je nach den verschiedenen Interessen,
die : unsere Untersuchungen jedesmal verfolgen, von der
Strenge dieser Definition etwas nachgelassen werden; so
kann es uns genügen, zu wissen, daß B, so oft es gegeben
ist, F hervorbringt, gleichviel ob es außer F noch Anderes
bedingt oder ob F außer von ihm auch noch von Anderem
erzeugt werden kann. Allein diese Genügsamkeit üben wir
doch nur, wo es uns blos darauf ankommt, die realen Ur-
sachen kennen zu lernen, welche eine fragliche Wirkung
hervorbringen; wenn es sich dagegen theoretisch um den
Grund handelt, aus welchem diese Ursachen jene Wirkung
als nothwendige Folge bedingen, werden wir B und F
immer nach den Anweisungen der Definition bestimmen
müssen; selbst wo F aus verschiedenen äquivalenten Ur-
sachen entstehen kann, sind eben nicht diese verschiedenen
Ursachen, deren jede außerdem noch ihre besondern andern
Wirkungen hat, sondern nur das ihnen allen Gemeinsame
der wahre Grund B dieser Folge, und dieses B hat dann
auch keine andere Folge als dieses F.
260. Aus einem unreinen Fall UW könnte der reine
Fall BF nur durch eine zufällige glückliche Inspiration er-
rat h e n werden ; mit Sicherheit nachweisen läßt er sich nur
durch eine Vergleichimg vieler Fälle UW, die so von einander
verschieden sind, daß die mannigfachen oder veränderlichen
Relationen, die sie uns zwischen den unzugehörigen Neben-
bestandtheilen darbieten, uns erlaubten, diese zu eliminiren
und die Beziehung BF, welche sie alle enthalten, allein und
gesondert zurückzubehalten. Jene unreinen Fälle nun, das
Material unserer Bearbeitung, liefert zunächst die Beob-
achtung; aber der freiwillige Lauf der Dinge führt uns
doch nur in wenigen Gebieten vollständig diejenigen Fälle
vor, die wir bedürfen würden, um jene Elimination zu voll-
enden. Manche Naturvorgänge entfalten nur in sehr langen
Zeiträumen, welche das Beobachtungsfeld eines Einzelnen
weit überschreiten, die ganze Reihe der Aspecte, die man
alle kennen müßte, um ihren Bedingungszusammenhang
zu begreifen; manche andere Erzeugnisse der Wirklichkeit
entziehen nicht blos durch diese Langsamkeit ihre Entwick-
lung der Beobachtung, sondern sie zergliedern sich wirk-
lich niemals von selbst rückwärts in die einzelnen Be-
dingungen, aus denen sie entstanden sind; sehr selten be-
finden wir uns in dem glücklichen Falle der Astronomie,
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 367
die nur durch zufällige Beobachtungshindernisse in der
Aufsammlung unzähliger Daten eines zusammenhängenden
und periodischen Spieles von Ereignissen unterbrochen
wird, und doch bedarf auch sie, um alle ihre Wünsche zu
befriedigen, eine Ergänzung durch Beobachtungen der Vor-
zeit, die sie nur unzureichend findet. Ueberall, wo uns
eine praktische Einwirkung auf den Gegenstand unserer
Untersuchung möglich ist, dient zur Ergänzung dieser
Mängel der Versuch oder das Experiment. Indem wir
eine Gruppe von Umständen U willkürlich herstellen, können
wir die in der Wirklichkeit thätigen Ursachen nöthigen, uns
mit einer Wirkung W zu antworten, die von selbst viel-
leicht nie in den Kreis unserer Wahrnehmungen gefallen
wäre ; indem wir Größe und Beschaffenheit jenes U will-
kürlich variiren lassen, können wir eine Reihe von Aende-
rungen in Größe und Art des W hervorbringen, die in
dieser Vollständigkeit noch viel weniger von selbst sich
unserer Beobachtung dargeboten hätte; indem wir U in
seine Bestandtheile zergliedern und in jedem Versuch nur
einen von ihnen oder eine bestimmt angebbare Verknüpfung
mehrerer zur Wirkung zulassen, die übrigen abschneiden,
werden wir die Bestandtheile des Erfolges W gleichfalls
sondern und lernen, welcher von ihnen von welchem Theile
des zusammengesetzten U abhängt. So ist also das Experi-
ment das praktische Mittel, uns Beobachtungen in solcher
Menge und von solchen Verschiedenheiten und Verwandt-
schaften zu verschaffen, wie sie uns nöthig sind, um durch
Elimination des Unwesentlichen aus ihnen einen reinen
Fall BF abzuleiten. Diese Definition selbst zeigt hinlänglich)
daß nur insoweit das Experiment einen Vorzug vor der
Beobachtung hat, als es im Stande ist, die gewöhnlichen
Mängel der letzteren zu verbessern; es soll passende und
fruchtbare Beobachtungen anstatt der unpassenden und un-
fruchtbaren schaffen, die sich von selbst bieten. Aber es
würde verkehrt sein, ihm noch ein anderes mystisches Ver-
dienst außer diesem zuzuschreiben; es ist nicht, der Be-
obachtung gegenüber, eine neue Methode der Erkenntniß;
sondern lediglich ein Vorbereitungsmittel, um das herzu-
stellen, dessen Beobachtung für uns wichtig ist. Und eben
deshalb ist nicht (überall das experimentale Verfahren
schlechthin der bloßen Beobachtung überlegen. Es ist in
unserer Zeit ein Vorurtheil der Halbbildung, zu meinen^
was am hellen Tage ohne alle Vorbereitung handgreiflich
und im Großen zu beobachten sei, bleibe natürlich zweifei-
368 Siebentes Kapitel.
haft; richtig sei nur, was sich mit künstlichen Vorrichtungen
im ganz Kleinen unter den erschwerendsten Umständen
mikroskopisch wahrnehmen lasse. Ich leugne gar nicht,
daß diese paradoxe Annahme, die als allgemeiner Grund-
satz abgeschmackt sein würde, in vielen Einzelfällen zu-
trifft, und daß namentlich nur durch diese künstlichen
Mittel sehr häufig genaue Größenbestimmungen möglich
werden, welche die Beobachtung im Großen nie finden
würde; aber auch umgekehrt gibt die letztere oft ein all-
gemeines Verhalten ungesucht, das in den Experimenten
durch specielle Bedingungen verdunkelt wird.
261. Die verschiedenartigen Verhältnisse, welche
zwischen U und W die Beobachtung und das Experiment
kennen lehren, suche ich jetzt vorzuführen, nicht in der
Hoffnung, sie vollständig zu erschöpfen, sondern in der
Absicht, an Beispielen die Mannigfaltigkeit der möglichen
Fälle und der aus ihnen zu ziehenden Folgerungen zu ver-
deutlichen.
1. Der Fall ^-UW. Kommen U und W ununterbrochen
in der Wirklichkeit zusammen vor, so gestattet diese be-
ständige Coexistenz gar keinen Schluß auf ein in der That
doch vielleicht zwischen beiden stattfindendes Bedingungs-
verhältniß. Eisen und Silber und alle andern chemischen
Elemente sind immer zugleich in der Welt vorhanden ; aber
daraus folgt weder, daß das eine von ihnen eine Bedingung
für das Dasein des andern, noch daß alle zusammen Co-
effecte einer einzigen Ursache sind. Höchstens die philo-
sophische Speculation könnte, auf besondere hier nicht zu
erörternde Gründe vertrauend, die Möglichkeit einer Mehr-
heit durch einander in keiner Weise bedingter Elemente
bezweifeln; für die Naturauffassung dagegen, der die In-
duction zunächst dienen will, ist die Coexistenz allein kein
Anzeichen weiteres Zusammenhanges. In jedem einzelnen
jener Elemente finden wir ferner verschiedene Eigenschaften
oder Verhaltungsweisen ununterbrochen vereinigt; alle be-
sitzen die Eigenschaft der Gravitation gemeinsam, jedes
einzelne außerdem seine specifischen Verwandtschaften zu
allen andern. Dieser Fall ist dem vorigen nicht gleich; es
ist hier ein und dasselbe Subject, an welchem die ver-
schiedenen Eigenschaften, als die seinigen, coexistiren ; diese
Einheit des Dinges widerspricht einer beziehungslosen Viel-
heit von Merkmalen, die an ihm vorkämen, und es regt
sich der natürliche logische Trieb, entweder eine dieser
Eigenschaften durch die andere oder beide durch eine dritte
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 369
ursprüngliche zu erklären, die unter verschiedenen Be-
dingungen sich in jene zwei umgestalte. Wohin dieser
logische Antrieb weiter führen kann, sei dahingestellt; hier
bleibt er eben ein bloßer Und unfruchtbarer Antrieb; denn
so lange die Beobachtung nichts als die ewige Coexistenz
beider Prädicate aufzeigt, gibt sie uns eben kein Mittel an
die Hand, den etwa vorhandenen Bedingungsnexus beider
mit einander oder mit einem dritten nachzuweisen.
2. Der Fall (+11 -[-W). Kommen U und W nicht in
ununterbrochener Wirklichkeit, aber in zahlreichen Wieder-
holungsfällen vereinigt vor, so ist es möglich, daß sie ohne
irgend einen gegenseitigen Zusammenhang lediglich coinci-
diren und jedes von ihnen die Folge seiner besondern Be-
dingung ist, die nur zufällig mit der Bedingung des andern
zusammentrifft. So wird man urtheilen über die vielen
Unglücksfälle, die sich am Freitag ereignen, und über zahl-
lose ähnliche Meinungen des Aberglaubens. Aber man bleibt
doch bei diesem Urtheile nur, weil einestheils in diesen
Fällen keine Aussicht ist, eine begreifliche Vermittlung
zwischen den verbundenen U und W zu entdecken, und
weil anderseits weitere Beobachtungen bald lehren, wie
wenig allgemein und ausschließlich ihre Verbindung ist.
An sich dagegen ist die Annahme bloßer Coincidenz die
am wenigsten wahrscheinliche; was oft wiederholt zu-
sammen vorkommt, macht ein Causalverhältniß wahrschein-
lich ; ganz unbestimmbar bleibt nur noch, ob eines der beiden,
ü und W, Ursache oder Wirkung des andern, oder ob sie
beide nur Coeffecte einer dritten Ursache Z sind. Diese
Zweideutigkeit bleibt auch dann, wenn U und W nicht
gleichzeitig, sondern nacheinander in bestimmter Folge in
allen Wiederholungsfällen auftreten; dann kann zwar U
die Ursache von W sein, aber beide können auch Coeffecte
eines dritten, nicht beständigen, sondern in bestimmter
Reihenfolge sich ändernden Z sein. Tag und Nacht folgen
immer so aufeinander, aber sie erzeugen einander nicht,
sondern sind successive Coeffecte der Axendrehung der Erde.
Es könnte endlich geschehen, daß W immer unbemerkt
besteht, aber in unsere Beobachtung erst fällt, wenn U
stattfindet; so schlägt das Herz bei dem Lebendigen immer,
aber der Gesunde fühlt es fast nur, wenn eine besondere
Aufregung U hinzukommt; dami ist U zwar nicht die
Ursache von W, aber doch die Bedingung seines Eintretens
in unsere Beobachtung.
3. Der Fall ( — U + W). Die Zweideutigkeiten, die hier
Lotze, Logik. 24
370 Siebentes Kapitel.
blieben, entscheiden erweiterte unmittelbare oder durch
das Experiment vermittelte Beobachtungen. Findet sich,
daß W auch vorkommt ohne U, oder daß U sich experimentell
aufheben läßt, ohne zugleich W aufzuheben, so kann man
zwar nicht schließen, daß U nicht die Ursache von W,
wohl aber, daß es nicht die erhaltende Ursache desselben
sei. Der Satz, auf den man sich beruft, um den voreiligen
ersten Schluß zu rechtfertigen: cessante causa cessat
effectus, hat nur den einen unzweideutigen Sinn: mit dem
Wegfall einer Ursache kommen diejenigen Wirkungen in
Wegfall, welche die Ursache noch gehabt haben würde,
wenn sie fortbestanden hätte. Daß die bereits entstandenen
Wirkungen sich verschieden verhalten, zeigen die einfachsten
Beispiele; die Bewegung dauert fort nach der Beendigung
des Stoßes, der sie hervorbrachte; das Kochen des Wassers
hört auf, wenn die Wännezufuhr nachläßt, von der es
erzeugt wurde und deren es als beständiger Erhaltungs-
ursache bedarf; das Kind stirbt nicht mit dem Tode der
Aeltern, der einzigen Ursachen, die sein Dasein bewirken
konnten; aber das Gleichgewicht einer unterstützten Last
geht zu Grunde mit der Hinwegziehung ihrer Stütze. Man
kann alle diese Fälle, deren weitere Zergliederung hier
unnöthig ist, auf einen allgejneinen Satz der Beharrung
zurückbringen, den wir in Bezug auf unsere jetzige Aufgabe
so aussprechen : jede Wirklichkeit, die einmal hervorgebracht
ist, welcher Art sie auch sein mag, dauert fort, wenn nicht
entgegenwirkende Ursachen sie aufheben. Die Wirkungen
einer erzeugenden Ursache bedürfen daher einer erhaltenden
Ursache nicht, sobald sie in Zuständen eines Subjects be-
stehen, welche sowohl mit der beständigen Natur desselben
als mit den äußern Bedingungen im Gleichgewicht sind,
unter denen es sich befindet; sie verlangen dagegen eine
erhaltende Ursache, wenn entweder in jener Natur oder
in diesen äußern Umständen sich Kräfte befinden, welche
auf sie einen umgestaltenden Einfluß zu äußern streben.
Dauert also W fort nach dem Aufhören von U, so sind
drei Fälle möglich: entweder ist zwischen beiden gar kein
Causalzusammenhang, oder U ist zwar erzeugende, aber
nicht erhaltende Ursache von W, und in diesem Fall wieder
entweder eine erzeugende Ursache, neben der es noch andere
gibt, oder auch die einzige, von der W hervorgebracht
werden kann.
4. Der Fall (+U — W). Wenn U in der Beobachtung
vorkommt, ohne daß W folgt, so zieht natürlich dies Ver-
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 371
halten unsere Aufmerksamkeit nur auf sich, wenn es im
Widerspruch ist mit schon gemachten Beobachtungen einer
sonst vorkommenden Verbindung von U und W; es kann
dann sein, daß U nicht die Ursache von W ist, und man
corrigirt dann, indem man diese Folgerung zieht, die andere,
welche man aus den entgegengesetzten früheren Beobach-
tungen gezogen hatte. Der Zusammenhang von Ursachen
und Wirkungen in der Wirklichkeit unterscheidet sich jedoch
von dem zwischen Grund und Folge auf dem Gebiet des
blos Denkbaren. Jeder Grund, der einmal gilt, bringt seine
Folge ganz hervor und zugleich ganz in dem Resultat
wahrnehmbar; wirken zwei Gründe zusammen, hat eine
Größe g zwei Bedingungsgleichungen zu genügen, die ihr
Verhalten zu x bestimmen, so ist der Einfluß der zweiten
allemal darin sichtbar, daß sie aus den vielen Werthen
des g, welche die erste allein noch möglich ließ, nur einen
oder eine bestimmte Anzahl unter einander regelmäßig
verknüpfter übrig läßt. Eine Veränderung W dagegen, welche
in der Wirklichkeit aus der Ursache U folgen müßte, kann
stets durch eine Gegenursache Z so aufgehoben werden,
daß sie der Beobachtung verschwindet. Man kann nicht
sagen, daß Z die Wirkungsfähigkeit des U vernichtet;
denn U kann von seiner Wirkung W nur abgehalten werden,
indem es selbst auf das hindernde Z zurückwirkt; in diesem
bringt es immer eine andere Wirkung W^ hervor, anstatt
der W, welche wir erwarteten, oder auch es selbst erleidet
unter dem Einfluß des Z und seiner eigenen Wirkungs-
tendenz einen Zustand W^ den es sonst nicht erleiden
würde; aber dieses W^ ist sehr häufig so gestaltet, daß es
sich der unmittelbaren Beobachtung ganz entzieht; dann
scheint W völlig zu fehlen, während U vorhanden ist;
in der That hat W nur seine Form geändert. Dies kommt
überall vor, wo bewegende Kräfte einem festen Widerstand
begegnen ; sie scheinen uns dann nichts zu wirken, während
sie in Wahrheit einen starken Druck auf den widerstehenden
Körper ausüben. Folgt also in der Beobachtung W auf U
nicht, so kann allerdings der Causalzusammenhang zwischen
beiden ganz fehlen, und dann muß man die andern Be-
obachtungen einer Folge von U und W auf andere Weise
deuten; es kann aber auch U eine oder selbst die einzige
Erzeugungsursache von W, aber durch eine Gegenkraft Z
an der Hervorbringung des W verhindert sein. Man erhält
hierdurch die Aufforderung, sich in jedem solchen Falle
darnach umzusehen, ob sich eine sonst fehlende Ersatz-
372 Siebentes Kapitel.
Wirkung W^ entdecken läßt, welche das Dasein eines Wider-
standes verräth. Wenn man endlich experimentell U her-
stellt und W nicht folgen sieht, auch keine Spur eines
stellvertretenden W^ finden kann, so ist hier der Schluß
gerechtfertigt, daß U keine der erzeugenden Ursachen
von W sei.
5. Der Fall ( — U — W). In der Beobachtung kami es
nur in seltenen Fällen und nur in Erinnerung an andere
schon gemachte Erfahrungen vorkommen, daß uns das
gleichzeitige Nichtvorhandensein von U und W auffällt;
hat dagegen U früher bestanden, und finden wir, daß mit
seinem Aufhören auch W verschwindet, so ist die nächste
Wahrscheinlichkeit natürlich, daß U mindestens die er-
haltende, vielleicht auch die erzeugende Bedingung von W
ist, oder daß U und W Coeffecte einer dritten Ursache Z
sind, mit deren Wegfall sie beide verschwinden. Hört W
auf, wenn wir U experimentell aufheben, so scheint nur
das erste Glied dieser Alternative möglich; aber es kann
sich doch auch anders verhalten. Was wir hier die Auf-
hebung von U nennen, ist nicht immer blos ein Wegfall
dieser früher wirkenden Ursache, sondern läßt sich häufig
nur durch eine positive Vorkehrung oder Einwirkung her-
stellen, welche, indem sie U aufhebt, zugleich neue Be-
dingungen Z schafft, welche für die von U vielleicht ganz
verschiedene Ursache, von der bis dahin W wirklich abhing,
Hinderungen ihres Weiterwirkens bilden und folglich W
aufheben. Es stritt lange die Aijnahme, daß Infusorien
ohne Keim ihrer Art aus dem Aufguß organischer Stoffe
entstehen, mit der andern, daß überall die Bedingung ihrer
Entstehung in den der organischen Substanz selbst an-
hängenden oder durch die atmosphärische Luft zugeführten
oder im Wasser enthaltenen Sporen oder Samen liege.
Dieser Streit könnte entschieden werden, wenn man zeigte,
die Erzeugung W der Infusorien höre auf, wenn der
Zutritt U lebensfähiger Sporen oder Samen abgeschnitten
wird. Aber die hierzu benutzte Auskochung des Wassers
zugleich mit der organischen Substanz und die Leitung
der Luft durch glühende Röhren bürgen allerdings für das
Nichtvorhandensein lebensfähiger Samen in allen drei zu-
sammenwirkenden Körpern; zugleich sind dies jedoch so
eingreifende Vorgänge, daß durch sie auch die Ursache,
welche die andere Meinung voraussetzte, die eigene Ent-
wicklungsfähigkeit der organischen Materie zu lebendigen
Organismen, mit wirkungslos gemacht werden kann. Dieser
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 373
Versuch bedurfte daher einer Modification, welche dies
Bedenken ausschloß.
6. Der Fall (-j-W-j-U). Durch keinen der bisherigen
Schlüsse läßt sich mehr feststellen, als daß U eine Ursache
von W ist; daß es die einzige, daß folglich auch die Um-
kehrung des Satzes richtig und jedes W Wirkung eines U
sei, würde sich nur auf dem Wege der Ausschließung
ermitteln lassen, der uns darauf führte, daß alle andern
denkbaren Ursachen die Wirkung W nicht haben. Diese
Ausschließung ist in Bezug auf die unzähligen nächsten
Ursachen, die in der Natur wirkend auftreten können, ganz
unausführbar; man könnte an sie nur denken, wenn eine
viel weiter fortgeschrittene Bearbeitung der Wahrnehmungen
uns schon eine in vollständiger Disjunction erschöpfbare
Anzahl allgemeiner wirkender Kräfte kennen gelehrt hätte,
von deren Modification irgend welcher Art jeder Erfolg
überhaupt abhängen muß. Die inductive Naturforschung
vollzieht jedoch jene Umkehrung der Wahrnehmungen sehr
allgemein; wenn sie in vielen Fällen U als Ursache von W
gefunden hat, so nimmt sie an, daß ein W, dessen Ursache
sie nicht beobachtet, auf dasselbe U als Ursache zurück-
zubeziehen sei. Den Logikern kann man nicht wider-
sprechen, wenn sie in dieser Gewohnheit formell einen
logischen Fehler sehen. Denn ganz gewiß läßt das particulare
Urtheil,: viele W sind Wirkungen von U, in keiner Weise
die Folgerung ad subaltemantem zu : alle W sind Wirkungen
von U; oder in keiner Weise kann das hypothetische
Urtheil: wenn U ist, ist W, rein umgekehrt werden in das
andere : wenn W ist, ist U. Allein wenn hiervon gar zu viel
Aufhebens gemacht wird, so muß man doch bedenken, daß
die Naturforschung ihre hier angezweifelten Folgerungen
nicht nach dem abstracten Muster einer so verkehrten
logischen Regel zieht, sondern weil sie durch eine Fülle
von Sachkenntnissen über die thatsächlich bestehenden
allgemeinen Gewohnheiten des natürlichen Geschehens sich
berechtigt glaubt, das zu ergänzen, was an der logisch-
formalen Gültigkeit jener Umkehrung fehlt. Sie meint:
es könnte freilich so sein, daß hundert gleichartige Wir-
kungen in der Natur von hundert sehr verschiedenen
nächsten Ursachen abhingen; aber es ist nun einmal nicht
so, sondern gleichartige Erfolge gehen wirklich von Ursachen
aus, die nicht blos darin sich gleichen, daß sie dies Gleich-
artige hervorbringen können, sondern eben diese gleiche
Wirkungsfähigkeit hängt immer an auch sonst gleichartiger
374 Siebentes Kapitel.
Natur der Ursachen. Es ist gar nicht der Mühe werth,
das sehr große Gewicht noch weitläufiger bemerklich zu
machen, das diese Berufung auf den bereits gewonnenen
sachlichen Inhalt unserer Erkenntniß zur Ergänzung der
blos logischen Folgerungsrechte ganz einleuchtend besitzt;
es ist im Gegentheil nothwendig, z'u bemerken, daß die
hieraus abzuleitende Berechtigung ihre Grenzen hat.
Newton hat den hier in Rede stehenden Grundsatz in
seiner zweiten Regel so ausgesprochen: effectuum natu-
ralium ejusdem generis eaedem sunt causae. Ich glaube
nicht, daß die Verehrung vor seinem unsterblichen Geiste
leidet, wenn wir uns zugestehen, daß diese Formulirung
logisch den Ansprüchen auf Präcision keineswegs genügt,
die er mathematisch so unübertrefflich zu befriedigen wußte.
Wir setzen nicht außer Acht, daß diese Regel nicht ein
logisches Gesetz, sondern eben eine Regel, eine praktische
Maxime der Naturforschung sein soll, wahrscheinlich her-
vorgerufen durch die glänzenden Entdeckungen, denen sie
als Vorspiel diente; aber auch so ist sie unbestimmt genug,
und jeder einzelne ihrer Ausdrücke bedarf der Inter-
pretation. Ich lege nicht Gewicht darauf, daß zuerst das
idem genus eine Definition verlangen würde, die uns zeigte,
welche effectus naturales zu demselben, welche andern zu
einem andern genus gehören ; eines so weitschichtigen Aus-
druckes können auch wir nicht ganz entbehren, übrigens
aber ihn hier so interpretiren, daß bloße Größendifferenzen
gleichgeformter Vorgänge keine Artverschiedenheit derselben
begründen. Aber was sind effectus naturales? Verstehen
wir darunter jeden natürlichen Vorgang, sofern er als Wir-
kung auf irgend eine Ursache bezogen wird, so ist der
ganze Satz mit dem Ende: eaedem causae offenbar unhalt-
bar, so lange nicht dieser letztere Begriff bestimmt ist.
Schließt man in das idem genus, wie wir eben thaten,
die quantitativ verschiedenen Erfolge ein, so können sie
nur causas ejusdem generis, aber nicht easdem haben;
quantitativ müssen auch die Ursachen unterschieden sein;
aber auch daß sie ejusdem generis sein müßten, wird durch
die gewöhnlichsten Erfahrungen widerlegt, die uns zeigen,
wie mancherlei verschiedene und nur äquivalente Ursachen
eine und dieselbe Art der Wirkung hervorbringen können.
Nähert sich ein Körper B einem Punkte C mit gleichförmig
beschleunigter Geschwindigkeit, so ist so viel freilich klar
und nothwendig, daß eine Kraft auf ihn wirken muß, die
diesen und gerade diesen Effect hervorbringen kann; aber
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 375
wie verschiedener Art können doch die Kräfte sein, die
das thun! Sie können a fronte anziehend wirken von dem
Punkte C aus, sie können auch a tergo abstoßend wirken
auf B und es hierdurch dem C nähern; die erste Weise
der Wirkung kann von electrischen Kräften oder von der
Gravitation ausgehen; die letztere von einer Reihe einzelner
sich summirender Stöße. Will man alle diese Ursachen
als easdem oder als ejusdem generis fassen, weil sie trotz
ihrer übrigen wesentlichen Verschiedenheiten darin überein-
kommen, eben diesen gleichen Effect hervorzubringen, so
thut man nicht blos jedem Sprachgebrauch Gewalt, sondern
man macht auch die ausgesprochene Regel zu einer trivialen
Tautologie. Denn daß alle Ursachen, welche gleichartige
Wirkungen haben sollen, wenigstens darin gleichartig sein
müssen, daß sie eben sämmtlich diese Wirkungen hervor-
bringen können, daß sie also in Bezug auf diese Wirkung
äquivalent sein müssen, dies versteht sich von selbst, und
braucht, als eine Folge des Identitätsgesetzes, nicht erst
durch eine besondere Maxime der Naturforschung gelehrt
zu werden; eine solche Maxime will offenbar etwas als
thatsächlich gültig darstellen, was aus formal logischen
Gründen nicht nothwendig ist, also in diesem Falle, daß
die Ursachen gleichartiger natürlicher Vorgänge nicht blos
äquivalent in Bezug auf diese, sondern auch außerdem
gleichartig sind. Daß aber der Inhalt dieser Maxime nicht
allgemeingültig sein könne, beweisen nun eben die Er-
fahrungen. Effectus naturales könnten jedoch auch anders
gemeint sein, nicht als natürliche Vorgänge, sondern als
Naturvorgänge; d. h. nicht als solche, die gelegentlich so
zu sagen im Kleinhandel aus der Anwendung physischer
Gesetze auf zufällig zusammengerathene Umstände ent-
stehen, sondern als solche, die in dem großen Betriebsplane
der Natur ihre beständige Stelle haben, und die zu den
Naturzwecken rechnen würde, wer sich diesen Begriff glaubte
rechtfertigen zu können. Newton's wörtlicher Ausdruck
führt auf eine solche Deutung nicht nothwendig; daß ihm
der Art etwas vorgeschwebt, wird aber durch die Stelle
wahrscheinlich, an der seine Regel steht, in der Einleitung
zu einem Werke, das eben diese beständigen alles um-
fassenden und bestimmenden Naturvorgänge, den Umlauf
der Planeten, den Gang des Mondes und den unaufhörlichen
Trieb der Körper, zu fallen oder zu drücken, in einer
großen Anschauung zusammenzufassen bestimmt war. So
verstanden, würde jener Satz nicht unmittelbar eine Regel
376 Siebentes Kapitel.
der Forschung, sondern der Ausdruck einer Thatsache sein,
deren Bestehen mittelbar auf die von der Untersuchung
einzuschlagenden Wege einen maßgebenden Einfluß besitzt,
der Thatsache nämlich, daß der in der Welt wirkenden
höchsten und allgemeinsten von einander unabhängigen
Ursachen nicht unzählige, sondern sehr wenige sind, und
daß auf eine von ihnen jede Gruppe zusammengehöriger
Wirkungen im Großen zurückzuführen ist, während im
Kleinen nicht immer dieselben, sondern sehr verschiedene
äquivalente nächste Ursachen eine und dieselbe Wirkung
erzeugen. Es würde jedoch schwer sein, die Grenzen zu
bestimmen, welche jene großen Ursachen von diesen kleinen
trennen; ebenso schwer, auszumachen, welcher Theil des
so gedeuteten Satzes, ob die Hinweisung auf die Gleich-
artigkeit der höchsten oder ob die auf die Ungleichartigkeit
der nächsten Ursachen mehr eingeschärft zu werden ver-
dient; jedenfalls ist die wissenschaftliche Praxis Newton's
so bewundernswerth, daß wir besser thun, ihr nachzu-
streben, als mit dieser seiner allgemeinen Maxime über-
flüssig Staat zu machen. Ich kehre noch zu einem Beispiel
zurück. Wenn der Chemiker von dem Element U eine
Reaction W beobachtet hat, und nun einen neu unter-
suchten unbekannten Körper dieselbe Reaction W geben
sieht, so beruht sein Schluß, dieser Körper sei folglich U,
keineswegs auf der einfachen Umkehrung jener Beobachtung,
sondern auf dem Bewußtsein, mit allen Elementen, die
an der Erde vorkommen, bereits experimentirt und von
keinem andern außer U dieselbe Reaction W erhalten zu
haben. Dieser Beweis durch Ausschließung ist formell nicht
unbedingt sicher, aber doch von größter Wahrscheinlichkeit;
wird ein neues Element U^ entdeckt, das nun doch mit U
dieselbe Reaction gibt, so ist man eben klüger geworden
und sucht nun nach einem andern Kennzeichen, beide zu
unterscheiden. Nicht ganz dieselbe Wahrscheinlichkeit hat
die Folgerung aus der Spectralanalyse, die Stoffe, welche
in dem Spectrum der Himmelskörper die Streifen W hervor-
bringen, seien identisch mit den irdischen Elementen, deren
Dämpfe in ihren Spectren dieselben Linien W erzeugen.
Mit jenen außerirdischen Stoffen haben wir nicht experi-
mentirt; daß es nicht mehrere im Uebrigen verschiedene
Elemente geben könne, die in dieser einen Reaction W
einander gleichen, ist daher nicht so sicher, wie in dem
vorigen Fall, obgleich sehr wahrscheinlich deshalb, weil
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 377
kein Beispiel nichtidentischer irdischer Elemente mit
identischen Spectrallinien vorliegt, und weil ohnehin die
Körper unseres Sonnensystems sich als zusammengehörige
Bruchstücke einer früher vereinigten Masse ansehen lassen.
Die gleichen Farben, die im auffallenden und im durch-
gehenden Lichte viele chemisch sehr verschiedene Körper
zeigen, beweisen, daß die hier in Frage kommende Fähigkeit
zur Reflexion Absorption und Transmission verschiedener
Lichtwellen nicht ganz einfach mit der chemischen Natur
der Stoffe zusammenhängt; anderseits können zwei Elemente
doch nicht deshalb, weil das eine Kalium, das andere
Natrium heißt oder ist, eigenthümliche Wirkungen W oder W^
hervorbringen; sie sind oder heißen vielmehr das eine
oder das andere nur deshalb, weil die allgemeinen Kräfte,
mit denen Körper sich gegeneinander wirkend gelten machen,
in beiden mit verschieden großen specifischen Coefficienten
vorkommen. Daß nun unter Bedingungen, die wir experi-
mentell gar nicht nachahmen können, z. B. bei der an
der Sonnenoberfläche herrschenden Temperatur, einer dieser
Coefficienten, durch deren Verein das eine Element charak-
terisirt wird, sich niemals ändern und niemals die Größe
annehmen könnte, welche derselbe Coefficient unter den
Bedingungen an der Erdoberfläche für ein anderes Element
besitzt, daß also niemals verschiedene Elemente uns gleiche
Linien im Spectrum zeigen könnten, ist nicht so unanfechtbar
gewiß, daß dieser durch die Spectralanalyse uns eröffnete
Blick in die chemische Zusammensetzung anderer Himmels-
körper jeden Zweifel ausschlösse.
7. Der Fall ( — W — U) würde nach unserer Bezeich-
nung bedeuten, daß wir aus dem Nichtvorhandensein einer
Wirkung W, die wir in andern Beobachtungen auf U folgen
sahen, auf das Nichtvorhandensein von U zurückschließen.
Er bedarf keiner weitern Erörterung; die richtige Folgerung
aus dem Fehlen von W ist nur diese, daß keine von den
vielleicht vielen verschiedenen Ursachen U^ U^ U^ . ., welche
W bewirken könnten, in der That wirksam gewesen
ist, entweder, weil keine von ihnen bestand, oder weil
jede von ihnen Widerstände fand, welche ihr die Hervor-
bringung von W unmöglich machten; die letzte Alternative
wird wie früher entschieden, je nachdem sich Spuren einer
andern stellvertretenden Wirkung W^ auffinden lassen oder
nicht.
262. Sei nun auf einem der beschriebenen Wege außer
378 Siebentes Kapitel.
Zweifel gestellt, daß U die Ursache von W sei oder enthalte,
so kann diese letzte Frage nur durch wiederholte Beobach-
tungen und Versuche beantwortet werden, welche sich der
Reihe nach auf die ungesucht unterscheidbaren oder durch
künstlichere Veranstaltungen trennbaren Bestandtheile des U
und auf die jedem von ihnen zugehörige Einzelwirkung
beziehen. Hierzu setzen wir Ursache und Wirkung
zwei Gruppen von Vorgängen gleich, U = a -|- b -[- c und
W = a -f ß -|- Y, und heben folgende einfachste Fälle als
Beispiele der hier vorkommenden Mannigfaltigkeit von Ver-
hältnissen hervor.
1. Der Fall (U — a=:W). Nach leicht begreifHcher
Analogie unserer Bezeichnungen bedeutet dieser Fall, daß
das Fehlen oder die experimentale Aufhebung des einen
Bestandtheils a der Ursache U keine Aenderung in der
Wirkung W hervorbringt. Wenn dies nun buchstäblich
richtig wäre, das hier beobachtete W mithin dem vorher
beobachteten völlig gliche, so wäre der natürliche Schluß,
a trage gar nichts zur Hervorbringung der Wirkung bei,
durchaus gerechtfertigt. Aber eben dies findet nicht immer
statt; da wir alle diese Fälle hier nur mit Rücksicht darauf
behandeln, wie sie in unserer Beobachtung vorkommen,
so müssen wir erinnern, daß sehr oft die beobachtbare
Wirkung unverändert bleibt, wo die wirkliche in der That
durch die Aufhebung des a eine Aenderung in W^ erfahren
hat. Denken wir uns an sechs gleich langen Seilen, die
an den Eckpunkten eines regelmäßigen Sechsecks befestigt
sind, eine Last aufgehängt, so wird sie, wenn wir das erste,
dritte und fünfte Seil entfernen, bei hinlänglicher Festigkeit
der Seile nicht nur hängen bleiben, sondern auch scheinbar
ihren absoluten Ort im Räume behalten. Das letzte findet
jedoch gewiß nicht statt; die Spannung der drei übrigen
Seile ist gewachsen, und sie haben sich um ein Geringes
ausgedehnt, die Last selbst sich um ein Geringes senkrecht
verschoben, und hierin besteht eben die neue Wirkung W^,
die an die Stelle von W getreten ist; die Differenz zwischen
beiden verschwindet für die oberflächliche Beobachtung
und verleitet zu dem hier falschen Schlüsse, die drei
anderen Seile haben zu der ursprünglichen Wirkung W
nichts beigetragen, während nur eine früher wirklich ge-
leistete Arbeit derselben vicarirend von den andern Be-
standtheilen von U übernommen worden ist. Es ist kaum
nöthig zu bemerken, wie ungemein häufig dieser Fehl-
schluß von der Unbemerkbarkeit kleiner Wirkungen auf
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 379
Wirkungslosigkeit begangen und durch späteren Schaden
gebüßt wird, und wie die Erkenntniß seiner Gefahr zu
vielerlei Methoden führt, dieses Kleine für die Beobachtung
zu vergrößern und es in den Bereich der Wahrnehmung
zu rücken.
2. Der Fall (U — a— — W). Wenn nach dem Ver-
schwinden des a in der Beobachtung oder nach seiner
experimentalen Aufhebung das ganze W verschwindet, so
neigen wir natürlich zu der Annahme, a allein sei bei der
Hervorbringung oder doch jedenfalls bei der Erhaltung des W
wirksam betheiligt. Daß dies möglich, aber nicht allgemein
gültig sei, lehrt uns die Vergleichung mit andern Be-
obachtungen; lassen wir der Reihe nach anstatt a die
andern Bestandtheile von U verschwinden, so zeigt sich
oft, daß das ganze W auch mit dem Aufhören von b oder
von c ganz ebenso verschwindet, daß es folglich nicht
von einem Bestandtheile des U, sondern von der gleich-
zeitigen Gegenwart und Verknüpfung aller oder doch
mehrerer von ihnen abhängig ist. Jede zusammengesetzte
Maschine, jeder lebendige Körper bietet dafür Beispiele;
die Bewegung der ersten und das Leben des letztem hört
mit der Verletzung mancher Bestandtheile auf, deren keiner
für sich allein im Stande gewesen wäre, ohne die Mit-
wirkung der übrigen Bewegung und Leben zu erzeugen
und zu erhalten; die Thatsache, daß mit der Zerstörung
eines einzelnen Hirntheiles a eine bestimmte geistige
Function aufhört, bürgt nicht dafür, daß eben dieser einzelne
Theil das erzeugende Organ derselben war; selbst die
Gegenerfahrung, daß keines anderen einzelnen Theiles Ver-
letzung dieselbe Folge habe, macht diesen Schluß nicht
vollkommen sicher; es bleibt immer möglich, daß a nur
der unentbehrliche Bestandtheil war, in welchem die Wir-
kungen aller übrigen eben diese Form W annehmen, und
daß mithin die Function aufhört, sowohl wenn a, als wenn
außer a alle übrigen Bestandtheile des Gehirns in ihren
Verrichtungen gehindert werden. Um hierüber zu ent-
scheiden, müßte man die Aenderungen des W in W^ zu
beobachten suchen, welche bei ungestörtem a aus den
Functionshemmnissen der übrigen Organe entspringen.
3. Der Fall (U — a = W + a). Wenn aus U der Bestand-
theil a in der Beobachtung verschwindet oder im Experi-
ment zum Wegfall gebracht wird, und dann die Wirkung W
um einen neuen, vorher nicht vorhanden gewesenen Be-
standtheil a wächst, oder überhaupt jetzt erst eine Wir-
380 Siebentes Kapitel.
kung a entsteht,' so haben wir zu schließen, daß die übrigen
Bestandtheile von U den erzeugenden Grund von a ent-
hielten, a hingegen ein Hinderniß war, nach dessen Ent-
fernung erst a sich entfalten kann. Die Beobachtung allein
rechtfertigt diesen Schluß nicht ganz ; denn es bleibt zweifel-
haft, ob nicht, während a verschwand, eine unbemerkt ge-
bliebene neue Bedingung Z eintrat, welche allein a hervor-
bringt, während a weder zu seiner Erzeugung, noch zu
seiner Hemmung fähig ist; das Experiment beseitigt diesen
Zweifel dann, wenn man sicher ist, daß das operative Ver-
fahren, durch welches man a aufhob, wirklich nur diese
Negation des a bewirkte, nicht aber zugleich einen positiven
Eingriff Z enthielt, dem die Entstehung von a zugemessen
werden könnte. Jede Störung eines Gleichgewichts durch
Beseitigung einer der Kräfte, die es unterhielten, gibt für
diesen Fall ein Beispiel; auch in der Oekonomie der leben-
digen Verrichtungen ist die Physiologie mehrfach auf gleiches
Verhalten gestoßen. Wenn die Durchschneidung eines Nerven
stürmische Bewegungen hervorruft, und wenn man, wie in
diesem Beispiel für sicher gelten kann, durch den Act der
Durchschneidung nicht eine dauernde positive Aufregung,
sondern nur die Aufhebung eines früher bestandenen Ein-
flusses hervorgebracht hat, so kann man nur an eine durch
den Plan der Organisation vorgezeichnete Hemmung der
einen Function durch eine andere denken und von ihrer
Aufhebung den Eintritt jener beobachteten Bewegungen ab-
hängig machen. Historische Betrachtungen führen häufig
auf dieselbe Ansicht. Es gibt zwar positive Anregungen,
durch welche die Menschheit in eine gewisse Bahn geschicht-
licher Entwicklung getrieben wird ; aber die Mehrzahl großer
und plötzlicher Umwälzungen beruht auf einer Hinweg-
räumung von Hindernissen, die der Entfaltung immer vor-
handener Tendenzen und Gesinnungen entgegenstanden, und
selbst jene positiven Antriebe leiten die Begebenheiten meist
nur eine Zeit lang nach der von ihnen angegebenen Rich-
tung; später nimmt Alles eine andere Wendung, weil un-
vermerkt und gegen seine Absicht der gegebene Anstoß auch
Hindernisse ganz anders gearteter und nach andern Zielen
strebender Kräfte entfernt oder geschwächt hatte.
4. Der Fall (U — a = W— a). Dieser Fall erfordert
keine neuen Ueberlegungen, sondern schließt sich dem
zweiten und dritten an. Veranlaßt die Aufhebung eines
Theiles a von U das Verschwinden eines Theiles a in der
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 381
Wirkung, so kann hier wie dort der Causalzusammenhang,
der dann nothwendig zwischen a und a besteht, ein aus-
schließlicher, also a die genügende Erzeugungs- oder Er-
haltungsursache von a sein; es kann aber auch a das eine
oder das andere vielleicht nur in Verbindung mit den
übrigen Bestandtheilen von U sein, und dieses letztere
Verhalten kann selbst dann stattfinden, wenn Gegenver-
suche zeigen, daß die Aufhebung keines andern Theils von U
dieselbe Vernichtung des a herbeiführt, weil die noch
übrigen Theile für die weggefallenen vicariren können. Es
kann ferner a vielleicht nur mittelbar, nach dem Muster
des dritten Falles, a bedingen; dann ist ein anderer Theil
von U, vielleicht c + d, die erzeugende und erhaltende
Ursache von a, aber ein dritter Bestandtheil b hemmt
die Wirkung von c-|-d, dieses Hinderniß endlich wird
durch a balancirt, so daß die Entfernung von a der hem-
menden Kraft des b nun die Unterdrückung des a mög-
lich macht. Entziehung des Sauerstoffs a, während die
übrigen Lebensbedingungen U bleiben, hebt die lebendigen
Functionen a des thierischen Körpers auf, ohne dessen Bau
sonst ebenso sichtbar wie andere Todesursachen zu ver-
ändern. Man hat hieraus niemals den Schluß ziehen können,
der Sauerstoff allein bringe das Leben hervor; daß er es
nur konnte im Verein mit den Bestandtheilen des Körpers,
mithin als ein Reiz, der auf diese wirkt, oder als eine Mit-
ursache unter vielen, dies war von selbst klar; aber doch
schrieb man ihm die positive Rolle zu, eben der erregende
Reiz zu sein, der durch seine Einwirkung unmittelbar in
den Organen die Bewegungen hervorruft, deren Ganzes
das Leben ist. Diese Deutung hat nicht ganz widerlegt
werden können; aber gewiß theilt sie sich mit der anderen
in die ganze Wahrheit, nämlich mit der, daß die Ein-
wirkung des Sauerstoffs hauptsächlich in der Hinweg-
räumung von Hindernissen bestehe, die aus den lebendigen
Functionen selbst, durch Abnutzung der organischen Stoffe,
für die weitere Fortsetzung dieser Functionen entstehen.
5. Der Fall (U + a^W). Der Hinzutritt einer neuen
Ursache a zu U, in welchem sie früher nicht enthalten
war, kann die gesammte Wirkung W nur unter denselben
Bedingungen unverändert lassen, wie in dem ersten Fall
der Wegfall eines in W vorher enthaltenen Bestandtheils a.
Entweder findet sich, in der Beobachtung, während a hin-
zukommt, ein unbeachtetes Z ein, das seine Wirkung auf-
382 Siebentes Kapitel.
hebt, oder es ist uns, im Versuche, nicht gelungen, a so
anzubringen, daß es seine Wirkung entfalten kann. Wirkt
aber a in der That, wird also wirklich das gesammte W
in Wi verändert, so kann diese Veränderung sich entweder
der Beobachtung entziehen oder sie betrifft nicht den be-
stimmten Theil des gesammten W, auf welchen unsere
Wißbegier sich allein gerichtet hatte, und bleibt deshalb
unbeachtet.
6. Der Fall (U + a = W+a). Wenn ein neues Ele-
ment a, welches zu den bisher wirkenden Ursachen ü
hinzutritt, das neue Element a in der bisherigen Wirkung W
entstehen läßt, so kann a für sich allein die hinreichende
Ursache sein, welche in den Objecten, die hier in Frage
kommen, die Wirkung a erzeugen würde; es kann aber
auch a, gleich dem letzten Tropfen, der ein volles Gefäß
zum Ueberlaufen bringt, nur die ergänzende Ursache sein,
ohne welche alle früheren, und welche selbst ohne alle
früheren diese Wirkung nicht hervorgebracht hätte. Es
kann endlich vorkommen, daß die Wirkung W oder über-
haupt die Thatsache W, die wir hier um den Zuwachs a
vermehrt werden und dadurch in W^ übergehen lassen, nicht
ein ruhiger Zustand und nicht ein immer in gleicher Weise
sich wiederholendes oder fortsetzendes Geschehen, sondern
selbst eine Entwicklung ist, die, wenn sie einmal durch
eine Gruppe U von Ursachen hervorgebracht ist, dann in
Folge der Natur der Objecte, auf welche diese wirken, von
selbst aus W sich in W^ verwandelt; dann ist a ein müßiger
Zusatz zu U oder ein solcher, der zwar anderweitige Wir-
kungen haben mag, aber unschuldig ist an einem Eintreten
des a. Mit dieser Zweideutigkeit kämpfen die therapeu-
tischen Beobachtungen. Wenn man in den lebendigen
kranken Körper U das Heilmittel a und seine vermutheten
Kräfte einführt, so bleibt zweifelhaft, ob die Krankheit W
die günstige Wendung a aus diesem Grunde nimmt, und
ob sie nicht vielmehr von selbst denselben Verlauf auch
ohne a genommen haben würde. Es ist nicht ganz leicht,
dies zu entscheiden, weil hier die Möglichkeit des Ver-
suchs in enge Grenzen eingeschlossen ist. Hat man ein-
mal beobachtet, daß in vielen Fällen auf die Hinzufügung
von a der erwünschte Erfolg eintrat, so scheut man sich,
das vielleicht, aber doch nicht gewiß, überflüssige a ver-
suchsweis wegzulassen; Gegenerfahrungen aber, die sich
freiwillig darbieten und die Unnöthigkeit des a zu beweisen
scheinen, bleiben auch ihrerseits zweideutig, weil die ver-
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 383
glichenen Fälle selten ganz gleichartig sind und weil sich
kaum nachweisen läßt, daß nicht irgend ein Z das fehlende a
als äquivalente Einwirkung ersetzt hat. Dieselben Schwierig-
keiten findet die Betrachtung socialer und geschichtlicher
Phänomene; es ist schwer festzustellen, ob zur Erzeugung
einer neuen Wendung a der Dinge eine Maßregel a oder
ein Ereigniß a beigetragen hat, das die Beobachtung dem a
vorangehen sah; noch schwieriger, zu ermitteln, worin all-
gemein die Wirksamkeit des a liegt und durch welche in
W liegenden Nebenbedingungen sie ermöglicht oder be-
günstigt wird.
7. Der Fall (U + a^U + b). Es ist unmöglich, daß
zwei Ursachen, die neben einem gemeinschaftlichen Be-
standtheil U sich durch verschiedene Bestandtheile a und h
unterscheiden, genau dieselbe Gesammtwirkung W haben,
aber es ist möglich, daß ein bestimmter von uns ins Auge
gefaßter Theil ihrer Gesammtwirkung oder endlich daß das-
jenige gleich sei, was von diesem Theile in unsere Be-
obachtung fällt. Dies Verhalten bezeichne ich durch die
vorangestellte Formel. Der nächstliegende Schluß aus ihm
ist natürlich der, daß beide Ursachen durch ihren gleichen
Bestandtheil die gleiche Wirkung erzeugen und daß in
Bezug auf diese die ungleichen Elemente derselben ohne
Einfluß sind. Es bedarf keiner Erwähnung, daß dieser
Schluß sehr häufig zutrifft, selbst dann, wenn das Gemein-
same zweier oder vieler Ursachen nur in wenigen Merk-
malen besteht, das Verschiedene dagegen, a und b, sich zu
Complexen sehr vieler Merkmale erweitert. Aber es ist
doch auch möglich, daß U für sich allein niemals jene
gleiche Wirkung erzeugt oder erhält, sondern allemal dazu
einer Unterstützung durch a oder b oder c bedarf, welche
letzteren Bestandtheile dann als äquivalente Mitursachen
von W zu betrachten sind ; es kann selbst kommen, daß der
gleiche Theil U verschiedener Ursachen völlig wirkungslos
in Bezug auf W ist und dieses allein von den ungleichen
Elementen beider abhängt. Lassen wir auf einen Punkt,
der auf einer festen Ebene liegt, drei Kräfte einwirken, die
eine c senkrecht auf die Ebene, die andern beiden a und b
divergent in der Ebene, so ist es leicht möglich, den letztern
zwei andere zu substituiren, welche dieselbe Resultante W
geben: die erste Kraft c, die einzige, die beiden Kraft-
systemen gemeinsam ist, ist zugleich die einzige, die nichts
zur Bestimmung der Richtung und Größe der Resultante
beiträgt. Ganz allgemein, jedes Gleichgewicht und jede
384 Siebentes Kapitel.
Bewegung läßt unzählige Constructionen aus sehr ver-
schiedenen Verknüpfungen von Einzelursachen zu. Nun
kann man freilich einwenden, daß in allen solchen Fällen
a b c nicht unvergleichbar verschieden sind, sondern selbst
noch ein Gemeinsames x neben ihren Verschiedenheiten
enthalten; dies x müsse man zu dem gemeinsamen U
rechnen, und dann werde immer U -f- x die wahre Ursache
der gleichen Wirkung W sein. Diese Bemerkung ist richtig,
aber sie gehört nicht als Einwand hierher, denn sie spricht
nur den in abstracto selbstverständlichen Satz aus, daß
zu gleichen Folgen immer gleiche Gründe gehören; hier
aber handelt es sich darum, wodurch in der Beobachtung
diese gleichen Gründe gleicher Folgen repräsentirt werden,
und wir fanden nun, daß nicht immer die gleichen Bestand-
theile oder Merkmale zweier Ursachen das Vehikel dieser
gleichen Gründe sind, sondern daß diese sich eben häufig
in der Combination unmittelbar ungleicher Bestandtheile
Merkmale oder Bedingungen verbergen. Diese Zweideutig-
keiten müssen daher durch Nebenversuche entschieden
werden. Man muß wissen, ob U allein W zu erzeugen
oder zu erhalten vermag; ist dies so, dann sind a und b
zwar nicht nothwendig wirkungslose, aber entbehrliche Be-
standtheile der Ursache, denn wir haben dann den Fall
(U — a = W) und seine oben betrachteten Folgen. Man muß
ferner wissen, ob a und b allein W erzeugen oder nicht;
thun sie es, so ist nach demselben ersten Falle U nicht
nothwendig wirkungslos, aber eine entbehrliche Mitursache
von W. Findet beides nicht statt, so sind U -f a, U -f b,
U -|- c Paare von einander unentbehrlichen Mitursachen von
W, und es ist jetzt Zeit, durch neue Combinationen der
Wahrnehmungen oder durch Variation der Versuche zu er-
mitteln, welcher gemeinsame Bestandtheil x, des a des b
und des c, und vielleicht auch, welcher einzelne Bestand-
theil u des U zusammen die wahre und genügende Ur-
sache u-fx der gleichen Wirkung W ausmachen.
263. Gar nicht immer wird es durch die bisher durch-
gegangenen Schlüsse gelingen, überhaupt nur die nächste
und hinreichende Ursache einer Wirkung zu bestimmen,
noch weniger die Art von Causalzusammenhang zu er-
mitteln, die zwischen beiden stattfindet. Man nähert sich
diesem Ziele mehr, wenn es möglich ist, die Größen -
Veränderungen zu beobachten, welche die Wirkungen
für bestimmte Aenderungen der Ursachen erfahren. Es
gibt wohl keine Art der Wirkung, die nicht irgendwie ver-
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 385
änderliche Größen zuließe; selbst solche, die unmittelbar
kein Mehr oder Weniger aufzeigen, gestatten es mittelbar;
Gleichgewicht kann nicht mehr oder minder Gleichgewicht
sein, aber es übt doch gegen den Versuch zur Aufhebung
größeren oder geringeren Widerstand, oder es bedarf zu
seiner Unterhaltung verschiedener Kräfte. Ich stelle wieder
die einfachsten der beobachtbaren Fälle als Beispiele zu-
sammen.
1. Der Fall (mW = mU). Denken wir uns den reinen
Fall hergestellt, den wir früher mit BF bezeichneten und
jetzt mit UW bezeichnen können, so daß U die ganze
und nichts außer der ganzen Ursache von W, W die ganze
und nur die ganze Wirkung von U ist, beide aber unmittel-
bare Größenbestimmungen zulassen, so werden wir als
selbstverständlichen Grundsatz betrachten, daß gleichen
Differenzen zweier Werthe von U auch gleiche Differenzen
der zugehörigen Werthe von W entsprechen, daß also U
und W in einfacher gerader Proportion stehen. Dann ist
mW = mU. Diese Formel, welche keine mathematische
Gleichung, sondern ein logisches Symbol ist, setzt voraus,
daß wir die Wirkung so wie ihre Ursache jede nach einem
besondern ihrer Natur eigenthümlichen oder für sie zu-
lässigen Maßstab zu messen im Stande sind, und behauptet,
daß dann in der jedesmaligen Wirkung die Einheit der
Wirkung, W, ebenso oft enthalten ist, wie in der wirkenden
Ursache die Einheit der Ursache, ü. Selbstverständlich
ist dieses Verhalten aber doch nur dann, wenn m einzelne
Ursachen U, jede für sich, die gleiche Wirkung W er-
zeugen, und nur wir die Summe dieser getrennten Wir-
kungen ziehen, welche dann der Summe der Ursachen
proportional sein wird. Geben wir, in verschiedenen Augen-
blicken, mmal denselben Geldbetrag U, jedesmal für die
Waare W, aus, so wird, Gleichheit der Preisforderung vor-
ausgesetzt, unser Gesammteinkauf mW für den Geldwerth
mU sein; wirken m gleiche, aber getrennte, Stöße U auf
ebensoviel verschiedene Elemente und geben jedem die
Geschwindigkeit W, so wird die Summe aller erzeugten
Geschwindigkeiten m • W, oder die entstandene Bewegungs-
größe mW sein, wenn wir die Anzahl der Elemente als Be-
zeichnung einer Masse ansehen. Es ist anders, wenn die
vielen Ursachen und ihre Wirkungen in einer sachlichen
Verbindung stehen. Die auf einmal gegebene Geldsumme
mU erkauft mehr Waare, als sie in m Einzelkäufen er-
zielen würde; hier sind es verwickelte Rücksichten des
Lotze, Logik. 25
386 Siebentes Kapitel.
Verkehrs, welche in der Seele des Verkäufers ihren Werth
steigern; an sich bleibt es richtig, daß jedes einzelne U
nur für ein einziges W der bedingende hinlängliche Grund
ist; nur im wirklichen Effect wird diese an sich begründete
Folge durch jene Nebenursache geändert. Wenn ein Im-
puls U einem Körper die Geschwindigkeit W gibt, so wird
mU, gleichzeitig wirkend, ihn vielleicht nicht fortbewegen,
sondern zertrümmern ; immer bleibt mU der rationale Grund
für eine Geschwindigkeit mW, aber die mitwirkenden Ver-
hältnisse im Zusammenhang des Körpers ändern den Er-
folg. Nur wenn wir ein körperliches Element als bloßes
Substrat der Bewegung betrachten dürfen, jeder eigenen
Rückwirkung baar, können wir selbstverständlich von der
Ursache mU die proportionale Bewegungswirkung mW er-
warten. Allgemein also : bei der Anwendung unseres Grund-
satzes denken wir uns die m fache Ursache gleich m
einzelnen Ursachen U und nehmen an, es seien keinerlei
Umstände vorhanden, welche das eine Glied dieser Summe
nöthigten, mehr oder weniger oder anders zu wirken, als
wenn es allein vorhanden und die übrigen Glieder nicht
da wären. Dann bringt die m fache Ursache die m fache
Wirkung hervor, und umgekehrt: wo unsere Beobachtungen
annähernd dies Verhältniß zeigen, haben wir die Hoffnung,
einen reinen Fall UW vor uns haben, der in dem oben an-
gegebenen Sinne mit einem reinen Bedingungsverhältniß BF
identisch ist.
2. Der Fall (W=:C). Es ist ein sehr häufiges Vor-
kommen, daß eine Ursache U tmal auf dasselbe Object
einwirkt, imd wir verstehen dann unter t entweder die An-
zahl der Wiederholungen dieser momentan gedachten Ein-
wirkung, oder die Anzahl der Zeiteinheiten, in deren jeder
die stetig wirkende Kraft U ein bestimmtes Maß von Wir-
kung erzeugt. Ist diese dann von der Art, daß sie das
ihr unterliegende Object als dasselbe identische Object fort-
bestehen läßt, so würde jede spätere Wiederholung der-
selben Ursache in ihm dasselbe Geschehen noch einmal
erzeugen, mithin würde nach t Wiederholungen oder nach
der Zeit t auch tmal dieselbe Wirkung an ihm vorhanden
sein, vorausgesetzt, daß nach dem Satz der Beharrung jeder
frühere Erfolg fortdaure, da ihm kein Hinderniß entgegen-
steht. Dies ist der Fall der räumlichen Bewegung, bei
welcher wir voraussetzen, daß die bewegungerzeugenden
Ursachen das bewegte Object entweder nicht ändern, oder
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 387
nur innere Zustände in ihm hervorbringen, welche durch-
aus keinen hemmenden Einfluß auf neu anzimehmende
Bewegungen w ausüben. Betrachten wir als die Wirkung W
die erzeugte Geschwindigkeit, so ist W stets =rw.t, ab-
hängig von der Zeit. Käme es dagegen vor, daß ein Object
während der ganzen Zeit t, durch welche hindurch eine
constante Ursache U beständig auf es einwirkt, einen gleich-
förmigen Zustand, W stets gleich der Constanten C, zeigte,
so könnte dies kein reiner Fall sein, sondern es müßte
außer U noch Mitursachen oder Mitbedingungen Z geben,
welche den Einfluß des Beharrungsgesetzes aufhöben, die
Summirung der Einzelimpulse unmöglich, die Wirkung W
constant und von der Zeit unabhängig machten. Wenn ein
kühler Körper unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen sich
erst erwärmt, dann aber während beständiger Fortdauer
gleicher Bestrahlung eine constante Temperatur behält, so
kann nicht die Bestrahlung allein die Ursache dieses Ver-
haltens sein; die erklärende Mitursache liegt in der Aus-
strahlung, die von dem erwärmten Körper ausgeht und die
ihn bei einer gewissen erreichten Temperaturdifferenz
zwischen ihm und feiner Umgebung ebensoviel Wärme
wieder auszugeben nöthigt, als er neu empfängt.
3. Der Fall (dW=:^ dU). Es gibt im Grunde außer der
einfachen räumlichen Bewegung keinen andern Fall, in
welchem wir annehmen könnten, die in dem beeinflußten
Object a erzeugte Wirkung werde die zunächst zu er-
leidende gar nicht präjudiciren ; im Allgemeinen wird durch
die Erstwirkung dieses a in a verändert, und hierin, in
der Nichtidentität des die Wirkung empfangenden Objectes,
liegt eine veränderliche Mitbedingung Z, welche den wieder-
holten Impulsen der Ursache U nach und nach andere
Wirkungen zuordnet, als dem ersten. Nehmen wir zuerst
an, die Veränderung des a in a sei von der Art, daß sie
der nächsten Einwirkung Widerstand entgegensetzt, so
etwa, wie ein bereits zusammengedrückter Körper der neuen
Zusammendrückung widerstrebt, da durch die gegenseitige
Annäherung seiner Elemente die zwischen ihnen wirksamen
Abstoßungen gewachsen sind. Das Maß dieses Widerstandes
kann keine von allen zusammenwirkenden Parteien unab-
hängige Constante sein, sondern muß einestheils der speci-
fischen Intensität der inneren Abstoßungen, von denen der
Widerstand geleistet wird, und die für den einen Körper
25*
388 Siebentes Kapitel.
andere sind, als für den anderen, anderntheils der bereits
erfolgten Zusammendrückung proportional sein, denn diese
ist es, welche durch jene Annäherung der Elemente die Ab-
stoßungen steigert. Die erste Bedingung liefert für die
noch mögliche Einwirkung der Ursache U einen constanten
Coefficienten, abhängig von der Natur des Objectes a, die
andere sagt, daß die Größe dieser nächsten Einwirkung in
einem umgekehrten Verhältniß zu der Größe des bereits
erreichten Erfolges W stehen muß, welche letztere selbst
für zwei verschiedene Ursachen U und Un von den Größen
dieser abhängig bleibt. Naturursachen wirken nun niemals
momentan; wir können jedes U in eine Anzahl von dU
zerfallen, die nach einander, übrigens in der Zeit beliebig
vertheilt, jedes den ihm entsprechenden constanten Theil
der Wirkung dW = m • dU hervorbringen würden, wenn jedes
von ihnen allein wirkte, aber ein verändertes dW erzeugen,
weil jedes auf das von seinen Vorfahren bereits modificirte
Object einwirkt. Es ist daher gleichgültig, ob wir U und
Un als zwei verschiedene Ursachen oder als zwei ver-
schiedene Werthe betrachten, bei denen eine und dieselbe
wachsende Ursache U stehen geblieben oder für unsere
Betrachtung fixirt worden ist. Bedeutet dann W = f (Un)
den Erfolg, den n aufeinanderfolgende dU bereits erzeugt
haben, so ist die Wirkung dW, welche durch Hinzufügung
noch eines dU entspringen würde: dW=^-dU. Unter
den reinen Größenfunctionen ist es der Logarithmus von U,
der diese Art des Wachsthums zeigt; auf logarithmische
Ausdrücke kommen wir deshalb bei der Berechnung von
Wirkungen, die durch ihre eigenen Erfolge sich Hinder-
nisse ihrer Wiederholung, proportional jenen Erfolgen,
schaffen.
4. Der Fall (dW = mWdU). So wenig im vorigen Fall
eine wiederholte Ursache nur deswegen weniger wirken
konnte, weil sie nicht zum ersten Male wirkte, so wenig
kann sie nur deshalb mehr wirken, weil sie schon mehrmal
gewirkt hat. Auch dieser Fall, den wir als Uebung, wie
den vorigen als Abhärtung in den Begriff der Ge-
wöhnung einzuschließen pflegen, bedarf der Annahme
einer Mitursache Z, nämlich einer solchen Aenderung des
beeinflußten Objects a in a, welche jedem späteren Ein-
wirken der Ursache Vortheile verschafft, indem sie stets
geringere Widerstände ihm entgegesetzt ; wie etwa der erste
Allgemeine Sätze aus Wahrnehmungen. 389
Schlag den Stein so erschüttert, daß der zweite die vor-
gefundenen Schwingungen nur zu vermehren hat, um die
Cohäsion der Theile zu überwinden. Kommt nichts sonst
in Betracht, so werden wir aus analogen Gründen, wie im
vorigen Falle, die Größe der momentanen Einwirkung pro-
portional dem Gesammterfolge oder dem Integral der
früheren Einwirkungen zu setzen haben. Unter den reinen
Größenfunctionen von U ist es die Exponentialfunction e^,
welche diese Eigenschaft eines dem Integral selbst gleichen
Differentialquotienten besitzt; auch der Anwendung dieser
Formel werden wir daher in mathematischen Ausdrücken
natürlicher Wirkungsformen häufig begegnen.
5. Der Fall (dW = m. sinU). Keiner der bisher be-
trachteten Fälle kann auf Wirkungen führen, welche,
während die Ursache beständig wächst, zwischen Wachs-
thum und Abnahme schwanken; sie nehmen entweder
immer ab oder immer zu. So oft daher ein periodischer
Wechsel zwischen Zunahme und Abnahme der W bei stets
in gleichem Sinne sich änderndem U stattfindet, muß es
neben U eine oder mehrere Mitursachen Z geben, deren
Verhältnisse zu U entweder an sich veränderlich sind oder
durch den Vorgang des Zusammenwirkens so verschoben
werden, daß die Wirkungen aller sich bald summiren, bald
einander entgegengesetzt sind, und durch Maxima und
Minima von der einen zu der andern dieser Beziehungen
übergehen. Die von mir benutzte Formel ist nur ein ganz
unzureichender symbolischer Ausdruck für die begreiflich
unermeßliche Mannigfaltigkeit der hier möglichen Com-
binationen.
Achtes Kapitel.
Auffindung von Gesetzen.
264. In den Verhältnissen, die wir im vorigen Kapitel
aufgeführt haben, liegen die Beweggründe, die uns zur
Anstellung neuer Versuche oder zur Aufsuchung neuer Be-
obachtungen veranlassen, um die jedesmal noch gebliebene
Möglichkeit verschiedener Ursachen einer Wirkung zu be-
seitigen. Der allgemeine Sinn dieses Verfahrens ist immer
derselbe: aus den unreinen Beobachtungen SP oder UW
soll der reine Fall Sil oder BF durch Elimination aller
der Bestandtheile der Beobachtung ermittelt werden, welche
dem vorliegenden Causalzusammenhange fremd sind. Es
scheint mir nicht nöthig, diese allgemeine Vorschrift noch
in eine Anzahl besonderer Methoden zu zerfallen; nütz-
licher vielmehr, darauf hinzuweisen, daß wir schon in der
elementaren Algebra ein instructives Vorbild der sehr
mannigfachen Operationen besitzen, die unserem Zwecke
dienen können. Sowie wir gegebene Gleichungen, die zu-
sammen die Verhältnisse zweier oder mehrerer unbekannter
Größen definiren, durch die verschiedensten Mittel, durch
Hinzufügung neuer Größen, Subtraction anderer, durch
Multiplication oder Division ihres ganzen Inhalts umformen,
um sie unmittelbar vergleichbar und zur allmählichen
Elimination einzelner Unbekannten geschickt zu machen,
so werden wir auch unsere jetzige Aufgabe bald durch
passende Hinzufügung neuer Bedingungen, deren Einfluß
berechenbar ist, bald durch ebenso beurtheilbare Hemmung
gegebener, bald, wo es möglich ist, durch Veränderung in
der gegenseitigen Stellung der zusammenwirkenden Ui-
sachen, endlich durch Modification unseres eigenen Ver-
haltens gegenüber dem zu beobachtenden Material zu lösen
suchen. Ich lasse dahin gestellt, ob wir auf diesem Wege
Auffindung von Gesetzen. 391
überhaupt jemals zu einem reinen Fall BF gelangen können ;
wären wir aber auch so glücklich gewesen, die genaue Ur-
sache U einer genauen Wirkung W zu finden, so würde in
keinem Falle, außer in geschichtlichen Untersuchungen,
unsere Wißbegier völlig befriedigt sein. Denn dieser reine
Fall UW würde keine andere Folgerung zulassen als die,
daß jedesmal, wenn dasselbe U in Wirklichkeit wieder
vorkäme, dasselbe W ihm folgen müßte. Aber sowohl die
praktischen Bedürfnisse des Lebens als die Interessen des
wissenschaftlichen Erkennens treiben uns zu der weitern
Frage : wie wird W sich in W^ ändern, wenn U in U^^ über-
geht, oder : wie wird eine Wirkung W^ gestaltet sein müssen,
wenn nicht das beobachtete U, sondern ein anderes, U^,
eintritt, dessen Differenz von U genau angebbar ist ? Wir
verlangen mit einem Wort nicht blos die Gewißheit eines
thatsächlichen Zusammenhangs zwischen einem U und
einem W^, sondern auch die Kenntniß des Gesetzes, nach
welchem derselbe stattfindet und sich ändert.
265. Der Name Gesetz hat verschiedene Bedeutungen
für verschiedene Kreise menschlicher Interessen: sein logi-
scher Sinn ist dennoch überall der nämliche. In voller
logischer Form ist Gesetz ein allgemeines hypothe-
tisches Urtheil, welches sagt: immer, wenn U ist oder
gilt, gilt oder ist auch W, und allemal, wenn U um eine
bestimmte Differenz dU sich in U^ verwandelt, verändert
sich auch W in W^ um eine bestimmte von dU abhängige
Differenz dW. Hypothetisch ist das Gesetz, weil es nie-
mals erzählen soll, was geschieht, sondern immer nur be-
stimmen, was geschehen soll oder muß, wenn bestimmte
Bedingungen gegeben sind. Nicht von diesem hypotheti-
schen Sinne, sondern nur von der entsprechenden Form
des Ausdrucks ausgenommen sind Gesetze, die sich auf
dauernd gegebene oder als dauernd vorausgesetzte Be-
dingungen beziehen. Wenn man in kategorischer Form als
Naturgesetz ausspricht: alle ponderablen Elemente ziehen
einander nach dem umgekehrt quadratischen Verhältniß
ihrer Entfernungen an, so drückt man damit nur aus, daß
eine einzige stets erfüllte Bedingung, nämlich das gleich-
zeitige Vorhandensein in derselben Welt, für jene Elemente
der hinlängliche Grund dieser Folge ist; wenn das Ver-
fassungsgesetz eines Staates in kategorischer Aufstellung
die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen
seiner Angehörigen ordnet, so ist der verschwiegene Vorder-
satz: so lange dieser Staat überhaupt vorhanden sein wird,
392 Achtes Kapitel.
sollen in beständiger Wiederholung diese festgesetzten Ord-
nungen sich im Lauf der Geschlechter erhalten und er-
neuern. Auch allgemein aber, und zwar immer hypothetisch,
ist jedes Gesetz und deshalb ebenso sehr von einer blos
allgemeinen Thatsache, als von einer Verordnung für einen
Einzelfall zu unterscheiden. Der Satz Kepler's, alle Planeten
bewegen sich in Ellipsen um die in einem Brennpunkt
stehende Sonne, ist ursprünglich kein Gesetz, sondern der
Ausdruck einer Thatsache; er führt den Namen des Ge-
setzes nur kraft des allerdings berechtigten Nebengedankens,
daß alle Planeten aus einem gemeinsamen Grunde ihre
Bewegimg haben, und daß man mithin voraussetzen kann,
auch für noch unbekannte werde der Satz, nun als Gesetz,
gelten, wenn sie überhaupt durch Umlauf um die Sonne
sich als Planeten erweisen. Ein Gesetz, welches zum Zweck
einer bestimmten Eisenbahnanlage zur Expropriation er-
mächtigt, ist logisch betrachtet ein Beschluß oder eine Ver-
ordnung; aber weil die Verordnung nicht willkürlich ge-
geben wird, sondern auf Grund eines allgemeinen Gesetzes,
das unter bestimmten Bedingungen die rechtliche Zulässig-
keit der Expropriation überhaupt begründet, mag sie um
deswillen den vornehmeren Namen selbst tragen. Auch
jene Rücksichtnahme auf Veränderlichkeit oder Verschieden-
heit der Bedingung und der Folge liegt in der Absicht
jedes Gesetzes; nur die Ausführung der Absicht ist nicht
überall möglich. Die Versicherung, daß zwei Körper ein-
ander anziehen, ist für sich eine unvollständig definirte
Thatsache ; ein Gesetz sieht die Naturwissenschaft erst dann,
wenn das Verhältniß angebbar ist, in welchem sich die
Größe der anziehenden Wirkung abhängig von den ver-
schiedenen oder veränderlichen Massen und Entfernungen
der Körper oder abhängig von irgend einer andern, ihrer
Größe nach variirbaren Bedingung ändert. Auch sittliche
und rechtliche Gesetze verhalten sich nicht anders. Ein
so allgemeines Gebot, wie das, welches uns befiehlt, unsern
Nächsten zu lieben, mag immerhin als Ausdruck des tiefsten
Motivs, das unsere Handlungen bestimmen soll, eine noch
höhere Würde als die eines Gesetzes haben, aber formell
hat es nicht die Genauigkeit eines solchen; denn weder
was aus jener Liebe folgt, ist für sich klar, noch kann in
wirklicher Ausübung dem Gebot genügt werden, ohne daß
die verlangte Liebe, worin sie auch bestehen möge, einen
bestimmten Grad der Lebhaftigkeit hätte, oder ohne daß
sie in ihrem Wirken eine Richtung nähme, die sie in
Auffindung von Gesetzen. 393
einem andern Falle nicht nimmt; hierfür aber fehlt in
jener allgemeinen Formel jeder Entscheidungsgrund. Recht-
lichen Gesetzen dagegen liegt das distributive suum cuique
in weitester Bedeutung zu Grunde; mögen sie Leistungen
vorschreiben oder Strafen bestimmen, so beabsichtigen sie
niemals zu allen Wiederholungsfällen dessen, was sie unter
den allgemeinen Begriff eines Rechtsverhältnisses bringen,
ein unmodificirbares Prädicat hinzuzufügen ; nur die Mangel-
haftigkeit unserer Maßstäbe zur Bestimmung der rechtlich
bedeutsamen Größendifferenzen verschiedener Fälle nöthigt
unsere menschliche Praxis, mit rohen Abstufungen der
Rechtsfolgen uns zufrieden zu stellen, die wir viel lieber
in genaue Proportion zu den sie bedingenden Unterschieden
der einzelnen Fälle setzen möchten. Nur rein verneinende
Gesetze, sittliche Verbote, scheinen diese Abstufung von
Grund und Folge nicht zu kennen. Ich überlasse jedoch
dem Nachdenken des Lesers, ob auf theoretischem Gebiet
überhaupt negative Urtheile für Gesetze zu halten sind und
nicht vielmehr für Contrapositionen, in denen wir ledig-
lich für unsern Denkgebrauch den bejahenden Sinn eines Ge-
setzes in Verneinung seines Gegentheils verwandelt haben;
jedenfalls haben wir in diesem allgemeinen negativen Aus-
druck einen Theil der Wahrheit verloren, nämlich das Maß
der Differenz, um welche die Einzelfälle von dem Prädicat
entfernt sind, das ihnen allen einfach abgesprochen wird;
was aber die sittlichen Verbote betrifft, so kommt in ihnen
selbst zwar nicht, wohl aber in der Beurtheilung ihrer
Uebertretungen die Rücksicht auf jene Abstufung wieder
zum Vorschein ; sie verbieten jede Aneignung fremden Eigen-
thums im voraus, aber die geschehene wird doch, je nach
ihrer besonderen Art, sehr verschiedenen Graden des Tadels
und der Strafe unterworfen.
266. Zwischen Gesetz und Regel besteht der Inten-
tion nach ein Unterschied, der in vielen Fällen sehr leicht
faßbar, aber keineswegs in allen durchführbar ist. Im
praktischen Leben bestimmt das Gesetz einen Zustand, der,
durch irgend eine Thätigkeit oder Verhaltungsweise herbei-
geführt, zu den zu erfüllenden Zwecken der politischen oder
socialen Gemeinschaft gehört; die Regel tritt als Aus-
führungsverordnung hinzu, um unter den mancherlei mög-
lichen und an sich gleichgültigen Maßnahmen zur Herbei-
führung jenes Zustandes theils die nützlichste zu wählen,
theils um überhaupt nur durch Feststellung eines bestimmten
394 Achtes Kapitel.
Verfahrens die nöthige Gleichförmigkeit und Vereinbarkeit
der Einzelleistungen zu sichern. In theoretischen Unter-
suchungen der Wirklichkeit meinen wir unter einem Ge-
setze den Ausdruck des eigenen inneren Bedingungsver-
hältnisses, das zwischen zwei Thatsachen stattfindet und
den Grund ihrer Verknüpfung sowie der Art ihrer Ver-
knüpfung bildet, und es gibt in jedem einfachen Falle nur
ein Gesetz; die Regel ist die Anweisung, in einer Anzahl
logischer oder mathematischer Denkoperationen unsere Be-
griffe so zu verbinden, daß wir zu Schlüssen gelangen,
welche mit der Wirklichkeit wieder zusammentreffen, und
solcher Regeln kann es für denselben Fall mehrere gleich
triftige geben. Dem Gesetze allein eignen wir daher eine
objective Wahrheit zu; die Regel ist die Summe der sub-
jectiven Maßnahmen, durch welche wir uns, von dem
Standpunkte aus, den wir der Sache gegenüber einnehmen,
ihres Zusammenhangs soweit bemächtigen, daß wir aus
gegebenen Thatsachen der Wirklichkeit ihre Folgen richtig
zu berechnen und vorauszusagen, ihre vorangegangenen
Gründe und Ursachen richtig zu errathen vermögen. Diese
Operationen, welche die Regel uns vorschreibt, brauchen
nicht denselben Gang zu nehmen, den die Entwicklung der
Sache selbst nimmt; sie haben nicht nöthig a principio
sich ad principiatum zu bewegen; sie können anstatt der
bedingenden Gründe triftige Kennzeichen benutzen; sie
dürfen zwar niemals allen Zusammenhang mit dem wahren
Verhalten verlieren, aber jeder durch unsere Stellung zur
Sache nothwendig gemachte Umweg und jede Umstellung
ihrer inneren Verhältnisse ist ihnen erlaubt. So groß in-
dessen der Intention nach dieser Unterschied zwischen Ge-
setz und Regel ist, so ist doch seine Anwendung kaum in
irgend einem Falle, da wenigstens, wo es sich um die
Untersuchung der Wirklichkeit handelt, völlig zweifellos.
Daß sehr viele unserer hier benutzten Verfahrungsweisen
bloße Regeln sind, sehen wir deutlich ein; aber fraglich
bleibt, ob irgend eines der Gesetze, die wir gefunden zu
haben glauben, wirklich diesen Namen in dem angeführten
eminenten Sinne verdient. Wir pflegen ihn da zu brauchen,
wo wir auf sehr einfache und sehr allgemeingültige Sätze
über die thatsächliche Verknüpfung der Erscheinungen ge-
kommen sind; so scheint es uns nicht eine Regel, sondern
ein Naturgesetz, daß die Intensität der Gravitation mit dem
Quadrate der Entfernung abnimmt ; gleichwohl ist die innere
Verbindung der einzelnen Glieder dieses Satzes noch un-
Auffindung von Gesetzen. 395
entdeckt und wir wissen nicht, wie die Größe eines Raumes
zwischen zwei Körpern ein Grund für die Veränderlichkeit
ihrer Wechselwirkungen sein kann; zuletzt ist daher auch
dies Gesetz nur eine Regel, welche uns aus gegebenen
Datis, Entfernungen und Massen, die Aenderungen jener
Wirkungen berechnen lehrt, ohne den innern Zusammen-
hang derselben mit ihren Bedingungen darzustellen. Auf
diese Frage führen uns spätere Anlässe zurück; für jetzt
genügt es zu bemerken, daß unsere nächsten Betrachtungen
das Gesetz nur als die einfachste Regel ansehen werden,
welche die Vermuthung für sich hat, dem eignen Verhalten
der Sache selbst am meisten nahe zu kommen.
267. Wir setzen jetzt voraus, daß wir durch die an-
gegebenen Hülfsmittel dahin gelangt sind, so rein als mög-
lich eine ursächliche Verbindung von U und W zu ent-
decken, und daß Versuche oder Beobachtungen uns eine
Reihe quantitativ bestimmter Werthpaare dieser Ursache
und ihrer zugehörigen Wirkung geliefert haben. Obwohl
Späterem etwas vorgreifend, wird doch dem Versuche, das
allgemeine Gesetz dieser Reihe zu bestimmen, eine Ueber-
legung über die verschiedenen Gründe nützlich vorangehen,
aus denen die gefundenen Größenverhältnisse von dem ge-
suchten wahren Verhalten abweichen können. Vor allem
bestehen unsere Beobachtungen nicht in den Sachen selbst,
sondern in den Eindrücken, welche die Sachen auf uns
machen; wenn nun hier dahingestellt bleiben kann, ob der
Eindruck, den unser Bewußtsein erfährt, jemals den Dingen
und den Verhältnissen gleich sein kann, von denen es
ihn erleidet, so ist doch unmittelbar klar, daß er ihnen
nicht gleich sein muß, sondern sich ändern kann mit der
veränderlichen Disposition dessen, der ihn empfängt. Der
hieraus entspringende Zweifel, inwieweit aus den subjectiven
Erregungen, die wir von einer vorausgesetzten Außenwelt
erfahren, auf das objective Verhalten dieser Wirklichkeit
geschlossen werden könne, berührt das ganze Gebiet unserer
Erkenn tniß; wir erörtern ihn, hier nicht, sondern begnügen
uns, unter der Wahrheit oder Richtigkeit der Beobachtungen,
die wir hier wünschen, ihre Allgemeingültigkeit für alle
normal gebildeten und unter gleiche Verhältnisse versetzten
menschlichen Beobachter zu verstehen, eine Eigenschaft,
über deren Vorhandensein in jedem Falle praktisch zuletzt
nur die Uebereinstimmung einer überwiegenden Majorität
im Gegensatz zu den auseinandergehenden Meinungen einer
Minorität entscheiden kann. Was dem Einen anders er-
396 Achtes Kapitel.
scheint, als unter völlig gleichen Umständen allen Anderen,
enthält einen Fehler in der Beobachtung jenes Ersten;
einen veränderlichen und durch Wiederholung der Be-
obachtung corrigirbaren dann, wenn augenblickliche Un-
achtsamkeit, einen bleibenden und im engeren Sinn per-
sönlichen Fehler dann, wenn die individuell ab-
weichende Organisation der Sinne die Schuld seiner Ent-
stehung trägt. Wie ausgedehnt diese Mangelhaftigkeit der
sinnlichen Auffassung in Bezug auf den qualitativen Inhalt
der Empfindung zukommt, zeigen die auseinandergehenden
Urtheile über Aehnlichkeit oder Contraste von Farben, über
Einklang oder Dissonanz von Tönen; aber sie sind nicht
minder bei der Schätzung von Größen zu bemerken. Denn
alle praktischen Bestimmungen in der Wirklichkeit ge-
gebener Größen beruhen zuletzt auf der Genauigkeit sinn-
licher Eindrücke, und alle künstlichen Methoden und In-
strumente der Messung haben nur die Aufgabe, das zu
Große durch Theilung, das zu Kleine durch irgend ein Mittel
der Vergrößerung so umzuformen, daß beide in das Be-
reich mittlerer Größen gerückt werden, über deren Gleich-
heit oder Ungleichheit unsere sinnliche Empfänglichkeit
ein hinlänglich genaues Urtheil besitzt. Und wirklich nur
auf dies letztgedachte einfache Urtheil kommen alle unsere
Messungen zurück; nur durch lange Uebung erwerben wir
bis zu gewissem Grade, von Natur aber besitzen wir die
Fähigkeit nicht, anzugeben, wie groß die Differenz zweier
ungleichen Größen des Raumes der Zeit oder der Intensität,
oder welches Multiplum der einen die andere ist. Nur daß
zwei Größen derselben Art gleich oder ungleich überhaupt
sind, empfinden wir unmittelbar, den Betrag ihres Unter-
schiedes messen wir mittelbar, indem wir die Anzahl be-
stimmter gleicher Größeneinheiten suchen, deren Vereini-
gung ihm selM; gleich ist. Wir nennen die Linie b größer
als a, weil sie zuerst eine Länge enthält, die gleich a ist,
dann aber der Wahrnehmung einen Ueberschuß d darbietet,
den jene nicht enthält ; wie groß d sei, erfahren wir nur durch
Anlegung eines Maßstabes, um so genauer, je kleiner die
sinnlich scharf beobachtbaren Einheiten sind, durch deren
Anzahl wir eine dem d gleiche Länge erzeugen; aber
auch wenn wir mikroskopische Maßstäbe anwenden: Alles
läuft zuletzt auf die Sicherheit hinaus, mit der die sinn-
liche Empfindung uns zeigt, daß der Endpunkt des zu
messenden d mit dem Endpunkt einer dieser kleinsten Maß-
Auffindung von Gesetzen. 397
einheiten genau zusammenfällt oder nicht. Zeitstrecken
erkennen wir, im Gefühl des Taktes, mit hinlänglicher Ge-
nauigkeit als gleich, wenn sie gleich sind; aber das Ver-
hältniß ungleicher zu einander können wir nur durch takt-
mäßige Zerfällung in gleiche wiederholte Einheiten messen;
nichts aber als der unmittelbare sinnliche Eindruck belehrt
uns über die Gleichheit dieser Einzelheiten selbst. Und
wenn wir ein mechanisches Räderwerk anwenden, das mit
hörbaren Signalen die Wiederholungen dieser Einzelheiten
markirt, so beruht die Genauigkeit auch seines Ganges
zuletzt auf der Sicherheit, mit welcher Gesichtseindrücke
die räumlichen Dimensionen jenes Werkes und seiner Be-
standtheile so herzustellen halfen, daß wirklich seine Be-
wegung nach gleichen Intervallen zur Auslösung jener
Signale führt. Soll endlich dieses Hülfsmittel dazu dienen,
die Zeiten festzustellen, nach deren Verlauf bestimmte
durch andere Sinne, durch das Auge, beobachtbare Er-
scheinungen eintreten, so kann nur der unmittelbare Ein-
druck uns lehren, daß eine Erscheinung dieser andern Art
in demselben Augenblick mit dem hörbaren Signal zu-
sammentrifft, und gerade hierüber ist, wie wir wissen, unser
Urtheil aus physiologischen Gründen nicht von der
wünschenswerthen Schärfe und bedarf der vorgängigen Be-
richtigung unseres persönlichen Fehlers. Nur kurz erwähne
ich endlich der bekannten Relativität aller unserer Maß-
bestimmungen; absolut sind nur die Wiederholungszahlen,
durch welcl^e wir die Anzahl der gefundenen Einheiten an-
geben; die Einheiten selbst sind nur relativ zu andern
bestimmbar, und die Frage ist sinnlos, wie groß etwas sei,
wenn man es an keinem vorausgesetzten Maßstab mißt.
Jene Einheiten zu finden, d. h. sie fest brauchbar und un-
zweideutig zu bestimmen, ist selbst eine Aufgabe der Be-
obachtungskunst; aber es reicht hier hin zu bemerken, daß
für Längeneinheiten unveränderliche Naturkörper, für Zeit-
einheiten genau periodische astronomische Erscheinungen,
für die Intensitäten bewegender Kräfte theils die Beachtung
des Gleichgewichts, theils die Geschwindigkeiten, die sie
erzeugen, Mittel der Bestimmung darbieten; noch aber be-
sitzen wir solche Mittel nicht, um beobachtbare Einheiten
für die Verschiedenheiten innerer Zustände, für die Stärke
der Empfindungen der Gefühle der Begehrungen herzu-
stellen.
268. Denken wir diesen ersten Mangel, den persön-
lichen Fehler, vermieden, so kann der Inhalt unserer Be-
398 Achtes Kapitel.
obachtung doch sehr weit von dem wahren Verhalten durch
Schuld der Stellung abweichen, die wir, entweder individuell
oder menschlich allgemein, zu der Sache selbst einnehmen.
Nicht auf räumliche Erscheinungen beschränkt, aber an
ihnen am leichtesten verständlich, ist das häufige Verhalten,
daß derselbe Vorgang oder dasselbe Object sehr verschiedene
Bilder gewährt je nach dem Standpunkt des Betrachters.
Ich glaube den allgemeinen Satz wagen zu dürfen, daß
jedes gesetzmäßige Geschehen auch eine gesetzmäßige Pro-
jection für jeden beliebigen Standpunkt gibt; aber die
Regeln, nach denen man von einer seiner so geschehenen
Phasen auf die andere schließt, gestalten sich für ver-
schiedene Orte des Beobachters mehr oder minder vortheil-
haft und erschweren oft in hohem Grade den Rückgang
von dem projicirten scheinbaren Geschehen auf das
projicirende wirkliche. Eine Kreisbewegung wird
als solche erscheinen nur für jeden Standpunkt in der
senkrechten Axe durch den Mittelpunkt der Kreisebene;
einer Ovale ähnlich für jeden Ort außer dieser Axe und
außer der Ebene; als geradlinige Oscillation für jeden
Punkt in der Ebene des Kreises und außerhalb seines Um-
fangs. Gesetzlich werden alle die drei Reihen gebildet sein^
die für diese drei Standpunkte die Zeiten und die zu-
gehörigen Orte des bewegten Punktes verbinden; aber auf
^as wahre Verhalten deuten sie sehr ungleich hin. Käme
nun nichts weiter in der Beobachtung hinzu, und hätte
man nicht schon eine Summe anderer Kenntnisse über das^
was in der Wirklichkeit Rechtens ist und vorzukommen
pflegt, so würde man auch gar keinen Grund haben, etwa
anstatt der Regel, die jene geradlinige Oscillation in unserem
Beispiele ausdrückt, eine andere zu verlangen. Aber in
der Natur fehlt es kaum je an Nebenzügen, die sich der
Beobachtung mit aufdrängen und zuerst zum Zweifel, dann
zur Berichtigung führen. Die Beobachtung jener Kreis-
bewegung besteht nicht darin, daß wir sie denken oder
vorstellen, sondern wir sehen sie; und sehen können wir
sie nicht ohne Lichtstrahlen, die von dem bewegten Punkte-
in unser Auge zurückgeworfen werden; und hieraus folgt,,
daß Veränderungen der scheinbaren Größe und der Hellig-
keit des Körpers seine Bewegung für jeden Beobachter be-
gleiten müssen, der außerhalb jener Axe steht; nur für
diesen einen Standpunkt fehlt jene Veränderlichkeit und
mithin der Antrieb, für sie eine Erklärung zu suchen. Ver-
setzen wir utns nun in die Kreisebene selbst, so wird dort
Auffindung von Gesetzen. 39^
der Körper, wenn er von dem äußersten Ende a seiner
scheinbar geradlinigen Bahn sich der Mitte derselben nähert^
an Größe ^nd Helligkeit zunehmen, über die Mitte hinaus
bis b an beiden abnehmen; geht er dann von b nach a
zurück, so dauert zuerst diese Abnahme fort, erreicht das
Minimum in der Mitte der Bahn und macht von da bis a
neuer Zunahme Platz. Nimmt man dies alles für Wirk-
lichkeit, so hat man viele Fragen zu beantworten. Warum
überhaupt ändert der Körper an den Endpunkten seiner
Bahn die Richtung seiner Bewegung und warum wächst
seine Geschwindigkeit, wenn er sich der Mitte, und nimmt
ab, wenn er sich den Enden nähert? Entweder muß jene
Mitte einen Grund enthalten, der ihn nach ihr zieht, oder
in den Verlängerungen der Bahn müssen gleiche entgegen-
gesetzt wirkende Gründe vorhanden sein, die ihn dorthin
drängen. Aber warum nimmt er dann an demselben Mittel-
punkt zugleich das Maximum und zugleich das Minimum
seiner Größe und Helligkeit an, wenn jene Kraft oder dieses
Kräftepaar doch immer dasselbe bleibt? Man wird am
einfachsten auf bloße Coincidenz beider Erscheinungen
rathen; der Körper ist, ganz unabhängig von seiner Bahn-
bewegung, in periodischen Anschwellungen und Verkleine-
rungen begriffen, welche nur Functionen der Zeit, nicht
des Ortes sind; da er sich aber doch zu jeder Zeit t an
irgend einem Orte befinden muß, so kann er sich zur Zeit
seines Größenmaximums ebensogut in der Mitte seiner Bahn
als sonstwo befinden, und da das Minimum seiner Größe
erst in der Zeit t eintritt, in der er eine halbe Oscillation
vollendet hat, so fällt auch dies Minimum auf dieselbe
Bahnmitte. Dies und Aehnliches kann man sagen, glauben
wird man es aber nicht; denn ganz unerhört sind sonst in
der Natur periodische Schwellungen dieser Art, ganz be-
kannt dagegen die Veränderungen der scheinbaren Größe
und der Helligkeit, welche die Körper nach Maßgabe ihrer
wechselnden Entfernung von unserm Auge erfahren. Auf
diese Analogien gestützt werden wir daher versuchen,,
unsern beobachteten Thatbestand als Projection eines andern
wahren aufzufassen; da wir zwischen den Orten des Maxi-
mum und des Minimum keine Entfernung bemerken, beide
vielmehr in der Bahnmitte zusammenfallen, da ferner der
Weg des Hingangs und der des Rückgangs sich überall
decken, so muß die vorauszusetzende wahre Bahn eine
ebene geschlossene Curve sein, und einer ihrer Durchmesser
in der Richtung unseres Blickes auf den Mittelpunkt der
400 Achtes Kapitel.
scheinbaren Bahn liegen ; aus der Vergleichung der einzelnen
scheinbaren Orte für aufeinanderfolgende Zeitmomente
würde sich dann weiter ergeben, ob die wahre Bahn ein
Kreis eine Ellipse eine Ovale oder was sie sonst ist. Ich
darf nur an Copernikus erinnern, um einleuchtend zu
machen, wie die Häufung unbeantwortbarer Fragen in dem
Thatbestand der Beobachtung der mächtige Antrieb zu der
Umformung unserer Naturansichten ist, und wie Vieles auf
einmal erklärlich wird, wenn wir das sinnlich Gegebene
nur als Projection eines unbeobachtbaren Verhaltens auf-
fassen. Um dies aber zu können, müssen wir eine Summe
allgemeiner Wahrheiten sowohl als früherer Kenntnisse von
Thatsachen bereits besitzen; rein logische Vorschriften
können anregen, aber nicht zum Ziele führen.
269. Ich kehre jetzt einen Schritt zurück; ehe wir
Versuche machen, den beobachteten Thatbestand in der
angegebenen Weise zu deuten, müssen wir die Gesetze
selbst erst besitzen, die wir durch diese Deutung auf eine
-einfachere, dem wahren Verhalten entsprechendere Form
zu bringen denken. Nichts ist uns zu ihrer Ermittelung
gegeben, als jene Werthreihe der Ursachen und der zu-
gehörigen Wirkungen. Selbst dann nun, wenn wir an-
nehmen, daß diese vorliegenden Zahlen vollkommen fehler-
freie Angaben dessen sind, was beobachtet werden konnte,
selbst dann ist der Uebergang von diesen Einzelgliedem
der Reihe zu dem allgemeinen Bildungsgesetze derselben
stets ein logischer Sprung; es gibt kein demonstratives
Verfahren, durch welches ein ausschließlich gültiges und
wahres Gesetz der Reihe gefunden und als solches be-
wiesen werden könnte; man kann es immer nur errathen
und dann durch eine unbeschränkte Menge von Neben-
betrachtungen die Wahrscheinlichkeit seiner Richtigkeit
steigern. Es ist wichtig, sich hierüber ganz klar zu werden.
Ist uns zuerst eine endliche Anzahl von n Gliedern einer
Zahlenreihe in der Ordnung gegeben, in welcher sie in
der Reihe aufeinander folgen, so kann es in diesem Falle
leicht möglich sein, eine einfache allgemeine Formel zu
finden, welche diesen gegebenen n Gliedern völlig genau
entspricht und ihr allgemeines Glied ausdrückt; aber selbst
dann braucht diese Formel nicht nothwendig eine einzige
ausschließlich zu sein; sie kann wenigstens verschiedene
Auffassungsweisen zulassen. Sind z. B. die gegebenen
Glieder 1, 3, 5, 7, 9, so ist, wenn wir die Stellenzahl des
ersten Gliedes = 1 setzen, 2 n — 1 der genaue Ausdruck
Auffindung von Gesetzen. 401
des allgemeinen Gliedes; aber gerade in dieser Form ge-
dacht wird das allgemeine Glied schwerlich einem wirk-
lichen physischen Verhalten entsprechen, zu dessen gesetz-
lichem Ausdrucke es dienen soll; dieselbe gegebene Reihe
läßt sich aber auch als arithmetische Progression mit dem
Anfangsgliede 1 und der Differenz 2, und außerdem als
die Reihe der Differenzen denken, welche durch Subtraction
des Quadrates einer ganzen Zahl von dem Quadrate der
zunächst in der Zahlenreihe folgenden entstehen; beide
Deutungen sind durch dasselbe allgemeine Glied ausdrück-
bar, beide bestimmen jedes Glied dieser Reihe; aber
beide denken über die Entstehungsweise jedes Gliedes ver-
schieden und dieser Unterschied wird wichtig, weil er
nun auch verschiedene Annahmen über das physische Ver-
halten der durch diese Reihe ausgedrückten Erscheinungen
möglich macht. So bleiben schon hier der Zweifel genug;
aber außerdem sind ja die hier gemachten Voraussetzungen
gar nicht identisch mit denen, die wir bei Reobachtungen
machen; ein so gefundenes allgemeines Glied gilt genau
nur für die Anzahl der n Glieder, aus denen es gefunden
ist; wir aber verlangen, daß unser aus den Reobachtungen
zu gewinnendes Gesetz auch für diejenigen Werthe der
Ursachen und Wirkungen gelten soll, die wir nicht be-
obachtet haben. Nun kann man gegebene Reihen freilich
interpoliren, d. h. man kaim fehlende Zwischenglieder so
berechnen, daß sie nach einem aus den gegebenen Gliedern
abstrahirten Rildungsgesetze, das häufig verwickelt genug
ausfällt, in die Reihe passen; aber damit setzt man eben
voraus, daß jenes aus den gegebenen Gliedern entwickelte
Gesetz auch für die nicht gegebenen gilt, eine Voraussetzung,
die immer zulässig ist, wenn es sich blos um Vervollstän-
digung einer denkbaren Reihe, aber gar nicht triftig,
wenn es sich darum handelt, ob eben diese denkbare Reihe
einem wirklichen Verhalten auch in denjenigen seiner
Strecken entspricht, in denen dasselbe nicht beobachtet
wird. Um also ein aus den gegebenen Gliedern etwa ge-
wonnenes Gesetz auch auf die nicht gegebenen erstrecken
zu dürfen, müssen wir vorher Gründe haben, die uns zur
Unternehmung eines solchen Interpolationsverfahrens über-
haupt berechtigen. Ein ganz einfaches Reispiel erläutert
dies. Wir denken uns die Werthe von U als Abscissen x,
sprungweis um A x zunehmend, die Werthe von W als
Ordinaten y aufgetragen; wenn nun unsere gegebene Reihe
für alle Werthe m. Ax von x denselben Werth y = C gibt,
Lotze, Logik. 26
402 Achtes Kapitel.
so kann es ja freilich sein, daß diese Gleichung auch für
alle die nicht beobachteten Ordinaten gelten würde, die
zu Bruchtheilen eines Ax gehören; dann ist die Linie,
welche die Endpunkte aller Ordinaten verbindet, eine Gerade
und parallel der Abscissenaxe ; allein sicher ist doch diese
Folgerung nicht; zwischen je zweien Endpunkten der ver-
schiedenen A X kann y jeden möglichen Werth, und die
Curve, welche die verschiedenen y verbindet, jeden mög-
lichen Verlauf haben; sie kann reell oder imaginär, gerade
oder gekrümmt sein, y kann durch ein oder mehrere
Maxima und Minima, selbst durch das Unendliche hindurch
gehen, und alle diese unbestimmbaren Verläufe können
in dem Intervall eines A x beliebig andere sein, als inner-
halb eines andern A x. Man kann aus dieser Betrachtung
eine kleine Regel über die Auswahl der zu benutzenden
Beobachtungen ableiten, welche der früher erwähnten für
unvollständige Inductionen ähnlich ist: es empfiehlt sich
nicht, die Reihe der Werthpaare so zu bilden, daß U in
regelmäßiger Weise fortschreitet und nur diejenigen Werthe
von W zum Vorschein kommen, welche diesen symmetrisch
abgemessenen Größen von U entsprechen; man ist in
Gefahr, auf diese Weise nur auf eine Reihe ausgezeichneter
Specialwerthe, auf Maxima oder Minima, oder feste Werthe
der W überhaupt zu kommen, die periodisch wiederkehren,
und die gar keine Auskunft oder falsche Vermuthungen
über den zwischenliegenden Verlauf ihrer Curve an die
Hand geben. Für die erste Errathung des allgemeinen
Reihengesetzes ist natürlich der regelmäßige Fortschritt
der U um gleiche Zunahmen vortheilhaft, zur Bestätigung
desselben hat man möglichst unsymmetrisch oder irrational
wechselnde Zunahmen des U in Betracht zu ziehen. Ganz
einfach: wer immer nur von 7 zu 7 Tagen und zwar
Sonntags Nachmittags einen Vergnügungsort beobachtet,
kann die hier gefundene Frequenz nicht auf die Wochentage
ausdehnen; wer den Mond immer blos durch eine Ritze
~ beobachtet, die gerade nur seine Culmination zu sehen
erlaubt, kann nicht errathen, wo er sich während der
übrigen Zeit am Himmel herumtreibt. Findet man dagegen,
daß die Werthe y, die zu ganz willkürlich herausgegriffenen
Zwischenwerthen von früher berücksichtigten x gehören,
dem aus diesen abgeleiteten Gesetze sich fügen, so ist
hierdurch zuerst einige Berechtigung dazu gegeben, auch
alle übrigen y diesem Gesetze gemäß zu interpoliren. Eine
völlige Rechtfertigung dieses Schrittes würde strenge Logik
Auffindung von Gesetzen. 403
auch hierin nicht finden; so lange es unmöglich ist, alle
aufeinanderfolgenden Werthe von U und alle zugehörigen
Wirkungen W zu beobachten, so lange bleibt der Zweifel,
ob in den nichtbeobachteten Fällen das Gesetz der be-
obachteten gelte. Dieser Zweifel wird nun in der Praxis
durch Nebenerwägungen eingeschränkt, die nicht aus all-
gemeinen logischen Gründen, sondern aus den sachlichen
Kenntnissen fließen, welche wir über den jedesmal vor-
liegenden Inhalt der Untersuchung in der Regel in der
erforderlichen Ausdehnung besitzen. Wer die Wirkungs-
weise einer bestimmten Naturkraft untersucht, weiß im
voraus, daß für keinen endlichen Werth der U die W
unendlich werden kann; und von der besonderen Natur
der fraglichen Kraft wird er hinlänglich unterrichtet sein,
um zu beurtheilen, ob ihre Wirkungen stetig zunehmen
oder periodisch schwanken oder für einzelne Werthe der U
verschwinden können, ob es endlich wahrscheinlich ist,
daß sie ungestört sich im Anwachsen der Zeit summiren,
oder ob ein Widerspruch angenommen werden muß, der
die entstandenen Erfolge ganz oder theilweis immer wieder
aufhebt. Diese sachlich begründeten Voraussetzungen sind
es, die uns berechtigen, das Gesetz für die wirklich be-
obachteten Werthpaare auch auf die nichtbeobachteten mit
großer Wahrscheinlichkeit zu übertragen. Noch ein Hülfs-
mittel kommt in den Fällen hinzu, welche unbeschränkt
das Experiment gestatten; durch autographische Vorrich-
tungen, welche man mit dem Apparat verbindet, an welchem
die Wirkungen der Kraft sichtbar gemacht werden, kann
man die Kraft nöthigen, die Erfolge selbst zu verzeichnen,
die sie in jedem Augenblicke ihres stetigen Wirkens hervor-
bringt; man hat dann auf mechanischem Wege die sonst
immer nur beschränkte Anzahl unserer Beobachtungen so
in's Unendliche vermehrt, daß eine sich stetig an die andere
anschließt, und die so entstandene sichtbare Curve gestattet
über Stetigkeit und Unstetigkeit der Wirkung, über gleich-
mäßige verzögerte oder beschleunigte Zunahme, über
periodisches oder nicht periodisches Wachsthum ein so
sicheres Urtheil, wie es überhaupt Beobachtungen erlauben.
Denn freilich: der logische Splitterrichter wird noch immer
einwenden können : jede gezeichnete Curve bestehe zuletzt
aus einer Reihe punktförmiger Pigmentablagerungen, die
nur dem unbewaffneten Auge, das hier unabsichtlich inter-
polirt, als stetige Linie erscheinen; auch hier also eine
Anzahl von Einzelwahrnehmungen, die nicht gestatten, auf
26*
404 Achtes Kapitel.
das Verhalten der Wirkungen zu schließen, welche, weil
sie kein Pigmentatom zu ihrer Verfügung fanden, den
Lücken zwischen den Farbenpunkten der sichtbaren Curve
entsprechen. Lassen wir dies; worauf es mir hier ankam,
war die Einschärfung des Satzes, daß die Auffindung eines
allgemeinen Gesetzes jederzeit eine Leistung der errathenden
Einbildungskraft ist, möglich gemacht durch sachhche
Kenntniß, die hier in der Erinnerung durch die Aehnlichkeit
des gegebenen Falles mit analogen früheren reproducirt
wird und sich zum Erklärungsgrunde anbietet. Eine demon-
strative Methode aber, oder eine sprunglose Methode über-
haupt, ein sicheres logisches Recept, zu dem richtigen
allgemeinen Gesetze einer Gruppe von Vorgängen zu ge-
langen, gibt es nicht. i
270. Wenden wir uns nun noch einmal zu unserer
Werthreihe zurück, um zu sehen, in welchem Grade die
Lösung der gestellten Aufgabe gelingt, so finden wir zuerst
zahlreiche Fälle, in denen sie entschieden mißlingt. Hierher
gehören namentlich eine Menge statistischer Berechnungen,
welche ein Ergebniß W, das in Wahrheit von einer sehr
großen Anzahl zusammenwirkender Bedingungen abhängt,
z. B. die noch vorhandene Lebenshoffnung, nur bezüglich
seiner Bedingtheit durch eine derselben, etwa das bereits
erreichte Lebensalter, auffassen und über dieses Verhältniß
ein allgemeines Gesetz suchen. Der innere Widerspruch
der Aufgabe springt in die Augen; man kann nicht eine
veränderliche Größe W, welche eine Function von U x y z
zugleich ist, als bloße Function von U ausdrücken und
dabei x y z ganz vernachlässigen, die in den richtigen
Ausdruck doch als Mitbedingungen eingehen müßten. In
der That wurde man auch auf einen solchen Versuch gar
nicht gerathen, wenn es nicht wieder die Erfahrung wäre,
die ihm Credit verschaffte; so ungenau theoretisch be-
trachtet unser Verfahren ist, so wissen wir doch, daß
factisch etwas, wenn auch nicht ganz das Gewünschte,
dabei herauskommt, und umgekehrt : der Mangel alles Erfolgs
ist in anderen Fällen der Beweggrund, der uns von ähn-
lichen Versuchen abstehen heißt. Was nun hier heraus-
zukommen pflegt, beruht etwa auf Folgendem. Unter den
Bedingungen weiterer Lebenshoffnung ist die mächtigste
ohne Zweifel das schon erreichte Alter U, denn die mit
ihm verbundene Modification des Körpers, die allmählich
fortschreitet, reicht für sich allein zuletzt hin, um selbst
unter den günstigsten anderen Bedingungen den Tod un-
Auffindung von Gesetzen. 405
vermeidlich zu machen. Innerhalb längerer Zeiträume
ändert sich jedoch die Wirkung des U nur langsam und
unbeträchtlich, während in anderen Abschnitten des Lebens
sie rasch und bedeutend wächst; hieraus folgt, daß .die-
selben äußern Bedingungen während einer gewissen Lebens-
periode gleichmäßig, während einer andern auch gleich-
mäßig, aber gleichmäßig anders auf den Körper einwirken;
beruht nun sacfilich auf dieser Wechselwirkung der vor-
handenen Lebenskraft mit den Umständen die Fähigkeit
zu weiterem Fortleben, so ist zu vermuthen, daß für gewisse
Strecken des Lebensalters die Lebenshoffnung nach einem
ziemlich constanten Gesetze, für andere begrenzte Strecken
nach einem andern gleichfalls beständigen Gesetze abnimmt;
daß aber nicht wohl ein Gesetz denkbar ist, welches für
die ganze Lebensstrecke, also für jedes erreichte Alter
das noch zu hoffende Leben allgemein bestimmte. Man
pflegt daher in solchen Untersuchungen partielle Gesetze
oder Formeln aufzustellen, die jede nur für Werthe .des U
zwischen zwei bestimmten Grenzen gelten und die zu-
gehörigen Werthe von W berechnen lehren sollen. Eine
theoretische Bedeutung haben diese Formeln gar nicht;
sie sind nur praktische Rechenknechte oder übersichtliche
Ausdrücke des Verhaltens im Allgemeinen; sind sie sehr
einfach und doch von hinlänglicher Genauigkeit, so er-
leichtern sie die Berechnung; sind sie doch schon von
complicirter Form, so ist es meistens leere Affeetation,
sie überhaupt aufzustellen; man geht dann zweckmäßiger
auf die Urform der Tabelle zurück, die das factischa
Material der Beobachtung, aus dem sie entstanden sind,
unverarbeitet enthält.
271. Wenn die Sache weniger ungünstig steht und auf
das Vorhandensein eines durch zwei Beziehungspunkte U
und W ausdrückbaren allgemeinen Gesetzes gerechnet
werden kann, so fragt es sich nun, welches von den
mehreren zu wählen ist, die der vorliegenden Reihe der
Werthpaare gleich gut oder mit gleichem Grade der An-
näherung untergelegt werden können. Wir werfen diese
Frage unter etwas anderen Voraussetzungen auf, als wir
bisher festhielten. Eine völlig genaue Wiedergabe des
beobachtbaren Thatbestandes werden die Zahlen unserer
Werthreihe nicht so sein, wie wir annahmen; sie werden
Ungenauigkeiten enthalten, von denen wir uns jetzt be-
gnügen zu glauben, daß sie klein sind, und daß sie nicht
nach einer Richtung, sondern ziemlich gleichmäßig nach
406 Achtes Kapitel.
(lem Mehr und nach dem Minder hin von dem wahren
Thatbestand abweichen. Unter diesen Bedingungen entsteht
der Zweifel, ob überhaupt diejenige Formel, welche den
gegebenen Werthen sich am genauesten anschließt, für das
von uns gesuchte Gesetz zu halten sei. Ganz unverwischt
wird schwerlich je der reine Fall B F in unsere Beobachtung
fallen; der Erfolg, den seine Bedingung B für sich allein
haben müßte, wird durch das gleichzeitige nie ganz zu
eliminirende Mitwirken anderer Ursachen etwas verändert
sein, und dieser nicht ganz reine Thatbestand wird neue
Aenderungen durch die nie fehlenden kleinen Unvollkommen-
heiten unseres Beobachtens erfahren haben. Die Data, von
denen wir ausgehen, enthalten also das, was wir suchen,
und zugleich Störungen desselben, die wir nicht suchen;
eine Formel, die sich ihnen genau anschlösse, würde eine
Copie dieses gemischten Thatbestandes sein, aber nicht
ein Gesetz für den reinen Fall, den wir aus seiner Ver-
mischung mit zufälligen Nebenumständen zu sondern
suchten. Diese Ueberlegung ist der allgemeine Grund, um
deswillen wir uns überhaupt erlauben, die kleinen Ab-
weichungen unberücksichtigt zu lassen, welche zwischen
den gegebenen Werthen und einem sie nahezu deckenden
Gesetze noch bestehen bleiben; wir rechnen diese
Differenzen dann auf unbekannte Störungen. Es könnten
jedoch Fälle vorkommen, in denen wir ein Gesetz, welches
den gegebenen Werthen vollständig entspräche, dennoch
für unrichtig halten oder einem andern nachstellen müßten,
das ihnen mit minderer Annäherung genügte ; dies wird
eintreten, wenn wir bekannte Störungen, die nothwendig
stattfinden müssen, in jenem ersten Gesetze nicht mehr
angedeutet sehen. Nehmen wir an, zwei Körper a und b
umkreisen gleichzeitig in verschiedenen Ebenen und Ent-
fernungen einen dritten C, der auf beide eine stetige An-
ziehung ausübt, und es folge aus unsern Beobachtungen
mit völliger Genauigkeit, daß beide Körper zwei ähnliche
regelmäßige Ellipsen beschreiben, so müßten wir entweder
unsere Beobachtungen für mangelhaft erklären, oder wir
könnten die elliptische Bahn nicht in dem gewünschten
Sinne als das Gesetz dieser Bewegungen auffassen. Denn
auch wenn wir Anziehung nur zwischen C und a und
zwischen C und b, aber nicht zwischen a und b, noch mehr
aber, wenn wir sie auch zwischen diesen bestehen ließen,
müßte die Bahn, welche a beschriebe, wennb nicht vor-
handen wäre, dann gestört werden, wenn b zugleich da
Auffindung von Gesetzen. 407
ist. Entweder also weichen die wirklichen gleichzeitigen
Bewegungen von der Ellipse ab, und dann waren unsere
Beobachtungen ungenau und repräsentiren diese kleinen
Störungen nicht; oder die Ellipse ist die f actische Bahn
beider Körper, und dann ist die gesetzliche Bahn jene
andere, die sie durchlaufen würden, wenn diese Störungen
nicht wären. Denn darauf allein ist es doch bei solchen
Untersuchungen nicht abgesehen, blos einen allgemeinen
Ausdruck oder eine Copie des Thatbestandes zu bekommen,
so wie er aus der bereits erfolgten Anwendung eines all-
gemeinen Gesetzes auf bestimmte Bedingungen eines parti-
cularen Falles entsprungen ist; man wünscht vielmehr das
Gesetz in derjenigen Allgemeinheit, die, weil es diese Sonder-
umstände noch ausschließt, die Ergebnisse zu beürtheilen
verstattet, welche unter andern Nebenumständen aus den
bleibenden oder analogen Hauptbedingungen hervorgehen.
In solchen Fällen, wie wir sie hier annahmen, wird daher
die mangellose oder allzu auffallende Genauigkeit, mit
welcher ein angenommenes Gesetz den gegebenen Beobach-
tungen sich anschließt, geeignet sein, Mißtrauen gegen seine
Richtigkeit zu erwecken. Welches andere Gesetz für richtiger
gelten darf, läßt sich natürlich nur in dem Maß vermuthen,
in welchem man die übersehenen Störungen aus anderen
Gründen schätzen kann; das erweckte Mißtrauen kann aber
die Anleitung zu neuen Combinationen der Beobachtungen
oder zu neuen Versuchen werden, welche hierüber Licht
zu verbreiten vermögen.
272. Es hängt hiermit weiter zusammen, daß wir in
dem Falle mehrerer Gesetze, die sich den vorliegenden
Datis mit ungefähr gleicher Annäherung anschließen, das
einfachere vorzuziehen, überhaupt in der Einfachheit eine
Art Bürgschaft der Wahrheit zu sehen pflegen. Gegen diese
letzte Auffassungsweise, die das simplex sigillum veri zum
allgemeinen Grundsatz erhebt, hat die Logik einen ebenso
allgemeinen Widerspruch zu erheben. Wenn es sich um
Benutzung eines Gesetzes zur Berechnung einzelner Fälle
handelt, dann ist freilich die einfachere Formel vorzuziehen,
weil sie bequemer ist; über ihre Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit aber entscheidet, so allgemein betrachtet, ihre
Einfachheit gar nichts. Man muß durchaus überlegen,
wessen man sich in dem Gebiet von Vorgängen, die man
untersuchen will, überhaupt zu versehen hat. Ist es ein-
leuchtend, daß in ihm ein Ergebniß W von vielerlei un-
408 Achtes Kapitel.
abhängigen Bestimihungsstücken abhängt, so ist ein ein-
faches Gesetz über diesen Zusammenhang zwar kein
unmöglicher, aber ein durchaus unwahrscheinlicher Fall ;
die erste Regung, die wir bei der Auffindung eines solchen
Gesetzes eigentlich haben sollten, wäre die des Mißtrauens
in seine Gültigkeit; wir müßten glauben, in unseren Be-
obachtungen oder in unserm Raisonnement die Sache zu
leicht genommen und wesentliche Bedingungen unberück-
sichtigt gelassen zu haben; erst dann werden wir befriedigt
sein, wenn eine eindringende Untersuchung zeigt, daß wirk-
lich diese übergangenen Bedingungen sich untereinander
stets so aufheben, daß die Rücksicht auf sie rechtlich in
dem allgemeinen Gesetze ausfallen darf. Hätte man z. B.
durch bloße Beobachtungen gefunden, daß ein Körper, von
einer Kugeloberfläche unter der anziehenden Wirkung des
Kugelmittelpunktes ausgehend, auf einer bestimmten andern
concentrischen Oberfläche immer mit derselben End-
geschwindigkeit ankommt, gleichviel auf welchem Wege
er von der einen zur andern übergeht, so würde man diesem
Funde mißtrauen müssen und ihn erst dann anerkennen,
wenn nachgewiesen ist, daß wirklich hier diese merkwürdige
Compensation verschiedener Nebenbedingungen stattfindet
und -Stattfinden muß. Man täuscht sich hierüber leicht,
wenn das gefundene Resultat nicht so paradox ist, wie dies
ebenerwähnte. Die Formel T = ti'\/ — scheint alle Be-
r g
Stimmungsstücke zu vereinigen, von denen die Zeit einer
Pendelschwingung abhängt, denn die oberflächliche Be-
obachtung läßt den Elongationswinkel als wirksam nicht
hervortreten. Die genauere Theorie zeigt dann doch, daß
dieser einfache Ausdruck nur eine Annäherung und das
wahre Gesetz weit verwickelter ist. Obwohl man daher,
nach _ einem gewissen speculativen Grundsatz, auf den ich
vielleicht später komme, voraussetzen darf, daß die Wirk-
lichkeit in der That mancherlei eigenthümliche Gompen-
sationen enthalte, geeignet, gewisse Typen von resultirenden
Ereignissen immer nach demselben einfachen Gesetze zu
erhalten, gleichviel wie verschieden die Mittel sind, durch
die in den einzelnen Fällen diese Typen realisirt werden:
so darf man doch das Vorhandensein solcher Einrichtungen
nur da annehmen, wo die Beobachtungen es zweifellos
zeigen; dagegen wo uns ein solcher Vorausblick auf die
Grenzen nicht gestattet ist, innerhalb deren sich der Erfolg
nicht vollständig bekannter Bedingungen halten muß, bleibt
Auffindung von Gesetzen. 409
die Vermuthung einfacher Gesetze und die Vorliebe für
solche fehlerhaft und pflegt nur von der vollständigen Er-
forschung aller wesentlichen Einzelheiten des gegebenen
Untersuchungsobjectes abzuhalten. Der gegenwärtige Zu-
stand der Naturforschung macht diese Warnungen vielleicht
nicht mehr so nothwendig, als sie vor einigen Jahrzehnten
gewesen wären, wo mein sich sehr geneigt fand, so zu-
sammengesetzte Erscheinungen, wie das organische Leben,
nach höchst einfachen, aber ebenso unzulänglichen all-
gemeinen Gesichtspunkten erklären zu wollen. Es verhält
sich natürlich Alles anders, wenn der behandelte Gegenstand
zu jenen Phänomenen gehört, die man nicht mehr als
veränderliche Erzeugnisse einer Mehrheit unabhängiger
Ursachen, vielmehr selbst als Erscheinungen jener Grund-
kräfte zu betrachten Anlaß hat, aus deren constantem
Wirken unter verschiedenartigen zweiten Prämissen die
Mannigfaltigkeit der physischen Vorgänge zusammengesetzt
wird. Gewiß hat man für diese Fälle, die sich ja dem
vorausgesetzten reinen Falle B F nähern oder ihn erreichen,
die Einfachheit des sie betreffenden Gesetzes als Zeiclien
seiner wahrscheinlichen Gültigkeit anzusehen; aber doch
auch nicht aus dem gewissermaßen ästhetischen Grunde,
daß Einfachheit allenthalben Charakter der Wahrheit wäre,
sondern deswegen, weil sich für diese reinen Fälle in der
That nur eine der früher (263) angeführten einfachen
Formen des gesetzlichen Zusammenhangs zwischen Ursache
und Wirkung denkbar erweist.
273. Man hat bemerkt, wie großen Werth wir bei Auf-
findung von Gesetzen auf schon vorhandene Kenntnisse
legten und wie wir dahin kamen, an allerhand Vorüber-
legungen und Nebengedanken zu appelliren, durch welche
die unmittelbaren Daten der Beobachtung erst eine gewisse
Deutung erhalten müssen. Drücken wir diesen Drang in
der bekanntesten Form aus: wir brauchen sehr häufig^
Hypothesen, um die Beobachtungsresultate nutzbar zu
machen. Man kann in der That geneigt sein, unter diesen
Namen mehrere der Gedanken zu bringen, die wir uns
schon gestatteten, und es etwa eine Hypothese zu nennen,
wenn wir von einem periodischen Wachsen und Abnehmen
einer Wirkung bei stets wachsender Ursache auf eine Ver-
schiebung zurückschlossen, die in den gegenseitigen Stellun-
gen der in dieser Ursache vereinigten wirksamen Elemente
stattfinde. Es scheint mir jedoch im Interesse der Logik,
die Namen anders zu definiren und zwischen Postulaten
410 Achtes Kapitel.
Hypothesen und Fictionen zu unterscheiden. Der
eben erwähnte Rückschluß ist ein Postulat, d. h. er drückt
diejenigen Bedingungen oder denjenigen Grund aus, ohne
dessen Herstellung oder Gültigkeit durch irgend welche
realen Dinge Kräfte oder Vorgänge die gegebene Form
der Erscheinung überhaupt undenkbar ist; er fordert oder
postulirt also, daß irgend etwas der Art vorhanden sein
müsse, was geeignet ist, dies Gegebene zu begründen. Das
Postulat ist daher nicht eine Annahme, die man machen
oder auch unterlassen oder an deren Stelle man irgend
eine andere setzen kann; es ist vielmehr eine absolut
nothwendige Annahme, ohne welche der Inhalt der Be-
obachtung, um die es sich handelt, den Gesetzen unseres
Denkens widersprechen würde. Auch ist das Postulat keines-
wegs seinem eignen Inhailte nach nothwendig so unbestimmt,
wie es nach meinen eben gebrauchten Ausdrücken scheinen
könnte; das vielmehr, was da sein oder da gewesen sein
oder geleistet werden muß, damit die gegebene Erscheinung
als wirkliche denkbar sei, kann durchaus bestimmt sein;
unbestimmt bleibt blos die hiervon wesentlich verschiedene
Frage, wer oder was denn dasjenige sei, welches durch
seine concrete Natur eben diejenigen Bedingungen in Wirk-
lichkeit herstellt, deren Erfüllung das Postulat zur Möglich-
keit des Gegebenen nothwendig fand. Wenn ein Körper
von bekannter Masse sich in einer bekannten krummlinigen
Bahn mit bekarmter Geschwindigkeit bewegt, so läßt sich
ganz vollkommen genau die Summe der resultirenden Be-
dingungen B, B^ . . angeben, die in jedem Augenblick auf ihn
wirken müssen, damit er diese Bewegung ausführen könne ;
unbestimmt bleibt nur, wo B und B^ hergekommen, ob sie
beide einfache Anstöße einfacher Kräfte oder selbst Re-
sultanten von vielen zusammenwirkenden, ob sie überhaupt
Wirkungen von Kräften sind, oder Mittheilungen schon vor-
handener Bewegungen. Hier zeigt sich nun deutlich, daß
wirklich der Sprachgebrauch sich sträubt, solche For-
derungen schon Hypothesen zu nennen. Wer uns blos
zu sagen weiß, zu jener krummlinigen Bahn seien Kräfte
von bestimmter Intensität und Richtung nöthig, um in
jedem Augenblicke die Bewegung von der Tangente um
so und so viel abzulenken, dem antworten wir: hiermit
lehre er nichts Neues, sondern das was sich von selbst
verstehe und aus der bloßen Analyse der gegebenen Er-
scheinung als nothwendig von jedem noch erst bei-
zubringenden Erklärungsgrunde erfüllt werden müsse.
Auffindung von Gesetzen. 411
Hypothese nennen wir erst die Vermuthung, welche zu
diesem abstract aufgestellten Postulate die concreten Ur-
sachen Kräfte und Vorgänge namhaft zu machen sucht, aus
welchen in diesem Falle die gegebene Erscheinung wirklich
entsprang, während in andern Fällen dasselbe Postulat
vielleicht durch ganz andere äquivalente Combinationen
von Kräften oder wirksamen Elementen zu befriedigen ist.
Zweierlei läßt sich demgemäß über die Hypothese sogleich
festsetzen. Sie ist zuerst nicht identisch mit einer leeren
Vermuthung, die uns unveranlaßt durch den Kopf schießt,
sondern sie beruht immer auf einem unabweisbaren
Postulate, und sie ist bestimmt, die Widersprüche oder
Lücken, um derentwillen das Gegebene in seiner unmittelbar
vorliegenden Gestalt undenkbar ist, durch die Annahme
eines der Beobachtung entgehenden inneren Gefüges der
wirklichen Dinge und wirklichen Vorgänge so zu erklären,
daß aus diesem angenommenen wahren Verhalten der
Widerspruch verschwindet, zugleich aber begreiflich wird,
warum in der beobachtbaren Erscheinung derselbe für uns
unvermeidlich entstehen muß. Damit hängt dann zweitens
zusammen, daß jede Hypothese eigentlich nicht blos Denk-
figur oder Veranschaulichungsmittel, sondern Angabe einer
Thatsache sein will; wer eine Hypothese aufstellt, glaubt
die Reihe der wirklichen beobachtbaren Thatsachen durch
glückliches Errathen nicht minder wirklicher, aber un-
beobachtbarer verlängert zu haben. Es ist hierbei nicht
nothwendig, daß die so errathene Thatsache eine einfache
und letzte sei, die nicht ebenso noch weiter zurückgehende
Untersuchungen über die Gründe ihrer eigenen Möglichkeit
veranlaßte; es reicht hin, wenn sie als eine bestehende
Wirklichkeit vorgestellt werden kann, über deren Zustande-
kommen man sich Weiteres vorbehält. Daß die Lichtstrahlen,
kurz gesagt, in demselben Augenblicke auf ihrer rechten
Seite sich anders verhalten müssen als auf ihrer linken,
und daß dies Verhalten selbst mit der Zeit unaufhörlich
wechselt, daß es also irgend eine Ursache geben müsse,
die gerade dies Phänomen hervorzubringen vermöchte, dies
war ein Postulat der Optik aus ihren Beobachtungen; daß
dies Postulat durch transversale Schwingungen der Aether-
atome befriedigt werde, war die physische Hypothese:
woher diese zur Erklärung der Erscheinungen uns vor-
läufig unentbehrliche Transversalschwingung rühren kann,
bleibt eine Frage der Zukunft; jedenfalls enthält sie aber
keinen Widerspruch, der uns hinderte, sie als einen ge-
412 Achtes Kapitel.
schehenden Vorgang vorzustellen. Fictionen endlich sind
Annahmen, die man mit dem vollständigen Bewußtsein
ihrer Unmöglichkeit macht, sei es daß sie innerlich wider-
sprechend sind, oder aus äußern Gründen nicht als Be-
standtheile der Wirklichkeit gelten können. Man wird zu
ihnen geführt, wenn es für einen gegebenen Fall M einen
Satz T nicht gibt, unter den er als Anwendungsfall mit
logischer Strenge subsumirt werden könnte, wenn es aber
wohl einen Satz T^ gibt, von dessen Anwendungsfällen
sich M um eine bestimmte Differenz d unterscheidet. Man
ordnet dann M unter T^, zieht hieraus die Folgerungen,
die man begehrt, und corrigirt sie nachher durch Hinzu-
fügung der Modificationen b, welche um des nicht hinweg-
zubringenden Unterschiedes d willen nothwendig werden.
Die Ermittlung des Kreisumfangs durch Einschluß zwischen
ein äußeres und ein inneres Polygon kann man als bloßes
Eingrenzungsverfahren betrachten, wenn man nicht schon
in dem Begriff der Länge einer Curve eine Art Fiction
sehen will; gewiß aber ist eine solche die Formel
ds2 =: dx2 -{- dy2, wenn man das Zeichen = wirklich Gleich-
heit und nicht bloße unendliche Annäherung an sie be-
deuten läßt. So lange ds ein wirklicher Bogen, so lange
ist die Gleichung falsch; sobald aber ds größenlös wird,
werden alle Glieder Null und die Gleichung bedeutungslos;
gleichwohl führt sie zu unendlicher Annäherung an den
wahren Werth, weil man durch stetige "Verkleinerung von ds
den begangenen Fehler stetig verkleinert und hierdurch
die Summe oder das Integral der ds zuletzt von ihm
unabhängig macht. Es ist kaum nöthig, auf die außer-
ordentliche Wichtigkeit solcher Verfahrüngsweisen für den
erfindenden Gedankengang aufmerksam zu machen; auch
sonst kommen sie häufig vor, und der juristische Gebrauch,
sich an den nächstverwandten Rechtssatz T^ zu wenden,
wenn es für den zu beurtheil enden Fall eine specielle
Regel T nicht gibt, gehört logisch unter diesen Begriff der
Fiction, obwohl man den Namen nur für besonders geartete
Fälle anzuwenden pflegt. Ihren Sprachgebrauch hat die
Jurisprudenz selbst zu bestimmen; ich kann mich indessen
nicht überzeugen, daß das, was man sonst als Fiction
ansah, nur eine unabhängige durch einen neuen gesetz-
geberischen Act bestimmte Uebertragung einer Summe von
Rechtsverhältnissen auf ein Subject wäre, das zu diesen
an sich in keiner Beziehung stände; die römische Adoption
scheint durch die Annähme des Namens des adoptirenden
Auffindung von Gesetzen. 413
Vaters zu beweisen, daß psychologisch zuerst versucht
wurde, ein in Wirklichkeit nicht herzustellendes Verhältniß
doch als hergestellt zu betrachten und auf Grund dieser
Fiction secundär die ihr entsprechende Summe von Rechts-
folgen zu bestimmen.
274. Die Wichtigkeit der Leistung, die man von den
Hypothesen erwartet, rechtfertigt den oft gemachten Versuch,
den Gang der freien erfinderischen Einbildungskraft, aus
der sie allein entspringen können, mindestens an einige
Disciplin zu binden; indessen sind die meisten hierüber
aufgestellten Regeln zwar vortrefflich, soweit sie sich
erfüllen lassen, aber ihre Nichterfüllung kann man doch,
ohne nützliche Fortschritte zu sehr einzuengen, nicht als
Grund für die Unzulässigkeit der Hypothesen gelten lassen.
Es versteht sich zuerst, daß die Hypothese, da sie das
Postulat, aus dem sie entspringt, nicht durch eine fingirte
Vorstellung, sondern durch Angabe einer Wirklichkeit er-
füllen will, nur das annehmen darf, was sich als Thatsache
denken läßt, nicht aber das an sich selbst Widersprechende.
Man übertreibt jedoch, wenn man verlangt, der Inhalt einer
Hypothese solle immer innerhalb der Grenzen einer mög-
lichen directen Widerlegung durch spätere Reobachtung
liegen. Man kann diese Forderung als ein Ideal betrachten
und es ist sicher eine sehr nützliche Maxime, die Hypothese
wo möglich so zu bilden, daß ihre Falschheit, wenn sie
falsch ist, nicht wegen der Unzugänglichkeit ihres Inhaltes
für die Reobachtung auf ewig vor directer Widerlegung
sicher ist; allein wir würden auf zu viele nützliche An-
nahmen verzichten müssen, wenn wir dies immer ver-
langen wollten. Daß die Lichtpunkte, die wir Nachts am
Himmel sehen, große von uns sehr entfernte Massen sind,
ist zuletzt auch nur eine Hypothese, durch welche wir
das sonst unerklärliche tägliche und jährliche Rewegungs-
spiel dieser Lichter zu begreifen suchen; eine directe Wider-
legung dieser Annahme, wenn sie falsch wäre, würde aber
unzweifelhaft jedem spätem Fortschritt der Reobachtung
unmöglich sein. Man muß sich daher an der Denkbarkeit
und Nützlichkeit der Hypothese, an ihrer Fähigkeit, alle
zusammengehörigen Erscheinungen, ja selbst solche zu
erklären, welche noch unbekannt waren, als man sie selbst
entwarf, also an der indirecten Reglaubigung durch die
Uebereinstimmung alles aus ihr Ableitbaren mit der fort-
schreitenden Erfahrung genügen lassen. Damit man aber
eben so glücklich sei, eine Hypothese zu finden, der später
414 Achtes Kapitel.
diese Beglaubigung nicht fehlen wird, kann man nicht
einfach alles das ajinehmen, was sich überhaupt als That-
sache vorstellen läßt, sondern nur das, was außer seiner
Denkbarkeit so zu sagen der allgemeinen Sitte der Wirk-
lichkeit oder ihrem speciellen Ortsgebrauch innerhalb der
zusammengehörigen Gruppe von Erscheinungen gemäß ist,
zu welcher der untersuchte Gegenstand gehört. Auf allen
Gebieten verfährt man so. Wenn in einem formulirten
Rechtsgesetz der Wortlaut keine unzweideutige Folgerung
in Bezug auf einen gegebenen Fall zuläßt, so interpretirt
man nicht beliebig mit freiem spielenden Scharfsinn, sondern
man geht auf die ratio legis zurück und sucht aus ihr,
die der Grund jener Formulirung ist, die für den be-
stimmten Fall zu supplirende Deutung. Wir verdanken
ebenso in den Naturwissenschaften die gelungenen Hypo-
thesen immer einer solchen Berücksichtigung von Analogien,
die in der Körperwelt überhaupt oder in einzelnen Gebieten
derselben bemerkbar sind. Nur die Flüssigkeiten und die
Luft konnten ursprünglich die Beobachtung auf die Hypo-
these stetiger Raumerfüllung durch die Materie bringen;
die große Mehrzahl der festen Körper zeigte sich nicht
blos theilbar, sondern aus verschiedenen wirklichen Theilen
bestehend. Für diese war daher der Begriff jener Stetigkeit
nur in Bezug auf ihre kleinen Theilchen anwendbar, für
sie also das Bestehen aus discreten Atomen, deren jedes
nur seinen eignen kleinen Raum stetig ausfüllen mochte,
vollkommen gewiß. Da man nun feste Körper flüssig und
flüssige fest werden sah, selbst Gase unter Umständen
tropfbare und feste Gestalt annehmen, so war die
atomistische Hypothese von dieser Seite her völlig gerecht-
fertigt; sie trug nur das, was für einen Theil der Körper'
oder für gewisse Formen derselben thatsächlich bestand,
auf andere Körper oder andere Formen über, an denen
sich f actisch derselbe Zustand nicht als wirklich, wohl
aber als möglich deswegen nachweisen ließ, weil unter
seiner Voraussetzung die an ihnen gegebenen Erscheinungen
auch begreiflich blieben. Sobald dann einmal eine solche
thatsächliche Gewohnheit der Natur für eine gewisse Er-
scheinungsgruppe als nützliches Erklärungsprincip nach-
gewiesen ist, so pflegen sich die Entdeckungen zu häufen,
weil man sofort versucht, wie weit sich auch andere Er-
eignisse auf sie beziehen lassen. So ging es mit der Wellen-
bewegung. An Wasserflächen an Saiten an tönenden Ebenen
konnte man sie geradezu sehen und ihre Gestalt im Ein-
Auffindung von Gesetzen. 41Ö
zelnen durch künstliche Hülfsmittel sichtbar machen; und
da gar kein Grund vorlag, sie als Bewegungen nur an
bestimmte Materien geknüpft zu denken, so waren es voll-
kommen berechtigte Hypothesen, welche zuerst die Schall-
fortpflanzung durch die Luft, dann die Bewegung des Licht-
äthers, endlich die Erscheinungen der Wärme auf den
gleichen Vorgang zurückzuführen suchten. In der orga-
nischen Welt stieß man auf einigen Punkten auf eine nicht
vermuthete Theilung der Arbeit; wo man früher demselben
Substrat sehr verschiedene Verrichtungen zugetraut hatte,
zeigte sich, daß für jede einzelne derselben ein besonderes
Organ da war, das für die übrigen nicht vicarirte. Auch
diese Sitte der Natur wurde zu neuen Hypothesen in Bezug
auf die Nerven benutzt, die als Organe der verschiedenen
Farben- oder Tonempfindungen dienen ; ob man das Richtige
getroffen, steht noch dahin, aber logisch berechtigt ist
diese Hypothese zweifellos. Bewegungen kommen im
Pflanzenreiche häufig vor, auch solche, deren Effect in
einer Zusammenziehung besteht; dennoch scheint es, als
würde dieser Erfolg hier nicht durch Contraction lebendig
contractiler Elemente hervorgebracht, wie im Thierkörper;
man wird deshalb hier diese Hypothese, obwohl sie an
sich möglich ist, nicht machen, weil sie zunächst den
Gewohnheiten der Natur auf diesem Gebiete nicht zu ent-
sprechen scheint; dagegen hat es Werth zu untersuchen,
ob dieser Schein nicht trügt.
275. Man wird ferner von der Hypothese verlangen,
daß sie nicht mehr, aber auch nicht weniger enthält, als
sie im Anschluß an das Postulat, aus dem sie entsprungen
ist, enthalten muß. Und dies führt auf eine gewisse
Disciplinarvorschrift, die bei ihrer Entwerfung zu beachten
ist. Man muß nicht, wenn ein erklärungsbedürftiger Vor-
gang vorliegt, in den blauen Himmel nach einem glücklichen
Einfall aussehen, sondern durch scharfe Zergliederung des
Gegebenen vor allem das genaue Postulat herstellen, dem
zu genügen ist. Man wird hierbei zunächst manche Neben-
züge vernachlässigen können, die zu denjenigen gehören,
von denen man aus anderweitiger Einsicht weiß, daß sie
bei jeder hier in Frage kommenden Hypothese sich leicht
nachträglich durch eine nähere Bestimmung derselben be-
rücksichtigen lassen; aber alle wesentlichen Stücke der
Aufgabe, die mithin nicht selbst nur Consequenzen anderer
sind, wird man genau beachten müssen, um aus ihrer Ver-
416 Achtes Kapitel.
knüpfung zunächst die passendste Form der zu wählenden
Hypothese zu errathen. Dann hat man sich umzusehen,
welche Elemente Ursachen Kräfte und Verknüpfungen der-
selben die Wirklichkeit enthält, geeignet, das gestellte
Postulat zu erfüllen, und endlich wird man aus der voll-
ständigsten möglichen Uebersicht derselben, von einem
praktischen und einem theoretischen Beweggrund zugleich
geleitet, diejenigen auswählen, welche den erwähnten An-
forderungen am einfachsten und am meisten in Ueberein-
stimmung mit den herrschenden Analogien des in Frage
kommenden Gebietes der Wirklichkeit genügen. Wenn eine
mit Wunden bedeckte Leiche gefunden worden ist, so geht
die erste Bemühung darauf, zu entscheiden, ob die Wunden
dem noch lebenden Körper haben beigebracht sein müssen,
oder ob sie nach dem Tode entstanden sind; dann welches
die Größe Wirkungsweise und Richtung der Kräfte gewesen
sein muß, die diese Folgen hervorgebracht haben; endlich,
ob diese so ermittelten Bedingungen ein Postulat bilden,
dem durch Annahme einer wirkenden Naturkraft oder nur
durch Voraussetzung eines mit bewußter Absicht geführten
Werkzeugs entsprochen werden kann. Auch dann nachdem
dies entschieden ist und die Form der Hypothese, die
Annahme eines begangenen Mordes, feststeht, sucht man
den Thäter nicht durch grundlosen Einfall zu errathen,
sondern man fragt, welche Personen zu denen gehören,
zu denen man sich der That versehen kann, theils weil in
ihren Beziehungen zu dem Getödteten Motive der That,
theils weil in ihrem Charakter keine hinlänglichen Motive
zum Ausschluß des vorläufigen Verdachtes liegen. Es würde
ganz ausgeführter Beispiele bedürfen, zu denen hier kein
Raum ist, um die Sorgfalt zu zeigen, mit welcher die
richterliche Untersuchung darauf hält, keinen Theil des
Postulates unbefriedigt zu lassen und erst dann eine ge-
wonnene Ueberzeugung für hinlänglich sicher zu halten,
wenn sie jeden Einzelumstand erklärt, der durch seine
Abweichung von dem gewöhnlichen Verhalten auch dann,
wenn es sich nicht um ein Verbrechen handelte, seine
besondere Erklärung verlangen würde. Vorsichtig gemacht
durch die Größe dessen, was auf dem Spiele steht, bewegt
sich hier der menschliche Scharfsinn mit ganz anderer
Genauigkeit als in manchen philosophischen Speculationen,
die viel sündigen können, weil sie wenig zu verderben im
Stande sind. Noch immer gefällt man sich, den schlecht-
beobachteten Befund gewisser auffälliger Erscheinungen auf
Auffindung von Gesetzen. 417
ein animalisch-magnetisches Fluidum zurückzuführen, ohne
die Umstände zu specificiren, die hier der Erklärung be-
dürfen würden, und folglich auch ohne zu bedenken, daß
die wüste Allgemeinheit, in der man nur das Aus- und
Einstrahlen dieses Fluidum behauptet, nicht die mindeste
Handhabe zur Erklärung der Art Größe und Reihenfolge
der höchst verschiedenartigen Vorgänge darbietet, die man
von ihm glaubt ableiten zu können. Die Naturwissenschaft
ist diesem Fehler wenig ausgesetzt, weil sie schon kaum
im Stande ist, ohne hinlängliche mathematische Präcisirung
die Gegenstände auch nur verständlich zu machen, von
denen sie eine Erklärung zu geben sucht.
. 276. Wenn es sich um singulare Thatsachen handelt,
von denen ich bald zu sprechen habe, so hat nur die Voll-
ständigkeit, mit der eine zu ihrer Beurtheilung entworfene
Hypothese ihren Inhalt deckt, nicht aber die Einfachheit
dieser Hypothese einen hervorragenden Werth; wir wissen
ja aus Erfahrung, auf wie vielen Umwegen im Einzelfalle
zuweilen ein Ereigniß zu Stande kommt, das in andern
Fällen aus viel einfacheren Ursachen entstehen kann. Wenn
es dagegen, wie noch hier für uns, um die Ermittelung eines
Thatbestandes zu thun ist, der allgemein einer Klasse oft
wiederholter Vorgänge zu Grunde liegt, so sind; wir aller-
dings, einem gewissen Princip der kleinsten Ursache gemäß,
die einfachere Hypothese der zusammengesetzteren vorzu-
ziehen genöthigt. Aber doch nicht deshalb, weil an sich
die Einfachheit die größere Wahrheit verbürgte, sondern
weil jede Annahme irgend eines Datums, welches zur Be-
gründung des zu Erklärenden nicht unabweislich wäre, eine
völlig leere, das gegebene Postulat überschreitende Ver-
muthung, mithin methodologisch ungerechtfertigt wäre.
Nicht immer wird aber die Wirklichkeit unser logisch rich-
tiges Verfahren bestätigen. Versuchen wir aus der ge^
wählten Hypothese heraus rückwärts die gegebene, Er:
scheinung zu construiren, so können Differenzen zwischen
dem was wir so erreichen und dem was gegeben war her-
vortreten, sei es durch Schuld unserer doch früher nicht
vollständigen Zergliederung des letzteren, sei es, weil neue
Beobachtungen, die früher unmöglich waren, neue Seiten
der Sache zum Vorschein bringen. Die Hypothese bedarf
dann der Verbesserung; man leistet sie, indem man ent-
weder die an sich variablen Elemente, welche sie enthält,
schicklicher bestimmt, so daß sie nun weder zu weite noch
zu enge, sondern adäquate Gründe zur Ableitung des Ge-
Lotze, Logik. 27
418 Achtes Kapitel.
gebenen werden, oder indem man in Bezug auf einzelne
ihrer Bestimmungsstücke neue Hülfshypothesen hinzugefügt,
durch die demselben Zwecke genügt wird. Ich führe diese
Verfahrungsweise kurz und geradezu hier als eine logische
Regel auf, die man zu befolgen hat, im Gegensatz zu einer
sehr häufig wiederholten Lehre, welche diese Einfügung
neuer Hypothesen in die alten als hinlänglichen Grund für
die Unzulässigkeit der letzteren ansieht, und sofort auf ihre
Ersetzung durch einfachere dringt. Weder im Leben noch
in der Wissenschaft befolgt man eine solche Lehre wirklich.
Man reißt nicht ein Haus nieder, um durch einen Neubau
einen Uebelstand zu beseitigen, den ein leichter Umbau
verbessert hätte; man gibt nicht sofort eine neue Ver-
fassimg, wenn einzelne Bestimmungen der bestehenden zu
drücken beginnen, und wie verbreitet auch leider die
Neigung ist, Principien zu reiten, so hat doch die ge-
schickte Anbequemung nothwendiger Veränderungen an das
bleibende Gute alter Einrichtungen stets als die wahre
Kunst des Staatsmannes gegolten; auch der wirkliche ge-
schichtliche Entwicklungsgang der Wissenschaft zeigt, daß
sie neue Gesichtspunkte gern unter unbequemen alten
Formen 2u versuchen liebt, um keine der Wahrheiten ein-
zubüßen, die durch diese Formen einmal gewonnen sind.
Ich behaupte nicht, daß es hierbei bleiben soll, auch nicht
daß es dabei bleiben wird; von dem Ergebniß, das wir
durch unsere Untersuchungen erarbeiten wollen, hoffen wir
alle, daß es ein eiufaches in sich zusammenhängendes
Ganze sein wird ; so lange wir aber noch in der Arbeit
begriffen sind, es zu suchen, dürfen wir uns nicht durch
die sonderbare verwickelte und abenteuerliche Form ab-
schrecken lassen, welche unsere Ansichten dadurch an-
nehmen, daß wir jeder neuerkannten oder besser erkannten
Specialität unseres Gegenstandes sorgfältig durch eine Hülfs-
hypothese gerecht werden, die wir unsem früheren An-
nahmen über ihn . hinzufügen. Nur auf diesem Wege
können wir hoffen, jenes einfache und glatte Ergebniß voll-
ständig zu erreichen; denn je gewissenhafter wir hier ver-
fahren, um so sicherer dürfen wir voraussetzen, daß wie
bei jeder verwickelten Rechnung, die ein einfaches Re-
sultat vorausbekannter Weise liefern muß, im Verlaufe des
Verfa3irens unsere mannigfachen Annahmen von selbst sich
auf einfachere und allgemeinere reduciren werden, so daß
nach allen Umwegen ein Facit übrig bleiben wird, welches
nicht blos einfach und übersichtlich ist, sondern auch alle
Auffindung von Gesetzen. 419
Bestandtheile unseres Postulats vollständig deckt. Endlich
leugnet Niemand, daß eine glückliche Inspiration diese Um-
wege abkürzen kann; aber Inspirationen kann die Logik
nicht lehren; was sie als Methode lehren kann, ist genau
nur dies, was wir aufführten: man muß seine Ungeduld
zügeln und unbeirrt eine einmal versuchte Hypothese so
lange umformen, bis aus den Unformen, die sie durch-
läuft, eine uns und die Sache befriedigende einfache Gestalt
derselben entspringt. Die Hast, gleich während der Arbeit
lauter paradefähige Principien aufstellen zu wollen, verführt
blos dazu, es sich mit den Problemen leicht zu machen,
ihre unbequemen Sonderbarkeiten unberücksichtigt zu lassen
und sich mit einer Ansicht zu befriedigen, die in Bausch
und Bogen die großen Umrisse der Sache wiedergibt, für das
Einzelne aber gar keine erschöpfende Erklärung liefert.
277. Ich habe noch einen bedenklichen Punkt zu er-
wähnen. Nichts kann dringender scheinen, als daß eine
Hypothese, die ja eine Thatsache errathen haben will, vor
allen Dingen nur etwas an sich Mögliches behaupten
darf; und gewiß wird es dabei auch bleiben, daß ihr nicht
erlaubt ist, als unmöglich Anerkanntes vorauszusetzen; aber
über die Grenzen dessen, was hier als Mögliches noch zu-
lässig ist, besteht doch ein Zweifel. Ich habe ihn durch
die Wahl meines Ausdrucks zu lösen gesucht, als ich nur
das, was sich als gegebene Thatsache vorstellen läßt, als
zulässigen Inhalt einer Hypothese bezeichnete, und in der
That glaube ich, daß man weder mehr verlangen darf, noch
hierdurch mit dem Begriff der Hypothese in Widerspruch
geräth; sie will eine Thatsache errathen, aber es genügt
ihr auch, daß diese Thatsache dann ebeii so dastehe^ wie
so oft die der wirklichen Beobachtung dargebotenen: vor-
stellbar, anschaulich, im Uebrigen aber rücksichtlich der
Art ihres möglichen Zustandekommens unerklärt. Zu
keinem Gebrauch würden wir hypothetisch einen Kreis an-
nehmen dürfen, der zugleich ein Dreieck wäre; seine An-
schauung, unvollziehbar für unsere construirende Phantasie,
könnte auch als gegebene Thatsache niemals in unserer
Beobachtung vorkommen. Die Annahme dagegen eines un-
sichtbar kleinen jedoch ausgedehnten Atoms von unver-
änderlicher Gestalt und Größe enthält keinen Widerspruch,
der uns hinderte, es als Gegenstand einer möglichen viel-
leicht durch künstliche Hülfsmittel geschärften Wahr-
nehmung vorzustellen; es ist deshalb zulässig, das Vor-
handensein solcher Atome als die für unsere gewöhnliche
27*
420 Achtes Kapitel.
Beobachtung unzugängliche Thatsache anzusehen, auf
welcher der beobachtbare Inhalt der Erscheinungen beruht.
Wenn wir dann diese Vorstellung auch vor unserem Denken
rechtfertigen und ihre Möglichkeit im Zusammenhang der
Natur untersuchen wollen, so mag es immer sein, daß wir
genöthigt sind, sie zu modificiren; aber wir brauchen es
doch erst dann zu thun, wenn wir aus ihr als vorläufigem
Princip eine Menge bleibender Vortheile für die Erklärung
der einzelnen Erscheinungen gezogen haben. Die Trans-
versalschwingung des Lichtäthers, die einem Postulat der
Beobachtung entsprach, läßt sich ohne Zweifel als wirklich
geschehender Vorgang vorstellen, aber aus welchen physi-
schen Ursachen diese Richtung der Bewegung hervorgehen
könnte, bleibt zunächst völlig unklar; die ganze Voraus-
setzung eines in's Unendliche ausgedehnten homogenen oder
isotropen Aethers, für jetzt unentbehrlich für unsere Be-
griffe von der Fortpflanzung des Lichts, gehört zu derselben
Klasse von Vorstellungen; sie ist eine völlig klare An-
schauung, aber ebenso völlig bleibt dunkel, wie eine. so
gleichmäßige Vertheilung auf einander wirkender Elemente
als mechanisches Resultat möglich ist. Die logischen Be-
wunderer naturwissenschaftlicher Methoden täuschen sich
hierüber zuweilen, wenn sie den ganzen Bau unserer Kennt-
nisse auf unbedingt sichere Fundamente gestützt vorstellen ;
es geht vielmehr öfter hier so zu, wie bei der festen Aus-
mauerung der Brunnen : man baut von oben hinunter und
verläßt sich darauf, daß die angenommenen Thatsachen
nach unten einstweilen von dem unanalysirten Grund und
Boden haltbar genug unterstützt werden, um die aufgesetzte
Mauer zu tragen, bis man einen Schritt tiefer ihnen wieder
eine Schicht von Fundament unterziehen kann, der es dann
wieder so geht. Es ist zuzugeben, daß hierdurch der Unter-
schied zwischen Hypothese und Fiction, zwischen Gesetz
una Regel zweifelhaft wird, ein Gedanke, den ich früher
andeutete und später wieder aufnehmen werde.
Neuntes Kapitel.
Bestimmung singularer Thatsachen und
Wahrseheinlichkeitsbereehnung.
278. Gewißheit über die Wirklichkeit einer Thatsache
gibt nur die eigne unmittelbare Wahrnehmung; auch sie
nur unter der Voraussetzung, daß die Deutung richtig sei,
durch welche wir den Inhalt der sinnlichen Empfindung^
der ursprünglich allein das Gegebene ist, in der Form eines
Ürtheils zu einem Ganzen von innerlicher Zusammen-
gehörigkeit verknüpft haben. Ueberlieferung dagegen ver-
langt zu der Glaubwürdigkeit der Zeugen oder der Bericht-
erstatter ein Zutrauen, das man aus allerhand Gründen
mehr oder minder empfehlen oder rechtfertigen, aber nie-
mals als nothwendig beweisen kann; jeder Rückschluß
femer von gegebenen Thatsachen auf eine andere, die von
ihnen als ihre Ursache bezeugt werde, scheitert daran, daß
zwar jede Folge ihren zulänglichen Grund, und nur einen
einzigen Grund haben muß, daß aber sehr viele verschiedene
äquivalente Thatsachen der Wirklichkeit die Ursache ge-
bildet haben können, in denen allen dieser Grund der ge-
gebenen Wirkungen vorhanden war; endlich auch jeder
progressive Schluß, der aus beobachteten Umständen oder
Ereignissen eine zukünftige oder eine gleichzeitige, der
Beobachtung sich entziehende Thatsache folgern möchte,
wird ungewiß, weil jede Bedingung im wirklichen Weltlauf
eine hemmende Gegenbedingung finden kann, die zwar
niemals die Folge derselben anhullirt, aber sie doch hindert,
die Gestalt derjenigen Thatsache anzunehmen, als welche
sie ohne jenes Hinderniß auftreten würde. Ueberall mithin,
wo unsere unmittelbare Wahrnehmung nicht ausreicht, sind
wii* in der Beurtheilung der Wirklichkeit auf Wahrschein-
lichkeit beschränkt und haben die Mittel aufzusuchen, durch
422 Neuntes Kapitel.
welche wir dieser eine für unsere Zwecke hinreichende An-
näherung an Gewißheit zu verschaffen im Stande sind.
279. Zwei allgemeinste, einander in gewissem Grade
entgegenwirkende Gedanken beherrschen hier unsere Ueber-
legungen. Zuerst, da keine in sich zusammengehörige
Causalreihe in einer Welt für sich verläuft, vielmehr in
einer und derselben Welt zugleich mit unzähligen andern,
so erscheint es uns ganz allgemein unwahrscheinlich, daß
irgend eine Ursache in Wirklichkeit ohne irgend einen Ab-
zug die ganze unendliche Reihe von Wirkungen entfalten
sollte, die sie gehabt haben würde, wenn sie allein ihren
Einfluß auf die Bestandtheile der Welt hätte üben können.
Durchdrungen ist von dieser Ueberzeugung unser tägliches
Leben; schon ein antiker Spruch drückt sie dahin aus:
nicht an einen Anker müsse man das Schiff, nicht an eine
Hoffnung das Leben knüpfen; überall wo wir einen Erfolg
sichern wollen, auf den wir Werth legen, treffen wir ver-
schiedene Vorkehrungen, deren jede zu demselben Ziele
führen kann; versagt die eine, so wird die andere doch das
Ziel erreichen; erleiden sie alle eine Einbuße an Wirkung
durch äußere Störungen, so wird doch noch übrig bleiben,
was uns befriedigen kann: denn ebenso unwahrscheinlich,
wie der unverkürzte Erfolg, erscheint uns eine Verschwörung
des Zufalls, die von vielen aufgebotenen Ursachen keine
einzige die beabsichtigte Wirkung entfalten ließe. Gleiches
Mißtrauen bezeugen wir geschichtlichen Darstellungen, wenn
sie entweder von winzigen Zufällen ungeheure Wendungen
der Schicksale ableiten, oder durch Jahrhunderte hindurch
in allen Einzelheiten des geschichtlichen Verlaufs doctrinär
die genauen Nachwirkungen eines in früherer Zeit ent-
sclieidend wirkenden Impulses finden wollen; sie übersehen
im ersten Falle die unzähligen Mitbedingungen, die allein
im Stande waren, dem Kleinen scheinbar jene große Wirkung
zu verschaffen; sie überreden uns im letztern nicht, daß
die unzähligen unzusammenhängenden und unberechenbaren
Triebe, die sich in der vielköpfigen Menschheit in jedem
Augenblicke neu erzeugen, selbst vereinigt mit den Ein-
flüssen der Natur, die ihrer besonderen eigensinnigen Un-
ordnung oder Ordnung folgen, bei der Mitbestimmung des
ferneren Laufes der Dinge in solchem Grade wirkungslos
gewesen seien. Wir sind ästhetisch unbefriedigt durch eine
Poesie, die uns einen menschlichen Charakter in allen
großen und kleinen Handlungen als unwandelbar consequent
Bestimmung singularer Thatsachen. 423
darstellt, und ihn nicht einmal durch irgend eine un-
bedeutende irrationale Gewohnheit des Benehmens, durch
irgend eine zulässige aber zufällige Vorliebe oder Ab-
neigung, als ein Geschöpf der Wirklichkeit beglaubigt; als
Personification einer abstracten Eigenschaft ist er uns in
der Dichtung langweilig, und im Leben, wenn er leben
könnte, würde er uns so grauenhaft sein, daß wir gegen
ihn, den unpersönlichen, kaum noch die sittlichen Ver-
pflichtungen fühlen würden, die sich nur von Person zu
Person verstehen. Ebenso unglaubwürdig wäre uns eine
Darstellung, die jedes Bestreben, jeden Vorsatz eines über-
legenden Geistes, an einer beständigen Wiederholung stören-
der Zufälle scheitern ließe; abscheulich, wenn sie ernst-
haft wäre, würde sie blos erträglich, wenn sie, komisch
gemeint, nicht blos den erleichternden Gedanken an die
Unbedeutendheit der ganzen Sphäre, in der sie sich be-
wegt, sondern zugleich den glücklichen Unglauben an die
Wirklichkeit dessen erweckte, was hier als Möglichkeit uns
vorgegaukelt wird. Selbst die Musik erscheint uns zwar
nicht unwahr, aber reizlos und unbedeutend, wenn die
Melodie mit gar zu leicht vorausfühlbarer Consequenz den
einfachen Fortgang nimmt, der ihrem Anfang entspricht,
ohne jemals ihre lebendige Elasticität durch eine uner-
wartete Wendung zu verrathen, zu der sie durch eine
ihr entgegengeworfene hindernde Schwierigkeit veranlaßt
scheint. Endlich begleitet unser Mißtrauen alle praktischen
Entwürfe, welche nicht parataktisch, um einen Ausdruck
der Syntax zu brauchen, unabhängige Bedingungen neben
einander ordnen, um den Erfolg zu sichern, sondern ihn
hypotaktisch von einem Gewebe einander gegenseitig be-
dingender Voraussetzungen abhängig machen. Sie fordern
auf diese Weise nur das Mißlingen heraus, indem sie
durch die Mannigfaltigkeit der verbundenen Bestandtheile
überhaupt die Berührungen mit fremdartigen Einflüssen
vermehren und durch die Abhängigkeit der einen von den
andern eine einmal erlittene Störung beständig fortwirken
machen.
280. Der andere jener beiden Gedanken geht davon aus,
daß zwar sehr viele verschiedene Gruppen äquivalenter
Ursachen sich denken lassen, die darin übereinstimmen,
eine bestimmte Wirkung hervorzubringen, daß aber doch
jede dieser Gruppen außerdem noch eigenthümliche Neben-
wirkungen haben wird, durch welche sie sich von andern
unterscheidet. Um daher einen ganzen genau bestimmten
424 Neuntes Kapitel.
Complex mannigfacher Wirkungen zu erzeugen, die so zu^
sämmengefaßt eine bestimmte zusammengesetzte Thatsache
darstellen, wird doch nur eine sehr geringe Anzahl ver-
schiedener Ursachencomplexe, vielleicht unter denen, die
in der Erfahrung vorzukommen pflegen, nur ein einziger
in der That hinlänglich sein. So lange uns ein gegebener
Thatbestand nur in seinen großen Umrissen bekannt ist,
pflegen uns daher sehr verschiedene Ursachen desselben
als mögliche vorzuschweben; sobald dagegen die feineren
Nebenzüge bekannt werden, welche ihn charakterisiren, ver-
engt sich die Auswahl beträchtlich und zuletzt zeigt sich,
daß das aus diesen Datis entspringende Postulat in der
Gesammtheit aller seiner Anforderungen nur durch sehr
wenige hypothetisch anzunehmende Thatsachen befriedigt
wird'; unter diesen entscheiden wir uns dann für diejenige,
welche- die einfachste ist und die geringste Anzahl von
einander unabhängiger zusammenwirkender Elemente vor-
aussetzt. Auch dieser Gedanke läßt sich in den ver-
schiedensten Ueberlegungen als herrschend erkennen. Wenn
eine ^ ganze Reihe von Einzelthatsachen oder Indicien vor-
liegt, die zusammengenommen sich bequem aus der An-
nahme einer einzigen That erklären läßt und in der nichts
unableitbar bleibt außer jenen kleinen Nebenumständen,
die, von zufälligen Bedingungen abhängig, wirklich jeder
einzelnen Ausübung einer That eine etwas andere Färbung
gebeni als einer zweiten, so wird die Aufmerksamkeit des
Untersuchungsrichters ausschließlich sich auf diese An-
nahme richten, und sehr ungläubig wird er die künstlichen
Bemühungen des Verdächtigen anhören, der jedes Stück
dieses Thatbestandes aus einer besonderen unschuldigen
Ursache; die Gesammtheit desselben aus dem unglücklichen
Zusammentreffen so vieler Zufälle zu erklären sucht. Ganz
ebenso pflegt der Kranke sich damit zu trösten, daß er
jedes der zahlreichen Symptome seines Uebelbefindens
einzeln auf seine besondere wenig bedeutende Ursache
zurückführt; er täuscht damit den Arzt nicht, dessen
Diagnose unbarmherziger auf die ernsthafte Krankheit lauten
wird, die im Stande ist, auf einmal diesen ganzen zusammen
vorkömmenden Haufen von Zufällen begreiflich zu machen.
Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß diese natürlichen
Maximen der Beurtheilung doch nur hinreichen, um eine
erste vorläufige Vermuthung vor anderen zu bevorzugen;
wo von unserer Entscheidung wichtige Folgen abhängen,
haben wir nie zu vergessen, daß das Unwahrscheinliche
Bestimmung singularer Thatsachen. 425
doch möglich ist. Es reicht daher nicht hin, nur diejenige
Annahnie weiter zu verfolgen, welche die vorliegenden Ju-
dicien uns als die natürlichste aufdrängen; man wird sie
nur dann der Glaubwürdigkeit nähern, wenn nicht blos
nach ihr hin alle gegebenen Anzeichen von selbst con-
vergiren, sondern wenn bei aufmerksamer Prüfung auch
die unwahrscheinlicheren Vermuthungen, welche die Natur
der Sache noch zuläßt, ebenso viele Lücken und WiderT
Sprüche in dem zu erklärenden Thatbestande übrig lassen.
Man wird ferner darauf achten müssen, so weit als mög-
lich nur aus positiven Indicien zu schließen; Verneinungen
sind vieldeutig; mögen sie die Unterlassung einer Handlung
oder das Nichtvorhandensein eines Zustandes ausdrücken,
so sind sie benutzbar zum Beweise einer Thatsache nur
dann, wenn das, was sie leugnen, unter jeder andern Vor-
aussetzung als noth wendig zu erwarten war; an sich folgt
aus der Verneinung nur die neue Verneinung dessen, was
ohne die Bejahung des Verneinten undenkbar ist. Nicht
die Menge endlich der Indicien überhaupt, sondern nur
die der von einander unabhängigen hat Werth für unsere
Entscheidung; und hierin haben wir uns einer häufigen
schlechten Gewohnheit zu entschlagen: sowie wir einen
Fehler mit Recht strafen, dann aber, wenn seine unver-
meidlichen Folgen nach und nach hervortreten, gern jede
einzelne derselben noch einmal rächen möchten, ebenso
vergrößert sich uns mit Unrecht die Wahrscheinlichkeit
einer Vermuthung, wenn zu dem Anzeichen, das uns zu-
erst auf sie führte, dessen nothwendige Consequenzen nach
und nach in unsere Beobachtung fallen; sie stimmen natür-
lich zu unserer Vermuthung, aber sie können nichts zu
ihrer weiteren Begründung beitragen. Alle diese Regeln
der Vorsicht, deren scharfsinnige Befolgung in Beispielen
durchzugehen freilich viel größeres Interesse darbieten
würde, als diese trockene logische Formulirung, schließen
zuletzt große Irrthümer nicht aus; man würde jedoch Un-
recht thun, darum sie gering zu schätzen; nur einen all-
gemeinen sittlichen Grundsatz dürfen wir aus der Be-
trachtung dieser Unvollkommenheiten ziehen: wo unser
Handeln unerläßlich ist, mögen wir uns auf die Wahr-
scheinlichkeit getrost verlassen, über die hinaus zur Ge-
wißheit zu gelangen uns unmöglich ist; wo wir dagegen
•gar nicht verpflichtet sind zu handeln oder doch nicht ver-
pflichtet, ein unwiderrufliches Aeußerstes zu vollziehen, da
wird es sich schicken, unsere subjective Ueberzeugung, die
426 Neuntes Kapitel.
nur auf Wahrscheinlichkeit beruht, nicht für eine hinläng-
liche Berechtigung zu ihrer thätlichen Ausführung anzu-
sehen.
281. Die genauere Abschätzung derjenigen Wahrschein-
scheinlichkeiteUj die auf den mehr oder minder bekannten
inneren Zusammenhang gegebener Thatbestände sich grün-
den, entzieht sich den allgemeinen Anweisungen der Logik
und ist der sachlichen Kenntniß des jedesmaligen Falles
zu überlassen. Aber namentlich in Bezug auf zukünftige
Ereignisse, und auf diese beschränke ich zunächst die
folgenden Betrachtungen, finden wir uns sehr oft in der
Lage, zwar zu wissen, daß von verschiedenen disjuncten
Fällen einer nothwendig eintreten muß, ohne daß wir jedoch
im Besitz eines Grundes wären, der uns irgend einen der-
selben vor den übrigen bevorzugen ließe; und dennoch
können praktische Bedürfnisse uns nöthigen, zwischen ihnen
eine Wahl zu treffen, um auf das vorausgesetzte Eintreten
des bevorzugten unsere Handlungen zu gründen. Unter
solchen Umständen bleibt keine andere Maxime der Be-
urtheilung übrig außer der, allen gleich möglichen Fällen
auch gleiche Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens in der
Wirklichkeit zuzuschreiben ; als gleich mögliche aber köimen
wir, da wir auf jede Kenntniß der die Verwirklichung be-
dingenden Umstände verzichtet haben, nur diejenigen Einzel-
fälle betrachten, welche in dem Umfang des allgemeinen
Falles als gleichwerthige Arten desselben coordinirt sind.
Alle Aufgaben dieser Gattung führen nämlich zurück auf
ein disjunctives Urtheil von der Form: wenn die Be-
dingung B erfüllt wird, so tritt von der allgemeinen Folge F
eine ihrer Arten fi, P, P. . mit Ausschluß aller übrigen
ein. Welche dieser Folgen in der That eintreten wird,
hängt in jedem Falle von der besonderen Form b^, b^, b^. . .
ab, in welcher jene allgemeine Bedingung erfüllt worden
ist; wäre diese bestimmte Form des B, vielleicht b^, uns
bekannt, so würden wir im Stande sein, den zugehörigen
Werth f» der Folge mit Gewißheit abzuleiten, angenommen
wenigstens, daß wir das Gesetz der Zusammengehörigkeit
von B und F ermittelt hätten; ist uns dagegen, nach unserer
jetzigen Voraussetzung, diese specielle Gestalt unbekannt,
welche B in irgend einem Falle seines wirklichen Ein-
tretens annehmen wird, so muß zwar, wenn B sich ver-
wirklicht, irgend eine der Folgen fi, f^, P eintreten, aber
jede von ihnen bleibt für uns gleich möglich, da die einzige
uns bekannte Bedingung ihrer Verwirklichung, die Gültig-
Bestimmung singulare! Thatsachen. 427
keit von B überhaupt, für jede gleichmäßig besteht
und keine vor der anderen bevorzugt. Nehmen wir jetzt
an, die allgemeine Bedingung B könne, wenn sie alle mit
ihrer Natur verträglichen Variationen annimmt, Grund zu
n = 6 verschiedenen Folgen fi, f^. . . f*^ werden, so würden
n = 6 verschiedene Wiederholungsfälle von B nöthig sein,
damit jede dieser gleichmöglichen einander ausschließen-
den Folgen sich verwirklichen könnte. Man sieht daher,
daß unter der Annahme gleicher Wirklichkeit des gleich
Möglichen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines
Einzelfalles eine mathematische Bestimmung zuläßt; denn
in die Aussicht, in einem einzigen Falle sich zu verwirk-
lichen, muß jede dieser f mit allen übrigen gleichberech-
tigten sich theilen, die Summe aber der so bestimmten
Wahrscheinlichkeiten aller Einzelfolgen muß eine von ihrer
Anzahl unabhängige constante Größe sein, denn sie muß
die Gewißheit bezeichnen, daß irgend eine der Einzelfolgen f,
wie viele ihrer auch sein mögen, daß also F überhaupt in
jedem Einzelfalle eintreten muß, sobald B überhaupt in
irgend einer Form verwirklicht ist. Da diese Gewißheit
für jedes B und jedes F, gleich unbedingt besteht und die
Wahrscheinlichkeiten der Einzelfälle nur relativ zu dieser
Gewißheit eine Größenbestimmung zulassen, so hat es weder
Grund noch Vortheil, für die erwähnte Constante einen
andern Werth als den der Einheit anzunehmen; die Wahr-
scheinlichkeit eines einzigen von n coordinirten Fällen f
wird daher = -— und die Summe der nWahrscheinlichkeiten
n
aller =: — = 1. Ich habe hierbei vorausgesetzt, daß die
Bezeichnung coordinirter Fälle irichtig verstanden werde ;
ich definire jetzt den Ausdruck dahin, daß jeder dieser
Fälle nur einem einzigen von den einander ausschließenden
Werthen b^, b^. . der Bedingung B entspricht, die in Wirk-
lichkeit vorkommen können, nicht aber einer in Wirk-
lichkeit niemals existirbaren allgemeineren Form B^ dieser
Bedingung, welche mehrere von den Einzelwerthen b^, b^. .
unter sich befaßte; hieraus folgt, daß auch jede von jenen
f eine elementare Einzelform der Folge ist, welche nicht
selbst wieder andere für sich existirbare Arten derselben als
allgemeiner Ausdruck unter sich begreift. Geben wir dem
disjunctiven Urtheil willkürlich die Gestalt: wenn B gilt,
so gut entweder V- oder F°^, so daß wir unter F"^ alle die
428 Neuntes Kapitel.
m oder n^ — 1 Folgen f verstehen, welche nicht fi sind, so
öind fi und F"^ nicht mehr coordinirte Glieder; die Wahr-
scheinlichkeit des ersten zwar bleibt—, aber die des zweiten
n'
ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller Elementar-
fälle, die in diesem Ausdruck vereinigt gedacht werden,
also =- — ' Nun kann es sehr häufig vorkommen, daß
eben diese verschiedenen unter F"^ zusammengefaßten Fälle
eine gemeinsame, das Interesse unserer Untersuchung er-
regende Eigenschaft besitzen, um deren willen wir sie
unter einem gemeinschaftlichen Namen, als einen Fall,
auszuzeichnen und den übrigen Fällen entgegenzusetzen
veranlaßt sind ; dann drücken wir uns dahin aus : die Wahr-
scheinlichkeit dieses (coUectiyen) Falles F"^ sei gleich dem
Verhältniß der Anzahl der in ihm vereinigten Elementar-
fälle zu der Gesammtheit aller möglichen Fälle ; richtiger,
w«nn wir auf den Zusammenhang der Sache zurückgehen:
gleich dem Verhältniß der Anzahl der Variationen von B,
die zu einem Falle der Art F™ führen können, zu der An-
zahl aller möglichen Variationen des B; einfacher und all-
gemein : gleich dem Verhältniß der Anzahl der ihm günstigen
Chancen zu der Anzahl aller denkbaren, := Dieser
' n
Bruch ist das, was wir in mathematischem Sinne unter
der Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses ver-
stehen, im Grunde nicht abweichend im Wesentlichen,
sondern nur genauer bestimmt, als im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch ; denn dieser nennt, ohne eine Maßbestimmung
hinzuzufügen, schlechthin wahrscheinlich von zwei Ereig-
nissen dasjenige, dessen mathematische Wahrscheinlichkeit
größer ist oder häufig mit Unrecht von ihm für größer ge-
halten wird als die des anderen, das ihm nun vergleich-
weis unwahrscheinlich vorkommt; für die mathematische
Betrachtung könnte der in ihr nicht übliche Name der Un-
wahrscheinlichkeit ebenfalls keinen andern Sinn als den
der relativ geringeren Wabrscheinlichkeit haben.
282. Aus kleinen Anfängen, die zuerst nur der Be-
friedigung einer wissenschaftlichen Neugier zu dienen
schienen, ist unter den Händen der größten Mathematiker
die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu einer umfangreichen
Disciplin erwachsen, unendlich fruchtbar für die ver-
schiedensten Gebiete wissenschaftlicher Untersuchungen und
Bestimmung smgularer Thatsachen. 429
praktischer Fragen, die großartige logische Leistung, die
der erfinderische moderne Geist den bewundernswürdigen,
aber unfruchtbaren Theorien des Alterthums entgegenzu-
setzen hat. So ist sie den Grenzen unserer Darstellung
entwachsen, und obgleich jede ihrer Einzelheiten noch
immer in einem Systeme der Logik eine viel mehr be-
rechtigte Stelle einnehmen würde, als jene nutzlosen syl-
logistischen Künste, zu deren beständiger Wiederholung
uns das Uebermaß philologischer Neigungen treibt, so sind
wir doch genöthigt, uns auf die Aufzählung der einfachen
logischen Gedanken zu beschränken, die zu dem Ansätze
ihrer hier nicht weiter durchführbaren Rechnungen führen.
Es geschieht jedoch mit dem Bewußtsein einer offen ge-
lassenen Lücke und mit der Hinweisung auf die Noth-
wendigkeit ihrer anderweitigen Ausfüllung.
1. Es ist zuerst nöthig, kurz den Sinn der Wahrschein-
lichkeit hervorzuheben, deren mathematisches Maß für die
einfachsten Fälle wir eben kennen gelernt haben. Wir
machen durch sie keine Behauptung über das wirkliche
künftige Eintreten des Ereignisses, dem wir sie zuschreiben;
wir sprechen nicht durch sie irgend eine objective Eigen-
schaft oder Beschaffenheit desselben aus; sie bezeichnet,
zunächst wenigstens, durchaus nur subjectiv das Maß des
vernünftigen Zutrauens, welches wir im voraus zu dem
Eintreten eines bestimmten Falles dann hegen dürfen, wenn
uns nur die Anzahl aller unter den jedesmal gegebenen
Bedingungen möglichen Fälle, aber kein sachlicher Grund
gegeben ist, der für die Nothwendigkeit des einen von
ihnen mit Ausschluß der anderen entschiede. Ist nach 281
die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Seite des Würfels,
nach dem Wurfe obenaufzuliegen = i/g, die Wahrschein-
lichkeit, daß eine der fünf andern Seiten oben liege = Vc^
so bedeuten beide Zahlen nur, daß vor dem Wurfe unser
vernünftiges Vertrauen auf den Eintritt des ersten Falles
sich zu dem Vertrauen auf den des zweiten wie 1:5 verr
halten müsse, aber sie enthalten keine Behauptung oder
Voraussagung darüber, ob der eine oder der andere Fall,
und ob bei wiederholten Würfen der eine häufiger als der
andere eintreten werde. Späterem behalten wir die Frage
vor, in wie weit eine solche Folgerung von der voraus-
berechneten Wahrscheinlichkeit auf das wirkliche Geschehen
zulässig ist.
2. Wenn zwei von einander unabhängige variable Be-
dingungen B und B^ zu n und n^ verschiedenen Fällen
430 Neuntes Kapitel.
führen können, so ist die Wahrscheinlichkeit des Zusammen-
treffens eines bestimmten Einzelfalls der einen Reihe mit
einem bestimmten der andern gleich dem Product der Wahr-
scheinlichkeiten, die jeder von beiden in seiner Reihe hat,
ml
also = —' wenn m und m^ die Anzahl der günstigen
Chancen bedeutet, die jeder vermöge der Reschaffenheit
seiner Redingung R und R^ findet. Werden zwei Würfel
geworfen, so ist die Seite, welche der eine in seiner Ruhe-
lage oben zeigt, unabhängig von der, welche der andere
zeigen wird; es sind aber 6 Seiten, die an jedem Würfel
aufliegen können, und jede von ihnen kann sich gleich-
möglich mit jeder der 6 des anderen combiniren; 36 Fälle
sind daher möglich, und die Wahrscheinlichkeit jedes ein-
zelnen von ihnen ist = Vse ^^ ^U • ^U- Sehen wir es aber
für gleichgültig an, welcher der beiden gleichen Würfel
die eine und welcher die andere von zwei verschiedenen
Anzahlen der Augen aufweist, so ist für jeden dieser Fälle
die Wahrscheinlichkeit = 2 • 1/36 = ^/ig ; denn jede Seite von
bestimmter Augenzahl hat allerdings für den einen Würfel
oder für den Würfel R nur eine Chance ihres Aufliegens,
aber die Combination zweier Seiten von verschiedener Augen-
zahl findet in der Combination R + R^ beider Würfel zwei
günstige Chancen. Dagegen muß die Wahrscheinlichkeit
des Aufliegens zweier Seiten von gleicher Augenzahl ^^/s«
bleiben, denn es ist nur eine Combination, die einen be-
stimmten Pasch hervorbringen kann. Kommt es endlich
darauf an, mit beiden Würfeln zusammen eine bestimmte
Augenzahl zu werfen, so hat die Summe 7 die größte
Wahrscheinlichkeit = i/g = e/gg, denn sie hat 6 günstige
Chancen in den Zusammensetzungen 6 -[- 1, 5 + 2, 3 + 4,
deren jede doppelt vorkommt; die geringste, nämlich Vse»
haben die Summen 2 und 12, deren jede nur auf eine
Weise zu erzeugen ist. Lassen wir ferner in einem Gefäß R
sich 17 schwarze und 3 weiße Kugeln, in einem zweiten
Gefäß Ri aber 6 schwarze und 4 weiße befinden und fragen
nach der Wahrscheinlichkeit, durch je einmaliges Ziehen
aus beiden Gefäßen zwei weiße Kugeln zu erhalten, so ist
offenbar auch hier das, was die eine Hand ergreift, un-
abhängig von dem, was die andere ergriffen hat; aber die
Wahrscheinlichkeit, aus dem ersten Gefäß eine weiße Kugel
zu bekommen, hat m=:3 günstige Chancen auf 20 Fälle,
die Wahrscheinlichkeit desselben Resultates für das zweite
Gefäß ml = 4 auf 10. Hätte man nun aus R die weiße
Bestimmung singularer Thatsachen. 431
Kugel gezogen, so würde sich diese mit 10 Kugeln aus B*^^
combiniren können, unter diesen 10 wären 4 weiße; die
Wahrscheinlichkeit, eine von diesen zu der schon gefaßten
hinzuzubekommen, mithin Vio J da aber der Besitz der ersten
weißen Kugel selbst nur die Wahrscheinlichkeit V20 hatte, so
ist die, zwei weiße zu ergreifen, r= j^ = 3/20 • */io = ^/öo^
Es würde sich anders verhalten, wenn wir alle Kugeln in
ein Gefäß vereinigten und aus diesem zwei Züge thäten,
so jedoch, daß die zuerst ergriffene Kugel vor dem zweiten
Zuge wieder in das Gefäß gethan würde. Das Resultat des
zweiten Zuges wäre dann wieder unabhängig von dem des
ersten; für jeden einzeln wäre die Wahrscheinlichkeit einer
weißen Kugel ='^/3o, für die Ziehung zweier weißen nach
einander mithin = '/30 • "^/so = ^^/goo? geringer also als in dem
ersten Falle. Diese Differenz der Ergebnisse kann über-
raschen, da man ohne Rechnung beide Verfahrungsweisea
kaum für wesentlich verschieden halten würde; sie sind
es dennoch, weil sie durch die größeren oder geringeren
Anzahlen schwarzer Kugeln, (die sie mit den weißen mischen,
die Ergreifung der letztern erschweren oder erleichtern^
Die Wahrscheinlichkeit, '/30, aus der ganzen Summe der
zusammengeworfenen Kugeln eine weiße zu fassen, beträgt
allerdings ^Vg der Waihrscheinlichkeit ^/go, sie aus dem einen
Gefäß zu ziehen, das 20 Kugeln enthielt; dafür beträgt sie
aber nur V12 der zweiten Wahrscheinlichkeit Vio> die weiße
Kugel aus dem andern Gefäß zu holen, das nur 10 im
Ganzen enthielt; mithin ist die Wahrscheinlichkeit für zwei
weiße Kugeln im zweiten Verfahren nur ^^/g • V12 oder ^^/-^
der Wahrscheinlichkeit desselben Erfolgs nach dem ersten
Verfahren; man hat in der That ^Vs* • Vioo == ^^Aoo- Es ist
nützlich^ sich hierüber an einem noch einfacheren Falle
völlig klar zu werden. Nehmen wir an, das Gefäß B ent-
halte nur eine weiße, keine schwarze, das Gefäß B^ da-
gegen eine weiße und eine schwarze Kugel, so ist un&
nach dem ersten Verfahren die eine weiße Kugel aus B
gewiß, ihre Wahrscheinlichkeit mithin = 1 ; sie kann aber
bei dem Zug aus B^ noch mit einer weißen und einer
schwarzen zusammentreffen; die Wahrscheinlichkeit jedea
dieser beiden Fälle, also auch die zweier weißen Kugeln
nacheinander ist mithin 1/2 = 1 • 1/2. Nach dem zweiten
Verfahren dagegen, wenn wir alle drei Kugeln in dasselbe
Gefäß zusammenwerfen, ist uns nichts gewiß; für den.
432 Neuntes Kaptel,
ersten wie für den zweiten Zug ist die Wahrscheinlichkeit
einer weißen Kugel = Va und die zweier weißen nach ein-
einander = Va» mithin kleiner als nach dem ersten Ver-
fahren.
3. Wenn die Variationen einer Bedingung B eine Reihe
Fälle von der Art f begründen, der Eintritt aber eines von
diesen die Bedingung B^ ändert, welche zu Folgen der Art f^
führt, so ist die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens
eines bestimmten Falls aus der Reihe der f mit einem be-
stimmten aus der Reihe der P gleich dem Product aus der
unabhängigen Wahrscheinlichkeit des f in die durch sein
Eintreten modificirte von P. Auf diesen Fall stoßen wir
bei einer leichten Veränderung des letzten Beispiels. Legten
wir in das Gefäß, das alle 30 Kugeln enthielt, die zuerst
gezogene weiße wieder ein, so blieb der zweite Zug un-
abhängig vom ersten; legen wir sie aber nicht ein, so
enthält das Gefäß nun auf 29 Kugeln nur noch 6 weiße;
die Wahrscheinlichkeit, eine weiße jetzt zu ziehen, wird 6/29
und die, zwei weiße nach einander zu treffen, = "^/^q • ^/gg ;
sie ist nur ungefähr 0,88 derjenigen, die stattfand, wenn
die gezogene Kugel dem Gefäß zurückgegeben wurde. Leicht
begreiflich, da die Anzahl der weißen Kugeln verhältniß-
mäßig stärker vermindert worden ist, als die der schwarzen,
aus der sie herauszusuchen sind. Unter diese Gattung
von Aufgaben fallen sehr viele von denen, auf welche die
Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden ist, und man wird
alle Sorgfalt darauf verwenden müssen, sie von denen der
ersten Gattung zu unterscheiden. Es handelt sich sehr
oft um Ereignisse, deren wahrscheinlicher künftiger Wieder-
eintritt von der Anzahl der Fälle abhängt, in denen früher
entweder sie selbst oder andere mit ihnen in bestimmter
Beziehung stehende sich verwirklicht haben, und nicht
immer ist es leicht, durch Zergliederung dieser Zusammen-
hänge den bedingenden Einfluß zu ermitteln, welchen das
Eintreten eines Falles auf die Wahrscheinlichkeit des nächst
zu erwartenden ausübt. Ich muß mich enthalten, dies durch
Beispiele zu erläutern, die zu weitläufig ausfallen würden;
nur eines erwähne ich aus anderer Rücksicht. Wenn ein
Augenzeuge eines Ereignisses seine Beobachtung einem
Hörer, dieser das Gehörte einem zweiten mittheilt, so wissen
wir aus Erfahrung, wie im Laufe dieser Ueberlieferung
der ursprüngliche Inhalt oft sehr entstellt bei dem zehnten
Hörer anlangt; man hat nun nach dem Grade der Glaub-
würdigkeit, d. h. nach dem Grade des vernünftigen Zu-
Bestimmung singularer Thatsachen. - 433
trauens gefragt, das wir zu der Richtigkeit einer Aussage
haben dürfen mit Rücksicht auf die Anzahl der Bericht-
erstatter, welche sie einer dem andern gemacht haben.
Ich kann mich nicht überzeugen, daß diese Frage eine
förderliche Beantwortung durch Rechnung zulasse. Einen
Zweifel erweckt zunächst der Sinn dessen, was man sucht.
Eine Aussage ist entweder richtig oder unrichtig ; im letztem
Falle aber entfernt sie sich von der Wahrheit um ver-
schiedene Differenzen; nach der Größe dieser ließe sich
allerdings ein größerer oder geringerer Grad ihrer Glaub-
würdigkeit unterscheiden, wenn die verschiedenen Differen-
zen selbst unter einander vergleichbar wären. Dies wird
jedoch nur in wenigen Fällen stattfinden; jedes Glied eines
Urtheils, durch welches wir eine ursprüngliche Beobachtung
ausdrücken, kann für sich nach einem blos ihm möglichen
Maßstabe verfälscht und diese Verfälschungen können ver-
schiedenartig mit einander verbunden werden ; die Gesammt-
irrthümer, die so entstehen, lassen sich nicht als vergleich-
bare Glieder einer Reihe fassen, und es würde mithin für
diese objective Glaubwürdigkeit des überlieferten Inhalts
kein anwendbares Maß geben. Aber allerdings ist es diese
eigentlich nicht, was man sucht; man wünscht dasjenige
Maß des Zutrauens, welches nur durch die namhaft ge-
machte Bedingung, durch die Anzahl der geschehenen Üeber-
tragungen, motivirt wird. Aber hiergegen eben ist ein-
zuwenden, daß in dem Begriff dieser Bedingung, der bloßen
Mittheilung, durchaus nichts liegt, was überhaupt die Voraus-
sicht einer allmählichen Verfälschung des Mitgetheilten be-
gründen könnte. Wenn wir, in dem obigen Beispiele, aus
dem Gefäß, welches unter 30 Kugeln 7 weiße enthielt, eine
weiße gezogen und entfernt haben, so wissen wir genau,
daß und um wie viel wir die Bedingungen verändert haben,
unter denen der zweite Zug stattfinden muß; legten wir
aber die Kugel wieder ein, so wußten wir ebenso gewiß,
daß wir sie nicht verändert haben, daß vielmehr für den
zweiten Zug res integra ist und seine Wahrscheinlichkeit
gleich der des ersten. Diesem letzten Fall, nicht dem
ersten, entspricht der jetzt vorliegende; durch die Mit-
theilung allein, wenn nichts sonst hinzukommt, kann der
erste Hörer nicht veranlaßt sein, etwas Anderes mitzutheilen,
als er empfangen hat, und es wäre nicht blos Wahr-
scheinlichkeit, sondern Gewißheit, daß der letzte Hörer
genau die ursprüngliche Aussage empfangen wird. Die
Verfälschungen hängen also nicht von der Anzahl der Ueber-
Lotzo, Logik. 28
434 - Neuntes Kapitel.
tragungen, sondern von der Größe der Einzelirrthümer ab,
die bei jeder einzelnen Mittheilung gemacht werden; das
Maß der Glaubwürdigkeit würde sich daher mit Hülfe jener
Anzahlen nur feststellen lassen, wenn die Größe jener
Einzelirrthümer entweder constant oder eine bestimmte
Function der Ordnungszahl der geschehenen Mittheilungen
wäre. Zu einer solchen Annahme liegt nicht der geringste
Grund vor; im Gegentheil, man hat wirklich ausführlich
die sehr verschiedenen Fälle in Betracht gezogen, die vor-
kommen können : daß der Augenzeuge A das, was er richtig
beobachtet, auch wahrhaft habe mittheilen wollen oder
nicht; daß der Hörer B ihn richtig verstanden habe oder
nicht, daß er das Verstandene wahrheitsgemäß habe über-
liefern wollen oder lieber verfälschen; ja sogar daß ein
dritter C, der das falsch Verstandene aufs Neue zu ver-
drehen beabsichtigte, zufällig wieder auf die Aussage des
Wahren gekommen sei. Beachtet man alle diese möglichen
Bedingungen, so sieht man deutlich, daß die Glaubwürdigkeit
einer Mittheilung in gar keiner bestimmten Abhängigkeit
von der bloßen Anzahl der Uebertragungen steht; berück-
sichtigen nun kann man diese Bedingungen nicht, denn
man kennt sie nicht; hätte man aber Mittel, sie alle kennen
zu lernen, so wäre die Sache erledigt und man brauchte
die Rechnung nicht; es bleibt daher für diese in der That
nichts übrig, als über alle jene Bedingungen völlig will-
kürliche Annahmen zu machen, wodurch dann ihre Aus-
führungen zu bloßen Rechenexempeln ohne eine gedeihliche
Anwendung auf wirkliche Ereignisse werden. Dazu gehört
z. B. die Betrachtung: wenn die erste Wiedererzählung
einer gehörten Thatsache auch genau genug wäre, damit
ihre Glaubwürdigkeit = 0,9 gesetzt werden könnte, so würde
doch nach zwanzigmaliger Uebertragung diese Glaubwürdig-
keit nur noch 0,920 = 0,1216 sein, nur etwas mehr als ^/^
jener ersten. Alles ist hier willkürliche iVnnahme; will-
kürlich, daß man die Glaubwürdigkeit in geometrischer
Progression abnehmen läßt, anstatt einer arithmetischen,
die gleich denkbar wäre; ebenso willkürlich die Voraus-
setzung überhaupt, daß Exponent oder Differenz von Glied
zu Glied gleich sein müsse; ganz bedeutungslos daher
auch das Resultat, das vielleicht in Bezug auf leichtsinniges
Gassengeschwätz zutreffen mag, für besonnene historische
Ueberlieferungen aber eine große Uebertreibung ihrer zu-
nehmenden UnZuverlässigkeit enthält.
Bestimmung singularer Thatsachen. 435
4. Wenn gegebene Thatsachen aus mehreren ver-
schiedenen Ursachen ableitbar sind, so ist diejenige Ursache
die wahrscheinlichste, unter deren Voraussetzung die aus
ihr berechnete Wahrscheinlichkeit der gegebenen Thatsachen
die größte wird. Man habe durch vier aufeinanderfolgende
Züge aus einem Gefäß 3 weiße und eine schwarze Kugel
genommen und stets wieder in das Gefäß zurückgelegt;
es fragt sich, welche Anzahlen von Kugeln beider Farben,
in dem Gefäße enthalten, diese Ergebnisse am wahrschein-
lichsten herbeigeführt haben. Man muß zu diesem Zwecke
die ganze Anzahl der Kugeln im Gefäß wissen, um die
Zahl der denkbaren Combinationen aufstellen zu können,
welche die Ursachen der gefundenen Thatsachen zu bilden
im Stande sind; die Zahl der Kugeln sei 4. Nothwendig
ist nun, um unseren Fund zu erklären, die Gegenwart
einer schwarzen und einer weißen Kugel im Gefäß; die
andern bleiben unbestimmt; man kann also annehmen:
3w + ls, 2w-^-2s, Iw-f-Ss. Man erhält dann die Wahr-
scheinlichkeiten, auf einen Zug eine Kugel zu erhalten,
für w beziehungsweis : ^/^^ 2/^^ 1/^^ für s : Vi» "Aj V4; die
zusammengesetzten Wahrscheinlichkeiten aber, in vier
Zügen 3w und Is zu ziehen, werden, jenen drei Annahmen
entsprechend: 27/256, ^^/256j ^/ssü; mithin ist die erste An-
nahme von 3w-|-ls im Gefäß enthaltener Kugeln die wahr-
scheinlichste, zugleich geben die gefundenen Brüche das
Maß der Wahrscheinlichkeit für die beiden andern Voraus-
setzungen. Man bestätigt sich leicht diese Antwort durch
einfache Ueberlegung. Wäre nur eine weiße Kugel, nach
der dritten Annahme, vorhanden gewesen, so würde man
in vier Zügen dreimal dieselbe haben ergreifen müssen
und nur einmal eine schwarze von drei, die sich darboten,
offenbar minder wahrscheinlich als vier Züge, die jeder
der Kugeln gleiches Recht widerfahren lassen. Im Uebrigen
setzt natürlich diese Berechnung voraus, daß die ver-
schiedenen annehmbaren Ursachen der gegebenen That-
sachen für sich selbst gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen;
dies fand hier insofern statt, als jede Vertheilung der
beiden Farben an die vier Kugeln an sich so gut möglich
war, als jede andere; wo die Wahrscheinlichkeiten der
Ursachen verschieden sind, hat die Rechnung dies geeignet
zu berücksichtigen.
5. Der wiederholte Eintritt desselben Ereignisses unter
derselben allgemeinen Bedingung B erregt in uns die Er-
wartung, es werde auch bei neuer Wiederholung von B
28*
43ü Neuntes Kapitel.
wieder eintreten. Die Wahrscheinlichkeit dieser Erwartung
läßt sich berechnen. Wenn in einem Gefäß zwei Kugeln
liegen, so kann es geschehen, daß wir bei wiederholten
Zügen immer nur die eine, die weiß sein mag, ergreifen,
die Farbe der andern mithin unbekannt bleibt. Es fragt
sich nun, wie groß die Wahrscheinlichkeit der rege ge-
wordenen Erwartung sei, man werde auch bei einem neuen
dritten Zuge eine weiße ergreifen. Da eine Kugel weiß
sein muß, so gibt es nur die beiden Möglichkeiten, daß
die andere schwarz, oder daß beide weiß seien. Nach der
ersten Armahme ist die Wahrscheinlichkeit der schon ein-
getretenen Thatsache der Ergreifung zweier w in 2^ Zügen
== 1/4, nach der zweiten ist sie = 1 ; folglich verhalten sich
die Wahrscheinlichkeiten beider Annahmen wie 1 : 4, und
da ihre Summe = 1 sein muß, so ist die erste ■-= ^/^, die
andere = V5 zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit bei dem
nächsten Zug ist 1/2 für die weiße Kugel nach der ersten
Annahme und 1 nach der zweiten; die Summe der nach
beiden Annahmen zusammen vorhandenen günstigen
Chancen ist daher 1/5. 1/2 -|- ^/s. l = Vio- Man hat in diesem
Falle die Wahrscheinlichkeit gekannt und in Rechnung
gebracht, welche die schon verwirklichte Thatsache unter
zwei einander ausschließenden Voraussetzungen hatte; aber
auch, wo diese Kenntniß fehlt, läßt sich auf den Wieder-
eintritt eines Ereignisses aus der Anzahl seiner schon be-
obachteten Wiederholungen ein Wahrscheinlichkeitsschluß
ziehen. Wissen wir, in völliger Unkenntniß der bedingenden
Gründe, nichts weiter, als daß ein Ereigniß E unter be-
stimmten Umständen, z. B. in einem gewissen ausgezeich-
neten Zeitpunkt t, einmal eingetreten ist, so kann es zu-
nächst scheinen, als sei die Wahrscheinlichkeit, daß es
unter denselben Umständen ein zweites Mal eintreten werde,
genau so groß, als die, daß es nicht eintreten werde.
Dennoch kann man so nicht rechnen; denn dann würde
die beobachtete Thatsache seines einmaligen Eingetreten-
seins ohne allen Einfluß bleiben, und da dieselbe Be-
trachtung dann auch nach m maligem Vorgekommensein
des Ereignisses gelten müßte, so würde man zuletzt selbst
aus unendlich oft eingetretener Wiederholung desselben
seinen nächstmaligen Wiedereintritt nicht wahrscheinlicher
finden können, als wenn es sich noch niemals zugetragen
hätte. Dies aber würde als offenbar widersinnig gelten
können; denn jede neue Wiederholung des Ereignisses ist
eine neu hinzukommende Assertion des Fortbestehens der
Bestimmung singularer Thatsachen. 437
unbekannten Ursachen, von denen es abhängt, und mithin
auch eine Steigerung der Wahrscheinlichkeit seiner künf-
tigen Wiederholung. Man muß also schon in dem erst-
erwähnten Falle so schließen: für den Eintritt sowohl wie
für den Nichteintritt des E ist an sich die Wahrscheinlichkeit
gleich groß; aber für das Dasein der Ursachen, welche E
verwirklichen, spricht außerdem noch der eine beobachtete
Fall seiner Verwirklichung; für das Dasein von Ursachen,
die E hindern, spricht außer der bloßen Möglichkeit nichts.
Es sind mithin für den Wiedereintritt des E zwei günstige
Gründe gegen einen für die Nichtwiederkehr ; da beide
Wahrscheinlichkeiten sich mithin wie 2 : 1 verhalten, ihre
Summe aber = 1 sein muß, so ist die der Wiederkehr
von E = Vs- Allgemein also : wenn ein Ereigniß E oder
ein gewisser Kreislauf E gleicher Ereignisse mmal ohne
Gegenbeispiel beobachtet worden ist, so ist die Wahrschein-
lichkeit, daß E in derselben Weise wiederkehren wird,
= — ; o ; der Nenner enthält die Summe der denkbaren
m -f 2 '
Fälle, den nach m wirklichen Fällen kommen immer
2 denkbare, Wiederholung und Nichtwiederholung des E,
hinzu ; der Zähler zeigt wie immer die Anzahl der günstigen
Chancen an. Ich überlasse dem Leser, ob diese einfache
Ableitung der Formel ihm genügt; mir scheint sie nicht viel
weniger überzeugend, als die undurchsichtigere analytische
Behandlung, durch die man sie gewöhnlich gewinnt. Man
sieht, daß dieser Bruch, je größer m wird, desto mehr
sich der Einheit, mithin der Wiedereintritt von E sich
der Gewißheit nähert, und man pflegt als Beispiel an-
zuführen, daß jetzt, nachdem 5000 Jahre lang der Wechsel
von Tag und Nacht geschichtlich bezeugt ist, die Wahr-
scheinlichkeit dafür, daß derselbe Wechsel auch heute statt-
finden werde, = 1,826,214 : 1,826,215 sei, man mithin
1,826,214 gegen Eins auf sein nächstes Eintreten wetten
kann. Wenn nun überhaupt unsere Berechnungen der Wahr-
scheinlichkeiten nicht ein objectives Verhalten künftiger
Ereignisse, sondern nur die Größe unseres subjectiven Zu-
trauens zu ihrem Eintritt ausdrücken, so findet dies hier
in gewissem Sinne noch in gesteigertem Maße statt, was
man deutlich empfindet, wenn m eine sehr kleine Zahl ist.
Denn dann ist die Voraussetzung, von der wir ausgingen,
diese Zahl m der beobachteten Verwirklichungen von E
bezeuge auch für den nächsten Fall die Fortdauer der
dem E günstigen Ursachen mit einer der Größe von m
438 Neuntes Kapitel.
proportionalen Sicherheit, selbst nur eine Wahrscheinlich-
keit, deren Gewicht etwas Willkürliches hat, und von der
man nur weiß, daß sie selbst mit dem Wachsen von m
wächst. Die Formel würde daher eigentlich nicht direct
die Wahrscheinlichkeit des Wiedereintritts von E, sondern
die Wahrscheinlichkeit dieser Wahrscheinlichkeit messen,
was darauf hinausläuft, daß nicht blos ihre Werthe, sondern
auch die Sicherheit dieser Werthe sich für unendlich
wachsendes m immer mehr der Gewißheit nähert.
6. Das Maß des Vertrauens zu dem Eintritt künftiger
Ereignisse zu bestimmen, werden wir am häufigsten durch
die Rücksicht auf die mit demselben verbundenen Vortheile
und Nachtheile veranlaßt. Die Beweggründe, die wir daraus
für unser Handeln ableiten, werden daher zugleich von der
Wahrscheinlichkeit des Ereignisses E und von der Größe
des durch E zu erwartenden Gewinnes abhängig sein. Dieses
Product aus der Wahrscheinlichkeit von E in die Größe
seines Vortheils ist das, was wir mathematische Hoff-
nung nennen und einer genauen Bestimmung unterwerfen
können. Es sei ein Spiel so verabredet, daß Jemand 2 Thaler
erhält, wenn er bei dem ersten Aufwerfen einer Münze
die Bildseite trifft, und 5 Thaler, wenn er zuerst Schrift,
dann Bild wirft. Die Wahrscheinlichkeit des ersten Falles
ist = 1/2, seine Hoffnung = i/g. 2 ; die des zweiten sind
= 1/4 und = 1/4. 5, endlich die Gesammthoffnung auf Ge-
winn, die bei dem Eingehen dieses Spiels vorhanden ist,
kann nur die Summe ^/^ dieser beiden Hoffnungen sein;
denn die beiden Glücksfälle schließen einander, nach der
getroffenen Verabredung, zwar aus, doch muß begreiflich
die Gewinnhoffnung größer sein, wenn beide, als wenn
nur einer gilt, und die Hoffnung des einen genau übrig
bleiben, wenn die des andern durch Verminderung des für
ihn bedungenen Gewinnes zuletzt auf Null gebracht wird.
Es verhält sich ganz ebenso, wenn verabredet war, daß
2 Thaler das erstmalige Aufwerfen des Bildes, 5 dann noch
besonders das folgende der Schrift belohnen sollen. Dann
sind beide Gewinnfälle mit einander verträglich, aber auch
hier können nur entweder 2 oder 7 Thaler, beide mit der
Wahrscheinlichkeit 1/4 gewonnen werden. Es bleibt daher
9/4 Thaler auch hier die Gesammthoffnung dessen, der das
Spiel eingeht, und die Höhe des Einsatzes, den er dabei
vernünftigerweise wagen darf. Man findet ferner leicht,
daß, wenn unter verschiedenen zu erwartenden Ereignissen
E, El, E2, einige vortheilhaft, einige nachtheilig sind, dann
Bestiinmung singularer Thatsachen. • 439
die Gesamthoffnung, welche man hegen darf, wenn man
sich durch eine Handlung dem Eintritt dieser Ereignisse
aussetzen will, gleich sein muß der Differenz zwischen
der Summe der mathematischen Hoffnungen der günstigen
Ereignisse und der Summe der Hoffnungen der ungünstigen.
Ist diese Differenz negativ, so drückt sie die Größe der
Gefahr aus, die man läuft, oder richtiger die Größe der
Besorgniß, die man zu hegen hat. Die Anwendung dieser
Grundsätze ist von der größten Ausdehnung und Wichtig-
keit; man bestimmt durch sie nicht blos Billigkeit und
Gerechtigkeit der Wetten und Glücksspiele, eine Berech-
nung, die man eben so gut entbehren könnte, wie ihren
Gegenstand, sondern auch die Anordnung der ernsthaftesten
öffentlichen und privaten Geschäfte, die Wirthschaft der
Finanzen, die Unternehmungen des Handels, die Einrich-
tungen der Versicherungsgesellschaften aller Art.
7. Noch ein Begriff gehört zu diesem Gedankenkreise.
Auch die mathematische Hoffnung bestimmt nicht in aller
Beziehung den Werth eines Ereignisses für uns; man erhält
diesen erst, wenn man die Größe des erwarteten Vortheils
auch mit dem Thatbestand vergleicht, zu dem er hinzu-
kommen soll. Für den Unglücklichen ist eine kleine Freude,
für den Armen eine geringe Gabe von größerem Werth
als für den Glücklichen ein neuer Triumph und für den
Reichen ein bedeutender Gewinn. Thatsächlich freilich
pflegt, wer viel hat, um so mehr zu begehren; die Logik
dagegen vertritt hier den Standpunkt der Billigkeit, nach
der es anders sein sollte; indem sie als selbstverständlichen
Grundsatz annimmt, daß der relative Werth eines Vor-
theils im umgekehrten Verhältniß zu der Gunst der Lage
steht, zu der er hinzukommt, drückt sie den Maßstab aus,
nach welchem Jeder zu dem Verlangen einer weiteren
Verbesserung dann berechtigt erscheint, wenn die verfüg-
baren Güter, durch die sie hergestellt werden kann, zugleich
zur Befriedigung anderer dienen müssen. Eine Rechnung
läßt dieser allgemeine Satz nur dann zu, wenn alle Gunst
und Ungunst der Lagen und alle zur Verbesserung dienenden
Güter mathematisch vergleicnbar sind, zunächst also in
Bezug auf den Zuwachs von Vermögen, die in Geld aus-
drückbar sind. Sei V ein bereits bestehendes Vermögen
und z der Zuwachs, den es erhalten soll, so läßt sich
diese Vermehrung von V immer als eine Summe unendlich
vieler Zunahmen denken, deren jede dz beträgt; der relative
440 Neuntes Kapitel.
Werth jeder folgenden (n -j- 1 )ten Vermehrung um ein dz
steht aber im umgekehrten Verhältniß zu der durch die
früheren Zunahmen gesteigerten Größe von V oder zu
k - dz
V + ndz, ist also = y . -^ , worin k ein specifischer
Coefficient ist, verschieden für verschiedene Arten des
zuwachsenden Vortheils, constant für alle z gleicher Art,
an sich nicht weiter bestimmbar und, als gemeinsamer
Factor aller vergleichbaren Werthe, im Folgenden weg-
gelassen. Der relative Werth der Gesammtzunahme um z
ist dann das Integral dieses Ausdrucks, in welchem man
für ndz die von o bis z veränderlichen Werthe z zu setzen
hat, also = log (V -|- z) — log V. Nach dieser Formel werden
für ein Vermögen V=:1000 die relativen Werthe der Zu-
nahmen um z = 1000, = 2000, =: 3000, = 4000 sich nahezu
verhalten wie 1 : 1,6 : 2 : 2,3, mithin weit langsamer wachsen,
als die hinzutretenden Zunahmen selbst; für die ver-
schiedenen Vermögen V = 1000, =2000, =:3000, r=4000
sind die relativen Werthe gleicher Zunahmen um z = 1000
ungefähr 0,301; 0,176; 0,125; 0,097. Wenn man schließlich
die so berechneten relativen Werthe eventueller Vortheile
mit der Wahrscheinlichkeit ihrer Erlangung m multiplicirt,
rV-h z\
— =!= — I als die moralische Hoff-
'-m
nung, die sich ^uf sie bezieht, d. h. die mathematische
Hoffnung der auf ihren relativen Werth reducirten Vortheile,
und diese ist es, welche in den mannigfaltigsten Unter-
nehmungen die Größe des Risico bestimmt, das wir mit
Rücksicht auf das, was für uns Vortheil ist, übernehmen
dürfen. Der Factor m kann, wie wir annahmen, constant
sein für jede Höhe des z, aber er kann auch eine Function
von z oder von V + z sein, und dann ist er natürlich
unter dem Integralzeichen und in die Integration einzu-
schließen; in der That gibt es viele Arten der Unter-
nehmungen, in denen entweder der erste Erfolg schwer,
die spätem immer leichter erreichbar sind, oder in denen
die Möglichkeit weiterer Erfolge mit der wachsenden Größe
des Erreichten abnimmt. Endlich messen die Formeln nicht
alles, was man zu messen wünschen kann. Da sie z nur
als Summe der dz fassen, aber die Zeit t nicht beachten,
in welcher die Summation zu Stande kommt, so vernach-
lässigen sie den Unterschied zwischen allmählich und plötz-
Bestimmung singularer Thatsachen. 441
lieh entstehenden Verbesserungen. Der reelle sachliche oder
physische Werth beider kann gleich groß sein, aber der
psychische Effect, einfach gesagt : die Freude darüber nicht,
und doch ist auch diese in den Begriff des relativen Werthes
eines Vortheils einzuschließen. Nähme man an, daß die
EmpfängHchkeit für Steigerung eines Genusses =^ wäre,
wenn V die Größe eines gleichartigen Genusses ist, dessen
man sich bereits erfreut, und daß zugleich der entstehende
Genußzuwachs der Größe z des plötzlichen Vortheilszu-
wachses proportional bliebe, so würde -^^ das Maß der Er-
freuung durch das Hinzukommen von z sein. Man sieht
jedoch leicht, daß auch andere Annahmen an der Stelle
dieser beiden denkbar sind; man könnte selbst möglich
finden, daß die eventuelle Erfreuung noch außerdem eine
Function von m, der Wahrscheinlichkeit des Eintretens
von z wäre; die Erlangung eines Genusses, an dem man
verzweifelte, würde uns vielleicht stärker bewegen, als die
eines wahrscheinlicheren von selbst größerem relativen
Werthe.
283. Die letzte Bemerkung berührte Fragen, die bisher
der Rechnung nicht unterworfen worden sind, ihr aber
unterw^orfen werden könnten, wenn bessere psychologische
Kenntniß brauchbare Ausgangspunkte böte. Es gibt andere,
auf welche man nur in bedeutungslosem Spiele die An-
wendung der Wahrscheinlichkeiten auszudehnen versuchen
könnte. Denn obgleich dieses Verfahren des Schließens
von der Unkenntniß der besonderen Gründe ausgeht, die
ein fragliches Ereigniß bedingen, so macht es dennoch
einige Voraussetzungen, die man beachten muß. Zuerst
die der Gültigkeit der logischen und mathematischen Wahr-
heiten, auf deren Benutzung die Möglichkeit der Rechnung
selbst beruht. Die Richtigkeit specieller Gesetze, welche
sich auf eine Gruppe von Thatsachen beschränken, deren
Nichtdasein selbst ebenso denkbar ist als ihr Dasein, läßt
sich, wie wir noch sehen werden, durch Rechnung prüfen;
aber es gibt keinen zulässigen Ansatz, von dem aus man
die Richtigkeit des Gesetzes der Identität oder des dis-
junctiven Lehrsatzes mehr oder minder wahrscheinlich
finden könnte; die einfachste Bestimmung jeder Wahr-
scheinlichkeitsgröße setzt voraus, daß eine Disjunction aller
möglichen Fälle gegeben, daß jeder von diesen mit sich
selbst identisch und nicht gleich einem andern, daß endlich
442 Neuntes Kapitel.
durch jeden alle übrigen ausgeschlossen seien. Man kann
also immer nur die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses
oder eines Zustandes oder einer Reihe von Begebenheiten
prüfen unter der Voraussetzung, daß dieser fragliche Inhalt
Bestandtheil einer Welt sei, in der es allgemeine Gesetze
gibt, nach denen sich Wahrheit von Unwahrheit, Möglichkeit
von Unmöglichkeit, Leichtigkeit eines Erfolges von
Schwierigkeit desselben unterscheidet. Dies ist jedoch nicht
die einzige Beschränkung; die Wahrscheinlichkeitsrechnung
darf den Gegenstand ihrer Frage nicht als blos denkbar
schlechthin betrachten, sondern muß das Vorhandensein
von Bedingungen voraussetzen, welche überhaupt die Noth-
wendigkeit der Verwirklichung eines der disjungirten Fälle
mit Ausschluß der anderen begründen; es muß immer, um
in der Sprache ihrer Formeln zu reden, eine Gewißheit = 1
geben, welche die Summe aller Wahrscheinlichkeiten der
denkbaren Einzelfälle ist. Man sah dies überall in den
Beispielen, die wir brauchten. Wenn ein Würfel geworfen
wird, oder wenn zwei, dann läßt sich die Wahrscheinlich-
keit jedes der Einzelfälle bestimmen, die hierdurch ent-
stehen können; wenn man aber nicht angibt, ob einer oder
zwei oder drei Würfel zugleich oder wievielmal nach
einander fallen sollen, so fehlt jede Möglichkeit, den Spiel-
raum der disjunctiven Möglichkeiten und die Einheit zu
bestimmen, mit Rücksicht auf welche die Wahrscheinlich-
keiten einer jeden zu bemessen sind. Man kann also nur
solche Ereignisse berechnen, welche innerhalb einer gesetz-
lich geordneten Welt von anderen abhängig sind, nicht
aber Urthatsachen, die ein unabhängiges schlechthiniges
Sein enthalten. Es wäre nur ein bedeutungsloses Spiel
des Witzes, zu behaupten : bevor irgend etwas sei, habe
es gleiche Wahrscheinlichkeit, daß überhaupt etwas sei
und daß gar nichts sei; eines von beiden müsse aber
stattfinden, folglich sei die Wahrscheinlichkeit für das
Dasein von etwas überhaupt = 1/2 ; dies Daseiende müsse
dann entweder nur Eines oder Vieles sein, mithin die
Wahrscheinlichkeit für das Dasein vieler Elemente sei = ^ 4,
ebenso groß die für das Dasein eines einzigen; endlich,
wenn wir annähmen, es gäbe n Elemente, so können sie
entweder alle gleich oder alle oder einige verschieden sein;
unter den m Fällen, die hieraus entständen, würde die
Gleichheit aller nur einer sein, folglich ihre Wahrscheinlich-
keit-^ , . ImJGegentheil : bevor es irgend etwas gibt.
Bestimmung singularer Thatsachen. 443
gibt es auch den klugen Geist nicht, der diese Berechnung
der Zukunft anstellen könnte; wäre es aber denkbar, daß
er außerhalb der Welt existirte, über deren wahrscheinliche
Entstehung oder Nichtentstehung er speculirte, so würde
es doch in jenem Nichts durchaus keine Bedingung geben,
welche eine wirkliche Entscheidung der denkbaren Alter-
native zwischen Sein und Nichtsein nothwendig machte,
und es würde mithin bei dem Nichts lediglich sein Bewenden
haben; wäre aber, woher auch immer, eine günstige Ent-
scheidung für das Seine erfolgt, so könnte sie doch nicht
für das in abstracto nur denkbare, aber nicht existirbare
Sein überhaupt, sondern nur für ein bestimmtes Sein erfolgt
sein, daß jedes andere denkbare ausschlösse; dieses eine
hätte von Anfang an die Gewißheit = 1 für sich, die
Wahrscheinlichkeit aller anderen Arten des Seienden wäre
nicht sowohl == 0 als vielmehr eine Vorstellung ohne angeb-
baren Sinn. Es würde sich anders verhalten, wenn wir aus
gegebenen Datis die Wahrscheinlichkeit jener Urthatsachen
bestimmen wollten; unter Voraussetzung eines gesetz-
mäßigen Zusammenhangs aller Wirklichkeit würden dann
diese letzteren, nicht als Realgründe, aber als Erkenntniß-
gründe, wieder eine Bedingung bilden, welche die Noth-
wendigkeit der ausschließenden Annahme der einen oder
der anderen Gestalt jener Urthatsachen herbeiführte.
284. Man wird sich ferner mit Vortheil immer daran
erinnern, daß die Wahrscheinlichkeit ursprünglich nur unser
berechtigtes Vertrauen auf den Eintritt eines Ereignisses
mißt, bevor es eingetreten ist. Nachdem es aber ein-
getreten ist, haftet seine frühere größere oder geringere
Wahrscheinlichkeit nicht als eine bleibende Eigenschaft an
ihm, aus der man nun rückwärts in Bezug auf die Ursachen
seiner Verwirklichung irgend einen andern Schluß ziehen
dürfte, als den, daß sie eben eingetreten sind. Hierüber
machen wir uns vielerlei Illusionen. Wenn ein Ereigniß E
sich zugetragen hat, dessen Wahrscheinlichkeit, vorher be-
rechnet, sehr klein war im Verhältniß zu derjenigen einer
ganzen Klasse von Fällen, die wir von irgend einem
logischen Gesichtspunkte aus ihm gegenüber als einen
zweiten Gesammtfall, als ein Non E, zusammenfaßten, so
bilden wir uns ein, zur Herbeiführung von E sei nicht
blos eine besondere, sondern eine höhere Ursache noth-
wendig gewesen. Es geschieht zuweilen, daß der Name
eines unbedeutenden unbekannten selten erwähnten Gegen-
standes, nachdem wir zum ersten Male auf ihn gestoßen
444 Neuntes Kapitel.
sind, dann uns plötzlich mehrmals im Gespräch in Büchern
in Zeitungen wieder begegnet; dies Zusammentreffen, dessen
Wahrscheinlichkeit, vorher berechnet, unendlich klein ge-
wesen wäre, nennen wir wenigstens einen wunderbaren
Zufall. Zu bemerken, wie wenig darin wunderbar ist,
genügt die Bemerkung, wie noch unendlich viel öfter dieser
Zufall sich nicht zuträgt, und wie viele Namen einmal an
unserem Ohre vorübergehen, ohne jemals durch solche
Wiederholungen uns aufzufallen. Drücken wir uns ganz
allgemein aus: wenn wir in der Wirklichkeit irgend eine
Bedingung B oder irgend eine Gruppe B verschiedener
zusammenwirkender Bedingungen voraussetzen, welche je
nach den verschiedenen an sich gleich möglichen variablen
Stellungen, die sie zu einander einnehmen können, eine
Anzahl n verschiedener Ergebnisse E hervorbringen würden,
so ist die Wahrscheinlichkeit jedes einzelnen E = — und
•' n
mithin gleich der jedes andern bestimmten E, aber
allemal, wenn n unendlich groß ist, unendlich klein im
Vergleich zu der Wahrscheinlichkeit, daß irgend ein be-
liebiges von allen übrigen n — 1 Ereignissen eintrete,
die wir ihm gegenüber zusammenfassen; aber diese letztere
collective Wahrscheinlichkeit hat nicht dieselbe Bedeutung
wie jene erste singulare; verwirklicht können nicht alle
n — 1 Ereignisse werden, sondern nur eins von ihnen mit
Ausschluß der übrigen. Wie uns diese falsche Vergleichung
des Nichtzusammengehörigen täuscht, läßt sich an einem
berühmten Beispiele zeigen. Das Planetensystem, sagt
Laplace, soweit damals bekannt, besteht aus 11 Planeten
und 18 Trabanten ; man kennt Umdrehungen von der Sonne,
von 10 Planeten, von den Monden des Jupiter, dem Ring
des Saturn und einem seiner Trabanten; diese Rotationen
zusammen mit den Umläufen bilden eine Gruppe von 43 in
gleichem Sinne gerichteten Bewegungen; nun findet man
durch die Rechnung für die Annahme, daß diese Thatsache
Wirkung des Zufalls sei, eine Wahrscheinlichkeit, welche
kleiner ist als die Einheit dividirt durch vier Billionen.
Ich bezweifle nicht, daß auch die neueren Entdeckungen
der Astronomie diese Zahl im Wesentlichen richtig lassen
würden; aber was folgt aus ihr? Nichts weiter, als daß
eben diejenige Ursache oder diejenige Constellation von
Ursachen wirklich ist oder gewesen ist, aus der dieser
gegebene Zustand fließen mußte. Aber es folgt nicht, daß
Bestimmung singularer Thatsachen. 445
die Verwirklichung dieser Constellation selbst irgend eine
andere Ursache bedürfe, als eben jenen sogenannten Zufall,
dessen Sinn nur darin besteht, daß eine vorausgesetzte
Gruppe von Wirklichkeiten ohne Widerspruch unendlich
viele Combinationen ihrer gegenseitigen Verhältnisse an-
nehmen konnte. Wirklich werden konnte unter jenen vier
Billionen stets nur eine, und welche von ihnen auch immer
verwirklicht worden sein möchte, bei jeder würde dieselbe
Verwunderung entstehen, warum gerade sie entstanden sei
von den vier Billionen, die möglich gewesen wären. Es
würde sich wesentlich anders verhalten, wenn alle jene
anderen Dispositionen wirklich einen zweiten Fall bil-
deten, der als solcher realisirbar gewesen wäre; dann
würde seine Wahrscheinlichkeit von vier Billionen doch
wenigstens unmittelbar mit der des andern, der Einheit,
vergleichbar gewesen sein, obwohl auch dann nur die Ver-
lockung nicht aber die Berechtigung zu jenen Folgerungen
größer gewesen wäre. Nun kann man freilich versuchen,
die große Anzahl aller dieser Fälle auf eine berechtigte
Zweizahl zu bringen; nur unter dieser gegebenen Dis-
position aller Massen und Bewegungen, sagt man, war
die Stabilität des Planetensystems und die beständige
Fortdauer seines Bewegungsspieles gesichert; keine der
Millionen anderer Einrichtungen hätte dieses Gleichgewicht
begründet. Möglich ; aber auch jede dieser Millionen anderer
Einrichtungen würde zu ihrem Vortheil anführen: die-
jenigen Schicksale, die das Planetensystem durch sie er-
führe, hätte es auch unter keiner andern Voraussetzung
von den vielen Millionen möglicher erfahren können; wäre
also Einzigkeit des Erfolgs ein Anspruch auf höheren Ur-
sprung, so würde ihn jede dieser Dispositionen mit gleichem
Recht erheben. Natürlich soll nun nicht die Einzigkeit
des Erfolges, sondern die Vorzüglichkeit dieses einzigen
entscheiden. Aber warum wäre denn Vorzügliches an sich
unwahrscheinlicher? und wäre denn dieser Fall besser
als andere? ist es wirklich unbedingt schöner, daß in
Ewigkeit ein zwar neues frisches Blut, aber doch immer
in denselben Formen circulirt, deren beständige Wieder-
holung uns heute zwar erhaben vorkommt, morgen aber
sehr langweilig vorkommen kann? wäre es nicht schöner,
wenn das Planetensystem im Ungleichgewicht wäre, alle
Verhältnisse sich stetig änderten, und damit Vegetation
und Naturschönheit Thier und Mensch sich in immer neuen
interessanteren Formen entwickelten und wirklich die Ge-
446 Neuntes Kapitel.
schichte eine Geschichte mit deutlichem Fortschritt würde
anstatt des beständigen Kreislaufs? Und zuletzt, da der
Himmel unendlich ist, können nicht alle Millionen ver-
schiedener Systemeinrichtungen in ihm wirklich realisirt
sein? bei uns die des Gleichgewichts, in unbekannten
Fernen alle übrigen? Und dann hätte ja die unsere nur
die Wirklichkeit, auf welche man ihr einen Anspruch aus
ihrer Wahrscheinlichkeit zuschreiben möchte; sie wäre nur
eine unter Millionen.
285. Nachdem wir bisher die Wahrscheinlichkeiten nur
als Maß des Vertrauens zu dem Emtritt künftiger Ereignisse
angesehen haben, entsteht nun das natürliche Verlangen,
zu wissen, in wie weit diese Vorberechnungen durch den
wirklichen Verlauf der Begebenheiten bestätigt zu werden
pflegen. Die Antwort lautet gewöhnlich dahin, daß mit
wachsender Anzahl der Fälle, welche ein Ereigniß F möglich
machen, die Anzahl seiner Verwirklichungen sich in der
That der vorberechneten beständig nähert. Man kann mit
hinlänglicher Glaubwürdigkeit diese Antwort nur durch Ver-
suche der einfachsten Art erlangen, in denen dafür gesorgt
werden kann, daß die Gruppe B der Bedingungen, von denen
jeder Einzelfall F abhängt, nach jedem mten Versuch
wieder so hergestellt werden kann, daß sie sich von ihrer
Beschaffenheit vor demselben nur durch diejenigen Varia-
tionen unterscheidet, deren Einfluß auf das Gesammtresultat
der Versuchsreihe eben den Gegenstand der Frage bildet,
daß dagegen jeder Hinzutritt einer in dem Begriff dieser
Variation nicht liegenden fremden Ursache, möge sie in
äußeren Umständen oder in der Veränderung der Versuchs-
objecte oder in parteiischer Absicht des Versuchenden
liegen, völlig abgeschnitten wird. Diese Bedingungen er-
füllen Versuche mit Würfeln; man berechnet voraus, daß
für einen Wurf die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln
eine bestimmte Combination der Augen, z. B. 5. 6 zu
erlangen, =Vi8 = 0>0ö6 ist, für tausend Würfe mithin 56
sein würde; versucht man nun diese tausend Würfe nach
einander und findet, wie es in der That gefunden worden
ist, daß die angegebene Combination 50 mal erscheint, so
nähert sich diese Anzahl der berechneten Zahl bereits
deutlich genug; noch mehr, wenn bei 10,000 Würfen sie
auf 570 steigt. Jeder einzelne Wurf hängt hier, von dem
beständigen oder veränderlichen Luftwiderstande abgesehen,
von der Geschwindigkeit und dem Winkel ab, mit welchem
der Würfel gegen die auffangende Platte ankommt, von der
Bestimmung singularer Thatsachen. 447
Stellung seiner Flächen und Kanten im Augenblick des
Auftreffens, von seiner eigenen Elasticität und von der
der Platte. Von diesen Bedingungen kann man die letzte
als constant betrachten, da der Würfel, ebenfalls nach einem
Wahrscheinlichkeitsüberschlag, äußerst selten dieselbe
Stelle der Platte berühren, mithin die Elasticität des Treff-
punktes sich nicht merklich ändern wird, wenn sie an-
fänglich dieselbe für alle Punkte der Platte war; will man
sie dennoch als veränderlich ansehen, so kann man sie
doch ebenso gut, wie die kleinen allmählich entstehenden
Veränderungen in Gestalt und Elasticität des Würfels, mit
zu den Variationen der Bedingungen rechnen, deren Wir-
kung untersucht werden soll ; denn da beide Veränderungen
nicht von einander abhängen, aber zusammenwirken können,
so begünstigen sie zusammen nicht einen bestimmten Wurf
vor andern, sondern in den verschiedenen Einzelfällen bald
diesen bald jenen. Die erstgenannte Bedingung, Geschwin-
digkeit und Richtung des Würfels, hängt allerdings von der
Bewegung der schüttenden Hand ab; aber selbst wenn
hier eine Absicht vorhanden wäre, welche einen Wurf
vor dem andern begünstigen möchte, so würde sie doch
nicht wirksam werden; denn wir haben, nach einem be-
stimmten Wurfe, weder eine scharfe Erinnerung der Gruppe
von Muskelgefühlen, die ihn begleiteten, noch die Fähig-
keit, die Bewegungen, von denen diese Gefühle abhingen,
zum Behuf eines gleichen neuen Wurfes genau zu repro-
duciren ; die geringste Abweichung aber würde dahin führen,
anstatt der beabsichtigten eine andere Combination der
geworfenen Augen zu begünstigen. Gerade diese Ver-
änderungen unserer Bewegungen gehören daher zu den
zulässigen Variationen der Bedingungen des untersuchten
Resultates. Dieselben Vortheile bietet eine drehbare Trommel,
in welcher m weiße und p schwarze Kugeln enthalten sind
und in die wir die jedesmal durch die Hand gezogene
Kugel vor dem nächsten Zuge wieder einlegen. Drehen
wir dann die Trommel, öo erzeugen wir dadurch freilich
nicht genau dieselbe Lage der Kugeln, die sie in ihr vor
dem Zuge hatten, aber doch nur eine der Variationen
dieser Lage, deren Einfluß wir kennen lernen wollen. Die
Gestalt des Würfels bildet im ersten, die Anzahlen der
schwarzen und weißen Kugeln im zweiten Falle den con-
stanten, die Geschwindigkeit und Richtung des Würfels
im ersten, die Lage der Kugeln und die Richtung der
ziehenden Hand im zweiten den variablen Theil der Be-
448 Neuntes Kapitel.
dingung B, von deren Gesammtheit das Ereigniß F in jedem
Einzelfalle abhängt. Auch die zweite Einrichtung des Ver-
suchs hat zu demselben Ergebniß geführt: je größer die
Anzahl der Ziehungen, desto mehr näherte sich das Ver-
hältniß zwischen den Anzahlen der gezogenen weißen und
schwarzen Kugeln dem Verhältniß der Anzahlen m und p,
in welchen sie in der Trommel wirklich vorhanden waren.
286. An diese Versuchsergebnisse haben sich theoreti-
sche Betrachtungen angeschlossen, von deren Richtigkeit
ich mich nicht überzeugen kann. Es liegt ein Cirkel in
allen den Erörterungen vor, welche das eben angeführte
Verhalten als ein mit begreiflicher Nothwendigkeit
allgemein eintretendes darstellen möchten. Zuerst kann
aus m Versuchsreihen, in denen es wirklich stattgefunden
hat, auf sein Stattfinden in jeder (m -f- 1) ten Versuchsreihe
nicht geschlossen werden, so lange die unbekannten Varia-
tionen der Bedingungen, welche dort den Erfolg erzeugt
haben imd ihn hier erzeugen würden, einzeln durchaus
keiner Regel miterworfen sind. Denn daß sie dann wenig-
stens im Ganzen sich hier wie dort auf gleiche Weise
compensiren werden (was allein die versuchte Verall-
gemeinerung des Beobachteten erlauben würde), ist nicht
ein Gedanke von objectiver Gültigkeit, nicht ableitbar
von irgend etwas, was wir schon als wirklich wüßten,
sondern selbst nur Ausdruck unserer subjectiven fast
tautologischen Maxime, demjenigen Ereigniß, dessen vor-
berechnete Wahrscheinlichkeit die größte ist, auch die größte
Wahrscheinlichkeit seines wirklichen Eintretens zuzutrauen.
So lange nämlich keine constante Ursache einen der mög-
lichen Fälle F vor den andern bevorzugt, müssen allen
ihrem Begriffe nach coordinirten oder gleichmöglichen Fällen
auch gleiche Chancen ihrer Verwirklichung zugeschrieben
werden, und dann besteht dies am wahrscheinlichsten zu
erwartende Ereigniß oder Verhalten eben darin, daß in einer
großen Anzahl von Versuchen die Anzahl der eintreten-
den Verwirklichungen eines Falles F der vorher berech-
neten Anzahl derselben gleich wird. Ist diese Erwartung
in m Versuchsreihen bestätigt worden, so ist eben m mal
thatsächlich dasjenige eingetroffen, was vor seinem
Eintreffen das Wahrscheinlichste war; daß es in jeder
(m -j- 1) ten Versuchsreihe ebenso wieder eintreffe, wird
hierdurch keine beweisbare Nothwendigkeit, sondern bleibt
die wahrscheinlichste Erwartung, mit der wir dieser neuen
Versuchsreihe entgegenkommen, und deren Täuschung doch
Bestimmung, singularer Thatsachen, 449
niemals unmöglich wird. Zweitens kann eine einzelne
Versuchsreihe nicht unendlich viele Versuche wirklich an-
stellen, sondern muß bei irgend einer endlichen wenn auch
großen Anzahl n derselben stehen bleiben. Daß mithin
die Anzahl der eintretenden Verwirklichungen des F
bei stets wachsendem n sich der vorberechneten An-
zahl derselben ohne Ende nähere, kann nie eine wirk-
liche Beobachtungsthatsache sein, sondern ist eine hinzu-
gefügte Folgerung. Nehmen wir nun an, mit n Versuchen
sei der Punkt erreicht, wo beide Anzahlen gleich geworden
sind oder sich der Gleichheit bis auf eine unbeträchtliche
Differenz d genähert haben, so wäre es Willkür, hier die
Reihe abzubrechen; denn dies freilich versteht sich von
selbst, daß der Satz von jener Gleichheit oder Annäherung
dann gilt, wenn man die Reihe so weit und genau nur so
weit fortsetzt, bis er gilt. Was aber wird geschehen, wenn
wir die Reihe verlängern? Vielleicht werden dann die Er-
gebnisse noch weiter gegen die Gleichheit jener beiden
Zahlen convergiren; vielleicht auch verhält sich jede hin-
zukommende Periode von n Versuchen genau oder annähernd
so wie sich die erste verhielt, und die Differenz d wird
durch die Verlängerung der Reihe nicht beträchtlich ver-
mindert; und diesen Möglichkeiten kann noch jeder regel-
losere Fortgang als auch möglich hinzugefügt werden.
Nur eine gleiche Wahrscheinlichkeit haben diese ver-
schiedenen Vermuthungen nicht; so lange wir durchaus
keine constante Ursache voraussetzen, welche in einer an-
zustellenden Versuchsreihe einen Fall F vor andern be-
günstigen könnte, ist unsere wahrscheinlichste Vorannahme
nur die, daß bei immer wachsendem n die Anzahl der
beobachteten Verwirklichungen von F der vorberechneten
Anzahl derselben sich beständig nähern werde; bestätigt
sich, in einer beträchtlichen aber endlichen Zahl von n Ver-
suchen, diese Erwartung nicht, so kann daran eine
constante Bedingung, es kann aber auch eine principlose
Combination variabler Schuld sein; so oft sie sich aber
wirklich bestätigt, so oft liegt eine Thatsache vor, die
uns nicht überraschen kann, eben weil sie nicht im voraus
unwahrscheinlich war, deren Eintreten sich aber so wenig
als das Zutreffen irgend einer mathematischen Wahrschein-
lichkeit als nothvvendig erweisen läßt. Kommen wir noch
einmal auf den Versuch mit der Trommel und den Kugeln
zurück, so kann ich mich nicht überzeugen, daß die all-
mählich hervortretende Beständigkeit des Verhältnisses
Lotze, Logik. 29
450 Neuntes Kapitel.
zwischen den Zahlen der gezogenen verschiedenfarbigen
Kugeln wirklich erklärlich sei, wenn unter diesem Aus-
druck mehr verstanden sein sollte, als Wahrscheinlichkeit.
Man beruft sich hier, wie mir scheint, nicht mit Recht,
auf den sehr richtigen und bedeutungsvollen Unterschied
zwischen den constanten und den variablen oder acciden-
tellen Ursachen, die zur Hervorbringung einer Wirkung
sich vereinigen. Bei aller Unregelmäßigkeit in den succes-
siven Anordnungen der Kugeln bleibe doch ein constantes
Element, nämlich die unveränderlichen Anzahlen der weißen
und der schwarzen ; bei einer großen Anzahl von Ziehungen
müsse sich dieses constante Element durch eine constante
Wirkung bemerklich machen; denn es sei kein Grund zu
der Annahme, an dem Orte, den die Hand trifft, werden
sich Kugeln der einen Farbe relativ öfter finden, als der
relativen Menge entsprechen würde, in der sie wirklich
vorhanden sind; geschähe es, so würde man, gegen die
Voraussetzung, eine constante Nebenursache ihrer Be-
günstigung annehmen müssen. Hiergegen erhebe ich den
Einwurf, daß jene constanten Ursachen nicht sich schon
deshalb bemerklich machen können, weil sie da sind,
sondern nur weil und insoweit sie wirken. Bei den Ver-
suchen mit dem Würfel gehörten die Gestalt desselben und
die Lage seines Schwerpunktes zu diesen constanten Ur-
sachen und beide kamen in jedem Einzelfalle zur Wirkung.
Die erste machte, daß der Würfel nur auf 6 Seiten und
nicht auf eine siebente fallen konnte, die andere, daß er,
wenn ihn nicht ein widerstehender Rand aufhielt, immer
auf die Seite fallen, und nicht auf einer Kante oder Ecke
zur Ruhe kommen konnte; auf welche Seite er aber fallen
würde, gerade dies bestimmten diese constanten Ursachen
nicht. Bei den Versuchen mit den Kugeln sind zuerst die
Farben constant, weiß und schwarz, und daraus folgt, daß
keine rothe Kugel gezogen werden kann; die Anzahlen m
und p sind zwar auch constant, aber die relativen Mengen
der wenigen Kugeln, welche jedesmal in das Bereich der
ziehenden Hand kommen, gehören eben zu dem veränder-
lichen Theile der Bedingung; diese constante Bedingung,
das Verhältniß m : p kommt daher nicht zur Wirkung, ob-
wohl es thatsächlich besteht. Daß eine constante Neben-
ursache, gegen die Voraussetzung, angenommen werden
müsse, wenn in der Summe vieler Wiederholungsfälle das
Verhältniß der ergreifbaren Kugeln ein anderes sein sollte,
als das der vorhandenen, kann ich nicht zugeben; es be-
Bestimmung singularer Thatsachen. 451
darf dazu vielmehr nur jener principlosen Variation der
Lage der Kugeln, die wir voraussetzen und durch das
Umdrehen der Trommel wieder herzustellen suchen; mög-
lich ist hierdurch jede Combination der Kugeln, möglich
auch die Unzugänglichkeit aller der einen Farbe, möglich
sogar die beständige Wiederholung dieser Ausschließung
in allen aufeinanderfolgenden Versuchen, denn es ist ja
absichtlich alles so geordnet, daß jeder (m-[-l)te Versuch
von dem mten völlig unabhängig sein soll. Nur wahr-
scheinlich ist das alles gar nicht; wahrscheinlich ist nur,
daß die Häufigkeit der Ergreifung beider Kugelarten der
Häufigkeit ihres Vorhandenseins entsprechen werde; aber
mehr als wahrscheinlich ist denn auch dies nicht; wird
es durch Erfahrung nahezu bestätigt, so ist dies eine That-
sache, die insofern nicht unerklärlich ist, als man recht
gut einsieht, wie leicht die Ursachen sich zusammenfinden
können, die sie hervorbringen, aber nicht erklärlich in dem
Sinne, daß man nachweisen könnte, daß und warum, in
der Summe vieler Wiederholungsfälle, sie sich so zu-
sammenfinden mußten, während sie es doch in einer
kleineren Anzahl dieser Fälle nicht mußten.
287. In den vorigen Fällen war die Natur der con-
stanten und der Spielraum der variablen Ursachen eines
Ereignisses bekannt und man konnte eine Annahme über
die Häufigkeit seiner Wiederkehr der Erfahrung vorgreifend
aufstellen und sie von dieser bestätigt finden. Man kann
umgekehrt auch ein Ereigniß, von dem weder das eine noch
das andere bekannt ist, das aber die Beobachtung häufig
wiederholt darbietet, in Bezug auf die Regelmäßigkeit seines
Eintretens prüfen. Wir kennen dann weder die Anzahl
der überhaupt möglichen Fälle noch die der günstigen
Chancen, welche unter diesen das fragliche Ereigniß findet;
wir unterscheiden nur zwischen Eintritt und Nichteintritt
von E, sehen als Fälle, in denen sein Eintritt möglich ist,
alle diejenigen an, welche die Beziehungspunkte verwirk-
lichen, unter deren Voraussetzung E seiner Bedeutung nach
verständlich wird, und vergleichen mit dieser Zahl die
Anzahl seiner Verwirklichungsfälle. Von welchen con-
stanten und variablen Ursachen die Blindheit der Menschen
abhängt, wissen wir nicht; aber so viele Menschen es gibt,
so viel gibt es Fälle, in denen dieser Mangel seiner Natur
nach möglich ist; vergleichen wir mit dieser Gesammtheit
aller zu einer Generation gehörigen Personen die Anzahl
der Blinden und denken wir uns diese Vergleichung auf
29*
452 Neuntes Kapitel.
viele Generationen ausgedehnt, so würde sich zeigen, ob
zwischen diesen beiden Anzahlen im Großen ein constantes
Verbal tniß stattfindet, welches auf das Vorhandensein einer
Constanten Gruppe begünstigender Ursachen deutete, deren
Wirkungen im Einzelnen durch variable modificirt werden.
Da es ferner in vielen Fällen wahrscheinlich ist, daß erst
im Verlauf einer gewissen Zeit die variablen Ursachen sich
der Reihe nach vollständig genug verwirklichen, um durch
gegenseitige Aufhebung ihrer Einflüsse die Wirkung der
Constanten Ursache deutlich hervortreten zu lassen, so
richtet sich die Aufmerksamkeit sehr gewöhnlich auf die
Auffindung von Zeiteinheiten, in welchen das Verhältniß
der wirklichen E zu den möglichen E, immer mit Rück-
sicht auf die selbst zeitlich wechselnde Zahl der letzteren,
dasselbe wird. Endlich, da unter allen Zeiteinheiten das
Jahr diejenige ist, in welcher die meisten variablen Be-
dingungen, welche sehr allgemein auf alle Menschen wirken,
den Kreislauf ihrer verschiedenen möglichen Werthe zu
durchlaufen pflegen, so ist es natürlich, daß man in Unter-
suchungen, die sich auf menschliche Angelegenheiten be-
ziehen, zunächst fragt, ob innerhalb dieser Zeiteinheiten
das Verhältniß der wirklichen E zu den denkbaren constant
bleibt oder der Gleichheit sich nähert. Die Antwort auf
alle diese Fragen wird ebensowohl verneinend als bejahend
sein können. Kommt ein Ereigniß E überhaupt häufig
vor, so muß es innerhalb des Zeitraums, in den dieses Vor-
kommen fällt, von ihm eine constante Ursache wenigstens
in dem Sinne geben, daß irgend ein Verhältniß besteht,
welches die dem E günstige Combination variabler Ur-
sachen in bestimmtem Maße befördert; so oft dann in ver-
schiedenen Wiederholungen einer Zeiteinheit dasselbe Ver-
hältniß der wirklichen Fälle zu den möglichen sich wieder
erzeugt, so oft ist dieser Rückschluß gestattet, daß jene
constante Ursache bestanden habe; aber der Vorschluß
versteht sich nicht von selbst, daß auch für ein nächstes
gleiches Zeitintervall dasselbe Verhältniß als vorausbe-
stimmtes Gesetz gelten werde; man wird diese Annahme
nur als die wahrscheinlichste Regel für die Beurtheilung
des Künftigen ansehen können, sobald keine Data bekannt
sind, welche auf eine inzwischen erfolgte Veränderung
jener unbekannten bedingenden Umstände hindeuten; be-
stätigt sich dann die Regel, so machen wir mit Recht jenen
Rückschluß noch einmal, und allerdings, je öfter wir ihn
machen können, die Regel also sich bestätigt hat, um so
Bestimmung singulaxer Thatsachen. 453
mehr nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß die Gruppe
der Bedingungen, die für so viele Zeiteinheiten constant
blieb, auch in* Zukunft sich nicht ändern werde; mehr aber
als diese Wahrscheinlichkeit erreichen wir nicht. Es ist
daher sehr mißlich, die Ergebnisse solcher Beobachtungen
als Gesetze der Ereignisse zu bezeichnen, ja zuweilen
von einem Gesetz der großen Zahlen selbst so zu sprechen,
als müsse sich durch die bloße Größe einer Anzahl ver-
glichener Fälle in dem Ablauf einer Ereignißklasse eine
Hegelmäßigkeit einstellen, die sonst in der Natur der Er-
eignisse und ihrer Bedingungen nicht begründet ist. Ein
Gesetz ist, wie wir sahen, ein hypothetisches Urtheil, das
einen Nachsatz als nothwendig gültig ausspricht, wenn der
Vordersatz gilt; wollen diese statistischen Gesetze sich
dieser Definition fügen, so sind sie freilich werthlos; denn
sie sagen dann nur: wenn in der nächsten Zeiteinheit T
alle bekannten und unbekannten Bedingungen wieder so
sind, wie in der vorigen, so wird auch die Reihe aller
Folgen, mithin auch die Anzahl der E dieselbe sein; natür-
lich ; denn wenn man sich das Vergangene noch einmal
geschehen denkt, so wird es gerade so aussehen wie damals,
da es zuerst geschah. Diese Tautologie liegt begreiflich
nicht in der Absicht jener angeblichen Gesetze; sie wollen
vielmehr ihren Vordersatz zugleich assertorisch behaupten,
also behaupten, daß jene Gleichheit aller Bedingungen statt-
finden werde ; daß es aber für diese Behauptung immer nur
Wahrscheinlichkeit, nicht Gewißheit gibt, ist einleuchtend.
Jene Sätze sind also nicht Gesetze, sondern Analogien,
welche eine Proportion, die in n Fällen gegolten hat, auf
den (n + 1) ten Fall übertragen, jedoch ohne den Nachweis
und blos mit der Voraussetzung, daß von n zu n -}- 1
sich die Bedingungen nicht ändern, auf denen ihre Gültig-
keit beruht.
288. Zu den Ereignissen, die bei öfterer Wiederholung
von einer constanten und von variablen Bedingungen zu-
gleich abhängen, gehören unsere eigenen Beobach-
tungen, unter welchem Ausdruck ich hier den einfachsten
Fall, die Messung einer durch sinnliche Wahrnehmung ge-
gebenen Größe verstehen will. Die constante Ursache ist
der wahre Werth dieser Größe, die unter völlig gleichen
Bedingungen immer dieselbe Wirkung auf unsere Auf-
fassungskraft machen würde ; die variablen sind die äußeren
Umstände und die Aenderungen unseres psychischen Zu-
standes, welche jene Einwirkung in verschiedenen Wieder-
454 Neuntes Kapitel.
holimgsfällen auf verschiedene Weise modificiren. Aus den
verschiedenen Messungen, die wir so erhielten, den wahren
Werth des Gemessenen zu ermitteln würde unmöglich sein,
wenn wir den gemachten Messungen selbst jeden denk-
baren Grad der Ungenauigkeit zutrauen wollten; denn dies
würde nur heißen, daß wir glaubten, den gefundenen
Werthen alle beliebigen andern als richtigere substituiren
zu dürfen, wodurch dann die ganze Vornahme einer Messung
überhaupt sinnlos würde. Wir setzen daher voraus, daß
Kenntniß Geschick und Aufmerksamkeit sich so weit ver-
einigt haben, um die Messungen hinlänglich vertrauens-
würdig zu machen und nur Fehler als wahrscheinlich zu-
zulassen, die sehr klein sind im Verhältniß zu den ge-
messenen Werthen selbst. Handelt es sich nun um die
Bestimmung einer einzigen unbekannten Größe A, so muß
zunächst jede einzige Messung, die man von ihr besitzt,
als wahre Bestimmung des A gelten; denn es gibt keinen
Grund, nach welchem sich, wenn man sie auch anzweifelte,
Größe und Richtung ihrer Verbesserung bemessen ließe.
Sind uns dagegen für dieselbe Größe A, die nur eine sein
kann, verschiedene Werthe durch Beobachtungen gegeben,
so ist kein Grund an sich vorhanden, der einen mehr zu
trauen als der andern, und die wahre Größe wird daher
am wahrscheinlichsten durch einen solchen Werth be-
stimmt werden, dessen Annahme den gemessenen Werthen
die geringste Summe der nun nothwendig vorauszusetzen-
den Unrichtigkeiten zumuthet. Das arithmetische Mittel M,
die Summe aller gemessenen Werthe dividirt durch die
Anzahl der Messungen, ist daher für den wahrscheinlichsten
Werth von A zu halten; die Differenz zwischen diesem
Mittel M und dem wahren Werth A ist der Fehler, der übrig
bleibt, und den wir, so lange A nicht durch andere Be-
dingungen mitbestimmt ist, nicht hinwegbringen, sondern
nur durch Vermehrung der Anzahl gleich sorgfältiger Be-
obachtungen verringern können. Haben wir dagegen ver-
schiedene Größen ABC wiederholt gemessen und liegen
andere Bedingungen noch vor, denen die Werthe derselben
genügen müssen, so kann es sich ereignen, daß die ver-
schiedenen arithmetischen Mittel, die einzeln die wahr-
scheinlichsten Werthe von ABC geben würden, diesen
Nebenbedingungen nicht genügen und daher einer Ver-
besserung bedürfen. Hätten wir z. B. die drei Winkel eines
Dreiecks wiederholt gemessen, und betrüge die Summe der
hieraus entwickelten Mittelwerthe = 180 ** + d "*, so würde
Bestimmung singularer Thatsachen. 455
dieses mit der Natur des Dreiecks unvereinbare d °. einen
Fehler darstellen, der aus Fehlem der Messungen ent-
sprungen sein muß und nur durch Veränderung der ge-
fundenen Werthe zu beseitigen ist. Aber die hierzu nöthige
Verminderung läßt sich auf die drei gemessenen Winkel
in sehr verschiedener Weise vertheilen und es fragt sich,
welche Größe des Irrthums man der Messung eines jeden
derselben am wahrscheinlichsten zumuthen dürfe. Dies
führt auf eine Untersuchung über die relative Wahrschein-
lichkeit des Vorkommens der Fehler in unseren Beobach-
tungen überhaupt, die sich nicht auf a priori beweisbare,
aber auf sehr probable und mit der Erfahrung überein-
stimmende Grundsätze stützt. Zunächst liegt in dem Be-
griffe einer sorgfältigen Beobachtung an sich selbst nichts,
w^as einen Fehler begründete; die Wahrscheinlichkeit mit-
hin, daß sie das Richtige getroffen habe, ist immer größer
als die irgend eines bestimmten begangenen Fehlers. Ebenso
liegt es in den Voraussetzungen, auf die jede Ermittelung
wahrer Werthe aus Beobachtungen sich stützen muß, daß
die Wahrscheinlichkeit großer Fehler geringer ist als die
kleiner, und die Wahrscheinlichkeit positiver gleich der-
jenigen gleich großer negativer. Dies führt zu einer ersten
anschaulichen Vorstellung. Trägt man auf einer Geraden,
welche zur Abscissenaxe gewählt wird, von einem An-
fangspunkt aus, welcher dem Fehler Null entsprechen würde,
nach entgegengesetzten Richtungen wachsende Abscissen
± », ib ß> d= T ab uricl errichtet im Nullpunkt eine Ordinate
von beliebiger Größe, welche die Wahrscheinlichkeit des
Vorkommens eines Fehlers Null bedeutet, so ist diese di^
größte aller Ordinaten, und alle übrigen auf den Punkten
i et, ib ß • • errichteten nehmen symmetrisch zu beiden
Seiten in dem Maße ab, als die durch a ß y symbolisirten
Größen der Fehler, deren Wahrscheinlichkeiten sie bedeuten,
zunehmen. Aber die Erfahrung lehrt uns zugleich, daß das
Abnehmen der Wahrscheinlichkeit der Fehler nicht in ein-
facher Proportion zu der Zunahme ihrer Größe steht; so
lange die Fehler klein sind, ändert sich ihre Wahrschein-
lichkeit weniger als ihre Größe zunimmt, je größer sie
sind, um desto mehr beschleunigt übertrifft die Abnahme
ihrer Wahrscheinlichkeit die Zunahme ihrer Größe. Hier-
aus folgt, daß die Linie, durch welche wir die oberen End-
punkte aller Ordinaten verbinden, nicht aus zwei Geraden
zusammengesetzt sein kann, die über dem Nullpunkt zu-
sammenstießen und sich nach beiden Seiten symmetrisch
456 Neuntes Kapitel.
der Abscissenaxe näherten, um mit einem Abschnitt der-
selben ein Dreieck einzuschließen; vielmehr ist jene Grenz-
linie eine Curve, deren Scheitel über dem Nullpunkt liegt,
und die von dort aus zwei symmetrische nach der Abscissen-
axe hin concave Aeste ausschickt. Nicht ebenso deutlich
wie dieser Verlauf der Curve in der Nähe des Scheitels
ist ihre Fortsetzung nach der Abscissenaxe. Sieht man
Fehler jeder Größe, auch unendlich große, als immerhin
mögliche an, so daß auch diesen noch eine wenn auch
außerordentlich kleine Wahrscheinlichkeit zukommt, so muß
jeder Zweig der Curve zuletzt convex gegen die Abscissen-
axe werden und sich ihr asymptotisch nähern; betrachtet
man dagegen in einer sorgfältigen Beobachtung Fehler von
gewisser Größe, solche z. B., die sich um den ganzen Be-
trag des zu messenden Werthes irren, als überhaupt nicht
vorkommend, so kann die Curve concav bleibend die Ab-
scissenaxe an zwei Punkten schneiden. Auf die weit-
läufigeren Untersuchungen, die angestellt worden sind, um
die wahrscheinlichste Gestalt dieser Curve, ihre Gleichung
und aus ihr die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens der
einzelnen Fehler genauer zu bestimmen, muß ich einzu-
gehen unterlassen; um jedoch einigermaßen anschaulich
zu machen, welchen Weg zum Ziele zuletzt diese Ueber-
legungen nehmen, bediene ich mich einer für diesen
Zweck hinreichenden Annäherung. Zunächst lassen wir
die Strecken der Curve, welche sich der Abscissenaxe
nähern, ganz außer Acht; da uns nur die Wahrscheinlich-
keit derjenigen Fehler interessirt, auf deren Vorkommen
man bei sorgfältigen Beobachtungen noch gefaßt sein muß,
so ziehen wir nur einen kurzen Bogen der Linie in Be-
tracht, der von dem Scheitel aus sich nach beiden Seiten
wendet. Da die Linie nun eine Gerade nicht sein kann,
so wäre die nächsteinfache Annahme die, daß ihre Gleichung
vom zweiten Grade sei, und da diese Annahme auch die
symmetrischen Werthe der Ordinaten diesseit und jenseit
des Nullpunktes möglich macht, so bleiben wir bei ihr
stehen und wählen von den Kegelschnitten, die alle zu
diesem Versuch brauchbar sein würden, den Kreis. Die
größte Ordinate r, auf dem Nullpunkt der Abscissen er-
richtet, bezeichne gleichzeitig den wahren Werth der zu
messenden Größe und die Größe der Wahrscheinlichkeit,
daß diese richtige Messung in den Beobachtungen vor-
komme ; die Abscissen ± a, ^ß, ± y seien die Größen der
Fehler, um welche die verschiedenen Messungen von dem
Bestimmung singularer Thatsachen. 457
wahren Werth r abweichen; wir denken sie uns jetzt aus-
gedrückt in Theilen dieses wahren Werthes, so daß i a,
:t ß . . . für r = 1 echte Brüche der Einheit sind, für r = r
durch i ra, ^ rß . . . zu ersetzen sein würden ; die zu jeder
Abscisse gehörige Ordinate y endlich bedeutet die Wahr-
scheinlichkeit des Vorkommens derjenigen falschen Messung,
welche von der wahren r um die Größe dieser Abscisse ab-
weicht; setzen wir daher die Kreisgleichung als gültig für
den fraghchen Curvenbogen voraus, so ist y = r 'y/ 1 -- x^,
worin x der allgemeine Ausdruck für die veränderlichen
Werthe a ß y ist. Die Wahrscheinlichkeit des Zusammen-
treffens verschiedener von einander unabhängigen Ereig-
nisse nun wird, wie wir früher sahen, durch das Product
aus den Wahrscheinlichkeiten der einzelnen gemessen. Sind
wir also, um gegebene Messungen mit einer anderweitigen
Bedingung in Einklang zu bringen, zu der Annahme einer
Anzahl von Fehlern in diesen Messungen einmal genöthigt,
können wir aber durch verschiedene Combinationen anzu-
nehmender Fehler diese Forderung befriedigen, so ist die
Annahme derjenigen Fehlercombination die wahrschein-
lichste, für welche das Product aus den Einzelwahrschein-
lichkeiten der Fehler den größten Werth erhält. Nun
besteht dies Product aus lauter Factoren von der Form
r y 1 — x2, und es erhält sichtlich diesen größten Werth
dann, wenn alle einzelnen Factoren zugleich die größten
mit den Bedingungen der Aufgabe verträglichen Werthe
annehmen ; dies aber geschieht dann, wenn in allen Factoren
zugleich die subtractiven Bestandtheile, wenn also die
Summe a^ -[- ß2 -[- ^2 ein Kleinstes wird. Dieser Minimal-
werth selbst setzt, wie man leicht findet, voraus, daß die
Summe der Fehler a-fß -f-T' ' '==0 werde; ein Fall, der
nur eintreten kann, wenn diese ersten Potenzen der Fehler
verschiedene Zeichen haben, und der allemal eintritt, wenn
das arithmetische Mittel aus den Beobachtungen, zu denen
sie gehören, für den wahren Werth r der zu messenden
Größe genommen wird. Die Bestimmung des r vermittelst
der Summe der Fehlerquadrate schließt daher diesen selbst-
verständlichen für die einfachsten Fälle genügenden Grund-
satz ein; unter den verschiedenen arithmetischen Mitteln
aber, die man aus m Beobachtungen dann erhält, wenn
man jeder derselben diesen oder jenen Fehler zutraut und
sie demgemäß bald so bald anders corrigirt, sucht sie
dasjenige Mittel zu bestimmen, welches der Wahrheit am
nächsten kommt, weil es auf der wahrscheinlichsten Com-
458 Neuntes Kapitel.
bination jener Correcturen beruht. Bis hierher reicht unsere
annähernde Betrachtung aus, um im Allgemeinen die Be
deutung dieser Methode der kleinsten Quadrate und
die Entstehung ihres Namens zu verdeutlichen; sie würde
nicht ausreichen, um eine Anzahl feinerer Festsetzungen
zu begründen, über welche, sowie über die Einleitung der
Rechnung, auf die clässische Darstellung von Gauß und die
hieran sich reihenden Lehrbücher zu verweisen ist. Man
wird nicht vergessen dürfen, daß die Begründung dieser
Methode niemals ohne irgend welche, zwar sehr probablen,
aber doch nicht streng beweisbaren Voraussetzungen mög-
lich ist; ihre vollauf ausreichende Bestätigung hat sie durch
die Ergebnisse erhalten, zu denen sie, zunächst in astrono-
mischen Untersuchungen, geführt hat.
Zehntes Kapitel.
Von Wahlen und Abstimmungen.
289. Auch Wahlen und Abstimmungen sind Formen
der Auffindung von Urtheilen, solchen nämlich, deren Gültig-
keit wir nicht blos anerkennen, sondern durch unsern Be-
schluß schaffen wollen. In verschiedener Weise hat sich
das logische Rechnen auch um sie bemüht ; man hat ge-
fragt, welche Hoffnung, bei verschiedenen Einrichtungen,
für die Gerechtigkeit eines Richterspruchs, für die Sach-
gemäßheit einer Entscheidung, für die Klugheit einer Wahl
vorhanden sei; diese Fragen, die niemals ohne besondere
willkürliche Voraussetzungen psychologischer Natur beant-
wortbar sind, schließe ich hier aus und beschäftige mich
nur mit der Untersuchung, auf welche Weise dem for-
mellen Zwecke aller Abstimmungen genügt werden kann,
dem nämlich, einen Beschluß zu erzielen, welcher so voll-
ständig als möglich den Gesammtwillen der Abstimmenden
ausdrückt, gleichviel von wie viel Einsicht die Einzelwillen
regiert wurden, die ihn zusammensetzen halfen. Im Leben
entsteht ein solcher Gesammtwille in Gestalt der öffent-
lichen Meinung so, daß auch der Inhalt, auf den er sich
bejahend oder verneinend bezieht, nach und nach durch
die unzähligen Wechselwirkungen aller derjenigen bestimmt
wird, die überhaupt Neigungen und Abneigungen zu äußern
fähig sind; die logische Betrachtung setzt voraus, daß dieser
Inhalt in Gestalt eines bestimmten Vorschlags V oder einer
Reihe von Vorschlägen V W Z bereits vollständig formulirt
gegeben sei und daß der Ausdruck des Willens nur durch
Bejahung oder Verneinung dieser Vorlage stattfinde; daß
endlich immer eine nach irgend welchen Motiven bestimmte
und geschlossene Anzahl S gleichberechtigter Stimmen vor-
handen sei, denen es ausschließlich zukommt, den Ge-
sammtwillen festzustellen.
460 Zehntes Kapitel.
290. Ist nun, im einfachsten Falle, ein einziger Vor-
schlag V gegeben und soll ein Beschluß unbedingt zu Stande
kommen, so ist die absolute Majorität der einzig mög-
liche Entscheidungsgrund; sie allein muß, für Bejahung
oder Verneinung des V, immer zu Stande kommen, sobald
für den einen Fall der Stimmengleichheit durch irgend eine
feste Uebereinkunft für ein votum decisivum oder für den
Vorzug entweder der Verneinung oder der Bejahung gesorgt
ist. Aber nur mit großer Einschränkung kann die absolute
Majorität für den wahren Ausdruck dessen gelten, was
man mit Recht den Gesammtwillen der Abstimmenden
nennen würde. Denn die Einzelstimmen selbst sind nicht
der erschöpfende Ausdruck der Einzelwillen; da sie auf
Abgabe eines Ja oder Nein beschränkt sind, so haben sie
kein Mittel, entschiedenes Wollen oder Nichtwollen von
bloßem Zulassen oder Nichtwiderstreben zu unterscheiden.
Gegen diese bleibende Unzuverlässigkeit aller Abstimmungen
gibt es keine andere Abwehr außer der, welche in einer
vorangehenden Discussion liegt. In dieser können sich
die verschiedenen Grade der Intensität des Bejahens oder
Verneinens einen angemessenen Ausdruck geben, und die
persönliche Autorität kann sich gelten machen, die in dem
Formalismus der Abstimmung, welche die Stimmen nur
zählen und nicht wägen kann, wirkungslos werden muß;
dem Billigkeitsgefühle Aller bleibt freilich überlassen, dann
in der Abgabe ihrer Stimmen auf diese nun doch wenigstens
nicht mehr unbekannte Vertheilung der Neigungen und Ab-
neigungen Rücksicht zu nehmen. Andere conventionelle Be-
stimmungen, wie die Forderung einer Zweidrittelmajorität,
mindern diese Uebelstände, ohne sie zu beseitigen; nur die
Einstimmigkeit würde unzweideutig sein, aber man kann
weder sie noch jene zwei Drittel fordern, ohne das Zu^
Standekommen eines Beschlusses fraglich zu machen; beide
Vorschriften sind daher nur da geeignet, wo es anderweitige
wichtige Beweggründe gibt, conservative Neigungen für den
bestehenden Zustand, den man kennt, gegen den Trieb nach
Neuerungen zu bevorzugen, deren Ausfall man nicht
kennt.
291. Einen allgemein logischen Grund kann es nicht
geben, von der gleichen Berechtigung aller einmal con-
currirenden Stimmen abzugehen ; im Leben dagegen sind
billige und unbillige Gründe stets wirksam gewesen, das
Gewicht der Stimmen verschieden zu machen und sei es
Von Wahlen und Abstimmungen. 461
der größeren Einsicht, sei es dem wichtigeren oder be-
drohteren Interesse, endlich historisch entstandenen An-
sprüchen auf größere Geltung die Oberhand zu verschaffen.
Es geschieht theils, indem man einfach die eine Stimme
des Bevorzugten einer Mehrheit von Stimmen gleich rechnet,
theils indem man die Gesammtheit der Abstimmenden in
mehrere Gruppen zu gesonderten Abstimmungen zerfällt
und die Majorität der hier entstehenden Majoritäten der
einfachen absoluten Majorität der Gesammtheit substituirt,
theils endlich geht man zu mittelbarer Abstimmung über,
bei der jede der Gruppen ihr Recht einem Bevollmächtigten
überträgt und der Majorität dieser Wahlmänner die Ent-
scheidung überläßt. Der erste Fall erfordert keine be-
sondere Betrachtung; der letzte fällt aus aller logischen
Behandlung dann heraus, wenn der beauftragte Wahlmann
nicht die bereits getroffene Entscheidung seiner Wähler
zu vertreten, sondern unabhängig selbst zu stimmen hat;
denn die Sicherheit, mit welcher der Erfolg zuletzt dem Ge-
sammtwillen entspricht, hängt von der zweifelhaften Zu-
verlässigkeit ab, mit der die Wähler die Uebereinstimmung
der Gesinnung ihrer Bevollmächtigten mit der eigenen zu
beurtheilen verstanden. Der zweite Fall dagegen, die Ein-
theilung in Gruppen zu gesonderten Abstimmungen, hat
folgende bestimmbare Eigenthümlichkeiten.
1. Setzt man die Gesammtzahl S der Stimmen = 2m • 2n,
und läßt einen dieser Factoren die Zahl der gemachten
Gruppen, den andern die Anzahl der Stimmen in jeder
von diesen bedeuten, so ist (m 4- 1) (n -f 1) die absolute
Majorität der einzelnen absoluten Majoritäten, die in diesen
Gruppen entstehen, und dieser Werth bleibt derselbe, wenn
wir den einen dieser geraden Factoren oder beide durch
die nächsthöheren ungeraden 2m -j- 1 und 2n -(- 1 ersetzen.
Es möge dagegen M die einfache absolute Majorität der zu
gemeinsamer Abstimmung vereinigten Gesammtzahl S sein,
Alan überzeugt sich nun leicht, daß (m + 1) (n + 1) < M für
alle ungeraden S > 7 und für alle geraden S > 12, mithin
in allen Fällen, welche bei Abstimmungen in Betracht
kommen. Immer ist man daher im Stande, durch passende
Eintheilung von S in Gruppen eine Entscheidung durch
die Minorität der Gesammtstimmenzahl herbeizuführen,
und man kann fragen, welche Zerfällungen die vortheil-
haftesten sind, um diese entscheidende Minorität so klein
als möglich zu machen. Die genaue Beantwortung dieser
462 Zehntes Kapitel.
Frage würde viel weitläufiger sein als die Sache verdient;
denn in der Anwendung werden wir uns immer mit einer
Annäherung begnügen, da ja unsere genaue Vorberechnung
durch jeden kleinen Zufall fruchtlos gemacht würde, der
die Abgabe einer mitveranschlagten Stimme verhinderte.
Ich begnüge mich daher mit Folgendem.
2. Denkt man sich S als Product zweier geraden oder
zweier ungeraden Factoren, also entweder =z 2m • 2n oder
;= (2m -j- 1) (2n + 1), ersetzt, in der Formel für die ent-
scheidende Minorität, m durch einen Ausdruck in n und S,
und differenzirt nach n, so erhält man als Bedingung eines
Minimum : 2n oder 2n -j- 1 = V "^^ wodurch auch der andere
Factor = ^S, also m = n wird. Nimmt man S als Product
eines geraden und eines ungeraden Factors, = 2m (2n -|- 1),
so erhält man auf gleichem Wege als Bedingung eines
Minimum die, daß der gerade Factor =/2S sei, wodurch
der ungerade =2^^/^^ wird. Nach der Art ihrer Ableitung
können beide Formeln hier, wo sowohl die Zahl der Gruppen
als die der Stimmen in ihnen nicht stetig, sondern nur um
ganze Einheiten wachsen dürfen, eine genaue Geltung nicht
haben ; sie werden namentlich für kleine Zahlen, für welche
die Einheit ein beträchtlicher Bruchtheil ihres Werthes
ist, nur unregelmäßig zutreffen; endlich wird der Vor-
theil, den die ungeraden Zahlen vor den geraden haben,
indem die entscheidende Minorität für (2m-|- 1) (2n-|- 1)
nicht größer ist als die für 2m •2n, ebenfalls den Einfluß
dieser Regeln beeinträchtigen. Für große Werthe des S
jedoch, für welche die Einheit, die Differenz zwischen
gerade und ungerade, ein immer kleinerer Theil ihres Be-
trages wird, geben beide Formeln in der That die beiden
kleinsten Werthe der gesuchten Minoritäten; man erhält
diese, wenn man S in zwei Factoren theilt, die entweder
einander und der Quadratwurzel von S so nahe als mög-
lich gleich sind, oder deren einer so genau als möglich
das Doppelte des andern ist. So gibt 225, als 15 • 15 und
als 9 • 25 gedacht, die beiden kleinsten Minoritäten 64 und
65, als 5-45 und 3-75 die größeren 69 und 76; so die
Zahl 11025 als 105 • 105 und als 147 • 75 die kleinsten 2809
und 2812, als 175 • 63 dagegen und als 9 • 1285 die größeren
2992 und 3215; endlich 20000 läßt die vortheilhaftesten Zer-
fällungen in 200 • 100 und in 125 • 160 zu mit den Minoritäten
5151 und 5103. Bei kleinen Zahlen kreuzen sich die Ein-
Von Wahlen und Abstimmungen. 463
flüsse der verschiedenen Bedingungen sehr sichtbar; 36
gibt als 6-6 die Minorität 16, aber schon 4 • 9 gibt wegen
der günstigen Wirkung des ungeraden Factors die kleinere
15, die vortheilhafteste Zerfällung ist 3 • 12 mit der Minori-
tät 14, hier findet sich, daß der gerade Factor 12 von der
Quadratwurzel von 2 S = 72, welche größer als 8 ist, weniger
abweicht als der gerade Factor 4 in der Zerfällung 4 • 9.
Für 81 dagegen, als Quadrat eines ungeraden Factors, gibt
es keine günstigere Eintheilung als in 9 • 9 mit der Minori-
tät 25, die andere in 3-27 liegt von beiden Bedingungen
zu weit ab ; für 144 erhält man aus 12-12 das eine
Minimum 49, aus 9 • 16 das andere 45.
3. In dem einen günstigsten Falle gleicher Factoren
wird die entscheidende Minorität, in S ausgedrückt,
= (1 4- V2 \/^)^i ^^ ^^^ zweiten, welcher den einen Factor
doppelt so groß als den andern gibt, wird sie =: (1 -}- 1/2 V^)
(1 -|- V2 V ^/2 S). Beide Ausdrücke nähern sich, der zweite
langsamer, dem Werthe V4S ^"^ so mehr, je größer S
wird, bleiben jedoch immer größer als dieser Bruch, so
lange S nicht unendlich wird. Die entscheidende Minori-
tät hat mithin eine untere Grenze, und sie kann selbst
durch die vortheilhafteste Zerfällung niemals bis auf den
vierten Theil der Gesammtstimmenzahl herabgedrückt
werden.
4. Es kann endlich S eine Primzahl sein, die über-
haupt nur eintheilbar zu »machen ist, wenn sie um wenigstens
eine Einheit vermehrt oder vermindert wird, d. h. hier,
wenn mam eine der zu machenden Gruppen eine Stimme
mehr oder weniger haben läßt, als die anderen. Diese
unvermeidlich gemachte Willkür kann man nach Gutdünken
benutzen; man hat unzweifelhaft gleichviel Recht, 67 als
66 -f- 1 oder als 68 — 1 zu fassen, und im ersten Fall
5 Klassen zu 11 und eine zu 12 Stimmen, im andern
3 Klassen zu 17 und eine zu 16 Stimmen zu bilden; ver-
langt man der Billigkeit wegen, daß unter den Majoritäten,
welche die entscheidende Minorität zusammensetzen, sich
die der zahlreicheren Klassen immer befinden müssen, so
erhält man im ersten Falle 3 • 6 -f- 1 • 7 = 25, im zweiten
3-9 = 27. Ist dieser Weg einmal geöffnet, so betritt man
ihn auch, wo es nicht nöthig ist, und dann wird die Un-
gleichheit der Gruppen, so lange sie innerhalb billiger
Grenzen bleibt, leicht ertragen ; sie mindert die entscheiden-
den Minoritäten noch beträchtlich herab. So erhält man
für 64 = 6 - 9 -f- 1 • 10, auch wenn die Majorität der stärkeren
464 Zehntes Kapitel.
Klasse stets gefordert wird, die Minorität 3 • 5 -f 1 • 6 = 21,
während aus 8 • 8 nur die größere 25 floß. Man weiß, daß
seit Servius Tullius dies Hülfsmittel, in sehr unbilligen
Grenzen, die nur politisch aber nicht logisch zu recht-
fertigen sind, in reichlicher Uebung gewesen ist.
291. Soll zwischen verschiedenen Vorschlägen V W Z
eine Wahl getroffen werden, so gehen die Forderungen,
welche die Logik an sich zu stellen hätte, nicht mehr mit
den Gewohnheiten zusammen, welche die Praxis zu be-
folgen pflegt. Wenn eine Mehrheit sich zu einem collectiven
Beschlüsse vereinigen will, der die größte Gesammt-
befriedigung erzeugen soll, so dürfte sie dies Ergebniß
nicht als eine unvermeidliche Folge aus der Summiruug
von Willenserklärungen hervorgehen lassen, deren keine
auf die anderen Rücksicht nimmt; dem vernünftigen Willen
muß daran liegen, daß er seine eigene Entscheidung nur
mit Kenntniß und Beachtung der entgegengesetzten Neigun-
gen oder Abneigungen der Mißstimmenden gebe, um so
mehr, weil die Nothwendigkeit, sich endlich durch ein
nacktes Ja oder Nein zu äußern, ihm kein Mittel läßt,
die verschiedenen Grade der Lebhaftigkeit seines Wollens
zum Ausdruck zu bringen und so diesem nur das gerechte
Maß seiner Wirksamkeit, weder mehr noch weniger, zu
sichern. Ganz kann die vorangehende Discussion, auf die
ich früher verwies, diese Forderung nicht befriedigen ; denn
wenn Jeder sich vollständig äußern wollte, so ginge sie
selbst in eine Abstimmung über, nur ohne die scharfe
Form, welche die Ermittelung des Endergebnisses leicht
machte und sicher stellte. Man müßte daher versuchen,
das, was sie leisten will, so annähernd als möglich durch
die Art der Abstimmung selbst zu ersetzen. Denken wir
uns nun V W Z als drei Personen, deren eine gewählt
werden soll, so könnten wir folgenden Weg vorschlagen.
Eine erste Abstimmung, über alle drei Candidaten zugleich
erstreckt, würde zeigen, welches Maß der Billigung jeder
von ihnen im Vergleich mit den andern erfährt. Erwürbe
keiner die absolute Mehrheit der Stimmen, so würde die
relative Mehrheit nur bei Wahlen von sehr geringer Ver-
antwortlichkeit entscheiden können; man bemerkt ihr Ge-
wicht im täglichen Leben : der verhältnißmäßig am meisten
Genannte lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und erwirbt
häufig die übrigen Stimmen hinzu; aber ebenso oft regt
er nun erst den Widerspruch auf und nöthigt die Wider-
.strebenden zur Einigung über einen Oogenbeworbcr. Mau
Von Wahlen und Abstimmungen. 465
verlangt daher ziemlich allgemein die absolute Mehrheit;
sie allein bietet die Bürgschaft, daß die Summe der Ver-
neinungen kleiner sein muß als die der Bejahungen, daß
also der Wille der Mehrheit getroffen sei, die ultima ratio,
die zuletzt immer entscheiden muß, wenn die Meinungen
unvereinbar bleiben und ein Gesammtbeschluß doch nicht
unterlassen werden kann. Aber wenn nun für einen der
Candidaten, für V vielleicht, die absolute Mehrheit erreicht
ist, so ist es doch nicht nöthig und nicht an sich richtig,
hierin schon die Entscheidung zu sehen; denn dieser erste
Wahlgang ließ nur die Anzahl der Stimmen erkennen, die
jeden der Candidaten den andern vorzogen oder nach-
setzten ; er läßt jedoch das Maß dieses Vorzugs unbestimmt,
und unbestimmt, wie jede der Stimmen sich zu demjenigen
Candidaten verhält, den sie nicht genannt hat. Um dies
an den Tag zu bringen, würde eine zweite dreitheilige Ab-
stimmung nothwendig, welche sich mit Ja und Nein über
jeden der Candidaten einzeln erstreckte und jedem Wähler
die Möglichkeit gäbe, seine Verneinung des einen, die er
vorher nur mittelbar durch Bevorzugung eines andern aus-
drücken konnte, unmittelbar auszusprechen. Nehmen wir
an, in der ersten Abstimmung seien von 20 Stimmen
11 auf V, 5 auf W, 4 auf Z gefallen, so wird, unbegreifliche
Inconsequenz der Wähler ausgeschlossen, auch in dem
zweiten Verfahren jeder Candidat die Stimmen behalten,
die ihn schon im ersten den beiden übrigen vorzogen;
aber die übrigen Stimmen können sich sehr verschieden
vertheilen. Es ist möglich, daß V jetzt der entschiedenen
Opposition von 9 Stimmen begegnet, während Z, der nur
von 4 Stimmen vorgezogen worden war, gar keinen Wider-
spruch findet und noch 16 Stimmen hinzugewinnt, W von
den ihm fehlenden 15 noch 10. Um nun hieraus ein End-
ergebniß zu ziehen, müßte man bedenken, daß die in
diesen verschiedenen Wahlhandlungen erlangten Stimmen
nicht von gleichem Werthe sind. Die des ersten Ver-
fahrens drückten aus, wie Vielen der von ihnen bejahte
Candidat als der Beste erschien, und obgleich diese
Billigung noch sehr verschiedene Grade gehabt haben kann,
so darf man doch diese vorziehenden Stimmen als
unter einander gleichartig ansehen und ihnen allen dasselbe
Gewicht m beilegen. Denn einfach zu sagen, daß man
einen Candidaten wolle, ist das Höchste, was man über
ihn, in Bezug auf diese Wahlhandlung, sagen kann; es
ist gleichgültig, ob man ihn außerdem noch mehr oder
Lotze, Logik. 30
466 Zehntes Kapitel.
weniger verehrt, denn jede Wahl kann nur auf das unter
den gegebenen Bedingungen Beste, nicht auf das unbedingt
Beste gerichtet sein; wer also unter diesen Bedingungen
V oder W will, will ihn durchaus. Man kann Gleiches
über die verneinenden Stimmen des zweiten Wahlver-
fahrens annehmen; wer die Gelegenheit hat, sich unmittel-
bar durch Ja oder Nein über V oder W auszusprechen,
und beide verneint, verneint beide schlechthin und hat,
wenn diese Verneinung durchgeht, seinen Willen in Bezug
auf diese Wahl vollständig durchgesetzt; wie tief er sonst
V oder W haßt oder verachtet, ist für dieses Geschäft
gleichgültig: man kann daher auch alle verneinenden
Stimmen als gleichartig betrachten und ihnen dasselbe
Gewicht q einräumen. Aber die bejahenden Stimmen, die
erst im zweiten Wahlverfahren erlangt werden, sind offen-
bar geringwerthiger als die schon im ersten erhaltenen;
sie sind nur zulassende Stimmen, während jene die
vorziehenden waren, und dieser Unterschied, eine Mittel-
stufe zwischen Bejahung und Verneinung bedeutend, ist
allerdings von Wichtigkeit in Beziehung auf dies Wahl-
geschäft. Welches Gewicht jedoch seiner zulassenden
Stimme im Vergleich mit einer vorziehenden zukomme,
würde nicht einmal derjenige genau zu sagen wissen, der
sie abgibt; auch würde seine Zulassung nicht für jeden
der Candidaten, dem er sie schenkt, eine gleiche Billigung
bedeuten, sondern für W vielleicht eine größere als für Z.
Es ist daher schon ein großer Abbruch an Genauigkeit,
aber doch der einzige Versuch, den Unterschied der zu-
lassenden Stimmen von den vorziehenden überhaupt an-
nähernd zu beachten, wenn wir auch allen Stimmen dieser
Klasse einen gemeinsamen Werth p zuschreiben, der ein
echter Bruch von m sein wird, und dessen Betrag sich
nur conventioneil festsetzen läßt. Unter solchen Voraus-
setzungen würden im obigen Beispiel die Stimmen sich
berechnen, für V auf lim — 9 q, für W auf 5 m -j- 10 p — 5 q,
für Z auf 4 m -|- 16 p, und endlich, wenn man willkürlich
m=r:q, das Gewicht also der vorziehenden Stimmen gleich
dem der verneinenden, und p = m/2, also das der zu-
lassenden halb so groß als das der vorziehenden setzte,
würden für V nur 2, für W dagegen 5, für Z endlicih
12 Stimmen herauskommen, sehr im Gegensatz zu dem
Ergebniß des ersten Wahlgangs. Verschiedenes vereinigt
sich nun, um in der Anwendung diese logischen Forderungen
unerfüllbar zu machen. Zuerst will man, aus Gründen
Von Wahlen und Abstimmungen. 467
gesellschaftlicher Schicklichkeit, überhaupt die Abgabe
verneinender Stimmen über Personen vermeiden; dann,
wenn man sie auch zuließe, würde sehr zu bezweifeln sein,
daß die zweite Abstimmung, auch wenn man sie der ersten
voranstellte, mit der nöthigen Unhefangenheit geschehen
würde; jene, welche dem V ihre vorziehenden Stimmen
zu geben entschlossen sind, würden sich wahrscheinlich
selbst nicht zugestehen, daß sie auch mit W oder Z zu-
frieden sein könnten, und ihre 11 Stimmen würden auch
in der anderen Abstimmung als ebensoviele verneinende
sowohl gegen W als gegen Z erscheinen. Endlich würde
in jedem Einzelfalle die Vorfrage zu lösen sein, was denn
eigentlich nach der Natur der vorliegenden Sache vor-
zuziehen sei, ob die vorzüglichste Befriedigung der Mehr-
heit oder die durchschnittlich größte Befriedigung aller,
und hiernach würde sich erst das Verhältniß der Gewichte
der bejahenden Stimmen zu den verneinenden festsetzen
lassen, das nicht nothwendig das der Gleichheit zu sein
braucht; im Gegentheil kann es Fälle geben, wo eine
Verneinung billigerweise mehr als einer Bejahung das
Gleichgewicht hält und die Entscheidung nicht sowohl
durch die größte Zahl der bejahenden als vielmehr durch
die geringste Zahl der verneinenden Stimmen gebracht
werden müßte. Es ist offenbar ein Unterschied, ob es
sich um den Beschluß einer verantwortungsvollen Maß-
regel, um die Wahl etwa zu einem politisch bedeutenden
Amte, oder ob es sich um die Einrichtung gemeinsamer
Vergnügungen, um die Wahl des Vorstandes einer geselligen
Vereinigung handelt; es ist im letztem Falle widersinnig,
unter 20 Mitgliedern 9 Unzufriedene zu machen, um 11
anderen ihren vollen Willen zu thun; im ersten dagegen
kann es Sinn haben, die Majorität entschiedener Willen
voll zu befriedigen, anstatt eine Wahl zu treffen, die nur
eine laue Billigung aller fände. Aber freilich gerade im
zweiten Falle, wo die obenbesprochene Methode das
wünschenswertheste Ergebniß liefern würde, ist ihre An-
wendung wegen der unzulässigen Abgabe verneinender
Stimmen mißlich; im ersten, wo ihr Ergebniß weniger
wünschenswerth sein könnte, wäre ihre Anwendung minder
schwierig, denn hier würden die Verneinungen, da sie
nicht durchaus der Person, sondern auch den von ihr ver-
tretenen Ansichten gelten können, minder beleidigend sein.
293. In anderer Weise, durch eine Art von Elimi-
nation s verfahren kann unsern Wünschen dann ent-
30*
468 Zehntes Kapitel.
Sprüchen werden, wenn aus einer sehr großen Anzahl von
Candidaten zu wählen ist, wenn z. B. ein Wahlkörper aus
der Zahl seiner eignen Mitglieder Einen zu ernennen hat.
Man pflegt dann in einem ersten Wahlgang etwa drei zu
bestimmen, auf welche die durch keinerlei Nebenrücksichten
bedingte Aufmerksamkeit der Wählenden zuerst verfällt,
und die daher jedem der Stimmenden jetzt als die wün-
schenswerthesten erscheinen. Man kann hierbei an die
Reihenfolge, in welcher jeder Wähler seine drei Candidaten
nennt oder schriftlich angibt, Unterschiede knüpfen und
den primo loco Bezeichneten den anderen vorziehen; ich
nehme jedoch zur Vereinfachung an, daß die Ordnung der
Nennungen völlig gleichgültig sei. Es ist dann ein denkbarer,
obgleich sehr unwahrscheinlicher Fall, daß dieselben drei
Candidaten V W Z alle Stimmen erhalten; wenn dies
sich zuträgt, kann eine endliche Entscheidung gar nicht
mehr durch das Wahlverfahren erfolgen ; denn eine Ma-
jorität könnte für einen der drei in einer neuen Abstimmung
nur dann zu Stande kommen, wenn nun einige der Stimmen,
ohne daß doch in der Sachlage ein Grund dazu vorhanden
wäre, ihre vorige Entscheidung widerriefen. In diesem
und allen ähnlichen Fällen bleibt nur das Loos oder die
Entscheidung durch einen unbetheiligten Willen, z. B. den
einer höheren Behörde möglich. Hat dagegen V allein die
Stimmen gewonnen, so ist seine Wahl zweifellos ent-
schieden, gleichviel wie groß die Stimmenzahl ist, welche W
und Z erlangten; denn es gibt dann keine verborgenen
verneinenden Stimmen, denen blos die Gelegenheit zur
Aeußerung gefehlt hätte. Es kann aber sogleich deren geben,
wenn V nur die absolute Majorität, W und Z bedeutende
Minoritäten erlangt, die übrigen Stimmen sich zersplittert
haben. Im Hinblick auf unsere früheren Bemerkungen halten
wir es nicht für durchaus gerechtfertigt, hier die Wahl
abzubrechen und V als gewählt zu betrachten; man kann
vielmehr in einer zweiten Abstimmung W und Z zusammen-
stellen, so daß aus diesen beiden einer gewählt würde,
wobei die Abgabe verneinender Stimmen für W durch
Abgabe bejahender für Z und umgekehrt vermieden würde.
Einer von beiden muß hier eine größere oder geringere
absolute Majorität erhalten. Sei dies W gewesen, so wird
eine dritte Schlußabstimmung zwischen diesem und V end-
gültig entscheiden. Dieser letzte Stimmgang würde natür-
lich ganz fruchtlos sein, wenn die absolute Majorität, die
schon im ersten für V" entschied, sich unverändert erhielte;
Von Wahlen und Abstimmungen. 469
allein die Berücksichtigung des Ergebnisses der zweiten
Abstimmung kann ein billiges Motiv zur Sinnesänderung
herbeigeführt haben. Hätten in dieser W und Z nahezu
gleichviel Stimmen bekommen, so würde sich daran zeigen,
daß entweder die gegen V verneinend gesinnten Stimmen
unter einander wenig einig sind oder daß wenigstens keine
andere Wahl eine gleichmäßigere Beistimmung findet, als
die des V, und die frühere Majorität für V fände darin
einen Grund, auf ihrer Meinung zu beharren; wären da-
gegen alle Stimmen auf W gefallen, so könnte für jene
Majorität darin ein Grund liegen, bei der Schlußabstimmung
der früheren an sich schon beträchtlichen Minorität für W
nachträglich beizutreten, um ein Resultat herbeizuführen,
welches keine Verneinungen gegen sich hätte. Noch vielerlei
Modificationen lassen sich denken; ich verfolge sie nicht,
weil die Frage nicht wichtig genug für die drohende Weit-
läufigkeit ist; ob übrigens dieses Eliminirtwerden eigent-
lich schmeichelhafter ist als eine offene Negation, bleibt
mindestens zweifelhaft. Wenn endlich der gewählte V die
Wahl ablehnt, so ist die Veränderung der Sachlage, unter
deren Berücksichtigung überhaupt gestimmt wurde, so groß^
daß eine völlige Erneuerung des Wahlverfahrens oder doch
die unabhängige Aufstellung eines dritten Candidaten Y
neben den früher genannten W und Z nothwendig wird.
294. Sind V W Z nicht Personen, sondern Gesetz-
vorschläge, so hat die Scheu vor der Abgabe negativer
Stimmen keinen Grund, und man könnte logisch verlangen,
daß über jede der vorgeschlagenen Maßregeln mit Ja und
Nein abgestimmt werde, ohne daß eine absolute Majorität,
welche die eine erlangte, die Abstimmung über die übrigen
ausschlösse. Die Entscheidung würde dann entweder durch
die größte der entstandenen Majoritäten oder durch eine
neue Schlußabstimmung gegeben. Dies Verfahren würde
diejenigen, welche für ihre Meinung eine bedeutende
Stimmenzahl vereinigt haben, dazu veranlassen, diese auch
bei der Schlußabstimmung festzuhalten; aber die, welche
für die ihrige nur eine aussichtslose Minorität gefunden
hätten, würden Zeit haben, sich bei der Schlußabstimmung
derjenigen Meinung anzuschließen, die sie nach der ihrigen
am nächsten billigen und die noch Hoffnung hätte, durch
ihren Beitritt die entscheidende Majorität zu erwerben.
Derselbe psychologische Grund indessen, den ich früher
erwähnte, steht auch hier dieser Verfahrungsweise entgegen :
470 Zehntes Kapitel.
wer den einen Vorschlag V entschieden bevorzugt, wird
nicht unbefangen kundgeben, daß ihm auch W oder Z
erträglich sei, sondern wird beide zu verneinen versucht
sein. Es wird daher, da herkömmlich die Annahme des
einen Vorschlags alle folgenden von selbst beseitigt, die
Reihenfolge wichtig, in der V W Z zur Abstimmung gestellt
werden. Die Wünsche, welche man logisch in Betreff dieser
Anordnung, der schwierigen Aufgabe parlamentarischen Ge-
schickes, hegen kann, spreche ich mit Trendelenburg
(lieber die Methode bei Abstimmungen, Berlin 1850) dahin
aus: daß jede Meinung Gelegenheit finde, sich mit dem
ihr zukommenden Gewichte gelten zu machen; das, was
sie ablehnen will, direct zu verneinen, nicht indirect durch
Annahme eines nur theilweis gebilligten Andern; das, was
sie wünscht, unmittelbar und einzeln zu bejahen, nicht
durch Verwerfung eines nur theilweis mißbilligten Andern;
endlich, daß jeder die Möglichkeit habe, zuerst das zu
vertheidigen und zu empfehlen, was ihm als sein Erstbestes
gilt, dann erst, wenn dies mißlingt, sich auf sein Zweit-
bestes oder Drittbestes zurückzuziehen. Ob aber die all-
gemeine Erfüllung dieser Wünsche für jeden Stimm-
berechtigten und in Bezug auf jeden der gemachten Vor-
schläge nicht überhaupt an einem inneren Widerspruch
scheitert, ob es also denkbar ist, daß nach dem Sinn
eines jeden gerade diejenigen Anträge getheilt werden, über
deren Bestandtheile er verschieden denkt, und gerade die-
jenigen vereinigt, die er zusammen angenommen oder ver-
worfen wünscht, dies bedarf keiner Untersuchung. Denn
ganz deutlich ist, daß in jedem Falle nur ein auf den,
vollen Inhalt der vorgelegten Fragen eingehender und durch
lange gleichartige Uebung entwickelter Scharfsinn sich der
Lösung dieser Aufgabe annähern kann; nur an bestimmten
Beispielen, nicht an allgemeinen Symbolen möglicher Fälle,
nur in der Praxis und nur sehr wenig durch allgemeine
Vorschriften, läßt sich das zu beobachtende Verfahren lernen
und lehren.
295. Es kann zuerst vorkommen, daß die gemachten
Vorschläge V W Z nicht die vollständige Disjunction zu-
sammensetzen, zwischen deren Gliedern zu wählen ist,
daß vielmehr die gemeinsame Verneinung aller ein viertes
Glied bildet, daß mithin überhaupt etwas Neues nicht be-
schlossen werden muß, sondern es bei dem bestehenden
Zustand sein Bewenden haben kann. Zur Wahl dieser
Von Wahlen und Abstimmungen. 471
Entscheidung kann man aus zwei Gründen kommen; ent-
weder weil man das Bestehende principiell gegen jede
Neuerung schützen will, oder weil man, der Verbesserung
grundsätzlich nicht widerstrebend, doch keinen der ge-
machten Vorschläge annehmbar findet; es ist wichtig, daß
der Unterschied dieser Gesinnungen seinen Ausdruck erhalte.
Die bloße Ablehnung aller einzelnen Vorschläge nach
einander gibt ihn nicht; sie zeigt blos, daß diejenige
Aenderung, die man annehmbar gefunden haben würde,
nicht vorgeschlagen worden ist; es muß möglich sein, auch
die allen Vorschlägen gemeinsame Aufforderung zur Ver-
änderung überhaupt als solche zu verneinen. Dies ge-
geschieht durch den Antrag auf Uebergang zur Tages-
ordnung, durch den Antrag also, sämmtliche gemachte
Vorschläge der Debatte und der Abstimmung nicht zu unter-
ziehen, und so das ihnen Gemeinsame eben so allgemein
abzuweisen. Wo der Wille zu solcher Verneinung vorhanden
ist, hat er die parlamentarische Pflicht, durch Stellung
dieses Antrags zum vollständigen Ausdruck des Standes
der Meinungen beizutragen und erst nach der Verwerfung
desselben sich mit der Ablehnung aller besonderen Vor-
schläge zu begnügen. Auch wo anstatt vieler nur ein
einziger Vorschlag vorliegt, findet der Antrag auf Tages-
ordnung seine Stelle; es soll dann nicht dieser einzelne
Vorschlag als solcher, sondern die allgemeine Intention
abgewiesen werden, aus welcher er hervorgegangen ist
und andere ähnliche hervorgehen könnten. So wird die
Tagesordnung, ohne angegebene Beweggründe beschlossen,
zum Ausdruck der Verachtung eines rechtlich oder sittlich
verwerflichen, oder zur Ablehnung eines fremdartigen, zur
Competenz der Abstimmungen nicht gehörigen, endlich zur
Beseitigung eines gefährlichen Vorschlags, dessen bloße Dis-
cussion schon im Interesse des Gemeinwohles abzuwenden
ist; sie mildert, als motivirte Tagesordnung, diese Ver-
werfungen, indem sie ^urch Angabe ihrer Beweggründe
das an sich Berechtigte eines gethanen Vorschlags an-
erkennt, aber die Zweckmäßigkeit seiner jetzigen Anbrin-
gung und des Eingehens auf ihn verneint.
296. Wenn zwei Vorschläge V und W in einem Ver-
bal tniß der Unterordnung so stehen, daß W als Ver-
besserungsantrag oder Amendement den Sinn des
Hauptantrags V durch Zusatz Weglassung oder Umformung
zu verändern verlangt, so ist es ein logisch richtiger Ge-
brauch, die vorläufige Abstimmung über das Amendement
472 Zelintes Kapitel.
der endgültigen über den Hauptantrag vorangehen zu lassen.
Denn über diesen kann den Stimmenden eine Entscheidung
erst dann vernünftigerweise angesonnen werden, wenn er
nach seiner ganzen Fassung unzweideutig feststeht; nicht
aber so lange sein Inhalt noch nachträglichen Umänderungen
ausgesetzt ist, deren Annahme oder Ablehnung, falls sie
vorausgewußt worden wäre, leicht die voreilig abgegebene
Meinung über Bejahung oder Verneinung völlig hätte um-
ändern können. Die Abstimmung über das Amendement W
dient dazu, den Sinn eindeutig festzustellen, in welchem
der Hauptantrag V der Abstimmung unterliegen soll; mit
der Ablehnung von V wird daher auch die nur bedingungs-
weis vorangegangene Annahme des Amendements wieder*
wirkungslos. Wenn zu einem Hauptantrag V mehrere
einander ausschließende Amendements W und Z oder
mehrere Nebenvorschläge über die Specialisirung treten,
welche V zu seiner praktischen Durchführung nöthig hat,
wie es z. B. häufig bei noch festzusetzenden Maß-
bestimmungen vorkommt, so würde es hier am wenigsten
Bedenken haben, über alle diese Vorschläge gesondert ab-
zustimmen und die Entscheidung an die größte erlangte
Majorität zu knüpfen. Soll indessen, wie es üblich ist,
die Annahme des einen durch absolute Majorität alle übrigen
von der Abstimmung ausschließen, so kann man über die
nun wichtig werdende Reihenfolge der Fragestellung zuerst
anrathen, die Vorschläge so zu ordnen, daß je zwei am
wenigsten von einander abweichende unmittelbar auf
einander folgen. Dies ist, in etwas anderer Form, bei den
beiden Arten der Versteigerung durch Hinaufbieten und
durch Herabbieten üblich, und in diesen Fällen wird ohne
Unbilligkeit auf die Ungewißheit geradezu gerechnet, in
welcher sich jeder Bietende über das Begehrungsmaß aller
anderen befindet. Denn da Gebot und Annahme freiwillig
sind, so spricht jeder durch sie blos den Werth aus, den
der fragliche Gegenstand für ihn nach seiner eigenen
Schätzung hat, und es wird keines seiner Rechte durch
den offenen Wetteifer Anderer oder durch die Unkenntniß
des Nichtvorhandenseins anderer lebhaften Begehrungen ge-
kränkt. Das Herabbieten scheint allgemein dem Verkäufer
günstiger, da es den Käufer zur Annahme des Gegenstandes
um den höchsten Preis nöthigt, den er für denselben geben
zu können glaubt und den er mindern würde, wenn er den
Mangel der Concurrenz vorher bemerken könnte; das
Von Wahlen und Abstimmungen. 473
Hinaufbieten ist dem Käufer günstiger, weil ihm dieser
Mangel, wo er stattfindet, benutzbar, im anderen Falle
aber wenigstens nur die Ueberbietung des ebenletzten Ge-
botes nothwendig und die Zeit zur Entschließung nicht
übermäßig verkürzt wird. Die Analogie dieses Verfahrens,
bei welchem ein Einzelner im Kampf mit Andern eineni
erlaubten persönlichen Vortheil sucht, paßt ihrem Sinne
nach wenig zu den Bemühungen einer Vielheit, in Gemein-
schaft mit einander einen dem Gemeinwohl förderlichen.
Beschluß zu Stande zu bringen; formell ist es indessen
doch der Vorgang des Herabbietens, der hier zum Muster
dienen muß. Nun wird man überhaupt selten Vorschläge
finden, die sich so einfach nach quantitativen Maßen in
eine Reihe ordnen lassen ; am häufigsten werden WZ...
ihrem Sinne nach nicht leicht classificirbar verschieden,
sein. Man wird sie dann nach dem voraussichtlichen Maß
ihrer Angemessenheit zu dem allgemeinen Willen ordnen,
und diejenigen, die sich am weitesten von dem bestehenden
Zustande entfernen, das Ungewöhnlichste und Größte ver-
langen und deswegen wenig Wahrscheinlichkeit ihres Sieges
haben, werden berechtigt sein, zuerst der Abstimmung dar-
geboten zu werden, damit, wenn sie gegen jene Ver-
muthung nun dennoch dem allgemeinen Willen zusagen
sollten, der Ausdruck dieses Willens nicht unmöglich ge-
macht werde durch Beginn von einem wahrscheinlicheren
Vorschlag, auf den sich aus eben jener irrigen Berechnung
leicht alle Stimmen mit voreiliger Entsagung sammeln
könnten. Nach der Ablehnung solcher äußersten Vorschläge
könnte man, der mathematischen Methode der Eingrenzung
ähnlich, zu den mittleren an sich wahrscheinlicheren
Gliedern der Reihe übergehen und dabei die Aussicht haben,
die endliche Entscheidung für einen Vorschlag zu gewinnen,
der die geringst mögliche Abweichung von der aHgemeinen
Befriedigung einschlösse. Alle diese Regeln sind zuletzt
unzureichend; namentlich wo der Beschlußfassung ein viel-
gliedriges Ganze vorliegt, dessen einzelne Theile nur nach
und nach berathen werden können, bleibt es unmöglich,
schon im Verlauf dieser Specialberathung alle die Un-
zuträglichkeiten Unfolgerichtigkeiten und Widersprüche zu
entdecken, die aus der schließlichen Zusammenfügung der
vielleicht vielfach veränderten Einzelheiten der Vorlage
entstehen würden. Man muß dann die Specialberathung
ähnlich derjenigen über Amendements als nur vorläufige
474 Zehntes Kapitel.
betrachten und einer zweiten Lesung oder einer Schluß-
abstimmung die Freiheit vorbehalten, die mit vereinten
Kräften zu Stande gebrachte Mißgeburt wieder umzubringen.
Die formale Absicht aller Abstimmungen endlich, einen
Gesammtwillen zu ermitteln, würde zuerst zwar die
Feststellung eines Beschlusses Z enthalten, der allen Mit-
gliedern der Gesellschaft die größte erreichbare durch-
schnittliche Befriedigung M gewährte, dergestalt, daß die
Minderbefriedigung der einen durch die Mehrbefriedigung
anderer ausgeglichen würde. Aber zugleich müßte man
doch auch noch wünschen, zur Ausführung der durch die
Annahme von Z entstehenden Verpflichtungen nun auf
gleiche Willfährigkeit M bei allen Mitgliedern rechnen
zu können. Warum der erste Zweck nu^- unvollkommen
erreicht wird, habe ich angegeben (292). Der letzte Wunsch
dagegen ist durch logische Mittel natürlich unerfüllbar;
nur dies kann als eine aus der Natur ethischer Zwecke
zum Behuf ihrer Verwirklichung nothwendige logische Regel
abgeleitet werden, daß hier, was sonst die Logik nirgends
verlangen kann, die eigene persönliche Ueberzeugung einer
abweichenden allgemeinen untergeordnet werden müsse.
Drittes Buch.
Yom Erkennen.
(Methodologie.)
i
Als ich in der angewandten Logik den Mitteln nachging,
durch die es uns gelingt, den mannigfachen Inhalt unseres
Vorstellens jenen idealen Formen der Fassung und Ver-
knüpfung einzuordnen, welche die reine Logik kennen ge-
lehrt hatte, habe ich noch nicht von deii allgemeinen
Methoden gesprochen, mit deren Schilderung die Lehre
vom Denken zu schließen pflegt. Ich glaube dort keine
unentschuldbare Unterlassung durch ihre Verschweigung
begangen zu haben und hier nicht willkürlich zu verfahren,
wenn ich sie und Verwandtes diesem letzten Theile meiner
Arbeit vorbehalte.
297. Seit Aristoteles hat man analytische und syn-
thetische Methode, im Wesentlichen immer nach den-
selben Gesichtspunkten, als die beiden umfassenden End-
formen unserer wissenschaftlichen Gedankenbewegung
unterschieden. Der antiken Vorstellungsweise galt hierbei
der mannigfaltige gegebene Stoff der Untersuchung als der
Gegenstand einer Zergliederung, die aus ihm seine einfach-
sten Bestandtheile oder seine allgemeinsten Bedingungen
zu finden hatte; die analytische Methode war daher ein
rückläufiges Verfahren, das a principiatis ad principia seinen
Weg nahm; die gefundenen Principien dagegen waren die
Bausteine, aus deren Zusammensetzung das synthetische
Verfahren rechtläufig die gegebenen Einzelheiten erzeugte.
Unserem modernen Sprachgefühl entsprechen beide Namen
nicht mehr ebenso sehr und wir würden leicht versucht
sein, ihre Bedeutungen zu vertauschen. Wir sind nicht
mehr an die Hoffnung gewöhnt, eine bloße Zergliederung
des Gegebenen werde die gesuchten Principien in ihnen
finden; wir haben vielmehr erfahren, daß wir sie, für
unsere Erkenntniß, häufig durch vergleichende Combination
des Mannigfachen erzeugen müssen, und sie erscheinen
uns deshalb als Endergebnisse eines synthetischen Ge-
dankengangs; wir sind ebenso nicht mehr ausschließlich
der Vorstellung geneigt, Principien als Atome der Wahrheit
478 Einleitung.
anzusehen, aus deren Zusammensetzung allein die
mannigfachen Einzelwahrheiten entsprängen; weit mehr,
gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, erscheinen Principien
uns entwicklungsfähig und die Ableitung des Bedingten
von seinen Bedingungen mindestens ebenso allgemein als
eine Zergliederung dessen, was in diesen enthalten
war. Aber es würde der Mühe nicht lohnen hierüber zu
streiten ; denn sichtlich ist zuerst keine der beiden Methoden,
im Allgemeinen wenigstens, rein durchführbar. Kein ana-
lytisches Verfahren kann durch bloße Zergliederung eines
Gegebenen zu einem Princip oder einer allgemeinen Wahr-
heit gelangen, ohne jedesmal das Ergebniß a des zuletzt
gethanen Schrittes mit irgend einem allgemeinen Satze T
zusammenzuhalten und durch versuchte Unterordnung des a
unter T, in diesem Theile seines Weges also synthetisch,
darüber gewiß zu werden, ob a selbst als ein Letztes
anzuerkennen ist, oder ob Gründe vorliegen, zur Hebung
eines Widerspruchs die Zergliederung nach einer bestimm-
ten Richtung hin weiter fortzusetzen. Und keineswegs ge-
hört jenes T, welches sich hier eindrängt, immer nur zu
jenen formal logischen Gesetzen, denen man selbstverständ-
lich zugesteht, daß sie im Einzelnen den modus procedendi
jeder denkbaren Methode beherrschen müssen; um wirklich
weiter zu führen, wird häufig T ein inhaltvoller Satz sein
müssen, den die Logik nicht geben kann, den man vielmehr
als eine aus anderen Gründen feststehende Wahrheit an-
nehmen und dem durch die Zergliederung gefundenen Er-
gebnisse überordnen muß. Ebenso wenig wird eine syn-
thetische Methode ohne Beihülfe analytischer Gedanken-
bewegung in Gang kommen; hätte sie auch am Anfang
eine Anzahl elementarer Wahrheiten A B C in der Hand,
so würde sie doch über die Tautologie des bloßen Zugleich-
geltens dieser Wahrheiten nie hinauskommen, wenn sie
nicht nachweisen könnte, wie aus dem Zusammentreffen
ihrer Gültigkeit an einem und demselben Gegenstand bald
diese bald jene neuen Folgen x oder y sich entwickeln
müssen; ob aber x oder y eintreten werde, darüber kann
nur durch die vorgängige Zergliederung der Natur dieses
Gegenstandes, also durch eine Strecke analytisches Ver-
fahrens, entschieden werden; hierdurch erst wird die be-
stimmte zweite Prämisse ermittelt, die in Verbindung mit
jenen gegebenen Wahrheiten als erster den nächsten syn-
thetischen Fortschritt zu einem bestimmten Schlußsatze
möglich macht. Es ist zuzugeben, daß auf einzelnen Ge-
Einleitung. 479
bieten die synthetische Methode unabhängiger erscheint;
die Geometrie kann die Gegenstände, auf welche sie ihre
allgemeinen Wahrheiten anwenden will, selbst der Reihe
nach erzeugen, und die zergliedernde Angabe dessen, was
zur Ableitung jedes neuen Satzes als gegeben gelten soll,
nimmt in ihren Darstellungen wenig Raum ein; der Sache
nach fehlen kann sie doch nicht. Aber in allgemeineren
Grenzen, da wo es sich um eine synthetische Construction
von Wirklichkeiten handelt, geht der progressiven Ableitung
aus den Principien immer eine umfängliche regressive Zer-
gliederung des Gegebenen voran, und durch sie erst werden
dem synthetischen Verfahren die Richtungen bestimmt, in
denen es zu seinen Principien die unentbehrlichen zweiten
Prämissen zu suchen hat.
298. Der Unterschied beider Methoden läuft daher in
der That praktisch auf einen Gegensatz hinaus, den man
längst wirklich bemerkt hat: die analytische Methode ist
wesentlich das Verfahren der Untersuchung, welche
die Wahrheit finden will, die synthetische das Verfahren
der Darstellung, welche die irgendwie auf geraden oder
ungeraden Wegen ermittelten Wahrheiten in ihrem eigenen
objectiven Zusammenhange wiedergeben will. Und zwar
verstehe ich unter Darstellung nicht allein die Mittheilung
an Andere, denn für diesen Zweck ist die Schilderung
des subjectiven Erfindungsganges ebenso nothwendig und
unterrichtend; ich meine vielmehr jene logische Fassung
des gewonnenen Inhalts, in welcher allein er den idealen
Anforderungen unseres Denkens an eine in sich selbständige
Wahrheit entspricht. Innerhalb der angewandten Logik
schien es mir daher wenig ersprießlich, von diesen beiden
Methoden zu sprechen; denn ein praktisches Hülfsmittel
zur Lösung von Aufgaben bietet keine von beiden; auch,
die analytische nicht, obgleich wir sie für die Form der
entdeckenden Untersuchung halten. Dadurch allein, daß
wir Jemand auffordern, nach analytischer Methode zu
arbeiten, haben wir ihm noch keine nützliche Anweisung
gegeben; die Definition der Methode in der allgemeinen
Form, in der sie aufgestellt zu werden pflegt, enthält
im Grunde nur eine Andeutung über die Richtung, in der
der eigentliche Weg erst zu suchen ist; was ihn finden
lehrt, besteht in den einzelnen Kunstgriffen der angewandten
Logik, bei deren Benutzung es schließlich ziemlich gleich-
gültig ist, ob man sie hinterher zu einem synthetischen
oder zu einem analytischen Verfahren rechnen will. Und
480 Einleitung.
ebenso: wem wir einen synthetischen Gang vorschreiben,
der hat hierdurch auch nur eine Aufgabe gestellt erhalten ;
wie er sie richtig lösen wird, eine Frage, zu deren Be-
antwortung recht eigentlich doch eine Methode dienen
sollte, erfährt er durch die allgemeine Charakteristik des
von ihm verlangten Verfahrens^ von den Gründen zu den
Folgen herabzusteigen, in keiner irgend ausreichenden Weise.
299. Dies alles stellt sich anders, wenn wir uns eine
Freiheit versagen, die wir uns in der angewandten Logik
gestatteten, und so unseren Betrachtungen einen befriedigen-
den Abschluß zu gewinnen suchen. Wo wir dort von
Beweisen, von der Aufsuchung der Beweisgründe, von der
Auffindung von Gesetzen sprachen, haben wir überall in
gewisser Weise unvollendete Arbeit übrig gelassen: jeder
Versuch zur Begründung eines Satzes ging nur einige
Schritte zurück und kam zur Ruhe, wenn ein anderer Satz
erreicht war, dessen vorausgesetzte Richtigkeit zur
Grundlage jenes dienen konnte. Dies Verfahren entspricht
dem wirklichen Verhalten unserer Gedanken im Leben
wie in den einzelnen Wissenschaften. Im Leben liegt
unserer Beurtheilung der Dinge und unseren Folgerungen
nicht ein einziger Satz T, auch nicht eine reinlich ab-
gegrenzte Gruppe gleichartiger elementarer Wahrheiten zu
Grunde; sondern sehr Vielerlei, von ganz ungleichartigem
Gepräge, ist uns gleich gewiß: hier ein Satz A, der ein-
mal aufgefaßt sich von nun an mit dem Gefühl seiner
Denknothwendigkeit aufdrängt, dort ein anderer B als Aus-
druck einer Thatsache der Wahrnehmung, die nicht eben
sein müßte, aber unwidersprechlich ist; ein dritter C als
Giundsatz von ganz unbekannter Herkunft, dessen Gültig-
keit aber in jedem Augenblicke durch einen Versuch seiner
Anwendung wiederbestätigt wird; mancher Satz D endlich,
der aus gleich unbekannten Quellen entsprungen, zwar
keine solche Bewährung seiner Richtigkeit zuläßt, aber
doch ein unabweisbares Bedürfniß zu enthalten scheint,
dem wir genügen zu müssen glauben, wenn unsere ver-
knüpfende Auffassung des gegebenen Mannigfachen Wahr-
heit haben soll. Jeden dieser verschiedenen Gewißheits-
punkte, und in jedem derselben kann man sich eine Mehr-
heit elementarer Ueberzeugungen zusammengedrängt denken,
benutzt unsere lebendige Gedankenbewegung gelegentlich,
um eine schwebende Frage zu beantworten; ja selbst einen
Satz, der seinem Inhalte nach eine Folge der einen Vor-
aussetzung sein würde, beweisen wir uns häufig von einer
Einleitung. 481
andern aus, sobald seine Abhängigkeit von seinem eigent-
lichen Grunde nicht sofort durchsichtig ist. So wechseln
wir beständig die Fußpunkte unserer Beurtheilung : bald
von einem evidenten Gesetze ausgehend, bestimmen wir
seine Folgen, bald durch erneuerte Betrachtung gegebener
Folgen stärken wir uns in dem Glauben an das Gesetz;
Consequenzen, die mit innerer Nothwendigkeit aus einem
anerkannten Princip zu fließen scheinen, wehren wir ab
um der Unwahrscheinlichkeit willen, die sie für einen andern
Standpunkt haben; bald gehen wir von A aus, um ein
zweifelhaftes B zu erweisen, bald halten wir B für evidenter
und benutzen es zur Begründung von A; was in jedem
Augenblicke für uns psychologisch die größte Gewiß-
heit hat, das gilt uns als der zuverlässige Punkt, von dem
aus die übrigen schwankenden Gedanken festzustellen sind.
300. Ganz in solcher Ungebundenheit bewegt sich nun
allerdings das wissenschaftliche Denken nicht; aber
die wirkliche Wissenschaft, die wir besitzen, nicht die
ideale, die wir besitzen möchten, hat doch noch immer
mit jenem Verfahren der naturwüchsigen Ueberlegung Aehn-
lichkeit genug. Eine wirkliche Untersuchung kommt auch
hier kaum jemals zu Stande, ohne daß die Beurtheilung
auf einzelnen Voraussetzungen beruhte, die man theils für
unbeweisbar aber gewiß, theils für unbeweisbar aber nur
probabel hält, und die man bald als unableitbare Principien
der eigenen, bald als verbürgte Ergebnisse einer andern
Wissenschaft ansieht. Selbst innerhalb eines und desselben
Gebietes wechseln die Versuche der Begründung; ohne die
Gewißheit eines Satzes in Zweifel zu ziehen, der früher als
Quell der Ableitung für andere galt, glaubt man doch einen
andern noch gewisser an die Spitze stellen zu können und
von ihm jenen mit allen seinen Folgen abzuleiten. Ueber-
blickt man aber unser Wissen im Ganzen, so wie es unter
verschiedene Wissenschaften vertheilt ist, so wird man
keine der letztern in sich selbst völlig abgeschlossen finden,
sondern in jeder derselben formale oder materiale Prin-
cipien entdecken, deren Geltung auf Grund ihrer unmittel-
baren Evidenz oder ihrer aufklärenden Folgen zugelassen
wird; aber die Frage nach ihrem Ursprung oder ihrem Zu-
sammenhang untereinander wird da fallen gelassen, wo ihre
Beantwortung nichts zu dem inneren Betriebe der Wissen-
schaft selbst scheint beitragen zu können. Diesen Stand
der Sachen hatten wir in der angewandten Logik vor
Lotze, Logik. 31
482 Einleitung.
Augen und glaubten in dieser Lehre von der Natur der
Untersuchungen uns auf ihn beschränken zu können. Denn
was sich für angewandte Logik, richtiger für eine Dar-
stellung der möglichen Anwendungsweisen der Logik gibt,
setzt eine Vielheit solcher Anwendungsfälle voraus, die
nur möglich ist, wenn das Geschäft des Untersuchens in
dem Anfang von einem gegebenen Anfangspunkte und in
seiner gesetzmäßigen Verknüpfung mit ebenfalls voraus-
gesetzten festen Punkten besteht. Von dieser Art sind alle
die mannigfaltigen Untersuchungen, die wir wirklich zu
unternehmen pflegen, und unser Erkennen verhält sich
hierin ähnlich unserem Leben. Woher im Anfange der
Geschichte unser ganzes Geschlecht gekommen ist, wissen
wir nicht, und ebenso unausdenkbar ist uns seine ferne
Zukunft; für die meisten verschwindet schon in naher Ver-
gangenheit die Erinnerung an ihre näheren Vorfahren und
für alle ist die Voraussicht über die Schicksale ihrer Nach-
kommen noch beschränkter ; innerhalb dieser beiden Dunkel-
heiten liegt doch ein verhältnißmäßig heller Raum des
Lebens vor uns mit deutlichen Bedürfnissen dringenden
Pflichten und erreichbaren Zielen; die Freude am Dasein
und die Zuversicht in der Behandlung der Gegenwart wird
nur wenig durch die Ungewißheit des Anfangs und des
Endes beeinträchtigt. So ist es auch mit unserem Wissen.
Eine ewige Wahrheit oder einen zusammengeschlossenen
Kreis von Wahrheiten setzen wir voraus; aber in unseren
gewöhnlichen Ueberlegungen gibt es für ihn weder einen
vollständigen und geschlossenen Ausdruck, noch eine deut-
liche Uebersicht seiner Gliederung; nur einzelne Theile
desselben werden uns auf eine Weise, die wir selbst uns
nicht zu zergliedern vermögen, während der Uebung unseres
Denkens im Zusammenstoß mit der Wirklichkeit klar und
evident ; unser Untersuchen ist eine Art von Binnenver-
kehr, welcher die ungewissen und veränderlichen Wahr-
nehmungen mit diesen verschiedenen in unser Bewußtsein
hineinragenden Gipfeln einer in ihrem Zusammenhang ver-
borgen bleibenden Gesammtwahrheit zu verknüpfen sucht.
301. Aber ebenso wie dem Leben die Augenblicke
kommen, in denen die Gegenwart erträglich und verständlich
nur zu. werden scheint, wenn man ihren Zusammenhang
mit Vergangenheit und Zukunft glaubt ahnen zu können,
ebenso kommen dem Erkennen Veranlassungen, aus jenem
Kleinhandel des gewöhnlichen Untersuchens herauszugehen
Einleitung. 483
und sich über Lage Verbindung und Sicherheit der Aus-
gangs- und Zielpunkte seiner Bewegung zu besinnen. Denn
nicht immer beherrschen jene Grundsätze, auf die es ver-
traut, friedlich jeder sein gesondertes Gebiet; der Hinweis
auf die verschiedenen Folgerungen, die in Bezug auf die
Gestaltung unseres Lebens aus den Grundsätzen der
mechanischen Forschung und aus den Aussprüchen des
Gewissens gezogen werden, macht an einem großen Bei-
spiele deutlich, wie die Ansprüche verschiedener Wahr-
heitsquellen feindlich an demselben Gegenstande der Be-
urtheilung zusammenstoßen; aber auch auf theoretischem
Gebiete allein fehlen ähnliche Veranlassungen zu aem
Unternehmen nicht, dasjenige zum Gegenstand der
Untersuchung zu machen, was dem lebendigen Denken
und .den einzelnen Wissenschaften als Princip der
Untersuchung gilt. Diese große Aufgabe hat weder
mit vollständigem Erfolg noch vollständig erfolglos die
Philosophie aller Zeiten im Auge gehabt, und gewiß würde
ihre ganze Auflösung identisch mit der Vollendung dieser
Wissenschaft selbst sein; denn sie könnte nur darin be-
stehen, daß es gelungen wäre, einen zusammenhängenden
Kreis höchster und zugleich inhaltvoller Wahrheiten fest-
zustellen, aus dem alle anwendbaren Grundsätze unseres
Untersuchens mit genauer Ausdeutung ihres wahren Sinnes
und mu bestimmter Bezeichnung der Grenzen ihrer Gültig-
keit ableitbar wären. Nicht diese umfassende Aufgabe,
aber ein bescheidener Theil derselben soll den Gegenstand
der letzten Erörterungen dieses Buches bilden. Nicht den
Inhalt jener Grundsätze wollen wir suchen, sondern die
Gründe, auf denen subjectiv ihre Gewißheit für uns be-
ruht; nicht die Wahrheit, sondern die Kennzeichen, nach
welchen wir sie anerkennen und unterscheiden; oder, wenn
es bei den alten Benennungen bleiben soll : eine analytische
Aufklärung über den Weg wollen wir anstreben, auf welchem
wir zu Principien einer synthetischen Entwickelung ge-
langen können. Warum ich diesen Theil der Logik dem
Erkennen zueigne, wird die weitere Erläuterung zeigen,
deren diese vorläufige Bezeichnung unserer Aufgabe ohne-
hin bedarf; daß ich ihn Methodologie nenne, geschieht
nicht ohne eingestandene etwas willkürliche Deutung dieses
Namens. Fruchtbare Einzelmethoden entwickelt jede
Wissenschaft und behandelt ähnliche Probleme nach ihnen;
aber der allgemeinen Logik würden diese als specielle Kunst-
griffe erscheinen, welche nicht sie, sondern eben jene
31*
484 Einleitung.
Wissenschaften zu lehren hätten. Allgemeine Methoden,
eben die synthetische und die analytische, deren ich ge-
dachte, erwähnt zwar die Logik; aber ihre Aufstellung ist
ein ziemlich unfruchtbares Postulat, bis die Rechtsgründe
klar sind, die uns überzeugen, durch die eine die Wahr-
heit gefunden zu haben, durch die andere sie in ihre
Einzelfolgen entwickeln zu können. Die Erfüllung dieser
letzten Aufgabe möchte ich hier die Methode nennen,
nicht in dem Sinne eines allgemeinen Verfahrens, das man
an tausendfältigen Beispielen zur Anwendung zu bringen
hätte, sondern als einen einmal zurückzulegenden Ge-
dankengang, als den Zwischenweg zwischen den ver-
schiedenen Quellen, aus denen uns Gewißheiten von ver-
schiedener Art zu fließen scheinen, unternommen zur Er-
kenntnlß ihrer Zusammenhänge unter einander und der
Grenzen ihrer Berechtigung.
Erstes Kapitel.
Vom Skepticismus.
302. Gesetze seines Verfahrens kommen dem Denken
erst nach vielfältiger Ausübung seiner Thätigkeit durch
eine vergleichende Reflexion zum Bewußtsein, die sich
auf diese verschiedenen Beispiele seines Thuns zurück-
wendet und die unbewußt in ihnen befolgten Regeln zu
gesonderten Gegenständen der Betrachtung macht. Noch
späteren Ursprungs ist die Frage nach dem Grunde der
Verbindlichkeit dieser Gesetze und nach den Grenzen, inner-
halb deren ihre Befolgung Wahrheit der Erkenntniß ver-
spricht; sie kann erst entstehen, wenn Erfahrungen von
Irrthümem gemacht worden sind, zu denen nicht die Ver-
nachlässigung, sondern die Anwendung jener Gesetze auf
jeden vorkommenden Inhalt unseres Vorstellens verführt
zu haben scheint. Mißlingen dann auch die zerstreut an-
gestellten Versuche, entstandene Schwierigkeiten und Wider-
sprüche durch bessere Deutung entweder dessen hinweg-
zuräumen, was uns Wahrheit schien, oder dessen, was wir
als gegeben durch Wahrnehmung betrachteten, so bildet
sich die Stimmung des umfassenden allgemeinen Zweifels,
der Skepticismus. Vorübergehend und in größerer oder
geringerer Nachhaltigkeit tritt diese Stimmung in der ernsten
Entwicklung jedes Einzelnen auf; als normale Verfassung
des Gemüths, die am Anfange der Wissenschaft alles über-
kommene Wissen als fragliches Vorartheil ansehen und der
Prüfung vorbehalten solle, ist sie in der Geschichte der
Philosophie mehrmals mit großem Nachdruck verlangt
worden; als bleibendes Ergebniß hat sie sich in den skep-
tischen Schulen verfestigt, die zu der Ueberzeugung von
der Unmöglichkeit • sicherer Erkenntniß gelangt zu sein
glaubten. In dieser letzten Form, in welcher allein die
skeptische Stimmung zu einem bestimmten Abschluß ge-
486 Erstes Kapitel.
kommen zu sein meint, werden wir sie nicht so durchgängig
von überkommenen Vorurtheilen frei finden, wie sie selbst
sich zu sein rühmt; Eins aber ist vor allem klar: eine
unbedingte Leugnung aller Wahrheit kann diese End-
meinung des Skepticismus niemals einschließen, denn nicht
blos die Lösung des Zweifels, sondern der Zweifel selbst
ist nur möglich unter Voraussetzung irgend einer aner-
kannten Wahrheit. Wer auf einen Ausweg aus dem
Labyrinth der Skepsis zu irgend einer sicheren Erkenntniß
hofft, gibt dies von selbst zu; denn finden kann er diesen
Weg nur durch eine Untersuchung; jede Untersuchung aber
ist nur möglich, wenn wir mindestens formale Grundsätze
der Beurtheilung voraussetzen, nach denen die eine Ver-
knüpfung von Gedanken als richtig von einer anderen als
einer falschen oder von einer dritten zweifelhaften unter-
schieden werden kann. Und wieder, wer jenen Ausweg
leugnet, erkennt leugnend selbst das an, was er verneint.
Als die antike Sophistik lehrte, es gebe keine Wahrheit,
und wenn es eine gäbe, so wäre sie nicht erkennbar, wenn
sie endlich selbst erkennbar wäre, so würde sie doch
nicht mittheilbar sein, — so widersprach sie durch die
That jedem einzelnen dieser Sätze. Denn das Ganze der-
selben gab sie doch für Wahrheit und konnte mithin nicht
jede Wahrheit leugnen; sie suchte die Richtigkeit ihrer
Behauptungen femer zu beweisen und mußte deshalb eben
die mittelbare Erkenntniß der Wahrheit, deren Unmöglich-
keit sie am liebsten dargethan hätte, zu ihren eigenen
Gunsten voraussetzen; die Mittheilbarkeit endlich leugnete
sie in dem Augenblicke, wo sie auf Grund derselben Andere
überzeugen wollte. Diesen Widersprüchen entgehen auch
diejenigen nicht, die in dem Ausdruck ihres Ergebnisses
die Form der Behauptung scheuen und nicht die Nicht-
geltung irgend einer Wahrheit aussprechen, sondern nur
ihr non liquet auch auf diese allgemeine Frage anwenden
möchten; gewiß können sie und wir mit ihnen diese Ant-
wort oft geben, wo es sich um die Prüfung einzelner Be-
hauptungen auf Grund gültiger Wahrheiten handelt; daß
aber die Geltung aller Wahrheit zweifelhaft sei, läßt sich
zwar mit Worten sagen, aber den Worten entspricht kein
ausführbarer Gedanke mehr; wir könnten die Bedeutung
jenes liquet nicht mehr angeben, das wir hier leugnen,
wenn wir nicht gewisse Bedingungen dächten, unter denen
es stattfinden würde, wenn wir also nicht irgend eine un-
bedingt gültige Wahrheit voraussetzten, aus der die Be-
Vom Skepticismus. 487
rechtigung flösse, über dasjenige zweifelhaft zu sein, dessen
Uebereinstimmung mit ihr nicht nachweisbar ist. Aber
nicht nur jeder Abschluß der Skepsis durch irgend eine
Behauptung, sondern auch der Zweifel selbst als That-
sache ist unmöglich ohne diese Voraussetzung, unmöglich
wenigstens in dem Sinne, in welchem allein wir hier von
ihm zu sprechen haben; denn Ungewißheit freilich würde
es dann, wenn keine Wahrheit Nothwendiges und Nicht-
nothwendiges unterscheiden lehrte, nicht zuweilen, sondern,
in Bezug auf Zukünftiges wenigstens, immer geben, dafür
aber auch nie Veranlassung zu der zweifelnden Frage, ob
ein Gegebenes einem Maßstab entspreche, dem zu ent-
sprechen oder nicht zu entsprechen nur dann einen Unter-
schied macht, wenn er als Maßstab als Bedingung als
Wahrheit anerkannt ist. Wie ausgedehnt daher auch immer
die Ansprüche des Skepticismus sein mögen: er kann den-
noch nicht nur die Anerkennung einer an sich gültigen
Wahrheit, sondern auch die Voraussetzung nicht los werden,
menschliches Denken besitze Grundsätze, nach denen es
wenigstens die Unnachweisbarkeit der Uebereinstimmung
gegebener Vorstellungen mit dieser Wahrheit zu beurtheilen
vermöge.
303. Bis zu diesem Zugeständnisse nun läßt die skep-
tische Stimmung sich leicht treiben; sie wird einräumen,
von der Anerkennung einer an sich gültigen Wahrheit durch-
drungen zu sein, und zugeben, daß denknothwendige Ge-
setze unser Untersuchen und Zweifeln beherrschen; aber
darüber ist sie bekümmert, ob diese beiden Glieder zu-
sammenpassen. Eben weil wir wissen, daß es eine Wahr-
heit geben muß, und hierdurch zugleich wissen, daß es
einen Irrthum geben kann, wie werden wir gewiß, ob
nicht auch jene denknothwendigen Gesetze in unserem
Geist dieser Seite des Irrthums angehören, ob also nicht
Alles an sich ganz anders sei, als es uns denknothwendig
scheinen muß zu sein? Es ist klar, daß diese Skepsis,
die zum Zweifel nicht durch einen positiven Grund ge-
trieben wird, der in der Natur des bezweifelten Inhalts
läge, die vielmehr die allgemeine Möglichkeit Zweifel
zu erheben für einen Rechtsgrund ihrer wirklichen Er-
hebung ansieht, niemals eine demonstrative Widerlegung
zulassen kann. Denn jeder Grund, den man gegen sie in
das Feld führen kann, wird sich nur auf die Evidenz und
Nothwendigkeit stützen können, mit welcher er selbst ge-
dacht wird, und gehört also mit zu dem Bereich des Denk-
488 Erstes Kapitel.
nothwendigen, in Bezug auf welches jene öde Frage, ob
nicht dennoch Alles ganz anders sei, ins Unendliche wieder-
holt werden kann. Auch diese Frage ist in der Geschichte
der Philosophie mehrmals aufgestellt worden; noch am
Anfange der Neuzeit hat Descartes, nachdem er von
dem Vorhandensein einer unserem Geiste angeborenen denk-
nothwendigen Ideenfülle sich überzeugt zu haben glaubte,
sie in der anschaulichen Gestalt der Vermuthung vor-
getragen: ob nicht ein böser Dämon unsere Natur so ein-
gerichtet haben könne, daß alle unsere Gedanken falsch
sein und dennoch uns selbst als evidente denknothwendige
Wahrheiten vorkommen müßten? Und diese Vermuthung
meinte er nur widerlegen zu können durch den Hinweis
darauf, daß auch die Vorstellung eines unbedingt voll-
kommenen heiligen Gottes unter jenen angeborenen Ideen
vorhanden sei; aus sich selbst aber könne der endliche
Geist nicht den Gedanken dessen erzeugt haben, was größer
ist als er selbst, den Gedanken des Unendlichen; nur ein
wirklicher heiliger Gott könne ihn in uns gelegt haben,
diesem heiligen Gott aber widerspreche es, uns zu täuschen.
Es ist ein Zug in dieser Beweisführung, der unsere Auf-
merksamkeit reizen könnte : der hin durchblickende Gedanke,
in unserer unmittelbaren Zuversicht zu der Bedeutung der
sittlichen Idee liege zuletzt die Bürgschaft auch für die
Wahrheit unserer Erkenntniß; aber so wie der Schlußsatz
hier kurzer Hand Beides zusammenstellt, wird er allerdings
Niemand überzeugen. Denn was läßt sich am Ende mit
Grund den religiösen Auffassungen entgegenstellen, die auch
von dem Glauben an einen heiligen Gott ausgehen, aber
es mit seiner erziehenden Weisheit sehr wohl verträglich
finden, daß er einen großen Theil der Wahrheit unserer
menschlichen Erkenntniß ganz entzogen habe? Und wenn
er nun nicht einen Theil, sondern alle Wahrheit uns ver-
sagt, dafür aber unsern Geist mit ihm denknothwendigen
Einbildungen ausgestattet hätte, welches Recht hätten wir,
mit dem tadelnden Namen einer Täuschung diese Ver-
sagung der Wahrheit und die Verleihung des Irrthuras zu
belegen, bevor wir nachgewiesen hätten, daß auf die Ge-
währung der ersten unser Geist ein Recht besitze, welches
Gott nicht ohne Abbruch seiner eignen Heiligkeit unbeachtet
lassen dürfte, und daß die Erkenntniß alles Seienden, wie
es ist, die nothwendige Vorbedingung zu der Erfüllung der
Zwecke sei, die wir den Absichten eben dieser Heiligkeit
zutrauen? Diesen Beweis hat Descartes weder erbracht
Vom Skepticismus. 489
noch versucht; er überläßt sich in diesem Gedankengange
sehr sorglos gewissen Annahmen, die bei der Beurtheilung
des inneren Verkehrs der Menschen unter einander ihre
beschränkte Berechtigung haben, aber zu grundlosen Vor-
urtheilen werden, wenn sie auf diese umfassendste Frage
nach dem Sinne einer in endlichen Geistern sich offen-
barenden Denknothwendigkeit angewandt werden; seine Er-
örterung würde uns wirklich nicht hindern anzunehmen,
zwar nicht ein boshafter Dämon, aber eine gestaltende
Macht überhaupt habe uns so gelDildet, daß in der Thal
Alles uns denknothwendig anders zu sein scheine als es
ist. Zweierlei nun bleibt uns übrig. Wir können zuerst
denjenigen, der dieser Annahme beizutreten geneigt ist,
sich selbst überlassen, da wir die Unmöglichkeit seiner
Widerlegung einsehen, so lange er sein Zweifeln nicht auf
bestimmte Gründe stützt, die den Zweifel nothwendig
machen, sondern nur auf die Möglichkeit, ihn stets ohne
allen Grund zu wiederholen; dieser Neigung gegenüber
würden wir uns wissenschaftlich auf einen Gnmdsatz des
Selbstvertrauens der Vernunft zurückziehen, dem
im Leben auch unser Gegner zu folgen nicht umhin kann
und nicht verschmäht: wir würden Denknothwendiges so
lange für wahr halten, bis es durch seine eigenen Folge-
rungen eine andere Aufklärung über sich gibt und selbst
uns nöthigt, es für einen Schein zu erklären, der dann
nicht schlechthin ungültiger Schein ist, sondern in einer
angebbaren Beziehung zu der Wahrheit steht, welcher er
nicht mehr gleicht. Dies Verhalten beobachtet man im
Leben; denn so lange die Welt steht, ist jener grundlose
Skepticismus zwar immer zuweilen wieder zum Vorschein
gekommen ; aber ebenso oft hat man ihm einfach den Rücken
gekehrt. Einer wissenschaftlichen Betrachtung geziemt dies
nicht ganz; der andere Weg scheint mir nützlicher, die
innere Haltlosigkeit jener wunderlichen Bekümmerniß auf-
zudecken, ob nicht am Ende Alles an sich anders sei, als
es uns denknothwendig scheinen müsse? Was heißt doch
endlich dieses Ansich, oder dies Ansichsein von irgend
Etwas, das wir unserer denknothwendigen Auffassung des-
selben Etwas entgegenstellen und das anders sein könnte
als diese? Hierin liegt, wie wir jetzt ausführen wollen,
ein Vorurtheil unserer zusammengesetzten Bildung, das un-
besehen in diese Skepsis, die jedes Vorurtheil abgethan zu
haben glaubt, übergegangen ist.
304. Wer über die Berechtigung und die Quellen seiner
490 Erstes Kapitel.
Erkenntniß nachzudenken beginnt, findet sich zunächst in
alle die Voraussetzungen verstrickt, die unbewußt im Laufe
seiner Bildung auf Grund eigner Erlebniß oder durch Ueber-
lieferung ihm entstanden sind; denn die Anfangsstimmung
des Geistes kann nicht der Zweifel, sondern nur das Zu-
trauen zu allen seinen Wahrnehmungen sein. Keine von
jenen Voraussetzungen ist allgemeiner, als die Vorstellung
einer unabhängigen Welt der Sachen, zu der wir alle ge-
wohnt sind unsere Gedankenwelt in Gegensatz zu bringen.
Irrthümer, welche uns innerhalb dieser Gedankenwelt be-
gegnen, unterscheiden wir als leicht heilbare Schäden von
dem befürchteten großen Irrthum, in welchem sich vielleicht
die gesammte Folgerichtigkeit der Gedankenwelt gegenüber
jener Welt der Sachen selbst befindet. Die zweifelnde
Frage, ob nicht doch Alles anders sein könnte, als es uns
scheinen muß, hat daher verständlichen Sinn zunächst
nur unter der Voraussetzung, daß unser Erkennen zum
Abbilden einer Sachenwelt bestimmt sei, und in der That
hat man am häufigsten die Wahrheit, über deren Möglich-
keit für uns man ungewiß ist, als die Uebereinstimmung
unserer Erkenntnißbilder mit dem Verhalten der Sachen
definirt, welches sie abzubilden behaupten. Das gewöhn-
liche Bewußtsein verläßt im Leben diesen Standpunkt nie;
die Philosophie hat ihn öfters, im Verlaufe ihrer Unter-
suchungen und auf Grund von Erkenntnissen, die sie schon,
zu besitzen glaubte, aufgegeben; einer Skepsis aber, welche
bei Erforschung der Möglichkeit unserer Erkenntniß allen
Vorurtheilen entsagen wollte, war es zunächst Pflicht, nicht
eine Definition der von ihr gesuchten Wahrheit still-
schweigend beizubehalten, die auf das unerörterte Vor-
urtheil von dem Vorhandensein jener Außenwelt der Sachen
gegründet ist. Bestreiten, daß diese Annahme ein Vor-
urtheil sei, könnte nur derjenige, der nie einen Zweifel
erhöbe, sondern an der unmittelbaren Wahrnehmung sich
so vollständig genügen ließe, daß sie ihm zugleich ein
zwingendes Zeugniß für das Dasein und zugleich eine fehler-
lose Offenbarung über die Natur dieser xA.ußenwelt schiene;
wer aber einmal an der Wahrheit einer Wahrnehmung
zweifelt und dabei als selbstverständlich die Voraussetzung
von dem Dasein der Sache festhält, der sie eigentlich ent-
sprechen sollte, der kann zuerst seinen Zweifel nur erheben
auf Grund gewisser ihm selbst denknothwendig erscheinen-
den Ueberzeugungen über die Natur jener Sache selbst,
die ihm verbieten, die gegebene Wahrnehmung als ihr
Vom Skepticismus. 491
wahres Abbild anzusehen; da ihm aber ferner die Sache
selbst nun nicht mehr durch unmittelbare Wahrnehmung
gegeben ist, so kann auch die Nöthigung, ihr Dasein über-
haupt festzuhalten, nur auf dem Zwange einer ihm selbst
angebornen Denknothwendigkeit beruhen, die ihn nöthigt,
das mannigfache Wahrgenommene durch den Gedanken
jenes Nichtwahrgenommenen zu ergänzen, um das Ganze
seiner Vorstellungen in eine innerliche, den Gesetzen seines
Denkens entsprechende Uebereinstimmung zu bringen.
Unserem unmittelbaren Glauben nicht, wohl aber unserer
wissenschaftlichen Rechtfertigung über unser Beharren bei
der Annahme der Wirklichkeit jener Sachenwelt, liegt eine
philosophische Erörterung dieser Gedanken zu Grunde, und
die Systeme des Idealismus und des Realismus sind hier-
über zu entgegengesetzten Ergebnissen gekommen. Diese
umfassende Frage hier zur Entscheidung zu bringen, ist
nicht im mindesten unsere Aufgabe; im Gegentheil ist
unsere Absicht zu zeigen, daß sie methodologisch nicht
in diesen Beginn erkenntnißtheoretischer Ueberlegungen
hätte eingeflochten werden sollen. Ein und derselbe Ge-
danke ist zu diesem Zwecke in zwei Formen zu verfolgen;
zuerst ist zu erinnern, daß jede Entscheidung über jene
Frage die Anerkennung der Competenz des Denkens vor-
aussetzt; dann ist zu zeigen, daß nie etwas Anderes als
der Zusammenhang unserer Vorstellungen unter einander
den Gegenstand unserer Untersuchungen ausmachen kann.
305. Wenige Worte genügen, um das Erste zu wieder-
holen. Jede Kritik unseres gesammten Erkenntnißver-
mögens P, unternommen in der Absicht, seine Ueberein-
stimmung mit der Natur von Dingen zu untersuchen, würde
zur Entscheidung eine andere Quelle Q der Wahrheit vor-
aussetzen, welche uns diese Natur unverfälscht kennen
lehrte; denn nur Bekanntes mit Bekanntem können wir
vergleichen, nicht Bekanntes mit Unbekanntem. Sei nun
dieses Q uns gegeben, gleichviel ob in Gestalt einer um-
fassenden, unserem Geiste ursprünglich mitgetheilten Offen-
barung oder in Gestalt einer Gewißheit, die uns in Bezug
auf einzelne Fragen jedesmal in dem Augenblicke ihrer
Aufwerfung plötzlich überkäme, wie werden wir es mit
den Aussprüchen jenes P vergleichen, welches uns unsere
Einzelvorstellungen nach bestimmten Gesetzen zu ver-
knüpfen gebietet? Sind P und Q einstimmig, wodurch
würden wir sie beide unterscheiden können, um die Ueber-
zeugung zu gewinnen, daß nicht nur unsere subjective Er-
492 Erstes Kapitel.
kenntniß P hier zu Worte gekommen, sondern außerdem
noch durch jene höhere objective Wahrheit Q bestätigt und
in ihrer Uebereinstimmung mit den Dingen selbst bezeugt
worden ist? Wir würden es gar nicht können, sondern
der vereinigte Ausspruch beider würde genau denselben
Zweifeln unterliegen, denen der von P allein ausgesetzt
gewesen wäre. Wenn aber Q uns etwas anderes lehrte als P,
wie würden wir den Streit entscheiden? Gesetzt auch, daß
thatsächlich Q die Wahrheit und P den Irrthum lehrte, auf
welche andere Weise könnte unser Glaube an diese höhere
Berechtigung von Q erweckt werden als durch die größere
unmittelbare Gewißheit, mit welcher sein Ausspruch gegen-
über dem von P auftritt? Aber diese Gewißheit ist un-
denkbar, ohne daß Q mit eben derjenigen Wahrheit über-
einstimmt, die das allgemeine Gesetz unserer subjectiven
Erkenntnißf ähigkeit P bildet ; was dieser widerstreitet, würde,
auch in unmittelbarer Wahrnehmung gegeben, uns stets
für ein Räthsel, aber nicht für Offenbarung gelten. Bleiben
daher Q und P einander entgegengesetzt, so erfahren wir
nicht eine Widerlegung des P durch das höhere Recht
des Q, sondern wir erleben einen inneren Widerstreit
zwischen zwei Aeußerungen desselben unserem Geist
eigenthümlichen Erkenntnißvermögens, einen Widerstreit,
der entweder bei dem Mangel einer anrufbaren höheren
Instanz niemals oder nur dadurch geschlichtet werden kann,
daß eben dieses selbe Erkenntnißvermögen einen ihm selbst
angehörigen höheren Gesichtspunkt auffindet, von welchem
aus eine oder die andere jener entgegengesetzten Aeuße-
rungen berichtigt und der nun blos scheinbare Widerspruch
zwischen ihnen beseitigt wird. Auf das mithin, was uns
denknothwendig ist, sind wir thatsächlich in jedem Falle
beschränkt; das Selbstvertrauen der Vernunft, daß Wahr-
heit überhaupt durch Denken gefunden werden könne, ist
die unvermeidliche Voraussetzung alles Untersuchens ;
welches der Inhalt der Wahrheit sei, kann immer nur
durch eine Selbstbesinnung des Denkens gefunden werden,
das seine einzelnen Erzeugnisse unablässig an dem Maß-
stabe der allgemeinen Gesetze seines Thuns mißt und prüft.
306. Ueber den hierin enthaltenen Cirkel bedenklich
zu sein, ist nicht nur nutzlos, da seine Unvermeidlichkeit
nun doch handgreiflich ist, sondern auch überflüssig, weil
niemals, und dies ist das Andere, was wir zu zeigen haben,
ein Augenblick kommen kann, welcher den in dunklem
Argwohn von dorther befürchteten Schaden uns bemerkbar
Vom Skepticismus. 493
werden ließe. Alles, was wir von der Außenwelt wissen,
beruht auf den Vorstellungen von ihr, die in uns sind;
es ist völlig gleichgültig zunächst, ob wir idealistisch das
Vorhandensein jener Welt leugnen und nur unsere Vor-
stellungen von ihr als das Wirkliche betrachten, oder ob
wir realistisch an dem Sein der Dinge außer uns fest-
halten und sie auf uns wirken lassen; auch in dem letzteren
Falle gehen die Dinge doch nicht selbst in unsere Erkennt-
niß über, sondern nur Vorstellungen, die nicht Dinge sind,
erwecken sie in uns. Die mannigfaltigen Vorstellungen in
uns also, woher sie auch gekommen sein mögen, bilden das
einzige unmittelbar Gegebene, von dem unsere Erkenntniß
beginnen kann ; in ihnen und in dem Verlauf ihres Wechsels
und ihrer Verknüpfungen suchen wir eine gesetzliche Ord-
nung nach Anleitung der allgemeinen Grundsätze unseres
Denkens auf, die uns bestimmen, was für Ordnung und
Wahrheit, was für Widerspruch und Räthsel zu halten sei.
So oft wir ein solches Gesetz entdeckt haben, nach welchem
sich der Zusammenhang zweier bestimmten Vorstellungen
B und F in uns allgemein und immer richtet, so oft haben
wir ein Stück von dem erreicht, was wir Erkenntniß der
Sache nennen; scheitern wir in der Bemühung, einen so
beständigen Zusammenhang zwischen B und F aufzufinden,
so liegt ein Räthsel vor, dessen Auflösung wir immer darin
suchen, allgemeingültige Beziehungen zwischen B und einem
andern Vorstellungsinhalt M, zwischen F und einem vierten
N aufzusuchen, und dann zu zeigen, daß wegen eines
veränderlichen Zusammenhanges, der zwischen M und N
stattfindet, derjenige zwischen B und F nicht durch das
versuchte einfache Gesetz, sondern nur durch ein anderes.,
das auf M und N Rücksicht nimmt, ausgedrückt werden
kaim. Zweifeln wir endlich daran, ob eine Relation, die
wir zwischen zwei Vorstellungen B und F in uns gefunden
haben, sachlich richtig sei, so heißt dies nie etwas anders
als: wir zweifeln daran, ob allgemein und immer, so oft
B und F in unserem Bewußtsein als Vorstellungen auf-
treten werden, zwischen ihren Inhalten dieselbe Relation
stattfinden werde, die wir vorher aus nur einigen ihrer
Wiederholungsfälle abstrahirt hatten. Was man aber mit
der wiederholten Frage wolle, ob eine für unser Bewußt-
sein immer sich bestätigende Beziehung zwischen B und F
auch an sich richtig sei, ist nur in einem Falle begreif-
lich : dann nämlich, wenn diese hier thatsächlich bestehende
Beziehung den allgemeinen Voraussetzungen nicht gemäß
494 Erstes Kapitel.
ist, welche wir nach der eignen Nothwendigkeit unseres
Denkens über alle Beziehungen des Mannigfaltigen über-
haupt und so auch über diejenigen machen müssen, die wir
uns als bestehend zwischen verschiedenen von uns un-
abhängigen realen Wesen denken wollen. Nicht dies Reale
einer vorausgesetzten Außenwelt selbst tritt hier zwischen
unsere Vorstellungen als ein Maßstab, an dem die Wahr-
heit dieser Vorstellungen zu messen wäre; sondern immer
nur die uns nothwendige Vorstellung von dem möglichen
Verhalten einer solchen Welt, wenn sie ist, also einer
unserer eigenen Gedanken, ist das Maß, an dem wir die
unmittelbar evidente oder einer Aufklärung bedürftige Wahr-
heit anderer Gedanken messen.
307. Es ist vielleicht überflüssig, vielleicht aber doch
nützlich, diese einfache Ueberlegung noch von entgegen-
gesetzter Seite her zu wiederholen, und zu fragen, wie es
denn zugehen müsse, wenn wir irgend eine angebliche Er-
kenntniß Z als einen Irrthum erkennen sollen? Gesetzt,
wir wüßten aus unseren Beobachtungen, daß zwischen
wiederholt in uns entstehenden Vorstellungen B und F die
unveränderliche Beziehung Z nicht stattfinde, diese Be-
ziehung sich vielmehr ändere je nach den veränderlichen
Verhältnissen, in denen B mit M und F mit N verbunden
vorkomme; ein anderer unserer Mitmenschen aber lebe in
einem Erfahrungskreise, in welchem ausschließlich die Be-
dingungen gelten, unter denen die Relation Z zwischen
B und F stets bestehen muß : so wird für ihn weder je
die Veranlassung zu einem Zweifel an Z kommen, noch
wird der Glaube an Z den Zusammenhang seiner übrigen
Vorstellungswelt beeinträchtigen, so lange Z mit den all-
gemeinen Gesetzen seines Denkens verträglich ist. Aller-
dings wird die Voraussetzung, Z sei eine von weiteren
Bedingungen unabhängige Relation zwischen B und F, es
ihm sehr erschweren können, für die Verhältnisse anderer
Bestandtheile U und W seines Erfahrungskreises ein ein^
faches Gesetz zu finden, das er finden würde, wenn er
die Abhängigkeit des Z von Bedingungen erkannt hätte,
die auch das Verhältniß zwischen U und W mitbestimmen;
aber so lange er seinen Glauben an Z nicht weiter als
auf die Gegenstände seiner Vorstellungswelt ausdehnt, wird
es ihm doch gelingen, das in dieser Zusammengehörige in
einen wenn auch schwerfällig ausgedrückten Zusammen-
hang zu bringen. Wir nun, im Besitz der Beobachtungen,
die ihm fehlen, sehen seinen Irrthum; ihn selbst aber
Vom Skepticismus. 495
können wir von demselben nur dadurch überzeugen, daß
wir ihn aus seinem beschränkteren Erfahrungskreise her-
ausreißen und in einen weiteren versetzen; dann, wenn in
ihm selbst neue Vorstellungsverknüpfungen entstehen, die
von seinen früheren sich unterscheiden, wird er zuge-
stehen, sich geirrt zu haben; und auch dann nur zu-
gestehen, daß die Allgemeinheit falsch war, mit der er
die Relation Z zwischen B und F dachte, während sie
immer wahr bleibt, wenn die Bedingungen hinzugedacht
werden, unter denen sie ihm unbewußt galt. Wie nun,
wenn wir an die Stelle dieses einen in ungünstige Ver-
hältnisse gebannten Beobachters die menschliche Vernunft
überhaupt setzen und sie eingeschränkt in eine zusammen-
hängende Vorstellungsweise denken, die dem wahren Ver-
halten einer außer ihr befindlichen Sachenwelt nicht ent-
spricht? Auf welche Weise wird der beständige Irrthum,
in welchem wir uns dann alle befinden, zu unserer Kennt-
niß kommen und welchen Schaden wird unsere Erkenntniß
von seinem Fortbestande haben? Sehen wir zunächst ab
von der Belehrung, die uns ein Engel ertheilen könnte, so
finden wir : die Sachen selbst sind es gewiß nicht, die sich
plötzlich einmal selbst zwischen unsere Gedanken drängea
und deren Falschheit aufdecken; käme auch die Welt der
Dinge in ihrem selbständigen Verlauf einmal in neue Con-
stellationen, die ganz schneidend den Auffassungen wider-
sprächen, welche wir uns über sie gebildet hätten : merk-
lich würde uns dieser Widerspruch immer nur dadurch^
daß ihre Einwirkung auf uns jetzt Vorstellungen in uns
erweckte, deren Verknüpfung den früher für sie angenom-.
menen Regeln nicht mehr folgt. Dann haben wir einen
jener inneren Irrthümer begangen, deren Vorkommen wir
natürlich zugestehen; wir haben die veränderliche Welt
der Vorstellungen in uns, das einzige Material, das unserem
Erkenn tnißbestreben vorliegt, falsch interpretirt ; wir er-
kennen jetzt, d£Lß wir zugelernt haben und daß der Satz Z
die früher von ihm geglaubte Allgemeingültigkeit nicht
besitzt, aber auch, daß er zu gelten fortfährt, wenn die
jetzt bekannt gewordenen Bedingungen seiner Gültigkeit zu
ihm hinzugedacht werden. Und da nun die Allgemein-
gültigkeit des Z ein Irrthum ist, so ist auch die so be-
schränkte Gültigkeit des Z eine Wahrheit, und wir lernen
einsehen: weil Irrthum uns zuletzt immer nur durch einen
inneren Widerstreit in unserer eigenen Vorstellungswelt
bemerkbar werden kann, so besteht auch das Erkennen der
496 Erstes Kapitel.
Wahrheit nur in der Auffindung von Gesetzen, nach denen
dieser innere Zusammenhang unserer Vorstellungswelt sich
immer richten wird, wie unendlich wir auch ihren ver-
änderlichen Lauf fortgesetzt denken mögen. Gewiß ist
diese Auffindung ein unvollendbares Unternehmen und wir
haben die ganze Wahrheit nicht, sondern wir suchen sie;
so oft wir indessen eine frühere Ueberzeugung Z auf Ver-
anlassung neuer Erfahrungen iii unserer Vorstellungswelt
berichtigen, haben wir zwar noch nicht die volle Wahrheit
erreicht, aber diejenigen Irrthümer aufgehoben, die ohne
diese Berichtigung fortgedauert hätten.
308. Ich müßte mich sehr täuschen, oder diese Er-
örterung wird Niemand genügen. So bleiben wir dennoch,
wird man einwerfen, wenn wir auch innere Widersprüche
in uns tilgen, in den umfassenden Irrthum unseres ganzen
in sich verwachsenen Vorstellens eingeschlossen und sehen
nie die Wahrheit an sich, sondern nur was uns Wahrheit
scheinen muß. Rufen wir denn jetzt jenen Engel zu Hülfe,
der aus seiner reinen Atmosphäre herab die Dinge schaut,
wie sie sind. Wie sehr, bilden wir uns ein, würden wir
erschrecken, wenn plötzlich durch ihn der Schleier vor
unsern Augen gelüftet würde, und wir nun sähen, wie
Alles ganz anders ist, als wir uns es vorgestellt hatten! In
der That, einen sehr freudigen Schrecken würden wir
empfinden, wenn dieser Augenblick uns offenbarte, wie
dieselben inhaltvollen Vorstellungen, die wir früher hatten,
durch einfache uns verborgen gebliebene Mittelglieder nach
denselben Gesetzen, nach denen unser Denken sich früher
bewegte, lückenlos und ohne Widerspruch begreiflich
würden. Aber auch nur unter dieser Bedingung. Wäre
es eine ganz neue Welt, die uns jetzt aufginge, ohne
Aehnlichkeit und Zusammenhang mit der, in der wir früher
lebten, so würden wir ja nicht sehen, daß Alles anders
sei, als wir dachten; denn damit meinten wir ja, daß
eben dasjenige alles anders sei, was wir dachten; das
ganz neue Schauspiel, das keine Vergleichung mit dem
vorigen zuließe, würde, aus dem Grunde wenigstens, den
wir hier im Sinne hatten, uns weder freudig noch ängstlich
erschrecken; selbst überraschen könnte es nur durch Gegen-
satz, also doch durch Beziehung auf den Inhalt unseres
früheren Irrens. Aber auch wir, die nun Sehenden, müßten
dieselben sein, die wir früher bhnd waren. Hätte jener
Offenbarungsaugenblick auch die Gesetze unsers Denkens
umgewandelt und die Bedingungen verändert, die für uns
Vom Skepticismus. 497
Wahrheit und Irrthum unterschieden, so würden wir zwar,
wenn die neueröffnete Welt diesen neuen Bedingungen
der Wahrheit durchgängig entspräche, keinen Anlaß haben,
irgend einen einzelnen Bestandtheil derselben in Zweifel
zu ziehen ; aber was sollte uns vor dem allgemeinen Zweifel
schützen, ob nicht auch diese in sich zusammenstimmende
neue Vorstellungswelt die wahre Natur der Dinge verfehle,
und ob nicht an sich wieder Alles anders sei, als auch sie
uns Alles erscheinen lasse? Will man diesen Zweifel da-
durch ausschließen, daß nach unserer eigenen Voraus-
setzung ja eben die Wahrheit der Dinge selbst es sei,
die den Inhalt der neuen Anschauungen ausmache? Aber
es würde ja, um die Möglichkeit des Zweifels auszu-
schließen, nicht die Thatsache hinreichen, daß unsere Ab-
bildung der Dinge die richtige sei; wir müßten auch Mittel
haben, um sie mit Gewißheit für die richtige zu erkennen.
Dies Mittel besitzen wir nun in Bezug auf einzelne Bestand-
theile unserer Erkenntniß; ihre Richtigkeit können wir
daran ermessen, daß sie nach den allgemeinen Gesetzen
unseres Denkens beurtheilt im Einklang mit allen übrigen
Bestandtheilen derselben Erkenntniß sind ; das Ganze unserer
Vorstellungswelt können wir in Bezug auf seine Wahrheit
nicht durch Vergleichung mit einer Realität beurtheilen,
welche, so lange sie nicht erkannt wird, für uns nicht
vorhanden ist, sobald sie aber vorgestellt wird, denselben
Zweifeln unterliegt, welche allen andern Vorstellungen als
solchen gelten, und endlich, die Thatsache selbst ist ja
unmöglich und sinnlos, die wir oben noch zugaben; was
kann es heißen, daß jenes höhere Anschauen Vorstellen
oder Erkennen die Sache selbst gebe, wie sie ist? ,Wie
hoch wir auch die Einsicht voUkommnerer Wesen über
die unsere erheben mögen : so lange wir noch etwas irgend
Verständliches unter ihr denken wollen, wird sie doch immer
unter einen dieser Begriffe des Wissens Anschauens Er-
kennens fallen, d. h. sie wird nie die Sache selbst, sondern
immer ein Ganzes von Vorstellungen über die Sache sein.
Nichts ist einfacher als die Ueberzeugung, daß jeder
erkennende Geist Alles nur so zu Gesicht bekommen kann,
wie es für ihn aussieht, wenn er es sieht, aber nicht so
wie es aussieht, wenn es Niemand sieht; wer eine Er-
kenntniß verlangt, welche mehr als ein lückenlos in sich
zusammenhängendes Ganze von Vorstellungen über die
Sache wäre, welche vielmehr diese Sache selbst erschöpfte,
der verlangt keine Erkenntniß mehr, sondern etwas völlig
Lotze, Logik. 32
498 Erstes Kapitel.
Unverständliches. Man kann nicht einmal sagen, er wünsche
die Dinge nicht zu erkennen, sondern geradezu sie selber
zu sein; er würde vielmehr auch so sein Ziel nicht
erreichen; könnte er es dahin bringen, das Metall etwa
selbst zu sein, dessen Erkenntniß durch Vorstellungen ihm
nicht genügt, nun so würde er es zwar sein, aber um so
weniger sich, als nunmehriges Metall, erkennen; beseelte
aber eine höhere Macht ihn wieder, während er Metall
bliebe, so würde er auch als dies Metall sich gerade nur
so erkennen, wie er sich selbst in seinen Vorstellungen
vorkommen würde, aber nicht so, wie er dann Metall wäre,
wenn er sich nicht vorstellte.
309. Warum sollte, in diesen grundlegenden Fragen,
die Weitläufigkeit zu schelten sein, die ich mir gestattet
habe? Ihr Ertrag ist freilich gering. Wir haben uns über-
zeugt, daß das veränderliche Ganze unserer Vorstellungen
der einzige uns gegebene Stoff unserer Arbeit ist; daß
Wahrheit und ihre Erkenntniß nur in allgemeinen Gesetzen
des Zusammenhangs besteht, die sich an einer bestimmten
Mehrheit von Vorstellungen ausnahmslos so oft bestätigt
finden, als diese Vorstellungen wiederholt in unserem Be-
wußtsein auftreten; daß in dem weiteren Verlauf der Ge-
danken, die solche Wahrheiten suchen, sich uns nothwendig,
ebenfalls unserer Vorstellungswelt angehörig, der Gegensatz
zwischen unseren Vorstellungen und Gegenständen aus-
bildet, auf welche wir sie gerichtet glauben; daß die Frage
über die Wahrheit dieses Gegensatzes und über die Be-
deutung, die je nach ihrer Beantwortung unseren Vor-
stellungen zukommen kann, eine Frage der Metaphysik,
ganz mit Unrecht in diesen Anfang erkenntniß-theoretischer
Untersuchungen verwickelt wird; daß wir zwar in Bezug
auf einzelne unserer Gedanken zweifeln können an der
Möglichkeit, sie mit allem andern Inhalt unseres Bewußt-
seins in Einklang zu bringen und daß dieser auf bestimmten
Gründen beruhende Zweifel auch den Versuch seiner all-
mählichen Widerlegung zuläßt; daß dagegen eine Skepsis,
welche befürchtet, es könne Alles anders sein, als es
scheinen muß, ein in sich widersprechendes Beginnen ist,
weil sie stillschweigend voraussetzt, es könne überhaupt
ein Erkennen geben, welches die Dinge nicht erkennte,
sondern sie wäre, und dann nur zweifelt, ob unserem
Erkennen diese unmögliche Vortrefflichkeit beschieden sei;
daß endlich, auch wenn man diese unzulässige Beziehung
der Vorstellungswelt auf eine ihr fremde Welt der Objecte
Vom Skepticismus. * 499
fallen läßt, dennoch eine Untersuchung übrig bleibt, welche
innerhalb der Vorstellungswelt die festen Punkte, die
ersten Gewißheiten aufzufinden strebt, von denen aus die
veränderliche Menge der übrigen Vorstellungen annähernd
in gesetzlichen Zusammenhang zu bringen gelingen kann.
Ich werde verschiedene Gelegenheiten haben und benutzen,
diese Auffassungsweise zu verdeutlichen; ich werfe zu-
nächst einen Blick auf die Verfahrungsweisen der Skepsis,
deren verschiedene Wendungen das Alterthum im Ganzen
mit mehr Vollständigkeit verfolgt hat, als die neuere Zeit,
die für viele derselben ein lebhaftes Interesse nicht inehr
haben kann.
310. Sextus Empiricus hat uns zusammengefaßt
hinterlassen, was der antike Skepticismus vor ihm er-
arbeitet hatte. Die sinnlichen Wahrnehmungen, die Gefühle
der Lust und Unlust, die wir leiden, leugnet auch der
Skeptiker nicht; sie drängen sich ihm mit Nothwendigkeit
auf und hängen nicht von seinem Urtheil ab; aber alles,
was ihnen, den Phänomenen, als Noumenon gegenübersteht,
als ein Gedanke, der, in der Erscheinung selbst nicht
gegeben, den Inhalt der Wahrnehmung in eine innere Ver-
knüpfung bringen möchte, alles dies ist dem Zweifel unter-
worfen, und jeder in diesem Sinne gewagten Behauptung
läßt sich mit gleichem Rechte eine andere ihr wider-
streitende entgegensetzen; nichts bleibt daher dem Weisen
übrig, als sich jeder Bejahung oder Verneinung der einen
oder der andern zu enthalten und in dieser Suspension
des Urtheils die Seelenruhe zu finden, die er vergeblich
sucht, so lange er zwischen verschiedenen Annahmen glaubt
entscheiden zu müssen. Aber die Skepsis, indem sie die
Enthaltsamkeit vom Urtheil nicht blos als thatsächlichen
Zustand ihrer Anhänger schildert, sondern mit Gründen
sie als die einzig richtige Verfassung des Gemüths beweisen
will, wird in diesem Anfange schon sich selbst untreu und
setzt nicht blos, hier wenigstens, die Wahrheit der logischen
Gesetze voraus, auf deren Macht sie die Triftigkeit ihrer
Demonstrationen stützen muß, sondern um die Unmöglich-
keit dogmatischer Entscheidung darzuthun, muß sie mancher-
lei Dogmen voraussetzen, die nie unter den Phänomenen
vorkommen können, sondern immer aus ihnen durch eben
die Schlußfolgerungen entstehen, deren Zulässigkeit be-
stritten werden soll. Die zehn Tropen oder Rechtsgründe
des Zweifels, die Sextus zunächst anführt, laufen alle darauf
hinaus, daß aus Empfindungen sich nicht ermitteln läßt,
32*
500 Erstes Kapitel.
wie der Gegenstand an sich selbst beschaffen ist, der sie
erzeugt. Der erste Tropus macht auf die Verschiedenheit
der thierischen Organisationen aufmerksam; indem er fort-
fährt: jedem Thiere müsse deshalb ein Gegenstand sinnlich
anders erscheinen als dem andern, stützt er sich auf das
Dogma, Ungleiches könne von Gleichem nicht auf gleiche
Weise afficirt werden; nur durch diesen Schluß war jene
Fortsetzung möglich; denn da wir uns in das Innere der
Thiere nicht versetzen können, so ist die angebliche Ver-
schiedenheit ihrer Sinnesempfindung eine erschlossene Be-
hauptung, die durch keine unmittelbare Wahrnehmung be-
stätigt wird. Sie sagt außerdem zu viel; nichts beweist,
daß die sichtbare Verschiedenheit der körperlichen Organi-
sation von durchgängiger Bedeutung auch für die Empfin-
dung ist, denn Niemand wird leicht glauben, daß die Katze
um ihrer elliptischen Pupillenspalte willen die Raumwelt
anders anschauen müßte als der Mensch mit seiner kreis-
förmigen. Der zweite Tropus wiederholt denselben Ge-
danken in Bezug auf die Menschen; auch sie sind ver-
schieden organisirt; wollte man daher auch, ohne triftigen
Grund, die menschliche Empfindung der thierischen als
die richtige und der Sache selbst angemessene vorziehen,
so scheitere doch an ihrer Verschiedenheit auch dieser
Versuch; man kann daher nur sagen: dem einen erscheine
die Sache so, dem andern anders; wie sie selbst ist, bleibt
unentschieden. Zu gleichem Ergebniß führen die folgenden
beiden Tropen ; der dritte beruft sich auf die Verschiedenheit
der Sinne; dem Auge ist der Honig gelb, der Zunge süß;
vielleicht gibt es noch andere uns mangelnde Empfindungs-
weisen, denen er noch anders erschiene; wie er selbst ist,
muß daher dahingestellt bleiben, denn kein Grund liegt vor,
die Aussage des einen Sinnes für richtiger zu halten als
die eines andern. Blieben wir aber selbst bei einem Sinne
stehen, so zeigt doch der vierte Tropus, wie auch dessen
Empfindungen veränderlich sind nach dem Lebensalter,
dem Gesundheitszustand, nach Hunger und Sattheit Schlaf
und Wachen; wie ein Ding unserem Sinne in jeder dieser
Dispositionen erscheint, läßt sich sagen, aber nicht wie es
an sich erscheinen würde für ein Subject, das sich in gar
keiner von diesen veränderlichen Lagen befände. Diese
vier Tropen bezogen sich auf die Natur des Beurtheilers ;
auf die der zu beurtheilenden Objecte die folgenden vier;
der fünfte lehrt, daß Entfernungen und Lagen die Er-
scheinung desselben Dinges ändern; der sechste zeigt, daß
Vom Skepticismus. 501
kein Ding seinen Eindruck unvermischt mit den Eindrücken
anderer in uns hervorbringe, der siebente, daß auch die
Zusammensetzung scheinbare Eigenschaften erzeuge, die
den einfachen Bestandtheilen fehlen, und andere aufhebe,
die ihnen zukamen; immer lasse sich daher nur erzählen,
wie Jedes unter diesen zusammengesetzten Bedingungen
erscheine, nicht wie es an sich und einzeln und abgesehen
von seinen verschiedenen Zuständen sei. Man kann die
Beispiele zu diesen Tropen nicht ohne Verwunderung
darüber lesen, daß sie der antiken Skepsis durchaus nur
als Hindernisse wissenschaftlicher Erkenntniß erscheinen;
der modernen Forschung sind sie sämmtlich zu Ausgangs-
punkten von Untersuchungen geworden; indem man sich
nicht begnügte, summarisch über die Veränderlichkeit der
Erscheinungen unter wechselnden Umständen zu klagen,
sondern der Beobachtung die einzelnen Verknüpfungen ab-
fragte, die zwischen einem dieser Umstände und einer
bestimmten Aenderung der Erscheinung stattfinden, ist
man zur Erkenntniß der allgemeinen Gesetze gelangt, welche
dies mannigfaltig wechselnde Spiel der Ereignisse be-
herrschen. Wie freilich ein Ding an sich sei, wenn es
unter gar keiner Bedingung des Erscheinens steht, haben
wir dadurch nicht gelernt; aber daß diese Angabe wider-
sinnig sei, wußte die antike Skepsis auch und drückte es
in dem achten Tropus aus : Alles steht eben in irgend
welchen Verhältnissen, wenn nicht zu andern Dingen, so
doch jedesmal, wenn es erkannt werden soll, zu dem Er-
kennenden; wie es relationslos an sich selbst ist, bleibt
daher unsagbar. Von geringerem Interesse für uns sind
die beiden letzten Tropen; der neunte erinnert daran, daß
unser Urtheil über Größe und Werth der Dinge durch ihre
Seltenheit oder Häufigkeit, durch Gewohnheit und Contrast
mitbedingt werde; der zehnte beruft sich auf die Ver-
schiedenheit der Völkersitten, um zu zeigen, daß auch hier
nur gesagt werden könne, was dem Einen oder dem Andern
gut oder schlecht scheine, nicht was an sich gut oder
schlecht sei.
311. Den weiteren Verlauf der Pyrrhonischen Hypo-
typosen des Sextus, aus deren erstem Buche das Angeführte
stammt, lasse ich hier unbeachtet. Man wird sich über-
zeugt haben, daß bis hierher diese Skepsis die Geltung
einer Wahrheit nicht leugnet ; denn sie klagt ja eben darüber,
sie nicht fassen zu können; nur das aber kann man suchen,
dessen Wirklichkeit man glaubt. Auch zweifelt sie nicht
502 Erstes Kapitel.
daran, daß in unseren Denkgesetzen die Bedingungen ent-
halten sind, durch deren Erfüllung allein ein Gedanke
Wahrheit sein kann; unaufhörlich wiederholt sich das Be-
mühen, in vollständigen Disjunctionen die verschiedenen
Fälle aufzuzählen, die auf Grund dieser Gesetze möglich
sind und einander ausschließen; durch dieselbe Consequenz
unseres Denkens sollten wir dahin geführt werden, die
Enthaltung vom Urtheil als nothwendig anzuerkennen. Aber
dies Verhalten allerdings erfährt nachträglich eine Be-
richtigung; die skeptische Schlußfolgerung befleißigt sich,
auch sich selbst mit in die Ungewißheit einzuschließen,
welche sie in der Form einer Behauptung vorher über
alle unsere angebliche Erkenntniß verhängte. Die Wen-
dungen sind mannigfach und seltsam, die hierzu gebraucht
werden. Wenn der Skeptiker beweisführend zu seinem
verneinenden Ergebniß komme, so lehre er auch da nichts,
sondern erzähle nur, daß ihm, jetzt, in diesem Augenblicke
seines Lebens, und in dem Zustande, in dem er sich befinde,
die von ihm vorgetragene Meinung die richtige scheine;
er bürge nicht dafür, daß sie ihm selbst so in jedem
anderen Augenblicke erscheinen werde; wenn er genöthigt
sei, die Argumentation eines Andern als zwingend an-
zuerkennen, so könne er immer antworten : die Wahrheit Z,
die dieser lehre, sei ja bis zu diesem Augenblicke unbekannt
gewesen, habe aber doch, wenn sie Wahrheit sei, immer
schon bestanden und gegolten; was versichere uns nun,
daß nicht in späterer Zeit ein Dritter eine neue auch dies Z
widerlegende Wahrheit entdecken und beweisen werde,
die in diesem Augenblicke, obwohl sie bereits gelte, doch
weder bekannt sei noch begriffen oder bewiesen werden
könne? Diese Fragen sind unabhängig von der Beziehung
unserer Erkenntniß auf einen ihr jenseitigen Gegenstand;
sie betreffen allgemein den Grund unserer Gewißheit und
das Recht zu dem Zutrauen, welches wir der Wahrheit
eines in uns enthaltenen Gedankens schenken; in dieser
Hinsicht behalten wir sie Späterem vor. Im.Uebrigen aber
waren die Darstellungen des Sextus in ein Vorurtheil und
in einen Irrthum verwickelt: in das Vorurtheil von dem
Vorhandensein jener Welt an sich, zu der das Erkennen
in Gegensatz gestellt wurde; dies Vorurtheil kann richtig
oder falsch sein, aber es ist hier unentscheidbar ; in den
Irrthum ferner, die Vorstellung eines Erk'ennens, welches
die Dinge faßt, nicht wie sie erkannt werden, sondern
wie sie sind, bedeute noch irgend etwas Verständliches,
Vom Skepticismus. 50H
über dessen Besitz oder Nichtbesitz ein Streit geführt werden
könne; hierüber ist vielmehr das Denken völlig mit sich
selbst einig, daß Alles, was Erkennen heißt, Dinge nur
vorstellen, aber nicht sie selbst sein kann.
312. Man wird geneigt sein, diesen Satz in der Form:
daß wir nur Erscheinungen, nicht das Wesen der Dinge
selbst erkennen, als die erste Wahrheit jeder Erkenntniß-
theorie auszusprechen und anzuerkennen; ich scheue diese
Form, weil sie immer noch ein Vorurtheil enthält, das
ich aufgegeben wünschte. Dies zwar, daß die kategorische
Gestalt des Satzes eben das Vorhandensein jener Dinge
voraussetzt, würde durch Umwandlung in hypothetische
sich beseitigen : wenn Dinge sind, so erkennt das Erkennen
nur ihre Erscheinung, nicht ihr Wesen. Auch so aber
enthält sichtlich der Satz den Nebengedanken einer ver-
fehlten Bestimmung; jenes nur deutet an, daß unser
Erkennen, eigentlich bestimmt, das Höhere, das Wesen der
Dinge, zu erfassen, sich mit dem Schlechteren, der Er-
scheinung, begnügen müsse. Diese Werthvertheilung ist
ein Vorurtheil; ein richtiges vielleicht, vielleicht ein un-
richtiges, je nachdem der weitere Fortschritt der Wissen-
schaft entscheiden wird, den wir hier nicht vorausnehmen
können. Willkürlich erscheint es indessen schon hier, das
Erkennen in die Stellung eines Mittels zu rücken, das
seinem Zwecke, Dinge zu fassen wie sie sind, keineswegs
entspreche; denkbar ist schon hier eine entgegengesetzte
Ansicht, welche die Dinge als Mittel betrachtete, das ganze
Schauspiel der Vorstellungswelt in uns hervorzubringen.
So, wie sie sind, würden wir dann die Dinge nicht er-
kennen, aber wir würden darum keinen Zweck verfehlen;
in den Erscheinungen, die sie uns geben, würde dann
jenes Höhere und Werthvollere liegen, das wir mit dem
Namen des Wesens zu bezeichnen suchten, und in der
Auffindung des Sinnes, des Zusammenhangs und der Ge-
setze, welche diese innerliche Erscheinungswelt beherrschen,
würde die Erkenntniß der Wahrheit nicht allein zwar, aber
vorwiegend und mindestens ebenso sehr bestehen, als in
der ängstlich gesuchten Einsicht in die uns und jeder vor-
stellenden Seele jenseitig bleibenden Mittel, durch welche
der Ablauf der inneren Erscheinungen in uns hervor-
gebracht wird. iVber diese Ueberlegungen fortzusetzen,
würde die Grenzen meiner Aufgabe überschreiten; ich
wiederhole noch einmal, was ich unter diesen verstanden
wünsche: lassen wir gänzlich den Gegensatz unserer Vor-
504 Erstes Kapitel.
stellungsweit zu einer Welt der Dinge beiseit; sehen wir
allein jene als den Stoff unserer Arbeit an; suchen wir
zu ermitteln, wo innerhalb derselben die ursprünglichen
festen Punkte der Gewißheit liegen, und wie es gelingen
kann, andere Gedanken, die diese Eigenschaft nicht ebenso
unmittelbar theilen, mittelbar ihrer theilhaft zu machen.
Auf einigen Umwegen, die dennoch nicht Abwege sein
werden, erreichen wir vielleicht hierüber Klarheit.
Zweites Kapitel.
Die Ideenwelt
313. Die Lösbarkeit der Aufgabe, die wir uns stellten,
hat schon das Alterthum wiederholt verneint. Daß Alles
fließe, war die bekannte und doch in ihrem Sinne uns
nicht ganz verständliche Lehre des Heraklit. Daß man
sie in dem halbelegischen Tone einer Klage über die
Schnelligkeit des Wechsels aufgefaßt, zeigt die Steigerung
des Heraklitischen Spruches: nicht zweimal durchschreite
man denselben Fluß; man könne es nicht einmal. Aber
diesem anschaulichen Hinweis auf die Vergänglichkeit hätte
die gewöhnlichste Erfahrung auch Beispiele unberechen-
barer Dauer entgegen gehalten; ein philosophischer Sinn
würde in solcher Weise die ersten nur haben ver-
allgemeinern können, wenn er gegen den Augenschein
bewiesen hätte, daß auch die zweiten einen langsamen
Wechsel nur verhüllen, ihm aber nimmer unterworfen sind.
Wir wissen nicht, in wie weit dies geschehen, und ob diese
Speculation achtlos an dem Umstände vorübergegangen ist,
daß eben die verschiedene Geschwindigkeit des Wechsels
in das Spiel der Erscheinungen doch wieder einen fruchtbar
zu benutzenden Gegensatz des relativ Festeren zu dem
Vergänglicheren einführt. Daß femer einer verändernden
Einwirkung von außen her nichts völlig widersteht. Alles
mithin verändert werden kann, ist eine zu einfach aus
dem Leben zu schöpfende Ueberzeugung, als daß es einer
Philosophie bedurft hätte, sie zu entdecken; dennoch bleibt
zweifelhaft, in wie weit Heraklit darüber hinaus eine aus
inneren Gründen fließende, von außen unveranlaßte Ver-
änderung aller Dinge nur als Thatsache gelehrt, oder ob
er die beständige Bewegung als die Möglichkeitsbedingung
alles natürlichen Seins, ruhendes Gleichgewicht und Be-
506 Zweites Kapitel.
harren dagegen für unmöglich gehalten hat. Manches mag
es wahrscheinlich machen, ihm diese letztere Steigerung
des Gedankens zuzutrauen; völlig gewiß entscheiden wir
hierüber ebenso wenig, als über die wichtigere Frage, was
denn eigentlich unter dem Allen zu verstehen sei, dem
er diese unaufhörliche Veränderlichkeit zuschrieb. Un-
streitig umfaßte dieser Ausdruck die Sinnendinge; denn
nur in den wechselnden Combinationen ihrer Eigenschaften
und Beziehungen lag der natürliche Ausgangspunkt dieser
ganzen Ansicht; umfaßte er aber zugleich den Inhalt der
Vorstellungen mit, durch den wir diese Sinnenwelt denken?
sollte nicht blos alles Wirkliche, sondern auch alles Denk-
bare diesem ewigen Flusse unterliegen? Ich bezweifle,
daß Heraklit diese letzte Meinung gehabt hat; würde doch
die allgemeine Unbeständigkeit jeder Denkbestimmung über-
haupt jede Untersuchung und Behauptung unmöglich
machen; aber die lebhafte Schilderung, die von dem
späteren Treiben der Heraklitischen Schule Piaton in seinem
Theätet entwirft, läßt uns annehmen, daß sie wenigstens
kein Bedenken getragen hat, die Lehre ihres Meisters bis
zu diesem Satze zu erweitem. Hieran schlössen sich die
Bestrebungen der Sophisten; ich meine nicht diejenigen,
die unter der Führung des Protagoras nur die subjective
Geltung jeder Wahrnehmung für den anerkannten, der sie
hat, sondern jene anderen, die in Eleatischer Dialektik
geübt nachzuweisen versuchten, daß jeder Begriffsinhalt
zugleich das bedeutet, was er meint, und zugleich das,
was er nicht meint. Diesem Bestreben trat vornehmlich
auf ethischem Gebiete, auf dem es seine verderblichsten
Früchte erzeugte, der gesunde Wahrheitssinn des Sokrates
entgegen und erinnerte daran, daß die Begriffe des Guten
und des Bösen des Gerechten und des Ungerechten ihren
eignen festen und unveränderlichen Sinn haben, den nicht
das subjective Belieben bald so bald anders bestimmen
könne, sondern dem als einer gegebenen und beständig
mit sich identischen Bedeutung Jeder den Inhalt seiner
dies Gebiet berührenden Vorstellungen lediglich unter-
zuordnen habe. In dieser Bestrebung mit seinem Lehrer
einig, aber von vielseitigeren Beweggründen angetrieben,
erweiterte Pia ton diese Ueberzeugungen zu seiner Ideen-
lehre, dem ersten und sehr eigenthümlichen Versuche,
diejenige Wahrheit zu verwerthen, die unserer Vorstellungs-
welt innerhalb ihrer selbst und noch abgesehen von ihrer
Uebereinstimmung mit einem vorausgesetzten jenseitigen
Die Ideenwelt. 507
Wesen von Dingen angehört. Die philosophischen Be-
mühungen des Alterthums haben das Anziehende, aus-
führlich die Bewegungen Kämpfe und Irrthümer der Ge-
danken darzustellen, in welche jeder Einzelne noch jetzt
im Laufe seiner Entwickelung verfällt, und die doch unsere
gegenwärtige Bildung nicht mehr mit gleicher Geduld zu
verfolgen und zu untersuchen pflegt. Ich gestatte mir des-
halb, auf diese Lehre Piatons von verschiedenen in unsere
jetzige Betrachtung gehörigen Ausgangspunkten einzu-
gehen.
314. Man übersetzt den Platonischen Ausdruck Idee
durch Allgemeinbegriff, richtig insofern, als es nach
Piaton Ideen von Allem gibt, was sich in allgemeiner Gestalt,
abgelöst von den Einzelwahrnehmungen, in denen es vor-
kommt, denken läßt. Dennoch ist es eigentlich erst für
eine spätere Gedankenreihe, der wir noch begegnen werden,
von Wichtigkeit, daß der ideell gefaßte Inhalt als ein
Gemeinsames vieler Einzelinhalte, mithin als Allgemeines
denkbar ist; wesentlich ist hier am Anfange nicht sowohl
seine Ablösbarkeit von verschiedenen Einzelbeispielen, in
denen er mitenthalten ist, als vielmehr seine Unterscheidung
als eines an sich etwas bedeutenden Inhalts, den wir
vorstellen, von einer bloßen Affection, die wir er-
leiden. In der letzteren Bedeutung hätte ihn die hera-
klitische oder pseudoheraklitische Lehre mit in den halt-
losen Fluß ihrer Ereignisse verwickeln können, deren jedes
aber in der Welt eine bleibende Stätte oder Bedeutung hat,
weil keines, nachdem es geschehen, sich jemals sich selbst
gleich zu wiederholen braucht; die erste Auffassung da-
gegen objectivirte unsere Affection zu einem selbständigen
Inhalt, der immer bedeutet, was er bedeutet, und dessen
Beziehungen zu andern auch dann noch eine ewige immer
gleiche Gültigkeit besitzen, wenn weder er selbst noch
die anderen sich jemals in unserer wirklichen Wahr-
nehmung erneuern sollten. Wie ich dies meine, habe ich
früher Veranlassung gehabt zu erörtern (S. 15 ff.). In
unserer Wahrnehmung ändern die Sinnendinge ihre Eigen-
schaften; aber während das Schwarze weiß wird und das
Süße sauer, ist es doch nicht die Schwärze selbst, die
in Weiße übergeht, und nicht die Süßigkeit wird zur Säure ;
jede dieser Eigenschaften vielmehr, ewig sich selbst gleich
bleibend, tritt an diesem Dinge ihre Stelle einer andern ab,
und die Begriffe, durch welche wir die Dinge denken, haben
508 Zweites Kapitel.
nicht selbst an der Veränderlichkeit Theil, die wir, um
ihres Wechsels willen, von den Dingen aussagen, deren
Prädicate sie sind. Und selbst, wer dies leugnen wollte,
würde es wider Willen bejahen; denn er könnte die Süße
selbst nicht in Säure übergehen lassen, ohne diese beiden
Zustände zu trennen und den ersten durch eine Vorstellung
zu bestimmen, die ewig etwas Anderes bedeuten wird, als
den zweiten, in den jener sich verwandelt habe. Es ist
ein sehr einfacher und unscheinbarer, dennoch sehr wich-
tiger Gedanke, den Piaton hier zuerst ausgesprochen hat.
Immerhin mag unseren Sinn die beständige Veränderung
der Außenwelt wie ein haltloser Wirbel verwirren: ohne
eine hindurchgehende Wahrheit ist sie dennoch nicht; wie
auch immer die Dinge wechselnd erscheinen mögen, das
was sie in jedem Augenblicke sind, sind sie immer nur
durch flüchtige Theilnahme an Begriffen, die selbst nicht
flüchtig, sondern ewig sich selbst gleich und beständig,
zusammengenommen ein unveränderliches Gedankensystem
und den ersten würdigen und festen Gegenstand einer un-
wandelbaren Erkenntniß bilden. Denn auch davon über-
zeugten wir uns früher schon, daß nicht blos die ab-
geschlossene Einheit jedes Begriffsinhalts mit sich selbst,
und nicht blos der gleichförmige Gegensatz gegen alles
Andere, sondern auch die abgestuften Beziehungen der
Aehnlichkeit und Verwandtschaft der verschiedenen mit
zu dem Bestände dieser ersten unmittelbaren Erkenntniß
gehören. Wenn das Weiße schwarz und das Süße sauer
wird, wird es nicht nur anders überhaupt, sondern aus
dem Bereich des einen Begriffes, an dem es Theil hatte,
gleitet es über in den Bereich eines andern, der von dem
ersten durch eine unveränderliche Weite des Gegensatzes
getrennt ist, eine größere als diejenige, die zwischen dem
Weißen und dem Gelben stattfindet; eine unvergleichbare
mit der völligen Kluft, die zwischen dem Weißen und dem
Sauren besteht.
315. Ich führe diese einfachen Beispiele noch einmal
an, um an ihnen deutlich zu machen, wie es eine Erkenntniß
geben kann, deren Wahrheit von der skeptischen Frage
nach ihrer Uebereinstimmung mit einem ihr jenseitigen
Wesen von Dingen gänzlich unabhängig ist. Hätte auch
nur einmal der Lauf der Außenwelt uns in flüchtiger Er-
scheinung die Wahrnehmung zweier Farben oder Töne
vorgeführt: unser Denken würde sie sogleich von diesem
Zeitaugenblick trennen und sie und ihre Verwandtschaften
Die Ideenwelt. 509
und Gegensätze als einen beharrenden Gegenstand innerer
Anschauung verfestigen, gleichviel ob jemals die Wahr-
nehmung sie uns in wiederholter Wirklichkeit darböte oder
nicht. Erführen wir ferner niemals, auf welche Weise
diese Ideen als Prädicate an Dingen erscheinen können ,
und worin das eigentlich bestehe, was wir die Theilnahme
dieser an ihnen genannt haben, so bliebe zwar eine Frage
unbeantwortet, die uns im Verlauf unseres Nachdenkens
wichtig werden kann, aber ungestört bliebe uns doch die
Gewißheit, daß die Reihe der Farben selbst, die Scala der
Töne, gesetzlich zusammenhängende Ganze sind, und daß
über die Beziehungen ihrer Glieder zu einander ewig gültige
wahre Behauptungen ewig ungültigen falschen entgegen-
gesetzt sind. Und endlich die Frage, ob nicht zuletzt doch
die Farben an sich, die Töne an sich anders sind, als sie
uns erscheinen, wird Niemand mehr aufwerfen wollen.
Oder doch: man begegnet auch dieser Verirrung der Ge-
danken; eigentlich seien die Töne nur Schwingungen der
Luft, Farben nur Erzitterungen des Aethers; nur uns er-
scheinen beide in Gestalt jener subjectiven Empfindungen.
Es ist unnöthig, weitläufig zu wiederholen, daß diese
Empfindungen nicht aufhören wirklich zu sein und nicht
dadurch aus der Welt als etwas Unberechtigtes hinaus-
geschafft werden, daß man äußere ihnen unähnliche Ur-
sachen entdeckt, welche für uns die Veranlassungen ihrer
Entstehung sind; auch wenn dieselben Schwingungen
äußerer Medien anders organisirten Wesen in der Form
uns gänzlich unbekannter Empfindungsweisen erschienen,
so würden doch die Farben und Töne, die wir gesehen
und gehört haben, nachdem wir sie einmal empfunden,
einen für uns in Sicherheit gebrachten Schatz von an sich
gültigem gesetzlich in sich zusammengehörigem Inhalt
bilden. Was jene anderen Wesen empfinden, würde uns,
was wir empfinden, ihnen unbekannt bleiben; aber dies
hieße nur, daß nicht alle Wahrheit uns zu Theil wird,
das aber, was uns zu Theil wird, besitzen wir als Wahrheit
kraft der Identität jedes so angeschauten Inhalts mit sich
selbst und der beständigen Gültigkeit derselben Beziehungen
zwischen verschiedenen. So begreift man wohl, welche
Bedeutung es hat, wenn Piaton die Prädicate, die an den
Außendingen in beständigem Wechsel vorkommen, zu einem
festen und gegliederten Ganzen zu vereinigen suchte und
in dieser Ideenwelt den ersten wahren Gegenstand sicherer
Erkenntniß sah ; denn die ewigen Beziehungen, die zwischen
510 Zweites Kapitel.
den einzelnen Ideen stattfinden, die einen miteinander ver-
träglich machen, andere einander ausschließen lassen, bilden
wenigstens die Grenzen, innerhalb deren das liegt, was
in der Wahrnehmung möglich sein soll; was in ihr
wirklich ist und wie Dinge es machen, um Ideen zu
ihren Prädicaten zu haben, diese andere Frage erschien
Piaton nicht als die erste und wurde späterer Ueberlegung
zurückgestellt.
316. Eine weitreichende Schwierigkeit knüpft sich an
diese erste Betrachtung. Wie denken wir eigentlich von
Farben, wenn sie von Niemand gesehen, oder von Tönen
und ihren Unterschieden, wenn jene von Niemand gehört
und diese von Niemand durch Vergleichung wahrgenommen
werden? Sollen wir sagen, daß beide dann Nichts sind
oder daß sie nicht sind, oder kommt ihnen auch dann
noch ein schwerbestimmbares Prädicat, irgend eine ilrt
des Seins oder der Wirklichkeit zu? Sie für Nichts zu
halten, werden wir Anfangs nicht geneigt sein; denn eben,
so lange wir sie, um diese Frage zu beantworten, in
Gedanken festhalten, ist jede Farbe und jeder Ton ein
bestimmter von andern sich unterscheidender Inhalt, ein
Etwas mithin und nicht ein Nichts. Aber diese Entscheidung
wird uns zweifelhaft durch die Antwort, die wir auf den
zweiten Theil der Frage glauben geben zu müssen. Von
Dingen meinen wir noch, unklar genug, zu wissen, worin
ihr Sein auch dann noch besteht, wenn sie für Niemandes
Erkenntniß Gegenstände, sondern rein für sich sind; was
es aber heiße, daß ein Ton sei, wenn er von keinem Ohre
gehört, und wenn auch die lautlose Vorstellung seines
Klingens von keiner Seele erzeugt würde, wissen wir ebenso-
wenig zu sagen, als wie ein Schmerz dann noch ist, wenn
er Niemandem wehthut. Das aber was nicht ist, weder
für sich noch in unserer Vorstellung, wie könnte es noch
Etwas sein und sich von Anderem unterscheiden? Darauf
zu antworten zögern wir dennoch; es liegt offenbar, ganz
allgemein ausgedrückt, in jener ersten Entscheidung ein
gewisses Element von Bejahung, das nicht ganz durch die
Verneinung zu Grunde gehen darf, welche diese zweite
ausspricht. Vielleicht scheint es uns eine Auskunft, die
kategorische Form unseres zu fällenden Urtheils in eine
hypothetische zu verwandeln: zwei ungehörte und un-
vorgestellte Töne sind nicht Etwas und stehen nicht in
Verhältnissen, aber sie werden immer jeder Etwas und
Die Ideenwelt. 511
von dem andern verschieden sein und in einem bestimmten
Verhältnisse des Gegensatzes stehen, wenn sie gehört oder
vorgestellt werden. Unmittelbar aber befriedigt uns auch
dies nicht; denn immer, um nur vorstellen zu können,
wie den Tönen a und b diese verschiedenen Schicksale
des Nichtvorgestellt- und des Vorgestelltwerdens begegnen
können, und wie dann, wenn sie vorgestellt werden, die
Beziehung z, wenn aber andere vorgestellt werden, die
Beziehung z^ mitgedacht werden muß, scheinen wir doch
genöthigt zu sein, ihnen auch dann, wenn sie nach unserer
jetzigen Behauptung noch nicht wären, gleichwohl schon
ein Sein und ein Etwassein zuzuschreiben und in diesem
den Grund für ein späteres Sein und die bestimmte Gestalt
ihrer dann eintretenden Beziehungen zu suchen. Diese
spitzfindigen Erörterungen will ich so nicht fortsetzen,
sondern biete zu ihrem Abschluß Folgendes an. Es gibt
allerdings einen sehr allgemeinen Begriff von Bejahtheit oder
Position, der uns in verschiedenen Untersuchungen begegnet,
und zu dessen Bezeichnung die Sprachen, die nicht an den
einfachsten Elementen des Denkens, sondern an sehr zu-
sammengesetzten und concreten Vorstellungsinhalten sich
zuerst geübt haben, einen abstracten Ausdruck von
Wünschenswerther Reinheit nicht zu besitzen pllegen. Aber
es wäre nicht gutgethan, dafür einen Kunstausdruck zu
schaffen, dessen Verständniß zweifelhaft bleibt, weil er
Niemandem von Natur mundgerecht oder denkgerecht ist;
führt doch auch der häufig dafür gebrauchte Name der
Position durch seine etymologische Form den ganz un-
gehörigen Nebenbegriff einer Handlung oder Operation der
Setzung mit sich, durch deren Ausführung jene zu be-
zeichnende Bejahtheit erzeugt würde. Man wird doch sich
an die gewöhnliche Sprache halten und ein Wort wählen
müssen, das im Gebrauche, annähernd mindestens und
kenntlich, als Ausdruck des gesuchten Gedankens sich nach-
weisen läßt. Für deutsche Bezeichnung dient hierzu das
Wort Wirklichkeit. Denn wirklich nennen wir ein
Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem andern, welches
nicht ist ; wirklich auch ein Ereigniß, welches geschieht
oder geschehen ist, im Gegensatz zu dem, welches nicht
geschieht; wirklich ein Verhältniß, welches besteht, im
Gegensatze zu dem, welches nicht besteht; endlich wirklich
wahr nennen wir einen Satz, welcher gilt, im Gegensatz
zu dem, dessen Geltung noch fraglich ist. Dieser Sprach-
gebrauch ist verständlich ; er zeigt, daß wir unter Wirklich-
512 Zweites Kapitel.
keit immer eine Bejahung denken, deren Sinn sich aber
sehr verschieden gestaltet, je nach einer dieser ver-
schiedenen Formen, die sie annimmt, deren eine sie an-
nehmen muß, und deren keine auf die andere zurückführbar
oder in ihr enthalten ist. Denn aus Sein läßt sich nie
ein Geschehen machen, und die Wirklichkeit, welche den
Dingen zukommt, nämlich zu sein, gebührt nie den Er-
eignissen; diese sind nie, aber sie geschehen; ein Satz
aber ist weder, wie die Dinge, noch geschieht er, wie
die Ereignisse; auch daß sein Inhalt bestehe wie ein Ver-
hältniß, kann erst gesagt werden, wenn die Dinge sind,
zwischen denen er eine Beziehung aussagt; an sich aber,
und abgesehen von allen Anwendungen, die er erfahren
kann, besteht seine Wirklichkeit darin, daß er gilt und
daß sein Gegentheil nicht gilt. Mißverständnisse nun müssen
immer entstehen, wenn wir einem Object unseres Nach-
denkens, überzeugt, daß ihm irgend eine Wirklichkeit oder
Bejahung zukommen müsse, doch nicht diejenige Art der-
selben, die seiner eigenthümlichen Natur zugehört, sondern
eine andere beizulegen suchen, für die es nicht zugänglich
ist; dann entsteht jener eben berührte Widerstreit zwischen
der Ueberzeugung von der Richtigkeit einer Bejahung über-
haupt und von der Unmöglichkeit der bestimmten, die man
irrthümlich versucht. Den Vorstellungen, sofern wir sie
haben und fassen, gebührt die Wirklichkeit in dem Sinne
eines Ereignisses, sie geschehen in uns, denn als
Aeußerungen einer vorstellenden Thätigkeit sind sie nie
ein ruhendes Sein, sondern ein dauerndes Werden; ihr
Inhalt aber, sofern wir ihn abgesondert betrachten von der
vorstellenden Thätigkeit, die wir auf ihn richten, geschieht
dann nicht mehr, aber er ist auch nicht so wie Dinge
sind, sondern er gilt nur noch. Und endlich, was dieses
Gelten heiße, muß man nicht wieder mit der Voraus-
setzung fragen, als ließe sich das, was damit verständlich
gemeint ist, noch von etwas Anderem ableiten; als wäre
es etwa möglich, Bedingungen anzugeben, unter deren Ein-
wirkung entweder das Sein, welches den Dingen zukommt,
so abgeschwächt und modificirt, oder das Geschehen,
welches die vergängliche Wirklichkeit der Vorstellungen
bildet, sofern sie Erregungen unseres Bewußtseins sind,
so verfestigt und verselbständigt werden könnte, daß beide,
von verschiedenen Seiten her, in diesen Begriff des Geltens^
tibergingen, welcher von dem geltenden Inhalte ebensowohl
die Wirklichkeit des Seins leugnet, als die Unabhängigkeit
Die Ideenwelt. 513
von unserem Denken behauptet. So wenig Jemand sagen
kann, wie es gemacht wird, daß Etwas ist oder Etwas
geschieht, ebenso wenig läßt sich angeben, wie es gemacht
wird, daß eine Wahrheit gelte; man muß auch diesen
Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grund-
begriff ansehen, von dem Jeder wissen kann, was er mit
ihm meint, den wir aber nicht durch eine Construction
aus Bestandtheilen erzeugen können, welche ihn selbst
nicht bereits enthielten.
317. Von hier aus scheint mir Licht auf eine befremd-
liche Angabe zu fallen, die in der Geschichte der Philosophie
überliefert wird: Piaton habe den Ideen, zu deren Bewußt-
sein er sich erhoben, ein Dasein abgesondert von den
Dingen, und doch, nach der Meinung derer, die ihn so
verstanden, ähnlich dem Sein der Dinge, zugeschrieben.
Es ist seltsam, wie friedlich die hergebrachte Bewunderung
des Platonischen Tiefsinns sich damit verträgt, ihm eine
so widersinnige Meinung zuzutrauen; man würde von jener
zurückkommen müssen, wenn Piaton wirklich diese ge-
lehrt und nicht nur einen begreiflichen und verzeihlichen
Anlaß zu einem so großen Mißverständniß gegeben hätte.
Der Ausdruck philosophischer Gedanken ist von der
Leistungsfähigkeit der gegebenen Sprache abhängig, und
es ist kaum vermeidlich, zur Bezeichnung dessen, was
man meint, Worte zu benutzen, welche diese eigentlich
nur für Verwandtes, was man nicht meint, ausgeprägt
hat, dann vorzüglich, wenn ein neues Gebiet eröffnet wird
und die Dringlichkeit der Unterscheidung des Gemeinten
von jenem Anderen noch wenig empfunden werden kann.
Hierin scheint mir der Grund jenes Mißverständnisses zu
liegen. Nichts sonst wollte Piaton lehren, als was wir
oben durchgingen : die Geltung von Wahrheiten, abgesehen
davon, ob sie an irgend einem Gegenstande der Außenwelt,
als dessen Art zu sein, sich bestätigen; die ewig sich
selbst gleiche Bedeutung der Ideen, die immer sind, was
sie sind, gleichviel ob es Dinge gibt, die durch Theilnahme
an ihnen sie in dieser Außenwelt zur Erscheinung bringen,
oder ob es Geister gibt, welche ihnen, indem sie sie denken,
die Wirklichkeit eines sich ereignenden Seelenzustandes
geben. Aber der griechischen Sprache fehlte damals und
noch später ein Ausdruck für diesen Begriff des Geltens,
der kein Sein einschließt; eben dieser des Seins trat allent-
halben, sehr häufig unschädlich, hier verhängnißvoll an
seine Stelle. Jeder für das Denken faßbare Inhalt, wenn
Lotze, Logik. 33
514 Zweites Kapitel.
man ihn als etwas mit sich Einiges von Anderem Ver-
schiedenes und Abgeschlossenes betrachten wollte, Alles,
wofür die Sprache der Schule später den nicht üblen Namen
des Gedankendinges erfunden hat, war dem Griechen ein
Seiendes, öv oder ovoia; und wenn der Unterschied einer
wirklich geltenden Wahrheit von einer angeblichen in Frage
kam, so war auch jene ein dvrcog öv ; anders als in dieser
beständigen Vermischung mit der Wirklichkeit des Seins
hat die Sprache des alten Griechenlands jene Wirklichkeit
der bloßen Geltung niemals zu bezeichnen gewußt; unter
dieser Vermischung hat auch der Ausdruck des Platonischen
Gedankens gelitten.
318. Man überzeugt sich leicht, daß Alles, was von den
Ideen gesagt wird, unter der Voraussetzung, die wir machten,
sich als natürlich und nothwendig ergibt, und daß die ver-
schiedenen Wendungen, die in der Darstellung ihres Wesens
genommen werden, eben darauf hinauslaufen, den Begriff,
zu dessen Bezeichnung ein einziger Ausdruck fehlte, durch
viele einander zu Hülfe kommende und beschränkende zu
erschöpfen. Ewig, weder entstehend noch vergehend (didta,
dyevvtjra, ävdbXe'&Qa) mußten die Ideen genannt werden
gegenüber dem Fluß des Heraklit, der auch ihren Sinn
schien mit sich fortreißen zu sollen; die Wirklichkeit des
Seins allerdings kommt ihnen bald zu bald nicht zu, je
nachdem vergängliche Dinge sich mit ihnen schmücken
oder nicht; die Wirklichkeit der Geltung aber, welche
ihre eigne Weise der Wirklichkeit ist, bleibt unberührt von
diesem Wechsel; diese Unabhängigkeit von aller Zeit, in
Vergleichung gebracht mit dem, was in der Zeit entsteht
und vergeht, konnte nicht wohl anders als durch das zeit-
liche und doch die Macht der Zeit negirende Prädicat der
Ewigkeit ausgesprochen werden, ebenso wie wir das, was
an sich nicht gälte und gelten könnte, an seinem Niemals-
vorkommen in aller Zeit am leichtesten erkennen würden.
Trennbar oder getrennt von den Dingen {xMQtgrcbvövTcov),
heißen die Ideen zunächst begreiflich, weil das Bild (eldog)
ihres Inhalts unserer Erinnerung vorstellbar bleibt, auch
nachdem in der Wirklichkeit des Seins die Dinge ver-
schwunden sind, durch deren Anregung es in uns ent-
standen war; dann aber, weil unter jenem Inhalt nur das
verstanden war, was in allgemeiner Gestalt faßbar, in ver-
schiedenen Erscheinungen der äußern Wirklichkeit sich selbst
gleich vorkommt, und deshalb unabhängig ist von jedem
Die Ideenwelt. 515
einzelnen Beispiele seiner sinnlichen Verwirklichung. Aber
es war nicht die Meinung Piatons, daß die Ideen nur von
den Dingen unabhängig, dagegen in ihrer Weise der Wirk-
lichkeit abhängig sein sollten von dem Geiste, welcher sie
denkt; Wirklichkeit des Seins genießen sie freiUch nur
in dem Augenblicke, in welchem sie, als Gegenstände oder
Erzeugnisse eines eben geschehenden Vorstellens, Bestand-
theile dieser veränderlichen Welt des Seins und Geschehens
werden; aber wir alle sind überzeugt, in diesem Augen-
blicke, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken,
ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt zu
haben; auch als wir ihn nicht dachten, galt er und wird
gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen
sowohl als von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirk-
lichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet
oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegen-
stand einer Erkenntniß wird; so denken wir alle von der
Wahrheit, sobald wir sie suchen und suchend vielleicht
ihre Unzugänglichkeit für jede wenigstens menschliche Er-
kenntniß beklagen; auch die niemals vorgestellte gilt nicht
minder, als der kleine Theil von ihr, der in unsere Ge-
danken eingeht. In etwas anderer Form, und gegen Pro-
tagoras, wird die selbständige Geltung der Ideen hervor-
gehoben, wenn sie als an sich seiend was sie sind (avrd
xa&* avrd övra) der Relativität entzogen werden, in die
sie der berühmte Ausspruch dieses Sophisten verwickeln
wollte. Zugegeben selbst, daß die Lehre desselben, auf
sinnliche Empfindungen beschränkt, ihre gute Gültigkeit
hat, und daß Piaton sie in dieser Beziehung mißverständlich
bekämpft, zugegeben also, daß jede sinnliche Empfindung
für den, der sie hat, so gut eine Wahrheit ist, wie eine
abweichende andere für den, der diese andere hat, so würde
doch Piaton mit Recht behaupten, weder der eine noch
der andere könne diese oder jene Empfindung haben, ohne
daß dasjenige, was er in ihr empfindet, Roth oder Blau
Süß oder Bitter, ein an sich Etwas und immer dasselbe
Etwas bedeutender Bestandtheil einer Welt von Ideen sei;
sie bildet gleichsam den beständigen unerschöpflichen Vor-
rath, aus dem jedem Dinge der Außenwelt alle die noch
so verschiedenen Prädicate, mit denen es sich wechselnd
bekleidet, und ebenso jedem Geist die verschiedenen Zut
stände zugetheilt werden, die er soll erfahren können; un-
möglich ist es dagegen, daß ein einzelnes Subject etwas
empfinde oder vorstelle, dessen Inhalt nicht in dieser all-
33*
516 Zweites Kapitel.
gemeinen Welt des Denkbaren seine bestimmte Stelle, seine
Verwandtschaften und Unterschiede gegen Anderes ein für
allemal besäße, sondern eine zu dieser ganzen Welt be-
ziehungslose, nirgends sonst heimische Sonderbarkeit dieses
einen Subjects bliebe. Ist nun durch diese Ausdrücke für
die selbständige Gültigkeit der Ideen gesorgt, so ist auch
hinlänglich vorgebaut, daß diese Gültigkeit nicht mit der
Wirklichkeit des Seins verwechselt werde, die nur einem
beharrlichen Dinge zugeschrieben werden könnte. Wenn
die Ideen in einem intelligiblen überhimmlischen Ort
{yoYjTog, VTiEQovQaviog ronog) ihre Heimat haben sollen,
wenn sie anderseits ausdrücklich noch als nirgends wohnend
bezeichnet werden, so ist für Jeden, der die Anschauungs-
weise des griechischen Alterthums versteht, vollkommen
hinlänglich ausgedrückt, daß sie zu dem nicht gehören,
was wir reale Welt nennen; was nicht im Räume ist, das
ist für den Griechen nicht, und wenn Piaton die Ideen
in diese unräumliche Heimat verweist, so liegt darin nicht
ein Versuch, ihre bloße Geltung zu irgend einer Art von
seiender Wirklichkeit zu hypostasiren, sondern die deut-
liche Anstrengung, jeden solchen Versuch von vorn herein
abzuwehren. Auch dies steht nicht entgegen, daß die Ideen
als Einheiten (evadeg, juovddeg) aufgeführt werden; denn
keine Veranlassung liegt vor, diese Bezeichnung in dem
Sinne atomistischer Vorstellungen sei es auf körperliche
Untheilbarkeit, sei es auf eine der Persönlichkeit ähnliche
Selbstheit zu deuten; vielmehr dem Sinne jeder Idee, und
nicht jeder einfachen blos, sondern auch jeder zusammen-
gesetzten, kommt es zu, durch Vereinigung des in ihm Zu-
sammengehörigen und durch Ausschließung alles Fremden
sich als Einheit zu beweisen. Dennoch aber, obgleich alle
diese Aeußerungen darin übereinstimmen, daß Piaton nur
die ewige Gültigkeit der Ideen, niemals aber ihr Sein be-
hauptete, dennoch blieb ihm auf die Frage: was sie denn
seien, zuletzt nichts übrig, als sie doch wieder unter den
Allgemeinbegriff der ovola zu bringen, und so war dem
Mißverständniß eine Thür geöffnet, das seitdem sich fort-
gepflanzt hat, obschon man nie anzugeben wußte, was
denn das eigentlich sei, wozu Piaton durch die ihm Schuld
gegebene Hypostase seine Ideen hypostasirt haben sollte.
319. Zweierlei scheint dieser Auffassung entgegenzu-
stehen : zuerst der Gebrauch, den Piaton von den Ideen zur
Erklärung des Weltlaufs macht, in den sie nicht blos als
Die Ideenwelt. 517
gültige Wahrheiten, sondern zugleich als wirkende Mächte
eingreifen, ein Punkt, auf den ich später komme; dann
aber das Verhalten des Aristoteles. Denn dieser ist
es eigentlich, dessen bestimmte Versicherungen die Lehre
von der Realität der Ideen als Dogma des Piaton hin-
gestellt haben, während Piatons eigene Darstellungen der
anderen Deutung, die wir vorzogen, sich nicht widersetzen.
Es scheint unglaublich, daß der scharfsinnigste Schüler,
durch den eignen Umgang mii dem Meister unterrichtet,
die wahre Meinung desselben bis zu einem Mißverständniß
von so großer Bedeutung sollte verfehlt haben. Dennoch
sind wir durch die Art, wie er seine Polemik gegen die
Ideenlehre überhaupt, nicht gegen bestimmte Sätze Piatons
führt, sowie durch manche Einzelheiten seiner Einwen-
dungen zu der Annahme berechtigt, daß sein Schritt sich
zum Theil gegen Mißverständnisse richtet, die frühzeitig
in der Akademie eingerissen waren. Denn an Piaton selbst
konnte er nicht wohl die Aufforderung stellen, zu zeigen,
wo die Ideen sind, nachdem dieser unumwunden gesagt
hatte, daß sie nirgends sind; nicht gegen ihn konnte er
einwenden, daß folgerichtig auch von Kunsterzeugnissen
es Ideen geben müsse, denn ein Beispiel wenigstens, das
dem beistimmt, enthalten die Bücher vom Staat, und wie
wenig Piaton die ganze hiermit angedeutete Schwierigkeit
außer Acht gelassen, bezeugt der Anfang des Parmenides.
Wenn endlich Aristoteles die Ideen für überflüssig hält,
weil sie nur Gegenbilder der Einzeldinge seien, wenn über-
haupt seine ausführliche Discussion häufig von der An-
nahme ausgeht, es gebe voji jeder Idee so viele Exemplare,
als Beispiele ihrer Anwendung in der Wirklichkeit vor-
kommen, so finden Einwürfe dieser Art ihr berechtigtes
Ziel nicht in Piaton selbst; daß jede Idee nur einmal vor-
handen sei, daß sie nicht ein Einzelding, sondern ein
Allgemeines vieler bedeute und daß alle ihre Erscheinungen
nur Abbilder dieses ihres einheitlichen Wesens bilden, war
Piatons beständig wiederholte Meinung; unklar mochte es
immerhin bleiben, worin jenes durch Nachahmung oder
Theilnahme bezeichnete Verhalten der Einzeldinge besteht,
durch welches diese der einen Idee eine unzählige Menge
von Verwirklichungen im Sein verschaffen. Die ganze Aus-
einandersetzung, die das 12. (13.) Buch der Aristotelischen
Metaphysik füllt und die Widersinnigkeit einer dinghaften
Wirklichkeit der Ideen darzulegen sucht, kann ich daher
um so weniger für eine Widerlegung der echten Platonischen
518 Zweites Kapitel.
Ansicht lialten, als schließlich Aristoteles selbst für die
bessere, die er ihr gegenüberzustellen meint, einen ent-
scheidenden und unzweideutigen Ausdruck ebensowenig
findet. Ihm gilt nur das Einzelding als wahrhafte ovoia,
und gewiß werden wir ihm hierin beistimmen: nur dem
Einzelding kommt die Form der Wirklichkeit zu, zu sein;
aber für ihn wie für Piaton ist gleichwohl der Gegenstand
der Erkenntniß nur das Allgemeine; nicht nur, daß
wir das Einzelne nicht zu erschöpfen im Stande sind,
sondern auch, so weit wir unsere Untersuchung fruchtbar
auf dasselbe richten, beurtheilen wir sein Wesen und sein
Verhalten immer nach allgemeinen Grundsätzen. Von dem
aber, was in keiner Weise ist oder Wirklichkeit hat, auch
darin ist Aristoteles mit seinen Vorgängern einig, kann es
auch keine Erkenntniß geben; es folgt mithin, daß auch
das Allgemeine nicht schlechthin nicht ist, sondern gewisser-
maßen ist und gewissermaßen nicht ist. Was Aristoteles
weiter hierüber verhandelt, verfolge ich nicht im Einzelnen ;
wenn er aber das Allgemeine oder die Idee nicht außerhalb,
sondern in den Einzeldingen sein läßt, so erklärt er hier-
mit die Möglichkeit der Erkenntniß nicht; denn darum,
weil die Idee in einem Einzeldinge ist, kann das, was hier
aus ihr folgt, nicht auf ein anderes Einzelding übertragen
werden, in dem sie gleichfalls angetroffen wird; Rechts-
grund zu einem Schlüsse von dem einen Wirklichen auf
das Verhalten eines andern kann sie nur werden, wenn
sie an sich selbst eine Mehrheit von Beziehungspunkten
so zusammenschließt, daß überall mit dem Vorkommen des
einen auch die nothwendige Gegenwart der anderen ver-
bunden sein muß. Und so würde sich auch Aristoteles
kurzer Hand wieder dahin zurückgeführt sehen, daß aller-
dings die Idee ;tco^t? tcov övrcov in gewisser Weise sei;
in welcher Weise aber, dafür fehlt ihm der technische
Ausdruck der Geltung ebenso wie seinem Lehrer; auch
ihm ist ein Allgemeinbegriff oder eine Idee zuletzt zwar
keine wahre ovoia, aber doch eine devrega ovoia.
320. Wenn man sich nun verwundern wollte über die
Thatsache, zwei der größten Philosophen des Alterthums
mit nicht vollständigem Erfolg um Klarheit über einen so
einfachen Unterschied ringen zu sehen, so würde man un-
billig gegen beide sein; das Gewahrwerden der einfachsten
Gedankenverhältnisse ist nicht die einfachste That des
Denkens, und die ganze lange Geschichte der Philosophie
Die Ideenwelt. 519
lehrt, wie wir alle in jedem Augenblick bereit sind, in der
Anwendung uns derselben Unklarheit schuldig zu machen,
die wir auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht für un-
möglich halten möchten. So oft man geglaubt hat, eine
Gedankenbestimmung entdeckt zu haben, durch welche sich
das Allgemeine der Bildung und Entwicklungsweise der er-
scheinenden Wirklichkeit darstellen zu lassen schien, ebenso
oft ist man dazu übergegangen, sie über diese hinauf in
ein reines Sein zu verselbständigen, gegen welches die
Wirklichkeit der Einzeldinge als eine untergeordnete un-
wahre Form des Daseins zurücktrat. Ich brauche nicht
einmal an die letzte Gestalt der deutschen Philosophie zu
erinnern, die an die Stelle der Platonischen Ideen die eine
unbedingte Idee meinte setzen zu können; auch in außer-
philosophischen Gedankenkreisen kommt dieselbe Neigung
sichtlich vor. Denn wie oft hören wir doch jetzt von
ewigen unveränderlichen Naturgesetzen, denen alle ver-
änderlichen Erscheinungen unterworfen sind; Gesetze, deren
Erscheinung zwar aufhören würde, wenn es keine Dinge
mehr gäbe, denen sie gebieten könnten, die aJ)er auch dann
noch fortfahren würden, ewig zu gelten, und in jedem
Augenblick wieder in ihrer wirksamen Macht aufleben
würden, wenn irgendwoher ein neuer Anwendungsgegen-
stand sich ihnen darböte; nicht einmal daran fehlt es, ge-
legentlich diese Gesetze als thronend über aller seienden
Wirklichkeit dargestellt zu sehen, ganz in jenem überhimm-
lischen Orte, in dem Piaton seine Ideen heimisch nannte.
Dennoch würden diejenigen, die so sprechen, mit Ent-
rüstung die Unterstellung abwehren, sie hätten diesen Ge-
setzen ein dinghaftes oder persönliches Sein außerhalb der
Dinge zugeschrieben, die von ihnen regiert werden; mit
gleichem Recht hat auch Piaton sich dieser Mißdeutung
zu erwehren. Und endlich muß ich hinzufügen, daß nun
auch wir, wenn wir die den Ideen und Gesetzen zukommende
Wirklichkeit als Geltung von der Wirklichkeit der Dinge
als dem Sein unterscheiden, zunächst blos durch die
Gunst unserer Sprache eine bequeme Bezeichnung gefunden
haben, die uns vor Verwechselungen beider warnen kann;
die Sache aber, die wir durch den Namen der Geltung be-
zeichnen, hat dadurch nichts von der Wunderbarkeit ver-
loren, die den Antrieb zu ihrer Vermischung mit dem
Sein enthielt. Wir sind blos, unseres Denkens uns wie
einer natürlichen Fähigkeit arglos bedienend, seit lange
daran gewöhnt und finden es nun selbstverständlich, daß
520 Zweites Kapitel.
der Inhalt mannigfacher Wahrnehmungen und Erscheinungen
sich allgemeinen Gesichtspunkten fügen und nach all-
gemeinen Gesetzen so behandeln lassen müsse, daß unsere
hiernach im voraus gezogenen Folgerungen mit dem Fort-
gange jener Erscheinungen wieder zusammentreffen; aber
daß dies so ist, daß es allgemeine Wahrheiten gibt, die
nicht selber sind, wie die Dinge, und die doch das Ver-
halten der Dinge beherrschen, dies ist doch für den Sinn,
der sich darein vertieft, ein Abgrund von Wunderbarkeit,
dessen Dasein mit Staunen und Begeisterung entdeckt zu
haben immer eine große philosophische That Piatons bleibt,
wie viele Fragen sie auch mag ungelöst gelassen haben.
321. Eine dieser Fragen ist die nach dem bestimmten
Verhältnisse der Dinge zu den Ideen, das Piaton als Theil-
nahme jener an diesen oder als Nachahmung bezeichnet.
Ich erörtere sie jetzt noch nicht in ihrem ganzen Umfange;
auf einen Mangel der Ideenlehre führt uns aber ein an
sich nicht gerechter Vorwurf des Aristoteles. Unter den
Gründen, die ihm diese Lehre überflüssig und nutzlos er-
scheinen lassen, hebt er mit Nachdruck hervor, daß sie
keinen Anfang der Bewegung darbiete. So richtig dies an
sich sein mag, so wenig kann es gegen die Ideenlehre be-
weisen, daß sie diese Aufgabe nicht erfüllt; sie erfüllt
nur auch die andere nicht vollständig, die in ihrer eignen
Absicht lag. Knüpfen wir an die Gegenwart an : unsere
Naturgesetze, enthalten sie einen Anfang der Bewegung?
Im Gegentheil: sie alle setzen voraus, daß eine Reihe von
Daten gegeben sei, die sie selbst nicht feststellen können,
aus denen aber, wenn sie gegeben sind, die Noth wendig-
keit des inneren Zusammenhangs der nun folgenden Er-
scheinimgen ableitbar ist. Kein Naturgesetz bestimmt, daß
die Massen unseres Planetensystems sich überhaupt be-
wegen und daß ihr Lauf nach dieser und nicht nach einer
andern Richtung des Himmels gehen oder daß die Be-
schleunigung, die sie einander durch ihre Anziehung er-
theilen, diese Größe haben mußte, welche sie hat, und
nicht eine andere; ist nun deswegen das System der
mechanischen Wahrheiten nutzlos und ein leeres Gerede
(xevoXoyeTv), weil es alle diese Anfänge der Bewegung anders-
woher erwartet und nur innerhalb der bereits wirklichen
Bewegung jede einzelne Phase mit jeder andern noth-
wendig zu verbinden lehrt ? Immerhin mag Piaton die ersten
Anstöße, von denen die Reihenfolge der Erscheinungen
abhängt, in unklarer Weise, und doch am Ende nicht un-
Die Ideenwelt. 521
klarer, als auch wir noch, in jene dunkle vXt] verlegt haben,
die ihm überhaupt das Gegebene versinnlicht, auf welches
die Ideen Anwendung haben: dennoch, als er in der Ideen-
welt die Muster sah, denen sich alles Seiende fügen
muß, wenn Etwas ist, sprach er hiermit einen Gedanken
aus, dessen Wichtigkeit Aristoteles unbillig übersieht; denn
auch er würde später, in der Erklärung der einzelnen Er-
scheinungen, diesen Gedanken brauchen: auch er würde
nicht zugeben können, daß die bewegende Ursache, welche
den verwirklichenden Anstoß ertheilt, noch freie Hand dar-
über habe, zu bestimmen, was aus diesem Anstoße werden
soll; darüber haben von Ewigkeit jene allgemeinen Ge-
setze entschieden, die gleichwohl den Antrieb zur Verwirk-
lichung nicht geben. Aber dies allerdings müssen wir
als Unvollkommenheit der Platonischen Ansicht anerkennen,
daß sie eben diese ihre eigene Aufgabe nur halb löste.
Gründe für den nothwendigen Zusammenhang zweier In-
halte müssen immer die logische Form eines Urtheils
haben; sie können nicht in Gestalt einzelner Begriffe aus-
gesprochen werden, da keiner von diesen für sich eine
Behauptung enthält. Gesetze daher, d.h. Sätze, welche
eine Beziehung verschiedener Elemente ausdrücken, haben
wir schon vorher als die Beispiele benutzt, an denen sich
deutlich machen läßt, was gelten heißt im Gegensatz
zum sein; nur mit halber Deutlichkeit läßt sich dieser
Ausdruck auf einzelne Begriffe übertragen; von ihnen
könnten wir nur sagen, daß sie etwas bedeuten; sie be-
deuten aber dadurch etwas, daß von ihnen Sätze gelten,
der z. B., daß jeder Begriffsinhalt sich selbst gleich und in
unveränderlichen Verwandtschaften oder Gegensätzen zu
andern enthalten sei. In der Form des isolirten Begriffs
nun oder der Idee hat Piaton ziemlich ausschließlich die
Elemente der von ihm entdeckten Gedankenwelt aufgefaßt;
schon der Gesammteindruck seiner Darstellungen macht
merklich, wie sparsam im Vergleich hiermit allgemeine
Sätze auftreten; sie fehlen keineswegs ganz, bilden vielmehr
in einzelnen Fällen Gegenstände wichtiger Erörterungen;
aber daß eben sie, in dieser Gestalt als Sätze, die wesent-
lichsten Bestandtheile der idealen Welt sein müßten, hat
sich Piaton doch nicht aufgedrängt. Diese Eigenthümlich-
keit der Auffassungsweise ist nicht ohne spätere Beispiele.
Noch Kant, als er die apriorischen Formen aufsuchte, die
dem empirischen Inhalt unserer Wahrnehmungen die Ein-
522 Zweites Kapitel.
heit innerer Zusammengehörigkeit geben sollten, verfiel zu-
erst darauf, sie in Gestalt einzelner Begriffe, der Kategorien,
zu entwickeln und zwar gerade aus den Formen der ür-
theile selbst; als er sie dann zu haben glaubte, wurde um
so deutlicher, daß nichts mit ihnen anzufangen war; nun
folgte die Bemühung, aus ihnen wieder Urtheile, die Ver-
stajidesgrundsätze, zu gewinnen, von denen als Obersätzen
zu den zweiten Prämissen, welche die Erfahrung liefert,
eine wirkliche Anwendung möglich wurde. Diese Neigung,
Wahrheiten, deren vollgültiger Ausdruck nur ein Satz sein
kann, in die unzureichende Form eines einzelnen Begriffs
zu bringen, scheint daher aller menschlichen Einbildungs-
kraft, nicht blos der plastisch geschulten des alten Griechen-
lands, natürlich zu sein; es verdient immer im Vorbei-
gehen bemerkt zu werden, wie gefährlich sie ist, indem
sie von dem vollen Thatbestand, dem die Untersuchung gilt,
zu einem unfruchtbaren Spiel mit leeren von ihren zu-
kömmlichen Unterlagen abgelösten Vorstellungen führt. Von
alle dem nun, was wir hier verlangen, finden wir bei
Piaton sehr Weniges ausgeführt, und selbst das Bedürfniß
der Ausführung nicht klar und vollständig anerkannt. Der
allgemeine Gedanke allerdings, daß es nicht nur unzählige
Ideen gebe, sondern alle zusammen ein gegliedertes Ganze
bilden, ist die Seele seiner ganzen Darstellung, und mit
Begeisterung schildert er den Genuß, den ihm seine dialek-
tische Beschäftigung gewähre, den zusammengesetzten In-
halt der Vorstellungen mit Schonung seiner natürlichen
Fugen in seine Elemente aufzulösen und aus ihnen wieder
zusammenzusetzen; auch die verschiedenen Grade der Ver-
träglichkeit und des Gegensatzes der Einzelideen und die
möglichen Arten ihrer Verbindung erwähnt er als Gegen-
stände anzustellender Untersuchungen. Aber in den Bei-
spielen wirklicher Anwendung, die er gibt, läuft doch diese
Kunst der Dialektik ziemlich einförmig auf eine Classifi-
cation der Ideen hinaus, die uns zeigt, an welche Stelle
eines Eintheilungssystems jede gehört vermöge der Einzel-
bestandtheile, die sie in sich vereinigt, aber ohne daß aus
dieser Ortbestimmung in Bezug auf irgend eine derselben
eine Behauptung, ein Gewinn an Erkenntniß flösse, der
ohne diesen classificatorischen Umweg unerreichbar ge-
wesen wäre; was vielmehr von jeder gilt oder nicht gilt,
wird man nachher ebenso wie vorher aus anderen Quellen
erfahren müssen. Jene Fugen und Gelenke, die Piaton nur
schonen wollte, hätte er ernstlicher untersuchen müssen;
Die Ideenwelt. 523
anstatt die Flora der Ideen systematisch zusammenzu-
stellen, hätte der Gedanke sich auf die allgemeinen physio-
logischen Bedingungen richten sollen, die in jedem einzelnen
dieser Gewächse Glied mit Glied zu einer möglichen Ent-
wicklung verbinden. Oder ohne Bild gesprochen: nachdem
das Dasein einer ewig gültigen inhaltvollen Ideenwelt mit
Klarheit hervorgehoben war, blieb als nächste Aufgabe,
die in ihrem Bau herrschende allgemeine Gesetzlichkeit
zu erforschen, durch welche auch in ihr schon die einzelnen
Bestandtheile allein zu einem Ganzen verbunden sein
können: es handelte sich um die Frage, welches die ersten
Grundsätze unseres Erkennens sind, denen wir die
Mannigfaltigkeit der Ideen unterzuordnen haben. Diese
bestimmtere Gestalt hat jetzt für uns die methodische Unter-
suchung der Wahrheit und ihres Ursprungs angenommen.
Drittes Kapitel.
Apriorismus und Empirismus.
322. Wenn innerhalb des Ganzen unserer Erkehntniß
eine einzelne Ansicht uns zweifelhaft wird, so suchen wir
Entscheidung in der Zergliederung der Veranlassungen, aus
denen sie uns entsprungen ist; die Geschichte ihrer Ent-
stehung soll uns lehren, ob sie Wahrheit ist, oder wie sie
als Irrthum sich hat bilden müssen. So oft die Frage nach
der Wahrheitsfähigkeit unserer Erkenntniß überhaupt in
der Geschichte der Philosophie aufgetaucht ist, hat derselbe
Weg zum Ziele zu führen geschienen: aus der Art, wie
unsere Vorstellungen und Urtheile sich bilden, hat man
über ihre Ansprüche auf den Namen von Wahrheiten ent-
scheiden zu können geglaubt. Diese Ueberzeugung, welche
Berücksichtigung verdient, da sie auch gegenwärtigen Rich-
tungen philosophischer Untersuchung in großer Ausdehnung
zu Grunde liegt, lenkt mich für den Augenblick von der
Fortsetzung meiner Gedanken ab ; ich muß zu zeigen ver-
suchen, daß jene genetische Betrachtungsweise für den
zweiten allgemeineren Fall die Vortheile nicht hat, welche
sie für den ersten speciellen unzweifelhaft verspricht. Denn
beide sind nicht von gleicher Art. So oft wir die Triftig-
keit einer einzelnen Ansicht prüfen wollen, benutzen wir
als Entscheidungsgrund den zugestandenen Besitz anderer
Wahrheit, theils allgemeiner Sätze, mit denen übereinzu-
stimmen allen andern obliegt, die uns gelten sollen, theils
feststehender Thatsachen, denen die andern Thatsachen
nicht widerstreiten dürfen, die jene zu prüfende Ansicht
behauptet oder voraussetzt, endlich gewisser Regeln des
Denkens, nach denen das, was aus gültigen Prämissen
triftig folgt, von untriftigen Folgerungen unterschieden wird ;
es ist überall hier eine Wahrheit bereits vorhanden, die
Apriorismus und Empirismus. 525
auf das zu prüfende Gemeng unserer Gedanken wie ein
Ferment wirkt, Entsprechendes sich assimilirt, Irriges aus-
stößt. Dieser gegebene und von dem Gegenstand der Frage
unabhängige Maßstab fehlt uns in dem zweiten allgemeineren
Falle: die Prüfung der Wahrheit unserer Erkenntniß im
Ganzen ist unmöglich, ohne die zu prüfenden Grundsätze
als Entscheidungsgründe aller Zweifel vorauszusetzen.
Diesen Cirkel, nach welchem unsere Erkenntniß sich die
Grenzen ihrer Competenz selbst zu bestimmen hat, haben
wir als unvermeidlich kennen gelernt; aber man vermehrt
die Schwierigkeit, wenn man nicht jene Grundsätze selbst,
sondern eine unzergliederte Anwendung derselben, wenn
man nämlich ausdrücklich die angebliche Einsicht in die
Entstehung unserer Erkenntniß als jenen gewissen Be-
standtheil betrachtet, von dem aus ihr übriges Gebiet in
Besitz genommen werden könnte. Soll die Art der Ent-
stehung über den Anspruch auf Wahrheit entscheiden, und
zwar, wie es hier gewöhnlich gemeint wird, auf Wahrheit
in Bezug auf ein dem Erkennen fremdes und jenseitiges
Sein, so ist es unmöglich, einen Schritt zu thun, ohne
speciellere Voraussetzungen über die Stellung zu machen,
in welcher sich das erkennende Subject gegenüber jenen
Gegenständen seines Erkennens befindet, und über die Art
des Verhältnisses zwischen beiden, durch welches der Vor-
gang des Erkennens verwirklicht wird; denn nur die Kennt-
niß dieser Umstände könnte die Gefahren beurtheilen lehren,
die der Bildung wahrer Vorstellungen hier entgegenstehen.
Darum ist das Vorgeben, man wolle zunächst durch völlig
unbefangene Beobachtung, ohne Einmischung fraglicher
Verstandesgrundsätze, den Hergang der Erkenntniß kennen
lernen, eine haltlose Täuschung; jeder Versuch zur Aus-
führung ist nothwendig voll von metaphysischen Voraus-
setzungen, aber von unzusammenhängenden und ungeprüf-
ten, weil man sie nur gelegentlich im Augenblick des Er-
klärungsbedürfnisses macht. Da mithin dieser Cirkel un-
vermeidlich ist, so muß man ihn reinlich begehen; man
muß zuerst festzustellen versuchen, was Erkenntniß, ihrem
allgemeinsten Begriff nach, bedeuten kann und welches
Verhältniß zwischen einem erkennenden Subject und dem
Object seiner Erkenntniß in Gemäßheit der noch all-
gemeineren Vorstellungen denkbar ist, nach welchen wir
die Einwirkung jedes beliebigen Elementes auf jedes zweite
zu denken haben. Diesem letzteren Gedanken, also einer
metaphysischen Ueberzeugung, haben wir das Verhältniß
526 Drittes Kapitel.
zwischen Subject und Object des Erkennens unterzuordnen;
nicht aber zuerst über dieses specielle Verhältniß einen zu-
fälligen mehr oder minder probablen Einfall aufzustellen,
um dann nach ihm über die Wahrheitsfähigkeit aller unserer
Erkenntniß zu urtheilen. Ich lasse ganz unberücksichtigt
die andere Frage, inwieweit es denn ausführbar sein möge,
auch nur das Thatsächliche der allmählichen Entwicklung
unserer ganzen Vors tellungs weit festzustellen; beobachtbar
ist ihr Hergang nicht, denn jeder Beobachter hat ihn längst
hinter sich. Mag nun in vielen Fällen auch das ausgebildete
Bewußtsein sich noch des Weges erinnern, auf welchem
es zu seinen jetzigen Vorstellungen gekommen ist, so wird
man mir anderseits zugeben, daß in vielen andern Fällen
diese angeblichen Beobachtungen nur ziemlich willkürliche
Einfälle über die Art sind, auf welche man sich die Ent-
stehung der Vorstellungen glaubt denken zu können.
323. Verfolgen wir die Versuche, die gemacht worden
sind, zuerst eine zweifellose Thatsache zu gewinnen, von
der aus die Entstehung der Erkenntniß und die Wahrheit
derselben beurtheilbar würde, so begegnen wir am Anfang
der modernen Zeit dem Satze des Descartes: cogito,
ergo sum; der einzigen Gewißheit, die ihm aus dem Zweifel
an aller überkommenen Erkenntniß übrig zu bleiben schien.
An diesen Satz ist oft angeknüpft worden, und immer,
schon seit Augustinus, bei dem wir ihn zuerst finden, hat
er sich als eine ebenso zweifellose als vollkommen un-
fruchtbare Wahrheit erwiesen; nicht der kleinste Schritt
zur Begründung irgend einer Erkenntnißtheorie ist aus
ihm allein, ohne Zuziehung anderer von ihm unabhängiger
Gedanken, möglich gewesen; schon das nächste Kriterium:
wahr seien die Vorstellungen, die gleiche Evidenz und
Klarheit genießen, meinte Descartes selbst aus jenem Satze
nicht ableiten zu können, ohne sich gegen die Möglichkeit,
vollkommen unwahre Ideen betrögen uns mit derselben
Evidenz, auf einem früher erwähnten Umwege sicher zu
stellen. In der That ist leicht einzusehen, daß aus diesem
Anfang nichts Neues fließen kann. Betrachtet man den
Satz in seiner negativen Bedeutung, nämlich daß nichts
uns gewiß sei als die Thatsache unseres Denkens, nicht
aber die Wirklichkeit einer Außenwelt, so erinnere ich an
eine früher gemachte Bemerkung: auch wenn jene Außen-
welt wirklich ist, so kann doch in uns von ihr nur ein
Gedankenbild, nicht sie selbst vorhanden sein; die That-
Apriorismus und Empirismus. 527
Sache mithin, daß nichts uns unmittelbar gewiß ist als
unsere eigne Gedankenwelt, kann niemals darüber ent-
scheiden, ob nur sie, imd ob nicht außer ihr eine Welt
des Seins vorhanden ist, auf welche sie sich bezieht. Und
selbst, wenn die Vorstellung dieser Außenwelt sich als ein
nothwendiges Erzeugniß unserer erkennenden Thätigkeit
nachweisen ließe, unvermeidlich gemacht durch die Organi-
sation unseres Geistes und durch die Gesetze, nach denen
unsere Gedanken sich verknüpfen müssen, wenn also aus
der Thatsache dieses cogito sich die Nothwendigkeit dieses
subjectiven Ursprungs unserer Annahme einer Außen-
welt des Seins ableiten ließe: auch dann würde die Wahr-
heit dieser Annahme weder widerlegt noch bewiesen sein;
denn auch wenn es diese Welt wirklich gibt, können wir
dennoch auf die Vorstellung derselben nur dann gerathen,
wenn die Natur unseres Geistes und der Verlauf unserer
Gedanken sie als eine zur Vermeidung innerer Wider-
sprüche für uns nothwendige Ergänzung hervortreibt
Achten wir aber auf den bejahenden Sinn des Satzes, so
finden wir diesen nicht zweckmäßig formulirt,* er ist nicht
mehr Ausdruck einer unmittelbaren Thatsache, sondern
einer Abstraction. Dies freilich mache ich ihm nicht zum
Vorwurf, daß er an der ersten Person der Verba cogito
und sum festhielt; denn gewiß, so dunkel auch und zu
weiteren Untersuchungen anregend die hierin enthaltene
Vorstellung des Ich sein mag: zu dem ursprünglichsten
Thatbestand dieser einfachsten Erfahrung gehört sie un-
widersprechlich ; und Meinungen, welche dem cogito das
cogitare, dem sum das esse als die erste und gewisseste
Thatsache der Beobachtung unterschieben möchten, ver-
fehlen ganz den Ruhm vorurtheilsloser und unbefangener
Grundlegung, den sie mit dem exacten Verfahren der Natur-
wissenschaft zu theilen suchen. Nirgends begegnet uns
als eine einfachste Thatsache eine Vorstellung, die blos
wäre, die aber Niemand hätte; nirgends ein Bewußtsein,
das nur als Bewußtsein überhaupt und nicht als das Be-
wußtsein eines Ich erschiene, welches in ihm entweder
seiner selbst oder eines Andern sich bewußt wird; von
dieser bestäadigen Zurückbeziehung auf ein Subject, dessen
Natur völlig im Dunkel bleibt, mag später die Wissenschaft
die Ereignisse des Denkens und Wissens irgendwie zu
sondern suchen; ursprünglich gewiß und gegeben aber sind
sie nur in der Form des cogito, nicht in der infinitivischen
des cogitare. Anderseits freilich, w£ls in dieser richtigen
528 Drittes Kapitel.
Personalendung Fruchtbares liegen mag, ist von Descartes
übersehen worden ; welche Gedanken Kant daran zu knüpfen
wußte, ist nicht dieses Ortes. Eine nicht förderliche Ab-
straction liegt nun aber in dem Satze des Descartes in-
sofern, als er von allen den einzelnen Zuständen, die als
solche die unmittelbare Gewißheit der Selbsterfahrung be-
sitzen, nur ihren allgemeinen Charakter hervorhebt: den
der cogitatio, d. h. jenes Bewußtseins in weitester Be-
deutung, durch welches sich sehr verschiedene Zustände
der Seele, Empfinden und Vorstellen Fühlen und Wollen,
gemeinsam von dem unterscheiden, was wir uns als Zu-
stand eines selbstlosen unbeseelten Wesens glauben denken
zu können. Gewiß geht nun dieses Bewußtsein in jede
der einzelnen Selbstbeobachtungen ein ; aber welchen Nutzen
konnte es haben, nur diesen gemeinsamen Zug aller zu er-
wähnen und die einzelnen Inhalte zu verschweigen, in
denen allein er doch wirklich sein und unmittelbarer Gegen-
stand der Selbstbeobachtung werden kann? Nicht daß
dieses cogito überhaupt vorkommt, in irgend einer der
Formen, die es annehmen kann, sondern in welchen
Formen es vorkommt, darin lag ein fruchtbarer Anfangs-
punkt; nicht die nackte Thatsache, daß wir bewußt sind
oder denken, lehrt uns die uns zugängliche Wahrheit kennen,
sondern was wir denken, der Inhalt unserer cogitatio,
ist nicht nur das Ursprünglichste, was uns gegeben ist,
sondern auch das Einzige, woraus folgen kann, was wir
denken sollen oder müssen. Wies doch Descartes
selbst darauf hin, daß auch der Zweifler, indem er zweifelt
oder jedes Wissen leugnet, die Thatsache der cogitatio
durch sein eignes Thun bestätigt; eben deshalb nun, weil
sie mit jedem wahren Wissen jedem Zweifel und jedem
Irrthum auf gleiche Weise verknüpft ist, kann sie nicht
dazu dienen, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden.
324. Es war daher unvermeidlich ein neuer Anfang,
an den die Untersuchung über unsere Erkenntniß anknüpfte :
der Glaube an die Wahrheit dem Geiste eingeborener
Ideen. An diesen Namen, der einen langen Streit in
die Geschichte der Erkenntnißtheorie eingeführt hat, muß
man nicht Einwürfe knüpfen, die mit einigem guten Willen
sich leicht beseitigen lassen. Schon die Alten, wenn sie
von dem sprachen, quod a Natura nobis insitum est, und
Alle, die sich ähnlich ausdrückten, sind gewiß weit von
der Annahme einer Wahrheit entfernt gewesen, die, dem
Apriorismus und Empirismus. 529
Geiste an sich fremd, in irgend einem Augenblick seines
beginnenden Lebens ihm eingeprägt und von da ein be-
ständiger Gegenstand seines bewußten Vorstellens geworden
sei. Nur dies meinten sie: so sei eben unser Geist durch
seine eigene Natur, daß er, unter Bedingungen die auf ihn
einwirken, bestimmte Gewohnheiten der Gedankenver-
knüpfung nothwendig entwickeln werde, zuerst als eine
Verfahi*ungsweise, die er unbewußt befolgt; zuletzt, auf
unzählige so ausgeübte Handlungen seines Denkens reflec-
tirend, hebe er die unbewußt in ihnen befolgte Regel seines
Verhaltens nun selbst zum Gegenstande seines Vorstellens
hervor. Angeboren aber nannte man diese Ideen in der
Voraussetzung, es reiche nicht hin, daß der Geist, in dem
sie sich bilden sollen, nur im Allgemeinen den Charakter
eines vorstellungsfähigen Wesens trage, so daß unter den-
selben Bedingungen dieselben Ideen in jedem Wesen ent-
stehen müßte, das diesen formalen Charakter theilte; es
schien vielmehr nothwendig, daß in jedem Geiste eine
concrete Anlage seiner Natur, durch die er sich von andern
vorstellungsfähigen Wesen unterscheiden könnte, die
Form bestimmte, in welcher von ihm jene Vorstellungs-
thätigkeit ausgeübt und ihre einzelnen Handlungen ver-
knüpft werden. Allerdings lag keine Veranlassung vor, diese
Annahme eines solchen möglichen Unterschiedes
zwischen verschiedenen vorstellungsfähigen Wesen für
mehr als eine Fiction zu halten, durch die man nur zu
verdeutlichen suchte, daß der hinreichende Grund unserer
Erkenntniß nicht in dem allgemeinen Charakter der cogitatio
liege, sondern in einer concreteren, aher allen Geistern in
Wirklichkeit gemeinsamen Bestimmtheit ihrer Natur. In-
dessen konnte, nach dem Zugeständniß der Denkbarkeit
dieses Unterschiedes, doch der Versuch nicht mehr ab-
gewehrt werden, zu sehen, was aus ihm folgt, wenn man
ihn für wirklich nimmt. Und dann fielen die beiden Theile
des Cartesischen Gedankens, die Apriorität der Ideen und
ihre Wahrheit, auseinander: jedem Wesen muß dasjenige
als Wahrheit erscheinen, was aus der Folgerichtigkeit
seiner Natur fließt; ist daher ein Schatz von Ideen jedem
in der angegebenen Weise eingeboren, so ist es nur ein
lebhafter, aber grundloser Glaube, wenn wir diejenigen,
die uns Menschen gegeben sind, in höherem Sinne für
Wahrheit halten, als die von ihnen abweichenden, die sich
vielleicht mit gleicher Evidenz anders gearteten Wesen
aufdrängen. Man sieht, daß dies Bedenken nicht nur Geltung
Lotze, Logik. 34
öoO Drittes Kapitel.
hat, wenn wir die Gesammtheit unserer Erkenntniß einer
objectiven Welt des Seins entgegensetzen, dessen Abbildung
sie sein soll, sondern auch dann, wenn wir, was noch
unerläßlicher scheint, nur das für Wahrheit halten, was
allen Geistern auf gleiche Weise nothwendig, nicht aber
dem einen so dem andern anders vorkommt. Die spätere
Polemik hat hieran angeknüpft und behauptet: sind unsere
Ideen angeboren, so haben sie keinen Anspruch auf Wahr-
heit; sie können ihn nur erlangen, wenn wir sie von der
möglichen Verschiedenheit der vorstellenden Subjecte un-
abhängig und abhängig nur von der Natur einer für alle
gemeinsamen Objectenwelt denken.
325. Ehe man in das Für und Wider über diese Fragen
eintritt; muß man sich überzeugen, daß hier der Punkt ist,
an welchem man anstatt der verstohlenen Voraussetzungen,
denen man sich zu überlassen liebt, unumwunden eine
ausdrückliche Voraussetzung machen muß. Keine dieser
Untersuchungen kann ihr Ergebniß, worin es auch bestehen
mag, überhaupt begründen ohne irgend eine beiläufig ge-
machte Annahme über die Art, in welcher sie die Ein-
wirkung eines Erkenntnißobjectes auf das erkennende Sub-
ject für möglich denkt. Anstatt sie beiläufig zu machen,
setzen wir diese Annahme an die Spitze unserer Gedanken,
und zwar so, wie die vielseitige Erfahrung des Denkens
sie formuliren gelehrt hat: wo auch immer zwischen zwei
Elementen A und B von irgend welcher Natur das Ereigniß
stattfindet, welches wir eine Einwirkung des A auf B
nennen, niemals besteht dieses Wirken darin, daß ein
Bestandtheil a oder ein Prädicat a oder ein Zustand a,
welcher dem A angehörte, sich von diesem löste und fertig
unverändert selbständig nach B überginge, um diesem sich
anzuknüpfen oder von ihm aufgenommen zu werden oder
jetzt dessen Zustand zu sein; immer ist jener im A
entstehende oder vorhandene Zustand a nur der Grund,
um dessenwillen, unter Voraussetzung einer zwischen A
und B bestehenden oder eintretenden Beziehung C, nun
auch B einen neuen Zustand b aus seiner eignen Natur
heraus und in sich selbst erzeugen muß. Wodurch diese
Nothwendigkeit des Zusammenhangs der Zustände von A
und B herbeigeführt, wie es also gemacht wird, daß B
nach A sich richten muß, worin ferner, entweder allgemein
oder in verschiedenen Fällen verschieden, die Beziehung C
besteht, welche nothwendig ist zur Erzeugung der Wirkung :
alle diese Fragen sammt der Vorfrage, ob sie überhaupt
Apriorismus und Empirismus. 531
beantwortbar sind, können unserm jetzigen Gedankengang
fremd bleiben; uns genügt das ausgesprochene formale
Verhalten, gleichviel wie es in der Wirklichkeit realisirt wird.
Aus ihm aber folgt, daß niemals die Form der Wirkung b
unabhängig von der Natur des Objectes B sein kann, welches
sie erfährt; sie ändert sich vielmehr mit ihm, und dieselbe
Beziehung C, die zwischen A und B stattfand, wird, wenn
sie zwischen A und Bi eintritt, in B^ eine andere Wirkung b^,
verschieden von b hervorbringen. Ebensowenig ist die
Wirkung b unabhängig von der Natur des einwirkenden
Elementes A und von der Art der Beziehung C; sie ändert
sich mit beiden ; sie wird ß werden, wenn nicht A, sondern
AI mit B in die Beziehung C, und ßi, wenn B mit A in
die Beziehung C^ tritt. Immer aber werden b b^ ß ßi eine
geschlossene Reihe von Ereignissen bilden, die nur in B
m.öglich sind, und A und C werden nur als Reize zu be-
trachten sein, die da bestimmen, welche von den vielen
der Natur des B möglichen Wirkungen in jedem Augen-
blicke und in welcher Reihenfolge sie wirklich werden
sollen. Gefällt man sich, die vielgebrauchten Bezeichnungen
der Receptivität und Spontaneität hier anzuwenden,
so ist jedes Element receptiv für Anregungen seiner Spon-
taneität und keines spontan wirksam, ohne diese An-
regungen recipirt zu haben.
326. Diesem allgemeinen Verhalten ordnen wir die Ein-
wirkung von Erkenntnißobjecten auf ein erkennendes Subject
unter. Jede Annahme zuerst ist ganz unzulässig, welche
den Ursprung unserer Erkenntnisse ganz und einseitig in
das erkennbare Object verlegt; es genügt wenige Aufmerk-
samkeit, um selbst in der tabula rasa, mit der man die
empfängliche Seele verglichen hat, oder in dem Wachse, dem
ähnlich sie Eindrücke nur aufnehmen sollte, die Unver-
meidlichkeit der spontanen Rückwirkung zu entdecken. Nur
weil die Tafel durch die ihrer Natur und Consistenz eigenen
Wirkungsweisen die farbigen Punkte festhält und sie am
Verfließen in einander hindert, nur weil das Wachs den
Anziehungen seiner Theile diesen unelastischen Aggregat-
zustand verdankt, zwar leicht verschiebbar zu sein, aber
die aufgezwungene Form festzuhalten, nur deswegen eignen
sich beide, Eindrücke auf sich malen oder in sich ein-
prägen zu lassen; ein Element, das gar keine eignen Wir-
kungsweisen dem ankommenden Reize entgegenstellt, würde
nicht einmal die ihm zugeschriebene Eigenschaft der reinen
34*
632 ' Drittes Kapitel.
Receptivität besitzen. Es ist ferner nothwendig sich klar
zu machen, daß in einer Erkenntniß zwar der von dem
Object herrührende unmittelbare Beitrag fehlen kann, aber
niemals derjenige, den die Natur des Subjects liefert; denn
dies ist denkbar, daß zwei Vorstellungen a und ß, nachdem
sie einmal auf äußere Veranlassung in der Seele entstanden
sind, sich nun nach Gesetzen, die nur aus der Eigen-
thümlichkeit der Seele fießen, und ohne wiederholte
Beihülfe der Außenwelt, zu einem neuen Ergebniß y
verschmelzen; undenkbar dagegen, daß ein Eindruck von
außen auf uns geschähe, an dessen Gestaltung unser eignes
Wesen nicht Theil nähme. Und darum können wir auch
der Unterscheidung nicht beistimmen, welche Kant, in
seinen Gedanken zwar nicht irrend, aber lässig im Aus-
druck, so aufstellte, daß er den gesammten Inhalt unserer
Erkenntniß der Erfahrung, und nur ihre Form der an-
gebornen Thätigkeit des Geistes zuschrieb. Denn Kant wußte
sehr wohl, was wir hier hervorheben, daß auch die ein-
fachen sinnlichen Empfindungen, die recht eigentlich den
primitiven Inhalt aller unserer Wahrnehmungen bilden,
uns nicht fertig von außen kommen, daß sie vielmehr,
wenn wir überhaupt die Vorstellung dieser Außenwelt fest-
halten, nur als Rückwirkungen unserer eignen geistig sinn-
lichen Natur auf die von dorther kommenden Reize gelten
können ; sie sind die a priori uns eigenthümlichen Möglich-
keiten des Empfindens, zur Wirklichkeit in bestimmter
Reihenfolge freilich durch äußere Veranlassungen berufen,
aber nie durch diese Veranlassungen uns fertig überliefert.
Was aber ferner aus der Zusammensetzung dieser em-
fachen Elemente sich bildet, das räumlich anschauliche
Bild dieser bestimmten Gestalt, der zeitliche Verlauf jener
Melodie oder Reihenfolge, auch das ist, selbst in allen
Einzelheiten seiner Zeichnung, nicht minder ein Erzeugniß
des vorstellenden Subjects, nicht minder also a priori.
Denn auch wenn wir annähmen, in einem wirklich sich
ausdehnenden Räume oder einer wirklich verlaufenden Zeit
befänden sich Dinge in denselben Lagen oder in demselben
Wechsel, in welchem wir sie dann räumlich oder zeitlich
auffassen: auch dann würde diese räumlich zeitliche Vor-
stellung derselben etwas anderes sein als ihr eignes
räumlich zeitliches Sein; wir könnten nicht dahin ge-
langen, unsere Vorstellungen a ß y in dieselbe Ordnung
zu bringen, welche zwischen ihren objectiven Ursachen
Apriorismus und Empirismus. 533
a b c besteht, wenn nicht unsere eigene Natur und die
Gesetze unseres Vorstellens uns dazu befähigten und
nöthigten.
327. Oder wollte man sich durch Worte täuschen lassen
und meinen, diese geringfügige Leistung einer Abbildung
verstehe sich von selbst und bedürfe keiner wiedererzeugen-
den Arbeit? Aber was heißt abbilden und wie entsteht
ein Bild? Lassen wir noch ganz das Auge beiseit, für
welches zuletzt jedes Bild erst Bild ist, und fragen wir
nur: wie stellt ein Spiegel die Bedingungen her, unter
welchen für ein Auge das Bild eines Gegenstandes ent-
stehen kann ? Er vermag es nur, indem er die Lichtstrahlen,
die der Gegenstand auf ihn sendet, mit Beibehaltung ihrer
gegenseitigen Ordnung nach einer anderen Richtung zurück-
wirft, und hierzu wird er nur durch Glätte und Form
seiner Oberfläche befähigt. Von diesen Eigenschaften hängt
es ab, ob er die Strahlen so regellos zerstreut, daß kein
Auge sie zu einem Bilde vereinigen kann, oder ob er sie
so wieder ausschickt, daß sie divergirend dem Blicke doch
zusammenfaßbar werden und convergirend ein reelles Bild
zusammensetzen, das dem Auge wie ein neuer Gegenstand
sichtbar wird. Mit dem allen aber stellt der Spiegel doch
nur den Reiz her, der auf die Sehkraft ähnlich wirkt,
wie der Gegenstand selbst, und deshalb ihn vertreten kann;
fragen wir aber, wie nun in Folge desselben ein Bild
gesehen werden kann, so empfinden wir, wie unpassend
überhaupt die Vergleichung einer Erkenntniß mit einer Ab-
bildung war. Das erkennende Bewußtsein ist keine wider-
stehende gekrümmte oder ebene, glatte oder rauhe Ober-
fläche, und es würde ihm nichts helfen, empfangene Strahlen
irgendwohin zu reflectiren; in sich selbst und in seiner
zusammenfassenden Einheit, die kein Raum und keine
Platte, sondern eine Thätigkeit ist, muß es die erregten
Einzelvorstellungen zu der Anschauung einer räum-
lichen Ordnung verbinden, welche nicht selbst wieder eine
räumliche Ordnung, sondern eben nur deren Vorstellung
ist. Denn wenn nun auch, wie vielleicht Einige meinen,
die Vorstellung eines linken Punktes in unserem Bewußtsein
links neben der Vorstellung eines rechten Punktes läge,
und die eines oberen über der eines unteren, so wäre
durch diese Thatsache noch nicht die Anschauung dieser
Thatsache gegeben; hierdurch allein würden wir uns in
der That nur als ein Spiegel verhalten, in welchem die
Wahrnehmung einer andern Seele die Lage jener Punkte
534 Drittes Kapitel.
entdecken könnte, wenn diese Seele wenigstens das voll-
brächte, was unsere eigene nicht gethan hätte: wenn sie
nämlich die von uns in bestimmter Ordnung ihr zugestrahl-
ten Eindrücke nicht blos erlitte und in sich beherbergte,
sondern sie sich zur Veranlassung dienen ließe, eine zu-
sammenfassende Anschauung dieser Ordnung zu er-
zeugen. Nichts also bleibt von diesem ungenauen Gleichniß
übrig, als die Ueberzeugung, daß selbst die bloße Wahr-
nehmung eines Sachverhaltes, so wie er ist, nur unter
der Voraussetzung möglich ist, das wahrnehmende Subject
sei durch seine eigene Natur befähigt und genöthigt, die
von den Gegenständen ihm zugekommenen Anregungen in
diejenigen Formen zu vereinigen, die es an ihnen anschauen
soll und von ihnen einfach zu empfangen glaubt. Daß
es sich ebenso verhält mit allen Vorstellungen, die wir
über den inneren Zusammenhang verschiedener Wahr-
nehmungen bilden, füge ich vor der Hand nur kurz hinzu:
denn eben dies ist am öftersten zugestanden worden. Daß
wir eine ursächliche Verbindung zwischen zwei Ereignissen
nicht sehen, daß vielmehr die Vorstellung einer solchen
erst von uns zu der wahrnehmbaren Zeitfolge der Be-
gebenheiten hinzugebracht wird, hat man allseitig ein-
geräumt, bald um durch diesen apriorischen Ursprung dem
Begriff des Causalnexus die höhere Würde eines nothwendig
allgemeingültigen Gedankens zu sichern, bald um ihm jede
Gültigkeit in Bezug auf die Welt der Dinge abzusprechen,
aus deren Wahrnehmung er nicht entstanden sei. Beide
Folgerungen sind unrichtig; in Bezug auf die zweite wieder-
hole ich die einfache Betrachtung: auch wenn ein ursäch-
licher Zusammenhang zwischen den Ereignissen der Außen-
welt stattfindet: als unmittelbarer Gegenstand einer Wahr-
nehmung, die sich völlig receptiv verhielte, könnte er uns
auch dann nicht gezeigt werden ; immer kann uns durch
die Art der Verbindung zwischen Einzeleindrücken nur
eine Veranlassung gegeben werden, ihn hinzuzudenken, und
diese Veranlassung kann nur dann wirksam sein, wenn es
unserer geistigen Natur unvermeidlich ist, jene Verbin-
dung des Mannigfaltigen in unserem Bewußtsein uns durch
diese Ergänzung erst zu vervollständigen und zu recht-
fertigen.
328. Die ausgedehnte Apriorität, die wir so für unsere
Erkenntniß in Anspruch nehmen, ist indessen nur die eine
Seite der Sache. Eben dann, wenn wir alle sinnlichen
Apriorismus und Empirismus. 535
Empfindungsweisen, unsere Raumanschauung, unsere Be-
griffe von Ding und Eigenschaft, von Ursache und Wirkung,
endlich die ethischen Vorstellungen des Gut und Böse,
als angeborene Aeußerungsweisen des Geistes betrachten,
eben dann kann der Grund zu den besonderen einander
ausschließenden Anwendungen ihrer aller nicht ebenso in
dem Wesen dieses Geistes liegen. In unserer Raum-
anschauung sind unzählige Figuren möglich, aber nur be-
stimmte beobachten wir in jedem Augenblick; vielerlei
Farben könnten wir sehen und sehr verschiedene Reihen-
folgen von Tönen hören, aber wir können das Roth nicht
ändern, das wir jetzt und hier bemerken, obgleich an
derselben Stelle uns auch Blau und Gelb empfindbar wäre,
und der jetzt gehörten Melodie können wir keine der un-
zähligen unterschieben, die wir in andern Augenblicken
vernommen haben; unabhängig von uns ordnen sich die
Ereignisse bald so daß sie uns zur Vorstellung eines ursäch-
lichen Zusammenhangs nöthigen, bald so daß sie uns die
Annahme desselben unmöglich machen ; endlich diese C o m -
bination der Veranlassungen, die uns zur Aus-
Übung unserer apriorischen Fähigkeiten ge-
geben werden, ändert sich von Person zu Person; sie
kann also nicht in der allgemeinen Natur unseres Geistes
begründet sein. Es ist gleichgültig für unsern gegenwärtigen.
Zusammenhang, wo wir ihre Ursachen suchen. Vielleicht
hat die gewöhnliche Meinung Recht, der wir uns im Leben
alle, fügen, und von der wir in dieser Betrachtung aus-
gingen : vielleicht besteht eine Welt von Dingen außer uns,
in welcher wir selbst bestimmte Plätze haben, und deren
eigene Veränderungen verschieden auf uns wirken je nach
den verschiedenen oder veränderlichen Stellungen, die wir
in ihr einnehmen. Dann wird das Gewebe der Vorstellungen,
die in uns entstehen, zwar nicht in dem Sinne Anspruch
auf den Namen der Wahrheit haben, als könnte es ein
ähnliches Bild dessen darstellen, was in dieser Welt der
Dinge ist oder geschieht; aber jede Verknüpfung Trennung
oder Abwechselung der Erscheinungen, die uns so vor-
schweben, wird doch als Folge den Gang einer vielleicht
andersgearteten aber bestimmten Veränderung verrathen,
die in den Verhältnissen der auf uns wirkenden Dingwelt
stattgefunden hat. Zu demselben Ergebniß würde die andere
idealistische Meinung führen, die uns im Leben stets un-
geläufig bleibt, und zu welcher zulängliche Beweggründe
nur innerhalb philosophischer Untersuchungen aufzufinden
53G Drittes Kapitel.
sind. Vielleicht gibt es, ihr zufolge, keine Welt der Dinge
und der Ereignisse außer uns, sondern nur die Erscheinung
einer solchen wird durch eine einzige unbekannte und
alle Geister durchdringende Macht eben nur in diesen
Geistern selbst und so hervorgebracht, daß die Weltbilder,
welche die verschiedenen um sich herum zu schauen
glauben, zu einander passen und alle, jeder an seiner
besonderen Stelle, sich in ein und dasselbe Universum ein-
geordnet erscheinen. Immer wird auch diese Vorstellungs-
weise zugestehen müssen, daß für jeden einzelnen Geist
die Anregung, die er zur Erzeugung seines Weltbildes
erhält, eine ihm selbst fremde ist und zugleich unerklärlich
aus der allgemeinen geistigen Natur, die er mit allen andern
theilt; woher sie auch stammen mag, sie bleibt ein
empirisches oder aposteriorisches Element unserer Er-
kenntniß. Und wieder: jede Verknüpfung Trennung oder
Abwechselung der Erscheinungen, die uns so entstehen,
wird auf ein anderes Geschehen, auf Veränderungen hin-
weisen, die jetzt zwar nicht mehr in den Verhältnissen
mannigfacher Dinge, wohl aber in dem Handeln jener ein-
heitlichen Macht vorgehen, welche diesen Traum einer
Außenwelt uns verschafft. Hier endlich wie dort wird es
eine würdige Aufgabe sein, aus der Beobachtung und Ver-
gleichung der Erscheinungen die beständigen Gesetze zu
ermitteln, nach denen ihr wechselreiches Spiel erfolgt, und
die Auflösung dieser Aufgabe wird die Erkenntniß einer
Wahrheit sein, auch wenn es kein Mittel geben sollte, zu
entscheiden, von welcher anderen Gesetzmäßigkeit einer
uns unbekannt bleibenden Außenwelt diese Gesetzlichkeit
des Verlaufs unserer Innenwelt hervorgebracht wird. Es
ist im Wesentlichen die Ansicht Kant's, die ich hier
vertrete, und von der die deutsche Philosophie nie hätte
ablassen sollen. Ich vertrete sie aber unter ausdrücklicher
Ablehnung jeder Beantwortung der letztgedachten Frage.
Mag es immerhin sein, daß Jemand eine unmittelbare
Gewißheit über Sein oder Nichtsein jener Außenwelt zu
besitzen glaubt: was und wie sie sei, wird er doch immer
nur durch Rückschlüsse von den Erscheinungen aus ent-
räthseln können; hier muß daher zuerst Recht geschaffen
werden: die gewissen Grundsätze, nach denen der Zu-
sammenhang dieser Innenwelt zu beurtheilen ist, müssen
zuerst festgestellt werden, ehe von einer Anwendung der
gewonnenen Einsicht auf jene der Metaphysik zu über-
lassende Sonderfrage zu reden ist.
Apriorismus und Empirismus. 537
329. Wenn wir nun aber Wahrheiten voraussetzen,
die, in dem früher angegebenen Sinne des Wortes, unserem
Geiste angeboren sind, woher erlangen wir die Kenntniß
derselben, wenn nicht dadurch, daß wir sie in uns finden?
also durch eine innere Erfahrung? so daß doch zuletzt
Erfahrung die einzige Quelle aller unserer Erkenntniß
wäre? Dieser Einwurf ist gemacht worden; man wird
ihn zunächst für ebenso unfruchtbar als unwiderleglich
halten. Denn sicher : wenn wir eine Wahrheit wissen sollen,
müssen wir uns ihrer bewußt sein, und w^enn wir früher
uns ihrer nicht bewußt waren, so ist der Uebergang zum
Wissen derselben eine Begebenheit, die wir nur erleben,
oder erfahren können ; in demselben Sinne ist unser ganzes
Dasein eine Thatsache, die wir vorfinden. Gegen den
Apriorismus angeborener Ideen kann mithin dieser Einwand
nicht gelten; vielmehr: auch wenn es angeborene Ideen,
auch wenn es sie sogar in dem Sinne gäbe, daß sie
einen unablässigen Inhalt unsers Bewußtseins bildeten, auch
dann würde eine hierauf gerichtete Reflexion ihr Vorhanden-
sein zunächst immer nur als eine gegebene Thatsache
erfahren oder erleben. In dieser weitläufigen Bedeutung
genommen ist der Begriff der Erfahrung nicht mehr der
Anlaß zu einer Verschiedenheit der Meinungen; von Wich-
tigkeit ist nur, als was wir jene Gedanken erfahren,
ob als angeborene Wahrheiten oder als Erfahrungen in
dem beschränkteren Sinne, in welchem sie im Gegensatz
zu diesen auf einen dem Geiste selbst auswärtigen Ursprung
hindeuten. Und hier verschärft sich zunächst die vorige
Frage,- wenn wir nach Kennzeichen suchen, welche den
einen Fall von dem andern unterschieden. Aufgenöthigt
werden uns die Eindrücke, die von außen kommen, und
wir können sie nicht ändern; aber unvermeidlich und
nothwendig erscheinen uns auch jene Wahrheiten; daß
wir im ersten Fall einen fremden Zwang, im zweiten nur
den unserer eigenen Natur erlitten, können wir vermuthen,
aber wie beweisen? In der That ist indessen, im un-
befangenen Gebrauch des Denkens, nicht dies das Erste,
was uns jetzt, in dem Zusammenhange unserer methodo-
logischen Betrachtung, das Wichtigste war: nicht in dieser
ihrer Eigenschaft, dem Geiste angeboren zu sein, werden
jene Wahrheiten erfahren, sondern die sachliche Selbst-
verständlichkeit ihres Inhalts fällt uns zuerst auf und macht
sie, nachdem irgend ein Beispiel uns veranlaßt hat, sie
zu denken, von aller Bestätigung durch fernere Beispiele,
538 Drittes Kapitel.
mithin von der Erfahrung unabhängig, welche diese liefern
könnte. Allgemeinheit und Noth wendigkeit sind
daher immer die beiden Eigenschaften gewesen, die den
apriorischen Erkenntnissen zugeschrieben wurden. Wir ver-
stehen die erste in dem Sinne, daß überall, sobald das
Subject einer solchen Erkenntniß gedacht wird, auch das
zugehörige Prädicat als selbstverständlich mit ihm ver-
bunden erscheint; und in nichts Anderem als in dieser
Selbstverständlichkeit besteht anderseits auch die Noth-
wendigkeit der Geltung, die allgemeinen Wahrheiten offen-
bar in anderer Bedeutung zukommt, als den Verknüpfungen
verschiedener Inhalte, die uns die veränderliche Erfahrung
vorführt. Gegeben sind auch diese so, daß in dem Augen-
blick, in welchem sie stattfinden, unsere Willkür sie nicht
zu trennen vermag; aber obwohl nothwendig in dem Sinne,
in welchem es jede Thatsache ist, die nicht hinweggeleugnet
werden kann, entbehrt doch der Inhalt der Erfahrung jene
Selbstverständlichkeit der inneren Verknüpfung, die uns
den einen seiner Bestandtheile nicht ohne den andern
zu denken erlaubt. Aber zuletzt: was in diesem einen
Augenblicke uns selbstverständlich erschiene, woher hätten
wir das Recht zu behaupten, daß es in jedem andern
Augenblicke uns ebenso erscheinen werde? ihm also jene
Allgemeingültigkeit zuzuschreiben, durch die es, der ver-
änderlichen Erfahrung gegenüber, zu einem feststehenden
Grundsatze für deren Beurtheilung würde? Schon die antike
Skepsis erhob diesen Zweifel, und er bewog sie, die Zu-
lässigkeit jeder allgemeinen Behauptung zu leugnen. In
der That, welchen Grundsatz wir auch immer erdenken
niöchten, um uns zu berechtigen, von der Evidenz eines
Gedankens im jetzigen Augenblick auf gleiche Evidenz des-
selben in aller Folgezeit zu schließen, als allgemeiner Grund-
satz würde er genau dem Bedenken unterliegen, welches
er zu heben bestimmt wäre. So würde es denn, um uns
der Allgemeingültigkeit eines Gedankens zu versichern, kein
Mittel geben, wenn uns die Evidenz nicht genügt, mit
welcher sein Inhalt, einmal gedacht, sich selbst ewige
Geltung der Erfahrung vorgreifend zuschreibt. Und man
würde bedenken müssen, daß diese Unfähigkeit nicht eine
beklagenswerthe Unvollkommenheit nur der menschlichen
Einsicht sein würde; jeder Geist th eilte sie, dessen Vor-
stellungsleben, in der Zeit sich entwickelnd, irgend noch
Aehnlichkeit mit dem unsrigen hätte; welche wahrste Wahr-
heit ihm auch angeboren sein möchte, sie würde in sein
Apriorismus und Empirismus. 539
Bewußtsein doch nur in einem bestimmten Augenblicke
treten, und alle Evidenz, die sie dann für ihn hätte, würde
den Zweifel an ihrer Denknothwendigkeit im nächsten
Augenblicke nicht heben.
330. Vielleicht stimmt man diesem Ergebnisse eifrig
zu und fährt fort: eben dies beweise die Vergeblichkeit
unserer Parteinahme für Wahrheiten, die dem Geiste
a priori gegeben seien; selbst nachdem er sie besitze, habe
er kein Mittel, sie von dem zu unterscheiden, was ihm
nur durch Erfahrung zukomme; oder anders ausgedrückt;
eben nur durch Erfahrung lerne er ihre Allgemeingültigkeit
kennen, wenn in jedem folgenden Versuche, sie zu denken,
sich ihre Evidenz immer wieder erneuere, dann habe man
zwar nicht den strengen Beweis, aber die größte Wahr-
scheinlichkeit ihrer allgemeinen Geltung, und hierauf, auf
diese wachsende empirische Wahrscheinlichkeit, habe alle
unsere Erkenntniß sich dann in der That zu beschränkeni
Hierin liegt ein Theil von Wahrheit, dessen ich nachher
gedenken will ; aber das Ganze dieser Behauptung ist falsch.
Eben dann, wenn zugestandenermaßen die in dem einen
Augenblick erfahrene Evidenz eines Gedankens nicht
für die Erfahrung derselben Evidenz in einem zweiten,
bürgen soll, eben dann kann auch eine tausendfach wieder-
holte gleiche Erfahrung das Eintreten der tausend und
ersten nicht wahrscheinlicher machen, als schon das der
zweiten oder dritten gewesen wäre. Wenn wir nach viel-
fachen Beispielen einer Verknüpfung zweier Ereignisse a
und b, deren Reihenfolge durch kein Gegenbeispiel untere
brochen worden ist, auf jedes neue Eintreten von a auch b
mit immer wachsender Zuversicht erwarten, so thun wir
dies auf Grund sehr bestimmter Voraussetzungen. War
jene Verknüpfung von a und b nicht von der Art, daß
sie, einmal gedacht, sich als selbstverständlich erwies und
sich selbst als allgemeingültig für alle Zukunft ausgab,
so leiten wir ihre beständige Wiederkehr davon ab, daß
die wechselnden Bedingungen, welche diesen Erfolg hätten
ändern können, nicht eingetreten sind; daß sie aber
auch später nicht eintreten werden, finden wir nach einer
großen Anzahl gleichartiger Erfahrungen nur deshalb wahr-
scheinlich, weil wir im Ganzen des Weltlaufs und in dem
besondern Theile desselben, dem jene Ereignisse angehören,
eine Beständigkeit des Verhaltens voraussetzen, die
an einer hinlänglichen Anzahl von -Beispielen erkennbar
wird; nun, nachdem wir vorausgesetzt haben, daß die zu-
540 Drittes Kapitel.
künftigen Wiederholungen der Bedingungen den beobach-
teten gleichen werden, schließen wir: unter gleichen Be-
dingungen werde Gleiches eintreten müssen. Haben wir
uns in jener Voraussetzung geirrt, so werden wir eine
falsche empirische Behauptung allgemein aufgestellt haben,
die durch eine später kommende Erfahrung widerlegt wird ;
gilt uns dagegen der allgemeine Grundsatz nicht mehr
für allgemein, daß unter gleichen Bedingungen gleiche Folgen
entstehen, so ist das ganze logische Verfahren grundlos
und haltlos, durch welches man aus Erfahrungen Sätze
von auch nur wahrscheinlicher Allgemeingültigkeit zu
finden hofft; denn jede Folgerung von m zu m-fl, gleich-
viel ob sie strenge oder wahrscheinliche Geltung irgend
eines Satzes vermitteln will, setzt die strenge Allgemein-
gültigkeit jenes logischen Grundsatzes voraus. Man sieht
daher, daß die Neigung, alle allgemeine Erkenntniß aus
Erfahrung, d. h. aus Summirung von Einzelwahrnehmungen
zu gewinnen, nicht zum Ziele kommt; irgendwo ist stets
als nothwendiges Hülfsmittel einer jener Gedanken voraus-
zusetzen, dessen einmal gedachtem Inhalt man mit unmittel-
barem Zutrauen den von ihm erhobenen Anspruch auf
allgemeine Gültigkeit zugibt.
331. In der That ist nun hierüber im wirklichen Ge-
brauche des Denkens niemals Streit gewesen. Man hat
manchen mathematischen Beweis erneuter Prüfung unter-
zogen, aber immer nur um zu ermitteln, ob jeder der
einzelnen Sätze, aus denen er bestand, für sich evident
war oder folgerecht aus anderen evidenten floß; niemals
dagegen hat man das an sich Evidente einer bloßen Wieder-
holungsprobe unterworfen, um zu sehen, ob nicht doch
einmal ein Augenblick käme, in welchem sein Gegentheil,
die Gleichheit etwa des Ungleichen oder ein Ueberschuß
des Theiles über das Ganze, ebenso evident würde ; und
wäre jemals dies Unerwartete geschehen, so würde Niemand
gezweifelt haben, daß ein Fehler vorliege, den die Un-
achtsamkeit des Rechnenden allein verschuldet habe. Zwie-
spalt ist dagegen vorhanden über den Umfang jener selbst-
verständlichen und allgemeingültigen Wahrheiten, und hier
kommt nun der Theil Wahrheit in Betracht, den ich oben
der zurückgewiesenen Ansicht doch zugestehen mußte. Aber
auch dies meine ich nicht so, als könnte die Erfahrung
als solche uns helfen, das festzustellen, was nicht nur
als allgemeine Thatsache, sondern mit selbstverständlicher
Nothwendigkeit allgemein gilt; vielmehr ist es gerade die
Apriorismus und Empirismus. 541
Erfahrung, deren oft wiederholte gleichförmige Aussagen
uns verlocken, zuletzt für nothwendig und selbstverständ-
lich zu halten, was nur wirklich, oder nicht einmal dies ist.
Ich habe früher der täuschenden Evidenz gedacht, die
für uns manche Gedanken annehmen, deren Inhalt ein
beschränkter Beobachtungskreis uns beständig ohne Gegen-
beispiel vorgeführt hat; die psychologische Association, die
sich dann zwischen den Vorstellungen a und b zweier
stets aufeinander gefolgten Ereignisse gebildet hat, nimmt
sehr bald den Schein einer selbstverständlichen sachlichen
Verknüpfung der vorgestellten Inhalte an. Ich habe schon
damals angeführt, daß der Versuch, das contradictorische
Gegentheil eines so evident gewordenen Gedankens zu
denken, zuweilen dazu dient, diesen täuschenden Schein
zu zerstreuen; mit Verwunderung bemerken wir dann, daß
eine Annahme, die der scheinbar selbstverständlichsten Be-
hauptung widerspricht, dennoch keinen Widerstand unseres
Denkens erfährt, daß sie denkmöglich ist wie diese, daß
also die Gewißheit, die wir dieser zuerkannten, nicht auf
allgemeingültiger und selbstverständlicher Zusammen-
gehörigkeit ihres Inhaltes beruht. Aber ich mußte auch
schon früher hinzufügen, daß dieser Versuch nicht immer
entscheidend sein wird; sehr mannigfaltig sind in der That
die Einflüsse der vorgängigen Erfahrung, die auch seinen
Nutzen vereiteln. Könnten wir sicher sein, wenn wir irgend
einen Satz dieser Prüfung unterwerfen, nicht nur sein
Subject a, sein Prädicat b und den Sinn der Copula c
oder derjenigen Verknüpfung, in welche wir a und b bringen
wollen,' genau, ohne Mangel und Ueberf luß bestimmt zu
haben, sondern auch bei der endlichen Entscheidung
darüber, ob dies c zwischen diesem a und diesem b selbst-
verständlich stattfinde oder nicht, uns durch keinerlei
Beweggrund leiten zu lassen, der dem festbestimmten Inhalt
dieser drei Begriffe fremd wäre, so würden die endlichen
Aussagen aller, bejahend oder verneinend, gewiß überein-
stimmen. Wo diese Bedingungen erfüllbar sind, wie es
auf dem Gebiete der Mathematik der Fall ist, da finden
wir solche Uebereinstimmung wirklich. Die verwickelten
Begriffe von Gegenständen der Wirklichkeit gestatten da-
gegen nicht von fern diese Genauigkeit der Zerlegung;
und jedes besonnene Denken erwartet hier Ergebnisse nur
von der Erfahrung oder vielmehr von genauer Bearbeitung
der Erfahrungen; die einfachsten und allgemeinsten Be-
griffe und Gedanken endlich, die wir eben dieser Be-
542 Drittes Kapitel.
arbeitung gern überordnen möchten, würden an sich aller-
dings jene Genauigkeit zulassen, wenn nicht eben der Ein-
fluß der vorangegangenen Erfahrungen sie erschwerte. Wir
meinen gewiß etwas sehr Einfaches und Bestimmtes, wenn
wir die Worte: Sein Ding Ursache Kraft Wirkung und
Stoff aussprechen; aber jeder dieser Begriffe ist von uns,
auf Veranlassung unseres Beobachtungskreises oder be-
sonderer Lieblingsrichtungen unserer Aufmerksamkeit, ge-
wöhnlich nur auf einen Theil des Umfanges angewandt
worden, den er nach unserer eignen Ueberzeugung ganz
beherrschen soll, und zugleich anderseits in mancherlei
Verbindungen gebracht, die ihm möglich, aber nicht wesent-
lich sind. Definiren würden wir daher, wenn man uns
aufforderte, denselben Begriff vielleicht übereinstimmend,
unsere wirklichen Anschauungen seines Inhalts würden
dennoch verschieden genug sein, so verschieden wenigstens,
wie dieselben Formen unter verschiedenen Beleuchtungen
erscheinen. Alle diese unzergliederten Nebengedanken nun,
die Stimmungen und Wünsche, die sich so verstohlen an
das Gedachte knüpfen und ihm sein eigenthümliches Colorit
geben, machen uns geneigt, Prädicate an ihm selbstver-
ständlich zu finden, die der bloße Eigeninhalt desselben
nicht gerechtfertigt hätte. Dies ist der Werth und die
Gefahr der Erfahrung: ohne durch sie veranlaßt zu sein,
treten die allgemeinen Grundsätze unseres Urtheilens nicht
vor unser Bewußtsein; durch sie veranlaßt aber sind sie
zugleich mit Einseitigkeiten Mängeln und Ueberschüssen
behaftet, von denen eine spätere Reflexion Mühe hat sie
zu reinigen. Hier beginnt, als eine unermüdlich fortzu-
setzende Kritik, jene dankenswerthe Bemühung, psycho-
logisch den Ursprung der Gestalt zu erforschen, die sie
zuletzt in unserem Bewußtsein angenommen haben; nicht
sowohl um zu zeigen, wie alle Wahrheit und Gewißheit
allmählich aus den Aussagen der Erfahrung entspringt,
sondern im Gegentheil, um deutlich zu machen, wie viel
Fremdartiges, nur aus den Besonderheiten der beobachteten
Beispiele stammend, sich incrustirend an den Inhalt jener
ursprünglichen Wahrheiten angelagert hat, die, einfach und
rein gedacht, uns nicht nur nothwendig und selbstver-
ständlich erscheinen, sondern so auch sich in allen ihren
Anwendungen bewähren würden.
332. Ich glaube nicht, daß diese Kritik der Vor-
urtheile, wie ich sie kurz nennen möchte, sich anders
als stückweis und in unmittelbarem Anschluß an bestimmte
Apriorismus und Empirismus. 543
zu lösende Aufgaben ausführen läßt; denn die Schwierig-
keiten^ die sich bei den Bearbeitungen dieser erheben, sind
es eigentlich erst, die uns den Verdacht der Unrichtigkeit
unserer Grundsätze und eine Vermuthung über die Quellen
der begangenen Irrthümer erwecken. Ich unterlasse daher,
hierüber ins Einzelne zu gehen; aber ich muß mein bis-
heriges Verfahren rechtfertigen gegenüber der entgegen-
gesetzten Ansicht, welche durch diese psychologischen Zer-
gliederungen unserer Erkenntnisse nicht nur ursprüngliche
Wahrheiten aus der Umhüllung irriger Nebengedanken zu
befreien, sondern die Natur des Denkens systematisch auf-
zuklären und die Gültigkeit seiner Grundsätze zu erweisen
sucht. Ich bin in meiner ganzen Darstellung nicht dieser
Meinung gewesen, daß die Logik wesentlichen Nutzen aus
der Erörterung der Bedingungen ziehen könne, unter denen
das Denken als psychischer Vorgang verwirklicht
wird. Die Bedeutung der logischen Formen besteht in dem
Sinne der Verknüpfungen, in welche wir den Inhalt unserer
Vorstellungswelt bringen sollen; in dem also, was das
Denken aussagt oder befiehlt, nachdem oder indem es in
uns zu Stande kommt, aber nicht in dem, was als er-
zeugende Bedingung seiner eignen Wirklichkeit hinter ihm
liegt. Gewiß muß es Bedingungen dieser Art geben, nicht
blos solche eines psychischen Mechanismus, die in jedem
einzelnen Augenblick jede einzelne seiner Bewegungen
ebenso bestimmen, wie jeden Zug eines äußeren Natur-
ereignisses die im Moment seines Entstehens vorhandenen
physischen Data; vielmehr auch die Nothwendigkeit, mit
welcher im Allgemeinen das Denken jene Regeln seines-
Verfahrens unwissentlich befolgt, die eine spätere Reflexion
als bewußte Grundsätze ausspricht, muß eine unvermeid-
liche Folge der Natur des Geistes sein, deren Erforschung
der Psychologie zufällt. Aber wenn wir nun Alles wüßten,
was wir hierüber zu wissen wünschen können, so würde
es doch eine Täuschung sein, wenn wir darum besser
über die Wahrheit unserer logischen Grundsätze urtheilen
zu können glaubten; wäre doch ihre Gültigkeit vielmehr
die Voraussetzung für die Möglichkeit der Untersuchung
gewesen, durch die wir diese ihre psychologische Ent-
stehungsgeschichte zu Stande gebracht hätten. Diesen
Cirkel, der uns so oft schon ermüdet hat, will ich hier
zum letzten Male erwähnt haben; es muß klar sein, daß
keine sensualistische oder empirische Theorie der Ent-
stehung unseres Denkens und Wissens dahin kommen kann.
544 Drittes Kapitel.
den Satz der Identität oder des ausgeschlossenen Dritten
zu beweisen oder zu widerlegen; sie bedarf beider zu
jedem Schritt ihrer Folgerungen; sie kann ebensowenig die
Geltung des Causalgesetzes erst begründen oder hinweg-
räumen wollen, denn jeder Versuch, seine Anwendung auf
Association und Reproduction der Vorstellungen zurück-
zuführen, setzt in anderer Form es selbst als gültig in
Bezug auf die Wechselwirkung der psychischen Zustände
voraus, und sowohl seine Bejahung als seine Verneinung
wäre hinfällig, wenn nicht zuerst seine Gültigkeit fest-
stände, aus der dann freilich die Verneinung nur durch
einen sonderbaren Selbstmord der Untersuchung entspringen
könnte. So bleibt denn nichts übrig, als daß diese psycho-
logischen Zergliederungen auf die Aufgabe beschränkt
werden, zu zeigen, wie an sich gültige Wahrheiten im
Denken und für dasselbe, sofern es ein psychischer Vor-
gang ist, als unbew^ußt befolgte ; Regeln seines Verfahrens
verwirklicht werden.
333. Und hier möchte ich nun noch deutlich machen,
daß wir auch von alle dem, was wir in dieser Beziehung
zu wissen wünschen können, in der That nichts wissen,
und daß die Logik noch lange auf ein tieferes Verständniß
der Denkhandlungen würde verzichten müssen, wenn sie
der Aufklärung durch psychologische Ableitung derselben
bedürfte. In den sensualistischen Darstellungen, wie sie
nach dem hierin unerreichten Vorbild Locke's und nach
dem kecken Versuche Condillac's vielfältig wiederholt
sind, kann ich nichts finden, was überhaupt dieser Aufgabe
entspräche. Als Kritik der Vorurtheile unseres Erkennens
hat Locke's Werk in der Entwicklung der neueren
Philosophie die Wirkung völlig gehabt, welche die Größe
des von ihm eröffneten Gesichtskreises und die Schärfe
seines Eindringens verdiente; aber der Mannigfaltigkeit der
inneren Vorgänge, die er in Betracht zieht, steht er doch
mit keinem andern Organ als jenem common sense gegen-
über, der, an der Beurtheilung des äußern Weltlaufs geübt,
mit den hier erworbenen achtbaren und probablen, aber
unsystematischen Maximen überall auszureichen glaubt. Es
liegt mir näher, von dem zu reden, was in deutscher
Philosophie versucht worden ist. Wenn wir von Erklärung
eines Kreises von Vorgängen sprechen und sie vermissen,
so schwebt uns als Muster des Gewünschten die Gesammt-
heit der naturwissenschaftlichen Weltansicht vor. In ihr
ist, eben durch Beachtung der Gesetze des Denkens und
Apriorismus und Empirismus. 545
ihre sorgfältige Anwendung auf den Inhalt genauer Be-
obachtungen, die Auffindung weniger Urthatsachen gelungen,
aus deren Ineinandergreifen höchst mannigfache Erschei-
nungen mit nachweisbarer Nothwendigkeit entspringen.
Glückliche Eingebungen haben in jüngster Zeit auch einen
Theil des innem Lebens, die Abhängigkeit wenigstens der
Empfindungen von äußeren Reizen, dem so beherrschten
Gebiet hinzugefügt; nicht indem man versuchte, die Eigen-
art psychischer Ereignisse aus physischen Vorgängen zu
construiren, die ihnen ewig unvergleichbar bleiben, sondern
indem man sich beschränkte, auf die Glieder beider Reihen,
welche thatsächlich aber in unbekannter Weise die Natur-
ordnung aneinanderkettet, genaue Maßbestimmungen an-
wendbar zu machen und aus den gefundenen zusammen-
gehörigen Werthpaaren das Gesetz ihrer Correspondenz zu
entwickeln. Schon früher war diesen Bemühungen ein
werthvoller Versuch vorangegangen, zwar ohne Anknüpfung
an Erfahrung im Einzelnen, aber nach Hypothesen, die sich
dem Gesammteindruck der Erfahrungen anschlössen, in
gleichem Sinne auch die inneren Zustände der Seele einer
mechanischen Theorie ihres Zustandekommens zu unter-
werfen. Alle diese Leistungen indessen, durch welche die
psychologische Anschauungsweise der Gegenwart den An-
sichten der Vorzeit sehr weit überlegen ist, reichen nicht
an den räthselhaften Punkt hinan, dessen helle Beleuchtung
der Logik neue Wege öffnen könnte. Sie alle lehren uns
nur die Wechselwirkung verschiedener dem Maße nach
bestimmter psychischer Einzelzustände mit Rücksicht auf
die Veränderung kennen, die jeder von ihnen durch sein
-Zusammentreffen mit andern erfährt, mit Rücksicht also
auch auf den Gesammtzustand der Seele, soweit er nichts
als das mechanische Resultat aller dieser Gegenwirkungen
ist. Aber sie erklären nicht ebenso die neuen Rück-
wirkungen, zu denen jeder so entstandene Zustand die Seele
veranlaßt, und die eben nicht berechenbare Ergebnisse von
Größenverhältnissen zusammentreffender Bedingungen sind,
die vielmehr mit einer andersgearteten, sagen wir : mit einer
xlialektischen oder teleologischen Nothwendigkeit von dem
Sinne oder der Idee abhängen, zu deren Verwirklichung die
Seele bestimmt ist. Die Erforschung der äußeren Natur läßt
ähnliche Fragen zurück, bedarf aber für ihre Zwecke deren
Beantwortung nicht. Wie es zugehe, wie es gemacht werde,
oder wozu es denn so sei, daß Massenelemente einander
Lotze, Logik. 35
546 Drittes Kapitel.
nach Maßgabe ihrer Zwischenentfernung anziehen, kann
dahingestellt bleiben; nachdem das Gesetz dieser Wirkung
bekannt ist, darf sie als ein constantes Element des Natur-
laufs, d. h. hier als ein solches gelten, dessen Variationen
in jedem Einzelfall durch die gegebenen Umstände mit-
bestimmt sind; je mehr es gelingt, alle Naturvorgänge auf
so sich verhaltende gleichartige Bewegungskräfte zurück-
zubringen, um so mehr wird auch seiner Form nach jedes
einzelne Ereigniß aus seinen veranlassenden Bedingungen
construirbar werden. Dies würde sich ändern, wenn die
Naturforschung Ursache zu der Annahme erhielte, daß auch
die für unveränderlich geachteten Elemente unter der
Wirkung solcher Kräfte innere Zustände erlitten und durch
diese bestimmt würden, mit neuen vorher nie angeregten
Formen der Rückwirkung in das Spiel der Ereignisse ein-
zutreten. Gewiß würde man auch diese neuen Einflüsse,
soweit sie in der Umgestaltung physischer Umstände wirk-
sam würden, unmittelbar an die erkennbaren äußeren Be-
dingungen anschließen, unter denen sie entstanden, also
allgemein ausgedrückt, sie als Functionen dieser letzteren
betrachten können; scheinbar würde daher nicht die Stetig-
keit der wissenschaftlichen Construction eine Unterbrechung,
sondern nur ihre Ausführung eine vermehrte Schwierigkeit
erfahren: in der That aber würde ein Sprung in dieser
Continuität doch vorhanden sein. Denn daß überhaupt
unter der Summe m gewisser physischer Bedingungen eine
neue Wirkungsweise [i, unter der anderen Summe n eine
andere neue Wirkung v auftreten werde, würde doch ein
neues Datum, eine Thatsache sein, die man aus Erfahrung
weiß, aber nicht selbstverständlich und analytisch als
nothwendige Folge jener Bedingungen ableiten kann. In
einem solchen Falle nun befinden wir uns hier. Alle die
inneren Vorgänge, die wir psychologisch als nothwendige
Voraussetzungen für die Verwirklichung irgend einer Denk-
handlung kennen, sind nur jene Veranlassungen m
oder n, unter denen diese logischen Rückwirkungen )li und v
des Geistes zum Vorschein kommen; aber erklärlich
wird uns aus m und n weder die Thatsache, daß jii und v
hinzukommen, noch finden wir wieder in dieser Thatsache
selbst die mindeste Erklärung für die weiteren Verknüp-
fungen, die das Denken zwischen \x und v, überhaupt
zwischen den verschiedenen elementaren Ausübungen seiner
Thätigkeit in immer sich steigernder Verwicklung anstiftet.
Apriorismus und Empirismus. 547
Ich würde hierbei verweilen, wenn nicht ohnehin der Gegen-
stand des nächsten Abschnittes mich nöthigte, im Einzelnen
auf die tiefe Kluft hinzuweisen, die zwischen dem
psychischen Mechanismus imd dem Denken unausgefüllt
liegt; ich begnüge mich hier mit dem Ausdruck meiner
Ueberzeugung, daß man alle logischen Rückwirkungen des
Geistes als ein in sich zusammengehöriges Ganze, als eine
einheitliche Tendenz aufzufassen hat, deren einzelne Aeuße-
rungen ihrem Sinne nach sich verständlich in eine Reihe
gliedern lassen, dagegen nach ihrer Entstehung als psychische
Vorgänge noch völlig unbegreiflich sind. Es ist eine Illusion
der Psychologie und eine Verderbniß der Logik zugleich,
die Veranlassungen, unter denen sie sich kundgeben, für
sie selbst zu halten; hoffnungsloser ist nur noch der Wahn,
durch eine vervollkommnete Theorie der Nervenphysik das
deutlich zu machen, worauf die Möglichkeit jeder Theorie
beruht.
35'
Viertes Kapitel.
Reale und formale Bedeutung des Logischen.
334. Thatsachen der Wahrnehmung erkennen wir an;
nur dem discursiven Denken mißtrauen wir, das sie
deutet, am meisten den langen Gedankengeweben, die es
der Anschauung abgewandt und doch mit der Hoffnung
auf ein Ergebniß fortspinnt, das diese später bestätigen
werde. Als Thätigkeit oder Bewegung der Seele folgt das
Denken Gesetzen ihrer Natur; werden die Regeln, nach
denen es seine Vorstellungen verknüpfen muß, zu dem-
selben Abschluß führen, den der Zusammenhang der Sachen
hervorbringt? so daß das Ende unseres Gedankenganges,
wenn wir zur Wahrnehmung zurückkehren, mit dem zu-
sammentrifft, was der Lauf der Dinge inzwischen hervor-
gebracht? Und wenn wir im Ganzen für unwahrscheinlich
halten, daß Denken und Sein, die eine natürliche Ver-
muthung als für einander geschaffen ansieht, völlig aus-
einander gehen, wird dann auch jeder einzelne Schritt
des Denkens einer Phase des Geschehens entsprechen, die
in der Entwicklung des gedachten Inhalts vorkäme? Aus
solchen Zweifeln entsteht die Ansicht von einer blos
formalen oder subjectiven Geltung des Denkens. Sie
ist klar in dem, was sie behauptet: die logischen Formen
und die Gesetze ihrer Anwendung sind die Bedingungen,
durch deren Erfüllung das Denken sich selbst genügt und
den Zusammenhang des Vorgestellten zu dem macht, was
für es selbst, das Denken, Wahrheit ist; aber unklar bleibt,
in welchem Verhältnisse, das sie doch nicht entbehren
können, diese Formen und Gesetze zu dem Inhalt stehen,
den sie nicht erzeugen, sondern vorfinden, und durch dessen
Bearbeitung allein doch die gedachte Wahrheit den ihrigen
erhält. Kann ein Inhalt in Formen gebracht werden, für
die er nicht paßt? und selbst wo wir einen Stoff gewalt-
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 549
sam in eine Gestalt pressen, die er freiwillig nicht an-
nähme, muß nicht in ihm selbst eine Eigenschaft sein,
die diese Gewalt wenigstens möglich macht? in jedem ge-
gebenen Inhalt mithin, den das Denken seinen Formen
unterwirft, eine Beziehung und Verwandtschaft zu diesen
Formen, die höchstens mißbraucht werden kann? Muß
nicht endlich diese Annahme in Bezug auf jede einzelne
logische Operation gelten? Keine von ihnen ließe sich
als blos subjectives Verfahren des Denkens ausführen, läge
nicit in dem gegebenen Inhalt ein Zug, der sie verlangte
ode|* gestattete. Nun wissen wir, daß jenes Mißtrauen, dem
wir oben Worte gaben, sich nicht in der befürchteten All-
gemeinheit bestätigt; wie viel wir auch in langen Ge-
dankengängen irren, das tägliche Leben zeigt doch, wie
gut durchschnittlich unsere Ueberlegungen mit dem Lauf
der Dinge wieder zusammentreffen. Warum sollen wir
nicht diese Zuversicht zu der Wahrhaftigkeit unseres
Denkens festhalten, die unsere natürliche dem Zweifel vor-
angehende Stimmung ist ? warum sie nicht bis zu der Ueber-
zeugung steigern, der sachliche Inhalt des Vorstellens sei
an keine anderen Gesetze als an die gebunden, die das
Denken ihm auflegt? so daß es nur sorgfältiger Aufmerk-
samkeit auf alle Feinheiten in dem logischen Verfahren
des Geistes bedürfte, um in ihm wie in einem Spiegelbilde
die eigenen realen oder objectiven Entwicklungsformen alles
Seins zu finden? So entsteht die Ueberzeugung von einer
realen Bedeutung des Denkens, in ihren allgemeinsten
Zügefi die frühere in der Entwicklung des menschlichen
Geistes, ein Erzeugniß der Neuzeit in der ausdrücklichen
Steigerung, die wir ihr zuletzt gaben; zwischen ihr und
der entgegengesetzten Ansicht hat die Geschichte der Philo-
sophie einen langen Streit zu erzählen. Wir können ihn
nicht dadurch entscheiden, daß wir den logischen Formen
und Gesetzen die des realen Seins und Geschehens ver-
gleichend gegenüberstellten, denn wir haben keine Kennt-
niß der letztern, an der nicht das Denken bereits mit-
wirkend Theil hätte; aber wir können fragen, wie denn
das Denken selbst über die Bedeutung seiner eignen Hand-
lungen urtheilt, und inwieweit es diejenigen Formen, die
es als psychische Bewegung des denkenden Subjects an-
nehmen muß, für Eigenbestimmtheiten des von ihm be-
arbeiteten Inhalts ausgibt.
335. Welche Handlung des Denkens wir auch ins Auge
fassen: keine besteht in dem bloßen Vorhandensein zweier
550 Viertes Kapitel.
Vorstellungen a und b in demselben Bewußtsein, jede in
dem, was wir eine Beziehung der einen Vorstellung
auf die andere nennen. Nach ihrer Ausführung läßt diese
Beziehung sich als eine dritte Vorstellung C fassen, aber
weder ist dann C gleichartig mit a und b, noch ist sie
ein blos mechanischer Effect von Gegenwirkungen, die
nach irgend einem Gesetz zwischen beiden, als psychischen
Vorgängen von bestimmter Größe und Verschiedenheit,
stattgefunden hätten. Als einfachste Beispiele mögen Gleich-
setzung und Unterscheidung zweier Vorstellungsinhalte
dienen. Setzen wir a gleich a, so ist ohne Zweifel die
Vorstellung a doppelt in unserem Bewußtsein; aber welche
mechanische Analogie wir auch anwenden, nie folgt aus
diesem Umstände etwas Anderes, als daß entweder beide a
für eines zählen, weil sie ohne Unterschied einander decken,
oder daß sie, als gleichartige Erregungen der Seele, zu
einer dritten Vorstellung von größerer Stärke verschmelzen,
oder daß es bei ihrem getrennten Bestehen lediglich sein
Bewenden habe. Ihre Vergleichung aber, die zu der
Vorstellung C der Gleichheit führt, besteht weder in ihrem
bloßen Zusammensein noch in ihrer Vermischung; sie ist
eine jetzt erst angeregte völlig einheitliche That der Seele,
welche beide Vorstellungen zugleich festhält, von der einen
zur andern übergeht und sich bewußt wird, während dieses
Ueberganges und durch ihn keine Veränderung ihres vor-
stellenden Zustandes oder Handelns erfahren zu haben.
Vergleichen wir ferner zwei verschiedene Vorstellungen a
und b, Roth und Gelb. Zwei äußere Reize, die für sich
einwirkend je eine dieser Empfindungen erweckt hätten,
mögen gleichzeitig wirkend in dem Nerven, durch den sie
sich noch als physische Zustände fortsetzen, in eine dritte
mittlere Erregung verschmelzen können, die der Seele nur
Veranlassung zu einer einfachen dritten Empfindung gäbe;
zwei Vorstellungen, die als solche einmal in der Seele ent-
standen sind, erfahren diese Vermischung nicht. Geschähe
sie, so wäre mit dem verschwundenen Unterschiede auch
Anlaß und Möglichkeit der Vergleichung und hiermit in
weiterer Folge die Möglichkeit alles Denkens und Erkennens
verschwunden. Denn sichtlich beruht jede Beziehung dar-
auf, daß die verschiedenen Inhalte unverfälscht durch eigene
Wechselwirkungen in dem Bewußtsein aufbewahrt bleiben,
daß die einheitliche Thätigkeit, welche sie zusammenfassen
will, sie als solche vorfindet und zwischen ihnen hin und
hergehend sich der entstehenden Aenderung ihres eignen
Reale und formale Bedeutung des Logischen, 551
vorstellenden Zustandes bewußt wird. Indem ich mich
so ausdrücke, fühle ich vollständig die Berechtigung des
Vorwurfs, daß meine Bezeichnung dieser Thätigkeit lauter
unconstruirbare Umschreibungen enthalte. Aber dies ist
es eben, was deutlich werden muß, daß die geistigen Vor-
gänge, auf denen alles Denken beruht, keinerlei Aehnlich-
keit mit dem physischen Geschehen haben, nach dessen
Analogien solche Klagen sie modellirt sehen möchten. Eine
Thätigkeit, die nicht einfach eine Bewegung ist, sondern
eine Bewegung ausübt, auf zwei Objecte sich bezieht, ohne
sie doch zu ändern, endlich sich der Richtung und Größe
des zurückgelegten Weges an dem Unterschiede ihrer eigenen
Zustände bewußt wird, läßt sich nicht auf das gewöhnliche
Schema von unveränderlichen Elementen mit veränderlichen
Relationen, von Gleichheit der Wirkung und der Gegen-
wirkung bringen; dennoch ist sie etwas, dessen Wirklich-
keit wir alle empfinden; ist doch eben sie das Werkzeug,
durch das wir auch jene bewunderten Constructionen aus-
führen. In dieser ihrer ganzen Eigenthümlichkeit muß
man sie gelten lassen und zu ihrer Bezeichnung neue ihr
Wesen nicht verfälschende Grundbegriffe suchen, deren
Mangel wir noch fühlen, und die ich. keineswegs durch meine
sehr unvollkommenen Ausdrucksweisen für gefunden halte.
336. In unserem Beispiele waren a und b, Roth und
Roth oder Roth und Gelb unmittelbare Gegenstände einer
Anschauung. Die Vorstellungen C der Gleichheit oder Ver-
schiedenheit, die wir als Ergebniß der angestifteten Be-
ziehung erhielten, sind dies nicht mehr; als Verhältnisse
des einen zum andern, als Gleichheit des a mit a, als
Verschiedenheit des a von b, lassen sich die Inhalte beider
nicht ohne die mitreproducirten Vorstellungen dieser ihrer
Beziehungspunkte und nur durch Miterinnerung eben jener
Bewegung wirklich denken, die uns von dem einen zum
andern hinüberführte. So oft daher der Name der Gleich-
heit oder des Unterschieds uns genannt wird, werden wir
zur Wiederholung aller jener Bewegungen aufgefordert,
durch die allein es möglich ist, ihren Sinn zu erfassen;
aber indem wir das Ergebniß, welches wir denkend er-
zeugen wollen, dahin aussprechen, daß a gleich a oder
a verschieden von b sei, drücken wir die Ueberzeugung
aus, daß die sachliche Erkenntniß, die zu gewinnen
war, ganz und ungetheilt in diesem letzten Schritte liege;
nicht dem a und dem b schreiben wir jene hin und her-
gehende Bewegung zu, durch welche wir dies ihr Verhält-
552 Viertes Kapitel.
niß zu einander fanden; sie bildet vielmehr nur einen
psychischen Vorgang, ohne den dieses Ergebniß weder zu-
erst zu erreichen noch in der Erinnerung zu wiederholen
ist, der aber doch, gleich einem Lehrgerüst, das man nach
vollendeter Arbeit wieder abbricht, von der sachlichen Be-
deutung unserer Denkhandlung wieder abgezogen werden
muß. So zeigt sich hier zuerst, in einem einfachsten Falle,
der Gegensatz der blos formalen Bedeutung unserer Denk-
handlung zu der realen ihres Productes. Ehe ich diese
Spur weiter verfolge, erinnere ich an zwei Reihen von
Vorgängen, die im Großen dasselbe bestätigen, was wir
hier an einem bestimmten Beispiel fanden. Zuerst erhalten
wir die sinnlichen Anschauungen, von denen unser Denken
ausgeht, fast alle in räumlicher Gestalt Ordnung oder Be-
ziehung; durch symbolische Benutzung dieser Form suchen
wir daher jedem verwickelten Verhältniß die ihm sonst
fehlende Anschaulichkeit zu geben; wir ersetzen Unter-
schiede durch Entfernungen von bestimmter Größe und
Richtung, Vielheit des Gleichen durch Zerstreuung in ver-
schiedene Raumpunkte, Identität des Einen mit sich selbst
durch einen unveränderlichen Ort, an den unsere Vor-
stellung immer zurückgeführt wird; wir finden endlich
Schwierigkeit für die Klarheit begreifender Uebersicht, wo
die Natur der räumlichen Schemata zum Ausdruck der
Vielseitigkeit denkbarer Beziehungssysteme nicht ausreicht
Dennoch sind wir uns bewußt, damit nicht das Wesen der
Sache bezeichnet zu haben; alle diese Symbolisirungen
waren subjective Hülfsmittel, benutzbare Wege für das
Denken, das sein eigentliches Ziel C durch Hin- und Her-
gehen auf ihnen zu erreichen hat; was wir meinen, ist
unabhängig von der Art, wie wir es verbildlichen.
Der Ausdruck unserer Gedanken ist zweitens an die Sprache,
längst auch ihr innerer Verlauf an die Reproduction der
Worte gewöhnt; Wahrnehmungen Erinnerungen und Er-
wartungen haben volle Klarheit kaum, bis wir für sie er-
schöpfende Ausdrücke in Sätzen der Sprache gefunden.
Der so erreichte Vortheil hängt nicht eigentlich an der
Sprache und ihren Lauten, sondern an einer innern Arbeit
der Zergliederung und Verknüpfung, welche dieselbe bliebe,
auch wenn sie andere Formen der Mittheilung benutzte;
thatsächlich aber, nachdem die Sprache zu diesem Zweck
entstanden, ist Form und Leichtigkeit der Denkbewegungen
allerdings von den Mitteln abhängig, welche sie darbietet,
und deshalb selbst national verschieden, nachdem mancher-
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 553
lei Ursachen sich verbunden haben, Bau und Fügung ver-
schiedener Sprachen ungleichartig zu machen. An sich ist
daher, was wir logisch meinen, unabhängig von der Art,
wie wir es sprachlich ausdrücken; in wirklicher Ausführung
ist aber doch alles menschliche Denken genöthigt, den ge-
meinten Gedanken durch Trennungen Verknüpfungen und
Umformungen der Vorstellungsinhalte herzustellen, welche
die Sprache in ihren Worten verfestigt hat. Nur mit diesem
discursiven Charakter, im Gegensatz zur Anschauung,
ist das Denken eine psychische Thatsache; mit diesem
Charakter ist es auch Gegenstand unserer logischen Dar-
stellung gewesen und nie überhaupt hat Logik sich mit
einem Denken beschäftigt, das seine verschiedenen Vor-
stellungen nicht nach einander zum Zielpunkt seiner Auf-
merksamkeit gemacht, nicht vergleichend und beziehend sich
zwischen ihnen bewegt, nicht Abstractes räumlich symbo-
lisirt, nicht endlich seine Gedanken in Constructionen einer
Sprache ausgedrückt hätte. Wir müssen daher erwarten,
in dem, was wir logische Handlungen, Formen und Gesetze
nennen, viel eines blos formalen Apparates zu finden,
der, obwohl zur Ausübung des Denkens unentbehrlich, doch
der realen Bedeutung entbehrt, die das Denken dem End-
ergebniß seines Thuns allerdings zuschreibt.
337. Kehren wir zu diesem Ergebnisse jetzt zurück.
Wenn wiij, a und b vergleichend, uns einer Veränderung C
bewußt werden, die wir im Ueberagang von einem zum
andern erleiden, so wird zwar gewiß C von der Natur jener
beiden Beziehungspunkte abhängen, denn C wird anders
und zu C^ werden, wenn c und d an deren Stelle treten;
dennoch scheint C von diesem sachlichen Verhalten nur
abzuhängen, nicht aber identisch es abzubilden; als
unsere subjective Erregung erreicht es den sachlichen und
objectiven Gehalt des zu Erkennenden nicht. Diesen
grübelnden Einwurf würde ich nicht erwähnen, wenn er
nicht Veranlassung gäbe, auf die schwer zu definirende
Natur des Vorstellens zurückzukommen. Das Vorstellen
ist nicht das, was es vorstellt, die Vorstellung nicht das,
was sie bedeutet; nicht nur in dem handgreiflichen Sinne,
daß weder jenes noch diese die vorgestellte Sache selbst
ist; vielmehr auch die einfachsten Vorstellungen, die nur
denkbaren Inhalt bezeichnen, haben diesen Inhalt nicht
zu ihrem eigenen Prädicat: die Vorstellung des Gelben ist
nicht gelb, die des Dreieckigen nicht dreieckig, die des
Furchtsamen nicht furchtsam und die Vorstellung dos Halben
554 Viertes Kapitel.
nicht halb so groß als die des Ganzen. Gleichwohl ist
das Vorstellen von diesem seinem Inhalt nicht so trennbar,
daß es für sich sein geschehen oder sich ändern könnte;
es ist nur, indem es vorstellt, was es selbst nicht ist;
es ändert sich nur, indem es einen dieser Inhalte mit dem
andern vertauscht; es wird mithin auch die Veränderung
seiner eigenen Zustände, deren es sich bewußt wird, nur
in der Veränderung der vorgestellten Inhalte bestehen, die
es in einer einheitlichen Thätigkeit vergleichend zusammen-
faßt; sie kann nicht in einer andersgearteten Affection ge-
sucht werden, die das Bewußtsein nur in Folge seiner
Erregung durch jene Vorstellungsinhalte erlitte, und die
ihm, abgetrennt von diesen, als eine deren eigenem Ver-
hältnisse unähnliche Vorstellung C merkbar würde. Wer
Roth und Gelb in gewissem Grade verschieden und doch
verwandt findet, wird sich ohne Zweifel dieser beiden Be-
ziehungen nur mit Hülfe der Veränderungen bewußt, die er,
als vorstellendes Wesen, bei dem Uebergang von der Vor-
stellung des einen zu der des andern erfährt, aber er hegt
dabei nicht die Befürchtung, das Verhältniß von Roth und
Gelb könne an sich noch ein anderes sein, als das der
Affectionen, welche sie beide ihm veranlassen; an sich
etwa sei Roth dem Gelb gleich und erscheine blos uns
verschieden von ihm, oder an sich finde zwischen beiden
ein größerer Unterschied statt, der nur uns noch eine ge-
wisse Verwandtschaft einzuschließen scheine. Solche Be-
denken hätten Grund, wo wir unsere Gedankenwelt zu
einer außer ihr vorausgesetzten Sachenwelt in Beziehung
brächten; so lange jedoch statt dieser unsere eignen Vor-
stellungen unsem Gegenstand bilden, zweifeln wir nicht,
daß die bei ihrer Vergleichung erfahrenen Gleichheiten
oder Unterschiede unseres Vorstellens zugleich ein sach-
liches Verhalten unserer Vorstellungs i n h a 1 1 e bedeuten.
338. Wie aber ist dies doch eigentlich möglich? wie
können Sätze: a sei gleich a oder a sei verschieden von b,
ein sachliches Verhalten ausdrücken, das folglich unab-
hängig von unserem Denken bestände und von ihm nur
aufgefunden oder anerkannt würde? Mag Jemand noch
zu wissen glauben, was er unter der an sich bestehenden
Gleichheit des a mit a sich denke, wie wird er aber
über den an sich bestehenden Unterschied zwischen a
und b urtheilen? und welches sachliche Verhalten wird
diesem Zwischen entsprechen, das uns nur verständ-
lich ist, so lange es an die räumliche Entfernung erinnert.
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 555
welche wir, als wir a und b vorstellten, symbolisirend
zu beider Auseinanderhaltung und zugleich als den ver-
bindenden Weg einschalteten, auf dem unser Vorstellen
von dem eiaen zu dem andern übergehen konnte? Oder
anders ausgedrückt: da Verschiedenheit weder Prädicat
des a für sich noch des b für sich ist, wessen Prädicat
ist sie? und wenn sie nur Sinn hat, sobald a und b auf
einander bezogen sind, welche sachliche Verbindung findet
denn zwischen a und b dann statt, wenn wir die be-
ziehende Thätigkeit als nicht ausgeübt betrachten, durch
welche wir in unserem Bewußtsein beide in Verbindung
setzten? Diese Fragen nicht beachtet zu haben ist der
Grund mancher Irrungen der antiken Dialektik; was Dingen
nur in der gegenseitigen Beziehung zukommen kann, die
unser zusammenfassendes Denken zwischen ihnen anstiftet,
wurde, nicht ohne der logischen Einbildungskraft Gewalt
anzuthun, als Prädicat der einzelnen auf sich beruhenden
ausgesprochen. Damit a und b verschieden seien, ohne
unser Denken zu ihrer Unterscheidung zu bedürfen, wurde
jedem der beiden zugeschrieben, an sich ein hegov zu
sein, und die Vergleichung mit dem andern sollte dabei
ungedacht bleiben, die doch diesem Ausdruck allein Be-
deutung gibt; die Verneinung, die das Denken durch seine
vergleichende Unterscheidung ausspricht, indem es sagt,
a sei nicht b, kam an dem a für sich als ein positives
Prädicat, mit Hinweglassung des verneinten Beziehungs-
punktes b, als ein seiendes Nichtsein mithin, zu eigner
Wirklichkeit, und diese Unklarheit galt für einen großen
Fund des Tiefsinns; wenn b kleiner als a und größer
als c, so war es ein ärgerliches Räthsel, wie die von
ihren Beziehungspunkten abgelösten und nun einander
widerstrebenden Prädicate des Kleinerseins und des Größer-
seins sich an demselben b vertragen mögen. Diesen
Irrungen im Einzelnen zu folgen, würde nicht ohne viel-
seitiges Interesse sein, aber zu weitläufig für unsere Dar-
stellung, die sich mit folgendem Abschluß begnügen mag.
Sind a und b, wie bisher, nicht Dinge von unabhängiger,
unserem Denken jenseitiger Wirklichkeit, sondern vorstell-
bare Inhalte, wie Roth und Gelb Gerade und Krumm, so
besteht eine Beziehung zwischen ihnen nur, sofern wir
sie denken, und dadurch daß wir sie denken. Aber so
ist unsere eigene Seele beschaffen, und so setzen wir jede
andere voraus, deren Inneres der unseren gleicht, daß die-
selben a und b, so oft sie und von wem sie auch vor-
556 Viertes Kapitel.
gestellt werden mögen, stets im Denken dieselbe nur
durch das Denken und nur in ihm bestehbare Beziehung
hervorbringen werden. Unabhängig ist diese daher von
dem einzelnen denkenden Subject und unabhängig von
einzelnen Momenten seines Denkens; hierin allein liegt das,
was wir meinen, wenn wir sie als an sich bestehend
zwischen a und b betrachten und sie von unserem Denken
wie ein für sich dauerndes Object auffindbar glauben; sie
steht wirklich so fest, aber nur als ein Ereigniß, das im
Denken stets unter gleichen Bedingungen gleich sich er-
neuem wird. Und dies gilt nicht allein von dem Unter-
schiede, sondern von jedem Verhältniß, das wir zwischen a
und b auffinden. So oft von irgend einem Geiste ein
vollkommener Kreis vorgestellt wird, so oft wird zwischen
seinem Durchmesser und seinem Umfang, hier freilich nur
durch eine Reihe von Zwischengedanken, das Verhältniß
1:11 gefunden werden; deshalb gilt diese Proportion an
sich, aber obwohl sachlich gültig, hat sie doch ein
Sein nur in Gestalt des Denkens, welches sie auffaßt.
Es verhält sich anders, wenn a und b ausdrücklich Wirk-
lichkeiten Dinge Wesen bedeuten, die wir denkend nicht
erzeugen, sondern als jenseitige Gegenstände anerkennen;
dann drückt der Name der Beziehung weniger aus, als
wir zwischen diesen Beziehungspunkten wirklich bestehend
denken müssen. Nur so lange wir blos die vorstellbaren
Inhalte dieser a und b in willkürlicher Zusammenstellung
vergleichen wollen, würden wir durch Behauptung einer
Beziehung zwischen ihnen, richtiger dann zwischen ihren
Vorstellungen oder Denkbildern, unseren Gedanken voll-
ständig ausgedrückt haben. So oft wir dagegen, um eine
in der Wahrnehmung uns aufgenöthigte Verbindung dieser
Vorstellungen zu erklären, uns auf eine Beziehung C be-
rufen, die an sich eben nicht zwischen ihnen, sondern
zwischen den Dingen a und b bestehe, deren Denkbilder
sie für uns sind, so müssen wir inne werden, daß das,
worauf wir uns hier berufen, nicht eine Beziehung
zwischen a und b, und deshalb überhaupt nicht mehr
eine Beziehung in dem gewöhnlichen Sinne dieses Namens
sein kann. Denn nur unser Denken, indem es von der
Vorstellung a zu der Vorstellung b übergeht und sich
dieses Uebergangs bewußt wird, erzeugt als eine für es
selbst verständliche Anschauung das, was wir hier ein
Zwischen nennen; ganz unausführbar dagegen würde
jeder Versuch sein, dieser Beziehung, zugleich Trennung
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 557
und Verknüpfung des a und b, die nur die Erinnerung an
eine durch die Einheit unseres Bewußtseins vollziehbare
Denkhandlung ist, eine reale Geltung der Art zu geben,
daß sie etwas wäre auch abgesehen von dem Bewußtsein,
welches sie denkt. Unabhängig von unserem Vorstellen,
in objectiver Geltung, kann diese angebliche Beziehung
nur bestehen, wenn sie mehr ist als Beziehung, und sie
besteht dann nicht zwischen a und b, denn dieses
Zwischen selbst ist nirgends als in uns, sondern in beiden
als ein Wirken und Leiden, das sie wechselseitig auf ein-
ander ausüben und von einander erfahren, und das nur
für uns, wenn wir es denken, logisch die abgeschwächte
und seine volle Bedeutung nicht mehr erreichende Form
einer Beziehung annimmt. Ich muß der Metaphysik über-
lassen, zu zeigen, zu welchen Folgerungen diese Bemerkung
führt; auf Einiges, was mit ihr zusammenhängt, komme
ich bald zurück.
339. Die Vergleichung von a und b führt nicht blos
zu Gleichsetzung oder Unterscheidung; in Gestalt eines
Allgemeinen suchen wir auch das Gleiche im Ver-
schiedenen zum Inhalte einer gesonderten Vorstellung C
zu machen. Es ist eine häufige kritische Bemerkung der
Logik, daß unsere allgemeinen Begriffe die Festigkeit nicht
besitzen, die wir ihnen im gewöhnlichen Gebrauch des
Denkens zutrauen; ihr Inhalt und ihre Gliederung bilde
sich allmählich aus und derselbe Begriff bedeute Ver-
schiedenes für verschiedene Entwicklungsstufen unserer
immer hinzulernenden Erkenntniß. Dies gilt in sehr deut-
licher Weise von Begriffen, deren Inhalt blos aus Erfahrung
stammend erst nach und nach uns bekannt wird; nicht
ebenso unvollendbar wird man die Begriffe einer Ganz-
zahl oder eines Bruches, einer Linie oder Figur finden.
In dem Begriff des Dreiecks denkt der Geometer nicht mehr
als sein aufmerksamer Schüler; aber bei diesem Begriffe
erinnert er sich zahlreicher Relationen, die diesem noch
unbekannt sind; so scheint es als sei für ihn der Begriff
des Dreiecks reicher an Inhalt, während nur sein Wissen
über ihn ausgedehnter ist. Dies dahinstellend hebe ich
vielmehr hervor, daß jeder Allgemeinbegriff, auch wenn
wir nur denjenigen Inhalt in Betracht ziehen, den er in
einem einzelnen Augenblicke ausdrücken soll, eine in wirk-
licher Vorstellung unvollendbare Aufgabe bezeichnet. Ein
bestimmtes Roth und Blau kann man sehen; die allgemeine
Farbe läßt sich weder sehen, noch in gleich anschaulicher
558 Viertes Kapitel.
Gestalt, wie die Erinnerungsbilder von Roth und Grün,
der Einbildungskraft gegenüberstellen. Wer von Farbe über-
haupt spricht, rechnet darauf, der Hörende werde zunächst
das anschauliche Bild einer Einzelfarbe, des Roth viel-
leicht, in sich erzeugen, zugleich aber es mit einer Ver-
neinung begleiten, die es nicht für sich, sondern als Bei-
spiel des Allgemeinen gelten läßt; diese Verneinung aber,
wenn sie nicht allen Inhalt aufheben soll, kann er nur
ausführen, wenn er zugleich Einzelbilder anderer Farben
mitvorstellt und von der einen dieser Vorstellungen zur
andern übergehend sich des bleibenden Gremeinsamen in
seinen veränderlichen Vorstellungszuständen bewußt wird.
Eine solche Reihenfolge psychischer Thätigkeiten schreibt
uns der ausgesprochene Name jedes Allgemeinen vor; er-
reichbar aber als wirkliche Vorstellung ist das nicht, was
durch diese Thätigkeiten gesucht wird; niemals läßt sich,
was Roth und Grün zu Farben macht, von dem abtrennen,
was Roth zu Roth und Grün zu Grün macht. Man pflegt
als selbstverständlich zuzugeben, daß die Gattung eines
Wirklichen nicht für sich wirklich sei; das Einzelpferd
sehe man, das allgemeine laufe nirgends; aber man muß
sich überzeugen, daß auch im Denken das Allgemeine
immer nur als eine angestrebte, nie vollzogene Vorstellung
über den anschaulichen Bildern seiner Einzelbeispiele
schwebt. Diesen inneren Bewegungen in uns kann keine
sachliche Bedeutung zukommen; sie bleiben subjective
Anstrengungen unseres Geistes, und selbst die Art, wie
wir ihr Ergebniß ausdrücken: der Inhalt des Allgemeinen
sei enthalten in dem Inhalt des Besondern, dieses in dem
Umfang des Allgemeinen, bezeichnet nur in räumlicher
Symbolik die Denkbewegungen, die ein sachliches Verhält-
niß zwischen beiden vorzustellen streben. Da wir nun
überdies in wirklicher Vorstellung nicht erreichen, was wir
suchen, hat denn dann das Allgemeine überhaupt eine sach-
liche Bedeutung? Oder hat eine weitverbreitete Meinung
Recht, nur in dem psychischen Mechanismus die Ursache
zu sehen, die uns verleitet, ähnliche Eindrücke mit Ver-
mischung ihrer Unterschiede und zuletzt nur mit Schaden
für die Genauigkeit des Denkens unter gemeinsame Namen
zusammenzufassen? Aber diese Meinung gibt zu, was sie
leugnen will; um zu begreifen, daß nicht alle, sondern nur
ähnliche Vorstellungen diese Zusammenziehung in ein Ge-
meinsames erfahren, setzt sie eben die Aehnlichkeit der-
selben und hiermit offenbar nur in anderer Form die sach-
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 559
liehe Gültigkeit unserer Annahme eines Allgemeinen voraus,
das in ihnen, wie unabtrennbar auch immer, enthalten sei.
Wäre es anderseits nur eine angeborene Bestrebung des
Denkens, Allgemeines zu suchen, so möchte immerhin
dies Streben ohne sachliche Bedeutung sein; aber die That-
sache, daß das Gesuchte gefunden wird, gibt ihm diese
doch. Ich widerspreche mir hier nur scheinbar; denn
obgleich das Allgemeine nicht als anschauliche Vorstellung
fixirt werden kann, erfolglos ist doch die Bemühung nicht,
es zu denken. Wir könnten Roth und Blau nicht einmal
dem allgemeinen Namen der Farbe unterordnen, wenn
das Gemeinsame in ihnen nicht wäre, dessen Bewußtwerden
wir durch die Schöpfung dieses Namens bezeugen; wir
könnten von Thieren und Pflanzen keine Gattungsbegriffe
bilden, wenn nicht die Merkmale der einzelnen und ihre
Verbindungsweisen die Vergleichbarkeit wirklich besäßen,
die uns erlaubt, sie allgemeinen Merkmalen und Formen
unterzuordnen und durch Einsetzung dieser anstatt ihrer
das allerdings unanschauliche Denkgebild der Gattung zu
erzeugen. In der Thatsache mithin, daß wir Allgemeines
denken können, liegt allerdings eine Behauptung von
realer Geltung: die W^elt der vorstellbaren Inhalte, die wir
denkend nicht erzeugen, sondern vorfinden, zerfällt nicht
atomistisch in lauter singulare Bestandtheile, deren jeder
unvergleichbar mit anderen wäre, sondern Aehnlichkeiten
Verwandtschaften und Beziehungen zwischen ihnen finden
so statt, daß das Denken, Allgemeines bildend, Besonderes
ihm unterordnend und einander nebenordnend, durch diese
seine formalen und subjectiven Bewegungen mit der Natur
des sachlichen Inhalts zusammentrifft.
340. Gehen wir von diesen einfachsten Fällen zu den
Hauptformen der logischen Thätigkeit über, so begegnet
uns in Bezug auf die Bedeutung der allgemeinen Be-
griffe der Streit des Nominalismus und des Realis-
mus, der das Mittelalter heftig bewegte. Beide Richtungen
faßten den Gegenstand der Frage nicht in rein logischem
Sinne; überwiegend metaphysisches Interesse ließ sie die
Innenwelt unserer Vorstellungen hauptsächlich in ihrem
Verhältniß zu der Welt der Dinge betrachten. So kam der
Realismus dahin, mit Uebertreibung der mißverstandenen
Selbständigkeit platonischer Ideen, den Allgemeinbegriff für
das wahrhaft Seiende in den Dingen, Alles aber, wodurch
eines seiner verwirklichten Beispiele sich von den andern
unterscheidet, als eine freilich sehr räthselhafte, aber
560 Viertes Kapitel.
secundäre Nebenbestimmung anzusehen, die vergänglich zu
der ewigen Substanz des Allgemeinen hinzutrete; der
Nominalismus, von der richtigen aristotelischen Ueber-
zeugung beginnend, die Wirklichkeit des Seins gehöre
nur dem Einzeldinge, fand keinen Weg, mit dieser die
Geltung des Allgemeinen zu vereinigen, sah in den Be-
griffen höchstens subjectiv verwendbare Mittel für die
Ordnung unserer Vorstellungen ohne Bedeutung für die
vorgestellten Dinge, und verirrte sich, auch dies noch
leugnend, bis dahin, sie nur als aussprechbare und hörbare
Laute ohne wirklichen Denkinhalt gelten zu lassen. Ich
vermeide zunächst jene ausschließliche Beziehung auf das
Sein; sie beschränkt widerrechtlich den Sinn der Frage;
auch wo es sich in Mathematik nicht um Dinge und ihr
Wesen handelt, auch wo praktische Philosophie und Juris-
prudenz von Tugenden und Verbrechen sprechen, die sein
sollen oder nicht sollen, überall ferner wo im Leben eine
wichtige Entscheidung durch Unterordnung einer gegebenen
Sachlage unter einen allgemeinen Begriff gesucht wird:
überall da kommt die gesetzgebende Bedeutung des All-
gemeinen für diese sachlich, aber doch nicht dinghaft,
uns gegebenen Inhalte in Betracht.
341. Entwöhnt man sich, nur naturgeschichtliche
Gattungsbegriffe als Beispiele des Allgemeinen zu denken,
erinnert sich vielmehr, daß wir auch von Figuren und
Zahlen Ereignissen und Verhältnissen Wahrheiten und Irr-
thümern allgemeine Begriffe bilden, so verschwindet die
abenteuerliche Neigung von selbst, ihnen als solchen eine
dinghafte oder doch wesenhafte Realität zuzuschreiben.
Die Urbilder selbständiger Geschöpfe, der Pflanze des
Thieres des Menschen, mag allenfalls unsere Einbildungs-
kraft in einer hypostasirten Ideenwelt in ewiger Wirklichkeit
für sich bestehen lassen, Gegenstände der Anschauung für
eine Seele, die noch nicht an die Beschränkungen ihres
irdischen Daseins gebunden wäre; aber die Allgemein-
begriffe von Ruhe und Bewegung Gleichheit und Gegensatz
Thun und Leiden könnten auch in jener Welt nicht in
gleichartiger Wirklichkeit neben ihnen sein, sondern nur
als prädicative Bestimmungen von ihnen gelten. Diese
leicht einzusehende Nothwendigkeit vergessen wir freilich
zuweilen: Eigenschaften Verhältnisse oder Ereignisse, an
deren Inhalt sich ein hervorragendes Interesse der Ver-
ehrung oder der Purcht knüpft, sind "wir geneigt, mit
Verkennung ihrer dennoch nur prädicativen Natur als All-
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 561
gern einheilen von wesenhafter Wirklichkeit zu behandeln;
von dem Schönen an sich sprechen wir wie von einem
Wesen, das nur uns unzugänglich sei, aber an sich ein
Gegenstand möglicher Anschauung; von der Sünde reden
wir nicht nur wie von einer That, die wirklich wird, wenn
wir sie begehen, sondern auch wie von einer selbständigen
Macht, die wesenhaft auf uns einwirke. Wir verwechseln
hier die Wichtigkeit, die dem Inhalt beider Begriffe in
dem Ganzen der Weltordnung gebührt, mit einer Form
der Wirklichkeit, die ihm unzugänglich ist, und die nur
am ausdrucksvollsten seine Unabhängigkeit von unserer
Anerkennung hervorhebt. Dieser falschen und nicht un-
gefährlichen Gewohnheit entsagen wir doch leicht; nur
die Allgemeinbegriffe dessen, was nach der Natur seines
Inhalts substantivische Fassung ursprünglich verlangt, unter-
halten länger die Neigung zu solcher Hypostasirung ; auch
sie jedoch weicht vor einer einfachen Betrachtung. Nicht
nur einmal bilden wir ja, von dem Einzelnen der Wahr-
nehmung ausgehend, ein Allgemeines Q, sondern auch dies
verbinden wir mit einem andern seines Gleichen zu einem
höheren Allgemeinen P, und indem wir dieses Verfahren
fortsetzen, ist es zugleich in weiten Grenzen in unser
logisches Belieben gestellt, durch wie viele ebenfalls all-
gemeine Mittelglieder wir Q mit dem höchsten All-
gemeinen A, bei dem unsere Abstraction anhalten wird,
in Verbindung setzen wollen. Jedes dieser Allgemeinen
würde gleiches Recht auf jene wesenhafte Existenz haben;
neben das allgemeine Thier an sich träte in gleicher Wirk-
lichkeit das allgemeine Wirbelthier, das Säugethier an sich,
der allgemeine Einhufer, das Pferd an sich und der all-
gemeine Rappe; neben einander, sagte ich absichtlich,
denn es gäbe in der That keine Vorstellungsweise, durch
welche wir die Unterordnung, vermöge deren in unserem
Denken einer dieser Allgemeinbegriffe den andern ein-
schließt, auf diese Wesen von gleichartiger Wirklichkeit
des Seins übertragen könnten; so neben einander gestellt
aber würden sie das nicht mehr bedeuten, was sie bedeuten
wollen. Die Einsicht befestigt sich daher, daß diejenige
Realität, die wir den durch unser Denken erzeugten All-
gemeinbegriffen zuerkennen wollen, völlig unähnlich einem
Sein ist und nur in einer Geltung von dem Seienden
bestehen kann. Aber wie viel von dem Ganzen eines
Allgemeinbegriffs diese Geltung besitze und was es über-
haupt heiße, sie zu besitzen, bedarf noch einiger Erörterung.
Lotze, Logik. 36
562 Viertes Kapitel.
342. Ich erinnere zunächst daran, daß es sich hier
nicht um einen objectiven Werth handelt, der diesem oder
jenem der von uns erzeugten Allgemeinbegriffe auf Grand
seines richtig zusammengefügten Inhalts zukommen mag;
die Frage bezieht sich auf die allgemeine Bedeutung der
logischen Form des Allgemeinbegriffes; daß dieser, wie
jeder andern von den Formen, welche die Logik als Ideale
vorzeichnet, ein ihr anzupassender Inhalt gegeben werden
kann, bedarf besonderer Erwähnung nicht; aber die Kritik
dieser unzähligen Anwendungen der Begriffsform ist keine
hier zu lösende Aufgabe. Nun dachten wir einen Inhalt S
dann in der Form des Begriffs, wenn wir seine mannig-
fachen Bestandtheile nicht nur als ein Ganzes überhaupt
zusammenfaßten, sondern ein Allgemeines M mitvorstellten,
von dessen in bestimmter Weise verknüpften allgemeinen
Merkmalen P Q . . jedes in S zu einer besondern Modi-
fication p" q' determinirt war. Diese Structur unseres
Begriffes entspricht keinem Vorgang, der in der Natur eines
Dinges oder Gegenstandes vorkäme; sie entspricht auch
dem nicht, was wir als die eigne Natur eines zwar sachlich,
aber nicht dinghaft gegebenen Inhalts bezeichnen könnten.
Es gibt keinen Augenblick in dem Leben einer Pflanze,
in welchem sie nur allgemeine Pflanze oder Conifere an
sich wäre und von späteren Einflüssen, die unsere hinzu-
kommende logische Determination ersetzten, Entscheidung
darüber erwartete, zu welchem bestimmten Baume sie aus-
wachsen solle. Allerdings ist die Pflanze das, was sie
zuletzt wird, nicht schon als vollständige Miniatur im Keime ;
aber ihre Entwicklung erfolgt nicht so daß hinzutretende
Bedingungen eine Determination in allgemeiner und un-
bestimmter Gestalt vorhandener Merkmale erzeugten,
sondern zu völlig bestimmten treten sie hinzu und bringen
im Verein mit ihnen neue Folgen hervor, die nicht als
mögliche Arten in den Umfangen früherer allgemeiner
Merkmale lagen und jetzt nur, mit Ausschluß aller dis-
juncten, zur Wirklichkeit kämen. Ellipsen haben keine
natürliche Existenz und Entwicklung wie Pflanzen; aber
auch in ihre Natur dringen wir doch nicht dadurch mit
ausschließlicher Wahrheit ein, daß wir sie zuerst als Curven
überhaupt mit den allgemeinen Eigenschaften aller krummen
Linien denken, und dann diese Eigenschaften bis zu der
Besonderheit determiniren, die dieser Curve als solcher
gehört; so können wir zu ihrem Begriffe kommen, dann
nämlich, wenn in unserer ungeübten Erinnerung zuerst
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 563
nur die allgemeinen Umrisse der Figur auftreten, nach der
man uns fragt, und erst nachfolgende Besinnung sie uns
bestimmter zeichnen lehrt; in den mathematischen Gleichun-
gen, mögen sie die Gestalt der Linie auf ganz willkürliche
Ausgangspunkte beziehen oder auf eine ihrer graphischen
Entstehungsarten Rücksicht nehmen, ist die Krümmung
selbst gar nicht direct ausgedrückt, sondern nur als eine
Folge, die man aus den bestimmten Verhältnissen der
Coordinaten ableiten kann. Diese Betrachtungen gelten
ebenso von der classificatorischen Unterordnung der Be-
griffe; sie hat keine reale Bedeutung für die eigne Structur
und Entwicklung der Dinge. Weder ist dies Pferd zuerst
Thier überhaupt gewesen, dann Wirbelthier im Allgemeinen,
später Säugethier an sich und zuletzt erst Pferd geworden,
noch kann man in jedem Augenblick seines Daseins die
völlig determinirte Gruppe von Merkmalen, die es zum
Pferd macht, von der allgemeineren und weniger bestimmten,
durch die es Wirbelthier wäre, und von der unbestimm-
testen, die es nur zum Thiere überhaupt gestaltete, in
irgend einer Weise selbständig absondern. Und hierzu
kommt, daß nicht nur auf Grund mangelhafter Kenntniß
und Beobachtung verschiedene Classificationen sich über
dieselben Gegenstände streiten und zwischen ihnen und
dem höchsten Allgemeinen verschiedene Stufenleitern all-
gemeiner Begriffe einschalten; sondern an sich ist das
logische Recht des Denkens unanfechtbar, von beliebig
gewählten Gesichtspunkten aus dasselbe S verschiedenen
höhern Allgemeinbegriffen unterzuordnen, oder durch sehr
abweichende Reihen aufeinanderfolgender Determinationen
seinen Begriff zu construiren. Im Hinblick auf bestimmte
Zwecke einer Untersuchung können wir dann fragen, welche
dieser Constructionen vorzuziehen sei, weil sie den Gegen-
stand am günstigsten für die Unterordnung unter die hier
entscheidenden Grundsätze darstelle; wüßten wir uns im
Besitz einer Kenntniß der höchsten Principien des ganzen
Weltlaufs, welche die Entscheidungsgründe aller Sonder-
fragen einschlössen, so könnten wir noch weiter aus den
verschiedenen gleichmöglichen Begriffen eines Gegenstandes
jenen vornehmsten auszuwählen suchen, der in dieser
Classification seine Stelle bezeichnete, und in welchem
als ableitbare Folgen alle jene anderen Begriffe desselben
mit enthalten wären. Allein so sehr wir auch, wenn uns
dies gelänge, den Erkenntniß w e r t h dieses Begriffes durch
die Wichtigkeit seines Inhalts und der Verbindungsweiso
564 Viertes Kapitel.
dieses Inhalts gesteigert hätten : die logische Structur, die
er als Begriff hätte, würde dennoch keiner realen Structur
seines Gegenstandes entsprechen. In diesem Erkenntniß-
werthe aber, den wir zugestehen, liegt die andere Seite
der Sache, das was wir meinen, wenn wir nun dennoch
alle behaupten, daß durch den Allgemeinbegriff und die
Classification jedenfalls doch etwas die Sache selbst Be-
treffendes gesagt sei. Man wird vielleicht versuchen es
so auszudrücken, daß actu zwar nicht, aber doch potentia,
die ganze Reihe der einander übergeordneten Allgemein-
begriffe in dem Wesen der Sache selbst enthalten sei;
und diese Bemerkung wird man zugleich auf anders ge-
formte Constructionen oder Auffassungen eines Gegebenen
ausdehnen: nicht wirklich, aber der Möglichkeit nach sei
jeder Theilstrich enthalten in der stetigen Größe, die wir
durch ihn zerfallen, der Möglichkeit nach in jeder ein-
fachen geradlinigen Bewegung das Paar der Componenten,
in die wir sie nach unserer Wahl zergliedern; die 7 sei
nicht 4 -|- 3, aber gewiß lasse sie diese Substitution zum
Zwecke einer Rechnung zu. Diesen Ausdrücken geben wir
eine bestimmtere Bedeutung: alle unsere Begriffsbildungen
Classificationen und Constructionen sind subjective Be-
wegungen unseres Denkens und nicht Vorgänge in den
Sachen; so aber ist zugleich die Natur der Sachen, der
gegebenen vorstellbaren Inhalte geartet, daß das Denken,
wenn es sich den logischen Gesetzen dieser seiner Be-
wegungen überläßt, am Ende seines richtig durchlaufenen
Weges wieder mit dem Verhalten der Sachen zusammen-
trifft; der Wege aber, die es zwischen den einzelnen Ele-
menten seines Inhalts mit gleicher Hoffnung durchlaufen
kann, sind viele und nicht nur einer; nach unzähligen
Richtungen hin hängt die Gesammtheit des Vorstellbaren
als ein vielfach gegliedertes System von Reihen zusammen,
und das Denken, wenn es mit willkürlicher Wahl seines
Weges, aber mit Beachtung seiner eigenen Gesetze, sich
von einem Gliede desselben zum andern bewegt, gleicht
etwa einer Melodie, deren unberechenbarer Lauf überall
auf Stufen der Tonreihe von festbestimmten harmonischen
Verhältnissen trifft.
343. Nicht nur was an den Urth eilen logische Form
ist, sondern auch das Erkenntnißresultat, das in dieser
Form ausgesprochen wird, hat eine unmittelbare reale Be-
deutung nicht. Wir sagen kategorisch: dieser Baum
blüht; die atmosphärische Luft ist ein permanentes Gas;
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 565
jedes Dreieck hat zwei rechte Winkel; im ersten Fall
war es nur das Verdienst des hier ausgesprochenen Inhalts,
daß wir dem Baum in Wirklichkeit eine von dem augen-
blicklichen Zustande seines Blühens unabhängige Existenz
zuschreiben konnten, daß also Subject und Prädicat so
auseinandertraten, wie wir sie in der Form des Urtheils
scheiden und verknüpfen; in den beiden andern Fällen
enthält die Sache diese Spaltung nicht; sie ist eine völlig
subjective Bewegung des Denkens, die willkürlich aus dem
einheitlichen Inhalt des Vorgestellten einen seiner Bestand-
theile zu gesonderter Betrachtung hervorhebt. Auch die
Verschiedenheit der Copula in diesen drei Urtheilen gehört
nur der Einbildungskraft an, die sich der Eigenthümlichkeit
des jedesmaligen Inhalts anschmiegt und in der Sprache
ihren Ausdruck findet; die Logik selbst, indem sie für
ihre technische Uebersicht allen Urtheilen die Form : S ist P
gibt, bezeugt, daß in dieser gleichmäßigen Copula ist
alle sachlichen Verschiedenheiten des Zusammenhanges
zwischen S und P ausgelöscht sind; mögen diese sich
verhalten wie Ganzes und Theil, wie ein Ding zu seinen
Zuständen oder wie Ursache zur Wirkung: in der Form
des Urtheils erscheinen sie nur wie Subject und Prädicat,
zwei Bezeichnungen, die nur die relativen Stellungen be-
deuten, welche die Vorstellungen beider in unserer sub-
jectiven Denkbewegung einnehmen, aber nichts über das
sachliche Verhältniß aussagen, welches, wenn es gedacht
wird, sie in unsem Gedanken diese Stellungen einzunehmen
nöthigt. Auch in hypothetischen Urtheilen berufen wir
uns nur auf ein solches sachliches Verhalten, bringen es
aber durch die Form des Urtheils weder zum Ausdruck
noch zum Verständniß. Die Verknüpfung von Vordersatz
und Nachsatz : wenn B gilt, so gilt F, behauptet durch sich
selbst nichts weiter, als die allgemeine Zusammengehörig-
keit von B und F zu einem einheitlichen Gedanken M;
daß wir dies Zusammengehörige nun dennoch trennen und
den einen Theil des Gedankens dem andern voranschicken,
wodurch wegen des untrennbaren Zusammenhangs beider
jener zum Grunde, dieser zur Folge wird, ist eine jener
subjectiven Denkbewegungen, die in dem vorgestellten
Inhalte nicht vorgehen, und diese subjective Natur zeigt
sich durch die Möglichkeit, die Richtung der Bewegung
umzukehren. Wir sagen: jedes gleichseitige Dreieck ist
gleichwinklig, oder: wenn ein Dreieck gleichseitig ist, so
ist es gleichwinklig; wir konnten ebenso gut sagen: wenn
566 Viertes Kapitel.
es gleichwinklig ist, so ist es gleichseitig; der ungetheilte
Gedanke oder die Anschauung des gleichseitig-gleichwink-
ligen Dreiecks bildet hier den sachlichen Inhalt, zwischen
dessen gleichzeitig gültigen Bestandtheilen sich unser Denken
mit willkürlichem Ausgangspunkt trennend und ver-
knüpfend hin und her bewegt. Dies gilt von allen Urtheilen,
die, wie die mathematischen, sich nur mit Vorstellbarem,
nicht mit Wirklichem beschäftigen; sie würden alle reci-
procabel sein, wenn ihr sachlicher Ausdruck durch Sätze
eine ebenso genaue Determination aller in ihnen vorkom-
menden Begriffe gestattete, wie sie in der Form der
Gleichung ausführbar ist. Beziehen sich dagegen unsere
hypothetischen ürtheile auf Data der Wirklichkeit, so ist
es zwar unsere Meinung, daß hier Vordersatz und Nachsatz
unvertauschbar sein sollen, aber die hypothetische Urtheils-
form drückt durch sich selbst das nicht aus, wodurch
diese unsere Forderung erfüllt werden könnte. Denn wenn
einmal die Bedingung B gilt, so gibt es logisch keinen
Zwischenraum mehr, der ihre Gültigkeit von der der
Folge F trennte; beide bilden, eben in Gemäßheit dessen,
was diese hypothetische Urtheilsform als ihr eignes Er-
kenntnißresultat behauptet, nur einen untheilbaren Vor-
gang M; und da femer, wenn wir unsern Gedanken genau,
ohne Ueberschuß und Mangel, gedacht annehmen, mit
diesem B kein F^ sondern nur F, mit diesem F kein B^
sondern nur B verbunden sein kann, so gehen wir im
Denken mit gleichem Recht und gleicher Noth wendigkeit
von dem willkürlich gewählten Ausgangspunkt B zu F wie
von F zu B über; der Grund ist uns Erkenn tnißgrunid
der Folge, die Folge Erkenntnißgrund des Grundes. Daß
in dem wirklichen realen Verhalten hier etwas liege, was
ausschließlich B zum Antecedens, ausschließlich F zum
Consequens macht, das wissen wir wohl, weil wir den
Inhalt kennen, von dem wir reden, aber in der Form
xmseres logischen Thuns bringen wir es nicht zum Aus-
druck. Denn diese Form beruht ganz nur auf dem abstracten
Gedanken einer Bedingtheit des F durch B überhaupt;
diese aber, eine bloße Beziehung, ist, wie wir früher zeigten,
weniger, als was zwischen B und F als Dingen oder
Vorgängen wirklich stattfinden kann; bestehen kann ein
Verhältniß, durch welches einseitig B zum Realgrund wird,
nur dann, wenn B die Ursache, F die Wirkung ist; anstatt
dieses realen und speciellen Verhältnisses der Causalität
erscheint im hypothetischen Urtheil nur das allgemeinere
Reale und formale Bedeutung des Logischen. Ö67
und abstracte der Bedingtheit überhaupt, das so keine
reale Bedeutung hat. Disjunctive Urtheile endlich
wollen gar keine Wirklichkeit aussagen: das unent-
schiedene Schwanken zwischen einander ausschließenden
Prädicaten kann kein Vorgang in dem Realen sein, sondern
bleibt ein Zustand des Denkens, dem zur Erkenntniß des
Wirklichen die zulänglichen Data fehlen.
344. Eine kurze Erinnerung an die verschiedenen
Formen der Schlüsse führt zu ähnlichen Ergebnissen.
Am leichtesten wird man eine reale Bedeutung jenen sub-
sumptiven Figuren zuschreiben, die durch Unterordnung
des Besondern unter das Allgemeine ihren Schlußsatz er-
zeugen; denn diese Unterordnung allerdings sieht man in
dem nun schon hinlänglich erklärten Sinn als eine sachlich
gültige in Bezug auf alles Vorstellbare an. Aber die logische
Form des Schlußverfahrens entspricht doch auch hier keinem
Verhalten der Sache. In mathematischen Schlüssen hat
der allgemeine Obersatz, von dem aus wir den specielleren
Schlußsatz ableiten, keine Priorität der Geltung vor diesem
oder dem Untersatz, alle drei sind Theile einer ewigen
Wahrheit von simultaner Geltung; die Priorität größerer
Einfachheit oder unmittelbarer Evidenz kann der Obersatz
voraus haben, aber beide Prädicate würden ihn schon
nur in seiner Beziehung zu unserem Denken charakterisiren,
ohne daß er darum schon einen Vorzug an sich vor andern
gleich gewissen Sätzen hätte; endlich ist die Form des
subsumptiven Schlusses gar nicht genöthigt, von einem
so einfachen Obersatz auszugehen; eben die simultane Ver-
kettung aller mathematischen Wahrheiten erlaubt, auch die
einfacheren unter ihnen als Grenzfälle aus der Verkettung
von weniger einfachen, und immer in subsumptiver Figur,
abzuleiten. Diese völlig subjective Bedeutung der syllo-
gistischen Form vergessen wir zuweilen in ihrer Anwendung
auf Wirkliches. So lange der allgemeine Obersatz doch
noch eine sehr inhaltreiche und specielle Wahrheit aus-
drückt, dann etwa wenn wir sagen: alle Thiere respiriren,
so lange zweifeln wir nicht, daß dieser Obersatz keine
Wirklichkeit bezeichne, die der Geltung des Schlußsatzes:
auch die Fische respiriren, irgendwo anders als in unserem
Denken vorangehen könnte; kommen wir jedoch auf die
allgemeinsten Zusammenhänge der Dinge, so bildet sich
wieder die Neigung, ihren Ausdrücken, den allgemeinsten
Naturgesetzen, die in unserer Ueberlegung des Welt-
568 Viertes Kapitel.
laufs als Obersätze auftreten, eine in der That ganz un-
begreifliche reale Priorität vor den Vorgängen zuzuschreiben,
in denen sie gelten sollen. Diese Neigung ist nicht un-
gefährlich für den richtigen metaphysischen Zusammenhang
unserer Weltauffassung; sie führt zu dem umfassenden
Aberglauben, als ließe sich das Wirkliche der Welt aus
Unwirklichem und dennoch Wesenhaftem und Gebietendem
ableiten, während wir uns umgekehrt mit der Ueberzeugung
durchdringen müssen, daß alle nothwendigen Wahrheiten,
denen wir das Seiende als etwas secundär Hinzukommendes
unterordnen zu können glauben, eben nur Natur und Con-
sequenz des Seienden selbst sind und nur durch die Re-
flexion unseres Denkens von ihm abgelöst und ihm selbst
als ein gebietendes Prius antedatirt werden. Schlüsse durch
Induction erregen dies Mißverständniß nicht; Niemand
verkennt, daß die Verknüpfung der Einzeldaten zu einem
generellen nicht blos universellen Satze nicht der Real-
grund der Geltung des letztern, sondern nur für uns ein
Erkenntnißgrund dieser Geltung ist. Viel deutlicher noch
überführen uns die vielfachen Formen der Beweise von
der blos subjectiven Bedeutung der Schlüsse, aus denen
wir sie zusammensetzen. Wie viele verschiedene, directe
und indirecte, progressive und regressive Beweise, alle
gleich triftig, sind für einen und denselben Satz möglich!
wie viel verschiedene selbst in direct progressiver Form
allein! Und wenn nun wirklich einer von diesen vielen
das Vorrecht hätte, allein das Wesen der Sache in seiner
eigenen Structur darzustellen, so würde die bloße Möglich-
keit der anderen doch immer zeigen, daß es die logische
Form allein nicht ist, welche diese reale Geltung erzeugt
oder ausdrückt, sondern daß jener Vorzug auf der Auswahl
des Inhalts beruht, den man in ihr verbunden hat. Was
endlich die letzten Denkhandlungen betrifft, mit denen wir
die reine Logik abschlössen, so haben wir schon damals
gesehen, daß sie sich zwar anstrengen. Formen zu finden,
in welchen das eigne Wesen der Sache im Gegensatz zu
den zufälligen Ansichten zum Vorschein käme, die wir
subjectiv von ihm fassen können; aber ebenfalls schon dort
haben wir uns überzeugt, daß diese Formen weitfaltiger
ausfallen als das, was sie fassen wollen; wenn das eigne
Wesen der Sache in unser Denken eingeht, so kann es
nur in diesen Formen begriffen werden, aber die Formen
erzeugen es nicht und drücken es nicht voll aus; sie
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 569
lassen immer Anwendungen zu, die nach unserer eigenen
Ueberzeugung subjective Ansichten sind, und zwischen
denen die Auswahl der real berechtigteren nicht durch
logische Mittel, sondern nur durch Sachkenntniß, wenn es
eine solche gibt, vollzogen werden kann.
345. Es ist jetzt Zeit, den Sinn einiger Ausdrücke
genauer zu bestimmen, in deren Gebrauch ich bisher lässiger
gewesen bin. Von subjectiver und objectiver, von formaler
und sachlicher, von formaler und realer Bedeutung der
Denkformen ist die Rede gewesen; diese drei Gegensätze
decken einander nicht. Unterscheiden wir, wie früher ge-
schehen ist, unsere logische Denkhandlung von dem Ge-
danken, den sie als ihr Product erzeugt, so gebührt der
ersten nur eine subjective Bedeutung : sie ist lediglich
die durch unsere Natur und durch unsere Stellung in
der Welt uns nothwendig gewordene innere Bewegung,
durch die wir jenen Gedanken, z. B. den vorhandenen
Unterschied zwischen a und b oder das in beiden ent-
haltene Allgemeine C, zum Gegenstand unseres Bewußtseins
machen; so hat jeder, um die Aussicht von einem Berge
zu genießen, von seinem Standpunkt aus einen bestimmten
geraden oder gewundenen Weg bis auf den Gipfel zurück-
zulegen, der die Aussicht eröffnet; dieser Weg gehört nicht
zu dem . was er sehen will. Der erzeugte Gedanke selbst
dagegen, die gefundene Aussicht, hat objective Geltung;
von allen, nach Zurücklegung jener Wege, auf gleiche Art
empfunden, bildet das jetzt Gesehene ein von der Sub-
jectivitäf des einzelnen Denkenden unabhängiges Object;
nicht nur einen Zustand mehr, den er leidet, sondern
einen Inhalt, den er vorstellt, und der als derselbe und
sich selbst gleiche auch dem Bewußtsein Anderer gegenüber-
steht. Dasselbe Verhaltea beleuchtet von anderer Seite
.her der zweite Gegensatz. Es würde nicht hinreichen,
unsere Denkhandlungen nur subjectiv zu nennen; diese
Bezeichnung würde sie von dem Verhalten der Sachen
lediglich trennen und die Beziehung unklar* lassen, die
doch stattfinden muß, wenn der erzeugte logische Gedanke
eine objective Gültigkeit besitzen soll, die der ihn erzeugen-
den Denkhandlung selbst nicht zukommt. Formal nennen
wir daher die logischen Thätigkeiten, weil ihre Eigenthüm-
lichkeiten zwar nicht die eigenen Bestimmungen der Sachen
sind, aber doch Formen des Verfahrens, eben die Natur
der Sachen zu erfassen, und deshalb nicht außer jedem
570 Viertes Kapitel.
Zusammenhang mit dem sachlichen Verhalten selbst.
Die früher besprochenen Beispiele werden hierüber keinen
Zweifel lassen. Die Beschränkung auf nur formale Geltung
zeigte sich darin, daß es der Denkhandlungen mehrere
und gleichtriftige geben kann, die zu demselben Endgedanken
oder demselben sacMichen Ergebniß führen; keine von
ihnen kann daher ausschließliche Bedeutung für den be-
stimmten sachlichen Inhalt haben, mit dem sie sich alle
beschäftigen; alle sind vielmehr nur Formen des Ver-
fahrens, ein Ergebniß zu erhalten, das einmal gefunden
ohne Rücksicht auf den Weg gilt, auf dem man zu ihm
gekommen ist. Aber es würde ja unmöglich sein, auf
jenen verschiedenen Wegen zu dem aussichteröffnenden
Gipfel zu kommen, wenn nicht alle diese Wege mit be-
stimmten gegenseitigen Lagenverhältnissen in dem Ganzen
der geographischen Situation mitenthalten wären, deren
anderen Bestandtheil die von jenem Gipfel übersehbare
Landschaft bildet. Hierin besteht das Positive, das der
zweite Gegensatz von den Denkhandlungen aussagt: jede
derselben ist eine der verschiedenen durch den all-
gemeinen vielseitig gegliederten Zusammenhang der
Sachenwelt möglich gemachten Weisen, durch Bewegung
von einem Element dieser Welt zum andern ein bestimmtes
sachliches Verhalten zu erreichen, ohne daß deshalb die
gewählte Bewegung die eigene Entstehung oder das eigne
Bestehen dieses bestimmten Verhältnisses wäre oder nach-
ahmte. Der dritte Gegensatz enthält nicht nur andere Be-
zeichnungen für die Glieder des zweiten, sondern betrifft
eine Frage eigner Art. Als sachlich gegeben betrachten
wir jeden Denkinhalt von fester in dem oben erörterten
Sinne objectiver Bedeutung, die Vorstellungen von Nicht-
seiendem nicht minder als die von Seiendem; unter
Realem würden wir nur die Dinge sofern sie sind und
die Ereignisse sofern sie geschehen, in ihrer dem Denken
jenseitigen Wirklichkeit verstehen müssen. Nun kann davon
nicht die Rede sein, daß dieses Reale sich selbst in den
Formen des Begriffs des Urtheils und des Schlusses bewegte,
welche die subjectiven auf seine Erkenntniß gerichteten
Anstrengungen unseres Denkens annehmen; aber selbst die
logischen Gedanken, welche das Produkt dieser Denk-
handlungen sind, haben in Bezug auf dieses Reale jene
unmittelbare Geltung sachlich nicht, die ihnen jedem Denk-
inhalt als solchem gegenüber zukam. Ich thue besser, der
Metaphysik die weitere Erörterung dieses wichtigen Punktes
Reale und formale Bedeutung des Logischen. 571
zu überlassen; zu seiner vorläufigen Verdeutlichung reicht
die Wiederholung bereits besprochener Beispiele hin. Wir
sahen, daß der Begriff einer Bedingung nicht ausreicht,
um das zu bezeichnen, was wir unter einem zwischen zwei
realen Elementen wirklich bestehenden Verhältniß meinen;
um so zu bestehen, mußte es mehr als Verhältniß, mußte
volle Wechselwirkung sein; in dieser realen Verknüpfung
der realen Elemente lag dann der Grund, der ihre Er-
scheinungen für uns in die formale Beziehung brachte,
die wir nun blos logisch eine Bedingtheit der einen durch
die andere nennen. Gleiches gilt von allen logischen
Formen. Kein reales S kann nur Subject für ein reales P
sein, das nur sein Prädicat wäre; in Wirklichkeit kann P
an S nur haften entweder als erlittener Zustand, oder
als ausgeübte Wirkung, oder als bleibende Eigenschaft
in dem allerdings hier noch dunklen Sinne, in welchem
wir metaphysisch diesen Begriff dem blos logischen des
Merkmals entgegensetzen. Erst wenn eines dieser Ver-
hältnisse zwischen S und P bejaht ist, begreifen wir, was
es realiter bedeutet, wenn wir logisch S als Subject P als
Prädicat fassen; erst dann entspricht ein wirklicher Sach-
verhalt der logischen Copula, die an sich ganz unbestimmt
läßt, was wir denn eigentlich den realen Inhalten dann
begegnet zu sein behaupten, wenn wir die Vorstellungen
beider in dieser Weise glauben verbinden zu müssen. So
oft man daher Ausdrücke wie Einheit Vielheit Gleichheit
Gegensatz Beziehung und Bedingung anwendet, hat man
durch sie allein noch gar nichts über das Seiende gesagt';
nun bleibt erst noch zu zeigen, durch welche Leistung
sich die Einheit des Einen als eine Wirklichkeit, nicht
nur als logischer Titel ohne Einkünfte beweist; wodurch
das viele Gleiche, da es doch im Denken eben gleich ist,
dennoch im Sein wirklich als Vieles auseinandertritt; in
welchem wechselseitigen Leiden von einander sich der
Gegensatz, in welchem andern die Beziehung zwischen
verschiedenen Seienden real bethätigt.
Fünftes Kapitel.
Die apriorischen Wahrheiten.
346. Fassen wir noch einmal unsere letzten Ueber-
legungen zusammen. Weder in dem Inhalt unseres Vor-
stellens noch in dem Realen, das wir als jenseitigen Grund
desselben betrachten, entsprach etwas den logischen Denk-
handlungen, die mit willkürlicher Wahl ihres Weges
die einzelnen Bestandtheile des vorgestellten Inhalts ver-
knüpften oder sonderten; aber in Bezug auf diesen Inhalt
wenigstens, abgesehen von dem Realen, das seine jenseitige
Ursache sein mag, kam den Gedanken, die wir durch
jene Denkhandlungen zu erzeugen suchten, eine sachliche
Bedeutung zu. Die Unterschiede Aehnlichkeiten Gegensätze
und Unterordnungen, deren wir uns in unserem Bewußtsein
nur durch ein Hin- und Hergehen unserer Thätigkeit he-
mächtigen konnten, galten wirklich von dem vorgestellten
Inhalt, obgleich er selbst nicht an diesen Bewegungen theil-
nahm; sie bestanden sachlich an sich selbst in dem
Sinne, in welchem wir das Bestehen jeglicher Beziehung
zwischen zwei Beziehungspunkten möglich fanden: sie
hatten zwar nie anders eine Wirklichkeit des Seins als
in den Augenblicken, in welchen sie gedacht wurden, aber
so war zugleich die Natur aller Geister geartet, daß immer,
sobald dieselben beiden Beziehungspunkte a und b gedacht
wurden, auch sich selbst gleich dasselbe Urtheil C über ihr
gegenseitiges Verhältniß gefällt wird. Es ist das platonische
Ideenreich, zu dem wir uns hier zurückgeführt sehen;
in festen und unveränderlichen Beziehungen stehen alle
vorstellbaren Inhalte, und mit welchen willkürlichen oder
zufälligen Bewegungen auch immer unsere Aufmerksamkeit
von dem einen zum andern übergehen, oder in welcher
Ordnung auch uns unbekannte Veranlassungen einen nach
Die apriorischen Wahrheiten. 573
dem andern in unsere Wahrnehmung bringen mögen: wir
werden zwischen ihnen immer dieselben Verhältnisse finden,
die in dieser sachlichen unendlich vielseitigen Gliederung
der Ideenwelt ein für alle mal gegeben sind. So oft diese
Behauptung wiederholt wird, wird sie als überflüssiger
Ausdruck des Selbstverständlichsten erscheinen, und ebenso
oft wiederhole ich, daß eben die Thatsache des Vorhanden-
seins dieser Selbstverständlichkeit das Wunderbarste in
der Welt ist. Obgleich unentbehrliche Grundlage alles
Denkens, und eben deswegen mit Uebermuth von uns als
selbstverständlich übergangen, ist sie nicht einmal, wie
ich früher schon bemerkte, in demselben Sinne denk-
nothwendig, in welchem es innerhalb ihrer selbst jedes
einzelne von ihr eingeschlossene Verhältniß ist. Ausdenken
freilich können wir uns nicht, wie es dann sein würde,
wenn diese Thatsache nicht bestände, aber vorstellen können
wir uns doch eine Welt, in der sie nicht vorkäme; in
welcher unzählige Inhalte zwar dem vorstellenden Geiste
sich darböten, aber jeder beziehungslos zum andern, alle
so disparat gegen einander, daß nie sich zwei unter irgend
ein Allgemeines als verwandte Arten vereinigten, und daß
niemals ein Unterschied zwischen zweien für größer ge-
ringer oder anders geartet geschätzt werden könnte, als
der zwischen zwei anderen. Daß jeder einzelne dieser
Inhalte sich selbst gleich sein müsse, würde das Einzige
sein, was das Denken, seinem Identitätsgesetz gemäß,
verlangen müßte, damit jeder von ihnen überhaupt vor-
stellbar werde, und diese Forderung könnte ja jene Welt
erfüllen; darüber hinaus aber kann das Denken zwar für
die Möglichkeit seiner ferneren Handlungen wünschen,
aber nicht als denknothwendig gebieten, daß zwischen den
verschiedenen Inhalten jene abgestuften Verwandtschaften
stattfinden, die allein ihm die Ausführung seiner Bestrebun-
gen ermöglichen: es ist nicht denknothwendig, daß das
Denken müsse stattfinden können. Und dann, wenn es
auch aus eigner Macht jene Verwandtschaften forderte,
hervorbringen könnte es sie doch nicht und müßte
immer darauf hoffen, daß sie in irgend einer von ihm
selbst, unerfindbaren Weise gegliedert, als Tonreihe als
Farbenreihe als Gradunterschiede des qualitativ Gleichen
oder sonstwie, thatsächlich ihm gegeben würden. Aber
so wunderbar und wichtig diese nun wirklich gegebene
Thatsache ist, so bildet doch sie selbst und das, was aus
ihr folgt, nicht das letzte Ziel unserer Ueberlegungen. Ver-
574 Fünftes Kapitel.
bürgt wird uns durch sie nur die Sicherheit, mit welcher
sich das Denken innerhalb der Ideenwelt als solcher bewegt,
die systematischen ewig gleichen Zusammenhänge ihrer
Elemente erforscht und durch Verknüpfung derselben neue
Gebilde erzeugt, die unfehlbar an einer andern vorher-
bestimmbaren Stelle dieser Ideenwelt vorgefunden werden,
alle untereinander nach mannigfachen Richtungen und in
festen Entfernungen so verbunden, daß die verschieden-
artigsten Wege und Umwege des Denkens zur sicheren
Auffindung eines jeden dienen können. Dies allein ist es
aber doch nicht, was man zu wissen verlangt. Gesucht
wird vielmehr die Bedeutung, die diese systematische
Gliederung alles Vorstellungsinhalts für die empirische
nicht systematische Ordnung hat, in welcher ein vom
Denken unabhängiger Grund die Inhalte möglicher Vor-
stellungen in unsere Wahrnehmung treten läßt; wir wollen
nicht nur die ewige Classification, sondern auch den
veränderlichen Verlauf der Sachen verstehen lernen.
347. Beide sind von einander völlig verschieden. Die
Wahrnehmungen führen uns nicht eben das verbunden
vor, was in dem System des Vorstellbaren verwandtschaft-
lich coordinirt nebeneinander steht, noch ist ihr ganzer
Verlauf ein periodisch sich wiederholender Vorüberzug der
Gattungen Arten und Unterarten in jener Ordnung, in
welcher die Classification sie absteigend auf einander folgen
läßt; in verschiedenen Punkten des Raums gleichzeitig,
in verschiedenen Zeitpunkten nach einander, finden wir
die heterogensten Elemente jenes Reiches der Inhalte als
Erscheinungen verbunden: gibt es in diesem Wechsel Ge-
setze, so sind sie völlig anderer Art als jene logischen,
in deren Betrachtung wir uns bisher bewegten. Bezeichnen
wir von jetzt an diesen empirischen Verlauf der uns ge-
gebenen Erscheinungen als reale Wirklichkeit, so
fragt es sich nach der Bedeutung, die ihr gegenüber unser
Denken haben kann, dessen Behauptungen, selbst wenn
sie gültig bleiben, doch unfähig erscheinen, den Zusammen-
hang derselben zu beherrschen. Denn wenn es nun auch
wahr ist, daß a und b, in wirklicher Wahrnehmung ge-
geben, denselben Unterschied und dieselbe Verwandtschaft
zeigen werden, die ihnen in imserem Denken zukommt,
so liegt darin doch kein Entscheidungsgrund für ihr Zu-
sammensein in der Wahrnehmung oder dessen Unmöglich-
keit; wenn auch ausnahmslos der Satz der Identität gilt,
so behauptet er doch nach seiner eignen Aussage nur, daJi
Die apriorischen Wahrheiten. 575
jedes a=:a und jedes b=:b sei und sein werde, wenn
und wo auch immer beide vorkommen mögen; aber dieser
letztere Zusatz gehört schon nicht mehr dem Identitäts-
gesetz selbst an; wir fügen ihn hinzu, weil wir anderweitig
wissen, daß denkbaren Inhalten außer ihrer ewigen Geltung
im Reiche der Ideen ein Wechsel zeitlicher Wirklichkeit
und Unwirklichkeit in der Erscheinung zukommen könne;
davon enthält jenes Gesetz keine Andeutung und folglich
auch nicht die geringste Bestimmung über die Gleichzeitig-
keit oder Reihenfolge, in welcher beide Erscheinungen hier
einander herbeiführen oder ausschließen müssen. Die classi-
ficatorische Unterordnung der Begriffe wird gelten von
Wahrgenommenem ebenso wie von zeitlos Vorgestelltem;
wenn wir indessen ein wahrgenommenes S unter den All-
gemeinbegriff M bringen, so gelten zwar von S jetzt auch
alle die höheren Allgemeinbegriffe N L K, die in dem
Inhalt von M eingeschlossen sind; aber diese FolgeiTing
erzeugt keine neue sachliche Kenntniß; sie zergliedert nur
logisch, was durch die Unterordnung des S unter M bereits
gegeben war; richtig, wenn diese richtig, und falsch, wenn
diese falsch ist, berechtigt sie nicht, das in der Wahr-
nehmung gegebene S mit einem in dieser nicht gegebenen P
zu verbinden. Hypothetische Urtheile scheinen einer Er-
weiterung der Erkenntniß günstiger. Wenn sie zu einem
Subject S eine Bedingung x treten und aus beiden ein P
als Prädicat entspringen lassen, das weder in S allein noch
in X allein bereits enthalten war, so nähern sie sich formell
dem, was wir als Verlauf der Wirklichkeit denken. Im
problematischen Vordersatz drücken sie die Verbindung
von S und x als eine mögliche aus, unterscheiden also
ihren Denkinhalt noch von einer Verwirklichung, die er
im Laufe der Dinge erfahren kann, und über die sie sich
jeder Behauptung enthalten; dann aber, wenn diese Be-
dingung gegeben ist, scheinen sie der weiteren Wahr-
nehmung vorgreifend das Neue zu bestimmen, das in dieser
folgen muß. Worauf aber beruht unsere Berechtigung, einem
bestimmten S -]- x ein bestimmtes P hinzuzufügen oder
gleichzusetzen? Im Denken doch immer hur darauf, daß
wir durch eine logische Determination x den Begriffs-
inhalt S, der P nicht enthielt, so umformen, daß nun P
in ihm enthalten ist; von diesem Subject, nicht von dem
früheren, behaupten wir nun das Prädicat P, das wir in
ihn bereits aufgenommen haben. Was uns dagegen die
Wahrnehmung unmittelbar darbietet, ist etwas Anderes.
576 Fünftes Kapitel.
Wenn in ihr zu einer früheren Erscheinung S eine neue x
in Beziehung tritt, so pflegt aus dem Zusammendenken
beider jenes Subject S-j-x eben noch nicht zu entstehen,
aus dem die Folgeerscheinung P als identischer Ausdruck
desselben selbstverständlich flösse; das vielmehr ist die
zunächst ungelöste Frage, wie dies x jenes S so um-
gestalten könne, daß aus ihm der früher fehlende Grund
für die Verwirklichung von P entstehe. So weit wir daher
hypothetische Urtheile auf die Betrachtung der Wirklichkeit
anwenden, finden wir sie zuletzt immer auf der schon
vorausgesetzten Gültigkeit von Sätzen beruhen, die eine
aus Begriffen nicht ableitende Verkettung einer bestimmten
Bedingung mit einer bestimmten Folge als allgemein be-
stehende Thatsache aussprechen. Gilt sie wirklich all-
gemein, so kann das Denken dann ihre Einzelfälle ana-
lytisch entwickeln; ihr eigner Inhalt aber erscheint zu-
nächst als ein synthetisches Urtheil, welches zwei Be-
griffe als Subject und Prädicat verbindet, deren Denkinhalte
durch keine logische Zergliederung als identisch nach-
gewiesen werden können.
348. Unsere Hoffnung, durch Denken den Verlauf der
Wirklichkeit beherrschen zu können, beruht daher auf drei
Punkten. Keinem einzelnen Bestandtheile b der Ideenwelt
kann zuerst das Denken außer der ewigen Bedeutung, die
ihm in dieser gebührt, die Nothwendigkeit einer zeitlichen
Verwirklichung im Laufe der Sachen zuerkennen; nur wenn
diese Wirklichkeit thatsächlich einem andern Element a
zukommt, mit welchem b in nothwendiger Verbindung steht,
kann sie nun auch auf b übergehen. Alle unsere Erkennt-
niß ist daher in dieser Hinsicht hypothetisch; an einem
bestimmten Punkt thatsächlich gegebener Wirklichkeit setzt
sie ein, um aus diesem wirklichen Grunde die Folgen als
wirkliche abzuleiten, die dem gedachten Grunde als denk-
nothwendige zugehörten; niemals aber ist es möglich, aus
bloßen Begriffen des Denkens die reale Wirklichkeit des
in ihnen Gedachten zu beweisen. In der That ist denn
auch dieser Versuch nur in dem einen Falle eines onto-
logischen Argumentes für das Dasein Gottes gewagt worden.
Hier lag eine begreifliche Verlockung vor: Gott als noth-
wendige Folge b einer andern durch Wahrnehmung ge-
gebenen Wirklichkeit a zu fassen widerstritt dem, was
man in seinem Begriff denken mußte, denn eben er sollte
ja der Grund aller Folgen sein; so schien nichts übrig,
als in seiaem Begriffe selbst seine Wirklichkeit zu suchen.
Die apriorischen Wahrheiten. 577
Finden freilich konnte man nur den Anspruch auf solche,
den der Inhalt desselben erhebt; gewiß schließt der Be-
griff Gottes den des Seins in sich ein, ja mehr als diesen,
den Begriff des lebendigen Seins; denn alle übrigen Prä-
dicate, durch die wir Gott als Gott denken, lassen sich nur
vereinigen und selbst denken, wenn sie an einem wirk-
lichen die Zeit füllenden und des Wechsels seiner Zustände
fähigen Wesen vorgestellt werden. Aber in diesem Sinne
ist in jedem Begriffe eines Wesens der Gedanke derjenigen
Art der Wirklichkeit eingeschlossen, welche die Natur und
Verknüpfungsweise seines Inhalts verlangt; auch der Be-
griff jedes Organismus ist undenkbar ohne diese Voraus-
setzung: Ernährung Wachsthum und Fortpflanzung sind
sinnlos an einem Subject, das nicht wäre, und ebenso
sinnlos an jedem, das nur wäre und nicht sich entwickeln
könnte. Wenn daher der Inhalt eines dieser Begriffe
Wirklichkeit hat, so hat er diejenige Art derselben, die
ihm entspricht : Wesen die des Seins, nicht die des Ge-
schehens, Ereignisse die des Geschehens, nicht die des
Seins; Verhältnisse keine von beiden, sondern die des
Geltens von Wirklichem; es war Täuschung, daß es sich
mit dem Begriffe Gottes anders verhalte und daß es er-
laubt sei, den in ihm unentbehrlich eingeschlossenen Gei-
danken der höchsten Wirklichkeit für eine Wirklichkeit des
ganzen ihn einschließenden Inhalts anzusehen. Nur schein-
bar begehen denselben Fehler verwandte Ueberlegungen,
die von dem unab weislichen Wert he eines Gedachten zu
der Ueberzeugurig seiner Wirklichkeit übergehen. . Nicht
ganz gerecht wird behauptet, an ein höchstes Gut, ein
überirdisches Leben, eine ewige Seligkeit glaube man nur,
weil man sie wünsche; in der That beruht dieser Glaube
auf einer sehr breiten, obgleich unzergliederten Grundlage
der Wahrnehmung; wir gehen von der Thatsache dieser
gegebenen Welt aus, in welcher wir unerträgliche Wider*
Sprüche befürchten, wenn wir jene der Wahrnehmung ent-
zogenen Fortsetzungen des Weltbaues nicht, als wirkliche
Ergänzungen des Wahrnehmbaren anerkennen wollten;
Formell verfahren daher diese Folgerungen richtig ; sie
verknüpfen mit der gegebenen Wirklichkeit eines ä die
nicht gegebene eines b, das ihnen die denknothwendige
Folge des a scheint. .1 .
349. Der zweite Punkt wird stillschweigend allgemein
vorausgesetzt, ausdrücklich ,als logische Voraussetzung selten
erwähnt. Wir könnten offenbar auf eine Bearbeitung der
Wirklichkeit durch unser Denken nicht hoffen, wenn wir
Lotze, Logik. 37
578 Fünftes Kapitel.
nicht in dem empirischen Verlauf der Dinge eine allgemeine
Gesetzlichkeit als vorhanden annehmen dürften, die ims
erst die Möglichkeit verschafft, von den formalen Gesetzen
unseres Denkens Nutzen zu ziehen. Wir haben gesehen,
daß die Gründe, welche die Reihenfolge der Wahr-
nehmungen möglicher Denkinhalte bestimmen, gänzlich
unabhängig von den systematischen Relationen sind, die
wir im Denken zwischen jenen blos gedachten Inhalten
finden. Woher nehmen wir nun die Gewißheit, daß über-
haupt noch Gründe von allgemeiner Geltung für diese
Reihenfolge bestehen? daß nicht vielmehr die unbekannte
Ursache des empirischen Verlaufs der Wahrnehmungen
ganz principlos mit den systematisch geordneten Elementen
der Ideenwelt spielt und wie ein sich bewegendes Kaleido-
skop bald diese bald jene Verknüpfung erscheinen läßt,
ohne jemals einer Regel dieser Combinationen zu folgen?
Man hat gar keine Ursache, die bunte Unordnung dieser
letzteren Annahme überhaupt unvorstellbar zu finden;
eine sehr große Mannigfaltigkeit empirischer Vorgänge, die
wir noch nicht begreifen, steht uns genau in dieser Ge-
stalt wirklich noch gegenüber; wäre gesetzlicher Zusammen-
hang überhaupt in der ganzen Wirklichkeit nicht vor^
banden, so würde nur überall uns dasselbe Schauspiel
sich zeigen, welches wir jetzt da wahrnehmen, wo er uns
verborgen ist. Die Gesetze unseres Denkens würden
fortfahren zu gelten, aber als ein leerer Anspruch, dem
sich die Wirklichkeit nicht fügt, gerade so wie wir noch
jetzt sie vergeblich auf manche Ereignisse anzuwenden
suchen, die mit ungleichen Folgen unter gleichen Be-
dingungen des Satzes der Identität zu spotten scheinen.
Gleichwohl wird diese Annahme der Gesetzlosigkeit der
Wirklichkeit von Niemandem festgehalten; überall wo die
Erscheinungen sie uns aufdrängen möchten, halten wir
den wahrnehmbaren Thatbestand nur für räthselhaft
und zweifeln nicht, daß erweiterte Erfahrung durch früher
unbeachtet gebliebene Mittelglieder den gesetzlichen Zu-
sammenhang des Beobachteten herstellen werde. Worauf
beruht nun diese Zuversicht ? Weder selbst denknothwendig
ist die allgemeine Gesetzlichkeit der Wirklichkeit noch als
eine denknothwendige Folge aus gegebenen Thatsachen ab-
zuleiten. Man konnte sagen, daß die Gesetze des Raumes,
auch wenn dieser nur als angeborene Anschauung in uns
Dasein hat, dennoch von allen Gegenständen unserer Er-
fahrung gelten müssen; denn nichts wird je in unsere Er-
Die apriorischen Wahrheiten. 579
fahrung eintreten, ohne die räumliche Formung schon er-
fahren zu haben, durch die es unser Gegenstand wird;
man kann nicht ebenso den Beweis versuchen, daß ohne
gesetzlichen Zusammenhang im Wirklichen die Erfahrung
unmöglich sei, die wir doch besitzen. Was wir wirklich
besitzen, ist nur ein Verlauf von Vorstellungen; daß dieser
Verlauf einen lückenlosen Zusammenhang nach allgemeinen
Gesetzen bilde, daß also Erfahrung in diesem gesteigerten
Sinne, in welchem sie sich von bloßer Wahrnehmung
unterschiede, wirklich gegeben sei, ist eine Verwechselung
dessen, was wir voraussetzen, mit dem was wir als that-
sächlich wissen. Denn nichts wissen wir wirklich, als
daß eine große Anzahl von Vorgängen sich so ansehen
lassen, als ob sie von allgemeinen Gesetzen bedingt würden ;
immerhin ist die Menge derjenigen noch viel größer, deren
Unterordnung unter solche noch nicht gelungen ist; eine
ausnahmslose Herrschaft von Gesetzen über die ganze Wirk-
lichkeit ist daher weder ein wirkliches noch ein mögliches
Ergebniß der Erfahrung, sondern eine Voraussetzung, mit
der wir an jede Erweiterung unserer Erfahrung gehen.
Nur zweierlei bleibt daher übrig; entweder diese Voraus-
setzung als eine solche anzuerkennen und ihr zu glauben,
mithin diese eine gewisse Einsicht uns zuzutrauen, durch
welche unser Denken, sein eignes Gebiet überschreitend,
etwas über die Natur des Wirklichen festsetzt; oder sie
gleichfalls für eine bloße Voraussetzung anzusehen und
ihr deswegen zu mißtrauen, mit Dank die Fälle anzu-
nehmen, in denen sie sich bestätigt, zugleich aber die Mög-
lichkeit im Auge zu behalten, daß wir auf Gebiete stoßen
werden, in denen sie sich nicht bestätigt. So oft nun
menschliches Nachdenken bis zu wissenschaftlicher Be-
trachtung der äußern Welt fortgeschritten, hat es ohne
Ausnahme die erste dieser Meinungen vorgezogen; auch
diejenigen, die am meisten unberechtigte Uebergriffe der
Vernunft abwehren und sich rühmen, der Natur nur ihre
eigenen Gesetze abzufragen, halten nur den Inhalt dieser
Gesetze für unbekannt, nicht ihr allgemeines Vorhandensein
für zweifelhaft; sie bemerken blos nicht, daß sie mit dem
zweiten Gliede dieses Ausspruchs dennoch über die Wirk-
lichkeit eine Behauptung a priori aufstellen, deren Mög-
lichkeit sie in dem ersten verneinen. Die andere Meinung
kann man an einem einzelnen Punkte zu entdecken meinen :
in dem Glauben an die Freiheit des menschlichen Willens,
lieber das sachliche Recht dieser Annahme habe ich hier
580 Fünftes Kapitel.
nicht zu urtheilen; formell aber gehört sie nur scheinbar
diesem zweiten Gesichtspunkt an; sie behauptet nicht, daß
principlos dasselbe bald frei bald bedingt sei; indem sie
vielmehr einen Theil der Wirklichkeit einer gesetzlichen
Determination beständig und ausnahmslos unterwirft, das
Vorkommen der Freiheit aber ausschließlich an das Vor-
handensein einer bestimmten geistigen Natur des wollenden
Subjectes knüpft, setzt sie vielmehr eine allgemeine ge-
setzliche Ordnung der Wirklichkeit voraus und gibt nur
dieser Ordnung den eigenthümlichen Inhalt, an bestimmten
Stellen des Weltlaufs das Eintreten unbedingter Elemente
zu gestatten, die dann, einmal in die Wirklichkeit auf-
genommen, nun in ihr gesetzlich bedingte Folgen hervor-
bringen. Auch diese Meinung also, noch deutlicher aber
jede, die mit Leugnung der Freiheit auch die innere Welt,
wie die äußere, einem gesetzlich determinirten Zusammen-
hang unterwirft, erlaubt sich hiermit eine apriorische Be-
hauptung über die Wirklichkeit, deren aligemeine Gültig-
keit empirisch nicht nachgewiesen werden kann. Ob
sie dies mit Recht thue, darüber ist logisch eine zwingende
Entscheidung unmöglich; denn jeder Versuch, diese Be-
hauptung als d e n k nothwendig zu erweisen, würde ihre
Gültigkeit für die Wirklichkeit unentschieden lassen, jeder
Versuch aber, sie als übereinstimmend mit der Natur der
Wirklichkeit darzuthun, würde in andern Formen und
Worten denselben Anspruch einschließen, den er recht-
fertigen will, nämlich den, durch Denken überhaupt etwas
a priori, nämlich allgemein, über die Wirklichkeit be-
haupten zu können, die wir empirisch ja niemals allgemein
kennen lernen. Mit Grund wird man daher sagen, daß
alle unsere Beurtheilung der Wirklichkeit auf dem un-
mittelbaren Zutrauen oder auf dem Glauben beruht, mit
dem wir einer Forderung des Denkens, die das eigene Ge-
biet desselben überschreitet, allgemeine Gültigkeit zuer-
kennen. Thatsächlich liegt diese unbegründbare Zuversicht
aller Logik zu Grunde, so auch dem Ausdruck, auf den
wir die allgemeine Tendenz des Denkens zurückbrachten,
gegebenes Zusammensein in Zusammengehörigkeit zu ver-
wandeln. Alle Verfahrungsweisen der angewandten Logik
bedeuten etwas nur unter der Voraussetzung, daß die Wirk-
lichkeit den inneren Zusammenhang besitzt, den jene
Tendenz ihr zuschreibt ;. besäße sie ihn nicht, so würde
der Rechtsgrund nicht bestehen, auf den jede Induction
sich stützt, wenn sie eine bestimmte Folgerung aus Er-
Die apriorischen Wahrheiten. 58t
fahrungen auch nur für wahrscheinlicher hält als eine
andere; es würde sein Bewenden haben müssen bei der
Aufzählung der Prämissen und der Schlußsatz würde fehlen.
350. Der dritte Punkt blieb übrig. Die Annahme eines
allgemeinen gesetzlichen Zusammenhangs der Wirklichkeit
lehrt nicht von selbst die Einzelgesetze kennen, nach denen
bestimmte Vorgänge b an bestimmte andere a gebunden
sind. Wir haben ferner schon uns überzeugt, daß analytisch
aus .der begrifflichen Zergliederung der Denkinhalte von a
und b die Nothwendigkeit nicht zu ermitteln ist, mit
welcher die Verwirklichung des einen auf die des andern
folgen müßte. Es bleibt nur übrig, daß wir uns entweder
eine unmittelbare Gewißheit über die allgemeine und noth-
wendige Geltung synthetischer Urtheile zutrauen, die eine
solche Verknüpfung dennoch befehlen, oder daß wir alle
jene bestimmten Gesetze der Wirklichkeit den Aussagen
der Erfahrung durch die früher geschilderten Methoden
der Untersuchung abgewinnen. An diesem Scheidewege
möchte ich mich ^nit einer allgemeinen Formel willfähriger
Anbetung von weiterer Lobpreisung der zweiten Annahme
loskaufen. Es wird allmählich langweilig, endlos wieder-
holt zu hören, wie selbstentsagend die Vernunft sich der
Natur gegenüber zu verhalten habe, wie sie so gar nichts
aus eignen Mitteln entscheiden könne und sich in wesenr
lose Hirngespinste verirre, wenn sie nicht bei jedem Schritte
sich die nothwendigen Data ihrer Folgerungen von der Er-
fahrung erbitte. Leider können wir nicht behaupten, daß
diese Warnungen überflüssig und gegenstandlos sind, denn
geirrt ist genug durch ihre Mißachtung; aber wie jede
Sittenpredigt unleidlich wird, wenn sie gar kein Ende
nimmt, so regt auch diese zuletzt uns nur zu der Frage
an, ob die Ansprüche, welche sie erhebt, nicht ebenso
einseitig sind, als zugegebenermaßen die sind, welche sie
zurückweisen will. Kann also die empirische Aufsuchung
von Gesetzen der Wirklichkeit ihre Aufgabe wirklich ganz
aus eignen Mitteln lösen, etwa mit Hülfe des Identitäts-
princips, im Uebrigen aber ohne synthetische Urtheile
a priori vorauszusetzen? Daß sie es nicht könne, war
die Lehre Kant's; wenn wir zu gleicher Behauptung
kommen, so trifft es sich, daß wir zugleich einen wesent-
lichen Punkt deutscher Philosophie vertheidigen, über
den wir von allen Nationen angegriffen werden.
351. Darauf hatte uns durch Hume der englische
Skepticismus beschränken wollen, entweder in Mathematik
582 Fünftes Kapitel.
Erkenntnisse auszusprechen, die ihm nur auf dem Satze
der Identität zu beruhen schienen, oder in Geschichte durch
synthetische Urtheile a posteriori das Geschehene wieder
zu erzählen, nachdem es geschehen und somit Gegenstand
der Erfahrung geworden ist; unmöglich sei jede wissen-
schaftliche Folgerung, die ein zukünftiges b aus einem a
voraussagen wolle, das mit ihm nicht identisch sei. Ehe
ich den letzten Theil der Behauptung erörtere, scheint
es mir nützlich zu zeigen, daß, wenn er gilt, die beiden
ersten nicht gültig sein können. Die Möglichkeit syntheti-
scher Urtheile a posteriori beargwöhnt man zu wenig,
weil man sie für einfache Ausdrücke der Erfahrung hält,
in die sich nichts von vorwitziger Thätigkeit unseres
Denkens eingemischt habe. So lange sie indessen Urtheile
sind, gleichviel ob in sprachlicher Form ausgeprägt oder
nicht, sind sie immer Bearbeitungen des Gegebenen durch
Hineindeutung innerer Zusammenhänge, die in unmittel-
barer Beobachtung niemals in ihm gegeben sind. Keine
Wiedererzählung eines Ereignisses ist möglich, ohne daß
wir einen Theil der sinnlichen Bilder, die uns bei seiner
Wahrnehmung entstanden, als Subject, einen andern als
Prädicat zusammenfassen, und ohne daß wir zwischen den
Inhalten dieser beiden Begriffe eine Beziehung des Wirkens
und Leidens oder der gegenseitigen Aenderung von Zu-
ständen mitdenken, die in den Wahrnehmungen selbst gar
nicht gegeben ist. Man kann behaupten, der Satz : Cäsar
ging über den Rubico, bedeute nur: eine gewisse, zwar
etwas veränderliche, aber doch beisammenbleibende Gruppe
sinnlicher Eindrücke, die man der Kürze halber Cäsar
nenne, habe ihre räumliche Stellung gegen eine andere
Gruppe sinnlicher Eindrücke, die Rubico heiße, so ver-
ändert, daß sie in der Anschauung eines und desselben
Beobachters erst rechts dann links von dieser zweiten wahr-
genommen worden sei; ich antworte mit gleicher Hart-
näckigkeit: daß jene Gruppe Cäsar dieselbe rechts und
links gewesen sei, daß sie also ihre Stellung verändert
habe, liegt nicht in dem Inhalt der Wahrnehmung, sondern
ist eine Annahme, die einer zusammenhängenden und
stetigen Aenderung der Erscheinung ein beständiges Sub-
strat mit nur wechselnden Relationen unterschiebt. So
oft wir erzählend von irgend einer räumlichen Bewegung
sprechen, drücken wir schon nicht mehr die Wahrnehmung,
sondern eine Hypothese über sie aus; gesehen haben
wir nicht, daß dasselbe reale a nach und nach die Orte
Die apriorischen Wahrheiten. 583
m n p durchlief; die beobachtete Thatsache ist nur,
daß in aufeinanderfolgenden Zeitpunkten gleiche Erschei-
nungen a an aufeinanderfolgenden Raumpunkten sichtbar
waren; wer kein Bedürfniß hätte, diese Thatsache sich
durch die Annahme eines bleibenden Subjects zu erklären,
könnte die Behauptung: a habe sich bewegt, nicht
mehr als Erzählung einer Wirklichkeit, sondern nur als
bequeme, sachlich bedeutungslose Manier seines Ausdrucks
wagen; versagt er sich diese Einmischung von Gesichts-
punkten, nach denen wir den Wahrnehmungsinhalt deuten,
so sind auch alle synthetischen Urtheile a posteriori, alle
Urtheile überhaupt unzulässig, und anstatt der Wieder-
erzählung bleibt in der That nur die Möglichkeit der
Wieder e rinn er ung einer Reihe von Wahrnehmungen
übrig, eine Reproduction des Rohmaterials, aus dem man
Urtheile bilden könnte, wenn es erlaubt wäre.
352. Man wird anderseits weder die Gültigkeit noch
die Wichtigkeit, um so mehr aber die Fruchtbarkeit des
Satzes der Identität in Erzeugung mathematischer Wahr-
heit bezweifeln, ja vielmehr behaupten müssen, daß, wenn
er allein gälte, diese Wahrheit nicht auffindbar sein würde.
Welche Gleichung oder Ungleichung a=:b oder a^b wir
auch aussprechen mögen, immer müssen wir diejenige
Geltung des Identitätssatzes voraussetzen, vermöge deren
a = a, b==b, jede Größe also, die wir mit andern in
irgend eine Beziehung bringen wollen, mit sich selbst
identisch ist; denn offenbar geht jede Gleichung oder Un-
gleichung zwischen verschiedenen ihrer Bedeutung verlustig,
wenn jede der Größen unbeschränkt vieldeutig ist, die in
ihr zusammengestellt werden. An dieser Stelle gilt der
Identitätssatz deutlich und ist die Bürgschaft aller Wahr-
heit; gerade hierauf hat man indessen am wenigsten ge-
achtet; man hat vielmehr jene andere Anwendung des-
selben hervorgehoben, durch welche beide Seiten einer
Gleichung einander gleich gesetzt werden; in ihr, als
einem Ausdruck des Identitätssatzes, fand man nicht nur
die Bürgschaft der Wahrheit, sondern in der verketteten
Wiederholung solcher Gleichsetzungen das fruchtbare Ver-
fahren zu deren Entdeckung. Von beiden Behauptungen
kann ich mich nicht überzeugen, daß sie genau ausdrücken,
was sie meinen. Gleichungen geben entweder wie : ^^lt=^ 2
den bestimmten Größenwerth einfach an, der aus der
Ausführung einer Rechnungsoperation in Bezug auf eine
584 Fünftes Kapitel.
gegebene Größe entsteht, oder sie sagen aus, wie
^ab = \'a-V^, daß man zu demselben Ergebniß gelangt,
wenn man formell verschiedene Operationen in vorge-
schriebener Reihenfolge oder Verbindung auf irgend welche
innerhalb bestimmter Grenzen gegebenen Größen anwendet.
In beiden Fällen liegt nun doch der Werth des ganzen
mathematischen Verfahrens nicht einseitig auf der ge-
fundenen Gleichheit des Ergebnisses, sondern eben darauf,
daß verschiedene Wege zu demselben Ziele führten, daß
es also möglich war. Verschiedenes gleich zu setzen.
Wollte man mir entgegnen, daß doch der Größenwerth der
verschiedenen hier verglichenen Glieder nicht nachträglich
gleich gemacht werde, sondern immer gleich gewesen sei
und daß diese Gleichheit sich nur unter den verschiedenen
Formen verborgen habe, in denen beide ursprünglich ge-
geben waren, oder daß der eine dieser Ausdrücke nur die
Aufgabe, der andere die Auflösung bezeichne, so würde
man genau das sagen, was ich selbst will, und nur etwas
als selbstverständlich ansehen, was ich nicht dafür halten
kann. Denn woher nimmt man das Zutrauen zu der Mög-
lichkeit, daß ein mit sich identischer Werth unter ver-
schiedenen Gestalten gegeben werden könne? Aus dem
Satze der Identität allein doch nicht ; denn in ihm liegt
nicht die mindeste Hindeutung auf einen Gegensatz zwischen
Form und Inhalt oder Form und Werth; brächte man aber
die Vorstellung dieses Gegensatzes aus anderer Quelle hinzu,
so würde selbst dann der Satz nichts über ihn aussagen
können. Er würde nur wiederholen: jede Form ist mit
sich selbst und jeder Werth mit sich selbst identisch; daß
aber derselbe Werth unter verschiedenen Formen möglich
sei, könnte er nicht behaupten, weil er für diese Be-
hauptung keine Grenze ihrer Gültigkeit festzustellen wüßte,
außer einer solchen, die zu einer unfruchtbaren Tautologie
zurückführte; denn die Frage: welche verschiedengeformte
Ausdrücke identische Werthe bezeichnen, könnte er nur
dahin beantworten: diejenigen eben, in denen ein und
derselbe identische Werth enthalten ist. Ich brauche nun
nicht weitläufig hinzuzufügen, daß in dieser Möglichkeit>
Verschiedenes gleich zu setzen, nicht aber in der
nackten Anwendung des logischen Identitätsgesetzes, der
bewegende Nerv aller fruchtbaren mathematischen Denk^
arbeit liegt. Man käme nicht weiter, wenn man unter das
Subject eines gegebenen Obersatzes immer nur ein ihm
schlechthin identisches subsumiren dürfte ; man kommt aber
Die apriorischen Wahrheiten. 585
weiter, weil man durch unzählige Substitutionen, durch
Zerfällung und Wiederverknüpfung eine in der Form a
gegebene Größe in die Form b bringen und sie so jedes-
mal demjenigen Oberbegriffe subsumirbar machen kann,
mit dessen Hülfe wir nach bekannten Rechnungsregeln ihr
ein Prädicat beilegen können, das aus ihrer ursprünglichen
Fomi nicht ableitbar war. Alles hängt daher von der
Berechtigung ab, Verschiedenes gleichzusetzen, und diese
Berechtigung fließt, unmittelbar wenigstens, nicht aus dem
Sinne des Identitätsprincips.
353. Ich knüpfe das Weitere an die Ueberlegungen an,
die ich in der reinen Logik bereits über Urtheile von
formal synthetischer dem Inhalt nach identischer Natur an-
stellte. Ich habe damals Kant 's erwähnt, der in seinem
Bestreben, synthetische Urtheile a priori in allen Rich-
tungen unseres Vernunftgebrauchs nachzuweisen, auch den
arithmetischen Satz 7 -f- 5 = 12 unter ihnen zu finden
glaubte. An jener Stelle kam es mir darauf an, die
Nothwendigkeit der Inhaltsgleichheit hervorzuheben, die
zwischen dem vollständigen Subject und dem vollständigen
Prädicat jedes wahren Urtheils stattfinden müsse; nicht
ganz befriedigt damit, daß Kant diese Forderung weniger
ausdrücklich erwähnt, habe ich doch damals schon mir
vorbehalten, auf das Richtige seiner Behauptung zurück-
zukommen (vergl. 58). Eine Anschauung schien ihm hin-
zukommen zu müssen, um uns in 12 die Auflösung der
Aufgabe erkennen zu lassen, die in 7-[-ö ausgedrückt war;
um uns also zu zeigen, daß die zur Richtigkeit der Gleichung
erforderliche Identität beider Seiten besteht. Nur als Bei-
spiel halte ich diesen Satz nicht für glücklich gewählt,
weil er den formalen Unterschied, auf den Gewicht zu
legen ist, nicht recht in die Augen fallen läßt. Denn ge-
wiß ist zwar 12 nicht lediglich ein anderer Name für 7 -\-o,
' sondern bedeutet, daß man dieselbe Größe, die durch Ad-
dition dieser beiden entsteht, außerdem als bestimmtes
Glied der Zahlenreihe zwischen 11 und 13 finde; aber
anderseits ist es doch die einfachste Vorstellung dieser
Reihe selbst, sie aus wiederholter Addition der Einheit,
also aus derselben Operation entstanden zu denken,
durch welche man 7 und 5 verband; man faßt also so-
wohl die linke als die rechte Seite dieser Gleichung als
Summe von Einheiten und zerlegt nur, wie es der Be-
griff der Summe zuläßt, links in zwei Schritte, was man
rechts zusammenfaßt. Der Ausdruck 7 -f 5 = 4^ — 2^, ohne
586 Fünftes Kapitel.
übrigens wirklich das Wesentliche des Kantischen Gedankens
mehr zu enthalten als jene erste Formel, würde deutlicher
gemacht haben, daß es verschiedene Wege gibt, auf
denen man zu einem und demselben Werthe gelangen kann.
Denn das, worauf es ankommt, ist eben nichts Anderes,
als die in dem Additionszeichen enthaltene Behauptung:
Größeu seien überhaupt summirbarzu einer gleichartigen
neuen Größe, ein Satz, über dessen Wichtigkeit man wieder
geneigt sein wird ganz hinwegzusehen, weil er ganz selbst-
verständlich und nichts als eine identische Definition der
ZaJilengröße scheint. Das ist er nun auch; aber wodurch
wird uns diese selbstverständliche Erkenntniß zu Theil?
Nicht jeder Vorstellungsinhalt läßt sich denselben Opera-
tionen unterwerfen : man kann nicht Roth und Grün addiren
und davon Blau abziehen; die Töne c und d gestatten
keine Summirung zu einem dritten x, der in der Tonreihe
um das Intervall c höher läge als d, sowie in der Zahlen-
reihe 12 um 7 höher liegt als 5. Hier wird man ver-
wundert fragen, wozu diese Bemerkung dienen solle ? natür-
lich könne man mathematische Operationen nur auf Größen
anwenden, in deren Natur es liege, ihnen zugänglich zu
sein, nicht aber, oder wenigstens nicht unmittelbar, auf
qualitativ verschiedene Eindrücke. Man will hier in der
That das Nächstliegende nicht sehen: eben dies, daß es
so etwas, wie Größe, in der Welt des Vorstellbaren gibt,
während doch das Vorstellen selbst nicht, um nur über-
haupt geschehen zu können, an das Vorstellen gerade dieser
vergleichbaren Größen gebunden ist, eben dies ist eine
Thatsache unmittelbarer Anschauung, die, wenn wir
sie nicht hätten, durch logische Operationen, an andern
Inhalten ausgeführt, gerade so wenig supplirt werden könnte,
als wir den Begriff qualitativer Aehnlichkeit erzeugen
würden, wenn uns keine vergleichbaren Sinneseindrücke,
Farben oder Töne, als Bestandtheile des Ideenreiches ge-
geben wären. Identisch also ist der Satz gewiß, daß
Größen summirbar sind ; aber daß Subject und Prädicat
dieses Satzes in der Welt des Vorstellbaren gültig vor-
kommen und daß er nicht gleichwerthig dem andern eben-
falls identischen Satze ist : jedes hölzerne Eisen ist hölzernes
Eisen, das folgt nicht selbst wieder aus dem Satze der
Identität. Nicht dieses nackte logische Princip mithin,
sondern die Anschauung der Größe, deren Natur es mög-
lich macht, unzählige inhaltlich identische und formal
synthetische Urtheile zu bilden, ist die Bürgschaft der
Die apriorischen Wahrheiten. 587
Wahrheit und zugleich der Grund der Fruchtbarkeit arith-
metischer Gedankenverknüpfung. Was sich hieran in mathe-
matischem Interesse weiter anfügen ließe, muß ich dahin-
gestellt lassen; logisch bekenne ich meine völlige Ueber-
einstimmung mit Kant auch darin, daß ich eine reine
oder apriorische Anschauung der Zahlgröße, in dem
früher bestimmten Sinne dieses Ausdrucks, festhalte. Ohne
Veranlassung, die zuletzt immer durch äußere Anregungen
erfolgt, tritt in unser Bewußtsein weder die Vorstellung der
Größe überhaupt, noch die bestimmtere ihrer Summirbar-
keit, noch endlich ein einzelner arithmetischer Satz; wir
denken sie alle nur, wenn wir irgendwie zur Vorstellung
zählbarer Objecte veranlaßt werden; wenn aber diese Ver-
anlassung gegeben ist, so lernen wir nicht aus dem Inhalt
dieser Wahrnehmung, daß 7 -j- 5 = 12 sei, so daß die Sicher-
heit dieser Erkenntniß mit der Zahl der Fälle zunähme, in
denen sie von späteren Wahrnehmungen bestätigt würde,
sondern die einmalige Vorstellung von 7-}- 5, gleichviel
ob durch äußere Wahrnehmung vermittelt oder nicht, reicht
hin, um für sich allein und allgemeingültig die Gleichheit
mit 12 zu lehren. Hätten wir bei wirklichen Zählver-
suchen äußerer Objecte in verschiedenen Wiederholungs-
fällen dies Ergebniß bald bestätigt bald nicht bestätigt ge-
funden, so würden wir alle, auch die entschiedensten An-
hänger empiristischer Erklärungsweisen, nicht unsern arith-
metischen Satz nach unsern Zählungen, sondern diese nach
ihm corrigiren.
354. Vielleicht noch deutlicher als an diesem arith-
metischen Beispiele läßt sich dasselbe an geometrischen
wiederholen. Gegen das eine, Reiches Kant als synthetischen
Satz anführt : die gerade Linie zwischen zwei Punkten sei
die kürzeste, habe ich ähnliche Bedenken wie gegen das
vorige gerichtet: auch dies Beispiel ist nicht glücklich
gewählt, weil wir für den Begriff der Entfernung, der in
dem Prädicat der Kürze enthalten ist, ein anderes un-
mittelbares Maß als die gerade Linie nicht besitzen;
dieser Satz macht daher überwiegend den Eindruck der
Identität von Subject und Prädicat. Sie ist auch, dem
Inhalt nach, vorhanden, und der Satz würde gar nicht
richtig sein, wenn sie nicht bestände; aber wodurch wird
sie hergestellt? Nur dadurch, daß wir die beiden Punkte
durch das verbinden, was wir ein Zwischen ihnen nennen.
Nun ist klar, daß durch diesen Ausdruck die beiden Punkte
nicht blos logisch als nicht identisch oder verschieden
588 Fünftes Kapitel.
überhaupt bezeichnet werden, denn das sind Grün und
Sauer auch, ohne zu einem ähnlichen Satze zu führen;
auch nicht als vergleichbar überhaupt, denn das sind, eben-
falls ohne solche Folge, Grün und Roth auch; sie werden
vielmehr in einer eigenthümlichen Weise verbunden, deren
Denkbarkeit und Bedeutung uns nur durch ursprüngliche
räumliche Anschauung erkennbar wird, durch keine, an
anderem Inhalt ausgeführte, logische Operation verständ-
lich werden würde, wenn sie uns fehlte, und noch jetzt,
da sie uns allen hekannt ist, durch keinerlei Umschreibungen,
in denen sie nicht selbst schon versteckt enthalten wäre,
verdeutlicht werden kann. Ausdrucksvoller sind andere
Beispiele Kant's. Nehmet nur, sagt er, den Satz: daß
durch zwei gerade Linien sich gar kein Raum einschließen
lasse, mithin keine Figur möglich sei, und versucht ihn
aus dem Begriffe von geraden Linien und der Zahl Zwei
abzuleiten*; oder auch, daß aus dreien geraden Linien eine
Figur möglich sei, und versucht es eben so blos aus
diesen Begriffen; alle eure Bemühung ist vergeblich und
ihr seht euch genöthigt, zur Anschauung eure Zuflucht zu
nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit thut. Diese
Worte bleiben auch dann richtig, wenn man eine kleine
Ungenauigkeit ihres Ausdrucks zum Versuch der Bestreitung
benutzt. Nicht drei gerade Linien sind im zweiten Falle das
vollständige Subject, dem das Prädicat zukommt, ein Drei-
eck zu bilden; sie müssen außerdem in derselben Ebene
liegend, einander nicht parallel und beliebiger Verlängerung
fähig gedacht werden ; im ersten kann man nicht verlangen,
die Unmöglichkeit der geschlossenen Figur aus den ver-
einzelten Begriffen der Zahl Zwei und der geraden Linie
abzuleiten; vor allem muß Zwei als Anzahl dieser Linien,
die Linien selbst als enthalten in demselben Räume vor-
gestellt werden. Fügt man diese Nebenbestimmungen hinzu,
so wird man, obwohl nicht beide gleich kurzer Hand, doch
beide Ergebnisse als identische Folgen der vorausgesetzten
vollständigen Subjecte erkennen und so die Bedingung der
Inhaltsgleichheit herstellen, unter der beide Sätze allein
wahr sein können. Allein dies ändert die Sache nicht.
Alle jene Ergänzungen, das Enthaltensein in derselben
Ebene, der Nichtparallelismus, die mögliche Verlängerung,
bedeuten ganz und gar nichts, wenn wir nicht die räumliche
Anschauung voraussetzen, die allein bezeugt, daß so etwas,
wie man es durch diese Worte bezeichnet, in der Welt
des Vorstellbaren anzutreffen sei, und die, indem sie dem
vollständigen Subject jener Sätze überhaupt erst einen vor-
Die apriorischen Wahrheiten. 589
stellbaren Sinn gibt, zugleich auch das in ihnen enthaltene
identische Prädicat begründet. Identisch sind daher diese
_Sätze gewiß, obgleich unter synthetischer Form; daß es
aber ihren ganzen Inhalt mit allen seinen innem Verhält-
nissen gibt, ist nicht Verdienst des Satzes der Identität;
ich meine : nicht vermittelst dieses Princips kann man von
der einen Ausdrucksform einer geometrischen Thatsache
zu einer andern gleichgeltenden übergehen, sondern die
eigenthümliche Natur des Raumes macht es möglich, daß
eine sachliche Identität verschiedener Ausdrucksformen be-
stehen kann. Hierauf, auf der unbegrenzten Möglichkeit
besonders, durch willkürliche Hülfsconstructionen jedes
Raumgebilde immer andern mathematischen Gesichtspunkten
oder Oberbegriffen unterzuordnen und ihm so die Prädicate
zu verschaffen, die seiner ursprünglichen Auffassung fremd
waren, nicht aber auf der bloßen Anwendung des nackten
Identitätsprincips, beruht die Fruchtbarkeit der geometri-
schen Methode.
355. Nun kann ich den Einwurf erwarten, daß meine
Betrachtung anderswo ende, als wohin sie kommen wollte.
Zur Erweiterung der Erkenntniß, überhaupt um Gesetze
des Verlaufs der Dinge zu finden, behauptete ich die Noth-
wendigkeit synthetischer Grundsätze a priori; jetzt habe
ich mich auf Anschauungen berufen, die auf einmal SuJ>-
ject Prädicat und Copula des Urtheils liefern, durch das wir
sie ausdrücken, und deren Annahme zuletzt nichts weiter
als den wenig förderlichen Satz zu bedeuten scheint, man
könne nicht denken ohne Vorstellung des Inhalts, über den
man denken will ; gegeben aber sei dieser Inhalt nicht
durch das Denken, sondern dem Denken, in nicht wesent-
lich anderer Weise als jeder andere Inhalt, nämlich durch
Erfahrung. Ueber den letztern Punkt wiederhole ich kurz,
daß jede Erkenntniß, angeboren oder nicht, in diesem
weiteren Sinne des Wortes Gegenstand der Erfahrung für
denjenigen ist, der sie entweder beständig oder auf Ver-
anlassungen entstanden in seinem Bewußtsein vorfindet;
überdies haben wir von Anfang an zugestanden^ 'daß keiner
der Grundsätze, die wir als angeboren ansehen, auch nur
als praktisch befolgter Obersatz unseres Urtheilens in uns
wirksam wird, bevor uns eine empirische Anregung zu
seiner Befolgung gegeben ist, daß er aber vollends zuni.
Gegenstand unseres Bewußtseins erst durch Reflexion
auf seine unbewußt geschehenen Anwendungen werden
kann. Ich habe daher in diesem Sinne nichts einzuwenden
und halte es nur für unfruchtbar, wenn man darauf be-
590 Fünftes Kapitel.
steht, das Innewerden apriorischer Grundsätze selbst eine
innere Erfahrung zu nennen; aber auch darin kann der
Streit aprioristischer und empiristischer Ansichten nicht
bestehen, ^aß die letztern einer äußern Erfahrung zu-
schreiben, was wir einer inneren verdanken wollen. Denn
dieser Gegensatz besteht lediglich nicht; was man auch
über eine vorausgesetzte Außenwelt sich für Gedanken
machen mag: Erfahrungen können wir immer nur über
ihre Abbilder in uns, über den Zusammenhang unserer
Vorstellungen machen. Hierüber möchte ich kurz sein
dürfen. In Deutschland wenigstens huldigt man noch nicht
dem importirten Irrthum, als könne es gelingen, durch
Nachmessung der Kanten und Flächenwinkel körperlicher
Gebilde die Sätze der Geometrie zu bestätigen, oder andere
zu entdecken als diejenigen, die wir auch mit geschlossenen
Augen aus vorausgesetzten Verhältnissen bloßer Raum-
punkte entwickeln; man weiß noch, daß jene Messungen,
wenn wir sie ausführen, sich unmittelbar nicht auf die
Natur der materiellen Ausfüllungen des Raumes, sondern
auf Bestimmungen des Raumes beziehen, der durch sie
ausgefüllt wird; daß sie endlich ausgeführt werden können
nur durch äußerliche Hülfsmittel und durch Methoden, die
sich alle auf die innere Gesetzlichkeit unserer Rauman-
schauung bereits gründen ; daß wir also nicht dahin kommen
können, durch Messungen diese unsere geometrische Er-
kenntniß an einer andern von ihr unabhängigen Erkenntniß-
quelle zu prüfen, sondern daß wir auf diesem Wege ledig-
lich eine einzelne räumliche Anschauung den Gesetzen
der allgemeinen geometrischen Anschauung subsumiren.
Darauf allein würde daher der Unterschied der Meinungen
zurücklaufen, daß wir die einfachen Grundsätze der Geo-
metrie, die, daß jede gerade Linie ins Unendliche ver-
längert werden kann, daß die Gegenwinkel sich schneiden-
der Geraden gleich sind, daß alle Nebenwinkelpaare die-
selbe Summe geben, als Wahrheiten betrachten, die, ein-
mal vorgestellt, für immer gelten; daß dagegen eine empi-
ristische Auffassung folgerecht jedes einmalige Bewußt-
werden derselben nur für eine psychische Thatsache an-
sehen müßte, von der nicht feststände, ob sie sich mit
gleichem Inhalt wiederholen würde, deren allgemeine Gel-
tung daher als wahr niemals, als wahrscheinlich aber nur
durch Uebereinstimmung sehr vieler Wiederholungsfälle be-
wiesen werden könnte.
356. Wie wir uns zu dieser Ansicht verhalten, muß
Die apriorischen Wahrheiten. 591
ich noch einmal wiederholend zusammenfassen. Zuerst
würde die Behauptung, jede Wahrheit bedürfe zu ihrer
Allgemeingültigkeit diese Erfahrungsprobe, sich selbst wider-
sprechen. Denn einestheils müßte sie ja sich selbst ihrem
eignen Ausspruche subsumiren und könnte folglich nicht
als allgemeiner Grundsatz gelten; anderntheils sahen wir
früher, daß ohne die Voraussetzung der unbedingten Gültigr
keit gewisser, der Erfahrung nicht verdankter Grundsätze
auch von den aus Erfahrungen zu gewinnenden Erkennt-r
nissen keine für wahrscheinlicher gelten kann, als eine
andere (329). Auf der Möglichkeit unmittelbarer Erkenntniß
des Allgemeingültigen beruht daher jede Ueberzeugung, die
unsere nicht mehr als die unserer Gegner; Zwiespalt kann
nur darüber sein, welche Wahrheiten wir dieser Erkenntniß
zugänglich glauben. Selbstverständlich aber kann für Wahr-
heiten, die unmittelbar als allgemeingültig erkannt werden
sollen, das Kennzeichen dieses ihres Rechtsanspruches nur
in der Evidenz bestehen, mit der sie sich dem Bewußtsein
aufdrängen und Anerkennung verlangen, ohne sie durch einen
Beweis ihrer Richtigkeit zu erzwingen. Nun steht es endlos
Jedem frei, sich diesem Verlangen zu fügen oder nicht;
Jeder kann entweder ehrlich der Evidenz mißtrauen, mit
der ein bestimmter Erkenntnißinhalt sich seinem Bewußtsein
darstellt, oder er kann wenigstens chicanös sich darauf
steifen, daß keine Evidenz in der Welt den Beweis für
die Wahrheit des Evidenten gebe; nur wird er im letztern
Falle sich gefallen lassen müssen, daß auch der Evidenz
jedes versuchten Beweises sowie seiner eigenen Behauptung
mit gleicher Chicane die Gültigkeit bestritten werde. Diese
eitle Disputirsucht überlassen wir sich selbst; jenes ehrliche
Mißtrauen dagegen ist berechtigt; denn gewiß kann die Ruhe
und das streitlose Gleichgewicht des Gemüths, in welcherri
die Evidenz einer Erkenntniß, als psychischer Vorgang be-
. trachtet, zuletzt besteht, auch durch Vorstellungsverknüpfun^
gen von keineswegs allgemeiner Geltung hervorgebracht
werden. Diese falschen Evidenzen haben wir zugegeben
und die logischen Versuche erwähnt, durch die wir uns
von ihnen zu befreien suchen : sie laufen alle darauf hinaus,
daß wir durch verschiedene Formungen Ausgangspunkte
und Fortschritte unserer Ueberlegung von einem Subject S,
dem wir ein Prädicat P zuschreiben wollen, alle in ihm
selbst nicht enthaltenen, wohl aLer in unserem Innern
verstohlen mitwirkenden Nebenvorstellungen x sondern,
die uns den Schein erweckon könnten, als gehöre dem S
592 Fünftes Kapitel.
allein und allgemein ein P, das nur diesem S -f x zukommt.
Die bestimmte Form eines Beweises erlangen diese Uebor-
legungen nicht immer; daß eine gerade Linie ins Unendliche
verlängert werden könnte, ist zu einfach, als daß es eine
Erörterung darüber geben könnte, die nicht ganz tautologisch
auf die unmittelbare Anschauung zurückkäme; für andere
Grundsätze nehmen die Beweise die apagogische Form
einer Zurückführung auf das Absurde an; sie leiten dann
nicht die Wahrheit derselben aus der vorangeltenden eines
ändern Satzes ab, sondern bestätigen nur die Unmöglichkeit
ihrer Nichtanerkennung. Wo dies nun geschehen und ge-
lungen ist, da sehen wir den fraglichen Satz als einen
allgemeingültigen, der empirischen Bestätigung durch die
Wahrheit seiner Beispiele nicht bedürftigen, vielmehr ihnen
gegenüber a priori feststehenden an; wir leugnen die Mög-
lichkeit nicht, daß dieses Vertrauen der Vernunft in einzel-
nen Fällen dennoch täuschen kann; aber die günstige
Präsumption der Wahrheit eines so gefundenen Satzes
würden wir nicht aufgeben, nur weil das Mißtrauen mög-
lich ist, sondern dann erst, wenn entweder die Befolgung
seiner vorausgesetzten Richtigkeit in Widersprüche ver-
wickelt, oder weil positiv sich die Wahrheit eines andern
Satzes darthun läßt, aus der zugleich die Entstehung der
scheinbaren Evidenz des falschen begreifbar wird.
357. Verschiedene Punkte bedürfen hier noch der Er-
läuterung. Von reiner Anschauung ist in der Kantischen
Schule im Gegensatz zu dem Denken so gesprochen worden,
daß mit diesem Ausdruck sich die Vorstellung eines be-
sondem etwas geheimnißvoll bleibenden Verfahrens ver-
knüpft hat, durch welches der erkennende Geist eine Leistung
vollziehe, die seinem discursiven Denken unmöglich sei.
Die Dunkelkeit, die dann über diesem Gedanken schwebt,
rührt davon her, daß in der That gerade von der An-
schauung nicht, wohl aber von dem Denken sich eine
aus der Verknüpfung verschiedener Einzelhandlungen ent-
stehende Verfahrungsweise schildern läßt; die Anschautmg
verhält sich ihrem Inhalt gegenüber wie thatlose Receptivität
und ihre Leistung geschieht so mit einem Schlage, daß
keine Schritte zu unterscheiden sind, die zu einer Be-
schreibung Veranlassung gäben. Man muß dies nicht miß-
verstehen. Wenn geometrische Anschauung uns lehrt, daß
zwei Gerade, wenn sie sich schneiden, nur einen Punkt
gf^mein haben können, so findet hierbei ohne Zweifel ein
Die apriorischen Wahrheiten. 593
Vorstellungsverlauf als psychischer Vorgang statt, den wir
schildern könnten, wenn er uns im einzelnen Falle genau
bekannt wäre; wir könnten angeben, wie wir zuerst jede
der geraden Linien für sich denken, sie dann in eine Ebene
rücken, sie aus paralleler Lage convergiren lassen, jede
bis zu dem Schnittpunkt und darüber hinaus verfolgen;
aber das alles ist nicht die geometrische Anschauung selbst ;
bis hierher sind nur alle die zusammengehörigen Be-
ziehungspunkte ins Bewußtsein gebracht, über welche jetzt
die Behauptung der Anschauung: nur ein Punkt könne
beiden Geraden gemeinsam sein, wie eine einzige plötzliche
Offenbarung erfolgt. Auf welche Weise dieser letzte Schritt
vollbracht wird, das unmittelbare Innewerden der noth-
wendigen Wahrheit, die in den vollständig vorhandenen
Beziehungsgliedern liegt, darüber ist jetzt gewiß, für mich
nicht minder gewiß in aller Zukunft, jede weitere psycho-
logische Analyse unmöglich. Nur in diesem Sinne völlig
unmittelbarer Erkenntniß habe ich hier den Namen der
Anschauung gebraucht und es folgt daraus eine weitere
Bemerkung über die Bedeutung der Apriorität, die wir ihr
zuschrieben. Ich habe früher erwähnt, warum Erkenntniß
nicht in bloßer Aufnahme von Eindrücken, sondern in
einer Rückwirkung bestehen muß, deren Form von der
Natur des angeregten Geistes abhängt; ich habe nicht ver-
hehlt, daß ich mit Kant darin übereinstimme, zu diesen
Rückwirkungen die räumliche Anschauung zu rechnen, sie
also für a priori oder angeboren in dem Sinne zu halten,
in welchem von diesem Namen Gebrauch gemacht Werden
kann; für die gegenwärtige Frage aber hat diese Ansicht
dennoch keine Bedeutung. Nicht deswegen, weil die Vor-
stellung des Raumes uns angeboren ist, sind wir im Stande
allgemeine geometrische Sätze auszusprechen, die einmal
gedacht immer gültig sind; wäre es nur sonst begteiflich,
•wie lediglich durch äußere Eindrücke die Vorstellung einer
bestimmten Verbindung räumlicher Beziehungspiinkfe in uns
entstehen könnte, so würde ihr gegenüber jenes unmittel-
bare Innewerden der in ihnen liegenden allgemeinen Wahr-
heit, die Leistung der Anschauung, nur ebenso aber nicht
mehr unerklärlich und nicht weniger möglich sein, als
wenn dieselben Beziehungspunkte nur durch die Mithülfe
einer angebornen Rückwirkungsweise in unser Bewußtsein
gebracht worden wären. Ich überlasse daher die Frage
nach der Apriorität in dem Sinne des Angeborenseins und
das, was hieraus folgen kann, der Metaphysik und be-
Lotze, Logik. 38
594 Fünftes Kapitel.
schränke den Gebrauch des Namens dahin, daß jene Er-
kenntnisse a priori sind, weil sie nicht durch Induction
oder Summation aus ihren einzelnen Beispielen entstehen,
sondern zuerst allgemeingültig gedacht werden und so als
bestimmende Regeln diesen Beispielen vorangehen.
358. Und hiermit endlich hängt der letzte hier zu er-
wähnende Punkt zusammen. Von reinen Anschauungen,
als einem angeborenen Besitz des Geistes, ist auch in
Ausdrucksweisen gesprochen worden, aus denen als natür-
liche Consequenz die Annahme hätte fließen müssen, alle
Wahrheit, die auf einer dieser Anschauungen beruhe, sei
gleichfalls ein Schatz immer gegenwärtiger Erkenntniß, mit
dem wir der Erfahrung, um sie zu beurtheilen, entgegen-
kommen. In der That hat schon Locke diese Consequenz
zur Bestreitung der Lehre von den angeborenen Ideen
benutzt; daß sie aber falsch ist, bedarf nur kurzer Ueber-
legung. Wer überhaupt von angeborenen Erkenntnissen
spricht, rechnet die mathematischen am gewissesten zu
ihnen; gleichwohl haben sie alle erst entdeckt werden
müssen, und der allen angeborene Besitz der Raum-
anschauung war nicht gleichbedeutend mit dem der Geo-
metrie. Entdeckt aber wurden die elementarsten von ihnen,
sobald die Aufmerksamkeit Veranlassung erhielt, von den
höchst mannigfaltig gezeichneten Raumfiguren, mit denen
uns die Wahrnehmungswelt umgibt, sich auf die einfachsten
Beziehungen zu richten, die in ihnen allen enthalten sind;
dann sprang unvermittelt die evidente Wahrheit der einzel-
nen Grundsätze als selbstverständlich hervor, ganz so wie
es Platon's vortreffliche Darstellung im Menon zeigt; nur
die Berufung auf ein Vorleben war überflüssig, aus dessen
Erinnerung diese plötzlich auftauchende Einsicht stamme,
denn auch in diesem Vorleben hätte die Ueberzeugung
von der allgemeingültigen Gewißheit der damals in all-
gemeiner Gestalt angeschauten Wahrheiten doch nur
durch dasselbe unmittelbare Innewerden entstehen können,
durch welches wir sie in diesem Leben in ihren Einzel-
beispielen wiedererkennen. Noch leichter versteht sich,
warum verwickeitere mathematische Relationen auf Ent-
deckung warten mußten und warum noch immer ein un-
ermeßliches Gebiet vor uns liegt, in welchem neue Ent-
deckungen zu machen sind; zur Wissenschaft werden die
Consequenzen der einfachen mathematischen Principien
eben erst dadurch, daß sie denkend gezogen werden; dies
aber schließt eine höchst umfängliche immer fortschreitende
Die apriorischen Wahrheiten. 595
Arbeit genauer Definition mannigfaltiger Sonderung und
bestimmter Verknüpfung gemachter Abstractionen ein, durch
welche erst die Subjecte zweifellos festgestellt werden,
von denen ein vielleicht nicht minder zusammengesetztes
Prädicat behauptet werden soll. So paradox es daher
scheinen mag, wir müssen uns der falschen Vorstellung
entwöhnen, als läge die Welt des Selbstverständlichen von
selber selbstverständlich vor uns und es käme nur darauf
an, mit dieser bequem besessenen Wahrheit die wider-
spenstige Welt der Wahrnehmungen zu meistern; auch
das Allgemeingültige, zu dessen Einsicht der Geist nur
sich selbst bedarf, muß von ihm erst aus der Unermeßlich-
keit der Vorstellungen, die sein Bewußtsein wirklich füllen,
aufgefunden und gesondert werden. Und nicht einmal dies
kann man allgemein erwarten, daß auf dem Wege dieser .
Besinnung auf sich selbst ihm die einfachsten aller seiner
angeborenen Wahrheiten, die höchsten Grundsätze, zuerst
zum Bewußtsein kommen; alle thun es ja nur auf Ver-
anlassung eines bestimmten Beispiels oder eines Falles,
den Wahrnehmung oder Einbildungskraft dem Geiste vor-
führen, damit er über ihn Becht spreche; so aber können
die Wahrnehmungen beschaffen sein, daß sie nie den reinen
Fall darbieten, und daß sie demgemäß auch die Einbildungs-
kraft abhalten, die Vorstellung des reinen Falles auszu-
bilden, über den, sobald er nur dem Bewußtsein gegeben
wäre, der Geist unmittelbar mit der in ihm erweckten
Ueberzeugung einer allgemeinsten grundsätzlichen Wahrheit
urtheilen würde. So kann daher eine sehr schwere Aufgabe
der Erkenntniß darin bestehen, uns durch Hinwegräumung
aller der Hindernisse, welche die uns aufgedrungene
empirische Verknüpfung unserer Vorstellungen entgegen-
stellt, zu der Einsicht in das Selbstverständliche erst hin-
durchzuringen.
359. Der Mathematik, die am leichtesten die Gegen-
stände ihrer Betrachtung von der Natur des Bealen sondern
konnte, an dem sie zur Wahrnehmung kommen, ist es im
Ganzen möglich gewesen, von den einfachsten Wahrheiten
zu ihren Folgen fortzuschreiten, nicht ohne daß dennoch
die spätere Einsicht auch den früher erkannten Principien
neue und umfassendere Ausdrücke gab. Anders ist der
Weg der Mechanik gewesen, die unmittelbar auf das wirk-
liche Geschehen eingehend den Wechselwirkungen der Dinge
ihre Gesetze vorzuzeichnen suchte. Ich brauche diesen
vielgetadelten Ausdruck Kant's, um die Vorwürfe gegen
38*
596 Fünftes Kapitel.
ihn auf ihr richtiges Maß zurückzubringen. Niemand will
ja mit ihm gemeint haben, menschliche Vernunft könne
mit willkürlicher Wahl Gesetze ersinnen, denen die Natur
zu folgen verpflichtet sei; wenn aber die Vorstellung einer
Beziehung zwischen verschiedenen Elementen uns gegeben
ist, einfach genug, um jenen reinen Fall darzustellen, in
welchem die eignen Gesetze der Natur ihre einfachste durch
keine Vielheit mitwirkender Nebenbedingungen verhüllte
Folge hervorbringen: warum soll dann die Vernunft, zu
dem Ganzen derselben Welt gehörend, in welcher diese
Wirkungen geschehen, nicht unmittelbar das Ergebniß inne
werden können, das aus jener Beziehung entspringen muß ?
Nicht ihre subjectiven Gesetze drängt sie dann der Natur
auf, sondern sie erräth die eigenen dieser und stellt sie nun
als verbindliche Regeln dem Gewirr der einzelnen Vorgänge
zu deren BeUrtheilung und Erklärung voran. In diesem
Sinne ist die reine Mechanik eine apriorische Wissenschaft;
viele ihrer Sätze mag immerhin die Erfahrung zuerst an-
gedeutet und das Suchen nach ihnen veranlaßt haben;
gefunden und in die genaue Gestalt eines Gesetzes sind
sie alle gebracht worden nicht auf Zeugniß wiederholter
Wahrnehmungen, sondern durch eine Gedankenarbeit, die
in einem vorgestellten reinen Fall mit unmittelbarer Klarheit
das Selbstverständliche sah und verwickelte Fälle auf ein-
fache zurückzuführen Mittel fand. Man pflegt dies so aus-
zudrücken, daß innerhalb ihrer selbst die Mechanik eine
vollständig demonstrative Wissenschaft sei, die aus selbst-
gemachten Voraussetzungen nothwendige Folgen mit voll-
kommener Schlußkraft entwickle; dafür habe sie, der Er-
fahrung gegenüber, nur hypothetische Gültigkeit, unter der
Voraussetzung nämlich, es gäbe Wirklichkeiten, die sich
genau den Begriffen subsumiren lassen, aus denen sie ihre
Folget'ungen gezogen hatte. Diese Ausdrucksweise gibt un-
berechtigten Zweifeln an der Erfüllung jener Voraussetzung
zu viel Raum und entspricht auch der Sache nicht. Denn
entstanden ist die Mechanik nicht in einem nachsinnenden
Bewußtsein, das vor aller Erfahrung mit Möglichkeiten ge-
spielt hätte, sondern unter dem unablässigen Drucke der
Erfahrung, die Erklärung verlangte; die abstracten all-
gemeinen Bedingungen, aus denen wir in ihr bestimmte
Folgen ableiten, sind nicht problematische Entwürfe
von Etwas, was sich vielleicht finden könnte, sondern
Reductionen des assertorisch Gegebenen auf seine all-
Die apriorischen Wahrheiten. 597
gemeingültige Gestalt. Nothwendig aber war diese Reduction
um der einzigen wirklichen Voraussetzung willen, mit der
die Mechanik steht und fällt, der nämlich, daß überhaupt
in dem Geschehen gesetzliche Ordnung gilt. Besteht diese
Annahme einmal zu Recht, und wirken in dem Verlauf
der Dinge viele Elemente ABC... zusammen, jedes von
ihnen in verschiedenen Formen a a^ a^ . . . ß ßi ß^ . . . endlich
alle in veränderlichen Beziehungen M N . . ., deren jede die
verschiedenen Werthe ja |lii . . . vvi . . . annehmen kann, so
muß dann jedes Einzelereigniß das Gesammtergebniß vieler
Einzelgesetze sein, deren jedes nur von zwei Elementen A B
und ihrer Beziehung M handelt und die Wirkung W be-
stimmt, die aus diesen Datis folgt, und die sich in w w^ . . .
ändert, wenn A B und M ihre veränderlichen Formen oder
Werthe durchlaufen. Vielleicht gibt die Erfahrung niemals
ein reines Beispiel eines dieser Einzelgesetze; aber es wäre
doch Unverstand, die Mechanik deswegen zu tadeln, weil
sie zuerst von einer Bewegung spricht, ohne den Widerstand
zu beachten, der doch keiner fehlt, von einer gleichartigen
Masse ferner, die nirgends aufzuweisen ist, von einem
völlig starren Körper endlich, statt dessen die Wahrnehmung
immer nur elastische nachgiebige mehr oder minder harte
zeigt. Es wird Zeit sein, die Einflüsse dieser Neben-
bedingungen in Betracht ?u ziehen, sobald die allgemeinen
Gesetze bekannt sind, auf deren Folgen sie umgestaltend
einwirken; wenn aber auch niemals die Theorie der wider-
stehenden Mittel der specifischen ^Eigenschaften der Materie
und ihrer Molecularzustände die einfache Klarheit der
übrigen mechanischen Lehren erreichte, so würde sicher
eine Naturbetrachtung noch weniger Glück haben, die nicht
einmal die Gesetze der einfachen und reinen Fälle wüßte,
von denen jeder einzelne unreine um eine bestimmbare
Differenz abweicht. Denn es ist eben keineswegs bloße
Bequemlichkeit einer ungenau abkürzenden Untersuchung,
wenn wir von der ganzen Eigenthümlichkeit eines concreten
Falles absehend zunächst das Gesetz eines allgemeinen und
äbstracten suchen; jene Voraussetzung von der Gesetzlich-
keit des wirklichen Geschehens schließt die sachliche Noth-
wendigkeit ein, daß die Gesammtwirkung vieler Elemente
aus den Einzelwirkungen zusammengesetzt sei, die je zwei,
in bestimmter Beziehung zusammengefaßt, für sich er-
zeugen und nach einem beständigen Gesetz mit der
Aenderung dieser Beziehung ändern.
598 Fünftes Kapitel.
360. Den mechanischen Betrachtungen hat es nun der
empirische Inhalt und Verlauf der Wahrnehmungen keines-
wegs leicht gemacht, auch nur die Vorstellungen der ein-
fachen und reinen Fälle zu fassen, über welche dann eine
unmittelbare Anschauung der Wahrheit ein selbstverständ-
liches und allgemeingültiges Urtheil auszusprechen gewußt
hätte; im Gegentheil hat hier die Erfahrung am meisten
ihre früher berührte schädliche Wirkung geübt, durch be-
ständige Vorführung des Besonderen und Bedingtgültigen
von der Auffassung des Allgemeinen und Unbedingten ab-
zulenken. Das ganze Alterthum ist vergangen, ohne daß
der Begriff der Bewegung, der Mittelpunkt aller Mechanik,
zu der Einfachheit herausgearbeitet worden wäre, in welcher
er Gegenstand unmittelbarer Erkenntniß werden kann. Drei
große Beispiele hielt die Erfahrung der Einbildungskraft
vor : die unablässige Bewegung der Himmelskörper, die bald
wieder aufhörende der von außen angetriebenen irdischen
Massen, die von innen kommende aber ermüdende Reg-
samkeit der lebendigen Wesen; von den widerstreitenden
Nebenbestimmungen dieser Fälle den einfachen Vorgang
aller Bewegung, die stetige Veränderung des Ortes, abzu-
lösen wollte nicht gelingen; es blieb bei einer Vermischung
des Phänomens mit vorausgesetzten Ursachen, die dazu
führte, entweder den Lauf der Gestirne als göttliche Be-
wegung über die allgemeinen Naturgesetze erhöht oder die
Bewegungen der irdischen Körper als erzwungene unter
das hinabgedrückt zu denken, was in der Natur Rechtens
wäre; die Analogie der Ermüdung unserer eigenen Thätig-
keit trug dazu bei, im Ganzen das baldige Erlöschen jeder
Bewegung als selbstverständlich, ihre ewige Fortdauer als
göttliche Ausnahme anzusehen. Eine viel spätere Zeit erst
kam dahin, das, was jeder Bewegung wesentlich ist, ein-
fach als Verhältniß von Geschwindigkeit Zeitdauer und
Raum zu fassen und mit der unscheinbaren Formel s = et
die Grundlage einer wissenschaftlichen Bewegungslehre zu
schaffen. Mit ihr trat das Gesetz der ''Beharrung von selbst
in das Bewußtsein; denn auch wenn die Auffindung dieses
Gesetzes aus der Verallgemeinerung der Versuchsergebnisse
hervorging, die jede Bewegung um so länger fortdauern
zeigten, je mehr alle äußeren Hindernisse entfernt wurden,
so zweifelt doch Niemand, daß das einmal aufgefundene
der Ausdruck einer spät eingesehenen Denknothwendigkeit
ist. Daß es Bewegung gebe, mußte man aus Erfahrung
lernen; wenn es sie aber gibt oder geben soll, so gehörte
Die apriorischen Wahrheiten. 599
die Voraussetzung ihrer Beharrung dazu, um ihre An-
schauung auclj nur möglich zu machen (247). Aehnlichen
Schwierigkeiten unterlag es, den Begriff der Masse zu
bilden. Die Körper, mit denen wir zu hantieren gewohnt
sind, feste wie flüssige, folgten dem Zuge der Schwere,
aber Dämpfe und Feuer stiegen empor; so entstand die
Vorstellung zweier entgegengesetzten Triebe, die, zu der
Natur der Körper wesentlich gehörend, nach zwei Rich-
tungen auseinandergingen, Richtungen, die man allerdings
durch qualitative Verschiedenheit der Endpunkte, zu denen
sie führen, gültig hätte unterscheiden können, aber doch
mit unverständlichen Gegensätzen des Oben und Unten
eines absoluten Raumes verwechselte. Spät erst, nachdem
die Combination erweiterter Beobachtungen die Einseitig-
keit der ursprünglich gegebenen ausgeglichen und gezeigt
hatte, daß weder die Richtung noch die Intensität der
Schwere überall dieselbe ist, kam die natürliche Vorstellung
zur Geltung, daß jede neubeginnende Bewegung eine Be-
stimmung ihrer Richtung a fronte oder a tergo, durch An-
ziehung oder Abstoßung in gerader Linie bedarf, daß sie
also immer aus einer Wechselwirkung verschiedener Ele-
mente im Räume entspringt und daß die Größen dieser
Wirkung von den Mengen eines gleichartigen Realen ab-
hängen, die in jedem dieser Elemente vereinigt sind. Auch
die so entstandene Vorstellung der Masse, die nur auf
die Größe des Trägheitswiderstandes, den ein Reales im
Raum jeder ihm angesonnenen Bewegung entgegensetzt,
sowie auf die Größe der Kraft Rücksicht nimmt, mit der
es selbst jede von ihm ausgehende Bewegung zu erzwingen
sucht, mag neue Fragen anregen, auf welche die Philosophie
zu antworten hätte; sobald indessen ein gesetzlicher Ver-
lauf von Naturereignissen da ist oder da sein soll, in
^ welchem jeder einzelne Vorgang die Bedingung für ein be-
stimmtes Maß eines auf ihn folgenden sein soll, wird man
als eine selbstverständliche Voraussetzung hierzu die in
dem Begriff der Masse ausgesprochene Vergleichbarkeit der
realen Elemente in Bezug auf die Größe aller von ihnen
zu erwartenden Leistungen leicht erkennen. Wie groß aber
die Macht einseitiger Beobachtung über unsere Auffassungen
ist, beweist der Unglaube, den noch jetzt die gewöhnliche
Einbildungskraft der Möglichkeit der Antipoden entgegen-
setzt, und die Irrthümer naturphilosophischer Schulen, für
welche zwar nicht mehr die ewige Abwärtsbewegung des
600 Fünftes Kapitel.
Alterthums, aber doch die concentrisch zusammendrängende
Schwere so sehr zu dem allgemeinen Begriffe des Realen
gehörte, daß die Vorstellung gewichtloser Masse ihr stets
ein Widerspruch schien. Ich muß hier abbrechen; aber
eine Geschichte der Ausbildung der mechanischen Vor-
stellungen würde eine anregende Aufgabe darin finden,
nicht immer blos zu wiederholen, wie wir lediglich durch
Verknüpfung der Erfahrungen zur Kenntniß der Naturgesetze
gekommen sind, sondern auch hervorzuheben, wie zuerst
die Einseitigkeit der Erfahrungen uns eine Menge falscher
Gedanken aufgezwungen und uns verhindert hat, selbst-
verständliche Wahrheiten früher einzusehen.
361. Ueber den logischen Charakter der einfachsten
mechanischen Grundsätze bestehen entgegengesetzte Mei-
nungen. Eben weij man sie zunächst nicht auf die wirk-
lichen Körper, sondern auf vorausgesetzte Substrate be-
zieht, (leren ganze Natur durch unsere Definition derselben
feststeht glaubt m^in einerseits sie für analytische Urtheile
ansehen zu müssen, deren Wahrheit das Gesetz der Iden-
tität verbürge; anderseits hält man sie, auch in jener
abstr9,cten Reinheit gefaßt, noch immer für synthetisch
und deswegen nur für probable Hypothesen, deren Richtig-
keit nur durch das Zusammentreffen mit der Erfahrung
und durch die allseitige Uebereinstimmung ihrer Folgen
untereinander bestätigt werde. Ich kann über diese Frage
nur ebenso urtheilen, wie über die verwandte in Bezug
auf Arithmetik und Geometrie, muß jedoch mich mit einer
kurzen Andeutung begnügen, ohne ihr hier die wünschens-
werthe Ausdehnung geben zu können. Allgemein könnte
ich mich dahin ausdrücken, daß die beiden Data A und B,
über deren Zusammenhang ein mechanischer Satz urtheilen
soll, uns nicht nur einzeln gegeben sind, sondern daß ihre
Vorstellungen nur innerhalb einer gemeinsamen Anschau-
ung verständlich sind und verstanden werden, durch welche
zugleich die Beziehung zwischen beiden bestimmt wird.
Kehren wir zuerst zu einem arithmetischen Beispiel zurück.
Daß 3 a — 3a = 0, wird man geneigt sein, unmittelbar auf
den Satz der Identität zurückzuführen; gleichwohl sagt
dieser für sich allein doch nur, daß 3a=:3a und
— 3 a = — 3a, endlich 3a — 3a = 3a — 3a; daß diese letzte
Formel =0 sei, können wir nur auf Grund der sachlichen
Anschauimg behaupten, es gebe zwei ausführbare Opera-
tionen der successiven Hinzufügung von a zu a und der
Abziehung des a von 2 a, die einander gerade aufheben
Die apriorischen Wahrheiten. 601
uiid deren gleich oftmalige Wiederholung zur Wiederver-
nichtung jeder erzeugten Größe führe. Denn in der That
bezeichnet doch in -\-sl — a das Zeichen — nicht blos
einen Gegensatz zu -\-, sondern zugleich die Art, wie dieser
Gegensatz wirksam werden kann und soll, die Subtraction;
wüßte man von der Möglichkeit dieser Operation nichts,
oder wäre sie nicht ausführbar, so würde man aus a — a
die Folg« 0 ebensowenig erzeugen, als man aus der bloßen
Vereinigung der contradictorischen Begriffe Möglichkeit und
Unmöglichkeit im Denken irgend ein Resultat erzielen
könnte; gleichwohl können beide auch, als Gegensätze,
durch a und — a bezeichnet werden, aber dieses — läßt
sich nicht durch eine Subtraction deuten. Man sieht da-
her, daß man den Satz a — a = 0 ebensowohl für identisch
als für synthetisch ansehen kann. Identisch ist er, weil er
ja f a 1 s c h sein würde, ?;venn die beiden Seiten der Gleichung
nicht vollkommen denselben Inhalt vorstellten; daß aber
diese Identität stattfindet, ist durch keine blos logische
Zergliederung des a des — a und des — zu ermitteln,
sondern lediglich durch die unmittelbare Anschauung der
Bedeutung, welche hier dieses — haben kann, weil es auf
Vermehrung und Verminderung von Größen bezogen ist;
der Satz ist mithin eine synthetische Behauptung der Ideu-
tität zweier formverschied^ner Inhalte, einer Aufgabe und
ihrer Lösung. Ein ähnliches Beispiel bietet mechanisch
die Bestimmung der Resultante zweier Bewegungen, die
einen Winkel einschließen. Ich beschränke mich auf An-
führung der Voraussetzung, von der die gewöhnlichen Be-
weisversuche beginnen, nämlich daß die Resultante zweier
gleichen Bewegungen den Zwischenwinkel halbire. Man
sieht diesen Satz für selbstverständlich an und glaubt in
diesem einfachsten Falle unmittelbare Gewißheit eines Er-
gebnisses zu besitzen, auf welches man verwickeitere Auf-
gaben zurückzuführen hätte, und gewiß werden auch die
Vorsichtigsten in ihm nicht blos eine probable Hypothese
sehen wollen, sondern eine Wahrheit, die nur zu einfach
ist, um aus einer noch einfacheren bewiesen werden zu
könneu. Was man aber zur Erläuterung noch hinzuzufügen
pflegt: es sei kein Grund vorhanden, warum die Resultante
der einen Componente näher liegen sollte als der andern,
kann uns dienen, die logische Natur des Satzes zu verdeut-
lichen. Denn das Fehlen zweier Gründe für zwei andere
Klassen von Richtungen kann an sich selbst keinen positive^
602 Fünftes Kapitel.
Grund für die Nothwendigkeit der angenommenen Richtung
der Resultante vorstellen, so lange man nicht den Ge-
danken schon festhält, irgend eine Richtung müsse noth-
wendig eingeschlagen werden, und sie könne mit keiner
der beiden Componenten zusammenfallen. Dies ist es nun
eben, was man aus Anschauung weiß; eine blos logische
Zergliederung würde nur lehren: unter der Bedingung a
bewegt sich das Element M nach der Richtung a, unter
der Bedingung b nach ß; wirken beide Bedingungen zu-
gleich, so kann M sich weder nach a noch nach ß be-
wegen, weil bei der Wahl jeder von beiden Richtungen die
eine Bedingung wirkungslos würde; was würde also ge-
schehen? Da beide Bedingungen gleichwerthig gedacht
sind, so müßte entweder sowohl die eine als die andere
wirkungslos werden und M in Ruhe bleiben, oder es müßten
beide Bedingungen zu gleichem Maße befriedigt werden
und unbefriedigt bleiben, falls es eine Art und Weise
gäbe, wie dies geschehen könnte. Dies ist nun die Haupt-
sache: daß es eine solche Art und Weise gibt, und worin
sie besteht, ist durch gar kein Mittel des Denkens aus-
findig zu machen, dagegen liegt es ganz offenbar in der
Anschauung des Raumes und des Zusammenhangs der in
ihm möglichen Richtungen, sowie in der Anschauung der
Bewegung vor; hier findet man, daß M beide Bedingungen
zugleich voll befriedigen kann, wenn es sich so bewegt,
daß es am Ende der Zeiteinheit t sich an dem Endpunkt
der Diagonale des Parallelogramms befindet, an den es
gekommen wäre, wenn es in zwei Zeiteinheiten t in be-
liebiger Reihenfolge erst den Weg a oder ß ganz, dann den
Weg ß oder a auch ganz zurückgelegt hätte; daß endlich
die Bahn, auf der es an diesen Punkt gelangt, eben diese
Diagonale selbst ist, folgt dann daraus, daß für jeden
kleinen Zeittheil dt ganz dieselbe Betrachtung gilt; die
Diagonale ist der geometrische Ort aller der Orte, an welchen
sich M nach dt, 2 dt, 3 dt u. s. f. befinden muß. Auch
dieser mechanische Satz ist mithin ein synthetisches Ur-
theil, welches die Identität einer Aufgabe mit ihrer Auf-
lösung durch unmittelbare Anschauung feststellt.
362. Ich muß mir hieran genügen lassen und benutze
nur noch in anderer Absicht einen Blick auf den Fortgang
der Mechanik. Während ihre Anfänge durch Einfachheit
formelle Beweise unmöglich machen, werden ihre späteren
Aufgaben so verwickelt, daß ihre Auflösungen, obgleich
strenge Consequenzen jener Grundlagen, doch wegen der
Die apriorischen WaJirheiten. 603
Mannigfaltigkeit der im Auge zu behaltenden Beziehungs-
punkte sehr weitläufige Umwege der Abstraction und Rech-
nung nöthig machen. So zweifellos nun auch die so er-
haltenen Resultate sind, so hat sich doch nirgends so leb-
haft wie in dieser strengen Wissenschaft das Verlangen
geregt, die gewonnenen Ergebnisse unabhängig von dem
Gerüst des Calcüls auf einfache Gedanken zurückzuführen,
die der Rechnung nur bedürfen, um auf die dem Maße
nach bestimmten Bedingungen der Einzelfälle anwendbar
zu werden. Ich erinnere nur an das Gaußische Princip
des kleinsten Zwanges, das in größter Allgemeinheit das
Gesetz aller Bewegung dahin ausspricht: ein System
materieller wie auch immer unter einander verbundener
Punkte, deren Bewegungen an was immer für äußere Be-
schränkungen gebunden sind, bewege sich in jedem Augen-
blicke in möglich größter Uebereinstimmung mit der freien
Bewegung oder unter möglich kleinstem Zwange, indem
man als Maß des Zwanges, den das ganze System in
jedem Zeittheilchen leidet, die Summe der Producte aus
dem Quadrate der Ablenkung jedes Punktes von seiner
freien Bewegung in seine Masse betrachtet. Der zweite
Theil dieses Satzes dient dazu, dem allgemeinen Gedanken,
den der erste ausspricht, die mathematische Gestalt zu
geben, durch welche für jeden Einzelfall der Sinn dessen,
was er fordert, genau bestimmt und auf die gegebenen
Maßverhältnisse anwendbar gemacht wird; in jenem ersten
aber glauben wir nicht blos eine thatsächlich gültige all-
gemeine Regel, sondern die eigentliche ratio legis zu
besitzen, aus welcher alle Einzelgesetze der verschiedenen
Bewegungen fließen. Machen wir die Anwendung auf den
einfachsten Fall der Resultante zweier Bewegungen, so
haben wir 232 und ff. gesehen, daß man sich von ver-
schiedenen Ausgangspunkten aus über sie Gewißheit ver-
schaffen kann; aber die so versuchten Beweise dienen mehr
oder weniger nur dazu, uns zum Glauben zu zwingen;
der Gedanke dagegen, daß die Bewegung in der Diagonale
diejenige ist, durch welche beide Bewegungsantriebe voll-
ständig befriedigt werden, und von beiden nichts verloren
geht, erscheint uns, sobald wir ihn fassen und bestätigt
finden, als ein Entscheidungsgrund von ganz anderem
Werthe, als ein Princip, das durch seine sinnvolle Be-
deutung den unmittelbaren Glauben erweckt, daß wir in
ihm nicht blos eine der Regeln besitzen, nach denen der
Zusammenhang der Ereignisse sich betrachten läßt.
604 Fünftes Kapitel.
sondern den höchsten Gesichtspunkt, nach dem er geordnet
ist. Ich habe ausdrücklich hinzugefügt, daß wir die vor-
gängige Bestätigung eines solchen Satzes voraussetzen
müssen; in der That, so überredend die Behauptung sein
würde, der Conflict aller Bewegungen sei so geordnet, daß
in dem Endergebniß nichts von dem beabsichtigten Effecte
der Componenten verloren gehe, dennoch würde sie, ohne
jene Bestätigung ausgesprochen, von sehr zweifelhafter
Gültigkeit sein; sie würde einen Grundsatz vorstellen, nach
welchem wir vielleicht die Welt oj:dnen würden, wenn dies
unsere Aufgabe sein könnte, und vorausgesetzt, daß eine
Möglichkeit vorhanden und von uns aufgefunden wäre,
die allgemeine Forderung, die in diesem Grundsatze liegt,
wirklich in jedem Einzelfalle zu erfüllen; daß aber die
Welt des Wirklichen oder auch nur die des Denkbaren den
Inhalt die Form und Fassung und den Zusammenhang
ihrer Elemente besitzt, durch den es möglich wird, ihre
einzelnen Vorgänge oder auch nur die einzelnen denknoth-
wendigen Gesetze, die wir in abstracter Betrachtung ge-
funden haben, unter diesen gemeinsaijaen höchsten Ge-
sichtspunkt zu vereinigen, dies lernen wir erst am End,e
unseres Weges. Man weiß, wie oft in der Geschichte der
Mechanik Versuche gemacht worden sind, das Ganze des
physischen Weltlaufs an solche höchste philosophische Ge-
setze* zu binden; von der beständigen Summe der Be-
wegungen in dem Weltall, von der Unverlierbarkeit der
Kraft, von einem Principe der kleinsten Wirkung und der
Sparsamkeit ist gesprochen worden; in allen diesen Ver-
su<;hen lag nicht blos Sehnsucht nach einem selbstvei:-
ständlichen Grundgedanken, aus dem die mathematisch be-
stimmbaren Einzelgesetze der Ereignisse flössen, vielmehr
auch die Richtung, in der das Ersehnte zu suchen ist,
verfehlten sie nicht ganz; aber es gelang nicht, scharf
und reift die Beziehungspunkte ohne Ueberfluß und Mangel
festzustellen, in Bezug auf welche ein so allgemeiner Ge-
danke sich auch ebenso allgemeingültig aussprechen ließ.
Inwieweit jetzt Fortschritte hierin geschehen sind, habe
ich nicht zu untersuchen ; nur die Lebhaftigkeit des Ver-
langens wollte ich hervorheben, unsere Untersuchungen
durch höchste Principien abschließen zu können, welche
in der Form synthetischer Urtheile zwei Beziehungs-
glieder allgemeingültig und selbstverständlich verknüpfen,
die durch kein Mittel logischer Beweisführung als analytisch
oder identisch zusammengehörig nachweisbar sind.
363. Man pflegt sich über das letzte Ziel der Erkenntniß
Die apriorischen Wahrheiten. 605
anders auszudrücken; man verlangt Zurückführung aller
synthetisch erscheinenden Verknüpfungen auf analytische,
anstatt deren man übrigen^ richtiger identische fordern
würde; man glaubt endlich auf dem Wege zur Erfüllung
dieser Aufgabe zu sein. Am Anfange unserer Erkenntniß
werde ein Begriff S zunächst aus den wenigen Merk-
malen P Q R gebildet, die man verbunden bereits kennen
gelernt habe; zeige dann neue Erfahrung mit ihm in einein
Einzelfalle noch ein Merkmal Z verknüpft, so sei de)c Satz :
S ist Z, der diese Wahrnehmung ausdrückt, ein syntheti-
sches Urtheil; bestätige sich jedoch die neue Erfahrung all-
gemein, so werde Z nun mit in den Begriff S aufgenommen
und der Satz: S ist Z sei nun, mit so verändertem S,
analytisch geworden; eben dahin endlich gehe alle An-
strengung unserer Erkenntniß, anfänglich so synthetisch
erscheinende Verbindungen auf diese analytische Fotm,
Zusanimensein also auf Zusammengehörigkeit zurückzu-
führen. Der Hergang unseres Erkennens ist hierdurch
richtig geschildert; denn leider ist zuzugestehen, daß es
selten weiter als bis zu diesem Ziele vordringt; aber be-
merken muß man doch, daß die zuletzt gedachte Absicht
nur in sehr bescheidenem Maße erreicht wird; in dem
Sinne gar nicht, daß der frühere Schein eines bloßen Zu-
sännnenseins wirklich der Einsicht in eine selbstverständ-
liche Zusammengehörigkeit wiche. Hätten wir den Begriff
des Körpers zuerst nur aus den Merkmalen der Ausdehnung
der Undurchdringlichkeit und des Trägheitswiderstandes ge-
bildet, aus denen die Nothwendigkeit gegenseitiger An-
ziehung nicht folgt, so würde der Satz, der Körper sei
schwer, ohne Zweifel synthetisch gewesen sein; aber er
selbst wird auch dann nicht zu einem analytischen, wenn
wir die allgemein beobachtete Gravitation mit in den Be-
griff des Körpers aufnehmen; nach wie vor bleibt diese aus
jenen andern Merkmalen unableitbar, mit ihnen also doch
ebenso synthetisch verbunden, wie in dem Urtheile, das
diese Verbindung zuerst als eine bestehende Thatsache
aussprach. Allerdings, nachdem wir diese synthetische
Verknüpfung aller Merkmale des S einmal als gegeben be-
trachten, können wir auf sie ein analytisches Verfahren
anwenden und eines derselben nach dem andern zum
Gegenstand gesonderter Betrachtung hervorheben; aber nur
ein Verzicht auf Erkenntniß liegt in dieser Anerkennung
eines nur thatsächlich allgemeinen Zusammenseins, dessen
Zusammengehörigkeit wir nicht begreifen ; befriedigt könnten
wir nur sein, wenn die Verknüpfung je zweier Merkmale
606 Fünftes .Kapitel.
von S uns die Nothwendigkeit der Gegenwart je eines
dritten verbürgte. Solche Beweise können wir in einiger
Ausdehnung führen, und überall, wo sie gelingen, be-
zeichnen sie einen erreichten Fortschritt der Erkenntniß;
aber es ist klar, daß sie nicht gelingen können, ohne zu-
letzt irgendwo eine Prämisse von der Form A -j- B = C
vorauszusetzen, d. h. eine solche, die nicht nach dem
nackten Princip der Identität Gleiches einander gleich setzt,
sondern ohne Möglichkeit der Zurückführung auf dieses
Princip die Gleichheit des Verschiedenen behauptet. Die
angebliche Umwandlung aller synthetischen Erkenntniß in
analytische läuft daher in der That doch auf die Auf-
suchung der einfachsten synthetischen Wahrheiten hinaus.
364. Dies wird man nun, wenn auch vielleicht als eine
unnöthig veränderte Ausdrucks weise, zuletzt doch zuge-
stehen; aber man wird daran die Betrachtung knüpfen,
eben diese Nothwendigkeit, synthetische Verbindungen als
gegeben zuzugestehen, beweise die Unfähigkeit der Erkennt-
niß, wirklich zu Ende zu kommen und die Zusammen-
gehörigkeit des Zusammenseienden einzusehen; überall
bleibe ein Rest des Thatsächlichen, dessen innerer Zu-
sammenhang unverständlich sei und nur durch die Er-
fahrung verbürgt werde. Ich kann dieser Meinung nicht
beipflichten, die Verständniß nur da erreicht zu haben
glaubt, wo sie Gleiches einander gleichsetzen kann. Denn
daß nun A = A sei, worauf beruht es denn, daß wir diesen
Satz unbeanstandet als eine verständliche Wahrheit
betrachten, wenn nicht auf der unmittelbaren Evidenz, mit
welcher er sich uns aufdrängt und keine weitere Vermitt-
lung seiner Gewißheit wünschenswerth macht? Wie es
aber zugehe, wie es gemacht werde oder aus welchem in-
wendigen Zusammenhange es folge, daß A sich selbst gleich
sei, wissen wir weder, noch wird Jemand glauben, daß
eine solche Frage überhaupt noch Sinn habe. Wenn nun
mit gleicher Evidenz sich uns ein einfachster synthetischer
Satz von der Form A + B = C darbietet, warum soll hier
diese Frage aufgeworfen werden, die dort ohne Bedeutung
war? und warum soll diese Gleichung erst mit Hülfe irgend
einer Vermittlung gelten, die uns zeigte, w i e C dem A + B
gleich sein könnte, da es doch vorhin als hinreichend
zum Verständniß galt, zu wissen, daß A = A sei? Ich
will nicht weiter wiederholen, daß in unserem Denken
keine solche Vermittlung von dem bloßen Satz der Identität,
daß jede vielmehr von einem analogen Satze A^ + B^^C^
Die apriorischen Wahrheiten. 607
beginnen müßte; denn hiermit würde ich freilich der Klage
über die Unvollkommenheit der Erkenntniß nicht begegnen,
die zu keinem selbstverständlichen höchsten Princip ge-
langen könne; wie aber verhält es sich damit, daß wir
irgend eine synthetische Verknüpfung dieser Art als ge-
geben, als gültig und nur für unser Verständniß un-
durchdringlich ansehen sollen? Wollen wir annehmen,
daß thatsächlich in der Wirklichkeit M und N immer ver-
bunden sind, ohne doch einander etwas anzugehen? Wenn
aber zugleich dies unmöglich ist, zugleich auch unmöglich,
daß aus einem identischen A Unterschiede M und N ent-
springen, was bleibt dann übrig, als der Gedanke, daß es
sachlich ursprüngliche Zusammengehörigkeiten des Ver-
schiedenen gibt, ursprüngliche Synthesen, deren Beziehungs-
glieder durch keine Zwischenvermittlung zusammenhängen,
welche ihre Vereinigung als noch so entfernte Folgen des
Identitätsgesetzes erscheinen ließe, und die dennoch un-
mittelbar zusammengehören? Wenn nun dies im Sein
sich so verhalten muß, wie könnte das Erkennen ge-
nöthigt sein, sich die Gewißheit und das Verständniß eines
Zusammenhanges durch eine weitere Vermittlung zu ver-
schaffen, die in dem Zusammenhange selbst nicht vorhanden
ist? Gewiß kann es daher letzte und einfachste synthe-
tische Wahrheiten geben, die, rein aufgefaßt, nicht
blos thatsächlich gelten, sondern auch selbstverständlich,
deren Evidenz aber, wenn man alles Logische auf den Satz
der Identität gründen will, nicht mehr eine logische, sondern
eher eine ästhetische zu nennen ist, und demgemäß
nicht an der Denkunmöglichkeit, sondern an der evidenten
Absurdität ihres contradictorischen Gegen theils ihren
Prüfstein hat. Zu diesen Wahrheiten gehören die ein-
fachsten mechanischen Grundsätze; daß wir sie und alle
ihres Gleichen nicht als die frühesten, stets besessenen
Bestandtheile unserer Erkenntniß, sondern als die müh-
sam zu erringenden Endergebnisse derselben betrachten,,
ist zu deutlich schon oben ausgesprochen worden, um hier
wiederholt werden zu müssen.
365. Von einzelnen Untersuchungen ausgehend finden
wir zuerst einzelne solche Wahrheiten, jede für ^sich evident
und der Anlehnung an andere unbedürftig; nichts hindert
jedoch, sie alle, als zu derselben Welt gehörig, unter ein-
ander in Verbindung zu bringen und für sie einen höchsten
vereinigenden Gesichtspunkt ebenso zu suchen, wie jede
608 Fünftes Kapitel.
von ihnen für einen Kreis zusammengehöriger Thatsachen
ihn darbot. Es kann sein, daß dann manche dieser Wahr-
heiten ihren selbständigen Werth verliert, und in der That
noch durch logische Mittel als Sonderfall einer allgemeineren
nachweisbar wird, zu deren Ausdruck man Begriffe von
hinlänglich umfassender Höhe der Abstraction gefunden
hat; es ist ebenso möglich und wahrscheinlicher, daß die
vielen sich als zusammengehörige Elemente in die Ein-
heit eines Grundgedankens nur mit derselben Evidenz
ästhetischer Gerechtigkeit einordnen lassen, mit welcher
jede einzelne die Bestandtheile ihrer Aussage logisch un-
beweisbar zusammenfaßte. Diese Aufgabe synthetischer
und dennoch nothwendiger Entwicklung synthetischer Wahr-
heiten aus einem höchsten Princip ist vielleicht schon in
noch unbestimmter Ahnung die Aufgabe Platonischer
Dialektik gewesen; mit Recht kann man sie für das Ziel
halten, dem Hegel's Erneuerung dieser antiken Be-
strebung galt. Ueber diese Versuche, welche Deutschland
einst begeisterten, ist die Gegenwart sehr nüchtern zur
Tagesordnung übergegangen, zu der unablässigen empiri-
schen Forschung, deren Unvollkommenheit den gewagten
Flug dieses Idealismus lähmte; auch hatte er darin ohne
Zweifel Unrecht, für vollendet und vollendbar anzusehen,
was wir nur als das letzte Ziel einer der Vollendung sich
nähernden Erkenntniß betrachten können. Aber im An-
gesicht der allgemeinen Vergötterung, die man jetzt der
Erfahrung um so wohlfeiler und sicherer erweist, je weniger
es noch Jemanden gibt, der ihre Wichtigkeit und Unent-
behrlichkeit nicht begriffe, im Angesicht dieser Thatsache
will ich wenigstens mit dem Bekenntniß, daß ich eben
jene vielgeschmähte Form der speculativen Anschauung
für das höchste und nicht schlechthin unerreichbare Ziel
der Wissenschait halte, und mit der Hoffnung schließen,
daß mit mehr Maß und Zurückhaltung, aber mit gleicher
Begeisterung sich doch die deutsche Philosophie zu dem
Versuche immer wiedererheben werde, den Weltlauf zu
verstehen und ihn nicht blos zu berechnen.
Namenverzeichnis.
Die Zahlen bedeuten die Seiten.
Akademie 517.
d'Alembert XXIX, 310.
Alte Logik 269.
die Alten 528, 600.
Ambrosi, L. CIL
Antike Skepsis 485-487, 499-504,
538 vgl. auch Skepsis des Alter-
tums.
Archimedes 287.
Aristoteles CXIII, CXVII, CXXI,
50, 52f., 61, 73f., 108 f., US-
US, 120f., 125—127, 136,234f.,
238, 268 f., 277 f., 287, 335 f.,
338, 348, 477, 517f., 520f., 560.
Augustinus 526.
Beneke XVI.
Bergson XXXI.
Bemoulli, Jacob 284.
Bolzano XVI f , XXIV, LXVI.
Boole 256, 258, 2G 1—266.
Brentano XVI f., LI, LXIIL
Cartesius, s Desoartes.
Chalybäus XIX, XX.
Comte LIX, LXI.
Condillac 544.
Copernikus 400.
Darwin 232.
DescartesLXXX, XCVIIIf., 488f.,
526—529.
Destutt de Tracy LH.
Deutsche Bewegung IX f., XV,
XVIII, XXIV, LIV, LXVI,
LXVII. LXXII, LXXVIII, XC.
Deutsche Philosophie 536, 544, 581.
Deutsche Systeme XX.
Dilthey XIX, CIL
Driesch, H CIL
Drobisch XIX.
Droysen XLL
Dühring XXX.
Lotze, Logik.
Eleaten XL VI 506.
Englische Logik, neuere 268.
Englische Moralisten LXVI.
Englischer Skepticismus 581 f.
Epimenides 349.
Euathlus 352.
Eucken XIX, CIL
Euklid 196.
Falkenberg XIX, XCII.
Fechner IX, XII f., LI, LXVI,
LXXXIL
Fichte XXIII, XXXVII, XLIII,
XL VII, XCIII.
Frege CIL
Fries XXIV, LXXIX.
Galenus, Claudius 109, 113.
Galilei LXXX.
Gauß 458, 603,
Goethe LIV.
Goklenius 120.
Hartenstein XIX.
Hartmann, Ed. v. XXL
Hegel XlXf., XXX, XXXVIIf.,
LlXf., LXVII, LXXI, LXXX,
XCIII, XCVI, 52, 184, 243f.,
249, 519, 608.
Schule Hegels 45.
Helmholtz LH.
Heraklit und seine Schule 505 —
507, 514.
Herbart Xf., XVIII f., XXII f.,
XXXI, XXXVII, XL, XLII,
LXII, LXXV, LXXXII, 89.
Herbarts Schule XVIII, Herbart-
schüler XVI.
Humboldt XLL
Hume 581 f.
Husserl XI, XVIf., XXX,
LXXIX, CIL
39
610
Namenverzeichnis.
lonier 235.
James LXVIII.
Jean Paul 350.
Jevons 267.
Kant XI, XIV. XVII, XVIIIf,
XXIII. XXV, XXVI, XXX,
XXXVf., XLIIIf., LXXIVf,
LXXXIVf.. LXXXVI,
LXXXIX, C, cm f., CXII. 59,
61, 74, 78, 81 f., 222, 251 f.,
528. 532, 536, 581, 585 f., 5931,
596 f.
Kantbewesung L, LH, LXII.
Kantische Schule 592.
Kepler 392.
Kritizismus XXXV.
Külpe L.
Lagrange XXIX.
Laplace LXXXVI, 444.
Lask XVI, CIL
Leibnitz XX, XXIII, XXX,
251 - 253.
Liebmann LH, CIL
Linne 156.
Locke CHI f., CXII, 544, 594.
Lotze 243.
Maine de Biron LIL
MarJy XVIL
Meinong XVII, XXIX.
Müller, Johannes XIV.
Münchhausen 350.
Natorp XXXV.
Keuere Puilosophie 544.
Neokritiz'smus XXVI, XXXV.
Newton 374—376.
Nohl IX, XXIV.
Nominalismui 5ö9f.
Paulsen L.
Plat<.n XIX f., XXVIII, XXXII,
LXXIVf., LXXX, 54, 73, li<5,
211. £08f., 513—523. 573,
594, 608.
Porphyrius 53.
Positivismus LVIIIf.
Pragmatismus LXVIII.
Protagoras 352, 506, 515.
Prihoni^ky XXIV.
Pynhon 501.
Pythagoras 233—239. 243, 297 f.
Realismus 559f.
Rehmke XXXIII.
Rehnisch 95.
Rickert CIL
Riehl XVI.
Schelling XIX, XXII, XXXIV,
XLIII, XLVII, XCVI.
Schleiermacher LXX.
Schopenhauer LIL
Schröder 256, 265—267.
Servius TuUius 464.
Sextus Empiricus 499—502.
Sigwart XIX, L, LXIII, LXXXIV.
Skeptische Schulen 485.
Skepsis des Altertums 122, vgl.
Antike Skepsis.
Sokrates 195, 211, 506.
Sophisten 215, 224, 338, 468, 506.
Spinoza XL VI.
Steinlhal CIL
Stoa 227.
Stumpf XIV, XVII, LXXIV, CIL
Taylor 329.
Teichmüler LXXI.
Trendelenburg XIX, XXVIU, 470.
Twardowski CIL
Völkerpsychologen XXIII.
Weber XII.
Weißs XVII, XlXf., XXV.
Windelband XVI, XIX, XXXIX,
XLIII, LXIII, CIL
Wolf XXVIIL
Wundt XVI, LL
Zeno 347.
Sachregister.
A.
Abhärtung, §263, 3—4.
Absicht, §134 A. als Neben-
voi Stellung des Zwecks; § 139
A. des BegriÜs.
absolut, §233 Proportionen ent-
scheiden nichts über absolute
Gröl'en, z. B. § 176 in der musi-
kal sehen Skala gibt es ke nen
absolu eu Anfangspunkt.
Abstimmungen, §289ff.
Abstraktion, §23f Die A. im
alten Sinne fand das begrifi liehe
AUgeme ne dui ch bloße Weg-
lassung der besonderen Me k-
male, Lotze will ihre Ei Set-
zung durch Allgeme nmeikmale;
§ lööff. A. als M ttel gegen die
Vieldeutigkeit eines Wortes.
absurd, §200 Unterschied von a.
und undenkba ; §212 Definition
von a.; § 3()4 Absurdität des
cont adi( to ischen Gegentheils
als Prüfs ein der ästhetischen
Evidenz letz er Wahrheiten.
Accidens, §53 A ist e.n meta-
phys scher Begriff.
Adjektiv, §§ 4, 5, 19 Unter-
sc iied des log sehen Sinns des
Adjektivs von der metaphysi-
schen Hedeiung der Eigen-
schaft; §24 Merkmale als adjek-
tivische Bezeichnungen von
Vit altung weisen; §166 Defini-
tion ad ektiv. scher Inhalte.
Adverb en, § 7 A. als solche
haben keinen eigenen logischen
Werth.
Aehnlichkeit, §215 Ae. als Mi-
schung von Gleichheit in einer
und Ungleichheit in einer andern
Rücksicht; §§ 16, 30 Aehnliche
Einzelfälle nur als quantitative
Abstufungen eines Gemeinsamen
denkbar; § 17 innere Erfahrung
führt zu Ae. § 121 Ae. des Zu-
sammenhangs zusammengesetz-
ter Vors Cilungen wird durch
psych. Mechanismus in Erinne-
rung reproduziert; § 171 Durch
Hinweis auf die Ae. der Ent-
stehungs- und Begründungs-
weise d sparater Inhalte wird
ihre Un vergleich bar keit nicht
widerlegt.
aesthetisch, §7 ae. Phantasie
in der Sprache; § 133 ae. An-
schauungsweise; § 137 Wider-
streit in der ae. Würdigung
der Erscheinungen: Typus und
Ideal; § 147 ae. Abneigung ge-
gen die bloß erkläiende Theorie;
Forderung der Aesthetik, daß
die Untersätze unserer Welt-
betrachtung keine bloß hypothe-
tische Form der Möglichkeit,
sondern assertorisch jeden ein-
getretenen Fall in der Gesanlt-
reihe des Wirklichen auf ze gen;
§ 178 Moral und Aesthetik;
§ 272 bloß aesthetischer Grund,
daß die Einfachheit der innere
Charakter der Wahrheit sei;
§ 279 Personificationen von ab-
strakten Eigenschaften ae. un-
befriedigend; § 364 ae. Evidenz
der ursprünglichsten Wahr-
heiten.
affirmativ, § 40 a. Urtheils-
qualität.
39*
612
Sachregister.
Akt, S. CXIII psychologischer
Akt.
Algorithmus, S. 260 Forderung
eines allgemeinen math. Alg.
Allgemeine, § 12 Verallgemeine-
rung des sinnlich empfundenen
Inhalts in der Sprache; § 13
Diese Verallg. ist jedoch keine
Verfälschung, soudern denkt
auf eine tatsächliche Einrich-
tung der Welt des Vorstell-
baren hin: erstes Allgemei-
nes; §§ 14, 19 Das erste A.
ist kein Erzeugnis des Denkens,
sondern Ausdruck einer inneren
Erfahrung; es wird: § 15 nicht
empfunden im Sinne einer an-
schaulichen Vorstellung, s. auch
§173; §23f. Das zweite All-
gemeine: Der Begriff; §24
Die Allgemeinen Merkmale sind
immer als erste Allgemeinheiten
die Bausteine des Begriffs; §26 f.
Allgemeinbild u. Begriff (ebenso
§254); §30 Höhere Allgemein-
heiten; § 31 als Bedinsungscom-
plexe; § 30 Möglichkeit der Ver-
anschaulichung des A.; §39
Allg. Urtheilsquantität; § 66
Möglichkeit der Bildung von
Allgemeinbegriffen nicht denk-
nothwendig, sondern tatsächlich
gegeben; §67 Das Besondere u.
das A.; § 122 Unterschied von
Allgemeinbegriffen (als durch-
dringenden Bildungsgesetzen für
das Einzelne) und bloßen All-
gemeinheiten, welche sonst ün-
. ähnliches unter eine Minderheit
gleicher Bestandtheile unter-
ordnen: § 131 Gefüge des all-
gemeinen Gattungsbegriffes, als
Mehrheit von Beziehungspunk-
ten, an deren jedem je eine
Gruppe einfacher Merkmale ver-
einigt ist; § 140 Reizung der
AUgemeinbegriffe zur Erzeugung
der Arten; § 173 Fühlbarkeit
eines (ersten) Allgemeinen; § 190
Unterschied des Allgemeinen (als
Bildungsgesetz) vom Ganzen (als
der Summe aller möglichen Bei-
spiele); §251 a. Sätze aus Wahr-
nehmungen; § 339 Das A.
schwebt auch im Denken immer
nur als eine angestrebte, nie voll-
zogene Vorstellung über den an-
schaulichen Bildern seiner Ein-
zelbeispiele; §341 f. Hyposta-
sierung des Allgemeinen.
ambitos, § 25.
Analogie, § 103f. Schluß durch
A.; § 111 Analogieen der Er-
fahrung; § 116 Zusammenge-
hörigkeit aller einander be-
stimmender Merkmale eines
Begriffs als Grundgedanke der
A.; § 167 Analogieen bei descrip-
tiven Definitionen; § 214 A.
als erfinderische Gedanken be-
wegung; §216f. Schlüsse nach
strenger A. als mathematische
Verfahrungs weise; §217 Diese
Analogieen führen auf Propor-
tionen zurück, beruhen auf
Subsumption und dienen nur
dazu, das richtige Ergebnis zu
errathen, nicht zu beweisen;
§ 255f. unvollständige A.; §274
A. in Naturwissenschaft.
analytisch, §56 Rechtfertigung
des a. Urtheils vor dem Identi-
tätsgesetz; § 99 Wenn der Ober-
satz eines Schlüsse sein a. Urtheil
ist, so ist die log. Leistung des
Schlusses unmöglich; §§ 297 f.,
361 f.
anders sein, § 192f.
angeborene Wahrheiten, § 192;
§ 303 a. denknoth wendige Ideen-
fülle bei Descartes (s. auch
S. XCIX); § 355 f. a. Erkennt-
nisse; § 357 Apriorität der all-
gemeinen Grundgesetze im Sinne
des Angeborenseins ist Frage
der Metaphysik; § 358 a. Er-
kenntnisse als Besitz des Geistes
gibt es nicht.
Sachregister.
613
Anschauung, §20Synthesis der
A. durch räumh'che u. zeitliche
Ordnung ist gegeben im Mecha-
nismus der inneren Zustände
ohne Denken; §24 unmittelbare
A. des ersten Allgemeinen; § 133
unsere Anschauungsweise ist
nicht geometrisch, sondern ästhe-
tisuh; § 158 A. u. Geometrie;
§ 172 Raum als ursprüngliche
A.; §§353f., 357 f., reine A.
An sich, §192 A. s. sein; §303
Die Annahme eines „An sich" als
Vorurtheil des Skeptizismus.
Anwendung, Ausführung,
§ 102 f. reine Bedeutung einer
logischen Form darf nicht mit
Schwierigkeit wirksamer An-
wendung verwechselt werden,
die Schwierigkeit der Ausfüh-
rung ändert die allgemeine log.
Gültigkeit nicht; § 222 Ausfuhr-
barkeit einer log. Vorschrift
als Aufgabe der Angewandten
Logik.
apagogisch, §§204, 234.
apodiktisch, §41 f.; §43 Die
gewöhnliche a. Modalität be-
hauptet nur die Nothwendig-
keit, ohne ihre formalen Be-
dingungen anzugeben; geschieht
dies, so ergeben sich 3 Formen
apodiktischer Modalität: gene-
relle, hypothetische und dis-
junktive.
A posteriori, § 56.
Apprehension, §20 Synthesis
> der Apprehension durch Ein-
heit der Seele und Mechanismus
der Erinnerung.
Apriori, §§ 56, 252, 322 ff,
Apriorismus; § 326 f. Die ein-
fachen sinnlichen Empfindungen
als apriorische Möglichkeit des
Empfindens, ausgedehnte Aprio-
rität; § 329 Allgemeinheit und
Noth wendigkeit als Eigenschaf-
ten apriorischer Erkenntnis ;
§ 346 ff. Die apriorischen Wahr-
heiten; § 353 reine oder aprio-
rische Anschauung der Zahl-
größen; § 357 Apriorität im
Sinne des Angeborenseins ist
metaphysische Frage.
Arithmetik, §58 arithmetische
Sätze sind nicht synthetisch;
§ 172 Raum als ursprüngliche,
aus arithmetischen Beziehungen
nicht ableitbare Anschauung;
§ 186 arithmetische Mystik; § 187
Antike A. S. 262 Logik bedarf
nicht arithmetischer Hilfsmittel;
§ 353 arithmetische Sätze sind
inhaltlich identisch und formal
synthetisch; Wahrh- it arithme-
tischer Gedankenverknüpfung
ist nicht allein durch das nackte
logische Prinzip, sondern auch
durch Anschauung der Größe
verbürgt.
Art, §§25, 29f. A. und Gattung;
§ 131 Veränderungen des Wertes
der Merkmale und ihrer Be-
ziehungen lassen aus dem Gat-
tungsbegriff die A. entspringen.
Die logisch vollkommenste A.
ist die, für welche die Summe
der Abstände vor dem nächst-
verwandten Gattungsbegriffen
ein Größtes wird (s.§133); §132
Die Arten einer Gattung können
durch Größenänderungen sich
allmählich dem Bildungsgesetz
einer andern Gattung so nähern,
daß es Grenzglieder geben kann;
§ 133 Typische A. als logisch
vollendete ist die, deren Einzel-
merkmale die höchsten Werte
haben; § 134 bestimmender
Grund für Bildung der Arten
liegt nicht im Gattungstypus,
sondern in den Übergangsbe-
ziehungen der Gattungen unter-
einander; § 135 Höhe der Arten;
§ 142 Die allgemeinen Gesetze
des Zusammenhangs der Merk-
male bestimmen die Bildung
der Arten; §§ 144. 149 f.
6U
Sachregister.
Artikel, §§ 3, 19 Logischer Sinn
des bestimmten A.
assertorisch, ii§41f., 44f., 49,
68, 147 assertorische Modalität.
Assoziation, §52 Verknüpfung
yon Subjekt und Prädikat im
kategorischen Urteil ist keine
bloße A.
Atom, §277 A. als Tatsache.
Aufmerksamkeit, §§ 22. 254
A. wird durch Gesetze unseres
Yorstellungsverlaufs ohne log.
Zutun gelenkt: unwillkürl. A,;
I 121 vergleichende und aus-
wählende A.; § 131 logische A.;
§ 157 nachdenkende A. bei ab-
sichtlicher Abstraktion.
Aussage, § 52 Urteil als A.
Axiome, § 200 unbeweisbare A.
B.
Bedeutung, §263 Sinn und Be-
deutung; §3341 reale u. formale
B. d. Logischen.
Begriff, §8 Lehre vom B. geht
der Lehre vom Urteil voraus
(s. a. § 139.); §§ 20 ff., 120f.
Bildung des Begriffs; § 21 voll-
kommene u. unvollkommene Be-
griffe; § 25 Definition des Be-
griffs; §25 Reciprocitätsgesetz
(widerlegt in § 31); §26 singulare
Begriffe; § 27 Unterschied des
metafihysischen xmd logischen
Begriffs; § 28 Symbol für den
ßau des Begriffs ist die math.
j Funktion (ebenso § HO f.); § 33
Stammbegriffe als Bedeutungen
der Redeteile (s. a. § 158);
§ 52 Ewige Allgemeinbegriffe
Piatos; §§ 103f., 110 Inhalt
des Begriffs; §110 Umgestaltung
der Begriffe; §§ 117 f., § 129
konstitutiver oder gesetzgeben-
der B.; § 122 Der psychische
Mechanismus begünstigt die
Bildung wirklich gesetzgebender
Begriffe; § 124 Klassifikation
der Begriffe; § 131 Bildung der
Arten aus dem Allgemein begriffe;
§ 139 B. setzt Verhältnisse seiner
Merkmale voraus, deren Sinn
erst im Urteil klar wird; § 139
Der B. hängt in der Bildung
seiner Arten nicht nur von sich
selbst, sondern auch von einer
andern, dieVerwirkliohung seiner
Absicht möglich machenden
Macht (auch § 143); § 141 reine
Begriffe, Emanation der Welt
aus einem Urbegriffe; § 157 Be-
griffe als Aufgab; n; § 158 Die
einfachsten Begriffe nur durch
abstrahierende Aufzeiguns: an
Beispielen, nicht durch oonstru-
ierende Zusammensetzung find-
bar; § 168 Vorstell uns? und B.,
sokratische Begriffsklärung;
§ 169 ff. Begrenz, der Begriffe;
§171 Begriffe alsBilduno:sregeln;
§ 179 entgegengesetzte Begriffe;
§ 181 f. Zwischenbegriffe; § 183
Transformation der Begriffe;
§ 184 ff. Bezeichnung der Begriffe;
§ 195 dialektische Selbstauf«
hebung der Begriffe; § 196 B.
und Zahl; § 202 Reclitfertigung
der Begriffe; §233 Mängel der all-
gemeinen Begriffsbildung; § 254
Allgemeinbegriff und Allgemein-
bild.
Bejahung, §168; S. 262; §316.
Beobachtung, § 253 gereinigte
B. §§253 ff., 264, 288.
Beschaffenheit, §33.
Beschreibung, § 159 B. u. De-
finition; § 167 Methodisch ge-
regelte B. als descriptive De-
finition.
Bestehen, §§ 19, 167. 240, 316,
B. ist ein metaphysischer Be-
griff.
Bestimmung. § 134 BegriffdetB.
Bestimmtheit, s. Gewißheit.
Bewegung, mechanisch: §§28,
73, 220 ff., 247, 249 (Zeno). 273.
360f.; logisch: §§ 336, 339 Denk-
Sachregister.
615
b«wegungen; §334 Denken als
Bewegung der Seele ; metaphy-
sisch: §§ 149, 321 {vXr}): § 313
Beständige Bewegung als Mög-
lichkeit sbedingung alles natür-
lichen Seins.
Beweis. § 199ff.; § 202 Recht-
fertiarung der Begriffe muß dem
Beweise vorangehen ; §§204—213
Formen der Beweise; §§ 214,
215 Schlüsse nach Analogie sind
keine Beweise; §§ 216, 217
Schlüsse nach strenger Analogie
in der Mathematik sind auch
keine eigentlichen Beweise;
§218 ff. Beweisführung und Er-
findung; § 234 Nebenbeweise;
§2401. Beweisfehler.
Bewußtsein, §§ 13, 257. 327
logisches B.; §§ I, III, 20, 158,
323 B. im bloß psychol. Sinne.
Beziehung, §§24, 35 ff., 56, 158,
167, 338 f.
Bild, § 22 zusammengesetztes
Bild; §23 allgemeines B.; §§ 254
140 Gattungsbilder.
Bitte, § 44.
C.
Calcül, log. §196f., S. 260f.
Causalgesetz, §248 obj.: Gel-
tung des Causalgesetzes.
Causalzusamraenhang, §213f.
Charakteristik, § 196 allg. Ch.
der Begriffe.
Chemie, §§117, 172, 197.
Cirkel, §§24, 98, 158, 163, 228,
241, 286, 306, 322, 332, S. CXI.
Classifikation, §§119, 124ff.;
§ 125 künstliche oder combina-
toriFche C; §§ 257, 129 C. als
logisches Ideal; § 131 Verschie-
denartigkeit der Beispiele einer
Idee als treibenden Nebenge-
danken einer natürlichen C;
§134 f. Aufgaben natürlichere.;
§ 136f. Unterschied d. natürl.
u. künstl. C; § 142 entwickelnde
C, Originalität der Merkmale
als Hindernis der C. ; § 145 f.
C. und erklärende Theorie.
collectiver Beweis §209.
Combination von Merkmalen,
§ 103 u. a.
Con junktionen, § 7 log. Sinn
d. C.
con8titutiverBegriff(s. Begriff),
§ 129 Schluß aus constitutiven
Gleichungen.
Construktion. § 156 C. als
Mittel, die Werte eindeutig zu
machen; § 139 C. nur in Math,
genau anwendbar, für andere
Gegenstände wird C. zu Be-
schreibung abgeschwächt; § 202
C.als Rechtfertigung der Begriffe.
conträr, §§71, 78.
contradictorisch, §§71, 72 c.
sind nie Begriffe, nur Urteile;
§§ 77, 200 Undenkbarkeit des
contradictorischen Gegenteils als
Probe auf wahrhafte Evidenz.
Contraposition, §§82, 163.
Coordination, §§25, 27, 131
Merkmale sind nicht coordiniert,
sondern determinieren sich ge-
genseitig.
Copula, §§ 35ff., § 48, § 60ff.
logischer Sinn der Copula; § 345
wirklicher Sachverhalt, der der
logischen C. entspricht.
oopulativ, §§69, 95.
Cyclus, § 191 Entwickelung der
Welt in dialektischen Cyclen;
§ 192 triadischer C. des Absoluten.
Dasein, §3 D. ist kein logischer
Begriff.
Deduktion, § 204 deduktive
Beweisform.
Definition, §§119, 154ff., 160
D. von Begriffen als Vereinigung
von Construktion und Beschrei-
bung; § 160 Wert der D.; § 161
Formen derD.; §162 Nominal-
616
Sachregister.
und Realdefinition (§202); § 163
Definitionsfehler; § 104 f. For-
derung der Eleganz und Kürze
bei Definitionen; § 166 D. adjek-
tivischer und verbaler Inhalte;
§ 167 descriptive und genetivi-
sche D.; § 168 Verwandlung von
iflaren Vorstellungen in deutliche
d. h. von bloßen Vorstellungen
in Begriffe als eigentliche Aufg.
der D.; § 176 D. durch Angabe
der Ursache {Tonempfindungen)
und durch beobachtbare andere
Erfolge der unbekannten Ur-
sache (Wärmeempfindungen).
descriptiv, § 167 d. Definition.
Denken (Aufgabe des Denkens,
das Zusammensein in Zusammen-
gehören zu verwandeln siehe
„Zusammengehörig"); §§III,IV,
19, 52, 334 D. als rückwirkende
Tätigkeit; §§ VI, VII, 19 D. als
Rechtfertigung der Vorstellungs-
verbindungen durch beziehende
Rechtsgründe und Nebenge-
danken; § VII verkürztes D.;
§§ VIII, IX, 334 ff. reale und
formale Geltung des Denkens;
§§ Iff., 4, 19 f. erste Leistung
des Denkens; §§ 6. 129 D. und
Sprache (s. auch Sprache);
§§ 9, 19 Unterschied der ersten
und zweiten Denkhandlung be-
züglich ihrer Abhängigkeit von
der Natur des Inhalts; §§ 19,
62, 200, 241, 329 Denknotwen-
digkeit; §§ 13, 27, 30, 40, 101,
104, 108, S. 268, S. 269 natür-
liches D.; S. 57, §§ 50, 56, 59 f.,
69, S. 108, §§ 102, 104, 105f.,
113, 116, 139, S. 186 f.: Der
Mangel einer Denkhandlung als
weitertreibendes Prinzip einer
höheren Denkhandlung; § 36
Urteil als Denkhandlung; § 54
Identitatsgesetz als erstes Denk-
geaetz; §58 D. stellt den gleichen
Inhalt unter verschiedenen For-
men vor;§62ff.zweitesDenkgesetz
ist das Gesetz vom zureichenden
Grunde. Das erste Denkgesetz
hat notwendige, das zweite
Denkgesetz tatsächlicheGeltung;
§ 65 Welt des Denkbaren als
innere Erfahrung fügt sich dem
zweiten Denkgesetz; § 71 drittes
Denkgesetg: disjunktives Denk-
gesetz; § 97 ff. Schluß als Form
der Denkhandlung; § 102 Unter-
schied des inneren Zusammen-
hangs des Denkinhaltes (logisch)
von der Gedankenarbeit (psy-
chologisch); § 104 Denkinhalt
und Denkform (S. C bei Kant);
§§ 121 f., § 140 Wahrnehmung
und D.; § 131 lebendiges D.;
§ 149 höchste Denkform; § 151
Denkformen als Ideale; § 176
D. bedarf eines willkürlichen
Ausgangspunktes für die imma-
nente Ordnung der Sachen;
§ 200 Unterschied von undenk-
bar und absurd; § 255 reines D. ;
§§ 106, 255 wirkliches D.; §305
Inhalt der Wahrheit durch
Selbstbesinnung des Denkens;
§§ 334, 336 discursives D.; § 336
Denkbewegung; § 342 f. subjek-
tive Denkbewegungen selbst
haben keine reale Bedeutung,
aber ihr Ergebnis kann sachlich
sein; § 345 Scheidung von log.
Denkhaltung (subj.) von dem
Gedanken (obj.). Denkinhalte
haben sachliche Bedeutung;
S. XCV Geistiges Leben ist mehr
als Denken.
Determination, §§ 28, 103,
109, 116, 126, 139, 142, S. 257 f.
gegenseitige D. der Merkmale.
dialektische Methode, §§ 150,
191 ff.— 196, 321, 333, 365.
Diaphora, §32.
Differentiae specificae, § 32.
Differential, § 228f. Massen-
differentiai; § 263 Differential-
quotient in math. Ausdrücken
natürlicher Wirkimgsfofmen.
Sachregister.
617
Dilemmen, § 95 Schlüsse mit
disjunktiven Obersätzen; §250f.
D. als Gedankenverknüpfungen
aus denen entgegengesetzte
Folgen gleich notwendig und
gleich unmöglich fließen.
Dingbegriff, metaphysischer,
§§ 5, 521, 61, 115, 188, 195,
260, 310 (das relationslose Ding
an sich ist unsagbar), 316; §311
AUes Erkennen kann Dinge nur
vorstellen, nicht sein; § 312
Erscheinung und Wesen der
D.; § 314 Ideen als Präd. der
Dinge.
Discursives Denken, §§150, 334.
disjunktiv, §§ 38, 42f., 69fif.
disj. Urteil; § 71 Disj. Denk-
gesetz; § 97 log. Wahrheit des
disj. Urteils; § 244 Dem doktri-
nären Idealismus tut Beachtung
des disj. Denkgesetzes not; § 248
unvollständige Disjunktion.
disparate Merkmale, §§ 73, 108,
115; §§171, 218Disparatheitder
sinnlichen Empfindungen.
Dreieck, das allgemeine, § 257.
Dritten, Satz vom ausgeschlos-
senen (s. Principien excl. latii).
Eidos, §§ 30, 317.
Eigenname, §§ 26, 87.
Eigenschaft, §§ 5, 52, 53, 166,
345 E. als metaphysischer Begriff.
Eindruck, §§ 1, 13, 133, 254
(Wahrnehmung u. E.), 267.
Einfachheit, § 272.
eingeboren, § 324 e. Ideen.
Einheit, log. E. §§ 10, 21, 101,
148, S. 262, § 314; math. E.
§§ 113, 174, S. 259, S. 262,
§§ 233, 263; metaphys. E. §§ 150,
191 f., 201, S. XCV; psycholog.
E. §§ 20, 173, 327; §§ 158, 201
Vieldeutigkeit des Wortes E.
Elimination, S. 263f., §§ 260,
293.
Emanation des Weltinhalts aus
einem höchsten Begrifife §§ 139,
141.
Empfinden, § 2 Entstehung der
E. E. und Empfindbares; § 11
unmittelbare Empfindung; § 15
Das erste Allgemeine kann nicht
empfunden werden, empfunden
wird immer nur eine bestimmte
Einzelschattierung; § 16 Größen-
bestimmung erlebt empfunden;
§ 24 unmittelbar empfundenes
Gremeinsames; § 171 Begrenzung
der einfachen Inhalte sinnlicher
Empfindung; § 173 Empfundener
Inhalt und Empfindungsakt;
§ 315 E. hören nicht auf, wirk-
lich zu sein, wenn man äußere,
ihnen unähnliche Entstehungs-
ursachen für sie entdeckt; § 326
Einfache innerliche Empfindun-
gen und die a priori uns mög-
lichen Eigentümlichkeiten des
Empfindens.
Empirie, Empirismus, §§ 65,
322 flf., 328, 346f., S. GVL
Endlich, § 195.
Entstehung, Entwickelung, § 18
psychologische E. des Denkens,
ebenso §§47, 50, 130; §§ 141,
149 f. Entwickelung der Welt
(metaphysisch), ebenso § 191;
§ 167 genetische Definition unter-
sucht E. der Vorstellungen;
§ 183 Darwins Entwickelungs-
lehre; § 191 ff. Schematische
Entwickelung des Weltinhalts;
S. 262 Entwickelung bei Boole;
§ 333 die logischen Rückwir-
kungen sind nach ihrer psycho-
logischen E. als psychische Vor-
gänge noch völlig unbegreiflich.
Erfahrung, §§ 14, 16, 19, 43.
47, 56, 65, 100, 101, 103, 113,
126, 145, 162, 174, 193, 262,
253, 256, 326, 328 f., 330, 331,
349 f.
Erfindung, Entdeckung,
§§64, 199, 209, 218.
«id
Sachregister.
Erfüllung, § 192 Für sich sein
als E. der Möglichkeit durch
das Werden (s. a. § 138).
Erkenntnis, § XIII; §20 Syn-
thasi.s der E.; §§2I, 43 Formen
nothwendiger E. ; § 65 Erweite-
rung der E.; §§ 102, 103; §112
Mangel der E.; § 115 Propor-
tion als Grenze der E.; § 126
Fortschritt der sachl. E.; § 145
erfahrungsmäßige E.; §146 mo-
derne Erkenntniskunst; §§ 151,
206, 363 Ziel der E.; §§ 241,
252, 267, 297, 314, 322 ff. Ur-
Sprung der E. ; § 303 Bedeutung
der sittlichen Wahrheit für die
E.; §306, 303 Inhalt der E.;
§325 ff. apriorische und aposte-
riorische Elemente der E. ; § 329
Nicht alle allgemeine E. kann
durch Erfahrung gewonnen wer-
den; §§ 314, 355 f. unmittelbare
E.; XCIXPrincip der E.; CHI,
CIX, Kritik der E.; CXVI
Methode der E.
Erkenntnistheorie, § 138 E.
u. Logik; §§309 f., 322 E. u.
Metaphysik; §CIX E. u. Psycho-
logie.
erklären, §§206, 247.
errathen, §§217, 260, 269, 273.
Ethik, §244.
Etwas, §33 das E. als Stamm-
begriff; §59.
Etymologie, §§ 183, 196.
Evidenz, s. Gewißheit.
Existentialsatz, §49.
Experiment: keine neue Me-
thode, sondern nur Vorberei-
tungsmittel zur Beobachtung
§260 ff.
F.
fallacia, §242ff.
Farbe, §28 F. als erstes Allge-
meines; §§ 14, 15 F. als logische
Aufgaben; §§24, 173.
Fiktion, §273.
Folgerungen, unmittelbare
S. 101 ff.
formal (s. Geltung, real), §§ 193,
334 ff., 345.
Formung, §§ Iff., 19,
Fragesatz, §§40, 44 F. als Aus-
druck des bloßen, von Bejahung
und Verneinung freien Inhalts.
Für sich, § 192.
Funktion, §§ 28, 110 math. F.
als Symbol für den logischen Be-
griff; § 188 Jede Zahl ist eine
F. der anderen Zahlen; §§ 197.
238 math. F.; S. 262f. logische
Entwicklung der math. F.
G.
Ganzheit, §§21, 27 G. als un-
bestimmter Nebengedanke bei
werdenden Begriffen.
Geschehen, §§5, 94, 316 G. als
metaphysischer Begriff; § 135
die natürliche Classification er-
streckt sich auch auf das G.;
§ 268 projiziertes scheinbares G.
ist ebenso gesetzmäßig als das
projizierende wirkliche.
Gattungsbegriff, §§25, 29f.,
30 (G. ist nicht anschaulich);
§§33, 49, 68, 80ff., 100, 106,
131 f., 134 (Gattungstypus);
§§ 135, 140.
Gedanke, §§ 1, 102 innere Glie-
derung des Denkinhalts und
der Gedankenarbeit; §§ 129,
130, 345 f.
gegeben, § 306 Vorstellungen als
unmittelbar gegeben.
Gegenstand, §§ XIII, 20f., 27,
61, 118, 129, 148, 301, 309,
Gegensatz von Vorstellung und
G. ist metaphysisch.
Gefühl, §§111, 128, 155, 161, 285.
Gelehrsamkeit, § 163 Vorzug
der G.
Geltung, §§43, 65, 99, 123, 148,
300, 316 Begriff des Gelten«
leugnet die Wirklichkeit des
Sachregister.
619
Seins und behauptet die Unab-
hängigkeit von unserem Den-
ken; § 64.
Gemeinsames, §§ 12f., 16, 22,
24, 121.
Gemeinte, das §§ 36, 42, 54,
57, 63, 85, 105, 152, 159, 168,
. 175, 180, 192; S. 265, §266, 316f.,
336, 338, 345.
generelles Urtheil, §§431, 68flf.,
102.
genetisch, § 167 genetische De-
finition ; § 322 genetische Be-
trachtungsweise zur Prüfung
der Wahrhei en unserer Er-
kenntnis ist nur in speziellen
Fällen, nicht aber bei Prüfung
unserer Erkenntnis im Ganzen
möglich.
Genes, §30.
genus proximum, § 160.
Geometrie, §§14, 20, 117, 118,
158, 162, 179, 202, 206, 297, 354.
Gesammtwille, § 289f.
Geschichte, §§ 141, 278, 284.
Geschmack, § 128, 173.
Geschwindigkeit, §249.
Gesetz, §1 G. unseres Seelen-
lebens; § 19 G. des Denkens;
§ 22 G. unseres Vorstellungs-
verlaufs.; §§54.ff., 62 ff., 71 ff.
Denkgesetze; § 112 G. der Ge-
sellschaft; § 115 G. gibt Zu-
sammenhang der Dinge, ohne
sie in einem dritten zu ver-
schmelzen; §§117f., 121ff., 129,
134, 142, 238 Begriff als Bil-
dungsgesetz; § 148 Geltung der
Gesetze; § 152 Gesetzliche Zu-
sammenhänge der Außenwelt
gründen sich auf gesetzliche
Beziehungen der Vorstellungen;
§ 176 sachliche Gesetzlichkeit;
§ 190 Natur des Gesetzes;
§ 264 ff. Auffindung von Ge-
setzen; § 265 Der Name G. hat
verschiedene Bedeutung aber
denselbenSinn; §266 Unterschied
von G. und Regel; §269 Auf-
findung eines allgemeinen Ge-
setzes ist eine Leistung der
errathenden Einbildungskraft;
§270 partielle Gesetze; §283
wahrscheinliche Richtigkeit spe-
zieller und Wahrheit allgemeiner
G.; §§ 287, 305 Wahrheit als
G. unserer Erkenntnisfähigkeit.
Gewißheit, Klarheit, Evidenz,
§§65, 100, 138, 191, 193, 200,
242, 252, 278, 299 f., 306, 323 f.,
329 f. Evidenz und Denknoth-
wendigkeit; § 364 logische und
ästhetische Evidenz; S. XCIII
intuitive Evidenz; XCVIIL
Gewöhnung, §263, 3—4 G. als
log. Begriff.
Gleichheit, S. 261 Unpassender
Gebrauch des Gleichheitszei-
chens. §267.
Gleichnis, §167 G. bei descrip-
tiven Definitionen.
Gleichung, s. constitutiv.
Gott, §201 Einheit von G. und
Welt; § 348 ontologisoher Gottes-
beweis.
Gravitation, §§ 115, 266.
Größe, Größenbestimmung, Grö-
ßenvorstellung, §§16, 17, 18,
19, 24, 66,112, 131,209,2630.,
363 (Natur der Größe).
Grund: logischer G., §§21, 22,
26; §62 Gesetz von zureichendem
Grunde; §§65, 94, 103, 123,
130, 258, 259; § 147 Das Seiende
als Gegenstand des Denkens
ist G. des allgemeinen Gesetzes;
§ 242 Erkenntnisgrund und
Realgrund.
Gut, §178 Gut imd böse.
H.
handgerecht, § 157 handge-
rechte Ordnung der Inhalte ge-
nügt für praktische Absichten;
Harmonie des Kosmos § 186.
Hoffnung, § 262, 6 mathema-
tische H. ; § 282,7 moralische H.
620
Sachregister.
Homogeneität , § 247 math.
Princip der H.
ÖQiofiog, § 161.
Utj, § 321.
Hypostase, §§ 318, 341.
Hypothese, §§ 38, 42f., 60ff.,
93, das hypothetische Urtheil;
§§ 202, 207 naturwissenschaft-
liehe H.; § 250 Mißbrauch hypo-
tetischer Gedankenverknüpfung
in Dilemmen ; § 258 hyp. Ur-
theil als Form der fortschreiten-
den Induktion ; § 265 Gesetz
als allgemeines hyp. Urtheil ;
§ 273 H., Postulate und
Fiktionen.; § 274 ff. Bildung,
Umgrenzung u. Einfachheit der
H. ; § 277 Möglichkeit der H.;
§ 359 hyp. Gültigkeit der
apriori^'chen Wissenschaften.
Hysteron proteron, § 241.
Ichvorstellung, § 323.
Ideal, Idealismus, §§ 102, 103,
129, 135, 137 (Ideal und Typus),
§ 138, 151, Denkformen als
Ideale. S. 186 idealistische
Philosophie; § 112 Mathematik
als I. d. logischen Bestrebung;
§ 194 I. d. Kechts; § 243 Feh-
ler des doctrinären Idealismus ;
§ 304 f. Ideali -mus u. Realismus;
§ CVIIIf. Idealismus und Em-
pirismus,
Idee: Ideenwelt; §§34, 313ff.,
31 7 f., 346 Begriff als logische
L; §§ 129, 131, 314 f. I. als
höchste Denkform : § 149f. Em-
heit der L: §§ 150, 318. § 324 f.
Apriorität und Wahrheit von
Ideen, angeborene I.
Identität: §§ 51, 54f., 102,252,
283.
I d i o n , § 32 1. als unterscheidendes,
aber nicht wesensbestimmendes
Merkmal.
Imaginär, § 256 das math. I.
Immanenz, § 151.
Impersonales Urtheil, § 47f.
Individuelles, § 25 f. i. Begriffe;
§ 87 Mittelbegriff in indiv. Be-
deutung.
Induktion, § 258 I. macht den
Bedingungszusammenhang des
Wahrnehmungsinhaltes; §§101f.
204 i. Beweisform; § 209 voll-
ständige I. ; § 256 unvollstän-
dige I. ; § 257 f. Analogie u. I.
Infinitesimalrechnung,
§ 238 f.
Inhalt s. Begriff, Denken.
Inhärenz, § 53 I. als bisher nur
metaphysisch gerechtfertigter
Begriff.
Intellektualismus, Kritik des
I. S. C, CV.
Intensität, §§ 131, 174, 180.
Intention, § 266.
Interjektion, §§ 2, 4, 7.
Interpolation, § 269f.
intuitiv, S. XCIII.
irrationale, Gewohnheit des
Benehmens, § 279.
Irrthum, §§ 180, 200.
Jurisprudenz, §§ 162, 161.
K.
kategorisches Urtheil, §§ 38,
42, 47, 50, 53 k. U. behauptet
nicht eine metaphysische Re-
lation (v. Ding und Eigenschaft)
sondern nur die logische Be-
zieliung (Subjekt und Prädikat)
§§ 54, 67, 60 f.; 139 k. U. ent-
spricht der logischen Classifi-
cation ; § 143 kategorische Ent-
wickelung der Begriffe durch
Emanation ; § 268 die fortschrei-
tende Induktion strebt nicht
mehr zur Erlangung kategori-
scher, sondern nur hypothe-
tischer Urtheile.
Sachregister.
621
Kennzeichen, §§ 32, 79, 161
Definition durch K. ; § 176
Fehlen von K. bei stetig wach-
senden Größen; § 200 Evidenz
als K. der Axiome ; § 205 K.
und Grund; §255.
Klarheit, s. Gewißheit.
Klasse, S. 260f.
Körper, § 220ff. völlige Freiheit
und absolute Festigkeit des K.
Kosmos, § 186.
Kraft, mechanische K. ; §§ 220ff.,
231, 130 tätige, lebendige K.
als Nebenvorstellung der lo-
gischen Idee.
Krankheit, Definition der K.
§§ 166, 182.
Kreis, § 164 Definition des K.
Kritik des Erkenntnisvermögens
setzt eine andere Quelle der
Wahrheit voraus, § 305.
Leben, § 150 lebendige Ent-
wickelung der Welt ; § 243 par-
ticulare Lebensauffassung.
Lex lata und lex ferenda bei
Definitionen § 161.
Libertinismus, § 170 L, über-
sieht und verwischt Grenzen und
Werthunt erschiede der Begriffe.
Linie, gerade L. bei Kant § 58.
limitatives Urtheil hat keine
logische Berechtigung §§ 40, 72.
logarithmische Ausdrücke er-
halten wir bei Berechnung von
Wirkungen, die durch ihre
eigenen Erfolge sich Hinder-
niese ihrer Wiederholung, pro-
portional jenen Erfolgen ,
schaffen, § 263, 3.
Logik, §§ 36 47, 50, 52, 123, S.
186 L. und Psychologie; §§ 5,
27, 53, 62, 152, 195 L. und Me-
taphysik; §§ 6, 105 L. und
Sprache; §§ 18, 152, S. 260 ff.
L. u. Mathematik (s. Math.);
§§ XI, Iff. reine L. ; §§ XU,
152 ff., 222, 255 angewandte L.;
§§8, 94, 151, S.477 reine und an-
gewandte L; §§ 19, 22f. 67, 89,
107 Fehler der alten L. ; § 134
Mangel der L. ; § 152 Juri-
sprudenz u. L. ; §§10 19 L.
als Wissenschaft vom Selbst-
verständlichen (s. a daslbst);
§ 251 induktive und deduktive
L. ; § 36 L. wendet sit h vom
Ausgedrückten zum Gemeinten.
Lüge, § 244.
M.
Masse, §§ 228ff., 230f.
Materie, § 274.
Mathematik, §§ 18, 112 M, u.
Logik, (s. Logik) §§ Ulf., 206
Subsumption in der M. §§ 117f.,
119, 133, 152 Gegenstände und
Methode der M. ; §§ 159, 185,
187, 197 Zeichensprache der
M. S. 257. S. 2(0 Forderung
eines allgemeinen matliemati-
schen Algorithmus . § 2iOSch uß
von n auf n -|- 1 ; § 216 Sc'ilüsse
nach strenger Analogie in M. ;
§ 236 Schwierigkeiten der in-
veisen Operationen in der reinen
M. ; §238f. mathematische Funk-
tion ; § 281 ff. ni athematische
Wahrscheinlichkeit; § 282, 6
mathematische Hoffnung ; § 359
M. hat als apriorische W is en-
schaft nur hypothetische Gül-
tigkeit; § 331 M. und Er-
fahrung; S. CXIIIf. M. be-
kümmert sich nicht um die
psychologische Entstehung
ihrer Postulate.
Maxime, § 244 Lüge als allge-
meine M. höbe die Erfüllbar-
keit aller Zwecke auf; §2.0f.
natürliche M. der Beurteilung;
§2ö5.
Mechanik, §§64, 220ff., 359ff.
mechanisch, § 145 logische Ge-
sinnung der mechanischenNatur-
wissenschaften.
622
Sachregister.
Mechanismus, § 17 M. der in-
neren Zustände; § 20 M. der
Erinnerung; § 121 psychischer
M. empfiehlt ähnliche Merkmal-
gruppin der Aufmerksamkeit;
§ 145 flf. erklärende Theorie als M.
Merkmal, .§§4, 21, 23, 35 All-
gemeinmerkmal und Sonder-
me.kmal; §24 Merkmale kön-
nen aufgefaßt werden 1. als
ruhende Eigenschaften (Farbe,
Glanz) und 2. als adjektivische
Bezeichnungen von Verhaltungs-
we.sen: Beziehungen; § 26 Merk-
male werden wahrgenommen;
§28 Merkmale eines Begriffs sind
nicht gleichwerthig einander
coo. diniert (§25), sondern deter-
mioieren sich gegen-eitig (s. a.
§§ 103, 143 u. a.); § 32 Idion
oder Kennzeichen ist ein unter-
scheidendes aber nicht wesens-
bestimmendes M., 8. a. § 161;
§32 M. a s yymbekos bezeichnet
einen Zustand; § 33 M. des
Denkbaren umfaßt alles auf ein-
mal; § 35 ungleichartige Merk-
male im Begriff verknüpft;
§69f. Urlheile -ind kein bloßes
Aggregat von Merkmalen, son-
dern d ese gehören zusammen
zu einem gemeinsamen Etwas,
das diesen wechselnden Ele-
menten als Merkmalen einen
Träger bietet; §99 Grundsatz
der Subsumption: Das Einzelne
teilt das M. seines Allgemeinen;
fließende Merkmale; §§ 103,
123 ff. wesoni liehe und unwesent-
liche Merkmale; § 1 16 Merkmale
Btehen nicht bei jedem Subjekt,
an dein sie vorkommen, in dem-
selben Verhältnis; § 119 Dis-
paratheit der Merkmale läßt
sich math. nicht bewältigen;
§ 120 der dutch Vergleichung
gefundene Merkmalbestand als
Regel des Zusammenhangs eines
Inhalts; § 124 bedingende Kraft
eines Merkmals gegenüber der
ganzen Natur des Begriffs; § 128
Schätzung des Werthes der
Merkmaie beruht auf Kenntnis
der Sache und richtigem Ge-
fühl; § 131 einfache Merkmale;
§ 135 bleibender Merkmal be-
stand eines Allgemein begriffß
als bedingende Regel der Fü-
gung aller Merkmale; § 142
Originalität der Merkmale als
Hindernis der Classification
der Begriffe. Die Allgemeinen
Gesetze des Zusammenhangs
der Merkmale bestimmen die
Bi düng der Arten; § 143 drei
fache Beziehung zwischen Merk
malen: Einschließung, Aus
Schließung ui d Determination
§ 161 Unterschied von Kenn
zeichen u. artbildenden Merk
malen; § 255 simultane und
successive Merkmale; § 345
Eigenschaft als metaphysischer
Begriff und M. als entsprechen-
der logischer.
Messung, § 32.
Metall, §§ 23, 29 u. a., M. ala
zweites Allgemeines.
Metaphysik (s. a, Logik), § 5
logischer Sinn der Redetheile
ist nur ein Schatten der meta-
physischen Begriffe. M. als
Untersuchung des nicht bloß
Denkbaren, sondern des Wirk-
lichen, oder dessen, was als
wirklich erkannt werden soll;
§ 5 Ding, Eigenschaft und Ge-
schehen als metaphysische Be-
griffe; § 27 Unterschied der log.
Form u. metaphysi-chen Ge-
danken; §52 log. u. ii.etaphy-
si eher Sinn der Copula im kate-
gorischen Urtheile; §53 Unter-
schied der metaphysischen Re-
lation von der log. Bezie lung
im kat. Urtheil; § 55 metaphy-
sische P'olgeungen können aus
dem Identitätssatze nicht ge-
Sachregister.
62S
sogen werden; § 62 M. u. Logik;
§ 148 Metaphysisches Bedenken
gegen die Einseitigkeit der bloß
erklärenden Theorie; § 191 f
metaphys i sehe Voraussetzung
der Entwicklung der Welt aus
dem Einen; §309 Frage nach
der Wahrheit des Gegensatzes
von Vorstellung und Gegenstand
ist metaphysi-ch; § 322 Die
metaphysiche Überzeugung von
der Möglichkeit der Einwirkung
zweier Elemente aufeinander
ist der erkenntnistheoretischen
Subjekt-Objektbeziehung über-
geordnet; § '645 M. u. Logik;
§ 357 Frage nach Apriorität im
Sinne des Angeborenseins ist
metaphysisch.
metathesis, § 92.
Methode, § 102 Unterschied von
logischem Ideal und instrumen-
taler M.; §297fiF. Methodologie:
synthetische und analystische
Meth( den sind als allgemeine
Methoden für sich nicht rein
durchfuhrbar; §£01 Unterschied
von wissenschaftlich speziellen
Einzelmethoden und allgemeinen
M.; S CXVI: M. der Erkenntnis;
S. CXXI: üniversalmethode.
Mittelbegriff, §83, 109 völlige
Identität des Mittelbegriflfs als
Bedingung für die Schlußkraft
der Figuren; § 1£0 M. braucht
in Subsumptionsschlüssen in
nichts das Gepräge eines Be-
• griffe zu haben; § 243 Zwei-
deutigkeit des Mittelbegriffs.
Modalität, §§38, 41, 43, 44,
46, 82.
Modi, s. Schluß.
Modification, § 25 M. einer
Merkmalgruppe; § 30 M. von
Beziehungen; § 94 M. von
Schlüssen; §§ 97. 108 M. von
Prädikaten; §§ 103, 109, 124,
127 u. a. epecifische M. von Merk-
malen; § 109 dxe M. eines Merk-
mals darf im Allgemeinen nicht
der modifizierenden Bedingung
gleichgesetzt werden.
Möglichkeit, §41f. problema-
tisches Urtheil drückt die M.
aus; § 46 Unterschied von M.
wegen Mangels an Beweisen
der Unmöglichkeit und wohl-
begründeter, auf Bedingungen
sicher ruhender Fähigkeit; § 192
das Ans ichsein als absolute M.
(metaphysisch); § 277 M. einer
Hypothese; §348 f. M. der Er-
fahrung.
Moral, § 178 M. u. Ästhetik;
§287, 7 moralische Hoffnung.
Musik, § 6 M. ist kein Denken;
§ 279 lebendige Elastizität der M.
Mystik, §§ 186, 189 arithmetische
Mystik.
Mythologisierung verbaler
oder adjektivischer Begriffe
dui ch substantivische Form,
§ 166.
N.
Name, § 2 f. logischer Sinn der
Schöpfung des Namens.
naturalistisch, § 163 Vorzug
der Gelehrsamkeit vor dem n.
Verfahren ; § iOl n. Philosophie
des unoeschulten Verstandes.
Naturphilosophie der lonier,.
§ 186.
Natursachen wirken nie «ao-
mentan, § 263, 3.
Naturwissenschaft, § 112
Nothwendigkeit der Mathema-
tikfür die N. ; § 145 ei klärende
Theorie als systematische Form
in meclianiscben N. ; § 153 N.
betrachten die vorausgesetzte
Außenwelt nur so weit, als sie
zu einer Welt von Vorstellungen
geworden ist: §i 02 naturwissen-
schaftliche Hypo he?en recht-
fertigen ihren Begriff durch
Deduktion; §274 ff. HypotheseÄ.
in der N.
624
Sachregister.
Nebengedanken: § Vllf. Er-
zeugung der rechtfertigenden
N. als eigentliche Aufg. des
Denkens: § 6 logische N. be-
dürfen der Lautsprache nicht ;
§ lOf. N. der einheitlichen
Setzung begleitet jegliche Wort-
form. Denkhandlungen beruhen
auf rechtfertigenden N. §§ 21,
27 N. der Ganzheit und Einheit
bei werdenden Begriffen; § 38N.
als Bedeutungen der Copula; § 52
verschwiegene N. des katego-
rischen Urtheils ; § 57 parti-
cularisierende N. § 131 N. der
Verschiedenartigkeit der Bei-
spiele einer gestaltenden Idee.
Nebenvorstellungen, § 130ff.
Kraft und Zweck als N. der
logischen Idee bedeuten nur
etwas unter Voraussetzung eines
rein logischen Gedankens.
Nominalismus, § 340.
notiones communes, §§ 128, 189.
Nothwendigkeit, log. N. §§ 18,
411, 62, 94, 233; §333 dialek-
tische, teleologische N. ; §§ 19,
31, 346. Vergleichbarkeit von
Inhalte ist nicht denknoth-
wendig, sondern nur nothweadig
für die Möglichkeit des Denkens;
§ 346 Gliederung der Ideenwelt
ist unentbehrliche Grundlage
des Denkens, aber nicht denk-
notwendig.
Noumenon, § 310.
Null, § 178 Nullpunkt des Gleich-
gültioren an Beispielen gegen-
sälzlicher Begriffe. S. 262 Ver-
neinung als log. Sinn der Null ;
§ 244 Sonderstelluug der N.
Obersatz, §§83, 99; §149 Ober-
satz denkt die Wirklichkeit in
Gestalt eines entwickelungs-
fähigen Princips.
Objektiv, § 3 logische Objek-
tivierung verleiht den Inhalten
keine Wirklichkeit; § 267 Ob-
jektives Verhalten der Wirk-
lichkeit (s. a. Bedeutung).
Ordnung, § 20 Raum und Zeit
als O. in Synthesis der An-
schauung; 0. in Sjmthesis der
Erkenntnis: tatsächliche O.
durch bedingenden Werth;
S. 186 Unterschied von log.
und psychol. O. ; § 129 sach-
gerechte und handgerechte O. ;
§ 136 Reihenf rm als 0. in der
natürlichen Classification ; § 154
O. der Vorstellungen in der
Sprache als innere Bedingung
der Mittheilung; § 176 imma-
nente O. der Sachen.
Originalität der Merkmale wäre
ein Hindernis der Class fication
§ 142.
Ort, § 28 Definition des 0.; § 318
intellegibler 0. der Ideen.
P.
Parallelismus der Erschei-
nungsgruppen in der ionischen
Naturphilosophie § 186, seine
Mängel und moderne Ergänzung
§ 191.
Paralogismen, § 249.
particulares Unheil, §§39, 57f.,
268.
Partikel, § 7 P. tragen nicht
zu logischer Fassung bei.
Partition, § 125.
Pathologie, § 182.
Pedanterie, logische §§128, 170,
206, 207.
perceptio clara et distincta § 1 68.
persönlicher Fehler, §267.
petitio principii, § 241.
Phänomen, §§ 258, 272, 310.
Phantasie, § 7 ästhetische Eh.;
§§ 131, 133 logische Ph.; § 191
moderne Ph.; § 196 sprachbil-
dende Ph.; §249 besser unter-
richtete Ph.; §297 construieren-
de Ph.
Sacliregister.
625
Philosophie, praktische, §161;
§ 193 vollendete Ph.
phoronomisch, §249.
Physik, §§ 64, 131, 171.
Physiologie, §§ 171, 262,4;
§ 172 physiolog. Optik.
Poesie, §§155, 159 P. als Bei-
spiel prägnant anschaulicher Be-
schreibung.
Poetik, § 155.
Polarität, § 189; Schema der P.
Polylemmen, § 95.
Position, § 316 P. als Allgemein
begriff der Bejahtheit.
Postulate, § 273.
Potenz, § 187.
Prädikat, §§ 35, 37, 48, 52; § 55
unterschied von verträglichen
und unverträglichen Prädikate;
§73 conträre, vergleichbarePrädi-
kate sind unvereinbar, weil sie ein
drittes, einfaches P. bilden; ver-
einbar sind nur disparate, unver-
gleichbare Prädikate (§§87, lOS).
§§80ff.,103. §105demEinzehien
kommt nicht das allgemeine P.
seiner Gattung zu, sondern nur
eine bestimmte Modification des-
selben zu; S. 268 Quantitative
Bestimmung der P. im Urteil.
Prämissen, §§ 83ff., 1311, S.268
bloße Summierung zweier P.
gibt nie einen Schluß.
Präpositionen, logischer Sinn
der P., § 7.
Princip, § 70f. principium ex-
clussii tertii (s. a. S. 258). prin-
cipium rationis sufficientis s.
Grund; § 135 leitendes P. aller
Untersuchungen; § 297 Prinzi-
pien sind nicht Atom© der
Wahrheit, sondern ihre ent-
wickelungsfähigen Bedingungen;
§ 300 Geltung formaler und
materialer P.; § 301 P. und
Gegenstand der Untersuchung,
probabelste Annahme als Mittel
des logischen Gedankengangs,
§ 233 f.
Lo tze, Logik.
Problematische Modalität,
§§ 41 f., 44 f.
Pronom, log. Sinn des P., § 7.
Proportion, §113ff. Schluß durch
P.; § 115 Schluß durch P. beruht
auf Möglichkeit der Zurück -
führung des qualitativ verschie-
denen Wirklichen, auf reine
Größenbestimmung. P. als Er-
kenntnisgrenze; §§ 116, 143,
174, 216; §2300. P. in Mechanik
entscheidet nichts über absolute
Größen.
Prosyllogismus, § 96.
Pseudomenoa, §260.
Psychologie, P. u. Logik, §§ X,
37, 47, 121 f., S. 186, §§ 255,
257, 333; Erkenntnistheorie u.
P., S. ClXff., § 332
Q.
Quadrate, Methode der klein-
sten Qu. §288.
Qualität, § 17 systematische
Ordnung des Vorstellbaren ent-
spricht seiner qualitativen Ver-
wandtschaft, die nicht denk-
nothwendig ist (§ 19); §§ 38,
40 ff., 85 Qu. der Urtheile;
§ 113 Qualitative Verschieden-
heit der sinnlichen Empfindun-
gen auf vergleichbare Bewe-
gungen vergleichbarer Elemente
zurückgeführt durch die Pro-
portion.
Quantität, §24 Ohne quanti-
tative Abstufung und Vergleich
barkeit würde Bildung des Be-
griffs unmöglich sein; §§38ft".,
81, 85, S. 268 Qu. der Urtheile.
quaternio terminorum, §§ 84,
240, 243.
R.
Räthsel, § 160 Definition des R.
Realität, §§62, 103, 162 (Real-
definition); § 188 R. der Zahlen;
Wesen der Dinge als R.; § 195
reale Elemente verhindern die
40
626
Sachregister.
vollständige Verwirklichung der
Idee des Lebens; § 239 Real-
ursache; §306 Reales einer vor-
ausgesetztenAußenwelt; §§334f.,
345 Unterschied von formaler,
sachlicher und realer Bedeutung.
Realismus, § 304ff. R. und
Idealismus; §§306, 340 (R. u.
Nominalismus).
Rezeptivität, §§ 19, 325.
Rechnen, §18 R. eine Art des
Denkens; § 112 R. gehört zu
logischen Tätigkeiten; S. 260
Unterschied mathematischer
und logischer Rechnung; § 289
logisches Rechnen bei Wahlen
und Abstimmungen.
Recht, §§ 152, 193, 265, 273.
Rechtfertigung, § 202 jedem
Beweis muß eine R. voran-
gehen, die zeigt, ob der Satz
einen Beweis verdient oder nicht.
Reciprocitätsgesetz, s. Be-
griff.
reciprokable Urtheile, § 80;
§ 163 r. Definitionen.
Redetheile, §§ 4f., 33 logischer
und metaphysischer Sinn der R.
Reflexion§ 302 vergleichende R.
Regel, §§22, 23, 26f., 30, S. 125,
§§ 111, 127f., 198, 216f., 266.
Reihe, §§136 R. als Form der
natürlichen Classificationen;
§ 238 ff. Taylor'sche Reihe;
§ 239 R. als bloße Definition
des Wachstums bleibt lo-
gisch richtig, wenn sie auch
durch Divergenz mathematisch
unbrauchbar wird; § 269 Über-
gang der Einzelglieder einer
R. zum allgemeinen Bildungs-
gesetz ist logischer Sprung.
Reiz, §§lf., 3261; Reizung der
der Allgemeinen Begriffe zur
Erzeugimg der Arten § 140.
Relation des Urtheils, § 38f.,
S. 267 R. im logischen Calcül;
§ 53 metaphysische R. zwischen
Ding und Eigenschaft.
Relativität der Begriffsbestim-
mungen, § 178.
remotive Urtheile, §§69, 95.
Rhetorik, § 155.
Rhythmus, § 189 Schematiseher
Rh.; § 192 Rh. der dialektischen
Entwickelung.
Rigorismus, logischer § 178.
Rückwirkung: Denken als
rückwirkende Tätigkeit, s. Den-
ken; § 333 R. der Seele auf
ihre einzelnen Zustände: alle
logischen Rückwirkungen des
Geistes lassen sich ihrem Sinne
verständlich in eine Reihe ord-
nen, sind aber ihrer psycho-
logischen Entstehung nach un-
begreiflich; S. CI Rückwirkende
Tätigkeit unseres Geistes.
Sache, sachlich, §§43, 52, 67,
80, 126, 138, 151; §157 Ver-
schiedenheit der Standpunkte
bei Kenntnis der Sache; § 176,
S. 257, §§ 206, 234, 240, 255,
267, 329; § 340 s. und dinghaft;
§§342, 345 s. Geltung; §3461
Verlauf der Sachen.
sachgerechte Ordnung vom lo-
gischen Denken verlangt, § 129.
Schema, §§26, 110, 184ff., 189,
IGO.
Schluß, § 74, S. 108ff; §83ff.
Schlußfiguren; §§91, 97ff.,98ff.
Untersuchung und Abweisung
des skeptischen Zweifels an der
logischen Leistung des Schlusses;
§§ 101 ff., 109 S. als bloße Be-
zeichnung einer Aufgabe; S. 269
S. ist nie eine blosse Summie-
rung von Prämissen ; §344 Schluß-
formen haben keine reale Be-
deutung.
Schönheit, § 147 Würde und
Ursprung der S. durch erklä-
rende Theorie nicht gefährdet;
§ 162 Real- und Nominaldefini-
Sachregister.
627
tion der S.; § 178 S. u. Sittlich-
keit.
Seele, § VI Tierseele; §20 Ein-
heit der S. §32; §62 S. des
Denkens; § 162 Real- und No-
minaldefinition der S.; § 171
Empfindungen als Zustände der
S.; §326, S. CV: S. als tabula
rasa; § 333 die Rückwirkung
der S. auf ihre Zustände ist
nicht berechenbar, sondern mit
dialektischer oder teleologischer
Nothwendigkeit von dem Sinne
oder der Idee abhängig, zu
deren Verwirklichung die S. be-
stimmt ist.
Sein, §§135, 148, 158.
Selbstbeobachtung, §323.
Selbstbesinnung, §305 S. des
Denkens; S. CXI f. S. der Ver-
nunft.
selbständig, §§5, 10, 19 logische
Selbständigkeit.
Selbstverständliches als
eigentlicher Gegenstand der
Logik, §§ 10, 329, 331, 346, 358,
364.
sensualistische Theorie der
Entwickelung unseres Denkens
und Wissens, §332.
Setzung, § 9ff.
Singular. §§ 26 f, 39 singulares
Urtheil; §276 Hypothese für s.
Tatsache muß vollständig sein;
§ 278 Bestimmung singularer
Tatsachen.
sinnlich, siehe Empfindung, Ein -
druck.
Sitte der Wirklichkeit, § 274.
sittlich, §178f Sittenlehre; §303
Bedeutung der s. Idee für die
Wahrheit der Erkenntnis
Skepsis, §§ 98, 302ff.
Sophismen, § 249.
Sorites, § 96.
specifisch, §§32, 105, 160 specif.
Differenz; § 104 sp. Modifica-
tion der Prädikate; § 109 sp.
Bestimmtheit der ]Merkmale
durch Allgemein begriff zugelas-
sen, aber nicht bestimmt; § 180
S. 257.
Speculation, S. 183f., §§ 189,
201, 247, 261, 272, 365, S. CXX.
sphaera, § 25.
Spontaneität, §§ 19, 325.
Sprache, §§ 1, 2, 4, 6, 7, 10,
12, 13, 21, 26, 48, 105, 121,
148, 154, 156, 168, 170, I96ff.,
316, 317.
Sprung, logischer, §269.
Statistik, § 113.
Sterblichkeit, § 42, S. 264.
stetig, §§ 174, 175, 269.
Straf recht, müßte nach dem
Subsumptionsschluß schließen
§ 112.
Struktur, § 191, S. des dekadi-
schen Zahlensystems; § 215
Unterschied der Größe und
Struktur eines Produktes; § 342
Struktur der Begriffe (logisch)
und Struktur der Dinge (real);
S. XCIII, logische Struktur der
Systeme.
subalternatam, ad, § 75.
SU balternantem, ad, §§76, 102,
subconträr, § 78.
Subjekt, logisches, §§35,37,39,
47 ff., 52 f., 68 f.
Subjektivität der Erkenntnis,
§§ 248 f., 267.
Subordination, §§ 25, 29, 33.
Substantiv, als logische Be-
zeichnung für sich feststehender
Inhalte, §§ 4, 5, 19, 33, 49, 166.
Substanz, §5 Definition der S.
§ 35 beherrschende logische S.
§ 53 Substanz als Ding; § 248
die realen Elemente können nie
in Substanz in unser Inneres
einziehen.
Substitution, §§109, 111, 112,
113.
Substrat, § 255.
Subsumption, §§ 25, 29, 33^
S. 110, S. 121 ff., §§ 99, 102,
120, 141, 217.
40*
628
Sachregister.
Symbebekos, § 32 S. als Zu-
stand.
Symbol, § 28 S. des Begriffes,
8. a. § HO; §53 Verhältnis von
Ding und Eigenschaft symbolisch
übertragen in Subjekt-Prädikat-
heziehimg; §§ 187, 196 (adäquate
S. in log. Sprache); S. 259 Sym-
bol der Gesamtheit des Denk-
baren; § 257 Das einzelne
Dreieck als S. des allgemeine
Dreiecke.
Symmetrie, § 190 logischer
Grund der S.
Synthese, synthetisch, §§58,
99, 297, 347 ff., 362.
Synth«sis, § 20 vierfache Syn-
thesis des Mannigfaltigen;
§ 169ff. Synthesis als Erfüllung
in der dialektischen Methode.
Syst«m, §§ 33, 136 logische Ge-
samtsysteme; § 120 ff. systema-
tische Formen.
T.
Tabelle als Urform zur Auffin-
dung von Beweisen, § 270.
Tatsache, §§ 19, 34, 65, 66,
68, 115, 195, 199, 202, 276
bis 278.
Tautologie, §§ 163, 214.
teleologische Notwendig-
keit, § 333.
Theorie, § 145 ff erklärende Th.;
§ 147 Verteidigung der erklä-
renden Th. gegen die Einwände
der Ästhetik, die nur darin be-
rechtigt sind, daß sie die Unter-
sätze unserer Weltbetrachtung
nicht hypothetisch, sondern
assertorisch finden.
Thesis, § 189.
Ton, § 15 T. als erstes Allge-
meines, kurze Bezeichnung einer
logischen Aufgabe; § 174 Ein-
teilung der Töne nach Eigen -
klang, Höhe und Intensität;
§ 175 einfache Tonempfindung
für sich undefinierbar: Defi-
nition durch Ursache: Schall-
wellen.
Transformation der Begriffe,
§ 1.
Trichotomie, S. 259.
Trieb, § 130 Begriff der Kraft
als Vorstellung des wirkenden
Triebes; § 105 Begriff des Triebes
zerfällt in Vorstellung der her-
vorbringenden Wirksamkeit und
und Begriff des allgemeinen
Verhältnisses.
Trilemmen, § 95.
Trugschlüsse, §§ 143ff., 249.
typisch, Typus (s. a. Gattungs-
typus), §§ 133, 150, 186; § 257
Typen der reinen Logik; § 272
Typen der Wirklichkeit.
ü.
Übergang, § 158 Vorstellung
des Ü.
Übung, §263, 3.
unendlich, § 40 u. Urteil; §245
Sonderstellung des mathemati-
schen Unendlichen.
Umformungen der Schlüsse, §92.
Umkehrung der Urteile, § 79f.
universal, § 68 u. Urteil, §102
u. Urteil als Schlußsatz bei
Induktionsschluß; § 193 Uni-
versalreihe; § 195 u. Weltplan.
Unterordnung, § 29 U. der
Arten unter die Gattung: Sub-
ordination; U. eines Begriffs
unter sein Allgemeinmerkmal:
Subsumption; § 102 U. in der
ersten Aristotelischen Figur
drückt die innere Gliederung
des Denkinhalts, nicht der Ge-
dankenarbeit aus; §205 U. eines
gegebenen Inhalts unter eine
allgemeine Wahrheit.
Untersatz, §§ 83f., 147, 148.
Unterscheidung, § 9ff. U. der
einfachen Vorstellungsinhalte
als zweiter Nebengedanke der
Sachregister.
629
ersten Denkleistung, der jedoch
untrennbar mit Setzung ver-
bunden ist; § 183 f. Unterschiede
von vergleichbaren Begriffen
als Abwandlungen eines fühl-
baren Allgemeinen.
Untersuchung, § 301 Prinzip
und Gegenstand der U.
ürbegriff, s. Begriff.
Ursache, § 62 wirkende U.
(causa efficiens) als metaphys.
Begriff, ebenso § 94; § 259 ff.
Verhältnisse zwischen U. und
Wirkung in Beobachtung und
Experiment; § 263 Beobachtung
der Größenänderungen, welche
die Wirkungen für bestimmte
Änderungen der U. erfahren;
§ 263, 3 Natur Ursachen wirken
niemals momentan; § 263, 5
einem Wachstum der U. muß
immer ein Wachstum der Wir-
kung entsprechen und umge-
kehrt; § 276 Prinzip der klein-
sten U.; § 287 konstante und
variable Ursachen bei Wahr-
scheinlichkeitsrechnung.
Urteil, § 8 Begriff u. U.; § 35
U. als Form von Denkbewegung,
welches zu der Verknüpfung
von Merkmalen den Grund der
Zusammengehörigkeit angibt;
§§ 36, 52 U. bezeichnet nicht
das Verhältnis der Vorstellungen,
sondern des Vorgestellten; § 38
Auffassung der U. als Unter
suohung der Umfangsverhält-
• nisse von Vorstellungen ist falsch;
§38 ff. Einteilung der U. nach
Rücksichten der Quantität
Qualität, Relation und Moda-
lität; §§ 43, 53 sachliche Richtig-
keit der U. ist nie durch logi; che
Form verbürgt; §56 analytisches
und synthetisches U. U. legt
den Tatsachen innere, nicht
beobachtbare Beziehungen un- j
ter; § 57 kategorische U. meinen i
etwas anderes als sie ausdrücken, j
durch particularisierende Neben-
gedanken werden sie zu iden-
tischen; § 59 U. ist kein bloßes
Aggregat von Merkmalen; § 105
Natur der Urteile; §§ 142, 198,
S. 268, § 289; § 321 Mangel der
Platonischen Ideenlehre, daß
sie Wahrheiten, die sich nur
in U. aussprechen lassen, in die
Form von einzelnen Begriffen
bringt; § 343 U. haben der
Form und dem Inhalt nach keine
unmittelbare reale Bedeutung.
Urvorstellung, s. Vorstellung
V.
Variation, S. 146 Variations-
rechnung benutzt Schlüsse nach
konstitutiven Gleichungen; § 124
V. des Begriffsinhaltes; § 136
V. einzelner Merkmale; § 234
V. unseres Erkenntnisverfahrens.
Veränderung, § 34 große Tat-
sache der V. des Wirklichen;
§ 113.
Verbrechen, Begriff des Ver-
brechens, § 182.
Verb um, §4 verbal gefaßte In-
halte stellen die flüssigen Be-
ziehungen adjektivischer und
substantivischer Inhalte dar;
§ 5 rein logischer Sinn der ver-
balen Form, die aber § 33 auf
den metaphysischen Stammbe-
griff des Werdens hinführt;
§ 166 Definition verbaler Inhalte.
Vergegenständlichung, §§ 4,
6, 8, 10.
V e r g 1 e i c h u n g, Vergleichbariteit,
§§ 9 ff., 13, 19, 24, 66, 71,
111, 120f., 142, 169; § 171
qualitative Unvergleichbarkeit
der sinnlichen Empfindungen
kann nicht durch Hinweis auf
die Ähnlichkeit ihrer Entstehung
und Begründung weggeschafft
werden
630
Sachregister.
Verhältnis, § 33 V. als Stamm-
begriff; §§ 36, 51, 52, 115, 116,
120, 123, 134, 213; § 234 sach-
liche Verhältnisse von Variation
unseres Erkenntnisverfahrens
unabhängig; § 316, Verhältnisse
haben Wirklichkeit des Be-
stehens.
Verneinung, § 158 V. als ein-
facher Begriff; S. 261 V. als
logischer Sinn der Null, § 220.
Vernunft, Grundsatz des Selbst-
vertrauens der V.; §303f.,S.CIIf.
Verpflichtung, § 134 Vor-
stellung der V.
verstehen, § 346 Aufgabe des
Denkens ist nicht bloß die ewige
Classification zu suchen, sondern
auch den veränderlichen Verlauf
der Sachen zu verstehen; ebenso
§365.
Versuch, § 260ff.
Voraussetzungen, §§ 47f., 60,
103, 116, 130, 139, 147, 154,
191,267, 272, 302f., 304 ff., 322.
Vorstellung, §§ I, II, IV, 1,
3, 8, 9 ff.; §§ 13, 19, 66 Ver-
gleichbarkeit als tatsächliche
Einrichtung der Welt des Vor-
stellbaren; § 15 (Definition der
V.); § 17 (ungleichartige V.);
§ 18 Alle Vorstellungen müssen
mit Notwendigkeit der Größen-
bestimmung zugänglich sein;
§ 19 auffordernde Tatsache des
Vorstellungslaufs; § 23 (allge-
meine V.); § 25 (Begriff als
zusammengesetzte V.); § 37
V. und Vorgestelltes; § 58, 65
Vorstellungswelt vom Denken
als Gegenstand innerer Erfah-
rung angetroffen; §§ 66, 120,
130f., 134, 155, 157f. (V. u.
Vorstellungsinhalt), 160, 167
(Entstehung von Vorstellun-
gen), 168 (klare und deut-
liche V., V. und Begriff);
§ 173 Einheit der V.; § 114 Wir
besitzen deutliche V. auch von
sinnlich nicht erfalu-enen Tönen;
§§ 175, 254 (mechanischer Vor-
stellungslauf); § 306 V. als das
unmittelbar Gegebene der Er-
kenntnis ; § 314 Unterschied
zwischen Inhalt, den wir vor-
stellen und Affektion, die wir er-
leiden; §31 6 Wirklichkeit der Vor-
stellungen, insofern wir sie als
Erregungen unseres Bewußtseins
haben, ist die des Geschehens, ihr
Inhalt aber hat Wirklichkeit des
Geltens; § 337 Die bei der Verglei-
chung erfahrenen Gleichheiten
undUnterschiede unseresVorstel-
lens bedeuten zugleich ein sach-
liches Verhalten unserer Vor-
stellungsinhalte ; § 339 Das All-
gemeine als bloß angestrebte
Vorstellung; §353 Das Vorstel-
len ist nicht immer an vergleich-
bare Größen gebunden, wie die
unmittelbare Anschauung zeigt.
Vorurtheil, §§ 101, 272, 302ff.
(V des Skepticismus), § 331 f.
Kritik der V.
W.
Wärmeempfindungen, §§ 175,
176.
Wahrheit, §111 W. als Werth-
unterschied; §§5, 81. 90, 97 f.
100 (unmittelbare Anschauung
als Quelle der W.), 148, S. 186,
§ 240 : § 272 W. und Einfach-
heit ; § 300 ewige W. ; § 302
Leugnung aller W. setzt irgend-
eine W. schon voraus ; § 303
Bedeutung der sittlichen Idee
für die W. der Erkenntnis ;
§ 305 W. als allgemeines Gresetz
unserer Erkenutnisfähigkeit ;
§ 309ff. W. be teht nur in all-
gemeinen Gesetzen des Zu-
sammenhangs unserer Vor-
stellungen; § 310—321 metho-
dische Untersuchung der W.
und ihres Ursprungs als Frage
Sachregister.
631
nach den Grundsätzen unseres
Erkennens, dem wir die Mannig-
faltigkeit der Ideen unterzu-
ordaen haben. S. XCVIII Klar-
heit u. Deutlichkeit als Merk-
male der W.
Wahrnehmung, §§ 19, 21, 26,
47 ff. 59, 76, 105,' 113; §140 W.
als Gegenstand und Anregung
des Denkens; §§ 155, 171, 241,
251 ff., 25tf., 258; § 262,6
Umkehrung der W. in induk-
tiver Naturforschung.
Wahrscheinlichkeit, §§ 111
(Gefühl d. W.), 208, 255, 278,
281 f. (Wahrscheinlichkeitsrech-
nung), 284 (coilective und sin-
gulare W.), 286.
Wechselwirkung, § 8 Denken
* ist keine W. sondern rück-
wirkende Tätigkeit; § 17 W.
der inneren Zustände; § 130
W. des Gedankens mit den be-
sonderen Beziehungspunkten ;
§ 345 metaphysische W.
Weltauffassung, § 146.
Welt des Denkbaren, W. des
Wirklieben s. daselbst.
Welt §141f. Emanation der W.
aus einem Ur begriffe ; § 148
Welt als lebendigeEntwickelung;
§§ 189. 191, Gliederung des
Weltinhalts; § 192 Wesen des
absoluten Weltgrundes, § 201
Einheit von Gott und Welt;
§ 251 Äußere Welt umgibt uns
mit Verknüpfungen von Er-
. scheinungen, deren Zusammen-
hangsbedingungen sie uns ver-
schweigt ; § 365 Speculation
als Mittel, den Weltlauf nicht
bloß zu berechnen, sondern auch
zu verstehen. S. XCV. Ein-
heit der Welt. S. CXVI. Zu-
sammenhang und Einrichtung
der Welt ist nicht durch bloße
Classification faßbar.
Werden als met aphysischer
Stammbegriff §§ 33, 158, 192.
Wesen eines Dinges und Wesen
der Dhige muß unterschieden
werden § 188.
Widerlegungsbeweise § 207.
Widerspruchsgesetz s. Iden
tität.
Wille, § 193f.
Wirken als einfacher Begriff
§ 158.
Wirklichkeit als metaphysischer
Begriff §§ I, 3, 5, 20, 34, 41,
61, 65,94, 103, 130, 140, 148f.,
152 (äußere W. als nur schein-
bar gemeinter Gegenstand des
Denkens ; § 195 Oidnung d. W. ;
§ 274 Allgemeine Sitte und
specieller Ortsgebrauch der W. ;
§ 278 Gewißheit über W. von
Tatsachen gibt nur die un-
mittelbare Wahrnehmung ; §316
W. als allgemeinster Begriff
von Bejahtheit hat eine vier-
fache Form ; § 348 aus allge-
meinen Begriffen des Denkens
ist die reale W. des in ihnen
Gedachten nicht ableitbar ; § 349
die allgemeine Gesetzlichkeit
der W. ist weder denknoth-
wendig noch als denknoth-
wendige Folge uns gegebener
Tatsachen abzuleiten.
Wirksamkeit, S. 165 Vorstel-
lung der hervorbringenden W.
Wirkung, s. a. Ursache; §99 W.
als fließendes Merkmal in hy-
pothetischem Obersatz; § 345
W. als metaphysischer Begriff.
Wissenschaft, §§99, 107, Ulf.,
113 ff. W., die sich mitVermitte-
lung unvergleichbarer Merkmale
abgeben (z. B. Physik) bedie-
nen sich der Proportion; § 145 f.
Unterschied der antiken und
modernen Wissenschaft als Un-
terschied der Classification und
erklärenden Theorie; §172 mehr-
dimensionaler Raum als Laune
der W.; § 300 wirkliche und
ideale Wissenschaft; § 359 hy-
632
Sachregister.
pothetische Gültigkeit der Ge-
setze apriorischer W.; § 365
höchstes Ziel der W. ist, den
Weltlauf nicht bloß zu berech-
nen, sondern auch zu verstehen.
Z.
Zahl, §^64, 111, 185 f. (Pytha-
goras), 188 (Realität der Zahl;
jede Zahl ist eine Funktion der
andern Z.), 196 Begriff u. Z.,
287 (Gesetz der großen Zahlen),
353 reine oder apriorische An-
schauung der Zahlgröße.
Zahlwort, § 7 logischer Sinn
des Z.
Zeichen, § 48 Naturlaut als blo-
ßes Zeichen eines inneren Zu-
standes.
Zeitwort, § 7 losfischer Sinn
des Z.
Zusammengehörig, Aufgabe
des Denkens, das bloße Zu-
sammensein in ein Zusammen-
gehören zu verwandeln, §§ I, 2,
17, 20—22, 25, 26, 34 f., 56, 59,
60, 62, 65, 101, 103, 113, 116,
120, 124, 125, 151, 307, 363.
Zustand, §§ 1, 2, 17, 20 (Mecha-
nismus d. inneren Z.), 48, 171
psycholog. Z.; §§32 (Symbebe-
kos), 99 (Z. als fliehendes Merk-
mal), 166 logischer Z.; § 147
(Weltzustände); § 345 Z. als
metaphysischer Begriff.
Zweck, § 130, § 314.
Zweifel, § 181, § 302ff., S. CII
Katalog
DER
PHILOSOPHISCHEN
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Neuerscheinungen 1911/12 1
Alphabetisches Verzeichnis der „Philosophischen Biblio-
thek" 5
Lehrbücher der „Philosophischen Bibliothek" ... 20
Neuere philo.sophische Werke 21
neuerschßlnun$ßn (nn) der Jahre 1911/12
Kirchner-Michaelis. Wörterbuch der philosophischen
Grundbegriffe. 6. Aufl. 1911. VIII, 1124 S.
Preis M. 12.50, geb. M. 14.—
Die Festigkeit der Grundlagen, die umfassende Vollständigkeit des Stoffes, die
durchsichtige Anlage und vortreffliche Form, sowie die würdige Ausstattung machen
das Buch zu einem treuen Führer auf den verschlungenen Pfaden der Philosophie.
Man kann ihm nur weitere und weitere Verbreitung wünschen.
Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1911.
Vorländer, Karl. Geschichte der Philosophie.
I. Bd. : Altertum, Mittelalter und Übergang zur Neuzeit. 3. Aufl.
1911. XII, 368 S. Preis M. 3.60, geb. M. 4.50
II. Bd.: Philosophie der Neuzeit. 3. Aufl. 1911. VIII, 524 S.
Preis M. 4.50, geb. M. 5 50
Selten ist die Geschichte der Philosophie in den letzten Jahrzehnten so faßlich und
übersichtlich dargestellt. Diese vaterländische Geschichte der Philosophie wird gewiß
auf Jahrzehnte hin das Lieblingsbuch aller Freunde der Philosophie sein.
Literaturbericht für Theologie.
D'Alembert's Einleitung in die französische Enzyklopädie
von 1751 (Discours preliminaire). Herausgeg. und er-
läutert von Dr. Eugen Hirschberg.
I. Teil: Text. XXIII, 153 u. 11 S. Preis M. 2.50, geb. M. 3.—
II. Teil: Erläuterungen. VIII, 192 S. Preis M. 1.50
Beide Teile in 1 Band gebunden M. 4.50
Diese Schrift des ,, Vaters des Positivismus" dürfte besonders geeignet sein, zur
Einführung in die Philosophie überhaupt zu dienen. In den französischen Schulen
ist sie seit langem als Lehrbuch und Prüfungsgegenstand eingeführt, wozu sie sich
durch ihre einfache, jedem verständliche Sprache besonders eignet. — Die Erläuterungen
führen den D'Alembertschen Text bis zur Gegenwart fort.
Aristoteles. Nikomachische Ethik. Neu übers, u, erläut. v
Dr. theol. Eug. Rolf es. XXIV, 234 u. 40 S.
Preis M. 3.20, geb. M. 3.80
Diese Ausgabe benutzt als erste den von der Forschung bisher regelmäßig über-
sehenen Kommentar des Thomas von Aquin, eines dem Aristoteles kongenialen Geistes.
Durch das Heranziehen dieses Kommentars, der reifsten Frucht der Aristoteles-
forschung aller Zeiten, wird der Wert derselben ein unschätzbarer.
Aristoteles. Drei Bücher über die Seele. Neu übers, von
Gvmn.-Dir. Dr. A. Busse. 1911. XX, 94 u. 27 S.
Preis M. 2.20, geb. M. 2.70
Die systematische Psychologie ist ein Werk des Aristoteles. Für das Studium
und das Verständnis dieser Quellenschrift ersten Ranges die sichere Grundlage zu
schaffen, war die Aufgabe dieser Neuausgabe.
Descartes. Über die Leidenschaften der Seele. Neu übers,
u. erläut. v. Dr. A. ßuchenau. Mit dem Register der Gesamt-
ausgabe. XXXI, 120 u. 30 S. Preis M. 2.20, geb. M. 2.80
Mit dem Erscheinen dieses Bandes liegt nunmehr die Descartes-Ausgabe voll-
ständig in der neuen Bearbeitung vor. Dem Bande ist das schon lange dringend ge-
wünschte Gesamtregister beigegeben.
1
Neuerscheinungen 1911/12,
Fichte. Werke. Bd. I. Mit Einleitung von Prof. Dr. F. Medicus.
1911. Gr. 80. CLXXX, 603 S. Preis M. 7.—, geb. in Hfz. M. 9.^0
Die Textbehandlung ist durch mustergültige Genauigkeit ausgezeichnet. Die
Einleitungen des Herausgebers führen vortrefflich in die zeitgeschichtlichen Be-
dingungen dieser Schriften ein und zeigen, daß Fichte auch für unsere Zeit noch
manches zu sagen hat, daß er noch nicht lediglich historisch geworden ist. Es
scheint aber, als ob auch die geistige Stimmung vielfach zu Fichte zurücklenkt als
dem Denker, der unter der Hülle seiner Metaphysik des Ich der Persönlichkeit ihre
Stellung gewinnt. Zeitschrift für den deutschen Unterricht.
Daraus einzeln:
Fichte. Über den Begriflf der W^issenschaftslehre (1794).
IV, 61 S. Preis M. 1.—
— Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794).
Mit Einltg. von Medicus. XXX, 245 S. Preis M. 3.—, geb. M. 4.—
Nach Friedrich Schlegel bedeutete dies Buch ,,eine der großen Tendenzen des Zeit-
alters, neben der französischen Revolution und dem Wilhelm Meister".
Einzeln erschienen früher u. a.:
Fichte. Schriften zum Atheismusstreit. Mit Einleitung v.
F. Medicus. XXXIII, 142 S. Preis M. 2.—, geb. M. 2.60
— Die Bestimmung des Menschen. IV, 155 S. Preis M. 1.80
— Die "Wissenschaftslehre (1801 u. 1804). 396 S.
Preis M. 4.—, geb. M. 5.—
— Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. IV, 264 S.
Preis M. 3.—, geb. M. 4.—
— Drei Schriften über den Gelehrten (1794. 1805. 181 1).
IV, 224 S. Preis M. 3.—, geb. M. 4.—
— Anweisung zum seligen Leben. • Mit Einleitg. v. F. Me-
dicus. XVIII, 205 S. Preis M. 2.50, geb. M.3.50
— Reden an die deutsche Nation. 250 S.
Preis M. 2.—, geb. M. 2.80
Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit den
von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen neu heraus-
geg. von Greorg Lasso n. Preis M. 5.40, geb. M. 6. —
Die Ausgabe Lassons ist mustergültig. Die Einleitung gehört zu dem Schätzens-
wertesten , was in unserer Zeit über Hegel geschrieben wurde. Neben den außer-
ordentlichen Seiten des großen Werkes werden seine Schwächen unverhohlen zur Dar-
stellung gebracht. Überall aber blickt die Verehrung gegenüber dem Meister durch
und das Bestreben, dem größten Denker des vorigen Jahrhunderts zu seiner gerechten
Anerkennung zu verhelfen.
Josef Kohler im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie.
Humboldt, Wilh. V., Ausgewählte philosophische Schriften.
Mit ausführl. Einltg. hersgeg. v. Dr. Joh. Schubert. 39, 222 S.
Preis M. 3.40, geb. M. 4.—
Inhalt: Zur Ästhetik. Zur Geschichtsphilosophie. Zur Sprachphilosophie. Zur
Religionsphilosophie. Zur Pädagogik. Register.
Über das Wesen der Universitäten. Drei Aufsätze von Fichte,
Schleiermacher und Steffens. Mit ausführl. Einltg. hersgeg. v.
Prof. Dr. E d. S p r a n g e r. 43, 280 u. 1 1 S. Preis M. 4.—, geb. M. 4.50
Da wir heute über das alte Humboldt sehe Sprachgymnasium hinaus wollen,
müssen uns Humboldts Gedanken zur Selbstbesinnung über die verschiedenen Formen
unserer heutigen höheren Schulen von der größten Wichtigkeit sein.
Neuerscheinungen 1911/12.
Nur auf den Universitäten herrscht der Humboldtsche Geist noch, die „Idee der
Universitäten", wie sie vor 100 Jahren in deutschen Denkern lebte. Um diesen Geist
leljendig zu erhalten gegen amerikanisierende und polytechnische Tendenzen , ist die
von Spranger gegebene Zusammenstellung dreier Gutachten von Fichte, Schleier-
macher und Steffens über die Neugründung einer Berliner Universität besonders
freudig zu begrüßen, wenn auch alle drei Vorschläge nicht realisiert, sondern nur
sehr teilweise von Humboldt benutzt wurden.
Die verschiedene Ausprägung idealistischer Gedankengänge über ein und das-
selbe Problem kann besonders gut an dieser Ausgabe von ^Universitätsschriften"
erkannt werden. Ich möchte sie für Durcharbeitung in einem philosophischen Seminar
ganz besonders empfehlen, ihr aber ebenso wie der Schubertschen Humboldtausgabe
auch sonst die weiteste Verbreitung wünschen. Pädagogisches Archiv.
Isidoros. Das Leben des Philosophen. Wiederhergestellt,
übersetzt u. erklärt von Dr. Rudolf Asmus.
Preis M. 7.50, geb. M. 8.50
Unter den Urkunden zur Geschichte des Neuplatonismus ist die von Damaskios ver-
faßte Biographie des Isidoros eine der allerwichtigsten. Auf dem Hintergrunde des
Hellenismus eines Julian des Abtrünnigen mit der Glut seiner Liebe und seines Hasses
erhebt sich ein religionsphilosophisches Kulturbild des 5. Jahrhunderts, dem sich an
Figurenreichtum und Farbenfülle nichts Ähnliches an die Seite stellen läßt.
Kants Leben. Dargestellt von Karl Vorländer. Supplementband
zur KantauBgabe. Mit dem Doblerschen Bildnis. XI, 211 u. 12 S.
Preis M. 3.—, geb. M. 3.60, Gesclienkband M. 4.20
Diese erste Sonderdarstellung von Kants Leben, die seit der Schubertschen Bio-
graphie (seit 1840!) erschienen ist, verdient ein Buch für jedes Haus zu werden. Denn
trotz des Fehlens der in die Augen fallenden großen Momente mangelte es dem
Leben des großen Philosophen keineswegs an innerer Bewegung, die Vorländer in
der dem Gegenstand so gut angepaßten, ruhig dahinfließenden Darstellung trefflich hat
hervortreten lassen.
Locke, John. Versuch über den menschlichen Verstand.
2. Bd. Buch 3 u. 4. Neu übersetzt von Dr. C. Win ekler. VII,
428 S. Preis M. 5.40, geb. M. 6.20
Eine völlige Neuübertragung des wichtigen Werkes und die erste, die die
kritische Ausgabe Fräsers zugrunde legt. Band I soll in kürzester Frist nachfolgen.
Lotze, Hermann. Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Unter-
suchen und vom Erkennen. (System der Philosophie. Tl. I.) Mit
ausführl. Einleitung von Prof. Greorg Misch.
Preis ca. M. 7.50, geb. ca. M. 8.50
Dies Werk, das die ausführliche Darstellung des Systems des großen Göttinger
Philosophen enthält, war im Buchhandel lange Zeit gänzlich vergriffen und auch anti-
quarisch kaum mehr aufzutreiben. Durch den Neudruck des Werkes wird also eine
eingehendere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Philosophen, die gerade in
letzter Zeit verheißungsvoll eingesetzt hat, überhaupt erst ermöglicht.
Plato. Theätet. Neu übers, u. erläut. von Dr. Otto Apelt.
IV. 28, 1 16 u. 48 _S. Preis M. 3.40, geb. M. 4.—
Ohne die Apeltsche Übersetzung wird sich niemand mehr über Theätetfragen
äußern können. Die Lektüre ist ein Genuß, namentlich sind dem Verfasser die Glanz-
stellen des Dialoges vortrefflich gelungen. — Das Buch bietet in gewissem Sinne einen
Abschluß der Theätetforschung. Wochenschr. f. klass. Philologie.
Schellings Schriften.
Einzeln erschienen u. a. (sämtlich in Gr. 8°):
— Bruno, oder über das götthche und natürliche Prinzip der Dinge
(1802). Preis geb. M. 2.40
— Darstellung eines Systems der Philosophie (1801).
Preis geb. M. 2.40
— Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795). Preis geb. M. 2. —
— Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797).
Preis geb. M. 5.40
Neuerscheinungen 1911/12.
Schelling. Methode des akademischen Studiums (1803).
Preis geb. M. 2.80
— Philosophie der Kunst (aus dem Nachlaß). Preis geb. M. 5.40
— Positive Philosophie (1840/45). Preis geb. M. 5.—
— System des transzendentalen Idealismus (1800).
Preis geb. M. 5.—
— Von der Weltseele (1808). Preis geb. M. 4.40
— Wesen der menschlichen Freiheit (1809).
Preis geb. M. 1.60
Schleiermacher, Friedrich. Grundriß der philosophischen
Ethik. In der Twestenschen Fassung neu hrsgeg. von D. Fried-
rich M. Schiele. VIII, 219 S. Preis M. 2.80, geb. M. 3.40
Diesem Neudruck der Schleiermacherschen Sittenlehre ist die praktische und sorg-
fältige Twestensche Ausgabe zugrunde gelegt, die unter Schleiermachers eigenhändigen
Entwürfen die beiden besten auswählt und sie in ihrer ursprünglichen Gestalt
gibt. Doch hat der Herausgeber auch hieran noch gebessert, indem er die Stücke
wesentlich übersichtlicher ineinander ordnet, wodurch sich die störenden Anhänge
Twestens erübrigen.
Schieiermachers Werke in 4 Bänden. IVIit Geleitwort von
Prof. D. Dt. A, Dorn er. Hrsg. u. eingeleitet von Privat-Doz. Dr.
Otto Braun. 1910/11. Groß-8o. (Bisher erschienen Bd. 1, 3 u. 4.)
Preis M. 28.—, geb. in Hfz. M. 38.—
Solange wir noch nicht aus der Krisis, in der die ganze christliche Ideenwelt steht,
heraus sind, so lange ist der Mann, der in dieser Krisis mitten inne stand und zu einem
Führer aus ihr bestimmt war, ein Prophet für unsere Tage. Er hat unter allen den
Großen seiner Zeit am persönlichsten und eindringlichsten mit dem eigentlichen reli-
giösen Problem gerungen, hat aber ebensosehr daneben die ethischen und erkenntnis-
theoretischen Überzeugungen und Werte zu behaupten gesucht, indem er sie in eigener
Weise durchdachte und ins praktische Leben mit unermüdlicher Tätigkeit einführte.
Kantstudien.
Daraus einzeln:
— Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (1803. 1834.
1846.) Mit einer Inhaltsanalyse. XXXII, 346 S.
Preis M. 4.—, geb. M. 5.—
— Akademieabhandlungen (Tugendbegriff, Pflichtbegriff, Natur-
gesetz und Sittengesetz, Begriff des Erlaubten, Begriff des höchsten
Gutes, Beruf des Staates zur Erziehung, Begriff des großen Mannes.)
IV, 185 S. Preis M. 2.—
Hierin enthalten u.a. der am Geburtstag Friedrichs des Großen gehaltene
Vortrag-, der den Begriff des großen Mannes im Sinne Piatos analysiert und den Ver-
fasser des konstitutionellen Staatsgedankens als konservativen Träger der friderizia-
nischen Tradition erscheinen läßt.
— Predigten über den christlichen Hausstand. Hrsgeg. und ein-
geleitet von Prof. D. J oh. Bauer. IV, 42, 176 und 4 S.
Preis M. 3.—, geb. M. 4.—
Eine wahre Perle sind die Predigten Schlei er machers über den christlichen
Hausstand; man erschrecke nicht: Predigten, die ihrem Inhalt nach zu den ethischen
Hauptschriften gehören. In wundervoller Weise, eingehend, feinsinnig sind sie von
Bauer eingeleitet und in Beziehung gesetzt zu Schleiermachers Leben, Ideenwelt und
sonstigen Außeningen. Kantstudien.
— Reden über die Religion. IV, 193 S.
Preis M. 1.40, in Pappband M. 1.80
Wer heute über den Fall Jatho mitreden, nein, wer ihn ganz innerlich und in
feinstem Empfinden miterleben und mitdurchleiden will, der lese die vierte Rede aus
Schleiermachers ,, Reden über Religion". Christliche Freiheit.
Alphabetisch geordnetes Verzeichnis
der
Philosophischen Bibliothek.
Sammlung der philoso- /^Jp5\ Mit ausführlichen Ein-
phischen Hauptwerke I j || jl leitungen sowie Sach-
alter und neuer Zeit. V JL^v/ und Namensregistern.
Die Philosophische Bibliothek ist ein wirklich wundervolles In-
strument der Forschung und der Kultur, um das alle Nationen, in
denen der Geschmack an den tiefsten Problemen des Geistes vorhanden
oder im Erwachen ist, Deutschland beneiden müssen.
La Cultura (Rom).
Band Jf ^
2 Aristoteles. Metaphysik. Übers., erläut. u. mit e. Lebensbe-
schreibung versehen v. Dr. E. Rolfe s. Bd. I. 1904. 18,
162 u. 36 S. (geb. 3.—) 2.50
8 Bd. IL 1904. 154 u. 46 S. (geb. 3.—) . 2.50
Das Bestreben, den inneren Znsammenhang hervortreten zu
lassen^ charakterisiert die Übersetzung Rolf es' und führt nebst
glücklicher "Wahl des deutschen Ausdrucks zu einer flüssigen, auch
an schwierigen Stellen verständlichen Sprache.
Monatshefte für Mathematik und Physik.
Die Übersetzung, wahrlich keine leichte Aufgabe, ist vorzüg-
lich gelungen; sie legt überall von einem tiefgründigen Verständ-
nisse Zeugnis ab. Ganz besonders tritt dies noch in dem dritten
Teile der Arbeit hervor: in den Anmerkungen zu den einzelnen
Büchern. Überall sieht man die gründliche Kenntnis der plato-
nischen und aristotelischen Philosophie und völlige Vertrautheit
mit der einschlägigen Literatur bis m die neueste Zeit herab ; da-
bei zeigt sich der Verfasser als selbständiger Denker. Ein Namen-
und Sachverzeichnis bildet den Schluß der höchst verdienstlichen
Arbeit. Prof. A. Stölzle in der Theologischen Revue.
4 — Über die Seele. Neu übersetzt von Gymn.-Dir. Dr, Adolf
-Busse. 1911. XX, 94 u. 27 S. (geb. 2.70) 2.20
5 — Nikomachische Ethik. 2. Aufl. Neu übersetzt u. erläut. von
Dr. theol. E. R o 1 f e s. 191 1 . XXIV, 234 u. 40 S. (geb. 3.80) 3.20
In den Anmerkungen sind die Beziehungen zwischen Tugend,
Glück und Vergnügen im Eudämonismus gut herausgearbeitet;
man kann sich nur dazu beglückwünschen, einen so zuverlässigen
Führer in dieser Frage zu haben, die die Pundamentalfrage in der
Aristotelischen Ethik ist. Revue N6o-Scolastiqne.
7 — Politik. 38, 268 S. (geb. 3.—) 2.50
9-13 — Organon kompl. 126, 606 S. (geb. 6.—) 6.10
Daraus einzeln:
9 — Kategorien und Hermeneutica. 12, 82 S. (geb. 1.40) . . 1.—
10 — Erste Analytiken, oder: Lehre vom Schluß. 172 S. (geb. 1.20) —.80
11 — Zweite Analytiken, oder: Lehre vom Erkennen. 136 S. . . —.80
12 — Topik. 32, 206 S. (geb. 2.40) 2 —
2
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band .^ <^
13 Aristoteles. Sophistische Widerlegungen. 26, 66 S. (geb. 0.90) —.50
14—18 Erläuterungen zum Organon kompl. 729 S. (geb. 3.80) . 3.—
* — Ars poetica. Ed. Fr. Ueberweg. 40 S —.40
•JO Berkeley, Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen
Erkenntnis. Übers, u. mit Anm. versehen von Friedrich
Ueberweg. 4. Auü. 1906. 166 S. (geb. 2.50) .... 2.—
"Wer einen Einblick pfewinnen will in die so einfach^Q und da-
bei so überraschend wirkenden Anfang^sfragen des Erkenntnis-
problems, wer das Gebiet der zunächst lieg-enden Erfahrung nicht
verlassen und doch einmal eine Luft atmen willj die der jetzt fast
auf allen Gebieten sich hervordrängenden matenalisti»chen Gmnd-
anschauung vollständig entgegengesetzt ist, der nehme Berkeley
zur Hand. Deutsches Protestantenblatt.
102 — Drei Dialoge zwischen Hylas imd Philonous. Übers, u. eingel.
v.Raoul Richter, gr. 8°. 1901. XXVH, 131 S. (geb. 2.50) 2.—
Die vorliegende Übersetzung ist in doppelter Hinsicht dankens-
wert. Einmal macht sie dem deutschen Leser diejenige Schrift
des Philosophen zugänglich, die sich am besten zur Lektüre eignet
für den, welcher ihm zum ersten Male näher zu treten wünscht.
Sodann hat der Übersetzer diese seine Aufgabe in sorgfältiger und
glücklicherweise gelöst; die Verdeutschimg ist nicht nur gut les-
bar, sondern wahrt auch geschickt die stehenden technischen Aus-
drücke des Originals. Deutsche Literaturzeitung.
143 — Theorie der Gesichtswahrnehmung. Im Druck.
' 21 Brano, Giordano. Von der Ursache, dem Prinzip und dem
Einen. Übers, u. mit Anm. versehen von Prof. AdolfLasson.
3. Aufl. 1902. XXIV, 115 u. 47 S. (geb. 2.—) 1.50
Die Übersetzung, die Prof. Lasson von den fünf Dialogen
Brunos schon im Jahre 1872 veröffentlichte, ist allgemein bekannt
wegen ihrer Genauigkeit und der Meisterschaft, mit welcher der
Schwung und der Glanz des italienischen Stiles wiedergegeben ist.
Man kann sich also auf eine dritte noch verbesserte Auflage nur
freuen. Eine Einleitung und zahlreiche Anmerkungen setzen jeden
Leser in den Stand, ohne eine besondere Vorbereitung Brunos Ge-
danken ziemlich gut zu verstehen.
Viertel] ahrsschrift f. wiss. Philosophie.
22 Cicero. Fünf Bücher über das höchste Gut und Übel. 346 S. 1.—
23 — Drei Bücher über die Natur der Götter. 262 S. (geb. 1.20) —.80
24 — Lehre der Akademie. 176 S. (geb. 1. — ) — .60
* Comte, Augfuste. Die positive Philosophie. Im Auszuge von
Jules Rig. 2 Bde. in Groß S^. 32, 472 S. 12, 524 S. . 16.-
— Levy-Bruhl, L. Die Philosophie Comtes. Übersetzt von
H. Molenaar. VI, 288 S 6.—
25 Condillac. Abhandlung üb. die Empfindungen. Zur Zeit vergriffen.
140a/l> D'Alembert's Einleitung in die französische Enzyklopädie von
1751 (DiscouTB preliminaire). Herausgeg. und erläutert vou
Dr. Eugen Hirschberg.
Uüa I. Teil: Text. XXIII, 153 u. 11 S. (geb. 3.—) .... 2.50
140 b II. Teü: Erläuterungen. VIII, 192 S 1.50
Beide Teile in 1 Band gebunden 4.50
* Dante. Über die Monarchie. 91 S. (kart. —.90) . . . . . -.60
26- Descartes' Philosophische Werke. Mit einem Gesamtregister.
29 In 2 Bibliotheksbände geb 15.—
Die reichhaltigste deutsche Ausgabe Descartes'!
*) Außerhalb der Nummernfolge der Philosophischen Bibliothek.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band ^ ^
Deseartes.
26 u. I. Abhandlung über die Methode. Die Regeln zur
26a Leitung des Geistes. Die Erforschung der Wahrheit durch
das natürliche Licht. Neu übers, u. mit Einleitung u.
Anm. herausgeg. von Dr. Artur Buchenau (geb. 3. — ) 2.4C
Die „Eeg-eln" und die „Erforschung: der Wahrheit" erscheinen
hier zum ersten Male überhaupt in deutscher Übersetzung'. Die
Eegfeln bilden das methodische Grundwerk der Philosophie Des-
cartes': es sind darin die erkenntnistheoretischen und die Unter-
suchungen über die grundlegenden Probleme der Mathematik in
einer Klarheit enthalten, die durch die späteren Werke nicht über-
troffen, ja kaum je erreicht wird. Die „Erforschung" aber bildet
eine wichtige Ergänzung zum anchen in den Eegeln berührten Fragen .
Daraus einzeln:
20 — Abhandlung über die Methode. 2. Aufl. 1905. 82 S. —.60
26 a — Die Regeln zur Leitung des Geistes. Die Erfor-
schung der Wahrheit durch das natürliche Licht.
1906. 168 S. (geb. 2.40) 1.80
27 II. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Neu
übers, u. auf Grund der „Objectiones et Responsiones"
erläutert von Dr. Artur Buchenau. 3. Aufl. 1904.
68 u. 246 S. (geb. 3.50) 3.—
Erst die bisher in der Seminarlektüre unberechtigt vernach-
lässigten „Einwendungen und Erwiderungen", die ja einen weit
größeren Umfang einnehmen als das zugrunde gelegte Werk, geben
einen vollständigen und sicheren Einblick in die Tendenz und Ab-
sicht dieser Schrift Descartes'. Immer sieghafter kann man den
kritischen Gedanken, der in den Meditationen noch in einer
metaphysisch-dogmatischen Umhüllung auftritt, in der Verteidi-
gfung gegen die Einwürfe und Mißverständnisse der Gegner durch-
brechen sehen. 0. Buek im „Literarischen Zentralblatt*.
28 III. Die Prinzipien der Philosophie. 3. Aufl., von Dr. Artur
Buchenau. 1908. 48, 310 S. (geb. 5.60) . .... 5.—
29 IV. Über die Leidenschaften der Seele. Übers, u. erläut.
von Dr. A. Buchenau. 3. Aufl. 1911. XXXII, 120
u. 30 S. M. d. Register d. Gesamtausgabe, (geb. 2.80) 2.20
* — Regulae ad directionem ingenii. Nach der Originalausg. von
1701 herausgeg. von Dr. Artur Buchenau. 1907. IV, 66 S. 1.—
— Jungmann, K. Rene Descartes. Eine Einführung in seine
Werke. 1908. VIII, 234 S 6.50
127— Flehte, Job. Gottl. Werke in 6 Bänden. Hrsg. v. Prof. Dr.
132 ■ F. Medicus. Groß 8». 1908—12. (geb. in Hfz. 57.—) . 42.—
Die Textbehandlung ist durch mustergültige Genauigkeit aus-
gezeichnet. Die Einleitungen des Herausgebers führen vortrefflich
in die zeitgeschichtlichen Bedingungen dieser Schriften ein. Daß
Fichte auch für unsere Zeit noch manches zu sagen hat, daß er
noch nicht lediglich historisch geworden ist, mögen besonders die
Einleitungen zum „Handelsstaat" und zur „Anweisung" lehren.
Es scheint aber, als ob auch die geistige Stimmung vielfach zu
Pichte zurücklenkt als dem Denker, der unter der Hülle seiner
Metaphysik des Ich der Persönlichkeit ihre Stellung gewinnt.
Zeitschrift für den deutschen Unterricht.
Die umfangreiche Einleitung (170 Seiten) gibt nicht nur eine
mit großer Sorgfalt ausgeführte Biographie, sondern vor allem ein
geistiges Bild von Fichtes Persönlichkeit, wie es nur von tiefem
Verständnis und Liebe für einen Großen erreicht wird. Diese Dar-
stellung erweitert sich zu einem Kulturbilde, je mehr Fichtes Wirk-
samkeit mit seiner Berufung nach Berlin an Bedeutung gewinnt.
Zeitschr. f. d. dtsch. Unterricht
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band Jl ^
127 Fichte, «T. O. Bd. I. Mit Bildnis Fichtes nach der Büste von L.
Wichmann. 1911. CLXXX u. 603 S. (geb. in Hfz. 9.50) 7.—
Einleitungr von Medious S. I— CLXXX. Versuch einer Kritik
aller Offenbarung (1792). S. 1.-128. —Rezension des Aenesidemos
(1794). S. 129—164. — Über den Begrriff der Wissenschaftslehre
(1794). S. 156-216. — Bestimmung des Gelehrten (1794). S. 217—274.
— Grundlage der presamten Wissenschaftslehre ('1794). S. 276—520.
— Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rück-
sicht auf das theoretische Vermögen (1795). S. 521-603.
Daraus einzeln:
127a Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794). IV, 61 S. 1.—
127b Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794). Mit
Einltg. von P. Medious. XXX, 245 S. (^eb. 4.—) . . 3.—
127c — — Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre
in Rücksicht auf das theoretische Vermögen. IV, 83 S. . 1.20
12S — Bd. II. 1908. 759 S. (geb. in Hfz. 9.60) 7.—
Grundlage des Naturrechts (1796), S. 1—390. — Das System
der Sittenlehre (1798). S. 391—759.
Daraus einzeln:
12Sa — — Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der
Wissenschaftslehre (1798). 1908. IV, 371 S. (geb. 4.60) . 3.50
128b Grundlage des Naturrechts. 1908. IV, 389 S. (geb. 5.—) 4.—
129 — Bd. 111. Mit e. Bildnis Fichtes (Kupferstich von Schult-
heis). 1910. 739 S. (geb. in Hfz. 9.50) 7.—
Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). S. 1—84. —
Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). S. 35—102. —
Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797).
S. 103—118. — Die philosophischen Schriften zum Atheismusstreit
(1798—1800). S. 119—260. — Die Bestimmung des Menschen (1800).
S. 261—416. — Der geschlossene Handelsstaat (1800). S. 417—544. —
Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigent-
liche Wesen der neueren Philosophie (1801). S. 545—644. — Fried-
rich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen (1801). S. 646—789.
Daraus einzeln:
129a Erste und zweite Einleitung in die Wisse nschaftslehie.
1910. IV, 102 S. (geb. 2.—) .• • .• ^-^^
129b — — Die philosophischen Schriften zum Atheismusstreit. Mit
Einltg. V. F. Medicus. XXXIII, 142 S. (geb. 2.60) . . 2.-
Gerade in unserer Zeit der Religionsstreitigkeit^n , da auch
wieder gegen Männer der Vorwurf des Atheismus erhoben wird,
die sich durch ein tieferes Gotteserleben auszeichnen, sind diese
Schriften nicht nur für den Philosophen, sondern allgemeinhln
interessant, fast hätte ich gesagt: aktuell. Eine vorzügliche Ein-
leitung von Medicus zeichnet den äußeren Verlauf des Atheismus-
streites und trägt nicht vinwesentlich zum Verständnis der Fichte-
schen und Forbergschen Schriften bei. A. D. B, Zeitschrift.
129r Die Bestimmung des Menschen. 1910. IV, 155 S. . . 1.80
129d Der geschlossene Handelsstaat. Mit Einleitung von F.
Medicus. 1910. XII, 127 S 1.50
129e Sonnenklarer Bericht über das eigentliche Wesen der
neueren Philosophie. IV, 102 S 1.20
129 f NicolaisLeben und sonderbare Meinungen. 1910. IV, 95 S. 1.—
130 — Bd. IV. 1908. 648 S. (geb. in Hfz. 9.60) 7.—
Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus dem Jahre 1801.
S. 1—164. — Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen i. J. 1804.
S. 165—392. — Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (,1806).
S. 393—648.
Daraus einzeln:
130a Die Wisaenschaftslehre von 1801 u. 1804. 396 S. igeb. 5.—) 4.—
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band M ^
130b Fichte, Joh. Oottl. Grrundzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
1908. IV, 264 S. (ffeb. 4.—) 3.—
Die Grundzüge geoen eine äußerst lein durchgearbeitete Ana-
lyse der geistigen Bewe^ngen, die vor hundert Jsinren unser Volk
durchströmten. Sie mit den Grundzügen unseres Zeitalters zu
vergleichen, den Abstand und die innere Einheit sich klar zu
machen, ist eine lohnende, uns bereichernde Aufgabe.
Die Studierstube.
131 — Bd. V. Mit e. Bildnis Fichtes (Medaillon von Wich-
mann). 1910. 692 S. (geb. in Hfz. 9.50) 7 —
Über das "Wesen des Gelehrten (1806). S. 1—102. — Anweismig
zum seligen Leben (1806). S. 108-808. — Bericht über den Begriff
der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale ders. (1806).
S. 309—356. — Zu „Jacobi an Fichte" (1807). S. 857-364. — Reden
an die deutsche Nation (1808). S. 865—610. — Die Wissenschafts-
lehre in ihrem allgemeinen Umriß fl810). S. 611—628. — Vor-
lesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1811). S. 629—692
Daraus einzeln:
131a — — Über den Grelehrten. Bestimmung des G-elehrten (aus
Bd. I) (1794) — Wesen des Gelehrten (1805) — Bestimmung
des Gelehrten (1811). lY, 224 S. (geb. 4.—) 3.—
131b — — Anweisung zum seligen Leben. Mit Einltg. v. F. Medi-
eus. XVIIl, 205 S. (geb. 3.50) 2.60
Diese verhältnismäßig leicht verständlichen Vorträge verdienen
weitgehende Beachtung auch in unserer Zeit ; denn sie sind nichts
weniger als veraltet. Konzentration, Selbstbesinnung. Vertiefung
tut unserer oberflächlichen, viel zu vieles überfliegenden Zeit not.
Und auf diese dringt Fichte in seinen Vorlesungen.
A. D. B. Zeitschrift.
ISlc Eeden an die deutsche Nation. 1910. 250 S. (geb. 2.80) 2.—
132 — Bd. VI. Mit dem Gesamtregister. 1912. (in Htz, geb. 9.60} 7.—
Inhalt: System der Sittenlehre (1812). S. 1—118. — Über das
Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transzendentale Logik
(1812). S. 119—416. — Die Staatslehre oder über das Verhältnis des
Urstaates zum Vemunftreiche (1818). S. 417—625. — Register der
Gesamtausgabe.
Daraus einzeln:
132a System der Sittenlehre, (geb. 2.20) 1.60
1321> Transzendentale Logik, (geb. 5. — ) 4.—
132c Die Staatslehre, (geb. 4.—) 3.—
Außerhalb der Gesamtausgabe erschien:
30 — Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Hrsg. v. J. H. v.
Kirchmann. 202 S. (geb. 1.50) 1.—
120 Fichte, Schleiermacher, Steffens. Über das Wesen der Uni-
versität. Mit einer Einltg. herausgeg. von Eduard Spranger.
1910. XLni, 280 u. 11 S. (geb. 4.50) 4.—
Die Einleitung von Spranger ist als eine Abhandlung von selb-
ständigem Wert anzusehen. Sie zeigt uns in großen Zügen, wie
der Kampf zwischen Staat und Universität sich vom Mittelalter bis
zur Neugründung der Berliner Hochschule gestaltete.
Zeitschrift für Philosophie.
* Friedrich der Große. Antimachiavell. XX, 120 S. (kart. 0.90) —.60
109 Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch für jeden
gebildeten Deutschen. Mit ausfuhrl. Einltg. herausgeg. von
Max Heynacher. 1905. Vni, 110 u. 318 8 3.60
— — Einfach geb. M. 4. — In Geschenkband ...... 5. —
Als ich dieses Buch las, in einem, was man sonst nur von da
und dort sich zusammenholen und sich selber zurechtkonstruieren
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
±>aiia miiß, so Zug um Zug vom Urquell trank — da kam es auch -
über mich immer wieder wie ein Erschrecken und Erschauern.
Und mir war's als wieder etwas ganz Neues, als hätte ich's zum
ersten Male erfunden und entdeckt und noch nie gehört : Goethes
Philosophie bedeutet wirklich und wahrhaftig etwas ganz Neues.
Julius Hart im ,.Tag".
81 '2 Crrotius, Hugro, Drei Bücher über das Recht des Krieges und
Friedens. 2 Bde. 630 S. 480 S. (geb. 7.—) 6.—
33 Hegel, Georg Wilh. Friedr. Encyclopädie der philosophischen
Wissenschaften im Gnindiisse. In 2. Aufl. neu herausgeg.
von Georg Lassen. 1905. 76, 499 u. 23 S. (geb. 4.20) 3.60
Diese Ausgabe der Enzyklopädie bildet eine Zierde der Philo-
sophischen Bibliothek und wird auch an ihrem Teile dazu bei-
trapren, immer weitere Kreise der Gebildeten von neuem für die
Philosophie des tiefsten Denkers der deutschen Nation zu gewinnen.
Preuß, Jahrb.
114 — Phänomenologie des Geistes. Jubiläumsausgabe. Hrsgeg. u.
eingeleitet v. G. Lassen. 1907. 119, 532 S. (geb. 6.—) . 5.—
Ganz besonders hervorgehoben zu werden verdient die aus-
führliche Einleitung, die der Herausgeber diesem Werke voran-
feschickt hat. Er gibt darin eine Entwicklung des Hegeischen
Denkens bis zur „Phänomenologie" hin und eine Charakteristik
dieser Schrift selbst, die als die beste und wirkungsvollste Ein-
führung in das Studium dieses Philosophen hingestellt werden
können. Preußische Jahrbücher.
124 — Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit den von Gans
redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesungen neu herausgeg.
von Georg Lassen. 1911. XCVI, 380 S. (geb. 6.—) . 6.40
* — Phänomenologie des Geistes. Hrsg. u. eingeleitet v. Otto
Weiß. 1909. XLIV, 612 u. 15 S. Gr. S«. (in Hfz. geb. 9.—) 7.—
Die Fortsetzung dieser von dem Verlage von Fritz Eckardt
begonnenen und in meinen Besitz übergegangenen, auf 12 Bände
berechneten Gesamtausgabe der "Werke Hegels wird mit der von
Georg Lassen besorgten Ausgabe vereinigt und im Eahmen
der „Philosophischen Bibliothek.'' f ortgfeführt werden. Als nächste
Bände werden erscheinen die „Ästhetik", hrsg. von O. Weiß, und
die „Kleinen Schriften zur Rechtsphilosophie und Staatslehre",
hrsg. von G. Lasson.
112 Herders Philosophie. Ausgewählte Denkmäler aus der Werde-
zeit der neuen deutschen Bildung. Herausgeg. v. Horst
Stephan. 1906. 44, 275 u. 35 S. (geb. 4.20) 3.60
Herder ist der Sämann, der am Eingang unserer modernen
Kultur steht. Mit dem weitausgreifenden Scfiritt des Sehers und
Propheten hat er als erster das große Eeich unseres "Weltempfin-
dens und "Welterkennens durchschritten und überallhin über das
fruchtbare Land seine Keime ausgestreut, die heute langsam der
Blüte und Frucht entgegenreifen.
Hobbes. De corpore. In VorbereituDg.
123 Humboldt, Wilh. Ton. Ausgewählte philosophische Schriften.
Herausgeg. v. Joh. Schubert. 1910. 39, 222 S. (geb. 4.—) 3.40
Die Bedeutung Humboldts als eines bedeutenden und originellen
Denkers ist mit seinen sprachphilosophischen und geschichts-
philosophischen Arbeiten nicht erschöpft. Besteht die größte der
Künste darin, sein ganzes Leben zum Kunstwerke zu gestalten,
den ledernen Verrichtungen des Berufs einen höheren Stempel
aufzudrücken, so hat Humboldt diese Kunst geübt. Alles was
er schreibt, und seien es die geringfügigsten Erlasse, ist voller
Ideen; seine Yerordnungen als Gesandter und preußischer Staats-
beamter zeigen eine Großzügigkeit des Denkens, die ein Haupt-
grund seiner Erfolge ist. Der Tag.
* — Denkschrift über Preußens ständische Verfassung 1819 und
andere Abhandlungen zur Staatslehre. 36 u. 96 S. . . . --.()0
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band M ^
35 Hiime, Dayid. Eine Untersuchung über den menschlichen Ver-
stand. 7. Aufl. Herausgeg. von Raoul Richter. 1911.
VIII, 193 u. 31 S. (geb. 2.90) 2.40
— In vornehmem Geschenkband 3.60
Die Übersetzung Richters ist in jeder Beziehung^ mustergültig:.
Mit bewundernswertem Sj»rachgescnick und nie versagender Ge-
wissenhaftigkeit hat er es verstanden, auch in schwierigen Fällen
Humes eigentümliche Eedeform in eine wirklich entsprechende und
doch wirklich deutsche Ausdrucksweise umzugießen.
Zeitschrift für Philosophie.
36 — Dialoge über natürliche Religion. XJber Selbstmord
und Unsterblichkeit der Seele. Übersetzt u. eingeleitet von
Friedrich Paulsen. 3. Aufl. 1905. 28 u 188 S. (geb. 2.—) 1.60
Diese Schrift kann uns auch heute noch ermutigen in unserm
heißen Eingen um Gewissensfreiheit und Toleranz. „Mit meister-
hafter Klarheit entwickelt Paulsen in seiner Einleitung die naög-
lichen Verhaltungsweisen zu den Religionswahrheiten überhaupt.
Die Ausgabe gewinnt dadurch einen über die Bedeutung ihrer
ursprünglichen Bestimmung weit hinausreichenden "Wert."
Kantstudien.
* — Nationalökonomische Abhandlungen. Übers, v. H. Nieder-
müller. VI, 135 S 1.—
125 Isidoros, Das Leben des Philosophen. Wiederhergestellt, übers.
u. erklärt von R. Asm US. 1911. XVI, 126, 58u.30S. (geb.8.50) 7.50
IU> Kaiser Julian. Philosophische Werke. Übers, u. erklärt von
Rud. Asm US. 1908. Vn, 205 u. 17 S. (geb. 4.25) . . . 3.76
37 — Kant, Imm. SUmtliche Werke. Herausgeg. von K. Vorländer,
52 in Verbindung mit 0. Buek, 0. Gedan, W. Kinkel, F.
M. Schiele, Th. Valentiner u. a. In 9 Bibliotheksbänden
und 1 Supplementband, enthaltend Vorland er s Kantbio-
graphie und Cohens Kommentar z. Kr. d. r. V 65. —
Dies ist dte einzige Ausgabe von Kants Sämtlichen Werken, die zur-
zeit im Buchhandel vollständig zu haben ist. Besonders freudig
wird es daher begrüßt werden, daß hier zum voUen Verständnis
des gewisspnhaft revidierten Textes eine wesentliche Erleich-
terung durch die Einleitungen und Anmerkungen erster Autori-
täten geboten wird.
37 — Bd. !. Kritik der reinen Vernunft. 9. Aufl. Neu heraus-
geg. von Th. Valentiner. 1906. XII, 770 S. (geb. 4.70) 4.—
— — In Geschenkband geb 5.40
In der 9. Avjüage sind nun auch die Textänderungen, die Erd-
mann vorgeschlagen und Goldschmidt rezensiert hat, berücksich-
tigt worden. Der Ausgabe von 1787 sind die Abweichungen vom
Texte der ersten Ausgabe — in Anmerkungen und Beilagen — an-
geschlossen. So genügt der vorliegende Band auch höheren An-
sprüchen, zumal wichtige Textänderungen früherer Herausgeber
und Vorschläge modemer Kant-Interpreten in reichlichen Fußnoten
Platz gefunden haben. Wissenschaftliche Beilage d. Leipz. Ztg.
IIJJ — Kitrzer Handkommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft.
Von Geh. Rat Prof. Dr. Hermann Cohen. 1907. 242 S. 2.—
"Wer an Cohens Hand wandelt, dem sind hundert Ab- und Irr-
wege erspart, dem bleibt die volle Kraft für das Wesentliche an
der Vernunftkritik, der mag schöne Stunden sichtlich wachsender
Erkenntnis genießen. Und so wird in unseren Tagen, wo unleug-
bar der Sinn weiter Schichten sich der Philosophie öffnet, nur
die Auswahl der philosophischen Lektüre oftmals durch geringere^«
Schwierigkeit des Eindringens bestimmt wird und darum ins All-^g^.
gemeine geht, Cohens Kommentar viel Segen stiften. Er sei vielen
enjpfohlen. Leipziger Zeitunp.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band Ji oS
3S Kant. Bd. II. Kiitik der praktischen Vernunft 5. Aufl. M. Einltg.
hrsg. V. Karl Vorländer. 1906. 47 u. 220 S. (geb. 3.40) 2.80
39 — Kritik der Urteilskraft. 3. Aufl. Neu herausgeg. u. eingeleitet
vonProf.Dr.KarlVorländer. 1902. 38, 378 u. 36 S. (geb. 4.10) 3.50
Ich stehe nicht an, diese Ausgabe eine Zierde der Philosophi-
schen Bibliothek zu nennen.
Ferd. J. Schmidt in den Preuß. Jahrbüchern.
40 — Bd. ill. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.
4. Aufl. Herausgeg. u. eingeleitet von Karl Vorländer.
Mit 3 Beilagen. 1905. 44, 196 u. 12 S. (geb. 2.50) ... 2.—
41 — Grrundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3, Aufl. M. Einltg.
herausgeg. V. K. Vorländer. 1906. 30 u. 102 S. (geb. 1.80) 1.40
4*2 — Metaphysik der Sitten. 2. Aufl. Hrsg. u. eingeleit. von
Prof. Dr. Karl Vorländer. 1907. LI, 360 u. 18 S. (geb. 5.20) 4.60
43 — Bd. IV. Logik. 3. Aufl. Neu herausgeg. u. eingeleitet von
Prof. Dr. Walter Kinkel. 1904. 28 u. 171 S. (geb. 2.50) 2.—
44 — Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 4. Aufl. 1899. 279 S. 1.50
45 — Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.
3. Aufl. Herausgeg. u, eingeleitet von Karl Vorländer,
1903. 96, 236 u. 24 S. (geb. 3.70) 3.20
Der große Vorzug: der Ausgaben Dr. Vorländers besteht in den
ausführlichen Einleitungen, welche die Grundgedanken des kriti-
schen Idealismus erläutern und so, in Verbindung mit genauen
Sachregistern, das Studium Kants zu erleichtem und sein Ver-
ständnis zu fördern recht geeignet sind. Wie trefflich jene Ausg'aben
ihrem Zwecke dienen, wird nur der recht zu würdigen wissen,
der sich ohne solche Hilfsmittel durch Kants Philosophie mühsam
hat hindurcharbeiten müssen. Protestantische Monatshefte.
46 — Bd. V. Kleinere Schriften zur Logik u. Metaphysik. 2. Aufl.
Herausgeg. u. eingeleitet von Prof. Dr. Karl Vorländer.
1905. 32, 169; 40, 172; 20, 175; 31, 175 S. (geb. 6.—) . . . 6.20
Hiervon einzeln:
46a — Versuch, den Begrifi" der negativen Grrößen in die Welt-
weisheit einzuführen, (geb. 2, — ) 1.50
46b — Träume eines treistersehers , erläutert dui'ch Träume der
Metaphysik, (geb. 2.—) . 1.50
46c — "Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik
seit Leibnizens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht
hat? (geb. 2.—) 1.50
46d — Der Streit der Fakultäten, (geb. 2.—) 1.50
47 — Bd. VI. Kleinere Schriften zur Ethik u. Kelig^onsphilosophie.
(2. Abt. in 2. Aufl.) VIU, 224; VIII, 172 S. (geb. 2.50) . 2.—
Hiervon einzeln:
4711 __ Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes und die anderen kleinen Schriften zur
Rel.-Phü. 3. Aufl., rev. von Fr. M. Schiele. 1911. (geb. 2.—) 1.50
48 — Bd. VII. Kleinere Schriften zur Naturpliilosophie. 2. Aufl.
Herau8g.u.eingel.v. 0. Buek. Bd.l. 1909. 42, 338 S. (geb. 4.60) 4.—
49 Bd. 2. 1907. 12 u. 454 S. (geb. 5.60) 5.—
50 — Bd. VIII. Vermischte Schriften und Briefwechsel. VI, 562 S.
(geb. 4.60) 4.—
51 — Bd. IX. Physische Geographie. 2. Aufl. Neu herausgeg. von
Paul Gedan. 1905. 30, 366 u. 20 S. (geb. 3.40) . . . . 2.80
52 — Die vier lat. Dissertationen im Urtext. VI, 122 S. (geb. 1.40) 1.—
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band Jl ^
126 — Kants Leben. Dargestellt von K. Vorländer. Mit e. Bildnis
u. e. Zeittafel. 1911. XI, 211 u. 12 S. (geb. 3.60) . . 3.—
— — In vornehmem Greschenkband ..... . . . 4.20
Die großen Kantbiogfi-aphien sind alle durchsetzt mit der Ana-
lyse seiner Werke; darum tritt in jenen die Gestalt des "Weisen
von Königsberg- in den Hintergrund, und die schlichte Größe des
Menschen kommt uns nicht recht zum Bewußtsein. Vorländer
dagegen sucht das Leben Kants, seine menschlichen Erlebnisse,
die Entwicklung und das äußere Geschick des Denkers darzustellen.
Es ist trotz der Herbe der Züge ein wohltuendes Ganze, das uns
hier geboten wird . . . Kants Leben bleibt vorbildlich durch seine
Eeinheit, der Wert desselben überpersönlich, wie die Natur und
alles, was den Stempel der Genialität trägt. Pester Lloyd.
— Busse. Immanuel Kant. Ansprache an die Königsberger
Studentenschaft. 1904. 11 S -.50
— Falckenberg, Richard. Kant und das Jahrhundert. Cie-
dächtnisrede zum lOOjähr. Todestag. 2. Aufl. 1907. 28 S. — ßO
Siehe auch: Wolflfeche Begriffsbestimmungen.
66 Kirehmaun, J, H. v. Grundbegriffe des Rechtes und der Moral. — .80
Kirchner, "Wörterbuch (12.50), siehe unter Lehrbücher der
Philosophischen Bibliothek.
68 La Mettrie. Der Mensch eine Maschine. Übers, u. erläutert
von Dr. MaxBrahn. 1909. 22, 72 S. (geb. 2.20) ... 1.80
Der neue Herausgeber hat es sich angelegen sein lassen, die
Gedanken La Mettries in klarer und flüssiger Sprache möglichst
genj,u wiederzug-eben. Die Einleitung macht uns mit dem Leben
und Charakter des Verfassers bekannt und skizziert mit liebe-
vollem Verständnis seine Geistesrichtiing.
Literarische Bundschau f. d, kath. Deutschland.
Leibniz. Philosophische Werlte. In 4 Bibliotheksbände geb. 24.—
Diese vierbändige Leibniz- Ausgabe ist die einzige, die in hand-
lichem Umfang ein Gesamtbild der Weltanschauung dieses Philo-
sophen gibt, der für die Grundlegung der Probleme wissenschaft-
licher Forschung noch heute maßgebend ist. Wer um die philo-
sophische Begründung der Physik oder der Biologie sich bem ht,
wer Geschichte, Ethik oder Eeligionsphilosophie durchdenkt, oder
wer nach einer strengeren und tieferen Gestaltung der logischen
und mathematischen Prinzipienlehre strebt, muß auf Leibniz zu-
rückgreifen.
107 — Bd. I. Hauptschriften zur Grundlegung der Philo-
sophie. Übers, von Dr. Artur Buchenau. Durch-
gesehen u. mit Einleitungen u. Erläuterungen herausgegeben
von Dr. Ernst Oassirer. L: Zur Logik und Methoden-
lehre; Zur Mathematik; Zur Phoronomie und Dynamik;
Zur geschichtlichen Stellung des metaphysischen Systems.
Mit 17 Fig. 1904. 382 S. (geb. 4.20) 3.60
108 — Bd. II. Hauptschriften usw. IL: Zur Metaphysik (Bio-
logie und Entwicklungsgeschichte ; Monadenlehre); Zur Ethik
und Rechtsphilosophie; — Anhang; — Sach- und Namen-
register. 1906. 580 S. (geb. 6.—) . 5.40
Der vorliegende Band enthält Abhandlung-en , die weiteren
Kreisen wenig bekannt sind, die aber das g-rößte Interesse ver-
dienen, weil sie für die Leibnizsche Philosophie grundlegend sind.
Die Schriften zur Logik und Methodenlehre sind heute um so
aktueller, als der Streit zwischen Psychologismus und Antipsycho-
log-ismus, der gegenwärtig die Geister bewegt, teilweise zu An-
schauungen führt, die schon bei Leibniz zu finden sind.
Neue Freie Presse.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
and «^^ ^
Die Auswahl, welche Cassirer Ton den.. Schriften gibt, strebt in
glücklicher Weise Vollständigkeit der Übersicht in intensivem
Sinne an. Die Einleitungen des Herausgebers sind zur Einführung
in die geschichtlichen und sachlichen Vorbedingungen des Systems
auch für den höchst wertvoll, welcher Cassirers Gesamtauffassung
des Systems nicht überall teilt. Literarisches Zentralblatt.
(Ifl Leibniz. Bd. III. Neue Abhandlungen über den mensch-
lichen Verstand. Übers., mit Einltg. u. Lebensbeschrei-
bung von Prof. Dr. C. Schaarschmidt. 2. Aufl. 1904.
68, 690 S. (geb. 6.80) 6.—
70 — — Erläuterungen dazu von Prof. Dr. C. Schaarschmidt.
2. Aufl. 1908. 122 S. (geb. 2.50) 2.—
71 — Bd. IV. Theodicee. Übers, u. erläut. von J. H. v. Kirch-
mann. Mit 2 Tfln. XVI, 533 S. (geb. 3.60) 3.—
72 Erläuterungen dazu. 162 S — .50
— Merz, J. Th. Leibniz' Leben iind Philosophie. Aus dem
Englischen mit Vorwort von C. Schaarschmidt. 226 S. 2.—
119 Lessings Philosophie, Denkmäler aus der Zeit des Kampfes
zwischen Aufklärung u, Humanität in der deutschen Geistes-
bildung. Herausgeg. von Dr. Paul Loren tz. 1909. 80,
396 S. (geb. 5.20) 4.50
Loren tz' Auswahlband ist wohl das beste und brauchbarste
Werk, das wir über diesen Gegenstand in neuerer Zeit erhalten
haben . . . Wer schnell die Quellenbelege für die Lessingsche
Lebens- und "Weltanschauung gebraucht und sich in der Kürze
eine Ühersicht über die Ansicht des Denkers in einzelnen Fragen
auch entwicklungsgeschichtlich verschaffen will, folge diesem ge-
diegenen Führer. Monatshefte der Comeniusgesellschaft.
121 Lessing:. Über das Trauerspiel. Briefwechsel mit Mendelssohn
und Nicolai. Nebst verwandten Schriften Nicolais u. Mendels-
sohns herausgeg. u, erläut, von Prof. Dr. Robert Petsch.
1910. 55, 144 S. (geb. 3.50) 3.—
75 Locke. Versuch über den menschlichen Verstand. I. Bd.
Neuauflage in Vorbereitung.
76 IL Bd. Neu übers, v. Dr. C. Win ekler. 1911. VIT.
428 S. (geb. 6.20) 5.40
78 Erläuterungen zu Bd. IL 138 S 1.—
79 — Leitung des Verstandes. Übers, v. J. B. M e y e r. 104 S. (geb. 1.20) —.80
141 Lotze, Hermann. Logik. (System der Philosophie. Tl. I.) Mit
ausfühi'l. Einleit. von Prof. Georg Misch. Preis ca. M. 7.50,
geb. ca. 8. 50
Macchiavelli, N. Vom Staate. (Erörterungen über die erste
Dekade des Livius.) Übers, v. W. Grüzm acher. 2n8 S
(kart. 1.40) . L—
* — Der Fürst. Übers, u. eingeleitet von "\V. (irüzm acher.
72 S. (kart. —.70) —.40
* Melanehthon. Ethik. In dir ältesten Fassung zum 1. Male
herausgeg. v. H. Heineck. 5> S 1.20
Mendelssohn, Moses. Von der HeiTschaft über die Neigungen
(3.— ). Siehe unter Lessitigs Briefwechsel.
* Milton, John. Pohtische Hanptschriften. Übers, u. m. Anm. vers.
V. Wilh. Bernhardi. ü Bde. 328; 359; XVIII, 342 S. . 6.—
Nicolai, Friedrieh. Abhandlung vom Trauerspiel (3.—). Siehe
unter Lessingrs Briefwechsel.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Ji ^
Band
SO Plato. Der Staat. Übers, von Friedr. Schleiermacher.
3. Aufl., durchges. von Th. Siegert. 1907. 432 S. (geb. 4.60) 4.—
81 — Gastmahl. .Neuausgabe in Vorbereitung.
82 — Theätet. Übers, u. erläut. von Dr. Otto Apelt. 2. Aufl
1911. IV. 28, 116 u. 48 S. (geb. 4.—) 3.40
Ohne die Apeltsche Übersetzung wird sich niemand mehr
über Theätetfragen äußern können. Die Lektüre ist ein Genuß,
namentlich sind dem Verfasser die Glanzstellen des Dialoges vor-
trefflich geliingen. - Das Buch bietet in gewissem Sinne einen
Abschluß der Theätetforschung. Wochenschr. f. klass. Philologie
83 — Parmenides. 42, 142 S. (geb. 2.—) 1.50
* Pufendorf, Samuel v. Über die Verfassung des Deutschen
Reiches. Übers, u. eingeleit. v. H. Breßlau. 20 u. 118 S. — .80
* Renau, Ernst. Philosophische Dialoge u. Fragmente. Übers.
V. Konrad v. Zdekauer. XIX, 239 S • 2.—
133/5 Schellings Werke in 3 Bänden. Mit drei Porträts Sch.'s und
Geleitwort von Prof. Dr. A. Drews, hrsg. u. eingel. v. Dr.
A. Weiß. 1907. Groß 8 o. (geb. in Hfz. 30.—) 25.—
(Vorzugsausgabe, 30 numerierte Exemplare in Ganzleder-
bänden 40.—).
Wer die tJberzeu^ung teilt, daß Schellings rastlos fortstürmende
Gedankenarbeit in Tiefen der Wahrheit oder doch wenigstens des
"Wahrheitsuchens hineinführt, die kein anderer Denker uns er-
schließen kann, dem muß es eine Freude sein, obige prächtige
Ausgabe der Werke Schellings anzuzeigen ... Die Auswahl der
WeÄe ist so getroffen, daß dem, der diese Ausgabe durcharbeitet,
ein geschlossenes Bild der Gedankenentwicklung Schellings vor
Augen liegt. Christliche Welt.
133 — Bd. I. Schriften zur Naturphilosophie. 1907. CLXII, 816 S.
Mit Bildnis Schellings in Photogravüre, (geb. in Hfz. 11. — ] 9. —
Geleitwort von Prof. Dr. A. Drews. S. IX— XXXII. — Ein-
leitung; Schellings Leben und Lehre. Von Dr. O. Weiß. S.
XXXin— CLXII. — Vom Ich als Prinzip der Philosophie. (1795).
S. 1—96. — Ideen zu einer Philosophie der Natur. (1797). S. 97—440.
— Von der Weltseele. (1798). S. 441—680. — Einleitung zu dem
Entwurf eines Systems der Naturphilosophie. (1797). S. 681 — 738.
— Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses. (ISO:».
S. 739—816.
134 — Bd. II. Die Schriften zum Identitätssj'stem. 682 S. (geb. in
Hfz. 10.—) 8.—
System des transzendentalen Idealismus (1800). S. 1 — 308. —
Darstellung eines Systems der Philosophie (1801). S. 309—416. —
Bruno, oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge
(1802). S. 417 — 536. — Vorlesungen über die Methode des akade-
mischen Studiums (1803). S. 537—682.
135 — Bd. ili. Philosophie der Kunst. — Freiheitslehre. — Posi-
tive Philosophie. 935 S. (geb. in Hfz. 11.— ) . ... 9.—
Philosophie der Kunst (a. d. handschr. Nachl. 1802/3). S. 1—384.
— Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807).
S. 385—426. — Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809).
S. 427—512. — Darstellung des philosophischen Empirismus (1827).
S. 513 — 574. — Auswahl aus der positiven Philosophie (Philosophie
der Mythologie und Offenbarung. 1840/45). S. 575-856. — Biblio-
graphie und Register. S. 857—935.
Einzeln erschienen:
184c — Bruno, oder über das göttliche und natürliche Prinzip der
Dinge (1802) geb. 2.40
1341» — Darstellung eines Systems der Philosophie (1801) geb. 2.40
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Pand -'^^ ^
::?8d — Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Natur-
philosophie (1797). — Allg. Deduktion des dynamischen
Prozesses (1800) 2.40
I33a — Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795) . . . geb. 2.—
1331) — Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) . , geb. 5.40
I34d — Methode des akademischen Studiums (1803) . geb. 2.80
135a — Philosophie der Kunst (aus dem Nachlaß) . . . geb. 5 40
135c — Positive Philosophie (1840/45) geb. 5.—
Unendlich jgToß sind Schellings Schriften über die Kunst, und die
Lichtblicke, die ihm in das Wesen und die Bedeutung des künstle-
rischen Schaffens g-eworden, sind unvergleichlich. Schellin^ war
mehr Künstler als Philosoph und alles ging bei ihm auf das mtui-
tive Schauen. Was er in dieser Beziehung, namentlich in seiner
Schrift über die „Philosophie der Kunst" und in seinem Vortrag
„Über das Verhältnis der oildenden Künste zur Natur" geschaffen,
gehört zum Bedeutendsten, was die intuitire Ästhetik jemals ge-
leistet hat.
Joseph Kohler im Archiv f. Eechts- u. Wirtschaf tsphilos.
134a — System des transzendentalen Idealismus (1800). geb. 5. —
133c — Von der Weltseele (1808) geb. 4.40
1351) — Wesen der menschlichen Freiheit (1809) . . . geb. 1.60
Außerhalb dieser Ausgabe erschien:
104 — Münchener Vorlesungen: Zur Geschichte der neueren
Philosophie. Darstellung des philosophischen Empirismus.
Neu herausgeg. mit Erläuterungen von Prof. Dr. Artur
Drews. 1902. XVI, 262 u. 92 S. (geb. 5.20) 4.60
* Schelling als Persönlichkeit. Briefe, Reden, Aufsätze. Hrsg.
V. 0. Braun. Mit Abb. der Jugendbüste Sch.'s. 1908. 282 S.
(geb. 5.-) 4.-
— GrooB, Karl. Die reine Vemunftwissenschaft. Systemat.
Darstellung v. Schellings rational, od. negativ. Philos. X, 187 S. 3.—
— Braun, 0. Hinauf zum Idealismus! Schelling- Studien.
1908. XII, 154 S. (geb. 3.50) 2.50
Inhalt: Hinauf zum Idealismus I — Schelling und imsere Zeit.
— Schellings geistige Persönlichkeit und ihr Verhältnis zu Goethes
Geisteswesen. — Schellings Methode und ihre Beziehungen zu
Plato, Goethe und Schiller. — Schelling und die Bomantik. —
Schellings Gotteslehre und das religiöse Suchen unserer Zeit. —
Die Entwickelung des Gottesbegriffes bei Schelling.
103 Schiller. Philosophische Schriften und Gedichte (Auswahl).
Zur Einführung in s. Weltanschauung. Mit ausführl. Einltg.
herausgeg. von Eugen Kühnemann. 2. vermehrte Aufl. •
1910. 94 u. 344 S. (geb. 5.20) 4.50
Wertvoll ist die umfangreiche Einleitung, die den pädagogi-
schen Wert der Philosophie Schillers betrachtet und dann insbe-
sondere das Werden der Weltanschauung Schillers auf K-.mtischem
Boden liebevoll behandelt. Über der femsinnigen Arbeit liegt ein
stimmungsvoller Hauch, der das Studium der Schrift zu einem
Kunstgenuß macht. Pädagogische Zeitung.
Kiümemanns Buch, gerade in der neuen Gestelt der zweiten
Auflaj|-e, geht jeden wissenschaftlich gebildeten Lehrer an, ohne
Bücksicht auf sein „Fach", das er auf Grund seiner Fakultäten im
Unterricht vertritt — imd hoffentlich auch in jeder Primanergene-
ration immer den einen oder den anderen.
Monatsschrift für höhere Schulen.
136— Schleiermaohers Werke in 4 Bänden. Mit Geleitwort von Prof.
139 D. Dr. A. Dorner. Hrsg. u. eingel. v. Priv.-Doz. Dr. Otto
Braun. 1910.11. (iroß S®. (Bisher erschienen Bd. 1, 3 u. 4)
(geb. in Hfz. 88.—) 28.—
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band M ^
Solange wir noch nicht aus der Krisis, in der die glänze
christliche Ideenwelt steht, heraus sind, so lange ist der
Mann, der in dieser Krisis mitten inne stand und zu einem
Führer aus ihr bestimmt war, ein Prophet für unsere Tage. Er
hat unter allen den Großen seiner Zeit arn persönlichsten und ein-
dringlichsten mit dem eigentlichen religiösen Problem gerungen,
hat aber. ebensosehr daneben die ethischen und erkenntnistheore-
tischen Überzeugungen und Werte zu behaupten gesucht, indem
er sie in eigener Weise durchdachte und ins praktische Leben mit
unermüdlicher Tätigkeit einführte. Kantstudien.
136 Sehleiermacher. Bd. i. Mit Bildnis Schl/e nach der Büste
von Rauch. CXXVIII, 547 S. (geb. in Hfz. 9.50) ... 7.—
Geleitwort von Prof. D. Dr. A. Dorner. S. I.— XXXIL —
Allgemeine Einleitung von Priv.-Doz. Dr. 0. Braun. S. XXXIII-C.
Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Mit Inbalt»-
analyse von Dr. O. Braun. XXVIIL 846 S. — Akademieabhand-
lungen (Tugendbegriff, Pflichtbegris. Naturgesetz und Sitten-
gesetz, Begriff des Erlaubten, Begriff des höchsten Gutes, Beruf
des Staates zur Erziehung, Begriff des großen Mannes) S. 347 — 632.
— Register usw. S. 533—547.
Daraus einzeln:
138a — Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. (1803
1834. 1846.) Mit einer Inhaltsanalyse. 1911. XXXII, 346 S.
(geb. 5.-) 4.-
13eb Akademieabhandlungen. 1911. IV, 185 S 2.—
138 — Bd. III. 1910. XII, 748 S. (geb. in Hfz. 9.50) 7.—
Dialektik (Auswahl). S. 1—118. — Die christliche Sitte (Aus-
wahl). S. 119—180. — Predigten über den christlichen Hausstand.
Hrsg. von Prof. D. J oh. Bauer. S. 181—398. — Zur Pädagogik
(Auswahl). S. 899—536, - Die Lehre vom Staat (Auswahl). S.
537—630. — Der christliche Glaube (Auswahl) S. 631—729. —
Register. S. 731—748.
Daraus einzeln:
138a — — Predig-ten über den christlichen Hausstand. Hrsg. u. ein-
gel. V. Prof. D. Joh. Bauer. IV, 42, 176 u. 4 S. (geb. 4.—) 3.—
Eine wahre Perle sind die Predigten Schleiermachers über den
christlichen Hausstand; man erschrecke nicht: Predigten, die
ihrem Inhalt nach zu den ethischen Hauptschriften gehören. In
wundervoller Weise, eingehend, feinsinmg sind sie von Bauer
eingeleitet und in Beziehung gesetzt zu Schleiermachers Leben,
Ideenwelt und sonstigen Äußerungen. Kantstudien.
139 — Bd. IV. 1911. X, 663u. 17S. (geb. in Hfz. 9.—). . . . T.-
Auswahlen aus: Psychologie. S. 1—80. — Vorlesungen über
Ästhetik. S. 81-134. — Hermeneutik. S. 136—206. — Beden über
die Religion. S. 207—400. — Monologen. S. 401—472. — Weih-
nachtsfeier. S. 473—632. — Universitäten im deutschen Sinne.
S. 688—642. — Zwei Rezensionen. S. 643—662. — Register.
S. 663—680.
139a Über Universitäten im deutschen Sinne. 1911. IV, 110 S. 2.—
139b Reden über die Religion. 1911. IV, 198 8. (In Papp-
band 1.80) 1-40
Wer heute über den Fall Jatho mitreden, nein, wer ihn ganz
iimerlich und in feinstem Empfinden miterleben und mitdurch-
leiden will, der lese die vierte Rede aus Schleiermachers .Reden
über Religion". Christliche Freiheit.
139 e Monologen und Weihnachtsfeier. II, 132 S. (geb. 2.50) 2.—
Außerhalb der Gesamtausgabe erschienen femer:
84 — Monologen. 2. Aufl. Kritische Ausgabe. Mit Einleitung,
Bibliographie und Index von D. Friedrich M. Schiele.
1902. 46u. 130S. (geb. 1.90) 1-^
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band Endlich sind uns die Monologen in mustergfültig'er Ausgabe «^ ^
vorgelegt 1 Während die bisherigen Neudrucke sich an die dritte
und vierte Ausgabe hielten, gibt Schiele den Text der Ausgabe vom
Jahre 1799 und fügt die Abweichungen sämtlicher späteren Aus-
gaben im kritischen Apparat hinzu. Er hat damit eine gediegene
Arbeit geliefert, und die Vergleichung der Texte bietet reiche Aus-
beute zur Erkenntnis des Umbildun^prozesses in Schleiermachers
Gedanken. Für eine richtige Würdigung der Monologen ist aber
der erste Text die einzig maßgebende Unterlage.
Zeitschrift für Philosophie.
117 — Weihnachtsfeier. Krit. Ausg. Mit Einig, u. Reg. von Priv.-
Doz. Lic. Hermann Mulert. 1908. 84 u. 78 S. (geb. 2.50) 2.—
S5 — Grundriß der philosophischen Ethik. (Grrundlinien der Sitten-
lehre.) Hrsgeg. V. F. M. Schiele. 1911. 219 S. (geb. 3.40) 2.80
iVIit besonderem Danke nehmen wir die von Er. M. Schiele..neu
herausgegebene philosophische Ethik Schleiermachers auf. Über
die Bedeutung dieses Werkes braucht nichts weiter gesagt zu
werden. Es führt uns in die zentralen Gedanken Schleiermachers
ein. Mit Eecht hat der Herausgeber, da eine abschließende Ge-
staltung des Textes noch nicht möglich ist, die Ausgabe Twestens
an die Stelle des veralteten Schweizerschen Textes gesetzt. Aber
sein Verdienst ist, daß die beiden besten Manuskripte Schleier-
machers, aus denen Twesten den Text konstituiert hatte, hier in
anderer Ordnung geboten werden. Der in sich geschlossene Text
der Vorlesungen von 1812—13 wird als Einheit gelassen und um-
schlossen von einem andern Entwurf von 1816. Wir haben damit
eine Textgestalt des wichtigen Werkes, die sowohl den inneren
Gedankengang darstellt wie auch sein Werden erkennen läßt.
Zeitschr. f. d. dtsch. Unterricht.
86/7 Scotus Eriugreua. Über die Einteilung der Natur. Übers, von
L. Noack. 2 Bde. 428 S. 416 S. (geb. 3.80) 3.—
S8 — Leben und Schriften. Von L, Noack. 64 S —.50
89 Sextiis Empiricus. Pyrrhone'ische Grundzüge. Übers, von
E. Pappenheim. 19 u. 222 S. (geb. 2.40) 2.—
90 Erläuterungen dazu. 296 S 1 .60
110 Shaftesbury. Untersuchung über die Tugend. Übers, und ein-
geleitet V. Paul Ziertmann. 1905. 15 u. 122 S. (geb. 1.80) 1.40
Die vorliegende Übertragung der Hau^tschrift Shaftesburys ist
wohlgelungen ... Es ist bekannt, wie Goethe, Herder und
Schiller von Shaftesbury abhängen; Leibniz bedauert gerade von
unserer Schrift, daß er sie nicht vor Veröffentlichung seiner
Theodicee kennen gelernt hat. Allgemeine Zeitung.
111 — Ein Brief über den Enthusiasmus. — Die Moralisten. Übers.
u. eingeleitet von Dr. Max Frischeisen-Köhler. 1909.
31 u. 212 S. (geb. 3.50) 3.—
Die Aufnahme dieser beiden Schriften in die „Philosophische
Bibliothek" kann als eine recht glückliche Wahl bezeichnet werden.
Sie charakterisieren gerade durch ihre Zusammenstellung das
Denken Sh.s aufs beste und enthalten zweifellos das Bedeutendste
seines literarischen Schaffens. Seiner Übersetzung der beiden
Schriften hat F.-K. eine Einleitung vorausgeschickt, die in ge-
drängter Kürze und unter völligem Verzicht auf biographische
Einzelheiten, aber dafür in außerordentlich großzügiger Weise die
historische Stellung des englischen Philosophen zu zeichnen unter-
nimmt . . . Die Übersetzung liest sich fließend und gibt den Cha-
rakter des Originals sehr gut wieder. liiterarisches Zentralblatt.
91— Spinoza. SUmtliclie Werke. Übersetzt von 0. Baensch,
96 A. Buchenau, C. Gebhardt, J. H. v. Kirchmann und
0. Schaarschmidt. In 2 Bibliotheksbände geb. . . . 21.—
Dies ist die einzige deutsehe Ausgabe der Werke Spinozas, die
auf Grund der umwälzenden Ergebnisse der modernen Textkritik
erfolgt ist. So bietet sie in ihrer Textgestaltung der Forschung
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
and die sicherste Grundlage; die Einleitung-en bemühen sich, das J^ o^
Verständnis der Schriften S.s nach allen Seiten sicher zu stellen.
91 — Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Grlück.
Übers, u. eingeleitet von Prof. C. Schaarschmidt, 3., verb.
Aufl. 1007. 12 u. 128 S. (geb. 2.30) 1.80
92 — Ethik. Übers, u. mit e. Einleitung u, Register versehen von
Otto ßaensch. 7. Aufl. 1910. 29, 276 u. 39 S. (geb. 4.—) 3.40
Die nicht leichte Aufgabe, Spinozas Ethik sachlich treffend
zu übersetzen, ist von O. Baensch mit großer Sorgfalt weiter-
geführt worden. Sehr genau ist die neuere Forschung zum Spinoza-
text behandelt. Die Einleitung gehört zu dem Besten, was zur
Einführung in Spinozas Denkweise gegeben werden kann. Die
spinozistische Lehre vom Parallelismus der Attribute wird aus dem
Seelenbe|friff Spinozas erläutert. Und von hier gewinnt auch das
Verhältnis von Intellektualismus und Voluntarismus bei Spinoza
Klarheit. Die Bedeutung dieser Übersetzung wird man darin sehen
dürfen, daß sie die fiir uns oft schwierig gewordenen Gedanken-
verschiebungen bei Spinoza klarlegt.
Zeitschr..|. d. dtsch. Unterricht.
93 — Theologisch-politischer Traktat. 3, Aufl. Übers, u. eingeleitet
von Dr. Carl Gebhardt. 1908. 34, 362 u. 61 S. (geb. 6.—) 5.40
Eine vorzügliche Übersetzung dieses ungewöhnlich bedeut-
samen Buches, die Gebhardt mit einer lehrreichen und fesselnden
Einleitung, kundigen Erläuterungen und guten Begistem versehen
hat. Der Politiker in Spinoza ist bisher unterschätzt wor-
den. Eben unser Traktat zeigt ihn als einen der klügsten und
umsichtigsten Staatsmänner, die Holland hervorgebracht hat. Als
politische Tendenzschrift entworfen, die zunächst die Bärchen-
politik Jan de Witts zu rechtfertigen unternimmt, greift sie dann
weiter aus, um die Freiheit des Denkens, die Autonomie der
Vernunft, das Prinzip der voraussetzungslosen "Wissenschaft gegen
die Ansprüche der jüdischen und christlichen Theologie zu ver-
teidigen. Berliner Tageblatt.
94 — Descaxtes' Prinzipien der Philosophie auf geometrische
Weise begründet. — Anhang, enthaltend metaphysische Ge-
danken. 3. Aufl. Neu übers, u. herausgeg. von Dr. Artur
Buchenau. 1907. VIII, 164 u. 26 S. (geb. 3.—) . . . 2.40
95 — Abhandlung über die Verbesserung^ des Verstandes. — Ab-
handlung vom Staate. 3. Aufl. Übers, u. eingeleitet von
Dr. Carl Gebhardt. 1907. 32, 181 u. 33 S. (geb. 3.60) 3.—
Beide Schriften sind unvollendet. Und doch betont der Heraus-
geber mit Eecht, daß ein gemeinsames Band sie umschlingt, da
in beiden der Gedanke vom Glück des Menschen, das bei der freien
Persönlichkeit ruht, zum Ausdruck kommt ... In unserer Zeit,
wo die wirtschaftlichen Interessen überwuchern, ist philosophische
Politik etwas Erquickendes. Und dabei gibt Spinoza mehr als
eine Utopie. Leipziger Zeitvmg.
96 ^ Briefwechsel. 13 u. 258 S. (geb. 2.40) 2.—
Renan, E.^, Spinoza. Rede, gehalt. zum 200j ähr. Todestag im
Haag. Übers, v. C. Schaarschmidt. 24 S —.40
SteJffens, Henrik. Über die Idee der Universitäten (4.—).
Siehe unter Fichte.
122 Wolflfsche Begriffsbestimmimgen. Ein Hilfsbüchlein beim Stu-
dium Kants. Zusammengestellt von Julius Baumann.
1910. VI, 54 S. (geb. 1.40) 1.—
Aus der Erfahrung heraus, zu welcher Schärfe in Auffassung
und Überdenken die Parallelisierung Kantischer mit "Wolffischen
Begriffsbestimmungen nötigt, ist dieses nützliche Buch erwachsen.
Bei der ersten Lektüre Kants halte man sich an diesen. Bei wieder-
holtem Studium aber wird eine vergleichende Heranziehung der
"WolfBlschen Begriffsbestimmungen anregend zum Selbstdenken sein.
Zeitschrift für Philosophie.
Pichler, H. Über Christian Wolffs Ontologie. 1910. 95 S. 2.—
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Band ' Ji c^
Lehrbücher der Philosophischen Bibliothek.
()7 Kirchner -Michaelis. Wörterbuch der philosophischen Grund-
begriffe. 6. Aufl. 1911. VIII, 1124 S. (geb. 14.—) . . . 12.50
Die hier Torlieg-ende dritte Neubearbeitung des altbewährten
Barchnerschen Wörterbuchs durch die Hand des Herrn Stadtschul-
rat Dr. Michaelis wird sich ohne Zweifel bald viele neue Freunde
zu den alten hinzuerworben. Der Umfang des "Werkes schwoll
durch die Fülle des neuen Stoffes von 45 auf über 70 Bogen an
— schon dies ein Maßstab, wie gründlich die Umarbeitung erfolgte.
* Döring, A. Grundlinien der Logik. 1912. XII, 181 S. (geb. 3.—) 2.50
Diese kleine „Logik" bemüht sich, die Mitte zu halten zwischen
den allzuknappen „Leitfäden" und den voluminösen „Lehrbüchern".
Das pädagogische Geschick des als Gymnasial- und Hochschul-
lehrer bewährten Verfassers dürfte das Buch zu einer vorzüg-
lichen Einführung und zu einem bequemen Kompendiuna dieser
Wissenschaft machen.
118 Messer, Ang. Einführung in die Erkenntnistheorie. 1909. VI,
188 u. 11 S. (geb. 3.—) 2.40
Dies ist die beste einführende Schrift in die Erkenntnistheorie,
die Eef. kennt. Sie zeichnet sich besonders dadurch aus, daß
sie trotz des kleinen Umfanges eine Anschauung erweckt von der
Fülle der Probleme, die der Erkenntnistheorie erwachsen; femer
daß sie stets auf die richtige Problemstellung hinweist^ endlich
ragt sie noch durch große Klarheit und Übersichtlichkeit hervor.
Vierteljahrsschrift f. wissensch. Philosophie u. Soziologie.
105 Vorländer, Karl. Geschichte der Philosophie. I. Bd. : Altertum,
Mittelalter und Übergang zur Neuzeit. 3. Aufl. 1911. XII.
368 S. (geb. 4.50) 3.60
106 rr. Bd.: Phüosophie der Neuzeit. 3. Aufl. 1911. VIII,
524 S. (geb. 5.50) 4.60
Zur Einführung wird man schwerlich ein besseres Buch finden
als die „Geschichte der Philosophie" von Vorländer, die den viel-
fach empfundenen Wunsch nach einer knappen, aber doch klaren,
inhaltlich ausreichenden und zuverlässigen Darstellung der ge-
samten Geschichte der Philosophie aufs vortrefflichste erfüllt hat.
Dieses Buch hat nicht wenig große Vorzüge. Zwar beschränkt es
sich auf die Geschichte des philosophischen Denkens und läßt den
kulturhistorischen Hintergrund zurücktreten. Aber in diesem
Bahmen gibt es alles, was nur wünschenswert sein kann. Vortreff-
lich ist die Darstellung des Entwicklungsganges der Philosophie,
was schon im Aufbau des Werkes klar hervortritt. Die biogra-
phische Behandlung der einzelnen Philosophen und die Darstellung
ihrer Lehren stehen in allem auf der Hohe der Forschung. Dazu
kommt, daß sich das Buch auch als Wegweiser für tiefer eindrin-
gende Arbeit bewährt durch die gute Auswahl in den Literatur-
angaben. Zeitschr. f. d. dtsch. Unterricht 1919.
Vorländers Buch reizt geradezu zum Studium. Die gediegene
Art, in der er das historische mit dem systematischen Element zu
vereinigen verstanden hat, macht das Buch zum philosophiepre-
schichtlichen Handbuch par excellence. Es gehört auf den Arbeits-
tisch eines jeden der Philosophie „Beflissenen". Kant-Studien.
115 Witasek, Stephan. Grundlinien der Psychologie. Mit 15 Fig.
im Text 1908. VHI, 370 u. 22 S. (geb. 3.50) 3.—
Was Witasek bietet, ist so gefaßt, daß niemand sein Buch
ohne Gewinn aus der Hand legen wird. Der Stil ist einfach und
durchsichtig, die erläuternden Beispiele sind anschaulich und be-
lebend, neue Begriffe werden so erklärt, daß auch der Laie bei
einiger Aufmerksamkeit gut folgen kann. Besonders wohltuend
ist die Präzision, mit der überall zwischen gesicherten Erkennt-
nissen und vorläufigen Hypothesen unterschieden wird. Alles in
allem: ein tüchtiges Buch, dem auch wegen seines ungemein
billigen Preises weiteste Verbreitung zu gönnen ist.
ChristUche Welt.
Neuere philosophische Werl<e
aus dem Verlag von Felix Meiner in Leipzig, ji .
Bluwstein, J. Weltanscliauung Ardigos. 1911. 122 S- . . 1.50
Braun, 0. Hinauf zum Idealismus! Schelling-Studien. 1908.
XII, 154 S. (geb. 3.50) 2.50
Dem Verfasser ist es gelungen, mit seinem eigenen wann-
herzigen Idealismus den Leser zu fesseln und auch solche für den
an sich recht spröden Gegenstand zu interessieren, die unsere klas-
sische Spekulation und ihre Vertreter bisher höchstens nur vom
Hörensagen kannten. Deutsche Literaturzeitung.
— Zum ßildungsproblem. 2 Vorträge. (Philosophie u. Schule.
Kunst u. Schule). 1911. 49 S. . . . . ...... —.75
Beide Aufsätze enthalten eine Fülle klarer und kluger Ge-
danken, denen man mit Teilnahme folgt und die zu weiterem
Nachdenken anregen. Ich kann die Schrift den Fachgenossen nur
dringend empfehlen. Zeitschrift f. d. Gymnasialschulwesen.
Busse, L. Greist und Körper, Seele und Leib. 1903. X, 488 S.
(geb. 10.—) 8.50
„Eine glänzende systematische Darstellung". Allgemeine Ztg.
— Immanuel Kant, Ansprache an die Köuigsberger Studenten-
schaft. 1904, HS.... —.50
Dietering, Paul. Die Herbartsche Pädagogik vom Standpunkt
moderner Erziehungsbestrebungen. 1908, 18, 220 S, (geb, 7. — ) 6. —
Dorner, A. Encyklopädie der Philosophie. Mit bes. Berück-
sicht. der Erkenntnistheorie u. Kategorienlehre. 1910. 343 S.
In steifem Karton 6. —
— G-rundriß der ßeligionsphilosophie. 1903. 466 S, (geb. 8.50) 7,—
Zu den hervorragendsten Erscheinungen der heutigen Eeligions-
wissenschaft gehört ohne Zweifel der Grundriß der Eeligions-
philosophie von Aug. Dorner.
Otto Pfleiderer in den Protestant. Monatsheften.
— Pessimismus, Nietzsche und Naturalismus mit besonderer Be-
ziehung auf die Religion. 1911. VIII, 328 S. (geb. 7.—) . 6.—
Mit wohltuender Sicherheit der Logik und eingehender Sach-
kenntnis legt der Verfasser die Gedankengänge des-Brahmanismus,
des Buddhismus, Schopenhauers, Hartmanns, Drews' auf und unter-
zieht ihre Philosophie einer vorurteilsfreien, aber tief einschneiden-
den Kritik, die Unzulänglichkeit des Pessimismus vornehmlich
nach der religiösen Seite aufweisend .... Das Werk gehört zu
dem Besten, was von theologischer Seite über die philosophischen
Zeitfragen geschrieben worden ist. Wartburg.
DUliring, E, Kursus der Philosophie als streng wissenschaft-
licher Weltanschauung u. Lebensgestaltung. XII, 559 S. 9. —
Dürr, Ernst. Über die Grenzen der Gewißheit. 1903, 160 S, 3. —
Ehrenber^, Hans. Die Parteiung der Philosophie. Studien
wider Hegel und die Kantianer. 1911, VI, 133 S. , . . 4.—
Eucken, Rudolf. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und
Lebensanschauung. IV, 242 S, (geb, 5.20) 4,20
Wenn irgend Gelegenheitsschriften die Probe der Sammlung und
Ausgabe in Buchform glänzend bestehen, so sind es die Euckens.
Sie reichen auf dem Gebiete der Philosophie nahe an das heran,
was die wundervollen Aufsätze Treitschkes uns auf historischem,
die Michael Bernays' auf literarhistorischem Gebiete geben.
Deutsche Literatur-Zeitung.
— Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie.
2. erweit. Aufl, 1906. VI, 196 S. (geb. 4.50) . . . . . 3.60
Aus dem Inhalt: Nikolaus von Cues als Bahnbrecher neuer
Ideen, Par^celsus' Lehren von der Entwicklung. Kepler als
Philosoph. Über Bilder und Gleichnisse bei Kant. Bayle und
Kant. Parteien iind Parteinamen in der Philosophie.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
— Braun, 0. Euckens Philosophie und das Bildungsproblem. Jl ^
1909. 54 S —.60
Falckenberg, Richard. Kant und das Jahrhundert. Gedä-chtnis-
rede zum 100 jähr. Todestag. 2. Aufl. 1907. 28 S. . . . —.60
Flouruoy, TIi. Beiträge zur Religionspsychologie. Übers, v.
M.Regel. Mit Vorwort v. G. Vor bro dt. 1911. LH, 62 S. 2.60
Groos, Karl. Die reine Vernunftwissenschaft. Systematische
Darstellung von Schellings rationaler oder negativer
Philosophie. X, 187 S. . . . ._ 3.—
Jacoby, Günther. Herders u. Kants Ästhetik. 1907. X, 348 S.
(geb. 6.30) 5.40
Es scheint, als könne man es Herder niemals verg-eben, daß er
Kant angegriffen hat; und es scheint, als müsse es Herder für
immer wie ein historischer Makel anhaften, daß er in der Zeit der
Freundschaft Schillers und Goethes uneins war nnit den Weimarer
Dioskuren, Er hatte aber recht. Zum mindesten hatte er auf dem
Gebiete der Ästhetik recht. Auf dem Gebiete, über das er sein
Leben lang nachgedacht und dem er die besten Kräfte seines weit-
schauenden Geistes g-eschenkt hatte. Auf dem Gebiete, auf dem
ihm Goethe mit dem g-anzen Wesen seiner Persönlichkeit folgte
und auf dem der schartsinnige, aber nüchterne, ja hausbackene
Geist des Königsberg'er Philosophen nur gar zu begreiflicherweise
in die Irre g'ing-. Zeitschrift für das Gymnasialwesen.
— Der Pragmatismus. Neue Bahnen in der "Wissenschaftslehre
des Auslands. 1909. 68 S. 1.20
Jacoby versteht die nicht leichten Gedanken so einfach , ele-
mentar und anschaulich darzustellen, daß sie auch der philoso-
phisch noch Ungeschulte begreifen kann. Das Büchlein ist da-
durch auch geeignet, als Einführung in die philosophischen Pro-
bleme überhaupt zu dienen. Literaturbericht für Theologie.
— Herder als Faust. 1911. XII, 485 S. (geb. 8.50) ... 7.~
Jiiiig:nianii, K. Rene Descartes. Eine Einführung in seine
Werke. 1908. VIII, 234 S 6.50
Kinkel, Walter. Der Humanitätsgedanke. Betrachtungen zur
Förderung der Humanität. 1908. 192. S 2.50
Koeber, II. Die Philosophie Schopenhauers. 327 S. . . 5. —
Kühnert, H. Comtes Verhältnis zur Kunst. 1910. 65 S. . 1. —
Lasson, A. Über Gegenstand u. Behandlungsart der Religions-
philosophie. 55 S — .60
Lempp, Otto. Das Problem der Theodicee in der Philosophie
u. Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant u. Schiller.
Gekrönte Preisschrift der Walter Simon-Preisaufgabe der
Kantgesellschaft. 1910. VI, 432 S. In steifem Karton . 9.—
Eine sorgfältige, erschöpfende, streng wissenschaftliche und
dabei doch gut lesbare Schrift, die über diese viel umstrittenen
Gedankengäng'e Abschließendes bietet . . . AVer sich in den mannig--
fachen Gottesbeweisen und den Anschauung'en über die Willens-
freiheit zurechtfinden will, muß zu diesem Buche greifen. Man
wird immer wieder staunend gewahr, welche Erkenntnisschätze in
unserer klassischen Zeit des Idealismus oft noch so ungehoben
liegen. Pfarrer Traub in der Christlichen Freiheit.
L6Ty-Bruhl, L. Die Philosophie Auguste Comtes. Übers.
von H. Molenaar. VI, 288 S 6.—
LewkOTTitz, A. Hegels Ästhetik im Verhältnis zu Schiller.
1910. 77 S 1.80
Lipps, Theodor, Psychologische Studien. 2., umgearb. u. er-
weit. Aufl. 1905. IV, 287 S. (geb. 6.—) 5.—
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
^
In dieser neuen Fassung trägt die Darstellung- ganz jenes J^ ä
eigentümliche G-epräge, das für den Lipps des letzten Jahrzenntes
charakteristisch ist, jenes eindringlich Bohrende der Analyse, das
pfeilscharf Geschlirfene der Polemik, das sokratische Fortschrei-
ten von Frage und Antwort, -wodurch allmählich das gewünschte
Resultat aus den Tiefen der Seele herausgeholt wird.
Dr. William Stern in der „Zeit".
Mehlis, €^. Die G-eschichtspliilosophie Comtes, 1909. IV, 158 S. 3.—
Heinong, A. Über die Stellung der Gregenstandstheorie im
System der Wissenschaften. 1907. YIII, 156 S 4.80
Dies Buch ist eine Verteidigung von Meinongs Ansichten
gegenüber verschiedenen Kritikern und eine weitere Erklärung der
neuen Wissenschaft, die er „Gegenstandstheorie" nennt. Die Not-
wendigkeit und die Wichtigkeit dieser Wissenschaft werden dar-
gelegt und Gründe dafür angegeben, daß sie weder mit Logik,
noch mit Erkenntnistheorie, noch mit irgendeiner anderen bisher
bekannten Wissenschaft identifiziert werden kann. Der Stil ist
bemerkenswert klar, und die polemischen Argumente erscheinen
dem Eeferenten im allgemeinen zwingend. „Mind."
Merz, Joli. Theod. Leibniz' Leben und Philosophie. Aus
dem Englischen mit Vorwort von C. Schaarschmidt. 226 S. 2. —
Xatorp, Paul. Piatos Ideenlehre. Eine Einführung in den
Ideaüsmus. 1903. VIII, 474 S. (geb. 8.70) 7.50
Ein Werk, das in den hellsten Vordergrund philosophischen
Interesses gehört, eins der bedeutsamsten der Philosophiegeschichte
überhaupt, wie in den letzten Jahrzehnten nur sehr , sehr wenige
erschienen sind von ähnlich zentralem Interesse, ähnlicher wissen-
schaftlicher Intensität, Energie und Kühnheit l Eine völlige Neu-
auffassung Piatos I Ein kraftvolles Werk aus einem Guß und
eigener Kraft I . . . Karl Joel in der „Deutschen Literaturzeitung".
yoack, Ludwig". Philosophie-geschichtliches Lexikon. Histo-
risch-biographisches Handwörterbuch der Geschichte der
Phüosophie. XII, 936 S. 12.—
Gehler, Richard. Friedrich Nietzsche u. die Vorsokra-
tiker. 1904. VIII, 168 S. . 3.50
— Nietzsche als Bildner der Persönlichkeit. Vortrag. 1911. 31 S. — .60
Pichler, Hans. Über Christian Wolffs Ontologie. 1910. 95 S. 2.—
Plümacher. 0. Der Pessimismus in Vergangenheit u. Gegen-
wart. Geschichtliches u. Kritisches. 2. Aufl. XII, 355 S. 7.20
Pochhammer, L., Prof. d. Mathematik. Zum Problem der
Willensfreiheit. 1908.. 82 S 1.20
Die außerordentlich klar und anschaulich geschriebene Abhand-
lung ist ein interessantes und beachtenswertes Zeugnis dafür, wie
an an präzises Denken gewöhnter ernster Forscher der Gegenwart
die Postulate des sittlichen Lebens mit der naturwissenschaftlichen
Anschauungsweise auszugleichen versucht. Christliche Welt.
Kichter, Raoul. Der Skeptizismus in der Philosophie. 2 Bde.
Bd. I. 1904. XXIV, 303 u. 61 S. (geb. 7.50) 6.—
Bd. II. 1908. VI, 529 u. 55 S. (geb. 10.—) 8.60
Der griechische Skeptizismus hat auf deutschem Boden noch
niemals eine so energische — sagen wir es gleich — im ganzen
treffliche Darstellung und Beurteilung erfahren. Richter nimmt
ihn ernst und weiß , obwohl keineswegs blind für seine Schwä-
chen, Plattheiten und Naivitäten, die ihm innewohnende philoso-
phische Kraft und seine bahnbrechende Bedeutung für die Pro-,
bleme der Erkenntnistheorie klar herauszustellen.
Wochenschrift für klassische Philologie.
ßichter, Kaoul. Friedrich Nietzsche. Sein Leben u. sein
Werk. 2., vermehrte Aufl. 1909. VIII, 356 S. (geb. 6.— ) . 4.80
Ich habe selten ein Buch {und niemals eins über Nietzsche!)
mit soviel Freude und Genuß gelesen, wie diese musterhaft klare,
MiTgends überschwengliche, doch überall von woltuender, liebe-
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
vollster Wärme gleichsam durchleuchtete Arbeit, deren letzter Ab- Jl X
schnitt mit 'seiner sachlich historischen Bearbeitung' der Lehre
Nietzsches vorbildlich beweist, wie bewvindernde Verehrung für
einen Großen und unbestechliche kritische Besonnenheit zu ver-
einigen sind. Das Literarische Echo.
Rüge, Aruold. Das Problem der Freiheit in Kants Erkenntnis-
theorie. 1910. VIII, 84 S 1.50
— Das Wesen der Universitäten und das Studium der Frauen.
1912. 34 S —.80
Schaarsehmidt, C. Die Religion. Einführung in ihre Ent-
wicklungsgeschichte. 1907. VIII, 253 S. (geb. 5.40) . . 4.40
Seheler, Max F. Die transzendentale und die psychologische Me-
thode, E. grundsätzl. Erörterung zur philosoph, Methodik. 1 84 S. 4. —
Schmidt, Ferdinand Jakob. Zur Wiedergeburt des Idealismus.
1908. VIII, 325 S. (geb. 7.~) • . . . . 6.—
Aus dem Inhalt: Kapitalismus und Protestantismus. Der
mittelalterliche Charakter des kirchlichen Protestantismus. Der
theologische Positivismus. Adolf Harnack und die Wiederbelebung
der spekulativen Forschixng. Das Erlebnis und die Dichtung.
Goethe und das Altertum. Kant-Orthodoxie. Die Philosophie auf
den höh. Schulen. Die Frauenbildung u. das klassische Altertum.
Stern, L. "William. Die Analogie im volkstümlichen Denken.
Eine psychologische Untersuchung. Mit einer Vorbemerkung
von M. Lazarus. IV, 164 S 3.—
Vorländer, Karl. Kant-Schiller-Groethe. Gesammelte
Aufsätze 1907. XIV, 294 S. (geb. 6.—) 5.—
Das Buch wird durch seine ganze Anlage für lange Zeit, wenn
nicht für immer, den Anspruch erheben dürfen, als das grund-
legende Werk über dies Thema zu Eate gezogen zu werden.
Zeitschrift für Gymnasialwesen.
Weichelt, Hans. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zara-
thustra, erklärt und gewürdigt. 1910. VIII, 319 S. (geb. 6.20) 5,—
Der Zarathustra bedarf eines Kommentars: das wird jeder zu-
geben, der darin studiert oder auch nur geblättert hat; jeder auch,
der es beklagt, daß das falsch verstandene Werk in manchem un-
reifen Kopfe Verwirrung angerichtet hat. Weichelts Buch bietet
nun eine feinsinnige, in die Tiefe dringende Erklärung und eine
besonnene, gerecht abwägende Würdigung. Prof. Dr. A. Messer.
Ziegler, Leopold. Zur Metaphysik des Tragischen. Eine philo-
sophische Studie. 1902. XII, 104 S 1.60
Einen Autor, der in seinem Erstlingswerk die Metaphyysik
xles Tragischen zu seinem Gegenstand erwählt, diesen Gegenstand
in so große und weittragende Beziehungen zu den höchsten Ge-
bieten des menschlichen Lebens zu setzen weiß und sich damit in
einer so glänzenden Weise abfindet wie Ziegler, einen solchen
Autor wird man alle Veranlassung haben, für die Zukunft im Auge
zu behalten. Prof. Arthur Drewa i. d. „Südwestdeutsch. Eundseh.".
— Das Weltbild Hartmanns. Eine Beurteilung. 1910. 196 S.
(geb. 3.50) . 2.50
Zieglers Abhandlung ist von so entschiedener, ungewöhnlicher
Begabung und g^roßer, seltener Eähigkeit, tiefe Gedanken zur Klar-
heit herauszustellen, daß sie gewiß bei jedem Sachkundigen die
freudigste Aufnahme finden wird — als die weitaus beste Schrift
über Hartmann und zugleich als sachlich wertvoller Beitrag zur
Philosophie der Gegenwart. Man darf den Verfasser aufrichtig
beglückwünschen zu dieser Arbeit.
Prof. A. B,iehl in einein Briefe an den Verlag.
Die Arbeit als Ganzes ist geradezu ein Muster klarer und um-
sichtiger Anwendung der kritischen Methode und ist dem, der diese
immerhin schwere Methode auf verhältnismäßig einfachem Woge
kennen lernen will, sehr zu empfehlen. Das Buch ist anschau-
lich geschrieben und ganz floskelfrei. Sozialistische Monatshefte.
Druck von C. Grumbach in Leipzig.
Verlag von Felix Meiner in Leipzig.
Herder als Faust.
Von
Günther Jacoby,
Privatdozent der Philosophie in Oreifswald.
XII, 485 Seiten.
Preis M. 7.—, gebunden M. 8.50.
Atis einem Briefe von Geheitnrai Prof. Dr. Vaihinger :
Welche Überraschung und welche Freude hat mir Ihr Faustbuch ge-
macht! Ich beglückwünsche Sie herzlich dazu. Sie haben durch
dieses Buch eine neue Seite Ihrer literarischen Persönlichkeit dar-
geboten. Sie haben, was Sie als Philosoph in Ihrem Herder- Kant- Buch
begonnen haben, als Literarhistoriker in Ihrem Herder- Faust -Buch
fortgesetzt und eine Fülle neuer Aufschlüsse wie damals über Herders
Beziehungen zu Kant, so jetzt über Herders Beziehungen zu Goethe
gegeben. Man kann Ihr neues Buch geradezu eine Entdeckung nennen,
und mit Recht haben Sie ihm den hellklingenden Titel gegeben ^Herder
als Faust". Freilich, dieser Titel ist provokatorisch: er ruft alle Geister
des Widerspruches herbei, gerade jene Schulmeister und Kleinmeister,
welche gegen Herder und Goethe und gegen welche Goethe und Herder
kämpften.
Sie werden, wie ich fürchte, bei manchen ..Fachmännern" einen schweren
Stand haben, denn gerade die ^Fachmänner" sind ja oft diejenigen,
welche allem Neuen das Schwergewicht der Tradition entgegenhalten.
Man wird es Ihnen vielleicht verübeln, daß Sie nicht in der braven
Weise der üblichen akademischen Arbeiten nur von den „Beziehungen"
Herders zum Faust geredet haben.
Aber Sie haben ganz recht daran getan, daß Sie jenen Titel gewählt
haben, der keinen Kompromiß schließt, sondern scharf und schroff das
Neue hinstellt, was Siegefunden haben. Sie haben mit einer staunenswerten
Belesenheit die Parallelstellen zusammengestellt und haben mit schlagen-
den Gründen bewiesen, daß nicht bloß Herders Lehren, sondern auch
Herders Persönlichkeit für Goethes „Faust" maßgebend gewesen ist.
Mit Genehmigung des Brief Schreibers abgedruckt.
.. . Viel wichtiger ist der innere Nachweis, daß sich der Aufriß der
Handlung des Faust in seinen Grundzügen mit Herders Reisetagebuch
aus jener Zeit deckt. Vollends der umfangreichste Beweis des Werkes,
daß nämlich Fausts seelische Erlebnisse, vor allem seine wissenschafts-
überdrüssigen Selbstgespräche, seine Arbeit am Johannisevangelium, die
parsistischen Elemente, seine Stellung zum Wissenschaftsbetrieb der
Aufklärung und vieles andere Herders Auffassung genau entsprechen,
ja oft bis ins einzelste in Herders Aufzeichnungen vorgebildet sind,
daß endlich vor allem Herders Lehre vom „Gefühl" in das ganze
Schauspiel unauflöslich verflochten ist — dieser Beweis enthält ein so
erdrückendes Material, daß es nicht lohnt, um Kleinigkeiten mit dem
Verfasser zu rechten. Die Jünger des ^Luther-Goethe-Bismarck«-Kultus
werden dem Verfasser diese Profanierung ihres Heiligsten nicht ver-
zeihen. Wir anderen aber werden ihm danken, daß er das geschicht-
liche Verständnis Goethes und seines herrlichsten Gedichtes so tapfer
und bedeutend gefördert hat. Theologisches Liter aturhlatt.'