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Full text of "Logik; drei Bücher, vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen. Mit der Übersetzung des Aufsatzes: Philosophy in the last forty years, einem Namen- und Sachregister;"

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HERMANN  LOTZE 

Logik 

(System  der  Philosophie  L) 


m 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 


K.  VorlaiT'*' 

Mit  eine 
biogra 

Die  / 
Kants  Samt: 
Sie  bietet  ni 
leichtert  am 
durch  die  E 


Immanuel  Kant. 

Sämtliche  Werke. 


Herausgegeben  von 

'XTo.^V.i^A lt.    r\      n I. 


THE  UNIVERSITY 


OF  ILLINOIS 


W.  Kinkel, 

ders    Kant- 
i  d.  r.  V.) 


;e  Ausgabe  von 
•1  zu  haben  ist. 
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ichregister  und 


Preis  ] 

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LIBRARY 


Uli 


OAK  ST  HDSF 


M.  6.40. 

Tdmann  vorge- 
Der  Ausgabe 
•  in  Anmerkun- 
d  auch  höheren 
und  Vorschläge 
ü  haben. 
ig-er  Zez'tu/i^. 


nunft. 


Wer  a 

trükn^il^  T  "^^ilfr^v.'^^*  ^'  ^f^  Wesentliche  an  der  VernunftkrhTkfdef'mac: 
schone  Stunden  sichtlich  wachsender  Erkenntnis  genießen.  Und  so  wird  in  un^e- 
IZlfH'  ''°T,?"J^"S^u^-';  d^«"  Sinn  weiter  Schichten  sich  der  Philosophie  öffnet, 
w  nfc^^'^i'-'  ^""^  philosophischen  Lektüre  oftmals  durch  geringere  Schwierig- 
Knm,^St?r"'^''{T"'  besü"imt  wird,  und  darum  ins  Allgemeine  geht,  Cohens 
Kommentar  viel  Segeq  stiften.    Er  sei  vielen  empfohlen.       Leipziger  Zeitung. 

Kritik  der  Urteilskraft 

Neu  herausgegeben  und  eingeleitet  von  Prof.  Dr.  Karl  Vorländer. 
8.  Auflage.    1902.    38,  378  u.  36  S. 
Preis  M.  3.50,  gebunden  M.  4.10. 

U«^  ,I?,i^,  "H"^'^1'^?^^'  r/'^^^f  ^''^  '^*^*<^  ^"  ^^"^s  Lebzeiten  erschienene  (3.)  Auf- 
lage zugrunde  legt,  beruht  auf  erneuter  genauer  Textrevision.  Außerdem  bietet 
sie  eine  knappgefaßte  historische  und  systematische  Einleitung,  die  iSer  die 
^i^S""f^'^•^''^•^l.^'^^^'■.'^'^•  "^^'•'^'"  ästhetisches  und  tele^o  og  sches  Prin! 
führ^ches  pJ^nP^'';^^'*l"i'*''?'?'^"^*I'^^  orientiert,  sodann  ein  aus- 

Ti^ri.  nf  Di^-i°"^"u""u  Sachregister.  .Ich  stehe  nicht  an,  diese  Ausgabe  eine 
Zierde  der  Philosophischen  Bibliothek  zu  nennen.«  ^ 

Ferd.  J,  Schmidt  in  den  Preuss.  Jahrbüchern. 


Verlag 


Return  this  book  on  or  before  the 
Lotest  Date  stamped  below. 


University  of  Illinois  Library 


innerhalb 

Herausgegi 

3. 

Pr 

Der  große  Vor 
Einleitungen,  welche 
so,  in  Verbindung  mi 
und  sein  Verständnis 
gaben  ihrem  Zwecke 
ohne  solche  Hilfsmit 


Kleinere  Sc 

2.  Auflage. 

XXXI,  176 

Vorländers  Kan 
kurzer  Zeit  Eingang 
keiner  Empfehlung  m 
in  jeder  Beziehung  ei 
bei  aller  Kürze  grüne 
trefflich. 


Neu  herausgegel 
3 
P] 

Vom  ersten  H« 
Kollegheft  von  Kants 
pendium,  welches  seil 
möglichst  fern  steht, 
hat  sich  manches,  wj 
paßt,  eingeschlichen, 
gelungen  ist,  den  Les 
von  dem  aus  sich  di 
Text  ist  sorgfältig  re\ 


Mit 

XI,  211 

M.  3.60,  in  vornehmem  Geschenkbd.  M.  4.20. 

Kants  Leben  entbehrte  vielleicht  der  in  die  Augen  fallenden  großen  Mo- 
mente und,  abgesehen  von  dem  Zusammenstoß  mit  der  preußischen  Reaktion  unter 
Friedrich  Wilhelm  II.,  der  äußeren  Erschütterung  oder  leidenschaftlichen  Bewe- 
gungen. Trotzdem  wird  es  für  jeden  Kantliebhaber  von  Wert  sein ,  an  der  Hand 
eines  unserer  ersten  Kantkenner  dieses  stille  Gelehrtenleben  näher  kennen  zu  lernen ; 
man  sieht  dann  bald,  daß  es  innerer  Bewegung  nicht  entbehrt  hat. 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 
Kirchner's 

Wörterbuch  der  philosoph.  Grundbegriffe. 

6.  Aufl.,  bearbeitet  von  C.  Michaelis. 
1911.    VIII,  1124  S.    Preis  M.  12.50,  geb.  M.  14.-. 

Die  Festigkeit  der  Grundlagen,  die  umfassende  Vollständigkeit  des  Stoffes, 
die  durchsichtige  Anlage  und  vortreffliche  Form,  sowie  die  würdige  Ausstattung 
machen  das  Buch  zu  einem  treuen  Führer  auf  den  verschlungenen  Pfaden  der 
Philosophie.    Man  kann  ihm  nur  weitere  und  weitere  Verbreitung  wünschen. 

Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  igii, 

Einführung  in  die  Erkenntnistheorie. 

Von  August  .Messer. 

1909.     VI,  188  u.  11  S.    Preis  M.  2.40,  geb.  M.  3.—. 

Das  ist  die  beste  einführende  Schrift  in  die  Erkenntnistheorie,  die  Ref. 
kennt.  Sie  zeichnet  sich  besonders  dadurch  aus,  daß  sie  trotz  des  kleinen  Umfanges 
eine  Anschauung  erweckt  von  der  Fülle  der  Probleme,  die  der  Erkenntnistheorie 
erwachsen;  ferner  daß  sie  stets  auf  die  richtige  Problemstellung  hinweist;  endlich 
ragt  sie  noch  durch  große  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  hervor. 

Viertel  Jahrsschrift  f.  wissensch.  Philosophie  u.   Soziologie. 

Grundlinien  der  Psychologie. 

Von  Stephan  Witasek. 

Mit  15  Figuren  im  Text. 
1908.    VIII,  370  u.  22  S.    Preis  M.  3.—,  geb.  M.  3.50. 

Was  Witasek  bietet,  ist  so  gefaßt,  daß  niemand  sein  Buch  ohne  Gewinn 
aus  der  Hand  legen  wird.  Der  Stil  ist  einfach  und  durchsichtig,  die  erläutern- 
den Beispiele  sind  anschaulich  und  belebend,  neue  Begriffe  werden  so  erklärt, 
daß  auch  der  Laie  bei  einiger  Aufmerksamkeit  gut  folgen  kann.  Besonders  wohl- 
tuend ist  die  Präzision,  mit  der  überall  zwischen  gesicherten  Erkenntnissen  und 
vorläufigen  Hypothesen  unterschieden  wird.  Alles  m  allem:  ein  tüchtiges  Buch, 
dem  auch  wegen  seines  ungemein  billigen  Preises  weiteste  Verbreitung  zu  gönnen 
»St.  Christliche   Welt. 

Die  Einteilung  des  Werkes  ist  ganz  trefflich,  die  Schreibart  klar.  Es 
bietet  die  neuesten  Forschungsergebnisse  und  ist  wahrscheinlich  der  beste  und 
vollständigste  Grundriß  dieser  Wissenschaft,  den  wir  zurzeit  besitzen. 

Natur e  {London). 

Grundlinien  der  Logik. 

Von  A.  Döring. 
XU,  181  S.    Preis  M.  2.50,  geb.  M.  3.—. 

Diese  kleine  »Logik"  bemüht  sich,  die  Mitte  zu  halten  zwischen  den  allzu- 
knappcn  »Leitfäden«  und  den  voluminösen  ..Lehrbüchern".  Das  pädagogische  Ge- 
schick des  als  Gymnasial-  und  Hochschullehrer  bewährten  Verfassers  dürfte  das 
Buch  zu  einer  vorzüglichen  Einführung  und  zu  einem  bequemen  Kompendium 
dieser  Wissenschaft  machen. 

Kant-Schiller-Goethe. 

Von  Karl  Vorländer. 
1907.    XIV,  294  S.    Preis  M.  5.—,  geb.  M.  6.—. 

Das  Buch  wird  durch  seine  ganze  Anlage  für  lange  Zeit,  wenn  nicht  für 
immer,  den  Anspruch  erheben  dürfen,  als  das  grundlegende  Werk  über  dies 
Thema  zu  Rate  gezogen  zu  werden.  Zeitschrift  für  Gymnasialwesen. 


Philosophische  Bibliothek 
Band  141 

Lotze.  Logik 


Hermann  Lotze 


System  der  Philosophie 


Erster  Teil 

Drei  Bücher  der  Logik 


Leipzig 

Verlag  von  Felix  Meiner 
1912 


Hermann  Lotze 

Logik 

Drei  Bücher 

vom  Denken,  vom  Untersuchen 

und  vom  Erkennen 


Mit  der  Übersetzung  des  Aufsatzes:   Philosophy  in 
the  last  forty  years,  einem  Namen-  und  Sachregister 

Herausgegeben  und  eingeleitet  von 

Oeorg  Misch 


Der  Philosophischen  Bibliothek 
Band  141 


Leipzig 

Verlag  von  Felix  Meiner 
1912 


Druck  von  Oscar  Brandstetter  in  Leipzig. 


Inhä^ltsübersicht. 

Seite 

Vorwort  des  Herausgebers VEC 

Einleitung  des  Herausgebers '\.    .    .  IX — XCII 

I.  Lotze's  Ausgangspunkte > Xu 

IL  Der  erste  Entwuif  des  Systems  in  Metaphysik  und  Logik  XXII 

.    j        Ontologie XXVI 

Kosmologie,  Logik  und  Erkenntnistheorie    XXXV 
III.  Der  Fortgang   in  der  Psychologie,   Geistesphilosophie 

imd  Wertlehre  una  der  Entwicklungsgang  Lotze's  .    .  IL 
IV.  Logik  und  Metaphysik  als  Glieder  des  „Systems  der 

Philosophie"      ./......        LXXI 

Literatur ^ XCn 

Die   Philosophie   in   den  letzten   40  Jahren   (aus   dem   Eng- 
lischen übersetzt  vom  .Herausgeber) XCIV 

Lotze's  Logik. 

Vorwort  Lotze's , CXXV 

^  Inhalt  des  Werkes OXXVII 

Erstes  Buch.     Vom  Denken I 

Zweites  Buch.     Vom  Untersuchen 187 

^            Drittes  Buch.     Vom  Erkennen 477 

c     Namenregister 609 

Sachregister 611 


2Ji0i94 


Verbesserungen 

von  Druckfehlem  der  zweiten  Auflage  von  Lotze's  Logik  (1880). 

Seite  23  Zeile  5/6:  Denkarbeit  statt  Denkbarkeit. 

„     53      „11  von  unten:    Subsumption  statt  Subsumtion. 
„  262      „     21     „         „         der    letzte  Buchstabe  der   Formel 

hei  3t  x'  statt  x. 
„  395      „     16     „         ,.  ihn  statt  sie. 

„  522      „     22:  untheilbar  statt  urtheilbar. 


Vorrede. 

Die  Logik  ist  nach  der  zweiten  Auflage  (Leipzig, 
S.  Hirzel,  1880)  abgedruckt,  der  Bequemlichkeit  halber  so, 
daß  die  Seitenzählung  mit  der  des  Originals  überein- 
stimmt. Das  Namensregister  ist  von  Herrn  stud.  phil.  R. 
Barth,  das  Sachregister  von  Herrn  stud.  phil.  C.  Fran- 
kenberger  angefertigt.^  Für  die  Sorgfältigkeit  der  Kor- 
rektur bürgt  der  Verlag,  der  auch  den  Nteudruck  der  Meta- 
physik vorbereitet. 

Der  Gedanke  dieser  Ausgabe  ging  aus  den  Studien  zur 
Erneuerung  des  (inzwischen  in  andre  Hände  übergegan- 
genen) 4.  Bandes  von  Überweg's  Grundriß  der  Geschichte  der 
Philosophie  hervor  und  aus  der  Arbeitsgemeinschaft  für 
dieses  Buch  mit  Herman  Nohl-  Jena,  die  auch  der 
Einleitung   zugute  gekommen  ist. 

Beigegeben  habe  ich  der  Einleitung  eine  Übersetzung 
von  Lotze's  Abhandlung  Philosophy  in  the  last  forty 
years,  die  1880  in  der  Contemporary  Review  erschienen 
ist  als  Anfang  einer  nicht  weiter  fortgesetzten  Artikel- 
reihe;  sie  erfolgte  nach  dem  Abdruck  von  Peipers  in 
Lotze's  kleinen  Schriften  Bd.  III,  2  (Leipzig,  Hirzel,  1891) 
mit  Benutzung  von  dessen*  Anmerkungen.  Lotze  schrieb 
deutsch  imd  ließ  übersetzen,  aber  sein  Originalmanuskript 
ist  verloren,   so   daß  eine  Rückübersetzung  nötig  war. 

Das  Porträt  —  verkleinert  nach  der  im  Berliner  Psycho- 
logischen Institut  hängenden  Photographie  —  ist  von  Herrn 
Geheimrat  C.  Stumpf  freundlichst  zur  Verfügung  gestellt 
worden ;  die  Original-Aufnahme  ist  vom  Mai  1870,  es  ist  die 
Aufnahme  VII  B  in  Rehnisch's  Verzeichnis  der  Lotze-Bilder 
(Anhang  zu  den  Vorlesungen  über  Grundzüge  der  Prak- 
tischen Philosophie,  3.  Aufl.  S.  96). 

Marburg,  im  März  1912. 

Georg  Misch. 


Einleitung. 


Die  Logik  und  die  Metaphysik  sind  von  Lotze  ent-. 
worfen  als  die  beiden  ersten  Teile  seines  »Systems  der 
Philosophie',  das  dreigliedrig  gedacht  war.  Der  dritte  Teil, 
der  nicht  mehr  zur  Ausführung  kam,  sollte  die  Ethik, 
Ästhetik  und  Religionsphilosophie  umfassen.  Die  Logik  ist 
1874,  die  Metaphysik  1879  erschienen.  Als  Glieder  des 
Systems  gehören  beide  Werke  zusammen.  So  werden  sie 
hier  wieder  vorgelegt,  und  zwar  nicht  bloß  um  eine  histo- 
rische Gestalt  der  Philosophie  dem  Studium  zugäng- 
licher zu  machen,  sondern  in  der  Überzeugung,  die  von 
verschiedenen.  Seiten  her  durchzudringen  beginnt:  daß  die 
begriffliche  Arbeit,  die  Lotze  vornehmlich  in  diesen  beiden 
Werken  geleistet  hat,  nicht  genügend  in  den  Vermögens- 
bestand unserer  Wissenschaft  aufgenommen  ist  und  doch 
noch  berufen  scheint,  aufklärend  und  fördernd  einzugreifen 
in  die  gegenwärtigen  Bestrebungen  des  wieder  intensiver 
gewordenen  Denkens.  Denn  diese  Arbeit  bildet  zu  ihnen 
die  Brücke  von  der  ,Deutschen  Bewegung' i)  her,  deren 
Leistungen  und  Tendenzen  in  der  Wissenschaftslehre  nur 
vorübergehend,  in  einer  empiristischen  Übergangs-Lage,  aus 
dem  Horizont  des  philosophischen  Bewußtseins  haben 
schwinden  können.  Lotze  hat,  als  der  entscheidende  syste- 
matische Kopf  der  mittleren  Zeit  des  19.  Jahrhunderts,  diese 
Tendenzen  fortgesetzt  und  in  die  modernen  Problemstel- 
lungen hinübergeführt.  Und  grade  der  Sinn  für  die  Begriff- 
lichkeit ist  es,  was  ihn  auch  gegenüber  dem  gleichstreben- 
den Fechner  auszeichnet. 


1)  Mit  dem  Ausdruck  Deutsche  Bewegung  soll  —  gegenüber  den 
engeren  Begriffen  Deutscher  Idealismus  oder  Idealistische  Systeme  — 
der  ganze  Zusammenhang  der  philosophischen  Arbeit  von  Kant,  Jakob! 
und  Goethe  bis  He^el  und  Herbart  bezeichnet  werden.  Vgl.  H.  Nohl, 
Die  Deutsche  Bewegung  u.  die  idealist.  Systeme   in  Logos  II,  3  (1912). 


X  Einleitung. 

Das  jSystem  der  Philosophie*  ist  die  langsam  gereifte 
Frucht  gedanklichen  Ringens,  das  durch  vier  Jahrzehnte 
hindurch  fortgegangen  war,  seit  der  junge  Lotze  mit 
24  Jahren  in  einem  ersten  genialen  Wurf  die  Meta- 
physik (1841)  und  alsbald  auch  die  Logik  (1843)  ver- 
faßt hatte.  Er  hat  dabei  eine  Entwicklung  durchgemacht, 
"und  ihre  Kenntnis  kann  zum  Verständnis  des  Werkes  mit- 
verhelfen. Denn  sie  betrifft  einen  wesentlichen  Punkt, 
an  dem  auch  gegenwärtig  noch  erst  Entscheidung  ge- 
funden werden  muß,  nämlich  die  Art  des  Aufbaues  der 
Philosophie,  ihre  systematische  Struktur,  die  nach  der 
Auflösung  der  konstruktiven  Form  von  Systembildung  aus- 
zubilden ist.  Die  verschiedenen  Einsätze  und  Gredanken- 
gänge,  die  Lotze  in  seinem  System  zu  verbinden  suchte, 
sind  vom  ersten  Entwurf  seiner  Logik  und  Metaphysik 
an  fast  alle  da,  wie  sie  denn  einfache  typische  Gr€- 
danken  sind,  die  von  der  Deutschen  Bewegung  wieder 
neu  entwickelt  waren  und  ihm  von  da  aus  zuflössen. 
Bis  auf  einen  erkenntnistheoretischen,  den  er  erst  später 
im  Apriorismus  entdeckte  und  der  dann  auch  die  Ent- 
wicklung mit  bestimmt  hat,  in  der  sich  die  Fügungs- 
weise  seiner   Gedanken    wesentlich    veränderte. 

Zuerst,  als  er  inmitten  der  Auflösung  der  idealistischen 
Systeme  festen  Fuß  faßte  und  sich  in  jenen  zwei  Jugend- 
schriften die  Grundlage  gab,  von  vorn  herein  klar  über 
die  Unmöglichkeit  der  konstruktiven  Systematik,  aber  eben- 
so überzeugt  von  dem  dauernden  Gehalt,  der  in  dieser  Form 
an's  Licht  getreten  war,  hat  er  das,  was  ihm  blieb,  zu- 
sammen gepackt  in  der  typischen  massiven  Struktur  eines 
ethischen  Idealismus,  mit  der  Wurzel  in  der  praktischen 
Vemimft,  dem  Vorantritt  der  Metaphysik  vor  der  Logik 
imd  der  Spitze  in  der  Religionsphilosophie.  Er  nannte  es: 
teleologischer  Idealismus.  Auch  der  ,Mikrokosmos*  —  die 
Anthropologie,  in  der  er  den  Ertrag  des  vielseitigen  Unter- 
suchens  und  Nachdenkens  seiner  ersten  Epoche  in  popu- 
lärer Zusammenfassung  zur  Wirkung  aufs  Leben  brin- 
gen wollte  —  zeigt  im  wesentlichen  noch  dieses  Gefüge, 
nur  nicht  mehr  so  streng  geschlossen,  sondern  noch  mehr 
auf  Versöhnung  gestellt,  Versöhnung  zwischen  theoretischer 
und  praktischer  Philosophie,  Versöhnung  zwischen  Erkennt- 
nis und  Gemütsbedürfnis.  Aber  es  ließ  sich  nicht  halten, 
wenigstens  nicht  in  dieser  ursprünglichen  Form.  Weder 
vor  dem  Herbartschen  Ansatz  der  Philosophie  beim  Ge- 
gebenen, noch  vor  dem  Platonischen  bei  der  Wahrheit,  noch 


Die  Entwicklung  des  Systems.  XI 

auch  vor  dem  Prinzip  der  sachlichen  Einsicht,  das  ihm  in 
Kant  aufging.  Es  löste  sich  auf  in  den  complizierten 
Bau,  der  dem  ,System*  eigen  ist  und  der  nun  in  neuer 
Weise  Raum  ließ  für  die  Mehrheit  der  Ansätze  und  für  die 
Fülle  der  Einfälle,  die  diesem  produktiven  Kopf  zuströmten. 
So  sind  diese  Bücher  nicht  ohne  weiteres  durchsichtig, 
trotz  der  außerordentlichen  Sprachgewandheit  von  Lotze's 
Darstellung.  Sie  fließt  nur  scheinbar  so  leicht  und  be- 
weglich hin,  fordert  vielmehr  an  jedem  Punkt  extensiv 
interpretiert  zu  werden  aus  dem  Zusammenhang  des  Gan- 
zen. Wer  das  Werk  studiert,  wie  es  studiert  sein  will:  als 
ein  Hauptwerk  der  gegenwärtigen  logischen  Bewegung,  mit 
dem  man  sich  auseinandersetzen  muß  und  das  die  Aus- 
einandersetzung mit  den  Mitteln  der  modernen  Logik  ver- 
trägt, wird  oft  genug  auf  Stellen  stoßen,  an  denen  Lotze's 
scharfer  Blick  seinem,  synkretistischen  Bestreben  zum  Opfer 
gefallen  scheint,  und  wird  geneigt  sein,  das  Ganze  als  ein 
Zwittergebilde  1)  abzuweisen,  um  nur  die  vielen  wertvollen 
Einzel-Gedanken  und  Einfälle  gelten  zu  lassen.  Begreift 
man  aber  das  System  als  die  Vollendung  einer  Entwick- 
lung, ^1  der  das  Suchen  eines  tiefen  Denkers  auch  nur 
relativ  zum  Stehen  gebracht  ist,  so  heben  sich  aus  dem 
scheinbaren  Gemenge  die  Gedanken  heraus,  in  denen  die 
ursprünglich  viel  härteren  Bindungen  abgeschwächt  fort- 
wirken, und  die  andern,  in  denen  sich  die  Linien  weiteren 
Fortgangs  markieren. 

In   diesem    Sinne    soll    die    Entwicklung    von   Lotze's 
Werk  hier  überblickt  werden. 


1)  Husserl,  Log.  Untersuchungen  I  (1900)  S.  219. 


I.  Lotze's  Ausgangspunkte. 

Eine  Wurzel  von  Lotze's  Kraft  liegt  sicher  in  seiner 
naturwissenschaftlichen  Bildung.  Der  Sohn  eines  Arztes, 
hatte  er  die  Medizin  zum  Fach  gewählt,  als  er  mit  17 
Jahren  1834  die  heimische  Universität  Leipzig  bezog  (er 
war  Sachse  aus  der  Niederlausitz  wie  Fichte  und  Les- 
sing). Dort  wurde  E.  H.  Weber  sein  Lehrer,  Fechner  sein 
Freund.  Abhandlungen,  Kritiken,  Vorlesungen  und  zusam- 
menfassende Darstellungen  auf  dem  Gebiete  der  Physiologie 
und  Pathologie  gingen  während  seiner  ersten  Epoche  stän- 
dig neben  seinen  philosophischen  Arbeiten  her,  bis  dann, 
über  die  Biologie  hinaus,  1852  seine  ,Medizinische  Psycho- 
logie* kam.  Sie  ist  aus  seiner  ,Allgemeinen  Physiologie  des 
körperlichen  Lebens*  (1851)  hervorgegangen,  als  ein  zu 
selbständiger  Behandlung  abgelöster  Teil  derselben  (abgelöst 
aus  dem  Kapitel,  das  die  Leistungen  der  lebendigen  Körper 
zu  behandeln  hatte)  — <  ein  Markstein  der  physiologischen 
Psychologie,  die  sich  damals  in  Deutschland  konstituierte 
und  nun  alsbald  durch  Fechners  Psychophysik  (1860)  in  die 
modernen  Bahnen  experimenteller  Forschung  geführt  wurde. 
Und  über  die  physiologische  Psychologie  hinaus  ist  dann 
sein  Gang  zum  ,Mikrokosmos'  gegeben  durch  den  Ge- 
danken, den  er  mit  der  von  Herbart  ausgehenden  Völker- 
psychologie teilt  und  so  formulierte:  „Die  Philosophie  der 
Geschichte  ist  die  notwendige  Ergänzung  der  Psychologie." 
So  gehört  die  Hauptmasse  seiner  Schriften  aus  seiner 
ersten  und  mittleren  Zeit  der  Anthropologie  an,  in 
dem  weiten  Sinne,  in  dem  er  Anthropologie  von  vornherein 
verstanden  und  schließlich  im  ,Mikrokosmos*  zur  Darstel- 
lung gebracht  hat;  und  diese  Orientierung  gab  seinen 
Arbeiten  von  dem  Unterbau  der  Physiologie  aus  einen 
fortschreitenden  inneren  Zusammenhang.  Für  die  Philo- 
sophie eingeschätzt,  bedeutet  das  zunächst  den  typischen 
Ausgangspunkt  vom  menschlichen  Subjekt,  angepaßt  an  die 


Sein  Ausgang  von  der  Naturwissenschaft.  XIII 

neue  Lage  der  Naturwissenschaft,  wie  er  damals  allgemein 
ergriffen  wurde  als  die  Rettung  der  Philosophie  aus  dem 
Zusammenbruch  der  spekulativen   Geistesverfassung. 

Liegt  hier  der  entscheidende  Ansatz  Lotze's  in  der 
Philosophie  ?  Eröffnet  er  also  die  Reihe  der  Denker,  die  mit 
der  15  Jahre  später  geborenen  Generation  sich  nun  auch  in 
Deutschland  mehrten:  die  von  der  Biologie  und  Physik 
zur  Philosophie  kamen,  auf  dem  Wege  der  Wahrnehmungs- 
theorie oder  der  Kritik  des  Materialismus  oder  allgemein 
durch  die  universale  Richtung  und  methodische  Haltung 
in  der  positiven  Forschung  selber?  wie  Helmholtz,  Wundt, 
Mach  und  die  vielen  Naturforschesr,  die  in  den  70er  Jahren 
an  der  Kant-Bewegung  und  der  Grenzbestimmung  ihrer  Wis- 
senschaft teilnahmen  ?  Oder  hat  er  wie  sein  viel  älterer 
Freund  Fechner  (geb.  1801),  der  auch  mit  der  Medizin  be- 
gonnen hatte,  den  Weg  zur  Philosophie  durch  eine  be- 
freiende Krisis  gefunden,  in  der  ihm  „ein  neues  Licht  auf 
einmal  die  ganze  Welt  und  die  Wissenschaft  von  der 
Welt  zu  erleuchten  schien"  ?i)  Lotze  selbst  hat  bekundet, 
seine  Neigung  zu  Poesie  und  Kunst  sei  es  gewesen,  was  ihn 
von  Haus  aus  zur  Philosophie  hintrieb;  er  war  in  ihr  be- 
reits darinnen,  als  er  mit  seinen  biologischen  Arbeiten 
hervortrat.  Aber  es  bleibt  die  wesentliche  Frage,  ob 
und  wieweit  diesem  ästhetisch,  kontemplativ  gerichteten 
Geist  die  Schulung  in  der  Naturwissenschaft,  das  Er- 
fülltsein von  ihrem  Stoff  und  Geist,  zu  seinen  philo- 
sophischen Leistungen  verholfen  habe?  Auch  die  Tatsache 
seiner  Abhängigkeit  von  Herbart,  wie  sie  jeder,  der  da- 
mals in  der  Psychologie  etwas  vorwärts  bringen  wollte, 
erfahren  mußte,  läßt  diese  Frage  offen.  Lotze  hat  sich  da- 
gegen gewehrt,  als  Herbartianer  eingeordnet  zu  werden; 2) 
nicht  ganz  mit  Recht,  wenn  er  auch  seinen  letzten  philo- 
sophischen Willen  bei  Herbart  nicht  berührt  fand.  Sein 
Ausgang  vom  Gegebenen,  seine  Methode  der  Bearbeitung  der 
Begriffe,  seine  Gedankenführung,  seine  Lehre  von  der  Rück- 
wirkung, seine  metaphysische  Conception  von  der  Wech- 
sehvirkung  der  Wesen  und  das  Charakteristischste,  seine 
Terminologie,  zeigen  entscheidende  Spuren  Herbarts.  Lotze 
hat  nun  aber  diese  Verwandtschaft,  soweit  er  sie  gelten 
ließ,  darauf  zurückgeführt,  daß  die  fraglichen  Anschauungen 
bei  ihm  wie  bei  Herbart  gleichermaßen  in  der  Physik  ihre 


^)  Fechner  über  sein  Erlebnis,  in  Kuntzes  Biographie  (1892)  S.  39. 
2)  Lotze,  Streitschriften,  Heft  1  (1857)  S.  5f. 


XIV  Einleitung.    I.  Lotze's  Ausgangspunkte. 

überpersönliche  Quelle  gehabt  hätten.  So  scheint  das  Urteil 
begründet,  das  einer  der  besten  Kenner  Lotze's  ausspricht: 
daß  auch  bei  ihm  von  der  Naturwissenschaft  aus,  „von 
einer  in  naturwissenschaftlichem  Geiste  betriebenen  Psycho- 
logie neues  Leben  in  die  Philosophie  kam."^)  Es  handelt 
sich  um  eine  Frage  von  allgemeiner  Bedeutung:  die  Frage 
nach  den  Kräften,  die  bei  der  Wiedererneuerung  der  Philo- 
sophie am  Werke  waren  und  sind  und  ein  Recht  auf 
Pflege  in  ihr  haben. 

Tatsache  ist,  daß  die  bestimmte  Gestalt  der  Natur- 
wissenschaft, an  der  auch  Kant  orientiert  war,  die  Physik 
der  Zentralkräfte  mit  Wirkungen  und  Gegenwirkungen 
nach  dem  Vorbilde  der  Himmelsmechanik,  für  ihn  leitend 
gewesen  ist.  Er  hat  ihr  mächtiges  Aufsteigen  in  Deutsch- 
land, das  Anwachsen  ihres  Selbstbewußtseins  nicht  nur 
miterlebt,  sondern  mit  gefördert.  So  fest  stand  er  in 
dieser  Bewegung,  daß  er  mit  seinem  klaren,  philosophisch 
erzogenen  Denken  gleich  durch  seine  erste  Schrift,  kaum 
21  Jahre  alt,  führend  in  sie  eingreifen  konnte.  Seine  Promo- 
tionsschrift zum  Dr.  med.  handelte  De  futurae  biologiae 
principiis  philosophicis  (1838);  er  entwarf  und  begründete 
darin  das  Programm  einer  strengen  mechanischen  Theorie 
unter  Ausschluß  der  Rede  von  der  Lebenskraft.  Und  dies 
in  einer  Zeit,  wo  der  größte  Physiologe  Deutschlands, 
Johannes  Müller,  noch  schwankte  und  seinen  Schülern 
die  entscheidenden  Feststellungen  überließ.  Das  Prinzip 
des  Mechanismus  —  das  Wort  in  dem  weiten,  von  Kant 
geprägten  Sinne:  kausal  erklärende  Theorie  —  hat  er 
nicht  nur  in  der  Biologie  zuerst  und  allgemein  durch- 
geführt, in  den  berühmten  Abhandlungen,  in  denen  er 
die  Grundbegriffe  und  Grundsätze  einer  wissenschaftlichen 
Gestaltung  seiner  Fachdisziplin  ausarbeitete  2),  sondern 
es  geht  durch  seine  ganze  anthropologische  Schriften- 
reihe hindurch.  Auch  hierüber  war  er  sich  von  Anfang  an 
klar.  In  seiner  ersten  philosophischen  Hauptschrift,  der 
Metaphysik  von  1841,  forderte  er  es  wie  für  die  Physiologie 
so  auch  für  die  Psychologie,  in  der  richtigen  Einschätzung 
von  Herbart's  Verdienst:   die  Idee  seiner   Seelenmechanik 


1)  Carl  Stumpf,  Die  Wiedergeburt  der  Philosophie,  Rektoratsrede 
Berlin   (1907)    S.  6;    Philos.   P.eden  u.  Vorträge,    Lpz.  (li>10)  S.   1()6. 

2)  .Leben  und  Lebenskraft'  1843:  die  Abb.  wurde  aus  dem  Text 
von  Wagners  Handwörterbuch  der  Physiologie  heraus  an  die  Spitze 
dos  Werkes  gestellt. 


Philosophie  und  Naturwissenschaft.  XV 

bedeute  einen  der  wenigen  reellen  Fortschritte  der  neueren 
Philosophie,  die  Durchführung  aber  sei  nur  „ein  untergeord- 
netes Moment  der  eigentlichen  Psychologie,  die  wir  noch 
suchen."  Und  zugleich  forderte  er  mit  Herbart  dies  Prin- 
zip auch  für  die  Geschichte;  ein  zeitgemäßer  Gedanke, 
der  dann  im  ,Mikrokosmos*  wiedererscheint  als  die  Auf- 
gabe einer  „Mechanik  der  Gesellschaft,  welche  die  Psycho- 
logie über  die  Grenzen  des  Individuums   erweiterte."^) 

Den  Mechanismus  so  allgemein  zu  fordern  und  die  For- 
derung zu  rechtfertigen,  war  Sache  der  ,Metaphysik'  —  da- 
mit ist  schon  gesagt,  daß  ihm  die  Philosophie  der  syste- 
matische Ort  war,  von  dem  die  Einzelwissenschaften  die 
Prinzipien  der  Beurteilung  zu  entnehmen  haben.  Er  selber 
hat  für  alle  seine  spezialwissenschaftlichen  Arbeiten  bis 
zur  ,Medizinischen  Psychologie*  hin  den  Titel  Philosophie 
abgelehnt:  sie  sollten  „das  medizinische  Studium  von 
Seiten  philosophischer  Betrachtung"  fördern.  Als  Lehrer 
wie  als  Autor  wollte  er  „mit  eiserner  Konsequenz"  den 
methodischen  Weg  festhalten:  „Allgemeine  Grundsätze,  die 
bestimmen,  wie  etwas  sein  muß,  wenn  es  überhaupt  sein 
soll,  und  wie  etwas  untersucht  werden  muß,  wenn  es  über- 
haupt untersucht  werden  soll,  gehören  an  den  Anfang  der 
Beschäftigung  mit  dem  Gegenstande"  —  ,metaphysische  An- 
fangsgründe' der  Wissenschaften. 

Aber  nun  hat  Lotze  weiter  die  Umkehrung  dieses 
wissenschaftlichen  Bewußtseins  in  Deutschland  miterlebt, 
die  durch  die  Ausbreitung  des  Empirismus  in  den  Einzel- 
wissenschaften und  insbesondere  durch  das  Vordringen 
der  Naturforschung  gegen  die  Philosophie  kam.  Mit  der 
construierenden  Vernunft  schien  die  philosophierende  über- 
haupt gerichtet.  Sollte  die  Philosophie  aus  ihrer  Ohnmacht 
erweckt  werden,  so  müßte  sie  zunächst  naturwissenschaft- 
lich denken  lernen;  in  einzelnen  ihrer  Disziplinen,  wie  Ästhe- 
tik, Ethik,  Geschichtsphilosophie  begann  man  schon  damit, 
von  der  Psychologie  zu  schweigen.  Diese  seit  den  50er 
Jahren  vorherrschende  Meinung,  durch  die  die  Philosophie 
als  Ganzes  in  Frage  gestellt  war  —  man  sieht  leicht,  es  ist 
dieselbe  Meinung,  die  den  uns  problematischen  Gesichts- 
punkt für  die  Einschätzung  Lotze's  gab  — ,  stand  tat- 
sächlich allenthalben  im  Vordergrunde,  wo  zu  Lotze's 
Zeit  abseits  von  den  metaphysiko-theologischen  Seiten- 
gassen,  in  die   sich  die  reaktionär   erstarrte  Deutsche  Be- 

1)  Metaphysik  1841,  S.  251.     Mikrokosmos  III 5,  S.  71f. 


XVI  Einleitung.    I.  Lotze's  Ausgangspunkte. 

wegung  verrannt  hatte,  etwas  für  die  Erneuerung  der  Philo- 
sophie geleistet  wurde.  Unter  diesem  Zeichen  breitete  sich 
damals  der  genetisch-psychologische  Betrieb  der  Erkenntnis- 
theorie von  Beneke  und  Herbartschülern  her  in  der  kriti- 
schen Philosophie  und  bei  Naturforschern  aus  als  einer 
der  verschiedenen  Anfänge,  mit  denen  man,  zunächst  von 
speziellen  Seiten  her  herankommend,  sich  um  eine  wissen- 
schaftliche Philosophie  bemühte.  Es  bildete  sich  die  eigen- 
tümliche Konstellation,  unter  der  Kant  ,erneuert*  und  sein 
Apriorismus  mit  gewissen  Ergebnissen  der  physiologischen 
Wahrnehmungslehre  identifiziert  wurde.  Aber  auch  nach- 
dem der  rationale  Sinn  des  Apriori  wieder  entdeckt  war 
und  die  verschiedenen  Richtungen  des  Kritizismus  und 
Positivismus  sich  sonderten,  die  das  negative  Band  der 
Antimetaphysik  zusammengehalten  hatte:  blieb  der  An- 
schluß der  Philosophie  an  die  Naturwissenschaft  mit  Hilfe 
von  Kant  als  der  Heilsweg  zur  Wiedergeburt  bestehen  i). 
Und  dieselbe  Tendenz  machte  sich  auf  einer  ganz  anderen 
Linie,  die  abseits  von  der  Kant-Bewegung  zu  wissenschaft- 
licher Philosophie  hinführte,  geltend:  in  einer  Richtung, 
die  trotz  ihrer  Ferne  vom  Deutschen  Idealismus  Lotze  nahe- 
stand und  schließlich  berufen  war,  sein  Werk  zu  ergänzen. 
Einer  der  bedeutendsten  Denker  aus  der  damals  einsetzen- 
den Generation,  Franz  Brentano,  der  die  vorkantische, 
aristotelische  Tradition  der  Philosophie  in  das  moderne  ana- 
lytische Denken  hinübergeführt  hat  auf  dem  Boden  einer 
„phänomenalen  Psychologie";  der  mit  dem  distinguieren- 
den,  klärenden  Denken  und  der  Richtung  auf  „bescheiden 
sorgsame  Einzelarbeit  von  engumgrenzten  Fragen  aus"  eine 
in  ihrer  Exaktheit  geschlossene  methodische  Haltung  be- 
gründete, die  ihn  und  seine  Schüler  instand  setzte,  trotz 
des  Ausgangs  von  der  Psychologie  über  die  „subjek- 
tivistische  Fälschung  der  Begriffe  des  Wahren  und  des 
Guten"  hinauszukommen  —  Brentano  führte  diese  Denk- 
haltung auf  dem  Katheder  ein  (1865)  mit  dem  Motto:  Vera 
methodus  philosophiae  nulla  alia  nisi  scientiae  naturalis 
est.i) 

1)  Riehl,  über  Begriff  und  Form  der  Philosophie  1872.  Wundt, 
Ü.  d.  Aufgabe  der  Philosophie  in  der  Gegenwart  1874  u.  a. 

2)  Gegenüber  der  von  Windelband  (Große  Denker,  hrg.  v.  E.  v. 
Aster  1911,  II  S.  3T6;  ähnlich  Lask,  die  Logik  der  Philos.  1911, 
S.  12)  ausgesprochenen  Ansicht,  die  die  Orientierung  der  gegenwärtigen 
Philosophie  vereinfacht:  daß  insbesondere  auch  Hus^erl's  Leistungen 
hauptsächlich  von  Lotze  (und  Bolzano)  aus  zu  sehen  seien,  muß  die  ße- 


Naturwissenschaft  und  Philosophie.  XVII 

Die  Wirrungen  jenes  Synkretismus  von  Kant  und 
Naturwissenschaft  auf  dem  Boden  der  Psychologie  hat 
Lotze  nie  mitgemacht;  er  hat  zeitlebens  im  Kampf  gegen 
die  psychologisierende  Erkenntnistheorie  gestanden,  die  er, 
groß  in  der  Kritik,  fortdauernd  in  seinen  Rezensionen 
verfolgte.  Er  wußte  zu  gut  von  der  alten  guten  Tradition 
des  Kritizismus  her  den  Unterschied  von  Apriorität  der 
Giltigkeit  und  des  Angeborenseins,  den  die  neuere  Kant- 
Bewegung  erst  allmählich  wieder  heraufarbeitete;  er  konnte 
bei  seinem  Lehrer  Weiße  lernen,  daß  das  Prinzip  der 
kritischen  Philosophie  bestehe  in  dem  „reinen  und  strengen 
Begriff  des  Apriori  oder  der  formalen  Vernunftnotwendig- 
keit", welche  „die  notwendige  Pr.ämisse  jedes  wissenschaft- 
lichen Erkennens  ist.i)  Aber  auch  die  Gleichsetzung  der 
philosophischen  Methode  mit  der  der  Naturwissenschaft 
im  Sinne  Brentano's  hätte  Lotze  abgelehnt,  als  eine  mißver- 
ständliche  Redeweise,    wie    er   den   Titel    ,nach   naturwis- 


ziehung  zu  Brentano  besonders  betont  werden.  Brentano  stimmt  mit 
Lotze's  späterer  Lehre  (s.  unten  S.  LXIlIfif.)  in  dem  Hauptpunkt  überein, 
daß  sich  das  Urteil  —  und  das  parallel  behandelte  Werturteil  — 
durch  die  Sachlichkeit  hindurch  auf  die  Wirklichkeit  bezieht.  Die 
Unselbständigkeit  der  sachlich -idealen  Sphäre  drückt  Lotze  durch  den 
Terminus  Gelten  aus.  Brentano  faßt  jetzt  die  selbständige  Behandlung 
der  Urteils-  und  Interesse- Inhalte  als  methodische  Fiktion  (V.  d. 
Klassifikation  der  psych.  Phänomene  1911,  S.  147  ff.);  aber  in  der 
Gruppe  von  Denkern,  die  von  Brentano  ausgegangen  sind,  kann  man 
die  ganze  Reihe  in  der  Entscheidung  der  Frage  finden,  in  welchem 
Sinne  den  objektiv- idealen  Bedingungen  der  Erkenntnis  und  Sittlichkeit 
eine  unabhängige  Existenz  zuzusprechen  ist  (Stumpf— Husserl — Marty 
— Meinong) ;  schon  dies  allein  sollte  zeigen,  daß  hier  eine  geschlossene 
Entwicklung  von  einem  gemeinsamen  Ausgangspunkt  vorliegt,  die 
durch  die  Natur  der  Sache  vorwärtsgetrieben  wurde  (wobei  dann 
liOtze  einerseits,  Bolzano  anderseits  herein  wirkte).  Wird  dann  aber 
in  der  Rede  von  der  zeitlosen  Existenz  mehr  gesehen  als  eine  „An- 
zeige für  die  Geltung  gewisser  Urteile"  (Husserl),  so  fragt  sich  durch- 
aus, ob  dies  ein  Fortschritt  ist.  —  Auch  die  „Phänomenologie"  im 
Sinne  Husserl's,  die  von  der  Reinen  Logik  zu  scheiden  ist,  kommt 
von  Brentano's  „Gedankenkreis  einer  Deskriptiven  Psychologie"  (Bren- 
tano, Vom  Ursprung  der  sittlichen  Erkenntnis,  1889,  S.  VI)  her,  wenn 
auch  das  hermeneu  tische  Verfahren  erst  durch  die  selbständige  Be- 
handlung der  Phänomenologie  in  seiner  universalen  Bedeutung  als 
Methode  der  Grundlegung  rein  herausgearbeitet  wurde;  Lotze  ist  zwar 
auch  auf  diesen  Punkt  gestoßen,  hat  aber  grade  an  dieser  Stelle  die 
Methode  nicht  reinlich  von  der  Spekulation  gesondert. 

1)  Chr.  Weiße,  In  welchem  Sinne  die  deutsche  Philosophie  jetzt 
wieder  an  Kant  sich  zu  orientieren  hat,  Lpz.  1847  S.  6  f.  11  f. 

Lotze,  Logik.  II 


XVIII  Einleitung.    I.  Lotze's  Ausgangspunkte. 

senschaf tlicher  Methode*  auf  Lehrbüchern  der  Psychologie 
aus  Herbart's  Schule  und  für  seine  eigenen  Arbeiten  ab- 
gelehnt hat.  Sei  dieser  Titel  im  eigentlichen  engen  Sinne 
gemeint,  dann  bedeute  dies  eine  falsche  Übertragung  von 
Methoden,  die  für  die  Erforschung  speziell  physischer 
Gegenstände  ausgebildet  sind;  solle  damit  aber  nur  die  all- 
gemeinste Regel  logischer  und  methodischer  Genauigkeit 
gemeint  sein,  dann  sei  der  Ausdruck  unberechtigt,  weil  zu 
eng.i) 

So  scheint  von  der  philosophischen  Bedeutung  seines 
naturwissenschaftlichen  Anfangs  nur  dies  zu  bjeiben:  daß 
er  die  allgemeine  Forderung  wissenschaftlicher  Strenge 
und  Durchsichtigkeit,  die  in  der  Deutschen  Bewegung  im 
Ringen  um  die  geistige  Bewältigung  eines  neu  aufgehenden 
Gehalts  vernachlässigt  worden  war,  hier  am  ehesten  er- 
füllt vorfinden  und  dieses  Vorbild  in  sich  aufnehmen  konnte. 
In  Wahrheit  bleibt  doch  mehr;  aber  etwas,  was  ihm  nicht 
bloß  Frucht  trug,  sondern  ihn  auch  gehemmt  hat.  Es  han- 
delt sich  um  die  Bedeutung  des  Mechanismus.  Aus  all- 
gemeinen Gesetzen  kausal  erklärende  Theorie  und  Wissen- 
schaft sind  für  Lotze  wie  für  Kant  äquivalente  Begriffe; 
So  bleibt  er  in  der  Wissenschaftslehre  bei  dem  natura- 
listischen Monismus  stehen,  wenn  er  auch,  Herbart  fol- 
gend, den  Begriff  des  Mechanismus  durch  Abstraktion  von 
den  Momenten,  die  durch  die  spezifische  Natur  der  physi- 
schen Objekte  bedingt  sind,  erweitert  hat  zu  der  Idee 
einer  „allgemeinen  Statik  und  Mechanik  der  Veränderungen 
von  Wesen  überhaupt",  einer  „metaphysischen  Dynamik*', 
als  deren  Zweige  Physik  und  Psychologie  einander  gleich- 
geordnet wären.  2)  Daß  er  diese  Stellung  festhielt,  hatte 
zur  Folge,  daß  er  überall  da,  wo  er  in  philosophischer 
Betrachtung  eine  Grenze  der  Gesetzeswissenschaft  er- 
kannte, sich  nun  nicht  um  eine  Erweiterung  des  Begriffs 
der  Wissenschaft  für  die  Philosophie  bemühte,  sondern 
die  Wissenschaft  abwies,  um  eine  spezifisch  spekulative 
Behandlung  Platz  greifen  zu  lassen.  Und  durch  diese 
Trennung  von  Philosophie  und  Wissenschaft  wurde  er  ge- 
hemmt, seine  eigenen  fruchtbaren  Ansätze  zu  einer  Theorie 
des  geistigen  Lebens,  insbesondere  in  der  Wertlehre,  voll 
auszunützen.  Sie  führen  uns  zu  dem  andern  Pol  seiner 
geistigen  Entwicklung. 


1)  Lotze,  Kleine  Schriften  H  S.  5,  479,  HI  S.  261  o.  m. 

*)  Medizin.  Psychologie  S.  34,  450  u.  in  s.  anderen  Schriften  pasflim. 


Die  Deutsche  Bewegung.  XIX 

Denn  nicht  sein  fachmännisches  Verhältnis  zur  Natur- 
wissenschaft allein,  sondern  —  und  damit  wäre  die  positive 
Antwort  auf  die  oben  gestellte  Frage  gegeben  —  daß  er  zu- 
gleich ein  Lebensverhältnis  zu  der  Deutschen  Bewegung  be- 
saß, bestimmte  seine  Anfänge.  Sie  war  für  ihn  noch  volle 
Gegenwart,  während  für  die  um  ein  Jahrzehnt  später  Ge- 
borenen schon  die  Tradition  verschüttet  war,  so  daß  erst 
die  historische  Erinnerung  wieder  die  Kontinuität  herstellen 
konnte,  wo  sie  überhaupt  von  den  Weiterschreitenden  noch 
gesucht  wurde,  wie  bei  Sigwart,  Dilthey,  Eucken,  Win- 
delband. Und  sie  blieb  ihm  dauernd  gegenwärtig  mit  der 
universalen  Problemlage,  in  die  er  hineinkam:  die  Kritik 
Hegel's  seitens  der  Logik  von  ihrer  formalen  Tradition 
her  wie  von  ihrer  Erneuerung  aus  der  Methodenlehre  der 
Wissenschaften  (Trendelenburg);  der  Ansturm  gegen  Hegel 
durch  den  Antirationalismus  des  späteren  Schelling,  durch 
den  Lotze  wie  so  viele  damals  intensiv  hindurchgegangen 
ist,  und  die  Auseinandersetzung  beider  mit  Herbart,  dessön 
Bewältigung  eine  Hauptangelegenheit  seiner  ersten  Arbeiten 
war;  endlich  die  schon  beginnende  Rückwendung  zu  ihren 
Grundlagen  in  Kant,  den  er  mit  Plato  zusammen  sehen 
lernte.  Grade  daß  er  mitten  in  die  Auflösung  der  Systeme 
hineinkam,  auch  schon  aus  vorzüglichen  historischen  Dar- 
stellungen eine  Orientierung  über  den  Gang  der  ganzen  Be- 
wegung mitbekam!),  ermöglichte  ihm  von  Anfang  an  die 
freie  Stellung :  nur  im  Bruch  mit  den  „traditionellen  Formen 
des  Philosophierens"  könne  er  seinen  Weg  gehen. 

Er  fand  hier  das  Wesentliche  —  die  Philosophie  noch 
als  Ganzes.  Er  ergriff  die  idealistischen  Systeme  nicht 
als  eine  Abfolge  von  Lehrsystemen,  sondern  als  eine  Einheit 
im  Aufbau  einer  geistigen  Welt,  als  „eine  charakteristische 
Art  der  Bildung  überhaupt".  So  wenig  zeigte  der  Natur- 
wissenschaftler in  ihm  dem  Philosophen  den  Weg,  daß 
der  Leipziger  Student  an  Drobisch  und  Hartenstein  vor- 
überging, um  sich  ausschließlich  an  die  Vorlesungen  des 
Hegelianers  Weiße  zu  halten;  erst  viel  später,  nachdem, 
sein  Lehrer  den  ,Mikrokosmos*  hart  kritisiert  hatte,  ist 
ihm    überhaupt    aufgegangen,    daß    zwischen    dessen    und 

^)  Chalybäus.  Historische  Entwicklung  der  spekulativen  Philosophie 
von  Kant  bis  Hegel,  18^1,  giebt  am  Schluß  ein  Programm  für  die 
weitere  Fortbildung  der  Philosophie  und  Lotze  erklärt  darüber  (1847, 
8.  KL  Schriften  II  S.  303).  daß  es  sehr  nahe  auf  den  von  ihm  selbst 
betretenen  Weg  traf.  Auch  bei  Weiße  hörte  Lotze  Geschichte  der 
Philosophie  seit  Kant,  s.  Falckenberg,  H.  Lotze  1901,  S.  18. 

n* 


XX  Einleitung.    I,  Lotze's  Ausgangspunkte. 

seiner  Richtung  ein  wesentlicher  Unterschied  bestehe,  i)  Und 
doch  gehört  diese  Gasse,  durch  die  er  in  die  Philosophie 
eingeführt  wurde,  mit  Recht  zu  den  verrufenen:  wo  die 
Harmonisierung  der  Philosophie  mit  der  Theologie  zwecks 
Befriedigung  der  Gemütsbedürfnisse  betrieben  wurde  2)  und 
daher  das  Wort  Metaphysik  den  reaktionären  Klang  be- 
kam, den  es,  auf  die  Deutschen  Systeme  angewandt,  nicht 
verträgt.  Denn  diese  neue  Art  von  Metaphysik  gehörte 
nicht  wie  die  alte,  gegen  die  man  im  Ausland  kämpfte,  einer 
überwundenen  Stufe  an,  sondern  war  eine  produktive  Kraft. 
Diese  Tatsache  wirkte  denn  auch  hindurch.  Gewiß  zieht 
sich  auch  durch  Lotze's  Werk  bis  zu  Ende  die  Tendenz, 
Unvereinbares  zu  harmonisieren,  um  die  Bedürfnisse  des 
Gemüts  in  einer  Weltansicht  zu  befriedigen;  nach  der 
Auflösung  der  metaphysisch-objektiven  Logik  Hegel's  und 
gegenüber  der  Zerfällung  der  Philosophie  bei  Herbart  suchte 
er  die  Einheit  der  Philosophie  anthropologisch  in  dieser 
Richtung  auf  Weltansicht.  2)  Aber  das  Eigentliche,  was  er 
in  jenem  Kreise  der  ,spekulativen  Theisten*  fand,  war  doch 
die  durch  die  Metaphysiko-Theologie  hindurchscheinende 
Richtung  auf  den  „ganzen  Geist",  das  von  Schelling  ge- 
nährte Bewußtsein,  daß  „der  einzig  richtige  Weg  sei,  durch 
das  Denken  über  die  Annahme,  daß  das  Denken  selbst  das 
einzig  Absolute  sei,  herauszukommen",*)  und  vor  allem 
die  metaphysische  Grundüberzeugung,  für  die  er  sich  immer 
an  Hegel  gehalten  hat,  die  Überzeugung  von  der  Einheit 
des   Wirklichen   als    eines    sinnvollen   Ganzen. 

Er  w^ar  in  eine  Zeit  hineingeboren,  in  der  eine  der 
größten  schöpferischen  Epochen  der  Philosophie  zu  Ende 
ging.  Aber  er  brauchte  dieser  historischen  Stellung  wegen 
noch  nicht  ein  Epigone  zu  sein.  Und  jeder  der  ihn  kennt, 
wird  das  Gefühl  haben,  daß  dieser  Mann  das  Zeug  dazu 
hatte,  der  große  Philosoph  des  19.  Jahrhunderts  zu  werden 
—  wo  er  dann  auf  ähnlicher  Höhe  wie  Plato  und  Leibniz 
gestanden  hätte.  Er  ist  es  nicht  geworden,  und  nur  Fäden 
sieht  man  zu   Plato   und   Leibniz    sich   ziehen,   nicht   die 


1)  Lotze,  Metaphysik  v.  1879,  §  88. 

*)  Auch  ia  Weiße's  oben  zitierter  Kant-Rede  ist  die  Bestimmung 
des  Apriori  nur  eine  Seite,  die  andere  liegt  in  der  Tendenz,  mittels 
des  „idealen  Universums"  der  reinen  Vernunft  den  absoluten  Grund 
alles  Seins  (in  Gott)  zu  erreichen. 

»)  Lotze,  Metaphysik  v.   1841  S.  16.  und  Met.  v.   1879  §  94. 

*)  Chalybäua  a.  a.  0.  2.  Aufl.  1839,  S.  426. 


Historische  Stellung",  XXI 


Gestalt  als  Ganzes  ihnen  gleichgeordnet.  Es  bleibt  eben 
bei  ihm  eine  letzte  Grenze  in  dem  Maß  von  Freiheit, 
Härte  und  Ursprünglichkeit.  Deshalb  gehört  er  aber  nicht 
in  die  Niederung  des  , spekulativen  Theismus*,  ^j  Er  hat 
sich  aus  ihr  herausgearbeitet,  und  mit  den  Größten  teilt 
er  die  philosophische  Verfassung,  die  nie  stehen  bleibt, 
sondern  bis  zum  Ende  weiter  sucht. 


^)  So  oharakterisiert  ihn  Ed.  v.   Haxtmann,  IiOtzes  Philosophie,. 
188S,  als  den  „Erkenntnistheoretiker  des  spekulativen  Theismus".       • 


II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems  i^i  Meta* 
pliysik  und  Logik. 

Auf  die  historische  Situation,  die  wir  darlegten,  ant- 
wortet Lotzes  Metaphysik  mit  dem  Satz:  Die  Widersprüche 
der  Systeme  sind  nur  scheinbare,  sie  lassen  sich  auflösen 
in  verschiedene  Aspekte  des  Einen  in  sich  festen  Gegen- 
standes der  Metaphysik.  Die  Prinzipien,  mit  denen  sie 
gegeneinander  streiten,  gehören  in  Wahrheit  alle  zu  der 
„allgemeinen  Rüstkammer"  für  das  Weltbegreifen,  die  die 
Metaphysik  darstellt,  und  haben  in  ihr  jedes  für  sich  eine 
feste  stelle.  Metaphysik  ist  eine  formale  Wissenschaft  — 
eine  inhaltvolle  Weltansicht  zu  geben,  muß  sie  der  „leben- 
digen Bildung  der  Kunst  und  des  Lebens"  «überlassen.  Man 
muß  nur  diesen  formalen  Charakter  festhalten,  dann  ent- 
fällt die  Ausschließlichkeit  der  Systeme;  denn  nur  der 
Glaube,  mit  den  Mitteln  der  Begrifflichkeit  das  wahrhaft 
Seiende  inhaltlich  bestimmen  zu  können,  ist  es,  was  den 
Metaphysiker  verleitet,  aus  den  verschiedenen  intellektuellen 
Koordinatensystemen,  auf  die  das  Eine  unverwüstliche 
Weltall  mit  gleichem  Recht  bezogen  werden  kann,  eins  als 
das  allein  berechtigte  auszuwählen,  die  „geheime  In- 
klination", die  die  Auswahl  leitet,  mit  Gründen  zu  ver- 
decken und  so  ein  immer  einseitiges  Prinzip  absolut  zu 
setzen,  am  sichtbarsten  in  Hegels  Panlogismus  mit  seiner 
„Auflösung  des  Inhalts  in  bloße  Formen."  i)  So  rechtfertigt 
sich  das  Unternehmen  des  Eklektikers.  Überall  findet  er 
eine  Seite  der  Wahrheit:  bei  Hegel  in  seiner  Idee  der 
Welt  als  Entwicklung  eines  Geistigen,  das  zum  Bewußt- 
sein seiner  selbst  im  „Fürsichsein"  strebt,  in  Schellings 
Wendung  zu  der  Individualität  des  konkret  Wirklichen,  in 
dem  von  Herbart  präzisierten  Gedanken  einer  durch  Systeme 

')  Metaph.  S.  135,  141  u.  a.     Vgl.  Kl.  Schriften  lU  S.  3  (1862). 


Lotze's  teleologischer  Idealismus.  XXTTI 

von  Gründen  bedingten  Weltordnung,  in  dem  Mechanis- 
mus der  Naturwissenschaft.   Sie  müssen  verbunden  werden. 

Der  Gedanke,  der  die  Verbindung  ermöglicht,  ist  die 
Unterscheidung  verschiedener  Begriffe  vom  Sein,  deren 
jeder  eine  wahre  Bestimmung  des  Wirklichen  abgibt:  das 
logische  Sein  des  Begründungszusammenhangs,  das  reale 
des  Kausalnexus  und  der  teleologische  Zusammenhang, 
dessen  Sein  aus  der  Transzendenz  hervorgeht  —  die  drei 
Welten  von  Wahrheit,  Wirklichkeit  und  Wert.  Den  Ge- 
danken, der  die  Verbindung  herstellt,  gibt  der  Satz,  den 
er  späterhin  als  seine  Übereinstimmung  mit  Fichte  so 
formuliert  hat:  „daß  die  Welt  der  Werte  zugleich  der 
Schlüssel  für  die  Welt  der  Formen  sei"i)  —  zusammen 
mit  dem  andern  Satz,  den  er  mit  Leibniz  teilt  und  den 
die  Völkerpsychologen  ähnlich  aussprachen:  daß  die  Ver? 
wirklichung  von  Werten,  wie  alle  Realisierung  überhaupt> 
notwendig  an  einen  Kausalnexus  gebunden  ist.  Es  ist 
der  Satz,  durch  den  er  das  Prinzip  der  Naturwissenschaft 
zur  Geltung  brachte  gegenüber  dem  Verstehen  der  Be- 
deutung nach,  das  er  in  der  Deutschen  Spekulation  irrig 
mit  dem  Kausalerklären  vermengt  sah,  sein  Satz  von  der 
universalen,  aber  untergeordneten  Mission  des  Mechanis- 
mus. So  ist  seine  Annäherungsformel  für  den  Begriff  des 
wahrhaft  Seienden:  „der  durch  seine  kausalen  Mittel  er- 
füllte Zweck."  Und  damit  bekennt  sich  die  Metaphysik  zu 
dem  Standpunkt  des  teleologischen  Idealismus. 

Aber  der  Wert-  oder  Zweck-Gedanke  kommt  von 
zwei  Seiten  her  herein,  die  wir  sondern :  Einmal  bei  dem 
Problem  der  konkreten  Wirklichkeit  mit  ihren  individuellen 
Gestalten,  also  analog  wie  in  Kants  Kritik  der  Urteils- 
kraft; hier  werden  sich  wesentliche  Ansätze  für  die  philo- 
sophische Theorie  ergeben.  Anderseits  aber  von  dem  Ver- 
hältnis her,  in  das  die  Metaphysik  zu  der  „Weltansicht 
des  Gemütes"  gesetzt  ist.  In  den  Ahnungen  des  religiösen 
Gefühls  von  einem  absoluten  Wert  findet  Lotze  eine  ge- 
sunde Voraussetzung,  deren  Recht  er  gegen  Herbart  und 
die  Naturwissenschaft  erweisen  will :  D  a  s  allein  kann  wahr- 
haft sein,  was  nicht  bloß  mit  logischer  Notwendigkeit  zur 
Erklärung  des  Gegebenen  vom  Denken  gesetzt  werden  muß, 
sondern  zugleich  die  Forderung  erfüllt,  „um  seiner  selbst 
willen  sein  zu  sollen".  Das  ist  der  typische  Ansatz  einer 
ethisch-idealistischen  Metaphysik  und  mit  ihm  ist  der  diesem 

1)  Streitschriften  1857. 


XXIV      Einleitung.    II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

Standpunkt  eigene  Weg  in  die  Transzendenz  gegeben.  Lotze 
befindet  sich  hier  innerhalb  der  moralisch-religiösen  Oppo- 
sition, in  der  neben  den  , spekulativen  Theisten'  damals  auch 
Fries  und  Herbart  gegen  den  Pantheismus  der  Deutschen  Be- 
wegung standen.  Und  rein  von  hier  aus  angesehen,  scheint 
seine  Metaphysik  nur  die  Arbeit  eines  Unterbaus  zu  leisten, 
wie  das  klar  ausgesprochen  liegt  in  ihrer  Problemstel- 
lung: „Den  Geist  zur  Verständigung  über  die  Voraus- 
setzungen zu  bringen,  die  er  über  die  Natur  und  die  Be- 
dingungen alles  Seienden  macht,  damit ...  es  sich  zeige, 
ob  es  einen  solchen  Punkt  gibt,  wo  mit  einer  Form  des 
Seins  zugleich  der  Anspruch  auf  an  und  für  sich  seiendea 
Wert   zusammenfalle."    (S.  14.)  l 

Aber  gerade  hier  liegt  der  kritische  Punkt  seiner 
Philosophie,  derselbe  kritische  Punkt,  auf  den  der  ethische 
Idealismus  immer,  auch  in  seinen  modernsten  Formen, 
stößt,  sobald  er  von  seinen  handfesten  Lebensursprüngen 
loskommen  und  sich  vom  rein  logischen  Ansatz  aus  be- 
weisen will.  Lotze  hat  diesen  wesentlichen  Ansatz  schon 
hier  genommen.    Welches  ist  das  Verfahren? 

Es  ist  nicht  das  der  Erkenntniskritik.  „Die  ganze  Frage 
nach  der  Wahrheit  der  Dinge,  die  Kritik  der  Vernunft, 
ist  nicht  eine  der  Metaphysik  vorangehende,  sondern  ihr 
immanente  Frage."  i)  Lotze  nimmt  den  überkantischen 
Piatonismus  der  Deutschen  Bewegung,  2)  die  Lehre  von  der 
in  sich  wesenden  Wahrheit,  soweit  auf  wie  Hegel  und 
sein  Antipode  Bolzano^)  zusammengehen:  die  kritische 
Frage  nach  den  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erkennt- 
nis ist  sekundär  gegenüber  der  metaphysischen  nach  den 
Voraussetzungen,  die  den  Begriff  des  Seins  konstituieren. 
Er  hat  dafür  zwei  Argumente,  abgesehen  von  seinem 
Kampf  gegen  eine  genetisch-psychologische  („anthropolo- 
gische") Erkenntnistheorie.  So  gewiß  die  Rede  von  einer 
„bloß  auffassenden",  der  ontologischen  Voraussetzungen 
entledigten  Betrachtung  der  Erkenntnis  ein  Widersinn  ist, 
also   Philosophie   nur    eine    Verständigung    der   Gedanken 

M  Metaphysik  (1841)  S.  280.  T 

.     «)  Vgl.  Nohl  a.  a.  O.  S.  369. 

3)  Vgl.  die  Kant- Kritik  des  Bolzano-Schülers  Prihonsky,  Neuer 
Antikant  1850;  „Nicht  darf  zuerst  analysiert  werden  das  Erkenntnis- 
vermögen des  Menschen  oder  der  denkenden  Wesen  überhaupt, 
sondern  es  ist  nötig  zu  erforschen  die  Natur  der  Wahrheiten  an 
sich  .  .  .  Erst  dann  läßt  sich  über  das  Erkennen  "und  die  Be- 
dingungen des  Erkennens  mit  Nutzen  abhandeln." 


Die  Methode  der  Ontologie.  XXV 

über  sich  sein  kann,  „müssen  wir  das,  was  die  fak- 
tische Grundlage  des  Erkennens  bildet,  seine  Voraus- 
setzungen über  die  Natur  der  Dinge,  vorher  zum  Gegen- 
stande der  Untersuchung  machen,  um  diesen  allgemeinen 
Gesetzen,  den  einzigen,  die  wir  haben  können,  das  einzelne 
Problem  der  Erkenntnis  zu  unterwerfen."^)  Der  erkenntnis- 
kritische Ansatz  mit  dem  Gegensatz  Subjekt-Objekt  fällt 
bereits  unter  den  Begriff  der  Beziehung,  u.  zw.  der  Beziehung 
realer  Wesen  zueinander;  tritt  an  die  Stelle  des  einen 
Terminus  der  Relation,  als  das  Fundament  derselben,  das 
erkennende  Subjekt,  dann  muß  dieser  Spezialfall  des  Ich, 
das  „zugleich  Schauplatz  und  Zuschauer  der  Erscheinung" 
ist,  doch  immer  den  allgemeinen  Bestimmungen  unter- 
worfen bleiben,  die  für  „das  Verhalten  des  Objektiven 
gegen  einander"  gelten.  Und  dann  das  Argument  mit 
dem  Zirkel  der  Erkenntnistheorie.  Muß  die  Giltigkeit  der 
Erkenntnis  vorausgesetzt  sein,  um  sie  überhaupt  in  Frage 
zu  stellen,  so  kann  auf  alle  Fälle  das  Verbot  eines  trans- 
zendenten Verstandesgebrauchs  erst  begründet  werden, 
nachdem  die  Begriffe  Sein,  Wesen,  Erscheinung,  Objek- 
tivität usf.  in  ihrer  Bedeutung  und  ihrem  Zusammen- 
hang aufgeklärt  sind.  Das  alles  sind  Sätze,  die  in  der 
Linie  der  Gedanken  über  den  Weg  zur  Fortbildung  Kant's 
liegen,  die  unter  anderm  auch  sein  Lehrer  Weiße  vertrat. 
Die  weiter  führende  Einsicht,  die  hier  ihren  Ort  hat:  daß 
der  objektive,  vom  erfassenden  Subjekt  unabhängige  Zu- 
sammenhang der  Kategorien  ein  sachlicher  ist,  reifte  ihm 
erst  allmählich,  verbaute  ihm  dann  aber  auch  notwendig 
jenen  ethisch-subjektiven  Weg  in  die  Transzendenz.  — - 
Das  Verhältnis  seiner  Ontologie  zu  Kant,  das  trotz 
allem  entscheidend  bleibt,  ist  leicht  eingesehen.  Er  hatte 
schon  als  Student  den  kritisch-rationalen  Begriff  des  Apriori 
gelernt  und  zugleich,  daß  man  hinter  die  Trennungen 
Kant's  auf  den  Zusammenhang  der  apriorischen  Vernunft- 
formen zurückgehen  müsse.  2)  Bei  Herbart  war  mit  der 
Methode  der  Begriffsbearbeitung  der  Anschluß  an  die  vor- 
kritische Tradition  zu  finden;  sie  sollte  nun  dazu  helfen, 
Kant's  „kopernikanische  Tat"  aus  der  psychologischen  Ein- 
stellung herauszuheben.  Lotze  fügt  die  Beziehung  auf  die 
Struktur  der  Wissenschaft  hinzu.  Ihre  Grundstruktur  be- 
steht  in    der    Gesetzlichkeit,    die    das    Hinausgehen    über 


1)  Metaphysik  (1841)  S.  281. 

«)  Vgl.  Weiße  a.  a.  O.  S.  llf.  18. 


XXVI      Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

das  Gegebene  (,Gegebenes*  =  der  erlebte  Inhalt  der  Emp- 
findung), den  „Fortgang  vom  Gegebenen  zu  Nichtge- 
gebenem" bindet.  Wird  diese  Gesetzlichkeit  von  der  psycho- 
logischen Beziehung  auf  das  Subjekt  freigemacht,  was 
durch  Herbart's  Auflösung  der  Vermögenstheorie  vorbereitet 
war,  und  universal  gefaßt,  so  ergibt  sich  der  Standpunkt  der 
Ontologie,  die  nach  den  das  Sein  konstituierenden 
Kategorien  fragt.  So  nimmt  die  Metaphysik  von  1841 
den  Weg,  auf  dem  späterhin  der  Neokritizismus  das  ra- 
tionale Wesen  von  Kant  wieder  entdeckte,  was  nur  natür- 
lich ist  bei  L'otze's  Einstellung  auf  Kant  von  Hegel  aus. 
Aber  er  macht  nun,  durch  Hegel's  Schicksal  gewitzigt, 
die  Rationalisierung  nicht  mit,  die  sich  ergibt,  wenn  der 
logische  Ansatz  für  sich  durchgeführt  wird  und  bis  zur 
Wirklichkeit  hintragen  soll,  wie  das  gegenwärtig  in  zwei 
parallelen  Formen  versucht  wird;  durch  Auflösung  der 
Tatsächlichkeit  in  bloße  vXt]  für  unendliches  Problemstellen 
oder  so,  daß  das  Urteil  über  Tatsächliches  bis  in  die 
Evidenz  der  Wahrnehmung  hinein  angebunden  wird  an 
die  Formen,  die  den  rein  begrifflichen  Sätzen  eigen- 
tümlich sind.  Er  wußte  vom  Deutschen  Pantheismus  her 
zu  gut,  daß  die  Rätselhaftigkeit  der  Wirklichkeit  nicht  darin 
besteht,  sondern  nur  darin  sich  kundgibt  (und  auch  nur 
nach  einer  Seite  hin  sich  kundgibt),  daß  sie  ein  unendliches 
Feld  für  den  verhältnisbestimmenden  Zug  der  Reflexion 
darbietet.  Dem  entspricht  sein  zweiter  Hauptsatz,  der  nun 
wieder  aus  dem  Mittelpunkt  der  Deutschen  Bewegung 
kommt :  die  vTio^eoeig  wurzeln  nicht  im  reinen  Denken, 
sondern  ihr  Ursprung  ist  ,der  ganze  Geist*.  „Er  und  nicht 
das  Erkennen,  die  sich  wissende  Wahrheit,  regiert  die  Ent- 
wicklung der  Metaphysik."!)  Es  ist  wieder  der  Satz  von 
der  Unselbständigkeit  der  Metaphysik  ihrer  rationalen  Natur 
nach,  der  vorhin  im  Sinne  des  ethischen  Idealismus  als 
Sprungbrett  zu  dem  absoluten  Wert  diente,  hier  aber  nun 
die  andere,  positive  Bedeutung  gewinnt,  die  Philosophie 
über  den  Rationalismus  zu  erheben.  Und  diese  Doppel- 
heit  blieb  ihm. 

^  Ontologie. 

Welches  ist  nun  aher  der  Weg  der  Ontologie,  diese 
Voraussetzungen  aufzufinden,  die  die  Vernunft  über  das 
Seiende  als  solches  machen  muß?    Es  ist  die  Aufklä- 

1)  Metaphysik  S.  328. 


Die  Dialektik.  XXVIl- 

rung  der  Begriffe  von  den  sprachlichen  Ausdrücken 
aus,  also  die  Aufklärung  des  mit  dem  Ausdruck  , Sein*  Ge- 
meinten. Und  hier  sieht  sich  nun  Lotze  wieder  (oder  auch 
er  schon)  auf  Hegel's  Dialektik  angewiesen;  sie  bleibt 
ihm  die  Methode  zum  Erfassen  der  Wahrheit,  nachdem  ihre 
Hypostasierung  zu  der  Form  der  Selbstentwicklung  der 
Wahrheit  aufgelöst  ist.  Lotze's  Metaphysik  entwickelt  die 
ontologischen  Voraussetzungen  und  dann  parallel  die  An- 
schauungsformen in  einem  streng  systematischen  Aufbau, 
der  von  der  einfachen  „abstraktesten  Gegenständlichkeit" 
stufenweis  zu  zusammengesetzteren  Bestimmungen  auf  die 
konkrete  Wirklichkeit  hin  führt,  und  dieser  zielsichere 
Stufengang  von  Seinsbegriffen  —  auf  ihre  verschiedene 
Bedeutung  weist  die  Sprache  durch  Ausdrücke  wie  Sein, 
Dasein,  Wirklichkeit  hin  —  kommt  kraft  der  Negativität 
des  vergleichenden  Denkens  zustande :  jeder  vorher-; 
gehende  Seüisbegriff  zeigt  eine  Schranke,  durch  die  er 
etwas  von  dem  mit  Sein  Gemeinten  noch  unbestimmt  läßt 
und  dieser  Mangel  muß  durch  einen  neuen  Begriff  ge- 
deckt werden.  So  ist  die  Dialektik  „die  Bewegung  des 
Geistes,  durch  die  er  einen  Inhalt  der  Meinung  allent- 
halben in  Inhalt  des  Begriffes  umwandelt."  .  »Meinung* 
und  Inhalt  oder  Gegenstand  der  Meinung  sind  bei  Lotze 
technische  Ausdrücke.  Der  Inhalt  der  Meinung  —  „als 
was  etwas  gemeint  ist"  —  ist,  solange  der  Gegenstand 
nur  in  Gestalt  der  Meinung  gegeben  ist,  nicht  nur  unbe- 
stimmt, sondern  unbekannt  und  doch  ein  „unendlicher 
Inhalt",  den  der  menschliche  Geist  irgendwie  besitzt,  so 
daß  das  Denken,  indem  es  den  Inhalt  sucht,  nichts  anderes 
zu  leisten  hat,  als  „den  wahren  Sinn  der  Meinung  voll- 
ständig aufzuhellen".  Die  Möglichkeit  jeder  suchenden 
Untersuchung  ist  dadurch  bedingt,  daß  wir  irgendwie  wissen 
müssen,  welche  Begriffe  dem  Gesuchten  zukommen  können, 
welche  nicht.  „Diese  innere  Gesetzmäßigkeit  des  gesuchten 
Inhalts,  weil  sie  noch  eine  unbekannte  ist,  ist  nicht  in 
einzelnen  Bestimmungen  des  Gedankens  gegenständlich  für 
uns  da;  aber  vorhanden  in  Gestalt  der  Meinung,  besitzt  sie, 
obwohl  selbst  unangebbar,  doch  die  abwehrende  Kraft, 
das  zu  verneinen,  was  ihr  nicht  gemäß  ist . . .  Wo.  der  unter- 
geschobene Erklärungsbegriff  ein  falscher  "war,  wird  er  durch 
das  Gemeinte  selbst  zurückgewiesen,  an  dem  nun  durch 
die  Kraft  des  Gegensatzes  eine  bestimmte  Seite  seines 
Wesens  ins  Bewußtsein  tritt..." 

So  fordert  die  Dialektik,  auf  den  „ganzen  Geist"  zu- 


XXVIII     Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

rückzugehen,  und  wehrt  damit  zugleich  das  rationale  Ideal 
eines  voraussetzungslosen  Anfangs  der  Philosophie  ab. 
Der  ganze  Geist  besitzt  kraft  der  „in  der  Meinung  inne- 
wohnenden Wahrheit"  ein  „nicht  erst  methodisch  zu  er- 
zeugendes Prinzip  der  Gewißheit  und  Entscheidung".  Damit 
tut  sich  das  Platonische  Problem  der  ävdjuvrjoig  auf.  „Wir 
müssen  voraussetzen,  daß  in  der  Philosophie  nicht  die 
Gesetze  der  Entscheidungen  erst  entstehen,  sondern  der 
ganze  Geist  bereits  vorhanden  ist,  der  sich  seiner  Wahrheit 
nur  erinnert  und  sie  eher  besitzt  und  ausübt  als  er  sie 
wissenschaftlich  erkennt."  i)  Lotze  löst  das  Problem  hier 
noch  einfach  platonisch-ethisch  aus  der  Transzendenz :  2) 
Der  letzte  Zusammenhalt  der  Wirklichkeit  muß  aus  der  Idee 
des  Guten  hervorgehend  gedacht  werden,  und  der  mensch- 
liche Geist  ist  „tätige  Kraft  von  der  Substanz  des  Guten". 
So  hat  die  Methode,  die  scheinbar  mit  logischer  Genauigkeit 
durch  die  Begriffsstufen  hindurch  zu  der  Bestimmung 
des  wahrhaft  Seienden  als  des  Seinsollenden  hinführt, 
dieses  Ziel  bereits  von  vornherein  vorausgenommen  in 
sich.  Auch  hier  sollte  ihm  später  das  Prinzip  der  immanent 
sachlichen  Selbstverständlichkeit  hinweghelfen.  3) 

Der  systematische  Aufbau  der  Ontologie  ist  somit  von 
Anfang  an  nicht  rein  logisch,  sondern  ethisch  gebunden. 
Aber  innerhalb  dieser  Bindung  hat  nun  die  Systematik 
einen  rein  theoretischen  Kern,  der  wieder  nur  scheinbar 
aus  der  formalen  Dialektik,  in  Wahrheit  kantisch  aus 
ihrer  Beziehung  auf  die  Strukturformen  des  Wissens 
gewonnen  wird.  Man  kann  an  seine  Ontologie  mit  den- 
selben Mitteln  herangehen,  mit  denen  er  selber  und 
Trendelenburg  damals  Hegel  kritisierten.  Lotze  hat  die 
verschiedenen  Auffassungen  des  Seins  bei  den  Philosophen 
und  die  der  Naturwissenschaft  vor  Augen,  er  erkennt  in 
den  historischen  Gestalten  nicht  nur  das  Typische,  sondern 
auch  das  giltige  Moment  von  Wahrheit,  und  nun  versucht 
er  —  und  das  ist  das  Bedeutende  —  für  jeden  dieser  Seins- 
begriffe den  Ort  festzustellen,  der  ihm  im  System  des 
Wissens   zukommt. 

Als  den  ersten  legt  er  die  Gegenständlichkeit  fest.  Er 
hat  von  der  Wolf  fischen  Schultradition  her  ihren  weiten 
Begriff,  der  gegenwärtig   wiedergewonnen  wird:  „Die   ein^; 

:  O 

1)  ».  a.  O.  S.  33  ff.  42  ff.  281.     Vgl.  Kleine  Schriften  II  400. 

*)  Am  Schluß  der  Metaphysik. 

«)  Siehe  §  358  dieser  Logik,  S.  595. 


Gegenständlichkeit.    Der  Beziehungsbegriff  des  Seins.    XXIX 

fache  Setzung,  die  frei  von  aller  Behauptung  des  Daseins 
und  der  Wirklichkeit  nur  die  Bejahung  ist,  die  jedem  Inhalt 
des  Denkens  zukommen  muß."  Und  er  gibt  die  moderne 
Terminologie  1):  „Das  Seiende  ist  das,  was  gemeint  ist  oder 
werden  kann."  So  hat  die  Metaphysik  denselben  Aus- 
gangspunkt wie  die  Logik:  bei  der  logischen  Vorstellung, 
deren  sprachliches  Zeichen  der  Artikel  ist,  und  sie  scheidet 
sich  von  der  Logik  dadurch,  daß  sie  nicht  auf  das  Vor- 
stellen, das  den  Gegenstand  setzt,  sondern  auf  den  Gegen- 
stand selber  geht.  Aber  über  diese  Stelle,  an  der  sich 
gegenwärtig  eine  philosophische  Grundwissenschaft  anbaut, 
geht  er  schnell  hinweg,  analog  wie  er  auch  in  seiner  zweiten 
Logik  den  Anfang  mit  der  Begriffslehre  gegen  das  Zeit- 
alter der  Empirie  festgehalten  und  doch  das  Urteil  in  den 
Mittelpunkt  gerückt  hat.  Er  will  trotz  des  Ansatzes  bei 
der  Wahrheit  über  den  Rationalismus  hinaus  auf  die  Wirk- 
lichkeit hin.  Und  hier  macht  sich  nun  seine  naturwissen- 
schaftliche Orientierung  geltend.  Er  führt  als  die  nächste 
Stufe  der  ontologischen  Formen,  also  an  dem  entscheiden- 
den Punkt,  wo  die  erste  Scheidung  im  Bereich  der  Gegen- 
ständlichkeit zu  treffen,  Seiendes  vom  Nichtseienden  ab- 
zugrenzen ist,  den  Reiationsgedanken  ein:  die  Be- 
stimmtheit des  Daseins  entspringt  für  das  Denken  durch 
die  allgemeine  logische  Form  der  Reihenbildung.  Dasein 
.  bedeutet  „die  Gleichartigkeit  der  Beziehung,  durch  die  ein 
Kreis  des  Gesetzten  sich  von  einem  andern  Kreise  ab- 
trennt". „Alles  ist  nur  seiend,  sofern  es  eine  bestimmte 
Form  des  Daseins,  der  Beziehung  zu  anderem  oder  ein 
Sein  in  einer  Reihe  von  Verhältnissen  mit  anderm  Seienden 
hat."  „Der  Begriff  des  Seins  ist  nur  ein  beziehungs- 
weiser."   (S.  48  f.  55  f.) 

In  dieser  Wendung  liegt  zweierlei.  Einmal  die  Be- 
hauptung, daß  alle  Bestimmungen  in  Verhältnissen  be- 
stehen, es  also  keine  absoluten  Beschaffenheiten  gibt,  die 
in  gegenständlicher  Weise  als  innere  Bestimmtheiten  er- 
faßt werden  könnten.  Diese  Behauptung  kommt  wie  bei 
Kant  dadurch,  daß  dem  gesuchten  allgemeinen  Begriff 
des  Wissens  der  naturwissenschaftliche  untergeschoben 
wird,  und  ist  nur  präzisiert  mittels  des  Funktionsbegriffs, 
wie  er  im  Positivismus  seit  d'Alembert  und  Lagrange  zu- 
grunde gelegt  war.    Damit  ist  über  den  Gang  der  Ontologie 


1)  Vgl.  A.  V.  Meinong.  Über  Annahmen,    1910  S.   220 ff.,  238  u. 
in  früheren  Schriften  zur  Gegenstandstheorie. 


XXiX        Einleitung.   IL  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

entschieden.  Denn  wenn  die  universale  Beziehungsfonn 
des  Wissens  nicht  bloß  eine  höhere  Stufe  des  Objektivi- 
tätsbewußtseins konstituiert,  die  sich  auf  dem  Gegebenen 
aufbaut,  um  es  aufzuklären  i),  sondern  konstitutiv  ist  für 
Dasein  überhaupt  und  wenn  nun  trotzdem  die  Wirklichkeit 
nicht  bloß  zu  einer  idealen  Grenze  für  den  unendlichen 
Prozeß  der  nach  Einheit  des  Reihensystems  strebenden 
Wissenschaft  werden  soll,  so  bleibt  nur  der  Überschritt  der 
Philosophie  über  die  Wissenschaft  übrig.  Wohl  hat  Lotze 
auch  den  Unterschied  zwischen  „cognitio  rei"  und  „cognitio 
circa  rem"  festgehalten;  in  der  Psychologie  war  der  natür- 
liche Ort,  ihn  aufzudecken.  Aber  wir  werden  sehen,  wie 
er  dort  von  der  „cognitio  rei"  aus  abbiegt  zu  spiritualisti- 
scher  Spekulation.  Das  ist  in  seiner  Ontologie  vorge- 
zeichnet. 

Aber  anderseits  hat  er  hier  nun  die  rationale  Tiefe 
der  deutschen  Philosophie,  die  Leibniz-Kantsche  Intention, 
den  Zusammenhang  des  Wissens  rein  auf  die  dem  Gedachten 
als  solchem  notwendigen  Formen  zu  begründen,  systema- 
tisch ausgeschöpft.  Er  führt  den  Relationsgedanken  durch 
bis  zur  Auflösung  des  Substanzbegriffs  in  den  Gesetzes- 
begriff —  immer  aber  mit  dem  Hegeischen  Bewußtsein,  bei 
diesen  Festsetzungen  auf  der  Stufe  der  Reflexionsphilo- 
sophie zu  verbleiben,  die  nicht  das  Letzte  ist.  Er  stellt 
zunächst  die  Bedeutung  des  Substanz begriffes  fest. 
Die  ontologische  Form  der  Beziehungsreihen,  die  „Re- 
flexionsbestimmungen über  Verhältnisse  verschiedener  Sei- 
enden gegeneinander",  dürfen  nicht  verabsolutiert  werden. 
Sie  sind  formale,  auf  jeglichen  Inhalt  anwendbare  „Unend- 
lichkeiten der  Vorstellung",  oder  mit  den  Terminis  Sub- 
stanz und  Attribut  ausgedrückt,  „an  anderem  seiend"  gegen- 
über dem  Fürsichsein.  Und  Lotze  weiß  nun,  antipositivistisch 
wie  er  ist,  daß  auch  der  Appell  an  die  Mathematik  als  das 
Orgran  der  Naturerkenntnis  hier  nicht  weiterhilft  aus  der 
Reflexionssphäre  heraus.  Denn  die  Größen  Verhältnisse, 
durch  die  den  Beziehungsreihen  die  unterschiedliche,  un- 
endlich variable  Bestimmbarkeit  zugebracht  wird,  sind 
wiederum  ihnen  gegenüber  „nur  abstrakt  seiende"  formale 
Bestimmungen,  sozusagen  attributiv  in  zweiter  Potenz. 
Würde  doch  durch  den  Dühringschen  Gedanken,  daß  die 
Größengleichung  auch  eine  Verbindungsform  der  Natur 
selber  ist,  die  ungeheuerlich  metaphysische  Vorstellung  von 

1)  Vgl.  Husserl,  Logische  Untere.  Bd.  II  (1901),  S.  616  ff.  vu  ». 


Der  Beziehungsbegriff  des  Seins.  XXXI 

der  rechnenden  und  messenden  Natur  dekretiert  werden! 
und  zugleich  die  Leistungen  der  Naturwissenschaft  ein 
permanentes  Wunder  werden  I  Denn  welche  Chancen  hätten 
wir,  das  Rechen-  und  Maßsystem  der  Natur,  ihren  General- 
nenner und  Maßstab  wiederzufinden,  um  damit  die  wechsel- 
seitigen Relationen  und  die  Variablen  zu  bestimmen,  die 
die  Natur  hier  gewählt  hätte i)?  Lotze  stellte  fest:  „Nur 
aus  dieser  doppelten  Negativität,  Bestimmungen  des  an 
anderem  Seienden  zu  sein,  ist  die  Breite  der  Mathematik" 
als  apriorischer  Wissenschaft  zu   verstehen.   (S.  59.) 

So  bleibt  dieser  „Reihe  der  Grenzbestimmungen'*  gegen- 
über, die  den  „objektiven  Schein"  an  der  Erscheinung  aus- 
machen, als  ein  echtes  Problem  die  Frage  bestehen  nach 
dem  Seienden  selber,  nach  den  Trägern  der  Relationen. 
Und  das  ist  der  metaphysische  Ort,  an  dem  die  Begriffe 
Substanz,  Monade,  Herbart's  einfache  Qualitäten  usf.  stehen 
Aber  Lotze  stellt  sie  nur  fest,  um  sie  aufzuheben.  Sie  sind 
Reflexionsbegriffe,  die  zwar  auf  etwas  Wahres  abzielen  —  auf 
die  Notwendigkeit,  ein  vom  Denken  Unabhängiges  zu  setzen, 
das  den  sonst  auseinanderfallenden  Beziehungsreihen  die 
Einheit  gibt  — ,  die  aber  auch  nur  Ausdruck  dieser  Forde- 
rung sind.  Sofern  sie  dieselbe  für  erfüllt  ausgeben  durch 
Konstruktion  realer  Wesenheiten  oder  einer  unendlichen 
Substanz,  springen  sie  aus  der  Sphäre  der  Reflexionsbe- 
stimmungen in  die  der  Realität  hinüber  und  behalten  da- 
bei für  die  Konstruktion  des  Ansich  unmöglich  mehr  als 
die  leere  Gesetzlichkeit  zurück,  falls  die  ganze  Arbeit  nicht 
in  einer  Verdoppelung  der  Erscheinungswelt  ausläuft.  Die 
kritische  Aufgabe  ist  dagegen,  die  Form  der  Dingheit  zu 
bestimmen,  d.  h.  zu  fragen:  „unter  welchen  Bedingungen 
die  Komplexionen  des  Scheines,  die  Vereinigungen  mannig- 
faltiger Bestimmtheiten,  die  aus  einer  Substanz  nun  ein- 
mal nicht  erklärt  werden  können,  vielmehr  umgekehrt  aus 
sich  den  Schein  der  Substantialität  hervorbringen".  Und 
diese  Bedingungen  liegen  jenseit  des  Seienden,  nämlich 
darin,  daß  es  „sich  zur  Wahrheit  aneinander  gefügt  hat". 
Wobei  unter  Wahrheit  „nicht  die  relative  gemeint  ist,  die 
in  der  Übereinstimmung  zwischen  Gegenstand  und  Vor- 
stellung besteht,  sondern  die  transzendentale,  daß  in  den 
Bestimmungen  des  Dinges  eine  Ordnung  und  Gesetzlichkeit 
sei.  Sie  ist  ein  wesenhaftes  oder  nicht  seiendes  Gesetz. 
Das  Gesetz  des  Scheines  ist  selbst  die  Substanz."  (S.  89ff.) 

1)  Vgl.  H.  Bergson,  Evolution  Cr^atriceß  1909,  S.  238. 


XXXIl     Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

Damit  ist  die  Zweiweltentheorie  gewonnen,  die 
das  Wesentliche  von  Lotze's  erster  Ansicht  ausmacht;  nur 
daß  der  Ausdruck  „Gelten",  den  auch  schon  Herbart  brauchte, 
noch  nicht  terminologisch  fixiert  ist  und  auch  die  An- 
knüpfung an  Plato's  ideenlehre  erst  später  hinzuwuchs. 
Der  Grundsatz  der  Ontologie  war,  daß  die  Bestimmbarkeit 
jedes  Seienden  von  seiner  Stellung  in  einer  Mehrheit  von 
Beziehungsreihen  abhängt;  dies  konnte  auf  die  allgemeine 
logische  Form  der  Reihenbildung  begründet  werden.  Hin- 
zu kommt,  daß  eine  Konvergenz  der  Reihen  zu  „allge- 
meinen Begriffen"  (nicht  =  Gattungsbegriffen!)  gefordert 
werden  muß,  in  denen  der  Inbegriff  der  Bestimmtheiten 
eines  Seienden  sich  darstellt  als  gesetzmäßig  ineinander- 
gefügte Komplexion,  die  den  „Schein  der  Substanz"  gibt, 
lind  dies  kann  die  Metaphysik  nicht  aus  ihren  eigenen 
Mitteln  bewahrheiten,  sondern  nur  als  notwendige  Forde- 
rung für  das  öv  (bg  dXtji^eg  feststellen;  in  den  Gesetzen 
der  Wahrheit  selber  liegen  die  bestimmten  Komplexionen 
nicht  —  „nur  wenn  ein  Schein  ist,  ist  sie  es,  die  ihn 
ordnet".  Die  empirischen  Gesetzeswissenschaften  müssen 
hier  eintreten  und  ermitteln  „welche  Komplexionen  des 
Scheines  die  Wahrheit  in  sich  aufnehmen,  die,  ohne  in 
ihnen  zu  sein,  überhaupt  nicht  wäre".  Das  führt  nicht 
zum  Nominalismus:  die  Allgemeinbegriffe  sind  deshalb, 
weil  sie  auf  empirischen  Inhalt  angewiesen  sind,  noch  nicht 
bloße  Formen  des  zusammenfassenden  Denkens,  so  wenig 
wie  sie  anderseits  unmittelbar  das  Seiende  bilden :  sie  bilden 
die  Gründe  des  Seienden  und  haben  als  solche  „den 
übergreifenden  Sinn,  daß  jede  Welt  unmöglich  sein  würde, 
in  der  die  Form  des  Allgemeinbegriffs  nicht  diejenige  ob- 
jektive Geltung  hätte",  die  darin  besteht:  „Alles  was  ist, 
hat  sein  Dasein  darin,  ein  Mittelpunkt  vieler  sich  durch- 
schneidender Allgemeinheiten  der  Gründe  zu  sein."  Und 
weil  die  Gründe  nicht  bloß  für  das  beziehende  Denken  be- 
stehen, sondern  objektiv  „gelten",  liegt  in  ihrem  Begriff 
implizite  die  Voraussetzung  einer  „Welt  der  Wirklichkeit", 
auf  die  hin  sie  gelten.  Die  metaphysische  Reflexion 
reicht  nur  bis  an  den  Ursprung  der  Wissenschaft,  nicht  der 
Wirklichkeit.  Die  Wissenschaften  selber  aber  enthalten 
wiederum  die  Voraussetzung  einer  Wirklichkeit  unaufgelöst 
in  sich  als  eine  bloße  Faktizität;  denn  sie  sind  eben  durch 
ihre  logische  Struktur  als  Gesetzeswissenschaften  gebunden 
an  die  hypothetische  Urteilsform:  „sie  erzählen  nirgends, 
was  wirklich  ist,  sich  begibt,  sondern  in  einem  allgemeinen 


Die  Zweiweltentheorie.  XXXIII 

subsumtiven  System  von  Gründen  zeigen  sie,  was  geschehen 
muß,  wenn  gewisse  Bedingungen  auf  eine  der  Wissenschaft 
gleichgültige  Art  realisiert  werden".  So  steht  dem  „Reich 
der  möglichen  Notwendigkeit",  der  Welt  des  Geltenden,  das 
„Reich  der  freien  Wirklichkeit"  gegenüber,  frei,  weil  es 
„den  formalen  Bestimmungen  der  Gründe  die  Möglichkeit 
und  Bestimmtheit  seines  Seins  und  den  Schein  der  Sub- 
stanz, sich  selbst  aber  die  Wirklichkeit  verdankt". 

Aber  über  die  Zweiweltentheorie  hinaus  führt  nun  das 
Problem  der  Wirklichkeit  als  solcher.  Um  es  aufzu- 
lösen, also  wesentlich  zur  Überwindung  der  bloßen  Tat- 
sächlichkeit des  Individuell-Wirklichen  greift  Lotze  auf  das 
Prinzip  des  teleologischen  Zusammenhangs  zurück.  Auch 
hier  sind  wieder  zwei  Ansätze  verflochten.  Die  Wirklich- 
keit ist  charakterisiert  als  Causalnexus  gegenüber  der  Ord- 
nung von  Gründen  und  Folgen  und  ist  nicht  deren  bloße 
Wiederholung,  nur  an  einem  Wirklichen  gesetzt.  Zwar 
bedeutet  Ursache  nichts  anderes  als  „das  Vehikel  der  Wirk- 
lichkeit eines  Grundes";  und  wie  der  Begründungszusam- 
menhang an  jeder  Stelle  vielgliedrig  ist,  ist  der  Wirkungs- 
zusammenhang mindestens  dreigliedrig,  da  das  von  der 
Ursache  influierte  Ding  selber  mit  zu  dem  ganzen  Real- 
grund des  Effektes  gehört  —  eine  Aufklärung  der  Kausali- 
tät, die  durch  alle  Hauptschriften  Lotze's  weiter  fortgeht 
und  gegenwärtig  von  einem  tiefbohrenden  Analytiker  wieder- 
gewonnen isfi).  Aber  lediglich  der  ruhenden  Ordnung 
des  Begründungszusammenhanges  gehört  die  Vorstellung 
an,  daß  jedes  Reihenglied  durch  die  Vielseitigkeit  seiner 
Beziehungen  in  unendlichem  Zusammenhange  mit  der  Totali- 
tät der  Denkinhalte  stehe.  Die  Universalität  der  Kausal - 
Verhältnisse  bedeutet  nicht  eine  universale  Wechselwirkung 
alles  Seienden  mit  allem  Seienden ;  eine  solche  „Panspermie 
der  Ursachen"  ist  vielmehr  nur  eine  Hypostase  eines  Re- 
flexionsbegriffs von  der  Kausalität.  Damit  vollzieht  sich 
die  Abkehr  vom  Rationalismus;  es  ist  ein  Punkt,  an  dem 
Lotze  rastlos  weitergearbeitet  hat  im  Durchdenken  der 
Kausalvorstellung.  Vorläufig  kommt  er  schnell  zum  Ziel. 
Der  faktische  Hauptzug  der  kausal  zusammenhängenden 
Wirklichkeit  ist  das  Geschehen,  die  Veränderung;  er  ist 
nicht  denkbar  ohne  die  Voraussetzung,  daß  die  Ursachen 
nur  mit  bestimmter  Auswahl  zusammen  wirken.  Das  aber 
darf  nicht  fatalistisch  hingenommen  werden,  will  die  Philo- 

1)  Rehmke,  Philosophie  als  Grundwissenschaft,  1909,  S.  245  ff. 
Lotze,  Logik.  UJ 


XXXIV     Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

Sophie  nicht  im  Positivismus  stecken  bleiben,  sondern  ver- 
langt ein  eigenes  Prinzip,  das  „als  eine  individuelle  Form 
auftritt,  welcher  als  einem  zu  verwirklichenden  Gesetze 
das  Wirkliche  sich  als  Mittel  fügen  muß".  „Daß  die  wirken- 
den Ursachen  so  zusammengetrieben  werden,  um  nach  den 
in  ihnen  liegenden  Bestimmungen  des  Grundes  durch  den 
Prozeß  der  Kausalität  das  bewirkte  Seiende  hervorzubringen, 
dafür  kann  das  entscheidende  Moment  nicht  selbst  wieder 
eine  Ursache  sein,  sondern  muß  in  einer  andern  Art  des 
Seins  als  der  bewirkende  Zweck  begriffen  werden."  Und 
hier  greift  nun  der  andere  Ansatz  ein,  mit  dem  er  von 
Schelling's  Antirationalismus  her  an  das  Problem  der  Wirk- 
lichkeit herangeht,  die  Wendung  gegen  den  Primat  der 
theoretischen  Vernunft.  Den  ontologischen  Formen  über- 
haupt, bis  zu  der  Wurzel  des  naturwissenschaftlichen  Ge- 
setzesbegriffs, eignet  zwar  Notwendigkeit,  aber  nur  die 
schlechte  Notwendigkeit  der  faktischen  allgemeinen  Geltung, 
„jenes  Notwendige  allein,  das  um  der  Allgemeinheit  und 
Unendlichkeit  seines  Daseins  willen  durch  keine  andere 
Erfahrung  seiner  Notwendigkeit  beraubt  werden  kann".  Ihr 
steht  die  echte  Notwendigkeit  gegenüber,  nun  aber  nicht 
die  des  sachlich  Einsichtigen,  sondern  die  moralische  Not- 
wendigkeit dessen,  was  um  seines  Inhalts  willen  zu  sein 
verdient:  „das  seiner  Natur  nach  schlechthin  Seinsollende". 
Lotze  hebt  mit  Recht  heraus,  daß  die  Reflexion  sich  über- 
springt, wenn  sie  das  Einzelwirkliche  deshalb,  weil  es 
Ergebnis  von  Wirkungen  ist,  für  das  letzte  und  abhängigste 
Glied  im  Geschehen  hält,  so  daß  es  nur  ein  zufällig  wirk- 
licher Erfolg  der  abstrakten  Gesetze  wäre;  das  gilt  ihm 
als  logischer  Fatalismus.  Aber  von  diesem  Gedanken,  daß 
die  Individualität  alles  konkreten  Seins  als  innere  Be- 
stimmtheit der  Wirklichkeit  selber  einen  Sinn  des  Ganzen 
fordert,  aus  dem  allein  sie  verstanden  werden  könnte, 
strebt  er  hinüber  zu  dem  Postulat  eines  absoluten  Wertes, 
von  dem  derKausalzusammenhangderDinge  seinen  Sinn  aus 
der  Transzendenz  vorbestimmt  erst  zu  Lehen  erhielte.  Und 
die  Ontologie,  die  vorsichtig  bei  der  formalen  Bestimmung 
des  orTcog  öv  als  des  Seinsollenden  Halt  macht,  will  damit 
nur  Raum  schaffen  für  die  inhaltliche  Bestimmung  des- 
selben aus  der  ethischen  Gewißheit,  die  das  Gute  kennt 
,  als  das  Einzige  was  unbedingt  sein  soll. 

Soweit  die  Grundlegung  seines  Standpunktes  in  der 
Ontologie.  Sie  hat  den  „teleologischen  Idealismus"  so 
entwickelt,  daß  in  den  umfassenden  Begriff  der  Zweckbe- 


Kosmologie  und  Logik.  XXXV 

stimmtheit  des  Wirklichen  die  beiden  andern  Begriffe  des 
Seins,  die  Ordnung  nach  Gründen  und  der  Kausalprozeß, 
als  gleichfalls  wahrhafte  Bestimmungen  eingeordnet  sind, 
und  dieser  dreigliedrige  Beziehungszusammenhang  erweist 
sich  dann  am  Schluß  des  Ganzen,  wo  der  ethische  Unter- 
grund des  Idealismus  frei  hervortreten  darf,  als  ein  Er- 
füllungszusammenhang, in  welchem  die  Idee  des  Guten 
—  oder,  in  Lotze's  späterer  Terminologie,  die  Werte  — 
durch  das  Mittel  der  Kausalität  zur  Verwirklichung  gelangt. 

Kosmologie,  Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Von  der  Ontologie  aus  gabelt  sich  nun  Lotze's  Weg 
in  diesem  ersten  Entwurf  seines  Systems  nach  zwei  Seiten 
hin:  einerseits  zur  „Kosmologie",  die  den  zweiten  Teil 
der  Metaphysik  bildet,  und  anderseits  zur  Logik,  die  erst 
etwas  später  und  als  selbständige  Schrift  herauskam 
(1843)^).  Auf  beiden  Linien  ist  der  ethische  Idealismus 
mit  der  Richtung  auf  die  rein  theoretischen  Zusammenhänge 
verknüpft;  er  gibt  der  Logik  den  iVnfang  und  er  hilft  in 
der  Kosmologie  die  Brücke  herstellen,  die  zu  dem  er- 
kenntnistheoretischen Teil  hinüberführt,  mit  dem  die  Meta- 
physik abschließt  2)  und  der  nun  den  Idealismus  der  Sub- 
jektivität erst  voll  auftut.  Wir  lassen  ihn  in  dieser  inneren 
Folge  hervortreten  und  zeigen  daher  zunächst  das  andere, 
mit  ihm  verknüpfte,  rein  theoretische  Motiv,  durch  welches 
Kosmologie  und  Logik  auf  der  Ontologie  aufgebaut  sind. 
Dieses  erscheint  in  der  Kosmologie  als  die  Intention,  die 
den  schon  berührten  rationalen  Grundgedanken  des  Kritizis- 
mus weiter  fortsetzt:  die  Begründung  der  Prinzipien  der 
(exakten  Wissenschaften  auf  die  ontologischen  Formen  bis 
zu  Ende  durchzuführen.  Lotze  leistet  das  hier  in  einer 
Weise,  die  den  Arbeiten  des  Neokritizismus  verwandt 
ist 3).  Aber  auch  die  reinen  Formen  der  Logik  erfaßt  er 
als  sekundär  gegenüber  den  ontologischen.  Und  zwar  findet 
er  das  Mittel,  das  beide  Disziplinen  mit  der  Ontologie  ver- 
bindet,   in    Kant's    Lehre    vom    Schematismus.     Er   hat 


1)  Sie  giebt  nur  die  formale  Logik,  nimmt  also  nur  das  erste 
Buch  der  hier  vorliegenden  Logik  von  1874  vorweg. 

2)  Im  Unterschied  von  der  Anordnung  des  späteren  Systems,  wo 
die  Erkenntnistheorie  in  die  Logik  aufgenommen  ist. 

')  Vgl.  insbesondere  Natorp,  Die  logischen  Grundlagen  der 
exakten  Wissenschaften  1910  mit  Lotze's  Metaphysik  Teil  II  (Die 
Lehre  von  der  Erscheinung)  1841. 

m* 


XXXVI     Einleitung.    II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

sie  zu  universaler   Anwendung   von  der   psychologischen 
Fassung  freigemacht. 

Unter  dem  Titel  „Formen  der  Anschaulichkeit"  faßt 
die  Kosmologie  den  Inbegriff  der  Prinzipien  der  Natur- 
wissenschaft in  einem  systematischen  Aufbau  zusammen, 
der  der  dreigliedrigen  Architektonik  der  Ontologie  nach- 
gebildet ist:  Zeit,  Raum,  Bewegung;  dann  Materie,  Masse, 
Kraft,  Anziehung;  zu  dritt  Mechanismus  und  Teleologie. 
Ihr  gemeinsames  Wesen  besteht  darin,  daß  sie  Regeln  der 
Verbildlichung  für  die  ontologischen  Formen  sind.  Die 
letzteren  bilden  die  tiefste  uns  erreichbare  Schicht  des 
Theoretischen;  sie  sind  „die  Formen  des  Seienden,  wie 
es  für  uns  an  sich  ist".  Von  ihr  getragen  ist  die  uns 
näherliegende  Schicht  der  Formen  der  Erscheinung, 
„unter  denen  für  uns  das  Seiende  unser  Objekt  ist".  Durch- 
wirkt von  der  Struktur  der  tieferen  Schicht,  geben  sie 
selber  wieder  mit  ihren  allgemeinen  Bestimmungen,  „denen 
die  ontologischen  Begriffe  als  immanente  Gesetze  einge- 
bildet sind",  die  Grundlage  für  die  erscheinende  Wirklich- 
keit ab.  So  löst  er  mit  Kant  die  Aufgabe,  die  Überein- 
stimmung der  frei  bestimmten  Wirklichkeit  mit  den  denk- 
notwendigen Beziehungen  der  Ontologie  zu  begreifen,  da- 
durch, daß  er  die  anschaulichen  Formen  des  Zusammen- 
hangs dazwischenschiebt  als  „Bestimmungen  des  Inhalts 
als  solchen,  durch  die  sich  an  ihm  die  Linien  der  Be- 
ziehung selbst  ziehen".  Hinzu  kommt  die  Einsicht,  die 
über  Kant  hinausführt  und  den  Gedanken  des  Schematis- 
mus erst  frei  macht:  daß  die  sog.  Anschauungsformen  der 
Raum,  die  Zeit  nur  Reflexionseinheiten  darstellen,  die 
aufzulösen  sind  in  die  darunter  befaßten  einfachen  Verhält- 
nisbestimmungen. Alle  kosmologischen  Formen  sind  „keine 
Ganzen,  die  sich  gegenseitig  abgrenzen,  sondern  ineinander- 
fließende Gruppen  einzelner  Momente".  So  sucht  er  nun 
mit  seinem  ganzen  Scharfsinn  „die  Vernunft  im  Räume" 
und  in  der  Zeit  aufzuweisen.  In  das  allein  gegebene  mo- 
mentane Jetzt  strahlt  als  notwendiger  Vor-  und  Nachschein 
die  Beziehung  auf  die  nichtgegebenen  Gründe  und  Zwecke 
ein  und  läßt  in  den  intensiven  Einheiten  einen  immanenten 
Zusammenhang  rhythmischer  Ordnung  sehen.  Von  dem 
allein  gegebenen  Hier  geht  ein  Strahlenbüschel  der  Rich- 
tungen aus,  in  welchem  die  ontologisch  geforderte  Ver- 
knüpfungsmöglichkeit eines  Seienden  mit  unbegrenzt  vielen 
anderen  schenaatisiert  ist.  Der  Auflösung  des  Substanz- 
begriffs  Entspricht  dann  einfach  die  positivistische   Reini- 


Der  transcendentale  Schematismus.  XXXVXX 

gung  des  Kraftbegriffs  zum  funktionalen  Gesetzesbegriff. 
„Die  Dinge  sind  ähnlich  optischen  Instrumenten,  die  für 
gar  nicht  konvergierende  Strahlen  dennoch  einen  geometri- 
schen Mittelpunkt  in  einer  Richtung  abbilden,  wohin  jene 
nicht  gelangen." 

Der  logische  Schematismus  hat  eine  andere  Be- 
deutung. Lotze's  erste  Logik  zeigt  im  Unterschiede  von 
der  Mehrfältigkeit  der  späteren  noch  fast  ganz  rein  den 
Typus  des  Idealismus  der  Subjektivität,  entsprechend  der 
Situation,  in  der  die  Befreiung  von  Hegel  die  erste  An- 
gelegenheit war,  die  die  Logiker  beschäftigte.  Die  Spon- 
taneität, von  Kant  und  Fichte  her,  ist  der  entscheidende 
Begriff.  „Das  Wesen  des  Logischen  ist  in  die  Selbsttätig- 
keit zu  setzen."  Von  ihr  gesondert  ist  der  psychologische 
Mechanismus  des  Vorstellungsverlaufs,  der  bloßes  Material 
von  Impressionen  für  das  erkenntnisschaffende  Denken  her- 
anspült. Das  vieldeutige  Wort  Logos  soll  die  innere  Leben- 
digkeit der  Vernunft  bezeichnen,  gegenüber  der  Zweck- 
mäßigkeit der  Mechanik.  So  stellte  Lotze  zunächst  Herbart's 
Begriff  der  reinen  Logik,  die  auf  die  einfachsten  Verhält- 
nisse des  Gedachten  geht,  zurück  und  nimmt  Herbarts  präzise 
Fassung  der  Begriffslehre  nur  auf,  um  die  Spontaneität 
der  „logischen  Auffassungsformen"  noch  weiter  nach  unten 
zu  erstrecken,  als  es  bei  Kant  geschah:  „auch  schon  das 
Einfache  der  Apprehension  muß,  um  ein  Einfaches  der 
Apperzeption  zu  werden,  eine  Behandlung  durch  logische 
Auffassungsweisen  erleiden",  und  das  leistet  die  logische 
Vorstellung,  die  die  einfachsten  Einheiten  von  identischer 
Bedeutung  schafft,  ohne  die  das  Denken  dem  Erkenntnis- 
zweck nicht  dienen  könnte.  Nicht  die  Denkleistungen^ 
sondern  die  Denkakte  sind  das,  was  er  unter  den  „Denk- 
formen als  solchen"  versteht;  er  definiert  dieses  subjektive 
Tun  als  die  „Reduktion  des  Gegebenen  auf  seine  Gründe"; 
„das  logische  Denken  ist  nichts  anderes  als  eine  kritische 
Erläuterung  oder  Bearbeitung  des  gewöhnlichen  Vorstel- 
lungsverlaufs". Und  er  führt  sie  nun  von  der  logischen 
Vorstellung  bis  zu  den  höchsten  Formen  des  zusammen- 
fassenden Denkens  (Klassifikation,  erklärende  Theorie, 
spekulatives  Verstehen)  wie  in  der  späteren  Bearbeitung 
auf  in  einer  systematischen  Entwicklung,  die  ihren  Duktus 
aus  den  Aufgaben  empfängt,  die  aus  dem  Zweck  einer 
logischen  Fassung  des  psychologischen  Tatbestandes  her- 
vorgehen. Die  theoretische  Bewältigung  des  Gegebenen 
legt  sich  auseinander  in  einer  Reihe  stufenweis  gesteigerter 


XXXVIII    Einleitung,   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

Formprobleme,  zu  deren  Lösung  immer  höhere  logische 
Gebilde  gefordert  sind.  Die  logischen  Grundsätze  wie  der 
der  Identität  ergeben  sich  dabei  als  „der  reine  Ausdruck 
des  Sinnes  der  Denkformen". 

Aber  von  diesem  Ansatz  aus,  mit  dem  er  zwischen  den 
Extremen  Hegels  und  des  traditionellen  Formalismus,  gleich 
der  Mehrzahl  der  damaligen  Logiker,  vermitteln  will,  bahnt 
er  sich  nun  den  Weg  zur  reinen  Logik  zurück.  Und 
hier  greift  der  Gedanke  des  Schematismus  ein.  Subjektiv 
als  Betätigung  des  Logos,  ist  das  Denken  seinem  formalen 
Bestände  nach  abhängig  von  den  ontologischen  Foniien, 
die  ihm  erst  die  Motive  für  seine  Kritik  des  Gegebenen 
liefern.  Das  Denken  „besteht  in  der  ausübenden  Technik, 
welche  die  absoluten  Voraussetzungen  über  die  Natur  alles 
Objektiven  in  den  gegebenen  Inhalt  der  Vorstellungen  hin- 
einzuarbeiten sucht".  Wohl  beruht  auf  diesem  Verhältnis 
zur  Ontologie  auch  „die  reale  Seite"  des  Logischen;  sie 
besteht  in  der  teleologischen  Beziehung  auf  den  Zweck 
objektiver  Erkenntnis.  Aber  anderseits  unterscheiden  sich 
die  logischen  Formen  von  den  kosmologischen  Vermitte- 
lungen  gerade  dadurch,  daß  ihr  Schematismus  nicht  auf 
die  Konstituierung  von  Gegenständen  der  Erfahrung  be- 
schränkt ist,  sondern  sich  auf  Gedachtes  als  solches  be- 
zieht ohne  Frage  nach  der  objektiven  Bedeutung  der  so 
„gestifteten"  Verhältnisse  des  Gedachten.  Und  hier  liegt 
der  Ursprung  der  rein  logischen  Begriffe  wie  Gleichheit, 
Ähnlichkeit,  Verschiedenheit,  Gegensatz,  Widerspruch,  Be- 
dingung. Zum  Wesen  der  logischen  Formen  gehört  nicht 
bloß,  die  Materie  der  Kategorien  unbestimmt  zu  lassen, 
sondern  die  kategoriale  Form,  d.  h.  Kantisch  die  abstrakte 
Regel  der  Synthesis,  auch  noch  völlig  abstrakt,  ohne  Bezug 
auf  Anschauungsformen  überhaupt,  zur  Anwendung  zu 
bringen  und  so  einen  „transzendenten  Gebrauch"  der  Kate- 
gorien zu  ermöglichen,  der  die  schrankenlose  Natur  des 
Denkens  kennzeichnet.  So  gelangt  Lotze  zur  reinen 
Logik,  indem  er  das  Denken  sich  von  seiner  Ursprung 
liehen  Bestimmung,  ausübende  Technik  des  Erkennens  zu 
sein,  emanzipieren  und  damit  seiner  „realen  Bedeutung*' 
sich  entledigen  sieht  in  einem  selbständigen  Spiel  seiner 
Fähigkeiten.  Die  ontologischen  Formen,  an  die  es  von 
jener  Zweckbeziehung  her  gebunden  bleibt,  werden  bei 
diesem  schrankenlosen  Gebrauch  „zu  einem  Gleichnis", 
aber  diese  Abschattung  der  konstitutiven  Kategorien  zu 
Symbolen  ist  es  eben,  was  das  rein  Logische  ausmacht.   In 


Der  teleologische  Idealismus  in  der  Kosmologie.    XXXIX 

den  rein  logischen  Begriffen  „fixiert  der  Verstand  sein 
eigenes  Vorstellen  des  formalen  Teils  der  Kategorie  abge- 
trennt von  dem  realen  Teil  und  ebenso  von  den  Formen 
der  Anschauung  1)".  So  stellte  Lotze  die  Aufgabe,  statt 
den  gesamten  Bestand  des  Apriori  zusammenzunehmen, 
die  rein  logischen  von  den  „metaphysischen"  Formen  zu 
sondern.  Die  Philosophie  würde  dadurch  von  den  Über- 
griffen logischer  Bestimmungen  über  reale  Verhältnisse 
befreit  werden.  Und  „eine  bestimmte  philosophische 
Sprache  wird  sich  erst  entwickeln  können,  wenn  diese 
logischen  Begriffe  vollständiger  zusammengestellt  sind". 

Während  so  die  Logik  mit  dem  Idealismus  der  Sub- 
jektivität beginnt,  um  sich  aus  ihm  herauszuarbeiten,  führt 
umgekehrt  die  Metaphysik  zu  ihm  hin.  Und  dies  ist  nun  der 
andere  Zug  der  Kosmologie  und  weiter  dann  der  be- 
herrschende in  der  Erkenntnistheorie.  Er  setzt  da  ein, 
wo  die  erste  Tendenz,  die  Ableitung  der  Prinzipien  der 
Naturwissenschaft,  zum  Ende  kommt,  bei  den  „Regeln  des 
Zusammenhangs  der  Erscheinungen",  Mechanismus  und 
Teleologie.  Es  ist  der  systematische  Ort  für  die  Begrün- 
dung seines  Satzes,  den  wir  schon  kennen:  Mechanismus 
und  Organismus  sind  nicht  zwei  Reihen  von  Erschei- 
nungen, sondern  Auffassungsformen  für  alles  Erschei- 
nende, beide  notwendig,  aber  die  organische  von  über- 
geordneter Bedeutung.  Die  Notwendigkeit  des  Mechanis- 
mus folgt  aus  dem  Ergebnis  der  Ontologie,  daß  für  die 
Reflexion  die  Setzung  eines  vom  Denken  Unabhängigen 
sich  in  dessen  Abhängigkeit  von  den  Reihen  der  Gründe  auf- 
lösen muß.  Aber  der  reine  Mechanismus  bedeutet  Fata- 
lismus: „Der  absolute  Zufall,  der  nur  in  sich  selbst  eine 
Konsequenz  hat,  muß  als  Moment  eingehn  in  eine  andere 
Ansicht,  die  ihm  die  Notwendigkeit  sichert,  ihm  aber  auch 
zugleich  seine  Schranken  setzt."  Dies  leistet  der  Begriff 
des  organischen  Zusammenhangs.  Was  Lotze  an  dem 
Vitalismus  bekämpft,  ist  nur  die  Annahme  von  Kräften, 
die  nach  nichtmechanischen  Gesetzen  wirkten:  „Das  Or- 
ganische ist  niemals  etwas  anderes  als  eine  bestimmte 
Richtung  und  Kombination  des  Mechanischen."  Hier  wird 
ganz  deutlich,  daß  für  sein  Prinzip  des  teleologischen 
Zusammenhangs   der   sachliche   Ansatz   bei   dem   Problem 


^)  Vgl.  die  Unterscheidung  der  reflexiven  und  konstitutiven 
Kategorien  bei  Windelband,  Vom  System  der  Kategorien,  Philos. 
Abh.  für  Sigwart  1900. 


XL  Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

der  konkreten  Wirklichkeit  liegt,  daß  es  also  zunächst 
unmetaphysich,  methodisch  als  individuelle  Form  auftritt. 
Die  Formen  der  Zusammenfassung  der  Massen  und  Kräfte 
zu  „Gestalten"  des  Geschehens,  welche  „qualitative 
Einheiten  verbundener  mechanischer  Prozesse  sind",  geben 
das  Problem,  das  über  den  Mechanismus  hinausführt.  Die 
empirischen  Wissenschaften  haben  in  dem  tatsächlichen 
Naturgeschehen  wenige  einfache,  überall  hindurchklingende 
Grundformen  nachgewiesen,  die  aus  den  mannigfaltigen 
denkbaren  Konstruktionsmöglichkeiten  wie  ausgewählt  er- 
scheinen, und  geben  damit  den  Umriß  einer  „Lehre  vom 
Leben  der  Welt".  Lotze  bildet  einen  allgemeinen  Begriff 
»organische  Formen  des  Geschehens*;  unter  ihn  fällt  schon 
die  Regelmäßigkeit  und  Periodizität  der  Gestimbahnen, 
unter  ihn  fallen  insbesondere  die  psychischen  Verhaltungs- 
weisen, Wille,  Gefühl  usf. :  diese  sind  das  in  unserm  Innen- 
leben eigentlich  Gegebene  und  lassen  sich  nicht  in  hypo- 
thetische Seelenmechanik  auflösen,  das  bleibt  gegen  Her- 
bart als  der  Kern  der  Vermögenstheorie  bestehen.  (S.  260  f.) 
Allgemein  erklärt  er:  „Soll  eine  wahrhafte  Welt  der  Er- 
scheinung, ein  geordneter  Kosmos  sein,  so  müssen  sich 
die  Elemente  des  Geschehens  und  ihre  Kombinationen 
auf  ein  System  innerer  Bedeutungen  zurückwerfen,  durch 
welches  allein  jenen  Komplexen  das  Recht  ihres  Daseins 
gesichert  ist." 

Aber  nun  ist  sein  entscheidender  Satz:  der  Sinn  der 
Erscheinung  ist  ihr  transzendent.  Die  organische  Gestalt 
erscheint  dem  betrachtenden  Verstehen  als  ein  Sinnvolles, 
bietet  ihm  den  Schein  von  etwas  Wesenhaftem,  wie  die  Ge- 
setze, die  in  ihr  sich  durchkreuzen,  für  die  reflektierende 
Anschauung  den  Schein  eines  dinghaften  substanziellen 
Seins  ergeben.  Aber  während  die  Dingheit,  diese  „Reflektion 
in  das  Innere  des  Einzelnen",  sich  auflöste  als  eine  meta- 
physische Illusion  gleich  dem  Bild  hinterm  Spiegel  und 
ihren  Platz  abgab  an  die  Gesetzlichkeit,  die  von  der 
objektivierenden  Wissenschaft  aufgebaut  wird,  führt  die 
Deutung  der  organischen  Form  in  eine  andere  Welt,  in 
welche  nach  Lotze  die  Wissenschaft  nicht  mehr  hineinreicht. 
„Alle  organischen  Tätigkeiten,  wie  sie  auch  sich  in  Gestalt 
der  Kräfte  oder  Triebe  auf  ein  Inneres  reflektieren,  haben 
doch  als  solches  Innere  nicht  Etwas,  das  selbst  innerhalb 
der  Erscheinung  verbliebe,  eine  Masse  oder  Materie,  die 
im  Räume  oder  der  Zeit  ihre  eigentümlichen  Bestimmungen 
hätte.    Vielmehr  tritt  das  Substantielle  hier  aus  dem  Be- 


Die  Transzendenz  und  die  metaphysische  Ideenlehre.     XTJ 

reiche  der  kosmologischen  Erscheinung  über  in  ein  ihr 
transzendentes  Gebiet,  und  die  organischen  Funktionen 
in  ihren  mannigfaltigen  Verschlingungen  inhärieren  dem 
Sinne  der  Erscheinung,  der  als  ihr  allgemeiner  Be- 
griff ihnen  die  Grenzen  ihres  Tuns  und  Lassens  vorschreibt, 
ohne  durch  mechanische  Mittel  sie  dahin  zu  treiben." 
Hier  ist  der  Punkt,  wo  die  Ideenlehre,  der  er  selbst  die 
wissenschaftliche  Prägnanz  durch  den  Begriff  des  Geltens 
gegeben  hatte,  nunmehr  in  ganz  anderem  Sinne,  mit  speku- 
lativer Wendung  eintritt  und  der  logische  Idealismus  mit 
dem  ethisch-metaphysischen  verschmilzt. 

Es  ist  der  letzte  kritische  Punkt  dieses  Standpunktes 
überhaupt.  Die  Lehre  von  den  Ideen  in  Natur  und  Ge- 
schichte war  in  der  Deutschen  Bewegung  hervorgegangen 
aus  der  Richtung  auf  Verstehen  des  Lebendigen  seiner  Be- 
deutung nach,  gegenüber  der  Kausalerklärung.  Sie  hatte 
sich  in  Lotze's  Zeitalter  aus  der  fortschreitenden  Wissen- 
schaft zurückgezogen,  und  wo  sie,  wie  in  der  Geschichts- 
philosophie von  Humboldt  bis  Droysen  hin  erhalten  blieb, 
hielt  sie  sich  spekulativ  an  denselben  massiven  meta- 
physisch-religiösen Hintergrund,  in  welchem  der  ,speku- 
lative  Theismus*  von  Lotze's  Lehrern  feststand  in  dem 
Glauben  an  einen  unbedingten  Zusammenhang  aller  Dinge 
in  Gott.  Diese  Verquickung  aufzulösen,  für  die  nach  der 
Lage  des  wissenschaftlichen  Bewußtseins  kein  Raum  mehr 
in  der  Philosophie  ist,  ist  eine  Hauptarbeit  der  Gegenwart 
grade  auf  dem  Gebiete  des  geistig-geschichtlichen  Lebens, 
auf  dem  allein  die  von  dieser  Ideenlehre  gemeinten  Pro- 
bleme sinnvoll  gestellt  werden  können.  Und  auch  Lotze 
arbeitete  im  Grunde  in  dieser  Richtung.  Aber  immer 
wieder  erscheint  die  Gefahr,  daß  die,  welche  das  Be- 
stehen idealer  Zusammenhänge  gegenüber  dem  Positivis- 
mus einsehen,  bei  spekulativ-metaphysischem  Bauen  enden. 
Lotze  hatte,  dank  seinen  logischen  Einsichten  in  der  Be- 
griffslehre, die  Metaphysik  der  Gattungs-Ideen  von  vorn- 
herein hinter  sich  gelassen.  Aber  er  ist  hier  noch  nicht 
der  Lockung  widerstanden,  die  auch  manchen  Neueren 
fortzieht:  mittels  der  aufweisbaren  Idealität  des  Logischen 
die  ethisch  -  idealistischen  Überzeugungen  ins  Reine  zu 
bringen.  Und  man  blickt  nun  hier  bei  diesem  scharfen 
Denker  in  eine  merkwürdige  Vermengung,  in  der  die  be- 
schränkende Macht  der  zeitgeschichtlichen  Lage  sichtbar 
wird. 

Er  nennt   die   innere  Bedeutung,   die   er  jedem   orga- 


XLII         Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

nisch  gefügten  Effekte  von  Kausalprozessen  zuschreibt, 
den  „Begriff"  der  Erscheinung.  Er  meint  die  ,konkreten  Be- 
griffe*, die  er  als  teleologische  Wesensbegriffe  faßt  und 
als  die  wahren  und  konstitutiven  Begriffe  den  „zufäl- 
ligen Ansichten"  gegenüberstellt,  die  sich  für  jeden  Gegen- 
stand mehrfältig  nach  den  verschiedenen  Rücksichten  seiner 
Stellung  im  Begründungszusammenhang  bilden  lassen 
(S.  117,  262  ff.).  Er  kennzeichnet  sie  als  „ideale  Einheiten". 
Er  macht  klar,  daß  in  ihnen  der  Eigenwert  der  Sachen  und 
ihre  Bedeutung  im  Zusammenhang  des  Ganzen  erfaßt  sein 
würde.  Aber  diese  Wesensbegriffe  werden  ihm  nun,  mittels 
eines  äquivoken  Gebrauchs  des  Ausdrucks  Bedeutung,  selber 
zu  „idealen  Wesen,  die  eine  Apodiktizität  ihres  Daseins 
in  der  Reihe  anderer  genießen"  um  ihrer  Bedeutung  willen: 
als  „seinsollende";  ihre  Identität  wird  zu  der  ,Selbst- 
erhaltung*,  die  Herbart  seinen  , Realen*  zuschreibt,  und  der 
Gegensatz  ideal  real  springt  über  in  den  einer  „inner- 
lichen Seite  des  Geschehens"  und  einer  „äußerlichen"  im 
Sinne  von  sinnlich-geistig  und  mechanisch.  Er  hat  dabei 
das  erkenntnistheoretische  Verhältnis  des  Geistigen  zu  dem, 
worin  es  sich  ausdrückt,  im  Auge,  das  ihm  aber  zu  einem 
realen  Verhältnis  der  Verwirklichung  idealer  Einheiten  wird, 
wie  er  denn  an  anderer  Stelle  i)  fonnuliert:  „Die  Äuße- 
rung des  innerlichen  Geistes  ist  die  Bedeutung  der  Er- 
scheinung". So  nimmt  das  Zentralproblem,  „wie  die  be- 
herrschenden Ideen  in  das  Getriebe  der  Erscheinungs- 
welt sich  ihren  Eingang  bereiten",  nun  geradezu  die  Form 
an:  das  Dasein  der  erscheinenden  Wirklichkeit,  die  ,,ganze 
Pracht  des  Lebens"  und  insbesondere  die  Sinnlichkeit,  auf 
der  alle  qualitative  Erscheinung  basiert  ist,  zu  kon- 
struieren als  einen  notwendigen  Erfolg  des  transzendenten 
Bedeutungszusammenhangs  idealer  Wesen.  Er  konstruiert 
das  mit  den  Mitteln  von  Herbart;  es  ist  der  erste  Entwurf 
der  Spekulation,  die  in  seiner  letzten  Metaphysik  besonnen 
eingegrenzt  ist;  sie  unterscheidet  sich  hier  nur  in  dem 
einen  wesentlichen  Punkte  von  Herbart,  daß  dessen  Fest- 
setzungen über  Reale  auf  werthafte  Wesen  beschränkt  sind. 
Die  idealen  Wesenheiten  sind,  um  zur  Verwirklichung 
kommen  zu  können,  gebunden  an  eine  mechanische  Grund- 
lage; „sobald  ihre  mechanischen,  durch  organische 
Richtungen  beherrschten  Grundlagen  durch  den  Anstoß 
anderer  umgewandelt  werden,    erleidet   der   transzendente 

1)  Kl.  Schriften  II,  200  (Seele  und  Seelenleben,  1846). 


Erkenntnistheorie.  XLIII 

Sinn,  die  Bedeutung,  der  Begriff  der  Dinge  ebenfalls  eine 
Veränderung",  welche  die  Wesen  als  eine  , Störung*  ihrer 
idealen  Natur  setzen  und  in  Gestalt  von  Sinnesqualitäten 
„auf   idealem   Gebiete    von    sich    abstoßen". 

Die  Absicht  dieser  Konstruktion  ist:  nach  der  Zen- 
trierung der  Kosmologie  auf  die  Grundlagen  der  mathe- 
matischen Naturwissenschaft  den  Weg  zurückzufinden  zum 
Konkreten,  das  mittels  des  transzendentalen  Schematismus 
nicht  erreichbar  ist,  also  eine  Brücke  von  Kant  zu  Schelling 
zu  bauen.  Ihr  Sinn  ist  in  dem  Satze  ausgesprochen: 
„Die  Natur  bringt  so  als  iliren  Gipfel  notwendig  die  Emp- 
findung hervor,"  erst  in  ihr  „erhebt  sich  der  tote  und 
erscheinungslose  Zusammenhang  des  Kosmologischen  zu 
der  wahrhaften  Erscheinung.  In  dem  sinnlichen  Spiel  der 
Gestalten,  dem  farbigen  Abglanz  der  Natur  und  den 
Verknüpfungen  ihres  Geschehens  haben  wir  die  ganze 
Erscheinung  eines  Wesenhaften  vor  uns". 

Damit  ist  der  Übergang  zur  Erkenntnistheorie  ge- 
geben. Ihr  Hauptbegriff  ist  die  Wirklichkeit  der  dem  Subjekt 
erscheinenden  Welt.  Diese  ist  als  Erscheinung  dem  Ansich 
gegenübergestellt,  von  dem  die  Wahrheit  des  Erkennens 
abhängt.  Aber  sie  ist  kein  bloßes  Epiphänomen  und  des- 
halb auch  kein  bloßes  Zeichensystem  für  das  Subjekt, 
das  an  ihr  einen  zufällig-menschlichen  Stützpunkt  hätte,  um 
die  Brücke  zum  transzendenten  Gegenstand  der  Erkennt- 
nis zu  schlagen.  Sondern  sie  ist  selber  eine  Erfüllung  des 
Ansich  in  der  Subjektivität  und  muß  in  dieser  ihrer  Be- 
deutung als  Verwirklichung  von  Werten,  sie  selber  etwas 
Wertvolles  und  in  sich  Beschlossenes,  wahrhaft  Wirkliches 
verstanden  werden.  So  hat  hier  Kant's  ,kopernikanische'  Um- 
kehrung des  Gegenstandsproblems  den  besonderen  Sinn  be- 
kommen, den  später  von  Lotze  aus  Windelband  als  die 
wahre  Meinung  Kant's  und  Fichte's  zu  erweisen  suchte.  In 
Lotze's  erstem  Gang  von  der  Ontologie  durch  die  Kos- 
mologie hindurch  zur  Erkenntnistheorie  kommt  die  Rück- 
wendung auf  das  erkennende  Subjekt  nicht  dadurch  herein, 
daß  nach  dem  objektiven  Ansatz  bei  der  Wahrheit  nun  die 
Frage  nach  dem  Erfassen  der  Wahrheit  sich  auftäte, 
sondern  in  der  Ausbreitung  der  Subjektivität  gipfelt 
der  ganze  teleologische  Zusammenhang  der  Seinsweisen 
und  Anschauungsprinzipien,  und  er  gipfelt  in  ihr,  weil  er, 
der  das  Gelten  der  Wahrheit  nur  als  ein  Moment  in  sich 
enthält,  sich  vor  dem  sittlichen  BcAvußtsein  als  ein  realer 
Erfüllungszusammenhang  erweist. 


XLIV        Einleitung.    II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

Dabei  trägt  jedoch  die  Voranstellung  der  Ontologie, 
die  Wendung  zu  einer  „immanenten  Kritik  der  Kategorien" 
noch  eine  wesentliche  Frucht:  der  Idealismus  der  Sub- 
jektivität sondert  sich  scharf  vom  Anthropologismus  ab. 
Eine  fundierende  Sinnlichkeit  gehört  zur  Natur  der  ,,wahren 
Erscheinung",  nur  die  Eigentümlichkeit  ihrer  Qualitäten 
ist  etwas  Anthropologisches.  Und  von  den  ,Kategorien* 
(er  braucht  jetzt  noch  diesen  Ausdruck,  den  er  später  ab- 
lehnte) gilt,  daß  sie  zwar  als  Bestimmungen  der  Be- 
ziehung nur  „für  die  davon  wissende  Erkenntnis  sind, 
die  durch  ihr  Zusammenfassen  die  Beziehungen  setzt", 
aber  sie  „sind  nicht  ein  beschränktes  Eigentum  unserer 
Organisation,  sondern  der  jedes  Subjekts".  So  spottet  er 
über  die  „anthropologischen  Begründungen",  die  den  „meta- 
physischen Neid"  auf  die  Erkenntnis  höher  organisierter 
Subjekte  nähren,  indem  sie  „Momente  metaphysischer  Be- 
stimmungen zu   Schranken   der  Erkenntnis   verdichten". 

In  dem  eigentlichen  Duktus  der  Erkenntnistheorie  aber 
tritt  nun  der  ethische  Idealismus  noch  ganz  einfach  mit 
seinen  typischen  Hauptsätzen  heraus.  Die  Methode  ist: 
„die  Wahrheit  des  Gedankens  in  einem  teleologischen  Zu- 
sammenhang zu  suchen".  Die  Voraussetzung  der  Trans- 
zendenz ist  die  oben  entwickelte:  „ein  unsagbares  Für- 
einandersein der  Wesen,  das  nur  ihren  unbekannten 
qualitativen  Inhalt  angeht,  durch  den  sie  Bedeutung  für 
einander  hahen".  Zu  diesen  Wesen  gehört  das  erkennende 
Subjekt  —  nicht  in  seinem  erfahrbaren  Dasein,  sondern 
seiner  inhaltvollen  idealen  Natur  nach.  Die  Wesen  in 
ihrer  Bedeutung  intellektuell  erfassen  zu  wollen,  sie  mit 
den  Kategorien,  diesen  bloßen  Relationsgedanken,  prädi- 
kativ bestimmen  zu  wollen,  wäre  ein  Widersinn;  nach  den 
eigenen  Aussagen  der  Kategorien  gehört  ja  der  Vorzug 
wesenhaften  Seins  einem  über  sie  hinausliegenden  Inhalt 
an.  So  präzisiert  sich  die  Frage  nach  der  Objektivität 
der  ontologischen  Formen:  ob  die  Beziehungen,  die  mit 
ihnen  erfaßt  werden,  den  Wesen  nur  fremdartig  oder 
aber  derartig  sind,  „daß  die  unbekannten  Qualitäten  der 
Wesen  um  ihrer  Natur  willen  es  fordern,  auf  diese  und 
keine  andere  Weise  in  dem  Subjekt  zusammengesetzt  zu 
werden".  Und  die  Antwort  gibt  die  moralische  Gewiß- 
heit von  der  Würde  der  Subjektivität:  deren  Ausbreitung 
in  der  Erscheinung,  die  selbst  zum  wahren  Geschehen  mit- 
gehört, muß  einen  Sinn  haben.  Das  ist  „der  letzte  Punkt, 
den  eine  Verständigung  über  das  Erkennen  erlangen  kann. 


Die  Erkenntnistheorie  und  der  ethische  Idealismus,       XLV 

Die  Formen  desselben  werden  wahr  sein,  sobald  sie  dem 
dienen,  was  sein  soll".  Dessen  Evidenz  ist  weit  größer  als 
die  dessen  was  ist.  „Die  immanente  Bestimmtheit  der 
Erkenntnis  ist  die  Folge  aus  zwei  Prämissen:  aus  der 
Natur  des  Subjekts,  welches  zur  Objektivierung  seiner 
Störungen  nur  bestimmte  Formen  besitzt,  und  aus  der 
der  Dinge,  welche  gleichgiltig  und  zufällig  an  den  Platz 
der  zweiten  Prämisse  gekommen,  dennoch  ihrem  Inhalt 
nach  nur  unter  eigenen  Verhältnissen  in  jene  Formen 
eingehen  können."  Es  bleibt  noch  die  Frage  nach  dem 
Recht,  einen  transzendenten  Inhalt  der  Wesen  anzusetzen, 
wo  doch  die  ganze  Rede  von  Wesen  auf  den  Kategorien, 
selber  wurzelt. 

Und  hier  hilft  wieder  die  Wendung  gegen  den  Primat 
des  Logischen  und  deckt  damit  zugleich  die  abschließende 
Lösung  auf,  indem  nun  der  Zweckgedanke,  in  den  die  onto- 
logische  Theorie  auslief,  übergeführt  wird  in  die  ethische 
Realität.  Der  Gedanke  eines  transzendenten  Bestehens  von 
Wesen  würde  nur  dann  mit  in  die  Relativität  des  Für- 
misseins  hineingezogen  werden,  wenn  die  Kategorien,  deren 
notwendiges  Ergebnis  er  ist,  „als  ein  absolutes  Prius  aus 
sich  selber  da  wären".  Aber  die  Bestimmungen  der  Meta- 
physik sind  „keine  alleinstehende  Gruppe  fatalistisch  vor- 
handener Begriffe".  Aus  sich  selbst  erzeugt  sie  nur  den 
formalen  Gegensatz  von  wesenhaftem  Wert  und  kate- 
gorialer  Wirklichkeit  und  braucht  sich  daher  nicht  im 
Dualismus  zu  verfangen;  denn  da  die  formale  Bestimmung 
des  Ansich  als  des  zugleich  Seienden  und  Seinsollenden 
nicht  erst  aus  einer  außertheoretischen  Quelle  in  sie 
hineinkommt,  ist  jener  Gegensatz  „selbst  als  ein  Moment 
in  dem  Wesen  zu  fassen".  „Untersuchungen  über  die 
Verwirklichimg  logischer  Formen"  sind  unabweislich ;  nur 
darf  nicht  mit  einer  „Theorie  der  Erkenntnis  physika- 
lischer Art"  nach  dem  Mechanismus  geforscht  werden, 
„durch  den  das  Wesen  durch  seinen  Inhalt  die  Erschei- 
nung in  logischen  Formen  vom  Bewußtsein  erzwingt", 
isondem  der  Sinn  dieses  Zusammenhangs  steht  in  Frage. 
Die  Kategorien  sind  zu  begreifen  als  „das  System  von 
Gründen,  welches  der  seinsollende  wahrhafte  Inhalt  der 
Welt  seiner  inneren  Bestimmtheit  nach  verlangt,  um  durch 
das  Zusammenwirken  des  Seienden  nach  jenen  Gründen 
sich  selbst  zu  verwirklichen".  Aber  auch  nur  bis  zur  for- 
malen Bestimmung  ,Seinsollendes*  gelangt  die  Theorie  aus 
eigenen   Mitteln;   ihrem   Gedanken  einer  „leeren   prädesti- 


XLVI        Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

nierenden  Position"  würde  das  Eleatische  eV  oder  Spinoza's 
Substanz  auch  genügen.  Und  hier  ist  der  Punkt,  wo  die 
metaphysische  Theorie  über  sich  hinausführt  kraft  der 
ethischen  Gewißheit  —  ganz  so  wie  die  Neueren  schließ- 
lich die  Realität  des  kritisch  vorsichtig  abgeleiteten 
,Normalbewußtsein*  durch  den  religiösen  Glauben  verbürgt 
finden.  „Der  sittliche  Geist  weiß,  daß  dem  unergründ- 
lichen Ansich  solcher  Wert  nicht  zukommt.  Die  for- 
male Bestimmtheit  des  Inhalts,  die  rela- 
tive Form  des  Sollens,  die  er  im  Vergleich  mit 
anderen  Bestimmungen  des  Gedankens  hat,  ist  zu- 
gleich seine  reale  Form.  Nur  in  dieser  Form 
des  Unerfüllten,  das  durch  die  Erscheinung  in  die  Erfüllung 
übergeht,  ist  die  Substanz  des  Geschehens  das,  was  sie 
ist.  Die  Natur  des  Seinsollenden  ist  die  Entwicklung."  Erst 
durch  diese  ethische  Spitze  erhält  dieser  Typus  von  Meta- 
physik überhaupt  Einheit  in  sich  selbst.  Denn  alle  ihre  Be- 
stimmungen sind  Formen  des  Überganges,  der  Beziehung, 
der  Entwicklung,  so  ist  ihre  Seele  „der  fortwährende  Prozeß 
der  teleologischen  Erfüllung".  Aber  sie  selber  kann  sich 
diesen  Abschluß  nicht  geben,  sondern  erhält  ihn  aus  der 
Einheit  des  Geistes.  „Unabhängig  von  der  Metaphysik  und 
für  immer  in  diesem  JPunkt  von  ihr  unabhängig  zu  erhalten, 
weiß  der  ganze,  nicht  bloß  der  metaphysische,  der  er- 
kennende Geist,  daß  es  einen  solchen  Inhalt  gibt,  der 
nicht  bloß  der  absolute  Zweck  des  Geschehens  ist,  son- 
dern zugleich  zu  seiner  realen  Form  dieselbe  Form  der 
Zweckerfüllung  hat...  Das  Gute  ist  das,  was  es  ist, 
dadurch  daß  es  nur  in  diesem  Übergange  der  Entwick- 
lung durch  die  Tat  sein  kann . . .  Die  Wahrheit  hängt 
daran,  daß  das  Reich  des  Guten  sie  hervorbringt . . .  Das 
wertvolle  und  allein  substantielle  Wesen  des  Seinsollenden 
geht  im  Bewußtsein  auf.  Der  Wert  der  Subjektivität  besteht 
darin,  die  Verwirklichung  jenes  Ansich  zu  erschaffen.  So 
sind  die  Kategorien  von  der  höchsten  Wahrheit,  weil 
sie   subjektiv    sin d." 

Lotze  endet  bei  der  typischen  Problematik  von  Trans- 
zendenz oder  Immanenz,  die  zugleich  zwischen  ontolo- 
gischer  und  erkenntnistheoretischer  Fassung  schwankt.  Den 
„imaginären  Gedanken"  vom  notwendigen  Dasein  eines 
Transzendenten  fortzuwerfen,  ist  ihm  wie  den  Theisten 
der  Radikalfehler  Hegels;  „wir  bedürfen  den  Anfang  der 
Bewegung  und  die  Ursachen,  die  sie  fortführen"  —  im 
Mikrokosmos  schränkt  er  das  dahin  ein,  daß  in  dem  ein- 


Der  ethische  Idealismus  in  der  Logik.  XLVII 

mal  vorhandenen  Zusammenhang  der  Welt  die  organische 
Bildung  sich  durch  mechanische  Tradition  forterhält,  aber 
die  erste  Stiftung  der  Keime  nicht  ohne  die  Voraus- 
setzung eines  ordnenden  Bewußtseins  begreifbar  ist.  i)  Aber 
da  er  die  Metaphysik  nicht  mehr  in  die  Religion  auf- 
lösen will,  behält  er  nur  die  Voraussetzung  eines  „unbe- 
kannten, nach  dem  Gebote  der  vorbestimmten  Wirklich- 
keit angeordneten  Zusammenhangs  der  Positionen"  zurück, 
als  Grundlage  der  Objektivität  der  Erkenntnis.  Zugleich  gibt 
er  dem  modernen  Fichteschen  P r o z e ß gedanken  Recht; 
er  drückt  ihn  mit  den  von  Schelling  aufgelösten  aristo- 
tehschen  Begriffen  dvvajuig  und  ivegyeia  so  aus:  „Das 
Wesen  ist  nur,  was   es  als-  Schein  sein  wird". 

Schließlich  holt  die  Logik  aus  dem  Idealismus  der 
Subjektivität  noch  ein  letztes  fruchtbares  Motiv  heraus. 
Es  handelt  sich  um  das  wesentliche  philosophische  Pro- 
blem, für  dessen  Lösung  jüngst  durch  Husserl  in  der 
, Phänomenologie'  ein  Weg  neu  ausgebaut  worden  ist:  die 
objektive  Geltung  der  logischen  Formen  durch  Rückgang 
auf  ihren  ,Ursprung'  zum  Verständnis  zu  bringen.  Lotze 
erkennt  die  Bedeutung  dieser  Problemstellung,  die  er  be- 
reits genetisch-psychologisch  umgebogen  vorfand,  um  den 
Formalismus  zu  überwinden.  Die  traditionelle  Logik  kenn- 
zeichnet er,  im  Zuge  von  Schelling,^)  als  eine  „begriff- 
lose Empirie".  Aber  nicht  auf  der  formalen  Natur  ihres 
Gegenstandes  beruht  das  philosophisch  Ungenügende  an 
ihr,  sondern  auf  dem  Mangel  einer  wissenschaftlichen 
Behandlung  desselben:  daß  sie  sich  mit  der  Evidenz  ihrer 
Sätze  begnügt,  sie  hinnimmt  als  auf  sich  allein  beruhende 
Notwendigkeiten  und  sich  dadurch  den  Weg  abschneidet, 
ihren  normativen  Charakter  auch  zu  begründen.  Das 
ist  es  eigentlich,  was  ihm  ein  Stehenbleiben  bei  Herbart's 
rein  logischer  Verhältnislehre  unmöglich  macht.  Aber  diesen 
Blick  gibt  ihm  nun  wieder  nicht  ein  rein  theoretisches  Be- 
dürfnis nach  Verstehen  des  Logischen,  sondern  der  speku- 
lative Zug,  den  der  ethische  Idealismus  vorwärtstreibt.  „Der 
moralische  Idealismus  stößt  ein  solches  Gängeln  des  Geistes 
an  dem  Leitfaden  eines  für  ihn  völlig  zufälligen  Kom- 
plexes absolut  notwendiger  Formen  mit  entschiedener  Evi- 


1)  Mit  Metaph.  S.  328  vgl.  Mikrok.  II  ß  S.  24. 

2)  Schelling,  Vorl.  ü.  d.  Methode  des  akad.  Studiums  1803  (Werke  I,  5 
S.  269):  „Ganz  zu  den  empirischen  Versuchen  in  der  Philosophie  gehört 
auch,  was  man  insgemein  Logik  nennt." 


XLVm     Einleitung.   II.  Der  erste  Entwurf  des  Systems. 

denz  zurück.**  Und  dem  entspricht  die  Aufgabe,  die  er  der 
„philosophischen  Logik**  stellt:  eine  teleologische  Durch- 
forschung des  Systems  der  geistigen  Tätigkeiten,  die  zu 
zeigen  hätte,  „daß  die  logischen  Formen  allerdings  aus  dem 
Wesen  des  subjektiven  Geistes  hervorgehen,  aber  nicht  als 
ein  Ergebnis  schlechthin  vorhandener  Seelenkräfte,  sondern 
als  ein  Erzeugnis,  eine  Tat,  deren  Notwendigkeit  darin  liegt, 
daß  nur  durch  sie  der  Geist  seine  ethische  Natur  verwirk- 
licht**. Seine  Logik  folgt  dieser  Intention  nur  sporadisch, 
bei  der  Deutung  des  Satzes  der  Identität.  Dieser  ist  das 
höchste  Denkgesetz  „nur  deswegen,  weil  er  zugleich  die 
tiefste  Natur  des  Geistes  ausdrückt  nach  der  Seite  hin,  wo 
er  nicht  als  bloße  Intelligenz,  sondern  als  sittlicher  Geist  er- 
scheint" —  das  denkende  Ich  soll  das  in  sich  Treue  und 
Unwandelbare  sein  und  kann  deshalb  das  Objekt  nur 
unter  der  nämlichen  Form  der  Sichselbstgleichheit  auf- 
fassen. Aber  die  Intention  selber  greift  durch  die  Logik 
hindurch  und  in  die  Metaphysik  hinüber:  in  dem  ganzen 
Bestand  des  Apriorischen  sind  schließlich  „nur  Nachbil- 
dungen des  innerlichsten  Wesens  des  Geistes**  zu  sehen, 
der  z.  B.  die  Kategorie  der  Kausalität  „nur  hat  und  an- 
wendet, weil  er  von  Haus  aus  ein  handelnder  ist**. 

Dies  ist  seine  ursprüngliche  Stellung,  die  er  in  der 
Formel  ausgeprägt  hat:  „So  wie  der  Anfang  der  Meta- 
physik, so  liegt  auch  der  der  Logik  in  der  Ethik  und  zwar 
durch  das  Mittelglied   der  Metaphysik  selbst.** 


III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie,  Geistes- 
philosophie und  Wertlehre. 

Dies  waren  die  Grundlagen,  mit  denen  er  als  Philo- 
soph anfing,  nicht  seine  Lebensarbeit  festlegte.  Auf  ihnen 
baute  nun  der  positive  Forscher.  Er  hatte  nicht  wie  die 
nächste  Generation  sich  überhaupt  erst  einen  Weg  zur  Philo- 
sophie von  der  Empirie  her  zu  bahnen  brauchen;  vielmehr 
hatte  er  Ordnung  zu  schaffen  in  der  Fülle  von  gedanklichen 
Motiven,  die  in  jener  Auflösungszeit  frei  geworden  waren. 
„Nach  einer  so  langen  Entwicklungsgeschichte  der  Philo- 
sophie, die  alle  möglichen  Standpunkte  mehr  als  einmal 
entdeckt  und  wieder  verlassen  hat,  gibt  es  kein  Verdienst 
der  Originalität  mehr,  sondern  nur  das  der  Genauigkeit."  i) 
Aber  dieser  feste  Begriffszusammenhang  diente  ihm  nun 
als  Werkzeug,  seine  positiv  wissenschaftliche  Arbeit  zu 
gliedern.  Das  erscheint  fast  schematisch  durchgeführt: 
überall  wo  er  ansetzt,  von  der  Psychologie  bis  zur 
Ästhetik  hin,  legt  er  den  dreigliedrigen  Nexus  der  Ontologie 
—  Wirklichkeit,  Grund  und  Zweck  —  zugrunde  und  teilt 
damit  die  Geschäfte  der  Philosophie  und  Einzelwissenschaft 
ab.  Auf  jedem  Forschungsgebiet,  auch  in  der  Biologie, 
kennt  er  neben  und  über  der  wissenschaftlichen  Bear- 
beitung noch  eine  philosophische,  d.  h.  spekulative  „Unter- 
suchungsweise", die  auf  Sinn  und  Bedeutung  der  kausal 
erklärten  Erscheinungen  geht.  Und  dem  wissenschaftlichen 
Teil  selber  geht  Philosophie  logisch  voran,  nach  dem 
Schema:  die  Einzelwissenschaft  darf  positivistisch  sein, 
sie  bedarf  nur  Begriffe  und  Grundsätze,  die  fiir  die  Er- 
klärimg  der  Tatsachen  brauchbar  sind;  aber  mit  ihrer 
Brauchbarkeit  sind  die  Begriffe  wie  Materie,  Kraft  oder 
Seele  noch  nicht  gerechtfertigt,  sie  dürfen  vielmehr  nur 
als  handliche  Abbreviaturen  der  eigentlichen  Zusammen- 
hänge gelten,  und  diesen  Nachweis  zu  geben,  ist  Aufgabe 
der  Philosophie. 

1)  Streitschriften  1857  S.  5. 

Lotze,  Logik.  IV 


L  Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

Wie  viel  hat  ihn  trotz  dieser  Trennung  die  Berührung 
mit  dem  Stoff  auch  philosophisch  weitergebracht?  was 
doch  der  Natur  der  Sache  nach  kommen  muß.  An  zwei 
Stellen  berührt  der  Idealismus  der  Subjektivität  das  Grenz- 
gebiet positiver  Forschung:  bei  der  Einheit  des  Seelen- 
und  Geisteslebens,  die  die  entscheidende  wissenschaftliche 
Instanz  dieses  Standpunktes  ist,  und  bei  der  Lehre  von 
den  Werten,  deren  empirische  Basierung  nun  Lotze's 
Leistung  wurde. 

Psychologie. 

Eine  „Phänomenologie  des  Selbstbewußtseins"  sollte 
den  Grundgedanken  der  Erkenntnistheorie  zur  Klarheit 
führen.  1)  Lotze  hat  sich  bereits  in  der  Abhandlung  , Seele 
und  Seelenleben*  an  ihr  versucht,  und  die  , Medizi- 
nische Psychologie*  geht  nun  in  ihrem  philosophi- 
schen Teil,  diesen  Versuch  fortsetzend,  darauf  aus,  den 
•wahren  Zusammenhang  zu  bestimmen,  dessen  Ab- 
breviatur der  Begriff  Seele  ist.  Sie  tut  das  in  dem  für 
Lotze  charakteristischen  suchenden  Gang  der  Unter- 
suchung. 2)  Als  den  Tatbestand,  der  ein  selbständiges, 
mit  Seele  bezeichnetes  Prinzip  fordert,  erkennt  er  mit  den 
Klassikern  der  rationalen  Psychologie  die  Einheit  des  Selbst- 
bewußtseins, „welches  das  Mannigfaltige  zusammenfaßt". 
Aber  auch  nur  sie  allein.  Das  Erlebnis  der  Freiheit  des 
Willens  ist  zu  problematisch,  um  als  wissenschaftliche 
Grundlage  zu  dienen.  Erst  die  Tatsache,  daß  es  ein  „be- 
ziehendes Wissen"  gibt,  entscheidet  gegen  den  Empiris- 
mus; denn  „dem  Wechsel  der  Eindrücke  würde  nur  ein 
Wechsel  des  Wissens,  nicht  aber  ein  Wissen  von  diesem 
Wechsel  nachfolgen  können".  Soweit  steht  er  zu  Kant, 
in  der  Widerlegung  des  Empirismus  einstimmig  mit  den 
Späteren,  die,  wie  Sigwart  oder  die  ersten  Führer  der  Kant- 
bewegung selber,  Psychologie  und  aprioristische  Erkennt- 
nistheorie in  Verhältnis  zu  setzen  suchten.  Lotze  nimmt 
zwar  für  die  seelische  Einheit  wieder  den  Begriff  im- 
materielle Substanz  auf,  aber  —  entsprechend  der  Auf- 
lösung des   Substanzbegriffs   in   der   vorangegangenen   On- 

1)  Vgl.  Metaphysik  (1841)  Schluß  mit  der  Abh.  Seele  und  Seelen- 
leben  (1846  HWB.  der  Physiologie  Bd.  III)  ia  Kleine  Schriften  II 
S.   134. 

*)  Nnr  aus  der  Verkennung  dieses  Ganges  erklärt  sich  das  Miß- 
verständnis von  Külpe,  Paulsen  u.  a.,  Lotze  sei  zunächst  von  einer 
substantialen ,  nicht  aktualen  Seelenauffassung  ausgegangen;  das  wird 
schon  durch  seine  Ontologie  widerlegt. 


Phänomenologie  des  Selbstbewußtseins.  LI 

tologie  —  nur  ökonomisch,  als  „sekundäres  Prinzip",  um 
der  empirischen  Psychologie,  die  nicht  weiter  zurück 
zu  fragen  braucht,  die  Selbständigkeit  gegenüber  materiali- 
stischer und  panpsychistischer  Metaphysik  zu  sichern.^) 
Und  auch  nur,  nachdem  er  klar  gemacht  hat,  daß  es  sich 
um  keine  Hypostasierung  handelt,  sondern:  „der  Name 
Seele  ist  ein  phänomenologischer  Ausdruck,  der 
gleich  den  chemischen  Begriffen  der  Säure  oder  des  Alkali 
eine  Reaktionsform  bezeichnet,  die  einer  Reihe  ihrer 
übrigen  Natur  nach  unbestimmt  gelassener  Elemente  ge- 
meinsam zukommt".  „Seele  ist  oder  heißt  Etwas,  so- 
fern dies  übrigens  unbestimmt  gelassene  Etwas  die  Tätig- 
keitsformen des  Vorstellens,  Fühlens,  Strebens  in  sich 
zu  erzeugen  vermag."  Nur  schärfer  ist,  nichts  Neues 
bringt  die  Formel  der  späteren  Metaphysik:  „die  Tat- 
sache der  Einheit  des  Bewußtseins  ist  es,  die  eo  ipso 
zugleich  die  Tatsache  des  Daseins  einer  Substanz  ist. 
Jede  Substanz  ist  das  als  was  sie  sich  gibt,  in  bestimmten 
Vorstellungen,  Gefühlen  und  Strebungen  lebende  Einheit". 
So  steht  er  von  Anfang  an  auf  dem  Boden  der  von 
Wundt   sog.    Aktualitätstheorie. 

Aber  dieser  Seelenbegriff,  der  für  die  empirische,  d.  h. 
naturwissenschaftliche  Psychologie  den  Ansatz  gibt,  um  an 
die  Erforschung  des  psychophysischen  Mechanismus  2)  zu 
gehen,     ist    nun    für    die    philosophische    ein    Problem: 

^)  Lotze  gibt  die  Bestimmung  des  Gegenstandes :  „Die  psychischen 
Erscheinungen*'  und  sagt  von  ihr  (wie  Brentano  1874  angesichts  der 
, Psychologie  ohne  Seele*):  sie  würde  „den  tai sächlich  vorhandenen 
Gegenstand  vorurteilslos  bezeichnen'*.  Aber  die  Rede  von  der  Seele 
ist  als  vorwissenschaftliche  Vorstellung  da  unJ  darf  nicht  uniufgeklärt 
im  Rücken  bleiben ;  sie  erweist  sich  dann  als  z^  eckmäßig,  um  den 
Ansatz  für  de  Fragestellung  der  ph  siologischen  Psychologie  freizu- 
legen: mit  der  Einheit  des  Bewußtseins  ist  die  Rede  von  der  Seele 
gegenüber  der  Mal  erialit  - 1  gerechtfertigt  und  nun  kann  gefragt  werden, 
unter  welchen  Bedingungen  die  psych.  Phänomen  in  ihr  auftreten. 

2)  Loize's  methodische  Faltung  ist  hier:  die  Theorie  des  Paral- 
lelismus arbeitet  mit  unberechtigten  Analogien,  ist  im  Grunde 
dualistisch,  strandet  an  der  Einheit  des  Selbstbewußtseins,  ist  unver- 
träglich mit  dem  BegrifP  einer  kausal  zusammenhängenden  Wirklichkeit 
(vgl.  s.  Kiitik  Fechneis  in  Kl.  Schriften  III  470,  1879).  Die  Theorie 
der  Wechselwirkung  ist  der  gegebene  Ausgangspunkt  für  die 
Forschung.  Sie  wird  durcii  die  Ungleichartigkeit  des  Physischen  u. 
Psychischen  nicht  unm"  glich  gemacht,  da  der  innere  Nexus  der  Kausalität 
überhaupt  der  Wissenschaft  undurchdringlich  ist.  Die  Ungleichartigkeit 
schließt  nur  die  Möglichkeit  einer  Konstruktion  des  Psychischen  aus 

IV* 


1^         Einleitung,   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

welche  Art  von  Sein  kommt  der  mit  Seele  bezeichneten 
Einheit  zu?  Und  hier,  bei  dem  positiven  Problem,  hellt 
sich  nun  die  Rede  der  Erkenntnistheorie  von  Wesen,  Ideen 
und  der  Beziehung  der  Subjektivität  auf  sie  auf.  Wir 
entwickeln  diese  Darlegung  in  ihrem  eigenen  Zusammen- 
hang 1). 

Lotze  unterscheidet  drei  Bedeutungen  des  Ausdrucks 
Ich:  „gefühltes  Selbst",  Selbstbewußtsein  und  Seele.  Sie 
ordnen  sich  in  einen  Stufengang  zu  dem  Inhalt  hin,  der 
„den  Begriff  des  Ich  erfüllt".  Das  „Gefühl  der  Ichheit"  oder 
„Selbstheit"  ist  das  elementare  Phänomen;  es  reicht  ins 
animalische  Leben  hinab  und  ist  charakterisiert  durch  die 
innige  „Energie  der  Zweckbeziehung"  gewisser  erlebter 
Inhalte  auf  uns  selbst;  der  Unterschied  von  Ich  und  Nicht- 
Ich  kann  primär  nur  im  Gefühl  gegeben  sein,  kein  rein 
vorstellendes,  bloß  objektivierendes  Wesen  könnte  ihn  ge- 
winnen; er  ist  undeutlich,  aber  „im  Gefühl  evident"  2). 
„Hierzu  reichen  einfache  sinnliche  Gefühle  ebenso  aus  wie 
jene  feiner  gegliederten  intellektuellen,  durch  welche  ent- 

den  Ursachen  aus,  die  Seele  muß  als  eine  Unbekannte  miteingestellt 
werden,  aber  strenger  Kausalzusammenhang  bleibt  denkbar:  ,,jede 
Empfindung  als  ein  umgeformtes  Äquivalent  der  Wirkungsgröße  zu 
betrachten,  die  vorher  in  Gestalt  einer  Bewegung  vorhanden  war,  jede 
Kontraktion  eines  Muskels  als  ein  Äquivalent  der  Erregung,  die  in 
der  Form  eines  psych.  Strebungsprozesses  voranging."  Nur  als  vor- 
sichtige Beschränkung  auf  das  derzeit  Beantwortbare  legt  er  die 
positivistische  Fragestellung  (nach  den  gesetzlichen  Abhängigkeitver- 
hältnissen) zugrunde,  die  er  als  „occasionalisiische  Theorie  des  physisch- 
psych.  Mechanismus  bezeichnet.     (Medizin  Ps.  S.   15). 

1)  Mediz.  Psych.  S.  494—504.  4ff.,  57  ff.,  160 f.,  136—164,  535 f. 
Vgl  Abh.  Seele  usf.  Kl.  Schriften  n  123—135.  Mikr.  1 278f.,  II  146f.  u.  a. 

^)  Vorangegangen  waren  Lotze  hierin  die  Analysen  des  Glaubens 
an  die  Außen-Realität  bei  den  französ.  Ideologen  Destutt  de  Tracy 
und  Maine  de  Biran.  Vgl.  dann  Dilthey,  Vom  Ursprung  unseres 
Glaubens  an  die  Realität  usf.  Sitzgeber.  Berl.  Akad.   1890. 

Lotze  lehnt  dem  entsprechend  die  „veraltete  Annahme"  einer 
Projektion  der  Empfindimgen  ab,  die  dann  wieder  nach  20  Jahren 
in  den  Anfängen  der  Kantbewegimg  von  Helmholtz  und  Schopenhauer 
her  bis  zu  Liebmann  hin  eine  Hauptrolle  spielte,  um  Kants  Be- 
gründung der  Wirklichkeit  auf  das  Kausalgesetz  zu  erreichen.  — 
„Ursprünglich  sind  sie  alle,  Empfindungen  sowohl  wie  Gefühle,  nur 
mit  ihrem  qualitativen  Inhalt  im  Bewußtsein  und  geben  sich  weder 
subjektiv  noch  objektiv,  d.  h.  sie  werden  immittelbar  weder  auf 
äußere  Objekte  bezogen  noch  auch  im  Gegensatz  zu  dieser  Beziehung 
als  Bestimmungen  des  subjektiven  Daseins  wahrgenommen."  Med. 
Psych.  S.  282  u.  418  vgl.  KL  Sehr.  II  S.   129. 


Phänomenologie  des  Selbstbewußtseins.  LHOL 

wickelte  Geister  zugleich  den  Wert  und  das  eigentümliche 
Verdienst  ihrer  Persönlichkeit  sich  zur  Anschauung  bringen. 
Der  geringste  Wurm,  wenn  er  getreten  sich  krümmt,  unter- 
scheidet im  Schmerze  sein  eigenes  Leben  von  dem  Dasein, 
der  übrigen  Welt  in  ebenso  kraftvoller  Weise  als  der  ge- 
bildete Geist."  Von  dieser  atomistischen  Vergeistigung 
physiologischer  Prozesse  geht  es  über  die  musikalische 
Form  des  Selbstgefühls,  mit  der  eine  Pflanzenseele  der 
Melodie  ihres  Daseins  lauschen  würde,  und  über  das 
Sichfühlen  in  Instinkten,  im  Banne  unüberwindlicher 
Traumideen,  zu  dem  reflektierten  Selbstbewußtsein,  der 
Ich-Vorstellung.  Das  Selbstbewußtsein  „ist  nur  eine 
theoretische  Ausdeutung  des  Selbstgefühls".  Lotze  hebt 
heraus,  daß  dieser  Fortgang  erst  durch  die  Einheit  des  Be- 
wußtseins ermöglicht  wird.  Aber  der  Aufbau  von  den 
emotionalen  Erlebnissen  aus  trägt  nun  die  Frucht,  daß 
diese  ,Bedingung  der  Möglichkeit*  vor  der  Intellektuali- 
sierung  zu  einer  reinen  Form  bewahrt  wird  —  „das  Selbst- 
bewußtsein ist  keine  Tatsache  des  bloßen  Erkenntnislebens" 
—  und  vielmehr  als  seelischer  Zusammenhang  sich  dar- 
stellt, der  die  erlebten  Inhalte  in  ihrer  Bedeutsamkeit  ge- 
nießen läßt.  Die  „Begründung  und  Festhaltung  des  Selbst- 
bewußtseins" ist  bedingt  durch  den  „ununterbrochenen 
gleichmäßigen  Strom  der  Teilnahme  an  uns  selbst,  in 
welchen  uns  die  stets  mit  Empfindungen  und  Vorstel- 
lungen sich  verknüpfenden  leisesten  Regungen  des  Ge- 
fühls hineinziehen".  Die  theoretische  Ausdeutung,  die  dieser 
seelische  Zusammenhang  in  der  Ichvorstellung  erfährt,  ist 
selber  wiederum  nur  ein  Phänomen  im  Subjekt,  ein  Bild, 
das  die  Seele  von  sich  faßt,  also  nicht  die  Seele  selber, 
diese  ist  vielmehr  das  mit  der  Ichvorstellung  Gemeinte. 
Es  fragt  sich,  ob  das  Bild  auch  wirklich  das  darstellt,  was 
wir  mit  dem  Namen  Ich  zu  bezeichnen  meinen:  das 
Wesen   der   Seele. 

Dies  zu  beantworten,  dient  die  Methode  einer  be- 
grifflichen Aufklärung  der  Vorstellungen,  wie  in  der  On- 
tologie  für  das  mit  Sein  Gemeinte.  Und  diese  dialektische 
Methode  wird  wieder  .ergänzt  durch  den  Blick  auf  die  tat- 
sächlich vorhandenen,  in  Leben  und  Wissenschaft  ausge- 
bildeten Ichvorstellungen.  Sie  ordnen  sich  nach  dem  Grade 
der  Verinnerlichung.  Lotze  geht  hier  analog  vor  wie  die 
Neueren,  die  durch  schrittweise  Abstraktion  von  allem,  was 
als  Objekt  vorgestellt  werden  kann,  den  Grenzbegriff  des 
erkenntnistheoretischen  Subjekts  gewinnen  —  nur  daß  er 


jLIV        Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

eben  dieses  reine  Ich  nicht  als  den  wahren  Schlußpunkt  der 
Aufklärung  gelten  läßt.  Als  Ichvorstellung  dienen  stufen- 
weis und  dann  sich  gabelnd:  das  Bild  des  umgrenzenden 
Leibes,  der  Leib  mit  einer  Seele  als  ein  dunkler  Mittel- 
punkt der  Erlebnisse,  die  psychologisch-historische  Indi- 
vidualität mit  der  Einreihung  der  Ereignisse  in  die  Lebens- 
geschichte; dann  der  Allgemeinbegriff  der  denkenden  Sub- 
stanz und  diesem  theoretischen  wie  jenem  empirischen 
Inhalt  gegenüber  der  nur  im  Gefühl  erfaßbare  des 
„ästhetischen  Charakters"  (Temperament,  Phantasieform 
usf.).  Und  das  Suchen  nach  dem  wahren  Selbst  ruht 
nicht,  bis  alles  was  „zwar  etwas  im  Ich,  aber  nicht  das 
Ich  selbst  ist",  abgetan  ist.  „So  entsteht  die  abenteuer- 
liche Sucht,  das  Ich  als  vollkommen  bestimmun  gs los  von 
Natur,  als  bestimmt  nur  durch  seine  eigene  freie  Tat  zu 
denken."  Hier  greift  die  Aufklärung  ein.  Die  verschiedenen 
Motive,  die  sich  bei  dieser  inhaltlichen  Variation  des 
Selbstbewußtseins  durchkreuzen,  müssen  festgehalten 
werden,  die  Frage  nach  der  spezifischen  Natur  der  In- 
dividualität darf  nicht  der  Frage  nach  der  allgemeinen 
Natur  der  Seele  geopfert  werden.  Lotze  steht  hier  wieder 
auf  dem  Boden  der  Deutschen  Bewegung,  von  Goethe 
her,  wie  er  denn  auch  in  dem  ersten  Programm  seiner 
Psychologie  unter  ihre  Aufgaben  aufnahm :  „Eine  Psycho- 
logie der  Individualitäten,  die  bisher  den  Werken  der 
Dichter    überlassen    blieb".  ^) 

Die  Individualität  kann  als  Moment  in  den  Begriff 
der  Seele  aufgenommen  werden,  weil  dieser,  sofern  er  ein 
Allgemeines  bezeichnet,  nur  ein  ,phänomenologischer*  Aus- 
druck ist:  er  hält  sich  an  das  Vorhandensein  eines 
Wesens,  ohne  es  zu  bestimmen,  er  faßt  nur  dessen  stabile 
Leistungen  an  Inhalten  (die  sog.  Seelenvermögen)  und 
die  von  ihm  bestimmten  „allgemeinen  Formen  der  Schick- 
sale" von  Inhalten  (z.  B.  die  konkreten  Gesetze  des  Ge- 
dächtnisses) in  einer  Nominaldefinition  zusammen.  So 
dient  dieser  erste  Seelenbegriff  nur  als  Ausgangspunkt, 
um  ;z;u  einem  inhaltvollen,  konkreten  Begriff,  der  das  Wesen 
faßt,  vorzudringen.  Und  hier  benutzt  nun  Lotze  die  damals 
geläufige  Unterscheidung  von  Seele  und  Geist:  d.  h. 
„die  3eele  abgesehen  von  dem  Inhalt  ihrer  Erfahrung 
und  dieselbe  Seele,  wie  sie  durch  das  Leben  zu  einem 
ihrer  Bestimmung  entsprechenden  Inhalt  des  Wissens,  Füh- 

1)  Kleine  Schriften  II  204  (1846). 


Phänomenologie  des  Selbstbewußtseins.  LV 

lens,  Wollens  gelangt  ist".  Gegen  die  Ansicht  von  den 
Seelen  als  „ii^haltloser  Befestigungspunkte,  an  die  die 
öden  und  allgemeinen  Fähigkeiten  einer  richtungs- 
losen Intelligenz  und  eines  gegenstandslosen  Wol- 
lens angehängt  sind",  kehrt  sich  die  Einsicht,  daß  „alle 
Verbindung  und  Umgestaltung  der  Eindrücke  wesentlich 
unter  der  Herrschaft  von  inhaltvollen  Gedankenkreisen,  Ver- 
stellungsmassen und  Maximen  geschieht,  in  denen  eine 
mannigfaltige  Anwendung  jener  allgemeinen  und  abstrakten 
Fähigkeiten  auf  bestimmten  und  konkreten  Inhalt  bereits 
enthalten  ist".  Diese  Erkenntnis  wurde  entscheidend  für 
seine  Begründung  der  Wertlehre.  Es  ist  dieselbe  Einsicht, 
die  alsbald  von  den  Begründern  der  Zeitschrift  für  Völker- 
psychologie entwickelt  wurde,  die  Vertiefung  von  Her- 
bart's  Apperzeptionslehre  durch  die  historische  Fülle  des 
Geistigen,  die  von  der  Deutschen  Bewegung  bis  zu  Hum- 
boldt hin  gesehen  worden  war.  Die  Zustände,  die  inner- 
halb des  seelischen  Zusammenhangs  auftreten,  können  nicht 
analytisch  aus  deti  Vorzuständen  abgeleitet  werden,  son- 
dern stets  muß  von  neuem  das  ganze  Wesen  der  Seele  in 
Rechnung  gezogen  werden.  Ihre  Inhaltlichkeit  wächst  ihr 
nicht  rein  aus  den  Empfindungen  zu,  sondern  ist  mitbe- 
dingt durch  die  „unmittelbare  Tiefe  unserer  geistigen  Natur", 
auf  der  die  logischen  und  metaphysischen  Grundsätze,  die 
ästhetischen  Gefühle  und  das  Bewußtsein  ethischer  Ver- 
pflichtungen beruhen.  Und  zu  dieser  inhaltvollen  Natur 
gehört  die  Individualität  als  ein  „spezifischer  Koeffizient"; 
sie  geht  nicht  in  der  physiologisch  bedingten  individuellen 
Verbindungs-  und  Sukzessionsform  von  Reizen  auf. 

Damit  ist  der  Punkt  erreicht,  wo  die  Fragen  der 
Erkenntnistheorie  beginnen.  Der  individuelle  Geist  ist  ein 
Wesen  von  „idealem  Gehalt",  aber  hat  Realität.  „Die 
Seele  ist  ideal  in  Bezug  auf  die  Natur  ihres  Gehalts, 
und  im  Gegensatz  zum  Materialen,  nicht  in  Bezug  auf  die 
Form  ihres  Daseins."  So  unterscheidet  er  sie  von  den 
Ideen,  die  auch  ihrem  Dasein  nach  ideal  sind,  also  ideal 
grade  im  Gegensatz  zur  Realität,  „auf  die  sie  deshalb 
unmittelbar  kein  bewegendes  Moment  ausüben".  Die  realen 
geistigen  Einheiten  dagegen  sind  Mittelpunkte  von  Wir- 
kungen; sie  werden  erfaßt  unter  der  logischen  Form  der 
Idee  oder  des  , Gedankens*,  unter  dieser  bestimmten  Form 
von   Wesensbegriffen,!)    die    das    Bildungsgesetz    veränder- 

1)  Vgl.  diese  Logik  §  129  u.  a. 


LVI         Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

lieber  Gestaltungen,  „den  beständigen  Sinn  eines  Ge- 
scbebens"  ausdrücken,  aber  sie  sind  nicht  selber  Gedanken, 
sondern   „das    was    dieser   Gedanke   meint".  2j 

Und  hier  greift  nun  die  Unterscheidung  des  unmittel- 
baren Wissens  vom  Wesen  und  der  Erkenntnis  durch  Re- 
lationen, der  cognitio  rei  und  circa  rem  ein.  In  Lotze's 
psychologischen  Arbeiten  steht  neben  den  verschiedenen 
Ansätzen  —  dem  Verhältnis  der  Psychologie  zur  Natur- 
wissenschaft, der  Abwehr  des  Materialismus  —  an  erster 
Stelle  regelmäßig  das  Verhältnis  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  zu  der  im  Leben,  in  Dichtung  usf.  vor- 
handenen Seelenkenntnis.  Durch  diese  ist  ein  „Verstehen" 
verbürgt,  das  cogitio  rei  gibt.  Der  Unterschied  ist  durch 
die  verschiedene  Stellung  des  Objekts  zu  uns  bedingt. 
Auf  die  Relations-Erkenntnis,  wie  sie  in  der  Natur- 
wissenschaft ausgebildet  ist,  sind  wir  beschränkt,  „wo 
unserer  Wahrnehmung  ein  Objekt  bloß  in  seinem  äußer- 
lichen Verhalten  gegenübersteht";  sie  ermöglicht  zwar,  den 
Sinn,  in  welchem  der  Gegenstand  als  seiend  gesetzt  werden 
muß,  genau  zu  bestimmen,  durch  Einordnung  in  ein  helles 
Netz  von  Relationen  nach  Gesetzen,  die  eine  Voraussage 
ermöglichen,  aber  sie  gibt  auch  nur  formale  Beziehungen, 
„was  wir  nicht  richtig  das  Wesen  der  Sache  nennen"  — 
das  Materielle  ist  für  uns  stets  eine  fremdartige  Larve. 
„Von  einer  cognitio  rei  kann  nur  die  Rede  sein,  wo  ein 
Objekt  uns  in  so  unmittelbarer  Anschauung  gegeben  ist, 
daß  wir  den  Mittelpunkt  seiner  eigentümlichen  Natur  in 
unser  Gefühl  gleich  sehr  wie  in  unsere  Vorstellungen 
aufnehmen  können,  daß  wir  uns  in  sie  hineinzuversetzen 
und  nachzuempfinden  wissen,  wie  einem  solchen  Dasein 
vermöge  seines  innerlichsten  spezifischen  Wesens  zumute 
sein  muß.  Eine  positive  und  unmittelbare  Anschauung 
haben  wir  nur  von  dem  Lebendigen  und  Tätigen,  dies 
allein  verstehen  wir."  Was  vom  geistigen  Leben  so  er- 
faßt wird,  ist  „der  eigentliche  Sinn  und  Wert"  desselben, 
sein  idealer  Gehalt,  die  Idee  oder  „der  Gedanke".  Das 
Organ  dieses  Verstehens  ist  die  Phantasie.  Sie  „ist  die 
bewegliche  Urteilskraft  des  Gefühls,  die  nicht  wie  das 
gleichgiltige  Erkennen  nur  die  Tatbestände  von  Eigen- 
schaften, Verhältnissen  und  Beziehungen  auffaßt,  sondern 
in  jedem  dieser  Gegenstände  ihres  Schauens  zugleich  seinen 
Wert  mitempfindet,  in  jeder  Form  überhaupt  das  Glück  und 

1)  Vgl.  Mikr.  II  S.   166  ff. 


Cognitio  rei  und  circa  rem.  LVII 

Leid  der  Regsamkeit,  welcher  sie  natürlich  ist,  unmittelbar 
gegenwärtig  fühlt",  i)  Und  Lotze  bereits  macht  an  den 
idealistischen  Systemen  klar,  daß  dieser  „vollkommen 
schneidende  Unterschied  zwischen  einer  idealen  Ausdeutung 
des  Wertes  der  Wirklichkeit  und  einer  kausalen  Unter- 
suchung ihrer  Bedingungen"  zu  lange  namentlich  in 
Deutschland   übersehen   wurde. 

Aber  nun  kommt  seine  eigentümliche  Wendung,  mit 
der  er  dem  Wissenschaftsbegrifi"  der  Naturerkenntnis  und 
damit  zugleich  der  spekulativen  Geistesverfassung  Tribut 
zahlt  —  was  beides  auch  heute  dort  zusammengeht,  wo 
die  Psychologie  ganz  dem  naturwissenscha'ftlichen  Be- 
triebe überantwortet  und  in  der  Philosophie  Raum  ge- 
wonnen wird  für  das  Bauen.  Lotze's  klarer  Gang  bis 
zum  Begriff  des  Verstehens  läuft  nach  diesen  zwei  Rich- 
tungen hin  aus :  zur  physiologischen  Psychologie  und 
zu  spiritualistischer  Metaphysik.  Er  folgert:  weil  uns  von 
dem  idealen  Gehalt  des  seelischen  Lebens  nichts  entgeht 
als  durchaus  unfaßbar,  sei  unglaublich,  „daß  jemals  eine 
Psychologie  uns  in  dieser  Beziehung  einen  Zuwachs  der 
Erkenntnis  verschaffen  könnte".  Jene  ,Urteilskraft'  der 
Phantasie  behält  auch  bei  ihm  nur  ästhetische  Bedeutung, 
sie  ist  nicht  für  die  Wissenschaft  zu  disziplinieren,  sondern 
um  zu  einer  wissenschaftlichen  Psychologie  zu  kommen, 
muß  gerade  die  cognitio  circa  rem  auch  für  das  Seelen- 
leben möglich  gemacht  werden.  So  sieht  er  hier  nur  das 
methodologische  Problem  2):  die  geistige  Realität,  deren 
Wesenhaftigkeit  im  Verstehen  aufgeht,  nun  ihrem  Dasein 
nach  auch  formal  zu  bestimmen,  also  einen  brauchbaren 
Begriff  von  der  Seele  nach  der  Art  des  naturwissenschaft- 
lichen Seinsbegriffs  festzustellen  und  damit  die  Beziehungs- 
punkte zu  gewinnen  für  die  Erforschung  des  „Mechanismus 
ihres  Verkehrs  mit  allen  übrigen  Bestandteilen  der  Welt". 
Nur  eine  solche  kausal  erklärende  Theorie  ist  Wissenschaft.; 
sie  allein  ist  gemeint,  wenn  Pädagogik  oder  Psychiatrie 
nach  psychologischen  Grundlagen  verlangen. 

Und  die  Kehrseite?  Die  logische  Struktur  des  Ver- 
stehens von  Geistigem  tritt  zwar  heraus,  aber  wird  sofort  als 
metaphysischer  Weltzusammenhang  gefaßt.  Die  realen  Ein- 
heiten geistigen  Gehalts,  Gehalt  und  Formen  des  seelischen 
Lebens  sind  nicht  in  ihrer  Eigenbedeutung  in  sich  selbst 


1)  Kl.  Sehr.  III  S.  305  (in  e.  Rezension). 

2)  Mediz.  Psych.  S.  60,  67,  169. 


LVIII     Einleitung    III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

zu  erforschen  —  das  hieße,  sie  als  primitive  Sachlichkeit 
hinnehmen  — ,  sondern  müssen  von  einem  absolut  wert- 
vollen Inhalt  aus  verstanden  werden,  der  sich  notwendig 
in  psychischen  Formen  verwirklicht,  aber  selber  jenseits 
der  geistigen  Realität  liegt  als  „eine  noch  weit  innerlichere 
Wahrheit,  die  der  Geist  an  der  Umgebung  des  irdischen 
Lebens  zu  bewähren  strebt".  So  nimmt  der  Sachverhalt, 
daß  alles  Geistige  aus  einem  Ganzen  übergreifender  Zu- 
sammenhänge zu  verstehen  ist  —  oder,  anders  gewandt :  daß 
das  Individuum  erst  durch  seine  objektive  Bedeutsamkeit 
innerhalb  des  Ganzen,  in  das  seine  Lebensäußerungen  ver- 
flochten sind,  dauernde  Gestalt  als  individueller  Geist  hat 
—  dieser  Sachverhalt  nimmt  die  spekulative  Form  an:  die 
Seelen  sind  nur  relativ  reale  Gestalten  der  absoluten  ewigen 
Idee,  die  den  Sinn  des  Weltzusammenhangs  bestimmt,  und 
ihre  Realität  ist  verschieden  intensiv  nach  dem  Grade  dor 
Bedeutung,  die  sie  als  wesentliche  Glieder  der  Entwicklung 
der  Idee  gewonnen  haben.  Das  teleologisrhp  Verhältnis 
des  Idealen  zum  Realen  kann  er  nun  auch  direkt  theologisch 
ausdrücken  mit  der  Rede  von  der  Gnade  der  höchsten  Idee, 
deren  Auftrag  die  Seelen  zu  erfüllen  haben.  Es  ist  hierin 
Konsequenz.  Den  idealen  Gehalt  der  geistigen  Wirk- 
lichkeit samt  den  Genuß  dieses  Gehalts  erkennt  er  als  etwas 
wahrhaft  Wertvolles  an;  die  Realität  des  Geistigen  aber 
ist  nun  in  die  Relativität  hinabgezogen:  so  muß  er  für  den 
geistigen  Gehalt  als  solchen  eine  Existenzform  finden,  und 
da  doch  Gedankliches  nur  als  Gedachtes  existieren  kann, 
endet  er  bei  dem  schaffenden  Weltgeist  und  den  „Gedanken, 
die  er  hegte".  Also  einfach  bei  neuplatonisch-christlicher 
Metaphysik.  Doch  behält  er  auch  inmitten  der  Spekulation 
seinen  Blick  und  sagt  mit  Goethe:  „Die  Seele  ist  ein 
Moment  der  Idee,  dessen  Inhalt  nicht  in  der  Form  einer 
Jiomogenen  Qualität,  sondern  in  der  eines  Gedankens  ge- 
faßt werden  muß,  der  gleich  dem  Geiste  der  Melodie  eine 
Einheit  bildet,  obgleich  er  vielleicht  für  kein  Erkennen 
anders  als  durch  eine  Mannigfaltigkeit  verbundener  Be- 
stimmungen erschöpfbar  ist". 

Wo  der  Wissenschaft  der  Beruf  abgesprochen  wird,  in 
die  geistige  Wirklichkeit  einzudringen,  wird  immer,  sofern 
nicht  der  Positivismus  allmächtig  ist,  aber  auch  bei  dem 
besten  Vertreter  des  Positivismus,  bei  Comte  selber,  an  die 
Kunst  appelliert,  damit  sie  den  Mangel  decke.  So  geht  I/otze*s 
vorhin  angeführter  Satz  über  die  werterfassende  Phantasie 
weiter   fort :   „In    dieser  Phantasie   werden   die    \\  erke  der 


.     Die  Geschichtsphilosophie  des  Mikrokosmos.  LIX 

Kunst  geboren,  welche  die  Welt  der  Werte  in  die 
Welt  der  Formen  einführen,  und  sie  ist  ebenso  das 
Organ  des  Verständnisses,  durch  das  wir  allein  die  äußer- 
lichen Formen,  mit  denen  alle  Kunst  spielt,  auf  jenes  in- 
tensive Reich  zurückzuführen  vermögen,  in  welchem  unser 
eigenes  Wesen  seine  wahre  Heimat  hat." 

Oeschichtsphilosophie. 

Ganz  analog  läuft  nun  auch  die  Philosophie  der 
Geschichte  aus,  mit  der  der  ,Mikrokosmos'  den  Gang 
von  der  Biologie  zur  Psychologie  vollendete.  Die  Geschichte 
brachte  damals,  wo  in  Deutschland  die  anthropologische 
Einstellung  über  Hegel's  Objektivismus  siegte  und  von  Frank- 
reich und  England  die  Versuche  ausgingen,  das  geistige 
Leben  mit  der  positivistischen  Theorie  zu  bewältigen,  allent- 
halben den  Bemühungen  um  eine  wissenschaftliche  Psycho- 
logie neue  Nahrung  mit  ihrem  reichen  Stoff.  Lotze  konnte 
seiner  ganzen  wissenschaftlichen  Verfassung  nach  gerade 
auch  die  naturalistisch-psychologische  Behandlung  der  Ge- 
schichte schätzen,  er  nimmt  die  Tendenz  zu  einer  Mechanik 
der  Gesellschaft  von  Herbart  her  auf,  aber  zugleich  stellt 
er  sich  ihr  prinzipiell  entgegen,  in  den  Spuren  von  Herder, 
mit  seinem  Begriff  von  Sinn  und  Wert.  So  kehrt  denn, 
das  Heterogene  zu  verbinden,  sein  Grundgedanke  über  das 
Verhältnis  von  Mechanismus  und  Teleologie  hier  wieder 
oder  findet  sich  vielmehr  hier  nun  auf  seinem  eigent- 
lichsten Feld.  Denn  der  ideale  Gehalt  des  Lebens,  den  die 
Metaphysik  mit  ihrem  Begriff  der  Wertverwirklichung  for- 
derte und  dessen  Realität  die  Psychologie  nachwies,  wird 
seiner  Inhaltlichkeit  nach  erst  in  der  Geschichte  sichtbar. 
Geschichte  aber  könnte  nicht  wirklich  sein  ohne  die  psycho- 
physischen  Bedingungen  (denn  Geschichte  ist  nicht  im- 
manente Selbstentwicklung  des  Geistes);  sie  spielen  die 
Rolle,  die  nach  der  Ontologie  dem  Kausalzusammenhang 
-der  Natur  als  einem  Haushalt  größten  Stils  zukam :  die 
eigentümliche  Art  der  Erfüllung,  welche  das  Seinsollendc 
,auf  unserem  Planeten   findet,  mitzubestimmen. 

Er  wendet  sich  also  von  der  Psychologie  zur  Geschichte 
auf  Grund  der  Einsicht,  daß  es  schwerlich  gelingen  werde, 
„die  still  fortwirkenden  Antriebe  unserer  tiefsten  Natur 
anderswo  deutlich  zu  gewahren,  als  in  den  größeren  Er- 
folgen, welche  sie  im  Ganzen  der  menschlichen  Bildung, 
wie  sie  im  Laufe  der  Geschichte  sich  entfaltet  hat,  hervor- 
gebracht  haben".     Und    so   breitet   sich    im   Mikrokosmos 


LX  Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

erst  die  Lehre  vom  Geiste  eigentlich  aus.  Er  studiert 
die  ganze  Breite  der  Kultur  von  Sprache  und  Geselligkeit 
an  als  Lebensäußerungen  eines  Geistigen,  er  stellt  als  den 
durchgreifenden  und  entscheidenden  Zug  die  Richtung  des 
Menschen  auf  den  „Aufbau  eines  geistigen  Universums'* 
fest.  „Der  menschliche  Geist  baute  über  der  greifbaren 
sinnlichen  Welt  des  tatsächlich  Vorhandenen  die  nicht 
minder  reiche  Gliederung  einer  Welt  von  Verhältnissen  auf, 
die  dasein  sollen,  weil  ihr  eigener  ewiger  Wert  ihre  Ver- 
wirklichung gebietet".  Lotze  braucht  den  Hegeischen  Spott 
über  das  Seinsollen,  das  immer  soll  und  nie  ist,  nicht  zu 
fürchten;  denn  die  Ideale  erhalten  und  haben  nur  Wirk* 
lichkeit  „in  dem  Körper  bestimmter  Verhältnisse"  —  wie 
das  Kunstwerk  nicht  als  Konzeption,  sondern  nur  als  Ge- 
bilde ist.  „Wir  denken  nicht  bloß  diskursiv,  sondern  leben 
auch  so." 

Aber  die  vor  ihm  liegende  Aufgabe,  nun  die  geistige 
Welt  in  ihrer  objektiven  Gliederung  sichtbar  zu  machen, 
ergreift  er  nicht,  trotz  seiner  Schulung  in  Hegel.  Sondern 
er  teilt  wieder  die  Aufgaben  so  ab,  daß  die  Wissenschaft, 
die  auf  Objektivität  zielt,  von  der  Philosophie  gesondert 
wird,  für  die  dann  nur  die  spekulative  Verwertung  des 
Gehalts  der  Geschichte  für  die  Weltansicht  des  Gemüts 
übrig  bleibt.  Also  er  sieht  die  Notwendigkeit,  in  der  Ge- 
schichte zur  Objektivität  zu  kommen,  nicht  bloß  „anschau- 
liche Bilder  von  dem  Aussehen  einzelner  geschichtlicher 
Entwicklungsstufen  und  ihrer  Reihenfolge  zu  erhalten,  son- 
dern" —  Regeln  zur  Vorausberechnung.  Und  diesem  ein- 
seitig positivistischen  Begriff  von  historischer  Objektivität 
entspricht  es,  daß  er  nur  durch  naturwissenschaftlich  er- 
klärende Theorie  das  Desiderat  erfüllbar  findet.  „Eine 
Mechanik  der  Gesellschaft  täte  uns  not,  welche  die  Psycho- 
logie über  die  Grenzen  des  Individuums  erweiterte  und 
den  Gang,  die  Bedingungen  und  die  Erfolge  der  Wechsel- 
wirkungen kennen  lehrte,  die  zwischen  den  inneren  Zu- 
ständen vieler  durch  natürliche  und  gesellige  Verhältnisse 
verknüpften  Einzelnen  stattfinden  müssen."  Seine  eigene, 
philosophische  Betrachtung  aber  verbleibt  bei  einem  Ge- 
schichtsgemälde. Er  sieht  in  der  Geschichte  der  verschie- 
denen Kultursysteme  wie  auf  einer  Ebene  ausgebreitet  in 
mannigfachen  Formen  Äußerungen  des  Bewußtseins  der 
Menschen  von  der  Bedeutung  des  Lebens  im  Zusammen- 
hang der  Welt.  Im  Grunde  monoton,  umkreisen  sie  in 
stetiger  Bewegung  die  ewigen  Rätsel,  in  deren  Mittelpunkt 


Geschichtsphilosophie.    Wertlehre.  LXJ 

das  Verhältnis  von  Werten,  Gesetzen  und  Wirklichkeit  steht. 
Das  bloße  Denken  arbeitet  sich  vergeblich  an  ihnen  ab, 
die  Menschheit  ist  seit  ihren  ersten  Schritten  zur  Aus- 
bildung einer  Weltansicht  nicht  wesentlich  weitergekommen. 
Es  bleibt  nur  die  Möglichkeit,  die  Ideen,  zu  denen  sich  die 
„Stellungen  des  menschlichen  Bewußtseins  der  Wirklichkeit 
gegenüber"  abgeklärt  haben,  zu  verknüpfen.  Ein  solcher 
Versuch  kann  zwar,  sofern  er  über  die  formalen  Bestim- 
mungen der  Ontologie  hinausgeht,  keinen  Anspruch  auf 
Wissenschaftlichkeit  machen,  aber  kann  dafür  auf  dem 
breiten  Boden  der  religiösen  Überzeugungen  fußen.  So 
rechtfertigt  er,  wie  man  das  seit  Hegel  und  Comte  allgemein 
tat,  seine  eigene  Richtung  mit  Hilfe  der  Geschichte.  „Die 
Betrachtung  des  ganzen  Lebens  wird  immer  zu  einem  re- 
ligiösen Glauben  führen,  in  dessen  Evidenz  und  nicht  in  den 
theoretischen  Überzeugungen  der  eigentliche  Grund  aller 
Gewißheit  liegt."  Und  das  Gemälde  der  Universalgeschichte 
zeigt,  daß  das  Denken  immer  nur  das  nachkommende  Organ 
war,  das  den  erlebten  Sinn  der  Wirklichkeit  in  einen  ob- 
jektiven Zusammenhang  bringt.  Nachdem  das  wissenschaft- 
liche Denken  die  lebendige  mythenbildende  Phantasie  dis- 
zipliniert hat,  darf  und  muß  es  sich  selber  wieder  darauf 
besinnen,  daß  das,  was  von  ihm  gelenkt  werden  soll,  mehr 
ist  als  es  selber.  Das  Christentum  soll  auch  in  der  Philo- 
sophie über  die  Griechen  siegen.  — 

Die  Wertlehre  und  der  Entwicklungsgang  Lotze's. 

Lotze's  subjektiver  Idealismus  versperrte  seiner  Ge- 
schichtsphilosophie den  Weg  zu  dem  Begriff  des  objektiven 
Geistes,  der  damals,  nachdem  Hegel's  System  aufgelöst  war, 
innerhalb  des  Gedankenkreises  der  Völkerpsychologie  wieder- 
gewonnen wurde.  Aber  anderseits  eröffnet  dieser  Stand- 
punkt, wie  er  ihm  den  Blick  für  den  gefühlsmäßigen  Zu- 
sammenhang und  die  willentliche  Lebendigkeit  des  Seeli- 
schen gab,  nun,  da  er  empirisch  basiert  werden  soll,  einen 
andern  wissenschaftlichen  Weg,  abseits  von  der  Gesell- 
schaftsmechanik :  die  W  e  r  1 1  e  h  r  e.  Der  Ausdruck  Wert, 
praktischer,  ästhetischer,  moralischer,  religiöser  Wert,  ge- 
hört neben  der  Rede  von  der  Wechselwirkung  zu  den 
häufigsten  in  allen  Schriften  Lotze's  i)  und  ist  hauptsächlich 
von  ihm  aus  zu  der  Vorherrschaft  gekommen,  die  er  heute 
im  wissenschaftlichen  Sprachgebrauch  genießt.     Auch  hier 

*)  Für  die  Kleinen  Schriften  s.  das  Sachregister  von  Peipers. 


LXII       Einleitung.    111.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

stand  ursprünglich  die  moralisch-religiöse  Spekulation  da- 
hinter, wie  denn  in  der  Theologie  der  nachkantischen  Gene- 
ration eine  der  Hauptquellen  der  Lehre  von  den  Wert- 
urteilen lag.  Auch  hier  finden  wir  eine  Entwicklung,  die 
das  spekulative  Moment  zurückdrängte.  Und  wir  wollen 
diesen  Gan^  verfolgen,  um  eine  Vorstellung  von  den 
Leistungen  zu  geben,  deren  Durchführung  dem  nicht  mehr 
geschriebenen  dritten  Teil  seines  Systems  vorbehalten  war. 

Den  Anfang  gibt  die  Psychologie,  die  die  Befreiung 
von  Herbart's  Intellektualismus  brachte.  „Unser  Gedanken- 
lauf richtet  sich  beständig  nach  dem  Interesse,  das  wir 
an  den  Vorstellungen  nehmen."  „Das  Sittliche  beruht  auf 
diesem  Grunde  des  Gefühls,  das  weit  eigentümlicher  als  die 
Erkenntnis  die  wahre  Natur  des  Geistes  kennzeichnet."  Für 
praktische  Vernunft  sagt  Lotze  „wertempfindende  Ver- 
nunft" :  sie  ist  es,  die  in  der  Weltansicht  über  die  bloßen 
Denkmöglichkeiten  hinausbringt,  vyeil  sie  zu  dem  logischen 
Prinzip  der  Widerspruchlosigkeit  die  Gewißheit  von  der 
Unmöglichkeit  des  Absurden  fügt.  Von  der  „Urteilskraft  des 
Gefühls",  in  der  die  Werte  erfaßt  werden,  hörten  wir  ihn 
schon  reden.  Daß  der  Genuß  der  Werte  im  Gefühl  sach- 
lich-notwendig mit  ihrem  Begriff  verknüpft  ist,  ist  einer 
seiner  Hauptsätze.  Aber  gerade  bei  diesem  psychologischen 
Anfang  erhebt  sich  die  eigentliche  philosophische  Schwierig- 
keit: Wie  kommt  Lotze  über  den  Subjektivismus  hinaus, 
dem  die  Philosophie  scheinbar  verfallen  ist,  wo  das  Gefühl 
an  der  Grundlegung  beteiligt  wird?  Er  mußte  aus  ihm 
herausstreben,  als  Philosoph  überhaupt,  aber  auch  als 
Wissenschaftler  jener  Zeitlage:  die  Einführung  des  Zweck- 
gedankens, die  damals  verschiedentlich,  wenn  auch  zu* 
nächst  noch  isoliert  in  einzelnen  Geisteswissenschaften  wie 
Jurisprudenz  oder  Ästhetik,  vollzogen  wurde,  hatte  ja  ihren 
Sinn  darin,  von  dem  historischen  Relativismus  wieder  zur 
Systematik  zu  verhelfen. 

Bei  Lotze  erscheinen  zwei  Wege  zu  diesem  Ziel  —  es 
sind  dieselben  Wege,  die  sich  beim  späteren  Fortgang  der 
Erkenntnistheorie  wieder  geltend  machten,  wo  trotz  des 
Ausgangs  vom  Subjekt  (gegenüber  dem  von  der  Wissen- 
schaft oder  Wahrheit)  der  Bruch  mit  dem  Subjektivismus 
erzielt  wurde.  Das  eine  Verfahren  entspricht  einem  Haupt- 
zuge der  neueren  Kant-Bewegung  und  besteht  darin,  daß 
an  der  Beziehung  auf  das  Subjekt  festgehalten  wird,  aber 
ein  normales  Bewußtsein  an  den  Platz  des  empirischen 
tritt.     So  sucht  Lotze  im  Verfolg  jenes  Gedankens  seiner 


Die  Objektivität  der  Werte.  LXIII 

Erkenntnistheorie  von  der  Würde  der  Subjektivität  die 
Gültigkeit  der  ästhetischen  Werte  zu  retten  durch  Be- 
ziehung auf  eine  „allgemeine  Subjektivität".  Das  Ideal 
eines  ethisch  vollendeten,  alles  aus  dem  Ganzen  verstehen- 
den Gemütes  ist  unser  Maßstab  bei  dem  Anspruch  des 
ästhetischen  Urteils  auf  Allgemeingültigkeit.  „Die  Objek- 
tivität der  Schönheit  liegt  darin,  daß  sie  nicht  eine  Coin- 
cidenz  der  Gegenstände  mit  der  zufälligen  Organisation  des 
einzelnen  endlichen  Subjekts  ist,  sondern  ein  Zusammen- 
treffen mit  den  Formen  des  Daseins  und  der  Tätigkeit,, 
welche  die  ideale  Bestimmung  des  geistigen  Lebens  über- 
haupt zu  ihrer  Erfüllung  überall  fordert  i)."  Diesen  Weg 
ist  er  nicht  weiter  gegangen;  Sigwart  und  Windelband 
setzten  hier  ein. 

Der  andere  Weg  aber,  den  er  nun  festhielt,  eröffnet 
sich  dadurch,  das  die  Analyse  des  empirischen  Bewußt- 
seins selber  auf  eine  objektive  Region  sachlicher  Inhalte 
und  Verhältnisse  derselben  stößt.  Hier  liegt  der  Punkt, 
wo  gegenwärtig  der  innerlich  umgebildete  Apriorismus. 
Kant's  in  einer  entscheidenden  Einsicht  zusammentrifft  mit 
der  objektiven  Logik  und  Wertlehre,  die  durch  den  Forscher- 
kreis, der  von  Brentano's  Analytik  ausging,  zum  Siege  ge- 
führt wird  2).  Lotze  unterscheidet,  wenn  auch  nicht  termino- 
logisch,  Akt  und  Inhalt  oder  Gegenstand  der  Gefühle:  „als 
was"  etwas  erlebt  wird.  Im  Zuge  seiner  Psychologie,  die 
die  Vorstellung  von  einem  gegenstandlosen  Wollen  abwehrte 
und  in  dem  allgemeinen  Zuge  seiner  Abwehr  der  Re« 
flexionsbegriffe  kehrt  er  sich  gegen  die  Abstraktionen  einet 
„unbenannten"  Lust  und  Unlust,  die  nur  quantitativ  vari- 
iere. Es  gibt  keine  Lust  als  solche,  jede  Lust  hat  einen 
eigenen  qualitativen  Inhalt  —  das  was  in  ihr  genossen 
wird  —  „dessen  Verherrlichung  und  Lebendigkeit  sie  selbst 
ist".  Wie  die  Bestimmtheit  der  Empfindungen  und 
ihrer  Verhältnisse,  so  weist  auch  die  der  Gefühle  —  „ob- 
wohl unsere  Lust  von  unserer  eigenen  Natur  insofern  ab- 
hängen muß,  als  wir  nur  das  fühlen  können,  wozu  wir 
fähig  sind"  —  auf  die  Objektivität.  „Das  spezifische  Ge- 
fühl ist  unmittelbar  die  unteilbare  Übertragung  des  Wertes, 
welchen  nur  dieser  bestimmte  Fall  der  Anregung  enthält,, 
in  diese  Sprache  der  Lustempfänglichkeit."     Lotze  erblickt 

*)  Kl.  Sehr.  III  S.  204  (Rezension  von  Hanslick,  Vom  Musikalisch- 
Schönen,   1855)  u.  a.  ästhetische  Abhandlungen. 
«)  Vgl.  oben  S.  XVI  Anm.  2. 


LXrV      Einleitung.    III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

das  in  der  ganzen  Breite  der  menschlichen  Werthaltungen 
als  den  entscheidenden  Zug.  Eben  diese  Beurteilungs- 
weise unterscheidet  schon  die  menschliche  Sinnlichkeit 
von  der  tierischen:  „Wir  empfinden  in  den  Gefühlen,  die 
die  Sinneseindrücke  begleiten,  niemals  bloß  ihren  Wert 
für  uns,  sondern  ihren  Wert  an  sich",  und  entsprechend 
dient  menschliches  Handeln  nicht  bloß  der  Selbstförderung, 
sondern  „unabtrennbar  davon  dazu,  in  dem  eigenen  Ge- 
nießen dem  Wert  der  Dinge  und  Ereignisse  selbst  eine 
Stätte  des  Daseins  zu  bereiten".  „Man  betrügt  sich  theore- 
tisch um  das  Beste  der  Lust,  wenn  man  meint,  sie  könne 
irgendwie  darin  bestehen,  daß  man  an  etwas  seine  Freude 
habe.  Von  dem  eigenen  Werte  der  Dinge  werden  wir  be- 
zw^ungen;  er  wird  durch  die  Lust  nur  anerkannt^)." 
Damit  ist  das  Thema  angeschlagen,  das,  in  der  Logik 
parallel  verlaufend,  das  System  erneuern  sollte. 

Und  Jji  Wahrheit  steht  nun  auch  hinter  Lotze's 
Formel  für  die  Philosophie,  Weltanschauung  zur  „Befriedi- 
gung der  Gemütsbedürfnisse",  diese  Intention:  die  Werte, 
die  das  Gefühl  im  Leben  erfaßt,  philosophisch  sicherzu- 
stellen :  die  Richtung  auf  eine  Lehre  von  den  Lebenswerten. 
Sie  ist  schon  früh  bei  ihm  vorhanden  2),  sie  galt  ihm  als 
die  Aufgabe,  die  nach  der  Auseinandersetzung  mit  Hegel 
für  seine  Fortsetzer  zurückbliebe  —  eine  „Phänomenologie 
des  Gemüts"  3).  ^,Der  Geist  hat  sich  als  Geist  zu  begreifen 
gelernt;  das  Gemüt  weiß  sich  nicht  zu  fassen  als  Gemüt." 
Die  Wissenschaft  soll  die  Werturteile,  die  aus  dem  un- 
befangenen „sinnenden  Gefühl"  erwachsen,  klärend  „in  Er- 
kenntnisse umwandeln,  damit  sie,  nun  nicht  mehr  un- 
beschränktes Eigentum  des  einzelnen  Gemüts,  sondern  über 
allen  Wechsel  der  Stimmungen  erhabene  Wahrheiten,  sich 
besser  gegen  .  .  .  Zudringlichkeit  schützen  mögen"*). 

Aber  das  Konzept  wird  ihm  nun  wieder  verdorben 
durch  die  spekulative  Verfassung,  die  der  geistigen  Welt 
gegenüber  nicht  auf  wissenschaftliche  Objektivität  ausgeht. 

1)  Mediz.  Ps.  S.  233  ff.  Mikrok.  Buch  5  cap.  2  u.  5,  Buch  7  cap.  2. 
Kl.  Sehr.  II  S.  282.     I  S.  307. 

2)  Vgl.  das  Jugend- Fragment  „Geographische  Phantasien",  in  KL 
Schriften  III  2. 

')  „Hegels  Philosophie  war  in  diesem  Sinne  phänomenologisch, 
sie  kümmerte  sich  weder  im  Einzelnen,  noch  im  Ganzen  um  die 
Verwirklichungsweise  der  Realität,  deren  idealen  Sinn  sie  betrachtete", 
KL  Sehr.  II  313. 

*)  Kl.   Schriften  II  207  (1847)   u.  III   S.    568   (Jugendfragment). 


Lebensdeutung  und  Spekulation.  LXV 

Das  Wertverständnis  wird  nicht  beschränkt  auf  das  Leben, 
in  dem  wir  darinnen  sind,  und  bedeutet  nicht  rein  das  Er- 
lebte seiner  Bedeutung  nach  aus  geistigen  Zusammenhängen 
verstehen  und  die  geistige  Wirklichkeit  als  solche  gewahren 
lernen,  sondern  ist  verschmolzen  mit  der  Tendenz,  das 
Dasein  einer  geistigen  Wirklichkeit  als  Argument  für  die 
Gläubigkeit  auszunutzen,  und  richtet  sich  daher  nicht  auf 
das  Geistige,  sondern  gleich  auf  den  Sinn  der  Welt  über- 
haupt, als  eine  universale  Methode  für  die  spekulative 
Ausdeutung  aller  Erscheinungen,  eben  durch  diese  uni- 
versale Anwendung  unsachlich  gemacht;  ja  der  theoretische 
Ansatz  wird  aufgezehrt  durch  diese  Tendenz,  deren  Kraft 
in  typischer  Weise  aus  dem  Kampf  gegen  das  naturalistische 
Weltbild  kommt.  Durch  den  ganzen  „Mikrokosmos"  zieht 
sich  das  Bestreben,  der  ursprünglich  in  mythischen  Formen 
schaltenden  Lebendigkeit  der  spekulativen  Phantasie  des 
Gemüts  ein  Recht  gegenüber  dem  naturwissenschaftlichen 
Seinsbegriff  zu  sichern. 

Wie  hat  sich  gegenüber  dieser  Verquickung  die  sach- 
liche Natur  des  Wertgedankens  geltend  gemacht?  Das  ist 
die  Hauptfrage. 

Zunächst  führt  hier,  da  die  Kunst  wieder  eingreift,  wo 
die  Wissenschaft  verzagen  muß,  die  Ästhetik  weiter, 
mit  der  Einfühlungstheorie.  „Die  Fähigkeit,  unter  Formen 
das  Glück  und  Unglück  des  Daseins  zu  bemerken,  macht 
für  uns  die  Welt  erst  lebendig."  Sie  legt  nicht  bloß  anthro- 
pomorphes  Leben  hinein,  sondern  in  diesen  Formgefühlen 
geht  die  primäre  Erfahrung  eines  unverbrüchlichen  eigenen 
Rechts  der  Dinge  und  ihrer  inneren  Gesetzlichkeit  auf^). 
Und  so  steht  neben  dem  metaphysisch-kosmischen  Sinn  der 
Schönheit,  die  „Versöhnung  von  Wirklichkeit  und  Wert" 
zu  sein,  die  Funktion  der  Kunst  als  Lebensdeutung,  die 
wiederum  nicht  bloß  subjektive  Beleuchtung  ist,  sondern: 
„Jedes  echte  Kunstwerk  ist  eine  Eroberung  einer  neuen 
Erfahrungswelt  2)." 

Aber  die  entscheidende  Angelegenheit  bleibt  die  Be- 
gründung der  Ethik.  Und  hier  überblicken  wir  noch 
einmal  den  fortschreitenden  Zusammenhang  seines  Denkens. 
Die  erste  Metaphysik  hatte,  auf  ein  psychologisches  Apriori 
der  praktischen  Vernunft  zurückgehend,  sich  zu  dem  reinen 


1)  Mikrokosmos  II  S.  190ff.,  139.    Über  den  Begriff  der  Schönheit, 
Kl.  Schriften  I  320  ff.  (1845). 

2)  V.  d.  Bedingungen  der  Kunstschönheit  (1847)  Kl.  Sehr.  II  220. 
Lotze,  Logik.  V 


LXVI      Einleitung.    III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

Typus  des  ethischen  Idealismus  bekannt:  der  Ursprung  des 
menschlichen  Geistes  liegt  in  der  Idee  des  Guten  oder  in 
dem  Reich  der  Werte,  deren  Verwirklichung  der  Sinn  der 
Welt  ist;  in  diesem  teleologischen  Zusammenhang  ist  die 
Bestimmung  des  Menschen  begründet,  ein  sittliches  Uni- 
versum aufzubauen,  in  dem  die  Werte  zum  Genuß  kommen 
und  damit  erst  wahrhaft  wirklich  werden.  In  diesen  speku- 
lativen Gedankenkreis  brach  die  Medizinische  Psycho- 
logie mit  der  Lehre  von  der  Lust  als  dem  Maß  des  Wertes 
ein;  damit  war  ein  heterogener,  der  typische  empirische 
Ansatz  der  Ethik  gegeben,  in  dessen  Konsequenz  der  Eudä- 
monismus  liegt.  Und  die  eudämonistische  Ethik  drang 
auch  schon  in  Deutschland  wieder  vor,  als  ein  Hauptmoment 
in  der  Reaktion  des  Erfahrungsstandpunkts  gegen  den 
Idealismus  der  Deutschen  Bewegung,  haltbarer  gemacht 
durch  die  Lehre  der  englischen  Moralisten  von  den  sym- 
pathischen Gefühlen  1).  Lotze  ging  auch  hier  nicht  bis 
zu  Ende  mit:  so  sicher  das  Streben  nach  Lust  die  feste 
empirische  Basis  abgibt,  da  Unlust  als  Zweck,  nicht  als 
bloßes  Mittel  zu  denken,  eine  Absurdität  ist,  so  sicher 
weiß  das  Gewissen,  daß  die  Maximation  der  Lust  als 
solcher  nichts  Moralisches  ist.  Die  psychologische  Gefühls- 
lehre selber  zeigte  ihm  einen  andern  Weg,  vermöge  der 
Einsicht  in  den  qualitativen  Charakter  der  Lust:  das  Ge- 
fühl ist  das  psychische  Verhalten,  durch  das  wir  in  Be- 
ziehung zu  einer  Welt  der  Werte  treten.  Es  blieb  die  Auf- 
gabe, das  moralische  Apriori  mit  dieser  empirischen  Ge- 
dankenführung zu  verbinden,  also  den  festen  rationalen 
Zusammenhang  der  Sittlichkeit,  die  unbedingt  verbindlichen 
Forderungen  des  Gewissens  zu  lokalisieren.  Und  hier  be- 
nutzt er  nun  zunächst  wieder,  bis  zum  Mikrokosmos  2),  die 
teleologische  Struktur  seiner  ersten  Ontologie,  die  dem 
Begründungszusammenhang  eine  notwendige  Stelle  inner- 
halb der  Wertverwirklichung  gab.  Analog  behandelt  er 
die  moralischen  Gesetze.  Sie  sind  aus  dem  Lustprinzip 
zu  begründen,  aber  nicht  auf  dem  gewöhnlichen  indirekten 
Wege  des  Empirismus,  dem  auch  Fechner  gefolgt  war  — 
wonach  sie  bloß  relativ  wertvoll  sind,  durch  ihre  Nützlich- 
keit  gerechtfertigt  als   Durchschnittsmaximen  der  Lebens- 

*)  Fechner,  Über  das  höchste  Gut  (1847)  und  Lotzes  Rezension, 
Kl.  Sehr.  II  272  fT.  —  Eine  rationa'e  Herleitung  des  Glückseligkeits- 
prinzips versuchte  damals  Bolzano,  Religionswissenschaft  1S39,  §  87. 

2)  Mikr.6  II  S  44,  320  ff.  III  422  ff.  u.  a.  Vgl.  die  Rezension  v. 
Pechners  Ethik  (1847)  a.  a.  O. 


Die  Entwicklung  der  Ethik.  LXVII 

klugheit  — ,  sondern  sie  sind  die  rationalen  Bedingungen, 
an  die  Gefühl  und  Wille  unmittelbar  in  ihrer  qualitativ- 
gegenständlichen Richtung  gebunden  sind,  um  ihren  Zweck, 
die  Wertverwirklichung,  zu  erfüllen.  So  lassen  sie  sich, 
weil  das  Gefühl  in  sich  selbst  ein  „morphotisches  Motiv" 
hat,  begreifen  als  „Formen  des  Guten",  denen  moralische 
Würde  immanent  ist.  „Das  Prinzip  der  Lust  selbst  bewährt 
sich  als  ein  so  gestaltendes,  daß  es  sich  bestimmte  unver- 
rückbare Formen  der  Wirklichkeit  fordert,  innerhalb  deren 
heiligen  Schranken  allein  das  realisiert  werden  kann,  was 
qualitativ  ein  Maximum  der  Lust  heißen  kann,  eine  ihrem 
Sinne  nach  höchste  Lust^)."  Das  ist  nicht  bloß  subjektiv 
gemeint  (nur  der  Rechtschaffene  kann  glücklich  sein),  son- 
dern will  sagen,  daß  die  ganze  Inhaltlichkeit  der  Werte 
im  Gefühl  nur  aufblühen  und  vermöge  der  Urteilskraft  des 
Gefühls  in  der  Lebenserfahrung  nur  aufgebaut  werden  kann 
innerhalb  des  rationalen  moralischen  Gefüges,  das  die 
„Ideale  des  Gewissens"  darstellen.  Also  sein  Satz  ist: 
der  Organisation  unseres  Gefühlslebens  ist  die  allgemeine 
Vernunft  immanent  —  es  ist  derselbe  Satz,  auf  den  der 
erste  Entwurf  seiner  Erkenntnistheorie  gestellt  war.  Und 
so  muß  die  Lustlehre,  um  das  Apriori  der  praktischen 
Vernunft  aufnehmen  zu  können,  sich  metaphysisch  be- 
gründen, durch  die  Voraussetzung,  daß  „das,  was  als 
höchstes  Prinzip  unseres  Handelns  gelten  soll,  auch  als 
Prinzip  des  Daseins  betrachtet  werden  muß".  Der  Welt- 
lauf ist  darauf  angelegt,  daß  Werte  im  Gefühl  aufgehn  und 
aufgehn  nur  können  in  den  unverrückbaren  Formen  des 
Guten. 

Lotze  will  durch  diese  Teleologie  zwei  Schwierigkeiten 
überwinden :  den  schlimmsten  Dualismus,  auf  den  das  natur- 
wissenschaftliche Weltbegreifen  führt,  der  „zuerst  eine 
Welt  der  Realität  annimmt,  und  hinterher  in  ihr  zerstreut 
das  Wertvolle  nur  findet";  aber  auch  den  Objektivismus 
der  Deutschen  Bewegung  und  Hegel's  zumal,  der  in  Staat, 
Religion,  Wissenschaft  und  überhaupt  in  den  geistig-ge- 
schichtlichen Gebilden  als  solchen  das  Höchste  gegenwärtig 
findet.  Die  Aufgabe,  das  geistige  Leben  nicht  für  ein  zu- 
fälliges Epiphänomen  zu  nehmen,  womit  dann  alles  in  die 
Subjektivität  versänke,  scheint  ihm  nur  erfüllbar  durch 
die  Lösung:  nicht  nur,  daß  das  allein  wahrhaft  sein  kann, 
was   sein  soll;   auch  was   sein   soll   wie  Religion,    Staat 

*)  Kl.  Schriften  II  282  (1847). 

V* 


LXVIII     Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

oder  Wissenschaft,  hat  Existenzrecht  nur  durch  den  „re- 
ellen Lebensgenuß",  der  in  diesen  „Formen"  menschlichen 
Ringens  pulsiert.  Es  ist  der  Standpunkt  des  subjektiven 
Idealismus,  vom  Erkennen  auf  das  Gefühl  übertragen.  In 
diesem  Sinne  lehnt  Lotze  den  Begriff  eines  absoluten  Wertes 
ab.  Er  lehnt  ihn  nicht  ab,  weil  er  die  geistig-geschichtliche 
Wirklichkeit  in  ihrer  objektiven  Struktur  vor  Augen  hätte 
mit  der  Gebundenheit  aller  Erfüllung  an  unwiederbringliche 
individuelle  Gestalt  und  Fülle  des  Werdens,  sondern  um- 
gekehrt, weil  ihm  die  Wertgestalten  nur  als  Inhalte  indivi- 
dueller Erlebnisse  Realität  haben.  „Der  Gedanke  eines 
irgendwie  unbedingt  Wertvollen,  das  seinen  Wert  nicht 
durch  seine  Fähigkeit  zur  Erzeugung  von  Lust  bewiese, 
überfliegt  sich  selbst  und  das  was  er  meint."  Und  Lotze 
kann  nun  den  menschlichen  Annäherungsbegriff  für  das 
mit  dem  absoluten  Werte  Gemeinte  —  der  Inbegriff  der 
sittlichen  Ideen  in  Verbindung  mit  dem  Genuß  ihres  Wertes 
—  in  der  christlichen  Formel  ausdrücken:  „Der  verschmol- 
zene Begriff  der  Heiligkeit  und  Seligkeit".  In  dieser  Rich- 
tung liegen  dann  die  bezeichnenden  Schlußgedanken  des 
Mikrokosmos  wie  die  beinahe  scholastisch  anmutende  Speku- 
lation über  die  Persönlichkeit  Gottes  und  die  These  seiner 
Geschichtsphilosophie:  die  Rede  von  einem  Fortschritt  in 
dor  Geschichte  habe  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  eine  Mög- 
lichkeit bestehe,  daß  die  von  den  Späteren  heraufgearbeiteten 
"Werte  von  den  Früheren,  Seligen  mitgenossen  werden. 
J(3doch  ließ  sein  ethischer  Gedanke,  daß  die  Wirklichkeit 
]iichts  fertig  Vorgefundenes  ist,  so  daß  die  Werte  nur  spora- 
disch zu  ihr  hinzukämen,  auch  die  andere  Wendung  zu, 
für  die  sich  der  idealistische  Pragmatismus  auf  Lotze  be- 
rufen konnte  1):  daß  durch  das  Schaffen  der  Werte  die 
Wirklichkeit  selber  erhöht  wird. 

Der  Abschluß  dieser  Entwicklung  liegt  uns  nicht  voll 
vor,  da  der  dritte  Teil  des  Systems  ungeschrieben  blieb. 
Aber  was  von  ethischen  Arbeiten  aus  seiner  letzten  Zeit 
da  ist 2),  zeigt  das  Zurücktreten  der  metaphysischen  Teleo- 
logie  und  damit  eine  veränderte  Struktur  —  dieselbe,  die 
die  ausgeführten  Teile  des  Systems  haben.  Es  bleibt  beim 
Anfang  mit  dem  Gefühl,  aber  am  Gefühl  wird  nun  eine 
zweifache  Richtung  gesehen,  die  den  Weg  zur  Objektivität 
öffnet :   mit  der   Richtung   auf  bestimmte   Werte   hin,   die 

1)  W.   James,  Pragmatismus,   deutsch   v.  Jerusalem  1908,  S.   113. 

«)  Die  Prinzipien  der  Ethik  (posthum),  Kl.  Schriften  III  2  u.  die 

Diktate  s.  Vorlesungen  (1880)  über  d.  Grundzüge  der  prakt.  Philosophie. 


Die  Entwicklung  der  Ethik.  LXIX 

dem  Handeln  sein  Ziel  geben,  ist  verbunden  das  Erfassen 
der  idealen  Zusammenhänge,  die  als  Normen  des  Handelns 
dieses  zur  Sittlichkeit  binden.  So  geht  nun  einerseits  der  auf 
der  psychologischen  Stufe  gewonnene  Gedanke  vom  ge- 
staltenden Charakter  der  Wertgefühle  weiter  fort;  von  dem 
lustempfindenden  Geiste  heißt  es:  „Obwohl  all  diese  Werte 
nur  in  seinem  Gefühle  Wirklichkeit  haben,  so  stehen 
ihm  doch  seine  eigenen  Gefühle  als  ein  System  mannig- 
facher Glieder  gegenüber,  deren  jedes  seinen  besonderen 
Charakter  und  seinen  besonderen  Wert  hat,  ohne  daß  der 
Geist  imstande  ist,  die  Verteilung  zu  ändern  i).*'  Ander- 
seits aber  vollendet  sich  nun  erst  die  objektive  Wendung, 
indem  —  analog  wie  in  der  letzten  Darstellung  seiner  Er- 
kenntnistheorie —  das  Prinzip  des  Als-was  benutzt  wird, 
um  trotz  des  empirischen  Anfangs  die  Apriorität  der 
moralischen  Prinzipien  zu  erreichen. 

„Alles  kommt  uns  darauf  an,  als  was  jedesmal  das- 
jenige erfahren  wird,  dessen  wir  uns  allerdings  immer 
nur  auf  diesem  Wege  einer  inneren  Erfahrung  bemäch- 
tigen"; der  Wert  eines  Inhalts  unseres  geistigen  Lebens 
bestimmt  sich  nicht  nach  der  Art  der  Entstehung  —  ob 
oder  ob  nicht  aus  Erfahrung  — ,  sondern  „nur  nach  dem, 
was  er  selbst  ist  und  bedeutet,  nachdem  er  da  ist".  Die 
Gültigkeit  der  moralischen  Prinzipien  ist  unabhängig  von 
der  Erfahrung,  weil  sie,  sobald  die  Reflexion  sie  heraus- 
hebt, kraft  der  Evidenz  des  Gewissens,  die  „schon  auf 
Veranlassung  einer  einzigen  Erfahrung  sich  in  uns  erhebt", 
als  etwas  unbedingt  Verbindliches  erfahren  werden.  „Was 
wir  hauptsächlich  sagen  wollen,  wenn  wir  die  moralischen 
Ideen  angeboren  nennen,  das  ist  wirklich  nur  dies,  daß  sie 
von  unbedingt  verpflichtender  Heiligkeit  sind."^  Sie  haben 
dieselbe  Sicherheit  wie  die  Prinzipien  der  Mathematik  — 
diesen  Grundsatz  der  Aufklärungsphilosophie  kann  Lotze 
nun  aufnehmen  — ,  nur  daß  für  die  Ethik  dieser  Keim 
von  Erkenntnis  nicht  ausreicht,  um  in  „einheimischer  Ent- 
wicklung" der  Prinzipien  bis  zu  einem  unzweifelhaften 
Ideal  des  sittlichen  Lebens  hinzuführen.  Und  weil  hier 
das  unbedingt  verbindliche  rationale  Gefüge  nur  die  For- 
men der  Gesinnung  betrifft,  wird  ihre  Apriorität  nicht 
widerlegt  durch  die  historische  Mannigfaltigkeit  der  Wert- 
gebungen;  so  unsittlich  diese  oft  erscheinen  und  mit  Recht, 
nachdem  das  moralische  Bewußtsein  über  sich  selbst  auf- 


1)  Prakt.  Philos.  §  8. 


LXX       Einleitung.   III.  Der  Fortgang  in  der  Psychologie. 

geklärt  ist;  sie  lassen  sich  doch  immer  so  verstehen,  daß 
die  Richtung  auf  das  Sittliche  der  Intention  nach  da  war 
und  bloß  assoziative  oder  intellektuelle  Verwirrung  die 
Einsicht  in  das  eigentlich  Gemeinte  trübte.  Neben  dieser 
Apriorität  der  Geltung,  die  das  Fundament  der  Ethik  stellt, 
bleibt  die  psychologische  Ursprünglichkeit,  das  Angeboren- 
sein der  moralischen  Ideen  nur  noch  als  „Corrolar" :  daß 
der  menschliche  Geist  nur  das  als  unbedingt  gut  erfassen 
kann,  was  er  seiner  seelischen  Natur  nach  so  beurteilen 
muß.  Auf  diese  Position  hat  sich  nunmehr  die  meta- 
physische Teleologie  zurückgezogen,  die  nun  auch  nur  eine 
offene  Stelle  bezeichnen  will  für  das  spekulative  Bedürfnis, 
das  Dasein  der  in  sich  evidenten  Grundsätze  aus  dem  Welt- 
plan zu  begreifen.  Sie  stößt  damit  zugleich  auf  das  Pro- 
blem des  Bösen,  d.  h.  der  Möglichkeit  der  Verwirrungen 
des  sittlichen  Bewußtseins,  also  nach  der  typischen  Dialektik 
dieses  Standpunktes  auf  das  Problem  der  Theodizee,  das 
der  religiöse  Glaube  lösen  muß. 

Die  Vorlesungen  über  Praktische  Philosophie  zeigen 
dann,  wie  er  zu  den  formalen  Vorbedingungen  sittlichen 
Handelns,  die  sich  aus  der  Analyse  des  Willens  und  seiner 
Einheit  in  der  Person  ergeben  (Mittel  und  Zweck,  Kon- 
sequenz der  Persönlichkeit  usf.),  nun  aus  dem  qualitativ- 
morphotischen  Charakter  des  Lustgefühls  „das  einzige  Ideal 
von  ganz  voraussetzungslosem  Inhalt"  gewinnt:  die  in- 
dividualisierende Pietät;  das  Wohlwollen  im  Verhältnis 
von  Person  zu  Person  und  allgemein  „Schonung  und  Scheu 
vor  den  Verhältnissen  der  Wirklichkeit".  Die  moralischen 
Ideen  gelten  auf  konkrete  Erfüllung  hin,  für  diese  aber  gilt 
der  Salz  der  Ontologie,  daß  das  Konkrete  nicht  bloßes 
Beispiel  eines  Gesetzes,  sondern  die  eigentliche  Leistung 
ist,  die  in  ihrer  bestimmten  Lebendigkeit  „mehr  wert  ist 
als  jene  Regeln  in  ihrer  Allgemeinheit".  So  nimmt  er  den 
Übergang  zu  den  Lebensverhältnissen,  die  „ein  selbst  inner- 
lich organisiertes  System  von  Anregungen"  für  die  Ver- 
wirklichung eines  sittlichen  Universums  sind.  Er  erreicht 
damit  den  Schleiermacherschen  Begriff  einer  in  Gütern, 
Pflichten,  Tugenden  sich  bildenden  Kulturwelt,  auf  dem 
Wege  vom  Ausmalen  und  Ausgleichen  der  sittlichen  Ver- 
hältnisse zum  Struktursehen  nur  wieder  aufgehalten  durch 
die  mehrfach  berührte  Schranke  in  seiner  Stellung  zur 
geistigen  Welt,  womit  zusammenhängt  das  Nichtsehen  des 
Dämonischen   im   Leben. 


TV.  Logik  und  Metaphysik  als  Glieder  des 
„Systems  der  Philosophie'^ 

Die  neue  Darstellung  der  Ergebnisse  seiner  Lebens- 
arbeit, zu  der  der  Sechzigjährige  schritt,  trägt  den  Titel 
„System".  Was  bedeutet  dieser  Urtitel  der  Philosophie 
bei  Lotze,  der  mit  den  „traditionellen  Formen  des  Philo- 
sophierens" brechen  wollte?  An  diesen  Formen  gemessen, 
ist  das  System  weit  weniger  „systematisch"  gebaut  als  der 
erste  Entwurf.  Die  Logik  geht  jetzt  voran  —  dies  be- 
deutet, daß  der  Standpunkt  nicht  sogleich  innerhalb 
der  Philosophie  genommen  wird,  sondern  die  Logik  soll 
zur  Metaphysik  hinführen.  Nur  für  den  formalen  Teil  der 
Logik  ist  der  geradlinig  geschlossene  Aufbau,  der  den  teleo- 
logischen Idealismus  ausdrückt,  beibehalten,  aber  auch  diese 
fertige  Rundung  hat  nur  den  Sinn  einer  ersten  Behauptung, 
deren  Beweis  dem  erkenntnistheoretischen  Teil  obliegt,  und 
dieser  zieht  dann  in  einen  Prozeß  schrittweisen  Suchens 
und  Abwägens  hinein,  der  erst  in  der  Metaphysik  zum  Ab- 
schluß kommt.  In  der  Metaphysik  aber  ist  die  ursprüng- 
liche dreimsd  dreigliedrige  Architektur  ganz  zusammen- 
gefallen, und  der  untersuchende  Gang,  der  sich  nun  fi;ei 
ausbreitet,  ist  so  vielverschlungen,  daß  die  Gedanken  sich 
beim  ersten  Blick  „von  Kapitel  zu  Kapitel  zu  verändern"^) 
scheinen.  Das  Bewußtsein  des  Problematischen  färbt  die 
Darstellung  selbst  in  den  Punkten,  über  die  Lotze,  wie  über 
die  Phänomenalität  des  Raums  und  die  innere  Lebendigkeit 
alles  Wirklichen  ,,sicher  zu  sein  glaubt".  Und  auch  die 
Teilung  in  je  drei  Bücher  ist  kein  letzter  Nachhall  von 
Hegel  her,  bedeutet  nicht  mehr  Architektonik :  auf  die  reine 
und  die  angewandte  Logik,  die  er  mit  Kant  unterscheidet, 
folgt  die  Erkenntnistheorie  nicht  so  als  Abschluß,  wie  das 
durch  den  Bandabschnitt  erscheinen  möchte.  Und  die  Drei- 
teilung der  Metaphysik  drückt  nunmehr  nur  die  natürliche 

*)  Vgl.  die  Kritik  von  Teichmüller,  die  wirkliche  u.  die  scheinbare 
Welt,  1882  S.  73.  In  Wahrheit  ist  Lotzes  Redeweise  zunächst  viel- 
fach lassig,  um  erst  allmählich  präzisiert  zu  werden. 


LXXII        Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

Gliederung  des  Gegenstandes  aus,  die  aus  der  vorkritischen 
Tradition  stammt:  das  Seiende  als  solches  —  Natur  — 
Geist.  Dieser  veränderten  Anordnung  entspricht  von  innen, 
daß  die  Systemform  des  subjektiven  Idealismus  aufgelöst 
ist.  Es  ist  nur  scheinbar  ein  letztes  rückhaltloses  Bekennt- 
nis zu  diesem  Standpunkt,  wenn  Lotze  zum  Schluß  des 
Ganzen  das  Prinzip  herausstellt,  „in  dem  was  sein  soll, 
den  Grund  dessen  zu  suchen,  was  ist".  Nach  dem  wie  das 
durchgeführt  ist,  bedeutet  es  nur  das  Festhalten  an  dem 
Grundsatz  des  Idealismus,  daß  die  Wirklichkeit  ein  sinn- 
volles Ganzes  ist,  und  insbesondere  an  dem  Prinzip  der 
Deutschen  Bewegung,  das  Lotze  gerade  als  Hebel  gegen 
die  Systembildung  benutzte:  daß  nur  mit  der  Einsicht  in 
diesen  einheitgebenden  Sinn  ein  philosophisches  Weltver- 
stehen vollendet  wäre. 

Ist  nun  hierdurch  der  Titel  System  zu  einem  bloßen 
Titel  geworden,  der  seinem  eigenen  Sinn  zuwider  nur  einen 
persönlichen  Versuch  bezeichnete,  Resultate  langen  Nach- 
denkens als  „persönliche  Überzeugungen"  zusammenzu- 
fassen, und  das  Bedürfnis  nach  einheitlicher  Weltansicht 
subjektiv  zu  befriedigen?  wie  das  scheinen  möchte  nach 
Lotze's  eigenen  Angaben  vom  Anfang  an  bis  zu  dem  Schluß- 
satz der  Metaphysik:  „Gott  weiß  es  besser"?  Im  Unter- 
schied zum  ersten  Entwurf  tritt  vielmehr  hervor,  daß  die 
reine  Theorie  von  dem  Hintergrund  ethisch-religiöser  Über- 
zeugungen abgelöst  ist.  Das  Werk  hat  eine  feste  Struktur, 
die  seine  beiden  Glieder  zusammenhält  und  die  Ver- 
schlungenheit  der  Fäden  drückt  den  Versuch  aus,  nicht 
durch  formal-systematische  Zurüstung  den  Sachverhalt  zu 
verhüllen,  daß  die  philosophische  Einheit,  im  Denken  über 
die  Wirklichkeit  wurzelnd,  ein  ,weitstrahlsinniges  Ganzes* 
ist.  An  stelle  des  geometrischen  Bildes  tritt  bei  ihm  der 
qualitative  Zusammenhang  im  Reich  der  Töne  als  Symbol 
für  die  Weltordnung  ein  —  die  „polyphone  Musik"  des 
Universums. 

Die  Reine  Logik. 

Die  Reine  Logik  verbindet  die  drei  Motive:  das 
psychologisch-ethische  der  Spontaneität,  das  objektiv-ideale 
der  Sachlichkeit  und  das  kritisch-realistische  der  Bezogen- 
heit  des  Denkens  auf  Wirklichkeitserkenntnis.  Der  Einsatz 
mit  der  Aktivität  der  Denkarbeit  gegenüber  dem  asso- 
ziativen Vorstellungsverlauf  bleibt  erhalten,  aber  die  „Denk- 
tätigkeiten" sind  nicht  mehr  metaphysisch  fundiert  auf  den 
apriorischen  Formen  der  Ontologie,  sondern  „die  Verhält- 
nisse vielmehr,  die  zwischen  den  bewußt  gewordenen  Ein- 


Aufbau  der  Reinen  Logik.  LXXIII 

drücken  bestehen,  sind  es  selber,  welche  die  Tätigkeit  des 
Denkens  als  ein  stets  nur  rückwirkendes  auf  sich  ziehen 
und  nur  darin  besteht  diese  Tätigkeit,  so  vorgefundene  Ver- 
hältnisse zwischen  den  Eindrücken,  die  wir  leiden,  in  Be- 
ziehungen der  Inhalte  umzudeuten"  (§  9).  Es  bleibt  die 
Charakteristik  des  logischen  Denkens  als  eines  durch 
„Nebengedanken"  beseelten:  diese  sind  die  Voraussetzungen 
über  Identität  und  Zusammenhang,  die  innerhalb  jener 
durchgreifenden  Tendenz  des  Denkens,  „gegebenes  Zusam- 
mensein in  Zusammengehörigkeit  zu  verwandeln",  auf  jedem 
Schritt  neu  zum  Ausdruck  kommen;  aber  sie  werden  jetzt 
zunächst  in  diesem  ihren  Ausdruck,  in  den  Denkleistun- 
gen aufgesucht,  und  die  Metaphysik  lehrt  dann  den  Her- 
vorgang des  Denkens  aus  der  Wirklichkeit.  So  ist  eine 
Bresche  geschlagen  in  die  Kant'sche  Fassung  von  Form  und 
Inhalt  und  ein  Weg  eröffnet,  die  formal-logischen  Zusam- 
menhänge, obwohl  sie  aus  synthetischen  Funktionen  des 
Subjekts  erklärt  werden,  in  den  objektivierten  Inhalten 
selber,  d.  h.  in  der  Sachlichkeit  zu  lokalisieren.  Die  Art, 
wie  diese  verschiedenen  Motive  zusammengehen,  hat  Lotze 
unmittelbar  durch  den  Bau  der  reinen  Logik  zur  Dar- 
stellung gebracht,  wie  in  einem  Kunstwerk,  das  den  Gegen- 
stand einfach  hinstellt. 

Jede  der  drei  Denkformen  wird  als  eine  dreifältige 
Einheit  gezeigt.  Der  logische  Akt,  das  Vergegenständlichen, 
Urteilen,  Folgern,  sucht  die  eindeutige  Richtung  des  Denkens 
auf  begründeten  Zusammenhang  durch  eine  Form  am  In- 
halt zu  markieren,  er  kann  das  nur,  wenn  er  im  Inhalt 
eine  sachliche  Grundlage  findet  —  abgesehen  von  der 
primären  Leistung,  der  Objektivierung  des  Eindrucks  zur 
logischen  Vorstellung:  das  Identitätsprinzip  ist  das  Gesetz 
des  Vorstellbaren  überhaupt,  während  der  Satz  vom  Grunde 
nur  den  Charakter  einer  vjiod^eoig  hat,  deren  sachliche 
Durchführbarkeit  „eine  glückliche  Tatsache"  ist.  Und  aus 
dieser  immer  in  die  Mitte  gestellten  „eigentümlichen  Ab- 
hängigkeit der  logischen  Arbeit  von  der  Natur  des  Inhalts, 
dem  sie  jeweils  gilt",  ergeben  sich  erst  die  bestimmten 
Aufgaben,  denen  nun  die  vollen  logischen  Formen  zuge- 
ordnet sind,  der  Funktionsbegriff,  das  hypothetische  Ur- 
teil, das  sachlich  Identisches  unter  verschiedenen  Formen 
auf  faßbar  macht,  und  die  „systematischen  Formen",  in 
deren  Zusammenhang  die  formale  Struktur  der  Wissenschaft 
selber  eingestellt  wird,  von  der  Klassifikation  zur  erklären- 
den Theorie  und  bis  hinauf  zur  „spekulativen  Denkform". 
So  läuft  von  der  primären  Vergegenständlichung  bis  zum 


LXXrV        Einleitung.   IV.  Das  System  der  Philosophie. 

höchsten  Ideal  von  Systematik  eine  wesentlich  einheitliche 
Tendenz  fort,  die  stufenweis  an  dem  Gegebenen  sich  aus- 
prägt; aber  nachdem  sie  sich  mit  der  logischen  Vorstellung 
die  Formelemente  gegeben  hat,  vermag  sie  sich  nicht  weiter 
aus  eigenen  Mitteln  zu  erfüllen:  daß  in  dem  Reich  der  In- 
halte Gliederung  gefunden  wird,  dieser  Tatbestand  ist, 
obwohl  er  die  unentbehrliche  Grundlage  für  Denkleistungen 
überhaupt  ausmacht,  nicht  selber  denknotwendig,  sondern 
vorgefunden  und  kann  vom  Denken  nur  anerkannt  und 
weiterentwickelt  werden;  denkbar  wäre  auch  ein  Reich 
identischer  aber  absolut  disparater  Inhalte  i).  So  ist  der 
Stufengang  der  Denkformen  nicht  ein  ihnen  immanenter 
Zusammenhang,  sondern  ist  durch  ihre  Beziehung  auf  die 
Aufgaben,  die  das  Gegebene  für  seine  formale  Bewältigung 
stellt,  bestimmt  und  weist  somit  von  Haus  aus  auf  die 
Wirklichkeit  hin.  Die  Logik  beschränkt  sich  nur  ihrer 
formalen  Natur  nach  darauf,  die  Gesetze  des  Zusammen- 
hangs des  Gedachten  rein  in  der  Zwischenregion  der  Sach- 
lichkeit aufzusuchen,  sie  hat  dabei  ständig  als  Ziel  die 
Wirklichkeit  vor  Augen,  die  auch  für  die  erkenntnistheore- 
tische Logik  nur  ein  TiQog  ^juäg  nicht  rfj  (pvoei  voteqov  ist. 
So  hält  Lotze  zwar  an  dem  Beginn  mit  der  Begriffslehre 
fest  und  weist  den  damals  schon  unter  der  Vorherrschaft 
des  Erfahrungsstandpunkts  vordringenden  Anfang  mit  dem 
Urteil  für  die  reine  Logik  ab;  für  sie  ist  der  Platonische 
Blick  in  das  „Reich  der  ideell  gefaßten  Inhalte"  das  Erste  2). 
Aber  er  legt  die  Logik  nicht  darauf  fest,  er  lehnt  es  ab, 
sie  in  der  Begriffslehre  zu  zentrieren  und  zwar  mit  dem 
Argument,  das  zum  Urteil  eilt :  „auch  die  vollständige  Kennt- 
nis der  Ideenwelt  würde  uns  wenig  in  der  Begreifung  des 
Wirklichen  unterstützen"  (§  34). 


1)  Vgl.  Kant,  Kr.  d.  R.  V.  (Ros.  S.  607 f.):  „Wäre  unter  den 
ErBcheinungen,  die  sich  uns  darbieten,  eine  so  große  Verschiedenheit 
dem  Inhalte,  d.  i.  der  Mannigfaltigkeit  existierender  Wesen  naoh, 
daß  auch  der  allerschärfste  menschliche  Verstand  durch  Vergleichung .  . . 
nicht  die  mindeste  Ähnlichkeit  ausfindig  machen  könnte  (ein  FaU,  der 
sich  wohl  denken  läßt),  so  würde  das  logische  Gesetz  der  Gattungen 
ganz  und  gar  nicht  stattfinden  und  es  würde  gar  kein  allgemeiner 
Begriff,  ja  sogar  kein  Verstand  stattfinden." 

*)  §  2f.  Entsprechend  im  Anfang  der  Angewandten  Logik,  Kap.  2 
§  171  ff.,  die  qualitativen  Reihen  der  Töne  und  Farben.  Für  die 
Hineinnahme  dieser  Verhältnisse  in  die  Logik  vgl.  Stumpfs  Be- 
griff  der  Phänomenologie,  Zur  Einteilung  der  Wissensch.,  Abh.  der 
Berl.  AK.  1907,  S.  26. 


Erkenntnistheorie.  Das  Gelten  der  Wahrheit.         LXKV 

Die  Erkenntnistheorie. 

Während  die  letztere  Wendung  erst  in  der  Metaphysik 
zu  begründen  war,  wird  nun  der  Gedankenzusammenhang, 
der  in  jenem  Aufbau  der  reinen  Logik  selber  enthalten  ist, 
expliziert  in  der  Erkenntnistheorie.  Sie  geht  von  der 
Ideenlehre  nicht  nur  aus,  sondern  erschöpft  sich  darin, 
deren  Bedeutung  herauszuarbeiten,  in  den  verschiedenen 
Kapiteln  von  verschiedenen  Seiten  her  herangehend,  um 
schrittweis  den  Sinn  des  Apriori  klarzustellen.  So  nimmt 
sie  das  Wahrheitsproblem,  wie  es  in  den  idealistischen 
Systemen  diskutiert  war,  auf  und  hält  im  Gegensatz  zum 
damaligen  Betrieb  der  Erkenntnistheorie  daran  fest,  aus 
ihrem  Anfang  Gegensätze  wie  den  von  Subjekt  und  Objekt, 
Vorstellungswelt  und  transzendenter  Dingwelt,  innerer  und 
äußerer  Erfahrung  auszuschließen.  Und  zwar  nimmt  Lotze 
nun  Plato  mit  Kant  zusammen,  indem  er  den  Apriorismus 
auf  das  Prinzip  der  sachlichen  Einsjchtigkeit  gründet. 

Durch  Plato's  Entdeckung  ist  gesichert,  daß  es  eine 
Wahrheit  und  Erkenntnis  gibt,  ganz  unabhängig  von  der 
skeptischen  Frage  nach  der  Erkennbarkeit  einer  transzen- 
denten W^irklichkeit  —  Wahrheit  „nicht  in  dem  beschränk- 
ten Sinn  einer  Übereinstimmung  der  Vorstellung  mit  ihrem 
vorgestellten  Inhalt,  sondern  in  der  Bedeutung  einer  Folge- 
richtigkeit'*, die  innerhalb  der  Ideenwelt  besteht;  also  im 
Sinne  von  logische|-  Notwendigkeit,  die  in  dem  Begrün- 
dungszusammenhahge  als  solchem  ihren  Ort  hat.  Unter 
der  Ideenwelt  versteht  Lotze  die  systematischen  Relationen 
zwischen  den  ideell  gefaßten' Inhalten,  das  „Inhaltssystem", 
dessen  logische  Gesetzlichkeit  er  von  der  kausalen  sondert, 
die  für  die  Abfolge  der  Inhalte  in  der  veränderlichen  Wirk- 
lichkeil der  Erscheinungen  vorausgesetzt  wird.  Für  diesen 
Grundgedanken  seiner  ersten  Ontologie  hat  er  nunmehr 
den  Terminus  „Gelten"  geprägt  und  zwar  zunächst  als 
Interpretation  von  Plato's  Meinung  bei  der  Rede  von  der 
ovoia  der  Idee  xcoQig  rcbv  örtcov})  Er  operiert  mit  seinem 
anfänglich   an  Herbart   gebildeten  allgemeinen  Begriff   der 

1)  Logik  §  316fiE.,  vgl.  Mikrok.  lU^  S.  200ff.  Zu  L.'s  Plato- 
Interpretation  vgl  die  Wendung  gegen  die  substantial-transzendente 
Fassung  der  Ideen  bei  G.  Teich müller,  Studien  zur  Gesch.  der 
Begriffe,  1874  („die  umwandelbaren  Ideen  bilden  gerade  die  Vernunft, 
die  dem  All  zukommt."  S.  139  u.  a.)  und  L.'s  Anerkennung  Kl.  Sehr.  III 
S.  367. 


LXXVI       Einleitung    IV,  Das  System  der  Philosophie. 

„Bejahtheit,  Position  oder  Wirklichkeit"  und  stellt  inner- 
halb desselben  das  Gelten  als  eine  spezifische  Art 
der  Wirklichkeit  der  des  Seins,  Geschehens  oder  Be- 
stehens gegenüber.  Und  wie  nun  einer  seiner  Hauptsätze 
gegen  die  Reflexionsphilosophie  ist,  daß  die  Position  nicht 
abgetrennt  werden  darf  von  dem  Inhalt,  zu  dem  sie  ge- 
hört, läßt  er  die  objektivierten  Inhalte  in  dem  Reich  des 
Geltenden  ^teh^n,  jedoch  so,  daß  er' die  Terminologie,  mit 
der  er  zunächs^t  auch  ihnen,  imd  nicht  nur  ihren  Relationen/^ 
das  Ansichgültigsein  zusprach  (§  2),  nunmehr  auf  die  letz-j 
toren  einschränkt  (§  321),  Die  logische  Form  für  Gründe, 
die  als  Gesetze  des  Zusammenhangs  der  Inhalte  ,gelten', 
ist  das  Urteil;  j,nur  mit  halber  Deutlichkeit  läßt  sich 
dieser  Ausdruck  auf  einzelne  Begriffe  übertragen,  von  ihnen 
können  wir  nur  sagen,  daß  sie  etwas  bedeuten,  sie  be- 
deuten aber  dadurch  etwas,  daß  von  ihnen  Sätze  gelten". 
So  sucht  er  den  Fortgang  über  Plato  (und  entsprechend  über 
die  begriffliche  Fassung  der  Kategorien  bei  Kant)  darin, 
daß  die  wesentlichen  Bestandteile  der  Ideenwelt  statt  vor- 
nehmlich in  der  Form  des  isolierten  Begriffs ,  in  dieser  \ 
Gestalt  als  Sätze  aufgewiesen  werden.  Und  diese  Unter- 
suchung der  „in  dem  Bau  der  Ideenwelt  herrschenden  all- 
gemeinen Gesetzlichkeit,  durch  welche  auch  in  ihr  ,schon 
die  einzelnen  Bestandteile  allein  zu  einem  Ganzen  ver- 
bunden sein  können"  —  dies  ist  die  Form,,  in  der  die 
Frage  nach  der  Wahrheit  und  ihren  Ursprung  zu  stellen 
ist  —  ist  nicht  auf  den  S^ndesmos  der  Begriffe  für  sich 
gerichtet,  sondern  will  dem  von  der  Reinen  Logik  heraus- 
gehobenen Verhältnis  des  Logismus  zu  der  Sachlichkeit 
gerecht  werden,  ausdrücklich  entgegengestellt  einem  „un-  ' 
fruchtbaren  Spiel  mit  leeren  von  ihren'  zukömmlichen  Unter- 
lagen abgelösten  Vorstellungen".  Und  nun  führt  er  in  diese 
Einsicht  wieder  seine  Theorie  von  den  Denktätigkeiten  als-"* 
Rückwirkungen  unserer  geistigen  Natur  ein  und  \egi  die 
damit  als  maßgebend  für  das  Erfassen  der  Wahrheit  ge- 
gebenen Verhältnisse  auseinander  durch  Unterscheidung  der 
formalen,  sachlichen  und  realen  Bedeutung  des 
Logischen. 

Wie  er  die  Charakteristik  der  Vorstellung  gibt :  „Das  Vor- 
stellen ist  nicht  das,  was  es  vorstellt,  die  Vorstellung  nicht 
das,  was  sie  bedeutet. . .  Gleichwohl ...  ist  es  nur,  indem  es 
vorstellt  was  es  selbst  nicht  ist"  (337),  so  unterscheidet  er 
die  jlogischen  Denkhandlungen*  und  ihre  ,Resultate^  die  ,Ge- 
danken'.    Jene  sind  subjektiv,  weil  sie  die  durch  unsere 


Das  Gelten  der  Wahrheitsbeziehungen.  LXXVII 

Natur  bedingten  inneren  Bewegungen  sind,  durch  die  wir 
einen  Gedanken  erfassen;  aber  sie  haben  forpiale  Be- 
deutung, „weil  ihre  Eigentümlichkeiten  zwar  nicht  die  eige- 
nen Bestimmtheiten  der  Sachen  sind,  aber  doch  Formen 
des  Verfahrens,  eben  die  Natur  der  Sachen  zu  erfassen  und 
deshalb  nicht  außer  jedem  Zusammenhang  mit  dem  sach- 
lichen'Verhalten  selbst".  Jedoch  auch  nur  formale  Bedeu- 
tung :  „weil  es  ihrer  mehrere  und  gleichtriftige  geben  kann, 
die  zu  demselben  Endgedanken  führen".  Die  Denkleistun- 
gen haben,  wenn  die  Frage  nach  dem  Erkenntniswert 
zunächst  .auf  die  Ideenwelt  als  das  primäre  Objekt  der 
Logik  beschränkt  wird,  sachliche  Bedeutung.  Lotze 
drückt  das  auf  Grund  einer  psychologischen  Beschreibung, 
nach  welcher  die  Verhältnisse  der  Eindrücke '  an  den  Ver- 
änderungen des  Vorstellens  beim  Übergang  von  einem  Inhalt 
zum  andern  bewußt  werden,  so  aus :  „die  gefundenen  Gleich- 
heiten, Unterschiede  und  Verhältnisse  unseres  Vorstellens 
bezeichnen  zugleich  ein  sachliches  Verhalten  unserer  Vor- 
stellungsinhalte, das  folglich  unabhängig  von  unserem  Den- 
ken besteht  und  von  ihm  nur  aufgefunden  und  anerkannt 
wird."  Und  diesen  Tatbestand  bezeichnet  er  als  das  un- 
mittelbare Gelten  der  Belationen  von  den  Denkinhalteh 
als  solchen.  Die  Rede  von  dem  , Enthaltensein'  der  Re- 
lationen in  den  Inhalten  oder  von  ihrem  Ansichbestehen 
lehnt  er  ab:  Relationen  können  nur  als  gedachte  , be- 
stehen'. So  hält  er  immer  die  zwei  Fundamente  der  Ob- 
jektivität zusammen:  Einerseits  „kein  Verhältnis  könnte 
zwischen  zwei  Inhalten  gefunden  werden,  wenn  es  nicht 
durch  beider  Naturen  begründet  wäre,  aber  keines  wird 
gefunden,  ehe  es  gesucht  wird".  Anderseits:  „Eine  Be- 
ziehung zwischen  ihnen  besteht  nur  insofern  wir  sie  denken. 
Aber  so  ist  unsere  eigene  Seele  beschaffen . . .,  daß  die- 
selben a  und  b,  so  oft  und  von  wem  sie  auch  vorgestellt 
werden  mögen,  stets  im  Denken  dieselbe  Beziehung  her- 
vorbringen werden.  Unabhängig  ist  diese  daher  von  dem 
einzelnen  denkenden  Subjekt  und  von  einzelnen  Momenten 
seines  Denkens;  hierin  allein  liegt  das  was  wir  meinen^ 
wenn  wir  sie  als  an  sich  bestehend  zwischen  a  und  b  be- 
trachten . . .,  sie  steht  wirklich  so  fest,  aber  nur  als  ein 
Ereignis,  das  im  Denken  stets  unter  gleichen  Bedingungen 
gleich 'sich  erneuern  wird."    (342  f,  vgl.  Metaph.  80).  ; 

Dieser  Rekurs  auf  die  Seele  ist  —  außer  daß  er  einen 
Ansatz  für  die  Teleologie  offen  hält  —  darauf  gerichtet, 
den  Anspruch  der  logischen  Formen  auf  ,reale  Bedeutung', 


LXXVIII    Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

d.  h.  unmittelbare  Geltung  für  Wirkliches  abzuwehren.  Da 
jede  Beziehung  nur  in  dem  Geist  des  Beziehenden  existiert,. 
so  ist  sie,  „wenn  wir  sie  in  dem  Sein  selbst  anzutreffen 
glauben,  hier  allemal  mehr  als  bloße  Beziehung"  —  „die 
wir  eigentlich  nur  sprachlich  so  bezeichnen,  aber  nicht 
als  für  sich  bestehende  Wirklichkeit  denken  können".  Das 
ist  seine  These,  von  Kant  her,  aber  er  kehrt  sich  mit  ihr 
vom  Kantianismus  ab,  der  hier  das  »Bewußtsein  überhaupt' 
als  imaginären  Begriff  einführt,  um  schließlich  doch,  zur 
Religionsphilosophie  fortgezogen,  bei  der  Realität  desselben 
zu  enden  —  wenn  er  nicht  die  antimetaphysische  Haltung 
dadurch  wahrt,  daß  er  die  Philosophie  auf  Methodologie 
der  Naturwissenschaft  beschränkt,  um  nun  wieder  von  der 
Wirklichkeit  nichts  als  ein  großes  Fragezeichen  zurückzu- 
behalten. Für  Lotze  gibt  es  keinen  Ausweg,  nachdem  er 
die  Gleichung  Wissenschaft  =  Naturerkenntnis  =  Relations- 
system akzeptiert  hat.  Die  Unmöglichkeit,  Verhältnisse, 
Differentialgleichungen  als  realiter  existierend  zu  denken, 
wird  ihm  zum  Eckstein,  auf  dem  sich  die  metaphysische 
Spekulation  aufbaut  mit  der  Tendenz,  an  Stelle  der  von  der 
Naturwissenschaft  aufgebauten  Welt  von  Verhältnissen  die 
Ansicht  von  „lebendigen  Wirksamkeiten"  zu  setzen.  Da- 
gegen hat  jener  Rekurs  nicht  mehr  den  Sinn,  einen 
Apriorismus  der  Subjektivität  vorzubereiten.  Im  Gegenteil 
schaltet  Lotze  —  und  hier  vollendet  sich  nun  die  objektive 
Wendung,  die  wir  verfolgten  —  aus  dem  Wahrheitsproblem 
die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Denk-  und  Anschauungs- 
formen als  bedeutungslos  aus  und  begründet  die  A  p  r  i  o  r  i  - 
tat  synthetischer  Urteile  auf  das  Was,  auf  die  „sachliche 
Selbstverständlichkeit  ihres  Inhalts"  —  daß  sie,  einmal 
gedacht,  als  unbedingt  gültig  gedacht  werden  und  nicht 
erst  durch  Induktion  oder  Summati on  aus  ihren  einzelnen 
Beispielen  entstehen.    Das  ist  in  §  357  festgelegt. 

Diese  apriorische  Erkenntnis,  in  der  ein  Sachverhalt 
in  unmittelbarer  Einsicht  als  allgemeingültig  erfaßt  wird, 
bezeichnet  Lotze  als  Anschauung  —  in  Erweiterung 
des  Sprachgebrauchs,  von  der  ,intellektuellen  Anschauung* 
der  Deutschen  Bewegung  her  —  und  charakterisiert  die- 
selbe gegenüber  dem  diskursiven  Denken:  ihre  Leistung 
vollzieht  sich  so  mit  einem  Schlage,  „daß  keine  Schritte 
zu  unterscheiden  sind,  die  zu  einer  Beschreibung  Veran- 
lassung gäben".  Nur  für  die  Anschaulichkeit  im  engeren 
Sinne,  die  die  schlichte  Wahrnehmung  gibt,  hat  er  die 
Charakteristik,   die  die  Beschaffenheit  des  Inhalts   heraus- 


Das  Prinzip  der  Sacheinsicht  und  des  Apriorismus.    TiXXTX 

hebt^):    „unbefangen   sich    selbst   darstellend,    auf    Nichts 
außer   sich   hindeutend   um   verstanden   zu   werden,   nicht 

^  Forderung  eines  noch  zu  suchenden  Inhalts,  sondern  volle 

^  Erfüllung". 

Lotze  unterscheidet  die  Einsicht,  in  der  ein  sach- 
lieber  Zusammenhang  als  selbstverständlich  aufgeht,  als 
„ästhetische  Evidenz"  von  der  spezifisch  logischen,  die 
auf  dem  Identitätsgesetz  beruht,  er  stellt  ihre  Sicher- 
heit auf  gleiche  Stufe  mit  dieser,  er  begründet  auf  sie 
Kant's  Lehre  von  dem  synthetischen  Charakter  der  mathe- 
matischen Urteile  (§  353  ff.),  er  bestimmt  von  ihr  aus  das. 
Ziel  der  Erkenntnis:  nicht  Reduktion  aller  synthetischen 
Verknüpfungen  auf  analytische  ist  die  Aufgabe,  sondern. 
Aufsuchen  der  einfachsten  synthetischen  Wahrheiten.  Denn, 
Zusammenhänge,  die  das  Denken  in  der  Sachverhaltswahr- 
nehmung erfaßt,  weiter  zurückführen  zu  wollen,  wäre  ein 
gegenstandloses  Suchen  nach  Vermittelungen,  die  in  dem; 
Zusammenhang  selber  nicht  enthalten  sind:  „es  gibt  sach- 
lich ursprüngliche  Zusammengehörigkeiten  des  Verschie- 
denen". Und  dieser  Gedanke  ist  in  der  angewandten  Logik 
fruchtbar  gemacht,  wenn  sie  das  Ziel  der  Induktion  dahin 
bestimmt,  „aus  den  unreinen  Beobachtungen  den  reinen 
Fall  eines  in  sich  zusammengehörigen  Bedingungsverhält- 
nisses zu  finden"  2).  Auch  wird  von  hier  aus  die  Rolle  der 
Psychologie  bestimmt:  sie  hat  durch  Kritik  der  Vorurteile 
die  Nebenvorstellungen  zu  entfernen,  die  den  reinen  Be- 
griffsinhalt verdecken  und  zu  Scheinevidenzen  führen;  denn 
die  Erfahrung  regt  nicht  immer  an,  sondern  ist  auch  oft 
—  Lotzo  verweist  auf  die  Geschichte  der  Mechanik  — 
hinderlich  zum  Erfassen  der  „reinen  Fälle"  —  ,,die  Welt 
des  Selbstverständlichen  liegt  nicht  von  selber  selbstver- 
ständlich vor  uns". 

Aber  dieses  Prinzip  der  Sacheinsicht  ist  ihm  noch 
nicht  Garantie  genug  für  die  Gültigkeit,  sobald,  das  Denken 
über  das  Erfassen  der  Wahrheitsbeziehungen  hinaus  zur 
Wirklichkeits-Erkenntnis  hintragen  soll.  Dafür  bedarf  es 
noch  einer  letzten  Garantie,  und  diese  findet  er  in  Fries' 
Prinzip  des  Selbstvertrauens  der  Vernunft,  das  d;ann  wieder 
in  der  ethisch-metaphysischen  Überzeugung  vom  sinnvollen 
Zusammenhang  der  Welt  verankert  ist.  Insofern  behält  der 
ethische  Idealismus  seine  Position  am  Anfang  der  Logik,. 


^)  Metaphysik  §  17;  vgl.  Husserrs  Terminologie.. 
»)  Logik  §  258  ff. 


LXXX      Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

in  demselben  Sinne,  in  welchem  Lotze  bei  Descartes  den 
Rückgang  auf  die  veracitas  Dei  in  der  Erkenntnistheorie 
interpretiert.  Und  ebenso  behält  die  Teleologie  ihre  Position 
am  Schluß,  wo  die  spekulative  Denkform  steht:  die  Voll- 
endung der  Philosophie  liegt  im  Zuge  des  Ideals  von  Plato's 
und  Hegel's  Dialektik:  die  einfachsten  synthetischen  Wahr- 
heiten in  der  Einheit  eines  Grundgedankens,  ,logisch'  un- 
beweisbar gleich  ihnen  selber,  aber  ,ästhetisch*  evident  ein- 
geordnet zu  finden  und  durch  die  inhaltliche  Natur  dieses 
höchsten  Prinzips  die  Einzelformen  der  Wirklichkeit  und 
auch  das  Gelten  von  Gesetzen  für  sie  bestimmt  zu  sehen. 


Die  Metaphysik. 

So  hat  die  Metaphysik,  die  nun  auf  die  Wirklich- 
keit selber,  die  des  Seins  und  Geschehens  ausgeht,  das 
Prinzip  des  Selbstvertrauens  und  damit  die  Teleologie  im 
Rücken.  Sie  stellt  die  Frage  nach  dem  övrcog  öv  in  der 
kritizistischen  Form:  welchen  Bedingungen  das  genügen 
müsse,  von  dem  die  Vernunft  mit  sich  selber  einstimmig 
sagen  darf,  das  es  sei  oder  geschehe.  Und  da  nun  Lotze 
realistisch  daran  festhält,  daß  die  Wirklichkeit  nicht  darin 
aufgeht,  das  Ziel  für  den  Begründungszusammenhang  zu 
sein,  durch  den  sie  von  der  Wissenschaft  konstruiert  wird; 
da  er,  genauer  gesagt,  zwar  an  die  universale  Mission  der 
Galilei'schen  Physik  glaubt,  aber  nicht  bis  zu  der  Konsequenz 
mitgeht,  philosophische  Wesenserkenntnis  falle  zusammen 
mit  dem  Aufdecken  der  Voraussetzungen,  die  gemacht  wer- 
den müssen,  wenn  diese  universale  Erstreckung  der  Diffe- 
rentialgleichungen möglich  sein  soll :  so  wird  er  mit  dem 
Anspruch,  von  der  „auf  sich  selbst  beruhenden  Vernunft" 
„das  innerste  Wesen  der  Wirklichkeit"  zu  erfragen,  zurück- 
geworfen auf  die  Annahme  einer  Übereinstimmung  von 
Denken  und  Sein,  also  auf  den  Vernunftzusammenhang  der 
Welt  —  der  doch  ein  in  sich  problematischer  Ansatz  ist, 
nachdem  der  Gottesglaube  aus  der  metaphysischen  Theorie 
ausgeschieden  wurde.  Dem  entspricht,  daß  er  den  Wahr- 
heitsgehalt der  Ontologie  relativiert  und  ihr,  um  das  zu 
rechtfertigen,  statt  der  Wahrheit  noch  immer  das  anthropo- 
logische Ziel  stellt:  Weltansicht  zur  Befriedigung  der  Ge- 
mütsbedürfnisse (§  94).  Gemindert  wird  die  Problematik, 
dia  aus  diesem  Ansatz  fließt,  dadurch,  daß  sich  Lotze  nun- 
mehr ausdrücklich  in  die  Kontinuität  der  Philosophie-Ge- 


Die  Struktur  der  Metaphysik.  LXXXI 

schichte  einstellt  und  seine  Ontologie  darauf  baut,  daß 
nach  der  Jahrhunderte  langen  Selbstbesinnung  der  Ver- 
nunft ein  zusammenhängendes  Bewußtsein  über  die  Not- 
wendigkeiten sich  müsse  gewinnen  lassen.  So  geht  er  an 
jedes  Problem  mit  den  Begriffen  heran,  die  in  der  Ge- 
schichte dafür  heraufgearbeitet  sind,  und  entwickelt  sie 
erst  hypothetisch,  ehe  er  zur  Entscheidung  kommt.  Und 
eines  der  sichtbarsten  Verdienste  seiner  Leistung  liegt  hier- 
in: die  Begriffsarbeit  der  großen  Metaphysik  wird  wieder 
heraufgehoben,  unter  seiner  leichten  Hand  von  dem  ,Staub 
der  Jahrhunderte'  befreit,  und  in  die  moderne  Stellung 
der  Probleme  hinübergeführt. 

Aber  dies  ist  nun  nicht  der  entscheidende  Gang  dieses 
viel  verzweigten  Werkes,  das  Lotze's  tiefstes  und  reichstes 
ist.  Es  muß  aus  dem  systematischen  Zusammenhang  mit 
der  Logik  begriffen  werden  und  zeigt  dann  ein  Gesicht 
mit  festen  Zügen.  Die  Erkenntnistheorie  hatte  den  Kant- 
schen  Dualismus  von  Empfindungen  und  Denktätigkeiten, 
die  den  Zusammenhang  in  der  Erkenntnis  hervorbringen, 
dadurch  überwunden,  daß  sie  die  sachliche  Bedeutung  der 
Denkleistungen  dazwischenschob  und  diese  von  dem  Be- 
stehen einer  gegliederten  Ideenwelt  abhängig  fand,  womit 
dann  der  Logismus  der  Denkfunktionen  auf  die  Rolle  sub- 
jektiv-reflexiver Formen  herabrückte.  Aber  der  Bestand 
der  Ideenwelt  selber  blieb  noch  als  bloße  Tatsache  stehen: 
sie  eröffnete  den  Weg  zu  der  Wahrheit  und  den  Wahrheits- 
beziehungen, die  kraft  sachlicher  Einsicht  erfaßt  werden, 
aber  schon  in  dem  Terminus  ,Gelten'  lag  die  Abwehr  der 
Rede  von  der  Wahrheit  an  sich.  Die  Ontologie  führt 
nun  diesen  Gang  zu  Ende.  Sie  nimmt  den  entgegengesetzten 
Anfang,  den  von  der  Wirklichkeit  der  Erscheinungen,  die 
nur  „in  der  Empfindung  erlebbar"  ist,  und  bricht  die  dua- 
listische Spitze  der  Zweiweltentheorie  —  Wirklichkeit,  die 
ist,  Wahrheit,  die  gilt,  —  ab  durch  den  monistischen  Satz : 
„Alle  notwendigen  Wahrheiten,  denen  wir  das  Seiende  unter- 
ordnen zu  können  glauben,  sind  nur  Natur  und  Konsequenz 
des  Seienden  selbst  und  werden  nur  durch  Reflexion  des 
Denkens  von  ihm  abgelöst  und  ihm  als  gebietendes  Prius 
antedatiert." 

Hier  lebt  der  Nerv  seines  Systems.  Die  konstruktive 
Metaphysik  liegt  hinter  ihm,  aber  mit  ihr  fäl'.t  die  Kraft  der 
Begriff lichkeit  nicht  dahin.  Die  antikonstruktive  Haltung 
empfängt    ihre    letzte    Begründung:     die   Wirklichkeit     als 

Lot/e,  Loffik.  yj 


LXXXII      Einleitung.   IV.  Das  System  der  Philosophie. 

Ganzes  ist  nur  einmal  da,  muß  als  Einziges  gedacht  werden, 
das  Denken  kann  nicht  hinter  sie  zurückgehen  und  ihre 
durchgreifenden  Züge  wie  die  Veränderung,  das  Werden,  die 
bestimmte  Richtung  des  Werdens  erklären  oder  um  der 
Logik  willen  Herbartisch  wegdeuten  wollen.  Der  Radikal- 
fehler der  Metaphysik,  , die  den  Weltzusammenhang  in 
Wissen  auflöst',  wird  von  Lotze  aufgedeckt :  „Abstraktionen^ 
durch  welche  sie  für  ihren  Gebrauch  einzelne  Restimmungen 
des  Wirklichen  fixiert,  als  konstruktive  und  selbständige 
Elemente  anzusehen,  die  sie  aus  eigenen  Mitteln  wieder 
zum  Aufbau  des  Wirklichen  benutzen  könnte"  (§83).  Die 
Ontologie  muß  sich  „innerhalb  des  gegebenen  Wunders 
der  Wirklichkeit"  halten  und  kann  nur  „die  innere  Ordnung 
des  Gegebenen"  erforschen  wollen.  Das  aber  verrriag  sie 
durch  die  Kraft  der  begrifflichen  Aufklärung,  in  gewissen 
Grenzen  und  in  einem  andern  Sinne  als  die  Einzelwissen- 
schaften. Sie  kann  die  vorwissenschaftlichen  Voraussetzun- 
gen, die  die  natürliche  Weltauffassung  konstituieren  und 
auf  die  sich  schließlich  die  Arbeit  der  Wissenschaft  zu- 
rückbezieht, wie  die  Tatsache  des  Seins  von  Dingen  oder 
des  Wirkens,  als  etwas  mit  zum  Gegebenen  Gehöriges  auf- 
nehmen und  rechtfertigt  nun  ihren  eigenen  Reruf,  solche 
Tatsächlichkeit  zu  verstehen,  so:  „Nachdem  sie  da  war, 
konnte  sie  nicht  da  sein,  ohne  daß  auch  das  gegolten  hätte, 
was  in  ihrem  eigenen  Regriffe  lag  und  ,uns  allein  gestattete, 
sie  von  dem  zu  unterscheiden,  was  sie  nicht  ist  i)."  Die 
Grenze,  an  der  der  unberechtigte  Rationalismus  anfängt, 
ist  durch  die  idealistische  Umkehrung  markiert:  Redingun- 
gen  unserer  Erkenntnis  der  Sache  für  Redingungen  der 
Sache  selbst,  die  logischen  Prinzipien  für  Schranken  des 
sachlich  Möglichen  anzusehen  2).  So  bleibt  es  bei  der 
Wendung  gegen  den  Primat  des  Logischen,  aber  der  Anti- 
rationalismus  ist  nicht  mehr  Sprungbrett  zur  Metaphysiko- 
Theologie,  sondern  geht  in  dem  Kampf  gegen  die  Reflexions- 
philosophie auf,  und  der  Primat  fällt  nicht  mehr  der  Ethik, 
sondern  der  Wirklichkeit  zu,  die  „unendlich  viel  reicher 
als  das  Denken  ist".  Dieser  Hauptsatz  der  Deutschen  Re- 
wegung  geht  mit  dem  realistischen  des  Aristoteles  zu- 
sammen :  „die  Wirklichkeit  des  Seins  gehört  nur  dem  Einzel- 
dinge", und  beide  sind  verbunden  durch  den  Wertbegriff 
der   Wirklichkeit   als    eines   konkreten   Ganzen.      So    geht 


1)  Kl.  Schriften  III  S.  418f.  (Kritik  Fechners  1879). 

2)  Zu  Metaph.   §  76f.  u.  a.  vgl.  Mikrok.  III^  8.  542ff. 


Der  neue  Standpunkt  der  Ontologie.  LXXXIII 

die  Qntologie  mit  ihrer  begrifflichen  Arbeit  antinomina- 
listisch  nun  im  Zuge  der  Deutschen  Bewegung  auf  „die 
ursprüngliche  Einheit"  der  Wirklichkeit  mit  dem,  was  als 
Idee,  oder  Wesen  von  ihr  nur  auf  dem  Reflexionsstandpunkt 
getrennt  wird.  Es  bedarf  keiner  ,Tat  der  Spekulation', 
um  ,Ideales'  und  , Reales'  erst  zu  ,verschmelzenV  keiner 
Vermittelungen,  die  es  auch  nicht  mehr  gibt,  sobald  die 
unrechtmäßige  Trennung  gesetzt  ist,  sondern  nur  der  „Rück- 
kehr zu  einem  Gedankenkreis,  der ,  mir  als  die  ursprüng- 
lichste und  einfachste  Wahrheit  erscheint,  während  er  der 
wissenschaftlichen  Bildung  als  unklare  Phantasie  zu  er- 
scheinen pflegt".  Ihn  zur  Klarheit  zu  bringen,  dazu  dient 
die  Einsicht  in  die  verschiedenen  Strukturformen,  die  Gel- 
tendes und  Seiendes  verbinden,  und  so  geht  nun  die  Unter- 
scheidung der  formal-logischen  und  der  sachlichen  Zusam- 
menhänge  weiter  fort  und  zu  den  realen,  metaphysischen, 
hin. 

Die  logischen  Formen  des  „beziehenden  Vorstellens" 
sind  zwar  schon  in  jeder  Kenntnis  von  etwas  Seiendem 
enthalten,  so  daß  die .  Metaphysik  auch  hinter  sie  nicht 
zurückgehen,  sondern,  den  Zirkel  nur  „reinlich  begehen" 
kann.  Aber,  wie  die.  Erkenntnistheorie  zeigte,  sind  sie 
bloße  Mittel  zur  Wahrnehmung  von  Verhältnissen,  die 
am  Gegebenen  nichts  verändern.  Jedoch  lassen  sie  gerade 
wegen  ihrer  universalen  Anwendbarkeit  auf  alles  Denkbare 
die  realen  Sachverhalte  unbestimmt,  wie  z.  B.  die  Form 
des  hypothetischen  Urteils  nichts  darüber  aussagt,  ob  Kau- 
salität, Zweckordnung  -  oder  bloße  Bedingtheit  gemeint  ist. 
„So  oft  man  Auadrücke  wie  Einheit,  Vielheit,  Gleichheit, 
Gegensatz,  Beziehung  und  Bedingung  auf  die  Betrachtung 
des  Wirklichen  anwendet,  muß  man  sich  erinnern,  durch 
sie  allein  noch  gar  nichts  über  das  Seiende  gesagt  zu  haben; 
man  hat  nur  die  logischen  Handlungen  verglichen,  die  wir 
an  den  Vorstellungen  des  Seienden  vornehmen."  Es  bleibt 
für  die  Metaphysik  die  ständige  Frage:  „durch  welche 
Leistung  beweist  sich,  als  eine  Wirklichkeit",  „betätigt  sich" 
als  sachlich  erfüllt  das  was  wir  logisch  als  Einheit,  Be- 
ziehung usw.  prätendieren? 

Während  dieses  Verhältnis  von  Denken  und  Sein  sich 
auf  den  Akt  des  Denkens  bezieht,  erscheint  nun  bei  der 
Anerkennung  der  sachlichen  Bedeutung  der  Denk- 
leistungen am  Gegebenen  der  Gegensatz  wieder,  da  das 
Denken  nur  die  .Wahrheitsbeziehungen  der  Ideenwelt  er- 
fassen kann  und  dieses  Inhaltssystem  von  der  Wirklichkeit 

YL* 


LXXXIV     Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

sondert.  Aber  gerade  diese  Sonderung  löst  die  Metaphysik 
jetzt  auf  als  eine  bloße  Reflexionsform  —  „die  Zerpflückung 
des  Wirklichen  in  seinen  Inhalt  und  in  seine  Wirklichkeit". 
Lotze  bekämpft  als  den  großen  Irrtum  seit  Kant,  essentia 
und  existentia  so  zu  trennen,  als  ob  deshalb,  weil  das 
Denken  den  unterscheidenden  Inhalt  eines  Individuell- Wirk- 
lichen abgesondert  von  seiner  Wirklichkeit  fixieren  kann, 
die  Wirklichkeit  diesem  Inhalt  als  eine  bloße  Form  der 
Setzung  nur  zukäme,  ohne  etwas  an  der  essentia  zu 
ändern,  —  so  daß  sie  ihm  auch  fehlen  könnte  und  er 
doch  seinen  eigenen  vollen  Sinn  behielte.  Der  Begriff 
des  reinen  Seins  ist  zwar  eine  legitim  gebildete  Abstraktion, 
aber  eben  nur  eine  Abstraktion,  und  wird  unrechtmäßig 
angewandt,  wenn  nicht  die  konkrete  Erfüllung,  in  der  allein 
es  Wirklichkeit  gibt,  mitgedacht  wird.  Da  zur  Wirklichkeit 
ein  Wirkenszusammenhang  gehört,  von  dem  die  Verände.- 
rung  unabtrennbar  ist,  konzentriert  sich  der  Irrtum  in  der 
Annahme,  daß  „das  Was  eines  Dinges  in  völliger  Ruhe 
schon  dasselbe  Was  gewesen  wäre,  das  es  in  dieser  Be- 
wegung ist".  „Die  unaufhörlich  fortschreitende  Melodie 
des  Geschehens  ist  der  metaphysische  Ort,  in  welchem  die 
Systematik  der  Ideenwelt,  die  Vielheit  ihrer  harmonischen 
Verhältnisse,  nicht  bloß  von  uns  gefunden  wird,  sondern 
auch  allein  ihre  Wirklichkeit  hat."  So  spricht  er  von  dem 
„geschehenden  Inhalt"  und  von  den  Ideen  als  der  eigenen 
Verfahrungs weise  der  Dinge:  „jede  von  ihnen  ist  die  Nach- 
ahmung, die  das  Denken  von  einem  der  Züge  versucht,  in 
denen  sich  das  ewig  Wirkliche  ausdrückt".  Mit  dieser  ent- 
scheidenden Wendung  muß  der  Weg  zusammengehalten 
werden,  auf  dem  Lotze  sich  Kant's  Satz  aneignet,  daß  der 
Verstand  der  Natur  ihre  Gesetze  vorschreibe.  Zu  dem 
Ganzen  derselben  Welt  gehörend,  in  der  die  mechanisch 
erklärbaren  Wirkungen  geschehen,  „drängt  die  Vernunft 
nicht  ihre  subjektiven  Gesetze  der  Natur  auf,  sondern  sie 
errät  die  eigenen  dieser  und  stellt  sie  nun  als  verbindliche 
Regeln  dem  Gewirr  der  einzelnen  Vorgänge  zu  deren  Be- 
urteilung und  Erklärung  voran". 

Hier  liegt  die  Abkehr  vom  ethischen  Idealismus  voll- 
endet vor;  sie  wird  ganz  deutlich  an  dem  Gegensatz  zu 
Sigwart,  der  den  Kantischen  Satz  von  diesem  Standpunkt 
aus  so  umformte :  „Die  allgemeinen  Voraussetzungen,  welche 
die  Grundzüge  unseres  Ideals  der  Wissenschaft  ausmachen, 
sind  nicht  sowohl  Gesetze,  welche  der  Verstand  der  Natur 
vorschreibt,   als   vielmehr   Gesetze,   welche   er   sich   selbst 


Die  Ideenwelt  und  die  Realität.  LXXXV 

in  der  Erforschung  und  denkenden  Bearbeitung  der  Natur 
gibti)."  Lotze  erklärt  im  Zuge  seiner  Lehre  von  der  sach- 
lichen Einsicht:  Die  Grundsätze  der  reinen  Mechanik  sind 
apriori,  weil  die  Erfahrung  nur  Anlaß  sein  kann  für  die 
Gedankenarbeit,  die  den  ,reinen  Fall'  aus  den  mitwirken- 
den Nebenbedingungen  herauslöst  und  in  ihm  mit  unmittel- 
barer Klarheit  das  Selbstverständliche  sieht.  So  widerlegt 
er  bereits  die  Ansicht,  die  den  demonstrativen  Charakter 
der  reinen  Mechanik  in  der  Deduktion  aus  selbstgemachten 
Voraussetzungen  beschlossen  findet  und  ihre  Gültigkeit  für 
die  Erfahrung  dann  hypothetisch  Ibeschränken  muß  —  wenn 
es  Wirklichkeiten  gibt,  die  sich  den  Begriffen  genau  sub- 
sumieren lassen.  Diese  Skepsis  ist  untriftig,  weil  die 
Mechanik  „unter  dem  unablässigen  Drucke  der  Erfahrung 
entstanden  ist,  die  Erklärung  verlangte.  Die  abstrakten 
allgemeinen  Bedingungen,  aus  denen  wir  in  ihr  bestimmte 
Folgen  ableiten,  sind  nicht  problematische  Entwürfe  von 
etwas,  das  sich  vielleicht  finden  könnte,  sondern  Reduk- 
tionen des  assertorisch  Gegebenen  auf  seine  allgemein- 
gültige Gestalt"  (Logik  §  359). 

Aber  dieser  realistische  Satz,  daß  die  allgemeinen  Natur- 
gesetze, sobald  sie  sachlich  einsichtig  sind,  nicht  bloß 
hypothetisch  „gelten",  sondern  wirkliche  Verläufe  darstellen, 
empfängt  nun  seinen  vollen  Sinn  erst  dadurch,  daß  die 
physische  Allgemeingesetzlichkeit  als  ein  Grenzfall  der  in- 
dividuellen Kausalität  begriffen  wird.  Und  hier  ist  nun 
wieder  einer  der  Punkte,  wo  Lotze's  Blick  den  wahren  Sach- 
verhalt sieht,  aber,  weil  geistige  Zusammenhänge  in  Sicht 
sind,  spekulativ  abgelenkt  Vvdrd.  Er  stellt  fest,  daß  die  All- 
gemeingesetzlichkeit nur  eine  logische  Forderung  ist,  mit 
der  die  exakten  Wissenschaften  ihren  Anspruch  auf  Allein- 
herrschaft ausdrücken.  Er  schränkt  ihn  ein,  aber  nun  nicht 
sachlich  auf  das  Gebiet  der  Naturerkenntnis,  sondern,  weil 
er  ihn  als  eine  Notwendigkeit  der  Wissenschaft  überhaupt 
gelten  läßt,  muß  er  ihn  ganz  allgemein  einschränken,  und 
alles  Wirken  letzlich  durch  den  Sinn  bestimmt  denken 
und  zwar  sogleich  durch  den  Sinn  des  Weltganzen. 

Er  kommt  an  dieser  kritischen  Stelle  wieder  mit  Hilfe 
der  Unterscheidung  der  formalen,  sachlichen  und  realen 
Bedeutung  des  Logischen  vorwärts.  Die  Annahme  der  All- 
gemeingesetzlichkeit liegt  der  Naturwissenschaft  als  Vor- 
aussetzung apriori,  die  auch  in  der  Induktion  auf  Wahr- 

1)  Sigwart,  Logik  II «  S.  22. 


LXXXVI    Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

scheinlichkeit  bereits  enthalten  ist,  zugrunde;  das  ist  seit 
Kant  die  Widerlegung  des  Empirismus.  Aber  ihre  Apriorität 
ist  nur  eine  formal-logische,  nicht  die  der  sachlichen  Ein- 
sicht, und  bedeutet  daher  von  sich  aus  noch  nicht  Gültig- 
keit, sondern  nur  eine  souveräne  „Rückwirkung'*  des  Den-, 
kens>  das  sein  eigenes  Gebiet  überschreitend,  etwas  über 
die  Natur  des  Wirklichen  allgemein  festsetzt.  ,^ichts  be- 
rechtigt uns  zu  der  Gewißheit,  ausschließlich  durch  all- 
gemeine Gesetze,  die  in  unzähligen  Fällen  der  Anwendung 
dieselben  sind,  werde  dem  jedesmaligen  Tatbestand  der 
neue  zugemessen,  der  seine  Folge  sein  soll"  (117).  So 
konzentriert  sich  das  Problem  auf  das  Verhältnis  von  Ge- 
setzlichkeit oder  Begründungszusammenhang  und  Kausalität. 
Und  die  Lösung  liegt  in  der  Richtung  auf  eine  ursprüngliche 
reale  Einheit  beider,  also  in  der  Aufhebung  der  Lehre  von 
der  Wahrheit  an  sich.  Kausalität  oder  Wirken  bedeutet 
universal  gefaßt  „das,  was  dem  ganzen  Gestaltenreichtum 
der  beobachtbaren  Welt  so  zugrunde  liegt,  daß  ohne  sein 
Zugeständnis  keine  Ordnung  des  Weltlaufs,  welche  Form 
sie  auch  immer  tragen  möchte,  verständlich  sein  würde". 
Dieses  Ordnungsprinzip  darf  nicht  von  der  Wirklichkeit, 
an  der  es  herausgehoben  wird,  gesondert  und  als  ein 
zeitloser  Vernunftzusammenhang  hingestellt  werden,  der 
in  ,die'  Zeit  eintretend,  erst  zur  Wirklichkeit  käme.  Ist 
diese  Trennung  einmal  vollzogen,  so  wird  das  reale  Ge- 
schehen unbegteifbar.  Denn  es  bleiben  dann  nur  die  zwei 
Möglichkeiten:  Entweder  wird  das  Bestehen  von  Wahr- 
heitsbeziehungen, das  als  solches  nur  ein  Gelten  für,  nicht 
ein  Herrächen  über  Wirkliches  sein  kann,  hypostasiert  zu 
einer  Macht  der  Gesetze,  sich  selbst  zu  verwirklichen. 
Oder  die  Naturwissenschaft  wird  im  Verfolg  der  hypothe- 
tischen Form  ihrer  Gesetze  und  der  Idealität  ihrer  Gegen- 
stände rein  auf  die  systematische  Folgerichtigkeit  gestellt, 
so  daß  sie  mit  dem  Begründungszusammenhang  zusammen- 
fällt —  man  denke  an  die  Weltformel  des  Laplace'schen 
Geistes  — :  dann  ist  das  reine  Denken  von  der  Wirklichkeit 
isoliert  und  es  gibt  keinen  Weg  mehr,  den  Vorzug  der 
wirklichen  Welt  vor  einer  bloß  gedachten  zu  begreifen, 
vielmehr  muß  der  Rationalismus,  um  die  gesetzliche  Bin- 
dung der  Wirklichkeit  zu  verstehen,  sich  dahin  übersteigern, 
daß  er  den  Sinn  der  Welt  darin  findet,  daß  sie  der  Wissen- 
schaft einen  Gegenstand  der  Erkenntnis  abgibt.  In  diesem 
Zusammenhange  hat  bereits  Lotze  erkannt,  daß  es  in  der 
Konsequenz  des  selbstgenugsamen  Relationsgedankens  der 


Allgemeingesetzlicbkeit  und  Kausalität.       LXXXVttl 

Naturwissenschaft  li^gt,  das  wirkliche  Geschehen  aufzu- 
heben (65).  Und  seine  Kosmologie  vollendet  dann  die 
Kritik  dieses  logischen  Relativismus  durch  den  Appell  an 
die  Konstanten,  die  in  die  Differentialgleichungen  eingehen. 
„Durch  die  unvermeidliche  Relativität  unserer  Bezeich- 
nungen solcher  Konstanten  darf  man  sich  nicht  zu  dem 
Mißgriff  verleiten  lassen,  sie  selbst  deswegen  für  unbe- 
stimmt zu  halten"  (166). 

Aber  das  ganze  naturwissenschaftliche  Erklärungs- 
schema —  unveränderliche  Beziehungspunkte  und  Rela- 
tionen zwischen  ihnen  —  ist  metaphysisch  unhaltbar.  Es 
drückt  nur  die  subjektive  Bewegung  des  Denkens  aus,  das, 
zunächst  auf  die  Unterscheidbarkeit  der  Inhalte  achtend^ 
eine  Vielheit  ursprünglich  gesonderter  Elemente  ansetzt 
und  nun  die  Verbindung  wieder  herstellt  durch  ihnen  äußer- 
liche Relationen,  die  doch  nur  für  ein  beziehendes  Vor- 
stellen bestehen.  Die  Kluft  ist  eine  selbstgeschaffene.  Die 
Frage  nach  einem  Übergang  aus  Isoliertheit  in  das  Verhält- 
nis des  Sich  nacheinander  Richtens  ist  gegenstandlos,  da 
„ein  NichtZusammensein  kein  Vorkommen  in  der  Wirklich- 
keit hat".  Gegeben  ist  immer  nur  die  konkrete  Leistung, 
das  erfüllte  Wirken;  „alle  räumlichen  und  zeitlichen  Re- 
lationen, welche  wir  als  Vorbedingungen  künftigen  Wirkens 
anzusehen  pflegen,  sind  nur  Ausdrücke  und  Folgen  eines 
bereits  geschehenden"  (82).  Gesetzlichkeit  hat  nicht  an 
sich,  sondern  nur  innerhalb  eines  Wirkenszusammenhanges 
einen  Sinn.  „Die  ,Bedingungen'  sind  die  allgemeine  Ge- 
wohnheit dieses  Wirkens  selbst  i)."  Und  was  liegt  im  Be- 
griff des  Wirkens  selber?  Allerdings  die  Vergleichbarkeit 
der  Inhalte,  diese  „glückliche  Tatsache",  mit  der  die  Ideen- 
welt den  Satz  vom  Grunde  bestätigte  —  aber  nicht  Ver- 
gleichbarkeit nach  dem  Schema  der  Unterordnung  des  Be- 
sonderen unter  das  Allgemeine  der  Gattung,  sondern  ent- 
sprechend dem  Funktionsbegriff,  der  „die  gliedernde  Regel 
des  Zusammenhangs",  „das  durchgreifende  Bildungsgesetz 
der  Einzelnen"  gibt  und  der  individuellen  Kausalität  Raum 
läßt.  Also  eine  notwendige  Voraussetzung  ist  die  Rationali- 
tät des  Wirklichen  nur  in  dem  Sinne  eines  Gewebes  von 
Reihen,  innerhalb  dessen  nach  verschiedenen  Richtungen 
Fortschritte  von  angebbarer  Größe  von  Glied  zu  Glied 
fühi'en^).     Die  analytische  Mechanik  führt  darüber  hinaus, 


1)  Metaph.  §  58,  81,  156,  vgl.  Logik  §  349,  359.  Kl.  Sehr.  III  S.  419. 
2}  Zu  §  232  vgl.  Kl.  Schriften  a.  a.  0. 


LXXXVIII    Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

indem  sie  einen  Gesamteffekt  als  Resultante  aus  isoliert 
berechenbaren  Einzelwirkungen  erklärt.  Sie  verdankt  ihren 
konstruktiven  Charakter  der  sachlichen  Natur  der  Größen- 
verhältnisse, die  den  Inhalt  eines  Allgemeinbegriffs  so  voll- 
kommen aufschließbar  machen,  daß  der  Erfolg  einer  Be- 
dingung, die  den  Begriffsinhalt  determiniert,  konstruier- 
bar ist.  Aber  die  Analytik  ist  nur  ein  Spezialfall  des 
umfassenden  Verhaltens,  das  der  Grundsatz  eines  „er- 
weiterten Mechanismus"  ausdrückt:  „an  die  Vereinigung 
vieler  Elemente  zu  einer  gleichzeitigen  Wirkung  können 
Effekte  geknüpft  sein,  welche  nicht  bloße  Konsequenzen 
der  Einzeleffekte  sind,  die  durch  die  Wechselwirkung 
zwischen  je  zweien  dieser  Elemente  entstehen"  (87,  233). 
Auch  sie  erfolgen  nach  Regeln,  aber  nach  Regeln,  die  von 
dem  konkreten  Sinn  des  Weltganzen  unmittelbar,  nicht  erst 
durch  das  Mittelglied  der  allgemeinen  Gesetze,  abhängig 
sind.  „Das  Geschehen  im  großen  und  allgemeinen  ist  syn- 
thetische Verknüpfung  des  qualitativ  Ungleichartigen  und 
nur  dem  Sinne  nach  Zusammengehörigen,  nicht  bloße  Com- 
bination  des  Identischen."  So  bestimmt  die  Kosmologie 
die  Grundsätze  der  Physik  nicht  als  apriorische  Voraus- 
setzungen, sondern  als  „Gesetze  der  Wirkungen",  in  denen 
„große  Gewohnheiten  der  Natur"  fixiert  sind,  und  ermög- 
licht es  sich  damit,  die  rationalen  Zusammenhänge  nicht 
auf  die  Logik,  sondern  auf  die  „konkrete  Idee"  des  Welt- 
ganzen zu  begründen.  Diese  Begründung  geht  dann  freilich 
wieder  darauf  aus,  das  harte  Faktum  der  Naturgesetzlich- 
keit mittels  des  Zweckgedankens  zu  verflüssigen  —  und 
schließlich  bleibt  doch  für  die  Schwierigkeit  der  Teleologie, 
„daß  das,  was  durch  die  Idee  a  fronte  bedingt  wird,  immer 
mit  dem  identisch  sei,  wozu  durch  den  Mechanismus  ihrer 
Verwirklichung  a  tergo  angetrieben  wird",  nur  die  Antwort: 
So  ist  es  eben  (92). 

Das  Verhältnis  der  Metaphysik  zum  Rationalismus  stellt 
sich  nun  einfach  dar.  Die  Voraussetzungen,  die  unserer 
Weltauffassung  zugrunde  liegen,  drücken  Zusammenhänge 
der  Wirklichkeit  selber  aus  und  sind  nicht  konstitutive 
Kategorien,  die  die  Wirklichkeit  logisch  bedingten.  Lotze 
lehnt  jetzt  die  Rede  von  Kategorien  und  den  Versuch,  sie 
aus  dem  System  der  theoretischen  Vernunft  zu  deduzieren, 
konsequent  ab  (XII).  „Alle  Begriffe  des  Bedingens,  des 
Wirkens  und  der  Tätigkeit  fordern  uns  zur  Voraussetzung 
von  Zusammenhängen  der  Dinge  auf,  deren  Konstruktion 
alles  Denken  übersteigt"  (77).    Und  er  läßt  nun  auch  den 


Abgrenzung  der  Rationalität  innerhalb  der  Wirklichkeit.   LXXXIX 

ursprünglich  und  bis  zum  Mikrokosmus  i)  eingeschlagenen 
Weg,  die  ontologischen  Begriffe  gleich  den  logischen  Grund- 
sätzen als  Projektionen  unserer  geistigen  Natur  zu  erklären 
(womit  dann  die  ethische  Ideologie  folgte),  fallen.  Statt 
dessen  führt  er  die  Klärung  der  Annahmen,  die  in  der 
natürlichen  Weltauffassung  enthalten  sind,  soweit,  daß  das 
mit  ihnen  Gemeinte  und  die  Gedankenformen,  die  den  ge- 
meinten Sachverhalten  adäquat  wären,  bestimmt  sind,  und 
entscheidet  dann  folgendermaßen.  Soweit  es  wie  in  der 
Physik  gelingt,  Tatbestände  der  Wirklichkeit  rein  auf 
logische  Gestalt  zu  bringen,  so  weit  reicht  die  Rationalität 
der  Wirklichkeit  selber.  Schließt  die  deskriptive  Natur  eines 
Gegenstandes,  konsequent  durchdacht,  ein  vom  Bewußtsein 
unabhängiges  Dasein  desselben  aus,  so  muß,  wie  bei  der 
Phänomenalität  des  Raumes,  die  logische  Einsicht  über  die 
natürliche  Anschauung  siegen,  die  dann  aber  psychologisch 
erklärt  werden  muß,  was  in  diesem  Hauptfall  mitteis  der 
Lehre  von  den  Lokalzeichen  versucht  wird.  Ist  dagegen  ein 
Tatbestand,  wie  z.  B.  das  Werden,  durch  keine  logische 
Verbindung  von  Begriffen  faßbar,  so  ist  diese  seine  Un- 
ausdenkbarkeit kein  Argument  gegen  seine  Wirklichkeit; 
denn  eine  —  gegebene  oder  auf  Grund  logischer  Einsicht 
zu  fordernde  —  Leistung  des  Wirklichen  ist  deshalb,  weil 
ihre  Konstruktion  an  der  Unvereinbarkeit  der  Begriffe 
scheitert,  noch  nicht  widersprechend,  sondern  nur  den 
logischen  Gesetzen  überlegen  und  hebt  deren  richtige  An- 
wendung nicht  auf.  „Das  Werden  lehrt  uns,  daß  Sein  und 
Nichtsein  eben  nicht,  wie  wir  hätten  denken  müssen,  kon- 
tradiktorische Prädikate  jedes  Subjektes  sind,  sondern  daß 
es  ein  Drittes  zwischen  beiden  gibt." 

So  sucht  die  Metaphysik  den  sachlichen  Bereich  des 
Rationalen  innerhalb  der  Wirklichkeit  abzugrenzen  und 
widersteht,  wenn  auch  letztlich  in  spekulativem  Interesse, 
den  Lockungen  des  Rationalismus.  Und  da  die  Analysen 
bei  jedem  Problem  neu  mit  unbefangener  Deskription  ein- 
setzen, bleibt  der  Wert  dieser  begrifflichen  Arbeit  unab- 
hängig von  der  spekulativen  Lösung,  die  Lotze  schließlich 
bietet.  Das  gilt  insbesondere  auch  für  die  „Kosmologie", 
die  nunmehr  ausdrücklich  auf  die  Grundlagen  der  Natur- 
erkenntnis ausgeht,  mit  einer  tiefen  Analyse  der  Zeit  den 
,Kantischen  Horizont  der  Phänomenalität'  bereits  vollständig 
durchbricht  und  auch  gegenüber  der  empiristischen  Reduk- 

1)  Mikr.  III 6  S.  543  f.     Vgl.  oben  S.  XLVni. 


XC  Einleitung.    IV.  Das  System  der  Philosophie. 

tion  der  Unendlichkeit  auf  einen  unvollendbaren  Denkprozeß 
den  deskriptiven  Begriff,  „das  Unendliche  als  in  der  Sache 
vorhanden  und  gegeben"  (143,  145),  wiedergewinnt.  Der 
Wendepunkt  liegt  dann  bei  jedem  Problem  darin,  daß  die 
„ursprüngliche  Einheit"  von  Idee  und  Wirklichkeit  als  Ziel 
gesetzt  ist,  das  mit  der  reinen  Kraft  der  Begrifflichkeit 
und  zwar  gerade  an  der  dinglichen  Welt  erreicht  werden 
soll  und  so  doch  nur  immer  als  in  Wirklichkeit  erfüllt 
behauptet  werden  kann,  mit  Wendungen  wie:  „das  Ding 
ist  das  [individuelle]  Gesetz",  „der  Begriff  ist  nichts  weiter 
als  das  eigene  Leben  des  Wirklichen".  Auch  die  Idee  der 
Einheit  des  Weltganzen  soll  auf  diesem  Wege,  mittels  Zer- 
gliederung des  Begriffes  der  Wechselwirkung,  bestimmt 
werden.  Hier  stehen  neben  der  fruchtbaren  Gedanken- 
arbeit, mit  der  Lotze  die  Kausalvorstellung  auf  eine  höhere, 
abstraktere  Stufe  erhoben  und  die  metaphysische  Unzuläng- 
lichkeit des  positivistischen  Funktionsbegriffs  dargetan  hat, 
seine  Spekulationen  über  die  „innerlichen  Regungen"  der 
Dinge,  die  sich  stufenweis,  von  dem  Grenzfall  der  Gravi- 
tationsprozesse an  aufwärts,  in  der  Ablaufsform  des  Wirkens 
geltend  machen,  und  über  den  „sympathetischen  Rapport" 
der  Kraftzentren  innerhalb  der  „Einheit  des  wahrhaft  Seien- 
den, das  für  alle  Wesen  Grund  ihres  Seins,  Quelle  ihrer 
eigentümlichen  Natur  und  die  eigentliche  in  ihnen  wirk- 
same Tätigkeit  ist".  Jedoch  ist  mit  diesem  Begriff  des 
All-Einen  analog  wie  bei  dem  der  seelischen  Einheit  nicht 
eine  substanziale,  sondern  eine  Einheit  des  Sinnes,  das 
„Sichgeltendmachen  als  Einheit"  gemeint  i).  Es  ist  im 
Grunde  der  entwicklungsgeschichtliche  Pantheismus  der 
Deutschen  Bewegung  —  die  Welt  als  ein  lebendiges  Ganzes, 
in  dem  „ein  Strom  innerlichen  Wirkens  sich  von  Phase 
zu  Phase  fortpflanzt"  und  die  Aufeinanderfolge  der  Phasen 
und  die  Gestalt  eines  jeden  dieser  „Weltaugenblicke"  be- 
stimmt ist  durch  den  „ästhetischen  oder  dialektischen  Zu- 
sammenhang der  konkreten  Idee",  die  als  der  einfache 
Urcharakter  des  individuellen  Weltganzen  zu  denken  ist, 
aber  immer  nur  in  den  bestimmten  Ausprägungen  ihres 
beständigen  Sinnes  Wirklichkeit  hat  und  in  ihrem  Ansich 
unerforschlich  ist.  Diese  Weltansicht,  mit  der  ihn  die 
Philosophie  empfangen  hatte,  ist  jedoch  umgeformt:  er 
wendet  sie  zum  Panentheismus  hin,  so  daß  Raum  für  einen 
allmächtigen   Gott  bleibt;   er  bringt  seinen   Gedanken  von 

1)  Zu  §  97  vgl.  Kl.  Schriften  in  S.  421. 


Die  Weltansicht  des  Panentheismus.  XOI 

dem  Haushalt  der  Natur  mit  und.  sucht  zu  zeigen,  daß  der 
dialektische  Zusammenhang  der  Idee,  um  Wirklichkeit  wer- 
den zu  können,  in  einen  Kausalzusammenhang  übergehen 
muß ;  er  rettet  schließlich  für  das  Seelenleben  ein  relativ 
selbständiges  Dasein:  wo  Selbstbewußtsein  ist  oder  auch 
nur  Selbstgefühl^  ist  wesenhaftes  Eigensein,  echte  wahre 
Bealität  des  Fürsichseins ;  dagegen  i?t  mit  dem  Begriff  der 
bloßen  Dingheit  eo  ipso  die  absolute  Unselbständigkeit  des 
Daseins  gesetzt:  die  Leistungen,  die  wir  Dingen  zuschreiben, 
lassen  sich  als  elementare  Aktionen  des  Einen  Weltgrundes 
begreifen.  Doch  ist  Lotze  auch  im  Spekulieren  nicht  ein- 
seitig und  läßt  auch  die  Möglichkeit,  mit  Fechner's  Phantasie 
an  Allbeseelung  zu  glauben.  In  diesem  Zuge  konnte  er 
mit  Grund  enden:  „Gott  weiß  es  besser". 


Literatur. 

Hauptsohriften  Lo.tze's. 

Metaphysik,  Lpz.  1S41. 

Logik,  Lpz.   1843. 

Abhandlungen:  Herbart's  Ontologie  1843;  Leben.     Lebenskraft  1843 ; 

Seele  und  Seelenleben  1846;  Über  den  Begriff  der  Schönheit  1845; 

Über  Bedingungen  der  Kunstschönheit  1847. 
Allgemeine  Physiologie  des  körperlichen  Lebens,  Lpz.   1851. 
Medizinische  Psychologie  oder  Physiologie  der  SeeliB,  Lpz.  1852. 
Streitschriften,  Erstes  (einziges)  Heft,  gegen  J.  H.  Fichte,  Lpz.  1857. 
Mikrokosmos.      Ideen    zur    Naturgeschichte    und    Geschichte    der 

Menschheit.    Versuch  einer  Anthropologie.     Lpz.  Bd.  I  1856,  II  1858, 

III  1864;  Fünfte  Auflage  1905. 
Geschichte  der  Ästhetik  in  Deutschland,  München  1868. 
System    der    Philosophie,    Lpz.       I.    Teil.     Drei   Bücher    der 

Logik  11874,  2  1879.     IL  Teil.     Drei  Bücher  der  Metaphysik  1879. 
Abhandlungen:  Philosophy  in  the  last  forty  years  1880  und  (posthum). 

Über  die  Prinzipien  der  Ethik. 


XCII  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

Die  Abhandlungen  findet  man  mit  den  aufschlußreichen  Rezensionen 
und  Selbst  an  zeigen  zusammen  in  Kleine  Schriften  von  H.  L.,  3  Bde. 
hrg.  mit  einem  ausführlichen  Sachregister  von  David  Peipers,  Lpz. 

,    1885—91. 

Die  Diktate  aus  Lotze's  Vorlesungen  über  Logik  und  Encyclopädie  der 
Philosophie,  Metaphysik.  Naturphilosophie,  Psychologie,  Praktische 
Philosophie,  Ästhetik,  Religionsphilosophie,  Geschichte  der  deutschen 
Philosophie  seit  Kant  wurden  in  8  Heften  nach  seinem  Tode  heraus- 
gegeben (in  den  verschiedenen  Auflagen  sind  z.  T.  Vorlesungen 
verschiedener  Jahre  benutzt) ;  im  Anhang  derselben  findet  man 
biographische  und  bibliographische  Nachweise. 

Schriften   über  Lotze. 

Von  der  Biographie,  die  Richard  Falckenberg  in  den  Klassikern  der 
Philosophie  begann,  ist  bisher  nur  erschienen  Teil  I.  Das  Leben 
und  die  Entstehung  der  Schriften  nach  den  Briefen,  Stuttgart  1901. 
Von  Falckenberg  angeregt  sind  eine  Reihe  Erlanger  Dissertationen 
über  Lotze. 

Die  zahlreichen  Schriften  über  Lotze  sind  gesammelt  in  Überweg- 
Heinze's  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  IV.  Eine 
zusammenfassende  Darstellung  gaben  (mit  besondprer  Rücksicht  auf 
das  spekulative  Moment):  J.  E.  Erdmann,  Grundriß  der  Geschichte 
der  Philosophie,  wo  Lotze  den  Abschluß  bildet,  in  der  4.,  von 
Benno  Erdmann  herausgeg.  Auflage  (Berlin  1896)  S.  891 — 913; 
Edm.  Pfleiderer,  L.'s  philosophische  Weltanschauung  nach  ihren 
Grundzügen,  Berlin  1884;  Ed.  v.  Hartmann,  L.'s  Philosophie, 
Lpz.  1888;  Henri  Schoen.  La  melaphysique  de  H.  L.  ou  la 
Philosophie  des  actions  et  des  r^actions  r6ciproques.  These  pour 
le  doctorat  ^s  lettres,  Paris  1901.  Von  einer  Monographie,  die 
L.  Ambrosi  vorbereitet,  erschien  die  Einleitung  in  der  Zeitschrift 
Cultura  f.losofica  t.  III  1909. 

Schule  hat  Lotze  nicht  gemacht.  Auf  ihn  beziehen  sich  innerhalb 
der  Deutschen  Philosophie  (seine  Wirkung  ist  auch  in  Frankreich, 
England  und  Amerika,  Italien,  Schweden  zu  bemerken)  vornehmlich 
Stumpf,  Husserl,  auch  Twardowski,  in  anderer  R  chtung  (Zwei- 
weltentheorie, Wertbegriff  der  Wahrheit)  Windelband.  Rickert,  Lask 
und  in  der  naturwissenschaftlichen  Fraktion  des  Kantianismus  be- 
sonders Otto  Liebmann  und  H.  Driesch;  ferner  Steinthal,  Dilthey 
in  früheren  Arbeiten,  Teichmüller,  Eucken;  auch  Frege  iet  ein 
Schüler  von  ihm. 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren 

(1880). 

Jede  philosophische  Ansicht,  die  den  Geist  ihrer  Zeit 
und  womöglich  den  der  Zukunft  zu  beherrschen  sucht, 
pflegt  auf  drei  Vorzüge  Anspruch  zu  machen:  ihr  höchstes 
Prinzip  soll  unwiderlegbar  sein,  ihre  Methode,  in  der 
Regel  durchgängig  ein  und  dieselbe,  soll  einfach  sein; 
und  schließlich  soll  die  logische  Struktur  des  Systems, 
in  welchem  sie  die  von  ihr  gewonnenen  Ergebnisse  zu- 
sammenfaßt, durchaus  auf  intuitiver  Evidenz  beruhen.  Ich 
würde  mich  scheuen,  auf  einen  dieser  drei  Titel  den 
viel  bescheidneren  Anspruch  zu  gründen,  daß  ich  die  freund- 
liche Aufmerksamkeit  meiner  englischen  Leser  für  die 
Gedanken  zu  gewinnen  suche,  die  ich  ihnen  hier  vorlege; 
aber  ich  möchte  die  Gründe  auseinandersetzen,  aus 
denen  ich  den  Wert  von  allen  dreien  bezweifle,  und  die 
mich  bis  jetzt  dazu  bestimmt  haben,  daß  ich  jeden  Ge- 
danken an  einen  Versuch,  meinen  eignen  Gedanken  einen 
solchen  Stempel  aufzudrücken,  aufgegeben  habe. 

Als  ich  meine  philosophischen  Studien  begann,  war 
die  herrschende  Meinung  noch  die,  der  Fichte  den 
deutlichsten  Ausdruck  gegeben  hat,  daß  keine  Theorie 
der  Welt  als  Wahrheit  und  Wissenschaft  gelten  könne, 
welche  nicht  imstande  wäre,  alle  besonderen  Teile  des 
Weltlaufs  als  unselbständige  Folgen  eines  einzigen  all- 
gemeinen Prinzips  zu  erklären.  Groß  geworden  in  den 
Traditionen  der  Hegeischen  Schule,  die  selber  diese 
Forderung  vollständig  erfüllt  zu  haben  glaubte,  habe  ich 
ständig  an  dem  Bestandteil  von  Wahrheit  festgehalten, 
den  Fichte 's  Behauptung  mir  zu  enthalten  schien.  Aber 
gleichzeitig  konnte  ich  mir  nicht  verhehlen,  daß  ein 
Unterschied  besteht,  den  diese  Behauptung  vollständig  aus- 
löschte.   Für   die   Welt  selbst   —  den  großen   Gegenstand 


XCrV  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

unsrer  Forschungen  —  zögerte  ich  nicht,  diese  Einheit 
vorauszusetzen,  welche  alle  individuellen  Besonderheiten 
dieser  Wirklichkeit  aus  einer  gemeinsamen  Quelle  zieht; 
aber  ganz  anders  schien  es  mir  mit  der  Philosophie  zu 
stehen,  d.  h.  mit  dem  menschlichen  Bestreben,  von  dem 
Standpunkt  ßtMS,  auf  den  wir  uns  in  der  Welt  gestellt 
finden,  für  uns  einen  Einblick  in  dies  allumfassende 
System  zu ,  gewinnen.  Nur  ein  Geist,  so  schien  mir,  der 
im  Mittelpunkte  des  Universums  stände,  das  er  selbst 
geschg-ffen,  könnte  mit  der  Kenntnis  des  letzten  Zwecks, 
den  er  selbst  seiner  Schöpfung  gegeben,  alle  ihre  ein- 
zelnen Teile  vor  sich  vorüberziehen  lassen  in  der 
majestätischen  Folge  einer  ununterbrochenen  Entwicklung. 
Wir  endlichen  Wesen  aber  sitzen  nicht  aii  der  lebendigen 
Wurzel  alles  Seins,  sondern  irgendwo  in  den  Zweigen,  die 
aus  .  ihr  erwachsen  sind,  und  nur  auf  mannigfachen  Um- 
wegen:  und  :  unter  sorgfältiger  Benutzung  aller  Hilfsmittel, 
die  -unsre  Lage  uns  bietet,  können  wir  hoffen,  von  dem 
Boden,  .auf  dem  wir  stehen,  von  dem  System,  zu  dem 
wir  gehören,  und  von  der  Richtung,  in  der  die  Bewegung 
des  großen  Ganzen  uns  mit  sich  fortträgt,  eine  an- 
nähernde Kenntnis  zu  gewinnen.  Der  menschliche  Geist 
verdient  sicherlich  keinen  Tadel  dafür,  daß  er  auf  jedem 
Standpunkt,  den  sein  Wissen  erreicht,,  ein  vollständiges 
Bild  des  Ganzen  zu  entwerfen  sucht,  das  sich  mit  logischer 
Strenge  auf  der  gewonnenen  Grundlage  erheben  soll.  Aber 
j6ne :  Aufgabe  einer  Entwicklung,  die  die  Mannigfaltig- 
keit der  Welt  von  einem  einzigen  Grundprinzip  aus 
fortschreitend  ableiten  soll,  ist  in  sich  selbst  unvollend- 
bar ;  die  dringendere  und  größere  Arbeit  der  Philosophie 
muß  vielmehr  meiner  Ansicht  nach  die  Gestalt  einer  regres- 
siven Untersuchung  tragen,  die  zu  entdecken  und  sicher 
festzustellen  sucht,,  was  als  lebendiges  Prinzip  in  dem 
Aufbau  und  Lauf  der  Welt  erkannt  und  angewandt 
werden  kann. 

;  Noch  ein  andrer  Zweifel  jedoch  steigt  in  mir  auf 
und  macht  es  mir  sehr  ungewiß,  ob  ich  selbst  am  Ende 
meiner  Wanderschaft  vor  demselben  Ziel  stehe,  von  dem 
die  idealistischen  Ansichten  jener  Periode  ausgingen.  Seit- 
deiii  die  Menschen  überhaupt  philosophieren,  haben  sie 
sich  zwischen  zwei  extremen  Dispositionen  bewegt.  Düster 
und  mißtrauisch,  hält  die  eine  dafür,  daß  der  wahre  Kern 
der»  Wirklichkeit  in  einer  dunklen  Realität  bestehe,  die  dem 
Denken  nie  zugänglich  werde;  die  andre  vertraut  kühn  und 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jähren.  XGV 

hoffnungsvoll  darauf,  daß  nichts  der  Wissenschaft  un- 
durchdringlich sei,  und  ist  überzeugt  davon,  Ideen  als  das 
innere  Wesen  von  allem  entdecken  zu  können,  was  auf 
den  ersten  Blick  noch  so  seltsam  und  unerklärlich  er- 
scheint. Ich  konnte  keine  von  diesen  beiden  Dispositionen 
teilen.  Ich  war  überzeugt,  daß  die  erste  von  ihnen  irrig 
ist.  Es  mag  in  der  Verwicklung  der  Dinge  vieles  geben, 
was  vorübergehend  oder  dauernd  verborgen  oder  im  Dun- 
keln bleibt.  Aber  ganz  unglaublich  war  mir  der  Begriff  eines 
derart  zwiespältigen  Universums,  daß  das  ganze  geistige 
Leben  immer  mit  einer  äußerlichen  ihm  ewig  undurch- 
dringlichen Realität  zu  tun  hätte.  Jedoch  konnte  mein 
Vorurteil  zugunsten  der  Einheit  der  Welt,  dem  die  erste 
dieser  Ansichten  so  widersprach,  mich  nicht  bestimmen, 
mir  die  zweite  ohne  Vorbehalt  anzueignen.  Philosophie 
will  Wissenschaft  sein,  und  ihr  Werkzeug  muß  daher 
einfach  die  Verknüpfung  von  Gedanken  sein;  infolgedessen 
verfällt  sie  leicht  in  den  schweren  Irrtum,  den  Wert  dieses 
Werkzeugs  ihrer  Arbeit  auf  eine  doppelte  Weise  zu  über- 
schätzen. Sie  ist  sehr  leicht  bereit,  das  Wissen  als  das 
einzige  Tor  zu  betrachten,  durch  welches  das,  was  das  Wesen 
der  Wirklichkeit  ausmacht,  mit  dem  Geiste  in  Konnex 
tritt,  und  die  besonderen  Formen  der  Verknüpfung,  durch 
welche  wir  in  unsrem  eigenen  Denken  daä  Mannigfaltige 
begreifen  und  vereinen,  für  die  Bänder,  und  die  einzigen 
Bänder,  zu  halten,  die  auch  in  der  wirklichen  Natur  der 
Dinge  die  verschiedenen  Elemente  zusammenhalten.  Aber 
geistiges  Leben  ist  mehr  als  Denken.  Vieles  geht  in  uns 
vor,  was  selbst  unser  denkender  Geist  nur  von  außen 
verfolgt  und  betrachtet  und  dessen  eigentlichen  Inhalt 
er  nicht  erschöpfend  darstellen  kann,  weder  in  der  Form 
einer  Vorstellung,  noch  durch  eine  Verbindung  von  Vor- 
stellungen. Wer  von  der  Überzeugung  beseelt  ist,  daß  die 
Wirklichkeit  dem  Geist  nicht  undurchdringlich  sein  kann, 
vermag  daher  nicht  mit  gleicher  Zuversicht  zu  behaupten, 
daß  das  Denken  grade  genau  das  Organ  sei,  das  imstande 
wäre,  das  Wirkliche  in  seinem  innersten  Wesen  zu  erfassen. 
Ich  werde  etwas  später  auf  den  präzisen  Sinn  dieser  Aus- 
drücke zurückkommen  und  will  jetzt  ihre  Bedeutung  nur 
dadurch  erklären,  daß  ich  an  die  Vielen  erinnere,  die  be- 
haupten, daß  sie  das,  was  das  Höchste  in  der  Welt  ist, 
vollkommen  geistig  erfahren,  in  Glaube,  Gefühl,  Ahnung, 
Offenbarung,  und  die  trotzdem  bekennen,  daß  sie  es  nicht 
im  Denken  besitzen.   Wir  werden  unsern  Standpunkt  dieser 


XCVl  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

Anschauung  gegenüber  auf  einer  späteren  Stufe  bestimmen, 
aber  wir  wollen  schon  hier  eine  Konzession  im  voraus 
machen.  Alle  Wissenschaft  kann  natürlich  nur  mit  Ge- 
danken operieren  und  muß  den  Gesetzen  unseres  Denkens 
folgen;  aber  sie  muß  einsehen,  daß  sie  in  allen  Objekten, 
mit  denen  sie  sich  beschäftigt,  und  besonders  in  jenem 
höchsten  Prinzip  von  Allem,  das  sie  voraussetzt,  etwas 
finden  wird,  das  selbst  wenn  es  geistig  ganz  vollständig 
erfaßt  wäre,  dennoch  nicht  in  Form  einer  Vorstellung 
oder  eines  Gedankens  erschöpft  werden  könnte.  Die  Or- 
ganisation dieses  Etwas,  so  wird  sie  weiter  finden,  ver- 
bindet seine  Glieder  nach  einem  Plan,  der  nicht  nach 
den  gewöhnlichen  logischen  Gesetzen  demonstrierbar  ist, 
sondern  vielmehr,  wenn  er  bekannt  ist,  die  Richtung  an- 
gibt, in  welcher  das  Denken  sich  bewegen  muß,  um  die 
Verbindung,  die  es   sucht,   zu  finden. 

Man  würde  mich  mißverstehen,  wenn  man  dächte,  ich 
gäbe  diese  beiden  Ansichten  für  dauernde  Lehrmeinungen 
aus,  auf  deren  unzweideutiges  Verständnis  ich  schon  hier 
rechnen  könne;  in  Wirklichkeit  meine  ich  mit  ihnen  nur 
die  Dispositionen  und  Vorurteile  zu  beschreiben  —  Vor- 
urteile, die  sich  ihrer  Bedeutung  nach  nicht  klar  waren  — , 
mit  denen  ich  in  den  lebendigen  philosophischen  Strom 
meiner  Jugend  eintrat.  Wer  sich  der  Geschichte  jener 
Periode  erinnert,  wird  sich  entsinnen,  wieviel  Anreize  zu 
all  diesen  Zweifeln  in  der  Philosophie  Hegel 's  liegen. 
Diese  Philosophie  suchte  durch  ihre  dialektische  Methode 
den  ganzen  Inhalt  der  physischen  und  geistigen  Welt 
bloßzulegen,  jedes  besondere  Ding  genau  an  dem  Platze, 
den  es  im  Plan  der  Welt  einnimmt;  aber  die  Auf- 
schlüsse, die  sie  dann  gab,  besagten  nicht  viel  mehr, 
als  daß  es  eben  diesen  besonderen  Platz  einnehme.  Die 
eigentümliche  Bestimmtheit,  mit  der  jeder  einzelne  Teil 
des  Ganzen  seinen  Platz  im  System  ausfüllt,  blieb  ein 
überflüssiger,  wenig  beachteter  und  für  unerklärbar 
gehaltener  Umstand,  und  das-  Wesentliche  in  jeder 
Tatsache  und  Erscheinung  bestand  darin,  daß  sie  als 
das  n  ^®  oder  n  +  1  *^®  Beispiel  in  den  Gesamtreihen 
aller  wirklichen  Dinge  einen  der  wenigen  abstrakten  Ge- 
danken wiederholte,  die  die  Hegeische  Methode  als  den 
tiefsten  Sinn  der  Welt  verkündete.  Es  ist  bekannt,  wie 
weit  die  Reaktion  gegen  diese  Herabminderung  alles  Eigen- 
tümlichen und  Konkreten  um  sich  griff,  und  wie  sie 
ScheUing  zu  dem  unerfüllten  Versprechen  führte,  dieses 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  XGVII 

System  der  Notwendigkeit  durch  ein  System  der  Frei- 
heit zu  ersetzen.  Zuerst  hegte  ich  einige  Sympathie  |üb 
die  Form,  in  der  die  Erfüllung  dieses  Versprechens  gedacht 
war;  aber  wirklich  befriedigen  konnten  mich  weder  die. 
Resultate,  soweit  sie  vor  mir  lagen,  noch,  auch  die  Axt 
und  Weise,  wie  sie  erlangt  werden  sollten ;  und  schließ- 
lich fand  ich  mich  in  vollem  Widerspruch  zu  dieser 
Anschauung.  ;. 

Ich  hätte  diesen  persönlichen  Erinnerungen  nicht  Raum 
gegeben,  wenn  ich  nicht  überzeugt  wäre,  daß  mit  Atis-- 
nahme  weniger  Fälle  eine  langhin  fortgesetzte  philo- 
sophische Arbeit  nichts  anders  ist  als  der  Versuch,  eine 
in  früher  Jugend  ergriffene  Grundanschauung  wissenschaft- 
lich zu  rechtfextigen.  In  der  Tat  ist  Philosophie  immer 
ein  Stück  Leben,  und  ebenso  wie  wir  im  Handelsaustausch 
unis  gegenseitig  unterstützen,  mag  auch  die  Erzählung  von 
einer  Bewegung  des  Denkens,  wie  sie  sich  in  eines  Men- 
schen Brust  gestaltet  hat,  andern  nützlich  seijx,  die  dem- 
selben Ziel  nachstreben.  Wenigstens  biete  ich  meine  Ge- 
danken nur  in  diesem  Sinne  an,  nicht  in  der  eitlen  Hoff- 
nung, dem  Strom  der  Forschung  nach  einem  Lauf  von 
Tausenden  von  Jahren  eine  definitive  Wendung  zu  geben; 
aber  mit  der  Zuversicht,  daß  man  anerkennen  wird,  ich 
bin  nicht  am  Anfang  meiner  Wanderschaft  müde  geworden,, 
sondern  habe  versucht,  sie  his  zum  Ende  durcbzuführen, 
um  mir  selbst  klär  zu  machen,  ob  und  wieweit  es  mög- 
lich sei,  eine  wissenschaftliche  Rechtfertigung  für  eine  An- 
schauung zu  gewinnen,  die  ich  natürlich  vorläufig  nur  als 
ein  Vorurteil  von  mir,  als  das  subjektive  Prinzip,  das  mich; 
antrieb,  beschreiben  konnte. 

Und  nun  kehrt  die  Frage,  die  ich  zuerst  unbeantwortet 
lassen  mußte,  mit  neuer  Bedeutung  wieder.  Wenn  es  un- 
möglich war,  von  vornherein  in  kurzem  und  scharfem 
Ausdruck  das  festzustellen,  wovon  ich  tätsächlich  voraus- 
setzte, daß  es  die  lebendige  Quelle  der  Wirklichkeit  sei, 
so  war  es  um  so  wünschenswerter,  sich  jenes  sicheren 
Prinzips  der  Erkenntnis  zu  vergewissern,  von  dem  als 
einem  Ausgangspunkt  aus  es  möglich  sein  würde,  einen 
Gedanken  zu  bestimmen  und  klarzumachen,  dessen  Inhalt 
noch:  so  undeutlich  bekannt  war.  Wie  oft  in  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  haben  die  Menschen,  als  sie 
sich  in  die  Konsequenzen  früherer  Irrtümer  verstrickt 
fanden,  den  Entschluß  gefaßt,  auf  die  Quellen  aller  Ge- 
wißheit zurückzugehen,  und  wie  geringe  Frucht  haben  alle 

Lotzc,  Logik.         '  VII 


XCVIII         Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

diese  Versuche  getragen?  Und  diesen  Mißerfolg  konnte 
man  voraussehen.  In  den  Erzen  einer  bisher  unzugäng- 
lichen Mine  kann  man  vielleicht  ein  neues  Metall  oder 
Element  finden,  das  die  Zahl  der  bis  dahin  bekannten  ver- 
mehrt; aber  wie  könnten  wir  ernstlich  hoffen,  jetzt,  nach- 
dem das  menschliche  Denken  in  Jahrtausenden  alles  Mög- 
liche und  Unmögliche  durchschritten  hat,  noch  ein  neues 
Prinzip  der  Gewißheit  zu  entdecken,  das  der  Welt  vorher 
unbekannt  war?  Alle  solche  Versuche  haben  in  Wirk- 
lichkeit auf  dem  kürzesten  Wege  wieder  auf  längst  be- 
gangene Pfade  zurückgeführt.  Wenn  Descartes  mit 
dieser  Absicht  von  der  Gewißheit  eines  C ogito  smsging,^) 
so  setzte  er  an  die  Spitze  seiner  Betrachtungen  das  Ge- 
wisseste von  der  Welt  —  denn  niemand  leugnete  es  — , 
aber  auch  das  Unfruchtbarste.  Niemand  verlangt  danach, 
die  Tatsache,  daß  wir  denken,  noch  einmal  bestätigt  zu 
bekommen;  was  uns  zu  wissen  not  täte,  das  wäre,  welche 
von  den  vielen  Gedanken,  die  wir  haben,  wahr,  und 
welche  von  ihnen  falsch  sind;  für  dieses  Problem  aber 
konnte  jene  Tatsache,  die  Irrtum  so  gut  wie  Wahrheit  ein- 
schließt, einen  Entscheidungsgrund  nicht  enthalten.  Des- 
cartes machte  dementsprechend  einen  zweiten  oder  neuen 
Anfang,  wenn  er  das  Merkmal  der  Wahrheit  in  der  Klar- 
heit und  Deutlichkeit  fand;  neu,  für  ihn  natürlich,  denn 
dies  zweite  Prinzip  konnte  von  dem  leeren  Cogito  und 
der  Gewißheit  desselben  nur  vermöge  einer  Analogie  ab- 
geleitet werden,  die,  wenn  sie  schlüssig  wäre,  selbst  ein 
Teil  der  gesuchten  Grundwahrheit  wäre;  aber  in  Wirk- 
lichkeit zieht  sich  dieses  zweite  Prinzip  so  sehr  durch  die 
ganze  Geschichte  des  Philosophierens,  daß  überhaupt  nie 
auf  einem  andern  als  ihm  der  menschliche  Geist  sein 
Vertrauen  in  die  Wahrheit  seiner  Gedanken  je  gegründet 
hat.  Und  nachdem  es  erlangt  war,  war  es  geradeso  un- 
fruchtbar wie  das  erste;  denn  es  hilft  uns  wenig,  die 
formalen  Bedingungen  zu  kennen,  denen  ein  Gedanke  ge- 
nügen muß,  wenn  man  ihn  für  wahr  halten  soll;  es  ist 
viel  wichtiger,  die  tatsächlichen  Gedanken  festzustellen, 
die  diesen  Bedingungen  genügen.  So  sehen  wir  uns  denn 
nach  dem  ganzen  Pomp  dieses  Anfangs  wieder  zu  dem 
alten  Problem  zurückgeworfen.  Wieder  gilt  es  hinter  der 
Wahrheit    herzujagen,    ohne    zu    wissen,    wo    wir   sie    zu 


1)  Vgl.  diese  Logik  §  323  (Anmerkung  des  Herausgebers;  so  auch 
die  folgenden  Anmerkungen). 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  XCIX 

suchen  haben;  oder  höchstens  sind  wir  mit  einem  Kri- 
terium ausgerüstet,  das  uns  gestattet,  unter  den  Gedanken, 
die  uns  grade  vorkommen,  die  wahren  von  den  falschen 
zu  unterscheiden.  Und  selbst  dieses  Kriterium  ist  nicht 
sicher,  wie  Descartes*  eigenes  Beispiel  zeigt;  denn 
als  er,  auf  sein  gutes  Glück  vertrauend  und  nicht  länger 
von  einer  Methode  geleitet,  Umschau  hielt  nach  den  Grund- 
gedanken, die  notwendig  wahr  sein  müssen,  da  verleß 
ihn  vollständig  der  gute  Stern,  der  ihm  bei  seinen  mathe- 
mathischen  Untersuchungen  geleuchtet  hatte.  Und  das  ist 
auch  nichts  Überraschendes,  denn  in  bezug  auf  die  Frage, 
worin  die  Evidenz  bestehe,  sind  die  Überzeugungen  der 
Menschen  niemals  völlig  einig  gewesen,  und  üescartes 
hatte  nicht  zu  bestimmen  versucht,  wie  die  falsche  Evidenz 
eines  geläufigen  Irrtums  von  der  echten  Evidenz  einer 
Wahrheit  zu  unterscheiden  sei.  Indem  er  erklärt,  wahr 
ist,  was  sehr  deutlich  (fort  distinctement)  gedacht  ist, 
überläßt  er  unsrer  eignen  Entscheidung  die  Aufgabe,  den 
Grad  von  Klarheit  festzustellen,  bei  dem  unser  Vertrauen 
auf   seine   Wahrheit  beginnen   darf. 

Ich  werde  das  Ziel  dieser  Bemerkungen  am  ehesten 
erreichen,  wenn  ich  noch  ein  wenig  diese  historischen 
Erinnerungen  fortsetze.  In  den  beiden  letzten  Jahrhun- 
derten ist  Descartes  der  Ausgangspunkt  eines  Intel- 
lektualismus geworden,  der,  in  seinem  allgemeinsten  Sinn 
gefaßt,  immer  eine  teils  anerkannte,  teils  abgeleugnete 
Voraussetzung  alles  Philosophierens  gewesen  ist.  Denn 
sein  allgemeinster  Sinn  besteht  einzig  darin,  daß  jeder, 
der  eine  Untersuchung  führt,  sich  selbst  notwendig  den 
Besitz  von  Entscheidungsgründen  für  sein  Urteil  zuschreibtj 
wer  irgendeine  besondere  Frage  zu  beantworten  wünscht, 
braucht  ein  besonderes  Prinzip,  dessen  Giltigkeit  irgend- 
wie garantiert  ist,  und  dem  er  sie  unterordnet;  wer  philo- 
sophierend seine  Untersuchung  über  das  Weltganze  er- 
streckt, muß  einen  endgiltigen  Maßstab  für  alle  Wahrheit 
selber  zu  besitzen  glauben.  Woher  dieser  Besitz  stamme, 
das  ist  nicht  die  dringendste  der  Fragen,  deren  Lösung 
uns  nun  fernerhin  obliegt,  denn  aus  welcher  Gegend  er  auch 
stammen  möge,  wir  könnten  ihn  nicht  ändern,  nachdem 
er  da  war.  Descartes  sprach  aus,  daß  er  ein  ur- 
sprünglicher Besitz  des  menschlichen  Geistes  sei,  und  ich 
zaudere  nicht,  seiner  Behauptung  beizupflichten  in  dem 
Sinne,  in  dem  allein  sie  verstanden  werden  kann.  Denn 
es  ist  vom  Überfluß,  wenn  man  an  dem  bequemen  Aus- 

VII* 


G.  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

druck  eingeborne  Idee  viel  auszusetzen  findet.  Mit  diesen 
Worten  sind  nicht  V  orstellungen  gemeint,  die  vor  aller 
Erfahrung  sich  in  und  vor  dem  sonst  noch  leeren  Be- 
wußtsein als  erkennbare  Gedanken  oder  Bilder  bewegten. 
Mir  bedeuten  sie  nichts  weiter,  als  daß  die  Natur  des 
Geistes  so  geartet  ist,  daß  wenn  die  Aneignung  der  Er- 
fahrung sein  Denken  weckt,  dann,  und  nur  dann,  gewisse 
Gedanken  sich  selber  in  ihm  unfehlbar  entwickeln  müssen. 
Sie  werden  ihm  eingeboren  genannt,  weil  sie,  wenn  seine 
Natur  anders  wäre,  sich  unter  dem  Einfluß  derselben 
Erfahrung  entweder  überhaupt  nicht  oder  in  andrer  Form 
in  ihm  erheben  würden.  Nicht  so  unschuldig  wie  das  Wort 
eingeboren  aber  ist,  wie  es  hier  den  Anschein  hat,  das  andere 
Wort  Idee,  das  Descartes  ausschließlich  gebraucht.  Wir 
verstehen  gewöhnlich  unter  diesem  Ausdruck  die  Vorstellung 
von  einem  einzelnen,  wenn  auch  möglicherweise  reich- 
haltigen Inhalt,  ewig  selbständig  und  selbstgenugsam,  nicht 
aber  einen  Gedanken,  der  ohne  eigentlich  vorstellbaren 
Inhalt  rein  die  gegenseitigen  Beziehungen  des  Mannig- 
faltigen fixiert.  Und  doch  können  nur  Gedanken  dieser 
zweiten  Art,  Grundsätze,  nicht  Grundbegriffe,  eine  wirk- 
liche Hilfe  für  die  Erweiterung  unseres  Wissens  sein,  und 
waren  es  in  der  Tat  für  Descartes.  Wenn  er  die  Ge- 
wißheit ausdrückte,  daß  aus  Nichts  Nichts  werden  kann, 
daß  die  Ursache  von  höherer  oder  wenigstens  von  gleicher 
Vollkommenheit  sein  muß,  wie  die  Wirkung,  daß  Vor- 
stellungen vom  Unendlichen  auf  keine  Weise  von  endr 
liehen  Wesen  aus  sich  selbst  hervorgebracht  werden  können, 
so  waren  diese  drei  Grundsätze,  die  er,  ohne  sie  zuvor 
gesammelt  zu  haben,  in  einem  Moment,  wo  sie  nötig 
waren,  verwandte,  zwar  in  der  Tat  der  innerste  Kern 
der  höchsten  Wahrheit,  die  ihn  leitete,  aber  sie  sämt- 
lich ermangelten  wenigstens  teilweise  der  Klarheit  und 
Gewißheit,  die  er  als  das  Merkmal  der  AVahrheit  anerkannte. 
Wenn  wir  diesen  Mangel  auszugleichen  suchen,  stoßen 
wir  auf  jenen  Unterschied  zwischen  Inhalt  und  Form 
des  Denkens,  durch  den  Kant  diesen  Intellektualismus 
wieder  zurechtstellte.  Was  unserm  Geist  ursprünglich  ge- 
geben ist,  sind  nicht  Vorstellungen,  die  etwas  Wirkliches 
mit  ihrem  eignen  Inhalt  ausdrücken,  sondern  allgemeine 
Gnmdprinzipien,  denen  gemäß  der  wechselseitige  Zusarn- 
menhang  aller  Wirklichkeiten,  den  Erfahrung,  mid  Er- 
fahrung allein,  uns  vorstellig  macht,  beurteilt  werden  muß. 
Und   ich   möchte   hinzufügen,   daß   auch   diese   Grundprin- 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  -Öl 

zipien  nicht  in  solcher  Weise  dem  Geist  angehören,  als 
ob  sie  einen  Gegenstand  des  Bewußtseins  vor  aller  Er- 
fahrung bildeten  —  eine  Sammlung  von  Regeln,  die  auf 
Fälle  für  ihre  Anwendung  warteten;  sondern  die  Natur 
des  Geistes  ist  so  beschaffen,  daß  er  dann,  wenn  Er- 
fahrungseindrücke ihn  anregen,  unbewußt  zu  einer  rück- 
wirkenden Tätigkeit  getrieben  wird,  die  teilweise  in  einer 
bestimmten  gedanklichen  Verbindung  des  in  der  Emp- 
findung gegebenen  Mannigfaltigen,  teilweise  in  instinktiven 
Handlungen  besteht,  deren  Beweggründe  ihm  selbst  noch 
verborgen  sind.  Erst  auf  einer  späteren  Stufe,  wenn  die 
Reflexion  auf  die  vielen  Fälle,  in  denen  ein  solcher  Ge- 
danke und  eine  solche  Handlung  auftreten,  zurückgeht,  sie 
sammelt  und  sie  miteinander  vergleicht,  wird  für  die 
verborgenen  Motive,  die  uns  geleitet  haben,  ein  iVusdruck 
gefunden,  durch  den  sie  nun  zum  ersten  Male  Gegen- 
stände für  unser  Bewußtsein  werden.  Wir  haben  dann 
entdeckt  und  für  uns  in  Besitz  genonmaen,  was  bis  dahin 
nur  faktisch  und  unbewußt  das  Grundprinzip  unsres  Den- 
kens  und   Handelns  war. 

Die  deutsche  Methode  zu  philosophieren  hat  lange  fest 
zu  diesen  Überzeugungen  gestanden  und  hat  sich  nicht 
beiseite  schieben  lassen-  durch  Einwände,  die  ich  hier 
nur  kurz  anmerken  kann.  Wenn  es  einfach  die  Kon- 
stitution unsres  Geistes  ist,  dessen  rückwirkende  Tätig- 
keit sich  in  den  höchsten  und  allgemeinsten  Grundprin- 
zipien zeigt,  was  für  eine  Garantie  haben  wir  dann,  daß 
die  Wahrheit,  die  für  unser  Denken  notwendig  ist,  auch 
für  die  Wirklichkeit  gelte,  auf  die  wir  sie  anwenden? 
So  ausgedrückt,  reicht  dieser  Einwand  weiter  als  beab- 
sichtigt ist.  1)  Wenn  ein  Zweifel  durch  positive  Wider- 
sprüche oder  Dunkelheiten  veranlaßt  ist,  wird  sich  auch 
ein  Standpunkt  finden  lassen,  von  dem  aus  die  Lösung 
möglich  wird.  Doch  die  bloße  Möglichkeit,  ohne  allen  An- 
laß Zweifel  zu  erheben,  ist  unbegrenzt,  und  da  dieser  natür- 
lich für  jede  entgegenstehende  Evidenz  unzugänglich  ist,  be- 
streitet er  naturgemäß  die  Sicherheit  eines  jeden  ihm  darge- 
botenen Beweises.  Für  die  Frage,  ob  nicht  im  letzten 
Grunde  alles  ganz  anders  sei,  als  wir  es  zu  wissen  glauben 
und  es  notwendig  denken  müssen,  gibt  es  keine  wissen- 
schaftliche Lösung;  aber  ein  Zweifel  dieser  Art  richtet  sich 
weder  speziell  gegen  unsre  Überzeugung  von  einer  einge- 

1)  Vgl  §  303. 


CII  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

bornen  Wahrheit,  noch  läßt  er  sich  auf  die  Frage  nach  der 
Richtigkeit  der  Anwendung  denknotwendiger  Urteile  auf 
den  Inhalt  der  Wirklichkeit  beschränken.  Denn  einerseits, 
woher  auch  immer  unser  Wissen  von  der  Welt,  von  ihren 
Inhalten  sowohl  als  iliren  allgemeinen  Grundprinzipien, 
stammen  mag,  immer  bleibt  es  unsre  Vorstellung  des 
Objekts  und  nicht  das  Objekt  selbst,  und  so  besteht  immer 
die  Möglichkeit  des  Irrtums,  der  das  Bild  dem  Objekt  un- 
ähnlich machte.  Und  andrerseits:  alle  unsre  Gedanken 
könnten  falsch  sein,  nicht  nur  in  ihrer  Anwendung,  son- 
dern in  sich  selbst;  und  sogar  die  Prinzipien  unsres 
mathematischen  Wissens  könnten  in  Wirklichkeit  eine 
andere  Verbindung  ihrer  Beziehungspunkte  fordern,  als 
es  uns  scheinen  muß.  Diesem  vollständig  ziellosen 
Skeptizismus  hat  die  Menschheit  ständig  den  Rücken  ge- 
kehrt. Die  menschliche  Vernunft  hat  immer  das  lebendige 
Selbstvertrauen  gehabt,  daß  sie,  wenn  sie  auch  nicht  alle 
Wahrheit  erlangen  kann,  doch  in  dem,  was  denknotwendig 
ist,  nicht  blos  notwendigen  Glauben,  sondern  zugleich 
Wahrheit  besitzt.  Sie  hat  immer  an  eine  solche  Ra- 
tionalität der  Welt  geglaubt,  daß  Denken  und  Wirklichkeit 
einander  entsprechen,  und  daß  das  erstere  sich  eines 
begrenzten,  aber  nicht  irreführenden  Zuganges  zu  der 
letzteren  erfreut.  Wenn  uns  dennoch  zuzeiten  der  Zweifel 
überschleicht,  ob  nicht  alle  unsre  Weisheit  durch  und  durch 
irrig  sei,  so  wissen  wir,  daß  es  keinen  Standpunkt  gibt  für 
die  Beantwortung  dieser  Frage  und  wir  müssen  uns  daher 
mit  der  Einsicht  begnügen,  so  sehr  wir  das  auch  be- 
klagen mögen,  daß  Philosophie  tatsächlich  nur  in  der  Be- 
mühung bestehen  kann,  auf  der  Grundlage  dessen,  was 
uns  notwendig  ist,  ein  Gesamtbild  der  Welt  zu  gestalten, 
das  sich  nicht  widersprechen  darf,  oder  die  Widersprüche 
und  Lücken  vollständig  klarzulegen,  zu  deren  Forträumung 
unsere  Vernunft,  die  Grenzen  ihrer  eignen  Kompetenz  be- 
stimmend, sich  selbst  unfähig  erklärt.  Denn  so  hoch  wir 
auch  von  der  Philosophie  denken  mögen,  es  ist  doch  un- 
sinnig, sie  als  die  Krönung  oder  als  eine  der  höchsten 
Mächte  in  der  Weltordnung  anzusehen.  Sie  ist  und  bleibt 
eine  historische  Tatsache  in  der  Entwicklung  des  mensch- 
lichen Geistes  auf  dieser  Erde,  und  sie  erfüllt  ihre  Auf- 
gabe, wenn  sie  die  Welt  so  darstellt,  wie  sie  sich  uns  auf 
unserm  gegenwärtigen  Beobachtungsplatz  projizieren  muß. 
Ich  habe  soeben  angedeutet,  daß  ich  den  andern  Grund 
unhaltbar  finde,  aus  dem  man  die  intellektualistische  Vor- 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CIII 

aussetzung  einer  eingeborenen  Wahrheit  in  Zweifel  zieht. 
In  der  Tat,  die  Behauptung,  daß  eine  Denkweise,  die  dem 
Geiste  seiner  Natur  nach  notwendig  ist,  unanwendbar  sein 
müsse  für  die  Erkenntnis  der  Dinge,  ist  von  Anfang  bis 
zu  Ende  in  keiner  Weise  sichrer-  oder  wahrscheinlicher, 
als  die  gegenteilige  Behauptung.  Wer  der  letzteren  An- 
sicht ist,  hat  die  wahrscheinliche  Überzeugung  für  sich, 
daß  die  Einheit  der  Welt  Denken  und  Sein  für  einander 
bestimmt  hat;  wer  die  erstere  vorzieht,  stützt  sich  einseitig 
auf  den  oberflächlichen  Gegensatz,  der  zwischen  dem  den- 
kenden Subjekt  und  dem  Gegenstand  seines  Denkens  be- 
steht; aber  über  die  Bedeutung  dieses  Gegensatzes  für 
die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  kann  nur  von  jemandem 
entschieden  werden,  der  mit  vollendeter  Klarheit  den 
ganzen  Vorgang  wahrnimmt,  den  wir  als  Erkenntnis  eines 
Gegenstandes  durch  den  Geist  bezeichnen.  Er  allein  ist 
in  der  Lage,  zu  zeigen,  entweder  daß  der  Verstand  seiner 
Herkunft  wegen  notwendig  die  Natur  der  Dinge  verfälschen 
muß,  oder  andrerseits  daß  er  sie  innerhalb  gewisser  Gren- 
zen begreiifen  kann.  Dieser  Gedanke  ist  tatsächlich  in  der 
historischen  Entwicklung  der  Piii.osophie  verfolgt  worden. 
Von  John  Locke  bis  zu  Kant  war  die  Kritik  des 
Verstandes  der  wesentliche  Gegenstand  der  Untersuchung, 
und  nachdem  diese  Tradition  in  Deutschland  zeitweilig 
durch  ein  Gedränge  anders  gerichteter  Bemühungen  unter- 
brochen war.  ist  ihre  Kontinuität  wieder  hergestellt  worden 
durch  die  Lebhaftigkeit,  mit  der  die  Gegenwart  sich  von 
physiologischen  und  psychologischen  Untersuchungen  jeden 
nur  möglichen  Beistand  holt,  um  über  die  Entstehung 
unseres  Begriffes  von  der  Welt  Klarheit  zu  erlangen.  Ich 
bin  vollkommen  empfänglich  für  den  Wert  aller  dieser  Be- 
strebungen und  für  die  Vertiefung,  die  sie  der  Philosophie 
der  Gegenwart  im  Vergleich  zu  der  der  Vergangenheit 
gegeben  haben;  aber  ich  zweifle  nichtsdestoweniger  an 
der  Möglichkeit  dieses  Unternehmens^  dessen  Verfolgung 
uns  indes  mit  manchen  guten  Früchten  beschenkt  hat.  Das 
Vorgehen  Kant 's,  zuerst  das  Vermögen  der  Vernunft  zu 
untersuchen,  ehe  von  ihr  ein  Gebrauch  zu  wirklicher  Er- 
kenntnis gemacht  wird,  ist  vom  deutschen  Idealismus 
parodiert  worden  zu  der  Mahnung,  nicht  ins  Wasser  zu 
gehen,  bevor  man  schwimmen  könne;  diese  triviale  Be- 
merkung, die  als  Entschuldigung  des  modernen  Enthusias- 
mus übel  angebracht  ist,  trifft  sehr  gut  den  wesentlichen 
Irrtum    des    fraglichen    Unternehmens,    nämlich    die    Tau- 


CIV  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

schung,  daß  es  möglich  sei,  vor  aller  Anwendung  des 
Denkens,  und  unabhängig  von  allen  Quellen  des  Irrtums 
bei  derselben,  eine  Bestimmung  der  Grenzen  seines  Ver- 
mögens auf  Grund  eines  rein  empirischen  Berichts  von 
seiner  Entstehung  zu  geben.  Ein  Blick  auf  den  Inhalt  der 
Werke,  die  diesem  Versuch  gewidmet  sind,  zeigt  uns  so- 
fort, wie  vollständig  sie  schon  im  voraus  die  Fragen  ent- 
schieden haben,  für  deren  Beantwortung  sie  nur  den  Weg 
bereiten  wollten.  Kant 's  verschiedene  Kritiken  überlassen 
dem  System,  dem  sie  ihrer  Versicherung  nach  rein  als 
Einleitung  dienen,  keines  der  allgemeinen  Probleme,  die 
für  die  Philosophie  von  Interesse  sind,  sondern  nur  die 
weitere  Anwendung  von  schon  erlangten  Lösungen  der- 
selben. Auch  Locke's  Werk  zeigt  nicht  nur  die  Quellen 
des  Wissens  auf,  sondern  schließt  zugleich  den  ganzen 
Weltbegriff  ein,  der  ihm  aus  diesen  Quellen  notwendig 
zu  fließen  schien.  Das  ist  in  gewisser  Hinsicht  ein  Über- 
schuß der  Leistung  über  das  Ver&prechen,  für  den  wir  ihm 
nur  ehrlich  dankbar  sein  können;  aber  noch  etwas  anderes 
liegt  in  diesem  Umstand  verborgen.  Es  ist  unmöglich, 
voraussetzungslos  und  mit  vollständig  unvoreingenommenen 
Augen  der  Entstehung  unsrer  Vorstellungen  beobachtend 
zuzusehen,  um  daraus  die  Grenzen  ihrer  Giltigkeit  zu  be- 
stimmen. Selbst  wenn  der  erste  Teil  dieses  Unternehmens 
ausführbar  wäre,  so  könnte  doch  der  zweite  Teil  nur  von 
jemandem  angegriffen  werden,  der  schon  im  festen  Be- 
sitze von  allgemeinen  Prinzipien  wäre,  die  imstande  sind 
darüber  zu  entscheiden,  was  für  Folgen  notwendig  aus 
was  für  Bedingungen  hervorgehen  müssen,  und  ob  dem- 
gemäß das  Erkenntnisvermögen  seiner  Entstehung  zu- 
folge entweder  immer  irren  muß,  oder  in  gewissen  Grenzen 
die  Wahrheit  zu  finden  vermag.  Es  ist  unmöglich,  ein 
Urteil  darüber  zu  bilden,  was  bei  der  Berührung  eines 
Objektes  mit  dem  perzipierenden  Geist  vor  sich  gehen 
muß,  außer  wenn  man  zuvor  bestimmte  Begriffe  über 
die  Natur  jener  zwei  Faktoren  des  Falles  hat  und  ebenso 
über  die  Natur  des  Einflusses,  den  irgendein  Element 
der  WirklicTikeit,  gleichviel  welches  es  sei,  auf  irgendein 
anderes  auszuüben  in  der  Lage  ist.  In  der  Tat  liegen, 
teils  zu  Recht,  teils  zu  Unrecht,  solche  Voraussetzungen 
unabänderlich  als  anregende  Impulse  und  als  bestimmende 
Motive  dem  Denken  zugrunde,  das  die  Entwicklung  unseres 
Erkennens  herauszuarbeiten  und  die  Grenzen  seiner  Wahr- 
heitsgeltung festzustellen  sucht  und  sich  dabei  nur  schein- 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahreri.  '1ßV 

bär   auf   dem   Wege   einer   voraussetzungslosen   Erfahrung 
bewegt. 

Wir  wollen  einräumen,  daß  der  Intellektualismus,  wenii 
er  die  Existenz  eingeborner  Wahrheiten  behauptete,  nur 
eine  Hypothese  aufstellte,  die  noch  zu  beweisen  war ; 
aber  welches  war  die  Begründung  für  die  Gewißheit,  mit 
der  andrerseits  alles  Wissen  aus  Erfahrung  hergeleitet 
und  die  Seele  als  eine  tabula  rasa  betrachtet  wurde, 
die  nur  mit  Eindrücken  von  außen  beschrieben  wird  ? 
Erfahrung  könnte,  wie  auch  immer  dieser  verschieden 
verstandene  Begriff  gedacht  sein  mag,  jedenfalls  nur  die 
Veranlassungen  aufzeigen,  aus  denen  sich  unsre  Vorstel- 
lungen ergeben  haben;  der  Vorgang  aber,  der  die  Veran- 
lassung und  das  erfolgte  Ergebnis  verbindet,  kommt  nicht 
durch  unmittelbare  Wahrnehmung  zur  Kenntnis.  Wer 
meint,  es  sei  so,  weil  er  die  Seele  für  rein  rezeptiv  und 
die  ganze  Inhaltlichkeit  ihres  Bewußtseins  für  etwas  auf 
sie  bloß  Übertragenes  hält,  vermag  sich  zur  Begründung 
seiner  Ansicht  nur  auf  die  Analogie  andrer  Beobachtungen 
zu  berufen.  Aber  diese  Analogie  spricht  durchaus  gegen 
ihn.  Überall  wo  wir  einen  Fall  von  dem,  was  wir  Wirken 
nennen,  beobachten,  finden  wir  unabänderlich,  daß  der 
Erfolg,  der  aus  dem  Wirken  hervorgeht,  verschiedene  Ge- 
stalt annimmt,  wenn  dieselbe  sogenannte  Ursache  zu  ver- 
schiedenen Dingen  in  Beziehung  tritt,  daß  er  also  ebenso 
sehr  durch  die  Natur  desjenigen  Beziehungsgliedes  be- 
stimmt wird,  welches  wir  für  leidend  oder  rezeptiv  halten, 
als  durch  die  Natur  des  anderen  Gliedes,  das  uns  vor- 
zugsweise der  tätige  Teil  zu  sein  scheint. ;  Es  ist  das  ein 
Gedanke,  der  in  den  Forschungen  der  Naturwissenschaft 
nie  außer  acht  gelassen  wird.  Und  die,  die  an  der  son- 
derbaren Meinung  festhalten,  die  hier  in  Frage  steht, 
könnten  ihn  auch  eben  in  dem  Gleichnis  wieder  ent- 
decken, welches  sie  vorbringen,  um  die  entgegengesetzte 
Vorstellung  zu  versinnlichen.  Denn  wie  könnte  eine  Tafel 
sich  beschreiben  lassen  oder  wie  könnte  das  Wachs,  das 
der  Träger  eines  alten  Gleichnisses  ist,  den  Eindruck  des 
Stempels  aufnehmen  und  festhalten,  wenn  die  Tafel  nicht 
eine  Adhäsion  besäße,  mit  der  sie  die  Schreibflüssigkeit 
festhält,  und  wenn  dem  Wachs  nicht  eine  Zusammen- 
drückbarkeit  seiner  Teilchen  eignete  und  eine  Indifferenz 
gegen  die  besondere  Form  des  erlittenen  Druckes?  Kurz, 
vermöge  ihrer  spezifischen  Natur  machen  beide  einen 
Erfolg    möglich,    den   Luft   und    Wasser   nicht   hätten   be- 


CVI  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

wirken  können.  Hier  scheint  mir  daher  zweifellos  zu 
sein,  daß  die  Analogie  der  Erfahrung  zugunsten  des  Postu- 
lats des  Intellektualismus  entscheidet,  zugunsten  der  ein- 
gebomen  Tätigkeit,  mit  der  der  Geist  auf  äußere  Ein- 
drücke reagiert  und  die  Vorstellungen  und  Verbindungen 
von  Vorstellungen  hervorbringt,  die  unser  Denken  über 
die  Welt  konstituieren. 

Nun  kann  natürlich  dieses  Zugeständnis,  zu  dem  in 
der  Tat  auch  der  Empirismus  sich  treiben  ließ,  nichts  für 
oder  gegen  die  Wahrheit  der  so  entstandenen  Vorstel- 
lungen entscheiden;  denn  es  ist  gewiß  ebenso  möglich, 
daß  diese  eigentümliche  Reaktion  des  Geistes  auf  Reize 
vx^n  außen  ständig  die  Bilder  der  Dinge,  von  denen  diese 
Reize  ausgehen,  verfälscht,  als  daß  sie  zu  einer  wahren 
Auffassung  ihrer  Natur  führt.  Inzwischen  bin  ich  zu- 
frieden, wenn  mir  die  gleiche  Möglichkeit  beider  Fälle 
zugegeben  wird.  Denn  es  ist  ein  sehr  gewöhnliches  Vor- 
urteil, daß  ein  Denkvorgang,  von  dem  wir  gesehen  zu 
haben  glauben,  wie  er  sich  aus  der  subjektiven  Natur  des 
Geistes  entwickelt,  nicht  richtig  sein  könne.  Die  Ein- 
sicht in  seine  Entstehung  scheint  zugleich  der  Beweis 
seiner  Ungiltigkeit  zu  sein.  Es  sei  mir  gestattet,  über 
dies  Vorurteil  einige  Bemerkungen  zu  machen.  Ange- 
nommen, eine  höhere  Macht  habe  wirklich  die  Absicht 
gehabt,  uns  eine  Erkenntnis  zu  sichern,  die  zwar  nicht 
alle  Dinge  durchaus  begriffe,  aber  doch  nicht  notwendig 
in  dem  wenigen  irrte,  das  sie  von  ihnen  begreift;  und 
angenommen,  jene  Macht  wollte  uns  die  Erkenntnis  nicht 
als  eine  fertig  vorhandene  Offenbarung  zuteil  werden 
lassen,  sondern  als  Frucht  von  Erfahrungen,  die  wir  im 
Leben  zu  machen  hätten:  wie  müßten  wir  den  Vorgang 
uns  in  Gedanken  konstruieren,  durch  welchen  diese  Ab- 
sicht würde  verwirklicht  werden?  Wenn  wir  nicht  alles 
auf  einmal  wissen,  sondern  jetzt  dies,  dann  jenes  lernen 
sollen,  sei  es,  weil  in  Wirklichkeit  ein  Ding  auf  ein 
anderes  folgt,  oder  weil  die  Teile  dessen,  was  im  Sein 
gleichzeitig  ist,  für  uns  nur  nacheinander  Gegenstände 
des  Bewußtseins  werden,  so  muß  das  Erfahrene  sich  immer 
vom  Nichterfahrenen  unterscheiden  vermöge  einer  Be- 
ziehung, in  der  der  Gegenstand  unsrer  Erkenntnis  jetzt 
zu  uns  steht  und  vorher  nicht  zu  uns  stand.  Und  da 
diesen  Unterschied  kein  zweiter  Beobachter  außerhalb  von 
uns  verwendet,  sondern  wir  selbst  durch  ihn  zu  einer 
Empfindung,    die   nichts   im    voraus    Vorhandenes    ist,   be- 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  ÜVll 

stimmt  werden,  so  muß  er  etwas  für  uns  selbst  Emp- 
findbares sein  und  kann  nicht  in  einer  rein  äußerlichen 
Beziehung  zwischen  uns  und  den  Objekten,  sondern  muß 
in  einem  innem  Zustand  unseres  eignen  Seins  bestehen, 
den  wir  erfahren  und  vorher  nicht  erfuhren.  Die  Natur 
dieses  Zustandes  muß  jedenfalls  sowohl  von  den  ver- 
schiedenen Reizen,  die  ihn  hervorrufen,  als  von  dem 
eigentümlichen  Wesen  des  Geistes  abhängen,  der  ihn  zu 
erfahren  vermag.  Es  ist  eine  sehr  einfache  Wahrheit, 
die  ich  hier  kennzeichne,  und  wir  stimmen  alle  in  ihr 
überein.  Wenn  wir  ein  Wissen  von  einem  Ding,  das 
existiert,  oder  von  einem  Ereignis,  das  geschieht,  haben 
sollen,  so  genügt  dazu  nicht,  daß  das  Ding  existiert  oder 
daß  das  Ereignis  geschieht;  sie  müssen  beide  einen  Ein- 
druck auf  uns  machen  und  sie  können  nur  eine  solche  Art 
Eindruck  auf  uns  machen  als  unsere  geistige  Natur  zu  er- 
fahren vermag.  So  wird  von  Anfang  an  jedes  objektive 
Element  der  Außenwelt  in  uns  durch  einen  elementaren 
subjektiven  Zustand  ersetzt.  Soll  es  nun  nicht  bei  dem 
einfachen  Wechsel  von  Empfindungen  verbleiben,  sondern 
im  Gegenteil  eine  richtige  Erkenntnis  auch  der  Zusammen- 
hänge entstehen,  welche  die  verschiedenen  Teile  der  Wirk- 
lichkeit miteinander  verbinden,  dann  darf  der  Eindruck, 
den  ein  Wirklichkeitsaugenblick  auf  uns  macht,  nicht  eben- 
so verschwinden  wie  diese  Wirklichkeit  selber,  wenn  sie 
der  des  nächsten  Augenblickes  Platz  macht.  Der  eine 
Eindruck,  der  noch  im  Gedächtnis  aufbewahrt  zurück- 
bleibt, muß  mit  den  anderen  in  der  Einheit  Eines 
Bewußtseins  durch  eine  beziehende  Tätigkeit  verbunden 
werden.  Diese  Tätigkeit,  die  rückwärts  von  den  Ergebnissen 
zu  den  Bedingungen  und  ebenso  vorwärts  von  den  Be- 
dingungen zu  den  Ergebnissen  gehen  kann,  und  sich  so 
der  Verschiedenheit  ihrer  Richtung  bewußt  wird,  ist  etwas 
gänzlich  anderes  als  die  Bewegung  der  Vorgänge  selbst, 
die  nur  in  einer  einzigen  Richtung,  von  der  Ursache  zur 
Wirkung  hin,  statthat.  Selbst  wenn  wir  zugeben,  daß 
die  zwei  Endpunkte,  zwischen  denen  sich  diese  beziehende 
Tätigkeit  bewegt,  durch  die  Assoziationen  der  Vorgänge 
festgelegt  sind,  welche  von  der  Welt  her  auf  uns  innen 
einwirken,  so  beruht  doch  die  Möglichkeit,  daß  jene  Be- 
wegung des  verbindenden  Bewußtseins  überhaupt  statt- 
findet, lediglich  auf  der  Natur  des  Geistes,  in  dem  sie 
stattfindet.  Und  so  beruht  auch  die  Möglichkeit,  daß  sie  im 
Denken  das  verbindet,  was  in  der  Wirklichkeit  verbunden 


CVIII  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

ist,  auf  der  Tatsache,  daß  die  Natur  des  Geistes  den  Ein- 
drücken, die  er  erleidet,  eine  gegenseitige  Verknüpfung  ver- 
leiht, die  zwar  mit  der  Verknüpfung  der  Reize  nicht  über- 
einstimmt, aber  nicht  völlig  verschieden  von  ihr  ist. 
•  So  würden  wir  also  selbst  bei  der  Annahme,  eine 
höhere  Macht  habe  uns  dazu  bestimmt,  die  wahren  Be- 
ziehungen zwischen  den  Gegenständen  unsrer  Erfahrung 
zu  entdecken,  doch  immer  noch  nicht  diese  Beziehungen 
einfach  empfangen  können  ohne  subjektive  mitwirkende 
Tätigkeit  von  uns  selbst,  sondern  würden  genötigt  sein, 
sie  de  novo  zu  reproduzieren  mittels  einer  Tätigkeit,  die 
uns,  wenn  wir  in  das  Wesen  des  Geistes  eindringen 
könnten,  als  ein  notwendiges  Ergebnis  des  Geistes,  und 
des  Geistes  allein,  erscheinen  würde.  Nehmen  wir  ferner 
än\  diese  gute  Macht  habe  ims  noch  überdies  gewähren 
wollen,  daß  wir  uns  nicht  nur  eine  getreue  Vorstellung  von 
dem  Weltgeschehen  im  einzelnen  und  besonderen  bilden, 
sondern  auch  die  allgemeinen  Gesetze  begreifen,  welche 
alledem  zugrunde  liegen,  und  sie  so  begreifen,  daß  sie 
uns  zugleich  die  Empfindung  ihrer  Notwendigkeit  geben, 
ja  dann  würde  einer,  der  alles  weiß,  imstande  sein,  dieses 
Vollbringen  mechanisch  aus  der  Natur  unseres  Geistes  zu 
erklären.  Denn  wenn,  gemäß  unsrer  Annahme,  die  Er- 
keniitnis  der  höchsten  Walirheit  uns  nicht  in  vollständig 
fertig  vorhandener  Klarheit  eingeboren  ist,  sondern  von 
uns  erworben  werden  inuß,  dann  muß  es  eine  Geschichte 
ihrer  Entstehung  in  jedem  individuellen  Geiste  geben.  Von 
•der  Zeit  an,  als  sie  noch  nicht  da  war,  bis  zu  dem  Moment 
ihres  Hervortretens  muß  eine  Reihe  von  Vorgängen  abge- 
laufen sein,  die  nicht  vor  sich  gehen  konnten,  ohne  mit  der 
Natur  unseres  Geistes  etwas  zu  tun  zu  haben  und  dessen 
notwendige  Konsequenz  unter  den  betreffenden  Umständen 
zu  sein.  Dies  alles  gilt,  selbst  wenn  wir  die  menschliche 
Vernunft  ausdrücklich  für  die  vollständige  Erkenntnis  aller 
Wahrheit  bestimmt  denken  —  nur  nicht  zu  ihrem  ur- 
sprünglichen Besitz,  sondern  um  sie  zu  erwerben;  selbst 
in  diesem  Falle  ist  immer  ein  psychischer  Mechanismus  zu 
denken,  der  alle  errungene  Erkenntnis  der  Wahrheit  als 
notwendigen  Erfolg  der  subjektiven  Natur  des  Geistes  und 
von  -  Eindrücken,  die  auf  ihn  wirken,  zeigen  würde.  Da 
es  also  in  jedem  Falle  so  sein  muß,  kann  der  Beweis 
eines  solchen  subjektiven  Ursprunges  unsrer  Erkenntnis 
eben  aus  diesem  Grunde  weder  für  noch  gegen  ihre  Wahr- 
heit entscheiden;  und   wer  glaubt,  er  entscheide  dagegen. 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CIX 

tut  damit  nur  den  ersten  Schritt  in  den  Irrtum,  den  die 
idealistischen  Ansichten  noch  viel  weiter  treiben.  Denn 
wenn  nur  die  Beziehung  unserer  Vorstellungen  auf  die 
Außenwelt  in  Frage  steht,  so  betont  der  Idealismus  mit. 
vollem  Recht,  daß  die  Vorstellung  von  der  Außenwelt 
nur  unsere  Vorstellung  und  nichts  mehr  ist.  Aber  wena 
er  nun  weiter  geht  und  die  Existenz  der  Welt  wegen  dieser 
Subjektivität  unserer  Vorstellungen  von  ihr  leugnet>  so 
vergißt  er  ganz,  daß  es  in  jedem  Falle  so  sein  muß; 
Unsere  Vorstellung  muß  subjektiv  sein,  nicht  nur,  wenn 
es  eine  Außenwelt  nicht  gibt,  sondern  .  auch  wenn  die 
Außenwelt  existiert.  Auch  von  einer  realen  Welt  könnten 
wir  keine  ß^ndere  Art  von  Vorstellung  haben  als  die  wii; 
haben,  eine  Vorstellung,  die  durch  unsere  eigne  subjektive 
Tätigkeit  hervorgebracht  ist,  und  die  so  oft  betonte  Sub- 
jektivität aller  unsrer  Erkenntnis  entscheidet  absolut  nichts 
in  bezug  auf  die  Wirklichkeit  ihres  Gegenstandes  und 
die  Genauigkeit  unserer  Vorstellung  von  ihm.  :  Ti 

Ich  komme  jetzt  auf  den  Punkt,  zu  dem  mich  meine 
Wanderschaft  hingeführt  hat  und  wo  ich  mich  iii  voll- 
ständigem Gegensatz  zu  den  in  unserer  Zeit  vorherrscheui 
den  Anschauungen  befinde.  Es  ist  üblich  geworden  von 
einer  Erkenntnistheo7'ie  als  dem  wichtigsten  Werkzeug  zu 
sprechen,  von  dessen  Vollendung  der  Fortschritt  der  Philo- 
sophie abhänge,  insbesondere  hat  man  gehofft,  feste  Grund-, 
lagen  für  die  fruchtbare  Anwendung  unseres  Denkens  zum 
Erreichen  der  Wahrheit  würden  schließlich  in  einer  voll- 
ständigen Darlegung  seiner  psychologisQhen  Entwicklungs- 
geschichte gefunden  werden.  Im  Gegensatz  zu  diesem 
Glauben  spreche  ich  die  Überzeugung  aus,  zu  der  ich  mich 
schon  bekannt  habe,  daß  man  über  die  Gültigkeit  einer 
Vorstellung  auf  Grund  ihres  psychologischen  Ursprungs 
nur  dann  entscheiden  kann,  wenn  man  bereits  die  wahre 
Beschaffenheit  des  Gegenstandes  kennt,  auf  welchen  sie 
sich  bezieht;!)  denn  nur  die  Kenntnis  des  Gegenstandes, 
der.  das  Endziel  der  Vorstellung  ist,  kann  uns  ein  Urteil 
darüber  ermöglichen,  ob  sie  auf  dem  besonderen  Wege,  die 
Wirklichkeit  vorzustellen,  den  sie  tatsächlich  eingeschlagen 
hat,  dieses  Ziel  erreichen  oder  verfehlen  wird.  Innerhalb 
dieser  Grenzen  kann  die  Psychologie  zweifellos  zu  einer 
Kritik  unserer  verschiedenen  Erkenntnisarten  verhelfen. 
Nachdem   wir  die  Gesetze   der  Bewegung,  des   Lichts  und 


i>  Vgl.  diese  Logik  §  305 f.,  322,  332. 


OX  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

den  Bau  unseres  Auges  kennen,  ist  es  uns,  falls  wir  nicht 
in  betreff  eines  von  beiden  irren,  möglich,  eine  große  An- 
zahl optischer  Täuschungen  zu  korrigieren;  und  nach- 
dem wir  die  Gesetze  der  Assoziation  und  Reproduktion 
unserer  individuellen  Eindrücke  gelernt  haben,  können  wir 
in  einzelnen  Fällen  zeigen,  daß  sich  auf  Grund  dieser 
Gesetze  eine  regelmäßige  Verknüpfung  unserer  Vorstel- 
lungen bilden  muß,  die  der  Verknüpfung  der  objektiven 
Elemente  der  Wirklichkeit  nicht  entspricht,  aus  der  diese 
individuellen  Eindrücke  hervorgehen.  Ebenso  ist  es  mit  der 
Frage,  ob  die  allgemeinen  Begriffe,  die  wir  über  die 
Natur  der  Dinge  und  Ereignisse,  die  Wirkung,  die  ein 
Ding  auf  ein  anderes  ausüben  kann,  und  die  Gesetze, 
unter  denen  diese  Wirkungen  erfolgen  müssen,  bilden, 
ob  alle  diese  Begriffe  wahr  oder  falsch  sind.  Dieses 
Problem  vermöchten  wir,  selbst  wenn  wir  die  Geschichte 
ihrer  psychologischen  Entwicklung  mit  der  vollkommensten 
Genauigkeit  kennen  würden,  doch  noch  nicht  vermöge 
dieser  Kenntnis  zu  entscheiden,  es  sei  denn,  daß  wir 
die  Wahrheit  in  bezug  auf  alle  diese  Punkte  schon  wüßten. 
Nur  in  diesem  Falle  würden  wir  aus  dem  psychologischen 
Entwicklungslauf  unseres  Erkennens  zu  sagen  vermögen, 
daß  es  grade,  weil  es  allgemeinen  Gesetzen  unterworfen 
ist,  entweder  von  den  wahren  Beziehungen  der  Dinge, 
auf  welche  es  sich  bezieht,  notwendigerweise  abweichen 
muß  oder  mit  ihnen  in  seinen  Ergebnissen  übereinstimmen 
kann.  Ich  muß  aus  diesem  Grunde  den  alten  Anspruch 
erheben,  den  noch  jede  spekulative  Philosophie  erhoben 
hat.  Psychologie  kann,  selbst  wenn  wir  sie  in  voller 
Vollendung  besäßen,  niemals  die  Grundlage  unserer  ganzen 
Philosophie  sein.  Vielmehr  würden  wir  nur  dann  dazu 
kommen,  die  Psychologie  in  solchem  vollkommenen  Zu- 
stande zu  besitzen,  wenn  erst  die  Prinzipien  selbstevidenter 
Wahrheit  vollständig  festgestellt  wären,  denen  gemäß  wir 
über  die  Natur  und  die  Wechselwirkungen  der  Dinge  über- 
haupt zu  urteilen  haben ;  denn  erst  dann  könnten  wir  die  Vor- 
gänge, die  zwischen  dem  erkennenden  Subjekt  und  dem 
zu  erkennenden  Objekt  stattfinden,  diesen  Pfmzipien  unter- 
ordnen und  nun  über  die  Wahrheit  der  so  entstandenen 
Vorstellungen  entscheiden.  Von  einer  solchen  Vollendung 
der  Psychologie  sind  wir  noch  weit  entfernt.  Wir  können 
mit  Sicherheit  ein  paar  Schritte  in  der  Entwicklungs- 
geschichte unserer  Empfindungen  tun,  und  wir  können 
mit  Sicherheit  ein  paar  Prinzipien  feststellen  über  die  Wege 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CXI 

der  Assoziation  und  Reproduktion  unserer  Vorstellungen 
im  Gedächtnis;  aber  alles,  was  über  die  Entwickelung  all- 
gemeiner Begriffe  vorgebracht  wird,  ist  reine  Phantasie. 
Uns  fehlen  fast  ganz  Beobachtungen  über  den  Verlauf,  in 
dem,  von  den  ersten  Tagen  der  Kindheit  an,  die  einzelnen 
Funktionen  unseres  Intellektes  einander  folgen.  Nachdem 
man  die  vollentwickelte  Vernunft  vor  sich  hat,  tappt  man 
nach  einem  Wege,  wie  sich  ihre  allmähliche  Entwicklung 
mit  Wahrscheinlichkeit  vorstellen  lasse;  und  die  mehr 
oder  weniger  anspruchsvollen  Hypothesen,  zu  denen  man 
durch  unausgesprochene  Lieblingsmeinungen  geführt  wird, 
werden  mit  merkwürdiger  Zuversicht  als  Schätze  eines 
vorurteilslosen  Empirismus  feil  geboten.  Diese  Lage  der 
Dinge  wird  sich  nicht  ändern,  bis  nach  dem  Beispiel  der 
neueren  psychologischen  Forschungen,  die  vorliegenden  Tat- 
sachen der  psychologischen  Erfahrung  in  Zweifel  gezogen 
werden  und  dadurch  das  Material  geschaffen  wird,  das 
jenen  allgemeinen  und  immer  bereits  eingeschlossenen 
Wahrheiten  untergeordnet  werden  kann.  Wir  würden  des- 
halb die  Psychologie  für  das  letzte  und  schwierigste  Pro- 
dukt der  philosophischen  Forschung  oder  der  wissenschaft- 
lichen   Forschung    überhaupt    halten. 

Um.  zu  der  andern  Lieblingsbeschäftigung  unserer  Zeit 
zurückzukehren,  dem  Entwurf  einer  Erkenntnistheorie  im 
allgemeinen  als  eines  ersten  Erfordernisses,  um  dann 
hinterher  die  Philosophie  darauf  zu  gründen,  so  ist  es 
überflüssig,  noch  einmal  auf  den  unvermeidlichen  Zirkel 
aufmerksam  zu  machen,  in  dem  man  sich  dabei  bewegen 
muß.  Die  Vernunft  soll  über  die  Genauigkeit  ihrer  all- 
gemeinen Verfahrungsweisen  entscheiden  und  kann  doch 
als  Grund  für  ihre  Entscheidung  nur  dieselben  notwendigen 
Prinzipien  benützen,  über  die  sie  entscheiden  soll.  Ihre 
Arbeit  kann  also  nur  in  einer  Selbstbesinnung  und  einer 
sorgfältigen  Reflexion  auf  ihr  eigenes  Tun  bestehen.  Im 
täglichen  Leben  sind  wir  durch  unsere  Bedürfnisse  ge- 
nötigt, uns  über  viele  Tatsachen  ein  Urteil  zu  bilden,  deren 
wahre  Bedeutung  uns  nur  sehr  unvollkommen  bekannt  ist 
und  deren  viele  Verbindungen  mit  andern  Dingen  wir  noch 
schlechter  kennen.  Die  mannigfaltigen  Bedingungen,  die 
sich  im  Lauf  der  Dinge  durchkreuzen,  zwingen  uns  oft, 
etwas,  was  so  nur  halb  bekannt  ist,  als  Prinzip  zu  ge- 
brauchen, von  dem  wir  bei  der  Beurteilung  dessen,  was 
noch  weniger  bekannt  ist,  ausgehen.  Und  endlich  verleitet 
die  Beschränktheit  der  Erfahrung,  die  unserer  Beobachtung 


ßXII  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

immer  nur  ein  bestimmtes  Merkmal  von  vielen  möglichen 
vorführt,  uns  dazu,  daß  wir  Notwendigkeit  in  Verknüpfungein 
sehen,  wo  in  Wirklichkeit  nichts  als  Tatsächlichkeit  ohne 
ein  entgegengesetztes  Beispiel  vorliegt.  Nehmen  wir  nun 
diese  Fälle,  in  denen  das  Urteil  schwer  und  der  Irrtum 
Reicht  ist,  zusammen,  versuchen  wir,  sie  zu  vereinen  und 
durch  Abstraktion  von  der  verwirrenden  Mannigfaltigkeit 
des  Gegebenen  die  einfachsten  und  reinsten  Fälle  von  Be- 
ziehungen zwischen  verschiedenen  Gliedern  festzustellen, 
so  wird  unsere  Vernunft,  sobald  dieselben  vergegenwärtigt 
werden,  ein  unzweideutiges  Urteil  abgeben,  dessen  Denk- 
notwendigkeit ebenso  evident  ist  als  die  Unmöglichkeit,  das 
Gegenteil  zu  denken.  Die  Vernunft  wird  sich  immer  als 
einen  ständig  gegenwärtigen  gerechten  Richter  betrachten, 
gegen  dessen  Urteil  es  keine  Berufung  gibt,  dessen  Spruch 
aber  nicht  eher  gefällt  werden  kann,  als  bis  jede  Dunkel- 
heit und  Zweideutigkeit  von  der  Vorstellung  des  Falles,  über 
den  er  zu  urteilen  hat,  entfernt  ist.  So  hat  das  Selbst- 
vertrauen der  Vernunft  unvermeidlich  allen  philosophischen 
Forschungen  zugrunde  gelegen,  auch  jenen,  die  sich  a^if 
die  Bestimmung  ihrer  eigenen  Wahrheitskraft  beziehen. 
Als  Locke  zwei  Quellen  aller  Erkenntnis  unterschied,  und 
als  er  dann  die  Eigenschaften,  welche  den  Dingen  selbst 
inhärieren,  anderen  Eigenschaften  entgegensetzte,  welche 
sie  nur  scheinb£i,r,  in  unserer  Auffassung  von  ihnen,  haben, 
hatte  ihm  keine  unmittelbare  Erfahrung  diese  Prinzipien 
gegeben.  Er  gelangte  zu  seiner  Erkenntnis,  indem  er  die 
Methode  des  Denkens  befolgte,  die  für  uns  bei  der  Be- 
trachtung aller  Dinge  notwendig  ist ;  und  er  fragte  sich  ent- 
sprechend dieser  Methode  des  Denkens,  welches  die  wahr- 
scheinlichen Erklärungen  der  psychologischen  Tatsachen 
wären,  die  er  entdeckt  hatte.  Man  mißversteht  Kant, 
wenn  man  glaubt,  er  habe  seiner  „Kritik  der  Vernunft" 
eine  psychologische  Grundlegung  zu  geben  sich  bemüht, 
und  wenn  man  beklagt,  daß  die  Psychologie  von  ihm  nur 
im  Vorübergehen  und  unvollkommen  behandelt  worden  ist. 
Wesentliche  Prinzipien,  wie  seine  Unterscheidung  zwischen 
Form  und  Inhalt  der  Erkenntnis,  oder  seine  Lehre  von  der 
rein  subjektiven  und  phänomenalen  Natur  von  Zeit  und 
Raum,  sind  nicht  Data  psychologischer  Erfahrung,  sondern 
Ergebnisse  einer  metaphysischen  Deutung  solcher  Data, 
Darin  folgt  Kant  dem  Prinzip,  in  das  ich  das  Ergebnis^^ 
dieser  Betrachtungen  zusammenfasse:  daß  es  sich  nicht 
darum  handelt,  woher  unsere  Vorstellungen  kommen  und 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  GXIII 

wie  sie  sich  in  uns  psychologisch  bilden,  sondern  von 
Wichtigkeit  ist  nur,  zu  wissen,  ob  wir,  wenn  wir  sie  haben, 
bei  ihnen  stehenbleiben  dürfen,  oder  weitergehen  und  sie 
einer  Kritik  unterziehen  müssen,  um  die  vollständige  Über- 
einstimmung unserer  Vernunft  mit  sich  selbst  und  mit  den 
gegebenen  Tatsachen  zu  sichern,  das  einzige  Ziel,  das 
uns  überhaupt  erreichbar  ist.  Dies  ist  der  Weg,  auf  dem 
die  Mathematik  immer  vorgegangen  ist.  Sie  hat  sich  nie 
darum  bekümmert,  zu  wissen,  durch  welchen  psycho- 
logischen Akt  die  Vorstellung  eines  Punktes  im  Raum  in 
uns  entsteht  oder  durch  welchen  weiteren  geheimnisvollen 
Prozeß  wir  unendlich  viele  Punkte  in  einer  zusammen- 
hängenden geraden  Linie  vereinigen  oder  durch  welchen 
andern  Prozeß  wir  Figuren  aus  vielen  Linien  unterscheiden 
und  die  Vorstellung  der  Winkel  bilden,  an  denen  sie  aus- 
einanderlaufen. Alles  dies  postuliert  sie  rein  und  legt  es 
zugrunde.  Sie  ist  sich  dessen  gewiß,  daß,  nachdem  diese 
Postulates  gebildet  sind,  gleichviel  welches  die  psycho- 
logische Art  ihrer  Bildung  sei,  sich  die  tatsächliche  Not- 
wendigkeit eines  Satzes,  der  sich  auf  die  Verbindung  dieser 
Vorstellungen  bezieht,  auch  zwingend  ergeben  wird;  aber 
sie  fragt  nicht,  was  die  Seele  tut,  um  von  der  bloßen  Per- 
zeption  einer  solchermaßen  vorgestellten  Verbindung  zu 
dem  Bewußtsein  ihrer  Notwendigkeit  zu  kommen,  und  sie 
hält  eine  Antwort  auf  diese  Frage  nicht  für  notwendig  zur 
Sicherung  der  Wahrheit  ihrer  Ergebnisse. 

Wer  eine  Erkenntnistheorie  zu  besitzen  wünscht,  ehe 
er  an  die  eigentliche  Arbeit  der  Philosophie  geht,  wird 
hier  den  Einwand  erheben,  daß  eine  solche  Theorie,  wenn 
sie  erlangt  werden  soll,  notwendigerweise  den  Beruf  hat, 
jene  allgemeinen  und  intuitiv  evidenten  Prinzipien  der  Be- 
urteilung, von  denen  wir  gesprochen  haben,  darzulegen 
und  zu  sammeln ;  und  vielleicht  würde  er  weiter  verlangen, 
sie  alle  von  einem  einzigen  höchsten  Prinzip  abgeleitet 
zu  sehen,  um  endlich  jene  phüosophia  prima  wirklich  zu 
schaffen,  von  der  die  Menschen  seit  den  Tagen  des  Aristo- 
teles geträumt  haben.  Aber  wie  denkt  man  sich,  wäre 
ein  solcher  Plan  auszuführen  ?  Wenn  wir  in  einem  Examen 
dem  Prüfling  eine  bestimmte  Frage  stellen,  können  wir 
vernünftigerweise  eine  Antwort  erwarten.  Aber  wenn  wir 
von  ihm  verlangen  wollten,  uns  in  einer  Antwort  alles  zu 
sagen,  was  er  während  seines  ganzen  Lebens  gelernt  hat, 
so  würde  er  entweder  nicht  wissen,  wo  in  aller  Welt  be- 
ginnen, oder  er  würde  uns,  wie  die,  die  aus  einer  Feuers- 

Lotze,  Logik.  VIII 


CXtV  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

brunst  etwas  retten  wollen,  Wichtiges  und  Unwichtiges 
in  gleicher  Weise  ohne  jede  Ordnung  und  beides  sehr  un- 
vollkommen erzählen.  So  verhält  es  sich  mit  jenen  im 
höchsten  Grade  allgemeinen  Wahrheiten,  welche  wir  als 
ein  angeborenes  Besitztum  unseres  Geistes  betrachten:  sie 
stehen  nicht  vor  dem  Bewußtsein  von  Anfang  an  als  eine 
vollständige  wohlgeordnete  Reihe  da.  Wir  werden  uns  einer 
jeden  von  ihnen  erst  in  dem  Augenblicke  bewußt,  wenn 
eine  Wahrnehmung  ihre  Anwendung  veranlaßt.  Ihre  syste- 
matische Sammlung  zum  Aufbau  einer  Erkenntnistheorie 
ist  daher  kein  möglicher  x^nfang  für  die  Arbeit  der  Philo- 
sophie, sondern  wäre  das  nur  für  den  Schüler,  der  eine 
schon  geleistete  Arbeit  für  sich  zu  wiederholen  hätte.  Für 
die  Philosophie  selbst  könnte  sie,  anstatt  ein  Anfang,  nur 
ein  Ende  sein.  Und  ich  zweifle,  ob  in  beiden  Fällen  ihr 
Nutzen  oder  ihre  Wichtigkeit  sehr  groß  sein  würden;  denn 
je  mehr  wir  von  ihren  speziellen  Anwendungen  und  den 
Formeln  dafür,  in  denen  die  ursprüngliche  Wahrheit  so  in 
der  Anwendung  gezeigt  werden  muß,  zu  jenen  allgemeineren 
Ausdrücken  übergehen,  denen  sie  selber  sich  streng  unter- 
ordnen lassen,  desto  mehr  nimmt  immer  die  intuitive  Evi- 
denz ihres  Sinnes  ab,  und  sogar  das  unmittelbare  Gefühl 
ihrer  Notwendigkeit  verschwindet,  welches  wir  so  stark 
überall  da  fühlen,  wo  ein  bestimmter  Vorfall  uns  nötigt, 
eine  Anwendung  von  ihnen  zu  machen.  Auf  alle  Fälle 
aber  konnte  ich  das  andere  Verlangen  —  das  Verlangen, 
alle  Wahrheit  aus  einem  höchsten  Prinzip  mittels  einer 
Erkenntnistheorie  abzuleiten  —  nicht  vor  mir  rechtfertigen. 
Die  Einheit  der  Welt,  die  ich  als  den  Ausgangspunkt  meines 
Denkens  hinstellte,  ist  zunächst  nur  ein  Vorurteil,  welches 
selbst  einer  Untersuchung  bedarf,  damit  sich  zeige,  ob  es 
zu  der  für  uns  denknotwendigen  Wahrheit  gehört  oder 
aus  einer  solchen  Wahrheit  folgt  oder  nicht;  und  nur  auf 
der  Gewißheit  dieses  Vorurteils  würde  die  Forderung  der 
fraglichen  Ableitung  beruhen  können.  Auch  dann  aber 
würde  sie  nicht  in  dem  Sinne  bestehen,  den  man  ihr  gibt; 
im  Gegenteil,  man  kann  nur  mittels  eines  zweiten  Vor- 
urteils im.  voraus  bestimmen,  welches  die  Art  oder  Weise 
jener  Einheit  sein  müsse;  denn,  wie  ich  schon  bemerkt 
habe,  braucht  jene  Einheit  nicht  das  Mannigfaltige  in  ein 
Allgemeines  zusammenzufassen  oder  auch  Einzelwahrheiten 
untereinander  so  zu  vereinigen,  daß  wir  in  der  Lage  wären, 
eine  aus  der  andern  oder  alle  aus  einer  nach  logischen 
Gesetzen  abzuleiten.    Sie  mag,  um  einen  unvollkommenen 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CXV 

Vergleich  zu  gebrauchen,  das  Ganze  ihrer  Organisation  in 
der  Art  einer  Melodie  zusammenhalten,  deren  Einholt  un(i 
Zusammenhang  faßlich  sind,  obgleich  keine  Folgerung  be- 
weisen kann,  daß  diese  besondere  Fortsetzung  zu  diesem 
besonderen  Anfang  gehört.  Ist  dem  so,  dann  wird  es  für 
unser  Erkennen  viele  gleich  ursprüngliche  und  gleich  ge- 
wisse Wahrheiten  geben,  von  denen  wir,  nachdem  sie  da 
sind,  sehen  können,  daß  sie  zueinander  passen,  während 
wir  dauernd  außerstande  bleiben,  sie  durch  zwingenden 
Beweis  aus  einer  einzigen  Quelle  abzuleiten.  Wir  müßten 
uns  dann  damit  zufrieden  geben,  daß  wir  einzelne  Wahr- 
heiten mit  Gewißheit  erkennen,  und  es  wäre  töricht,  wenn 
wir  solche  Gewißheit  gering  anschlagen  und  immer  weiter 
nach  der  höchsten  Wahrheit  jagen  wollten,  die  uns  viel- 
leicht überhaupt  nicht  oder  wenigstens  nicht  auf  diesem 
besonderen  Wege  erreichbar  ist. 

Ich  komme  allmählich  zu  einem  Schluß.  Wer  ein 
Prinzip  der  Philosophie  im  Sinne  eines  sicheren  Ausgangs- 
punktes für  seine  Betrachtungen  sucht,  wird  sich  nicht  in 
Verlegenheit  befinden,  sobald  er  nur  auf  den  sichere 
Gang  seiner  Gedanken  acht  zu  haben  weiß.  Nicht  eins, 
sondern  unzählig  viele  Prinzipien,  stellen  sich  ihm  sogleich 
zur  Verfügung.  Denn  jeder  Teil  der  Erfahrung  kann  als 
solcher  Ausgangspunkt  dienen,  wenn  er  sich  in  der  Ge- 
stalt, in  der  er  sich  unmittelbar  darbietet,  in  Widerspruch 
mit  jenen  eingeborenen  Wahrheiten  befindet,  an  die  alle 
Wirklichkeit  gebunden  sein  soll,  und  die  selbst  in  dengi 
Augenblicke,  wo  die  beobachtete  Tatsache  mit  ihnen  streitet, 
sich  unserm  Bewußtsein  als  unerläßliche  Postulate  auf- 
drängen. Dies  ist  der  Weg,  auf  dem,  ausgehend  von  der 
Erfahrung,  jede  Philosophie  tatsächlich  entstanden  ist. 
Selbst  die  Ansichten,  denen  wir  mit  Recht  Schwärmerei 
und  Kaprize  vorwerfen,  wurden  zu  allen  Träumen,  die  in 
ihnen  sind,  doch  nur  durch  die  Betrachtung  des  tatsäch- 
lichen Laufs  der  Welt  geführt.  Sie  suchten  durch  eine 
Reihe  erdichteter  Zwischenglieder  die  tiefgefühlten  aber 
schlecht  verstandenen  Mängel  der  Welt  in  Harmonie  mit 
dem  zu  bringen,  was  ihnen  als  Amt  und  Aufgabe  aller 
wahren  Wirklichkeit  erschien.  Sie  irrten  nur  darin,  daß 
sie  alle  jene  Züge,  in  denen  der  Lauf  der  Dinge  die  Vor- 
aussetzungen des  Verstandes  und  die  Bedürfnisse  des 
Gemüts  verletzt,  als  ungegliederte  Masse  auf  den  Geist 
wirken  ließen;  dann  ließen  sie  sofort  ihrer  Phantasie  die 
Zügel  schießen,  um  sich  eine  andere  und  wahrere  Welt  als 

vin* 


CXVI  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

Grundlage  für  diese  unglückselige  Erscheinung  auszudenken. 
Sie  hätten  sorgfältiger  prüfend  in  die  inneren  Zusammen- 
hängo der  Wirklichkeit  eindringen  sollen,  um  die  Zwischen- 
glieder zu  finden,  durch  die  der  fragliche  Widerspruch 
nicht  nur  hypothetisch,  sondern  wirklich  und  in  Wahr- 
heit, gelöst  würde.  Es  scheint  also,  daß  die  wahre  Philo- 
sophie sich  nicht  auf  ihre  Prinzipien,  sondern  vielmehr  auf 
ihre  Methode  der  Gedankenentwicklung  als  den  Besitz  be- 
rufen muß,  der  sie  von  allem  unwissenschaftlichen  En- 
thusiasmus unterscheidet.  Ich  enttäusche  vielleicht  ganz 
wider  Erwarten  die  Voreingenommenheit  des  Leseis,  wenn 
ich  sage,  daß  ich  glaube,  wir  müssen  auch  diesen  An  pruch 
aufgeben,  wenigstens  in  dem  Sinne,  in  dem  er  oft  erhoben 
wird. 

Eine  Methode  der  ErTcenntnis  kann  nicht  wie  die  eines 
praktischen  Unternehmens  ein  im  voraus  feststehendes  Ziel 
verfolgen.  Sie  sucht  die  eigentümliche  Natur  des  Dinges, 
mit  dem  sie  sich  beschäftigt,  zu  erkennen,  und  worin  diese 
Natur  bestehe.  Ich  gebe  zu,  daß  mit  Ptücksicht  auf  unsere 
Stellung  zu  der  in  Frage  stehenden  Sache  unsere  ersten 
Schritte  im  voraus  bestimmt  werden  können.  Es  müssen 
solche  sein,  die  sich  dazu  eignen,  die  Hindernisse  zu  über- 
winden, die  es  uns  erschweren,  an  das  Ding  überhaupt 
heranzukommen;  aber  sobald  das  Ding  selbst  uns  ift 
Sicht  kommt,  ist  die  Methode  unseres  weiteren  Vorgehens 
immer  durch  die  Eigenheiten  bedingt,  die  die  Natur  des 
Dinges  unserem  Erkenntnisstreben  bietet.  Es  ist  daher 
wahr,  daß  die  Methoden  der  Erkenntnis  so  verschieden  sein 
müssen  wie  die  Natur  der  Dinge,  die  wir  zu  erkennen 
wünschen,  wie  es  anderseits  klar  ist,  daß  da,  wo  mehrere 
einzelne  Objekte  dieselben  Züge  gemeinsam  haben,  be- 
stimmte stereotype  Forschungsmethoden  sich  für  solche 
Gruppen  bilden  werden,  so  daß  ein  analoger  Fall  immer 
auf  dieselbe  Weise  behandelt  und  das  Suchen  nach  neuen 
Methoden  für  jeden  besondern  Fall  überflüssig  gemacht 
werden  kann.  Aber  solche  nützlichen  Erkenntnismethoden 
können  niemals  ohne  Rücksicht  auf  die  Eigentümlichkeiten 
jener  verwandten  Problem-Gruppen  gefunden  werden  und 
es  wird  niemals  eine  Universalmethode  geben,  durch  w^elche 
die  Zwecke  der  Erkenntnis  für  alle  möglichen  Forschungs- 
objekte erreicht  würden.  Die  Mathematik  hat  für  bestimmte 
Klassen  von  Problemen  ihre  ingeniösen  Verfahrungsweisen 
konstruiert,  die  bei  jeder  Anwendung  auf  einen  besondern 
Fall   seinen  Eigenheiten   angepaßt  werden.     Die   Mechanik 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CXVH 

hat  in  derselben  Weise  die  Auswahl  von  Entwürfen  aus- 
gebildet, welche  sie  unbedenklich  immer  wieder  benutzt, 
wenn  dieselbe  Art  von  Arbeit  verlangt  wird,  wenngleich 
mit  Anpassung  an  die  Forderungen  der  besonderen  Auf- 
gabe. Nie  aber  ist  hier  die  Rede  gewesen  von  einer  Uni- 
versalmethode, alle  mathematischen  Probleme  zu  lösen, 
oder  eine  Maschine  für  jeden  denkbaren  und  womöglich 
für  einen  noch  unbekannten  Zweck  zu  bauen.  Es  ist  klar, 
was  allein  solchen  maßlosen  Wünschen  entsprechen  könnte ; 
das  wäre  die  Gesamtheit  der  elementaren  mathematischen 
und  mechanischen  Wahrheiten  einerseits  und  anderseits 
ein  weitblickender  Scharfsinn,  der  sie  in  jedem  vorkommen- 
den Falle  angemessen  zu  gebrauchen  verstünde.  In  der 
Philosophie  ist  es  nicht  anders,  und  ich  bin  versucht,  hier 
ein  Wort  von  Aristoteles  zu  parodieren.  Als  Alexander 
der  Große  ihn  um  einen  leichteren  Weg,  Geometrie  zu 
lernen,  bat,  soll  er  geantwortet  haben:  Es  gibt  keinen 
besonderen  königlichen  Weg  in  der  Wissenschaft.  Die 
Wissenschaft  und  die  Philosophie  zumal  besitzt  keinen  ge: 
heimnisvoUen  methodischen  W^eg  gegenüber  dem,  auf  weh 
chem  der  einfache  Gebrauch  unseres  Verstandes  uns  alle 
leiten  kann.  Die  vornehmsten  Prätensionen  auf  den  Be- 
sitz einer  Methode  spekulativer  Erkenntnis,  die  den  Ge- 
v^^inn  von  Ergebnissen  sichern  sollte,  welche  mit  dem  natür- 
lichen menschlichen  Denken  unerreichbar  wären,  sind  auf 
die  eine  oder  die  andere  Art  immer  untergegangen,  so  oft 
sie  aufgetaucht  sind.  Wenn  dabei  wertvolle  Ergebnisse 
erlangt  wurden,  so  lag  das  daran,  daß  ein  Teil  der  Natur 
des  Dinges  entdeckt  w^urde,  der  eine  Reihe  von  dessen 
mannigfaltigen  Erscheinungen  bestimmte,  und  die  Methode 
kam  zu  Unrecht  in  den  Ruf  einer  Fruchtbarkeit  an  wert- 
vollen Ergebnissen,  welche  in  Wirklichkeit  aus  dieser  obr 
jektiven  Quelle  stammten.  Andrerseits  hat  immer,  wenn  eine 
üniversalmethode  für  alle  Forschung  vorher  festgesetzt 
wurde,  das  nur  dazu  geführt,  daß  auf  ihre  Rechnung  den 
Dingen  Gewalt  angetan  wurde.  Sie  sollen  sich  den  Formen 
fügen,  die  eigensinnig  im  voraus  für  sie  festgesetzt  sind, 
und  alles,  was  sich  dazu  nicht  bequemen  will  oder  was 
auf  den  Wegen  der  Methode  nicht  erreichbar  ist,  wird 
ignoriert.  In  vielen  Fällen  endlich  sind  diese  anspruchs- 
voll vorgegebenen  Methoden  nur  ein  ziemlich  müßiger 
Zierrat,  mit  dem  die  schon  getane  Arbeit  hinterher  ge- 
schmückt wird,  während  die  Arbeit  selbst  auf  ganz  anderen 
und   natürlicheren   Wegen  des   Denkens   verrichtet  wurde, 


CXVIII         Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

die  aus  der  Beschaffenheit  der  Probleme  selber  hervor- 
gingen. Es  liegt  ein  Zug  von  Feigheit  in  dieser  Sorge 
um  vorbereitende  Mittel  zum  Erfolg.  Einst  haben  die 
Menschen,  wenn  sie  nicht  das  Vertrauen  auf  das  Ver- 
dienst ihrer  eigenen  Persönlichkeit  hatten,  daß  ihnen  ein 
günstiger  Erfolg  sicher  sei,  nach  Liebestränken  gesucht, 
um  sich  die  Neigungen  ohne  Gewalt  zu  erobern ;  jetzt  stellen 
sie,  wenn  sie  eine  angesehene  Position  im  Leben  zu  ge- 
winnen wünschen,  am  liebsten  die  ganze  Gesellschafts- 
ordnung auf  unmögliche  Grundlagen,  mit  deren  Hilfe  uns 
der  Lauf  der  Dinge  von  selbst  das  bringen  soll,  was  wir 
durch  die  Anwendung  unserer  eigenen  Kräfte  erwerben 
sollten;  um  sittliche  Mißstände  zu  verbessern,  richten  sie 
nicht  einen  zusammenraffenden  Appell  an  den  Willen, 
der  sich  kraft  seiner  Selbsttätigkeit  davon  lossagen  sollte, 
sondern  sie  wählen  den  Umweg  über  den  Versuch,  durch 
diätetische  Mittel  das  Gehirn  der  künftigen  Generationen 
so  zu  gestalten,  daß  das  Gute,  das  unsere  eigene  Tat  sein 
sollte,  dann  von  selbst  komme  als  mechanische  Folge 
der  Umstände.  Nicht  anders  ist  es  mit  dem  Suchen  nach 
einer  philosophischen  Mathode.  Nachdem  soviele  Irr- 
tümer begangen  worden  sind,  möchte  man  gern  einen 
logischen  Kalkül  erfinden,  der  uns  der  Notwendigkeit  ent- 
höbe, uns  selbst  anzustrengen  und  uns,  ohne  unseren 
persönlichen  Scharfsinn  anzuspannen,  die  richtigen  Er- 
gebnisse in  jedem  Falle  mit  der  Sicherheit  einer  Ma- 
schine schenken  würde.  Solche  Bemühungen  sind  ständig 
fruchtlos  gewesen.  Von  soviel  grober  Arbeit  uns  die  Ma- 
schinen auch  befreien,  eine  Maschine,  die  uns  die  ganze 
Arbeit  des  Lebens  auf  einmal  abnähme,  ist  bis  jetzt  noch 
nicht  erfunden  worden.  Es  muß  der  Mensch  selbst  schließ- 
lich immer  bleiben,  der  sie  zu  lenken  und  sie  ihrem  Zwecke 
anzupassen  hat.  Ich  will  hierüber  keine  Worte  mehr  ver- 
lieren; ich  behaupte  im  Gegensatz  zu  all  diesen  Präten- 
Sionen  einfach,  daß  jeder  Fortgang  des  Denkens  und  jede 
Methode  gut  ist,  sofern  sie  sich  in  jedem  Moment  sogleich  der 
Natur  des  untersuchten  Dinges  und  dem  besondern  Zweck 
anpaßt,  den  die  Untersuchung  verfolgt;  daß  wir  nie  ver- 
säumen dürfen,  die  Angriffsmethode  zu  ändern,  wenn  die 
Natur  des  Gegners  sich  ändert;  und  daß  wir  nie  daran 
denken  dürfen,  die  zahllosen  Einwürfe,  die  gegen  irgend 
ein  erlangtes  Ergebnis  erhoben  werden,  hauptsächlich  aus 
dem  Grunde  zurückzuweisen,  daß  sie  aus  untergeordneten 
Standpunkten   der  Betrachtung  hervorgingen;   sondern  wir 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CXIX 

müssen  vielmehr  ohne  jedes  Vorurteil  zugunsten  einer 
methodischen  Gedankenparade  jederzeit  sorgfältig  alles  be- 
nutzen, woran  ein  beweglicher  und  scharfsinniger  Geist 
sich  irgendwie  halten  kann,  um  das  Resultat  zu  finden, 
und  müssen  die  Einwürfe  erklären  und  zunichte  machen. 
Man  fragt  vielleicht  verwundert,  ob  denn  diese  Mißachtung 
aller  traditionellen  Vorurteile  der  Schule  tatsächlich  be- 
deutet, daß  ich  den  gesunden  Menschenverstand  zum 
Richter  über  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  der  Philo- 
sophie zu  machen  wünsche?  Nun,  ich  möchte  die  Gegen- 
frage tun,  ob  der  gesunde  Menschenverstand  nicht  tat- 
sächlich immer  ihr  Richter  gewesen  ist?  Wie  viele  speku- 
lative Systeme  sind  nicht  im  Laufe  der  Zeit  mit  der 
Versicherung  hervorgetreten,  daß  sie  mit  Hilfe  tief  grei- 
fender Methoden  auf  Grund  noch  tiefer  liegender  Prinzipien 
Wahrheiten  erlangt  hätten,  die  auf  keinem  andern  Wege 
zu  finden  seien;  aber  weil  sie  ihre  Ergebnisse  dem  ge- 
sunden Menschenverstände,  dem  natürlichen  Gefühl  des 
Menschen  für  Wahrscheinlichkeit,  nicht  glaubhaft  zu 
machen  vermochten,  haben  sie  nur  die  Masse  des  histo- 
rischen Materials  vermehrt,  in  das  wir  uns  neugierig  ver- 
tiefen, und  haben  keinen  dauernden  Einfluß  auf  unser  Leben 
oder  unsere  Anschauungen  gewonnen.  Wenn  ich  dies  sage, 
habe  ich  gewiß  nicht  die  Absicht,  unter  diesem  Namen; 
natürlicher  Verstand  jene  Summe  von  oberflächlichen  Ein- 
drücken, halben  Gedanken  und  grundlosen  Vorurteilen  zu 
begreifen,  die,  zusammen  mit  ein  paar  unumgänglichen 
oder  traditionellen  Wahrheiten  den  Schatz  der  nicht- 
wissenschaftlichen Bildung  ausmachen.  Es  ist  der  Mangel 
dieser  Bildung,  daß  sie  fragmentarisch  ist,  und  dieser  Fehler 
kann  nicht  für  die  Zwecke  der  Wissenschaft  dadurch  aus- 
geglichen werden,  daß  sie,  selber  durch  die  Lebensvorgänge 
geweckt,  sich  mit  größerer  Intensität  in  diese  persön- 
lichen Erfahrungen  stürzt.  Da  sie  sich  nur  von  den  Be- 
obachtungen nährt,  die  in  ihren  Gesichtskreis  fallen,  führt 
sie  die  Gedanken,  zu  welchen  sie  so  angeregt  wird,  nur 
ein  paar  Schritte  weiter  und  begnügt  sich  mit  Lösungen, 
die  den  dringendsten  Bedürfnissen  des  Falles  in  gewissem 
Maße  genügen.  Sie  beobachtet  nicht,  daß  die  verschie- 
denen Ergebnisse,  zu  denen  sie  durch  solche  isolierten 
Versuche  gelangt,  kein  in  sich  zusammenhängendes  Ganzes 
bilden,  und  daß  ein  jedes  von  ihnen  noch  ungelöste 
Rätsel  enthält,  die  bei  einem  Schritt  weiter  ans  Licht  ge- 
kommen  wären.    Aber   diese   Mängel   können  nicht  durch 


CXX  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

die  Anwendung  einer  spezifischen  Methode  beseitigt  werden, 
denn  sie  kommen  im  Überfluß  auch  in  jenen  philosophi- 
schen Weltanschauungen  vor,  die  sich  ausdrücklich  mit 
dem  Besitze  solcher  Methoden  brüsten.  Wenn  ich  sagen 
darf,  was  ich  als  den  gewöhnlichsten  Fehler  beim  Philo- 
sophieren betrachte,  so  ist  es  der  Mangel  an  Beharrlichkeit 
und  Zähigkeit.  Man  begnügt  sich  zu  oft  mit  dem  Blitz 
eines  schlagenden  Gedankens,  der  ein  merkwürdiges  und 
blendendes  Licht  auf  einen  Teil  der  Welt  wirft,  aber  die 
andern  in  um  so  tieferem  Dunkel  läßt;  während  es  viel 
wichtiger  ist,  jeden  Grundgedanken,  den  man  versucht,  in 
alle  seine  möglichen  Konsequenzen  zu  verfolgen,  um  sich 
zu  vergewissern,  wie  weit  seine  Geltung  ohne  Widerspruch 
seitens  der  Wirklichkeit  bleibt,  und  wo  seine  Fruchtbarkeit 
endet.  In  diesem  unablässigen  und  konsequenten  Ver- 
folgen der  Aufgabe  liegt  der  Vorzug,  den  eine  wissen- 
schaftlich geführte  Untersuchung  vor  den  natürlichen  Ver- 
suchen der  nicht-wissenschaftlichen  Bildung  haben  kann 
und    haben    sollte. 

In  diesem  Sinne  sucht  die  Philosophie  ganz  natur- 
gemäß ihre  Ergebnisse  zu  einem  systematischen  Ganzen 
zu  vereinigen,  und  kein  gerechter  Einwand  kann  gegen  die 
Notwendigkeit  eines  solchen  Versuchs  gemacht  werden. 
Sehr  unwichtig  aber  ist  für  die  gesicherten  Wahrheiten 
die  Form  der  Verknüpfung,  der  Neben-  und  Überordnung, 
in  der  man  ihre  Vereinigung  sucht;  indem  ich  dies  sage, 
will  ich  lediglich  das  Vorurteil  zurückweisen,  das  den 
gewöhnlich  vorgezogenen  Typus  der  Klassifikation  als  die 
einzig  wünschenswerte  Form  systematischer  Verknüpfung 
betrachten  läßt.  Ich  weiß,  daß  man  für  einen  Überblick 
aller  philosophischen  Forschungen  die  Fragen  klassifizieren 
muß,  auf  die  man  Antwort  sucht;  ich  würde  mich  in  dieser 
Beziehung  ziemlich  zufrieden  geben  mit  Kants  drei  Fra- 
gen: Weis  können  wir  wissen?  Was  sollen  wir  tun?  Was 
dürfen  wir  hoffen  ?  Diese  Einteilung  bewahrt  zum  wenigsten 
eine  starke  und  lebendige  Erinnerung  an  die  Bedürfnisse, 
zu  deren  Befriedigung  alle  Spekulation  im  letzten  Grunde 
unternommen  wird.  Ich  weiß  auch,  und  es  ist  dringend 
notwendig,  das  zu  erwähnen,  daß  nahe  verwandte  Gruppen 
von  Gegenständen  zu  einer  Vereinigung  der  ihnen  ge- 
widmeten Untersuchungen  unter  den  Namen  von  Einzel- 
disziplinen führen ;  aber  ich  vermag  keinen  Wert  auf 
subtile  Unterscheidungen  dieser  einzelnen  Forschungsge- 
biete  zu   legen,   und   ebensowenig   auf   die   Konstruktions- 


Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren.  CXXI 

kunst,  die  sie  dann  wieder  zu  dem  Gebäude  eines  ein- 
zigen Systems  vereinigt.  Diese  künstlichen  Verknüpfungs- 
methoden sind  von  Vorteil  nur  für  den  Fall,  daß  es 
ein  Vorteil  ist,  die  Ergebnisse  einer  Betrachtung  dem 
Gedächtnis  klar  einzuprägen ;  aber  da  sie  nicht  zugleich  mit 
den  Ergebnissen  auch  die  Wege  in  sich  fassen,  auf  denen 
dieselben  erreicht  wurden,  so  erwirken  sie  nur  eine  äußer- 
liche Übermittelung  von  etwas  Fix  und  Fertigem,  ohne 
den  lebendigen  Geist  der  Forschung  zu  überliefern.  Der 
Trieb  zu  systematisieren  kann  auf  zwei  verschiedene 
Ziele  gerichtet  sein.  An  erster  Stelle  können  die  Wissen- 
schaften klassifiziert  werden  als  subjektive  Bemühungen 
des  forschenden  Geistes,  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  zu 
erlangen.  Nun  ist  gewiß  nichts  gegen  dieses  Vorhaben 
zu  sagen,  sondern  nur  gegen  die  übertriebene  Wichtigkeit, 
die  man  ihm  beilegt;  und  für  diesen  Erfolg  können  wir 
Aristoteles  nicht  Dank  wissen.  Es  ist  eine  ganz  un- 
fruchtbare Weitläufigkeit  der  Behandlung,  wenn  man  wie 
er  darüber  diskutiert,  ob  eine  gegebene  Frage  zu  dieser 
oder  jener  von  den  unterschiedenen  Disziplinen  gehört. 
Denn  es  ist  eine  grundlose  Meinung,  daß  jede  Einzel- 
Disziplin  eine  besondere  fruchtbare  Methode  besitze,  die 
es  ihr  und  keiner  andern  ermögliche,  eine  gegebene  Frage 
zu  beantworten;  es  ist  daher  schwer  einzusehen,  warum 
man,  wenn  man  eine  Frage  zu  beantworten  weiß,  sie  nicht 
an  der  Stelle  behandeln  soll,  wo  der  natürliche  Gedanken- 
zusammenhang sie  aufdrängt  und  ihre  Lösung  wünschens- 
wert macht;  und  anderseits,  wenn  man  sie  nicht  beant- 
worten kann,  dann  ist  es  nur  verlorene  Mühe,  sie  anderen 
Disziplinen  zu  überweisen,  die  auch  keine  Aufklärung 
geben  werden.  Statt  diesen  Weg  zu  verfolgen,  kann  man 
den  zweiten  Standpunkt  einnehmen,  auf  den  ich  anspielte: 
daß  man  versucht,  nicht  unsere  subjektiven  Verfahrungs- 
weisen,  sondern  den  objektiven  Inhalt  der  entdeckten 
Wahrheiten  systematisch  darzustellen;  und  daß  man  auf 
diesem  Wege  auch  zu  dem  Ergebnis  gelange,  daß  jede 
Frage,  oder  besser  die  Antwort  auf  jede  Frage,  ihren 
eigenen  bestimmten  unveränderlichen  Platz  in  dem  System 
als  einem  Ganzen  hat.  Ich  kann  diesen  Anspruch  nicht 
zugeben.  Wir  können  naturgemäß  die  Lösung  eines  Pro- 
blems nur  an  dem  Punkte  der  Forschung  unternehmen, 
wo  die  Ergebnisse  vorhergehender  Untersuchungen  uns 
die  entsprechenden  Entscheidungsgründe  zur  Verfügung 
stellen;  und  wenn  wir  den  eigentlichen  inneren  Zusammen- 


CXXIT  Die  Philosophie  in  den  letzten  40  Jahren. 

hang  des  Weltinhalts  darzulegen  streben,  so  ist  diese  Vor- 
hebe für  systematische  Klassifikation  ein  schädliches  Vor- 
urteil. Die  Welt  ist  sicherlich  nicht  so  eingerichtet,  daß 
die  einzelnen  Grundwahrheiten,  die  wir  in  ihr  herrschend 
finden,  nach  dem  armseligen  Schema  logischer  Überord- 
nung, Nebenordi\ung  und  Unterordnung  zusammenhängen. 
Sie  bilden  eher  ein  Gewebe,  so  gewoben,  daß  sie  alle 
gleichzeitig  in  jedem  Stückchen  und  jeder  Falte  gegen- 
wärtig sind.  Man  kann,  je  nachdem  man  ein  Bedürfnis 
dazu  fühlt,  jeden  von  diesen  einzelnen  Fäden  zum  Haupt- 
objekt seiner  Betrachtung  machen ;  aber  man  kann  das  nicht 
oder  wenigstens  nicht  auf  eine  förderliche  Weise  tun,  wenn 
man  nicht  in  jedem  Augenblick  die  anderen  Fäden  berück- 
sichtigt,  mit   denen   er   unlösbar   vereinigt   ist. 

Es  könnte  scheinen,  als  sagte  ich  mehr  als  ich  eigent- 
lich will;  so  füge  ich  hinzu,  daß  ich  nicht  den  begrenzten 
Nutzen  dieser  traditionellen  Formen  des  Philosophierens 
bestreite,  sondern  nur  ihren  Anspruch,  als  die  unumgäng- 
lichen Erfordernisse  aller  philosophischen  Betrachtung  zu 
gelten.  Doch  ich  muß  mich  hier  von  dem  geneigten  Leser 
mit  einer  Apologie  verabschieden.  Ich  habe  einmal  mit 
Bezug  auf  die  Theorien  der  Erkenntnis,  mit  denen  wir 
gegenwärtig  überschwemmt  werden,  gesagt,  daß  das  be- 
ständige Wetzen  der  Messer  langweilig  sei,  wenn  man  nichts 
zu  schneiden  vorhabe.  Und  jetzt  habe  ich  selber  die  Auf- 
merksamkeit des  Lesers  so  lange  für  diese  einleitenden  Be- 
trachtungen in  Anspruch  genommen,  daß  ich  sehr  fürchte, 
ich  werde  keinen  günstigen  Eindruck  gemacht  haben.  Ich 
werde  mich  bestreben,  meinen  Fehler  dadurch  zu  sühnen, 
daß  ich  mich  jetzt  ohne  weiteres,  und  mit  der  erwünschten 
Freiheit  von  scholastischen  Formen,  zu  jenen  wesent- 
lichen Fragen  wende,  deren  Erörterung  zu  allen  Zeiten, 
und  nicht  zum  wenigsten  in  unserer  eigenen,  das  leb- 
hafte   Interesse    der   Menschheit    erweckt    hat. 


Lotze's  Logik. 


Vorwort  Lotze's. 

Wenn  ich  dieses  Buch  als  ersten  Theil  eines  Systems 
der  Philosophie  zu  bezeichnen  wage,  so  hoffe  ich,  daß 
man  hinter  dieser  Benennung  nicht  dieselben  Ansprüche 
vermuthen  wird,  die  in  früheren  Zeiten  sich  durch  sie 
anzukündigen  pflegten.  Es  kann  natürlich  nur  meine  Ab- 
sicht sein,  das  Ganze  meiner  persönlichen  Ueberzeugungen 
in  einer  systematischen  Form  darzustellen,  welche  dem 
Leser  das  Urtheil  darüber  möglich  macht,  in  wieweit  sie 
nicht  nur  in  sich  selbst  zusammenstimmen,  sondern  auch 
dazu  dienen  können,  die  vereinzelten  Gebiete  unserer  ge- 
wissen Erkenntniß  über  die  großen  Lücken  hinweg,  durch 
welche  dieselben  getrennt  sind,  in  den  Zusammenhang  einer 
abschlioßbaren  Weltansicht  zu  verknüpfen.  Von  diesem 
Beweggrund  habe  ich  mich  auch  in  diesem  Anfang  meiner 
Darstellung  leiten  lassen.  Ihr  erstes  Buch,  obwohl  völlig 
neu  geschrieben,  wiederholt  im  Wesentlichen  den  Gedanken- 
gang meiner  kleinen  längst  vergriffenen  Logik  vom  Jahre 
1843;  ich  habe  nicht  Ursache  gefunden,  diesen  zu  ändern, 
und  noch  jetzt  wie  damals  liegt  nur  in  ihm  das  Interesse, 
das  ich  selbst  an  der  Darstellung  der  Logik  nehme;  Er- 
weiterungen und  Verbesserungen  ihres  Formalismus  zu  ver- 
suchen, jedoch  innerhalb  des  allgemeinen  Characters,  den 
derselbe  einmal  hat  und  haben  muß,  halte  ich  jetzt  wie 
damals  für  unfruchtbare  Arbeit;  was  von  ihm  wissenswürdig 
ist,  sei  6s  auch  nur  in  einer  Art  von  culturgeschichtlichem 
Interesse,    glaube    ich    dennoch   vollständig    mitgetheilt   zu 


CXXVI  Vorwort. 

haben,  und  bin  bemüht  gewesen,  es  in  der  einfachsten  Form 
zu  thun.  Das  zweite  Buch,  das,  aller  systematischen  Fesseln 
ledig,  zusammenstellt,  was  mir  nützlich  schien,  bedarf  keines 
Vorworts;  Vieles  läßt  sich  hier  anders  auswählen,  Manches 
hinzufügen,  Manches  wird  auch  hinweggewünscht  werden; 
man  muß  es  wie  einen  offenen  Markt  betrachten,  auf 
welchem  man  die  unbegehrte  Waare  ruhig  bei  Seite  läßt. 
Das  dritte  Buch  war  ganz  anders  beabsichtigt;  es  sollte 
dieselben  Gegenstände,  die  es  jetzt  bespricht,  in  Gestalt 
einer  historisch-kritischen  Darstellung  der  logischen  Ge- 
sammtansichten  behandeln,  die  in  Deutschland  und  bei 
den  verschiedenen  Nationen  des  Auslandes  in  vielen  sehr 
interessanten  und  der  Theilnahme  würdigen  Formen  auf- 
getreten sind.  Der  Versuch  der  Ausführung  zeigte,  daß 
diese  Aufgabe,  wenn  sie  mit  der  Gründlichkeit  gelöst  werden 
sollte,  die  man  allen  jenen  schätzenswerthen  Arbeiten 
schuldig  ist,  innerhalb  der  Grenzen  dieses  Buches  ganz 
unerfüllbar  blieb;  vielleicht  findet  sich  für  sie  eine  andere 
Gelegenheit;  vor  der  Hand  führt  dies  Mißlingen  mich  dazu, 
zunächst  jeder  Rücksichtnahme  auf  fremde  Ansichten  zu 
entsagen  und  nur  vorzutragen,  was  entweder  Gemeingut 
ist  oder  zu  meiner  individuellen  Anschauungsweise  gehört. 
Möge  nicht  Alles,  was  ich  geäußert  habe,  immer  nur  dieser 
letzten   angehören  I 

Göttingen,  10.  Juni  1874. 


Außer  einigen  kleinen  Verbesserungen  der  Darstellung 
enthält  diese  zweite  Auflage  nur  einen  größeren  Zusatz: 
die  Anmerkung  über  logischen  Calcül,  S.  256;  ich  bemerke 
zu  S.  268,  daß  Jevons  von  Kalium  spricht;  warum  ich 
Natrium   vorgezogen   habe,    erräth   man   vielleicht. 

Göttingen,  6.  Sept.  1880. 

Der  Verfasser. 


Inhalt. 


Seite 

Erstes  Buch.    Vom  Denken  (reine  Logik) 1 

Einleitung- 3 

Erstes  Kapitel.    Die  Lehre  vom  Begriffe 

A.  Die  Formung  der  Eindrücke  zu  Vorstellungen  ....      14 

B.  Setzung,  Vergleichung  und  Unterscheidung  der  einfachen 
Vorstellungsinhalte 24 

C.  Die  Bildung  des  Begriffs 36 

Uehergang  zu  der  Form  des  Urtheils 54 

Zweites  Kapitel.     Die  Lehre  vom  Urtheil 57 

Vorbemerkungen  über  Bedeutung  und  gewöhnliche  Eintheilung 

der  Urtheile 57 

Die  Reihe  der  Urtheilsformen 

A.  Das  impersonale  Urtheil.    Das  kategorische  Urtheil.    Der 
Satz  der  Identität 69 

B.  Das  particulare  Urtheil.   Das  hypothetische  Urtheil.    Der 
Satz  des  zureichenden  Grundes 77 

C.  Das  generelle  Urtheil.     Das  disjunctive  Urtheil.     Das 
Dictum  de  omni  et  nullo  und  das  Princip.  exclusi  medii    91 

Anhang  über  die  unmittelbaren  Folgerungen 101 

Drittes  Kapitel.     Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  syste- 
matischen Formen 108 

Vorbemerkungen  über  die  Aristotelische  Syllogistik  ....    108 

A.  Der  Schluß  durch  Subsumption;  durch  Induction;  durch 
Analogie 121 

B.  Die  mathematischen  Folgerungen:  durch  Substitution; 
durch  Proportion;  die  constitutive  Gleichung     ....    131 

C.  Die  systematischen  Formen:  Classification;  erklärende 
Theorie;  das  dialektische  Ideal  des  Denkens 148 

Zweites  Buch.     Vom  Untersuchen  (angewandte  Logik)    .    .   .    187 

Erstes  Kapitel.     Die  Formen  der  Definition 192 

Zweites  Kapitel.     Von  der  Begrenzung  der  Begriffe    .   .    212 
Drittes  Kapitel.    Schematische  Anordnungen  und  Bezeich- 
nung der  Begriffe 232 

Anmerkung  über  logischen  Calcül 256 


CXXVIII  Inhalt. 

Seite 

Viertes  Kapitel.     Die  Formen  des  Beweises 269 

Fünftes  Kapitel.     Die  Auffindung  der  Beweisgründe  .    .  298 

Sechstes  Kapitel.    Beweisfehler  und  Dilemmen    ....  335 

Siebentes  Kapitel.    Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen  353 

Achtes  Kapitel.     Autfiudung  von  Gesetzen 390 

Neuntes  Kapitel.  Bestimmung  singularer  Thatsachen  und 

Wahrscheinlichkeitsberechnung 421 

Zehntes  Kapitel.    Von  Wahlen  und  Abstimmungen     .    .  459 

Drittes  Buch.    Vom  Erkennen  (Methodologie). 

Vorbemerkung 477 

Erstes  Kapitel.     Vom  Skepticismus 485 

Zweites  Kapitel.    Die  Ideenwelt 505 

Drittes  Kapitel.     Apriorismus  und  Empirismus     ....  524 
Viertes   Kapitel.      Reale    und   formale   Bedeutung   des 

Logischen 548 

Fünftes  Kapitel.    Die  apriorischen  Wahrheiten    ....  572 


Druckfehler  -Verzeichnis. 

Seite  104,  Zeile  15 :  heißt  nicht  „umgeändert"  sondern  „ungeändert". 
„      124,      „     10:  „eigensinnig". 
„      125,      „     14:  „beruht". 

167,      „       4  von  unten:  „logisch". 
„      262,      „       4     ,,         ,.        statt  „auf  abenteuerliche"  „auf  weniger 

abenteuerliche**. 


Erstes  Buch. 

Vom  Denken, 

(Reine  Logik.) 


I.  Auf  Anregungen  der  Sinne  entstehen  uns  fast  in 
jedem  Augenblick  unseres  wachen  Lebens  verschiedene  Vor- 
stellungen zugleich  oder  in  unmittelbarer  Abfolge.  Von  ihnen 
haben  manche  ein  Recht,  in  unserem  Bewußtsein  so  zu- 
sammenzutreffen, weil  auch  die  Wirklichkeit,  aus  der  sie 
stammen,  ilire  veranlassenden  Ursachen  immer  zugleich  er- 
zeugt oder  aufeinander  folgen  läßt';  andere  begegnen  sich 
in  uns  nur  deshalb,  weil  innerhalb  des  Bereiches  der  Außen- 
welt, für  dessen  Einwirkung  wir  erreichbar  sind,  ihre  ver- 
anlassenden Ursachen  thatsächlich  in  demselben  Augenblick 
zusammentrafen,  doch  ohne  einen  inneren  Zusammenhang, 
d^r  4hre  gleiche  Verknüpfung  in  jedem  Wiederholungsfalle 
sfeiherte.  Diese  Misohung  zusammengehöriger  und  nur 
z u s a-m m e ngerathener  Vorstellungen ,  wiederholt  nach 
einem  Gesetze,  welches  wir  unserer  Selbstbeobachtung  ent- 
lehnen, auch  der  Verlauf  unserer  Erinnerungen,'  Denn  jede 
Vorstellung,  sobald  sie  irgendwie  im  Bewußtsein  neubelebt 
wird,  erweckt  auch  diejenigen  anderen  wieder,  die  früher 
einmal,  gleichzeitig  oder  ohne  Zwischenglied  folgend,  mit 
ihr  zusammengewesen  sind,  gleichviel  ob  die  frühere  Ver- 
knüpfung auf  jener  Zusammengehörigkeit  der  vorgestellten 
Inhalte  oder  auf  dieser  bloßen  Gleichzeitigkeit '  übrigens 
einander  fremder;  Erregungen  beruht  haben  mag.lDer  erste 
Fall,  die  Wiederbringung  des  Zusammengehörigen,  begrün- 
det unsere  Hoffnung,  zu  Erkenntnissen  zu  gelangen;  der 
zweite,  die  Leichtigkeit,  mit  der  das  Zusammengerathene' 
an  eiijander  haftet  und  sich  wechselseitig  ins  Bewußtsein 
drängt,  ist  die  Quelle  der  Irrthümer  und  zunächst  jener  Zer- 
streuung, durch  die  unsere  Gedanken  von  der  Verfolgung 
eines  sachlichen  Zusammenhanges  abgehalten  werden. 

IL  Mit  dem  Namen  des  Vorstellungsverlaufes 
bezeichnen  wir  das  abwechselungsreiche  Ganze  der  Vor- 
gänge, zu  denen  diese  Eigenthümlichkeit  unseres  Seelen- 
lebens führt.  Nothwendigen  Zusammenhang  zwischen  den 
Gliedern  dieses  Ganzen  würden  wir,  wenn  eine  allwissende 

1* 


6  Einleitung. 

zu  welchem  diese  Betrachtung  des  Denkens  einleiten  soll; 
zulässig  aber  erscheint  sie  mir,  weil  sie  zwar  die  allgemeine 
Färbung  meiner  folgenden  Darstellung  entschieden  be- 
stimmen, aber  die  inneren  Beziehungen  des  darzustellenden 
Inhalts  nicht  unnatürlich  ändern  wird. 

V.  Es  ist  nützlicher,  einer  andern  Fassung  desselben 
Einwurfs  zu  begegnen,  welche  die  allgemeine  Gültigkeit  des 
fraglichen  Gegensatzes  zugibt,  aber  hier  nicht  Veranlassung 
zu  seiner  Anwendung  zu  haben  glaubt.  Die  Verknüpfung 
des  Zusammengehörigen,  die  Wahrheit  also,  komme  auf 
demselben  Wege  nur  etwas  später  zu  Stande,  auf  welchem 
Anfangs  die  irrigen  Verbindungen  des  zufällig  Zusammen- 
gerathenen  entstehend  Denn  der  Lauf  der  Dinge  selbst  sorge 
dafür,  daß  diejenigen  Ereignisse,  welche  ein  innerer  Zu- 
sammenhang mit  einander  verknüpft,  unverhältnißmäßig' 
häufiger  auf  uns  verbunden  einwirken,  als  diejenigen,  die 
ohne  inneres  Band  der  Zufall  bald  so  bald  anders  zu- 
sammentreffen läßt.  Durch  diese  öftere  Wiederholung ,  be- 
festige sich  in  uns  die  Verbindung  des  Zusammengehörigen, 
während  die  Verknüpfungen  des  Zusammengerathenen  ein- 
ander durch  ihre  Ungleichheiten  lockern  und  zerstören. 
Auf  diese  Weise  vollziehe  der  Vorstellungsverlauf  von  selbst 
jene  Scheidung  des  Zusammengehörigen  vom  Nichtzusam- 
mengehörigen, die  wir  einer  besonderen  rückwirkenden 
Thätigkeit  des  Geistes  glaubten  zuweisen,  zu  müssen;  das 
Thier  wie  der  Mensch  erwerbe  so  die  Menge,  sachentsprechen- 
der Kenntnisse,  durch  welche  das  tägliche  Verhalten  beider 
im  Leben  bestimmt  wird.  Es  würde  überflüssig  sein,  aus- 
drücklich hervorzuheben,  daß  diese  Schilderung  völlig  rich- 
tig sei,  wenn  sie  nur  eine  Entstehungsgeschichte  dieses 
zuletzt  genannten  Erwerbes  sein  will;  aber  ich  denke  zu 
zeigen,  daß  eben  durch  diesen  die  eigenthümliche  Leistung 
des  Denkens   weder  scharf  bezeichnet  noch  erschöpft  ist. 

VL  Eine  gewöhnliche  Meinung  behält  dem  Menschen 
das  Vermögen  des  Denkens  vor  und  spricht  es  dem  Thiere 
ab.  Ohne  für  oder  wider  diese  Annahme  ernstlich  zu  ent- 
scheiden, benutze  ich  sie  zur  Bequemlichkeit  meiner  Er- 
läuterung. In  der  Seele  eines  Thieres,  die  demgemäß  auf 
bloßen  Vorstellungsverlauf  beschränkt  wäre,  würde  der  erste 
Eindruck  eines  belaubten  Baumes  nur  ein  Gesammtbild 
erzeugen,  zwischen  dessen  Bestandtheilen  besondere  Be- 
ziehungen der  Zusammengehörigkeit  aufzusuchen  hier  außer 
der  Fähigkeit  auch  noch  jeder  Antrieb  fehlen  würde.  Der 
Winter  entlaubt  den  Baum,  und  eine  zweite  Wahrnehmung 


Einleitung.  7 

des  Thieres  findet  nur  einen  Theil  des  früheren  Gesammt- 
bildes  wieder,  der  zwar  die  Vorstellung  des  andern  wieder 
zu  erzeugen  strebt,  darin  aber  durch  den  gegenwärtigen 
Augenschein  bestritten  wird.  Wenn  nun  der  wiederkehrende 
Sommer  den  alten  Thatbestand  herstellt,  so  mag  allerdings 
das  erneuerte  Gesammtbild  des  belaubten  Baumes  jetzt 
nicht  mehr  die  einfache  und  unbefangene  Einheit  der  ersten 
Wahrnehmung  besitzen;  die  Erinnerung  an  die  zweite,  sich 
zwischendrängend,  scheidet  es  in  den  Bestandtheil  welcher 
blieb  und  den  welcher  wechselte.  Ich  halte  nicht  für  an- 
gebbar, was  eigentlich  in  der  Seele  des  Thieres  sich  unter 
den  angenommenen  Umständen  ereignen  würde;  schreiben 
wir  ihm  indessen  selbst  die  Fähigkeit  noch  zu,  vergleichend 
den  Verlauf  seiner  Vorstellungen  zu  überblicken  und  das 
gefundene  Verhalten  auszudrücken,  so  würde  doch  dieser 
Ausdruck  nicht  mehr  besagen  können  als  die  Thatsache, 
daß  zwei  Wahrnehmungen  bald  zusammen  waren  bald  nicht. 
Der  Mensch,  wenn  er  dieselben  Gegenstände  seiner  Be- 
obachtung den  belaubten  und  den  unbelaubten  Baum  nennt, 
drückt  damit  nur  dieselben  Thatbestände  aus ;  aber  die  Auf- 
fassung derselben,  welche  er  in  diesen  ihm  gewohnten 
sprachlichen  Formen  kundgibt,  enthält  doch  eine  ganz 
andere  geistige  Arbeit.  Denn  der  Name  des  Baumes,  dem 
er  jene  nähere  Bezeichnung  bald  hinzufügt  bald  entzieht, 
bedeutet  ihm  nicht  blos  einen  beharrlichen  Theil  seiner 
Wahrnehmung  im  Gegensatz  zu  einem  veränderlichen,  son- 
dern die  auf  sich  beruhende  Sache,  das  Ding  im  Gegen- 
satze zu  seiner  Eigenschaft.  Indem  er  den  Baum  und  seine 
Belaubung  unter  diesen  Gesichtspunkt  rückt,  läßt  er  diese 
Beziehung,  welche  zwischen  einem  Dinge  und  seiner  Eigen- 
schaft bestehe,  als  den  Rechtsgrund  erscheinen,  der  sowohl 
die  Trennbarkeit  als  die  Verbindung  beider  Vorstellungen 
rechtfertigt,  und  führt  so  die  Thatsache  ihres  Zusammenseins 
oder  NichtZusammenseins  in  unserem  Bewußtsein  auf  eine 
sachliche  Bedingung  ihrer  augenblicklichen  Zusammen- 
gehörigkeit oder  NichtZusammengehörigkeit  zurück.  Man 
kann  dieselbe  Betrachtung  über  andere  Beispiele  erstrecken. 
In  der  Seele  des  Hundes  ruft  der  erneute  Anblick  des  ge- 
schwungenen Stockes  die  Vorstellung  des  früher  erlittenen 
Schmerzes  zurück;  der  Mensch,  wenn  er  den  Satz  aus- 
spricht, der  Schlag  thue  weh,  drückt  damit  nicht  blos  die 
thatsächliche  Verknüpfung  beider  Ereignisse  aus,  sondern 
er  rechtfertigt  sie.  Denn  indem  er  in  diesem  Urtheile  den 
Schlag  als  das   Subject  bezeichnet,  von  dem  der   Schmerz 


8  Einleitung. 

ausgehe,  läßt  er  deutlich  das  allgemeine  Verhältniß  eiat-r 
Ursache  zu  ihrer  Wirkung  als  den  Grund  erscheinen,  um 
deswillen  nicht  blos  beide  Vorstellungen  in  uns  zusammen 
sind,  sondern  die  eine  berechtigt  und  verpflichtet  ist  auf 
die  andere  zu  folgen.  Endlich  mag  dem  Hunde  mit  der 
Erwartung  des  Schmerzes  zugleich  die  Erinnerung  wieder- 
kehren, mit  der  Flucht,  zu  der  ihn  früher  ein  unwillkürlicher 
Trieb  anleitete,  sei  eine  Milderung  des  Schmerzes  ver- 
bunden gewesen;  und  gewiß  wird  diese  neue  Verkettung 
seiner  Vorstellungen  ihn  zu  der  nützlichen  Wiederholung 
seiner  Flucht  ebenso  sicher  bestimmen,  als  wenn  er  über- 
legend schlösse:  drohende  Schläge  verhindere  insgemein 
die  Entfernung,  ihm  drohe  der  Schlag,  also  müsse  er 
flüchten.  Aber  der  Mensch,  der  in  gleichem  oder  ernst- 
hafterem Falle  einen  solchen  Schluß  wirklich  bildet,  vollzieht 
doch  eine  ganz  andere  geistige  Arbeit;  indem  er  im  Ober- 
satz eine  allgemeine  Erkenntniß  ausspricht  und  ihr  im 
Untersatz  einen  besonderen  Fall  der  Anwendung  unter- 
ordnet, wiederholt  er  nicht  nur  die  Thatsache  jener  nütz- 
lichen Verknüpfung  von  Vorstellungen  und  Erwartungen, 
die  das  Thier  auf  sich. wirken  läßt,  sondern  rechtfertigt  sie 
durch  Berufung  auf  die  Abhängigkeit  des  Besonderen  von 
seinem  Allgemeinen. 

VII.  Durch  diese  Beispiele,  welche  sich  auf  die  all- 
bekannten Formen  des  Denkens,  atif  Begriff  Urtheil  und 
Schluß  erstreckten,  glaube  ich  hinlänglich  den  Ueberschuß, 
der  Leistung  deutlich  gemacht  zu  haben,  welchen  das  Denken 
vor  dem  bloßen  Vorstellungsverlaufe  voraus  bat :  er  besteht 
überall  in  den  Nebengedanken,  welche  zu  der  Wieder- 
herstellung oder  Trennung  einer  Vorstellungsverknüpfung 
den  Bechtsgrund  der  Zusammengehörigkeit  oder  Nicht- 
zusammengehörigkeit  hinzufügen.  Diese  Leistung  bleibt  in 
ihrem  Werthe  völlig  dieselbe,  welche  Meinung  man  auch 
über  ihre  Entstehung  haben  mag;  zögen  wir  vor,  sie  nicht 
als  Ausfluß  einer  besonderen  Thätigkeit,  sondern  nur  als 
ein  feineres  Erzeugniß  zu  betrachten,  welches  der  Vor- 
stellungsverlauf unter'  günstigen  Umständen  von  selbst  her- 
vorbringt, so  würde  uns  Denken  diesen  Vorstellungsverlauf 
eben  nur  auf  derjenigen  Stufe  seiner  Entwicklung  heißen, 
auf  welcher  er  zur  Erzeugung  dieser  neuen  Leistung  bereits 
gekommen  ist.  Hierin  also,  in  der  Erzeugung  jener  recht- 
fertigenden Nebengedanken,  welche  die  Form  unseres  Auf- 
fassens bedingen,  nicht  in  der  bloßen  Sachgemäßheit  der 
Auffassungen,  liegt  die  Eigenthümlichkeit  des  Denkens,  der 


Einleitung.  ^^ 

unsere  ganze  spätere  Darstellung  gilt.  Daß  auch  ohne  dieses 
Denken  der  bloße  Vorstellungsverlauf  des  Thieres  eine  Menge 
nützlicher  Verknüpfungen  der  Eindrücke,  viele  zutreffende 
Erwartungen  und  passende  Rückwirkungen  hervorbringt, 
leugnen  wir  nicht;  wir  geben  im  Gegentheil  zu,  daß  selbst 
vieles  von  dem,  was  der  Mensch  sein  Denken  nennt,  in 
der  That  nur  in  einem  Spiele  einander  hervorrtt^ender  Vor'- 
stellungen  besteht.  Dennoch  bleibt  hier  vielleicht  ein  Unter- 
schied. In  den  plötzlichen  Eingebungen,  die  uns  im  Augen- 
blick eine  entscheidende  Ma^egel  tre'ffen  lassen,  in  der 
raschen  Uebersicht,  welc]ie  verwickeltes  Mannigfaltige  fast 
schneller  zergliedert,  als  die  bloße  Wahrnehmung  seiner 
Bestandtheile  möglich  schien,  in  der  künstlerischen  Erfin- 
dung endlich,  die*  sich  ihrer  treibenden  Gründe  unbewußt 
bleibt:  in  allen  diesen  Fällen  glauben  wir  nicht  einen  Vor- 
stellungsverlauf, welcher  noch  nicht  Denken  wäre,  sondern 
ein  verkürztes  Denken  wirken  zu  sehen.  An  den  bestimmten 
Beispielen,  an  denen  diese  überraschenden  Leistungen  voll- 
zogen werden,  gelingen  sie  wohl  nur,  weil  ein  entwickeltes 
Denken  längst  an  andern  Beispielen  die  Gewohnheit  jener 
Nebengedanken  groß  gezogen  hatte,  welche' die  gegebenen 
Eindrücke  unter  allgemeine  Gründe  ihrer  Zusammengehörig- 
keit bringen;  und  wie  jede  Geschicklichkeit,  die  zur  mühe- 
losen zweiten  Natur  geworden  ist,  hat  auch  dieäe  eirle 
vergessene  Zeit  mühsamer  Uebung  hifiter  sich;    "^  '' 

VIII.  In  den  Beispielen,  die  ich  benutzte,  fielen  die 
Nebengedanken,  durch  welche  wir  die  Verknüpfungen  der 
Vorstellungen  rechtfertigten,  ersichtlich  mit  gewissen  Voraus- 
setzungen zusammen,  deren  wir  uns  über  den  Zusammen- 
hang des  Wirklichen  nicht  entschlagen.  In  der  That,  ohne 
die  Gesammtheit  des  Wahrnehmbaren  durch  den  Gegensatz 
von  Dingen  und  ihren  Eigenschaften  zu  gliedern,  ohne  die 
Annahme  einer  Abfolge  von  Wirkungen  aus  Ursaclien^  ohne 
die  bestimmende  Macht  endlich  des  Allgemeinen  über  das 
Besondere,  ist  uns  jede  Auffassung  der  umgebenden  Wirk- 
lichkeit völlig  unmöglich;  Von  hier  aus  erscheint  es  daher 
eine  ganz  von  selbst  sich  ergebende  Behauptung,  in  s.einen 
Formen  und  den  si^  beseelenden  •  Nebengedanken*  bildg,  das 
Denken  unmittelbar  die  allgemeinen  Formen  des  Seienden 
selbst  und  seiner  Zusammenhänge  ab,  und  oft  genug  ist  in 
der  That  diese  reale  Geltung  des  Denkens  und  seiner  Ver- 
fahrungsweisen  gelehrt  worden.  Die  entgegengesetzte  Be- 
hauptung, die  man  als  volles  Widerspiel  erwarten  könnte. 


10  Einleitung. 

ist  nie  gleich  uneingeschränkt  gewagt  worden.  Zu  natürlich 
erscheint  jedem  Unbefangenen  das  Denken  als  ein  Mittel, 
zur  Erkenntniß  des  Wirklichen  zu  gelangen,  und  viel  zu 
sehr  beruht  alle  Theilnahme  für  die  wissenschaftliche  Unter- 
suchung seines  Verfahrens  auf  dieser  Voraussetzung,  als  daß 
man  jemals  von  einer  blos  formalen  Geltung  alles 
logischen  Thuns  mit  bestimmter  Leugnung  jeder  Beziehung 
desselben  zu  der  Natur  des  Seienden  hätte  sprechen  können. 
Indem  man  daher  die  Formen  und  Gesetze  des  Denkens 
zunächst  als  eigenthümliche  Folgen  der  Natur  unserer 
geistigen  Organisation  ansah,  schloß  man  nicht  jedes  Zu- 
sammenpassen derselben  zu  dem  Wesen  der  Dinge  aus,  aber 
man  leugnete  jene  Beziehung  kurzer  Hand,  nach  welcher 
die  Formen  des  Denkens  unmittelbare  Abbilder  der  Formen 
des  Seins  wären. 

IX.  Zu  dieser  viejbehandelten  Streitfrage  kann  eine 
Einleitung  nur  eine  vorläufige  Stellung  nehmen.  Gewiß 
werden  wir  recht  thun,  wenn  wir  am  Anfange  unserer  Be-  ^ 
trachtung  nur  das  beachten,  was  hier  schon  klar  sein  kann, 
die  Entscheidung  des  Ungewissen  aber  ihrem  Fortgange 
überlassen.  Bleiben  wir  deshalb  bei  der  natürlichen  Voraus- 
setzung, welche  das  Denken  als  ein  Mittel  zur  Erkenntniß 
ansieht;  Nun  hat  jedes  Werkzeug  die  doppelte  Verpflich- 
tung, sachgerecht  und  handgerecht  zu  sein.  "  Sachgerecht, 
sofern  es  durch  seinen  eigenen  Bau  im  Stande  sein  muß, 
den  Gegenständen,  die  es  bearbeiten  soll,  überhaupt  nahe 
zu  kommen,  sie  zu  erreichen,  zu  fassen  und  an  ihnen  einen 
Angriffspunkt  für  seine  umgestaltende  Einwirkung  zu  finden ; 
und  diese  Forderung  erfüllen  wir  für  das  Denken  durch 
(Jas  Zugeständniß,  daß  seine  Formen  und  Gesetze  gewiß 
nicht  bloße  Sonderbarkeiten  menschlicher  Geisteseinrich- 
tung, sondern  daß  sie;  so  wie  sie  sind,  beständig  und  durch- 
gehends  auf  das  Wesen  des  Wirklichen  berechnet  sirld. 
Handgerecht  aber  muß  jedes  Werkzeug  dadurch  sein,  daß 
es  durch  andere  Eigenschaften  seines  Baues  ergreifbar  halt- 
bar und  bewegbar  lür  die  Kraftjdie  Stellung  und  den  Stand- 
punkt desjenigen  ist,  der  sich  seiner  bedienen  soll;  und 
diese  zweite  nothweüdig  zu  erfüllende  Forderung  beschränkt 
für  das  Denken  den  Sinn  des  vorigen  Zugeständnisses. 
Nur  ein  Geist,  der  im  Mittelpunkte  der  Welt  und  alles  Wirk- 
lichen stände,  nicht  außerhalb  der  einzelnen  Dinge,  sondern 
sie  alle  durchdringend  und  mitseiend,  nur  ein'  solcher  möchte 
eine   Anschauung    der   Wirklichkeit   besitzen,   die,   weil  sie 


Einleitung.  11 

nichts  erst  zu  suchen  brauchte,  unmittelbar  das  völlige 
Abbild  derselben  in  ihren  eigenen  Formen  des  Seins  und 
der  Thätigkeit  wäre.  Der  menschliche  Geist  dagegen,  um 
dessen  Denken  allein  es  sich  für  uns  handelt,  steht  in 
diesem  Mittelpunkte  der  Dinge  nicht,  sondern  hat  seinen 
bescheidenen  Ort  irgendwo  in  den  letzten  Verzweigungen 
der  Wirklichkeit.  Genöthigt,  seine  Erkenntniß  durch  Er- 
fahrungen, die  sich  unmittelbar  nur  auf  einen  kleinen  Bruch- 
theil  des  Ganzen  beziehen,  stückweis  zusammenzubringen 
und  von  hier  aus  vorsichtig  zu  der  Auffassung  de^en  vor- 
zudringen, was  nicht  in  seinen  Gesichtskreis  fällt,  hat  et' 
sehr  wahrscheinlich  eine  Menge  von  Umwegen  nöthig,  die 
der  "Wahrheit  selbst,  die  er  sucht,  gleichgültig,  aber  ihm, 
der  sie  sucht,  unvermeidlich  sind.  Wie  sehr  wir  mithin  die 
ursprüngliche  Beziehung  der  Denkformen  auf  das  Ziel  der 
Erkenntniß,  die  J\^atur  der  Dinge,  voraijgsetzen  mögen :  darauf 
müssen  wir  uns  doch  gefaßt  machen,  manche  Bestandtheile 
in  ihnen  anzutreffen,  die  das  eigne  Wesen  des  Wirklichen 
nicht  sofort  abbilden,  zu  dessen  Erkenntniß  sie  f ühi:en  sollen  ; 
ja  es  bleibt  die  Möglichkeit,  daß  ein  sehr ,  großer  Theil 
unserer  Denkbemühungen  nur  einem  Gerüste  gleicht,  das 
keineswegs  zu  den  bleibenden  Formen  des  Baues  gehört, 
den  es  aufführen  half,  das  im  Gegentheil  wieder  abge- 
brochen werden  muß,  um  den  freien  Anblick  seines  Er- 
gebnisses zu  gewähren.  Es  reicht  hin,  diese  vorläufige  Er- 
wartung erregt  zu  haben,  mit  der  wir  dem  Gegenstande 
unserer  Betrachtung  entgegenkommen  wollen;  jede  bestimm- 
tere Entscheidung  über  die  Grenzen,  welche  die  formale 
Gültigkeit  unseres  Denkens  von  seiner  realen  Bedeutung 
trennt,  kann  nur  von  dem  Verlaufe  unserer  Untersuchungen 
gefordert  werden. 

X.  Ich  vermeide  absichtlich,  den  Beginn  dieser  letzteren 
durch  Erörterungen  zu  verzögern,  die  mir  mit  Unrecht  den 
Zugang  zur  Logik  zu  erschweren  scheinen.  Welche  Gemüths- 
verfassung dazu  gehöre,  um  die  Denkhandlungen  mit  Glück 
zu  vollziehen,  wie  die  Aufmerksamkeit  zusammenzuhalten, 
die  Zerstreuung  zu  verhüten,  die  Schläfrigkeit  aufzuregen, 
die  Uebereilung  zu  zügeln  sei:  alle  diese  Fragen  gehören 
so  wenig  zum  Gebiete  der  Logik,  als  die  Untersuchungen 
über  die  Entstehung  unserer  Sinneseindrücke  und  die  Be- 
dingungen, unter  denen  Bewußtsein  überhaupt  und  bewußte 
Thätigkeit  möglich  ist.  Vorausgesetzt  vielmehr,  daß  es  alles 
dies    gebe,    Wahrnehmungen    Vorstellungen    und   ihre   Ver- 


12  Einleitung. 

flechtung  nach  den  Gesetzen  eines  seelischen  Mechanismus, 
beginnt  die  Logik  selbst  erst  mit  der  Ueberzeugung,  daß 
es  dabei  sein  Bewenden  nicht  haben  soll,  daß  vielmehr 
zwischen  den  Vorstellungsverknüpfungen,  wie  sie  auch 
immer  entstanden  sein  mögen,  ein  Unterschied  der  Wahr- 
heit und  Unwahrheit  stattfinde,  daß  es  endlich  Formen  gebe, 
denen  diese  Verknüpfungen  entsprechen,  Gesetze,  denen  sie 
gehorchen  sollen.  Allerdings  kann  es  eine  psychologische 
Untersuchung  geben,  welche  auch  den  Ursprung  dieses 
gesetzgebenden  Bewußtseins  in  uns  aufzuklären  strebt;  aber 
auch  dieser  Versuch  würde  die  Richtigkeit  seiner  eignen 
Ergebnisse  nur  nach  dem  Maßstab  messen  können,  den  eben 
dieses  von  ihm  zu  untersuchende  Bewußtsein  aufstellt.  Zu- 
erst muß  daher  das  ermittelt  werden,  was  der  Inhalt  dieser 
gesetzgebenden  Ueberzeugung  in  uns  ist;  nur  in  zweiter 
Linie  kann  ihre  eigne  Entstehungsgeschichte,  und  dann  nur 
in  Uebereinstimmung  mit  den  Forderungen,  welche  sie  selbst 
ausspricht,  unternommen  werden. 

XL  Indem  ich  für  erschöpft  halte,  was  ich  zur  Ein- 
leitung meiner  Darstellung  zu  bedürfen  glaubte,  füge  ich 
eine  vorläufige  Uebersicht  ihres  Ganges  hinzu.  Die  Bei- 
spiele, welche  wir  bisher  benutzten,  führen  von  selbst  in 
einen  ersten  Haupttheil  ein,  der  unter  dem  Namen  der 
reinen  oder  formalen  Logik  dem  Denken  überhaupt  und 
jenen  allgemeinen  Grundformen  und  Grundsätzen  desselben 
gewidmet  ist,  die  ohne  Rücksicht  auf  die  Verschiedenheit 
der  zu  behandelnden  Gegenstände  überall  sowohl  in  der 
Beurtheilung  des  Wirklichen  als  in  der  Ueberlegung  des 
Möglichen  gelten.  Die  bloße  Nennung  von  Begriff  Urtheil 
und  Schluß  genügt,  um  zu  bemerken,  wie  natürlich  diese 
Formen  sich  als  verschiedene  Stufen  einer  und  derselben 
Thätigkeit  darstellen;  diesen  Faden  des  Zusammenhangs 
wird  meine  Behandlung  der  reinen  Logik  etwas  schärfer 
als  gewöhnlich  anzuspannen  suchen.  Sie  wird  die  ver- 
schiedenen Denkformen  in  eine  aufsteigende  Reihe  ordnen, 
in  welcher  jedes  spätere  Glied  einen  Mangel  zu  tilgen  sucht, 
den  das  zunächst  frühere  übrig  ließ,  weil  es  dem  allgemeinen 
Bestreben  des  Denkens,  Zusammenseiendes  auf  Zusammen- 
gehöriges zurückzuführen,  in  Bezug  auf  die  Frage,  die  ihm, 
diesem  früheren  Gliede,  vorlag,  noch  keine  vollständige 
Befriedigung  verschaffte.  Diese  Reihe  von  Gliedern  wird 
von  den  einfachsten  Formungen  der  einzelnen  Eindrücke 
bis  zu  dem  Gedanken  der  umfassenden  Ordnung  fort- 
schreiten, welche  wir,  wenn  es  anginge,  dem  Ganzen   der 


Einleitung.  13 

Welt,  auf  Grund  dieses  allgemeinen  logischen  Triebes,  geben 
möchten. 

XII.  Die  reine  Logik  selbst  nun  wird  zeigen  und  er- 
läutern, daß  die  Formen  des  Begriffs,  des  Urtheils  und  des 
Schlusses  zunächst  als  ideale  Formen  zu  betrachten  sind, 
die  dann,  wenn  es  gelingt,  den  gegebenen  Stoff  der  Vor- 
stellungen in  sie  einzuordnen,  die  wahre  logische  Fassung 
dieses  Stoffes  erzeugen.  Aber  die  verschiedenen  Eigen- 
thümlichkeiten  der  verschiedenen  Gegenstände  setzen  dieser 
Einordnung  Widerstände  entgegen  \  nicht  von  selbst  ist  klar, 
welche  Summe  von  Inhalt  als  abgeschlossener  Begriff  einem 
andern  entgegengesetzt  zu  werden  verdient;  nicht  von  selbst, 
welches  Prädicat  allgemeingültig  welchem  Subject  zukommt, 
noch  wie  das  allgemeine  Gesetz  zu  finden  ist,  das  einer 
systematischen  Anordnung  eines  Mannigfachen  als  Princip 
dienen  soll.  Die  angewandte  Logik  beschäftigt  sich  mit  den 
Methoden  des  Untersuchens,  welche  diese  Mängel  be- 
seitigen. Als  eine  Betrachtung  von  Hindernissen  und  den 
Kunstgriffen  zu  ihrer  Bewältigung  muß  diese  Lehre,  mit 
Aufopferung  der  Vorliebe  für  Systematik,  nach  Rücksichten 
der  Nützlichkeit  dasjenige  auswählen,  was  die  bisherige 
Erfahrung  der  Wissenschaft  als  erheblich  und  fruchtbar 
kennen  gelehrt  hat;  die  Grenzenlosigkeit  des  hier  sich 
bietenden  Beobachtungsstoffes  macht  es  leider  unmöglich, 
diesen  glänzendsten,  der  Erfindungsgabe  der  Neuzeit  an- 
gehörigen  Theil  der  Logik  mit  an  sich  wünschenswerther 
Vollständigkeit  herzustellen. 

XIII.  Dem  Erkennen  wird  der  dritte  Theil  sich  wid- 
men, der  Frage  also,  die  unsere  Einleitung  berührte,  ohne 
sie  zu  beantworten:  in  wie  weit  kann  ein  Ganzes  von  Ge- 
danken, das  wir  durch  alle  Mittel  der  reinen  und  der  an- 
gewandten Logik  aufzubauen  im  Stande  gewesen  sind,  darauf 
Anspruch  machen,  eine  zutreffende  Erkenntniß  dessen  zu 
sein,  was  wir  als  Gegenstand  und  veranlassende  Ursache 
unserer  Vorstellungen  glauben  voraussetzen  zu  müssen.  Je 
geläufiger  dem  gewöhnlichen  Bewußtsein  dieser  Gegensatz 
zwischen  dem  Gegenstande  unserer  Erkenntniß  und  unserer 
Erkenntniß  dieses  Gegenstandes  ist,  um  so  unbesorgter  kann 
ich  seine  Erwähnung  als  eine  vorläufige  Bezeichnung  der 
Betrachtungen  gelten  lassen,  die  diesem  dritten  Theile  zu- 
fallen werden;  ihm  selbst  mag  es  aufbehalten  bleiben,  die 
Schwierigkeiten  aufzudecken,  welche  diese  scheinbar  klare 
Gegenüberstellung  enthält,  und  sich  darnach  die  Grenzen 
seiner  Aufgaben  genauer  zu  bestimmen. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Lehre  vom  Begriffe. 


A.  Die  Formung  der  Eindrücke  zu  Vorstellungen. 

1.  In  Beziehungen  eines  Mannigfachen  pflegen  sich  uns 
die  Leistungen  des  Denkens  zu  zeigen;  man  kann  daher 
glauben,  auch  die  ursprünglichste  seiner  Handlungen  in  einer 
einfachsten  Art  der  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen 
suchen  zu  müssen.  Eine  leichte  Ueberlegung  räth  uns 
indessen,  noch  einen  Schritt  weiter  zurückzugehen.  Aus 
lauter  Kugeln  läßt  sich  ein  Haufe  leicht  zusammenwerfen, 
wenn  es  gleichgültig  ist,  wie  sie  liegen;  ein  Gebäude  von 
regelmäßiger  Gestalt  dagegen  ist  nur  aus  Bausteinen  möglich, 
die  einzeln  bereits  jeder  in  Formen  gebracht  sind,  in  welchen 
sie  einander  passende  Flächen  zu  sicherer  Anfügung  und 
Auflagerung  zuwenden.  Man  wird  Aehnliches  hier  erwarten 
müssen.  Als  bloße  Erregungen  unseres  Inneren  können  die 
Zustände,  welche  den  äußern  Reizen  folgen,  ohne  weitere 
Vorbereitung  in  uns  beisammen  sein  und  auf  einander  so 
wirken,  wie  es  eben  die  allgemeinen  Gesetze  unseres  Seelen- 
lebens gestatten  oder  befehlen ;  um  dagegen  in  der  bestimm- 
ten Form  eines  Gedankens  verbindbar  zu  werden,  be- 
dürfen sie  einzeln  einer  vorgängigen  Formung,  durch  welche 
sie  überhaupt  erst  zu  logischen  Bausteinen,  aus  Ein- 
drücken zu  Vorstellungen  werden.  Nichts  ist  uns 
im  Grunde  vertrauter  als  diese  erste  Leistung  des  Denkens; 
wir  pflegen  nur  deshalb  über  sie  hinwegzusehen,  weil  sie 
in  der  Bildung  der  uns  überkommenen  Sprache  beständig 
schon  geleistet  ist  und  darum  zu  den  selbstverständlichen 
Voraussetzungen,  nicht  mehr  zu  der  eigenen  Arbeit  des 
Denkens  zu  gehören  scheint. 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  15 

2.  Was  unmittelbar  unter  dem  Einflüsse  äußerer  Reize 
in  uns  entsteht,  die  Empfindung  oder  das  sinnliche  Gefühl, 
ist  an  sich  nichts  als  ein  Zustand  unseres  Befindens,  eine 
Art,  wie  uns  zu  Muth  ist.  Nicht  immer  gelingt  es  uns, 
einen  Namen  zu  finden  für  das,  was  wir  so  leiden,  und  es 
dadurch  mittheilbar  an  Andere  zu  machen;  nur  die  formlose 
Interjection,  der  Ausruf,  bleibt  uns  zuweilen  übrig,  um  dies 
Unsagbare,  ohne  sichere  Hoffnung  auf  Verständniß,  wenig- 
stens zu  verlautbaren.  In  den  günstigeren  Fällen  aber,  in 
welchen  uns  die  Schöpfung  eines  Namens  gelungen  ist, 
welche  Leistung  ist  dann  ausgeführt,  und  verräth  sich  eben 
in  dieser  Schöpfung  selbst?  Keine  andere,  als  eben  die, 
die  wir  hier  suchen,  die  Verwandlung  eines  Eindrucks 
in  Vorstellung.  Sobald  wir  die  verschiedenen  Erregun- 
gen, welche  uns  Lichtwellen  durch  unser  Auge  veranlassen, 
grün  oder  roth  nennen,  haben  wir  ein  früher  Ungeschiedenes 
geschieden:  unser  Empfinden  von  dem  Empfindbaren,  auf 
das  es  sich  bezieht.  Dies  Empfindbare  stellen  wir  jetzt  vor 
uns  hin,  nicht  mehr  als  einen  Zustand  unseres  Leidens, 
sondern  als  einen  Inhalt,  der  an  sich  selbst  ist  was  er  ist 
und  bedeutet  was  er  bedeutet,  und  der  dies  zu  sein  und  zu 
bedeuten  fortfährt,  gleichviel  ob  unser  Bewußtsein  sich  auf 
ihn  richtet  oder  nicht.  Man  wird  leicht  hierin  den  noth- 
wendigen  Anfang  jener  Thätigkeit  entdecken,  die  wir  dem 
Denken  überhaupt  zueigneten;  sie  kann  hier  noch  nicht 
darauf  gerichtet  sein,  zusammenseiendes  Mannigfaltige  in 
Zusammengehöriges  zu  verwandeln;  sie  löst  vor  Allem  die 
Voraufgabe,  jedem  einzelnen  Eindrucke  die  Bedeutung  eines 
an  sich  Gleichgültigen  zu  geben,  ohne  welche  später  eine 
sachliche  Zusammengehörigkeit  mehrerer  keinen  angebbaren 
Sinn  im  Gegensatze  zu  bloßem  Zusammensein  in  uns  haben 
könnte. 

3.  Man  kann  diese  erste  Leistung  des  Denkens  als 
Beginn  einer  Objectivirung  des  Subjectiven  bezeichnen; 
ich  benutze  diesen  Ausdruck,  um  durch  Abwehr  eines  Miß- 
verständnisses den  einfachen  Sinn  des  Gesagten  zu  ver- 
deutlichen. Objectivität  in  der  Bedeutung  eines  irgendwie 
gearteten  wirklichen  Daseins,  das  auch  bestände,  wenn  Nie- 
mand es  dächte,  wird  durch  die  logische  That,  die  sich  in 
der  Schöpfung  eines  Namens  verräth,  dem  durch  eben  diese 
Schöpfung  entstehenden  Vorstellungsinhalt  nicht  zuerkannt; 
was  in  Wahrheit  diese  erste  Denkhandlung  sagen  will, 
machen  die  Sprachen  am  leichtesten  klar,  die  sich  den  Ge- 
brauch  des    Artikels    bewahrt   haben.     Denn   durch  diesen. 


16  Erstes  Kapitel. 

welcher  überall  ursprünglich  den  Werth  eines  demonstra 
tiven  Pronomen  hatte,  wird  das  mit  ihm  versehene  Wort 
als  der  Name  von  Etwas  bezeichnet,  worauf  sich  hinweisen 
läßt;  hin  aber  weisen  wir  auf  das,  was  einem  Andern 
ebenso  wahrnehmbar  werden  kann,  wie  es  uns  gewesen  ist. 
Nun  freilich  geschieht  dies  am  leichtesten  in  Bezug  auf 
Dinge,  die  in  der  That  in  äußerlicher  Wirklichkeit  zwischen 
den  Sprechenden  stehen,  aber  die  gebildete  Sprache  ver- 
gegenständlicht auch  jeden  andern  Uenkinhalt  auf  gleiche 
Weise.  Die  Objectivität,  w^elche  sie  durch  den  auch  in 
solchen  Fällen  gebrauchten  Artikel  ajideutet,  fällt  daher 
nicht  im  Allgemeinen  mit  der  Wirklichkeit  zusammen,  die 
den  Dingen  zukommt;  sie  traf  vielmehr  in  den  Benennungen 
dieser  nur  mit  einem  thatsächlichen  Anspruch  auf  eine  solche 
zusammen,  den  ihnen  die  unterscheidende  Eigenthümlichkeit 
ihrer  realen  Natur  gibt.  Von  dem  Schmerze,  der  Helligkeit, 
der  Freiheit  sprechen  wir  nicht  so,  als  könnte  der  Schmerz 
dasein,  wenn  ihn  Niemand  fühlt,  die  Helligkeit,  wenn  sie 
kein  Auge  sieht,  die  Freiheit,  wenn  kein  Wesen  wäre,  das 
sich  der  Uneingeschränktheit  seines  Handelns  entweder 
selbst  erfreute  oder  sie  fühlbar  machte  für  Andere.  Noch 
weniger,  wenn  wir  von  dem  Zwar  dem  Aber  und  dem 
Dennoch  reden,  meinen  wir  durch  den  Artikel  ein  Dasein 
anzudeuten,  das  den  durch  diese  Worte  bezeichneten  Denk- 
inhalten irgendwie  auch  außerhalb  jedes  Vorstellens  zu- 
käme; wir  sagen  durch  diese  Ausdrucksweisen  nur,  daß 
gewisse  eigenthümliche  Widerstreite  und  Spannungen,  die 
wir  im  Verlauf  unserer  Vorstellungen  fühlen,  nicht  blos 
Seltsamkeiten  unseres  Befindens  und  unabtrennbar  von 
diesem  sind,  daß  sie  vielmehr  auf  eigenen  Beziehungen  ver- 
schiedener Vorstellungsinhalte  beruhen,  welche  jeder,  dei 
diese  denken  wird,  el:)enso  zwischen  ihnen  vorfinden  wird, 
wie  wir.  Durch  die  logische  Objectivirung,  die  sich  in  der 
Schöpfung  des  Namens  verräth,  wird  daher  der  benannte 
Inhalt  nicht  in  eine  äußere  Wirklichkeit  hinausgerückt; 
die  gemeinsame  Welt,  in  welcher  Andere  ihn,  auf  den  wir 
hinweisen,  wiederfinden  sollen,  ist  im  Allgemeinen  nur  die 
Welt  des  Denkbaren;  ihr  wird  hier  die  erste  Spur  eines 
eigenen  Bestehens  und  einer  inneren  Gesetzlichkeit  zu- 
geschrieben, die  für  alle  denkenden  Wesen  dieselbe  und  von 
ihnen  unabhängig  ist,  und  es  hier  ganz  gleichgültig,  ob 
einzelne  Theile  dieser  Gedankenwelt  Etwas  bezeichnen,  was 
noch  überdies  außerhalb  der  denkenden  Geister  selbständige 
Wirklichkeit  besitzt,   oder   ob  ihr  ganzer  Inhalt  überhaupt 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  17 

nur  in  den  Gedanken  der  Denkenden,  mit  gleicher  Gültig- 
keit dann  für  alle,  Dasein  hat. 

4.  Durch  diese  Vergegenständlichung  des  eben  so  erst 
entstehenden  Inhalts  ist  indessen  picht  der  ganze  Sinn 
dieser  ersten  Denkhandlung  erschöpft;  vor  sich  hinstellen 
kann  ihn  das  Bewußtsein  nicht  blos  überhaupt,  sondern  nur 
indem  es  ihm  eine  bestimmte  Stellung  gibt;  nicht  über- 
haupt b'OS  kann  es  ihn  von  einem  Zustand  seiner  eigenen 
Erregung  unterscheiden,  ohne  ihm  anstatt  der  Art  des  Seins, 
die  er  als  solcher  Zustand  hatte,  eine  andere  Art  seines 
Bestehens  zuzuerkennen.  Was  mit  dieser  Forderung  ge- 
meint ist,  denn  ich  gebe  zu,  daß  es  diesem  Ausdruck  der- 
selben an  unmittelbarer  Klarheit  fehlt,  zeigt  uns  am  ein- 
fachsten die  Sprache  durch  ihre  wirkliche  Erfüllung.  Denn 
nur  die  Interjection,  die  keines  Inhalts  Name  ist,  läßt  sie 
in  der  Formlosigkeit,  die  ihr  als  bloßem  Ausdruck  einer 
Erregung  zukommt;  ihren  ganzen  übrigen  Wortschatz  glie- 
dert sie  in  die  bestimmten  Formen  der  Substantiva  der 
Adjectiva  der  Verba,  der  bekannten  Redetheile  über- 
haupt. Und  daß  sie  durch  diese  verschiedenartige  Aus- 
prägung ihres  ganzen  Schatzes  eine  Vorbedingung  erfüllt, 
welche  das  Denken  zu  seinen  späteren  Leistungen  nicht  ent- 
behren kann,  bedarf  kaum  der  besonderen  Versicherung, 
denn  offenbar  weder  die  Verbindung  der  Merkmale  zum 
Begriff,  noch  die  der  Begriffe  zum  Urtheile  oder  der  Urtheile 
zum  Schluß  wäre  möglich,  wenn  alle  Vorstellungsinhalte 
gleich  formlos  oder  in  gleicher  Form  gefaßt  wären,  und 
wenn  nicht  einige  von  ihnen  substantivisch  als  Bezeich- 
nungen für  sich  feststehender  Inhalte  anderen  adjectivischen 
eine  Stätte  der  Anknüpfung  gewährten,  noch  andere  verbal« 
die  flüssigen  Beziehungen  darstellten,  die  eines  mit  dem 
andern  in  Verbindung  zu  bringen  bestimmt  sind.  Ich  halte 
nicht  für  angemessen,  diese  eigenthümliche  Gestaltung  des 
Vorstellungsinhalts  als  eine  zweite  Denkhandlung  von  jener 
ersten  zu  trennen,  der  wir  die  Vergegenständlichung  des- 
selben zuschrieben;  ich  fasse  vielmehr  die  erste  That  des 
Denkens  in  diese  untheilbare  Leistung  zusammen,  dem  vor- 
gestellten Inhalt  eine  dieser  logischen  Formungen  zu  geben, 
indem  sie  ihn  für  das  Bewußtsein  vergegenständlicht,  oder 
auch  ihn  dadurch  eben  zu  vergegenständlichen,  daß  sie 
ihm  eine  dieser  bestimmten  Formungen  gibt. 

5.  Unvermeidlich  erinnern  die  drei  Redelheile,  die  ich 
hervorhob,  an  drei  unserer  Beurtheilung  der  Wirklichkeit 
unentbehrliche  Begriffe.   Denn  in  der  That  nicht  einmal  eine 

Lotze,  Logik.  2 


18  Erstes  Kapitel. 

aussprechbare  Uebersicht  über  die  wahrnehmbare  Welt  ist 
uns .  möglich,  ohne  in  ihr  Dinge  als  die  festen  Punkte  zu 
denken,  die  einer  Vielheit  unselbständiger  Eigenschaften 
als  Träger  dienen  und  durch  veränderliche  Ereignisse,  das 
Spiel  des  Geschehens,  unter  einander  verbunden  werden. 
Ist  Metaphysik  die  Untersuchung  nicht  des  Denkbaren  über- 
haupt, sondern  des  Wirklichen  oder  dessen,  was  als  wirklich 
anerkannt  werden  soll,  so  sind  diese  Begriffe  des  Dinges 
der  Eigenschaft  und  des  Geschehens  metaphysische  Be- 
griffe; nicht  solche  vielleicht,  welche  die  Metaphysik  am 
Ende  ihrer  Untersuchung  in  unveränderter  Geltung  lassen 
würde,  aber  solche  gewiß,  die  am  Anfang  derselben  un- 
mittelbar das  eigne  Wesen  und  die  Gliederung  des  Seienden 
zu  bezeichnen  vorgeben.  Mit  ihnen  scheinen  nun  die 
logischen  Formen  der  Substantivität  Adjectivität  und  Ver- 
balität  für  den  ersten  Blick  zusammenzufallen;  ein  zweiter 
freilich  zeigt  zwischen  beiden  Reihen  den  gleichen  Unter- 
schied, welcher  die  logische  Vergegenständlichung  eines 
Vorstellungsinhaltes  von  äußerer  Wirklichkeit  trennte.  Denn 
für  Ding  oder  Substanz  gilt  uns  nur,  was  außer  uns  wirklich 
und  in  der  Zeit  dauernd  theils  in  Anderem  Veränderungen 
bewirkt,  theils  veränderliche  Zustände  selbst  zu  erleiden 
vermag;  substantivisch  aber  fassen  wir  nicht  die  Dinge 
allein,  sondern  ihre  Eigenschaften  ja  auch;  substantivisch 
sprechen  wir  von  der  Veränderung,  dem  Ereigniß,  dem 
Nichts  selbst,  kurz  von  Unzähligem,  was  entweder  nicht  ist, 
oder  doch  nicht  selbständig  für  sich,  sondern  nur  an  Anderem 
Bestand  hat.  Durch  die  Form  der  Substantivität  eignen  wir 
daher  dem  in  sie  gebrachten  Inhalt  nur  in  Beziehung  auf 
das,  was  von  ihm  als  einem  Subject  künftiger  Urtheile  weiter 
ausgesagt  werden  soll,  dieselbe  Priorität  und  Selbständigkeit 
zu,  die  dem  Dinge  gegenüber  seinen  Eigenschaften  Zu- 
ständer  und  Wirkungen  zukommt,  aber  keineswegs  die 
Realität  selbständiger  Wirklichkeit  und  Wirksamkeit,  die 
dieses  vor  dem  blos  Denkbaren  voraus  hat.  Auch  Verba 
bezeichnen  am  häufigsten  freilich  ein  in  der  That  zeitlich 
verlaufendes  Geschehen;  aber  wenn  wir  sagen,  daß  die 
Dinge  sind  oder  daß  sie  ruhen,  daß  eines  das  andere  bedingt 
oder  ihm  gleicht,  so  zeigt  sich,  daß  auch  die  verbale  Form 
nicht  allgemein  ihrem  Inhalt  die  Bedeutung  eines  Ge- 
schehens gibt,  sondern  sie  nur  gewöhnlich  in  ihm  vorfindet. 
Um  den  Sinn  solcher  Verba,  wie  wir  sie  eben  als  Beispiele 
brauchten,  vollständig  zu  denken,  haben  wir  mehrere  ein- 
zelne Inhalte  durch  eine  Bewegung  unseres  Vorstellons  zu 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  19 

verknüpfen,  eine  Bewegung,  die  ausführlich  freilich  nur  in 
der  Zeit,  aber  doch  in  dem,  was  sie  bedeutet  oder  sagen 
will,  von  allem  Zeitverlauf  unabhängig  ist.  Mit  einem  Wort: 
nicht  ein  Geschehen,  sondern  eine  Beziehung  zwischen 
mehreren  Beziehungspunkten  ist  der  allgemeine  Sinn  der 
verbalen  Form;  unü  diese  Beziehung  kann  ebenso  gut 
zwischen  Inhalten  vorkommen,  die  stets  unzeitlich  nur  in 
der  Welt  des  Denkbaren  zusammen,  wie  zwischen  solchen, 
die,  der  Wirklichkeit  angehörig,  einer  zeitlichen  Veränderung 
zugängiicli  sind.  Gewil^  bezeichnen  endlich  die  Stamm- 
adjectiva  der  Sprache,  wie  blau  und  süß,  zunächst  das,  was 
unserer  ersten  Auffassung  als  wirkliche  Eigenschaft  von 
Dingen  erscheint;  aber  jede  ausgebildete  Sprache  kennt 
docn  Worte  wie:  zweifelhaft  parallel  und  erlaubt;  Worte, 
die  schon  der  einfachsten  Ueberlegung  nicht  mehr  in  dem 
einfachen  Sinne,  wie  jene,  eine  an  den  Dingen  selbst  haftende 
Eigenschaft  bedeuten  können;  sie  sind  verkürzte  und  ver- 
dichtete Bezeichnungen  der  Ergebnisse  von  allerhand  Be- 
ziehungen, und  nur  für  Zwecke  des  Denkens  bringen  wir 
ihren  adjectivisch  gefaßten  Inhalt  in  das  formale  Verhältniß 
zu  dem  eines  Substantivs,  in  welchem  wir  uns  die  Eigen- 
schaft zu  ihrem  Träger  stehend  vorstellen.  Allgemein  aus- 
gedrückt ist  daher  der  logische  Sinn  der  Redetheile  nur  ein 
Schatten  von  dem  jener  metaphysischen  Begriffe :  er  wieder- 
holt nur  die  formalen  Bestimmungen,  die  diese  von  dem 
Wirklichen  behaupten ;  aber  indem  er  ihre  Anwendung  nicht 
auf  das  Wirkliche  beschränkt,  läßt  er  auch  den  Theil  ihrer 
Bedeutung  fallen,  den  sie  nur  in  dieser  Anwendung  erhalten. 
6.  Fanden  wir  endlich  in  den  Formen  der  Redetheile 
die  ursprünglichsten  Denkhandlungen,  so  müssen  wir  sie 
nun  auch  von  diesem  ihrem  sprachlichen  Ausdruck  zu  unter- 
scheiden wissen.  Jetzt,  nachdem  einmal  der  Mensch  sich 
zur  Mittheilung  seiner  Gedanken  der  Lautsprache  bedient, 
jetzt  erscheinen  jene  Denkhandlungen  allerdings  am  anschau- 
lichsten in  der  Form  der  Redetheile;  an  sich  aber  sind  sie 
nicht  unlösbar  an  das  Vorhandensein  der  Sprache  gebunden. 
Schon  die  Entwicklung,  deren  die  Gedankenwelt  der  Taub- 
stummen, wenn  auch  unter  erster  Anleitung  der  Sprechen- 
den, fähig  ist,  beweist  uns,  daß  die  innere  logische  Arbeit 
von  der  Möglichkeit  ihres  sprachlichen  Ausdrucks  unab- 
hängig ist.  Nur  darin  besteht  diese  Arbeit,  daß  wir  den 
einen  Vorstellungsinhalt  mit  dem  Gedanken  seiner  verhältniß- 
mäßigen  Selbständigkeit  begleiten,  einen  andern  als  der  An- 

2* 


20  Erstes  Kapitel. 

lehnung  bedürftig,  einen  dritten  als  Mittelglied  denken,  das 
weder  tür  sich  besteht,  noch  an  einem  anderen  ruht,  sondern 
die  vermittelnde  Beziehung  zwischen  beiden  bildet.  Nie- 
mand bezweifelt  die  höchst  wirksame  Unterstützung,  welche 
für  die  Ausbildung  des  Denkens  in  der  Fähigkeit  der  Sprache 
liegt,  durch  scharfbestimmte  Lautbilder  und  regelmäßige 
Umlautungen  derselben  allen  jenen  Formungen  und  Um- 
formungen der  Gedanken  eine  für  das  Bewußtsein  anschau- 
liche Gegenständlichkeit  zu  geben;  gleichwohl,  wäre  dem 
Menschen  anstatt  der  Lautsprache  eine  andere  Mittheilungs- 
weise  natürlich,  so  würden  dieselben  logischen  Neben- 
gedanken sich  auch  in  dieser  einen  entsprecnenden,  freilich 
ganz  anders  gearteten  Ausdruck  zu  verschaffen  wissen. 
Und  wenn  die  Formenarmuth  einzelner  Sprachen  nicht  zur 
Ausprägung  aller  dieser  Nebengedanken,  nicht  zum  Beispiel 
zur  Unterscheidung  substantivischer  und  verbaler  Fassung 
überall  zureicht,  so  ist  doch  kein  Zweifel,  daß  das  Denken 
auch  der  so  Redenden  die  logischen  Unterschiede  in  der 
Formung  der  lautlich  ununterscniedenen  Vorstellungen  fest- 
hält. Wo  immer  diese  innere  Gliederung  ist,  da  ist  Denken; 
es  ist  nicht,  wo  sie  fehlt.  Darum  ist  Musik  kein  Denken; 
denn  wie  mannigfach  und  fein  abgemessen  auch  die  Ver- 
hältnisse ihrer  Töne  sind,  niemals  bringt  sie  doch  den  einen 
zum  andern  in  die  Stellung  eines  Substantivs  zum  Verbum, 
nie  in  eine  Abhängigkeit,  die  der  eines  Adjectivs  von  seinem 
Hauptwort,  oder  der  eines  Genitivs  zu  dem  Nominativ  gliche, 
von  dem  er  regiert  wird. 

7.  Ich  habe  nur  drei  bisher  aus  der  größeren  Anzahl  der 
Redetheile  erwähnt :  diejenigen,  ohne  die  auch  die  einfachste 
logische  Aussage  unmöglich  wäre;  ich  leugne  darum  den 
logischen  Werth  der  übrigen  nicht.  Aber  unser  eigner  Weg 
ist  zu  weit,  um  uns  in  das  anziehende  Gebiet  sprachwissen- 
schaftlicher Betrachtung  weitere  Umwege  zu  gestatten,  die, 
nach  der  eben  besprochenen  Unabhängigkeit  des  Denkens 
von  seinen  Ausdrucksweisen,  für  unsern  Zweck  doch  Um- 
wege bleiben  würden.  Gliederung  und  Gebrauch  der  Sprache 
deckt  eben  die  Leistungen  des  Denkens  nicht  durchaus. 
Wir  werden  später  finden,  daß  sie  häufig  nicht  den  voll- 
ständigen Bau  des  Gedankens  ausdrückt :  und  dann  müssen 
wir  für  die  Zwecke  der  Logik  das  Geäußerte  ergänzen  aus 
dem,  was  gemeint  war;  die  Sprache  besitzt  anderseits  tech- 
nisch Bestandtheile,  die  auf  wesentlichen  logischen  Be- 
stimmungen nicht  beruhen,  oder  doch  auf  solche  sich  nur 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  21 

mittelbar    in    verschiedenen    Abstufungen     beziehen:     wir 
würden  dann  unrecht  thun,  wenn  wir  ebenso  viele  logische 
Handlungen   des    Denkens    unterscheiden   wollten,    als   uns 
die  Sprache  grammatisch  oder  syntaktisch  verschiedene  For- 
men  des    Ausdrucks    darbietet.     Nicht   blos   Interjectionen, 
sondern  auch   Partikeln  gibt  es,   die  im  gewöhnlichen   Ge- 
brauch, dem  Tonfall  der  Stimme  ähnlich,  fast  nur  noch  den 
gemüthlichen  Antheil  bezeichnen,   den  der  Sprechende  an 
seiner   Aussage    nimmt,    nichts    dagegen   zu   der  logischen 
Fassung  ihres    Inhalts   beitragen.    Wenn   die   Sprache  den 
Unterschied  der  Geschlechter  in  alle  substantivischen  und 
adjectivischen  Worte  einführt,  folgt  sie  einer  logisch  ganz 
gleichgültigen  ästhetischen  Phantasie;  wenn  sie  dann  aber 
das  Geschlecht  des  Adjectivs  sich  nach  dem  seines  Haupt- 
worts richten  läßt,   deutet  sie  durch  diese  Folgerichtiglteit 
innerhalb     einer     willkürlich     angenommenen    Gewohnheit 
wieder  auf  ein  echt  logisches  Verhalten  hin,  das  wir  kennen 
lernen  werden.    Wenn  sie  in  den  Beugungen  des  Zeitwortes 
den  Redenden  von  dem  Angeredeten  und  dem  abwesenden 
Dritten  unterscheidet,  so  hebt  sie  damit,  für  den  lebendigen 
Gebrauch  der  Rede  ganz  unentbehrlich,  ein  vor  allem  wich- 
tiges sachliches  Verhalten  hervor,  dem  aber  kein  eigentlich 
logischer  Unterschied  entspricht.    Es  ist  ganz  nur  derselbe 
Grund,  der  die  Grammatik'  berechtigt,  Pronomina  als  eine 
eigene  Klasse   der   Redetheile   zu  betrachten;  logisch  sind 
die  persönlichen  völlig  den  Substantiven  zuzurechnen,  mit 
denen    sie    die    Form    der   Fassung   gänzlich   theilen:    die 
possessiven  und   demonstrativen   haben  wir  keinen  Grund 
von  den  Adjectiven  zu  trennen;  das  relatire  würden  wir  für 
das  eigenthümlichste  technische  Element  der  Sprache  an- 
sehen, nur  dem   Bedürfniß  der  geordneten  Mittheilung  ge- 
widmet, und  auf  kein  anderes  logisches  Verbal tniß  gegründet, 
als  auf  welchem  auch  sein  Widerspiel,  das  demonstrative, 
beruht.    Zahlworte  behandelt  die  Grammatik  als  besondere 
Redetheile;  die  lebendige  Sprache  stellt  sie  den  Adjectiven 
gleich,   und    ohne   Zweifel   gehören   sie   lopisch  zu    diesen, 
wenn  man  sich  erinnert,  daß  logisch'  die  Form  der  Adjec- 
tivität  jeder  nicht  für  sich  selbständigen  Bestimmung  eines 
Inhalts  zukommt,  und  keineswegs  derjenigen  allein,  welche 
an  ihm   in   dem   Sinne   einer  Eigenschaft  haftet.    Die   Ad- 
verbien endlich  treten  zu  dem  verbalen  Inhalt  völlig  in  die- 
selbe Beziehung,  wie  die  Adjectiva  zu  dem  substantivischen; 
auch  sie  würde  daher  die  Logik"  nicht  Veranlassung  haben, 
als  einen  besonderen  Theil  der  Rede  oder  als  eine  eigen- 


22  Erstes  Kapitel. 

thümliche  Form  des  Gedankeninhalts  zu  fassen.  Nur  die 
Präpositionen  und  Conjunctionen  blieben  mithin  übrig,  um 
diesen  Anspruch  zu  erheben,  und  sie  allerdings  glaube  ich, 
gleichviel  welche  Ableitungen  ihre  sprachlichen  Ausdrüclce 
noch  zulassen  mögen,  zu  den  unentbehrlichen  Bestandtheilen 
unserer  Vorstellungswelt  rechnen  zu  müssen.  Aus  dem 
Begriffe  der  Beziehung,  dem  sie  zunächst  verwandt  scheinen, 
sind  sie  nicht  ableitbar;  jede  Beziehung,  indem  sie  zwei 
Glieder  verbindet,  enthält  den  Gedanken  einer  Stellung  jedes 
dieser  Glieder  innerhalb  dieser  Beziehung  selbst,  und  diese 
Stellung  braucht  nicht  für  beide  dieselbe  zu  sein,  sie  wird  im 
Gegentheil  am  häufigsten  verschieden,  das  eine  Glied  das 
Umfassende,  Ganze,  Bedingende,  das  andere  das  Umfaßte 
sein,  der  Theil,  das  Bedingte.  Man  wird  nun,  wenn  man  es 
versucht,  nicht  damit  zu  Stande  kommen,  die  Verschieden- 
werthigkeit  dieser  beiden  Endpunkte,  ohne  welche  die  Be- 
ziehung keinen  Sinn  hat,  durch  einen  verbal  gefaßten  Inhalt 
allein  auszudrücken;  man  wird  irgendwo  eine  Präposition, 
eine  Conjunction  oder  eine  der  verschiedenen  Casusformen 
wenigstens  bedürfen,  in  denen  viele  Sprachen  eineni  Theile 
dieser  Nebengedanken  einen  noch  kürzeren  Ausdruck  geben. 
Denn  dies  freilich  ist  logisch  ganz  gleichgültig,  in  welcher 
sprachlichen  Form  diese  Nebengedanken  auftretan;  sowie 
wir  Bedingtes  bald  im  Genitiv,  bald  in  anderem  Sinne  im 
Accusativ  dem  bedingenden  Nominativ  entgegenstellen,  so 
könnte  ein  noch  größerer  Reichthum  der  Casus,  wenn  die 
Sprache  ihn  erzeugt  oder  bewahrt  hätte,  jede  Präposition, 
eine  gleiche  Mannigfaltigkeit  der  Modi  des  Verbum  jede 
Conjunction  überflüssig  machen.  An  den  logischen  Bedürf- 
nissen des  Denkens  würde  hierdurch  nichts  geändert;  so 
wie  so  müßte  zu  den  substantivischen,  den  adjecti  vi  sehen 
und  den  verbalen  Inhalten  noch  eine  Anzahl  von  Vorstellun- 
gen treten,  welche  entweder,  wie  die  sprachlichen  Prä- 
positionen, die  Stellung  zweier  als  einfach  geltender  Inhalte 
in  einer  einfachen  Beziehung,  oder,  wie  die  Conjunctionen, 
die  verschiedenwerthige  Stellung  zweier  Beziehungen  oder 
Urtheile  zu  einander  bezeichnen. 

8.  Als  die  unerläßlichste  und  in  diesem  Sinne  erste 
aller  Denkhandlungen  wird  uns  die  Vergegenständlichung 
der  Eindrücke  und  ihre  damit  verbundene  Formung  in  dem 
Sinne  der  Redetheile  dann  stets  erscheinen,  wenn  wir  mit 
einem  Blicke  auf  die  ausgebildete  Gestalt  unserer  Gedanken- 
welt nach  den  Bedingungen  fragen,  auf  deren  Erfüllung  diese 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  23 

Gestaltung  beruht.  Denn  gewiß,  von  dem  einfacheren  oder 
zusammengesetzteren  Satzbau,  durch  den  wir  die  Arbeit 
und  die  Ergebnisse  unseres  Denkens  ausdrücken,  wäre  nichts 
möglich  gewesen  ohne  diese  Leistung.  Aber  unsere  Meinung 
kann  nicht  diese  sein,  daß  im  Anfange  aller  seiner  Denk- 
arbeit der  logische  Geist,  ehe  er  einen  weiteren  Schritt  wagte, 
diese  erste  seiner  nothwendigen  Handlungen  ein  für  allemal 
an  der  Gesammtheit  seines  Vorstellungsinhalts  vollzogen 
habe.  Schon  die  Unbegrenztheit  der  Zahl  möglicher  Ein- 
drücke, deren  jeder  Augenblick  neue  bringen  kann,  hätte 
dies  Geschäft  unausführbar  gemacht;  es  wird  noch  unaus- 
führbarer darum,  weil  ja  das  Denken  selbst  durch  seine 
Bearbeitung  des  gegebenen  Inhalts  unablässig  neuen  Inhalt 
erzeugt  und  diesen  wieder  in  dieselben  logischen  Formen 
bringen  muß,  aus  deren  Anwendung  auf  einfacheren  Denk- 
stoff er  selbst  entstand.  Jede  gebildete  Sprache  enthält 
daher  in  der  Form  eines  einfachen  Substantiv,  eines  Ad- 
jectiv  oder  Verbum  zahlreiche  Vorstellungen,  deren  Inhalt 
nicht  ohne  vielfache  höhere  Denkarbeit,  nicht  ohne  Be- 
nutzung von  Urtheilen  und  Schlüssen,  ja  selbst  nicht 
ohne  Voraussetzung  zusammenhängender  wissenschaftlicher 
Untersuchung  sich  zusammenbringen  ließ  und  nicht  ohne 
sie  völlig  verständlich  ist.  Diese  leicht  zu  machende  Be- 
obachtung hat  die  Behauptung  hervorgerufen,  mindestens 
die  Lehre  vom  Urtheile  müsse  in  der  Logik  der  Behandlung 
der  Begriffe  vorangeschickt  werden,  mit  welcher  nur  altes 
Herkommen  die  Betrachtung  des  Denkens  eröffne.  Ich  halte 
diese  Behauptung  für  eine  Uebereilung,  die  theils  aus  der 
Verwechslung  des  Zieles  der  reinen  Logik,  mit  dem  der 
angewandten,  theils  aus  einer  Verkennung  dessen  überhaupt 
entspringt,  wodurch  sich  Denken  von  dem  bloßen  Verlaufe 
der  Vorstellungen  unterscheidet.  Denn  jene  Urtheile,  aus 
denen  der  begriff  entstehen  soll,  woraus  würden  sie-  selbst 
denn,  so  lange  sie  wirklich  Urtheile  sein  sollen,  bestehen 
können,  wenn  nicht  aus  Verknüpfungen  von  Vorstellungen, 
die  nicht  mehr  bloße  Eindrücke  wären,  deren  jede  vielmehr 
mindestens  diese  einfache  bisher  erwähnte  Formung  schon 
empfangen  hätte,  deren  Mehrzahl  aber,  wie  ein  anzustellen- 
der Versuch  lehren  würde,  in  der  That  schon  die  höhere 
logische  Form  besäße,  welche  die  Anhänger  jener  Meinung 
selbst  mit  dem  Namen  des  Begriffs  bezeichnen?  Das  Bich- 
tige  dieser  vorgeschlagenen  Neuerung  kommt  auf  einen  sehr 
einfachen  Gedanken  zurück :  um  Begriffe  eines  verwickelten 
und   mannigfachen   Inhalts    zu   bilden,    um   namentlich  die 


24  Erstes  Kapitel. 

Grenzen  festzustellen,  innerhalb  deren  es  sich  lohnt  und 
rechtfertigt,  diesen  Inhalt  als  ein  Begriffsganzes  zusammen- 
zufassen und  von  anderen  zu  unterscheiden,  dazu  freilich 
sind  mannigfache  Vorarbeiten  des  Denkens  nöthig;  aber 
damit  diese  Vorarbeiten  selbst  möglich  sind,  muß  ihnen  die 
Gestaltung  einfacherer  Begriffe  vorangegangen  sein,  aus 
denen  sie  ihre  Hülfsurtheile  zusammensetzen.  Ohne  Zweifel 
hat  daher  die  reine  Logik  die  Form  des  Begriffes  der  des 
Urtheils  voranzusetzen;  die  angewandte  erst  hat  zu  lehren, 
wie  zur  Bildung  bestimmter  Begriffe  sich  Urtheile  verwenden 
lassen,  die  aus  einfacheren  Begriffen  bestehen.  Ein  Vor- 
schlag zur  Umkehrung  dieser  Ordnung  kann  sich  nur  denen 
empfehlen,  welche  das  Denken  überhaupt  nur  als  Wechsel- 
wirkung der  von  außen  uns  angeregten  Eindrücke  betrach- 
ten und  die  rückwirkende  Thätigkeit  übersehen,  die  in  den 
Verlauf  der  Vorstellungen,  Zusammengerathenes  scheidend, 
Zusammengehöriges  verbindend,  und  darum  auch  schon 
die  einzelnen  Bestandtheile  des  künftigen  Gedankens  for- 
mend, überall  eingreift. 


B.  Setzung,  Unterscheidung  und  Yergleichung  der  einfachen 
Yorstellungsinhalte. 

9.  Erkennen  wir  nun  in  diesen  ersten  Formungen  der 
Vorstellungen  einen  Beitrag  an,  den  zu  dem  Ganzen  unserer 
Gedankenwelt  eben  die  einwirkende  Thätigkeit  des  Denkens 
liefert,  so  schließt  sich  leicht  hieran  die  Ansicht,  der  logische 
Geist  trete  mit  ihnen  als  fertigen  Auffassungsweisen  den 
kommenden  Eindrücken  gegenüber,  und  daran  dann  knüpft 
sich  die  Frage,  wie  es  ihm  gelinge,  jeglichen  Inhalt  in  die- 
jenige dieser  verschiedenen  Formen  zu  bringen,  die  ihm 
angemessen  ist?  Aber  jene  Ansicht  ist  unzulässig  und  des- 
halb diese  Frage  gegenstandlos,  oder  sie  führt  wenigstens 
zu  einer  andern  als  der  erwarteten  Antwort.  Das  Denken 
steht  nicht  mit  einem  Bündel  logischer  Formen  in  der  Hand 
dem  Gewimmel  der  anlangenden  Eindrücke  gegenüber,  rath- 
los,  welche  dem  einen,  welche  dem  andern  sich  wird  über- 
streifen lassen,  und  deshalb  eines  besonderen  Hülfsmittels 
bedürftig,  um  die  für  einander  passenden  Paarungen  zu  er- 
rathen.  Die  Verhältnisse  vielmehr,  die  zwischen  den  be- 
wußt gewordenen  Eindrücken  bestehen,  sind  es  selbst,  welche 
die  Thätigkeit  des  Denkens  als  eine  stets  nur  rückwirkende 
auf  sich  ziehen,  und  nur  darin  besteht  diese  Thätigkeit,  so 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  25 

vorgefundene  Verhältnisse  zwischen  den  Eindrücken,  die 
wir  leiden,  in  Beziehungen  der  Inhalte  umzudeuten.  Nicht 
dazu  wird  man  daher  eines  besonderen  Kunstgriffes  be- 
dürfen, um  jedem  Inhalt  die  ihm  zugehörige  Form  zu  geben; 
wohl  aber  liegt  nach  anderer  Richtung  hin  in  dieser  Ein- 
ordnung des  mannigfachen  Inhalts  in  logische  Formen  eine 
zweite  nothwendige  Denkhandlung;  kein  Name  für  irgend 
einen  Inhalt  kann  geschaffen  werden,  ohne  diesen  als  mit 
sich  selbst  gleich,  als  verschieden  von  anderen,  endlich  als 
vergleichbar  mit  anderen  gedacht  zu  haben. 

10.  Auch  diese  zweite  Leistung  des  Denkens  gehört  zu 
denjenigen,  welche  für  den  Redenden  die  überlieferte  Sprache 
beständig  schon  ausgeführt  hat;  auch  sie  wird  deshalb  leicht 
übersehen  und  der  Denkarbeit  des  Geistes  nicht  zugerechnet. 
Aber  die  logische  Wissenschaft,  ausdrücklich  dem  Selbst- 
verständlichen gewidmet,  darf  nicht  einen  Theil  desselben 
als  noch  selbstverständlichere  Voraussetzung  behandeln,  die 
aus  den  eigentlichen  Gegenständen  ihrer  Betrachtung  sich 
ausschließen  ließe.  Doch  bedarf  wenigstens  der  erste  Be- 
standtheil  des  dreigliedrigen  Ausdruckes,  welchen  wir  dieser 
neuen  Denkhandlung  eben  gaben,  einer  ausführlichen  Er- 
läuterung nicht.  Es  ist  zu  unmittelbar  deutlich,  wie  jeder 
Name,  sei  es  süß  oder  warm,  Luft  oder  Licht,  zittern  oder 
leuchten,  den  von  ihm  bezeichneten  Inhalt  in  irgend  einem 
Sinne  als  zusammengehörige  Einheit  faßt,  die  für  sich  etwas 
bedeutet;  nicht  blos  den  substantivisch  geformten  hebt,  am 
eindringlichsten  allerdings,  der  vorgesetzte  Artikel  zu  dieser 
Einheit  mit  sich  selbst  heraus;  dieselbe  hinweisende  Kraft 
liegt,  in  anderer  Art  des  Ausdrucks,  in  der  Form  des  verbalen 
Infinitiv,  und  selbst  ohne  jeden  unterscheidenden  sprach- 
lichen Ausdruck  begleitet  dieser  Nebengedanke  der  einheit- 
lichen Setzung  des  Bezeichneten  jegliche  Wortform.  Man 
kann  zweifeln,  ob  der  Vorgang,  den  wir  unter  diesem  Namen 
der  Setzung  des  Inhalts  verstehen  wollen,  nicht  schon  in 
jener  Vergegenständlichung  enthalten  sei,  durch  welche  wir 
den  erlittenen  Eindruck  zur  Vorstellung  werden  ließen;  und 
wirklich  kann  man  weder  vorstellen,  ohne  dem  Vorgestellten 
diese  Setzung  zu  geben,  noch  hat  diese  Setzung  einen  Sinn 
ohne  jene  Vergegenständlichung  dessen,  dem  sie  ertheilt 
wird.  In  der  That  ist  es  daher  eine  sachlich  untrennbare 
Leistung,  die  wir  von  verschiedenen  Seiten  her  betrachten: 
dort  brachten  wir  die  Vorstellung,  auf  welche  wir  vor- 
stellend uns  beziehen,  in  Gegensatz  zu  dem  Eindruck, 
welchen  wir  leiden;  hier,  wo  die  Mannigfaltigkeit  des  Vor- 


26  Erstes  Kapitel. 

Stellungsinhaltes  unsere  Aufmerksamkeit  zu  erregen  beginnt, 
legen  wir  auf  die  einheitliche  und  selbständige  Bedeutung 
Gewicht,  mit  welcher  der  so  aus  unserer  Erregung  heraus- 
gesetzte Inhalt  ist  was  er  ist  und  von  allen  anderen  sich 
unterscheidet. 

11.  Ich  habe  durch  diese  letzte  Wendung  sogleich  fühl- 
bar machen  wollen,  in  wie  enger  Verbindung  jene  bejahende 
Setzung  des  Inhalts  mit  der  verneinenden  Ausschließung 
jedes  anderen  steht.  Sie  ist  so  eng,  daß  eben  zur  Bezeich- 
nung des  einfachen  Sinnes  der  Setzung  uns  nur  Ausdrücke 
zu  Gebot  standen,  die  ihre  volle  Klarheit  erst  durch  Hinzu- 
fügung dieses  zweiten  Nebengedankens  erhalten.  Denn  was 
mit  jener  Einheit  des  gesetzten  Inhalts  eigentlich  gemeint 
war,  interpretiren  wir  einleuchtend  nur  dadurch,  daß  wir 
seine  Verschiedenheit  von  anderen  hervorheben  und  nicht 
nur  sagen,  er  sei  was  er  sei,  sondern  auch:  er  sei  nicht, 
was  andere  sind.  Jene  Bejahung  und  diese  Verneinung 
sind  nur  ein  untrennbarer  Gedanke,  und  untrennbar  ver- 
bunden begleiten  sie  jeden  unserer  Vorstellungsinhalte,  auch 
dann,  wenn  wir  nicht  mit  ausdrücklicher  Aufmerksamkeit 
dies  stillschweigend  verneinte  Andere  verfolgen.  Aber  dieser 
verschmolzene  Nebengedanke  bestimmt  nur  die  logische 
Fassung,  die  wir  unserem  Inhalte  geben;  er  erzeugt  nicht 
den  Inhalt  selbst  erst,  dem  wir  sie  ertheilen.  Man  kann  nicht 
sagen:  roth  werde  als  das  was  es  ist,  als  roth,  erst  dann 
vorgestellt,  wenn  es  von  blau  oder  süß,  und  nur  dadurch, 
daß  es  von  beiden  unterschieden  werde;  blau  anderseits 
als  blau  nur  durch  gleichen  Gegensatz  zu  roth.  Weder  ein 
veranlassender  Grund  zu  dem  Versuche  dieser  bestimmten 
Unterscheidung,  noch  eine  Möglichkeit  ihres  Gelingens  wäre 
denkbar,  wenn  nicht  das,  was  jedes  der  beiden  entgegen- 
zusetzenden Gheder  für  sich  ist,  vorher  dem  Bewußtsein  klar 
wäre.  Unzweifelhaft  wird  der  eigenthümlich  bestimmte  Ein- 
druck, den  wir  unter  der  Einwirkung  des  rothen  Lichtes 
erleben,  völlig  derselbe  sein,  bevor  wir  zum  ersten  Mal  ein 
blaues  Licht  erfuhren,  wie  dann,  nachdem  wir  diese  Er- 
fahrung gemacht  haben;  die  Möglichkeit  der  Vergleichung 
und  Unterscheidung,  welche  durch  die  letztere  gegeben  wird, 
kann  wohl,  wenigstens  bei  zusammengesetzterem  Vor- 
stellungsstoff, als  diese  einfachen  Farben  sind,  die  Auf- 
merksamkeit auf  früher  übersehene  Theile  der  Eindrücke 
lenken  und  so  den  Inhalt  beider  vervollständigen ;  aber  selbst 
in  diesem  Falle,  der  unserer  gegenwärtigen  Betrachtung 
völlig   fremd    ist,    wird   das    Neue   nicht   durch    die   Unter- 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  27 

Scheidung,  sondern  durch  die  unmittelbare  Empfindung  ge- 
funden werden,  zu  welcher  die  Vergleichung  nur  Ver- 
anlassung gab.  Ueberall  ist  es  daher  die  bejahende  Setzung, 
welche  die  verneinende  Unterscheidung  möglich  macht;  nie- 
mals dagegen  entspringt  aus  der  Unterscheidung  der  Inhalt 
des  Unterschiedenen.  Nur  die  Nebengedanken,  die  wir  uns 
über  den  vorgestellten  Inhalt  machen,  nur  seine  logische 
Fassung  gewinnt  an  Bestimmtheit  durch  die  Verneinung  des 
Andern,  die  zu  seiner  eignen  Bejahung  tritt,  und  selbst 
dieser  Gewinn  würde  mir  gering  scheinen,  wenn  es  bei  ihm 
sein  Bewenden  hätte,  und  wenn  nicht  jene  dritte  Leistung 
positiver  Vergleichung  hinzukäme,  welche  ich  in  dem  früher 
gegebenen  Ausdruck  dieser  zuzeiten  Denkhandlung  zuletzt 
erwähnte. 

12.  Ich  leite  die  Betrachtung  dieser  dritten  Leistung, 
die  ich  für  den  wesentlichsten  Bestandtheil  der  hier  zu 
erörternden  logischen  Arbeit  ansehe,  durch  Erinnerung  an 
eine  bekannte  Thatsache  ein,  die  man  zu  anderen  Fol- 
gerungen zu  benutzen  pflegt.  Durch  die  Worte  der  Sprache 
werden  Eindrücke  niemals  so  bezeichnet,  wie  man  sie  er- 
leben kann;  denn  erleben  oder  wirklich  empfinden  läßt 
sich  immer  nur  eine  besondere  Schattirung  der  Röthe,  eine 
einzelne  Eigenart  der  Süßigkeit,  ein  bestimmter  Grad  der 
Wärme,  nicht  das  allgemeine  Roth  Süß  und  Warm  der 
Sprache.  Die  Verallgemeinerung,  welche  in  diesen  und  allen 
ähnlichen  Ausdrücken  der  empfundene  Inhalt  erfahren  hat, 
pflegt  man  als  eine  unvermeidliche  Ungenauigkeit  der 
Sprache,  vielleicht  selbst  des  Vorstellens  anzusehen,  das 
sich  ihrer  zu  seinem  Ausdrucke  bedient.  Unfähig  entweder, 
oder  nicht  gewöhnt,  für  jeden  einzelnen  Eindruck  einen 
bestimmten  Namen  zu  schaffen,  verwische  sie  in  ihren 
Worten  die  kleinen  Unterschiede  des  einen  vom  andern  und 
halte  nur  das  fest,  was  in  ihnen  allen  als  ein  'Gemeinsames 
in  der  Empfindung  unmittelbar  erfahren  werde.  Durch  diese 
Verminderung  ihrer  Ausdrucksmittel  auf  eine  mäßige  Anzahl 
mache  sie  freilich  wohl  die  Mittheilung  der  Vorstellungen 
überhaupt  erst  möglich,  schädige  aber  ebenso  sehr  die  Ge- 
nauigkeit des  Mitzutheilenden.  Ich  glaube  nun  nicht,  daß 
diese  Auffassungsweise  der  Bedeutung  der  Thatsache  volle 
Gerechtigkeit  widerfahren   läßt. 

13.  Vor  allem,  indem  man  die  erwähnte  Verallgemeine- 
rung als  eine  Art  von  Verfälschung  der  Eindrücke  ansieht, 
geht  man  zu  achtlos  über  den  sehr  merkwürdigen  Umstand 


28  Erstes  Kapitel. 

hinweg,  daß  in  einer  Mehrheit  verschiedener  Eindrücke 
sich  eben  etwas  Gemeinsames  vorfindet,  das  von  ihren 
Unterschieden  getrennt  denkbar  ist.  Denn  so  selbstver- 
ständKch  ist  doch  dieses  Verhalten  nicht,  daß  ein  entgegen- 
gesetztes gar  nicht  in  Frage  käme;  sehr  wohl  ließe  sich 
vielmehr  denken,  daß  jeder  einzelne  unserer  Eindrücke 
sich  von  jedem  zweiten  so  unvergleichbar  unterschiede, 
wie  in  der  That  süß  von  warm,  gelb  von  weich  sich  unter- 
scheidet. Daß  es  sich  nicht  so  verhält,  ist  mithin  eine 
thatsächliche  Einrichtung  der  Welt  des  Vorstellbaren  selbst, 
die  in  Betracht  zu  ziehen  sich  der  Mühe  verlohnt.  Ich  kann 
ferner  keineswegs  reinen  Verlust  in  dem  Mangel  an  Ge- 
nauigkeit sehen,  der  allerdings  der  Mittheilung  des  Vor- 
gestellten durch  die  Anwendung  der  sprachlichen  Allgemein- 
bezeichnungen anhängt.  Ohnehin,  wo  der  Werth  völlig 
genauer  Bestimmungen  fühlbar  wird,  kann  das,  was  diese 
einfachsten  Schöpfungen  des  beginnenden  Denkens  zu 
wünschen  lassen,  durch  die  Leistungen  des  weiterfort- 
geschrittenen immer  ergänzt  werden;  die  Wissenschaft  hat 
uns  längst  jeden  Grad  der  Wärme  messen  gelehrt  und  würde 
im  Fall  des  Bedürfnisses  auch  jede  Abstufung  der  Röthc 
oder  Süßigkeit  zu  messen  wissen.  Die  Art  aber,  wie  die 
Sprache  und  das  an  ihr  wirksame  naturwüchsige  Denken 
dieselbe  Aufgabe  löst,  scheint  mir  logisch  sehr  bedeutsam. 
Denn  wenn  wir  nicht  jeden  einzelnen  wirklich  empfundenen 
Farbeneindruck  mit  einem  besonderen  Namen  belegen, 
sondern  blau  roth  gelb  und  wenige  andere  durch  eigne  Be- 
nennungen bevorzugen,  wenn  wir  da,nn  die  übrigen  Einzel- 
empfindungen als  blauröthlich  oder  rothgelblich  zwischen 
sie  einschalten,  so  liegt  in  diesem  Verfahren  nicht  blos  ein 
Nothbehelf  der  Annäherung  an  unerreichbare  Genauigkeit, 
sondern^  wie  mir  scheint,  der  Ausdruck  der  Ueberzeugung, 
nur  jene  wenigen  Farben  seien  in  der  That  feste  Punkte, 
denen  ein  eigner  Name  gebühre,  jene  anderen  aber  müsse 
man  durch  annähernde  Ausdrücke  bestimmen,  weil  sie  selbst 
nur  Annäherungen  zu  diesen  festen  Punkten  oder  Zwischen- 
glieder zwischen  ihnen  sind.  Hätten  wir  wirklich  für  alle 
einzelnen  Schattirungen  des  Blau  besondere  von  einander 
unabhängige  Einzelnamen,  und  entspräche  unser  Vorstellen 
dieser  Ausdrucksweise,  so  würden  wir  einseitig  die  Trennung 
jedes  Inhalts  von  jedem  andern  vollzogen,  dagegen  die 
positiven  Beziehungen  völlig  übersehen  haben,  die  zwischen 
allen  stattfinden.  Sprechen  wir  dagegen  von  hellblau  dunkel- 
blau schwarzbkiu,  so  ordnen  wir  dies  Mannigfache  in  Reihen 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  29 

oder  in  ein  Gewebe  von  Reihen,  und  in  jeder  von  diesen 
geht  ein  drittes  Glied  aus  dem  zweiten  durch  Steigerung 
derselben  fühlbaren  Veränderung  eines  allen  Gemeinsamen 
hervor,  durch  welche  das  zweite  aus  dem  ersten  entstand. 
Nun  aber  ist  wohl  schon  hier  vollkommen  verständlich,  daß 
ein  Vorstellen,  welches  diese  Vergleichung  des  Verschiedenen 
nicht  enthielte,  sondern  sich  auf  die  nackte  Trennung  jedes 
von  jedem  beschränkte,  den  späteren  Leistungen  des  Denkens 
die  hinlänglichen  Beurtheilungsgründe  nicht  darbieten  würde, 
nach  denen  zwei  Vorstellungen  als  irgendwie  zusammen- 
gehörig zweien  andern  als  nicht  zusammengehörigen  ent- 
gegengesetzt werden  könnten.  Deshalb  fassen  wir  diese 
zweite  Denkhandlung,  von  welcher  wir  hier  sprechen,  nicht 
blos  als  Setzung  überhaupt  des  a  oder  b,  nicht  blos  als 
Unterscheidung  überhaupt  jedes  a  von  jedem  b,  sondern 
zugleich  als  Bestimmung  der  Weite  und  der  Eigenthümlich- 
keit  des  Unterschiedes,  der  nicht  überall  gleich  groß  und 
gleich  geartet,  sondern  zwischen  b  und  c  ein  anderer  ist 
als  zwischen  a  und  b.  Und  hiermit  meine  ich  nicht,  daß 
jede  einzelne  Vorstellung  a  von  der  entwickelten  Vorstellung 
aller  ihrer  Beziehungen  zu  der  unendlichen  Anzahl  aller 
übrigen  begleitet  werden  müsse;  nur  der  allgemeine  Neben- 
gedanke, daß  jede  nach  allen  Seiten  hin  in  ein  solches  Netz 
von  Beziehungen  eingefangen  ist,  umgibt  allerdings  in 
unserem  logischen  Bewußtsein  jede;  aufgesucht  werden 
diese  Beziehungen  in  jedem  Einzelfalle  so  weit,  als  ein 
bestimmtes    Bedürfniß    Veranlassung    gibt. 

14.  Diese  Vergleichung  nun  des  Verschiedenen  setzt 
offenbar  ein  Gemeinsames  voraus,  das  in  den  einzelnen 
Gliedern  der  Reihe  mit  eigenthümlichen  Unterschieden  be- 
haftet ist.  So  Gemeinsames  pflegt  die  Logik  nur  in  der 
Form  eines  allgemeinen  Begriffs  zu  betrachten,  und  in 
dieser  Gestalt  ist  es  ein  Erzeugniß  einer  größeren  oder  ge- 
ringeren Anzahl  von  Denkhandlungen.  Es  ist  daher  von 
Wichtigkeit,  hervorzuheben,  daß  dieses  erste  All- 
gemeine, welches  wir  hier  bei  der  Vergleichung  ein- 
facher Vorstellungen  antreffen,  von  wesentlich  anderer  Art, 
daß  es  der  Ausdruck  einer  inneren  Erfahrung  ist,  die  von 
dem  Denken  nur  anerkannt  wird,  und  daß  es  eben  um  des- 
willen, wie  sich  später  zeigen  wird,  eine  unentbehrliche 
Voraussetzung  jenes  anderen  Allgemeinen  ist,  dem  wir  in 
der  Bildung  des  Begriffes  begegnen  werden.  Den  Allgemein- 
begriff eines  Thieres  oder  einer  geometrischen  Figur  theilen 
wir  einem  Anderen  dadurch  mit,  daß  wir  ihm  vorschreiben. 


30  Erstes  Kapitel. 

eine  genau  angebbare  ReiJie  von  Denivhandlungen  der  Ver- 
knüpiung  Trennung  oder  Beziehung  an  einer  Anzahl  als 
bekannt  vorausgesetzter  Einzelvorstellungen  auszuführen; 
am  Ende  dieser  logischen  Arbeit  werde  vor  seinem  Bewußt- 
sein derselbe  Inhalt  stehen,  den  wir  ihm  mitzutheilen 
wünschten.  Worin  dagegen  das  allgemeine  Blau  bestehe, 
das  wir  im  Hellblau  oder  Dunkelblau,  oder  worin  die  all- 
gemeine Farbe,  die  wir  im  Roth  und  Gelb  mitdachten,  läßt 
sich  nicht  auf  demselben  Wege  verdeutlichen.  Freilich 
können  wir  dem  Anderen  vorschreiben,  er  solle  alle  einzel- 
nen Farben  oder  alle  Schattirungen  des  Blau  vorstellen  und 
durch  Absonderung  ihrer  Unterschiede  das  in  beiden  Fällen 
Gemeinsame  der  vorgestellten  Inhalte  hervorheben;  aber 
dies  ist  nur  scheinbar  eine  Anweisung  zu  logischer  Arbeit; 
im  Grunde  muthen  wir  doch  durch  sie  dem  Anderen  nur  zu, 
selbst  zu  sehen,  wie  er  mit  der  ganzen  Aufgabe  fertig  wird. 
Denn  wie  er  es  eigentlich  anfangen  soll,  um  zu  entdecken, 
ob  überhaupt  in  Roth  und  Gelb  etwas  Gemeinsames  liege, 
und  wie  er  es  machen  müsse,  um  dies  Gemeinsame  von  dem 
Verschiedenen  zu  trennen:  das  können  wir  ihm  doch  nicht 
sagen;  wir  müssen  uns  einfach  darauf  verlassen,  er  werde 
die  im  Roth  und  Gelb  bestehende  Verwandtschaft,  das  Ent- 
haltensein eines  Gemeinsamen  in  beiden,  unmittelbar  selbst 
empfinden  fühlen  oder  erleben;  seine  logische  Arbeit  kann 
hier  nur  in  der  Anerkennung  und  dem  Ausdruck  dieser 
inneren  Erfahrung  bestehen.  So  ist  dies  erste  Allgemeine 
kein  Erzeugniß  des  Denkens,  sondern  ein  von  ihm  vor- 
gefundener Inhalt. 

15.  Ich  schalte  hier  eine  Bemerkung  ein,  die  mit  ge- 
ringer ümdeutung  auf  jedes  Allgemeine  sich  erstrecken  läßt, 
am  leichtesten  aber  an  diesem  einfachsten  Falle,  dem  ersten 
Allgemeinen,  zu  verdeutlichen  ist.  Das,  worin  Roth  und 
Gelb  übereinstimmen,  und  wodurch  sie  beide  Farben  sind, 
läßt  sich  von  dem  nicht  abtrennen,  wodurch  Roth  roth  und 
Gelb  gelb  ist;  nicht  so  abtrennen  nämlich,  daß  dies  Gemein- 
same den  Inhalt  einer  dritten  Vorstellung  bildete,  welche  von 
gleicher  Art  und  Ordnung  mit  den  beiden  verglichenen  wäre. 
Empfunden  wird,  wie  wir  wissen,  stets  nur  eine  bestimmte 
Einzelschattirung  einer  Farbe,  nur  ein  Ton  von  bestimmter 
Höhe  Stärke  und  Eigenart;  nur  diese  ganz  bestimmten  Ein- 
drücke wiederholt  auch  die  Erinnerung  so,  daß  sie  als 
inhaltvolle  Bilder,  die  sich  anschauen  lassen,  vor  unserem 
Bewußtsein  stehen.  Diese  Anschaulichkeit  besitzen  die  all- 
gemeinen Vorstellungen   niemals.    Wer  das  Allgemeine  der 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  31 

Farbe  oder  des  Tones  zu  lassen  sucht,  wird  sich  stets  dabei 
antreffen,  daß  er  entweder  eine  bestimmte  Farbe  und  einen 
bestimmten  Ton  wirklich  vor  seiner  Anschauung  hat,  nur 
begleitet  von  dem  Nebengedanken,  jeder  andere  Ton  und 
jede  andere  Farbe  habe  das  gleiche  Recht,  als  anschauliches 
Beispiel  des  selbst  unanschaulich  bleibenden  Allgemeinen 
zu  dienen;  oder  seine  Erinnerung  wird  viele  Farben  und 
Töne  nach  einander  ihm  mit  demselben  Nebengedanken 
vorführen,  daß  nicht  diese  einzelnen  selbst  gemeint  sind, 
sondern  das  ihnen  Gemeinsame,  das  in  keiner  Anschauung 
für  sich  zu  fassen  ist.  Vei-steht  man  daher  unter  Vor- 
stellung, wozu  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  allerdings 
neigt,  das  Bewußtsem  eines  Inhalts,  der  ruhig  vor  uns 
steht,  oder  eine  Anschauung  dessen,  was  uns  vor  uns  hin- 
zustellen gelingt,  so  gebührt  dem  Allgemeinen  der  Name 
einer  Vorstellung  nicht.  Worte  wie  Farbe  und  Ton  sind  in 
Wahrheit  nur  kurze  Bezeichnungen  logischer  Aufgaben,  die 
sich  in  der  Form  einer  geschlossenen  Vorstellung  nicht 
lösen  lassen.  Wie  befehlen  durch  sie  unserem  Bewußtsein, 
die  einzelnen  vorstellbaren  Töne  und  Farben  vorzustellen 
und  zu  vergleichen,  in  dieser  Vergleichung  aber  das  Ge- 
meinsame zu  ergreifen,  das  nach  dem  Zeugniß  unserer 
Empfindung  in  ihnen  enthalten  ist,  das  jedoch  durch  keine 
Anstrengung  des  Denkens  von  dem,  wodurch  sie  verschieden 
sind,  sich  wirklich  ablösen  und  zu  dem  Inhalt  einer  gleich 
anschaulichen  neuen  Vorstellung  gestalten  läßt. 

16.  Richten  wir  nun  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die 
Unterschiede,  welche  innerhalb  des  ersten  Allgemeinen  seine 
mannigfachen  Beispiele  trennen.  Eine  Wärmeempfindung 
unterscheidet  sich  von  einer  anderen,  ein  leiserer  Klang 
vom  stärkeren,  hellblau  von  tiefblau  offenbar  durch  ein 
Mehr  oder  Minder  eines  fühlbaren  Gemeinsamen,  das  für 
sich,  ohne  jede  Gradbestimmung,  nicht  anschaubar  ist.  Auf 
denselben  Unterscheidungsgrund  wird  man  sich  bei  allen 
andern  Vorstellungen  zurückgeführt  finden;  nur  der  Angabe 
des  Allgemeinen,  dem  diese  Größenvergleichung  gilt,  be- 
gegnet in  den  einzelnen  Fällen  eine  nach  den  ebea  ge- 
machten Bemerkungen  verständliche  Schwierigkeit.  Der 
leisere  Ton  unterscheidet  sich  vom  lauteren  ohne  Zweifel 
durch  eine  gewisse  Steigerung,  aber  ebenso  durch  eine 
gewisse  Steigerung  der  höhere  vom  tieferen;  was  aber 
eigentlich  das  Gemeinsame  ist,  dem  diese  Veränderung  wider- 
lätirt,  glauben  wir  nur  im  ersten  Fall  durch  die  Bezeichnung 


32  Erstes  Kapitel. 

der  Stärke  unmittelbar,  im  zweiten  nur  bildlich  durch  den 
Namen  der  Höhe  ausdrücken  zu  können.  Noch  mehr  scheint 
Roth  von  Gelb  wesentlich  verschieden  und  das  eine  aus 
dem  anderen  nicht  durch  Anwachs  oder  Schwächung  eines 
Gemeinsamen  abzuleiten;  nur  was  zwischen  ihnen  liegt, 
Rothgelb  und  Gelbroth,  ist  uns  als  eine  Mischung  verständ- 
lich, in  welcher  ein  Mehr  oder  Minder  des  einen  oder  des 
andern  von  beiden  enthalten  ist.  Gleichwohl  leugnet  doch 
Niemand,  daß  eine  der  Grundfarben  einer  zweiten  ver- 
wandter ist  als  einer  dritten,  das  Roth  verwandter  dem  Gelb 
als  dem  Grün;  diese  Abstufungen  der  Aehnlichkeit  sind 
nicht  ohne  ein  Mehr  oder  Minder  eines  Gemeinsamen  zu 
denken,  dessen  wir  uns  bei  dem  Uebergange  von  einem 
Gliede  der  Reihe  zum  nächsten  und  von  diesem  zum  dritten 
bewußt  bleiben.  Zu  bestimmen,  worin  in  den  einzelnen 
Fällen  dies  Gemeinsame  bestehe,  zu  beurtheilen,  ob  'eine 
Mehrheit  von  Vorstellungen  sich  nur  durch  Gradverschieden- 
heiten eines  einfachen  Allgemeinen  oder  durch  Com- 
binationen  von  Werthunterschieden  mehrerer  einander  be- 
stimmender Allgemeinheiten  von  einander  sondere,  ob  also 
diese  Vorstellungen  in  eine  gradlinige  Reihe  oder  flächen- 
förmig  oder  in  Reihen  noch  höherer  Ordnung  zusammen- 
zufassen sind:  dies  alles  sind  anziehende  Gegenstände  der 
Untersuchung,  aber  sie  sind  nicht  Gegenstände  der  Logik. 
Für  diese  genügt  es,  zu  wissen,  daß  eine  irgendwo  verwend- 
bare Größenbestimmung  zunächst  des  Mehr  oder  Minder  das 
unentbehrliche  Hülfsmittel  der  Unterscheidung  zwischen  den 
Reispielen  eines  Allgemeinen  ist.  Und  auch  diese  Größen- 
bestimmung gehört  zu  dem,  was  wir  nicht  durch  logische 
Arbeit  erzeugen,  sondern  nur  vorfinden  anerkennen  und 
weiter  entwickeln.  Ein  Urtheil,  a  sei  stärker  als  b,  ist  als 
Urtheil  freilich  eine  logische  Arbeit;  aber  der  Inhalt,  den 
es  ausspricht,  also  die  Thatsache  selbst,  daß  es  überhaupt 
Gradunterschiede  desselben  Vorstellbaren  gibt,  sowie  die 
besondere,  daß  der  Grad  des  a  den  des  b  übersteige,  kann 
nur  erlebt  empfunden  oder  als  Restandtheil  unserer  inneren 
Erfahrung  anerkannt  werden.  Welches  auch  die  künstlichen 
Vorrichtungen  sein  mögen,  durch  die  wir  wissenschaftlich 
die  Genauigkeit  einer  Messung  zu  steigern  suchen,  zuletzt 
beruht  doch  Alles  auf  der  Fähigkeit,  zwei  sinnliche  Wahr- 
nehmungen unmittelbar  als  gleich  oder  als  ungleich  zu 
erkennen  und  sich  darüber  nicht  zu  täuschen,  nach 
welcher  Seite  hin  das  Mehr  und  nach  welcher  das 
Minder  liegt. 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  33 

17.  Beschränkte  sich  nun  die  innere  Erfahrung  auf  das 
Vorführen  von  Aehnlichkeiten  und  Unterschieden  der  Inhalte, 
so  würde  das  Denken  nur  zu  einer  unveränderlichen  syste- 
matischen Anordnung  der  Vorstellungen  Veranlassung  haben, 
ähnlich  der  musikalischen  Scala,  in  welcher  alle  Töne  ihre 
festen  und  unverrückbaren  Plätze  und  wechselseitigen  Be- 
ziehungen ein  für  allemal  besitzen.  Aber  die  Logik  hat  sich 
nicht  mit  einem  Denken  zu  beschäftigen,  welches  unter 
nicht  vorhandenen  Voraussetzungen  sein  würde,  sondern 
mit  dem,  welches  ist.  Allem  wirklichen  Denken  aber  ist 
durch  den  Mechanismus,  welcher  die  Wechselwirkung  der 
inneren  Zustände  beherrscht,  von  Haus  aus  mehr  Anregung 
dargeboten,  als  jene  Voraussetzung  annahm;  der  mannig- 
fache Inhalt  des  Vorstellbaren  wird  ihm  nicht  blos  in  jener 
systematischen  Ordnung,  die  seinen  qualitativen  Verwandt- 
schaften entspricht,  sondern  in  der  buntesten  Fülle  räum- 
licher und  zeitlicher  Verknüpfungen  vorgeführt,  und  auch 
diese  Thatsache  gehört  zu  dem  Stoffe,  der  dem  Denken  zur 
Ausführung  seiner  weiteren  Leistungen  dient  und  gegeben 
sein  mußte.  Die  Verbindungen  ungleichartiger  Vorstellungen, 
die  so  herbeigeführt  werden,  sind  die  Aufgaben,  an  denen 
das  Denken  später  seine  Bemühung  zu  üben  haben  wird. 
Zusammenseiendes  auf  Zusammengehöriges  zurückführen; 
ihrer  braucht  jetzt  nicht  weiter  gedacht  zu  werden.  Die 
gleichartigen  oder  gleichen  dagegen  geben  Veranlassung, 
ihre  Wiederholungen  von  einander  zu  trennen,  sie  zu  ver- 
knüpfen, zu  zählen;  zu  diesen  Vorstellungen  des  Einen  und 
Vielen  fügen  endlich  die  in  Raum  und  Zeit  stetig  aus- 
gedehnten Inhalte  die  des  Größeren  und  Kleineren  hinzu. 
In  diesen  drei  Paaren  von  Größenvorstellungen,  denn  die 
des  Mehr  oder  Minder  besaßen  wir  bereits,  sind  alle  Maß- 
stäbe der  Unterscheidungen  für  die  Einzelbeispiele  jedes 
Allgemeinen   gegeben. 

18.  Zweierlei  schließe  ich  hier  von  den  Gegenständen 
unserer  Betrachtung  absichtlich  aus.  Zuerst  jede  weitere 
Untersuchung  über  den  Gang,  den  psychologisch  die  Ent- 
stehung und  Entwicklung  dieser  Größenvorstellungen  in 
unserem  Bewußtsein  nimmt,  über  die  Reihenfolge,  in  welcher 
die  eine  die  Bedingung  für  den  Ursprung  der  andern  sein 
mag,  über  den  verschiedenen  Werth  endlich,  den  für  ihre 
Bildung  die  zeitlichen  und  räumlichen  Anschauungen  haben. 
So  anziehend  diese  Fragen  sind,  so  würde  doch  ihre  Be- 
antwortung unseren  Weg  unnöthig  verlängern ;  nicht  darauf 
kommt  es   der  Logik  an,  auf  welche  Weise   die  Elemente 

Lotze,  Logik.  3 


34  Erstes  Kapitel. 

entstehen,  die  das  Denken  benutzt,  sondern  darauf,  welchen 
Werth  sie,  nachdem  sie  auf  irgend  eine  Weise  entstanden 
sind,  für  die  Ausführung  seiner  Leistungen  besitzen.  Dies 
nun,  was  ich  mehr  als  billig  vernachlässigt  finde,  hebe  ich 
hier  hervor  und  werde  es  später  im  Auge  behalten:  die 
unerläßliche  Nothwendigkeit,  daß  alle  vom  Denken  zu  ver- 
knüpfenden Vorstellungen  einer  von  den  drei  erwähnten 
Arten  der  Größenbestimmung  zugänglich  sein  müssen.  Das 
Andere,  das  ich  ausschließe,  ist  die  Untersuchung  der  Fol- 
gerungen, die  aus  diesen  Größenbestimmungen  für  sich 
gezogen  werden  können;  sie  haben  sich  längst  zu  dem 
großen  Gebäude  der  Mathematik  entwickelt,  dessen  reiche 
Gliederung  jeden  Versuch  einer  Wiedereinschaltung  in  den 
Zusammenhang  der  allgemeinen  Logik  verbietet.  Aber  die 
ausdrückliche  Hinweisung  darauf  ist  nothwendig,  daß  alles 
Rechnen  eine  Art  des  Denkens  ist,  daß  die  Grundbegriffe 
und  Grundsätze  der  Mathematik  ihren  systematischen  Ort 
in  der  Logik  haben,  daß  wir  uns  endlich  das  Recht  wahren 
müssen,  auch  später  überall,  wo  das  Bedürfniß  es  verlangt, 
unbedenklich  auf  die  Ergebnisse  zurückzugreifen,  welche 
die  Mathematik  unterdessen,  als  ein  sich  für  sich  selbst  fort- 
entwickelnder Zweig  der  allgemeinen  Logik,  gewonnen  hat. 
19.  Ueberblickt  man  nun  das  Ganze  dieser  zweiten 
Denkhandlung,  in  welcher  ich  jetzt  die  bejahende  Setzung 
des  Inhalts,  die  verneinende  Abtrennung  von  jedem  andern, 
endlich  die  vergleichende  Größenschätzung  der  Unterschiede 
und  Aehnlichkeiten  zusammenfasse,  so  wird  man  die  Be- 
merkung machen  können,  daß  der  Sinn  dieser  neuen 
logischen  Arbeit  in  etwas  von  dem  abweicht,  welcher  der 
ersten  Denkhandlung,  der  Formung  der  Vorstellungen,  zu- 
kommt. Man  unterlag  dort  der  allerdings  von  uns  zurück- 
gewiesenen Versuchung,  die  Formen  der  Substantivität  Ad- 
jectivität  und  Verbalität  als  Auffassungsweisen  zu  betrachten, 
welche  das  Denken,  noch  vor  aller  Aufforderung  durch  den 
gegebenen  Inhalt,  an  diesem  zu  bethätigen  begierig  ist; 
allein,  wenn  wir  gleich  diese  Aufforderung  abwiesen,  so 
bleibt  es  doch  richtig,  daß  in  jenen  Formen  das  Denken 
nicht  blos  die  auffordernde  Thatsache  des  Vorstellungslaufs 
wiederholt,  sondern  ihr  allerdings  die  Gestalt  gibt,  in  der 
sie  für  den  logischen  Geist  erst  gerechtfertigt  ist.  Denn  die 
Selbständigkeit,  welche  die  substantivische  Form,  am  kennt- 
lichsten durch  den  Artikel,  dem  einen  Inhalt  gibt,  lag  an 
sich  nicht  in  der  Thatsache,  daß  dieser  Inhalt  ein  bleibendes 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  35 

Glied  zwischen  wechselnden  Vorstellungsgruppen  war;  die 
Unselbständigkeit,  welche  die  adjecüvische  ausdrückt,  war, 
als  ein  solcher  Nebengedanke,  nicht  in  der  Thatsache  vor- 
handen, die  zur  Ausprägung  eines  andern  Inhalts  in  dieser 
zweiten  Form  anregte;  man  kann  also  fortfahren,  in  ge- 
wissem Sinne  zu  behaupten,  daß  in  dieser  ersten  Handlung 
das  Denken  seine  eignen  Gesetze  dem  vorstellbaren  Inhalt 
vorschreibe.  Bezeichnen  wir  dies  Verfahren  mit  einem  Aus- 
druck, den  wir  übrigens  vermeiden  werden,  als  Beweis  der 
Spontaneität,  so  trägt  die  zweite  Handlung  des  Denkens 
den  Charakter  der  Keceptivität;  sie  ist  Anerkennung  von 
Thatsachen,  denen  sie  keine  neue  Form  außer  dieser  An- 
erkennung ihres  Bestehens  gibt.  Keinen  Unterschied  kann 
das  Denken  da  machen,  wo  es  keinen  in  dem  Inhalt  der 
Eindrücke  vorfindet;  das  erste  Allgemeine  ließ  sich  nur  in 
unmittelbarer  Empfindung  erleben,  und  dem  erlebten  konnte 
zwar  ein  Name  gegeben,  aber  keine  andere  logische  Arbeit 
konnte  zu  seiner  weiteren  Feststellung  unternommen  werden ; 
alle  Größenbestimmungen,  wie  weit  sich  auch  ihre  fernere 
Vergleichung  durch  das  Denken  erstrecken  mag,  laufen 
immer  auf  das  unmittelbare  Innewerden  gegebener  Be- 
stimmtheiten des  Vorstellungsinhalts  zurück.  Von  zwei  Ge- 
sichtspunkten möchte  ich  diese  Thatsache  betrachtet  wissen. 
Zuerst  liegt  eine  gewisse  unrichtige  Sorglosigkeit  der  Logik 
darin,  daß  sie  in  ihrem  späteren  Verlauf  die  Vergleichbar- 
keit von  Vorstellungen  und  die  Möglichkeit  ihrer  Unter- 
ordnung unter  ein  Allgemeines  fast  in  jedem  Augenblicke 
voraussetzt,  ohne  vorher  bemerkt  zu  haben,  daß  diese  Mög- 
lichkeit, daß  überhaupt  das  Gelingen  aller  ihrer  Schritte  auf 
dieser  ursprünglichen  Einrichtung  und  Gliederung  der  ganzen 
Welt  des  Vorstellbaren  beruht,  einer  Einrichtung,  die  an 
sich  nicht  denknoth wendig,  um  so  nothwendiger  freilich  für 
die  Möglichkeit  des  Denkens  ist.  Denn  ich  wiederhole:  es 
ist  an  sich  nicht  widersprechend,  daß  jede  Vorstellung  von 
jeder  anderen  unvergleichlich  verschieden  wäre,  daß  mit 
dem  Wegfall  der  qualitativen  Vergleichbarkeit  auch  jeder 
Maßstab  für  ein  Mehr  oder  Minder  fehlte,  daß'  keine  Vor- 
stellung zweimal  sich  der  Wahrnehmung  darböte,  daß  mit 
dem  Mangel  dieser  Wiederholung  des  Gleichartigen  auch 
die  Vorstellungen  des  Größeren  und  Kleineren  verschwänden. 
Daß  es  nicht  so  ist,  daß  vielmehr  die  Welt  des  Vorstellbaren 
eben  die  Gliederung  besitzt,  die  wir  fanden,  dies  mußte  als 
eine    höhchst    wichtige    Thatsache   hervorgehoben   werden, 

3* 


36  Erstes  Kapitel. 

nicht  aber  sollte  die  Logik  da,  wo  sie  dieser  Thatsache  be- 
darf, sich  auf  sie  als  auf  ein  man  weiß  nicht  woher  ge- 
kommenes Selbstverständliche  blos  nebenbei  berufen.  Und 
hiermit  hängt  denn  die  andere  Bemerkung  zusammen,  die 
ich  noch  vorhatte.  Ist  das  Denken  Rückwirkung  auf  ge- 
gebene Anregungen  des  Vorstellungslaufs,  so  wird  an  be- 
stimmten Stellen  der  systematischen  Uebersicht  seiner  Hand- 
lungen auch  der  bestimmende  Einfluß  deutlich  hervortreten, 
den  auf  diese  die  Gestaltung  der  Welt  des  Vorstellbaren 
ausübt;  wie  es  hier  das  zweite  Glied  der  ersten  dreitheiligen 
Reihe  von  Denkhandlungen  ist,  so  wird  es  auch  später  das 
zweite  Glied  der  folgenden  höher  entwickelten  Gruppen 
sein,  worin  sich  diese  eigenthümliche  Abhängigkeit  der 
logischen  Arbeit  von  der  Natur  des  Inhalts  zeigen  wird, 
dem  sie  jedesmal  gilt.  Doch  beanspruche  ich  durch  diesen 
vorläufigen  Hinweis  nichts  weiter,  als  der  Klarheit  der 
Uebersicht  über  den  systematischen  Bau  meiner  Darstellung 
vorläufig  zu  Hülfe  zu  kommen;  er  selbst  wird  sich  nur  durch 
das  rechtfertigen  können,  was  er  in  jedem  nach  und  nach 
hervortretenden   Theile    seiner    Gliederung    nützen   wird. 

C.  Die  Bildung  des  Begriffs. 

20.  In  der  Mannigfaltigkeit  der  Vorstellungen,  die  uns 
gegeben  werden,  Zusammengerathenes  zu  scheiden,  Zu- 
sammengehöriges durch  den  Nebengedanken  des  Rechts- 
grundes seiner  Zusammengehörigkeit  neu  zu  verbinden,  ist 
die  fernere  Aufgabe  des  Denkens.  Es  wird  dienlich  sein, 
um  ihren  Sinn  zu  verdeutlichen,  die  verschiedenwerthigen 
Bedeutungen  zu  überblicken,  in  welchen  überhaupt  eine 
Verknüpfung  des  Mannigfachen  in  unserer  Gedankenwelt 
vorkommt.  Zuerst  ist  keine  spätere  Handlung  des  Denkens 
möglich,  ohne  daß  die  verschiedenen  Vorstellungen,  auf 
welche  sie  sich  beziehen  soll,  in  einem  und  demselben  Be- 
wußtsein zusammentreffen.  Für  die  Erfüllung  dieser  Be- 
dingung sorgt  die  Einheit  unserer  Seele  und  der  Mechanis- 
mus der  Erinnerung,  welcher  zeitlich  getrennte  Eindrücke 
zu  möglicher  Wechselwirkung  zusammenbringt.  Man  kann 
diese  Vereinigung  des  Mannigfachen  die  Synthesis  der 
Apprehension  nennen;  sie  ist  keine  logische  Handlung, 
sondern  rafft  nur  das  Mannigfache  zu  gleichzeitigem  Besitz 
des  Bewußtseins  zusammen,  ohne  in  seiner  Vielheit  eine 
Ordnung  zu  stiften,  welche  das  eine  Glied  anders  mit  dem 
zweiten  als   dieses  mit  dem  dritten  verbände.    Diese   Ord- 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  '  37 

nung  tritt  ein  in  der  zweiten  Art  der  Verknüpfung,  der 
Synthesis  der  Anschauung,  in  den  räumlichen  Bildern  näm- 
lich und  in  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge,  worin  die  Einzel- 
eindrücke bestimmte  mit  einander  ungleichwerthige  Plätze 
einnehmen.  Auch  diese  Verknüpfung  wird  uns  ohne  eine 
Handlung  des  Denkens  fertig  durch  den  Mechanismus,  unserer 
inneren  Zustände  gegeben,  und  wie  festbestimmt  und  fein- 
gegliedert auch  die  Verbindung  des  Mannigfachen  in  ihr 
sein  mag,  so  stellt  sie  doch  stets  nur  eine  thatsächliche 
äußere  Ordnung  dar  und  offenbart  keinen  Grund  der  Zu- 
sammengehörigkeit, der  das  Mannigfache  zu  so  geordnetem 
Zusammensein  berechtigt.  Ich  gehe  von  dieser  zweiten  Stufe 
sogleich  zu  einer  vierten  über,  zu  einer  Synthese,  in  welcher 
diese  letzte  Forderung  vollständig  in  Bezug  auf  den  jedes- 
maligen Inhalt  erfüllt  wäre.  In  ihr  würde  nicht  nur  eine 
thatsächliche  Ordnung  des  Mannigfachen,  sondern  zugleich 
der  bedingende  Werth  vorgestellt  sein,  den  jeder  Bestand- 
theil  für  das  Zusammenkommen  des  Ganzen  hat;  bezöge 
sich  diese  Auffassung  auf  einen  Gegenstand  der  Wirklichkeit, 
so  würde  sie  zeigen,  welche  Bestandtheile  die  vorangehen- 
den bestimmenden  und  wirkenden  sind,  in  welcher  Reihen- 
folge der  Abhängigkeit  und  Entwicklung  die  andern  aus 
ihnen  hervorgehen,  oder  welcher  Zweck  als  der  gesetz- 
gebende Mittelpunkt  zu  denken  ist,  dessen  Sinn  die  gleich- 
zeitige Vereinigung  aller  Bestandtheile  oder  ihre  allmähliche 
Nachentstehung  fordert;  bezöge  sie  sich  auf  einen  Inhalt, 
der  keine  Wirklichkeit  außer  unserem  Bewußtsein  und  keine 
zeitliche  Entstehung  oder  Entwicklung  hat,  wie  die  geo- 
metrischen Figuren,  so  würde  sie  wenigstens  versuchen, 
obwohl  mit  später  zu  erwähnender  Beschränkung  des  Ge- 
lingens, auch  hier  die  Bestandtheile  des  Ganzen  in  eine 
Rangordnung  zu  bringen,  in  welcher  das,  was  in  dem  vor- 
gestellten Inhalt  das  Bedingende  ist,  dem  Anderen  voran- 
ginge, was  in  mannigfacher  Abstufung  seine  Folge  ist.  Man 
bemerkt  leicht,  daß  eine  Synthese  dieser  Art  nichts  anderes 
als  die  Erkenntniß  der  Sache  selbst  sein  würde;  sie  liegt 
als  das  Ziel,  zu  dem  die  Arbeit  des  Denkens  führen  soll, 
um  ebenso  viel  höher  über  dem  Boden  der  Logik,  als  die 
erste  und  zweite  Weise  der  Verknüpfung  des  Mannigfachen 
unter  ihm  lag;  in  die  Lücke  dazwischen  haben  wir  die 
dritte  logische  Form  der  Synthesis  zu  stellen,  deren  Eigen- 
heit jetzt  aufzusuchen  ist. 

21.  Wenn  der   Unkundige  vom   Creditwesen   oder  vom 
Bankwesen  spricht,   so   merken  wir  dieser  Ausdrucks  weise 


38  Erstes  Kapitel. 

seine  Ueberzeugung  ab,  eine  Anzahl  von  Geschäften  und 
Einrichtungen  bilde  ein  zusammengehöriges  Ganze;  aber 
er  würde  nicht  anzugeben  wissen,  worin  der  Nerv  ihres 
Zusammenhangs  liege  oder  welche  Grenzen  dies  Ganze  von 
dem  abscheiden,  was  nicht  zu  ihm  gehört.  Durch  diesen 
Nebengedanken,  das  Mannigfache  sei  nicht  nur  da,  wie  ein 
zusammenseiender  Haufe,  sondern  gebe  sich  als  ein  Ganzes 
von  Theilen  gewisse  Grenzen,  innerhalb  deren  es  eine  ge- 
schlossene Einheit  sei,  ist  die  allgemeine  Absicht  des 
Denkens  formell  an  diesem  Inhalt  markirt,  ohne  noch  sach- 
lich erfüllt  zu  sein.  In  derselben  Stellung  findet  sich  nun 
unser  Bewußtsein,  wenn  wir  unsere  Gedankenwelt  mustern, 
zu  sehr  vielen  Inhalten;  ja  man  wird  ohne  Ueberraschung 
finden,  daß  sehr  bedeutungsvolle  Worte  der  Sprache  diese 
unvollkommene  Form  der  Fassung  ihres  Gegenstandes  ver- 
rathen;  denn  eben  je  reicher  wichtiger  und  mannigfaltiger 
ein  Gegebenes  ist,  um  so  leichter  werden  überredende  Ein- 
drücke vielfacher  Wahrnehmungen  das  Gefühl  seiner  Eigen- 
thümlichkeit  Ganzheit  und  Abgeschlossenheit  in  sich  selbst 
erwecken,  ohne  uns  darum  sein  inneres  Gefüge  wirklich 
aufzudecken.  Worte  wie  Natur  Leben  Kunst  Erkenntniß 
Thier  und  viele  andere  bedeuten  im  gewöhnlichen  Gebrauch 
nichts  weiter;  sie  drücken  nur  die  Meinung  aus,  daß  eine 
gewisse  meist  nicht  genau  begrenzbare  Menge  von  Einzel- 
heiten, seien  es  Gegenstände  oder  Merkmale  von  Gegen- 
ständen oder  Ereignisse,  die  sich  aneinanderknüpfen,  auf 
irgend  eine  Weise  durch  ein  innerliches  Band  zu  einem 
Ganzen  vereinigt  sind,  welches  sich  weder  einen  Theil  seines 
Inhalts  rauben  läßt,  ohne  zerstört  zu  werden,  noch  einen 
beliebigen  Zusatz  in  seine  abgeschlossene  Einheit  auf- 
nehmen kann.  Wie  wenig  aber  die  Natur  jenes  Bandes 
wirklich  bekannt  ist,  zeigt  das  Mißlingen  des  Versuchs, 
Rechenschaft  über  die  Grenzen  zu  geben,  welche  das  zu 
dieser  Einheit  Zugehörige  umschließen  und  von  Fremd- 
artigem trennen.  So  lange  nun  die  logische  Arbeit  in  der 
Zusammenfassung  des  Mannigfachen  nicht  weiter  gediehen 
ist,  würde  ich  Bedenken  tragen,  schon  von  Begriffen  zu 
sprechen,  ohne  deshalb  Werth  auf  die  Erfindung  eines  be- 
sonderen technischen  Namens  für  diese  noch  unvollkommene 
Fassung  zu  legen.  Möge  sie  denn  der  unvollkommene  oder 
der  werdende  Begriff  heißen;  den  vollkommenen  oder  ver- 
wirklichten Begriff  werden  wir  erst  dann  zu  besitzen  glauben, 
wenn  der  unbestimmte  Nebengedanke  der  Ganzheit  über- 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  ^ 

haupt  zu  dem  Mitdenken  eines  bestimmten  Grundes  ge- 
steigert ist,  welcher  das  Zusammensein  gerade  dieser  Merk- 
male, gerade  diese  Verbindung  derselben  und  die  Aus- 
schließung   bestimmter    anderen    rechtfertigt. 

22.  Es  ist  jetzt  die  Frage,  wie  wir  zu  diesem  be- 
dingenden Grunde  gelangen.  Blieben  wir  nun  bei  der  iso- 
lirten  Betrachtung  eines  zusammengesetzten  Bildes  abcd 
stehen,  so  würde  keine  noch  so  lange  fortgesetzte  Be- 
obachtung uns  entdecken,  welche  Bestandtheile  desselben 
nur  zusammensind,  welche  zusammengehören,  in  welcher 
Abstufung  das  Dasein  des  einen  das  des  anderen  bedingt. 
Vergleichen  wir  aber  abcd  mit  andern  seines  Gleichen, 
d.  h.  mit  solchen,  auf  welche  von  ihm  aus  unsere  Aufmerk- 
samkeit ohne  logisches  Zuthun  durch  Gesetze  imseres  Vor- 
stellungslaufs gelenkt  wird,  und  finden  wir,  daß  in  abcd, 
abcf,  abcg  und  ähnlichen  die  Gruppe  abc  gleichmäßig  vor- 
kommt unter  Hinzufügung  verschiedener  ungleicher  Bestand- 
theile, so  erscheinen  uns  diese  letzteren  als  das  locker  und 
trennbar  mit  dem  festen  Stamme  des  abc  Verbundene;  das 
gemeinsame  abc  aber  steht  ihnen  nicht  blos  als  thatsächlich 
gleicher  Mittelpunkt  ihrer  Anknüpfung  gegenüber,  sondern 
unter  der  allgemeinen  Voraussetzung,  daß  hier  ein  Ganzes 
einander  bedingender  Theile  vorliege,  wird  dieser  feste  Kern 
zugleich  zum  Ausdruck  der  beständigen  Regel,  die  in  den 
Einzelfällen  den  Ansatz  der  verschiedenen  Nebenbestand- 
theile  gestattet  und  die  Art  ihrer  Anfügung  bestimmt.  Wollen 
wir  im  Leben  und  zu  praktischen  Zwecken  desselben  er- 
mitteln, wo  in  einem  Geschöpfe  in  einem  Gegenstande  oder 
in  einer  gegebenen  Einrichtung  die  Grenzlinie  verläuft,  die 
das  innerlich  Zusammengehörige  von  zufälligen  Anlagerun- 
gen scheidet,  so  setzen  wir  dies  gegebene  Ganze  irgendwie 
in  Bewegung;  unter  dem  Einfluß  der  Veränderung  werde 
sich  zeigen,  welche  Theile  hier  fest  zusammenhalten,  während 
die  fremden  Beimischungen  abfallen,  und  welche  allgemeinen 
Verknüpfungsweisen  jener  Theile  bestehen  bleiben,  während 
sie  im  Einzelnen  ihre  gegenseitigen  Stellungen  ändern;  in 
dieser  Summe  des  Beständigen  sehen  wir  dann  das  wesent- 
liche innere  Gefüge  des  Ganzen  und  erwarten  von  ihm, 
daß  es  auch  die  Möglichkeit  und  die  Art  und  Weise  des 
Ansatzes  veränderlicher  Bestandtheile  bestimme.  Das  erste 
Verfahren,  die  Hervorhebung  dessen,  was  verschiedenen 
ruhenden  Beispielen  gemeinsam  zukommt,  hat  die  Logik 
gewöhnlich  befolgt  und  ist  auf  diesem  Wege  zur  Aufstellung 


40  '      '  Erstes  Kapitel. 

ihres  Allgemeinen  gekommen;  ich  würde  den  anderen  be- 
vorzugen, die  Bestimmung  dessen,  was  in  demselben  Bei- 
spiel sich  unter  veränderten  Bedingungen  forterhält;  denn 
nur  die  Voraussetzung,  daß  diese  Selbsterhaltung  sich  auch 
an  der  Gruppe  abc,  dem  Gemeinsamen  vieler  einzelnen 
Vorstellungsganzen,  werde  beobachten  lassen,  rechtfertigt 
eigentlich  unsere  Annahme,  dieses  Zusammenseiende  als 
zusammengehörig  und  als  Grund  der  Anfügbarkeit  oder 
der  Unzulässigkeit  anderer  Bestandtheile  anzusehen. 

23.  Man  nennt  Abstraction  das  Verfahren,  nach  welchem 
das  Allgemeine  gefunden  wird,  und  zwar,  wie  man  angibt, 
durch  Weglassung  dessen,  was  in  den  verglichenen  Sonder- 
beispielen verschieden  ist,  und  durch  Summirung  dessen, 
was  ihnen  gemeinsam  zukommt.  Ein  Blick  auf  die  wirkliche 
Praxis  des  Denkens  bestätigt  diese  Angabe  nicht.  Gold 
Silber  Kupfer  und  Blei  sind  an  Farbe  Glanz  Gewicht  und 
Dichtigkeit  verschieden ;  aber  ihr  Allgemeines,  das  wir  Metall 
nennen,  finden  wir  nicht  dadurch,  daß  wir  bei  ihrer  Ver- 
gleichung  diese  verschiedenen  Merkmale  ohne  einen  Ersatz 
einfach  weglassen.  Denn  offenbar  reicht  zur  Bestimmung 
des  Metalls  nicht  die  Verneinung  aus,  es  sei  weder  roth 
noch  gelb  noch  weiß  oder  grau;  ebenso  unentbehrlich  ist 
die  Bejahung,  daß  es  jedenfalls  irgend  eine  Farbe  habe; 
es  hat  zwar  nicht  dieses  nicht  jenes  specifische  Gewicht, 
nicht  diesen  nicht  jenen  Grad  des  Glanzes,  aber  seine  Vor- 
stellung würde  entweder  gar  nichts  mehr  bedeuten  oder 
doch  sicher  nicht  die  des  Metalls  sein,  wenn  ihr  jeder  Ge- 
danke an  Gewicht  überhaupt,  an  Glanz  und  Härte  überhaupt 
fehlte.  Durch  Vergleichung  der  einzelnen  Thierarten  er- 
halten wir  das  allgemeine  Bild  des  Thieres  gewiß  nicht, 
wenn  wir  jede  Erinnerung  an  Fortpflanzung  Selbstbewegung 
und  Respiration  deshalb  fallen  lassen,  weil  die  einen  lebendig 
gebären,  andere  Eier  legen,  manche  sich  durch  Theilung 
vermehren,  weil  ferner  jene  durch  Lungen,  diese  durch 
Kiemen,  noch  andere  durch  die  Haut  athmen,  weil  endlich 
viele  auf  Beinen  wandeln,  andere  fliegen,  einige  zur  Orts- 
veränderung unfähig  sind.  Im  Gegentheil  ist  dies  das  Aller- 
wesentlichste,  wodurch  jedes  Thier  Thier  ist,  daß  es  irgend 
eine  Art  der  Fortpflanzung,  irgend  eine  Weise  der  Selbst- 
bewegung und  der  Respiration  besitzt.  In  allen  diesen  Fällen 
entsteht  mithin  das  Allgemeine  nicht  durch  einfache  Hin- 
weglassung  der  verschiedenen  Merkmale  p^  und  p^,  qi  und  q^, 
die  in  den  verglichenen  Einzelfällen  vorkommen,  sondern 
dadurch,  daß  an  die  Stelle  der  weggelassenen  die'  allgemeinen 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  41 

Merkmale  P  und  Q  eingesetzt  werden,  deren  Einzelarten 
pi,  p2  und  qi,  q2  sind.  Das  einfachere  Verfahren  der  Weg- 
lassung kommt  nur  da  vor,  wo  dem  einen  der  verglichenen 
Einzelnen  in  der  That  gar  keine  Art  eines  Merkmals  P  zu- 
kommt, von  welchem  das  andere  nothwendig  eine  Art  zu 
seinem  Merkmal  hat.  So  glauben  wir,  gleichviel  ob  mit 
Recht  oder  Unrecht,  in  der  Pflanze  keine  Spur  von  Empfin- 
dung und  Selbstbewegung  zu  entdecken,  die  beide  wesentlich 
für  alle  Thiere  sind ;  aus  der  Vergleichung  von  Pflanze  und 
Thier  bilden  wir  daher  allerdings  die  allgemeine  Vorstellung 
des  organischen  Wesens  durch  Weglassung  beider  Merkmale 
ohne  einen  Ersatz.  Eine  sachlich  eingehende  Betrachtung 
würde,  zwar  nicht  eben  in  diesem  Beispiele,  aber  in  vielen 
verwandten  Fällen,  vielleicht  Veranlassung  haben,  dennoch 
beiden  verglichenen  Gliedern  zwei  Merkmale  P  und  Q  ge- 
meinsam zuzuschreiben,  und  nur  für  das  eine,  die  Pflanze, 
einen  Nullwerth  dieser  Merkmale  anzunehmen,  die  in  dem 
Thiere  stets  mit  wirklichen  Größenwerthen  vorkommen. 
Etwas  anders  gewendet  behaupten  wir  logisch,  der  Ersatz 
der  weggelassenen  Einzelmerkmale  durch  ihr  Allgemeines 
sei  die  allgemeingültige  Regel  der  Abstraction,  die  ersatzlose 
Weglassung  bilde  den  Sonderfall,  in  welchem  sich  ein 
logisch  gemeinsames  Merkmal  nicht  finden  läßt,  als  dessen 
verschiedene  Arten  der  Besitz  eines  Einzelmerkmals  hier 
und  sein  Nichtbesitz  dort  angesehen  werden  könnten.  So 
gefaßt  schließt  mithin  unsere  Regel  der  Abstraction  diese 
Fälle  der  bloßen  Weglassung  mit  ein ;  umgekehrt,  eine  Regel, 
welche  nur  von  der  Weglassung  ausginge,  fände  keinen 
Rückweg  zu  der  Forderung  jenes  Wiederersatzes,  dessen 
Wichtigkeit  für  die  Bildung  des  Allgemeinen  alle  späteren 
Schritte  der  Logik  bestätigen  werden. 

24.  Nach  den  Betrachtungen  des  vorigen  Abschnittes, 
von  dessen  Voraufsendung  jetzt  die  Nothwendigkeit  sicht- 
bar ist,  wird  man  nicht  ernstlich  an  dem  nur  scheinbaren 
Cirkel  Anstoß  nehmen,  der  uns  hier  Allgemeines  durch 
Zusammensetzung  von  Allgemeinem  zu  bilden  befiehlt.  Wir 
haben  gesehen,  daß  die  allgemeinen  Merkmale  P  und  Q,  die 
wir  hier  bedürfen,  das  erste  Allgemeine  des  erwähnten 
Abschnittes,  uns  ohne  logische  Arbeit  lediglich  als  beobacht- 
bare Erzeugnisse  unseres  Vorstellungslebens  zufallen;  eben 
deswegen  können  sie  nun  als  Bausteine  für  die  Bildung 
dieses  zweiten  Allgemeinen  verwendet  werden,  welches  wir 
allerdings  durch  eine  logische  Arbeit  erzeugen.  Daß  das 
Gelb  des  Goldes  das  Roth  des  Kupfers  und  das  Weiß  des 


42  Erstes  Kapitel. 

Silbers  nur   Abwandlungen   eines   Gemeinsamen   sind,   das 
wir  dann  Farbe  nennen,  das  empfanden  wir  unmittelbai* ; 
wem   es    aber   nicht   empfindbar  wäre,   dem  würde   durch 
logische  Arbeit  nie  deutlich  gemacht  werden  können,  weder 
daß  diese  Eindrücke  Arten  dieses  Allgemeinen  sind,  noch 
überhaupt,    was    eigentlich    ein    Allgemeines    und    die    Be- 
ziehung seines  Besonderen  zu  ihm  sagen  will.    Denn  dies 
eben  wünschte  ich  hier  noch  hervorzuheben,  daß  auf  der 
unmittelbaren   Anschauung    eines    ersten   Allgemeinen   und 
auf    der    Anwendung    irgend   welcher    Größenvorstellungen 
die   Bildung    dieses    zweiten   Allgemeinen   in   allen   Fällen 
beruht,  nicht  blos  da,  wo  die  Merkmale,  wie  die  des  Metalls, 
Farbe    Glanz    und   Härte,    sich   ungezwungen   als   ruhende 
Eigenschaften  des  Bezeichneten  fassen  lassen,  sondern  auch 
da,   wo   sie,   wie   Fortpflanzungs-   und   Bewegungsfähigkeit 
des   Thieres,    nur   kurze   adjectivische   Bezeichnungen   von 
Verhaltungsweisen  sind,  die  wir  vollständig  nur  durch  viel- 
fache Beziehungen  zwischen  mancherlei  Beziehungspunkten 
denken  können.    Man  überzeugt  sich  leicht  durch  eine  Zer- 
gliederung, die  ich  nur  um  ihrer  drohenden  Weitläufigkeit 
willen  hier  der  Aufmerksamkeit  des  Lesers  überlassen  muß, 
daß  alle  Unterschiede  der  Thiere  auch  in  Bezug  auf  diese 
Merkmale    immer    auf    Größenbestimmungen    hinauslaufen, 
die  entweder  der  Stärke  gelten,  mit  der  ein  fühlbar  gleicher 
oder  gleichartiger  Vorgang  sich  in  ihnen  ereignet,  oder  der 
Anzahl    der    Beziehungspunkte,    zwischen    denen    er    statt- 
findet, oder  einer  der  Formverschiedenheiten,  die  er  durch 
eben  diese  verschiedene   Anzahl  seiner  Beziehungspunkte, 
durch  die  größere  oder  geringere  Engigkeit  ihrer  Beziehung 
auf  einander,  endlich  durch  die  ebenfalls  meßbaren  Unter- 
schiede ihres  zeitlichen  und  räumlichen  Verhaltens  erfahren 
kann.    Mit  dem  Hinwegfall  dieser  quantitativen  Abstufung 
und    Vergleicht)arkeit,     die     sich,    in    verschiedener   Weise 
natürlich,   über   Alles,   über   einfache  Merkmale,   über  ihre 
Beziehungen,    über    Verbindungsweisen    des    Gleichzeitigen 
und   des    Successiven    erstreckt,    würde   die   Bildung   eines 
Allgemeinen  aus  der  Vergleichung  verschiedener  zusammen- 
gesetzten  Vorstellungsgruppen    wenigstens    in    dem    Sinne, 
in  welchem   diese  Bildung  für  die  Aufgaben  des   Denkens 
Werth  hat,   unmöglich   sein. 

25.  Ich  gedenke  jetzt  einiger  herkömmlichen  Kunst- 
ausdrücke. Nennen  wir  Begriff  (notio,  conceptus)  vorläufig 
überhaupt  die  zusammengesetzte  Vorstellung,  die  wir  als 
ein    zusammengehöriges    Ganze     denken,     so    heißt    Inhalt 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  43 

(niateria)  des  Begriffes  S  die  Summe  der  Einzelvorstellungeii 
oder  Merkmale  (notae)  a,  b,  c,  d . . .,  durch  welche  S  voll- 
ständig gedacht  und  von  jedem  andern  Begriffe  Z  unter- 
schieden wird;  Umfang  aber  (ambitus,  sphaera)  die  Anzahl 
der  Einzelbegriffe  s^,  s^,  s^.  .,  in  deren  jedem  der  Inhalt 
von  S,  also  die  Merkmalgruppe  a,  b,  c,  d . .,  in  irgend  einer 
ihrer  möglichen  Modificationen  enthalten  ist.  So  würden 
Farbe  a,  Gewicht  b,  Dehnbarkeit  d  und  die  übrigen  ähn- 
lichen zusammen  den  Inhalt  des  Metalls  S;  Kupfer  s^  da- 
gegen, Silber  s^,  Gold  s^  und  ihres  Gleichen  zusammen- 
genommen den  Umfang  desselben  S  bilden.  Man  pflegt 
ferner  die  einzelnen  Merkmale  a,  h,  c  als  coordinirt  in  dein 
Inhalt  von  S,  die  einzelnen  Arten  aber,  s^,  s^,  s^,  als 
coordinirt  in  dem  Umfange  des  S  zu  bezeichnen;  in  dem 
Verhältniß  der  Subordination  endlich  stehen  die  Arten  s^, 
S",  s^  zu  dem  allgemeinen  S  selbst,  das  ihre  Gattung  bildet; 
subsumirt  aber  sind  sie  sammt  dem  S  selbst  unter  jedes 
der  allgemein  ausgedrückten  Merkmale,  welche  den  Inhalt 
des  S  und  folglich  auch  den  der  s^,  s^,  s^  zusammensetzen. 
Zuletzt  behauptet  man,  daß  Umfang  und  Inhalt  jedes  Be- 
griffes in  umgekehrtem  Verhältniß  zu  einander  stehen; 
je  größer  der  Inhalt,  also  die  Zahl  der  Merkmale,  die  der 
Begriff  allen  seinen  untergeordneten  Arten  vorschreibt,  um 
desto  geringer  die  Zahl  der  Arten,  welche  diese  Forderung 
erfüllen;  je  kleiner  der  Inhalt  des  S,  um  so  größer  «iie 
Menge  der  Einzelnen,  welche  die  wenigen  Merkmale  be- 
sitzen, die  ihnen  nöthig  sind,  um  Arten  des  S  zu  sein, 
oder  in  seinen  Umfang  zu  gehören.  Vergleiche  man  daher 
den  allgemeinen  Begriff  S  mit  einem  andern  gleichartigen 
allgemeinen  T  und  suche  für  sie  beide  das  neue  dritte 
Allgemeine  U,  dem  sie  wieder  als  Arten  gehören,  und  setze 
man  dies  Verfahren  fort,  so  werde  jeder  Allgemeinbegriff  W, 
je  höher  er  in  dieser  Stufenreihe  steht,  je  weiter  er  nämlich 
von  den  ursprünglich  verglichenen  S  und  T  absteht,  um 
so  ärmer  an  Inhalt  und  um  so  größer  an  Umfang  sein; 
umgekehrt,  steigen  wir  von  jenen  höchsten  Allgemein- 
begriffen W  durch  V  und  U,  S  und  T  bis  zu  den  Arten 
von  S  und  weiter  herab,  so  wachse  mit  abnehmendem 
Umfang  der  Inhalt  und  werde  am  größten  in  jenen  Vor- 
stellungen des  völlig  Einzelnen  und  Individuellen,  denen 
dann  die  Logik  nicht  ohne  Bedenken  den  Namen  eines 
Begriffes  überhaupt  noch  zugesteht. 

26.  Diese   Bestimmungen    sind    von   ungleichem,    über- 
haupt aber  von  geringem  Werth.   Ich  beginne,  was  über  sie 


44  Erstes  Kapitel. 

zu  sagen  ist,  mit  der  Feststellung  des  künftig  von  mir  zu 
befolgenden  Sprachgebrauchs.  Ich  nenne  jeden  zusammen- 
gesetzten Inhalt  s  dann  begrifflich  gefaßt  oder  Begriff,  wenn 
zu  ihm  ein  Allgemeines  S  mitgedacht  wird,  welches  den 
bedingenden  Grund  für  das  Zusammensein  aller  seiner  Merk- 
male und  für  die  Form  ihrer  Verknüpfung  enthält.  Nach 
dieser  Erklärung  sprechen  wir  unbedenklich  von  Begriffen 
auch  des  völlig  Einzelnen,  von  singularen  Begriffen  nach 
dem  alten  Ausdruck  der  Logik  und  glauben  uns  dabei  in 
völliger  Uebereinstimmung  mit  dem  Sprachgebrauch.  Denn 
wenn  wir  zum  ersten  Male  einen  uns  neuen  Gegenstand  s, 
vielleicht  mit  völliger  Deutlichkeit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung, beobachten,  mit  dieser  aber  uns  nicht  zufrieden 
geben,  sondern  fragen,  was  denn  nun  eigentlich  dies  s  sei, 
so  wünschen  wir  offenbar  die  Regel  kennen  zu  lernen,  die 
in  dem  beobachteten  Thatbestand  die  wahrgenommenen 
Merkmale  verbindet  und  sie  in  ein  zusammengehöriges 
Ganze  von  bestimmtem  voraussagbaren  Verhalten  ver- 
wandelt. Erfahren  wir  dann,  dies  s  sei  ein  S,  ein  Thier 
oder  eine  Pflanze,  so  glauben  wir  dies  s  begriffen  zu  haben ; 
seine  Vorstellung  ist  es.  also,  die  durch  das  Mitdenken  des 
allgemeinen  S  zum  Begriff  erhoben  wird.  Jeder  Eigenname 
bietet  hierfür  ein  Beispiel.  Alcibiades  bedeutet  für  mensch- 
liche Gedanken  niemals  blos  eine  Vielheit  verschieden- 
farbiger Punkte,  die  im  Raum  nach  bestimmter  obwohl 
nicht  ganz  unverschiebbarer  Zeichnung  mit  einander  ver- 
bunden sind  und  dem  Versuch  zu  ihrer  Trennung  wider- 
stehen; ebensowenig  drückt  der  Name  blos  den  Neben- 
gedanken aus,  diese  Vielheit  bilde  auf  irgend  eine  dahin- 
gestellte Weise  ein  Ganzes;  das  ganz  bestimmte  Allgemein- 
bild des  Menschen  vielmehr  oder  des  Mannes  wird  als  das 
Schema  mitgedacht,  nach  welchem  der  Zusammenhang  der 
hier  beobachteten  Merkmale  unter  einander  und  mit  dem 
künftig  von  ihnen  zu  erwartenden  Verhalten  aufzufassen  ist. 
Auf  diese  Auffassung  aber  paßt  weder  der  Name  der  An- 
schauung, noch  der  einer  bloßen  Vorstellung,  sondern  nur 
der    eines    singularen    Begriffes. 

27.  Gar  nicht  finde  ich  dagegen  in  der  Ordnung,  daß 
man  dem  Allgemeinen  S  selbst,  durch  dessen  Mitdenken 
das  Einzelne  zum  Begriff  wird,  ohne  allen  Vorbehalt  den 
Namen  eines  Allgemeinbegriffes  gibt.  Diese  logische 
Form  kann  das  S  haben,  hat  sie  aber  keineswegs  immer, 
sondern  bleibt  häufig  ein  bloßes  allgemeines  Bild,  dessen 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  45 

Bestand  zwar  mit  dem  Nebengedanken  seiner  zusammen- 
gehörigen Ganzheit,  aber  ohne  Angabe  der  gliedernden 
Regel  seines  Zusammenhangs  gedacht  wird.  Im  gewöhn- 
lichen Gebrauch  der  Rede  ist  schon  der  Name  Mensch  nur 
Ausdruck  für  ein  solches  Bild;  einige  Ueberlegung  macht 
aus  ihm  leicht  noch,  durch  Unterordnung  unter  das  All- 
gemeine Thier,  einen  Begriff;  dann  bleibt  aber  Thier  ein 
allgemeines  Bild,  das  nur  der  Naturforscher  noch  durch 
Mitdenken  der  Vorstellung  des  organischen  Wesens  für 
seinen  wissenschaftlichen  Gebrauch  zum  Begriff  umbildet. 
Auf  diesem  unfertigen  Zustand  der  logischen  Arbeit,  die 
nur  den  einen  Ring  der  ganzen  Kette,  den  Zusammenhang 
des  Einzelnen  mit  seinem  nächsten  Allgemeinen  scharf 
beleuchtet,  von  da  aus  aber  die  übrigen  im  Dunkel  läßt, 
beruhen  die  Begriffe,  die  im  natürlichen  Gebrauch  des 
Denkens  vorkommen;  da  jedoch  wissenschaftliche  Unter- 
suchungen, zu  denen  die  Logik  vorzugsweis  einleiten  will, 
wirklich  dahin  streben,  auch  jedes  höhere  Allgemeine  eines 
gegebenen  Begriffs  selbst  begrifflich  zu  fassen,  so  begnüge 
ich  mich,  die  vorgetragene  Bemerkung  gemacht  zu  haben, 
sehe  jedoch  von  ihrer  hartnäckigen  Durchführung  ab  und 
werde  mit  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  auch  jenen 
allgemeinen  Bildern  den  Namen  der  Begriffe  nicht  vor- 
enthalten. Dies  Zugeständniß  wird  mir  dadurch  erleichtert, 
daß  in  der  Logik  der  Name  des  Begriffs  nicht  jene  vornehme 
Bedeutung  scheint  haben  zu  dürfen,  die  ihm  die  Schule 
Hegel's  gegeben  hat,  und  in  welcher  er  darauf  Anspruch 
macht,  die  Erkenntniß  der  wesentlichen  Natur  seines  Gegen- 
standes auszudrücken.  Der  Unterschied  zwischen  logischen 
Formen  und  metaphysischen  Gedanken  ist  auch  hier  zu 
beachten.  Es  mag  einen  bevorzugten  Begriff  geben,  welcher 
die  Sache  selbst  in  ihrem  Sein  und  ihrer  Entwicklung  ver- 
folgt, oder  zum  Standpunkt  der  Auffassung  den  in  ihr 
selbst  liegenden  Mittelpunkt  wählt,  von  welchem  aus  sie 
ihr  eignes  Verhalten  bestimmt  und  ihre  eigne  Wirksamkeit 
gliedert ;  aber  es  ist  nicht  Aufgabe  der  Logik,  ihrer  Begriffs- 
form  stets  nur  diese  auserlesene  Füllung  zu  geben.  Der 
logische  Begriff  gilt  uns  als  eine  Denkform,  welche  ihren 
Inhalt,  von  irgend  welchem  Standpunkte  aus,  so  auffaßt, 
daß  aus  dieser  Auffassung  Folgerungen  zu  ziehen  sind, 
welche  an  bestimmten  Punkten  richtig  wieder  mit  dem 
zusammentreffen,  was  aus  diesem  Inhalt  selbst,  aus  der 
Sache  selbst  fließt;  nach  der  Wahl  jener  Standpunkte,  für 
deren  jeden  sich  die  Sache  anders  projicirt,  kann  es  daher 


46  Erstes  Kapitel. 

verschiedene  gleich  richtige  und  gleich  fruchtbare  logische 
Begriffe  desselben  Gegenstandes  geben.  Mag  darum  Begriff 
immerhin  jede  Auffassung  heißen,  die,  wenn  auch  nur  mit 
Hülfe  eines  selbst  nicht  weiter  zergliederten  Allgemein- 
bildes, dies  leistet,  den  gegebenen  Gegenstand  einer  Regel 
seines  Verhaltens  zu  unterwerfen,  deren  i\.nwendung  mit 
diesem  wirklichen  Verhalten  in  Uebereinstimmung  bleibt. 
28.  Ernstliche  Bedenken  erweckt  die  behauptete 
Coordination  der  Merkmale  im  Inhalt  des  Begriffs.  Schon 
dies  ist  ein  Uebelstand,  daß  uns  ein  passender  Name  für 
die  Bestandtheile  fehlt,  aus  denen  wir  den  Begriff  zu- 
sammensetzen;  Merkmal,  Theilvorstellung  passen  nur  für 
bestimmte  Fälle.  Sie  erwecken  die  geläufige  falsche  Mei- 
nung, als  seien  ganz  allgemein  die  Bestandtheile  des  Be- 
griffs gleichwerthig,  jeder  mit  dem  Ganzen  des  Inhalts 
ebenso  verbunden  wie  jeder  andere,  und  jeder  erste  mit  dem 
zweiten  ebenso  wie  dieser  mit  dem  dritten.  Hierzu  verführen 
besonders  die  Beispiele,  welche  die  Logik  aus  dem  Kreise 
einfacher  Naturgegenstände  zu  wählen  pflegt.  Zwar  ist 
Gold  gelb  nur  im  Licht,  dehnbar  nur  für  eine  einwirkende 
Zugkraft,  schwer  nur  für  den  Körper  den  es  drückt;  aber 
diese  verschiedenen  Verhaltungsweisen  lassen  sich  doch 
für  unsere  Einbildungskraft  leicht  als  ruhende  Eigenschaften 
vorstellen,  die  an  einem  bestimmten  Punkte  des  Raumes 
versammelt  sind  und  dort  alle  in  nicht  weiter  angebbarer 
übrigens  gleicher  Weise  an  dem  Realen  haften,  das  um 
ihretwillen  Gold  heißt.  Hier  paßt  der  Name  der  Merkmale 
und  hier  sind  die  Merkmale  allerdings  in  dem  behaupteten 
Sinne  in  dem  Inhalt  coordinirt;  nur  bedeutet  diese 
Coordination  nichts  mehr,  als  daß  sie  alle  dem  Ganzen, 
gleich  unentbehrlich  sind,  außerdem  aber  eine  irgendwie 
gegliederte  Ordnung  nicht  besteht.  Verlassen  wir  so  ein- 
fache Beispiele,  überlegen  wir  Begriffe  wie  Dreieck  Thier 
oder  Bewegung,  so  bedürfen  wir,  um  ihren  Inhalt  richtig 
zu  denken,  eine  Menge  von  Theilvorstellungen,  die  nicht 
mehr  so  gleichwerthig  sind,  sondern  in  den  verschiedensten 
gegenseitigen  Stellungen  auf  einander  bezogen  werden 
müssen.  Die  drei  Seiten  des  Dreiecks  sind  nicht  blos  in 
ihm  auch  da,  neben  den  drei  Winkeln,  sondern  sie  müssen 
durch  ihre  Schneidungen  die  Winkel  bilden;  der  Begriff 
der  Bewegung  enthält  nicht  blos  überhaupt  die  Theilvor- 
stellungen Ort  Veränderung  Richtung  Geschwindigkeit; 
sondern  Richtung  und  Geschwindigkeit  sind,  beide  in  ver- 
schiedenem   Sinne,    Bestimmungen    der   Veränderung;    der 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  47 

Ort,  da  er  ja  verlassen  wird,  kann  am  wenigsten  ein 
Merkmal  des  Begriffs  heißen,  er  ist  ein  Beziehungspunkt 
für  die  Vorstellung  der  Veränderung,  zu  welcher  sein  Ver- 
hältniß  durch  den  Sinn  des  Genitivs  vergHchen  mit  dem 
regierenden  Nominativ  ausgedrückt  wird.  Die  Verfolgung 
dieser  Mannigfaltigkeit  ist  zu  weitläufig;  zu  der  Ueber- 
zeugung  aber  würde  sie  ersichtlich  führen,  daß  im  All- 
gemeinen die  Merkmale  eines  Begriffs  nicht  gleichwerthig 
einander  coordinirt  sind,  daß  sie  vielmehr  in  den  mannig- 
faltigsten Stellungen  sich  auf  einander  beziehen,  einander 
verschiedenartige  Anlagerungen  vorschreiben  und  so  sich 
wechselseitig  determiniren;  daß  ein  zutreffendes  Symbol 
für  den  Bau  eines  Begriffs  nicht  die  Gleichung  S^a-j-b 
-j-  c  -f-  d  , . .,  sondern  höchstens  die  Bezeichnung  S  =  F 
(a,  b,  c, . . .)  ist,  welcher  mathematische  Ausdruck  eben  nur 
andeutet,  daß  a,  b,  c, . . .  auf  eine  im  Einzelfall  genau  angeb- 
bare, im  Allgemeinen  höchst  vielförmige  Weise  verknüpft 
werden  müssen,  um  den  Werth  von  S  zu  ergeben.  Wäre 
in  irgend   einem  Einzelfalle 

S  =  a[bc8indJ  +  ^e  — -W. 

so  würde  diese  Formel,  so  läppisch  sie  sein  würde,  wenn  sie 
etwas  mehr  bedeuten  wollte,  doch  immer  noch  ein  anschau- 
licheres Bild,  als  jene  unzureichende  Summenformel,  für 
die  Verschiedenheit  der  Beiträge  geben,  welche  hier  die 
einzelnen  Merkmale  a,  b,  c . . .  zum  Aufbau  des  ganzen 
Inhaltes  von  S  liefern. 

29.  Gegen  die  Coordination  von  s^  Kupfer,  s^  Gold  und 
s^  Silber  in  dem  Umfang  des  S  Metall  ist  nichts  einzu- 
wenden, dagegen  der  große  Werthunterschied  zwischen 
dieser  Unterordnung  und  der  des  allgemeinen  S  sowie  jeder 
seiner  Arten  unter  die  allgemeinen  Merkmale  a  dehnbar, 
b  farbig  hervorzuheben.  Die  Natur  des  Allgemeinen  S,  des 
Metalls,  beherrscht  die  Natur  seiner  Arten,  des  Goldes  und 
Kupfers,  vollständig,  und  keine  Eigenschaft  der  letz- 
teren entzieht  sich  ihrem  bestimmenden  Einfluß:  gelb 
oder  roth  ist  vieles,  aber  das  schimmernde  Gelb  und 
Roth  des  Goldes  und  Kupfers  kommt  Metallen  allein  zu; 
dehnbar  ist  vieles,  aber  Größe  und  sonstige  Eigenthümlich- 
keit  der  Dehnbarkeit,  wie  sie  Gold  und  Kupfer  zeigen,  ist 
nur  bei  Metallen  erhört;  nur  die  Metallität  endlich  erklärt 
die  Höhe  des  specifischen  Gewichts.  Ebenso  bestimmt  das 
Allgemeine  Thier  jede  Eigenschaft  und  jede  Regung  dessen, 


48  Erstes  Kapitel. 

was  seine  Art  ist:  das  Thier  bewegt  sich  anders  wächst 
anders  und  ruht  anders  als  die  Pflanze  und  das  Leblose. 
Versinnlichen  wir  das  Allgemeine  Metall  durch  einen  Kreis  S, 
so  liegt  der  kleinere  Kreis  s^  des  Goldes  völlig  in  S  ein- 
geschlossen; neben  ihm,  getrennt  von  ihm,  aber  ebenso  ganz 
innerhalb  des  S,  die  Kreise  s^  Kupfer,  s^  Silber.  Dies  Ver- 
hältniß  einer  wahrhaften  Unterordnung  unter  das  maß- 
gehende Allgemeine  bezeichne  ich,  indem  ich  zwei  meist 
gleichbedeutend  gebrauchte  Namen  verschieden  benutze, 
als  Subordination  unter  die  Gattung;  ich  nenne  da- 
gegen Subsumption  unter  das  Merkmal  die  Unterord- 
nung des  Goldes  unter  das  Gelb  g  oder  das  Dehnbare  d. 
Diese  allgemeinen  Merkmale  beherrschen  und  durchdringen 
offenbar  die  ganze  Natur  des  Goldes  nicht;  jedes  drückt 
vielmehr  nur  eine  Seite  derselben  aus,  die  andern  Gegen- 
ständen von  völlig  abweichender  Natur  ebenfalls  zukommt, 
und  aus  der  sich,  für  unsere  logische  Einsicht,  keinerlei 
Folgerung  in  Bezug  auf  die  anderen  Eigenschaften  des 
Goldes  ziehen  läßt.  An  den  größeren  Kreis  G  des  Gelben 
tritt  daher  der  kleinere  s  des  Goldes  nur  an  einer  bestimmten 
Stelle  an  und  schneidet  ihn,  ohne  gänzlich  in  ihm  zu  liegen ; 
an  anderen  Stellen  wird  G  durch  die  Kreise  der  andern 
gelben  Gegenstände  ebenso  geschnitten  und  sie  alle  bleiben 
theilweis   außer   ihm. 

30.  Von  dem  Allgemeinen  S  aus,  welches  die  Regel 
für  die  ursprünglich  verglichenen  s^  s^  s^  war,  konnten 
wir  zu  immer  höheren  Allgemeinbegriffen  T  U  V  W  auf- 
steigen. In  der  Naturgeschichte,  für  welche  diese  Stufen- 
reihe Werth  hat,  sind  ihre  einzelnen  Glieder  in  der  Richtung 
nach  aufwärts  als  Art  Gattung  Familie  Ordnung  Klasse 
bezeichnet  worden;  doch  ist  schon  dies  nicht  ganz  un- 
streitig, was  ein  Allgemeinbegriff  zu  leisten  habe,  um  eine 
Art,  und  was,  um  eine  Gattung  vorzustellen;  noch  ver- 
schiedener werden  die  übrigen  Benennungen  und  immer 
nach  Gesichtspunkten  angewandt,  die  für  den  Kreis  zu 
behandelnder  Gegenstände  jedesmal  aus  der  besondem 
Natur  derselben  eigens  gerechtfertigt  werden.  Ohne  diese 
Unterstützung,  welche  die  Bedeutung  und  Wichtigkeit  dieser 
Abstufungen  von  Seiten  sachlicher  Kenntniß  erfährt,  läßt 
sich  nur  für  Art  und  Gattung  einigermaßen  ein  fester 
logischer  Werth  auf  folgende  Weise  bestimmen.  Ver- 
anlassung zur  Aufsuchung  eines  Allgemeinen  überhaupt 
findet  das  natürliche  Denken  nur  in  der  Vergleichung  von 
Einzelfällen,  welche  nicht  gleich,  aber  ähnlich  sind.    Einen 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  49 

Begriff  zu  suchen,  der  Gurkenfrüchte  und  mathematische 
Lehrsätze  unter  sich  befaßte,  ist  ein  Spiel  des  Witzes; 
aber  alle  großen  und  kleinen  alten  und  jungen  dicken  und 
magern  schwarzen  und  weißen  Menschen  fordern  das  natür- 
liche Denken  zu  diesem  Schritte  auf.  Denn  ihre  sinnlichen 
Erscheinungen  liefern  ähnliche  Bilder,  an  deren  entsprechen- 
den Punkten  sich  nur  Merkmale  finden,  die  unmittelbar 
als  Arten  desselben  allgemeinen  Merkmales,  der  Härte  oder 
Farbe,  empfunden  werden;  auch  die  Beziehungen  zwischen 
zweien  dieser  Punkte  sind  in  ihnen  allen  nur  durch  Grad 
und  Größe  verschiedene  Modificationen  einer  und  derselben 
allgemeinen  Beziehung.  Die  Vergleichung  der  einzelnen 
Menschen  erzeugt  daher  ein  allgemeines  Bild;  nicht  in 
dem  Sinne  freilich,  als  ließe  der  allgemeine  Mensch  sich 
wirklich  malen,  aber  doch  in  dem  Sinne  der  naturgeschicht- 
lichen Abbildungen,  die  gar  nicht  daran  zweifeln,  durch 
ein  Pferd  alle  Pferde  und  durch  ein  Kameel  alle  Kameele 
in  einer  Anschauung,  die  mehr  als  bloßes  Schema  oder 
Symbol  ist,  deutlich  darzustellen;  oder  in  dem  Sinne  der 
Geometrie,  die  durch  ein  gezeichnetes  Dreieck,  obgleich 
es  immer  nur  ein  einzelnes  sein  kann,  neben  dem  es  andere 
gibt,  doch  alle  diese  andern,  und  zwar  gleichfalls  in  an- 
schaulicher Weise,  mit  vertritt.  Diese  Möglichkeit  ver- 
schwindet aber,  wenn  wir  zu  höheren  Allgemeinheiten  auf- 
steigen, die  diese  allgemeinen  Bilder  selbst  wieder  als  ihre 
Arten  unter  sich  befassen;  das  allgemeine  Säugethier,  das 
weder  Pferd  noch  Kameel  ist  noch  sonst  Namen  hat,  läßt 
sich  nicht  in  einem  schematischen  Bild'e  mehr  zeichnen, 
und  ebenso  wenig  das  Polygon,  das  weder  Dreieck  noch 
Viereck  ist  noch  eine  andere  bestimmte  Seitenzahl  hat. 
Diese  höheren  Allgemeinbegriffe  fassen  wir  mithin  nicht 
mehr  in  einer  Anschauung,  sondern  nur  noch  in  einem 
Gedanken,  durch  eine  Formel  oder  eine  Gleichung,  die  im 
Wesentlichen  dieselbe  Beziehungsweise  zwischen  verschie- 
denen Beziehungspunkten  vorschreibt,  aber  zu  anschaulich 
ganz  abweichenden  Gestaltungen  führt,  je  nachdem  man  die 
unbestimmt  gelassenen  Werthe  dieser  Beziehungspunkte 
selbst  und  ihrer  engeren  und  schlafferen  Verbindung  so 
oder  anders  bestimmt  denkt.  Dasjenige  Allgemeine  nun, 
das  noch  ein  Bild  gewährt,  würde  ich  eine  Art,  das  erste 
von  denen  aber,  die  nur  noch  eine  Formel  möglich  machen, 
die  Gattung  nennen,  in  Uebereinstimmung,  wie  ich  glaube, 
mit  dem  gewöhnlichen  Sprachgefühl  und  nebenbei  mit  den 

Lotze,  Logik.  4 


50  Erstes  Kapitel. 

alten  Bestimmungen  des  Aristoteles.  Denn  die  Wahl  seiner 
beiden  Ausdrücke  Eidos  und  Genos  ist  ohne  Zweifel  durch 
die  ursprüngliche  Wortbedeutung  bestimmt  worden;  Eidos, 
die  Art,  welche  unter  sich  nur  Individuen  befaßt,  ist  das 
Gemeinsame  des  Aussehens  oder  der  Erscheinung;  Genos 
begreift  das  Formverschiedene,  das  in  seiner  Entstehung, 
oder,  wenn  es  überhaupt  nicht  zeitlich  entspringt,  doch  in 
dem  bedingenden  Zusammenhang  seiner  Bestandtheile  der- 
selben gesetzgebenden   Formel   gehorcht. 

31.  Es  bleibt  uns  noch  die  letzte  der  früher  angeführten 
Behauptungen :  das  umgekehrte  Verhältniß  zwischen  Inhalt 
und  Umfang  der  Begriffe;  ich  finde  es  unrichtig  da,  wo 
seine  Richtigkeit  wichtig  wäre,  und  ziemlich  unwichtig  da, 
wo  es  richtig  ist.  Die  Anzahl  der  Merkmale,  aus  denen 
wir  unsere  Begriffe  zusammensetzen,  ist  nicht  unendlich; 
reicht  doch  die  Sprache  mit  zwar  vielen  doch  nicht  zahl- 
losen Worten  zu  ihrer  Bezeichnung  aus.  Leicht  möglich 
kann  daher  eine  Gruppe  derselben,  sagen  wir  ikl,  in  mehreren 
Allgemeinbegriffen  S  T  und  Ü  zugleich  vorkommen,  ohne 
daß  deshalb  ikl  einen  höhern  Allgemeinbegriff  darstellte,  der 
ein  Bildungsgesetz  für  alle  Arten  von  S  T  und  U  enthielte. 
Man  kann  Kirschen  und  Fleisch  unter  die  Merkmalgruppe  ikl 
röthhcher  saftiger  eßbarer  Körper  unterordnen,  aber  man 
wird  nicht  glauben,  damit  einen  Gattungsbegriff  für  beide 
erreicht  zu  haben,  dessen  Arten  sie  zu  heißen  verdienten. 
Ich  behaupte  nun  nicht,  daß  die  einseitige  Hervorhebung 
einer  solchen  Merkmalgruppe  überall  so  wenig  Sinn  habe, 
wie  in  diesem  abgeschmackten  Beispiele;  im  Gegentheil 
werden  wir  ihren  Werth  später  kennen  lernen:  sie  dient 
zu  dem  oft  nützlichen  und  nöthigen  Nachweis,  daß  ver- 
schiedene Subjecte,  obgleich  sonst  einander  ganz  fremd  und 
keinem  gemeinschaftlichen  Gattungsbegriffe  subsumirbar, 
dennoch  wegen  eines  einzigen  oder  weniger  gemeinsamen 
Merkmale  gewissen  unabweislichen  Folgerungen  gleichmäßig 
verfallen  sind.  Wer  nun  fortfahren  will,  diese  Merkmal- 
gruppen Allgemeinbegriffe  zu  nennen,  hat  dann  freilich 
mit  jenem  umgekehrten  Verhältniß  zwischen  ihrem  Umfang 
und  Inhalt  Recht:  je  weniger  Glieder  die  Gruppe  zählt, 
um  so  sicherer  wird  sie  in  allerhand  Begriffen  anzutreffen 
sein;  und  anderseits  je  größere  Anzahlen  verschiedener 
Vorstellungsinhalte  man  vergleicht,  um  so  kleiner  wird  die 
Merkmalgruppe  sein,  in  der  sie  alle  übereinstimmen.    Von 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  51 

dem  wahren  Allgenieiiibegriff  dagegen,  dem,  welcher  die 
Regel  für  die  ganze  Bildung  der  Arten  enthält,  ließe  sich 
eher  behaupten,  daß  sein  Inhalt  allemal  ebenso  reich,  die 
Summe  seiner  Merkmale  ebenso  groß  ist,  als  die  der  Arten 
selbst;  nur  sind  im  Allgemeinbegriffe,  in  der  Gattung,  eine 
Menge  Merkmale  blos  in  unbestimmter  und  selbst  allge- 
meiner Form  enthalten,  für  welche  in  der  Art  bestimmte 
Einzelwerthe  oder  besondere  Ausprägungen  auftreten,  bis 
in  dem  singularen  Begriffe  jede  Unbestimmtheit  verschwun- 
den und  jedes  allgemeine  Merkmal  der  Gattung  durch  ein 
nach  Größe  Eigenthümlichkeit  und  Verknüpfung  mit  andern 
völlig  determinirtes  ersetzt  ist.  Allerdings  kann  man  gegen 
die  Allgemeingültigkeit  dieser  Behauptung  Beispiele  wie 
das  früher  erwähnte  des  organischen  Wesens  anführen, 
unter  dessen  Begriff  wir  Pflanze  und  Thier  unterordnen; 
man  kann  es  eine  logische  Willkürlichkeit  nennen,  in  diesem 
Begriffe  die  Merkmale  der  Empfindungs-  und  Bewegungs- 
fähigkeit beizubehalten,  mit  dem  Hintergedanken,  beiden 
dann  in  der  Pflanze  einen  Nullwerth  zuzuschreiben;  aber 
dies  Beispiel  zeigt  eigentlich  mehr,  daß  wirklich  die  höheren 
Allgemeinheiten,  von  der  Gattung  aufwärts,  aufhören  wahre 
Allgemeinbegriffe  zu  sein  und  in  Complexe  von  Be- 
dingungen übergehen,  denen  der  Inhalt  verschiedener  im 
eigentlicheren  Sinne  so  zu  nennender  Gattungen  mit  gleichen 
daraus  fließenden  Folgen  unterliegt.  Der  Begriff  des  orga- 
nischen Wesens  ist  ein  solches  ikl,  eine  Gruppe  von  Merk- 
malen, die  für  sich  in  keinem  gegebenen  Beispiel  vorkommt, 
die  aber  in  den  Gattungen,  in  denen  sie  vorkommt,  in 
Thier  und  Pflanze,  dieselben  aus  ihr  entspringenden  Fol- 
gerungen nothwendig  macht. 

32.  Die  vorigen  Bemerkungen  enthielten  weder  die  Hoff- 
nung noch  den  Anspruch,  eine  bleibende  Aenderung  in 
dem  hergebrachten  Sprachgebrauch  hervorzubringen;  sie 
sollten  nur  der  deutlicheren  Einsicht  in  den  Bau  der 
Begriffe  überhaupt  dienen.  Zu  gleichem  Zwecke  füge  ich 
noch  Folgendes  hinzu.  Ich  bezeichne  die  Gattung  G,  sofern 
ihr  Begriff  die  Verbindungsregel  einer  Anzahl  allgemeiner 
Merkmale  ABC...  darstellt,  durch  F  [A  B  C],  und  nehme 
an,  jedes  der  Merkmale  lasse  Einzelformen  zu,  welche 
ai  a2  a3  .  .  h^  b^  b»  .  .  c^  c^  c^  .  .  heißen  mögen;  die  Ver- 
bindungsform F  endlich  bewege  sich  gleichfalls  in  einem 
Spielraum  veränderlicher  Gestaltungen,  von  denen  wir  drei 
durch  f   (p  und  f  andeuten  wollen.    Da  nun  die  Merkmale 

4* 


52  Erstes  Kapitel. 

ABC  von  sehr  verschiedenem  Werthe  für  das  Ganze  von  G 
sein  können,  ßo  ist  es  möglich,  daß  die  verschiedenen 
Werthe,  welche  etwa  A  annimmt,  von  entscheidender  Wich- 
tigkeit für  die  Gestalt  des  Ganzen  sind  und  sich  auch  in 
der  Verbindungsweise  der  übrigen  mit  ihrem  umformenden 
Einfluß  gelten  machen.  Dies  kann  den  Erfolg  haben,  daß, 
wenn  A  den  einen  oder  den  andern  seiner  Werthe  annimmt, 
damit  auch  die  Gliederungsweise  F  des  Ganzen  von 
einem  ihrer  Einzelfälle  sich  zu  einem  andern  ändert; 
die  Gesammtzahl  der  Arten  von  G  würde  dann  sein: 
G  =  f  (ai  B  C  . .)  +  cp  (a2  B  C  . .)  +  f  (a3  B  C  . .),  in  welcher  For- 
mel ich  der  Kürze  halber  die  correspondirenden  Aenderun- 
gen  von  B  und  C  unausgedrückt  lasse.  Diese  entscheiden- 
den Merkmale  a^  a^  a^  sind  in  diesem  Falle  die  art- 
bildenden Unterschiede,  differentiae  specificae.  So  pflegt 
schon  Aristoteles,  der  dafür  den  Namen  Diaphora  hat, 
wenn  er  den  Menschen  unter  die  Gattung  Thier  unter- 
ordnet, die  Bestimmung  zum  vernünftigen  Denken  als  die 
eigenthümliche  Ausprägung  a^  des  allgemeinen  Seelen- 
lebens zu  bezeichnen,  durch  die  sich  der  Mensch  von  allen 
andern  Thieren  unterscheidet;  im  Sinne  meiner  obigen 
Bezeichnung  kommt  dann  noch  hinzu,  daß  dieses  a^  nicht 
blos  den  Menschen  von  den  Thieren  abgrenzt,  sondern 
auch  die  ihm  eigenthümlichen  Werthe  der  übrigen  Eigen- 
schaften B  und  C,  endlich  die  Verbindungsweise  f  derselben 
oder  den  ganzen  Habitus  bestimmt,  durch  den  der  Mensch 
sich  von  den  Thieren  mit  ihrer  durch  cp  oder  f  charakteri- 
sirten  Organisation  unterscheidet.  Es  kann  ferner  ge- 
schehen, daß  die  besonderen  Werthe,  welche  eines  oder 
mehrere  der  allgemeinen  Gattungsmerkmale  in  einer  ein- 
zelnen Art  angenommen  haben,  nur  in  dieser  Art  und  in 
keiner  andern  möglich  sind,  daß  sie  aber  dennoch  keinen 
wichtigen  Einfluß  auf  die  Gestaltung  der  übrigen  Merkmale 
äußern  und  deshalb  die  Natur  der  Art,  an  welcher  sie 
vorkommen,  nicht  nach  ihrer  ganzen  Bestimmtheit  repräsen- 
tiren.  Eigenheit  oder  Idion  nennt  Aristoteles  ein  solches 
Merkmal:  es  ist  das,  was  wir  ein  Kennzeichen  nennen. 
Die  Lachfähigkeit  führt  er  als  Idion  des  Menschen  an, 
Hegel  in  ähnlichem  Sinne  das  Ohrläppchen;  beide  unter- 
scheiden den  Menschen  vom  Thiere,  aber  sie  erschöpfen 
sein  Wesen  nicht.  Noch  gibt  es  nach  Aristoteles  Merkmale, 
die  nicht  zu  dem  eisernen  Bestand  eines  Begriffs  gehören, 
sondern  etwas  bezeichnen,  was  seinem  Inhalt  zustößt  oder 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  53 

widerfährt;  jedes  Verbum,  welches  sagt,  daß  Sokrates  sitze 
oder  stehe,  gibt  davon  ein  Beispiel.  Die  Uebersetzer  quälen 
sich  vergeblich,  den  von  Aristoteles  dafür  gebrauchten  Aus- 
druck Symbebekos  zugleich  sachgemäß  und  in  Ueberein- 
stimmung  mit  der  ursprünglichen  griechischen  Wortbedeu- 
tung zu  übersetzen;  was  an  ihm  sachlich  wichtig  und 
richtig  ist,  wird  völlig  dem  entsprechen,  was  wir  einen 
Zustand  nennen.  Daß  dieser  Ausdruck  dennoch  nicht 
den  Sprachgebrauch  des  Aristoteles  deckt,  scheint  mir  die 
Schuld  einer  von  ihm  selbst  begangenen  Ungenauigkeit, 
deren  Erörterung  kaum  die  Mühe  lohnen  würde.  Die  Be- 
trachtung des  sachlichen  Verhältnisses  aber,  das  zwischen 
dem  Begriffsganzen  und  dieser  Art  seiner  Merkmale  ob- 
waltet, gehört  der  Lehre  vom  Urtheil  an.  Man  findet  in 
des  Porphyrius  Einleitung  zur  Aristotelischen  Logik  Stoff 
genug,  um  ein  meist  freilich  nutzloses  Nachdenken  über 
die  Aehnlichkeiten  und  Unterschiede  der  hier  berührten 
logischen  Bestimmungen  noch  weiter  zu  üben;  uns  dienten 
sie  wesentlich  zur  Verdeutlichung  der  mannigfachen  Glie- 
derung der  Begriffe  und  sind  zu  diesem  Zweck  nicht  in 
durchgängiger  Uebereinstimmung  mit  Aristoteles  vorgetragen 
worden. 

33.  Wohin  gelangt  man  nun  zuletzt,  wenn  man  zu  allen 
gefundenen  Allgemeinbegriffen  immer  höhere  sucht?  welche 
Form  nimmt  das  Gesammtsystem  aller  unserer  Begriffe 
an,  wenn  man  sich  dieses  Geschäft  vollendet  denkt?  Von 
einer  breiten  Grundfläche,  welche  durch  alle  singularen 
Begriffe  oder  Vorstellungen  gebildet  wird,  erhebt  es  sich' 
offenbar  mit  zunehmender  Verschmälerung ;  die  gewöhnliche 
Meinung  gibt  ihm  geradezu  die  Gestalt  einer  Pyramide, 
die  mit  einer  einzigen  Spitze,  dem  alles  umfassenden  Be- 
griffe des  Denkbaren,  schließe.  Ich  finde  wenig  Witz  in 
dieser  Annahme;  sie  beruht  ganz  auf  der  geistlosen  Sub- 
sumption  unter  ein  Merkmal,  deren  logischen  Werth  wir 
gering  anschlugen.  Unter  das  Merkmal  des  Denkbaren  über- 
haupt fällt  alles  auf  einmal  und  mit  einem  Schlage;  man 
kann  sich  die  Mühe  ersparen,  zu  diesem  Ergebniß  erst 
durch  eine  pyramidale  Stufenleiter  empor  zu  klettern;  zu- 
gleich ist  in  diesem  Endgliede  von  allem  Inhalt  und  aller 
Eigenthümlichkeit  des  Gedachten  auf  die  gründlichste  und 
gedankenloseste  Weise  abgesehen.  Folgen  wir  dagegen  dem 
Verfahren  der  Subordination  unter  die  Gattung  und  ordnen 
wir  das  Mannigfache  nur  solchen  Allgemeinheiten  unter, 
welche  den  Gedanken  der  allgemeinsten  Regeln  für  die  Eigen- 


54  Erstes  Kapitel. 

arten  seiner  Formung  noch  aufbewahren,  so  kommen  wir 
nicht  zu  einem,  sondern  zu  mehreren  auf  einander  nicht 
zurückführbaren  Endbegriffen,  in  denen  wir  ohne  Ueber- 
raschung  dieselben  Bedeutungen  der  Redetheile  wieder- 
erkennen, die  wir  am  Anfang  dieses  Hauptstücks  als  die 
ersten  logischen  Elemente  kennen  lernten.  Alle  substan- 
tivischen Inhalte  führen  auf  den  Stammbegriff  des  Etwas, 
alle  adjectivischen  auf  den  der  Beschaffenheit,  die  verbalen 
auf  den  des  Werdens,  die  andern  auf  den  des  Verhältnisses 
zurück.  Alle  diese  Stammbegriffe  haben  freilich  das  ge- 
meinsame Merkmal,  denkbar  zu  sein;  aber  eine  gemeinsame 
Gattung,  unter  der  ihre  wesentlichen  Inhalte  verschiedene 
Arten  bildeten,  gibt  es  weder  über  ihnen  allen,  noch  ver- 
tritt einer  von  ihnen  diese  Stelle  für  die  übrigen;  es  ist 
nicht  möglich,  das  Etwas  als  eine  Art  des  Werdens,  oder 
das  Werden  als  eine  Art  des  Etwas  zu  fassen.  So  an- 
gesehen erhebt  sich  das  Gesammtgebäude  unserer  Begriffe 
wie  eine  Gebirgskette,  die  von  einem  breiten  Fuße  beginnt 
und  mit   mehreren   scharf   getheilten   Gipfeln   endigt. 


Uebergang  zu  der  Form  des  Urtheils. 

34.  Auf  diesem  Bilde  einer  zusammenhängend  sich  auf- 
bauenden Begriffswelt  hat  schon  der  Blick  Piatons  geruht. 
Ihn,  der  die  ewige  Sichselbstgleichheit  jedes  Begriffsinhaltes 
und  ihre  Bedeutung  gegenüber  der  Veränderlichkeit  des 
Wirklichen  zuerst  erkannt,  ihn  konnte  es  reizen,  alle  ein- 
fachen Elemente  des  Denkbaren  aufzusuchen,  alle  Ver- 
bindungen der  verbindbaren  zu  vollziehen  und  in  dem 
gegliederten  Ganzen  einer  Ideenwelt  das  ewige  Vorbild  auf- 
zurichten, dem  die  geschaffene  Welt  unvollkommen  nach- 
ahmt. Weder  er  selbst  indessen  noch  die  Folgezeit  hat 
eine  wirkliche  Ausführung  dieser  an  sich  unvollendbaren 
Aufgabe  versucht;  noch  weniger  könnten  wir  jetzt  geneigt 
sein,  in  ihr  eine  wünschenswerthe  Leistung  zu  sehen.  Und 
dies  nicht  nur  deshalb,  weil  die  Wirklichkeit,  das  was  ist, 
uns  zu  zahlreiche  und  schwere  Räthsel  aufgibt,  um  uns 
Zeit  zur  Aufstellung  eines  Verzeichnisses  dessen  zu  lassen, 
was  sein  könnte,  aber  nicht  ist;  vielmehr  auch  die  voll- 
ständige Kenntniß  der  Ideenwelt  würde  uns  wenig  in  der 
Begreifung  des  Wirklichen  unterstützen.  Denn  Alles,  was 
wir  im  besten  Fall  auf  diesem  Wege  erreichen  könnten, 
würde  nur  das  Bild  einer  ruhenden  Ordnung  sein,  in  welcher 


Die  Lehre  vom  Begriffe.  55 

einfache  und  zusammengesetzte  Begriffe,  jeder  unveränder- 
lich sich  selbst  gleich  und  jeder  durch  unwandelbare  Be- 
ziehungen zu  allen  andern  an  seinen  unverrückbaren  syste- 
matischen Ort  gestellt,  neben  einander  ständen;  was  uns 
dagegen  die  Wirklichkeit  vorhält,  ist  ein  wechselndes  Durch- 
einander der  mannigfachsten  Beziehungen  und  Verknüpfun- 
gen, die  sich  zwischen  den  einzelnen  Vorstellungsinhalten, 
ohne  Rücksicht  auf  ihre  systematische  Stellung,  bald  so 
bald  anders  gestalten.  Diese  große  Thatsache  der  Ver- 
änderung hört  nicht  dadurch  auf  dazusein,  daß  wir  im  Sinne 
des  Alterthums  sie  als  eine  Unvollkommenheit  schelten, 
im  Gegensatz  zu  der  feierlichen  Ruhe  der  Ideenwelt ;  immer- 
fort führt  sie  der  Verlauf  unserer  Vorstellungen  uns  wieder 
vor,  und  das  Denken,  das  von  diesem  ja  seine  Anregung 
empfängt,  muß  sich  bemühen,  auch  dies  veränderliche  Zu- 
sammensein auf  Gründe  der  Zusammengehörigkeit  zurück- 
zuführen. Hierdurch  wird  der  weitere  Weg  der  Logik  be- 
stimmt. 

35.  Verschiedene  Erwägungen  führen  zu  demselben 
nächsten  Schritte.  Wo  an  einen  scheinbar  unveränderten 
Begriffsinhalt  neue  Merkmale  sich  anfügen,  die  wir  früher 
in  ihm  nicht  mitdachten,  werden  wir  am  unmittelbarsten 
zu  der  Frage  aufgefordert,  welcher  Grund  eines  veränd3r- 
lichen  Zusammengehörens  sich  für  beide  denken  lasse. 
Aber  auch  wenn  wir  verschiedene  Beispiele  eines  All- 
gemeinen vergleichen,  in  dessen  allgemeinen  Merkmalen 
wir  die  Möglichkeit  vieler  besonderen  bereits  eingeschlossen 
haben,  fragt  es  sich  doch  nach  dem  Grunde,  der  in  jedem 
einzelnen  dieser  Beispiele  die  Zusammengehörigkeit  des 
besondern  Merkmals  mit  dem  übrigen  Ganzen  des  Inhalts 
vermittelt  und  dieses  Merkmal  vor  den  übrigen  besonderen 
bevorzugt,  die  als  Arten  desselben  Allgemeinen  eben  so  gut 
vorhanden  sein  könnten,  aber  nicht  vorhanden  sind.  Zu- 
letzt, da  wir  in  jedem  Begriffe  eine  Mehrheit  von  Merkmalen 
vereinigt  denken,  und  zwar  solchen,  die  nicht  ihrem  eigenen 
Inhalte  nach,  als  Glieder  e"ner  und  derselben  systematischen 
Reihe  einander  verwandt,  die  vielmehr  einander  ungleicli- 
artig  und  fremd  sind,  die  aber  dennoch  einander  deteraiiniren 
und  in  ihrer  Verbindung  eine  bedingende  Macht  über  den 
Ansatz  anderer  ausüben  sollen,  so  kehrt  auch  hierüber  die 
Frage  nach  dem  Rechtsgrunde  wieder,  der  dieses  Zusammen- 
sein des  Ungleichartigen  als  ein  Zusammengehören  er- 
scheinen lasse.   Wir  werden  uns  bewußt,  daß  wir  in  unserer 


56  Erstes  Kapitel. 

Betrachtung  des  Begriffs,  als  wir  einer  gewissen  Verjcnüpfung 
von  Merkmalen  diese  Stellung  einer  beherrschenden 
logischen  Substanz  zuschrieben,  welche  sich  in  einer  Mannig- 
faltigkeit verschiedener  oder  wechselnder  Formen  bethätigt. 
eine  Auffassungsweise  gefordert  und  vorausgenommen 
haben,  deren  logisch  rechtliche  Ausführbarkeit  uns  noch 
zu  erweisen  obliegt.  Dies  also  ist  unsere  Aufgabe  nun, 
diese  vorausgesetzten  Verknüpfungen  entweder  wieder  auf- 
zulösen, oder,  wenn  sie  sich  rechtfertigen  lassen,  sie  noch 
einmal,  dann  aber  in  einer  Form  zu  vollziehen,  welche  den 
Grund  der  Zusammengehörigkeit  des  Verbundenen  mit  aus- 
spricht. Wenn  das  Denken  diese  Aufgabe  zu  lösen  sucht, 
wird  ersichtlich  die  Form  seiner  Bewegung  die  des 
ürtheils  sein.  In  ihm  tritt  ein  bleibendes  oder  bedin- 
gendes Glied,  das  Ganze  eines  Begriffsinhalts,  als  Subject 
den  veränderlichen  oder  bedingten  Gliedern  oder  der  Summe 
dieser  Theile  als  Prädicaten  gegenüber,  die  Beziehung 
beider  aber,  welche  ihre  Verknüpfung  erklärt  und  recht- 
fertigt, liegt  in  der  Copula,  nämlich  in  dem  Nebengedanken, 
welcher,  sprachlich  mehr  oder  minder  vollständig  ausge- 
drückt, beide   Satzglieder  zusammenhält. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Lehre  vom  Urtheil. 


Vorbemerkungen  über  Bedeutung  und  gewöhnliche  Eintheilung 
der  Urtheile. 

Der  allgemeinen  Absicht  meiner  Darstellung  gemäß 
würde  ich  die  verschiedenen  Urtheilsformen  nun  syste- 
matisch als  Glieder  einer  Reihe  von  Denkhandlungen  zu 
entwickeln  haben,  deren  jede  durch  den  von  ihr  unbewältig- 
ten  Rest  ihrer  Aufgabe  den  Eintritt  der  nächstfolgenden 
begründet.  Ehe  ich  diesen  Versuch  beginne,  habe  ich 
üblichen  anderen  Betrachtungsweisen  und  den  Gründen 
meiner  Abweichung   von   ihnen   einige  Worte  zu  widmen. 

36.  Jedes  Urtheil,  welches  im  natürlichen  Gebrauch 
des  Denkens  gebildet  wird,  will  ein  Verhältniß  zwischen 
den  Inhalten  zweier  Vorstellungen,  aber  nicht  ein  Ver- 
hältniß dieser  beiden  Vorstellungen  aussprechen.  Von  diesem 
sachlichen  Verhältniß  der  vorgestellten  Inhalte  ist  natürlich 
ein  gewisses  Verhältniß  der  Vorstellungen,  durch  die  wir 
es  denken,  eine  unvermeidliche  Folge;  aber  nicht  diese 
freilich  unausbleibHche  Beziehung  unserer  Denkmittel,  durch 
die  wir  den  sachlichen  Inhalt  ergreifen  wollen,  sondern 
eben  dieser  selbst  ist  der  wesentliche  Sinn  der  im  Urtheil 
vollzcgenen  Derkhandlung.  Wenn  wir  sagen:  das  Geld  ist 
gelb,  so  ist  es  freilich  unwidersprechlich,  daß  nach  diesem 
Urtheile  unsere  Vorstellung  des  Goldes  in  dem  Umfange 
unserer  Vorstellung  des  Gelben  hegt,  daß  mithin  das  Prädicat 
von  weiterem  Umfange  ist,  als  das  Subject;  aber  dies  war 
es  doch  gewiß  nicht,  was  man  durch  dies  Urtheil  aus- 
zusprechen beabsichtigte.  Vom  Golde  selbst  vielmehr  wollte 
man  sagen,  daß  das  Gelb  selbst  ihm  als  Eigenschaft  zu- 
komme, und  nur  deshalb,  weil  man  dieses  sachliche  Ver- 


58         '  Zweites  Kapitel. 

hältniß,  gleichviel  jetzt,  welche  Bedenken  es  sonst  haben 
mag,  als  bestehend  schon  voraussetzt,  kann  man  es  in 
einem  Satze  abbilden,  in  welchem  die  Vorstellung  des 
Goldes  von  der  des  Gelben  eingeschlossen  wird.  Daß  man 
nicht  einmal  ganz  Recht  hat  mit  diesem  Satze,  hat  die 
Logik  auch  sonst  schon  bemerkt;  indem  sie  von  dem,  was 
man  ausdrückt,  sich  auf  das  beruft,  was  man  meint,  lehrt 
sie,  daß  auch  das  Subject  seinerseits  dies  allzuweite  Prädicat 
beschränke;  das  Gold  sei  nicht  gelb  überhaupt,  sondern 
goldgelb,  die  Rose  rosenroth,  ja  diese  Rose  habe  eben  nur 
das  Roth  dieser  Rose.  Aber  auch  diese  Verbesserung 
ändert  nichts  an  der  UnvoUkommenheit  dieser  ganzen  Auf- 
fassung des  Urtheils;  denn  welches  Verhältniß  nun  eigent- 
lich zwischen  den  beiden  so  corrigirten  Gliedern  stattfinde, 
sagt  sie  doch  nicht,  und  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der 
verschiedenen  Zusammenhangsweisen,  die  hier  stattfinden 
können,  geht  für  sie  verloren.  So  ist  ja  das  Gold  im 
Finstern  nicht  gelb;  seine  Farbe  hängt  also  an  ihm  nur 
unter  einer  Bedingung,  der  des  Lichtzutrittes;  wer  nun 
diese  neue  Erfahrung  mit  der  vorigen  im  Stil  dieser  Aut- 
fassung  zu  verbinden  wünschte,  würde  sagen  müssen,  die 
Vorstellung  des  Goldes  liege  gleichzeitig  im  Umfange  des 
im  Lichte  Gelben  und  im  Umfange  des  im  Finstern  Nicht- 
gelben; aber  durch  diese  Ausdrucksweise  würde  er,  wie 
mir  scheint,  doch  nur  verrathen,  daß  es  ihm  Vergnügen 
macht,  von  dem  worauf  es  ankommt,  der  Erwähnung  jenes 
Bedingungsverhältnisses,  zu  freilich  richtigen,  aber  ganz 
bedeutungslosen  Folgen  abzuschweifen.  Natürlich  haben 
auch  diese  Umfangsverhältnisse  der  im  Urtheil  verbundenen 
Vorstellungen  ihren  logischen  Werth;  aber  wo  man  diesen 
bedürfen  wird,  ist  er  nicht  so  schwierig  zu  ermitteln,  um 
sich  seiner  nicht  nebenher  augenblicklich  zu  bemächtigen; 
einen  Hauptgesichtspunkt  für  die  Betrachtung  der  Urtheile 
aus  jenen  Verhältnissen  zu  machen,  halte  ich  für  ebenso 
irrig  als  langweilig. 

37.  Auf  die  Auffassung,  welche  ich  hier  vertrete,  weisen 
übrigens  die  technischen  Ausdrücke  der  Logik  zurück. 
Subject  unseres  obigen  Urtheils  ist  im  Satze,  oder  gram- 
matisch betrachtet,  das  Wort  Gold,  logisch  angesehen  aber, 
oder  im  Urtheile,  nicht  die  Vorstellung  Gold,  sondern  das 
Gold;  denn  nur  zu  diesem  gehört  das  Gelb  als  ein  Prä- 
dicat, das  von  ihm  ausgesagt  wird,  und  zwar  in  einem 
bestimmten  Sinne  ausgesagt  wird,  den  die  Bedeutung  der 
Copula   angibt.     Die    Vorstellung    des    Gelben    dagegen   ist 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  59 

nicht  in  demselben  Sinne  eine  Eigenschaft  der  Vorstellung 
des  Goldes,  in  welchem  Gelb  eine  des  Goldes  ist;  jene 
wird  gar  nicht  von  dieser  ausgesagt  oder  prädicirt ;  zwischen 
beiden  Vorstellungen  findet  zunächst  nur  die  Beziehung 
statt,  daß  immer,  oder  doch  unter  bestimmten  Bedingungen 
immer,  die  eine  dieser  Vorstellungen,  gelb,  sich  einfindet, 
wo  die  andere,  Gold,  gegeben  ist;  daß  aber,  wo  jene  ge- 
geben ist,  nicht  überall  diese  hinzutritt.  Was  das  aber  ist, 
was  dieses  Verhalten  ermöglicht  rechtfertigt  oder  noth- 
wendig  macht,  das  zu  ermitteln  und  auszusprechen,  ist 
allein  die  Aufgabe  des  logischen  Urtheils,  und  es  löst  sie, 
indem  es  durch  den  Sinn  seiner  Copula  die  Beziehujig 
angibt,  die  zwischen  den  beiden  vorgestellten  Inhalten, 
um  deswillen,  was  sie  vorstellen,  und  in  verschieden(m 
Fällen  verschieden,  stattfinde;  nur  zwischen  diesen  Inhaltcm 
ist  anderseits  eine  logische  Copula  denkbar;  zwischen  ihren 
Vorstellungen  besteht  nur  die  psychologische  Verbindung, 
die  ich  erwähnte,  und  außer  ihr  jenes  monotone,  in  allen 
Fällen  gleiche  Verhältniß  der  Einordnung  der  einen  in 
den   Umfang    der   anderen. 

38.  Es  ist  jetzt  bereits  deutlich,  daß  es  für  uns  nur 
so  viel  wesentlich  verschiedene  Urtheilsformen  wird  geben 
können,  als  es  wesentlich  verschiedene  Bedeutungen  der 
Copula,  d.  h.  verschiedene  Nebengedanken  gibt,  welche 
wir  über  die  Art  der  Verknüpfung  des  Subjects  mit  seinem 
Prädicat  uns  machen  und  in  der  syntaktischen  Form  des 
Satzes  mehr  oder  minder  vollständig  zum  Ausdruck  bringen. 
Manche  andere  Unterscheidung,  der  wir  in  der  Logik  be- 
gegnen, fällt  daher  für  unsere  systematische  Uebersicht 
als  unbrauchbar  hinweg,  ohne  deswegen  ihren  anderweitigen 
logischen  Werth  zu  verlieren.  Dieser  Umstand  macht  mir 
zur  Klarheit  des  Folgenden  eine  vorläufige  Erörterung  des 
Hergebrachten  wünschenswerth ;  doch  glaube  ich  sie  auf 
diejenige  Eintheilung  der  Urtheile  beschränken  zu  können, 
die,  an  sich  sehr  alt,  in  Deutschland  durch  Kant  die 
üblichste  geworden  ist.  Man  weiß,  daß  Kant  jedes  Urtheil 
nach  den  vier  verschiedenen  Rücksichten  der  Quantität 
Qualität  Relation  und  Modalität  bestimmt  sein  ließ  und 
in  jeder  dieser  Rücksichten  für  jedes  Urtheil  eine  von 
drei  einander  ausschließenden  Formen  nothwendig  fand. 
Von  dieser  Eintheilung  darf  ich  das  dritte  Glied  aus  dieser 
vorläufigen  Betrachtung  ausschließen.  Denn  die  Relation 
(zwischen  Subject  und  Prädicat),  nach  welcher  Kant 
kategorische  hypothetische  und  disjunctive  Urtheile  unter- 


60  Zweites  Kapitel. 

scheidet,  bezieht  sich  offenbar  auf  eben  die  wesentlichen 
Bestimmtheiten  des  Urtheils,  die  wir  suchen,  und  die  den 
weiteren  Gegenstand  meiner  eigenen  Darstellung  ohnehin 
bilden  werden.  Wenn  das  kategorische  sein  Subject  S  und 
sein  Prädicat  P  schlechthin,  wie  man  sagt,  oder  nach 
dem  einfachen  Vorbild  des  Verhältnisses  eines  Dinges  zu 
seiner  Eigenschaft  verknüpft,  das  hypothetische  dagegen 
dem  S  an  sich  nicht,  sondern  nur  unter  Voraussetzung 
der  Erfüllung  einer  Bedingung  sein  P  beilegt,  das  disjunctive 
endlich  dem  S  gar  kein  bestimmtes  Prädicat  ertheilt,  ihm 
aber  die  nothwendige  Wahl  zwischen  mehreren  einander 
ausschließenden  auferlegt,  so  ist  ohne.  Zweifel  in  jeder 
dieser  drei  Formen  der  Sinn  der  Copula,  die  Art  der  Ver- 
knüpfung zwischen  S  und  P,  verschieden  und  eigenthüm- 
lich;  diese  drei  werden  die  Glieder  der  nachher  aufzu- 
bauenden Stufenreihe  der  Urtheile  bilden;  nur  die  neun 
übrigen   bedürfen   der  folgenden   Vorerwägung. 

39.  Ihrer  Quantität  nach  müssen  die  Urtheile  ent- 
weder allgemein  oder  particular  oder  singular  sein. 
Drückt  man  diese  Unterschiede  durch  die  üblichen  Formeln 
aus:  alle  S  sind  P,  einige  S  sind  P,  dieses  S  ist  P,  so 
zeigen  sie  offenbar  nur  die  verschiedene  Ausdehnung  an, 
in  welcher  eine  Verbindung  von  S  und  P  gelten  soll;  die 
Art  der  Verbindung  ist  in  allen  drei  Fällen  dieselbe,  und 
muß  dieselbe  sein,  weil  das  allgemeine  Urtheil,  in  dieser 
Fassung  seines  Sinnes,  aus  der  Summirung  der  besondern 
und  particularen  soll  entstehen  können,  mithin  diesen  völlig 
gleichartig  sein  muß.  Die  quantitative  Bezeichnung  gilt 
deshalb  dem  Subject  allein,  aber  sie  bezieht  sich  nicht 
auf  das  logische  Verhältniß  zwischen  ihm  und  seinem 
Prädicat;  sie  ist  daher  von  Wichtigkeit  da,  wo  es  gilt, 
in  dem  Zusammenhang  der  Gedanken  von  einem  Urtheile 
eine  Anwendung  zu  machen,  deren  Tragweite  sich  nach 
dem  Umfang  richtet,  über  den  seine  Gültigkeit  sich  erstreckt ; 
einen  eigenthümlichen  Fortschritt  der  logischen  Arbeit  da- 
gegen bezeichnen  diese  Unterschiede  in  ihrer  hier  ge- 
gebenen Formulirung  nicht.  Ich  füge  diese  letztere  Be- 
schränkung hinzu,  weil  ja  gewiß  die  quantitativen  Unter- 
schiede der  Urtheile  mit  logisch  wichtigen  Unterschieden 
auch  der  Verknüpfungsweise  zwischen  S  und  P  wirklich 
zusammenhängen ;  denn  was  allen  S  zukommt,  haftet  an  der 
Natur  seines  Subjects  ohne  Zweifel  auch  in  anderem  Sinne, 
als  das,  was  nur  einigen  eigen  ist,  anderen  nicht;  aber  die 
quantitative  Formulirung  des  Urtheils,  welche  die  Subjecte 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  61 

blos  zählt,  bemächtigt  sich  eben  dieser  wichtigen  Neben- 
gedanken nicht  und  läßt,  häufig  gegen  die  Natur  der  Sache, 
das  Verhältniß  des  Prädicats  zu  seinem  Subjecte  überall 
als  das   nämliche  erscheinen. 

40.  In  Bezug  auf  Qualität  unterschied  Kant  affir- 
mative, negative  und  1  imitative  Urtheile.  Nun  ist 
nichts  klarer,  als  daß  die  beiden  Sätze:  S  ist  P,  und  S  ist 
nicht  P,  so  lange  sie  die  logische  Eigenschaft  haben  sollen, 
einander  entgegengesetzt  zu  sein,  nothwendig  genau  die- 
selbe Verbindung  von  S  und  P  meinen  müssen,  nur  daß 
die  Geltung  derselben  von  dem  einen  bejaht,  von  dem 
andern  verneint  wird.  Es  ist  gewiß  nicht  nothwendig,  aber 
nützlich,  sich  dies  Verhalten  durch  Spaltung  jedes  dieser 
Urtheile  in  zwei  zu  verdeutlichen.  Eine  bestimmte  Be- 
ziehung zwischen  S  und  P,  welcher  Art  sie  auch  immer 
sein  mag,  denken  wir  uns  durch  ein  Urtheil:  S  ist  P,  als 
einen  noch  fraglichen  Gedanken  ausgedrückt;  diese  Be- 
ziehung bildet  den  Gedankeninhalt,  über  den  zwei  einander 
entgegengesetzte  Nebenurtheile  gefällt  werden;  das  eine 
affirmative  gibt  ihm  das  Prädicat  der  Gültigkeit  oder  der 
Wirklichkeit,  das  andere  negative  verweigert  sie  ihm.  Natür- 
lich ist  es  im  Zusammenhang  unserer  Gedanken  von  der 
größten  Wichtigkeit,  welches  dieser  beiden  Nebenurtheile 
über  eine  gegebene  Verknüpfung  von  S  und  P  gefällt  wird ; 
aber  zwei  wesentlich  verschiedene  Arten  des  Urtheils  als 
solchen  begründet  dieser  Unterschied  nicht;  Gültigkeit  oder 
Ungültigkeit  sind  vielmehr  in  Bezug  auf  die  Frage,  die 
uns  hier  beschäftigt,  als  sachliche  Prädicate  zu  betrachten, 
die  von  dem  ganzen  Urtheilsinhalte  als  ihrem  Subjecte 
gelten.  Dieser  Inhalt  selbst  hat  seinen  von  Bejahung  und 
Verneinung  noch  freien  Ausdruck  im  Fragesatz,  und  dieser 
hätte  als  drittes  Glied  wohl  schicklicher  die  Dreiheit  der 
Urtheilsqualitäten  ausgefüllt,  als  das  limitative  oder  un- 
endliche Urtheil,  das  durch  eine  positive  Copula  dem  Subject 
ein  negatives  Prädicat  beilegen  soll  und  durch  die  Formel: 
S  ist  ein  Nicht-P,  ausgedrückt  zu  werden  pflegt.  Viel 
Scharfsinn  ist  auch  in  neuerer  Zeit  zur  Ehrenrettung  dieser 
Urtheilsform  aufgeboten  worden,  in  der  ich  dennoch  nur 
ein  widersinniges  Erzeugniß  des  Schulwitzes  finden  kann. 
Schon  Aristoteles  hat  vollkommen  hinlänglich  bemerkt,  daß 
Ausdrücke  wie  Nicht-Mensch  keine  Begriffe  sind;  sie  sind 
nicht  einmal  Vorstellungen,  die  sich  fassen  ließen.  In  der 
That,  wenn  Nicht-Mensch  Alles  bedeutet,  was  es  logisch 
bedeuten  soll,  nämlich  Alles,  was  nicht  Mensch  ist,  mithin 


C)2  Zweites  Kapitel. 

nicht  blos  Thier  oder  Engel,  sondern  auch  Dreieck  Weh- 
muth  und  Schwefelsäure,  so  ist  es  eine  ganz  unausführbare 
Forderung,  dies  wüste  Gemeng  des  Verschiedenartigsten 
in  eine  V^orstellung  zusammenzufassen,  die  sich  dann  als 
Prädicat  zu  einem  Subject  hinzufügen  ließe.  Jeder  Versuch, 
dies  undenkbare  Nicht-P  an  einem  S  zu  bejahen,  schlägt 
für  das  unbefangene  Denken  stets  dahin  um,  das  denkbare  P 
an  demselben  S  zu  verneinen,  und  anstatt  zu  sagen:  der 
Geist  ist  eine  Nicht-Materie,  sagen  wir  alle:  der  Geist  ist 
nicht  Materie.  Selbst  in  Fällen,  wo  wir  im  natürlichen 
Denken  ein  limitatives  Urtheil  wirklich  zu  bilden  scheinen, 
wie  z.  B.  wenn  wir  sagen,  daß  Aerzte  Nicht-Combattanten 
seien,  bilden  wir  in  Wahrheit  doch  nur  ein  negatives.  Denn 
dies  Nicht-P  hat  hier  nicht  die  Bedeutung,  die  ihm  der 
limitative  Satz  gäbe;  Nicht-Combattanten  würden  für  diesen 
auch  die  Pferde  die  Wagen  die  Dreiecke  und  die  Buch- 
staben sein;  gemeint  aber  sind  doch  nur  die  menschlichen 
Personen,  die  zum  Heere  gehören,  von  denen  aber  die 
Theilnahme  am  Kampfe  negirt  wird.  Und  so  gibt  es  nirgends 
für  das  natürliche  Denken  eine  zwingende  Veranlassung, 
limitative  Urtheile  zu  bilden;  jede  Folgerung,  die  aus  dem 
Satze:  S  ist  ein  Nicht-P,  möglich  wäre,  bleibt  auch  möglich 
aus  dem  andern:  S  ist  nicht  P.  Es  ist  nicht  der  Mühe 
werth,  hierüber  weitläufiger  zu  sein;  offenbare  Grillen 
müssen  in  der  Wissenschaft  nicht  einmal  durch  zu  sorg- 
fältige Bekämpfung  fortgepflanzt  werden. 

41.  Durch  die  Formen  der  Modalität  soll  der  zwischen 
S  und  P  gedachten  Beziehung  ein  verschiedener  Werth 
ihrer  Geltung  gegeben  werden;  als  blos  mögliche  spreche 
sie  das  problematische,  als  wirkliche  das  asser- 
torische Urtheil  aus,  als  nothwendige  das  apodiktische. 
Aber  man  behandelt  diese  neuen  Eigenschaften  ganz  un- 
abhängig von  der  Art,  in  welcher  die  Urtheile  bereits  nach 
jedem  der  drei  andern  Gesichtspunkte  bestimmt  sind.  Nach- 
dem schon  feststeht,  ob  ein  gegebenes  Urtheil  U  seine  Be- 
standtheile  in  kategorischer  in  hypothetischer  oder  in  dis- 
junctiver  Form  verbindet,  nachdem  schon  entschieden  ist, 
ob  es  die  in  einer  dieser  Formen  gedachte  Beziehung 
bejaht  oder  verneint,  nachdem  endlich  durch  die  quan- 
titative Bezeichnung  auch  der  Umfang  des  Subjects  begrenzt 
ist,  für  den  das  ausgesprochene  Prädicat  gelten  soll:  nach 
alledem  hält  man  es  noch  für  eine  offene  Frage,  ob  das 
so  zusammengesetzte  Urtheil  problematisch  assertorisch 
oder  apodiktisch  sein  wird.   In  dieser  Behandlung  der  Sache 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  63 

liegt  ganz  offen  das  Zugeständniß,  daß  die  Möglichkeit 
Wirklichkeit  oder  Nothwendigkeit,  von  denen  hier  die  Rede 
ist,  mit  dem  logischen  Gefüge  des  Urtheils  in  gar  keinem 
Zusammenhange  stehen.  Alle  diese  Urtheile,  die  man  in 
den  Formeln:  S  kann  P  sein,  S  ist  P,  S  muß  P  sein,  aus- 
zudrücken pflegt,  sind  in  Bezug  auf  die  Geltung,  die  sie 
ihrem  Inhalt  aus  logischen  Mitteln  geben,  einander  voll- 
kommen gleichartig;  sie  sind  sämmtlich  bloße  Behauptungen 
des  Urtheilenden  und  unterscheiden  sich  nur  nach  dem 
Inhalt,  den  sie  behaupten.  Diesen  Inhalt,  hier  MögUchkeit 
dort  Wirklichkeit  oder  Nothwendigkeit  einer  Beziehung 
zwischen  S  und  P,  sprechen  sie  entweder  ohne  allen  Grund 
oder  aus  Gründen  einer  sachlich  richtigen  Ueberlegung 
aus,  welche  sie  in  ihrem  logischen  Baue  auf  keine  Weise 
mehr  zum  Vorschein  kommen  lassen;  eben  deswegen  be- 
dürfen sie  jener  hinzugefügten  Hülfszeitwörter,  um  neben- 
bei das  auszudrücken,  was  in  der  Gliederung  des  Urtheils 
selbst  nicht  liegt.  In  dem  weiteren  Zusammenhang  unserer 
Gedanken  haben  natürlich  auch  solche  Urtheile  ihren  Werth ; 
denn  häufig  kommt  es  eben  darauf  an,  Ergebnisse  früheres 
Nachdenkens,  ohne  beständig  ihre  Begründung  mit  zu 
wiederholen,  in  die  Gestalt  einfacher  Behauptungen  zu- 
sammenzuziehen; hier  sind  jene  Hülfszeitwörter  am  Platz, 
welche  die  einst  logisch  begründete  Möglichkeit  Wirklich- 
keit und  Nothwendigkeit  als  einen  jetzt  bekannten  Urtheils- 
inhalt  bezeichnen.  Aber  für  die  Unterscheidung  wesent- 
licher Urtheilsformen  und  für  ihre  systematische  Anordnung 
könnte  nur  eine  solche  Modalität  von  Werth  sein,  welche 
nicht  fremd  neben  dem  übrigen  logischen  Gefüge  der  Urtheile 
herginge,  sondern  eben  aus  ihm  selbst  entspränge  und  den- 
jenigen Anspruch  auf  blos  mögliche  oder  auf  nothwendige 
oder  wirkliche  Geltung  ausdrückte,  welcher  dem  Urtheilsinhalte 
aus  der  ^rt  der  Verbindung  seiner  Bestandtheile  erwächst. 
42.  Es  wäre  nutzlos,  eine  solche  Modalität  zu  ver- 
langen, wenn  man  nicht  die  Erfüllbarkeit  des  Verlangens 
zeigen  könnte.  Deshalb  greife  ich  Späterem  etwas  vor. 
Der  Satz :  alle  Menschen  müssen  sterben,  gilt  gewöhnlich 
für  apodiktisch;  für  mich  ist  er  nur  assertorisch;  denn  er 
behauptet  nur,  aber  er  begründet  nicht  die  Nothwendigkeit, 
von  der  er  spricht;  sogar  dies  läßt  seine  formelle  Fassung 
unentschieden,  ob  alle  Menschen  aus  demselben  Grunde 
sterben  oder  jeder  um  eines  besonderen  Umstandes  willen, 
so  daß  nur  thatsächlich  alle  diese  verschiedenen  Zufälle 
sich  dafür  vereinigen,  keinen  am  Leben  zu  lassen.    Gemeint 


64  Zweites  Kapitel. 

aber  hatten  wir  mit  diesem  Satze  doch  dies,  daß  nicht  alle 
blos  thatsächlich  sterben,  sondern  daß  die  Ausdehnung 
der  Sterblichkeit  auf  alle  ihren  Grund  in  dem  Allgemein- 
begriffe des  Menschen,  in  der  Natur  der  Menschlichkeit 
habe;  und  diesen  Gedanken  drücken  wir  in  der  That  durch 
die  generelle  Form  des  Urtheils  aus:  der  Mensch  stirbt; 
denn  der  Sinn  dieses  Urtheils,  auf  dessen  Unterscheidung 
von  dem  gewöhnlichen  allgemeinen  ich  zurückkommen 
werde,  ist  natürlich  nicht,  daß  der  Allgemeinbegriff  Mensch, 
wohl  aber,  daß  Alles  stirbt,  was  unter  ihm  befaßt  ist  und 
deswegen  weil  es  unter  ihm  befaßt  ist.  Jedes  hypothetische 
Urtheil  ferner  begründet  durch  seinen  Vordersatz  den  Inhalt 
des  Nachsatzes  und  ist  deshalb  in  unserem  Sinne  eine 
apodiktische  Urtheilsf orm ;  der  Nachsatz  wird  hier  nicht 
schlechthin,  sondern  unter  der  Bedingung  der  Gültigkeit 
des  Vordersatzes  behauptet,  aber  diese  Gültigkeit  voraus- 
gesetzt ist  dann  der  Inhalt  des  Nachsatzes  nicht  mehr 
eine  ThatSache  blos,  sondern  eine  Nothwendigkeit,  mit  dem- 
selben Rechte,  mit  dem  eben  jede  Folge  aus  ihrer  Be- 
dingung nothwendig  entspringt.  Aehnliches,  nur  zu  weit- 
läufig für  diese  Vorbemerkungen,  würde  sich  über  das 
disjunctive  Urtheil  sagen  lassen,  und  wir  würden  so  in  den 
drei  Formen  der  Relation  zugleich  drei  verschiedene  For- 
men apodiktischer   Modalität  gefunden  haben. 

43.  Ich  scheue  mich  fast,  ein  gar  zu  grobes  Mißver- 
ständniß  noch  ausdrücklich  abzuwehren.  Die  sachliche 
Richtigkeit  eines  Urtheils  kann  ja  nie  durch  die  logische 
Form  verbürgt  werden,  in  die  wir  seinen  Inhalt  bringen; 
sie  hängt  allezeit  davon  ab,  daß  die  eignen  Beziehungen 
zwischen  den  Bestandtheilen  dieses  Inhalts  selbst  schon 
in  Wahrheit  solche  sind,  wie  sie  die  Urtheilsform  voraus- 
setzt, wenn  sie  ihnen  eine  Geltung  von  bestimmtem  Werth 
zutheilen  soll.  Dies  gilt  von  der  gewöhnlichen  Modalität 
nicht  minder  als  von  der,  die  wir  an  ihre  Stelle  setzen 
möchten.  In  der  gewöhnlichen  Form  des  apodiktischen 
Urtheils:  S  muß  P  sein,  läßt  sich  jeder  Widersinn  aus- 
sprechen, ohne  dadurch  Sinn  zu  werden;  ebenso  steht 
es  uns  frei,  unsere  formell  apodiktischen  Urtheile  zu  den 
Aussagen  zu  mißbrauchen :  der  Mensch  sei  allmächtig ;  wenn 
es  regne,  werde  alles  trocken;  jedes  Dreieck  sei  entweder 
krumm  oder  süß  oder  jähzornig.  Auch  diese  letzteren 
Urtheilsformen  machen  also  nicht  jede  Begriffsverbindung 
wahr  oder  nothwendig,  die  man  in  sie  hineinbringt;  ihre 
Bedeutung   besteht   nur   darin,    zu   zeigen,   unter   welchen 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  65 

forinaleii  Bedingungen  wir  dann,  wenn  ein  bestimmter 
Inhalt  ihnen  durch  sich  selbst  genügt,  diesem  Inhalt  apodik- 
tische Geltung  zuschreiben  dürfen.  Hierin  aber  unter- 
scheidet sich  unsere  Auffassung  der  Modalität  zu  ihrem 
Vortheil  von  der  gewöhnlichen.  Diese  letztere  sagt  uns 
nur:  es  gebe  apodiktische  Erkenntnisse,  und  wenn  man 
sie  habe,  könne  man  sie  in  der  Form:  S  muß  P  sein, 
ausdrücken;  wie  aber  eine  Erkenntniß  aussehen  und  inner- 
lich gefügt  sein  müsse,  um  apodiktisch  zu  sein  und  diesen 
Ausdruck  zu  rechtfertigen,  sagt  sie  uns  nicht;  wir  erfahren 
es  dagegen  auf  unserem  Wege.  Wir  finden:  es  gibt  drei 
Formen  der  Beziehungen  zwischen  S  und  P,  die,  wo  sie 
stattfinden,  zu  nothwendigen  Erkenntnissen  führen;  in  eine 
dieser  Formen  versucht  eure  Vorstellungen  zu  bringen: 
entweder  bildet  generelle  Urtheile  und  sucht  das  P  auf, 
welches  in  einem  Gattungsbegriffe  S  an  sich  schon  mit- 
gedacht wird;  dies  P  kommt  dann  nothwendig  jeder  Art 
des  S  zu;  oder  bildet  hypothetische  Urtheile  und  zeigt, 
daß  aus  dem  Hinzukojnmen  einer  Bedingung  X  zu  S  für 
dies  S  ein  P  entspringt,  das  ohne  diese  Bedingung  nicht 
vorhanden  sein  würde;  dies  P  gilt  dann  nothwendig  von 
jedem  S,  auf  welches  dieselbe  Bedingung  in  derselben 
Weise  einwirkt;  oder  endlich  bildet  disjunctive  Urtheile; 
sobald  ihr  eine  Frage  auf  ein  scharfes  Entweder-Oder  zurück- 
gebracht habt,  seid  ihr  eurer  Sache  auch  gewiß  und  es 
bedarf  dann  nur  noch  einer  Erfahrung,  um  in  jedem  Einzel- 
falle zu  bestimmen,  welches  von  zwei  Prädicaten,  P  oder  Q, 
und  zwar  dann  mit  Nothwendigkeit,  statthaben  werde. 
Andere  Wege  aber,  zu  nothwendigen  Erkenntnissen  zu  ge- 
langen, gibt  es  nicht,  und  jedes  Urtheil,  welches  ihr  in  der 
Fonn:  S  muß  P  sein,  aussprechen  mögt,  ist  nur  noch  eine 
Behauptung,  deren  Inhalt,  wenn  er  triftig  ist,  allemal  auf 
einem  jener  drei  Wege  ursprünglich  erkannt  worden  ist. 
44.  Ich  sprach  bisher  von  den  apodiktischen  Urtheilen; 
die  Zweideutigkeit  der  gewöhnlichen  Modalitätslehre  ist 
noch  auffallender  an  den  problematischen.  Dem  Satze : 
alle  Körper  können  durch  angemessene  Kräfte  in  Bewegung 
gesetzt  werden,  kann  man  mit  ungefähr  gleich  gutem  Rechte 
jede  der  drei  Modalitäten  zuschreiben.  Zuerst,  als  Be- 
hauptung, die  den  Grund  ihres  Behauptens  nicht  beifügt, 
ist  er  assertorisch;  aber,  was  er  behauptet,  ist  doch  nicht 
ein  wirkliches  Ereigniß,  sondern  die  Möglichkeit  eines  un- 
wirklichen oder  nur  in  Gedanken  gefaßten,  und  dies  reicht 
nach  gewöhnlichem  Herkommen  hin,  ihn  problematisch  zu 

Loize,  Logik.  5 


06  Zweites  Kapitel. 

jieiiiien;  apodiktisch  endlich  kann  er  heißen,  weil  er  allen 
Körpern  eine  Eigenschaft  zuschreibt,  die  mithin  keinem 
fehlen  kann  und  deshalb  für  jeden  noth wendig  ist;  in  der 
That,  dieses  Urtheil  enthält  die  Wirklichkeit  der  Nothwendig- 
keit  einer  Möglichkeit.  Nach  welcher  Rücksicht  soll  man 
nun  den  Namen  wählen  ?  Ich  würde  mich  dafür  entscheiden, 
hier  ein  assertorisches  Urtheil  zu  sehen,  die  noth  wendige 
Möglichkeit  aber  zu  dem  asserirten  Inhalt  zu  rechnen. 
Da  jedoch  dieselbe  Betrachtung  sich  auf  alle  problematischen 
Urtheile  der  gewöhnlichen  Form  ausdehnen  läßt,  so  ent- 
steht die  Frage,  ob  es  denn  überhaupt  eine  Urtheilsform 
gebe,  die  an  sich  problematische  zu  heißen  verdiene?  Man 
hat  Fragesatz  und  Bitte  angeführt;  beide  behaupten  in  der 
That  nichts;  sie  scheinen  die  Verbindung  von  S  und  P, 
die  ihren  Inhalt  bildet,  durchaus  nur  als  mögliche  vor 
dem  Bewußtsein  schweben  zu  lassen.  Ich  zweifle  gleichwohl, 
ob  sie  überhaupt  als  eigene  logische  Urtheilsformen  gelten 
können.  Denn  am  Ende  muß  doch  die  Frage  sich  wieder 
von  der  Bitte  unterscheiden,  und  das  kann  sie  nur  da- 
durch, daß  das  Bewußtsein  des  Fragenden  sich  anders 
zum  Inhalt  seiner  Frage  verhält,  als  das  des  Bittenden  zu 
dem  seiner  Bitte.  Bedeutet  nun  die  Frage:  ich  weiß  nicht, 
ob  S  ein  P  sei,  und  die  Bitte:  ich  wünsche,  daß  S  ein  P 
sei,  so  würde  die  Behauptung  freilich  sehr  pedantisch  sein, 
der  Redende  selber  müsse  sich  in  jedem  Falle  seine 
Aeußerung  in  diese  zweigliedrige  Form  zerlegen;  allein 
in  dem  Gesammtzustand  seines  Inneren  müssen  sich  doch 
in  diesen  beiden  Fällen  zwei  verschiedene,  sagen  wir  Zu- 
stände Stimmungen  oder  Dispositionen  finden,  welche, 
wenn  man  sie  ausdrücken  wollte,  sich  eben  nur  so  aus- 
drücken lassen  würden.  Dann  aber  ist  sogleich  klar,  daß 
beide  Urtheile  einen  assertorischen  Hauptsatz  enthalten, 
der  nichts  vom  Inhalt  sagt,  sondern  nur  die  Stellung  des 
Redenden  zu  diesem  Inhalt  seiner  Rede  bezeichnet;  der  andere 
abhängige  Satz,  durch  die  Conjunctionen  Ob  und  Daß  ein- 
geführt, enthält  den  ganzen  Inhalt  ohne  irgend  eine  Aussage 
über  Art  und  Werth  seiner  Geltung.  Eben  deshalb  halte 
ich  auch  diesen  abhängigen  Satz  nicht  für  ein  proble- 
matisches Urtheil;  denn  dazu  reicht  nicht  der  Mangel 
einer  Angabe  über  die  Art  der  Geltung  hin,  vielmehr  müßte 
diese  ausdrücklich  auf  bloße  Möglichkeit  beschränkt  werden. 
Von  der  Bitte  ließe  sich  dies  noch  sagen,  daß  sie  die  Mög- 
lichkeit des  Erbetenen  und  nichts  als  diese  einschließt; 
die    Frage,    da    sie    ja    eben    nach    der    Möglichkeit    selbst 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  67 

fragen  kann,  thut  auch  das  nicht  immer;  in  beiden  würde 
auüerdem  die  Voraussetzung  der  Möglichkeit  einer  zwischen 
S  und  P  gedachten  Verbindung  nur  als  ein  dem  Redenden 
zuzutrauender  Gemüthszustand  angerechnet  werden  können, 
in  der  logischen  Form  des  Urtheils  läge  sie  nicht.  Ich 
halte  vielmehr  diesen  abhängigen  Satz  für  eine  modalitäts- 
lose Bezeichnung  eines  bloßen  Urtheilsinhaltes,  und  eben 
weil  kein  vollständiges  Urtheil  aussprechbar  ist,  ohne  ent- 
weder Möglichkeit  oder  Wirklichkeit  oder  Nothwendigkeit 
seiner  Geltung  zu  beanspruchen,  so  kommen  diese  moda- 
litätslosen Sätze  nie  selbständig,  sondern  immer  von  einem 
andern  selbständigen  regiert  vor,  welcher  von  ihrem  Inhalt 
eine  dieser  Modalitäten  asserirt. 

45.  Problematisch  könnten  im  Sinne  unserer  Ansicht 
nur  die  Urtheile  heißen,  welche  durch  ihre  logische  Form 
eine  zwischen  S  und  P  gedachte  Beziehung  als  mögliche 
und  blos  als  mögliche  charakterisiren.  Dies  thun  alle  nach 
ihrer  Quantität  particularen  und  singularen  Urtheile.  Sätze 
von  der  Form:  einige  S  sind  P;  einige  S  können  oder 
müssen  P  sein;  dieses  S  ist  P  oder  kann  oder  muß  P  sein, 
sagen  unmittelbar  nur  von  bestimmten  Fällen  des  S  das 
thatsächliche  mögliche  oder  nothwendige  Vorkommen  des 
Prädicates  P  aus,  und  lassen  zweifelhaft,  wie  in  dieser 
Beziehung  die  nicht  erwähnten  andern  Fälle  des  S  sich 
verhalten;  für  S  an  sich  ist  daher  nur  die  Möglichkeit 
jedes  von  jenen  drei  Verhältnissen  zu  P  ausgesprochen 
und  diese  particularen  Sätze  sind  gleichbedeutend  mit  den 
assertorischen:  S  kann  P  sein  können;  S  kann  P  sein; 
S  kann  P  sein  müssen.  Deshalb  nenne  ich  die  particularen 
Sätze  problematisch  in  Bezug  auf  das  allgemeine  S;  daß 
sie  zugleich  offenbar  assertorisch  sind  in  Bezug  auf  die 
einigen  S,  von  denen  jeder  spricht,  streitet  gar  nicht  gegen 
meine  Auffassung;  dieser  Umstand  macht  nur  darauf  auf- 
merksam, daß  die  bloße  Möglichkeit  einer  Beziehung 
zwischen  S  und  P  sich  in  der  That  auf  keinem  andern 
Wege  erkennen  läßt,  als  durch  die  Beobachtung,  daß  diese 
Beziehung  von  einigen  S  wirklich  gilt,  gelten  kann  oder 
muß,  von  anderen  nicht  gilt,  nicht  gelten  kann  oder  muß. 
Es  gibt  daher  allerdings  gar  keine  selbständigen  problema- 
tischen Urtheile,  die  nicht  in  Bezug  auf  einen  Theil  ihres 
allgemein  ausgedrückten  Subjectsbegriffes  insofern  asser- 
torisch wären,  daß  sie  von  diesem  die  Möglichkeit  Wirk- 
lichkeit oder  Nothwendigkeit  eines  Prädicates  behaupteten. 


68  Zweites  Kapitel. 

46.  Man   bemerkt   endlich   leicht,   daß   das   Kann  und 
Muß  der  gewöhnlichen  problematischen  und  apodiktischen 
Urtheile  und  das  Ist  der  assertorischen  einerseits  zur  Be- 
zeichnung aller  sachlich  wichtigen  Unterschiede  der  Geltung 
des  Urtheilsinhaltes  gar  nicht  ausreichen,  anderseits,  und 
eben   deshalb,    sehr   verschiedene   Verhältnisse   unter   den- 
selben Ausdruck  zusammenwerfen.  Zuerst :  welche  Modalität 
haben   Sätze    wie   diese:    S   wird   P  sein;    S   soll   P  sein; 
S  darf  P  sein;  S  ist  P  gewesen?    Wirklichkeiten  behaupten 
sie   alle   nicht;   aber   die   Unwirkhchkeit  des   Vergangenen 
im  letzten   ist   doch   ganz   etwas  anderes  als   die   des  Er- 
laubten Befohlenen  oder  Zukünftigen  in  den  ersteren;  mög- 
lich ist  dies  Unwirkliche  im  dritten,  zweifelhaft  seine  Mög- 
lichkeit im   zweiten,   unvermeidlich   seine   Wirklichkeit   im 
ersten,  unwiderruflich,  aber  zugleich  unwirklich  im  letzten. 
Hätte  man  alle  diese  Schattirungen  berücksichtigt,  so  würde 
man   die   Modalitätsformen   noch   um   viele  Glieder  haben 
vermehren  können.    Anderseits  wie  ganz  Verschiedenes  be- 
deuten die  gleichgeformten  Sätze :  es  kann .  heute  regnen ; 
der  Papagei  kann  reden;  jedes  Viereck  kann  in   Dreiecke 
getheilt  werden!    Dort  eine  Annahme,  die  möglich  ist,  weil 
man   keinen   Gegengrund   weiß;   dann   eine   Fähigkeit,   die 
da  ist  aus  Gründen,  welche  nicht  dazusein  brauchten;  zu- 
letzt ein  nothwendiges  Ergebniß  einer  Operation,  die  man 
beliebig   anstellen    oder   unterlassen   kann.    Ich   vermeide, 
diese  Beispiele  zu  häufen,  die  sich  ins  Unbestimmte  ver- 
mehren ließen;  sie  alle  zergliedern  wollen  wäre  eine  ebenso 
thörichte  Aufgabe,  als  die  eines  mathematischen  Lehrbuchs, 
das  alle  möglicherweis  vorkommenden  Exempel  im  Voraus 
auszurechnen  unternähme.  Im  Gebrauch  des  Denkens  fließen 
freilich  unsere  Folgerungen  eben  aus  diesen  verschiedenen 
sachlichen  Bedeutungen  der  erwähnten  Bezeichnungen;  aber 
es  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  eben  in  jedem  Einzelfalle 
zuzusehen,  was  man  vor  sich  hat,   ob  eine  versuchsweis 
annehmbare  Möglichkeit  wegen  Mangels  des  Beweises  der 
Unmöglichkeit,   ob    eine   wohlbegründete   auf  ihren   Bedin- 
gungen sicher  ruhende  Fähigkeit,   ob  eine  Nothwendigkeit 
wegen  Vorhandenseins   zwingender   Gründe,   oder   ob   eine 
solche  des  Gebotes  des  Zweckes  der  Pflicht,  ob  endlich  eine 
jener  Combinationen  von  Möglichkeit  Wirklichkeit  und  Noth- 
wendigkeit, von  denen  wir  oben  ein  Beispiel  berührten. 


Die  Lehre  vom  Urtheil,  69 


Die  Keihe  der  Urtheilsformen. 

A.  Das  Impersonale  Urtheil.    Das  kategorische  Urtheil. 
Der  Satz  der  Identität. 

47.  Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  in  der  Reihe 
der   Urtheilsformen    das   kategorische   dem   hypothetischen 
und  dem  disjunctiven  vorangeht.    Das  Auftreten  eines  Prä- 
dicates  P  an   einem   Subject  S  von  einer  vorauserfüllten 
Bedingung   abhängig    zu   machen,   kann   Veranlassung   ^ur 
durch  frühere  Erfahrungen  gegeben  sein,  die  an  einigen  S 
dies  P  fanden,  an  andern  nicht;  Erfahrungen,  die  zuletzt 
immer  in   der  Form  des  kategorischen  Urtheils:  S   ist  P, 
ihren  Ausdruck  gefunden  haben  müssen.  Ebensowenig  kann 
daran    gedacht    werden,    dem    S    die    nothwendige    Wahl 
zwischen    verschiedenen    Prädicaten    vorzuschreiben,    ehe 
frühere   Erfahrungen   die   immer  vorkommende   Beziehung 
des  S  zu  einem  allgemeineren  Prädicate  festgestellt  haben, 
dessen   Arten   jene   zur  Wahl   gestellten   sind;  auch   diese 
Erfahrungen  würden  ihren  natürlichen  Ausdruck  in  einem 
Urtheil    der    Form:    S    ist   P,    finden.    Diese    Abhängigkeit 
verräth  sich  bleibend  auch  in  dem  Bau  der  hypothetischen 
und    der    disjunctiven    Urtheile;    wie    verwickelt    auch   im 
einzelnen  Falle  ihre  Gliederung  sein  mag,  sie  laufen  doch 
auf  das  allgemeine  Schema  zurück,  zwei  Urtheile  der  Form : 
S  ist   P,   entweder  als   Vordersatz  und  Nachsatz   oder  als 
einander  ausschließende  Glieder  zu  einer  Gesammtbehaup- 
tung   zu    verknüpfen.     Aber  fraglich   kann   sein,   ob    nicht 
eine  noch  einfachere  Form  dem  kategorischen  Urtheile  selbst 
in  der  systematischen  Reihenfolge  vorangehen  müsse.    Der 
Satz:   S   ist  P,   kann  nur  ausgesprochen  werden,   wo   der 
Vors tellungs verlauf    ein    feststehendes     und    durch     seinen 
eignen   Inhalt    gekennzeichnetes    S    bereits   kennen   gelehrt 
hat,  zu  welchem  der  Inhalt  eines  P  als  hinzukommendes 
Prädicat  gedacht  werden  kann.    Dies  wird  nicht  immer  ge- 
schehen sein;  ja  man  kann  fragen,  ob  nicht  in  jedem  Falle 
die   Ermittelung    des    bestimmten    S,    welches    einem  kate- 
gorischen Urtheile   zum   Subject  dienen  wird,  die  logische 
Verwerthung    von    Erfahrungen    voraussetzt,    in    denen  S 
in  dieser   fertigen   Gestalt  noch  nicht  vorkommt.    Die   Be- 
antwortung dieser  Frage,  welche  sich  auf  die  psychologische 
Entwicklung  unseres   Donkens  bezöge,  lasse  ich  dahin  ge- 


70  Zweites  Kapitel. 

stellt;  es  genügt  hier  die  Thatsache,  daß  auch  in  unserem 
ausgebildeten  Denken  sich  eine  Urtheilsform  noch  gar  nicht 
verloren  hat,  welche  diese  einfachste  Aufgabe  behandelt, 
einen  Inhalt  der  Wahrnehmung  logisch  zu  fassen,  ohne 
ihn  als  Bestimmung  oder  Veränderung  eines  schon  fest- 
gestellten Subjectes  anzusehen.  Es  ist  das  Impersonale 
Urtheil,  welches  ich,  als  die  erste  Urtheilshandlung  des 
Denkens,  hier  zur  Vorstufe  des  kategorischen  mache. 

48.  Ich  glaube  nicht  nöthig  zu  haben,  die  logische  Be- 
deutung des  impersonalen  Urtheils  weitläufig  gegen  eine 
Meinung  zu  vertheidigen,  die  in  ihm  nur  den  sprachlichen 
Ausdruck  des  Wahrnehmungsinhaltes  selbst,  ohne  alle 
logische  Arbeit,  erblicken  möchte.  Der  Naturlaut,  mit  dem 
der  Frierende  sich  gegen  seinen  frierenden  Nachbar  schüttelt, 
ist  ein  solches  bloßes  Zeichen,  das  nur  zur  Verlautbarung 
seines  Zustandes  dient;  aber  sobald  er  sein  Unbehagen  in 
dem  Satze  ausspricht:  es  ist  kalt,  hat  er  unstreitig  eine 
Denkarbeit  vollzogen.  Indem  er  dem  an  sich  ungeschiedenen 
Inhalt  seiner  Wahrnehmung  diese  zweigliedrige  Form  eines 
Prädicates  gibt,  das  durch  eine  Copula  auf  ein  Subject  be- 
zogen ist,  drückt  er  aus,  daß  nur  in  solcher  Gestalt  dieser 
Inhalt  ihm  als  eine  wahrgenommene  Wirklichkeit  denkbar 
ist.  Allerdings  ist  er  nicht  im  Stande,  dem  Subject  einen 
für  sich  bestehenden  Inhalt  zu  geben;  nur  die  leere  Stelle 
desselben,  und  daß  sie  einer  Ausfüllung  bedürfe,  deutet 
er  an,  entweder  durch  das  unbestimmte  Pronomen  oder 
in  andern  Sprachen  durch  die  dritte  Person  des  Zeit- 
wortes, die  er  statt  seines  Infinitivs  braucht;  allerdings 
fällt  der  ganze  angebbare  Inhalt  der  Wahrnehmung,  die  er 
ausspricht,  in  das  Prädicat  allein;  allerdings  endlich  hat 
die  Copula,  die  er  zwischen  beide  stellt,  noch  nicht  den 
Sinn  einer  bestimmten  ausdrückbaren  Beziehung;  sie  hält 
nur  formell  als  Subject  und  Prädicat  auseinander,  was 
inhaltlich  unaufhaltsam  in  einander  übergeht  und  ver- 
schmilzt. Aber  eben  durch  diesen  Versuch,  eine  Gliederung 
herzustellen,  der  sich  der  vorgestellte  Inhalt  noch  nicht 
fügen  will,  drückt  das  impersonale  Urtheil  um  so  deutlicher 
die  Voraussetzung  des  Denkens  aus.  Alles,  was  Inhalt  einer 
Wahrnehmung  sein  wolle,  sei  nur  als  Prädicat  an  einem 
bekannten  oder  unbekannten   Subjecte  zu  denken. 

49.  Warum  ich  hier  wiederholt  von  Wahrnehmung  ge- 
sprochen habe,  erläutere  ich  jetzt.  Die  Unbestimmtheit 
des   Subjects    hat   man   so   gedeutet,   daß   es    nur   in   sub- 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  71 

stantivischer  Fassung  dasselbe  meine,  was  das  Prädicat 
verbal  ausdrückt.  Nun  bezweifle  ich  nicht,  daß  Jemand, 
darüber  befragt,  was  er  unter  dem  Es  meine,  von  dem 
er  sagt,  es  blitze  oder  donnere,  sehr  leicht  zu  der  Antwort 
getrieben  werden  kann:  eben  das  Blitzen  blitze  oder  der 
Donner  donnere.  Ich  glaube  jedoch,  daß  er  dann  aus  Ver- 
legenheit etwas  anderes  sagt,  als  er  mit  seinem  impersonalen 
Urtheile  wirklich  wollte.  Ganz  wesentlich  scheint  es  mir, 
daß  der,  welcher  es  ausspricht,  in  der  That  den  bestimmten 
Inhalt  als  haftend  an  einem  unbestimmten  Subject  be- 
trachtet, dessen  Umfang  viel  größer  ist  und  über  den  des 
bestimmten  Prädicates  hinausreicht;  wenn  er  dann  ver- 
schiedene Ausdrücke  dieser  Art  aufeinanderfolgen  läßt:  es 
blitzt,  es  regnet,  es  ist  kalt,  so  sagt  er  zwar  nicht  ge- 
flissentlich, daß  das  unbestimmte  Pronomen  in  allen  diesen 
Sätzen  dasselbe  bedeute,  aber  gewiß  würde  er,  wenn  er 
sich  selbst  richtig  verstände,  diese  Antwort  eher  geben 
als  die  vorige.  Dieses  Es  ist  in  der  That  als  das  gemein- 
same Subject  gedacht;  an  welchem  alle  verschiedenen  Er- 
scheinungen als  Prädicate  hängen  oder  aus  dem  sie  hervor- 
gehen; es  bezeichnet  den  allesumfassenden  Gedanken  der 
Wirklichkeit,  die  bald  so  bald  anders  gestaltet  ist.  Dies 
haben  diejenigen  richtig  gefühlt,  welche  in  dem  impersonalen 
Urtheile  einen  Existenzialsatz  zu  finden  glaubten  und 
den  Satz :  es  blitzt,  in  den  andern  umformten :  das  Blitzen 
ist.  Nur  diese  Umformung  selbst  halte  ich  für  unnatürlich; 
so  drückt  man  sich  eben  niemals  aus;  unser  unbefangenes 
Denken  sieht  nicht  den  Inhalt  der  Erscheinung  so  an, 
als  wäre  er  vor  seiner  Existenz  schon  etwas,  wovon  man 
sprechen  und  unter  Anderem  auch  die  Wirklichkeit  aus- 
sagen könnte;  sondern  umgekehrt  sieht  es  den  bestimmten 
Inhalt  der  Wirklichkeit  als  eine  Erscheinung  ein  Prädicat 
eine  Folge  an,  die  neben  anderen  aus  einem  vorausgehenden 
bleibenden  wenn  auch  ganz  unsagbaren  Subjecte  hervor- 
geht. Aber  darin  hat  doch  dieser  unzulässige  Versuch  Recht, 
daß  jedes  echte  impersonale  Urtheil  eine  wirkliche  jetzt 
eben  gemachte  Wahrnehmung  ausdrückt  und  mithin  seiner 
Form  nach  ein  assertorisches  Urtheil  ist.  Wir  unter- 
scheiden dabei  von  den  echten  Urtheilen  dieser  Art  jene 
anderen  Ausdrucksweisen,  die  zwar  mit  dem  unbestimmten 
Es  als  Subject  beginnen,  aber  sogleich  durch  einen  er- 
läuternden Satz  seinen  Inhalt  feststellen,  wie  die  Rede- 
formen :  es  ist  nützlich,  daß  die«  oder  jenes  geschehe, 


72  Zweites  Kapitel. 

50.  Je  bestimmter  nun  das  Denken  die  Nothwendig- 
keit  des  Subjects  hervorhebt,  an  dem  das  Prädicat  haften 
soll,  um  so  weniger  kann  es  bei  dem  Ausdrucke  dieser 
unerfüllten  Forderung  bleiben.  Es  gehört  nun,  wie  ich 
schon  bemerkte,  nicht  zu  meiner  logischen  Aufgabe,  zu 
schildern,  auf  welchem  Wege  der  Vergleichung  und  Be- 
obachtung uns  allmählich  die  Vorstellungen  der  gesuchten 
Einzelsubjecte  entstehen,  welche  in  den  verschiedenen 
impersonalen  Urtheilen  das  unbestimmte  Es  zu  ersetzen 
haben;  nur  die  logische  Form  habe  ich  aufzuzeigen,  in 
welcher  diese  Forderung  erfüllt  ist.  Es  ist  die  des  kate- 
gorischen Urtheils  von  der  bekannten  Form:  S  ist  P, 
unter  welche  die  meisten  der  einfachen  Beispiele  fallen, 
deren  die  Logik  sich  gewöhnlich  zur  ersten  Verdeutlichung 
des  Urtheils  überhaupt  bedient:  das  Gold  ist  schwer,  der 
Baum  ist  grün,  der  Tag  ist  windig.  Zu  lehren  ist  kaum 
etwas  über  diese  Form,  deren  Bau  ganz  durchsichtig  und 
einfach  scheint;  es  ist  nur  zu  zeigen,  daß  diese  scheinbare 
Klarheit  völlig  räthselhaft  ist,  und  daß  die  Dunkelheit, 
die  über  dem  Sinne  der  Oopula  in  dem  kategorischen 
Urtheile  schwebt,  auf  lange  hinaus  den  weitertreibenden 
Beweggrund  zu  den  nächsten  Umformungen  der  logischen 
Arbeit  bilden  wird. 

51.  Man  bemerkt  sogleich  eine  gewisse  Verlegenheit, 
welche  entsteht,  wenn  nach  dem  Sinne  der  Verbindung 
zwischen  S  und  P  gefragt  wird,  durch  den  sich  das  kate- 
gorische vom  hypothetischen  und  vom  disjunctiven  Urtheil 
unterscheide.  Eine  häufige  Antwort  ist:  das  kategorische 
behaupte  das  Prädicat  P  von  seinem  Subjecte  S  schlecht- 
hin; doch  diese  Antwort  befriedigt  nur  durch  den  ver- 
neinenden Theil  ihres  Sinnes,  welcher  von  dem  l^ategorischen 
Satze  den  Gedanken  einer  Bedingung  und  den  eines  Gegen- 
satzes einander  ausschließender  Prädicate  negirt ;  aber  nach- 
dem wir  wissen,  was  diese  Urtheilsform  nicht  thut,  er- 
halten wir  über  das,  was  sie  thut,  gar  keine  positive  Auf- 
klärung durch  die  Angabe,  daß  sie  ihr  P  ihrem  S  schlechthin 
zufüge.  In  der  That  erwähnt  diese  Angabe  nur  die  größere 
Einfachheit  der  kategorischen  Copula  im  Vergleich  mit  der 
des  disjunctiven  und  des  hypothetischen  Urtheils;  aber 
immer  muß  doch  diese  einfachere  Verknüpfung  ihr  S  und  P 
in  einem  bestimmten  angebbaren  Sinne  verknüpfen,  durch 
den  sie  sich  von  andern  denkbaren  theils  verwickeiteren 
theils  gleich  einfachen  Verbindungsweisen  derselben  unter- 
scheidet.   Wie  nöthig  diese  Forderung  ist,  erhellt  am   ein- 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  73 

fachsten  daraus,  daß  unter  allen  Verbindungen  von  S  und  P 
die  vollkommene  Identität  beider  diejenige  sein  würde, 
die  am  allereinleuchtendsten  den  Namen  einer  schlecht- 
hinigen verdienen  würde.  Aber  gerade  diese  wird  im  kate- 
gorischen Urtheil  im  Allgemeinen  gar  nicht  gemeint;  der 
Satz :  Gold  sei  schwer,  will  nicht  sagen,  daß  Gold  und 
Schwere  identisch  seien;  die  Sätze:  der  Baum  sei  grün, 
der  Himmel  blau,  setzen  ebensowenig  den  Baum  der  Grüne 
und  den  Himmel  der  Bläue  gleich.  Im  Gegentheil,  was 
man  wirklich  mit  diesen  Urtheilen  meint,  wird  man  eifrig 
so  ausdrücken:  P  sei  nicht  das  S  selbst,  sondern  nur  ein 
Prädicat  von  S,  oder:  S  sei  nicht  P,  sondern  habe  nur  P. 
Man  gesteht  damit  ein,  daß  zwischen  S  und  P  hier  ein  be- 
stimmtes von  anderen  unterscheidbares  Zusammengehören 
gedacht  wird,  und  es  bleibt  nur  übrig,  auch  wirklich  klar 
zu  machen,  worin  jenes  Haben  besteht,  das  man  dem  Sein 
gegenüberstellt,  oder  logischer  ausgedrückt:  worin  das  Ver- 
hältniß  eines  Subjects  zu  seinem  Prädicate  zu  suchen 
sei,  welches  man  von  dem  Verhältniß  der  Identität  beider 
unterschieden  wissen  will. 

52.  Piaton  zuerst  berührte  diese  Aufgabe ;  seine  Lehre, 
die  Dinge  besitzen  ihre  Eigenschaften  durch  Theilnahme 
an  den  ewigen  Allgemeinbegriffen  derselben,  war  mehr  eine 
unzureichende  Beantwortung  einer  metaphysischen  Frage 
nach  dem  Baue  des  Wirklichen,  als  eine  Auskunft  über  das, 
was  wir  uns  dabei  denken,  wenn  wir  logisch  eine  Be- 
ziehung zwischen  Subject  und  Prädicat  aufstellen.  Aristoteles 
schaffte  die  Vorbedingung  richtiger  Behandlung  durch  die 
Bemerkung  herbei,  daß  die  Merkmale  vor  allem  von  ihren 
Subjecten  ausgesagt  werden;  es  stand  nun  wenigstens 
fest,  daß  eine  logische  Thätigkeit  des  Denkenden  es  ist, 
welche  den  Begriffsinhalt  des  einen  dieser  Glieder  auf 
den  des  anderen  bezieht;  aber  mehr  als  diesen  Namen  des 
Aussagens,  des  xaTi^yopeiv,  von  dem  das  kategorische 
Urtheil  und  in  lateinischer  Uebersetzung  das  Prädicat  den 
seinigen  herleitet,  entdeckte  auch  Aristoteles  nicht.  Von 
einer  Verirrung  späterer  Logik  blieb  er  allerdings  frei : 
er  schwächte  die  Verknüpfung  von  S  und  P,  die  er  meinte, 
nicht  aus  einer  logischen  Thätigkeit  zu  einem  blos 
psychischen  Ereigniß  ab,  so  daß  die  Beziehung  zwischen 
beiden  nur  darin  bestanden  hätte,  daß  mit  der  Vorstellung 
von  S  sich  die  des  P  in  unserem  Bewußtsein  lediglich 
associirte;  ein  sachliches  Verhältniß  zwischen  beiden  Vor- 
stellungsinhalten war  vielmehr  für  ihn  der  Sinn  des  Urtheils 


74  '  Zweites  Kapitel. 

und  der  Grund  es  auszusprechen.  Aber  er  gab  nicht  an, 
was  denn  dem  S  eigentlich  dadurch  geschieht,  daß  wir  P 
von  ihm  aussagen;  das  Aussagen  selbst,  welches  doch 
diese  sachliche  Beziehung  zwischen  S  und  P  nur  anerkennen 
und  zum  Ausdruck  bringen  kann,  ließ  er  zugleich  als  Be- 
zeichnung dieses  Verhältnisses  selbst  gelten,  welches  den 
Gegenstand  seiner  Anerkennung  bilden  müßte.  Nun  ist  es 
leicht,  die  völlige  Unzulässigkeit  dieser  Vermischung  ein- 
zusehen: man  kann  nicht  von  dem  Sokrates  den  Begriff 
Sklave  blos  aussagen,  so  daß  das  Aussagen  selbst  das  Ver- 
hältniß  feststellte,  in  welchem  dieser  Begriff  zu  dem  des 
Sokrates  stände;  was  man  mit  einem  Urtheile  wirklich 
meint,  ist  immer  dies,  daß  Sokrates  entweder  Sklave  ist 
oder  nicht  ist,  entweder  Sklaven  besitzt  oder  nicht  besitzt, 
sie  entweder  freiläßt  oder  nicht  freiläßt.  Eine  dieser  ver- 
schiedenen Beziehungen,  in  welche  die  Inhalte  beider  Be- 
griffe gebracht  werden  können,  bildet  in  jedem  Falle  das- 
jenige, was  die  Aussage  aussagt,  und  es  ist  nur  Sache  des 
Sprachgebrauchs,  wenn  man  gewöhnlich  nur  die  erste  dieser 
Beziehungen,  nämlich  daß  Sokrates  Sklave  sei,  still- 
schweigend verstanden  wissen  will,  wo  man  den  zweiten 
dieser  Begriffe  von  dem  ersten  auszusagen  behauptet.  Das 
Verhältniß  mithin,  welches  in  einem  kategorischen  Urtheil 
zwischen  S  und  P  stattfindet,  wird  nicht  in  seinem  Unter- 
schiede von  andern  Verhältnissen  dadurch  bestimmt,  daß 
man  angibt,  P  von  S  auszusagen,  sondern  die  Bedeutung 
dieses  Aussagens,  welche  an  sich  vieldeutig  ist,  wird  viel- 
mehr durch  den  verschwiegenen  Nebengedanken  bestimmt, 
P  solle  von  S  als  Prädicat  vom  Subjecte  ausgesagt 
werden.  Worin  nun  dieses  eigenthümliche  Verhältniß  be- 
stehe, bleibt  nach  wie  vor  Gegenstand  weiterer  Frage. 

53.  Wir  Neueren  sind  gewöhnt,  uns  hierüber  an  die 
Lehre  Kant's  zu  halten,  welcher  das  Verhältniß  eines 
Dinges  zu  seiner  Eigenschaft  oder  der  Substanz  zu 
ihrem  Accidens  als  das  Muster  bezeichnete,  nach  welchem 
das  Denken  in  dem  kategorischen  Urtheile  S  und  P  ver- 
knüpfe. Welchen  triftigen  Sinn  nun  immer  diese  Behaup- 
tung in  dem  Gedankenzusammenhange  Kant's  haben  möge, 
so  scheint  sie  mir  doch  für  unsere  logische  Frage  unver- 
wendbar. Ohne  die  Bedenken  darüber  zu  berühren,  ob 
denn  dieses  Verhältniß  selbst  zwischen  Substanz  und  Eigen- 
schaft ein  so  klarer  und  unmißverständlicher  Gedanke  sei, 
daß  durch  ihn  alle  Dunkelheit  des  kategorischen  Urtheils 
verschwände,  begnüge  ich  mich  zn  erinnern,  daß  logische 


Die  Lehre  vom  Urtlieil.  75 

Urtheile  nicht  blos  von  Wirklichem,  von  Dingen  sprechen; 
viele  von  ihnen  haben  zu  ihrem  Subjecte  einen  nur  denk- 
baren Inhalt,  ein  Unwirkliches,  selbst  Unmögliches.  Auf 
das  Verhältniß  dieser  Subjecte  zu  ihren  Prädicaten  kann 
die  Beziehung,  welche  zwischen  dem  wirklichen  Dinge  als 
solchem  und  seinen  Eigenschaften  stattfindet,  offenbar  nicht 
in  ihrer  vollen  Bedeutung,  sondern  nur  gleichnißweise,  sagen 
wir  symbolisch,  übertragen  werden.  Drücken  wir  uns  ge- 
nauer aus,  so  besteht  zwischen  den  hier  besprochenen  Ver- 
hältnissen nur  die  formelle  Gemeinsamkeit,  daß  beide  das 
eine  ihrer  Beziehungsglieder,  Ding  oder  Subject,  als  selb- 
ständig fassen,  das  andere,  Eigenschaft  oder  Prädicat,  un- 
selbständig diesem  ersten  anhaften  oder  inhäriren  lassen. 
In  Bezug  auf  das  Ding  aber  hat  sich  die  Metaphysik 
wenigstens  darum  bemüht,  nachzuweisen,  wie  Eigenschaften 
entstehen  können,  die  nicht  das  Ding  sind,  aber  doch  an 
ihm  haften,  und  worin  das  besteht,  was  wir  unter  diesem 
Anhaften  verstehen;  in  Bezug  auf  das  Verhältniß  zwischen 
Subject  und  Prädicat  vermissen  wir  den  gleichen  Nachweis 
des  Sinnes,  den  hier  die  Inhärenz  des  einen  an  dem  andern 
hat.  Die  Berufung  auf  die  Relation  zwischen  Ding  und 
Eigenschaft  nützt  daher  der  Logik  nichts;  es  wiederholt 
sich  die  Frage :  wieviel  bleibt  von  dieser  metaphysischen 
Relation  als  eine  im  kategorischen  Urtheil  aussprechbare 
logische  Beziehung  zwischen  S  und  P  übrig,  wenn  an- 
statt des  Dinges  etwas  gesetzt  wird,  was  nicht  Ding,  und 
anstatt  der  Eigenschaft  etwas,  was  nicht  Eigenschaft  ist? 
54.  Ohne  diesen  üblichen,  aber  untriftig  befundenen 
Versuchen  zur  Rechtfertigung  des  kategorischen  Urtheils 
neue  hinzuzufügen,  spreche  ich  die  Folgerung  aus,  zu  der 
wir  gedrängt  werden :  diese  schlechthinige  Verbindung  zweier 
Begriffsinhalte  S  und  P,  so  daß  der  eine  unmittelbar  der 
andere  sei  und  doch  auch  wieder  nicht  sei,  beide  vielmehr 
einander  als  verschieden  gegenüber  bleiben,  ist  eine  im 
Denken  ganz  unausführbare  Beziehung ;  durch  diese  Copula 
des  kategorischen  Urtheils,  das  einfache  Ist,  lassen  sich 
überhaupt  zwei  verschiedene  Inhalte  nicht  verknüpfen;  sie 
müssen  entweder  ganz  ineinanderfallen  oder  ganz  getrennt 
bleiben,  und  das  unmögliche  Urtheil  S  ist  P  löst  sich  in 
die  drei  anderen  auf:  S  ist  S,  P  ist  P,  S  ist  nicht  P. 
Man  möge  sich  nicht  zu  sehr  an  das  Auffallende  dieser 
Behauptung  stoßen.  Kategorische  Urtheile  von  der  Form : 
S  ist  P,  sind  im  Gebrauch  unseres  Denkens  so  gewöhnlich, 


76  Zweites  Kapitel. 

daß  ohne  Zweifel  das,  was  man  mit  ihnen  meint,  sich 
schließlich  rechtfertigen  wird,  und  wir  werden  sehr  bald 
sehen,  wie  dies  möglich  ist.  Aber  dieser  Rechtfertigung 
bedarf  das  kategorische  Urtheil  auch  in  der  That;  in  der 
Form,  in  welcher  es  unmittelbar  auftritt,  ist  es  eine  wider- 
sprechende und  sich  wiederauflösende  Figur  des  Ausdrucks, 
in  welcher  das  Denken  entweder  eine  noch  nicht  gelöste 
Aufgabe,  die  Beziehung  zwischen  S  und  P  zu  bestimmen, 
als  gelöst  hinstellt,  oder  die  gefundene  Lösung  so  verkürzt 
ausspricht,  daß  ihr  Zusammenhang  nicht  mehr  sichtbar 
bleibt.  Dem  gegenüber  drängt  sich  jetzt  uns  das  Bewußtsein 
einer  Schranke  auf,  die  unserem  Denken  allgemein  gesetzt 
ist,  oder  eines  Gesetzes,  dem  es  sich  in  allen  seinen  Ver- 
fahrungsweisen  fügen  muß :  die  Ueberzeugung,  daß  in  kate- 
gorischer Urtheilsform  jeder  Inhalt  nur  als  sich  selbst  gleich 
gedacht  werden  darf.  Durch  die  Formel  A:=A  drücken  wir 
dies  erste  Denkgesetz,  den  Grundsatz  oder  das  Princip 
der  Identität  bejahend  aus;  die  verneinende  Formel 
A  nicht  =  Non  A  bezeichnet  es  als  Princip  des  Wider- 
spruchs gegen  jeden  Versuch,  A=:B  zu  setzen. 

55.  Ich  unterbreche  meine  Darstellung  hier  noch  nicht 
durch  später  nachzuholende  Bemerkungen  über  die  ver- 
schiedenen Deutungen,  welche  dies  erste  Denkgesetz  er- 
fahren hat,  und  beschränke  mich  auf  die  genaue  Bestimmung 
des  Sinnes,  den  ich,  im  Gegensatz  zu  manchen  dieser 
Deutungen,  ihm  beilegen  werde.  Von  einem  höchsten  Grund- 
satz, welcher  unser  ganzes  Denken  einschränkt,  versteht 
es  sich  von  selbst,  daß  er  in  der  Anwendung  des  Denkens 
auf  verschiedene  Gruppen  seiner  möglichen  Gegens'tände 
sich  in  eine  Anzahl  specieller  Sätze  verwandelt,  welche  den 
allgemeinen  Sinn  des  Princips  in  den  besondern  Formen 
darstellen,  in  denen  es  auf  die  besonderen  Eigenthümlich- 
keiten  jener  Gegenstände  anwendbar  und  für  ihre  Behand- 
lung wichtig  ist.  Diese  Folgerungen  aus  dem  Princip  der 
Identität,  die  theils  völlig  theils  gar  nicht  unzweifelhaft  sind, 
müssen  von  seinem  eignen  ursprünglichen  Sinne  unter- 
schieden werden  und  haben  ihre  Heimat  an  dieser  Stelle 
der  Logik  nicht.  So  ist  es  ganz  nutzlos,  den  Ausdruck  des 
Gesetzes  bis  zu  der  Formel  anzuschwellen:  jedem  Dinge 
könne  in  demselben  Augenblicke  und  an  demselben  Theile 
seines  ganzen  Wesens  immer  nur  ein  Prädicat  A,  aber 
nicht  zugleich  ein  von  A  conträr  oder  contradictorisch 
verschiedenes  Non  A  zukommen.    Richtig  freilich  ist  auch 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  77 

dieser  Satz,  aber  er  bleibt  eine  besondere  Anwendung  des 
Princips  auf  Subjecte  von  dinghafter  Wirklichkeit,  die  aus 
Theilen  zusammengesetzt  und  eines  zeitlichen  Wechsels 
ihrer  Zustände  fähig  sind.  Unrichtig  dagegen  ist  die  schon 
in  diesem  Ausdruck  häufig  vorausgesetzte,  ebenso  häufig 
offen  ausgesprochene  Unterscheidung  zwischen  verträg- 
lichen Prädicaten,  die  demselben  Subject  gleichzeitig 
zukommen  könnten,  und  anderen,  die  es  nicht  könnten, 
weil  sie  unter  einander  und  mit  der  Natur  des  Subjects 
unverträglich  wären.  In  den  Anwendungen  des  Denkens 
hat  natürlich  auch  diese  Behauptung  ihre  Gültigkeit,  nach- 
dem sie  sich  einmal  vor  dem  Gesetze  der  Identität  gerecht- 
fertigt haben  wird;  unmittelbar  aber  weiß  dies  Gesetz  gar 
nichts  von  Prädicaten,  welche,  von  S  verschieden,  dennoch 
mit  ihm  so  verträglich  wären,  daß  sie  mit  ihm  in  einem 
kategorischen  Urtheile  verbunden  werden  könnten;  jedes 
Prädicat  P  vielmehr,  welches  sich  irgendwie  von  S  unter- 
scheidet, wie  freundlich  es  auch  sonst  gegen  S  gedacht 
würde,  ist  durchaus  unverträglich  mit  S;  jedes  Urtheil 
von  der  Form:  S  ist  P,  ist  unmöglich  und  es  bleibt  im 
allerstrengsten  Sinne  dabei,  daß  nur  gesagt  werden  könne: 
S  sei  S  und  P  sei  P.  Und  diese  Deutung  muß  man  auch 
gegen  andere  metaphysische  Folgerungen  aus  dem  Princip 
aufrecht  erhalten.  Es  kann  sein,  daß  im  Verlauf  meta- 
physischer Untersuchung  die  Behauptungen  nothwendig 
werden:  Widersprechendes  könne  nicht  wirklich  sein,  das 
Seiende  müsse  unveränderlich  sein,  und  ähnliche;  aber 
das  logische  Identitätsgesetz  sagt  nur:  Widersprechendes 
sei  widersprechend,  Seiendes  seiend,  Veränderliches  ver- 
änderlich; alle  jene  Sätze,  welche  den  einen  dieser  Be- 
griffe zum  Prädicat  eines  anderen  machen,  bedürfen  ihrer 
weiteren   besonderen    Begründung. 


B.  Das  particulare  Urtheil.    Das  hypothetische  Urtheil. 
Der  Satz  des  zureichenden  Grundes. 

56.  Es  würde  ermüden,  länger  auf  einem  Standpunkt 
zu  verweilen,  auf  dem  doch  unseres  Bleibens  nicht  ist; 
wir  folgen  dem  Denken  zu  den  neuen  Formen,  in  denen 
es  seine  kategorischen  Urtheile  mit  dem  Gesetz  der  Identität 
in  Einklang  zu  bringen  sucht.  Synthetisch  nennt  man 
Urtheile  von   der  Form:   S  ist  P,  wenn   man  unter  P  ein 


78  Zweites  Kapitel. 

Merkmal  versteht,  welches  in  der  Merkmalgruppe  noch  nicht 
enthalten  ist,  durch  welche  man  sich  den  Begriff  von  S 
bestimmt  denkt;  analytisch  heißen  sie,  wenn  P,  obgleich 
nicht  dem  ganzen  S  identisch,  doch  wesentlich  zu  jenen 
Merkmalen  gehört,  durch  deren  Vereinigung  der  Begriff 
des  S  überhaupt  erst  vollständig  wird.  In  den  analytischen 
Urtheilen  tand  man  keine  Schwierigkeit;  die  synthetischen 
aber  erregten  früh  die  Aufmerksamkeit  und  smd  für  uns 
besonders  durch  Kant's  Behandlung  in  den  Vordergrund 
getreten.  Auch  ihm  kam  es  jedoch  hauptsächlich  darauf  an, 
die  Möglichkeit  synthetischer  ürtheile  a  priori  zu  ergründen, 
d.  h.  solcher,  welche  zwischen  S  und  einem  zu  dem  Begriffe 
von  S  nicht  unentbehrlichen  P  eine  dennoch  bestehende 
und  nothwendige  Verknüpfung  behaupten,  ohne  sich  auf 
die  Erfahrung  eines  wirklichen  Vorkommens  derselben  be- 
rufen zu  müssen ;  synthetische  Ürtheile  dagegen  a  posteriori, 
welche  nur  erzählen,  daß  eine  solche  Verbindung  zweier 
für  einander  nicht  nothwendiger  Begriffsinhalte  in  der  Er- 
fahrung vorliege  oder  vorgelegen  haDe,  schienen  ihm  als 
bloße  AusdrücK:e  von  Thatsachen  unverfänglich.  Diese 
Unterscheidungen  mögen  ihre  gute  Berechtigung  innerhalb 
des  Kreises  von  Untersuchungen  haben,  in  welchem  Kant 
sich  bewegte;  unsere  logische  Frage  nach  der  Möglichkeit 
kategorischer  Ürtheile  dagegen  erstreckt  sich  auf  alle  drei 
genannten  Formen  mit  gleicher  Dringlichkeit.  Es  ist  nur 
am  meisten  augenfällig,  daß  ein  apriorisch-synthetisches 
Urtheil  sich  vor  dem  Satz  der  Identität  rechtfertigen  muß, 
dem  es  formell  widerspricht;  aber  von  dem  aposteriorischen 
gilt  dasselbe.  Denn  ein  Urlheil  bildet  nicht  wie  ein  Spiegel 
das  Thatsächliche  blos  ab,  sondern  schiebt  den  ])eobachteten 
Bestandtheilen  desselben  allemal  den  Gedanken  einer  inneren 
Beziehung  unter,  die  nicht  mitbeobachtbar  ist.  Die  Erfahrung 
zeigt  uns  immer  nur,  daß  S  und  P  beisammen  sind;  daß 
beide  aber  durch  die  innere  Beziehung  zusammengehören, 
welche  wir  meinen,  wenn  wir  im  Urlheil  P  als  Prädicat  des 
Subjectes  S  fassen,  ist  die  Deutung,  die  lediglich  unser 
Denken  jenem  Zusammensein  gibt.  Wie  nun  dieses  Ver- 
hältniß  zwischen  Subject  und  Prädicat  überhaupt,  und  wie 
es  zwischen  zwei  bestimmten  Inhalten  S  und  P  stattfinden 
könne,  bleibt  gerade  so  dunkel,  wenn  uns  die  Erfahrung 
ihr  Zusammensein  thatsächlich  gezeigt,  als  wenn  wir  der 
Erfahrung  vorgreifend  es  im  Voraus  behaupten.  Die  ana- 
lytischen Ürtheile  endlich  erregen  dasselbe  Bedenken.  Wenn 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  79 

noch  so  sehr  das  Gelb  in  dem  Begriffe  des  Goldes  schon 
mit  gedacht  wird:  das  Urtheil,  Gold  sei  gelb,  behauptet 
nicht  blos  dies:  die  Vorstellung  des  Gelb  liege  in  der  Vor- 
stellung des  Goldes,  sondern  dem  Golde  selbst  schreibt  es 
die  Gelbheit,  als  seine  Eigenschaft,  zu;  zu  ihr  muß  also 
das  Gold  ein  bestimmtes  Verhältniß  haben,  welches  nicht 
das  der  Identität  ist.  Dies  Verhältniß  ist  zu  ermitteln  und 
es  bleibt  die  Frage  noch  immer :  mit  welchem  Recht  können 
wir  einem  S  ein  P,  welches  nicht  S  ist,  in  einem  kate- 
gorischen  Urtheile   als   Prädicat   beilegen? 

57.  Die  Antwort  kann  nur  die  sein:  wir  können  es  mit 
gar  keinem  Recht;  die  zahllosen  kategorischen  Urtheile  der 
Form.  S  ist  P,  die  wir  im  täglichen  Leben  bilden,  lassen 
sich  nur  durch  den  Nachweis  rechtfertigen,  daß  sie  etwas 
ganz  anderes  meinen,  als  sie  ausdrücken,  und  daß  sie, 
wenn  man  hervorhebt,  was  sie  meinen,  in  der  That  so 
identische  Urtheile  sind,  wie  sie  der  Satz  der  Identität 
verlangt.  Die  erste  Form,  in  welcher  sich  dies  im  natür- 
lichen Denken  verräth,  sind  die  quantitativ  bezeichneten 
Urtheile  überhaupt,  die  ich  künftig  kurz  die  particularen 
nennen  und  als  die  erste  Form  dieser  zweiten  Gruppe  von 
Urtheilsformen  betrachten  werde.  Ich  fasse  unter  diesem 
Namen  nicht  blos  die  hergebrachten  Formen  zusammen, 
welche,  wie :  alle  S  sind  P,  einige  S  sind  P,  dieses  S  ist  P, 
eine  Anzahl  von  Beispielen  des  Allgemeinbegriffs  S  zu  ihrem 
Subjecte  haben,  sondern  auch  diejenigen,  welche  durch  Zeit- 
partikeln, wie:  jetzt,  oft,  oder  durch  Raumbestimmungen, 
wie:  hier,  dort,  dann  durch  ein  Präteritum  oder  Futurum 
des  Zeitworts,  endlich  durch  Nebengedanken  überhaupt,  die 
imv  ollkommen  oder  gar  nicht  ausgesprochen  werden,  die 
allgemeine  Geltung  der  Verbindung  zwischen  S  und  P  auf 
bestimmte  Fälle  beschränken,  also  particularisiren.  In  der 
allgemeinen  Formel :  S  ist  P  des  kategorischen  Urtheils  sieht 
es  so  aus,  als  sei  der  allgemein  ausgedrückte  Begriff  S  das 
Subject,  das  allgemeine  P  sein  Prädicat,  die  beständige  un- 
veränderliche und  uneingeschränkte  Verknüpfung  von  S 
und  P  der  Sinn  des  ganzen  Urtheils.  Ergänzt  man  dagegen 
ausdrücklich,  was  durch  jene  particularisirenden  Neben- 
gedanken angedeutet,  jedenfalls  aber  gemeint  ist,  so  findet 
man,  daß  das  wahre  Subject  nicht  in  dem  allgemeinen  S, 
sondern  in  einem  bestimmten  Beispiele  Tl  desselben,  das 
wahre  Prädicat  nicht  in  dem  allgemeinen  P,  sondern  in 
einer  besonderen  Modification  Tl  desselben,  daß  endlich 
die  behauptete  Beziehung  nicht  zwischen  S  und  P,  sondern 


80  Zweites  Kapitel. 

zwischen  ^  und  II  besteht,  und  daß  diese,  wenn  jene  Er- 
gänzungen richtifr  gemacht  sind,  keine  synthetische  mehr, 
ja  nicht  einmal  eine  analytische,  sondern  geradezu  eine 
identische  ist.  Dies  verdeutlichen  wir  an  einigen  Beispielen. 
58.  Einige  Menschen  sind  schwarz,  sagen  wir,  und 
meinen  damit  ein  synthetisches  Urtheil  zu  bilden,  weil  die 
Schwärze  P  nicht  im  Begriff  S  des  Menschen  liege.  Nun 
ist  aber  nicht  der  Allgemeinbegriff  Mensch  das  wahre  Sub- 
ject  dieses  Satzes,  denn  nicht  er  ist  ja  schwarz,  sondern 
einige  Einzelmenschen  sind  dies  Subject;  unter  diesen 
einigen  aber,  obgleich  sie  nur  als  unbestimmter  Theil  des 
ganzen  Umfangs  der  Menschheit  bezeichnet  sind,  ver- 
stehen wir  doch  keineswegs  einen  so  unbestimmt  ge- 
lassenen Theil;  denn  es  ist  gar  nicht  in  unser  Belieben  ge- 
stellt, welche  einigen  Menschen  wir  aus  der  ganzen  Menge 
der  Menschen  herausgreifen  wollen;  durch  unsere  Aus- 
wahl, durch  die  sie  zu  „einigen"  Menschen  werden,  werden 
sie  nicht  schwarz,  wenn  sie  es  nicht  ohnehin  sind;  man 
muß  also  diejenigen  wählen  und  meint  von  Anfang  an 
nur  diejenigen,  die  schwarz  sind,  kurz  die  Neger;  diese 
allein  sind  das  wahre  Subject  des  Urtheils.  Daß  auch  das 
Prädicat  nicht  in  seiner  Allgemeinheit,  daß  vielmehr  nur 
diejenige  bestimmte  Schwärze  gemeint  wird,  die  an  mensch- 
lichen Körpern  vorkommt,  ist  für  sich  klar,  und  ich  ver- 
folge diese  Bemerkung  später;  hier  erinnere  ich  nur,  daß 
blos  der  Mangel  an  Flexion  im  deutschen  Ausdruck  uns 
über  seinen  eigentlichen  Sinn  täuscht;  der  lateinische:  non- 
nulli  homines  sunt  nigri,  beweist  sogleich  durch  den  Plural 
und  das  Genus  von  nigri,  daß  homines  zu  ergänzen  ist. 
Der  völlige  Sinn  des  Urtheils  ist  also:  einige  Menschen, 
unter  denen  jedoch  nur  die  schwarzen  Menschen  zu  ver- 
stehen sind,  sind  schwarze  Menschen;  es  ist  dem  Inhalt 
nach  völlig  identisch  und  nur  der  Form  nach  dadurch  syn- 
thetisch, daß  ein  und  dasselbe  Subject  von  verschiedenen 
Gesichtspunkten  aus  bezeichnet  wird,  einmal  als  schwarze 
Menschen  im  Prädicat,  ein  andermal  als  Bruchtheil  aller 
Menschen  im  Subject.  Wir  sagen  ferner:  der  Hund  säuft. 
Aber  der  allgemeine  Hund  säuft  nicht;  nur  ein  bestimmter 
einzelner  oder  viele  oder  alle  einzelnen  sind  Subject  dieses 
Satzes.  Aber  auch  das  Prädicat  meinen  wir  anders,  als 
wir  es  ausdrücken:  wir  stellen  den  Hund  nicht  als  Wider- 
spiel eines  stets  laufenden  Röhrenbrunnens  vor:  er  säuft 
nicht  schlechthin,  immer  und  unaufhörlich,   sondern  dann 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  8i 

und  wann.  Und  dies  Dann  und  Wann  ist  zwar  als  eine  un- 
bestimmte Anzahl  von  Augenblicken  ausgedrückt,  aber  auch 
nicht  so  gemeint;  der  Hund  säuft  nur  in  bestimmten  Augen- 
blicken: wenn  er  Durst  hat  oder  mindestens  Appetit,  wenn 
er  etwas  Trinkbares  findet,  wenn  Niemand  ihn  dann  durch 
Drohung  abhält ;  kurz :  der  Hund,  den  wir  mit  jenem  Urtheil 
meinen,  ist  wirklich  nur  der  saufende  Hund,  und  derselbe 
saufende  Hund  ist  auch  das  Prädicat.  Ferner:  Cäsar  ging 
über  den  Rubico;  aber  nicht  der  Cäsar,  der  in  den  Windeln 
lag,  sondern  der,  welcher  aus  Gallien  kam;  nicht  der 
schlafende  sondern  der  wachende,  im  Bewußtsein  der  eben 
vorhandenen  Weltlage;  nicht  der  unentschlossene  sondern 
der,  der  seinen  Entschluß  gefaßt  hatte,  kurz:  der  Cäsar, 
den  das  Subject  des  Urtheils  meint,  ist  nur  derjenige,  den 
das  Prädicat  bestimmt:  der  über  den  Rubico  gehende;  in 
allen  frühern  Augenblicken  seines  Lebens  war  er  nicht  das 
Subject,  an  welches  dieses  Prädicat  sich  hätte  knüpfen 
können.  Auch  leuchtet  schwacher  Fassungskraft  ein,  daß 
Cäsar,  als  er  über  den  Fluß  gegangen  war,  nicht  fortfahren 
konnte,  hinüber  zu  gehen,  sondern  drüben  war;  auch  in 
keinem  späteren  Augenblicke  gedacht  kann  er  also  das 
Subject  sein,  welches  wir  meinten.  Ich  führe  noch  zwei 
Beispiele  an,  die  durch  Kant  berühmt  geworden  sind.  Syn- 
thetisch, sagt  man,  sei  der  Satz :  die  gerade  Linie  ist  der 
kürzeste  Weg  zwischen  zwei  Punkten,  denn  wieder  in  dem 
Begriffe  des  Geraden  noch  in  dem  der  Linie  liege  irgend 
eine  Hindeutung  auf  Längenmaß.  Aber  der  wirkliche  geo- 
metrische Satz  sagt  ja  nicht  von  einer  geraden  Linie  über- 
haupt, daß  sie  dieser  kürzeste  Weg  sei,  sondern  nur  von 
derjenigen,  welche  zwischen  jene  beiden  Punkte  einge- 
schlossen ist.  Darin  aber,  daß  ihre  Ausdehnung  durch  zwei 
Endpunkte  begrenzt  ist,  und  mit  dieser  Nebenbestimmung 
erst  bildet  sie  das  wahre  Subject,  darin  liegt  allerdings  jede 
in  diesem  Fall  wünschenswerthe  Begründung  des  Prädicates. 
Man  überzeugt  sich  leicht,  daß  der  Begriff  einer  Geraden  a  b 
zwischen  den  Punkten  a  und  b  mit  dem  Begriff  der  Ent- 
fernung beider  Punkte  von  einander  völlig  identisch  ist; 
denn  es  ist  unmöglich,  von  dem,  was  wir  mit  dem  Namen 
räumlicher  Entfernung  eigentlich  sagen  w^ollen,  eine  andere 
Vorstellung  zu  geben  als  die,  daß  sie  die  Länge  der  ge- 
raden Linie  zwischen  a  und  b  sei.  Es  gibt  daher  nicht 
kürzere  und  längere  Entfernungen  zwischen  a  und  b,  sondern 
nur  die  eine  ab,  die  immer  sich  gleich  ist.  Von  kürzeren 
und  längeren  Wegen  dagegen  läßt  sich  zwischen  a  und  b 

Lotze,  Logik.  6 


S'2  Zweites  Kapitol, 

«preclieii ;  der  Begriff  des  Weges  bedeutet  nur  irgend  eine 
Art  des  Fortschreitens,  die  von  a  nach  b  führt ;  da  hierdurch 
die  Ueberwindung  der  Differesz  gefordert  ist,  welche  b 
von  a  trennt,  so  kann  es  keinen  von  a  zu  b  führenden  Weg 
geben,  der  einen  Theil  dieser  Differenz  unüberwunden  ließe; 
daß  mithin  der  kürzeste  aller  möglichen  Wege  die  Ent- 
fernung, mithin  die  Gerade  zwischen  den  gegebenen  Punkten 
sei,  ist  ein  völlig,  dem  Inhalt  nach,  identisches  Urtheil, 
das  nur  denselben  Gedankeninhalt  von  verschiedenen  Stand- 
punkten betrachtet.  Auch  der  arithmetische  Satz :  1  -\-b  =  12 
kann  nicht  deswegen  synthetisch  sein,  weil  12  weder  in  7 
noch  in  5  enthalten  sei;  das  vollständige  Subject  besteht 
in  keiner  einzelnen  dieser  Größen,  sondern  in  ihrer  durch 
das  Summenzeichen  verlangten  Verbindung;  in  dieser  aber 
muß,  sobald  die  Gleichung  richtig  sein  soll,  der  Inhalt  des 
Prädicats  vollständig  liegen:  sie  würde  falsch  sein,  wenn 
zu  der  linken  Seite  7-|-5  noch  irgend  ein  x  hinzutreten 
müßte,  um  die  rechte  Seite  12  zu  erzeugen.  Auch  hier 
liegt  daher  ein  dem  Inhalte  nach  völlig  identischer  Satz 
vor,  der  nur  seiner  Form  nach  synthetisch  wird,  indem 
er  dieselbe  12  einmal  als  Summe  zweier  andern  Größen, 
das  andere  Mal  als  ein  durch  seine  Ordnungszahl  bestimmtes 
Glied  der  einfachen  Zahlenreihe  darstellt.  Und  nun  füge 
ich  noch  hinzu,  daß  nicht  Alles  sich  schicklich  auf  einmal 
sagen  läßt;  was  es  eigentlich  damit  auf  sich  habe  und  wie 
es  möglich  sei,  daß  das  Denken  den  gleichen  Inhalt  unter 
verschiedenen  Formen  vorstellt,  dies  zu  erwägen  findet  sich 
sehr  bald  Gelegenheit;  eine  spätere  wird  dann  noch  zeigen, 
daß  meine  letzten  Bemerkungen  nicht  die  Absicht  hatten, 
Kant  eines  so  leicht  aufzufindenden  logischen  Versehens 
zu  beschuldigen. 

59.  Unser  Ergebniß  wäre  jetzt  dies :  die  kategorischen 
Urtheile  von  der  Form :  S  ist  P,  sind  im  Gebrauch  zulässig, 
weil  sie  immer  als  particulare  in  dem  Sinne  unserer  Be- 
zeichnung gedacht  werden,  als  solche  aber  schließlich  iden- 
tische sind.  Mit  dieser  Entscheidung  wird  sich  jedoch 
Niemand  befriedigt  fühlen;  man  wird  mit  Recht  einwenden, 
daß  durch  sie  der  wesentliche  Charakter  eines  Urtheils,  ein 
Verhältniß  der  Zusammengehörigkeit  zwischen  den  Inhalten 
zweier  Vorstellungen  S  und  P  auszusprechen,  überhaupt 
wieder  aufgehoben  wird.  In  der  That,  wenn  wir  durch 
die  angeführten  Ergänzungen  unsere  Beispiele  identisch 
machen,  ihren  ganzen  Inhalt  mithin  schon  in  ihrem  Sub- 


Die  Lehre  vom  Ürtheil.  83 

jecte  ziisanimeiidrängeu,  so  daß  A  den  schwarzen  Menschen, 
b  den  saufenden  Hund,  G  den  über  den  Rubico  gehenden 
Cäsar  bedeutet,  so  schmilzt  die  ganze  Aussage  dieser  Ur- 
theiie,  außer  der  unfruchtbaren  Wahrheit,  daß  A  =  A, 
B  ==  B,  C  =  C,  dahin  zusammen,  A  gebe  es  in  der  Wirk- 
lichkeit beständig,  B  zuweilen,  C  sei  einmal  in  der  Ge- 
schichte vorgekommen.  Mit  andern  Worten:  diese  Urtheile 
behaupten  gar  kein  wechselseitiges  Verhältniß 
zwischen  den  einzelnen  Bestandtheilen  ihres  Inhalts  mehr, 
sondern  nur  noch  von  dem  zusammengefaßten  Ganzen 
dieses  Inhalts  eine  mehr  oder  minder  ausgedehnte  Geltung 
in  der  Wirklichkeit;  ein  offenbarer  Rückfall  auf  den  un- 
vollkommenen Standpunkt  des  impersonalen  Urtheils.  Dieser 
Mangel  wird  noch  empfindlicher  durch  folgende  Ueberlegung. 
Ich  habe  zwar  eben  noch  B  als  Begriff  des  saufenden  Hundes 
bezeichnet,  aber  eigentlich  nicht  mit  Recht;  denn  dieser 
Ausdruck,  welcher  das  Saufen  participial  zu  dem  Subject 
Hund  hinzufügt,  ist  ja  selbst  begreiflich  und  zulässig  nur 
unter  der  Voraussetzung,  daß  wirklich  in  einem  kategori- 
schen Urtheile  dem  Begriff  S  des  Hundes  ein  in  ihm  nicht 
enthaltenes  Merkmal  P  des  Saufens,  und  zwar  in  dem 
Sinne  zugeschrieben  werden  könne,  daß  P  wie  die  Eigen- 
schaft oder  der  Zustand  an  S  als  Subject  oder  Träger  hafte. 
Diese  Möglichkeit  aber  hat  unsere  vorige  Erörterung  eben 
aufgehoben;  es  bleibt  uns  blos  die  Befugniß,  dieses  B 
lediglich  als  zusammenseiende  Summe  seiner  Merkmale 
abcd  zu  fassen  und  zu  sagen:  diesem  nach  dem  Satz  der 
Identität  stets  sich  selbst  gleichen  abcd  komme  eine  be- 
stimmte Wirklichkeit  zu ;  einem  anderen  Aggregat  von  Merk- 
malen abce  komme  solche  Wirklichkeit  ein  anderes  Mal 
zu.  Dagegen  haben  wir  gar  kein  Recht,  etwa  die  gemein- 
same Gruppe  abc  als  etwas  anzusehen,  das  innerlich  zu- 
sammengehörte und  zwar  in  sich  mehr  zusammengehörte, 
als  mit  den  wechselnden  Bestandtheilen  d  und  e,  noch 
weniger  als  ein  solches  Etwas,  das  in  der  Weise  eines 
Subjectes  diesen  wechselnden  Elementen  als  Merkmalen 
einen  Träger  darböte.  Sprachlich  würden  wir  freilich  fort- 
fahren, dieses  abc  als  Hund,  acbd  als  fressenden,  abce  viel- 
leicht als  saufenden  Hund  zu  bezeichnen;  aber  diese  Aus- 
drucksweisen würden  dann  ohne  logische  Begründung  sein; 
alle  unsere  Urtheile  würden  nur  einfache  oder  zusammen- 
gesetzte Wahrnehmungen  ausdrücken  können,  und  zwischen 
diesen  einzelnen  Wahrnehmungen,  ja  selbst  zwischen  den 
einzelnen   Bestandtheilen   jeder  zusammengesetzten   würde 

6* 


84  Zweites  Kapitel. 

gfir  keine  aiigebbare  Verknüpfung  bestehen,  durch  welclie 
ihr  bloßes  Zusammensein  sich  auf  ein  Zusammengehören 
zurückführen  ließe. 

60.  Gegen  dieses  vollständige  Scheitern  seiner  logischen 
Absicht  wehrt  sich  das  Denken  durch  eine  weitere  andere 
Umformung  des  particularen  Urtheils,  die  man  zunächst 
als  einfache  Leugnung  dieses  Zerfalls  unseres  Vorstellungs- 
stoffes in  lauter  nur  thatsächlich  zusammenseiende  Einzel- 
heiten auffassen  kann.  Die  Ergänzungen,  welche  wir  dem 
ausgesprochenen  Subject  S  des  kategorischen  Urtheils  hin- 
zufügten, waren  für  uns  das  Hülfsmittel,  durch  welches  sich 
dieses  Urtheil  vor  dem  Satze  der  Identität  rechtfertigte; 
sie  werden  jetzt  auch  als  der  sachlich  gültige  Grund  an- 
erkannt, welcher  jenes  S  befähigt,  ein  Prädicat  P  anzu- 
nehmen, das  ihm,  so  lange  es  allein  vorhanden  wäre,  nicht 
zukommen  würde.  Die  Nebenumstände,  durch  welche  jenes 
ausgesprochene  S  erst  zu  dem  wahren  Subject  2  des  nun 
identischen  Urtheils  wurde,  erscheinen  jetzt  als  die  Be- 
dingungen, durch  deren  Einwirken  oder  Hinzutreten  der 
Inhalt  jenes  ausgesprochenen  Subjectes  S  so  beeinflußt 
wird,  daß  ein  früher  ihm  fremdes  P  jetzt  ihm  angemessen 
ist  und  ihm  nun  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Satze  der 
Identität  zugehört.  Das  hypothetische  Urtheil  ist  es 
also,  was  als  zweites  Glied  dieser  zweiten  Gruppe  von 
Urtheilsformen  auftritt,  zusammengesetzt  aus  einem  Vorder- 
satz und  einem  Nachsatz,  die  in  dem  einfachsten  typischen 
Falle  dasselbe  Subject  S,  aber  verschiedene  Prädicate  haben, 
im  Vordersatz  ein  Q,  welches  die  zu  S  hinzutretende  Be- 
dingung, im  Nachsatz  ein  P,  welches  das  durch  diese  Be- 
dingung an  dem  S  erzeugte  Folgemerkmal  bezeichnet.  Alle 
hypothetischen  Urtheile  mit  verschiedenen  Subjecten  ihrer 
beiden  Glieder  sind  sprachliche  Verkürzungen  des  Aus- 
drucks und  führen  durch  leicht  zu  ergänzende  Mittelglieder 
auf  diese  Urform  zurück :  wenn  S  ein  Q  ist,  so  ist  S  ein  P. 
Der  Wunsch  ferner,  zugleich  die  wirkliche  Gültigkeit  des 
an  sich  nur  problematischen  Vordersatzes  mit  auszudrücken, 
erzeugt  die  Form:  weil  S  ein  Q  ist,  so  ist  S  ein  P;  die 
Behauptung  endlich,  Q  sei  nicht  der  Grund  für  S,  ein  P 
zu  sein,  bringt  die  letzte  Form  hervor,  deren  Erwähnung 
zu  thun  ist:  obgleich  S  ein  Q  ist,  so  ist  S  dennoch 
nicht  P.    Beide  haben  logisch  nichts  Eigenthümliches. 

61.  Zur  Charakteristik  der  äußeren  Formen  des  hypo- 
thetischen Urtheils  reicht  diese  kurze  Uebersicht  völlig 
aus.     Aber  ein  aufmerksamer  Leser  muß  an  dieser  Stelle 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  85 

nach  dem  Rechte  fragen,  mit  welchem  wir  die  ergänzenden 
Nebenbestimmungen,  durch  deren  Hinzufügung  das  wahre 
Subject  T,  des  dann  identischen  Urtheils  erst  entstand,  in 
Bedingungen  umdeuteten,  die  auf  ein  schon  bestehendes 
Subject  S  wirkend,  an  diesem  das  Prädicat  P  begründen. 
Für  sich  allein  nun  behauptet  der  Satz  der  Identität  nur 
die  Gleichheit  jedes  Inhaltes  mit  sich  selbst,  zwei  ver- 
schiedene setzt  er  in  keine  andere  Beziehung  als  die  der 
gegenseitigen  Ausschließung.  Dächten  wir  uns  nun  ver- 
schiedene einfache  Inhalte  a  b  c  q  p  in  irgend  einer  Wirk- 
lichkeit zugleich  gegeben,  aber  so,  daß  sie  auch  nur  zugleich 
wären,  ohne  unter  einander  in  irgend  einem  innern  Zu- 
sammenhange zu  stehen,  so  würde  in  jedem  nächsten  Augen- 
blicke jede  beliebige  andere  Combination  einiger  dieser 
Elemente  mit  beliebigen  anderen  ebenso  gut  auftreten 
können,  und  wir  würden  daraus,  daß  a  b  c  q  zum  zweiten 
Male  in  unsere  Beobachtung  fielen,  nicht  darauf  schließen 
können,  daß  nun  auch  p  sich  einfinden  müsse;  jedes  be- 
liebige r  oder  s  würde  seine  Stelle  mit  demselben  Rechte 
einnehmen.  Machen  wir  dagegen  die  ganz  allgemeine  Vor- 
aussetzung, daß  die  Gesamtheit  aller  denkbaren  und  wirk- 
lichen Inhalte  eine  nicht  blos  zusammenseiende  Summe, 
sondern  ein  zusammengehöriges  Ganze  sei,  so  reichen  dann 
die  Folgen  des  Identitätsgesetzes  weiter.  Mit  genau  dem- 
selben abcq,  mit  welchem  einmal  sich  p  verbunden  fand, 
kann  dann  nach  dem  Gesetze  der  Identität  weder  jemals 
ein  Non  p  verbunden  sein,  noch  kann  diesem  acbq  das 
frühere  Prädicat  p  jemals  fehlen.  Wie  überhaupt  eine 
solche  Zusammengehörigkeit  zwischen  verschiedenen  Ele- 
menten denkbar  ist,  lassen  wir  einen  Augenblick  noch  da- 
hingestellt; wenn  sie  aber  stattfindet,  so  findet  sie  in 
allen  Wiederholungsfällen  identisch  statt,  und  wenn  wir 
uns  auf  drei  Elemente  beschränken,  so  kann,  wenn  ab  ge- 
geben ist,  nur  c,  wenn  ac  gegeben  ist,  nur  1),  wenn  bc,  nur 
a  als  nothwendiges  neues  Glied  hinzutreten ;  d.  h.  für  jedes 
erste  dieser  Elemente  ist  jedes  zweite  die  zureichende  und 
nothwendige  Bedingung,  unter  der  das  jedesmal  dritte  zu 
ihm  sich  gesellen  kann  und  muß.  Dasjenige  Element  oder 
diejenige  Gruppe  von  Elementen,  der  wir  hier  den  ersten 
Platz  geben,  erscheint  uns  dann  logisch  als  Subject,  das 
Element  oder  die  Gruppe,  die  wir  zu  zweit  stellen,  als  die 
auf  dies  Subject  wirkende  Bedingung,  das  dritte  oder  die 
dritte   Gruppe   als   die   durch    die  Bedingung  an   jenem   er- 


8G  Zweites  Kapitel. 

zeugte  Folge.  Ich  bemerke  noch  ausdrücklich,  daß  diese 
Wahl  der  Plätze  in  unserer  Willkür  liegt  und  in  der  An- 
wendung sich  nach  der  Natur  der  Gegenstände  und  unserem 
Denkinteresse  an  ihnen  richtet;  an  sich  ist  jedes  Element 
einer  solchen  Combination  eine  Function  der  übrigen,  und 
von  jedem  kann  man  folgernd  zu  diesem  übergehen.  Ge- 
wöhnlich fassen  wir  eine  Mehrheit  in  vielen  Fällen  ver- 
bunden bleibender  Elemente,  etwa  amn,  zusammen  als 
ein  Subject  S,  welches  meistens  ein  Ding,  einen  beharr- 
lichen Gegenstand  der  Wirklichkeit  bedeutet,  ein  einzelnes 
Element  b  dagegen,  das  in  einigen  Beobachtungen  des  S 
fehlt,  in  andern  vorkommt,  als  die  hinzutretende  Bedingung 
Q,  und  ein  mit  b  immer  verbundenes  c  als  die  durch  Q 
bedingte  Folge  P.  Es  ist  einleuchtend,  daß  man  auch  anders 
verfahren  kann;  in  der  That:  die  mechanische  Physik  kann 
die  immer  sich  gleiche  einfache  Schwerkraft  b  oder  Q 
als  Subject  behandeln  und  die  verschiedenen  Folgen  P 
untersuchen,  die  ihr  zukommen,  wenn  man  die  Körper, 
auf  welche  sie  wirkt,  amn  =  S  oder  amr  =  S^  als  die  Be- 
dingungen ansieht,  unter  deren  Einfluß  sie  in  verschiedenen 
Fällen  steht. 

62.  Wir  hätten  hiermit  jene  Deutung,  durch  die  wir 
überhaupt  zu  hypothetischen  Urtheilen  gelangten,  insoweit 
gerechtfertigt,  als  wir  sie  auf  die  allgemeinste  Voraussetzung 
einer  Zusammengehörigkeit  der  verschiedenen  Denkinhalte 
zurückführten.  Diese  Voraussetzung  selbst  als  eine  zu- 
lässige und  triftige  weiter  zu  beweisen,  kann  nicht  unsere 
Aufgabe  sein;  offenbar  würde  jeder  Versuch  eines  solchen 
Beweises  seinerseits  das  zu  Reweisende  voraussetzen;  denn 
wie  könnte  man  zeigen,  es  sei  erlaubt  und  nothwendig,  das 
Gegebene  als  einen  Zusammenhang  von  Gründen  und 
Folgen  zu  fassen,  wenn  man  nicht  diese  Behauptung 
wieder  als  Folge  aus  einem  Grunde  ableitete?  Man  muß 
daher  diesen  Gedanken  der  Zusammengehörigkeit  des  Denk- 
baren entweder,  als  die  Seele  alles  Denkens,  mit  unmittel- 
barer Gewißheit  erfassen,  oder  alles,  was  auf  ihm  beruht, 
zugleich  mit  ihm  aufgeben.  Berechtigt  dagegen  ist  das 
Verlangen,  weitere  Aufklärung  über  die  Möglichkeit  und  den 
Sinn  einer  solchen  Zusammengehörigkeit  des  Verschiedenen 
zu  erhalten.  Die  Möglichkeit  nun  der  Wechselbeziehung 
des  Verschiedenen  wird  nicht  wirklich  durch  den  Satz  der 
Identität  bedroht,  w^elcher  jedes  Einzelne  nur  in  Beziehung 
zu  sich  selbst  setzt;  denn  nur  seinen  eigenen  Inhalt  kann 
dieser  Satz  behaupten,  aber  andere  nicht  ausschließen,  die 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  87 

mit  ihm  nicht  streiten.  Was  aber  den  Siim  jener  Zu- 
sammengehörigkeit betrifft^  so  haben  wir  zwei  Aufgaben 
zu  scheiden.  Uns,  in  der  Logik,  kümmert  es  gar  nicht, 
worin  der  wirkliche  Vorgang  bestehen  mag,  durch  den  das 
uns  hier  ganz  unbekannte  Reale,  das  wir  durch  unsere 
Vorstellungen  recht  oder  schlecht  bezeichnen,  auf  einander 
einwirkt  und  Veränderungen  seiner  Zustände  hervorbringt; 
über  das  Band  dieses  Zusammenhanges  nachzudenken  ist 
Aufgabe  der  Metaphysik,  und  mag  in  einer  Lehre  von  der 
wirkenden  Ursache,  der  causa  efficiens,  gelöst  werden.  Die 
Logik  dagegen,  die  auch  die  Beziehungen  des  nur  Denk- 
baren zu  beachten  hat,  das  niemals  in  sachlicher  realer 
Wirklichkeit  existiert,  hat  als  ihr  Eigenthum  nur  den  andern 
Satz  vom  zureichenden  Grunde,  das  principium 
rationis  sufficientis,  zu  entwickeln;  sie  hat  nur  zu  zeigen, 
wie  aus  der  Verbindung  zweier  Denkinhalte  S  und  Q  die 
Nothwendigkeit  entsteht,  auch  einen  dritten  Inhalt  P,  und 
zwar  in  bestimmter  Beziehung  zu  S,  zu  denken;  fände 
sich  dann  in  wirklicher  Erfahrung  an  irgend  einem  Realen 
diese  Vereinigung  zweier  Inhalte  S^  und  Q^  vollzogen,  so 
würde  sich  nach  dem  Satz  vom  Grunde  das  bestimmte  P^ 
folgern  lassen,  welches  zu  dieser  Combination  denknoth- 
wendig  hinzutreten  müßte,  im  Unterschied  von  einem  P^, 
welches  zu  ihr  nicht  hinzutreten  könnte;  wie  dagegen  es 
gemacht  wird,  daß  gerade  dies  Pi,  welches  das  Denken 
fordert,  auch,  in  Wirklichkeit  eintritt,  diese  Frage  würde 
jenen  metaphysischen  Untersuchungen  überlassen  bleiben. 
63.  Das  unendlich  oft  erwähnte  Gesetz  des  zu- 
reichenden Grundes,  mit  dem  wir  nun,  als  dem  dritten 
Gliede  und  dem  Reinertrag  dieser  zweiten  Gruppe  der  Ur- 
theilsformen,  abschließen,  hat  das  wunderliche  Schicksal 
gehabt,  auch  von  denen,  die  am  häufigsten  sich  auf  es  be- 
riefen, eigentlich  niemals  formulirt  zu  werden.  Denn  die 
gewöhnliche  Anweisung,  zu  jedem  Gültigkeit  verlangenden 
Ausspruche  müsse  man  einen  Grund  seiner  Geltung  suchen, 
vergißt,  daß  man  das  nicht  suchen  kann,  von  dem  man 
nicht  weiß,  worin  es  besteht;  zuerst  muß  offenbar  klar  ge- 
macht werden,  in  welchem  Verhältniß  Grund  und  Folge  zu 
einander  stehen,  und  in  welchem  Inhalt  man  folglich  den 
Grund  für  einen  andern  zu  entdecken  hoffen  darf.  Ich 
werde  am  kürzesten  deutlich  sein,  wenn  ich  im  Vergleich 
mit  dem  Ausdruck  des  Identitätssatzes  A  =  A  sogleich  die 
Formel  A  -f  B  =:  C  als  Bezeichnung  des  Satzes  vom  Grunde 


88  Zweites  Kapitel. 

aufstelle  und  folgende  Erläuterung  hinzufüge.  Für  sich 
allein  würde  A  nur  =  A,  B  =  B  sein ;  aber  nichts  hindert, 
daß  eine  bestimmte  Verbindung  A  +  B,  deren  in  den  ver- 
schiedenen Fällen  sehr  verschiedenartigen  Sinn  hier  sym- 
bolisch das  Additionszeichen  vertritt,  dem  einfachen  Inhalt 
der  neuen  Vorstellung  C  äquivalent  oder  identisch  sei. 
Nennen  wir  dann  A  +  B  den  Grund  und  C  die  Folge,  so 
sind  Grund  und  Folge  völlig  identisch,  und  der  eine  ist 
die  andere ;  man  hat  in  diesem  Falle  unter  A  -}-  B  ein  be- 
liebiges Subject  sammt  der  Bedingung,  von  der  es  beein- 
flußt wird,  unter  C  aber  nicht  ein  neues  Folgeprädicat  dieses 
Subjects,  sondern  das  Subject  selbst  in  seiner  durch  dies 
Prädicat  veränderten  Gestalt  zu  verstehen.  Der  gewöhn- 
liche Sprachgebrauch  verfährt  anders.  Da  von  dem  ganzen 
Grunde  A  +  B,  wenn  wir  von  Thatsachen  der  Wirklichkeit 
sprechen,  gewöhnlich  der  eine  Theil  A  vorher  gegeben  zu 
sein,  der  andere  B  nachher  hinzuzukommen  pflegt,  so  be- 
zeichnet man  die  Bedingung  B,  die  nur  einen  Theil  des 
ganzen  Grundes  A  +  B  bildet,  gewöhnlich  als  den  Grund 
überhaupt,  der  auf  A  als  leidendes  Subject  wirkt;  unter  C 
aber  versteht  man  dann  meist  die  neue  Eigenschaft  allein, 
die  von  B  bedingt  wird,  und  nennt  dies  C  die  Folge;  in- 
dessen denkt  man  doch  immer  dabei  diese  Eigenschaft  nicht 
als  für  sich,  wie  in  einem  leeren  Baume,  entstehend, 
sondern  als  haftend  an  dem  Subject  A,  auf  welches  man  B 
wirken  ließ.  Unter  anderen  Benennungen  meint  daher  der 
gewöhnliche  Sprachgebrauch  dasselbe,  wie  wir.  Wenn  wir 
mit  der  Vorstellung  A  des  Pulvers  die  Vorstellung  B  der 
hohen  Temperatur  des  glühenden  Funkens  verbinden,  mit- 
hin in  A  das  Merkmal  der  gewöhnlichen  Temperatur  durch 
das  der  erhöhten  B  ersetzen,  so  ist  dieses  A  +  B  die  Vor- 
stellung C  des  explodirenden  Pulvers,  nicht  der  Explosion 
überhaupt;  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  läßt  zu  dem 
gegebenen  Subject  A  des  Pulvers  die  hohe  Temperatur  B 
als  Grund  treten,  aus  welchem  die  Explosion  C  folgt,  aber 
diese  Folge  denkt  er  sich  natürlich  nicht  als  einen  Vor- 
gang, der  irgendwo  stattfindet,  sondern  als  eine  Ausdehnung 
desselben  Pulvers,  auf  welches  der  Funke  wirkte.  Es  ist 
nicht  nöthig,  Erläuterungen  so  einfacher  Art  weiter  fort- 
zusetzen. 

64.  Ueberlegt  man  das  Ganze  unserer  Erkenntnisse,  so 
ist  unmittelbar  deutlich,  daß  der  Satz  der  Identität  nicht 
ihre  einzige  Quelle  sein  kann.  Für  sich  allein  würde  er 
jedes  Urtheil,  ja  jeden  Begriff  vereinzeln  und  keinen  Fort- 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  89 

schritt  von  der  unfruchtbaren  Sichselbstgleichheit  jedes  Vor- 
stellungselements zu  der  fruchtbaren  Verbindung  ver- 
schiedener einleiten.  Man  irrt  sich,  wenn  man  zuweilen 
der  Mathematik  nur  diesen  einzigen  Satz  als  Grundlage  ihrer 
Wahrheiten  zuschreibt;  dem  wirklichen  erfinderischen  Ver- 
fahren dient  vielmehr  auch  hier  nur  der  Satz  vom  Grunde. 
Aus  einem  sich  selbst  gleichen  Obersatze  würde  gar  nichts 
neues  fließen,  wenn  es  nicht  möglich  wäre,  in  mannig- 
fachen Untersätzen  eine  und  dieselbe  Größe  C  in  unzähligen 
verschiedenen  äquivalenten  Gestalten  bald  =A  +  B,  bald 
=  M  -f  N  oder  =  N  —  R  zu  setzen,  oder  anders  ausgedrückt : 
wenn  nicht  die  Natur  der  Zahlen  so  beschaffen  wäre,  daß 
man  jede  auf  unzählige  Weisen  theilen  und  aus  den  Theilen 
in  den  mannigfachen  Combinationen  wieder  zusammensetzen 
kann;  wenn  ferner  nicht  die  Natur  des  Raumes  so  gebildet 
wäre,  daß  jede  Linie  sich  unzähligen  Figuren  in  den  ver- 
schiedensten Lagen  als  Bestandtheil  oder  irgendwie  zu- 
gehöriges Beziehungsglied  einreihen  läßt  und  daß  jeder  der 
Ausdrücke,  die  für  sie  aus  diesen  verschiedenen  Relationen 
fließen,  der  Grund  zu  neuen  vielfachen  Folgerungen  ist.  Ich 
brauche  kaum  zu  erwähnen,  daß  auch  Mechanik  und  Physik 
den  reichlichsten  Gebrauch  von  diesen  Zerlegungen  und  Zu- 
sammensetzungen gegebener  Thatsachen  machen,  und  daß 
der  erfinderische  Gedankengang  auch  in  diesen  Zweigen 
unserer  Erkenntniß  auf  Operationen  beruht,  welche  alle  zu- 
letzt auf  diese  typische  Formel  A  -[-  B  =  C  zurücklaufen. 
Her  hart  gebührt  das  Verdienst,  die  Wichtigkeit  dieser  in 
aller  Praxis  der  Wissenschaft  offen  vorliegenden  Ver- 
fahrungsweise  in  den  Gesichtskreis  der  formalen  Logik  ge- 
rückt zu  haben. 

65.  Ich  überlasse  weitere  Beispiele  hiervon  der  an- 
gewandten Logik;  über  die  Berechtigung  des  Satzes  vom 
Grunde  selbst  hal3e  ich  noch  eine  Bemerkung  zu  machen. 
Wir  konnten  nur  zeigen,  eine  Erweiterung  unserer  Erkennt- 
niß sei  dann  möglich,  wenn  es  einen  Grundsatz  gibt, 
welcher  A  -f  B  =  C  zu  setzen  erlaubt.  Man  konnte  nun  ver- 
suchen, ohne  Weiteres  die  Gültigkeit  dieses  Grundsatzes  als 
eine  unmittelbare  Gewißheit,  gleich  der  des  Satzes  der 
Identität,  zu  behaupten.  Dies  haben  wir  gethan;  aber 
zwischen  beiden  Principien  bleibt  doch  ein  bemerklicher 
Unterschied.  Der  Satz  der  Identität  sagt  von  jedem  A  eine 
Gleichheit  mit  sich  selbst  aus,  die  wir  unmittelbar  als  noth- 
wendig  und  deren  Gegentheil  wir  zugleich  ebenso  über- 
zeugend als  denkunmöglich  empfinden.    Der  letzteren  Unter- 


90  Zweites  Kapitel. 

Stützung  entbehrt  der  Satz  des  Grundes;  wir  emnfinden  die 
Annahme  keineswegs  als  denkunmöglich,  daß  jeder  Inhalt 
nur  sich  selbst  gleich,  eine  Combination  A  +  B  von  zweien 
dagegen  niemals  einem  dritten  C  äquivalent  sei.  Die  Geltung 
des  Satzes  vom  Grunde  ist  daher  von  einer  andern  Art,  als 
die  des  Princips  der  Identität;  nennen  wir  dies  letztere 
denknothwendig  wegen  der  Unmöglichkeit  seines  Gegen- 
theils,  so  ist  der  Satz  vom  Grunde  vielmehr  nur  eine  dem 
Denken  zweckmäßige  Voraussetzung,  welche  in  dem  In- 
halt des  Denkbaren  eine  gegenseitige  Beziehung  annimmt, 
für  deren  wirkliches  Bestehen  der  vereinigte  Eindruck  aller 
Erfahrungen  Bürgschaft  gibt.  Ich  wünsche  über  den  letz- 
teren Ausdruck  nicht  mißverstanden  zu  werden.  Ich  meine 
zuerst  nicht,  daß  das  Denken  erst  durch  Vergleichung  des 
Erfahrungsinhaltes  auf  die  Vermuthung  der  Gültigkeit  eines 
solchen  Satzes  geführt  werde;  die  allgemeine  Tendenz  des 
logischen  Geistes,  Zusammenseiendes  als  Zusammengehöriges 
aufzuweisen,  enthält  für  sich  vielmehr  den  Trieb,  der,  auch 
abgesehen  von  aller  wirklichen  Erfahrung,  zur  Voraus- 
setzung eines  Zusammenhanges  von  Gründen  und  Folgen 
führen  würde.  Aber  daß  diese  Voraussetzung  sich  be- 
stätigt, daß  das  Denken  in  dem  denkbaren  Inhalt,  den  es 
selbst  nicht  macht,  sondern  empfängt  oder  vorfindet,  solche 
Identitäten  oder  Aequivalenzen  des  Verschiedenen  antrifft, 
das  ist  eine  glückliche  Thatsache,  ein  glücklicher  Zug  in 
der  Organisation  der  Welt  des  Denkbaren,  der  thatsächlich 
besteht,  aber  nicht  mit  derselben  Nothwendigkeit  bestehen 
müßte,  wie  die  Geltung  des  Identitätsprincips.  Denkunmög- 
lich wäre  eine  Welt  gar  nicht,  in  welcher  jeder  einzelne 
Inhalt  mit  jedem  andern  so  unvergleichbar  wäre,  wie  süß 
und  dreieckig,  in  welcher  mithin  jede  Möglichkeit  fehlte. 
Verschiedenes  zur  Begründung  eines  Dritten  zusammen- 
zufassen; wäre  diese  Welt,  so  würde  das  Denken  zwar 
nichts  mit  ihr  anzufangen  wissen,  aber  es  würde  sie,  als 
eine  nach  seinem  eigenen  Urtheile  mögliche,  anerkennen 
müssen.  Ich  füge  ferner  hinzu,  daß,  wenn  ich  hier  -von 
einer  Art  empirischer  Beglaubigung  des  Satzes  vom  Grunde 
spreche,  ich  doch  nicht  eine  Bestätigung  meine,  welche 
das  Ganze  unserer  nach  diesem  Satze  bereits  gegliederten 
Gedankenwelt  darin  fände,  daß  der  beobachtende  Gehalt 
der  äußeren  Wirklichkeit  mit  dieser  Gliederung  zusammen- 
stimmt; ich  spreche  hier  nur  davon,  daß  die  Welt  des  Denk- 
baren,  die  vorstellbaren  Inhalte,   die   wir,  woher  sie  auch 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  91 

immer  kommen  mögen,  in  unserer  inneren  Erfahrung  an- 
treffen, sich  der  Forderung,  als  Gründe  und  Folgen  zu- 
sammenzuhängen, wirklich  fügen.  Es  ist  an  diesem  Orte 
der  Logik  ganz  gleichgültig,  ob  überhaupt  außer  den  Vor- 
stellungen, die  sich  in  unserem  Bewußtsein  bewegen,  etwas 
vorhanden  ist,  was  man  äußere  Welt  oder  Wirklichkeit 
nennen  könnte;  auch  diese  nur  in  uns  sich  bewegende  in- 
haltvolle Vorstellungswelt  ist  von  dem  Denken  nicht  ge- 
macht, sondern  wird  von  ihm,  als  Stoff  seiner  Thätigkeit, 
in  uns  nur  angetroffen,  ist  also  für  den  logischen  Geist 
und  seine  Tendenz  ein  Gegenstand  innerer  Erfahrung;  daß 
nun  an  diesem  empirischen  Gegenstand  sich  ein  Ent- 
gegenkommen findet,  das  die  Ausführung  dieser  Tendenz 
möglich  macht,  darin  besteht  das  nicht  Denknothw^endige, 
sondern  Thatsächliche  der  Geltung  des  Satzes  vom  Grunde. 
6ß.  Worin  dies  Entgegenkommen  liegt,  werde  ich,  wenn 
noch  einmal  hiernach  gefragt  werden  sollte,  am  kürzesten 
erinnern,  wenn  ich  auf  die  Analogie  der  systematischen 
Stellung,  welche  der  Satz  vom  Grunde  als  zweites  Denk- 
gesetz einnimmt,  mit  der  des  zweiten  Gliedes  in  unserer 
Betrachtung  des  Begriffes  hinweise.  Die  Möglichkeit,  All- 
gemeinbegriffe zu  bilden,  beruhte  auf  der  nicht  selbst  denk- 
nothwendigen,  aber  gegebenen  Thatsache,  daß  nicht  jeder 
Vorstellungsinhalt  unvergleichbar  mit  jedem  andern  ist,  daß 
vielmehr  Farben  Töne  Gestalten  sich  in  Reihen  mit  er- 
kennbarer abgestufter  Verwandtschaft  ihrer  Glieder  ordnen; 
daß  es  außer  den  Verwandtschaften  auch  Gegensätze  von 
verschiedener  Weite  des  Unterschieds  und  ein  Aufheben  des 
Entgegengesetzten,  daß  es  endlich  vor  allem  ein  System  von 
Größenbestimmungen  in  der  Welt  des  Denkbaren  gibt,  durch 
deren  Anwendung  mittelbar  auch  die  an  sich  nicht  vergleich- 
baren Glieder  verschiedener  Inhaltsreihen  in  gegenseitige 
Beziehungen  gebracht  werden  können.  Mit  diesem  kurzen 
Hinweis  begnügt,  schließen  wir  die  zweite  Gruppe  der  ür- 
theilsformen  mit  dem  Satze  vom  Grunde  als  dem  durch  sie 
gewonnenen  Reinertrage  ab. 


C.  Das  generelle  Urtheil.   —  Das  disjunctive  UrtheiL  ^  Das 
Dictum  de  omni  et  nuUo  und  das  Principium  exclusi  medii. 

67.  In  jedem  Einzelfalle  der  Anwendung  bleibt  nun  zu 
bestimmen,  welches  A,  in  welcher  Verbindung  mit  welchem 
B  zusammengefaßt,  den  genügenden  Grund  welches  C  bilde. 


92  Zweites  Kapitel. 

Die  Aufgabe  des  sachlichen  Erkennens  hat  die  Logik  der 
Erfahrung  und  den  einzelnen  Wissenschaften  zu  überlassen ; 
aber  eine  eigene  neue  Aufgabe  erwächst  ihr  doch  auch. 
Von  allen  Leistungen  unseres  Denkens  würde  wenig  übrig 
bleiben,  wenn  wir  wirklich  in  jedem  Einzelfalle  von  neuem 
die  Erfahrung  befragen  müßten,  welche  A  B  und  C  hier  als 
Grund  und  Folge  zusammengehören;  einen  Grundsatz 
wenigstens  muß  es  geben,  der  uns  erlaubt,  wenn  einmal  die 
eine  Wahrheit  A  -j-  B  =  C  gegeben  ist,  von  ihr  eine  An- 
wendung zu  machen  auf  Fälle,  über  die  uns  die  Erfahrung 
noch  nicht  belehrt  hat.  Was  wir  nun  hier  suchen,  ist 
leicht  zu  finden  und  nebenher  schon  früher  erwähnt  worden. 
So  oft  wir  A  +  B  als  Grund  einer  Folge  C  ansehen,  denken 
wir  noth wendig  die  Verknüpfung  dieser  drei  Glieder  als 
eine  allgemeine;  A  +  B  wäre  gar  nicht  eine  Bedingung 
von  C,  wenn  es  möglich  wäre,  daß  in  einem  zweiten  Bei- 
spiel seines  Vorkommens  nicht  dasselbe  C,  sondern  ein 
beliebiges  D  mit  ihm  verbunden  würde.  Für  unsere  hier 
zu  machende  Anwendung  bedeutet  dies  nun:  überall,  in 
jedem  Subject  S,  in  welchem  A  +  B  als  Merkmal  neben  be- 
liebigen andern  Merkmalen  N  0  P  enthalten  ist,  begründet 
dies  A  +  B  dieselbe  Folge  C ;  und  dieses  C  wird  entweder 
wirklich  als  Merkmal  dieses  S  auftreten,  oder  wo  es  nicht 
auftritt,  kann  es  nur  dadurch  verhindert  sein,  daß  die 
übrigen  Merkmale,  N  -f-  0  oder  N  +  P  oder  0  +  P,  zusammen 
den  Grund  einer  dem  C  entgegengesetzten  und  dieses  selbst 
aufhebenden  Folge  bildeten;  für  sich  allein,  ohne  diese 
Hemmung,  geht  die  das  C  bedingende  Kraft  des  A  -}-  B  ihres 
Erfolges  nie  verlustig.  Fassen  wir  nun  A  -|-  B  unter  der 
Bezeichnung  M  als  einen  Allgemeinbegriff,  unter  welchen 
S  untergeordnet  ist,  so  können  wir  den  gefundenen  Grund- 
satz vorläufig  so  ausdrücken,  daß  von  jedem  Subject  nach 
rein  logischem  Recht  und  ohne  Anrufung  der  Erfahrung 
dasjenige  Prädicat  behauptet  werden  darf,  welches  durch 
den  ihm  übergeordneten  Gattungsbegriff  gefordert  wird. 
Und  es  bedarf  keiner  weiteren  Ausführung,  daß  eben  dieser 
Gedanke,  die  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  sein  All- 
gemeines, das  umfassende  logische  Hülfsmittel  ist,  dessen 
wir  uns  allenthalben  zur  weiteren  denkenden  Bearbeitung 
des  erfahrungsmäßig  Gegebenen  bedienen. 

68.  Die  Urtheilsform,  die  erste  dieser  dritten  Gruppe, 
in  w^elcher  das  Denken  diese  Ueberzeugung  ausspricht,  ist 
die  des  quantitativ  unbezeichneten  Satzes,  in  welchem  die 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  9^J 

Stelle  des  Subjectes  einfach  durch  einen  Allgenieinbegriff 
oder  einen  Gattungsbegriff  M  ausgefüllt  erscheint:  der 
Mensch  ist  sterblich;  die  Sünde  ist  strafbar.  Ich  unter- 
scheide diese  Urtheile  unter  dem  Namen  der  generellen 
von  den  universalen:  alle  Menschen  sind  sterblich;  jede 
Sünde  ist  strafbar.  Obgleich  der  sachliche  Inhalt  in  beiden 
Formen  derselbe  ist,  so  ist  doch  die  logische  Fassung  des- 
selben in  beiden  sehr  verschieden.  Das  universale  Urtheil 
ist  nur  eine  Sammlung  vieler  Einzelurtheile,  deren  sämmt- 
licho  Subjecte  zusammengenommen  thatsächlich  den  ganzen 
Umfang  des  Allgemeinbegriffs  M  ausfüllen;  daß  mithin  das 
Prädicat  P  von  allen  M  gilt,  folgt  hier  nur  daraus,  daß  es 
von  jedem  M  einzeln  gilt;  es  kann  aber  von  jedem  einzelnen 
aus  einem  besonderen  Grunde  gelten,  der  nichts  mit  der 
allgemeinen  Natur  des  M  zu  schaffen  hat.  So  läßt  der 
universale  Satz :  alle  Einwohner  dieser  Stadt  sind  arm, 
ganz  zweifelhaft,  ob  jeder  einzelne  durch  eine  besondere 
Ursache  verarmt  ist,  oder  ob  die  Armuth  aus  seiner  Eigen- 
schaft als  Einwohner  dieser  Stadt  fließt;  ebenso  läßt  der 
Satz :  alle  Menschen  sind  sterblich,  noch  dahingestellt,  ob 
sie  nicht  eigentlich  alle  ewig  leben  könnten,  und  ob  nicht 
blos  eine  merkwürdige  Verkettung  von  Umständen,  die  für 
jeden  andere  sind  als  für  jeden  andern,  es  dahin  bringt, 
daß  zuletzt  keiner  am  Leben  bleibt.  Das  generelle  Urtheil 
dagegen:  der  Mensch  ist  sterblich,  behauptet  seiner  Form 
nach:  an  dem  Charakter  der  Menschheit  liege  es,  daß  die 
Sterblichkeit  von  jedem  unzertrennlich  ist,  der  an  diesem 
Charakter  theilnimmt.  Während  daher  das  universale  Ur- 
theil eine  allgemeine  Thatsache  blos  behauptet  und  des- 
wegen nur  assertorisch  ist,  läßt  das  generelle  zugleich  den 
Grund  ihrer  nothwendigen  Geltung  hindurchscheinen  und 
kann  also,  in  dem  Sinne  unserer  früheren  Festsetzungen, 
apodiktisch  heißen.  Zu  unerhörten  Entdeckungen  wird  diese 
Unterscheidung  beider  Urtheilsformen  nicht  führen;  aber 
neben  so  vielen  unnützen  Distinctionen,  welche  die  Logik 
belasten,  verdiente  sie  wohl,  nebenher  erwähnt  zu  werden. 
Kaum  der  Erwähnung  aber  bedarf  es,  daß  im  generellen 
Urtheil  nicht  der  Gattungsbegriff  M,  der  die  Stelle  des  Sub- 
jects  im  Satze  einnimmt,  das  wahre  logische  Subject  des 
Urtheils  ist;  nicht  der  allgemeine  Mensch  M  ist  sterblich, 
sondern  der  einzelne  S,  welcher  an  diesem  für  sich  un- 
sterblichen Typus  theilhat.  Man  sieht  daraus,  daß  das 
generelle  Urtheil  eigentlich  ein  im  Ausdrucke  verkürztes 
hypothetisches  ist;  es  muß  vollständig  heißen:  wenn  S  ein 


94  /Zweites  Kapitel. 

AI  ist,  SU  ist  S  ein  P;  vveiiii  irgend  ein  S  ein  Mensch  ist, 
so  ist  dieses  S  sterblich.  Und  hierdurch  rechtfertigt  sich 
die  systematische  Stellung,  die  wir  diesem  Urtheil  erst  nach 
dem  hypothetischen  anweisen  konnten. 

69.  Ebenso  klar  wird  aber  auch  sogleich  die  Nothwendig- 
keit  eines  neuen  Schrittes.  So  lange  formell  in  dem  gene- 
rellen Urtheil  ein  allgemeiner  Gattungsbegriff  M  als  Sub- 
ject  auftritt,  so  lange  kann  auch  das  Prädicat  P  nur  in 
gleicher  Allgemeinheit  gefaßt  ihm  zugeordnet  werden.  Sagen 
wir:  der  Mensch  ist  sterblich,  so  umschließt  das  Prädicat 
alle  denkbaren  verschiedenen  Arten  der  Sterblichkeit  und 
bestimmt  weder  die  Art  des  Todes  noch  seinen  Zeitpunkt; 
oder  behaupten  wir:  die  Körper  erfüllen  den  Raum,  so 
bleibt  unausgesprochen,  mit  welcher  Dichtigkeit  und  mit 
welchem  Grade  des  Widerstandes  jeder  einzelne  diese  all- 
gemeine Eigenschalt  seiner  Gattung  realisirt.  Aber  gerade 
die  einzelnen  Menschen  und  die  einzelnen  Körper  waren 
die  wirklichen  Subjecte  des  generellen  Urtheils;  es  ist 
also  ganz  falsch  zu  behaupten,  daß  ihnen  das  Merkmal  P 
ihrer  Gattung  in  der  Allgemeinheit  als  Prädicat  zukommt, 
in  welcher  es  zu  dem  Begriff  der  Gattung,  und  zwar  hier 
nicht  als  Prädicat,  hinzugedacht  wird;  vielmehr  kann  P 
an  jedem  dieser  einzelnen  Subjecte  nur  in  einer  der  be- 
stimmten Arten  oder  Modificationen  vorkommen,  in  welche 
das  allgemeine  P  sich  zerfallen  oder  besondern  läßt.  Den 
gemachten  Fehler  berichtigt  das  Denken  durch  die  neue 
Behauptung:  wenn  irgend  ein  S  ein  M  ist,  so  ist  dies  S 
entweder  p^  oder  p^  oder  p^;  und  hier  bedeuten  pi  p^  p3 
die  verschiedenen  Arten  eines  allgemeinen  Merkmals  P, 
welches  in  dem  Gattungsbegriffe  M  enthalten  ist.  Dies  ist 
die  bekannte  Form  des  disjunctiven  Urtheils,  des 
zweiten  dieser  dritten  Gruppe,  und  für  sich  keiner  weiteren 
Erläuterung  bedürftig.  Man  pflegt  mit  ihm  zusammen  das 
copulative  Urtheil:  S  ist  sowohl  p  als  q  als  r,  und  das 
remotive:  S  ist  weder  p  noch  q  noch  r,  zu  erwähnen; 
trotz  der  äußerlichen  Analogie  der  Form  haben  jedoch  beide 
nicht  den  gleichen  logischen  Werth  mit  dem  disjunctiven; 
das  erste  ist  nur  eine  Sammlung  positiver,  das  andere  eine 
Sammlung  negativer  Urtheile  von  gleichem  Subject  und  ver- 
schiedenen Prädicaten,  welche  letztere  in  gar  keine  logisch 
wichtige  Beziehung  zu  einander  gesetzt  werden.  Das  dis- 
junctive  Urtheil  allein  drückt  ein  eigenthümliches  Verhält- 
niß  seiner  verschiedenen  Glieder  aus :  es  gibt  seinem  Sub- 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  95 

ject  gar  kein  i'rädicat,  schreibt  ihm  aber  die  uothwendige 
Wahl  zwischen  einer  bestimmten  Anzahl  verocniedener  vor. 

70.  Der  Gedanke,  uen  die  Form  des  uisjunctiven  urtheiis 
ausdrückt,  wird  gewöhnlich  in  zwei  gesonderten  Denk- 
gesetzen, dem  Dictum  de  omni  et  nullo  und  dem  Princip^um 
exclusi  tertii  inter  duo  contradictoria  ausgesprochen;  ihre 
Verschmelzung  in  ein  einziges  drittes  Grundgesetz  ist 
indessen  nicht  nur  leicht,  sondern  nOchwendig.  Völlig  falsch 
sind  tili  das  erste  die  oft  gehörten  lässigen  l^'ormuliiungen: 
was  vom  Allgemeinen  gelte,  gelte  auch  vom  Einzelnen; 
was  vom  Ganzen,  auch  von  den  Theilen;  es  versteht  sich 
vielmehr  von  selbst,  daß,  was  vom  Aligemeinen  als  solchem, 
oder  von  dem  Ganzen  als  solchem  gilt,  nicht  von  dem 
Einzelnen  oder  von  den  Theilen  als  solchen  gelten  könne. 
Richtig  ist  nur  die  Formel:  quidquid  de  omnibus  valet, 
valet  etiam  de  quibusdam  et  de  singulis,  und  quidquid  de 
nullo  valet,  nee  de  quibusdam  valet  nee  de  singulis.  Aber 
diese  Ausdrucksweise  (über  deren  Geschichte  man 
Rehnisch  vergleichen  kann,  Fichte's  Zeitschrilt  LXXVI,  1) 
ist  ebenso  uniruchtbar  als  richtig;  denn  daß  etwas  von 
allen  gelte,  heißt  und  bedeutet  gleich  von  Anfang  an 
gar  nichts  anderes,  als  daß  es  von  jedem  Einzelnen  gelte; 
soll  daher  anstatt  dieser  nackten  Tautologie  etwas  gesagt 
werden,  was  der  Mühe,  werth  ist,  so  muß  allerdings  an 
die  Stelle  der  bloßen  Summe  aller  die  Natur  des  all- 
gemeinen Begriffs  gesetzt  werden.  Dann  aber  läßt  sich 
in  der  That  der  Satz  gar  nicht  anders  mit  Genauigkeit 
ausdrücken,  als  so,  daß  er  ganz  mit  dem  Sinne  der  dis- 
junctiven  Ürtheilsform  zusammenfällt:  von  jedem  allge- 
meinen P,  welches  als  Merkmal  in  dem  Allgemeinbegriff  M 
enthalten  ist,  kommt  jedem  S,  welches  eine  Art  von  M  ist, 
eine  seiner  Modificationen  p^  p^  ps  mit  Ausschluß  der 
übrigen  als  Prädicat  zu;  und:  von  jedem  allgemeinen  P, 
welches  aus  dem  Begriffe  M  ausgeschlossen  ist,  kommt 
jedem  S,  als  einer  Art  von  M,  weder  die  eine  noch  die 
andere  seiner   Modificationen   pi   p^  oder  p^  zu. 

71.  Von  diesem  vollständigen  Denkgesetz  berücksichtigt 
der  gewöhnliche  Ausdruck  des  Dictum  de  omni  et  nullo 
nur  den  einen  positiven,  für  sich,  wie  wir  sahen,  nicht 
genau  ausdrückbaren  Bestandtheil,  nämlich  den  Gedanken, 
daß  das  Besondere  sich  überhaupt  nach  seinem  Allgemeinen 
richte;  der  andere  verneinende  Bestandtheil,  der  erst  die 
Art  und  Weise  dieses  sich  Richtens  bestimmt,  der  Gedanke, 
daß  dem  Besondern  nur  eine  Art  des  allgemeinen  Prädicats 


96  Zweites  Kapitel. 

seines  Allgemeineu  mit  Ausschluß  der  übiigeu  zustefie,  hat 
nur  einen  partiellen  Ausdruck  in  dem  Satze  des  ausge- 
schlossenen Dritten  gefunden.  Ich  glaube  hierüber  am  ein- 
fachsten iolgendermaiien  zu  J:)erichten.  Steht  tür  ein  SubjectS 
vermöge  seiner  Unterordnung  unter  M  bereits  fest,  daß  es 
sein  eigenes  Prädicat  unter  den  Arten  pi  p^  p3  eines  all- 
gemeinen, dem  M  zukommenden  Merkmals  F  wählen  muß, 
und  beträgt  die  Anzahl  der  möglichen  Arten  des  P  mehr, 
als  zwei,  so  wird  die  Bejahung  der  einen  von  ihnen  pi,  als 
Prädicat  von  S,  die  Verneinung  aller  übrigen,  p^  p»  pi^  ein- 
schließen, aber  durch  die  Verneinung  einer  von  ihnen  wird 
keine  bestimmte  der  übrigen  als  Prädicat  von  S  bejaht; 
was  nicht  p^  ist,  hat  noch  die  unentschiedene  Wahl  zwischen 
p2  p3  p4.  Prädicaten  dieser  Art  legt  man  conträren 
Gegensatz  bei.  Gibt  es  aber  überhaupt  nur  zwei  Arten  pi 
und  p2  des  allgemeinen  P,  so  wird  für  ein  Subject  S,  von 
welchem  schon  feststeht,  daß  es  eine  Art  des  P  zum  Prädicat 
haben  muß,  nicht  nur  die  Bejahung  der  einen  p^  die  Ver- 
neinung der  andern  p^,  sondern  auch  die  Verneinung  der 
einen  p^  die  bestimmte  Bejahung  der  andern  p^  als  Prädicat 
zur  Folge  haben  oder  involviren;  diese  beiden  p^  und  p^ 
sind  dann  contradictorisch  entgegengesetzte  Prädicate 
des  S.  So  sind  für  die  Linie  (S),  welche  eine  Richtung 
überhaupt  (P)  haben  muß,  gerade  (pi)  und  krumm  (p^) 
contradictorische  Prädicate,  für  den  Menschen,  dem  ein 
Geschlecht  von  Natur  gebührt,  männlich  und  weiblich ;  beide 
würden  nur  conträr  sein  für  beliebige  andere  Subjecte, 
von  denen  noch  nicht  feststeht,  ob  in  ihrem  Begriffe  das 
allgemeine  P,  Geschlecht  oder  Richtung,  überhaupt  vor- 
kommt; für  sie  wird  die  Eintheilung  ihrer  möglichen  Prä- 
dicate immer  dreigliedrig,  sie  sind  entweder  männlich  p^ 
oder  weiblich  p^  oder  geschlechtslos  p^  entweder  gerade  p^ 
oder  krumm  p^  oder  gestaltlos  p^.  Der  Satz  des  aus- 
geschlossenen Dritten  oder  des  exclusi  tertii  inter  duo 
contradictoria  behauptet  nun  nichts,  als  was  wir  eben  be- 
merkten: von  zwei  Prädicaten,  welche  für  ein  Subject  S 
contradictorische, sind,  hat  S  immer  das  eine  mit  Ausschluß 
des  andern,  und  wenn  es  das  eine  nicht  hat,  so  hat  es 
nothwendig  das  andere  mit  Ausschluß  jedes  dritten.  So 
angesehen  ist  dieses  Gesetz  nur  ein  Sonderfall  des  all- 
gemeineren, welches  den  Sinn  des  disjunctiven  Urtheils 
bildet :  von  allen  conträren  Prädicaten,  deren  Allgemeines  P 
in  dem  Gattungsbegriff  M  eines  Subjectes  S  liegt,   hat  S 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  97 

immer  eines  mit  Ausschluß  der  übrigen,  und  vvenii  es  das 
eine  nicht  hat,  so  bleibt  ihm  nur  die  nothwendige  Wahl 
zwischen  den  übrigen;  diese  Wahl  wird  zur  bestimmten  Be- 
jahung, wo  sie  nur  noch  auf  ein  Glied  fallen  kann,  also 
m  dem  Grenzfall,  wo  die  Zahl  der  conträren  Prädicate 
nur  zwei  beträgt.  Ohne  Zweifel  ist  dieser  Grenzfall,  welcher 
den  Inhalt  des  Satzes  vom  ausgeschlossenen  Dritten  bildet, 
in  den  Anwendungen  des  Denkens  von  besonderer  Wichtig- 
keit; die  logische  Systematik  dagegen  wird  ihn  doch  nur 
als  ein  besonderes  Beispiel  des  allgemeineren  Satzes 
fassen  können,  den  wir  schon  mehrfach  aussprachen 
und  kurz  als  disjunctives  Denkgesetz  bezeichnen 
wollen. 

72.  Man  stellt  dies  gewöhnlich  anders  dar.  Aus  Beweg- 
gründen, die  ebenfalls  nur  aus  Zwecken  des  angewandten 
Denkens  begreiflich  sind,  ist  der  logische  Wunsch  ent- 
istanden,  die  von  uns  stets  festgehaltene  Voraus setzurig, 
eine  nothwendige  Beziehung  des  jedesmaligen  Subjects  S 
zu  dem  allgememen  P  stehe  bereits  fest,  unerwähnt  lassen 
und  von  zwei  Prädicaten  sprechen  zu  dürfen,  welche  für 
jedes  beliebige  Subject  als  contradictorische  gelten.  Man 
findet  leicht,  daß  dies  nur  möglich  ist,  wenn  man  die  Ge- 
sammtheit  aller  denkbaren  Prädicate  eintheilt  in  ein  be- 
stimmtes Q,  und  in  die  Summe  aller  derjenigen,  welche 
nicht  Q  sind  oder  Non  Q  sind;  von  allen  beliebigen  3ub- 
jecten,  was  sie  auch  immer  bedeuten  mögen,  ist  dann  sicher, 
daß  sie  entweder  Q  oder  Non  Q,  entweder  gerade  oder 
nicht-gerade  sind;  denn  der  letzte  Ausdruck  begriffe  dann 
nicht  blos  das  Krumme,  sondern  auch  das  Verdrießliche, 
das  Süße,  das  Zukünftige,  kurz  alles,  was  außerhalb  des 
Geraden  liegt.  Ich  wiederhole  in  Bezug  hierauf,  was  ich 
bei  dem  limitativen  Urtheil  bemerkte:  Non  Q  ist  gar  keine 
wirkliche  Vorstellung,  die  sich  als  Prädicat  eines  Subjects 
behandeln  ließe,  sondern  nur  eine  Formel,  welche  die  im 
Denken  unerfüllbare  Aufgabe  bezeichnet,  alles  Denk- 
bare, was  außerhalb  des  einen  Begriffs  liegt,  in  einen 
einzigen  zweiten  zusammenzuziehen.  Man  hat  außerdem 
zur  Stellung  dieser  unlösbaren  Aufgabe  keinen  wirklichen 
Grund;  alles,  was  man  durch  das  bejahte  Prädicat  Non  Q 
erreichen  will,  erreicht  man  durch  die  verständliche  Ver- 
neinung von  Q.  Ich  halte  daher  für  ganz  unschicklich,  von 
contradictorischen  Begriffen  zu  reden,  d.h.  solchen,  die 
an   und   für   sich   in   diesem   Gegensatzverhältniß   ständen 

Lotze,  Logik.  7 


98  Zweites  Kapitel. 

und  des  halb  in  demselben  blieben,  wenn  man  sie  als 
Prädicate  eines  mid  desselben  Subjects  behandelt,  worin 
auch  immer  dieses  bestehen  möge;  will  man  ein  contra- 
dictorisches  Verhältniß  zweier  Glieder,  welches  allgemein, 
immer  und  in  Bezug  auf  jedes  Subject  gilt,  so  findet  dies 
nur  zwischen  den  zwei  Ürth eilen  statt:  S  ist  Q  und 
S  ist  nicht  Q.  Demzufolge  würde  der  genaue  Ausdruck 
des  Satzes  vom  ausgeschlossenen  Dritten  sein:  von  jedem 
genau  bestimmten  Subject  S  gilt  entweder  die  Bejahung 
oder  die  Verneinung  eines  ebenso  bestimmten  Prädicats  Q, 
und  es  gibt  keine  dritte  Möglichkeit;  überall,  wo  eine 
solche  stattzufinden  scheint,  ist  S  oder  Q  oder  beide  ent- 
weder von  Anfang  mehrdeutig  und  unbestimmt  gefaßt  oder 
ihre  Bedeutung  im  Lauf  der  Ueberlegung  unbewußt  oder 
unwillkürlich  verändert  worden. 

73.  Noch  eine  Betrachtung  füge  ich  hinzu.  Niemand 
zweifelt,  daß  dasselbe  Subject  roth  süß  und  schwer  zugleich 
sein  kann,  daß  es  aber  roth  nur  ist,  wenn  es  weder  grün 
noch  blau  noch  andersfarbig  ist,  und  daß  es  gerade  und 
krumm  nicht  zugleich  sein  kann.  Eine  unmittelbare  Deut- 
hchkeit  scheint  mir  nun  aber  doch  die  Behauptung  nicht 
zu  haben,  daß  zwei  Prädicate  p^  und  p^  sich  gerade  dann 
an  demselben  Subject  nicht  vertragen,  wenn  sie  übrigens 
als  conträre  Arten  desselben  Allgemeinen  P  mit  einander 
vergleichbar  sind,  während  an  demselben  Subject  andere 
Prädicate  p  q  r  sich  vertragen  sollen,  die  als  Arten  ganz 
verschiedener  Allgemeinen  P  Q  und  R  mit  einander  un- 
vergleichbar sind.  Ich  versuche  hierüber  folgenden  Ge- 
danken. Jedes  Prädicat  p^  eines  Subjectes  S  müssen  wir 
nach  dem  Vorigen  und  nach  der  Formel  A  -|-  B  =  C  als  Folge 
einer  in  S  enthaltenen  Merkmalgruppe  A^  -{-  B^  ansehen, 
welche  Gruppe  überall,  wo  sie  vorkommt,  also  auch  in 
diesem  S,  dieselbe  Folge  C^,  hier  p^,  hervorzubringen  sucht. 
Sollte  nun  demselben  S  zugleich  das  mit  p^  vergleichbare 
Prädicat  p^  zukommen,  so  müßte  es,  wie  leicht  zu  begreifen, 
von  einer  mit  A^  -f-  ß^  ebenfalls  vergleichbaren  Merkmal- 
gruppe A2  -(-  B2  abhängen,  welche  neben  A^  -{-  B^  in  dem- 
selben S  vorhanden  wäre  und  überall,  wo  sie  vorkäme, 
also  auch  in  S,  die  Folge  C^,  hier  p^,  begründen  würde. 
Aber  eben,  weil  A^  +  B^  und  A^  -j-  B^  mit  einander  ver- 
gleichbar sein  müssen,  so  kann  es  nicht  fehlen,  daß,  nach 
einem  neuen  Satz  von  der  allgemeinen  Form  A  -f-  B  =  C, 
nämlich  nach  dem  Satze :  [A^  +  Bi]  +  [A2  +  B^]  =  C^  das  Zu- 
sammentreffen   beider   in   demselben   S   den   zureichenden 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  99 

Grund  einer  neuen  Folge  C^  bildet,  in  welche  die 
beiden  Enizelpräüicate  p^  und  p^  zusammenschmelzen, 
und  die  wir,  weil  sie  beiden  ähnlich  sein  muß,  mit  p^ 
bezeichnen  wollen.  Zwei  conträre,  vergleicnnare  Prä- 
dicate  p^  und  p=^  würden  also  nur  deshain  unvereinbar 
sein,  weil  aus  ihnen  immer  ein  drittes  einfaches  p^  ent- 
stehen würde;  zwei  disparate,  unvergleichbare  Prädi- 
cate  p  und  r  dagegen,  wie  süß  und  warm,  würden  deshalb 
als  zwei  bleibende  an  S  vereinbar  sein,  weil  es  für  die 
unvergleichbaren  Gründe  A-j-B  und  etwa  M  +  N,  von  denen 
sie  einzeln  abhängen,  keinen  Satz  (A  -j-  B)  -|-  (M  -j-  N)  =  C 
gäbe,  kraft  dessen  sie  wie  p^  und  p^  ein  drittes  einfaches 
Prädicat  bilden  könnten.  Ich  will  nicht  gegen  diejenigen 
streiten,  die  diese  ganze  Auseinandersetzung  überflüssig  fin- 
den; mir  scheint  sie  nicht  gegenstandslos,  wenn  ich  von  den 
Beispielen  hinweg,  welche  (he  Logik  herkömmhch  braucht, 
auf  andere  blicke,  deren  sie  sich  billig  erinnern  sollte.  Wer 
vom  Golde  sagt,  es  sei  gelb,  hat  freilich  keine  Veranlassung, 
sich  diese  einlache  Eigenschaft  als  Product  zweier  anderen 
nicht  wahrnehmbaren  zu  denken,  die  aus  zwei  im  Golde 
nebeneinander  gegebenen  Bedingungen  eigentlich  hätten  ge- 
sonuert  entstellen  müssen,  aner  gesonaert  nicht  bleiben 
konnten.  Wenn  aber  aut  einen  Massenpunkt  S  zwei  der  Rich- 
tung nach  conträre  oder  auch  contraaictorische  Bewegungs- 
antriene  wirken,  so  ist  das  gegeben,  was  man  vorhin  K.eine 
Veranlassung  hatte  vorauszusetzen:  man  muß  hier  wirklich 
sowohl  die  bedingung,  welche  die  Bewegung  p^,  als  die 
andere,  welche  die  Bewegung  p^  hervorzubringen  strebt,  als  in 
dem  Massenpunkt  wirksam  und  die  beiden  Bewegungen  selbst 
in  jedem  Augennlick  als  Prädicate  dieses  Punktes  S  auf- 
fassen, als  Pradicate  aber,  die  sich  getrennt  nicht  erhalten 
können,  sondern  in  das  dritte  p^,  die  Bewegung  nach  der 
Diagonale  zusammengehen.  Und  zuletzt  gilt  dies  doch  all- 
gemein. Eine  krumme  Linie  kann  ebenso  gut  roth  als  grün 
erscheinen.  Wirkten  aber  die  Bedingungen  zu  beiden  Er- 
scheinungen gleichzeitig  und  gleich  stark,  so  würde  es  uns 
wenig  helfen,  mit  dem  Satze  der  Ausschließung  zu  be- 
haupten, das  Bild  der  Linie  könne  diese  beiden  conträren 
Eigenschaften  nicht  haben;  irgendwie  muß  es  doch  aus- 
sehen. Da  aber  jene  beiden  Bedingungen  vergleichbar  und 
zur  Bildung  einer  Resultante  fähig  sind,  so  wird  eine  dritte 
Farbe  erscheinen,  und  durch  die  Entstehung  dieser  werden 
einestheils  die  Ansprüche  jener  beiden  Bedingungen  beide 


lÖÖ  Zweites  Kapitel. 

befriedigt  sein,  zugleich  aber  wird  in  ihr  der  Grund  liegen, 
warum  die  beiden  conträren  Farben,  welche  sie  einzeln 
erzeugt  haben  würden,  nicht  neben  einander  getrennt  vor- 
handen sein  können. 

74.  Hier  schließt  die  Reihe  der  Urtheile  mit  Innerei^ 
Nothwendigkeit  ab.  Je  bestimmter  das  disjunctive  seinem 
Subjecte  die  Wahl  zwischen  verschiedenen  Prädicaten  vor- 
schreibt, um  so  weniger  kann  es  bei  diesem  Entweder  Oder 
sein  Bewenden  haben;  die  Wahl  muß  vollzogen  werden. 
Die  Entscheidung  aber  darüber,  welches  p^  oder  p^  dem  S 
gebühre,  kann  nicht  aus  seiner  bisher  allein  gegebenen 
Unterordnung  unter  M  fließen,  denn  eben  als  Art  von  M 
hat  es  noch  die  freie  Auswahl;  sie  kann  nur  fließen  aus 
der  eigenthümlichen  Differenz,  durch  welche  sich  S,  als 
diese  Art  des  M,  von  anderen  Arten  des  M  unterscheidet. 
Zu  dem  Satze:  M  (und  jedes  S,  welches  M  ist)  ist  P,  muß 
daher  ein  zweiter  Satz  treten,  welcher  die  Eigenthümlichkeit 
des  jedesmal  in  Rede  stehenden  besondern  Subjects  S  zur 
Geltung  bringt  und  uns  zeigt,  welche  Art  von  M  es  ist; 
aus  der  Vereinigung  beider  Sätze  muß  ein  dritter  fließen, 
welcher  lehrt,  welche  bestimmte  Modification  p  des  all- 
gemeinen P  diesem  S  zukomme,  weil  es  nicht  blos  eine 
Art  von  M,  sondern  diese  Art  von  M  ist.  Die  Verbindung 
zweier  Urtheile  aber  zur  Erzeugung  eines  dritten  ist  im 
Allgemeinen  die  Denkform  des  Schlusses,  und  zu  ihrer 
Darstellung  sind  wir  daher  nun  aufgefordert  überzugehen. 


Anhang 
über  die  unmittelbaren  Folgerungen. 


Dem  Herkommen  zu  Liebe  schalte  ich  hier  Erörterungen 
ein,  die  ihre  richtigere  Stelle  in  der  angewandten  Logik 
haben   würden. 

Von  demselben  Subject  S  und  demselben  Prädicat  P 
behauptet  das  allgemein  bejahende  Urtheil  A :  alle  S  sind  P ; 
das  particular  bejahende  I:  einige  S  sind  P;  das  allgemein 
verneinende  E :  kein  S  ist  P ;  das  particular  verneinende  0 : 
einige  S  sind  nicht  P.  Es  fragt  sich  nun,  welche  unmittel- 
bare Folgerungen  sich  aus  der  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit 
des  einen  dieser  vier  Urtheile  in  Bezug  auf  Gültigkeit  oder 
Ungültigkeit  der  drei  übrigen  ziehen  lassen.  Aus  dem  Dictum 
de  omni  et  nullo  und  dem  Satze  des  ausgeschlossenen 
Dritten  ergibt  sich  hierüber  Folgendes. 

75.  Zwischen  jedem  allgemeinen  Urtheile  und  dem 
gleichnamigen  besondern,  also  zwischen  A  und  I,  und  zwischen 
E  und  0,  findet  das  Verhältniß  der  Subalternation  statt. 
In  der  Richtung  vom  Allgemeinen  zum  Besondern,  oder 
ad  subalternatam,  schließt  man  von  der  Gültigkeit  des 
ersten  auf  die  des  letzteren,  aber  von  der  Ungültigkeit 
des  Allgemeinen  weder  auf  Gültigkeit  noch  auf  Ungültig- 
keit des  Besondern.  Die  Rechtmäßigkeit  der  ersten  Fol- 
gerung leuchtet  sofort,  die  Unmöglichkeit  der  zweiten  nach 
Beseitigung  eines  Mißverständnisses  ein.  Wer  den  all- 
gemeinen Satz :  alle  S  sind  P,  leugnet,  wird  hierzu  ge- 
wöhnlich durch  die  schon  gemachte  Beobachtung  einiger  S 
veranlaßt,  die  nicht  P  sind ;  aber  er  wird  diese  Beobachtung 
doch  nicht  an  allen  S  gemacht  haben.  Seine  Meinung  pflegt 
daher  die  zu  sein,  nur  die  Allgemeingültigkeit  jenes  Satzes 
für  alle  S  zu  leugnen,  seine  Gültigkeit  für  einzelne  S  da- 
gegen unbestritten  zu  lassen;  und  deshalb  haben  in  ge- 
wöhnlicher Rede  Aeußerungen  wie  diese :  es  sei  nicht  wahr, 
daß  alle  S  auch  P  sind,  geradezu  die  Nebenbedeutung,  den 
particularen  Satz :  einige  S  sind  P,  als  richtig  zuzugestehen. 


102  Zweites  Kapitel. 

Die  Logik  dagegen  kennt  nicht  diese  ausgesprochenen  Neben- 
gedanken bei  der  Leugnung  des  allgemeinen  Satzes,  sondern 
nur  das,  was  in  der  ausgesprochenen  Verneinung  selbst  liegt. 
Aber  eben  dies  ist  an  sich  zweideutig.  Denn  die  behauptete 
Ungültigkeit  des  Stazes:  alle  S  sind  P,  besteht  gleichmäßig 
zu  Recht,  sowohl  wenn  der  Satz  nur  für  einzelne  S,  als 
auch,  wenn  er  für  keines  gilt.  So  lange  diese  Zweideutigkeit 
nicht  durch  Nebenaussagen  gehoben  wird,  kann  man  daher 
aus  der  Verneinung  des  allgemeinen  Satzes  weder  auf 
Gültigkeit  noch  auf  Ungültigkeit  des  besonderen  schließen. 

76.  In  entgegengesetzter  Richtung,  vom  Besonderen 
zum  Allgemeinen  oder  ad  subaltemantem,  schließen  wir 
von  der  Ungültigkeit  des  besondern  Urtheils  auf  die  des 
allgemeinen,  aber  nicht  von  der  Gültigkeit  des  besondem 
auf  die  des  allgemeinen.  Auch  hier  ist  die  erste  Folgerung 
nach  Vermeidung  der  berührten  Zweideutigkeit  klar.  Wer 
den  Satz  verneint,  einige  S  seien  P,  kann  zwar  die  Absicht 
haben,  nur  die  Beschränkung  des  P  auf  einige  S  zu  leugnen, 
und  aus  dieser  Meinung,  nicht  blos  einige  S  seien  P. 
flösse  dann  die  Bejahung  des  allgemeinen  Satzes:  alle  S 
sind  P.  Aber  eben  weil  diese  Folge  ja  grade  die  fort- 
dauernde Gültigkeit  auch  des  particularen  Urtheils:  einige 
S  sind  P,  einschließen  würde,  kann  die  Logik  unmöglich 
der  Leugnung  eben  dieses  particularen  Satzes  diese  Aus- 
legung geben.  Für  sie  bedeutet  diese  Leugnung  durchaus 
nur:  es  gibt  gar  keine  einigen  S,  die  P  wären;  was  aber 
nicht  einmal  in  einigen  Fällen  gilt,  gilt  noch  weniger 
in  allen.  Folglich  verneint  die  Verneinung  des  Besondern 
allemal  auch  das  Allgemeine.  Die  Unmöglichkeit  der  zweiten 
Folgerung  ist  für  sich  klar;  die  Gültigkeit  eines  P  für 
einige  S  kann  nie  seine  Gültigkeit  für  alle  S  beweisen; 
nur  weil  diese  widerrechtliche  Verallgemeinerung  einzelner 
Wahrnehmungen  der  gewöhnlichste  logische  Fehler  ist,  dem 
die  Wissenschaft  und  die  Bildung  des  Lebens  ihre  meisten 
Irrthümer  verdanken,  ist  es  der  Mühe  werth,  das  Verbot 
dieser  falschen  Folgerung  ad  subaltemantem  besonders  zu 
betonen. 

77.  Allgemeine  Urtheile  stehen  zu  den  ungleichnamigen 
besondern,  A  zu  0  und  E  zu  I  und  umgekehrt,  in  contra- 
dictorischem  Gegensatz;  wir  schließen  ad  contradictoriam 
sowohl  von  der  Geltung  des  einen  auf  Nichtgeltung  des 
andern,  als  von  der  Ufigültigkeit  des  einen  auf  die  Gültigkeit 
des  andern.    Die  erste  Folgerung  bedarf  keiner,  die  zweite 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  103 

einer  kurzen  Erläuterung.  Verneinen  wir  den  Satz  A,  alle  S 
sind  P,  so  bestehen  mit  dieser  Verneinung  die  beiden  An- 
nahmen E:  kein  S  ist  P,  und  0:  einige  S  sind  nicht  P; 
die  letzte  aber,  in  der  ersten  eingeschlossen,  ist  in  jedem 
Falle  gültig;  folglich  fließt  aus  der  Ungültigkeit  von  A  die 
Gültigkeit  von  0  gewiß.  Verneinen  wir  ferner  0 :  einige  S 
sind  nicht  P,  so  heißt  das  nach  dem  vorhin  Bemerkten: 
es  gibt  keine  einigen  S,  die  nicht  P  wären,  und  dies  ist 
gleichbedeutend  mit  A:  alle  S  sind  P.  Verneinen  wir  E: 
kein  S  ist  P,  so  sind  entweder  alle  S  oder  einige  S,  die 
letzteren  also  in  jedem  Falle,  P,  folglich  gilt  I:  einige  S 
sind  P;  verneinen  wir  I,  so  heißt  dies:  es  gibt  keine 
einigen  S,  welche  P  wären,  gleichbedeutend  mit  der  Be- 
jahung von  E:  kein  S  ist  P. 

78.  Die  beiden  ungleichnamigen  allgemeinen  Urtheile 
A  und  E  haben  nur  conträren  Gegensatz,  und  wir  folgern 
ad  contrariam  aus  der  Geltung  des  einen  die  Nichtgeltung 
des  andern,  aber  nicht  aus  der  Ungültigkeit  des  einen  die 
Gültigkeit  des  andern.  Die  erste  Folgerung  leuchtet  ein; 
die  Unmöglichkeit  der  zweiten  ergibt  sich  nach  dem  Vorigen 
daraus,  daß  die  Verneinung  eines  allgemeinen  Urtheils  zwar 
ad  contradictoriam  die  Gültigkeit  des  ungleichnamigen  be- 
sondern, diese  aber  nicht  weiter  ad  subalternantem  die 
Gültigkeit  des  übergeordneten  allgemeinen  Urtheils  folgern 
läßt.  Subconträren  Gegensatz  endlich  nennt  man  das 
Verhältniß  zwischen  den  beiden  particularen  Urtheilen  I 
und  0.  Man  folgert  ad  subcontrariam  aus  der  Ungültigkeit 
des  einen  die  Gültigkeit  des  anderen,  aber  nicht  aus  der 
Geltung  des  einen  die  Nichtgeltung  des  andern.  In  der 
That :  die  beiden  Sätze :  einige  S  sind  nicht  P,  und :  einige  S 
sind  P,  können  beide  zusammien  bestehen;  wird  aber  der 
eine  verneint,  so  folgt  ad  contradictoriam  die  Geltung  des 
entgegengesetzten  allgemeinen  und  aus  dieser  ad  subalter- 
natam  die  Bejahung  des  ihm  untergeordneten  particularen. 

79.  Ich  erwähne  ferner  eine  andere  logische  Operation 
von  verwandter  Absicht.  Beobachtungen,  welche  sich  zu- 
letzt immer  in  der  Form  eines  Urtheils :  S  ist  P,  ausdrücken 
lassen,  stellen  uns  immer  nur  diejenige  Verbindung  von  S 
und  P  vor  Augen,  die  in  dem  Augenblick  der  Beobachtung 
wirklich  stattfindet;  sie  sagen  aber  nichts  darüber  aus,  ob 
in  anderen  Fällen  S  und  P  trennbar  sein  werden,  oder  nicht, 
ob  es  also  S  gibt,  welche  nicht  P,  oder  P,  welche  nicht  S 
sind.  Man  hat  aber  ein  sehr  begreifliches  praktisches 
Interesse  hieran;  man  will  wissen,  ob  ein  P,  welches  an  S 


104  Zweites  Kapitel. 

vorgekommen  ist,  als  ein  Kennzeichen  betrachtet  werden 
darf,  nach  dem  sich  die  Natur  des  Subjects  bestimmen  läßt, 
an  dem  es  vorkommt;  kurz,  ob  alles,  was   sich  als  ein  P 
darstellt,  auch  allemal  ein  S  ist.    Die  auf  diese  Fragen  zu 
erwartenden    Antworten    werden    daher   die   Form   haben: 
P   ist    S;    man    nennt    sie    deshalb    Umkehrungen    der 
ursprünglichen  Urtheile,  die  zu  ihnen  Veranlassung  gaben. 
Es  versteht  sich  dabei,  daß  es  von  besonderem  Interesse  ist, 
zu  wissen,  ob  P  nothwendi^  und  immer  oder  nur  möglicher- 
weise und  zuweilen  auf  ein  Subject  S  hindeutet,   oder  in 
gewöhnlicher   Bezeichnungsweise,    ob    alle   P   oder   ob   nur 
einige  auch  S  sind.    Man  achtet  deshalb  besonders  auf  die 
Quantität    des    gegebenen    und    des    umgekehrten   Urtheils 
und  nennt  die  Umkehrung  rein  fconversio  pura),  wenn  die 
Quantität  des  letzten  die  umgeänderte  des  ersten  ist,  unrein 
(conversio   impura),   wenn   sie   eine  andere  ist,  und  zwar 
namentlich,  wenn  zur  Triftigkeit  des  umgekehrten  Urtheils 
die   Allgemeinheit   des    ursprünglichen   in   blos   particulare 
Geltung  abgeschwächt  werden  muß.    Man  findet  Folgendes. 
80.  Das   allgemein   bejahende   Urtheil:   alle   S   sind  P, 
versteht  unter  P  entweder  eine  höhere  Gattung,  in  welcher  S 
neben  andern  Arten  enthalten  ist,  oder  ein  allgemeines  Merk- 
mal,  an   dem   S   neben   andern   Subjecten  theilnimmt.     In 
beiden  Fällen  bleibt  ein  Theil  von  P  übrig,  der  nichts  mit  S 
zu  schaffen  hat,  und  die  Umkehrung  kann  daher  nur  unrein 
geschehen  in  das  particulare  Urtheil :  einige  P  sind  S.  Diese 
Regel  verdient  bemerkt  zu  werden;  denn  zu  den  gewöhn- 
lichsten   Fehlern    der   Unaufmerksamkeit   und    zu   den   be- 
liebtesten  Mitteln    der   Täuschung   gehört   es,   dieser  parti- 
cularen  Folgerung   die  allgemeine  unterzuschieben  und  zu 
behaupten:  wenn  allen  S  das  P,  so  komme  auch  allen  P 
das  S  zu.   Man  trifft  allerdings  allgemein  bejahende  Urtheile 
an,  die  diese  reine  Umkehrung  gestatten;  es  sind  diejenigen, 
in  denen  die  Umfange  von  S  und  P  einander  genau  decken, 
mithin  nicht  blos  allen  S,  sondern  auch  nur  allen  S  und 
keinem   andern   Subjecte   das   P  zukommt,   folglich  alle   P 
auch    S    sind.     Solche    reciprocabel    genannte    Urtheile 
sind :  alle  Menschen  sind  von  Natur  sprachfähig ;  alle  gleich- 
seitigen Dreiecke  sind  gleichwinklige;  sie  gestatten  die  Um- 
kehrung:  alles   von   Natur  Sprachfähige  ist  Mensch,  jedes 
gleichwinklige  Dreieck  ist  ein  gleichseitiges.    Aber  daß  jenes 
Verhältniß   zwischen    S    und    P   stattfindet,    an   dem    diese 


Die  Lehre  vom  ürtheil.  105 

Möglichkeit  hängt,  wird  in  jedem  Einzelfalle  dieser  Art 
nur  durch  die  sachliche  Kenntniß  des  gegebenen  Urtheils- 
inhalts  verbürgt.  Mit  Recht  verlangt  daher  die  Mathematilc, 
welche  die  reine  Umkehrung  allgemein  bejahender  Urtheile 
häufig  vollzieht,  für  die  Richtigkeit  des  umgekehrten  jedes- 
mal einen  besonderen  Beweis  und  schärft  durch  dies  vor- 
sichtige Verfahren  die  Regel  ein,  daß  aus  blos  logischem 
Recht  das  allgemein  bejahende  ürtheil  nur  unreine  Um- 
kehrung in  ein  particular  bejahendes  verträgt.  Es  verhält 
sich  anders  mit  dem  allgemein  verneinenden  Urtheile :  Kein  S 
ist  P.  Diese  völlige  Ausschließung  beider  Begriffe  aus- 
einander gilt  offenbar  wechselseitig  und  rechtfertigt  die 
Behauptung,  daß  auch  kein  P  ein  S  sei.  Allgemein  ver- 
neinende Urtheile  erfahren  daher  reine  Umkehrung  in  wieder 
allgemein   verneinende. 

81.  Aus  dem  particular  bejahenden  Satze:  einige  S 
sind  P,  folgt  einleuchtend  die  reine  Umkehrune  in  den 
wieder  particularen :  einige  P  sind  S.  Und  diese  Folgerung 
befriedigt  auch  in  allen  Fällen,  in  welchen  P  ein  allgemeines 
Prädicat  ist,  an  welchem  S  neben  andern  Subjecten  theilhat; 
so  wird  die  Behauptung:  einige  Hunde  sind  bissig,  mit 
Recht  sich  in  die  andere  umkehren:  einiges  Bissige  sei 
Hund.  Wenn  jedoch  S  die  allgemeine  Gattung  ist,  der  P 
als  Art  gehört,  wie  in  dem  Satze :  einige  Hunde  seien  Möpse, 
wird  die  nach  allgemein  logischem  Rechte  allein  zulässige 
ümkehrung :  einige  Möpse  seien  Hunde,  unvortheilhaft  gegen 
die  sachlich  richtige:  alle  Möpse  sind  Hunde,  abstechen. 
Richtig:  freilich  ist  auch  sie ;  aber  sie  drückt  nur  einen  Theil 
der  Wahrheit  und  zwar  in  einer  Form  aus,  welche  den 
andern  Theil  derselben,  daß  auch  alle  übrigen  Möpse  Hunde 
sind,  eher  zu  verneinen  als  zu  bejahen  scheint.  Dies  wird 
noch  fühlbarer,  wenn  man  sich'  das  Ürtheil:  alle  Möpse 
sind  Hunde,  gegeben  denkt  und  es  zweimal  convertirt. 
Aus  der  ersten  Umkehrung:  einige  Hunde  sind  Möpse, 
kommt  man  durch  die  zw^eite  Umkehrung  nicht  mehr  zu 
dem  gegebenen  Satze  zurück;  die  logischen  Operationen 
haben  also  hier  den  Erfolg  gehabt,  einen  Theil  der  Wahrheit 
aus  dem  Wege  zu  schaffen.  Diese  Unschicklichkeit  wäre 
leicht  zu  vermeiden,  wenn  man  die  Quantitätsbezeichnungen, 
dem  Sinne  gemäß,  als  untrennbar  von  ihren  Substantiven 
ansähe;  man  hätte  dann  gleich  den  gegebenen  Satz  so 
geformt:  alle  Möpse  sind  einige  Hunde:  umgekehrt:  einige 
Hunde    sind    alle    Möpse;    zweite    Umkehrung:    alle   Möpse 


106  Zweites  Kapitel. 

sind  einige  Hunde.  Aber  es  lohnt  nicht,  diese  doch  unfrucht- 
baren Formeln   zu  verbessern. 

Das  particular  verneinende  ürtheil :  einigf^  S  sind  nicht  P, 
behauptet  an  sich  nur  die  Trennbarkeit  des  S  von  P.  nicht 
aber  auch  die  des  P  von  S.  Die  reine  Umkehrung:  einige  P 
sind  nicht  S,  gilt  daher  nicht  allgemein,  sondern  nur  für 
solche  P.  die  als  gemeinschaftliche  Prädicate  vers«"hiedener 
Subiecte  nicht  ausschließlich  in  der  Natur  d'es<  S  Redingungen 
ihres  möglichen  Vorkommens  finden.  Der  Satz:  einige 
Mensrhen  sind  nicht  schwarz,  gestattet  aus  di«^sem  Grunde 
die  ümkehrung:  einiges  Schwarze  ist  nicht  Mensch:  aber 
die  Urtheile:  einige  Menschen  sind  nicht  fromm,  einige 
sind  nicht  Christen,  würden  ergeben :  einiges  Fromme  ist 
nicht  Mensch,  einige  Christen  sind  nicht  Menschen,  beides 
unzulässig,  da  Frömmigkeit  und  Christenthum  zwar  nicht 
allen,  aber  doch  nur  Menschen  zukommen.  Diese  Un- 
zuträglichkeiten werden  nur  dadnrch  allgemein  vermie'^^n, 
daß  man  in  dem  gegebenen  Urtheil  die  Negation  zum  Prä- 
dicat  schlägt  und  den  nunmehrigen  Satz :  einige  S  sind  NcmP, 
nach  Art  der  particular  bejahenden  umkehrt  in:  einige 
NonP  sind  S;  einiges  Nichtschwarze,  einiges  Nichtfromme, 
einige  Nicht-Christen  sind  Menschen. 

82.  Dies  hier  nothwendige  Verfahren  hat  man  unter 
dem  Namen  der  Umkehrung  durch  Contraposition  auf 
alle  Urtheile  ausgedehnt:  in  den  bejahenden  soll  die  Be- 
jahung des  P  durch  Verneinung  von  NonP,  in  den  ver- 
neinenden die  Verneinung  von  P  durch  Bejahung  von  Non  P 
ersetzt,  die  verwandelten  Urtheile  dann  nach  den  gewöhn- 
lichen Regeln  umgekehrt  werden.  Man  erhält  auf  diesem 
Wege  zuerst  für  A :  alle  S  sind  P,  kein  S  ist  Non  P ;  daraus : 
kein  Non  P  ist  S.  Für  das  particular  bejahende  I  dagegen : 
einige  S  sind  P,  würde  die  Transformation  in:  einige  S  sind 
nicht  NonP,  nach  dem  Obigen  keine  Conversion  gestatten, 
für  I  also  die  Contraposition  unausführbar  sein ;  für  E  da- 
gegen erhält  man :  kein  S  ist  P,  alle  S  sind  Non  P,  einige 
Non  P  sind  S ;  für  0  endlich :  einige  S  sind  nicht  P,  einige  S 
sind  Non  P,  einige  Non  P  sind  S.  Die  Durchführung  dieser 
Operationen  an  Beispielen  würde  unförmliche,  dem  natür- 
lichen Denken  fremde  Ausdrucksweisen  erzeugen;  was  man 
mit  diesen  vier  Fällen  eigentlich  sagen  will,  läßt  sich  ein- 
facher mittheilen,  wenn  man  die  quantitativen  Bestimmungen 
der    vorkommenden    Urtheile    durch    die    gleichgeltenden 


Die  Lehre  vom  Urtheil.  107 

modalen  ersetzt;  auch  die  an  sich  unmögliche  Contra- 
position von  I  wird  dann  noch  benutzbar.  Es  würde  nämlich 
die  Umkehrung  von  A  bedeuten:  wenn  allen  Einzelnen 
einer  Gattung  S  das  Prädicat  P  zukommt,  so  ist  es  un- 
möglich, daß  etwas  ein  S  sei,  dem  dies  Merkmal  fehlt;  die 
von  I :  wenn  nur  von  einigen  Arten  des  S  feststeht,  P  komme 
ihnen  zu,  so  ist  nicht  nothwendig,  sondern  nur  möglich, 
daß  etwas,  dem  P  fehlt,  kein  S  sei ;  die  von  E :  wenn  der 
Gattung  S  das  Merkmal  P  allgemein  fehlt  oder  widerspricht, 
so  ist  es  nicht  nöthig,  sondern  nur  möglich,  daß  etwas,  dem 
das  P  gleichfalls  fehlt  oder  widerspricht,  eine  Art  von  S 
sei;  und  eben  diese  letzte  Folgerung  ist  auch  die  von  0: 
wenn  einige  S  nicht  P  sind,  so  wird  etwas,  das  gleichfalls 
nicht  P  ist,  ein  S  sein  können,  aber  nicht  müssen. 


Drittes  Kapitel. 

Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  syste- 
matischen Formen. 


Vorbemerkungen  über  die  Aristotelische  Syllogistik. 

Ich  habe  die  unerledigte  Aufgabe  angedeutet,  die  vom 
disjunctiven  Urtheil  weiter  treibt.  Ehe  ich  diesen  syste- 
matischen Zusammenhang  verfolge,  halte  ich  für  vortheil- 
haft,  die  Lehre  vom  Schlüsse  in  der  Gestalt  vorzutragen, 
die  sie  durch  Aristoteles  erhalten  hat.  Doch  folge  ich  nicht 
der  originalen  Darstellungsweise  des  großen  griechischen 
Philosophen,  sondern  der  bequemeren  später  üblich  ge- 
wordenen. Die  Schriften  des  Aristoteles  sind  erhalten; 
wer  Antheil  an  der  ersten  Entstehung  dieser  Lehren  nimmt, 
hat  es  leicht,  sich  an  seiner  meisterhaften  Entwickelung  zu 
erfreuen;  wo  es  sich  dagegen  nicht  um  die  Geschichte  der 
Sache,  sondern  um  die  Sache  selbst  handelt,  würde  es 
nutzlose  Coquetterie  sein,  die  unbequemen  Ausdrucks- 
weisen des  Erfinders  den  kleinen  Erleichterungen  vor- 
zuziehen, welche  die  Folgezeit  zu  Gebote  stellt. 

83.  Schluß  oder  Syllogismus  nennen  wir  im  Sinn  des 
Aristoteles  jede  Verknüpfung  zweier  Urtheile  zur  Erzeugung 
eines  gültigen  dritten,  das  nicht  in  der  bloßen  Summirung 
jener  beiden  besteht.  Unmöglich  würde  diese  Erzeugung, 
wenn  der  Inhalt  jener  vorausgeschickten  Urtheile,  der  beiden 
Prämissen,  propositiones  praemissae,  völlig  verschieden 
wäre;  sie  wird  nur  möglich,  wenn  beide  einen  gemeinsamen 
Bestandtheil  M,  den  Mittelbegriff  oder  medius  terminus 
enthalten,  welchen  die  eine  mit  S,  die  andere  mit  P  in 
Beziehung  setzt.  Durch  diese  Vermittelung  untereinander 
in  Zusammenhang  gebracht,  können  die  beiden  Begriffe  S 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     109 

und  P  in  dem  Schlußsatz,  der  conclusio,  zu  einem  Ürtheil 
von  der  Form :  S  ist  P,  oder  kürzer  bezeichnet :  SP,  zu- 
sammentreten, aus  welchem  der  Mittelbegriff,  der  zu  seiner 
Erzeugung  gedient  hat,  wieder  verschwunden  ist.  In  der 
Natur  der  Sache  besteht  kein  Grund,  einen  Werthunterschied 
zwischen  den  beiden  Prämissen  SM  und  PM  zu  machen; 
ein  Herkommen  jedoch,  das  geachtet  werden  muß,  wenn 
nicht  alle  festgesetzten  Kegeln  eine  verwirrende  Umdeutung 
erheischen  sollen,  hat  bestimmt,  daß  Obersatz  oder  prop. 
major  diejenige  Prämisse  heißen  soll,  die  außer  M  das 
Prädicat  P,  Untersatz  oder  prop.  minor  die,  welche 
außer  M  das  Subject  S  des  künftigen  Schlußsatzes  enthält; 
dieser  selbst  wird  immer  in  der  Form  SP,  nicht  in  der 
umgekehrten  PS  gedacht.  Unter  dieser  Voraussetzung  ent- 
springen aus  den  verschiedenen  Stellungen,  welche  die  drei 
begritfe  noch  annehmen  können,  folgende  vier  verschiedene 
Anordnungen,  deren  drei  erste  die  drei  Aristotelischen 
Figuren  darstellen,  während  die  vierte  die  Figur  des 
Galenus  bildet. 

I)  MP  II)  PM  III)  MP  IV)  PM 
SM  SM  MS  MS 
W  SP       SP       SP 

84.  Fragen  wir  nun,  ob  und  miter  welchen  Bedingungen 
diese  zunächst  nur  combinatorisch  angenommenen  An- 
ordnungen der  Prämissen  einen  triftigen  Schluß  begründen, 
so  finden  wir  sogleich  die  Berechtigung,  S  und  P  in  diesem 
zusammenzubringen,  von  der  völligen  Identität  des  Mittel- 
begriffs abhängig;  sie  wird  selbstverständlich  hinfällig,  so- 
bald das  M,  welches  in  der  einen  Prämisse  mit  S  verknüpft 
ist,  ein  anderes  ist,  als  das  M,  welches  in  der  andern  mit  P 
verbunden  ist.  Vier  Begriffe  würden  durch  diese  Spaltung 
des  M,  anstatt  der  nothwendigen  und  hinreichenden  drei, 
in  den  Prämissen  auftreten ;  die  Vermeidung  dieser  quatemio 
terminorum  und  die  Sicherung  der  völligen  Identität  des 
Mittelbegriffs  ist  daher  die  gemeinsame  Bedingung  für  die 
Schlußkraft  aller  Figuren.  Um  diese  Bedingung  zu  erfüllen, 
ist  es  zuerst  in  allen  Figuren  nothwendig,  jede  Doppel- 
deutigkeit des  Wortes  auszuschließen,  durch  welches  wir 
den  von  uns  gemeinten  Mittelbegriff  M  bezeichnen;  außer- 
dem aber  machen  zu  gleichem  Zweck  die  einzelnen  Figuren 
je  nach  der  Eigenthümlichkeit  ihres  Baues  besondere,  so- 
gleich   zu    erwähnende    Vorsichtsmaßregeln    nothwendig. 

85.  Die  erste   Figur   ordnet  im   Untersatz  ihr  S   in 


110  Drittes  Kapitel. 

den  Umfang  von  M,  im  Obersatz  dies  M  in  den  Umfang 
von  P,  und  um  deswillen  im  Schlußsatz  S  in  den  Umfang 
von  P.  Der  Gedanke,  der  dieser  Folgerung  zu  Grunde  liegt, 
ist  sichtlich  der  der  Subsumption;  jedem  Subject  kommt 
das  Prädicat  seiner  Gattung  zu.  Schon  hieraus  kann  man 
ableiten,  daß  der  Obersatz  der  ersten  Figur  allgemein  sein 
muß;  denn  er  soll  die  Regel  aussprechen,  welche  auf  das 
Subject  des  Untersatzes  angew^andt  werden  soll.  Die  For- 
derung der  Identität  des  Medius  terminus  führt  zu  dem- 
selben Ergebniß.  Denn  das  S  des  Untersatzes  ist  immer 
eine  bestimmte  Art,  oder  ein  bestimmter  Fall  des  M;  die 
Form  des  Satzes  sagt  dies  aber  nicht,  sondern  läßt  S  nur 
überhaupt  als  eine  unbestimmte  Art  des  M  erscheinen; 
soll  nun  dies  unbestimmte  M  dasselbe  sein,  wovon  der  Ober- 
satz behauptet,  es  sei  P,  so  ist  dies  nur  zu  .erreichen,  wenn 
der  Obersatz  allgemein  von  allen  M  spricht,  und  so  jenes 
unbestimmte  mit  umfaßt.  Allerdings  ist  dann  das  aus- 
gesprochene M  des  Obersatzes  nicht  identisch  mit  dem  M 
des  Untersatzes,  welches  nothwendig,  als  Prädicat  des  S, 
nur  einen  Theil  vom  ganzen  Umfang  des  M  bedeutet; 
allein  diese  anscheinende  Schwierigkeit  hebt  sich  durch 
die  Ueberlegung,  daß  das  zur  Hervorbringung  des  Schlusses 
benutzte  M  des  Obersatzes  ebenfalls  nur  ein  Theil  des 
dort  ausgesprochenen,  nämlich  genau  dasjenige  ist,  welches 
im  Untersatz  gemeint  ist.  Da  ferner  die  Folgerung  des 
Schlußsatzes  auf  der  Unterordnung  des  S  unter  M  beruht, 
so  muß  diese  Unterordnung  auch  bestehen,  der  Untersatz 
mithin,  der  sie  ausspricht,  muß  bejahend  sein;  wäre  er  ver- 
neinend, so  würde  er  einfach  das  Vorhandensein  des  Rechts- 
grundes leugnen,  aus  dem  die  Gültigkeit  des  Schlußsatzes 
fließen  könnte.  Gleichgültig  ist  es  dagegen  für  den  logischen 
Zusammenhang  des  Schlusses  und  lediglich  seinem  jedes- 
maligen Inhalte  zuzurechnen,  ob  das,  was  vom  M  des  Ober- 
satzes ausgesagt  wird,  Bejahung  oder  Verneinung  des  P 
ist,  und  ob  das  Anwendungsbeispiel,  welches  der  Untersatz 
für  dieses  allgemeine  Verhalten  herbeibringt,  alle  S  oder 
nur  einige  derselben  umfaßt.  Daher  ist  die  Qualität  des 
Obersatzes  und  die  Quantität  des  Untersatzes  unbeschränkt. 
Im  Schlußsatz  endlich  soll  die  Beziehung,  welche  der  Ober- 
satz dem  M  zu  P  gibt,  gleichviel  ob  Bejahung  oder  Ver- 
neinung, unverändert  auf  das  unveränderte,  gleichviel  ob 
allgemeine  oder  particulare  Subject  des  Untersatzes  über- 
tragen werden;  der  Schlußsatz  hat  daher  die  Qualität  des 
Obersatzes  und  die  Quantität  des  Untersatzes.    Denkt  man 


Die  Lebte  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    111 

sich  jede  Möglichkeit  benutzt,  weiche  diese  Regeln  übrig 
lassen,  so  entstehen  iiir  gültige  Arten  oder  Modi  der  ersten 
Figur.  Ihre  scholastischen  iNamen  ßaruara  Celarent  Darii 
und  Ferio,  in  bekannter  Weise  durch  die  drei  Vooaie  der 
Reihe  nach  Qualität  und  Quantität  der  Prämissen  und  der 
Conclusion  bezeichnend,  machen  uns  die  Auszeichnung  der 
ersten  Figur  deutlich,  Schlußsätze  jeder  Art  erzeugen  zu 
können. 

86.  Die  Prämissen  der  zweiten  Figur  zeigen  uns 
zwei  Subjecte  S  und  P  in  Beziehung  zu  dem  Prädicate  M. 
Haben  nun  beide  dies  Prädicat  oder  haben  sie  es  beide 
nicht,  sind  also  beide  Prämissen  positiv  oder  beide  negativ, 
so  ist  hieraus  gar  keine  Folgerung  in  Bezug  auf  ein  gegen- 
seitiges Verhältniß  zwischen  S  und  P  möglich.  Denn  an 
einem  Merkmal  M  zugleich  Theil  haben  oder  zugleich  von 
ihm  ausgeschlossen  sein  können  unzählige  Subjecte,  ohne 
daß  außer  dieser  Gemeinsamkeit  irgend  eine  andere  zwischen 
ihnen  zu  bestehen  braucht,  namendich  ohne  daß  das  eine  S 
eine  Art  des  andern  P  sein  muß.  iNur  wenn  das  eine  Sunject 
immer  oder  allgemein  das  Merkmal  M  hat  oder  nicht  hat, 
das  andere  aner  sich  zu  M  entgegengesetzt  verhält,  ist  die 
Folgerung  begründet,  das  zweite  könne  keine  Art  des  ersten 
sein.  Die  Prämissen  der  zweiten  Figur  müssen  daher  von 
entgegengesetzter  Qualität,  und  eine  von  ihnen  allgemein 
sein.  Da  aber  außerdem  herkömmlicher  Weise  der  Untersatz 
jenes  zweite  Sunject  liefert,  so  muß  die  Prämisse,  in  der 
das  erste  erwähnt  wird,  also  der  Obersatz,  die  allgemeine 
sein.  Zusammengefaßt  sind  daher  die  Bedingungen  der 
zweiten  Figur:  der  Obersatz  ist  allgemein,  aber  seine  Qua- 
lität unbeschränkt;  der  Untersatz  hat  die  entgegengesetzte 
Qualität  des  Obersatzes  und  ist  unbeschränkt  in  der 
Quantität;  der  Schlußsatz  ist  stets  negativ  und  hat  die 
Quantität  des  Untersatzes.  Die  möglichen  Modi  sind 
Camestres  Baroco   Cesare  Festino. 

87.  Die  dritte  Figur  bringt  dasselbe  Subject  M  in 
Beziehung  zu  zwei  Prädicaten  P  und  S.  Hat  nun  M  beide 
Prädicate,  sind  also  beide  Prämissen  positiv,  so  müssen  P 
und  S  vereinbar  sein;  es  folgt  mithin,  nach  dem  ge- 
bräuchlichen logischen  Ausdruck  einer  solchen  Möglichkeit, 
der  particular  bejahende  Schluß:  einige  S  sind  P.  Die 
nöthige  Identität  des  M  wird  in  diesem  Falle  durch  die 
Allgemeinheit  schon  einer  Prämisse,  gleichgültig  welcher, 
hinlänglich  gesichert;  denn  es  ist  offenbar  kein  Unterschied, 
ob  alle  M  das  Merkmal  P  und  nur  einige  das  S,  oder  ob 


112  Drittes  Kapitel. 

alle  M  das  S  und  nur  einige  das  P  besitzen:  so  wie  so 
gibt  es  immer  einige  M,  die  beide  zusammen  besitzen  und 
hierdurch  den  stets  particularen  Schlußsatz:  einige  S  sind  P, 
rechtfertigen.  Uebrigens  könnte  gerade  hier,  wo  M  in  beiden 
Prämissen  Subject  ist,  seine  Identität  auch  leicht  durch 
völlig  individuelle  Bedeutung,  also  durch  den  Eigennamen 
einer  Person,  verbürgt  werden.  Man  begegnet  solchen 
Schlüssen  oft;  um  die  Vereinbarkeit  zweier  Leistungen  zu 
beweisen,  die  einander  auszuschließen  scheinen,  führt  man 
ein  Beispiel  an:  Sokrates  sei  P  gewesen,  Sokrates  auch  S; 
folglich  was  S  sei,  könne  auch  P  sein,  oder :  einiges  S  ist  P. 
Die  Logik  rechtfertigt  solche  Schlüsse  dadurch,  daß  sie  dem 
singularen  Urtheile,  d.  h.  dem,  dessen  Subject  nicht  ein 
unbestimmter  Theil  eines  Allgemeinbegriffs,  sondern  eine 
völlig  bestimmte,  nur  einmal  vorkommende  Einzelheit  ist, 
den  syllogistischen  Werth  eines  allgemeinen  Urtheils  zu- 
theilt.  So  tritt  dieser  Fall  unter  die  obige  Regel,  welche 
bei  zwei  positiven  Prämissen  eine  allgemeine  verlangt, 
einen  particular  bejahenden  Schlußsatz  vorschreibt  und  die 
Modi  Darapti  Datisi  und  Disamis  zuläßt. 

88.  Hat  ferner  dasselbe  Subject  M  das  eine  Merkmal, 
aber  das  andere  nicht,  ist  also  eine  Prämisse  positiv,  die 
andere  negativ,  so  müssen  S  und  P  trennbar  sein,  oder 
es  folgt  nach  gewöhnlichem  Ausdruck  der  particular  ver- 
neinende Schluß:  einige  S  sind  nicht  P.  Zur  Identität 
des  M  reicht  auch  hier  die  Allgemeinheit  einer  Prämisse 
hin,  gleichgültig  welcher,  aber  der  Untersatz  muß  bejahend 
sein.  Denn  ein  Merkmal,  welches  an  einem  Subject  vor- 
kommt, ist  allerdings  immer  trennbar  von  dem  andern, 
welches  an  demselben  Subject  nicht  vorkommt;  aber  dies 
letztere  braucht  nicht  trennbar  von  dem  erstem  zu  sein; 
es  bleibt  denkbar,  daß  dies  zweite  nur  entweder  gar  nicht 
oder  doch  blos  in  Verbindung  mit  dem  ersten  bestehen  kann. 
So  ist  Lebendigkeit  ohne  Vernünftigkeit,  aber  nicht  Ver- 
nünftigkeit ohne  Lebendigkeit  ein  mögliches  Merkmal  eines 
Thieres.  Nur  das  bejahte  Merkmal  ist  mithin  das  trennbare; 
nur  von  ihm  als  Subject  kann  der  Schlußsatz  behaupten, 
es  sei  nicht  immer  mit  dem  andern  als  Prädicat  verbunden ; 
dies  Subject  des  Schlußsatzes  aber  liefert  herkömmlich 
der  Untersatz;  dieser  also  muß  bejahend,  nur  der  Obersatz 
darf  verneinend  sein.  Unter  dieser  Bedingung  geben  ge- 
mischte Prämissen  die  Modi  Felapton  Ferison  und  Bocardo, 
auch  sie  wie  die  vorigen  mit  nur  particularen  Schlußsätzen. 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     113 

89.  Allgemein  behauptet  endlich  die  Logik:  aus  zwei 
negativen  Prämissen  gebe  auch  die  dritte  Figur  keinen 
gültigen  Schluß.  Dies  ist  irrig ;  es  kann  mit  Recht  aus  ihnen 
eine  Folgerung  gezogen  werden,  die  ganz  gleichartig  und 
an  Werth  völlig  ebenbürtig  mit  denen  ist,  welche  aus 
positiven  oder  gemischten  Vordersätzen  fließen.  Denn  wenn 
jene  beweisen,  daß  S  und  P  vereinbar,  diese,  daß  sie  trenn- 
bar sind,  so  beweisen  mit  gleichem  Recht  zwei  negative 
Prämissen,  daJi  S  und  P  nicht  contradictorisch  entgegen- 
gesetzt sind,  daß  mithin,  was  nicht  S  ist,  darum  nicht  P 
zu  sein  braucht;  nach  gewöhnlicher  Bezeichnungsweise: 
einige  Nicht-S  sind  nicht  P.  Es  ist  durchaus  nicht  einzu- 
sehen, warum  diese  Folgerung  an  Werth  jenen  beiden  nach- 
stände; denn  die  erste  ruft  uns  doch  auch  nur  zu:  wo 
ihr  S  findet,  macht  euch  auf  die  Möglichkeit  gefaßt,  auch 
P  zu  finden;  die  zweite:  wo  ihr  S  antrefft,  rechnet  nicht 
darauf,  daß  auch  P  sein  werde;  ganz  ebenso  diese  dritte: 
wo  ihr  S  nicht  beobachtet,  hütet  euch  zu  schließen,  daß 
um  so  mehr  P  da  sein  werde.  Im  Leben  aber  begegnet 
man  solchen  Schlüssen  oft;  tausendfältig,  wo  aus  dem 
Nichtvorhandensein  einer  Eigenschaft  voreilig  auf  die  Noth- 
wendigkeit  einer  andern  geschlossen  worden  ist,  beruft  man 
sich  auf  Beispiele,  in  welchen  weder  die  eine  noch  die 
andere  angetroffen  wird,  und  berichtigt  so  ein  falsches 
Vorurtheil  durch  einen  Schluß  nach  der  dritten  Figur  aus 
zwei  negativen  Prämissen.  Gültig  ist  daher  diese  B'olgerung 
ohne  Zweifel;  doch  ist  es  nicht  zeitgemäß  mehr,  nachträg- 
lich ihren  möglichen  Modis  Namen  zu  erfinden. 

90.  Die  Prämissen  der  vierten  dem  Claudius  Galenus 
zugeschriebenen  Figur  geben  formell  ein  Gegenbild  der 
ersten  Aristotelischen,  ohne  ihr  jedoch  an  logischem  Werth 
zu  gleichen.  Man  unterscheidet  die  Modi  Bamalip  Calemes 
Dimatis  Fesapo  Fresiso.  Die  Prämissen  von  Bamalip :  alle 
Rosen  sind  Pflanzen,  alle  Pflanzen  bedürfen  Luft,  wird  jedes 
natürliche  Denken  stillschweigend  umstellen  und  dann  aus 
ihnen  nach  Barbara  der  ersten  Figur  schließen :  alle  Rosen 
bedürfen  Luft.  Dieser  Schlußsatz  ist  dann  freilich  von  der 
Form  PS,  aber  der  andere  von  der  Form  SP,  welchen  die 
vierte  Figur  verlangt,  ist  aus  ihm  durch  einfache  Umkehrung 
zu  erhalten:  einiges  Luftbedürftige  ist  Rose.  Dagegen  ist 
aus  dieser  letztern  Folgerung  nach  der  vierten  Figur  durch 
Umkehrung  diejenige  nicht  wiederzugewinnen,  die  wir  nach 
der  ersten  Figur  aus  denselben  Prämissen  zogen,  vielmehr 

L  0 1  z  e  ,  Logik.  8 


114  Dritlos  Kapitel. 

gibt  diese  Couversioii  nur  den  particularen  Satz:  einiges, 
was  Rose  ist,  ist  luftbedürftig.  Mithin  geht  in  diesem  Falle 
durch  den  Schluß  nach  der  Galenischen  Figur  geradezu  ein 
Theil  der  Wahrheit  verloren,  die  in  den  Prämissen  begründet 
ist;  eine  üble  Empfehlung  für  ein  Schlußverfahren,  dessen 
Pflicht  immer  ist,  aus  Gegebenem  so  viel  neue  Wahrheit 
zu  folgern  als  möglich.  Dies  Ungeschick  zwar  könnte  man 
vermeiden,  wie  früher  gezeigt,  natürlicher  w^ürde  jedoch 
auch  hierdurch  der  Schluß  nicht.  Ebenso  unnatürlich  sind 
Calemes  und  Dimatis,  deren  Prämissen  jedes  unbefangene 
Denken  umstellen  und  nach  Celarent  und  Darii  der  ersten 
Figur  benutzen  wird;  einen  Wahrheitsverlust  freilich  ver- 
schulden sie  nicht,  da  der  negative  Schlußsatz  von  Calemes 
reine  Umkehrung  erlaubt,  anderseits  der  von  Darii  ebenso 
blos  particular  ist,  wie  der  von  Dimatis.  Nur  Fesapo  und 
Fresiso  lassen  sich,  wegen  des  entstehenden  negativen  Unter- 
satzes in  beiden,  des  particularen  Obersatzes  im  zweiten, 
minder  bequem  auf  die  erste  Figur  zurückbr'ngen;  s'e  gihen 
dafür  durch  reine  Umkehrung  der  Obersätze  in  Felapton 
und  Ferison  der  dritten  über  und  geben  nach  dieser  Um- 
formung ebenfalls  natürlichere  Schlußsätze.  Nach  allem 
ist  daher  die  vierte  Figur  eine  sehr  entbehrliche  Zugabe  zu 
den  drei  Aristotelischen. 

91.  Aristoteles  hielt  die  Folgerungen  nach  allen  drei 
Figuren  für  triftig,  aber  nur  die  nach  der  ersten  für  voll- 
kommen. Denn  nur  diese  Figur  lasse  in  der  Gestaltung 
der  Prämissen  auch  formell  den  Rechtsgrund  klar  hervor- 
treten, der  die  Möglichkeit  jeder  Folgerung  bedingt:  die 
Unterordnung  des  Besonderen  unter  sein  Allgemeines.  Auch 
in  den  beiden  andern  Figuren  beruhe  zwar  der  Schluß  auf 
demselben  Rechtsgrunde;  auch  seien  die  Unterordnungs- 
verhältnisse, die  zur  Folgerung  nach  diesem  Princip  noth- 
wendig  und  hinreichend  sind,  in  den  Prämissen  enthalten 
und  man  bedürfe  keiner  nebenhergehenden  Ergänzung  der- 
selben durch  anderweitige  Kenntniß,  aber  die  Gestaltung 
der  Prämissen  lege  sie  doch  nicht  von  selbst  dar;  man 
müsse  sie  in  ihnen  aufsuchen.  Diesen  formalen  Mangel 
der  beiden  letzten  Figuren  suchte  Aristoteles  durch  An- 
gabe der  Umformungen  zu  ergänzen,  durch  welche  ihre 
Prämissen  ohne  Aenderung  ihres  Inhalts  in  solche  nach 
der  ersten  Figur  verwandelt  werden  können.  Man  hat  dies 
überflüssig  gefunden  und  eingew^andt,  daß  auch  die  beiden 
andern  Figuren  nach  eigenen  für  sich  einleuchtenden  Grund- 
sätzen  schließen ;   so   sei   der   Grundgedanke   der  zweiten : 


Die  Lehre  vom  Schluß  uiid  den  systematischen  Formen.     115 

wenn  zwei  Dinge  sich  in  Bezug  auf  dasselbe  Merkmal  ent- 
gegengesetzt verhalten,  könne  das  eine  keine  Art  des  andern 
sein,  iür  sich  klar  und  unabhängig  von  dem  Grundsatz  der 
Unterordnung.  Dies  bezweifle  ich,  lasse  es  aber  auf  sich 
beruhen;  denn  wenn  man  überhaupt  die  beiden  letzten 
Figuren  nach  irgend  einem  Grundsatze  schließen  läßt, 
so  gibt  man  damit  schon  zu,  daß  der  Rechtsgrund  aller 
Folgerungen  in  der  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  das 
Allgemeine  liegt;  denn  wozu  nützten  diesen  Figuren  ihre 
Grundsätze,  außer  um  durch  Unterordnung  des  Prämissen- 
inhalts unter  sie  ihre  Gonclusion  zu  rechtfertigen?  Mit 
seinem  allgemeinen  Gedanken  über  den  Vorzug  der  ersten 
Figur  hatte  daher  Aristoteles  Recht;  auch  kann  man  das 
Interesse  theilen,  welches  er  daran  nahm,  ein  für  allemal 
durch  jene  Umgestaltungen  die  beiden  andern  zu  recht- 
fertigen; in  dem  Gebrauch  des  Denkens  aber  hat  freilich 
die  wirkliche  Ausführung  dieser  Umformungen  selten  er- 
heblichen Werth;  einen  solchen  Fall  glaubten  wir  eben  bei 
Betrachtung  der  vierten  Figur  zu  finden;  die  Schlüsse  der 
zweiten  und  dritten  sind  durchsichtig  genug,  um  dies  Hülfs- 
mittel  entbehren  zu  können. 

92.  Es  reicht  daher  hin  zu  erwähnen,  daß  die  scho- 
lastische Logik  in  den  Namen  der  Modi  der  beiden  letzten 
Figuren  durch  die  Buchstaben  m  s  p  c  die  zu  diesem  Zwecke 
nöthigen  Operationen  angedeutet  hat.  Und  zwar  verlangt 
ni  (metathesis)  die  Umstellung  der  Prämissen;  s  und  p  be- 
fehlen rein  (simpliciter)  oder  unrein  (per  accidens)  den- 
jenigen Satz  umzukehren,  hinter  dessen  charakteristischem 
V'ocal  sie  stehen ;  nur  die  weniger  einfache  Bedeutung  von  c, 
die  Zurückführung  auf  das  Unmögliche  (per  impossibile 
ductio),  ist  sogleich  durch  das  Beispiel  Baroco  zu  erläutern. 
Die  Prämissen  sind  hier:  alle  P  sind  M;  einige  S  sind 
nicht  M;  der  Schlußsatz:  einige  S  sind  nicht  P.  An- 
genommen nun,  dieser  Schlußsatz  sei  falsch,  so  folgt  ad 
contradictoriam :  alle  S  sind  P.  Verhielte  sich  dies  nun  so, 
und  ordnete  man  dem  gegebenen  Obersatze:  alle  P  gind  M, 
diesen  neuen  Untersatz  bei:  alle  S  sind  P,  so  würde  nach 
Barbara  der  ersten  Figur  folgen :  alle  S  sind  M.  Aber  dieses 
Ergebniß  widerspricht  dem  gegebenen  Untersatz :  einige  S 
sind  nicht  M;  mithin  war  die  Leugnung  der  Richtigkeit  des 
nach  Baroco  gefundenen  Schlußsatzes  unzulässig;  er  selbst: 
einige  S  sind  nicht  P,  ist  richtig.  Die  anderen  Operationen 
bedürfen  kaum  der  Beispiele.  Wie  Bamalip  der  vierten 
Figur    durch    Umstellung    m    der    Prämissen    und    unreine 

8* 


116  Drittes  Kapitel. 

Conversion  p  des  Schlußsatzes,  der  dann  nach  der  ersten 
Figur  gezogen  worden  war,  auf  diese  zurückgebracht  wird, 
haben  wir  vor  kurzem  gesehen;  Camestres  der  zweiten: 
alle  P  sind  M;  kein  S  ist  M;  kein  S  ist  P,  erhält  durch 
Umstellung  m  der  Prämissen  und  durch  reine  Umkehrung 
s  des  Untersatzes  die  neuen  Prämissen:  kein  M  ist  S; 
alle  P  sind  M;  hieraus  folgt  nach  Celarent  der  ersten:  kein 
P  ist  S;  dieser  Schlußsatz  bedarf  noch  der  reinen  Um- 
kehrung s^  um  den  von  Camestres  verlangten:  kein  S  ist 
P,  zu  ergeben.  Darapti  der  dritten  lautet:  alle  M  sind  P; 
alle  M  sind  S;  einige  S  sind  P;  die  unreine  Umkehrung  p 
des  Untersatzes  gibt  die  Prämissen:  alle  M  sind  P;  einige 
S  sind  M;  der  hieraus  nach  Darii  der  ersten  folgende 
Schlußsatz:  einige  S  sind  P,  bedarf  keiner  weitern  Um- 
formung, sondern  ist  unmittelbar  mit  dem  von  Darapti 
entspringenden  identisch. 

93.  Bisher  dachten  wir  uns  die  Prämissen  als  kate- 
gorische Urtheile  von  der  Form:  S  ist  P.  Aber  die  Ver- 
anlassungen unseres  Denkens  können  sie  auch  in  hypo- 
thetischer oder  disjunctiver  Form  darbieten.  Diese  Unter- 
schiede, wichtig  für  die  Urtheile  als  solche,  sind  es  nicht 
für  den  Zusammenhang  des  Schlusses;  sie  gehören  hier 
stets  zu  dem  Inhalt  und  erfordern  nur  Beachtung,  nicht 
Aenderung  der  gewöhnlichen  Schlußregeln.  Am  einfachsten 
ist  dies  klar  für  den  Fall  zweier  hypothetischen  Prämissen, 
deren  jede  zwei  von  den  drei  Sätzen  MSP  als  Vorder- 
und  Nachsatz  verknüpft.  Genau  wie  bei  kategorischen 
Prämissen,  wo  MSP  drei  Begriffe  bedeuten,  schließt  man 
hier  nach  Darii:  immer  wenn  M  gilt,  gilt  P;  zuweilen  wenn 
S  gilt,  gilt  M;  also  zuweilen  wenn  S  gilt,  gilt  P;  nach 
Camestres :  immer  wenn  P  gilt,  gilt  M ;  niemals  wenn  S 
gilt,  gilt  M;  folglich  niemals  wenn  S  gilt,  gilt  P;  nach 
Disamis:  zuweilen  wenn  P  gilt,  gilt  M;  immer  wenn  S  gilt, 
gilt  M;  folglich  zuweilen  wenn  S  gilt,  gilt  P.  —  Eigen- 
thümlicher  sind  die  Fälle,  in  welchen  ein  hypothetischer 
Obersatz  an  einen  Grund  G,  welcher  den  Inhalt  seines 
Vordersatzes  bildet,  allgemein  eine  im  Nachsatz  ausge- 
sprochene Folge  F  knüpft,  ein  kategorischer  Untersatz  aber 
für  alle  oder  einzelne  Fälle  der  Art  S  entweder  G  oder  F 
bejaht  oder  verneint.  Man  schließt  diese  Fälle  am  ein- 
fachsten den  unmittelbaren  Folgerungen  aus  dem  Urtheil 
an,  denn  Grund  und  Folge  verhalten  sich  wie  subalternans 
und  subalternata.  Man  kann  nun  zuerst  ad  subalternatam 
aus  der  Ungültigkeit  der  Bedingung  G  für  bestimmte  Fälle 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    117 

von  S  nicht  auf  das  Nichtgelten  der  Folge  F  in  denselben 
Fällen  schließen;  denn  dieselbe  Folge  kann  aus  andern 
äquivalenten  Gründen  dennoch  bestehen.  Aber  man  schließt 
aus  der  Geltung  des  Grundes  auf  die  Geltung  der  Folge. 
Hieraus  entspringen,  da  G  sowohl  Geltung  als  Nichtgeltung 
von  F  begründen  kann,  zwei  Schlüsse:  1)  wenn  G  gilt, 
gilt  immer  F;  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von  S  gilt  G; 
also  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von  S  gilt  F;  dies  ist 
ein  modus  ponendo  ponens,  der  durch  Setzung  der  Be- 
dingung die  Folge  setzt;  er  entspricht  sichtlich  den  Modis 
Barbara  und  Darii  der  ersten  Figur ;  2)  wenn  G  gilt,  so  gilt 
niemals  F;  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von  S  gilt  G; 
folglich  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von  S  gilt  F  nicht; 
ein  m.  ponendo  tollens,  sofern  er  die  Folge  F  durch  Setzung 
der  Bedingung  ihres  Gegentheils  aufhebt;  übrigens  offenbar 
ein  Gegenbild  von  Celarent  und  Ferio  der  ersten  Figur. 
In  der  entgegengesetzten  Richtung  ad  subaltemantem  fließt 
aus  der  Gültigkeit  des  Satzes  F  in  bestimmten  Fällen  von 
S  nicht  die  Gültigkeit  der  einzelnen  Bedingung  G,  von 
welcher  er  in  andern  Fällen  abhängig  gefunden  wurde ;  denn 
dieselbe  Folge  F  kann  aus  mehreren  äquivalenten  Gründen 
entspringen.  Aber  aus  der  Nichtgeltung  des  Satzes  F  für 
bestimmte  Fälle  von  S  folgt  die  Ungültigkeit  jeder,  mithin 
auch  der  einzelnen  Bedingung  G,  von  der  er  begründet 
werden  könnte.  Zulässig  sind  daher  die  Schlüsse :  3)  wenn 
G  gilt,  gilt  F  immer;  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von 
S  gilt  F  nicht;  also  in  allen  oder  einzelnen  Fällen  von 
S  gilt  G  nicht;  ein  m.  tollendo  tollens,  der  durch  Aufhebung 
der  Folge  den  Grund  aufhebt,  der  sie  nothwendig  begründet 
haben  würde,  wenn  er  gegolten  hätte;  übrigens  offenbar 
Camestres  und  Baroco  der  zweiten  Figur  entsprechend; 
4)  wenn  G  gilt,  gilt  F  niemals;  in  allen  oder  einzelnen 
Fällen  von  S  gilt  F;  folglich  in  allen  oder  einzelnen  Fällen 
von  F  gilt  G  nicht;  ein  m.  ponendo  tollens,  der  durch 
Setzung  einer  Folge  die  Bedingung  leugnet,  unter  der  sie 
unmöglich  gewesen  wäre;  er  wiederholt  Cesare  und  Festino 
der  zweiten  Figur.  Man  kann  endlich  erwägen,  daß  auch 
die  Nichtgeltung  des  Satzes  G  Grund  für  Gültigkeit  oder 
Ungültigkeit  des  Satzes  F  sein  kann,  und  erhält  dann  die 
Schlüsse:  5)  wenn  G  nicht  gilt,  gilt  allemal  auch  F  nicht; 
in  allen  oder  einigen  Fällen  von  S  gilt  G  nicht;  in  den- 
selben Fällen  mithin  auch  F  nicht;  ein  m.  tollendo  tollens 
ohne  Eigenthümlichkeit,  der  nur  ins  Negative  den  ponendo 


118  Drittes  Kapitel. 

ponens  übersetzt;  6)  wenn  G  nicht  gilt,  gilt  allemal  F; 
nun  aber  in  allen  oder  einigen  Fällen  von  S  gilt  F  nicht; 
folglich  gilt  in  diesen  Fällen  G;  ein  m.  tollendo  ponens, 
der  uns  zur  Vollständigkeit  aller  Combinationen  von  Setzung 
und  Aufhebung  noch  fehlte;  er  setzt  die  Gültigkeit  eines 
Grundes  durch  Aufhebung  der  nothwendigen  Folge  seiner 
Ungültigkeit.  Eine  leichte  Umformung  des  Ausdru'ks  zeigt, 
daß  auch  diese  letzten  beiden  Fälle  der  zweiten  Figur  an- 
gehören; der  zweite  würde  lauten  können:  wenn  Non  G 
gilt,  gilt  immer  F;  nun  gilt  immer  oder  zuweilen  F  nicht, 
also  gilt  immer  oder  zuweilen  Non  G  nicht.  —  Da  hiermit 
alles  erschöpft  ist,  was  aus  dem  Verhältniß  der  Subalter- 
nation  fließt,  so  gibt  es  keine  Folgerungen  dieser  Art,  welche 
sich  der  dritten  Figur  anreihen  ließen. 

94.  Wichtiger  als  diese  syllogistischen  Künste  ist  mir 
ein  Umstand,  dessen  ich  bei  dieser  Gelegenheit  nirgends 
eindringlich  gedacht  finde:  alle  diese  Schlüsse  beziehen 
sich  nur  auf  ein  Verhältniß  zwischen  dem  Grunde  G  und 
seiner  Folge  F,  nicht  auf  das  einer  Ursache  G  zu  ihrer 
Wirkung  F.  Nur  in  der  Welt  der  Gedanken  hat  eine  Be- 
dingung G,  wenn  sie  einmal  als  gültig  gesetzt  wird,  die  ihr 
zustehende  denknothwendige  Folge  F  immer;  in  der  Wirk- 
lichkeit kann  die  Ursache  G,  auch  wenn  sie  besteht  und 
wirkt,  ihr  Erfolg  F  stets  durch  eine  Gegenkraft  U  vereitelt 
werden.  In  ihrer  Uebertragung  auf  wirkliches  Geschehen 
bedürfen  daher  alle  diese  Schlüsse  Modificationen,  welche 
die  angewandte  Logik  lehren  wird;  so  ist  es  nicht  zulässig 
zu  schließen,  überall  wo  die  Ursache  G  wirke,  müsse  ihr 
Erfolg  F  wirklich  sein;  nicht  zulässig,  wenn  G  eine 
Hemmungsursache  von  F  ist,  zu  behaupten,  wo  diese  Hem- 
mung G  wirklich  sei,  könne  F  nicht  in  Wirklichkeit  vor- 
kommen; auch  G  kann  seinerseits  durch  ein  U  gehemmt  sein 
oder  F  dennoch  durch  eine  dritte  Ursache  V  verwirklicht. 
Es  ist  deshalb  in  der  reinen  Logik  ganz  unschicklich,  die 
behandelten  Fälle  so  zu  bezeichnen:  ihr  Untersatz  spreche 
die  Wirklichkeit  von  G  oder  F  aus;  diese  beiden  einfachen 
Buchstaben  bedeuten  ja  hier  Urtheile  von  der  Form:  S  ist 
P;  nur  die  logische  Zulässigkeit  oder  Nothwendigkeit  dieser 
Gedankenverbindung  zwischen  S  und  P  behauptet  der  Unter- 
satz in  Bezug  auf  gewisse  Fälle  von  S,  während  der  Ober- 
satz sie  mit  einer  andern  ähnlichen  Beziehung  zwischen 
S  und  Q  zu  einem  hypothetischen  Urtheil  von  allgemeiner 
Geltung    verbindet.     Ich   verfolge    dies    hier   nicht   weiter; 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     119 

meine  in  den  Bezeichnungen  etwas  weitläufigere  Darstelluüg 
hat  dies  wirkliche  Verhalten  anzudeuten   versucht. 

95.  Gilt  von  einem  Subject  Z :  es  sei  entweder  P  oder 
Q  oder  R,  oder:  es  sei  sowohl  P  als  Q  als  R,  oder:  es 
sei  weder  P  noch  Q  noch  R,  so  ersetzen  wir  zunächst  dies 
dreigliedrige  Prädicat  durch  das  einfache  U,  und  nennen 
dies  U  im  ersten  Falle  disjunctiv,  im  zw^eiten  positiv,  im 
dritten  negativ.  Wer  sich  nun  die  nicht  unerläßliche  Mühe 
gibt,  die  Verwendung  solcher  disjunctiven  copulatjven  und 
remotiven  Prämissen  im  Schlüsse  zu  verfolgen,  wird  finden : 
1)  ist  der  Obersatz  ZU,  und  ordnet  der  Untersatz  SZ  ein 
S  dem  Z  unter,  so  folgen  die  gewöhnlichen  Conclusionen 
SU  der  ersten  Figur;  in  ihnen  hat  U  stets  dieselbe  Be- 
deutung, wie  im  Obersatze;  2)  ist  der  allgemeine  Ober- 
satz ZU,  der  Untersatz  SU,  und  U  in  dem  einen  von  beiden 
positiv  oder  disjunctiv,  im  andern  negativ,  so  entstehen  die 
negativen  Schlußsätze  SZ  der  zweiten  Figur  mit  der 
Quantität  ihres  Untersatzes;  3)  aus  dem  Obersatze  UZ  mit 
positivem  oder  negativem  U,  und  dem  Untersatze  US  mit 
gleichem  oder  entgegengesetztem  U  folgen  die  stets  parti- 
cularen  Conclusionen  SZ  der  dritten  Figur;  4)  in  den  beiden 
letzten  Fällen,  in  welchen  das  zum  Medius  terminus  ge- 
wordene U  aus  dem  Schlußsatz  verschwindet,  ist  seine 
Mehrgliedrigkeit  ganz  bedeutungslos ;  was  folgt,  folgt  ebenso 
gut,  wenn  man  nur  eins  seiner  Glieder  P  oder  Q  nach  seinem 
Verhalten  in  beiden  Prämissen  in  Betracht  zieht.  Ebenso 
wenig  Neues  entsteht,  wenn  zu  dem  allgemeinen  Obersatz 
ZU  ein  Untersatz  tritt,  der  für  das  einzelne  Subject  Z  eines 
der  Glieder  von  U  behauptet  oder  leugnet.  Sagt  der  Ober- 
satz mit  blos  zweigliedriger  Disjunction:  alle  Z  sind  ent- 
weder P  oder  Q,  der  Untersatz  aber:  dieses  Z  ist  P  oder 
dieses  Z  ist  nicht  P,  so  folgt:  dieses  Z  ist  nicht  Q  oder 
dieses  Z  ist  Q.  Diese  Folgerungen  verstehen  sich  aus  der 
Natur  des  contradictorischen  Gegensatzes  von  selbst;  auf 
die  erste  Figur  sind  sie,  ohne  denkbaren  Nutzen,  durch 
die  Reduction  zu  bringen:  jedes  Z,  welches  nicht  P  ist, 
ist  Q;  nun  ist  dieses  Z  ein  Z,  welches  nicht  P  ist,  also 
ist  dieses  Z  ein  Q.  Dieselben  unfruchtbaren  Betrachtungen 
lassen  sich  auf  mehrgliedriges  U  des  Obersatzes  ausdehnen, 
denn  immer  kann  man  eine  beliebige  Anzahl  seiner  Glieder 
zum  Subject  ziehen  und  mit  blos  zweigliedrigem  U  sagen: 
jedes  Z,  welches  nicht  P  und  nicht  Q  ist,  ist  entweder  R 
oder   T.     Polylemmen   endlich    (Dilemmen,    Trilemmen) 


120  Drittes  Kapitel. 

sind  Schlüsse  mit  vielgliedrigem  disjunctiven  U  des  Ober- 
satzes ZU  und  einer  gleichen  Anzahl  von  Untersätzen,  die 
zusammen  für  jedes  der  Glieder  von  U  dieselbe  weitere 
Folge  T  behaupten.  Auf  diese  Fälle,  nicht  neue  logische 
Formen,  sondern  nur  eigenthümliche  Verwendungen  der 
bekannten,  mag  uns  die  angewandte  Logik  zurückführen. 

96.  Gar  nicht  denke  ich  dagegen  auf  die  Lehre  von 
den  Schlußketten  zurückzukommen.  Begreiflich  kann 
jede  Conclusion  eines  Schlusses  Obersatz  eines  zweiten 
werden;  Prosyllogismus  des  zweiten  heißt  dann  der 
erste,  Episyllogismus  des  vorigen  jeder  folgende.  Die 
bloße  Vergleichung  der  Namen  der  Schlußmodi  lehrt  so- 
gleich manche  Eigenschaften  der  so  entstehenden  Kette. 
Soll  ihr  Endglied  allgemein  sein,  so  muß  der  letzte  Schluß 
einer  der  beiden  ersten  Figuren  angehören,  und  da  in 
diesen  der  Obersatz  ebenfalls  allgemein  sein  muß,  so  muß 
die  ganze  Reihe  der  Prosyllogismen,  also  die  ganze  Kette 
in  den  beiden  ersten  Figuren  verlaufen;  jede  Einmischung 
eines  Gliedes  nach  der  dritten  bringt  einen  particularen 
Schlußsatz  hervor,  der  nie  wieder  zu  allgemeinen  Con- 
clusionen  zurückleitet.  Hat  einer  der  Schlüsse  eine  negative 
Conclusion,  so  werden  auch  die  aller  Episyllogismen  negativ ; 
mit  positivem  und  zugleich  allgemeinem  Endglied  kann  nur 
eine  Kette  schließen,  die  durchweg  in  Barbara  verläuft. 
Man  pflegt  nun  nach  Analogie  des  einfachen  Schlusses  noch 
weiter  zu  verlangen,  daß  der  Obersatz  des  ersten  Prosyl- 
logismus das  Prädicat  P,  der  Untersatz  des  letzten  Episyl- 
logismus das  Subject  S  des  endlichen  Schlußsatzes  liefere; 
die  Regeln  aufzufinden,  die  dann  die  Bildung  dieser  Schluß- 
kette bedingen,  wäre  nur  Sache  der  Geduld;  ihren  Nutzen 
wüßte  ich  nicht  anzugeben.  Verschweigung  des  Schluß- 
satzes eines  Prosyllogismus,  der  'zugleich  Obersatz  des 
Episyllogismus  ist,  erzeugt  aus  den  Ketten  die  beiden  Formen 
des  Sorites.  Der  Aristotelische:  A  ist  B,  B  ist  C,  C  ist  D, 
also  A  ist  D,  ordnet  jeden  Begriff  in  den  Umfang  des  folgen- 
den, schreitet  also  vom  niederen  zum  höheren  fort  und  ent- 
steht durch  Unterdrückung  der  Schlußsätze,  die  man  aus 
je  zwei  Gliedern  so  fände:  B  ist  C,  A  ist  B,  also  A  ist  C; 
dann  C  ist  D,  A  ist  C,  also  A  ist  D.  Der  andere,  späte 
Erfindung  des  Professor  Goklenius  in  Marburg  [1547  bis 
16281  nimmt  den  entgegengesetzten  Gang:  seine  Prämissen: 
B  ist  A,  C  ist  B,  D  ist  C  , . .  unterdrücken  die  Conclusion ; 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    121 

C  ist  A,  der  beiden  ersten  Glieder,  die  als  Obersatz  zu 
dem  dritten  nach  der  ersten  Figur  den  Schluß  der  Kette 
liefert:  D  ist  A. 


A.  Der  syllogistische  Schluß. 

Der  Schluß  durch  Subsumption.  —  Der  Schluß  durch  Induction.  — 
Der  Schluß  durch  Analogie. 

97.  Die  logischen  Wahrheiten,  deren  sich  das  Denken 
in  seiner  Behandlung  des  Vorstellungsinhalts  nach  und  nach 
bewußt  geworden  war,  hatte  das  disjunctive  Urtheil  vor- 
läufig dahin  zusammengefaßt:  jedem  S,  welches  eine  Art 
von  M  sei,  komme  von  jedem  der  allgemeinen  Prädicate 
des  M  eine  besondere  Modification  mit  Ausschluß  aller 
übrigen  als  sein  Prädicat  zu.  Die  Aufgabe,  die  nun  zu 
lösen  blieb,  war  die  Auffindung  der  Denkhandlungen,  durch 
welche  dies  geforderte  eigenthümliche  Merkmal  für  ein 
gegebenes  S  bestimmbar  wurde.  Die  Aristotelischen  Syl- 
logismen lösen  diese  Aufgabe  nicht;  sie  begnügen  sich, 
das  Subject  ihres  Schlußsatzes  nur  mit  der  allgemeinen 
Form  des  Prädicats  in  Beziehung  zu  setzen,  die  ihr  Ober- 
satz erwähnt  hatte;  sie  sind  daher  ungeachtet  der  reichen 
Verzweigung,  die  ihnen  und  ihren  möglichen  Verschieden- 
heiten der  Scharfsinn  der  früheren  Logiker  gegeben  hat, 
doch  nur  der  formell  erweiterte  und  ausführliche  Ausdruck 
der  logischen  Wahrheit,  die  in  dem  disjunctiven  Urtheil  be- 
reits niedergelegt  war.  Aehnlich  dem  impersonalen  Urtheile, 
welches  eine  im  Begriffe  bereits  angedeutete  Spaltung  nur 
formell  durch  die  Auseinandersetzung  des  Subjects  und 
Prädicats  zum  Ausbruch  brachte,  ohne  über  die  gegen- 
seitige Beziehung  der  beiden  geschaffenen  Glieder  Neues 
zu  lehren,  ganz  ähnlich  setzt  in  seiner  vollkommensten 
ersten  Figur,  auf  die  wir  uns  die  andern  zurückgeführt 
denken,  auch  der  Aristotelische  Schluß  nur  in  zwei  ge- 
sonderten Prämissen  die  allgemeine  Regel  und  den  Fall 
der  Anwendung  auch  äußerlich  auseinander,  die  in  dem 
Sinne  des  disjunctiven  Urtheils  bereits  in  denselben  gegen- 
seitigen Verhältnissen  gedacht  waren.  Sämmtlich  auf  die 
unbestimmte  Einordnung  eines  Begriffes  in  den  Umfang 
eines  andern  gebaut,  lassen  sich  daher  die  Aristotelischen 
Syllogismen,  unter  dem  Namen  des  Schlusses  durch 
Subsumption   zusammengefaßt,   als   die   erste   und   ele- 


122  Drittes  Kapitel. 

mentarste  Form  der  neuen  Gruppe  von  Denkhandlungen 
betrachten;  und  wir  versuchen,  sogleich  zu  zeigen,  zu 
welchem  weiteren  Fortschritte  sie  nöthigen. 

98.  Als  das  sprechendste  Beispiel  des  Gedankens,  der 
dem  Schlüsse  durch  Subsumption  zu  Grunde  liegt,  wähle 
ich  den  Modus  Darii,  der  ausdrücklich  dem  allgemeinen 
Gesetze  im  Obersatze  ein  besonderes  Beispiel  der  An- 
wendung im  Untersatze  unterordnet.  Alle  Menschen  sind 
sterblich,  sagt  dieser  Modus;  Cajus  aber  ist  ein  Mensch; 
und  hieraus  schließt  er:  also  ist  Cajus  sterblich;  offenbar 
in  der  Meinung,  durch  diese  Folgerung  eine  Wahrheit  fest- 
gestellt zu  haben,  die  vorher  noch  nicht  feststand,  nun  aber 
durch  die  Wahrheit  der  beiden  Prämissen  und  ihre  Be- 
ziehung auf  einander  gesichert  ist.  Schon  die  Skepsis  des 
Alterthums  hat  jedoch  eingewandt,  daß  nicht  die  Prämissen 
die  Richtigkeit  des  Schlußsatzes  verbürgen,  sondern  daß 
der  Schlußsatz  bereits  gültig  sein  muß,  damit  es  die  Prä- 
missen sein  können.  In  der  That,  wo  bliebe  die  Wahrheit 
des  Obersatzes :  alle  Menschen  seien  sterblich,  wenn  es  in 
Bezug  auf  Cajus  noch  nicht  gewiß  wäre,  daß  er  an  dieser 
Eigenschaft  Theil  hat?  Und  wo  bliebe  die  Wahrheit  des 
Untersatzes,  daß  Cajus  ein  Mensch  sei,  wenn  es  noch 
zweifelhaft  wäre,  ob  er  außer  andern  Eigenschaften  des 
Menschen  auch  die  der  Sterblichkeit  hat,  die  ja  der  Ober- 
satz als  allgemeines  Merkmal  jedes  Menschen  aufführt? 
Anstatt  mithin  durch  ihre  für  sich  feststehende  Wahrheit 
die  des  Schlußsatzes  zu  beweisen,  sind  vielmehr  beide 
Prämissen  nur  unter  Voraussetzung  seiner  Wahrheit  richtig, 
und  dieser  doppelte  Cirkel  scheint  zunächst  jede  logische 
Leistung  des  Syllogismus  unmöglich  zu  machen. 

99.  Das  Gewicht  dieses  Einwurfs  ist  nicht  hinwegzu- 
leugnen; wir  verfolgen  ihn  in  Bezug  auf  verschiedene  Fälle. 
Wenn  wir  uns  den  Obersatz  MP  als  ein  analytisches  Urtheil 
denken,  wenn  wir  also  annehmen,  P  sei  ein  festes  Merk- 
mal, ohne  welches  sich  überhaupt  der  Inhalt  des  Begriffs  M 
nicht  vollständig  denken  lasse,  so  steht  allerdings  dann  die 
Allgemeingültigkeit  des  Obersatzes  für  sich  fest;  aber  der 
Untersatz  kann  dann  ein  S  nicht  dem  M  unterordnen,  ohne 
dem  S  dies  unentbehrliche  P  bereits  zuzuschreiben,  also 
den  Schlußsatz  vorauszusetzen,  der  diese  Behauptung  erst 
aussprechen  sollte.  Wer  z.  B.  es  zu  dem  Begriff  des  Körpers 
rechnet,  schwer  zu  sein,  bildet  unangefochten  den  Obersatz : 
alle  Körper  sind  schwer;  aber  er  kann  die  Luft  dann  im 
Untersatze  nicht  einen  Körper  nennen,   ohne  schon  mitzu- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    123 

denken,  was  erst  der  Schlußsatz  lehren  soll,  daß  auch  die 
Luft  schwer  ist.  Allgemein :  der  Grundsatz  der  Subsumption 
verlangt,  daß  das  untergeordnete  Einzelne  die  Merkmale 
seines  Allgemeinen  theile;  aber  umgekehrt  läßt  sich  nichts 
einem  Allgemeinen  unterordnen,  ohne  bereits  die  Merkmale 
zu  haben,  die  dieses  ihm  vorschreibt.  Es  würde  sich  aber 
anders  verhalten,  wenn  wir  uns  den  Obersatz  MP  als  ein 
synthetisches  Urtheil  von  allgemeiner  Geltung  dächten.  Dann 
würde  der  Inhalt  des  Begriffes  M  sich  vollständig  fassen 
lassen,  ohne  in  ihm  P  mitgedacht  zu  haben,  aber  eine  Ge- 
wißheit von  irgend  welchem  Ursprung  lehrte  uns  zugleich, 
daß  überall  mit  diesem  M  auch  P  verbunden  sei.  Darauf 
würde  der  Untersatz  an  S  nur  die  Merkmale  nachzuweisen 
haben,  durch  die  es  ein  M  ist,  und  nun  erst  der  Schlußsatz 
das  noch  nicht  mitgedachte  P  hinzufügen,  welches  dem  S 
um  seiner  Unterordnung  unter  M  willen  gebührt.  Im  wirk- 
lichen Gebrauche  der  Subsumptionsschlüsse  macht  man 
diese  Voraussetzungen  immer.  Wer  behauptet,  daß  alle 
Menschen  sterblich  seien,  denkt  sich  den  naturgeschicht- 
lichen Charakter  der  Menschheit  durch  ihre  übrige  gegebene 
Organisation  vollständig  bestimmt  und  sieht  die  Sterblich- 
keit als  ein  Merkmal  an,  welches  nicht  ausdrücklich  von 
unserem  Denken  in  der  Charakteristik  des  Menschen  mit- 
gedacht zu  werden  braucht,  weil  es  als  unvermeidliche 
Folge  ohnehin  an  jener  Organisation  hängt,  durch  die  wir 
den  Begriff  des  Menschen  bestimmen.  Darum  reicht  es 
nun  im  Untersatz  aus,  auch  von  Cajus  nur  diese  wesent- 
liche Organisation  festzustellen,  um  im  Schlußsatze  ihm 
jene  unvermeidliche  Folge  derselben  zuzuerkennen.  Noch 
deutlicher  wird  dies,  wenn  wir  uns  den  Obersatz  hypo- 
thetisch vorstellen,  unter  P  also  nicht  ein  festes,  bleibendes, 
sondern  ein  fließendes  Merkmal  des  M,  überhaupt  eine  Folge 
denken,  die  aus  M  unter  einer  gewissen  Bedingung  x  her- 
vorgeht, ein  Merkmal,  welches  M  unter  dieser  Bedingung 
annimmt  oder  verliert,  einen  Zustand,  in  den  es  geräth, 
oder  eine  Wirkung,  die  es  ausübt.  Dann  reicht  es  hin,  im 
Untersatz  S  dem  M  allein  unterzuordnen,  um  im  Schluß- 
satz zu  folgern,  daß  auch  S,  wenn  die  gleiche  Bedingung 
X  einwirkt,  das  Merkmal  P  zeigen  müsse.  Und  auf  diese 
Form  laufen  in  der  That  die  meisten  in  der  Wissenschaft 
wirksamen  Anwendungen  der  Syllogismen  zurück;  sie  zeigen 
fast  alle,  daß  S,  weil  es  eine  Art  von  M  ist,  unter  der 
Bedingung  x  im  Allgemeinen  dieselbe  Wirkung  P  entfalten 
oder  erfahren  werde,  die  wir  an  M  kennen.     Allein,  wenn 


124  Drittes  Kapitel. 

es  sich  vorhin  bei  analytischem  Obersatz  fragte,  mit  welchem 
Rechte  der  Untersatz  ausgesprochen  werden  könne,  so  fragt 
es  sich  hier  bei  synthetisch  angenommenem  Obersatz,  mit 
welchem  Rechte  dieser  selbst  als  allgemeingültig  behauptet 
werden  dürfe?  Wenn  die  Sterblichkeit  als  neues  Merk- 
mal zu  der  übrigen  Organisation  des  Menschen  nothwendig 
hinzukommen  soll,  so  kann  doch  diese  Allgemeingültigkeit 
nur  unter  Voraussetzung  der  Richtigkeit  des  Schlußsatzes 
bestehen,  und  sie  wird  hinfällig,  wenn  es  nun  doch  einen 
eigenesinnigen  Cajus  gibt,  der  nicht  stirbt.  Was  man  hier- 
auf antworten  wird,  ist  klar:  natürlich  sei  jeder  allgemeine 
Obersatz  falsch,  der  sich  in  einem  einzelnen  seiner  unter- 
geordneten Fälle  nicht  bestätigt,  und  diese  Gefahr  liege 
überall  nahe,  wo  jener  allgemeine  Satz  nur  durch  eine 
unberechtigte  Verallgemeinerung  vieler  beobachteten  Einzel- 
fälle entstanden  sei ;  wo  jedoch  die  nothwendige  Verknüpfung 
des  M  und  P  an  sich  nachweisbar  sei,  da  sorge  eben  diese 
gültige  Allgemeinheit  dafür,  daß  kein  eigensinniger  Einzel- 
fall vorkommen  könne,  welcher  ihr  widerspräche.  In  dem 
angeführten  Beispiel  liege  die  Sache  zweifelhaft;  für  die 
gemeine  Meinung  sei  die  allgemeine  Sterblichkeit  der 
Menschen  nur  eine  Voraussetzung,  aus  dem  überwältigenden 
Eindruck  unzähliger  Beispiele  entsprungen,  zu  denen  sich 
noch  kein  Gegenbeispiel  gefunden  hat ;  für  den  Physiologen 
stehe  sie  zwar,  als  Folge  der  gegebenen  Organisation,  in 
seiner  Ueberzeugung  fest,  aber  auch  ohne  sich  mit  der 
wünschenswerthen  Genauigkeit  darthun  zu  lassen.  In  andern 
Fällen  jedoch  sei  die  Allgemeingültigkeit  des  synthetischen 
Obersatzes  entweder  durch  eine  unmittelbare  Anschauung 
oder  durch  Beweise  verbürgt,  die  einen  gegebenen  Inhalt 
einer  solchen  Anschauung  unterordnen,  und  in  allen  diesen 
Fällen  reiche  der  Syllogismus  zur  sicheren  Gewinnung  einer 
besonderen  neuen  Erkenntniß  hin;  denn  nichts  sei  zu  ihr 
nöthig,  als  die  ausführbare  Unterordnung  eines  S  unter 
ein  M,  welches  hier  wahrhaft  den  Dienst  eines  Mittelbegriffs 
leiste,  S  mit  einem  vorher  ihm  fremden  P  zu  verknüpfen. 
100.  Ich  lasse  hier  dahingestellt,  ob  und  in  welcher 
Ausdehnung  überhaupt  die  unmittelbare  Anschauung  der 
allgemeingültigen  Wahrheit  eines  synthetischen  Urtheils 
möglich  sei;  denn  ganz  unmittelbar  klar  ist  so  viel,  daß 
wir  jedenfalls  nur  sehr  selten  uns  in  der  Lage  befinden 
werden,  den  Inhalt  eines  allgemeinen  Obersatzes  auf  diesen 
Rechtsgrund  stützen  zu  können;  unzählige  allgemeine  Ur- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    125 

theiie  werden  von  uns  ausgesprochen  und  zu  Folgerungen 
benutzt,  ohne  selbst  als  unmittelbare  Anschauungen  gelten 
zu  können,  und  ohne  daß  die  Beweise  ausführbar  wären, 
durch  welche  ihr  Inhalt  auf  solche  Quellen  der  Wahrheit 
sich  zurückleiten  ließe.  Diese  ganze  ausgebreitete  Thätig- 
keit  unseres  Denkens  kann  weder  einfach  als  untriftig  bei 
Seite  gesetzt  werden,  noch  kann  sie  bestehen  ohne  logische 
Regeln  ihrer  Gültigkeit.  Diesen  Regeln  haben  wir  nach- 
zuforschen, und  zwar  sind  es  ihrer  zwei,  die  wir  bedürfen. 
Zu  dem  wirksamen  Gebrauche  des  Schlusses  ist  es  zuerst 
nöthig,  daß  wir  allgemeine  Obersätze  finden  lernen,  deren 
Gültigkeit  weder  auf  einer  unmittelbaren  Gewißheit,  noch 
auf  der  schon  gemachten  Erfahrung  ihrer  Richtigkeit  in 
jedem  Einzelfalle  beruht;  es  muß  möglich  sein,  die  all- 
gemeine Sterblichkeit  der  Menschen  zu  behaupten,  sowohl 
bevor  man  sie  als  nothwendige  Folge  aus  ihren  Gründen 
begreift,  als  auch  bevor  man  jeden  Einzelnen  darauf  ge- 
prüft hat,  ob  er  umzubringen  sei  oder  nicht.  Der  Unter- 
satz aber  macht  eine  zweite  Regel  nothwendig.  Denn  mög- 
lich ist  es  zwar  in  vielen  Fällen,  ein  S  dem  M  deswegen 
unterzuordnen,  weil  man  an  S  alle  Merkmale  gefunden 
hat,  welche  das  M  jeder  seiner  Arten  vorschreibt;  ausführ- 
bar ist  aber  dennoch  in  den  meisten  Fällen  diese  Leistung 
nicht;  Niemand  wird  es  für  nothwendig  oder  für  vollendbar 
halten,  auch  nur  den  Cajus  unseres  Untersatzes  in  Bezug 
auf  alle  Organisationseigenheiten  zu  prüfen,  um  sich  das 
Recht  zu  nehmen,  ihn  der  Gattung  Mensch  unterzuordnen. 
Wenn  der  wirkliche  fruchtbare  Gebrauch  des  Denkens  mög- 
lich sein  soll,  muß  es  daher  ein  Verfahren  geben,  nach 
welchem  Untersätze  sich  finden  lassen,  die  ein  gegebenes 
Subject  einer  Gattung  unterordnen,  noch  bevor  von  ihm 
erwiesen  ist,  daß  es  vollständig  alle  Merkmale  dieser  Gattung 
besitze.  Die  beiden  Verfahrungsweisen,  die  ich  hier  ver- 
lange, lassen  sich  nun,  ohne  daß  dies  indessen  von  wesent- 
licher Bedeutung  wäre,  an  eine  etwas  veränderte  Auffassung 
der  zweiten  und  dritten  Aristotelischen  Figur  anschließen. 
101.  Die  allgemeine  Aufgabe  jedes  Schlußverfahrens  be- 
steht naturgemäß  darin,  aus  gegebenen  Datis  oder  Prämissen 
so  viel  neue  Wahrheit  zu  entwickeln  als  möglich;  wie  dies 
geschieht,  ist  an  sich  völlig  gleichgültig;  das  Verfahren 
wird  sich  nach  der  Gestalt  der  Prämissen  richten,  die  wir 
nehmen  müssen,  wie  sie  uns  die  Erfahrung,  innere  oder 
äußere,   darbietet.     Nun  ist   es    ein  häufiges   Vorkommen, 


12Ü  Drittes  Kapitel. 

daß  nicht  nur  an  zwei,  sondern  an  sehr  vielen  verschiedenen 
Subjecten  P  S  T  V  W  dasselbe  Prädicat  M  vorkommt  oder 
nicht  vorkommt,  und  es  fragt  sich,  welche  Folgerung  aus 
diesen  Prämissen  PM,  SM,  TM,  VM  . . .  möglich  ist,  die 
sich  ihrer  Form  nach  der  zweiten  Aristotelischen  Figur  an- 
schließen. Es  ist  klar,  daß  sie  in  ihrer  Vielzahl  nicht  zu 
einem  Schlüsse  auffordern,  welcher  zwei  einzelne  dieser 
Subjecte  in  ein  gegenseitiges  Verhältniß  brächte;  so  weit 
diese  Folgerung  beabsichtigt  wird,  ist  sie  nur  durch  die 
Aristotelische  Beschränkung  auf  zwei  Prämissen  und  mit 
Beachtung  der  Regeln  der  zweiten  Figur  möglich.  Aber  es 
ist  ebenso  erlaubt  zu  versuchen,  ob  nicht  dies  gemeinsame 
Vorkommen  des  M  an  so  verschiedenen  Subjecten  uns  etwas 
über  die  Bedeutung  dieses  M  selbst  lehre,  das  mithin  im 
Schlußsatze  nicht  verschwinden  würde.  Diesen  Versuch 
nun  macht  das  natürliche  Denken,  wo  ihm  die  Erfahrung 
solche  Prämissen  gibt,  unfehlbar  und  wird  dabei  durch  den 
allgemeinen  Grundsatz  geleitet,  der  alle  seine  Handlungen 
beherrscht :  vorgefundenes  Zusammensein  der  Vorstellungen 
in  Zusammengehörigkeit  ihrer  Inhalte  zu  verwandeln.  Wo 
wir  dasselbe  Merkmal  an  verschiedenen  Subjecten  wahr- 
nehmen, haben  wir  das  Vorurtheil,  daß  diese  Ueberein- 
stimmung  keine  zufällige,  daß  mithin  die  verschiedenen 
Subjecte  nicht  jedes  einzeln  für  sich  durch  einen  besonderen 
Umstand  mit  dcmsalben  Prädicate  zusammengerathen  sei, 
daß  vielmehr  alle  untereinander  einen  gemeinschaftlichen 
Stamm  gleiches  Wesens  haben,  von  dem  jene  gleiche  Be- 
ziehung zu  demselben  Merkmal  die  Folge  ist.  P  S  T  V 
werden  mithin  zwar  verschiedene  sein,  aber  doch  unter 
einen  höheren  Begriff  Z  als  Arten  desselben  coordinirt; 
nicht  sie  als  verschiedene  Einzelne,  sondern  nur  sofern  sie 
Arten  des  2  sind,  tragen  das  gemeinsame  Merkmal  M  als 
nothwendiges  Merkmal  dieser  ihrer  Gattung.  Unser  Schluß- 
satz lautet  demnach:  alle  S  sind  M;  und  in  ihm  bedeutet 
Z  das  höhere  Allgemeine,  dem  wir  die  einzelnen  Subjecte 
unterordnen,  und  das  wahre  Subject  für  jenes  M,  das  wir 
vorher  gemeinsam  an  jenen  einzelnen  vorkommen  sahen. 
Dies  Schlußverfahren  ist  der  einfachste  Fall  der  Induc- 
tion  und  bildet  für  uns  unter  diesem  Namen  das  zw^eite 
Glied  dieser  Gruppe  von  Folgerungen,  die  sich  auf  Unter- 
ordnung des  Mannigfachen  unter  die  Einheit  eines  All- 
gemeinen gründen. 

102.  Die  Aufgabe,   die   wir  diesem   Verfahren   stellten, 
allgemeine  Obersätze  für  Schlüsse  der  Subsumption  zu  er- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    127 

zeugen,  scheint  es  nun  dennoch  nur  unvollkommen  zu 
erfüllen.  Denn  übereinstimmend  wirft  man  der  Induction 
vor,  daß  sie  Gewisses  aber  nicht  Neues  lehre,  wenn  sie 
vollständig,  Neues  aber  nicht  Gewisses,  so  lange  sie  unvoll- 
ständig sei.  Sind  P  S  T  U  alle  Arten  des  2,  die  es  gibt, 
und  hat  von  jeder  dieser  Arten  eine  Prämisse  schon  ge- 
lehrt, daß  sie  M  sei,  so  kann  der  Schlußsatz  nur  als 
universales  Urtheil:  alle  £  sind  M,  diese  Aussagen  der 
Vordersätze  summiren;  aber  er  kann  nicht  einmal  mit 
logischem  Recht  sich  in  das  generelle  Urtheil  verwandeln: 
jedes  D  als  solches  ist  M;  es  nleibt  vielmehr  ganz  zweifel- 
haft, ob  nicht  blos  thatsächlich  alle  Arten  des  2),  und  zuletzt 
doch  jede  Art  aus  einem  besonderen  Grunde,  dasselbe  M 
haben  oder  erleiden,  oder  ob  wirklich  in  der  allgemeinen 
Natur  des  Z  selbst  der  immer  gleiche  Grund  liegt,  der  dies 
Prädicat  allen  seinen  Arten  nothwendig  macht.  Gibt  es 
aber  außer  den  Subjecten,  welche  in  den  Prämissen  mit  M 
verbunden  vorkommen,  noch  andere  Arten  des  2,  von  denen 
sie  nichts  aussagen,  so  ist  der  Schlußsatz  eine  unberechtigte 
Folgerung  ad  subalternantem  aus  der  Gültigkeit  einer  be- 
schränkten Anzahl  von  Einzelfällen  auf  die  Gültigkeit  des 
allgemeinen  Falles,  eine  Folgerung,  die  verschiedene  Grade 
der  Wahrscheinlichkeit  mag  haben  können,  Gewißheit  aber 
niemals  erlangt.  Es  scheint  mir  jedoch,  daß  diese  an  sich 
richtigen  Bemerkungen  die  reine  Bedeutung  einer  logischen 
Form  mit  den  Schwierigkeiten  ihrer  wirksamen  Anwendung 
verwechseln  und  daß  derselbe  Fehler  auch  schon  in  dem 
Tadel  lag,  den  man  gegen  den  Werth  des  Aristotelischen 
Syllogismus  erhob.  Der  Gedanke,  dem  dieser  folgte,  jedes 
Einzelne  sei  zum  Besitz  seiner  Prädicate  durch  seine  Ab- 
hängigkeit von  seinem  Allgemeinen  berechtigt  und  ver- 
pflichtet, ist  ohne  Zweifel  ein  logisch  durchaus  gültiger 
Grundsatz,  welcher  den  inneren  Zusammenhang  des  jedes- 
maligen Denkinhaltes  in  seine  richtige  Beleuchtung  rückt. 
Diese  logische  Bedeutung  verliert  er  dadurch  gar  nicht, 
daß  die  Wahrheit  des  Allgemeinen,  um  zu  bestehen,  die 
Gültigkeit  desselben  in  allen  Einzelfällen  einschließt,  oder 
wenn  man  lieber  will,  voraussetzt;  es  ist  ja  vielmehr 
der  eigene  Sinn  des  Grundsatzes,  daß  beide  unzertrennlich 
von  einander  sind.  Mag  man  daher  im  Gebrauche  des 
Denkens  zu  der  Wahrheit  der  Prämissen  gekommen  sein, 
auf  welchem  Wege  man  will;  nachdem  man  sie  gefunden 
hat,  drückt  die  Unterordnung,  welche  die  erste  Aristotelische 
Figur    ausspricht,    die    Gliederung    aus,    die    dem    inneren 


128  Drittes  Kapitel. 

Zusamineiiliaiigc  des  fei  tigeii  Denkiiiliails  entispriclit,  obgleich 
vielleicht  gar  nicht  die  Gliederung  der  Gedankenarbeit, 
durch  welche  wir  ihn  gewonnen  haben.  So  betrachtet  ist 
der  Schluß  der  Subsumption  das  logische  Ideal,  in  dessen 
Form  wir  unsere  Erkenntniß  bringen  sollen,  aber  nicht 
zugleich  allgemein  die  instrumentale  Methode,  durch  deren 
Befolgung  wir  den  gegebenen  Stoff  zu  einer  Erkenntniß 
zusammenschließen.  Aehnliches  habe  ich  nun  von  der 
Induction  zu  sagen;  der  logische  Gedanke,  der  ihr  zu 
Grunde  liegt,  ist  gar  nicht  blos  wahrscheinlich,  sondern 
gewiß  und  unanfechtbar.  Er  besteht  in  der  auf  dem  Satze 
der  Identität  beruhenden  Ueberzeugung,  daß  jede  bestimmte 
Erscheinung  M  auch  nur  von  einer  bestimmten  Bedingung  Z 
abhängen  könne,  und  daß  mithin,  wo  unter  anscheinend 
verschiedenen  Umständen  oder  an  verschiedenen  Subjecten 
P  S  T  U  dasselbe  M  vorkommt,  es  ganz  unvermeidlich  in 
diesen  etwas  Gemeinsames  2  geben  müsse,  welches  die 
wahre  identische  Bedingung  des  M  oder  das  wahre  Subject 
zu  M  sei.  Man  würde  ganz  mit  Unrecht  einwenden,  es  sei 
eine  gewöhnliche  Erfahrung,  daß  dieselbe  Folge  M  von 
verschiedenen  äquivalenten  Bedingungen  erzeugt  werden, 
dasselbe  Prädicat  M  an  äußerst  verschiedenen  Subjecten 
vorkommen  könne.  Eben  in  diesem  Einwurf  zeigt  sich  die 
Verwechselung,  die  wir  oben  rügten,  der  logischen  Regel 
mit  ihren  Ausführungsbedingungen,  Gibt  es  für  eine  Folge  M 
zwei  verschiedene  äquivalente  Bedingungen,  so  sind  diese 
beiden  eben  nicht  durch  das,  wodurch  sie  verschieden, 
P  oder  S,  sind,  sondern  durch  das,  worauf  ihre  Aequivalenz 
beruht,  wirklich  die  Bedingungen  dieser  gleichen  Folge  M; 
so  lange  man  diesen  gemeinsamen  Grundzug  beider  nicht 
absondern  kann,  so  lange  hat  man  eben  das  richtige  Z  des 
Schlußsatzes  nicht  gefunden,  mithin  die  Induction  nicht  in 
der  Weise  ausgeführt,  in  welcher  sie  ausgeführt  zu  werden 
verlangt.  Findet  sich  dasselbe  M  als  Prädicat  an  sehr  vielen 
höchst  verschiedenen  Subjecten  und  zwar,  wie  es  gewöhn- 
lich in  der  wirklichen  Anwendung  zu  begegnen  pflegt, 
an  solchen  Subjecten,  von  deren  jedem  nur  ein  Theil  seines 
ganzen  Merkmalbestandes  bekannt  ist,  so  kann  man  sich 
natürlich  sehr  irren,  wenn  man  das,  was  in  diesen  be- 
kannten Merkmalen  aller  Subjecte  gemeinsam  ist,  zu  dem  Z 
zusammenfaßt,  dem  man  nun,  als  dem  wahren  Subjecte, 
das  fragliche  Merkmal  M  zutheilen  könnte.  Ich  leugne 
nicht,  daß  im  Gebrauch  der  Induction  wir  selir  häufig 
unter   solche   ungünstige   Bedingungen   gestellt   sind;   aber 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    129 

alle  diese  Schwierigkeiten,  welche  sich  der  Ausführung 
entgegenstellen,  ändern  die  allgemeine  logische  Gültigkeit 
des  Grundsatzes  der  Induction  nicht,  der  behauptet,  überall, 
wo  verschiedene  Bedingungen  dieselbe  Folge  M  oder  ver- 
schiedene Subjecte  dasselbe  Prädicat  M  haben,  müsse  sich 
ein  und  nur  ein  ganz  bestimmtes  E  auffinden  lassen,  welches 
die  einzige  immer  gleiche  Bedingung  oder  das  einzige  wahre 
Subject  sei,  dem  allgemeingültig  und  nothwendig  das  Prä- 
dicat M  oder  die  Folge  M  in  einem  Schlußsatz  von  der 
Form :  jedes  S  ist  M,  zuzuschreiben  sei.  Der  angewandten 
Logik  aber  überlassen  wir  die  Beachtung  der  Regeln,  durch 
welche  die   Auffindung  dieses  2)  gelingen  kann. 

103.  Die  dritte  Form  dieser  Gruppe  führe  ich  unter 
dem  etwas  willkürlich  gewählten  Namen  des  Schlusses 
der  Analogie  ein.  Die  Prämissenstellung  der  dritten 
Aristotelischen  Figur  MP,  MS  enthält,  bei  der  vöUigen 
Gleichheit  des  Baues  beider  Vordersätze,  wiederum  keinen 
Grund  zur  Unterscheidung  von  Ober-  und  Untersatz,  und 
auch  keinen,  die  Prämissen  auf  zwei  zu  beschränken.  Sehr 
häufig  wird  im  Gegentheil  uns  die  Erfahrung  eine  größere 
Anzahl  derselben,  MP,  MS,  MT,  MU  .  .  .,  also  die  Thatsache 
vor  Augen  stellen,  daß  an  demselben  Subject  eine  Vielheit 
verschiedener  Merkmale  entweder  vorkomme  oder  nicht 
vorkomme.  Diese  Data  darf  das  Denken  nicht  zurückweisen 
und  es.  benutzt  sie  zu  einer  Folgerung,  die,  nur  in  um- 
gekehrter Richtung,  der  vorigen  völlig  ähnlich  ist.  Auch 
hier  läßt  es  sich  durch  die  Voraussetzung  leiten,  daß  nicht 
durch  viele  zusammenhanglose  Zufälle  die  verschiedenen 
Prädicate  sich  an  demselben  Subjecte  M  vereinigt  haben, 
sondern  daß  es  einen  Grund  geben  müsse,  der  sie  alle, 
als  zusammengehörige,  versammelt  hat;  sie  gehören  dem  M, 
weil  M  ein  IT  ist,  zu  der  Natur  des  IT  aber  gehört  es, 
diesen  vollzähligen  Merkmalbestand  zu  haben,  der  seinen 
Inhalt  ausmacht;  als  eine  Art  des  IT  hat  M  darauf  An- 
spruch, alle  diese  Prädicate  an  sich  zu  vereinigen.  So  bilden 
wir  aus  diesen  Prämissen  den  Schlußsatz :  M  ist  ein  IT, 
und  haben  mit  ihm  die  zweite  Aufgabe  erfüllt,  für  den 
Schluß  der  Subsumption  jenen  Untersatz  zu  haben,  durch 
welchen  ein  Begriff  M,  das  dortige  S,  unter  den  Unifang 
eines  andern  IT,  des  dortigen  M,  untergeordnet  wird.-; 

104.  Auch  diese  Aufgabe  scheint  aber  schlecht  erfüllt 
zu  sein;  denn  wie  die  Induction,  so  unterliegt  auch  die 
Analogie  dem  Tadel,  nichts  Neues  zu  lehren,  wetin  sie.  voll- 

Lotz  e,  Logik.  9 


130  Drittes  Kapitel. 

ständig,  und  nichts  Sicheres,  wenn  sie  unvollständig  ist. 
Geben  die  Prämissen  bereits  dem  M  alle  Merkmale,  die 
nöthig  sind,  damit  es  ein  IT  sei,  so  gewinnen  wir  an 
sachlicher  Erkenntniß  nichts  durch  die  wirkliche  Unter- 
ordnung desselben  unter  diesen  Begriff;  nur  die  Form 
unserer  Auffassung  des  gegebenen  Inhalts  ändert  sich.  Aber 
in  den  allermeisten  Fällen  geben  die  Prämissen  nur  einen 
Theil  der  zu  IT  nothwendigen  Prädicate  an,  und  wir  schließen 
ohne  Sicherheit  von  ihrer  Gegenwart  auch  auf  die  aller 
übrigen,  durch  welche  an  M  erst  der  ganze  Inhalt  eines  IT 
verwirklicht  wird.  Wo  unsere  Betrachtung  Gegenständen 
der  Wirklichkeit  gilt,  deren  ganzes  Wesen  aus  unzähligen 
uns  zum  großen  Theil  unbekannten  zum  Theil  schwer  be- 
obachtbaren Merkmalen  besteht,  ist  dies  immer  der  Fall; 
aus  wenigen  Eigenschaften,  die  wir  an  einem  Gegenstande 
wirklich  beobachten,  schließen  wir  darauf,  er  sei  ein  Metall, 
ein  Thier  bestimmter  Gattung,  ein  Werkzeug  zu  bestimmtem 
Zweck.  Daß  hieraus  im  Gebrauch  der  Analogie  zahlreiche 
Irrthümer  entstehen,  bedarf  keines  Wortes  weiter;  aber 
die  Schwierigkeit  der  Anwendung  beeinträchtigt  auch  hier 
den  Werth  des  logischen  Grundsatzes  nicht.  Dieser  Grund- 
satz behauptet:  kein  Inhalt  eines  Begriffes,  der  richtig  ge- 
dacht sei,  bestehe  in  einem  zusammenhanglosen  Haufen 
von  Merkmalen,  den  man  beliebig  vermehren  könne  durch 
Hinzufügung  gleichviel  welcher  neuen  Bestandtheile ;  zwar 
nicht  durch  ein  Merkmal,  aber  durch  eine  Verbindung 
mehrerer,  welche  gegeben  ist,  sei  vermöge  der  durch- 
gängigen gegenseitigen  Determination  aller  auch  schon 
darüber  entschieden,  welche  anderen  noch  unbeobachteten 
sich  mit  den  beobachteten  verknüpfen  können,  welche  nicht; 
deshalb  sei  es  möglich,  aus  dem  angefangenen  Bilde  des  M, 
welches  uns  die  Prämissen  geben,  auch  die  weitere  Ver- 
vollständigung und  Fortsetzung  desselben  zu  folgern;  es 
gebe  mithin  allemal  ein  und  nur  ein  IT,  welches  die  Ver- 
einigung der  gegebenen  Merkmale  an  M  zugleich  mit  der 
Hinzufügung  nicht  gegebener  rechtfertige  und  möglich  mache. 
Dieses  an  sich  richtige  Ideal  des  Denkens  verlangt  nur, 
wie  jede  Denkform,  nicht  durch  unpassenden,  sondern  durch 
passenden  Inhalt  realisirt  zu  werden.  Nicht  jede  beliebigen 
paar  Prädicate  eines  M  reichen  hin,  um  auf  alle  seine 
übrigen  zu  schließen;  manche  solche  Combination  mag 
nicht  nur  einem  IT,  sondern  auch  einem  andern  Begriffe 
IIi  oder  112  zukommen;  man  wird  im  Gegensatz  zu  diesen 
unwesentlichen  andere  wesentliche  Merkmale  in   den  Prä- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    131 

missen  verlangen,  eine  Forderung,  die  man  in  der  An- 
wendung wirklich  allenthalben  macht,  und  deren  Erfüllung 
man  der  S9,chlichen  Kenntniß  des  behandelten  Inhalts  über- 
läßt. Aber  die  wichtigste  Quelle  der  Ungenauigkeit  ist  der 
Mangel  aller  bishergenannten  Schlußformen:  die  Prädicate 
nur  in  allgemeiner  Fassung,  ohne  Angabe  ihres  Maßes  ihrer 
specifischen  Modification  und  ihrer  gegenseitigen  Deter- 
mination anzugeben.  So  lange  die  Prämissen  nur  sagen: 
M  ist  schwer,  M  ist  gelb,  M  ist  schmelzbar  u.  s.  w.,  so 
findet  man  in  diesen  Datis  freilich  keinen  Entscheidungs- 
grund, um  M  entweder  für  Schwefel  oder  für  Gold  zu 
erklären;  aber  solche  Prämissen  haben  dafür  auch  ihre 
Heimat  nur  in  der  abstracten  Logik;  im  wirklichen  Ge- 
brauche des  Denkens  wird  vielmehr  immer  zugleich  auf 
Größe  eigenthümliche  Schattirung  und  Verbindungsweise 
der  Prädicate  geachtet  und  aus  diesem  angefangenen 
charakteristischen  Grundrisse  auf  seine  Fortsetzung  zu  dem 
Ganzen  IT  geschlossen.  Was  nun  das  natürliche  Denken 
allenthalben  wirklich  ausübt,  das  eben  ist  durch  neue 
logische  Formen,  zu  denen  wir  überzugehen  haben,  auch 
für  die  Theorie  seines  Thuns  festzustellen. 


B.  Die  mathematischen  Folgemngen. 

Der  Schluß  durch  Substitution.  —  Der  Schluß  durch  Proportion.  — 
Constitutive  Gleichung. 

105.  Ich  stelle  noch  einmal,  und  von  verschiedenen 
Gesichtspunkten  aus,  die  Veranlassungen  zusammen,  welche 
uns  über  die  Syllogismen  hinaus  zur  Aufsuchung  neuer 
Denkformen  treiben,  und  berühre  zu  diesem  Zweck  zuerst 
die  Natur  der  Urtheile,  welche  die  gewöhnliche  Lehre  sich 
als  Glieder  des  Schlusses  denkt.  Wie  ich  schon  früher 
erwähnte,  drückt  die  Sprache  in  den  Urtheilen  von  der 
Form:  S  ist  P,  das  Prädicat  in  einer  Allgemeinheit  aus, 
in  welcher  es  seinem  wirklichen  Subjecte  nicht  zukommt, 
und  die  Logik  pflegt  dies  durch  den  Satz  einzugestehen, 
daß  nicht  nur  das  Prädicat  zur  Bestimmung  des  Subjectes, 
sondern  auch  dieses  zur  Bestimmung  jenes  beitrage.  Wer 
da  sagt,  diese  Rose  ist  roth,  meint  nicht,  daß  ihr  ein 
unbestimmtes  Roth  überhaupt,  oder  daß  ihr  jede  beliebige 
Färbenschattirung  zukomme,  die  unter  dem  Sammelnamen 
des  Rothen  begriffen  wird ;  es  ist  immer  nur  das  Rosenroth, 
das  er  im  Sinne  hat,  ja  genauer  das  ganz  bestimmte  Roth 

9* 


132  Drittes  Kapitel. 

dieser  Rose.  Wollte  er  mithin  seinen  Gedanken  genau 
ausdrücken,  so  würde  er  sagen  müssen:  diese  Rose  ist 
so  roth,  wie  es  diese  Rose  ist.  In  diesem  scheinbar  ganz 
unfruchtbaren  Satze  würde  die  logische  Arbeit  darin  be- 
stehen, daß  die  wahrgenommene  Eigenschaft  der  Rose  nicht 
mehr  als  eine  Einzelheit  gefaßt  wird,  die  sonst  heimatlos 
in  der  Welt  wäre;  indem  das  Denken  sie  als  Art  eines 
allgemeinen  Roth  betrachtet,  das  auch  sonst  vorkommt 
und  abgesehen  von  diesem  Beispiel  gilt,  vollzieht  es  die 
früher  erwähnte  Objectivirung  der  Wahrnehmung:  es  gibt 
dem  Wahrgenommenen  eine  bestimmte  Stelle  in  dem  Welt- 
inhalt, durch  die  es  für  sich  etwas  und  nicht  blos  subjective 
Erregung  des  jedesmal  Vorstellenden  ist.  Hierin  liegt  der 
logische  Gewinn,  der  allemal  gemacht  wird,  wenn  der  be- 
sondere Inhalt  einer  Wahrnehmung  im  Urtheil  durch  das 
Allgemeine  ersetzt  wird,  dessen  Beispiel  er  ist.  Aber  zu- 
gleich wird  natürlich  auch  ein  logischer  Verlust  eintreten, 
wenn  es  bei  dem  Ausdruck  dieses  Allgemeinen  bleibt,  und 
wenn  nicht  der  andere  Theil  der  Wahrnehmung  auch  sein 
Recht  erhält  durch  Hinzufügung  der  Besonderung,  die  dem 
genannten  Allgemeinen  höthig  ist,  um  dem  gemeinten  Ein- 
zelnen gleich  zu  sein.  Diesen  Verlust  machen  nun  die  ge- 
wöhnlichen Urtheile  der  angeführten  Form  alle ;  auch  die 
Aristotelischen  Syllogismen  beschränken  sich  darauf,  mit 
dem  allgemeinen  M  oder  dem  allgemeinen  P  zu  rechnen. 
106.  Hierdurch  lassen  sie  die  Aufgabe  ungelöst,  die 
schon  das  disjunctive  Urtheil  aufstellte,  und  befriedigen 
überhaupt  die  Bedürfnisse  des  Denkens  in  seiner  lebendigen 
Anwendung  nicht.  Denn  schon  das  disjunctive  Urtheil  be- 
hauptete, dem  Einzelnen  komme  nicht  das  allgemeine  Prä- 
dicat  seiner  Gattung,  sondern  eine  bestimmte  Modification  p 
desselben  mit  Ausschluß  jeder  andern  zu.  Dieses  p  hätte 
der  Schluß  zu  ermitteln  gehabt;  er  hätte  es  nur  gekonnt, 
wenn  er  dem  allgemeinen  Obersatze,  der  die  Gattung  mit 
dem  allgemeinen  P  verbindet,  einen  Untersatz  gegeben  hätte, 
welcher  die  Eigenthümlichkeit  des  S  gelten  machte,  durch 
die  es,  als  diese  und  nicht  eine  andere  Art  der  Gattung, 
auch  nur  dieses  Prädicat  p,  nicht  eine  andere  Modification 
des  allgemeinen  P,  erhalten  mußte.  Das  ist  nicht  geschehen ; 
auch  der  Untersatz  erwähnte  nur  die  Unterordnung  des 
Einzelnen  unter  die  Gattung  überhaupt,  aber  nicht  seine 
speeifische  Differenz  von  andern  Arten  derselben;  daher 
konnte  der  Schlußsatz  auch  nur  sagen,  was  dem  Einzelnen 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    133 

zukommt,  sofern  es  überhaupt  eine  Art  seiner  Gattung, 
aber  nicht,  was  ihm  zukommt,  sofern  es  diese  Art  derselben 
und  keine  andere  ist.  Daß  wir  mit  einer  solchen  Leistimg 
hinter  den  Bedürfnissen  unseres  wirklichen  Denkens  zurück- 
bleiben, bedarf  kaum  weiterer  Verdeutlichung.  Wenn  wir 
schließen:  die  Wärme  dehnt  alle  Körper  aus,  das  Eisen 
ist  ein  Körper,  also  dehnt  die  Wärme  auch  das  Eisen  aus; 
oder:  alle  Menschen  sind  sterblich,  Cajus  ist  ein  Mensch', 
also  ist  Cajus  sterblich,  so  wird  jeder  die  Unfruchtbarkeit 
dieses  Verfahrens  fühlen  und  antworten:  freilich  dehnt  die 
Wärme  alle  Körper  aus,  aber  jeden  in  anderem  Maße,  als 
den  anderen ;  freilich  sterben  alle  Menschen,  aber  die  Sterb- 
lichkeit des  einen  ist  von  anderem  Maße,  als  die  des 
andern;  wie  das  Eisen  sich  als  Eisen  ausdehnt,  im  Unter- 
schied vom  Blei,  wird  die  Technik  zu  wissen  verlangen; 
wie  die  Sterblichkeit  des  Cajus  als  Cajus  im  Unterschied 
von  der  anderer  Menschen  zu  veranschlagen  ist,  der  Ver- 
waltungsrath  einer  Lebensversicherung.  Dies  ist  also  das, 
was  die  neuen  Formen  zu  leisten  haben;  sie  müssen  das 
Einzelne  als  bestimmte  Art  des  Allgemeinen  gelten  machen, 
und  aus  diesem  seinem  Unterschiede  von  andern  Arten 
desselben  eine  Folgerung  auf  sein  eigenthümliches  Prädicat 
ermöglichen. 

107.  Man  kann  von  anderer  Seite  her  daran  erinnern, 
daß  überhaupt  die  Logik  sich  etwas  einseitig  gewöhnt  hat, 
Urtheile  von  kategorischer  Form  als  Beispiele  zu  brauchen 
und  darum  auch  die  Unterordnungen  eines  Begriffs  in  den 
Umfang  eines  andern  als  die  häufigsten  und  wichtigsten 
logischen  Operationen  erscheinen  zu  lassen.  Im  lebendigen 
Gebrauch  des  Denkens  sind  sie  das  gar  nicht;  es  handelt 
sich  selten  darum,  ein  Merkmal  zu  bestimmen,  welches 
als  festes  Prädicat  zu  dem  Inhalt  eines  Begriffs  ein  für  alle 
Mal  gehört,  oder  in  dessen  Umfang  jener  Begriff  einzureihen 
ist ;  am  häufigsten  wollen  wir  wissen,  welches  veränderliche 
Merkmal  P  an  einem  Subject  S  auftreten  wird,  wenn  auf  S 
die  Bedingung  x  einwirkt;  Fragen  dieser  Art  stellt  das 
Leben  die  Wissenschaft  die  Technik  jeden  Augenblick.  Es 
ist  nun  zuzugeben,  daß  die  gewöhnliche  Syllogistik  diese 
Fälle  nicht  ganz  übersieht ;  aber  sie  behandelt  sie  doch  nur 
unvollkommen  dadurch,  daß  sie  in  einem  Obersatze  eine 
allgemeine  Folge  P  an  das  Zusammensein  des  x  mit  einem  M 
knüpft,  und  dann  einem  S  durch  Unterordnung  unter  M 
oder  unter  Mx  wieder  nur  im  Allgemeinen  jene  Folge  P 


134  Drittes  Kapitel. 

zuschreibt.  Was  hilft  es  zu  sagen:  wenn  ein  Mensch  be- 
leidigt wird,  so  erzürnt  er  sich;  Cajus  ist  ein  Mensch,  also: 
wenn  er  beleidigt  wird,  wird  er  sich  erzürnen;  was  wir 
wissen  wollen,  ist,  wie  Cajus  als  diese  Persönlichkeit  sich 
erzürnen  wird,  und  wie  viel  man  ihm  folglich  bieten  kann. 
Um  diese  Frage  zu  beantworten,  nützt  die  Unterordnung 
unter  den  Begriff  der  Menschheit  wenig ;  man  muß  die  eigen- 
thümlichen  Charakterzüge  aufsuchen,  welche  Cajus  von 
andern  Personen  unterscheiden,  und  muß  nun  Mittel  haben, 
den  Erfolg  zu  berechnen,  den  die  Beleidigung  auf  diese 
Züge  haben  wird.  Man  kann  dies  kurz  so  ausdrücken: 
unsere  Folgerungen  können  nicht  aus  Umfangsverhältnissen 
der  gegebenen  Begriffe,  sondern  aus  ihrem  Inhalt  fließen; 
ohne  den  unfruchtbaren  Umweg  durch  die  allgemeine 
Gattung  zu  nehmen,  müssen  wir  unmittelbar  aus  den  ge- 
gebenen Merkmalen  eines  Subjects  und  aus  der  hinzu- 
tretenden Bedingung  x  die  neuen  Merkmale  bestimmen, 
welche  sich  zeigen,  oder  die  Veränderungen  der  alten, 
welche  stattfinden  werden. 

108.  Von  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet  reihen  sich 
die  aufzusuchenden  neuen  Formen  den  Folgerungen  der 
Analogie  an.  Denn  auch  diese  schlössen  von  der  Gegen- 
wart Abwesenheit  und  Verbindungsweise  gewisser  Merk- 
male an  einem  S  auf  die  nothwendige  Gegenwart  Ab- 
wesenheit und  Anlagerungsweise  anderer  Merkmale  an  dem- 
selben Subject.  Man  kann  nun  den  Zweifel  erheben,  ob 
solche  Folgerungen  von  Inhalt  zu  Inhalt,  von  Merkmal 
zu  Merkmal,  überhaupt  aus  blos  logischen  Gründen  möglich 
seien,  und  ob  nicht  die  wenigen  wirklich  möglichen  doch 
durch  die  bekannten  Lehren  der  Logik  von  der  Vereinbarkeit 
der  disparaten,  der  Unvereinbarkeit  der  conträren,  der  noth- 
wendigen  Wahl  zwischen  contradictorischen  Prädicaten 
bereits  vorausgenommen  seien;  Behauptungen  darüber,  daß 
wo  p  sei,  auch  q  sein  müsse,  werde  doch  immer  nur  die 
Erfahrung  liefern,  den  einzigen  Fall  ausgenommen,  von  dem 
wir  hier  nichts  mehr  wissen  wollen,  daß  q  in  den  Inhalt 
des  p  schon  eingeschlossen  sei,  oder  p  im  Umfange  von  q 
liege.  Dieser  Zweifel  ist  an  sich  richtig;  alle  Behauptungen 
über  die  nothwendige  Verknüpfung  oder  Ausschließung 
zweier  Prädicate  werden,  diese  letzten  Fälle  ausgenommen, 
immer  nur  auf  das  Zeugniß  der  Beobachtung  gestützt 
werden  können;  aber  es  fragt  sich  doch,  ob  mit  den  bis- 
herigen Mitteln  die  Logik  auch  nur  diesen  vorauszusetzenden 
Thatsachen  alle  die  Folgerungen  abgewonnen  hat,  die  mög- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    135 

lieh  sind ;  daß  es  nicht  der  Fall  ist,  zeigen  wir  kürzer  durch 
die  Darstellung  der  Schlußformen  selbst,  die  wir  meinen, 
und  die,  übrigens  dem  natürlichen  Denken  sehr  bekannt 
und  geläufig,  hier  nur  eben  die  ihnen  in  der  systematischen 
Logik  gebührende  Stelle  erhalten. 

109.  Lassen  wir  dem  Obersatze  unserer  neuen  Figur 
die  Form:  alle  M  sind  P,  oder  M  =  P;  dem  Untersatze  aber 
geben  wir  nicht  die  unbestimmte  Gestalt :  S  ist  ein  M  über- 
haupt, sondern  die  bestimmte :  S  =  sM,  d.  h.  S  ist  die- 
jenige Art  von  M,  welche  man  erhält,  wenn  man  das  ganze 
Gefüge  der  in  M  enthaltenen  Merkmale  sich  durch  den 
Einfluß  einer  specifischen  Bedingung  s  determinirt  oder 
modificirt  denkt.  Der  Schlußsatz  wird  dann  lauten  müssen : 
S  ist  aP  und  sagt,  dem  S,  sofern  es  diese  durch  den 
charakteristischen  Zug  s  bestimmte  und  von  andern  unter- 
schiedene Art  des  M  ist,  komme  nicht  das  allgemeine  Merk- 
mal P,  sondern  diejenige  besondere  Ausprägung  oF  des- 
selben zu,  welche  unter  dem  Einfluß  jenes  s  auf  das  Gefüge 
des  M  entstehen  muß.  Zur  Vermeidung  von  Mißverständ- 
nissen ist  zu  beachten,  daß  die  Einwirkung  einer  Bedingung  s 
auf  den  gesammten  Bau  eines  M  die  verschiedenen  Merk- 
male des  M  in  äußerst  verschiedener  Weise  umformen 
kann;  jede  dieser  Umformungen  ist  eine  Folge  von  s,  und 
deswegen  habe  ich  die  hier  erwähnte  aP  durch  den  ver- 
wandten Buchstaben  o  bezeichnet;  dagegen  hat  es  im  All- 
gemeinen nicht,  wenn  auch  in  besondern  Fällen,  Sinn,  die 
Modification  eines  Merkmals  der  modificirenden  Bedingung 
gleich  zu  setzen ;  daher  konnte  der  Schlußsatz  nicht  durch  sP 
angedeutet  werden.  In  dieser  Gestalt  aber,  die  wir  hier 
dem  Schlüsse  gegeben  haben,  würde  er  die  bloße  Be- 
zeichnung einer  Aufgabe  sein,  nicht  ihre  Auflösung.  Darauf 
kommt  es  vielmehr  an,  dieses  aP  namhaft  zu  machen  und 
zu  zeigen,  wie  sich  P  durch  das  Einwirken  des  s  auf  M 
verändert.  Dies  ist  so  lange  unausführbar,  als  man  M  nur 
unter  dieser  einfachen  Form  eines  mit  einem  Namen  ver- 
sehenen Allgemeinbegriffs  aufführt;  um  zu  wissen,  wie  s 
auf  M  einwirkt,  müssen  wir  den  Inhalt  des  M  in  seine 
einzelnen  Theile,  mit  Beachtung  ihrer  gegenseitigen  Ver- 
bindungsweise zerlegen.  Wie  z.  B.  der  Gang  einer  Maschine 
sich  ändern  wird,  wenn  man  auf  sie  eine  Kraft  s  wirken 
läßt,  wird  Niemand  zu  beurtheilen  unternehmen,  so  lange 
er  die  Maschine  nur  als  ein  anschauliches  Ganze  M,  als 
Dampfmaschine  überhaupt,  vor  Augen  hat;  man  muß  den 
inneren  Bau,   die  Verknüpfung  der  Theile,  die  Lage   eines 


136  Drittes  Kapitel. 

möglichen  Angriffspunktes  für  die  Kraft  s  und  die  Rück- 
wirkung der  hier  erzeugten  Erstwirkung  auf  die  mit  dem 
Angriffspunkte  verbundenen  Theile  zuvor  kennen  gelernt 
haben.  Nur  dadurch  mithin,  daß  man  dem  geschlossenen 
Ausdruck  oder  Begriff  M  die  entwickelte  Gesammtzahl  aller 
Inhaltstheile  mit  Beachtung  ihrer  wechselseitigen  Deter- 
minationen substituirt,  kann  man  hoffen,  den  Einfluß 
des  s  so  zu  verfolgen,  daß  man  daraus  erst  die  Gesammt- 
natur  des  S,  welche  =sM  ist,  und  folgeweis  auch  die 
Modification  aP  des  Prädicats  P  bestimmen  kann,  welche 
diesem  S  zugehört.  In  der  That  ist  nämlich  stets  die  letzte 
Aufgabe  in  der  ersten  eingeschlossen;  die  specifische  Modi- 
fication eines  einzelnen  Prädicates  für  S  läßt  sich  gar  nicht 
finden,  ohne  die  durch  s  erzeugte  Gesammtänderung  des  M, 
von  der  sie  abhängig  ist,  vorher  gefunden  zu  haben;  denn 
dieselbe  Bedingung  s  würde  auf  ein  P,  welches  in  dem 
Gefüge  eines  andern  Begriffes  N  enthalten  wäre,  anders 
wirken,  als  auf  das,  welches  sie  in  dem  M  antrifft.  Aus 
diesem  Grunde  beachte  ich  fernerhin  diese  Folgerung  auf  aP 
nicht  mehr,  sondern  betrachte  als  Aufgabe  der  neuen  Form, 
sM  zu  bestimmen,  und  gebe  ihr  darum  die   Gestalt 

Obersatz:      M  =  a  +  bx  +  cx2  ... 

Untersatz:     S  =  sM 

Schlußsatz :    S  =  s(a  +  bx  +  ex«  . . .) 

woraus  dann  in  Bezug  auf  einzelne  Prädicate,  z.  B.  b, 
anstatt  des  unbestimmten  Schlusses:  S  ist  bx,  der  be^ 
stimmte  folgen  würde :  S  ist  s.  bx. 

110.  Es  hat  immer  sein  Mißliches,  sehr  verschieden- 
artige und  dennoch  zusammengehörige  Fälle  durch  ein 
möglichst  einfaches  Symbol  auszudrücken;  ich  bemerke 
daher  zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  noch  Fol- 
gendes. Unter  a  b  c  x  will  ich  im  Allgemeinen  ver- 
schiedene Merkmale  eines  Begriffs  M  verstanden  wissen, 
welche,  wenn  sie  vollständig  aufgezählt  werden,  den  Ge- 
sammtinhalt  von  M  ausmachen.  In  jedem  Begriffe  aber 
stehen  diese  Merkmale  in  den  allerverschiedenartigsten  Be- 
ziehungen zu  einander,  welche  Beziehungen  in  meiner 
Formel  nicht  ausgedrückt  sind;  als  schwache  Andeutung 
ihrer  möglichen  Mannigfaltigkeit  ist  die  Doppelheit  der 
Zeichen  -j-  und  —  angewandt.  Zum  wirklichen  Ausdruck 
reichen  diese  Zeichen  nicht  einmal  dann  hin,  wenn  M  nicht 
einen  Begriffsinhalt  aus  qualitativ  verschiedenen  Merk- 
malen, sondern  ein  bloßes  Größenganzes  aus  den  vergleich- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    137 

baren  Größentheilen  a  b  c  x  bedeutet.  Ein  erschöpfenderes 
Symbol  würde  nur  das  früher  gebrauchte  der  mathematischen 
Function  überhaupt  sein :  M  ==  F  (a,  b,  c,  x  . .) ;  aber  es  hätte 
den  Nachtheil,  alle  Verbindungsweisen  der  Theile  blos  in 
Gedanken  zu  fordern  und  gar  keine  durch  ein  anschau- 
liches Schema  zu  verdeutlichen.  Auch  die  Form  der  Reihe 
a  +  bx  -|-  cx2  ist  willkürliches  Symbol ;  die  Einführung  des  x 
bedeutet  nur  wieder  die  mögliche  Ungleichwerthlgkeit  der 
Merkmale,  von  denen  eines,  eben  x,  nur  ein  anderes,  a, 
völlig  freiläßt,  zu  den  übrigen  aber  selbst  als  eine  be- 
stimmende Bedingung  hinzutritt.  Das  s  des  Untersatzes 
und  Schlußsatzes  tritt  hier  als  multiplicirender  Factor  auf; 
ebenfalls  nur,  um  an  dem  allereinfachsten  und  bekann- 
testen Verhältniß,  in  welchem  eine  Größe  auf  andere  ein- 
wirken kann,  die  unzählig  verschiedenen  zu  veranschau- 
lichen, in  welchen  irgend  eine  concrete  Bedingung  auf  den 
mannigfachen  Inhalt  irgend  eines  Gegebenen  ihren  Einfluß 
ausüben  kann.  Drücken  wir  durch  einen  rechts  unter- 
gesetzten Buchstaben  die  Aenderung  irgend  welcher  Art 
aus,  welche  eine  Bedingung  in  irgend  einem  Gegebenea 
hervorbringt,  und  bezeichnen  wir  M  als  Function  von  a  b  c  x, 
also  M  =  cp  (a,  b,  c,  x),  so  würden  wir  allgemein  den  Schluß- 
satz nur  bezeichnen  können  durch  S  ^  cps  (as,  bs,  Cs,  Xs), 
nicht  durch  S  ==  cp  (as,  bs,  Cs,  Xs) ;  denn  es  ist  an  sich 
deutlich,  daß  der  Einfluß  von  s  nicht  immer  nur,  nach 
dem  zweiten  Ausdruck,  die  einzelnen  Merkmale  mit  Bei- 
behaltung ihrer  allgemeinen  Verbindungsweise  cp,  sondern 
auch,  nach  dem  ersten,  diese  Verbindungsweise  selbst  ändern 
kann,  so  daß  die  auf  einen  Begriff  wirkende  Bedingung 
dessen  ganzen  Bau  hinlänglich  umgestalten  kann,  um  das 
neue  Ergebniß  nicht  mehr  dem  vorigen  Begriffe  M,  sondern 
einem  andern  Mi  oder  N  subsumirbar  zu  machen.  Hierauf 
weiter  einzugehen,  macht  ein  Zugeständniß  unnöthig, 
welches  wir   nun   hinzuzufügen   haben. 

111.  Der  Gewinn  nämlich,  den  wir  uns  von  dieser 
unserer  Schlußfigur  durch  Substitution,  der  ersten 
dieser  zweiten  Gruppe,  versprechen,  hängt  doch  schließlich 
davon  ab,  daß  wir  wissen,  was  die  einzelnen  Theile  der 
Conclusion  bedeuten,  welches  also  der  Werth  von  as  oder  bxs 
ist,  der  durch  die  Einwirkung  des  s  auf  den  entwickelten 
Ausdruck  des  M  entspringt.  Dies  aber  ist,  wenn  es  nicht 
einfach  aus  Erfahrungen  bekannt  werden  soll,  im  Denken 
nur  dann  zu  ermitteln,  wenn  alle  diese  aufeinander  be- 
zogenen Theile  reine  Größen  und  die  zwischen  ihnen  be- 


138  Drittes  Kapitel. 

stehenden  Beziehungen  solche  der  mathematischen  V^er- 
knüpfung  und  Sonderung  sind.  Hierdurch  wird  der  wirk- 
same Gebrauch  unserer  Figur  auf  das  Gebiet  der  Mathematik, 
und  zwar  zunächst  auf  die  Verhältnisse  reiner  Größen 
beschränkt.  Nur  die  besondere  Natur  der  Zahlen,  deren 
jede  ein  angebbares  Verhältniß  zu  jeder  andern  hat,  ge- 
stattet, durch  Substitution  der  Größentheile  eines  Ganzen, 
den  vorher  verschlossenen  Inhalt  des  M  so  aufzuschließen, 
daß  die  einwirkende  Bedingung  s  ihre  Macht  wirklich  aus- 
üben kann,  und  daß  nach  den  Regeln  der  Rechnungsarten, 
durch  Aufhebung  entgegengesetzter  und  durch  Zusammen- 
ziehen sich  addirender  Bestandtheile,  die  mit  jener  Be- 
dingung nothwendig  geforderte  Veränderung  dieses  Inhalts 
von  M  sich  wirklich  ausführen  und  die  Gestalt  des  heraus- 
kommenden neuen  Ergebnisses  darstellen  läßt.  Setzen  wir 
dagegen  an  die  Stelle  vergleichbarer  Größentheile  die  un- 
vergleichlich verschiedenen  Merkmale  eines  Begriffes,  so 
verschwinden  diese  Vortheile  wieder;  der  Inhalt  des  M 
wird  durch  eine  solche  Substitution  nur  unvollkommen  auf- 
geschlossen; denn  wir  besitzen  hier  nicht,  wie  bei  den 
unter  sich  vergleichbaren  Zahlen,  eine  Regel,  nach  welcher 
sich  der  Erfolg  einer  auf  diese  ungleichartigen  Bestandtheile 
einwirkenden  Bedingung  bemessen  ließe.  Zwar  wenden  wir 
auch  in  solchen  Fällen  den  allgemeinen  Gedanken  der 
Substitution  an;  wenn  wir  wissen  wollen,  wie  eine  Be- 
dingung s  auf  ein  Ding  wirken  werde,  das  uns  nur  durch 
seinen  naturgeschichtlichen  Begriff  M  gegeben  ist,  so  zer- 
gliedern wir  auch  M  in  seine  Merkmale;  aber  die  Schätzung 
des  Erfolgs,  den  s  auf  jedes  einzelne  derselben  und  auf 
die  Gesammtheit  aller  haben  werde,  erfolgt  doch  hier  nur 
noch  auf  Grund  mehr  oder  minder  unbestimmter  Analogien, 
welche  uns  die  Erfahrung  oder  ein  irgend  woher  ent- 
standenes  Gefühl   des   Wahrscheinlichen   darbietet. 

112.  Die  Beschränkung  auf  mathematischen  Gebrauch 
kann  uns  nicht  hindern,  den  Schluß  durch  Substitution 
in  der  systematischen  Reihe  der  Denkformen  aufzuführen. 
Denn  zunächst  muß  man  doch  nicht  ganz  vergessen,  daß 
jedenfalls  das  Rechnen  auch  zu  den  logischen  Thätigkeiten 
gehört  und  daß  nur  eine  praktisch  begründete  Spaltung 
des  Unterrichts  die  vollkommene  Heimatsberechtigung  der 
Mathematik  in  dem  allgemeinen  Reiche  der  Logik  übersehen 
läßt.  Aber  nicht  nur  deshalb  haben  diese  Formen  hier 
ihren  Platz,  weil  sie  einem  Theile  unserer  Denkarbeit  un- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    139 

entbehrlich  sind;  sie  bleiben  vielmehr  auch  für  diejenigen 
Fälle,  in  denen  das  nicht  ausführbar  ist,  was  sie  verlangen, 
die  Ideale  unserer  logischen  Bestrebung.  Denn  wenn  sie 
sich  nur  auf  die  Größenverhältnisse  unmittelbar  anwenden 
lassen,  so  ist  es  auch  anderseits  wahr,  daß  überall  da, 
wo  wir  einen  Gegenstand  unserer  Untersuchung  in  keiner 
Weise  auf  Größenverhältnisse  zurückzuführen  im  Stande 
sind,  unsere  Erkenntniß  desselben  mangelhaft  bleibt,  und 
daß  keine  andere  logische  Form  im  Stande  ist,  uns  dann 
zur  Beantwortung  der  Fragen  zu  verhelfen,  welche  uns 
die  mathematische  Behandlung  der  Sache  liefern  würde, 
wenn  sie  möglich  wäre.  Es  ist  kaum  nöthig,  in  unserer 
Zeit  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie  Naturwissenschaft 
nur  durch  Mathematik  zu  Stande  gekommen  ist;  hat  man 
doch  längst  auch  in  anderen  Gebieten  die  wesentliche  Hülfe 
schätzen  gelernt,  welche  die  statistischen  Erhebungen  der 
Größenverhältnisse  für  die  Auffindung  der  Gesetze  bieten, 
nach  denen  die  Zusarmnenhänge  der  Gesellschaft  bestehen; 
selbst  in  den  Wissenschaften,  die  am  weitesten  durch  die 
Natur  ihres  Gegenstandes  von  der  Mathematik  abstehen, 
empfindet  man  häufig  sehr  deutlich  das  Bedürfniß  ihrer 
Verknüpfung  mit  Größenbetrachtungen.  Die  Sittenlehre  mag 
jedes  Verbrechen  strafbar  finden,  ohne  zu  diesem  Aus- 
spruch einer  mathematischen  Berechtigung  zu  bedürfen; 
aber  jede  wirklich  zu  verhängende  Strafe  muß  ein  Maß 
haben,  und  dieses  muß  sich  nach  dem  Maße  der  zu  strafen- 
den Bosheit  des  verbrecherischen  Willens  richten;  wäre 
es  nur  bisher  ausführbar,  so  würde  auch  das  Strafrecht 
nach  unserer  Figur  schließen;  es  würde  jedes  gegebene 
Verbrechen  durch  Substitution  in  seine  einzelnen  Bestand- 
theile  auflösen  und  aus  dem  sM,  aus  der  besonderen 
Größenbestimmtheit,  in  welcher  in  diesem  Einzelfalle  die 
einzelnen  Merkmale  des  Verbrechens  und  mithin  dessen 
Gesammtwerth  auftreten,  das  aP,  die  Art  und  Größe  der 
Strafe,  ableiten,   die  diesem  Einzelfalle  gebührt. 

113.  Nun  aber  gibt  es  doch  nicht  blos  reine  Mathematik, 
sondern  es  ist  der  Wissenschaft  allerdings  gelungen,  auch 
zwischen  Erscheinungen  oder  Merkmalen,  die  unter  einander 
unvergleichlich  sind,  Vermittelungen  herzustellen,  welche 
von  dem  einen  dieser  Glieder  auf  das  andere  zu  schließen 
erlauben.  Die  Formen  aufzusuchen,  nach  denen  dies  möglich 
ist,  muß  anderseits  die  nächste  Aufgabe  der  Logik  sein, 
welche  so  die  Unvollkommenheit  des  Substitutionsschlusses 
zu  ergänzen  sucht.    Zum  Theil  nun  scheint  jener  Uebergang 


140  Drittes  Kapitel. 

zwischen  dem  Unvergleichbaren  nur  dadurch  der  Wissen- 
schaft gelungen,  daß  sie  diese  Unvergleichbarkeit  aufhob, 
und  nachwies,  daß  zwei  Thatbestände  a  und  b,  die  unserer 
Wahrnehmung  zunächst  als  qualitativ  völlig  verschieden 
erscheinen,  in  Wahrheit  doch  nur  auf  Größenverschieden- 
heiten vergleichbarer  Umstände  beruhen;  ich  erinnere  daran, 
wie  die  Physik  die  qualitativen  Unterschiede  unserer  sinn- 
lichen Empfindungen  der  Farbe  des  Tones  und  der  Wärme 
auf  nur  mathematische  Differenzen  vergleichbarer  Be- 
wegungen vergleichbarer  Elemente  zurückführt.  Sieht  man 
jedoch  näher  zu,  so  findet  man,  daß  in  diesen  Fällen  doch 
nicht  in  der  That  unsere  Empfindungen  a  und  b  auf  unter 
sich  und  mit  ihnen  vergleichbare  Bewegungen  a  und  ß 
zurückgebracht  werden,  sondern  nur  das  wirkliche  Eintreten 
von  a  oder  ß  und  sein  Einwirken  auf  uns  wird  als  Be- 
dingung bezeichnet,  unter  welcher  uns  die  Empfindung  a 
oder  b  entstehen  muß.  Die  empfundene  Farbe  a  bleibt 
nach  wie  vor  völlig  unvergleichbar  mit  der  Schwingung  a 
des  Aethers,  die  man  als  ihre  Entstehungsbedingung  angibt, 
und  wenn  uns  die  Erfahrung  nicht  lehrte,  daß  a  die  Folge 
des  a  ist,  so  würden  wir  durch  kein  logisches  Mittel  aus  a 
die  Natur  dieser  seiner  Ursache  a  errathen.  Was  also  in 
diesen  Fällen  die  Wissenschaft  leistet,  besteht  in  der  That 
in  einer  Verknüpfung  unvergleichbarer  Glieder,  die  von 
dem  einen  auf  das  andere  zu  schließen  erlaubt.  Dieser 
erste  Satz  nun,  daß  überhaupt  a  und  a,  b  und  ß  in  diesem 
Verhältniß  gegenseitiger  Hinweisung  auf-  einander  stehen, 
wird,  wie  ich  eben  erwähnte,  der  Erfahrung  verdankt, 
und  aus  den  Thatsachen  derselben  zwar  durch  Anwendung 
der  Gesetze  des  Denkens,  aber  nicht  durch  eine  besondere 
Form  des  Denkens  gewonnen,  die  zu  der  an  sich  unmög- 
lichen Lösung  der  Aufgabe  bestimmt  wäre,  wirklich  Un- 
vergleichbares in  Vergleichbares  umzuwandeln.  Aber  nach- 
dem die  Erfahrung  das  Zusammengehören  zweier  solcher 
Glieder,  a  und  a,  einmal  gelehrt  hat,  schließt  das  Denken, 
daß  diese  Zusammengehörigkeit  sich  auch  in  der  Ver- 
änderung beider  erhalten  werde,  und  daß  mithin  einer  be- 
stimmten Aenderung  des  a  in  ai  allemal  eine  und  nur  eine 
bestimmte  Aenderung  des  a  in  a^  entsprechen  müsse.  Auch 
diese  Aenderungen  a— ai  und  a— a^  sind  unmittelbar  weder 
ihrer  Art  noch  ihrer  Größe  nach  vergleichbar;  nimmt  die 
Schwingungsanzahl  der  Schallwelle  um  die  Größe  b  =  a—a^ 
zu,  so  hängt  von  ihr  allerdings  eine  bestimmte  Zunahme 
d  ,=  a  —  ai  des  gehörten  Tones  ab ;  aber  diese  Aenderung  d 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    141 

der  Tonhöhe  ist  der  Art  nach  ein  ganz  anderem  Vorgang, 
als  die  Zunahme  b  einer  Anzahl  von  Schwingungen,  und 
mit  einer  solchen  nicht  zu  vergleichen;  jede  dieser  Größen 
kann  noch  immer  nur  nach  ihrem  eigenen  Maßstab  ge- 
messen, ihr  wechselseitiges  Zusammengehören  nur  als  eine 
Thatsache  ausgesprochen  werden.  Aber  unter  einander  sind 
die  Aenderungen  der  Tonhöhe,  und  ihrerseits  untereinander 
sind  auch  die  Aenderungen  der  Schwingungszahlen  ver- 
gleichbar; beziehen  wir  beide  Aenderungen  auf  d  und  5 
als  ihre  bezüglichen  Einheiten,  so  läßt  sich  fragen,  um 
welche  Anzahl  m  von  Einheiten  der  Art  d  sich  die  Ton- 
höhe ändert,  wenn  die  Schwingungszahl  sich  um  |li  Ein- 
heiten der  Art  b  ändert ;  m  und  jli  stehen  dann  in  einem 
reinen  Zahlenverhältniß.  Dies  Verhältniß  kann  unendlich 
verschieden  sein;  aber  wie  schon  früher,  deuten  wir  diese 
mögliche  Mannigfaltigkeit  in  der  Form  nicht  weiter  an, 
die  wir  diesem  Schlußverfahren  geben ;  wir  wählen  als 
Namen  und  als  Schema  derselben  die  einfachste  Gestalt 
der  Proportion:  E:e=:T:t,  welche  zwar  nur  den  Fall  aus- 
drückt, in  welchen  m :  fA  eine  constante  Größe  ist,  aber  doch, 
als  Symbol,  hinlänglich  den  logischen  Gedanken  dieses  Ver- 
fahrens verdeutlicht.  ■ 
114.  Ich  erläutere  noch  einmal  diesen  Gedanken  an 
dem.  elementarsten  Beispiele.  Zwei  Winkel  E  und  e  sind 
unter  einander  vergleichbar;  zwei  Kreisbögen  T  und  t  sind 
es  unter  sich  gleichfalls ;  aber  ein  Winkel  und  ein  Kreis- 
bogen sind  unvergleichbar  und  unmittelbar  nach  keinem 
gemeinsamen  Maßstab  zu  messen ;  auch  die  Differenz  zweier 
Winkel,  die  wieder  einen  Winkel  darstellt,  bleibt  unvergleich- 
bar mit  der  Differenz  zweier  Bögen,  die  wieder  ieinenj 
Bogen  bildet.  Steht  jedoch  einmal  fest,  daß  zu  einem  Centri- 
winkel  e  eines  Kreises  von  gegebenem  Halbmesser  eine 
Bogenlänge  t  gehört,  bilden  wir  ferner  aus  einer  m fachen 
Wiederholung  von  e  den  Winkel  E  und  aus  einer  n  fachen 
Wiederholung  von  t  den  zu  E  gehörigen  Bogen  T,  so  sind 
die  reinen  Zahlen  m  und  n  vergleichbar,  welche  angeben, 
wievielfäche  Wiederholungen  der  beiden  an  sich  unvergleich- 
baren Einheiten  t  und  e  nöthig  sind,  um  zwei  zusammen- 
gehörige Glieder  der  Reihe  der  Winkel  und  der  Reihe  der 
Bögen  zu  finden.  Für  den  Kreis  lehrt  die  Geometrie,  daß 
m  =:  n.  Sind  uns  also  die  beiden  Einheiten  e  und . t  ge- 
'  geben,  so  bedürfen  wir  nur  der  Angabe  einer  bestimmten 
Vielheit  E  von  e,  um  nach  der  Proportion  E:e  =  T:t  den 
zugehörigen   Werth   von   T   zu   ermitteln.    Als   Schlüßfigur 


142  Drittes  Kapitel. 

ausgedrückt  würde  daher  das  ganze  Verfahren  dem  Schema 
entsprechen : 

Obersatz:  E:e  =  T:t 

Untersatz:     E  =  g(e) 

Schluß:  T  =  ^(e)t 

e 

115.  Ich  brauche  kaum  anzudeuten,  daß  auf  diesem 
Schlüsse  durch  Proportion,  in  dessen  einfachem 
Schema  ich  alle  verwickeiteren  Verhältnisse  zwischen  den 
obigen  m  und  n  mitbegreife,  zuletzt  alle  Möglichkeit  beruht, 
qualitativ  verschiedene  Ereignisse  in  eine  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit zu  bringen,  welche  die  Berechnung  der  einen 
durch  die  andern  gestattet.  Auch  bedarf  es  kaum  der 
Erwähnung,  daß  eine  völlige  Wirksamkeit  dieser  Figur  nur 
so  weit  zu  erwarten  ist,  als  die  Zurückführung  der  Ver- 
hältnisse des  Wirklichen  auf  reine  Größenbestimmimgen 
gelingt;  die  Rechtfertigung  dieser  Beschränkung  würde  die- 
selbe sein,  wie  für  die  ähnliche  des  Substitutionsschlusses. 
In  schlafferer  Weise  wenden  wir  zur  Beurtheilung  der 
Dinge  auch  im  gewöhnlichen  Leben  alltäglich  ungenaue 
Proportionen  an,  die  meist  in  bloße  Gleichnisse  übergehen; 
indem  sie  ein  Verhältniß  zwischen  a  und  b  einem  andern 
zwischen  a  und  ß  nur  überhaupt  ähnlich  finden,  ohne 
jedoch  den  gleichen  Exponenten  beider  genau  anzugeben, 
folgern  sie  mit  meist  sehr  geringer  Ueberzeugungskraft : 
wenn  das  eine  dieser  Verhältnisse  unter  einer  gewissen 
Bedingung  c  eine  gewisse  Folge  y  begründe,  werde  unter 
derselben  Bedingung  auch  aus  dem  andern  eine  überhaupt 
ähnliche  Folge  entspringen.  Nur  eine  Bemerkung  füge  ich 
noch  einmal,  mich  wiederholend,  hinzu:  die  Form  der 
Proportion  bezeichnet  eine  Grenze  des  Erkennens.  Wir 
finden  in  ihr  die  Abhängigkeit  zweier  Glieder  E  und  T 
nur  als  Thatsache  ausgesprochen  und  als  solche  weiter 
benutzt;  dagegen  bleibt  ganz  unerwähnt  und  unerörtert 
die  Frage,  auf  welche  Weise,  durch  welche  Mittel,  durch 
welchen  Mechanismus,  so  zu  sagen,  das  eine  Glied  E  es 
anfängt,  um  das  andere  T  zu  sich  überhaupt  in  irgend  eine, 
und  namentlich  in  diese  bestimmte  Art  der  Abhängigkeit 
zu  bringen.  Natürlich  läßt  sich  auch  diese  Frage,  in  Bezug 
auf  allerhand  zusammengesetzte  Erscheinungen,  häufig  noch 
beantworten;  hat  doch,  wie  erwähnt,  die  wissenschaftliche 
Untersuchung  manche  zwei  disparat  erscheinende  Eigen- 
schaften oder  Ereignisse  auf  nur  quantitative  Verschieden- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    143 

heilen  vergleichbarer  Bestimmungen  zurückgebracht,  und 
dann  läßt  es  sich  einsehen,  wie  es  zugeht,  daß  T  überhaupt 
mit  E,  und  ein  bestimmter  Zuwachs  des  einen  mit  einem 
bestimmten  des  andern  zusammenhängen  müsse.  Allein 
dies  gelingt  nicht  endlos;  die  letzten  auffindbaren  Gesetze 
der  Erscheinungen  werden  jederzeit  schon  bestimmte  Be- 
ziehungen zwischen  disparaten  Bestandtheilen  enthalten, 
die  man  nur  als  Thatsachen  hinnehmen  und  in  der  Form 
der  Proportion  benutzen  kann,  ohne  doch  den  Grund  auf- 
zeigen zu  können,  welcher  die  beiden  Glieder  zwingt,  sich 
zu  einander  proportional  zu  verhalten.  Viele  Erscheinungen 
führen  wir  auf  das  Gesetz  der  Gravitation  zurück,  deren 
Intensität  sich  umgekehrt  wie  die  Quadrate  der  Entfernung 
verhalte;  bis  jetzt  wenigstens  ist  jedoch  jeder  Versuch  miß- 
lungen, zu  zeigen,  wie  diese  Entfernung  es  anfängt,  jene 
Kraft  zu  schwächen.  Wir  zeigen,  wie  mit  der  steigenden 
Schwingungszahl  die  empfundene  Tonhöhe  steigt,  wie  über- 
haupt unsere  Empfindungen,  ja  alle  unsere  geistigen  Thätig- 
keiten  sich  proportional  physischen  Bewegungen  unserer 
Organe  ändern ;  dabei  bleiben  aber  Töne  und  Schwingungen,, 
geistige  Verrichtungen  und  physische  Bewegungen,  ewig  an 
sich  unvergleichbar  und  wir  erfahren  nie,  wie  die  einen 
es  anfangen,  die  andern  zu  correspondirenden  Aenderungen 
zu  nöthigen.  Von  Disparatem  zu  Disparatem  gibt  es  für 
unser  Denken  keinen  Uebergang:  alle  unsere  Erläuterung 
des  Zusammenhangs  der  Dinge  geht  nur  bis  auf  Gesetze 
zurück,  die  sich  in  der  Form  der  Proportion  aussprechen 
lassen,  und  die  keinen  Versuch  machen,  die  beiden  Glieder 
in  ein  auffindbares  Drittes  zu  verschmelzen,  sondern  beide 
in  ihrer  völligen  Verschiedenheit  bestehen  lassen  und  nur 
anzeigen,  daß  dies  gegeneinander  Undurchdringliche  dennoch 
thatsächlich  einem  gemeinsamen  Gesetze  gegenseitiger  Be- 
stimmung unterliegt. 

116.  In  der  wirklichen  Anwendung  der  Schlüsse  aus 
Proportionen  wird  ein  anderer  bisher  nur  kurz  angedeuteter 
Mangel  durch  Beachtung  eines  nothwendigen  Neben- 
gedankens stillschweigend  ergänzt;  in  der  systematischen 
Reihe  der  Denkhandlungen  ist  diese  Ergänzung  als  eigen- 
thümliches  Glied,  das  letzte  dieser  Gruppe,  ausdrücklich 
aufzuführen.  Unsere  schematische  Bezeichnung  stellte  das 
Verhältniß  zwischen  den  Aenderungen  zweier  Merkmale  E 
und  T  so  dar,  als  bestände  es  immer  zwischen  beiden 
Merkmalen  an  sich,  gleichgültig,  an  welchem  Subject  sie 
vorkommen.   Nun  gibt  es  wohl  Prädicate,  die  aus  logischen 


144  Drittes  Kapitel. 

Gründen,  um  ihres  conträren  oder  contradictorischen  Gegen- 
satzes willen,  oder  weil  das  eine  das  andere  ohnehin  in 
sich  einschließt,  an  jedem  Subject  entweder  zugleich  vor- 
handen sein  müssen  oder  nicht  zugleich  vorhanden  sein 
können;  aber  es  gibt  keine  Merkmale,  deren  Größen  und 
Größenänderungen  immer  in  demselben  Verhältniß  zu 
einander  stehen  müßten,  gleichviel,  welches  die  Natur  des 
Subjects  sei,  an  welchem  sie  vereinigt  sind.  Diese  Natur 
vielmehr  ist  es,  welche  den  Exponenten  ihres  Verhältnisses 
bestimmt,  und  dieselben  allgemein  ausgedrückten  Merkmale 
E  und  T,  die  an  dem  einen  S  nur  in  dem  Verhältniß  n :  m 
möglich  sind,  sind  an  einem  zweiten  S^  nur  in  der  andern 
Proportion  n^ :  m^  zulässig.  Die  Wärme  dehnt  jeden  Körper 
aus,  aber  für  verschiedenartige  Körper  sind  auch  die  Ver- 
hältnisse verschieden,  in  denen  das  Maß  der  Ausdehnung 
zu  einem  gleichen  Zuwachs  der  Temperatur  steht.  Die 
Anwendung,  indem  sie  sich  immer  auf  bestimmte  einzelne 
Subjecte  bezieht  und  nur  diese  bei  ihrem  ganzen  Verfahren 
im  Sinne  hat,  braucht  diese  Beschränkung  nicht  besonders 
auszusprechen;  die  Logik  dagegen  muß  hervorheben,  daß 
nur  unter  ihrer  Voraussetzung  überhaupt  von  einem  Ge- 
brauch der  Proportionen  die  Rede  sein  kann.  Nur  der 
eigenthümliche  Charakter  eines  gegebenen  Subjectes,  durch 
den  es  die  wechselseitige  Determination  aller  seiner  Merk- 
male beherrscht,  berechtigt  uns,  von  einem  bekannten  Werthe 
des  einen  derselben  nach  einer  nur  für  dieses  Subject 
gültigen  Proportion  auf  den  entsprechenden  Werth  eines 
anderen  zu  schließen.  Wir  kommen  hiermit  nur  auf  den 
Gedanken  zurück,  der  schon  der  Analogie  zu  Grunde  lag; 
denn  nur  um  der  Zusammengehörigkeit  aller  einander  be- 
stimmenden Merkmale  eines  Begriffes  willen  glaubten  wir, 
aus  einer  beschränkten  Gruppe  derselben,  wie  aus  einem 
angefangenen  Muster  auf  dessen  Fortsetzung,  auf  die  noth- 
wendige  Gegenwart  oder  Abwesenheit  anderer  Merkmale 
schließen  zu  dürfen.  Der  vollständige  Ausdruck  eines 
Schlusses  aus  Proportionen  würde  daher  die  Hinzufügung 
dieser  mitgedachten  Bedingung  erfordern  und  sein  Obersatz 
müßte  lauten:  wenn  S  ein  M  ist,  so  ist  für  dies  S  immer 
T:t  =  E:e.  Unsere  logische  Aufgabe  aber  bestände  nicht 
darin,  uns  den  Inhalt  dieses  Obersatzes  lediglich  durch' 
-Erfahrung  geben  zu  lassen,  um  ihm  dann  einen  besondern 
Pall  in  dem  Untersatze:  S  ist  M,  unterzuordnen,  sondern. 
•darin  vielmehr,  nachzuweisen,  wie  überhaupt  sich  ein  Be- 
griff M  finden   läßt,   aus   welchem  man  die   Proportionen 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    145 

ableiten   kann,    die   zwischen   je   zweien   seiner  Merkmale 
stattfinden  müssen. 

117.  Die   Mittel  zur  Entdeckung  eines   solchen  gesetz- 
gebenden oder  constitutiven  Begriffes  sind  durch  Früheres 
bereits  angedeutet;  sie  liegen  in  der  durchgängigen,  aber 
sehr  verschiedenartigen  Determination  jedes  Merkmals  durch 
jedes  andere;  diese  Verschiedenartigkeit  wird  bewirken,  daß 
in   einzelnen   Fällen  der   Besitz   einer  einzigen  Proportion 
zwischen  zwei  beliebigen  Merkmalen  zur  Bestimmung  aller 
andern  hinreicht,  daß  in  anderen  dagegen  die  Kenntniß  der 
Verhältnisse  gewisser  wesentlichen  Merkmale  nöthig  wird, 
um  aus  ihnen  die  unwesentlichen  zu  bestimmen,  nicht  aber 
die  der  letzteren  zulänglich  ist,  um  den  ganzen  Merkmal- 
bestand des  Begriffsinhaltes  unzweideutig  festzustellen.  Aber 
ich  werde  deutlicher  sein,  wenn  ich  diesen  Betrachtungen 
ein   Beispiel   der  wirklichen   Ausführung   dessen,   was  wir 
verlangen,  eine  sehr  bekannte  und  einfache  mathematische 
Gedankenform,  voranschicke.    Die  analytische  Geometrie  be- 
sitzt in  den  Gleichungen,  durch  welche  sie  die  Natur 
einer  krummen  Linie  ausdrückt,  ganz  den  constitutiven  Be- 
griff  ihres   Gegenstandes,  welchen  wir   suchen.     Nur  sehr 
wenige  Beziehungsstücke,  die  unbestimmten  Abscissen  und 
Ordinaten  in  ihrer  Verbindung  mit  constanten  Größen,  ent- 
halten hier,  als  eine  Urproportion,   eingeschlossen  in  sich 
und   aus   ihnen   ableitbar   alle   Verhältnisse,   die   zwischen 
irgend  welchen  Theilen  der  Curve  stattfinden  müssen.   Aus 
dem   Gesetze,   welches   die   Proportionalität   zwischen   den 
Aenderungen  der  Ordinaten  und  Abscissen  ausdrückt,  läßt 
sich  jede  andere  Eigenschaft  der  krummen  Linie  entwickeln : 
der  Verlauf  ihres  Zuges,  ihre  Geschlossenheit  oder  Offen- 
heit,  die   Symmetrie  oder   Unsymmetrie   ihrer  Theile,   die 
Gleichförmigkeit  oder  das  Maß  der  Veränderlichkeit  ihrer 
Krümmung    in    jedem    ihrer    Punkte,    die    Richtung,    nach 
welcher  ihre  Concavität  oder  Convexität  sieht,  die  Größe 
des  Flächeninhalts,  den  sie  zwischen  beliebig  angenommenen 
Grenzen  einschließt.  An  diese  Entwicklungen,  deren  weiterer 
mathematischer  Gang  zu  einfach  ist,  um  hier  der  Erwähnung 
zu  bedürfen,  wollen  wir  uns   halten,  wenn  wir  dem  hier 
behandelten   Verfahren  den  Namen   des   Schlusses  aus 
constitutiven    Gleichungen    geben.     Das    Verfahren 
selbst  ist  nicht  auf  diese  geometrischen  Aufgaben  beschränkt; 
aber  die  anderen  zum  Theil  weit  interessanteren  Beispiele, 
welche   andere   Gebiete   der   Mathematik,    unter   ihnen   die 

Lotze,  Logik.  10 


146  Drittes  Kapitel. 

Variationsrechnung,  liefern  würden,  lassen  sich  weniger 
leicht  auf  eine  so  einfache  Anschauung  bringen,  wie  sie 
zur  schematischen  Bezeichnung  unserer  Denkform  erwünscht 
ist.  Auch  die  Naturwissenschaft  könnte  wenigstens  An- 
näherndes darbieten.  Für  analog  zusammengesetzte  Körper, 
in  denen  die  verschiedenen  chemischen  Elemente  die  Stelle 
der  Coordinaten  und  der  Constanten  vertreten,  würde  die 
Chemie  constitutive  Gleichungen  besitzen,  wenn  es  ihr 
gelänge,  durch  ihre  Formeln  nicht  nur  die  Mengenpropor- 
tionen der  Bestandtheile,  sondern  auch  genauer,  als  es  jetzt 
ihre  schematischen  Andeutungen  thun,  die  Regel  der  Grup- 
pirung  der  Atome  und  das  allgemeine  Verhalten  ihrer 
Wechselwirkungen  auszudrücken. 

118.  Den  Einwand  nun,  daß  auch  dieses  ganze  Ver- 
fahren volle  Wirksamkeit  nur  in  der  Mathematik  habe,  geben 
wir  zu,  wie  früher,  weisen  den  damit  versuchten  Tadel 
ebenso  zurück  und  beleuchten  ihn  näher  nur  zu  dem  Zweck, 
den  Hinweg  zu  neuen  Ergänzungen  des  noch  Vermißten  zu 
finden.  Es  ist  wahr,  daß  der  scheinbare  Reichthum  der 
Entwicklung  aus  geometrischen  Gleichungen  logisch  be- 
trachtet mehr  blendend  als  wahrhaft  ist.  Wir  bestimmen 
die  Gestalt  der  Curve,  indem  wir  der  einen  Coordinate  x 
beliebige  Werthe  geben,  die  zugehörigen  Werthe  von  y 
aus  der  Gleichung  berechnen  und  dann  die  Endpunkte  der 
rechtwinklig  auf  den  Endpunkten  der  x  aufgerichteten  y 
durch  einen  stetigen  Zug  zu  einer  Linie  verbinden;  die 
Curve  ist  daher  nur  der  geometrische  Ort,  in  welchem  die 
unzähligen  Ergebnisse  einer  unzähligemal  wiederholten  Pro- 
portion zwischen  verschiedenen  Werthen  der  Coordinaten 
sich  zusammenfinden.  Die  neuen  Eigenschaften  aber,  die 
wir  nun  daraus  schließen:  Concavität,  gleichförmige  oder 
ungleichförmige  Krümmung,  Geschlossenheit  oder  Offenheit, 
Neigung  oder  Steigung  der  Curve  nach  dieser  oder  jener 
Seite,  diese  alle  sehen  zwar  zunächst  aus  wie  neue  Merk- 
male, sind  aber  doch  im  Grunde  auch  nur  Größen-  und 
Lagenverhältnisse  von  Raumgebilden,  zwischen  andern  Be- 
ziehungspunkten zwar,  aber  sonst  von  derselben  Natur,  wie 
die  vorausgesetzten  zwischen  den  Coordinaten.  Man  ge- 
langt hier  nicht  von  einer  Proportion  zwischen  zwei  Merk- 
malen X  und  y  zur  Bestimmung  wahrhaft  neuer,  qualitativ 
mit  jenen  unvergleichlicher  Merkmale,  sondern  man  schreitet 
nur  von  gleichartigen  gegebenen  Verhältnissen  zu  gleich- 
artigen neuen  fort,  deren  Ableitbarkeit  aus  jenen  ebenso  wie 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     147 

ihre  scheinbare  Neuheit  nur  auf  der  Natur  des  Raumes  und 
auf  den  Regeln  beruht,  nach  denen  die  geometrische  An- 
schauung die  Beziehungen  zwischen  den  Elementen  des 
Raumes  der  allgemeinen  Gesetzlichkeit  der  arithmetischen 
Größen  unterworfen  hat.  Diese  Folgerungen  decken  daher 
lange  nicht  unser  Bedürfniß.  Wo  es  sich  nicht  um  bloße 
Größengebilde,  sondern  um  wirkliche  Gegenstände  handelt, 
die  eine  Menge  qualitativ  nicht  vergleichbarer  Merkmale  an 
sich  vereinigen,  und  wo  es  ferner  der  Wissenschaft  nicht 
gelingt,  diese  zunächst  unvergleichbaren  Bestandtheile  auf 
bloße  Zusammensetzungsverschiedenheiten  vergleichbarer 
zurückzuführen,  da  wird  das  Denken,  unter  diesen  er- 
schwerenden Umständen,  dennoch  eine  Form  suchen  müssen, 
die  annähernd  wenigstens  hier  dieselben  Vortheile  ver- 
spricht, welche  in  Bezug  auf  ihre  leichtere  Aufgabe  die 
Mathematik  vollständig  darbietet. 


119.  Die  Gruppe  der  mathematischen  Schlußformen 
endet  hier  naturgemäß,  nachdem  das,  was  sich  mathematisch 
nicht  bewältigen  läßt,  das  Disparate  der  Merkmale,  als  das 
nothwendig  in  Betracht  zu  ziehende  Element  ausdrücklich 
hervorgehoben  ist.  An  die  Stelle  der  Gleichung  wird  äußer- 
lich die  Form  der  Definition  treten,  welche  eine  Anzahl 
verschiedenartiger  Merkmale  zu  einem  Ganzen  verbindet, 
zwischen  ihnen  aber  eine  Gruppe  wesentlicher  von  einer 
andern  unwesentlicher  unterscheidet,  in  der  ersten  das 
Gesetz  für  die  Verbindung  des  Ganzen  als  gegeben  be- 
trachtet, die  andern  aber  nach  Maßgabe  dieses  Gesetzes  von 
ihnen  abhängig  und  bestimmbar.  Gefunden  werden  kann 
endlich  diese  bevorzugte  Gruppe  der  wesentlichen  Merk- 
male nur  durch  Vergleichung  des  gegebenen  Begriffs  mit 
seines  Gleichen;  so  werden  wir  zu  systematischen  Formen 
der  Zusammenstellung  des  Verschiedenen  und  zunächst  zur 
Classification  getrieben. 


10=» 


148  Drittes  Kapitel. 


C.  Die  systematischen  Formen. 

Die  Classification.  —  Die  erklärende  Theorie.  —  Das  dialektische 
Ideal  des  Denkens. 

120.  Am  Eingange  des  Weges,  auf  den  wir  jetzt  ver- 
wiesen sind,  standen  wir  schon  einmal,  bei  der  ersten  Er- 
wägung der  Bildung  unserer  Begriffe.  Schon  damals  sahen 
wir  in  dem  Inhalt  einer  Vorstellung  ein  Ganzes  verschiedener 
Merkmale,  die  durch  eine  bestimmte  Regel  ihres  Zusammen- 
hanges verbunden  sind;  schon  damals  glaubten  wir  diese 
Regel  nur  in  demjenigen  Merkmalbestande  zu  finden,  der 
verschiedenen  vergleichbaren  Vorstellungsinhalten  gemein- 
sam zukam,  und  vorgreifend  haben  wir  bereits  dort  der  auf- 
steigenden Stufenreihe  immer  höherer  Allgemeinbegriffe  ge- 
dacht, welche  aus  der  Fortsetzung  dieser  Vergleichung  des 
Vergleichbaren  entspringt.  Vorgreifend,  denn  die  später 
entwickelten  Formen  der  logischen  Thätigkeit  haben  das 
dort  Angedeutete  noch  nicht  benutzt.  In  den  Urtheilen 
und  in  den  Schlüssen,  die  sich  auf  Subsumption  gründen, 
ist  stets  nur  das  eine  Verhältniß  in  Betracht  gezogen  worden, 
welches  zwischen  einem  Begriffe  S  und  seinem  nächst- 
höheren Allgemeinen  M  besteht;  dies  M  selbst  in  seine 
Beziehungen  zu  den  höheren  Stufen  der  ihm  übergeordneten 
Begriffsreihe  zu  verfolgen,  war  keine  Veranlassung.  Denn 
immer  kam  es  nur  darauf  an,  ein  Prädicat  P,  welches  aus 
irgend  einem  Grunde  einem  M  zugehört,  auch  jedem  S 
zu  sichern,  welches  in  den  Umfang  des  M  fällt.  Für  diesen 
Zweck  war  die  logische  Bildung  des  M  selbst  in  großer  Aus- 
dehnung gleichgültig;  man  nannte  es  zwar  Mittelbegriff, 
aber  es  brauchte  in  nichts  das  Gepräge  eines  Begriffs  zu 
tragen;  jedes  einfache  Merkmal,  jede  Summe  mehrerer, 
gleichviel  ob  nach  einer  bestimmten  Regel  verbunden,  oder 
nur  überhaupt  zusammengedacht,  war  gut  genug,  um  jenen 
Mittelbegriff  zu  bilden.  Erst  die  letzten  Betrachtungen,  die 
ich  hier  nicht  wiederhole,  haben  uns  auf  die  Nothwendigkeit 
zurückgeführt,  unter  dem  Mittelbegriff,  aus  dem  wir  die 
Berechtigung  und  Verpflichtung  eines  Subjects  zum  Besitz 
seiner  Merkmale  herleiten,  nur  jenen  schon  damals  im 
Sinne  gehabten  Begriff  zu  verstehen,  der  in  Wahrheit  die 
vollständige  Regel  der  Zusammengehörigkeit  und  Gliederung 
des  ganzen  in  jenem  Subject  vorliegenden  Inhalts  bildet. 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    149 

121.  Wir  kehren  hiermit  nicht  einfach  zu  einem  früheren 
Standpunkte  zurück.  Wenn  die  Logik  die  ursprünglichsten 
und  einfachsten  Formen  des  Denkens  überlegt,  kann  sie 
die  Ergebnisse  derselben  fast  immer  nur  an  Beispielen  ver- 
deutlichen, welche  bereits  mehr  logische  Arbeit  enthalten, 
als  sie  an  ihnen  veranschaulichen  will.  Denn  der  Schatz, 
aus  dem  sie  diese  Beispiele  entnehmen  muß,  ist  die  Sprache, 
und  diese  ist  nicht  der  Ausdruck  eines  in  seinem  Beginn 
stehen  gebliebenen,  sondern  des  ausgebildeten  Denkens, 
welches  durch  eine  Menge  nacheinander  gethaner  Schritte 
über  die  unvollkommenen  Ergebnisse  seiner  ersten  An- 
strengungen hinausgekommen  ist  und  nun  die  Erinnerung 
an  sie  unter  der  erlangten  vollkommneren  Fassung  seiner 
Gegenstände  verbirgt.  Deshalb  kann  es  scheinen,  als  wäre 
bereits  an  jener  früher  erwähnten  Stelle  das,  was  wir  hier 
suchen,  die  Bildung  eines  wesentlichen  Begriffs,  geleistet; 
aber  was  wir  dort  als  Beispiel  brauchten,  war  nicht  schon 
durch  diejenigen  logischen  Handlungen  entstanden,  die  wir 
damals,  sondern  entsteht  erst  durch  die,  welche  wir  hier^ 
im  Uebrigen  freilich  sehr  bekannte  Verfahrungs weisen,  an 
ihrem  systematischen  Ort  zu  betrachten  haben.  Der  un- 
ermeßlichen Mannigfaltigkeit  zusammengesetzter  Bilder, 
welche  die  Wahrnehmung  darbietet,  stand  damals  das 
Denken  mit  dem  Verlangen  gegenüber,  jedes  Einzelne  als 
ein  Ganzes  nach  bestimmten  Gesetz  verknüpfter  Theile  zu 
fassen,  und  mit  dem  Bewußtsein,  dies  Gesetz  nur  durch  Ver- 
gleichung  vieler  vergleichbaren  Einzelnen  und  durch  Fest- 
haltung des  ihnen  allen  Gemeinsamen  finden  zu  können. 
Aber  der  nützliche  Erfolg  dieser  Vergleichung  hing  davon 
ab,  ob  die  vergleichende  Aufmerksamkeit  auf  eine  Anzahl 
von  Gegenständen  S  R  T  gelenkt  wurde,  deren  Gemein- 
sames wirklich  in  dem  durchdringenden  Gesetz  ihrer  ganzen 
Bildung  bestand,  und  nicht  auf  eine  Anzahl  anderer,  U  V  W, 
die  in  allem  Uebrigen  völlig  verschieden,  nur  eine  be- 
schränkte Merkmalgruppe  mit  einander  theilen.  Für  diese 
auswählende  Richtung  der  Aufmerksamkeit  gab  es  an  jenem 
Anfang  des  Denkens  keine  logische  Regel;  sie  wurde  da- 
gegen sehr  wirksam  schon  damals  durch  den  psychischen 
Mechanismus  gesichert,  welcher  ganz  überwiegend  die- 
jenigen zusammengesetzten  Vorstellungen,  die  in  der  Total- 
form ihres  Zusammenhangs  ähnlich  sind,  einander  in  der 
Erinnerung  reproduciren  läßt,  und  vorzugsweise  sie,  nicht 
aber  die  unähnlich  gebildeten  und  nur  in  einzelnen  Merk- 


150  Drittes  Kapitel. 

malgruppen  übereinstimmenden,  jener  vergleichenden  Auf- 
merksamkeit empfiehlt. 

122.  Im  Laufe  seiner  Ausbildung  nimmt  daher  das 
Denken  in  der  That  seine  Richtung  zuerst  auf  solche  All- 
gemeinbegriffe, welche  wirklich  das  durchdringende  Bil- 
dungsgesetz der  Einzelnen  enthalten,  für  die  sie  gesucht 
werden;  Allgemeinheiten  dagegen,  welche  sonst  Unähnliches 
unter  eine  Minderheit  gleicher  Bestandtheile  unterordnen, 
pflegen  erst  für  gewisse  Zwecke  der  Untersuchung  auf- 
gestellt zu  werden.  Als  wir  von  der  ersten  Bildung  der 
Begriffe  sprachen,  schienen  uns  deshalb  die  landläufigen 
Beispiele,  die  Unterordnung  des  Cajus  und  Titus  unter  den 
Begriff  des  Menschen,  die  der  Eiche  und  Buche  unter  den 
der  Pflanze,  vollkommen  natürlich  und  selbstverständlich; 
es  war,  als  wenn  nichts  außer  der  bloßen  Anweisung,  das 
Gemeinsame  von  Einzelheiten  festzuhalten,  dazu  gehöre, 
um  die  Richtung  auf  diese  wirklich  gesetzgebenden  Gattungs- 
begriffe M  von  selbst  zu  finden.  Gleichwohl  hätte  nichts 
gehindert,  nach  derselben  Anweisung  für  Neger  Kohle  und 
schwarze  Kreide  einen  Gesammtnamen  N  zu  erfinden, 
welcher  die  Vereinigung  von  Schwärze  Ausdehnung  Theil- 
barkeit  Gewicht  und  Widerstand  ausgedrückt  hätte ;  die  An- 
triebe des  psychischen  Mechanismus  begünstigten  aber  nur 
die  erste  und  hinderten  die  zweite  dieser  Anwendungen  der 
logischen  Vorschrift. 

123.  Unsere  jetzige  Aufgabe  geht  nun  dahin,  eben  diese 
Antriebe,  welche  bisher  unbewußt  uns  auf  den  Weg  des 
Richtigen  brachten,  in  logische  Thätigkeit  zu  verwandeln, 
uns  also  der  Gründe  bewußt  zu  werden,  durch  welche  wir 
uns  rechtfertigen,  wenn  wir  ausschließlich  einen  bestimmten 
Allgemeinbegriff  M  als  die  gesetzgebende  Regel  für  die 
Bildung  einer  Anzahl  von  Einzelnen  aufstellen,  nicht  aber 
einen  andern  N,  auf  den  uns  eine  anders  geleitete  Ver- 
gleichung  derselben  Einzelnen  auch  hätte  führen  können. 
Nun  hat  uns  die  Logik  verschiedene  Verhältnisse  einer  nur 
einseitigen  Abhängigkeit  zwischen  mehreren  Beziehungs- 
punkten kennen  gelehrt;  aus  der  Geltung  des  Allgemeinen 
floß  die  des  Besonderen,  nicht  aus  der  des  Besondern  auch 
die  des  Allgemeinen;  von  einem  bestimmten  Grunde  ließ 
sich  stets  auf  eine  bestimmte  Folge  schließen,  aber  eine  ge- 
gebene Folge  führte  nicht  nothwendig  nur  auf  einen  Grund 
zurück,  sondern  möglicherweise  auf  verschiedene  gleich- 
werthige.     Wenden  wir  dies  auf  die  Gliederung  eines  Be- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     151 

griffsinhaltes  an,  so  gibt  es  in  ihm  Merkmale  a  b  c,  deren 
Vorhandensein  einen  bestimmenden  Einfluß  auf  Gegenwart 
Abwesenheit  oder  Modification  anderer  ausübt;  das  Vor- 
kommen dieser  andern  aber,  a  ß  y,  bedingt  seinerseits 
nicht  nothwendig  jene,  sondern  ist  verträglich  auch  mit 
andern^  p  q  r.  Hierauf  beruht  der  früher  schon  eingeführte 
Unterschied  der  wesentlichen  Merkmale  a  b  c  von  den 
•unwesentlichen  a  ß  y;  nur  in  der  Vereinigung  der  ersten 
könnte  der  gesetzgebende  Begriff  der  verglichenen  Einzelnen 
gesucht  werden,  denn  nur  diese  Vereinigung  bestimmt  auch 
die  übrigen  Merkmale  und  schließt  daher  nur  solche  Einzelne 
ein,  die  in  ihrem  ganzen  Bau  einander  verwandt  sind;  die 
Gruppe  der  letzteren  Merkmale  dagegen  ließe  die  ersten 
unbestimmt  und  würde  deshalb,  als  Allgemeines  gedacht, 
eine  Menge  sonst  in  jeder  Rücksicht  verschiedener  Einzel- 
heiten unter  sich  befassen. 

124.  Darauf  käme  es  mithin  an,  jene  wesentlichen  von 
diesen  unwesentlichen  Merkmalen  zu  unterscheiden.  Dies 
ist  leicht,  so  lange  wir  mit  Gegenständen  zu  thun  haben, 
die  wir  in  verschiedenen  Zuständen  beobachten  können; 
von  selbst  sondern  sich  hier  die  veränderlichen  Eigen- 
schaften, die  unter  wechselnden  Bedingungen  kommen  und 
gehen,  von  dem  bleibenden  Bestand  des  Wesentlichen  ab. 
Es  ist  anders,  wenn  die  Möglichkeit  solcher  Beobachtungen 
fehlt,  und  mit  Ausschluß  veränderlicher  Zustände  sich  unser 
Verlangen  darauf  richtet,  zwischen  bleibenden  und  unver- 
änderlichen Merkmalen  desselben  Begriffsinhaltes  einen 
Unterschied  wesentlicher  von  unwesentlichen  zu  finden; 
wir  müssen  dann  die  Beobachtung  der  Veränderungen  durch 
Vergleichung  verschiedener  Beispiele  ersetzen.  Sei  nun 
a  b  c  d  der  Merkmalbestand  des  einen  gegebenen  Begriffes, 
so  kann  in  einem  zweiten  Beispiel  d  nicht  fehlen  oder 
durch  ein  ganz  anders  gestaltetes  b  nicht  ersetzt  werden, 
ohne  daß,  bei  der  vorauszusetzenden  Zusammengehörigkeit 
aller  Theile  des  Begriffsinhaltes,  auch  die  übrigen  Merk- 
male eine  Veränderung  erfahren;  ich  bezeichne  nun  das 
zweite  Beispiel  mit  a^  b^  c^  b,  um  anzudeuten,  daß  durch 
die  Variation  des  d  in  b  keines  der  allgemein  ausgedrückten 
anderen  Merkmale  ganz  zu  Grunde,  jedes  vielmehr  nur  aus 
einer  seiner  möglichen  Modificationen  in  eine  andere  über- 
geht, die  Form  der  Verbindung  aller  aber  die  nämliche 
bleibt.  In  diesem  Falle  gehört  d  nicht  zu  den  wesentlichen 
Merkmalen,  sondern  die  Gruppe  ABC,  welche  abc  ufnd 
a^  b^  c^  als  Modificationen  unter  sich  befaßt,  ist  diejenige. 


152  Drittes  Kapitel. 

welche  die  Gliederung  des  Begriffsinhaltes  beherrscht.  Aber 
dieser  erste  Schritt  lehrt  uns  nur  das  thatsächliche  Zu- 
sammenbleiben, nicht  das  innerliche  Zusammengehören  der 
in  ABC  vereinigten  Merkmale ;  der  Werth,  den  die  einzelnen 
Bestandtheile  dieser  Gruppe  haben,  kann  sehr  verschieden 
sein;  möglich,  daß  nur  AB  oder  AC  oder  BC  das  eigentliche 
Bildungsgesetz  des  Ganzen  enthalten,  das  dritte  Merkmal 
dagegen  nur  die  nothwendige  Folge  oder  ein  zulässiger  Zu- 
satz zu  den  beiden  andern  ist.  Zur  Entscheidung  dieses 
Zweifels  bleibt  dem  Denken,  das  hier  noch  nicht  auf  die 
sachliche  Untersuchung  des  Gegenstandes  mit  allen  Hülfs- 
mitteln  der  Erkenntniß  eingehen  kann,  nur  die  Fortsetzung 
desselben  Verfahrens  übrig.  Auch  ABC  haben  wir  mit 
Beispielen  der  Form  ABT  zu  vergleichen;  ist  mit  dem 
Unterschied  des  letzten  Merkmals  auch  hier  nur  das  oben- 
gedachte Maß  der  Abweichung  in  den  übrigen  verbunden, 
und  bleibt  die  Verknüpfungsweise  des  Ganzen  dieselbe,  sd 
wird  das  Zusammensein  und  das  Verhältniß  von  A  und  B 
die  beherrschende  Regel  des  ursprünglich  gegebenen  abcd 
sein,  oder  die  Vereinigung  der  wesentlichen  Merkmale  dar- 
stellen, von  denen  das  Vorhandensein  der  übrigen  entweder 
zugelassen  oder  gefordert,  in  jedem  Falle  ihre  Größe  Ver- 
knüpfung und  Verhalten  zu  dem  Ganzen  bedingt  wird. 
Denkt  man  sich  dies  Verfahren  fortgesetzt,  so  ist  es  der 
Weg  der  Classification,  auf  den  wir  verwiesen  sind. 
Nicht  mehr  die  Betrachtung  des  Einzelnen  reicht  uns  hin, 
um  seinen  Begriff  festzustellen,  sondern  nur  diese  erste  der 
systematischen  Formen,  durch  welche  wir  seine  Natur 
in  ihren  Verhältnissen  zu  anderen  untersuchen  und  aus  der 
Stelle,  welche  es  in  einer  geordneten  Reihe  einnimmt,  den 
Grad  der  bedingenden  Kraft  beurtheilen,  welche  seine  ein- 
zelnen Merkmale  auf  die  Gestaltung  seiner  ganzen  Natur 
und  seines  Verhaltens  ausüben.  Derjenige  innere  Kreis 
von  Merkmalen  erscheint  uns  als  das  gesetzgebende  Princip 
seiner  Gestaltung,  der  am  längsten  und  unverändert  in 
seiner  allgemeinen  Form  beisammen  bleibt,  wenn  wir  durch 
das  nächstliegende  Allgemeine  zu  immer  höheren  Allgemein- 
heiten aufsteigen,  und  wir  begreifen  die  Natur  des  Be- 
sonderen  nur  dann  vollständig,  wenn  wir  uns  in  einer 
umgekehrten  Reihenfolge,  die  der  Stufenleiter  dieser  All- 
gemeinheiten entspricht,  zu  jenem  höchsten  Gestaltungs- 
princip  neue  Bestimmungsstücke  hinzutreten  denken,  auf 
welche  dies  seine  rückwirkende  Kraft  ausdehnt. 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    153 

125.  Das  Verlangen,  durch  diese  systematische  Zu- 
sammenordnung Aufklärung  über  das  innere  Gefüge  des 
Zusammengestellten  zu  erhalten,  liegt  jeder  wissenschaft- 
lichen Classification  zu  Grunde,  doch  wird  es  nicht  von 
jeder  Form  derselben  gleichmäßig  befriedigt;  ehe  ich  zu 
der  Gestalt  derselben  übergehe,  die  unseren  Zwecken  hier 
allein  dient,  erwähne  ich  deshalb  kurz  als  eine  Vorstufe 
die  künstlichen  oder  combinatorischen  Classifica- 
tionen, die  mehr  dem  allgemeinen  Bedürfniß  nach  Klarheit 
und  Uebersicht  und  einzelnen  besonderen  Aufgaben  des» 
angewandten  Denkens  entsprechen.  Den  Inhalt  eines  ge- 
gebenen Allgemeinbegriffs  M  zerfallen  wir  durch  Partition 
zunächst  in  seine  allgemeinen  Merkmale  AB  C  ...  und 
jedes  von  diesen  durch  Disjunction  in  seine  verschiedenen, 
an  demselben  Subject  einander  ausschließenden  Modifica- 
tionen,  A  in  a^  a,^  a^ . . .,  B  in  b^  b2  b^ . . .,  C  in  c^  c^  c^. 
Nach  dem  Grundsatz  des  disjunctiven  Urtheils  muß  nun 
jede  Art  des  M  von  jedem  der  allgemeinen  Merkmale  des 
M  eine  Modification  mit  Ausschluß  der  übrigen  besitzen; 
beschränken  wir  uns  der  Einfachheit  halber  auf  zwei  Merk- 
male, deren  eines  A  nur  in  zweigliedrige  Disjunction  a 
und  b,  das  andere  B  in  die  dreigliedrige  a  ß  und  y  zer- 
fällt, so  werden  die  in  bekannter  Weise  erhaltenen  binären 
Combinationen  aa  aß  a^  ba  bß  by  alle  denkbaren  Arten 
des  M  einschließen.  Wir  stellen  endlich  ihre  Gesammtheit 
übersichtlicher  dar,  wenn  wir  die  Modificationen  des  einen 
Merkmals,  welches  dann  den  Eintheilungsgrund  der  Classi- 
fication bildet,  so  wie  oben  geschehen  oder  in  der  Form 
M  =  a(a-)-ß-|-T)  +  b(a  +  ß-fT)  den  übrigen  Merkmalen 
vorangehen  lassen.  Man  hat  das  einfachste  Beispiel  dieser 
Classification  in  der  Anordnung  der  Wörterbücher;  die  un- 
veränderliche Reihenfolge  der  Buchstaben  im  Alphabet  liefert 
hier  nicht  nur  den  ersten,  sondern  immer  wiederholt  auch 
die  untergeordneten  Eintheilungsgründe  für  die  zahlreichen 
Combinationen,  die  in  jeder  durch  den  Anfangsbuchstaben 
eingeführten  Gruppe  enthalten  sind.  Der  an  sich  deutliche 
Nutzen  dieser  lexicalischen  Classification,  nicht  nur  alle 
Worte  der  Sprache,  mithin  alle  Glieder  des  einzutheilenden 
Gegenstandes  vollständig  zu  umfassen,  sondern  auch  ihre 
Auffindung  leicht  zu  machen,  dieser  erste  Nutzen  der  Ueber- 
sichtlichkeit  ist  allen  gelungenen  Versuchen  combinatorischer 
Classification  gemeinschaftlich;  über  diese  Leistung  hinaus, 


154  Drittes  Kapitel. 

dagegen  tragen  sie  in  sehr  verschiedenem  Maße  zur  Keniit- 
niß  der  eigentlichen  Natur  ihrer  Objecte  bei. 

126.  Man  bemerkt  zuerst,  daß  dies  combinatorische  Ver- 
fahren die  Merkmale  des  gegebenen  Begriffs  nur  vereinzelt, 
nicht  aber  die  wechselseitige  Determination  berücksichtigt, 
in  welcher  sie  erst  den  Begriff  wirklich  bilden.  Die  Ge- 
sammtheit  der  gefundenen  Combinationen  schließt  daher 
zwar  alle  Arten  des  M  ein,  kann  aber  außer  ihnen  noch 
andere  enthalten,  die  nur  gültig  sein  würden,  wenn  der 
Begriff  blos  eine  Summe  seiner  Merkmale  wäre,  aber  un- 
gültig sind,  weil  er  eine  bestimmte  Form  der  Vereinigung 
derselben  befiehlt,  welcher  sie  widersprechen.  Der  Begriff 
des  Dreiecks  besteht  nicht  darin,  daß  wir  drei  Winkel  und 
drei  Seiten  denken,  sondern  darin,  daß  drei  Seiten  sich 
zur  völligen  Begrenzung  eines  ebenen  Raumes  schneiden 
und  eben  hierdurch  jene  Winkel  erzeugen.  Durch  diesen 
Zusammenhang  der  Seiten  und  Winkel  werden  gleichwinklig 
ungleichseitige  und  rechtwinklig  gleichseitige  Dreiecke  un- 
möglich; die  blos  combinatorische  Classification  würde  sie 
neben  den  gleichwinklig  gleichseitigen,  den  rechtwinklig 
gleichschenkligen  und  den  übrigen  möglichen  Arten  mit  auf- 
geführt haben.  Ist  der  Inhalt  des  M  vollständig  bekannt, 
wie  in  diesem  Beispiele,  und  einer  genauen  Construction 
zugänglich,  so  scheidet  die  Kenntniß  der  Sache  diese  un- 
möglichen Glieder  aus;  ihre  vorläufige  Aufstellung  hätte 
nur  den  Nutzen  gehabt,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Natur 
des  M  und  auf  die  Gründe  zu  schärfen,  welche  die  gültigen 
Arten  möglich,  diese  ungültigen  unmöglich  machen.  Ist 
dagegen  M  ein  der  Erfahrung  verdankter  Gattungsbegriff, 
dessen  innere  Gliederung  nur  unvollständig  durch  Beschrei- 
bung, nicht  genau  durch  Construction  angebbar  ist,  so 
bleiben  die  in  Wirklichkeit  nicht  beobachteten  Arten,  auf 
welche  das  combinatorische  Verfahren  geführt  hätte,  nur 
zweifelhaft;  der  Fortschritt  der  Beobachtung  kann  sie  noch 
entdecken,  der  Fortschritt  der  sachlichen  Erkenntniß  ihre 
Unmöglichkeit  nachweisen;  zu  einem  von  beiden  angeregt 
zu  haben,  kann  auch  hier  der  Nutzen  ihrer  vorläufigen  Auf- 
stellung sein. 

127.  Ist  nun  das  combinatorische  Verfahren  in  Bezug 
auf  Erfahrungsgegenstände  diesem  zweifelhaften  Ueberschuß 
seiner  Ergebnisse  über  das  Wirkliche  ausgesetzt,  so  hat  es 
anderseits  in  seiner  gewöhnlichen  Anwendung  auch  keine 
Bürgschaft  der  Vollständigkeit.  Es  ist  für  menschliche  Eiii- 
bildimgskraft  unausführbar,  alle  Modificationcn.  denen  ein 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    155 

Merkmal  p  unterworfen  sein  kann,  vollständig  im  Voraus 
zu  unterscheiden;  unsere  Aufmerksamkeit  wird  sich  immer 
auf  diejenigen  pi  p^  p3  beschränken,  die  uns  in  irgend  einer 
Beobachtung  gegeben  sind ;  eine  andere  Modification  p-, 
die  in  unserem  Erfahrungskreise  nicht  vorkommt,  wird 
sammt  allen  den  iVrten,  an  denen  sie  vielleicht  bestehen 
kann,  auch  in  unserer  Classification  fehlen,  und  späterer 
Zuwachs  der  Erfahrung  erst  wird  diese  Lücke  füllen.  Dieser 
Umstand  ist  der  Grund  einer  logischen  Regel,  die  von  Werth 
ist,  wo  es  sich  zur  Entscheidung  einer  Frage  um  er- 
schöpfende Kenntniß  aller  Fälle  handelt,  die  es  in  Bezug 
auf  irgend  ein  Z  geben  kann:  man  führt  ihre  Eintheilüng 
und  Aufstellung  durch  lauter  contradictorisch  entgegen- 
gesetzte Eintheilungsglieder  hindurch.  Die  Summe  aller 
möglichen  Fälle  von  Z  ist  immer  von  der  Natur  Q  oder  der 
entgegengesetzten  Non  Q ;  die  Fälle  von  der  Form  Q  immer 
entweder  R  oder  Non  R,  die  Fälle  Non  Q  immer  entweder  S 
oder  Non  S,  so  daß  diese  Eintheilüng  an  jeder  Stelle,  wo 
man  ihre  weitere  Fortsetzung  abbricht,  die  Anzahl  aller 
möglichen  Fälle  vollständig  enthält.  Fruchtbar  freilich  wird 
dies  Verfahren  nur  dann,  wenn  man  entweder  die  ersten 
Gegensätze  Q  und  Non  Q,  oder  alle  in  gleichem  Abstand 
ihnen  untergeordneten,  also  S,  Non  S,  R,  glücklich  gen-ug 
zu  wählen  im  Stande  ist,  um  für  jeden  dieser  Fälle  einzeln 
das  Stattfinden  oder  Nichtstattfinden  des  fraglichen  Ver- 
haltens Z  aus  leicht  zugänglichen  Gründen  zu  beweisen. 

128.  Es  ist  ferner  ersichtlich,  daß  es  keine  logische 
Regel  geben  kann,  nach  welcher  die  combinatorische  Classi- 
fication bestimmte  Merkmale  als  oberste  Eintheilungsgründe 
für  die  Unterscheidung  der  Hauptgruppen,  andere  nur  als 
untergeordnete  für  die  Unterabtheilungen  der  Hauptgruppen 
benutzen  müßte.  So  lange  der  einzutheilende  Begriff  M 
nur  als  eine  Summe  seiner  Merkmale  ohne  Rücksicht  auf 
deren  gegenseitige  Beziehungen  angesehen  wird,  hat  jedes 
von  diesen  das  Recht,  durch  seine  Modificationen  die  Haupt- 
eintheilung  zu  geben,  jedes  andere  kann  ihm  als  Neben- 
eintheilungsgrund  untergeordnet  werden.  Die  offenbaren 
Unzuträglichkeiten  dieser  Unbestimmtheit  werden  in  der 
wirklichen  Anwendung  der  Classification  durch  nebenher- 
gehende Ueberlegung,  durch  eine  Schätzung  des  verschic: 
denen  Werthes  der  Merkmale  vermieden,  welche  auf  Kennt- 
niß der  Sache,  auf  richtigem  Gefühl,  oft  nur  auf  einem  er- 
rathenden  Geschmacke  beruht;  die  Logik  kommt  diesen  Be: 


156  Drittes  Kapitel. 

mühungen  nur  durch  die  allgemeine  Vorschrift  zu  Hülfe, 
nicht  notiones  communes,  nämlich  nicht  solche  Merkmale 
zu  Eintheilungsgründen  zu  wählen,  welche  bekanntermaßen 
an  den  allerverschiedenartigsten  Gegenständen  vorkommen, 
ohne  einen  erkennbaren  Einfluß  auf  deren  übrige  Natur  zu 
äußern.  Aber  was  zu  diesem  Verbote  als  bejahende  An- 
weisung gehören  würde,  wie  man  nämlich  die  entscheiden- 
den Eintheilungsgründe  zu  finden  habe,  überläßt  sie  doch 
völlig  der  jedesmaligen  sachlichen  Kenntniß.  Und  diese 
hat,  wenigstens  in  Bezug  auf  mannigfach  zusammengesetzte 
Gegenstände  der  Wirklichkeit,  so  lange  sie  einzelne  xMerk- 
male  zu  maßgebenden  Eintheilungsgründen  machte,  niemals 
den  Vorwurf  vermeiden  können,  nächstverwandte  Arten  zu- 
weilen an  verschiedene  oft  sehr  entlegene  Stellen  des 
Systems  auseinander  gerissen,  andere  in  ihrem  ganzen  Ver- 
halten auffallend  verschiedene  in  eine  befremdliche  Nach- 
barschaft aneinander  gerückt  zu  haben.  Dies  ist  sehr  be- 
greiflich bei  der  Verschiedenwerthigkeit  der  Merkmale  für 
den  Bau  des  ganzen  Begriffsinhaltes.  Nichts  hindert  z.  B., 
daß  das  Merkmal  B,  so  lange  es  in  der  Modification  b  vor- 
kommt, einen  vorwiegenden  Einfluß  auf  die  Bildung  des 
Ganzen  ausübt,  und  dann  werden  alle  diesem  Index  b  unter- 
geordneten Arten  unter  einander  form  verwandt  bleiben ;  aber 
dasselbe  Merkmal  kann  diesen  bestimmenden  Einfluß  ganz 
verlieren,  sobald  es  in  der  Modification  ß  in  die  übrige 
Merkmalgruppe  eintritt;  dann  folgen  die  dem  ß  als  Index 
untergeordneten  Arten  allen  den  Schwankungen,  welche  die 
jetzt  einflußreich  gewordene  Verschiedenheit  der  anderen 
Bestandtheile  A  C  D  mit  sich  führt,  und  die  sonst  unähn- 
lichsten Beispiele  des  einzutheilenden  M  finden  sich  nun  in 
nächster  Nachbarschaft  vereinigt.  So  ist  es  dem  botanischen 
System  Linne's  begegnet,  welches  die  Anzahl  der  Staub- 
fäden zum  Eintheilungsgründe  wählte;  da  wo  der  ganze 
Organisationsplan  der  Pflanze  diesem  Bestandtheil  Wichtig- 
keit gab,  fanden  sich  auch  nach  dieser  Auffassung  die  ver- 
wandten Arten  zusammen;  sie  wurden  zerrissen  im  ent- 
gegengesetzten Fall  und  das  Verschiedenartige  verbunden. 
Der  sachkundige  Geschmack  begegnet  auch  diesem  Uebel- 
stande  theilweis  dadurch,  daß  er  für  verschiedene  Ab- 
theilungen des  ganzen  Systems  verschiedene  Eintheilungs- 
gründe wählt.  Nur  eine  übel  angebrachte  logische  Pedanterie 
könnte  verlangen,  daß  in  einem  Systeme,  welches  seinen 
ganzen  Gegenstand  zuerst  nach  den  Modificationen  a  b  c 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    157 

des  einen  Merkmals  A  gespalten  hätte,  dann  jede  der  durch 
a  oder  b  oder  c  eingeführten  Gruppen  nach  den  Modifica- 
tionen  eines  und  desselben  zweiten  Merkmals  B  weiter 
gegliedert  werde;  vielmehr  können  für  die  Gruppe  mit  a  die 
Variationen  eines  Merkmals  C,  für  die  mit  b  die  Variationen 
eines  vierten  Merkmals  D  ausschließlich  wichtig  werden, 
und  die  Classification,  welche  nach  diesem  Gesichtspunkt 
verfährt,  nähert  sich  dadurch  nur  dem  wirklichen  Wesen 
der  Sache.  Die  Gefahr,  so  nur  unvollständig  alle  Arten 
zu  finden,  ist  auf  andere  Weise  zu  vermeiden;  die  Classi- 
fication schafft  nicht  das  vollständige  Material,  sondern 
setzt  seine  anderweit  verbürgte  Vollständigkeit  voraus. 

129.  Die  Classificationen  würden  ganz  der  angewandten 
Logik  angehören,  wenn  sie  nur  jene  Uebersichtlichkeit  und 
Vollständigkeit  bezweckten,  welche  entweder  eine  praktische 
Behandlung  ihrer  Gegenstände  oder  eine  nur  erst  beginnende 
logische  Betrachtung  derselben  verlangen  muß.  Aber  sie 
sind  mehr  als  solche  Vorbereitungen;  sie  stellen  selbst  ein 
logisches  Ideal  dar,  welches  in  der  systematischen  Reihen- 
folge der  Denkformen  seine  nothwendige  Stelle  hat ;  dadurch, 
daß  eine  Mannigfaltigkeit  in  den  Zusammenhang  eines 
Classensystems  gebracht  ist,  dadurch  allein  schon  soll  etwas 
über  die  Natur  aller  und  jedes  Einzelnen  gesagt  und  nicht 
blos  einer  künftigen  Untersuchung  vorgearbeitet  sein.  Wir 
bemerken  dies  an  den  Vorwürfen,  welche  wir  gegen  ge- 
zwungene Classificationen  richten;  nicht  allein  der  Weg, 
den  unsere  Aufmerksamkeit  nehmen  muß,  um  eine  be- 
stimmte Art  des  eingetheilten  Allgemeinen  aufzufinden,  soll 
durch  eine  genau  vorgezeichnete  Reihe  von  Begriffen  hin- 
durchgehen, sondern  die  Orte  selbst,  an  denen  wir  die 
einzelnen  Arten  antreffen,  sollen  in  ihren  Lagenbeziehungen 
den  eigenen  Verwandtschaften  derselben  entsprechen.  Für 
jene  praktischen  Absichten  genügt  jede  beliebige  Ordnung, 
welche  handgerecht  ist  für  den,  der  sich  ihrer  bedienen 
will;  das  logische  Verlangen  des  Denkens  geht  auf  eine 
solche,  die  sachgerecht  ist.  Nun  können  wir  die  vollständige 
Vorstellung  eines  zusammengesetzten  Inhalts  immer  hervor- 
bringen, gleichviel  von  welchem  seiner  Theile  wir  beginnen, 
so  lange  wir  nur  die  Hinzufügungen  jeder  neuen  Theilvor- 
stellung  zu  den  vorigen  zweckmäßig  nach  dem  gewählten 
Anfangspunkte  abändern.  Jede  so  geordnete  Vorstellung 
bildet  einen  Begriff  des  gegebenen  Denkinhaltes,  hin- 
länglich, um  ihn  von  anderen  zu  unterscheiden  und  seinen 
eigenen  Bestand  deutlich  zu  machen.    Unter  diesen  mancher- 


158  Drittes  Kapitel. 

lei  Begriffen  desselben  M  suchen  wir  nun  jenen  bevorzugten, 
welcher  von  dem  herrschenden  Gesetze  ausgeht,  dessen  Sinn 
die  Anordnung  aller  übrigen  Merkmale  bestimmt.  Con- 
stitutiven  Begriff  haben  wir  diesen  bevorzugten  genannt; 
man  könnte  ihn  im  Gegensatz  zu  der  Form  des  bloßen  Be- 
griffs überhaupt  die  logische  Idee  des  Gegenstandes  oder 
deutsch  seinen  Gedanken  nennen;  denn  so  unterscheidet 
unser  Sprachgebrauch  allenfalls  den  Gedanken  der  Pflanze 
oder  des  Organismus  überhaupt  als  das  bildende  Gesetz 
von  dem  bloßen  Begriffe,  welcher  den  vollen  Bestand  der 
nothwendigen  Merkmale  und  ihrer  thatsächlichen  Ver- 
knüpfungsform zusammenfaßt. 

130.  Es  wird  der  Anschaulichkeit  dienen,  hier  sogleich 
zweier  Nebenvorstellungen  zu  gedenken,  welche  sich  an 
diese  Aufsuchung  des  Gedankens  oder  der  Idee  eines  Gegen- 
standes überall  leicht  anknüpfen,  am  deutlichsten  aber  in 
jenen  naturgeschichtlichen  Classificationen,  welche  die 
künstliche  Anordnung  der  Pflanzen  und  Thiere  durch  Be- 
rücksichtigung der  natürlichen  Verwandtschaften  zu  ver- 
bessern suchen.  Die  allgemeine  Idee  des  Thieres  oder  der 
Pflanze  erscheint  uns  hier  leicht  als  eine  thätige  lebendige 
Kraft;  stets  sich  selbst  gleich  und  in  demselben  Sinne  wirk- 
sam führt  sie  zu  einer  Reihe  verschiedener  Gestaltungen, 
je  nachdem  außer  ihr  liegende  Bedingungen  einen  oder 
mehrere  ihrer  Angriffspunkte  feststellen  und  sie  so  nöthigen, 
nach  diesem  gegebenen  Anfangspunkte  die  Gesammtheit 
ihrer  Thätigkeit  abzuändern.  Sie  erscheint  uns  ferner  ebenso 
leicht  als  ein  sich  stets  gleichbleibender  Zweck,  der  seine  Ver- 
fahrungsweisen  nach  diesen  gegebenen  Beziehungspunkten 
abmißt  und  in  den  verschiedenen  Formen,  zu  denen  er 
durch  sie  getrieben  wird,  eine  und  dieselbe  Absicht  theils 
überhaupt  vielgestaltig,  theils  mehr  oder  minder  dem  Maße 
nach  erreicht.  Die  verschiedenen  Arten,  welche  die  Classi- 
fication zusammenordnet,  sind  dann  die  Ausdrücke  dessen, 
was  aus  der  Wechselwirkung  des  allgemeinen  Gedankens 
mit  den  besonderen  Beziehungspunkten  werden  muß,  die 
ihm  als  Allgemeinem  fremd  sind.  Man  wird  zugeben,  daß 
diese  Auffassungsweisen  der  Sache  eine  große  und  anschau- 
liche Deutlichkeit  verleihen,  aber  man  wird  hinzufügen,  daß 
beide  Gesichtspunkte  der  Logik  fremd  sind.  Dieser  Ein- 
wurf ist  unbestreitbar;  allein  unsere  Absicht  geht  nicht 
darauf,  die  Vorstellungen  des  wirkenden  Triebes  und  des 
Zweckes  für  die  Logik  zu  verwenden,  sondern  auf  den  Nach- 
weis, daß  eben  diese  beiden  Vorstellungen  auch  da,  wo  sie 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    159 

hingehören,  nur  unter  Voraussetzung  eines  rein  logischen 
Gedankens  etwas  bedeuten,  den  wir  an  dieser  Stelle  ver- 
deutlichen wollen.  -Soll  es  möglich  sein,  daß  derselbe  Zweck 
unter  wechselnden  Umständen  in  verschiedenartigen  Formen 
erfüllt  werde,  so  muß  es  auch  möglich  sein,  den  Inhalt 
desselben  durch  eine  Vorstellungsgruppe  Z  zu  bezeichnen, 
deren  Gefüge  diese  verschiedenen  Erfüllungsformen  als  mög- 
liche Arten  ihrer  selbst  enthält  und  als  nothwendige  Folge 
dann  hervorbringt,  wenn  man  der  Reihe  nach  jedem  ein- 
zelnen Merkmale  des  Z  und  jeder  Beziehung  zwischen 
mehreren  alle  Veränderungen  ertheilt,  die  jenes  und  diese 
innerhalb  der  gegebenen  Gesammtform  des  Z  erfahren 
können.  Soll  ein  thätiger  Trieb  unter  wechselnden  Be- 
dingungen seine  Wirksamkeit  ändern  und  in  neuen  Erzeug- 
nissen sich  äußern,  so  muß  die  Combination  von  Kräften, 
in  denen  er  selbst  besteht,  durch  Gleichungen  ausdrückbar 
sein,  aus  welchen  alle  diese  neuen  Gebilde  als  nothwendige 
Ergebnisse  entspringen,  sobald  man  den  in  jene  Gleichungen 
eingehenden  Größen  nacheinander  alle  mit  ihrer  Natur  ver- 
träglichen Werthe  gibt.  Absichtliche  und  unabsichtliche 
Wirksamkeit  bringt  mithin  nie  etwas  anderes  hervor,  als 
das  an  sich  Denkbare,  das  denknothwendig  wird,  sobald 
man  einen  Beziehungspunkt  bejaht,  von  dem  die  übrigen 
abhängen;  und  dies  ist  eben,  was  wir  hier  im  Auge  haben. 
Wir  betrachten  den  Gedanken,  den  wir  suchen,  weder  als 
denkende  Absicht  eines  Bewußtseins,  welche  nach  Erfüllung 
strebt,  noch  als  wirkende  Kraft,  welche  ihre  Erfolge  her- 
vorbringt, sondern  nur  als  den  gedachten  oder  denkbaren 
Grund,  dessen  Folgen  im  Denken,  unter  Voraussetzung  be- 
stimmter Bedingungen,  dieselben  sind,  welche  als  Wirklich- 
keiten aus  einer  zwecksetzenden  Absicht  oder  aus  der  Ur- 
sächlichkeit einer  Kraft  unter  denselben  Bedingungen  ent- 
springen müssen.  Behält  man  diese  Bemerkung  im  Auge, 
so  kann  man  duldsam  sein  gegen  eine  Ausdrucksweise, 
welche  die  Vorstellung  eines  Zweckes  oder  eines  Entwick- 
lungstriebes in  die  Logik  einführt;  aber  nützlicher  wird  es 
dennoch  sein,  diese  Bezeichnungen  zu  vermeiden  und  das,  was 
nur  die  Wirklichkeit  kennt,  nicht  zur  Benennung  des  bloßen 
Benkgrundes  zu  verwenden,  auf  dem  das  Wirkliche  beruht. 
131.  Noch  einen  Punkt,  auf  den  sich  ;hier  unsere  logische 
Aufmerksamkeit  richten  muß,  führe  ich  sogleich  im  Ver- 
folg dieser  Nebenvorstellungen  ein.  Von  einem  Triebe,  der 
sich  selbst  verwirklicht,  überrascht  es  uns  nicht,  wenn  er 
unter    bestimmten    Bedingungen    in    seinen    Bemühungen 


160  Drittes  Kapitel. 

scheitert;  von  einem  Zwecke  begreifen  wir,  daß  er  unter 
verschiedenen   Umständen  mit  verschiedener  Vollkommen- 
heit zu  erreichen  ist.    An  beide  Vorstellungen  schließt  sich 
daher  sehr  natürlich  die  Voraussetzung,  daß  verschiedene 
Verwirklichungen  oder  Beispiele  der  gestaltenden  Idee  von 
verschiedenem  Werth  sind,  und  daß  sie  nicht  blos   unter 
dem  Allgemeinbegriff  ihrer  Idee   als   Arten  überhaupt  co- 
ordinirt  sind,  sondern  innerhalb  dieser   Coordination  eine 
auf-  oder  absteigende  Reihe  bilden,  in  welcher  jede  ihren 
unvertauschbaren   Platz  zwischen  bestimmten   andern  hat. 
Von  diesem  Nebengedanken  sind  die  Versuche  natürlicher 
Classification,  die  unsere  jetzigen  Bedürfnisse  zu  befriedigen 
streben,   allenthalben  beherrscht;   es   ist   zu  zeigen   übrig, 
daß  diese  bekannte  Neigung,  aus  der  blos  combinatorischen 
Classification   in  die  Form   einer  Entwicklungsreihe  über- 
zugehen, ihre  allgemeine  logische  Berechtigung,  und  zwar 
eben  an  dieser  Stelle,   besitzt.     Betrachten  wir  einen   Be- 
griff M,  wie  es  leider  in  den  Anfängen  der  Logik  häufig 
zu  geschehen  pflegt,  nur  als  ein  Ganzes  aus  einer  Anzahl 
allgemein  ausgedrückter  Merkmale,  so  hat  es  keinen  Sinn, 
eine   seiner   Arten  für   besser   zu   halten,   als   die   andere. 
Jedes  S  enthält  entweder  alle  Merkmale  seines  Allgemeinen 
M  und  ist  dann  eine  Art  desselben,  oder  es  enthält  irgend 
eines  dieser  Merkmale  nicht,   und   dann  ist  es   nicht  eine 
unvollkommene,  sondern  gar  keine  Art  des  M.    Mit  diesem 
trockenen  Gegensatz  ist  das   lebendige   Denken  in  seinem 
wirklichen   Gebrauch   gar   nicht    einverstanden;    es   unter- 
scheidet  Arten,    die   ihrem    gemeinsamen    Gattungsbegriffe 
mehr  oder  weniger  entsprechen   oder  adäquat  sind.     Der 
erste  Grund  der  Möglichkeit  solcher  Unterscheidung  liegt 
nun  in  den  Größenbestimmungen,  denen  die  einzelnen  Merk- 
male  und   ihre   Wechselbeziehungen    entweder    zugänglich 
oder  gar  nicht  entziehbar  sind.     Das  Gefüge  der  Gattungs- 
begriffe, unabsehbar  verschieden  im  Einzelnen,  enthält  im 
Ganzen  doch  immer  eine  Mehrheit  von  Bestandtheilen  oder 
Beziehungspunkten,  an  deren  jedem  eine  Gruppe  einfacher 
Merkmale  vereinigt  ist,  und  die  unter  einander  in  allerhand 
Beziehungen   stehen.     Ich  nenne   hier   einfache   Merkmale 
nicht    nur   die    sinnlichen    Eigenschaften    roth    süß    warm, 
sondern  auch  solche,  welche,  wie  schwer  ausgedehnt  reiz- 
bar, allerdings  den  Ertrag  vorangegangener  Beobachtungen 
zusammengesetzter  Verhaltungsweisen,  diesen  aber  doch  in 
so  einfacher  Gestalt  enthalten,  daß  unsere  logische  Phantasie 
pich  längst  daran  gewöhnt  hat,  jeden  dieser  Ausdrücke  als 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     161 

ruhendes  einfaches  Prädicat  seinem  Subjecte  hinzuzufügen. 
Die  Unterschiede  der  Größe  erstrecken  sich  nun  auf  alle 
diese  Elemente  des  Gattungsbegriffs.  Kein  Merkmal  irgend 
eines  seiner  Bestandtheile  ist  überhaupt  ohne  bestimmten 
Grad  der  ihm  eigenthümlichen  Art  der  Intensität  denkbar, 
und  die  Grade  können  unendlich  verschieden  sein;  die  An- 
zahl der  Bestandtheile  selbst  ist,  wie  jede  Zahl,  vermehr- 
bar und  verminderbar  und  jeder  einzelne  Bestandtheil  kann 
außerdem  seinen  logischen  Werth  dadurch  verändern,  daß 
er,  dem  der  Gattungsbegriff  einfach  zu  sein  erlaubt,  sich 
dennoch  innerlich  zu  einem  wiederum  gegliederten  System 
mannigfacher  Elemente  ausdehnt;  jede  Beziehung  endlich, 
die  zwischen  den  verschiedenen  Inhaltspunkten  des  Be- 
griffs stattfindet,  ist  verschiedenwerthig  je  nach  dem  Werth 
dieser  oder  selbst  nach  eigenthümlichem  Maßstabe  einer 
größeren  oder  geringeren  Engigkeit  fähig.  Aus  dem  Zu- 
sammenwirken aller  dieser  Veränderlichkeiten  entspringt 
nun  eine  Vielheit  von  Arten,  zwischen  denen  ein  bemerk- 
licher Unterschied  ist.  Nehmen  wir  an,  daß  ein  Merk- 
mal P  des  Gattungsbegriffs  M  die  bestimmende  Kraft,  welche 
es  stets  auf  alle  übrigen  Merkmale  äußert,  dann,  wenn  es 
den  Werth  p  annimmt,  bis  zu  völliger  Umgestaltung  des 
ganzen  Begriffsinhaltes  M  steigert,  so  wird  die  so  ent- 
stehende Art  nicht  mehr  Art  des  M,  sondern  Art  einer 
andern  Gattung  N  sein.  Diejenigen  Werthe  von  P  aber, 
welche  sich  diesem  entscheidenden  Grenzwerthe  nur  nähern, 
ohne  ihn  zu  erreichen,  werden  Bildungen  bewirken,  die 
zwar  noch  unter  die  Gattung  M  fallen,  aber  sich  stufenweis 
dem  Gefüge  anähnlichen,  welches  die  andere  Gattung  N 
kennzeichnet.  Hierauf  beruht  nun  der  Unterschied  von 
Arten,  welche  ihrem  gemeinsamen  Gattungsbegriffe  mehr 
oder  minder  angemessen  oder  adäquat  sind;  jede  Art  ist 
in  einer  bestimmten  Beziehung  um  so  vollkommener,  je 
weiter  sie  von  dem  Uebergang  in  eine  andere  Gattung  ab- 
steht, und  diejenige  ist  die  logisch  vollkommenste,  für  welche 
die  Summe  ihrer  Abstände  von  allen  nächstverwandten 
Gattungen  ein  Größtes  wird. 

132.  Ich  glaube  behaupten  zu  dürfen,  daß  dieser  Ge- 
sichtspunkt ein  völlig  logischer  und  unabhängig  von  den 
Ansichten  ist,  die  wir  uns  aus  anderweitiger  Kenntniß  der 
Sache  über  den  Werth  die  Bedeutung  und  Bestimmung 
dessen  bilden,  was  an  irgend  einem  bestimmten  Gattungs- 
begriff das  Gesetz  seines  Daseins  hat.    Ich  erläutere  daher 

Lotze,  Logik.  11 


162  Drittes  Kapitel. 

durch  Beispiele,  für  welche  diese  Nebengedanken  keinen 
Sinn  haben.  Die  Gleichung  der  Ellipse  a2y2 -f  b2x2  =  a^b* 
läßt  die  Wahl  der  beiden  Axen  a  und  b  willkürlich,  und 
es  wird  nach  ihrer  Aussage  immer  eine  Ellipse  entstehen, 
welchen  Werth  man  auch  für  a  und  b  einsetzen  mag;  sie 
wird  daher  auch  entstehen,  wenn  eine  der  beiden  Axen 
zu  Null  wird.  Aber  dann  geht  die  Curve  in  eine  gerade 
Linie  über;  das  Ergebniß,  welches  dieser  Werth  liefert, 
ist  daher  einem  Allgemeinbegriff  N,  dem  der  geraden  Linie, 
untergeordnet,  welcher  von  dem  der  Ellipse  verschieden  ist. 
Aber  dies  Beispiel  zeigt  zugleich,  was  wir  oben  nicht  all- 
gemein anführen  wollten,  daß  die  äußerste  Art  einer 
Gattung  M,  welche  auf  solche  Weise  entsteht,  nicht  blos 
zu  einer  neuen  Gattung  N  gehören  muß,  sondern  auch  fort- 
fahren kann,  der  früheren  M  untergordnet  zu  sein.  Denn 
die  Mittelpunktsgleichung  der  Ellipse  kann  uns  zwar  in 
diesem  Fall,  für  b==o,  da  sie  aufhört,  eine  Curve  zu  be- 
deuten, nichts  lehren;  aber  ein  anderer  Ausdruck  der 
wesentlichen  Bildung  der  Ellipse  bleibt  gültig,  der  nämlich, 
daß  die  Summe  der  Fahrstrahlen,  die  von  zwei  festen 
Punkten  der  großen  Axo  nach  demselben  Punkt  der  Peri- 
pherie gehen,  eine  constante  Größe  und  gleich  dieser  Axe 
ist.  In  der  geraden  Linie,  auf  welche  sich  in  unserem  Fall 
die  Ellipse  zusammengezogen  hat,  sind  ihre  beiden  End- 
punkte jene  zwei  festen  Punkte,  die  Brennpunkte,  geworden, 
und  für  jeden  Zwischenpunkt  c,  den  wir  auf  der  geraden 
Linie  ab  annehmen,  hat  man  die  Summe  der  Entfernungen 
ac-j-cb,  die  Summe  der  beiden  Fahrstrahlen  also,  gleich 
der  Länge  ab.  Wenn  ein  schwerer  Stab  von  der  unver- 
änderlichen Länge  ab  mit  dem  Endpunkt  a  auf  einer  glatten 
reibungslosen  Horizontalebene  steht,  mit  dem  andern  b  an 
einer  glatten  reibungslosen  Verticalwand  lehnt,  so  macht 
der  Antrieb  seiner  Schwere  ihm  das  Gleichgewicht  unmög- 
lich und  er  sinkt.  Eine  leichte  Rechnung  lehrt,  daß  die  Bahn, 
welche  jeder  beliebige  Punkt  c  seiner  Länge  während  dieses 
Sinkens  beschreibt,  ein  Ellipsenbogen  ist.  Zugleich  aber 
ist  klar,  daß  der  Endpunkt  b  senkrecht  in  gerader  Linie 
an  der  Wand  herabgleiten,  der  Punkt  a  dagegen  horizontal 
und  geradlinig  sich  auf  dem  glatten  Boden  verschieben  muß. 
Da  nun  auf  alle  Punkte  dieselbe  Gruppe  von  Bedingungen 
einwirkt,  so  müssen  auch  diese  geradlinigen  Bewegungen 
als  Arten  der  von  diesen  Bedingungen  allgemein  geforderten 
elliptischen  Bahn  angesehen  werden.  Sie  sind  in  der  That 
die  beiden  Grenzfälle,  welche  man  erhält,  wenn  man   ein- 


Die  Lehie  vom  Schlui3  uiid  den  systematischen  Formen.     163 

mal  die  eine,  dann  die  andere  Axe  =  Null  setzt;  der  End- 
punkt bewegt  sich  in  der  andern  Axe  geradlinig.  Ein 
anderer  ausgezeichneter  Fall  findet  für  den  Mittelpunkt  des 
Stabes  statt;  für  ihn  werden  die  Axen  seiner  elliptischen 
Bahn  einander  gleich  und  er  beschreibt  einen  Kreisbogen. 
Die  Natur  der  vorliegenden  Aufgabe  nöthigt  daher,  auch 
den  Kreis  als  eine  Art  der  Ellipse  aufzufassen,  wovon  die 
angeführte  Mittelpunktsgleichung  die  Möglichkeit  sogleich 
deutlich  macht.  Dies  Beispiel  lehrt  uns  also,  daß  die  Arten 
einer  Gattung  M  durch  Größenveränderungen  eines  ihrer  Be- 
standtheile  sich  allmählich  dem  Bildungsgesetze  einer  andern 
Gattung  N  nähern,  daß  es  Grenzglieder  geben  kann,  welche 
sowohl  Arten  von  M  als  solche  von  N  sind,  weil  sie  den  For- 
derungen beider  Gattungsbegriffe  genugthun ;  dem  bloßen  That- 
bestand  von  Inhalt,  der  in  einem  solchen  Grenzgliede  vorliegt,, 
ist  gar  nicht  anzusehen,  von  welchem  gestaltenden  Gattungs- 
begriffe er  eigentlich  bestimmt  ist;  hierüber  entscheiden 
vielmehr,  bis  jetzt,  Nebenrücksichten  irgend  welcher  Art. 
133.  Dagegen  lassen  diese  Beispiele  eine  noch  zu 
hebende  Zweideutigkeit  in  Bezug  auf  den  Maßstab  übrige 
nach  welchem  wir  den  Grad  der  Vollkommenheit,  sagen 
wir  kurz:  die  Höhe  jeder  Art  bestimmen.  Die  mathe- 
matischen Gebilde  haben  keine  Lebens-  und  Entstehungs- 
geschichte; als  bloße  gesetzliche  Denkbarkeiten  ohne  Wirk- 
lichkeit lassen  sie  sich  auf  den  verschiedensten  Wegen  für 
unsere  Einbildungskraft  erzeugen,  und  es  ist  im  Allgemeinen 
gleichgültig,  im  besondern  Fall  von  der  Natur  der  Aufgabe, 
die  auf  sie  führt,  abhängig,  von  welchem  Anfangspunkt 
aus  wir  ihre  Construction  beginnen,  oder  welchem  Gattungs- 
begriff, welcher  allgemeinen  Constructionsregel  wir  sie 
unterordnen.  Für  unsere  nicht  geometrische,  sondern  ästhe- 
tische Anschauungsweise,  ich  meine  für  die,  welche  den 
ganzen  Eindruck  des  fertigen  Gebildes,  nicht  seine  Ent- 
stehung beachtet,  sondern  sich  Kreise  und  gerade  Linien 
von  der  Ellipse  entschieden  ab;  zu  dem  Eindrucke  der 
Ellipse  gehört  für  unsere  Anschauung  die  Ungleichheit  der 
Axen  nothwendig;  anderseits  freilich,  je  größer  diese  wird^ 
um  so  mehr  nähert  sich  die  Curve  den  Grenzgliedern,  die 
wir  ausschließen  möchten,  den  beiden  geraden  Linien,  die 
in  die  Richtung  der  einen  oder  der  andern  Axe  fallen. 
Den  charakteristischen  Eindruck  ihrer  Gattung  würde  uns 
diejenige  Ellipse  am  meisten  machen,  die  gleichweit  von 
der  Gleichung  a  —  b  =  o,  die  dem  Kreise,  sowie  von  der 
andern    a  =  b=:a    entfernt    wäre,    die    einer    Geraden    zu- 


164  Drittes  Kapitel. 

kommen  würde.  Man  könnte  aus  der  Verbindung  beider 
die  Bedingung  dieses  Eindrucks  dahin  bestimmen,  daß  eine 
Axe  das  Doppelte  der  andern  sein  müsse,  und  dies  würde 
leidlich  zutreffen;  nur  läßt  sich  überhaupt  etwas  nicht 
mathematisch  feststellen,  was  nicht  einfach  von  mathema- 
tischen Gründen  abhängt.  Von  ähnlichen  Neigungen  wird 
nun  unsere  logische  Einbildungskraft  allenthalben  be- 
herrscht. Nichts  ist  gewöhnlicher,  als  daß,  wer  vom  Vier- 
eck spricht,  eigentlich  das  Parallelogramm  meint,  ja  oft 
genug  das  Quadrat;  eine  sehr  natürliche  Ungenauigkeit  des 
Ausdrucks;  denn  die  Phantasie,  welche  zu  dem  Begriff  eine 
Anschauung  wünscht,  aber  doch  nur  ein  Bild  auf  einmal 
festhalten  kann,  wählt  das  logisch  vollendetste;  und  in  der 
That,  sowohl  durch  wachsende  Ungleichheit  der  Seiten  als 
durch  die  der  Winkel  nähert  sich  allmählich  immer  mehr 
das  Parallelogramm  der  Endform  der  geraden  Linie,  in 
welche  alle  vier  Seiten  zusammenfallen.  Die  Betrachtung 
natürlicher  Gegenstände  bezeugt  dieselbe  Neigung;  als 
typische  und  ausdrucksvollste  Beispiele  jeder  Gattung  er- 
scheinen uns  immer  diejenigen  Arten,  in  welchen  alle  ein- 
zelnen Merkmale  die  höchsten  Werthe  erhalten,  welche  ihre 
von  der  Gattung  vorgeschriebene  Verknüpfungsweise  ihnen 
erlaubt,  in  denen  mithin  kein  Merkmal  einseitig  hervortritt, 
keines  bis  zum  Nullwerth  herabgedrängt  ist,  alle  vielmehr 
so  viel  als  möglich  in  gleichmäßiger  Stärke  ausgebildet  sich 
zu  dem  Eindruck  eines  festen  Gleichgewichts  des  Ganzen 
vereinigen. 

134.  Ich  wiederhole  hier  eine  frühere  Bemerkung:  ich 
besorge  nicht,  daß  man  diese  Schätzung  der  Höhe  der 
Arten  als  der  Logik  fremd  tadeln  werde;  ihr  Mangel  be- 
steht vielmehr  darin,  daß  sie  von  unzureichenden  logischen 
Gesichtspunkten  aus  sich  nicht  hinlänglich  an  die  Natur 
ihrer  Gegenstände  anpaßt.  Fassen  wir  uns  kurz:  dieses 
Gleichgewicht  der  Merkmale,  welches  wir  eben  schilderten, 
für  die  Bedingung  der  größten  Vollkommenheit  einer  Art 
zu  halten,  ist  die  Meinung,  auf  die  wir  aus  rein  logischen 
Gründen  kommen  müssen,  so  lange  uns  eine  sachliche 
Kenntniß  fehlt,  welche  aus  der  wesentlichen  Bestimmung 
der  classificirten  Gattung  einen  anderen  Maßstab  für 
den  steigenden  Werth  ihrer  Arten  ableiten  könnte.  In  der 
Natur  der  Dinge  kann  es  liegen,  daß  eine  Gattung  M  dazu 
bestimmt  ist,  eben  jenes  Gleichgewicht  der  Merkmale  nicht 
festzuhalten,  sondern  durch  Verminderung  des  einen  und 
Uebersteigerung  des  andern  in  eine  andere  Gattung  N  über- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    165 

zugehen ;  dann  werden  ihre  Arten  um  so  vollkommener  sein, 
je  näher  sie  diesem  Uebergange  liegen,  der  sie  ihrer  eigenen 
Gattung  entzieht.  Diesen  Gedanken  einer  zu  erreichenden 
Bestimmung,  durch  welche  die  Gattungen  über  ihr  eigenes 
Wesen  fortwährend  hinausgetrieben  werden,  findet  man  in 
die  bedeutendsten  Versuche  natürlicher  Classificationen  tief 
verflochten;  ich  führe  ihn  deshalb  absichtlich  hier  ein,  um 
seine  Bedeutung  für  die  Logik,  welcher  er  an  sich  ganz 
fremd  ist,  zu  erwähnen.  Von  dem  Begriffe  des  Triebes 
haben  wir  früher  die  Vorstellung  der  hervorbringenden  Wirk- 
samkeit, von  dem  des  Zweckes  die  der  Absicht  abgesondert; 
wir  sondern  ebenso  hier  von  dem  Begriffe  der  Bestimmung 
die  Vorstellung  der  Verpflichtung  ab.  Es  entgeht  Nie- 
mand, daß  durch  diese  Abtrennung  der  ganze  eigenthüm- 
liche  Sinn  dieser  drei  Begriffe  sich  überhaupt  verflüchtigt; 
aber  eben  dies  ist  es,  was  wir  beabsichtigen.  Gar  nicht 
jenen  Begriff  der  Bestimmung  selbst  führen  wir  in  die 
Logik  ein,  sondern  eben  nur  den  des  logischen  Verhält- 
nisses, das  seinem  wesentlichen  Inhalt  zu  Grunde  liegt, 
und  zu  dessen  bildlicher  Bezeichnung  er  selbst,  als  aus- 
drucksvollstes Beispiel,  sich  unserem  Sprachgebrauch  auf- 
drängt. Eine  Bestimmung  nun,  welche  erreicht  werden  soll, 
unterscheidet  sich  von  einem  Endzustande,  der  nun  that- 
sächlich  durch  eine  Veränderung  erreicht  wird;  dort  ent- 
hält der  Merkmalbestand,  welcher  das  erreichte  Ziel  kenn- 
zeichnet, auch  für  alle  früheren  Stufen  der  Entwicklung 
den  gesetzgebenden  Grund  für  den  Zusammenhang  der 
Merkmale  und  für  die  Richtung,  in  der  sie  sich  verändern; 
ein  Endzustand  dagegen  läßt  möglich,  daß  die  zu  ihm 
führenden  Vorgänge  bunt  abwechselnd,  rechtläufig  und  rück- 
läufig, kreuz  und  quer  verlaufen.  Achtet  man  hierauf,  so 
ist  es  nicht  mehr  zweifelhaft,  welchen  rein  logischen  Sinn 
es  hat,  wenn  wir  von  einer  Bestimmung  sprechen,  welcher 
die  einzelnen  Gattungen  sich  zu  nähern  haben.  Bisher 
haben  wir  als  das  letzte  gesetzgebende  Formprincip,  welches 
in  einer  Reihe  von  Arten  herrscht,  den  eigenen  Gattungs- 
begriff M  dieser  Arten  angesehen,  und  diejenige  Art  mußte 
dann  die  vollkommenste  sein,  welche  diesen  Gattungsbegriff 
im  schönsten  Gleichgewicht  seiner  Merkmale  darstellt;  jetzt 
hat  eine  der  Logik  ursprünglich  fremde  Betrachtung  erinnert, 
daß  es  auch  anders  feein  kann,  daß  der  wahrhaft  bestimmende 
Grund  für  die  Bildung  der  Artenreihe  von  M  nicht  in  dem 
Gattungstypus  von  M  selbst  liegen  muß,  so  daß  man  ihn 
in  M  entdecken  könnte,  wenn  man  dies  M  allein,  in  dem 


166  Drittes  Kapitel. 

bloßen  Bestände  seiner  Merkmale,  ins  Auge  faßt;  daß 
vielmehr  die  Bildung  dieser  Gattung  ihre  richtige  Deutung 
erst  dann  erhalte,  wenn  man  sie  selbst  mit  einer  andern  N, 
in  welche  sie  übergeht,  und  einer  dritten  L,  aus  welcher 
sie  durch  ähnlichen  Uebergang  entstanden  ist,  endlich  diese 
wieder  mit  ihren  Vorgängern  und  Nachfolgern  vergleicht; 
erst  aus  dieser  Vergleichung  ergebe  sich  die  Richtung, 
nach  welcher  innerhalb  einer  höheren  Gattung  Z,  die  jene 
alle,  L  M  N,  als  Arten  einschließt,  der  Fortgang  vom  Un- 
vollkommenen zum  Vollkommenen  stattfinde;  in  der  Arten- 
reihe jeder  einzelnen  Gattung  M  werden  dann  diejenigen 
Glieder  die  höchsten  sein,  die  am  weitesten  in  dem  Sinne 
der  Richtung  fortgeschritten  sind,  in  welcher  sich  der  ganze 
Typus  der  Gattung  M  innerhalb  der  höheren  Z  nach  dem 
vollständigsten  Ausdruck  dieses  Z  hin  entwickelt.  Es  bleibt 
übrig  zu  zeigen,  daß  diese  Gedankenreihe,  auf  welche  wir 
jetzt  durch  einen  äußerlichen  Anstoß  uns  bringen  ließen, 
ohnehin  an  dieser  Stelle  aus  den  einheimischen  Bedürf- 
nissen der  Logik  entspringt. 

135.  Aber  dieser  Nachweis  ist  kaum  noch  nöthig.  Wir 
haben  gesehen,  daß  wir  den  Allgemeinbegriff,  der  eine  i\.n- 
zahl  Einzelner  unter  sich  befaßt,  nur  aus  der  Vereinigung 
ihrer  bleibenden  und  gemeinsamen  Merkmale  erzeugen 
konnten;  dann:  daß  diese  beständige  Merkmalgruppe  Be- 
standtheile  von  sehr  verschiedenem  Werthe  enthalten 
konnte;  um  diejenigen  auszusondern,  welche  nicht  nur 
thatsächlich  bleiben,  sondern  die  bedingende  Regel  für  die 
Fügung  aller  einschließen,  mußten  wir  das  gefundene  All- 
gemeine mit  anderen  Allgemeinen  vergleichen,  Arten  mit 
Arten;  was  dann  in  diesem  größeren  Wechsel  dennoch  fest 
bei  einander  blieb,  das  erschien  uns  als  das  wahre  Wesen 
einer  Gattung  M,  nach  dessen  mehr  oder  minder  voll- 
konmiener  Verwirklichung  die  Höhe  der  Arten  von  M  ab- 
zumessen war.  Aber  dieses  Verfahren  hat  keinen  natür- 
lichen Abschluß;  dieselben  Zweifel  erneuern  sich  immer 
wieder;  auch  in  dem  Bestände  des  M  werden  die  Merkmale 
ungleichwerthig  sein;  die  maßgebenden  wird  man  von  den 
unwesentlichen  nur  unterscheiden,  wenn  man  abermals  M 
mit  L  und  N  vergleicht,  aus  dem  gemeinsamen  Bildungs- 
gesetze, das  in  ihnen  allen  sich  forterhält,  die  höhere 
Gattung  Z  bildet  und  den  Werth  von  M  L  N  sowohl  als  den 
ihrer  einzelnen  Arten  nach  dem  Maße  bestimmt,  in  welchem 
sie  dies  Bildungsgesetz  Z  verwirklichen,  nicht  aber  nach 
(Jem  Maße,  in  welchem  jede  Art  nur  das  speciellere  Gesetz 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     167 

ihrer  eigenen  nächsten  Gattung  zum  Ausdruck  bringt.  Und 
dieser  Fortschritt  geht  ins  Endlose  oder  so  weit,  bis  es 
uns  gelungen  wäre,  ein  höchstes  Ideal  A  aufzufinden, 
welches  diejenige  Verknüpfungsweise  des  Mannigfachen  dar- 
stellte, die  allen  Gattungen  des  Wirklichen  und  des  Denk- 
baren als  gemeinsame  Pflicht  obläge;  aus  diesem  A  würde 
sich  eine  classificatorische  Entwicklung  ableiten  lassen, 
welche  den  ganzen  Weltinhalt  aus  sich  hervortriebe,  und 
diese  allein  würde,  wenn  sie  möglich  wäre,  die  logische 
Bürgschaft  dafür  bieten,  daß  in  der  gesammten  Artenreihe 
jede  an  den  bestimmten  Platz  gerückt  würde,  der  ihr  durch 
den  Grad,  in  dem  sie  das  Wesentliche  verwirklicht,  zwischen 
allen  ihren  Verwandten  zukäme.  So  führt  diese  Aufgabe 
natürlicher  Classification  von  selbst  über  die  vereinsamte 
Behandlung  einer  besonderen  Aufgabe  zur  systematischen 
Gliederung  unseres  gesammten  Denkinhaltes.  Und  diesem 
Antriebe  sind  in  der  That  die  bedeutendsten  Versuche 
immer  gefolgt.  Wollte  man  die  aufsteigende  Entwicklungs- 
reihe der  Pflanzen  oder  der  Thiere  darstellen,  oder  die  ge- 
schichtlichen Ereignisse,  denn  auch  auf  das  Geschehen  er- 
streckt sich  der  Anspruch  dieser  Denkform :  immer  mußte 
man  sich  darüber  rechtfertigen,  warum  man  diesen,  nicht 
jenen  Maßstab  für  die  Abschätzung  des  zunehmenden 
Werthes  der  einzelnen  Glieder  befolgte,  und  immer  fand 
man  zuletzt  diese  Rechtfertigung  nur  in  den  allgemeinsten 
Anschauungen  über  den  Sinn  alles  Seins  oder  Geschehens, 
die  man  ausdrücklich  an  die  Spitze  der  ganzen  Untersuchung 
stellte,  oder  unausgedrückt  als  leitendes  Princip  hindurch- 
fühlen ließ. 

136.  Die  natürliche  Classification,  um  mit  diesem  her- 
gebrachten Namen  das  nun  geschilderte  Verfahren  zu- 
sammenzufassen, unterscheidet  sich  also  von  der  combina- 
torischen  oder  künstlichen  durch  die  Berücksichtigung  der 
gegenseitigen  Determination  der  Merkmale,  die  in  jener  nur 
nebenbei  Beachtung  fand,  in  der  Gestalt  ihres  Erfolges  aber 
durch  die  Form  der  Reihe,  deren  Glieder  nicht  nur  über- 
haupt nebeneinander  gestellt  sind,  sondern  in  bestimmten 
Plätzen  aufeinander  folgend  aus  dem  Umfang  oder  dem 
Herrschaftsgebiet  des  einen  Artbegriffes  in  das  Gebiet  eines 
andern  hinüberleiten;  diese  Ordnung  beginnt  mit  Gliedern, 
welche  der  logischen  Bestimmung  des  ganzen  Systems  am 
mindesten  entsprechen,  und  endigt  mit  denen,  deren  Merk- 
malbestand den  vollständigsten  \und  reichsten  Ausdruck  ihrer 
Erfüllung  bildet.    Doch  ist  es  nicht  nothwendig,  daß  immer 


168  Drittes  Kapitel. 

dieser  einfachste  Fall  stattfinde,  den  wir  hier  annehmen^ 
daß  nämlich  die  Reihe  nur  eine  Richtung  habe.  Zuerst  ist 
in  jeder  einzelnen  Art  eine  Variation  einzelner  Merkmale 
denkbar,  durch  welche  das  entscheidende  Gefüge  der  Art, 
für  unsere  Einsicht  wenigstens,  in  nichts  geändert  wird; 
dann  sind  die  verschiedenen  Beispiele  dieser  Art  gleich- 
werthig,  und  die  Reihe  nimmt  hier  eine  Breite  durch  co- 
ordinirte  Glieder  an,  ohne  einen  Fortschritt  in  ihrer  Länge 
zu  machen.  Ebenso  ist  es  ferner  möglich,  daß  eine  Art 
M  durch  verschiedene  oder  entgegengesetzte  Variationen 
mehrerer  Merkmale  nicht  nur  in  eine  nächste  Art  N  über-, 
sondern  in  mehrere  Arten  N  0  Q  auseinandergeht,  denen 
sie  gleich  verwandt  ist,  und  die  für  den  Sinn  der  Ge- 
sammtentwicklung  gleichen  Werth  haben;  diese  werden 
dann  zu  Ausgangspunkten  neuer  Reihen,  die  entweder 
parallel  fortlaufen  oder  irgendwie  sich  später  wieder  mit 
der  gemeinsamen  Reihe  verschmelzen.  So  ist  die  Form 
der  natürlichen  Classification  im  Allgemeinen  die  eines 
Gewebes  oder  Systems  von  Reihen,  und  nicht  einmal  der 
Gipfelpunkt  dieses  Systems  braucht  eine  strenge  Einheit  zu 
sein,  denn  selbst  für  die  vollendetste  Erreichung  der  logi- 
schen Bestimmung  bleibt  die  Möglichkeit  verschiedener 
völlig  gleichwerthiger  Formen. 

137.  Da  die  Gelegenheit  es  mit  sich  bringt,  erwähne  ich 
noch  zwei  oft  gebrauchte  Begriffe,  die  hier  eine  logische 
Erläuterung  finden  können.  Die  neue  Werthbestimmung  der 
Arten,  zu  der  wir  zuletzt  kamen,  nach  dem  Maße,  in  welchem 
sie  sich  dem  Ziele  der  Gesammtentwicklung  nähern,  schließt 
die  frühere  nicht  aus,  welche  auf  dem  Gleichgewicht  der 
Merkmale  des  nächsthöheren  Gattungsbegriffs  beruhte.  Sie 
bestehen  beide  nebeneinander,  obwohl  die  eine  der  anderen 
Abbruch  thut.  Dieser  Widerstreit  wird  in  unserer  ästhe- 
tischen Würdigung  der  Erscheinungen  fühlbar.  Jede  Art, 
welche  ihre  eigene  Gattung  im  festen  Gleichgewicht  ihrer 
Merkmale  darstellt,  macht  uns  den  Eindruck  des  verhältniß- 
mäßig  oder  in  sich  selbst  Vollkommenen;  sie  bildet  den 
Typus  der  Gattung,  welcher  nicht  die  zureichende,  aber 
die  unerläßliche  Bedingung  der  Schönheit  des  Schönen  ist 
und  selbst  dem  an  sich  Häßlichen  die  formale  Berechtigung 
erwirbt,  als  Häßliches  in  künstlerischer  Darstellung  neben- 
her verwandt  zu  werden.  Arten  dagegen,  welche  dies  Gleich- 
gewicht der  Merkmale  zerstören,  indem  sie  einem  höheren 
Ziele  sich  nähern,  als  innerhalb  ihrer  Gattung  erreicht 
werden  kann,  gewähren  uns  den  zweideutigen  Eindruck  des 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    169 

Interessanten,  ähnlich  den  Dissonanzen,  durch  welche  wir 
nicht  befriedigt,  aber  auf  eine  höhere  Befriedigung  vor- 
bereitet werden.  Ideal  im  Gegensatz  zu  Typus  würde 
die  Erscheinung  bedeuten,  in  welcher  das  Gleichgewicht  der 
Merkmale,  welches  dieser  verlangt,  mit  der  größten  Ent- 
wicklungshöhe in  Bezug  auf  die  logische  Bestimmung  glück- 
lich zusammenfällt,  eine  Möglichkeit,  welche  logisch  nicht 
ausgeschlossen  ist,  und  welche  die  Kunst  vielleicht  in  einer 
ruhigen  Erscheinung,  wahrscheinlicher  nur  in  einer  Situation 
dieser  Erscheinung  wird  verwirklicht  finden  oder  verwirk- 
lichen können. 

138.  Man  wird  endlich  fragen,  wie  nun  die  entwickelnde 
Classification  zu  jenem  Schlußpunkt  gelange,  dessen  sie 
bedarf,  zu  der  Gewißheit  nämlich,  jenes  höchste  Gesetz, 
die  logische  Bestimmung,  richtig  gefunden  zu  haben,  welche 
innerhalb  ihres  gegebenen  Gegenstandes  oder  innerhalb  des 
ganzen  Weltinhaltes  herrschend  ist.  Darauf  haben  wir  nur 
zu  antworten,  daß  auf  blos  logischem  Wege  diese  Gewiß- 
heit zu  erreichen  ganz  unmöglich  ist.  Die  Form  der  ent- 
wickelnden Classification  ist,  wie  alle  logischen  Formen, 
selbst  ein  Ideal,  welches  von  dem  Denken  verlangt  wird, 
dessen  Erfüllung  aber,  so  weit  sie  möglich,  nur  von  dem 
Erkennen  geleistet  werden  kann.  In  der  That  liegt  hier 
kein  Ausnahmsverhältniß  vor,  welches  dieser  ersten  unserer 
systematischen  Formen  zu  ihren  Ungunsten  zur  Last  fiele. 
Auch  das  Urtheil  schreibt  uns  eine  Verbindung  von  Subject 
und  Prädicat  vor,  die  im  Denken  geleistet  werden  müsse, 
sobald  der  Gedanke  sich  in  seiner  Weise  dem  Verhalten 
des  Gedachten  anschließen  wolle;  so  lehrt  uns  das  hypo- 
thetische Urtheil:  nur  durch  Hinzufügung  einer  Bedingung 
zu  dem  Subjecte  S  sei  es  möglich,  ihm  ein  Prädicat  P  zu- 
zuerkennen, welches  nicht  schon  in  dem  eigenen  Begriffe 
des  S  liege;  aber  die  Logik  lehrt  nicht,  welche  Bedingung 
X  nöthig  sei,  um  diesem  S  dieses  P  zu  erwerben;  sie  er- 
wartet diese  Ausführung  ihrer  Befehle  von  der  Erkenntniß 
des  jedesmaligen  Sachverhaltes.  Auch  die  Theorie  der  Syl- 
logismen lehrt  uns  Folgerungen  ziehen,  wenn  die  Prämissen 
gegeben  sind,  aber  sie  gibt  uns  die  Prämissen  nicht  und 
steht  nicht  für  deren  Wahrheit  ein,  es  sei  denn,  daß  sie 
selbst  als  Folgesätze  aus  anderen  Prämissen  entspringen 
können;  diese  letztern  dienen  dann  als  das  dem  Denken 
Gegebene  und  führen  auf  irgend  eine  Wahrheit  schließlich 
zurück,  die  nicht  wieder  logisch  ableitbar  ist.  Ebenso 
behauptet  die  natürliche  Classification  nur  dies :  jede  Gruppe 


170  Drittes  Kapitel. 

zusammengehöriger  Mannigfaltigkeiten,  und,  da  alles  zu- 
sammengehört, zuletzt  das  ganze  Reich  des  Wirklichen  und 
des  Denkbaren  müsse  als  ein  System  von  Reihen  an- 
gesehen werden,  in  denen  Begriff  auf  Begriff  in  bestimmter 
Richtung  aufeinander  folgt;  aber  diese  Richtung  selbst  und 
das  höchste  in  ihr  treibende  Princip  aufzusuchen,  über- 
läßt sie  den  Mitteln  der  sachlichen  Erkenntniß. 


139.  Nicht  dieser  Vorwurf,  aber  ein  anderes  Bedenken 
nöthigt  uns  zur  Fortsetzung  unseres  Weges.  Man  wird  es 
am  leichtesten  aus  der  systematischen  Stellung  der  Classi- 
fication verstehen.  Als  Anordnung  von  Begriffen  ent- 
spricht sie  zunächst  unserem  ersten  Haupttheil,  der  Lehre 
vom  Begriffe  selbst;  aber  eben  aus  diesem  mußten  wir  zur 
Betrachtung  der  Urtheile  übergehen,  denn  der  gegebene 
Wechsel  des  Denkinhalts  war  nicht  durch  Begriffe  allein 
zu  fassen,  im  Gegentheil  setzte  der  Begriff  Verhältnisse 
seiner  Merkmale  voraus,  deren  Sinn  erst  im  Urtheil  klar 
zu  machen  war.  Die  Classification  entspricht  ferner  der 
ersten  Form  der  Urtheile,  der  kategorischen;  wie  in  diesen 
das  Subject  seine  Prädicate  einfach  hatte  annahm  oder  ver- 
lor, so  erscheint  hier  der  gesetzgebende  höchste  Begriff 
für  sich  allein  als  der  Hervorbringer  aller  seiner  Arten,  als 
die  Quelle,  aus  welcher  sie  emaniren;  aber  dem  kate- 
gorischen setzte  das  hypothetische  Urtheil  gegenüber,  daß 
aus  einem  Subject  S  allein  keine  Mannigfaltigkeit  ent- 
springt; ebenso  werden  alle  Lehren  der  Emanation  sich 
die  Frage  vorlegen  müssen,  welche  zweite  Bedingung  ihr 
erstes  Princip  veranlaßt,  sich  überhaupt  zu  entwickeln, 
und  woher  ihm  die  Data  kommen,  gegen  welche  zurück- 
wirkend es  gerade  diese,  nicht  andere  Formen  seiner  Aus- 
gestaltung annehmen  muß.  Ein  ähnlicher  Fortschritt  steht 
uns  auch  hier  bevor;  wir  können  ihn  noch  in  engerem 
Anschluß  an  die  geschilderten  Eigenheiten  der  Classification 
vorbereiten.  Der  künstlichen  oder  combinatorischen  warfen 
wir  vor,  daß  sie  auf  unmögliche  Glieder  führen  könne,  in 
der  anderen  entwickelnden  achteten  wir  um  so  mehr  auf 
die  gegenseitige  Determination  der  Merkmale  und  nahmen 
an,  daß  die  Veränderung  des  einen  auf  die  anderen  zurück- 
wirke, daß  durch  sie  ein  Begriff  in  den  andern  übergeht, 
daß  eine  Art  dem  Begriffe  besser  als  eine  andere  entspricht. 
Dies  heißt  offenbar:  der  Begriff  hängt  in  der  Bildung  seiner 
Arten  nicht  blos  von  sich  selbst,  bildlich  gesprochen,  von 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    171 

seiner  Absicht,  sondern  zugleich  von  einer  andern  Macht 
ab,  die  darüber  bestimmt,  welche  Verwirklichungen  seiner 
Absicht  möglich  oder  unmöglich,  mehr  oder  weniger  adäquat 
ausfallen.     Diese  Macht  haben  wir  aufzusuchen. 

140.  Die  Aufgaben  des  Denkens  sind  erst  dann  voll- 
ständig gelöst,  wenn  es  Formen  zur  Auffassung  alles  des- 
jenigen entwickelt  hat,  was  ihm  die  Wahrnehmung  als 
Gegenstand  und  Anregung  seiner  Thätigkeit  darbietet.  Die 
Classificationen  genügen  dieser  Anforderung  der  Umfassung 
alles  Inhalts  nicht.  Ihr  natürlicher  Gegenstand  sind  stets 
nur  die  ruhenden  Bilder  der  Gattungen  mit  ihren  festen 
Merkmalen,  die  wir  zwar  in  den  Wahrnehmungen  als 
stehende  Ausgangspunkte  mannigfaltiger  Beziehungen  zu 
bemerken  glauben,  die  aber  weit  entfernt  sind,  die  ganze 
Fülle  der  Wahrnehmung  auszumachen.  In  dieser  syste- 
matischen Gliederung,  in  welcher  die  Classification  uns 
die  einzelnen  Gattungen  geordnet  darstellt,  kommen  sie  in 
Wirklichkeit  nicht  vor;  sie  erscheinen  nur,  verwirklicht  in 
unzähligen  individuellen  Beispielen,  die  durch  Zeit  und 
Raum  zerstreut,  einem  beständigen  Wechsel  veränderlicher 
Zustände  an  sich  selbst  und  veränderlicher  Beziehungen 
untereinander  unterworfen  sind.  Geben  wir  selbst  zu,  daß 
die  Natur  jedes  Gattungsbegriffs  vollständig  das  Gesetz 
enthalte,  nach  welchem  jedes  seiner  Beispiele  sich  verhalten 
wird,  wenn  es  in  diese  oder  jene  Beziehung  eintritt,  so 
liegt  doch  in  demselben  Gattungsbegriff  eben  kein  Grund 
für  das,  was  wir  hier  hypothetisch  hinzufügen,  weder  für 
das  Vorhandensein  jenes  Beispiels  da  und  zu  der  Zeit, 
wo  es  vorhanden  ist,  noch  für  das  Eintreten  oder  Nicht- 
eintreten dieser  Beziehung.  Durch  die  Form  der  Classi- 
fication umfaßt  daher  das  Denken  nicht  alles,  was  es  um- 
fassen muß;  auch  das,  was  hier  nur  als  eine  beiläufige 
Reizung  der  allgemeinen  Begriffe  zur  Erzeugung  dieser  oder 
jener  ihrer  Arten  erscheint,  muß  als  ein  wesentlicher  Theil 
in  der  Gliederung  des  Ganzen  der  denkbaren  Welt  beachtet 
werden. 

141.  Diese  Betrachtung  wird  nicht  dadurch  widerlegt, 
daß  nach  einer  früheren  Bemerkung  sich  allerdings  die  ent- 
wickelnde Classification  nicht  auf  ruhende  Gattungen  des 
Seienden  und  des  Denkbaren,  sondern  auch  auf  den  Fort- 
schritt des  Geschehens  erstrecken  kann.  Was  das  Ge- 
schehen zum  Geschehen  macht,  das  Werden  des  einen  Zu- 
standes  aus  den  andern,  entzieht  sich  auch  hier,  in  den 
Versuchen  zu  einer  Entwicklung  der  Geschichte,  der  logi- 


172  Drittes  Kapitel. 

sehen  Thätigkeit  ganz.  Das  Vergangene  überlegend  oder 
das  Zukünftige  voraussagend,  können  diese  Speculationen 
die  Bilder  gewisser  Lagen  aufstellen,  als  augenblickliche 
Gleichgewichtszustände,  die  nach  ihrer  Annahme  in  dem 
Flusse  des  Geschehens  auf  einander  in  festgesetzter  Reihe 
zu  folgen  bestimmt  sind;  allein  wie  es  zugeht,  daß  dieser 
Uebergang  geschieht,  wissen  sie  nicht  zu  sagen.  Auch 
dann  nicht,  wenn  sie  die  unvollendbare  Arbeit  übernehmen 
wollten,  den  Zwischenraum  zwischen  zwei  solchen  Gleich- 
gewichtslagen in  unzählige  Stufen  zu  theilen;  sie  würden 
von  jeder  derselben,  nachdem  sie  erreicht  ist,  zeigen 
können,  daß  ihr  Begriff  eine  Vorstufe  des  Begriffs  der 
folgenden  ist;  aber  sie  würden  nicht  nachweisen  können, 
wodurch  der  wirkliche  Inhalt  dieses  Begriffes  die  Wirklich- 
keit des  andern  nach  sich  zieht.  Und  außerdem  muß  man 
hinzubedenken,  daß  reine  Begriffe  sich  nicht  in  Wirklich- 
keit vorfinden  oder  entwickeln,  sondern  nur  ihre  Beispiele, 
deren  jedes  eine  specifische  Bestimmtheit  aller  seiner  Merk- 
male besitzt,  welche  sein  Allgemeinbegriff  zwar  zuläßt, 
aber  nicht  bestimmt.  Was  daher  in  Wirklichkeit  durch 
jenes  Werden,  das  der  Classification  geheimnißvoll  bleibt, 
entstehen  wird,  entsteht  überdies  nicht  aus  dem  Begriff  der 
vorangehenden  Stufe,  sondern  aus  dieser  bestimmten  Ver- 
wirklichung desselben,  für  welche  jene  Denkform  ebenfalls 
kein  Auge  hat.  Alle  die  Versuche  der  alten  und  der  neuen 
Zeit,  den  Weltinhalt  auf  diesem  Wege  der  Emanation  aus 
einem  Urbegriffe  hervorgehen  zu  lassen,  unterliegen  dem- 
selben Mangel.  Ist  jener  Urbegriff  in  der  That  nur  ein 
reiner  Gedanke  irgend  eines  Verhältnisses,  das  zwischen 
noch  ganz  namenlosen  Beziehungspunkten  stattfinden  soll, 
so  können  sie  aus  ihm  nur  als  Möglichkeiten,  meinetwegen 
als  nothwendige  Forderungen,  gewisse  ebenso  allgemeine 
Formen  ableiten,  die  in  einer  zukünftigen  Wirklichkeit  so 
oder  so  auftreten  müssen ;  aber  sie  haben  kein  Mittel,  dieses 
So  oder  So  zu  entscheiden,  und  auch  sonst  kein  Mittel  zu 
zeigen,  woher  die  gewünschte  Verwirklichung  kommen 
werde.  Nehmen  sie  aber  an,  daß  jener  Urgedanke  nicht 
zwischen  so  namenlosen,  sondern  zwischen  bestimmt  ge- 
arteten Beziehungspunkten  von  Haus  aus  bestehe,  und 
theilen  sie  ihm  selbst  den  Anstoß  zur  Entwicklung,  der 
ihnen  fehlt,  als  eine  ursprüngliche  Unruhe  mit,  die  ihn  zur 
Entfaltung  seiner  Consequenzen  nöthigt,  so  gestehen  sie 
damit  nur  zu,  daß  die  volle  Gestalt  jeder  neuen  Entwick- 
lungsstufe nicht  allein  von  dem  Begriffe  der  vorigen,  sondern 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    173 

von  der  thatsächlichen  und  grundlosen  speciellen  Gestalt 
abhängig  ist,  in  welcher  bereits  dieser  Begriff  der  voran- 
gehenden sich  verwirklicht  hatte.  Das  heißt  mit  andern 
Worten:  sie  geben  zu,  daß  neben  ihrer  kategorischen  Ent- 
wicklung durch  Emanation  des  Begriffs  aus  sich  selbst  noch 
eine  andere  TVIacht  thätig  ist:  ein  hier  ganz  unbeachtet 
bleibendes  Ganze  gesetzgebender  hypothetischer  Bezie- 
hungen, welche  gebieten,  daß,  wenn  in  einem  gegebenen  Be- 
griffe die  Merkmale  thatsächlich  einen  bestimmten  Werth 
besitzen,  und  wenn  auf  diese  Merkmalgruppe  bestimmte 
Bedingungen  einwirken,  dann  die  Gestalt  des  aus  jenem 
folgenden  neuen  Begriffs,  der  neuen  Emanationsstufe,  voll- 
ständig, aber  auch  dann  erst  vollständig  bestimmt  ist.  Ver- 
gleichen wir  endlich  diese  Emanationslehre  mit  dem  Ver- 
fahren der  Subsumptionsschlüsse,  so  können  wir  kurz  sagen, 
daß  ihr  eben  die  zweite  Prämisse  mangelt,  durch  welche 
jene  aus  dem  allgemeinen  Obersatze  den  vergleichsweis 
specielleren  Schlußsatz  erst  hervorbringen.  Dieser  hier 
verschwiegenen,  nur  vorausgesetzten  Nebengedanken  hat 
die  Logik  ausdrücklich  zu  ergänzen:  sie  reicht  nicht  mit 
einer  Classification  von  Begriffen  aus,  sondern  muß  auch 
den  gesetzlichen  Zusammenhang  der  Urtheile  aufweisen, 
durch  welche  jene  bestimmende  Kraft  eines  vorhandenen 
Merkmals  auf  dasjenige  ausgesprochen  wird,  welches  aus 
ihm  entstehen  soll. 

142.  Es  ist  aber  nicht  nöthig,  die  Classification  nur  in 
ihrem  Ungenügen  zur  vollständigen  Auflösung  der  Denk- 
aufgabe zu  schildern;  sie  muß  zur  Erreichung  ihres  eigenen 
beschränkteren  Zieles  dieselben  verschwiegenen  Voraus- 
setzungen machen.  Jeden  der  Gattungsbegriffe,  welche  sie 
anordnet,  setzt  sie  nothwendig  aus  Merkmalen  zusammen, 
welche  auch  in  anderen  vorkommen.  Denn  alle  Mühe, 
eine  Stufenleiter  der  Gattungen  L  M  N  zu  bilden,  wäre  ver- 
loren, wenn  L  Merkmale  hätte,  die  nur  in  ihm,  aber  sonst 
in  der  Welt  nicht  erhört  wären,  und  M  und  N  sich  durch 
gleiche  Originalität  auszeichnen  wollten.  Die  Merkmale 
müssen  vielmehr  wie  überall  bereitliegende  Bausteine  an- 
gesehen werden,  die,  hier  so  dort  anders  zubehauen,  ein 
vergleichbares  Material  darstellen,  aus  dessen  verschieden- 
artiger Verwendung  allein  die  verschiedenen  Gebäude  der 
Begriffe  entstehen.  Nun  spricht  aber  die  entwickelnde 
Classification  von  einer  wechselseitigen  Determination  der- 
jenigen Merkmale,  welche  in  demselben  Gattungsbegriffe  M 
vereinigt  sind;  die  Aenderung  des  einen  zieht  Aenderungen 


174  Drittes  Kapitel. 

des  andern  nach  sich;  der  Fortschritt  dieser  Aenderungeii 
erzeugt  nicht  nur  die  einzelnen  Arten  der  Gattung  M, 
sondern  führt  über  sie  selbst  auch  zur  Gattung  N  hinaus. 
Welchen  Regeln  kann  diese  bestimmende  Macht  des  einen 
Merkmals  über  das  andere  folgen,  wenn  nicht  solchen,  die 
eine  allgemeingültige  Beziehung  zwischen  den  Naturen 
dieser  Merkmale  enthalten,  eine  Beziehung,  welche,  da 
die  gegebenen  Merkmale  selbst  über  den  einzelnen  Gattungs- 
begriff M  hinaus  Geltung  haben,  auch  von  diesem  Begriffe  M 
unabhängig  sein  müssen?  Von  dem,  was  diese  allge- 
meinen Gesetze  des  Zusammenhanges  der  Merkmale 
zulassen  oder  verbieten,  ist  daher  die  Bildung,  die  Mög- 
lichkeit oder  Unmöglichkeit  der  einzelnen  Arten  von  M, 
zuletzt  die  von  M  selbst  durchgängig  bedingt.  Mithin,  um 
auch  nur  ihre  eigene  Aufgabe  zu  erfüllen,  setzt  die  Classi- 
fication der  Begriffe  ein  Reich  von  Urtheilen  oder  all- 
gemeinen Gesetzen  voraus,  nach  denen  sich  die  Zulässigkeit 
die  Art  der  Verbindung  und  die  gegenseitige  Determination 
aller  Merkmale  richtet,  die  in  diesem  oder  in  jedem  be- 
liebigen andern  Gattungsbegriffe  vereinigt  werden  sollen. 

143.  Ich  habe  hier  einen  scheinbaren  Widerspruch  zu 
erwähnen,  dessen  Beseitigung  diese  Vorbetrachtung  zum 
Schlüsse  bringen  wird.  Diese  gegenseitige  Abhängigkeit 
eines  Merkmals  vom  andern  verlangten  wir  schon  einmal, 
bei  der  Form  der  Proportion;  damals  berichtigten  wir  uns 
dahin,  daß  nicht  zwischen  zwei  Merkmalen  überhaupt  eine 
constante  Beziehung  bestehe,  sondern  der  Maßstab  ihrer 
Wechselwirkung  erst  durch  die  Natur  des  Ganzen,  an  dem 
sie  vorkommen,  oder  durch  den  Begriff  dieses  Ganzen  ge- 
geben werde.  Hier  nun  scheinen  wir  dies  zu  widerrufen; 
in  Wahrheit  bestätigen  wir  es.  Denn  eben  dies  wird  uns 
jetzt  deutlich,  daß  der  Inhalt  jenes  Begriffes,  dem  wir  dort 
die  entscheidende  Macht  übertrugen,  in  nichts  besteht,  als 
in  einer  Anzahl  von  Merkmalen,  deren  jedes  einzeln  weiter 
reicht  als  dieser  Begriff  selbst,  und  die  in  ihm  auf  be- 
stimmte Weise  verbunden  sind.  Zwischen  diesen  Merk- 
malen sind,  wie  wir  sahen,  verschiedene  Beziehungen  mög- 
lich; es  kann  kommen,  daß  die  Vorstellung  des  einen  die 
des  andern  einschließt;  dann  \.ird  an  jedem  Subject,  dem 
das  erste  zukommt,  auch  das  andere  sich  einfinden;  es 
kann  sein,  daß  zwei  Merkmale  als  conträre  und  contra- 
dictorische  Glieder  eines  ihnen  Gemeinsamen  einander  aus- 
schließen, und  dann  sind  sie  an  keinem  denkbaren  Subject 
vereinbar;  zwischen  diesen  äußersten  Fällen  liegen  mittlere, 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    175 

in  denen,  ohne  eine  ähnliche  logische  Begründung,  uns  die 
Wahrnehmung  zwei  Merkmale  thatsächlich  verbunden  zeigt, 
aber  der  Werth  des  einen  nicht  überall  einen  gleichen 
Werth  des  andern  bedingt.  Diesen  Fällen  galt  unsere 
frühere  Bemerkung;  der  Grund  nun,  der  diesen  Spielraum 
verengt  und  die  Proportion  genau  feststellt,  nach  welcher 
sich  in  jedem  einzelnen  Sabject  zwei  Merkmale  determiniren, 
liegt  in  der  gleichzeitigen  Gegenwart  aller  übrigen  Merk- 
male, in  ihren  Werthen  und  in  ihrer  Verbindungsweise. 
Was  an  dem  Verhältniß  jener  zwei  unentschieden  war,  wird 
entschieden  durch  die  Verhältnisse  derselben  zu  allen 
übrigen;  wo  den  verschiedenen  Gleichungen,  durch  welche 
man  diese  sich  ausgedrückt  denken  kann,  nur  ein  einziger 
Werth  jedes  der  Merkmale  genugthut,  ist  die  Bildung  des 
Ganzen  vollständig  bestimmt;  wo  die  Anzahl  der  Gleichun- 
gen hierzu  nicht  genügt,  bleibt  dies  Ganze  theilweis  noch 
unbestimmt  und  stellt  einen  allgemeinen  Begriff  dar,  in 
welchem  es  noch  verschiedene  mögliche  Arten  gibt.  Der 
Allgemeinbegriff  ist  es  daher  allerdings,  der  seinen  unter- 
gebenen Arten  die  Proportion  bestimmt,  in  der  je  zwei 
Merkmale  einander  determiniren;  aber  er  thut  dies  nur 
kraft  der  geordneten  Summe  seiner  übrigen  Merkmale 
und  so  weit  diese  selbst  als  bestimmtwerthige  gegeben  sind. 
In  der  That  ist  hierauf  unser  Verfahren  immer  begründet 
gewesen.  Wenn  wir  classificirend  aus  einem  Gattungs- 
begriffe seine  Arten  entwickeln  wollten,  haben  wir  stets 
annehmen  müssen,  einige  seiner  allgemeinen  Merkmale  seien 
der  Reihe  nach  so  oder  anders  bestimmt;  dann  erst  folgte 
die  Bestimmtheit  der  übrigen,  durch  die  das  Bild  einer 
Art  im  Unterschied  von  der  andern  vollendet  wurde.  Daß 
aber  diese  erste  Bestimmtheit  stattfand,  welche  die  andere 
nach  sich  zog,  war  in  dem  Gattungsbegriff  selbst  nur  eine 
Möglichkeit,  deren  Verwirklichung  unabhängig  von  ihm 
durch  unser  Denken  gesetzt  wurde. 

144.  Ziehen  wir  diese  Betrachtungen  zusammen,  so 
können  wir  sagen:  jedes  Einzelne  und  jede  Art  einer 
Gattung  ist  das,  was  sie  ist,  durch  das  Zusammenwirken 
der  vollständigen  Summe  ihrer  Bedingungen;  diese  Be- 
dingungen aber  bestehen  darin,  daß  eine  Anzahl  von  Ele- 
menten oder  Merkmalen,  welche  auch  getrennt  von  einander 
sein  könnten,  thatsächlich  in  einer  bestimmten  Verbindung 
gegeben  sind,  neben  der  auch  andere  Verbindungen  der- 
selben   denkbar    sind,    und    Größenwerthe    besitzen,    außer 


176  Drittes  Kapitel. 

denen  sie  auch  andere  haben  könnten.  Aus  dieser  ge- 
gebenen Vereinigung  der  Bedingungen  folgt  nach  allgemeinen 
Gesetzen,  die  über  die  Beziehungen  jener  Elemente  gelten, 
dieses  ganz  bestimmte  Ergebniß;  aus  einer  Veränderung 
dieser  Bedingungen  jenes  andere  anders  bestimmte.  Jedes 
dieser  Ergebnisse  läßt  sich,  nachdem  es  da  ist,  mit  anderen 
vergleichen  und  sich  ihnen  als  Art  den  Arten  beiordnen 
oder  als  Art  der  Gattung  unterordnen ;  aber  man  muß  diesen 
Begriffen,  die  wir  bisher  als  den  Schlüssel  zum  Verständniß 
des  Gefüges  ihrer  Unterthanen  betrachten,  nicht  eine  andere 
geheimnißvolle  Macht  der  Gesetzgebung  zutrauen  außer  der, 
kurze  Ausdrücke  für  eine  bestimmte  Vereinigung  trenn- 
barer Bestandtheile  zu  sein,  deren  an  sich  nach  allge- 
meinen Gesetzen  überall  gleichartige  Wechselwirkung  durch 
diese  Vereinigung  zu  diesen,  durch  eine  andere  zu  anderen 
Folgen  führt. 

145.  Die  Umkehrung  der  gesammten  logischen  Auf- 
fassung, welche  in  diesen  Betrachtungen  liegt,  ist  deutlich; 
sie  tritt  in  der  modernen  Wissenschaft  als  die  logische 
Form  der  erklärenden  Theorie  der  Form  der  Classi- 
fication gegenüber,  welche  einseitig  das  Alterthum  be- 
herrschte. Ich  überlasse  der  angewandten  Logik  alles,  was 
über  die  Methoden  zu  sagen  ist,  welche  diese  Wendung 
unserer  Gedanken  zur  Ausführung  ihrer  Aufgabe  erzeugen 
muß,  und  beschränke  mich  hier  auf  die  kurze  Hervor- 
hebung der  Züge,  durch  welche  sich  die  logische  Auffassung 
des  Weltinhalts,  wenn  sie  im  Sinne  dieser  Theorien  erreicht 
wäre,  von  jener  der  Classification  unterscheiden  würde. 
Es  ist  vor  allem  nicht  mehr  von  einer  kategorischen 
Emanation  alles  Denkbaren  und  Wirklichen  die  Rede^ 
welches  aus  irgend  einem  Anfangspunkte,  nur  getrieben 
von  dem  dort  enthaltenen  Plane  einer  Entwicklung,  aber 
ohne  Beihülfe  anderer  Bedingungen  hervorginge;  die  Form 
der  Wissenschaft  wird  wesentlich  hypothetisch.  Sie 
erzählt  nicht,  was  ist  und  geschieht,  sondern  sie  bestimmt, 
was  sein  und  geschehen  muß,  wenn  bestimmte  Bedingungen 
gegeben  sind ;  ob  dagegen  überhaupt  und  in  welcher  Reihen- 
folge oder  Verknüpfung  diese  Bedingungen  vorkommen, 
diese  Frage  schließt  sie  aus  dem  logischen  Gebiet  aus 
und  überläßt  sie  der  erfahrungsmäßigen  Erkenntniß,  welche 
diese  Thatsachen  als  Anwendungsbeispiele  der  Theorie 
herbeibringen  wird.  Ich  lasse  ferner  hier  dahingestellt, 
auf  welche  Weise  sich  diese  Theorie  der  allgemeinen  Ge- 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    177 

setze  bemächtigt,  nach  welchen  sie  entscheidet,  daß  überall, 
wo  ein  bestimmter  Kreis  von  Bedingungen  gegeben  sein 
möchte,  nur  eine  bestimmte  Folge  und  keine  andere  ent- 
stehen müsse;  es  reicht  jetzt  hin  zu  bemerken,  daß  sie 
überhaupt  von  diesem  Gedanken  eines  Gesetzes  ausgeht, 
welches  die  bestimmte  Folge  einer  bestimmten  Bedingung 
allgemein  feststellt.  Das  will  sagen:  überall,  wo  die 
Bedingung  a  -(-  b  sich  findet,  folgt  aus  ihr  nur  c,  und  die 
Natur  des  Gegenstandes,  an  dem  a  -|-  b  vorkommt,  hat  nicht 
die  Macht,  dieser  Bedingung  unmittelbar  eine  andere  Folge 
zu  geben,  als  dieses  c ;  sie  kann  dies  nur,  sobald  außer  a  -f-  b 
sich  in  ihr  noch  andere  Bedingungen  a  -j-  d  vorfinden,  deren 
Zusammenwirken  mit  a  -|-  b  gleichfalls  nach  einer  allgemeinen 
Nothwendigkeit,  die  von  der  Natur  dieses  Gegenstandes 
ganz  unabhängig  ist  und  für  jeden  andern  ebenso  gelten 
würde,  die  Veränderung  von  c  in  y  befiehlt.  In  diesem 
neuen  Erfolge  y  ist  dann  die  Wirksamkeit  des  Gesetzes, 
welches  c  an  a-|-b  knüpfte,  nicht  aufgehoben,  sondern  un- 
verändert mit  enthalten ;  denn  für  sich  allein  würde  a  -|-  d 
nicht  y,  sondern  b   erzeugt  haben. 

Auf  der  Grundlage  dieser  allgemeinen  Gesetze  beruht 
der  mechanisirende  Charakter,  den  diese  Theorien  sich 
selbst  zum  Ruhme  anrechnen,  von  ihren  logischen  Gegnern 
als  Tadel  angerechnet  erhalten.  Der  Neigung,  welche  eine 
Reihe  von  Erscheinungen  organisch,  wie  man  sagt,  aus 
dem  Sinne  eines  Gedankens  herleiten  will,  der  sich  in 
ihnen  entwickle,  treten  sie  mit  der  Behauptung  gegenüber, 
der  bloße  Sinn,  der  sich  entwickeln  will,  erzeuge  nichts, 
sondern  alles  sei  nur,  sobald  die  vollständige  Summe  der 
Bedingungen  gegeben  sei,  von  der  es  nach  allgemeinen 
Gesetzen  als  nothwendige  Folge  abhänge;  als  Ergebniß 
dieser  Bedingungen  allein  müsse  man  es  betrachten,  und 
die  Erklärung  bestehe  nur  darin,  ein  Gegebenes  in  seiner 
ganzen  vollständigen  Bestimmtheit  als  die  unvermeidliche 
Folge  der  Anwendung  allgemeingeltender  Gesetze  auf 
ebenso  bestimmte  gegebene  Umstände  aufzuweisen.  Mit 
dieser  logischen  Gesinnung,  die  wir  am  meisten  ausge- 
sprochen in  den  mechanischen  Naturwissenschaften  finden, 
sind  die  erklärenden  Theorien  dem  Gebrauch  und  der  Auf- 
suchung allgemeiner  Gattungsbegriffe  sowie  dem  Unter- 
nehmen von  Classificationen  abgeneigt;  sie  würden  eine 
Erscheinung  so  lange  für  nur  wahrgenommen,  aber  un- 
begriffen ansehen,  als  sie  sich  nur  auf  die  Eigenthümlichkeit, 

Lotze,  Logik.  12 


178  Drittes  Kapitel. 

durch  die  ein  Begriff  sich  gegen  den  andern  abschließt, 
und  nicht  auf  die  Vorschriften  eines  allgemeinen  Bedingungs- 
rechtes zurückführen  ließe,  das  für  allen  Denkinhalt  und 
alles  Wirkliche  gleichmäßig  verbindlich  ist;  ihr  Stolz  besteht 
darin,  der  Gattungsbegriffe  und  ihrer  Stellung  in  einem 
Classensystem  nicht  zu  bedürfen,  sondern  zu  zeigen,  daß 
man  mit  jeder  Erscheinung,  wohin  sie  auch  ihrem  Sinn 
nach  gehören  möge,  fertig  werden  könne,  sobald  man  die 
Summe  der  in  ihr  verbundenen  Beziehungspunkte  kenne; 
denn  alles,  was  ist,  sei  lediglich  ein  Beispiel  dessen,  was 
da  werden  muß,  wenn  die  allgemeinen  Gesetze  auf  diese 
oder  jene  bestimmte  Gruppe  gegebener  Elemente  angewandt 
werden.  Und  selbst  mit  dem  kann  die  erklärende  Theorie 
sich  nicht  begnügen,  was  man  als  äußerstes  Zugeständniß 
ihr  zuweilen  entgegenstellt:  alles  folge  zwar  allgemeinen 
Gesetzen,  aber  jedes  Gebiet  der  Wirklichkeit  doch  seinen 
eigenen,  und  die  Gesetze  des  Lebendigen,  des  Geistigen» 
seien  andere  als  die  des  Unlebendigen  und  Materiellen. 
Selbstverständlich  ist  es  freilich,  daß  diejenigen  speciellen 
Gesetze,  welche  sich,  als  nächsthöhere  allgemeine  Regeln, 
am  engsten  an  den  Inhalt  und  die  Gestalt  gegebener  Er- 
scheinungen anschließen,  verschieden  sind  je  nach  der  Ver- 
schiedenheit der  Subjecte,  deren  Verhalten  sie  ausdrücken; 
aber  nur  zwei  Welten,  die  einander  nichts  angingen  und 
aus  deren  einer  keine  Wirkungen  irgend  welcher  Art  in 
die  andere  hinüberliefen,  könnten  auf  zwei  höchsten,  von 
einander  unabhängigen,  Gesetzen  beruhen;  wer  von  Einer 
Welt  spricht,  welche  jene  verschiedenen  Gruppen  sich  ent- 
wickelnder Dinge  und  Ereignisse  einschließe,  muß  von 
Einem  für  alles  WirkHche  gültigen  Gesetze  oder  Einem 
zusammengehörigen  Gesetzkreise  ausgehen,  aus  dem  alle 
speciellen  Gesetze  der  verschiedenen  Gebiete  als  particulare 
Fälle  hervorgehen,  sobald  man  ihm  nacheinander,  als  eine 
Reihe  verschiedener  zweiter  Prämissen,  die  Bedingungen 
unterordnet,  durch  welche  sich  die  Naturen  der  in  den 
einzelnen   Gebieten    wirksamen    Subjecte   unterscheiden. 

146.  Gemäß  der  Theilung  der  Aufgaben,  die  ich  mir 
vorgenommen,  habe  ich  in  der  letzten  Darstellung  noch 
keines  der  Mittel  der  Untersuchung  erwähnt,  deren  die 
erklärende  Theorie  sich  bedient,  theils  um  jene  allgemeinen 
Gesetze  zu  finden,  denen  sie  jeden  zusammengehörigen  Kreis 
von  Inhalt  unterwirft,  theils  um  in  der  Mannigfaltigkeit 
des  Gegebenen  das  innerlich  Zusammengehörige  selbst  erst 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    179 

zu  entdecken,  das  eine  gemeinsame  Unterordnung  unter 
dieselben  Obersätze  verträgt  oder  fordert.  Ich  behielt  es 
der  angewandten  Logik  vor,  mit  größtmöglicher  Freiheit 
der  Bewegung  diese  Anstrengungen  zu  verfolgen;  die 
systematische  Uebersicht  der  Denkhandlungen,  deren  Ab- 
schluß wir  uns  nun  nähern,  hatte  nur  die  Gestalt  ins  Auge 
zu  fassen,  welche  die  erklärende  Theorie  dem  Zusammen- 
hange alles  Denkbaren  zu  geben  wünscht,  und  welche, 
wenn  es  gelänge,  sie  in  der  That  allem  Denkbaren  zu 
geben,  als  das  erreichte  letzte  Ziel  aller  Bestrebungen  des 
Denkens  erscheinen  würde.  Ueber  dieses  letzte  Ziel  aber 
theile  ich  nicht  die  herrschende  Ueberzeugung  der  Gegen- 
wart. Fast  nur  in  der  erklärenden  Form  der  Theorie  be- 
wegen sich  die  wissenschaftlich  thätigen  Kräfte  unserer 
Zeit;  das  spät  erst  zur  Klarheit  gekommene  Bewußtsein 
des  in  ihr  zu  befolgenden  Grundsatzes  unterscheidet  mächtig 
alle  moderne  Wissenschaft  von  der  des  Alterthums  und 
des  Mittelalters,  die  von  ihr  entwickelten  Methoden  der 
Untersuchung  bilden  den  werthvollen  Schatz,  durch  welchen 
die  Erkenntnißkunst  der  neuen  Zeit  die  der  antiken  Philo- 
sophie überflügelt.  Daß  gleichwohl  die  Ueberzeugung,  mit 
dieser  Form  des  Denkens  am  Ende  aller  Wünsche  zu  sein, 
nicht  allgemein  ist,  beweist  der  unablässige  Widerstand, 
der  ihrer  ausschließlichen  Herrschaft  über  alles  Denkbare 
entgegengesetzt  wird.  Betrachten  wir  diesen  Widerstand 
zuerst  in  den  kenntlichen  Gestalten,  die  er  in  der  Ge- 
sammtheit  unserer  Weltauffassung  annimmt,  so  werden  wir 
den  Rest  rein  logischen  Bedürfnisses  aus  ihnen  ablösen 
können,  welchen  die  erklärenden  Theorien  unbefriedigt 
zurücklassen. 

147.  Am  deutlichsten  tritt  die  ästhetische  Abneigung 
künstlerisch  gestimmter  Gemüther  gegen  die  Behauptung 
hervor,  nur  allgemeinen  Gesetzen  sei  alles  Seiende  unter- 
worfen, und  jedes  Einzelne  nur  das,  was  es  nach  diesen, 
Gesetzen  werden  mußte,  wenn  Bedingungen,  die  sich  auch 
anders  hätten  fügen  können,  in  einer  bestimmten  that- 
sächlichen  Form  sich  zusammengefügt  haben.  So  meint 
man  die  Schönheit  des  Schönen  nicht  fassen  zu  können; 
nur  dann  scheint  sie  von  Werth,  und  das  zu  sein,  was 
sie  ist,  wenn  die  Endgestalt,  die  wir  bewundem,  das  Er- 
gebniß  einer  einheitlichen  Macht  ist,  _aus  der  sie  zwar 
auch  als  unvermeidliches  Ergebniß,  aber  nicht  nur  als 
solches,  sondern   als  die  Erfüllung  und  Erscheinung  eines 

|0* 


180  Drittes  Kapitel. 

lebendigen  Triebes  hervorgeht;  sie  schiene  unverständlich 
zu  werden,  wenn  sie  nur  der  Glücksfall  einer  Harmonie 
zwischen  zufällig  zusammengerathenen  Bestandtheilen  wäre. 
Ich  habe  anderswo  zu  zeigen  versucht,  daß  dieser  Einwand 
der  Aesthetik  verfehlt  ist,  wenn  er  dazu  übergeht,  die 
allgemeine  Macht  der  erklärenden  Theorie  oder  des 
Mechanismus  zu  leugnen.  Zufällig  ist  im  Sinne  dieser 
Theorie  das  Zusammenkommen  der  verschiedenen  be- 
dingenden Elemente  niemals ;  es  ist  überall  die  nothwendige 
Folge  der  vorangegangenen  Weltzustände;  so  führt  nach 
rückwärts  uns  diese  Ueberlegung  entweder  zu  irgend  einer 
Combination  der  Elemente,  die  wir  als  den  Anfangszustand 
der  Welt  ansehen;  und  nichts  hindert  dann  die  Annahme, 
in  dieser  Combination,  die  denkbar  auch  eine  andere  hätte 
sein  können,  habe  der  bewundernswürdige  Keim  der  Schön- 
heit gelegen,  dessen  einheitliche  Macht,  durch  allen  mecha- 
nischen Zusammenhang  der  Folgezustände  hindurchwirkend, 
die  Schönheit  der  einzelnen  Erscheinungen  als  einzelne 
Zeugnisse  seiner  selbst  hervortreibe.  Oder  wenn  wir  den 
schwierigen  Gedanken  eines  Anfangszustandes  vermeiden 
wollen,  so  hindert  uns  nichts,  in  einem  beliebigen  Zeit- 
punkt einen  Durchschnitt  gleichsam  durch  die  Breite  des 
Weltlaufs  zu  legen  und  anzunehmen,  daß  die  Combination 
aller  in  gleichem  Augenblick  in  ihm  wirksamen  Kräfte, 
eben  weil  sie  diese  ist  und  keine  der  andern  denkbaren, 
die  sie  hätte  sein  können,  den  einheitlichen  Grund  aller 
jener  einzelnen  Schönheiten  bildet.  Diese  Annahme  würde 
alles  einschließen,  was  unser  ästhetisches  Gefühl  für  noth- 
wendig  hält,  um  die  Würde  der  Schönheit  zu  sichern;  sie 
würde  nur  den  Ort  etwas  verändert  haben,  in  welchem 
sie  jene  einheitlich  treibende  Macht  fände;  nicht  mehr 
ganz  auf  sich  beruhend  läge  diese  Macht  in  dem  einzelnen 
Schönen;  sie  führe  zwar  fort  in  ihm  selbst  wirksam  zu 
sein,  doch  nur  als  Nachwirkung  eines  Allgemeinen,  das 
alle  Einzelheiten  durchdringt.  Diese  Verschiebung  des  Ur- 
sprungs der  Schönheit  aber  widerstrebt  den  Bedürfnissen 
der  Aesthetik  nicht;  anderseits  die  mechanische  Theorie, 
da  sie  irgend  einen  gegebenen  Thatbestand  voraussetzen 
muß,  an  dem  sich  die  Folgerichtigkeit  der  allgemeingesetz- 
lichen Entwicklung  vollzieht,  hat  kein  Interesse,  ihn  lieber 
sinnlos  als  sinnvoll,  lieber  unvernünftig  als  vernünftig, 
lieber  als  Grund  eines  zwecklosen,  denn  als  den  eines 
zweckmäßig  zusammenstimmenden  Weltlaufs  zu  denken. 
Eins  aber  liegt  gleichmäßig  in  jener  Forderung  der  Aesthetik* 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    181 

und  in  diesem  Zugeständniß  der  erklärenden  Theorie:  die 
zweiten  Prämissen,  welche  wir  den  allgemeinen  Gesetzen 
unterordnen  und  durch  die  wir  die  Thatbestände  bezeichnen, 
auf  welche  sich  die  Aussprüche  der  Gesetze  anwenden 
sollen,  können  nicht  so  zufälliger  Herkunft  sein,  wie  sie  uns 
allerdings  erscheinen,  wenn  wir,  in  der  Untersuchung  eines 
einzelnen  Inhaltsgebietes  begriffen,  sie  aus  ihrem  Zusammen- 
hang untereinander  gerissen  haben;  sie  selbst  müssen 
systematisirt  werden  und  Glieder  eines  Ganzen  bilden,  des 
Ganzen,  welches  alle  wirklichen  Anwendungsobjecte  jener 
allgemeinen  Gesetze  umfaßt.  Nicht  in  hypothetischer  Form 
sollen  die  Untersätze  unserer  Weltbetrachtung  eine  Menge 
unzusammenhängender  Möglichkeiten  denken,  deren  jede, 
wenn  sie  einträte,  in  Folge  der  allgemeinen  Gesetze  zu 
einem  bestimmten  Erfolge  führen  würde,  sondern  asser- 
torisch müßten  sie  jede  einzelne  dieser  Möglichkeiten,  die 
eintritt,  von  denen,  die  nicht  eintreten,  als  ein  berechtigtes, 
an  bestimmte  Stelle  gehöriges  Glied  der  geordneten  Ge- 
sammtreihe    des    Wirklichen    vorführen. 

148.  Theils  bestätigt  theils  weiter  umgeformt  wird  diese 
Forderung  in  Folge  metaphysischer  Bedenken.  Denn  was 
hieße  es  doch,  auf  der  einen  Seite  ein  Reich  allgemein- 
gültiger Gesetze  annehmen,  auf  der  andern  eine  Summe 
von  Wirklichem,  das  sich  ihnen  fügt,  wenn  zwischen  diesen 
beiden  kein  weiteres  Verhältniß  stattfände  und  diese  Unter- 
werfung begreiflich  machte?  Und  worin  anders  könnte 
diese  Unterwerfung  bestehen,  als  darin,  daß  das  Verhalten, 
welches  jene  Gesetze  vorschreiben,  von  allem  Anlsuig  an 
eine  thatsächliche  Eigenschaft  alles  Wirklichen  selbst,  ein 
constantes  Merkmal  desselben  ist  neben  den  verschiedenen 
oder  veränderlichen  Merkmalen,  durch  die  sich  ein  Wirk- 
liches vom  anderen  unterscheidet?  Niemals  läßt  sich  doch 
eine  Wahrheit  anwenden,  wie  wir  zu  sagen  pflegen, 
auf  einen  Inhalt,  der  ihr  nicht  von  selbst  entspricht;  jede 
Anwendung  ist  nur  die  Anerkennung,  daß  das,  was  wir 
anwenden  wollen,  die  eigene  Natur  dessen  ist,  in  Bezug 
auf  welches  die  Anwendung  stattfinden  soll.  Constante 
Verhaltungsweisen  nun,  die  in  jedem  Wirklichen  vorkommen> 
lassen  sich  aus  einer  beschränkten  Anzahl  von  Beobachtun- 
gen gewinnen,  und  da  sie  nun  in  unserem  Denken  als 
Erwartungen,  die  sich  bestätigen  werden,  den  weiteren 
Beobachtungen  vorangehen,  so  erscheinen  sie  leicht  als 
etwas,  was  auch  der  Natur  der  Sache  nach  in  selbständiger 


182  Drittes  Kapitel. 

Geltung  dem  vorangehe,  woran  es  sich  für  uns  aufs  Neue 
bestätigen  wird;  daher  jener  wunderliche  Sprachgebrauch, 
der  die  allgemeinen  Gesetze  als  für  sich  herrschende  Mächte 
ansieht,  denen  alles  Wirkliche,  woher  es  auch  kommen  und 
was  es  immer  sein  mag,  späterhin  sich  zu  unterwerfen  ge- 
nöthigt  ist.  Vermeiden  wir  nun  dies  Mißverständniß  und 
verknüpfen  wir,  was  wir  an  seine  Stelle  setzen,  mit  dem, 
was  aus  unserem  ästhetischen  Bedürfniß  floß,  so  verlangen 
wir  jetzt  als  den  einzigen  und  einheitlichen  Gegenstand 
unseres  Denkens  ein  Seiendes,  welches,  nicht  in  Folge 
eines  noch  höheren  Gesetzes,  sondern  weil  es  das  ist, 
was  es  ist,  zugleich  der  Grund  der  allgemeinen  Gesetze  ist, 
nach  denen  es  überall  sich  verhalten  wird,  und  zugleich 
der  Reihenfolge  der  einzelnen  Wirklichkeiten,  die  nachher 
uns  sich  diesen  Gesetzen  unterzuordnen  scheinen  werden. 
Ich  beabsichtige  nicht,  diesen  Gegenstand  hier  zu  erschöpfen, 
und  gehe  über  manche  Schwierigkeiten  hinweg,  deren  einige 
wir  später  innerhalb  dieser  logischen  Untersuchungen  selbst, 
andere  im  Zusammenhange  der  Metaphysik  zu  erwägen 
haben  werden;  es  genügt  mir,  die  logische  Gedankenform 
zu  verfolgen,  welche  das  Streben  nach  Befriedigung  des 
geschilderten   Bedürfnisses    suchen   müßte. 

149.  Sie  wird  nicht  mehr  ganz  die  des  früheren 
Schlusses  sein.  Das  allgemeine  Gesetz,  welches  in  diesem 
der  Obersatz  voranstellte,  wird  als  latentes,  stillschweigend 
überall  mitgedachtes,  aufhören,  diese  ausgezeichnete  Stelle 
des  wesentlich  bestimmenden  Gliedes  einzunehmen;  an 
seine  Stelle  tritt  die  allgemeine  Natur  des  in  der  Welt 
sich  entwickelnden  Gesammtinhalts.  Und  diese  Natur  wird 
nicht  aufgefaßt  als  der  ruhende  Inhalt  einer  Idee,  der 
fremder  Bedingungen  bedürfte,  um  in  Bewegung  zu  ge- 
rathen,  sondern  als  begriffen  in  einer  Bewegung,  die  mit 
zu  dem  gehört,  was  dieser  Inhalt  ist,  und  ohne  die  er 
nicht  sein  würde,  was  er  ist;  in  jedem  Augenblick  aber 
ist  die  einzelne  Gestalt,  welche  dieser  bewegte  Inhalt  an- 
nimmt, abhängig  von  seinem  bleibenden  Sinne  und  der 
bleibenden  Richtung  seiner  Bewegung  einerseits,  und  von 
dem  bestimmten  Orte  oder  dem  bestimmten  Ergebniß  seiner 
Entwicklung,  zu  dem  er  bis  dahin,  nicht  durch  fremde 
Bedingungen,  sondern  durch  seine  eigene  Bewegung  ge- 
kommen ist.  Es  würde  nicht  unmöglich,  sondern  nur  weit- 
läufig sein,  den  wesentlichen  Sinn  dieser  Vorstellungsweise 
auszudrücken,  ohne  den  Begriff  der  Bewegung  einzumischen; 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.     183 

wir  würden  auf  die  Forderung  einer  Idee  kommen,  unter 
welcher  alle  Wirklichkeit  als  das  System  ihrer  Arten  und 
Unterarten  befaßt  ist;  aber  die  Unterschiede  und  die  Rang- 
ordnung dieser  Arten  würden  nicht  nach  unabhängig  von 
jener  Idee  vorgefundenen  Merkmalen  und  deren  Modi- 
ficationen  bestimmt;  sie  selbst  vielmehr  würde  den  Grund 
des  Vorhandenseins  dieser  Merkmale,  der  möglichen  Ein- 
theilungen  derselben  und  der  Werthordnung  der  so  ent- 
stehenden Varietäten,  mithin  den  ganzen  Grund  ihrer  eigenen 
classificatorischen  Gliederung  in  sich  selbst  enthalten.  Am 
kürzesten  fassen  wir  uns  in  die  Formel:  die  gesuchte 
Denkform  solle  nur  einen  Obersatz  für  alle  ihre  Schlüsse 
haben,  und  dieser  die  Bewegung  des  gesammten  Welt- 
inhalts ausdrücken ;  die  veränderlichen  Untersätze  aber  lasse 
sich  dieser  Obersatz  nicht  anderswoher  geben,  sondern 
erzeuge  sie  selbst  als  die  nach  seiner  eigenen  Consequenz 
nothwendigen  und  vollständigen  Variationen  seines  Sinnes, 
und  lasse  so  in  geordneter  Reihe  die  unendliche  Anzahl 
der  Schlußsätze  hervorgehen,  die  zusammengenommen  die 
entwickelte  Wirklichkeit  bilden,  welche  der  Obersatz  in 
Gestalt  eines  entwicklungsfähigen  Princips  gedacht  hatte. 
150.  Man  kann  nicht  sagen,  daß  der  Trieb,  das  Ganze 
unserer  Gedankenwelt  nach  diesem  Muster  zu  gliedern, 
dem  unbefangenen  Lauf  unseres  Denkens  fremd  sei;  er  ist 
vielmehr  zu  allen  Zeiten  wirksam  gewesen,  und  jedesmal, 
wenn  in  mehr  oder  minder  vollkommener  Form  sich  eine 
Weltbetrachtung  nach  der  mechanischen  Weise  der  er- 
klärenden Theorien  entwickelte,  ist  er  dieser  in  der  immer- 
wiederkehrenden Forderung  einer  Auffassung  der  Welt  und 
aller  Dinge  als  einer  lebendigen  Entwicklung  gegenüber- 
getreten. Denn  das  Lebendige  ist  die  Erscheinung,  in  der 
wir  die  Erfüllung  der  gemachten  Ansprüche  vollkommen 
verwirklicht  zu  sehen  glauben ;  so  wie  hier  der  ursprüngliche 
Typus  des  Organismus  zur  wirkenden  Macht  wird,  die  sich 
selbst  die  Anreize  und  die  Bedingungen  ihrer  folgerechten 
Entwicklung  erzeugt,  so  sollte  das  Ganze  der  Welt  von 
innen  heraus  sich  die  Gelegenheiten  herv^orbringen,  die 
zur  allmählichen  Verwirklichung  seines  Gesammtinhaltes 
als  nothwendige  Bedingungen  gehören.  Was  an  diesem 
Glauben  an  die  selbständige  Entwicklung  des  einzelnen 
Lebendigen  irrig  ist,  braucht  hier  nicht  berührt  zu  werden; 
genug,  daß   es  auf  ausdrucksvolle  Weise  uns  das   zu  sein 


184  Drittes  Kapitel. 

scheint,  was  wir  suchen.  An  dieses  Bild  hat  sich  auch 
stets  die  Lehre  angeschlossen,  die  zum  letzten  Mal  in 
unserer  Zeit  sich  ausdrücklich  zu  dem  Streben  bekannte, 
aus  der  Einheit  einer  sich  selbst  entwickelnden  und  die 
Bedingungen  ihres  Fortschritts  sich  selbst  erzeugenden  Idee 
die  Gesammtheit  des  Weltinhaltes  entstehen  zu  sehen.  Denn 
nicht  selbst  wollte  diese  Philosophie  Hegel's,  nicht  als  unter- 
suchendes und  überlegendes  Subject,  nicht  durch  die  Mittel 
eines  verständigen  oder  discursiven  Denkens,  durch  Unter- 
ordnung selbständiger  zweiter  Prämissen  unter  allgemeine 
Obersätze,  eine  Ableitung  des  Weltinhaltes  aus  jenem  einen 
Princip  vollbringen;  nur  zusehen  wollte  sie,  wie  aus  eigener 
Triebkraft  der  Idee  diese  Entwicklung  erfolgt.  Und  für  dieses 
anschauende,  im  ursprünglichen  Sinne  des  Wortes  specu- 
lative  Denken  glaubte  sie  in  der  dialektischen  Methode 
die  Leitung  gefunden  zu  haben,  welche  in  jedem  Falle  dem 
Blicke  des  Schauenden  die  wahre  Richtung  nach  der  sich 
vollziehenden  Entwicklung  gibt.  Ich  beharre  darauf,  in 
dieser  Uebersicht  der  logischen  Formen  noch  von  den  Aus- 
führungsmaßregeln zu  schweigen,  durch  welche  ihre  An- 
wendung auf  den  denkbaren  Inhalt  gesichert  werden  kann, 
und  ich  überlasse  deshalb,  was  von  jener  Methode  als 
Methode  zu  sagen  ist,  einem  späteren  Zusammenhange; 
aber  zur  Bezeichnung  dieser  letzten  Gestalt,  die  wir  allem 
Denkinhalt  zu  geben  wünschen,  eigne  ich  mir  den  Gegen- 
satz zwischen  Speculation  und  erklärender  Theorie  an  und 
nenne  die  Form  des  speculativen  Denkens  dies 
dritte  Glied,  mit  welchem  die  Reihe  der  alles  umfassenden 
systematischen  Denkformen   endet. 

151.  Und  doch  fühle  ich,  daß  ich  nicht  ganz  so  kurz 
abschließen  darf ;  auf  eine  schon  früher  gemachte  Bemerkung 
muß  ich  noch  einmal  zurückkommen.  Alle  Denkformen, 
die  wir  betrachten,  sind  Ideale ;  sie  bezeichnen  die  End- 
gestalten, welche  das  Denken  dem  geringeren  oder  größeren 
Inhalte  seiner  Betrachtung  zu  geben  wünscht,  oder  geben 
zu  können  wünscht,  um  durch  ihn,  durch  den  Nachweis 
der  Zusammengehörigkeit  alles  Zusammenseienden,  in 
seinem  eigenen  Streben  befriedigt  zu  sein;  alle  diese  Ideale 
verlieren  nichts  an  ihrer  Gültigkeit  dadurch,  daß  es  dem 
menschlichen  Wissen  nicht  gelingt,  ihnen  jeden  gegebenen 
Inhalt  zu  unterwerfen.  Nicht  in  jedem  Erscheinungskreis 
sind  wir  vielleicht  im  Stande,  die  allgemeinen  Gesetze  zu 


Die  Lehre  vom  Schluß  und  den  systematischen  Formen.    185 

entdecken,  die  ihn  beherrschen,  und  wenn  wir  sie  entdeckt 
hätten,  gelänge  es  uns  vielleicht  nicht,  jeden  Einzelfall 
ihnen  so  unterzuordnen,  daß  die  Nothwendigkeit  einer  ge- 
gebenen Folge  daraus  einleuchtete.  Aber  wir  würden  unsere 
Forschungen  nach  dieser  Richtung  nicht  rastlos  fortsetzen, 
wenn  wir  nicht  überzeugt  wären  von  der  /allgemeinen  Geltung 
dieses  Princips  der  erklärenden  Theorie  und  davon,  daß 
die  Gültigkeit  desselben  unabhängig  von  der  Möglichkeit 
bestehe,  sie  mit  den  Mitteln  unserer  Erkenntniß  an  jedem 
denkbaren  Inhalte  zu  bewähren.  Vielleicht  ist  die  Form 
des  speculativen  Denkens  noch  ungünstiger  gestellt;  viel- 
leicht reichen  überhaupt  die  Bedingungen,  die  dem 
menschlichen  Denken  gestellt  sind,  nicht  dazu  hin,  um 
auch  nur  in  wenigen,  auch  nur  in  einem  Falle  wirklich 
auszuführen,  was  hier  angestrebt  wird:  immer  wird  auch 
dieses  Ideal  in  verbindlicher  Kraft  bleiben  und  die  Gestalt 
bezeichnen,  durch  welche,  wenn  man  sie  ihm  geben  könnte, 
der  Gesammtinhalt  der  Gedankenwelt  alle  Ansprüche  des 
Denkens  voll  befriedigen  würde.  Ihre  berechtigte  Stelle 
in  der  systematischen  Reihe  der  Denkformen  hat  daher 
auch  diese;  daß  sie  zugleich  das  Endglied  der  Reihe  ist, 
bedarf  eines  Beweises  nicht :  sie  hat  keine  unverbundene 
blos  zusammenseiende  Mannigfaltigkeit  übrig  gelassen, 
sondern  alles  in  jene  Zusammengehörigkeit  verbunden, 
deren  Nachweis  das  beständige  Ziel  alles  Denkens  war. 
Zugleich  aber  weist  sie  über  das  logische  Gebiet  hinaus. 
Der  erklärenden  Theorie  konnte  es  noch  so  vorkommen, 
als  besäße  sie  in  allgemeinsten  Gesetzen,  die  das  Denken 
aus  sich  allein  erzeugt,  einen  Rechtsgrund,  um  über  das 
Verhalten  des  Wirklichen  im  voraus  zu  entscheiden;  die 
Speculation  leugnet  diese  Berechtigung  nicht,  aber  indem 
sie  alles,  die  Macht  dieser  allgemeinen  Gesetze  selbst,  die 
Richtung,  welche  die  Entwicklung  des  Weltinhaltes  nimmt, 
und  die  Einzelforaien,  welche  in  Folge  dieser  beiden  in 
jedem  Augenblicke  das  Wirkliche  annimmt,  einzig  und  allein 
in  der  Natur  des  Inhalts  eines  höchsten  Princips  be- 
gründet sein  läßt,  deutet  sie  an,  daß  die  endliche  Erfüllung 
alles  logischen  Strebens  nicht  durch  neue  logische  For- 
men, sondern  nur  durch  sachliche  Erkenntniß  dessen 
möglich  sein  würde,  was  sie  als  höchstes  sich  selbst  ent- 
wickelndes Princip   voraussetzt. 


186  Drittes  Kapitel. 

Indem  ich  diese  Darstellung  schließe,  bin  ich  mir  ihrer 
Abweichung  von  den  Lieblingswegen  der  Gegenwart  wohl- 
bewußt. So  sehr  sind  wir  gewöhnt,  uns  Geschichten  er- 
zählen zu  lassen  und  durch  wahre  oder  erträumte  Ent- 
stehungsweisen irgend  eines  Gebildes  unsere  Wißbegier  be- 
friedigt zu  fühlen,  daß  auch  die  Logik  von  psychologischen 
Begründungen  und  Ableitungen  ihrer  Lehren  überschwillt; 
veraltet  fremdartig  und  unverständlich  dagegen  erscheint 
jeder  Versuch,  die  Formen  des  Denkens  in  eine  Reihe  zu 
ordnen,  deren  Fortschrittsgesetz  in  der  Natur  seiner  Auf- 
gaben und  nicht  in  der  Ordnung  liegt,  in  welcher  die  zur 
Lösung  derselben  nöthigen  Aeußerungen  der  geistigen 
Thätigkeiten  in  der  Entwicklung  des  einzelnen  Seelenlebens 
hervortreten.  Ich  lasse  mir  gefallen  und  wünsche,  daß 
man  in  der  Wahl  meiner  Darstellungsweise  den  voraus- 
wirkenden Einfluß  der  idealistischen  Philosophie  erkennt, 
zu  der  sie  einleiten  soll;  ich  fürchte  nicht,  durch  diese 
Wahl  den  Inhalt  der  logischen  Wahrheiten  getrübt  zu  haben, 
welche  für  alle  Ansichten  gleichmäßig  feststehen  müssen. 


Zweites  Buch. 

Yom  Untersuchen. 

(Angewandte  Logik.) 


Vorbemerkung. 

152.  So  sehr  sind  wir  gewöhnt,  unsere  Gedankenwelt 
in  Gegensatz  zu  einer  äußeren  Wirklichkeit  zu  setzen,  daß 
nur  eben  diese  scheint  gemeint  sein  zu  können,  sobald  von 
einem  Gegenstande  die  Rede  ist,  auf  welchen  die  Formen 
unseres  Denkens  Anwendung  finden  sollen.  Die  Erinnerung 
an  die  Naturwissenschaften,  die  einen  so  großen  Ausschnitt 
an  dem  wissenschaftlichen  Gesichtskreis  der  Gegenwart 
einnehmen,  bestärkt  uns  in  dieser  Meinung;  die  andere 
Erinnerung  an  Mathematik  und  Jurisprudenz  ist  geeignet, 
sie  zu  erschüttern.  Aus  der  äußeren  Wirklichkeit  empfängt 
die  Mathematik  weder  ihre  Gegenstände  noch  die  Methoden 
ihrer  Bearbeitung;  nur  Anlässe  gibt  ihr  das  von  dorther 
Kommende,  ihre  Untersuchung  nach  dieser  oder  jener  Rich- 
tung zu  wenden;  aber  die  wahren  Objecto  ihrer  Betrachtung 
sind  immer  nur  die  Gebilde,  welche  unsere  Anschauung 
oder  unser  Denken  in  sich  selbst  vorfindet  oder  erzeugt, 
und  an  welche  die  Erscheinungen  der  Außenwelt,  immer 
nur  annähernd,  uns  erinnern ;  und  ihre  Beschäftigung  be- 
steht darin,  nach  Gesetzen  der  Beurtheilung,  die  ebenfalls 
keiner  äußern  Erfahrung  entnommen  sind,  die  unzähligen 
denknothwendigen  Folgen  zu  entwickeln,  die  aus  den 
mannigfaltigen  möglichen  Combinationen  jener  inneren  Ge- 
bilde entspringen.  Und  kurz  ist  diese  Entwicklung  nicht; 
von  selbst,  so  daß  es  nur  der  zuschauenden  Aufmerksamkeit 
bedürfte,  haben  sich  diese  Consequenzen  nicht  vor  uns 
entrollt;  zu  allen  Zeiten  hat  sich  vielmehr  die  Logik  an 
die  gleichalterige  Mathematik  gewandt,  um  Beispiele  feiner 
tiefsinniger  und  wirksamer  Untersuchungsmethoden  zu 
finden;  ein  deutliches  Zeichen  davon,  daß  das  Denken 
Gelegenheit  zur  Arbeit  genug  findet,  auch  wenn  es,  von 
einer  fremden  Außenwelt  noch  absehend,  nur  die  Natur 
seiner  eigenen   Gebilde   ergründen   will.    Der  Jurisprudenz 


190  Vorbemerkung. 

gaben  allerdings  die  Verhältnisse  der  irdischen  Wirklichkeit, 
in  welche  der  Mensch  mit  seinen  Bedürfnissen  und  An- 
sprüchen verwickelt  ist,  die  Veranlassung  der  Entstehung; 
aber  zu  ordnen  sucht  sie  diese  Wirklichkeit  und  unsere 
Beziehungen  zu  ihr  durch  Satzungen,  die,  obwohl  der  Natur 
gegenüber  Erzeugnisse  der  Willkür,  dennoch  die  noth- 
wendigen  Folgen  von  Ideen  des  Rechts  und  der  Billigkeit 
sind,  Folgen  einer  seinsollenden  Wahrheit,  die  nur  in 
unserem  Geiste  selbst  ihre  Heimat  hat.  Nichtsdestoweniger 
ist  auch  hier  logischer  Scharfsinn  beständig  beschäftigt, 
immer  genauer  und  untadelhafter  den  Zusammenhang  der 
einzelnen  gefundenen  Folgerungen  unter  einander  und  mit 
jenen  höchsten  Principien  darzulegen,  aus  denen  sie  fließen. 
Beide  Wissenschaften  beweisen  mithin,  daß  die  Logik,  um 
Gegenstände  ihrer  Anwendung  zu  haben,  sich  nicht  an  eine 
äußere  Wirklichkeit  zu  wenden  braucht,  daß  sie  übergenug 
Arbeit  findet,  wenn  sie  den  Zusammenhang  des  Denkbaren 
und  Denknothwendigen  durchforscht,  daß  endlich  die  innere 
Welt  unserer  Vorstellungen  ausgedehnt  genug  ist,  um  un- 
bekannte Gegenden  zu  enthalten,  die  mit  den  Mitteln  einer 
geordneten  Untersuchung  noch  zu  entdecken  sind. 

153.  Mit  dieser  Vorstellungsweise  kann  man  sich  nun 
zu  den  Naturwissenschaften  zurückwenden.  Gegenstand 
unserer  Forschung  wird  auch  die  vorausgesetzte  Außenwelt 
doch  nur  so  weit,  als  sie  auf  irgend  einem  Wege,  der  uns 
hier  nichts  angeht,  zu  einer  Welt  von  Vorstellungen  in  uns 
geworden  ist;  wir  betrachten  zergliedern  und  untersuchen 
nicht  jenes  Unsichtbare,  das  außer  uns  liegen  mag,  sondern 
das  sichtbare  Bild,  das  sich  von  ihm  in  unserem  Bewußtsein: 
entwirft.  Welche  gesetzlichen  Zusammenhänge  wir  auch 
immer,  als  Ergebniß  einer  langen  Arbeit,  zwischen  den 
unbekannten  Bestandtheilen  dieses  unbekannten  Aeußern 
glauben  annehmen  zu  müssen:  alle  diese  Behauptungen 
gründen  sich  doch  immer  auf  die  nicht  minder  gesetzlichen 
Beziehungen,  die  zwischen  den  Inhalten  unserer  Vorstellun- 
gen entweder  ein  für  allemal  bestehen,  oder  veränderlich 
wechseln.  Was  auch  immer  die  hervorbringenden  Ursachen 
dieses  Wechsels  sein  mögen,  die  Gesetze,  nach  denen  er 
erfolgt,  können  wir  immer  nur  aus  seinem  Inhalt  selbst,, 
aus  der  Reihenfolge  erkennen,  in  der  bestimmte  Vor- 
stellungen in  unserem  Bewußtsein  auf  bestimmte  folgen^ 
aus  der  beständigen  Verknüpfung  einiger,  der  Unvereinbar- 
keit   anderer.     Auch    für   die    Betrachtung    der   Außenwelt 


Vorbemerkung.  191 

reicht  es  daher  hin,  sie  zunächst  als  eine  irgendwie  in 
uns  begründete  Vorstellungswelt  anzusehen;  gleichviel,  ob 
die  Erscheinungen,  die  uns  umgeben,  einer  wirklichen  Welt 
äußerer  Dinge  entsprechen,  oder  ob  sie  Erzeugnisse  einer 
schöpferischen,  von  unbekannten  Antrieben  geleiteten  Ein- 
bildungskraft in  uns  selbst  sind,  die  Entdeckung  des  Zu- 
sammenhanges zwischen  ihnen  wird  immer  dieselben  Me- 
thoden der  Untersuchung  nöthig  machen.  Diese  Auffassung 
wünsche  ich,  bei  dem  Uebergang  zur  angewandten  Logik, 
festgehalten  zu  sehen,  Sie  soll  indessen  nur  hier,  am 
Anfang,  die  systematische  Stellung  der  folgenden  Betrach- 
tungen bezeichnen;  innerhalb  dieser  selbst  thun  wir  der 
gewohnten  Vorstellungsweise  keinen  Zwang  an;  möge  man 
immerhin  die  Anstrengungen  des  Denkens  hier  auf  eine 
wirkliche  Außenwelt  bezogen  denken ;  nur  wenn  man  findet, 
daß  auf  das  Verhältniß  dieser  Welt  zu  unserem  Vorstellen 
noch  gar  keine  Rücksicht  genommen  wird,  möge  man  hier- 
von die  Rechtfertigung  in  dem  Inhalt  dieser  kurzen  Vor- 
bemerkung finden,  das  Eingehen  aber  auf  den  Sinn  der 
hier  abgelehnten  Frage  in  dem  dritten  Theile  dieser  ganzen 
Darstellung  erwarten. 


Erstes  Kapitel. 

Die  Formen  der  Definition. 

154.  Innere  Zustände,  Empfindungen  und  Vorstellungen, 
Gefühle  und  Strebungen,  lassen  sich  nicht  nach  der  Weise 
von  Stoffen  überliefern,  die  ablösbar  von  dem  ersten  Be- 
sitzer und  fertig  von  Hand  zu  Hand  gereicht  werden;  wir 
theilen  sie  nur  mit,  indem  wir  das  Gemüth  des  Andern 
unter  Bedingungen  versetzen,  unter  denen  er  genöthigt  sein 
wird,  sie  von  neuem  selbst  in  sich  zu  erfahren  oder  zu 
erzeugen.  Geradezu  auf  Herstellung  äußerer  Bedingungen 
der  Wahrnehmung  würden  wir  angewiesen  sein,  wenn  es 
sich  um  die  erste  Mittheilung  eines  noch  unbekannten 
Inhalts  handelte,  der  zu  einfach  wäre,  um  durch  Denken 
erzeugt,  oder  zu  verwickelt,  um  durch  dasselbe  erschöpft 
zu  werden.  Hätte  die  Seele  des  Andern  noch  nie  Licht 
gesehen.  Töne  gehört  oder  sinnlichen  Schmerz  empfunden, 
so  bliebe  jins  nur  übrig,  sein  Auge  in  den  Bereich  einer 
Lichtquelle  zu  bringen,  Schallwellen  auf  sein  Ohr  zu  leiten 
und  durch  einen  auf  seinen  Körper  ausgeübten  Reiz  ihn 
das  Wehgefühl  erleben  zu  lassen,  das  wir  selbst  auf  keine 
andere  Weise  kennen  gelernt  hatten.  Wünschen  wir  ihm 
eine  noch  ihm  unbekannte  Person  kenntlich  zu  machen, 
so  wird  die  Beschreibung  der  zahllosen  kleinen  Merkmale, 
die  sie  von  anderen  unterscheiden,  immer  unsicher  sein, 
aber  der  hinweisende  Finger  wird  ihm  genau  diejenige 
zeigen,  die  wir  meinen.  Daß  überall  da,  wo  sie  überhaupt 
anwendbar  ist,  diese  unmittelbare  Hinweisung  auf  den  Gegen- 
stand selbst  oder  auf  eine  ähnliche  Abbildung  desselben 
nützlich  bleibt,  bedarf  nur  dieser  Erwähnung.  Für  die 
Fragen  aber,  welche  uns  hier  angehen,  machen  wir  eine 
doppelte  weitere  Voraussetzung:  zuerst  die  eines  reich- 
lichen Besitzes  früherer  Erlebnisse,  die  denen  gemeinsam 
sind,  zwischen  welchen  eine  Mittheilung  stattfinden  soll, 
dann  die   einer   für  beide  Theile   verständlichen  Sprache, 


Die  Formen  der  Definition.  193 

mit  deren  einzelnen  Worten,  in  großer  Ausdehnung  wenig- 
stens, das  Bewußtsein  beider  dieselben  einzelnen  Vor- 
stellungsinhalte verknüpft.  Durch  die  Reihenfolge  der  ge- 
sprochenen Worte  rufen  wir  dann  in  der  Erinnerung  des 
Andern  die  mit  ihnen  verbundenen  Vorstellungen  in  der- 
jenigen Ordnung  hervor,  die  für  ihn  die  innere  Bedingung 
ist,  das  Mitzutheilende  in  seinem  eigenen  Bewußtsein  zu 
erzeugen  oder  zu  erfahren. 

155.  Auch  diese  Mittheilungsform  schließt  noch  manches 
ein,  was  unsere  logische  Betrachtung  nur  nebenher  be- 
achten kann.  Poesie  und  die  Beredsamkeit  des  Lebens 
suchen  beide  auf  diesem  Wege  nicht  nur  Vorstellungsgebilde 
mitzutheilen ;  sie  rechnen  darauf,  daß  an  diese  vorgeführten 
Bilder  sich  Gefühle  der  Lust  und  Unlust,  der  Billigung  und 
Mißbilligung,  der  Begeisterung  und  des  Abscheus  anknüpfen 
werden.  Die  Wirkungen,  die  sie  so  erzeugen,  sind  mächtig, 
aber  unsicher.  Denn  für  die  blos  vorstellende  Auffassung 
von  Thatbeständen  zwar  sind  die  verschiedenen  Seelen 
gleichmäßig  genug  organisirt  und  ihre  allgemeinen  Gewohn- 
heiten des  Wahrnehmens  ändern  sich  nicht;  in  der 
Schätzung  der  Gefühlswerte  dagegen,  die  wir  dem  Wahr- 
genommenen, beilegen,  macht  sich  nicht  nur  die  ursprüng- 
liche Verschiedenheit  der  geistigen  Temperamente,  sondern 
auch  die  Veränderlichkeit  der  augenblicklichen  Stimmung 
gelten,  die  von  dem  eben  Erlebten  abhängig  ist.  Schon 
den  wirklichen  Thatsachen  kommen  daher  Verschiedene 
mit  sehr  ungleicher  Empfänglichkeit  entgegen ;  noch  weniger 
können  wir  hoffen,  durch  die  stets  unvollständige  Erinnerung, 
welche  an  diese  Thatsachen  die  Rede  zu  erwecken  vermag, 
in  Andern  genau  dieselbe  Gemüthsbewegung  wieder  zu 
erzeugen,  in  die  sie  uns  versetzt  hatten.  Inwieweit  kunst- 
volle Lenkung  des  Vorstellungslaufs  und  wohlabgemessener 
sprachlicher  Ausdruck  die  Zweideutigkeit  des  Erfolgs  zu 
mindern  dienen,  mögen  Poetik  und  Rhetorik  lehren ;  unsere 
eigene  Aufgabe  beschränken  wir  enger  auf  die  Mittheilung 
nur  dessen,  was  in  uns  aus  einem  Zustande,  den  wir  leiden, 
sich  schon  zu  einer  Vorstellung  abgeklärt  hat,  die  wir  fassen : 
der   Gedanken   also,    nicht  der   Gefühle   und  Stimmungen, 

156.  Die  Sicherheit  auch  dieser  Mittheilung  scheint  da- 
durch gefährdet,  daß  dieselben  Worte  doch  nicht  immer 
dem  Sprechenden  und  defti  Hörenden  dasselbe  bedeuten. 
Gibt  es  doch,  noch  abgesehen  von  später  entstandenem 
Gleichklang  ursprünglich   verschiedener  Wurzeln,  in  jeder 

Lotze,  Logik.  13 


194  Erstes  Kapitel. 

Sprache  der  Worte  viele,  die  mehrere  sehr  verschiedene 
Gegenstände  bezeichnen;  allerdings  in  Folge  einer  Aehn- 
lichkeit,  die  diese  Dinge  untereinander  haben,  aber  doch 
einer  Aehnlichkeit,  die  nicht  immer  dem,  welcher  sich  der 
überlieferten  Worte  bedient,  noch  eben  so  bemerklich  ist, 
wie  dem  ersten  Urheber  so  übertragener  Bedeutungen.  Und 
selbst  diejenigen  Namen,  mit  denen  alle  dasselbe  bezeichnen, 
verbürgen  nicht  eine  gleiche  Auffassung  des  Bezeichneten 
in  allen;  die  besonderen  Umstände,  unter  denen  jeder  Ein- 
zelne zur  Kenntniß  der  Sache  kam,  der  eigenthümliche 
Standpunkt,  von  dem  aus  er  sie  zuerst  ins  Auge  faßte, 
die  Verknüpfung  mit  anderen,  in  der  er  sie  fand  und  aus 
welcher  er  sie  lösen  mußte,  geben  seiner  Ansicht  von  ihr 
eine  eigenthümliche  Färbung  und  machen  ihn  zu  anderen 
Folgerungen  geneigt,  als  derjenige  erwartete,  der  durch 
Nennung  des  gemeinschaftlich  gebrauchten  Wortes  dem 
Gedankengang  eine  bestimmte  Richtung  zu  geben  dachte. 
Es  ist  unmöglich,  diese  Thatsachen  zu  leugnen,  gefährlich, 
sich  ganz  sorglos  über  sie  hinwegzusetzen,  aber  doch  auch 
ungeschickt,  sie  zu  übertreiben;  der  Verkehr  des  Lebens 
beweist  hinlänglich,  in  wie  ausgedehntem  Umfange  trotzdem 
die  Sprache  zu  voller  Verständigung  über  die  verschiedensten 
Gedanken  hinreicht.  Gewiß  werden  Vorstellungen  übrig 
bleiben,  deren  genaue  Mittheilung  schwierig  ist ;  aber  be- 
ständen diese  Schwierigkeiten  nicht,  so  hätte  es  ja  keinen 
Werth,  Regeln  zu  suchen,  nach  denen  durch  passende 
Benutzung  unzweideutiger  Worte  die  Zweideutigkeit  anderer 
zu  beseitigen  und  ihr  Inhalt  identisch  für  jeden  Mit- 
sprechenden festzustellen  ist.  Dem  freien  Scharfsinn  des 
Mittheilenden  bleibt  hier  überlassen  zu  beurtheilen,  welche 
Worte  für  zweifellos  genug  gelten  können,  um  andere  zu 
erläutern ;  aber  wie  weit  man  auch  das  Bedürfniß  noch 
empfinden  mag,  in  diesem  Geschäft  zurückzugehen  und 
zuvor  die  Mittheilungsmittel  eindeutig  zu  machen,  deren 
man  sich  bedienen  will:  immer  wird  man  nur  zwei  Wege 
betreten  kt)nnen,  den  der  Abstraction  und  den  der  Con- 
struction. 

157.  Wir  verdeutlichen  den  Inhalt  eines  Begriffes  M 
durch  Abstraction,  indem  wir  zuerst  auf  eine  Anzahl 
bekannter  Beispiele  hinweisen,  in  deren  jedem  M  mitgedacht 
wird,  dann  aber  von  diesen  Beispielen  das  abzusondern 
befehlen,  was  zu  dem  mitzutheilenden  Inhalte  des  M  nicht 
gehört.  Auf  diesem  Wege  sind  ursprünglich  alle  unsere 
allgemeinen    Begriffe    und    Vorstellungen    entstanden;    die 


Die  Formen  der  Definition.  195 

einen,  indem  das  Gemeinsame  vieler  Eindrücke  sich  voii 
selbst  zum  Gegenstand  einer  neuen  gesonderten  Vorstellung 
heraushob,  die  anderen,  indem  die  nachdenkende  Aufmerk- 
samkeit diesen  Vorgang  mit  Absicht  leitete.  Und  auf  den- 
selben Weg  kommen  wir  alle  im  Falle  des  Bedürfnisses 
zurück;  der  logisch  Ungebildete,  wenn  er,  die  alte  Klage 
des  platonischen  Sokrates,  die  Frage,  was  er  unter  M  ver- 
stehe, nur  mit  den  Beispielen  beantwortet,  in  denen  er  M 
mitdenkt,  dem  Fragenden  aber  die  Mühe  überläßt,  ihr  Ge- 
meinsames, von  dem  die  Rede  sein  sollte,  von  Nicht- 
zugehörigem  zu  sondern.  Aber  auch  der  logisch  geschulte 
Verstand  verfährt  nicht  anders;  wie  sauber  auch  der  Aus- 
druck, den  er  dem  Allgemeinen  gibt,  nur  dessen  eigenen 
Inhalt,  ohne  Erinnerung  an  einzelne  Beispiele,  enthalten 
mag :  gewonnen  ist  doch  dieser  Ausdruck  durch  eine  in  der 
Stille  ausgeführte  Vergleichung  vieler  Einzelfälle.  Nur  diese 
Vergleichung  lehrt  uns,  welche  Merkmale  des  M  vollständig 
bestimmt  sein  müssen,  damit  der  Ausdruck  seines  Begriffs 
alles  ausschließe,  was  ihm  fremd  ist;  welche  anderen  Merk- 
male man  unbestimmt  zu  lassen  hat,  um  in  M  alles  ein- 
zuschließen, was  ihm  als  Beispiel  zugehört;  nur  die  Thiat- 
sache  endlich,  daß  Beispiele  überhaupt  sich  finden  lassen, 
überzeugt  uns  davon,  daß  dies  M,  um  dessen  Feststellung 
wir  uns  bemühen,  einer  Feststellung  fähig  ist,  daß  es 
eine  Aufgabe  bedeutet,  die  im  wirklichen  Vorstellen  sich 
auflösen  läßt,  nicht  ein  Hirngespinst  widersprechender  Be- 
standtheile,  deren  Vereinigung  man  zwar  in  Worten  fordernj 
aber  in   der  That  nicht  ausführen  kann.  - 

158.  In  jedem  Falle  bleibt  es  daher  nützlich,  dieseri 
Weg  der  Abstraction  zu  betreten  und  Begriffsbestimmungen, 
die  man  auf  andere  Weise  gefunden  hätte,  wenigstens  nach- 
träglich durch  Aufweisung  ihrer  Beispiele  zu  beglaubigen. 
Ausschließlich  anwendbar  ist  dies  Verfahren  überall,  wo 
es  sich  um  Festsetzung  der  einfachsten  Begriffe  handelt, 
die  einem  zusammengehörigen  Kreise  von  Vorstellungen 
zu  Grunde  liegen.  Sie  kann  man  nur  aufweisen,  indem 
man  von  ihren  bekannten  Anwendungsbeispielen  alles  ab- 
zieht, was  nicht  zu  ihrer  Bedeutung  gehört,  aber  man  kann 
sie  niemals  aus  Bestandtheilen  zusammensetzen,  welche 
sie  nicht  besitzen.  Die  auf  diesen  unmöglichen  Zweck' 
verschwendete  Mühe  endet  Immer  mit  dem  fehlerhaften 
Cirkel,  der  unter  den  Mitteln,  die  er  zum  Aufbau  brauchen 
will,  eben  das,  was  aufzubauen  war,  ganz  und  vollständig, 
wenn   auch    versteckt   unter   fremdartigen   Bezeichnungen, 

13* 


196  Erstes  Kapitel. 

voraussetzt.  So  sind  in  unserer  Vorstellung  des  Werdens 
ohne  Zweifel  die  Vorstellungen  des  Seins  und  des  Nichtseins 
als  zwei  zusammengehörige  Beziehungspunkte  verbunden; 
wer  aber  das  Werden  als  Einheit  beider  bestimmen  wollte, 
würde  nicht  zum  Ziele  kommen.  Er  würde  zuerst  ver- 
pflichtet sein,  die  bestimmte  Bedeutung  festzustellen,  die 
hier  die  an  sich  sehr  vieldeutige  Bezeichnung  der  Einheit 
haben  soll.  Sie  kann  nicht  das  bloße  Zusammensein  der 
beiden  Vorstellungen  des  Seins  und  des  Nichtseins  in  dem- 
selben Bewußtsein  meinen,  denn  zu  offenbar  ist  das  Werden 
der  Inhalt  einer  Beziehung,  die  zwischen  den  Inhalten 
beider  stattfindet.  Vereinigen  wir  aber  Sein  und  Nichtsein 
an  irgend  einem  mit  sich  identischen  Subject  als  zugleich 
und  in  gleicher  Weise  gültige  Prädicate,  so  erreichen  wir 
nicht  das  Werden,  sondern  sehen  uns  blos  der  Unmöglich- 
keit gegenüber,  diese  sich  widersprechende  Aufgabe  im 
Denken  wirklich  auszuführen.  Trennen  wir  darum  Sein 
und  Nichtsein  des  Subjects  wieder  und  lassen  das  eine  von 
ihm  gelten,  wenn  das  andere  nicht  gilt,  so  schließt  auch 
dieser  Wechsel  das  Werden  nicht  ein;  es  fällt  zwischen 
beide  Zeitpunkte  und  liegt  in  keinem  von  beiden.  Man 
wird  daher  beide  wieder  aneinander  rücken;  aber  so  lange 
sie  außereinander  bleiben,  wird  auch  das  Werden  außer 
ihnen  liegen;  man  wird  es  nur  erfassen,  wenn  man  es 
weder  im  Sein  noch  im  Nichtsein,  noch  in  einer  ruhenden 
Einheit  beider,  sondern  nur  in  dem  Uebergang  von  einem 
zum  andern  sucht.  In  dieser  Vorstellung  des  Uebergangs 
aber,  oder  in  jeder  anders  ausgedrückten,  die  man  ihr 
substituiren  möchte,  wird  man,  nur  unter  anderem  Namen, 
den  wesentlichen  Sinn  unserer  Vorstellung  vom  Werden 
wiedererkennen.  Völlig  eigenartig,  wie  sie  ist,  kann  daher 
diese  Beziehung  zwischen  Sein  und  Nichtsein  nur  durch 
sich  selbst  gedacht,  nur  aus  den  Beispielen,  in  denen  sie 
mitgedacht  wird,  abgesondert,  aber  nicht  durch  Zusammen- 
setzung aus  Vorstellungen,  in  denen  sie  noch  nicht  ent- 
halten wäre,  erzeugt  werden.  Ganz  dieselbien  Betrachtungen 
gelten  von  den  gleich  einfachen  Begriffen  des  Seins  des 
Wirkens  des  Vorstellens  der  Bejahung  der  Verneinung; 
und  ganz  in  der  dargestellten  Weise  bestimmt  die  euklidische 
Geometrie  die  Fläche  als  Grenze  des  Körperraums,  die 
Linie  als  Grenze  der  Fläche,  den  Punkt  als  Grenze  der 
Linie,  indem  sie  jedesmal  die  einfachere  Vorstellung,  deren 
Auffassung  schwieriger  ist,  durch  Abstraction  des  nicht  zu 
ihr  Gehörigen   aus   der  zusammengesetzteren  finden  lehrt. 


Die  Formen  der  Definition.  197 

welche  der  Anschauung  näher  liegt  oder  eben  vorher  be- 
stimmt worden  ist. 

159.  Das  entgegengesetzte  Verfahren  würde  den  Namen 
der  Construction  ganz  nur  dann  verdienen,  wenn  es 
ihm  gelänge,  aus  einer  bestimmten  Anzahl  eindeutiger  Theil- 
vorstellungen  durch  eine  Reihe  gleichfalls  eindeutig  be- 
stimmter Denkhandlungen,  die  es  an  ihnen  vorzunehmen 
beföhle,  den  mitzutheilenden  Inhalt  vollständig  zusammen- 
zusetzen. Fast  nur  die  mathematischen  Begriffen  und  einige, 
die  aus  den  Anwendungen  der  Mathematik  entspringen, 
Begriffe,  die  als  Erzeugnisse  unseres  Denkens  nur  ent- 
halten, was  dieses  in  ihnen  vereinigt  hat,  sind  dieser  Be- 
handlung wirklich  fähig.  Sie  sind  es,  weil  die  Theilvor- 
stellungen,  die  zu  dem  gemeinten  Ganzen  gehören,  sich 
vollzählig  angeben  lassen  und  weil  nicht  blos  jede  der- 
selben, sondern  auch  jede  der  Verbindungsweisen,  die 
zwischen  mehreren  stattfinden  sollen,  außer  der  quali- 
tativen Beschaffenheit,  durch  die  sie  sich  von  anders- 
gearteten unterscheidet,  auch  noch  die  Angabe  des  Maßes 
gestattet,  durch  welches  sie  von  andern  ihres  Gleichen 
unterscheidbar  ist.  Nichts  bleibt  daher  hier  unbestimmt, 
was  bestimmt  sein  sollte ;  und  wer  der  gegebenen  Anweisung 
folgt,  muß  vor  seinem  Bewußtsein  das  zu  erzeugende  Bild 
mit  demselben  Grade  der  Individualität  oder  Allgemeinheit 
entstehen  sehen,  mit  welchem  der  Mittheilende  es  zu  über- 
liefern strebte.  Beziehen  sich  dagegen  unsere  Mittheilungs- 
wünsche  auf  Gegenstände  der  Wirklichkeit,  so  begegnen 
sie  bekannten  Schwierigkeiten.  Nicht  aus  einer  begrenzten 
Anzahl  von  Beziehungspunkten,  die  man  in  Verbindungen 
von  ebenso  begrenzter  Zahl  zu  bringen  hätte,  sondern  aus 
unzähligen  Theilvorstellungcjn  besteht  das  Vorstellungsbild 
eines  wirklichen  Gegenstandes ;  und  diese  Theilvorstellungen 
sind  unvergleichbar,  so  weit  sie  verschiedenen  Sinnen  an- 
gehören, selbst  die  gleichartigen  aber  nur  durch  allgemeine 
Namen  zu  bezeichnen,  genauen  Maßbestimmungen  schwer 
zugänglich,  die  Verbindungen  endlich  zwischen  allen  diesen 
Elementen  unübersehbar,  überhaupt  wahrnehmbar  nur  so 
weit  sie  in  äußerlicher  räumlich  zeitlicher  Anordnung  be- 
stehen, und  auch  dann  wegen  mangelnder  Kenntniß  eines 
durchgreifenden  Bildungsgesetzes  auf  keinen  zusammen- 
fassenden Ausdruck  zurückzubringen.  Solcher  Fülle  gegen- 
über schwächt  sich  die  Construction  zur  Beschreibung 
ab.  Diese,  wenn  sie  ihre  Aufgabe  versteht,  wird  sich  zuerst 
bemühen,  die  großen  Umrisse  des  ganzen  mitzutheilenden 


198  Erstes  Kapitel. 

Inhaltes  festzustellen,  sei  es,  daß  sie  dies  noch  durch  eine 
einfache  Construction  leistet,  oder  daß  sie  von  bekannten 
ähnlichen  Inhalten  als  Gleichnissen  ausgeht  und  durch  nach- 
trägliche Veränderung  und  Verschiebung,  durch  Hinweg- 
nahme einzelner  und  Hinzufügung  anderer  Züge,  aus  diesen 
den  Grundriß  ihres  mitzutheilenden  Bildes  zu  Stande  bringt. 
In  ihn  wird  dann  die  Fülle  der  Einzelmerkmale  eingetragen, 
niemals  vollständig,  denn  sie  pflegt  unermeßlich  zu  sein, 
sondern  mit  geschickter  Auswahl  derjenigen,  von  denen 
zu  hoffen,  daß  ihre  Erwähnung  die  Aufmerksamkeit  sogleich 
bestimmen  wird,  auch  die  unerwähnten  aus  eigener  Er- 
innerung zu  ergänzen.  Wie  große  Wirkungen  prägnantester 
Anschaulichkeit  die  Poesie  auf  diesem  Wege  erzeugt,  bedarf 
nur  dieser  Erinnerung;  ebenso  deutlich  aber  ist  die  Un- 
sicherheit dieses  Erfolges.  Die  Ergänzungen  des  Nicht- 
erwähnten fallen  in  jedem  andern  Gemüth  anders  aus;  wäre 
es  ausführbar,  die  verschiedenen  Gesammtanschauungen 
sichtbar  zu  machen,  welche  dieselbe  Beschreibung  in  ver- 
schiedenen Hörern  erweckt,  so  würden  ihre  Abweichungen 
die  Unzulänglichkeit  jeder  Beschreibung  zur  Begründung 
bestimmter  auf  sie  zu  stützender  Folgerungen  beweisen. 
Für  wissenschaftliche  Zwecke  bedarf  daher  die  Beschreibung 
einer  Regelung  ihres  Verfahrens,  welche  sie  in  der  De- 
finition findet. 

160.  Man  pflegt  zur  Definition  eines  Begriffes  M 
die  Angabe  seines  nächsthöheren  Gattungsbegriffs  G,  des 
genus  proximum,  und  die  des  charakteristischen  Merk- 
mals d,  der  differentia  specifica,  zu  verlangen,  durch  welche 
sich  M  von  andern  Arten  des  G  unterscheidet.  Durch  die 
Forderung  des  Gattungsbegriffes  G  wird  der  willkürliche 
und  launenhafte  Gang  der  Beschreibung  eingeschränkt;  ihr 
stand  es  frei,  an  jedem  beliebigen  Punkte  ihres  Gegen- 
standes zu  beginnen  und  ihm,  nach  welcher  Richtung  sie 
immer  wollte,  die  übrigen  Punkte  nach  und  nach  anzu- 
reihen, wenn  sie  sich  nur  zutrauen  durfte,  am  Schlüsse 
ihres  Verfahrens  das  deutliche  Bild  des  Gemeinten  zu 
liefern.  Ohne  die  Anwendung  vieler  Allgemeinbegriffe  würde 
indessen  auch  sie  nicht  zum  Ziele  kommen;  anstatt  diese 
nun  willkürlich  zu  wählen,  verlangt  die  Definition,  daß 
man  von  demjenigen  Allgemeinen  ausgehe,  in  welchem 
der  größte  Theil  der  zu  leistenden  Constructionsarbeit  schon 
fertig  und  vollzogen  vorliegt,  und  welches,  durch  einen 
eindeutigen  Namen  sprachlich  bezeichnet,  in  jedem  Be- 
wußtsein   als     eine    bekannte     Anschauung    vorausgesetzt 


Die  Formen  der  Definition.  199 

werden  kann,   geeignet  als  Grundriß  für  die  Einzeichnung 
der    Einzelmerkmale     zu    dienen,    durch    welche    das    mit- 
zutheilende  Bild   vollendet  wird.    Bezeichnet  man  uns  ein 
noch   nie    gesehenes    Geschöpf   als    Vogel,    so   gibt   dieser 
Allgemeinbegriff   uns    mit    einem   Male   die   deutliche  Vor- 
stellung  einer   Anzahl   untereinander   auf  charakteristische 
Weise  verknüpfter  Glieder  und  zugleich  der  besonderen  Art 
der  Beweglichkeit  und  des  lebendigen  Gebrauchs,  zu  dem 
sie  dienen ;  in  diesen  Grundriß  tragen  wir  leicht  die  weiteren 
besonderen    Merkmale    ein,    denn    er    selbst    bestimmt   die 
Stellen,  an  die  jedes  gehört.    Wir  würden  dagegen  nie  eine 
gleich   deutliche    Vorstellung   des   unbekannten   Geschöpfes 
erhalten,  wenn  wir  sie  aus  den  Urbestandtheilen  zusammen- 
setzen   sollten;    endlos    würde    die    Arbeit    sein,    alle    ver- 
schiedenfarbigen Punkte  seiner  Gestalt  nach  Lage  und  dem 
Maß    ihrer    Verschiebbarkeit    aufzuzählen,    so    daß    daraus 
auch  nur  das  anschauliche  Sinnesbild  derselben  entstände; 
noch  endloser  wäre  es,  an  dies  Bild  die  Eigen thümHchkeiten 
der  Lebensweise  und  des  Benehmens  zu  knüpfen,  die  alle, 
wenn  nicht  zur  Anschauung,  so  doch  zur  Vorstellung  des 
tu   schildernden   Thieres   gehören.    Man   begreift  also  den 
Werth  der  Abkürzung,  welche  durch  den  Ausgang  von  einem 
als  bekannt  annehmbaren  Allgemeinbegriffe  entsteht;  man 
begreift   ebenso,   daß   nun  zum  Ausgangspunkt  nicht  mehr 
irgend   ein   höheres   Allgemeine,   sondern  ausdrücklich  nur 
das   genus   proximum   zu   wählen  ist,   welches  sich   durch 
den    Bestand    und    die    Verbindung    seiner    Merkmale   am 
engsten    an    den    zu    definirenden    Begriff    anschließt   und 
mithin   für    jede    der   letzten    Determinationen,    die   diesen 
endgültig  bestimmen,  den  Punkt,  an  welchem,  und  die  Art, 
in  welcher  sie  anzubringen  ist,  eindeutig  vorschreibt.   Von 
einem    höheren    Allgemeinen    als    von    diesem    ausgehend, 
würden  wir  nicht  nur  die  noch  zu  leistende  Arbeit  wieder 
vermehren,    auf    deren    Abkürzung    die    Definition     zielte, 
sondern  auch  den  Erfolg  gefährden.   Denn  eine  ganze  Reihe 
weiterer  Merkmale   würden   wir  jetzt  hinzufügen  müssen, 
um  auf  dem  weiten  Weg  von  jenem  unbestimmteren  All- 
gemeinen   bis    zu    unserem    speciellen    Gegenstande   herab 
alles  Fremdartige  auszuschließen,  und  jedes  neue  Merkmal 
Würde  eine  neue  Fehlerquelle  öffnen,  denn  kaum  ausführbar 
ist  es,  die  Art  und  Weise,  in  der  jedes  sich  den  früheren 
anschließen  soll,  völlig  genau  zu  bestimmen,  ohne  sich  auf 
eine  Anschauung   zu  berufen,  die  man  hierüber  in  jedem 
Bewußtsein   schon   voraussetzen   darf.    Wir  würden   daher 


200  Erstes  Kapitel. 

auf  diesem  Wege  jenes  genus  proximum  in  der  Bestimmtheit 
und  Sicherheit  nicht  wieder  erzeugen,  in  welcher  wir  es, 
sogleich  seinen  Namen  nennend,  in  der  Erinnerung  hervor- 
rufen können,  und  deren  es  bedarf,  um  als  Grundriß  für 
die  Einzeichnung  der  letzten  Charakteristik  des  mitzutheilen- 
den  Begriffes  zu  dienen.  Was  wir  so  erreichten,  würde 
mehr  oder  weniger  ein  Räthsel  sein.  Denn  wenn  wir 
Räthsel  aufgeben,  verfahren  wir  so:  an  ein  sehr  un- 
bestimmtes Allgemeine,  an  ein  Etwas  überhaupt,  befehlen 
wir  unmittelbar  Prädicate  anzuknüpfen,  die  nur  an  einem 
sehr  bestimmten  Einzelsubject  vereinbar  sind,  und  über- 
lassen nun  dem  Scharfsinn,  dies  Subject  oder  zunächst 
das  genus  proximum  zu  finden,  welches  diese  Vereinbarkeit 
begründet. 

161.  Bisher  galt  uns  die  Definition  als  methodische 
Beschreibung.  Sollte  sie  dies  bleiben,  so  müßte  sie  von  M 
vollständig  die  Modificationen  p^  qi  r^  angeben,  in  welchen  M 
die  allgemeinen  Prädicate  P  Q  R  seiner  Gattung  G  enthält. 
Anstatt  dieser  Vielheit  verlangt  die  gewöhnliche  Vorschrift 
der  Definition  nur  die  Bezeichnung  des  einen  Merkmals  d, 
der  specifischen  Differenz,  durch  die  sich  M  von  allen  andern 
Arten  der  Gattung  G  unterscheidet.  Die  Definition  stellt 
sich  hiermit  offenbar  eine  beschränktere  und  darum  aus- 
führbarere Aufgabe  als  die  Beschreibung;  sie  will  nicht 
mehr  den  ganzen  Gehalt  des  M  positiv  darstellen,  sondern 
nur  das  Kennzeichen  namhaft  machen,  durch  welches M 
von  allem  sich  abgrenzen  läßt,  was  nicht  M  ist;  hierauf 
beruhen  die  Namen  definitio  und  ÖQiojuog,  beide  nur  Ab- 
grenzung des  einen  vom  andern  verlangend.  Und  hierauf 
muß  in  der  That  die  allgemeine  Aufgabe  der  Definition 
beschränkt  werden.  In  den  weiteren  Anwendungen  des 
Denkens  macht  sich  allerdings  der  Trieb  gelten,  nicht  nur 
zu  unterscheiden,  sondern  das  Unterschiedene  vollständig 
zu  erkennen;  dann  macht  man  gesteigerte  Ansprüche  an 
die  Definition;  dann  will  man  als  specifische  Differenz 
nur  eines  jener  wirklich  artbildenden  Merkmale  zulassen, 
dessen  Vorkommen  einen  entscheidenden  Einfluß  auf  die 
Modificationen  hat,  in  welchen  auch  alle  übrigen,  von  der 
Definition  verschwiegenen,  Merkmale  des  Allgemeinen  G 
dem  Definiendum  M  zukommen.  Diese  hohen  Forderungen 
sind  jedoch  ganz  nur  am  Ende  einer  Untersuchung  erfüllbar, 
welche  uns  M  völlig  kennen  gelehrt  hat  und  darum  die 
Aufgabe  übrig  läßt  und  möglich  macht,  einen  abschließenden 


Die  Formen  der  Definition.  201 

und  classischen  Ausdruck  seines  Inhalts  festzusetzen.  Aber 
außer  dieser  gibt  es  nicht  minder  dringliche  andere  Auf- 
gaben; für  den  Beginn  einer  theoretischen  Untersuchung, 
die  eine  Anzahl  von  M  gültiger  Sätze  noch  finden  will, 
für  ein  praktisches  Verhalten,  das  an  ein  gegebenes  Ver- 
hältniß  M  ihm  angemessene  Folgen  knüpfen  soll:  für  beide 
ist  es  von  äußerster  Wichtigkeit  und  ist  zunächst  auch 
nur  dies  von  Wichtigkeit,  daß  unzweideutig  und  leicht  Er- 
kennbar der  Umfang  jenes  M  abgegrenzt  werde,  von  welchem 
die  zu  behauptenden  Sätze  oder  die  zu  treffenden  Ent- 
scheidungen gelten  sollen.  Hierzu  reicht  jedes  Merkmal  d, 
auch  das  unbedeutendste  hin,  sobald  es  nur  wirklich  ein 
ausschließliches  Kennzeichen  des  M  ist.  In  dem  ersten  Falle, 
dem  einer  theoretischen  Untersuchung,  wird  dann  der  weitere 
Fortgang  dieser  selbst  entweder  den  Grund  kennen  lehren, 
welcher  die  Gültigkeit  einer  Reihe  von  Sätzen  an  dies 
unscheinbare  Merkmal  d  knüpft,  oder  er  wird  zeigen,  daß 
deren  Geltung  weitere  oder  engere  Grenzen  hat,  d  folglich 
nicht  die  passende  Charakteristik  ihres  Subjectes  war.  In 
dem  anderen  praktischen  Falle  wird  man  vorher,  da  wo 
es  sich  noch  de  lege  ferenda  handelt,  die  ganze  volle  Be- 
deutung eines  Rechtsverhältnisses  zu  erwägen  haben,  von 
dem  das  zu  gebende  Gesetz  gelten  soll ;  wer  aber  die  lex  lata 
auszuführen  hat,  verlangt  mit  Recht,  daß  eben  diese  Vor- 
erwägung ihr  die  Gestalt  einer  Definition  gegeben  habe, 
die  nicht  durch  das  tiefsinnigste,  sondern  durch  das  am 
leichtesten  erkennbare  Merkmal  d  die  Fälle,  in  denen  eine 
Entscheidung  gelten  soll,  von  denen  unterscheidbar  macht, 
in  welchen  sie  nicht  gelten  soll.  Man  übersieht  diese  un- 
abweisbaren Aufgaben  angewandter  Logik,  wenn  man  zu 
geringschätzig  von  dieser  hergebrachten  Form  der  Definition 
denkt,  und  man  mißversteht  den  guten  Sinn  vieler  Beispiele 
derselben  in  praktischer  Philosophie  und  Jurisprudenz,  wenn 
man  in  ihnen  anstatt  der  Kennzeichen  eines  Begriffs  M, 
welche  sie  geben  wollen  und  vollständig  geben,  eine  un- 
zulängliche Bezeichnung  des  ganzen  Inhalts  von  M  sieht, 
welche  zu  liefern  sie  überhaupt  nicht  beabsichtigen. 

162.  An  diese  Bemerkungen  schließt  sich  bequem  die 
Erwähnung  des  Unterschiedes,  den  man,  nicht  ganz  über- 
einstimmend, zwischen  nominaler  und  realer  Definition 
macht.  Namen  lassen  sich  aussprechen  oder  übersetzen, 
definiren  aber  können  wir  immer  nur  ihren  Inhalt:  unsere 
Vorstellung  nämlich  von  dem,  was  sie  bezeichnen  sollen: 


202:  Erstes  Kapitel. 

die   Sache    anderseits    ist   ebensowenig   selbst   in   unserem 
Denken  vorhanden,   sondern  nur  das  Vorstellungsbild,  das 
wir  von  ihr  entworfen  haben.    Beide  Arten  der  Definition 
scheinen   daher   dasselbe    bezeichnen    zu   müssen,    und   in 
der  That  trifft   dies   für  alles   zu,   was   außerhalb   unserea* 
Gedanken  keine  Wirklichkeit  hat  und  dessen  ganzer  Inhalt 
deshalb  durch  das  erschöpft  wird,  was  wir  von  ihm  vor- 
stellen.   Von   einer  geometrischen  Definition  gibt  es  keine 
reale  Definition,  die  von  der  nominalen  noch  unterschieden 
wäre;    jede    richtige,    die   wir   geben,    drückt   zugleich    die 
ganze  Natur  dessen,  was  hier  die  Sache  ist,  und  zugleich 
die  ganze  Bedeutung  des  Namens  aus.    In  anderen  Fällen 
bedeutet  jedoch   der   Unterschied   beider  Definitionsweisen 
etwas,   was    der   Mühe   werth   ist.    Nennen   wir   die   Seele 
das  Subject  des  Bewußtseins,  des  Vorstellens  Fühlens  und 
Wollens,  so  kann  dies  schickUch  eine  nominale  Definition 
heißen:  wir  machen  damit  die  Bedingung  namhaft,  welche 
irgend    ein    Reales    erfüllen   muß,    um    Anspruch   auf    den 
Namen   einer   Seele   zu   haben.    Wer  aber  oder    was   nun 
dasjenige  ist,  was  durch  seine  eigenthümliche  Natur  diese 
Bedingung  zu  erfüllen  im  Stande  wäre,  bleibt  völlig  dahin- 
gestellt; erst  eine  Ansicht,  welche  bewiese,  daß  entweder 
nur  ein  übersinnliches   und   untheilbares  Wesen  oder  nur 
ein  verbundenes   System  materieller  Elemente  den  Träger 
des  Bewußtseins   und   seiner  mannigfachen   Erscheinungen 
bilden  könne,    würde   die   reale   Definition   der  Seele   fest- 
gestellt   haben.     Eine    nominale    Definition    gab    Kant   von 
der    Schönheit,    als    er   sie    nicht   in   der    Angemessenheit 
des  schönen  Gegenstandes   zu  irgend  einem  Begriff,  nicht 
in   seiner   Fähigkeit,   ein   Begehren   in   uns  zu   befriedigen, 
sondern   in    seiner   unmittelbaren   und    auf   kein   Interesse 
bezogenen  Wohlgefälligkeit  fand;  die  reale  Definition  würde 
die  bestimmten   Verhältnisse   zwischen   mannigfaltigen   Be- 
ziehungspunkten  oder   Bestandtheilen   nachweisen   müssen, 
die  jeden  Gegenstand,  in  dem  sie  vorkommen,  zur  Erregung 
jenes  Wohlgefallens  befähigen.    Allgemein  also :  wenn  ent- 
weder die   Erfahrung  uns  eine  Merkmalgruppe  pqr  häufig 
vorkommend  und  beständig  beisammen  bleibend  vorführt, 
öder  wenn  irgend  ein  Zusammenhang  unserer  Untersuchun- 
gen uns  veranlaßt,  sie  zusammenzusetzen  und  in  ihr  einen 
Gegenstand  weiterer  Fragen  zu  sehen,  so  bilden  wir  zuerst 
für  sie  einen  Begriff  M,  dessen  nominale  Definition  immer 
möglich  sein  wird,  weil  sie  nur  jene  Prädicate,  die  uns  zur 
Schaffung  seines   Namens   bewogen,   oder  die  Leistung  zu 


Die  Formen  der  Definition.  203 

bezeichnen  hat,  die  wir  von  dem  so  benannten  Gegenstande 
erwarten.  Aber  die  reale  Definition  wird  nicht  immer  mög- 
lich sein ;  denn  nichts  verbürgt,  daß  wir  nicht  in  M  Merkmale 
vereinigt  haben,  deren  Verknüpfung  wir  zwar  aus  il'gend 
einem  Grunde  glaubten  voraussetzen  oder  wünschen  zu 
dürfen,  ohne  daß  sich  doch  etwas  auffinden  ließe,  worin 
sie  wirklich  verbunden  vorkämen  oder  verbindbar  wären. 
Da  es  ein  häufiger  Irrthum  ist,  diese  bloße  Bezeichnung 
einer  Aufgabe,  die  wir  gelöst  sehen  möchten,  für  die  Lösung 
selbst  anzusehen,  so  ist  die  Unterscheidung  beider  Defi- 
nitionsarten  eine   nützliche    Warnung. 

.  163.  Drei  Fehler  sind  zu  vermeiden,  welche  die  Defi- 
nition unzulänglich  machen.  Ihre  Behauptung,  M  =  2,  soll 
zuerst  keine  Tautologie  sein;  sie  wird  aber  dazu,  sobald 
unter  den  in  Z  verbundenen  Vorstellungen,  durch  welche  M 
erklärt  werden  soll,  offen  oder  versteckt  M  selbst  voraus- 
gesetzt wird.  Diesen  Fehler  des  circulus  in  definiendo 
verschuldet  häufig  Unachtsamkeit,  gegen  die  es  keine  Regel 
gibt;  mit  einer  gewissen  Nothwendigkeit  sehen  wir  uns 
zu  ihm  geführt,  sobald  wir  in  der  Form  einer  Definition 
Einfaches  bestimmen  wollen,  für  das  es  einen  superordinirten 
Allgemeinbegriff  nicht  gibt.  Die  Definition,  als  Bestimmung 
eines  Begriffes,  muß  zweitens  ein  allgemeines  Urtheil  sein, 
gültig  von  allen  Beispielen  dieses  Begriffes.  Sind  nun  alle 
Mi=Z,  so  muß  auch  die  Contraposition  gelten:  kein  M 
ist  NonZ;  belehrt  uns  dann  weiteres  Nachdenken  oder  neue 
Erfahrung,  daß  es  dennoch  M  gibt,  die  Non  Z  sind,  so  war 
die  Definition :  M  =  Z  zu  eng,  definiendo  angustior  und  galt 
nicht  von  allen  M,  von  denen  sie  hätte  gelten  müssen.  Die 
Definition  soll  endlich  reciprocabel  sein;  sind  alle  M  =  Z, 
so  müssen  auch  alle  Z  =  M  sein :  sobald  daher  w;eiteres 
Nachdenken  oder  neue  Erfahrung  uns  zeigt,  daß  einige  Z 
nicht  M  sind,  so  war  die  Definition  M  =  Z  zu  weit, 
definiendo  latior,  und  schloß  einige  Non  M  mit  ein,  die  sie 
hätte  ausschließen  sollen.  Nützlicher  als  diese  Benennung 
der  Fehler  würde  eine  Anweisung  zu  ihrer  Vermeidung  sein ; 
wir  können  jedoch  deshalb  nur  auf  ihre  gewöhnliche  Quelle 
hinweisen :  auf  die  Beschränktheit  des  Beobachtungskreises, 
der  jedem  Einzelnen  in  der  Regel  nur  einen  und  denselben 
Bruchtheil  eines  ganzen  Begriffsumfanges  vorführt,  und  auf 
die  Einseitigkeit,  in  welche  unser  Gedankengang  leicht  ver- 
fällt, wenn  er  neuer  Anregung  von  außen  entbehrt.  In 
unserem  Himmelsstrich   drängt   sich   das   sommerliche   Er- 


204  Erstes  Kapitel. 

wachen  der  Pflanzenwelt  und  ihr  Winterschlummer  unserer 
lebhaften  Theilnahme  auf;  das  thierische  Leben  scheint, 
in  stetiger  Regsamkeit  begriffen,  den  vollen  Gegensatz  zu 
bilden.  Eine  wissenschaftliche  Unterscheidung  nun  zwischen 
Thier  und  Pflanze  wird  man  hierauf  zwar  nicht  gründen; 
aber  unzählige  Gleichnisse,  deren  sich  Poesie  und  Bered- 
samkeit bedienen,  zeigen  doch,  daß  wir  gewohnt  sind,  die 
jährliche  Periodicität  als  wesentlichen  Charakter  der  Pflanze 
zu  betrachten.  Eine  Definition,  die  dies  ausspräche,  würde 
zu  eng  und  zu  weit  auf  einmal  sein ;  sie  würde  die  tropischen 
Pflanzen  ausschließen,  die  in  absatzloser  Vegetation  leben, 
und  sie  würde  die  winterschlafenden  Thiere  einschließen, 
die  in  unserem  Klima  der  hauptsächlich  auf  Hausthiere 
gerichteten  Aufmerksamkeit  leicht  entgehen.  Wer  politische 
und  sociale  Rechte  und  Pflichten  aller  Staatsangehörigen 
neu  begründen  möchte,  dem  begegnet  es  wohl,  nur  an  die 
Männerwelt  zu  denken,  innerhalb  deren  die  Verhandlungen 
geführt  zu  werden  pflegen,  und  seine  Vorschläge  werden 
zu  weit,  indem  sie  für  alle  verlangen,  was  sie  nur  für  die 
Männer  meinen,  oder  zu  eng,  indem  sie  nur  in  Rücksicht 
auf  diese  etwas  aussprechen,  was  für  alle  Geltung  haben 
muß.  Wir  ziehen  hieraus  die  allgemeine  Lehre,  man  solle 
keine  Aufgabe  aus  dem  Stegreif  behandeln,  sobald  man  die 
Möglichkeit  hat,  durch  Verkehr  mit  Anderen  oder  durch 
Berücksichtigung  von  Gesichtspunkten,  welche  die  über- 
lieferte Wissenschaft  schon  zusammengestellt  hat,  die  Be- 
schränktheit der  eigenen  Erfahrung  zu  erweitem;  die  Gre- 
lehrsamkeit  ist  an  sich  nicht  erfinderisch,  aber  größere 
Sicherheit  vor  extremen  Irrthümern  hat  sie,  wie  jede 
Schulung  und  Disciplin,  vor  blos  naturalistischem  Verfahren 
voraus. 

164.  Man  stellt  außerdem  an  die  Definition  Forderungen 
der  Eleganz  und  Kürze,  die  ich  an  einem  einfachen  Beispiele 
durchgehen  will.  Wer  den  Kreis  die  krumme  Linie  nennt, 
deren  sämmtliche  Punkte  gleichweit  von  ihrem  Mittelpunkte 
entfernt  sind,  begeht  zuerst  den  wirklichen  Fehler  einer 
zu  weiten  Definition.  Denn  ziehen  wir,  auf  der  Oberfläche 
einer  Kugel,  eine  Schlangenlinie,  die  mit  gleichen  und  ab- 
wechselnd entgegengesetzt  gerichteten  Bögen  einen  größten 
Kreis  umläuft,  so  sind  alle  Punkte  dieser  Linie  gleichweit 
vom  Mittelpunkt  der  Kugel  entfernt.  Braucht  dann  die 
Linie  eine  ungerade  ganze  Anzahl  dieser  Doppelbogen,  um 
wieder  an  ihren  Ausgangspunkt  auf  dem  größten  Kreise 
zurückzukehren,  so  besteht  sie  aus  unzähligen  Paaren  an 


Die  Formen  der  Definition.  205 

den  entgegengesetzten  Endpunkten  eines  Kugeldurchmessers 
einander  gegenüberliegender  Punkte;  der  Mittelpunkt  der 
Kugel  halbirt  also  die  geradlinige  Entfernung  zwischen  den 
beiden  Punkten  jedes  Paares;  er  würde  mithin  in  jedem 
Sinne,  dem  man  hier  den  Namen  des  Mittelpunktes  geben 
könnte,  auch  der  Mittelpunkt  der  Summe  aller  Paare, 
d.  h.  jener  Linie  sein,  die  gleichwohl  kein  Kreis  wäre. 
Es  war  daher  nöthig  zu  sagen,  der  Kreis  sei  die  ebene 
krumme  Linie,  die  jene  Bedingung  erfüllt.  Weiter  gilt  es 
dann  aber  als  eine  Forderung  der  Eleganz,  daß  die  Definition 
nicht  mehr  Vorstellungen  enthalte,  als  zur  völligen  Be^ 
Stimmung  des  gegebenen  Begriffs  unentbehrlich  sind.  Man 
kann  deshalb  verlangen,  daß  nicht  von  einer  krummen  Linie, 
sondern  von  einer  Linie  überhaupt  die  Rede  sei;  erfüllt 
sie  die  hinzugefügte  Bedingung,  so  folgt  ohnehin,  daß  sie 
nicht  gerade  sein  kann.  Diese  Bedingung  selbst  ist  jedoch 
nicht  correct  ausgedrückt.  Die  Definition  soll  unter  ihren 
Verdeutlichungsmitteln  nicht  solche  Vorstellungen  enthalten, 
welche  selbst  erst  deutlich  werden  unter  Voraussetzung 
des  zu  definirenden  Begriffs.  Eine  solche  Vorstellung  ist 
hier  gewiß  die  des  Mittelpunktes.  Denn  hätten  wir  die 
Anschauung  des  Kreises  noch  nicht  (und  in  der  That  können 
wir  wenigstens  hier  nicht  veranlaßt  sein,  uns  dieser  An- 
schauung zu  erinnern,  naphdem  wir  das  Merkmal  der 
Krümmung  aus  unserer  Definition  weggelassen  haben),  so 
könnten  wir  unter  dem  Mittelpunkt  einer  Linie  zunächst 
nur  den  Halbirungspunkt  ihrer  Länge  verstehen,  und  erst 
der  Versuch,  unter  dieser  Voraussetzung  den  Kreis  zu 
construiren,  würde  unsern  Irrthum  entdecken.  Diese  dem 
gewöhnlichen  Sprachgebrauch  naheliegende  Bedeutung  des 
Mittelpunktes,  die  uns  schon  in  der  Erwähnung  unserer 
Schlangenlinie  oben  zu  unwillkommener  Weitläufigkeit 
zwang,  muß  daher  in  der  Definition  durch  die  genaue 
allgemein  zutreffende  Bestimmung  dessen  ersetzt  werden, 
was  für  alle  Raumgebilde  unter  diesem  Ausdrucke  zu  ver- 
stehen ist.  Diese  Bestimmung  läßt  sich  leicht  geben,  aber 
ich  darf  sie  übergehen,  denn  es  folgt  aus  ihr,  daß,  wenn 
es  für  eine  ebene  Linie  einen  Punkt  derselben  Ebene  gibt, 
von  dem  alle  ihre  Punkte  gleich  entfernt  sind,  eben  dieser 
Punkt  ihr  Mittelpunkt  ist.  Setzen  wir  nun  diese  Definition 
des  Mittelpunktes  in  unsere  Definition  des  Kreises  ein,  so 
wird  die  nähere  Bedingung,  durch  welche  die  ebene  Linie 
zum  Kreise  werden  soll,  völlig  tautologisch  und  der  Sinn 


206  Erstes  Kapitel. 

des  Ganzen  ist  offenbar  nur  noch  der:  Kreis  ist  die  ebene 
Linie,  für  die  es  in  derselben  Ebene  einen  Punkt  gibt, 
von  dem  alle  ihre  Punkte  äquidistant  sind.  So  ist  die 
Definition  dem  Inhalt  nach  richtig;  dennoch  läßt  sie  sich 
formell  bemängeln.  Denn  nachdem  wir  den  Begriff  des 
Mittelpunktes  hinweggelassen  haben,  erinnern  wir  uns,  daß. 
nur  seine  Beibehaltung  uns  nöthigte,  den  äquidistanten 
Punkt  in  derselben  Ebene  zu  suchen ;  nicht  dieser  wirkliche 
Mittelpunkt  allein,  sondern  jeder  Punkt  einer  durch  ihn 
senkrecht  zu  der  Ebene  der  Linie  gelegten  Axe  erfüllt  die 
Bedingung,  gleichweit  von  allen  Punkten  der  Linie  zu  sein> 
Es  reicht  daher  hin  zu  sagen :  Kreis  ist  die  ebene  Linie, 
für  deren  sämmtliche  Punkte  es  einen  äquidistanten  Punkt 
gibt;  daß  es  solcher  Punkte  viele  gibt  und  wo  sie  liegen, 
kann  unerwähnt  bleiben;  der  Versuch,  die  Linie  nach  dieser 
Anweisung  zu  construiren,  lehrt  beides  ohnehin.  Auch  so 
endlich  entspricht  die  Definitiim  noch  nicht  allen  Wünschen. 
Sie  sagt  zwar,  daß  alle  Punkte  des  Kreises  äquidistant  von 
einem  und  demselben  Punkte  sind,  aber  sie  läßt  unent- 
schieden, ihrer  Form  nach,  ob  alle  von  diesem  Punkte 
äquidistanten  Punkte  auch  Punkte  des  Kreises  sind  oder 
nicht.  Sie  sind  es  nun  aber,  sobald  sie  in  derselben  Ebene 
liegen,  und  um  dies  mit  auszudrücken,  nennen  wir  endlich 
den  Kreis  die  Linie,  welche  alle  von  irgend  einem  Punkte 
äquidistanten  Punkte   einer  Ebene  enthält. 

165.  Ueber  die  Anforderungen  an  die  Definition,  die 
wir  an  diesem  Beispiele  durchgingen,  kann  man  verschieden 
urtheilen.  Die  Anwendung  von  Vorstellungen,  die  un- 
abhängig von  dem  zu  definirenden  Begriffe  sich  zwar  be- 
stimmen lassen,  aber  doch,  wenigstens  außerhalb  des  Zu- 
sarhmenhanges  einer  wissenschaftlichen  Behandlung,  volle 
Deutlichkeit  erst  durch  ihn  selbst  erhalten,  wie  hier  die 
der  Vorstellung  vom  Mittelpunkt,  ist  ein  jedenfalls  zu  ver- 
meidender Fehler.  Die  Hinzufügung  überflüssiger  Bestim- 
mungen hingegen  kann  unbedenklich  erscheinen,  da  sie 
die  Richtigkeit  der  Definition  nicht  beeinträchtigt,  ihre  Ver- 
ständlichkeit dagegen  erhöht.  Dennoch  ist  sie  zu  vermeiden. 
Denn  leicht  erweckt  der  Zusatz  einer  entbehrlichen  Neben- 
bestimmung z,  eben  weil  ihre  Entbehrlichkeit  nicht  mit 
ausgesprochen  wird,  den  falschen  Nebengedanken,  sie  ge- 
höre dazu,  um  das  zu  definirende  M  von  einem  NonM  zu 
unterscheiden,  von  welchem,  mit  einziger  Ausnahme  von  z* 
selbst,  alle  Behauptungen  der  Definition  auch  gültig  seienu 
Nennen  wir  den  Kreis  die  krumme  ebene  Linie,  für  dereß 


Die  Formen  der  Definition.  207 

Punkte  es  einen  äquidistanten  Punkt  gibt,  so  hat  es  formell 
den  Anschein,  als  gäbe  es  auch  gerade  Linien,  die  derselben 
Bedingung  genügten.    Wenig   schadet  dies  in  diesem  ganz 
einfachen  Falle;  aber  wirkliche  Nachtheile  können  in  ver- 
wickeiteren   aus    jener    scheinbar    harmlosen   Hinzufügung 
des   Ueberflüssigen   entstehen.    Mindestens  hemmt  sie  uns 
in   der    Ableitung   von   Folgen,   um   deren   willen    wir   die 
Definition  doch   überhaupt  nur  aufstellten.    Denn   es  kann 
sich  zutragen,  daß  von  einem  Q  auf  irgend  eine  vielleicht 
mittelbare  Weise  ganz  sicher  die  Prädicatsumme  feststeht^ 
die  nach  richtiger  Definition  hinreicht,  um  Q  unter  M  zu 
subsumiren,  daß  es  aber  schwer  oder  unthunlich  ist,  direct 
an  Q  auch  noch  das  Prädicat  z  nachzuweisen,  welches  die 
wirklich  gegebene   Definition  überflüssig  hinzufügte;  dann 
wird  man  ganz  unnützes  Bedenken  tragen,  Q  dem  M  unter- 
zuordnen   und    die    hierdurch    zu    begründende    Folgerung 
wirklich   zu    ziehen.     Es   ist   daher   im   Allgemeinen    doch 
eine  richtige   Forderung,   die  Definition   solle  nur  die   zur 
Bestimmung  ihres  Gegenstandes  unentbehrlichen  Vorstellun- 
gen   enthalten,     blos    beschreibende    Elemente    aber    aus- 
schließen; sie  vergütet  dann  durch  Sicherheit  der  aus  ihr 
zu  ziehenden  Folgerungen  den  Mangel  an  Anschaulichkeit, 
166.  Bisher    betrachteten    wir    die    übliche    Form    der 
Definition  durch  Angabe  des  nächsten  Gattungsbegriffs  und 
der  specifischen   Differenz  als  die  allein  gültige.    Der  un- 
gebildete Verstand  definirt  zum  Aerger  der  Logiker  anders, 
etwa  in  bekannter  ungeschickter  Bedeweise:  Krankheit  ist, 
wenn  mir   etwas  weh  thut.    Dies  freilich  bedarf  der  Ver- 
besserung, aber  doch  schwerlich  so,  wie  die  Logik  es  etwas 
eigensinnig  wünscht,  sondern  so,  wie  thatsächlich  die  Physik 
viele  ihrer   Begriffe   definirt.    Die  gewöhnliche  Form  paßt 
leicht  sich    eigentlich   nur   einem   seiner  Natur  nach   sub- 
stantivischen Inhalt  an;  wo  es  sich  aber  um  adjectivische. 
oder  verbale  Inhalte  handelt,  ist  es  nicht  blos  kürzer  und 
klarer,    sondern    auch    richtiger,    ihnen    im    Satzbau    der 
Definition  die  Stelle  zu  geben,  an  die  sie  gehören,  und  sie 
auf  das  Subject  bezogen  erscheinen  zu  lassen,  als  dessen 
Zustände   oder    Eigenschaften   sie   allein   Sinn   haben.    Mit 
Recht  definirt  man  daher  Adjective,  wie  krank  oder  elastisch, 
durch    Sätze    von    der    Form:    krank    ist    ein    lebendiger: 
Organismus   dann,    wenn   seine   Functionen   von   einer  be-; 
stimmten  Grenze   abweichen;   elastisch   ist  der  Körper,, 
welcher    nach    dem    Aufhören    äußerer    Einwirkung     seine 
Gestalt  herstellt.   Und  ebenso  würden  den  verbalen  Inhalten 


208  Erstes  Kapitel. 

leben  und  sündigen  Definitionen  entsprechen,  welche 
zuerst  die  Subjecte,  von  denen  beide  gelten  können,  den 
organisirten  Körper  und  den  bewußten  wollenden  Geist, 
und  dann  die  Bedingungen  namhaft  machten,  unter  denen 
beide  von  diesen  Subjecten  auszusagen  sind.  Es  hat 
schlechthin  keinen  Nutzen,  alle  diese  Vorstellungsinhalte 
zuerst  in  substantivische  Form  zu  bringen  und  sie  etwa 
den  Allgemeinbegriffen  von  Zuständen  Eigenschaften  oder 
Verfahrungsweisen  unterzuordnen;  daß  sie  unter  diese  ge- 
hören, wird  unmittelbar  deutlich,  wenn  man  ihnen  mit 
der  ad jecti vischen  oder  verbalen  Form  die  entsprechende 
Stellung  im  Satze  läßt.  Dagegen  hat  die  übliche  Definitions- 
weise den  Nachtheil,  daß  sie  viel  zu  sehr  daran  gewöhnt, 
das,  was  eben  nur  Zustand  oder  Eigenschaft  eines  Andern 
ist,  von  diesem  seinem  Subject  abzulösen  und  als  etwas 
Selbständiges  zu  betrachten.  Nachdem  man  einmal  die 
substantivischen  Namen  der  Krankheit  der  Sünde  der  Frei- 
heit geschaffen  hat,  ist  es  schwer,  die  seltsame  Mythologie 
gaöz  abzuwehren,  die  von  dem  Inhalt  dieser  Begriffe  wie 
von  eigenen  Wesen  spricht  und  ihre  Entwicklungen  verfolgt, 
ohne  im  Lauf  solcher  Untersuchungen  ernstlich  auf  die 
realen  Subjecte  zurückzukommen,  als  deren  Eigenschaften 
Zustände  oder  Thätigkeiten  sie  aliein  Existenz  haben  und 
an  deren  wirkliche  Entwicklung  ihre  scheinbare  in  jedem 
Augenblicke  gebunden  bleibt. 

167.  Noch  immer  haben  wir  als  zu  definirende  Begriffe 
verhältnißmäßig  einfache  im  Sinne  gehabt,  Begriffe  von 
Figuren  Dingen  Eigenschaften  und  leichtfaßlichen  Verhält- 
nissen; in  den  Worten  der  Sprache  aber,  deren  jedes  unter 
Umständen  eine  Definition  verlangen  kann,  finden  sich 
häufig  sehr  verwickelte  Beziehungen  zwischen  sehr  mannig- 
fachen Beziehungspunkten  in  einen  einfachen  Ausdruck  zu- 
sammengezogen. Es  würde  nur  Befangenheit  sein,  die  Be- 
stimmung solcher  Begriffe  in  der  regelmäßigen  Form  einer 
einfachen  Definition  zu  verlangen,  und  nur  nutzlose  Pedan* 
terie,  die  sehr  vielfältigen  anderen  Verfahrungsweisen,  die 
man  hier  benutzen  kann,  mit  besonderen  Namen  zu  ver- 
zieren. Das  allgemeine  Princip  angewandter  Logik  ist  immer 
nur  dies,  daß  alle  Wege  erlaubt  sind,  die  zu  dem  richtigen 
Ziele  führen;  nur  den  Zweifel  darüber,  welcher  Weg  bis 
zu  Ende  gangbar  sein  werde,  welcher  nicht,  hofft  sie  durch 
Angabe  der  längst  geprüften  zu  heben;  neue  zu  suchen,  wo 
neue  Bedürfnisse  vorliegen,  verbietet  sie  nie.  Immer  ist 
es  daher  gestattet,  durch  vorangehende  Beschreibung,  durch 


Die  Formen  der  Definition.  209 

Gleichnisse  und  Analogien,  durch  Erörterungen  aller  Art 
in  den  Sinn  der  Hülfs Vorstellungen,  die  man  brauchen, 
und  in  die  Eigenthümlichkeit  der  Verbindungen,  die  man 
zwischen  ihnen  herstellen  will,  vorbereitend  einzugewöhnen, 
um  dann  in  einem  kurzen  und  verständlichen,  obwohl  von 
dem  Kreise  dieser  Voraussetzungen  nicht  ablösbaren  Aus- 
drucke das  aufzuzeigen,  was  man  zu  bestimmen  wünschte. 
Nur  noch  an  eine  allgemeine  Unterscheidung  der  Definitionen 
werden  wir  hierdurch  erinnert.  Man  kann  M  durch  den 
Thatbestand  von  Merkmalen  charakterisiren,  den  sein  Be- 
griff dann  aufweist,  wenn  er  fertig  vor  unserem  Bewußtsein 
steht,  diese  Definition,  von  der  die  früher  erwähnte  des 
Kreises  ein  Beispiel  war,  kann  die  descriptive  heißen; 
auf  sie  sind  wir  hauptsächlich  verwiesen  in  Bezug  auf 
Gegenstände  der  Wirklichkeit,  die  wir  nur  äußerlich  kennen 
und  deren  Definition  daher  in  der  That  nur  eine  methodisch 
geregelte  Beschreibung  ist.  Aber  man  kann  M  auch  dadurch 
feststellen,  daß  man  irgend  einen  Weg  angibt,  auf  welchem, 
nicht  durch  bloße  Addition,  sondern  durch  beliebige  Be- 
nutzung und  Verwendung  anderer  Vorstellungen,  die  Vor- 
stellung seines  Inhalts  entstehen  muß;  diese  Definiton 
würden  wir  genetische  nennen,  und  wir  würden,  um 
dies  ausdrücklich  hervorzuheben,  unter  ihr  nicht  die  An- 
gabe des  Hergangs  verstehen,  durch  welchen  der  Inhalt 
des  Begriffs  M  wirklich  entsteht,  sondern  nur  die  Bezeich- 
nung des  Weges,  auf  dem  die  Vorstellung  dieses  Inhalts 
entstehen  kann  oder  muß.  Lassen  wir  eine  gerade  Linie 
in  derselben  Ebene  sich  um  einen  ihrer  Endpunkte  drehen 
und  verbinden  die  successiven  Lagen  des  anderen  End- 
punkts, so  ist  dies  eine  genetische  Definition  des  Kreises; 
der  Kreis  nun  als  solcher  entsteht  überhaupt  nicht;  ein  be- 
stimmter gezeichneter  Kreis  aber  kann  auf  andere  Weise 
wirklich  entstanden  sein,  nur  seine  Anschauung  entsteht 
auf  dem  von  dieser  Definition  angegebenen  Wege  für  uns 
gewiß ;  sie  entsteht  aber  ebenso,  wenn  wir  beide  Axen  einer 
Ellipse  sich  ändern  und  zuletzt  =  r  werden  lassen,  oder 
wenn  wir  einen  geraden  Kegel  senkrecht  auf  seine  Axe 
durch  eine  Ebene  schneiden.  Es  gibt  daher  für  Vor- 
stellungen, deren  Inhalt  an  sich  selbst  gar  keine  Genesis 
hat,  nicht  nur  eine,  sondern  so  viele  genetische  Definitionen, 
als  sich  Wege  angeben  lassen,  durch  Benutzung  anderer 
Vorstellungen  die  Vorstellung  dieses  Inhalts  zu  erzeugen. 
Diesen  genetischen  Definitionen  nun  schließen  sich,  in 
weiterem    Sinne,     die     oben     erwähnten     gemischten    Ver- 

Lotze,  Logik.  14 


210  Erstes  Kapitel. 

fahrungsweisen  an;  sie  suchen  auf  Umwegen  die  Vorstellung 
des  Mentstehen  zu  lassen,  wenn  die  directe  Angabe 
des  Inhalts,  aus  weichem  M  besteht,  unausführbar  oder 
unbequem  wird. 

168.  Eigentlich  immer,  sobald  wir  die  Definition  eines 
M  unternehmen,  suchen  wir  seinem  Inhalt  durch  sie  einen 
höheren   Grad  der  Bestimmtheit   zu   geben,  als  er   vorher 
besaß.      Doch    beschränkt   sich    unsere    Aufgabe    meistens 
darauf,   eine  klare  Vorstellung   (clara  perceptio),  die  wir 
von   M   schon  hatten,   in   eine   deutliche   (distincta   p.), 
oder  eine  bloße  Vorstellung,  welche  nur  überhaupt  M 
als   zusammengehöriges   Ganze  bekannter  Theile   faßte,   in 
einen  wirklichen  Begriff  des  M  zu  verwandeln.     Beides 
können  wir  als  gleichbedeutend  ansehen.    Denn  klar  nennen 
wir  nach  altem  Sprachgebrauch  einen  Inhalt  schon  dann, 
wenn  er  als  einer,  als  in  sich  zusammengehöriger,  endlich 
mit   einer   Bestimmtheit,   welche   zur   Verhütung   der  Ver- 
wechselung hinreicht,  als  verschieden  von  anderen  gedacht 
wird ;  deutlich  aber  wird  er  erst  dann,  wenn  die  ? allgemeine 
Regel,   unter  die   der   Zusammenhang   seiner  Theile   fällt, 
wenn  ferner  die  Merkmale,  die  er  mit  anderen  Arten  dieses 
Allgemeinen   gemeinsam   besitzt,   wenn   endlich   auch   die- 
jenigen einzeln  mitgedacht  werden,  die  ihn  von  allen  andern 
Arten  seines  Allgemeinen  unterscheiden.     Diese  Steigerung 
der  Bestimmtheit  fiel  uns,   in  der  reinen  Logik,   mit  dem 
Uebergang  aus  der  Form  logischer  Vorstellung  in  die  Form 
des    wirklichen   Begriffes    zusammen.      Nun    gibt   es   aber 
Fälle,  in  welchen  die  Vorstellung  eines  zu  definirenden  M 
die  Klarheit  keineswegs  besitzt,  die  wir  hier  voraussetzten; 
durch  UeberlieferUng  sind  Namen  an  uns  gekommen,  welche 
die  Sprache  mit  unbestimmten  Grenzen  ihrer  Bedeutung  ge- 
bildet hat.     So  pflegen  wir  von  Tugend  und  Sünde,  vom 
Guten  und  dem  höchsten  Gut,  von  Erscheinung  und  wahr- 
haft Seiendem  zu  sprechen,  überzeugt,  mit  diesen  Namen 
durchaus    Bestimmtes   zu   meinen,    und    bereit,    aus   ihnen 
wichtige  Folgerungen  in  Bezug  auf  das  abzuleiten,  was  wir 
ihnen  unterordnen;  zuletzt  überzeugen  uns  die  Schwierig- 
keiten, in  die  wir  uns  verwickeln,  daß  wir  eigentlich  nicht 
genau  wußten,  was  wir  meinten,  daß  die  Bedingungen  nicht 
vollständig  feststanden,  die  alles  erfüllen  muß,  was  diesen 
Namen   untergeordnet  werden  soll,   daß   wir  also  uns   un- 
klaren  Vorstellungen  anvertraut  hatten,   deren   Aufklärung 
vor  allem  Noth  thut.     Wir   suchen  diese  auf   einem  sehr 
einfachen  Wege.    Wäre  der  Sinn  dessen,  was  M  bezeichnen 


Die  Formen  der  Definition.  211 

soll,  uns  völlig  unbekannt,  so  hätten  wir  kein  Mittel,  ihn 
zu  entdecken;  aber  wir  würden  auch  nie  in  den  Fall  ge- 
kommen sein,  diesen  Namen  anzuwenden,  wenn  nicht  irgend 
ein   Bestandtheil   a  seiner   Bedeutung   uns   zweifellos   fest- 
stände, eben  der,  der  uns  jetzt  veranlaßte,  die  im  übrigen 
noch  unklare  Benennung  zu  gebrauchen.     Dieses  a  sehen 
wir  zunächst  versuchsweis  als  vollständige  Definition  des 
M  an  und  überlegen,  ob  a  demjenigen  entspricht,  was  wir 
unter  M  meinen.    Bekannte  Erfahrungen  lehren,  daß  in 
Fällen,  wo  wir  den  Inhalt  eines  M  positiv  auszusprechen 
nicht  im  Stande  sind,   wir  doch  sehr  wohl  bemerken,  ob 
eine   zu   seiner  Definition   angebotene   Vorstellung   a   ihm 
genügt  oder  nicht.     So   entscheiden  wir,  wenn  wir  einen 
vergessenen  Namen  vergeblich  suchen,  doch  mit  Sicherheit 
verneinend,    daß    ein    versuchsweis    genannter   nicht   der 
richtige  ist;  aber  auch  das,  was  dieser  an  Aehnlichkeit  mit 
dem   richtigen   besitzt,   macht   Eindruck   auf  uns,   erweckt 
zuweilen  unmittelbar  dessen  verdunkelte   Vorstellung   und 
läßt  jedenfalls  deutlicher  werden,  worin  er  sich  noch  von 
dem  angebotenen  falschen  unterscheidet.   In  gleichem  Falle- 
befinden  wir  uns  hier;  a  ist  nicht  völlig  falsch  und  unver- 
gleichbar mit  M;  die  Vergleichung  beider  führt  daher  nicht 
zur   bloßen   Verneinung   ihrer   Gleichheit   zurück,   sondern 
bringt  auf  die  Spur  einer  Ergänzung  b,   die  zu  a  hinzu- 
zufügen, oder  einer  Aenderung  b,  die  an  a  anzubringen  ist, 
um  den  Inhalt  von  M  völlig  zu  treffen.    Nun  setzen  wir  in 
einem  zweiten  Versuche  M^a  +  b,  und  wiederholen  den- 
selben Gang  der  Vergleichung  und  Ergänzung  durch  neue 
Glieder  c  und  d,  bis  wir  eine  Definition  M  =  a  +  b-|-c-}-d 
erreicht  haben,  welche  in  ihrer  entwickelten  Merkmalsumme 
sich  völlig  mit  dem  deckt,  was  wir  unter  M  gemeint  hatten. 
In  dieser  sehr  einfachen  Gedankenbewegung  bestand  schon, 
viel  weniger  in  einem  eigentlich  inductiv6n  Verfahren,  die 
Kunst  des   platonischen  Sokrates,   unklare   Begriffe  aufzu- 
klären. 


14^ 


Zweites  Kapitel. 

Von  der  Begrenzung  der  Begriffe. 

169.  Bestimmte  Bedürfnisse  der  Untersuchung  können 
uns  veranlassen,  eine  Merkmalgruppe  ikl  durch  alle  die 
übrigens  verschiedenen  Gegenstände  hindurch  zu  verfolgen, 
an  denen  sie  vorkommt,  und  den  Einfluß  aufzusuchen, 
welchen  ihre  Gegenwart  auf  den  übrigen  Merkmalbestand 
dieser  mannigfachen  Subjecte  ausübt.  Der  Erfolg  dieser 
Vergleichung  selbst  belehrt  uns  dann,  ob  das  Vorhandensein 
von  ikl  die  übrigen  Merkmale,  die  jedes  dieser  Subjecte 
vermöge  seines  Gattungsbegriffes  besitzt,  in  bemerklicher 
und  zwar  in  gleichartiger  Weise  modificirt.  Ist  dies  der 
Fall,  so  bilden  wir  häufig  aus  ikl  und  aus  der  Vorstellung 
eines  mehr  oder  minder  bestimmten  Subjects  einen  neuen 
Gattungsbegriff  M  und  betrachten  als  Arten  desselben  alle 
die  Vorstellungsinhalte,  in  denen  ikl  vorkommt.  Nicht 
selten  aber,  und  in  dem  entgegengesetzten  Falle  immer, 
begnügen  wir  uns,  ikl  als  eine  der  unzähligen  variablen 
Bedingungen  zu  fassen,  welche,  auf  andere  Vorstellungs- 
inhalte einwirkend,  in  diesen  bestimmte  Aenderungen  nach 
sich  ziehen,  für  sich  selbst  aber  keinen  eigenen  Begriff 
bilden,  dem  ihre  Beispiele  als  Arten  unterzuordnen  wären. 
Die  lebendige  Sprache  nun  glaubt  in  der  Ausprägung  ihr^s 
Wörterschatzes  die  beiden  Fälle  bereits  hinlänglich  ge- 
schieden zu  haben,  in  denen  das  eine  oder  das  andere  Ver- 
fahren schicklich  ist.  Zwar  dies  wird  sie  zugeben,  daß 
fortschreitende  Vertiefung  der  Untersuchung  noch  manche 
Merkmalgruppe  ikl  von  so  entscheidendem  Einfluß  auf  das 
Gesammtverhalten  jedes  sie  einschließenden  Begriffes  ent- 
decken wird,  daß  es  sich  der  Mühe  verlohnt,  aus  dieser 
Gruppe  einen  eigenen  Gattungsbegriff  M  zu  bilden  und 
durch  einen  Namen  zu  bezeichnen;  in  der  That  bereichert 
sich  ja  auch  die  Sprache  beständig  durch  neue  Benennungen 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  213 

für  so  neu  entdeckte  Vorstellungen.  Dagegen  wird  sie  auch 
behaupten,  daß  keiner  derjenigen  Begriffe,  welche  sie  be- 
reits gefunden  und  durch  Schöpfung  eines  Namens  ver- 
festigt hat,  dieser  Auszeichnung  unwerth  sei;  jeder  bedeute 
vielmehr  wirklich  etwas  in  sich  Zusammengehöriges,  das 
er  mit  Recht  von  jedem  andern  gleichfalls  in  sich  zu- 
sammengehörigen Inhalte  als  ein  wohlbegrenztes  Ganze 
abtrenne. 

170.  Mit  diesen  in  der  überlieferten  Sprache  gegebenen 
Begriffen  muß  nun  unser  Denken  wirthschaften ;  nicht  blos 
weil  wir  kein  Mittel  der  Verständigung  besitzen  außer  den 
Worten,  die  zu  ihrer  Bezeichnung  geschaffen  sind,  viel- 
mehr enthält  dieser  Wortschatz  das  verdichtete  Ergebniß 
des  Nachdenkens,  welches  von  jeher  der  menschliche  Geist 
auf  die  Welt  des  Vorstellbaren  gerichtet  hat,  und  wir  können 
vermuthen,  daß  dieselben  Antriebe,  die  ihn  zu  dieser  Fest- 
stellung der  Begriffe  geführt  haben,  sich  zunächst  auch  in 
uns  bei  der  Wiederholung  dieser  Bemühung  gelten  machen 
würden.  Daß  gleichwohl  diese  Antriebe,  so  natürlich  sie 
dem  Menschen  sein  mögen,  doch  dem  Zweifel  Raum  lassen, 
zeigt  uns  der  häufige  Zwiespalt,  der  bei  der  Anwendung 
der  so  gebildeten  Begriffe  entsteht.  Wenn  es  sich  darum 
handelt,  von  irgend  einem  S  ein  P  zu  bejahen  oder  zu  ver- 
neinen, so  behauptet  der  eine:  S  sei  eine  Art  von  M,  und 
darum  komme  ihm  P  zu;  ein  anderer  wirft  ein:  S  sei 
kein  M  und  darum  auch  kein  P;  der  dritte  gesteht:  S  sei 
zwar  kein  M,  sondern  ein  N,  aber  dies  thue  nichts,  und 
was  dem  M  zukomme,  gelte  auch  von  N;  der  vierte  besteht 
darauf,  die  Verschiedenheit  von  M  und  N  begründe  auch 
einen  Unterschied  beider  in  Bezug  auf  P.  Der  hier  sicht- 
bare Zwiespalt  dehnt  sich  zu  zwei  entgegengesetzten  Nei- 
gungen aus,  die  unser  ganzes  Denken  beherrschen :  die  eine 
übertreibt  jeden  gefundenen  Unterschied  bis  zum  unbe- 
dingten, und  mit  der  bekannten  Redensart:  dies  sei  etwas 
ganz  anderes,  sträubt  sie  sich,  von  einem  Falle  a  auf  einen 
zweiten  ihm  ähnlichen,  aber  nicht  gleichen  b  irgend  einen 
Grundsatz  der  Beurtheilung  zu  übertragen ;  sie  wird  so 
im  Leben  und  in  der  Wissenschaft  das  Princip  der  Pedanterie 
und  der  Philistrosität ;  die  andere  Neigung  übersieht  den  be- 
dingten Werth  jedes  Unterschiedes,  der  kein  unbedingter 
ist,  und  mit  dem  öden  Wahlspruch:  im  Grunde  sei  alles 
eins,  verwischt  sie  alle  festen  Grenzen,  welche  die  Um- 
fange verschiedener  Begriffe  scheiden,  und  damit  auch 
die  Rechtsgründe,  welche  bestimmte  Prädicate  ausschließ- 


214  Zweites  Kapitel. 

lieh  an  bestimmte  Subjecte  knüpfen,  an  andere  nicht;  so 
wird  sie  im  Denken  und  im  Handeln  zum  Princip  eines 
ebenso  verderblichen  Libertinismus.  Ein  Blick  auf  diese 
Verirrungen  im  Großen  erweckt  das  Bedürfniß,  darüber  klar 
zu  werden,  welche  Gründe  uns  berechtigen,  den  ganzen 
Bestand  des  Vorstellbaren  in  bestimmte  Begriffe  einzu- 
theilen,  wo  ferner  für  diese  die  Grenzlinien  ihrer  Herr- 
schaftsgebiete zu  ziehen  sind,  endlich  welcher  Werth  den 
so  gemachten  Unterscheidungen  beizulegen  ist. 

171.  Die  Beantwortung  dieser  Fragen  führt  schon  da, 
wo  sie  am  meisten  leicht  und  am  wenigsten  dringlich  ist, 
in  Bezug  auf  die  einfachen  Inhalte  sinnlicher  Empfindungen, 
zu  sehr  mannigfachen  Verhältnissen.  Vollen  Unterschied 
haben  wir  ein  Recht,  zwischen  einfachen  Inhalten  A  B  C 
dann  anzunehmen,  wenn  keine  Mittelglieder  vorstellbar  sind, 
durch  welche  das  Eigenthümliche  des  einen  stufenweis  in 
das  des  andern  überginge,  wenn  ferner  keine  Mischung 
zweier  von  ihnen  denkbar  ist,  die  einen  neuen  einfachen 
Inhalt  gäbe,  wenn  endlich  keine  Grade  des  Gegensatzes 
zwischen  ihnen  so  stattfinden,  daß  'die  Weite  des  Unter- 
schiedes zwischen  A  und  B  größer  oder  kleiner  geschätzt 
werden  könnte,  als  die  des  Unterschiedes  zwischen  A  und  C 
oder  B  und  C.  Diese  Verhältnisse  oder  vielmehr  dieser 
Mangel  jedes  angebbaren  Verhältnisses  findet  statt  zwischen 
Farbe  A  Ton  B  und  Geruch  C;  für  diese  Inhalte  kann  die 
alte  Benennung  disparater  oder  unvergleichbarer  bei- 
behalten werden.  Und  dies  Verhalten  wird  nicht  geändert 
durch  verschiedene  Nebenbetrachtungen.  Zuerst  nicht  durch 
Hinweis  darauf,  daß  diese  drei  sämmtlich  nur  als  Zustände 
unseres  Bewußtseins  Wirklichkeit  haben;  alle  sind  sie  zwar 
Empfindungen  und  nach  dem  Sprachgebrauch  der  Logik 
Arten  der  Empfindung;  allein  dem  allgemeinen  Begriffe  der 
letzteren  sind  sie  nicht  wie  einem  superordinirten  Gattungs- 
begriff untergeordnet,  der  irgend  ein  Gesetz  ihrer  Bildung 
enthielte.  Wer  das  Bild  eines  stumpfwinkligen  Dreiecks 
dem  Allgemeinbegriffe  des  Dreiecks  untergeordnet  denkt, 
hat  in  diesem  eine  Bildungsregel,  deren  Anwendung  er  blos 
innerhalb  ihrer  eigenen  Grenzen  zu  variiren  braucht,  um 
zu  bemerken,  daß  es  außer  jener  einen  Art  des  Dreiecks 
auch  noch  rechtwinklige  und  spitzwinklige  gibt.  Wer  da- 
gegen die  Farbe  dem  Allgemeinen  der  Empfindung  sub- 
sumirt,  denn  nur  dies,  nicht  Subordination  ist  möglich, 
-wird  aus  diesem  Allgemeinen  niemals  folgern  können,  daß 
OS  außer  den  Farben  noch  Töne  und  Gerüche  gibt.    Obgleich 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  215 

daher  diese  drei  nach  gewöhnlichem  Ausdrucke  Arten  der 
Empfindung  sind,  so  bleiben  sie  doch  innerhalb  des  Um- 
fangs  dieses  Allgemeinen  völlig  disparat  gegen  einander. 
Als  Zustände  ferner,  als  Bewegungen  oder  Erschütterungen 
der  Seele  mögen  diese  verschiedenen  Empfindungsarten 
gewisse  vergleichbare  Nebenwirkungen  hervorrufen,  und 
man  mag  immerhin  deshalb  eine  bestimmte  Farbe  a^  einem 
bestimmten  Tone  b^  oder  einem  Geschmack  c^  vergleichen: 
was  diese  vergleichbaren  Nachwirkungen  hervorbringt,  bleibt 
dennoch  an  sich  selbst  ganz  unvergleichbar.  Und  dasselbe 
ist  der  Physik  und  der  Physiologie  zu  erwiedern,  wenn  sie 
die  Vorgänge  in  der  Außenwelt  oder  die  in  unseren  Nerven, 
die  zur  Entstehung  der  verschiedenen  Empfindungsklassen 
nöthig  sind,  auf  vergleichbare  ja  vielleicht  sehr  nahe  ver- 
wandte Bewegungen  stofflicher  Elemente  zurückführen; 
beide  müssen  dann  nicht  mit  der  wunderlichen  Behauptung 
schließen:  also  seien  eigentlich  diese  Empfindungen  gar 
nicht  qualitativ  verschieden,  sondern  eben  mit  der  andern 
richtigen:  trotz  der  Aehnlichkeit  der  Entstehungsweisen 
finde  nicht  die  mindeste  Aehnlichkeit  zwischen  den  ent- 
standenen statt.  Ein  Zweifel  hierüber  kann  nur  insoweit 
stattfinden,  als  die  unbefangene  Selbstbeobachtung,  die  hier 
allein  zu  entscheiden  hat,  ihrerseits  einen  übrig  läßt.  Dies 
ist  der  Fall  in  Bezug  auf  Geschmack  und  Geruch.  Das  Saure 
haben  beide  zweifellos  mit  einander  gemein;  auch  ihre 
übrigen  Empfindungen  aber  scheinen  eine  zusammen- 
hängende Gruppe  zu  bilden,  nur  daß  einige  Glieder  dieser 
Gruppe  blos  durch  flüssige,  andere  nur  durch  gasförmige 
Reize  erregt  werden;  deswegen  an  verschiedene  Organe 
vertheilt,  unterscheiden  sich  vielleicht  die  an  sich  gleich- 
artigen Empfindungen  beidet  Sinne  nur  durch  Nebenemp- 
findungen, die  von  der  Lage  Gestalt  und  Functionsweise 
des  einen  oder  des  andern  erregten  Organs  abhängen.  Dies 
zu  entscheiden  ist  nicht  Sache  der  Logik;  sie  hat  hier  nur 
zu  ermahnen,  man  solle  sich  nie  durch  Hinweis  auf  die 
Aehnlichkeit  dessen,  was  zwei  Inhalte  begründet  oder 
ihnen  folgt,  sophistisch  und  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung widersprechend,  die  Unvergleichbarkeit  dessen  ab- 
streiten lassen,  w^as  beide  sind. 

172.  Zu  einer  ähnlichen  Bemerkung  veranlaßt  mich  die 
andere  Frage,  nicht  nach  dem  Rechte  der  Trennung  zwischen 
A  und  B,  sondern  nach  dem  Rechte  der  Vereinigung  dessen^ 
was  wir  unter  A  zusammenfassen.  Man  hat  lange  mit  der 
langweiligen  Paradoxie  geglänzt,  Schwarz  und  Weiß  seien 


216  Zweites  Kapitel. 

keine  Farben,  weil  sie  nicht  wie  die  prismatischen  von  einer 
bestimmten  Zahl  der  Lichtwellen  abhingen.  Die  neuere 
Ausbildung  der  physiologischen  Optik  hat  diesen  Grund  hin- 
fällig gemacht;  aber  auch  wenn  dies  nicht  geschehen  wäre, 
hätte  man  doch  kein  Recht,  auf  diese  Weise  die  Sprache 
zu  meistern.  Lange  bevor  man  etwas  von  den  Veran- 
lassungsursachen unserer  Empfindungen  wußte,  hatte  die 
Sprache  den  Namen  der  Farbe  für  eine  Gruppe  von  Inhalten 
geschaffen,  die  durch  eine  unmittelbar  empfundene  und  un- 
widersprechliche  Gleichartigkeit,  durch  ihr  Scheinen, 
oder  wie  man  es  sonst  nennen  mag,  unter  sich  zusammen- 
gehören und  sich  von  dem  Klingen  oder  Schallen  der 
Töne,  dem  Duften  der  Gerüche  abscheiden.  Mag  nun 
immerhin  der  Name  des  Scheinens  nur  noch  für  das  Weiß, 
nicht  für  das  Schwarz  passend  erachtet  werden:  daß  beide 
doch  mit  den  übrigen  Farben  den  gemeinsamen  hiermit  un- 
vollkommen bezeichneten  Grundzug  gemein  haben,  ließe 
sich  nur  mit  Worten,  nicht  in  der  That  bestreiten,  und  die 
Sprache  war  deshalb  vollkommen  befugt,  gegen  den  un- 
berechtigten Einspruch  der  Gelehrsamkeit,  auch  jene  beiden 
in  den  Umfang  der  Farbe  einzuschließen.  Man  begegnet 
auch  sonst  diesen  nicht  immer  unschädlichen  Uebergriffen 
der  Theorie.  Auch  die  Chemie  trug  eine  Zeit  lang  zur 
Sprachverwirrung  bei,  als  sie  Oxydation  und  Verbrennung 
für  gleichbedeutend  ausgab.  Von  Verbrennung  sprach  die 
Menschheit  ebenfalls  eher,  als  sie  den  Sauerstoff  kannte, 
und  sie  verstand  darunter  immer  einen  von  sichtbarem 
Licht  und  fühlbarer  Wärme  begleiteten  Vorgang,  der  das 
frühere  Gefüge  eines  Stoffes  dauernd  veränderte ;  das  Glühen 
eines  Eisenstabes  nannte  sie  deshalb  nicht  Verbrennung, 
weil  sie  nach  der  Abkühlung  die  bleibende  Veränderung 
vermißte;  sie  würde  aber  auch  um  der  dauernden  Ver- 
änderung willen  einen  Vorgang,  der  sie  veranlaßt  hätte, 
nicht  so  genannt  haben,  wenn  ihm  die  bemerkliche  Ent- 
wickelung  vom  Flamme  und  Wärme  gefehlt  hätte.  Der 
Begriff  der  Verbrennung  deckt  daher  den  der  Oxydation 
gar  nicht;  viele  Stoffe  oxydiren  ohne  Verbrennung,  ander- 
seits, wenn  erwärmtes  Antimon  in  Chlorgas  sich  unter 
Flammenerscheinung  mit  Chlor  verbindet,  so  ist  dieser 
Vorgang  ganz  zweifellos  eine  Verbrennung,  obwohl  keine 
Oxydation.  Die  Geometrie  wußte  längst,  daß  abstract  oder 
arithmetisch  gedachte  Ordnungssysteme  dann,  wenn  sie 
ihre  vielen  Elemente  nach  nicht  mehr  als  drei  verschiedenen 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  217 

Scalen  gliedern,  durch  Gebilde  räumlicher  Art  sich  anschau- 
lich darstellen  lassen;  nichts  hindert  nun  die  Mathematik, 
Ordnungssysteme  zu  denken,  die  nach  einer  beliebigen 
größeren  Anzahl  von  Scalen  entworfen  sind,  nur  daß  es 
für  diese  Systeme  keine  räumliche  Anschauung  mehr  gibt, 
und  daß  der  Name  der  Dimensionen,  der  jenen  Scalen  in 
räumlicher  Bedeutung  gegeben  werden  konnte,  so  lange 
sie  nur  drei  waren,  jetzt  nur  noch  den  abstracteren  Sinn 
haben  kann,  den  ich  mit  der  Benennung  der  Scalen  zu  be- 
zeichnen suchte.  So  gewiß  nun  der  Name  des  Raumes 
für  uns  nur  ein  Ordnungssystem  bedeutet,  von  welchem 
wir  diese  ursprüngliche,  aus  arithmetischen  Betrachtungen 
allein  gar  nicht  ableitbare  Anschauung  haben,  so  gewiß 
ist  es  logische  Spielerei,  ein  System  von  vier  oder  fünf 
Dimensionen  noch  Raum  zu  nennen.  Gegen  alle  solche 
Versuche  muß  man  sich  wehren;  sie  sind  Launen  der 
Wissenschaft,  die  durch  völlig  nutzlose  Paradoxie  das  ge- 
wöhnliche Bewußtsein  einschüchtern  und  über  sein  gutes 
Recht  in  der  Begrenzung  der  Begriffe  täuschen. 

173.  Man  begegnet  eigenthümlichen  und  nicht  überall 
gleichartigen  Verhältnissen,  wenn  man  fragt,  wie  nun  inner- 
halb eines  jener  disparaten  Inhalte  A  B  und  C  die  in  ihm 
zusammengehörigen  Glieder  zu  einander  stehen.  Es  ist  bis- 
her gelungen,  die  mannigfachen  Arten  des  Geschmacks  C 
in  eine  befriedigende  systematische  Ordnung  zu  bringen; 
aber  der  Weg,  den  die  Sprache  zu  ihrer  allerdings  unvoll- 
kommenen Bezeichnung  einschlägt,  scheint  mir  dennoch 
der  richtige:  sie  unterscheidet  durch  eigene  Namen  einige 
feste  Grundformen  des  Süßen  |li,  des  Sauern  v,  des  Bittern  tt 
und  betrachtet  die  übrigen,  das  Sauersüße  liv,  das  Bitter- 
süße jLi:r,  als  Zusammensetzungen  jener  wohlcharakterisirten 
Urgeschmäcke.  Auf  diese  Bezeichnungsweise  könnte  unsere 
Einbildungskraft  nicht  verfallen,  wenn  sie  nicht  durch  den 
unmittelbaren  Eindruck  angeleitet  würde,  denn  Unterschiede 
lassen  sich  da  nicht  machen,  wo  sie  in  dem  Inhalt  nicht 
entweder  vorhanden  oder  doch  möglich  sind.  Jene  Namen 
nun  setzen  voraus,  daß  sie  vorhanden  sind,  allerdings  nicht 
so,  daß  das  Saure  und  das  Süße  als  zwei  unterschiedene 
Gemengtheile  des  Sauersüßen  so  auseinander  fallen,  wie 
sie  es  thun,  wenn  eines  nach  dem  andern  empfunden  wird, 
sondern  in  dem  Sinne,  in  welchem  wir  Mischung  der 
Mengung  entgegenzusetzen  pflegen.  Daß  diese  Mischung 
hier  möglich  ist,  daß  also  Sauer  und  Süß  in  einer  nicht 
wohl    beschreiblichen,    aber    leicht    fühlbaren    Weise    eine 


218  Zweites  Kapitel. 

Einheit  der  Vorstellung  bilden,  die  aus  Süß  und  Roth  nicht 
entstehen  könnte,  unterscheidet  das  Verhalten  der  einzelnen 
Geschmäcke  zu  einander  von  dem  der  unter  sich  disparaten 
Gruppen  ABC.  Man  kann  nun  einwenden,  der  Unter- 
schied des  Sauern  und  des  Süßen  sei  im  Sauersüßen  nur 
ein  möglicher,  nicht  ein  vorhandener;  es  könne  leicht  ein 
dritter  Eindruck  cd,  einfach  an  sich  und  keineswegs  zu- 
sammengesetzt, doch  ein  Mittelglied  zwischen  p,  und  v 
bilden;  um  der  doppelseitigen  Aehnlichkeit  willen,  die  er 
mit  diesen  beiden  zeigt,  bezeichne  ihn  dann  die  Sprache 
durch  die  beiden  Grenzen  jn  und  v,  zwischen  die  er  fällt, 
ohne  daß  er  darum  aus  der  Mischung  beider  bestände. 
Aber  ich  würde  diesen  Einwurf  für  triftig  nur  dann  halten, 
wenn  in  co  außer  seiner  doppelten  Aehnlichkeit  mit  |li  und  v 
noch  ein  Rest  vorhanden  wäre,  der  für  sich  etwas  bedeutete, 
was  aus  der  Zusammensetzung  von  ju,  und  v  nicht  be- 
greiflich wäre;  wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  wird  dieser  dritte 
Eindruck  co  nicht  blos  durch  eine  willkürliche  und  zufällige 
Ansicht  als  eine  Mischung  jliv  gedeutet  werden,  sondern  in 
der  That  nichts  anderes  sein.  Jene  Grundformen  jii  v  :t 
selbst  aber  und  alle  ihre  Mischungen  gehören  zwar  durch 
das  fühlbare  Allgemeine  der  Schmeckbarkeit  C  zusammen; 
aber  innerhalb  des  Umfangs  von  C  kann  man  sie  doch  nur 
disparat  gegen  einander  nennen.  Wer  nur  das  Süße 
empfunden  hätte,  würde  durch  keine  vorstellbare  Modifi- 
cation  dessen,  was  er  in  ihm  empfindet,  die  noch  nicht 
erfahrene  Eigenthümlichkeit  des  Sauern  oder  des  Bittern 
entdecken  können;  es  findet  also  kein  Uebergang  durch 
selbständige  Mittelglieder  von  |li  zu  v  oder  n  statt,  sondern 
man  muß  diese  drei  vorher  kennen,  um  durch  verschieden- 
artige Mischungen  derselben  die  überleitenden  Mittelglieder 
erst  zu  erzeugen.  Gleiche  Verhältnisse  finden  sich  bei 
den  Farben,  und  ich  hatte  früher  schon  Gelegenheit,  die 
Sprache  zu  rechtfertigen,  wenn  sie  stets  eine  begrenzte 
Anzahl  von  Grundfarben  unterschied  und  die  übrigen  als 
Mischungen  zwischen  sie  einschaltete.  Allerdings  kann  man 
durch  geschickt  gewählte  Mitteltinten  das  Auge  stetig  aus 
dem  Eindruck  der  einen  Farbe  in  den  einer  andern  hinüber- 
leiten; aber  aus  dem  Roth  wird  Orange  oder  Violet  doch 
nur  durch  eine  Zumischung  von  Gelb  oder  Blau,  die  der 
Vorstellung  noch  als  solche  fühlbar  bleibt;  von  dem  aber, 
was  Roth  zu  Roth  macht,  gibt  es  an  sich  keinen  Ueber- 
gang zu  dem,  was  Blau  zu  Blau  macht;  wer  nur  jenes, 
nicht  aber  dieses  empfunden  hätte,  würde  in  der  einfachen 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  219 

Natur  des  ersten  nichts  entdecken,  was  auf  irgend  eine  Art 
mpdificirt  gesteigert  oder  vermindert  von  selbst  zur  Vor- 
stellung des  Blau  führen  könnte;  man  muß  dies  letztere 
vorher  schon  kennen,  um  durch  Mischung  dieser  beiden 
Endglieder  das  Mittelglied  des  Violet  zu  finden.  Auch  die 
Modificationen,  dei:en  jede  einzelne  Grundfarbe  fähig  ist, 
sind  in  dieser  Weise  zu  betrachten.  Man  hat  unstreitig 
Recht,  hellblau  und  dunkelblau  als  Arten  desselben  Blau 
zu  betrachten,  aber  auch  diese  Arten  entstehen  durch 
Mischung  der  immer  sich  selbst  gleichen,  unvermischt  frei- 
lich niemals  sichtbaren  Bläue  mit  Weiß  oder  Schwarz.  Ich 
wiederhole  nur  kurz  die  Bemerkung,  daß  alle  bisherigen 
Betrachtungen  sich  nur  auf  die  empfundenen  Inhalte  be- 
ziehen, nachdem  die  Empfindung  in  unserem  Bewußtsein 
entstanden  ist,  und  daß  sie  nichts  mit  den  physischen  oder 
psychischen  Entstehungsbedingungen  des  Empfindungsactes 
zu  thun  haben. 

174.  Wesentlich  anders  verhalten  sich  die  Töne.  Die 
Vergleichung  vieler  läßt  uns  zunächst  drei  Prädicate  sondern. 
Der  Eigenklang  des  tönenden  Instrumentes,  worauf  er  auch 
immer  physisch  beruhen  mag,  ist  für  unsere  Empfindung 
eine  einfache  nicht  weiter  zerlegbare  Eigenschaft,  am  meisten 
dem  Geschmacke  vergleichbar.  So  groß  auch  die  Neben- 
wirkungen dieses  Klanges  auf  unser  Gemüth  sein  mögen, 
die  wesentliche  Natur  des  Tones  scheint  er  uns  ebenso 
wenig  zu  bestimmen,  wie  die  zweite  Eigenschaft,  die  der 
Stärke;  beide  fassen  wir  nur  als  verschiedene  Vortrags- 
weisen desselben  Tones,  dessen  unterscheidende  Natur  in 
seiner  Höhe  liegt.  In  dieser  dritten  Rücksicht  aber  zerfallen 
die  Töne  nicht  wie  die  Farben  in  eine  Anzahl  discreter 
Stufen,  zwischen  denen  Uebergänge  nur  durch  Mischung 
möglich  wären,  sie  bilden  vielmehr  eine  stetige  Reihe,  in 
welcher  zwei  von  ginander  entferntere  Glieder  sich  nur 
durch  öftere  Wiederholung  derselben  Differenz  unter- 
scheiden, durch  welche  zwei  nah  benachbarte  von  einander 
sich  sondern.  Man  kann  keine  Proportion  aufstellen,  nach 
der  sich  Roth  zu  Blau  verhielte,  wie  Gelb  zu  irgend  einer 
vierten  Farbe;  zwei  Töne  dagegen  unterscheiden  sich  durch 
ein  angebbares  Multiplum  eines  als  Einheit  angenommenen 
Unterschiedes.  Die  Art  dieses  Unterschiedes  selbst  ist  eigen- 
thümlich  genug ;  wir  würden  nicht  bildlich  von  höheren  und 
tieferen  Töjaen  sprechen,  wenn  nicht,  ganz  abgesehen  natür- 
lich von  der  Frequenz  der  Schallwellen,  welche  wir  ja  nicht 
empfinden,  in  den  Empfindungen  selbst  eine  Steigerung  des 


220  Zweites  Kapitel. 

einen  Tones  über  den  anderen  enthalten  wäre;  aber  diese 
quantitative  Vorstellung  läßt  sich  hier  nicht  wie  sonst  auf 
einen  von  ihr  unabhängigen  qualitativen  Inhalt  beziehen; 
der  Ton  d  ist  eben  dadurch  auch  ein  qualitativ  anderer 
als  c,  daß  er  das  undefinirbare  Allgemeine  des  Klingens, 
das  er  mit  diesem  theilt,  in  jener  eigenthümlichen  Weise 
gesteigert  enthält,  die  wir  nur  mit  dem  glücklichen  Bilde 
der  Höhe,  in  technischerem  Ausdruck  höchstens  als  quali- 
tative Intensität  bezeichnen  können.  Die  Unterschiede  der 
Töne  sind  daher  gleichartig  und  in  Bezug  auf  ihre  Weite 
meßbar,  was  die  der  Farben  nicht  waren;  die  Mittelglieder 
entstehen  zwischen  zwei  Tönen  nicht  durch  Mischung  dieser 
zwei,  sondern  sind,  als  vollkommen  ebenbürtige  Glieder 
der  Reihe,  gleich  selbständig  und  ursprünglich,  wie  die, 
zwischen  welche  sie  eingeschaltet  gedacht  werden.  Die 
ganze  Reihe  endlich  ist  unbegrenzt;  zu  den  Farben,  die  wir 
erfahrungsgemäß  kennen,  kann  Niemand  eine  neue  ersinnen, 
die  sich  vorstellen  ließe  und  etwa  nur  in  unserer  sinnlichen 
Erfahrung  nicht  vorkäme;  die  Scala  der  Töne  dagegen, 
eben  weil  jeder  aus  dem  vorigen  durch  eine  fühlbar  gleich- 
artige Steigerung  entsteht,  läßt  sich  ins  Unendliche  fort- 
setzen; es  hat  noch  Sinn,  von  höheren  oder  tieferen  Tönen 
zu  sprechen,  als  jemals  in  unsere  Erfahrung  fallen  können, 
denn  wir  haben  hier,  was  wir  bei  dem  Versuch,  neue  Farben 
zu  ersinnen,  nicht  haben  würden :  eine  deutliche  Vorstellung 
davon,  wie  diese  Töne  sich  ausnehmen  müßten,  wenn  sie 
hörbar  wären. 

175.  Ziemlich  Aehnliches  gilt,  mit  einigen  Abweichungen, 
die  ich  dem  Leser  überlasse,  von  der  Reihe  der  Wärme- 
empfindungen; sie  führt  zugleich  noch  zu  einem  anderen 
Verhalten.  Das  eigene  Wärmebedürfniß  des  lebendigen 
Körpers  gibt  verschiedenen  Strecken  dieser  Reihe  eigen- 
thümliche  Werthe;  wir  unterscheiden  Kaltes  Kühles  Laues 
AVarmes  Heißes,  und  glauben  mit  jedem  dieser  Ausdrücke 
etwas  Bestimmtes  zu  meinen;  aber  nicht  blos  allgemein- 
gültig würden  wir  die  Grenze  nicht  angeben  können,  bei 
der  für  Jeden  das  Kühle  endigt  und  das  Laue  beginnt, 
sondern  auch,  wenn  wir  nur  unsere  eigene  Empfindung 
befragen,  müssen  wir  uns  gestehen,  daß  wir  nur  mit  einer 
gewissen  Willkür  den  einen  oder  den  andern  Namen  wählen 
würden.  Man  kann  an  diesen  Gegensatz  des  Warmen  und 
des  Kalten  sowie  der  hohen  und  der  tiefen  Töne  sogleich 
eine  große  Anzahl  anderer  Vorstellungspaare  anschließen, 
deren  Inhalt  nicht  ebenso  unmittelbar  aus  sinnlicher  Emp- 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  221 

findung  entspringt:  das  Große  und  das  Kleine,  das  Starke 
und  das  Schwache,  das  Viele  und  das  Wenige,  das  Alte 
und  das  Junge,  und  zahlreiche  ihres  Gleichen.  So  ent- 
schieden die  beiden  Glieder  solcher  Gegensätze  wirklich 
Entgegengesetztes  meinen,  so  ist  doch  in  keinem  eine  Grenze 
zu  finden,  welche  den  Umfang  des  einen  Gliedes  von  dem 
des  andern  trennte,  stetig  und  unmerklich  gehen  sie  in 
einander  über.  Die  Richtungen  dagegen,  nach  denen  unser 
Vorstellen  diese  Reihen  von  a  bis  z  oder  von  z  bis  a 
durchläuft,  sind  unzweideutig  verschieden  und  theils  einer 
Definition  fähig,  theils  wenigstens  für  die  unmittelbare 
Empfindung  unvertauschbar.  Es  läßt  sich  nicht  sagen,  was 
warm  und  was  kalt  ist,  aber  ganz  unzweifelhaft  ist,  ob  a 
wärmer  oder  kälter  als  b  ist,  und  zwar  entscheidet  in 
diesem  Fall  die  Empfindung,  die  beim  Uebergang  von  a 
zu  b  sich  der  entgegengesetzten  Veränderung  von  derjenigen 
bewußt  wird,  die  sie  beim  Rückgang  von  b  nach  a  erfährt; 
es  läßt  sich  auch  nicht  sagen,  was  groß  und  klein  überr 
haupt  ist,  aber  ganz  eindeutig  ist  die  Behauptung,  a  sei 
größer  als  b,  und  sie  läßt  sich  dahin  definiren,  daß  b  von  a 
abgezogen  einen  positiven  Rest  h  gibt.  Es  ist  das  Näm- 
liche mit  den  übrigen  Beispielen;  sämmtlich  aus  der  Ver- 
gleichung  verschiedener  Fälle  hervorgegangen,  nicht  aus 
der  Auffassung  eines  einzigen,  bedeuten  alle  diese  ad- 
jectivischen  Vorstellungen  Beziehungen,  die  ohne  Rücksicht 
auf  einen  zweiten  Beziehungspunkt  keinen  festen  Werth 
und  Sinn  haben.  Der  Positiv  dieser  Adjective  ist  daher 
unbestimmt;  nur  ihr  Comparativ  ist  eindeutig.  Wo  sie  im 
Gebrauche  der  lebendigen  Rede  als  Positive  vorkommen, 
drücken  sie  aus,  daß  dem  Bezeichneten  der  Comparativ 
ihres  Sinnes  im  Vergleich  mit  einem  nicht  ausgesprochenen 
Maßstabe  zukommt,  der  entweder  nach  subjectiver  Schätzung 
des  Sprechenden  oder  nach  allgemeiner  Meinung  die  nor- 
male oder  die  gewöhnliche  Beschaffenheit  des  fraglichen 
Gegenstandes  bildet. 

176.  Noch  eine  Betrachtung  knüpft  sich  an  Töne  und 
Wärmeempfindungen.  An  sich  vollkommen  gleichwerthig 
bieten  die  Töne  keine  Veranlassung,  einige  wenige  von  ihnen 
als  feste  Punkte  durch  eigene  Namen  hervorzuheben  und 
vor  den  anderen  zu  bevorzugen.  Aesthetische  Bedürfnisse 
aber  regen  den  Wunsch  an,  die  ganze  Reihe  zu  gliedern. 
Da  nun  die  einfache  Tonempfindung  nicht  definirbar  ist, 
so  wird  sie  bestimmt  durch  die  Angabe  der  Ursache,  durch 
welche  sie  in  jedem  Augenblick  mit  sich  identisch  erzeug- 


222  Zweites  Kapitel. 

bar  ist,  durch  die  Frequenz  der  Schwingungen,  von  denen 
sie  abhängt.     Aber  keine  Zahl  hat  einen  Vorzug  vor  der 
anderen,  und  da  jedes  Glied  der  Reihe  auf  dem  genannten 
Wege  mit  gleicher  Leichtigkeit  definirbar  ist,  so  kommt  es 
in  der  That  in  der  musikalischen  Scala  zu  keinem  absoluten 
Anfangspunkte.    Andere  Verhältnisse,  die  harmonischen  der 
Töne,    die   ich   hier    trotz    des   auch   logischen    Interesses, 
welches   sie   erwecken,   übergehen   muß,   führen  allerdings 
zu  einer  Gliederung  der  Reihe  in  Octaven ;  aber  auch  diese 
Gliederung  hat  keinen  festen  Anfangspunkt,  sondern  kann 
von  jeder  Tonhöhe  aus  beginnen.    Die  Wärmeempfindungen 
gestatten  eine  so  einfache  Definition  durch  ihre  Ursachen 
nicht;  man  mußte  sich  an  die  beobachtbaren  anderen  Er- 
folge ihrer  unbekannten  Ursache,  an  die  Ausdehnung  und 
Zusammenziehung  der  Körper  wenden.     Als  man  nun  den 
Schmelzpunkt  des  Eises  zum  Ausgangspunkt  auf-  und  ab- 
steigender Temperaturgrade  machte,  war  dies  ein  ganz  will- 
kürlich, obwohl  sehr  zweckmäßig  gewählter  Nullpunkt  der 
Bezeichnung;  denn  Flüssigkeit  oder  Starrheit  des  Wassers 
bildet  einen  wichtigen  Wendepunkt  für  die  Gestaltung  der 
meteorischen  und  organischen  Vorgänge,  die  uns  umgeben. 
Es  war  aber  doch  nur  ein  Nullpunkt  der  Bezeichnung,  nicht 
der  bezeichneten  Sache;  von  dem  unbekannten  Werthe  x 
an,  den  diese  für  den  Schmelzpunkt  des  Eises  hat,  theilen 
wir  nur  ihre  positiven  und  negativen  Zunahmen  nach  An- 
zahlen einer  für  unsere  Zwecke  passend  gewählten  Grad- 
einheit ein.     Daher  sind   12°  nicht  das  Doppelte  von  6", 
aber   zwischen   0°=:x  und    12°  =  x-j-12Ax   ist  die  Zu- 
nahme  der  Wärme  doppelt  so  groß,  als  zwischen  O^^x 
und  6°:=x-|-6Ax.    An  diesem  einfachen  Beispiele  wollte 
ich  bemerklich  machen,  daß  eine  Gliederung  und  gesetzliche 
Ordnung  einer  Reihe  oder  eines  Systems  mannigfacher  In- 
halte allerdings  ohne  eine  entsprechende  sachliche  Gesetz- 
lichkeit ihrer  eigenen  Beziehungen  nicht  möglich  ist,  daß 
aber  dennoch  das  Denken  häufig  eines  durchaus  willkür- 
lich gewählten  Ausgangspunktes  und  willkürlicher  Maßstäbe 
bedarf,    um   sich   dieser   immanenten    Ordnung   der   Sache 
fruchtbar  zu  bemächtigen;  daß  man  endlich  diese  willkür- 
liche  Systematik,   obwohl  sie  durch   die  Natur  der  Sache 
zugelassen   und   in   ihrer   Anwendung   gerechtfertigt   wird, 
doch  nicht  für  eine  in  ihr  selbst  liegende  Bestimmtheit  an- 
sehen darf. 

177.  Beispiele  für  diese  Bemerkung  bietet  das  praktische 
Leben  sehr  viele.     Es  kommen  hier  Eiojenschaften  in  Be- 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  223 

tracht,  die  entweder  an  verschiedenen  Personen  oder  Dingen 
in  sehr  verschiedenen  Größen  haften  oder,  an  einem  und 
demselben  Subject,  eine  stetige  Reihe  von  Größenwerthen 
nach  einander  durchlaufen,  so  zwar,  daß  an  diese  Größen- 
werthe  ihnen  proportionale  Wirkungen  geknüpft  werden 
sollten.  Aber  nur  Naturwirkungen  ändern  sich  stetig  mit 
ihren  Bedingungen ;  soll  unser  Handeln  erst  die  Wirkungen 
hervorbringen,  so  verbietet  sich  in  der  Regel  die  genaue 
Befolgung  der  gewünschten  Proportion  um  der  Arbeit  willen, 
welche  sie  im  Mißverhältniß  zu  dem  erreichbaren  Zwecke 
erfordern  würde.  Man  muß  sich  begnügen,  gewisse  Strecken 
der  ganzen  Werthreihe  der  Bedingungen  als  einheitliche 
Werthe  zu  betrachten  und  an  sie  eine  gleiche  mittlere 
Größe  der  Wirkung  zu  knüpfen,  welche  zu  groß  für  die 
Anfangsglieder  und  zu  klein  für  die  Endglieder  der  Strecke 
sein  wird.  So  zerlegt  man  für  Zwecke  der  Besteuerung 
die  Reihe  der  Vermögen  von  der  völligen  Armuth  an  bis 
zu  dem  höchsten  wahrscheinlich  anzutreffenden  Reichthum 
in  eine  Anzahl  von  Klassen;  so  berechnet  man  nach  Jahren 
des  Lebensalters  oder  doch  nur  nach  größeren  Theilen  der- 
selben den  zur  Erwerbung  einer  Lebensversicherung 
nöthigen  Beitrag;  so  hält  die  Berechnung  der  Zinsen  bei 
dem  Tage  als  untheilbarer  Einheit  an.  Es  kann  ferner  vor- 
kommen, daß  eine  wachsende  Eigenschaft  allmählich  einen 
Werth  erreicht,  an  den  der  Eintritt  bestimmter  Wirkungen 
gebunden  sein  soll,  ohne  daß  doch  der  Augenblick  angebbar 
wäre,  in  welchem  diese  entscheidende  Bedingung  erfüllt 
ist.  Die  körperliche  und  geistige  Reife,  die  wir  in  den 
Begriffen  der  Mündigkeit  und  Majorennität  mitdenken,  wird 
von  Verschiedenen  gewiß  in  verschiedenen  Lebensaltern 
erreicht;  aber  nicht  nur  die  unüberwindbare  Weitläufigkeit, 
auch  nicht  die  Unzulässigkeit  einer  über  den  Gesammt- 
werth  der  Person  zu  fällenden  Censur,  macht  die  Ermittelung 
des  wirklichen  Zeitpunktes  für  jeden  Einzelfall  unmöglich; 
während  die  ausgezeichneten  Grade  der  Reife  und  Unreife 
leicht  erkennbar  sind,  fehlt  es  wirklich  an  einem  unzwei- 
deutigen Kennzeichen,  welches  in  zweifelhaften  Fällen  eine 
von  der  andern  unterschiede.  Gleichwohl  verlangen  die 
Bedürfnisse  des  geselligen  Lebens  die  Feststellung  eines 
bestimmten  Zeitpunktes;  die  Gesetzgebung  hat  ihn  daher 
eigenmächtig  zu  bestimmen  und  sie  knüpft  an  vollendete 
Tage  und  Stunden  den  Beginn  von  Rechten  und  Pflichten, 
zu  denen  sachlich  allerdings  die  gestern  noch  fehlende  Be- 
fugniß  oder  Verbindlichkeit  nicht  über  Nacht  entstanden  ist. 


224  Zweites  Kapitel. 

Obgleich  eigenmächtig,  verfährt  sie  doch  hier  nicht  grund- 
los; der  Spielraum  ihrer  Wahl  beschränkt  sich  auf  Be- 
stimmungen, die  der  Natur  des  vorliegenden  Verhältnisses 
ohne  angebbaren  Unterschied  der  Genauigkeit  entsprechen, 
ihre  Willkür  auf  die  Bevorzugung  der  einen  unter  diesen 
gleichberechtigten.  Noch  andere  Fälle  gibt  es,  in  denen  die 
Natur  der  Sache,  welche  zur  Aufstellung  einer  Bestimmung^ 
veranläßte,  noch  weniger  einen  genauen  Maßstab  für  sie 
darbot,  dieser  vielmehr  nur  in  den  anderweitigen  Zwecken 
lag,  zu  deren  möglicher  Erfüllung  die  fragliche  Bestimmung 
höthig  wurde.  Hierher  gehören  die  Zeitfristen,  innerhalb 
deren  die  Bedingung  einer  zu  erlangenden  oder  zu  ver- 
meidenden Rechtsfolge  zu  erfüllen  ist;  im  Großen  aller- 
dings durch  die  erwähnte  Rücksicht  zweckmäßig  bestimmt, 
haben  im  übrigen  diese  Festsetzungen  nur  die  logische 
Pflicht  der  Unzweideutigkeit;  ihr  genügte  die  Vorzeit,  in- 
dem sie  wichtige  Fristen  nicht  nach  ganzen  größeren  Zeit- 
ieinheiten  abmaß,  sondern  einen  Bruchtheil  derselben,  den 
Wochen  eine  Anzahl  von  Tagen,  dem  Tage  einige  Stunden 
zugab;  sie  verengte  dadurch  den  Zeitraum,  innerhalb  dessen 
man,  nach  alltäglichem  loserem  Sprachgebrauch,  der  Vor- 
schrift hätte  zu  genügen  glauben  können.  Ebenso  thun  die 
Behörden  recht,  wenn  sie  zur  Verhütung  von  Ruhestörungen 
die  Anzahl  der  Personen,  die  für  eine  verbotene  Zusammen- 
rottung gelten  sollen,  authentisch  auf  drei  oder  fünf  fest- 
setzen und  sich  dadurch  der  Disputation  entziehen,  die  schon 
die  antike  Sophistik  übte:  wie  viele  Körner  nöthig  sind, 
um  einen  Haufen,  oder  wie  vieler  Haare  Verlust,  um  einen 
Kahlkopf  zu  machen. 

178.  Ich  kehre  von  dieser  Abschweifung  zurück.  Ob 
irgend  ein  Ton  hoch  oder  tief,  ob  eine  Flüssigkeit  kalt  oder 
warm  zu  nennen  sei,  darüber  streitet  man  nicht;  an  dem 
Inhalt  dieser  Begriffe  haftet  kein  Interesse,  welches  uns 
zögern  ließe,  die  oben  erwähnte  Relativität  ihrer  Be- 
deutungen sofort  zuzugestehen.  Anders  denken  wir  über 
den  Unterschied  von  gut  und  böse.  Auf  die  Festigkeit 
und  Abgeschlossenheit  dieser  beiden  Begriffe  legen  wir  den 
höchsten  Werth;  jede  Handlung  muß  für  sich  allein,  nicht 
blos  im  Vergleich  mit  einer  andern,  unzweideutig  in  den 
Umfang  des  einen  fallen  und  aus  dem  Umfang  des  andern 
ausgeschlossen  sein;  selbst  daß  es  Gradunterschiede  der 
Güte  im  Guten  und  der  Bosheit  im  Bösen  gebe,  hat  man 
leugnen  zu  müssen  geglaubt,  damit  nicht  die  abnehmenden 
Werthe  beider  zuletzt  in  einem  Nullpunkt  des  Gleichgültigen 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  225 

zusammentreffen  und  so  ein  stetiger  Uebergang  zwischen 
zwei  Gegensätzen  vermittelt  werde,  zwischen  denen  viel- 
mehr jede  Brücke  abgebrochen  sein  soll.  Aber  diesem 
logischen  Rigorismus  widerspricht  durchaus  das  unbefangene 
Urtheil,  dem  wir  im  Leben  alle  folgen.  Denn  Niemand 
zweifelt  wohl  an  Gradunterschieden  der  Bosheit  und  der 
Güte;  und  daß  keine  Handlung  gleichgültig  sei,  überredet 
man  uns  erst,  nachdem  man  den  Begriff  der  Handlung 
künstlich  beschränkt  hat.  Es  hilft  aber  in  der  That  nichts, 
der  drohenden  Vermischuiig  des  Guten  und  des  Bösen  durch 
eine  erste  Eintheilung  aller  Handlungen  in  sittlich  beurtheil- 
bare  und  in  sittlich  unbeurtheilbare  zuvorzukommen,  um 
dann  desto  sicherer  die  erste  dieser  Gruppen  in  die  beiden 
un vermittelbaren  Gegensätze  des  Guten  und  des  Bösen  zu 
vertheilen;  der  Zweifel  ändert  so  nur  den  Ort,  denn  die 
Frage  geht  nun  darauf,  wo  die  Grenzen  zu  ziehen  sind 
zwischen  dem,  was  sittliche  Beurtheilung  herausfordert,  und 
dem  was  nicht;  und  diese  Grenzen  werden  wieder  durch 
stetigen  Uebergang  des  einen  in  das  andere  zu  ver- 
schwimmen scheinen.  Nicht  ebenso  dringliches  aber  doch 
lebhaftes  Interesse  hat  für  ästhetische  Betrachtungen  das 
Verhältniß  des  Angenehmen  zum  Schönen  und  zum  Guten. 
Für  eine  unbefangene  Auffassung  ordnen  sie  sich,  nicht 
nur  nach  dem  Werthe  sondern  auch  nach  der  Bedeutung 
ihrer  Inhalte,  in  eine  zusammenhängende  Reihe;  nicht  so 
zwar,  daß  durch  einfache  Steigerung  das  intensivste  An- 
genehme zum  Schönen  oder  die  höchste  Schönheit  zur 
niedrigsten  Stufe  des  Guten  würde,  aber  doch  so,  daß  es 
qualitativ  bestimmte  Arten  des  Angenehmen  gibt,  die  be- 
ginnen ein  Recht  auf  den  Namen  des  Schönen  zu  haben, 
und  Formen  der  Schönheit,  deren  ästhetischer  Eindruck 
der  sittlichen  Billigung  verwandt  wird.  Aber  Moral  und 
Aesthetik  sträuben  sich  gleichmäßig  gegen  dieses  Zugeständ- 
niß ,  sie  halten  das  Schöne  für  verfälscht,  wenn  es  mit  dem 
Guten,  das  Gute  für  erniedrigt,  wenn  es  mit  dem  Schönen, 
nnd  vollends  durch  dieses  hindurch  mit  dem  Angenehmen, 
irgend  eine  Gemeinschaft  habe.  Und  in  Bezug  auf  das 
Schöne  wenigstens  hat  auch  hier  die  Leugnung  jeder  Grad- 
abstufung nicht  gefehlt;  was  einmal  schön  sei,  sei  durch- 
aus schön,  und  man  denke  es  eben  nicht  wahrhaft  als 
schön,  wenn  man  zulasse,  daß  es  ein  Anderes  gebe,  welches 
noch  schöner  sei. 

179.  Sehen   wir   uns   zur   Beurtheilung   dieser   Zweifel 
nach  anderen  Beispielen  um.   Die  Geometrie  kennt  von  der 

Lotze,  Logik.  1,5 


226  Zweites  Kapitel. 

geraden  Linie,  um  der  Natur  derselben  willen,  allerdings 
nur  eine  Art,  an  den  Curven  aber  unterscheidet  sie  un- 
zählige Grade  der  Krümmung  von  bestimmbarem  Werth; 
und  so  zwar,  daß  die  gerade  Linie  selbst  ihr  als  der  äußerste 
Grenzfall  erscheint,  dem  sich  die  Curve  bei  immer  zu- 
nehmendem Wachsthum  ihres  Krümmungshalbmessers  stetig 
annähert.  Ungeachtet  dieses  stetigen  Ueberganges  beharrt 
dennoch  die  Geometrie  nicht  nur  im  Allgemeinen  auf  der 
Behauptung,  Krummes  und  Gerades  sei  entgegengesetzt  und 
unvereinbar,  sondern  auch  in  der  Anwendung  entsteht  in 
Bezug  auf  eine  Linie,  die  man  genau  kennt,  niemals  ein 
Zweifel;  so  nahe  sie  auch  der  Geraden  liegen  mag,  sie 
ist  dennoch  ganz  unwidersprechlich  krumm,  so  lange  ihr 
Krümmungsradius  noch  eine  endliche  Größe  hat.  Eine  Curve 
kann  ferner  eine  Strecke  ihres  Verlaufes  concav  gegen  eine 
Axe  sein,  gegen  die  sie  im  weiteren  Verlaufe  convex  wird; 
erfährt  sie  diese  Veränderung  ihrer  Richtung  in  stetigem 
Zuge  ohne  discontinuirliche  Spitze,  so  ist  unzweifelhaft 
ihre  Tangente  am  Wendepunkt,  mithin  das  Element  der 
Linie  selbst,  zu  jener  Axe  parallel,  also  weder  concav  noch 
convex;  aber  obgleich  so  beide  Richtungen  sichtlich  in 
einem  Nullpunkt  zusammenhängen,  der  keiner  von  ihnen 
gehört,  so  wird  doch  durch  ihn  der  Gegensatz  ihrer  Be- 
deutungen nicht  geändert,  oder  aufgehoben;  diesseit  dieses 
Punktes  bleibt  die  Linie  nur  concav,  jenseit  nur  convex. 
-Noch  einfacher:  zwischen  1  und  2  lassen  sich  unzählig© 
Brüche  einschalten,  die  von  dem  Werthe  der  1  zu  dem 
der  2  hinüberführen ;  zwischen  Tageshelle  und  Nachtfinsterniß 
lassen  sich  unzählige  Abstufungen  der  Beleuchtung  nicht 
nur  denken,  sondern  sie  treten  wirklich  ein;  zwischen 
Wohlbefinden  und  Schmerz  liegt  eine  stetige  Reihe  von 
Gefühlen,  die  jenes  mit  diesem  verbinden:  aber  darum 
wird  doch  nicht  1  =  2,  darum  hört  die  Finsterniß  und  der 
Schmerz  nicht  auf,  der  volle  Gegensatz  zu  Licht  und  Wohl- 
befinden zu  sein;  und  zugleich  sind  die  Glieder  dieser 
Gegensätze  jedes  für  sich,  auch  außer  Vergleich  mit  dem 
anderen,  etwas  so  Bestimmtes,  daß  Niemand  das  eine  mit 
dem  anderen  verwechselt.  Diese  Beispiele  reichen  zur  Ver- 
deutlichung des  Satzes  aus,  daß  die  Existenz  unzähliger 
Gradabstufungen,  durch  welche  die  Inhalte  zweier  ent- 
gegengesetzten Begriffe  A  und  B  in  einem  gemeinsamen 
Nullpunkt  zusammenstoßen,  den  Unterschied  oder  Gegensatz 
dessen  nicht  aufhebt,  was  A  und  B  an  sich  selbst  bedeuten. 
180.  Wäre  es  daher  der  Siltenlehre  gelungen,  was  ihr 


Von  der  Begrenzimg  der  Begriffe.  227 

Geschäft  ist  und  nicht  hier  das  unsrige,  das  was  sie  unter 
dem  Guten  A  und  dem  Bösen  B  meint,  ebenso  unzwei- 
deutig zu  bestimmen,  wie  die  Geometrie  definirt,  was  sie 
unter  convex  und  concav  verstehen  will,  so  hätte  sie  keinen 
Grund,  um  die  Festigkeit  des  Unterschiedes  beider  Begriffe 
zu  schützen,  die  Abstuf  barkeit  des  Guten  und  des  Bösen 
und  ihr  Zusammentreffen  am  Gleichgültigen  zu  bestreiten. 
Die  specifischen  Bedeutungen  der  allgemeinen  Begriffe  gut 
und  böse  ändern  sich  nicht  im  geringsten  deshalb,  weil  die 
einzelnen  Beispiele,  von  denen  sie  prädicirt  werden,  sich 
mit  verschiedener  Intensität  an  dem  Charakter  des  einen 
oder  des  andern  der  Gegensätze  betheiligen.  Jener  Null- 
punkt aber  des  Gleichgültigen  kann  noch  weniger  zur  Ver- 
mischung beider  beitragen,  denn  er  findet  ja  nicht  so  statt, 
daß  beide  in  ihm,  sondern  so,  daß  keiner  von  beiden  in 
ihm  gültig  ist;  er  ist  mithin  nur  ein  Trennungspunkt,  dies- 
seit  dessen  unzweideutig  nur  das  Gute,  jenseit  nur  das 
Böse  liegt.  Braucht  nun  die  Abstufbarkeit  beider  Begriffs- 
inhalte nicht  um  ihrer  Festigkeit  willen  geleugnet  zu  werden, 
so  muß  man  anderseits  darauf  halten,  daß  sie  ausdrücklich 
zugestanden  wird.  Sie  zu  leugnen,  die  alte  stoische  Para- 
doxie  zu  wiederholen,  omnia  peccata  esse  aequalia,  oder 
beständig  zu  predigen,  auch  der  kleinste  Irrthum  sei  nicht 
Wahrheit,  sondern  ehen  Irrthum  und  weiter  nichts,  dies 
alles  sind  logische  Langweiligkeiten,  die,  weil  sie  nur  halbe 
Wahrheiten  enthalten,  nach  dem  eben  erwähnten  Grundsatz 
selber,  Irrthümer  und  nichts  weiter  heißen  könnten.  Die 
Carven  sind  nicht  blos  Curven  schlechthin,  so  daß  die 
Grade  ihrer  Convexität  oder  Concavität  sie  blos  nach  einer 
Nebenrücksicht  unterschieden,  welche  nichts  mit  ihrem 
Curvencharakter  zu  schaffen  hätte,  sondern  die  eine  krumme 
Linie  ist  wirklich  krümmer  als  die  andere,  thut  also  dem 
gemeinsamen  Charakter  beider  in  größerer  Intensität  Genüge. 
Und  ebenso  wird  die  gute  oder  böse  Gesinnung,  aus  der 
eine  Handlung  entspringt,  nicht  blos  nebenbei  nach  der 
Wichtigkeit  der  Objecte,  auf  welche  die  letztere  sich  bezieht, 
oder  der  Umstände,  unter  denen  sie  ausgeübt  wird,  sondern 
nach  dem  Grade  ihrer  Bosheit  oder  Güte  selbst  meßbar 
sein,  denn  sie  ist  keineswegs  blos  eine  Form  des  Ver- 
haltens, die  überall  gleich  bleibt,  sie  ist  selbst  ein  inneres 
Thun,  das  nicht  nur  einen  Grad  der  Intensität  bedarf,  um 
den  Anstoß  zum  Handeln  überhaupt  zu  erzeugen  oder  die 
Widerstände  zu  überwinden,  sondern  auch  einen  Grad  des 
Werthes  hat  je  nach  der  Größe  des  Wohls   oder  Wehes, 

15* 


228  Zweites  Kapitel. 

auf  dessen  Erzeugung  es  sich  absichtlich  richtet.  Auch  der 
Irrthum  ist  nicht  blos  Nichtwahrheit,  denn  das  unterschiede 
ihn  nicht  vom  Zweifel,  sondern  er  ist  eine  Abweichung 
von  ihr,  und  hat  deshalb  eine  meßbare  Größe,  ohne  die 
er  nicht  denkbar  ist;  wer  daher  sein  Denken  auf  wirkliche 
Aufgaben  richtet,  wird  nicht  den  Widersinn  begehen,  zwei 
Annahmen  gleich  wegwerfend  unter  den  Begriff  der  Irr- 
thümer  überhaupt  zu  verweisen,  von  denen  die  eine  der 
Wahrheit  so  fern  steht,  daß  sie  gar  keine,  die  andere  so 
nahe,  daß  sie  fast  alle  über  ihren  Gegenstand  zu  erwartende 
Erkenntniß  möglich  macht. 

181.  Vielleicht  könnte  schon  die  Reihe  des  Angenehmen 
Schönen  und  Guten,  deren  Ueberlegung  ich  übrigens  dem 
Leser  überlasse,  noch  auf  ein  anderes  Verhalten  einer 
Begriffsreihe  führen,  das  ich  zunächst  durch  ein  geo- 
metrisches Bild  verdeutlichen  will.  Wir  denken  uns  zwei 
Körperräume,  A  und  B,  beide  pyramidalisch  von  einer 
Spitze  beginnend,  zu  ähnlichen  Querschnitten  mit  ver- 
schiedener Beschleunigung  anwachsen;  schieben  wir  sie  so 
in  einander,  daß  die  Spitze  eines  jeden  auf  irgend  einem 
Punkt  der  Axe  des  andern  liegt,  so  gehört  die  Ebene,  welche 
durch  den  Durchschnitt  ihrer  Oberflächen  gelegt  wird,  so- 
wohl zu  der  Reihe  der  Ebenen,  deren  Integral  A  ist,  als 
zu  der  Reihe  der  anderen,  deren  unendliche  Folge  B  zu- 
sammensetzt ;  man  kann  sich  ebenso  einen  dritten  Körper  C 
vorstellen,  der  in  gleicher  Weise  eine  Ebene  mit  B  ge- 
meinsam hat.  Das  Wachsthumsgesetz  jedes  dieser  Körper 
läßt  sich,  bezogen  auf  die  gemeinsame  Axe  aller  drei  und 
auf  die  Lage  ihrer  Gipfel  in  derselben,  durch  je  eine 
Formel  darstellen,  welche  wir  der  Reihe  nach  den  drei 
allgemeinen  Begriffen  A  oder  B  oder  C  zu  vergleichen 
hätten.  Und  dann  würde  sich  zeigen,  daß  es  in  der  Reihe 
der  einzelnen  Beispiele  von  A  ein  bestimmtes  gibt,  das 
zugleich  der  Forderung  des  Begriffes  B  genügt;  daß  also 
für  dieses  Beispiel  es  zweifelhaft  oder  willkürlich  wird, 
ob  es  .dem  Begriff  A  oder  B  unterzuordnen  ist,  nicht  des- 
halb, weil  es  keinem  von  beiden,  sondern  weil  es  vollständig 
beiden  zugleich  genügt;  über  diesen  Einzelfall  hinaus  aber 
würden  alle  anderen  Beispiele  des  A,  alle  jene  übrigen 
Ebenen,  die  durch  die  so  zusammengesetzte  Körperfigur 
gelegt  würden,  ausschließlich  entweder  dem  A  oder  dem  B 
angehören;  Gleiches  endlich  fände  statt  in  Bezug  auf  die  B 
und  C  gemeinsame  Ebene.  In  diesen  Fällen  liegt  es  also 
an  der  Natur  der  wesentlich  verschiedenen  Begriffe  selbst. 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  229 

daß  einzelne  Glieder  ihrer  Artenreihe  zweideutig  werden 
und  an  sich,  ohne  irgend  eine  Nebenrücksicht,  z.  B.  auf 
die  Art  ihrer  Entstehung  oder  Entwicklung  zu  nehmen, 
mit  Sicherheit  keinem  dieser  Begriffe  ausschließlich  zu^ 
gerechnet  werden  können,  obgleich,  abgesehen  von  diesen 
Einzelfällen,  die  Verschiedenheit  der  Bedeutung  jener  Be- 
griffe nicht  zweifelhaft  ist.  So  wie  wir  uns  nun  hier  A  B 
und  C  durch  Namen  bezeichnet,  mithin  als  Begriffe  aus- 
gedrückt, jene  Sonderfälle  aber  namenlos  gelassen  dachten, 
so  kann  die  Sprache  auch  zu  dem  Umgekehrten  veranlaßt 
sein;  sie  kann  Begriff  M  N  0  durch  Namen  fixiren,  die 
nur  in  Einzelfällen,  welche  wir  etwa  als  ausgezeichnete 
Punkte,  als  Maxima  oder  Minima,  einer  zusammenhängenden 
Reihe  versinnlichen  könnten,  ganz  eindeutige  von  einander 
völlig  verschiedene  Bedeutungen  besitzen;  dann  wird  es 
umgekehrt  in  der  Wahrnehmung  und  Erfahrung  sehr  viele 
Inhalte  geben,  die  jedenfalls  ihren  Platz  zwischen,  aber 
auch  nur  zwischen  zweien  dieser  Begriffe  haben  müssen, 
vollständig  dagegen  keinem  von  ihnen  entsprechen. 

182.  Als  Beispiele,  die  auf  dies  letzte  Verhalten  zurück- 
geführt werden  können,  dienen  Begriffe  zusammengesetzter 
Bildung,  welche  die  Sprache  erzeugt  hat,  indem  sie  nicht 
von  einem,  sondern  von  vielen  Vergleichungsgesichtspunkten 
zugleich  ausging.  Zweifellos  stimmt  dann  mit  einem  solchen 
Begriffe  jedes  Beispiel  überein,  welches  in  jeder  dieser 
Vergleichungsrücksichten  an  dem  aus  ihr  entsprungenen 
Merkmale  des  Allgemeinen  theilhat;  aber  die  Zugehörigkeit 
zu  dem  Begriffe  wird  sehr  zweideutig  für  viele  andere 
Beispiele,  die  von  dem  einen  Gesichtspunkt  aus  ganz  ent- 
schieden ihm  zuzurechnen  sein  würden,  aber  von  einem 
anderen  zugleich  mitgedachten  aus  gar  nicht.  In  dem  Be- 
griffe der  Krankheit  haben  sich  auf  diese  Weise  verschiedene 
Gedanken  gekreuzt.  Gewiß  ist  sie  vor  allem  eine  Abweichung 
des  körperlichen  Zustandes  von  einer  als  feststehend  be- 
trachteten Norm.  Aber  eine  angeborene  Mißbildung,  die 
von  dem  natürlichen  Bau  des  Körpers  sehr  bedeutend  ab- 
weicht, mögen  wir  doch  nicht  Krankheit  nennen,  so  lange 
sie  nicht  auch  die  lebendigen  Functionen  der  Organe  be- 
einträchtigt, und  so  lange  sie,  immer  in  derselben  Weise 
bestehend,  keinen  natürlichen  Verlauf  durch  verschiedene 
Stadien  hat.  Eine  Wunde  ändert  Bau  und  Functionen  immer 
in  irgend  einem  Grade,  auch  hat  sie  einen  natürlichen 
Verlauf;  aber  eine  leichte  nennen  wir  doch  nicht  Krankheit, 
offenbar,  weil  sie  weder  Gefahr  noch  Unbrauchbarkeit  des 


230  Zweites  Kapitel. 

Körpers  für  wesentliche  Lebenszwecke  einschließt;  eine 
sehr  schwere  aber  auch  nicht,  obwohl  sie  beides  thut ; 
sie  ist  zu  plötzlich  ganz  und  gar  durch  äußere  Kräfte 
entstanden,  und  wir  bemerken  jetzt,  daß  wir  uns  unter 
Krankheit  einen  Zustand  vorstellten,  der  zwar  auf  äußerliche 
Veranlassung  begonnen,  aber  seine  bestimmte  Form  doch 
nur  durch  die  eigenthümlichen  Wechselwirkungen  der 
inneren  Kräfte  angenommen  hat.  Eine  solche  Reaction 
der  inneren  Kräfte  gegen  den  äußeren  Reiz  bildet  nun 
jeder  Schnupfen;  aber  auch  ihn  nennen  wir  Krankheit 
doch  kaum,  so  lange  ihm  das  Moment  der  Gefahr  fehlt; 
und  ebenso  wie  wir  uns  hier  mit  dem  milderen  Namen 
des  Unwohlseins  helfen,  sprechen  wir  auch  von  einer  ge- 
wissen Breite  der  Gesundheit,  um  in  ihr  eine  Menge  langsam 
sich  fortbildender  Störungen  unterzubringen,  die  mit  einer 
ursprünglichen  Eigenthümlichkeit  der  körperlichen  Con- 
stitution zusammenhängen.  Was  nun  hier  Rechtens  ist, 
ist  leicht  zu  sagen.  Unmöglich  ist  in  solchen  Fällen  eine 
Definition,  die  mit  wissenschaftlichen  Bedürfnissen  und  mit 
diesen  Wunderlichkeiten  des  Sprachgebrauchs  zugleich  in 
Einklang  wäre;  bedarf  man  einer  Begriffsbestimmung,  so 
muß  man  sie,  unbekümmert  um  den  Sprachgebrauch,  will- 
kürlich festsetzen.  In  unserem  Beispiel  ist  sie  ziemlich 
entbehrlich,  denn  die  Pathologie  kommt  recht  gut  aus  auch 
ohne  das  allgemeine  Wesen  der  Krankheit  vorwurfslos 
definirt  zu  haben;  die  Praxis  vollends  braucht  logische 
Allgemeinheiten  nicht,  aus  denen  keine  Indicationen  zum 
Handeln  fließen.  Anders  in  anderen  Fällen.  Auch  in  dem 
Begriff  des  Verbrechens  durchkreuzen  sich  Rücksichten  auf 
Vorbedacht  oder  Uebereilung,  auf  den  Grad  der  bösen  Ab- 
sicht, auf  Versuch  oder  Vollendung,  auf  die  Größe  des 
erzeugten  Uebels;  in  dem  Unterschiede  des  Kunsterzeug- 
nisses von  dem  Produkt  des  Handwerks,  in  dem  Verhältniß 
der  freien  Nachbildung  zur  Copie  finden  sich  ähnliche 
Zweideutungen.  Hier  hat  es  mehr  Werth,  die  Grenzen  der 
Begriffe  zu  bestimmen,  da  gesetzlich  Vortheile  und  Nach- 
theile sich  unmittelbar  an  die  Zugehörigkeit  eines  gegebenen 
Falles  zu  dem  einen  von  ihnen  knüpfen;  aber  auch  hier 
wird  man  sie,  zwar  mit  Berücksichtigung  des  Sprach- 
gebrauchs, im  Wesentlichen  doch  durch  Satzung  feststellen 
müssen. 

183.  Selbstverständlich  kann  man  jeden  Begriff  M 
jedem  beliebigen  andern  N  gleichsetzen,  wenn  man  den 
Inhalt  von  N  durch  nähere  Bestimmungen  so  umwandelt, 
daß  er  =M  ist.   Hieraus  entspringen  vielerlei  zufällige  An- 


Von  der  Begrenzung  der  Begriffe.  231 

sichten  oder  Transformationen  des  Ausdrucks  für  dasselbe  M, 
welche  wir  später  nützlich  finden  werden,  um  M  bald  dem 
einen  bald  dem  anderen  Gesetz  suhsumirbar  zu  machen, 
aus  dem  eine  neue  Behauptung  über  M  entspringen  kann. 
Eine  Grenze  des  Erlaubten  gibt  es  an  sich  für  dies  Ver- 
fahren nicht,  so  lange  das  transformirte  M  wirklich  das 
ursprüngliche  deckt,  so  lange  also  N  =  M.  Man  könnte  selbst 
ein  Dreieck  M  dem  Begriff  des  Vierecks  N  unterordnen, 
mit  der  Nebenbestimmung  freilich,  daß  eine  der  Viereck- 
seiten bis  zu  Null  abgenommen  habe;  so  sehr  dies  Spielerei 
scheint,  so  ist  es  doch  nützlich  zu  verwenden;  man  kann 
sehr  anschaulich  machen,  wie  jedesmal,  wenn  zwei  Seiten, 
die  früher  durch  eine  Zwischenseite  getrennt  waren,  durch 
das  Verschwinden  derselben  mit  ihren  Endpunkten  zu- 
sammenstoßen, zwei  rechte  Winkel  von  der  ganzen  Winkel- 
summe des  Polygons,  hier  des  Vierecks  verloren  gehen. 
Diese  Verwendung  der  Transformationen  wird  uns  später 
interessiren ;  hier  heben  wir  hervor,  daß  durch  sie  der 
Unterschied  der  beiden  so  aufeinander  zurückgeführten  Be- 
griffe natürlich  nicht  geändert  wird.  Das  Viereck  bleibt 
vom  Dreieck  so  verschieden,  wie  es  immer  war,  nämlich 
so,  daß  es  eben  seines  wesentlichen  Charakters  entkleidet 
werden  muß,  um  jenem  zugeordnet  zu  werden,  und  ebenso 
wird  jede  andere  Umänderung,  die  an  N  nöthig  ist,  um 
daraus  M  zu  machen,  die  Größe  des  bleibenden  Unter- 
schiedes beider  Begriffe  messen.  Handelt  es  sich  nicht, 
wie  in  diesem  Falle,  um  abstracte  Gedankengebilde,  sondern 
um  Wirklichkeiten,  die  in  der  That  eine  eigene  Entstehung 
haben,  so  ist  der  Werth  solcher  Transformationen  sehr 
gering;  sie  sind  zunächst  bloße  Einfälle,  deren  Bedeutung 
erst  durch  besondere  Untersuchungen  zu  ermitteln  ist.  In 
Gedanken  kann  man  jede  gegebene  Krystallgestalt  durch 
willkürliches  Abschnitzeln  hier  und  da  in  jede  beliebige 
andere,  in  der  bloßen  Zeichnung  die  Figur  des  Krokodils 
durch  successive  Aenderungen  der  Contouren  in  die  eines 
Vogels  verwandeln,  und  aus  jedem  chemischen  Element 
kann  man  jedes  andere  ableiten,  wenn  man  alle  Coefficienten, 
welche  die  allgemeinen  physischen  Eigenschaften  in  dem 
einen  haben,  stetig  in  bestimmte  andere  Werthe  übergehen 
läßt.  Durch  solche  Künste  kann  man  nicht  die  Begriffe  M 
und  N  einander  nähern,  denn  ihr  Unterschied  bleibt  immer 
so  groß,  wie  die  Summe  der  Schritte,  die  man  vom  einen 
zum  andern  machen  mußte;  man  kann  aber  auch  nicht 
die  wirklichen  Dinge,  welche  Beispiele  dieser  Begriffe  sind, 
hierdurch  in   einen   Zusammenhang   des  möglichen  Ueber- 


232  Drittes  Kapitel. 

gehens  in  einander  bringen.  Dazu  wäre  der  Nachweis 
nöthig,  daß  die  physischen  Kräfte  derjenigen  Elemente, 
die  einen  wirklichen  Krystall  von  der  Form  M  aufbauen, 
an  demselben  Stoff  auch  ein  Gleichgewicht  der  Lagerung 
in  der  Form  N  möglich  machen;  oder  daß  das  verkettete 
System  von  Kräften,  welches  den  Bildungstypus  des 
Krokodils  vorzeichnet  und  physisch  verwirklicht,  überhaupt 
durch  andere  natürliche  Einwirkungen  sich  so  verschieben 
lasse,  daß  aus  ihm  die  Gestalt  des  Vogels  wirklich  heraus- 
wachsen kann,  daß  mit  einem  Worte  in  dem  Zusammen- 
hange der  Wirklichkeit  Triebe  vorhanden  sind,  welche  die 
Umänderungen  der  Begriffsinhalte  reaHsiren,  die  wir  in 
Gedanken  und  auf  dem  Papier  willkürlich  an  ihnen  vor- 
nehmen können.  Man  erinnert  sich,  glücklicherweise  als 
eines  überwundenen  Irrthums,  der  wilden  Willkür,  mit 
welcher  man  früher  etymologisirend  jedes  Wort  der  einen 
Sprache  am  Ende  aus  jedem  beliebigen  der  andern  ableitete; 
jetzt  ist  die  Warnung  vor  Aehnlichem  in  Bezug  auf  das 
neuerwachte  Bedürfniß  nützlich,  die  Mannigfaltigkeit  der 
organischen  Wesen,  mit  Aufhebung  aller  festen  Artunter- 
schiede, aus  einander  entstanden  zu  denken.  Jedenfalls 
hat  indessen  Darwin's  Versuch,  gleichviel  ob  zulänglich 
oder  nicht,  sich  wenigstens  eifrig  darum  bemüht,  die  wirk- 
lichen Vorgänge  aufzuweisen,  durch  welche  die  denkbare 
Verwandlung  der  einen  organischen  Form  in  die  andere 
realisirt  worden   sein  mag. 


Drittes  Kapitel. 

Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung 
der  Begriffe. 

184.  Ich  setze  in  diesem  Abschnitt  von  etwas  ver- 
ändertem Gesichtspunkt  aus  die  Betrachtungen  des  vorigen 
fort.  Die  Weite  und  die  Bedeutung  des  Unterschiedes 
mehrerer  Vorstellungsinhalte  war  nur  dann  einer  näheren 
Bestimmung  fähig,  wenn  wir  Gelegenheit  fanden,  mehrere 
gleichartige  Unterschiede  unter  einander  zu  vergleichen, 
wenn  also  die  verglichenen  Inhalte  selbst  Reihen  bildeten, 
deren  Glieder  nach  einem  mehr  oder  minder  genau  aus- 
drückbaren Gesetze  fortschritten,  und  wenn  außerdem  das 
fühlbar  Allgemeine,  dessen  quantitativ  und  qualitativ  ver- 
schiedene Modificationen  diese  Glieder  darstellten,  nur  in 
einer    und    derselben    Richtung    solche    Abwandlungen   ge- 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  233 

stattete.  Zusammengesetzte  Begriffe,  sei  es  von  Dingen 
oder  von  Eigenschaften,  Verhältnissen  oder  Ereignissen, 
lassen  sich  wegen  der  Vielheit  einander  determinirender 
Merkmale  oder  Beziehungspunkte,  welche  sie  einschließen, 
nach  mancherlei  Richtungen  hin  verändern,  theils  dadurch, 
daß  die  Merkmale  und  die  Beziehungspunkte,  einzeln  oder 
einige  oder  alle,  die  verschiedenen  Beschaffenheiten  an- 
nehmen, deren  sie  fähig  sind,  theils  dadurch,  daß  die 
zwischen  ihnen  obwaltenden  Determinationen  die  verschie- 
denen möglichen  Werthe  der  Lockerheit  oder  Engigkeit 
und  die  Formänderungen  durchlaufen,  denen  sie  ihrer  Natur 
nach  unterworfen  sind.  Nun  hindert  nichts,  daß  öfters  der 
Werth  und  die  Weite  des  Unterschiedes  zwischen  zwei 
so  entstandenen  Begriffen  M  und  N  uns  durch  unmittel- 
baren Eindruck  mit  dem  Grade  der  Sicherheit  deutlich  sei, 
den  wir  in  dem  fraglichen  Falle  wünschen  müssen;  hätten 
wir  jedoch  ein  wissenschaftliches  Interesse  an  genauerer 
Bestimmung,  so  würden  wir  die  Werthe  der  verschiedenen 
Scalen,  nach  denen  die  einzelnen  Unterschiede  stattfinden, 
und  aus  ihnen  den  Werth  der  Gesammtveränderung  be- 
stimmen müssen,  welche  M  von  N  oder  N  von  0  trennt. 
Man  wird  geneigt  sein,  schon  hier  einzuwerfen,  daß  wir, 
in  den  meisten  Fällen  wenigstens,  die  Bedeutung  einer 
Scala,  nach  welcher  die  Veränderung  eines  Begriffsinhaltes 
stattgefunden  hat,  vielmehr  umgekehrt  nach  der  Größe  der 
Umwandlung  schätzen,  welche  diese  Veränderung  in  dem 
unmittelbaren  Totaleindruck  hervorgebracht  hat;  diese  Ein- 
wendung kann  ich  zugeben,  ohne  sie  weiter  zu  berück- 
sichtigen; denn  was  ich  hier  erläutern  will,  ist  nicht  eine 
logische  Regel,  sondern  ein  Hang  unseres  Gedankenganges, 
der  weit  mehr  einzuschränken  als  zu  befriedigen  sein  wird, 
der  aber  um  seiner  Unaustilgbarkeit  willen  eine  besondere 
Berücksichtigung  verlangt.  Man  begreift  nämlich  leicht,  wie 
aus  jener  obenerwähnten  Aufgabe  der  Wunsch  entstehen 
kann,  ein  allgemeines  Schema  zu  besitzen,  in  welchem 
nicht  nur  alle  denkbaren  modificablen  Beziehungen  ver- 
schiedener Elemente,  sondern  auch  die  Werthe  der  Unter- 
schiede je  zweier  Modificationen  dergestalt  festgestellt 
wären,  daß  jeden  zwei  Begriffen  M  und  N  der  bestimmte 
Unterschiedswerth  oder  zugleich  Verwandtschaftswerth  zu- 
käme, welcher  an  den  von  ihnen  eingenommenen  Stellen 
des  allgemeinen  Schema  haftet. 

185.  Ich  gehe  zunächst  zur  Erläuterung  auf  eine  Er- 
scheinung des  ältesten  Alterthums  zurück,  auf  Py  thagoras. 
Aus  den  spärlichen  und  großentheils  wenig  glaubwürdigen 


234  Drittes  Kapitel. 

Quellen,  die  wir  besitzen,  ein  sicheres  Lehrgebäude  pytha- 
goreischer Philosophie  wieder  aufzubauen  unternehme  ich 
nicht;  aber  den  Grundgedanken,  der  sie  belebt  haben  kann, 
und  von  dem  begreiflich  ist,  daß  er  eine  "ebenso  lang- 
dauernde als  in  ihren  Aeußerungen  oft  verkehrte  Theil- 
nahme  erregt  hat,  glaube  ich  angeben  zu  können.  Die 
Hinneigung  der  Schule  theils  zu  abstract  mathematischen 
Untersuchungen  theils  zur  Anwendung  derselben  auf  Natur- 
vorgänge ist  hinlänglich  gewiß ;  die  erste  Richtung  der 
Studien  mußte  auf  die  Vorstellung  der  Zahlenreihe  und 
der  Gestaltenwelt  als  zweier  großen  gesetzlich  in  sich  selbst 
zusammenhängenden  Ganzen  führen,  und  noch  überdies 
die  Abhängigkeit  der  räumlichen  Gebilde  selbst  von  den 
in  sie  eingegangenen  Zahlengrößen  lehren ;  die  andere  Rich- 
timg hat,  neben  uns  weniger  bekannten  Erfolgen,  zur  Auf- 
findung des  Verhältnisses  zwischen  der  gehörten  Tonhöhe 
und  der  Länge  der  schwingenden  Saite  geführt  und  damit 
sicher  den  allgemeinen  Gedanken  rege  gemacht,  daß  auch 
Erscheinungen,  deren  Verschiedenheiten  von  uns  zunächst 
als  qualitative  empfunden  werden,  auf  mathematischen  Ver- 
schiedenheiten vergleichbarer  Bedingungen  beruhen.  Zu 
schrankenloser  Verallgemeinerung  so  gefundener  Ergebnisse 
neigt  menschliche  Einbildungskraft  ohnehin ;  für  den  mathe- 
matisch gebildeten  Pythagoreer  kam  die  Erwägung  hinzu, 
wenn  einmal  einer  Reihe  von  Größenveränderungen  eine 
Veränderungsreihe  von  Erscheinungen  entspreche,  so  werde 
auch  keinem  anderen  denkbaren  mathematischen  Verhält- 
nisse und  seinen  Modificationen  das  entsprechende  Gegen- 
bild in  der  Erscheinung  fehlen,  oder  umgekehrt:  wenn 
eine  Gruppe  von  Erscheinungen  sich  auf  Größenbestim- 
mungen gründe,  so  werde  der  Zusammenhang  aller  Natur- 
vorgänge unter  einander  auch  die  übrigen  Erscheinungen 
zu  gleichartiger  Abhängigkeit  von  mathematisch  bestimm- 
baren Gründen  nöthigen.  So  denken  wir  uns  das  philo- 
sophische Unternehmen  entstanden,  dem  Aristoteles  den 
Ausdruck  gibt,  Pythagoras  habe  die  Principien  der  Zahlen 
für  die  Principien  der  Dinge  gehalten;  aber  den  Sinn  dieses 
Ausdrucks  selbst  haben  wir  noch  weiter  zu  überlegen. 
Die  Absicht  der  pythagoreischen  Philosophie  ging  gewiß 
nicht  blos  darauf,  worauf  sie  nach  dem  anderen  Spruche 
ihres  Urhebers,  Gott  habe  alles  nach  Maß  und  Zahl  ge- 
ordnet, gerichtet  scheinen  kann;  nicht  auf  eine  bloße  An- 
wendung der  Mathematik  auf  die  Natur  in  der  Art,  daß 
e])en  nur  die  Größenbestimmtheiten  der  natürlichen  Kräfte 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  235 

und  Ereignisse  im  Falle  ihres  Wechselwirkens  nach  dem- 
selben mathematischen  Rechte  einander  modificiren,  das 
für  Größen  überhaupt  gilt;  vielmehr  diese  Data  selbst, 
auf  welche  unsere  mathematische  Physik  nur  Anwendungen 
der  Mathematik  macht,  erschienen  dem  Pythagoras  als  selbst 
schon  ein  System  bildend,  dessen  innere  Gliederung  nach 
denselben  Verhältnissen  entworfen  ist,  nach  denen  die 
Glieder  der  Zahlenreihe  gebildet  sind  oder  sich  zusammen- 
setzen können.  Ich  unterscheide  in  dieser  Ansicht  einen 
allgemeinen  Gedanken  und  seine  besondere  Ausprägung. 

186.  Die  sogenannte  Naturphilosophie  der  Jonier  war 
damit  beschäftigt  gewesen,  die  Bildung  und  Rückbildung 
der  Naturkörper  aus  ihrem  Urstoff  und  in  ihn  zu  be- 
schreiben; da  sie  sehr  allgemein  dazu  Vorstellungen  von 
Verdichtung  und  Verdünnung  brauchte,  kann  sie,  um  dieser 
quantitativ  bestimmten  Hülfsmittel  willen,  der  pytha- 
gorischen  Auffassung  schon  verwandt  scheinen.  Sie  ist 
ihr  dennoch  sehr  fremd;  denn  nirgends  findet  sich  in  ihr 
ein  ausgesprochenes  Interesse  dafür,  daß  die  Summe  dessen, 
was  auf  diese  Weise  entstand,  in  irgend  einem  Augenblicke 
seines  Bestehens  oder  in  der  Reihenfolge  seines  Werdens 
ein  zusammengehöriges  Ganze  bilde,  dessen  Theile  ein- 
ander fordern.  Pythagoras  hingegen  scheint  sich  sehr  wenig 
um  diese  Entstehung  der  Welt  gekümmert  zu  haben,  aber 
so  wie  sie  bestand,  nachdem  sie  entstanden  war,  galt  sie 
ihm  für  ein  System,  dessen  Theile  nicht  blos  neben  einander 
da  waren,  sondern  in  dem  eine  Lücke  gewesen  wäre,  wenn 
während  des  Bestandes  der  einen  Erscheinung  die  Wirklich- 
keit der  anderen  gefehlt  hätte.  Wenn  es  in  der  Wirklichkeit 
a  b  und  d  gibt,  so  ist  c,  falls  es  da  ist,  nicht  blos  auch 
da,  sondern  es  ist  da,  weil  es  von  dem  Gesetze,  nach 
welchem  die  Reihe  ab . .  bis  d  fortschreitet,  als  nicht  fehlen 
könnendes  drittes  Glied  zu  dem  vierten  d  gefordert  wird; 
oder  falls  c  nicht  ist,  so  ist  es  nicht  blos  thatsächlich  nicht, 
sondern  weil  das  Bildungsgesetz  jener  Reihe  die  Möglichkeit 
dieses  dritten  Gliedes  vor  d  ausschließt.  Dieselbe  Betrach- 
tung würde  sich  auf  andere  Reihen  des  Wirklichen,  auf 
aßyb  und  aBcb,  anwenden  lassen,  und  diese  Anwendung 
ist  von  der  pythagoreischen  Philosophie  gemacht  worden. 
Welches  Verhältniß  sie  zwischen  den  verschiedenen  Cha- 
rakteren dieser  Reihen  angenommen  haben  mag,  die  ich 
durch  die  verschiedenen  Alphabete  andeuten  wollte,  wissen 
wir  allerdings  nicht,  und  seTir  wahrscheinlich  würden  uns 
darüber,  wie  Aristoteles  merken  läßt,  auch  die  vollständig- 


236  Drittes  Kapitel. 

sten  Quellen  nicht  belehren;  was  aber  das  Gesetz  betrifft, 
welches  in  jeder  dieser  Reihen  die  gleichartigen  Glieder 
unter  einander  verbindet,  so  scheint  unzweifelhaft,  daß 
dies  eben  als  dasselbe  identische  für  alle  diese  Reihen 
angesehen,  daß  also  ein  allgemeiner  Parallelismus  des  Ver- 
haltens in  den  verschiedenen  Gruppen  zusammengehöriger 
Erscheinungen  behauptet  wurde.  Dies  zeigt  sich  in  der 
Erfindung  einer  unsichtbaren  Gegenerde,  um  die  Zahl  der 
damals  bekannten  Planeten  auf  jene  Zehn  zu  bringen, 
der  einmal  die  arithmetische  Mystik  des  Systems  eine  be- 
sondere Bedeutung  beigelegt  hatte,  in  der  Annahme  eines 
fünften  Elements,  das  mit  Wasser  Erde  Feuer  und  Luft 
den  fünf  regelmäßigen  Körpern  Tetraeder  Würfel  Octaeder 
Dodekaeder  und  Ikosaeder  entsprechen  sollte,  in  dem  Ver- 
suche ferner,  die  Entfernungen  der  Planeten  nach  musi- 
kalischen Intervallen  geordnet  zu  denken,  selbst  in  der 
ärmlichen  Form  der  Tafeln  von  Gegensätzen,  die  für  unser 
Verständniß  freilich  nur  das  häufige  Vorkommen  des  Gegen- 
satzverhältnisses selbst  an  willkürlich  zusammengestellten 
Begriffspaaren  versinnlichen,  aber  durch  die  Zehnzahl  der 
Paare  anzudeuten  scheinen,  daß  sie  für  alle  verschieden- 
werthigen  Stufen  einer  zehngliedrigen  Reihe  dies  Ver- 
hältniß  als  wesentlich  darstellen  wollten.  Endlich,  wenn 
der  Zahl  Sechs  das  Belebtsein,  der  Sieben  die  Intelligenz 
und  das  Licht,  der  Acht  die  Freundschaft  zugeordnet  wurde, 
so  geht  daraus  hervor,  daß  nicht  blos  die  Erscheinungen 
der  äußeren  Natur,  sondern  auch  die  des  geistigen  Lebens, 
daß  überhaupt  alles  Denkbare  als  geordnet  nach  demselben 
Reihengesetze  betrachtet  wurde.  So  hat  diese  Philosophie 
ganz  dasselbe  gesucht  und  glaubte  es  gefunden  zu  haben, 
was  wir  oben  aussprachen :  ein  allgemeines  Schema,  welches, 
vom  Einfachen  zu  Verwickeltem  aufsteigend,  die  Summe 
möglicher  Bildungen  zu  umfassen  dachte,  deren  eine  jedem 
Wirklichen  als  Muster  seiner  eigenen  dienen  mußte,  und 
das  zugleich  diese  Vorbilder  so  in  eine  Reihe  ordnete, 
daß  jedem  Wirklichen  durch  die  Stelle  seines  Vorbildes 
in  ihr  seine  eigene  Bedeutung  und  die  Größe  seines  Unter- 
schiedes oder  seiner  Verwandtschaft  mit  den  anderen 
Dingen,  den  Nachbildern  anderer  Reihenglieder,  zukam. 
Dies  scheint  mir  der  allgemeine  Gedanke,  den  ich  der 
pythagoreischen  Philosophie  zueigne :  nicht  blos  eine  gleich- 
sam später  gestiftete  Anordnung  von  Dingen,  deren  Wesen 
ursprünglich  ohne  Rücksicht  auf  das  Princip  dieser  Ordnung 
gegeben  gewesen  wäre,  sondern  eine  Harmonie  des  Kosmos, 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  237 

—  mit  diesem  Namen  bezeichnete  zuerst  Pythagoras  die 
Welt,  —  begründet  darauf,  daß  alle  Dinge  von  Anfang  an  nur 
verschiedene  Verwirklichungen  einer  Reihe  von  Typen  waren, 
welche  ein  allgemeingültiges  Entwicklungsgesetz  bestimmte. 
187.  Die  specielle  Ausprägung  dieses  Gedankens  ist 
weit  hinter  der  unleugbaren  Großartigkeit  seines  allgemeinen 
Sinnes  zurückgeblieben.  Auch  die  Mathematik  der  Gegen- 
wart, so  vielförmig  die  Größenverhältnisse  sind,  deren 
interessante  Wechselbeziehungen  sie  in  Betracht  gezogen 
hat,  würde  nicht  im  Stande  sein,  in  diesen  ausreichende 
Vorbilder  oder  Symbole  oder  abstracte  Ausdrücke  der 
mannigfacheren  Verhältnisse  zu  finden,  die  zwischen  den 
Elementen  des  Wirklichen  und  den  aus  ihnen  entspringen- 
den Combinationen  bestehen;  die  antike  Arithmetik  aber, 
zu  deren  Ausbildung  die  pythagorische  Schule  beigetragen 
zu  haben  scheint,  fand  in  ihrer  Kenntniß  der  Zahlenreihe 
nur  sehr  wenige  und  ärmliche  Beziehungen  auf,  deren 
Werth  man  sehr  überhöhen  und  schon  ziemlich  willkürlich 
deuten  mußte,  um  sie  als  dieselben  ansehen  zu  können, 
auf  welche  die  Bildungen  des  Wirklichen  gegründet  seien. 
Die  Beobachtungen,  daß  alle  Zahlen  aus  vielfacher  Wieder- 
holung der  Einheit  entstehen,  daß  in  ihrer  Reihe  die  durch 
das  Princip  der  Vielheit,  die  Zweizahl,  untheilbaren  und 
darum  vornehmer  geachteten  ungeraden  abwechseln  mit 
den  geraden,  daß  die  erste  Einheit  des  Geraden  und  des 
Ungeraden  die  Drei,  die  erste  Quadratzahl  einer  Mehrheit 
die  Vier,  die  Summe  dieser  ausgezeichneten  vier  ersten 
Zahlen  die  Zehn  ist,  konnten  eigentlich  nur  für  eine  Sym- 
bolik, der  jedes  interessante  Motiv  recht  ist  auch  ohne 
Rücksicht  auf  den  Zusammenhang  mit  anderen,  die  bekannte 
Verehrung  der  Zehnzahl  rechtfertigen,  zu  der  ohne  Zweifel 
in  der  Gewöhnung  an  das  dekadische  Zahlensystem  der 
eigentlich  wirksame  Grund  lag.  Hätte  diese  Speculation 
alle  die  algebraischen  und  transscendenten  Functionsformen 
gekannt,  mit  denen  jetzt  die  Mathematik  wirthschaftet,  wie 
viel  reicher  würde  die  Mannigfaltigkeit  der  Symbole  ge- 
wesen sein,  die  sie  den  einzelnen  Erscheinungen,  mit  viel 
feinerer  Anschmiegung  an  die  Natur  derselben,  hätte  zu- 
ordnen können !  ,  Sind  wir  doch  jetzt  noch  geneigt,  auch  da, 
wo  keine  eigentliche  Rechnung  möglich  ist,  den  Namen 
der  Potenz  für  eigenthümliche  Steigerungen  der  Bedeutung 
und  Wichtigkeit  zu  brauchen,  die  ein  Begriffsinhalt  erfährt, 
wenn  etwa  jeder  der  Beziehungspunkte,  in  deren  gegen- 
seitiger Determination  sein  Sinn  besteht,  zu  einem  kleinen 


238  Drittes  Kapitel. 

Systeme  sich  vervielfältigt,  zwischen  dessen  Gliedern  die- 
selbe Determination  besteht,  welche  das  Ganze  beherrscht; 
und  wie  sehr  hätten  manche  Abhängigkeitsverhältnisse  ver- 
schiedener Elemente  durch  die  Relation  eines  Logarithmen 
zu  seiner  Zahl,  alle  periodischen  Regelmäßigkeiten  durch 
Anwendung  trigonometrischer  Functionen  verdeutlicht 
werden  können  1  Da  dieser  Reichthum  fehlte,  der  doch 
auch  uns  noch  nicht  genügen  würde,  so  hat  es  gar  keinen 
Werth,  im  Einzelnen  die  Sinnigkeit  der  pythagoreischen 
Symbole  zu  untersuchen. 

188.  Die  auseinandergehenden  Deutungen  aber  und  die 
Mißverständnisse,  denen  die  ganze  Ansicht  unterlag,  lassen 
sich  leicht  aus  ihr  selbst  begreifen.  Nach  der  einen 
Aeußerung  des  Aristoteles  waren  es  die  Principien  der 
Zahlen,  die  Pythagoras  den  Principien  der  Dinge  gleich- 
setzte. Dies  ist  uns  völlig  verständlich;  unter  jenen  Prin- 
cipien der  Zahlen  waren  die  Reziehungen  der  Einheit  zur 
Vielheit,  die  Wiederholbarkeit  der  ersten,  die  Theilbarkeit 
oder  Untheilbarkeit  der  anderen,  überhaupt  die  Möglichkeit 
zu  verstehen,  durch  Renutzung  dieser  immer  gleichen  Ver- 
hältnissen und  Operationen  die  ganze  Zahlenreihe  zu  er- 
zeugen, oder,  wie  wir  sagen  würden,  jede  Zahl  als  Function 
anderer  Zahlen  darzustellen;  dieses  innere  Gefüge  sollten 
die  Dinge  auch  haben,  nach  denselben  Principien  auch 
ihre  Reihen  so  geordnet  sein,  daß  die  Natur  des  einen 
sich  als  eine  Function  der  Natur  der  anderen  darstellen 
ließe.  Aber  Aristoteles  behauptet  auch  mit  Anderen,  die 
Zahlen  selbst  habe  die  pythagoreische  Schule  für  Dinge, 
jedenfalls  die  Dinge  für  Zahlen  erklärt.  Auch  dies  ist  gar 
nicht  unbegreiflich  für  den,  der  den  Gang  philosophischer 
Gedanken  und  die  Gewohnheiten  des  Ausdrucks  für  sie 
kennt.  Ris  zu  gewissem  Grade  hätten  die  Pythagoreer 
sogar  mit  dieser  Rehauptung  Recht  gehabt,  und  eben  daraus 
ist  zu  vermuthen,  daß  sie  sie  wirklich  ausgesprochen  haben; 
denn,  wie  erwähnt,  eine  bloße  Anwendung  der  Zahlen 
auf  Größenbestimmungen  von  Dingen,  deren  eigentliches 
Wesen  von  diesen  Restimmungen  noch  unabhängig  wäre, 
sowie  es  etwa  ähnliche  Dreiecke  von  den  verschiedensten 
Größen  gibt,  wollten  sie  keineswegs  machen;  ihre  Zahlen 
sollten  das  bedeuten,  wodurch  sich  das  Wesentliche  eines 
Dinges  von  dem  Wesentlichen  eines  anderen  unterscheidet; 
a  war  a,  weil  es  seinen  Inhalt  in  der  Functionsform  a 
oder  nach  dem  Rildungsgesetz  a  der  einen  Symbolzahl  zu- 
sammenfaßte, und  unterschied  sich  hierdurch  von  b,  das  b 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  239 

war,  weil  es  dem  Bildungsgesetze  ß  einer  anderen  folgte. 
Man  konnte  daher,  mit  einem  nachher  zu  erwähnenden 
Vorbehalt,  allerdings  sagen,  das  Wesen  eines  Dinges,  näm- 
lich das  Wesen  in  dem  Sinne  dessen,  wodurch  eines  vom 
anderen  sich  unterscheidet,  bestehe  in  der  ihm  immanenten. 
Zahl.  Die  andere  Behauptung,  das  Wesen  der  Dinge,  nämlich 
das,  wodurch  sie  sämmtlich  Dinge  sind,  oder  ihre  Realität, 
bestehe  in  diesen  Zahlen,  oder  die  Zahlen  seien  das  Reale, 
hat  vielleicht  die  Schule  positiv  so  nicht  ausgesprochen; 
that  sie  es  aber,  so  konnte  sie  den  letzteren  Ausdruck 
freilich  nicht  rechtfertigen,  den  ersten  aber  allerdings ;  denn 
wenn  es  nichts  wirklich  gibt,  dessen  Wesen  nicht  durch 
eine  jener  Symbolzahlen  bestimmt  ist,  so  sind  die  Zahlen 
allerdings  die  conditio  sine  qua  non  jeder  Realität;  sie  für 
mehr  zu  halten  und  sie  selbst  Reales  zu  nennen,  ist  eine 
Ueberspannung  des  Ausdrucks,  von  der  wir  später  sehen 
werden,  wie  sehr  nahe  sie  dem  philosophischen  Gedanken- 
laufe aller  Zeiten  gelegen  hat.  Eine  große  Unvollkommenheit 
bleibt  zurück,  die  wir  schon  erwähnten.  Dieselbe  typische 
Zahlenreihe  soll  sich  in  sehr  vielen  parallelen  Reihen  des 
Wirklichen,  in  abcd,  aß^b,  aBcb  wiederholen;  wie  unter- 
scheiden sich  nun  die  Glieder  b  ß  b  von  einander,  wenn 
das  ganze  Wesen  jedes  von  ihnen  durch  dieselbe  Symbolzahl 
erschöpft  wird?  Hierauf  ist  keine  Antwort  möglich;  an 
diesem  Punkte  wird  die  Theorie,  welche  das  Wesen  der 
Dinge  ganz  zu  umfassen  dachte,  doch  wieder  zu  einer 
Anwendung  einer  allgemeinen  Regel  der  Bildung  auf  ver- 
schiedene Fälle,  deren  charakteristische  Unterschiede  als 
gegebene  zu  betrachten  sind;  aber  eben  hierdurch  ist  sie 
ganz  das,  zu  dessen  Verdeutlichung  wir  sie  benutzen  wollten : 
der  Versuch,  ein  allgemeines  Schema  für  die  Beziehungen 
Verwandtschaften  und  Unterschiede  aller  beliebigen  even- 
tuell  in  Frage  kommenden  Inhaltsgruppen  aufzustellen. 

189.  Ich  rechtfertige  die  Ausführlichkeit  dieser  Be- 
trachtung durch  Hinweis  auf  die  außerordentliche  Zähigkeit, 
mit  der  sich  die  Vorliebe  für  diese  Schematisirung  alles 
Denkinhaltes  durch  den  Lauf  der  Zeiten  hindurch  erhalten 
hat.  Zuerst  in  dieser  Form  der  mystischen  Zahlenspeculation 
selbst;  über  diese  Bestrebungen  können  wir  flüchtig  hinweg- 
gehen; da  ihnen  das  Interessante  und  Ueberraschende, 
übrigens  aber  Sinnlose  genügte,  so  waren  sie  eigentlich 
immer  nur  auf  der  Suche  nach  einer  geheimen  Wahrheit, 
die  sie  nie  fanden,  und  es  gehörte  stets  viel  guter  Wille 
dazu,   in  den   Symbolen  den   Sinn,   den  man   in  sie  legte^ 


240  Drittes  Kapitel. 

irgendwie  besser  ausgedrückt  zu  sehen,  als  es  ohne  Symbol 
auch  geschehen  konnte.  Dann  ist  man  nach  verschiedenen 
Richtungen  hin  von  der  blos  arithmetischen  Basis  der 
Träumerei  abgegangen.  Zuerst  hat  fast  regelmäßig  jedes 
bedeutende  Verhältniß  zwischen  wichtigen  Beziehungs- 
punkten, dem  die  fortschreitende  Wissenschaft  auf  die  Spur 
gekommen  war,  sich  zum  Schema  für  die  Gliederung  des 
ganzen  Weltinhaltes  ausgedehnt.  Lange  fand  man  den 
Habitus  der  antiken  vier  Elemente  in  allen  Dingen  wieder, 
und  die  mystische  Bedeutung  dieser  Vierzahl  wurde  später 
nur  auf  die  neuentdeckten  Grundstoffe  der  Organismen, 
Kohlenstoff  Wasserstoff  Sauerstoff  und  Stickstoff  über- 
tragen; sie  stimmte  vortrefflich  mit  den  vier  Himmels- 
gegenden, denn  Zenith  und  Nadir  fallen  ja  außer  die  natür- 
liche Visirlinie  unseres  Blickes;  sie  stimmte  ebenso  mit 
den  vier  Jahreszeiten  der  gemäßigten  Zone,  in  welcher 
diese  Speculationen  geübt  wurden,  und  mit  den  vier  un- 
erläßlichen Casus  der  Declination;  später  kam  mit  der 
Vollendung  der  astronomischen  Theorie  der  Gegensatz 
zwischen  centripetalen  und  centrifugalen  Bestrebungen  in 
die  Vorstellungen  aller  Dinge  und  verschmolz  mit  dem 
Gegensatze  der  Geschlechter  und  dem  Verhältniß  zwischen 
Säure  und  Alkali;  Magnetismus  und  Elektricität  führten 
das  Schema  der  Polarität  fast  noch  weiter  in  die  Betrachtung 
alles  Denkbaren  ein.  Entgegengesetzte  Bestrebungen  gingen 
von  dem  richtigen  Gedanken  aus,  daß  auch  die  Zahlen- 
verhältnisse, zum  Theil  wenigstens,  nur  Beispiele  noch 
abstracterer  Grundbeziehungen  seien;  diese  müsse  man 
aufsuchen  und  werde  sie  finden,  wenn  man  die  Operationen 
überlege,  durch  welche  unser  Vorstellen  eben  die  Vor- 
stellungen aller  Inhalte  zu  Stande  bringe.  Nun  entsteht 
mindestens  jede  zusammengesetzte  Vorstellung  dadurch,  daß 
man  ein  a  setzt,  ein  b  von  ihm  unterscheidet  oder  ihm 
entgegensetzt,  beide  endlich  in  eine  Beziehung  c  bringt; 
so  gilt  nun  Thesis  Antithesis  und  Synthesis  als  das  Schema 
der  Bildung  alles  Wirkhchen  und  als  Rhythmus  der  An- 
ordnung seiner  Betrachtung;  man  sieht  aber  leicht,  daß 
diese  Symbole,  je  abstracter  sie  gefaßt  werden,  desto  mehr 
in  notiones  communes  übergehen,  die  zwar  ziemlich  von 
Allem  gelten,  aber  über  Nichts  Aufschluß  geben.  Diesem 
ganzen  Wirrwarr  tritt  nun  die  Logik  mit  der  Anforderung 
entgegen,  jeder  Inhalt  sei  lediglich  nach  seiner  eigenen 
Natur  zu  betrachten,  einzutheilen  und  zu  untersuchen; 
es   gebe  kein  verwendbares  allgemeines  Schema,  und  die 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe,  241 

Benutzung  grundlos  ausgedachter  Schablonen  könne  nur 
der  unparteiischen  Aufsuchung  der  Wahrheit  Gewalt  anthun. 
190.  An  diesem  Verwerfungsurtheil  ist  nichts  abzu- 
brechen, und  einige  Bemerkungen,  die  ich  noch  machen 
will,  haben  nicht  diesen  Zweck.  Wenn  uns  der  Inhalt  M 
eines  Begriffs  einer  Vorstellung  oder  einer  Anschauung  so 
gegeben  ist,  daß  er  irgend  eine  Mehrheit  von  Merkmalen 
Theilen  oder  Beziehungspunkten  in  der  Form  \x  vereinigt, 
so  ist  es  eine  ganz  gerechtfertigte  wissenschaftliche  Neu- 
gier, erfahren  zu  wollen,  wie  sich  seine  Beispiele  verhalten 
oder  verändern  und  unterscheiden  werden,  wenn  man  ent- 
weder die  Theile  des  Inhalts  allein  oder  zugleich  die  all- 
gemeine Verbindungsform  [x,  innerhalb  der  zulässigen 
Grenzen  ihrer  Veränderlichkeit  variirt.  Bleiben  wir  zu- 
nächst bei  der  ersten  Aenderungsart,  so  wird  es  uns 
meistens  wenig  interessiren,  alle  Arten  von  M  zu  ent- 
wickeln, die  durch  verschiedene  Größenwerthe  von  Merk- 
malen entstehen,  denn  sie  werden,  im  Allgemeinen  wenig- 
stens, einander  ähnlich  sein  und  dasselbe  nur  in  ver- 
schiedenem Maßstabe  wiederholen.  Ist  aber  eines  von 
diesen  Merkmalen  m  von  der  Beschaffenheit,  daß  für  das- 
selbe der  Gegensatz  des  Negativen  zum  Positiven  einen  an- 
gebbaren und  anschaulichen  Sinn  hat  (sowie  etwa  rechts 
und  links,  Attraction  und  Repulsion,  Concavität  und  Con- 
vexität,  überhaupt  Wachsthum  über  einen  Nullpunkt  hinaus 
und  Abnahme  unter  diesen  Punkt  hinab,  einander  gegen- 
überstehen), so  interessirt  es  uns  lebhaft  zu  wissen,  was 
aus  M  wird,  wenn  man  seinem  Bildungsgesetz  jetzt  diesen 
entgegengesetzten  Anwendungspunkt  — m  anstatt  -f-m  gibt. 
Nimmt  man  y=:fx  als  Gleichung  einer  krummen  Linie,  so 
versäumt  Niemand,  successiv  die  positiven  und  negativen 
Werthe  von  x  einzusetzen,  und  nicht  eher  als  bis  man 
die  hieraus  entspringenden  Resultate  vereinigt  hat,  glaubt 
man  die  Natur  der  Curve  M  zu  kennen,  die  sich  der  An- 
schauung hier  nicht  als  Allgemeines,  sondern  als  das  Ganze 
darstellt,  welches  aus  der  Verkniipfung  aller  möglichen 
Beispiele  der  allgemeinen  Gleichung  entsteht.  Fällt  uns 
irgendwo,  als  künstlerisches  Ornament  vielleicht,  eine  nach 
rechts  und  unten  geschwungene  Volute  ins  Auge,  so  emp- 
findet unsere  Einbildungskraft  dasselbe  Bedürfniß;  auch 
ohne  mathematisch  das  Bildungsgesetz  dieser  Curve  zu 
kennen,  begreifen  wir  doch,  wegen  der  Gleichartigkeit  der 
Raumrichtungen,  daß  sie  ganz  mit  gleichem,  aber  entgegen- 
gesetztem Schwünge  sich  nach  rechts   und  oben,  und  mit 

Lotze,  Logik.  16 


242  Drittes  Kapitel. 

noch  anderem  Gegensatz  links  sich  nach  oben  und  untea 
wiederholen  könnte.  Fehlen  nun  diese  Fortsetzungen,  zu 
deren  Vorstellung  der  gesehene  Anfang  anregt,  ohne  daß 
in  den  Umgebungen  ein  erklärender  Grund  für  diesen  Mangel 
sichtbar  würde,  so  fühlen  wir  uns  ästhetisch  unbefriedigt; 
aber  dies  Bedürfniß  nach  Symmetrie  hat  doch  einen  Grund 
logischer  Art.  Es  gehört  zur  Natur  des  Gesetzes,  An- 
wendung zu  haben  auf  alle  Variationen  seiner  Beziehungs- 
punkte; darum  liegt  ein  Widerspruch  in  der  Anschauung, 
welche  den  Gedanken  des  Gesetzes  zugleich  mit  der  Mög- 
lichkeit seiner  allgemeinen  Geltung  rege  macht,  und  doch 
nur  einen  Theil  seiner  Geltung  wirklich  sichtbar  werden 
läßt ;  was  hier  in  der  Anschauung  fehlt,  scheint  in  der  Sache 
zu  fehlen;  wir  suppliren  es,  um  den  grundlosen  Mangel  der 
Allgemeingültigkeit  zu  heben.  Ein  ähnlicher  Trieb  be- 
gleitet uns  in  die  Betrachtung  aller  Begriffe.  Ueberall,  wo 
in  irgend  einem  M  eines  seiner  Bestimmungsstücke  zwischen 
-fm  und  — m  schwanken  kann,  was  nur  möglich  ist  durch 
den  Zwischenwerth  m  =  o,  überall  da  wird  das  Bild  der 
so  entstehenden  dreigliedrigen  Eintheilung  für  uns  ein 
Schema,  nach  welchem  wir  die  Untersuchung  des  ganzen 
Umfangs  von  M  beginnen.  Dies  nämlich  muß  hier,  zum 
Unterschied  von  den  oben  zurückgewiesenen  Träumereien, 
hervorgehoben  werden,  daß  dieses  Schema  uns  nichts  als 
eine  Aufforderung  zur  Leitung  der  Untersuchung 
sein  kann,  aber  nicht  anticipirend  ein  Bild  des  heraus- 
kommenden Erfolges.  Nicht  überall,  wie  in  dem  Beispiele 
unserer  Volute,  werden  sich  die  Gegenstücke,  die  wir  dort 
erwarteten,  finden  lassen;  es  hängt  von  der  Natur  der  Ver- 
bindungsform jLi  ab,  ob  M  überhaupt  noch  mögliche  Arten 
liefert,  wenn  jenes  -|-m  in  ihm  in  — m  übergeht;  noch 
weniger  ist  vorherzusehen,  ob  und  wie  die  so  entstandenen 
Arten  den  Unterschieden  ihrer  Bedingungen  sich  propor- 
tional verhalten  werden;  nichts  hindert  die  Möglichkeit,  daß 
für  ein  bestimmtes  |Li  dieser  völlige  Gegensatz  von  -{-Tn. 
und  — m  ebenso  völlig  bedeutungslos  ist.  Man  wird  nun 
ebenso  |li  durch  alle  seine  möglichen  Arten,  die  durch  eine 
vollständige  Disjunction  seines  Begriffs  gegeben  werden, 
variiren  lassen;  man  wird  für  bloße  Größenzunahmen  auch 
hier  nur  eine  Beihe  ähnlicher  Resultate,  für  jeden  Wende- 
punkt aber,  an  welchem  jj,  eine  qualitativ  andere  Bedeutung 
annimmt  oder  einen  Sprung  zu  seinem  Entgegengesetzten 
macht,  auch  in  dem  von  ihm  abhängigen  M  das  Auftreten 
einer  ganz  neuen  Bildung  erwarten;  man  wird  endlich  für 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  243^ 

jedes    ausgezeichnete   Verhalten,    welches    man    in   einem 
Sonderfalle  von  M  gefunden,  als  Gegenstück  ein  gleich  aus- 
gezeichnetes Verhalten  in  einem  auf  ähnlichen  Bedingungen 
beruhenden  Sonderfall  eines  ähnlich  gebauten  N  erwarten, 
wie  man  denn  zu   allem,   was  Lichtwellen  begegnet,   das 
Entsprechende  für  Schallwellen  sucht:  aber  alles  dies  bleibt 
stets  eine  Frage  an  den  Gegenstand,  auf  welche  die  Ant- 
wort zu  erwarten  ist;  sie  kann  der  Erwartung  völlig  ent- 
gegengesetzt ausfallen  und  muß  hingenommen  werden,  wie 
die  Untersuchung  sie  gibt.  Darin  bestand  aber  die  Täuschung 
jener  schematisirenden  Tendenz,  daß  sie  annahm,  jede  Stelle 
eines  als  allgemein  vorausgesetzten  Schema  werde  bei  jeder 
Anwendung  desselben  auf  einen  beliebigen  Stoff  stets  durch 
eine  bedeutungsvolle  Gestalt  desselben  ausgefüllt  werden, 
niemals  aber  leer  bleiben,  und  daß  sie  ferner  hinzufügte-^ 
auch  die  Formen,  mit  denen  wirklich  die  verschiedenen  In- 
halte, nach  gleichem  Rhythmus  sich  ändernd,  dieselben  Stelleö 
des  Schema  füllen,  würden  durch  hervorstechende  Aehnlich- 
keit  oder  Analogie  ihres  gesammten  Habitus  als  zusammen- 
gehörige, als  verwandte  oder  als  Gegenstücke,  sich  ankün- 
digen.  Wo  dies  nicht  zutraf,  lag  dann  die  Versuchung  nahe, 
die  Lücken  durch  grundlose  Vermuthungen  zu  füllen  und 
die  mangelnde  Correspondenz  entsprechender  Glieder  durch 
sachwidrige    Hervorhebung    von    Nebenzügen    herzustellen. 
191.  Die  moderne  Zeit  hat  mehrere  großartige  Beispiele 
schematischer  Entwicklung  des  Weltinhaltes  gesehen,  welche 
selbst  einen  wesentlichen  Mangel  der  pythagorischen  Auf- 
fassung zu  vermeiden  schienen.     An  einem  anderen  Orte 
(Geschichte   der  Aesthetik  in   Deutschland   S.  176  ff.)  habe 
ich  ausführlicher  die  Motive  erläutert,  die  zur  Ausbildung 
der  Hegelischen  Dialektik,  der  bedeutendsten  unter 
diesen  Bestrebungen,  geführt  haben;  ich  begnüge  mich  hier 
mit  wenigen  Bemerkungen  über  ihren  logischen  Charakter. 
Die  pythagorische  Art  und  Weise,  unzählige  parallele  Ent- 
wicklungsreihen verschiedener  Inhalte  neben  einander  vor- 
zustellen,  gab  nicht  Rechenschaft  von  den  Unterschieden, 
durch  welche  die  correspondirenden  Glieder  verschiedener 
Reihen,    ungeachtet   ihrer  identischen   Plätze   in   dem   all- 
gemeinen  Schema,   von  einander   getrennt   sind.     Das   de^ 
kadische  Zahlensystem,  mit  seinen  aufsteigenden  Potenzen 
der  Zehnzahl,  hat  hier  doch  nicht  zu  dem  nahe  liegenden 
Versuche   veranlaßt,   jene  Parallelreihen   selbst   wieder  als 
successive    Perioden    einer   und    derselben    Hauptreihe    zw 
fassen,  in  ihrer  innerlichen  Structur  einander  gleich,  aber 

16* 


244  Drittes  Kapitel. 

gleichsam  durch  die  Höhe  des  Niveaus,  auf  dem  sie  diesen 
Bau  entfalten,  einander  so  überbietend  wie  die  Octaven  der 
musikalischen  Scala.  Die  moderne  Phantasie  hat  diesen 
Mangel  ergänzt;  die  Vielheit  der  Parallelen  ist  in  eine 
einzige  Reihe  zusammengezogen,  bestehend  aus  formell 
gleichgebauten  Cyclen,  deren  jeder  in  seinem  Endgliede  den 
charakteristisch  neugeformten  Anfangspunkt  für  die  Ent- 
wicklung des  nächstfolgenden  erzeugt.  Ist  es  möglich,  das 
erste  Glied  der  ganzen  Reihe  und  das  Formgesetz  des 
ersten  Cyclus  zu  finden,  so  läßt  sich  für  die  Verschieden- 
heiten der  Inhalte,  welche  die  Glieder  der  folgenden  Perioden 
bilden,  ein  Grund  in  der  Länge  des  Abstandes  vom  Anfang 
und  in  der  Umformung  finden,  die  das  Anfangsglied  bei 
jedem  Schritte  dieses  Weges  erfahren  hat.  Man  muß  nun 
Hegel  als  eine  metaphysische  Voraussetzung,  über  deren 
Triftigkeit  logisch  gar  nicht  zu  urtheilen  ist,  die  Gewißheit 
zugeben,  daß  der  Weltinhalt  nicht  eine  Summe  neben  ein- 
ander bestehender  Dinge  und  neben  einander  verlaufender 
Ereignisse  ist,  jene  so  lange  ruhig  bestehend,  bis  sie  von 
außen  zur  Veränderung  gereizt  werden,  diese  in  ihren 
Wechselwirkungen  und  in  ihrem  Verlauf  durch  immer  gel- 
tende allgemeine  Gesetze  bestimmt;  vielmehr  ist  alle  Viel- 
heit der  Welt  nur  die  rastlose  Entwicklung  eines  nie  ruhen- 
den Einen,  alle  Ereignisse  nur  Stufen  seiner  Entwicklung 
oder  Nebenwirkungen  derselben,  die  Dinge  selbst  entweder 
vergängliche  oder  in  jedem  Augenblick  neu  entstehende  Er- 
scheinungen, deren  ganzes  Wesen  in  den  thätigen  Be- 
wegungen jenes  Einen  besteht,  die  sich  in  ihnen  als  secun- 
dären  Subjecten  seiner  Entwicklung  kreuzen  und  sammeln. 
Ich  mache  mit  dieser  Bezeichnung  des  Hegelischen  Stand- 
punktes keinen  Anspruch  auf  vorwurfslose  Genauigkeit,  die 
für  eine  weitläufige  Darstellung  schwierig,  für  einen  kurzen 
Ausdruck  unmöglich  sein  würde;  aber  das  Gesagte  reicht 
hin,  um  begreiflich  zu  machen,  daß  innerhalb  jedes  dialek- 
tischen Cyclus  sich  nicht  verschiedene  Gestaltungen  von 
etwa  sich  immer  steigernder  Bedeutung  blos  neben  einander 
befinden  können,  sondern  jede  folgende  aus  der  voran- 
gehenden hervorgehen  muß;  Entwicklung  ist  der  Charakter 
dieser  Gliederung  selbst. 

192.  Nun  ist  keine  Entwicklung  vorstellbar  ohne  eine 
bestimmte  Richtung,  welche  sie  nimmt,  im  Unterschiede 
von  anderen,  welche  sie  nicht  nimmt;  ebenso  klar  aber,  daß 
in  diesem  Falle  am  wenigsten  diese  Richtung  dem  sich  ent- 
wickelnden  Einen   von   außen   gegeben   werden   kann;   sie 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  245 

muß  von  seiner  eigenen  Natur  abhängen.  Aber  hier  findet 
sich,  daß  für  das  volle  Wesen  dessen,  was  unter  dem  Namen 
des  Absoluten  als  der  eine  Weltgrund  betrachtet  wird,  ein 
genauer  und  erschöpfender  Ausdruck  nicht  möglich  ist,  daß 
vielmehr  das,  was  wir  mit  ihm  ahnungsvoll  meinen,  erst 
durch  die  Entwicklung  selbst  uns  offenbar,  ja  auch  an 
sich  erst  vollständig  es  selbst  werden  kann ;  begreiflich  dem 
Wortlaut  nach,  denn  da  es  nur  Entwicklung  ist,  so  kann 
es  nicht  ganz  schon  es  selbst  sein,  bevor  es  sich  zu  ent- 
wickeln begonnen  hat.  Es  bleibt  daher  nichts  übrig,  als 
eben  hieran  anzuknüpfen,  an  die  Erkenntniß,  daß  jenes 
Absolute  nicht  Ruhe,  sondern  Entwicklung  ist.  Ganz  gewiß 
wird  dann  seine  Entwicklung  in  derjenigen  Richtung  und 
Form  verlaufen  müssen,  die  aus  dem  Begriff  der  Entwick- 
lung selbst  fließt  und  daher  eigentlich  in  jedem  Beispiele 
dieses  Begriffes  wiederzufinden  sein  wird.  Dies  führt  auf 
sehr  einfache  Gedanken.  Soll  irgend  ein  A  sich  entwickeln, 
so  darf  es  nicht  schon  sein,  wozu  es  sich  erst  entfalten  soll; 
es  darf  ebenso  wenig  nicht  sein  oder  inhaltlos  sein,  so 
wäre  es  ja  nicht  der  bestimmende  Grund  dessen,  was  ent- 
stehen soll;  es  muß,  noch  unentfaltet  und  gestaltlos  doch 
die  bestimmte  Möglichkeit  seiner  zukünftigen  Bildung,  kurz : 
es  muß  an  sich  sein,  wozu  es  werden  wird.  Aber  sein 
Wesen  würde  nicht  in  Entwicklung  bestehen,  wenn  es  in 
diesem  Ansichsein  verharrte;  es  muß  wirklich  zu  dem 
werden,  wozu  werden  zu  können  seine  Natur  ist.  Das 
Werden  jedoch,  der  Vorgang  der  Entwicklung,  ist  nur  ein 
Zwischenglied  zwischen  Möglichkeit  und  Erfüllung;  nur 
werdend,  zwischen  Ausgangspunkt  und  Ziel  schwebend, 
würde  das  sich  Entwickelnde  weder  sich  selbst  gleich  sein, 
wie  es  in  seinem  Ansichsein  war,  noch  das  schon  sein, 
wozu  es  werden  soll.  Man  begreift  schon  hieraus,  warum 
dies  zweite  Glied  der  Entwicklung,  als  eine  Art  der  Ent- 
zweiung des  Ursprünglichen  mit  sich  selbst,  den  Namen 
des  Andersseins  erhalten  hat;  er  wird  noch  begreiflicher, 
wenn  man  sich  erinnert,  daß  es  der  allumfassende  Welt- 
grund ist,  dem  eigentlich  diese  Entfaltung  zugeschrieben 
wird;  es  ist  nicht  eine  einfache  geradlinige  Bewegung,  in 
der  dieses  sein  Werden  besteht,  sondern  die  Erzeugung  un- 
endlich mannigfacher  Gebilde,  deren  Möglichkeit  er  war; 
jedes  einzelne  von  diesen  ist  eine  seiner  Consequenzen, 
keines  drückt  sein  ganzes  Wesen  aus;  in  der  Summe  aller 
mag  wohl  ein  Ausdruck  dieses  ganzen  Wesens  vollständig 
liegen,  aber  doch  nur  für  den  Beobachter,  der  diese  Summe 


246  Drittes  Kapitel. 

zieht  und  das  Mannigfaltige  in  seinem  Gedanken  zur  Ein- 
heit verbindet.    Für  sich  selbst  aber,  nicht  blos  für  andere, 
muß   das   sich  Entwickelnde   diese   Einheit  sein,   weiin   es 
wirklich  zu  dem  soll  geworden  sein,  wozu  zu  werden  sein 
Wesen  war,  und  so  trägt  denn  den  Namen  des  Fürsichseins 
dies  dritte  Glied  des  triadischen  Cyclus,  die  Erfüllung  des 
Werdens  bedeutend,  die  Erreichung  des  Entwicklungszieles, 
die  Rückkehr  des  Ansich  zu  sich  selbst.     Einfache  Rück- 
kehr freilich  nicht:  nicht  in  dem  Sinne  nämlich,  daß  das 
Zwischenglied   des   Werdens   ergebnißlos   aufgehoben   oder 
ausgelöscht  wäre;  es  soll  aufgehoben  sein  in  der  Bedeutung 
des  Aufbewahrtbleibens;  durch  die  Geschichte  seines  Wer- 
dens,   die   es   hinter   sich   hat,   steht   das    Fürsichsein   be- 
reichert in  sich  selbst  dem  Ansichsein  gegenüber.     Es  ist 
leicht,   hierfür  Bilder  zu   finden;   denn  so  ist   die   Octave 
des  Grundtons  Rückkehr  zu  ihm  selbst,  und  doch  bewahrt 
sie  in  der  Zunahme  ihrer  Höhe  das  Ergebniß  der  durch- 
laufenen Intervalle;  so  würde   ein   Geist,   dem  allgemeine 
Wahrheiten  als  instinctiveVerfahrungsweisen  seines  l3enkens 
angeboren   wären,   nur   zu   sich   selbst  und   doch   in   sich 
selbst  bereichert  zurückgekehrt  sein,  wenn  er  durch  mannig- 
faltige Erfahrungen  und  Untersuchungen  hindurch,  die  den 
Zweifel    und   seine   Beseitigung    enthielten,    für   sich   jene 
Wahrheiten  zum  Bewußtsein  gebracht  hätte.    Ich  vermeide 
jedoch,   auf  weitere  Deutung   des   eigenthümlichen  Sinnes 
dieser  Ausdrucks  weisen  einzugehen;  für  uns  reicht  es  hin, 
daß  in  dem  dritten  Gliede  der  Entwicklung  etwas  gegeben 
ist,  was  zwar  Consequenz  des  ersten,  aber  doch  ihm  nicht 
gleich  ist,  sondern  ihm  wie  überhaupt  Erfüllung  der  Mög- 
lichkeit gegenübersteht.     So  gefaßt  sind  die  drei  Momente 
des  Ansich  des  Andersseins  und  des  Fürsichseins  nur  die 
Bestandtheile  des  Begriffs  der  Entwicklung,  und  in  allem, 
was    sich   entwickelt,   werden    sie    anzutreffen   sein.     Daß 
aber  aller  Inhalt  der  Welt,  daß  das  Reich  des  Denkbaren, 
die  Natur  und  alles  geistige  Leben,  nur  Entwicklungsstufen 
des  einen  Absoluten  sind,  und  daß  innerhalb  jedes  dieser 
großen  Gebiete  die  einzelnen  Glieder  desselben  nach  dem 
gleichen   Rhythmus   aus   einander   begründet   hervorgehen, 
daß  also  eine  vollendete  Erkenntniß  die  Summe  alles  Denk- 
baren und  Wirklichen  als  eine  große  Reihe  anschauen  würde, 
deren  einzelne  gleichgebaute  Perioden  an  eigenthümlicher 
Bedeutung  ihres  Inhalts  sich  unablässig  steigern:  dies  ist, 
wie  oben  erwähnt,  die  metaphysische  Ueberzeugung  Hegel's, 
die  wir  hier  nicht  beurtheilen;   zu  fragen  bleibt,   welchen 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  247 

logischen  Werth  die  so   geschilderte   dialektische  Methode 
habe. 

193.  Es  ist  nun  leicht  erkennbar,  daß  sie  nicht  eigent- 
lich Methode  in  der  Bedeutung  einer  Vorschrift  oder  An- 
weisung ist,  die  ein  Gesuchtes  zu  finden  lehrt;  sie  ist  viel- 
mehr in  dem  bisher  gebrauchten  Sinn  ein  Schema,  das 
uns  nur  auffordert  zu  suchen,  ob  etwas  und  was  wohl  in 
einer  angegebenen  Richtung  oder  an  einem  vorausbestimmteA 
Platze  zu  finden  sein  werde,  mit  der  Zuversicht  freilich, 
daß  nie  das  Suchen  vergeblich  sein  könne.  Soll  dies 
Schema  zur  independenten  Behandlung  eines  Allgemein- 
begriffs M  verwandt  werden,  um  seine  verschiedenen  Arten 
in  eine  Reihe  zu  ordnen,  die  ihren  wesentlichen  Verwandt- 
schaften und  Unterschieden  entspräche,  oder  soll  es  benutzt 
werden,  um  eine  Reihe  von  Begriffen,  die  durch  ander- 
weitige Beziehungen,  etwa  so  wie  Recht  Unrecht  Verbrechen 
und  Strafe  zusammengehören,  in  ihren  wahren  gegenseitigen 
Verhältnissen  darzustellen,  so  empfindet  man  sogleich  die 
Ungewißheit,  in  der  man  über  die  einzuschlagende  Richtung 
der  Gedanken  gelassen  ist.  Es  ist  möglich,  daß  diese  Un- 
gewißheit verschwände,  wenn  man  auf  die  Universalreihe 
recurrirte,  in  welcher  die  vollendete  Philosophie  die  Ent- 
wicklungsgeschichte alles  Denkbaren  bereits  gegeben  und  in 
ihr  folglich  auch  den  Begriff  des  Rechtes  so  gefunden  hätte, 
daß  aus  ihm  sich  der  Sinn  und  die  Richtung  seiner  eigenen 
dialektischen  Weiterentwicklung  ergäbe.  Aber  dies  hieße 
doch  nur  gleich  von  Anfang  an  die  Anwendbarkeit  der 
Methode  als  allgemeiner  Anweisung  zur  Auffindung  der 
Wahrheit  leugnen;  als  solche  könnte  sie  sich  nur  durch 
diesen  independenten  Gebrauch  bewähren,  den  wir  hier 
verlangen:  jeden  gegebenen  Begriff  müßte  sie  durch  die 
Kraft  ihrer  blos  formalen  Behandlungsweise  in  alle  seine 
wahren  Consequenzen  entwickeln  lehren.  Denken  wir  uns 
also  den  allgemeinen  Begriff  des  Rechts  gegeben,  denn  äiif 
ihn  als  ursprünglich  feststehenden  beziehen  sich  offenbar 
die  drei  anderen  angeführten  Begriffe:  was  ist  dann  sein 
Ansich?  in  welches  Anderssein  geht  er  über?  in  welches 
Fürsichsein  kehrt  er  zurück?  Nun  ist  so  viel  wohl  klar, 
daß  in  dem  Recht  eine  Billigung  von  Verhältnissen  liegt, 
welche  zwischen  den  Willensansprüchen  verschiedener 
geistigen  Persönlichkeiten  an  irgend  ein  Object  stattfinden, 
an  welchem  sie  sich  begegnen.  Es  gibt  folglich  kein  Recht, 
wenn  es  keine  Welt  mit  Verhältnissen  und  Objecten  gibt, 
auf  welche  sich  ein  Wille  beziehen,  oder  wenn  es  die  Person- 


248  Drittes  Kapitel. 

lichkeiten  nicht  gibt,  die  in  einer  und  derselben  Welt  ihren 
Willen  auf  diese  gemeinsamen  Zielpunkte  richten  könnten. 
Das  Recht  ist  daher  nur  Recht  an  sich  und  noch  nicht  das, 
was  es  seinem  Begriffe  nach  sein  will,  so  lange  es  nur 
anticipirend  Billigung  oder  Mißbilligung  von  Verhältnissen 
bedeutet,  die  noch  nicht  da  sind.  Nun  wird  auch  das 
Anderssein  begreiflich;  es  läuft  alles  auf  die  einfache  Wahr- 
heit hinaus,  daß  Allgemeinbegriffe  nichts  bedeuten,  wenn 
es  die  Besonderheiten  nicht  gibt,  die  sie  zusammenfassen; 
das  Anderssein  des  Rechts  besteht  in  den  verschiedenen 
Rechten,  deren  Bedingungen  in  dem  Dasein  dieser  Natur, 
dieser  menschlichen  Personen  mit  diesen  bestimmten  Be- 
dürfnissen und  Ansprüchen  liegen;  dem  allgemeinen  Theil 
der  Wissenschaft,  welcher  den  Begriff  des  Rechtes  aufstellt, 
wird  der  besondere  folgen,  der  dessen  Anwendungen  ent- 
hält. Diese  Anweisung  ist  so  einfach,  daß  man  sie  nicht 
erst  von  der  dialektischen  Methode  zu  erwarten  brauchte; 
zu  ihrer  weiteren  Befolgung  leistet  aber  die  Methode  nichts ; 
denn  welche  thatsächlichen  Bedingungen  existiren,  die  dem 
allgemeinen  Gedanken  des  Rechts  Veranlassung  geben,  sich 
in  specielle  Rechtsbildungen  zu  entwickeln,  lernen  wir  doch 
nur  aus  Erfahrung. 

194.  Es  ließe  sich  aber  doch  noch  ein  anderer  Fort- 
schritt denken.  Uebergang  des  Allgemeinen  in  die  Fülle 
seiner  besonderen  Gestalten  bedeutet  allerdings  das  Anders- 
sein oft;  aber  ich  habe  schon  bemerkt,  daß  die  Methode 
Gewicht  auf  das  Gegensatzverhältniß  legte,  das  zwischen 
beiden  Gliedern,  auch  zwischen  dem  Allgemeinen  und  Be- 
sonderen besteht;  dieser  Gedanke  des  Gegensatzes,  verall- 
gemeinert und  bis  zu  dem  Begriffe  des  Widerspruchs  ver- 
schärft, gibt  dem  Anderssein  auch  die  Bedeutung  des  Gegen- 
theils  überhaupt  von  dem,  was  das  Ansich  ist.  Diesem 
anderen  Antrieb  folgend,  ließ  man  Recht  in  Unrecht  über- 
gehen; daran  schloß  sich  die  Strafe  zwar  nicht  als  Für- 
sichsein, aber  doch  als  das  Mittel,  durch  Negation  des 
Andersseins  oder  des  Verbrechens  das  verletzte  Recht  zu 
seiner  Geltung  wiederherzustellen.  x\uch  dies  ist  einerseits 
nichts,  was  nicht  ohne  die  Zurüstung  der  Methode  für  sich 
klar  gewesen  wäre ;  anderseits  wird  es  selbst  unklarer  durch 
sie.  Die  unbefangene  Ueberlegung  sagt  sich,  daß  alles  Recht 
eben  nur  lebendige  Wirklichkeit  hat,  wenn  es  von  lebendigen 
Personen  nicht  blos  gewußt,  sondern  auch  in  ihrem  Handeln 
geachtet  wird;   daß  aber  die   Regungen  der  Willen   nicht 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  249 

durch  das  Ideal  thatsächlich  beherrscht  werden,  dem  sie 
folgen  sollen;  daher  erscheint  das  Unrecht  und  das  Ver- 
brechen nicht  als  ein  Nothwendiges,  das  da  sein  müßte, 
sondern  als  ein  Mögliches,  das  da  sein  kann,  und  das 
freilich,  wenn  wir  nach  unserer  empirischen  Kenntniß 
menschlicher  Natur  urtheilen,  niemals  fehlen  wird.  Diese 
behutsame  Vermittelung  beider  Begriffe  fehlt  in  jenem 
methodischen  Uebergamg;  er  läßt  es  zu  dem  Begriffe  des 
Rechts  gehörig  erscheinen,  daß  es  in  Unrecht  übergeht, 
und  diese  Paradoxie  wird  nicht  durch  eine  nachher  zu  er- 
wähnende Vertheidigung  gerechtfertigt.  Der  Uebergang  zu 
dem  dritten  Gliede  aber,  zur  Strafe,  befremdet  uns  blos 
deshalb  weniger,  weil  wir  die  Motive  zu  ihm  ergänzen,  die 
in  Wahrheit  durch  die  Methode  selbst  gar  nicht  gegeben 
werden.  Denn  sie  verlangt  zwar  Herstellung  des  Rechts 
und  zwar  durch  Verneinung  seiner  Verneinung,  des  Un- 
rechts; aber  sie  gibt  gar  nicht  an,  durch  welchen  Vorgang 
diese  abstracte  Aufgabe  der  Verneinung  des  Unrechts  aus- 
zuführen ist.  Warum  soll  sie  die  Gestalt  der  Strafe  haben? 
Die  böse  Gesinnung,  aus  der  das  Unrecht  entsprang,  wird 
durch  Mißbilligung  und  durch  Besserung  gleichfalls  ver- 
neint, das  entstandene  Uebel  durch  Schadenersatz,  die  Ver- 
letzung der  Würde  des  Rechts  durch  Reue  und  Wieder- 
anerkennung seiner  Verbindlichkeit.  Alle  diese  Ueber- 
legungen  zeigen,  daß  die  dialektische  Methode  hier  nur 
den  Werth  eines  Schema  hatte,  für  dessen  vorherbestimmte 
Stellen  man  sich  nach  einer  Ausfüllung  umsehen  konnte, 
daß  aber  der  Inhalt,  mit  dem  man  sie  zu  füllen  hatte,  ob- 
wohl dies  überhaupt  hier  leidlich  gelang,  nur  aus  einer 
von  diesem  Schema  ganz  unabhängigen  Untersuchung  der 
eigenthümlichen  Natur  des  behandelten  Gegenstandes  zu 
finden  war. 

195.  Daß  es  zu  dem  Begriffe  des  Rechts  an  sich  gehöre, 
in  Unrecht  überzugehen,  erschien  uns  widersinnig;  gleich- 
wohl ist  dies  Umschlagen  eines  Begriffs  in  sein 
G  e  g  e  n  t  h  e  i  1  so  oft  und  so  ausdrücklich  als  eine  durch  die 
Dialektik  aufgefundene  höhere  Wahrheit  behauptet  worden, 
daß  es  der  Mühe  werth  ist,  hierauf  zurückzukommen.  Zu- 
erst freilich,  bemerkt  Hegel  (S.  W.  VI,  152  ff.),  glaube  der 
Verstand,  die  Natur  und  Wahrheit  der  Wirklichkeit  durch 
viele  feste  in  sich  abgeschlossene  und  einander  aus- 
schließende Begriffe  aufzufassen;  das  Wahre  aber  sei,  daß 
verschiedene  Begriffe  nicht  blos  neben  einander  Ansprüche 
an  das  Endliche  erheben,  sondern  durch  seine  eigene  Natur 


250  Drittes  Kapitel. 

hebe  dieses  sich  auf  und  gehe  durch  sich  selbst  in  sein 
Gegentheil  über.  So  sage  man,  der  Mensch  sei  sterblich, 
und  betrachte  dann  das  Sterben  als  etwas,  was  blos  in 
äußerlichen  Umständen  seinen  Grund  habe,  nach  welcher 
Betrachtungsweise  es  dann  zwei  verschiedene  Eigenschaften 
des  Menschen  sein  würden,  lebendig  und  auch  sterblich 
zü  sein.  Die  wahrhafte  Auffassung  aber  sei,  daß  das  Leben 
als  solches  den  Keim  des  Todes  in  sich  trage  und  daß 
überhaupt  das  Endliche  sich  in  sich  selbst  widerspreche 
und  dadurch  sich  aufhebe.  Nicht  alle  anderen  auf  Dialektik 
bezüglichen  Stellen  Hegel's  gestatten  so  leicht  wie  diese  die 
Unterscheidung  zweier  hier  in  einander  verfließenden  Be- 
hauptungen. Von  den  Begriffen,  durch  die  wir  das  Wirk- 
liche aufzufassen  streben,  behauptet  die  erste  dieser  Perioden 
Festigkeit  und  Abgeschlossenheit;  nicht  von  den  Begriffen, 
sondern  von  dem  Endlichen,  worauf  wir  sie  anwenden, 
spricht  sie  den  Uebergang  in  das  Gegentheil  aus,  und  hierin 
liegt  in  der  That  die  ganze  Wahrheit,  von  der  dann  die 
weiteren  Sätze  verrathen,  daß  sie  eigentlich  ohne  oder  gegen 
die  Absicht  des  Sprechenden  zum  Ausdruck  gekommen  ist. 
Denn  eben,  wenn  das  Endliche  als  solches  durch  seine  eigene 
Natur  sich  aufhebt,  so  hebt  es  sich  nicht  auf,  weil  die  All- 
gemeinbegriffe, die  von  ihm  gelten,  ihre  Bestimmtheit  ver- 
lören und  in  ihr  Gegentheil  umschlügen,  sondern  deshalb, 
weil  es  selbst,  das  Anwendungsobject  jener  Allgemein- 
begriffe, als  Endliches  oder  als  Wirkliches  unfähig  ist, 
dauernd  das  zu  leisten,  was  jeder  dieser  in  dem  einen 
Augenblick  von  ihm  geltenden  Begriffe  von  ihm  verlangt; 
durch  Schuld  seiner  Natur  gleitet  es  aus  dem  Umfange 
des  einen  stets  mit  sich  identischen  Begriffes  in  den  Um- 
fang eines  anderen,  ebenso  mit  sich  selbst  stets  identischen, 
hinüber.  Die  Begriffe  selbst  aber  ändern  darum  ihre  ewige 
Bedeutung  nicht,  weil  sie  nur  einen  Augenblick  vielleicht 
das  richtige  Maß  ihrer  veränderlichen  Anwendungsgegen- 
stände sind.  Die  wahre  Auffassung  kann  daher  nicht  darin 
bestehen,  daß  das  Leben  als  solches  den  Keim  des  Todes 
in  sich  trage  und  daß  überhaupt  das  Endliche  sich  in  sich 
selbst  widerspreche;  vielmehr  beide  Glieder  dieses  Satzes 
widersprechen  einander.  Das  Leben  als  solches  stirbt  nicht, 
und  der  allgemeine  Begriff  des  Lebens  verpflichtet  das 
Lebendige  nur  zum  Leben,  aber  nicht  zum  Tode;  nur  das 
Endliche,  welches  der  zweite  Theil  des  Satzes  erwähnt, 
nur  die  einzelnen  lebendigen  Körper  tragen  den  Keim  des 
Todes  in  sich.    Und  auch  sie  nicht  vermöge  der  Idee  des 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  251 

Lebens,  die  sich  ihnen  realisirt  hat,  sondern  allerdings  nur 
um  des  äußerlichen  Umstandes  willen,  weil  die  Verknüpfung 
der  realen  Elemente,  durch  die  sich  auf  der  Oberfläche  der 
Erde  das  Leben  allein  verwirklicht  findet,  im  Zusammen- 
hang mit  den  allgemeinen  hier  wirksamen  Naturbedingungen 
nicht  ausreicht,  oder  im  Zusammenhang  mit  einem  uni- 
versalen Weltplan  nicht  ausreichen  soll,  um  der  Idee  des 
Lebens  ein  ihr  selbst  keineswegs  widersprechendes  ewig 
dauerndes  Beispiel  zu  geben.  Und  ebenso,  geht  nie  das 
Recht  selbst  in  Unrecht  über,  aber  theils  der  Wille  der 
lebendigen  Persönlichkeit,  der  sein  Träger  sein  soll,  wird 
durch  Mangel  der  Einsicht  oder  den  Antrieb  der  Leiden- 
schaften zum  Unrecht  geführt,  wo  er  das  Recht  zu  verwirk- 
lichen strebt,  theils  wird  das  Gesetz,  dessen  Allgemeingültig- 
keit für  unser  menschliches  Verfahren  nothwendig  ist,  da 
ein  Unrecht  bewirken  können,  wo  Verwicklungen  des  be^ 
sonderen  Falles  vorliegen,  für  deren  Behandlung  es  keinen 
Anhalt  bietet.  In  keiner  Weise  kann  daher  die  Logik  diese 
Lehre  von  der  dialektischen  Selbstaufhebung  der  Begriffe 
anerkennen;  die  Thatsache  aber,  daß  die  Wirklichkeit  so 
geordnet  ist,  wie  wir  sie  finden,  so  daß  das  Seiende  durch 
seine  eigene  Natur  nicht  zwar  sich  selbst  aufhebt,  aber  aus 
dem  Gebiete  des  einen  Begriffs  in  den  des  anderen  über- 
geht, bleibt  für  sich  der  Beachtung  werth,  als  ein  Ver- 
halten der  Dinge  nämlich,  nicht  als  eine  Eigenthümlichkeit 
der  Denkmittel,  welche  wir  zur  Erkenntniß  der  Dinge  an- 
wenden. 

196.  In  jedem  Falle,  auch  wenn  nicht  alle  die  hier  er- 
hobenen Einwürfe  stattfänden,  würde  doch  die  dialektische 
Methode  uns  zuletzt  nur  eine  Anordnung  der  Begriffe  liefeni, 
die  wohl  einer  vergleichenden  Reflexion  mancherlei  Inter- 
esse durch  den  ästhetischen  Eindruck  aufgefundener  Ana- 
logien Parallelen  und  Gegensätze  böte,  aber  sie  würde  kaum 
eine  neue  Erkenntniß  vermitteln,  welche  zu  bestimmten 
neuen  Urtheilen  oder  Sätzen,  zur  besseren  und  genaueren 
Entscheidung  vorher  zweifelhafter  Fragen  führen  könnte. 
Eben  diesen  hier  vermißten  Vortheil  möchten  andere  weit- 
aussehende Entwürfe  sichern,  die  Entwürfe  zu  einer  logi- 
schen Sprache,  einer  allgemeinen  Charakteristik 
der  Begriffe  oder  einem  philosophischen  Calcül,  denen 
Leibnitz  eine  fortgesetzte  Aufmerksamkeit  widmete.  Der 
Rechnende,  der  eine  Reihe  von  großen  Zahlen  auch  nur  zu 
addiren  hätte,  würde  nie  mit  seiner  Aufgabe  fertig  werden, 
wenn  er  von  jedem  der  Tausende  oder  Hunderte  von  Ein- 


252  Drittes  Kapitel. 

heilen,  die  seine  Summanden  enthalten,  eine  gesonderte 
Vorstellung  haben  und  durch  Wiederholung  des  Zusatzes 
von  Einheit  zu  Einheit  sich  im  Moment  des  Rechnens  jede 
einzelne  dieser  Zahlen  und  zuletzt  ihre  Summe  aufbauen 
müßte.  Die  Einrichtung  unseres  Ziffersystems  gestattet  ihm 
aber,  ohne  von  jenen  Zahlen  sich  irgend  eine  deutliche  Ge- 
sammtvorstellung  machen  zu  müssen.  Einer  unter  Einer, 
Zehner  unter  Zehner,  Hunderte  unter  Hunderte  zu  setzen, 
und  indem  er  jede  einzelne  dieser  einfachen  Verticalreihen 
summirt,  fehlerlos  ein  Ergebniß  zu  Stande  zu  bringen,  das 
selbst  wieder  in  einer  einzigen  Vorstellung  durch  seine  Ein- 
bildungskraft gar  nicht  zu  übersehen  ist.  Nun  stimmen 
mit  den  Zahlen  unsere  Begriffe  darin  überein,  daß  auch  sie 
meistens  eine  große  Anzahl  von  Einzelvorstellungen  ent- 
halten, deren  gegenseitige  Verknüpfung  nicht  in  jedem 
Augenblicke  deutlich,  sondern  nur  jin  einem  Gesammtein- 
drucke  von  uns  gedacht  wird;  ihre  Bezeichnung  durch 
Worte  aber  steht  weit  hinter  der  der  Zahlen  durch  Ziffern 
zurück.  Durch  etymologische  Verwandtschaft,  die  doch  oft 
dem  Bewußtsein  nicht  mehr  fühlbar  ist,  setzen  die  Worte 
der  Sprache  zusammengehörige  Inhalte  nur  unvollständig 
in  Beziehung  überhaupt,  denn  auch  für  Verwandtes  brauchen 
sie  daneben  von  einander  unabhängige  Wurzeln;  die  Art 
der  Beziehung  drücken  sie  gleich  unvollständig  durch  eine 
geringe  Anzahl  von  Ableitungsformen  aus,  die  unzureichend 
für  die  Mannigfaltigkeit  der  zu  bezeichnenden  Verhältnisse 
sind;  von  jedem  Verhältniß  finden  sich  außerdem  Beispiele, 
auf  welche  die  Aufmerksamkeit  der  sprachbildenden  Phan- 
tasie am  frühesten  gelenkt  war,  durch  einfache  Worte  be- 
zeichnet, denen  die  bezeichnende  Form  jener  Ableitung 
fehlt;  nirgends  endlich  enthält  der  Name  eines  Begriffs  die 
sämmtlichen  Theilvorstellungen  seines  Inhalts  durch  ein- 
fache Zeichen  und  in  solcher  Verbindung  repräsentirt,  daß 
es  uns  möglich  wäre,  bei  der  Verknüpfung  verschiedener 
Begriffe  M  N  0  von  der  Totalvorstellung  ihrer  Bedeutung 
abzusehen  und  aus  der  Combination  einzelner  von  ihren 
Bestandtheilen  doch  so  zweifellos  richtige  neue  Resultate 
zu  gewinnen,  wie  die  Einrichtung  unseres  Ziffersystems  sie 
bei  der  Rechnung  mit  Zahlen  möglich  macht.  Diese  Mängel 
müßte  man  zu  verbessern  suchen ;  durch  Zergliederung  aller 
unserer  Begriffe  müßten  die  einfachen  nicht  weiter  zerleg- 
baren Urvorstellungen  aller  Art  und  ebenso  die  einfachsten 
Arten  ihrer  möglichen  Combination  aufgefunden  und  durch 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  253 

unwandelbare  Zeichen  charakterisirt  werden,  um  aus  der 
Zusammensetzung  derselben  für  jeden  Begriff  ein  seinen 
Inhalt  adäquat  ausdrückendes  Symbol  zu  finden.  Auf  die 
Ausbildung  einer  neuen  sprechbaren  Sprache,  die  doch 
niemals  die  geschichtlich  entstandenen  und  nationalen  ver- 
drängen würde,  braucht  man  dies  Unternehmen  nicht  ge- 
richtet zu  denken;  nur  zu  wissenschaftlichem  Gebrauch 
des  Denkens  würde  es  eine  Formelsammlung  erzeugen,  auf 
die  zur  Entscheidung  der  Zweifel,  welche  durch  die  An- 
wendung der  zweideutigen  Sprachausdrücke  entstehen,  in 
jedem  Falle  zurückgegangen  werden  könnte;  dann,  wenn 
man  dies  Hülfsmittel  besäße,  so  schmeichelt  sich  Leibnitz, 
würden  alle  Streitenden  mit  dem  gütlichen  Abkommen: 
lasset  uns  die  Sache  berechnen,  ihre  Streitigkeiten  ab- 
brechen. 

197.  Ohne  Zweifel  gehört  dieser  Entwurf  zu  denen, 
über  deren  Ausführbarkeit  nur  die  Ausführung  selbst  voll- 
gültig richten  kann,  und  man  würde  übereilt  die  Möglich- 
keit dessen  leugnen,  was  eine  glückliche  Erfindungsgabe 
doch  vielleicht,  bis  zu  gewissem  Grade  wenigstens,  zu 
Stande  brächte.  Der  bisherige  Mangel  jedes  Erfolges  läßt 
uns  jedoch  die  inneren  Schwierigkeiten  des  Unternehmens 
vor  der  Hand  deutlicher  werden  als  die  Möglichkeit  ihrer 
Beseitigung.  Käme  es  nur  auf  systematische  Bezeichnung 
der  Begriffsinhalte  an,  so  könnte  die  Aufgabe  zwar  groß, 
aber  nicht  unlösbar  scheinen.  Denn  man  würde  sie  wohl 
von  Anfang  an,  mit  Uebergehung  aller  naturgeschichtlichen 
Gattungsbegriffe,  auf  diejenigen  Begriffe  beschränken,  aus 
deren  Verknüpfung  im  Denken  die  Zweifel  entspringen, 
welche  die  Wissenschaft  oder  die  praktischen  Ueberlegungen 
des  Lebens  belästigen.  Gleichwohl  ist  schon  diese  Auf- 
gabe größer  als  sie  scheint,  und  ihre  Lösbarkeit  wird  nur 
scheinbar  durch  Hinweisung  auf  die  Zeichensprache  der 
Mathematik  und  etwa  auf  die  Symbole  der  Chemie  be- 
glaubigt. Die  Mathematik  rechnet  eben  nur  mit  vergleich- 
baren Elementen,  mit  Größen,  deren  einfachste  Verbindungs- 
formen sie  allerdings  vollkommen  klar  und  eindeutig  zu 
symbolisiren  versteht;  aber  je  zusammengesetzter  die  so 
entstehenden  Functionen  und  Gleichungen  sind,  desto  mehr 
macht  sich  schon  hier  im  Gebrauch  eine  Art  rückgängiger 
Bewegung  merkbar;  an  die  Stelle  derjenigen  Bezeich- 
nungen, welche  wirklich  den  inneren  Bau  einer  in  Rede 
stehenden  Größe  vollkommen  genügend  zur  Anknüpfung 
der  Rechnung  darstellen,  treten   der  nothwendigen  lieber- 


254  Drittes  Kapitel. 

sichtlichkeit   zu   Gefallen  willkürliche   Symbole,   die   diese 
Eigenschaft   nicht   mehr   haben,    sondern    den   Namen   der 
Sprache   gleichen,   deren  Bedeutung   man   unabhängig  von 
ihrem  Klange  wissen  muß.    Die  Formel  ^  —  1  drückt  noch 
die  Herkunft  der  so   bezeichneten  Function  aus,  und  aus 
ihr  läßt  sich  nach  allgemeinen  Regeln  bestimmen,  was  ent- 
steht, wenn  man  sie  mit  sich  selbst  ein  oder  mehrere  Male 
als  Factor  zusammensetzt;  aber  schon  diese  Bezeichnung 
ist  als  zu  weitläufig  durch  die  andere  i  verdrängt  worden, 
die  an  sich  nicht  verräth,  was  sie  bedeutet  und  deren  Sinn 
man  nebenher  kennen  muß,  um  sie  richtig  zu  verwenden. 
Wenn  femer  von  B-  und  F-Functionen  die  Rede  ist,  so  sind 
diese  Ausdrücke  freilich  kurz,  aber  verständlich  nur  durch 
Wied^rgleichsetzung   mit  weitläufigen  Formeln,   die   selbst 
nur  durch  eine  vorangegangene  Erläuterung   darüber  ver- 
ständlich werden,  welchen  Sinn  die  in  ihnen  verwandten 
allgemeinen  Größenzeichen  und  die  Symbole  der  Verknüp- 
fungen  haben.     Hierin  liegt   so   wenig  ein  Tadel   für  die 
Mathematik   als   ein  Beweis   der   Unmöglichkeit  einer  all- 
gemeinen Begriffscharakteristik ;  es  wird  nur  klar,  daß  die 
von  der  letzteren  zu  erwartenden  Formeln  nicht  von  selbst 
alles  Nöthige  lehren,  sondern  sehr  Vieles  voraussetzen,  was 
man   erst  lernen  müßte,   um   sie  nur  zu   verstehen.     Die 
chemischen  Symbole  machen  dies  noch  deutlicher;  sie  be- 
ziehen sich  bis  jetzt  nur  auf  die  quantitativen  Verhältnisse 
der  zusammensetzenden  Elemente  und  einigermaßen  aller- 
dings   auf    die    vorausgesetzte   Form   ihrer  Verknüpfung; 
welche  Buchstaben  nun  welche  Elemente  bedeuten,  und  wie 
man   durch   ihre  Reihenfolge   die   Lagerung  derselben  be- 
zeichnen will,  muß  man  natürlich  lernen  oder  auswendig 
wissen,  denn  beides  kann  nur  conventioneil  bestimmt  sein; 
aber  der  so  zu  Stande  gekommenen  Formel  kann  Niemand 
ansehen,  ob  sie  ein  Gas  eine  Flüssigkeit  oder  einen  festen 
Körper   bedeutet,   nicht  welches    die   Dichtigkeit  oder  das 
specifische  Gewicht  oder  die  Farbe  des  Produkts  ist,  nicht 
ob  es  feuerbeständig  oder  flüchtig,  in  Wasser  lösbar  oder 
nicht  sein  wird.  Wer  nach  Ansicht  der  Formel  diese  Fragen 
richtig   beantwortet,   beantwortet  sie   auf   Grund   der  Ana- 
logien, welche  ihm  die  Erfahrung  darbietet,  und  welche  er 
den  Formeln  nicht  mit  der  Sicherheit  ihres  Zutreffens  ent- 
nehmen konnte.    Und  doch  würde  alles  das,  was  hier  ver- 
mißt  wird,   nur  die   Bestimmung   von   Eigenschaften   oder 
Verhaltungsweisen  sein,  die  zwar  nicht  unmittelbar  gleich^ 
artig,  aber  doch  als  physische  Vorgänge  von  einander  ab- 


Schematische  Anordnungen  und  Bezeichnung  der  Begriffe.  255^ 

hängig  und  Functionen  von  einander  sind,  und  deshalb 
Hoffnung  auf  Entdeckung  von  Gesetzen  geben,  nach  denen 
ihre  Wechselabhängigkeit  einer  leichten  Bezeichnung  zu- 
gänglich würde ;  die  Schwierigkeiten  steigen  aber  weit  mehr, 
wo  es  sich,  bei  Bestimmung  von  Begriffen  überhaupt,  um 
die  Verknüpfung  ungleichartiger  Elemente  von  dennoch  noth- 
wendiger  Beziehung  auf  einander  handeln  würde. 

198.  Aber  die  Bezeichnung  allein  ist  nicht  das,  was 
wir  bedürfen,  und  die  Mathematik  verdankt  ihre  Erfolge 
nicht  ihrer  Symbolik,  obgleich  sie  gewiß  durch  die  glück- 
liche Wahl  derselben  in  ihren  Fortschritten  unterstützt  wird ; 
der  Nutzen  der  Bezeichnungen  beruht  vielmehr  hier  auf 
dem  Vorhandensein  unzweideutiger  Regeln,  nach  denen 
sich  bestimmen  läßt,  was  aus  den  einfachsten  Verknüpf ungen 
der  Größen  folgt,  und  die  dann,  mit  eben  derselben  Unzwei- 
deutigkeit  auf  die  zuerst  gewonnenen  Resultate  von  neuem 
angewandt,  die  eleganten  und  sicheren  Verfahrungsweisen 
zur  Lösung  der  Probleme  hervorbringen.  Diese  Regeln 
sind  das,  was  uns  am  empfindlichsten  fehlt,  wenn  wir  Be- 
griffe, die  nicht  blos  Größen  bedeuten,  zur  Erzielung  eines 
Ergebnisses  verknüpfen  wollen,  und  ich  glaube,  daß  man 
sich  ganz  grundlos  .mit  der  Hoffnung  schmeichelt,  sie  würden 
plötzlich  von  selbst  unzweideutig  klar  werden,  sobald  mau 
nur  die  Inhalte,  auf  die  man  sie  anwenden  will,  bis  in  ihre 
letzten  Bestandtheile  zergliedert  hätte.  Gewiß  ist  es  nicht 
nöthig,  noch  besonders  zu  versichern,  daß  wachsende  Klar- 
heit der  Anwendungsobjecte  in  jedem  Falle  nur  eine  günstige 
Wirkung  auf  die  Sicherheit  (unserer  Folgerungen  haben  kann ; 
aber  im  Wesentlichen  wird  es  nicht  die  Analyse  unserer 
Begriffe  und  ihre  Zurückführung  auf  Grundbegriffe,  sondern 
die  Zergliederung  unserer  Urtheile  und  ihre  Zurück- 
führung auf  einfache  Grundsätze  sein,  worauf  die  all- 
mähliche Feststellung  unserer  jetzt  in  Bezug  auf  so  Vieles 
schwankenden  Ueberzeugungen  beruhen  muß.  Zweierlei 
aber  werden  wir  zu  wissen  verlangen:  zuerst,  welche  denk- 
nothwendigen  Folgen  aus  bestimmten,  entweder  von  uns 
willkürlich  vorausgesetzten  oder  uns  aufgedrängten  Be- 
ziehungen verschiedener  Begriffsinhalte  fließen,  dann  aber: 
welche  nicht  nachweisbar  denknothwendigen,  aber  that- 
sächlich  gültigen  allgemeinen  Gesetze  verschiedene  Inhalte 
so  verknüpfen,  daß  unser  Denken  auf  Grund  dieser  Ge- 
setze die  dann  nothwendig  werdenden  Folgen  gegebener  Be- 
dingungen ableiten  kann.    Diese  Aufgaben,  welche  die  An- 


256  Drittes  Kapitel. 

Wendung  der  Urtheilsform  angehen,  müssen  wir  zu  lösen 
suchen,  vorläufig  ununterstützt  durch  die  schätzbare  Bei- 
hülfe, welche  jene  allgemeine  Charakteristik,  wenn  sie  voll- 
endet wäre,  uns  ohne  Zweifel  gewähren  würde. 


Anmerkung  über  logischen  Calcül. 

Die  reiche  und  sorgfältige  Ausführung,  welche  dem  oft  ge- 
hegten und  oft  wieder  fallen  gelassenen  Entwurf  logischer  Rech- 
nung der  Engländer  Boole  gegeben  hat,  beginnt  auch  in  Deutsch- 
land die  Aufmerksamkeit  zu  fesseln.  Bei  aller  Anerkennung  des 
erfinderischen  Scharfsinns,  der  sein  geistreiches  Werk  (An  in- 
vestigation  of  the  laws  of  thought,  Lond.  1854)  sehr  anziehend 
macht,  kann  ich  mich  dennoch  nicht  überzeugen,  daß  dieser  Calcül 
Mittel  zur  Auflösung  von  Aufgaben  darbieten  werde,  welche  den 
gewöhnlichen  Methoden  der  Logik  unüberwindlich  wären. 

Allerdings  dringt  Boole  darauf,  daß  das  Ergebniß  einer  ge- 
führten Rechnung  logisch  deutbar  sein  müsse;  zwischen  Aufgabe 
und  Lösung  hält  er  aher  doch  einen  Gang  der  Operationen  für  zu- 
lässig, der  im  Einzelnen  eine  logische  Interpretation  nicht  vertrüge ; 
er  beruft  sich  auf  die  Erweiterung,  welche  die  Mathematik  durch 
die  Zulassung  des  Imaginären  erfahren  hat.  Diese  Berufung  ist 
schwerlich  triftig.  Der  imaginären  Formel  konnte  die  Mathematik 
gar  nicht  ausweichen,  sondern  stieß  auf  sie  im  Zusammenhang 
wohlbegründeter  Rechnungen;  anderseits  ist  sie  bestrebt  gewesen, 
die  Interpretation  des  räthselhaften  Gebildes  zu  finden  und  hat  sie 
ja  auch  auf  geometrischem  Gebiete  gefunden.  Im  logischen  Calcül 
dagegen  würde  dies  zeitweilige  Arbeiten  im  Finstern  mit  Sym- 
bolen geschehen  müssen,  die  willkürlich  zur  Bezeichnung  logischer 
Elemente  und  Elementarverhältnisse  gewählt  worden  sind;  kann 
daher  eine  Rechnung  allerdings  nur  nützen,  wenn  sie  uns  die 
mechanische  Lösung  einzelner  Aufgaben  erlaubt,  ohne  in  jedem 
Augenblicke  ein  Bewußtsein  von  der  logischen  Bedeutung  des  Ge- 
schehenen zu  erheischen,  so  ist  es  um  so  nothwendiger,  eben 
die  Regeln,  welche  solche  Erleichterungen  gestatten,  ganz  nur  aus 
rein  logischen  Grundsätzen  und  ohne  jede  gewagte  und  undurch- 
sichtige Analogie  aus  dem  Gebiete  der  Größenlehre  festzustellen. 
Hierin  ganz  einverstanden  mit  der  vortrefflichen  Darstellung 
Schröder's  (Der  Operationskreis  des  Logikcalcüls,  Leipz.  1877), 
werde  ich  doch  auch  ihr  nicht  ganz  folgen;  Demonstrationen,  welche 
man  in  der  Art  der  Mathematiker  den  Theoremen  folgen  läßt, 
haben  für  mich  nun  die  Bedeutung  zu  zeigen,  daß  der  ganze  Calcül 
consequent  in  sich  zusammenhängt  und  daß  alle  nach  ihm  zu- 
lässigen Umformungen  und  Verknüpfungen  seiner  Elemente  zu  iden- 
tischen Resultaten  in  Bezug  auf  identische  Aufgaben  führen;  unser 
Zutrauen  zu  der  Triftigkeit  des  Ganzen  kann  nur  auf  der  unmittel- 
baren Nachweisung  beruhen,  daß  jeder  allgemeine  Satz  nur  die 
Transscription  einer  logischen  Wahrheit  in  die  Sprache  der  ge- 
wählten Svmbole  ist. 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  257 

In  dem  Kapitel  über  künstliche  Classificationen  ist  die  Logik 
längst  daran  gewöhnt  gewesen,  Buchstaben  zur  Bezeichnung  der  Merk- 
male zu  verwenden,  welche  sich  in  verschiedener  Weise  zu  den- ver- 
schiedenen Arten  eines  Begriffes  verbinden.  Gehörten  zu  dem  Allge- 
meinen M  die  drei  Merkmale  ABC,  so  würde  der  disjunctive  Lehrsatz 
uns  anweisen,  jedes  von  ihnen  in  seine  Unterarten  a^  a2  ag  .  .  ., 
bj  bo  bg  .  .  .,  zu  zerfallen ;  die  Gesammtheit  der  Ternionen  von  der 
Form  abc,  und  zwar  selbstverständlich  ohne  Wiederholungen  und 
Permutationen,  würde  die  sämmtlichen  Arten  von  M  darstellen,  welche, 
so  lange  keine  näheren  Bestimmungen  vorliegen,  als  gleich  mögliche 
angesehen  werden  können.  Diese  combinatorischen  Zusammenstel- 
lungen sagen  an  sich  nichts  weiter  aus,  als  die  gleichzeitige  Gegenwart 
ihrer  Elemente;  die  Art  der  Verbindung  aber  zwischen  diesen  lassen 
sie  in  zweifacher  Hinsicht  unbestimmt.  Sie  erwähnen  zuerst  die  End- 
form nicht,  die  aus  der  vollzogenen  Combination  hervorgehn  soll.  In 
der  Anwendung  auf  logische  Classification  wird  dieser  Mangel  durch 
das  in  Gedanken  behaltene  Bild  des  Allgemeinen  M  ergänzt,  um  dessen 
Arten  es  sich  handelt;  zu  jeder  Combination  abc  ist  dieses  M  als 
der  gemeinsame  Grundriß  hinzuzudenken,  den  die  Verknüpfung  der 
Elemente  ausfüllen  soll;  sehen  wir  von  dieser  Veranlassung  des  com- 
binatorischen Verfahrens  ab,  so  bedeutet  für  sich  genommen  abc  nur 
noch  jedes  irgendwie  beschaffene  Gedankending,  in  welchem  sich  die 
Merkmale  a  b  und  c,  oder,  was  wichtiger  ist,  jeden  noch  nicht  näher 
characterisirbaren  Fall,  in  welchem  sich  die  Bedingungen  ab 
und  0  »usajmmenfinden.  Für  die  Mathematik  besteht  diese  Unbestimmt- 
heit nicht,  denn  die  Endform,  welche  das  Ergebniß  der  Rechnung  an- 
zunehmen hat,  wird  hier  völlig  und  allein  durch  die  genau  angebbare 
Art  der  Verbindung  bestimmt,  welche  sie  zwischen  ihren  Elementen 
herzustellen  befiehlt.  An  sich  selbst  nun  enthalten  auch  über  diesen 
zweiten  Punkt,  die  gegenseitige  Determination  ihrer  Bestandtheile,  die 
combinatorischen  Formeln  keinerlei  Aufklärung.  Ein  Herkommen  hat 
sie  für  die  Algebra  zum  Ausdruck  der  Multiplication  gemacht;  die 
Buchstabenrechnung  wenigstens  hat  das  für  die  Zahlenrechnung  bei- 
zubehaltende besondere  Zeichen  dieser  Operation  entbehrlich  und  das 
Product  von  Polynomien  gleich  der  Summe  der  Combinationen  ihrer 
Elemente  gefunden.  Die  Logik  ihrerseits  setzt  zwar  jedes  Merkmal 
eines  Ganzen  als  in  besonderer  Weise  mit  jedem  zweiten  verbunden 
voraus,  aber  sie  hat  keine  Mittel,  diese  specifischen  Determinationen 
wirklich  anzugeben,  sondern  überläßt  sie  der  nebenhergehenden  Kennt- 
niß  der  Sache;  nur,  wus  sie  aus  eignem  Rechte  Allgemeines  über  die 
Verknüpfung  der  Merkmale  weiß,  hat  keine  Aehnlichkeit  mit  dem  Sinne 
einer  Multiplication.  Ich  lege  hier  wenig  Werth  darauf,  daß  der/  ur- 
sprünglich ganzzahlig  zu  denkende  Multiplicator  den  an  sich  imgeäii- 
derten  Werth  des  Multiplicandus  nur  vervielfältigt,  während  jedes  neue 
Merkmal  c,  das  zu  einer  Combination  ab  hinzutritt,  nicht  nur  die 
gegenseitige  Determination  dieser  schon  vorhandenen  Bestandtheile 
modificirt,  sondern  durch  Vermehrung  des  Inhalts  zugleich  den  Um- 
fang beschränkt,  in  welchem  das  Ganze  gelten  kann;  wer  Lust  am 
Disputiren  hätte,  würde  es  vielleicht  nicht  schwer  finden,  auch  hier 

Lotze,  Logik.  17 


258  Drittes  Kapitel. 

die  Analogien  des  beiderseitigen  Verhaltens  mehr  zu  betonen  als  die 
Unterschiede;  wesentlich  aber  ist  es  für  uns,  daß  die  Multiplication 
sowohl  die  Wiederholungen  aa,  bb,  als  die  Permutationen  ab,  ba, 
als  nothwendige  Bestandtheile  ihrer  Producte  beibehalten  muß,  die 
Logik  dagegen  für  jene  keinen  Sinn  und  für  diese  keinen  Unterschied 
zugeben  kann.  In  der  Natur  der  Sache  lag  daher  keine  Aufforderung, 
von  dem  neutralen  Sinne  combinatorischer  Formeln  abzugehen,  die 
sehr  vielerlei  bedeuten  können,  und  auf  sie  den  Rechnungsmechanis- 
mus anzuwenden,  den  sie  eigentlich  nur  als  Symbole  multiplicirbarer 
Größen  vertragen;  man  konnte  dies  nur  in  der  Hoffinung  wagen,  die 
weitere  Anwendung  des  Calcüls  werde  durch  Ergebnisse,  die  nur  durch 
ihn  erreichbar  wären,  für  Weitläufigkeiten  entschädigen,  zu  denen 
man  zunächst  gezwungen  war;  denn  man  mußte  nun  durch  Ausnahms- 
regeln die  unpassend  gewählte  Rechnungsart  mit  der  Natur  ihres  logi- 
schen Anwendungsgegenstandes   in  Einklang  bringen. 

Das  natürliche  Denken  hat  keine  Veranlassung,  irgend  ein  A,  das 
nacli  dem  Satze  der  Identität  =A  sein  muß,  noch  einmal  durch  den 
Charakter  A  zu  bestimmen  in  derselben  Weise,  in  welcher  A  durch 
ein  zweites  Merkmal  b  determinirt  werden  könnte.  Wir  reden  zwar  wohl 
von  einem  Menschen,  der  wahrer  Mensch,  oder  emphatisch  von  einem 
Manne,  der  Mann  ist;  aber  mit  solchen  Ausdrücken  befinden  wir  uns 
auf  einem  Gebiete,  wo  es  erlaubt  ist,  den  Begriff  M  eines  Ideals  von 
dem  Begriffe  jLi  desjenigen  Thatbestandes  zu  unterscheiden,  der  zur 
Realisirung  des  Ideals  berufen  ist;  wir  bestimmen  daher  im  Gnmde 
nicht  dasselbe  M  durch  sich  selbst ;  der  Mensch  M  [i,  der  nun  wahrer 
Mensch  ist,  genügt  nur  einmal  und  vollkommen  seiner  Bestimmung  M 
und  eben  so  in  anderer  Hinsicht  einmal  und  vollkommen  seinem  natur- 
geschichtlichen Begriffe  |Li;  keine  Aehnlichkeit  besteht  zwischen  solchen 
Gedanken  und  dem  Versuche,  vierbeinige  Thiere  noch  einmal  durch 
den  Character  der  Vierbeinigkeit  zu  determiniren.  Nur  der  Mechanis- 
mus des  Calcüls  kann  zu  dieser  Aufforderung  führen,  a  durch  a  multi- 
plicatorisch  zu  bestimmen;  die  Formel  aa  =  a  oder  a2  =  a  aber, 
welche  nun  zur  Herstellung  der  logischen  Wahrheit  eingeführt  wird, 
dürfte  wenigstens  nicht  vorgeben,  ein  neu  aufgefundenes  Grundgesetz 
des  Denkens  und  nicht  bloßer  Nothbehelf  zur  Correction  eines  un- 
passenden Verfahrens  zu  sein.  Denn  die  Determination  des  a  durch  a 
ist  logisch  eine  unvollziehbare  Aufgabe;  nur  weil  und  soweit  als  im 
Zusammenhange  unsers  Denkens  der  fruchtlose  Versuch  das  a  nicht 
aufhebt,  an  dem  er  gemacht  wird,  iat  es  erlaubt,  an  die  Stelle 
des  a2,  auf  welches  die  Rechnung  führen  würde,  a  allein,  keineswegs 
aber  dies  a^,  als  existirte  es,  dem  a  gleich  zu  setzen ;  die  linke 
Seite  dieser  Gleichung  enthält  eine  unlösbare  Aufgabe,  die  rechte  aber 
enthält  nicht  die  Lösung,  sondern  das,  wobei  es  sein  Bewenden  haben 
muß,  weil  es  jene  Lösung  nicht  gibt.  Daß  dies  nicht  bloßer  Wortstreit 
ist,  zeigt  uns  eine  Betrachtung,  die  Boole  hier  weiter  anknüpft,  Gilt 
einmal  a2=:a  als  Gleichung,  so  ist  der  Schritt  sehr  leicht  zu  den 
Folgerungen  a^  —  a=:0  oder  a  —  a-=:0;  die  letzte  Formel  löste 
Boole  auf  in  a  (1  —  a)  =  0.  Nun  lehrt  der  Satz  vom  ausgeschlossenen 
Dritten,  daß   alles  Denkbare  entweder   a  oder   Non  a   ist;  und  diese 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  259 

Wahrheit  hatte  Boole,  indem  er  die  Gesammtheit  alles  Denkbaren  durch 
das  Symbol  1   bezeichnete,  dahin  ausgedrückt,   Non  a  sei   dasjenige, 
was  von  dieser  Gesammtheit  übrig   bleibe,  wenn  wir  a  von  ihr  ab- 
ziehen ;  (1  —  a)  ist  mithin  der  contradictorische  Gegensatz  zu  a.    Da 
rmn  die  Nullsetzung  der  Gleichung  nur  bedeuten  kann,  daß  es  für  die 
Combination,  welche  die  linke  Seite  enthält,  gar  keinen  Umfang  gebe, 
den  sie  beherrsche,  daß  sie  also  überhaupt  nicht  vorkommen  köime, 
so  wurde  die  Formel  a  (1  —  a)  =  0  zum  Ausdruck  des   Satzes,  daß 
nichts  Denkbares  zugleich  a  und  Non  a  sein  könne.    Man  kann  sich 
nun  über  die  Geschmeidigkeit  des   Calcüls   freuen,   der  für  eine  be- 
kannte Wahrheit   diese  anschauliche  Formel   findet;   um   so   weniger 
wird  man  der  Deutung  beistimmen,  die  ihr  Boole  S.  50  seines  Werkes 
gibt.    Sie  zeige,  daß  der  Satz,  den  man  für  den  höchsten  Grundsatz 
der  Metaphysik  ansehe,  nur  die  Consequenz  eines  seiner  Form  nach 
mathematischen  Denkgesetzes  sei;  weil  dies  Gesetz  in  einer  quadra- 
tischen Gleichung   sich  ausspreche,  seien  wir  genöthigt,  unsere  Zer- 
gliederungen und   Classificationen  dichotomisch  zu   vollziehen;  wäre 
die  Gleichung  vom  dritten  Grade  gewesen,  so  würden  wir  zu  einem 
trichotomischen   Verfahren    gezwimgen   sein.     Ich    fürchte    nicht    der 
Trichotomie  im   Sinne  des  Haarspaltens   schuldig   zu  sein,   wenn  ich 
gegen  diese  sonderbare  Argumentation  Einspruch  thue.    Boole  selbst 
erwähnt,  daß  aus  a^  =  a  auch  a^  =  a  folge,   aber  er  beseitigt  diese 
cubische  Gleichung  durch  die  Bemerkung,  daß  zwei  der"  Factoren,  die 
sie  voraussetze,  i  (1  -|-  x),  keiner  logischen  Bedeutung  fähig  sind ;  der- 
selbe Grund  hatte  ihn  offenbar  bestimmt,  nicht  an  a^  —  a  =  0,  sondern 
an  a  —  a^  =  0  seine  Folgerungen  anzuknüpfen.    In  diesem  Verfahren 
liegt  der  ganz  richtige  Gedanke:  von  den  mehrerlei  Formeln,  welche 
sich   mathematisch    aus   dem   für   logisches    Grundgesetz    gehaltenen 
a2  =  a  ableiten  lassen,  seien  nur  diejenigen  von  Bedeutung,  welche 
etwas  logisch  Brauchbares  ausdrücken;  nicht  die  Gültigkeit  des  logi- 
schen Gesetzes  hängt  von  der  Gestalt  der  Formel,  sondern  die  sym- 
bolische Brauchbarkeit  dieser  von  ihrer  Uebereinstimmung  mit  dem 
Sinne  des  Gesetzes  ab.   Aber  die  ganze  quadratische  Form  selbst  und 
ihre  Deutung  ist  nur  ein  Spiel  der  Willkür.    Ich  will  nicht  weiter  dar- 
auf bestehen,  daß  eben  wegen  a^  rr=  a  sogleich  a  an  die  Stelle  von  a^ 
zu  setzen  war,  womit  man  auf  a  —  a  =  0  verständlich   zurückkam ; 
selbst  wenn  man  glaubte,  a^  als  wirkliches  Ergebniß  einer  ausführ- 
baren Determination  des  a  durch  a  beibehalten  und  es  nun  dem  a 
gleichsetzen  zu  können,  so  gab  es  doch  gar  keine  logische  Berech- 
tigung, a  —  a2  in  a  (1  —  a)  aufzulösen ;  mathematisch,  wenn  wir  von 
Größen  sprechen,  war  die  Umformung   richtig  und  1   bedeutet  dann 
wirklich  die  Einheit ;  logisch  lag   in  der  Differenz   a  —  a^  nicht  die 
mindeste  Aufforderung,   sie  als  Product  zweier  Factoren  zu  fassen; 
die   1   aber,  die  hier   eingeführt  wird,    ist   nicht  die  Einheit,  welche 
sie  sein  müßte  um  die  Zerfällung  mathematisch  richtig  zu  machen^ 
sondern  sie  ist  Boole's  willkürlich  obwohl  nicht  unpassend  gewähltes 
Symbol  für  die  Gesammtheit  alles  Denkbaren;  daß  a  und  1  —  a  zu- 
sammen diese  Gesammtheit  erschöpfen,  mußte  daher  vorher  feststehen 
um  nur   die   Interpretation  möglich   zu   machen,   durch   welche  man 
eben  diese  Wahrheit  erst  aus  der  Formel  gewinnen  wollte. 

17* 


260  Drittes  Kapitel. 

Diese  Träumereien  sind  nicht  nach  Deutschland  übergegangen; 
ich  erwähnte  sie  ausführlich,  weil  sie  mit  einem  allgemeinen  Ge- 
danken zusammenhängen,  der  auch  unter  uns  Zustimmung  findet.  Die 
Unterschiede  arithmetischer  und  logischer  Rechnung  verkennt  man 
nicht;  aber  man  hegt  den  Gedanken  eines  noch  allgemeineren  mathe- 
matischen Algorithmus  für  den  dieser  Unterschied  der  Anwendungs- 
gegenstände gleichgültig  wäre.  In  der  That  nun,  jede  einzelne  Denk- 
handlung, abgesehen  von  dem  logischen  Sinne  ihres  Ergebnisses,  läßt 
viele  gleichartige  Wiederholungen,  und  die  Ergebnisse  selbst  mancher- 
lei Verknüpfungen  imd  Anordnungen  zu;  die  Begriffe  der  Gleichheit 
der  Ungleichheit  und  des  Gegensatzes  femer  haben  Bedeutung  auch 
da  wo  sie  sich  nicht  auf  Größen  beziehen;  was  dann  aus  ihnen  folgt, 
wird  allerdings  für  jedes  Gebiet  aus  dessen  eigner  Natur  zu  ent- 
scheiden sein;  nachdem  es  jedoch  bestimmt,  nachdem  also  nach  logi- 
schem Rechte  über  das  Resultat  entschieden  ist,  welches  aus  dem 
Zusammenkommen  oder  der  Sonderung  mehrerer  Denkhandlungen  und 
ihrer  Einzelergebnisse  fließen  muß:  dann  lassen  sich  die  Wieder- 
holungen und  Verknüpfungen  auph  aller  dieser  Elemente  denselben 
Regeln  der  Vereinigung  Sonderung  und  Anordnung  unterwerfen,  die 
in  Bezug  auf  alles  Wiederholbare  und  Mannigfache  gelten.  Nur  die 
specifisch  logischen  Gesetze,  welche,  wie  das  des  ausgeschlossenen 
Dritten,  die  Bildung  der  Elemente  selbst  beherrschen,  die  in  diese  Zu- 
sammenhänge eintreten  sollen,  müssen  auf  eigenen  Füßen  stehen,  und 
es  ist  ein  eben  so  unrichtiger  als  unklarer  Gedanke,  für  sie  Be- 
gründung in  einer  abstractesten  Mathematik  zu  suchen,  die  doch  noch 
diesen  Namen  zum  Unterschied  von  der  Logik  verdiente.  Was  eine 
solche  Wissenschaft  zu  lehren  hätte,  würde  im  Gegenteil  nur  die 
Entwicklung  einfachster  logischer  Wahrheiten  sein,  die  gleichmäßig 
von  allem  Mannigfaltigen  und  seinen  Verknüpfungen,  von  denen  des 
Zählbaren  und  Gleichartigen  eben  so  gut  gelten  wie  von  denen  des 
nur  Beziehbaren  und  Ungleichartigen;  diese  Wahrheiten,  noch  ab- 
getrennt von  ihren  Anwendungen,  für  sich  aufzuzählen,  kann  man  ja, 
da  sich  mit  Worten  viel  beweisen  läßt,  als  eine  wichtige  Aufgabe  an- 
sehen, ich  halte  es  mehr  für  langweilig  als  für  unerläßlich. 

Unmittelbare  Ausdrücke  solcher  einfachsten  Wahrheit  sind  so- 
gleich die  Axiome,  deren  besondere  Vorerwähnung  fast  nur  Sache 
der  Etikette  ist.  natürlich  auch  für  den  logischen  Calcül  muß  ai=ra, 
and  jede  a  und  b  die  einem  dritten  c  gleich  sind,  auch  unter 
einander  gleich  sein;  nur  die  Definition  der  Gleichheit  selbst  bedarf 
eines  Wortes.  Die  Logik  bezeichnet  durch  a  ein  allgemeines  Merk- 
mal eine  allgemeine  Gattung  oder  einen  allgemeinen  Fall,  und  kann 
deshalb  dem  Sprachgebrauch  des  Calcüls  beistimmen,  welcher  a  das 
Symbol  einer  Klasse  nennt,  deren  Umfang  alle  irgendwie  beschaffenen 
Einzelheiten  oder  Einzelfälle  umfaßt,  welche  an  dem  Character  a  theil 
haben.  Nur  diese  Umfangsverhältnisse  berücksichtigt  nun  der  Calcül; 
ihm  gelten  daher  zwei  Klassensymbole  a  und  b  für  gleich,  wenn  die 
durch  sie  vorgestellten  Klassen  identisch  die  nämlichen  Einzelheiten 
lunfassen  und  deswegen  nur  zwei  Namen  für  dieselbe  Klasse  sind. 
An  sich  selbst  können  dabei  a  und  b  verschieden  sein,  auch  wenn 
ihre    Umfange    sich   vöUig    decken;    gleichseitige    und    gleichwinklige 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  261 

Dreiecke  sind  so,  ihren  Umfang  allein  betrachtet,  allerdings  nur 
zwei  Namen  für  dieselbe  Klasse;  logisch  würden  wir  dennoch  beide 
Begriffe  in  Bezug  auf  den  Inhalt  nicht  gleichsetzen,  den  sie  unmittel- 
bar durch  sich  selbst  aussprechen.  Ebenso  einfach  folgt  aus  jenen 
einfachsten  Wahrheiten,  daß  es  immer  möglich  ist,  in  einer  Summe 
a-|-b  zwei  Denkhandlungen  und  ihre  Ergebnisse  zusammenzufassen; 
daß  auch  a  —  b  logisch  möglich  ist,  wenn  b  in  a  enthalten  und  da- 
durch die  nöthige  Homogeneität  hergestellt  ist;  daß  die  andere  Com- 
bination  ab,  welche  beide  in  eine  Vorstellung  zusammenzieht,  ein 
neues  Klassensymbol  von  bestimmtem  Umfange  darstellt;  daß  end- 
lich, wo  nur  die  Aufgabe  einer  gleichartigen  Verknüpfung  überhaupt 
gestellt  ist,  die  Ordnung  der  Summaäiden  und  Factoren  gleichgültig 
ist,  die  wir  zur  Summe  oder  zum  Producte  zusammenstellen.  Mehr 
als  diese  begreiflichen  Analogien  mathematischer  und  logischer  Rech- 
nung verdienen  die  Differenzen  Erwähnung,  welche  die  specifische 
Natur  des  Logischen  herbeiführt.  Ich  habe  die  Gleichung  a^zzia  be- 
reits erwähnt ;  in  ebenso  paradoxer  Form  verhüllt  der  Satz  a  -f-  a  =  a 
die  logische  Wahrheit,  daß  jeder  Allgemeinbegriff  nur  eimnal  vorhan- 
den ist,  daß  mithin  jede  logische  Behauptung  über  das  ihm  Unter- 
geordnete völlig  erschöpft  ist,  wenn  sie  einmal  von  diesem  durch- 
gängig gilt,  und  daß  keine  neue  Wahrheit  durch  Wiederholung  des- 
selben Verfahrens  an  demselben  Gegenstande  gewonnen  werden  kaim; 
ebenso  erinnern  uns  die  Theoreme  a  -j-  a-  b  r=  a  und  a  (a  -{-  b)  =  a,  daß 
jede  Behauptung,  die  einmal  allgemein  von  a  gilt,  auch  von  jeder 
Art  des  a  gilt,  die  durch  irgend  ein  b  noch  weiter  bestimmt  ist, 
daß  mithin  die  Erwähnung  von  a  b  neben  a  nutzlos  bleibt  oder  jenes 
durch  dieses  „absorbirt"  wird.  Nur  der  unpassende  Gebrauch  des 
Gleichheitszeichens  gibt  diesen  Sätzen  den  Schein  der  Sonderbarkeit; 
was  sie  sagen,  ist  nur  dies :  überall  wo  der  Mechanismus  des  Calcüls  zu 
den  Formen  a^,  a  -|-  a,  a  -4-  a  b,  führen  sollte,  sind  diese  nutzlosen  Neben- 
producte  desselben  für  logische  Zwecke  durch  das  einfache  a  zu  ersetzen. 

Wichtiger  ist  der  ausgedehnte  Gebrauch,  den  der  Calcül  von  dem 
Satze  des  ausgeschlossenen  Dritten  macht;  denn  nur  dieser  wohl- 
bekannte Satz  steckt  hinter  dem  Princip  der  Dualität,  das  hier  als 
neues  Denkgesetz  auttritt.  Bezeichnen  wir  mit  a'  den  contradictori- 
schen  Gegensatz  des  a,  und  mit  1  die  Gesammtheit  alles,  Denkbaren, 
so  gelten,  wirklich  als  Gleichungen,  die  Formeln  a  -|-  a'  =  1,  nach 
welcher  aller  Inhalt  des  Denkbaren  durch  a  und  Non  a  erschöpft 
wird,  und  a  a'=  0,  welche  die  Unmöglichkeit  einer  Verbindung  von  a 
und  Non  a  ausspricht.  Weder  für  diese  Sätze  noch  für  den"  andern, 
daß  die  Negation  von  Non  a  nur  auf  a  zurück  und  nicht  zu  irgend 
einem  Dritten  führt,  sind  weitere  Beweise  möglich  oder  nothwendig; 
sie  sind  logische  Wahrheiten,  die  allerdings  in  jenen  Formeln  eine 
sehr   bequeme   und  anschauliche   Bezeichnung    erhalten   haben. 

In  ihren  Kapiteln  von  den  unmittelbaren  Folgerungen,  den  Um- 
kehrungen und  Contrapositionen  der  Urtheile  versuchte  auch  die  alte 
Logik,  auf  denselben  Grundsatz  gestützt,  den  Inhalt  eines  ausgespro- 
chenen Urtheils  in  seine  Beziehungen  zu  nicht  ausgesprochenen  zu 
verfolgen ;  Boole  stellt  sich  umfassender  die  Aufgabe,  die  verschiedenen 
einander  ausschließenden  Abtheilungen  des  Denkbaren  zu  entwickeln, 


Drittes  Kapitel. 

welche  sich  durch  Bejahung  und  Verneinung  der  in  einem  Urtheile 
verbundenen  Begriffe  Klassensymhole  oder  Elemente  überhaupt  bilden 
lassen.  Wenn  x  und  y  die  gegebenen  Elemente  sind,  und  x',  y'  ihre 
contradictorischen  Gegentheile,  so  sind  selbstverständlich  xy,  xy',  x'y 
und  x'y'  die  vier  Gattungen,  in  welche  sich  alles  Denkbar©  muß  ver- 
theilen  lassen,  oder  die  Constituenten  der  gesammten  Eintheilung, 
welche  Boole  die  Expansion  oder  Entwicklung  des  zwischen  x  und  y 
gegebenen  Verhältnisses  nennt.  Es  hat  einige  Unbequemlichkeit,  daß 
er  nach  mathematischem  Herkommen  jenes  Verhältniß  zwischen  x 
und  y  als  Function  beider,  /(x,  y),  bezeichnet;  logisch  bedeutet  ein 
solcher  Ausdruck  erst  dann  etwas,  wenn  er  als  Definition  oder  JPrädicat 
irgend  eines  M  aufgefaßt  wird;  dann  werden  aus  der  gegebenen  Ver- 
bindung zwischen  x  und  y  alle  jene  Constituenten  xy,  xy'  u.  s.  w. 
liebst  den  Coefficienten.sich  ableiten  lassen,  durch  welche  sie,  inner- 
halb des  Umfangs  von  M,  als  möglich  oder  unmöglich  bezeichnet 
werden.  Boole  benutzt  indessen  vorläufig  die  unabhängige  Function 
/  (x,  y)  um  aus  ihr  ebenso  allgemein  das  Gesetz  der  Bildung  jener 
Coefficienten  zu  entwickeln.  Seine  anfängliche  Gleichung  x^  =  x  ver- 
anlaßt ihn,  da  er  für  sie  nur  die  beiden  arithmetischen  Analogien 
0^  =  0  undl^  z=z  1  findet,  zu  der  Annahme,  logischer  und  mathema- 
tischer Calcül  würden  einander  völlig  decken,  wenn  alle  Größen  nur 
diese  beiden  Werthe  annehmen  könnten;  alle  mathematischen  Opera- 
tionen findet  er  umgekehrt  logisch  erlaubt,  wenn  man  die  Klassen- 
symbole, auf  die  man  sie  anwendet,  als  Größen  behandle,  die  nur 
diese  beiden  Werthe  zulassen.  Sei  nun  a  x  -{-  b  x'  die  gegebene  Func- 
tion /(x)  und  /(l)  und  /  (0)  die  beiden  Werthe  welche  sie  annimmt, 
wenn  wir  x  =  1  und  x  =  0  setzen,  wodurch  x'  allemal  die  entgegen- 
gesetzten Werthe  annimmt,  so  wird  gezeigt,  daß  /(x)  sich  durch  die 
Verbindung  beider  Werthe  herstellen  läßt:  /  (x)  =  /  (1)  x  +  /  (0)  x'. 
Dieselbe  Betrachtung  führt  dann  für  den  Fall,  daß  die  gegebene  Func- 
tion die  beiden  Elemente  x  und  y  enthält,  zu  der  Formel: 

/  (x,y)  =.  f  (1,  1)  xy  +  f  (1,  0)  xy'-f  /  (0, 1)  x'y  +  /  (0.  0)  x'y' 

in  welcher  die  beiden  eingeklammerten  Werthe  sich  der  Reihe  nach 
auf  X  und  y  beziehen. 

Wenn  man  Gewicht  auf  dies  Schema  der  logischen  Entwicklung 
einer  Function  legt,  so  wäre  es  leicht  gewesen,  es  auf  abenteuerliche 
Weise  zu  begründen.  Man  muß  doch  bedenken,  daß  die  Null,  welche 
jeden  Größenwerth  verneint,  so  daß  für  jedes  m  immer  0-m  =  0,  und 
die  Einheit,  die  als  imausgesprochener  Factor  in  jeder  Größe  enthalten 
ist,  so  daß  für  jedes  m  immer  l-m=:m,  auch  in  der  Arithmetik  eine 
Sonderstellung  haben  und  nicht  einfach  allen  andern  Größen  gleich- 
artig zu  achten  sind;  mögen  sie,  einzeln  betrachtet,  als  Größenwerthe 
gelten,  so  haben  sie  doch  in  ihrer  combinatorischen  oder  multipli- 
catorischen  Verbindung  mit  andern  Größen  den  allgemeinen  logischen 
Sinn  der  Bejahung  und  der  Verneinung.  Nur  diese  auch  für  die 
Arithmetik  gültige  aber  nicht  aus  ihr  stammende  logische  Bedeutung 
brauchte  man  hier  und  hätte  deshalb  nicht  den  Schein  verschulden 
sollen,  als  habe  die  Logik  die  Hülfsmittel  zu  ihren  Operationen  aus 
arithmetischen    Specialitäten    zu   entlehnen.     Wie    dies    zu    verstehen 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  263 

ist,  zeige  ich  an  zwei  Beispielen.  Wenn  zuerst  M  =  a  x  -{-  h  x'  ist,  so 
erhält  man  offenbar  den  Werth  der  rechten  Seite  wieder,  wenn  man 
erst  das  erste  Glied  unterdrückt  und  das  zweite  bestehen  läßt,  dann 
das  zweite  unterdrückt  und  das  erste  bestehen  läßt,  endlich  die 
beiden  bestehen  gelassenen  wieder  addirt:  ax -|- bx'=  ax -j- 0-bx' 
-f- bx'-[- 0-ax;  natürlich  sind  dann  die  Coefficienten  durch  /(l)  und 
/  (0)  ausdrückbar  und  a  x  -f-  b  x'=  /  (1)  x  -j-  /  (0)  x'.  Sei  nun  die  Func- 
tion /"(x, y)  =  ax-f-by  gegeben  und  ihre  Entwicklung  nach  den  Glie- 
dern X  y,  X  y',  x'y  und  x'y'  verlangt,  und  sehen  wir  femer,  um  zu  wissen 
wovon  wir  sprechen,  /  (x,  y)  sogleich  als  ein  bestimmtes  M  an,  dessen 
Definition  oder  Umfangsangabe  die  rechte  Seite  der  Gleichung  ent- 
hält. Es  ist  dann,  innerhalb  dieses  M,  die  Combination  xy  in  drei 
Fällen  möglich,  nämlich  für  diejenigen  ax,  welche  zugleich  y,  für 
diejenigen  by,  welche  zugleich  x,  und  für  diejenigen  ax,  welche  zu- 
gleich völlig  b  y  oder  die  b  y,  die  zugleich  völlig  a  x  sind ;  denn  keine 
dieser  Combinationen  ist  durch  die  rechte  Seite  der  Gleichung  aus- 
drücklich ausgeschlossen.  Man  würde  also  haben  axy,  bxy,  abxy; 
da  jedoch  die  ab  logisch  ohnehin  schon  sowohl  unter  a  als  unter  b 
enthalten  sind,  so  reicht  es  hin  a  -|-  b  als  Coefficienten  von  x  y  auf- 
zuführen und  allerdings  ist  a-|-b  =  /(l,  1),  gleich  dem  Werthe  der 
rechten  Seite  für  xr=l,  y  =  1.  Das  zweite  Glied  der  Entwicklung 
würde  xy'  enthalten;  die  Gleichung  lehrt,  daß  wenn  wir  by  unter- 
drücken, welches  niemals  mit  y'  combinirt  werden  kann,  es  innerhalb 
des  Umfangs  von  M  kein  anderes  y'  oder  Non  y  geben  kann,  als  ax; 
folglich  ist  a  der  Coefficient  von  xy'  und  a  ist  allerdings  =  f{l,  0).  Eben 
so  folgt,  daß  innerhalb  M  kein  anderes  x'  oder  Non  x  möglich  ist, 
als  by;  folglich  ist  bx'y  das  dritte  Glied,  und  b  allerdings  =  f  (0,  1). 
Endlich  lehrt  die  Gleichung,  daß  der  Umfang  von  M  durch  ax  und 
by  völlig  erschöpft  ist  und  Nichts  enthält,  was  weder«  x  noch  y  wäre; 
mithin  ist  0  der  Coefficient  von  x'y',  und  er  ist  wieder  =f{0,0). 

Rechtfertigen  ließe  sich  daher  aus  blos  logischen  Ueberlegungen 
die  aufgestellte  Formel  der  Functionsentwicklung  allerdings,  und  ich 
würde  versuchen,  dies  allgemeiner  zu  beweisen,  weim  mir  deutlicher 
wäre,  wozu  dies  ganze  Verfahren  dienen  soll.  Die  nächsten  Beispiele, 
die  Boole  anführt,  können  nur  als  Uebungsexempel  angesehen  werden. 
Wenn  die  reinen  Thiere  x  nach  jüdischem  Gesetz  diejenigen  sind, 
welche  den  Huf  spalten  y  und  wiederkäuen  z,  und  di©  Entwicklung 
lehrt  uns  nun,  es  gebe  keine  reinen  Thiere,  die  zwar  den  Huf  spalten 
aber  nicht  wiederkäuen,  keine,  die  zwar  wiederkäuen  aber  nicht  den 
Hui  spalten,  keine  reinen  Thiere  ferner,  die  weder  das  eine  noch  das 
andere  thun,  endlich  keine  Thiere,  die  beides  thun  ohne  doch  rein 
zu  sein ;  so  bezweifle  ich  die  Häufigkeit  des  logischen  Wunsches,  diese 
Folgerungen  des  Gegebenen  zu  erfahren,  hat  man  aber  das  Bedürfniß, 
so  ist  es  ohne  Zweifel  ohne  Calcül  leichter  zu  befriedigen  als  mit 
ihm.  Aber  zwei  andere  Aufgaben  hofft  Boole  durch  diese  Formu- 
lirungen zu  lösen ;  zuerst,  wenn  eine  Anzahl  Elemente  irgendwie , 
verbunden  gegeben  sind,  soll  die  Gleichung,  welche  diese  Verbindung 
ausspricht,  nach  jedem  beliebigen  der  darin  erhaltenen  Elemente 
aufgelöst,    und    dann    jedes    beliebige    aus    der    Gleichung    eliminirt 


264  Drittes  Kapitel. 

werden  können,  um  die  Verhältnisse  der  übrigen  zu  einander  bloß- 
zulegen. 

In  Bezug  auf  die  erste  Aufgabe  kann  ich  nur  bedauern,  daß 
Boole  sich  rücksichtslos  seinem  Grundsatz  überläßt,  alle  Rechnungs- 
operationen sich  zu  erlauben,  sobald  das  Resultat  nur  logisch  deutbar 
wird.  Wenn  der  Satz:  alle  Menschen  y  sind  sterblich  x,  gegeben  ist,  so  con- 
traponirt  er  ihn  in:  Kein  Mensch  ist  unsterblich:  yx'=  0.  Da  aber  x'-j-  x 
=  1,  also  x'=  1  —  X,  so  wird  y  (1  —  x)  =  0  oder  y  —  xy  =  0,  xy  =  y; 

V  y 

und  nun  weiter  x  =  —  und   durch    Entwicklung   von  —   erhält  man: 

y  y 

X  =  y  -|-  —  (1  —  y)  oder  =  y  -j-  —  y';  dies  aber  heiße,  indem  die  mathe- 
matische Bedeutung  des  Symbols  ^  eingeführt    wird:    Das   Sterbliche 

schließt  ein  alle  Menschen  und  eine  unbestimmte  Menge  dessen,  was 
Nicht  Mensch  ist.  Ergebnisse,  die  nur  auf  so  unverantwortlichen 
Wegen  erhaltbar  wären,  würden  sicher  keine  Erweiterung  der  Logik 
bilden.  Zudem  waren  diese  Künste  hier  nicht  einmal  nöthig.  Denn 
nicht  die  contraponirte  Form  y  (1  —  x)  =  0,  sondern  die  ursprüngliche 
y  =  X  war  mit  der  Vorsicht  hier  zu  brauchen,  x  sogleich,  mit  einem 
particularisirenden  Factor  v  zu  versehen,  ymvx;  denn  nur  dies,  und 
gar  nichts  anderes,  meint  der  Satz:  alle  Menschen  sind  sterblich; 
er  faßt  nur  y  als  untergeordnet  dem  x,  in  dessen.  Umfang  es  dann 
noch  anderes  gibt.  Es  versteht  sich  nun  von  selbst,  und,  es  hat  gar 
keinen  Sinn,  eben  dies,  was  man  voraussetzt,  noch  einmal  zu  er- 
rechnen, nämlich,  daß  x  außer  den  vx,  welche  y  sind,  noch  eine 
üichtbestimmbare  Anzahl  w  von  Arten  umfaßt,  welche  nicht  y  sind, 
also  daß  x  ^  y  -f-  wy'. 

In  Bezug  auf  das  Eliminationsverfahren  begnüge  ich  mich  mit 
einem  Beispiele.  Jede  logische  Gleichung  kann  durch  Contraposition 
des  durch  sie  ausgedrückten  bejahenden  Urtheils  auf  0  gebracht 
werden;  denn  Nichts  anderes  als:  kein  x  ist  z,  bedeutet  die  Gleichung 
xz  =  0.  Ich  lasse  nun  dahin  gestellt,  was  über  das  Verfahren  ge- 
lehrt wird,  alle  gegebenen  Einzelurtheile  oder  Gleichungen  in  eine 
einzige  resultirende  Gleichung  zusammenzuziehen  und  unterdrücke  die 
Bedenken,  die  ich  gegen  die  Nothwendigkeit  oder  Ersprießlichkeit 
dieser  Operation  hege.  Gesetzt  aber,  es  sei  die  Gleichung  so  ge- 
ordnet gegeben :  p  a  b  -|-  q  a  b'-j-  r  a'b  -{-  s  a'b'=:  0,  so  wird  als  Resultat 
der  gleichzeitigen  Elimination  von  a  und  b  das  Product  der  Coeffi- 
cienten  pqrs  =  0  angegeben.  Man  versteht  dies  leicht  durch  die 
gewöhnlichen  Mittel  der  Logik.  Denn  logisch  kann  diese  Gleichung 
nur  Null  sein,  wenn  jedes  ihrer  Glieder  einzeln  =0  ist.  Dann  sagt 
pab  =  0:  kein  pa  ist  b;  aber  qab'=0  gibt  contraponirt :  alle  qa 
sind  b;  folglich  nach  Cesare:  kein  qa  ist  pa;  oder  pqa=:0  und 
hieraus:  kein  pq  ist  a  oder  contraponirt:  alle  pq  sind  a'.  Ferner 
gibt  ra'b  =  0:  kein  ra'  ist  b;  aber  sa'b'=0  contraponirt:  alle  sa' 
sind  b;  folglich  nach  Cesare:  kein  s a' ist  r a' oder  s r a' =  0,  oder : 
kein  rs  ist  a'.  Ordnen  wir  dem  ersten  Schlußsatze:  alle  pq  sind  a', 
den  zweiten  unter:  kein  rs   ist  a',   so   folgt  nach  derselben  Figur: 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  265 

Keiif  r  s  ist  p  q  oder  p  q  r  s  =  0.  Man  bemerkt  leicht,  daß  dann,  wenn 
eine  ebenso  geordnete  auf  Null  gebrachte  Gleichung  außer  a,  b  und 
a',  b'  noch  andere  Paare  solcher  Gegensätze  c,  c'  enthält,  die  Eli- 
mination auf  demselben  Wege  fortgesetzt  werden  kann,  aber  aller- 
dings ist,  für  solche  Fälle,  die  abgekürzte  Regel  dankenswerth,  das 
Resultat  der  Elimination  bestehe  aus  dem  gleich  Null  zu  setzenden 
Producte  der  Coefficienten;  hätte  außerdem  die  Gleichung  ein  von  den 
zu  eliminirenden  Paaren  unabhängiges  Glied  z  =  0  enthalten,  so  würde 
dies  unverändert  fortbestehen,  also  dem  vorigen  so  hinzugefügt  wer- 
den können,  daß  in  pqrs-{-z  =  0  jedes  der  beiden  Glieder  für,  sich 
1=0  bleibt.  Schröder  bemerkt  hierbei  S.  23  seiner  Schrift,  die  Er- 
gebnisse der  Elimination  eines  Symbols  a  aus  mehreren  getrennten 
Gleichungen  seien  weniger  umfassend  als  die  der  Elimination  aus 
der  vereinigten  Endgleichung;  xa-j-ya'=0  und  pa-4-qa'=0  geben 
gesondert  nur  x  y  ==:  0  und  p  q  =  0 ;  die  vereinigte  Gleichung  dagegen : 
xy-}-qx-|-py4"Pq  =  0;  deshalb  sei  die  letztere  Geschäftsordnung 
vorzuziehen.  Schafft  man  sich  hier  nicht  künstlich  kleine  Schwierig- 
keiten eben  durch  die  Geschäftsordnung,  die  zul«tzt  auf  die  Ent- 
wicklung der  Functionen  zurückläuft?  Warum  vereinigt  man  die  vier 
Glieder  xar=0,  ya'=:0,  pa=:0  und  qa'=0,  die  doch  für  sich 
gelten  müssen,  in  zwei  Gleichungen  und  betrachtet  sie  nicht  eben  als 
vier  beliebig  zu  benutzende?  Dann  fände  man  ja  ohne  Schwierigkeit 
alle  Eliminationsresultate,  an  deren  Aufsuchung  man  ein  Interesse  hätte. 
Ich  behaupte  nicht,  daß  in  allen  oder  in  verwickeiteren  Fällen 
dasselbe  syllogistische  Verfahren  zum  Ziele  führen  würde.  Allein  wenn 
Boole  selbst  einschärft,  man  müsse  sorgsam  zergliedern,  was  man  in 
jedem  Falle  meine,  ehe  man  das  Gemeinte  in  die  Sprache  der  Symbole 
übersetze,  so  glaube  ich  allerdings,  daß  die  Erfüllung  dieser  Vor- 
bedingung uns  des  ganzen  Calcüls  überheben,  und  daß  die  Logik  reich 
genug  sein  würde,  um  für  besondere  Aufgaben  auch  die  Hülfsmittel 
der  Lösung  erfinden  zu  lassen,  selbst  wenn  diese  nicht  stereotyp  vorher 
festgesetzt  wären.  Ich  erwähne  in  dieser  Beziehung  eine  Aufgabe,  die. 
Boole  stellt  und  die  auch  Schröder  wiederholt. 

Es  werde  angenommen,  man  wisse  aus  einer  Bearbeitung  von 
Erfahrungen,  daß  in  einer  Klasse  von  Natur-  oder  Kunsterzougnissen 
die  Combinationen  der  Merkmale  abcde  folgenden  Regeln  dergestalt 
unterliegen,  daß  nicht  blos  das  Vorkommen,  sondei^  auch  das  Nicht- 
vorkommen  jedes  einzelnen  Merkmals  zu  den  Bedingungen  gehört,  aus 
denen  auf  Dasein  oder  Nichtdasein  der  übrigen  geschlossen  w^erden  muß. 

1.  überall  wo  a  und  c  gleichzeitig  fehlen,  ist  e  vorhanden  und 
zwar  mit  b  oder  d,  aber  nicht  zugleich  mit  beiden; 

2.  wo  a  und  d  vorkommen,  e  jedoch  nicht,  sind  stets  b  und  c 
entweder  zugleich  vorhanden  oder  fehlen  zugleich; 

3.  überall  wo  a  mit  b  oder  e  oder  mit  beiden  zugleich  vorkommt, 
ist  zugleich  c  oder  d  da,  jedoch  nicht  beide   zusammen; 

4.  umgekehrt:  wo  von  c  und  d  das  eine  oder  das  andere  vor- 
kommt, findet  sich  a  mit  e  oder  b  oder  mit  beiden  zusammen. 


266  Drittes  Kapitel. 

Man  verlange  nun  zu  wissen:  • 

1.  was  aus  der  Gegenwart  von  a  in  Bezug  auf  b  c  und  d  ge- 
folgert werden  kann; 

2.  ob  und  welche  Beziehungen  zwischen  b  c  und  d  unabhängig 
von  den  übrigen  Merkmalen  bestehen; 

3.  was  aus  dem  Vorhandensein  von  b  in  Bezug  auf  a  c  und  d,  und 

4.  was  für  a  c  d  an  sich  folgt. 

Boole  sieht  voraus,  kein  Logiker  werde  auf  syllogistischem  Wege 
hierauf  die  richtigen  Antworten  finden,  ohne  sie  vorher  gekannt  zu 
haben;  ich  gebe  dies  völlig  zu;  allein  wer  würde  diesem  Problem 
gegenüber  versucht  sein,  diesen  Weg  zu  wählen,  da  der  passendere 
sich  ganz  von  selbst  darbietet?  Wir  haben  nur  alle  Combinationen  zu 
fünf,  die  sich  aus  a  b  c  d  e  und  a'b'c'd'e'  mit  Vermeidung  der  Wieder- 
holungen und  des  gleichzeitigen  Vorkommens  contradictorischer  Ele- 
mente bilden  lassen,  ganz  mechanisch  zu  verzeichnen  und  dann,  oder 
gleich  während  des  Verzeichnens  diejenigen  zu  unterdrücken,  welche 
durch  die  Gesammtheit  der  gegebenen  Bedingungen  ausgeschlossen 
sind.    Es  bleiben  nur  11  Combinationen: 

abcd'e  ab'cd'e  a'bcde  a'b'cde 

abcd'e'  ab'c'de  a'bcde'  a'b'cde' 

abc'de  ab'c'd'e'  a'bc'd'e 

Man  liest  aus  ihnen  die  Beantwortung  der  gestellten  Fragen  ab :  1.  aus 
der  Gegenwart  von  a  ist  zu  schließen,  daß  entweder  c  oder  d,  jedoch 
nicht  beide  zusammen,  da  sind,  oder  daß  b  c  und  d  zusammen  fehlen; 

2.  zwischen  b  c  und  d  findet  keine  unabhängige  Relation  statt,  denn 
alle  denkbaren  Combinationen  derselben  mit  b'c'd'  sind  gleich  gültig; 

3.  aus  dem  Vorhandensein  von  b  folgt,  daß  entweder  a  c  und  d  zu* 
gleich  fehlen,  oder  nur  eines  von  ihnen  fehlt;  4.  wenn  a  und  c'  beide 
vorhanden  sind  oder  beide  fehlen,  so  ist  d  nicht  möglich.  Außerdem 
würden  ähnliche  Fragen  in  Bezug  auf  e,  welche  nicht  gestellt  sind, 
sich  aus  derselben  Uebersicht  ergeben,  ohne  besondere  Arbeit  nöthig 
zu  machen. 

Ich  entlehne,  dem  gegenüber,  der  Schrift  Schröder's  wenigstens 
den  Anfang  der  Auflösung  durch  Rechnung,  nicht  sowohl  um  zu 
zeigen,  daß  diese,  wenn  alle  Zwischenglieder  wirklich  hergestellt 
werden,  sich  keineswegs  durch  Kürze  auszeichnet,  sondern  hauptsäch- 
lich, um  überhaupt  den  Gebrauch  des  Calcüls  an  einem  Beispiele  zu 
erläutern,  das  doch  eine  wirkliche  Aufgabe  enthält  und  nicht  blos 
rückwärts  das  Bekannte  in  schwerfällige  Formeln  einkleidet. 

Wenn  man  die  positiven  Aussagen,  welche  die  gegebenen  Be- 
dingungen über  die  möglichen  Combinationen  machen,  contraponirt, 
mithin  sie  als  Gleichungen  auf  Null  bringt,  so  erhält  man 

aus  1.    a'c'[e'+bd  +  b'd']  =  0 

aus  2.    ad[bc'+b'c]e'=0 

aus  3.   a  [b  4-  ej  [cd  +  c'd'J  -f  [cd'+  c'd]  [a'+  b'e']  =  0. 

Da  nun  die  Fragen  von  e  und  e'  nichts  wissen  wollen,  so  ist  zuerst 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  267 

die  für  uns  überflüssig  gewesene  Elimination  dieses  Gegensatzpaares 
auszuführen.  Nach  dem  Früheren  besteht  ihr  Resultat  aus  der  gleich 
Null  gesetzten  Summe  der  von  e  und  e'  freien  Bestandtheile  der 
Gleichungen  und  des  Productes  der  Coefficienten  von  e  und  e'.  Nun 
ist  zuerst  der  Coefficient  von  e  in  3.  r=:  a  (c  d  -j-  C  d')  und  der  von  e' 
in  1.  2.  und  3.  =  a'c'  + ad  [bc'-fb'c]  +  b' [cd'-f  c'd];  das  Product 
beider  wird  nach  Beachtung  der  früher  erwähnten  Regeln  =  ab'cd  und 
mit  Zufügung  der  von  e  und  e'  freien  Glieder,  welche  =:a'c'[bd-j-b'd'] 
-|-ab  [cd-|-c'd'] -[-a'[cd'-t-c'd]  sind,  wird  das  ganze  Eliminations- 
resultat zusammenzuziehen  sein  in: 

a  [cd  -f  bc'd']  +  a'[cd'-f-  c'd  -f  Vc'd']  =  0. 

Um  nun  hieraus  zunächst  die  zweite  Frage  nach  den  Relationen 
zwischen  b  c  und  d  zu  beantworten,  müßten  wir  a  und  a'  eliminiren; 
das  hierzu  erforderliche  Product  ihrer  Coefficienten  ist  aber  =  0,  da 
jedes  entstehende  Einzelproduct  wegen  der  Combination  contradicto- 
rischer  Elemente  für  sich  zu  Null  wird;  das  Resultat  ist  also  0  =  0 
und  dies  müssen  wir  uns  als  Zeichen  dafür  genügen  lassen,  daß 
keine  unabhängige  Relation  zwischen  diesen  drei  Merkmalen  statt- 
findet. Man  sieht  jedoch  zugleich,  daß,  wenn  wir  p  den  Coefficienten 
von  a  nennen,  der  von  a'  zu  Non  p  oder  p'  wird;  wir  habe»  daher 
aus  a  p  -}-  a'  p'  =  0  die  beiden  Gleichungen  :  a  p  =  0  oder  kein  a  ist 
p  und  a'p'  =  0,  kein  Non  a  ist  Non  p;  die  erste  gibt  sogleich:  alle 
a  sind  Non  p  oder  p' ;  mithin  a  =  c  d'-\-  c'  d  +  b'  c'  d',  woraus  die 
erste   Frage   zu  beantworten  ist. 

Ich  unterlasse  die  Fortsetzung,  welche  nöthig  wäre,  um  auch  der 
dritten  und  vierten  Frage  zu  genügen,  und  bemerke  nur,  daß  für 
diese  ganze  Aufgabe  jene  Entwicklung  von  Functionen  gar  nicht  in 
Anspruch  genommen  ist,  über  deren  Wichtigkeit  ich  schon  oben  meinen 
Zweifel  aussprach;  unmittelbar  aus  den  vorliegenden  Aussagen  wurden 
die  zu  benutzenden  Gleichungen  gewonnen  und  die  Eliminationen  aus 
ihnen  erfolgten  nach  einer  Methode,  deren  Ursprung  aus  Schlüssen 
nach  der  zweiten  Figur  uns  begreiflich  war.  Gegen  die  Triftigkeit  dieses 
Verfahrens  ist  daher  nichts  einzuwenden;  aber  ebenso  wenig  gegen 
die  größere  Einfachheit  und  Anschaulichkeit  des  von  uns  innegehal- 
tenen, welches,  nebenbei  bemerkt,  nicht  erst  von  Jevons  entdeckt 
zu  werden  brauchte,  sondern  in  der  Anweisung  zu  Classicationen  vor- 
lag, die  längst  zuerst  die  combinatorische  Zusammenstellung  der 
Mtjrkmale  und  dann  die  Streichung  der  Combinationen  verlangte, 
welche  durch  die  nun  zu  berücksichtigende  gegenseitige  Determination 
der  Merkmale  unzulässig  wurden.  Ich  kann  mich  daher  von  den  Vor- 
theilen  nicht  überzeugen,  welche  aus  dem  Versuche  entspringen  wür- 
den, alle  jene  Veranschaulichung s-  und  Abkürzungsmittel,  auf  welche 
im  gegebenen  Falle  Jeder  von  selbst  verfällt,  und  die  er  bald  so  in 
Uebereinstimmung  mit  der  vorliegenden  Aufgabe  anwendet,  zu  einem 
festen  logischen  Calcül  zu  systematisiren.  Es  wird  nicht  zu  vermeiden 
sein,  daß  eine  Methode  der  Symbolisirung,  die  für  Alles  gleichartig 
sorgen  will,  ihre  Bequemlichkeit  für  die  Lösung  einer  Aufgabe  durch 
unnütze  Weitläufigkeit  in  der  Bearbeitung  anderer  und  durch  man- 
cherlei Zwiespalt  mit  dem  Sprachgebrauche  erkauft. 


268  Drittes  Kapitel. 

Schon  die  quantitative  Bestimmung  des  Prädicats  im  Urtheile, 
von  welcher  die  neuere  englische  Logik  ausging,  war  keine  neue  Ent- 
deckung, sondern  die  überflüssige  Aufbauschung  eines  bekannten  Ge- 
dankens zu  übertriebener  Wichtigkeit.  Daß  das  Prädicat  im  Urtheil, 
die  reciprocablen  ausgenommen,  größeren  Umfang  hat  als  das  Sub- 
ject,  das  eben  in  diesen  Umfang  eingeordnet  wird,  daß  also  nicht  blos 
das  Prädicat  das  Subject  determinirt,  sondern  auch  dieses  das  Prä- 
dicat auf  diejenige  Modification  einschränkt,  die  ihm,  dem  Subjecte 
zukommt,  waren  alte  Lehren  der  Logik  und  in  ihren  Umkehrungs- 
regeln hatte  sie  auch  für  die  Anwendung  derselben  gesorgt.  Daß  diese 
Wahrheit  in  den  Schematen  der  Urtheile  ebenso  wenig  wie  in  der 
gewöhnlichen  sprachlichen  Form  der  Sätze  besonders  ausgedrückt 
wurde,  was  schadete  das,  wenn  man  die  Sache  wußte?  hat  dieser 
Mangel  jemals  einen  besonnenen  Denker  zum  Irrthum  verführt?  und 
mußte  man,  um  solche  Kleinigkeiten  zu  bessern,  gleich  zu  so  gefähr- 
lichen Anstalten  greifen,  den  natürlichen  Ausdruck  der  Gedanken  an 
eine  neue  Symbolisirung  und  einen  neuen  Calcül  zu  knüpfen?  Wenn 
man  den  Satz :  alle  Menschen  sind  sterblich,  durch  y  =  v  x  ausdrückte, 
so  wäre  ein  reeller  Gewinn  nur  gewesen,  wenn  man  nun  Mittel  gehabt 
hätte,  dieses  v  zu  bestinmien ;  so  lange  es  ein  unbestimmter  Coefficient 
bleibt,  ist  es  eine  wirkungslose  Bezeichnung  dessen,  was  wir  vorher 
wußten.  In  der  Umkehrung  des  Urtheils :  einiges  Sterbliche  ist  Mensch, 
würde  diese  unbestimmte  Particularität  auch  nach  der  alten  Logik 
weder  besser  noch  schlechter  als  vermittelst  jenes  v  zum  Ausdruck 
gekommen  sein;  nimmt  man  aber  an  dem  „Einiges"  Anstoß,  so  war 
er  leicht  durch  die  Betrachtung  zu  entfernen,  daß  solche  unbestimmt 
particulare  Urtheile  zugleich  Formen  der  Modalität  sind,  und  die  Mög- 
lichkeit einer  Verknüpfung  ihres  Prädicats  mit  dem  Allgemeinbegriffe 
ihres  Subjects  aussprechen,  indem  sie  diese  Verknüpfung  für  einige 
aber  nicht  für  alle  Exemplare  dieses  Begriffs  asseriren. 

Zu  dieser  Bemerkung  regt  unter  andern  eine  Stelle  von  Jevons 
an  (Principles  of  Science,  London  1877,  Seite  59) :  er  bildet  zwei 
Prämissen:  Natrium  =  Natriummetall  und  Natrium  =  auf  Wasser 
schwimmendem  Natrium;  zu  dem  daraus  gezogenen  Schlüsse:  Natrium- 
metall ==z  auf  dem  Wasser  schwimmendem  Natrium,  fügt  er  die  Be- 
merkung hinzu:  „dies  ist  nun  wirklich  ein  Schluß  nach  Darapti  der 
dritten  Figur,  nur  daß  wir  eine  Conclusion  von  exacterem  Charakter 
erhalten  haben,  als  nach  dem  „alten"  Syllogismus  möglich  ist.  Aus 
jenen  Prämissen  würde  Aristoteles  gefolgert  haben:  einiges  Metall 
schwimmt  auf  Wasser;  wenn  man  aber  fragte,  welche  Metalle  dies 
wären,  würde  er  haben  antworten  müssen:  das  Natrium.  Mithin  ent- 
hält des  Aristoteles  Schluß  einen  Theil  der  Wahrheit  nicht,  den  die 
Prämissen  darbieten  und  behütet  uns  nicht  davor,  jenes  „einiges 
Metall"  in  weiterem  Sinne  zu  verstehen,  als  erlaubt  ist.  Von  diesen 
deutlichen  Fehlern  des  alten  Syllogismus  ist  unser  Schluß  frei  und 
man  kann  ihm  höchstens  den  Vorwurf  machen  of  being  tediously 
minute  and  accurate."  0  nein,  höchstens  das  tediously  könnte  man 
bejahen;  außerdem  wird  Aristoteles  Recht  behalten.  Denn  das  ganze 
Verfahren  von  Jevons  ist  eben  nur  die  Wiederholung  oder  höchstens 
die  Summirung   seiner  beiden  Prämissen;  in  einer  solchen  aber,  die 


Anmerkung  über  logischen  Calcül.  269 

bei  dem  gegebenen  Thatbestande  einfach  bleibt,  hat  man  nie  einen 
Schluß  gesehen,  sondern  nur  in  einer  Gedankenbewegung,  die  das 
Gegebene  benutzt,  um  darüber  hinauszugehen.  Die  hier  vor- 
geschlagene Zusammenstellung  von  Worten  ist  daher  überhaupt 
kein  Schluß  und  folglich  auch  keiner  in  Darapti;  wenn  Aristoteles 
den  seinigen  bildete,  so  sagte  er  damit:  das  Vorkommen  des  auf 
dem  Wasser  schwimmenden  Metalls  Natrium  beweist,  daß  die 
Eigenschaft  solcher  Leichtigkeit  mit  dem  Character  des  Metalls 
im  Allgemeinen  nicht  unvereinbar  ist;  drückte  er  dies  aus  durch: 
einiges  Metall  ist  schwimmbar,  so  wollte  er  natürlich  niciht  die 
Prämissen  wiederholen,  die  man  ohnehin  wußte,  sondern  die  Mög- 
lichkeit einer  allgemeinen  Verbreitung  dieser  Eigenschaft  unter 
den  Metallen  aussprechen  als  eine  Vermuthung,  deren  factiscihe 
Richtigkeit  man  weiter  zu  prüfen  Veranlassung  hat,  weil  sie 
logisch  nicht  undenkbar  ist.  Selbst  der  Ausdruck:  einiges  Metall, 
ist  im  Grunde  ganz  richtig,  denn  gewiß  ist  Natrium  einiges  Metall; 
zugleich  an  andere  Metalle  zu  denken  befiehlt  dieser  Ausdruck 
gar  nicht;  daß  er  es  aber  nicht  auch  verbietet,  ist  eben  so  richtig 
und   hat   keinen   Irrthum  zur   nothwendigen   Folge. 

Wie  oft  haben  solche  moderne  Unternehmungen  schon  den 
Anbruch  einer  ganz  neuen  Epoche  für  die  Logik  und  den  Untergang 
der  verächtlichen  alten  verkündigt!  Ich  bin  überzeugt:  wenn  nun 
wirklich  einige  Menschenalter  hindurch  die  alte  Logik  ganz  ver- 
gessen wäre,  dann  aber  von  einem  Glücklichen  wieder  entdeckt 
würde,  so  würde  man  in  ihr  den  so  lange  gesuchten,  nun  endlich 
gefundenen,  naturgemäßen  Gang  des  Denkens  begrüßen,  aus  wel- 
chem die  Sonderbarkeiten  und  zugleich  die  dennoch  in  gewissem 
Maße  vorhandene  Triftigkeit  der  logischen  Rechnungen  begreiflich 
würde,  mit  denen  man  sich  bis  dahin  beholfen  hätte. 


Viertes  Kapitel. 

Die  Formen  des  Beweises. 

199.  Die  verschiedenen  Formen  der  Urtheile  hatte  die 
systematische  Logik  aufzuführen  und  die  bestimmte  Art 
der  Verknüpfung  zu  zeigen,  welche  zwischen  S  und  P  in 
jeder  derselben  als  vorhandene  oder  als  zu  vollziehende 
gedacht  wurde;  die  angewandte  Logik  hat  zu  überlegen, 
welche  Inhalte  S  und  P  mit  Recht  in  einer  dieser  Ver- 
knüpfungsformen verbunden  werden  können.  Verschiedene 
Aufgaben,  die  wir  nicht  immer  trennen  werden,  fallen  in 
diese  Richtung.  Hauptsächlich  Mittheilung  fremder  Ge- 
danken überliefert  uns  zahlreiche  Sätze  von  der  Form: 
S  ist  P,  deren  Sinn  und  Inhalt  vollständig  bestimmt,  deren 
Gültigkeit   jedoch  fraglich   ist;   dann   entsteht  für  uns    die 


270  Viertes  Kapitel. 

Aufgabe  eines  Beweises  für  den  gegebenen  Satz  T; 
eigene  Beobachtungen  führen  uns  anderseits  auf  die  Ver- 
muthung,  zwischen  zwei  Inhalten  S  und  P  müsse  eine 
Beziehung  obwalten,  die,  wenn  sie  bekannt  wäre,  sich 
durch  ein  Urtheil  der  Form:  S  ist  P,  würde  ausdrücken 
lassen  müssen;  dann  entspringt  für  uns  die  Forderung  der 
Erfindung  des  noch  nicht  bekannten  Satzes  T,  der  den 
genauen  Ausdruck  dieser  vorausgesetzten  Beziehung  bilden 
würde.  Beide  Leistungen,  Beweis  und  Erfindung,  unter- 
scheiden sich  nur  durch  abweichende  Handhabung  derselben 
logischen  Mittel.  Die  nämlichen  Gedankenverbindungen, 
durch  welche  Wahrheit  oder  Wahrscheinlichkeit  eines 
Satzes  T  zuerst  gefunden  worden  sind,  lassen  sich  theils 
in  etwas  veränderter  Fassung,  theils  selbst  ohne  solche 
Umformung  immer  auch  zum  Beweise  der  Wahrheit  oder 
Wahrscheinlichkeit  eines  gegebenen  T  verwenden.  Auch 
bemerkt  man  sogleich,  daß  das  erfinderische  Nachsinnen, 
um  sein  Ziel  nicht  zu  verfehlen,  allerhand  kleiner 
Zwischenglieder  von  der  Form  des  Beweises  bedarf;  um- 
gekehrt wird  dieser,  gleichfalls  um  sein  Ziel  zu  erreichen, 
einer  erfinderischen  Gedankenbewegung  nicht  entbehren 
können.  Gleichwohl  reicht  im  Ganzen  die  Erfindung  weiter 
als  der  Beweis;  ich  trenne  deshalb,  ohne  indessen  bei 
jeder  Gelegenheit  ihre  natürliche  Vermischung  zu  ver- 
meiden, beide  Aufgaben.  Wissenschaftliche  Untersuchungen 
führen  auf  beide  ziemlich  gleichmäßig;  die  Bedürfnisse 
des  Lebens  häufiger  auf  die  Erfindung.  Aber  ich  habe 
Grund,  meinen  nächsten  Gegenstand  noch  weiter  zu  theilen 
und  den  Beweis  für  allgemeine  Sätze  von  dem  für  parti- 
culare  oder  singulare  zu  trennen.  Eine  allgemeine  Be- 
ziehung zwischen  S  und  P  wird  sich  allerdings  selten  fest- 
stellen lassen,  ohne  von  Erkenntnissen  Gebrauch  zu  machen, 
welche  die  Erfahrung  geliefert  hat;  aber  da  diese  Er- 
kenntnisse, um  zu  allgemeinen  Folgerungen  zu  führen, 
selbst  allgemeine  Geltung  besitzen  müssen,  so  kann  man 
sie  als  solche  ansehen,  die,  früher  allerdings  aus  Er- 
fahrungen gewonnen,  doch  jetzt,  nachdem  man  sie  mit 
dem  Zutrauen  zu  ihrer  Allgemeingültigkeit  besitzt,  zu  den 
eigenen  Hülfsmitteln  des  Denkens  zu  rechnen  sind.  Der 
Beweis  einzelner  Thatsachen  dagegen,  geschichtlicher  Er- 
eignisse oder  gewöhnlicher  Begebenheiten  des  Lebens,  kann 
nie  aus  allgemeinen  Sätzen  allein  fließen,  auch  aus  solchen 
nicht,  die  selbst  der  Erfahrung  entlehnt  sind;  er  setzt  die 
Kenntniß   einer  Menge   von   Einzel  umständen   voraus,   die 


Die  Formen  des  Beweises.  271 

nur  hier  vorkamen  und  nur  hier  sich  in  dieser  bestimmten 
Weise  verbanden.  Die  vorgängige  Ermittlung  aller  dieser 
Bedingungen,  aus  denen  zu  schließen  ist,  erfordert  eigen- 
thümliche  Hülfsmittel,  deren  Betrachtung  später  folgen  wird. 
Die  Auflösung  gestellter  Aufgaben  dagegen,  auch  wenn  sie 
nicht  einen  allgemeinen  Satz,  sondern  ein  ganz  singulares 
Ergebniß  liefern  sollen,  läßt  sich  mit  dem  Beweise  all- 
gemeiner Sätze  verknüpfen;  unter  den  Bedingungen,  die 
hier  nicht  gesucht  zu  werden  brauchen,  sondern  gegeben 
sind,  und  so  weit  sie  gegeben  sind,  ist  der  bestimmte  Satz  T, 
welcher  sie  alle  erfüllt,  immer  durch  die  allgemeinen  Mittel 
des  Denkens  zu  finden,  und  diese  theoretischen  Ergebnisse 
sind  nur  insoweit  ungenau  und  in  praktischer  Anwendung 
einer  Verbesserung  bedürftig,  als  es  eben  nicht  gelungen 
war,  alle  jene  Bedingungen  anzugeben,  denen  T  genügen 
sollte. 

200.  Jeder  Beweis  ist  ein  Schluß  oder  eine  Schlußkette, 
welche  zu  dem  gegebenen  Satze  T  die  Prämissen  ergänzt, 
aus  deren  Ineinandergreifen  T  als  denknothwendige  Fol- 
gerung hervorgeht.  Die  Gültigkeit  jeder  Folgerung  aber 
hängt  ab  von  der  Gültigkeit  ihrer  Prämissen;  auch  diese 
würde  sich  durch  neue  Beweise  feststellen  lassen,  nur 
würde  dies  Verfahren  sich  fruchtlos  ins  Unendliche  fort- 
setzen, wenn  es  nicht  irgend  eine  Anzahl  allgemeiner  Sätze 
gäbe,  deren  Gültigkeit  für  uns  unmittelbar  feststeht,  die 
daher  eines  Beweises  weder  bedürftig  noch  fähig  sind, 
vielmehr  selbst  die  letzten  Entscheidungsgründe  bilden,  nach 
denen  sich  Triftigkeit  oder  Untriftigkeit  jeder  einzelnen 
Folgerung  aus  ihren  Prämissen  beurtheilen  läßt.  Ich  er- 
örtere hier  noch  nicht  die  Frage,  woher  unserem  Denken 
der  Besitz  so  unmittelbar  gewisser  Wahrheiten  kommen 
mag;  nur  die  Frage  nach  dem  Kennzeichen  geht  uns  hier 
an,  das  uns  berechtigt,  einen  Satz  T  zu  der  Reihe  dieser 
Axiome  zu  rechnen,  deren  Zugeständniß  man  von  jedem 
gesunden  Denken  glaubt  fordern  zu  können.  Nun  ist  be- 
greiflich, daß  dies  Kennzeichen,  eben  weil  jeder  Beweis 
eines  Axioms  unmöglich  ist,  zuletzt  nur  in  der  Evidenz,, 
in  der  unmittelbaren  Klarheit  und  Gewißheit  bestehen  kann, 
mit  welcher  der  Inhalt  eines  allgemeinen  Satzes  sich  uns 
als  denknothwendig  aufdrängt;  und  in  der  That  ist  man 
hierauf  immer  zurückgekommen.  Vielfältige  Erfahrung  lehrt 
uns  jedoch,  daß  Sätze,  deren  Unrichtigkeit  spätere  Zeiten 
nachwiesen,  für  frühere  die  größte  Evidenz  und  Ueber- 
zeugungskraft    besessen    haben;    Verhältnisse,    die    wir    in 


272  Viertes  Kapitel. 

dem  beschränkten  Beobachtungskreise,  in  welchen  wir  ein- 
geschlossen sind,  beharrlich  bestehen  oder  wiederkehren 
sehen,  ohne  daß  eine  Erfahrung  des  Gegentheils  uns  an 
ihnen  irre  macht,  nehmen  sehr  allgemein  für  uns  den 
Schein  der  Denknothwendigkeit  an.  Es  gibt  nur  ein  Mittel, 
diese  falsche  Evidenz  der  Vorurtheile  von  der  echten  wahr- 
hafter Axiome  zu  unterscheiden:  man  muß  versuchen,  ob 
das  contradictorische  Gegentheil  des  fraglichen  Satzes  T 
ebenso  undenkbar  ist,  als  T  selbst  uns  denknothwendig 
scheint.  Diese  Probe  wird  oft  völlig  entscheidend  sein;  zu 
unserer  Verwunderung  werden  wir  häufig  finden,  daß  der 
Versuch,  S  und  P  in  der  entgegengesetzten  Weise  von  der- 
jenigen zu  verbinden,  welche  der  gegebene  Satz  T  be- 
hauptete, zu  gar  keinem  inneren  Widerspruch  im  Denken 
führt.  Dann  wird  T  kein  Axiom  sein,  sondern  entweder 
überhaupt  ein  Irrthum,  oder  eine  Wahrheit  von  nur  parti- 
cularer  Geltung,  oder  eine  allgemeine  zwar,  aber  eine  solche, 
die  eines  Beweises  bedürftig  ist.  Im  anderen  Falle,  wenn 
das  contradictorische  Non  T  ebenso  undenkbar  scheint,  wie  T 
denknothwendig,  werden  wir  mit  um  so  größerem  Ver- 
trauen T  als  unmittelbares  Axiom  betrachten;  vollständige 
Sicherheit  indessen  gewährt  dann  die  Probe  nicht,  denn 
nichts  hindert,  daß  die  Undenkbarkeit  von  Non  T  auf  ebenso 
falscher  Evidenz  beruhe,  wie  die  scheinbare  Denknoth- 
wendigkeit von  T.  Fände  dieser  doppelte  gleichzeitige  Irr- 
thum statt,  so  würde  es  kein  kurzes  logisches  Mittel  zu 
seiner  Entdeckung  geben ;  nur  das  Gewahrwerden  der  Wider- 
sprüche, welche  die  Erfahrung  gegen  die  angenommene 
Gültigkeit  von  T  erhebt,  und  eine  langsame  vielseitige  Um- 
formung unseres  Gedankensystems  auf  Veranlassung  dieser 
Widersprüche  könnte  allmählich  die  Verbesserung  unseres 
Fehlers  herbeiführen.  Grundsätze  blos  theoretischer  Er- 
kenntniß  werden  selten  von  diesem  Doppelirrthum  behaftet 
sein,  öfter  die,  welche  unserer  ethischen  Beurtheilung  zu 
Grunde  liegen,  und  die  man  wohl  den  echten  oder  schein- 
baren Axiomen  zurechnen  darf,  obgleich  sie  nicht  eigentlich 
denknothwendig,  sondern  nur  selbstverständlich  und  ihre 
Gegen theile  nicht  undenkbar,  sondern  nur  absurd  erscheinen. 
Daß  man  den  Feinden  schaden  müsse,  galt  im  Alterthum 
lange  und  allgemein  als  selbstverständlich  und  das  Gegen- 
theil für  absurd;  solche  Irrthümer  kann  am  meisten  nur 
die  langsame  Umstimmung  der  Gewohnheiten  des  Gemüthes 
beseitigen. 

201.  Sei  nun  T  ein  allgemeiner  Satz  von  nicht  axio- 


Die  Formen  des  Beweises.  273 

malischer  Geltung,  ein  solcher  also,  der  eines  Beweises 
bedürfen  würde,  so  wird  man  doch  diesen  Beweis  nicht 
eher  antreten,  bis  man  weiß,  daß  T  ihn  verdient.  In  drei 
Fällen  wird  er  es  nicht.  Zuerst  dann  nicht,  wenn  sein 
Inhalt  ein  unvollständiger  und  deshalb  unbestimmter  Ge- 
danke ist.  Der  ungeschulte  Verstand  pflegt,  so  lange  er 
sich  auf  die  Gegenstände  seines  natürlichen  Gesichtskreises 
beschränkt,  gewissenhaft  in  der  Aufzählung  und  Erfor- 
schung aller  Beziehungspunkte  zu  sein,  welche  zum  Ver- 
ständniß  einer  Thatsache  gehören;  er  befolgt  hier  die  alte 
Regel,  die  Fragen  alle  zu  beantworten:  quis?  quid?  ubi? 
quibus  auxiliis?  cur?  quomodo?  quando?  Desto  unbehülf- 
licher  wird  er,  wo  er  in  allgemeine  Betrachtungen  ab- 
schweift, die  dem  Gebiete  der  Speculation  angehören;  er 
gelangt  dann  meist  nur  zu  einem  unförmlichen  Ausdruck 
von  etwas,  was  er  vielleicht  mit  Recht  meint  verlangt 
oder  voraussetzt,  aber  an  keine  bestimmten  oder  bestimm- 
baren Beziehungspunkte  anzuknüpfen  weiß.  Die  Speculation 
ihrerseits,  in  Abstractionen  schwelgend,  kommt  ihm  hier 
nicht  immer  helfend  entgegen,  sondern  begnügt  sich  auch 
oft,  mit  Begriffen  zu  verfahren,  die  von  ihren  natürlichen 
Anwendungspunkten  abgelöst  im  Leeren  schweben ;  nirgends 
sind  daher  unbestimmte  Thesen  häufiger  als  da  zu  finden, 
wo  der  logisch  nicht  disciplinirte  Verstand  naturalistisch 
zu  philosophiren  beginnt.  Daß  Gott  und  Welt  Eins  sei, 
kann  nur  der  beweisen,  der  diesen  Satz  selbst  aufgestellt 
hat;  so  weit  dann  sein  Beweis  richtig  sein  wird,  hat  er 
durch  ihn  ecst  interpretirt,  was  er  mit  seinem  Satze  meinte ; 
wer  diesen  aber  nicht  selbst  aufgestellt  hat,  thut  am  besten, 
ihn  weder  zu  beweisen  noch  zu  widerlegen;  denn  daß  Gott 
und  Welt  in  gewissem  Sinne  Zwei  sind,  sagt  der  Satz 
selber,  sonst  könnte  er  sie  nicht  unterschieden  haben; 
daß  sie  aber  in  irgend  einer  der  vielen  Bedeutungen,  welche 
der  Begriff  der  Einheit  hat,  auch  Eins  sind,  läßt  sich  im 
voraus  vermuthen.  Daß  die  Dinge  Erscheinungen  sind, 
ist  ebenso  zweideutig;  die  scheinbaren  Dinge  der  sinnlichen 
Wahrnehmung  sind  es  natürlich,  sonst  erschienen  sie  uns 
nicht;  daß  aber  diejenigen  Dinge,  die  wir  als  selbst  un- 
beobachtbar dem  sinnlichen  Wahrnehmen  unterlegen,  auch 
Erscheinungen  seien,  ist  so  lange  ein  unvollständiger  Ge- 
danke, bis  hinzugefügt  wird,  was  denn  hier  erscheinen 
soll  und  wem.  Alle  diese  und  ähnliche  Sätze  verdienen 
Beweis  und  Widerlegung  nicht,  sondern  sind  angebracliter 
Maßen  zurückzuweisen,  ganz  ebenso  wie  man  im  rechtlichen 

Lotze,  Logik.  28 


274  Viertes  Kapitel. 

Verfahren  jeden  abweist,  der  blos  über  erlittenes  Unrecht 
klagt,  aber  nicht  angibt,  was  ihm  geschehen  sei  und  von  wem. 
202.  Der  zweite  Fall  findet  statt,  wenn  zwar  von  dem  S 
oder  P  des  Satzes  T  eine  völlig  scharfe  Nominaldefinition 
gegeben  werden  kann,  diese  aber  entweder  eine  nachweisbar 
unmögliche  oder  eine  nicht  nachweisbar  gültige  Vorstellungs- 
verknüpfung enthält.  Niemand  wird  sich  um  Beweis  oder 
Widerlegung  eines  Satzes  bemühen,  dessen  Subject  der 
Begriff  eines  hölzernen  Eisens  ist;  Niemand  untersuchen, 
ob  dies  hölzerne  Eisen  im  Feuer  verbrennen  werde  wie 
Holz,  und  nicht  vielmehr  schmelzen  wie  Eisen.  Gespenster 
und  Irrlichter  enthalten  so  logischen  Widerspruch  nicht; 
ob  aber  jene  schlafbedürftig  sind,  diese  von  vergrabenem 
Metall  angezogen  werden,  läßt  man  doch  dahingestellt,  bis 
die  Existenz  beider  bewiesen  ist.  Was  man  hier  verlangt, 
läßt  sich  im  Allgemeinen  die  Rechtfertigung  eines  Be- 
griffes nennen,  die  dann,  wenn  von  ihm  Gebrauch  gemacht 
werden  soll,  allemal  zu  seiner  nominalen  Definition  hinzu- 
gefügt werden  muß.  Sie  kann  in  verschiedener  Weise  ge- 
leistet werden.  Bedeutet  M  etwas,  dem  äußere  Wirklichkeit 
zukommen  soll,  so  wird  am  kürzesten  M  durch  unmittelbare 
Aufzeigung  eines  Beispiels  oder  einer  Thatsache  ge- 
rechtfertigt, in  welcher  die  Wirklichkeit  seines  Inhalts  ge- 
geben und  der  Beobachtung  zugänglich  vorliegt.  Bezeichnet 
M  eine  Vorstellungsverknüpfung,  deren  Gültigkeit  darin  be- 
steht, daß  sie  ausführbar  ist  und  daß  ihr  Ergebniß  sich 
vorstellen  oder  in  innerer  Anschauung  verwirklichen  läßt, 
so  wird  eben  diese  Verwirklichung  des  von  M  verlangten 
Inhaltes,  oder  seine  Construction,  M selbst  rechtfertigen; 
so  legitimirt  die  Geometrie  die  Zulässigkeit  von  Begriffen, 
die  sie  gebildet  hat,  durch  anschauliche  Herstellung  dessen, 
was  sie  vorher  nur  als  Aufgabe  enthielten,  und  beweist 
hierdurch  am  einleuchtendsten,  daß  diese  Aufgabe  lösbar 
war.  Ist  weder  ein  Beispiel  von  M  nachweisbar,  Qoch 
seine  Construction  ausführbar,  so  muß  wenigstens  eine 
Begründung  (Deduction)  eintreten,  welche  zeigt,  im  Zu- 
sammenhang mit  welcher  nachweisbaren  Wirklichkeit  oder 
im  Verfolg  welcher  Aufgabe  wir  mit  Fug  und  Recht  zu  der 
Bildung  des  Begriffes  von  M  veranlaßt  werden.  Nicht  immer 
kann  diese  Begründung  die  Gültigkeit  von  M,  in  der  Gestalt, 
in  welcher  sein  Begriff  vorliegt,  unmittelbar  beweisen,  aber 
immer  stellt  sie  M  als  vorläufige  Bezeichnung  eines  nicht 
grundlos,    sondern   mit    Recht   gesuchten   Inhalts   dar;   der 


Die  Formen  des  Beweises.  275 

weiteren  Untersuchung,  deren  Beginn  hierdurch  gerecht- 
fertigt wird,  bleibt  es  überlassen,  ob  M  selbst  sich  als 
gültiger  Begriff  wird  rechtfertigen  lassen,  oder  welche  Um- 
formung seines  Inhalts  vorzunehmen  ist,  um  diese  Gültig- 
keit herbeizuführen.  Im  Alterthum  war  die  Verdoppelung 
des  Würfels  ein  wichtiges  Problem;  aber  auch  wenn  man 
durch  geometrische  Operationen  die  gesuchte  Seite  des 
doppelten  Würfels  nicht  construiren  konnte,  war  doch  von 
Anfang  an  gewiß,  daß  die  Aufgabe  überhaupt  lösbar  und 
die  gesuchte  Seite  eine  Größe  sei,  die  sich  irgendwie  auf- 
finden lassen  muß.  Denn  man  konnte  zeigen,  daß  mit 
stetiger  Zunahme  der  Seite  auch  das  Volumen  des  Würfels 
ohne  Aenderung  seiner  cubischen  Gestalt  stetig  zunehmen 
muß;  in  der  unendlichen  Reihe  wachsender  Würfel  muß 
sich  daher  auch  derjenige  finden,  welcher  das  Doppelte 
eines  gegebenen  ist,  und  somit  ist  auch  seine  Seite  eine 
in  der  Reihe  der  Linien  existirende.  Diese  Begründung 
der  nothwendigen  Gültigkeit  des  Gesuchten  ersetzt  hier 
die  wirkliche  Ausführung  der  Gonstruction.  Man  kann  femer 
darüber  zwar  Bedenken  haben,  ob  ein  und  derselbe  Begriff 
von  Länge  auf  krumme  und  gerade  Linien  passe;  setzt 
man  aber  dies  Bedenken  beiseit,  so  war  es  vorläufig  eine 
nicht  unbegründete  Hoffnung,  durch  elementare  geometrische 
Construction  die  gerade  Linie  zu  finden,  die  dem  Umfange 
eines  Kreises  von  gegebenem  Halbmesser  gleich  ist;  denn 
gewiß  war  dies,  daß  die  gesuchte  Länge  von  der  dieses 
Halbmessers  und  zugleich  nur  von  dieser  abhängt.  Die 
ausgeführte  Untersuchung  erst  hat  diese  Hoffnung  beseitigt 
und  gezeigt,  daß  der  Umfang  als  geschlossene  reale  und 
algebraische  Function  des  Halbmessers  nicht  herstellbar 
ist.  Naturwissenschaftliche  Hypothesen  nehmen  häufig  That- 
sachen  an,  die  man  nicht  hoffen  kann,  jemals  in  unmittel- 
barer Beobachtung  nachweisen  zu  können;  nicht  selten 
muß  man  sogar  Gott  und  der  Zukunft  überlassen,  auch 
nur  die  Möglichkeit  und  Construirbarkeit  dessen  zu  be- 
weisen, was  man  vorläufig  als  Annahme  gar  nicht  ent- 
behren kann.  Dann  bleibt  nur  die  Begründung  übrig,  welche 
aus  den  gegebenen  Thatsachen  die  Dringlichkeit  der  an- 
gewandten Vorstellungsweise  ableitet,  allerdings  dann  mit 
dem  Vorbehalt,  sie  in  Zukunft  so  ändern  zu  können,  daß 
sie  construirbar  wird,  ohne  ihre  Brauchbarkeit  einzubüßen. 
Hierauf  führen  uns  andere  Gelegenheiten  zurück;  für  den 
Augenblick  genügt  es,  auf  die  zuerst  gebrauchten  Beispiele 
zurückzuverweisen,    um    deutlich    zu    machen,    welche   Art 

18* 


276  Viertes  Kapitel. 

der  Rechtfertigung  wir  für  Begriffe  verlangen,  deren  Ver- 
knüpfungen im  Urtheile  Beweis  oder  Widerlegung  verdienen 
sollen. 

203.  Haben  nun  auch  die  Begriffe,  die  in  dem  all- 
gemeinen Satze  T  verbunden  sind,  die  nöthige  Bestimmtheit 
und  Gültigkeit,  so  wird  man  sich  dennoch  auf  einen  Beweis, 
welcher  T  als  nothwendige  Folge  aufzusuchender  Prämissen 
darzustellen  hätte,  nicht  eher  einlassen,  bis  man  sich  einige 
vorläufige  Bürgschaft  für  seine  thatsächliche  Geltung  ver- 
schafft hat;  denn  jede  Mühe  würde  verschwendet  sein, 
etwas  zu  beweisen,  was  eben  nicht  gilt.  Ist  T  ein  all- 
gemeiner Satz,  dessen  Anwendungsgebiet  sich  in  Gedanken 
nicht  leicht  übersehen  läßt,  so  versuchen  wir  zuerst,  ob  T 
in  einigen  naheliegenden  Beispielen  zutrifft;  ein  einziger 
Fall,  in  welchem  dies  nicht  geschähe,  würde  die  Allgemein- 
gültigkeit von  T  aufheben  und  die  Aufgabe  würde  sich 
in  die  der  Auffindung  von  Bedingungen  verwandeln,  unter 
denen  T  wenigstens  eine  particulare  Geltung  besäße;  ist 
dagegen,  was  T  behauptet,  in  allen  verglichenen  Beispielen 
seiner  Anwendung  gültig,  so  kann  diese  hier  stets  unvoll- 
ständige Durchprobirung  zwar  nicht  die  Allgemeingültig- 
keit des  T  beweisen,  aber  seinen  Inhalt  doch  so  weit 
empfehlen,  daß  die  Aufsuchung  eines  Beweises  der  Mühe 
werth  wird.  Dies  durchaus  nothwendige  Vorverfahren,  das 
später  seine  Stelle  auch  unter  den  Beweisformen  selbst 
finden  wird,  versäumen  wir  in  der  That  nur  selten  und 
meist  nur  dann,  wenn  die  Gültigkeit  von  T  nicht  durch 
bloße  Ueberlegung  in  Gedanken  aufzufindender  Anwen- 
dungsbeispiele, sondern  nur  durch  äußere  Beobachtung 
oder  Versuch  festzustellen  ist.  Nicht  nur  die  Höflinge 
Ludwigs  XIII.  erschöpften  sich  in  geistreichen  Beweisen 
für  den  Satz,  daß  ein  lebendig  hineingeworfener  Fisch 
ein  ganz  volles  Gefäß  zum  Ueberlaufen  bringe,  ein  todter 
aber  nicht,  und  erst  der  hinzugerufene  Gärtner  zeigte  durch 
den  Versuch  die  Ungültigkeit  der  ganzen  Behauptung;  auch 
sonst  finden  sich,  in  den  weniger  exacten  Theilen  der 
Naturwissenschaft,  tiefsinnige  erklärende  Beweise  genug  für 
Erscheinungen,  deren  thatsächliches  Vorkommen  völlig 
zweifelhaft  ist. 

204.  Wäre  nun  diese  Vorfrage  erledigt,  und  T  ein 
allgemeiner  Satz,  der  eines  Beweises  würdig  ist,  so  kann 
seine  Wahrheit  oder  Unwahrheit  entweder  in  kürzester 
Linie  oder  auf  einem  Umwege  festgestellt  werden,  und 
hiemach   unterscheiden   wir  die   Beweise   zuerst.    Sie   sind 


Die  Formen  des  Beweises.  277 

direct,  wenn  sie  unmittelbar  den  gegebenen  Satz  T  als 
nothwendig  oder  als  unmöglich  nachweisen;  sie  heißen 
indirect  oder  apagogisch,  wenn  sie  Wahrheit  oder 
Unwahrheit  von  T  mittelbar  durch  Aufzeigung  der  Un- 
wahrheit oder  Wahrheit  seines  contradictorischen  Gegen- 
theils  Non  T  begründen.  In  beiden  Fällen  kann  die  Richtung, 
welche  der  Gang  der  Gedanken  nimmt,  noch  eine  doppelte 
sein.  Ich  nenne  den  Beweis  rechtläufig  oder  pro- 
gressiv, wenn  er  aus  dem,  was  in  der  Natur  der  Sache 
das  Bedingende  ist,  das  Bedingte  als  Folge  entstehen  läßt; 
er  ist  rückläufig  oder  regressiv,  wenn  er  das,  was 
in  der  Natur  der  Sache  das  Bedingte  ist,  als  Erkenntniß- 
grund  des  Bedingenden  benutzt.  Der  Beweis  der  ersten 
Form,  da  er  a  principio  ad  principiatum  geht,  mag  ebenso- 
wohl d  e  d  u  c  t  i  V  heißen ;  für  die  Beweise  der  zweiten  Form, 
die  a  principiato  ad  principium  fortschreiten,  wird  man 
den  entgegengesetzten  Namen  der  inductiven  im  All- 
gemeinen nicht  ebenso  passend  finden.  Beide  Beweisgänge 
lassen  endlich  noch  einen  Unterschied  zu:  man  kann  pro- 
gressiv von  allgemeinen  Wahrheiten  zu  T  oder  von  T  zu 
seinen  eigenen  Folgen  und  ebenso  regressiv  von  den  Folgen 
des  T  zu  T,  oder  von  ihm  selbst  zu  den  Wahrheiten 
übergehen,  die  seinen  Grund  bilden.  Ueber  den  verhältniß- 
mäßigen  Werth  der  acht  verschiedenen  Formen,  die  so 
entstehen,  wird  man  erst  dann  urtheilen  können,  wenn 
man  jede  von  ihnen  mit  Rücksicht  auf  die  Aufgaben  ins 
Auge  faßt,  für  die  sie  verwendet  zu  werden  pflegt.  Hierzu 
mag  folgende  Uebersicht  dienen. 

205.  Die  erste  Beweisform,  direct  progressiv,  geht 
von  einer  allgemeinen  Wahrheit  aus,  die  sie  als  Obersatz 
an  die  Spitze  ihres  ganzen  Verfahrens  stellt;  im  Untersatz, 
oder  in  einer  Reihe  von  Episyllogismen,  wenn  der  Beweis 
nur  in  einer  Schlußkette  vollendbar  ist,  wird  dann  nach- 
gewiesen, in  welchem  Verhältniß  die  Bestandtheile  S  und  P 
des  gegebenen  Satzes  T  zu  jenem  Obersatz  stehen;  der 
Schlußsatz  endlich  folgert,  daß  um  dieser  Verhältnisse  willen 
von  S  und  P  der  zu  beweisende  Satz  T  gelten  müsse. 
Bestimmt  man  die  Aufgabe  auf  diese  allgemeine  Weise, 
so  scheinen  alle  drei  aristotelischen  Figuren  zu  dieser 
Beweisform  benutzt  werden  zu  können;  in  der  That  aber 
entspricht  dem  Sinne  derselben  doch  blos  die  erste.  Die 
dritte  Figur  halte  ich  nicht  deswegen  für  ungenügend,  weil 
sie  nach  gewöhnlicher  Bezeichnung  blos  particulare  Schluß- 
sätze  gibt,   während   wir  hier   allgemeine   Sätze  beweisen 


278  Viertes  Kapitel. 

wollen ;  übertragen  wir  die  particulare  Conclusion : 
einige  S  sind  P,  in  modale  Fomi :  was  S  ist,  kann  P  sein, 
so  gibt  sie  allerdings  einen  allgemeinen  Satz,  dessen  Beweis 
von  Werth  sein  kann.  Wird  zum  Beispiel  eine  Leistung  P 
verlangt,  zu  deren  Herstellung  man  an  das  scheinbar  un- 
günstige Material  S  gebunden  ist,  so  wird  man  gern  in 
einem  Beweise,  nach  Bamalip,  gezeigt  sehen,  daß  an  einem 
Subject  M  sich  S  und  P  vertragen,  folglich  S  die  Leistung  P 
nicht  allgemein  unmöglich  mache.  Aber  die  dritte  Figur 
liefert  diesen  Beweis  nicht  in  progressiver  Richtung.  Sie 
stellt  in  ihren  beiden  Prämissen  nur  ein  Beispiel  des  Zu- 
sammenbestehens von  S  und  P  auf,  aus  welchem  wir 
regressiv,  ab  esse  ad  posse,  auf  die  Verträglichkeit  beider 
zurückschließen.  Die  zweite  Figur  erlaubt  zwar  allgemeine, 
aber  nur  verneinende  Folgerungen;  auch  diese  können  von 
Werth  sein,  aber  um  in  dieser  Figur  gewonnen  werden  zu 
können,  setzen  sie  qualitativ  entgegengesetzte  Prämissen 
voraus  und  befriedigen  deshalb  nicht.  Denn  ein  allgemein 
verneinender  Satz  T,  der  von  einem  S  ein  Prädicat  P  blos 
deshalb  ausschließt,  weil,  was  S  und  was  P  ist,  sich  ent- 
gegengesetzt zu  einem  dritten  M  verhält,  beruft  sich  auf 
ein  Kennzeichen,  welches  die  Unvereinbarkeit  des  S 
und  P  sicher  bezeugt,  aber  nicht  auf  einen  Grund,  der 
sie  erklärt;  er  drückt  nur  eine  Thatsache  aus,  die  zwar 
gilt,  aber  so  lange  unverstanden  bleibt,  bis  man  in  einem 
bejahenden  Urtheile  erfahren  hat,  was  S  wirklich  ist,  und 
nun  einsieht,  daß  es,  weil  es  dies  ist,  jenes  andere,  P,  nicht 
sein  kann.  Auch  die  zweite  Figur  liefert  daher  zwar  triftige 
und  zwingende,  aber  nicht  erklärende  Beweise  ihrer  Schluß- 
sätze, auch  sie  ist  mehr  von  regressivem,  als  von  pro- 
gressivem Charakter.'  Auf  die  erste  Figur,  und  zwar  vor- 
züglich auf  ihre  bejahenden  Modi,  für  unsere  Aufgabe  aus- 
schließlich auf  Barbara,  hat  sich  daher  gewöhnlich  die 
Aufmerksamkeit  gerichtet,  wenn  von  direct  progressiven 
Beweisen  die  Rede  war;  nur  hier  findet  die  Unter- 
ordnung eines  gegebenen  Inhalts  unter  eine  allgemeine 
Wahrheit  statt,  aus  welcher  nicht  blos  begriffen  wird, 
daß  T  gilt,  sondern  auch  warum  es  gilt. 

206.  So  urtheilte  schon  Aristoteles;  es  verdient  jedoch 
angemerkt  zu  werden,  daß  nicht  blos  in  diesem  Sinne  diese 
Beweisform  als  ein  Ideal  zu  betrachten  ist:  sie  hat  An- 
spruch auf  das  ihr  gespendete  Lob  nur  dann,  wenn  es  uns 
gelingt,  sie  mit  dem  Inhalt  zu  füllen,  den  ihre  Gliederung 


Die  Formen  des  Reweises.  279 

verlangt:  wenn  wir  also  im  Obersatze  ein  solches  ali- 
gemeine Urtheil  voranschicken,  welchem  untergeordnet  zu 
werden  der  besondere  Fall  des  Untersatzes  seinem  eigenen 
Inhalte  nach  fordert,  und  welcher  deshalb  wirklich  der 
bedingende  Grund  sein  würde,  aus  dem  die  Gültigkeit  des 
zu  beweisenden  Satzes,  nicht  blos  für  unsere  Erkenntniß, 
sondern  nach  der  eigenen  Natur  der  Sache  selbst  hervorgeht. 
Aber  es  ist  klar,  daß  man  die  Form  dieses  Beweises  be- 
nutzen kann,  ohne  im  mindesten  die  eben  gestellte  Be- 
dingung zu  befriedigen.  Gibt  es  doch,  und  zwar  gerade 
auf  dem  exact  zu  behandelnden  Gebiet  mathematischer 
Erkenntniß,  zahlreiche  Sätze  T,  für  die  sich  verschiedene 
gleich  triftige  Beweise  geben  lassen,  die  alle  in  dieser 
subsumptiven  Form  verlaufen,  und  von  denen  daher  keiner 
beanspruchen  kann,  ausschließlich  den  eigenen  Zusammen- 
hang und  Entwicklungsgang  der  Sache  selbst  auszudrücken. 
Die  Möglichkeit,  denselben  Inhalt  in  sehr  verschiedenen 
Formen  ohne  Veränderung  seines  Werthes  darzustellen, 
erlaubt  hier,  ihn  sehr  verschiedenen  allgemeinen  Obersätzen 
subsumirbar  zu  machen  und  von  allen  diesen  willkürlich 
gewählten  Ausgangspunkten  zu  derselben  Behauptung  T 
zu  gelangen.  Ich  wünsche  hierüber  nicht  mißverstanden 
zu  sein  und  gehe  deshalb  ins  Einzelne.  Ich  gebe  zuerst 
zu,  daß  sehr  viele  mathematische  Sätze  T  so  offenbar 
bloße  Anwendungsbeispiele  eines  bestimmten  Obersatzes  M 
sind,  daß  nur  die  Herleitung  aus  diesem  Obersatze  natürlich, 
die  aus  jedem  andern  N  als  eine  Künstlichkeit  erscheint. 
Ich  bemerke  ferner,  daß  da,  wo  T  aus  verschiedenen  Ober- 
sätzen ^,  N,  0  mit  gleicher  Leichtigkeit  ableitbar  ist,  hierin 
allein  kein  Grund  für  mich  liegt,  diese  verschiedenen  Be- 
weise dem  eigenen  Zusammenhange  der  Sache  fremd  zu 
nennen;  denn  ich  will  hier  zwar  nicht  eben  lehren,  aber 
als  eine  mögliche  Ansicht  hinstellen,  daß  das  Ganze  z.  B. 
unserer  geometrischen  Erkenntniß  in  der  That  auf  einer 
Mehrheit  ursprünglicher  gleich  evidenter  Anschauungen  be- 
ruht, von  denen  keine  aus  der  andern  ableitbar  ist,  die 
aber  alle  zusammen,  gleich  einzelnen  Bestandtheilen  eines 
ganzen  Gedankens,  zugleich  gelten  und  unter  einander 
auf  bestimmte  Weise  zusammenhängen.  Dann  begreift  man, 
wie  vermöge  dieses  Zusammenhanges  derselbe  Satz  T  ver- 
schiedene gleich  triftige  Beweise  zuläßt,  je  nachdem  man 
von  einer  oder  der  andern  jener  untrennbar  verknüpften 
Anschauungen  ausgeht;  keiner  dieser  Beweise  wird  aus- 
schließlich die  Natur  der  Sache,  aber  jeder  kann  sie  doch 


280  Viertes  Kapitel. 

wirklich  so  darstellen,  wie  sie  sich  für  den  gewählten  Stand- 
punkt projizirt;  die  Möglichkeit  einer  Mehrheit  von  Be- 
weisen beruht  hier  auf  der  eigenen  Organisation  des  Inhalts, 
der  nicht  nur  nach  einer,  sondern  nach  vielen  Richtungen 
zugleich  ein  zusammenstimmend  gegliedertes  Ganze  bildet. 
Aber  ich  muß  nun  doch  drittens  hinzufügen,  daß  zahlreiche 
Sätze  T  übrig  bleiben,  deren  Beweis,  immer  in  dieser 
subsumptiven  Form,  nur  durch  Kunstgriffe  gelingt,  die  sich 
rechtfertigen  lassen,  nachdem  sie  angewandt  sind,  von  denen 
aber  nicht  erfindlich  ist,  wie  man  durch  die  Natur  des 
gegebenen  Inhalts  selbst  dazu  aufgefordert  wird,  sie  an- 
zuwenden. Von  diesen  Beweisen,  deren  es  manche  in  der 
reinen  Mathematik,  eine  viel  größere  Anzahl  in  ihren  An- 
wendungen gibt,  soll  die  oben  gemachte  Bemerkung  gelten: 
namentlich,  wenn  sie  sehr  vielgliedrige  Schlußketten  bilden, 
mögen  sie  zwar  an  Triftigkeit  nichts  zu  wünschen  übrig 
lassen,  aber  sie  werden  auch  so  unübersichtlich  wie  möglich, 
und  da  sie  fast  nur  erlauben,  die  nothwendige  Folge  der 
Verkettung  je  zweier  nächsten  Glieder  einzusehen,  der 
erfinderische  Scharfsinn  dagegen,  der  diese  Verkettung  an- 
stiftete, völlig  regellos  sich  zu  bewegen  scheint,  so  kann 
man  nicht  in  Wahrheit  sagen,  daß  diese  Beweise  zeigen, 
warum  der  Schlußsatz  T  gilt;  sie  nöthigen  uns  auch  nur 
zuzugestehen,  daß  er  gilt.  Ich  habe  dies  angeführt  um 
seiner  praktischen  Bedeutung  willen.  Das  Ideal  unserer 
Erkenntniß  und  Beweisführung  besteht  ohne  Zweifel  darin, 
daß  wir  jeden  gegebenen  Satz  T  aus  den  bedingenden 
Gründen,  von  denen  er  wirklich  bedingt  wird,  erklärend 
ableiten,  nicht  aber  uns  seiner  Gewißheit  blos  durch 
eine  logische  Hinterlist  bemächtigen;  und  wenn  diese  Auf- 
gabe gelöst  werden  soll,  ist  sie  immer  nur  in  der  Form 
dieses  direct  progressiven  Beweises  zu  lösen.  Aber  sie 
ist  überhaupt  nur  innerhalb  enger  Grenzen  lösbar,  und 
wo  sie  es  nicht  ist,  wo  man  mithin  sich  an  der  bloßen 
Gewißheit  von  T  muß  genügen  lassen,  da  hat  diese  sub- 
sumptive  Beweisform  nicht  den  mindesten  Vorzug  vor 
anderen.  Es  ist  logische  Pedanterie,  sie  dennoch  erzwingen 
zu  wollen  und  für  einen  Satz,  der  indirect  sich  mit  zwei 
Worten  schlagend  beweisen  läßt,  eine  directe  Ableitung 
zu  suchen,  die  nur  durch  eine  Kette  willkürlich  gewählter 
Zwischenglieder  möglich  ist,  die  Erlangung  jener  Gewißheit 
umständlicher  und  die  Einsicht  in  den  inneren  Grund  ihres 
V^orhandenseins   um  nichts   reicher  macht. 


Die  Formen  des  Beweises.  281 

207.  Eine  zweite  direct  progressive  Form  geht  von 
dem  gegebenen  Satze  T  aus,  den  sie  als  gültig  voraussetzt^ 
und  entwickelt  aus  ihm  seine  nothwendigen  Folgen.  Findet 
sich  unter  diesen  Folgen  auch  nur  eine  einzige,  welche 
entweder  feststehenden  Thatsachen  oder  allgemeinen  Wahr- 
heiten widerspricht,  so  ist  T,  als  allgemeiner  Satz,  un- 
gültig, und  der  Beweis  gestaltet  sich  zu  einer  Form  der 
Widerlegung  eines  gegebenen  Satzes;  er  schließt  dann, 
wie  man  leicht  sieht,  jenes  früher  erwähnte  Vorverfahren 
ein,  welches  vor  dem  Antreten  des  wirklichen  Beweises 
sich  versichert,  daß  überhaupt  kein  gegebenes  Beispiel  eine 
Instanz  gegen  die  Gültigkeit  des  zu  Beweisenden  bildet. 
Fände  die  Entwicklung  der  Folgen  des  T,  so  weit  sie  auch 
fortgesetzt  würde,  keinen  Widerspruch  mit  Thatsachen  oder 
Wahrheiten,  so  würde  sie  dennoch  nicht  hinreichen,  um 
die  Wahrheit  von  T  festzustellen,  denn  die  nächste  Fort- 
setzung jener  Entwicklung  über  die  Grenze  hinaus,  bei 
der  man  Halt  gemacht  hat,  könnte  das  bisher  verborgenei 
Bestehen  eines  Widerspruchs  nachweisen;  aber  wenigstens 
reicht  dies  Verfahren  auf  theoretischem  Gebiete  zur 
Empfehlung  einer  Hypothese  hin,  deren  weitere  Prüfung 
man  sich  vorbehält.  Sein  wirkliches  Anwendungsgebiet  hat 
aber  dieser  Beweis  im  praktischen  Leben;  durch  ihn 
empfiehlt  man  Vorschläge,  Einrichtungen  die  zu  treffen, 
Entschlüsse  die  zu  fassen  sind.  Und  hier  ist  die  Unvoll- 
ständigkeit  der  Entwicklung  der  Folgen  von  T  kein  Hindemiß ; 
in  allen  menschlichen  Angelegenheiten  reicht  es  hin,  zu 
ermitteln,  welche  Wirkungen  innerhalb  einer  übersehbaren 
Zeit  und  eines  übersehbaren  Gebietes  der  Anwendung  aus 
einer  vorzuschlagenden  Maßregel  entspringen  werden;  alle 
mikroskopisch  erkennbaren  Nebenwirkungen  oder  auf  Jahr- 
hunderte hinaus  alle  Folgen  unseres  heutigen  Handelns 
in  Betracht  ziehen  zu  wollen,  ist  superciliöse  Pedanterie; 
^ur  Vermeidung  kleiner  Nachtheile  wird  man  neue  Ent- 
schlüsse fassen,  und  die  fernste  Zukunft  hat  für  sich  selbst 
zu  sorgen. 

208.  Eine  dritte  Form,  die  erste  directregressive, 
geht  von  der  angenommenen  Gültigkeit  von  T  aus  und 
sucht  nach  rückwärts  die  Bedingungen  auf,  unter  denen 
diese  Gültigkeit  stattfinden  kann.  Der  Unterschied  dieser 
Form  von  der  jetzt  behandelten  ist  nicht  erheblich,  doch 
fehlt  er  nicht;  nicht  erheblich  deswegen,  weil  man  die 
zur  Geltung  von  T  nöthigen  Vorbedingungen  doch  auch 
nur   findet,   indem   man   T  als  ihren  Erkenntnißgrund    be- 


282  Viertes  Kapitel. 

handelt  und  sie  aus  ihm  als  Folgen  ableitet,  ein  Verfahren, 
welches  mit  dem  vorigen  direct  progressiven  zusammenfällt ; 
vorhanden  aber  ist  der  Unterschied  dennoch,  wenn  man 
(Jie  Natur  des  so  Abgeleiteten  berücksichtigt.  Als  Beispiel 
für  beide  Formen  zusammen  kann  die  in  der  Mathematik 
übliche  Lösung  von  Aufgaben  dienen,  denn  jede  solche 
Lösung  ist  zugleich  der  Beweis  der  Lösbarkeit,  also  der 
Gültigkeit  der  Vorstellungsverknüpfung,  welche  die  gestellte 
Aufgabe  T  enthielt.  Nimmt  man  nun  T  als  gültig  an  und 
entwickelt  die  aus  ihm  fließenden  Denkfolgen,  so  werden 
diese  letzteren  selbst  verschieden  sein  können;  einige  von 
ihnen  werden  Einzelumstände  sein,  die  mit  gegebenen  That- 
sachen  stimmen  oder  streiten,  andere  werden  allgemeine 
Verhältnisse  zwischen  verschiedenen  Beziehungspunkten 
ausdrücken,  die  mit  anderweit  feststehenden  Wahrheiten 
entweder  in  Einklang  oder  in  Widerspruch  sind.  Kommt 
man  nur  auf  Einzelfolgen,  die  mit  gegebenen  Thatsachen 
oder  Nebenbedingungen  streiten,  so  wird  man  daraus  zwar 
die  Ungültigkeit  von  T  mit  Gewißheit  ableiten,  aber  ohne 
Einsicht  in  den  Grund  derselben;  ist  T  ein  praktischer 
Vorschlag,  so  kann  er  selbst  ganz  annehmbar  an  sich  sein 
und  ist  nur  in  der  Ausführung  auf  ein  Hinderniß  gestoßen, 
und  dies  ist  der  Fall  der  vorigen  Beweisform;  kommt  man 
dagegen  auf  widersinnige  allgemeine  Sätze,  die  wahr  sein 
müßten,  wenn  T  gelten  sollte,  so  erhält  man  außer  der 
Gewißheit,  T  sei  unmöglich,  noch  eine  starke  Hindeutung 
auf  die  Gründe  dieser  Unmöglichkeit;  sie  liegen  in  den 
allgemeinen  Wahrheiten,  gegen  welche  die  abgeleiteten 
widersinnigen  Bedingungen  streiten;  und  hierin  würden 
wir  die  Leistung  dieser  dritten  Beweisform  finden.  Es 
wird  durch  sie  nicht  nur  der  späteren  Auffindung  eines 
directen  und  progressiven  Gegenbeweises  vorgearbeitet, 
sondern  es  liegt  eine  ungemein  überzeugende  und  anschau- 
liche Verneinung  des  gegebenen  Satzes  T  in  der  Aufweisung 
aller  der  widersinnigen  Voraussetzungen,  die  zu  seiner 
Gültigkeit  nothwendig  sein  würden;  und  um  deswillen  ist 
dieser  regressive  Beweis  häufig  einem  progressiven  vor- 
zuziehen. Etwas  anderes  als  die  Ungültigkeit  von  T  kann 
er  nicht  liefern;  er  bleibt  also  eine  Form  der  Wider- 
legung. Führte  der  Rückschritt  zu  den  Bedingungen  von  T 
auf  lauter  zulässige  Voraussetzungen,  so  würde  hieraus 
nur  auf  dem  Gebiete  der  Mathematik  die  Gültigkeit  von  T 
wirklich  fließen;  denn  nur  hier  ist  es  möglich,  aus  einer 
gestellten    Aufgabe    alle    zu    ihrer    Lösung    nothwendigen 


Die  Formen  des  Beweises.  283 

Vorbedingungen  zu  entwickeln;  in  anderen  Anwendungs- 
fällen bleibt  der  Zweifel,  ob  man  in  der  That  aus  T  alle 
die  Denkfolgen  erschöpfend  abgeleitet  hat,  die  zu  den  Vor- 
bedingungen seiner  Gültigkeit  gehören;  der  nächste  Schritt, 
den  man  noch  weiter  thäte,  könnte  eine  vorauszusetzende 
Widersinnigkeit  zu  Tage  bringen.  Bejahend  reicht  daher 
auf  theoretischem  Gebiet  dieser  Beweis  nur  zur  Begründung 
der  Wahrscheinlichkeit  von  T  hin;  das  praktische  Leben 
aber  bedient  sich  seiner  zur  Empfehlung  von  Vorschlägen 
ebenso  wie  des  vorigen  progressiven.  Denn  nicht  nur  durch 
die  zu  erwartenden  Folgen  machen  wir  einen  Vorschlag 
annehmbar,  sondern  ebenso  sehr  dadurch,  daß  wir  nach- 
weisen, die  Bedingungen  seiner  Ausführung  seien  nicht 
im  Widerspruch  entweder  mit  allgemeingültigen  Bestim- 
mungen der  Möglichkeit  des  Bechts  und  der  Sittlichkeit, 
oder  mit  den  thatsächlichen  Mitteln,  die  ihr  zu  Geboto 
stehen.  Jeder  politische  Antrag  hat  diese  Doppelpflicht, 
theils  nach  der  vorigen  Beweisform  durch  seine  nützlichen 
Folgen,  theils  nach  dieser  durch  die  rechtliche  und  sittliche 
Zulässigkeit  seiner  allgemeinen  Voraussetzungen  sich  zu 
rechtfertigen;  und  jedes  alltägliche  Handeln  berücksichtigt 
nicht  nur  den  zu  erwartenden  Vortheil  einer  Vorkehrung, 
sondern  auch  die  Kosten,  deren  Aufwendung  ihn  möglich 
macht 

209.  Eine  vierte  Form,  die  zweite  direct  regres- 
sive, geht  von  gegebenen  Sätzen  aus,  um  aus  ihrer  Gültig- 
keit die  von  T  als  ihrer  erzeugenden  Bedingung  zu  beweisen. 
Zu  einem  solchen  Gedankengang  sind  wir  überaus  häufig 
aufgefordert;  denn  der  größte  Theil  unserer  allgemeinen  Er- 
kenntnisse wird  auf  diesem  Wege  des  Bückschlusses  von 
gegebenen  Thatsachen  auf  die  Bedingung  gewonnen,  die 
zur  Möglichkeit  dieser  Thatsachen  angenommen  werden 
muß.  Man  sieht  jedoch  leicht,  daß  die  bedeutendsten  An- 
wendungen hiervon  dem  erfindenden  Gedankengange  an- 
gehören, der  ein  noch  unbekanntes  T  aus  dem  Gegebenen 
zu  ermitteln  sucht.  Ist  der  allgemeine  Satz  T  selbst  ge- 
geben und  sieht  man  sich  nach  den  einzelnen  Sätzen  um, 
die  zu  seiner  Bestätigung  dienen  können,  so  beginnt  dies 
Verfahren  eigentlich  immer  mit  der  progressiven  Entwick- 
lung dessen,  was  als  Folge  von  T  gelten  muß.  wenn  T  gilt; 
und  erst  nachdem  man  davon  eine  Uebersicht  gebildet  hat, 
vergleicht  man  nun  das  Gefundene  mit  der  Erfahrung  oder 
mit  anderen  Wahrheiten,  um  aus  seiner  Gültigkeit  auf  die 
von  T  regressiv  zu  schließen.   Ich  überlasse  deshalb  manches 


284  Viertes  Kapitel. 

Hierhergehörige  späterer  Gelegenheit  und  erwähne  nur  eine 
Art  dieser  Form,  welche  aus  der  Gültigkeit  der  Einzelfälle 
eines  T  seine  allgemeine  Gültigkeit  folgert :  es  ist  die  voll- 
ständige Induction  oder  der  collective  Beweis. 
Man  ist  zu  ihm  sehr  oft  genöthigt;  so  ist  es  nicht  immer 
möglich,  einen  Satz  T  zugleich  und  auf  einmal  für  ganze 
und  gebrochene,  positive  und  negative,  rationale  nnd  ir- 
rationale, reelle  und  imaginäre  Größen  zu  beweisen;  aber 
jede  einzelne  dieser  Arten  von  Größen  kann  eine  'besondere 
Handhabe  darbieten,  um  zunächst  für  sie  allein  T  fest- 
zustellen; sind  wir  nun  sicher,  die  möglichen  einzelnen 
Anwendungsfälle  von  T  sämmtlich  umfaßt  zu  haben,  also 
in  diesem  Falle:  sind  wir  sicher,  daß  außer  den  genannten 
keine  anderen  Arten  von  Größen  denkbar  sind,  so  gilt 
nun  T  von  allen  Größen  überhaupt.  Es  wird  dann  ganz 
gewiß  in  dem  allgemeinen  Begriff  der  Größe  an  sich  selbst 
irgend  ein  Grund  liegen,  der  diese  allgemeine  Geltung  mög- 
lich macht;  gleichwohl  kann  man  nicht  immer  oder  doch 
nicht  immer  mit  hinlänglicher  Evidenz  und  Klarheit  diesen 
Grund  aufzeigen;  dann  bleibt  der  collective  Beweis  un- 
entbehrlich. 

210.  Die  Nothwendigkeit,  alle  Arten  von  Anwendungs- 
fällen des  T  vollständig  zu  umfassen,  um  T  allgemein  zu 
beweisen,  führt  hier  zu  einer  interessanten  speciellen  Form. 
Man  kann  freilich  jene  Vollständigkeit  an  sich  immer  er- 
reichen, wenn  man  alle  Fälle  in  den  einen  Q  und  in  Non  Q, 
dies  Non  Q  wieder  in  R  und  Non  R  eintheilt,  und  dies 
Verfahren  bei  einem  beliebigen  Gegensatz  U  und  Non  U 
abbricht;  aber  dies  nützt  selten;  denn  wenn  man  auch  für 
die  bejahten  Fälle  Q,  R,  U  leicht  noch  Einzelbeweise  findet, 
so  findet  man  doch  sehr  schwer  einen  solchen  für  das 
negative  Restglied  Non  U,  das  eine  Menge  verschiedener 
Fälle  zusammenfaßt.  Man  fühlt  daher  das  Bedürfniß,  aus 
einem  Falle  Q,  für  welchen  man  irgendwie  in  den  Besitz 
eines  Beweises  von  T  gekommen  ist,  die  übrigen  Fälle  R, 
U . .  so  abzuleiten,  daß  sich  zeigt,  die  Umwandlungen,  durch 
welche  Q  in  R,  R  in  U  übergeht,  ändern  entweder  die  Be- 
dingungen nicht,  auf  denen  die  Gültigkeit  von  T  für  Q  be- 
ruhte, oder  sie  erzeugen  dieselben  Bedingungen  stets  von 
neuem  wieder.  Dies  ist  der  in  der  Mathematik  bekannte, 
zuerst  von  Jacob  Bernoulli  formulirte  Beweis  von  n 
zu  n  + 1,  hauptsächlich  anwendbar,  wenn  die  Einzelfälle, 
in  denen  allen  T  gelten  soll,  von  selber  eine  Reihe  bilden, 
in  der  jedes  folgende   (n  +  l)te  Glied  auf   dieselbe  genau 


Die  Formen  des  Beweises.  285 

angebbare  Weise  aus  dem  vorhergehenden  nten  gebildet 
wird.  Gilt  dann  T,  sobald  es  von  dem  Gliede  n  gilt,  auch 
von  dem  Gliede  n  -f- 1,  um  der  Art  willen,  wie  n  -h  1  aus  n 
entsteht,  so  gilt  es  aus  gleichem  Grunde  auch  von  dem 
nächstfolgenden  Gliede  n  +  2  und  so  fort  von  allen  Gliedern 
der  Reihe.  So  pflegt  man  z.  B.  im  elementaren  Unterricht 
den  binomischen  Lehrsatz  für  ganze  Exponenten  anschau- 
lich zu  beweisen,  indem  man  die  wiederholte  Multiplication 
des  Binoms  mit  sich  selbst  ausführt.  Der  allgemeine  Ge- 
danke dieses  Beweises  ist  aber  gar  nicht  auf  Mathematik 
beschränkt,  sondern  wird  im  gewöhnlichen  Leben  sehr  oft, 
und  zuweilen  unter  dem  nicht  ganz  passenden  Namen  eines 
Beweises  durch  Analogie,  angewandt.  Um  einen  Vor- 
schlag oder  eine  Behauptung  annehmbar  zu  machen,  er- 
wähnt man  zuerst  einen  Fall,  in  welchem  jener  offenbar 
empfehlenswerth,  diese  offenbar  gültig  ist;  dann  zeigt  man, 
daß  die  denkbaren  anderen  Fälle  sich  von  jenem  im  Grunde 
durch  gar  keinen  Zug  unterscheiden,  welcher  im  Stande 
wäre,  hierin  eine  Aenderung  hervorzubringen;  folglich  gelte 
T  allgemein.  Wie  ein  unvorsichtiger  oder  sophistischer 
Gebrauch  dieses  Verfahrens  zum  Irrthum  führt,  ist  leicht 
zu  sehen.  Zwischen  zwei  sehr  verschiedene  Fälle  A  und  Z 
schaltet  man  sehr  viele  Zwischenfälle  ein,  die  sich  um  un- 
beträchtliche Differenzen  d  unterscheiden.  Man  zeigt  dann 
nicht,  daß  T,  wenn  es  von  A  gilt,  auch  von  A-[-d  =  B 
gelten  müsse,  sondern  setzt  dies  einfach,  wegen  der  Ge- 
ringfügigkeit von  d,  voraus;  so  schließt  man  weiter  von  B 
auf  C,  und  trägt  endlich  die  Gültigkeit  des  T  von  A,  für 
welches  sie  feststand,  auf  ein  Z  über,  das  durch  Ansamm- 
lung der  vielen  vernachlässigten  Differenzen  d  von  A  völlig 
verschieden  ist  und  nicht  im  mindesten  zu  dem  wirklichen 
Anwendungsgebiete  des  T  gehört. 

211.  Ich  kann  kürzer  über  die  indirecten  Beweise  sein ; 
sie  verhalten  sich  formell  zu  Non  T  wie  die  directen  zu  T 
und  erlangen  nur  darum  einige  Eigenthümlichkeit,  weil  wir 
durch  sie  nicht  zu  Non  T,  sondern  zu  T  kommen  wollen; 
sie  sind  also  nicht  behauptende,  sondern  widerlegende  Be- 
weise in  Bezug  auf  Non  T.  Die  fünfte  Beweisform,  die 
erste  indirecte  progressive,  würde  die  Ungültigkeit 
von  Non  T  aus  allgemeinen  Gründen  nachweisen,  was  durch 
Schlüsse  in  der  ersten  und  zweiten  Figur  mit  einer  all- 
gemein negativen  Prämisse  geschehen  kann.  Aber  man  wird 
selten   Gelegenheit  zu  dieser   Beweisform  finden;  gibt   es 


286  Viertes  Kapitel. 

für  T  einen  directen  Beweis,  so  wird  man  diesen  vorziehen  ; 
gibt  es  keinen,  so  pflegt  eine  allgemeine  Widerlegung  von 
Non  T  um  nichts  leichter  zu  sein.    Für  den  Gebrauch  wichtig 
ist  daher  nur  die  Nebenform  dieses  Beweises,  welche  dem 
einen  contradictorischen  Gegentheil  Non  T  von  T  die  voll- 
ständige   Summe    aller    conträren    Gegentheile    substituirt. 
Für  jedes  dieser  Gegentheile,  eben  weil  jedes  ein  ganz  be- 
stimmter  positiver   Inhalt  ist,    läßt  sich   eher   ein   Beweis 
seiner   Ungültigkeit  hoffen,  der  aus  allgemeinen  Gründen, 
also  in  progressiver  Form  geführt  werden  kann.     Die  Ver- 
einigung aller  dieser  negativen  Einzelbeweise  zu  dem  Be- 
weis   der   allgemeinen   Ungültigkeit   von   Non   T    ist   dann 
freilich  schon  ein  regressiver  Gedankengang,  der  dem  posi- 
tiven  cüUectiven  Beweise  entspricht.     Denkt  man  sich   T 
und  alle  conträren  Gegentheile  desselben  vereinigt  als  die 
Summe  aller  überhaupt  denkbaren  Beziehungen,  die  zwischen 
den  Beziehungspunkten  S  und  P  des  Inhalts   von  T  vor- 
kommen können,  so  ist  die  hier  erwähnte  Beweisform  unter 
dem    Namen    des    Beweises    durch    Ausschließung 
bekannt :  die  Geltung  von  T  folgt  dann  aus  der  Ungültigkeit 
aller  anderen  Glieder  dieser  vollständigen  Disjunction.    Und 
von  dieser  Form  selbst  ist  wieder  eine  der  wichtigsten  An- 
wendungen   der   besondere   Fall    einer   dreigliedrigen   Dis- 
junction, in  welcher  T  zwei  Gegentheile  hat,  oder  Non  T 
in   zwei  contradictorische  Gegensätze   zerfällt;  es  entsteht 
dann   der  Beweis   durch   Eingrenzung.     Man  kennt 
ihn  und  seine  außerordentliche  Wichtigkeit  in  der  Mathe- 
matik, und  er  gehört  hier  ebenso  sehr  dem  erfindenden  als 
dem  beweisenden  Gedankengange  an:  jede  Größe  a  ist  ent- 
weder gleich  oder  größer  oder  kleiner  als  eine  andere  mit 
ihr  vergleichbare,  d ;  läßt  sich  zeigen,  daß  sie  weder  größer 
noch  kleiner  als  d  ist,  so  ist  der  Satz  a  =  d  erwiesen.     In 
der    Anwendung    gestaltet    sich    dieser   Gedanke   meistens 
anders;   denn  das  Vorige  setzt  voraus,  daß  man  auf  den 
bestimmten  Werth  d,  der  zuletzt  dem  a  gleich  sein  wird, 
bereits  aufmerksam  geworden  sei.     Dies  wird  in  der  Regel 
nicht  der  Fall  sein,  sondern  man  wird  nur  wissen,  daß  a 
kleiner  als  eine  zweite  Größe  b  und  größer  als  eine  dritte  c 
ist;  gelingt  es  dann  nachzuweisen,  daß  dasselbe  Verhältniß 
immer  bestehen  bleibt,  wenn  man  den  Werth  von  b  auf  ß 
verringert,    den   von   c  auf  y   erhöht,    so   wird   der   Werth 
von  a  zwischen  einander  immer  näher  rückenden  Grenzen 
ß   und   Y  liegen   und   es   wird   möglich   sein,   ihn   mit   un- 


Die  Formen  des  Beweises.  287 

beschränkt  wachsender  Annäherung  zu  berechnen.  Das  be- 
kannteste und  elementarste  Beispiel  bietet  die  Bestimmung 
der  Länge  des  Kreisumfanges  durch  Einschließung  zwischen 
die  größere  des  umschriebenen  und  die  kleinere  des  ein- 
geschriebenen Vielecks,  von  denen  man  die  erste  durch 
fortgesetzte  Vermehrung  der  Seitenzahl  unbegrenzt  ab- 
nehmen, die  zweite  zunehmen  läßt.  Auf  Beweisformen 
dieser  Art  muß  man  seine  Aufmerksamkeit  richten;  sie 
sind  die  mächtigen  operativen  Hülfsmittel,  durch  welche  wir 
wirklich  unsere  Erkenntnisse  erweitern;  Ausbildung  und 
Anwendung  dieses  Beweises  durch  Archimedes  ist  ein 
größerer  Fortschritt  der  angewandten  Logik,  als  irgend  einer 
aus  der  blos  s.yllogistischen  Kunst  des  Aristoteles  hervor- 
ging. 

212.  Eine  sechste,  die  zweite  progressiv  in- 
directe  Form,  würde  von  der  Annahme  des  Non  T  aus- 
gehen, ihre  nothwendigen  Folgen  entwickeln  und  aus  der 
Ungültigkeit  dieser,  in  Bezug  auf  diesen  letzten  Schritt 
freilich  regressiv,  auf  die  Ungültigkeit  von  Non  T  zurück- 
schließen. Ich  verweise  auf  den  zweiten  direct  progressiven 
Beweis  und  füge  in  Bezug  auf  diesen  indirecten  nur  hinzu, 
daß  alle  gültigen  Folgen,  die  sich  aus  Non  T  ableiten  lassen, 
hier  bedeutungslos  sind ;  denn  auch  aus  einem  falschen 
Satze  können  über  solche  Punkte,  für  deren  gegenseitige 
Verhältnisse  sein  Irrthum  gleichgültig  ist,  eine  Anzahl  zu- 
lässiger Consequenzen  fließen;  aber  eine  einzige  ungültige, 
mit  Non  T  nothwendig  verbundene  Folge  hebt  dessen  all- 
gemeine Gültigkeit  auf.  Widerstreitet  diese  Folge  lediglich 
gegebenen  Thatsachen,  so  hat  man  eigentlich  keinen  Grund, 
diesen  Beweis  eine  deductio  ad  absurdum  zu  nennen, 
obwohl  dieser  Name  zuweilen  allen  Anwendungen  dieser 
Form  gegeben  wird ;  man  hat  vielmehr  nur  die  thatsächliche 
Ungültigkeit  eines  an  sich  nicht  undenkbaren  und  auch  nicht 
absurden  Gedankens  erwiesen.  Absurd  oder  abgeschmackt 
ist  aber  eigentlich  auch  nicht  das,  was  als  denkunmöglich 
bekannt  ist,  sondern  das,  was  allen  probablen  Annahmen, 
dem  allgemeinen  Wahrheitsgefühl  und  einer  Menge  in  diesem 
enthaltener,  vielleicht  beweisbarer,  aber  nicht  wirklich  be- 
wiesener Wahrheiten  widerspricht.  Daß  2  =  3  sei,  ist  mehr 
als  absurd;  es  ist  unmöglich;  daß  aber  die  ganze  Welt  ein 
gedankenloser  Spaß  sei,  daß  die  Aeltern  den  Kindern  ge- 
horchen sollen,  daß  man  Verbrecher  belohnen  und  die  Sünde 
schonen  müsse,  sind  absurde  Behauptungen.  Deductio  ad 
absurdum  würde  ich  daher  nur  den  indirect  progressiven 


288  Viertes  Kapitel. 

Beweis  nennen,  der  aus  Non  T  solche  nicht  denkunmögliche, 
<aber  unzähligen  für  Wahrheit  geltenden  und  hinlänglich 
jjegründeten  Ueberzeugungen  widersprechende  Folgen  ent- 
wickelt. So  kommt  dieser  Beweis  im  Leben  tausendfach 
vor,  namentlich  überall  da,  wo  Non  T  einen  an  sich  viel- 
leicht richtigen  Gedanken  zu  allgemein  ausspricht,  also 
von  einer  zu  weiten  Definition  des  Subjects  S,  dem  ein  P 
zukommen  soll,  oder  von  einer  zu  weiten  Definition  dieses 
F  ausgeht;  auf  diese  Weise  zeigt  man  die  Unvernunft  und 
Abgeschmacktheit  eines  Gesetzvorschlags,  gleichviel  ob  er 
Hechte  und  Pflichten  nimmt  oder  zutheilt,  indem  man  deut- 
lich macht,  welche  unerträglichen  und  unerhörten  anderen 
Consequenzen  sich  aus  der  Allgemeingültigkeit  des  Vor- 
geschlagenen ergeben  würden.  Gewöhnlich  schließt  man 
jedoch  in  die  deductio  ad  absurdum  auch  die  Form  des 
japagogischen  Beweises  ein,  welche  auf  denkunmögliche 
folgen  des  angenommenen  Satzes  führt  und  ihn  durch  sie 
widerlegt.  Es  ist  ein  besonderer  Fall  hiervon,  wenn  diese 
Entwicklung  auf  eine  Folge  führt,  welche  unmittelbar  die 
gemachte  Voraussetzung  selbst  aufhebt,  so  daß  der  innere 
Widerspruch,  der  in  der  angenommenen  Gültigkeit  derselben 
Jag,  von  selbst  zu  dem  Ergebniß  ihrer  Ungültigkeit  treibt. 
Ein  einfaches  Beispiel  sei  der  indirecte  Beweis  für  den 
Satz  T:  auf  einer  Geraden  ab  ist  in  derselben  Ebene  und 
in  demselben  Punkte  c  nur  eine  Senkrechte  cd  möglich. 
J^on  T  würde  also  behaupten,  in  c  seien  unter  denselben 
Bedingungen  mehrere  Senkrechte  möglich.  Angenommen 
nun,  dies  sei  richtig,  angenommen  femer,  cd  sei  die  erste 
Senkrechte,  d.  h.  sie  bilde  mit  ab  die  beiden  gleichen 
Nebenwinkel  a,  so  wird  jede  zweite  Senkrechte  ce,  um 
von  cd  unterschieden  zu  sein,  mit  ihr  am  Punkte  c  irgend 
einen  Winkel  b  bilden  müssen,  zugleich  aber,  damit  sie 
senkrecht  auf  ab  sei,  mit  dieser  gleiche  Nebenwinkel.  Die 
Anschauung  der  Figur  lehrt  dann,  daß  die  beiden  Winkel 
a-{-b  und  a  —  b  gleich  und  jeder  gleich  einem  rechten  sein 
müssen;  ist  aber  a4-^  ein  rechter  Winkel,  so  ist  a,  als 
Theil  dieses  rechten,  kein  rechter  Winkel,  gegen  die  Vor- 
aussetzung, welche  behauptete,  er  sei  einer.  Die  Gleichung 
a  -{-  b  =  a  —  b  kann  nur  bestehen,  wenn  b  =  o,  also  ce 
mit  cd  zusammenfällt.  Mithin  gilt  T:  auf  demselben  Punkt 
einer  Geraden  ist  in  derselben  Ebene  nur  eine  Senkrechte 
möglich.  Zu  Beweisen  dieser  Art  wird  man  überall  geführt 
werden,  wo  es  sich  um  die  einfachsten  grundlegenden  An- 
ßchauungen  oder  Sätze  eines  zusammenhängenden  Gedanken- 


Die  Formen  des  Beweises.  289 

gebiets  handelt;  die  Unmöglichkeit,  die  Beziehung  zwischen 
S  und  P  anders  zu  fassen,  als  sie  in  T  ausgedrückt  ist, 
also  die  Fruchtlosigkeit  des  Versuchs,  Non  T  zu  behaupten, 
wird  sich  immer  dadurch  verrathen,  daß  die  daraus  fließen- 
den Folgen  das  Subject  S  oder  das  Prädicat  P  aufheben 
oder  verändern,  die  man  beide  für  Non  T  in  demselben 
Sinne  gültig  voraussetzte,  in  welchem  sie  für  T  galten. 

213.  Wie  der  directe,  so  ist  auch  der  indirecte  Be- 
weis zweier  regressiven  Formen  fähig;  beide,  die 
siebente  und  achte  unserer  Uebersicht,  haben  wenig 
Eigenthümliches ;  sie  verhalten  sich  zur  Ungültigkeit  von 
Non  T  ganz  wie  die  beiden  direct  regressiven  zur  Gültig- 
keit von  T.  Die  erste  würde  von  Non  T  zu  den  Bedingungen 
zurückgehen,  die  zu  seiner  Gültigkeit  nothwendig  wären, 
und  aus  der  Ungültigkeit  oder  Undenkbarkeit  dieser  Prin- 
cipien  würde  sie  dann  auf  die  des  Non  T  zurückschließen. 
In  der  Ausführung  ist  dies  Verfahren  wenig  von  dem  vorigen 
progressiven  verschieden;  denn  die  zur  Richtigkeit  von 
Non  T  nöthigen  Principien  findet  man  doch  nur,  wenn  man 
Non  T  als  ihren  Erkenntnißgrund  benutzt,  und  sie  aus  ihm 
als  Folgen,  mithin  progressiv,  entwickelt.  Die  zweite  Form 
würde  von  gegebenen  Sätzen  oder  Thatsachen  ausgehn  und 
zeigen,  daß  sie  nicht  von  Non  T  als  ihrem  Grunde  abhängen 
können,  vielmehr  die  Ungültigkeit  dieser  Annahme  aus- 
drücklich verlangen.  Auch  dies  läßt  sich  am  Ende  nur  aus- 
führen, wenn  man  entweder  Non  T  progressiv  in  seine 
Folgen  entwickelt  und  findet,  daß  das  Bestehen  derselben 
die  gegebenen  Thatsachen  unmöglich  machen  würde,  oder 
indem  man  diese  gegebenen  Thatsachen  als  Erkenntniß- 
grund verwendet  und  aus  ihnen,  ebenfalls  progressiv,  ihre 
nothwendigen  Voraussetzungen  ableitet;  dies  aber  wird  am 
seltensten  viel  nützen,  denn  meistens  wird  dann  die  noth- 
wendige  Gültigkeit  von  T  als  solcher  Voraussetzung  leichter 
direct  zu  ermitteln  sein  als  indirect  die  nothwendige  Nicht- 
geltung  von  Non  T.  Ueberhaupt  schließe  ich  diese  Ueber- 
sicht mit  der  Bemerkung,  daß  ich  zwar  die  verschiedenen 
Absichten  der  Beweisführung  durch  meine  Eintheilung 
richtig  glaube  gesondert  zu  haben,  daß  aber  nicht  jeder 
dieser  Absichten  eine  gleich  wichtige  und  gleich  eigenthüm- 
liche  mit  den  andern  nicht  vermischte  Beweisform  ent- 
spricht; es  reichte  daher  hin,  diejenigen  eingehender  zu 
erwähnen,  die  sich  im  Gebrauche  als  häufig  anwendbare 
Figuren  bewährt  haben. 

214.  Man  wird  in  meiner  Aufzählung  die  Beweise  durch 

Lotze,  Logik.  19 


290  Viertes  Kapitel. 

Analogie  vermissen;  ich  glaube  allerdings  nicht  an  ihr 
Dasein.  In  allen  Fällen  wo  man  glaubt,  Beweise  durch 
Analogie  führen  zu  können,  ist  die  Analogie  in  der  That 
gar  nicht  der  Grund  für  die  Richtigkeit  des  Behaupteten; 
sie  bildet  nur  die  erfinderische  Gedankenbewegung,  durch 
welche  man  zur  Entdeckung  eines  zulänglichen  Beweis- 
grundes gelangt;  auf  diesem,  und  dann  immer  durch  Sub- 
sumption  des  Einzelnen  unter  ein  Allgemeines,  beruht  die 
Nothwendigkeit  des  zu  beweisenden  Satzes.  Obwohl  es 
weitläufig  sein  wird,  glaube  ich  doch  hierauf  eingehen  zu 
müssen.  Als  ausnahmslos  gültigen  Grundsatz  strenger  Ana- 
logie kann  man  diesen  betrachten,  daß  von  Gleichem  unter 
gleichen  Bedingungen  Gleiches  gelte,  eine  Behauptung,  der 
die  Mathematik  für  ihre  verschiedenen  Aufgaben  noch  eine 
Reihe  besonderer  Ausdrucksformen  gibt.  Es  ist  leicht, 
diesen  Grundsatz  auf  den  der  Subsumption  zurückzubringen  : 
wenn  von  einem  S  unter  der  Bedingung  x  ein  P  gilt,  so 
kann  S  und  x  zusammen  als  ein  Allgemeinbegriff  M  ge- 
faßt werden,  dem  als  solchem  P  zukommt;  unter  dasselbe 
M  ist  jedes  zweite  S  zu  subsumiren,  das  dem  ersten  gleich 
und  der  gleichen  Bedingung  x  unterworfen  ist;  deßwegen 
gehört  diesem  S  dasselbe  Prädicat,  wie  dem  ersten.  Diese 
Transformation,  die  hier  willkürlich  und  überflüssig  er- 
scheinen kann,  wird  man  schon  bei  dem  zweiten  Satze 
nicht  entbehren  können:  von  Ungleichem  unter  gleichen 
Bedingungen  gelte  Ungleiches.  Man  wird  geneigt  sein, 
auch  ihn  für  unbedingt  gültig  anzusehen,  aber  in  der  An- 
wendung erwachsen  doch  Verlegenheiten.  Nehmen  wir  an, 
die  ungleichen  Größen  a  und  b  seien  durch  dieselbe  dritte 
c  dividirt,  so  wird  in  diesem  ersten  Falle  der  Satz  gelten: 
die  Quotienten  werden  ungleich  sein.  Dividiren  wir  aber 
im  zweiten  Falle  jede  der  beiden  ungleichen  Größen  durch 
sich  selbst,  so  scheint  er  nicht  zu  gelten,  denn  die  Quotienten 
sind  beide  =  1.  Natürlich  wird  man  sogleich  erinnern,  hier 
sei  die  Bedingung  x,  der  man  die  ungleichen  Elemente  a 
und  b  unterwarf,  eben  nicht  die  gleiche  für  beide;  denn 
wenn  wir  jede  Größe  durch  sich  selbst  dividiren,  so 
führen  wir  ja  ihre  Ungleichheit  wieder  in  den  Inhalt  der 
Bedingung  ein,  die  wir  für  beide  gleich  denken  wollten. 
Aber  diese  Erörterung  paßt  nicht  für  den  dritten  Fall :  wenn 
wir  beide  Größen  mit  0  multipliciren,  so  ist  das  Product 
beide  male  =0.  Man  wird  nicht  leugnen  können,  daß  die 
Operation,  eine  Größe  Nullmal  zu  nehmen,  durchaus  ein- 
deutig ist,  und  nicht,  wie  im  vorigen  Falle,  abhängig  von 


Die  Formen  des  Beweises.  291 

dem  Werthe  der  Größe,  auf  die  man  sie  anwendet;  dagegen 
wird  man  mit  Recht  hervorheben,  hier  sei  eben  der  Sinn 
der  gleichen  Bedingung  oder  Operation  x  von  der  eigen- 
thümlichen  Art,  daß  er  die  Ungleichheit  der  Größen,  auf  die 
man  diese  anwendet,  unwirksam  macht.  In  dem  vierten 
Falle,  wenn  wir  die  ungleichen  a  und  b  quadriren,  ist  der 
Sinn  dieser  Bedingung,  der  wir  sie  unterwerfen,  wieder  ab- 
hängig von  den  Größen  selbst,  wie  im  zweiten  Falle,  aber 
mit  dem  entgegengesetzten  Erfolg:  die  Quadrate  a^  und  b^ 
sind  ungleich.  Die  Erfolge  sind  endlich  wieder  gleich  und 
=  1  in  dem  fünften  Falle,  wenn  wir  a  und  b  auf  die  nullte 
Potenz  erheben;  und  hier  scheint  die  Bedingung,  der  wir 
die  ungleichen  Größen  unterwarfen,  von  ihrem  eigenen 
Werth  unabhängig;  in  der  That  ist  aber  die  Erhebung  auf 
die  nullte  Potenz  eine  für  sich  ganz  unvorstellbare  Ope- 
ration;    man   muß   sich   erinnern,   daß  allgemein  a"*~°  eine 

andere   Bezeichnung   für    — ,    folglich    auch   a^~^=a*'   iden» 

ä 

tisch   mit  —   ist.    dieser    fünfte   Fall    also   derselbe   wie  der 
a 

zweite.  Will  man  alle  diese  Zweideutigkeiten  vermeiden, 
so  bleibt  nur  übrig  zu  sagen:  von  Ungleichem  gilt  Un- 
gleiches unter  gleichen  Bedingungen  dann,  wenn  die  Natur 
der  Bedingung  der  Ungleichheit  des  Ungleichen  ihre  Be- 
deutung läßt;  es  gilt  Gleiches,  wenn  die  Bedingung  so  be- 
schaffen ist,  daß  sie  diese  Ungleichheit  wirkungslos  macht. 
Aber  diese  beiden  Sätze  sind  ganz  unfruchtbare  Tauto- 
logien; nicht  einmal  die  armselige  Entscheidung  darüber, 
ob  Gleiches  oder  Ungleiches  gelten  werde,  machen  sie 
möglich  ohne  eine  vorgängige  Zergliederung  des  jedesmal 
gegebenen  Falles,  welche  uns  lehrt,  unter  welche  allgemeine 
Regel  MP  denn  eigentlich  hier  a  und  b  zu  subsumiren 
sind,  und  welche  bestimmten  Prädicate  p^  und  p2  ihnen 
vermöge  der  speciellen  Werthe  zukommen,  mit  denen  sie, 
als  ungleiche  Arten  des  M,  an  dessen  allgemeinem  P  theil- 
nehmen.  Nachdem  man  diese  p^  und  p^  gefunden  hat,  sieht 
man,  ob  beide  gleich  oder  ungleich  sind;  nicht  durch  Ana- 
logie also,  sondern  durch  Subsumption  wird  die  ganze 
Folgerung  zu  Stande  gebracht. 

215.  Den  dritten  Satz:  von  Gleichem  gelte  unter  un- 
gleichen Bedingungen  Ungleiches,  kann  man  höher  schätzen ; 
in  der  That  würde  es  dem  Gesetze  der  Identität  wider- 
sprechen, wenn  ein  identisches  Subject  unter  wirklich  ver- 

19* 


292  Viertes  Kapitel. 

schiedenen  Bedingungen  keinen  Einfluß  dieser  Verschieden- 
heit spüren  sollte,  und  ich  werde,  weit  später,  Gelegenheit 
haben,  diesen  Satz  als  eine  nicht  unfruchtbare  Maxime  bei 
der  Behandlung  philosophischer  Aufgaben  zu  benutzen. 
Für  den  Augenblick  fallen  aber  die  zahlreichen  scheinbaren 
Ausnahmen  auf.  Wie  wäre  denn  die  Aufgabe  der  Maschinen- 
technik lösbar,  einen  Apparat  zu  construiren,  der  sich  unter 
wechselnden  Bedingungen  selbst  regulirt  und  gleichförmigen 
Gang  beibehält,  wenn  schlechthin  dasselbe  Subject  oder 
Substrat  unter  verschiedenen  Bedingungen  verschiedene 
Wirkungen  erfahren  müßte?  Die  genauere  Betrachtung 
entfernt  diesen  Einwurf ;  sie  lehrt,  daß  in  den  hierher  ge- 
hörigen Fällen  entweder  die  ungleichen  Bedingungen  nicht 
einfach,  sondern  Paare  von  Bedingungen,  oder  das  gleiche 
Subject  nicht  einfach,  sondern  ein  Ganzes  von  verschiedenen 
Theilen  ist.  Zwei  Paare  von  Bedingungen  aber  können  in 
Bezug  auf  eine  bestimmte  Wirkung  äquivalent  sein,  weil 
die  Ungleichheiten  der  einzelnen  Glieder  in  jedem  Paar, 
v^ermöge  der  bestimmten  Beziehung,  die  zwischen  ihnen 
stattfindet,  sich  bis  zu  gleichen  Resten  aufheben;  ander- 
seits auf  die  verschiedenen  Theile  eines  Ganzen  können 
verschiedene  ungleiche  Bedingungen  so  wirken,  daß  diese 
Einzelwirkungen  in  jedem  Falle  einander  bis  zu  gleichem 
Folgezustand  des  Ganzen  modificiren.  Ein  einfaches 
materielles  Element,  das  außer  Beziehung  zu  anderen  steht, 
kann  niemals  unter  dem  Anstoß  der  einen  Kraft  a  dieselbe 
Bewegung  annehmen,  wie  unter  dem  einer  ungleichen  Kraft  b. 
Aber  unter  der  gleichzeitigen  Einwirkung  von  a  und  b 
kann  es  dieselbe  Geschwindigkeit  und  Richtung  erhalten, 
wie  unter  der  verbundenen  Einwirkung  von  c  und  d; 
wirken  diese  vier  Kräfte  in  derselben  geraden  Linie,  so 
reicht  die  Gleichheit  ihrer  algebraischen  Summen,  also  die 
Bedingung  a±b=:cid  hin,  um  dem  materiellen  Element 
die  gleiche  Bewegung  m  mitzutheilen ;  allgemeiner:  jede 
Bewegung  m  läßt  sich  als  Resultante  unzähliger  ver- 
schiedenen Paare  von  Componenten  begreifen.  Man  kann 
sich  nun  dies  Ergebniß  verschieden  zurechtlegen.  Betrachtet 
man  die  Summen  a^-b  und  c i d  als  die  auf  das 
materielle  Element  einwirkenden  Bedingungen,  so  sind  diese 
Bedingungen  selbst  einander  gleich,  und  unser  Fall  gehört 
unter  den  Satz,  daß  von  Gleichem  unter  gleichen  Um- 
ständen Gleiches  gelte;  läßt  man  aber  die  einzelnen  Kräfte 
gesondert,  so  scheint  er  einen  Ausnahmsfall  des  dritten 
Satzes   zu  bilden.     Gleichwohl   möchte  ich  die  allgemeine 


Die  Formen  des  Beweises.  293 

Gültigkeit  dieses  letzteren  aufrecht  halten,  denn  seine  wahre 
Meinung  ist  es  doch  offenbar:  die  Summe  aller  Ein- 
wirkungen, welche  dasselbe  Subject  oder  Substrat  unter  ver- 
schiedenen Bedingungen  erfährt,  werde  immer  verschieden 
sein.  Wenn  daher  zwei  Paare  von  Bedingungen  auch  äqui- 
valent sind  in  Bezug  auf  eine  Art  der  Wirkung,  die  sie  an 
demselben  Subject  erzeugen,  so  sind  sie  es  deswegen  nicht 
auch  in  Bezug  auf  alle  Wirkungen,  und  wir  verfahren  un- 
gehörig, wenn  wir  nur  jenen  gleichen,  aber  nicht  diesen 
ungleichen  Theil  ihres  Einflusses  in  Betracht  ziehen.  Wenn 
a  und  b  in  entgegengesetzter  Richtung  auf  ein  materielles 
Element  wirken,  ebenso  c  und  d,  und  wenn  die  Summen 
oder  Differenzen  a  i  b  und  c  i  d  gleich  sind,  so  erfährt 
allerdings  dies  Element  die  gleiche  Bewegung  m,  und  es 
bleibt  in  Ruhe,  wenn  a  =  b  und  c  =  d ;  aber  es  erleidet 
offenbar  sehr  verschiedene  Drucke,  je  nachdem  es  von 
zwei  großen  oder  zwei  kleinen  Kräften  im  Gleichgewicht 
gehalten  wird.  Wenn  eine  sich  selbst  compensirende 
Maschine  unter  constanten  und  unter  veränderlichen  Be- 
dingungen gleichen  Gang  behält,  so  ändert  sie  doch  die 
Stellung  ihrer  Bestandtheile  mit  der  Veränderung  der  Be- 
dingungen, und  ihre  Abnutzung  ist  größer,  wenn  sie  ge- 
nöthigt  ist,  ihre  Compensation  auszuführen,  als  wenn  sie 
unter  immer  gleichförmigen  Umständen  dieselbe  unbenutzt 
läßt.  Wenn  auf  die  eine  Schale  einer  im  luftleeren  Räume 
sich  im  Gleichgewicht  befindenden  Wage  volles  Licht,  auf 
die  andere  der  Schatten  eines  Gegenstandes  fällt,  so  wird 
das  Gleichgewicht  nicht  gestört,  aber  die  erste  Schale  wird 
doch  mehr  erwärmt  und  ausgedehnt  als  die  andere.  End- 
lich, wenn  wir  a  einmal  mit  ab,  dann  mit  ba  multipliciren, 
so  sind  diese  Bedingungen  freilich  ganz  äquivalent  in  Be- 
zug auf  die  Größe  des  herauskommenden  Produkts,  aber 
doch  nicht  in  Bezug  auf  seine  Structur,  und  aab  ist  immer 
eine  andere  Combination  als  aba.  Man  kann  diese  an  sich 
schon  sehr  verschiedenen  Beispiele  leicht  vermehren  und 
dadurch  die  allgemeine  Gültigkeit  des  dritten  Satzes  stützen; 
aber  sein  Nutzen  für  einen  Beweis  durch  Analogie  bleibt 
(loch  sehr  gering;  man  kann  durch  ihn  nicht  darthun,  was 
doch  alle  Analogie  will,  daß  in  einem  zweiten  Fall  das- 
selbe stattfinde,  wie  in  einem  ersten,  sondern  man  kommt 
nur  zu  dem  negativen  Schlußsatz,  daß  jede  Verschieden- 
heit der  Bedingungen  an  demselben  Subjecte  die  Gleichheit 
der  Gesammtwirkung  unmöglich  mache;  wa§  an  dieser  noch 
gleich,  was  ungleich  ist,  bedarf  allemal  ganz  andersartiger 


294  Viertes  Kapitel. 

Untersuchung.  Den  vierten  Satz  erwähne  ich  nur;  daß  von 
Ungleichem  unter  ungleichen  Bedingungen  Ungleiches  gelte, 
ist  nach  allem  Vorigen  so  offenbar  unbegründet  oder  zwei- 
deutig, daß  eine  nützliche  Anwendung  dieser  Behauptung 
undenkbar  ist.  Ich  füge  nur  zum  Abschluß  hinzu,  daß 
die  Gedanken,  die  man  Beweise  durch  Analogie  nennen  zu 
können  meint,  nicht  einmal  unmittelbar  von  diesen  Grund- 
sätzen ausgehen,  obwohl  sie  auf  dieselben  zurückgeführt 
werden  müßten.  Ihre  allgemeine  Voraussetzung  lautet  viel- 
mehr: von  Aehnlichem  gelte  unter  ähnlichen  Bedingungen 
Aehnliches.  Nun  ist  Aehnlichkeit  immer  eine  Mischung 
von  Gleichheit  in  der  einen  und  Ungleichheit  in  der  anderen 
Rücksicht;  fällt  es  daher  schon  schwer,  aus  den  vorigen 
Sätzen,  welche  doch  die  Bestandtheile  der  Mischung  sondern, 
eine  triftige  Folgerung  zu  ziehen,  so  ist  dies  noch  weniger 
möglich,  wenn  in  den  Aehnlichkeiten,  auf  die  man  sich 
beruft,  beide  ungeschieden  verschmolzen  sind.  Ich  glaube 
daher  hinlänglich  gezeigt  zu  haben,  daß  es  Beweise  durch 
Analogie  nicht  gibt;  ich  leugne  damit  nicht,  daß  die  Be- 
achtung selbst  entfernter  Aehnlichkeiten  ein  sehr  wirksames 
Hülfsmittel  des  erfindenden  Gedankenganges  theils  zur  Ent- 
deckung neuer  Wahrheiten,  theils  zur  Aufsuchung  eines 
Beweisgrundes  für  gegebene  ist;  denn,  um  mich  kurz  zu- 
sammenzufassen, nicht  die  abstracte  Gültigkeit  der  drei 
letzten  Grundsätze  braucht  bezweifelt  zu  werden,  sondern 
nur  ihre  Fruchtbarkeit  für  den  Beweis.  Man  kann  nicht 
um  unzergliederter  Aehnlichkeit  zweier  Subjecte  willen  das 
Prädicat  des  einen  auf  das  andere  übertragen,  sondern  nur 
um  nachgewiesener  Gleichheit  willen,  wenigstens  der  Gleich- 
heit in  Bezug  auf  die  Bedingungen,  an  denen  dies  Prädicat 
überall  hängt;  und  dies  führt  immer  auf  die  Aufstellung 
eines  allgemeinen  Satzes  MF  und  auf  die  Unterordnung 
beider  Subjecte  unter  den  bedingenden  Begriff  M  zurück. 

216.  Ich  habe  noch  der  mathematischen  Folgerungen 
zu  gedenken,  die  man  als  Schlüsse  nach  strenger  Ana- 
logie bezeichnet.  Da  der  Name  der  Analogie  ursprünglich 
von  den  Proportionen  herrührt,  so  hat  jedes  Verfahren,  das 
auf  diese  zurückführt,  ein  begründetes  Recht  auf  die  an- 
geführte Benennung ;  indessen  hat  doch  der  Sprachgebrauch 
es  dahin  gebracht,  daß  wir  unter  einem  Schluß  durch 
Analogie  eine  Folgerung  erwarten,  welche  unmittelbar  von 
Aehnlichem  auf  Aehnliches  schließt,  ohne  dazu  des  Um- 
wegs durch  ein  übergeordnetes  Allgemeine  zu  bedürfen. 
In  diesem  Sinne  aber  lassen  sich  die  mathematischen  Ver- 


Die  Formen  des  Beweises.  295 

fahrungsweisen  den  Schlüssen  durch  Subsumption  nicht 
entgegenstellen.  Eine  Proportion  zwischen  vier  bestimmten 
Größen,  a :  b  =  c :  d,  ist  nur  Ausdruck  einer  Thatsache ;  zu 
einer  Quelle  neuer  Folgerungen  wird  sie  erst,  wenn  die 
beiden  letzten  Glieder  unbestimmt  gelassen  werden;  in 
dieser  Form  aber :  a :  b  =  m :  n  ist  sie  der  Ausdruck  eines 
allgemeinen  Gesetzes;  sie  behauptet:  diejenigen  Größen, 
auf  welche  die  im  Sinne  gehabte  Aufgabe  führt,  gehören 
paarweis  so  zusammen,  daß  in  jedem  Paar  das  eine  Glied 
zum  andern  sich  wie  a :  b  verhält.  Geben  wir  m  und  n 
irgend  einen  bestimmten  Einzelwerth,  so  folgt  hieraus  ein 
Schluß  nach  Darii :  alle  durch  den  Sinn  der  Aufgabe  ge- 
gebenen Größenpaare  (M)  haben  das  Verhältniß  P,  näm- 
lich a :  b ;  nun  sind  m  und  n  (das  S  des  Untersatzes)  ein 
solches  Paar,  also  ist  zwischen  m  und  n  das  Verhältniß  a :  b. 
Ohne  Zweifel  ist  diese  Reduction  auf  die  erste  Figur  sehr 
langweilig;  aber  man  täuscht  sich,  wenn  man  wegen  der 
Kürze  des  formulirten  Ausdrucks,  den  der  Mathematik  die 
Natur  ihrer  Objecte  möglich  macht,  in  der  einfachen  Pro- 
portion auch  einen  kürzeren  Gedankengang  als  den  hier 
angegebenen  zu  finden  glaubt;  selbst  das  gewöhnlichste 
Exempel  der  Regel  de  tri  kommt  nur  durch  ihn  zu  Stande. 
Wir  sagen:  wenn  1  Pfund  zwei  Thaler  kostet,  so  kosten 
10  Pfund  10  •  2  Thaler ;  dabei  setzen  wir  voraus,  was  uns 
selbstverständlich  scheint,  nämlich,  daß  das  Verhältniß 
zwischen  jeder  Quantität  der  Waare  und  ihrem  Preise  das- 
selbe sei;  wir  ordnen  also  das  der  10  Pfund  zu  dem  ihrigen 
dem  des  einen  Pfundes  zu  dem  seinigen  als  einen  Anwen- 
dungsfall unter;  der  Kaufmann  aber  verkauft  die  10  Pfund 
vielleicht  zu  18  Thalern  und  zeigt  dadurch,  daß  jene  Vor- 
aussetzung sich  nicht  unbedingt  von  selbst  versteht,  sondern 
daß  man  sie  eben  zum  Behuf  jener  ersten  Berechnung  wirk- 
lich machen  mußte;  ebenso  versteht  sich,  daß  man  still- 
schweigend unter  m  und  n  Mengen  derselben  Waare  und 
derselben  Münzeinheiten  denkt,  wie  unter  a  und  b,  also 
auch  in  dieser  Beziehung  den  zweiten  Fall  jenem  ersten 
als  der  allgemeinen  Regel  unterordnet.  Jede  allgemeine 
Gleichung,  welche  einen  und  denselben  Inhalt  unter  zwei 
verschiedenen  Formen  darstellt,  ist  gleichfalls  eine  all- 
gemeine Regel,  die  nur  gültig  ist  für  diejenige  Art  von 
Größen,  welche  man  nach  einer  in  der  Formel  selbst  nicht 
mit  ausgedrückten  Convention  durch  die  gewählten  Buch- 
staben bezeichnet  haben  will  und  für  welche  Größenart 
man  die  Gültigkeit  der  Gleichung  ursprünglich  bewiesen  hat. 


296  Viertes  Kapitel, 

Es  ist  daher  nicht  erlaubt,  an  die  Stelle  der  Größen  m 
oder  n,  die  in  einer  Gleichung  vorkommen,  beliebige  andere 
|Li  und  V  zu  setzen  und  die  Gleichung  auch  dann  noch  als 
gültig  anzusehen;  man  muß  zuvor  wissen,  daß  ]li  und  v 
unter  den  allgemeinen  Artbegriff  der  m  und  n  subsumirbar 
sind,  in  Bezug  auf  welchen  die  Gültigkeit  der  Gleichung 
bewiesen  ist.  Hätte  man  durch  wirkliche  Ausführung  der 
Multiplication  und  vermittelst  des  Beweises  von  n  zu  n  -[-  1 

gefunden,     daß    (1  +  x)^=  1  +  ^  -f  m ^^-  x^  .  .  .  ist, 

1  1  •  Z 

so    hätte    man   nicht   das   Recht   zu    schließen,    daß   auch 

(1+x)  ^=l-f --^+  ^  ^^~^Kx^ sein   werde; 

1  •  m      m    1  •  2 

denn  in  jener  ersten  Formel  bedeutete  m  nur  den 
Gattungsbegriff  der  ganzen  positiven  Zahl,  für  welche 
allein  jener  Beweis  durch  Multiplication  sich  ausführen 
ließ;  ihm  aber  ist  der  Begriff  eines  Bruches  nicht  sub- 
sumirbar.    Hätte   man   dagegen    ein   Mittel   gehabt,    diesen 

binomischen  Lehrsatz  zuerst  für  den  Bruchexponenten  — , 

und  zwar  für  jeden  positiven  Werth  der  Ganzzahlen  m 
und  n,  zu  beweisen,  so  hätte  man,  da  jedes  ganze  m  sich 
durch  einen  unechten  Bruch  darstellen  läßt,  hieraus  auch 
den  ersten  Lehrsatz  unmittelbar  entwickeln  können. 

217.  Ich  will  endlich  diese  Betrachtungen  noch  einmal 
mit  dem  Dictum  de  omni  et  nullo  oder  dem  disjunctiven 
Denkgesetze  in  Verbindung  bringen.  Wenn  S^  und  S^  zwei 
Arten  des  Allgemeinbegriffs  M  oder  zwei  Einzelfälle  des 
allgemeinen  Falles  M  sind,  in  dem  Inhalt  von  M  aber  P 
allgemein  vorkommt,  so  wissen  wir,  daß  dem  S^  und  S^ 
nicht  P  in  dieser  Allgemeinheit,  sondern  dessen  Modifi- 
cationen  pi  und  p^  als  Prädicate  zukommen.  Es  kann  nun 
der  specielle  Fall  eintreten,  daß  nach  der  Art,  wie  die  ver- 
schiedenen Prädicate  P  Q  R  in  M  zusammenhängen,  die  ver- 
schiedenen Merkmalgruppen  pi  qi  r^,  p2  q2  r^,  p»  qs  r^,  die 
in  den  einzelnen  Subjecten  S^  S^  und  S^  entstehen,  unter 
einander  identisch  sein  müssen;  sie  stellen  dann  ein,  wenn 
wir  so  sagen  wollen,  secundäres  Prädicat  11  dar,  welches 
man  schon  dem  M  zuschreiben  kann,  und  welches  un- 
modificirbar  ganz  ebenso  jeder  Art  des  M  zukommt.  So 
erfordert  der  Begriff  M  des  Dreiecks  drei  Winkel  p  q  r, 
aber  die  verschiedenen  Werthe  dieser  Winkel  combiniren 
sich   in   den   verschiedenen    unähnlichen   Dreiecken   immer 


Die  Formen  des  Beweises.  297 

zu    derselben    Summe    11  :=  2    Rechten ;    dieses    identische 
Merkmal    IT   kommt   daher   allen   Dreiecken   zu    und   kann 
jedem    einzelnen    durch    bloße    Subsumption    unter   seinen 
Gattungsbegriff    sofort   zugeschrieben   werden.      Abgesehen 
aber  von  solchen  Fällen  bleibt  das  p^  oder  q-,  welches  einem 
S-  gebühren  wird,  unbestimmt,  mit  der  einzigen  Einschrän- 
kung, daß  es  eine  Art  von  Q,  und  daß  es  überhaupt,  wenn 
auch   mit   einem  Nullwerth,    dessen  Annahme  man   recht- 
fertigen kann,  vorhanden  sein  muß.    Soll  dies  q^  bestimmt 
werden,   so   muß  es   eine  Regel  geben,   nach  welcher  die 
specifische  Eigenthümlichkeit  von  S^,  durch  welche  es  nicht 
blos  eine  Art  von  M,  sondern  diese  Art  von  M  ist,  die 
Modification    der   allgemeinen   Merkmale    des   M,   hier   die 
des   Q,  mitbedingt,  und  man  muß  voraussetzen,  daß  nach 
derselben    Regel    auch    die    Eigenheit    des    S^    die    ihm 
zugehörige  Modification  q^  des  allgemeinen  Q  bedingen  wird. 
Ist  diese  Regel  bekannt,  so  kann  man  q^  bestimmen,  und 
dies  ist  eben  der  Fall,  den  man  den  Schluß  nach  strenger 
Analogie   nennt,   der   aber,    wie   sich   ergibt,    auf   nichts 
anderem,   als  auf  der   Subsumption  unter  die   gleiche  all- 
gemeine  Regel   beruht.     Ist   diese   letztere   aber   nicht   be- 
kannt,  so  wird  allerdings  in  uns  die  Tendenz  fortdauern, 
q^    durch    Berücksichtigung    der    Aehnlichkeiten    und    Ver- 
schiedeaheiten  in  dem  Verhalten  von  S^  und  S^  zu  einander 
und  zu  M  zu  finden,  und  die  hierauf  gebauten  Verfahrungs- 
weisen    nennen   wir   dann    gewöhnlich   Folgerungen   durch 
Analogie;  sie  reichen  jedoch  nur  aus,  das  richtige  Ergeb- 
niß    zu    errathen,    aber    nicht   es    zu    beweisen.     Der 
pythagoreische    Satz    hatte   gelehrt,    daß   für   rechtwinklige 
Dreiecke  das  Quadrat  der  Hypotenuse  h  gleich  der  Summe 
der    Quadrate   der   Seiten    a   und    b    ist,    die   den    rechten 
Winkel  einschließen.    Da  dies  Verhalten  von  nichts  anderem, 
als  von  der  allgemeinen  Natur  des  Dreiecks,  von  dem  rechten 
Winkel  und  von  der  Länge  der  Seiten  abhängen  kann,  so 
ist  die  Tendenz  völlig  gerechtfertigt,  auch  für  andere  Werthe 
des   Gegenwinkels  einen  analogen   Satz  über  das   Quadrat 
der    Gegenseite    zu    suchen.      In    der   Formel    h^^ia^-f-b^ 
findet  sich  nun  keine  Erwähnung  des  rechten  Winkels  mehr; 
die  Formel,  die  wir  suchen,  muß  aber  den  Gegenwinkel  er- 
wähnen,   denn   die   einfachste    Anschauung   lehrt,   daß    bei 
gleichen  a  und  b  sich  h  mit  seiner  Vergrößerung  verlängert 
und  mit  seiner  Verminderung  verkürzt.     Folglich  muß  die 
pythagoreische    Formel    durch    ein    Glied    ergänzt   werden, 
welches  für  den  Winkel  (p==90o  zu  Null  wird,  und  da  nicht 


298  Fünftes  Kapitel. 

der  Winkel  selbst,  sondern  nur  eine  von  ihm  abhängige 
Länge,  oder  ein  Zahlencoefficient,  der  eine  andere  Länge 
bestimmt,  zur  Ausmessung  von  h  dienen  kann,  so  wird 
man  h^  =  a^  -|-  b^  ^  m  cos  cp  versuchsweise  setzen.  Die  Zwei- 
deutigkeit des  Zeichens  hebt  sich  sogleich  durch  die  Be- 
obachtung, daß  h  wächst,  wenn  9  über  90°  wächst,  der 
oosinus  mithin  negativ  wird;  es  kann  daher  in  der  Formel 
nur  das  negative  Zeichen  gelten.  Um  das  unbestimmte  m 
zu  finden,  wenden  wir  uns  an  die  beiden  Grenzwerthe 
(p  =  o  und  (p  =  TT.  Im  letzten  Falle  wird  h^  =  {a,-{-  b)2  und 
cos  cp  =  —  1 ;  im  ersten  ist  h^  =  (a  —  b)2  und  cos  cp  1=  -f  1 ; 
beide  Fälle  geben  gleichmäßig  h^  =  a^  +  b^  —  2  ab  cos  cp. 
Diese  Formel  ist  nun  richtig  für  alle  Werthe  von  cp,  aber 
bewiesen  ist  sie  keineswegs;  sie  deckt  mit  Sicherheit  nur 
die  drei  Specialwerthe  9  =  0,  cp  =  71,  cp  =  n/2,  aus  denen  sie 
entwickelt  ist;  es  ließe  sich  leicht  eine  andere  Formel  denken, 
z.  B.  h^  =  a^  -f-  b^  —  2  ab  cos  cp.  cos^  {k  —  (p),  welche  densel- 
ben Dienst  leistete;  welche  von  beiden  auch  den  Zwischen- 
werthen  von  cp  allgemein  entspricht,  bleibt  also  unbestimmt, 
bis  eine  leichte  geometrische  Construction,  welche  den  pytha- 
goreischen Satz  auch  voraussetzt,  für  die  wirkliche  All- 
gemeingültigkeit der  zuerst  gefundenen  entscheidet.  Ich 
führte  dies  einfache  Beispiel  aus,  um  an  ihm  zu  zeigen, 
wie  vielerlei  Nebenerwägungen  nöthig  sind,  um  unser 
Streben,  neue  Wahrheiten  nach  Analogie  gegebener  zu 
finden,  nur  überhaupt  in  eine  Direction  zu  bringen,  die 
einen  Erfolg  verspricht. 


Fünftes  KapiteL 

Die  Auffindung  der  Beweisgründe. 

^>.  218.  Die  wesentlichste  Leistung  jeder  Beweisführung 
für  einen  gegebenen  Satz  T  ist  die  Auffindung  des  Ober- 
satzes G,  aus  welchem,  durch  schickliche  Unterordnung,  T 
als  nothwendige  Folge  hervorgehen  soll.  Diese  Aufgabe, 
offenbar  eine  des  erfindenden  Gedankenganges,  macht  keine 
logische  Regel  möglich,  nach  welcher  ihre  Lösung,  ohne 
auf  die  freie  Mitwirkung  des  individuellen  Scharfsinnes  zu 
rechnen,   in  allen  Fällen   mit  Sicherheit  gefunden  werden 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  299 

könnte.  Man  muß  nicht  nur  voraussetzen,  daß  früheres 
Nachdenken  überhaupt  schon  eine  Anzahl  allgemeiner  Er- 
kenntnisse geliefert  hat,  die  in  einer  für  diesen  Zweck  be- 
nutzbaren Beziehung  zu  dem  Inhalt  des  gegebenen  T  stehen, 
und  die  nun,  im  Bewußtsein  reproducirt  durch  die  Aehn- 
lichkeit  dieses  Inhalts  mit  ihrem  eigenen,  dem  Suchen  ent- 
gegen kommen  und  sich  als  Erklärungsgründe  des  Ge- 
gebenen anbieten;  man  wird  außerdem  zugeben  müssen, 
daß  der  Scharfblick,  welcher  unter  ihnen  den  passendsten 
Beweisgrund  herausfindet,  und  die  vielleicht  nöthigen  Um- 
formungen übersieht,  durch  welche  das  Gegebene  ihm  unter- 
geordnet werden  kann,  in  weitem  Umfang  Sache  des  an- 
geborenen Talents  und  nicht  einmal  unabhängig  von  der 
augenblicklichen  Stimmung  ist.  Indessen  muß  es  doch 
möglich  sein,  aus  dem  logischen  Verhältniß,  welches 
zwischen  den  Bestandtheilen  eines  wahren  und  deßhalb 
beweisbaren  Satzes  T  stattfindet,  wengistens  eine  solche 
Anleitung  zu  gewinnen,  durch  welche  man  auf  den  Weg, 
auf  welchem  man  freilich  den  Beweisgrund  immer  noch 
wird  zu  suchen  haben,  einigermaßen  hingewiesen  und  von 
gänzlich  richtungslosem  Tasten  abgehalten  wird.  Nirgends 
anders  liegt  dieser  Hinweis,  als  in  dem  früher  bemerkten 
Umstände,  daß  jedes  wahre  allgemeine  Urtheil  T,  wenn  man 
sein  Subject  und  sein  Prädicat  durch  alle  angedeuteten 
oder  unausgesprochenen,  aber  doch  mit  gedachten  Neben- 
bestimmungen ergänzt  und  vervollständigt  denkt,  ein  iden- 
tisches Urtheil  bilden  muß.  Substituirt  man  daher  dem 
Begriffe  S,  welcher  in  T  als  Subject  auftritt,  diese  ver- 
vollständigte Summe  aller  in  ihm  enthaltenen  Theilvor- 
stellungen  in  den  ihnen  zukommenden  Formen  der  Ver- 
knüpfung, so  muß  hierin  der  Grund  liegen,  der  das  Prädicat 
rechtfertigt;  substituirt  man  anderseits  dem  vollständigen  P 
die  Summe  der  in  ihm  eingeschlossenen  Theilvorstellungen, 
so  müssen  in  ihr  alle  Forderungen  vereinigt  sein,  deren  Er- 
füllung man  von  dem  Subject,  zur  Richtigkeit  des  Satzes  T, 
zu  verlangen  hat.  Ich  versuche,  an  einigen  Beispielen  den 
Nutzen  dieser  Anweisung  zu  verdeutlichen,  und  da  in  der 
That  hier  Beweisführung  und  Erfindung  ganz  dieselben 
Wege  gehen,  so  behandle  ich  einige  dieser  Beispiele  als 
Beweise  für  den  gegebenen  Satz  T,  andere  als  Beispiele 
seiner  Erfindung,  d.  h.  der  Frage,  welches  durch  einen 
Satz  T  aussprechbare  Verhältniß  zwischen  einem  gegebenen 
S  und  P  stattfinden  müsse? 

219.  Es  möge  zuerst  der  gegebene  Satz  T,  der  Winkel 


300  Fünftes  Kapitel. 

im  Halbkreis  sei  ein  rechter,  zu  beweisen  sein.  Zergliedern 
wir  das  Subject,  so  finden  wir,  daß  unter  dem  fraglichen 
Winkel  ein  solcher  zu  verstehen  ist,  dessen  Schenkel  von 
den  Endpunkten  a  und  b  einer  Graden  ab  ausgehen  und 
sich  irgendwo  auf  der  Peripherie  eines  Kreises  schneiden, 
der  über  ab  als  Durchmesser  beschrieben  ist.  Damit  nun 
dem  zweiten  Theil  dieser  Definition,  welcher  die  Lage  des 
Durchschnittspunktes  e  bestimmt,  genügt  werde,  muß  die 
Entfernung  des  e  von  dem  Halbirungspunkt  c  der  Graden  ab 
gleich  der  Hälfte  ac  oder  cb  dieser  Graden  sein.  Diese  aus 
der  Definiton  des  Subjects  fließende  Forderung  führt  un- 
mittelbar auf  die  einzige  kleine  Hülfsconstruction,  deren 
wir  bedürfen:  diese  Linie  ec  müssen  wir  ziehen,  um  für 
unsere  Anschauung  deutlich  die  Verhältnisse  hervortreten 
zu  lassen,  auf  denen  die  Nothwendigkeit  des  gegebenen 
Satzes  T  beruht.  Haben  wir  nun  ec  gezogen,  so  ist  durch 
sie  das  vorige  Dreieck  aeb  in  die  beiden  gleichschenk- 
ligen aec  und  ecb,  der  Winkel  bei  e  aber  in  die  beiden  a 
imd  ß  getheilt;  aus  der  Gleichschenkligkeit  der  beiden 
Dreiecke  folgt  und  folgt  zugleich  Nichts  anders,  als  daß 
<  eac  =  a  und  <  ebc  =  ß ;  daraus  aber,  wie  beide  Dreiecke 
das  Dreieck  aeb  zusammensetzen,  indem  ec  ihnen  gemein- 
sam ist,  ac  und  cb  aber  in  dieselbe  Grade  fallen,  folgt 
weiter,  daß  die  vier  Winkel  a,  a,  ß,  ß  zusammen  gleich 
der  Winkelsumme  des  Dreiecks  aeb  sind.  Man  hat  also 
2  (a  -f  ß)  =  2  R.,  und  da  a  -|-  b  eben  der  gesuchte  Winkel 
im  Halbkreis  ist,  diesen  selbst  gleich  einem  Rechten.  Nicht 
immer  wird  eine  so  leichte  Zergliederung  des  Subjects  hin- 
reichen, wie  in  diesem  einfachsten  Falle;  fügen  wir  deßhalb 
ein  zweites  Beispiel  zur  Erläuterung  eines  häufig  anwend- 
baren Kunstgriffes  bei.  Man  besitzt  vielleicht  einen  Satz  T, 
welcher  uns  lehrt,  was  von  einem  Subject  gilt,  welches  dem 
Subject  S  des  gegebenen  Satzes  nicht  gleich  ist,  sondern 
von  ihm  um  eine  angebbare  Differenz  abweicht;  läßt  man 
dann  aus  ihm,  durch  Aufhebung  dieser  Differenz,  das  ge- 
gebene Subject  S  entstehen,  und  kann  man  nachweisen, 
wie  sich  hiermit  das  durch  T  ausgesprochene  Verhalten 
ändert,  so  wird  man  den  gegebenen  Satz  T  beweisen,  wenn 
er  richtig  ist,  oder  den  richtigen  Satz  T  finden,  wenn  der 
gegebene  falsch  oder  wenn  überhaupt  keiner  gegeben  war. 
Die  Frage  sei :  wie  groß  die  Winkelsumme  des  Dreiecks  sei  ? 
Ich  nehme  an,  daß  die  von  den  Parallelen  und  ihrem  Durch- 
schnitt mit  einer  Graden  geltenden  Sätze  unabhängig  von 
der  Betrachtung  des  Dreiecks  feststehen,  und  lasse  dann  die 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  301 

beiden  Graden  ad  und  bc  einander  parallel  sein,  von  einer 
dritten  Graden  ab  aber  in  den  Punkten  a  und  b  geschnitten 
werden.  Diese  drei  Linien  bilden  so  kein  Dreieck,  sondern 
einen  offenen  Raum,  aber  die  Summe  S  der  beiden  Winkel 
dab  und  abc  ist  bekannt  und  gleich  zwei  Rechten.  Drehen 
wir  jetzt  die  Linie  ad  um  den  Punkt  a,  so  daß  sie  gegen 
bc  convergirt,  so  entsteht  zwischen  ihrer  neuen  Lage  und 
ihrer  vorigen  ein  Winkel  cp,  welcher  aus  der  Winkelsumme  S 
ausgeschlossen  wird;  zugleich  aber  entsteht  zwischen  der 
geneigten  Linie  und  bc  ein  neuer  Winkel,  welcher  als  dritter 
Winkel  des  jetzt  entstehenden  Dreiecks  zu  dem  Reste  der 
Winkelsumme  S  hinzutritt,  und  nach  den  Sätzen  über  die 
Parallelen  gleich  dem  ausgeschlossenen  <cp  ist.  Bei  dem 
Uebergang  aus  dem  Nichtdreieck  in  das  Dreieck  erfährt  da- 
her die  Summe  der  von  den  drei  Seiten  eingeschlossenen 
Winkel  gleichen  Gewinn  und  Verlust  cp;  sie  ist  also  auch 
im  Dreieck  gleich  zwei  Rechten. 

220.  Es  sollen  die  Bedingungen  des  Gleichgewichts  be- 
wiesen oder  gefunden  werden,  für  einen  völlig  freien  und 
absolut  festen  Körper,  auf  den  in  verschiedenen  Punkten 
verschiedene  Kräfte  nach  verschiedenen  Richtungen  wirken. 
Analysiren  wir  den  Begriff  des  Körpers,  von  dem  hier  ge- 
sprochen wird,  so  bedarf  die  völlige  Freiheit  desselben 
keiner  weiteren  Zergliederung;  als  Abwesenheit  jeder  be- 
dingenden Relation  zu  andern  ist  sie  für  sich  klar,  und 
nur  diese  Relationen,  wenn  sie  beständen,  würden  Gegen- 
stand weiterer  Begriffsbestimmungen  sein ;  absolut  fest  aber 
ist  der  Körper,  wenn  jede  beliebigen  zwei  Punkte  desselben 
eine  imveränderliche  Entfernung  haben.  Stände  nun  dieser 
Körper  gar  nicht  unter  dem  Einfluß  von  Kräften,  so  würde 
man  von  ihm  wissen,  daß  er  entweder  in  Ruhe  ist,  oder  eine 
ursprüngliche  Bewegung  mit  der  constanten  Geschwindig- 
keit c  fortsetzt ;  man  hätte  nur  c  =  o  zu  setzen,  um  die  Be- 
dingung des  Gleichgewichts  der  Ruhe  auszudrücken,  welches 
wir  hier  meinen.  Um  aber  zu  entscheiden,  wie  er  dies 
Gleichgewicht  unter  dem  Einfluß  von  Kräften  behauptet, 
müssen  wir,  analog  dem  vorigen  Falle,  zuerst  zusehen,  wie 
er  sich  bewegen  würde,  falls  er  sich  bewegte,  und  dann 
müssen  wir  alle  die  Bedingungen  negiren,  die  mit  dieser 
Bewegung  unzertrennlich  verbunden  sein  würden.  Dies  ist 
kein  blos  nützlicher,  logisch  unmotivirter  Einfall;  denn  das 
Gleichgewicht,  welches  wir  hier  suchen,  ist  seinem  Begriffe 
nach  nicht  bloße  Ruhe,  sondern  Verneinung  der  Be- 
wegungen,   die   es   zu    stören    suchen.     Da    es    nun   keine 


302  Fünftes  Kapitel. 

anderen  Bewegungen  gibt,  als  fortschreitende  drehende  und 
die  aus  beiden  gemischten,  so  haben  wir,  um  das  Gleich- 
gewicht des  Körpers  zu  bestimmen,  nur  die  Bedingungen 
der  beiden  ersten  Bewegungsarten  zu  beachten;  mit  ihrer 
Verneinung  verschwindet  die  Möglichkeit  der  dritten  von 
selbst. 

221.  Sprechen  wir  zuerst  nur  von  der  fortschreitenden 
oder  translatorischen  Bewegung  und  schließen  ausdrücklich 
jede  Drehung  aus,  so  folgt  aus  der  Definition  der  Festig- 
keit, daß  alle  Theile  des  festen  Körpers  sich  in  gradlinigen 
und  parallelen  Bahnen  und  deßhalb  mit  gleicher  Geschwin- 
digkeit fortbewegen  müssen.  Auf  welche  Weise  daher  auch 
immer  eine  Kraft  es  dahin  gebracht  haben  mag,  dem  einen 
Theile  a  des  Körpers  eine  Geschwindigkeit  c  zu  ertheilen, 
immer  muß,  falls  es  eine  fortschreitende  Bewegung  und 
keine  Drehung  geben  soll,  die  Wirkung  dieser  Kraft  auch 
jedem  andern  Theile  b  des  Körpers  dieselbe  Geschwindig- 
keit mitgetheilt  haben.  Hieraus  entspringt  für  unsern  Zweck 
die  große  Bequemlichkeit,  daß  wir  zur  Beurtheilung  des 
translatorischen  Enderfolges  aller  einwirkenden  Kräfte  die 
Verschiedenheit  ihrer  Angriffspunkte  an  dem  festen  Körper 
nicht  zu  berücksichtigen  nöthig  haben;  es  genügt,  daß  wir 
alle  Kräfte,  jede  jedoch  parallel  mit  ihrer  gegebenen  Rich- 
tung, an  einen  beliebigen  Punkt  des  Raumes  versetzen,  in 
den  wir  die  Masse  des  Körpers  concentriren,  und  dann  nach 
den  bekannten  Regeln  über  die  Zusammensetzung  der  Be- 
wegungen die  resultirende  Bewegung  R  bestimmen,  welche 
sie  diesem  Punkte  ertheilen  würden;  Größe  und  Richtung 
dieser  Resultante  R  sind  dann  identisch  mit  Größe  und 
Richtung  der  Bewegung,  die  der  Körper  unter  dem  ver- 
einigten Einfluß  der  Kräfte  annimmt,  und  er  bleibt  in  Ruhe^ 
wenn  R  =  o  ist.  Drückt  man  dies  Ergebniß  so  aus,  daß 
der  Körper  ruht,  wenn  die  Wirkungen  aller  an  ihm  an- 
gebrachten Bewegungsantriebe  sich  aufheben,  so  bedarf 
dieser  Satz,  als  identischer,  überhaupt  keiner  Begründung; 
unsere  Erläuterung  gab  jedoch  auch  die  Bedingung  an, 
unter  welcher  jene  Aufhebung  stattfindet;  sie  war  die  näm- 
liche, wie  in  dem  Falle,  daß  alle  Kräfte  auf  denselben  Punkt 
wirken. 

222.  Die  Mechanik  pflegt  indessen  diese  Bedingung  nicht 
unter  dieser  Form  R  =  o  anzugeben,  sondern  spaltet  sie, 
zur  Bequemlichkeit  der  rechnenden  Anwendung,  in  drei 
Gleichungen,  die  ich  noch  erwähne,  weil  gewiß  die  Rück- 
sicht auf  Ausführbarkeit  einer  logischen  Vorschrift  mit  zu. 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  303 

den  Aufgaben  einer  angewandten  Logik  gehört.  Ist  die 
Zahl  n  der  auf  den  Körper  wirkenden  Kräfte  beträchtlich, 
so  wird  es  mühsam,  die  letzte  Resultante  R  dadurch  zu 
finden,  daß  man  zuerst  aus  zweien  dieser  Kräfte  eine  erste, 
aus  dieser  und  der  dritten  Kraft  eine  zweite  Resultante 
sucht  und  so  bis  zur  Zusammensetzung  der  letzten  Kraft 
mit  der  zuletzt  gefundenen  Resultante  fortfährt.  Auch 
pflegen  die  Winkel,  welche  jede  Kraft  mit  jeder  andern 
macht,  und  welche  diese  Berechnung  zu  beachten  hätte, 
selten  zu  den  ursprünglich  gegebenen  Bestimmungsstücken 
zu  gehören ;  wo  aber  die  Beobachtung  eines  gegebenen  That- 
bestandes  diese  Bestimmungsstücke  erst  feststellen  muß, 
wird  sie  hier  wie  überall  vorziehen,  die  Richtungen  aller 
Kräfte  durch  ihre  Beziehungen  zu  einem  einzigen  allge- 
meinen Maßstabe  zu  charakterisiren,  anstatt  die  Divergenzen 
zwischen  je  zweien  zu  messen.  Man  legt  daher  drei  auf 
einander  rechtwinklige  Coordinatenaxen  X,  Y,  Z  zu  Grunde,, 
bestimmt  die  Richtung  jeder  Kraft  P  durch  die  drei  Winkel 
^,  ß>  T^  welche  sie  mit  diesen  Axen  oder  ihren  Parallelen 
macht  und  denkt  sich  zugleich  jede  in  drei  diesen  Axen 
parallele  Seitenkräfte  zerlegt,  die  nach  einem  bekannten 
Satze  P  cos  a,  P  cos  ß  un,d  P  cos  y  sein  werden.  Die  drei 
Summen,  welche  dann  die  gleichgerichteten  Componenten 
aller  Kräfte  vereinigen,  also  die  Summen  Z  P  •  cos  a, 
Z  P  •  cos  ß,  Z  P  .  cos  Y  werden  die  resultirenden  Kräfte  sein, 
welche  den  Körper  beziehungsweis  parallel  den  Axen  X,  Y,  Z 
zu  bewegen  streben;  ist  jede  dieser  Summen  für  sich  gleich 
Null,  so  schreitet  der  Körper  nach  keiner  der  drei  Axen- 
richtungen,  also  überhaupt  nicht,  vorwärts;  denn  jede  Be- 
wegung in  einer  Zwischenrichtung  würde  eine  gleichzeitige- 
hier  geläugnete  Verschiebung  nach  wenigstens  zweien 
dieser  Axen  einschließen.  An  die  Stelle  von  R  =  o  treten: 
also  die  drei  Gleichungen  Z  P  •  cos  a  =  o,  Z  P  •  cos  ß  ==  o, 
Z  P  •  cos  y  =  0  als  die  Bedingung,  welche  die  translatorische^ 
Bewegung  des  Körpers  aufhebt. 

223.  Wir  haben  noch  die  andern  Bedingungen  zu  suchen,, 
welche  die  Drehung  des  Körpers  unmöglich  machen.  Dreht 
sich  nun  eine  grade  Linie  um  einen  ihrer  Punkte,  so  ändern 
außer  diesem  einen,  den  wir  als  fest  betrachten,  (wodurch 
wir  zugleich  die  fortschreitende  Bewegung  der  ganzen  Linie 
aufheben,)  alle  ihre  übrigen  Punkte  ihre  Raumcoordinaten. 
Die  Linie  kann  sich  daher  nicht  drehen,  sobald  zwei  ihrer 
Punkte  unveränderliche  Coordinaten  haben.    Aber  um  dieso 


304  Fünftes  Kapitel. 

nun  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  festliegende  Linie  kann 
sich  eine  Ebene  drehen,  in  der  sie  enthalten  ist;  dann 
ändern  alle  Punkte  der  Ebene  außer  dieser  Axe  ihre  Co- 
ordinaten;  die  Drehung  der  Ebene  wird  folglich  unmöglich, 
wenn  ein  Punkt  außerhalb  der  Axe,  wenn  also  im  Ganzen 
die  drei  Eckpunkte  eines  beliebigen  in  der  Ebene  angenom- 
menen Dreiecks  festliegen.  Dieselbe  Bedingung  genügt  offen- 
bar, um  die  Drehung  eines  festen  Körpers  unmöglich  zu 
machen,  dessen  jeder  Punkt  eine  unveränderliche  Entfernung 
von  jedem  Punkt  einer  beliebig  in  ihm  angenommenen  festen 
Ebene  besitzt.  Man  könnte  daher  die  Bedingung  der  Nicht- 
drehung  dahin  aussprechen,  daß  die  drei  Eckpunkte  eines 
willkürlich  in  dem  Körper  verzeichneten  Dreiecks  ihre  Co- 
ordinaten  nicht  ändern.  Aber  der  Nachweis,  daß  diese  Be- 
dingung erfüllt  sei,  würde  nicht  bequem  sein;  man  könnte 
ihn  durch  Anwendung  der  vorigen  drei  Gleichungen  auf 
jeden  dieser  drei  Punkte  nur  dann  führen,  wenn  man  nach- 
weisen könnte,  zu  welcher  Resultante  sich  an  jedem  von 
ihnen  alle  die  Kräfte  verbinden,  die  nicht  an  ihm  selbst, 
sondern  an  andern  Punkten  angebracht  sind;  dies  aber,  wie 
man  leicht  bemerkt,  ist  eben  das,  was  wir  noch  zu  erfahren 
suchen.  Man  verfährt  daher  anders,  und  zwar,  da  die  Lage 
jenes  Dreiecks  ganz  willkürlich  ist,  so  wird  man  am  natür- 
lichsten darauf  verfallen,  seine  drei  Eckpunkte  in  die  drei 
Axen  X,  Y,  Z  zu  vertheilen,  in  Bezug  auf  welche  man  ja 
die  Richtungen  aller  zusammenwirkenden  Kräfte  bereits 
bestimmt  hat;  auch  in  jeder  Axe  aber  ist  die  Lage  des 
dahin  versetzten  Punktes  willkürlich :  man  kann  daher  jeden 
Punkt  jeder  Axe  als  einen  Punkt  unveränderlicher  Lage, 
mithin  die  drei  Axen  selbst  als  drei  feste  Linien  ansehen, 
in  Bezug  auf  welche,  wenn  die  Drehung  ausgeschlossen 
sein  soll,  kein  Punkt  des  Körpers  seine  Lage  und  Ent- 
fernung ändern  darf.  Betrachtet  man  endlich  die  Axen  als 
Dimensionen,  die  innerhalb  des  Körpers  selbst  liegen  oder 
als  identisch  ihrer  Lage  nach  mit  drei  auf  einander  recht- 
winkligen Punktreihen  dieses  Körpers,  so  folgt  aus  der  De- 
finition der  Festigkeit,  daß  nur  diese  Punktreihen  im  Räume 
festzuliegen  brauchen,  um  jede  Ortsveränderung  der  übrigen 
Körperpunkte  unmöglich  zu  machen.  Die  Aufgabe  reducirfc 
sich  daher  auf  den  Nachweis,  daß  alle  zusammenwirkenden 
Kräfte  keine  der  drei  Punktreihen  oder  keine  der  jetzt  gegen 
ihre  frühere  Richtung  beweglich  gedachten  Axen  X,  Y,  Z 
nach  irgend  einer  Richtung  zu  drehen  im  Stande  sind. 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  305 

224.  Die  zuletzt  entwickelte  Vorstellungsweise  würde 
jedoch  als  Unterlage  der  Berechnung  nur  dann  bequem  sein, 
wenn  die  Richtungen  aller  den  Körper  treffenden  Kräfte 
durch  die  drei  Axen  gingen.  Dies  wird  im  Allgemeinen 
nicht  der  Fall  sein;  um  diejenigen  Kräfte  mit  in  Betracht 
ziehen  zu  können,  deren  Verlängerungen  bei  jenen  Punkt- 
reihen vorbeigehen,  ohne  sie  zu  schneiden,  müssen  wir 
diesen  drei  Linien  drei  einander  rechtwinklig  schneidende 
Ebenen  substituiren,  deren  jede  mithin  zwei  von  diesen 
Axen  einschließen  wird;  eine  dieser  Ebenen  trifft  die 
nöthigenfalls  verlängerte  Richtung  jeder  Kraft.  Die  Aufgabe 
ist  jetzt,  zu  zeigen,  daß  alle  Kräfte  weder  die  Ebene  XY 
und  XZ  um  X,  noch  die  YZ  und  YX  um  Y,  noch  die  ZY 
und  ZX  um  Z  zu  drehen  im  Stande  sind.  Betrachten  wir 
die  Bedingungen  der  Drehung  um  Z.  Jede  Kraft  P,  welche 
in  beliebiger  Richtung  einen  Punkt  des  Körpers  angreift, 
dessen  Coordination  x,  y,  z  sind,  und  welche  mit  den  drei 
Axen  die  Winkel  a,  ß,  y  macht,  kann,  wie  früher,  in  die 
drei  den  Axen  parallelen  Seitenkräfte  P  cos  a,  P  cos  ß, 
P  cos  Y  zerlegt  werden.  Von  ihnen  kommt  die  letzte  hier 
in  Betracht;  sie  könnte  nur  eine  translatorische  Verrückung 
des  Körpers  nach  der  ZAxe  bewirken,  die  durch  die 
Gleichungen  des  §  222  schon  ausgeschlossen  ist,  oder  eine 
Drehung  der  XY  Ebene  um  X  oder  Y,  die  wir  hier  noch  aus- 
schließen. Von  den  beiden  andern  Kräften  steht  P  cos  a 
senkrecht  auf  der  ZY  und  P  cos  ß  senkrecht  auf  ZX;  beide 
streben,  wie  eine  leicht  zu  entwerfende  Figur  zeigt,  die 
Ebenen  ZX  und  ZY,  also  den  Körper,  in  welchem  diese 
beiden  unveränderlich  verbunden  sind,  nach  entgegen- 
gesetzten Richtungen  zu  drehen;  die  Richtung  der  wirklich 
erfolgenden  Drehung  würde  daher  von  ihrer  Differenz  ab- 
hängen. Aber  nicht  einfach  von  ihrer  Differenz,  denn  ein 
Satz,  dessen  wir  uns  hier  einstweilen  nur  erinnern,  lehrt-,  daß 
die  drehende  Wirkung  einer  Kraft,  die  senkrecht  auf  eine 
Linie  ist,  nach  dem  Product  ihrer  Intensität  in  die  Ent- 
fernung ihres  Angriffspunktes  von  der  Drehaxe  zu  messen 
ist.  Für  P  cos  a  ist  diese  Entfernung  y,  und'X  für  P  cos  ß; 
die  Differenz  der  Produkte  yP  cos  a  und  xP  cos  ß,  oder  die 
Differenz  der  Momente  muß  gleich  Null  sein,  wenn  P  keine 
Drehung  um  die  ZAxe  bewirken  soll.  Man  hat  dieselben 
Betrachtungen  in  Bezug  auf  alle  Kräfte  zu  wiederholen  und 
findet  als  Bedingung  der  Nichtdrehung  um  Z  die  Gleichung  Z 
(yP  cos  a  —  xP  cos  ß)  =  o.  Dieselben  Formen  werden  offen- 
bar, bei  der  völligen  Gleichwerthigkeit  der  drei  Raum- 
Lot  ze,  Logik.  20 


306  Fünftes  Kapitel. 

richtungen,  auch  die  andern  Gleichungen  haben,  welche 
die  Drehung  um  X  und  Y  aufheben;  und  da  auch 
mnemonische  Hülfsmittel  nicht  außerhalb  der  Aufgaben 
angewandter  Logik  liegen,  so  führe  ich  an,  daß  die  Gleichung 
für  die  Nichtdrehung  um  die  eine  Axe  allemal  die  Be- 
stimmungsstücke, die  sich  auf  diese  Axe  beziehen,  nicht 
enthält,  sondern  aus  der  Summe  von  Differenzen  zweier 
Producte  besteht,  deren  jedes  eine  Seitenkraft  nach  der 
zweiten  Axe  mit  der  Coordinate  ihres  Angriffspunktes 
nach  der  dritten  verbindet.  Die  Formel  Z  (zP  cos  ß 
—  yPcosY)  =  o  hebt  die  Drehung  um  X,  die  dritte  Z 
(xP  cos  Y  —  zP  cos  a)  =  o   die  um   die  YAxe  auf. 

225.  Den  Satz,  den  wir  über  das  Gleichgewicht  drehen- 
der Kräfte  oben  entlehnten,  gewinnt  man  im  Zusammen- 
hang der  Statik  sehr  leicht  durch  einen  kleinen  Kunstgriff, 
der  diese  Frage  auf  die  Zusammensetzung  der  Bewegungen 
zurückbringt.  Ich  wähle  hier  einen  andern  Weg  des  Be- 
weises, natürlich  nicht,  um  der  Statik  eine  Verbesserung 
zu  verschaffen,  sondern  um  an  einer  Behandlung,  welche 
so  viel  als  möglich  von  blos  glücklichen  Einfällen  un- 
abhängig ist,  das  Hervorgehen  der  Beweisgründe  aus  der 
Zergliederung  der  Aufgabe  selbst  deutlich  zu  machen.  Die 
starre  Linie  a  b,  deren  Länge  n  sei,  kann  sich  um  ihren  festen 
Endpunkt  a  nur  drehen,  indem  alle  ihre  Punkte  Kreis- 
bögen pco  von  gleichem  Winkel  co  mit  einem  Halbmesser  p 
beschreiben,  der  für  jeden  Punkt  gleich  seinem  Abstand 
von  dem  Drehpunkt  a  ist.  Wirkt  nun  eine  Kraft  W  an  dem 
Endpunkt  b,  und  hat  sie  es,  wie  auch  immer,  dahin  gebracht, 
ihn  in  der  Zeit  t  den  Bogen  nco  durchlaufen  zu  machen, 
so  hat  sie  allemal  zugleich  jeden  andern  Punkt  von-  dem 
Abstand  p  genöthigt,  in  derselben  Zeit  t  den  Bogen  poo 
zurückzulegen;  und  umgekehrt:  jede  Kraft,  die,  an  dem 
Punkte  p  angebracht,  diesen  Punkt  dazu  vermocht  hat,  sich 
durch  den  kleineren  Bogen  pco  zu  bewegen,  hat  allemal 
auch  alle  übrigen  Punkte  gezwungen,  die  ihren  Abständen 
von  a  zukommenden  Kreisbögen  zu  durchmessen.  Es  fragt 
sich  nun,  wie  zwei  Kräfte  P  und  Q  beschaffen  sein  müssen, 
um  von  den  Punkten  p  und  q  aus,  an  welche  sie  angebracht 
sind,  diesen  ganz  gleichen  Erfolg  hervorzubringen,  und 
folglich,  wenn  sie  einander  entgegengesetzt  auf  die  Linie  a  b 
einwirken,  die  Drehung  derselben  zu  verhindern.  Nun  ist 
der  Begriff  der  Festigkeit,  also  der  bloßen  Unbeweglichkeit 
von  a  zu  unvergleichbar  mit  Begriffen  von  Bewegungen,  um 
erkennen  zu  lassen,  wie  sie  auf  diese  einwirken  kann;  man 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  307 

müßte  zuvor  die  Festigkeit  selbst  als  Erfolg  von  Bewegungen 
fassen,  um  sie  jenen  andern  Bewegungen  homogen  zu 
machen,  auf  welche  sie  einen  einschränkenden  Einfluß  aus- 
üben soll.  Man  kann  femer  P  und  Q  liicht  vergleichen,  so 
lange  sie  unter  verschiedenen  Umständen  wirken,  deren 
bedingende  Macht  noch  unbekannt  ist;  man  kann  sie  nur 
nach  den  Geschwindigkeiten  cp  und  \|)  schätzen,  welche  sie 
unter  ganz  gleichen  Bedingungen  auf  ein  ganz  gleiches 
Object  übertragen;  endlich  können  P  und  Q  zwar  an  den 
einzelnen  Punkten  p  und  q  angebracht  sein,  aber  doch 
nicht  auf  sie  allein  wirken;  um  eine  Drehung  hervor- 
zubringen oder  zu  hemmen,  muß  die  Wirkung  jeder  Kraft 
sich  auf  alle  Punkte  der  Linie  ab  verbreiten,  und  die  Art 
dieser  Vertheilung  müßte  man  kennen,  um  zu  verstehen, 
wie  der  Effect  einer  von  ihnen  den  gleichzeitigen  Effect 
der  andern  an  jedem  Punkte  der  Linie  aufheben  kann. 

226.  Diesen  logischen  Anweisungen  genügen  wir  durch 
folgende  Betrachtung.  Sei  ab  =  n  zuerst  eine  völlig  freie 
starre  Linie,  bestehend  aus  der  imendlichen  Anzahl  n  gleich- 
artiger Massenpunkte,  welche  auf  irgend  eine  uns  hier  nicht 
weiter  angehende  Weise  genöthigt  sind,  unveränderliche 
Entfernungen  von  einander  zu  behalten.  Eine  Anzahl  n 
gleicher  und  paralleler  Kräfte  wirke  senkrecht  auf  diese 
Linie  so,  daß  jede  einem  der  n  Elemente  derselben  die 
Geschwindigkeit  co  mittheilte;  dann  wird  diese  Gesammt- 
kraft  W  =  na)  die  ganze  Linie  parallel  mit  sich  selbst  fort- 
treiben. In  eine  drehende  Bewegung  geht  diese  trans- 
latorische dann  über,  wenn  wir  den  verschiedenen  Punkten 
der  Linie  verschieden  abgemessene  Geschwindigkeiten  ent- 
gegenwirken lassen,  die  wir  uns  wie  im  Anfang  so  auch  im 
Fortgang  der  Drehung  in  jedem  Augenblick  senkrecht  auf  a  b 
denken.  Dem  Endpunkt  a  stellen  wir  die  Geschwindigkeit 
—  CO  gegenüber,  durch  welche  er,  für  die  vorliegende  Auf- 
gabe, zum  festen  Punkte  wird;  dem  Punkte  b  setzen  wir 
eine  Geschwindigkeit  =0  entgegen  und  er  behält  mithin 
die  volle  Geschwindigkeit  co,  welche  ihm  W  ertheilte;  den 
Zwischenpunkten  müssen  solche  Widerstände  entgegen- 
stehen, daß  sie  für  jeden  Punkt  p,  dessen  Abstand  vom 
Drehpunkt  =p   ist,   den  uns  bereits   bekannten  Rest   der 

Geschwindigkeit  übrig  lassen,  nämlich  den  Kreisbogen  ^  •  co, 

dessen  Länge  sich  zu  dem  Wege  co  des  freien  Endes  verhält 
wie  p:n;  die  Summe  der  Geschwindigkeiten  aller  Punkte  p, 

20* 


308  Fünftes  Kapitel. 

von  p  =::  o  bis  p  ==  n,  muß  =  -^    sein.    Eine  Kraft  P  nun, 

welche  einem  freien  Elemente  die  Geschwindigkeit  9  zu 
geben  vermöchte,  würde  dem  Elemente  p  der  starren  Linie 

die  Geschwindigkeit  ^  •  cp  geben,  falls  es  zwar  dem  oben- 
erwähnten Widerstände  ausgesetzt,  aber  doch  isolirt  für 
sich  beweglich  wäre ;  da  es  dies  nicht  ist,  so  muß  dieger 
ertheilte  Anstoß  sich  über  die  ganze  Linie  vertheilen.  Auf 
welche  Weise  die  Vertheilung  zu  Stande  kommt,  kann 
dahingestellt  bleiben,  denn  ihr  Effect  steht  vorher  fest; 
sie  muß  eine  Drehung  der  ganzen  Linie  bewirken,  in  welcher 
jeder  Punkt  p  eine  seiner  Entfernung  vom  Drehpunkt  pro- 
portionale   Geschwindigkeit    erhält    und   die    Summe   aller 

Geschwindigkeiten  =  -S-^    ist.    Jeder  Punkt   p  wird  mithin 


2n 


die  Geschwindigkeit  —  • 


2.1 
n    n 


erhalten.    Ganz  Gleiches  gilt 


von  einer  zweiten  Kraft  Q,  die  einem  freien  Element  die 
Geschwindigkeit   i|),   dem   Element  q   der  befestigten  Linie 

dagegen  die  Geschwindigkeit  —  •  ^  beibringen   würde;    an    q 

angebracht,   würde  sie  jedem  anderen  Element  p   die  (je- 


schwindigkeit 


q    * 


geben.     Sollen    nun    die    beiden 


an  p  und  q  einwirkenden  Kräfte  oder  Geschwindigkeiten 
entweder  in  gleichem  Sinne  gerichtet  eine  und  dieselbe 
dritte  Bewegung  der  Linie  aufheben,  oder  in  entgegen- 
gesetztem Sinne  gerichtet  einander  selbst  das  Gleichgewicht 
halten,  so  müssen,  für  jedes  p,  die  beiden  gefundenen  Auä- 
drücke  für  ihre  Wirkung  einander  gleich,  also  p  cp  ==  q  4> 
und  cp  :  t|?  =  q :  p  sein.  Das  heißt:  die  Hebelarme  der  Kräfte 
müssen  sich  umgekehrt  verhalten  wie  ihre  Intensitäten. 

227.  Auf  sehr  scheinbare  und  dennoch  nicht  zulässige 
Weise  würde  man  denselben  Satz  folgendermaßen  ableiten. 
Wenn  auf  denselben  Punkt  m  des  in  senkrechter  Ebene 
beweglichen  Hebels  a  b  zwei  gleiche  entgegengesetzte  Kräfte 
P  und  Q  einwirken,  so  ist  unter  dieser  Bedingung  Gleich- 
gewicht selbstverständlich.  Denkt  man  sich  nun,  wie  ge- 
wöhnlich geschieht,  Q  als  ein  Gewicht,  das  durch  einen 
Haken  oder  Faden  an  m  aufgehängt  ist,  und  P  als  einen 
von  oben  wirkenden  Zug,  so  liegt  hierin  die  stillschweigende 
Voraussetzung,   es  sei  gleichgültig,   ob   von  den  unendlich 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  309 

vielen  unendlich  dünnen  senkrechten  Streifen,  in  die  man  Q 
sich  zerlegt  denken  kann,  jeder  einzeln  den  Punkt  des 
Hebels  angreift,  der  in  seiner  Verlängerung  liegt,  oder  ob 
alle  diese  Einzelkräfte  nur  durch  einen  einzigen  Repräsen- 
tanten, der  sie  zusammenfaßt,  durch  den  Faden,  an  den 
Hebel  kommen.  Dies  einmal  angenommen,  ist  es  dann 
auch  nothwendig  gleichgültig,  ob  man  sich  Q  als  einen 
Körper  denkt,  oder  durch  eine  geometrische  Ebene  senk- 
recht in  zwei  Hälften  getheilt,  die  einander  an  der  Schnitt- 
fläche berühren,  und  deren  jede  durch  einen  besonderen 
Faden,  der  ihre  Kräfte  als  Resultante  zusammenfaßt,  an 
dem  Hebel  befestigt  ist.  War  nun  m  die  Entfernung  des 
früheren  einzigen  Angriffspunktes  vom  Drehpunkt,  so  sind 
m  —  X  und  m-f-x  die  entsprechenden  Entfernungen  der 
neuen  Angriffspunkte  dieser  zwei  Fäden.  Und  dies  heißt 
nun :  das  Gleichgewicht  besteht  fort,  wenn  zwei  Kräfte  Q/2, 
deren  Summe  =  P  ist,  rechts  und  links  gleich  weit  von  dem 
Angriffspunkt  der  entgegengesetzten  Kraft  P  angebracht 
werden;  denn  die  Fäden  selbst,  oder  ihre  Spannungen, 
sind  jetzt  die  unmittelbar  angreifenden  Kräfte.  So  lange 
nun  diese  Spannungen  die  Resultanten  der  in  den  beiden  Q/2 
vereinigten  Schwerkräfte  sind,  ist  es  ferner  offenbar  ganz 
gleichgültig,  wie  diese  Q/2  übrigens  geformt  sind,  also  auch 
gleichgültig,  ob  sie  einander  noch  berühren,  wie  vorhin, 
oder  ob  sie  durch  Vergrößerung  ihrer  senkrechten  Dimension 
und  Verkleinerung  ihres  Querschnittes  jetzt  zu  zwei  ge- 
sonderten Körpern  werden,  die  einen  Zwischenraum 
zwischen  einander  lassen.  Setzt  man  diese  Ueberlegungen 
fort,  so  hindert  nichts,  die  Verschiebung  des  einen  Q/2  nach 
links,  des  andern  nach  rechts,  um  gleiche  x,  nach  Belieben 
fortzusetzen,  bis  endlich  x  =  m  wird;  dann  ist  das  eine, 
sagen  wir  das  linkshin  verschobene  Q/2  unter  dem  festen 
Drehpunkt  a  angelangt  und  übt  nun  keinerlei  Wirkung  mehr 
auf  den  Hebel  aus;  das  andere  Q/2  hat  den  Abstand  2  m 
vom  Drehpunkt  erreicht,  und  das  Gleichgewicht  besteht 
jetzt  unter  der  Bedingung  fort,  daß  P,  welches  =Q  ist,  aii 
dem  Hebelarme  m,  —  Q/2  aber  an  dem  Hebelarme  2  m  an- 
greift. Aber  so  anschaulich  diese  Darstellung  ist,  so  ist 
sie  dennoch  gar  nicht  schlußkräftig.  So  lange  nämlich 
x<m,  so  lange  hatte  das  nach  links  verschobene  Q/2  noch 
einen  erkennbaren  und  begreiflichen  Einfluß  auf  das  Gleich- 
gewicht des  Hebels;  es  blieb  klar,  daß  es  im  Verein  mit 
dem  entgegengesetzt  fortrückenden  andern  die  zureichende 
Gegenkraft  gegen  P  war;  sobald  dagegen  x:^m  wird  und 


310  Fünftes  Kapitel. 

die  Wirkung  von  Q/2  ganz  wegfällt,  entsteht  ein  Sprung  in 
unsern  Gedanken,  indem  einer  der  Beziehungspunkte  ver- 
schwindet, auf  dessen  Verhältniß  zum  andern  unser  ganzes 
Raisonnement  gebaut  war.  Denn  wenn  wir  zuerst  Q  in  dem 
Punkte  m  selbst  anbrachten,  dann  beide  Q/2  symmetrisch 
um  m  vertheilten,  so  galt,  was  wir  daraus  folgerten,  zu- 
nächst für  die  freie  Linie  ab,  die  in  m  durch  die  Kraft  P 
gehalten  wurde;  die  Befestigung  des  Endpunktes  a  war  gar 
nicht  berücksichtigt;  freilich  galten  diese  Folgerungen  auch 
für  den  Fall  des  befestigten  a,  so  lange  sich  nachweisen 
ließ,  daß  ohnehin,  um  der  Vertheilung  der  Gewichte  willen, 
Gleichgewicht  stattfand;  denn  wenn  es  stattfand,  so  konnte 
es  dadurch  nicht  gestört  werden,  daß  man  sich  a  noch  zum 
Ueberfluß  festgelegt  dachte.  Sobald  aber  der  Einfluß  von  Q/g 
wegfällt,  so  findet  aus  jenen  vorgedachten  Gründen  das 
Gleichgewicht  nicht  mehr  statt;  daß  diese  weggefallene 
Bedingung  aber  durch  die  Befestigung  des  Endpunktes  a 
genau  ersetzt  werde,  ist  gar  nicht  an  sich  klar.  Man 
müßte  sich  vielmehr  für  diesen  besondem  Fall  nach  einem 
Hülfsbeweise  umsehen,  v/elcher  zeigte,  daß  bei  festliegen- 
dem a  die  Wirkung  des  Q/2  schon  vorher  immerfort  ab- 
nahm, je  mehr  es  sich  dem  a  näherte,  und  daß  das  Gleich- 
gewicht dennoch  bestand;  daß  es  folglich  auch  fortbestehen 
werde,  wenn  der  Einfluß  dieses  Gewichts,  bei  gleichzeitiger 
Verrückung  des  andern,  ganz  zu  Null  wird.  Aber  genau 
zugesehen,  würde  dieser  Nebenbeweis  in  Wahrheit  der 
Beweis  der  Hauptsache  sein,  nämlich  eben  des  Satzes, 
daß  die  bewegenden  Wirkungen  gleicher  Kräfte  am  Hebel 
sich  umgekehrt  verhalten  wie  ihre  Hebelarme.  So  anschau- 
lich daher  jene  Darstellungsweise  den  fraglichen  Satz 
machte,  so  bewies  sie  ihn  dennoch  gar  nicht,  sondern 
setzte  ihn  in  einem  leichter  erkennbaren  als  kurz  aus- 
drückbaren  Cirkel   voraus. 

228.  Verwickelte  mechanische  Probleme  können  nicht 
immer  durch  directe  Zusammensetzung  aller  wirkenden 
Kräfte  zu  ihrem  Enderfolge  gelöst  werden ;  man  muß  häufig 
gewisse  allgemeine  Bedingungen  aufstellen,  denen  dieser 
jedenfalls  zu  genügen,  oder  Schranken,  innerhalb  deren 
er  sich  zu  halten  hat;  unter  dieser  Voraussetzung  liefern 
dann  die  Einzeldata  des  gegebenen  Falles  Mittel  zur  voll- 
ständigen Bestimmung  des  Resultats.  Diese  Methoden,  unter 
denen  nur  an  die  Anwendung  des  Princips  von  d'Alembert 
erinnert  sein  mag,  sind  ganz  unschätzbar  und  unentbehrlich; 
da  sie  aber  die  Entstehungsgeschichte  des  errechneten  Er- 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  311 

folges  nicht  klar  machen,  so  lassen  sie  doch  den  Wunsch 
übrig,  directe  Construction  so  weit  als  möglich  fortzusetzen. 
Ich  erwähne,  im  Zusammenhang  mit  der  vorigen  Frage 
nach  dem  Gleichgewicht  drehender  Kräfte  die  nach  der 
Bewegung,  die  sie  erzeugen,  wenn  ihnen  nicht  widerstanden 
wird.  Die  Regel  zu  ihrer  Berechnung  ist  auf  die  beiden 
sehr  einfachen  Sätze  zurückgebracht:  1)  wirkt  auf  einen 
frei  beweglichen  Körper  eine  Kraft,  so  nimmt  sein  Schwer- 
punkt dieselbe  gradlinige  Bewegung  an,  welche  die  ganze 
Masse  des  Körpers  annehmen  würde,  wenn  sie  im  Schwer- 
punkt vereinigt  wäre  und  dort  von  der  Kraft  angegriffen 
würde;  2)  zugleich  erlangt  der  Körper  die  drehende  Be- 
wegung, welche  er,  wenn  sein  Schwerpunkt  befestigt  wäre, 
durch  dieselbe  Kraft  erfahren  würde.  In  dieser  höchst 
übersichtlichen  Theilung  des  Erfolgs  liegt  nun  doch  eine 
Paradoxie.  Wenn  nämlich  die  Richtung  der  Kraft  durch 
den  Schwerpunkt  geht,  so  entsteht  nach  dem  zweiten  Satz 
keine  Drehung,  sondern  nur  eine  gradlinige  translatorische 
Bewegung,  und  doch  würden  wir  meinen,  daß  in  diesem 
Falle  die  Kraft  unter  der  denkbar  günstigsten  Bedingung 
angriffe;  geht  aber  ihre  Richtung  nicht  durch  den  Schwer- 
punkt, und  in  diesem  Falle  schiene  uns  die  Kraft  unter 
einer  weniger  günstigen  Bedingung  zu  wirken,  so  bringt 
sie  nicht  blos  den  ganzen  vorigen  Erfolg,  sondern  auch 
noch  eine  Drehung  hervor,  die  sich  wie  eine  Zugabe  aus- 
nimmt ohne  deutlichen  Grund.  Wenn  man  die  zusammen- 
gesetzten Geschwindigkeiten,  welche  die  verschiedenen 
Theile  eines  zugleich  fortschreitenden  und  rotirenden 
Körpers  besitzen,  nach  der  Richtung  der  gradlinigen  Bahn 
und  nach  der  Senkrechten  auf  diese  und  die  Rotationsaxe 
zerfällt,  so  ist  die  Summe  aller  der  ersten  Componenten, 
jede  in  ihr  Massendifferential  multiplicirt,  gleich  dem  Product 
der  ganzen  Masse  in  ihre  gradlinige  Geschwindigkeit,  und 
man  überzeugt  sich  leicht,  daß  bei  dem  drehenden  und 
zugleich  fortschreitenden  Körper  zwar  die  einzelnen  Elemente 
verschiedene  Geschwindigkeiten  in  der  Richtung  der  Bahn 
haben,  daß  aber  die  Summe  aller  dieser  Geschwindigkeiten 
weder  vermehrt  noch  vermindert,  sondern  nur  anders  ver- 
theilt  ist,  als  in  derselben  Masse,  wenn  sie  ohne  Drehung 
fortschreitet.  Aber  die  anderen  Componenten  bleiben  übrig, 
und  obwohl  sie  für  die  beiden  Hälften  des  drehenden  Körpers 
entgegengesetzte  Zeichen  haben,  so  heben  sie  doch  deswegen 
einander  nicht  auf;  sie  sind  wirklich  geschehende  Be- 
wegungen,  und  es  fragt  sich,  woher  sie  entstanden   sind. 


312  Fünftes  Kapitel. 

229.  Es  reicht  hin,  diese  Frage  für  den  einfachsten 
denkbaren  Fall  zu  becintworten.  Es  seien  a  und  b  zwei 
gleiche  Massen,  die  wir  uns  in  ihre  Schwerpunkte  con- 
centrirt  denken;  wechselwirkende  Kräfte  zwischen  beiden 
mögen  dafür  sorgen,  daß  ihre  Entfernung  ab  von  einander 
unveränderlich  sei;  wir  können  dann  sagen,  a  und  b  seien 
durch  eine  starre  massenlose  unveränderliche  Linie  ab  ver- 
bunden. Zur  Einfachheit  der  zu  entwerfenden  Figur  denken 
wir  uns  ab  in  den  Winkel  zweier  in  0  sich  schneidenden 
rechtwinkligen  Axen  so  eingepaßt,  daß  a  auf  der  XAxe, 
b  auf  der  YAxe  liegt;  man  wird  dann,  am  Anfang,  für  die 
Masse  a  haben  x  =  0  a  und  y  =  o,  für  b  dagegen  x  =  o 
und  y  =  0  b,  für  den  Schwerpunkt  des  kleinen  Massen- 
systems a  -|-  b,  der  in  dem  Halbirungspunkte  von  a  b  liegt : 

x=—   und  y  = Wir  nehmen   nun  an,    der  Masse  a 

2  -^  2 

werde  eine  Geschwindigkeit  mitgetheilt  in  der  Richtung 
der  XAxe  und  es  sei  aa  der  Weg,  den  sie  in  einem  un- 
theilbaren  Zeitaugenblick  unter  diesem  Antrieb  zurücklegen 
würde,  wenn  sie  frei  wäre.  Da  unmittelbar  auf  die  Masse  b 
keine  Kraft  einwirkt,  so  würde  diese  in  Ruhe  bleiben 
und  die  Linie  ab,  welche  ihre  Entfernung  von  der 
fortbewegten  a  ausdrückt,  würde  länger  werden  als  die 
ursprüngliche  ab.  Aber  die  zwischen  a  und  b  wirk- 
samen Kräfte,  welche  die  Entfernung  a  b  nach  unserer 
Voraussetzung  unveränderlich  erhalten,  widersetzen  sich 
in  jedem  Augenblick  dieser  beginnenden  Verlängerung, 
deren  Maß  ab  —  ab  sein  würde,  und  heben  sie  auf, 
indem  sie  beide  einander  in  der  Richtung  der  Linie 
nähern,  an  deren  Endpunkten  sie  sich  befinden  würden, 
wenn  die  Verlängerung  stattfände.  Da  keine  der  Massen 
einseitig  die  andere  zwingen  kann,  ihr  zu  folgen,  vielmehr 
nach  dem  Grundsatz  der  Gleichheit  der  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung die  so  entstehenden  Verschiebungen  beider  nach 
unserer  Annahme  gleichen  Massen  gleiche  Längen  sein 
müssen,  so  finden  wir  die  neuen  Orte  a^  und  ß  derselben, 
wenn  wir  auf  ab  von  a  aus  die  Länge  aa^  und  von  b  aus 

die  Länge  b  ß,   beide  = abtragen.  Fällen  wir  von  o^ 

eine  Ordinate,  welche  dy  sein  mag,  auf  die  XAxe,  von  ß 
eine  Senkrechte,  welche  dx  sei,  auf  die  YAxe,  so  entstehen 
zwei  congruente  Dreiecke  und  man  hat  für  die  beiden  End- 
punkte ai  und  ß  der  jetzt  verschobenen  Linie  ab  die 
Ordinaten  d y  und  Ob  —  d y ,  folglich  für  den  Schwerpunkt, 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  313 

welcher  der  Mittelpunkt  dieser  Liüie  bleibt,  y=  — ;    dies 

2 

war  aber  die  Ordinate  des  Schwerpunkts  auch  vor  der 
Mittheilung  der  Geschwindigkeit;  mithin  hat  der  Schwer- 
punkt einen  Antrieb  erhalten,  sich  parallel  zur  XAxe,  d.  h.  in 
derselben  Richtung  zu  bewegen,  in  welcher  die  auf  a 
wirkende  Kraft  ihn  getrieben  haben  würde,  wenn  sie  an 
ihm  selbst  angebracht  worden  wäre.  Man  hat  zugleich  für 
die  Endpunkte  a^  und  ß  die  Abscissen :  Oa  +  aa  —  dx 
und  dx,  also  die  Abscisse  des  neuen  Ortes  des  Schwer- 
punkts;  - -;  da  die  Abscisse  seines  anfänglichen  Ortes 

Ca 

—   war,    so    hat   er   die   Hälfte   der   Geschwindigkeit   a  a 

empfangen,  welche  die  an  a  angebrachte  Kraft  diesem  zu 
ertheilen  strebte,  und  dies  ist  eben  die  Geschwindigkeit, 
welche  dieselbe  Kraft  der  ganzen  Masse  a-j-b  oder  2  a  des 
Systems  ertheilt  haben  würde,  wenn  sie  dieselbe  im  Schwer- 
punkt vereinigt  angetroffen  hätte.  Diese  Betrachtung  gilt 
für  den  Anfangszeitpunkt  der  ganzen  Bewegung,  in  welchem, 
wie  wir  vorauszusetzen  pflegen,  die  momentan  wirkende 
Kraft,  welche  a  angriff,  ohne  Zeitverlauf  diesem  eine  Ge- 
schwindigkeit mittheilte  und  eben  so  ohne  Zeitverlauf  die 
corrigirende  Rückwirkung  der  zwischen  a  und  b  thätigen 
Kräfte  erfolgte.  Da  von  jetzt  an  eine  äußere  Kraft  nicht 
weiter  einwirkt,  so  setzen  sich  alle  hervorgebrachten  Be- 
wegungen nach  dem  Gesetze  der  Beharrung  einfach  fort; 
nur  die  inneren  Kräfte  zwischen  a  und  b  haben  beständig 
zu  thun,  um  die  Fortschreitung  von  a  und  b  in  den  jedes- 
maligen Tangenten  ihrer  Bahn  zu  hindern  und  sie  in  un- 
veränderlicher Entfernung  vom  Schwerpunkt  zu  erhalten; 
sie  erzeugen  hierdurch  eine  in  Bezug  auf  diesen  kreisförmige 
Umdrehung,  und  da  sie  die  beiden  Massen  ohne  unstetigen 
Uebergang  in  eine  andere  Richtung  stetig  von  ihrer  augen- 
blicklichen ablenken,  so  geschieht  die  Drehung  gleichförmig 
und  mit  derselben  constanten  Geschwindigkeit  im  Kreise, 
mit  welcher  im  ersten  Augenblick  beide  Massen  gradlinig 
angetrieben  wurden.  Versetzt  man  endlich  a^ß  mit  sich 
selbst  parallel  zurück,  bis  sein  Schwerpunkt  auf  den  von  ab 
fällt,  so  machen  beide  Linien  am  Schwerpunkt  einen 
Winkel  cp,  welcher  gleich  ist  jenem,  den  ab  mit  ab  an  dem 
Punkte  b  machen  würde,  wenn  b  ein  fester  Drehpunkt  wäre 
und  die  angebrachte  äußere  Kraft  nur  die  Masse  a  allein. 


314  Fünftes  Kapitel. 

unter  Voraussetzung  ihrer  unveränderlichen  Entfernung  ab 
von  b  zu  bewegen  gehabt  hätte.  Die  Länge  des  zurück- 
gelegten Bogens  wäre  dann  ab(p  gewesen;  die  Bogenlänge, 
welche  a  wirklich,  in  seiner  Umdrehung  um  den  als  be- 
festigt gedachten  Schwerpunkt,  zurückgelegt  hat,  ist  — — , 

und  dies  ist  eben  die  Geschwindigkeit,  welche  jene  Kraft 
ihr  geben  mußte,  wenn  sie  zugleich  die  andere  Masse  b 
in  entgegengesetzter  Richtung  zu  bewegen  hatte.  Man  sieht 
hieraus,  daß  eine  äußere  momentane  Kraft,  möge  ihre 
Richtung  durch  den  Schwerpunkt  gehen  oder  nicht,  in  dem 
Körper  immer  dieselbe  Summe  translatorischer  Bewegungs- 
größen hervorbringt;  die  Drehung,  welche  in  dem  zweiten 
Falle  hinzutritt,  entspringt  aus  den  inneren  Kräften,  welche 
zwischen  den  Theilen  des  bewegten  Systems  wirken.  Diese 
Wirkungen  sind  aber  auch  in  dem  ersten  Falle,  in  welchem 
keine  Drehung  entsteht,  keineswegs  Null;  sie  dienen  hier 
aber  nur  dazu,  die  Massentheile,  welche  in  einer  graden 
Linie,  senkrecht  auf  die  Richtung  der  mitgetheilten  Be- 
wegung, angeordnet  sind,  in  dieser  Anordnung  während 
des  Fortschreitens  zu  erhalten,  eine  Leistung,  die  sich  in 
keiner  relativen  Bewegung  der  Theile  um  ihren  fort- 
schreitenden Schwerpunkt  verräth,  so  lange  wir  eben  von 
der  Voraussetzung  einer  absoluten  Festigkeit  des  Körpers 
ausgehen;  sie  würde  sich  aber  sogleich  in  solchen  Be- 
wegungen kund  geben,  wenn  wir  etwa  drei  gleiche  Massen 
abc  unter  einander  durch  biegsame  Fäden  verknüpft 
dächten  und  auf  den  in  b  enthaltenen  Schwerpunkt  dieses 
ganzen  Systems  einen  Stoß  ausübten. 

230.  Die  zur  Auffindung  der  Beweisgründe  zu  unter- 
nehmende Zergliederung  sucht  nicht  nur  die  für  die  Richtig- 
keit der  zu  beweisenden  Folge  wesentlichen  Elemente 
herauszustellen,  sondern  auch  die  für  denselben  Zweck 
unwesentlichen  zu  beseitigen.  So  wird  bei  der  Beantwortung 
statischer  und  mechanischer  Fragen  häufig  von  der  An- 
nahme einer  massenlosen  starren  Linie  ausgegangen.  Nun 
kann  man  einräumen,  daß  der  Begriff  einer  begrenzten 
graden  Linie  durch  das  Merkmal  der  Begrenztheit  die 
Forderung  der  beständigen  Berührung  jedes  Punktes  mit 
zwei  Nachbarpunkten  und  durch  das  der  Gradheit  auch 
die  Starrheit  und  Unbiegsamkeit  der  Linie  einschließt;  allein 
als  blos  geometrische  Linie  ist  sie  kein  Object,  das  durch 
Kräfte  in  Bewegung  gesetzt  werden  könnte;  diese  Fähigkeit, 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  815 

von  Kräften  zu  leiden,  kommt  nur  der  linienförmig  an- 
geordneten Masse  zu,  und  die  Wechsel  wirkenden  Kräfte 
der  Massentheilchen  allein  bringen  an  dieser  körperlichen 
Linie  die  in  dem  geometrischen  Begriff  nur  geforderte 
Starrheit  und  unveränderliche  Länge  wirklich  hervor.  Es 
ist  daher  kein  glücklicher  Ausdruck,  hier  von  einer  massen- 
losen  Linie  zu  sprechen,  und  er  gibt  in  der  That  das 
gar  nicht  wieder,  was  man  wirklich  meint  und  worauf 
man  in  der  Ausführung  solcher  Ueberlegungen  baut.  Masse 
muß  die  Linie  unzweifelhaft  haben,  die  wir  durch  Kräfte 
bewegen  oder  um  ihren  Endpunkt  drehßa  wollen,  aber 
für  die  Gesetze,  nach  denen  allgemein  die  Wirkung  dieser 
Kräfte  erfolgt,  ist  es  nur  nothwendig,  daß  die  Masse  in 
jedem  Querschnitt  dieser  körperlichen  Linie  dieselbe  sei; 
jede  Unregelmäßigkeit  ihrer  Vertheilung  würde  einen  be- 
sonderen Fall  bilden,  der  nun  nach  den  Regeln  jenes  ein- 
fachsten und  reinen  Falles  unter  Berücksichtigung  dieser 
speciellen  Data  zu  beurtheilen  wäre;  völlig  gleichgültig 
ist  es  dagegen  für  jene  Gesetze,  wie  groß  diese  Masse  ist; 
an  einem  dicken  Hebel  sind  die  Proportionen  der  Kräfte 
und  Hebelarme  für  das  Gleichgewicht  keine  anderen,  als 
an  einem  dünnen,  an  einem  specifisch  schwereren  dieselben 
wie  an  einem  leichteren.  Man  setzt  daher,  wenn  man  von 
einer  massenlosen  Linie  spricht,  die  Masse  derselben  eigent- 
lich gar  nicht  gleich  Null,  sondern  gleich  der  Einheit,  und 
zwar  gleich  einer  Einheit,  der  man  jeden  beliebigen  großen 
und  kleinen  Werth  geben  kann,  und  die  aus  der  weiteren 
Berechnung  deswegen  verschwindet,  weil  sie  als  gleicher 
Factor  aller  zu  einander  in  Proportion  stehenden  Glieder 
Nichts  zur  Bestimmung  oder  Aenderung  des  zwischen  diesen 
obwaltenden  Verhältnisses  beiträgt.  Auf  diesem  Gedanken 
beruhte  unsere  frühere  Darstellung.  Die  Linie  ab  war  als. 
eine  Massenlinie  gedacht,  jeder  ihrer  Punkte  ein  Differential 
der  Masse;  darum  war  es  möglich,  überhaupt  von  einer 
Kraft  W  zu  sprechen,  die  auf  ab  wirkt,  und  dies  W=nco, 
gleich  einer  Summe  von  Einzelkräften  zu  setzen,  deren 
jede  dem  Massendifferential  die  Geschwindigkeit  co  ertheilte. 
Aber  die  beständige  Berücksichtigung  der  Masse  in  der 
Rechnung  hätte  Nichts  weiter  genützt ;  nur  der  Werth  von  co 
wäre  anders  ausgefallen,  wenn  man  sich  die  Masse  der 
Linie  oder  jedes  ihrer  unterschiedenen  nTheile  größer  oder 
kleiner  vorgestellt  hätte ;  die  Verhältnisse  zwischen  P  und  Q, 
wenn  beide  sich  immer  auf  dieselbe  Masse  bezogen,  hätten 
keine  Aenderung  erfahren.    Die  Theilung  der  Beweisarbeit, 


316  Fünftes  Kapitel. 

die   man   hier   vorgenommen,    besteht   daher   nicht   darin, 

daß  man  zuerst  von  der  Masse  überhaupt  abstrahirt,  das 

fragliche   Gesetz   für   die   massenlose  Linie   bewiesen  und 

dann  erst  in  einem  zweiten  Anlauf  untersucht  hätte,   was 

aus  ihm  wird,  wenn  man  die  Linie  auch  Masse  haben  läßt; 

vielmehr   gleich   der   erste   Schritt  nahm  auf  diese   Masse 

Rücksicht,   und  fand  nur,   daß   ihre  Größe  keinen   Einfluß 

auf  die  allgemeine  Form  des  Gesetzes  hat;  auf  diesen  Grund 

hin  kann  dann  in  einer  zweiten  Untersuchung  der  Einfluß 

erörtert  werden,  den  verschiedene  Größen  und  Vertheilungen 

der  Masse  auf  die  absoluten  Werthe  der  durch  jenes  Gesetz 

zu  bestimmenden  Größen  haben.    Sobald  man  die  Massen- 

losigkeit   einer  zu   bewegenden  Linie   buchstäblich  nimmt, 

verwickelt   man   sich   in   Sonderbarkeiten,    durch   die  kein 

rechtliches  Durchkommen  mehr  ist,  weil  sie  auf  einer  an 

sich  unmöglichen  Combination  von  Vorstellungen  beruhen. 

Was    soll    geschehen,    wenn    der   eine    Endpunkt  b   dieser 

Linie  a  b  eine  Geschwindigkeit  c  erhält  ?  Er  kann  sich  nicht 

trennen   von   der   übrigen   Linie,   denn   dann  würde   nicht 

diese  bewegt,  sondern  der  freie  Punkt  b  allein;  aber  wie 

soll  die  Linie  ihm  folgen,  da  sie  ja  keine  Bewegung  empfing  ? 

Vielleicht  meint  man,  sie  werde  sich  drehen;  dann  müßte 

der   Punkt  b   seine   Geschwindigkeit  den   übrigen   Punkten 

mittheilen,   und  zwar  abgestuft  den  näheren  mehr  davon, 

den  entfernteren  weniger;  aber  man  sieht  nicht  ein,  wornach 

dies   abzumessen  wäre,   denn  alle  die  Kräfte  fehlen   hier, 

die,   zwischen  Massentheilchen  wirkend,   es  dahin  bringen 

könnten,  daß  der  von  dem  einen  empfangene  Anstoß  sich 

auf  die  übrige  Reihe  fortpflanzte,  und  in  jedem  Augenblick 

jedes    Glied    derselben    einen    bestimmt   abgestuften   Theil 

des   Impulses   erhielte.    Endlich,   da   zu   dieser   Abstufung 

hier  der  Grund  fehlt,  so  kann  man  auch  dazu  übergehen, 

die  ganze  Linie  a  b  als  eine  solidarisch  verbundene  Einheit 

anzusehen,   so   daß   jeder   nur   in   Gedanken   oder   in   der 

Anschauung    unterscheidbare   Theil    derselben    unmittelbar 

in  dieselben  Zustände  geräth,  die  in  irgend  einem  andern 

erregt  werden;  ich  lasse  dahingestellt,  ob  dann  jeder  Theil 

c 
der  Linie  n  die  ganze  Geschwindigkeit  c  oder  nur  —  erhält; 

jedenfalls  entspringt  hieraus  die  Folge,  daß  die  Linie  ab 
in  Ruhe  bleibt,  wenn  b  die  Geschwindigkeit  c,  und  der 
andre  Endpunkt  a  die  gleiche  — c  empfängt.  Diesen  Un- 
begreiflichkeiten geht  man  durch  das  Geständniß  aus  dem 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  317 

Wege,  daß  nur  eine  Massenlinie,  eine  massenlose  aber  gar 
nicht,   sich  bewegt. 

231.  Auch  bei  den  Hülfsansichten,  den  Substitutionen 
und  Transformationen,  durch  welche  man  die  gegebenen 
Umstände  beurtheilbar  zu  machen  sucht,  hat  man  Annahmen 
zu  vermeiden,  denen,  so  anschaulich  sie  auch  sein  mögön, 
doch  keine  reelle  Bedeutung  gegeben  werden  kann.  Ich 
erwähne  hierzu  einen  häufig  vorkommenden  Beweis  für 
das  Parallelogramm  der  Kräfte,  welcher  den  be- 
wegten Körper  sich  in  einer  Ebene  von  a  nach  c,  gleich- 
zeitig aber  diese  Ebene  von  a  nach  b  bewegen  läßt,  und 
hierdurch  die  Bahn  ad  des  Körpers,  von  a  nach  dem  End- 
punkt der  Diagonale  des  Parallelogramms  a  b  c  d,  gefunden 
zu  haben  glaubt.  Es  liegen  zwei  Voraussetzungen  hierin 
unausgesprochen,  die  man  aussprechen  muß;  einmal  die, 
daß  die  Bewegung  der  Ebene  die  des  Punktes  in  der 
Linie  a  b  nicht  stören,  dann  die,  daß  die  fortschreitend© 
Ebene  die  ganze  Linie  ab  sammt  dem  Körper  mit  sich 
fortführen  werde.  Ist  nun  schon  eine  sich  bewegende  leere 
Raumebene  Nichts  was  in  Wirklichkeit  vorkommen  könnte, 
so  ist  noch  weniger  begreiflich,  wodurch  der  Körper  an 
ihr  kleben  bleibt,  während  sie  fortrückt.  Und  doch  ist 
diese  Befestigung  sehr  nöthig ;  denn  es  befinde  sich  der 
Körper  auf  einer  sehr  glatten  Tischplatte,  und  man  gebe 
ihm  einen  Stoß  nach  ac,  gleichzeitig  aber  der  Platte  einen 
Stoß  nach  a  b,  so  wird  der  Körper  nicht  mit  der  Plattö 
gehen,  sondern  sich  von  ihr,  die  unter  Jhm  wegfliegt,  trennen. 
Ergänzt  man  aber  diese  nothwendige  Bedingung,  sagt  man 
also,  daß  der  Körper  nach  c  ungestört  fortgehe,  äc  aber 
gleichzeitig  nach  b  zu  gehen  und  ihn  mitzunehmen  gc- 
nöthigt  sei,  so  wird  der  ganze  Satz  eine  leere  Tautologie, 
und  das,  was  er  voraussetzt,  ist  eben  das,  was  man  be- 
weisen müßte.  Er  gehört  daher  nur  zu  den  Mitteln,  durch 
die   man   eine   bewiesene   Wahrheit  veranschaulicht. 

232.  Von  den  zahlreichen  andern  Beweisen  desselben 
Satzes  interessirt  uns  logisch  ein  Anfangspunkt,  von  derii 
viele  auszugehen  pflegen.  Man  stellt  den  Sonderfall  voraus, 
in  welchem  zwei  gleiche  Kräfte  a  und  b  den  Körper  nach 
zwei  Richtungen  treiben,  und  findet  es  hier  selbstverständ- 
lich, daß  die  Richtung  der  resultirenden  Bewegung  deii 
Zwischenwinkel  beider  Kräfte  halbiren  werde.  Diese  An- 
nahme schließt  aber  die  andere  ein,  daß  bei  ungleichen 
Kräften  die  Resultante  den  Winkel  in  ungleiche  Theil'e 
spalten  werde,  und  da  es  unmöglich  ist,  daß  die  Art  dieser 


318  Fünftes  Kapitel. 

Ungleichheit  unabhängig  von  dem  Größenverhältniß  beider 
Kräfte  sei,  da  doch  die  Ungleichheit  selbst  von  ihm  ab- 
hängt, so  beruht  die  Annahme  auf  der  allgemeineren :  wenn 
zwei  Bedingungen  a  und  b  ein  Ergebniß  c  verschieden  zu 
gestalten  suchen,  so  wird  in  der  wirklichen  Gestaltung  des- 
selben der  erkennbare  Einfluß  beider  ihren  Größen  pro- 
portional sein;  sind  daher  a  und  b  gleich,  so  wird  c  von 
dem  Ergebniß,  welches  a  allein  erzeugt  hätte,  ebenso  weit 
verschieden  sein,  wie  von  dem,  welches  b  allein  hervor- 
bringen würde.  Ich  weiß  nun  nicht,  warum  man  sich  auf 
diesen  Satz  nur  einmal,  zur  Einleitung  des  Beweises,  be- 
rufen und  dann  diesen  selbst  durch  verwickelte  andere 
Ueberlegungen  führen  soll ;  welches  auch  die  Kräfte  a  und  b 
und  der  Grad  ihrer  Ungleichheit  sein  mag,  wir  können 
allgemein  sagen:  die  Ablenkungen,  welche  der  bewegte 
Punkt  durch  die  Kraft  a  von  dem  Wege  der  Kraft  b,  und 
von  dem  Wege  der  Kraft  b  durch  die  Kraft  a  erfährt, 
müssen  sich  direct  wie  die  ablenkenden  Kräfte  verhalten. 
Zur  mathematischen  Ausbeutung  dieses  logischen  Grund- 
satzes hätten  wir  zunächst  zu  bestimmen,  wie  beide  Ab- 
lenkungen gemessen  weiden  sollen.  Hierzu  nach  gewöhn- 
licher Weise  Senkrechte  anzuwenden,  die  von  den  Rich- 
tungen der  Einzelbahnen  auf  die  resultirende  oder  von 
dieser  auf  jene  gefällt  würden,  zeigt  sich  in  der  Natur 
der  Frage  keine  Aufforderung;  alle  drei  Bahnen  kommen 
nicht  als  leere  Raumrichtungen,  sondern  nur  als  geometrische 
Orte  in  Betracht,  welche  die  successiven  Orte  des  bewegten 
Punktes  enthalten  würden;  nur  zu  folgender  Auffassung 
führt  diese  zuletzt  gemachte  Bemerkung.  Seien  a  und  ß 
die  beiden  auf  den  Bahnen  der  a  und  b  gelegenen  Punkte, 
welche  der  bewegte  Körper  in  gleicher  Zeit  t  erreicht  haben 
würde,  wenn  er  allein  den  Kräften  a  oder  b  gefolgt  wäre, 
p  aber  der  in  der  Resultante  liegende  Punkt,  an  welchem 
sich  nach  der  gleichen  Zeit  t  der  Körper  unter  der  ver- 
einigten Einwirkung  von  a  und  b  befindet,  so  ist  pa  die 
Ablenkung  von  der  Bahn  a  durch  die  Kraft  b,  pß  die  von 
der  Bahn  b  durch  die  Kraft  a,  und  es  ist  p  a :  p  ß  =  b  :  a. 
Da  man  die  Größen  der  Kräfte  a  und  b  nur  nach  dem 
Raum  schätzen  kann,  den  sie  in  der  Zeiteinheit  durchlaufen 
machen,  so  ist  das  Verhältniß  a :  b,  für  die  Zeiteinheit, 
zugleich  das  der  nach  a  und  b  durchlaufenen  Räume;  es 
wird  aber  diese  Bedeutung  auch  für  jede  Zeit  t  und  für  jeden 
Theil  von  t  haben  müssen;  denn  die  Bewegung  in  der 
Resultante  muß,  da  wir  a  und  b  als  nur  momentan  wirkende 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  S19 

Kräfte  betrachten,  mit  constanter  Geschwindigkeit  und  gerad- 
linig geschehen;  die  durchlaufene  Länge  der  Resultante 
wird  daher  immer  den  nach  a  und  b  bis  zu  gleicher  Zeit  t 
zurückgelegten  Räumen  proportional  sein,  ebenso  mithin 
auch  die  Ablenkungen  p  a  und  p  ß,  die  dritten  Seiten  zu 
Dreiecken,  deren  beide  andern  Seiten  in  beständig  gleichem 
Verhältniß  zunehmen. 

233.  Diese  Proportion  entscheidet  aber  nichts  über  die 
absoluten  Größen  von  p  a  und  p  ß ;  beide  genügen  der  Pro- 
portion, wenn  sie  überhaupt  mb  und  ma  sind;  der  Werth 
dieses  m  bliebe  zu  ermitteln.  Nun  liegt  in  allen  Bestim- 
mungsstücken der  Aufgabe  nichts,  was  zur  Bestimmung 
desselben  beitragen  könnte;  von  Einfluß  könnten  nur  die 
Größen  von  a  und  b  und  damit  ihr  Verhältniß,  sowie  die 
Größe  des  Zwischenwinkels  sein;  aber  gerade  die  Einflüsse 
dieser  Elemente  scheinen  durch  die  bereits  gemachten  An- 
nahmen völlig  berücksichtigt;  außerhalb  der  Data  endlich, 
welche  die  Aufgabe  enthält,  kann  der  Grund  nicht  liegen 
für  etwas,  was  eben  aus  dieser  Aufgabe  fließen  soll.  In 
Fällen  solcher  Art  wird  der  logische  Gedankengang  allemal 
darin  bestehen  müssen,  die  probabelste  Annahme  zu 
versuchen,  welche  der  gestellten  Forderung  genügt.  Was 
unter  diesem  Ausdruck  zu  verstehen  ist,  würde  sich  all- 
gemein sehr  schwer  definiren  lassen,  und  ich  habe  die 
Behandlung  dieser  Aufgabe  nur  unternommen,  um  durch 
ein  Beispiel  die  Mängel  der  allgemeinen  Begriffsbestimmung 
auszugleichen.  Die  probabelste  Annahme  wird  das  fest- 
setzen, was,  seinem  Begriffe  oder  seiner  Größe  nach,  al& 
ein  Minimum  das  Verhalten  überhaupt  noch  möglich  macht, 
von  dem  wir  wissen,  daß  es  stattfinden  muß,  und  welches, 
wenn  es  unter  andern  Bedingungen  oder  mit  anderen  Neben- 
bestimmungen, als  dieser  so  gewählten,  stattfinden  sollte, 
für  diese  stets  besondere  hier  eben  fehlende  Entscheidungs- 
gründe  nothwendig  machen  würde.  In  unserem  Falle  muß 
die  Proportion  pa:pß=:b:a  überhaupt  stattfinden;  deshalb 
kaim  jenes  m  nicht  Null  sein;  damit  sie  aber  stattfinde, 
reicht  es  hin,  m  =  1  zu  setzen,  und  diesen  Werth  kann  man, 
seinem  Begriffe  nach,  als  das  Minimum  ansehen,  welche» 
der  gestellten  Forderung  genügt,  denn  jeder  größere  oder 
kleinere  Werth  m  =  2  oder  m  =  V2  läßt  sich  als  m  •  1  be- 
trachten, d.  h.  als  Wiederholungszahl  der  Einheit,  mit  deren 
Verschwinden  m  selbst  und  das  ganze  Verhältniß  ver- 
schwindet. Die  Einheit  allein  aifirmirt  das  wirkliche  Be- 
stehen des  verlangten  Verhältnisses   so,  daß  eben   deshalb 


320  Fünftes  Kapitel. 

jene  besonderen  Werthe  von  m  als  weitere  specifische 
Charakteristiken  wirksam  hinzutreten  können,  falls  es  in 
der  Natur  des  behandelten  Inhalts  Gründe  gibt,  einen  dieser 
Werthe  vor  dem  andern  zu  begünstigen.  Wo  es  nun,  wie 
hier,  diese  Gründe  nicht  gibt,  ziehen  wir  uns  auf  die 
jedenfalls  nothwendige,  deshalb  probabelste  Annahme  m  =  1 
zurück,  welche  unter  allen  Umständen,  selbst  dann,  wenn  m 
einen  von  der  Einheit  verschiedenen  Werth  hätte,  zugleich 
mit  diesem  Werthe  gelten  und  der  verlangten  Proportion 
genügen  würde.  Machen  wir  nun  diese  Annahme  und  con- 
struiren  sie,  beschreiben  wir  also  von  dem  Endpunkt  a  des 
in  der  Zeit  t  nach  a  zurückgelegten  Wegs  einen  Kreisbogen 
mit  dem  in  gleicher  Zeit  nach  b  zurückgelegten  Wege, 
von  ß  einen  Bogen  mit  dem  nach  a  zurückgelegten  Wege 
als  Halbmessern,  so  schneiden  sich  beide  in  der  Diagonale 
des  aus  a  und  b  gebildeten  Parallelogramms,  und  sowohl 
die  Richtung  als  die  Länge  der  Resultante  ist  auf  einmal 
bestimmt. 

234.  Man  wird  selten  mit  unbedingter  Gewißheit  sagen 
können,  daß  in  dem  gegebenen  Inhalt  einer  Aufgabe,  bei 
dessen  Zergliederung  man  Entscheidungsgründe  für  eine 
andere  als  diese  probabelste  Annahme  nicht  gefunden  hat, 
solche  Gründe  nicht  dennoch  vorhanden  seien  und  einer 
sorgsameren  Zergliederung  sich  zeigen  würden.  Deshalb 
erspart  man  sich  die  Mühe  nicht,  durch  Nebenbeweise  ent- 
weder von  andern  Standpunkten  aus  die  gemachte  An- 
nahme zu  bestätigen,  oder  apagogisch  jede  andere  durch  die 
Widersprüche,  in  die  sie  verwickelt,  als  unmöglich  aus- 
zuschließen. Auch  diesen  Schritt  wollen  wir  noch  thun. 
Es  erscheint  selbstverständlich,  daß  die  Resultante  nie 
größer  als  die  Summe  der  Seitenkräfte  sein  kann;  sie  er- 
reicht dies  Maximum,  wenn  beide  in  derselben  Richtung  auf 
den  Körper  wirken,  ihr  Zwischenwinkel  also  Null  ist.  Man 
hat  auch  gegen  diesen  Satz  eingewandt,  es  verstehe  sich 
doch  nicht  von  selbst,  daß  eine  zweite  Bewegung  b,  die  zu 
einer  ersten  a  in  gleicher  Richtung  hinzukommt,  sich  ein- 
fach zu  dieser  addire;  es  sei  denkbar,  daß  in  der  Natur 
der  Bewegung  oder  in  der  der  Körper,  welche  sie  erleiden, 
Bedingungen  liegen,  welche  die  Resultante  auch  hier  größer 
oder  kleiner  als  die  Summe  beider  machen  könnten.  Dieses 
Bedenken  scheint  mir  unbegründet;  vor  allem  in  seiner  An- 
wendung auf  den  vorliegenden  Fall.  Wenn  zuerst  gleich- 
zeitig zwei  gleichgerichtete  Bewegungen  demselben  Körper 
mitgetheilt  sind,  so  ist  es  lediglich  Sache  unserer  sub'jectiven 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  321 

Auffassung,  sie  noch  als  zwei  zu  unterscheiden;  sie  waren 
zwei  außerhalb  des  Körpers,  weil  sie  vielleicht  von  zwei 
verschiedenen  andern  Körpern  ihm  mitgetheilt  wurden;  es 
kann  auch  sein,  daß  bei  dem  physischen  Acte  der  Mit- 
theilung von  einem  Körper  zum  andern  diese  Bewegungen 
etwas  verlieren  oder  gewinnen;  aber  wir  sprechen  hier 
nicht  von  der  Art  der  Mittheilung,  sondern  von  den  Ge- 
schwindigkeiten, sofern  sie  dem  zu  bewegenden  Körper  mit- 
getheilt sind;  in  diesem  Körper,  den  wir  lediglich  als  be- 
wegliches Substrat,  ohne  alle  eigenthümliche  andere  Eigen- 
schaften betrachten,  setzen  sie  sich  nicht  erst  zu  einer 
zusammen,  sondern  sie  sind  gar  nichts  anderes,  als  von 
Anfang  an  eine,  und  die  resultirende  Geschwindigkeit  ist 
so  gewiß  die  Summe  beider,  als  überhaupt  jede  Geschwindig- 
keit eben  die  ist,  die  sie  ist.  Befände  sich  aber  der  Körper 
schon  in  der  Bewegung  a,  wenn  die  andere  b  hinzukommt, 
so  hätte  er,  wenn  dies  einen  Unterschied  begründen  sollte, 
dem  Gesetze  der  Beharrung  entgegen  in  jedem  Augenblicke 
seinen  Bewegungszustand  ändern  müssen ;  denn  .  ändert.  (3r 
ihn  nicht,  befindet  sich  also  zur  Zeit  t  in  völlig  derselben 
Verfassung,  wie  zur  Zeit  t^,  so  wird  die  später  hinzu-, 
kommende  Bewegung  b  sich  mit  der  fortdauernden  a  ebenso 
verbinden  müssen,  wie  sie  es  zur  Zeit  t",  also  bei  gleich- 
zeitigem Beginn  mit  a,  gethan  haben  würde.  Man  kann 
also  für  sichergestellt  ansehen,  daß  die  Resultante  R  gleich- 
gerichteter Kräfte  a  und  b  nur  r^a  +  b  sein  kann.  Un- 
mittelbar hilft  uns  dies  freilich  nichts  zur  Beurtheilung  des 
Erfolges  von  Kräften,  deren  Richtungen  um  den  Winkel  cp 
divergiren.  Indessen  ist  doch  so  viel  selbstverständlich, 
daß  die  Resultante  nicht  mit  der  Divergenz  wachsen  kann; 
sie  wäre  sonst  am  kleinsten  für  gleichgerichtete  Kräfte, 
für  welche  sie  nach  dem  Vorigen  am  größten  ist,  und  am 
gröJ3ten  für  entgegengesetzte,  für  die  sie  selbstverständlich 
am  kleinsten  sein  muß.  Da  sie  nun  ebensowenig  von  der 
Größe  des  Winkels  cp  unabhängig  sein  kann,  so  muß  sie 
nothwendig  abnehmen,  wenn  cp  wächst,  und  wir  können, 
jetzt  für  beliebig  gerichtete  Kräfte  sagen,  daß  ihre  Resultante 

R  ;^  a  -f  b  ist.   Auch  dieses  noch  unbestimmte  Ergebniß  läßt 

sich  in  engere  Grenzen  durch  Anwendung  des  wichtigen 
allgemeinen  Grundsatzes  bringen,  daß  sachliche  Verhältnisse 
unabhängig  sein  müssen  von  den  Variationen  unseres  Er-, 
kennlnißverfahrens.    Wenn  wir  auf  einen  beweglichen  Punkt 

Lotze,  Logik.  21 


322  Fünftes  Kapitel. 

in  demselben  Augenblicke  verschiedene  Momentankräfte  in 
beliebiger   Anzahl   wirken  lassen,    so   kann   der   Gesammt- 
erfolg,  der  wirklich  entsteht,  nur  einer  sein  und  kann  folg- 
lich   nicht   mit    den    verschiedenen    willkürlich    gewählten 
Reihenfolgen  sich  ändern,  nach  denen  wir  in  Gedanken  die 
gleichzeitig  wirkenden  Bedingungen  zunächst  paarweis  com- 
biniren,  um  dann  wieder  die  so  gefundenen  Einzelergebnisse 
zusammenzusetzen.     Es  muß  also  dasselbe  herauskommen, 
wenn  wir  aus   a   und   b  zuerst   die   Resultante   R   bilden 
und  dann  aus  R  und  —  a  eine  zweite  Resultante  suchen, 
oder  wenn  wir  a,  b  und  —  a  so  combiniren,  daß  a  und  -^a 
sich   selbstverständlich  aufheben,  worauf   uns  b  als   eben 
diese   zweite  Resultante  übrig   bleibt.     Es  liegt   daher  im 
Begriff  der  Resultante  R  von!  a  imd  b,  daß  man  die  Seiten- 
kraft b  wieder  erhalten  muß,  wenn  man  R  und  die  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  zu  ihrer  ursprünglichen  genommene 
Kraft  a  wieder  als   Componenten  verbindet  und   ihre  Re- 
sultante nach  demselben  Gesetz  sucht,  nach  welchem  man 
R  aus  a  und  b  fand;  ebenso  wird  R  und  — b  zusammen- 
gesetzt  auf  a  zurückführen.     Und   diese   Betrachtung   gilt 
allgemein  und  ganz  unabhängig  von  dem  noch  unbekannten 
Gesetze   selbst,  nach  welchem   Größe  und  Richtung   einer 
Resultante  von  den  Größen  und  dem  Winkel  der  Seiten- 
kräfte  abhängt.    Hieraus  folgt  nun,  daß  von  den  drei  Kräften 
oder  Bewegungen  a,  b,  R  jede,  unter  den  angegebenen  Um- 
ständen, die  Resultante  der  beiden  andern,  jede  also  kleiner 
oder  höchstens  ebenso  groß  ist,  als  die  Summe  der  beiden 
andern,   alle  drei  sich  folglich  in  ein  Dreieck  zusammen- 
setzen lassen,  das  nur  im  Grenzfall  jener  Gleichheit  in  eine 
gerade  Linie  zusammenschmilzt.  Aber  so  aufgefunden  drückt 
dieser  bekannte  Satz  nur  eine  Relation  zwischen  den  Längen 
von  a,  b,  R  aus;  wir  müssen  noch  die  Winkelverhältnisse 
klar  machen,  für  welche  diese  Beziehung  gilt.     Sind  a,  b 
und  ihr  Zwischenwinkel  cp   gegeben,  so  ist  die  uns  noch 
unbekannte  Länge  von  R  an  sich  völlig  bestimmt;  für  diese 
gegebenen  Elemente  gibt  es  daher  nur  ein  mögliches  Drei- 
eck aus  a,  b  und  R.    Umgekehrt:  ist  uns  ein  Dreieck  aus 
den   Seiten  a^   b   und  R  gegeben,   so  gibt  es   nur   einen 
Winkel   (p  der  Kräfte  a  und  b,  für  welchen  R  die  Länge 
ihrer  Resultante  ist.    In  dem  Dreieck  nimmt  R  geometrisch, 
wenn  a  und  b  constant  sind,  mit  seinem  Gegenwinkel  p 
zu;  mechanisch,  als  Resultante  von  a  und  b,  nimmt  R  ab, 
wenn    cp   zunimmt;   es   muß   also   zwischen   dem   Dreieck- 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  323 

Winkel  p  und  dem  Kräftewinkel  cp  eine  bestimmte  Relation 
bestehen,  die  wir  aufsuchen.  In  dem  Dreieck  aus  a,  b,  R 
hat  R  nicht  die  Lage,  die  es  als  Resultante  haben  müßte; 
alle  drei  Linien  müßten  von  einem  gemeinsamen  Scheitel  A 
beginnen,  und,  was  hier  als  selbstverständlich  gelten  kann, 
R  innerhalb  des  Zwischenwinkels  von  a  und  b  liegen. 
Nehmen  wir  also  an,  zwei  Kräfte  a  und  b,  zunächst  von 
unbestimmter  Größe,  hätten  wir  unter  einem  beliebigen 
Winkel  cp  verbunden;  ihre  der  Größe  nach  ebenfalls  noch 
willkürlich  angenommene  Resultante  R  theile  diesen  Winkel 
ganz  beliebig,  und  ihr  anderer  Endpunkt  sei  C.  Da  nun 
die  hier  aufzusuchenden  mechanischen  Verhältnisse  von 
der  absoluten  Lage  im  Raum  unabhängig  sein  müssen,  so 
können  wir  das  ganze  zusammengehörige  System  der  drei 
Linien  a,  b,  R  zunächst  so  verschieben,  daß  der  Scheitel  A 
auf  C  fällt,  dann  es  in  der  Ebene,  in  der  es  enthalten  ist^ 
so  um  C  drehen,  daß  die  Kräfte  a  und  b,  die  wir  in  dieser 
neuen  Lage  a^  und  b^  bezeichnen  wollen,  parallel,  aber  in 
entgegengesetztem  Sinne  zu  ihrer  früheren  Lage,  von  C  aus- 
gehen. Dann  muß  selbstverständlich  die  Resultante  R^ 
dieser  Kräfte  a^  und  b^  nach  Lage  und  Größe  identisch  mit 
R  sein,  nur  daß  sie  in  entgegengesetztem  Sinne. durchlaufen 
werden  würde.  Hierdurch  ist  nun  die  Richtung  dieser 
Resultante  bestimmt;  sie  muß  die  Diagonale  eines  Parallelo- 
gramms sein,  welches  entsteht,  wenn  einerseits  die  Kräfte  a 
und  b^,  anderseits  b  und  a^  entweder  einander  durch- 
schneiden, oder  gerade  in  einem  gemeinsamen  Endpunkt 
zusammentreffen,  oder  bis  zu  einem  solchen  verlängert 
werden.  Sind  aber  die  Längen  von  a  und  b  gegeben,  so  ist 
auch  die  Länge  von  R  bestimmt,  sie  muß  die  dritte  Drei- 
eckseite zu  a  und  bi=r:b  oder  zu  b  und  ai  =  a  sein,  sie 
ist  also  die  Diagonale  des  Parallelogramms,  welches  aus 
den  Längen  der  Kräfte  selbst  gebildet  wird.  Die  Figur  zeigt 
dann,  daß  der  Winkel  p,  dem  R  in  einem  dieser  Dreiecke 
gegenüberliegt,   der  Nebenwinkel  des   Winkels   der  Kräfte, 

also    cp  =::  -JT  —  p   ist. 

235.  Man  kann  noch  apagogisch  zeigen,  daß  jede 
andere  Annahme  über  das  Verhältniß  zwischen  Componenten 
und  Resultanten  unmöglich  ist.  Setzen  wir  zunächst  voraus, 
daß  eine  so  zu  prüfende  Annahme  mindestens  in  der  Be- 
stimmung der  Richtung  von  R  mit  unserer  bisherigen  Er- 
örterung einverstanden  sei,  und  nur  die  Größe  von  R  die 
der   Diagonale   D   übersteigen   oder  nicht  erreichen   lasse. 

21* 


324  Fünftes  Kapitel.  ' 

Es  sei  nun  die  erste  Resultante  Ri  aus  a  und  b  größer  als 
die  Diagonale  Dj  des  Parallelogramms  aus  a  und  b  und 
dem  Zwischenwinkel  cp,  mithin  R^  =  p  •  Di,  wo  p  ein  un- 
echter Bruch  ist.  Setzen  wir  nun  dies  Rj  mit  der  jetzt  ent- 
gegengesetzt zu  richtenden  Kraft  a  unter  dem  Winkel  ti  —  cp 
zusammen,  so  muß  die  aus  ihnen  nach  derselben  Annahme 
abzuleitende  neue  Resultante  Rg  größer  sein,  als  die  «aus  R^ 
und  a  unter  dem  genannten  Winkel  entstehende  Diagonale, 
um  so  mehr  mithin  größer  als  die  andere  Diagonale  Dg, 
welche  aus  der  Zusammensetzung  von  Dj  <  Rj  und  a  unter 
demselben  Winkel  n  —  cp  entspringen  würde.  Diese  Diago- 
nale Dg  aber  ist  nach  rein  geometrischen  Gründen,  die  von 
allen  mechanischen  Annahmen  unabhängig  sind,  nichts 
anderes  als  die  gegebene  Kraft  b;  folglich  würde  R2>b 
sein,  während  es  nach  den  früher  gemachten  Bemerkungen 
=  b  sein  müßte.  Setzen  wir  nun  Rg  nochmals  mit  dem  ge- 
gebenenen  a  unter  dem  Winkel  cp  zusammen,  so  müßte 
die  hieraus  zu  berechnende  Resultante  R3  nach  den  letzt- 
gedachten Bemerkungen  =:=  Ri  sein;  nach  der  gemachten 
Annahme  dagegen  wäre  sie,  für  den  Winkel  cp,  ^p  mal  der 
Diagonale,  die  unter  diesem  Winkel  aus  R,  und  a  entstände ; 
da  nun  Rg  >  b,  so  ist  auch  diese  Diagonale  größer  als 
die  Dl,  die  unter  gleichem  Winkel  aus  a  und  b  entstand; 
möge  sie  qDi  sein,  so  ist  jetzt  Rg^qp-Di,  also  q  mal 
so  groß,  als  Ri  war.  So  führt  die  gemachte  Voraussetzung, 
die  Resultante  sei  größer  als  die  Diagonale,  zu  dem  wider- 
sinnigen Ergebniß,  daß  sie  immer  größer  wird,  je  öfter  wir 
diesen  Turnus  ihrer  Berechnung  wiederholen ;  die  andere 
Annahme,  sie  sei  kleiner  als  die  Diagonale,  also  p  und  q 
echte  Brüche,  würde  zu  einer  ebenso  unmöglichen  Ver- 
kleinerung führen.  Sollte  dieser  apagogische  Beweis  voll- 
ständig sein,  so  müßte  er  noch  zeigen,  daß  auch  die  An- 
nahme einer  Resultante  von  gleicher  Länge  mit  der  Diagonale 
aber  anderen  Winkeln  mit  den  gegebenen  Kräften,  einen  ähn- 
lichen Widersinn,  nämlich  fortschreitende  Drehung  ihrer 
Richtung,  je  öfter  man  sie  berechnete,  erzeugen  würde; 
endlich  dürfte  man  sich  drittens  den  Nachweis  nicht  er- 
sparen, daß  es  auch  keine  Combination  dieser  Annahme 
gibt,  in  welcher  die  falschen  Folgen  der  einen  durch  die 
der  andern  ausgeglichen  würden.  Wie  die  Sache  liegt,  reicht 
aber  die  Angabe  dieser  logischen  Forderungen  hin;  ihre 
weitläufige  Erfüllung  dürfen  wir  uns  ersparen. 

236.    Operationen    der    Zusammensetzung    lassen    sich 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  325 

immer  zu  einem  Ende  führen,  nämlich  eben  zu  dem,  das 
in  jedem  Falle  entstehen  wird;  Operationen  der  Zerlegung 
dagegen  setzen  ein  Ziel  voraus,  zu  dem  gekommen  werden 
soll,  ohne  daß  schon  feststeht,  ob  der  zu  zerlegende  Stoff 
aus  einer  Zusammensetzung  entstanden  ist,  welche  diese 
Wiederzergliederung  möglich  macht.  Schon  in  der  reinen 
Mathematik  führen  daher  die  inversen  Operationen  zu 
Schwierigkeiten,  denen  die  directen  nicht  ausgesetzt  sindj 
ähnliche  Bedenken  erweckt  die  häufig  ausgeführte  Zer- 
legung gegebener  Kräfte  in  Componenten,  deren  Zu- 
sammensetzung, wenn  sie  gegeben  wären,  keinen  Zweifel 
erregen  würde.  Man  kann  fragen :  da  jede  Kraft  in  un- 
zählige Paare  von  Componenten  zerlegbar  ist,  worauf  be- 
ruht  nun  das  Recht  zu  erwarten,  daß  eine  von  uns  will- 
kürlich gewählte  Zerf ällung  eine  reelle  Gültigkeit  im  Zu- 
sammenhang der  Thatsachen  haben  werde,  die  in  der  be- 
handelten Aufgabe  vorkommen?  Im  Allgemeinen  ist  dieser 
Zweifel  leicht  zu  heben.  Denn  in  der  wirklichen  Aus- 
übung dieser  Zerf  ällung  wählt  man  die  eine  Componente 
immer  in  einer  Richtung,  nach  welcher  man  Widerstände 
oder  entgegengesetzt  wirkende  Kräfte  voraussieht  oder  als 
gegeben  kennt;  man  bedarf  daher  der  Zerlegung  überhaupt 
nur  zur  bequemen  Formulirung  der  Rechnung;  was  man 
wirklich  vornimmt,  ist  eine  Zusammensetzung;  di6  ge- 
gebenen Gegenkräfte  oder  Widerstände  W  verbindet  man 
mit  der  gegebenen  Kraft  F,  und  die  Resultante  hieraus  ist 
identisch  mit  derjenigen,  welche  aus  dem  unaufgehobenen 
Reste  der  einen  Componente  von  F  und  dem  ganzen  Be- 
trag der  andern,  die  keinen  Widerstand  erführe,  entstehen 
würde.  Eine  wirkliche  Schwierigkeit  entspringt  aber  dann, 
wenn  die  Richtung  des  Widerstandes  selbst  nicht  unmittel- 
bar gegeben  ist,  und  man  versucht,  wie  mir  scheint,  nicht 
überzeugend,  den  hier  zu  befolgenden  Grundsatz  selbst  durch 
eine  Anwendung  des  Zerlegungsgesetzes  zu  gewinnen.  Ich 
spreche  von  der  Annahme,  daß  eine  Ebene  nur  in  nor- 
maler Richtung  Widerstand  gegen  eine  ihr  mitzutheilende 
Bewegung  leiste,  deren  Richtung  mit  ihr  selbst  einen 
Winkel  cp  bildet.  Es  ist  ganz  leicht  zu  zeigen,  daß  diese 
Bewegung  sich  allemal  in  zwei  zerfallen  läßt,  deren  eine, 
parallel  mit  der  Ebene,  keinen  Widerstand  findet,  weil  sie 
auf  die  Ebene  nicht  einwirkt,  während  die  andere,  senk- 
recht auf  die  Ebene,  durch  den  Widerstand  derselben  auf- 
gehoben wird,  oder  doch  Widerstand  erfährt.  Wie  wenig 
man  aber  ein  Recht  hat,  diese  Zerfällung  hier,  als  durch 


326  Fünftes  Kapitel. 

die  Natur  der  Sache  geboten,  vorzunehmen,  wird  aus  folgen- 
der Ueberlegung  erhellen.  Der  bewegte  Körper  sei  eine 
völlig  glatte  Kugel  und  bewege  sich  unter  dem  Winkel  9 
gegen  die  völlig  glatte  absolut  widerstehende  Ebene  E,  so 
wird  die  Berührung  nur  in  dem  geometrischen  Punkte  p 
stattfinden,  dem  wir  dieselbe  unbedingte  Widerstandskraft, 
wie  allen  andern  Punkten  von  E,  gleichviel  auf  welche 
Weise  hergestellt,  zuzuschreiben  haben  würden.  Was  nun 
bei  dem  hier  herauskommenden  Erfolge  alle  diese  übrigen 
Punkte  von  E  zu  thun  haben,  ist  nicht  erfindlich;  man 
denkt  zwar  an  sie  mit,  wenn  man  von  der  Ebene  E  spricht; 
da  sie  aber  nicht  berührt  werden,  so  können  sie  auch  un- 
mittelbar zu  dem  Widerstände  nichts  beitragen,  und  man 
könnte  sie,  für  den  abzuleitenden  Erfolg,  völlig  hinweg- 
denken, ohne  dadurch  die  Bedingungen  geändert  zu  haben, 
von  denen  dieser  abhängig  sein  soll.  Thun  wir  dies  aber 
und  behalten  den  Punkt  p  allein,  so  wird  der  Satz  von  dem 
senkrechten  Widerstände  unmöglich,  weil  er  bedeutungslos 
wird;  denn  auf  dem  Punkt  p  ist  entweder  keine  oder  jede 
der  Linien  normal,  die  nach  irgend  einer  Richtung  von  ihm 
ausgehen.  Ein  anderer  Grundsatz  aber  scheint  einleuchtend  : 
gewiß  wird  p,  wenn  es  widersteht,  nach  derjenigen  Rich- 
tung hin  widerstehen,  aus  der  die  Bewegung  kommt,  der 
widerstanden  werden  soll;  zu  einer  Wirkung  nach  irgend 
einer  andern  Richtung  hin  gibt  es  zunächst  keinen  erdenk- 
lichen Grund.  Wäre  daher  in  unserem  Beispiel  p  völlig 
fest  und  ginge  im  Augenblick  der  Berührung  die  den  Punkt  p 
und  die  Richtung  der  Bewegung  enthaltende  Linie  1  nicht 
durch  den  Mittelpunkt  der  Kugel,  so  würde  p  die  Bewegung 
des  Massenfadens  ganz  aufheben,  der  in  dieser  Linie  1  läge ; 
für  die  übrige  Masse  der  Kugel,  deren  Bewegung  hierdurch 
nicht  aufgehoben  wäre,  entstände  dann  ein  Drehungsmoment, 
in  Folge  dessen  sie  um  den  Punkt  p  herumschwenkte. 
Diese  Folgerung,  daß  der  Widerstand  in  der  Richtung  der 
Bewegung  stattfinden  müßte,  läßt  sich  auch  dadurch  nicht 
abwenden,  daß  man  sich  den  bewegten  Körper  prismatisch 
gestaltet,  vielleicht  als  einen  Würfel  denkt,  dessen  Seiten- 
fläche, während  die  Richtung  seiner  Bewegung  mit  E  den 
Winkel  (jp  bildet,  dieser  Ebene  parallel  bleibt.  Allerdings 
findet  dann  eine  Berührung  zweier  Ebenen  statt ;  aber  doch 
wird  jeder  Punkt  des  berührten  Theils  von  E  auch  jetzt 
dem  berührenden  Punkt  der  Würfelfläche  nur  nach  dem 
vorigen  Grundsatze,  also  in  der  Richtung  cp  widerstehen 
können;  damit  es  anders  sei,  müßte  man  nachweisen,  daß 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  327 

auf  die  Richtung  des  Widerstandes,  den  der  Punkt  p  leisten 
wird,   die  Gegenwart  der   benachbarten  Punkte  q   r  s  der 
Ebene    E   einen   mitbestimmenden   Einfluß   hat;   so   allein 
käme   die   Ebene  sachlich   zur  Mitwirkung,   von   der  man 
bisher  sprach,  ohne  von  ihr  zur  Ableitung  des  Resultats 
Gebrauch   zu   machen.     Und   nun   ist  wohl   deutlich,   daß 
man   diesen   Nachweis   niemals    erbringen   wird,   so   lange 
man   E   als   geometrische   Ebene   ansieht,   ohne   physische 
Masse  und  doch  mit  dem  Attribut  der  Widerstandsfähigkeit 
ausgerüstet.    Es  reicht  nicht  einmal  hin,  E  als  Grenzfläche 
eines    trägen   Massenvolums    zu    betrachten;    man   ist    ge- 
nöthigt,  eine  physikalische  Hypothese  über  die  Kräfte  hin- 
zuzufügen,  mit  der  die  Masse  ihren  Raum  zu  behaupten 
sucht.     Man   wird  daher   der  Ebene   E   eine   Dicke  geben 
müssen;   die  Berührung  wird  nicht  nur  in   einem  Punkte 
stattfinden,  sondern  der  bewegte  Körper  wird  wirklich  ent- 
weder  bis  zu  gewisser  Tiefe  eindringen  und   dann  durch 
den  Widerstand  aller  verschobenen  Massenpunkte  zurück- 
gedrängt werden,   oder,  ohne  zur  Berührung  zu  kommen, 
schon  aus  der  Entfernung  die  zurückstoßenden  Kräfte  der 
in  E  vereinigten  Massen  erfahren.    Von  diesen  Kräften  aller 
Massenpunkte  müßte  sich  dann  nachweisen  lassen,  daß  sie 
nach  allen  andern  Richtungen  einander  aufheben,  nach  der 
Normalen  auf  der  Grenzfläche  allein  sich  summiren,  und 
so  den  Widerstand  zusammensetzen,  welcher  die  in  dieser 
Normalen   entgegengesetzt   gerichtete   Componente   der  an- 
kommenden Bewegung  aufhebt.    Auch  ist  die  Noth wendig- 
keit, zu  einer  Voraussetzung  dieser  Art  zurückzukommen, 
durchaus  nicht  zu  verwundern;  wie  Bewegung  überhaupt 
nur  an  einem  Realen,   nicht  an  einem  Punkte  oder  einer 
Linie  vorkommen  kann,  so  darf  man  noch  weniger  Wider- 
stände berechnen  wollen,  ohne  das  in  Betracht  zu  ziehen, 
was   allein   widerstehen  kann,    die  physischen   Kräfte   der 
wirklichen   Körper;   Flächen   als    Flächen   und   Linien   als 
Linien  durchschneiden  einander  immer  ohne  Widerstand. 

237.  In  dem  eben  behandelten  Falle  führte  eine  sehr 
scheinbare  Annahme,  die  Zerfällung  einer  Bewegung,  zu 
einem  richtigen  Resultate,  dessen  Bedingungen  gleichwohl 
ganz  anderswo  lagen ;  es  gibt  andere  Fälle,  wo  eine  richtige, 
obwohl  nicht  ganz  vollständige  Voraussetzung  zu  scheinbar 
falschen  Resultaten  treibt,  deren  Triftigkeit  sich  indessen 
durch  Interpretation  retten  läßt.  Ein  schwerer  Stab  von 
der  Länge  2  a  und  dem  Gewicht  p  sei  gegen  eine  völlig 
glatte  Verticalwand  gelehnt  und  bilde  mit  der  völlig  glatten 


328  Fünftes  Kapitel. 

Horizontälebene,  auf  der  er  steht,  den  Winkel  cp.  Er  wird 
hothwendig  herabsinken,  wenn  man  nicht  seinem  Fußpunkt, 
der  auf  der  Horizontalebene  sich  von  der  Wand  zu  ent- 
fernen sucht,  einen  Widerstand  entgegensetzt.  Die  Größe 
dieses  Widerstandes,  oder  was  gleich  gilt,  des  Schieb- 
druckes S,  welchen  der  gleitende  Stab  gegen   ihn  ausübt, 

findet    sich    S  =  -8-  •  cotg.  cp.     Steht     der   Stab    senkrecht, 

cp  =  90  °,  so  ist  cotg.  cp  und  also  auch  S  =  0 ;  der  Stab 
balancirt  frei  über  seinem  Fußpunkt,  übt  gar  keinen  horizon- 
taletn  Schiebdruck,  bedarf  keines  Widerstandes,  und  die 
Verticalwand  ist  überflüssig.  Nimmt  cp  ab,  neigt  sich  also 
der  Stab,  so  nimmt  cotg.  cp  und  mit  ihr  der  Schiebdruck  zu; 
wird  aber  cp  =  0,  wenn  der  Stab  horizontal  auf  dem  Boden 
liegt,  so  gibt  die  Formel  den  Schiebdruck  unendlich  groß, 
während  die  einfache  Betrachtung  der  Sachlage  zeigt,  daß 
er  gleich  Null  sein  muß.  Dieser  anscheinende  Widerspruch 
ist  leicht  zu  heben.  Als  man  nämlich  die  Aufgabe  stellte, 
dachte  man  sich  freilich  eine  zusammenhängende  wider- 
standsfähige Horizontalebene,  die  vom  Fußpunkt  des  Stabes 
bis  zur  Verticalwand  reichte,  aber  in  die  kleine  Rechnung, 

die  zu  der  Formel   S  =  -5-  cotg.  cp  führte,  ist  dieser  Theil 

der-  Annahme  gar  nicht  mit  eingegangen ;  hier  dachte  man 
immer  blos  an  den  einen  Fußpunkt,  welcher  das  Gewicht 
der  Stange  zu  tragen  hatte ;  zwischen  ihm  und  der  Vertical- 
wand lag  nichts,  worauf  diese  Rechnung  Rücksicht  ge- 
ßommea  hätte.  Oder  anders  ausgedrückt :  die  a  1 1  g  e  m  e  i  n  e 
Formel  behandelt  die  beiden  Wände  blos  als  geometrische 
Orte,  von  denen  für  jeden  zu  berechnenden  Einzelfall  nur 
je  zwei  um  die  Länge  2  a  von  einander  abstehende  Punkte, 
auf  welche  die  hier  in  Frage  kommenden  Kräfte  wirken, 
in  Betracht  kommen.  Bleiben  wir  nun  bei  dem,  was  die 
Rechnung  enthält,  so  befindet  sich  in  dem  Augenblicke,  wo 
cpr^O  wird,  zwischen  dem  Fußpunkt  des  Stabes  und  der 
Verticalwand  eine  Lücke,  die  der  Länge  desselben  gleich 
ist,  und  durch  diese  wird  er,  da  keine  senkrechte  Kraft 
seinem  Gewichte  entgegenwirkt,  hindurchfallen.  Einen 
Schiebdruck  S  übt  er  dann  freilich  nicht  mehr;  aber  S  be- 
deutete nicht  blos  diesen  Druck,  sondern  auch  die  horizon- 
tale Kraft,  welche  zunächst  ihn  selbst  aufhebt,  dann  aber 
auch  das  einzige  Hindemiß  bildet,  das  überhaupt  das  Herab- 
gleiten  des   Stabes   in    die   horizontale   Lage   verhütet,   in 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  029 

-vv^elcher  sein  Gewicht  keinen  Widerstand  mehr  erfährt.  Daß 
nun  S  unendlich  wird  für  cp^O,  bedeutet:  eine  horizontal 
nach  der  Verticalwand  wirkende  Kraft  müßte  unendlich 
groß  sein,  wenn  sie  das  Hindurchfallen  des  Stabes  durch 
die  offene  Lücke  verhindern  sollte ;  mit  andern  Worten,  da 
unendliche  Kräfte  nicht  vorkommen:  es  gibt  keine  horizon^ 
tale  Kraft,  die  diesen  Erfolg  haben  könnte.  Man  wird  sich 
nicht  dadurch  irren  lassen,  daß  die  Praxis  ihn  gleichwohl 
oft  durch  Klemmungen  in  horizontaler  Richtung  erreicht; 
denn  sie  erreicht  ihn  dann  durch  die  Rauhigkeit  der  Ober- 
flachen, mit  denen  die  klemmen:den  und  der  geklemmte 
Körper  einander  berühren,  und  durch  die  Zusammendrück- 
barkeit  des  letztern,  die  ihm  durch  kleine  Formändeningert 
vorher  nicht  vorhandene  Stützpunkte  verschafft. 

238.  Ich  füge  noch  ein  mathematisches  Beispiel  zur  Ver- 
deutlichung unserer  allgemeinen  methodischen  Anweisungen 
hinzu.  Der  Taylorsche  Lehrsatz  sucht  den  Werth  F 
(x  -j-  h)  zu  bestimmen,  welchen  eine  'Function  von  x,  Fx 
dann  annimmt,  wenn  die  veränderliche  Größe  x  von  dem 
Endwerthe  an,  den  sie  in  Fx  besaß,  bis  zu  dem  neuen 
Werthe  x  -|-  h  anwächst.  Zu  möglichster  Einfachheit  der 
Darstellung  unterwerfe  ich  diese  Aufgabe  einigen  Beschrän- 
kungen, von  denen  es  hier  viel  zu  weitläufig  wäre,  zu  unter- 
suchen, ob  sie  überflüssig  sind.  Ich  denke  Fx  in  Gestalt 
eines  analytischen  Ausdrucks  gegeben,  welcher  die  mathe- 
matischen Operationen  oder  Relationen  anzeigt,  aus  welchea, 
für  jeden  bestimmten  Werth  von  x,  bestimmte  Werthe  der 
Fx  fließen ;  ich  nehme  an,  daß  diese  Werthe  von  Fx  endlich: 
bleiben  für  jeden  Werth  des  x  von  o  bis  x  -|-  h,  und  daß 
sie  stetig  wachsen  für  die  stetigen  Zunahmen  des  x  durch 
dieses  Intervall.  In  der  so  bestimmten  Aufgabe  liegt,  weni^ 
sie  in  allgemeiner  Form  lösbar  sein  soll,  unmittelbar  die 
Voraussetzung,  das  Wachsthum  der  Function  von  ihrem 
Werthe  Fx  bis  zu  dem  neuen  F  (x  -j-  h)  werde  ganz  nach 
demselben  Bildungsgesetze  erfolgen,  nach  welchem  jener 
frühere  Werth  selbst,  Fx,  entstanden  ist,  während  x  von  o 
an  bis  zu  seinem  damaligen  Endwerthe  x  anwuchs,  und 
zwar  werde  diese  Gleichheit  des  Bildungsgesetzes  für  jeden 
unendlich  kleinen  Zuwachs  dh,  um  welchen  die  Function 
jetzt  zunimmt,  gerade  so  gelten,  wie  für  jedes  unendlich 
kleine  dx,  um  welches  sie  vorher  zugenommen  hatte.  Hier- 
aus folgt,  daß  beide  Werthe  der  Function,  zunächst  aber  Fx, 
sich  durch  die  Summe  einer  unendlichen  Reihe  muß  aus- 


330  Fünftes  Kapitel. 

drücken  lassen,  deren  jedes  Glied  die  Zunahme  anzeigt, 
welche  in  Folge  einer  Zunahme  des  x  um  je  ein  dx  statt- 
findet. Bestände  nun  die  Natur  der  Fx  darin,  für  jede 
kleinste  Zunahme  des  x,  also  für  jedes  dx  um  dieselbe 
constante  Größe  m  •  dx  zuzunehmen,  so  würde  ihr  Ge- 
sammtwerth  am  Ende  die  Summe  einer  unendlichen  Reihe 
gleicher  Glieder  von  der  Form  m  dx  sein ;  die  Anzahl  dieser 
Glieder  wäre  ebenso  unendlich  groß  als  die  Anzahl  der  dx, 
in  welche  man  sich  den  Endwerth  von  x  getheilt,  oder  aus 
deren  Ansammlung  man  ihn  entstanden  denken  will;  die 
Summe  der  Reihe  ist  das  Integral  y  m  dx  ==  mx.  Hängt  da- 
gegen der  Zuwachs  der  Fx  für  jedes  dx  von  dem  Werthe 
ab,  den  das  wachsende  x  bis  zum  Eintritt  dieses  dx  bereits 
erreicht  hat,  so  muß,  wenn  die  gesuchte  Formel  für  jedes 
endliche  x  und  h  gelten  soll,  die  jetzt  anzunehmende  Reihe 
aus  lauter  gleichgebauten  Functionen  von  x  bestehen,  welche 
sich  der  Ordnung  nach  auf  die  stetig  zunehmenden  Werthe 
von  x  beziehen;  nennen  wir  diese  Function  fx  oder  f^x,  so 
ist  Fx=  J*  P^xdx.  Nichts  hindert  nun,  auf  f^x  dieselben 
Betrachtungen  wiederholt  anzuwenden,  die  wir  über  Fx  an- 
stellten; bezeichnet  jetzt  x  in  f^x  einen  bestimmten  Werth 
von  den  vielen,  welche  x  annehmen  kann,  so  läßt  sich 
auch  f^x  als  Summe  einer  Reihe  fassen,  deren  unendlich 
viele  gleichgebauten  Glieder  die  Zunahmen  angeben,  um 
welche,  für  jedes  dx,  die  f^x  bis  zu  ihrem,  jenem  Werthe 
des  X  entsprechenden,  Endwerthe  anwuchs;  man  hat  dann 
auch  fix  =  J'Px-  dx  und  allgemein  f "^x  ==  y*  f'»  +  ^  x  •  dx.  Auf 
welche  Weise  aus  einer  gegebenen  Function,  Fx,  diese  ihre 
abgeleiteten  Functionen  verschiedener  Ordnung,  f^x,  f^x,  f™x, 
und  aus  diesen  rückwärts  jene  zu  gewinnen  ist,  setzen 
wir  als  bekannte  Lehren  der  Infinitesimalrechnung 
voraus. 

239.  In  diesen  Vorbemerkungen  liegt  eigentlich  schon 
die  Auflösung  unserer  Aufgabe;  ich  führe  sie  jedoch  noch 
auf  folgenden  einfachen  Gedankengang  zurück,  der  zu- 
gleich eine  andere  logische  Verfahrungs weise  verdeutlichen 
mag. 

1.  Selbstverständlich  ist  F  (x  +  h)  gleich  der  Summe 
ihres  früheren  Werthes  Fx  und  der  positiven  oder  negativen 
Zunahme  Ri,  welche  Fx  in  Folge  des  Wachsthums  der 
Variablen  x  von  x  bis  x  -f  h  erfahren  hat.  Zur  Bestimmung 
des  Werthes  von  Ri  machen  wir  die  einfachste  Annahme : 
für  jedes  der  dh,  durch  deren  Aufeinanderfolge  h  entsteht, 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  331 

wachse  Fx  um  dieselbe  Größe  niidh;  dann  ist  m^y^dh 
^imi-h  der  Werth  von  R^  oder  der  Gesammtzuwachs  von 
Fx.  Dies  nii  ist  nicht  unbestimmbar.  Denn  wenn  die  Zu- 
nahme der  Fx,  wie  wir  immer  voraussetzen,  einzig  von  der 
eignen  Natur  dieser  Function  abhängen  soll,  so  muß  ihr 
gegebener  Werth  Fx  auf  dieselbe  Weise  entstanden  sein, 
auf  welche  jetzt  die  weitere  Vergrößerung  desselben  er- 
folgen soll ;  während  also  x  alle  Werthe  von  o  bis  x  durch- 
lief, mußten  schon  damals  für  jedes  dx  dieselben  Zunahmen 
der  sich  erst  bildenden  Function  entstehen,  welche  jetzt  für 
jedes  dh  zu  der  gebildeten  hinzukommen,  denn  in  nichts 
als  in  der  Bezeichnung  unterscheidet  sich  dx  von  dh.  Nun 
läßt  allgemein  Fx  sich  als  die  Summe  einer  stetigen  Reihe 
betrachten,  deren  allgemeines  Glied  durch  f^x  •  dx  und  deren 
letztes  durch  denselben  Ausdruck  dargestellt  wird,  wenn 
man  unter  x  den  bestimmten  Endwerth  versteht,  den  die 
Variable  x  in  Fx  erreicht.  Für  jedes  dx  wächst  diese  Reihe 
um  fix-dx;  diese  Größe,  f^x,  muß  constant  und  =mi  sein, 
wenn  das  Wachsthum  der  Fx  bis  zu  ihrem  gegebenen  End- 
werth in  derselben  Weise  stattgefunden  haben  soll,  wie 
über  diesen  hinaus  bis  F  (x  -|-  h).  Für  jedes  dh  nimmt  da- 
her Fx  um  f^x-dh  zu,  und  die  Summe  oder  das  Integral 
dieser  elementaren  Zunahmen,  also  h  •  f^x,  ist  der  gesuchte 
Werth  von  Rj.  Di^  Annahme,  die  wir  machten,  f^x  sei 
constant  und  =:mi,  braucht  nicht  zuzutreffen;  aber  da  die 
allgemeine  Formel  die  Fälle,  in  denen  sie  zutrifft,  mit  ent- 
halten muß,  so  kann  dies  gefundene  zweite  Glied  als  bleiben- 
der Bestandtheil  derselben  gelten. 

2.  Trifft  nun  diese  erste  Annahme  nicht  zu,  so  ist  doch 
immer  F  (x  -f-  h)  =  Fx  -f-  h  •  f^x  -|-  Ro,  wenn  wir  unter  Rg  die 
positive  oder  negative  Ergänzung  verstehen,  welche  zur 
Ausmessung  des  wahren  Werthes  der  Function  noch  nöthig 
ist.  Da  es  dieses  neuen  Zusatzes  nur  bedarf,  weil  Fx  nicht 
für  jedes  dh  oder  dx  um  denselben  Betrag  wächst,  weil 
also  f^x  keine  constante  Größe,  sondern  von  dem  jedesmal 
erreichten  Werthe  der  Variablen  x  abhängig  ist,  so  bedeutet 
in  dem  zweiten  Glied  h  •  f^x  ^  Ri  unserer  Formel  f^x  jetzt 
nur  noch  den  festen  Einzelwerth,  den  die  nun  veränderlich 
zu  denkende  allgemeine  Function  f^x  für  den  Endwerth  x 
der  Variablen  x  oder  den  NuUwerth  der  Variablen  h  be- 
sitzt. Nur  dann  können  wir  daher  dies  zweite  Glied,  h  •  f^x, 
beibehalten,  wenn  wir  zu  jedem  der  Glieder  f  ^x  •  dh,  deren 


332  Fünftes  Kapitel. 

Summe  es  ist,  die  Zunahme  hinzufügen,  welche  der  in  ihm 
enthaltene  Endwerth  von  f^x  noch  weiter  für  jeden  Zuwachs 
dh  der  Variablen  h  erfährt.  Für  diese  Zunahme*  machen 
wir  wieder  die  einfache  Annahme:  sie  sei  dieselbe  für 
jedes  dh  und  ^rmgdh.  Auch  dieses  mg  ist  bestimmbar. 
Denn  wieder:  wenn  unsere  Annahme  gültig  sein  soll,  so 
muß  sie  auch  auf  Fx  zurückwirken;  nach  demselben  Ge- 
setz, nach  welchem  jetzt  diese  Function  sich  vergrößern  soll, 
muß  sie  auch  entstanden  sein;  die  Zunahme  der  fix  muß 
für  jedes  dx  dieselbe  und  =m2dx  gewesen  sein.  Nun  ist 
f^x  die  Summe  einer  stetigen  Reihe,  deren  allgemeines 
Glied  f 2x  •  dx  ist ;  um  eben  diesen  Betrag  nimmt  also  diese 
Reihe,  oder  ihre  Summe  f ^x,  stets  zu  für  jeden  Zuwachs 
des  X  um  ein  dx;  unsere  Bedingung  ist  daher  erfüllt,  wenn 
wir  f2x  constant  und  =m2  setzen;  dann  nimmt  Fx  über 
ihren  gegebenen  Werth  hinaus  in  derselben  Weise  zu,  in 
welcher  sie  sich  bis  zu  ihm  hin  vorher  gebildet  hatte.  Ihr 
ganzer  Zuwachs  ist  dann  die  Summe  zweier  Reihen;  die 
erste  von  diesen  besteht  aus  lauter  gleichen  Gliedern  f^x  •  dh 
und  ihre  Summe  ist  =  R.i ;  die  zweite,  welche  R2  vorstellt^ 
enthält  wachsende  Glieder ;  das  erste  derselben,  f ^x  •  dh, 
stellt  die  erste  neue  Zunahme  vor,  welche  Fx  erfährt,  wenn 
d<^r  vorige  Endwerth  x  der  Variablen  x  um  das  erste  dh 
wächst,  oder  die  Variable  h,  von  0  aii  wachsend,  ihren 
ersten  Werth  dh  erreicht;  jedes  folgende  (n -]- l)te  Glied 
fügt  denselben  Zuwachs  f^x  •  dh  zu  dem  fortbestehenden 
Werthe  des  nten  Gliedes  hinzu;  h-f^x-dh  ist  daher  das 
allgemeine  Glied  dieser  zweiten  Reihe,  das  wir  als  Er- 
gänzung zu  dem  allgemeinen  der  ersten  hinzuzufügen  haben. 
JDie   Gesammtzunahme  der  Fx   ist  daher  die   Summe  der 

h^ 
stetigen  Reihe  (f^x  -[-  hf^x)  dh,  oder  h  •  f^x  4-  -1— 0  •  f^x;   das 

zweite  Glied  dieses  Ausdrucks  ist  der  gesuchte  Werth  von  Ro. 
3.  Wäre  die  Natur  einer  gegebenen  Function  Fx  so  be- 
schaffen, daß  auch  diese  zweite  Annahme  nicht  hinreichte, 
um  ihr  Wachsthum  zu  erschöpfen,  so  würden  wir  doch 
immer  die  gefundenen  Glieder  unserer  Formel  beibehalten 
können,  wenn  wir  ein  neues  R3  hinzufügten,  welches  sie 
ergänzte.  Zur  Bestimmung  dieses  neuen  R3  würden  wir 
denselben  Gedankengang  wiederholen.  Wir  können  seiner 
nur  bedürfen,  weil  auch  f^x  nicht  constant,  sondern  von 
dem  jedesmal  erreichten  Werthe  von  x  abhängig  ist  und 
mit  ihm  zunimmt.     Nehmen  wir  an,   daß   doch  diese  Zu- 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  333 

nahmen  wenigstens  constant  für  jedes  dh  und  =  m^  •  dh  sind. 
Drücken  wir  dann  f^x  als  Summe  einer  stetigen  Reihe  aus, 
deren  allgemeines  Glied  f^x  •  dx  ist,  so  haben  wir  nur  f^x 
constant  und  =:m3  zu  setzen,  damit  unsere  allgemeine  Be- 
dingung erfüllt  und  Fx  bis  zu  diesem  ihrem  gegebenen 
Endwerth  ebenso  gewachsen  sei,  wie  sie  nun  über  ihn  hin- 
aus zunehmen  soll.  Nun  war  das  dritte  Glied  Rg  unserer 
Formel  die  Summe  einer  stetigen  Reihe,  deren  allgemeines 
Glied  h  •  f 2x  •  dh  ist ;  bilden  wir  daher  eine  zweite  Reihe, 
die  Zusätze  enthaltend,  durch  welche  R2  zu  ergänzen  ist; 
so  ist  h  •  f^x  •  dh  die  Zunahme,  um  welches  jedes  (n  -{•  l)te 
Glied  dieser  zweiten  Reihe  größer  sein  wird,  als  das  nte; 

h* 

folglich  ist  y  h  •  f3x  dh  oder   ytö  '  ^^^  ^^^  allgemeine  Glied 

dieser  Reihe  R3.  Man  erhält  daher  den  zweiten  und  dritten 
Zuwachs   von  Fx,  wenn  man  die  stetige   Reihe  summirt, 

h* 

deren  allgemeines  Glied  jetzt  [hf2x:--f-i — n-f^xjdh  ist,  und 

h*  h» 

findet  also  Rg  +  R3 ^^ttö  '^^^ ~^  1  -9   ^  ' ^^^' 

4.  Es  ist  unnütz,  dies  Verfahren  fortzusetzen;  man  her 
merkt  leicht,  daß  unter  beständiger  Wiederholung  der  hier 
gemachten  Voraussetzungen  die  gesuchte  Formel  die  be- 
kannte Gestalt  der  Taylorschen  Reihe  annehmen  wird : 

h  h^  h3 

F(x  +  h)  =  Fx-f|.fix  +  ^.f^x  +  p^-3f^x... 

Aber  diese  Formel  würde  wenig  Werth  haben,  wenn  wir 
die  Voraussetzungen  eben,  auf  denen  sie  beruht,  nicht  als 
ausschließlich  zulässige  rechtfertigen  könnten.  Unzweifel- 
haft logisch  richtig,  aber  so  richtig,  wie  die  unnützeste  aller 
Tautologien,  würde  sie  ,dann  sein,  wenn  sie  blos  sagen  wollte, 
jede  Größe  M  lasse  sich  allemal  durch  eine  Reihe  ganz  be- 
liebig angenommener  Glieder  ausdrücken,  sobald  man  sich 
vorbehalte,  ein  Restglied  R  hinzuzufügen,  das  alle  Irr- 
thümer  wieder  gut  zu  machen  bestimmt  sei,  die  man  durch 
Gleichsetzung  des  M  mit  jener  Reihe  begangen  hatte.  Einen 
brauchbaren  Sinn  enthält  die  Formel  erst  dann,  wenn  man 
eines  solchen  corrigirenden  Restgliedes  nicht  bedarf,  wenn 


334  Fünftes  Kapitel. 

sich  also  nachweisen  läßt,  daß  der  Werth  von  F  (x  +  h)  ent- 
weder durch  eine  endliche  Anzahl  der  entwickelten  Glieder 
oder  durch  eine  zwar  unendliche,  jedoch  zur  Summirbar- 
keit  convergente  Reihe  derselben  vollständig  ausgedrückt 
werden  kann.  Woher  aber  erfahren  wir,  daß  dies  der  Fall 
ist?  Daraus,  daß  für  eine  gegebene  Function  Fx  eine  ihrer 
abgeleiteten  Functionen,  f™x,  bei  wirklicher  Berechnung  zu 
Null  wird,  die  Reihe  also  vor  dem  Gliede  abbricht,  welches 
sie  enthält,  daraus  allein  folgt  selbstverständlich  doch  nur, 
daß  es  keinen  ferneren  Zuwachs  von  Fx  gibt,  der  durch 
weitere  Entwicklung  dieser  einmal  angenommenen  Glieder- 
reihe  erreicht  werden  könnte;  daß  aber  überhaupt  keine 
andere  Zunahme  vorkommen  könne,  würde  den  Nachweis 
voraussetzen,  daß  eben  diese  Berechnungsweise  alle  Zu- 
nahmen umfassen  müsse,  welche  Fx  ihrer  Natur  nach  er- 
fahren kann.  Diesen  Nachweis  nun  glauben  wir  jetzt  nicht 
mehr  besonders  liefern  zu  müssen;  er  liegt  in  der  von  uns 
gemachten  Voraussetzung,  daß  Fx  sich  unter  keiner  andern 
Bedingung,  als  der  der  stetigen  gleichförmigen  Zunahme 
von  X  vergrößere,  und  daß  ihr  mathematischer  Bau  für 
jeden  der  erreichten  Werthe  von  x  derselbe  bleibe.  Wächst 
dann  eine  Function  dergestalt,  daß  sie  für  jedes  dh  dieselbe 
constante  Zunahme  erfährt,  zugleich  aber  jedes  auf  diese 
Weise  in  sie  eintretende  dh  der  Ausgangspunkt  einer  neuen 
Constanten  Zunahme  wird,  so  entsteht  als  Ausdruck  ihrer 
Gesammtzunahme   durch   das  Intervall   h   eine  unendliche 

h*  hm 

Reihe,  in  deren  Gliedern  die  einen  Factoren  h,   t— o ,  -i— 0 

'  1 -2'    1  2- •   m 

ihrer  Form  nach  nur  von  dieser  allgemeinen  Form  des 
Wachsthums  abhängig  und  daher  für  alle  Functionen  gleich- 
gestaltet sind.  Damit  diese  Reihe  aber  das  specifische 
Wachsthum  jeder  bestimmten  Function  im  Unterschied  von 
dem  einer  andern  angebe,  treten  die  andern  Factoren,  f^x, 
f^x,  P^x,  zu  diesen  allgemeinen  Factoren  so  hinzu,  daß  jeder 
von  ihnen  die  besondere  von  der  Natur  der  gegebenen  Fx 
jedesmal  erst  abhängige  Größe  der  ersten  zweiten  dritten 
oder  mten  Zunahme  angibt,  die  für  jedes  dh  stattfindet;  die 
Reihe  bricht,  als  vollständiger  Ausdruck  für  F  (x  +  h),  dann 
ab,  wenn  einer  dieser  Factoren  verschwindet.  Die  ent- 
wickelten Glieder  unserer  oben  angeführten  Reihe  waren 
daher  nicht  willkürlich  angenommen ;  sie  suchten  F  (x  -f-  h) 
nicht  nach  einem  Maßstab  zu  messen,  der  der  Natur  dieser 
Function  fremd  gewesen  wäre,  sondern  nach  dem,  den  sie 


Die  Auffindung  der  Beweisgründe.  335 

selbst  und  die  Natur  ihres  vorausgesetzten  Wachsthums 
darbot;  ist  nach  diesem  Maßstab  der  Werth  von  F(x-|-h) 
durch  eine  endliche  oder  durch  eine  summirbare  unendliche 
Gliederzahl  ausdrückbar,  so  kann  es  keinen  aus  anderer 
Quelle  herrührenden  Zuwachs  geben,  der  diesem  Resultate 
hinzuzufügen  wäre.  Denn  wie  auch  eine  Function  wachsen 
möge,  vorausgesetzt  nur,  daß  sie  in  keiner  Strecke  ihres 
Wachsthums  neu  eintretenden  äußern  Bedingungen  unter- 
liege: durch  die  beständige  Wiederholung  der  von  uns  ge- 
machten Annahmen,  zuerst  einer  constanten  Zunahme,  dann 
einer  constanten  positiven  oder  negativen  Zunahme  dieser 
Zunahme,  dann  durch  eine  neue  constante  positive  oder 
negative  Zunahme  dieser  zweiten  Zunahme  und  so  fort, 
wird  man  den  Gesammtwerth  des  erfolgten  Zuwachses 
ebenso  gewiß  erschöpfen,  als  man  durch  passend  gewählte 
Epicyclen  jede  krummlinige  Bahn,  oder  durch  eine  unend- 
liche Reihe  positiver  und  negativer  Potenzen  der  Zehn, 
jede  Irrationalzahl  darstellt.  So  aufgefaßt,  als  bloße  De- 
finition des  Wachsthums,  bleibt  die  Reihe  logisch  gültig 
auch  dann,  wenn  sie,  für  eine  nachweisbar  endliche  Zu- 
nahme der  Function,  durch  Divergenz  mathematisch 
unbrauchbar  wird.  Bliebe  sie  es  nicht,  so  könnte  auch 
dann,  wenn  man  durch  Umformung  der  Function  ohne 
Aenderung  ihres  Inhalts  die  Bedingungen  der  Convergenz 
wieder  herstellt,  das  nach  ihr  berechnete  Resultat  nur  als 
thatsächlich  zutreffend,  falls  man  dies  nachweisen  könnte, 
aber  nicht  im  Voraus  als  selbverständlich  und  nothwendig 
richtig  angesehen  werden;  jene  Umformung  dient  nur,  daä 
an  sich  Gültige  in  die  Grenzen  der  Berechenbarkeit  zu 
bringen. 


Sechstes  Kapitel. 

Beweisfehler  und  Dilemmen. 

240.  Schon  Aristoteles  bemerkte,  daß  aus  falschen  Prä- 
missen folgerecht  wahre  Schlußsätze  fließen  können.  In 
der  That:  jeder  Lappländer^  versichert  uns  die  erste  Figur, 
ist  geborner  Dichter,  Homer  war  Lappländer,  darum  auch 
Dichter;  die  zweite:  alle  parasitischen  Pflanzen  blühen 
roth,  aber  keine  Rose  thut  dies,  mithin  sind  Rosen  nicht 
Schmarozerpflanzen ;  die  dritte :  Metalle  leiten  die  Electricität 


336  Sechstes  Kapitel. 

nicht,  auch  sind  sie  alle  unschmelzbar,  es  gibt  also  un- 
schmelzbare Stoffe,  welche  Nichtleiter  für  Electricität  sind. 
Auch  ändert  sich  hieran  nichts,  wenn  wir  die  Lappländer 
mit  Griechen,  das  Rothblühen  mit  Explodiren  vertauschen 
und  die  Metalle  durch  Gläser  ersetzen,  Umformungen,  durch 
welche  je  eine  Prämisse  zur  Wahrheit  wird;  noch  weniger 
wird  natürlich  der  richtige  Schlußsatz  ausbleiben,  wenn  wir 
einen  Mittelbegriff  einsetzen,  durch  den  sie  beide  gültig 
werden.  Man  findet  daher  allgemein:  so  oft  man  Sub- 
ject  S  und  Prädicat  P  eines  ganz  richtigen  Satzes  T  und 
einen  völlig  willkürlich  gewählten  Mittelbegriff  M  so 
in  zwei  Prämissen  zusammenstellt,  wie  es  die  Regeln  einer 
aristotelischen  Figur  verlangen,  so  ist  T  allemal  die  nach 
dieser  Figur  folgerichtige  Conclusion  aus  den  so  gebildeten 
Vordersätzen.  Den  Grund  dieses  Verhaltens  begreift  man, 
wenn  man  gar  keinen  bestimmten  Mittelbegriff  ersinnt, 
sondern  sich  mit  dem  bloßen  Zeichen  M  begnügt:  alle  M 
sind  Dichter,  Homer  war  ein  M ;  alle  parasitischen  Pflanzen 
sind  M,  die  Rosen  sind  nicht  M ;  alle  M  sind  Nichtleiter, 
alle  M  sind  unschmelzbar.  Diese  schematischen  Prämissen 
sagen  dann,  in  welchen  Verhältnissen  S  und  P  zu  irgend 
einem  Mittelbegriff  stehen  müssen,  wenn  ihre  V^erbindung 
zu  dem  Schlußsatz  SP  gültig  sein  soll;  sie  sagen  zugleich 
umgekehrt,  daß  der  Satz  SP  immer  gültig  sein  muß,  wenn 
sich  irgend  ein  M  auffinden  läßt,  zu  welchem  S  und  P 
in  den  geforderten  Beziehungen  stehen.  Hätte  man  dieses  M 
glücklich  gefunden,  wären  also  beide  Prämissen  gültig,  so 
würde  SP  nun  nicht  blos  thatsächlich,  sondern  nothwendlg 
gültig  seiih;  ließe  sich  jemals  nachweisen,  daß  es  gar  kein  M 
gibt,  zu  dem  S  und  P  diese  Beziehungen  haben  könnten, 
so  wäre  die  Unmöglichkeit  des  Satzes  SP  sicher,  denn  er 
könnte  dann  nicht  einmal  blos  thatsächlich  in  einer  Er- 
fahrung vorkommen;  hat  man  aber  sich  nur  in  der  Wahl 
des  M  vergriffen,  sind  also  die  angenommenen  Prämissen 
ungültig,  so  hindert  nichts,  daß  es  irgend  ein  anderes  M 
gebe,  durch  dessen  Einsetzung  die  Prämissen  richtig,  mit- 
hin auch  SP  nothwendig  gültig  wird;  ist  endlich  SP  un- 
gültig, so  muß  etwas  in  den  Prämissen  nothwendig  falsch 
sein,  aus  denen  folgerecht  seine  Gültigkeit  fließen  würde. 
Fassen  wir  zusammen:  nicht  die  Wahrheit  eines  Satzes  T, 
sondern  nur  unsere  Einsicht  in  diese  W^ahrheit  hängt,  dann 
wenigstens,  wenn  T  nicht  Inhalt  unmittelbarer  Wahrnehmung 
ist,  von  der  Richtigkeit  der  Prämissen  ab,  aus  denen  wir  T 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  337 

ableiten;  bewiesen  wird  daher  T  nur  aus  richtigen  Prä- 
missen, bestehen  kann  aber  begreiflich  seine  Wahrheit 
trotz  aller  Irrthümer  unseres  Nachdenkens  über  sie,  und 
kann  folgerecht  aus  materiell  völlig  falschen  Prämissen  ge- 
schlossen werden.  Dies  mußte  erwähnt  werden,  denn  es 
gehört  selbst  zu  den  häufig  begangenen  logischen  Fehlern, 
den  Nachweis  der  Falschheit  eines  Beweises  für  T  für 
einen  Beweis  der  Ungültigkeit  des  schlecht  bewiesenen  T 
selbst,  oder  kurz:  die  Widerlegung  eines  Beweises 
für  Widerlegung  der  Sache  auszugeben. 

241.  Gültig,  so  fanden  wir,  ist  ein  Satz  T  immer, 
wenn  er  aus  gültigen  Prämissen  folgerecht  fließt;  be- 
wiesen aber  doch  erst  dann,  wenn  zugleich  die  gültigen 
Prämissen  unabhängig  von  ihm  selbst  sind.  Wir  bilden 
daher  einen  richtigen  Schluß,  aber  einen  untriftigen  Be- 
weis, wenn  wir  in  die  Prämissen  entweder  unter  veränderter 
Form  T  selbst  oder  einen  andern  Satz  T^  aufnehmen,  der 
nur  unter  Voraussetzung  der  Gültigkeit  von  T  gelten  kann. 
So  ausgedrückt  scheint  dieser  Fehler,  die  petitio  prin- 
c  i  p  i  i  oder  der  circulus  in  demonstrando,  leicht  vermeidbar ; 
er  ist  es  gar  nicht,  namentlich  dann  nicht,  wenn  der  Beweis 
nur  in  einer  längeren  Schlußkette  und  nur  theilweis  durch 
Verknüpfung  von  Begriffen,  theilweis  durch  Benutzung  von 
anschaulichen  Constructionen  geführt  wird;  um  unter 
solchen  Umständen  formell  richtig  zu  T  zu  gelangen,  reicht 
häufig  die  Voraussetzung  einer  mittelbaren  und  entfernten 
Folge  von  T  hin,  die  man  sehr  leicht  für  eine  unabhängige 
zum  Beweise  des  T  benutzbare  Wahrheit  verkennen  kann. 
Fruchtbare  Regeln  zur  Vermeidung  dieses  Irrthums  gibt 
es  darum  nicht;  nur  vielleicht  ist  nützlich  zu  erinnern, 
wie  leicht  zu  ihm  der  Versuch  verleitet,  direct  und  pro- 
gressiv Sätze  zu  beweisen,  die  für  unsere  Erkenntniß  ein 
Letztes  und  Unableitbares  enthalten,  sei  es  eine  Denk- 
nothwendigkeit  oder  eine  allgemeine  Thatsache  der  Wahr- 
nehmung; für  diese  Fälle  passen  die  apagogischen  und 
regressiven  Beweisformen. 

242.  Verwandt  mit  diesem  ersten  Fehler,  oft  nur  nach 
subjectiver  Schätzung  von  ihm  unterscheidbar,  ist  der  zweite, 
das  Hysteronproteron.  Wir  begehen  es,  wenn  wir 
einen  Satz,  der  des  Beweises  fähig  und  bedürftig  ist,  zum 
Ableitungsgrund  eines  andern  machen,  der  des  Beweises 
nicht  bedarf,  umgekehrt  aber  sich  zum  Beweisgrund  für 
jenen  eignen  würde.  Gottes  Wille,  sagt  man,  sei  heilig, 
die  sittlichen  Gebote  unseres  Gewissens  der  Ausdruck  des 

Lütze,  Logik.  22 


338  .     Sechstes  Kapitel. 

göttlicheii  Willens  in  uns,  darum  auch  sie  heilig  und  ver- 
pflichtend. Man  wird  einwenden  müssen :  wenn  die  ver- 
pflichtende Kraft  und  Heiligkeit  der  sittlichen  Gebote  nicht 
unmittelbar  und  unbedingt  empfunden  würde,  gleichviel 
welches  ihr  Ursprung  sein  mag,  so  möchten  zwar  andere 
Gründe  uns  noch  zu  dem  Glauben  an  ein  höchstes  Wesen 
bringen,  aber  Veranlassung  und  Möglichkeit  würde  uns 
fehlen,  den  Begriff  des  Heiligen  zu  bilden  und  dadurch 
den  Obersatz  zu  Stande  zu  bringen,  aus  welchem  wir  hier 
schließen  wollten.  Als  Beweis  ist  daher  dieser  Gedanken- 
gang unzulässig;  dies  hindert  indessen  nicht,  daß  er  doch 
zuletzt  der  richtige  Ausdruck  der  Wahrheit  selbst  sei ;  denn 
in  weitester  Ausdehnung  kann  das,  was  in  der  Natur  der 
Sache  selbst  die  Folge  oder  das  principiatum  ist,  uns  als 
Erkenntnißgrund,  und  häufig  als  einziger,  für  das  dienen, 
was  an  sich  das  principium  oder  der  Realgrund  für  die 
Möglichkeit  jenes  Erkenntnißgrundes  ist.  Selbstverständlich 
immer,  wenn  wir  die  Summe  namentlich  einer  inductiv 
erworbenen  Erkenntniß  systematisch  darstellen,  schicken 
wir  als  Beweisgrund  des  Einzelnen  ein  Allgemeines  voran, 
dessen  Gewißheit  für  uns  nur  auf  der  des  Einzelnen  beruht ; 
es  ist  deshalb  wichtig,  daß  solchen  Darstellungen  andere 
zur  Seite  stehen,  welche  unsere  Erkenntnisse  in  der  Ordnung 
aufeinander  folgen  lassen,  in  der  sie,  eine  auf  die  andere 
sich  stützend,  wirklich  bewiesen  werden  können.  In  den 
Beweisversuchen,  welche  das  lebendige  Gespräch  oder  die 
eilige  Ueberlegung  herbeiführt,  die  im  Lauf  einer  Unter- 
suchung sich  der  Gewißheit  eines  .zu  benutzenden  Satzes 
schnell  versichern  möchte,  gestatten  wir  uns  ein  Hysteron- 
proteron  sehr  oft ;  wir  folgern  dann  ex  concessis,  aus  Voraus- 
setzungen, deren  jetzt  ununtersucht  bleibende  Wahrheit 
uns  durch  ihren  Zusammenhang  mit  andern  Erkenntnissen 
hinlänglich  feststeht,  oder  auf  deren  Zugeständniß  aus  irgend 
einem  Grunde  augenblicklich  leichter  als  auf  das  anderer 
zu  rechnen  ist,  die  ihnen  als  Beweisgrund  dienen  könnten. 
243.  Der  häufigste  Fehler  des  Beweises  ist  die  Zwei- 
deutigkeit des  Mittelbegriffs,  die  mehr  oder  minder 
versteckte  Quaternio  terminorum  oder  fallacia  falsi  medii. 
Als  die  Sophistik  der  Griechen  zuerst  auf  die  syllogislische 
Verkettung  der  Gedanken  und  ihren  sprachlichen  Ausdruck 
aufmerksam  ward,  führte  man  eine  große  Menge  dieser 
Fehler  auf;  von  ihnen,  die  man  in  der  aristotelischen  Schrift 
über   die  Trugschlüsse  classificirt  findet,   dürfen  wir  viele 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  339 

übergehen,  die  für  unsere  Zeit  nicht  einmal  mehr  die 
Bedeutung  eines  gelungenen  Witzes  haben;  von  denep, 
die  uns  fortwährend  drohen,  heben  wir  die  doppelte  fallacia 
de  dicto  simpliciter  ad  dictum  secundum  quid  und  de  dicto 
secundum  quid  ad  d.  simpliciter  hervor.  Suchen  wir  beide 
zunächst  in  den  fehlerhaften  Gedankenrichtungen  im  Großen 
auf,  zu  denen  ihre  öftere  Begehung  im  Einzelnen  auswächst, 
so  finden  wir  die  erste  in  jenem  doctrinären  Idealismus 
herrschend,  der  nie  einsehen  will,  daß  nicht  nur  die  Aus- 
führbarkeit, sondern  auch  der  verpflichtende  Werth  an  sich 
zu  billigender  Ideen  durch  die  Natur  der  Gegenstände  und 
der  Umstände  ihrer  Anwendung  eine  ganz  rechtmäßige 
Beschränkung  erfährt;  den  andern  Fehler  erkennen  wir 
als  die  Grundlage  der  Engherzigkeit,  für  welche  die  all- 
gemeinsten Wahrheiten  und  Ideale  nur  in  der  speciellen 
Form  Geltung  und  Werth  haben,  in  der  sie  sich  innerhalb 
eines  beschränkten  Gedanken-  und  Beobachtungskreises  be- 
ständig dargeboten  haben.  Beide  Sinnesarten  belehrt  das 
Leben;  die  letzte,  wenn  sie  neue  ihr  unerhörte  Gestaltungen 
der  Dinge  nicht  hindern  kann  und  die  Welt  darum  doch 
nicht  zu  Grunde  gehen  sieht,  lernt  endlich,  daß  man  von 
einer  mit  Recht  geschätzten  particularen  Lebens  Verfassung 
nicht  schließen  darf,  daß  sie  die  einzige  würdige  Ordnung 
menschliches  Daseins  sei;  jene  erste  Schwärmerei  begreift 
durch  den  Abzug,  den  alle  ihre  Ideale  bei  dem  Versuche 
der  Verwirklichung  erfahren,  was  schon  die  Beachtung  des 
disjunctiven  Lehrsatzes  ihr  hätte  sagen  können:  jedes  all- 
gemeine P  verwandelt  sich  bei  der  Anwendung  aus  etwas, 
das  simpliciter  galt,  in  etwas,  das  secundum  quid  gilt, 
aus  P  in  pi  oder  p2,  ps ;  es  in  irgend  einer  dieser  Gestalten 
nicht  wollen,  in  denen  es  allein  sein  kann,  heißt  seine 
Wirklichkeit  unter  einer  Bedingung  wollen,  die  schon  logisch, 
unerfüllbar   ist. 

244.  Die  beiden  erwähnten  Fehler  bestehen  also  darin, 
daß  wir  das  P,  welches  von  einem  M  an  sich  gilt,  von 
dem  M  auch  dann  behaupten,  wenn  zu  diesem  eine  vorher 
nicht  bestandene  Bedingung  tritt,  welche  die  Anknüpfbarkeit 
des  P  ändert,  oder  daß  wir  umgekehrt,  was  unter  irgend 
einer  Bedingung  von  M  gilt,  bedingungslos  auf  M  über- 
tragen; so  entsteht  die  Zweideutigkeit  des  Mittelbegriffs, 
der  einmal  das  uneingeschränkte  M,  dann  das  durch  Be- 
dingungen determinirte  M^  bedeutet.  Aus  der  Menge  von 
Beispielen,  die  man  für  diesen  Fehler  mit  leichter  Mühe 
finden  oder  bilden  kann,  hebe  ich  einen  von  besonderem 


340  Sechstes  Kapitel. 

Nebeninteresse  hervor.  Die  Lüge  verdammen  wir  grund- 
sätzlich ;  dennoch  gibt  es  kaum  Jemand,  der  nicht  praktisch 
Ausnahmen  zuließe;  dies  deutet  auf  einen  in  der  Bildung 
des  Grundsatzes  selbst  begangenen  Fehler.  Sehen  wir  von 
erziehender  Belehrung  ab,  so  lernen  wir  die  Lüge  in  Einzel- 
fällen hassen,  wo  sie  begleitet  ist  von  dem  Wunsche, 
begangene  Schuld  auf  Andere  abzuwälzen,  von  unmittelbarer 
Begierde  zu  schaden,  von  dem  Hochmuth  endlich,  der  das 
Selbstgefühl  des  Andern  demüthigt,  indem  er  ihn  spielend 
in  eine  Welt  falscher  Vorstellungen  verwickelt ;  diese  Neben- 
züge sind  es,  die  uns  gegen  die  Unwahrheit  aufbringen; 
nur  um  ihretwillen  nennen  wir  die  Unwahrheit  Lüge.  Aus 
diesen  Fällen,  in  denen  das  secundum  quid  sehr  deutlich 
ist,  das  unser  Urtheil  bestimmt,  könnten  wir,  wenn  nichts 
weiter  hinzukäme,  nicht  mit  Recht  auf  die  Verwerflichkeit 
jeder  simpliciter,  ohne  Nebenabsicht,  vorgetragenen  Un- 
wahrheit schließen.  Aber  es  kommt  freilich  etwas  hinzu; 
Mittheilung  unter  Menschen  kann  nur  Vorstellungen  der- 
selben Wirklichkeit  in  allen  erwecken  wollen,  damit,  hier- 
nach abgemessen,  ihre  Handlungen  zu  gemeinsamem  Wirken 
richtig  zusammentreffen,  ihre  Sonderbestrebungen  einander 
aus  dem  Wege  gehen,  überhaupt  nur  unternommen  werde, 
was  im  Einklang  mit  der  Wirklichkeit  Erfolg  verspricht. 
Die  allgemeine  Maxime,  Unwahres  zu  sagen,  höbe  die  Er- 
füllbarkeit dieser  und  aller  andern  Zwecke  auf;  denn  Wahr- 
heit gibt  es  in  jedem  Falle  nur  ,eine,  Unwahrheiten  unzählige ; 
der  Austausch  der  letzteren  würde  daher  nicht  verbürgen, 
daß  nicht  die  durch  ihn  rege  gemachten  Intentionen  der 
Menschen  stets  bei  einander  vorbeigingen,  ohne  je  zur 
Erreichung  eines  Zweckes  zusammenzutreffen.  So  kommen 
wir  zu  dem  Urtheile,  Behauptung  des  Unwahren  sei  an 
sich  verwerflich,  weil  sie  dem  Wesen  der  Behauptung  und 
dem  sittlichen  Zwecke  der  Mittheilung  widerspreche,  und 
stillschweigend  nehmen  wir  nur  die  Aeußerungen  des  Un- 
wahren aus,  die,  in  Poesie  Scherz  und  Höflichkeit,  den 
Charakter  der  Behauptung  nicht  haben.  Und  hier  eben 
droht  der  Fehlschluß,  den  ich  erwähnen  wollte.  Durch 
diese  Ueberlegung  glauben  wir  die  Verwerflichkeit  unwahrer 
Behauptungen  von  der  Beschränkung  durch  das  frühere 
secundum  quid  befreit  zu  haben  und  sie  nun  simpliciter 
aussprechen  zu  können.  Aber  dies  simpliciter  selbst  ist 
zweideutig.  Es  kann  bedeuten :  die  Behauptung  des  Un- 
wahren ist  an  sich  tadelhaft  und  kann  nur  durch  besondere 
Gründe,  secundum  quid,  im  Einzelfalle  gerechtfertigt  werden ; 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  341 

aber  es  kann  auch  sagen  wollen:  sie  ist  allgemein 
verwerflich  und  es  gibt  eben  deshalb  keine  Gründe,  welche 
sie  im  Einzelfalle  rechtfertigen  könnten.  Diese  beiden  Aus- 
legungen des  simpliciter  streiten  sich  in  unserem  Gemüthe 
und  bringen  jenen  Widerspruch  hervor,  den  ich  am  Anfang 
berührte.  Nur  zur  ersten,  nicht  zur  zweiten  würden  unsere 
hier  angenommenen  logischen  Prämissen  zureichen;  denn 
nur  als  allgemeine  Maxime  gedacht,  hob  die  Unwahrheit 
sittliche  Zwecke  gewiß  auf  und  war  verwerflich;  hiermit 
aber  verträgt  sich  allerdings  der  Gedanke,  daß  sie  überall 
wieder  zulässig  sei,  wo  nicht  die  Erfüllung,  sondern  die 
Vereitelung  eines  zu  mißbilligenden  Bestrebens  löblich  ist. 
Soll  jene  zweite  Auslegung,  die  bedingungslose  Verwerflich- 
keit der  Lüge,  gelten,  so  muß  man  sie  auf  andere  Prämissen 
zu  gründen  suchen;  überlassen  wir  dies  der  Ethik;  unser 
logisches  Interesse  ging  hier  nur  auf  den  Nachweis,  daß 
wir  eine  fallacia  falsi  medii  nicht  nur  durch  Verwechslung 
des  simpliciter  und  des  secundum  quid  Gemeinten  begehen, 
sondern  daß,  nicht  blos  in  dem  Falle  dieses  Beispiels, 
sondern  in  vielen  andern  ebenso,  auch  das  simpliciter  für 
sich  schon  Sitz  einer  Zweideutigkeit  ist.  Wir  meinen  mit 
ihm  theils  das,  was  nur  an  sich,  aber  nicht  unter  alleix 
Bedingungen,  oder  was  nur  im  Allgemeinen,  aber  nicht 
immer  im  Besondern  gilt,  theils  aber  auch  das,  was  an. 
si€h  ' und  nicht  erst  unter  Bedingungen,  oder  was  all- 
gemein und  nicht  blos  im  Allgemeinen,  was  folglich  auch 
im   Besonderen   immer  und  nothwendig  gilt. 

245.  Ich  schließe  hieran  Beispiele  der  Ausdehnung  eines 
allgemeinen  Satzes  auf  Fälle,  welche  die  Bedingungen  seiner 
Anwendung  nicht  mehr  enthalten,  dennoch  aber  formell 
sich  als  Sonderfälle  desselben  betrachten  lassen.  Dies 
kommt  vor,  wenn  man  veränderliche  Größen,  welche  die 
Beziehungspunkte  des  Satzes  annehmen  können,  bis  zu 
ihren  Grenzwerthen,  der  Null  oder  dem  Unendlichen,  ver- 
folgt. Am  Hebel  erzeugt  man  die  gleiche  Wirkung,  so  lange 
das  Product  ph  des  angehängten  Gewichts  p  in  seinen 
Hebelarm  h  dasselbe  bleibt;  je  größer  also  h,  desto  kleinerer 
Gewichte  p  bedarf  man,  um  dieselbe  Wirkung  zu  erzeugen ; 
und  so  hat  denn  in  der  That,  um  die  Gültigkeit  des  Hebel- 
gesetzes verdächtig  zu  machen,  die  feine  Folgerung  nicht 
gefehlt,  in  unendlicher  Entfernung  vom  Drehpunkt  reiche 
die  Masse  o  hin,  um  jedes  beliebige  Gewicht  am  andern 
Hebelarme  im  Gleichgewicht  zu  halten.    Man  weist  diesen 


342  Sechstes  Kapitel. 

Einfall  natürlich  sehr  einfach  durch  die  Bemerkung  zurück, 
das  Hebelgesetz  spreche  nur  von  Fällen,  in  denen  wirklich 
Kräfte  am  Hebel  angebracht  werden,  und  verliere  seine 
Gültigkeit,  wo  dieser  Bedingung  nicht  genügt  ist,  und 
sachlich  sind  hiermit  auch  alle  Zweifel  erledigt.  Aber 
logisch  doch  nicht  ganz ;  denn  so  verfährt  man  nicht  überall. 
Man  zweifelt  nicht,  daß  cos  o  =  1  sei,  und  doch  hat  ursprüng- 
lich der  Begriff  des  Cosinus  nur  für  einen  wirklichen  Bogen  fjp 
Sinn,  von  dessen  Endpunkt  sich  ein  Sinus  auf  den  Halb- 
messer durch  den  Anfangspunkt  ziehen  läßt;  von  diesem 
Fall  ist  man  hier  auf  den  Endwerth  9  =  0  übergegangen. 
Da  nun  das  Hebelgesetz  doch  bei  jeder  Annäherung  zu 
den  Werthen  h  =  oo  und  p  =  o  gültig  bleibt,  so  wäre  zu 
wünschen,  daß  es  auch  für  diese  Grenzfälle  noch  irgend 
eine  Interpretation  zuließe,  die  zeigte,  in  welche  andere 
Bedeutung  es  übergeht,  wenn  die  frühere  unzulässig  wird, 
oder  daß  es  seine  völlige  Ungültigkeit  selbst  anmeldete, 
d.  h.  nicht  blos  durch  die  Unglaublichkeit  von  Folgen,  die 
doch  immer  nur  von  einem  auswärtigen  Gesichtspunkt 
beurtheilbar  wären,  sondern  dadurch,  daß  es  sich  selbst 
aufhöbe.  Die  Kraft,  welche  ein  Keil  ausübt,  steht  im  um- 
gekehrten Verhältniß  zur  Breite  seines  Rückens;  ver- 
schwindet diese  ganz,  so  tritt  hier  derselbe  Fall  ein:  die 
Formel  gibt  unendliche  Wirkung,  während  sie  in  der  That 
Null  ist.  Aber  hier  kann  man  doch,  freilich  mehr  spißlend 
als  ernsthaft,  einwenden :  in  der  That  gehöre  eine  unendliche 
Kraft  dazu,  um  eine  geometrische  Ebene,  in  die  sich  ja 
nun  der  Keil  verwandelt  hätte,  von  der  Durchdringung 
eines  Holzklotzes  abzuhalten;  daß  der  Klotz  sich  darum 
nicht  spaltet,  ließe  sich  gleichfalls  formelgerecht  beweisen. 
Eine  so  anschauliche  Beruhigung  weiß  ich  nun  dem  Zweifler 
in  Bezug  auf  den  Hebelsatz  nicht  zu  verschaffen ;  anderseits 
hielte  ich  doch  für  unbillig,  ihn  durch  die  Forderung  ab- 
zuschrecken, er  möge  erst  den  unendlichen  Hebelarm 
besorgen,  dann  werde  man  weiter  zusehen;  denn  offenbar 
ist  der  Gedanke  von  der  Wirkung  der  unendlich  entfernten 
Masse  Null  als  Gedanke  an  sich  absurd,  und  muß,  wenn 
er  nicht  interpretirt  werden  kann,  durch  sich  selbst  wider- 
legt werden.  Und  dies  kann  geschehen.  Denn  der  Sinn 
des  Hebelgesetzes  besteht  darin,  daß  es  in  jeder  bestimmten 
Entfernung  h  vom  Drehpunkte  der  bestimmten  Masse  p  einen 
bestimmten  Effect  zuschreibt,  welcher  sich  ändert,  wenn  h 
sich  ändert.  Die  Masse  0  aber  würde  in  unendlicher  Ent- 
fernung keine  andere  Wirkung  hervorbringen,  als  in  jeder 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  343 

beliebigen  endlichen ;  denn  es  ließe  sich  ja  gar  nicht  sagen, 
wodurch  sich  der  Fall,  daß  man  am  unendlich  entfernten 
Ende  des  Hebels  nichts  wirken  ließe,  von  dem  andern 
unterschiede,  daß  man  an  einem  beliebigen  andern  Punkte 
gleichfalls  nichts  wirken  ließe,  oder  von  dem  dritten,  der 
eigentlich  immer  zugleich  bestände,  daß  man  an  allen 
Punkten  des  Hebels  dasselbe  Nichts,  und  zwar  nach  be- 
liebigen Richtungen  wirkend,  angebracht  dächte.  Der  Ver- 
such also,  das  Hebelgesetz  für  ph  =  o  •  oo  noch  festzuhalten^ 
scheitert  nicht  blos  an  unglaublichen  Folgen,  sondern 
daran,  daß  sein  eigner  Sinn  verschwindet,  weil  das  un- 
unterscheidbar  wird,  auf  dessen  Unterscheidung  er  beruhte. 
Man  kann  zu  demselben  Ergebniß  auch  anders  gelangen; 
p  h  ist  keine  constante  Größe,  so  daß  p  sich  im  umgekehrten 
Verhältniß  zu  h  ändern  müßte ;  sondern  für  jedes  h  ändert 
sich  die  Wirkung  mit  der  völlig  freien  Aenderung  von  p 
und  wird  für  jedes  h  zu  Null,  wenn  p  Null  wird;  daraus 
folgt,  daß  auch  ph  =  ooo  hier  nur  den  Werth  o  und 
keinen  andern  haben  kann.        , 

246.  Aehnlich  den  zu  engen  und  den  zu  weiten 
Definitionen,  und  meist  durch  solche  veranlaßt,  können 
auch  Beweise  zu  wenig  oder  zu  viel  beweisen;  beides 
sowohl  in  Bezug  auf  den  Inhalt  des  zu  beweisenden  T  als 
auch  in  Bezug  auf  die  quantitative  Ausdehnung  seiner 
Gültigkeit.  Das  zu  viel  Bewiesene  kann  richtig  sein  und 
entspricht  vielleicht  blos  nicht  der  Aufforderung  zum  Be- 
weise, die  auf  Wenigeres  gerichtet  war;  so,  wenn  Jemand 
für  alle  Thiere  einen  Satz  deducirt,  den  man  blos  für 
Menschen  sichergestellt  wünschte ;  man  hat  dann  den  zu- 
länglichen Beweisgrund  in  einer  allgemeineren  Fassung  be- 
nutzt, in  welcher  er  selbst  gültig  blieb.  Ist  aber  das  zu 
viel  Bewiesene  falsch,  so  ist  man  einem  irrigen  Beweis- 
grund gefolgt,  der  nun  auch  das  in  dem  Resultat  ein- 
geschlossene Wenigere  zweifelhaft  macht,  den  Beweis  des- 
selben also  nicht  liefert.  Ist  z.u  wenig  bewiesen,  so  hat 
der  Beweisgrund,  der  hierzu  führte,  vielleicht  eine  all- 
gemeine Wahrheit,  welche  wirklich  das  gegebene  T  in  ge- 
wünschter Ausdehnung  beweisen  würde,  nur  in  einer  ihrer 
particularen  Formen  aufgefaßt,  und  dann  bedarf  es  nur 
angemessener  Wiederverallgemeinerung  derselben,  um  den 
verlangten  Beweis  zu  gewinnen.  Aber  man  kann  auch  auf 
ganz  falschem  Wege  gewesen  sein,  indem  man  von  Voraus- 
setzungen ausging,  welche  zwar  zu  dem  bewiesenen  Special- 
falle von  T  richtig  führten,  zum  allgemeinen  Beweise  des  T 


344  Sechstes  Kapitel. 

jedoch  immer  untauglich  bleiben  würden.  Im  Ganzen  ist 
daher  die  Benutzbarkeit  des  eingeschlagenen  Weges  immer 
zweifelhaft,  wenn  der  auf  ihm  erlangte  Beweis  nicht  genau 
den  Inhalt  des  zu  beweisenden  T  deckt;  und  man  kann 
beides  sagen:  qui  nimium  und  qui  parum  probat,  nihil 
probat. 

247.  Auch  hierfür  sind  Beispiele  leicht  zu  finden ;  anstatt 
ihrer  schließe  ich  einen  Fall  an,  auf  den  man,  obgleich 
nicht  in  der  Form  des  Beweises,  sehr  oft  in  dilettantischen 
Versuchen  zur  Speculation  stößt:  die  unvollständige 
Erklärung,  welche  nur  im  Allgemeinen  einen  Grund 
für  eine  Erscheinung  angibt,  ohne  zu  untersuchen,  ob  dieser 
Grund  auch  fähig  sei,  die  Modificationen  mit  zu  begründen, 
denen  die  Erscheinung  unterliegt.  Das  Gesetz  der  Be- 
harrung der  Bewegung  ist  schwerlich  aus  einem  all- 
gemeineren Gedanken  beweisbar;  aber  die  vulgäre  Meinung, 
es  verstehe  sich  von  selbst,  daß  jede  Bewegung  mit  der 
Zeit  aufhöre,  ist  unmöglich  an  sich  und  kann  zu  einein 
apagogischen  Beweise  für  jenes  Gesetz  führen.  Hätte  man 
die  Abnahme  der  Bewegung  auf  reale  Widerstände  in  der 
Zeit  geschoben,  so  wäre  man  auf  gutem  Wege  gewesen; 
aber  von  der  leeren  Zeit  konnte  man  sie  nicht  abhängig 
machen;  denn  wenn  es  auch  für  uns,  deren  eigne  Körper- 
bewegungen mit  der  steigenden  Ermüdung  erlahmen,  etwas 
Ueberredendes  hat,  die  Zeit  selbst  zehre  alle  Bewegung  auf, 
so  läßt  sich  doch  im  Besondern  kein  Maßstab  finden,  nach 
welchem  ihr  dies  früher  oder  später  gelingen  müßte.  An- 
genommen, jeder  der  völlig  gleichen  Augenblicke  dt  habe 
gleiche  constante  Zehrkraft  und  hemme  an  jeder  Massen- 
einheit die  Geschwindigkeit  q,  so  begriffe  man  wohl,  daß 
schnellere  Bewegungen  derselben  Masse  später  aufhören, 
als  langsamere;  aber  so  lange  q  eine  endliche  Größe  ist, 
würden  auch  Bewegungen  denkbar  sein,  deren  Geschwindig- 
keit, für  dt  als  Einheit,  kleiner  wäre  als  q,  und  diese  Be- 
wegungen würden  dann  gar  nicht  zu  Stande  kommen.  Viel- 
leicht zöge  man  vor,  die  Zehrkraft  der  Zeit  richte  sich 
nach  der  zu  verzehrenden  Geschwindigkeit;  aber  in  welchem 
Verhältniß?  Ich  unterlasse  jede  weitere  Hypothese;  theils, 
weil  man  schon  einsieht,  wie  hoffnungslos  es  ist,  bei  der 
völligen  Unvergleichbarkeit  von  Zeit  und  Masse  die  Massen- 
einheit festzustellen,  für  welche  q  das  Maß  der  hemmenden 
Kraft  eines  dt  wäre;  anderntheils,  weil  offenbar  in  der 
leeren  Zeit  kein  Grund  liegt,  unter  den  zahllosen  denkbaren 
Verhältnissen   zwischen   Geschwindigkeit   und   Verzögerung 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  345 

eines  vor  dem  andern  zu  bevorzugen;  endlich,  weil  stets 
etwas  übrig  bliebe,  was  alle  diese  Versuche  vereiteln  würde. 
Denn  wenn  ein  dt  diesen  oder  jenen  Theil  der  Bewegung 
aufhöbe,  woher  stammte  der  nicht  aufgehobene  Theil? 
Offenbar  setzt  man  für  ihn  voraus,  er  habe  sich  nach  dem 
Gesetz  der  Beharrung  erhalten;  ließe  man  an  diesem  Punkt 
nicht  versteckt  die  Gültigkeit  des  Gesetzes  schon  zu,  so 
würde  man  behaupten  müssen,  schon  das  erste  dt  hemrhe 
alle  Bewegung.  Entweder  kommt  daher  Bewegung  über- 
haupt nicht  zu  Stande,  sondern  erlischt  sogleich,  indem 
sie  Miene  macht,  ein  dt  hindurch  zu  dauern,  oder:  wenn 
die  Bewegung  allmählich  abnehmen  soll,  so  gilt  prin- 
cipaliter  das  Gesetz  der  Beharrung,  und  nur  secundär  nimmt 
die  Bewegung  durch  Widerstände  ab;  diese  wird  man  nun 
blos  in  Gleichartigem,  also  in  entgegengesetzten  Bewegungs- 
antrieben suchen.  Wie  dieser  Satz,  daß  jeder  erklärende 
Beweisgrund  nicht  blos  T  allgemein,  sondern  auch  die 
Möglichkeit  seiner  Modificationen  begründen  müsse,  mit 
dem  disjunctiven  Lehrsatz  zusammenhängt,  deute  ich  nur 
an;  seine  weitere  Verfolgung  würde  mich  zu  sehr  auf  blos 
mathematisches  Gebiet  führen ;  es  genügt,  kurz  anzumerken, 
wie  diese  logische  Forderung  dort  sich  in  dem  Princip  der 
Homogeneität  der  in  eine  Gleichung  zusammenzustellenden 
Functionen  einen  speciellen  und  fruchtbaren  Ausdruck  ge- 
geben hat. 

248.  Collective  und  indirecte  Beweise  irren  häufig  durch 
Schuld  einer  unvollständigen  Disjunction.  Sie 
müßten  zeigen,  um  T  sicher  zu  stellen,  daß  in  allen  Einzel- 
fällen von  T  gilt,  was  sie  von  dem  allgemeinen  Fall  be- 
haupten wollen,  oder  daß  alle  Arten  des  NonT  ungültig 
sind  und  so  nur  die  Gültigkeit  von  T  übrig  bleibe.  Dies 
ist  nicht  immer  leicht ;  namentlich  wird  man  im  praktischen 
Leben  die  Schwierigkeit  fühlen,  bei  Aufstellung  einer 
Satzung,  welche  gelten  soll,  alle  Fälle  ihrer  möglichen 
Anwendung  im  Voraus  darauf  zu  prüfen,  ob  die  vor- 
geschlagene Bestimmung  sich  in  ihnen  empfehlenswürdig 
oder  erträglich  zeigen  würde;  nicht  minder  bekannt  ist, 
wie  oft  wir  nach  Ueberlegung  vieler  Wege,  die  wir  ein- 
schlagen könnten,  nur  einen  möglich,  alle  andern  unmöglich 
finden  nud  doch  die  Eingebung  eines  glücklichen  Augen- 
blicks uns  dann  noch  einen  andern  übersehenen  Ausweg 
zeigt.  In  theoretischen  Ueberlegungen  werden  wir  zu  dem 
Fehler  der  unvollständigen  Disjunction  am  wirksamsten 
dann    verführt,   wenn    wir   nicht   absichtlich   mit   der    Auf- 


346  Sechstes  Kapitel. 

Stellung  aller  denkbaren  Fälle  beginnen,  sondern,  wie  ge- 
wöhnlich geschieht,  unter  dem  einseitigen  Einfluß  einer 
uns  beherrschenden  Gedankenrichtung  uns  nur  zu  ihrem 
Ziele  treiben  lassen.  So  ist  es  leicht  nachzuweisen,  daß 
unsere  sinnlichen  Empfindungen  subjective  Zustände  unserer 
Erregung  sind;  eine  weit  verbreitete  Ueberzeugung  fügt 
hinzu,  daß  auch  die  Formen  von  Raum  und  Zeit,  in  denen 
wir  das  mannigfaltige  Empfundene  zusammenordnen,  An- 
schauungsweisen unseres  Geistes  sind;  verführerisch  ist 
endlich,  dann  auch  die  Vorstellung  uns  unbekannter  Dinge 
und  Wirkungen,  die  diesen  Erscheinungen  zu  Grunde  liegen, 
als  ein  Erzeugniß  unseres  Geistes  anzusehen,  dessen 
Organisation  zu  dieser  Verknüpfung  seiner  Einzelvorstellun- 
gen nöthige.  So  ist  dann  die  Subjectivität  aller  Elemente 
unserer  Erkenntniß  nachgewiesen,  und  von  hier  aus  wagt 
man  den  Schluß:  also  gebe  es  keine  objective  reale  Welt, 
die  unserer  Vorstellungswelt  entspreche.  Er  ist  falsch; 
denn:  wenn  wir  von  der  Voraussetzung  ausgehen,  es  gebe 
diese  reale  Welt,  so  ist  leicht  einzusehen,  daß  auch  dann 
alles  sich  so  verhalten  müßte,  wie  wir  es  fanden.  Die 
realen  Elemente  können  nie  in  Substanz  in  unser  Inneres 
einziehen ;  sie  können  immer  nur  Vorstellungen  erwecken, 
welche,  veranlaßt  durch  den  äußern  Eindruck  und  Reactionen 
gegen  ihn,  doch  immer  ein  Erzeugniß  unserer  subjectiven 
Natur  bleiben;  mag  es  einen  objectiven  Raum  geben  oder 
nicht,  seine  Anschauung  in  uns  ist  nicht  er  selbst,  sondern 
immer  das  Product  unserer  subjectiven  Thätigkeit  des  Vor- 
stellens;  mag  das  Causalgesetz  objectiv  gelten  oder  nicht, 
Gegenstand  nothwendiger  Anerkennung  für  uns  ist  es  nur, 
sofern  es  von  uns  gedacht  und  sein  Inhalt  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Gesetzen  unseres  Denkens  empfunden 
wird.  Die  vollkommene  Subjectivität  aller  Elemente  unserer 
Erkenntniß  entscheidet  daher  gar  nichts  über  Sein  oder 
Nichtsein  einer  objectiven  Wirklichkeit.  Um  uns  vor  solchen 
Fehlern  zu  bewahren,  sind  unsere  Gegner  in  der  Welt; 
man  sieht,  wie  unerläßlich  es  ist,  neben  der  folgerechten 
Ausbildung  des  eignen  Gedankengangs  sich  auch  in  Vor- 
stellungsweisen einheimisch  zu  machen,  die  von  entgegen- 
gesetzten   Standpunkten   ausgehen. 

249.  Man  unterscheidet  Paralogismen  überhaupt  als 
unwillkürlich  begangene  Reweisfehler  von  Sophismen, 
den  absichtlich  auf  Täuschung  oder  Verwirrung  des  Urtheils 
angelegten  Trugschlüssen,  ein  Unterschied,  der,  weil  er 
sich    auf    die    vorausgesetzte    Absicht    gründet,    zweifelhaft 


Beweisfehler  und  Dilemmeri.  347 

wird,  wo  diese  es  wird.  So  kann  man  zu  beiden  die  be- 
kannten Zenonischen  Beweise  gegen  die  Bewegung 
rechnen.  Sie  berühren  zum  Theil  wirkliche  Schwierigkeiten 
in  dem  Begriffe  der  Bewegung,  die  ich  hier  noch  nicht 
erörtern  will;  anderseits  mögen  sie  als  Beispiele  nicht 
leicht  classificirbarer  Beweisfehler  noch  angeführt  sein.  Der 
eine  von  ihnen  will  beweisen,  daß  der  fliegende  Pfeil  ruht. 
Er  geht  aus  von  der  Vorstellung,  die  Zeit  bestehe  aus 
untheilbaren  Augenblicken;  in  keinem  dieser  Augenblicke 
kann  der  Pfeil  sicTi  bewegen;  denn  Bewegung  setzt  das 
Spätersein  an  dem  einen,  da.s  Frühersein  an  dem  andern 
Orte  voraus;  in  dem  untheilbaren  Augenblicke  aber  gibt 
es  kein  Früher  oder  Später;  der  Pfeil  ruht  also  in  diesem, 
er  ruht  ebenso  in  jedem  andern  Augenblicke;  er  ruht  also 
immer.  Hiergegen  ist  einfach  einzuwenden,  daß  auch  ruhen 
nur  das  kann,  was  später  an  demselben  Orte  ist,  den  es 
früher  einnahm ;  da  der  untheilbare  Augenblick  kein  Früher 
und  Später  hat,  so  kann  der  Pfeil  sich  in  ihm  weder 
bewegen,  noch  ruhen.  Und  dies  ist  denn  im  Einklang  mit 
der  gewöhnlichen  phoronomischen  Betrachtungsweise.  So 
lange  d  t  eine  Zeit  strecke  ist,  durchläuft  in  ihm  der  Pfeil 
einen  kleinen  Weg  v  •  d  t ;  sobald  d  t  keine  Größe  mehr  ist, 
sondern  nur  ein  Theilpunkt  der  Zeit,  der  seinen  bestimmten 
Platz  in  der  Zeitreihe  hat,  so  macht  in  ihm  zwar  der  Pfeil 
keinen  Weg,  aber  er  ruht  auch  nicht  in  ihm,  sondern  geht 
durch  ihn  mit  der  Geschwindigkeit  v  hindurch.  Außerdem 
hatte  Zeno  kein  Recht  zu  behaupten,  in  jedem  folgenden 
Augenblick  werde  der  fliegende  Pfeil  in  demselben  Orte 
ruhen,  in  welchem  er  vorher  geruht  hatte.  In  dem  Begriff 
des  Augenblicks  und  in  dem  des  Pfeiles  liegt  allerdings 
nichts,  was  einen  Wechsel  der  Orte  begründete;  wohl  aber 
liegt  dieser  Grund  in  dem  Fliegen  des  Pfeils.  Worin 
dieser  Antrieb  freilich  besteht,  durch  den  in  jedem  auch 
als  untheilbar  gedachten  Augenblicke  der  bewegte  Körper 
sich  von  dem  ruhenden  unterscheidet,  dies  mag  dunkel  sein, 
und  darauf  hätte  sich  ein  Sophisma  wirksam  beziehen 
können;  aber  bevor  die  Unmöglichkeit  des  Begriffs  der 
Geschwindgikeit  feststand,  durfte  Zeno  sie,  von  der  er 
in  dem  Prädicat  des  Fliegens  ausging,  nicht  in  der  Beweis- 
führung ganz  vergessen.  So  wie  er  ist,  zeigt  sein  Beweis 
nur,  daß  Ruhe  nicht  Bewegung  ist,  und  Bewegung  nicht 
aus  Ruhe  gemacht  werden  kann ;  mit  jener  Ergänzung  hätte 
Zeno  wenigstens  eine  von  Moment  zu  Moment  sprungweis 
erfolgende  Veränderung  des   Ortes,   eine  stetige  Bewegung 


348  Sechstes  Kapitel. 

freilich  nicht  ableiten  können,  so  lange  er  an  den  untheil- 
baren  Augenblicken  als  Zusammensetzungsbest-andtheilen 
der  Zeit  festhielt.  Ein  anderer  Beweis  zeigt,  daß  der  schnell- 
füßige Achill  die  Schnecke  nicht  einholt,  wenn  sie  einen 
Vorsprung  hat;  denn  immer,  ehe  er  sie  erreiche,  müsse  er 
zuvor  an  den  Ort  kommen,  den  sie  eben  verlassen.  Diese 
Einkleidung  ist  überflüssig;  auch  wenn  die  Schnecke  ruht, 
erreicht  sie  Achill  nie;  denn  der  Beweis  beruht  darauf, 
daß  kein  Bewegtes  jemals  an  das  Ende  irgend  einer  Weg- 
strecke kommt,  weil  es  vorher  an  die  Hälfte  derselben, 
dann  vorher  an  die  Hälfte  der  Hälfte,  und  vorher  wieder 
an  die  Hälfte  dieses  Viertels  kommen  muß.  Da  diese 
Halbirung  ins  Unendliche  fortgesetzt  werden  soll,  so 
wird  offenbar  die  endliche  Raumstrecke  als  unendlich 
theilbar  oder  aus  unendlich  vielen  Theilen  bestehend  voraus- 
gesetzt, dann  aber  angenommen,  zum  Uebergang  von  jedem 
dieser  unzähligen  Raumpunkte  zum  andern  sei  einer  der 
untheilbar  gedachten  Zeitaugenblicke  nöthig;  mithin  ge- 
hören unendlich  viele  Augenblicke  zum  Durchlaufen  jedes 
endlichen  Weges.  So  weit  ist,  wenn  man  die  Voraus- 
setzungen zugibt,  alles  richtig.  Aber  nun  ist  es  ganz 
willkürlich,  zu  behaupten,  diese  Summe  der  unendlich  vielen 
Augenblicke  werde  eine  unendliche  Zeitstrecke  sein; 
da  sie  untheilbar  sind,  keiner  von  ihnen  ein  Früher  oder 
Später  enthält,  so  gibt  auch  ihre  unendliche  Summe  kein 
Früher  oder  Später,  wenn  man  nicht,  wie  hier  doch  wohl 
Zeno  begegnet  ist,  zwischen  je  zwei  Augenblicke  einen 
Zeitverlauf  heimlich  einschiebt,  oder  diese  Augenblicke  in 
einer  zweiten  ausgedehnt  gedachten  Zeit  aufeinander  in 
bestimmten  Intervallen  folgen  läßt.  Man  braucht  nicht  ein- 
mal gegen  Zeno  einzuwenden,  was  ungefähr  Aristoteles 
hier  äußert,  daß  nämlich,  nach  unserer  Ausdrucksweise, 
das  Integral  einer  unendlichen  Reihe  stetig  in  einander 
übergehender  Größen  doch  eine  bestimmte  endliche  Größe 
sein  könne,  jene  Summe  von  Zeitaugenblicken  also  eine 
endliche  Zeit  st  recke;  die  untheilbaren  Augenblicke  sind 
von  Zeno  nicht  nur  jeder  für  sich  als  größenlos,  sondern 
zugleich  so  isolirt  gedacht,  daß  von  solchem  Uebergehen, 
durch  welches  sie  überhaupt  erst  zu  Zeittheilen  werden, 
gar  nicht  die  Rede  ist;  die  Summe  aller  dieser  Nullen 
ist  daher  an  sich  Null  und  wird  nur  durch  eine  unberechtigte 
Zuthat  unserer  besser  unterrichteten  Phantasie  für  eine 
Größe  überhaupt  und  nun  gar  für  eine  unendliche  Größe 
ausgegeben.    Achill  braucht  mithin  zwar,  um  von  a  nach  b 


BeweJsfehler  und  Dilemmen.  349 

2u  kommen,  unzählige  Zeitaugenblicke,  aber  diese  setzen 
gar  keine  Zeitstrecke  von  irgend  welcher  Dauer  zu- 
sammen; anstatt  einer  unendlichen  Zeit  braucht  er  viel- 
mehr gar  keine  Zeit;  wozu  freilich  hierbei  die  Verbrauchung 
der  Zeitaugenblicke  dient  und  worin  sie  besteht,  bleibt 
ganz  unsagbar. 

250.  Das  Alterthum  hat  uns  noch  interessante  Di- 
lemmen hinterlassen,  Gedankenverknüpfungen,  aus  denen 
entgegengesetzte  Folgen  gleich  nothwendig  und  gleich  un- 
möglich fließen.  Pseudomenos  heißt  das  Dilemma,  das 
entstand,  als  Epimenides,  ein  Kreter  selbst,  behauptete, 
jeder  Kreter  lüge,  sobald  er  den  Mund  aufthue.  War  nun 
der  Inhalt  seiner  Behauptung  richtig,  so  hatte  er  gelogen 
und  deshalb  war  seine  Behauptung  falsch;  ist  sie  aber 
falsch,  so  bleibt  noch  die  Möglichkeit,  daß  die  Kreter  nicht 
immer,  aber  doch  zuweilen  lügen,  Epimenides  aber  seiner- 
seits hier  wirklich  gelogen  hat,  indem  er  diesen  allgemeinen 
Satz  aussprach ;  es  besteht  in  diesem  Falle  keine  Unverträg- 
lichkeit zwischen  der  ausgesagten  Thatsache  und  der  That- 
sache  ihres  Aussagens,  und  das  Dilemma  hat  noch  einen 
rechtlichen  Ausweg.  Es  hat  aber  keinen  mehr,  wenn  wir 
Epimenides  und  die  Kreter  weglassen  und  anstatt  dieser 
zwei  Subjecte,  von  denen  das  eine  nur  in  dem  andern 
enthalten,  aber  ihm  nicht  gleich  ist,  ein  identisches  setzen: 
Ich  lüge  jetzt.  Bin  ich  hier  wahrhaft  in  meiner  Aussage, 
lüge  ich  also,  so  ist  der  Inhalt  meiner  Aussage  falsch  und 
ich  lüge  nicht;  aber  der  Inhalt  meiner  Aussage  war  die 
Behauptung  der  Falschheit  meiner  Aussage;  ist  dieser  Inhalt 
falsch,  so  wird  meine  Aussage  wieder  richtig  und  ich  lüge; 
hier  beginnt  dieselbe  Reihe  sich  selbst  aufhebender  Fol- 
gerungen von  neuem  und  sofort  ins  Unendliche.  Man  be- 
merkt ihren  Grund  leicht:  logisch  ist  naturgemäß  der  aus- 
gesagte Inhalt  an  sich  gültig  oder  ungültig,  ganz  unabhängig 
von  der  Thatsache  seines  Ausgesagtwerdens,  die  hinzu- 
kommen oder  wegbleiben  kann;  der  Aussage  aber  kommt 
keine  andere  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit  an  sich  zu,  außer 
der,  die  sie  durch  Wahrheit  oder  Unwahrheit  des  von  ihr 
selbst  unabhängigen  Inhaltes  erhält.  Widersprüche,  und 
zum  Theil  formell  unlösliche,  entstehen  daher  dann, 
wenn  man  den  auszusagenden  Inhalt  so  wählt,  daß  er  über 
die  Thatsache  des  Aussagens  etwas  enthält,  was  mit  der 
Möglichkeit  oder  der  Gültigkeit  derselben  in  Widerspruch 
steht.  Die  Schwierigkeit  verschwindet  gleich,  wenn  wir 
statt :  ich  lüge,  sagen :  ich  log ;  ebenso  kann  man  zwar  nicht 


350  Sechstes  Kapitel. 

im  Präsens  sagen:  ich  schweige,  wohl  aber  im  Sinne  des 
Futurum :  ich  werde  schweigen ;  denn  nun  bezieht  sich 
die  Aussage  auf  eine  von  ihr  verschiedene  Thatsache,  die 
ihr  nicht  mehr  widerspricht.  Es  gibt  viele  Beispiele  hier- 
von, obgleich  kein  so  klassisches  wie  dieser  Pseudomenos; 
wer  die  Frage,  ob  er  schlafe,  bejaht,  wer  dem  lästigen 
Besucher  entgegennift,  er  sei  ausgegangen,  setzt  auf  dieselbe 
Weise  seine  Aussage  mit  ihrem  Inhalt  in  Widerspruch. 
Als  ähnliche  Fälle  endlich,  in  denen  ein  Subject  unmöglicher- 
weise zugleich  beide  Beziehungspunkte  eines  Verhältnisses 
bilden  soll,  das  nur  zwischen  zwei  verschiedenen  stattfinden 
kann,  darf  man  anschließen  Jean  Paul's  kleinen  Mann, 
der  sich  selbst  blos  bis  an  die  Knie  ging,  geschweige  denn 
andern  Leuten;  die  Aufschrift  der  Thierbude:  dies  ist  der 
größte  Elephant,  den  es  gibt,  ihn  selber  ausgenommen; 
endlich  Münchhausen's  rettende  That,  sich  an  seinem  eignen 
Zopfe  aus  dem  Sumpf  zu  ziehen.  Von  gleichem  Interesse 
ist  das  antike  Dilemma  vom  Krokodil.  Der  klagenden  Mutter 
sagt  das  Thier:  ich  gebe  dir  dein  Kind  zurück,  wenn  du 
mir  die  Wahrheit  darüber  sagst,  ob  ich  es  dir  zurückgeben 
werde  oder  nicht.  Es  würde  keine  Schwierigkeit  entstehen, 
wenn  die  Mutter  nur  zu  errathen  hätte,  ob  das  Krokodil 
jetzt  den  Willen  der  Zurückgabe  hat  oder  nicht.  Räth 
sie  richtig,  so  steht  der  vertragsmäßigen  Rückgabe  nichts 
entgegen;  denn  auch  wenn  das  Richtige  dies  war,  daß  das 
Krokodil  den  Willen  der  Rückgabe  nicht  habe,  so  hindert 
doch  nichts  das  Thier,  widerwillig  den  Contract  durch  sie 
zu  erfüllen.  Räth  die  Mutter  aber  falsch,  so  hat  sie  jeden 
Anspruch  verloren;  denn  wieder:  welches  auch  der  wirk- 
liche, von  ihr  falsch  errathene  Wille  des  Thieres  gewesen 
sein  mag,  im  Handeln  braucht  dieses  sich  nicht  an  seinen 
Willen,  sondern  nur  an  die  Bestimmungen  des  Vertrags  zu 
binden,  welche  nun  die  Rückgabe  verbieten.  Denken  wir 
uns  aber  in  der  Frage  an  die  Mutter,  ob  sie  das  Kind 
zurückerhalten  werde  oder  nicht,  dieses  Futurum  als  Be- 
zeichnung einer  feststehenden  Zukunft,  so  daß  an  sich 
gar  nicht  mehr  unentschieden  ist,  welches  der  beiden  Er- 
eignisse eintreten  wird  oder  bevorsteht,  so  entsteht  so- 
gleich unlösbare  Verlegenheit  aus  einem  ganz  deutlichen 
Grunde:  denn  ein  Ereigniß,  dessen  Eintritt  bedingungslos 
bevorsteht,  kann  man  nicht  ohne  Widersinn  noch  an  eine 
Bedingung  knüpfen,  deren  Erfüllung  ja  nothwendig  wirkungs- 
los sein  müßte,  deren  Nichterfüllung  aber  das  Nichteintreten 
des  unvermeidlichen  Ereignisses  fruchtlos  verbieten  würde. 


Beweisfehler  und  Dilemmen.  351 

Es  gibt  daher  hier  nur  einen  Ausweg;  stände  die  Rückgabe 
des  Kindes  als  dies  künftige  Ereigniß  fest,  und  erriethe 
dies  die  Mutter,  so  würde  sich  alles  glücklich  auflösen, 
aber  nicht  weil  diese  ihre  Aussage  den  guten  Ausgang 
bedingte,  sondern  weil  sie,  an  sich  ganz  wirkungslos^ 
mit  dem  an  sich  unvermeidlich  bevorstehenden  Erfolg  und 
den  Bestimmungen  des  Vertrags  thatsächlich  zusammen- 
stimmt; bei  jeder  andern  Aussage  der  Mutter  zeigt  sich 
nur  viel  deutlicher  die  völlige  Machtlosigkeit  des  Vertrags, 
der  Unbedingtes  noch  bedingen  will  und  deshalb  nothwendig 
gebrochen  werden  muß.  Die  antike  Form  des  Dilemma 
geht  nun  von  einer  noch  andern  dritten  Voraussetzung  aus. 
Es  soll  an  sich  nicht  feststehen,  welches  Glied  jener 
Alternative,  Rückgabe  oder  Nichtrückgabe,  eintreten  wird, 
sondern  darüber  soll  die  Aussage  der  Mutter  erst  ent- 
scheiden. Logisch  ist  nun  in  jedem  hypothetischen  Urtheile 
die  Gültigkeit  des  Nachsatzes  von  der  Gültigkeit  des  Vorder- 
satzes abhängig;  aber  dieser  muß  an  sich  selbst  bestimmt 
und  eindeutig,  und  darf  weder  in  seiner  Bedeutung,  noch, 
in  seiner  Gültigkeit  durch  Bedeutung  und  Gültigkeit  des 
Nachsatzes  bedingt  sein.  Diesem  nothwendigen  Erforderniß 
ist  in  unserem  Falle  widersprochen;  denn  die  hier  fest- 
gesetzte Bedingung  ist  nicht  eine  Aussage  der  Mutter  über- 
haupt, sondern  die  Wahrheit  derselben,  und  zwar  nicht 
die  Wahrheit  einer  Aussage,  die  sich  auf  ein  von  dem 
künftigen  Erfolge  unabhängiges  drittes  Factum  bezöge,  und 
die  deshalb  unabhängig  von  diesem  Erfolg  wahr  oder  un- 
wahr sein  könnte;  vielmehr  ist  der  Inhalt  der  Aussage 
das  übrigens  an  keine  Bedingung  gebundene  Eintreten  oder 
Nichteintreten  dieses  Erfolges  selbst,  ihre  eigene  Wahrheit 
mithin  von  demjenigen  abhängig,  was  sie  bedingen  soll. 
Es  gibt  daher  auch  hier  nur  einen  Fall,  der  logisch  ein 
rechtliches  Durchkommen  möglich  läßt;  antwortet  die 
Mutter:  du  wirst  das  Kind  wiedergeben,  so  macht  die 
wirkliche  Wiedergabe  die  Antwort  zur  Wahrheit  und  erfüllt 
zugleich  den  Vertrag;  aber  die  gegebene  Antwort  bedingt 
den  günstigen  Ausgang  gar  nicht;  denn  wenn  das  Krokodil 
das  Kind  nun  doch  nicht  wiedergibt,  so  macht  diese  That- 
Sache  eben  die  Antwort  falsch,  und  dann  ist  auch  für  das: 
Thier  die  Nichtrückgabe. durch  den  Vertrag  gerechtfertigt. 
Die  Mutter  antwortet  aber  unglücklicher  Weise:  du  wirst 
es  nicht  geben;  folglich,  sagt  das  Krokodil,  kann  ich  es 
nicht  geben,  vertragsmäßig  nicht,  wenn  deine  Antwort  für 
falsch    gelten   soll,   und   auch   nicht,   wenn  sie    richtig   sein 


352  Sechstes  Kapitel. 

könnte,  denn  sie  würde  dann  eben  durch  die  Zurückgabe 
falsch  werden;  die  Mutter  wendet  ein:  du  mußt  es  auf 
jeden  Fall  geben,  vertragshalber,  wenn  meine  Antwort 
richtig  war,  aber  auch  wenn  sie  unrichtig  war,  denn  sie 
würde  eben  richtig  werden,  wenn  du  die  Rückgabe  nicht 
gewährtest.  Hieraus  ist  kein  Ausweg  möglich;  in  der  That 
berufen  sich  aber  beide  Parteien  auf  undenkbare  Gründe; 
denn  die  wirklich  gegebene  Antwort  kann  ebenso  wenig 
richtig  oder  unrichtig  an  sich  sein,  als  jene  blos  glücklichere, 
welche  die  Mutter  hätte  geben  können.  Auf  ähnlichem 
Mißbrauch  hypothetischer  Gedankenverknüpfung  beruht  das 
Dilemma  von  Protagoras  und  Euathlus.  Den  empfangenen 
Unterricht  sollte  Euathlus  nach  dem  Gewinn  seines  ersten 
Processes  honoriren;  da  er  aber  nie  einen  anfing,  so  bekam 
Protagoras  nichts  und  verklagte  ihn.  Gewann  oder  verlor 
Euathlus  diesen  Proceß,  so  war  er  allemal  durch  den 
Urtheilsspruch  zu  dem  verpflichtet  oder  von  dem  los- 
-gesprochen,  wovon  der  Vertrag  ihn  umgekehrt  lossprach 
oder  wozu  er  ihn  verpflichtete.  Man  hat  mehrfach  hier 
die  Lösung  so  versucht,  daß  man  Euathlus  diesen  ersten 
Proceß  gewinnen  ließ,  weil  er  vorher  keinen  andern  ge- 
wonnen, mithin  jetzt  noch  nicht  zahlungspflichtig  war; 
hierauf  habe  dem  Protagoras  eine  zweite  Klage  freigestanden, 
welche  nun  zur  Verurtheilung  seines  Schülers  hätte  führen 
müssen.  Dies  heißt  wohl  die  Logik  von  einer  Ungereimtheit 
befreien,  um  sie  der  Jurisprudenz  zum  Geschenk  zu  machen. 
Ich  will  dieser  nicht  vorgreifen;  aber  ich  denke  mir,  sie 
würde  in  dem  Verhalten  des  Euathlus  eine  dolose  Ver- 
eitelung des  Eintritts  einer  Bedingung  sehen,  die  ihn  zur 
Erfüllung  einer  Verpflichtung  genöthigt  hätte;  könnte  man 
daher  nur  einen  Zeitpunkt  bestimmen,  von  welchem  an 
diese  Auslegung  seines  Benehmens  nothwendig  gelten  müßte, 
so  würde  man  wohl,  da  auch  Protagoras  doch  nicht  aus 
dem  Contract  klagen  kann,  auf  die  durch  den  empfangenen 
Unterricht  dem  Euathlus  sachlich  erwachsene  Verbindlich- 
keit zurückgehen  und  ihn  zur  Zahlung  mit  derselben  Wirkung 
verurtheilen,  als  wäre  der  zweideutige  Vertrag  nie  in  der 
Welt  gewesen. 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  353 

Siebentes  Kapitel. 

Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen. 

251.  Was  mit  Nothwendigkeit  aus  Vorstellungen  folgt, 
die  wir  selbst  verbunden  haben  und  deren  Inhalt  und  Ver- 
knüpfungsweise wir  deshalb  vollständig  übersehen,  ist 
einem  beweisenden  oder  demonstrativen  Verfahren  zugäng- 
lich, das  im  Wesentlichen  von  allgemeineren  Wahrheiten  zu 
besonderen  Sätzen  als  ihren  Anwendungen  herabsteigt.  Die 
äußere  Welt  umgibt  uns  dagegen  mit  Verknüpfungen  von  Er- 
scheinungen, deren  allgemeine  Zusammenhangsbedingungen 
sie  uns  verschweigt;  von  den  particularen  Sätzen,  durch 
die  wir  jede  Einzelerfahrung  zunächst  auszusprechen  hätten, 
haben  wir  einen  Rückweg  zu  den  allgemeineren  zu  suchen, 
deren  Beispiele  sie  sind.  Wir  haben  den  Schluß  durch 
Induction  als  die  einfachste  Form  einer  solchen  Gedanken- 
bewegung kennen  gelernt;  unter  dem  Namen  der  induc- 
tiven  Logik  hat  man  sich  daher  in  unserer  Zeit  gewöhnt, 
das  sehr  mannigfaltige  Ganze  der  Verfahrungsweisen,  die 
zur  Lösung  dieser  Aufgabe  dienen,  der  deductiven  oder  de- 
monstrativen Logik,  zum  Theil  nicht  ohne  merkliche  Ge- 
ringschätzung der  letzteren,  entgegenzusetzen.  So  gewiß 
indessen  die  inductiven  Methoden  die  wirksamsten  Hülfs- 
mittel  zur  Gewinnung  neuer  Wahrheit  enthalten,  so  beruhen 
sie  doch  gänzlich  auf  den  Ergebnissen  der  demonstrativen 
Logik;  was  diese  über  die  Triftigkeit  der  Schlüsse,  über  die 
Umkehrbarkeit  und  Contraposition  der  Urtheile,  über  die 
Formen  des  Beweises  lehrte,  das  ist  die  Quelle  aller  jener 
Vorsichtsmaßregeln,  durch  welche  das  inductive  Verfahren 
jeden  Schritt  seines  Weges  von  den  gegebenen  Wahr- 
nehmungen zu  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Wirklichen 
so  sehr  als  möglich  zu  sichern  sucht. 

252.  Einer  bleibenden  Schwierigkeit  glaubt  man  so- 
gleich am  Anfange  dieses  Weges  zu  begegnen :  Erfahrung 
könne  keine  allgemeingültigen  Erkenntnisse  liefern.  Gewiß 
wird  dieser  oft  gehörte  Satz  seinen  guten  Sinn  haben; 
aber  in  dieser  F;assung  würde  er  doch  einen  in  Wirklich- 
keit nicht  vorhandenen  Werthunterschied  Zwischen  der  Er- 
fahrung als  der  einen  und  einer  apriorischen  Gewißheit 
als  der  andern  Erkenntnißquelle  behaupten.  Ganz  umgekehrt 
versteht  es  sich  vielmehr  von  selbst,  daß  jede  Erfahrung, 

Lotze,  Logik.  23 


354  Siebentes  Kapitel. 

deren  zusammengehöriger  Inhalt  sich  ohne  Mangel  und 
ohne  Ueberschuß  in  der  Form :  S  ist  P  ausdrücken  ließe, 
auch  wenn  wir  sie  nur  einmal  gemacht  hätten,  sogleich 
den  Werth  eines  allgemeinen  Urtheils  besitzen  müßte.  Denn 
das  Gesetz  der  Identität  bürgt  uns  dafür,  daß  an  dem- 
selben S,  wenn  es  in  einer  zweiten  Erfahrung  uns  zu 
wiederholter  Wahrnehmung  käme,  dasselbe  Prädicat  P  weder 
fehlen,  noch  durch  ein  anderes  Q  ersetzt  werden  könnte. 
Aber  eben  dies,  was  wir  hier  voraussetzen,  einen  Satz 
nämlich,  der  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  ein  voll- 
ständiges Subject  S  mit  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  seinem  vollständigen  Prädicat  P  verbände,  eben  dies 
pflegt  uns  die  Erfahrung  unmittelbar  nicht  in  Form  einer 
Wahrnehmung  darzubieten.  Von  dem  wahren  und  wirk- 
lichen Subjecte  Z,  an  das  eine  von  uns  beobachtete  Er- 
scheinung gebunden  ist,  nehmen  wir  einzelne  ßestand- 
theile  s  nicht  wahr,  die  dennoch  zur  Begründung  der- 
selben nothwendig  gehören;  der  Rest  S  aber,  der  in  unsere 
Beobachtung  fällt,  pflegt  für  uns  untrennbar  mit  andern 
Bestandtheilen  o  verbunden  zu  sein,  die  in  keinerlei  Be- 
ziehung zu  dieser  Begründung  stehen ;  von"  dem  wahren 
Prädicat  11  anderseits,  das  jenem  Z  zukommen  würde, 
bleibt  uns  nicht  minder  mancher  Zug  p  verborgen,  während 
der  beobachtbare  Rest  P  mit  andern  fremdartigen  An- 
hängseln TT  verknüpft  ist,  die  von  andern,  in  d  i  e  s  e  r  Sache 
bedeutungslosen,  aber  zugleich  wirksamen  Bedingungen  ab- 
hängen. Denken  wir  ergänzt  und  abgezogen,  was  zu  ergänzen 
und  abzuziehen  ist,  so  würde :  S  -|-  s  —  o  ist  P  +  P  —  '^, 
oder:  Z  ist  11,  der  vollständige  Ausdruck  der  Thatsache 
sein,  deren  unvollständige  Beobachtung  wir  zuerst  durch 
den  Satz:  S  ist  P,  aussprachen.  Nur  für  den  Inhalt  jenes 
vollständigen  Satzes :  Z  ist  H,  falls  er  in  einer  besonders 
glücklichen  Wahrnehmung  gegeben  wäre,  würde  der  Satz 
der  Identität  Bürgschaft  allgemeiner  Gültigkeit  in  allen 
Wiederholungsfällen  leisten;  nicht  für  den  des  unvoll- 
ständigen :  S  ist  P,  der  zusammenstellt,  was  so  nicht  zu- 
sammengehört. 

253.  Diese  Betrachtung  ist  nicht  müßig;  man  würde 
ohne  sie  einen  für  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  un- 
entbehrlichen logischen  Rechtsgebrauch  nicht  verstehen. 
Ueberall  nämlich,  wo  wir  sicher  überzeugt  sind,  das  ganze 
vollständige  Subject  Z,  von  dem  ein  noch  zu  bestimmendes 
Prädicat  II  erwartet  wird,  und  zugleich  nichts  anderes 
außer  Z,  in  unserer  Wahrnehmung  vorzufinden,  überall  da 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  355 

zweifeln  wir  nicht,  daß  eine  einzige  Beobachtung,  die  uns 
dieses  11  kennen  lehrt,  eine  ganz  allgemeine  Bedeutung 
habe,  und  daß  in  jedem  Wiederholungsfalle  an  dasselbe  2 
sich  auch  unveränderlich  dasselbe  IT  knüpfen  werde.  Der 
Chemiker,  der  gewiß  ist,  in  einem  anzustellenden  Versuche 
nur  einen  ganz  bestimmten  Körper  unter  den  Händen  zu 
haben,  auf  ihn  nur  ein  bestimmtes  Reagens  einwirken  zu 
lassen  und  alle  fremdartigen  Bedingungen  von  dem  Ein- 
fluß auf  sein  erwartetes  Resultat  ausgeschlossen  zu  haben, 
bezweifelt  nicht,  daß  die  Reaction,  die  er  in  diesem  einen 
Versuche  beobachtet,  sich  ganz  identisch  in  allen  Wieder- 
holungsfällen einstellen  werde;  die  singulare  Wahrnehmung 
hat  für  ihn  sogleich  die  Geltung  einer  allgemeinen  Wahr- 
heit. Der  Physiker,  welcher  eine  Messung  vornimmt,  weiß 
recht  wohl,  mit  wie  vielen  Fehlerquellen  er  zu  kämpfen 
hat;  nachdem  er  aber  diese  eliminirt  hat,  kommt  es  ihm 
doch  nicht  in  den  Sinn,  seine  gereinigte  Beobachtung,  blos 
weil  sie  zuletzt  aus  sinnlicher  Erfahrung  stammt,  als  eine 
nur  für  diesen  Augenblick  gültige  zu  betrachten,  so  daß 
dasselbe  gemessene  Object  unter  denselben  Umständen  ein 
zweites  Mal  vieleicht  eine  andere  Größe  darbieten  würde. 
Es  ist  nicht  nöthig,  hierüber  weitläufiger  zu  sein.  Jede 
Möglichkeit,  aus  Erfahrungen  allgemeine  Erkenntnisse  zu 
entwickeln,  aber  auch  jeder  Sinn,  den  man  mit  dem  Be- 
griffe selbst  eines  Gesetzes,  abgesehen  von  seiner  Auffind- 
barkeit, verbinden  könnte,  würde  zu  Grunde  gehen  mit  der 
Annahme,  daß  jede  Einzelbeobachtung  nur  für  sich,  aber 
nicht  für  ihre  gleichen  Wiederholungen  gelte,  daß  jede  An- 
gabe eines  Instruments  nur  für  den  Augenblick  richtig  sei, 
in  dem  sie  erhalten  wird,  nicht  für  die  ganz  gleichen  Um- 
stände eines  zweiten  Augenblicks,  daß  überhaupt  von 
Gleichem  unter  gleichen  Bedingungen  Ungleiches  gelten 
könne.  Die  ganze  Kunst  des  inductiven  Verfahrens,  welches 
zu  allgemeinen  Gesetzen  gelangen  will,  beruht  nun  auf  dem 
Scharfsinn,  mit  welchem  es  aus  dem  unreinen  und  ver- 
worrenen Material  unserer  Wahrnehmungen  von  der  Form : 
S  ist  P,  die  reinen  und  in  sich  zusammengehörigen  Sätze 
von  der  Form :  Z  ist  H,  zu  entwickeln  versteht. 

254.  Die  einzelnen  hierzu  gehörigen  Schritte  versuchen 
wir  in  zusammenhängender  Reihe  zu  schildern.  In  der  un- 
geschiedenen Masse  Q  der  unzähligen  Eindrücke,  die  wir 
zugleich  oder  nacheinander  empfangen,  einzelne  Gruppen 
A  B  C  zu  unterscheiden  und  jede  von  diesen  als  eine  in 
sich    zusammengehörige   Wahrnehmung   zu    betrachten, 

23* 


3Ö6  Siebentes  Kapitel. 

kann  uns  nur  die  Thatsache  veranlassen,  daß  die  so  zu- 
sammengefaßten Eindrücke  als  bleibend  verbundene  sich 
von  dem  Hintergrunde  der  wechselnden  übrigen  abheben, 
oder  wiederholt  zusammen  auftretend  mit  dem  gleich- 
mäßigen Bestand  dieser  anderen  contrastiren.  Hierin  liegt 
noch  keine  Handlung  des  Denkens ;  es  ist  der  mechanische 
Vorstellungslauf,  der  zuerst  diese  Einzelwahrnehmungen  zu 
Gegenständen  unserer  unwillkürlichen  Aufmerksamkeit  und 
zu  Stoffen  des  künftigen  Denkens  aussondert;  und  zwar 
ebenso  oft  falsch  als  richtig,  denn  häufig  genug  findet  in 
ihnen  die  spätere  Ueberlegung  Zusammengehöriges  unvoll- 
ständig vereinigt  und  mit  Nichtzugehörigem  gemischt.  Ganz 
ähnliche  Gründe  veranlassen  uns  ferner,  auch  in  jeder 
einzelnen  dieser  Gruppen  A  oder  B  die  in  ihnen  enthaltene 
Summe  von  Eindrücken  zu  spalten  und  einen  Theil  der- 
selben als  ein  Subject  zu  fassen,  zu  dem  der  Rest  der 
übrigen  als  Prädicat  gehört.  Auch  dies  ist  anfangs  eine 
Leistung  des  psychischen  Mechanismus;  sehr  bald  aller- 
dings vertieft  das  sich  regende  Denken  diese  Verknüpfung 
einer  ersten  Vorstellung  mit  einer  sich  an  sie  anschließen- 
den zweiten  zu  dem  sachlichen  Gegensatz  eines  seiner 
Natur  nach  selbständigen  Subjectes  zu  seinem  zugehörigen 
und  unselbständigen  Prädicat;  indessen  bleibt  es  doch  stets 
dem  mechanischen  Verlauf  der  Vorstellungen  überlassen, 
uns  in  der  Anwendung  dieses  allgemeinen  logischen  Neben^ 
gedankens  zu  leiten  und  zu  bestimmen,  welche  Gruppe  von 
Eindrücken  im  Einzelfalle  in  den  Rang  des  Subjects,  welche 
andere  in  den  des  Prädicats  einzutreten  hat.  So  gegliedert 
würde  nun  der  Gesanimtinhalt  einer  Wahmehniüng  A  oder  B 
sich  bereits  in  der  Form  eines  Urtheils,  aber  eines  völlig 
singularen  Urtheils,  ausdrücken  lassen;  was  hier  als  Sub- 
ject s^  oder  s^  unterschieden  wird,  ist  nichts  als  eine 
völlig  bestimmte  Gruppe  von  Einzeleindrücken,  denn  diese 
allein  kann  unmittelbarer  Gegenstand  der  Wahrnehmung 
sein;  daß  jedes  dieser  beiden,  s^  oder  s^,  sich  als  Exemplar 
eines  Allgemeinbegriffes  S  auffassen  lasse,  ist  ein  Neben- 
gedanke, der  nicht  aus  der  einzelnen  Wahrnehmung,  sondern 
nur  aus  der  bald  beginnenden  Vergleichung  vieler  ent- 
springen kann.  Und  auch  hier  wieder  ist  es  im  Anfang 
der  von  allgemeinen  Gesetzen  mechanisch  bedingte  Verlauf 
unserer  Vorstellungen,  der  aus  den  verschiedenen  Subjecten 
s^,  S-. .  die  engere  ihnen  gemeinsame  Merkmalgruppe  für 
unsere  Aufmerksamkeit  verstärkt  als  ein  allgemeines  Bild 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  357 

hervortreten  läßt,  das  wir  nun  mit  dem  Namen  eines  S 
bezeichnen  und  jene  Einzelsubjecte  in  unserer  Erinnerung 
vertreten  lassen.  Auch  diese  Auffassung  vertieft  später 
das  Denken;  das  allgemeine  Bild,  das  nur  thatsächlich 
Gemeinsames  der  verschiedenen  Einzelsubjecte  vorstellte, 
deutet  es  um  in  einen  allgemeinen  Begriff,  der  als  ge- 
setzgebende Regel  Zusammengehöriges  verknüpft;  aber  doch 
bleibt  es  für  die  anfänglichen  Anwendungen  dieses  logischen 
Nebengedankens  wieder  der  Verlauf  der  Vorstellungen,  der 
darüber  entscheidet,  welche  Bestandtheile  der  verglichenen 
Subjecte  als  fühlbare  Modificationen  desselben  Allgemeinen 
und  zugleich  als  Eindrücke  größerer  Lebhaftigkeit  sich  zu 
dem  allgemeinen  Bilde  oder  Begriffe  vereinigen,  welche 
anderen,  einander  gegenseitig  aufhebend  oder  unsere  un- 
willkürliche Aufmerksamkeit  weniger  erregend,  von  ihm 
ausgeschlossen  bleiben.  Und  diese  Leistung  wird  im  Ganzefl 
wohl  häufiger  richtig  als  falsch  ausgeführt;  ohne  hier  weiter 
die  psychologische  Entwicklungsgeschichte  unserer  Begriffe 
zu  verfolgen,  können  wir  behaupten,  daß  von  früh  an  die 
eigenen  Verschiedenheiten  der  sinnlichen  Eindrücke,  aus 
denen  zuletzt  jede  Wahrnehmung  besteht,  für  uns  an  Wich- 
tigkeit hinter  die  Verschiedenheiten  ihrer  Verbindungsweise 
und  ihrer  Verhältnisse  zurücktreten.  Ueber  den  Unterschied 
der  Farben  sieht  schon  das  Kind  hinweg  und  erkennt  in 
rother  Färbung  leicht  die  gesehenen  Schriftzüge  als  die- 
selben, die  es  früher  schwarz  kennen  gelernt  hat;  die  All- 
gemeinbilder der  Bäume  und  der  Thiere,  die  ihm  wenige 
Beispiele  geliefert  haben,  fassen  doch  schon  ihm  das 
Wesentliche  so  richtig  zusammen,  daß  neue  und  ungewohnte 
Formen  späterer  Wahrnehmung  sich  ihnen  mit  Leichtigkeit 
einordnen.  Wie  die  dennoch  begangenen  Fehler  verbessert 
werden,  haben  die  Betrachtungen  zu  zeigen,  zu  denen  wir 
eben  übergehen  wollen  und  deren  Ausgangspunkt  wir  durch 
die  vorigen  festzustellen  suchten :  die  Einzelwahrnehmungen, 
welche  das  inductive  Verfahren  weiter  zu  verknüpfen  suchf, 
sind  nicht  blos  Eindrücke,  die  wir  leiden;  sie  sind 
vielmehr  logisch  bereits  so  weit  bearbeitet,  daß  wir  nicht 
nur  ihren  Inhalt  in  ein  Subject  und  ein  Prädicat  scheiden, 
sondern  auch  das  erste  einem  Allgemeinbegriff  S  bereits 
untergeordnet  haben,  oder  ihm  mit  einer  Auswahl  von 
Allgemeinbegriffen  entgegenkommen,  unter  deren  einen  wir 
es  unterzuordnen  suchen. 

255.  Beginnen  wir  von  dem  letzten  Falle.     Ein  völlig 
neues,  noch  unbekanntes  singulares  Subject  s™  sei  uns  in 


3SS  Siebentes  Kapitel. 

einer  Wahrnehmung  durch  sinnliche  Eindrücke  p"^  q^  r'" 
gegeben,  und  sowohl  diese  Einzelmerkmale  als  ihre  Ver- 
knüpfung seien  anschaulich  völlig  klar.  Dennoch  begnügen 
wir  uns  mit  dieser  Anschauung  nicht,  die  an  sich  selbst 
nichts  Zweifelhaftes  enthält;  wir  ruhen  erst,  wenn  wir 
wissen,  ob  wir  den  neuen  Gegenstand  Thier  oder  Pflanze 
nennen  dürfen.  In  diesem  Verlangen  liegt  ein  doppeltes 
Interesse:  das  des  reinen  Denkens,  für  welches  das  that- 
sächliche  Zusammensein  der  beobachteten  Merkmale  erst 
durch  Unterordnung  unter  jene  Allgemeinbegriffe  in  eine 
berechtigte  Zusammengehörigkeit  verwandelt  wird;  für  uns 
viel  wichtiger  aber  jetzt  der  praktische  Wunsch,  von  dem 
beobachteten  Thatbestande  aus  durch  den  Allgemeinbegriff 
hindurch  die  Berechtigung  zur  Ergänzung  des  nicht  beob- 
achteten zu  erlangen.  Denn  der  Name  Pflanze  oder  Thier 
würde  für  das  s°^  ein  Titel  ohne  Einkünfte  sein,  wenn  wir 
uns  nicht  vorbehielten,  aus  ihm  für  s^^  den  Anspruch  auf 
eine  Menge  Merkmale  abzuleiten,  welche  die  unmittelbare 
Wahrnehmung  an  diesem  nicht  gefunden  hatte.  In  dieser 
Lage  befinden  wir  uns  den  Gegenständen  der  Wirklichkeit 
gegenüber  beständig ;  denn  jede  Wahrnehmung,  auch  wenn 
sie  genau  genug  wäre,  um  alle  gegenwärtigen  Merkmale 
eines  s"  aufzufassen,  ist.  doch  zeitlich  beschränkt;  sie  kann 
niemals  das  zukünftige  Verhalten  des  beobachteten  Objects 
mit  darstellen,  nur  selten  und  nie  vollständig  zeigen,  wie 
e^  unter  anderen  wechselnden  Bedingungen  sich  ändern 
würde.  Dies  ist  es,  was  wir  an  dem  beobachteten  s°^  durch 
seine  Unterordnung  unter  die  Begriffe  der  Pflanze  oder  des 
Thieres  ergänzen;  beide  Begriffe,  aus  unzähligen  früheren 
Beobachtungen  entsprungen,  enthalten  die  Gesammtheit  der 
simultanen  Merkmale,  die  in  einer  einzigen  Wahrnehmung 
höchst  selten,  und  der  successiven,  die  sich  in  einer  solchen 
niemals  erschöpfen  lassen;  nur  durch  die  Vereinigung  dieser 
aller  ist  uns  aber  das  Wesen  des  s™  ausreichend  bestimmt, 
dessen  einmalige  Wahrnehmung  uns  immer  nur  ein  un- 
deutbares Bruchstück  eines  zusammengehörigen  Ganzen 
liefern  würde.  Formell  ist  das  Verfahren,  dem  wir  hier 
folgen,  das  einer  unvollständigen  Analogie;  uutriftig 
mithin  nach  dem  Maßstab  der  reinen  Logik,  die  uns  nicht 
yerstattet,  ad  subaltemantem  aus  der  beobachteten  Gleich- 
heit einiger  Merkmale  des  S  und  s°^  auf  die  Gleichheit 
aller  zu  schließen,  die  nöthig  wäre,  um  s™  dem  S  unter- 
zuordnen. Wie  durchgehend  unser  tägliches  Leben  auf  der 
Anwendung  dieser  Analogie  beruht,  wie  wir  nur  durch  sie 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  359 

zu  dem  sorglosen  Gebrauch  aller  nützlichen  und  schädlichen 
Stoffe,  nur  durch  sie  zu  der  Ueberzeugung  von  'dem  Dasein 
anderer  uns  gleichartigen  Geister  und  von  gleichartigen 
inneren  Beweggründen  ihrer  Aeußerungen  kommen,  dies 
alles  bedarf  nur  der  Andeutung;  praktisch  fragt  es  sich, 
wodurch  die  bloße  Wahrscheinlichkeit  solcher  Folgerungen 
dem  Werthe  der  Gewißheit  angenähert  werden  kann.  Da 
nun  die  Gleichheit  aller  Merkmale  der  vollständige  Rechts- 
grund der  Unterordnung  des  s'"  unter  S  sein  würde,  so 
folgt  natürlich,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  der  Berechtigung 
zu  dieser  mit  der  Anzahl  der  gleichbefundenen  Merkmale 
zunimmt.  Man  bemerkt  sogleich,  daß  der  Werth  dieses 
Satzes  sehr  geschmälert  wird  durch  Berücksichtigung  der 
Verschiedenwerthigkeit  der  Merkmale  selbst.  Aber  es  bliebe 
doch  im  Allgemeinen  eine  leere  formelle  Anweisung,  auf 
die  Gleichheit  der  wesentlichen  Merkmale  hauptsächlich  zu 
achten,  so  lange  man  sie  von  unwesentlichen  nicht  zu 
scheiden  wüßte.  Nur  die  Erfahrung  verhilft  uns  hierzu; 
selbst  die  wenigen  allgemeineren  Regeln,  die  man  noch 
aufstellen  könnte,  stammen  aus  ihr.  Denn  nur  sie  lehrt 
ans,  daß  es  eine  Anzahl  von  Merkmalen  gibt,  die  aus  weit- 
verbreiteten Ursachen  an  äußerst  verschiedenartigen  Gegen- 
ständen der  Wirklichkeit  leicht  entstehen  und  deswegen 
Weder  selbst  als  unterscheidende  Kennzeichen  für  die  Eigen- 
thümlichkeit  eines  zusammengehörigen  Begriffsinhalts 
dienen  können,  noch  durch  ihre  Modificationen  wesentliche 
Unterschiede  in  den  Beispielen  desselben  hervorbringen; 
nur  die  Erfahrung  lehrt  uns,  daß  im  Allgemeinen  die  Be- 
deutung bloßer  Größendifferenzen  der  Merkmale  gering  ist 
und  an  Wichtigkeit  zurücksteht  hinter  den  Verschiedenheiten 
der  formellen  Verbindung,  in  welche  wir  eine  Anzahl  von 
Beziehungspunkten  gebracht  finden;  die  Erfahrung  endlich 
zeigt  uns,  daß  durch  die  Wirklichkeit  hindurch  gewisse 
allgemeine  Bedingungen  wirken,  die  an  vielerlei  Substraten, 
auf  welche  sie  treffen,  gleichartige  Veränderungen  hervor- 
zubringen streben,  und  daß  leben  deshalb  als  charakteristische 
Kennzeichen  für  die  Eigenthümlichkeit  einer  abgeschlossenen 
A]ft  nur  die  unerwarteten  Formen  der  Rückwirkung  gelten 
können,  die  jede  vermöge  der  Weise,  in  welcher  sie  ver- 
schiedene Beziehungspunkte  in  sich  vereinigt,  unter  diesen 
gemeinsamen  Bedingungen  entfaltet;  und  wieder  ist  es  nur 
die  Erfahrung,  die  uns  in  Bezug  auf  einzelne  Objecte  der 
Wahrnehmung  Ausnahmen  von  diesen  allgemeinen  Regeln 


360  Siebentes  Kapitel, 

aufzeigt  und  uns  überzeugt,  daß  zuweilen  höchst  unbe- 
deutende Variationen  eines  scheinbar  ganz  unwesentlichen. 
Merkmals  doch  sichere  Kennzeichen  eines  durch  die  ganze 
Natur  zweier  Begriffsinhalte  hindurchgehenden  Unterschiedes 
sind.  Endlich  müssen  wir  hinzufügen,  daß  unsere  Be- 
mühungen, neue  Gegenstände  der  Wahrnehmung  bekannten 
Allgemeinbegriffen  unterzuordnen,  durch  dieselben  Aus- 
sagen der  Erfahrung  nicht  selten  zu  dem  entgegengesetzten 
Erfolg  gedrängt  werden:  jene  Allgemeinbegriffe  selbst,  des 
Thieres  der  Pflanze  des  Körpers,  ändern  sich  erweitern  oder 
verengern  ihren  Inhalt  und  ihre  Grenzen,  je  nachdem  fort- 
schreitende Sachkenntniß  in  zweifelhaften  Fällen,  die  ihnen 
zuzurechnen  schienen,  bleibende  Unterschiede  von  dem 
Habitus  der  zweifellosen  findet,  oder  in  denen,  die  ihnen 
nicht  zuzugehören  das  Ansehen  hatten,  doch  eine  stetige, 
durch  keine  Grenze  unterbrochene  Annäherung  zu  dem  Ge- 
sammtcharakter  der  bekannten  sicheren  Arten  bemerkt.  Man 
sieht  also,,  daß  wir  die  richtige  Ausführung  der  unvoll- 
ständigen Analogie,  durch  welche  wir  ein  wahrgenommenes 
s°^  einem  Gattungsbegriff  S  unterordnen,  nicht  von  all- 
gemeinen logischen  Regeln,  sondern  von  der  Sachkenntniß 
erwarten.  In  der  That  muß  man  die  angewandte  Logik 
selbst  als  eine  wissenschaftliche  Lehre  noch  von  ihrer  An- 
wendung als  einer  wissenschaftlichen  Thätigkeit  unter- 
scheiden. Jene  kann  nur  allgemeine  Gesichtspunkte  auf- 
stellen, deren  Bewußtsein  sie  der  Ausübung  der  letztem 
verdankt;  sie  kann  daher  nicht  mit  dem  Anspruch  auf- 
treten, durch  ihre  Regeln  das  gesammte  wirkliche  Denken, 
als  finge  es  jetzt  seine  ganze  Arbeit  von  vom  erst  an,  leiten 
zu  wollen;  sie  wendet  sich  nicht  an  den  Geist,  der  noch 
gar  keine  Begriffe  hat,  sondern  an  den,  der  im  Besitz  einer 
mannigfach  gegliederten,  durch  eigne  Erfahrung  und  Ueber- 
lieferung  erworbenen  Vorstellungswelt  ist;  sie  hat  nicht 
die  psychologisch  interessante  Aufgabe,  zu  erörtem,  wie 
alle  diese  Begriffe  entstanden  sind,  sondern  nur  die  andere, 
nachzuweisen,  was  an  den  entstandenen  und  vorhandenen 
richtig  und  sicher  ist,  und  wie  das  Irrige  und  Fehlerhafte, 
das  diesem  gegebenen  Resultate  einer  langen  Bildungsge- 
schichte noch  anhängt,  in  Zukunft  verbessert  und  das  noch 
Zweifelhafte  der  Gewißheit  genähert  werden  kanii. 

256.  Ist  nun,  wie  wir  jetzt  annehmen,  die  Einzelwahr- 
nehmung A  so  weit  logisch  geformt,  daß  sie  ihr  anschau- 
liches singulares  Subject  s^"  als  Exemplar  eines  Allgemein- 
begriffs S  auffaßt,  so  wird  sie  uns  dann  nicht  weiter  be- 


Allgemeine  Sätze  aus-  Wahrnehmungen.  361 

schäftigen,  wenn  sie  an  s™  vollständig  oder  unvollständig 
nur  die  Merkmale  findet,  die  dem  S  zukommen;  sie  wird 
dagegen  Veranlassung  neuen  Fortschrittes,  wenn  sie  mit's™ 
ein  Merkmal  M  verbunden  zeigt,  das  zu  dem  uns  bekannten 
Inhalt  von  S  nicht  gehört.  Drei  mögliche  Fälle  lehrt  uns 
dann  die  Erfahrung  unterscheiden,  auf  die  ich  mich  eben 
berief  (2ö5).  Veränderliche  Bedingungen,  zufällige  Um- 
stände, können  zuerst  unserem  wahrgenommenen  s°^  eine 
Eigenschaft,  wirkliche  oder  scheinbare,  gegeben  haben,  die 
es  unter  andern  Umständen  nicht  zeigen  würde;  über  vieles 
Derartige  sehen  wir,  durch  frühere  Erkenntniß  belehrt,  still- 
schweigend hinweg  und  lassen  uns  durch  die  Verschieden- 
heiten der  Anblicke^  die  uns  derselbe  Gegenständ  nacÜ 
Lage  Stellung  Bewegung  Entfernung  Beleuchtung  gewährt, 
nicht  an  der  Ueberzeugung  von  seiner  Identität  und  seiner 
Uebereinstimmung  mit  dem  Gattungsbegriff  S  irre  machen; 
zweifelhaftere  Fälle  entscheiden  wir  dadurch,  daß  wir  uns 
Beobachtungen  desselben  Gegenstandes  unter  verschiedenen 
Bedingungen  zu  verschaffen  suchen ;  nur  das  M,  welches 
unter  allen  Umständen  ihm  verbleibt,  wird  als  beständiges 
Merkmal  seiner  Natur  anzusehen  sein.  Aber  es  bleibt  noch 
unentschieden,  ob  es  dann  seinen  Grund  in  der  individuellen 
Natur  dieses  doch  immer  noch  singularen  Subjectes  s"^ 
oder  in  der  allgemeinen  des  Gattungsbegriffs  S  hat,  dessen 
Art  oder  Beispiel  das  beobachtete  s°^  ist.  Zur  Entscheidung 
zwischen  diesem  zweiten  und  dritten  Fall  bedienen  wir  uns 
der  unvollständigen  Induction,  welche  s"^  mit  dem 
Verhalten  anderer  bekannten  Beispiele  s^,  s^. .  desselben  all- 
gemeinen S  vergleicht,  und  die  in  den  meisten  Fällen  da- 
durch angeregt  wird,  daß  ungesucht  eine  Reihe  von  Einzel- 
beobachtungen s^M  s^M  s^M  von  selbst  sich  uns  aufdrängte 
und  die  Vermuthung  erweckte,  dder  Grund  des  M  sei  all- 
gemein in  der  Natur  des  S  zu  finden,  an  dessen  ver- 
schiedenen Beispielen  wir  es  beobachten.  Widerlegt  wird 
diese  Vermuthung  sogleich,  wenn  sich  ein  einziges  Sub- 
ject  s^  findet,  das  unter  derselben  Mannigfaltigkeit  von  Um- 
ständen das  Merkmal  M  nicht  hat,  unter  welchen  es  den 
Subjecten  der  übrigen  Wahrnehmungen  zukam;  bestätigt 
aber  wird  die  Vermuthung  des  allgemeinen  Satzes:  alle  S 
seien  M,  dadurch  nicht  sofort,  daß  alle  der  Wahrnehmung 
zugänglich  gewesenen  Beispiele  des  S  dies  Prädicat  M  be- 
sitzen ;  es  bleibt  eine  untriftige  Folgerung  ad  subalternantem, 
aus  einer  Anzahl  particularer  Fälle,  wie  groß  sie  auch  sein 


362  Siebentes  Kapitel. 

mag,  auf  die  allgemeine  Geltung  dessen  zu  schließen,  was 
in  ihnen  galt.  Und  doch  sind  wir,  der  Wirklichkeit  gegen- 
über, zu  dem  Versuch  dieser  Folgerung  genöthigt;  denn 
wenn  selbst  die  Wahrnehmung  alle  vorhandenen  Beispiele 
einer  Gattung  umfassen  könnte,  die  künftigen  entgehen  ihr 
stets ;  es  bleibt  mithin  auch  hier  nur  die  Aufgabe,  wenigstens 
die  Wahrscheinlichkeit  dieser  unvollständigen  Induction  so 
weit  als  möglich  zu  steigern.  Zwei  verwandte  Regeln 
dienen  hierzu.  Wir  müssen  zuerst  von  einer  großen  An- 
zahl der  beobachteten  Einzelsubjecte  s  ausgehen;  je  größer 
diese  Zahl,  desto  mannigfaltiger  sind  die  äußeren  Be- 
dingungen, die  auf  sie  einwirken,  und  deren  bestimmenden 
Einfluß  wir  hierdurch  eliminiren;  das  M,  das  allen  diesen 
Subjecten  dennoch  gemeinsam  bleiben  wird,  hat  nicht  äußer- 
halb ihrer,  sondern  in  ihrer  eignen  Natur  seinen  Grund. 
Wir  werden  zweitens  die  beobachteten  Subjecte  so  wählen, 
daß  ihre  specifischen  oder  individuellen  Differenzen  die 
größten  innerhalb  ihrer  Gattung  oder  Art,  des  allgemeinen  S, 
möglichen  sind;  wir  eliminiren  so  den  Einfluß,  den  zur  Er- 
zeugung des  gemeinsamen  Prädicates  besondere,  durch  die 
Natur  des  allgemeinen  S  nicht  gebotene  Aehnlichkeiten  der 
beobachteten  Einzelsubjecte  haben  könnten;  das  M,  das 
trotz  diesen  Unterschieden  ihnen  dennoch  gemeinsam  zu- 
kommt, wird  nur  in  dem  Character  der  Gattung  selbst  be- 
gründet und  damit  der  gewünschte  allgemeine  Satz :  alle  S 
sind  M,  gerechtfertigt  sein. 

257.  Die  reine  Logik  unterschied  Analogie  und  Induc- 
tion; die  erste  schloß  von  der  Gleichheit  vieler  Merkmale 
in  zwei  Subjecten  auf  die  Gleichheit  aller  in  beiden;  die 
letztere  aus  dem  gleichartigen  Verhalten  vieler  Beispiele 
einer  Art  auf  das  gleiche  Verhalten  aller ;  diesen  Wort- 
bedeutungen sind  wir  auch  hier  gefolgt,  und  es  war  dem- 
nach eine  Induction,  welche  aus  den  gegebenen  Prämissen 
s^M  s^M...  die  allgemeine  Folgerung  SM  zog.  Aber  dieses 
Verfahren  läßt  sich  doch  einfacher  ansehen.  Wenn  alle 
singularen  Subjecte  s^  s^...  unserer  wirklich  gemachten  Be- 
obachtungen darin  übereinstimmen,  einestheils  alle  die 
Merkmale,  die  zu  einem  S  gehören,  anderntheils  das  eine 
Merkmal  M  zu  besitzen,  so  können  wir  für  jedes  nicht- 
beobachtete  Subject  s^,  das  ebenfalls  alle  die  Merkmale 
eines  S  besäße,  auch  den  Besitz  des  einen  M  unmittelbar 
durch  Analogie  folgern;  durch  sie  stellen  wir  also  die  in 
der  Wahrnehmung  nicht  gegebenen  Prämissen  s^M  s^M. . . 
her,  deren  Subjecte  zusammen  mit  denen  der  beobachteten 


Aligemeine  Sätze  aus  Waiirnelimungen.  36S 

s^M-  s^M. . .  den  ganzen  Umfang  von  S  erschöpfen,  und.  das 
Geschäft  der  Induction  besteht  dann  nur  darin,  die  so  ge^ 
gebenen  und  supplirten  Einzelsätze  zu  dem  allgemeinen: 
alle  S  sind  M,  zu  summiren.  Es  hat  daher  wenig  prak- 
tischen Werth,  in  diesen  Anwendungen  der  Logik  den  An- 
theil  der  Induction  und  den  der  Analogie  zu  scheiden,  den 
loseren  Sprachgebrauch  zu  beanstanden,  der  beide  Aus- 
drücke verwechselt,  überhaupt  alle  die  Gedankenbewegungen, 
die  man  zuletzt  unter  den  weitschichtigen  Namen  einer 
Folgerung  bringen  kann,  auf  einfache  Typen  der  reinen 
Logik  zurückführen  zu  wollen.  Ob  ein  Seefahrer,  der  ein 
Land  ganz  umfahren  hat,  durch  Induction  Analogie  oder 
Subsumption  schließe,  daß  es  eine  Insel  sei,  möge  unter- 
suchen, wer  Zeitvertreib  wünscht.  Von  mehr  Interesse 
wäre  die  Frage,  wie  wir  zu  irgend  einem  allgemeinen  Satze  T 
über  die  Dreiecke  gelangen.  Jede  Construction,  durch  welche 
wir  T  beweisen,  gibt  unserer  Anschauung  doch  immer  nur 
ein  ganz  singulares  Dreieck  s^;  nur  von  ihm  zunächst,  und 
von  ihm  immer,  so  oft  wir  es  sich  selbst  gleich  construiren, 
würde  T  gelten.  Nun  kann  man  freilich  die  Zeichnung 
variiren ;  aber  wenn  man  auch  in  tausend  verschiedeiien 
Dreiecken  s^  s^  s^. .  den  Satz  T  bestätigt  fände,  so  ver- 
schwände doch  diese  Anzahl  gegen  die  unendliche  der  mög- 
lichen Dreiecke,  die  man  nicht  durchprobiren  kann.  Durch 
Summirung  der  Einzelanschauungen,  die  man  sich  durch 
diese  Construction  schafft,  kommt  man  mithin  hier  nicht 
zu  der  allgemeinen  Gültigkeit  von  T  für  alle  Dreiecke ;  man 
muß  berechtigt  sein,  jedes  einzelne  verzeichnete  als  ein 
Symbol  für  alle  anzusehen,  so  daß,  was  von  ihm  gilt, 
für  alle  durch  dasselbe  mitvertretenen  andern  gilt.  Die 
Berechtigung  hierzu  liegt  nicht  in  der  besonderen  Natur 
der  räumlichen  Anschauung,  die  vielmehr  nur  den  Inhalt 
des  Satzes  T  liefert;  sie  liegt  darin,  daß  wir  von  dem 
gezeichneten  Dreieck  in  unserem  Räsonnement  nur  die.- 
jenigen  Bestimmungen  beachten,  die  wir  durch  den  Gang 
der  Construction  selbst  hervorgebracht  haben,  also  nur  die 
Eigenschaft,  eine  ebene  Figur  zu  sein,  die  von  drei  grad- 
linigen Seiten  eingeschlossen  wird.  Die  wirklich  gezeichnete 
Figur  kann  niemals  blos  diese  Eigenschaft  allgemein, 
sondern  immer  nur  durch  Seiten  von  bestimmter  Länge 
und  durch  eine  Winkelsumme  von  bestimmter  Vertheilung 
darstellen;  aber  diesen  speciellen  Beschaffenheiten  ge- 
statten wir  keinen  Einfluß  auf  unsere  Folgerungen ;  wäre  ab- 
sichtslos unser  construirtes  Dreieck  rechtwinklig  oder  gleich- 


364,  Siebentes  Kapitel. 

seitig  gerathen,  so  würden  wir  die  Sätze,  die  hierdurch, 
aber  auch  nur  hierdurch,  gültig  würden,  als  solche  beiseit 
lassen,  die  sich  nicht  auf  das  von  uns  gemeinte  Subject 
bezögen.  Psychologisch  ist  es  ohne  Zweifel  der  unzer- 
gliederte  Eindruck  der  Aehnlichkeit,  der  uns  gleich  geneigt 
macht,  das  von  einem  verzeichneten  Dreieck  bewiesene  T 
auf  alle  Dreiecke  durch  Analogie  zu  übertragen ;  der  logische 
Grund,  es  mit  Recht  zu  thun,  liegt  in  dem  Bewußtsein,  daß 
alle  nicht  construirten  Dreiecke  doch  dem  allgemeinen  durch 
unsere  Construction  symbolisirten  Begriff  des  Dreiecks  sub- 
ordinirt  sind,  und  daß  wir  den  fraglichen  Satz  nur  aus 
diesem  Begriff,  ohne  Hinzunahme  anderer  Bedingungen,  in 
jener  einen  symbolischen  Darstellung  fließen  sahen. 

258.  Mit  der  Erlangung  allgemeiner  Sätze  von  der  Form : 
alle  S  sind  M,  hat  die  Induction  ihr  nächstes  Ziel  erreicht 
und  sie  tann  hierbei  stehen  bleiben,  namentlich  wo  es  sich 
um  praktische  Fragen  des  Lebens  handelt;  denn  in  diesen 
Fällen  kommt  es  uns  hauptsächlich  darauf  an,  daß  that- 
sächlich  ein  M  von  allen  Beispielen  eines  S,  von  allen 
Menschen  etwa,  gültig  sei;  dagegen  kümmert  es  uns 
weniger,  warum  es  von  ihnen,  und  ob  es  nur  von  ihnen 
und  nicht  vielleicht  auch  von  Thieren  gilt.  Der  theoretische 
tVieb  der  Erkenntniß  begnügt  sich  jedoch  nicht  mit  dieser 
bloßen  Anknüpfung  des  M  an  sein  nächstes  Subject,  er 
möchte  innerhalb  des  S  den  engeren  Merkmalkreis  auf- 
suchen, der  den  Grund  dieser  Anknüpfung  enthält,  und  der 
überall,  wo  er  vorkommt,  auch  außerhalb  S  vielleicht,  das 
gleiche  Merkmal  bedingt.  Dann  setzt  sich  die  Induction 
fort,  und  indem  sie  eine  Reihe  allgemeiner  Sätze  von  der 
Form:  SM  RM  TM...  als  neue  Prämissen  benutzt,  sucht 
sie  einen  allgemeinen  Schlußsatz,  der  in  der  Form:  alle  2 
sind  M,  unter  Z  das  wahre  Subject  oder  denjenigen  Gat: 
tungsbegriff,  oder  endlich,  anders  ausgedrückt,  denjenigen 
Bestand  von  Merkmalen  versteht  und  bezeichnet,  an  welchem 
überall  das  Prädicat  M  als  seine  Folge  hängt.  So  wird 
man  leicht  durch  eine  erste  Induction  den  Satz  SM  finden: 
in  allen  Säugethieren  geschieht  ein  Gaswechsel  durch  Re- 
spiration; eine  zweite  Induction,  welche  an  die  Stelle  von 
S  nacheinander  Vögel  Fische  Amphibien  setzt,  wird  dies 
gefundene  Ergebniß  schon  verständlicher  machen  durch 
ihren  Schlußsatz  EM:  alle  Thiere  bedürfen  des  Gasaus- 
tausches ;  sie  zeigt,  daß  die  vorher  nur  vereinzelt  beobachtete 
Thatsache  in  der  allgemeinen  Natur  des  thierischen  Lebens 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  365 

nothwendig  sein  muß;  eine  dritte  Induction  verbindet  SM 
mit  einer  neuen  gleichartigen  Prämisse :  alle  Pflanzen  zeigen, 
obwohl  andersartig,  das  Phänomen  eines  Gaswechsels;  ihr 
Schluß  S^M:  alle  organischen  Wesen  überhaupt  befinden 
sich  in  gleichem  Falle,  zeigt  uns  das  fragliche  Phänomen 
an  ein  noch  allgemeineres  Subject  gebunden;  eine  Ver- 
gleichung  endlich  mit  dem  Verhalten  von  Stoffen,  die  den 
organischen  ähnlich  gebaut  sind,  zu  der  umgebenden  Atmo- 
sphäre könnte  uns  zu  dem  Gedanken  führen,  daß  unter  den 
Bedingungen  an  der  Erdoberfläche  nur  durch  diesen  Stoff- 
wechsel die  Entfaltung  der  zusammenhängenden  veränder- 
lichen Vorgänge  möglich  ist,  die  das  organische  Leben  zu- 
sammensetzen. Man  bemerkt  hierbei,  daß,  je  weiter  diese 
Inductionen  fortgehen,  um  so  mehr  unser  Interesse  ab- 
nimmt, ihr  Ergebniß  in  Gestalt  eines  kategorischen  Ur- 
theils  von  der  Form:  S  ist  P,  zu  erhalten;  wir  suchen  nicht 
mehr  den  höchsten  Gattungsbegriff,  an  welchem  eine  ge- 
gebene Erscheinung  als  Prädicat  haftet,  sondern  wir  suchen 
ein  hypothetisches  Urtheil  zu  gewinnen,  welches  uns 
die  allgemeinste  Bedingung  B  kennen  lehrt,  von  der  über- 
all, wo  sie  vorkommt,  jene  Erscheinung  als  ihre  Folge  F 
abhängt.  Und  diese  neue  Aufgabe,  den  Bedingungszusam- 
menhang des  Wahrnehmungsinhaltes  zu  ermitteln,  über- 
wiegt an  Wichtigkeit  in  den  Anwendungen  dergestalt,  daß 
wir  von  jetzt  an  das  inductorische  Verfahren  nur  in  der 
Form  weiter  verfolgen,  die  es  zu  ihrer  Lösung  annimmt.- 

259.  Wir  bezeichnen  durch  U  und  W  zwei  Gruppen  von 
wahrgenommenen  Vorgängen;  wir  nehmen  an,  irgend  eine 
Veranlassung,  die  in  der  Art  ihres  Auftretens  liegt,  habe  in 
uns  die  später  zu  bestätigende  oder  zu  berichtigende  Ver- 
muthung  erregt,  beide  Gruppen  seien  zusammengehörig  und 
U  sei  oder  enthalte  die  Ursache  von  W,  W  sei  oder  enthalte 
die  Wirkung  von  U;  wir  erinnern  endlich  an  die  erste  Be- 
merkung dieses  Kapitels  (252),  nach  welcher  sehr  selten  U 
wirklich  die  vollständige  Ursache  von  W  und  nichts  als 
diese,  W  selten  die  ganze  Wirkung  von  U  und  nichts  als 
diese  enthalten  wird;  dann  können  wir  als  unsere  Aufgabe 
bezeichnen,  aus  den  unreinen  Beobachtungen  UW  den 
reinen  Fall  BF  eiaes  in  sich  zusammengehörigen  ße- 
dingungsverhältnisses  zu  finden,  und  wir  definiren  den 
Begriff  dieses  reinen  Falles  dahin,  daß  in  ihm  B  der  zu- 
reichende Grund  von  F,  und  der  Grund  von  nichts  Anderem 
außer  F,   daß  anderseits   F  die  vollständige   Folge  von  B 


366  Siebentes  Kapitel. 

und  zugleich  keines  andern  Grundes  Folge  ist.  In  den 
Anwendungen  kann  je  nach  den  verschiedenen  Interessen, 
die  :  unsere  Untersuchungen  jedesmal  verfolgen,  von  der 
Strenge  dieser  Definition  etwas  nachgelassen  werden;  so 
kann  es  uns  genügen,  zu  wissen,  daß  B,  so  oft  es  gegeben 
ist,  F  hervorbringt,  gleichviel  ob  es  außer  F  noch  Anderes 
bedingt  oder  ob  F  außer  von  ihm  auch  noch  von  Anderem 
erzeugt  werden  kann.  Allein  diese  Genügsamkeit  üben  wir 
doch  nur,  wo  es  uns  blos  darauf  ankommt,  die  realen  Ur- 
sachen kennen  zu  lernen,  welche  eine  fragliche  Wirkung 
hervorbringen;  wenn  es  sich  dagegen  theoretisch  um  den 
Grund  handelt,  aus  welchem  diese  Ursachen  jene  Wirkung 
als  nothwendige  Folge  bedingen,  werden  wir  B  und  F 
immer  nach  den  Anweisungen  der  Definition  bestimmen 
müssen;  selbst  wo  F  aus  verschiedenen  äquivalenten  Ur- 
sachen entstehen  kann,  sind  eben  nicht  diese  verschiedenen 
Ursachen,  deren  jede  außerdem  noch  ihre  besondern  andern 
Wirkungen  hat,  sondern  nur  das  ihnen  allen  Gemeinsame 
der  wahre  Grund  B  dieser  Folge,  und  dieses  B  hat  dann 
auch  keine  andere  Folge  als  dieses  F. 

260.  Aus  einem  unreinen  Fall  UW  könnte  der  reine 
Fall  BF  nur  durch  eine  zufällige  glückliche  Inspiration  er- 
rat h  e  n  werden ;  mit  Sicherheit  nachweisen  läßt  er  sich  nur 
durch  eine  Vergleichimg  vieler  Fälle  UW,  die  so  von  einander 
verschieden  sind,  daß  die  mannigfachen  oder  veränderlichen 
Relationen,  die  sie  uns  zwischen  den  unzugehörigen  Neben- 
bestandtheilen  darbieten,  uns  erlaubten,  diese  zu  eliminiren 
und  die  Beziehung  BF,  welche  sie  alle  enthalten,  allein  und 
gesondert  zurückzubehalten.  Jene  unreinen  Fälle  nun,  das 
Material  unserer  Bearbeitung,  liefert  zunächst  die  Beob- 
achtung; aber  der  freiwillige  Lauf  der  Dinge  führt  uns 
doch  nur  in  wenigen  Gebieten  vollständig  diejenigen  Fälle 
vor,  die  wir  bedürfen  würden,  um  jene  Elimination  zu  voll- 
enden. Manche  Naturvorgänge  entfalten  nur  in  sehr  langen 
Zeiträumen,  welche  das  Beobachtungsfeld  eines  Einzelnen 
weit  überschreiten,  die  ganze  Reihe  der  Aspecte,  die  man 
alle  kennen  müßte,  um  ihren  Bedingungszusammenhang 
zu  begreifen;  manche  andere  Erzeugnisse  der  Wirklichkeit 
entziehen  nicht  blos  durch  diese  Langsamkeit  ihre  Entwick- 
lung der  Beobachtung,  sondern  sie  zergliedern  sich  wirk- 
lich niemals  von  selbst  rückwärts  in  die  einzelnen  Be- 
dingungen, aus  denen  sie  entstanden  sind;  sehr  selten  be- 
finden wir  uns  in  dem  glücklichen  Falle  der  Astronomie, 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  367 

die  nur  durch  zufällige  Beobachtungshindernisse  in  der 
Aufsammlung  unzähliger  Daten  eines  zusammenhängenden 
und  periodischen  Spieles  von  Ereignissen  unterbrochen 
wird,  und  doch  bedarf  auch  sie,  um  alle  ihre  Wünsche  zu 
befriedigen,  eine  Ergänzung  durch  Beobachtungen  der  Vor- 
zeit, die  sie  nur  unzureichend  findet.  Ueberall,  wo  uns 
eine  praktische  Einwirkung  auf  den  Gegenstand  unserer 
Untersuchung  möglich  ist,  dient  zur  Ergänzung  dieser 
Mängel  der  Versuch  oder  das  Experiment.  Indem  wir 
eine  Gruppe  von  Umständen  U  willkürlich  herstellen,  können 
wir  die  in  der  Wirklichkeit  thätigen  Ursachen  nöthigen,  uns 
mit  einer  Wirkung  W  zu  antworten,  die  von  selbst  viel- 
leicht nie  in  den  Kreis  unserer  Wahrnehmungen  gefallen 
wäre ;  indem  wir  Größe  und  Beschaffenheit  jenes  U  will- 
kürlich variiren  lassen,  können  wir  eine  Reihe  von  Aende- 
rungen  in  Größe  und  Art  des  W  hervorbringen,  die  in 
dieser  Vollständigkeit  noch  viel  weniger  von  selbst  sich 
unserer  Beobachtung  dargeboten  hätte;  indem  wir  U  in 
seine  Bestandtheile  zergliedern  und  in  jedem  Versuch  nur 
einen  von  ihnen  oder  eine  bestimmt  angebbare  Verknüpfung 
mehrerer  zur  Wirkung  zulassen,  die  übrigen  abschneiden, 
werden  wir  die  Bestandtheile  des  Erfolges  W  gleichfalls 
sondern  und  lernen,  welcher  von  ihnen  von  welchem  Theile 
des  zusammengesetzten  U  abhängt.  So  ist  also  das  Experi- 
ment das  praktische  Mittel,  uns  Beobachtungen  in  solcher 
Menge  und  von  solchen  Verschiedenheiten  und  Verwandt- 
schaften zu  verschaffen,  wie  sie  uns  nöthig  sind,  um  durch 
Elimination  des  Unwesentlichen  aus  ihnen  einen  reinen 
Fall  BF  abzuleiten.  Diese  Definition  selbst  zeigt  hinlänglich) 
daß  nur  insoweit  das  Experiment  einen  Vorzug  vor  der 
Beobachtung  hat,  als  es  im  Stande  ist,  die  gewöhnlichen 
Mängel  der  letzteren  zu  verbessern;  es  soll  passende  und 
fruchtbare  Beobachtungen  anstatt  der  unpassenden  und  un- 
fruchtbaren schaffen,  die  sich  von  selbst  bieten.  Aber  es 
würde  verkehrt  sein,  ihm  noch  ein  anderes  mystisches  Ver- 
dienst außer  diesem  zuzuschreiben;  es  ist  nicht,  der  Be- 
obachtung gegenüber,  eine  neue  Methode  der  Erkenntniß; 
sondern  lediglich  ein  Vorbereitungsmittel,  um  das  herzu- 
stellen, dessen  Beobachtung  für  uns  wichtig  ist.  Und  eben 
deshalb  ist  nicht  (überall  das  experimentale  Verfahren 
schlechthin  der  bloßen  Beobachtung  überlegen.  Es  ist  in 
unserer  Zeit  ein  Vorurtheil  der  Halbbildung,  zu  meinen^ 
was  am  hellen  Tage  ohne  alle  Vorbereitung  handgreiflich 
und  im  Großen  zu  beobachten  sei,  bleibe  natürlich  zweifei- 


368  Siebentes  Kapitel. 

haft;  richtig  sei  nur,  was  sich  mit  künstlichen  Vorrichtungen 
im  ganz  Kleinen  unter  den  erschwerendsten  Umständen 
mikroskopisch  wahrnehmen  lasse.  Ich  leugne  gar  nicht, 
daß  diese  paradoxe  Annahme,  die  als  allgemeiner  Grund- 
satz abgeschmackt  sein  würde,  in  vielen  Einzelfällen  zu- 
trifft, und  daß  namentlich  nur  durch  diese  künstlichen 
Mittel  sehr  häufig  genaue  Größenbestimmungen  möglich 
werden,  welche  die  Beobachtung  im  Großen  nie  finden 
würde;  aber  auch  umgekehrt  gibt  die  letztere  oft  ein  all- 
gemeines Verhalten  ungesucht,  das  in  den  Experimenten 
durch  specielle  Bedingungen  verdunkelt  wird. 

261.  Die  verschiedenartigen  Verhältnisse,  welche 
zwischen  U  und  W  die  Beobachtung  und  das  Experiment 
kennen  lehren,  suche  ich  jetzt  vorzuführen,  nicht  in  der 
Hoffnung,  sie  vollständig  zu  erschöpfen,  sondern  in  der 
Absicht,  an  Beispielen  die  Mannigfaltigkeit  der  möglichen 
Fälle  und  der  aus  ihnen  zu  ziehenden  Folgerungen  zu  ver- 
deutlichen. 

1.  Der  Fall  ^-UW.  Kommen  U  und  W  ununterbrochen 
in  der  Wirklichkeit  zusammen  vor,  so  gestattet  diese  be- 
ständige Coexistenz  gar  keinen  Schluß  auf  ein  in  der  That 
doch  vielleicht  zwischen  beiden  stattfindendes  Bedingungs- 
verhältniß.  Eisen  und  Silber  und  alle  andern  chemischen 
Elemente  sind  immer  zugleich  in  der  Welt  vorhanden ;  aber 
daraus  folgt  weder,  daß  das  eine  von  ihnen  eine  Bedingung 
für  das  Dasein  des  andern,  noch  daß  alle  zusammen  Co- 
effecte  einer  einzigen  Ursache  sind.  Höchstens  die  philo- 
sophische Speculation  könnte,  auf  besondere  hier  nicht  zu 
erörternde  Gründe  vertrauend,  die  Möglichkeit  einer  Mehr- 
heit durch  einander  in  keiner  Weise  bedingter  Elemente 
bezweifeln;  für  die  Naturauffassung  dagegen,  der  die  In- 
duction  zunächst  dienen  will,  ist  die  Coexistenz  allein  kein 
Anzeichen  weiteres  Zusammenhanges.  In  jedem  einzelnen 
jener  Elemente  finden  wir  ferner  verschiedene  Eigenschaften 
oder  Verhaltungsweisen  ununterbrochen  vereinigt;  alle  be- 
sitzen die  Eigenschaft  der  Gravitation  gemeinsam,  jedes 
einzelne  außerdem  seine  specifischen  Verwandtschaften  zu 
allen  andern.  Dieser  Fall  ist  dem  vorigen  nicht  gleich;  es 
ist  hier  ein  und  dasselbe  Subject,  an  welchem  die  ver- 
schiedenen Eigenschaften,  als  die  seinigen,  coexistiren ;  diese 
Einheit  des  Dinges  widerspricht  einer  beziehungslosen  Viel- 
heit von  Merkmalen,  die  an  ihm  vorkämen,  und  es  regt 
sich  der  natürliche  logische  Trieb,  entweder  eine  dieser 
Eigenschaften  durch  die  andere  oder  beide  durch  eine  dritte 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  369 

ursprüngliche  zu  erklären,  die  unter  verschiedenen  Be- 
dingungen sich  in  jene  zwei  umgestalte.  Wohin  dieser 
logische  Antrieb  weiter  führen  kann,  sei  dahingestellt;  hier 
bleibt  er  eben  ein  bloßer  Und  unfruchtbarer  Antrieb;  denn 
so  lange  die  Beobachtung  nichts  als  die  ewige  Coexistenz 
beider  Prädicate  aufzeigt,  gibt  sie  uns  eben  kein  Mittel  an 
die  Hand,  den  etwa  vorhandenen  Bedingungsnexus  beider 
mit  einander  oder  mit  einem  dritten  nachzuweisen. 

2.  Der  Fall  (+11 -[-W).  Kommen  U  und  W  nicht  in 
ununterbrochener  Wirklichkeit,  aber  in  zahlreichen  Wieder- 
holungsfällen vereinigt  vor,  so  ist  es  möglich,  daß  sie  ohne 
irgend  einen  gegenseitigen  Zusammenhang  lediglich  coinci- 
diren  und  jedes  von  ihnen  die  Folge  seiner  besondern  Be- 
dingung ist,  die  nur  zufällig  mit  der  Bedingung  des  andern 
zusammentrifft.  So  wird  man  urtheilen  über  die  vielen 
Unglücksfälle,  die  sich  am  Freitag  ereignen,  und  über  zahl- 
lose ähnliche  Meinungen  des  Aberglaubens.  Aber  man  bleibt 
doch  bei  diesem  Urtheile  nur,  weil  einestheils  in  diesen 
Fällen  keine  Aussicht  ist,  eine  begreifliche  Vermittlung 
zwischen  den  verbundenen  U  und  W  zu  entdecken,  und 
weil  anderseits  weitere  Beobachtungen  bald  lehren,  wie 
wenig  allgemein  und  ausschließlich  ihre  Verbindung  ist. 
An  sich  dagegen  ist  die  Annahme  bloßer  Coincidenz  die 
am  wenigsten  wahrscheinliche;  was  oft  wiederholt  zu- 
sammen vorkommt,  macht  ein  Causalverhältniß  wahrschein- 
lich ;  ganz  unbestimmbar  bleibt  nur  noch,  ob  eines  der  beiden, 
ü  und  W,  Ursache  oder  Wirkung  des  andern,  oder  ob  sie 
beide  nur  Coeffecte  einer  dritten  Ursache  Z  sind.  Diese 
Zweideutigkeit  bleibt  auch  dann,  wenn  U  und  W  nicht 
gleichzeitig,  sondern  nacheinander  in  bestimmter  Folge  in 
allen  Wiederholungsfällen  auftreten;  dann  kann  zwar  U 
die  Ursache  von  W  sein,  aber  beide  können  auch  Coeffecte 
eines  dritten,  nicht  beständigen,  sondern  in  bestimmter 
Reihenfolge  sich  ändernden  Z  sein.  Tag  und  Nacht  folgen 
immer  so  aufeinander,  aber  sie  erzeugen  einander  nicht, 
sondern  sind  successive  Coeffecte  der  Axendrehung  der  Erde. 
Es  könnte  endlich  geschehen,  daß  W  immer  unbemerkt 
besteht,  aber  in  unsere  Beobachtung  erst  fällt,  wenn  U 
stattfindet;  so  schlägt  das  Herz  bei  dem  Lebendigen  immer, 
aber  der  Gesunde  fühlt  es  fast  nur,  wenn  eine  besondere 
Aufregung  U  hinzukommt;  dami  ist  U  zwar  nicht  die 
Ursache  von  W,  aber  doch  die  Bedingung  seines  Eintretens 
in  unsere  Beobachtung. 

3.  Der  Fall  ( — U  +  W).    Die  Zweideutigkeiten,  die  hier 

Lotze,  Logik.  24 


370  Siebentes  Kapitel. 

blieben,  entscheiden  erweiterte  unmittelbare  oder  durch 
das  Experiment  vermittelte  Beobachtungen.  Findet  sich, 
daß  W  auch  vorkommt  ohne  U,  oder  daß  U  sich  experimentell 
aufheben  läßt,  ohne  zugleich  W  aufzuheben,  so  kann  man 
zwar  nicht  schließen,  daß  U  nicht  die  Ursache  von  W, 
wohl  aber,  daß  es  nicht  die  erhaltende  Ursache  desselben 
sei.  Der  Satz,  auf  den  man  sich  beruft,  um  den  voreiligen 
ersten  Schluß  zu  rechtfertigen:  cessante  causa  cessat 
effectus,  hat  nur  den  einen  unzweideutigen  Sinn:  mit  dem 
Wegfall  einer  Ursache  kommen  diejenigen  Wirkungen  in 
Wegfall,  welche  die  Ursache  noch  gehabt  haben  würde, 
wenn  sie  fortbestanden  hätte.  Daß  die  bereits  entstandenen 
Wirkungen  sich  verschieden  verhalten,  zeigen  die  einfachsten 
Beispiele;  die  Bewegung  dauert  fort  nach  der  Beendigung 
des  Stoßes,  der  sie  hervorbrachte;  das  Kochen  des  Wassers 
hört  auf,  wenn  die  Wännezufuhr  nachläßt,  von  der  es 
erzeugt  wurde  und  deren  es  als  beständiger  Erhaltungs- 
ursache bedarf;  das  Kind  stirbt  nicht  mit  dem  Tode  der 
Aeltern,  der  einzigen  Ursachen,  die  sein  Dasein  bewirken 
konnten;  aber  das  Gleichgewicht  einer  unterstützten  Last 
geht  zu  Grunde  mit  der  Hinwegziehung  ihrer  Stütze.  Man 
kann  alle  diese  Fälle,  deren  weitere  Zergliederung  hier 
unnöthig  ist,  auf  einen  allgejneinen  Satz  der  Beharrung 
zurückbringen,  den  wir  in  Bezug  auf  unsere  jetzige  Aufgabe 
so  aussprechen :  jede  Wirklichkeit,  die  einmal  hervorgebracht 
ist,  welcher  Art  sie  auch  sein  mag,  dauert  fort,  wenn  nicht 
entgegenwirkende  Ursachen  sie  aufheben.  Die  Wirkungen 
einer  erzeugenden  Ursache  bedürfen  daher  einer  erhaltenden 
Ursache  nicht,  sobald  sie  in  Zuständen  eines  Subjects  be- 
stehen, welche  sowohl  mit  der  beständigen  Natur  desselben 
als  mit  den  äußern  Bedingungen  im  Gleichgewicht  sind, 
unter  denen  es  sich  befindet;  sie  verlangen  dagegen  eine 
erhaltende  Ursache,  wenn  entweder  in  jener  Natur  oder 
in  diesen  äußern  Umständen  sich  Kräfte  befinden,  welche 
auf  sie  einen  umgestaltenden  Einfluß  zu  äußern  streben. 
Dauert  also  W  fort  nach  dem  Aufhören  von  U,  so  sind 
drei  Fälle  möglich:  entweder  ist  zwischen  beiden  gar  kein 
Causalzusammenhang,  oder  U  ist  zwar  erzeugende,  aber 
nicht  erhaltende  Ursache  von  W,  und  in  diesem  Fall  wieder 
entweder  eine  erzeugende  Ursache,  neben  der  es  noch  andere 
gibt,  oder  auch  die  einzige,  von  der  W  hervorgebracht 
werden  kann. 

4.  Der  Fall  (+U  — W).    Wenn  U  in  der  Beobachtung 
vorkommt,  ohne  daß  W  folgt,  so  zieht  natürlich  dies  Ver- 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  371 

halten   unsere  Aufmerksamkeit  nur  auf  sich,  wenn  es   im 
Widerspruch  ist  mit  schon  gemachten  Beobachtungen  einer 
sonst  vorkommenden  Verbindung  von  U  und  W;  es  kann 
dann  sein,  daß  U  nicht  die  Ursache  von  W  ist,  und  man 
corrigirt  dann,  indem  man  diese  Folgerung  zieht,  die  andere, 
welche  man  aus  den  entgegengesetzten  früheren  Beobach- 
tungen  gezogen  hatte.    Der  Zusammenhang  von  Ursachen 
und  Wirkungen  in  der  Wirklichkeit  unterscheidet  sich  jedoch 
von  dem  zwischen  Grund  und  Folge  auf  dem  Gebiet  des 
blos  Denkbaren.   Jeder  Grund,  der  einmal  gilt,  bringt  seine 
Folge    ganz    hervor   und    zugleich    ganz    in    dem    Resultat 
wahrnehmbar;    wirken   zwei    Gründe   zusammen,   hat   eine 
Größe  g   zwei   Bedingungsgleichungen   zu  genügen,   die  ihr 
Verhalten  zu  x  bestimmen,  so  ist  der  Einfluß  der  zweiten 
allemal    darin   sichtbar,    daß   sie   aus   den   vielen    Werthen 
des  g,  welche  die  erste  allein  noch  möglich  ließ,  nur  einen 
oder    eine    bestimmte    Anzahl    unter    einander    regelmäßig 
verknüpfter  übrig  läßt.  Eine  Veränderung  W  dagegen,  welche 
in  der  Wirklichkeit  aus  der  Ursache  U  folgen  müßte,  kann 
stets    durch   eine   Gegenursache   Z   so   aufgehoben  werden, 
daß    sie   der   Beobachtung   verschwindet.    Man   kann  nicht 
sagen,   daß  Z  die  Wirkungsfähigkeit  des   U  vernichtet; 
denn  U  kann  von  seiner  Wirkung  W  nur  abgehalten  werden, 
indem  es  selbst  auf  das  hindernde  Z  zurückwirkt;  in  diesem 
bringt  es  immer  eine  andere  Wirkung  W^  hervor,   anstatt 
der  W,  welche  wir  erwarteten,  oder  auch  es  selbst  erleidet 
unter   dem   Einfluß   des   Z   und   seiner  eigenen   Wirkungs- 
tendenz   einen   Zustand   W^   den   es   sonst  nicht    erleiden 
würde;  aber  dieses  W^  ist  sehr  häufig  so  gestaltet,  daß  es 
sich   der  unmittelbaren   Beobachtung  ganz   entzieht;   dann 
scheint    W   völlig    zu   fehlen,    während    U   vorhanden    ist; 
in  der  That  hat  W  nur  seine  Form  geändert.    Dies  kommt 
überall  vor,  wo  bewegende  Kräfte  einem  festen  Widerstand 
begegnen ;  sie  scheinen  uns  dann  nichts  zu  wirken,  während 
sie  in  Wahrheit  einen  starken  Druck  auf  den  widerstehenden 
Körper  ausüben.    Folgt  also  in  der  Beobachtung  W  auf  U 
nicht,  so  kann  allerdings  der  Causalzusammenhang  zwischen 
beiden   ganz  fehlen,   und   dann  muß   man  die   andern   Be- 
obachtungen einer  Folge  von  U  und  W  auf  andere  Weise 
deuten;  es  kann  aber  auch  U  eine  oder  selbst  die  einzige 
Erzeugungsursache  von  W,   aber  durch  eine  Gegenkraft  Z 
an  der  Hervorbringung  des  W  verhindert  sein.   Man  erhält 
hierdurch   die  Aufforderung,    sich   in   jedem   solchen  Falle 
darnach   umzusehen,   ob   sich   eine  sonst  fehlende  Ersatz- 


372  Siebentes  Kapitel. 

Wirkung  W^  entdecken  läßt,  welche  das  Dasein  eines  Wider- 
standes verräth.  Wenn  man  endlich  experimentell  U  her- 
stellt und  W  nicht  folgen  sieht,  auch  keine  Spur  eines 
stellvertretenden  W^  finden  kann,  so  ist  hier  der  Schluß 
gerechtfertigt,  daß  U  keine  der  erzeugenden  Ursachen 
von  W  sei. 

5.  Der  Fall  ( — U — W).  In  der  Beobachtung  kami  es 
nur  in  seltenen  Fällen  und  nur  in  Erinnerung  an  andere 
schon  gemachte  Erfahrungen  vorkommen,  daß  uns  das 
gleichzeitige  Nichtvorhandensein  von  U  und  W  auffällt; 
hat  dagegen  U  früher  bestanden,  und  finden  wir,  daß  mit 
seinem  Aufhören  auch  W  verschwindet,  so  ist  die  nächste 
Wahrscheinlichkeit  natürlich,  daß  U  mindestens  die  er- 
haltende, vielleicht  auch  die  erzeugende  Bedingung  von  W 
ist,  oder  daß  U  und  W  Coeffecte  einer  dritten  Ursache  Z 
sind,  mit  deren  Wegfall  sie  beide  verschwinden.  Hört  W 
auf,  wenn  wir  U  experimentell  aufheben,  so  scheint  nur 
das  erste  Glied  dieser  Alternative  möglich;  aber  es  kann 
sich  doch  auch  anders  verhalten.  Was  wir  hier  die  Auf- 
hebung von  U  nennen,  ist  nicht  immer  blos  ein  Wegfall 
dieser  früher  wirkenden  Ursache,  sondern  läßt  sich  häufig 
nur  durch  eine  positive  Vorkehrung  oder  Einwirkung  her- 
stellen, welche,  indem  sie  U  aufhebt,  zugleich  neue  Be- 
dingungen Z  schafft,  welche  für  die  von  U  vielleicht  ganz 
verschiedene  Ursache,  von  der  bis  dahin  W  wirklich  abhing, 
Hinderungen  ihres  Weiterwirkens  bilden  und  folglich  W 
aufheben.  Es  stritt  lange  die  Aijnahme,  daß  Infusorien 
ohne  Keim  ihrer  Art  aus  dem  Aufguß  organischer  Stoffe 
entstehen,  mit  der  andern,  daß  überall  die  Bedingung  ihrer 
Entstehung  in  den  der  organischen  Substanz  selbst  an- 
hängenden oder  durch  die  atmosphärische  Luft  zugeführten 
oder  im  Wasser  enthaltenen  Sporen  oder  Samen  liege. 
Dieser  Streit  könnte  entschieden  werden,  wenn  man  zeigte, 
die  Erzeugung  W  der  Infusorien  höre  auf,  wenn  der 
Zutritt  U  lebensfähiger  Sporen  oder  Samen  abgeschnitten 
wird.  Aber  die  hierzu  benutzte  Auskochung  des  Wassers 
zugleich  mit  der  organischen  Substanz  und  die  Leitung 
der  Luft  durch  glühende  Röhren  bürgen  allerdings  für  das 
Nichtvorhandensein  lebensfähiger  Samen  in  allen  drei  zu- 
sammenwirkenden Körpern;  zugleich  sind  dies  jedoch  so 
eingreifende  Vorgänge,  daß  durch  sie  auch  die  Ursache, 
welche  die  andere  Meinung  voraussetzte,  die  eigene  Ent- 
wicklungsfähigkeit der  organischen  Materie  zu  lebendigen 
Organismen,  mit  wirkungslos  gemacht  werden  kann.   Dieser 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  373 

Versuch    bedurfte    daher    einer   Modification,    welche    dies 
Bedenken  ausschloß. 

6.  Der  Fall  (-j-W-j-U).  Durch  keinen  der  bisherigen 
Schlüsse  läßt  sich  mehr  feststellen,  als  daß  U  eine  Ursache 
von  W  ist;  daß  es  die  einzige,  daß  folglich  auch  die  Um- 
kehrung des  Satzes  richtig  und  jedes  W  Wirkung  eines  U 
sei,  würde  sich  nur  auf  dem  Wege  der  Ausschließung 
ermitteln  lassen,  der  uns  darauf  führte,  daß  alle  andern 
denkbaren  Ursachen  die  Wirkung  W  nicht  haben.  Diese 
Ausschließung  ist  in  Bezug  auf  die  unzähligen  nächsten 
Ursachen,  die  in  der  Natur  wirkend  auftreten  können,  ganz 
unausführbar;  man  könnte  an  sie  nur  denken,  wenn  eine 
viel  weiter  fortgeschrittene  Bearbeitung  der  Wahrnehmungen 
uns  schon  eine  in  vollständiger  Disjunction  erschöpfbare 
Anzahl  allgemeiner  wirkender  Kräfte  kennen  gelehrt  hätte, 
von  deren  Modification  irgend  welcher  Art  jeder  Erfolg 
überhaupt  abhängen  muß.  Die  inductive  Naturforschung 
vollzieht  jedoch  jene  Umkehrung  der  Wahrnehmungen  sehr 
allgemein;  wenn  sie  in  vielen  Fällen  U  als  Ursache  von  W 
gefunden  hat,  so  nimmt  sie  an,  daß  ein  W,  dessen  Ursache 
sie  nicht  beobachtet,  auf  dasselbe  U  als  Ursache  zurück- 
zubeziehen  sei.  Den  Logikern  kann  man  nicht  wider- 
sprechen, wenn  sie  in  dieser  Gewohnheit  formell  einen 
logischen  Fehler  sehen.  Denn  ganz  gewiß  läßt  das  particulare 
Urtheil,:  viele  W  sind  Wirkungen  von  U,  in  keiner  Weise 
die  Folgerung  ad  subaltemantem  zu :  alle  W  sind  Wirkungen 
von  U;  oder  in  keiner  Weise  kann  das  hypothetische 
Urtheil:  wenn  U  ist,  ist  W,  rein  umgekehrt  werden  in  das 
andere :  wenn  W  ist,  ist  U.  Allein  wenn  hiervon  gar  zu  viel 
Aufhebens  gemacht  wird,  so  muß  man  doch  bedenken,  daß 
die  Naturforschung  ihre  hier  angezweifelten  Folgerungen 
nicht  nach  dem  abstracten  Muster  einer  so  verkehrten 
logischen  Regel  zieht,  sondern  weil  sie  durch  eine  Fülle 
von  Sachkenntnissen  über  die  thatsächlich  bestehenden 
allgemeinen  Gewohnheiten  des  natürlichen  Geschehens  sich 
berechtigt  glaubt,  das  zu  ergänzen,  was  an  der  logisch- 
formalen Gültigkeit  jener  Umkehrung  fehlt.  Sie  meint: 
es  könnte  freilich  so  sein,  daß  hundert  gleichartige  Wir- 
kungen in  der  Natur  von  hundert  sehr  verschiedenen 
nächsten  Ursachen  abhingen;  aber  es  ist  nun  einmal  nicht 
so,  sondern  gleichartige  Erfolge  gehen  wirklich  von  Ursachen 
aus,  die  nicht  blos  darin  sich  gleichen,  daß  sie  dies  Gleich- 
artige hervorbringen  können,  sondern  eben  diese  gleiche 
Wirkungsfähigkeit  hängt  immer  an  auch  sonst  gleichartiger 


374  Siebentes  Kapitel. 

Natur   der  Ursachen.    Es   ist  gar  nicht  der   Mühe   werth, 
das   sehr  große   Gewicht  noch   weitläufiger  bemerklich  zu 
machen,   das  diese  Berufung  auf  den  bereits  gewonnenen 
sachlichen   Inhalt   unserer   Erkenntniß   zur   Ergänzung   der 
blos  logischen  Folgerungsrechte  ganz  einleuchtend  besitzt; 
es   ist  im   Gegentheil   nothwendig,   z'u   bemerken,   daß   die 
hieraus     abzuleitende     Berechtigung     ihre    Grenzen     hat. 
Newton   hat  den   hier  in  Rede   stehenden  Grundsatz   in 
seiner   zweiten   Regel   so   ausgesprochen:   effectuum   natu- 
ralium   ejusdem   generis   eaedem  sunt  causae.    Ich  glaube 
nicht,   daß  die  Verehrung  vor  seinem  unsterblichen  Geiste 
leidet,   wenn  wir   uns   zugestehen,   daß   diese  Formulirung 
logisch  den  Ansprüchen  auf  Präcision  keineswegs  genügt, 
die  er  mathematisch  so  unübertrefflich  zu  befriedigen  wußte. 
Wir   setzen  nicht  außer  Acht,   daß   diese  Regel   nicht  ein 
logisches  Gesetz,  sondern  eben  eine  Regel,  eine  praktische 
Maxime  der  Naturforschung  sein  soll,  wahrscheinlich  her- 
vorgerufen durch  die  glänzenden  Entdeckungen,  denen  sie 
als  Vorspiel  diente;  aber  auch  so  ist  sie  unbestimmt  genug, 
und    jeder    einzelne     ihrer   Ausdrücke     bedarf    der   Inter- 
pretation.   Ich  lege  nicht  Gewicht  darauf,  daß  zuerst  das 
idem  genus  eine  Definition  verlangen  würde,  die  uns  zeigte, 
welche  effectus  naturales  zu  demselben,  welche  andern  zu 
einem  andern  genus  gehören ;  eines  so  weitschichtigen  Aus- 
druckes  können  auch  wir  nicht  ganz   entbehren,  übrigens 
aber  ihn  hier  so  interpretiren,  daß  bloße  Größendifferenzen 
gleichgeformter  Vorgänge  keine  Artverschiedenheit  derselben 
begründen.    Aber  was  sind  effectus  naturales?    Verstehen 
wir  darunter  jeden  natürlichen  Vorgang,  sofern  er  als  Wir- 
kung  auf   irgend   eine   Ursache   bezogen   wird,   so   ist   der 
ganze  Satz  mit  dem  Ende:  eaedem  causae  offenbar  unhalt- 
bar,   so   lange   nicht   dieser  letztere   Begriff  bestimmt   ist. 
Schließt   man   in   das   idem   genus,   wie   wir   eben   thaten, 
die   quantitativ  verschiedenen   Erfolge   ein,   so  können  sie 
nur    causas    ejusdem    generis,    aber   nicht   easdem   haben; 
quantitativ  müssen  auch  die  Ursachen  unterschieden  sein; 
aber  auch  daß  sie  ejusdem  generis  sein  müßten,  wird  durch 
die  gewöhnlichsten  Erfahrungen  widerlegt,  die  uns  zeigen, 
wie  mancherlei  verschiedene  und  nur  äquivalente  Ursachen 
eine  und  dieselbe  Art  der  Wirkung  hervorbringen  können. 
Nähert  sich  ein  Körper  B  einem  Punkte  C  mit  gleichförmig 
beschleunigter  Geschwindigkeit,  so  ist  so  viel  freilich  klar 
und  nothwendig,  daß  eine  Kraft  auf  ihn  wirken  muß,  die 
diesen  und  gerade  diesen  Effect  hervorbringen  kann;  aber 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  375 

wie  verschiedener  Art  können  doch  die  Kräfte  sein,  die 
das  thun!  Sie  können  a  fronte  anziehend  wirken  von  dem 
Punkte  C  aus,  sie  können  auch  a  tergo  abstoßend  wirken 
auf  B  und  es  hierdurch  dem  C  nähern;  die  erste  Weise 
der  Wirkung  kann  von  electrischen  Kräften  oder  von  der 
Gravitation  ausgehen;  die  letztere  von  einer  Reihe  einzelner 
sich  summirender  Stöße.  Will  man  alle  diese  Ursachen 
als  easdem  oder  als  ejusdem  generis  fassen,  weil  sie  trotz 
ihrer  übrigen  wesentlichen  Verschiedenheiten  darin  überein- 
kommen, eben  diesen  gleichen  Effect  hervorzubringen,  so 
thut  man  nicht  blos  jedem  Sprachgebrauch  Gewalt,  sondern 
man  macht  auch  die  ausgesprochene  Regel  zu  einer  trivialen 
Tautologie.  Denn  daß  alle  Ursachen,  welche  gleichartige 
Wirkungen  haben  sollen,  wenigstens  darin  gleichartig  sein 
müssen,  daß  sie  eben  sämmtlich  diese  Wirkungen  hervor- 
bringen können,  daß  sie  also  in  Bezug  auf  diese  Wirkung 
äquivalent  sein  müssen,  dies  versteht  sich  von  selbst,  und 
braucht,  als  eine  Folge  des  Identitätsgesetzes,  nicht  erst 
durch  eine  besondere  Maxime  der  Naturforschung  gelehrt 
zu  werden;  eine  solche  Maxime  will  offenbar  etwas  als 
thatsächlich  gültig  darstellen,  was  aus  formal  logischen 
Gründen  nicht  nothwendig  ist,  also  in  diesem  Falle,  daß 
die  Ursachen  gleichartiger  natürlicher  Vorgänge  nicht  blos 
äquivalent  in  Bezug  auf  diese,  sondern  auch  außerdem 
gleichartig  sind.  Daß  aber  der  Inhalt  dieser  Maxime  nicht 
allgemeingültig  sein  könne,  beweisen  nun  eben  die  Er- 
fahrungen. Effectus  naturales  könnten  jedoch  auch  anders 
gemeint  sein,  nicht  als  natürliche  Vorgänge,  sondern  als 
Naturvorgänge;  d.  h.  nicht  als  solche,  die  gelegentlich  so 
zu  sagen  im  Kleinhandel  aus  der  Anwendung  physischer 
Gesetze  auf  zufällig  zusammengerathene  Umstände  ent- 
stehen, sondern  als  solche,  die  in  dem  großen  Betriebsplane 
der  Natur  ihre  beständige  Stelle  haben,  und  die  zu  den 
Naturzwecken  rechnen  würde,  wer  sich  diesen  Begriff  glaubte 
rechtfertigen  zu  können.  Newton's  wörtlicher  Ausdruck 
führt  auf  eine  solche  Deutung  nicht  nothwendig;  daß  ihm 
der  Art  etwas  vorgeschwebt,  wird  aber  durch  die  Stelle 
wahrscheinlich,  an  der  seine  Regel  steht,  in  der  Einleitung 
zu  einem  Werke,  das  eben  diese  beständigen  alles  um- 
fassenden und  bestimmenden  Naturvorgänge,  den  Umlauf 
der  Planeten,  den  Gang  des  Mondes  und  den  unaufhörlichen 
Trieb  der  Körper,  zu  fallen  oder  zu  drücken,  in  einer 
großen  Anschauung  zusammenzufassen  bestimmt  war.  So 
verstanden,  würde  jener  Satz  nicht  unmittelbar  eine  Regel 


376  Siebentes  Kapitel. 

der  Forschung,  sondern  der  Ausdruck  einer  Thatsache  sein, 
deren  Bestehen  mittelbar  auf  die  von  der  Untersuchung 
einzuschlagenden  Wege  einen  maßgebenden  Einfluß  besitzt, 
der  Thatsache  nämlich,  daß  der  in  der  Welt  wirkenden 
höchsten  und  allgemeinsten  von  einander  unabhängigen 
Ursachen  nicht  unzählige,  sondern  sehr  wenige  sind,  und 
daß  auf  eine  von  ihnen  jede  Gruppe  zusammengehöriger 
Wirkungen  im  Großen  zurückzuführen  ist,  während  im 
Kleinen  nicht  immer  dieselben,  sondern  sehr  verschiedene 
äquivalente  nächste  Ursachen  eine  und  dieselbe  Wirkung 
erzeugen.  Es  würde  jedoch  schwer  sein,  die  Grenzen  zu 
bestimmen,  welche  jene  großen  Ursachen  von  diesen  kleinen 
trennen;  ebenso  schwer,  auszumachen,  welcher  Theil  des 
so  gedeuteten  Satzes,  ob  die  Hinweisung  auf  die  Gleich- 
artigkeit der  höchsten  oder  ob  die  auf  die  Ungleichartigkeit 
der  nächsten  Ursachen  mehr  eingeschärft  zu  werden  ver- 
dient; jedenfalls  ist  die  wissenschaftliche  Praxis  Newton's 
so  bewundernswerth,  daß  wir  besser  thun,  ihr  nachzu- 
streben, als  mit  dieser  seiner  allgemeinen  Maxime  über- 
flüssig Staat  zu  machen.  Ich  kehre  noch  zu  einem  Beispiel 
zurück.  Wenn  der  Chemiker  von  dem  Element  U  eine 
Reaction  W  beobachtet  hat,  und  nun  einen  neu  unter- 
suchten unbekannten  Körper  dieselbe  Reaction  W  geben 
sieht,  so  beruht  sein  Schluß,  dieser  Körper  sei  folglich  U, 
keineswegs  auf  der  einfachen  Umkehrung  jener  Beobachtung, 
sondern  auf  dem  Bewußtsein,  mit  allen  Elementen,  die 
an  der  Erde  vorkommen,  bereits  experimentirt  und  von 
keinem  andern  außer  U  dieselbe  Reaction  W  erhalten  zu 
haben.  Dieser  Beweis  durch  Ausschließung  ist  formell  nicht 
unbedingt  sicher,  aber  doch  von  größter  Wahrscheinlichkeit; 
wird  ein  neues  Element  U^  entdeckt,  das  nun  doch  mit  U 
dieselbe  Reaction  gibt,  so  ist  man  eben  klüger  geworden 
und  sucht  nun  nach  einem  andern  Kennzeichen,  beide  zu 
unterscheiden.  Nicht  ganz  dieselbe  Wahrscheinlichkeit  hat 
die  Folgerung  aus  der  Spectralanalyse,  die  Stoffe,  welche 
in  dem  Spectrum  der  Himmelskörper  die  Streifen  W  hervor- 
bringen, seien  identisch  mit  den  irdischen  Elementen,  deren 
Dämpfe  in  ihren  Spectren  dieselben  Linien  W  erzeugen. 
Mit  jenen  außerirdischen  Stoffen  haben  wir  nicht  experi- 
mentirt; daß  es  nicht  mehrere  im  Uebrigen  verschiedene 
Elemente  geben  könne,  die  in  dieser  einen  Reaction  W 
einander  gleichen,  ist  daher  nicht  so  sicher,  wie  in  dem 
vorigen    Fall,    obgleich    sehr   wahrscheinlich    deshalb,    weil 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  377 

kein  Beispiel  nichtidentischer  irdischer  Elemente  mit 
identischen  Spectrallinien  vorliegt,  und  weil  ohnehin  die 
Körper  unseres  Sonnensystems  sich  als  zusammengehörige 
Bruchstücke  einer  früher  vereinigten  Masse  ansehen  lassen. 
Die  gleichen  Farben,  die  im  auffallenden  und  im  durch- 
gehenden Lichte  viele  chemisch  sehr  verschiedene  Körper 
zeigen,  beweisen,  daß  die  hier  in  Frage  kommende  Fähigkeit 
zur  Reflexion  Absorption  und  Transmission  verschiedener 
Lichtwellen  nicht  ganz  einfach  mit  der  chemischen  Natur 
der  Stoffe  zusammenhängt;  anderseits  können  zwei  Elemente 
doch  nicht  deshalb,  weil  das  eine  Kalium,  das  andere 
Natrium  heißt  oder  ist,  eigenthümliche  Wirkungen  W  oder  W^ 
hervorbringen;  sie  sind  oder  heißen  vielmehr  das  eine 
oder  das  andere  nur  deshalb,  weil  die  allgemeinen  Kräfte, 
mit  denen  Körper  sich  gegeneinander  wirkend  gelten  machen, 
in  beiden  mit  verschieden  großen  specifischen  Coefficienten 
vorkommen.  Daß  nun  unter  Bedingungen,  die  wir  experi- 
mentell gar  nicht  nachahmen  können,  z.  B.  bei  der  an 
der  Sonnenoberfläche  herrschenden  Temperatur,  einer  dieser 
Coefficienten,  durch  deren  Verein  das  eine  Element  charak- 
terisirt  wird,  sich  niemals  ändern  und  niemals  die  Größe 
annehmen  könnte,  welche  derselbe  Coefficient  unter  den 
Bedingungen  an  der  Erdoberfläche  für  ein  anderes  Element 
besitzt,  daß  also  niemals  verschiedene  Elemente  uns  gleiche 
Linien  im  Spectrum  zeigen  könnten,  ist  nicht  so  unanfechtbar 
gewiß,  daß  dieser  durch  die  Spectralanalyse  uns  eröffnete 
Blick  in  die  chemische  Zusammensetzung  anderer  Himmels- 
körper jeden  Zweifel  ausschlösse. 

7.  Der  Fall  ( — W  —  U)  würde  nach  unserer  Bezeich- 
nung bedeuten,  daß  wir  aus  dem  Nichtvorhandensein  einer 
Wirkung  W,  die  wir  in  andern  Beobachtungen  auf  U  folgen 
sahen,  auf  das  Nichtvorhandensein  von  U  zurückschließen. 
Er  bedarf  keiner  weitern  Erörterung;  die  richtige  Folgerung 
aus  dem  Fehlen  von  W  ist  nur  diese,  daß  keine  von  den 
vielleicht  vielen  verschiedenen  Ursachen  U^  U^  U^ . .,  welche 
W  bewirken  könnten,  in  der  That  wirksam  gewesen 
ist,  entweder,  weil  keine  von  ihnen  bestand,  oder  weil 
jede  von  ihnen  Widerstände  fand,  welche  ihr  die  Hervor- 
bringung von  W  unmöglich  machten;  die  letzte  Alternative 
wird  wie  früher  entschieden,  je  nachdem  sich  Spuren  einer 
andern  stellvertretenden  Wirkung  W^  auffinden  lassen  oder 
nicht. 

262.  Sei  nun  auf  einem  der  beschriebenen  Wege  außer 


378  Siebentes  Kapitel. 

Zweifel  gestellt,  daß  U  die  Ursache  von  W  sei  oder  enthalte, 
so  kann  diese  letzte  Frage  nur  durch  wiederholte  Beobach- 
tungen und  Versuche  beantwortet  werden,  welche  sich  der 
Reihe  nach  auf  die  ungesucht  unterscheidbaren  oder  durch 
künstlichere  Veranstaltungen  trennbaren  Bestandtheile  des  U 
und  auf  die  jedem  von  ihnen  zugehörige  Einzelwirkung 
beziehen.  Hierzu  setzen  wir  Ursache  und  Wirkung 
zwei  Gruppen  von  Vorgängen  gleich,  U  =  a  -|-  b  -[-  c  und 
W  =  a -f  ß -|- Y,  und  heben  folgende  einfachste  Fälle  als 
Beispiele  der  hier  vorkommenden  Mannigfaltigkeit  von  Ver- 
hältnissen hervor. 

1.  Der  Fall  (U  — a=:W).  Nach  leicht  begreifHcher 
Analogie  unserer  Bezeichnungen  bedeutet  dieser  Fall,  daß 
das  Fehlen  oder  die  experimentale  Aufhebung  des  einen 
Bestandtheils  a  der  Ursache  U  keine  Aenderung  in  der 
Wirkung  W  hervorbringt.  Wenn  dies  nun  buchstäblich 
richtig  wäre,  das  hier  beobachtete  W  mithin  dem  vorher 
beobachteten  völlig  gliche,  so  wäre  der  natürliche  Schluß, 
a  trage  gar  nichts  zur  Hervorbringung  der  Wirkung  bei, 
durchaus  gerechtfertigt.  Aber  eben  dies  findet  nicht  immer 
statt;  da  wir  alle  diese  Fälle  hier  nur  mit  Rücksicht  darauf 
behandeln,  wie  sie  in  unserer  Beobachtung  vorkommen, 
so  müssen  wir  erinnern,  daß  sehr  oft  die  beobachtbare 
Wirkung  unverändert  bleibt,  wo  die  wirkliche  in  der  That 
durch  die  Aufhebung  des  a  eine  Aenderung  in  W^  erfahren 
hat.  Denken  wir  uns  an  sechs  gleich  langen  Seilen,  die 
an  den  Eckpunkten  eines  regelmäßigen  Sechsecks  befestigt 
sind,  eine  Last  aufgehängt,  so  wird  sie,  wenn  wir  das  erste, 
dritte  und  fünfte  Seil  entfernen,  bei  hinlänglicher  Festigkeit 
der  Seile  nicht  nur  hängen  bleiben,  sondern  auch  scheinbar 
ihren  absoluten  Ort  im  Räume  behalten.  Das  letzte  findet 
jedoch  gewiß  nicht  statt;  die  Spannung  der  drei  übrigen 
Seile  ist  gewachsen,  und  sie  haben  sich  um  ein  Geringes 
ausgedehnt,  die  Last  selbst  sich  um  ein  Geringes  senkrecht 
verschoben,  und  hierin  besteht  eben  die  neue  Wirkung  W^, 
die  an  die  Stelle  von  W  getreten  ist;  die  Differenz  zwischen 
beiden  verschwindet  für  die  oberflächliche  Beobachtung 
und  verleitet  zu  dem  hier  falschen  Schlüsse,  die  drei 
anderen  Seile  haben  zu  der  ursprünglichen  Wirkung  W 
nichts  beigetragen,  während  nur  eine  früher  wirklich  ge- 
leistete Arbeit  derselben  vicarirend  von  den  andern  Be- 
standtheilen  von  U  übernommen  worden  ist.  Es  ist  kaum 
nöthig  zu  bemerken,  wie  ungemein  häufig  dieser  Fehl- 
schluß   von    der   Unbemerkbarkeit   kleiner   Wirkungen   auf 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  379 

Wirkungslosigkeit  begangen  und  durch  späteren  Schaden 
gebüßt  wird,  und  wie  die  Erkenntniß  seiner  Gefahr  zu 
vielerlei  Methoden  führt,  dieses  Kleine  für  die  Beobachtung 
zu  vergrößern  und  es  in  den  Bereich  der  Wahrnehmung 
zu   rücken. 

2.  Der  Fall  (U  — a— —  W).  Wenn  nach  dem  Ver- 
schwinden des  a  in  der  Beobachtung  oder  nach  seiner 
experimentalen  Aufhebung  das  ganze  W  verschwindet,  so 
neigen  wir  natürlich  zu  der  Annahme,  a  allein  sei  bei  der 
Hervorbringung  oder  doch  jedenfalls  bei  der  Erhaltung  des  W 
wirksam  betheiligt.  Daß  dies  möglich,  aber  nicht  allgemein 
gültig  sei,  lehrt  uns  die  Vergleichung  mit  andern  Be- 
obachtungen; lassen  wir  der  Reihe  nach  anstatt  a  die 
andern  Bestandtheile  von  U  verschwinden,  so  zeigt  sich 
oft,  daß  das  ganze  W  auch  mit  dem  Aufhören  von  b  oder 
von  c  ganz  ebenso  verschwindet,  daß  es  folglich  nicht 
von  einem  Bestandtheile  des  U,  sondern  von  der  gleich- 
zeitigen Gegenwart  und  Verknüpfung  aller  oder  doch 
mehrerer  von  ihnen  abhängig  ist.  Jede  zusammengesetzte 
Maschine,  jeder  lebendige  Körper  bietet  dafür  Beispiele; 
die  Bewegung  der  ersten  und  das  Leben  des  letztem  hört 
mit  der  Verletzung  mancher  Bestandtheile  auf,  deren  keiner 
für  sich  allein  im  Stande  gewesen  wäre,  ohne  die  Mit- 
wirkung der  übrigen  Bewegung  und  Leben  zu  erzeugen 
und  zu  erhalten;  die  Thatsache,  daß  mit  der  Zerstörung 
eines  einzelnen  Hirntheiles  a  eine  bestimmte  geistige 
Function  aufhört,  bürgt  nicht  dafür,  daß  eben  dieser  einzelne 
Theil  das  erzeugende  Organ  derselben  war;  selbst  die 
Gegenerfahrung,  daß  keines  anderen  einzelnen  Theiles  Ver- 
letzung dieselbe  Folge  habe,  macht  diesen  Schluß  nicht 
vollkommen  sicher;  es  bleibt  immer  möglich,  daß  a  nur 
der  unentbehrliche  Bestandtheil  war,  in  welchem  die  Wir- 
kungen aller  übrigen  eben  diese  Form  W  annehmen,  und 
daß  mithin  die  Function  aufhört,  sowohl  wenn  a,  als  wenn 
außer  a  alle  übrigen  Bestandtheile  des  Gehirns  in  ihren 
Verrichtungen  gehindert  werden.  Um  hierüber  zu  ent- 
scheiden, müßte  man  die  Aenderungen  des  W  in  W^  zu 
beobachten  suchen,  welche  bei  ungestörtem  a  aus  den 
Functionshemmnissen    der   übrigen    Organe   entspringen. 

3.  Der  Fall  (U  —  a  =  W  +  a).  Wenn  aus  U  der  Bestand- 
theil a  in  der  Beobachtung  verschwindet  oder  im  Experi- 
ment zum  Wegfall  gebracht  wird,  und  dann  die  Wirkung  W 
um  einen  neuen,  vorher  nicht  vorhanden  gewesenen  Be- 
standtheil   a  wächst,   oder   überhaupt  jetzt  erst   eine  Wir- 


380  Siebentes  Kapitel. 

kung  a  entsteht,'  so  haben  wir  zu  schließen,  daß  die  übrigen 
Bestandtheile  von  U  den  erzeugenden  Grund  von  a  ent- 
hielten, a  hingegen  ein  Hinderniß  war,  nach  dessen  Ent- 
fernung erst  a  sich  entfalten  kann.  Die  Beobachtung  allein 
rechtfertigt  diesen  Schluß  nicht  ganz ;  denn  es  bleibt  zweifel- 
haft, ob  nicht,  während  a  verschwand,  eine  unbemerkt  ge- 
bliebene neue  Bedingung  Z  eintrat,  welche  allein  a  hervor- 
bringt, während  a  weder  zu  seiner  Erzeugung,  noch  zu 
seiner  Hemmung  fähig  ist;  das  Experiment  beseitigt  diesen 
Zweifel  dann,  wenn  man  sicher  ist,  daß  das  operative  Ver- 
fahren, durch  welches  man  a  aufhob,  wirklich  nur  diese 
Negation  des  a  bewirkte,  nicht  aber  zugleich  einen  positiven 
Eingriff  Z  enthielt,  dem  die  Entstehung  von  a  zugemessen 
werden  könnte.  Jede  Störung  eines  Gleichgewichts  durch 
Beseitigung  einer  der  Kräfte,  die  es  unterhielten,  gibt  für 
diesen  Fall  ein  Beispiel;  auch  in  der  Oekonomie  der  leben- 
digen Verrichtungen  ist  die  Physiologie  mehrfach  auf  gleiches 
Verhalten  gestoßen.  Wenn  die  Durchschneidung  eines  Nerven 
stürmische  Bewegungen  hervorruft,  und  wenn  man,  wie  in 
diesem  Beispiel  für  sicher  gelten  kann,  durch  den  Act  der 
Durchschneidung  nicht  eine  dauernde  positive  Aufregung, 
sondern  nur  die  Aufhebung  eines  früher  bestandenen  Ein- 
flusses hervorgebracht  hat,  so  kann  man  nur  an  eine  durch 
den  Plan  der  Organisation  vorgezeichnete  Hemmung  der 
einen  Function  durch  eine  andere  denken  und  von  ihrer 
Aufhebung  den  Eintritt  jener  beobachteten  Bewegungen  ab- 
hängig machen.  Historische  Betrachtungen  führen  häufig 
auf  dieselbe  Ansicht.  Es  gibt  zwar  positive  Anregungen, 
durch  welche  die  Menschheit  in  eine  gewisse  Bahn  geschicht- 
licher Entwicklung  getrieben  wird ;  aber  die  Mehrzahl  großer 
und  plötzlicher  Umwälzungen  beruht  auf  einer  Hinweg- 
räumung von  Hindernissen,  die  der  Entfaltung  immer  vor- 
handener Tendenzen  und  Gesinnungen  entgegenstanden,  und 
selbst  jene  positiven  Antriebe  leiten  die  Begebenheiten  meist 
nur  eine  Zeit  lang  nach  der  von  ihnen  angegebenen  Rich- 
tung; später  nimmt  Alles  eine  andere  Wendung,  weil  un- 
vermerkt und  gegen  seine  Absicht  der  gegebene  Anstoß  auch 
Hindernisse  ganz  anders  gearteter  und  nach  andern  Zielen 
strebender  Kräfte  entfernt  oder  geschwächt  hatte. 

4.  Der  Fall  (U  — a  =  W— a).  Dieser  Fall  erfordert 
keine  neuen  Ueberlegungen,  sondern  schließt  sich  dem 
zweiten  und  dritten  an.  Veranlaßt  die  Aufhebung  eines 
Theiles  a  von  U  das  Verschwinden  eines  Theiles  a  in  der 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  381 

Wirkung,  so  kann  hier  wie  dort  der  Causalzusammenhang, 
der  dann  nothwendig  zwischen  a  und  a  besteht,  ein  aus- 
schließlicher, also  a  die  genügende  Erzeugungs-  oder  Er- 
haltungsursache von  a  sein;  es  kann  aber  auch  a  das  eine 
oder  das  andere  vielleicht  nur  in  Verbindung  mit  den 
übrigen  Bestandtheilen  von  U  sein,  und  dieses  letztere 
Verhalten  kann  selbst  dann  stattfinden,  wenn  Gegenver- 
suche zeigen,  daß  die  Aufhebung  keines  andern  Theils  von  U 
dieselbe  Vernichtung  des  a  herbeiführt,  weil  die  noch 
übrigen  Theile  für  die  weggefallenen  vicariren  können.  Es 
kann  ferner  a  vielleicht  nur  mittelbar,  nach  dem  Muster 
des  dritten  Falles,  a  bedingen;  dann  ist  ein  anderer  Theil 
von  U,  vielleicht  c  +  d,  die  erzeugende  und  erhaltende 
Ursache  von  a,  aber  ein  dritter  Bestandtheil  b  hemmt 
die  Wirkung  von  c-|-d,  dieses  Hinderniß  endlich  wird 
durch  a  balancirt,  so  daß  die  Entfernung  von  a  der  hem- 
menden Kraft  des  b  nun  die  Unterdrückung  des  a  mög- 
lich macht.  Entziehung  des  Sauerstoffs  a,  während  die 
übrigen  Lebensbedingungen  U  bleiben,  hebt  die  lebendigen 
Functionen  a  des  thierischen  Körpers  auf,  ohne  dessen  Bau 
sonst  ebenso  sichtbar  wie  andere  Todesursachen  zu  ver- 
ändern. Man  hat  hieraus  niemals  den  Schluß  ziehen  können, 
der  Sauerstoff  allein  bringe  das  Leben  hervor;  daß  er  es 
nur  konnte  im  Verein  mit  den  Bestandtheilen  des  Körpers, 
mithin  als  ein  Reiz,  der  auf  diese  wirkt,  oder  als  eine  Mit- 
ursache unter  vielen,  dies  war  von  selbst  klar;  aber  doch 
schrieb  man  ihm  die  positive  Rolle  zu,  eben  der  erregende 
Reiz  zu  sein,  der  durch  seine  Einwirkung  unmittelbar  in 
den  Organen  die  Bewegungen  hervorruft,  deren  Ganzes 
das  Leben  ist.  Diese  Deutung  hat  nicht  ganz  widerlegt 
werden  können;  aber  gewiß  theilt  sie  sich  mit  der  anderen 
in  die  ganze  Wahrheit,  nämlich  mit  der,  daß  die  Ein- 
wirkung des  Sauerstoffs  hauptsächlich  in  der  Hinweg- 
räumung von  Hindernissen  bestehe,  die  aus  den  lebendigen 
Functionen  selbst,  durch  Abnutzung  der  organischen  Stoffe, 
für  die  weitere  Fortsetzung  dieser  Functionen  entstehen. 

5.  Der  Fall  (U  +  a^W).  Der  Hinzutritt  einer  neuen 
Ursache  a  zu  U,  in  welchem  sie  früher  nicht  enthalten 
war,  kann  die  gesammte  Wirkung  W  nur  unter  denselben 
Bedingungen  unverändert  lassen,  wie  in  dem  ersten  Fall 
der  Wegfall  eines  in  W  vorher  enthaltenen  Bestandtheils  a. 
Entweder  findet  sich,  in  der  Beobachtung,  während  a  hin- 
zukommt, ein  unbeachtetes  Z  ein,  das  seine  Wirkung  auf- 


382  Siebentes  Kapitel. 

hebt,  oder  es  ist  uns,  im  Versuche,  nicht  gelungen,  a  so 
anzubringen,  daß  es  seine  Wirkung  entfalten  kann.  Wirkt 
aber  a  in  der  That,  wird  also  wirklich  das  gesammte  W 
in  Wi  verändert,  so  kann  diese  Veränderung  sich  entweder 
der  Beobachtung  entziehen  oder  sie  betrifft  nicht  den  be- 
stimmten Theil  des  gesammten  W,  auf  welchen  unsere 
Wißbegier  sich  allein  gerichtet  hatte,  und  bleibt  deshalb 
unbeachtet. 

6.  Der  Fall  (U  +  a  =  W+a).  Wenn  ein  neues  Ele- 
ment a,  welches  zu  den  bisher  wirkenden  Ursachen  ü 
hinzutritt,  das  neue  Element  a  in  der  bisherigen  Wirkung  W 
entstehen  läßt,  so  kann  a  für  sich  allein  die  hinreichende 
Ursache  sein,  welche  in  den  Objecten,  die  hier  in  Frage 
kommen,  die  Wirkung  a  erzeugen  würde;  es  kann  aber 
auch  a,  gleich  dem  letzten  Tropfen,  der  ein  volles  Gefäß 
zum  Ueberlaufen  bringt,  nur  die  ergänzende  Ursache  sein, 
ohne  welche  alle  früheren,  und  welche  selbst  ohne  alle 
früheren  diese  Wirkung  nicht  hervorgebracht  hätte.  Es 
kann  endlich  vorkommen,  daß  die  Wirkung  W  oder  über- 
haupt die  Thatsache  W,  die  wir  hier  um  den  Zuwachs  a 
vermehrt  werden  und  dadurch  in  W^  übergehen  lassen,  nicht 
ein  ruhiger  Zustand  und  nicht  ein  immer  in  gleicher  Weise 
sich  wiederholendes  oder  fortsetzendes  Geschehen,  sondern 
selbst  eine  Entwicklung  ist,  die,  wenn  sie  einmal  durch 
eine  Gruppe  U  von  Ursachen  hervorgebracht  ist,  dann  in 
Folge  der  Natur  der  Objecte,  auf  welche  diese  wirken,  von 
selbst  aus  W  sich  in  W^  verwandelt;  dann  ist  a  ein  müßiger 
Zusatz  zu  U  oder  ein  solcher,  der  zwar  anderweitige  Wir- 
kungen haben  mag,  aber  unschuldig  ist  an  einem  Eintreten 
des  a.  Mit  dieser  Zweideutigkeit  kämpfen  die  therapeu- 
tischen Beobachtungen.  Wenn  man  in  den  lebendigen 
kranken  Körper  U  das  Heilmittel  a  und  seine  vermutheten 
Kräfte  einführt,  so  bleibt  zweifelhaft,  ob  die  Krankheit  W 
die  günstige  Wendung  a  aus  diesem  Grunde  nimmt,  und 
ob  sie  nicht  vielmehr  von  selbst  denselben  Verlauf  auch 
ohne  a  genommen  haben  würde.  Es  ist  nicht  ganz  leicht, 
dies  zu  entscheiden,  weil  hier  die  Möglichkeit  des  Ver- 
suchs in  enge  Grenzen  eingeschlossen  ist.  Hat  man  ein- 
mal beobachtet,  daß  in  vielen  Fällen  auf  die  Hinzufügung 
von  a  der  erwünschte  Erfolg  eintrat,  so  scheut  man  sich, 
das  vielleicht,  aber  doch  nicht  gewiß,  überflüssige  a  ver- 
suchsweis  wegzulassen;  Gegenerfahrungen  aber,  die  sich 
freiwillig  darbieten  und  die  Unnöthigkeit  des  a  zu  beweisen 
scheinen,  bleiben  auch  ihrerseits  zweideutig,  weil  die  ver- 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  383 

glichenen  Fälle  selten  ganz  gleichartig  sind  und  weil  sich 
kaum  nachweisen  läßt,  daß  nicht  irgend  ein  Z  das  fehlende  a 
als  äquivalente  Einwirkung  ersetzt  hat.  Dieselben  Schwierig- 
keiten findet  die  Betrachtung  socialer  und  geschichtlicher 
Phänomene;  es  ist  schwer  festzustellen,  ob  zur  Erzeugung 
einer  neuen  Wendung  a  der  Dinge  eine  Maßregel  a  oder 
ein  Ereigniß  a  beigetragen  hat,  das  die  Beobachtung  dem  a 
vorangehen  sah;  noch  schwieriger,  zu  ermitteln,  worin  all- 
gemein die  Wirksamkeit  des  a  liegt  und  durch  welche  in 
W  liegenden  Nebenbedingungen  sie  ermöglicht  oder  be- 
günstigt wird. 

7.  Der  Fall  (U  +  a^U  +  b).  Es  ist  unmöglich,  daß 
zwei  Ursachen,  die  neben  einem  gemeinschaftlichen  Be- 
standtheil  U  sich  durch  verschiedene  Bestandtheile  a  und  h 
unterscheiden,  genau  dieselbe  Gesammtwirkung  W  haben, 
aber  es  ist  möglich,  daß  ein  bestimmter  von  uns  ins  Auge 
gefaßter  Theil  ihrer  Gesammtwirkung  oder  endlich  daß  das- 
jenige gleich  sei,  was  von  diesem  Theile  in  unsere  Be- 
obachtung fällt.  Dies  Verhalten  bezeichne  ich  durch  die 
vorangestellte  Formel.  Der  nächstliegende  Schluß  aus  ihm 
ist  natürlich  der,  daß  beide  Ursachen  durch  ihren  gleichen 
Bestandtheil  die  gleiche  Wirkung  erzeugen  und  daß  in 
Bezug  auf  diese  die  ungleichen  Elemente  derselben  ohne 
Einfluß  sind.  Es  bedarf  keiner  Erwähnung,  daß  dieser 
Schluß  sehr  häufig  zutrifft,  selbst  dann,  wenn  das  Gemein- 
same zweier  oder  vieler  Ursachen  nur  in  wenigen  Merk- 
malen besteht,  das  Verschiedene  dagegen,  a  und  b,  sich  zu 
Complexen  sehr  vieler  Merkmale  erweitert.  Aber  es  ist 
doch  auch  möglich,  daß  U  für  sich  allein  niemals  jene 
gleiche  Wirkung  erzeugt  oder  erhält,  sondern  allemal  dazu 
einer  Unterstützung  durch  a  oder  b  oder  c  bedarf,  welche 
letzteren  Bestandtheile  dann  als  äquivalente  Mitursachen 
von  W  zu  betrachten  sind ;  es  kann  selbst  kommen,  daß  der 
gleiche  Theil  U  verschiedener  Ursachen  völlig  wirkungslos 
in  Bezug  auf  W  ist  und  dieses  allein  von  den  ungleichen 
Elementen  beider  abhängt.  Lassen  wir  auf  einen  Punkt, 
der  auf  einer  festen  Ebene  liegt,  drei  Kräfte  einwirken,  die 
eine  c  senkrecht  auf  die  Ebene,  die  andern  beiden  a  und  b 
divergent  in  der  Ebene,  so  ist  es  leicht  möglich,  den  letztern 
zwei  andere  zu  substituiren,  welche  dieselbe  Resultante  W 
geben:  die  erste  Kraft  c,  die  einzige,  die  beiden  Kraft- 
systemen gemeinsam  ist,  ist  zugleich  die  einzige,  die  nichts 
zur  Bestimmung  der  Richtung  und  Größe  der  Resultante 
beiträgt.      Ganz    allgemein,    jedes    Gleichgewicht   und   jede 


384  Siebentes  Kapitel. 

Bewegung  läßt  unzählige  Constructionen  aus  sehr  ver- 
schiedenen Verknüpfungen  von  Einzelursachen  zu.  Nun 
kann  man  freilich  einwenden,  daß  in  allen  solchen  Fällen 
a  b  c  nicht  unvergleichbar  verschieden  sind,  sondern  selbst 
noch  ein  Gemeinsames  x  neben  ihren  Verschiedenheiten 
enthalten;  dies  x  müsse  man  zu  dem  gemeinsamen  U 
rechnen,  und  dann  werde  immer  U  -f-  x  die  wahre  Ursache 
der  gleichen  Wirkung  W  sein.  Diese  Bemerkung  ist  richtig, 
aber  sie  gehört  nicht  als  Einwand  hierher,  denn  sie  spricht 
nur  den  in  abstracto  selbstverständlichen  Satz  aus,  daß 
zu  gleichen  Folgen  immer  gleiche  Gründe  gehören;  hier 
aber  handelt  es  sich  darum,  wodurch  in  der  Beobachtung 
diese  gleichen  Gründe  gleicher  Folgen  repräsentirt  werden, 
und  wir  fanden  nun,  daß  nicht  immer  die  gleichen  Bestand- 
theile  oder  Merkmale  zweier  Ursachen  das  Vehikel  dieser 
gleichen  Gründe  sind,  sondern  daß  diese  sich  eben  häufig 
in  der  Combination  unmittelbar  ungleicher  Bestandtheile 
Merkmale  oder  Bedingungen  verbergen.  Diese  Zweideutig- 
keiten müssen  daher  durch  Nebenversuche  entschieden 
werden.  Man  muß  wissen,  ob  U  allein  W  zu  erzeugen 
oder  zu  erhalten  vermag;  ist  dies  so,  dann  sind  a  und  b 
zwar  nicht  nothwendig  wirkungslose,  aber  entbehrliche  Be- 
standtheile der  Ursache,  denn  wir  haben  dann  den  Fall 
(U  —  a  =  W)  und  seine  oben  betrachteten  Folgen.  Man  muß 
ferner  wissen,  ob  a  und  b  allein  W  erzeugen  oder  nicht; 
thun  sie  es,  so  ist  nach  demselben  ersten  Falle  U  nicht 
nothwendig  wirkungslos,  aber  eine  entbehrliche  Mitursache 
von  W.  Findet  beides  nicht  statt,  so  sind  U  -f  a,  U  -f  b, 
U  -|-  c  Paare  von  einander  unentbehrlichen  Mitursachen  von 
W,  und  es  ist  jetzt  Zeit,  durch  neue  Combinationen  der 
Wahrnehmungen  oder  durch  Variation  der  Versuche  zu  er- 
mitteln, welcher  gemeinsame  Bestandtheil  x,  des  a  des  b 
und  des  c,  und  vielleicht  auch,  welcher  einzelne  Bestand- 
theil u  des  U  zusammen  die  wahre  und  genügende  Ur- 
sache u-fx  der  gleichen  Wirkung  W  ausmachen. 

263.  Gar  nicht  immer  wird  es  durch  die  bisher  durch- 
gegangenen Schlüsse  gelingen,  überhaupt  nur  die  nächste 
und  hinreichende  Ursache  einer  Wirkung  zu  bestimmen, 
noch  weniger  die  Art  von  Causalzusammenhang  zu  er- 
mitteln, die  zwischen  beiden  stattfindet.  Man  nähert  sich 
diesem  Ziele  mehr,  wenn  es  möglich  ist,  die  Größen - 
Veränderungen  zu  beobachten,  welche  die  Wirkungen 
für  bestimmte  Aenderungen  der  Ursachen  erfahren.  Es 
gibt  wohl  keine  Art  der  Wirkung,  die  nicht  irgendwie  ver- 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  385 

änderliche  Größen  zuließe;  selbst  solche,  die  unmittelbar 
kein  Mehr  oder  Weniger  aufzeigen,  gestatten  es  mittelbar; 
Gleichgewicht  kann  nicht  mehr  oder  minder  Gleichgewicht 
sein,  aber  es  übt  doch  gegen  den  Versuch  zur  Aufhebung 
größeren  oder  geringeren  Widerstand,  oder  es  bedarf  zu 
seiner  Unterhaltung  verschiedener  Kräfte.  Ich  stelle  wieder 
die  einfachsten  der  beobachtbaren  Fälle  als  Beispiele  zu- 
sammen. 

1.  Der  Fall  (mW  =  mU).  Denken  wir  uns  den  reinen 
Fall  hergestellt,  den  wir  früher  mit  BF  bezeichneten  und 
jetzt  mit  UW  bezeichnen  können,  so  daß  U  die  ganze 
und  nichts  außer  der  ganzen  Ursache  von  W,  W  die  ganze 
und  nur  die  ganze  Wirkung  von  U  ist,  beide  aber  unmittel- 
bare Größenbestimmungen  zulassen,  so  werden  wir  als 
selbstverständlichen  Grundsatz  betrachten,  daß  gleichen 
Differenzen  zweier  Werthe  von  U  auch  gleiche  Differenzen 
der  zugehörigen  Werthe  von  W  entsprechen,  daß  also  U 
und  W  in  einfacher  gerader  Proportion  stehen.  Dann  ist 
mW  =  mU.  Diese  Formel,  welche  keine  mathematische 
Gleichung,  sondern  ein  logisches  Symbol  ist,  setzt  voraus, 
daß  wir  die  Wirkung  so  wie  ihre  Ursache  jede  nach  einem 
besondern  ihrer  Natur  eigenthümlichen  oder  für  sie  zu- 
lässigen Maßstab  zu  messen  im  Stande  sind,  und  behauptet, 
daß  dann  in  der  jedesmaligen  Wirkung  die  Einheit  der 
Wirkung,  W,  ebenso  oft  enthalten  ist,  wie  in  der  wirkenden 
Ursache  die  Einheit  der  Ursache,  ü.  Selbstverständlich 
ist  dieses  Verhalten  aber  doch  nur  dann,  wenn  m  einzelne 
Ursachen  U,  jede  für  sich,  die  gleiche  Wirkung  W  er- 
zeugen, und  nur  wir  die  Summe  dieser  getrennten  Wir- 
kungen ziehen,  welche  dann  der  Summe  der  Ursachen 
proportional  sein  wird.  Geben  wir,  in  verschiedenen  Augen- 
blicken, mmal  denselben  Geldbetrag  U,  jedesmal  für  die 
Waare  W,  aus,  so  wird,  Gleichheit  der  Preisforderung  vor- 
ausgesetzt, unser  Gesammteinkauf  mW  für  den  Geldwerth 
mU  sein;  wirken  m  gleiche,  aber  getrennte,  Stöße  U  auf 
ebensoviel  verschiedene  Elemente  und  geben  jedem  die 
Geschwindigkeit  W,  so  wird  die  Summe  aller  erzeugten 
Geschwindigkeiten  m  •  W,  oder  die  entstandene  Bewegungs- 
größe mW  sein,  wenn  wir  die  Anzahl  der  Elemente  als  Be- 
zeichnung einer  Masse  ansehen.  Es  ist  anders,  wenn  die 
vielen  Ursachen  und  ihre  Wirkungen  in  einer  sachlichen 
Verbindung  stehen.  Die  auf  einmal  gegebene  Geldsumme 
mU  erkauft  mehr  Waare,  als  sie  in  m  Einzelkäufen  er- 
zielen  würde;   hier  sind    es   verwickelte   Rücksichten    des 

Lotze,  Logik.  25 


386  Siebentes  Kapitel. 

Verkehrs,  welche  in  der  Seele  des  Verkäufers  ihren  Werth 
steigern;  an  sich  bleibt  es  richtig,  daß  jedes  einzelne  U 
nur  für  ein  einziges  W  der  bedingende  hinlängliche  Grund 
ist;  nur  im  wirklichen  Effect  wird  diese  an  sich  begründete 
Folge  durch  jene  Nebenursache  geändert.  Wenn  ein  Im- 
puls U  einem  Körper  die  Geschwindigkeit  W  gibt,  so  wird 
mU,  gleichzeitig  wirkend,  ihn  vielleicht  nicht  fortbewegen, 
sondern  zertrümmern ;  immer  bleibt  mU  der  rationale  Grund 
für  eine  Geschwindigkeit  mW,  aber  die  mitwirkenden  Ver- 
hältnisse im  Zusammenhang  des  Körpers  ändern  den  Er- 
folg. Nur  wenn  wir  ein  körperliches  Element  als  bloßes 
Substrat  der  Bewegung  betrachten  dürfen,  jeder  eigenen 
Rückwirkung  baar,  können  wir  selbstverständlich  von  der 
Ursache  mU  die  proportionale  Bewegungswirkung  mW  er- 
warten. Allgemein  also :  bei  der  Anwendung  unseres  Grund- 
satzes denken  wir  uns  die  m  fache  Ursache  gleich  m 
einzelnen  Ursachen  U  und  nehmen  an,  es  seien  keinerlei 
Umstände  vorhanden,  welche  das  eine  Glied  dieser  Summe 
nöthigten,  mehr  oder  weniger  oder  anders  zu  wirken,  als 
wenn  es  allein  vorhanden  und  die  übrigen  Glieder  nicht 
da  wären.  Dann  bringt  die  m  fache  Ursache  die  m  fache 
Wirkung  hervor,  und  umgekehrt:  wo  unsere  Beobachtungen 
annähernd  dies  Verhältniß  zeigen,  haben  wir  die  Hoffnung, 
einen  reinen  Fall  UW  vor  uns  haben,  der  in  dem  oben  an- 
gegebenen Sinne  mit  einem  reinen  Bedingungsverhältniß  BF 
identisch  ist. 

2.  Der  Fall  (W=:C).  Es  ist  ein  sehr  häufiges  Vor- 
kommen, daß  eine  Ursache  U  tmal  auf  dasselbe  Object 
einwirkt,  imd  wir  verstehen  dann  unter  t  entweder  die  An- 
zahl der  Wiederholungen  dieser  momentan  gedachten  Ein- 
wirkung, oder  die  Anzahl  der  Zeiteinheiten,  in  deren  jeder 
die  stetig  wirkende  Kraft  U  ein  bestimmtes  Maß  von  Wir- 
kung erzeugt.  Ist  diese  dann  von  der  Art,  daß  sie  das 
ihr  unterliegende  Object  als  dasselbe  identische  Object  fort- 
bestehen läßt,  so  würde  jede  spätere  Wiederholung  der- 
selben Ursache  in  ihm  dasselbe  Geschehen  noch  einmal 
erzeugen,  mithin  würde  nach  t  Wiederholungen  oder  nach 
der  Zeit  t  auch  tmal  dieselbe  Wirkung  an  ihm  vorhanden 
sein,  vorausgesetzt,  daß  nach  dem  Satz  der  Beharrung  jeder 
frühere  Erfolg  fortdaure,  da  ihm  kein  Hinderniß  entgegen- 
steht. Dies  ist  der  Fall  der  räumlichen  Bewegung,  bei 
welcher  wir  voraussetzen,  daß  die  bewegungerzeugenden 
Ursachen  das  bewegte  Object  entweder  nicht  ändern,  oder 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  387 

nur  innere  Zustände  in  ihm  hervorbringen,  welche  durch- 
aus keinen  hemmenden  Einfluß  auf  neu  anzimehmende 
Bewegungen  w  ausüben.  Betrachten  wir  als  die  Wirkung  W 
die  erzeugte  Geschwindigkeit,  so  ist  W  stets  =rw.t,  ab- 
hängig von  der  Zeit.  Käme  es  dagegen  vor,  daß  ein  Object 
während  der  ganzen  Zeit  t,  durch  welche  hindurch  eine 
constante  Ursache  U  beständig  auf  es  einwirkt,  einen  gleich- 
förmigen Zustand,  W  stets  gleich  der  Constanten  C,  zeigte, 
so  könnte  dies  kein  reiner  Fall  sein,  sondern  es  müßte 
außer  U  noch  Mitursachen  oder  Mitbedingungen  Z  geben, 
welche  den  Einfluß  des  Beharrungsgesetzes  aufhöben,  die 
Summirung  der  Einzelimpulse  unmöglich,  die  Wirkung  W 
constant  und  von  der  Zeit  unabhängig  machten.  Wenn  ein 
kühler  Körper  unter  dem  Einfluß  der  Sonnenstrahlen  sich 
erst  erwärmt,  dann  aber  während  beständiger  Fortdauer 
gleicher  Bestrahlung  eine  constante  Temperatur  behält,  so 
kann  nicht  die  Bestrahlung  allein  die  Ursache  dieses  Ver- 
haltens sein;  die  erklärende  Mitursache  liegt  in  der  Aus- 
strahlung, die  von  dem  erwärmten  Körper  ausgeht  und  die 
ihn  bei  einer  gewissen  erreichten  Temperaturdifferenz 
zwischen  ihm  und  feiner  Umgebung  ebensoviel  Wärme 
wieder  auszugeben  nöthigt,  als  er  neu  empfängt. 

3.  Der  Fall  (dW=:^  dU).    Es  gibt  im  Grunde  außer  der 

einfachen  räumlichen  Bewegung  keinen  andern  Fall,  in 
welchem  wir  annehmen  könnten,  die  in  dem  beeinflußten 
Object  a  erzeugte  Wirkung  werde  die  zunächst  zu  er- 
leidende gar  nicht  präjudiciren ;  im  Allgemeinen  wird  durch 
die  Erstwirkung  dieses  a  in  a  verändert,  und  hierin,  in 
der  Nichtidentität  des  die  Wirkung  empfangenden  Objectes, 
liegt  eine  veränderliche  Mitbedingung  Z,  welche  den  wieder- 
holten Impulsen  der  Ursache  U  nach  und  nach  andere 
Wirkungen  zuordnet,  als  dem  ersten.  Nehmen  wir  zuerst 
an,  die  Veränderung  des  a  in  a  sei  von  der  Art,  daß  sie 
der  nächsten  Einwirkung  Widerstand  entgegensetzt,  so 
etwa,  wie  ein  bereits  zusammengedrückter  Körper  der  neuen 
Zusammendrückung  widerstrebt,  da  durch  die  gegenseitige 
Annäherung  seiner  Elemente  die  zwischen  ihnen  wirksamen 
Abstoßungen  gewachsen  sind.  Das  Maß  dieses  Widerstandes 
kann  keine  von  allen  zusammenwirkenden  Parteien  unab- 
hängige Constante  sein,  sondern  muß  einestheils  der  speci- 
fischen  Intensität  der  inneren  Abstoßungen,  von  denen  der 
Widerstand   geleistet  wird,  und  die  für  den  einen  Körper 

25* 


388  Siebentes  Kapitel. 

andere  sind,  als  für  den  anderen,  anderntheils  der  bereits 
erfolgten  Zusammendrückung  proportional  sein,  denn  diese 
ist  es,  welche  durch  jene  Annäherung  der  Elemente  die  Ab- 
stoßungen steigert.  Die  erste  Bedingung  liefert  für  die 
noch  mögliche  Einwirkung  der  Ursache  U  einen  constanten 
Coefficienten,  abhängig  von  der  Natur  des  Objectes  a,  die 
andere  sagt,  daß  die  Größe  dieser  nächsten  Einwirkung  in 
einem  umgekehrten  Verhältniß  zu  der  Größe  des  bereits 
erreichten  Erfolges  W  stehen  muß,  welche  letztere  selbst 
für  zwei  verschiedene  Ursachen  U  und  Un  von  den  Größen 
dieser  abhängig  bleibt.  Naturursachen  wirken  nun  niemals 
momentan;  wir  können  jedes  U  in  eine  Anzahl  von  dU 
zerfallen,  die  nach  einander,  übrigens  in  der  Zeit  beliebig 
vertheilt,  jedes  den  ihm  entsprechenden  constanten  Theil 
der  Wirkung  dW  =  m  •  dU  hervorbringen  würden,  wenn  jedes 
von  ihnen  allein  wirkte,  aber  ein  verändertes  dW  erzeugen, 
weil  jedes  auf  das  von  seinen  Vorfahren  bereits  modificirte 
Object  einwirkt.  Es  ist  daher  gleichgültig,  ob  wir  U  und 
Un  als  zwei  verschiedene  Ursachen  oder  als  zwei  ver- 
schiedene Werthe  betrachten,  bei  denen  eine  und  dieselbe 
wachsende  Ursache  U  stehen  geblieben  oder  für  unsere 
Betrachtung  fixirt  worden  ist.  Bedeutet  dann  W  =  f  (Un) 
den  Erfolg,  den  n  aufeinanderfolgende  dU  bereits  erzeugt 
haben,  so  ist  die  Wirkung  dW,  welche  durch  Hinzufügung 

noch   eines   dU   entspringen    würde:   dW=^-dU.     Unter 

den  reinen  Größenfunctionen  ist  es  der  Logarithmus  von  U, 
der  diese  Art  des  Wachsthums  zeigt;  auf  logarithmische 
Ausdrücke  kommen  wir  deshalb  bei  der  Berechnung  von 
Wirkungen,  die  durch  ihre  eigenen  Erfolge  sich  Hinder- 
nisse ihrer  Wiederholung,  proportional  jenen  Erfolgen, 
schaffen. 

4.  Der  Fall  (dW  =  mWdU).  So  wenig  im  vorigen  Fall 
eine  wiederholte  Ursache  nur  deswegen  weniger  wirken 
konnte,  weil  sie  nicht  zum  ersten  Male  wirkte,  so  wenig 
kann  sie  nur  deshalb  mehr  wirken,  weil  sie  schon  mehrmal 
gewirkt  hat.  Auch  dieser  Fall,  den  wir  als  Uebung,  wie 
den  vorigen  als  Abhärtung  in  den  Begriff  der  Ge- 
wöhnung einzuschließen  pflegen,  bedarf  der  Annahme 
einer  Mitursache  Z,  nämlich  einer  solchen  Aenderung  des 
beeinflußten  Objects  a  in  a,  welche  jedem  späteren  Ein- 
wirken der  Ursache  Vortheile  verschafft,  indem  sie  stets 
geringere  Widerstände  ihm  entgegesetzt ;  wie  etwa  der  erste 


Allgemeine  Sätze  aus  Wahrnehmungen.  389 

Schlag  den  Stein  so  erschüttert,  daß  der  zweite  die  vor- 
gefundenen Schwingungen  nur  zu  vermehren  hat,  um  die 
Cohäsion  der  Theile  zu  überwinden.  Kommt  nichts  sonst 
in  Betracht,  so  werden  wir  aus  analogen  Gründen,  wie  im 
vorigen  Falle,  die  Größe  der  momentanen  Einwirkung  pro- 
portional dem  Gesammterfolge  oder  dem  Integral  der 
früheren  Einwirkungen  zu  setzen  haben.  Unter  den  reinen 
Größenfunctionen  von  U  ist  es  die  Exponentialfunction  e^, 
welche  diese  Eigenschaft  eines  dem  Integral  selbst  gleichen 
Differentialquotienten  besitzt;  auch  der  Anwendung  dieser 
Formel  werden  wir  daher  in  mathematischen  Ausdrücken 
natürlicher  Wirkungsformen  häufig  begegnen. 

5.  Der  Fall  (dW  =  m.  sinU).  Keiner  der  bisher  be- 
trachteten Fälle  kann  auf  Wirkungen  führen,  welche, 
während  die  Ursache  beständig  wächst,  zwischen  Wachs- 
thum  und  Abnahme  schwanken;  sie  nehmen  entweder 
immer  ab  oder  immer  zu.  So  oft  daher  ein  periodischer 
Wechsel  zwischen  Zunahme  und  Abnahme  der  W  bei  stets 
in  gleichem  Sinne  sich  änderndem  U  stattfindet,  muß  es 
neben  U  eine  oder  mehrere  Mitursachen  Z  geben,  deren 
Verhältnisse  zu  U  entweder  an  sich  veränderlich  sind  oder 
durch  den  Vorgang  des  Zusammenwirkens  so  verschoben 
werden,  daß  die  Wirkungen  aller  sich  bald  summiren,  bald 
einander  entgegengesetzt  sind,  und  durch  Maxima  und 
Minima  von  der  einen  zu  der  andern  dieser  Beziehungen 
übergehen.  Die  von  mir  benutzte  Formel  ist  nur  ein  ganz 
unzureichender  symbolischer  Ausdruck  für  die  begreiflich 
unermeßliche  Mannigfaltigkeit  der  hier  möglichen  Com- 
binationen. 


Achtes  Kapitel. 

Auffindung  von  Gesetzen. 

264.  In  den  Verhältnissen,  die  wir  im  vorigen  Kapitel 
aufgeführt  haben,  liegen  die  Beweggründe,  die  uns  zur 
Anstellung  neuer  Versuche  oder  zur  Aufsuchung  neuer  Be- 
obachtungen veranlassen,  um  die  jedesmal  noch  gebliebene 
Möglichkeit  verschiedener  Ursachen  einer  Wirkung  zu  be- 
seitigen. Der  allgemeine  Sinn  dieses  Verfahrens  ist  immer 
derselbe:  aus  den  unreinen  Beobachtungen  SP  oder  UW 
soll  der  reine  Fall  Sil  oder  BF  durch  Elimination  aller 
der  Bestandtheile  der  Beobachtung  ermittelt  werden,  welche 
dem  vorliegenden  Causalzusammenhange  fremd  sind.  Es 
scheint  mir  nicht  nöthig,  diese  allgemeine  Vorschrift  noch 
in  eine  Anzahl  besonderer  Methoden  zu  zerfallen;  nütz- 
licher vielmehr,  darauf  hinzuweisen,  daß  wir  schon  in  der 
elementaren  Algebra  ein  instructives  Vorbild  der  sehr 
mannigfachen  Operationen  besitzen,  die  unserem  Zwecke 
dienen  können.  Sowie  wir  gegebene  Gleichungen,  die  zu- 
sammen die  Verhältnisse  zweier  oder  mehrerer  unbekannter 
Größen  definiren,  durch  die  verschiedensten  Mittel,  durch 
Hinzufügung  neuer  Größen,  Subtraction  anderer,  durch 
Multiplication  oder  Division  ihres  ganzen  Inhalts  umformen, 
um  sie  unmittelbar  vergleichbar  und  zur  allmählichen 
Elimination  einzelner  Unbekannten  geschickt  zu  machen, 
so  werden  wir  auch  unsere  jetzige  Aufgabe  bald  durch 
passende  Hinzufügung  neuer  Bedingungen,  deren  Einfluß 
berechenbar  ist,  bald  durch  ebenso  beurtheilbare  Hemmung 
gegebener,  bald,  wo  es  möglich  ist,  durch  Veränderung  in 
der  gegenseitigen  Stellung  der  zusammenwirkenden  Ui- 
sachen,  endlich  durch  Modification  unseres  eigenen  Ver- 
haltens gegenüber  dem  zu  beobachtenden  Material  zu  lösen 
suchen.     Ich  lasse  dahin  gestellt,  ob  wir  auf  diesem  Wege 


Auffindung  von  Gesetzen.  391 

überhaupt  jemals  zu  einem  reinen  Fall  BF  gelangen  können ; 
wären  wir  aber  auch  so  glücklich  gewesen,  die  genaue  Ur- 
sache U  einer  genauen  Wirkung  W  zu  finden,  so  würde  in 
keinem  Falle,  außer  in  geschichtlichen  Untersuchungen, 
unsere  Wißbegier  völlig  befriedigt  sein.  Denn  dieser  reine 
Fall  UW  würde  keine  andere  Folgerung  zulassen  als  die, 
daß  jedesmal,  wenn  dasselbe  U  in  Wirklichkeit  wieder 
vorkäme,  dasselbe  W  ihm  folgen  müßte.  Aber  sowohl  die 
praktischen  Bedürfnisse  des  Lebens  als  die  Interessen  des 
wissenschaftlichen  Erkennens  treiben  uns  zu  der  weitern 
Frage :  wie  wird  W  sich  in  W^  ändern,  wenn  U  in  U^^  über- 
geht, oder :  wie  wird  eine  Wirkung  W^  gestaltet  sein  müssen, 
wenn  nicht  das  beobachtete  U,  sondern  ein  anderes,  U^, 
eintritt,  dessen  Differenz  von  U  genau  angebbar  ist  ?  Wir 
verlangen  mit  einem  Wort  nicht  blos  die  Gewißheit  eines 
thatsächlichen  Zusammenhangs  zwischen  einem  U  und 
einem  W^,  sondern  auch  die  Kenntniß  des  Gesetzes,  nach 
welchem  derselbe  stattfindet  und  sich  ändert. 

265.  Der  Name  Gesetz  hat  verschiedene  Bedeutungen 
für  verschiedene  Kreise  menschlicher  Interessen:  sein  logi- 
scher Sinn  ist  dennoch  überall  der  nämliche.  In  voller 
logischer  Form  ist  Gesetz  ein  allgemeines  hypothe- 
tisches Urtheil,  welches  sagt:  immer,  wenn  U  ist  oder 
gilt,  gilt  oder  ist  auch  W,  und  allemal,  wenn  U  um  eine 
bestimmte  Differenz  dU  sich  in  U^  verwandelt,  verändert 
sich  auch  W  in  W^  um  eine  bestimmte  von  dU  abhängige 
Differenz  dW.  Hypothetisch  ist  das  Gesetz,  weil  es  nie- 
mals erzählen  soll,  was  geschieht,  sondern  immer  nur  be- 
stimmen, was  geschehen  soll  oder  muß,  wenn  bestimmte 
Bedingungen  gegeben  sind.  Nicht  von  diesem  hypotheti- 
schen Sinne,  sondern  nur  von  der  entsprechenden  Form 
des  Ausdrucks  ausgenommen  sind  Gesetze,  die  sich  auf 
dauernd  gegebene  oder  als  dauernd  vorausgesetzte  Be- 
dingungen beziehen.  Wenn  man  in  kategorischer  Form  als 
Naturgesetz  ausspricht:  alle  ponderablen  Elemente  ziehen 
einander  nach  dem  umgekehrt  quadratischen  Verhältniß 
ihrer  Entfernungen  an,  so  drückt  man  damit  nur  aus,  daß 
eine  einzige  stets  erfüllte  Bedingung,  nämlich  das  gleich- 
zeitige Vorhandensein  in  derselben  Welt,  für  jene  Elemente 
der  hinlängliche  Grund  dieser  Folge  ist;  wenn  das  Ver- 
fassungsgesetz eines  Staates  in  kategorischer  Aufstellung 
die  Beziehungen  zwischen  den  verschiedenen  Gruppen 
seiner  Angehörigen  ordnet,  so  ist  der  verschwiegene  Vorder- 
satz: so  lange  dieser  Staat  überhaupt  vorhanden  sein  wird, 


392  Achtes  Kapitel. 

sollen  in  beständiger  Wiederholung  diese  festgesetzten  Ord- 
nungen sich  im  Lauf  der  Geschlechter  erhalten  und  er- 
neuern. Auch  allgemein  aber,  und  zwar  immer  hypothetisch, 
ist  jedes  Gesetz  und  deshalb  ebenso  sehr  von  einer  blos 
allgemeinen  Thatsache,  als  von  einer  Verordnung  für  einen 
Einzelfall  zu  unterscheiden.  Der  Satz  Kepler's,  alle  Planeten 
bewegen  sich  in  Ellipsen  um  die  in  einem  Brennpunkt 
stehende  Sonne,  ist  ursprünglich  kein  Gesetz,  sondern  der 
Ausdruck  einer  Thatsache;  er  führt  den  Namen  des  Ge- 
setzes nur  kraft  des  allerdings  berechtigten  Nebengedankens, 
daß  alle  Planeten  aus  einem  gemeinsamen  Grunde  ihre 
Bewegimg  haben,  und  daß  man  mithin  voraussetzen  kann, 
auch  für  noch  unbekannte  werde  der  Satz,  nun  als  Gesetz, 
gelten,  wenn  sie  überhaupt  durch  Umlauf  um  die  Sonne 
sich  als  Planeten  erweisen.  Ein  Gesetz,  welches  zum  Zweck 
einer  bestimmten  Eisenbahnanlage  zur  Expropriation  er- 
mächtigt, ist  logisch  betrachtet  ein  Beschluß  oder  eine  Ver- 
ordnung; aber  weil  die  Verordnung  nicht  willkürlich  ge- 
geben wird,  sondern  auf  Grund  eines  allgemeinen  Gesetzes, 
das  unter  bestimmten  Bedingungen  die  rechtliche  Zulässig- 
keit  der  Expropriation  überhaupt  begründet,  mag  sie  um 
deswillen  den  vornehmeren  Namen  selbst  tragen.  Auch 
jene  Rücksichtnahme  auf  Veränderlichkeit  oder  Verschieden- 
heit der  Bedingung  und  der  Folge  liegt  in  der  Absicht 
jedes  Gesetzes;  nur  die  Ausführung  der  Absicht  ist  nicht 
überall  möglich.  Die  Versicherung,  daß  zwei  Körper  ein- 
ander anziehen,  ist  für  sich  eine  unvollständig  definirte 
Thatsache ;  ein  Gesetz  sieht  die  Naturwissenschaft  erst  dann, 
wenn  das  Verhältniß  angebbar  ist,  in  welchem  sich  die 
Größe  der  anziehenden  Wirkung  abhängig  von  den  ver- 
schiedenen oder  veränderlichen  Massen  und  Entfernungen 
der  Körper  oder  abhängig  von  irgend  einer  andern,  ihrer 
Größe  nach  variirbaren  Bedingung  ändert.  Auch  sittliche 
und  rechtliche  Gesetze  verhalten  sich  nicht  anders.  Ein 
so  allgemeines  Gebot,  wie  das,  welches  uns  befiehlt,  unsern 
Nächsten  zu  lieben,  mag  immerhin  als  Ausdruck  des  tiefsten 
Motivs,  das  unsere  Handlungen  bestimmen  soll,  eine  noch 
höhere  Würde  als  die  eines  Gesetzes  haben,  aber  formell 
hat  es  nicht  die  Genauigkeit  eines  solchen;  denn  weder 
was  aus  jener  Liebe  folgt,  ist  für  sich  klar,  noch  kann  in 
wirklicher  Ausübung  dem  Gebot  genügt  werden,  ohne  daß 
die  verlangte  Liebe,  worin  sie  auch  bestehen  möge,  einen 
bestimmten  Grad  der  Lebhaftigkeit  hätte,  oder  ohne  daß 
sie    in    ihrem    Wirken    eine    Richtung    nähme,    die    sie    in 


Auffindung  von  Gesetzen.  393 

einem  andern  Falle  nicht  nimmt;  hierfür  aber  fehlt  in 
jener  allgemeinen  Formel  jeder  Entscheidungsgrund.  Recht- 
lichen Gesetzen  dagegen  liegt  das  distributive  suum  cuique 
in  weitester  Bedeutung  zu  Grunde;  mögen  sie  Leistungen 
vorschreiben  oder  Strafen  bestimmen,  so  beabsichtigen  sie 
niemals  zu  allen  Wiederholungsfällen  dessen,  was  sie  unter 
den  allgemeinen  Begriff  eines  Rechtsverhältnisses  bringen, 
ein  unmodificirbares  Prädicat  hinzuzufügen ;  nur  die  Mangel- 
haftigkeit unserer  Maßstäbe  zur  Bestimmung  der  rechtlich 
bedeutsamen  Größendifferenzen  verschiedener  Fälle  nöthigt 
unsere  menschliche  Praxis,  mit  rohen  Abstufungen  der 
Rechtsfolgen  uns  zufrieden  zu  stellen,  die  wir  viel  lieber 
in  genaue  Proportion  zu  den  sie  bedingenden  Unterschieden 
der  einzelnen  Fälle  setzen  möchten.  Nur  rein  verneinende 
Gesetze,  sittliche  Verbote,  scheinen  diese  Abstufung  von 
Grund  und  Folge  nicht  zu  kennen.  Ich  überlasse  jedoch 
dem  Nachdenken  des  Lesers,  ob  auf  theoretischem  Gebiet 
überhaupt  negative  Urtheile  für  Gesetze  zu  halten  sind  und 
nicht  vielmehr  für  Contrapositionen,  in  denen  wir  ledig- 
lich für  unsern  Denkgebrauch  den  bejahenden  Sinn  eines  Ge- 
setzes in  Verneinung  seines  Gegentheils  verwandelt  haben; 
jedenfalls  haben  wir  in  diesem  allgemeinen  negativen  Aus- 
druck einen  Theil  der  Wahrheit  verloren,  nämlich  das  Maß 
der  Differenz,  um  welche  die  Einzelfälle  von  dem  Prädicat 
entfernt  sind,  das  ihnen  allen  einfach  abgesprochen  wird; 
was  aber  die  sittlichen  Verbote  betrifft,  so  kommt  in  ihnen 
selbst  zwar  nicht,  wohl  aber  in  der  Beurtheilung  ihrer 
Uebertretungen  die  Rücksicht  auf  jene  Abstufung  wieder 
zum  Vorschein ;  sie  verbieten  jede  Aneignung  fremden  Eigen- 
thums  im  voraus,  aber  die  geschehene  wird  doch,  je  nach 
ihrer  besonderen  Art,  sehr  verschiedenen  Graden  des  Tadels 
und  der  Strafe  unterworfen. 

266.  Zwischen  Gesetz  und  Regel  besteht  der  Inten- 
tion nach  ein  Unterschied,  der  in  vielen  Fällen  sehr  leicht 
faßbar,  aber  keineswegs  in  allen  durchführbar  ist.  Im 
praktischen  Leben  bestimmt  das  Gesetz  einen  Zustand,  der, 
durch  irgend  eine  Thätigkeit  oder  Verhaltungsweise  herbei- 
geführt, zu  den  zu  erfüllenden  Zwecken  der  politischen  oder 
socialen  Gemeinschaft  gehört;  die  Regel  tritt  als  Aus- 
führungsverordnung hinzu,  um  unter  den  mancherlei  mög- 
lichen und  an  sich  gleichgültigen  Maßnahmen  zur  Herbei- 
führung jenes  Zustandes  theils  die  nützlichste  zu  wählen, 
theils  um  überhaupt  nur  durch  Feststellung  eines  bestimmten 


394  Achtes  Kapitel. 

Verfahrens  die  nöthige  Gleichförmigkeit  und  Vereinbarkeit 
der  Einzelleistungen  zu  sichern.     In  theoretischen  Unter- 
suchungen  der  Wirklichkeit  meinen   wir  unter  einem   Ge- 
setze  den   Ausdruck   des    eigenen   inneren   Bedingungsver- 
hältnisses,  das  zwischen  zwei  Thatsachen  stattfindet  und 
den   Grund   ihrer   Verknüpfung   sowie   der   Art   ihrer   Ver- 
knüpfung bildet,  und  es  gibt  in  jedem  einfachen  Falle  nur 
ein  Gesetz;  die  Regel  ist  die  Anweisung,  in  einer  Anzahl 
logischer  oder  mathematischer  Denkoperationen  unsere  Be- 
griffe so   zu  verbinden,    daß   wir  zu   Schlüssen   gelangen, 
welche  mit  der  Wirklichkeit  wieder  zusammentreffen,  und 
solcher  Regeln  kann  es  für  denselben  Fall  mehrere  gleich 
triftige  geben.     Dem  Gesetze  allein  eignen  wir  daher  eine 
objective  Wahrheit  zu;  die  Regel  ist  die  Summe  der  sub- 
jectiven    Maßnahmen,     durch   welche    wir   uns,    von    dem 
Standpunkte  aus,  den  wir  der  Sache  gegenüber  einnehmen, 
ihres    Zusammenhangs    soweit   bemächtigen,    daß    wir   aus 
gegebenen  Thatsachen  der  Wirklichkeit  ihre  Folgen  richtig 
zu    berechnen   und   vorauszusagen,    ihre   vorangegangenen 
Gründe  und  Ursachen  richtig  zu  errathen  vermögen.    Diese 
Operationen,   welche  die  Regel   uns  vorschreibt,  brauchen 
nicht  denselben  Gang  zu  nehmen,  den  die  Entwicklung  der 
Sache   selbst  nimmt;   sie   haben   nicht  nöthig   a  principio 
sich  ad  principiatum  zu  bewegen;  sie  können  anstatt  der 
bedingenden    Gründe    triftige   Kennzeichen    benutzen;    sie 
dürfen  zwar  niemals  allen  Zusammenhang  mit  dem  wahren 
Verhalten  verlieren,  aber  jeder  durch  unsere  Stellung  zur 
Sache  nothwendig  gemachte  Umweg  und  jede  Umstellung 
ihrer  inneren  Verhältnisse  ist  ihnen  erlaubt.     So  groß  in- 
dessen der  Intention  nach  dieser  Unterschied  zwischen  Ge- 
setz und  Regel  ist,  so  ist  doch  seine  Anwendung  kaum  in 
irgend    einem   Falle,   da   wenigstens,   wo   es    sich   um   die 
Untersuchung   der  Wirklichkeit   handelt,    völlig   zweifellos. 
Daß   sehr  viele  unserer  hier  benutzten  Verfahrungsweisen 
bloße   Regeln  sind,  sehen   wir  deutlich  ein;   aber  fraglich 
bleibt,   ob  irgend  eines   der  Gesetze,  die  wir  gefunden  zu 
haben  glauben,  wirklich  diesen  Namen  in  dem  angeführten 
eminenten  Sinne  verdient.    Wir  pflegen  ihn  da  zu  brauchen, 
wo  wir  auf  sehr  einfache  und  sehr  allgemeingültige  Sätze 
über  die  thatsächliche  Verknüpfung  der  Erscheinungen  ge- 
kommen sind;  so  scheint  es  uns  nicht  eine  Regel,  sondern 
ein  Naturgesetz,  daß  die  Intensität  der  Gravitation  mit  dem 
Quadrate  der  Entfernung  abnimmt ;  gleichwohl  ist  die  innere 
Verbindung  der  einzelnen  Glieder  dieses  Satzes  noch   un- 


Auffindung  von  Gesetzen.  395 

entdeckt  und  wir  wissen  nicht,  wie  die  Größe  eines  Raumes 
zwischen  zwei  Körpern  ein  Grund  für  die  Veränderlichkeit 
ihrer  Wechselwirkungen  sein  kann;  zuletzt  ist  daher  auch 
dies  Gesetz  nur  eine  Regel,  welche  uns  aus  gegebenen 
Datis,  Entfernungen  und  Massen,  die  Aenderungen  jener 
Wirkungen  berechnen  lehrt,  ohne  den  innern  Zusammen- 
hang derselben  mit  ihren  Bedingungen  darzustellen.  Auf 
diese  Frage  führen  uns  spätere  Anlässe  zurück;  für  jetzt 
genügt  es  zu  bemerken,  daß  unsere  nächsten  Betrachtungen 
das  Gesetz  nur  als  die  einfachste  Regel  ansehen  werden, 
welche  die  Vermuthung  für  sich  hat,  dem  eignen  Verhalten 
der  Sache  selbst  am  meisten  nahe  zu  kommen. 

267.  Wir  setzen  jetzt  voraus,  daß  wir  durch  die  an- 
gegebenen Hülfsmittel  dahin  gelangt  sind,  so  rein  als  mög- 
lich eine  ursächliche  Verbindung  von  U  und  W  zu  ent- 
decken, und  daß  Versuche  oder  Beobachtungen  uns  eine 
Reihe  quantitativ  bestimmter  Werthpaare  dieser  Ursache 
und  ihrer  zugehörigen  Wirkung  geliefert  haben.  Obwohl 
Späterem  etwas  vorgreifend,  wird  doch  dem  Versuche,  das 
allgemeine  Gesetz  dieser  Reihe  zu  bestimmen,  eine  Ueber- 
legung  über  die  verschiedenen  Gründe  nützlich  vorangehen, 
aus  denen  die  gefundenen  Größenverhältnisse  von  dem  ge- 
suchten wahren  Verhalten  abweichen  können.  Vor  allem 
bestehen  unsere  Beobachtungen  nicht  in  den  Sachen  selbst, 
sondern  in  den  Eindrücken,  welche  die  Sachen  auf  uns 
machen;  wenn  nun  hier  dahingestellt  bleiben  kann,  ob  der 
Eindruck,  den  unser  Bewußtsein  erfährt,  jemals  den  Dingen 
und  den  Verhältnissen  gleich  sein  kann,  von  denen  es 
ihn  erleidet,  so  ist  doch  unmittelbar  klar,  daß  er  ihnen 
nicht  gleich  sein  muß,  sondern  sich  ändern  kann  mit  der 
veränderlichen  Disposition  dessen,  der  ihn  empfängt.  Der 
hieraus  entspringende  Zweifel,  inwieweit  aus  den  subjectiven 
Erregungen,  die  wir  von  einer  vorausgesetzten  Außenwelt 
erfahren,  auf  das  objective  Verhalten  dieser  Wirklichkeit 
geschlossen  werden  könne,  berührt  das  ganze  Gebiet  unserer 
Erkenn tniß;  wir  erörtern  ihn,  hier  nicht,  sondern  begnügen 
uns,  unter  der  Wahrheit  oder  Richtigkeit  der  Beobachtungen, 
die  wir  hier  wünschen,  ihre  Allgemeingültigkeit  für  alle 
normal  gebildeten  und  unter  gleiche  Verhältnisse  versetzten 
menschlichen  Beobachter  zu  verstehen,  eine  Eigenschaft, 
über  deren  Vorhandensein  in  jedem  Falle  praktisch  zuletzt 
nur  die  Uebereinstimmung  einer  überwiegenden  Majorität 
im  Gegensatz  zu  den  auseinandergehenden  Meinungen  einer 
Minorität   entscheiden   kann.     Was   dem   Einen  anders   er- 


396  Achtes  Kapitel. 

scheint,  als  unter  völlig  gleichen  Umständen  allen  Anderen, 
enthält  einen  Fehler  in  der  Beobachtung  jenes  Ersten; 
einen  veränderlichen  und  durch  Wiederholung  der  Be- 
obachtung corrigirbaren  dann,  wenn  augenblickliche  Un- 
achtsamkeit, einen  bleibenden  und  im  engeren  Sinn  per- 
sönlichen Fehler  dann,  wenn  die  individuell  ab- 
weichende Organisation  der  Sinne  die  Schuld  seiner  Ent- 
stehung trägt.  Wie  ausgedehnt  diese  Mangelhaftigkeit  der 
sinnlichen  Auffassung  in  Bezug  auf  den  qualitativen  Inhalt 
der  Empfindung  zukommt,  zeigen  die  auseinandergehenden 
Urtheile  über  Aehnlichkeit  oder  Contraste  von  Farben,  über 
Einklang  oder  Dissonanz  von  Tönen;  aber  sie  sind  nicht 
minder  bei  der  Schätzung  von  Größen  zu  bemerken.  Denn 
alle  praktischen  Bestimmungen  in  der  Wirklichkeit  ge- 
gebener Größen  beruhen  zuletzt  auf  der  Genauigkeit  sinn- 
licher Eindrücke,  und  alle  künstlichen  Methoden  und  In- 
strumente der  Messung  haben  nur  die  Aufgabe,  das  zu 
Große  durch  Theilung,  das  zu  Kleine  durch  irgend  ein  Mittel 
der  Vergrößerung  so  umzuformen,  daß  beide  in  das  Be- 
reich mittlerer  Größen  gerückt  werden,  über  deren  Gleich- 
heit oder  Ungleichheit  unsere  sinnliche  Empfänglichkeit 
ein  hinlänglich  genaues  Urtheil  besitzt.  Und  wirklich  nur 
auf  dies  letztgedachte  einfache  Urtheil  kommen  alle  unsere 
Messungen  zurück;  nur  durch  lange  Uebung  erwerben  wir 
bis  zu  gewissem  Grade,  von  Natur  aber  besitzen  wir  die 
Fähigkeit  nicht,  anzugeben,  wie  groß  die  Differenz  zweier 
ungleichen  Größen  des  Raumes  der  Zeit  oder  der  Intensität, 
oder  welches  Multiplum  der  einen  die  andere  ist.  Nur  daß 
zwei  Größen  derselben  Art  gleich  oder  ungleich  überhaupt 
sind,  empfinden  wir  unmittelbar,  den  Betrag  ihres  Unter- 
schiedes messen  wir  mittelbar,  indem  wir  die  Anzahl  be- 
stimmter gleicher  Größeneinheiten  suchen,  deren  Vereini- 
gung ihm  selM;  gleich  ist.  Wir  nennen  die  Linie  b  größer 
als  a,  weil  sie  zuerst  eine  Länge  enthält,  die  gleich  a  ist, 
dann  aber  der  Wahrnehmung  einen  Ueberschuß  d  darbietet, 
den  jene  nicht  enthält ;  wie  groß  d  sei,  erfahren  wir  nur  durch 
Anlegung  eines  Maßstabes,  um  so  genauer,  je  kleiner  die 
sinnlich  scharf  beobachtbaren  Einheiten  sind,  durch  deren 
Anzahl  wir  eine  dem  d  gleiche  Länge  erzeugen;  aber 
auch  wenn  wir  mikroskopische  Maßstäbe  anwenden:  Alles 
läuft  zuletzt  auf  die  Sicherheit  hinaus,  mit  der  die  sinn- 
liche Empfindung  uns  zeigt,  daß  der  Endpunkt  des  zu 
messenden  d  mit  dem  Endpunkt  einer  dieser  kleinsten  Maß- 


Auffindung  von  Gesetzen.  397 

einheiten  genau  zusammenfällt  oder  nicht.  Zeitstrecken 
erkennen  wir,  im  Gefühl  des  Taktes,  mit  hinlänglicher  Ge- 
nauigkeit als  gleich,  wenn  sie  gleich  sind;  aber  das  Ver- 
hältniß  ungleicher  zu  einander  können  wir  nur  durch  takt- 
mäßige Zerfällung  in  gleiche  wiederholte  Einheiten  messen; 
nichts  aber  als  der  unmittelbare  sinnliche  Eindruck  belehrt 
uns  über  die  Gleichheit  dieser  Einzelheiten  selbst.  Und 
wenn  wir  ein  mechanisches  Räderwerk  anwenden,  das  mit 
hörbaren  Signalen  die  Wiederholungen  dieser  Einzelheiten 
markirt,  so  beruht  die  Genauigkeit  auch  seines  Ganges 
zuletzt  auf  der  Sicherheit,  mit  welcher  Gesichtseindrücke 
die  räumlichen  Dimensionen  jenes  Werkes  und  seiner  Be- 
standtheile  so  herzustellen  halfen,  daß  wirklich  seine  Be- 
wegung nach  gleichen  Intervallen  zur  Auslösung  jener 
Signale  führt.  Soll  endlich  dieses  Hülfsmittel  dazu  dienen, 
die  Zeiten  festzustellen,  nach  deren  Verlauf  bestimmte 
durch  andere  Sinne,  durch  das  Auge,  beobachtbare  Er- 
scheinungen eintreten,  so  kann  nur  der  unmittelbare  Ein- 
druck uns  lehren,  daß  eine  Erscheinung  dieser  andern  Art 
in  demselben  Augenblick  mit  dem  hörbaren  Signal  zu- 
sammentrifft, und  gerade  hierüber  ist,  wie  wir  wissen,  unser 
Urtheil  aus  physiologischen  Gründen  nicht  von  der 
wünschenswerthen  Schärfe  und  bedarf  der  vorgängigen  Be- 
richtigung unseres  persönlichen  Fehlers.  Nur  kurz  erwähne 
ich  endlich  der  bekannten  Relativität  aller  unserer  Maß- 
bestimmungen; absolut  sind  nur  die  Wiederholungszahlen, 
durch  welcl^e  wir  die  Anzahl  der  gefundenen  Einheiten  an- 
geben; die  Einheiten  selbst  sind  nur  relativ  zu  andern 
bestimmbar,  und  die  Frage  ist  sinnlos,  wie  groß  etwas  sei, 
wenn  man  es  an  keinem  vorausgesetzten  Maßstab  mißt. 
Jene  Einheiten  zu  finden,  d.  h.  sie  fest  brauchbar  und  un- 
zweideutig zu  bestimmen,  ist  selbst  eine  Aufgabe  der  Be- 
obachtungskunst; aber  es  reicht  hier  hin  zu  bemerken,  daß 
für  Längeneinheiten  unveränderliche  Naturkörper,  für  Zeit- 
einheiten genau  periodische  astronomische  Erscheinungen, 
für  die  Intensitäten  bewegender  Kräfte  theils  die  Beachtung 
des  Gleichgewichts,  theils  die  Geschwindigkeiten,  die  sie 
erzeugen,  Mittel  der  Bestimmung  darbieten;  noch  aber  be- 
sitzen wir  solche  Mittel  nicht,  um  beobachtbare  Einheiten 
für  die  Verschiedenheiten  innerer  Zustände,  für  die  Stärke 
der  Empfindungen  der  Gefühle  der  Begehrungen  herzu- 
stellen. 

268.  Denken   wir   diesen   ersten    Mangel,    den   persön- 
lichen Fehler,  vermieden,  so  kann  der  Inhalt  unserer  Be- 


398  Achtes  Kapitel. 

obachtung  doch  sehr  weit  von  dem  wahren  Verhalten  durch 
Schuld  der  Stellung  abweichen,  die  wir,  entweder  individuell 
oder  menschlich  allgemein,  zu  der  Sache  selbst  einnehmen. 
Nicht  auf  räumliche  Erscheinungen  beschränkt,  aber  an 
ihnen  am  leichtesten  verständlich,  ist  das  häufige  Verhalten, 
daß  derselbe  Vorgang  oder  dasselbe  Object  sehr  verschiedene 
Bilder  gewährt  je  nach  dem  Standpunkt  des  Betrachters. 
Ich  glaube  den  allgemeinen  Satz  wagen  zu  dürfen,  daß 
jedes  gesetzmäßige  Geschehen  auch  eine  gesetzmäßige  Pro- 
jection  für  jeden  beliebigen  Standpunkt  gibt;  aber  die 
Regeln,  nach  denen  man  von  einer  seiner  so  geschehenen 
Phasen  auf  die  andere  schließt,  gestalten  sich  für  ver- 
schiedene Orte  des  Beobachters  mehr  oder  minder  vortheil- 
haft  und  erschweren  oft  in  hohem  Grade  den  Rückgang 
von  dem  projicirten  scheinbaren  Geschehen  auf  das 
projicirende  wirkliche.  Eine  Kreisbewegung  wird 
als  solche  erscheinen  nur  für  jeden  Standpunkt  in  der 
senkrechten  Axe  durch  den  Mittelpunkt  der  Kreisebene; 
einer  Ovale  ähnlich  für  jeden  Ort  außer  dieser  Axe  und 
außer  der  Ebene;  als  geradlinige  Oscillation  für  jeden 
Punkt  in  der  Ebene  des  Kreises  und  außerhalb  seines  Um- 
fangs.  Gesetzlich  werden  alle  die  drei  Reihen  gebildet  sein^ 
die  für  diese  drei  Standpunkte  die  Zeiten  und  die  zu- 
gehörigen Orte  des  bewegten  Punktes  verbinden;  aber  auf 
^as  wahre  Verhalten  deuten  sie  sehr  ungleich  hin.  Käme 
nun  nichts  weiter  in  der  Beobachtung  hinzu,  und  hätte 
man  nicht  schon  eine  Summe  anderer  Kenntnisse  über  das^ 
was  in  der  Wirklichkeit  Rechtens  ist  und  vorzukommen 
pflegt,  so  würde  man  auch  gar  keinen  Grund  haben,  etwa 
anstatt  der  Regel,  die  jene  geradlinige  Oscillation  in  unserem 
Beispiele  ausdrückt,  eine  andere  zu  verlangen.  Aber  in 
der  Natur  fehlt  es  kaum  je  an  Nebenzügen,  die  sich  der 
Beobachtung  mit  aufdrängen  und  zuerst  zum  Zweifel,  dann 
zur  Berichtigung  führen.  Die  Beobachtung  jener  Kreis- 
bewegung besteht  nicht  darin,  daß  wir  sie  denken  oder 
vorstellen,  sondern  wir  sehen  sie;  und  sehen  können  wir 
sie  nicht  ohne  Lichtstrahlen,  die  von  dem  bewegten  Punkte- 
in unser  Auge  zurückgeworfen  werden;  und  hieraus  folgt,, 
daß  Veränderungen  der  scheinbaren  Größe  und  der  Hellig- 
keit des  Körpers  seine  Bewegung  für  jeden  Beobachter  be- 
gleiten müssen,  der  außerhalb  jener  Axe  steht;  nur  für 
diesen  einen  Standpunkt  fehlt  jene  Veränderlichkeit  und 
mithin  der  Antrieb,  für  sie  eine  Erklärung  zu  suchen.  Ver- 
setzen wir  utns  nun  in  die  Kreisebene  selbst,  so  wird  dort 


Auffindung  von  Gesetzen.  39^ 

der  Körper,  wenn  er  von  dem  äußersten  Ende  a  seiner 
scheinbar  geradlinigen  Bahn  sich  der  Mitte  derselben  nähert^ 
an  Größe  ^nd  Helligkeit  zunehmen,  über  die  Mitte  hinaus 
bis  b  an  beiden  abnehmen;  geht  er  dann  von  b  nach  a 
zurück,  so  dauert  zuerst  diese  Abnahme  fort,  erreicht  das 
Minimum  in  der  Mitte  der  Bahn  und  macht  von  da  bis  a 
neuer  Zunahme  Platz.  Nimmt  man  dies  alles  für  Wirk- 
lichkeit, so  hat  man  viele  Fragen  zu  beantworten.  Warum 
überhaupt  ändert  der  Körper  an  den  Endpunkten  seiner 
Bahn  die  Richtung  seiner  Bewegung  und  warum  wächst 
seine  Geschwindigkeit,  wenn  er  sich  der  Mitte,  und  nimmt 
ab,  wenn  er  sich  den  Enden  nähert?  Entweder  muß  jene 
Mitte  einen  Grund  enthalten,  der  ihn  nach  ihr  zieht,  oder 
in  den  Verlängerungen  der  Bahn  müssen  gleiche  entgegen- 
gesetzt wirkende  Gründe  vorhanden  sein,  die  ihn  dorthin 
drängen.  Aber  warum  nimmt  er  dann  an  demselben  Mittel- 
punkt zugleich  das  Maximum  und  zugleich  das  Minimum 
seiner  Größe  und  Helligkeit  an,  wenn  jene  Kraft  oder  dieses 
Kräftepaar  doch  immer  dasselbe  bleibt?  Man  wird  am 
einfachsten  auf  bloße  Coincidenz  beider  Erscheinungen 
rathen;  der  Körper  ist,  ganz  unabhängig  von  seiner  Bahn- 
bewegung, in  periodischen  Anschwellungen  und  Verkleine- 
rungen begriffen,  welche  nur  Functionen  der  Zeit,  nicht 
des  Ortes  sind;  da  er  sich  aber  doch  zu  jeder  Zeit  t  an 
irgend  einem  Orte  befinden  muß,  so  kann  er  sich  zur  Zeit 
seines  Größenmaximums  ebensogut  in  der  Mitte  seiner  Bahn 
als  sonstwo  befinden,  und  da  das  Minimum  seiner  Größe 
erst  in  der  Zeit  t  eintritt,  in  der  er  eine  halbe  Oscillation 
vollendet  hat,  so  fällt  auch  dies  Minimum  auf  dieselbe 
Bahnmitte.  Dies  und  Aehnliches  kann  man  sagen,  glauben 
wird  man  es  aber  nicht;  denn  ganz  unerhört  sind  sonst  in 
der  Natur  periodische  Schwellungen  dieser  Art,  ganz  be- 
kannt dagegen  die  Veränderungen  der  scheinbaren  Größe 
und  der  Helligkeit,  welche  die  Körper  nach  Maßgabe  ihrer 
wechselnden  Entfernung  von  unserm  Auge  erfahren.  Auf 
diese  Analogien  gestützt  werden  wir  daher  versuchen,, 
unsern  beobachteten  Thatbestand  als  Projection  eines  andern 
wahren  aufzufassen;  da  wir  zwischen  den  Orten  des  Maxi- 
mum und  des  Minimum  keine  Entfernung  bemerken,  beide 
vielmehr  in  der  Bahnmitte  zusammenfallen,  da  ferner  der 
Weg  des  Hingangs  und  der  des  Rückgangs  sich  überall 
decken,  so  muß  die  vorauszusetzende  wahre  Bahn  eine 
ebene  geschlossene  Curve  sein,  und  einer  ihrer  Durchmesser 
in  der  Richtung  unseres   Blickes  auf  den  Mittelpunkt  der 


400  Achtes  Kapitel. 

scheinbaren  Bahn  liegen ;  aus  der  Vergleichung  der  einzelnen 
scheinbaren  Orte  für  aufeinanderfolgende  Zeitmomente 
würde  sich  dann  weiter  ergeben,  ob  die  wahre  Bahn  ein 
Kreis  eine  Ellipse  eine  Ovale  oder  was  sie  sonst  ist.  Ich 
darf  nur  an  Copernikus  erinnern,  um  einleuchtend  zu 
machen,  wie  die  Häufung  unbeantwortbarer  Fragen  in  dem 
Thatbestand  der  Beobachtung  der  mächtige  Antrieb  zu  der 
Umformung  unserer  Naturansichten  ist,  und  wie  Vieles  auf 
einmal  erklärlich  wird,  wenn  wir  das  sinnlich  Gegebene 
nur  als  Projection  eines  unbeobachtbaren  Verhaltens  auf- 
fassen. Um  dies  aber  zu  können,  müssen  wir  eine  Summe 
allgemeiner  Wahrheiten  sowohl  als  früherer  Kenntnisse  von 
Thatsachen  bereits  besitzen;  rein  logische  Vorschriften 
können  anregen,  aber  nicht  zum  Ziele  führen. 

269.  Ich  kehre  jetzt  einen  Schritt  zurück;  ehe  wir 
Versuche  machen,  den  beobachteten  Thatbestand  in  der 
angegebenen  Weise  zu  deuten,  müssen  wir  die  Gesetze 
selbst  erst  besitzen,  die  wir  durch  diese  Deutung  auf  eine 
-einfachere,  dem  wahren  Verhalten  entsprechendere  Form 
zu  bringen  denken.  Nichts  ist  uns  zu  ihrer  Ermittelung 
gegeben,  als  jene  Werthreihe  der  Ursachen  und  der  zu- 
gehörigen Wirkungen.  Selbst  dann  nun,  wenn  wir  an- 
nehmen, daß  diese  vorliegenden  Zahlen  vollkommen  fehler- 
freie Angaben  dessen  sind,  was  beobachtet  werden  konnte, 
selbst  dann  ist  der  Uebergang  von  diesen  Einzelgliedem 
der  Reihe  zu  dem  allgemeinen  Bildungsgesetze  derselben 
stets  ein  logischer  Sprung;  es  gibt  kein  demonstratives 
Verfahren,  durch  welches  ein  ausschließlich  gültiges  und 
wahres  Gesetz  der  Reihe  gefunden  und  als  solches  be- 
wiesen werden  könnte;  man  kann  es  immer  nur  errathen 
und  dann  durch  eine  unbeschränkte  Menge  von  Neben- 
betrachtungen die  Wahrscheinlichkeit  seiner  Richtigkeit 
steigern.  Es  ist  wichtig,  sich  hierüber  ganz  klar  zu  werden. 
Ist  uns  zuerst  eine  endliche  Anzahl  von  n  Gliedern  einer 
Zahlenreihe  in  der  Ordnung  gegeben,  in  welcher  sie  in 
der  Reihe  aufeinander  folgen,  so  kann  es  in  diesem  Falle 
leicht  möglich  sein,  eine  einfache  allgemeine  Formel  zu 
finden,  welche  diesen  gegebenen  n  Gliedern  völlig  genau 
entspricht  und  ihr  allgemeines  Glied  ausdrückt;  aber  selbst 
dann  braucht  diese  Formel  nicht  nothwendig  eine  einzige 
ausschließlich  zu  sein;  sie  kann  wenigstens  verschiedene 
Auffassungsweisen  zulassen.  Sind  z.  B.  die  gegebenen 
Glieder  1,  3,  5,  7,  9,  so  ist,  wenn  wir  die  Stellenzahl  des 
ersten   Gliedes  =  1   setzen,   2  n  —  1   der   genaue  Ausdruck 


Auffindung  von  Gesetzen.  401 

des  allgemeinen  Gliedes;  aber  gerade  in  dieser  Form  ge- 
dacht wird  das  allgemeine  Glied  schwerlich  einem  wirk- 
lichen physischen  Verhalten  entsprechen,  zu  dessen  gesetz- 
lichem Ausdrucke  es  dienen  soll;  dieselbe  gegebene  Reihe 
läßt  sich  aber  auch  als  arithmetische  Progression  mit  dem 
Anfangsgliede  1  und  der  Differenz  2,  und  außerdem  als 
die  Reihe  der  Differenzen  denken,  welche  durch  Subtraction 
des  Quadrates  einer  ganzen  Zahl  von  dem  Quadrate  der 
zunächst  in  der  Zahlenreihe  folgenden  entstehen;  beide 
Deutungen  sind  durch  dasselbe  allgemeine  Glied  ausdrück- 
bar, beide  bestimmen  jedes  Glied  dieser  Reihe;  aber 
beide  denken  über  die  Entstehungsweise  jedes  Gliedes  ver- 
schieden und  dieser  Unterschied  wird  wichtig,  weil  er 
nun  auch  verschiedene  Annahmen  über  das  physische  Ver- 
halten der  durch  diese  Reihe  ausgedrückten  Erscheinungen 
möglich  macht.  So  bleiben  schon  hier  der  Zweifel  genug; 
aber  außerdem  sind  ja  die  hier  gemachten  Voraussetzungen 
gar  nicht  identisch  mit  denen,  die  wir  bei  Reobachtungen 
machen;  ein  so  gefundenes  allgemeines  Glied  gilt  genau 
nur  für  die  Anzahl  der  n  Glieder,  aus  denen  es  gefunden 
ist;  wir  aber  verlangen,  daß  unser  aus  den  Reobachtungen 
zu  gewinnendes  Gesetz  auch  für  diejenigen  Werthe  der 
Ursachen  und  Wirkungen  gelten  soll,  die  wir  nicht  be- 
obachtet haben.  Nun  kann  man  gegebene  Reihen  freilich 
interpoliren,  d.  h.  man  kaim  fehlende  Zwischenglieder  so 
berechnen,  daß  sie  nach  einem  aus  den  gegebenen  Gliedern 
abstrahirten  Rildungsgesetze,  das  häufig  verwickelt  genug 
ausfällt,  in  die  Reihe  passen;  aber  damit  setzt  man  eben 
voraus,  daß  jenes  aus  den  gegebenen  Gliedern  entwickelte 
Gesetz  auch  für  die  nicht  gegebenen  gilt,  eine  Voraussetzung, 
die  immer  zulässig  ist,  wenn  es  sich  blos  um  Vervollstän- 
digung einer  denkbaren  Reihe,  aber  gar  nicht  triftig, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  ob  eben  diese  denkbare  Reihe 
einem  wirklichen  Verhalten  auch  in  denjenigen  seiner 
Strecken  entspricht,  in  denen  dasselbe  nicht  beobachtet 
wird.  Um  also  ein  aus  den  gegebenen  Gliedern  etwa  ge- 
wonnenes Gesetz  auch  auf  die  nicht  gegebenen  erstrecken 
zu  dürfen,  müssen  wir  vorher  Gründe  haben,  die  uns  zur 
Unternehmung  eines  solchen  Interpolationsverfahrens  über- 
haupt berechtigen.  Ein  ganz  einfaches  Reispiel  erläutert 
dies.  Wir  denken  uns  die  Werthe  von  U  als  Abscissen  x, 
sprungweis  um  A  x  zunehmend,  die  Werthe  von  W  als 
Ordinaten  y  aufgetragen;  wenn  nun  unsere  gegebene  Reihe 
für  alle  Werthe  m.  Ax  von  x  denselben  Werth  y  =  C  gibt, 

Lotze,  Logik.  26 


402  Achtes  Kapitel. 

so  kann  es  ja  freilich  sein,  daß  diese  Gleichung  auch  für 
alle    die   nicht   beobachteten    Ordinaten   gelten   würde,   die 
zu    Bruchtheilen    eines    Ax   gehören;    dann   ist  die    Linie, 
welche  die  Endpunkte  aller  Ordinaten  verbindet,  eine  Gerade 
und  parallel  der  Abscissenaxe ;  allein  sicher  ist  doch  diese 
Folgerung  nicht;  zwischen  je  zweien  Endpunkten  der  ver- 
schiedenen   A  X   kann  y   jeden   möglichen   Werth,   und  die 
Curve,   welche  die  verschiedenen  y  verbindet,  jeden  mög- 
lichen Verlauf  haben;  sie  kann  reell  oder  imaginär,  gerade 
oder    gekrümmt    sein,    y  kann    durch     ein     oder    mehrere 
Maxima  und  Minima,  selbst  durch  das  Unendliche  hindurch 
gehen,    und   alle    diese   unbestimmbaren    Verläufe   können 
in  dem  Intervall  eines  A  x  beliebig  andere  sein,  als  inner- 
halb eines  andern  A  x.    Man  kann  aus  dieser  Betrachtung 
eine  kleine  Regel  über  die  Auswahl  der  zu   benutzenden 
Beobachtungen  ableiten,  welche  der  früher  erwähnten  für 
unvollständige   Inductionen  ähnlich   ist:   es   empfiehlt  sich 
nicht,   die  Reihe  der  Werthpaare  so  zu  bilden,   daß  U  in 
regelmäßiger  Weise  fortschreitet  und  nur  diejenigen  Werthe 
von  W  zum  Vorschein  kommen,  welche  diesen  symmetrisch 
abgemessenen    Größen     von    U    entsprechen;     man    ist   in 
Gefahr,  auf  diese  Weise  nur  auf  eine  Reihe  ausgezeichneter 
Specialwerthe,  auf  Maxima  oder  Minima,  oder  feste  Werthe 
der  W  überhaupt  zu  kommen,  die  periodisch  wiederkehren, 
und   die   gar   keine  Auskunft   oder  falsche   Vermuthungen 
über    den   zwischenliegenden   Verlauf   ihrer   Curve   an   die 
Hand    geben.     Für    die    erste    Errathung    des    allgemeinen 
Reihengesetzes    ist    natürlich    der    regelmäßige    Fortschritt 
der  U  um  gleiche  Zunahmen  vortheilhaft,  zur  Bestätigung 
desselben  hat  man  möglichst  unsymmetrisch  oder  irrational 
wechselnde  Zunahmen  des  U  in  Betracht  zu  ziehen.    Ganz 
einfach:     wer    immer    nur    von    7  zu  7  Tagen     und    zwar 
Sonntags    Nachmittags    einen    Vergnügungsort    beobachtet, 
kann  die  hier  gefundene  Frequenz  nicht  auf  die  Wochentage 
ausdehnen;   wer  den  Mond  immer  blos   durch  eine   Ritze 
~  beobachtet,    die    gerade    nur    seine    Culmination    zu   sehen 
erlaubt,    kann    nicht    errathen,    wo    er    sich    während    der 
übrigen  Zeit  am  Himmel  herumtreibt.   Findet  man  dagegen, 
daß  die  Werthe  y,  die  zu  ganz  willkürlich  herausgegriffenen 
Zwischenwerthen    von    früher    berücksichtigten  x    gehören, 
dem    aus    diesen    abgeleiteten    Gesetze    sich    fügen,    so    ist 
hierdurch   zuerst  einige   Berechtigung   dazu   gegeben,   auch 
alle  übrigen  y  diesem  Gesetze  gemäß  zu  interpoliren.   Eine 
völlige  Rechtfertigung  dieses  Schrittes  würde  strenge  Logik 


Auffindung  von  Gesetzen.  403 

auch  hierin  nicht  finden;  so  lange  es  unmöglich  ist,  alle 
aufeinanderfolgenden  Werthe  von  U  und  alle  zugehörigen 
Wirkungen  W  zu  beobachten,  so  lange  bleibt  der  Zweifel, 
ob  in  den  nichtbeobachteten  Fällen  das  Gesetz  der  be- 
obachteten gelte.  Dieser  Zweifel  wird  nun  in  der  Praxis 
durch  Nebenerwägungen  eingeschränkt,  die  nicht  aus  all- 
gemeinen logischen  Gründen,  sondern  aus  den  sachlichen 
Kenntnissen  fließen,  welche  wir  über  den  jedesmal  vor- 
liegenden Inhalt  der  Untersuchung  in  der  Regel  in  der 
erforderlichen  Ausdehnung  besitzen.  Wer  die  Wirkungs- 
weise einer  bestimmten  Naturkraft  untersucht,  weiß  im 
voraus,  daß  für  keinen  endlichen  Werth  der  U  die  W 
unendlich  werden  kann;  und  von  der  besonderen  Natur 
der  fraglichen  Kraft  wird  er  hinlänglich  unterrichtet  sein, 
um  zu  beurtheilen,  ob  ihre  Wirkungen  stetig  zunehmen 
oder  periodisch  schwanken  oder  für  einzelne  Werthe  der  U 
verschwinden  können,  ob  es  endlich  wahrscheinlich  ist, 
daß  sie  ungestört  sich  im  Anwachsen  der  Zeit  summiren, 
oder  ob  ein  Widerspruch  angenommen  werden  muß,  der 
die  entstandenen  Erfolge  ganz  oder  theilweis  immer  wieder 
aufhebt.  Diese  sachlich  begründeten  Voraussetzungen  sind 
es,  die  uns  berechtigen,  das  Gesetz  für  die  wirklich  be- 
obachteten Werthpaare  auch  auf  die  nichtbeobachteten  mit 
großer  Wahrscheinlichkeit  zu  übertragen.  Noch  ein  Hülfs- 
mittel  kommt  in  den  Fällen  hinzu,  welche  unbeschränkt 
das  Experiment  gestatten;  durch  autographische  Vorrich- 
tungen, welche  man  mit  dem  Apparat  verbindet,  an  welchem 
die  Wirkungen  der  Kraft  sichtbar  gemacht  werden,  kann 
man  die  Kraft  nöthigen,  die  Erfolge  selbst  zu  verzeichnen, 
die  sie  in  jedem  Augenblicke  ihres  stetigen  Wirkens  hervor- 
bringt; man  hat  dann  auf  mechanischem  Wege  die  sonst 
immer  nur  beschränkte  Anzahl  unserer  Beobachtungen  so 
in's  Unendliche  vermehrt,  daß  eine  sich  stetig  an  die  andere 
anschließt,  und  die  so  entstandene  sichtbare  Curve  gestattet 
über  Stetigkeit  und  Unstetigkeit  der  Wirkung,  über  gleich- 
mäßige verzögerte  oder  beschleunigte  Zunahme,  über 
periodisches  oder  nicht  periodisches  Wachsthum  ein  so 
sicheres  Urtheil,  wie  es  überhaupt  Beobachtungen  erlauben. 
Denn  freilich:  der  logische  Splitterrichter  wird  noch  immer 
einwenden  können :  jede  gezeichnete  Curve  bestehe  zuletzt 
aus  einer  Reihe  punktförmiger  Pigmentablagerungen,  die 
nur  dem  unbewaffneten  Auge,  das  hier  unabsichtlich  inter- 
polirt,  als  stetige  Linie  erscheinen;  auch  hier  also  eine 
Anzahl  von  Einzelwahrnehmungen,  die  nicht  gestatten,  auf 

26* 


404  Achtes  Kapitel. 

das  Verhalten  der  Wirkungen  zu  schließen,  welche,  weil 
sie  kein  Pigmentatom  zu  ihrer  Verfügung  fanden,  den 
Lücken  zwischen  den  Farbenpunkten  der  sichtbaren  Curve 
entsprechen.  Lassen  wir  dies;  worauf  es  mir  hier  ankam, 
war  die  Einschärfung  des  Satzes,  daß  die  Auffindung  eines 
allgemeinen  Gesetzes  jederzeit  eine  Leistung  der  errathenden 
Einbildungskraft  ist,  möglich  gemacht  durch  sachhche 
Kenntniß,  die  hier  in  der  Erinnerung  durch  die  Aehnlichkeit 
des  gegebenen  Falles  mit  analogen  früheren  reproducirt 
wird  und  sich  zum  Erklärungsgrunde  anbietet.  Eine  demon- 
strative Methode  aber,  oder  eine  sprunglose  Methode  über- 
haupt, ein  sicheres  logisches  Recept,  zu  dem  richtigen 
allgemeinen  Gesetze  einer  Gruppe  von  Vorgängen  zu  ge- 
langen,  gibt  es  nicht.  i 

270.  Wenden  wir  uns  nun  noch  einmal  zu  unserer 
Werthreihe  zurück,  um  zu  sehen,  in  welchem  Grade  die 
Lösung  der  gestellten  Aufgabe  gelingt,  so  finden  wir  zuerst 
zahlreiche  Fälle,  in  denen  sie  entschieden  mißlingt.  Hierher 
gehören  namentlich  eine  Menge  statistischer  Berechnungen, 
welche  ein  Ergebniß  W,  das  in  Wahrheit  von  einer  sehr 
großen  Anzahl  zusammenwirkender  Bedingungen  abhängt, 
z.  B.  die  noch  vorhandene  Lebenshoffnung,  nur  bezüglich 
seiner  Bedingtheit  durch  eine  derselben,  etwa  das  bereits 
erreichte  Lebensalter,  auffassen  und  über  dieses  Verhältniß 
ein  allgemeines  Gesetz  suchen.  Der  innere  Widerspruch 
der  Aufgabe  springt  in  die  Augen;  man  kann  nicht  eine 
veränderliche  Größe  W,  welche  eine  Function  von  U  x  y  z 
zugleich  ist,  als  bloße  Function  von  U  ausdrücken  und 
dabei  x  y  z  ganz  vernachlässigen,  die  in  den  richtigen 
Ausdruck  doch  als  Mitbedingungen  eingehen  müßten.  In 
der  That  wurde  man  auch  auf  einen  solchen  Versuch  gar 
nicht  gerathen,  wenn  es  nicht  wieder  die  Erfahrung  wäre, 
die  ihm  Credit  verschaffte;  so  ungenau  theoretisch  be- 
trachtet unser  Verfahren  ist,  so  wissen  wir  doch,  daß 
factisch  etwas,  wenn  auch  nicht  ganz  das  Gewünschte, 
dabei  herauskommt,  und  umgekehrt :  der  Mangel  alles  Erfolgs 
ist  in  anderen  Fällen  der  Beweggrund,  der  uns  von  ähn- 
lichen Versuchen  abstehen  heißt.  Was  nun  hier  heraus- 
zukommen pflegt,  beruht  etwa  auf  Folgendem.  Unter  den 
Bedingungen  weiterer  Lebenshoffnung  ist  die  mächtigste 
ohne  Zweifel  das  schon  erreichte  Alter  U,  denn  die  mit 
ihm  verbundene  Modification  des  Körpers,  die  allmählich 
fortschreitet,  reicht  für  sich  allein  zuletzt  hin,  um  selbst 
unter  den  günstigsten  anderen  Bedingungen  den  Tod  un- 


Auffindung  von  Gesetzen.  405 

vermeidlich  zu  machen.  Innerhalb  längerer  Zeiträume 
ändert  sich  jedoch  die  Wirkung  des  U  nur  langsam  und 
unbeträchtlich,  während  in  anderen  Abschnitten  des  Lebens 
sie  rasch  und  bedeutend  wächst;  hieraus  folgt,  daß  .die- 
selben äußern  Bedingungen  während  einer  gewissen  Lebens- 
periode gleichmäßig,  während  einer  andern  auch  gleich- 
mäßig, aber  gleichmäßig  anders  auf  den  Körper  einwirken; 
beruht  nun  sacfilich  auf  dieser  Wechselwirkung  der  vor- 
handenen Lebenskraft  mit  den  Umständen  die  Fähigkeit 
zu  weiterem  Fortleben,  so  ist  zu  vermuthen,  daß  für  gewisse 
Strecken  des  Lebensalters  die  Lebenshoffnung  nach  einem 
ziemlich  constanten  Gesetze,  für  andere  begrenzte  Strecken 
nach  einem  andern  gleichfalls  beständigen  Gesetze  abnimmt; 
daß  aber  nicht  wohl  ein  Gesetz  denkbar  ist,  welches  für 
die  ganze  Lebensstrecke,  also  für  jedes  erreichte  Alter 
das  noch  zu  hoffende  Leben  allgemein  bestimmte.  Man 
pflegt  daher  in  solchen  Untersuchungen  partielle  Gesetze 
oder  Formeln  aufzustellen,  die  jede  nur  für  Werthe  .des  U 
zwischen  zwei  bestimmten  Grenzen  gelten  und  die  zu- 
gehörigen Werthe  von  W  berechnen  lehren  sollen.  Eine 
theoretische  Bedeutung  haben  diese  Formeln  gar  nicht; 
sie  sind  nur  praktische  Rechenknechte  oder  übersichtliche 
Ausdrücke  des  Verhaltens  im  Allgemeinen;  sind  sie  sehr 
einfach  und  doch  von  hinlänglicher  Genauigkeit,  so  er- 
leichtern sie  die  Berechnung;  sind  sie  doch  schon  von 
complicirter  Form,  so  ist  es  meistens  leere  Affeetation, 
sie  überhaupt  aufzustellen;  man  geht  dann  zweckmäßiger 
auf  die  Urform  der  Tabelle  zurück,  die  das  factischa 
Material  der  Beobachtung,  aus  dem  sie  entstanden  sind, 
unverarbeitet  enthält. 

271.  Wenn  die  Sache  weniger  ungünstig  steht  und  auf 
das  Vorhandensein  eines  durch  zwei  Beziehungspunkte  U 
und  W  ausdrückbaren  allgemeinen  Gesetzes  gerechnet 
werden  kann,  so  fragt  es  sich  nun,  welches  von  den 
mehreren  zu  wählen  ist,  die  der  vorliegenden  Reihe  der 
Werthpaare  gleich  gut  oder  mit  gleichem  Grade  der  An- 
näherung untergelegt  werden  können.  Wir  werfen  diese 
Frage  unter  etwas  anderen  Voraussetzungen  auf,  als  wir 
bisher  festhielten.  Eine  völlig  genaue  Wiedergabe  des 
beobachtbaren  Thatbestandes  werden  die  Zahlen  unserer 
Werthreihe  nicht  so  sein,  wie  wir  annahmen;  sie  werden 
Ungenauigkeiten  enthalten,  von  denen  wir  uns  jetzt  be- 
gnügen zu  glauben,  daß  sie  klein  sind,  und  daß  sie  nicht 
nach   einer   Richtung,    sondern   ziemlich   gleichmäßig   nach 


406  Achtes  Kapitel. 

(lem  Mehr  und  nach  dem  Minder  hin  von  dem  wahren 
Thatbestand  abweichen.  Unter  diesen  Bedingungen  entsteht 
der  Zweifel,  ob  überhaupt  diejenige  Formel,  welche  den 
gegebenen  Werthen  sich  am  genauesten  anschließt,  für  das 
von  uns  gesuchte  Gesetz  zu  halten  sei.  Ganz  unverwischt 
wird  schwerlich  je  der  reine  Fall  B  F  in  unsere  Beobachtung 
fallen;  der  Erfolg,  den  seine  Bedingung  B  für  sich  allein 
haben  müßte,  wird  durch  das  gleichzeitige  nie  ganz  zu 
eliminirende  Mitwirken  anderer  Ursachen  etwas  verändert 
sein,  und  dieser  nicht  ganz  reine  Thatbestand  wird  neue 
Aenderungen  durch  die  nie  fehlenden  kleinen  Unvollkommen- 
heiten  unseres  Beobachtens  erfahren  haben.  Die  Data,  von 
denen  wir  ausgehen,  enthalten  also  das,  was  wir  suchen, 
und  zugleich  Störungen  desselben,  die  wir  nicht  suchen; 
eine  Formel,  die  sich  ihnen  genau  anschlösse,  würde  eine 
Copie  dieses  gemischten  Thatbestandes  sein,  aber  nicht 
ein  Gesetz  für  den  reinen  Fall,  den  wir  aus  seiner  Ver- 
mischung mit  zufälligen  Nebenumständen  zu  sondern 
suchten.  Diese  Ueberlegung  ist  der  allgemeine  Grund,  um 
deswillen  wir  uns  überhaupt  erlauben,  die  kleinen  Ab- 
weichungen unberücksichtigt  zu  lassen,  welche  zwischen 
den  gegebenen  Werthen  und  einem  sie  nahezu  deckenden 
Gesetze  noch  bestehen  bleiben;  wir  rechnen  diese 
Differenzen  dann  auf  unbekannte  Störungen.  Es  könnten 
jedoch  Fälle  vorkommen,  in  denen  wir  ein  Gesetz,  welches 
den  gegebenen  Werthen  vollständig  entspräche,  dennoch 
für  unrichtig  halten  oder  einem  andern  nachstellen  müßten, 
das  ihnen  mit  minderer  Annäherung  genügte ;  dies  wird 
eintreten,  wenn  wir  bekannte  Störungen,  die  nothwendig 
stattfinden  müssen,  in  jenem  ersten  Gesetze  nicht  mehr 
angedeutet  sehen.  Nehmen  wir  an,  zwei  Körper  a  und  b 
umkreisen  gleichzeitig  in  verschiedenen  Ebenen  und  Ent- 
fernungen einen  dritten  C,  der  auf  beide  eine  stetige  An- 
ziehung ausübt,  und  es  folge  aus  unsern  Beobachtungen 
mit  völliger  Genauigkeit,  daß  beide  Körper  zwei  ähnliche 
regelmäßige  Ellipsen  beschreiben,  so  müßten  wir  entweder 
unsere  Beobachtungen  für  mangelhaft  erklären,  oder  wir 
könnten  die  elliptische  Bahn  nicht  in  dem  gewünschten 
Sinne  als  das  Gesetz  dieser  Bewegungen  auffassen.  Denn 
auch  wenn  wir  Anziehung  nur  zwischen  C  und  a  und 
zwischen  C  und  b,  aber  nicht  zwischen  a  und  b,  noch  mehr 
aber,  wenn  wir  sie  auch  zwischen  diesen  bestehen  ließen, 
müßte  die  Bahn,  welche  a  beschriebe,  wennb  nicht  vor- 
handen  wäre,   dann   gestört   werden,   wenn  b   zugleich  da 


Auffindung  von  Gesetzen.  407 

ist.  Entweder  also  weichen  die  wirklichen  gleichzeitigen 
Bewegungen  von  der  Ellipse  ab,  und  dann  waren  unsere 
Beobachtungen  ungenau  und  repräsentiren  diese  kleinen 
Störungen  nicht;  oder  die  Ellipse  ist  die  f actische  Bahn 
beider  Körper,  und  dann  ist  die  gesetzliche  Bahn  jene 
andere,  die  sie  durchlaufen  würden,  wenn  diese  Störungen 
nicht  wären.  Denn  darauf  allein  ist  es  doch  bei  solchen 
Untersuchungen  nicht  abgesehen,  blos  einen  allgemeinen 
Ausdruck  oder  eine  Copie  des  Thatbestandes  zu  bekommen, 
so  wie  er  aus  der  bereits  erfolgten  Anwendung  eines  all- 
gemeinen Gesetzes  auf  bestimmte  Bedingungen  eines  parti- 
cularen  Falles  entsprungen  ist;  man  wünscht  vielmehr  das 
Gesetz  in  derjenigen  Allgemeinheit,  die,  weil  es  diese  Sonder- 
umstände noch  ausschließt,  die  Ergebnisse  zu  beürtheilen 
verstattet,  welche  unter  andern  Nebenumständen  aus  den 
bleibenden  oder  analogen  Hauptbedingungen  hervorgehen. 
In  solchen  Fällen,  wie  wir  sie  hier  annahmen,  wird  daher 
die  mangellose  oder  allzu  auffallende  Genauigkeit,  mit 
welcher  ein  angenommenes  Gesetz  den  gegebenen  Beobach- 
tungen sich  anschließt,  geeignet  sein,  Mißtrauen  gegen  seine 
Richtigkeit  zu  erwecken.  Welches  andere  Gesetz  für  richtiger 
gelten  darf,  läßt  sich  natürlich  nur  in  dem  Maß  vermuthen, 
in  welchem  man  die  übersehenen  Störungen  aus  anderen 
Gründen  schätzen  kann;  das  erweckte  Mißtrauen  kann  aber 
die  Anleitung  zu  neuen  Combinationen  der  Beobachtungen 
oder  zu  neuen  Versuchen  werden,  welche  hierüber  Licht 
zu   verbreiten  vermögen. 

272.  Es  hängt  hiermit  weiter  zusammen,  daß  wir  in 
dem  Falle  mehrerer  Gesetze,  die  sich  den  vorliegenden 
Datis  mit  ungefähr  gleicher  Annäherung  anschließen,  das 
einfachere  vorzuziehen,  überhaupt  in  der  Einfachheit  eine 
Art  Bürgschaft  der  Wahrheit  zu  sehen  pflegen.  Gegen  diese 
letzte  Auffassungsweise,  die  das  simplex  sigillum  veri  zum 
allgemeinen  Grundsatz  erhebt,  hat  die  Logik  einen  ebenso 
allgemeinen  Widerspruch  zu  erheben.  Wenn  es  sich  um 
Benutzung  eines  Gesetzes  zur  Berechnung  einzelner  Fälle 
handelt,  dann  ist  freilich  die  einfachere  Formel  vorzuziehen, 
weil  sie  bequemer  ist;  über  ihre  Wahrheit  oder  Wahr- 
scheinlichkeit aber  entscheidet,  so  allgemein  betrachtet,  ihre 
Einfachheit  gar  nichts.  Man  muß  durchaus  überlegen, 
wessen  man  sich  in  dem  Gebiet  von  Vorgängen,  die  man 
untersuchen  will,  überhaupt  zu  versehen  hat.  Ist  es  ein- 
leuchtend,  daß  in  ihm  ein  Ergebniß  W  von  vielerlei  un- 


408  Achtes  Kapitel. 

abhängigen  Bestimihungsstücken  abhängt,  so  ist  ein  ein- 
faches Gesetz  über  diesen  Zusammenhang  zwar  kein 
unmöglicher,  aber  ein  durchaus  unwahrscheinlicher  Fall ; 
die  erste  Regung,  die  wir  bei  der  Auffindung  eines  solchen 
Gesetzes  eigentlich  haben  sollten,  wäre  die  des  Mißtrauens 
in  seine  Gültigkeit;  wir  müßten  glauben,  in  unseren  Be- 
obachtungen oder  in  unserm  Raisonnement  die  Sache  zu 
leicht  genommen  und  wesentliche  Bedingungen  unberück- 
sichtigt gelassen  zu  haben;  erst  dann  werden  wir  befriedigt 
sein,  wenn  eine  eindringende  Untersuchung  zeigt,  daß  wirk- 
lich diese  übergangenen  Bedingungen  sich  untereinander 
stets  so  aufheben,  daß  die  Rücksicht  auf  sie  rechtlich  in 
dem  allgemeinen  Gesetze  ausfallen  darf.  Hätte  man  z.  B. 
durch  bloße  Beobachtungen  gefunden,  daß  ein  Körper,  von 
einer  Kugeloberfläche  unter  der  anziehenden  Wirkung  des 
Kugelmittelpunktes  ausgehend,  auf  einer  bestimmten  andern 
concentrischen  Oberfläche  immer  mit  derselben  End- 
geschwindigkeit ankommt,  gleichviel  auf  welchem  Wege 
er  von  der  einen  zur  andern  übergeht,  so  würde  man  diesem 
Funde  mißtrauen  müssen  und  ihn  erst  dann  anerkennen, 
wenn  nachgewiesen  ist,  daß  wirklich  hier  diese  merkwürdige 
Compensation  verschiedener  Nebenbedingungen  stattfindet 
und  -Stattfinden  muß.  Man  täuscht  sich  hierüber  leicht, 
wenn  das  gefundene  Resultat  nicht  so  paradox  ist,  wie  dies 

ebenerwähnte.    Die   Formel   T  =  ti'\/ —    scheint   alle   Be- 

r  g 

Stimmungsstücke  zu  vereinigen,  von  denen  die  Zeit  einer 
Pendelschwingung  abhängt,  denn  die  oberflächliche  Be- 
obachtung läßt  den  Elongationswinkel  als  wirksam  nicht 
hervortreten.  Die  genauere  Theorie  zeigt  dann  doch,  daß 
dieser  einfache  Ausdruck  nur  eine  Annäherung  und  das 
wahre  Gesetz  weit  verwickelter  ist.  Obwohl  man  daher, 
nach  _ einem  gewissen  speculativen  Grundsatz,  auf  den  ich 
vielleicht  später  komme,  voraussetzen  darf,  daß  die  Wirk- 
lichkeit in  der  That  mancherlei  eigenthümliche  Gompen- 
sationen  enthalte,  geeignet,  gewisse  Typen  von  resultirenden 
Ereignissen  immer  nach  demselben  einfachen  Gesetze  zu 
erhalten,  gleichviel  wie  verschieden  die  Mittel  sind,  durch 
die  in  den  einzelnen  Fällen  diese  Typen  realisirt  werden: 
so  darf  man  doch  das  Vorhandensein  solcher  Einrichtungen 
nur  da  annehmen,  wo  die  Beobachtungen  es  zweifellos 
zeigen;  dagegen  wo  uns  ein  solcher  Vorausblick  auf  die 
Grenzen  nicht  gestattet  ist,  innerhalb  deren  sich  der  Erfolg 
nicht  vollständig  bekannter  Bedingungen  halten  muß,  bleibt 


Auffindung  von  Gesetzen.  409 

die  Vermuthung  einfacher  Gesetze  und  die  Vorliebe  für 
solche  fehlerhaft  und  pflegt  nur  von  der  vollständigen  Er- 
forschung aller  wesentlichen  Einzelheiten  des  gegebenen 
Untersuchungsobjectes  abzuhalten.  Der  gegenwärtige  Zu- 
stand der  Naturforschung  macht  diese  Warnungen  vielleicht 
nicht  mehr  so  nothwendig,  als  sie  vor  einigen  Jahrzehnten 
gewesen  wären,  wo  mein  sich  sehr  geneigt  fand,  so  zu- 
sammengesetzte Erscheinungen,  wie  das  organische  Leben, 
nach  höchst  einfachen,  aber  ebenso  unzulänglichen  all- 
gemeinen Gesichtspunkten  erklären  zu  wollen.  Es  verhält 
sich  natürlich  Alles  anders,  wenn  der  behandelte  Gegenstand 
zu  jenen  Phänomenen  gehört,  die  man  nicht  mehr  als 
veränderliche  Erzeugnisse  einer  Mehrheit  unabhängiger 
Ursachen,  vielmehr  selbst  als  Erscheinungen  jener  Grund- 
kräfte zu  betrachten  Anlaß  hat,  aus  deren  constantem 
Wirken  unter  verschiedenartigen  zweiten  Prämissen  die 
Mannigfaltigkeit  der  physischen  Vorgänge  zusammengesetzt 
wird.  Gewiß  hat  man  für  diese  Fälle,  die  sich  ja  dem 
vorausgesetzten  reinen  Falle  B  F  nähern  oder  ihn  erreichen, 
die  Einfachheit  des  sie  betreffenden  Gesetzes  als  Zeiclien 
seiner  wahrscheinlichen  Gültigkeit  anzusehen;  aber  doch 
auch  nicht  aus  dem  gewissermaßen  ästhetischen  Grunde, 
daß  Einfachheit  allenthalben  Charakter  der  Wahrheit  wäre, 
sondern  deswegen,  weil  sich  für  diese  reinen  Fälle  in  der 
That  nur  eine  der  früher  (263)  angeführten  einfachen 
Formen  des  gesetzlichen  Zusammenhangs  zwischen  Ursache 
und    Wirkung    denkbar    erweist. 

273.  Man  hat  bemerkt,  wie  großen  Werth  wir  bei  Auf- 
findung von  Gesetzen  auf  schon  vorhandene  Kenntnisse 
legten  und  wie  wir  dahin  kamen,  an  allerhand  Vorüber- 
legungen und  Nebengedanken  zu  appelliren,  durch  welche 
die  unmittelbaren  Daten  der  Beobachtung  erst  eine  gewisse 
Deutung  erhalten  müssen.  Drücken  wir  diesen  Drang  in 
der  bekanntesten  Form  aus:  wir  brauchen  sehr  häufig^ 
Hypothesen,  um  die  Beobachtungsresultate  nutzbar  zu 
machen.  Man  kann  in  der  That  geneigt  sein,  unter  diesen 
Namen  mehrere  der  Gedanken  zu  bringen,  die  wir  uns 
schon  gestatteten,  und  es  etwa  eine  Hypothese  zu  nennen, 
wenn  wir  von  einem  periodischen  Wachsen  und  Abnehmen 
einer  Wirkung  bei  stets  wachsender  Ursache  auf  eine  Ver- 
schiebung zurückschlossen,  die  in  den  gegenseitigen  Stellun- 
gen der  in  dieser  Ursache  vereinigten  wirksamen  Elemente 
stattfinde.  Es  scheint  mir  jedoch  im  Interesse  der  Logik, 
die  Namen  anders  zu  definiren  und  zwischen  Postulaten 


410  Achtes  Kapitel. 

Hypothesen  und  Fictionen  zu  unterscheiden.  Der 
eben  erwähnte  Rückschluß  ist  ein  Postulat,  d.  h.  er  drückt 
diejenigen  Bedingungen  oder  denjenigen  Grund  aus,  ohne 
dessen  Herstellung  oder  Gültigkeit  durch  irgend  welche 
realen  Dinge  Kräfte  oder  Vorgänge  die  gegebene  Form 
der  Erscheinung  überhaupt  undenkbar  ist;  er  fordert  oder 
postulirt  also,  daß  irgend  etwas  der  Art  vorhanden  sein 
müsse,  was  geeignet  ist,  dies  Gegebene  zu  begründen.  Das 
Postulat  ist  daher  nicht  eine  Annahme,  die  man  machen 
oder  auch  unterlassen  oder  an  deren  Stelle  man  irgend 
eine  andere  setzen  kann;  es  ist  vielmehr  eine  absolut 
nothwendige  Annahme,  ohne  welche  der  Inhalt  der  Be- 
obachtung, um  die  es  sich  handelt,  den  Gesetzen  unseres 
Denkens  widersprechen  würde.  Auch  ist  das  Postulat  keines- 
wegs seinem  eignen  Inhailte  nach  nothwendig  so  unbestimmt, 
wie  es  nach  meinen  eben  gebrauchten  Ausdrücken  scheinen 
könnte;  das  vielmehr,  was  da  sein  oder  da  gewesen  sein 
oder  geleistet  werden  muß,  damit  die  gegebene  Erscheinung 
als  wirkliche  denkbar  sei,  kann  durchaus  bestimmt  sein; 
unbestimmt  bleibt  blos  die  hiervon  wesentlich  verschiedene 
Frage,  wer  oder  was  denn  dasjenige  sei,  welches  durch 
seine  concrete  Natur  eben  diejenigen  Bedingungen  in  Wirk- 
lichkeit herstellt,  deren  Erfüllung  das  Postulat  zur  Möglich- 
keit des  Gegebenen  nothwendig  fand.  Wenn  ein  Körper 
von  bekannter  Masse  sich  in  einer  bekannten  krummlinigen 
Bahn  mit  bekarmter  Geschwindigkeit  bewegt,  so  läßt  sich 
ganz  vollkommen  genau  die  Summe  der  resultirenden  Be- 
dingungen B,  B^ . .  angeben,  die  in  jedem  Augenblick  auf  ihn 
wirken  müssen,  damit  er  diese  Bewegung  ausführen  könne ; 
unbestimmt  bleibt  nur,  wo  B  und  B^  hergekommen,  ob  sie 
beide  einfache  Anstöße  einfacher  Kräfte  oder  selbst  Re- 
sultanten von  vielen  zusammenwirkenden,  ob  sie  überhaupt 
Wirkungen  von  Kräften  sind,  oder  Mittheilungen  schon  vor- 
handener Bewegungen.  Hier  zeigt  sich  nun  deutlich,  daß 
wirklich  der  Sprachgebrauch  sich  sträubt,  solche  For- 
derungen schon  Hypothesen  zu  nennen.  Wer  uns  blos 
zu  sagen  weiß,  zu  jener  krummlinigen  Bahn  seien  Kräfte 
von  bestimmter  Intensität  und  Richtung  nöthig,  um  in 
jedem  Augenblicke  die  Bewegung  von  der  Tangente  um 
so  und  so  viel  abzulenken,  dem  antworten  wir:  hiermit 
lehre  er  nichts  Neues,  sondern  das  was  sich  von  selbst 
verstehe  und  aus  der  bloßen  Analyse  der  gegebenen  Er- 
scheinung als  nothwendig  von  jedem  noch  erst  bei- 
zubringenden    Erklärungsgrunde     erfüllt     werden     müsse. 


Auffindung  von  Gesetzen.  411 

Hypothese  nennen  wir  erst  die  Vermuthung,  welche  zu 
diesem  abstract  aufgestellten  Postulate  die  concreten  Ur- 
sachen Kräfte  und  Vorgänge  namhaft  zu  machen  sucht,  aus 
welchen  in  diesem  Falle  die  gegebene  Erscheinung  wirklich 
entsprang,  während  in  andern  Fällen  dasselbe  Postulat 
vielleicht  durch  ganz  andere  äquivalente  Combinationen 
von  Kräften  oder  wirksamen  Elementen  zu  befriedigen  ist. 
Zweierlei  läßt  sich  demgemäß  über  die  Hypothese  sogleich 
festsetzen.  Sie  ist  zuerst  nicht  identisch  mit  einer  leeren 
Vermuthung,  die  uns  unveranlaßt  durch  den  Kopf  schießt, 
sondern  sie  beruht  immer  auf  einem  unabweisbaren 
Postulate,  und  sie  ist  bestimmt,  die  Widersprüche  oder 
Lücken,  um  derentwillen  das  Gegebene  in  seiner  unmittelbar 
vorliegenden  Gestalt  undenkbar  ist,  durch  die  Annahme 
eines  der  Beobachtung  entgehenden  inneren  Gefüges  der 
wirklichen  Dinge  und  wirklichen  Vorgänge  so  zu  erklären, 
daß  aus  diesem  angenommenen  wahren  Verhalten  der 
Widerspruch  verschwindet,  zugleich  aber  begreiflich  wird, 
warum  in  der  beobachtbaren  Erscheinung  derselbe  für  uns 
unvermeidlich  entstehen  muß.  Damit  hängt  dann  zweitens 
zusammen,  daß  jede  Hypothese  eigentlich  nicht  blos  Denk- 
figur oder  Veranschaulichungsmittel,  sondern  Angabe  einer 
Thatsache  sein  will;  wer  eine  Hypothese  aufstellt,  glaubt 
die  Reihe  der  wirklichen  beobachtbaren  Thatsachen  durch 
glückliches  Errathen  nicht  minder  wirklicher,  aber  un- 
beobachtbarer verlängert  zu  haben.  Es  ist  hierbei  nicht 
nothwendig,  daß  die  so  errathene  Thatsache  eine  einfache 
und  letzte  sei,  die  nicht  ebenso  noch  weiter  zurückgehende 
Untersuchungen  über  die  Gründe  ihrer  eigenen  Möglichkeit 
veranlaßte;  es  reicht  hin,  wenn  sie  als  eine  bestehende 
Wirklichkeit  vorgestellt  werden  kann,  über  deren  Zustande- 
kommen man  sich  Weiteres  vorbehält.  Daß  die  Lichtstrahlen, 
kurz  gesagt,  in  demselben  Augenblicke  auf  ihrer  rechten 
Seite  sich  anders  verhalten  müssen  als  auf  ihrer  linken, 
und  daß  dies  Verhalten  selbst  mit  der  Zeit  unaufhörlich 
wechselt,  daß  es  also  irgend  eine  Ursache  geben  müsse, 
die  gerade  dies  Phänomen  hervorzubringen  vermöchte,  dies 
war  ein  Postulat  der  Optik  aus  ihren  Beobachtungen;  daß 
dies  Postulat  durch  transversale  Schwingungen  der  Aether- 
atome  befriedigt  werde,  war  die  physische  Hypothese: 
woher  diese  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  uns  vor- 
läufig unentbehrliche  Transversalschwingung  rühren  kann, 
bleibt  eine  Frage  der  Zukunft;  jedenfalls  enthält  sie  aber 
keinen   Widerspruch,   der  uns   hinderte,   sie  als  einen   ge- 


412  Achtes  Kapitel. 

schehenden  Vorgang  vorzustellen.  Fictionen  endlich  sind 
Annahmen,  die  man  mit  dem  vollständigen  Bewußtsein 
ihrer  Unmöglichkeit  macht,  sei  es  daß  sie  innerlich  wider- 
sprechend sind,  oder  aus  äußern  Gründen  nicht  als  Be- 
standtheile  der  Wirklichkeit  gelten  können.  Man  wird  zu 
ihnen  geführt,  wenn  es  für  einen  gegebenen  Fall  M  einen 
Satz  T  nicht  gibt,  unter  den  er  als  Anwendungsfall  mit 
logischer  Strenge  subsumirt  werden  könnte,  wenn  es  aber 
wohl  einen  Satz  T^  gibt,  von  dessen  Anwendungsfällen 
sich  M  um  eine  bestimmte  Differenz  d  unterscheidet.  Man 
ordnet  dann  M  unter  T^,  zieht  hieraus  die  Folgerungen, 
die  man  begehrt,  und  corrigirt  sie  nachher  durch  Hinzu- 
fügung der  Modificationen  b,  welche  um  des  nicht  hinweg- 
zubringenden Unterschiedes  d  willen  nothwendig  werden. 
Die  Ermittlung  des  Kreisumfangs  durch  Einschluß  zwischen 
ein  äußeres  und  ein  inneres  Polygon  kann  man  als  bloßes 
Eingrenzungsverfahren  betrachten,  wenn  man  nicht  schon 
in  dem  Begriff  der  Länge  einer  Curve  eine  Art  Fiction 
sehen  will;  gewiß  aber  ist  eine  solche  die  Formel 
ds2  =:  dx2  -{-  dy2,  wenn  man  das  Zeichen  =  wirklich  Gleich- 
heit und  nicht  bloße  unendliche  Annäherung  an  sie  be- 
deuten läßt.  So  lange  ds  ein  wirklicher  Bogen,  so  lange 
ist  die  Gleichung  falsch;  sobald  aber  ds  größenlös  wird, 
werden  alle  Glieder  Null  und  die  Gleichung  bedeutungslos; 
gleichwohl  führt  sie  zu  unendlicher  Annäherung  an  den 
wahren  Werth,  weil  man  durch  stetige  "Verkleinerung  von  ds 
den  begangenen  Fehler  stetig  verkleinert  und  hierdurch 
die  Summe  oder  das  Integral  der  ds  zuletzt  von  ihm 
unabhängig  macht.  Es  ist  kaum  nöthig,  auf  die  außer- 
ordentliche Wichtigkeit  solcher  Verfahrüngsweisen  für  den 
erfindenden  Gedankengang  aufmerksam  zu  machen;  auch 
sonst  kommen  sie  häufig  vor,  und  der  juristische  Gebrauch, 
sich  an  den  nächstverwandten  Rechtssatz  T^  zu  wenden, 
wenn  es  für  den  zu  beurtheil enden  Fall  eine  specielle 
Regel  T  nicht  gibt,  gehört  logisch  unter  diesen  Begriff  der 
Fiction,  obwohl  man  den  Namen  nur  für  besonders  geartete 
Fälle  anzuwenden  pflegt.  Ihren  Sprachgebrauch  hat  die 
Jurisprudenz  selbst  zu  bestimmen;  ich  kann  mich  indessen 
nicht  überzeugen,  daß  das,  was  man  sonst  als  Fiction 
ansah,  nur  eine  unabhängige  durch  einen  neuen  gesetz- 
geberischen Act  bestimmte  Uebertragung  einer  Summe  von 
Rechtsverhältnissen  auf  ein  Subject  wäre,  das  zu  diesen 
an  sich  in  keiner  Beziehung  stände;  die  römische  Adoption 
scheint  durch  die  Annähme  des  Namens  des  adoptirenden 


Auffindung  von  Gesetzen.  413 

Vaters  zu  beweisen,  daß  psychologisch  zuerst  versucht 
wurde,  ein  in  Wirklichkeit  nicht  herzustellendes  Verhältniß 
doch  als  hergestellt  zu  betrachten  und  auf  Grund  dieser 
Fiction  secundär  die  ihr  entsprechende  Summe  von  Rechts- 
folgen zu  bestimmen. 

274.  Die  Wichtigkeit  der  Leistung,  die  man  von  den 
Hypothesen  erwartet,  rechtfertigt  den  oft  gemachten  Versuch, 
den  Gang  der  freien  erfinderischen  Einbildungskraft,  aus 
der  sie  allein  entspringen  können,  mindestens  an  einige 
Disciplin  zu  binden;  indessen  sind  die  meisten  hierüber 
aufgestellten  Regeln  zwar  vortrefflich,  soweit  sie  sich 
erfüllen  lassen,  aber  ihre  Nichterfüllung  kann  man  doch, 
ohne  nützliche  Fortschritte  zu  sehr  einzuengen,  nicht  als 
Grund  für  die  Unzulässigkeit  der  Hypothesen  gelten  lassen. 
Es  versteht  sich  zuerst,  daß  die  Hypothese,  da  sie  das 
Postulat,  aus  dem  sie  entspringt,  nicht  durch  eine  fingirte 
Vorstellung,  sondern  durch  Angabe  einer  Wirklichkeit  er- 
füllen will,  nur  das  annehmen  darf,  was  sich  als  Thatsache 
denken  läßt,  nicht  aber  das  an  sich  selbst  Widersprechende. 
Man  übertreibt  jedoch,  wenn  man  verlangt,  der  Inhalt  einer 
Hypothese  solle  immer  innerhalb  der  Grenzen  einer  mög- 
lichen directen  Widerlegung  durch  spätere  Reobachtung 
liegen.  Man  kann  diese  Forderung  als  ein  Ideal  betrachten 
und  es  ist  sicher  eine  sehr  nützliche  Maxime,  die  Hypothese 
wo  möglich  so  zu  bilden,  daß  ihre  Falschheit,  wenn  sie 
falsch  ist,  nicht  wegen  der  Unzugänglichkeit  ihres  Inhaltes 
für  die  Reobachtung  auf  ewig  vor  directer  Widerlegung 
sicher  ist;  allein  wir  würden  auf  zu  viele  nützliche  An- 
nahmen verzichten  müssen,  wenn  wir  dies  immer  ver- 
langen wollten.  Daß  die  Lichtpunkte,  die  wir  Nachts  am 
Himmel  sehen,  große  von  uns  sehr  entfernte  Massen  sind, 
ist  zuletzt  auch  nur  eine  Hypothese,  durch  welche  wir 
das  sonst  unerklärliche  tägliche  und  jährliche  Rewegungs- 
spiel  dieser  Lichter  zu  begreifen  suchen;  eine  directe Wider- 
legung dieser  Annahme,  wenn  sie  falsch  wäre,  würde  aber 
unzweifelhaft  jedem  spätem  Fortschritt  der  Reobachtung 
unmöglich  sein.  Man  muß  sich  daher  an  der  Denkbarkeit 
und  Nützlichkeit  der  Hypothese,  an  ihrer  Fähigkeit,  alle 
zusammengehörigen  Erscheinungen,  ja  selbst  solche  zu 
erklären,  welche  noch  unbekannt  waren,  als  man  sie  selbst 
entwarf,  also  an  der  indirecten  Reglaubigung  durch  die 
Uebereinstimmung  alles  aus  ihr  Ableitbaren  mit  der  fort- 
schreitenden Erfahrung  genügen  lassen.  Damit  man  aber 
eben  so  glücklich  sei,  eine  Hypothese  zu  finden,  der  später 


414  Achtes  Kapitel. 

diese  Beglaubigung  nicht  fehlen  wird,  kann  man  nicht 
einfach  alles  das  ajinehmen,  was  sich  überhaupt  als  That- 
sache  vorstellen  läßt,  sondern  nur  das,  was  außer  seiner 
Denkbarkeit  so  zu  sagen  der  allgemeinen  Sitte  der  Wirk- 
lichkeit oder  ihrem  speciellen  Ortsgebrauch  innerhalb  der 
zusammengehörigen  Gruppe  von  Erscheinungen  gemäß  ist, 
zu  welcher  der  untersuchte  Gegenstand  gehört.  Auf  allen 
Gebieten  verfährt  man  so.  Wenn  in  einem  formulirten 
Rechtsgesetz  der  Wortlaut  keine  unzweideutige  Folgerung 
in  Bezug  auf  einen  gegebenen  Fall  zuläßt,  so  interpretirt 
man  nicht  beliebig  mit  freiem  spielenden  Scharfsinn,  sondern 
man  geht  auf  die  ratio  legis  zurück  und  sucht  aus  ihr, 
die  der  Grund  jener  Formulirung  ist,  die  für  den  be- 
stimmten Fall  zu  supplirende  Deutung.  Wir  verdanken 
ebenso  in  den  Naturwissenschaften  die  gelungenen  Hypo- 
thesen immer  einer  solchen  Berücksichtigung  von  Analogien, 
die  in  der  Körperwelt  überhaupt  oder  in  einzelnen  Gebieten 
derselben  bemerkbar  sind.  Nur  die  Flüssigkeiten  und  die 
Luft  konnten  ursprünglich  die  Beobachtung  auf  die  Hypo- 
these stetiger  Raumerfüllung  durch  die  Materie  bringen; 
die  große  Mehrzahl  der  festen  Körper  zeigte  sich  nicht 
blos  theilbar,  sondern  aus  verschiedenen  wirklichen  Theilen 
bestehend.  Für  diese  war  daher  der  Begriff  jener  Stetigkeit 
nur  in  Bezug  auf  ihre  kleinen  Theilchen  anwendbar,  für 
sie  also  das  Bestehen  aus  discreten  Atomen,  deren  jedes 
nur  seinen  eignen  kleinen  Raum  stetig  ausfüllen  mochte, 
vollkommen  gewiß.  Da  man  nun  feste  Körper  flüssig  und 
flüssige  fest  werden  sah,  selbst  Gase  unter  Umständen 
tropfbare  und  feste  Gestalt  annehmen,  so  war  die 
atomistische  Hypothese  von  dieser  Seite  her  völlig  gerecht- 
fertigt; sie  trug  nur  das,  was  für  einen  Theil  der  Körper' 
oder  für  gewisse  Formen  derselben  thatsächlich  bestand, 
auf  andere  Körper  oder  andere  Formen  über,  an  denen 
sich  f actisch  derselbe  Zustand  nicht  als  wirklich,  wohl 
aber  als  möglich  deswegen  nachweisen  ließ,  weil  unter 
seiner  Voraussetzung  die  an  ihnen  gegebenen  Erscheinungen 
auch  begreiflich  blieben.  Sobald  dann  einmal  eine  solche 
thatsächliche  Gewohnheit  der  Natur  für  eine  gewisse  Er- 
scheinungsgruppe als  nützliches  Erklärungsprincip  nach- 
gewiesen ist,  so  pflegen  sich  die  Entdeckungen  zu  häufen, 
weil  man  sofort  versucht,  wie  weit  sich  auch  andere  Er- 
eignisse auf  sie  beziehen  lassen.  So  ging  es  mit  der  Wellen- 
bewegung. An  Wasserflächen  an  Saiten  an  tönenden  Ebenen 
konnte  man  sie  geradezu  sehen  und  ihre  Gestalt  im  Ein- 


Auffindung  von  Gesetzen.  41Ö 

zelnen  durch  künstliche  Hülfsmittel  sichtbar  machen;  und 
da  gar  kein  Grund  vorlag,  sie  als  Bewegungen  nur  an 
bestimmte  Materien  geknüpft  zu  denken,  so  waren  es  voll- 
kommen berechtigte  Hypothesen,  welche  zuerst  die  Schall- 
fortpflanzung durch  die  Luft,  dann  die  Bewegung  des  Licht- 
äthers, endlich  die  Erscheinungen  der  Wärme  auf  den 
gleichen  Vorgang  zurückzuführen  suchten.  In  der  orga- 
nischen Welt  stieß  man  auf  einigen  Punkten  auf  eine  nicht 
vermuthete  Theilung  der  Arbeit;  wo  man  früher  demselben 
Substrat  sehr  verschiedene  Verrichtungen  zugetraut  hatte, 
zeigte  sich,  daß  für  jede  einzelne  derselben  ein  besonderes 
Organ  da  war,  das  für  die  übrigen  nicht  vicarirte.  Auch 
diese  Sitte  der  Natur  wurde  zu  neuen  Hypothesen  in  Bezug 
auf  die  Nerven  benutzt,  die  als  Organe  der  verschiedenen 
Farben-  oder  Tonempfindungen  dienen ;  ob  man  das  Richtige 
getroffen,  steht  noch  dahin,  aber  logisch  berechtigt  ist 
diese  Hypothese  zweifellos.  Bewegungen  kommen  im 
Pflanzenreiche  häufig  vor,  auch  solche,  deren  Effect  in 
einer  Zusammenziehung  besteht;  dennoch  scheint  es,  als 
würde  dieser  Erfolg  hier  nicht  durch  Contraction  lebendig 
contractiler  Elemente  hervorgebracht,  wie  im  Thierkörper; 
man  wird  deshalb  hier  diese  Hypothese,  obwohl  sie  an 
sich  möglich  ist,  nicht  machen,  weil  sie  zunächst  den 
Gewohnheiten  der  Natur  auf  diesem  Gebiete  nicht  zu  ent- 
sprechen scheint;  dagegen  hat  es  Werth  zu  untersuchen, 
ob   dieser  Schein  nicht  trügt. 

275.  Man  wird  ferner  von  der  Hypothese  verlangen, 
daß  sie  nicht  mehr,  aber  auch  nicht  weniger  enthält,  als 
sie  im  Anschluß  an  das  Postulat,  aus  dem  sie  entsprungen 
ist,  enthalten  muß.  Und  dies  führt  auf  eine  gewisse 
Disciplinarvorschrift,  die  bei  ihrer  Entwerfung  zu  beachten 
ist.  Man  muß  nicht,  wenn  ein  erklärungsbedürftiger  Vor- 
gang vorliegt,  in  den  blauen  Himmel  nach  einem  glücklichen 
Einfall  aussehen,  sondern  durch  scharfe  Zergliederung  des 
Gegebenen  vor  allem  das  genaue  Postulat  herstellen,  dem 
zu  genügen  ist.  Man  wird  hierbei  zunächst  manche  Neben- 
züge vernachlässigen  können,  die  zu  denjenigen  gehören, 
von  denen  man  aus  anderweitiger  Einsicht  weiß,  daß  sie 
bei  jeder  hier  in  Frage  kommenden  Hypothese  sich  leicht 
nachträglich  durch  eine  nähere  Bestimmung  derselben  be- 
rücksichtigen lassen;  aber  alle  wesentlichen  Stücke  der 
Aufgabe,  die  mithin  nicht  selbst  nur  Consequenzen  anderer 
sind,  wird  man  genau  beachten  müssen,  um  aus  ihrer  Ver- 


416  Achtes  Kapitel. 

knüpfung  zunächst  die  passendste  Form  der  zu  wählenden 
Hypothese  zu  errathen.  Dann  hat  man  sich  umzusehen, 
welche  Elemente  Ursachen  Kräfte  und  Verknüpfungen  der- 
selben die  Wirklichkeit  enthält,  geeignet,  das  gestellte 
Postulat  zu  erfüllen,  und  endlich  wird  man  aus  der  voll- 
ständigsten möglichen  Uebersicht  derselben,  von  einem 
praktischen  und  einem  theoretischen  Beweggrund  zugleich 
geleitet,  diejenigen  auswählen,  welche  den  erwähnten  An- 
forderungen am  einfachsten  und  am  meisten  in  Ueberein- 
stimmung  mit  den  herrschenden  Analogien  des  in  Frage 
kommenden  Gebietes  der  Wirklichkeit  genügen.  Wenn  eine 
mit  Wunden  bedeckte  Leiche  gefunden  worden  ist,  so  geht 
die  erste  Bemühung  darauf,  zu  entscheiden,  ob  die  Wunden 
dem  noch  lebenden  Körper  haben  beigebracht  sein  müssen, 
oder  ob  sie  nach  dem  Tode  entstanden  sind;  dann  welches 
die  Größe  Wirkungsweise  und  Richtung  der  Kräfte  gewesen 
sein  muß,  die  diese  Folgen  hervorgebracht  haben;  endlich, 
ob  diese  so  ermittelten  Bedingungen  ein  Postulat  bilden, 
dem  durch  Annahme  einer  wirkenden  Naturkraft  oder  nur 
durch  Voraussetzung  eines  mit  bewußter  Absicht  geführten 
Werkzeugs  entsprochen  werden  kann.  Auch  dann  nachdem 
dies  entschieden  ist  und  die  Form  der  Hypothese,  die 
Annahme  eines  begangenen  Mordes,  feststeht,  sucht  man 
den  Thäter  nicht  durch  grundlosen  Einfall  zu  errathen, 
sondern  man  fragt,  welche  Personen  zu  denen  gehören, 
zu  denen  man  sich  der  That  versehen  kann,  theils  weil  in 
ihren  Beziehungen  zu  dem  Getödteten  Motive  der  That, 
theils  weil  in  ihrem  Charakter  keine  hinlänglichen  Motive 
zum  Ausschluß  des  vorläufigen  Verdachtes  liegen.  Es  würde 
ganz  ausgeführter  Beispiele  bedürfen,  zu  denen  hier  kein 
Raum  ist,  um  die  Sorgfalt  zu  zeigen,  mit  welcher  die 
richterliche  Untersuchung  darauf  hält,  keinen  Theil  des 
Postulates  unbefriedigt  zu  lassen  und  erst  dann  eine  ge- 
wonnene Ueberzeugung  für  hinlänglich  sicher  zu  halten, 
wenn  sie  jeden  Einzelumstand  erklärt,  der  durch  seine 
Abweichung  von  dem  gewöhnlichen  Verhalten  auch  dann, 
wenn  es  sich  nicht  um  ein  Verbrechen  handelte,  seine 
besondere  Erklärung  verlangen  würde.  Vorsichtig  gemacht 
durch  die  Größe  dessen,  was  auf  dem  Spiele  steht,  bewegt 
sich  hier  der  menschliche  Scharfsinn  mit  ganz  anderer 
Genauigkeit  als  in  manchen  philosophischen  Speculationen, 
die  viel  sündigen  können,  weil  sie  wenig  zu  verderben  im 
Stande  sind.  Noch  immer  gefällt  man  sich,  den  schlecht- 
beobachteten Befund  gewisser  auffälliger  Erscheinungen  auf 


Auffindung  von  Gesetzen.  417 

ein  animalisch-magnetisches  Fluidum  zurückzuführen,  ohne 
die  Umstände  zu  specificiren,  die  hier  der  Erklärung  be- 
dürfen würden,  und  folglich  auch  ohne  zu  bedenken,  daß 
die  wüste  Allgemeinheit,  in  der  man  nur  das  Aus-  und 
Einstrahlen  dieses  Fluidum  behauptet,  nicht  die  mindeste 
Handhabe  zur  Erklärung  der  Art  Größe  und  Reihenfolge 
der  höchst  verschiedenartigen  Vorgänge  darbietet,  die  man 
von  ihm  glaubt  ableiten  zu  können.  Die  Naturwissenschaft 
ist  diesem  Fehler  wenig  ausgesetzt,  weil  sie  schon  kaum 
im  Stande  ist,  ohne  hinlängliche  mathematische  Präcisirung 
die  Gegenstände  auch  nur  verständlich  zu  machen,  von 
denen  sie  eine  Erklärung  zu  geben  sucht. 

.  276.  Wenn  es  sich  um  singulare  Thatsachen  handelt, 
von  denen  ich  bald  zu  sprechen  habe,  so  hat  nur  die  Voll- 
ständigkeit, mit  der  eine  zu  ihrer  Beurtheilung  entworfene 
Hypothese  ihren  Inhalt  deckt,  nicht  aber  die  Einfachheit 
dieser  Hypothese  einen  hervorragenden  Werth;  wir  wissen 
ja  aus  Erfahrung,  auf  wie  vielen  Umwegen  im  Einzelfalle 
zuweilen  ein  Ereigniß  zu  Stande  kommt,  das  in  andern 
Fällen  aus  viel  einfacheren  Ursachen  entstehen  kann.  Wenn 
es  dagegen,  wie  noch  hier  für  uns,  um  die  Ermittelung  eines 
Thatbestandes  zu  thun  ist,  der  allgemein  einer  Klasse  oft 
wiederholter  Vorgänge  zu  Grunde  liegt,  so  sind;  wir  aller- 
dings, einem  gewissen  Princip  der  kleinsten  Ursache  gemäß, 
die  einfachere  Hypothese  der  zusammengesetzteren  vorzu- 
ziehen genöthigt.  Aber  doch  nicht  deshalb,  weil  an  sich 
die  Einfachheit  die  größere  Wahrheit  verbürgte,  sondern 
weil  jede  Annahme  irgend  eines  Datums,  welches  zur  Be- 
gründung des  zu  Erklärenden  nicht  unabweislich  wäre,  eine 
völlig  leere,  das  gegebene  Postulat  überschreitende  Ver- 
muthung,  mithin  methodologisch  ungerechtfertigt  wäre. 
Nicht  immer  wird  aber  die  Wirklichkeit  unser  logisch  rich- 
tiges Verfahren  bestätigen.  Versuchen  wir  aus  der  ge^ 
wählten  Hypothese  heraus  rückwärts  die  gegebene,  Er: 
scheinung  zu  construiren,  so  können  Differenzen  zwischen 
dem  was  wir  so  erreichen  und  dem  was  gegeben  war  her- 
vortreten,  sei  es  durch  Schuld  unserer  doch  früher  nicht 
vollständigen  Zergliederung  des  letzteren,  sei  es,  weil  neue 
Beobachtungen,  die  früher  unmöglich  waren,  neue  Seiten 
der  Sache  zum  Vorschein  bringen.  Die  Hypothese  bedarf 
dann  der  Verbesserung;  man  leistet  sie,  indem  man  ent- 
weder die  an  sich  variablen  Elemente,  welche  sie  enthält, 
schicklicher  bestimmt,  so  daß  sie  nun  weder  zu  weite  noch 
zu  enge,  sondern  adäquate  Gründe  zur  Ableitung  des  Ge- 

Lotze,  Logik.  27 


418  Achtes  Kapitel. 

gebenen  werden,  oder  indem  man  in  Bezug  auf  einzelne 
ihrer  Bestimmungsstücke  neue  Hülfshypothesen  hinzugefügt, 
durch  die  demselben  Zwecke  genügt  wird.  Ich  führe  diese 
Verfahrungsweise  kurz  und  geradezu  hier  als  eine  logische 
Regel  auf,  die  man  zu  befolgen  hat,  im  Gegensatz  zu  einer 
sehr  häufig  wiederholten  Lehre,  welche  diese  Einfügung 
neuer  Hypothesen  in  die  alten  als  hinlänglichen  Grund  für 
die  Unzulässigkeit  der  letzteren  ansieht,  und  sofort  auf  ihre 
Ersetzung  durch  einfachere  dringt.  Weder  im  Leben  noch 
in  der  Wissenschaft  befolgt  man  eine  solche  Lehre  wirklich. 
Man  reißt  nicht  ein  Haus  nieder,  um  durch  einen  Neubau 
einen  Uebelstand  zu  beseitigen,  den  ein  leichter  Umbau 
verbessert  hätte;  man  gibt  nicht  sofort  eine  neue  Ver- 
fassimg, wenn  einzelne  Bestimmungen  der  bestehenden  zu 
drücken  beginnen,  und  wie  verbreitet  auch  leider  die 
Neigung  ist,  Principien  zu  reiten,  so  hat  doch  die  ge- 
schickte Anbequemung  nothwendiger  Veränderungen  an  das 
bleibende  Gute  alter  Einrichtungen  stets  als  die  wahre 
Kunst  des  Staatsmannes  gegolten;  auch  der  wirkliche  ge- 
schichtliche Entwicklungsgang  der  Wissenschaft  zeigt,  daß 
sie  neue  Gesichtspunkte  gern  unter  unbequemen  alten 
Formen  2u  versuchen  liebt,  um  keine  der  Wahrheiten  ein- 
zubüßen, die  durch  diese  Formen  einmal  gewonnen  sind. 
Ich  behaupte  nicht,  daß  es  hierbei  bleiben  soll,  auch  nicht 
daß  es  dabei  bleiben  wird;  von  dem  Ergebniß,  das  wir 
durch  unsere  Untersuchungen  erarbeiten  wollen,  hoffen  wir 
alle,  daß  es  ein  eiufaches  in  sich  zusammenhängendes 
Ganze  sein  wird ;  so  lange  wir  aber  noch  in  der  Arbeit 
begriffen  sind,  es  zu  suchen,  dürfen  wir  uns  nicht  durch 
die  sonderbare  verwickelte  und  abenteuerliche  Form  ab- 
schrecken lassen,  welche  unsere  Ansichten  dadurch  an- 
nehmen, daß  wir  jeder  neuerkannten  oder  besser  erkannten 
Specialität  unseres  Gegenstandes  sorgfältig  durch  eine  Hülfs- 
hypothese  gerecht  werden,  die  wir  unsem  früheren  An- 
nahmen über  ihn .  hinzufügen.  Nur  auf  diesem  Wege 
können  wir  hoffen,  jenes  einfache  und  glatte  Ergebniß  voll- 
ständig zu  erreichen;  denn  je  gewissenhafter  wir  hier  ver- 
fahren, um  so  sicherer  dürfen  wir  voraussetzen,  daß  wie 
bei  jeder  verwickelten  Rechnung,  die  ein  einfaches  Re- 
sultat vorausbekannter  Weise  liefern  muß,  im  Verlaufe  des 
Verfa3irens  unsere  mannigfachen  Annahmen  von  selbst  sich 
auf  einfachere  und  allgemeinere  reduciren  werden,  so  daß 
nach  allen  Umwegen  ein  Facit  übrig  bleiben  wird,  welches 
nicht  blos  einfach  und  übersichtlich  ist,  sondern  auch  alle 


Auffindung  von  Gesetzen.  419 

Bestandtheile  unseres  Postulats  vollständig  deckt.  Endlich 
leugnet  Niemand,  daß  eine  glückliche  Inspiration  diese  Um- 
wege abkürzen  kann;  aber  Inspirationen  kann  die  Logik 
nicht  lehren;  was  sie  als  Methode  lehren  kann,  ist  genau 
nur  dies,  was  wir  aufführten:  man  muß  seine  Ungeduld 
zügeln  und  unbeirrt  eine  einmal  versuchte  Hypothese  so 
lange  umformen,  bis  aus  den  Unformen,  die  sie  durch- 
läuft, eine  uns  und  die  Sache  befriedigende  einfache  Gestalt 
derselben  entspringt.  Die  Hast,  gleich  während  der  Arbeit 
lauter  paradefähige  Principien  aufstellen  zu  wollen,  verführt 
blos  dazu,  es  sich  mit  den  Problemen  leicht  zu  machen, 
ihre  unbequemen  Sonderbarkeiten  unberücksichtigt  zu  lassen 
und  sich  mit  einer  Ansicht  zu  befriedigen,  die  in  Bausch 
und  Bogen  die  großen  Umrisse  der  Sache  wiedergibt,  für  das 
Einzelne  aber  gar  keine  erschöpfende  Erklärung  liefert. 

277.  Ich  habe  noch  einen  bedenklichen  Punkt  zu  er- 
wähnen. Nichts  kann  dringender  scheinen,  als  daß  eine 
Hypothese,  die  ja  eine  Thatsache  errathen  haben  will,  vor 
allen  Dingen  nur  etwas  an  sich  Mögliches  behaupten 
darf;  und  gewiß  wird  es  dabei  auch  bleiben,  daß  ihr  nicht 
erlaubt  ist,  als  unmöglich  Anerkanntes  vorauszusetzen;  aber 
über  die  Grenzen  dessen,  was  hier  als  Mögliches  noch  zu- 
lässig ist,  besteht  doch  ein  Zweifel.  Ich  habe  ihn  durch 
die  Wahl  meines  Ausdrucks  zu  lösen  gesucht,  als  ich  nur 
das,  was  sich  als  gegebene  Thatsache  vorstellen  läßt,  als 
zulässigen  Inhalt  einer  Hypothese  bezeichnete,  und  in  der 
That  glaube  ich,  daß  man  weder  mehr  verlangen  darf,  noch 
hierdurch  mit  dem  Begriff  der  Hypothese  in  Widerspruch 
geräth;  sie  will  eine  Thatsache  errathen,  aber  es  genügt 
ihr  auch,  daß  diese  Thatsache  dann  ebeii  so  dastehe^  wie 
so  oft  die  der  wirklichen  Beobachtung  dargebotenen:  vor- 
stellbar, anschaulich,  im  Uebrigen  aber  rücksichtlich  der 
Art  ihres  möglichen  Zustandekommens  unerklärt.  Zu 
keinem  Gebrauch  würden  wir  hypothetisch  einen  Kreis  an- 
nehmen dürfen,  der  zugleich  ein  Dreieck  wäre;  seine  An- 
schauung, unvollziehbar  für  unsere  construirende  Phantasie, 
könnte  auch  als  gegebene  Thatsache  niemals  in  unserer 
Beobachtung  vorkommen.  Die  Annahme  dagegen  eines  un- 
sichtbar kleinen  jedoch  ausgedehnten  Atoms  von  unver- 
änderlicher Gestalt  und  Größe  enthält  keinen  Widerspruch, 
der  uns  hinderte,  es  als  Gegenstand  einer  möglichen  viel- 
leicht durch  künstliche  Hülfsmittel  geschärften  Wahr- 
nehmung vorzustellen;  es  ist  deshalb  zulässig,  das  Vor- 
handensein solcher  Atome  als  die  für  unsere  gewöhnliche 

27* 


420  Achtes  Kapitel. 

Beobachtung  unzugängliche  Thatsache  anzusehen,  auf 
welcher  der  beobachtbare  Inhalt  der  Erscheinungen  beruht. 
Wenn  wir  dann  diese  Vorstellung  auch  vor  unserem  Denken 
rechtfertigen  und  ihre  Möglichkeit  im  Zusammenhang  der 
Natur  untersuchen  wollen,  so  mag  es  immer  sein,  daß  wir 
genöthigt  sind,  sie  zu  modificiren;  aber  wir  brauchen  es 
doch  erst  dann  zu  thun,  wenn  wir  aus  ihr  als  vorläufigem 
Princip  eine  Menge  bleibender  Vortheile  für  die  Erklärung 
der  einzelnen  Erscheinungen  gezogen  haben.  Die  Trans- 
versalschwingung des  Lichtäthers,  die  einem  Postulat  der 
Beobachtung  entsprach,  läßt  sich  ohne  Zweifel  als  wirklich 
geschehender  Vorgang  vorstellen,  aber  aus  welchen  physi- 
schen Ursachen  diese  Richtung  der  Bewegung  hervorgehen 
könnte,  bleibt  zunächst  völlig  unklar;  die  ganze  Voraus- 
setzung eines  in's  Unendliche  ausgedehnten  homogenen  oder 
isotropen  Aethers,  für  jetzt  unentbehrlich  für  unsere  Be- 
griffe von  der  Fortpflanzung  des  Lichts,  gehört  zu  derselben 
Klasse  von  Vorstellungen;  sie  ist  eine  völlig  klare  An- 
schauung, aber  ebenso  völlig  bleibt  dunkel,  wie  eine. so 
gleichmäßige  Vertheilung  auf  einander  wirkender  Elemente 
als  mechanisches  Resultat  möglich  ist.  Die  logischen  Be- 
wunderer naturwissenschaftlicher  Methoden  täuschen  sich 
hierüber  zuweilen,  wenn  sie  den  ganzen  Bau  unserer  Kennt- 
nisse auf  unbedingt  sichere  Fundamente  gestützt  vorstellen ; 
es  geht  vielmehr  öfter  hier  so  zu,  wie  bei  der  festen  Aus- 
mauerung der  Brunnen :  man  baut  von  oben  hinunter  und 
verläßt  sich  darauf,  daß  die  angenommenen  Thatsachen 
nach  unten  einstweilen  von  dem  unanalysirten  Grund  und 
Boden  haltbar  genug  unterstützt  werden,  um  die  aufgesetzte 
Mauer  zu  tragen,  bis  man  einen  Schritt  tiefer  ihnen  wieder 
eine  Schicht  von  Fundament  unterziehen  kann,  der  es  dann 
wieder  so  geht.  Es  ist  zuzugeben,  daß  hierdurch  der  Unter- 
schied zwischen  Hypothese  und  Fiction,  zwischen  Gesetz 
una  Regel  zweifelhaft  wird,  ein  Gedanke,  den  ich  früher 
andeutete  und  später  wieder  aufnehmen  werde. 


Neuntes  Kapitel. 

Bestimmung  singularer  Thatsachen  und 
Wahrseheinlichkeitsbereehnung. 

278.  Gewißheit  über  die  Wirklichkeit  einer  Thatsache 
gibt  nur  die  eigne  unmittelbare  Wahrnehmung;  auch  sie 
nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Deutung  richtig  sei, 
durch  welche  wir  den  Inhalt  der  sinnlichen  Empfindung^ 
der  ursprünglich  allein  das  Gegebene  ist,  in  der  Form  eines 
Ürtheils  zu  einem  Ganzen  von  innerlicher  Zusammen- 
gehörigkeit verknüpft  haben.  Ueberlieferung  dagegen  ver- 
langt zu  der  Glaubwürdigkeit  der  Zeugen  oder  der  Bericht- 
erstatter ein  Zutrauen,  das  man  aus  allerhand  Gründen 
mehr  oder  minder  empfehlen  oder  rechtfertigen,  aber  nie- 
mals als  nothwendig  beweisen  kann;  jeder  Rückschluß 
femer  von  gegebenen  Thatsachen  auf  eine  andere,  die  von 
ihnen  als  ihre  Ursache  bezeugt  werde,  scheitert  daran,  daß 
zwar  jede  Folge  ihren  zulänglichen  Grund,  und  nur  einen 
einzigen  Grund  haben  muß,  daß  aber  sehr  viele  verschiedene 
äquivalente  Thatsachen  der  Wirklichkeit  die  Ursache  ge- 
bildet haben  können,  in  denen  allen  dieser  Grund  der  ge- 
gebenen Wirkungen  vorhanden  war;  endlich  auch  jeder 
progressive  Schluß,  der  aus  beobachteten  Umständen  oder 
Ereignissen  eine  zukünftige  oder  eine  gleichzeitige,  der 
Beobachtung  sich  entziehende  Thatsache  folgern  möchte, 
wird  ungewiß,  weil  jede  Bedingung  im  wirklichen  Weltlauf 
eine  hemmende  Gegenbedingung  finden  kann,  die  zwar 
niemals  die  Folge  derselben  anhullirt,  aber  sie  doch  hindert, 
die  Gestalt  derjenigen  Thatsache  anzunehmen,  als  welche 
sie  ohne  jenes  Hinderniß  auftreten  würde.  Ueberall  mithin, 
wo  unsere  unmittelbare  Wahrnehmung  nicht  ausreicht,  sind 
wii*  in  der  Beurtheilung  der  Wirklichkeit  auf  Wahrschein- 
lichkeit beschränkt  und  haben  die  Mittel  aufzusuchen,  durch 


422  Neuntes  Kapitel. 

welche  wir  dieser  eine  für  unsere  Zwecke  hinreichende  An- 
näherung an  Gewißheit  zu  verschaffen  im  Stande  sind. 

279.  Zwei  allgemeinste,  einander  in  gewissem  Grade 
entgegenwirkende  Gedanken  beherrschen  hier  unsere  Ueber- 
legungen.  Zuerst,  da  keine  in  sich  zusammengehörige 
Causalreihe  in  einer  Welt  für  sich  verläuft,  vielmehr  in 
einer  und  derselben  Welt  zugleich  mit  unzähligen  andern, 
so  erscheint  es  uns  ganz  allgemein  unwahrscheinlich,  daß 
irgend  eine  Ursache  in  Wirklichkeit  ohne  irgend  einen  Ab- 
zug die  ganze  unendliche  Reihe  von  Wirkungen  entfalten 
sollte,  die  sie  gehabt  haben  würde,  wenn  sie  allein  ihren 
Einfluß  auf  die  Bestandtheile  der  Welt  hätte  üben  können. 
Durchdrungen  ist  von  dieser  Ueberzeugung  unser  tägliches 
Leben;  schon  ein  antiker  Spruch  drückt  sie  dahin  aus: 
nicht  an  einen  Anker  müsse  man  das  Schiff,  nicht  an  eine 
Hoffnung  das  Leben  knüpfen;  überall  wo  wir  einen  Erfolg 
sichern  wollen,  auf  den  wir  Werth  legen,  treffen  wir  ver- 
schiedene Vorkehrungen,  deren  jede  zu  demselben  Ziele 
führen  kann;  versagt  die  eine,  so  wird  die  andere  doch  das 
Ziel  erreichen;  erleiden  sie  alle  eine  Einbuße  an  Wirkung 
durch  äußere  Störungen,  so  wird  doch  noch  übrig  bleiben, 
was  uns  befriedigen  kann:  denn  ebenso  unwahrscheinlich, 
wie  der  unverkürzte  Erfolg,  erscheint  uns  eine  Verschwörung 
des  Zufalls,  die  von  vielen  aufgebotenen  Ursachen  keine 
einzige  die  beabsichtigte  Wirkung  entfalten  ließe.  Gleiches 
Mißtrauen  bezeugen  wir  geschichtlichen  Darstellungen,  wenn 
sie  entweder  von  winzigen  Zufällen  ungeheure  Wendungen 
der  Schicksale  ableiten,  oder  durch  Jahrhunderte  hindurch 
in  allen  Einzelheiten  des  geschichtlichen  Verlaufs  doctrinär 
die  genauen  Nachwirkungen  eines  in  früherer  Zeit  ent- 
sclieidend  wirkenden  Impulses  finden  wollen;  sie  übersehen 
im  ersten  Falle  die  unzähligen  Mitbedingungen,  die  allein 
im  Stande  waren,  dem  Kleinen  scheinbar  jene  große  Wirkung 
zu  verschaffen;  sie  überreden  uns  im  letztern  nicht,  daß 
die  unzähligen  unzusammenhängenden  und  unberechenbaren 
Triebe,  die  sich  in  der  vielköpfigen  Menschheit  in  jedem 
Augenblicke  neu  erzeugen,  selbst  vereinigt  mit  den  Ein- 
flüssen der  Natur,  die  ihrer  besonderen  eigensinnigen  Un- 
ordnung oder  Ordnung  folgen,  bei  der  Mitbestimmung  des 
ferneren  Laufes  der  Dinge  in  solchem  Grade  wirkungslos 
gewesen  seien.  Wir  sind  ästhetisch  unbefriedigt  durch  eine 
Poesie,  die  uns  einen  menschlichen  Charakter  in  allen 
großen  und  kleinen  Handlungen  als  unwandelbar  consequent 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  423 

darstellt,  und  ihn  nicht  einmal  durch  irgend  eine  un- 
bedeutende irrationale  Gewohnheit  des  Benehmens,  durch 
irgend  eine  zulässige  aber  zufällige  Vorliebe  oder  Ab- 
neigung, als  ein  Geschöpf  der  Wirklichkeit  beglaubigt;  als 
Personification  einer  abstracten  Eigenschaft  ist  er  uns  in 
der  Dichtung  langweilig,  und  im  Leben,  wenn  er  leben 
könnte,  würde  er  uns  so  grauenhaft  sein,  daß  wir  gegen 
ihn,  den  unpersönlichen,  kaum  noch  die  sittlichen  Ver- 
pflichtungen fühlen  würden,  die  sich  nur  von  Person  zu 
Person  verstehen.  Ebenso  unglaubwürdig  wäre  uns  eine 
Darstellung,  die  jedes  Bestreben,  jeden  Vorsatz  eines  über- 
legenden Geistes,  an  einer  beständigen  Wiederholung  stören- 
der Zufälle  scheitern  ließe;  abscheulich,  wenn  sie  ernst- 
haft wäre,  würde  sie  blos  erträglich,  wenn  sie,  komisch 
gemeint,  nicht  blos  den  erleichternden  Gedanken  an  die 
Unbedeutendheit  der  ganzen  Sphäre,  in  der  sie  sich  be- 
wegt, sondern  zugleich  den  glücklichen  Unglauben  an  die 
Wirklichkeit  dessen  erweckte,  was  hier  als  Möglichkeit  uns 
vorgegaukelt  wird.  Selbst  die  Musik  erscheint  uns  zwar 
nicht  unwahr,  aber  reizlos  und  unbedeutend,  wenn  die 
Melodie  mit  gar  zu  leicht  vorausfühlbarer  Consequenz  den 
einfachen  Fortgang  nimmt,  der  ihrem  Anfang  entspricht, 
ohne  jemals  ihre  lebendige  Elasticität  durch  eine  uner- 
wartete Wendung  zu  verrathen,  zu  der  sie  durch  eine 
ihr  entgegengeworfene  hindernde  Schwierigkeit  veranlaßt 
scheint.  Endlich  begleitet  unser  Mißtrauen  alle  praktischen 
Entwürfe,  welche  nicht  parataktisch,  um  einen  Ausdruck 
der  Syntax  zu  brauchen,  unabhängige  Bedingungen  neben 
einander  ordnen,  um  den  Erfolg  zu  sichern,  sondern  ihn 
hypotaktisch  von  einem  Gewebe  einander  gegenseitig  be- 
dingender Voraussetzungen  abhängig  machen.  Sie  fordern 
auf  diese  Weise  nur  das  Mißlingen  heraus,  indem  sie 
durch  die  Mannigfaltigkeit  der  verbundenen  Bestandtheile 
überhaupt  die  Berührungen  mit  fremdartigen  Einflüssen 
vermehren  und  durch  die  Abhängigkeit  der  einen  von  den 
andern  eine  einmal  erlittene  Störung  beständig  fortwirken 
machen. 

280.  Der  andere  jener  beiden  Gedanken  geht  davon  aus, 
daß  zwar  sehr  viele  verschiedene  Gruppen  äquivalenter 
Ursachen  sich  denken  lassen,  die  darin  übereinstimmen, 
eine  bestimmte  Wirkung  hervorzubringen,  daß  aber  doch 
jede  dieser  Gruppen  außerdem  noch  eigenthümliche  Neben- 
wirkungen haben  wird,  durch  welche  sie  sich  von  andern 
unterscheidet.     Um  daher  einen  ganzen  genau  bestimmten 


424  Neuntes  Kapitel. 

Complex  mannigfacher  Wirkungen  zu  erzeugen,  die  so  zu^ 
sämmengefaßt  eine  bestimmte  zusammengesetzte  Thatsache 
darstellen,  wird  doch  nur  eine  sehr  geringe  Anzahl  ver- 
schiedener Ursachencomplexe,  vielleicht  unter  denen,  die 
in  der  Erfahrung  vorzukommen  pflegen,  nur  ein  einziger 
in  der  That  hinlänglich  sein.  So  lange  uns  ein  gegebener 
Thatbestand  nur  in  seinen  großen  Umrissen  bekannt  ist, 
pflegen  uns  daher  sehr  verschiedene  Ursachen  desselben 
als  mögliche  vorzuschweben;  sobald  dagegen  die  feineren 
Nebenzüge  bekannt  werden,  welche  ihn  charakterisiren,  ver- 
engt sich  die  Auswahl  beträchtlich  und  zuletzt  zeigt  sich, 
daß  das  aus  diesen  Datis  entspringende  Postulat  in  der 
Gesammtheit  aller  seiner  Anforderungen  nur  durch  sehr 
wenige  hypothetisch  anzunehmende  Thatsachen  befriedigt 
wird';  unter  diesen  entscheiden  wir  uns  dann  für  diejenige, 
welche- die  einfachste  ist  und  die  geringste  Anzahl  von 
einander  unabhängiger  zusammenwirkender  Elemente  vor- 
aussetzt. Auch  dieser  Gedanke  läßt  sich  in  den  ver- 
schiedensten Ueberlegungen  als  herrschend  erkennen.  Wenn 
eine  ^  ganze  Reihe  von  Einzelthatsachen  oder  Indicien  vor- 
liegt, die  zusammengenommen  sich  bequem  aus  der  An- 
nahme einer  einzigen  That  erklären  läßt  und  in  der  nichts 
unableitbar  bleibt  außer  jenen  kleinen  Nebenumständen, 
die,  von  zufälligen  Bedingungen  abhängig,  wirklich  jeder 
einzelnen  Ausübung  einer  That  eine  etwas  andere  Färbung 
gebeni  als  einer  zweiten,  so  wird  die  Aufmerksamkeit  des 
Untersuchungsrichters  ausschließlich  sich  auf  diese  An- 
nahme richten,  und  sehr  ungläubig  wird  er  die  künstlichen 
Bemühungen  des  Verdächtigen  anhören,  der  jedes  Stück 
dieses  Thatbestandes  aus  einer  besonderen  unschuldigen 
Ursache;  die  Gesammtheit  desselben  aus  dem  unglücklichen 
Zusammentreffen  so  vieler  Zufälle  zu  erklären  sucht.  Ganz 
ebenso  pflegt  der  Kranke  sich  damit  zu  trösten,  daß  er 
jedes  der  zahlreichen  Symptome  seines  Uebelbefindens 
einzeln  auf  seine  besondere  wenig  bedeutende  Ursache 
zurückführt;  er  täuscht  damit  den  Arzt  nicht,  dessen 
Diagnose  unbarmherziger  auf  die  ernsthafte  Krankheit  lauten 
wird,  die  im  Stande  ist,  auf  einmal  diesen  ganzen  zusammen 
vorkömmenden  Haufen  von  Zufällen  begreiflich  zu  machen. 
Ich  brauche  kaum  hinzuzufügen,  daß  diese  natürlichen 
Maximen  der  Beurtheilung  doch  nur  hinreichen,  um  eine 
erste  vorläufige  Vermuthung  vor  anderen  zu  bevorzugen; 
wo  von  unserer  Entscheidung  wichtige  Folgen  abhängen, 
haben   wir  nie  zu   vergessen,   daß  das   Unwahrscheinliche 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  425 

doch  möglich  ist.  Es  reicht  daher  nicht  hin,  nur  diejenige 
Annahnie  weiter  zu  verfolgen,  welche  die  vorliegenden  Ju- 
dicien uns  als  die  natürlichste  aufdrängen;  man  wird  sie 
nur  dann  der  Glaubwürdigkeit  nähern,  wenn  nicht  blos 
nach  ihr  hin  alle  gegebenen  Anzeichen  von  selbst  con- 
vergiren,  sondern  wenn  bei  aufmerksamer  Prüfung  auch 
die  unwahrscheinlicheren  Vermuthungen,  welche  die  Natur 
der  Sache  noch  zuläßt,  ebenso  viele  Lücken  und  WiderT 
Sprüche  in  dem  zu  erklärenden  Thatbestande  übrig  lassen. 
Man  wird  ferner  darauf  achten  müssen,  so  weit  als  mög- 
lich nur  aus  positiven  Indicien  zu  schließen;  Verneinungen 
sind  vieldeutig;  mögen  sie  die  Unterlassung  einer  Handlung 
oder  das  Nichtvorhandensein  eines  Zustandes  ausdrücken, 
so  sind  sie  benutzbar  zum  Beweise  einer  Thatsache  nur 
dann,  wenn  das,  was  sie  leugnen,  unter  jeder  andern  Vor- 
aussetzung als  noth wendig  zu  erwarten  war;  an  sich  folgt 
aus  der  Verneinung  nur  die  neue  Verneinung  dessen,  was 
ohne  die  Bejahung  des  Verneinten  undenkbar  ist.  Nicht 
die  Menge  endlich  der  Indicien  überhaupt,  sondern  nur 
die  der  von  einander  unabhängigen  hat  Werth  für  unsere 
Entscheidung;  und  hierin  haben  wir  uns  einer  häufigen 
schlechten  Gewohnheit  zu  entschlagen:  sowie  wir  einen 
Fehler  mit  Recht  strafen,  dann  aber,  wenn  seine  unver- 
meidlichen Folgen  nach  und  nach  hervortreten,  gern  jede 
einzelne  derselben  noch  einmal  rächen  möchten,  ebenso 
vergrößert  sich  uns  mit  Unrecht  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  Vermuthung,  wenn  zu  dem  Anzeichen,  das  uns  zu- 
erst auf  sie  führte,  dessen  nothwendige  Consequenzen  nach 
und  nach  in  unsere  Beobachtung  fallen;  sie  stimmen  natür- 
lich zu  unserer  Vermuthung,  aber  sie  können  nichts  zu 
ihrer  weiteren  Begründung  beitragen.  Alle  diese  Regeln 
der  Vorsicht,  deren  scharfsinnige  Befolgung  in  Beispielen 
durchzugehen  freilich  viel  größeres  Interesse  darbieten 
würde,  als  diese  trockene  logische  Formulirung,  schließen 
zuletzt  große  Irrthümer  nicht  aus;  man  würde  jedoch  Un- 
recht thun,  darum  sie  gering  zu  schätzen;  nur  einen  all- 
gemeinen sittlichen  Grundsatz  dürfen  wir  aus  der  Be- 
trachtung dieser  Unvollkommenheiten  ziehen:  wo  unser 
Handeln  unerläßlich  ist,  mögen  wir  uns  auf  die  Wahr- 
scheinlichkeit getrost  verlassen,  über  die  hinaus  zur  Ge- 
wißheit zu  gelangen  uns  unmöglich  ist;  wo  wir  dagegen 
•gar  nicht  verpflichtet  sind  zu  handeln  oder  doch  nicht  ver- 
pflichtet, ein  unwiderrufliches  Aeußerstes  zu  vollziehen,  da 
wird  es  sich  schicken,  unsere  subjective  Ueberzeugung,  die 


426  Neuntes  Kapitel. 

nur  auf  Wahrscheinlichkeit  beruht,  nicht  für  eine  hinläng- 
liche Berechtigung  zu  ihrer  thätlichen  Ausführung  anzu- 
sehen. 

281.  Die  genauere  Abschätzung  derjenigen  Wahrschein- 
scheinlichkeiteUj  die  auf  den  mehr  oder  minder  bekannten 
inneren  Zusammenhang  gegebener  Thatbestände  sich  grün- 
den, entzieht  sich  den  allgemeinen  Anweisungen  der  Logik 
und  ist  der  sachlichen  Kenntniß  des  jedesmaligen  Falles 
zu  überlassen.  Aber  namentlich  in  Bezug  auf  zukünftige 
Ereignisse,  und  auf  diese  beschränke  ich  zunächst  die 
folgenden  Betrachtungen,  finden  wir  uns  sehr  oft  in  der 
Lage,  zwar  zu  wissen,  daß  von  verschiedenen  disjuncten 
Fällen  einer  nothwendig  eintreten  muß,  ohne  daß  wir  jedoch 
im  Besitz  eines  Grundes  wären,  der  uns  irgend  einen  der- 
selben vor  den  übrigen  bevorzugen  ließe;  und  dennoch 
können  praktische  Bedürfnisse  uns  nöthigen,  zwischen  ihnen 
eine  Wahl  zu  treffen,  um  auf  das  vorausgesetzte  Eintreten 
des  bevorzugten  unsere  Handlungen  zu  gründen.  Unter 
solchen  Umständen  bleibt  keine  andere  Maxime  der  Be- 
urtheilung  übrig  außer  der,  allen  gleich  möglichen  Fällen 
auch  gleiche  Wahrscheinlichkeit  ihres  Eintretens  in  der 
Wirklichkeit  zuzuschreiben ;  als  gleich  mögliche  aber  köimen 
wir,  da  wir  auf  jede  Kenntniß  der  die  Verwirklichung  be- 
dingenden Umstände  verzichtet  haben,  nur  diejenigen  Einzel- 
fälle betrachten,  welche  in  dem  Umfang  des  allgemeinen 
Falles  als  gleichwerthige  Arten  desselben  coordinirt  sind. 
Alle  Aufgaben  dieser  Gattung  führen  nämlich  zurück  auf 
ein  disjunctives  Urtheil  von  der  Form:  wenn  die  Be- 
dingung B  erfüllt  wird,  so  tritt  von  der  allgemeinen  Folge  F 
eine  ihrer  Arten  fi,  P,  P. .  mit  Ausschluß  aller  übrigen 
ein.  Welche  dieser  Folgen  in  der  That  eintreten  wird, 
hängt  in  jedem  Falle  von  der  besonderen  Form  b^,  b^,  b^. . . 
ab,  in  welcher  jene  allgemeine  Bedingung  erfüllt  worden 
ist;  wäre  diese  bestimmte  Form  des  B,  vielleicht  b^,  uns 
bekannt,  so  würden  wir  im  Stande  sein,  den  zugehörigen 
Werth  f»  der  Folge  mit  Gewißheit  abzuleiten,  angenommen 
wenigstens,  daß  wir  das  Gesetz  der  Zusammengehörigkeit 
von  B  und  F  ermittelt  hätten;  ist  uns  dagegen,  nach  unserer 
jetzigen  Voraussetzung,  diese  specielle  Gestalt  unbekannt, 
welche  B  in  irgend  einem  Falle  seines  wirklichen  Ein- 
tretens annehmen  wird,  so  muß  zwar,  wenn  B  sich  ver- 
wirklicht, irgend  eine  der  Folgen  fi,  f^,  P  eintreten,  aber 
jede  von  ihnen  bleibt  für  uns  gleich  möglich,  da  die  einzige 
uns  bekannte  Bedingung  ihrer  Verwirklichung,  die  Gültig- 


Bestimmung  singulare!  Thatsachen.  427 

keit  von  B  überhaupt,  für  jede  gleichmäßig  besteht 
und  keine  vor  der  anderen  bevorzugt.  Nehmen  wir  jetzt 
an,  die  allgemeine  Bedingung  B  könne,  wenn  sie  alle  mit 
ihrer  Natur  verträglichen  Variationen  annimmt,  Grund  zu 
n  =  6  verschiedenen  Folgen  fi,  f^. . .  f*^  werden,  so  würden 
n  =  6  verschiedene  Wiederholungsfälle  von  B  nöthig  sein, 
damit  jede  dieser  gleichmöglichen  einander  ausschließen- 
den Folgen  sich  verwirklichen  könnte.  Man  sieht  daher, 
daß  unter  der  Annahme  gleicher  Wirklichkeit  des  gleich 
Möglichen  die  Wahrscheinlichkeit  des  Eintretens  eines 
Einzelfalles  eine  mathematische  Bestimmung  zuläßt;  denn 
in  die  Aussicht,  in  einem  einzigen  Falle  sich  zu  verwirk- 
lichen, muß  jede  dieser  f  mit  allen  übrigen  gleichberech- 
tigten sich  theilen,  die  Summe  aber  der  so  bestimmten 
Wahrscheinlichkeiten  aller  Einzelfolgen  muß  eine  von  ihrer 
Anzahl  unabhängige  constante  Größe  sein,  denn  sie  muß 
die  Gewißheit  bezeichnen,  daß  irgend  eine  der  Einzelfolgen  f, 
wie  viele  ihrer  auch  sein  mögen,  daß  also  F  überhaupt  in 
jedem  Einzelfalle  eintreten  muß,  sobald  B  überhaupt  in 
irgend  einer  Form  verwirklicht  ist.  Da  diese  Gewißheit 
für  jedes  B  und  jedes  F, gleich  unbedingt  besteht  und  die 
Wahrscheinlichkeiten  der  Einzelfälle  nur  relativ  zu  dieser 
Gewißheit  eine  Größenbestimmung  zulassen,  so  hat  es  weder 
Grund  noch  Vortheil,  für  die  erwähnte  Constante  einen 
andern  Werth  als  den  der  Einheit  anzunehmen;  die  Wahr- 
scheinlichkeit eines  einzigen  von   n  coordinirten  Fällen   f 

wird  daher  =  -—  und  die  Summe  der  nWahrscheinlichkeiten 
n 

aller  =:     —  =  1.     Ich  habe  hierbei  vorausgesetzt,  daß  die 

Bezeichnung  coordinirter  Fälle  irichtig  verstanden  werde ; 
ich  definire  jetzt  den  Ausdruck  dahin,  daß  jeder  dieser 
Fälle  nur  einem  einzigen  von  den  einander  ausschließenden 
Werthen  b^,  b^. .  der  Bedingung  B  entspricht,  die  in  Wirk- 
lichkeit vorkommen  können,  nicht  aber  einer  in  Wirk- 
lichkeit niemals  existirbaren  allgemeineren  Form  B^  dieser 
Bedingung,  welche  mehrere  von  den  Einzelwerthen  b^,  b^. . 
unter  sich  befaßte;  hieraus  folgt,  daß  auch  jede  von  jenen 
f  eine  elementare  Einzelform  der  Folge  ist,  welche  nicht 
selbst  wieder  andere  für  sich  existirbare  Arten  derselben  als 
allgemeiner  Ausdruck  unter  sich  begreift.  Geben  wir  dem 
disjunctiven  Urtheil  willkürlich  die  Gestalt:  wenn  B  gilt, 
so  gut  entweder  V-  oder  F°^,  so  daß  wir  unter  F"^  alle  die 


428  Neuntes  Kapitel. 

m  oder  n^ — 1  Folgen  f  verstehen,  welche  nicht  fi  sind,  so 
öind  fi  und  F"^  nicht  mehr  coordinirte  Glieder;  die  Wahr- 
scheinlichkeit des  ersten  zwar  bleibt—,  aber  die  des  zweiten 

n' 

ist  die  Summe  der  Wahrscheinlichkeiten  aller  Elementar- 
fälle,  die   in   diesem   Ausdruck   vereinigt  gedacht   werden, 

also  =- — ' Nun  kann  es  sehr  häufig  vorkommen,  daß 

eben  diese  verschiedenen  unter  F"^  zusammengefaßten  Fälle 
eine  gemeinsame,  das  Interesse  unserer  Untersuchung  er- 
regende Eigenschaft  besitzen,  um  deren  willen  wir  sie 
unter  einem  gemeinschaftlichen  Namen,  als  einen  Fall, 
auszuzeichnen  und  den  übrigen  Fällen  entgegenzusetzen 
veranlaßt  sind ;  dann  drücken  wir  uns  dahin  aus :  die  Wahr- 
scheinlichkeit dieses  (coUectiyen)  Falles  F"^  sei  gleich  dem 
Verhältniß  der  Anzahl  der  in  ihm  vereinigten  Elementar- 
fälle zu  der  Gesammtheit  aller  möglichen  Fälle ;  richtiger, 
w«nn  wir  auf  den  Zusammenhang  der  Sache  zurückgehen: 
gleich  dem  Verhältniß  der  Anzahl  der  Variationen  von  B, 
die  zu  einem  Falle  der  Art  F™  führen  können,  zu  der  An- 
zahl aller  möglichen  Variationen  des  B;  einfacher  und  all- 
gemein :  gleich  dem  Verhältniß  der  Anzahl  der  ihm  günstigen 

Chancen   zu   der  Anzahl   aller   denkbaren,   := Dieser 

'         n 

Bruch  ist  das,  was  wir  in  mathematischem  Sinne  unter 
der  Wahrscheinlichkeit  eines  zukünftigen  Ereignisses  ver- 
stehen, im  Grunde  nicht  abweichend  im  Wesentlichen, 
sondern  nur  genauer  bestimmt,  als  im  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch ;  denn  dieser  nennt,  ohne  eine  Maßbestimmung 
hinzuzufügen,  schlechthin  wahrscheinlich  von  zwei  Ereig- 
nissen dasjenige,  dessen  mathematische  Wahrscheinlichkeit 
größer  ist  oder  häufig  mit  Unrecht  von  ihm  für  größer  ge- 
halten wird  als  die  des  anderen,  das  ihm  nun  vergleich- 
weis unwahrscheinlich  vorkommt;  für  die  mathematische 
Betrachtung  könnte  der  in  ihr  nicht  übliche  Name  der  Un- 
wahrscheinlichkeit  ebenfalls  keinen  andern  Sinn  als  den 
der  relativ  geringeren  Wabrscheinlichkeit  haben. 

282.  Aus  kleinen  Anfängen,  die  zuerst  nur  der  Be- 
friedigung einer  wissenschaftlichen  Neugier  zu  dienen 
schienen,  ist  unter  den  Händen  der  größten  Mathematiker 
die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  zu  einer  umfangreichen 
Disciplin  erwachsen,  unendlich  fruchtbar  für  die  ver- 
schiedensten Gebiete  wissenschaftlicher  Untersuchungen  und 


Bestimmung  smgularer  Thatsachen.  429 

praktischer  Fragen,  die  großartige  logische  Leistung,  die 
der  erfinderische  moderne  Geist  den  bewundernswürdigen, 
aber  unfruchtbaren  Theorien  des  Alterthums  entgegenzu- 
setzen hat.  So  ist  sie  den  Grenzen  unserer  Darstellung 
entwachsen,  und  obgleich  jede  ihrer  Einzelheiten  noch 
immer  in  einem  Systeme  der  Logik  eine  viel  mehr  be- 
rechtigte Stelle  einnehmen  würde,  als  jene  nutzlosen  syl- 
logistischen  Künste,  zu  deren  beständiger  Wiederholung 
uns  das  Uebermaß  philologischer  Neigungen  treibt,  so  sind 
wir  doch  genöthigt,  uns  auf  die  Aufzählung  der  einfachen 
logischen  Gedanken  zu  beschränken,  die  zu  dem  Ansätze 
ihrer  hier  nicht  weiter  durchführbaren  Rechnungen  führen. 
Es  geschieht  jedoch  mit  dem  Bewußtsein  einer  offen  ge- 
lassenen Lücke  und  mit  der  Hinweisung  auf  die  Noth- 
wendigkeit  ihrer  anderweitigen  Ausfüllung. 

1.  Es  ist  zuerst  nöthig,  kurz  den  Sinn  der  Wahrschein- 
lichkeit hervorzuheben,  deren  mathematisches  Maß  für  die 
einfachsten  Fälle  wir  eben  kennen  gelernt  haben.  Wir 
machen  durch  sie  keine  Behauptung  über  das  wirkliche 
künftige  Eintreten  des  Ereignisses,  dem  wir  sie  zuschreiben; 
wir  sprechen  nicht  durch  sie  irgend  eine  objective  Eigen- 
schaft oder  Beschaffenheit  desselben  aus;  sie  bezeichnet, 
zunächst  wenigstens,  durchaus  nur  subjectiv  das  Maß  des 
vernünftigen  Zutrauens,  welches  wir  im  voraus  zu  dem 
Eintreten  eines  bestimmten  Falles  dann  hegen  dürfen,  wenn 
uns  nur  die  Anzahl  aller  unter  den  jedesmal  gegebenen 
Bedingungen  möglichen  Fälle,  aber  kein  sachlicher  Grund 
gegeben  ist,  der  für  die  Nothwendigkeit  des  einen  von 
ihnen  mit  Ausschluß  der  anderen  entschiede.  Ist  nach  281 
die  Wahrscheinlichkeit  für  eine  bestimmte  Seite  des  Würfels, 
nach  dem  Wurfe  obenaufzuliegen  =  i/g,  die  Wahrschein- 
lichkeit, daß  eine  der  fünf  andern  Seiten  oben  liege  =  Vc^ 
so  bedeuten  beide  Zahlen  nur,  daß  vor  dem  Wurfe  unser 
vernünftiges  Vertrauen  auf  den  Eintritt  des  ersten  Falles 
sich  zu  dem  Vertrauen  auf  den  des  zweiten  wie  1:5  verr 
halten  müsse,  aber  sie  enthalten  keine  Behauptung  oder 
Voraussagung  darüber,  ob  der  eine  oder  der  andere  Fall, 
und  ob  bei  wiederholten  Würfen  der  eine  häufiger  als  der 
andere  eintreten  werde.  Späterem  behalten  wir  die  Frage 
vor,  in  wie  weit  eine  solche  Folgerung  von  der  voraus- 
berechneten Wahrscheinlichkeit  auf  das  wirkliche  Geschehen 
zulässig  ist. 

2.  Wenn  zwei  von  einander  unabhängige  variable  Be- 
dingungen  B   und  B^   zu  n  und   n^   verschiedenen   Fällen 


430  Neuntes  Kapitel. 

führen  können,  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit  des  Zusammen- 
treffens eines  bestimmten  Einzelfalls  der  einen  Reihe  mit 
einem  bestimmten  der  andern  gleich  dem  Product  der  Wahr- 
scheinlichkeiten, die  jeder  von  beiden  in  seiner  Reihe  hat, 

ml 
also  = —'   wenn  m  und  m^  die  Anzahl  der  günstigen 

Chancen  bedeutet,  die  jeder  vermöge  der  Reschaffenheit 
seiner  Redingung  R  und  R^  findet.  Werden  zwei  Würfel 
geworfen,  so  ist  die  Seite,  welche  der  eine  in  seiner  Ruhe- 
lage oben  zeigt,  unabhängig  von  der,  welche  der  andere 
zeigen  wird;  es  sind  aber  6  Seiten,  die  an  jedem  Würfel 
aufliegen  können,  und  jede  von  ihnen  kann  sich  gleich- 
möglich mit  jeder  der  6  des  anderen  combiniren;  36  Fälle 
sind  daher  möglich,  und  die  Wahrscheinlichkeit  jedes  ein- 
zelnen von  ihnen  ist  =  Vse  ^^  ^U  •  ^U-  Sehen  wir  es  aber 
für  gleichgültig  an,  welcher  der  beiden  gleichen  Würfel 
die  eine  und  welcher  die  andere  von  zwei  verschiedenen 
Anzahlen  der  Augen  aufweist,  so  ist  für  jeden  dieser  Fälle 
die  Wahrscheinlichkeit  =  2  •  1/36  =  ^/ig ;  denn  jede  Seite  von 
bestimmter  Augenzahl  hat  allerdings  für  den  einen  Würfel 
oder  für  den  Würfel  R  nur  eine  Chance  ihres  Aufliegens, 
aber  die  Combination  zweier  Seiten  von  verschiedener  Augen- 
zahl findet  in  der  Combination  R  +  R^  beider  Würfel  zwei 
günstige  Chancen.  Dagegen  muß  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Aufliegens  zweier  Seiten  von  gleicher  Augenzahl  ^^/s« 
bleiben,  denn  es  ist  nur  eine  Combination,  die  einen  be- 
stimmten Pasch  hervorbringen  kann.  Kommt  es  endlich 
darauf  an,  mit  beiden  Würfeln  zusammen  eine  bestimmte 
Augenzahl  zu  werfen,  so  hat  die  Summe  7  die  größte 
Wahrscheinlichkeit  =  i/g  =  e/gg,  denn  sie  hat  6  günstige 
Chancen  in  den  Zusammensetzungen  6  -[- 1,  5  +  2,  3  +  4, 
deren  jede  doppelt  vorkommt;  die  geringste,  nämlich  Vse» 
haben  die  Summen  2  und  12,  deren  jede  nur  auf  eine 
Weise  zu  erzeugen  ist.  Lassen  wir  ferner  in  einem  Gefäß  R 
sich  17  schwarze  und  3  weiße  Kugeln,  in  einem  zweiten 
Gefäß  Ri  aber  6  schwarze  und  4  weiße  befinden  und  fragen 
nach  der  Wahrscheinlichkeit,  durch  je  einmaliges  Ziehen 
aus  beiden  Gefäßen  zwei  weiße  Kugeln  zu  erhalten,  so  ist 
offenbar  auch  hier  das,  was  die  eine  Hand  ergreift,  un- 
abhängig von  dem,  was  die  andere  ergriffen  hat;  aber  die 
Wahrscheinlichkeit,  aus  dem  ersten  Gefäß  eine  weiße  Kugel 
zu  bekommen,  hat  m=:3  günstige  Chancen  auf  20  Fälle, 
die  Wahrscheinlichkeit  desselben  Resultates  für  das  zweite 
Gefäß  ml  =  4   auf   10.     Hätte   man  nun   aus   R   die  weiße 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  431 

Kugel  gezogen,  so  würde  sich  diese  mit  10  Kugeln  aus  B*^^ 
combiniren  können,  unter  diesen  10  wären  4  weiße;  die 
Wahrscheinlichkeit,  eine  von  diesen  zu  der  schon  gefaßten 
hinzuzubekommen,  mithin  Vio  J  da  aber  der  Besitz  der  ersten 
weißen  Kugel  selbst  nur  die  Wahrscheinlichkeit  V20  hatte,  so 

ist  die,  zwei  weiße  zu  ergreifen,  r= j^  =  3/20  •  */io  =  ^/öo^ 

Es  würde  sich  anders  verhalten,  wenn  wir  alle  Kugeln  in 
ein  Gefäß  vereinigten  und  aus  diesem  zwei  Züge  thäten, 
so  jedoch,  daß  die  zuerst  ergriffene  Kugel  vor  dem  zweiten 
Zuge  wieder  in  das  Gefäß  gethan  würde.  Das  Resultat  des 
zweiten  Zuges  wäre  dann  wieder  unabhängig  von  dem  des 
ersten;  für  jeden  einzeln  wäre  die  Wahrscheinlichkeit  einer 
weißen  Kugel  ='^/3o,  für  die  Ziehung  zweier  weißen  nach 
einander  mithin  =  '/30  •  "^/so  =  ^^/goo?  geringer  also  als  in  dem 
ersten  Falle.  Diese  Differenz  der  Ergebnisse  kann  über- 
raschen, da  man  ohne  Rechnung  beide  Verfahrungsweisea 
kaum  für  wesentlich  verschieden  halten  würde;  sie  sind 
es  dennoch,  weil  sie  durch  die  größeren  oder  geringeren 
Anzahlen  schwarzer  Kugeln,  (die  sie  mit  den  weißen  mischen, 
die  Ergreifung  der  letztern  erschweren  oder  erleichtern^ 
Die  Wahrscheinlichkeit,  '/30,  aus  der  ganzen  Summe  der 
zusammengeworfenen  Kugeln  eine  weiße  zu  fassen,  beträgt 
allerdings  ^Vg  der  Waihrscheinlichkeit  ^/go,  sie  aus  dem  einen 
Gefäß  zu  ziehen,  das  20  Kugeln  enthielt;  dafür  beträgt  sie 
aber  nur  V12  der  zweiten  Wahrscheinlichkeit  Vio>  die  weiße 
Kugel  aus  dem  andern  Gefäß  zu  holen,  das  nur  10  im 
Ganzen  enthielt;  mithin  ist  die  Wahrscheinlichkeit  für  zwei 
weiße  Kugeln  im  zweiten  Verfahren  nur  ^^/g  •  V12  oder  ^^/-^ 
der  Wahrscheinlichkeit  desselben  Erfolgs  nach  dem  ersten 
Verfahren;  man  hat  in  der  That  ^Vs* •  Vioo  ==  ^^Aoo-  Es  ist 
nützlich^  sich  hierüber  an  einem  noch  einfacheren  Falle 
völlig  klar  zu  werden.  Nehmen  wir  an,  das  Gefäß  B  ent- 
halte nur  eine  weiße,  keine  schwarze,  das  Gefäß  B^  da- 
gegen eine  weiße  und  eine  schwarze  Kugel,  so  ist  un& 
nach  dem  ersten  Verfahren  die  eine  weiße  Kugel  aus  B 
gewiß,  ihre  Wahrscheinlichkeit  mithin  =  1 ;  sie  kann  aber 
bei  dem  Zug  aus  B^  noch  mit  einer  weißen  und  einer 
schwarzen  zusammentreffen;  die  Wahrscheinlichkeit  jedea 
dieser  beiden  Fälle,  also  auch  die  zweier  weißen  Kugeln 
nacheinander  ist  mithin  1/2  =  1  •  1/2.  Nach  dem  zweiten 
Verfahren  dagegen,  wenn  wir  alle  drei  Kugeln  in  dasselbe 
Gefäß    zusammenwerfen,    ist   uns    nichts   gewiß;   für   den. 


432  Neuntes  Kaptel, 

ersten  wie  für  den  zweiten  Zug  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  weißen  Kugel  =  Va  und  die  zweier  weißen  nach  ein- 
einander  =  Va»  mithin  kleiner  als  nach  dem  ersten  Ver- 
fahren. 

3.  Wenn  die  Variationen  einer  Bedingung  B  eine  Reihe 
Fälle  von  der  Art  f  begründen,  der  Eintritt  aber  eines  von 
diesen  die  Bedingung  B^  ändert,  welche  zu  Folgen  der  Art  f^ 
führt,  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit  des  Zusammentreffens 
eines  bestimmten  Falls  aus  der  Reihe  der  f  mit  einem  be- 
stimmten aus  der  Reihe  der  P  gleich  dem  Product  aus  der 
unabhängigen  Wahrscheinlichkeit  des  f  in  die  durch  sein 
Eintreten  modificirte  von  P.  Auf  diesen  Fall  stoßen  wir 
bei  einer  leichten  Veränderung  des  letzten  Beispiels.  Legten 
wir  in  das  Gefäß,  das  alle  30  Kugeln  enthielt,  die  zuerst 
gezogene  weiße  wieder  ein,  so  blieb  der  zweite  Zug  un- 
abhängig vom  ersten;  legen  wir  sie  aber  nicht  ein,  so 
enthält  das  Gefäß  nun  auf  29  Kugeln  nur  noch  6  weiße; 
die  Wahrscheinlichkeit,  eine  weiße  jetzt  zu  ziehen,  wird  6/29 
und  die,  zwei  weiße  nach  einander  zu  treffen,  =  "^/^q  •  ^/gg ; 
sie  ist  nur  ungefähr  0,88  derjenigen,  die  stattfand,  wenn 
die  gezogene  Kugel  dem  Gefäß  zurückgegeben  wurde.  Leicht 
begreiflich,  da  die  Anzahl  der  weißen  Kugeln  verhältniß- 
mäßig  stärker  vermindert  worden  ist,  als  die  der  schwarzen, 
aus  der  sie  herauszusuchen  sind.  Unter  diese  Gattung 
von  Aufgaben  fallen  sehr  viele  von  denen,  auf  welche  die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  anzuwenden  ist,  und  man  wird 
alle  Sorgfalt  darauf  verwenden  müssen,  sie  von  denen  der 
ersten  Gattung  zu  unterscheiden.  Es  handelt  sich  sehr 
oft  um  Ereignisse,  deren  wahrscheinlicher  künftiger  Wieder- 
eintritt von  der  Anzahl  der  Fälle  abhängt,  in  denen  früher 
entweder  sie  selbst  oder  andere  mit  ihnen  in  bestimmter 
Beziehung  stehende  sich  verwirklicht  haben,  und  nicht 
immer  ist  es  leicht,  durch  Zergliederung  dieser  Zusammen- 
hänge den  bedingenden  Einfluß  zu  ermitteln,  welchen  das 
Eintreten  eines  Falles  auf  die  Wahrscheinlichkeit  des  nächst 
zu  erwartenden  ausübt.  Ich  muß  mich  enthalten,  dies  durch 
Beispiele  zu  erläutern,  die  zu  weitläufig  ausfallen  würden; 
nur  eines  erwähne  ich  aus  anderer  Rücksicht.  Wenn  ein 
Augenzeuge  eines  Ereignisses  seine  Beobachtung  einem 
Hörer,  dieser  das  Gehörte  einem  zweiten  mittheilt,  so  wissen 
wir  aus  Erfahrung,  wie  im  Laufe  dieser  Ueberlieferung 
der  ursprüngliche  Inhalt  oft  sehr  entstellt  bei  dem  zehnten 
Hörer  anlangt;  man  hat  nun  nach  dem  Grade  der  Glaub- 
würdigkeit,   d.  h.    nach    dem   Grade   des    vernünftigen   Zu- 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.        -  433 

trauens  gefragt,  das  wir  zu  der  Richtigkeit  einer  Aussage 
haben  dürfen  mit  Rücksicht  auf  die  Anzahl  der  Bericht- 
erstatter, welche  sie  einer  dem  andern  gemacht  haben. 
Ich  kann  mich  nicht  überzeugen,  daß  diese  Frage  eine 
förderliche  Beantwortung  durch  Rechnung  zulasse.  Einen 
Zweifel  erweckt  zunächst  der  Sinn  dessen,  was  man  sucht. 
Eine  Aussage  ist  entweder  richtig  oder  unrichtig ;  im  letztem 
Falle  aber  entfernt  sie  sich  von  der  Wahrheit  um  ver- 
schiedene Differenzen;  nach  der  Größe  dieser  ließe  sich 
allerdings  ein  größerer  oder  geringerer  Grad  ihrer  Glaub- 
würdigkeit unterscheiden,  wenn  die  verschiedenen  Differen- 
zen selbst  unter  einander  vergleichbar  wären.  Dies  wird 
jedoch  nur  in  wenigen  Fällen  stattfinden;  jedes  Glied  eines 
Urtheils,  durch  welches  wir  eine  ursprüngliche  Beobachtung 
ausdrücken,  kann  für  sich  nach  einem  blos  ihm  möglichen 
Maßstabe  verfälscht  und  diese  Verfälschungen  können  ver- 
schiedenartig mit  einander  verbunden  werden ;  die  Gesammt- 
irrthümer,  die  so  entstehen,  lassen  sich  nicht  als  vergleich- 
bare Glieder  einer  Reihe  fassen,  und  es  würde  mithin  für 
diese  objective  Glaubwürdigkeit  des  überlieferten  Inhalts 
kein  anwendbares  Maß  geben.  Aber  allerdings  ist  es  diese 
eigentlich  nicht,  was  man  sucht;  man  wünscht  dasjenige 
Maß  des  Zutrauens,  welches  nur  durch  die  namhaft  ge- 
machte Bedingung,  durch  die  Anzahl  der  geschehenen  Üeber- 
tragungen,  motivirt  wird.  Aber  hiergegen  eben  ist  ein- 
zuwenden, daß  in  dem  Begriff  dieser  Bedingung,  der  bloßen 
Mittheilung,  durchaus  nichts  liegt,  was  überhaupt  die  Voraus- 
sicht einer  allmählichen  Verfälschung  des  Mitgetheilten  be- 
gründen könnte.  Wenn  wir,  in  dem  obigen  Beispiele,  aus 
dem  Gefäß,  welches  unter  30  Kugeln  7  weiße  enthielt,  eine 
weiße  gezogen  und  entfernt  haben,  so  wissen  wir  genau, 
daß  und  um  wie  viel  wir  die  Bedingungen  verändert  haben, 
unter  denen  der  zweite  Zug  stattfinden  muß;  legten  wir 
aber  die  Kugel  wieder  ein,  so  wußten  wir  ebenso  gewiß, 
daß  wir  sie  nicht  verändert  haben,  daß  vielmehr  für  den 
zweiten  Zug  res  integra  ist  und  seine  Wahrscheinlichkeit 
gleich  der  des  ersten.  Diesem  letzten  Fall,  nicht  dem 
ersten,  entspricht  der  jetzt  vorliegende;  durch  die  Mit- 
theilung allein,  wenn  nichts  sonst  hinzukommt,  kann  der 
erste  Hörer  nicht  veranlaßt  sein,  etwas  Anderes  mitzutheilen, 
als  er  empfangen  hat,  und  es  wäre  nicht  blos  Wahr- 
scheinlichkeit, sondern  Gewißheit,  daß  der  letzte  Hörer 
genau  die  ursprüngliche  Aussage  empfangen  wird.  Die 
Verfälschungen  hängen  also  nicht  von  der  Anzahl  der  Ueber- 

Lotzo,  Logik.  28 


434  -  Neuntes  Kapitel. 

tragungen,  sondern  von  der  Größe  der  Einzelirrthümer  ab, 
die  bei  jeder  einzelnen  Mittheilung  gemacht  werden;  das 
Maß  der  Glaubwürdigkeit  würde  sich  daher  mit  Hülfe  jener 
Anzahlen  nur  feststellen  lassen,  wenn  die  Größe  jener 
Einzelirrthümer  entweder  constant  oder  eine  bestimmte 
Function  der  Ordnungszahl  der  geschehenen  Mittheilungen 
wäre.  Zu  einer  solchen  Annahme  liegt  nicht  der  geringste 
Grund  vor;  im  Gegentheil,  man  hat  wirklich  ausführlich 
die  sehr  verschiedenen  Fälle  in  Betracht  gezogen,  die  vor- 
kommen können :  daß  der  Augenzeuge  A  das,  was  er  richtig 
beobachtet,  auch  wahrhaft  habe  mittheilen  wollen  oder 
nicht;  daß  der  Hörer  B  ihn  richtig  verstanden  habe  oder 
nicht,  daß  er  das  Verstandene  wahrheitsgemäß  habe  über- 
liefern wollen  oder  lieber  verfälschen;  ja  sogar  daß  ein 
dritter  C,  der  das  falsch  Verstandene  aufs  Neue  zu  ver- 
drehen beabsichtigte,  zufällig  wieder  auf  die  Aussage  des 
Wahren  gekommen  sei.  Beachtet  man  alle  diese  möglichen 
Bedingungen,  so  sieht  man  deutlich,  daß  die  Glaubwürdigkeit 
einer  Mittheilung  in  gar  keiner  bestimmten  Abhängigkeit 
von  der  bloßen  Anzahl  der  Uebertragungen  steht;  berück- 
sichtigen nun  kann  man  diese  Bedingungen  nicht,  denn 
man  kennt  sie  nicht;  hätte  man  aber  Mittel,  sie  alle  kennen 
zu  lernen,  so  wäre  die  Sache  erledigt  und  man  brauchte 
die  Rechnung  nicht;  es  bleibt  daher  für  diese  in  der  That 
nichts  übrig,  als  über  alle  jene  Bedingungen  völlig  will- 
kürliche Annahmen  zu  machen,  wodurch  dann  ihre  Aus- 
führungen zu  bloßen  Rechenexempeln  ohne  eine  gedeihliche 
Anwendung  auf  wirkliche  Ereignisse  werden.  Dazu  gehört 
z.  B.  die  Betrachtung:  wenn  die  erste  Wiedererzählung 
einer  gehörten  Thatsache  auch  genau  genug  wäre,  damit 
ihre  Glaubwürdigkeit  =  0,9  gesetzt  werden  könnte,  so  würde 
doch  nach  zwanzigmaliger  Uebertragung  diese  Glaubwürdig- 
keit nur  noch  0,920  =  0,1216  sein,  nur  etwas  mehr  als  ^/^ 
jener  ersten.  Alles  ist  hier  willkürliche  iVnnahme;  will- 
kürlich, daß  man  die  Glaubwürdigkeit  in  geometrischer 
Progression  abnehmen  läßt,  anstatt  einer  arithmetischen, 
die  gleich  denkbar  wäre;  ebenso  willkürlich  die  Voraus- 
setzung überhaupt,  daß  Exponent  oder  Differenz  von  Glied 
zu  Glied  gleich  sein  müsse;  ganz  bedeutungslos  daher 
auch  das  Resultat,  das  vielleicht  in  Bezug  auf  leichtsinniges 
Gassengeschwätz  zutreffen  mag,  für  besonnene  historische 
Ueberlieferungen  aber  eine  große  Uebertreibung  ihrer  zu- 
nehmenden   UnZuverlässigkeit   enthält. 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  435 

4.  Wenn  gegebene  Thatsachen  aus  mehreren  ver- 
schiedenen Ursachen  ableitbar  sind,  so  ist  diejenige  Ursache 
die  wahrscheinlichste,  unter  deren  Voraussetzung  die  aus 
ihr  berechnete  Wahrscheinlichkeit  der  gegebenen  Thatsachen 
die  größte  wird.  Man  habe  durch  vier  aufeinanderfolgende 
Züge  aus  einem  Gefäß  3  weiße  und  eine  schwarze  Kugel 
genommen  und  stets  wieder  in  das  Gefäß  zurückgelegt; 
es  fragt  sich,  welche  Anzahlen  von  Kugeln  beider  Farben, 
in  dem  Gefäße  enthalten,  diese  Ergebnisse  am  wahrschein- 
lichsten herbeigeführt  haben.  Man  muß  zu  diesem  Zwecke 
die  ganze  Anzahl  der  Kugeln  im  Gefäß  wissen,  um  die 
Zahl  der  denkbaren  Combinationen  aufstellen  zu  können, 
welche  die  Ursachen  der  gefundenen  Thatsachen  zu  bilden 
im  Stande  sind;  die  Zahl  der  Kugeln  sei  4.  Nothwendig 
ist  nun,  um  unseren  Fund  zu  erklären,  die  Gegenwart 
einer  schwarzen  und  einer  weißen  Kugel  im  Gefäß;  die 
andern  bleiben  unbestimmt;  man  kann  also  annehmen: 
3w  +  ls,  2w-^-2s,  Iw-f-Ss.  Man  erhält  dann  die  Wahr- 
scheinlichkeiten, auf  einen  Zug  eine  Kugel  zu  erhalten, 
für  w  beziehungsweis :  ^/^^  2/^^  1/^^  für  s :  Vi»  "Aj  V4;  die 
zusammengesetzten  Wahrscheinlichkeiten  aber,  in  vier 
Zügen  3w  und  Is  zu  ziehen,  werden,  jenen  drei  Annahmen 
entsprechend:  27/256,  ^^/256j  ^/ssü;  mithin  ist  die  erste  An- 
nahme von  3w-|-ls  im  Gefäß  enthaltener  Kugeln  die  wahr- 
scheinlichste, zugleich  geben  die  gefundenen  Brüche  das 
Maß  der  Wahrscheinlichkeit  für  die  beiden  andern  Voraus- 
setzungen. Man  bestätigt  sich  leicht  diese  Antwort  durch 
einfache  Ueberlegung.  Wäre  nur  eine  weiße  Kugel,  nach 
der  dritten  Annahme,  vorhanden  gewesen,  so  würde  man 
in  vier  Zügen  dreimal  dieselbe  haben  ergreifen  müssen 
und  nur  einmal  eine  schwarze  von  drei,  die  sich  darboten, 
offenbar  minder  wahrscheinlich  als  vier  Züge,  die  jeder 
der  Kugeln  gleiches  Recht  widerfahren  lassen.  Im  Uebrigen 
setzt  natürlich  diese  Berechnung  voraus,  daß  die  ver- 
schiedenen annehmbaren  Ursachen  der  gegebenen  That- 
sachen für  sich  selbst  gleiche  Wahrscheinlichkeit  besitzen; 
dies  fand  hier  insofern  statt,  als  jede  Vertheilung  der 
beiden  Farben  an  die  vier  Kugeln  an  sich  so  gut  möglich 
war,  als  jede  andere;  wo  die  Wahrscheinlichkeiten  der 
Ursachen  verschieden  sind,  hat  die  Rechnung  dies  geeignet 
zu   berücksichtigen. 

5.  Der  wiederholte  Eintritt  desselben  Ereignisses  unter 
derselben  allgemeinen  Bedingung  B  erregt  in  uns  die  Er- 
wartung,   es   werde   auch   bei   neuer   Wiederholung  von    B 

28* 


43ü  Neuntes  Kapitel. 

wieder  eintreten.  Die  Wahrscheinlichkeit  dieser  Erwartung 
läßt  sich  berechnen.  Wenn  in  einem  Gefäß  zwei  Kugeln 
liegen,  so  kann  es  geschehen,  daß  wir  bei  wiederholten 
Zügen  immer  nur  die  eine,  die  weiß  sein  mag,  ergreifen, 
die  Farbe  der  andern  mithin  unbekannt  bleibt.  Es  fragt 
sich  nun,  wie  groß  die  Wahrscheinlichkeit  der  rege  ge- 
wordenen Erwartung  sei,  man  werde  auch  bei  einem  neuen 
dritten  Zuge  eine  weiße  ergreifen.  Da  eine  Kugel  weiß 
sein  muß,  so  gibt  es  nur  die  beiden  Möglichkeiten,  daß 
die  andere  schwarz,  oder  daß  beide  weiß  seien.  Nach  der 
ersten  Armahme  ist  die  Wahrscheinlichkeit  der  schon  ein- 
getretenen Thatsache  der  Ergreifung  zweier  w  in  2^  Zügen 
==  1/4,  nach  der  zweiten  ist  sie  =  1 ;  folglich  verhalten  sich 
die  Wahrscheinlichkeiten  beider  Annahmen  wie  1 : 4,  und 
da  ihre  Summe  =  1  sein  muß,  so  ist  die  erste  ■-=  ^/^,  die 
andere  =  V5  zu  setzen.  Die  Wahrscheinlichkeit  bei  dem 
nächsten  Zug  ist  1/2  für  die  weiße  Kugel  nach  der  ersten 
Annahme  und  1  nach  der  zweiten;  die  Summe  der  nach 
beiden  Annahmen  zusammen  vorhandenen  günstigen 
Chancen  ist  daher  1/5.  1/2  -|-  ^/s.  l  =  Vio-  Man  hat  in  diesem 
Falle  die  Wahrscheinlichkeit  gekannt  und  in  Rechnung 
gebracht,  welche  die  schon  verwirklichte  Thatsache  unter 
zwei  einander  ausschließenden  Voraussetzungen  hatte;  aber 
auch,  wo  diese  Kenntniß  fehlt,  läßt  sich  auf  den  Wieder- 
eintritt eines  Ereignisses  aus  der  Anzahl  seiner  schon  be- 
obachteten Wiederholungen  ein  Wahrscheinlichkeitsschluß 
ziehen.  Wissen  wir,  in  völliger  Unkenntniß  der  bedingenden 
Gründe,  nichts  weiter,  als  daß  ein  Ereigniß  E  unter  be- 
stimmten Umständen,  z.  B.  in  einem  gewissen  ausgezeich- 
neten Zeitpunkt  t,  einmal  eingetreten  ist,  so  kann  es  zu- 
nächst scheinen,  als  sei  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  es 
unter  denselben  Umständen  ein  zweites  Mal  eintreten  werde, 
genau  so  groß,  als  die,  daß  es  nicht  eintreten  werde. 
Dennoch  kann  man  so  nicht  rechnen;  denn  dann  würde 
die  beobachtete  Thatsache  seines  einmaligen  Eingetreten- 
seins ohne  allen  Einfluß  bleiben,  und  da  dieselbe  Be- 
trachtung dann  auch  nach  m  maligem  Vorgekommensein 
des  Ereignisses  gelten  müßte,  so  würde  man  zuletzt  selbst 
aus  unendlich  oft  eingetretener  Wiederholung  desselben 
seinen  nächstmaligen  Wiedereintritt  nicht  wahrscheinlicher 
finden  können,  als  wenn  es  sich  noch  niemals  zugetragen 
hätte.  Dies  aber  würde  als  offenbar  widersinnig  gelten 
können;  denn  jede  neue  Wiederholung  des  Ereignisses  ist 
eine  neu  hinzukommende  Assertion  des  Fortbestehens  der 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  437 

unbekannten  Ursachen,  von  denen  es  abhängt,  und  mithin 
auch  eine  Steigerung  der  Wahrscheinlichkeit  seiner  künf- 
tigen Wiederholung.  Man  muß  also  schon  in  dem  erst- 
erwähnten Falle  so  schließen:  für  den  Eintritt  sowohl  wie 
für  den  Nichteintritt  des  E  ist  an  sich  die  Wahrscheinlichkeit 
gleich  groß;  aber  für  das  Dasein  der  Ursachen,  welche  E 
verwirklichen,  spricht  außerdem  noch  der  eine  beobachtete 
Fall  seiner  Verwirklichung;  für  das  Dasein  von  Ursachen, 
die  E  hindern,  spricht  außer  der  bloßen  Möglichkeit  nichts. 
Es  sind  mithin  für  den  Wiedereintritt  des  E  zwei  günstige 
Gründe  gegen  einen  für  die  Nichtwiederkehr ;  da  beide 
Wahrscheinlichkeiten  sich  mithin  wie  2 : 1  verhalten,  ihre 
Summe  aber  =  1  sein  muß,  so  ist  die  der  Wiederkehr 
von  E  =  Vs-  Allgemein  also :  wenn  ein  Ereigniß  E  oder 
ein  gewisser  Kreislauf  E  gleicher  Ereignisse  mmal  ohne 
Gegenbeispiel  beobachtet  worden  ist,  so  ist  die  Wahrschein- 
lichkeit,   daß    E    in    derselben    Weise   wiederkehren   wird, 

=  — ;   o  ;  der  Nenner  enthält  die  Summe  der  denkbaren 

m  -f  2  ' 

Fälle,  den  nach  m  wirklichen  Fällen  kommen  immer 
2  denkbare,  Wiederholung  und  Nichtwiederholung  des  E, 
hinzu ;  der  Zähler  zeigt  wie  immer  die  Anzahl  der  günstigen 
Chancen  an.  Ich  überlasse  dem  Leser,  ob  diese  einfache 
Ableitung  der  Formel  ihm  genügt;  mir  scheint  sie  nicht  viel 
weniger  überzeugend,  als  die  undurchsichtigere  analytische 
Behandlung,  durch  die  man  sie  gewöhnlich  gewinnt.  Man 
sieht,  daß  dieser  Bruch,  je  größer  m  wird,  desto  mehr 
sich  der  Einheit,  mithin  der  Wiedereintritt  von  E  sich 
der  Gewißheit  nähert,  und  man  pflegt  als  Beispiel  an- 
zuführen, daß  jetzt,  nachdem  5000  Jahre  lang  der  Wechsel 
von  Tag  und  Nacht  geschichtlich  bezeugt  ist,  die  Wahr- 
scheinlichkeit dafür,  daß  derselbe  Wechsel  auch  heute  statt- 
finden werde,  =  1,826,214 : 1,826,215  sei,  man  mithin 
1,826,214  gegen  Eins  auf  sein  nächstes  Eintreten  wetten 
kann.  Wenn  nun  überhaupt  unsere  Berechnungen  der  Wahr- 
scheinlichkeiten nicht  ein  objectives  Verhalten  künftiger 
Ereignisse,  sondern  nur  die  Größe  unseres  subjectiven  Zu- 
trauens zu  ihrem  Eintritt  ausdrücken,  so  findet  dies  hier 
in  gewissem  Sinne  noch  in  gesteigertem  Maße  statt,  was 
man  deutlich  empfindet,  wenn  m  eine  sehr  kleine  Zahl  ist. 
Denn  dann  ist  die  Voraussetzung,  von  der  wir  ausgingen, 
diese  Zahl  m  der  beobachteten  Verwirklichungen  von  E 
bezeuge  auch  für  den  nächsten  Fall  die  Fortdauer  der 
dem    E   günstigen   Ursachen   mit   einer   der  Größe    von   m 


438  Neuntes  Kapitel. 

proportionalen  Sicherheit,  selbst  nur  eine  Wahrscheinlich- 
keit, deren  Gewicht  etwas  Willkürliches  hat,  und  von  der 
man  nur  weiß,  daß  sie  selbst  mit  dem  Wachsen  von  m 
wächst.  Die  Formel  würde  daher  eigentlich  nicht  direct 
die  Wahrscheinlichkeit  des  Wiedereintritts  von  E,  sondern 
die  Wahrscheinlichkeit  dieser  Wahrscheinlichkeit  messen, 
was  darauf  hinausläuft,  daß  nicht  blos  ihre  Werthe,  sondern 
auch  die  Sicherheit  dieser  Werthe  sich  für  unendlich 
wachsendes  m  immer  mehr  der  Gewißheit  nähert. 

6.  Das  Maß  des  Vertrauens  zu  dem  Eintritt  künftiger 
Ereignisse  zu  bestimmen,  werden  wir  am  häufigsten  durch 
die  Rücksicht  auf  die  mit  demselben  verbundenen  Vortheile 
und  Nachtheile  veranlaßt.  Die  Beweggründe,  die  wir  daraus 
für  unser  Handeln  ableiten,  werden  daher  zugleich  von  der 
Wahrscheinlichkeit  des  Ereignisses  E  und  von  der  Größe 
des  durch  E  zu  erwartenden  Gewinnes  abhängig  sein.  Dieses 
Product  aus  der  Wahrscheinlichkeit  von  E  in  die  Größe 
seines  Vortheils  ist  das,  was  wir  mathematische  Hoff- 
nung nennen  und  einer  genauen  Bestimmung  unterwerfen 
können.  Es  sei  ein  Spiel  so  verabredet,  daß  Jemand  2  Thaler 
erhält,  wenn  er  bei  dem  ersten  Aufwerfen  einer  Münze 
die  Bildseite  trifft,  und  5  Thaler,  wenn  er  zuerst  Schrift, 
dann  Bild  wirft.  Die  Wahrscheinlichkeit  des  ersten  Falles 
ist  =  1/2,  seine  Hoffnung  =  i/g.  2 ;  die  des  zweiten  sind 
=  1/4  und  =  1/4. 5,  endlich  die  Gesammthoffnung  auf  Ge- 
winn, die  bei  dem  Eingehen  dieses  Spiels  vorhanden  ist, 
kann  nur  die  Summe  ^/^  dieser  beiden  Hoffnungen  sein; 
denn  die  beiden  Glücksfälle  schließen  einander,  nach  der 
getroffenen  Verabredung,  zwar  aus,  doch  muß  begreiflich 
die  Gewinnhoffnung  größer  sein,  wenn  beide,  als  wenn 
nur  einer  gilt,  und  die  Hoffnung  des  einen  genau  übrig 
bleiben,  wenn  die  des  andern  durch  Verminderung  des  für 
ihn  bedungenen  Gewinnes  zuletzt  auf  Null  gebracht  wird. 
Es  verhält  sich  ganz  ebenso,  wenn  verabredet  war,  daß 
2  Thaler  das  erstmalige  Aufwerfen  des  Bildes,  5  dann  noch 
besonders  das  folgende  der  Schrift  belohnen  sollen.  Dann 
sind  beide  Gewinnfälle  mit  einander  verträglich,  aber  auch 
hier  können  nur  entweder  2  oder  7  Thaler,  beide  mit  der 
Wahrscheinlichkeit  1/4  gewonnen  werden.  Es  bleibt  daher 
9/4  Thaler  auch  hier  die  Gesammthoffnung  dessen,  der  das 
Spiel  eingeht,  und  die  Höhe  des  Einsatzes,  den  er  dabei 
vernünftigerweise  wagen  darf.  Man  findet  ferner  leicht, 
daß,  wenn  unter  verschiedenen  zu  erwartenden  Ereignissen 
E,  El,  E2,  einige  vortheilhaft,  einige  nachtheilig  sind,  dann 


Bestiinmung  singularer  Thatsachen.    •  439 

die  Gesamthoffnung,  welche  man  hegen  darf,  wenn  man 
sich  durch  eine  Handlung  dem  Eintritt  dieser  Ereignisse 
aussetzen  will,  gleich  sein  muß  der  Differenz  zwischen 
der  Summe  der  mathematischen  Hoffnungen  der  günstigen 
Ereignisse  und  der  Summe  der  Hoffnungen  der  ungünstigen. 
Ist  diese  Differenz  negativ,  so  drückt  sie  die  Größe  der 
Gefahr  aus,  die  man  läuft,  oder  richtiger  die  Größe  der 
Besorgniß,  die  man  zu  hegen  hat.  Die  Anwendung  dieser 
Grundsätze  ist  von  der  größten  Ausdehnung  und  Wichtig- 
keit; man  bestimmt  durch  sie  nicht  blos  Billigkeit  und 
Gerechtigkeit  der  Wetten  und  Glücksspiele,  eine  Berech- 
nung, die  man  eben  so  gut  entbehren  könnte,  wie  ihren 
Gegenstand,  sondern  auch  die  Anordnung  der  ernsthaftesten 
öffentlichen  und  privaten  Geschäfte,  die  Wirthschaft  der 
Finanzen,  die  Unternehmungen  des  Handels,  die  Einrich- 
tungen   der   Versicherungsgesellschaften    aller    Art. 

7.  Noch  ein  Begriff  gehört  zu  diesem  Gedankenkreise. 
Auch  die  mathematische  Hoffnung  bestimmt  nicht  in  aller 
Beziehung  den  Werth  eines  Ereignisses  für  uns;  man  erhält 
diesen  erst,  wenn  man  die  Größe  des  erwarteten  Vortheils 
auch  mit  dem  Thatbestand  vergleicht,  zu  dem  er  hinzu- 
kommen soll.  Für  den  Unglücklichen  ist  eine  kleine  Freude, 
für  den  Armen  eine  geringe  Gabe  von  größerem  Werth 
als  für  den  Glücklichen  ein  neuer  Triumph  und  für  den 
Reichen  ein  bedeutender  Gewinn.  Thatsächlich  freilich 
pflegt,  wer  viel  hat,  um  so  mehr  zu  begehren;  die  Logik 
dagegen  vertritt  hier  den  Standpunkt  der  Billigkeit,  nach 
der  es  anders  sein  sollte;  indem  sie  als  selbstverständlichen 
Grundsatz  annimmt,  daß  der  relative  Werth  eines  Vor- 
theils im  umgekehrten  Verhältniß  zu  der  Gunst  der  Lage 
steht,  zu  der  er  hinzukommt,  drückt  sie  den  Maßstab  aus, 
nach  welchem  Jeder  zu  dem  Verlangen  einer  weiteren 
Verbesserung  dann  berechtigt  erscheint,  wenn  die  verfüg- 
baren Güter,  durch  die  sie  hergestellt  werden  kann,  zugleich 
zur  Befriedigung  anderer  dienen  müssen.  Eine  Rechnung 
läßt  dieser  allgemeine  Satz  nur  dann  zu,  wenn  alle  Gunst 
und  Ungunst  der  Lagen  und  alle  zur  Verbesserung  dienenden 
Güter  mathematisch  vergleicnbar  sind,  zunächst  also  in 
Bezug  auf  den  Zuwachs  von  Vermögen,  die  in  Geld  aus- 
drückbar sind.  Sei  V  ein  bereits  bestehendes  Vermögen 
und  z  der  Zuwachs,  den  es  erhalten  soll,  so  läßt  sich 
diese  Vermehrung  von  V  immer  als  eine  Summe  unendlich 
vieler  Zunahmen  denken,  deren  jede  dz  beträgt;  der  relative 


440  Neuntes  Kapitel. 

Werth  jeder  folgenden  (n  -j- 1  )ten  Vermehrung  um  ein  dz 
steht  aber  im  umgekehrten  Verhältniß  zu  der  durch  die 
früheren    Zunahmen    gesteigerten    Größe    von    V    oder   zu 

k  -  dz 
V  +  ndz,    ist    also  =  y    .     -^   ,   worin    k    ein     specifischer 

Coefficient  ist,  verschieden  für  verschiedene  Arten  des 
zuwachsenden  Vortheils,  constant  für  alle  z  gleicher  Art, 
an  sich  nicht  weiter  bestimmbar  und,  als  gemeinsamer 
Factor  aller  vergleichbaren  Werthe,  im  Folgenden  weg- 
gelassen. Der  relative  Werth  der  Gesammtzunahme  um  z 
ist  dann  das  Integral  dieses  Ausdrucks,  in  welchem  man 
für  ndz  die  von  o  bis  z  veränderlichen  Werthe  z  zu  setzen 
hat,  also  =  log  (V  -|-  z)  —  log  V.  Nach  dieser  Formel  werden 
für  ein  Vermögen  V=:1000  die  relativen  Werthe  der  Zu- 
nahmen um  z  =  1000,  =  2000,  =:  3000,  =  4000  sich  nahezu 
verhalten  wie  1 : 1,6 :  2 :  2,3,  mithin  weit  langsamer  wachsen, 
als  die  hinzutretenden  Zunahmen  selbst;  für  die  ver- 
schiedenen Vermögen  V  =  1000,  =2000,  =:3000,  r=4000 
sind  die  relativen  Werthe  gleicher  Zunahmen  um  z  =  1000 
ungefähr  0,301;  0,176;  0,125;  0,097.  Wenn  man  schließlich 
die  so  berechneten  relativen  Werthe  eventueller  Vortheile 
mit  der  Wahrscheinlichkeit  ihrer  Erlangung  m  multiplicirt, 

rV-h  z\ 
— =!= — I  als  die  moralische  Hoff- 


'-m 


nung,  die  sich  ^uf  sie  bezieht,  d.  h.  die  mathematische 
Hoffnung  der  auf  ihren  relativen  Werth  reducirten  Vortheile, 
und  diese  ist  es,  welche  in  den  mannigfaltigsten  Unter- 
nehmungen die  Größe  des  Risico  bestimmt,  das  wir  mit 
Rücksicht  auf  das,  was  für  uns  Vortheil  ist,  übernehmen 
dürfen.  Der  Factor  m  kann,  wie  wir  annahmen,  constant 
sein  für  jede  Höhe  des  z,  aber  er  kann  auch  eine  Function 
von  z  oder  von  V  +  z  sein,  und  dann  ist  er  natürlich 
unter  dem  Integralzeichen  und  in  die  Integration  einzu- 
schließen; in  der  That  gibt  es  viele  Arten  der  Unter- 
nehmungen, in  denen  entweder  der  erste  Erfolg  schwer, 
die  spätem  immer  leichter  erreichbar  sind,  oder  in  denen 
die  Möglichkeit  weiterer  Erfolge  mit  der  wachsenden  Größe 
des  Erreichten  abnimmt.  Endlich  messen  die  Formeln  nicht 
alles,  was  man  zu  messen  wünschen  kann.  Da  sie  z  nur 
als  Summe  der  dz  fassen,  aber  die  Zeit  t  nicht  beachten, 
in  welcher  die  Summation  zu  Stande  kommt,  so  vernach- 
lässigen sie  den  Unterschied  zwischen  allmählich  und  plötz- 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  441 

lieh  entstehenden  Verbesserungen.  Der  reelle  sachliche  oder 
physische  Werth  beider  kann  gleich  groß  sein,  aber  der 
psychische  Effect,  einfach  gesagt :  die  Freude  darüber  nicht, 
und  doch  ist  auch  diese  in  den  Begriff  des  relativen  Werthes 
eines   Vortheils    einzuschließen.    Nähme   man   an,    daß  die 

EmpfängHchkeit    für    Steigerung   eines   Genusses  =^   wäre, 

wenn  V  die  Größe  eines  gleichartigen  Genusses  ist,  dessen 
man  sich  bereits  erfreut,  und  daß  zugleich  der  entstehende 
Genußzuwachs     der   Größe  z    des   plötzlichen   Vortheilszu- 

wachses  proportional  bliebe,  so  würde -^^  das  Maß  der  Er- 
freuung durch  das  Hinzukommen  von  z  sein.  Man  sieht 
jedoch  leicht,  daß  auch  andere  Annahmen  an  der  Stelle 
dieser  beiden  denkbar  sind;  man  könnte  selbst  möglich 
finden,  daß  die  eventuelle  Erfreuung  noch  außerdem  eine 
Function  von  m,  der  Wahrscheinlichkeit  des  Eintretens 
von  z  wäre;  die  Erlangung  eines  Genusses,  an  dem  man 
verzweifelte,  würde  uns  vielleicht  stärker  bewegen,  als  die 
eines  wahrscheinlicheren  von  selbst  größerem  relativen 
Werthe. 

283.  Die  letzte  Bemerkung  berührte  Fragen,  die  bisher 
der  Rechnung  nicht  unterworfen  worden  sind,  ihr  aber 
unterw^orfen  werden  könnten,  wenn  bessere  psychologische 
Kenntniß  brauchbare  Ausgangspunkte  böte.  Es  gibt  andere, 
auf  welche  man  nur  in  bedeutungslosem  Spiele  die  An- 
wendung der  Wahrscheinlichkeiten  auszudehnen  versuchen 
könnte.  Denn  obgleich  dieses  Verfahren  des  Schließens 
von  der  Unkenntniß  der  besonderen  Gründe  ausgeht,  die 
ein  fragliches  Ereigniß  bedingen,  so  macht  es  dennoch 
einige  Voraussetzungen,  die  man  beachten  muß.  Zuerst 
die  der  Gültigkeit  der  logischen  und  mathematischen  Wahr- 
heiten, auf  deren  Benutzung  die  Möglichkeit  der  Rechnung 
selbst  beruht.  Die  Richtigkeit  specieller  Gesetze,  welche 
sich  auf  eine  Gruppe  von  Thatsachen  beschränken,  deren 
Nichtdasein  selbst  ebenso  denkbar  ist  als  ihr  Dasein,  läßt 
sich,  wie  wir  noch  sehen  werden,  durch  Rechnung  prüfen; 
aber  es  gibt  keinen  zulässigen  Ansatz,  von  dem  aus  man 
die  Richtigkeit  des  Gesetzes  der  Identität  oder  des  dis- 
junctiven  Lehrsatzes  mehr  oder  minder  wahrscheinlich 
finden  könnte;  die  einfachste  Bestimmung  jeder  Wahr- 
scheinlichkeitsgröße setzt  voraus,  daß  eine  Disjunction  aller 
möglichen  Fälle  gegeben,  daß  jeder  von  diesen  mit  sich 
selbst  identisch  und  nicht  gleich  einem  andern,  daß  endlich 


442  Neuntes  Kapitel. 

durch  jeden  alle  übrigen  ausgeschlossen  seien.  Man  kann 
also  immer  nur  die  Wahrscheinlichkeit  eines  Ereignisses 
oder  eines  Zustandes  oder  einer  Reihe  von  Begebenheiten 
prüfen  unter  der  Voraussetzung,  daß  dieser  fragliche  Inhalt 
Bestandtheil  einer  Welt  sei,  in  der  es  allgemeine  Gesetze 
gibt,  nach  denen  sich  Wahrheit  von  Unwahrheit,  Möglichkeit 
von  Unmöglichkeit,  Leichtigkeit  eines  Erfolges  von 
Schwierigkeit  desselben  unterscheidet.  Dies  ist  jedoch  nicht 
die  einzige  Beschränkung;  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
darf  den  Gegenstand  ihrer  Frage  nicht  als  blos  denkbar 
schlechthin  betrachten,  sondern  muß  das  Vorhandensein 
von  Bedingungen  voraussetzen,  welche  überhaupt  die  Noth- 
wendigkeit  der  Verwirklichung  eines  der  disjungirten  Fälle 
mit  Ausschluß  der  anderen  begründen;  es  muß  immer,  um 
in  der  Sprache  ihrer  Formeln  zu  reden,  eine  Gewißheit  =  1 
geben,  welche  die  Summe  aller  Wahrscheinlichkeiten  der 
denkbaren  Einzelfälle  ist.  Man  sah  dies  überall  in  den 
Beispielen,  die  wir  brauchten.  Wenn  ein  Würfel  geworfen 
wird,  oder  wenn  zwei,  dann  läßt  sich  die  Wahrscheinlich- 
keit jedes  der  Einzelfälle  bestimmen,  die  hierdurch  ent- 
stehen können;  wenn  man  aber  nicht  angibt,  ob  einer  oder 
zwei  oder  drei  Würfel  zugleich  oder  wievielmal  nach 
einander  fallen  sollen,  so  fehlt  jede  Möglichkeit,  den  Spiel- 
raum der  disjunctiven  Möglichkeiten  und  die  Einheit  zu 
bestimmen,  mit  Rücksicht  auf  welche  die  Wahrscheinlich- 
keiten einer  jeden  zu  bemessen  sind.  Man  kann  also  nur 
solche  Ereignisse  berechnen,  welche  innerhalb  einer  gesetz- 
lich geordneten  Welt  von  anderen  abhängig  sind,  nicht 
aber  Urthatsachen,  die  ein  unabhängiges  schlechthiniges 
Sein  enthalten.  Es  wäre  nur  ein  bedeutungsloses  Spiel 
des  Witzes,  zu  behaupten :  bevor  irgend  etwas  sei,  habe 
es  gleiche  Wahrscheinlichkeit,  daß  überhaupt  etwas  sei 
und  daß  gar  nichts  sei;  eines  von  beiden  müsse  aber 
stattfinden,  folglich  sei  die  Wahrscheinlichkeit  für  das 
Dasein  von  etwas  überhaupt  =  1/2 ;  dies  Daseiende  müsse 
dann  entweder  nur  Eines  oder  Vieles  sein,  mithin  die 
Wahrscheinlichkeit  für  das  Dasein  vieler  Elemente  sei  =  ^  4, 
ebenso  groß  die  für  das  Dasein  eines  einzigen;  endlich, 
wenn  wir  annähmen,  es  gäbe  n  Elemente,  so  können  sie 
entweder  alle  gleich  oder  alle  oder  einige  verschieden  sein; 
unter  den  m  Fällen,  die  hieraus  entständen,  würde  die 
Gleichheit  aller  nur  einer  sein,  folglich  ihre  Wahrscheinlich- 
keit-^   ,       .    ImJGegentheil :    bevor   es   irgend   etwas    gibt. 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  443 

gibt  es  auch  den  klugen  Geist  nicht,  der  diese  Berechnung 
der  Zukunft  anstellen  könnte;  wäre  es  aber  denkbar,  daß 
er  außerhalb  der  Welt  existirte,  über  deren  wahrscheinliche 
Entstehung  oder  Nichtentstehung  er  speculirte,  so  würde 
es  doch  in  jenem  Nichts  durchaus  keine  Bedingung  geben, 
welche  eine  wirkliche  Entscheidung  der  denkbaren  Alter- 
native zwischen  Sein  und  Nichtsein  nothwendig  machte, 
und  es  würde  mithin  bei  dem  Nichts  lediglich  sein  Bewenden 
haben;  wäre  aber,  woher  auch  immer,  eine  günstige  Ent- 
scheidung für  das  Seine  erfolgt,  so  könnte  sie  doch  nicht 
für  das  in  abstracto  nur  denkbare,  aber  nicht  existirbare 
Sein  überhaupt,  sondern  nur  für  ein  bestimmtes  Sein  erfolgt 
sein,  daß  jedes  andere  denkbare  ausschlösse;  dieses  eine 
hätte  von  Anfang  an  die  Gewißheit  =  1  für  sich,  die 
Wahrscheinlichkeit  aller  anderen  Arten  des  Seienden  wäre 
nicht  sowohl  ==  0  als  vielmehr  eine  Vorstellung  ohne  angeb- 
baren Sinn.  Es  würde  sich  anders  verhalten,  wenn  wir  aus 
gegebenen  Datis  die  Wahrscheinlichkeit  jener  Urthatsachen 
bestimmen  wollten;  unter  Voraussetzung  eines  gesetz- 
mäßigen Zusammenhangs  aller  Wirklichkeit  würden  dann 
diese  letzteren,  nicht  als  Realgründe,  aber  als  Erkenntniß- 
gründe,  wieder  eine  Bedingung  bilden,  welche  die  Noth- 
wendigkeit  der  ausschließenden  Annahme  der  einen  oder 
der  anderen  Gestalt  jener  Urthatsachen  herbeiführte. 

284.  Man  wird  sich  ferner  mit  Vortheil  immer  daran 
erinnern,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  ursprünglich  nur  unser 
berechtigtes  Vertrauen  auf  den  Eintritt  eines  Ereignisses 
mißt,  bevor  es  eingetreten  ist.  Nachdem  es  aber  ein- 
getreten ist,  haftet  seine  frühere  größere  oder  geringere 
Wahrscheinlichkeit  nicht  als  eine  bleibende  Eigenschaft  an 
ihm,  aus  der  man  nun  rückwärts  in  Bezug  auf  die  Ursachen 
seiner  Verwirklichung  irgend  einen  andern  Schluß  ziehen 
dürfte,  als  den,  daß  sie  eben  eingetreten  sind.  Hierüber 
machen  wir  uns  vielerlei  Illusionen.  Wenn  ein  Ereigniß  E 
sich  zugetragen  hat,  dessen  Wahrscheinlichkeit,  vorher  be- 
rechnet, sehr  klein  war  im  Verhältniß  zu  derjenigen  einer 
ganzen  Klasse  von  Fällen,  die  wir  von  irgend  einem 
logischen  Gesichtspunkte  aus  ihm  gegenüber  als  einen 
zweiten  Gesammtfall,  als  ein  Non  E,  zusammenfaßten,  so 
bilden  wir  uns  ein,  zur  Herbeiführung  von  E  sei  nicht 
blos  eine  besondere,  sondern  eine  höhere  Ursache  noth- 
wendig gewesen.  Es  geschieht  zuweilen,  daß  der  Name 
eines  unbedeutenden  unbekannten  selten  erwähnten  Gegen- 
standes,  nachdem  wir  zum   ersten  Male  auf  ihn   gestoßen 


444  Neuntes  Kapitel. 

sind,  dann  uns  plötzlich  mehrmals  im  Gespräch  in  Büchern 
in  Zeitungen  wieder  begegnet;  dies  Zusammentreffen,  dessen 
Wahrscheinlichkeit,  vorher  berechnet,  unendlich  klein  ge- 
wesen wäre,  nennen  wir  wenigstens  einen  wunderbaren 
Zufall.  Zu  bemerken,  wie  wenig  darin  wunderbar  ist, 
genügt  die  Bemerkung,  wie  noch  unendlich  viel  öfter  dieser 
Zufall  sich  nicht  zuträgt,  und  wie  viele  Namen  einmal  an 
unserem  Ohre  vorübergehen,  ohne  jemals  durch  solche 
Wiederholungen  uns  aufzufallen.  Drücken  wir  uns  ganz 
allgemein  aus:  wenn  wir  in  der  Wirklichkeit  irgend  eine 
Bedingung  B  oder  irgend  eine  Gruppe  B  verschiedener 
zusammenwirkender  Bedingungen  voraussetzen,  welche  je 
nach  den  verschiedenen  an  sich  gleich  möglichen  variablen 
Stellungen,  die  sie  zu  einander  einnehmen  können,  eine 
Anzahl  n  verschiedener  Ergebnisse  E  hervorbringen  würden, 

so   ist  die   Wahrscheinlichkeit  jedes   einzelnen  E  =  —  und 

•'  n 

mithin  gleich  der  jedes  andern  bestimmten  E,  aber 
allemal,  wenn  n  unendlich  groß  ist,  unendlich  klein  im 
Vergleich  zu  der  Wahrscheinlichkeit,  daß  irgend  ein  be- 
liebiges von  allen  übrigen  n  —  1  Ereignissen  eintrete, 
die  wir  ihm  gegenüber  zusammenfassen;  aber  diese  letztere 
collective  Wahrscheinlichkeit  hat  nicht  dieselbe  Bedeutung 
wie  jene  erste  singulare;  verwirklicht  können  nicht  alle 
n  —  1  Ereignisse  werden,  sondern  nur  eins  von  ihnen  mit 
Ausschluß  der  übrigen.  Wie  uns  diese  falsche  Vergleichung 
des  Nichtzusammengehörigen  täuscht,  läßt  sich  an  einem 
berühmten  Beispiele  zeigen.  Das  Planetensystem,  sagt 
Laplace,  soweit  damals  bekannt,  besteht  aus  11  Planeten 
und  18  Trabanten ;  man  kennt  Umdrehungen  von  der  Sonne, 
von  10  Planeten,  von  den  Monden  des  Jupiter,  dem  Ring 
des  Saturn  und  einem  seiner  Trabanten;  diese  Rotationen 
zusammen  mit  den  Umläufen  bilden  eine  Gruppe  von  43  in 
gleichem  Sinne  gerichteten  Bewegungen;  nun  findet  man 
durch  die  Rechnung  für  die  Annahme,  daß  diese  Thatsache 
Wirkung  des  Zufalls  sei,  eine  Wahrscheinlichkeit,  welche 
kleiner  ist  als  die  Einheit  dividirt  durch  vier  Billionen. 
Ich  bezweifle  nicht,  daß  auch  die  neueren  Entdeckungen 
der  Astronomie  diese  Zahl  im  Wesentlichen  richtig  lassen 
würden;  aber  was  folgt  aus  ihr?  Nichts  weiter,  als  daß 
eben  diejenige  Ursache  oder  diejenige  Constellation  von 
Ursachen  wirklich  ist  oder  gewesen  ist,  aus  der  dieser 
gegebene  Zustand  fließen  mußte.    Aber  es  folgt  nicht,  daß 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  445 

die  Verwirklichung  dieser  Constellation  selbst  irgend  eine 
andere  Ursache  bedürfe,  als  eben  jenen  sogenannten  Zufall, 
dessen  Sinn  nur  darin  besteht,  daß  eine  vorausgesetzte 
Gruppe  von  Wirklichkeiten  ohne  Widerspruch  unendlich 
viele  Combinationen  ihrer  gegenseitigen  Verhältnisse  an- 
nehmen konnte.  Wirklich  werden  konnte  unter  jenen  vier 
Billionen  stets  nur  eine,  und  welche  von  ihnen  auch  immer 
verwirklicht  worden  sein  möchte,  bei  jeder  würde  dieselbe 
Verwunderung  entstehen,  warum  gerade  sie  entstanden  sei 
von  den  vier  Billionen,  die  möglich  gewesen  wären.  Es 
würde  sich  wesentlich  anders  verhalten,  wenn  alle  jene 
anderen  Dispositionen  wirklich  einen  zweiten  Fall  bil- 
deten, der  als  solcher  realisirbar  gewesen  wäre;  dann 
würde  seine  Wahrscheinlichkeit  von  vier  Billionen  doch 
wenigstens  unmittelbar  mit  der  des  andern,  der  Einheit, 
vergleichbar  gewesen  sein,  obwohl  auch  dann  nur  die  Ver- 
lockung nicht  aber  die  Berechtigung  zu  jenen  Folgerungen 
größer  gewesen  wäre.  Nun  kann  man  freilich  versuchen, 
die  große  Anzahl  aller  dieser  Fälle  auf  eine  berechtigte 
Zweizahl  zu  bringen;  nur  unter  dieser  gegebenen  Dis- 
position aller  Massen  und  Bewegungen,  sagt  man,  war 
die  Stabilität  des  Planetensystems  und  die  beständige 
Fortdauer  seines  Bewegungsspieles  gesichert;  keine  der 
Millionen  anderer  Einrichtungen  hätte  dieses  Gleichgewicht 
begründet.  Möglich ;  aber  auch  jede  dieser  Millionen  anderer 
Einrichtungen  würde  zu  ihrem  Vortheil  anführen:  die- 
jenigen Schicksale,  die  das  Planetensystem  durch  sie  er- 
führe, hätte  es  auch  unter  keiner  andern  Voraussetzung 
von  den  vielen  Millionen  möglicher  erfahren  können;  wäre 
also  Einzigkeit  des  Erfolgs  ein  Anspruch  auf  höheren  Ur- 
sprung, so  würde  ihn  jede  dieser  Dispositionen  mit  gleichem 
Recht  erheben.  Natürlich  soll  nun  nicht  die  Einzigkeit 
des  Erfolges,  sondern  die  Vorzüglichkeit  dieses  einzigen 
entscheiden.  Aber  warum  wäre  denn  Vorzügliches  an  sich 
unwahrscheinlicher?  und  wäre  denn  dieser  Fall  besser 
als  andere?  ist  es  wirklich  unbedingt  schöner,  daß  in 
Ewigkeit  ein  zwar  neues  frisches  Blut,  aber  doch  immer 
in  denselben  Formen  circulirt,  deren  beständige  Wieder- 
holung uns  heute  zwar  erhaben  vorkommt,  morgen  aber 
sehr  langweilig  vorkommen  kann?  wäre  es  nicht  schöner, 
wenn  das  Planetensystem  im  Ungleichgewicht  wäre,  alle 
Verhältnisse  sich  stetig  änderten,  und  damit  Vegetation 
und  Naturschönheit  Thier  und  Mensch  sich  in  immer  neuen 
interessanteren  Formen  entwickelten  und  wirklich  die  Ge- 


446  Neuntes  Kapitel. 

schichte  eine  Geschichte  mit  deutlichem  Fortschritt  würde 
anstatt  des  beständigen  Kreislaufs?  Und  zuletzt,  da  der 
Himmel  unendlich  ist,  können  nicht  alle  Millionen  ver- 
schiedener Systemeinrichtungen  in  ihm  wirklich  realisirt 
sein?  bei  uns  die  des  Gleichgewichts,  in  unbekannten 
Fernen  alle  übrigen?  Und  dann  hätte  ja  die  unsere  nur 
die  Wirklichkeit,  auf  welche  man  ihr  einen  Anspruch  aus 
ihrer  Wahrscheinlichkeit  zuschreiben  möchte;  sie  wäre  nur 
eine   unter  Millionen. 

285.  Nachdem  wir  bisher  die  Wahrscheinlichkeiten  nur 
als  Maß  des  Vertrauens  zu  dem  Emtritt  künftiger  Ereignisse 
angesehen  haben,  entsteht  nun  das  natürliche  Verlangen, 
zu  wissen,  in  wie  weit  diese  Vorberechnungen  durch  den 
wirklichen  Verlauf  der  Begebenheiten  bestätigt  zu  werden 
pflegen.  Die  Antwort  lautet  gewöhnlich  dahin,  daß  mit 
wachsender  Anzahl  der  Fälle,  welche  ein  Ereigniß  F  möglich 
machen,  die  Anzahl  seiner  Verwirklichungen  sich  in  der 
That  der  vorberechneten  beständig  nähert.  Man  kann  mit 
hinlänglicher  Glaubwürdigkeit  diese  Antwort  nur  durch  Ver- 
suche der  einfachsten  Art  erlangen,  in  denen  dafür  gesorgt 
werden  kann,  daß  die  Gruppe  B  der  Bedingungen,  von  denen 
jeder  Einzelfall  F  abhängt,  nach  jedem  mten  Versuch 
wieder  so  hergestellt  werden  kann,  daß  sie  sich  von  ihrer 
Beschaffenheit  vor  demselben  nur  durch  diejenigen  Varia- 
tionen unterscheidet,  deren  Einfluß  auf  das  Gesammtresultat 
der  Versuchsreihe  eben  den  Gegenstand  der  Frage  bildet, 
daß  dagegen  jeder  Hinzutritt  einer  in  dem  Begriff  dieser 
Variation  nicht  liegenden  fremden  Ursache,  möge  sie  in 
äußeren  Umständen  oder  in  der  Veränderung  der  Versuchs- 
objecte  oder  in  parteiischer  Absicht  des  Versuchenden 
liegen,  völlig  abgeschnitten  wird.  Diese  Bedingungen  er- 
füllen Versuche  mit  Würfeln;  man  berechnet  voraus,  daß 
für  einen  Wurf  die  Wahrscheinlichkeit,  mit  zwei  Würfeln 
eine  bestimmte  Combination  der  Augen,  z.  B.  5.  6  zu 
erlangen,  =Vi8  =  0>0ö6  ist,  für  tausend  Würfe  mithin  56 
sein  würde;  versucht  man  nun  diese  tausend  Würfe  nach 
einander  und  findet,  wie  es  in  der  That  gefunden  worden 
ist,  daß  die  angegebene  Combination  50  mal  erscheint,  so 
nähert  sich  diese  Anzahl  der  berechneten  Zahl  bereits 
deutlich  genug;  noch  mehr,  wenn  bei  10,000  Würfen  sie 
auf  570  steigt.  Jeder  einzelne  Wurf  hängt  hier,  von  dem 
beständigen  oder  veränderlichen  Luftwiderstande  abgesehen, 
von  der  Geschwindigkeit  und  dem  Winkel  ab,  mit  welchem 
der  Würfel  gegen  die  auffangende  Platte  ankommt,  von  der 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  447 

Stellung  seiner  Flächen  und  Kanten  im  Augenblick  des 
Auftreffens,  von  seiner  eigenen  Elasticität  und  von  der 
der  Platte.  Von  diesen  Bedingungen  kann  man  die  letzte 
als  constant  betrachten,  da  der  Würfel,  ebenfalls  nach  einem 
Wahrscheinlichkeitsüberschlag,  äußerst  selten  dieselbe 
Stelle  der  Platte  berühren,  mithin  die  Elasticität  des  Treff- 
punktes sich  nicht  merklich  ändern  wird,  wenn  sie  an- 
fänglich dieselbe  für  alle  Punkte  der  Platte  war;  will  man 
sie  dennoch  als  veränderlich  ansehen,  so  kann  man  sie 
doch  ebenso  gut,  wie  die  kleinen  allmählich  entstehenden 
Veränderungen  in  Gestalt  und  Elasticität  des  Würfels,  mit 
zu  den  Variationen  der  Bedingungen  rechnen,  deren  Wir- 
kung untersucht  werden  soll ;  denn  da  beide  Veränderungen 
nicht  von  einander  abhängen,  aber  zusammenwirken  können, 
so  begünstigen  sie  zusammen  nicht  einen  bestimmten  Wurf 
vor  andern,  sondern  in  den  verschiedenen  Einzelfällen  bald 
diesen  bald  jenen.  Die  erstgenannte  Bedingung,  Geschwin- 
digkeit und  Richtung  des  Würfels,  hängt  allerdings  von  der 
Bewegung  der  schüttenden  Hand  ab;  aber  selbst  wenn 
hier  eine  Absicht  vorhanden  wäre,  welche  einen  Wurf 
vor  dem  andern  begünstigen  möchte,  so  würde  sie  doch 
nicht  wirksam  werden;  denn  wir  haben,  nach  einem  be- 
stimmten Wurfe,  weder  eine  scharfe  Erinnerung  der  Gruppe 
von  Muskelgefühlen,  die  ihn  begleiteten,  noch  die  Fähig- 
keit, die  Bewegungen,  von  denen  diese  Gefühle  abhingen, 
zum  Behuf  eines  gleichen  neuen  Wurfes  genau  zu  repro- 
duciren ;  die  geringste  Abweichung  aber  würde  dahin  führen, 
anstatt  der  beabsichtigten  eine  andere  Combination  der 
geworfenen  Augen  zu  begünstigen.  Gerade  diese  Ver- 
änderungen unserer  Bewegungen  gehören  daher  zu  den 
zulässigen  Variationen  der  Bedingungen  des  untersuchten 
Resultates.  Dieselben  Vortheile  bietet  eine  drehbare  Trommel, 
in  welcher  m  weiße  und  p  schwarze  Kugeln  enthalten  sind 
und  in  die  wir  die  jedesmal  durch  die  Hand  gezogene 
Kugel  vor  dem  nächsten  Zuge  wieder  einlegen.  Drehen 
wir  dann  die  Trommel,  öo  erzeugen  wir  dadurch  freilich 
nicht  genau  dieselbe  Lage  der  Kugeln,  die  sie  in  ihr  vor 
dem  Zuge  hatten,  aber  doch  nur  eine  der  Variationen 
dieser  Lage,  deren  Einfluß  wir  kennen  lernen  wollen.  Die 
Gestalt  des  Würfels  bildet  im  ersten,  die  Anzahlen  der 
schwarzen  und  weißen  Kugeln  im  zweiten  Falle  den  con- 
stanten,  die  Geschwindigkeit  und  Richtung  des  Würfels 
im  ersten,  die  Lage  der  Kugeln  und  die  Richtung  der 
ziehenden   Hand   im   zweiten  den  variablen  Theil  der   Be- 


448  Neuntes  Kapitel. 

dingung  B,  von  deren  Gesammtheit  das  Ereigniß  F  in  jedem 
Einzelfalle  abhängt.  Auch  die  zweite  Einrichtung  des  Ver- 
suchs hat  zu  demselben  Ergebniß  geführt:  je  größer  die 
Anzahl  der  Ziehungen,  desto  mehr  näherte  sich  das  Ver- 
hältniß  zwischen  den  Anzahlen  der  gezogenen  weißen  und 
schwarzen  Kugeln  dem  Verhältniß  der  Anzahlen  m  und  p, 
in  welchen  sie  in  der  Trommel  wirklich  vorhanden  waren. 
286.  An  diese  Versuchsergebnisse  haben  sich  theoreti- 
sche Betrachtungen  angeschlossen,  von  deren  Richtigkeit 
ich  mich  nicht  überzeugen  kann.  Es  liegt  ein  Cirkel  in 
allen  den  Erörterungen  vor,  welche  das  eben  angeführte 
Verhalten  als  ein  mit  begreiflicher  Nothwendigkeit 
allgemein  eintretendes  darstellen  möchten.  Zuerst  kann 
aus  m  Versuchsreihen,  in  denen  es  wirklich  stattgefunden 
hat,  auf  sein  Stattfinden  in  jeder  (m  -f- 1)  ten  Versuchsreihe 
nicht  geschlossen  werden,  so  lange  die  unbekannten  Varia- 
tionen der  Bedingungen,  welche  dort  den  Erfolg  erzeugt 
haben  imd  ihn  hier  erzeugen  würden,  einzeln  durchaus 
keiner  Regel  miterworfen  sind.  Denn  daß  sie  dann  wenig- 
stens im  Ganzen  sich  hier  wie  dort  auf  gleiche  Weise 
compensiren  werden  (was  allein  die  versuchte  Verall- 
gemeinerung des  Beobachteten  erlauben  würde),  ist  nicht 
ein  Gedanke  von  objectiver  Gültigkeit,  nicht  ableitbar 
von  irgend  etwas,  was  wir  schon  als  wirklich  wüßten, 
sondern  selbst  nur  Ausdruck  unserer  subjectiven  fast 
tautologischen  Maxime,  demjenigen  Ereigniß,  dessen  vor- 
berechnete Wahrscheinlichkeit  die  größte  ist,  auch  die  größte 
Wahrscheinlichkeit  seines  wirklichen  Eintretens  zuzutrauen. 
So  lange  nämlich  keine  constante  Ursache  einen  der  mög- 
lichen Fälle  F  vor  den  andern  bevorzugt,  müssen  allen 
ihrem  Begriffe  nach  coordinirten  oder  gleichmöglichen  Fällen 
auch  gleiche  Chancen  ihrer  Verwirklichung  zugeschrieben 
werden,  und  dann  besteht  dies  am  wahrscheinlichsten  zu 
erwartende  Ereigniß  oder  Verhalten  eben  darin,  daß  in  einer 
großen  Anzahl  von  Versuchen  die  Anzahl  der  eintreten- 
den Verwirklichungen  eines  Falles  F  der  vorher  berech- 
neten Anzahl  derselben  gleich  wird.  Ist  diese  Erwartung 
in  m  Versuchsreihen  bestätigt  worden,  so  ist  eben  m  mal 
thatsächlich  dasjenige  eingetroffen,  was  vor  seinem 
Eintreffen  das  Wahrscheinlichste  war;  daß  es  in  jeder 
(m  -j- 1)  ten  Versuchsreihe  ebenso  wieder  eintreffe,  wird 
hierdurch  keine  beweisbare  Nothwendigkeit,  sondern  bleibt 
die  wahrscheinlichste  Erwartung,  mit  der  wir  dieser  neuen 
Versuchsreihe  entgegenkommen,  und  deren  Täuschung  doch 


Bestimmung,  singularer  Thatsachen,  449 

niemals  unmöglich  wird.  Zweitens  kann  eine  einzelne 
Versuchsreihe  nicht  unendlich  viele  Versuche  wirklich  an- 
stellen, sondern  muß  bei  irgend  einer  endlichen  wenn  auch 
großen  Anzahl  n  derselben  stehen  bleiben.  Daß  mithin 
die  Anzahl  der  eintretenden  Verwirklichungen  des  F 
bei  stets  wachsendem  n  sich  der  vorberechneten  An- 
zahl derselben  ohne  Ende  nähere,  kann  nie  eine  wirk- 
liche Beobachtungsthatsache  sein,  sondern  ist  eine  hinzu- 
gefügte Folgerung.  Nehmen  wir  nun  an,  mit  n  Versuchen 
sei  der  Punkt  erreicht,  wo  beide  Anzahlen  gleich  geworden 
sind  oder  sich  der  Gleichheit  bis  auf  eine  unbeträchtliche 
Differenz  d  genähert  haben,  so  wäre  es  Willkür,  hier  die 
Reihe  abzubrechen;  denn  dies  freilich  versteht  sich  von 
selbst,  daß  der  Satz  von  jener  Gleichheit  oder  Annäherung 
dann  gilt,  wenn  man  die  Reihe  so  weit  und  genau  nur  so 
weit  fortsetzt,  bis  er  gilt.  Was  aber  wird  geschehen,  wenn 
wir  die  Reihe  verlängern?  Vielleicht  werden  dann  die  Er- 
gebnisse noch  weiter  gegen  die  Gleichheit  jener  beiden 
Zahlen  convergiren;  vielleicht  auch  verhält  sich  jede  hin- 
zukommende Periode  von  n  Versuchen  genau  oder  annähernd 
so  wie  sich  die  erste  verhielt,  und  die  Differenz  d  wird 
durch  die  Verlängerung  der  Reihe  nicht  beträchtlich  ver- 
mindert; und  diesen  Möglichkeiten  kann  noch  jeder  regel- 
losere Fortgang  als  auch  möglich  hinzugefügt  werden. 
Nur  eine  gleiche  Wahrscheinlichkeit  haben  diese  ver- 
schiedenen Vermuthungen  nicht;  so  lange  wir  durchaus 
keine  constante  Ursache  voraussetzen,  welche  in  einer  an- 
zustellenden Versuchsreihe  einen  Fall  F  vor  andern  be- 
günstigen könnte,  ist  unsere  wahrscheinlichste  Vorannahme 
nur  die,  daß  bei  immer  wachsendem  n  die  Anzahl  der 
beobachteten  Verwirklichungen  von  F  der  vorberechneten 
Anzahl  derselben  sich  beständig  nähern  werde;  bestätigt 
sich,  in  einer  beträchtlichen  aber  endlichen  Zahl  von  n  Ver- 
suchen, diese  Erwartung  nicht,  so  kann  daran  eine 
constante  Bedingung,  es  kann  aber  auch  eine  principlose 
Combination  variabler  Schuld  sein;  so  oft  sie  sich  aber 
wirklich  bestätigt,  so  oft  liegt  eine  Thatsache  vor,  die 
uns  nicht  überraschen  kann,  eben  weil  sie  nicht  im  voraus 
unwahrscheinlich  war,  deren  Eintreten  sich  aber  so  wenig 
als  das  Zutreffen  irgend  einer  mathematischen  Wahrschein- 
lichkeit als  nothvvendig  erweisen  läßt.  Kommen  wir  noch 
einmal  auf  den  Versuch  mit  der  Trommel  und  den  Kugeln 
zurück,  so  kann  ich  mich  nicht  überzeugen,  daß  die  all- 
mählich    hervortretende    Beständigkeit    des    Verhältnisses 

Lotze,  Logik.  29 


450  Neuntes  Kapitel. 

zwischen  den  Zahlen  der  gezogenen  verschiedenfarbigen 
Kugeln  wirklich  erklärlich  sei,  wenn  unter  diesem  Aus- 
druck mehr  verstanden  sein  sollte,  als  Wahrscheinlichkeit. 
Man  beruft  sich  hier,  wie  mir  scheint,  nicht  mit  Recht, 
auf  den  sehr  richtigen  und  bedeutungsvollen  Unterschied 
zwischen  den  constanten  und  den  variablen  oder  acciden- 
tellen  Ursachen,  die  zur  Hervorbringung  einer  Wirkung 
sich  vereinigen.  Bei  aller  Unregelmäßigkeit  in  den  succes- 
siven  Anordnungen  der  Kugeln  bleibe  doch  ein  constantes 
Element,  nämlich  die  unveränderlichen  Anzahlen  der  weißen 
und  der  schwarzen ;  bei  einer  großen  Anzahl  von  Ziehungen 
müsse  sich  dieses  constante  Element  durch  eine  constante 
Wirkung  bemerklich  machen;  denn  es  sei  kein  Grund  zu 
der  Annahme,  an  dem  Orte,  den  die  Hand  trifft,  werden 
sich  Kugeln  der  einen  Farbe  relativ  öfter  finden,  als  der 
relativen  Menge  entsprechen  würde,  in  der  sie  wirklich 
vorhanden  sind;  geschähe  es,  so  würde  man,  gegen  die 
Voraussetzung,  eine  constante  Nebenursache  ihrer  Be- 
günstigung annehmen  müssen.  Hiergegen  erhebe  ich  den 
Einwurf,  daß  jene  constanten  Ursachen  nicht  sich  schon 
deshalb  bemerklich  machen  können,  weil  sie  da  sind, 
sondern  nur  weil  und  insoweit  sie  wirken.  Bei  den  Ver- 
suchen mit  dem  Würfel  gehörten  die  Gestalt  desselben  und 
die  Lage  seines  Schwerpunktes  zu  diesen  constanten  Ur- 
sachen und  beide  kamen  in  jedem  Einzelfalle  zur  Wirkung. 
Die  erste  machte,  daß  der  Würfel  nur  auf  6  Seiten  und 
nicht  auf  eine  siebente  fallen  konnte,  die  andere,  daß  er, 
wenn  ihn  nicht  ein  widerstehender  Rand  aufhielt,  immer 
auf  die  Seite  fallen,  und  nicht  auf  einer  Kante  oder  Ecke 
zur  Ruhe  kommen  konnte;  auf  welche  Seite  er  aber  fallen 
würde,  gerade  dies  bestimmten  diese  constanten  Ursachen 
nicht.  Bei  den  Versuchen  mit  den  Kugeln  sind  zuerst  die 
Farben  constant,  weiß  und  schwarz,  und  daraus  folgt,  daß 
keine  rothe  Kugel  gezogen  werden  kann;  die  Anzahlen  m 
und  p  sind  zwar  auch  constant,  aber  die  relativen  Mengen 
der  wenigen  Kugeln,  welche  jedesmal  in  das  Bereich  der 
ziehenden  Hand  kommen,  gehören  eben  zu  dem  veränder- 
lichen Theile  der  Bedingung;  diese  constante  Bedingung, 
das  Verhältniß  m :  p  kommt  daher  nicht  zur  Wirkung,  ob- 
wohl es  thatsächlich  besteht.  Daß  eine  constante  Neben- 
ursache, gegen  die  Voraussetzung,  angenommen  werden 
müsse,  wenn  in  der  Summe  vieler  Wiederholungsfälle  das 
Verhältniß  der  ergreifbaren  Kugeln  ein  anderes  sein  sollte, 
als  das  der  vorhandenen,  kann  ich  nicht  zugeben;  es  be- 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  451 

darf  dazu  vielmehr  nur  jener  principlosen  Variation  der 
Lage  der  Kugeln,  die  wir  voraussetzen  und  durch  das 
Umdrehen  der  Trommel  wieder  herzustellen  suchen;  mög- 
lich ist  hierdurch  jede  Combination  der  Kugeln,  möglich 
auch  die  Unzugänglichkeit  aller  der  einen  Farbe,  möglich 
sogar  die  beständige  Wiederholung  dieser  Ausschließung 
in  allen  aufeinanderfolgenden  Versuchen,  denn  es  ist  ja 
absichtlich  alles  so  geordnet,  daß  jeder  (m-[-l)te  Versuch 
von  dem  mten  völlig  unabhängig  sein  soll.  Nur  wahr- 
scheinlich ist  das  alles  gar  nicht;  wahrscheinlich  ist  nur, 
daß  die  Häufigkeit  der  Ergreifung  beider  Kugelarten  der 
Häufigkeit  ihres  Vorhandenseins  entsprechen  werde;  aber 
mehr  als  wahrscheinlich  ist  denn  auch  dies  nicht;  wird 
es  durch  Erfahrung  nahezu  bestätigt,  so  ist  dies  eine  That- 
sache,  die  insofern  nicht  unerklärlich  ist,  als  man  recht 
gut  einsieht,  wie  leicht  die  Ursachen  sich  zusammenfinden 
können,  die  sie  hervorbringen,  aber  nicht  erklärlich  in  dem 
Sinne,  daß  man  nachweisen  könnte,  daß  und  warum,  in 
der  Summe  vieler  Wiederholungsfälle,  sie  sich  so  zu- 
sammenfinden mußten,  während  sie  es  doch  in  einer 
kleineren  Anzahl  dieser  Fälle  nicht  mußten. 

287.  In  den  vorigen  Fällen  war  die  Natur  der  con- 
stanten  und  der  Spielraum  der  variablen  Ursachen  eines 
Ereignisses  bekannt  und  man  konnte  eine  Annahme  über 
die  Häufigkeit  seiner  Wiederkehr  der  Erfahrung  vorgreifend 
aufstellen  und  sie  von  dieser  bestätigt  finden.  Man  kann 
umgekehrt  auch  ein  Ereigniß,  von  dem  weder  das  eine  noch 
das  andere  bekannt  ist,  das  aber  die  Beobachtung  häufig 
wiederholt  darbietet,  in  Bezug  auf  die  Regelmäßigkeit  seines 
Eintretens  prüfen.  Wir  kennen  dann  weder  die  Anzahl 
der  überhaupt  möglichen  Fälle  noch  die  der  günstigen 
Chancen,  welche  unter  diesen  das  fragliche  Ereigniß  findet; 
wir  unterscheiden  nur  zwischen  Eintritt  und  Nichteintritt 
von  E,  sehen  als  Fälle,  in  denen  sein  Eintritt  möglich  ist, 
alle  diejenigen  an,  welche  die  Beziehungspunkte  verwirk- 
lichen, unter  deren  Voraussetzung  E  seiner  Bedeutung  nach 
verständlich  wird,  und  vergleichen  mit  dieser  Zahl  die 
Anzahl  seiner  Verwirklichungsfälle.  Von  welchen  con- 
stanten  und  variablen  Ursachen  die  Blindheit  der  Menschen 
abhängt,  wissen  wir  nicht;  aber  so  viele  Menschen  es  gibt, 
so  viel  gibt  es  Fälle,  in  denen  dieser  Mangel  seiner  Natur 
nach  möglich  ist;  vergleichen  wir  mit  dieser  Gesammtheit 
aller  zu  einer  Generation  gehörigen  Personen  die  Anzahl 
der  Blinden  und  denken   wir  uns  diese   Vergleichung  auf 

29* 


452  Neuntes  Kapitel. 

viele  Generationen  ausgedehnt,  so  würde  sich  zeigen,  ob 
zwischen  diesen  beiden  Anzahlen  im  Großen  ein  constantes 
Verbal tniß  stattfindet,  welches  auf  das  Vorhandensein  einer 
Constanten  Gruppe  begünstigender  Ursachen  deutete,  deren 
Wirkungen  im  Einzelnen  durch  variable  modificirt  werden. 
Da  es  ferner  in  vielen  Fällen  wahrscheinlich  ist,  daß  erst 
im  Verlauf  einer  gewissen  Zeit  die  variablen  Ursachen  sich 
der  Reihe  nach  vollständig  genug  verwirklichen,  um  durch 
gegenseitige  Aufhebung  ihrer  Einflüsse  die  Wirkung  der 
Constanten  Ursache  deutlich  hervortreten  zu  lassen,  so 
richtet  sich  die  Aufmerksamkeit  sehr  gewöhnlich  auf  die 
Auffindung  von  Zeiteinheiten,  in  welchen  das  Verhältniß 
der  wirklichen  E  zu  den  möglichen  E,  immer  mit  Rück- 
sicht auf  die  selbst  zeitlich  wechselnde  Zahl  der  letzteren, 
dasselbe  wird.  Endlich,  da  unter  allen  Zeiteinheiten  das 
Jahr  diejenige  ist,  in  welcher  die  meisten  variablen  Be- 
dingungen, welche  sehr  allgemein  auf  alle  Menschen  wirken, 
den  Kreislauf  ihrer  verschiedenen  möglichen  Werthe  zu 
durchlaufen  pflegen,  so  ist  es  natürlich,  daß  man  in  Unter- 
suchungen, die  sich  auf  menschliche  Angelegenheiten  be- 
ziehen, zunächst  fragt,  ob  innerhalb  dieser  Zeiteinheiten 
das  Verhältniß  der  wirklichen  E  zu  den  denkbaren  constant 
bleibt  oder  der  Gleichheit  sich  nähert.  Die  Antwort  auf 
alle  diese  Fragen  wird  ebensowohl  verneinend  als  bejahend 
sein  können.  Kommt  ein  Ereigniß  E  überhaupt  häufig 
vor,  so  muß  es  innerhalb  des  Zeitraums,  in  den  dieses  Vor- 
kommen fällt,  von  ihm  eine  constante  Ursache  wenigstens 
in  dem  Sinne  geben,  daß  irgend  ein  Verhältniß  besteht, 
welches  die  dem  E  günstige  Combination  variabler  Ur- 
sachen in  bestimmtem  Maße  befördert;  so  oft  dann  in  ver- 
schiedenen Wiederholungen  einer  Zeiteinheit  dasselbe  Ver- 
hältniß der  wirklichen  Fälle  zu  den  möglichen  sich  wieder 
erzeugt,  so  oft  ist  dieser  Rückschluß  gestattet,  daß  jene 
constante  Ursache  bestanden  habe;  aber  der  Vorschluß 
versteht  sich  nicht  von  selbst,  daß  auch  für  ein  nächstes 
gleiches  Zeitintervall  dasselbe  Verhältniß  als  vorausbe- 
stimmtes Gesetz  gelten  werde;  man  wird  diese  Annahme 
nur  als  die  wahrscheinlichste  Regel  für  die  Beurtheilung 
des  Künftigen  ansehen  können,  sobald  keine  Data  bekannt 
sind,  welche  auf  eine  inzwischen  erfolgte  Veränderung 
jener  unbekannten  bedingenden  Umstände  hindeuten;  be- 
stätigt sich  dann  die  Regel,  so  machen  wir  mit  Recht  jenen 
Rückschluß  noch  einmal,  und  allerdings,  je  öfter  wir  ihn 
machen   können,  die  Regel  also  sich  bestätigt   hat,  um  so 


Bestimmung  singulaxer  Thatsachen.  453 

mehr  nimmt  die  Wahrscheinlichkeit  zu,  daß  die  Gruppe 
der  Bedingungen,  die  für  so  viele  Zeiteinheiten  constant 
blieb,  auch  in*  Zukunft  sich  nicht  ändern  werde;  mehr  aber 
als  diese  Wahrscheinlichkeit  erreichen  wir  nicht.  Es  ist 
daher  sehr  mißlich,  die  Ergebnisse  solcher  Beobachtungen 
als  Gesetze  der  Ereignisse  zu  bezeichnen,  ja  zuweilen 
von  einem  Gesetz  der  großen  Zahlen  selbst  so  zu  sprechen, 
als  müsse  sich  durch  die  bloße  Größe  einer  Anzahl  ver- 
glichener Fälle  in  dem  Ablauf  einer  Ereignißklasse  eine 
Hegelmäßigkeit  einstellen,  die  sonst  in  der  Natur  der  Er- 
eignisse und  ihrer  Bedingungen  nicht  begründet  ist.  Ein 
Gesetz  ist,  wie  wir  sahen,  ein  hypothetisches  Urtheil,  das 
einen  Nachsatz  als  nothwendig  gültig  ausspricht,  wenn  der 
Vordersatz  gilt;  wollen  diese  statistischen  Gesetze  sich 
dieser  Definition  fügen,  so  sind  sie  freilich  werthlos;  denn 
sie  sagen  dann  nur:  wenn  in  der  nächsten  Zeiteinheit  T 
alle  bekannten  und  unbekannten  Bedingungen  wieder  so 
sind,  wie  in  der  vorigen,  so  wird  auch  die  Reihe  aller 
Folgen,  mithin  auch  die  Anzahl  der  E  dieselbe  sein;  natür- 
lich ;  denn  wenn  man  sich  das  Vergangene  noch  einmal 
geschehen  denkt,  so  wird  es  gerade  so  aussehen  wie  damals, 
da  es  zuerst  geschah.  Diese  Tautologie  liegt  begreiflich 
nicht  in  der  Absicht  jener  angeblichen  Gesetze;  sie  wollen 
vielmehr  ihren  Vordersatz  zugleich  assertorisch  behaupten, 
also  behaupten,  daß  jene  Gleichheit  aller  Bedingungen  statt- 
finden werde ;  daß  es  aber  für  diese  Behauptung  immer  nur 
Wahrscheinlichkeit,  nicht  Gewißheit  gibt,  ist  einleuchtend. 
Jene  Sätze  sind  also  nicht  Gesetze,  sondern  Analogien, 
welche  eine  Proportion,  die  in  n  Fällen  gegolten  hat,  auf 
den  (n  + 1)  ten  Fall  übertragen,  jedoch  ohne  den  Nachweis 
und  blos  mit  der  Voraussetzung,  daß  von  n  zu  n  -}- 1 
sich  die  Bedingungen  nicht  ändern,  auf  denen  ihre  Gültig- 
keit beruht. 

288.  Zu  den  Ereignissen,  die  bei  öfterer  Wiederholung 
von  einer  constanten  und  von  variablen  Bedingungen  zu- 
gleich abhängen,  gehören  unsere  eigenen  Beobach- 
tungen, unter  welchem  Ausdruck  ich  hier  den  einfachsten 
Fall,  die  Messung  einer  durch  sinnliche  Wahrnehmung  ge- 
gebenen Größe  verstehen  will.  Die  constante  Ursache  ist 
der  wahre  Werth  dieser  Größe,  die  unter  völlig  gleichen 
Bedingungen  immer  dieselbe  Wirkung  auf  unsere  Auf- 
fassungskraft machen  würde ;  die  variablen  sind  die  äußeren 
Umstände  und  die  Aenderungen  unseres  psychischen  Zu- 
standes,  welche  jene  Einwirkung  in  verschiedenen  Wieder- 


454  Neuntes  Kapitel. 

holimgsfällen  auf  verschiedene  Weise  modificiren.  Aus  den 
verschiedenen  Messungen,  die  wir  so  erhielten,  den  wahren 
Werth  des  Gemessenen  zu  ermitteln  würde  unmöglich  sein, 
wenn  wir  den  gemachten  Messungen  selbst  jeden  denk- 
baren Grad  der  Ungenauigkeit  zutrauen  wollten;  denn  dies 
würde  nur  heißen,  daß  wir  glaubten,  den  gefundenen 
Werthen  alle  beliebigen  andern  als  richtigere  substituiren 
zu  dürfen,  wodurch  dann  die  ganze  Vornahme  einer  Messung 
überhaupt  sinnlos  würde.  Wir  setzen  daher  voraus,  daß 
Kenntniß  Geschick  und  Aufmerksamkeit  sich  so  weit  ver- 
einigt haben,  um  die  Messungen  hinlänglich  vertrauens- 
würdig zu  machen  und  nur  Fehler  als  wahrscheinlich  zu- 
zulassen, die  sehr  klein  sind  im  Verhältniß  zu  den  ge- 
messenen Werthen  selbst.  Handelt  es  sich  nun  um  die 
Bestimmung  einer  einzigen  unbekannten  Größe  A,  so  muß 
zunächst  jede  einzige  Messung,  die  man  von  ihr  besitzt, 
als  wahre  Bestimmung  des  A  gelten;  denn  es  gibt  keinen 
Grund,  nach  welchem  sich,  wenn  man  sie  auch  anzweifelte, 
Größe  und  Richtung  ihrer  Verbesserung  bemessen  ließe. 
Sind  uns  dagegen  für  dieselbe  Größe  A,  die  nur  eine  sein 
kann,  verschiedene  Werthe  durch  Beobachtungen  gegeben, 
so  ist  kein  Grund  an  sich  vorhanden,  der  einen  mehr  zu 
trauen  als  der  andern,  und  die  wahre  Größe  wird  daher 
am  wahrscheinlichsten  durch  einen  solchen  Werth  be- 
stimmt werden,  dessen  Annahme  den  gemessenen  Werthen 
die  geringste  Summe  der  nun  nothwendig  vorauszusetzen- 
den Unrichtigkeiten  zumuthet.  Das  arithmetische  Mittel  M, 
die  Summe  aller  gemessenen  Werthe  dividirt  durch  die 
Anzahl  der  Messungen,  ist  daher  für  den  wahrscheinlichsten 
Werth  von  A  zu  halten;  die  Differenz  zwischen  diesem 
Mittel  M  und  dem  wahren  Werth  A  ist  der  Fehler,  der  übrig 
bleibt,  und  den  wir,  so  lange  A  nicht  durch  andere  Be- 
dingungen mitbestimmt  ist,  nicht  hinwegbringen,  sondern 
nur  durch  Vermehrung  der  Anzahl  gleich  sorgfältiger  Be- 
obachtungen verringern  können.  Haben  wir  dagegen  ver- 
schiedene Größen  ABC  wiederholt  gemessen  und  liegen 
andere  Bedingungen  noch  vor,  denen  die  Werthe  derselben 
genügen  müssen,  so  kann  es  sich  ereignen,  daß  die  ver- 
schiedenen arithmetischen  Mittel,  die  einzeln  die  wahr- 
scheinlichsten Werthe  von  ABC  geben  würden,  diesen 
Nebenbedingungen  nicht  genügen  und  daher  einer  Ver- 
besserung bedürfen.  Hätten  wir  z.  B.  die  drei  Winkel  eines 
Dreiecks  wiederholt  gemessen,  und  betrüge  die  Summe  der 
hieraus   entwickelten  Mittelwerthe  =  180  **  +  d  "*,   so  würde 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  455 

dieses  mit  der  Natur  des  Dreiecks  unvereinbare  d  °.  einen 
Fehler  darstellen,  der  aus  Fehlem  der  Messungen  ent- 
sprungen sein  muß  und  nur  durch  Veränderung  der  ge- 
fundenen Werthe  zu  beseitigen  ist.  Aber  die  hierzu  nöthige 
Verminderung  läßt  sich  auf  die  drei  gemessenen  Winkel 
in  sehr  verschiedener  Weise  vertheilen  und  es  fragt  sich, 
welche  Größe  des  Irrthums  man  der  Messung  eines  jeden 
derselben  am  wahrscheinlichsten  zumuthen  dürfe.  Dies 
führt  auf  eine  Untersuchung  über  die  relative  Wahrschein- 
lichkeit des  Vorkommens  der  Fehler  in  unseren  Beobach- 
tungen überhaupt,  die  sich  nicht  auf  a  priori  beweisbare, 
aber  auf  sehr  probable  und  mit  der  Erfahrung  überein- 
stimmende Grundsätze  stützt.  Zunächst  liegt  in  dem  Be- 
griffe einer  sorgfältigen  Beobachtung  an  sich  selbst  nichts, 
w^as  einen  Fehler  begründete;  die  Wahrscheinlichkeit  mit- 
hin, daß  sie  das  Richtige  getroffen  habe,  ist  immer  größer 
als  die  irgend  eines  bestimmten  begangenen  Fehlers.  Ebenso 
liegt  es  in  den  Voraussetzungen,  auf  die  jede  Ermittelung 
wahrer  Werthe  aus  Beobachtungen  sich  stützen  muß,  daß 
die  Wahrscheinlichkeit  großer  Fehler  geringer  ist  als  die 
kleiner,  und  die  Wahrscheinlichkeit  positiver  gleich  der- 
jenigen gleich  großer  negativer.  Dies  führt  zu  einer  ersten 
anschaulichen  Vorstellung.  Trägt  man  auf  einer  Geraden, 
welche  zur  Abscissenaxe  gewählt  wird,  von  einem  An- 
fangspunkt aus,  welcher  dem  Fehler  Null  entsprechen  würde, 
nach  entgegengesetzten  Richtungen  wachsende  Abscissen 
±  »,  ib  ß>  d=  T  ab  uricl  errichtet  im  Nullpunkt  eine  Ordinate 
von  beliebiger  Größe,  welche  die  Wahrscheinlichkeit  des 
Vorkommens  eines  Fehlers  Null  bedeutet,  so  ist  diese  di^ 
größte  aller  Ordinaten,  und  alle  übrigen  auf  den  Punkten 
i  et,  ib  ß  •  •  errichteten  nehmen  symmetrisch  zu  beiden 
Seiten  in  dem  Maße  ab,  als  die  durch  a  ß  y  symbolisirten 
Größen  der  Fehler,  deren  Wahrscheinlichkeiten  sie  bedeuten, 
zunehmen.  Aber  die  Erfahrung  lehrt  uns  zugleich,  daß  das 
Abnehmen  der  Wahrscheinlichkeit  der  Fehler  nicht  in  ein- 
facher Proportion  zu  der  Zunahme  ihrer  Größe  steht;  so 
lange  die  Fehler  klein  sind,  ändert  sich  ihre  Wahrschein- 
lichkeit weniger  als  ihre  Größe  zunimmt,  je  größer  sie 
sind,  um  desto  mehr  beschleunigt  übertrifft  die  Abnahme 
ihrer  Wahrscheinlichkeit  die  Zunahme  ihrer  Größe.  Hier- 
aus folgt,  daß  die  Linie,  durch  welche  wir  die  oberen  End- 
punkte aller  Ordinaten  verbinden,  nicht  aus  zwei  Geraden 
zusammengesetzt  sein  kann,  die  über  dem  Nullpunkt  zu- 
sammenstießen und  sich  nach  beiden  Seiten  symmetrisch 


456  Neuntes  Kapitel. 

der  Abscissenaxe  näherten,  um  mit  einem  Abschnitt  der- 
selben ein  Dreieck  einzuschließen;  vielmehr  ist  jene  Grenz- 
linie eine  Curve,  deren  Scheitel  über  dem  Nullpunkt  liegt, 
und  die  von  dort  aus  zwei  symmetrische  nach  der  Abscissen- 
axe hin  concave  Aeste  ausschickt.  Nicht  ebenso  deutlich 
wie  dieser  Verlauf  der  Curve  in  der  Nähe  des  Scheitels 
ist  ihre  Fortsetzung  nach  der  Abscissenaxe.  Sieht  man 
Fehler  jeder  Größe,  auch  unendlich  große,  als  immerhin 
mögliche  an,  so  daß  auch  diesen  noch  eine  wenn  auch 
außerordentlich  kleine  Wahrscheinlichkeit  zukommt,  so  muß 
jeder  Zweig  der  Curve  zuletzt  convex  gegen  die  Abscissen- 
axe werden  und  sich  ihr  asymptotisch  nähern;  betrachtet 
man  dagegen  in  einer  sorgfältigen  Beobachtung  Fehler  von 
gewisser  Größe,  solche  z.  B.,  die  sich  um  den  ganzen  Be- 
trag des  zu  messenden  Werthes  irren,  als  überhaupt  nicht 
vorkommend,  so  kann  die  Curve  concav  bleibend  die  Ab- 
scissenaxe an  zwei  Punkten  schneiden.  Auf  die  weit- 
läufigeren Untersuchungen,  die  angestellt  worden  sind,  um 
die  wahrscheinlichste  Gestalt  dieser  Curve,  ihre  Gleichung 
und  aus  ihr  die  Wahrscheinlichkeit  des  Vorkommens  der 
einzelnen  Fehler  genauer  zu  bestimmen,  muß  ich  einzu- 
gehen unterlassen;  um  jedoch  einigermaßen  anschaulich 
zu  machen,  welchen  Weg  zum  Ziele  zuletzt  diese  Ueber- 
legungen  nehmen,  bediene  ich  mich  einer  für  diesen 
Zweck  hinreichenden  Annäherung.  Zunächst  lassen  wir 
die  Strecken  der  Curve,  welche  sich  der  Abscissenaxe 
nähern,  ganz  außer  Acht;  da  uns  nur  die  Wahrscheinlich- 
keit derjenigen  Fehler  interessirt,  auf  deren  Vorkommen 
man  bei  sorgfältigen  Beobachtungen  noch  gefaßt  sein  muß, 
so  ziehen  wir  nur  einen  kurzen  Bogen  der  Linie  in  Be- 
tracht, der  von  dem  Scheitel  aus  sich  nach  beiden  Seiten 
wendet.  Da  die  Linie  nun  eine  Gerade  nicht  sein  kann, 
so  wäre  die  nächsteinfache  Annahme  die,  daß  ihre  Gleichung 
vom  zweiten  Grade  sei,  und  da  diese  Annahme  auch  die 
symmetrischen  Werthe  der  Ordinaten  diesseit  und  jenseit 
des  Nullpunktes  möglich  macht,  so  bleiben  wir  bei  ihr 
stehen  und  wählen  von  den  Kegelschnitten,  die  alle  zu 
diesem  Versuch  brauchbar  sein  würden,  den  Kreis.  Die 
größte  Ordinate  r,  auf  dem  Nullpunkt  der  Abscissen  er- 
richtet, bezeichne  gleichzeitig  den  wahren  Werth  der  zu 
messenden  Größe  und  die  Größe  der  Wahrscheinlichkeit, 
daß  diese  richtige  Messung  in  den  Beobachtungen  vor- 
komme ;  die  Abscissen  ±  a,  ^ß,  ±  y  seien  die  Größen  der 
Fehler,  um  welche  die  verschiedenen  Messungen  von  dem 


Bestimmung  singularer  Thatsachen.  457 

wahren  Werth  r  abweichen;  wir  denken  sie  uns  jetzt  aus- 
gedrückt in  Theilen  dieses  wahren  Werthes,  so  daß  i  a, 
:t  ß . . .  für  r  =  1  echte  Brüche  der  Einheit  sind,  für  r  =  r 
durch  i  ra,  ^  rß . . .  zu  ersetzen  sein  würden ;  die  zu  jeder 
Abscisse  gehörige  Ordinate  y  endlich  bedeutet  die  Wahr- 
scheinlichkeit des  Vorkommens  derjenigen  falschen  Messung, 
welche  von  der  wahren  r  um  die  Größe  dieser  Abscisse  ab- 
weicht; setzen  wir  daher  die  Kreisgleichung  als  gültig  für 
den  fraghchen  Curvenbogen  voraus,  so  ist  y  =  r 'y/ 1 -- x^, 
worin  x  der  allgemeine  Ausdruck  für  die  veränderlichen 
Werthe  a  ß  y  ist.  Die  Wahrscheinlichkeit  des  Zusammen- 
treffens verschiedener  von  einander  unabhängigen  Ereig- 
nisse nun  wird,  wie  wir  früher  sahen,  durch  das  Product 
aus  den  Wahrscheinlichkeiten  der  einzelnen  gemessen.  Sind 
wir  also,  um  gegebene  Messungen  mit  einer  anderweitigen 
Bedingung  in  Einklang  zu  bringen,  zu  der  Annahme  einer 
Anzahl  von  Fehlern  in  diesen  Messungen  einmal  genöthigt, 
können  wir  aber  durch  verschiedene  Combinationen  anzu- 
nehmender Fehler  diese  Forderung  befriedigen,  so  ist  die 
Annahme  derjenigen  Fehlercombination  die  wahrschein- 
lichste, für  welche  das  Product  aus  den  Einzelwahrschein- 
lichkeiten der  Fehler  den  größten  Werth  erhält.  Nun 
besteht  dies  Product  aus  lauter  Factoren  von  der  Form 
r  y  1  —  x2,  und  es  erhält  sichtlich  diesen  größten  Werth 
dann,  wenn  alle  einzelnen  Factoren  zugleich  die  größten 
mit  den  Bedingungen  der  Aufgabe  verträglichen  Werthe 
annehmen ;  dies  aber  geschieht  dann,  wenn  in  allen  Factoren 
zugleich  die  subtractiven  Bestandtheile,  wenn  also  die 
Summe  a^  -[-  ß2  -[-  ^2  ein  Kleinstes  wird.  Dieser  Minimal- 
werth  selbst  setzt,  wie  man  leicht  findet,  voraus,  daß  die 
Summe  der  Fehler  a-fß -f-T' ' '==0  werde;  ein  Fall,  der 
nur  eintreten  kann,  wenn  diese  ersten  Potenzen  der  Fehler 
verschiedene  Zeichen  haben,  und  der  allemal  eintritt,  wenn 
das  arithmetische  Mittel  aus  den  Beobachtungen,  zu  denen 
sie  gehören,  für  den  wahren  Werth  r  der  zu  messenden 
Größe  genommen  wird.  Die  Bestimmung  des  r  vermittelst 
der  Summe  der  Fehlerquadrate  schließt  daher  diesen  selbst- 
verständlichen für  die  einfachsten  Fälle  genügenden  Grund- 
satz ein;  unter  den  verschiedenen  arithmetischen  Mitteln 
aber,  die  man  aus  m  Beobachtungen  dann  erhält,  wenn 
man  jeder  derselben  diesen  oder  jenen  Fehler  zutraut  und 
sie  demgemäß  bald  so  bald  anders  corrigirt,  sucht  sie 
dasjenige  Mittel  zu  bestimmen,  welches  der  Wahrheit  am 
nächsten  kommt,  weil  es  auf  der  wahrscheinlichsten  Com- 


458  Neuntes  Kapitel. 

bination  jener  Correcturen  beruht.  Bis  hierher  reicht  unsere 
annähernde  Betrachtung  aus,  um  im  Allgemeinen  die  Be 
deutung  dieser  Methode  der  kleinsten  Quadrate  und 
die  Entstehung  ihres  Namens  zu  verdeutlichen;  sie  würde 
nicht  ausreichen,  um  eine  Anzahl  feinerer  Festsetzungen 
zu  begründen,  über  welche,  sowie  über  die  Einleitung  der 
Rechnung,  auf  die  clässische  Darstellung  von  Gauß  und  die 
hieran  sich  reihenden  Lehrbücher  zu  verweisen  ist.  Man 
wird  nicht  vergessen  dürfen,  daß  die  Begründung  dieser 
Methode  niemals  ohne  irgend  welche,  zwar  sehr  probablen, 
aber  doch  nicht  streng  beweisbaren  Voraussetzungen  mög- 
lich ist;  ihre  vollauf  ausreichende  Bestätigung  hat  sie  durch 
die  Ergebnisse  erhalten,  zu  denen  sie,  zunächst  in  astrono- 
mischen Untersuchungen,  geführt  hat. 


Zehntes  Kapitel. 

Von  Wahlen  und  Abstimmungen. 

289.  Auch  Wahlen  und  Abstimmungen  sind  Formen 
der  Auffindung  von  Urtheilen,  solchen  nämlich,  deren  Gültig- 
keit wir  nicht  blos  anerkennen,  sondern  durch  unsern  Be- 
schluß schaffen  wollen.  In  verschiedener  Weise  hat  sich 
das  logische  Rechnen  auch  um  sie  bemüht ;  man  hat  ge- 
fragt, welche  Hoffnung,  bei  verschiedenen  Einrichtungen, 
für  die  Gerechtigkeit  eines  Richterspruchs,  für  die  Sach- 
gemäßheit einer  Entscheidung,  für  die  Klugheit  einer  Wahl 
vorhanden  sei;  diese  Fragen,  die  niemals  ohne  besondere 
willkürliche  Voraussetzungen  psychologischer  Natur  beant- 
wortbar sind,  schließe  ich  hier  aus  und  beschäftige  mich 
nur  mit  der  Untersuchung,  auf  welche  Weise  dem  for- 
mellen Zwecke  aller  Abstimmungen  genügt  werden  kann, 
dem  nämlich,  einen  Beschluß  zu  erzielen,  welcher  so  voll- 
ständig als  möglich  den  Gesammtwillen  der  Abstimmenden 
ausdrückt,  gleichviel  von  wie  viel  Einsicht  die  Einzelwillen 
regiert  wurden,  die  ihn  zusammensetzen  halfen.  Im  Leben 
entsteht  ein  solcher  Gesammtwille  in  Gestalt  der  öffent- 
lichen Meinung  so,  daß  auch  der  Inhalt,  auf  den  er  sich 
bejahend  oder  verneinend  bezieht,  nach  und  nach  durch 
die  unzähligen  Wechselwirkungen  aller  derjenigen  bestimmt 
wird,  die  überhaupt  Neigungen  und  Abneigungen  zu  äußern 
fähig  sind;  die  logische  Betrachtung  setzt  voraus,  daß  dieser 
Inhalt  in  Gestalt  eines  bestimmten  Vorschlags  V  oder  einer 
Reihe  von  Vorschlägen  V  W  Z  bereits  vollständig  formulirt 
gegeben  sei  und  daß  der  Ausdruck  des  Willens  nur  durch 
Bejahung  oder  Verneinung  dieser  Vorlage  stattfinde;  daß 
endlich  immer  eine  nach  irgend  welchen  Motiven  bestimmte 
und  geschlossene  Anzahl  S  gleichberechtigter  Stimmen  vor- 
handen sei,  denen  es  ausschließlich  zukommt,  den  Ge- 
sammtwillen festzustellen. 


460  Zehntes  Kapitel. 

290.  Ist   nun,  im   einfachsten  Falle,   ein   einziger  Vor- 
schlag V  gegeben  und  soll  ein  Beschluß  unbedingt  zu  Stande 
kommen,  so  ist  die  absolute  Majorität  der  einzig  mög- 
liche   Entscheidungsgrund;   sie    allein    muß,    für    Bejahung 
oder  Verneinung  des  V,  immer  zu  Stande  kommen,  sobald 
für  den  einen  Fall  der  Stimmengleichheit  durch  irgend  eine 
feste  Uebereinkunft  für  ein  votum  decisivum  oder  für  den 
Vorzug  entweder  der  Verneinung  oder  der  Bejahung  gesorgt 
ist.    Aber  nur  mit  großer  Einschränkung  kann  die  absolute 
Majorität   für   den    wahren    Ausdruck    dessen    gelten,   was 
man    mit   Recht    den   Gesammtwillen   der   Abstimmenden 
nennen  würde.    Denn  die  Einzelstimmen  selbst  sind  nicht 
der   erschöpfende   Ausdruck   der  Einzelwillen;   da   sie   auf 
Abgabe  eines  Ja  oder  Nein  beschränkt  sind,  so  haben  sie 
kein   Mittel,   entschiedenes    Wollen   oder  Nichtwollen    von 
bloßem  Zulassen  oder  Nichtwiderstreben  zu  unterscheiden. 
Gegen  diese  bleibende  Unzuverlässigkeit  aller  Abstimmungen 
gibt  es  keine  andere  Abwehr  außer  der,  welche  in  einer 
vorangehenden  Discussion  liegt.     In  dieser  können  sich 
die  verschiedenen  Grade  der  Intensität  des  Bejahens  oder 
Verneinens  einen  angemessenen  Ausdruck  geben,  und  die 
persönliche  Autorität  kann  sich  gelten  machen,  die  in  dem 
Formalismus   der  Abstimmung,    welche   die   Stimmen   nur 
zählen  und  nicht  wägen  kann,  wirkungslos  werden  muß; 
dem  Billigkeitsgefühle  Aller  bleibt  freilich  überlassen,  dann 
in  der  Abgabe  ihrer  Stimmen  auf  diese  nun  doch  wenigstens 
nicht  mehr  unbekannte  Vertheilung  der  Neigungen  und  Ab- 
neigungen Rücksicht  zu  nehmen.  Andere  conventionelle  Be- 
stimmungen, wie  die  Forderung  einer  Zweidrittelmajorität, 
mindern  diese  Uebelstände,  ohne  sie  zu  beseitigen;  nur  die 
Einstimmigkeit  würde  unzweideutig   sein,  aber  man  kann 
weder  sie  noch   jene  zwei  Drittel   fordern,   ohne  das   Zu^ 
Standekommen  eines  Beschlusses  fraglich  zu  machen;  beide 
Vorschriften  sind  daher  nur  da  geeignet,  wo  es  anderweitige 
wichtige  Beweggründe  gibt,  conservative  Neigungen  für  den 
bestehenden  Zustand,  den  man  kennt,  gegen  den  Trieb  nach 
Neuerungen    zu    bevorzugen,     deren    Ausfall    man    nicht 
kennt. 

291.  Einen  allgemein  logischen  Grund  kann  es  nicht 
geben,  von  der  gleichen  Berechtigung  aller  einmal  con- 
currirenden  Stimmen  abzugehen ;  im  Leben  dagegen  sind 
billige  und  unbillige  Gründe  stets  wirksam  gewesen,  das 
Gewicht  der  Stimmen  verschieden  zu  machen  und  sei  es 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  461 

der  größeren  Einsicht,  sei  es  dem  wichtigeren  oder  be- 
drohteren Interesse,  endlich  historisch  entstandenen  An- 
sprüchen auf  größere  Geltung  die  Oberhand  zu  verschaffen. 
Es  geschieht  theils,  indem  man  einfach  die  eine  Stimme 
des  Bevorzugten  einer  Mehrheit  von  Stimmen  gleich  rechnet, 
theils  indem  man  die  Gesammtheit  der  Abstimmenden  in 
mehrere  Gruppen  zu  gesonderten  Abstimmungen  zerfällt 
und  die  Majorität  der  hier  entstehenden  Majoritäten  der 
einfachen  absoluten  Majorität  der  Gesammtheit  substituirt, 
theils  endlich  geht  man  zu  mittelbarer  Abstimmung  über, 
bei  der  jede  der  Gruppen  ihr  Recht  einem  Bevollmächtigten 
überträgt  und  der  Majorität  dieser  Wahlmänner  die  Ent- 
scheidung überläßt.  Der  erste  Fall  erfordert  keine  be- 
sondere Betrachtung;  der  letzte  fällt  aus  aller  logischen 
Behandlung  dann  heraus,  wenn  der  beauftragte  Wahlmann 
nicht  die  bereits  getroffene  Entscheidung  seiner  Wähler 
zu  vertreten,  sondern  unabhängig  selbst  zu  stimmen  hat; 
denn  die  Sicherheit,  mit  welcher  der  Erfolg  zuletzt  dem  Ge- 
sammtwillen  entspricht,  hängt  von  der  zweifelhaften  Zu- 
verlässigkeit ab,  mit  der  die  Wähler  die  Uebereinstimmung 
der  Gesinnung  ihrer  Bevollmächtigten  mit  der  eigenen  zu 
beurtheilen  verstanden.  Der  zweite  Fall  dagegen,  die  Ein- 
theilung  in  Gruppen  zu  gesonderten  Abstimmungen,  hat 
folgende  bestimmbare  Eigenthümlichkeiten. 

1.  Setzt  man  die  Gesammtzahl  S  der  Stimmen  =  2m  •  2n, 
und  läßt  einen  dieser  Factoren  die  Zahl  der  gemachten 
Gruppen,  den  andern  die  Anzahl  der  Stimmen  in  jeder 
von  diesen  bedeuten,  so  ist  (m  4-  1)  (n  -f  1)  die  absolute 
Majorität  der  einzelnen  absoluten  Majoritäten,  die  in  diesen 
Gruppen  entstehen,  und  dieser  Werth  bleibt  derselbe,  wenn 
wir  den  einen  dieser  geraden  Factoren  oder  beide  durch 
die  nächsthöheren  ungeraden  2m  -j-  1  und  2n  -(- 1  ersetzen. 
Es  möge  dagegen  M  die  einfache  absolute  Majorität  der  zu 
gemeinsamer  Abstimmung  vereinigten  Gesammtzahl  S  sein, 
Alan  überzeugt  sich  nun  leicht,  daß  (m  +  1)  (n  +  1)  <  M  für 
alle  ungeraden  S  >  7  und  für  alle  geraden  S  >  12,  mithin 
in  allen  Fällen,  welche  bei  Abstimmungen  in  Betracht 
kommen.  Immer  ist  man  daher  im  Stande,  durch  passende 
Eintheilung  von  S  in  Gruppen  eine  Entscheidung  durch 
die  Minorität  der  Gesammtstimmenzahl  herbeizuführen, 
und  man  kann  fragen,  welche  Zerfällungen  die  vortheil- 
haftesten  sind,  um  diese  entscheidende  Minorität  so  klein 
als  möglich  zu  machen.     Die  genaue  Beantwortung  dieser 


462  Zehntes  Kapitel. 

Frage  würde  viel  weitläufiger  sein  als  die  Sache  verdient; 
denn  in  der  Anwendung  werden  wir  uns  immer  mit  einer 
Annäherung  begnügen,  da  ja  unsere  genaue  Vorberechnung 
durch  jeden  kleinen  Zufall  fruchtlos  gemacht  würde,  der 
die  Abgabe  einer  mitveranschlagten  Stimme  verhinderte. 
Ich  begnüge  mich  daher  mit  Folgendem. 

2.  Denkt  man  sich  S  als  Product  zweier  geraden  oder 
zweier  ungeraden  Factoren,  also  entweder  =z  2m  •  2n  oder 
;=  (2m  -j-  1)  (2n  + 1),  ersetzt,  in  der  Formel  für  die  ent- 
scheidende Minorität,  m  durch  einen  Ausdruck  in  n  und  S, 
und  differenzirt  nach  n,  so  erhält  man  als  Bedingung  eines 
Minimum :  2n  oder  2n  -j-  1  =  V  "^^  wodurch  auch  der  andere 
Factor  =  ^S,  also  m  =  n  wird.  Nimmt  man  S  als  Product 
eines  geraden  und  eines  ungeraden  Factors,  =  2m  (2n  -|-  1), 
so  erhält  man  auf  gleichem  Wege  als  Bedingung  eines 
Minimum  die,  daß  der  gerade  Factor  =/2S  sei,  wodurch 
der  ungerade  =2^^/^^  wird.  Nach  der  Art  ihrer  Ableitung 
können  beide  Formeln  hier,  wo  sowohl  die  Zahl  der  Gruppen 
als  die  der  Stimmen  in  ihnen  nicht  stetig,  sondern  nur  um 
ganze  Einheiten  wachsen  dürfen,  eine  genaue  Geltung  nicht 
haben ;  sie  werden  namentlich  für  kleine  Zahlen,  für  welche 
die  Einheit  ein  beträchtlicher  Bruchtheil  ihres  Werthes 
ist,  nur  unregelmäßig  zutreffen;  endlich  wird  der  Vor- 
theil,  den  die  ungeraden  Zahlen  vor  den  geraden  haben, 
indem  die  entscheidende  Minorität  für  (2m-|- 1)  (2n-|- 1) 
nicht  größer  ist  als  die  für  2m  •2n,  ebenfalls  den  Einfluß 
dieser  Regeln  beeinträchtigen.  Für  große  Werthe  des  S 
jedoch,  für  welche  die  Einheit,  die  Differenz  zwischen 
gerade  und  ungerade,  ein  immer  kleinerer  Theil  ihres  Be- 
trages wird,  geben  beide  Formeln  in  der  That  die  beiden 
kleinsten  Werthe  der  gesuchten  Minoritäten;  man  erhält 
diese,  wenn  man  S  in  zwei  Factoren  theilt,  die  entweder 
einander  und  der  Quadratwurzel  von  S  so  nahe  als  mög- 
lich gleich  sind,  oder  deren  einer  so  genau  als  möglich 
das  Doppelte  des  andern  ist.  So  gibt  225,  als  15  •  15  und 
als  9  •  25  gedacht,  die  beiden  kleinsten  Minoritäten  64  und 
65,  als  5-45  und  3-75  die  größeren  69  und  76;  so  die 
Zahl  11025  als  105  •  105  und  als  147  •  75  die  kleinsten  2809 
und  2812,  als  175  •  63  dagegen  und  als  9  •  1285  die  größeren 
2992  und  3215;  endlich  20000  läßt  die  vortheilhaftesten  Zer- 
fällungen  in  200  •  100  und  in  125  •  160  zu  mit  den  Minoritäten 
5151  und  5103.     Bei  kleinen  Zahlen  kreuzen  sich  die  Ein- 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  463 

flüsse  der  verschiedenen  Bedingungen  sehr  sichtbar;  36 
gibt  als  6-6  die  Minorität  16,  aber  schon  4  •  9  gibt  wegen 
der  günstigen  Wirkung  des  ungeraden  Factors  die  kleinere 
15,  die  vortheilhafteste  Zerfällung  ist  3  •  12  mit  der  Minori- 
tät 14,  hier  findet  sich,  daß  der  gerade  Factor  12  von  der 
Quadratwurzel  von  2  S  =  72,  welche  größer  als  8  ist,  weniger 
abweicht  als  der  gerade  Factor  4  in  der  Zerfällung  4  •  9. 
Für  81  dagegen,  als  Quadrat  eines  ungeraden  Factors,  gibt 
es  keine  günstigere  Eintheilung  als  in  9  •  9  mit  der  Minori- 
tät 25,  die  andere  in  3-27  liegt  von  beiden  Bedingungen 
zu  weit  ab ;  für  144  erhält  man  aus  12-12  das  eine 
Minimum  49,  aus  9  •  16  das  andere  45. 

3.  In  dem  einen  günstigsten  Falle  gleicher  Factoren 
wird  die  entscheidende  Minorität,  in  S  ausgedrückt, 
=  (1  4- V2  \/^)^i  ^^  ^^^  zweiten,  welcher  den  einen  Factor 
doppelt  so  groß  als  den  andern  gibt,  wird  sie  =:  (1  -}-  1/2  V^) 
(1  -|-  V2  V  ^/2  S).  Beide  Ausdrücke  nähern  sich,  der  zweite 
langsamer,  dem  Werthe  V4S  ^"^  so  mehr,  je  größer  S 
wird,  bleiben  jedoch  immer  größer  als  dieser  Bruch,  so 
lange  S  nicht  unendlich  wird.  Die  entscheidende  Minori- 
tät hat  mithin  eine  untere  Grenze,  und  sie  kann  selbst 
durch  die  vortheilhafteste  Zerfällung  niemals  bis  auf  den 
vierten  Theil  der  Gesammtstimmenzahl  herabgedrückt 
werden. 

4.  Es  kann  endlich  S  eine  Primzahl  sein,  die  über- 
haupt nur  eintheilbar  zu  »machen  ist,  wenn  sie  um  wenigstens 
eine  Einheit  vermehrt  oder  vermindert  wird,  d.  h.  hier, 
wenn  mam  eine  der  zu  machenden  Gruppen  eine  Stimme 
mehr  oder  weniger  haben  läßt,  als  die  anderen.  Diese 
unvermeidlich  gemachte  Willkür  kann  man  nach  Gutdünken 
benutzen;  man  hat  unzweifelhaft  gleichviel  Recht,  67  als 
66  -f- 1  oder  als  68  —  1  zu  fassen,  und  im  ersten  Fall 
5  Klassen  zu  11  und  eine  zu  12  Stimmen,  im  andern 
3  Klassen  zu  17  und  eine  zu  16  Stimmen  zu  bilden;  ver- 
langt man  der  Billigkeit  wegen,  daß  unter  den  Majoritäten, 
welche  die  entscheidende  Minorität  zusammensetzen,  sich 
die  der  zahlreicheren  Klassen  immer  befinden  müssen,  so 
erhält  man  im  ersten  Falle  3  •  6  -f-  1  •  7  =  25,  im  zweiten 
3-9  =  27.  Ist  dieser  Weg  einmal  geöffnet,  so  betritt  man 
ihn  auch,  wo  es  nicht  nöthig  ist,  und  dann  wird  die  Un- 
gleichheit der  Gruppen,  so  lange  sie  innerhalb  billiger 
Grenzen  bleibt,  leicht  ertragen ;  sie  mindert  die  entscheiden- 
den Minoritäten  noch  beträchtlich  herab.  So  erhält  man 
für  64  =  6  -  9  -f- 1  •  10,  auch  wenn  die  Majorität  der  stärkeren 


464  Zehntes  Kapitel. 

Klasse  stets  gefordert  wird,  die  Minorität  3  •  5  -f  1  •  6  =  21, 
während  aus  8  •  8  nur  die  größere  25  floß.  Man  weiß,  daß 
seit  Servius  Tullius  dies  Hülfsmittel,  in  sehr  unbilligen 
Grenzen,  die  nur  politisch  aber  nicht  logisch  zu  recht- 
fertigen sind,  in  reichlicher  Uebung  gewesen  ist. 

291.  Soll  zwischen  verschiedenen  Vorschlägen  V  W  Z 
eine  Wahl  getroffen  werden,  so  gehen  die  Forderungen, 
welche  die  Logik  an  sich  zu  stellen  hätte,  nicht  mehr  mit 
den  Gewohnheiten  zusammen,  welche  die  Praxis  zu  be- 
folgen pflegt.  Wenn  eine  Mehrheit  sich  zu  einem  collectiven 
Beschlüsse  vereinigen  will,  der  die  größte  Gesammt- 
befriedigung  erzeugen  soll,  so  dürfte  sie  dies  Ergebniß 
nicht  als  eine  unvermeidliche  Folge  aus  der  Summiruug 
von  Willenserklärungen  hervorgehen  lassen,  deren  keine 
auf  die  anderen  Rücksicht  nimmt;  dem  vernünftigen  Willen 
muß  daran  liegen,  daß  er  seine  eigene  Entscheidung  nur 
mit  Kenntniß  und  Beachtung  der  entgegengesetzten  Neigun- 
gen oder  Abneigungen  der  Mißstimmenden  gebe,  um  so 
mehr,  weil  die  Nothwendigkeit,  sich  endlich  durch  ein 
nacktes  Ja  oder  Nein  zu  äußern,  ihm  kein  Mittel  läßt, 
die  verschiedenen  Grade  der  Lebhaftigkeit  seines  Wollens 
zum  Ausdruck  zu  bringen  und  so  diesem  nur  das  gerechte 
Maß  seiner  Wirksamkeit,  weder  mehr  noch  weniger,  zu 
sichern.  Ganz  kann  die  vorangehende  Discussion,  auf  die 
ich  früher  verwies,  diese  Forderung  nicht  befriedigen ;  denn 
wenn  Jeder  sich  vollständig  äußern  wollte,  so  ginge  sie 
selbst  in  eine  Abstimmung  über,  nur  ohne  die  scharfe 
Form,  welche  die  Ermittelung  des  Endergebnisses  leicht 
machte  und  sicher  stellte.  Man  müßte  daher  versuchen, 
das,  was  sie  leisten  will,  so  annähernd  als  möglich  durch 
die  Art  der  Abstimmung  selbst  zu  ersetzen.  Denken  wir 
uns  nun  V  W  Z  als  drei  Personen,  deren  eine  gewählt 
werden  soll,  so  könnten  wir  folgenden  Weg  vorschlagen. 
Eine  erste  Abstimmung,  über  alle  drei  Candidaten  zugleich 
erstreckt,  würde  zeigen,  welches  Maß  der  Billigung  jeder 
von  ihnen  im  Vergleich  mit  den  andern  erfährt.  Erwürbe 
keiner  die  absolute  Mehrheit  der  Stimmen,  so  würde  die 
relative  Mehrheit  nur  bei  Wahlen  von  sehr  geringer  Ver- 
antwortlichkeit entscheiden  können;  man  bemerkt  ihr  Ge- 
wicht im  täglichen  Leben :  der  verhältnißmäßig  am  meisten 
Genannte  lenkt  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  und  erwirbt 
häufig  die  übrigen  Stimmen  hinzu;  aber  ebenso  oft  regt 
er  nun  erst  den  Widerspruch  auf  und  nöthigt  die  Wider- 
.strebenden   zur  Einigung   über  einen   Oogenbeworbcr.    Mau 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  465 

verlangt  daher  ziemlich  allgemein  die  absolute  Mehrheit; 
sie  allein  bietet  die  Bürgschaft,  daß  die  Summe  der  Ver- 
neinungen kleiner  sein  muß  als  die  der  Bejahungen,  daß 
also  der  Wille  der  Mehrheit  getroffen  sei,  die  ultima  ratio, 
die  zuletzt  immer  entscheiden  muß,  wenn  die  Meinungen 
unvereinbar  bleiben  und  ein  Gesammtbeschluß  doch  nicht 
unterlassen  werden  kann.  Aber  wenn  nun  für  einen  der 
Candidaten,  für  V  vielleicht,  die  absolute  Mehrheit  erreicht 
ist,  so  ist  es  doch  nicht  nöthig  und  nicht  an  sich  richtig, 
hierin  schon  die  Entscheidung  zu  sehen;  denn  dieser  erste 
Wahlgang  ließ  nur  die  Anzahl  der  Stimmen  erkennen,  die 
jeden  der  Candidaten  den  andern  vorzogen  oder  nach- 
setzten ;  er  läßt  jedoch  das  Maß  dieses  Vorzugs  unbestimmt, 
und  unbestimmt,  wie  jede  der  Stimmen  sich  zu  demjenigen 
Candidaten  verhält,  den  sie  nicht  genannt  hat.  Um  dies 
an  den  Tag  zu  bringen,  würde  eine  zweite  dreitheilige  Ab- 
stimmung nothwendig,  welche  sich  mit  Ja  und  Nein  über 
jeden  der  Candidaten  einzeln  erstreckte  und  jedem  Wähler 
die  Möglichkeit  gäbe,  seine  Verneinung  des  einen,  die  er 
vorher  nur  mittelbar  durch  Bevorzugung  eines  andern  aus- 
drücken konnte,  unmittelbar  auszusprechen.  Nehmen  wir 
an,  in  der  ersten  Abstimmung  seien  von  20  Stimmen 
11  auf  V,  5  auf  W,  4  auf  Z  gefallen,  so  wird,  unbegreifliche 
Inconsequenz  der  Wähler  ausgeschlossen,  auch  in  dem 
zweiten  Verfahren  jeder  Candidat  die  Stimmen  behalten, 
die  ihn  schon  im  ersten  den  beiden  übrigen  vorzogen; 
aber  die  übrigen  Stimmen  können  sich  sehr  verschieden 
vertheilen.  Es  ist  möglich,  daß  V  jetzt  der  entschiedenen 
Opposition  von  9  Stimmen  begegnet,  während  Z,  der  nur 
von  4  Stimmen  vorgezogen  worden  war,  gar  keinen  Wider- 
spruch findet  und  noch  16  Stimmen  hinzugewinnt,  W  von 
den  ihm  fehlenden  15  noch  10.  Um  nun  hieraus  ein  End- 
ergebniß  zu  ziehen,  müßte  man  bedenken,  daß  die  in 
diesen  verschiedenen  Wahlhandlungen  erlangten  Stimmen 
nicht  von  gleichem  Werthe  sind.  Die  des  ersten  Ver- 
fahrens drückten  aus,  wie  Vielen  der  von  ihnen  bejahte 
Candidat  als  der  Beste  erschien,  und  obgleich  diese 
Billigung  noch  sehr  verschiedene  Grade  gehabt  haben  kann, 
so  darf  man  doch  diese  vorziehenden  Stimmen  als 
unter  einander  gleichartig  ansehen  und  ihnen  allen  dasselbe 
Gewicht  m  beilegen.  Denn  einfach  zu  sagen,  daß  man 
einen  Candidaten  wolle,  ist  das  Höchste,  was  man  über 
ihn,  in  Bezug  auf  diese  Wahlhandlung,  sagen  kann;  es 
ist    gleichgültig,    ob    man   ihn    außerdem   noch   mehr   oder 

Lotze,  Logik.  30 


466  Zehntes  Kapitel. 

weniger  verehrt,  denn  jede  Wahl  kann  nur  auf  das  unter 
den  gegebenen  Bedingungen  Beste,  nicht  auf  das  unbedingt 
Beste   gerichtet  sein;   wer  also  unter  diesen  Bedingungen 

V  oder  W  will,  will  ihn  durchaus.  Man  kann  Gleiches 
über  die  verneinenden  Stimmen  des  zweiten  Wahlver- 
fahrens annehmen;  wer  die  Gelegenheit  hat,  sich  unmittel- 
bar durch  Ja  oder  Nein  über  V  oder  W  auszusprechen, 
und  beide  verneint,  verneint  beide  schlechthin  und  hat, 
wenn  diese  Verneinung  durchgeht,  seinen  Willen  in  Bezug 
auf  diese  Wahl  vollständig  durchgesetzt;  wie  tief  er  sonst 

V  oder  W  haßt  oder  verachtet,  ist  für  dieses  Geschäft 
gleichgültig:  man  kann  daher  auch  alle  verneinenden 
Stimmen  als  gleichartig  betrachten  und  ihnen  dasselbe 
Gewicht  q  einräumen.  Aber  die  bejahenden  Stimmen,  die 
erst  im  zweiten  Wahlverfahren  erlangt  werden,  sind  offen- 
bar geringwerthiger  als  die  schon  im  ersten  erhaltenen; 
sie  sind  nur  zulassende  Stimmen,  während  jene  die 
vorziehenden  waren,  und  dieser  Unterschied,  eine  Mittel- 
stufe zwischen  Bejahung  und  Verneinung  bedeutend,  ist 
allerdings  von  Wichtigkeit  in  Beziehung  auf  dies  Wahl- 
geschäft. Welches  Gewicht  jedoch  seiner  zulassenden 
Stimme  im  Vergleich  mit  einer  vorziehenden  zukomme, 
würde  nicht  einmal  derjenige  genau  zu  sagen  wissen,  der 
sie  abgibt;  auch  würde  seine  Zulassung  nicht  für  jeden 
der  Candidaten,  dem  er  sie  schenkt,  eine  gleiche  Billigung 
bedeuten,  sondern  für  W  vielleicht  eine  größere  als  für  Z. 
Es  ist  daher  schon  ein  großer  Abbruch  an  Genauigkeit, 
aber  doch  der  einzige  Versuch,  den  Unterschied  der  zu- 
lassenden Stimmen  von  den  vorziehenden  überhaupt  an- 
nähernd zu  beachten,  wenn  wir  auch  allen  Stimmen  dieser 
Klasse  einen  gemeinsamen  Werth  p  zuschreiben,  der  ein 
echter  Bruch  von  m  sein  wird,  und  dessen  Betrag  sich 
nur  conventioneil  festsetzen  läßt.  Unter  solchen  Voraus- 
setzungen würden  im  obigen  Beispiel  die  Stimmen  sich 
berechnen,  für  V  auf  lim  —  9  q,  für  W  auf  5  m  -j-  10  p  —  5  q, 
für  Z  auf  4  m  -|- 16  p,  und  endlich,  wenn  man  willkürlich 
m=r:q,  das  Gewicht  also  der  vorziehenden  Stimmen  gleich 
dem  der  verneinenden,  und  p  =  m/2,  also  das  der  zu- 
lassenden halb  so  groß  als  das  der  vorziehenden  setzte, 
würden  für  V  nur  2,  für  W  dagegen  5,  für  Z  endlicih 
12  Stimmen  herauskommen,  sehr  im  Gegensatz  zu  dem 
Ergebniß  des  ersten  Wahlgangs.  Verschiedenes  vereinigt 
sich  nun,  um  in  der  Anwendung  diese  logischen  Forderungen 
unerfüllbar    zu    machen.     Zuerst   will    man,    aus    Gründen 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  467 

gesellschaftlicher     Schicklichkeit,     überhaupt     die    Abgabe 
verneinender    Stimmen    über    Personen    vermeiden;    dann, 
wenn  man  sie  auch  zuließe,  würde  sehr  zu  bezweifeln  sein, 
daß  die  zweite  Abstimmung,  auch  wenn  man  sie  der  ersten 
voranstellte,    mit   der   nöthigen   Unhefangenheit  geschehen 
würde;   jene,   welche   dem   V   ihre  vorziehenden  Stimmen 
zu   geben   entschlossen   sind,   würden   sich   wahrscheinlich 
selbst  nicht  zugestehen,   daß  sie  auch  mit  W  oder  Z  zu- 
frieden sein  könnten,  und  ihre  11  Stimmen  würden  auch 
in   der   anderen   Abstimmung   als   ebensoviele  verneinende 
sowohl   gegen  W  als  gegen  Z  erscheinen.    Endlich  würde 
in  jedem  Einzelfalle  die  Vorfrage  zu  lösen  sein,  was  denn 
eigentlich    nach    der    Natur    der    vorliegenden    Sache   vor- 
zuziehen  sei,  ob   die  vorzüglichste  Befriedigung  der  Mehr- 
heit   oder    die    durchschnittlich    größte    Befriedigung    aller, 
und  hiernach  würde  sich  erst  das  Verhältniß  der  Gewichte 
der   bejahenden   Stimmen   zu  den  verneinenden  festsetzen 
lassen,   das   nicht  nothwendig  das   der  Gleichheit  zu   sein 
braucht;    im    Gegentheil    kann    es    Fälle    geben,    wo    eine 
Verneinung    billigerweise     mehr    als    einer    Bejahung    das 
Gleichgewicht    hält     und    die    Entscheidung    nicht   sowohl 
durch  die  größte  Zahl  der  bejahenden  als  vielmehr  durch 
die    geringste    Zahl    der   verneinenden    Stimmen    gebracht 
werden    müßte.     Es    ist   offenbar   ein   Unterschied,    ob    es 
sich    um    den    Beschluß    einer   verantwortungsvollen   Maß- 
regel, um  die  Wahl  etwa  zu  einem  politisch  bedeutenden 
Amte,   oder  ob   es  sich  um  die  Einrichtung   gemeinsamer 
Vergnügungen,  um  die  Wahl  des  Vorstandes  einer  geselligen 
Vereinigung  handelt;  es   ist  im  letztem  Falle  widersinnig, 
unter   20   Mitgliedern   9  Unzufriedene   zu   machen,   um   11 
anderen   ihren  vollen   Willen   zu  thun;  im  ersten   dagegen 
kann    es   Sinn    haben,    die   Majorität   entschiedener  Willen 
voll  zu  befriedigen,  anstatt  eine  Wahl  zu  treffen,  die  nur 
eine   laue   Billigung    aller   fände.    Aber  freilich  gerade   im 
zweiten     Falle,     wo     die    obenbesprochene    Methode    das 
wünschenswertheste   Ergebniß  liefern   würde,   ist  ihre  An- 
wendung   wegen    der    unzulässigen    Abgabe     verneinender 
Stimmen    mißlich;    im    ersten,    wo    ihr    Ergebniß    weniger 
wünschenswerth  sein  könnte,  wäre  ihre  Anwendung  minder 
schwierig,    denn    hier    würden    die    Verneinungen,    da   sie 
nicht  durchaus  der  Person,  sondern  auch  den  von  ihr  ver- 
tretenen Ansichten  gelten  können,  minder  beleidigend  sein. 
293.  In    anderer   Weise,    durch   eine   Art   von  Elimi- 
nation s  verfahren     kann     unsern     Wünschen    dann    ent- 

30* 


468  Zehntes  Kapitel. 

Sprüchen  werden,  wenn  aus  einer  sehr  großen  Anzahl  von 
Candidaten  zu  wählen  ist,  wenn  z.  B.  ein  Wahlkörper  aus 
der  Zahl  seiner  eignen  Mitglieder  Einen  zu  ernennen  hat. 
Man  pflegt  dann  in  einem  ersten  Wahlgang  etwa  drei  zu 
bestimmen,  auf  welche  die  durch  keinerlei  Nebenrücksichten 
bedingte  Aufmerksamkeit  der  Wählenden  zuerst  verfällt, 
und  die  daher  jedem  der  Stimmenden  jetzt  als  die  wün- 
schenswerthesten  erscheinen.  Man  kann  hierbei  an  die 
Reihenfolge,  in  welcher  jeder  Wähler  seine  drei  Candidaten 
nennt  oder  schriftlich  angibt,  Unterschiede  knüpfen  und 
den  primo  loco  Bezeichneten  den  anderen  vorziehen;  ich 
nehme  jedoch  zur  Vereinfachung  an,  daß  die  Ordnung  der 
Nennungen  völlig  gleichgültig  sei.  Es  ist  dann  ein  denkbarer, 
obgleich  sehr  unwahrscheinlicher  Fall,  daß  dieselben  drei 
Candidaten  V  W  Z  alle  Stimmen  erhalten;  wenn  dies 
sich  zuträgt,  kann  eine  endliche  Entscheidung  gar  nicht 
mehr  durch  das  Wahlverfahren  erfolgen ;  denn  eine  Ma- 
jorität könnte  für  einen  der  drei  in  einer  neuen  Abstimmung 
nur  dann  zu  Stande  kommen,  wenn  nun  einige  der  Stimmen, 
ohne  daß  doch  in  der  Sachlage  ein  Grund  dazu  vorhanden 
wäre,  ihre  vorige  Entscheidung  widerriefen.  In  diesem 
und  allen  ähnlichen  Fällen  bleibt  nur  das  Loos  oder  die 
Entscheidung  durch  einen  unbetheiligten  Willen,  z.  B.  den 
einer  höheren  Behörde  möglich.  Hat  dagegen  V  allein  die 
Stimmen  gewonnen,  so  ist  seine  Wahl  zweifellos  ent- 
schieden, gleichviel  wie  groß  die  Stimmenzahl  ist,  welche  W 
und  Z  erlangten;  denn  es  gibt  dann  keine  verborgenen 
verneinenden  Stimmen,  denen  blos  die  Gelegenheit  zur 
Aeußerung  gefehlt  hätte.  Es  kann  aber  sogleich  deren  geben, 
wenn  V  nur  die  absolute  Majorität,  W  und  Z  bedeutende 
Minoritäten  erlangt,  die  übrigen  Stimmen  sich  zersplittert 
haben.  Im  Hinblick  auf  unsere  früheren  Bemerkungen  halten 
wir  es  nicht  für  durchaus  gerechtfertigt,  hier  die  Wahl 
abzubrechen  und  V  als  gewählt  zu  betrachten;  man  kann 
vielmehr  in  einer  zweiten  Abstimmung  W  und  Z  zusammen- 
stellen, so  daß  aus  diesen  beiden  einer  gewählt  würde, 
wobei  die  Abgabe  verneinender  Stimmen  für  W  durch 
Abgabe  bejahender  für  Z  und  umgekehrt  vermieden  würde. 
Einer  von  beiden  muß  hier  eine  größere  oder  geringere 
absolute  Majorität  erhalten.  Sei  dies  W  gewesen,  so  wird 
eine  dritte  Schlußabstimmung  zwischen  diesem  und  V  end- 
gültig entscheiden.  Dieser  letzte  Stimmgang  würde  natür- 
lich ganz  fruchtlos  sein,  wenn  die  absolute  Majorität,  die 
schon  im  ersten  für  V"  entschied,  sich  unverändert  erhielte; 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  469 

allein  die  Berücksichtigung  des  Ergebnisses  der  zweiten 
Abstimmung  kann  ein  billiges  Motiv  zur  Sinnesänderung 
herbeigeführt  haben.  Hätten  in  dieser  W  und  Z  nahezu 
gleichviel  Stimmen  bekommen,  so  würde  sich  daran  zeigen, 
daß  entweder  die  gegen  V  verneinend  gesinnten  Stimmen 
unter  einander  wenig  einig  sind  oder  daß  wenigstens  keine 
andere  Wahl  eine  gleichmäßigere  Beistimmung  findet,  als 
die  des  V,  und  die  frühere  Majorität  für  V  fände  darin 
einen  Grund,  auf  ihrer  Meinung  zu  beharren;  wären  da- 
gegen alle  Stimmen  auf  W  gefallen,  so  könnte  für  jene 
Majorität  darin  ein  Grund  liegen,  bei  der  Schlußabstimmung 
der  früheren  an  sich  schon  beträchtlichen  Minorität  für  W 
nachträglich  beizutreten,  um  ein  Resultat  herbeizuführen, 
welches  keine  Verneinungen  gegen  sich  hätte.  Noch  vielerlei 
Modificationen  lassen  sich  denken;  ich  verfolge  sie  nicht, 
weil  die  Frage  nicht  wichtig  genug  für  die  drohende  Weit- 
läufigkeit ist;  ob  übrigens  dieses  Eliminirtwerden  eigent- 
lich schmeichelhafter  ist  als  eine  offene  Negation,  bleibt 
mindestens  zweifelhaft.  Wenn  endlich  der  gewählte  V  die 
Wahl  ablehnt,  so  ist  die  Veränderung  der  Sachlage,  unter 
deren  Berücksichtigung  überhaupt  gestimmt  wurde,  so  groß^ 
daß  eine  völlige  Erneuerung  des  Wahlverfahrens  oder  doch 
die  unabhängige  Aufstellung  eines  dritten  Candidaten  Y 
neben  den  früher  genannten  W  und  Z  nothwendig  wird. 
294.  Sind  V  W  Z  nicht  Personen,  sondern  Gesetz- 
vorschläge, so  hat  die  Scheu  vor  der  Abgabe  negativer 
Stimmen  keinen  Grund,  und  man  könnte  logisch  verlangen, 
daß  über  jede  der  vorgeschlagenen  Maßregeln  mit  Ja  und 
Nein  abgestimmt  werde,  ohne  daß  eine  absolute  Majorität, 
welche  die  eine  erlangte,  die  Abstimmung  über  die  übrigen 
ausschlösse.  Die  Entscheidung  würde  dann  entweder  durch 
die  größte  der  entstandenen  Majoritäten  oder  durch  eine 
neue  Schlußabstimmung  gegeben.  Dies  Verfahren  würde 
diejenigen,  welche  für  ihre  Meinung  eine  bedeutende 
Stimmenzahl  vereinigt  haben,  dazu  veranlassen,  diese  auch 
bei  der  Schlußabstimmung  festzuhalten;  aber  die,  welche 
für  die  ihrige  nur  eine  aussichtslose  Minorität  gefunden 
hätten,  würden  Zeit  haben,  sich  bei  der  Schlußabstimmung 
derjenigen  Meinung  anzuschließen,  die  sie  nach  der  ihrigen 
am  nächsten  billigen  und  die  noch  Hoffnung  hätte,  durch 
ihren  Beitritt  die  entscheidende  Majorität  zu  erwerben. 
Derselbe  psychologische  Grund  indessen,  den  ich  früher 
erwähnte,  steht  auch  hier  dieser  Verfahrungsweise  entgegen : 


470  Zehntes  Kapitel. 

wer  den  einen  Vorschlag  V  entschieden  bevorzugt,  wird 
nicht  unbefangen  kundgeben,  daß  ihm  auch  W  oder  Z 
erträglich  sei,  sondern  wird  beide  zu  verneinen  versucht 
sein.  Es  wird  daher,  da  herkömmlich  die  Annahme  des 
einen  Vorschlags  alle  folgenden  von  selbst  beseitigt,  die 
Reihenfolge  wichtig,  in  der  V  W  Z  zur  Abstimmung  gestellt 
werden.  Die  Wünsche,  welche  man  logisch  in  Betreff  dieser 
Anordnung,  der  schwierigen  Aufgabe  parlamentarischen  Ge- 
schickes, hegen  kann,  spreche  ich  mit  Trendelenburg 
(lieber  die  Methode  bei  Abstimmungen,  Berlin  1850)  dahin 
aus:  daß  jede  Meinung  Gelegenheit  finde,  sich  mit  dem 
ihr  zukommenden  Gewichte  gelten  zu  machen;  das,  was 
sie  ablehnen  will,  direct  zu  verneinen,  nicht  indirect  durch 
Annahme  eines  nur  theilweis  gebilligten  Andern;  das,  was 
sie  wünscht,  unmittelbar  und  einzeln  zu  bejahen,  nicht 
durch  Verwerfung  eines  nur  theilweis  mißbilligten  Andern; 
endlich,  daß  jeder  die  Möglichkeit  habe,  zuerst  das  zu 
vertheidigen  und  zu  empfehlen,  was  ihm  als  sein  Erstbestes 
gilt,  dann  erst,  wenn  dies  mißlingt,  sich  auf  sein  Zweit- 
bestes oder  Drittbestes  zurückzuziehen.  Ob  aber  die  all- 
gemeine Erfüllung  dieser  Wünsche  für  jeden  Stimm- 
berechtigten und  in  Bezug  auf  jeden  der  gemachten  Vor- 
schläge nicht  überhaupt  an  einem  inneren  Widerspruch 
scheitert,  ob  es  also  denkbar  ist,  daß  nach  dem  Sinn 
eines  jeden  gerade  diejenigen  Anträge  getheilt  werden,  über 
deren  Bestandtheile  er  verschieden  denkt,  und  gerade  die- 
jenigen vereinigt,  die  er  zusammen  angenommen  oder  ver- 
worfen wünscht,  dies  bedarf  keiner  Untersuchung.  Denn 
ganz  deutlich  ist,  daß  in  jedem  Falle  nur  ein  auf  den, 
vollen  Inhalt  der  vorgelegten  Fragen  eingehender  und  durch 
lange  gleichartige  Uebung  entwickelter  Scharfsinn  sich  der 
Lösung  dieser  Aufgabe  annähern  kann;  nur  an  bestimmten 
Beispielen,  nicht  an  allgemeinen  Symbolen  möglicher  Fälle, 
nur  in  der  Praxis  und  nur  sehr  wenig  durch  allgemeine 
Vorschriften,  läßt  sich  das  zu  beobachtende  Verfahren  lernen 
und  lehren. 

295.  Es  kann  zuerst  vorkommen,  daß  die  gemachten 
Vorschläge  V  W  Z  nicht  die  vollständige  Disjunction  zu- 
sammensetzen, zwischen  deren  Gliedern  zu  wählen  ist, 
daß  vielmehr  die  gemeinsame  Verneinung  aller  ein  viertes 
Glied  bildet,  daß  mithin  überhaupt  etwas  Neues  nicht  be- 
schlossen werden  muß,  sondern  es  bei  dem  bestehenden 
Zustand    sein    Bewenden    haben   kann.     Zur    Wahl    dieser 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  471 

Entscheidung  kann  man  aus  zwei  Gründen  kommen;  ent- 
weder weil  man  das  Bestehende  principiell  gegen  jede 
Neuerung  schützen  will,  oder  weil  man,  der  Verbesserung 
grundsätzlich  nicht  widerstrebend,  doch  keinen  der  ge- 
machten Vorschläge  annehmbar  findet;  es  ist  wichtig,  daß 
der  Unterschied  dieser  Gesinnungen  seinen  Ausdruck  erhalte. 
Die  bloße  Ablehnung  aller  einzelnen  Vorschläge  nach 
einander  gibt  ihn  nicht;  sie  zeigt  blos,  daß  diejenige 
Aenderung,  die  man  annehmbar  gefunden  haben  würde, 
nicht  vorgeschlagen  worden  ist;  es  muß  möglich  sein,  auch 
die  allen  Vorschlägen  gemeinsame  Aufforderung  zur  Ver- 
änderung überhaupt  als  solche  zu  verneinen.  Dies  ge- 
geschieht durch  den  Antrag  auf  Uebergang  zur  Tages- 
ordnung, durch  den  Antrag  also,  sämmtliche  gemachte 
Vorschläge  der  Debatte  und  der  Abstimmung  nicht  zu  unter- 
ziehen, und  so  das  ihnen  Gemeinsame  eben  so  allgemein 
abzuweisen.  Wo  der  Wille  zu  solcher  Verneinung  vorhanden 
ist,  hat  er  die  parlamentarische  Pflicht,  durch  Stellung 
dieses  Antrags  zum  vollständigen  Ausdruck  des  Standes 
der  Meinungen  beizutragen  und  erst  nach  der  Verwerfung 
desselben  sich  mit  der  Ablehnung  aller  besonderen  Vor- 
schläge zu  begnügen.  Auch  wo  anstatt  vieler  nur  ein 
einziger  Vorschlag  vorliegt,  findet  der  Antrag  auf  Tages- 
ordnung seine  Stelle;  es  soll  dann  nicht  dieser  einzelne 
Vorschlag  als  solcher,  sondern  die  allgemeine  Intention 
abgewiesen  werden,  aus  welcher  er  hervorgegangen  ist 
und  andere  ähnliche  hervorgehen  könnten.  So  wird  die 
Tagesordnung,  ohne  angegebene  Beweggründe  beschlossen, 
zum  Ausdruck  der  Verachtung  eines  rechtlich  oder  sittlich 
verwerflichen,  oder  zur  Ablehnung  eines  fremdartigen,  zur 
Competenz  der  Abstimmungen  nicht  gehörigen,  endlich  zur 
Beseitigung  eines  gefährlichen  Vorschlags,  dessen  bloße  Dis- 
cussion  schon  im  Interesse  des  Gemeinwohles  abzuwenden 
ist;  sie  mildert,  als  motivirte  Tagesordnung,  diese  Ver- 
werfungen, indem  sie  ^urch  Angabe  ihrer  Beweggründe 
das  an  sich  Berechtigte  eines  gethanen  Vorschlags  an- 
erkennt, aber  die  Zweckmäßigkeit  seiner  jetzigen  Anbrin- 
gung und  des  Eingehens  auf  ihn  verneint. 

296.  Wenn  zwei  Vorschläge  V  und  W  in  einem  Ver- 
bal tniß  der  Unterordnung  so  stehen,  daß  W  als  Ver- 
besserungsantrag oder  Amendement  den  Sinn  des 
Hauptantrags  V  durch  Zusatz  Weglassung  oder  Umformung 
zu  verändern  verlangt,  so  ist  es  ein  logisch  richtiger  Ge- 
brauch, die  vorläufige  Abstimmung  über  das  Amendement 


472  Zelintes  Kapitel. 

der  endgültigen  über  den  Hauptantrag  vorangehen  zu  lassen. 
Denn  über  diesen  kann  den  Stimmenden  eine  Entscheidung 
erst  dann  vernünftigerweise   angesonnen  werden,  wenn  er 
nach   seiner  ganzen   Fassung  unzweideutig  feststeht;  nicht 
aber  so  lange  sein  Inhalt  noch  nachträglichen  Umänderungen 
ausgesetzt   ist,   deren   Annahme   oder   Ablehnung,   falls  sie 
vorausgewußt  worden  wäre,  leicht  die  voreilig  abgegebene 
Meinung  über  Bejahung  oder  Verneinung  völlig  hätte  um- 
ändern können.   Die  Abstimmung  über  das  Amendement  W 
dient   dazu,   den   Sinn   eindeutig  festzustellen,  in  welchem 
der  Hauptantrag  V  der  Abstimmung  unterliegen  soll;  mit 
der  Ablehnung  von  V  wird  daher  auch  die  nur  bedingungs- 
weis   vorangegangene  Annahme   des   Amendements   wieder* 
wirkungslos.      Wenn     zu     einem    Hauptantrag    V    mehrere 
einander     ausschließende    Amendements    W    und    Z     oder 
mehrere   Nebenvorschläge   über    die    Specialisirung   treten, 
welche  V  zu  seiner  praktischen  Durchführung  nöthig  hat, 
wie     es     z.    B.     häufig    bei     noch    festzusetzenden     Maß- 
bestimmungen vorkommt,  so  würde  es  hier  am  wenigsten 
Bedenken  haben,  über  alle  diese  Vorschläge  gesondert  ab- 
zustimmen   und   die   Entscheidung   an   die   größte   erlangte 
Majorität    zu    knüpfen.     Soll    indessen,    wie    es   üblich    ist, 
die  Annahme  des  einen  durch  absolute  Majorität  alle  übrigen 
von  der  Abstimmung  ausschließen,  so  kann  man  über  die 
nun  wichtig  werdende  Reihenfolge  der  Fragestellung  zuerst 
anrathen,   die  Vorschläge   so   zu  ordnen,   daß  je   zwei  am 
wenigsten     von     einander     abweichende    unmittelbar    auf 
einander  folgen.    Dies  ist,  in  etwas  anderer  Form,  bei  den 
beiden  Arten  der  Versteigerung  durch  Hinaufbieten  und 
durch  Herabbieten  üblich,  und  in  diesen  Fällen  wird  ohne 
Unbilligkeit    auf    die    Ungewißheit   geradezu    gerechnet,    in 
welcher  sich  jeder  Bietende  über  das  Begehrungsmaß  aller 
anderen  befindet.    Denn  da  Gebot  und  Annahme  freiwillig 
sind,  so  spricht  jeder  durch  sie  blos  den  Werth  aus,  den 
der    fragliche    Gegenstand     für    ihn    nach    seiner    eigenen 
Schätzung   hat,   und   es   wird   keines   seiner  Rechte    durch 
den  offenen  Wetteifer  Anderer  oder  durch  die  Unkenntniß 
des  Nichtvorhandenseins  anderer  lebhaften  Begehrungen  ge- 
kränkt.   Das  Herabbieten  scheint  allgemein  dem  Verkäufer 
günstiger,  da  es  den  Käufer  zur  Annahme  des  Gegenstandes 
um  den  höchsten  Preis  nöthigt,  den  er  für  denselben  geben 
zu  können  glaubt  und  den  er  mindern  würde,  wenn  er  den 
Mangel    der    Concurrenz     vorher     bemerken    könnte;     das 


Von  Wahlen  und  Abstimmungen.  473 

Hinaufbieten  ist  dem  Käufer  günstiger,  weil  ihm  dieser 
Mangel,  wo  er  stattfindet,  benutzbar,  im  anderen  Falle 
aber  wenigstens  nur  die  Ueberbietung  des  ebenletzten  Ge- 
botes nothwendig  und  die  Zeit  zur  Entschließung  nicht 
übermäßig  verkürzt  wird.  Die  Analogie  dieses  Verfahrens, 
bei  welchem  ein  Einzelner  im  Kampf  mit  Andern  eineni 
erlaubten  persönlichen  Vortheil  sucht,  paßt  ihrem  Sinne 
nach  wenig  zu  den  Bemühungen  einer  Vielheit,  in  Gemein- 
schaft mit  einander  einen  dem  Gemeinwohl  förderlichen. 
Beschluß  zu  Stande  zu  bringen;  formell  ist  es  indessen 
doch  der  Vorgang  des  Herabbietens,  der  hier  zum  Muster 
dienen  muß.  Nun  wird  man  überhaupt  selten  Vorschläge 
finden,  die  sich  so  einfach  nach  quantitativen  Maßen  in 
eine  Reihe  ordnen  lassen ;  am  häufigsten  werden  WZ... 
ihrem  Sinne  nach  nicht  leicht  classificirbar  verschieden, 
sein.  Man  wird  sie  dann  nach  dem  voraussichtlichen  Maß 
ihrer  Angemessenheit  zu  dem  allgemeinen  Willen  ordnen, 
und  diejenigen,  die  sich  am  weitesten  von  dem  bestehenden 
Zustande  entfernen,  das  Ungewöhnlichste  und  Größte  ver- 
langen und  deswegen  wenig  Wahrscheinlichkeit  ihres  Sieges 
haben,  werden  berechtigt  sein,  zuerst  der  Abstimmung  dar- 
geboten zu  werden,  damit,  wenn  sie  gegen  jene  Ver- 
muthung  nun  dennoch  dem  allgemeinen  Willen  zusagen 
sollten,  der  Ausdruck  dieses  Willens  nicht  unmöglich  ge- 
macht werde  durch  Beginn  von  einem  wahrscheinlicheren 
Vorschlag,  auf  den  sich  aus  eben  jener  irrigen  Berechnung 
leicht  alle  Stimmen  mit  voreiliger  Entsagung  sammeln 
könnten.  Nach  der  Ablehnung  solcher  äußersten  Vorschläge 
könnte  man,  der  mathematischen  Methode  der  Eingrenzung 
ähnlich,  zu  den  mittleren  an  sich  wahrscheinlicheren 
Gliedern  der  Reihe  übergehen  und  dabei  die  Aussicht  haben, 
die  endliche  Entscheidung  für  einen  Vorschlag  zu  gewinnen, 
der  die  geringst  mögliche  Abweichung  von  der  aHgemeinen 
Befriedigung  einschlösse.  Alle  diese  Regeln  sind  zuletzt 
unzureichend;  namentlich  wo  der  Beschlußfassung  ein  viel- 
gliedriges  Ganze  vorliegt,  dessen  einzelne  Theile  nur  nach 
und  nach  berathen  werden  können,  bleibt  es  unmöglich, 
schon  im  Verlauf  dieser  Specialberathung  alle  die  Un- 
zuträglichkeiten Unfolgerichtigkeiten  und  Widersprüche  zu 
entdecken,  die  aus  der  schließlichen  Zusammenfügung  der 
vielleicht  vielfach  veränderten  Einzelheiten  der  Vorlage 
entstehen  würden.  Man  muß  dann  die  Specialberathung 
ähnlich   derjenigen  über  Amendements  als  nur  vorläufige 


474  Zehntes  Kapitel. 

betrachten  und  einer  zweiten  Lesung  oder  einer  Schluß- 
abstimmung die  Freiheit  vorbehalten,  die  mit  vereinten 
Kräften  zu  Stande  gebrachte  Mißgeburt  wieder  umzubringen. 
Die  formale  Absicht  aller  Abstimmungen  endlich,  einen 
Gesammtwillen  zu  ermitteln,  würde  zuerst  zwar  die 
Feststellung  eines  Beschlusses  Z  enthalten,  der  allen  Mit- 
gliedern der  Gesellschaft  die  größte  erreichbare  durch- 
schnittliche Befriedigung  M  gewährte,  dergestalt,  daß  die 
Minderbefriedigung  der  einen  durch  die  Mehrbefriedigung 
anderer  ausgeglichen  würde.  Aber  zugleich  müßte  man 
doch  auch  noch  wünschen,  zur  Ausführung  der  durch  die 
Annahme  von  Z  entstehenden  Verpflichtungen  nun  auf 
gleiche  Willfährigkeit  M  bei  allen  Mitgliedern  rechnen 
zu  können.  Warum  der  erste  Zweck  nu^-  unvollkommen 
erreicht  wird,  habe  ich  angegeben  (292).  Der  letzte  Wunsch 
dagegen  ist  durch  logische  Mittel  natürlich  unerfüllbar; 
nur  dies  kann  als  eine  aus  der  Natur  ethischer  Zwecke 
zum  Behuf  ihrer  Verwirklichung  nothwendige  logische  Regel 
abgeleitet  werden,  daß  hier,  was  sonst  die  Logik  nirgends 
verlangen  kann,  die  eigene  persönliche  Ueberzeugung  einer 
abweichenden    allgemeinen    untergeordnet    werden    müsse. 


Drittes  Buch. 

Yom  Erkennen. 

(Methodologie.) 


i 


Als  ich  in  der  angewandten  Logik  den  Mitteln  nachging, 
durch  die  es  uns  gelingt,  den  mannigfachen  Inhalt  unseres 
Vorstellens  jenen  idealen  Formen  der  Fassung  und  Ver- 
knüpfung einzuordnen,  welche  die  reine  Logik  kennen  ge- 
lehrt hatte,  habe  ich  noch  nicht  von  deii  allgemeinen 
Methoden  gesprochen,  mit  deren  Schilderung  die  Lehre 
vom  Denken  zu  schließen  pflegt.  Ich  glaube  dort  keine 
unentschuldbare  Unterlassung  durch  ihre  Verschweigung 
begangen  zu  haben  und  hier  nicht  willkürlich  zu  verfahren, 
wenn  ich  sie  und  Verwandtes  diesem  letzten  Theile  meiner 
Arbeit  vorbehalte. 

297.  Seit  Aristoteles  hat  man  analytische  und  syn- 
thetische Methode,  im  Wesentlichen  immer  nach  den- 
selben Gesichtspunkten,  als  die  beiden  umfassenden  End- 
formen unserer  wissenschaftlichen  Gedankenbewegung 
unterschieden.  Der  antiken  Vorstellungsweise  galt  hierbei 
der  mannigfaltige  gegebene  Stoff  der  Untersuchung  als  der 
Gegenstand  einer  Zergliederung,  die  aus  ihm  seine  einfach- 
sten Bestandtheile  oder  seine  allgemeinsten  Bedingungen 
zu  finden  hatte;  die  analytische  Methode  war  daher  ein 
rückläufiges  Verfahren,  das  a  principiatis  ad  principia  seinen 
Weg  nahm;  die  gefundenen  Principien  dagegen  waren  die 
Bausteine,  aus  deren  Zusammensetzung  das  synthetische 
Verfahren  rechtläufig  die  gegebenen  Einzelheiten  erzeugte. 
Unserem  modernen  Sprachgefühl  entsprechen  beide  Namen 
nicht  mehr  ebenso  sehr  und  wir  würden  leicht  versucht 
sein,  ihre  Bedeutungen  zu  vertauschen.  Wir  sind  nicht 
mehr  an  die  Hoffnung  gewöhnt,  eine  bloße  Zergliederung 
des  Gegebenen  werde  die  gesuchten  Principien  in  ihnen 
finden;  wir  haben  vielmehr  erfahren,  daß  wir  sie,  für 
unsere  Erkenntniß,  häufig  durch  vergleichende  Combination 
des  Mannigfachen  erzeugen  müssen,  und  sie  erscheinen 
uns  deshalb  als  Endergebnisse  eines  synthetischen  Ge- 
dankengangs; wir  sind  ebenso  nicht  mehr  ausschließlich 
der  Vorstellung  geneigt,  Principien  als  Atome  der  Wahrheit 


478  Einleitung. 

anzusehen,  aus  deren  Zusammensetzung  allein  die 
mannigfachen  Einzelwahrheiten  entsprängen;  weit  mehr, 
gleichviel  ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  erscheinen  Principien 
uns  entwicklungsfähig  und  die  Ableitung  des  Bedingten 
von  seinen  Bedingungen  mindestens  ebenso  allgemein  als 
eine  Zergliederung  dessen,  was  in  diesen  enthalten 
war.  Aber  es  würde  der  Mühe  nicht  lohnen  hierüber  zu 
streiten ;  denn  sichtlich  ist  zuerst  keine  der  beiden  Methoden, 
im  Allgemeinen  wenigstens,  rein  durchführbar.  Kein  ana- 
lytisches Verfahren  kann  durch  bloße  Zergliederung  eines 
Gegebenen  zu  einem  Princip  oder  einer  allgemeinen  Wahr- 
heit gelangen,  ohne  jedesmal  das  Ergebniß  a  des  zuletzt 
gethanen  Schrittes  mit  irgend  einem  allgemeinen  Satze  T 
zusammenzuhalten  und  durch  versuchte  Unterordnung  des  a 
unter  T,  in  diesem  Theile  seines  Weges  also  synthetisch, 
darüber  gewiß  zu  werden,  ob  a  selbst  als  ein  Letztes 
anzuerkennen  ist,  oder  ob  Gründe  vorliegen,  zur  Hebung 
eines  Widerspruchs  die  Zergliederung  nach  einer  bestimm- 
ten Richtung  hin  weiter  fortzusetzen.  Und  keineswegs  ge- 
hört jenes  T,  welches  sich  hier  eindrängt,  immer  nur  zu 
jenen  formal  logischen  Gesetzen,  denen  man  selbstverständ- 
lich zugesteht,  daß  sie  im  Einzelnen  den  modus  procedendi 
jeder  denkbaren  Methode  beherrschen  müssen;  um  wirklich 
weiter  zu  führen,  wird  häufig  T  ein  inhaltvoller  Satz  sein 
müssen,  den  die  Logik  nicht  geben  kann,  den  man  vielmehr 
als  eine  aus  anderen  Gründen  feststehende  Wahrheit  an- 
nehmen und  dem  durch  die  Zergliederung  gefundenen  Er- 
gebnisse überordnen  muß.  Ebenso  wenig  wird  eine  syn- 
thetische Methode  ohne  Beihülfe  analytischer  Gedanken- 
bewegung in  Gang  kommen;  hätte  sie  auch  am  Anfang 
eine  Anzahl  elementarer  Wahrheiten  A  B  C  in  der  Hand, 
so  würde  sie  doch  über  die  Tautologie  des  bloßen  Zugleich- 
geltens  dieser  Wahrheiten  nie  hinauskommen,  wenn  sie 
nicht  nachweisen  könnte,  wie  aus  dem  Zusammentreffen 
ihrer  Gültigkeit  an  einem  und  demselben  Gegenstand  bald 
diese  bald  jene  neuen  Folgen  x  oder  y  sich  entwickeln 
müssen;  ob  aber  x  oder  y  eintreten  werde,  darüber  kann 
nur  durch  die  vorgängige  Zergliederung  der  Natur  dieses 
Gegenstandes,  also  durch  eine  Strecke  analytisches  Ver- 
fahrens, entschieden  werden;  hierdurch  erst  wird  die  be- 
stimmte zweite  Prämisse  ermittelt,  die  in  Verbindung  mit 
jenen  gegebenen  Wahrheiten  als  erster  den  nächsten  syn- 
thetischen Fortschritt  zu  einem  bestimmten  Schlußsatze 
möglich  macht.    Es   ist  zuzugeben,  daß  auf  einzelnen  Ge- 


Einleitung.  479 

bieten  die  synthetische  Methode  unabhängiger  erscheint; 
die  Geometrie  kann  die  Gegenstände,  auf  welche  sie  ihre 
allgemeinen  Wahrheiten  anwenden  will,  selbst  der  Reihe 
nach  erzeugen,  und  die  zergliedernde  Angabe  dessen,  was 
zur  Ableitung  jedes  neuen  Satzes  als  gegeben  gelten  soll, 
nimmt  in  ihren  Darstellungen  wenig  Raum  ein;  der  Sache 
nach  fehlen  kann  sie  doch  nicht.  Aber  in  allgemeineren 
Grenzen,  da  wo  es  sich  um  eine  synthetische  Construction 
von  Wirklichkeiten  handelt,  geht  der  progressiven  Ableitung 
aus  den  Principien  immer  eine  umfängliche  regressive  Zer- 
gliederung des  Gegebenen  voran,  und  durch  sie  erst  werden 
dem  synthetischen  Verfahren  die  Richtungen  bestimmt,  in 
denen  es  zu  seinen  Principien  die  unentbehrlichen  zweiten 
Prämissen  zu  suchen  hat. 

298.  Der  Unterschied  beider  Methoden  läuft  daher  in 
der  That  praktisch  auf  einen  Gegensatz  hinaus,  den  man 
längst  wirklich  bemerkt  hat:  die  analytische  Methode  ist 
wesentlich  das  Verfahren  der  Untersuchung,  welche 
die  Wahrheit  finden  will,  die  synthetische  das  Verfahren 
der  Darstellung,  welche  die  irgendwie  auf  geraden  oder 
ungeraden  Wegen  ermittelten  Wahrheiten  in  ihrem  eigenen 
objectiven  Zusammenhange  wiedergeben  will.  Und  zwar 
verstehe  ich  unter  Darstellung  nicht  allein  die  Mittheilung 
an  Andere,  denn  für  diesen  Zweck  ist  die  Schilderung 
des  subjectiven  Erfindungsganges  ebenso  nothwendig  und 
unterrichtend;  ich  meine  vielmehr  jene  logische  Fassung 
des  gewonnenen  Inhalts,  in  welcher  allein  er  den  idealen 
Anforderungen  unseres  Denkens  an  eine  in  sich  selbständige 
Wahrheit  entspricht.  Innerhalb  der  angewandten  Logik 
schien  es  mir  daher  wenig  ersprießlich,  von  diesen  beiden 
Methoden  zu  sprechen;  denn  ein  praktisches  Hülfsmittel 
zur  Lösung  von  Aufgaben  bietet  keine  von  beiden;  auch, 
die  analytische  nicht,  obgleich  wir  sie  für  die  Form  der 
entdeckenden  Untersuchung  halten.  Dadurch  allein,  daß 
wir  Jemand  auffordern,  nach  analytischer  Methode  zu 
arbeiten,  haben  wir  ihm  noch  keine  nützliche  Anweisung 
gegeben;  die  Definition  der  Methode  in  der  allgemeinen 
Form,  in  der  sie  aufgestellt  zu  werden  pflegt,  enthält 
im  Grunde  nur  eine  Andeutung  über  die  Richtung,  in  der 
der  eigentliche  Weg  erst  zu  suchen  ist;  was  ihn  finden 
lehrt,  besteht  in  den  einzelnen  Kunstgriffen  der  angewandten 
Logik,  bei  deren  Benutzung  es  schließlich  ziemlich  gleich- 
gültig ist,  ob  man  sie  hinterher  zu  einem  synthetischen 
oder  zu  einem  analytischen  Verfahren  rechnen  will.    Und 


480  Einleitung. 

ebenso:  wem  wir  einen  synthetischen  Gang  vorschreiben, 
der  hat  hierdurch  auch  nur  eine  Aufgabe  gestellt  erhalten ; 
wie  er  sie  richtig  lösen  wird,  eine  Frage,  zu  deren  Be- 
antwortung recht  eigentlich  doch  eine  Methode  dienen 
sollte,  erfährt  er  durch  die  allgemeine  Charakteristik  des 
von  ihm  verlangten  Verfahrens^  von  den  Gründen  zu  den 
Folgen  herabzusteigen,  in  keiner  irgend  ausreichenden  Weise. 
299.  Dies  alles  stellt  sich  anders,  wenn  wir  uns  eine 
Freiheit  versagen,  die  wir  uns  in  der  angewandten  Logik 
gestatteten,  und  so  unseren  Betrachtungen  einen  befriedigen- 
den Abschluß  zu  gewinnen  suchen.  Wo  wir  dort  von 
Beweisen,  von  der  Aufsuchung  der  Beweisgründe,  von  der 
Auffindung  von  Gesetzen  sprachen,  haben  wir  überall  in 
gewisser  Weise  unvollendete  Arbeit  übrig  gelassen:  jeder 
Versuch  zur  Begründung  eines  Satzes  ging  nur  einige 
Schritte  zurück  und  kam  zur  Ruhe,  wenn  ein  anderer  Satz 
erreicht  war,  dessen  vorausgesetzte  Richtigkeit  zur 
Grundlage  jenes  dienen  konnte.  Dies  Verfahren  entspricht 
dem  wirklichen  Verhalten  unserer  Gedanken  im  Leben 
wie  in  den  einzelnen  Wissenschaften.  Im  Leben  liegt 
unserer  Beurtheilung  der  Dinge  und  unseren  Folgerungen 
nicht  ein  einziger  Satz  T,  auch  nicht  eine  reinlich  ab- 
gegrenzte Gruppe  gleichartiger  elementarer  Wahrheiten  zu 
Grunde;  sondern  sehr  Vielerlei,  von  ganz  ungleichartigem 
Gepräge,  ist  uns  gleich  gewiß:  hier  ein  Satz  A,  der  ein- 
mal aufgefaßt  sich  von  nun  an  mit  dem  Gefühl  seiner 
Denknothwendigkeit  aufdrängt,  dort  ein  anderer  B  als  Aus- 
druck einer  Thatsache  der  Wahrnehmung,  die  nicht  eben 
sein  müßte,  aber  unwidersprechlich  ist;  ein  dritter  C  als 
Giundsatz  von  ganz  unbekannter  Herkunft,  dessen  Gültig- 
keit aber  in  jedem  Augenblicke  durch  einen  Versuch  seiner 
Anwendung  wiederbestätigt  wird;  mancher  Satz  D  endlich, 
der  aus  gleich  unbekannten  Quellen  entsprungen,  zwar 
keine  solche  Bewährung  seiner  Richtigkeit  zuläßt,  aber 
doch  ein  unabweisbares  Bedürfniß  zu  enthalten  scheint, 
dem  wir  genügen  zu  müssen  glauben,  wenn  unsere  ver- 
knüpfende Auffassung  des  gegebenen  Mannigfachen  Wahr- 
heit haben  soll.  Jeden  dieser  verschiedenen  Gewißheits- 
punkte, und  in  jedem  derselben  kann  man  sich  eine  Mehr- 
heit elementarer  Ueberzeugungen  zusammengedrängt  denken, 
benutzt  unsere  lebendige  Gedankenbewegung  gelegentlich, 
um  eine  schwebende  Frage  zu  beantworten;  ja  selbst  einen 
Satz,  der  seinem  Inhalte  nach  eine  Folge  der  einen  Vor- 
aussetzung sein  würde,  beweisen  wir  uns  häufig  von  einer 


Einleitung.  481 

andern  aus,  sobald  seine  Abhängigkeit  von  seinem  eigent- 
lichen Grunde  nicht  sofort  durchsichtig  ist.  So  wechseln 
wir  beständig  die  Fußpunkte  unserer  Beurtheilung :  bald 
von  einem  evidenten  Gesetze  ausgehend,  bestimmen  wir 
seine  Folgen,  bald  durch  erneuerte  Betrachtung  gegebener 
Folgen  stärken  wir  uns  in  dem  Glauben  an  das  Gesetz; 
Consequenzen,  die  mit  innerer  Nothwendigkeit  aus  einem 
anerkannten  Princip  zu  fließen  scheinen,  wehren  wir  ab 
um  der  Unwahrscheinlichkeit  willen,  die  sie  für  einen  andern 
Standpunkt  haben;  bald  gehen  wir  von  A  aus,  um  ein 
zweifelhaftes  B  zu  erweisen,  bald  halten  wir  B  für  evidenter 
und  benutzen  es  zur  Begründung  von  A;  was  in  jedem 
Augenblicke  für  uns  psychologisch  die  größte  Gewiß- 
heit hat,  das  gilt  uns  als  der  zuverlässige  Punkt,  von  dem 
aus  die  übrigen  schwankenden  Gedanken  festzustellen  sind. 
300.  Ganz  in  solcher  Ungebundenheit  bewegt  sich  nun 
allerdings  das  wissenschaftliche  Denken  nicht;  aber 
die  wirkliche  Wissenschaft,  die  wir  besitzen,  nicht  die 
ideale,  die  wir  besitzen  möchten,  hat  doch  noch  immer 
mit  jenem  Verfahren  der  naturwüchsigen  Ueberlegung  Aehn- 
lichkeit  genug.  Eine  wirkliche  Untersuchung  kommt  auch 
hier  kaum  jemals  zu  Stande,  ohne  daß  die  Beurtheilung 
auf  einzelnen  Voraussetzungen  beruhte,  die  man  theils  für 
unbeweisbar  aber  gewiß,  theils  für  unbeweisbar  aber  nur 
probabel  hält,  und  die  man  bald  als  unableitbare  Principien 
der  eigenen,  bald  als  verbürgte  Ergebnisse  einer  andern 
Wissenschaft  ansieht.  Selbst  innerhalb  eines  und  desselben 
Gebietes  wechseln  die  Versuche  der  Begründung;  ohne  die 
Gewißheit  eines  Satzes  in  Zweifel  zu  ziehen,  der  früher  als 
Quell  der  Ableitung  für  andere  galt,  glaubt  man  doch  einen 
andern  noch  gewisser  an  die  Spitze  stellen  zu  können  und 
von  ihm  jenen  mit  allen  seinen  Folgen  abzuleiten.  Ueber- 
blickt  man  aber  unser  Wissen  im  Ganzen,  so  wie  es  unter 
verschiedene  Wissenschaften  vertheilt  ist,  so  wird  man 
keine  der  letztern  in  sich  selbst  völlig  abgeschlossen  finden, 
sondern  in  jeder  derselben  formale  oder  materiale  Prin- 
cipien entdecken,  deren  Geltung  auf  Grund  ihrer  unmittel- 
baren Evidenz  oder  ihrer  aufklärenden  Folgen  zugelassen 
wird;  aber  die  Frage  nach  ihrem  Ursprung  oder  ihrem  Zu- 
sammenhang untereinander  wird  da  fallen  gelassen,  wo  ihre 
Beantwortung  nichts  zu  dem  inneren  Betriebe  der  Wissen- 
schaft selbst  scheint  beitragen  zu  können.  Diesen  Stand 
der    Sachen    hatten    wir    in    der    angewandten    Logik    vor 

Lotze,  Logik.  31 


482  Einleitung. 

Augen  und  glaubten  in  dieser  Lehre  von  der  Natur  der 
Untersuchungen  uns  auf  ihn  beschränken  zu  können.  Denn 
was  sich  für  angewandte  Logik,  richtiger  für  eine  Dar- 
stellung der  möglichen  Anwendungsweisen  der  Logik  gibt, 
setzt  eine  Vielheit  solcher  Anwendungsfälle  voraus,  die 
nur  möglich  ist,  wenn  das  Geschäft  des  Untersuchens  in 
dem  Anfang  von  einem  gegebenen  Anfangspunkte  und  in 
seiner  gesetzmäßigen  Verknüpfung  mit  ebenfalls  voraus- 
gesetzten festen  Punkten  besteht.  Von  dieser  Art  sind  alle 
die  mannigfaltigen  Untersuchungen,  die  wir  wirklich  zu 
unternehmen  pflegen,  und  unser  Erkennen  verhält  sich 
hierin  ähnlich  unserem  Leben.  Woher  im  Anfange  der 
Geschichte  unser  ganzes  Geschlecht  gekommen  ist,  wissen 
wir  nicht,  und  ebenso  unausdenkbar  ist  uns  seine  ferne 
Zukunft;  für  die  meisten  verschwindet  schon  in  naher  Ver- 
gangenheit die  Erinnerung  an  ihre  näheren  Vorfahren  und 
für  alle  ist  die  Voraussicht  über  die  Schicksale  ihrer  Nach- 
kommen noch  beschränkter ;  innerhalb  dieser  beiden  Dunkel- 
heiten liegt  doch  ein  verhältnißmäßig  heller  Raum  des 
Lebens  vor  uns  mit  deutlichen  Bedürfnissen  dringenden 
Pflichten  und  erreichbaren  Zielen;  die  Freude  am  Dasein 
und  die  Zuversicht  in  der  Behandlung  der  Gegenwart  wird 
nur  wenig  durch  die  Ungewißheit  des  Anfangs  und  des 
Endes  beeinträchtigt.  So  ist  es  auch  mit  unserem  Wissen. 
Eine  ewige  Wahrheit  oder  einen  zusammengeschlossenen 
Kreis  von  Wahrheiten  setzen  wir  voraus;  aber  in  unseren 
gewöhnlichen  Ueberlegungen  gibt  es  für  ihn  weder  einen 
vollständigen  und  geschlossenen  Ausdruck,  noch  eine  deut- 
liche Uebersicht  seiner  Gliederung;  nur  einzelne  Theile 
desselben  werden  uns  auf  eine  Weise,  die  wir  selbst  uns 
nicht  zu  zergliedern  vermögen,  während  der  Uebung  unseres 
Denkens  im  Zusammenstoß  mit  der  Wirklichkeit  klar  und 
evident ;  unser  Untersuchen  ist  eine  Art  von  Binnenver- 
kehr, welcher  die  ungewissen  und  veränderlichen  Wahr- 
nehmungen mit  diesen  verschiedenen  in  unser  Bewußtsein 
hineinragenden  Gipfeln  einer  in  ihrem  Zusammenhang  ver- 
borgen bleibenden  Gesammtwahrheit  zu  verknüpfen  sucht. 
301.  Aber  ebenso  wie  dem  Leben  die  Augenblicke 
kommen,  in  denen  die  Gegenwart  erträglich  und  verständlich 
nur  zu.  werden  scheint,  wenn  man  ihren  Zusammenhang 
mit  Vergangenheit  und  Zukunft  glaubt  ahnen  zu  können, 
ebenso  kommen  dem  Erkennen  Veranlassungen,  aus  jenem 
Kleinhandel  des  gewöhnlichen  Untersuchens  herauszugehen 


Einleitung.  483 

und  sich  über  Lage  Verbindung  und  Sicherheit  der  Aus- 
gangs- und  Zielpunkte  seiner  Bewegung  zu  besinnen.  Denn 
nicht  immer  beherrschen  jene  Grundsätze,  auf  die  es  ver- 
traut, friedlich  jeder  sein  gesondertes  Gebiet;  der  Hinweis 
auf  die  verschiedenen  Folgerungen,  die  in  Bezug  auf  die 
Gestaltung  unseres  Lebens  aus  den  Grundsätzen  der 
mechanischen  Forschung  und  aus  den  Aussprüchen  des 
Gewissens  gezogen  werden,  macht  an  einem  großen  Bei- 
spiele deutlich,  wie  die  Ansprüche  verschiedener  Wahr- 
heitsquellen feindlich  an  demselben  Gegenstande  der  Be- 
urtheilung  zusammenstoßen;  aber  auch  auf  theoretischem 
Gebiete  allein  fehlen  ähnliche  Veranlassungen  zu  aem 
Unternehmen  nicht,  dasjenige  zum  Gegenstand  der 
Untersuchung  zu  machen,  was  dem  lebendigen  Denken 
und  .den  einzelnen  Wissenschaften  als  Princip  der 
Untersuchung  gilt.  Diese  große  Aufgabe  hat  weder 
mit  vollständigem  Erfolg  noch  vollständig  erfolglos  die 
Philosophie  aller  Zeiten  im  Auge  gehabt,  und  gewiß  würde 
ihre  ganze  Auflösung  identisch  mit  der  Vollendung  dieser 
Wissenschaft  selbst  sein;  denn  sie  könnte  nur  darin  be- 
stehen, daß  es  gelungen  wäre,  einen  zusammenhängenden 
Kreis  höchster  und  zugleich  inhaltvoller  Wahrheiten  fest- 
zustellen, aus  dem  alle  anwendbaren  Grundsätze  unseres 
Untersuchens  mit  genauer  Ausdeutung  ihres  wahren  Sinnes 
und  mu  bestimmter  Bezeichnung  der  Grenzen  ihrer  Gültig- 
keit ableitbar  wären.  Nicht  diese  umfassende  Aufgabe, 
aber  ein  bescheidener  Theil  derselben  soll  den  Gegenstand 
der  letzten  Erörterungen  dieses  Buches  bilden.  Nicht  den 
Inhalt  jener  Grundsätze  wollen  wir  suchen,  sondern  die 
Gründe,  auf  denen  subjectiv  ihre  Gewißheit  für  uns  be- 
ruht; nicht  die  Wahrheit,  sondern  die  Kennzeichen,  nach 
welchen  wir  sie  anerkennen  und  unterscheiden;  oder,  wenn 
es  bei  den  alten  Benennungen  bleiben  soll :  eine  analytische 
Aufklärung  über  den  Weg  wollen  wir  anstreben,  auf  welchem 
wir  zu  Principien  einer  synthetischen  Entwickelung  ge- 
langen können.  Warum  ich  diesen  Theil  der  Logik  dem 
Erkennen  zueigne,  wird  die  weitere  Erläuterung  zeigen, 
deren  diese  vorläufige  Bezeichnung  unserer  Aufgabe  ohne- 
hin bedarf;  daß  ich  ihn  Methodologie  nenne,  geschieht 
nicht  ohne  eingestandene  etwas  willkürliche  Deutung  dieses 
Namens.  Fruchtbare  Einzelmethoden  entwickelt  jede 
Wissenschaft  und  behandelt  ähnliche  Probleme  nach  ihnen; 
aber  der  allgemeinen  Logik  würden  diese  als  specielle  Kunst- 
griffe   erscheinen,    welche    nicht   sie,     sondern    eben    jene 

31* 


484  Einleitung. 

Wissenschaften  zu  lehren  hätten.  Allgemeine  Methoden, 
eben  die  synthetische  und  die  analytische,  deren  ich  ge- 
dachte, erwähnt  zwar  die  Logik;  aber  ihre  Aufstellung  ist 
ein  ziemlich  unfruchtbares  Postulat,  bis  die  Rechtsgründe 
klar  sind,  die  uns  überzeugen,  durch  die  eine  die  Wahr- 
heit gefunden  zu  haben,  durch  die  andere  sie  in  ihre 
Einzelfolgen  entwickeln  zu  können.  Die  Erfüllung  dieser 
letzten  Aufgabe  möchte  ich  hier  die  Methode  nennen, 
nicht  in  dem  Sinne  eines  allgemeinen  Verfahrens,  das  man 
an  tausendfältigen  Beispielen  zur  Anwendung  zu  bringen 
hätte,  sondern  als  einen  einmal  zurückzulegenden  Ge- 
dankengang, als  den  Zwischenweg  zwischen  den  ver- 
schiedenen Quellen,  aus  denen  uns  Gewißheiten  von  ver- 
schiedener Art  zu  fließen  scheinen,  unternommen  zur  Er- 
kenntnlß  ihrer  Zusammenhänge  unter  einander  und  der 
Grenzen  ihrer  Berechtigung. 


Erstes  Kapitel. 

Vom  Skepticismus. 

302.  Gesetze  seines  Verfahrens  kommen  dem  Denken 
erst  nach  vielfältiger  Ausübung  seiner  Thätigkeit  durch 
eine  vergleichende  Reflexion  zum  Bewußtsein,  die  sich 
auf  diese  verschiedenen  Beispiele  seines  Thuns  zurück- 
wendet und  die  unbewußt  in  ihnen  befolgten  Regeln  zu 
gesonderten  Gegenständen  der  Betrachtung  macht.  Noch 
späteren  Ursprungs  ist  die  Frage  nach  dem  Grunde  der 
Verbindlichkeit  dieser  Gesetze  und  nach  den  Grenzen,  inner- 
halb deren  ihre  Befolgung  Wahrheit  der  Erkenntniß  ver- 
spricht; sie  kann  erst  entstehen,  wenn  Erfahrungen  von 
Irrthümem  gemacht  worden  sind,  zu  denen  nicht  die  Ver- 
nachlässigung, sondern  die  Anwendung  jener  Gesetze  auf 
jeden  vorkommenden  Inhalt  unseres  Vorstellens  verführt 
zu  haben  scheint.  Mißlingen  dann  auch  die  zerstreut  an- 
gestellten Versuche,  entstandene  Schwierigkeiten  und  Wider- 
sprüche durch  bessere  Deutung  entweder  dessen  hinweg- 
zuräumen, was  uns  Wahrheit  schien,  oder  dessen,  was  wir 
als  gegeben  durch  Wahrnehmung  betrachteten,  so  bildet 
sich  die  Stimmung  des  umfassenden  allgemeinen  Zweifels, 
der  Skepticismus.  Vorübergehend  und  in  größerer  oder 
geringerer  Nachhaltigkeit  tritt  diese  Stimmung  in  der  ernsten 
Entwicklung  jedes  Einzelnen  auf;  als  normale  Verfassung 
des  Gemüths,  die  am  Anfange  der  Wissenschaft  alles  über- 
kommene Wissen  als  fragliches  Vorartheil  ansehen  und  der 
Prüfung  vorbehalten  solle,  ist  sie  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  mehrmals  mit  großem  Nachdruck  verlangt 
worden;  als  bleibendes  Ergebniß  hat  sie  sich  in  den  skep- 
tischen Schulen  verfestigt,  die  zu  der  Ueberzeugung  von 
der  Unmöglichkeit  •  sicherer  Erkenntniß  gelangt  zu  sein 
glaubten.  In  dieser  letzten  Form,  in  welcher  allein  die 
skeptische   Stimmung  zu   einem   bestimmten  Abschluß   ge- 


486  Erstes  Kapitel. 

kommen  zu  sein  meint,  werden  wir  sie  nicht  so  durchgängig 
von  überkommenen  Vorurtheilen  frei  finden,  wie  sie  selbst 
sich  zu  sein  rühmt;  Eins  aber  ist  vor  allem  klar:  eine 
unbedingte  Leugnung  aller  Wahrheit  kann  diese  End- 
meinung des  Skepticismus  niemals  einschließen,  denn  nicht 
blos  die  Lösung  des  Zweifels,  sondern  der  Zweifel  selbst 
ist  nur  möglich  unter  Voraussetzung  irgend  einer  aner- 
kannten Wahrheit.  Wer  auf  einen  Ausweg  aus  dem 
Labyrinth  der  Skepsis  zu  irgend  einer  sicheren  Erkenntniß 
hofft,  gibt  dies  von  selbst  zu;  denn  finden  kann  er  diesen 
Weg  nur  durch  eine  Untersuchung;  jede  Untersuchung  aber 
ist  nur  möglich,  wenn  wir  mindestens  formale  Grundsätze 
der  Beurtheilung  voraussetzen,  nach  denen  die  eine  Ver- 
knüpfung von  Gedanken  als  richtig  von  einer  anderen  als 
einer  falschen  oder  von  einer  dritten  zweifelhaften  unter- 
schieden werden  kann.  Und  wieder,  wer  jenen  Ausweg 
leugnet,  erkennt  leugnend  selbst  das  an,  was  er  verneint. 
Als  die  antike  Sophistik  lehrte,  es  gebe  keine  Wahrheit, 
und  wenn  es  eine  gäbe,  so  wäre  sie  nicht  erkennbar,  wenn 
sie  endlich  selbst  erkennbar  wäre,  so  würde  sie  doch 
nicht  mittheilbar  sein,  —  so  widersprach  sie  durch  die 
That  jedem  einzelnen  dieser  Sätze.  Denn  das  Ganze  der- 
selben gab  sie  doch  für  Wahrheit  und  konnte  mithin  nicht 
jede  Wahrheit  leugnen;  sie  suchte  die  Richtigkeit  ihrer 
Behauptungen  femer  zu  beweisen  und  mußte  deshalb  eben 
die  mittelbare  Erkenntniß  der  Wahrheit,  deren  Unmöglich- 
keit sie  am  liebsten  dargethan  hätte,  zu  ihren  eigenen 
Gunsten  voraussetzen;  die  Mittheilbarkeit  endlich  leugnete 
sie  in  dem  Augenblicke,  wo  sie  auf  Grund  derselben  Andere 
überzeugen  wollte.  Diesen  Widersprüchen  entgehen  auch 
diejenigen  nicht,  die  in  dem  Ausdruck  ihres  Ergebnisses 
die  Form  der  Behauptung  scheuen  und  nicht  die  Nicht- 
geltung  irgend  einer  Wahrheit  aussprechen,  sondern  nur 
ihr  non  liquet  auch  auf  diese  allgemeine  Frage  anwenden 
möchten;  gewiß  können  sie  und  wir  mit  ihnen  diese  Ant- 
wort oft  geben,  wo  es  sich  um  die  Prüfung  einzelner  Be- 
hauptungen auf  Grund  gültiger  Wahrheiten  handelt;  daß 
aber  die  Geltung  aller  Wahrheit  zweifelhaft  sei,  läßt  sich 
zwar  mit  Worten  sagen,  aber  den  Worten  entspricht  kein 
ausführbarer  Gedanke  mehr;  wir  könnten  die  Bedeutung 
jenes  liquet  nicht  mehr  angeben,  das  wir  hier  leugnen, 
wenn  wir  nicht  gewisse  Bedingungen  dächten,  unter  denen 
es  stattfinden  würde,  wenn  wir  also  nicht  irgend  eine  un- 
bedingt  gültige  Wahrheit   voraussetzten,   aus   der   die   Be- 


Vom  Skepticismus.  487 

rechtigung  flösse,  über  dasjenige  zweifelhaft  zu  sein,  dessen 
Uebereinstimmung  mit  ihr  nicht  nachweisbar  ist.  Aber 
nicht  nur  jeder  Abschluß  der  Skepsis  durch  irgend  eine 
Behauptung,  sondern  auch  der  Zweifel  selbst  als  That- 
sache  ist  unmöglich  ohne  diese  Voraussetzung,  unmöglich 
wenigstens  in  dem  Sinne,  in  welchem  allein  wir  hier  von 
ihm  zu  sprechen  haben;  denn  Ungewißheit  freilich  würde 
es  dann,  wenn  keine  Wahrheit  Nothwendiges  und  Nicht- 
nothwendiges  unterscheiden  lehrte,  nicht  zuweilen,  sondern, 
in  Bezug  auf  Zukünftiges  wenigstens,  immer  geben,  dafür 
aber  auch  nie  Veranlassung  zu  der  zweifelnden  Frage,  ob 
ein  Gegebenes  einem  Maßstab  entspreche,  dem  zu  ent- 
sprechen oder  nicht  zu  entsprechen  nur  dann  einen  Unter- 
schied macht,  wenn  er  als  Maßstab  als  Bedingung  als 
Wahrheit  anerkannt  ist.  Wie  ausgedehnt  daher  auch  immer 
die  Ansprüche  des  Skepticismus  sein  mögen:  er  kann  den- 
noch nicht  nur  die  Anerkennung  einer  an  sich  gültigen 
Wahrheit,  sondern  auch  die  Voraussetzung  nicht  los  werden, 
menschliches  Denken  besitze  Grundsätze,  nach  denen  es 
wenigstens  die  Unnachweisbarkeit  der  Uebereinstimmung 
gegebener  Vorstellungen  mit  dieser  Wahrheit  zu  beurtheilen 
vermöge. 

303.  Bis  zu  diesem  Zugeständnisse  nun  läßt  die  skep- 
tische Stimmung  sich  leicht  treiben;  sie  wird  einräumen, 
von  der  Anerkennung  einer  an  sich  gültigen  Wahrheit  durch- 
drungen zu  sein,  und  zugeben,  daß  denknothwendige  Ge- 
setze unser  Untersuchen  und  Zweifeln  beherrschen;  aber 
darüber  ist  sie  bekümmert,  ob  diese  beiden  Glieder  zu- 
sammenpassen. Eben  weil  wir  wissen,  daß  es  eine  Wahr- 
heit geben  muß,  und  hierdurch  zugleich  wissen,  daß  es 
einen  Irrthum  geben  kann,  wie  werden  wir  gewiß,  ob 
nicht  auch  jene  denknothwendigen  Gesetze  in  unserem 
Geist  dieser  Seite  des  Irrthums  angehören,  ob  also  nicht 
Alles  an  sich  ganz  anders  sei,  als  es  uns  denknothwendig 
scheinen  muß  zu  sein?  Es  ist  klar,  daß  diese  Skepsis, 
die  zum  Zweifel  nicht  durch  einen  positiven  Grund  ge- 
trieben wird,  der  in  der  Natur  des  bezweifelten  Inhalts 
läge,  die  vielmehr  die  allgemeine  Möglichkeit  Zweifel 
zu  erheben  für  einen  Rechtsgrund  ihrer  wirklichen  Er- 
hebung ansieht,  niemals  eine  demonstrative  Widerlegung 
zulassen  kann.  Denn  jeder  Grund,  den  man  gegen  sie  in 
das  Feld  führen  kann,  wird  sich  nur  auf  die  Evidenz  und 
Nothwendigkeit  stützen  können,  mit  welcher  er  selbst  ge- 
dacht wird,  und  gehört  also  mit  zu  dem  Bereich  des  Denk- 


488  Erstes  Kapitel. 

nothwendigen,  in  Bezug  auf  welches  jene  öde  Frage,  ob 
nicht  dennoch  Alles  ganz  anders  sei,  ins  Unendliche  wieder- 
holt werden  kann.  Auch  diese  Frage  ist  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  mehrmals  aufgestellt  worden;  noch  am 
Anfange  der  Neuzeit  hat  Descartes,  nachdem  er  von 
dem  Vorhandensein  einer  unserem  Geiste  angeborenen  denk- 
nothwendigen  Ideenfülle  sich  überzeugt  zu  haben  glaubte, 
sie  in  der  anschaulichen  Gestalt  der  Vermuthung  vor- 
getragen: ob  nicht  ein  böser  Dämon  unsere  Natur  so  ein- 
gerichtet haben  könne,  daß  alle  unsere  Gedanken  falsch 
sein  und  dennoch  uns  selbst  als  evidente  denknothwendige 
Wahrheiten  vorkommen  müßten?  Und  diese  Vermuthung 
meinte  er  nur  widerlegen  zu  können  durch  den  Hinweis 
darauf,  daß  auch  die  Vorstellung  eines  unbedingt  voll- 
kommenen heiligen  Gottes  unter  jenen  angeborenen  Ideen 
vorhanden  sei;  aus  sich  selbst  aber  könne  der  endliche 
Geist  nicht  den  Gedanken  dessen  erzeugt  haben,  was  größer 
ist  als  er  selbst,  den  Gedanken  des  Unendlichen;  nur  ein 
wirklicher  heiliger  Gott  könne  ihn  in  uns  gelegt  haben, 
diesem  heiligen  Gott  aber  widerspreche  es,  uns  zu  täuschen. 
Es  ist  ein  Zug  in  dieser  Beweisführung,  der  unsere  Auf- 
merksamkeit reizen  könnte :  der  hin  durchblickende  Gedanke, 
in  unserer  unmittelbaren  Zuversicht  zu  der  Bedeutung  der 
sittlichen  Idee  liege  zuletzt  die  Bürgschaft  auch  für  die 
Wahrheit  unserer  Erkenntniß;  aber  so  wie  der  Schlußsatz 
hier  kurzer  Hand  Beides  zusammenstellt,  wird  er  allerdings 
Niemand  überzeugen.  Denn  was  läßt  sich  am  Ende  mit 
Grund  den  religiösen  Auffassungen  entgegenstellen,  die  auch 
von  dem  Glauben  an  einen  heiligen  Gott  ausgehen,  aber 
es  mit  seiner  erziehenden  Weisheit  sehr  wohl  verträglich 
finden,  daß  er  einen  großen  Theil  der  Wahrheit  unserer 
menschlichen  Erkenntniß  ganz  entzogen  habe?  Und  wenn 
er  nun  nicht  einen  Theil,  sondern  alle  Wahrheit  uns  ver- 
sagt, dafür  aber  unsern  Geist  mit  ihm  denknothwendigen 
Einbildungen  ausgestattet  hätte,  welches  Recht  hätten  wir, 
mit  dem  tadelnden  Namen  einer  Täuschung  diese  Ver- 
sagung der  Wahrheit  und  die  Verleihung  des  Irrthuras  zu 
belegen,  bevor  wir  nachgewiesen  hätten,  daß  auf  die  Ge- 
währung der  ersten  unser  Geist  ein  Recht  besitze,  welches 
Gott  nicht  ohne  Abbruch  seiner  eignen  Heiligkeit  unbeachtet 
lassen  dürfte,  und  daß  die  Erkenntniß  alles  Seienden,  wie 
es  ist,  die  nothwendige  Vorbedingung  zu  der  Erfüllung  der 
Zwecke  sei,  die  wir  den  Absichten  eben  dieser  Heiligkeit 
zutrauen?     Diesen   Beweis   hat   Descartes   weder   erbracht 


Vom  Skepticismus.  489 

noch  versucht;  er  überläßt  sich  in  diesem  Gedankengange 
sehr  sorglos  gewissen  Annahmen,  die  bei  der  Beurtheilung 
des  inneren  Verkehrs  der  Menschen  unter  einander  ihre 
beschränkte  Berechtigung  haben,  aber  zu  grundlosen  Vor- 
urtheilen  werden,  wenn  sie  auf  diese  umfassendste  Frage 
nach  dem  Sinne  einer  in  endlichen  Geistern  sich  offen- 
barenden Denknothwendigkeit  angewandt  werden;  seine  Er- 
örterung würde  uns  wirklich  nicht  hindern  anzunehmen, 
zwar  nicht  ein  boshafter  Dämon,  aber  eine  gestaltende 
Macht  überhaupt  habe  uns  so  gelDildet,  daß  in  der  Thal 
Alles  uns  denknothwendig  anders  zu  sein  scheine  als  es 
ist.  Zweierlei  nun  bleibt  uns  übrig.  Wir  können  zuerst 
denjenigen,  der  dieser  Annahme  beizutreten  geneigt  ist, 
sich  selbst  überlassen,  da  wir  die  Unmöglichkeit  seiner 
Widerlegung  einsehen,  so  lange  er  sein  Zweifeln  nicht  auf 
bestimmte  Gründe  stützt,  die  den  Zweifel  nothwendig 
machen,  sondern  nur  auf  die  Möglichkeit,  ihn  stets  ohne 
allen  Grund  zu  wiederholen;  dieser  Neigung  gegenüber 
würden  wir  uns  wissenschaftlich  auf  einen  Gnmdsatz  des 
Selbstvertrauens  der  Vernunft  zurückziehen,  dem 
im  Leben  auch  unser  Gegner  zu  folgen  nicht  umhin  kann 
und  nicht  verschmäht:  wir  würden  Denknothwendiges  so 
lange  für  wahr  halten,  bis  es  durch  seine  eigenen  Folge- 
rungen eine  andere  Aufklärung  über  sich  gibt  und  selbst 
uns  nöthigt,  es  für  einen  Schein  zu  erklären,  der  dann 
nicht  schlechthin  ungültiger  Schein  ist,  sondern  in  einer 
angebbaren  Beziehung  zu  der  Wahrheit  steht,  welcher  er 
nicht  mehr  gleicht.  Dies  Verhalten  beobachtet  man  im 
Leben;  denn  so  lange  die  Welt  steht,  ist  jener  grundlose 
Skepticismus  zwar  immer  zuweilen  wieder  zum  Vorschein 
gekommen ;  aber  ebenso  oft  hat  man  ihm  einfach  den  Rücken 
gekehrt.  Einer  wissenschaftlichen  Betrachtung  geziemt  dies 
nicht  ganz;  der  andere  Weg  scheint  mir  nützlicher,  die 
innere  Haltlosigkeit  jener  wunderlichen  Bekümmerniß  auf- 
zudecken, ob  nicht  am  Ende  Alles  an  sich  anders  sei,  als 
es  uns  denknothwendig  scheinen  müsse?  Was  heißt  doch 
endlich  dieses  Ansich,  oder  dies  Ansichsein  von  irgend 
Etwas,  das  wir  unserer  denknothwendigen  Auffassung  des- 
selben Etwas  entgegenstellen  und  das  anders  sein  könnte 
als  diese?  Hierin  liegt,  wie  wir  jetzt  ausführen  wollen, 
ein  Vorurtheil  unserer  zusammengesetzten  Bildung,  das  un- 
besehen in  diese  Skepsis,  die  jedes  Vorurtheil  abgethan  zu 
haben  glaubt,  übergegangen  ist. 

304.  Wer  über  die  Berechtigung  und  die  Quellen  seiner 


490  Erstes  Kapitel. 

Erkenntniß  nachzudenken  beginnt,  findet  sich  zunächst  in 
alle  die  Voraussetzungen  verstrickt,  die  unbewußt  im  Laufe 
seiner  Bildung  auf  Grund  eigner  Erlebniß  oder  durch  Ueber- 
lieferung  ihm  entstanden  sind;  denn  die  Anfangsstimmung 
des  Geistes  kann  nicht  der  Zweifel,  sondern  nur  das  Zu- 
trauen zu  allen  seinen  Wahrnehmungen  sein.  Keine  von 
jenen  Voraussetzungen  ist  allgemeiner,  als  die  Vorstellung 
einer  unabhängigen  Welt  der  Sachen,  zu  der  wir  alle  ge- 
wohnt sind  unsere  Gedankenwelt  in  Gegensatz  zu  bringen. 
Irrthümer,  welche  uns  innerhalb  dieser  Gedankenwelt  be- 
gegnen, unterscheiden  wir  als  leicht  heilbare  Schäden  von 
dem  befürchteten  großen  Irrthum,  in  welchem  sich  vielleicht 
die  gesammte  Folgerichtigkeit  der  Gedankenwelt  gegenüber 
jener  Welt  der  Sachen  selbst  befindet.  Die  zweifelnde 
Frage,  ob  nicht  doch  Alles  anders  sein  könnte,  als  es  uns 
scheinen  muß,  hat  daher  verständlichen  Sinn  zunächst 
nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  unser  Erkennen  zum 
Abbilden  einer  Sachenwelt  bestimmt  sei,  und  in  der  That 
hat  man  am  häufigsten  die  Wahrheit,  über  deren  Möglich- 
keit für  uns  man  ungewiß  ist,  als  die  Uebereinstimmung 
unserer  Erkenntnißbilder  mit  dem  Verhalten  der  Sachen 
definirt,  welches  sie  abzubilden  behaupten.  Das  gewöhn- 
liche Bewußtsein  verläßt  im  Leben  diesen  Standpunkt  nie; 
die  Philosophie  hat  ihn  öfters,  im  Verlaufe  ihrer  Unter- 
suchungen und  auf  Grund  von  Erkenntnissen,  die  sie  schon, 
zu  besitzen  glaubte,  aufgegeben;  einer  Skepsis  aber,  welche 
bei  Erforschung  der  Möglichkeit  unserer  Erkenntniß  allen 
Vorurtheilen  entsagen  wollte,  war  es  zunächst  Pflicht,  nicht 
eine  Definition  der  von  ihr  gesuchten  Wahrheit  still- 
schweigend beizubehalten,  die  auf  das  unerörterte  Vor- 
urtheil  von  dem  Vorhandensein  jener  Außenwelt  der  Sachen 
gegründet  ist.  Bestreiten,  daß  diese  Annahme  ein  Vor- 
urtheil  sei,  könnte  nur  derjenige,  der  nie  einen  Zweifel 
erhöbe,  sondern  an  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  sich 
so  vollständig  genügen  ließe,  daß  sie  ihm  zugleich  ein 
zwingendes  Zeugniß  für  das  Dasein  und  zugleich  eine  fehler- 
lose Offenbarung  über  die  Natur  dieser  xA.ußenwelt  schiene; 
wer  aber  einmal  an  der  Wahrheit  einer  Wahrnehmung 
zweifelt  und  dabei  als  selbstverständlich  die  Voraussetzung 
von  dem  Dasein  der  Sache  festhält,  der  sie  eigentlich  ent- 
sprechen sollte,  der  kann  zuerst  seinen  Zweifel  nur  erheben 
auf  Grund  gewisser  ihm  selbst  denknothwendig  erscheinen- 
den Ueberzeugungen  über  die  Natur  jener  Sache  selbst, 
die    ihm    verbieten,    die    gegebene   Wahrnehmung    als    ihr 


Vom  Skepticismus.  491 

wahres  Abbild  anzusehen;  da  ihm  aber  ferner  die  Sache 
selbst  nun  nicht  mehr  durch  unmittelbare  Wahrnehmung 
gegeben  ist,  so  kann  auch  die  Nöthigung,  ihr  Dasein  über- 
haupt festzuhalten,  nur  auf  dem  Zwange  einer  ihm  selbst 
angebornen  Denknothwendigkeit  beruhen,  die  ihn  nöthigt, 
das  mannigfache  Wahrgenommene  durch  den  Gedanken 
jenes  Nichtwahrgenommenen  zu  ergänzen,  um  das  Ganze 
seiner  Vorstellungen  in  eine  innerliche,  den  Gesetzen  seines 
Denkens  entsprechende  Uebereinstimmung  zu  bringen. 
Unserem  unmittelbaren  Glauben  nicht,  wohl  aber  unserer 
wissenschaftlichen  Rechtfertigung  über  unser  Beharren  bei 
der  Annahme  der  Wirklichkeit  jener  Sachenwelt,  liegt  eine 
philosophische  Erörterung  dieser  Gedanken  zu  Grunde,  und 
die  Systeme  des  Idealismus  und  des  Realismus  sind  hier- 
über zu  entgegengesetzten  Ergebnissen  gekommen.  Diese 
umfassende  Frage  hier  zur  Entscheidung  zu  bringen,  ist 
nicht  im  mindesten  unsere  Aufgabe;  im  Gegentheil  ist 
unsere  Absicht  zu  zeigen,  daß  sie  methodologisch  nicht 
in  diesen  Beginn  erkenntnißtheoretischer  Ueberlegungen 
hätte  eingeflochten  werden  sollen.  Ein  und  derselbe  Ge- 
danke ist  zu  diesem  Zwecke  in  zwei  Formen  zu  verfolgen; 
zuerst  ist  zu  erinnern,  daß  jede  Entscheidung  über  jene 
Frage  die  Anerkennung  der  Competenz  des  Denkens  vor- 
aussetzt; dann  ist  zu  zeigen,  daß  nie  etwas  Anderes  als 
der  Zusammenhang  unserer  Vorstellungen  unter  einander 
den  Gegenstand  unserer  Untersuchungen  ausmachen  kann. 
305.  Wenige  Worte  genügen,  um  das  Erste  zu  wieder- 
holen. Jede  Kritik  unseres  gesammten  Erkenntnißver- 
mögens  P,  unternommen  in  der  Absicht,  seine  Ueberein- 
stimmung mit  der  Natur  von  Dingen  zu  untersuchen,  würde 
zur  Entscheidung  eine  andere  Quelle  Q  der  Wahrheit  vor- 
aussetzen, welche  uns  diese  Natur  unverfälscht  kennen 
lehrte;  denn  nur  Bekanntes  mit  Bekanntem  können  wir 
vergleichen,  nicht  Bekanntes  mit  Unbekanntem.  Sei  nun 
dieses  Q  uns  gegeben,  gleichviel  ob  in  Gestalt  einer  um- 
fassenden, unserem  Geiste  ursprünglich  mitgetheilten  Offen- 
barung oder  in  Gestalt  einer  Gewißheit,  die  uns  in  Bezug 
auf  einzelne  Fragen  jedesmal  in  dem  Augenblicke  ihrer 
Aufwerfung  plötzlich  überkäme,  wie  werden  wir  es  mit 
den  Aussprüchen  jenes  P  vergleichen,  welches  uns  unsere 
Einzelvorstellungen  nach  bestimmten  Gesetzen  zu  ver- 
knüpfen gebietet?  Sind  P  und  Q  einstimmig,  wodurch 
würden  wir  sie  beide  unterscheiden  können,  um  die  Ueber- 
zeugung  zu  gewinnen,  daß  nicht  nur  unsere  subjective  Er- 


492  Erstes  Kapitel. 

kenntniß  P  hier  zu  Worte  gekommen,  sondern  außerdem 
noch  durch  jene  höhere  objective  Wahrheit  Q  bestätigt  und 
in  ihrer  Uebereinstimmung  mit  den  Dingen  selbst  bezeugt 
worden  ist?  Wir  würden  es  gar  nicht  können,  sondern 
der  vereinigte  Ausspruch  beider  würde  genau  denselben 
Zweifeln  unterliegen,  denen  der  von  P  allein  ausgesetzt 
gewesen  wäre.  Wenn  aber  Q  uns  etwas  anderes  lehrte  als  P, 
wie  würden  wir  den  Streit  entscheiden?  Gesetzt  auch,  daß 
thatsächlich  Q  die  Wahrheit  und  P  den  Irrthum  lehrte,  auf 
welche  andere  Weise  könnte  unser  Glaube  an  diese  höhere 
Berechtigung  von  Q  erweckt  werden  als  durch  die  größere 
unmittelbare  Gewißheit,  mit  welcher  sein  Ausspruch  gegen- 
über dem  von  P  auftritt?  Aber  diese  Gewißheit  ist  un- 
denkbar, ohne  daß  Q  mit  eben  derjenigen  Wahrheit  über- 
einstimmt, die  das  allgemeine  Gesetz  unserer  subjectiven 
Erkenntnißf ähigkeit  P  bildet ;  was  dieser  widerstreitet,  würde, 
auch  in  unmittelbarer  Wahrnehmung  gegeben,  uns  stets 
für  ein  Räthsel,  aber  nicht  für  Offenbarung  gelten.  Bleiben 
daher  Q  und  P  einander  entgegengesetzt,  so  erfahren  wir 
nicht  eine  Widerlegung  des  P  durch  das  höhere  Recht 
des  Q,  sondern  wir  erleben  einen  inneren  Widerstreit 
zwischen  zwei  Aeußerungen  desselben  unserem  Geist 
eigenthümlichen  Erkenntnißvermögens,  einen  Widerstreit, 
der  entweder  bei  dem  Mangel  einer  anrufbaren  höheren 
Instanz  niemals  oder  nur  dadurch  geschlichtet  werden  kann, 
daß  eben  dieses  selbe  Erkenntnißvermögen  einen  ihm  selbst 
angehörigen  höheren  Gesichtspunkt  auffindet,  von  welchem 
aus  eine  oder  die  andere  jener  entgegengesetzten  Aeuße- 
rungen berichtigt  und  der  nun  blos  scheinbare  Widerspruch 
zwischen  ihnen  beseitigt  wird.  Auf  das  mithin,  was  uns 
denknothwendig  ist,  sind  wir  thatsächlich  in  jedem  Falle 
beschränkt;  das  Selbstvertrauen  der  Vernunft,  daß  Wahr- 
heit überhaupt  durch  Denken  gefunden  werden  könne,  ist 
die  unvermeidliche  Voraussetzung  alles  Untersuchens ; 
welches  der  Inhalt  der  Wahrheit  sei,  kann  immer  nur 
durch  eine  Selbstbesinnung  des  Denkens  gefunden  werden, 
das  seine  einzelnen  Erzeugnisse  unablässig  an  dem  Maß- 
stabe der  allgemeinen  Gesetze  seines  Thuns  mißt  und  prüft. 
306.  Ueber  den  hierin  enthaltenen  Cirkel  bedenklich 
zu  sein,  ist  nicht  nur  nutzlos,  da  seine  Unvermeidlichkeit 
nun  doch  handgreiflich  ist,  sondern  auch  überflüssig,  weil 
niemals,  und  dies  ist  das  Andere,  was  wir  zu  zeigen  haben, 
ein  Augenblick  kommen  kann,  welcher  den  in  dunklem 
Argwohn  von  dorther  befürchteten  Schaden  uns  bemerkbar 


Vom  Skepticismus.  493 

werden  ließe.  Alles,  was  wir  von  der  Außenwelt  wissen, 
beruht  auf  den  Vorstellungen  von  ihr,  die  in  uns  sind; 
es  ist  völlig  gleichgültig  zunächst,  ob  wir  idealistisch  das 
Vorhandensein  jener  Welt  leugnen  und  nur  unsere  Vor- 
stellungen von  ihr  als  das  Wirkliche  betrachten,  oder  ob 
wir  realistisch  an  dem  Sein  der  Dinge  außer  uns  fest- 
halten und  sie  auf  uns  wirken  lassen;  auch  in  dem  letzteren 
Falle  gehen  die  Dinge  doch  nicht  selbst  in  unsere  Erkennt- 
niß  über,  sondern  nur  Vorstellungen,  die  nicht  Dinge  sind, 
erwecken  sie  in  uns.  Die  mannigfaltigen  Vorstellungen  in 
uns  also,  woher  sie  auch  gekommen  sein  mögen,  bilden  das 
einzige  unmittelbar  Gegebene,  von  dem  unsere  Erkenntniß 
beginnen  kann ;  in  ihnen  und  in  dem  Verlauf  ihres  Wechsels 
und  ihrer  Verknüpfungen  suchen  wir  eine  gesetzliche  Ord- 
nung nach  Anleitung  der  allgemeinen  Grundsätze  unseres 
Denkens  auf,  die  uns  bestimmen,  was  für  Ordnung  und 
Wahrheit,  was  für  Widerspruch  und  Räthsel  zu  halten  sei. 
So  oft  wir  ein  solches  Gesetz  entdeckt  haben,  nach  welchem 
sich  der  Zusammenhang  zweier  bestimmten  Vorstellungen 
B  und  F  in  uns  allgemein  und  immer  richtet,  so  oft  haben 
wir  ein  Stück  von  dem  erreicht,  was  wir  Erkenntniß  der 
Sache  nennen;  scheitern  wir  in  der  Bemühung,  einen  so 
beständigen  Zusammenhang  zwischen  B  und  F  aufzufinden, 
so  liegt  ein  Räthsel  vor,  dessen  Auflösung  wir  immer  darin 
suchen,  allgemeingültige  Beziehungen  zwischen  B  und  einem 
andern  Vorstellungsinhalt  M,  zwischen  F  und  einem  vierten 
N  aufzusuchen,  und  dann  zu  zeigen,  daß  wegen  eines 
veränderlichen  Zusammenhanges,  der  zwischen  M  und  N 
stattfindet,  derjenige  zwischen  B  und  F  nicht  durch  das 
versuchte  einfache  Gesetz,  sondern  nur  durch  ein  anderes., 
das  auf  M  und  N  Rücksicht  nimmt,  ausgedrückt  werden 
kaim.  Zweifeln  wir  endlich  daran,  ob  eine  Relation,  die 
wir  zwischen  zwei  Vorstellungen  B  und  F  in  uns  gefunden 
haben,  sachlich  richtig  sei,  so  heißt  dies  nie  etwas  anders 
als:  wir  zweifeln  daran,  ob  allgemein  und  immer,  so  oft 
B  und  F  in  unserem  Bewußtsein  als  Vorstellungen  auf- 
treten werden,  zwischen  ihren  Inhalten  dieselbe  Relation 
stattfinden  werde,  die  wir  vorher  aus  nur  einigen  ihrer 
Wiederholungsfälle  abstrahirt  hatten.  Was  man  aber  mit 
der  wiederholten  Frage  wolle,  ob  eine  für  unser  Bewußt- 
sein immer  sich  bestätigende  Beziehung  zwischen  B  und  F 
auch  an  sich  richtig  sei,  ist  nur  in  einem  Falle  begreif- 
lich :  dann  nämlich,  wenn  diese  hier  thatsächlich  bestehende 
Beziehung   den  allgemeinen   Voraussetzungen  nicht  gemäß 


494  Erstes  Kapitel. 

ist,  welche  wir  nach  der  eignen  Nothwendigkeit  unseres 
Denkens  über  alle  Beziehungen  des  Mannigfaltigen  über- 
haupt und  so  auch  über  diejenigen  machen  müssen,  die  wir 
uns  als  bestehend  zwischen  verschiedenen  von  uns  un- 
abhängigen realen  Wesen  denken  wollen.  Nicht  dies  Reale 
einer  vorausgesetzten  Außenwelt  selbst  tritt  hier  zwischen 
unsere  Vorstellungen  als  ein  Maßstab,  an  dem  die  Wahr- 
heit dieser  Vorstellungen  zu  messen  wäre;  sondern  immer 
nur  die  uns  nothwendige  Vorstellung  von  dem  möglichen 
Verhalten  einer  solchen  Welt,  wenn  sie  ist,  also  einer 
unserer  eigenen  Gedanken,  ist  das  Maß,  an  dem  wir  die 
unmittelbar  evidente  oder  einer  Aufklärung  bedürftige  Wahr- 
heit anderer  Gedanken  messen. 

307.  Es  ist  vielleicht  überflüssig,  vielleicht  aber  doch 
nützlich,  diese  einfache  Ueberlegung  noch  von  entgegen- 
gesetzter Seite  her  zu  wiederholen,  und  zu  fragen,  wie  es 
denn  zugehen  müsse,  wenn  wir  irgend  eine  angebliche  Er- 
kenntniß  Z  als  einen  Irrthum  erkennen  sollen?  Gesetzt, 
wir  wüßten  aus  unseren  Beobachtungen,  daß  zwischen 
wiederholt  in  uns  entstehenden  Vorstellungen  B  und  F  die 
unveränderliche  Beziehung  Z  nicht  stattfinde,  diese  Be- 
ziehung sich  vielmehr  ändere  je  nach  den  veränderlichen 
Verhältnissen,  in  denen  B  mit  M  und  F  mit  N  verbunden 
vorkomme;  ein  anderer  unserer  Mitmenschen  aber  lebe  in 
einem  Erfahrungskreise,  in  welchem  ausschließlich  die  Be- 
dingungen gelten,  unter  denen  die  Relation  Z  zwischen 
B  und  F  stets  bestehen  muß :  so  wird  für  ihn  weder  je 
die  Veranlassung  zu  einem  Zweifel  an  Z  kommen,  noch 
wird  der  Glaube  an  Z  den  Zusammenhang  seiner  übrigen 
Vorstellungswelt  beeinträchtigen,  so  lange  Z  mit  den  all- 
gemeinen Gesetzen  seines  Denkens  verträglich  ist.  Aller- 
dings wird  die  Voraussetzung,  Z  sei  eine  von  weiteren 
Bedingungen  unabhängige  Relation  zwischen  B  und  F,  es 
ihm  sehr  erschweren  können,  für  die  Verhältnisse  anderer 
Bestandtheile  U  und  W  seines  Erfahrungskreises  ein  ein^ 
faches  Gesetz  zu  finden,  das  er  finden  würde,  wenn  er 
die  Abhängigkeit  des  Z  von  Bedingungen  erkannt  hätte, 
die  auch  das  Verhältniß  zwischen  U  und  W  mitbestimmen; 
aber  so  lange  er  seinen  Glauben  an  Z  nicht  weiter  als 
auf  die  Gegenstände  seiner  Vorstellungswelt  ausdehnt,  wird 
es  ihm  doch  gelingen,  das  in  dieser  Zusammengehörige  in 
einen  wenn  auch  schwerfällig  ausgedrückten  Zusammen- 
hang zu  bringen.  Wir  nun,  im  Besitz  der  Beobachtungen, 
die    ihm   fehlen,    sehen    seinen   Irrthum;    ihn    selbst   aber 


Vom  Skepticismus.  495 

können  wir  von  demselben  nur  dadurch  überzeugen,  daß 
wir  ihn  aus  seinem  beschränkteren  Erfahrungskreise  her- 
ausreißen und  in  einen  weiteren  versetzen;  dann,  wenn  in 
ihm  selbst  neue  Vorstellungsverknüpfungen  entstehen,  die 
von  seinen  früheren  sich  unterscheiden,  wird  er  zuge- 
stehen, sich  geirrt  zu  haben;  und  auch  dann  nur  zu- 
gestehen, daß  die  Allgemeinheit  falsch  war,  mit  der  er 
die  Relation  Z  zwischen  B  und  F  dachte,  während  sie 
immer  wahr  bleibt,  wenn  die  Bedingungen  hinzugedacht 
werden,  unter  denen  sie  ihm  unbewußt  galt.  Wie  nun, 
wenn  wir  an  die  Stelle  dieses  einen  in  ungünstige  Ver- 
hältnisse gebannten  Beobachters  die  menschliche  Vernunft 
überhaupt  setzen  und  sie  eingeschränkt  in  eine  zusammen- 
hängende Vorstellungsweise  denken,  die  dem  wahren  Ver- 
halten einer  außer  ihr  befindlichen  Sachenwelt  nicht  ent- 
spricht? Auf  welche  Weise  wird  der  beständige  Irrthum, 
in  welchem  wir  uns  dann  alle  befinden,  zu  unserer  Kennt- 
niß  kommen  und  welchen  Schaden  wird  unsere  Erkenntniß 
von  seinem  Fortbestande  haben?  Sehen  wir  zunächst  ab 
von  der  Belehrung,  die  uns  ein  Engel  ertheilen  könnte,  so 
finden  wir :  die  Sachen  selbst  sind  es  gewiß  nicht,  die  sich 
plötzlich  einmal  selbst  zwischen  unsere  Gedanken  drängea 
und  deren  Falschheit  aufdecken;  käme  auch  die  Welt  der 
Dinge  in  ihrem  selbständigen  Verlauf  einmal  in  neue  Con- 
stellationen,  die  ganz  schneidend  den  Auffassungen  wider- 
sprächen, welche  wir  uns  über  sie  gebildet  hätten :  merk- 
lich würde  uns  dieser  Widerspruch  immer  nur  dadurch^ 
daß  ihre  Einwirkung  auf  uns  jetzt  Vorstellungen  in  uns 
erweckte,  deren  Verknüpfung  den  früher  für  sie  angenom-. 
menen  Regeln  nicht  mehr  folgt.  Dann  haben  wir  einen 
jener  inneren  Irrthümer  begangen,  deren  Vorkommen  wir 
natürlich  zugestehen;  wir  haben  die  veränderliche  Welt 
der  Vorstellungen  in  uns,  das  einzige  Material,  das  unserem 
Erkenn tnißbestreben  vorliegt,  falsch  interpretirt ;  wir  er- 
kennen jetzt,  d£Lß  wir  zugelernt  haben  und  daß  der  Satz  Z 
die  früher  von  ihm  geglaubte  Allgemeingültigkeit  nicht 
besitzt,  aber  auch,  daß  er  zu  gelten  fortfährt,  wenn  die 
jetzt  bekannt  gewordenen  Bedingungen  seiner  Gültigkeit  zu 
ihm  hinzugedacht  werden.  Und  da  nun  die  Allgemein- 
gültigkeit des  Z  ein  Irrthum  ist,  so  ist  auch  die  so  be- 
schränkte Gültigkeit  des  Z  eine  Wahrheit,  und  wir  lernen 
einsehen:  weil  Irrthum  uns  zuletzt  immer  nur  durch  einen 
inneren  Widerstreit  in  unserer  eigenen  Vorstellungswelt 
bemerkbar  werden  kann,  so  besteht  auch  das  Erkennen  der 


496  Erstes  Kapitel. 

Wahrheit  nur  in  der  Auffindung  von  Gesetzen,  nach  denen 
dieser  innere  Zusammenhang  unserer  Vorstellungswelt  sich 
immer  richten  wird,  wie  unendlich  wir  auch  ihren  ver- 
änderlichen Lauf  fortgesetzt  denken  mögen.  Gewiß  ist 
diese  Auffindung  ein  unvollendbares  Unternehmen  und  wir 
haben  die  ganze  Wahrheit  nicht,  sondern  wir  suchen  sie; 
so  oft  wir  indessen  eine  frühere  Ueberzeugung  Z  auf  Ver- 
anlassung neuer  Erfahrungen  iii  unserer  Vorstellungswelt 
berichtigen,  haben  wir  zwar  noch  nicht  die  volle  Wahrheit 
erreicht,  aber  diejenigen  Irrthümer  aufgehoben,  die  ohne 
diese  Berichtigung  fortgedauert  hätten. 

308.  Ich  müßte  mich  sehr  täuschen,  oder  diese  Er- 
örterung wird  Niemand  genügen.  So  bleiben  wir  dennoch, 
wird  man  einwerfen,  wenn  wir  auch  innere  Widersprüche 
in  uns  tilgen,  in  den  umfassenden  Irrthum  unseres  ganzen 
in  sich  verwachsenen  Vorstellens  eingeschlossen  und  sehen 
nie  die  Wahrheit  an  sich,  sondern  nur  was  uns  Wahrheit 
scheinen  muß.  Rufen  wir  denn  jetzt  jenen  Engel  zu  Hülfe, 
der  aus  seiner  reinen  Atmosphäre  herab  die  Dinge  schaut, 
wie  sie  sind.  Wie  sehr,  bilden  wir  uns  ein,  würden  wir 
erschrecken,  wenn  plötzlich  durch  ihn  der  Schleier  vor 
unsern  Augen  gelüftet  würde,  und  wir  nun  sähen,  wie 
Alles  ganz  anders  ist,  als  wir  uns  es  vorgestellt  hatten!  In 
der  That,  einen  sehr  freudigen  Schrecken  würden  wir 
empfinden,  wenn  dieser  Augenblick  uns  offenbarte,  wie 
dieselben  inhaltvollen  Vorstellungen,  die  wir  früher  hatten, 
durch  einfache  uns  verborgen  gebliebene  Mittelglieder  nach 
denselben  Gesetzen,  nach  denen  unser  Denken  sich  früher 
bewegte,  lückenlos  und  ohne  Widerspruch  begreiflich 
würden.  Aber  auch  nur  unter  dieser  Bedingung.  Wäre 
es  eine  ganz  neue  Welt,  die  uns  jetzt  aufginge,  ohne 
Aehnlichkeit  und  Zusammenhang  mit  der,  in  der  wir  früher 
lebten,  so  würden  wir  ja  nicht  sehen,  daß  Alles  anders 
sei,  als  wir  dachten;  denn  damit  meinten  wir  ja,  daß 
eben  dasjenige  alles  anders  sei,  was  wir  dachten;  das 
ganz  neue  Schauspiel,  das  keine  Vergleichung  mit  dem 
vorigen  zuließe,  würde,  aus  dem  Grunde  wenigstens,  den 
wir  hier  im  Sinne  hatten,  uns  weder  freudig  noch  ängstlich 
erschrecken;  selbst  überraschen  könnte  es  nur  durch  Gegen- 
satz, also  doch  durch  Beziehung  auf  den  Inhalt  unseres 
früheren  Irrens.  Aber  auch  wir,  die  nun  Sehenden,  müßten 
dieselben  sein,  die  wir  früher  bhnd  waren.  Hätte  jener 
Offenbarungsaugenblick  auch  die  Gesetze  unsers  Denkens 
umgewandelt  und  die  Bedingungen  verändert,  die  für  uns 


Vom  Skepticismus.  497 

Wahrheit  und  Irrthum  unterschieden,  so  würden  wir  zwar, 
wenn  die  neueröffnete  Welt  diesen  neuen  Bedingungen 
der  Wahrheit  durchgängig  entspräche,  keinen  Anlaß  haben, 
irgend  einen  einzelnen  Bestandtheil  derselben  in  Zweifel 
zu  ziehen ;  aber  was  sollte  uns  vor  dem  allgemeinen  Zweifel 
schützen,  ob  nicht  auch  diese  in  sich  zusammenstimmende 
neue  Vorstellungswelt  die  wahre  Natur  der  Dinge  verfehle, 
und  ob  nicht  an  sich  wieder  Alles  anders  sei,  als  auch  sie 
uns  Alles  erscheinen  lasse?  Will  man  diesen  Zweifel  da- 
durch ausschließen,  daß  nach  unserer  eigenen  Voraus- 
setzung ja  eben  die  Wahrheit  der  Dinge  selbst  es  sei, 
die  den  Inhalt  der  neuen  Anschauungen  ausmache?  Aber 
es  würde  ja,  um  die  Möglichkeit  des  Zweifels  auszu- 
schließen, nicht  die  Thatsache  hinreichen,  daß  unsere  Ab- 
bildung der  Dinge  die  richtige  sei;  wir  müßten  auch  Mittel 
haben,  um  sie  mit  Gewißheit  für  die  richtige  zu  erkennen. 
Dies  Mittel  besitzen  wir  nun  in  Bezug  auf  einzelne  Bestand- 
theile  unserer  Erkenntniß;  ihre  Richtigkeit  können  wir 
daran  ermessen,  daß  sie  nach  den  allgemeinen  Gesetzen 
unseres  Denkens  beurtheilt  im  Einklang  mit  allen  übrigen 
Bestandtheilen  derselben  Erkenntniß  sind ;  das  Ganze  unserer 
Vorstellungswelt  können  wir  in  Bezug  auf  seine  Wahrheit 
nicht  durch  Vergleichung  mit  einer  Realität  beurtheilen, 
welche,  so  lange  sie  nicht  erkannt  wird,  für  uns  nicht 
vorhanden  ist,  sobald  sie  aber  vorgestellt  wird,  denselben 
Zweifeln  unterliegt,  welche  allen  andern  Vorstellungen  als 
solchen  gelten,  und  endlich,  die  Thatsache  selbst  ist  ja 
unmöglich  und  sinnlos,  die  wir  oben  noch  zugaben;  was 
kann  es  heißen,  daß  jenes  höhere  Anschauen  Vorstellen 
oder  Erkennen  die  Sache  selbst  gebe,  wie  sie  ist?  ,Wie 
hoch  wir  auch  die  Einsicht  voUkommnerer  Wesen  über 
die  unsere  erheben  mögen :  so  lange  wir  noch  etwas  irgend 
Verständliches  unter  ihr  denken  wollen,  wird  sie  doch  immer 
unter  einen  dieser  Begriffe  des  Wissens  Anschauens  Er- 
kennens  fallen,  d.  h.  sie  wird  nie  die  Sache  selbst,  sondern 
immer  ein  Ganzes  von  Vorstellungen  über  die  Sache  sein. 
Nichts  ist  einfacher  als  die  Ueberzeugung,  daß  jeder 
erkennende  Geist  Alles  nur  so  zu  Gesicht  bekommen  kann, 
wie  es  für  ihn  aussieht,  wenn  er  es  sieht,  aber  nicht  so 
wie  es  aussieht,  wenn  es  Niemand  sieht;  wer  eine  Er- 
kenntniß verlangt,  welche  mehr  als  ein  lückenlos  in  sich 
zusammenhängendes  Ganze  von  Vorstellungen  über  die 
Sache  wäre,  welche  vielmehr  diese  Sache  selbst  erschöpfte, 
der  verlangt  keine  Erkenntniß  mehr,  sondern  etwas  völlig 

Lotze,  Logik.  32 


498  Erstes  Kapitel. 

Unverständliches.  Man  kann  nicht  einmal  sagen,  er  wünsche 
die  Dinge  nicht  zu  erkennen,  sondern  geradezu  sie  selber 
zu  sein;  er  würde  vielmehr  auch  so  sein  Ziel  nicht 
erreichen;  könnte  er  es  dahin  bringen,  das  Metall  etwa 
selbst  zu  sein,  dessen  Erkenntniß  durch  Vorstellungen  ihm 
nicht  genügt,  nun  so  würde  er  es  zwar  sein,  aber  um  so 
weniger  sich,  als  nunmehriges  Metall,  erkennen;  beseelte 
aber  eine  höhere  Macht  ihn  wieder,  während  er  Metall 
bliebe,  so  würde  er  auch  als  dies  Metall  sich  gerade  nur 
so  erkennen,  wie  er  sich  selbst  in  seinen  Vorstellungen 
vorkommen  würde,  aber  nicht  so,  wie  er  dann  Metall  wäre, 
wenn  er  sich  nicht  vorstellte. 

309.  Warum  sollte,  in  diesen  grundlegenden  Fragen, 
die  Weitläufigkeit  zu  schelten  sein,  die  ich  mir  gestattet 
habe?  Ihr  Ertrag  ist  freilich  gering.  Wir  haben  uns  über- 
zeugt, daß  das  veränderliche  Ganze  unserer  Vorstellungen 
der  einzige  uns  gegebene  Stoff  unserer  Arbeit  ist;  daß 
Wahrheit  und  ihre  Erkenntniß  nur  in  allgemeinen  Gesetzen 
des  Zusammenhangs  besteht,  die  sich  an  einer  bestimmten 
Mehrheit  von  Vorstellungen  ausnahmslos  so  oft  bestätigt 
finden,  als  diese  Vorstellungen  wiederholt  in  unserem  Be- 
wußtsein auftreten;  daß  in  dem  weiteren  Verlauf  der  Ge- 
danken, die  solche  Wahrheiten  suchen,  sich  uns  nothwendig, 
ebenfalls  unserer  Vorstellungswelt  angehörig,  der  Gegensatz 
zwischen  unseren  Vorstellungen  und  Gegenständen  aus- 
bildet, auf  welche  wir  sie  gerichtet  glauben;  daß  die  Frage 
über  die  Wahrheit  dieses  Gegensatzes  und  über  die  Be- 
deutung, die  je  nach  ihrer  Beantwortung  unseren  Vor- 
stellungen zukommen  kann,  eine  Frage  der  Metaphysik, 
ganz  mit  Unrecht  in  diesen  Anfang  erkenntniß-theoretischer 
Untersuchungen  verwickelt  wird;  daß  wir  zwar  in  Bezug 
auf  einzelne  unserer  Gedanken  zweifeln  können  an  der 
Möglichkeit,  sie  mit  allem  andern  Inhalt  unseres  Bewußt- 
seins in  Einklang  zu  bringen  und  daß  dieser  auf  bestimmten 
Gründen  beruhende  Zweifel  auch  den  Versuch  seiner  all- 
mählichen Widerlegung  zuläßt;  daß  dagegen  eine  Skepsis, 
welche  befürchtet,  es  könne  Alles  anders  sein,  als  es 
scheinen  muß,  ein  in  sich  widersprechendes  Beginnen  ist, 
weil  sie  stillschweigend  voraussetzt,  es  könne  überhaupt 
ein  Erkennen  geben,  welches  die  Dinge  nicht  erkennte, 
sondern  sie  wäre,  und  dann  nur  zweifelt,  ob  unserem 
Erkennen  diese  unmögliche  Vortrefflichkeit  beschieden  sei; 
daß  endlich,  auch  wenn  man  diese  unzulässige  Beziehung 
der  Vorstellungswelt  auf  eine  ihr  fremde  Welt  der  Objecte 


Vom  Skepticismus.  *  499 

fallen  läßt,  dennoch  eine  Untersuchung  übrig  bleibt,  welche 
innerhalb  der  Vorstellungswelt  die  festen  Punkte,  die 
ersten  Gewißheiten  aufzufinden  strebt,  von  denen  aus  die 
veränderliche  Menge  der  übrigen  Vorstellungen  annähernd 
in  gesetzlichen  Zusammenhang  zu  bringen  gelingen  kann. 
Ich  werde  verschiedene  Gelegenheiten  haben  und  benutzen, 
diese  Auffassungsweise  zu  verdeutlichen;  ich  werfe  zu- 
nächst einen  Blick  auf  die  Verfahrungsweisen  der  Skepsis, 
deren  verschiedene  Wendungen  das  Alterthum  im  Ganzen 
mit  mehr  Vollständigkeit  verfolgt  hat,  als  die  neuere  Zeit, 
die  für  viele  derselben  ein  lebhaftes  Interesse  nicht  inehr 
haben  kann. 

310.  Sextus  Empiricus  hat  uns  zusammengefaßt 
hinterlassen,  was  der  antike  Skepticismus  vor  ihm  er- 
arbeitet hatte.  Die  sinnlichen  Wahrnehmungen,  die  Gefühle 
der  Lust  und  Unlust,  die  wir  leiden,  leugnet  auch  der 
Skeptiker  nicht;  sie  drängen  sich  ihm  mit  Nothwendigkeit 
auf  und  hängen  nicht  von  seinem  Urtheil  ab;  aber  alles, 
was  ihnen,  den  Phänomenen,  als  Noumenon  gegenübersteht, 
als  ein  Gedanke,  der,  in  der  Erscheinung  selbst  nicht 
gegeben,  den  Inhalt  der  Wahrnehmung  in  eine  innere  Ver- 
knüpfung bringen  möchte,  alles  dies  ist  dem  Zweifel  unter- 
worfen, und  jeder  in  diesem  Sinne  gewagten  Behauptung 
läßt  sich  mit  gleichem  Rechte  eine  andere  ihr  wider- 
streitende entgegensetzen;  nichts  bleibt  daher  dem  Weisen 
übrig,  als  sich  jeder  Bejahung  oder  Verneinung  der  einen 
oder  der  andern  zu  enthalten  und  in  dieser  Suspension 
des  Urtheils  die  Seelenruhe  zu  finden,  die  er  vergeblich 
sucht,  so  lange  er  zwischen  verschiedenen  Annahmen  glaubt 
entscheiden  zu  müssen.  Aber  die  Skepsis,  indem  sie  die 
Enthaltsamkeit  vom  Urtheil  nicht  blos  als  thatsächlichen 
Zustand  ihrer  Anhänger  schildert,  sondern  mit  Gründen 
sie  als  die  einzig  richtige  Verfassung  des  Gemüths  beweisen 
will,  wird  in  diesem  Anfange  schon  sich  selbst  untreu  und 
setzt  nicht  blos,  hier  wenigstens,  die  Wahrheit  der  logischen 
Gesetze  voraus,  auf  deren  Macht  sie  die  Triftigkeit  ihrer 
Demonstrationen  stützen  muß,  sondern  um  die  Unmöglich- 
keit dogmatischer  Entscheidung  darzuthun,  muß  sie  mancher- 
lei Dogmen  voraussetzen,  die  nie  unter  den  Phänomenen 
vorkommen  können,  sondern  immer  aus  ihnen  durch  eben 
die  Schlußfolgerungen  entstehen,  deren  Zulässigkeit  be- 
stritten werden  soll.  Die  zehn  Tropen  oder  Rechtsgründe 
des  Zweifels,  die  Sextus  zunächst  anführt,  laufen  alle  darauf 
hinaus,    daß   aus   Empfindungen   sich  nicht  ermitteln  läßt, 

32* 


500  Erstes  Kapitel. 

wie  der  Gegenstand  an  sich  selbst  beschaffen  ist,  der  sie 
erzeugt.  Der  erste  Tropus  macht  auf  die  Verschiedenheit 
der  thierischen  Organisationen  aufmerksam;  indem  er  fort- 
fährt: jedem  Thiere  müsse  deshalb  ein  Gegenstand  sinnlich 
anders  erscheinen  als  dem  andern,  stützt  er  sich  auf  das 
Dogma,  Ungleiches  könne  von  Gleichem  nicht  auf  gleiche 
Weise  afficirt  werden;  nur  durch  diesen  Schluß  war  jene 
Fortsetzung  möglich;  denn  da  wir  uns  in  das  Innere  der 
Thiere  nicht  versetzen  können,  so  ist  die  angebliche  Ver- 
schiedenheit ihrer  Sinnesempfindung  eine  erschlossene  Be- 
hauptung, die  durch  keine  unmittelbare  Wahrnehmung  be- 
stätigt wird.  Sie  sagt  außerdem  zu  viel;  nichts  beweist, 
daß  die  sichtbare  Verschiedenheit  der  körperlichen  Organi- 
sation von  durchgängiger  Bedeutung  auch  für  die  Empfin- 
dung ist,  denn  Niemand  wird  leicht  glauben,  daß  die  Katze 
um  ihrer  elliptischen  Pupillenspalte  willen  die  Raumwelt 
anders  anschauen  müßte  als  der  Mensch  mit  seiner  kreis- 
förmigen. Der  zweite  Tropus  wiederholt  denselben  Ge- 
danken in  Bezug  auf  die  Menschen;  auch  sie  sind  ver- 
schieden organisirt;  wollte  man  daher  auch,  ohne  triftigen 
Grund,  die  menschliche  Empfindung  der  thierischen  als 
die  richtige  und  der  Sache  selbst  angemessene  vorziehen, 
so  scheitere  doch  an  ihrer  Verschiedenheit  auch  dieser 
Versuch;  man  kann  daher  nur  sagen:  dem  einen  erscheine 
die  Sache  so,  dem  andern  anders;  wie  sie  selbst  ist,  bleibt 
unentschieden.  Zu  gleichem  Ergebniß  führen  die  folgenden 
beiden  Tropen ;  der  dritte  beruft  sich  auf  die  Verschiedenheit 
der  Sinne;  dem  Auge  ist  der  Honig  gelb,  der  Zunge  süß; 
vielleicht  gibt  es  noch  andere  uns  mangelnde  Empfindungs- 
weisen, denen  er  noch  anders  erschiene;  wie  er  selbst  ist, 
muß  daher  dahingestellt  bleiben,  denn  kein  Grund  liegt  vor, 
die  Aussage  des  einen  Sinnes  für  richtiger  zu  halten  als 
die  eines  andern.  Blieben  wir  aber  selbst  bei  einem  Sinne 
stehen,  so  zeigt  doch  der  vierte  Tropus,  wie  auch  dessen 
Empfindungen  veränderlich  sind  nach  dem  Lebensalter, 
dem  Gesundheitszustand,  nach  Hunger  und  Sattheit  Schlaf 
und  Wachen;  wie  ein  Ding  unserem  Sinne  in  jeder  dieser 
Dispositionen  erscheint,  läßt  sich  sagen,  aber  nicht  wie  es 
an  sich  erscheinen  würde  für  ein  Subject,  das  sich  in  gar 
keiner  von  diesen  veränderlichen  Lagen  befände.  Diese 
vier  Tropen  bezogen  sich  auf  die  Natur  des  Beurtheilers ; 
auf  die  der  zu  beurtheilenden  Objecte  die  folgenden  vier; 
der  fünfte  lehrt,  daß  Entfernungen  und  Lagen  die  Er- 
scheinung desselben  Dinges  ändern;  der  sechste  zeigt,  daß 


Vom  Skepticismus.  501 

kein  Ding  seinen  Eindruck  unvermischt  mit  den  Eindrücken 
anderer  in  uns  hervorbringe,  der  siebente,  daß  auch  die 
Zusammensetzung  scheinbare  Eigenschaften  erzeuge,  die 
den  einfachen  Bestandtheilen  fehlen,  und  andere  aufhebe, 
die  ihnen  zukamen;  immer  lasse  sich  daher  nur  erzählen, 
wie  Jedes  unter  diesen  zusammengesetzten  Bedingungen 
erscheine,  nicht  wie  es  an  sich  und  einzeln  und  abgesehen 
von  seinen  verschiedenen  Zuständen  sei.  Man  kann  die 
Beispiele  zu  diesen  Tropen  nicht  ohne  Verwunderung 
darüber  lesen,  daß  sie  der  antiken  Skepsis  durchaus  nur 
als  Hindernisse  wissenschaftlicher  Erkenntniß  erscheinen; 
der  modernen  Forschung  sind  sie  sämmtlich  zu  Ausgangs- 
punkten von  Untersuchungen  geworden;  indem  man  sich 
nicht  begnügte,  summarisch  über  die  Veränderlichkeit  der 
Erscheinungen  unter  wechselnden  Umständen  zu  klagen, 
sondern  der  Beobachtung  die  einzelnen  Verknüpfungen  ab- 
fragte, die  zwischen  einem  dieser  Umstände  und  einer 
bestimmten  Aenderung  der  Erscheinung  stattfinden,  ist 
man  zur  Erkenntniß  der  allgemeinen  Gesetze  gelangt,  welche 
dies  mannigfaltig  wechselnde  Spiel  der  Ereignisse  be- 
herrschen. Wie  freilich  ein  Ding  an  sich  sei,  wenn  es 
unter  gar  keiner  Bedingung  des  Erscheinens  steht,  haben 
wir  dadurch  nicht  gelernt;  aber  daß  diese  Angabe  wider- 
sinnig sei,  wußte  die  antike  Skepsis  auch  und  drückte  es 
in  dem  achten  Tropus  aus :  Alles  steht  eben  in  irgend 
welchen  Verhältnissen,  wenn  nicht  zu  andern  Dingen,  so 
doch  jedesmal,  wenn  es  erkannt  werden  soll,  zu  dem  Er- 
kennenden; wie  es  relationslos  an  sich  selbst  ist,  bleibt 
daher  unsagbar.  Von  geringerem  Interesse  für  uns  sind 
die  beiden  letzten  Tropen;  der  neunte  erinnert  daran,  daß 
unser  Urtheil  über  Größe  und  Werth  der  Dinge  durch  ihre 
Seltenheit  oder  Häufigkeit,  durch  Gewohnheit  und  Contrast 
mitbedingt  werde;  der  zehnte  beruft  sich  auf  die  Ver- 
schiedenheit der  Völkersitten,  um  zu  zeigen,  daß  auch  hier 
nur  gesagt  werden  könne,  was  dem  Einen  oder  dem  Andern 
gut  oder  schlecht  scheine,  nicht  was  an  sich  gut  oder 
schlecht   sei. 

311.  Den  weiteren  Verlauf  der  Pyrrhonischen  Hypo- 
typosen  des  Sextus,  aus  deren  erstem  Buche  das  Angeführte 
stammt,  lasse  ich  hier  unbeachtet.  Man  wird  sich  über- 
zeugt haben,  daß  bis  hierher  diese  Skepsis  die  Geltung 
einer  Wahrheit  nicht  leugnet ;  denn  sie  klagt  ja  eben  darüber, 
sie  nicht  fassen  zu  können;  nur  das  aber  kann  man  suchen, 
dessen   Wirklichkeit  man    glaubt.    Auch   zweifelt   sie  nicht 


502  Erstes  Kapitel. 

daran,  daß  in  unseren  Denkgesetzen  die  Bedingungen  ent- 
halten sind,  durch  deren  Erfüllung  allein  ein  Gedanke 
Wahrheit  sein  kann;  unaufhörlich  wiederholt  sich  das  Be- 
mühen, in  vollständigen  Disjunctionen  die  verschiedenen 
Fälle  aufzuzählen,  die  auf  Grund  dieser  Gesetze  möglich 
sind  und  einander  ausschließen;  durch  dieselbe  Consequenz 
unseres  Denkens  sollten  wir  dahin  geführt  werden,  die 
Enthaltung  vom  Urtheil  als  nothwendig  anzuerkennen.  Aber 
dies  Verhalten  allerdings  erfährt  nachträglich  eine  Be- 
richtigung; die  skeptische  Schlußfolgerung  befleißigt  sich, 
auch  sich  selbst  mit  in  die  Ungewißheit  einzuschließen, 
welche  sie  in  der  Form  einer  Behauptung  vorher  über 
alle  unsere  angebliche  Erkenntniß  verhängte.  Die  Wen- 
dungen sind  mannigfach  und  seltsam,  die  hierzu  gebraucht 
werden.  Wenn  der  Skeptiker  beweisführend  zu  seinem 
verneinenden  Ergebniß  komme,  so  lehre  er  auch  da  nichts, 
sondern  erzähle  nur,  daß  ihm,  jetzt,  in  diesem  Augenblicke 
seines  Lebens,  und  in  dem  Zustande,  in  dem  er  sich  befinde, 
die  von  ihm  vorgetragene  Meinung  die  richtige  scheine; 
er  bürge  nicht  dafür,  daß  sie  ihm  selbst  so  in  jedem 
anderen  Augenblicke  erscheinen  werde;  wenn  er  genöthigt 
sei,  die  Argumentation  eines  Andern  als  zwingend  an- 
zuerkennen, so  könne  er  immer  antworten :  die  Wahrheit  Z, 
die  dieser  lehre,  sei  ja  bis  zu  diesem  Augenblicke  unbekannt 
gewesen,  habe  aber  doch,  wenn  sie  Wahrheit  sei,  immer 
schon  bestanden  und  gegolten;  was  versichere  uns  nun, 
daß  nicht  in  späterer  Zeit  ein  Dritter  eine  neue  auch  dies  Z 
widerlegende  Wahrheit  entdecken  und  beweisen  werde, 
die  in  diesem  Augenblicke,  obwohl  sie  bereits  gelte,  doch 
weder  bekannt  sei  noch  begriffen  oder  bewiesen  werden 
könne?  Diese  Fragen  sind  unabhängig  von  der  Beziehung 
unserer  Erkenntniß  auf  einen  ihr  jenseitigen  Gegenstand; 
sie  betreffen  allgemein  den  Grund  unserer  Gewißheit  und 
das  Recht  zu  dem  Zutrauen,  welches  wir  der  Wahrheit 
eines  in  uns  enthaltenen  Gedankens  schenken;  in  dieser 
Hinsicht  behalten  wir  sie  Späterem  vor.  Im.Uebrigen  aber 
waren  die  Darstellungen  des  Sextus  in  ein  Vorurtheil  und 
in  einen  Irrthum  verwickelt:  in  das  Vorurtheil  von  dem 
Vorhandensein  jener  Welt  an  sich,  zu  der  das  Erkennen 
in  Gegensatz  gestellt  wurde;  dies  Vorurtheil  kann  richtig 
oder  falsch  sein,  aber  es  ist  hier  unentscheidbar ;  in  den 
Irrthum  ferner,  die  Vorstellung  eines  Erk'ennens,  welches 
die  Dinge  faßt,  nicht  wie  sie  erkannt  werden,  sondern 
wie    sie   sind,    bedeute   noch   irgend   etwas  Verständliches, 


Vom  Skepticismus.  50H 

über  dessen  Besitz  oder  Nichtbesitz  ein  Streit  geführt  werden 
könne;  hierüber  ist  vielmehr  das  Denken  völlig  mit  sich 
selbst  einig,  daß  Alles,  was  Erkennen  heißt,  Dinge  nur 
vorstellen,  aber  nicht  sie  selbst  sein  kann. 

312.  Man  wird  geneigt  sein,  diesen  Satz  in  der  Form: 
daß   wir  nur   Erscheinungen,   nicht  das   Wesen  der   Dinge 
selbst  erkennen,  als   die  erste  Wahrheit  jeder  Erkenntniß- 
theorie  auszusprechen  und  anzuerkennen;  ich  scheue  diese 
Form,    weil    sie    immer   noch    ein   Vorurtheil   enthält,    das 
ich  aufgegeben  wünschte.    Dies  zwar,  daß  die  kategorische 
Gestalt    des    Satzes    eben   das   Vorhandensein   jener   Dinge 
voraussetzt,    würde    durch    Umwandlung    in    hypothetische 
sich  beseitigen :  wenn  Dinge  sind,  so  erkennt  das  Erkennen 
nur    ihre    Erscheinung,    nicht    ihr    Wesen.     Auch   so    aber 
enthält  sichtlich  der  Satz  den  Nebengedanken  einer  ver- 
fehlten   Bestimmung;    jenes    nur   deutet   an,    daß   unser 
Erkennen,  eigentlich  bestimmt,  das  Höhere,  das  Wesen  der 
Dinge,    zu   erfassen,    sich   mit   dem   Schlechteren,   der    Er- 
scheinung,   begnügen    müsse.     Diese    Werthvertheilung    ist 
ein   Vorurtheil;   ein   richtiges   vielleicht,   vielleicht   ein  un- 
richtiges, je  nachdem   der  weitere  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft entscheiden  wird,  den  wir  hier  nicht  vorausnehmen 
können.    Willkürlich  erscheint  es  indessen  schon  hier,  das 
Erkennen    in    die    Stellung    eines    Mittels    zu    rücken,    das 
seinem  Zwecke,  Dinge  zu  fassen  wie  sie  sind,  keineswegs 
entspreche;    denkbar  ist   schon   hier   eine  entgegengesetzte 
Ansicht,  welche  die  Dinge  als  Mittel  betrachtete,  das  ganze 
Schauspiel    der   Vorstellungswelt    in    uns   hervorzubringen. 
So,    wie   sie   sind,   würden   wir   dann  die    Dinge  nicht  er- 
kennen, aber  wir  würden  darum  keinen  Zweck  verfehlen; 
in    den    Erscheinungen,    die    sie    uns    geben,    würde    dann 
jenes   Höhere  und   Werthvollere   liegen,   das   wir  mit   dem 
Namen    des    Wesens    zu   bezeichnen   suchten,   und   in    der 
Auffindung   des  Sinnes,   des  Zusammenhangs  und  der  Ge- 
setze, welche  diese  innerliche  Erscheinungswelt  beherrschen, 
würde  die  Erkenntniß  der  Wahrheit  nicht  allein  zwar,  aber 
vorwiegend   und  mindestens   ebenso   sehr  bestehen,   als  in 
der  ängstlich  gesuchten  Einsicht  in  die  uns  und  jeder  vor- 
stellenden  Seele  jenseitig  bleibenden  Mittel,  durch  welche 
der    Ablauf     der     inneren    Erscheinungen    in    uns    hervor- 
gebracht   wird.      iVber    diese    Ueberlegungen    fortzusetzen, 
würde    die    Grenzen    meiner    Aufgabe     überschreiten;     ich 
wiederhole  noch  einmal,  was  ich  unter  diesen  verstanden 
wünsche:  lassen  wir  gänzlich  den  Gegensatz  unserer  Vor- 


504  Erstes  Kapitel. 

stellungsweit  zu  einer  Welt  der  Dinge  beiseit;  sehen  wir 
allein  jene  als  den  Stoff  unserer  Arbeit  an;  suchen  wir 
zu  ermitteln,  wo  innerhalb  derselben  die  ursprünglichen 
festen  Punkte  der  Gewißheit  liegen,  und  wie  es  gelingen 
kann,  andere  Gedanken,  die  diese  Eigenschaft  nicht  ebenso 
unmittelbar  theilen,  mittelbar  ihrer  theilhaft  zu  machen. 
Auf  einigen  Umwegen,  die  dennoch  nicht  Abwege  sein 
werden,    erreichen   wir   vielleicht   hierüber   Klarheit. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Ideenwelt 

313.  Die  Lösbarkeit  der  Aufgabe,  die  wir  uns  stellten, 
hat  schon  das  Alterthum  wiederholt  verneint.  Daß  Alles 
fließe,  war  die  bekannte  und  doch  in  ihrem  Sinne  uns 
nicht  ganz  verständliche  Lehre  des  Heraklit.  Daß  man 
sie  in  dem  halbelegischen  Tone  einer  Klage  über  die 
Schnelligkeit  des  Wechsels  aufgefaßt,  zeigt  die  Steigerung 
des  Heraklitischen  Spruches:  nicht  zweimal  durchschreite 
man  denselben  Fluß;  man  könne  es  nicht  einmal.  Aber 
diesem  anschaulichen  Hinweis  auf  die  Vergänglichkeit  hätte 
die  gewöhnlichste  Erfahrung  auch  Beispiele  unberechen- 
barer Dauer  entgegen  gehalten;  ein  philosophischer  Sinn 
würde  in  solcher  Weise  die  ersten  nur  haben  ver- 
allgemeinern können,  wenn  er  gegen  den  Augenschein 
bewiesen  hätte,  daß  auch  die  zweiten  einen  langsamen 
Wechsel  nur  verhüllen,  ihm  aber  nimmer  unterworfen  sind. 
Wir  wissen  nicht,  in  wie  weit  dies  geschehen,  und  ob  diese 
Speculation  achtlos  an  dem  Umstände  vorübergegangen  ist, 
daß  eben  die  verschiedene  Geschwindigkeit  des  Wechsels 
in  das  Spiel  der  Erscheinungen  doch  wieder  einen  fruchtbar 
zu  benutzenden  Gegensatz  des  relativ  Festeren  zu  dem 
Vergänglicheren  einführt.  Daß  femer  einer  verändernden 
Einwirkung  von  außen  her  nichts  völlig  widersteht.  Alles 
mithin  verändert  werden  kann,  ist  eine  zu  einfach  aus 
dem  Leben  zu  schöpfende  Ueberzeugung,  als  daß  es  einer 
Philosophie  bedurft  hätte,  sie  zu  entdecken;  dennoch  bleibt 
zweifelhaft,  in  wie  weit  Heraklit  darüber  hinaus  eine  aus 
inneren  Gründen  fließende,  von  außen  unveranlaßte  Ver- 
änderung aller  Dinge  nur  als  Thatsache  gelehrt,  oder  ob 
er  die  beständige  Bewegung  als  die  Möglichkeitsbedingung 
alles    natürlichen   Seins,    ruhendes    Gleichgewicht   und   Be- 


506  Zweites  Kapitel. 

harren  dagegen  für  unmöglich  gehalten  hat.  Manches  mag 
es  wahrscheinlich  machen,  ihm  diese  letztere  Steigerung 
des  Gedankens  zuzutrauen;  völlig  gewiß  entscheiden  wir 
hierüber  ebenso  wenig,  als  über  die  wichtigere  Frage,  was 
denn  eigentlich  unter  dem  Allen  zu  verstehen  sei,  dem 
er  diese  unaufhörliche  Veränderlichkeit  zuschrieb.  Un- 
streitig umfaßte  dieser  Ausdruck  die  Sinnendinge;  denn 
nur  in  den  wechselnden  Combinationen  ihrer  Eigenschaften 
und  Beziehungen  lag  der  natürliche  Ausgangspunkt  dieser 
ganzen  Ansicht;  umfaßte  er  aber  zugleich  den  Inhalt  der 
Vorstellungen  mit,  durch  den  wir  diese  Sinnenwelt  denken? 
sollte  nicht  blos  alles  Wirkliche,  sondern  auch  alles  Denk- 
bare diesem  ewigen  Flusse  unterliegen?  Ich  bezweifle, 
daß  Heraklit  diese  letzte  Meinung  gehabt  hat;  würde  doch 
die  allgemeine  Unbeständigkeit  jeder  Denkbestimmung  über- 
haupt jede  Untersuchung  und  Behauptung  unmöglich 
machen;  aber  die  lebhafte  Schilderung,  die  von  dem 
späteren  Treiben  der  Heraklitischen  Schule  Piaton  in  seinem 
Theätet  entwirft,  läßt  uns  annehmen,  daß  sie  wenigstens 
kein  Bedenken  getragen  hat,  die  Lehre  ihres  Meisters  bis 
zu  diesem  Satze  zu  erweitem.  Hieran  schlössen  sich  die 
Bestrebungen  der  Sophisten;  ich  meine  nicht  diejenigen, 
die  unter  der  Führung  des  Protagoras  nur  die  subjective 
Geltung  jeder  Wahrnehmung  für  den  anerkannten,  der  sie 
hat,  sondern  jene  anderen,  die  in  Eleatischer  Dialektik 
geübt  nachzuweisen  versuchten,  daß  jeder  Begriffsinhalt 
zugleich  das  bedeutet,  was  er  meint,  und  zugleich  das, 
was  er  nicht  meint.  Diesem  Bestreben  trat  vornehmlich 
auf  ethischem  Gebiete,  auf  dem  es  seine  verderblichsten 
Früchte  erzeugte,  der  gesunde  Wahrheitssinn  des  Sokrates 
entgegen  und  erinnerte  daran,  daß  die  Begriffe  des  Guten 
und  des  Bösen  des  Gerechten  und  des  Ungerechten  ihren 
eignen  festen  und  unveränderlichen  Sinn  haben,  den  nicht 
das  subjective  Belieben  bald  so  bald  anders  bestimmen 
könne,  sondern  dem  als  einer  gegebenen  und  beständig 
mit  sich  identischen  Bedeutung  Jeder  den  Inhalt  seiner 
dies  Gebiet  berührenden  Vorstellungen  lediglich  unter- 
zuordnen habe.  In  dieser  Bestrebung  mit  seinem  Lehrer 
einig,  aber  von  vielseitigeren  Beweggründen  angetrieben, 
erweiterte  Pia  ton  diese  Ueberzeugungen  zu  seiner  Ideen- 
lehre,  dem  ersten  und  sehr  eigenthümlichen  Versuche, 
diejenige  Wahrheit  zu  verwerthen,  die  unserer  Vorstellungs- 
welt innerhalb  ihrer  selbst  und  noch  abgesehen  von  ihrer 
Uebereinstimmung    mit    einem    vorausgesetzten    jenseitigen 


Die  Ideenwelt.  507 

Wesen  von  Dingen  angehört.  Die  philosophischen  Be- 
mühungen des  Alterthums  haben  das  Anziehende,  aus- 
führlich die  Bewegungen  Kämpfe  und  Irrthümer  der  Ge- 
danken darzustellen,  in  welche  jeder  Einzelne  noch  jetzt 
im  Laufe  seiner  Entwickelung  verfällt,  und  die  doch  unsere 
gegenwärtige  Bildung  nicht  mehr  mit  gleicher  Geduld  zu 
verfolgen  und  zu  untersuchen  pflegt.  Ich  gestatte  mir  des- 
halb, auf  diese  Lehre  Piatons  von  verschiedenen  in  unsere 
jetzige  Betrachtung  gehörigen  Ausgangspunkten  einzu- 
gehen. 

314.  Man  übersetzt  den  Platonischen  Ausdruck  Idee 
durch  Allgemeinbegriff,  richtig  insofern,  als  es  nach 
Piaton  Ideen  von  Allem  gibt,  was  sich  in  allgemeiner  Gestalt, 
abgelöst  von  den  Einzelwahrnehmungen,  in  denen  es  vor- 
kommt, denken  läßt.  Dennoch  ist  es  eigentlich  erst  für 
eine  spätere  Gedankenreihe,  der  wir  noch  begegnen  werden, 
von  Wichtigkeit,  daß  der  ideell  gefaßte  Inhalt  als  ein 
Gemeinsames  vieler  Einzelinhalte,  mithin  als  Allgemeines 
denkbar  ist;  wesentlich  ist  hier  am  Anfange  nicht  sowohl 
seine  Ablösbarkeit  von  verschiedenen  Einzelbeispielen,  in 
denen  er  mitenthalten  ist,  als  vielmehr  seine  Unterscheidung 
als  eines  an  sich  etwas  bedeutenden  Inhalts,  den  wir 
vorstellen,  von  einer  bloßen  Affection,  die  wir  er- 
leiden. In  der  letzteren  Bedeutung  hätte  ihn  die  hera- 
klitische  oder  pseudoheraklitische  Lehre  mit  in  den  halt- 
losen Fluß  ihrer  Ereignisse  verwickeln  können,  deren  jedes 
aber  in  der  Welt  eine  bleibende  Stätte  oder  Bedeutung  hat, 
weil  keines,  nachdem  es  geschehen,  sich  jemals  sich  selbst 
gleich  zu  wiederholen  braucht;  die  erste  Auffassung  da- 
gegen objectivirte  unsere  Affection  zu  einem  selbständigen 
Inhalt,  der  immer  bedeutet,  was  er  bedeutet,  und  dessen 
Beziehungen  zu  andern  auch  dann  noch  eine  ewige  immer 
gleiche  Gültigkeit  besitzen,  wenn  weder  er  selbst  noch 
die  anderen  sich  jemals  in  unserer  wirklichen  Wahr- 
nehmung erneuern  sollten.  Wie  ich  dies  meine,  habe  ich 
früher  Veranlassung  gehabt  zu  erörtern  (S.  15  ff.).  In 
unserer  Wahrnehmung  ändern  die  Sinnendinge  ihre  Eigen- 
schaften; aber  während  das  Schwarze  weiß  wird  und  das 
Süße  sauer,  ist  es  doch  nicht  die  Schwärze  selbst,  die 
in  Weiße  übergeht,  und  nicht  die  Süßigkeit  wird  zur  Säure ; 
jede  dieser  Eigenschaften  vielmehr,  ewig  sich  selbst  gleich 
bleibend,  tritt  an  diesem  Dinge  ihre  Stelle  einer  andern  ab, 
und  die  Begriffe,  durch  welche  wir  die  Dinge  denken,  haben 


508  Zweites  Kapitel. 

nicht  selbst  an  der  Veränderlichkeit  Theil,  die  wir,  um 
ihres  Wechsels  willen,  von  den  Dingen  aussagen,  deren 
Prädicate  sie  sind.  Und  selbst,  wer  dies  leugnen  wollte, 
würde  es  wider  Willen  bejahen;  denn  er  könnte  die  Süße 
selbst  nicht  in  Säure  übergehen  lassen,  ohne  diese  beiden 
Zustände  zu  trennen  und  den  ersten  durch  eine  Vorstellung 
zu  bestimmen,  die  ewig  etwas  Anderes  bedeuten  wird,  als 
den  zweiten,  in  den  jener  sich  verwandelt  habe.  Es  ist 
ein  sehr  einfacher  und  unscheinbarer,  dennoch  sehr  wich- 
tiger Gedanke,  den  Piaton  hier  zuerst  ausgesprochen  hat. 
Immerhin  mag  unseren  Sinn  die  beständige  Veränderung 
der  Außenwelt  wie  ein  haltloser  Wirbel  verwirren:  ohne 
eine  hindurchgehende  Wahrheit  ist  sie  dennoch  nicht;  wie 
auch  immer  die  Dinge  wechselnd  erscheinen  mögen,  das 
was  sie  in  jedem  Augenblicke  sind,  sind  sie  immer  nur 
durch  flüchtige  Theilnahme  an  Begriffen,  die  selbst  nicht 
flüchtig,  sondern  ewig  sich  selbst  gleich  und  beständig, 
zusammengenommen  ein  unveränderliches  Gedankensystem 
und  den  ersten  würdigen  und  festen  Gegenstand  einer  un- 
wandelbaren Erkenntniß  bilden.  Denn  auch  davon  über- 
zeugten wir  uns  früher  schon,  daß  nicht  blos  die  ab- 
geschlossene Einheit  jedes  Begriffsinhalts  mit  sich  selbst, 
und  nicht  blos  der  gleichförmige  Gegensatz  gegen  alles 
Andere,  sondern  auch  die  abgestuften  Beziehungen  der 
Aehnlichkeit  und  Verwandtschaft  der  verschiedenen  mit 
zu  dem  Bestände  dieser  ersten  unmittelbaren  Erkenntniß 
gehören.  Wenn  das  Weiße  schwarz  und  das  Süße  sauer 
wird,  wird  es  nicht  nur  anders  überhaupt,  sondern  aus 
dem  Bereich  des  einen  Begriffes,  an  dem  es  Theil  hatte, 
gleitet  es  über  in  den  Bereich  eines  andern,  der  von  dem 
ersten  durch  eine  unveränderliche  Weite  des  Gegensatzes 
getrennt  ist,  eine  größere  als  diejenige,  die  zwischen  dem 
Weißen  und  dem  Gelben  stattfindet;  eine  unvergleichbare 
mit  der  völligen  Kluft,  die  zwischen  dem  Weißen  und  dem 
Sauren   besteht. 

315.  Ich  führe  diese  einfachen  Beispiele  noch  einmal 
an,  um  an  ihnen  deutlich  zu  machen,  wie  es  eine  Erkenntniß 
geben  kann,  deren  Wahrheit  von  der  skeptischen  Frage 
nach  ihrer  Uebereinstimmung  mit  einem  ihr  jenseitigen 
Wesen  von  Dingen  gänzlich  unabhängig  ist.  Hätte  auch 
nur  einmal  der  Lauf  der  Außenwelt  uns  in  flüchtiger  Er- 
scheinung die  Wahrnehmung  zweier  Farben  oder  Töne 
vorgeführt:  unser  Denken  würde  sie  sogleich  von  diesem 
Zeitaugenblick  trennen  und  sie  und  ihre  Verwandtschaften 


Die  Ideenwelt.  509 

und  Gegensätze  als  einen  beharrenden  Gegenstand  innerer 
Anschauung  verfestigen,  gleichviel  ob  jemals  die  Wahr- 
nehmung sie  uns  in  wiederholter  Wirklichkeit  darböte  oder 
nicht.  Erführen  wir  ferner  niemals,  auf  welche  Weise 
diese  Ideen  als  Prädicate  an  Dingen  erscheinen  können  , 
und  worin  das  eigentlich  bestehe,  was  wir  die  Theilnahme 
dieser  an  ihnen  genannt  haben,  so  bliebe  zwar  eine  Frage 
unbeantwortet,  die  uns  im  Verlauf  unseres  Nachdenkens 
wichtig  werden  kann,  aber  ungestört  bliebe  uns  doch  die 
Gewißheit,  daß  die  Reihe  der  Farben  selbst,  die  Scala  der 
Töne,  gesetzlich  zusammenhängende  Ganze  sind,  und  daß 
über  die  Beziehungen  ihrer  Glieder  zu  einander  ewig  gültige 
wahre  Behauptungen  ewig  ungültigen  falschen  entgegen- 
gesetzt sind.  Und  endlich  die  Frage,  ob  nicht  zuletzt  doch 
die  Farben  an  sich,  die  Töne  an  sich  anders  sind,  als  sie 
uns  erscheinen,  wird  Niemand  mehr  aufwerfen  wollen. 
Oder  doch:  man  begegnet  auch  dieser  Verirrung  der  Ge- 
danken; eigentlich  seien  die  Töne  nur  Schwingungen  der 
Luft,  Farben  nur  Erzitterungen  des  Aethers;  nur  uns  er- 
scheinen beide  in  Gestalt  jener  subjectiven  Empfindungen. 
Es  ist  unnöthig,  weitläufig  zu  wiederholen,  daß  diese 
Empfindungen  nicht  aufhören  wirklich  zu  sein  und  nicht 
dadurch  aus  der  Welt  als  etwas  Unberechtigtes  hinaus- 
geschafft werden,  daß  man  äußere  ihnen  unähnliche  Ur- 
sachen entdeckt,  welche  für  uns  die  Veranlassungen  ihrer 
Entstehung  sind;  auch  wenn  dieselben  Schwingungen 
äußerer  Medien  anders  organisirten  Wesen  in  der  Form 
uns  gänzlich  unbekannter  Empfindungsweisen  erschienen, 
so  würden  doch  die  Farben  und  Töne,  die  wir  gesehen 
und  gehört  haben,  nachdem  wir  sie  einmal  empfunden, 
einen  für  uns  in  Sicherheit  gebrachten  Schatz  von  an  sich 
gültigem  gesetzlich  in  sich  zusammengehörigem  Inhalt 
bilden.  Was  jene  anderen  Wesen  empfinden,  würde  uns, 
was  wir  empfinden,  ihnen  unbekannt  bleiben;  aber  dies 
hieße  nur,  daß  nicht  alle  Wahrheit  uns  zu  Theil  wird, 
das  aber,  was  uns  zu  Theil  wird,  besitzen  wir  als  Wahrheit 
kraft  der  Identität  jedes  so  angeschauten  Inhalts  mit  sich 
selbst  und  der  beständigen  Gültigkeit  derselben  Beziehungen 
zwischen  verschiedenen.  So  begreift  man  wohl,  welche 
Bedeutung  es  hat,  wenn  Piaton  die  Prädicate,  die  an  den 
Außendingen  in  beständigem  Wechsel  vorkommen,  zu  einem 
festen  und  gegliederten  Ganzen  zu  vereinigen  suchte  und 
in  dieser  Ideenwelt  den  ersten  wahren  Gegenstand  sicherer 
Erkenntniß  sah ;  denn  die  ewigen  Beziehungen,  die  zwischen 


510  Zweites  Kapitel. 

den  einzelnen  Ideen  stattfinden,  die  einen  miteinander  ver- 
träglich machen,  andere  einander  ausschließen  lassen,  bilden 
wenigstens  die  Grenzen,  innerhalb  deren  das  liegt,  was 
in  der  Wahrnehmung  möglich  sein  soll;  was  in  ihr 
wirklich  ist  und  wie  Dinge  es  machen,  um  Ideen  zu 
ihren  Prädicaten  zu  haben,  diese  andere  Frage  erschien 
Piaton  nicht  als  die  erste  und  wurde  späterer  Ueberlegung 
zurückgestellt. 

316.  Eine  weitreichende  Schwierigkeit  knüpft  sich  an 
diese  erste  Betrachtung.  Wie  denken  wir  eigentlich  von 
Farben,  wenn  sie  von  Niemand  gesehen,  oder  von  Tönen 
und  ihren  Unterschieden,  wenn  jene  von  Niemand  gehört 
und  diese  von  Niemand  durch  Vergleichung  wahrgenommen 
werden?  Sollen  wir  sagen,  daß  beide  dann  Nichts  sind 
oder  daß  sie  nicht  sind,  oder  kommt  ihnen  auch  dann 
noch  ein  schwerbestimmbares  Prädicat,  irgend  eine  ilrt 
des  Seins  oder  der  Wirklichkeit  zu?  Sie  für  Nichts  zu 
halten,  werden  wir  Anfangs  nicht  geneigt  sein;  denn  eben, 
so  lange  wir  sie,  um  diese  Frage  zu  beantworten,  in 
Gedanken  festhalten,  ist  jede  Farbe  und  jeder  Ton  ein 
bestimmter  von  andern  sich  unterscheidender  Inhalt,  ein 
Etwas  mithin  und  nicht  ein  Nichts.  Aber  diese  Entscheidung 
wird  uns  zweifelhaft  durch  die  Antwort,  die  wir  auf  den 
zweiten  Theil  der  Frage  glauben  geben  zu  müssen.  Von 
Dingen  meinen  wir  noch,  unklar  genug,  zu  wissen,  worin 
ihr  Sein  auch  dann  noch  besteht,  wenn  sie  für  Niemandes 
Erkenntniß  Gegenstände,  sondern  rein  für  sich  sind;  was 
es  aber  heiße,  daß  ein  Ton  sei,  wenn  er  von  keinem  Ohre 
gehört,  und  wenn  auch  die  lautlose  Vorstellung  seines 
Klingens  von  keiner  Seele  erzeugt  würde,  wissen  wir  ebenso- 
wenig zu  sagen,  als  wie  ein  Schmerz  dann  noch  ist,  wenn 
er  Niemandem  wehthut.  Das  aber  was  nicht  ist,  weder 
für  sich  noch  in  unserer  Vorstellung,  wie  könnte  es  noch 
Etwas  sein  und  sich  von  Anderem  unterscheiden?  Darauf 
zu  antworten  zögern  wir  dennoch;  es  liegt  offenbar,  ganz 
allgemein  ausgedrückt,  in  jener  ersten  Entscheidung  ein 
gewisses  Element  von  Bejahung,  das  nicht  ganz  durch  die 
Verneinung  zu  Grunde  gehen  darf,  welche  diese  zweite 
ausspricht.  Vielleicht  scheint  es  uns  eine  Auskunft,  die 
kategorische  Form  unseres  zu  fällenden  Urtheils  in  eine 
hypothetische  zu  verwandeln:  zwei  ungehörte  und  un- 
vorgestellte  Töne  sind  nicht  Etwas  und  stehen  nicht  in 
Verhältnissen,   aber  sie  werden  immer  jeder  Etwas  und 


Die  Ideenwelt.  511 

von  dem  andern  verschieden  sein  und  in  einem  bestimmten 
Verhältnisse  des  Gegensatzes  stehen,  wenn  sie  gehört  oder 
vorgestellt  werden.  Unmittelbar  aber  befriedigt  uns  auch 
dies  nicht;  denn  immer,  um  nur  vorstellen  zu  können, 
wie  den  Tönen  a  und  b  diese  verschiedenen  Schicksale 
des  Nichtvorgestellt-  und  des  Vorgestelltwerdens  begegnen 
können,  und  wie  dann,  wenn  sie  vorgestellt  werden,  die 
Beziehung  z,  wenn  aber  andere  vorgestellt  werden,  die 
Beziehung  z^  mitgedacht  werden  muß,  scheinen  wir  doch 
genöthigt  zu  sein,  ihnen  auch  dann,  wenn  sie  nach  unserer 
jetzigen  Behauptung  noch  nicht  wären,  gleichwohl  schon 
ein  Sein  und  ein  Etwassein  zuzuschreiben  und  in  diesem 
den  Grund  für  ein  späteres  Sein  und  die  bestimmte  Gestalt 
ihrer  dann  eintretenden  Beziehungen  zu  suchen.  Diese 
spitzfindigen  Erörterungen  will  ich  so  nicht  fortsetzen, 
sondern  biete  zu  ihrem  Abschluß  Folgendes  an.  Es  gibt 
allerdings  einen  sehr  allgemeinen  Begriff  von  Bejahtheit  oder 
Position,  der  uns  in  verschiedenen  Untersuchungen  begegnet, 
und  zu  dessen  Bezeichnung  die  Sprachen,  die  nicht  an  den 
einfachsten  Elementen  des  Denkens,  sondern  an  sehr  zu- 
sammengesetzten und  concreten  Vorstellungsinhalten  sich 
zuerst  geübt  haben,  einen  abstracten  Ausdruck  von 
Wünschenswerther  Reinheit  nicht  zu  besitzen  pllegen.  Aber 
es  wäre  nicht  gutgethan,  dafür  einen  Kunstausdruck  zu 
schaffen,  dessen  Verständniß  zweifelhaft  bleibt,  weil  er 
Niemandem  von  Natur  mundgerecht  oder  denkgerecht  ist; 
führt  doch  auch  der  häufig  dafür  gebrauchte  Name  der 
Position  durch  seine  etymologische  Form  den  ganz  un- 
gehörigen Nebenbegriff  einer  Handlung  oder  Operation  der 
Setzung  mit  sich,  durch  deren  Ausführung  jene  zu  be- 
zeichnende Bejahtheit  erzeugt  würde.  Man  wird  doch  sich 
an  die  gewöhnliche  Sprache  halten  und  ein  Wort  wählen 
müssen,  das  im  Gebrauche,  annähernd  mindestens  und 
kenntlich,  als  Ausdruck  des  gesuchten  Gedankens  sich  nach- 
weisen läßt.  Für  deutsche  Bezeichnung  dient  hierzu  das 
Wort  Wirklichkeit.  Denn  wirklich  nennen  wir  ein 
Ding,  welches  ist,  im  Gegensatz  zu  einem  andern,  welches 
nicht  ist ;  wirklich  auch  ein  Ereigniß,  welches  geschieht 
oder  geschehen  ist,  im  Gegensatz  zu  dem,  welches  nicht 
geschieht;  wirklich  ein  Verhältniß,  welches  besteht,  im 
Gegensatze  zu  dem,  welches  nicht  besteht;  endlich  wirklich 
wahr  nennen  wir  einen  Satz,  welcher  gilt,  im  Gegensatz 
zu  dem,  dessen  Geltung  noch  fraglich  ist.  Dieser  Sprach- 
gebrauch ist  verständlich ;  er  zeigt,  daß  wir  unter  Wirklich- 


512  Zweites  Kapitel. 

keit  immer  eine  Bejahung  denken,  deren  Sinn  sich  aber 
sehr  verschieden  gestaltet,  je  nach  einer  dieser  ver- 
schiedenen Formen,  die  sie  annimmt,  deren  eine  sie  an- 
nehmen muß,  und  deren  keine  auf  die  andere  zurückführbar 
oder  in  ihr  enthalten  ist.  Denn  aus  Sein  läßt  sich  nie 
ein  Geschehen  machen,  und  die  Wirklichkeit,  welche  den 
Dingen  zukommt,  nämlich  zu  sein,  gebührt  nie  den  Er- 
eignissen; diese  sind  nie,  aber  sie  geschehen;  ein  Satz 
aber  ist  weder,  wie  die  Dinge,  noch  geschieht  er,  wie 
die  Ereignisse;  auch  daß  sein  Inhalt  bestehe  wie  ein  Ver- 
hältniß,  kann  erst  gesagt  werden,  wenn  die  Dinge  sind, 
zwischen  denen  er  eine  Beziehung  aussagt;  an  sich  aber, 
und  abgesehen  von  allen  Anwendungen,  die  er  erfahren 
kann,  besteht  seine  Wirklichkeit  darin,  daß  er  gilt  und 
daß  sein  Gegentheil  nicht  gilt.  Mißverständnisse  nun  müssen 
immer  entstehen,  wenn  wir  einem  Object  unseres  Nach- 
denkens, überzeugt,  daß  ihm  irgend  eine  Wirklichkeit  oder 
Bejahung  zukommen  müsse,  doch  nicht  diejenige  Art  der- 
selben, die  seiner  eigenthümlichen  Natur  zugehört,  sondern 
eine  andere  beizulegen  suchen,  für  die  es  nicht  zugänglich 
ist;  dann  entsteht  jener  eben  berührte  Widerstreit  zwischen 
der  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit  einer  Bejahung  über- 
haupt und  von  der  Unmöglichkeit  der  bestimmten,  die  man 
irrthümlich  versucht.  Den  Vorstellungen,  sofern  wir  sie 
haben  und  fassen,  gebührt  die  Wirklichkeit  in  dem  Sinne 
eines  Ereignisses,  sie  geschehen  in  uns,  denn  als 
Aeußerungen  einer  vorstellenden  Thätigkeit  sind  sie  nie 
ein  ruhendes  Sein,  sondern  ein  dauerndes  Werden;  ihr 
Inhalt  aber,  sofern  wir  ihn  abgesondert  betrachten  von  der 
vorstellenden  Thätigkeit,  die  wir  auf  ihn  richten,  geschieht 
dann  nicht  mehr,  aber  er  ist  auch  nicht  so  wie  Dinge 
sind,  sondern  er  gilt  nur  noch.  Und  endlich,  was  dieses 
Gelten  heiße,  muß  man  nicht  wieder  mit  der  Voraus- 
setzung fragen,  als  ließe  sich  das,  was  damit  verständlich 
gemeint  ist,  noch  von  etwas  Anderem  ableiten;  als  wäre 
es  etwa  möglich,  Bedingungen  anzugeben,  unter  deren  Ein- 
wirkung entweder  das  Sein,  welches  den  Dingen  zukommt, 
so  abgeschwächt  und  modificirt,  oder  das  Geschehen, 
welches  die  vergängliche  Wirklichkeit  der  Vorstellungen 
bildet,  sofern  sie  Erregungen  unseres  Bewußtseins  sind, 
so  verfestigt  und  verselbständigt  werden  könnte,  daß  beide, 
von  verschiedenen  Seiten  her,  in  diesen  Begriff  des  Geltens^ 
tibergingen,  welcher  von  dem  geltenden  Inhalte  ebensowohl 
die  Wirklichkeit  des  Seins  leugnet,  als  die  Unabhängigkeit 


Die  Ideenwelt.  513 

von  unserem  Denken  behauptet.  So  wenig  Jemand  sagen 
kann,  wie  es  gemacht  wird,  daß  Etwas  ist  oder  Etwas 
geschieht,  ebenso  wenig  läßt  sich  angeben,  wie  es  gemacht 
wird,  daß  eine  Wahrheit  gelte;  man  muß  auch  diesen 
Begriff  als  einen  durchaus  nur  auf  sich  beruhenden  Grund- 
begriff ansehen,  von  dem  Jeder  wissen  kann,  was  er  mit 
ihm  meint,  den  wir  aber  nicht  durch  eine  Construction 
aus  Bestandtheilen  erzeugen  können,  welche  ihn  selbst 
nicht  bereits  enthielten. 

317.  Von  hier  aus  scheint  mir  Licht  auf  eine  befremd- 
liche Angabe  zu  fallen,  die  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
überliefert  wird:  Piaton  habe  den  Ideen,  zu  deren  Bewußt- 
sein er  sich  erhoben,  ein  Dasein  abgesondert  von  den 
Dingen,  und  doch,  nach  der  Meinung  derer,  die  ihn  so 
verstanden,  ähnlich  dem  Sein  der  Dinge,  zugeschrieben. 
Es  ist  seltsam,  wie  friedlich  die  hergebrachte  Bewunderung 
des  Platonischen  Tiefsinns  sich  damit  verträgt,  ihm  eine 
so  widersinnige  Meinung  zuzutrauen;  man  würde  von  jener 
zurückkommen  müssen,  wenn  Piaton  wirklich  diese  ge- 
lehrt und  nicht  nur  einen  begreiflichen  und  verzeihlichen 
Anlaß  zu  einem  so  großen  Mißverständniß  gegeben  hätte. 
Der  Ausdruck  philosophischer  Gedanken  ist  von  der 
Leistungsfähigkeit  der  gegebenen  Sprache  abhängig,  und 
es  ist  kaum  vermeidlich,  zur  Bezeichnung  dessen,  was 
man  meint,  Worte  zu  benutzen,  welche  diese  eigentlich 
nur  für  Verwandtes,  was  man  nicht  meint,  ausgeprägt 
hat,  dann  vorzüglich,  wenn  ein  neues  Gebiet  eröffnet  wird 
und  die  Dringlichkeit  der  Unterscheidung  des  Gemeinten 
von  jenem  Anderen  noch  wenig  empfunden  werden  kann. 
Hierin  scheint  mir  der  Grund  jenes  Mißverständnisses  zu 
liegen.  Nichts  sonst  wollte  Piaton  lehren,  als  was  wir 
oben  durchgingen :  die  Geltung  von  Wahrheiten,  abgesehen 
davon,  ob  sie  an  irgend  einem  Gegenstande  der  Außenwelt, 
als  dessen  Art  zu  sein,  sich  bestätigen;  die  ewig  sich 
selbst  gleiche  Bedeutung  der  Ideen,  die  immer  sind,  was 
sie  sind,  gleichviel  ob  es  Dinge  gibt,  die  durch  Theilnahme 
an  ihnen  sie  in  dieser  Außenwelt  zur  Erscheinung  bringen, 
oder  ob  es  Geister  gibt,  welche  ihnen,  indem  sie  sie  denken, 
die  Wirklichkeit  eines  sich  ereignenden  Seelenzustandes 
geben.  Aber  der  griechischen  Sprache  fehlte  damals  und 
noch  später  ein  Ausdruck  für  diesen  Begriff  des  Geltens, 
der  kein  Sein  einschließt;  eben  dieser  des  Seins  trat  allent- 
halben, sehr  häufig  unschädlich,  hier  verhängnißvoll  an 
seine  Stelle.     Jeder  für  das  Denken  faßbare  Inhalt,  wenn 

Lotze,  Logik.  33 


514  Zweites  Kapitel. 

man  ihn  als  etwas  mit  sich  Einiges  von  Anderem  Ver- 
schiedenes und  Abgeschlossenes  betrachten  wollte,  Alles, 
wofür  die  Sprache  der  Schule  später  den  nicht  üblen  Namen 
des  Gedankendinges  erfunden  hat,  war  dem  Griechen  ein 
Seiendes,  öv  oder  ovoia;  und  wenn  der  Unterschied  einer 
wirklich  geltenden  Wahrheit  von  einer  angeblichen  in  Frage 
kam,  so  war  auch  jene  ein  dvrcog  öv ;  anders  als  in  dieser 
beständigen  Vermischung  mit  der  Wirklichkeit  des  Seins 
hat  die  Sprache  des  alten  Griechenlands  jene  Wirklichkeit 
der  bloßen  Geltung  niemals  zu  bezeichnen  gewußt;  unter 
dieser  Vermischung  hat  auch  der  Ausdruck  des  Platonischen 
Gedankens  gelitten. 

318.  Man  überzeugt  sich  leicht,  daß  Alles,  was  von  den 
Ideen  gesagt  wird,  unter  der  Voraussetzung,  die  wir  machten, 
sich  als  natürlich  und  nothwendig  ergibt,  und  daß  die  ver- 
schiedenen Wendungen,  die  in  der  Darstellung  ihres  Wesens 
genommen  werden,  eben  darauf  hinauslaufen,  den  Begriff, 
zu  dessen  Bezeichnung  ein  einziger  Ausdruck  fehlte,  durch 
viele  einander  zu  Hülfe  kommende  und  beschränkende  zu 
erschöpfen.  Ewig,  weder  entstehend  noch  vergehend  (didta, 
dyevvtjra,  ävdbXe'&Qa)  mußten  die  Ideen  genannt  werden 
gegenüber  dem  Fluß  des  Heraklit,  der  auch  ihren  Sinn 
schien  mit  sich  fortreißen  zu  sollen;  die  Wirklichkeit  des 
Seins  allerdings  kommt  ihnen  bald  zu  bald  nicht  zu,  je 
nachdem  vergängliche  Dinge  sich  mit  ihnen  schmücken 
oder  nicht;  die  Wirklichkeit  der  Geltung  aber,  welche 
ihre  eigne  Weise  der  Wirklichkeit  ist,  bleibt  unberührt  von 
diesem  Wechsel;  diese  Unabhängigkeit  von  aller  Zeit,  in 
Vergleichung  gebracht  mit  dem,  was  in  der  Zeit  entsteht 
und  vergeht,  konnte  nicht  wohl  anders  als  durch  das  zeit- 
liche und  doch  die  Macht  der  Zeit  negirende  Prädicat  der 
Ewigkeit  ausgesprochen  werden,  ebenso  wie  wir  das,  was 
an  sich  nicht  gälte  und  gelten  könnte,  an  seinem  Niemals- 
vorkommen in  aller  Zeit  am  leichtesten  erkennen  würden. 
Trennbar  oder  getrennt  von  den  Dingen  {xMQtgrcbvövTcov), 
heißen  die  Ideen  zunächst  begreiflich,  weil  das  Bild  (eldog) 
ihres  Inhalts  unserer  Erinnerung  vorstellbar  bleibt,  auch 
nachdem  in  der  Wirklichkeit  des  Seins  die  Dinge  ver- 
schwunden sind,  durch  deren  Anregung  es  in  uns  ent- 
standen war;  dann  aber,  weil  unter  jenem  Inhalt  nur  das 
verstanden  war,  was  in  allgemeiner  Gestalt  faßbar,  in  ver- 
schiedenen Erscheinungen  der  äußern  Wirklichkeit  sich  selbst 
gleich   vorkommt,  und   deshalb  unabhängig  ist  von  jedem 


Die  Ideenwelt.  515 

einzelnen  Beispiele  seiner  sinnlichen  Verwirklichung.  Aber 
es  war  nicht  die  Meinung  Piatons,  daß  die  Ideen  nur  von 
den  Dingen  unabhängig,  dagegen  in  ihrer  Weise  der  Wirk- 
lichkeit abhängig  sein  sollten  von  dem  Geiste,  welcher  sie 
denkt;  Wirklichkeit  des  Seins  genießen  sie  freiUch  nur 
in  dem  Augenblicke,  in  welchem  sie,  als  Gegenstände  oder 
Erzeugnisse  eines  eben  geschehenden  Vorstellens,  Bestand- 
theile  dieser  veränderlichen  Welt  des  Seins  und  Geschehens 
werden;  aber  wir  alle  sind  überzeugt,  in  diesem  Augen- 
blicke, in  welchem  wir  den  Inhalt  einer  Wahrheit  denken, 
ihn  nicht  erst  geschaffen,  sondern  nur  ihn  anerkannt  zu 
haben;  auch  als  wir  ihn  nicht  dachten,  galt  er  und  wird 
gelten,  abgetrennt  von  allem  Seienden,  von  den  Dingen 
sowohl  als  von  uns,  und  gleichviel,  ob  er  je  in  der  Wirk- 
lichkeit des  Seins  eine  erscheinende  Anwendung  findet 
oder  in  der  Wirklichkeit  des  Gedachtwerdens  zum  Gegen- 
stand einer  Erkenntniß  wird;  so  denken  wir  alle  von  der 
Wahrheit,  sobald  wir  sie  suchen  und  suchend  vielleicht 
ihre  Unzugänglichkeit  für  jede  wenigstens  menschliche  Er- 
kenntniß beklagen;  auch  die  niemals  vorgestellte  gilt  nicht 
minder,  als  der  kleine  Theil  von  ihr,  der  in  unsere  Ge- 
danken eingeht.  In  etwas  anderer  Form,  und  gegen  Pro- 
tagoras,  wird  die  selbständige  Geltung  der  Ideen  hervor- 
gehoben, wenn  sie  als  an  sich  seiend  was  sie  sind  (avrd 
xa&*  avrd  övra)  der  Relativität  entzogen  werden,  in  die 
sie  der  berühmte  Ausspruch  dieses  Sophisten  verwickeln 
wollte.  Zugegeben  selbst,  daß  die  Lehre  desselben,  auf 
sinnliche  Empfindungen  beschränkt,  ihre  gute  Gültigkeit 
hat,  und  daß  Piaton  sie  in  dieser  Beziehung  mißverständlich 
bekämpft,  zugegeben  also,  daß  jede  sinnliche  Empfindung 
für  den,  der  sie  hat,  so  gut  eine  Wahrheit  ist,  wie  eine 
abweichende  andere  für  den,  der  diese  andere  hat,  so  würde 
doch  Piaton  mit  Recht  behaupten,  weder  der  eine  noch 
der  andere  könne  diese  oder  jene  Empfindung  haben,  ohne 
daß  dasjenige,  was  er  in  ihr  empfindet,  Roth  oder  Blau 
Süß  oder  Bitter,  ein  an  sich  Etwas  und  immer  dasselbe 
Etwas  bedeutender  Bestandtheil  einer  Welt  von  Ideen  sei; 
sie  bildet  gleichsam  den  beständigen  unerschöpflichen  Vor- 
rath,  aus  dem  jedem  Dinge  der  Außenwelt  alle  die  noch 
so  verschiedenen  Prädicate,  mit  denen  es  sich  wechselnd 
bekleidet,  und  ebenso  jedem  Geist  die  verschiedenen  Zut 
stände  zugetheilt  werden,  die  er  soll  erfahren  können;  un- 
möglich ist  es  dagegen,  daß  ein  einzelnes  Subject  etwas 
empfinde  oder  vorstelle,  dessen  Inhalt  nicht  in  dieser  all- 

33* 


516  Zweites  Kapitel. 

gemeinen  Welt  des  Denkbaren  seine  bestimmte  Stelle,  seine 
Verwandtschaften  und  Unterschiede  gegen  Anderes  ein  für 
allemal  besäße,  sondern  eine  zu  dieser  ganzen  Welt  be- 
ziehungslose, nirgends  sonst  heimische  Sonderbarkeit  dieses 
einen  Subjects  bliebe.  Ist  nun  durch  diese  Ausdrücke  für 
die  selbständige  Gültigkeit  der  Ideen  gesorgt,  so  ist  auch 
hinlänglich  vorgebaut,  daß  diese  Gültigkeit  nicht  mit  der 
Wirklichkeit  des  Seins  verwechselt  werde,  die  nur  einem 
beharrlichen  Dinge  zugeschrieben  werden  könnte.  Wenn 
die  Ideen  in  einem  intelligiblen  überhimmlischen  Ort 
{yoYjTog,  VTiEQovQaviog  ronog)  ihre  Heimat  haben  sollen, 
wenn  sie  anderseits  ausdrücklich  noch  als  nirgends  wohnend 
bezeichnet  werden,  so  ist  für  Jeden,  der  die  Anschauungs- 
weise des  griechischen  Alterthums  versteht,  vollkommen 
hinlänglich  ausgedrückt,  daß  sie  zu  dem  nicht  gehören, 
was  wir  reale  Welt  nennen;  was  nicht  im  Räume  ist,  das 
ist  für  den  Griechen  nicht,  und  wenn  Piaton  die  Ideen 
in  diese  unräumliche  Heimat  verweist,  so  liegt  darin  nicht 
ein  Versuch,  ihre  bloße  Geltung  zu  irgend  einer  Art  von 
seiender  Wirklichkeit  zu  hypostasiren,  sondern  die  deut- 
liche Anstrengung,  jeden  solchen  Versuch  von  vorn  herein 
abzuwehren.  Auch  dies  steht  nicht  entgegen,  daß  die  Ideen 
als  Einheiten  (evadeg,  juovddeg)  aufgeführt  werden;  denn 
keine  Veranlassung  liegt  vor,  diese  Bezeichnung  in  dem 
Sinne  atomistischer  Vorstellungen  sei  es  auf  körperliche 
Untheilbarkeit,  sei  es  auf  eine  der  Persönlichkeit  ähnliche 
Selbstheit  zu  deuten;  vielmehr  dem  Sinne  jeder  Idee,  und 
nicht  jeder  einfachen  blos,  sondern  auch  jeder  zusammen- 
gesetzten, kommt  es  zu,  durch  Vereinigung  des  in  ihm  Zu- 
sammengehörigen und  durch  Ausschließung  alles  Fremden 
sich  als  Einheit  zu  beweisen.  Dennoch  aber,  obgleich  alle 
diese  Aeußerungen  darin  übereinstimmen,  daß  Piaton  nur 
die  ewige  Gültigkeit  der  Ideen,  niemals  aber  ihr  Sein  be- 
hauptete, dennoch  blieb  ihm  auf  die  Frage:  was  sie  denn 
seien,  zuletzt  nichts  übrig,  als  sie  doch  wieder  unter  den 
Allgemeinbegriff  der  ovola  zu  bringen,  und  so  war  dem 
Mißverständniß  eine  Thür  geöffnet,  das  seitdem  sich  fort- 
gepflanzt hat,  obschon  man  nie  anzugeben  wußte,  was 
denn  das  eigentlich  sei,  wozu  Piaton  durch  die  ihm  Schuld 
gegebene  Hypostase  seine  Ideen  hypostasirt  haben  sollte. 

319.  Zweierlei  scheint  dieser  Auffassung  entgegenzu- 
stehen :  zuerst  der  Gebrauch,  den  Piaton  von  den  Ideen  zur 
Erklärung  des  Weltlaufs  macht,  in  den  sie  nicht  blos  als 


Die  Ideenwelt.  517 

gültige  Wahrheiten,  sondern  zugleich  als  wirkende  Mächte 
eingreifen,  ein  Punkt,  auf  den  ich  später  komme;  dann 
aber  das  Verhalten  des  Aristoteles.  Denn  dieser  ist 
es  eigentlich,  dessen  bestimmte  Versicherungen  die  Lehre 
von  der  Realität  der  Ideen  als  Dogma  des  Piaton  hin- 
gestellt haben,  während  Piatons  eigene  Darstellungen  der 
anderen  Deutung,  die  wir  vorzogen,  sich  nicht  widersetzen. 
Es  scheint  unglaublich,  daß  der  scharfsinnigste  Schüler, 
durch  den  eignen  Umgang  mii  dem  Meister  unterrichtet, 
die  wahre  Meinung  desselben  bis  zu  einem  Mißverständniß 
von  so  großer  Bedeutung  sollte  verfehlt  haben.  Dennoch 
sind  wir  durch  die  Art,  wie  er  seine  Polemik  gegen  die 
Ideenlehre  überhaupt,  nicht  gegen  bestimmte  Sätze  Piatons 
führt,  sowie  durch  manche  Einzelheiten  seiner  Einwen- 
dungen zu  der  Annahme  berechtigt,  daß  sein  Schritt  sich 
zum  Theil  gegen  Mißverständnisse  richtet,  die  frühzeitig 
in  der  Akademie  eingerissen  waren.  Denn  an  Piaton  selbst 
konnte  er  nicht  wohl  die  Aufforderung  stellen,  zu  zeigen, 
wo  die  Ideen  sind,  nachdem  dieser  unumwunden  gesagt 
hatte,  daß  sie  nirgends  sind;  nicht  gegen  ihn  konnte  er 
einwenden,  daß  folgerichtig  auch  von  Kunsterzeugnissen 
es  Ideen  geben  müsse,  denn  ein  Beispiel  wenigstens,  das 
dem  beistimmt,  enthalten  die  Bücher  vom  Staat,  und  wie 
wenig  Piaton  die  ganze  hiermit  angedeutete  Schwierigkeit 
außer  Acht  gelassen,  bezeugt  der  Anfang  des  Parmenides. 
Wenn  endlich  Aristoteles  die  Ideen  für  überflüssig  hält, 
weil  sie  nur  Gegenbilder  der  Einzeldinge  seien,  wenn  über- 
haupt seine  ausführliche  Discussion  häufig  von  der  An- 
nahme ausgeht,  es  gebe  voji  jeder  Idee  so  viele  Exemplare, 
als  Beispiele  ihrer  Anwendung  in  der  Wirklichkeit  vor- 
kommen, so  finden  Einwürfe  dieser  Art  ihr  berechtigtes 
Ziel  nicht  in  Piaton  selbst;  daß  jede  Idee  nur  einmal  vor- 
handen sei,  daß  sie  nicht  ein  Einzelding,  sondern  ein 
Allgemeines  vieler  bedeute  und  daß  alle  ihre  Erscheinungen 
nur  Abbilder  dieses  ihres  einheitlichen  Wesens  bilden,  war 
Piatons  beständig  wiederholte  Meinung;  unklar  mochte  es 
immerhin  bleiben,  worin  jenes  durch  Nachahmung  oder 
Theilnahme  bezeichnete  Verhalten  der  Einzeldinge  besteht, 
durch  welches  diese  der  einen  Idee  eine  unzählige  Menge 
von  Verwirklichungen  im  Sein  verschaffen.  Die  ganze  Aus- 
einandersetzung, die  das  12.  (13.)  Buch  der  Aristotelischen 
Metaphysik  füllt  und  die  Widersinnigkeit  einer  dinghaften 
Wirklichkeit  der  Ideen  darzulegen  sucht,  kann  ich  daher 
um  so  weniger  für  eine  Widerlegung  der  echten  Platonischen 


518  Zweites  Kapitel. 

Ansicht  lialten,  als  schließlich  Aristoteles  selbst  für  die 
bessere,  die  er  ihr  gegenüberzustellen  meint,  einen  ent- 
scheidenden und  unzweideutigen  Ausdruck  ebensowenig 
findet.  Ihm  gilt  nur  das  Einzelding  als  wahrhafte  ovoia, 
und  gewiß  werden  wir  ihm  hierin  beistimmen:  nur  dem 
Einzelding  kommt  die  Form  der  Wirklichkeit  zu,  zu  sein; 
aber  für  ihn  wie  für  Piaton  ist  gleichwohl  der  Gegenstand 
der  Erkenntniß  nur  das  Allgemeine;  nicht  nur,  daß 
wir  das  Einzelne  nicht  zu  erschöpfen  im  Stande  sind, 
sondern  auch,  so  weit  wir  unsere  Untersuchung  fruchtbar 
auf  dasselbe  richten,  beurtheilen  wir  sein  Wesen  und  sein 
Verhalten  immer  nach  allgemeinen  Grundsätzen.  Von  dem 
aber,  was  in  keiner  Weise  ist  oder  Wirklichkeit  hat,  auch 
darin  ist  Aristoteles  mit  seinen  Vorgängern  einig,  kann  es 
auch  keine  Erkenntniß  geben;  es  folgt  mithin,  daß  auch 
das  Allgemeine  nicht  schlechthin  nicht  ist,  sondern  gewisser- 
maßen ist  und  gewissermaßen  nicht  ist.  Was  Aristoteles 
weiter  hierüber  verhandelt,  verfolge  ich  nicht  im  Einzelnen ; 
wenn  er  aber  das  Allgemeine  oder  die  Idee  nicht  außerhalb, 
sondern  in  den  Einzeldingen  sein  läßt,  so  erklärt  er  hier- 
mit die  Möglichkeit  der  Erkenntniß  nicht;  denn  darum, 
weil  die  Idee  in  einem  Einzeldinge  ist,  kann  das,  was  hier 
aus  ihr  folgt,  nicht  auf  ein  anderes  Einzelding  übertragen 
werden,  in  dem  sie  gleichfalls  angetroffen  wird;  Rechts- 
grund zu  einem  Schlüsse  von  dem  einen  Wirklichen  auf 
das  Verhalten  eines  andern  kann  sie  nur  werden,  wenn 
sie  an  sich  selbst  eine  Mehrheit  von  Beziehungspunkten 
so  zusammenschließt,  daß  überall  mit  dem  Vorkommen  des 
einen  auch  die  nothwendige  Gegenwart  der  anderen  ver- 
bunden sein  muß.  Und  so  würde  sich  auch  Aristoteles 
kurzer  Hand  wieder  dahin  zurückgeführt  sehen,  daß  aller- 
dings die  Idee  ;tco^t?  tcov  övrcov  in  gewisser  Weise  sei; 
in  welcher  Weise  aber,  dafür  fehlt  ihm  der  technische 
Ausdruck  der  Geltung  ebenso  wie  seinem  Lehrer;  auch 
ihm  ist  ein  Allgemeinbegriff  oder  eine  Idee  zuletzt  zwar 
keine  wahre  ovoia,  aber  doch  eine  devrega  ovoia. 

320.  Wenn  man  sich  nun  verwundern  wollte  über  die 
Thatsache,  zwei  der  größten  Philosophen  des  Alterthums 
mit  nicht  vollständigem  Erfolg  um  Klarheit  über  einen  so 
einfachen  Unterschied  ringen  zu  sehen,  so  würde  man  un- 
billig gegen  beide  sein;  das  Gewahrwerden  der  einfachsten 
Gedankenverhältnisse  ist  nicht  die  einfachste  That  des 
Denkens,  und  die  ganze  lange  Geschichte  der  Philosophie 


Die  Ideenwelt.  519 

lehrt,  wie  wir  alle  in  jedem  Augenblick  bereit  sind,  in  der 
Anwendung  uns  derselben  Unklarheit  schuldig  zu  machen, 
die  wir  auf  ihren  einfachsten  Ausdruck  gebracht  für  un- 
möglich halten  möchten.  So  oft  man  geglaubt  hat,  eine 
Gedankenbestimmung  entdeckt  zu  haben,  durch  welche  sich 
das  Allgemeine  der  Bildung  und  Entwicklungsweise  der  er- 
scheinenden Wirklichkeit  darstellen  zu  lassen  schien,  ebenso 
oft  ist  man  dazu  übergegangen,  sie  über  diese  hinauf  in 
ein  reines  Sein  zu  verselbständigen,  gegen  welches  die 
Wirklichkeit  der  Einzeldinge  als  eine  untergeordnete  un- 
wahre Form  des  Daseins  zurücktrat.  Ich  brauche  nicht 
einmal  an  die  letzte  Gestalt  der  deutschen  Philosophie  zu 
erinnern,  die  an  die  Stelle  der  Platonischen  Ideen  die  eine 
unbedingte  Idee  meinte  setzen  zu  können;  auch  in  außer- 
philosophischen Gedankenkreisen  kommt  dieselbe  Neigung 
sichtlich  vor.  Denn  wie  oft  hören  wir  doch  jetzt  von 
ewigen  unveränderlichen  Naturgesetzen,  denen  alle  ver- 
änderlichen Erscheinungen  unterworfen  sind;  Gesetze,  deren 
Erscheinung  zwar  aufhören  würde,  wenn  es  keine  Dinge 
mehr  gäbe,  denen  sie  gebieten  könnten,  die  aJ)er  auch  dann 
noch  fortfahren  würden,  ewig  zu  gelten,  und  in  jedem 
Augenblick  wieder  in  ihrer  wirksamen  Macht  aufleben 
würden,  wenn  irgendwoher  ein  neuer  Anwendungsgegen- 
stand sich  ihnen  darböte;  nicht  einmal  daran  fehlt  es,  ge- 
legentlich diese  Gesetze  als  thronend  über  aller  seienden 
Wirklichkeit  dargestellt  zu  sehen,  ganz  in  jenem  überhimm- 
lischen Orte,  in  dem  Piaton  seine  Ideen  heimisch  nannte. 
Dennoch  würden  diejenigen,  die  so  sprechen,  mit  Ent- 
rüstung die  Unterstellung  abwehren,  sie  hätten  diesen  Ge- 
setzen ein  dinghaftes  oder  persönliches  Sein  außerhalb  der 
Dinge  zugeschrieben,  die  von  ihnen  regiert  werden;  mit 
gleichem  Recht  hat  auch  Piaton  sich  dieser  Mißdeutung 
zu  erwehren.  Und  endlich  muß  ich  hinzufügen,  daß  nun 
auch  wir,  wenn  wir  die  den  Ideen  und  Gesetzen  zukommende 
Wirklichkeit  als  Geltung  von  der  Wirklichkeit  der  Dinge 
als  dem  Sein  unterscheiden,  zunächst  blos  durch  die 
Gunst  unserer  Sprache  eine  bequeme  Bezeichnung  gefunden 
haben,  die  uns  vor  Verwechselungen  beider  warnen  kann; 
die  Sache  aber,  die  wir  durch  den  Namen  der  Geltung  be- 
zeichnen, hat  dadurch  nichts  von  der  Wunderbarkeit  ver- 
loren, die  den  Antrieb  zu  ihrer  Vermischung  mit  dem 
Sein  enthielt.  Wir  sind  blos,  unseres  Denkens  uns  wie 
einer  natürlichen  Fähigkeit  arglos  bedienend,  seit  lange 
daran  gewöhnt  und  finden  es  nun  selbstverständlich,  daß 


520  Zweites  Kapitel. 

der  Inhalt  mannigfacher  Wahrnehmungen  und  Erscheinungen 
sich  allgemeinen  Gesichtspunkten  fügen  und  nach  all- 
gemeinen Gesetzen  so  behandeln  lassen  müsse,  daß  unsere 
hiernach  im  voraus  gezogenen  Folgerungen  mit  dem  Fort- 
gange jener  Erscheinungen  wieder  zusammentreffen;  aber 
daß  dies  so  ist,  daß  es  allgemeine  Wahrheiten  gibt,  die 
nicht  selber  sind,  wie  die  Dinge,  und  die  doch  das  Ver- 
halten der  Dinge  beherrschen,  dies  ist  doch  für  den  Sinn, 
der  sich  darein  vertieft,  ein  Abgrund  von  Wunderbarkeit, 
dessen  Dasein  mit  Staunen  und  Begeisterung  entdeckt  zu 
haben  immer  eine  große  philosophische  That  Piatons  bleibt, 
wie  viele  Fragen  sie  auch  mag  ungelöst  gelassen  haben. 

321.  Eine  dieser  Fragen  ist  die  nach  dem  bestimmten 
Verhältnisse  der  Dinge  zu  den  Ideen,  das  Piaton  als  Theil- 
nahme  jener  an  diesen  oder  als  Nachahmung  bezeichnet. 
Ich  erörtere  sie  jetzt  noch  nicht  in  ihrem  ganzen  Umfange; 
auf  einen  Mangel  der  Ideenlehre  führt  uns  aber  ein  an 
sich  nicht  gerechter  Vorwurf  des  Aristoteles.  Unter  den 
Gründen,  die  ihm  diese  Lehre  überflüssig  und  nutzlos  er- 
scheinen lassen,  hebt  er  mit  Nachdruck  hervor,  daß  sie 
keinen  Anfang  der  Bewegung  darbiete.  So  richtig  dies  an 
sich  sein  mag,  so  wenig  kann  es  gegen  die  Ideenlehre  be- 
weisen, daß  sie  diese  Aufgabe  nicht  erfüllt;  sie  erfüllt 
nur  auch  die  andere  nicht  vollständig,  die  in  ihrer  eignen 
Absicht  lag.  Knüpfen  wir  an  die  Gegenwart  an :  unsere 
Naturgesetze,  enthalten  sie  einen  Anfang  der  Bewegung? 
Im  Gegentheil:  sie  alle  setzen  voraus,  daß  eine  Reihe  von 
Daten  gegeben  sei,  die  sie  selbst  nicht  feststellen  können, 
aus  denen  aber,  wenn  sie  gegeben  sind,  die  Noth wendig- 
keit des  inneren  Zusammenhangs  der  nun  folgenden  Er- 
scheinimgen  ableitbar  ist.  Kein  Naturgesetz  bestimmt,  daß 
die  Massen  unseres  Planetensystems  sich  überhaupt  be- 
wegen und  daß  ihr  Lauf  nach  dieser  und  nicht  nach  einer 
andern  Richtung  des  Himmels  gehen  oder  daß  die  Be- 
schleunigung, die  sie  einander  durch  ihre  Anziehung  er- 
theilen,  diese  Größe  haben  mußte,  welche  sie  hat,  und 
nicht  eine  andere;  ist  nun  deswegen  das  System  der 
mechanischen  Wahrheiten  nutzlos  und  ein  leeres  Gerede 
(xevoXoyeTv),  weil  es  alle  diese  Anfänge  der  Bewegung  anders- 
woher erwartet  und  nur  innerhalb  der  bereits  wirklichen 
Bewegung  jede  einzelne  Phase  mit  jeder  andern  noth- 
wendig  zu  verbinden  lehrt  ?  Immerhin  mag  Piaton  die  ersten 
Anstöße,  von  denen  die  Reihenfolge  der  Erscheinungen 
abhängt,  in  unklarer  Weise,  und  doch  am  Ende  nicht  un- 


Die  Ideenwelt.  521 

klarer,  als  auch  wir  noch,  in  jene  dunkle  vXt]  verlegt  haben, 
die  ihm  überhaupt  das  Gegebene  versinnlicht,  auf  welches 
die  Ideen  Anwendung  haben:  dennoch,  als  er  in  der  Ideen- 
welt die  Muster  sah,  denen  sich  alles  Seiende  fügen 
muß,  wenn  Etwas  ist,  sprach  er  hiermit  einen  Gedanken 
aus,  dessen  Wichtigkeit  Aristoteles  unbillig  übersieht;  denn 
auch  er  würde  später,  in  der  Erklärung  der  einzelnen  Er- 
scheinungen, diesen  Gedanken  brauchen:  auch  er  würde 
nicht  zugeben  können,  daß  die  bewegende  Ursache,  welche 
den  verwirklichenden  Anstoß  ertheilt,  noch  freie  Hand  dar- 
über habe,  zu  bestimmen,  was  aus  diesem  Anstoße  werden 
soll;  darüber  haben  von  Ewigkeit  jene  allgemeinen  Ge- 
setze entschieden,  die  gleichwohl  den  Antrieb  zur  Verwirk- 
lichung nicht  geben.  Aber  dies  allerdings  müssen  wir 
als  Unvollkommenheit  der  Platonischen  Ansicht  anerkennen, 
daß  sie  eben  diese  ihre  eigene  Aufgabe  nur  halb  löste. 
Gründe  für  den  nothwendigen  Zusammenhang  zweier  In- 
halte müssen  immer  die  logische  Form  eines  Urtheils 
haben;  sie  können  nicht  in  Gestalt  einzelner  Begriffe  aus- 
gesprochen werden,  da  keiner  von  diesen  für  sich  eine 
Behauptung  enthält.  Gesetze  daher,  d.h.  Sätze,  welche 
eine  Beziehung  verschiedener  Elemente  ausdrücken,  haben 
wir  schon  vorher  als  die  Beispiele  benutzt,  an  denen  sich 
deutlich  machen  läßt,  was  gelten  heißt  im  Gegensatz 
zum  sein;  nur  mit  halber  Deutlichkeit  läßt  sich  dieser 
Ausdruck  auf  einzelne  Begriffe  übertragen;  von  ihnen 
könnten  wir  nur  sagen,  daß  sie  etwas  bedeuten;  sie  be- 
deuten aber  dadurch  etwas,  daß  von  ihnen  Sätze  gelten, 
der  z.  B.,  daß  jeder  Begriffsinhalt  sich  selbst  gleich  und  in 
unveränderlichen  Verwandtschaften  oder  Gegensätzen  zu 
andern  enthalten  sei.  In  der  Form  des  isolirten  Begriffs 
nun  oder  der  Idee  hat  Piaton  ziemlich  ausschließlich  die 
Elemente  der  von  ihm  entdeckten  Gedankenwelt  aufgefaßt; 
schon  der  Gesammteindruck  seiner  Darstellungen  macht 
merklich,  wie  sparsam  im  Vergleich  hiermit  allgemeine 
Sätze  auftreten;  sie  fehlen  keineswegs  ganz,  bilden  vielmehr 
in  einzelnen  Fällen  Gegenstände  wichtiger  Erörterungen; 
aber  daß  eben  sie,  in  dieser  Gestalt  als  Sätze,  die  wesent- 
lichsten Bestandtheile  der  idealen  Welt  sein  müßten,  hat 
sich  Piaton  doch  nicht  aufgedrängt.  Diese  Eigenthümlich- 
keit  der  Auffassungsweise  ist  nicht  ohne  spätere  Beispiele. 
Noch  Kant,  als  er  die  apriorischen  Formen  aufsuchte,  die 
dem  empirischen  Inhalt  unserer  Wahrnehmungen  die  Ein- 


522  Zweites  Kapitel. 

heit  innerer  Zusammengehörigkeit  geben  sollten,  verfiel  zu- 
erst darauf,  sie  in  Gestalt  einzelner  Begriffe,  der  Kategorien, 
zu  entwickeln  und  zwar  gerade  aus  den  Formen  der  ür- 
theile  selbst;  als  er  sie  dann  zu  haben  glaubte,  wurde  um 
so  deutlicher,  daß  nichts  mit  ihnen  anzufangen  war;  nun 
folgte  die  Bemühung,  aus  ihnen  wieder  Urtheile,  die  Ver- 
stajidesgrundsätze,  zu  gewinnen,  von  denen  als  Obersätzen 
zu  den  zweiten  Prämissen,  welche  die  Erfahrung  liefert, 
eine  wirkliche  Anwendung  möglich  wurde.  Diese  Neigung, 
Wahrheiten,  deren  vollgültiger  Ausdruck  nur  ein  Satz  sein 
kann,  in  die  unzureichende  Form  eines  einzelnen  Begriffs 
zu  bringen,  scheint  daher  aller  menschlichen  Einbildungs- 
kraft, nicht  blos  der  plastisch  geschulten  des  alten  Griechen- 
lands, natürlich  zu  sein;  es  verdient  immer  im  Vorbei- 
gehen bemerkt  zu  werden,  wie  gefährlich  sie  ist,  indem 
sie  von  dem  vollen  Thatbestand,  dem  die  Untersuchung  gilt, 
zu  einem  unfruchtbaren  Spiel  mit  leeren  von  ihren  zu- 
kömmlichen  Unterlagen  abgelösten  Vorstellungen  führt.  Von 
alle  dem  nun,  was  wir  hier  verlangen,  finden  wir  bei 
Piaton  sehr  Weniges  ausgeführt,  und  selbst  das  Bedürfniß 
der  Ausführung  nicht  klar  und  vollständig  anerkannt.  Der 
allgemeine  Gedanke  allerdings,  daß  es  nicht  nur  unzählige 
Ideen  gebe,  sondern  alle  zusammen  ein  gegliedertes  Ganze 
bilden,  ist  die  Seele  seiner  ganzen  Darstellung,  und  mit 
Begeisterung  schildert  er  den  Genuß,  den  ihm  seine  dialek- 
tische Beschäftigung  gewähre,  den  zusammengesetzten  In- 
halt der  Vorstellungen  mit  Schonung  seiner  natürlichen 
Fugen  in  seine  Elemente  aufzulösen  und  aus  ihnen  wieder 
zusammenzusetzen;  auch  die  verschiedenen  Grade  der  Ver- 
träglichkeit und  des  Gegensatzes  der  Einzelideen  und  die 
möglichen  Arten  ihrer  Verbindung  erwähnt  er  als  Gegen- 
stände anzustellender  Untersuchungen.  Aber  in  den  Bei- 
spielen wirklicher  Anwendung,  die  er  gibt,  läuft  doch  diese 
Kunst  der  Dialektik  ziemlich  einförmig  auf  eine  Classifi- 
cation der  Ideen  hinaus,  die  uns  zeigt,  an  welche  Stelle 
eines  Eintheilungssystems  jede  gehört  vermöge  der  Einzel- 
bestandtheile,  die  sie  in  sich  vereinigt,  aber  ohne  daß  aus 
dieser  Ortbestimmung  in  Bezug  auf  irgend  eine  derselben 
eine  Behauptung,  ein  Gewinn  an  Erkenntniß  flösse,  der 
ohne  diesen  classificatorischen  Umweg  unerreichbar  ge- 
wesen wäre;  was  vielmehr  von  jeder  gilt  oder  nicht  gilt, 
wird  man  nachher  ebenso  wie  vorher  aus  anderen  Quellen 
erfahren  müssen.  Jene  Fugen  und  Gelenke,  die  Piaton  nur 
schonen  wollte,  hätte  er  ernstlicher  untersuchen  müssen; 


Die  Ideenwelt.  523 

anstatt  die  Flora  der  Ideen  systematisch  zusammenzu- 
stellen, hätte  der  Gedanke  sich  auf  die  allgemeinen  physio- 
logischen Bedingungen  richten  sollen,  die  in  jedem  einzelnen 
dieser  Gewächse  Glied  mit  Glied  zu  einer  möglichen  Ent- 
wicklung verbinden.  Oder  ohne  Bild  gesprochen:  nachdem 
das  Dasein  einer  ewig  gültigen  inhaltvollen  Ideenwelt  mit 
Klarheit  hervorgehoben  war,  blieb  als  nächste  Aufgabe, 
die  in  ihrem  Bau  herrschende  allgemeine  Gesetzlichkeit 
zu  erforschen,  durch  welche  auch  in  ihr  schon  die  einzelnen 
Bestandtheile  allein  zu  einem  Ganzen  verbunden  sein 
können:  es  handelte  sich  um  die  Frage,  welches  die  ersten 
Grundsätze  unseres  Erkennens  sind,  denen  wir  die 
Mannigfaltigkeit  der  Ideen  unterzuordnen  haben.  Diese 
bestimmtere  Gestalt  hat  jetzt  für  uns  die  methodische  Unter- 
suchung der  Wahrheit  und  ihres  Ursprungs  angenommen. 


Drittes  Kapitel. 

Apriorismus  und  Empirismus. 

322.  Wenn  innerhalb  des  Ganzen  unserer  Erkehntniß 
eine  einzelne  Ansicht  uns  zweifelhaft  wird,  so  suchen  wir 
Entscheidung  in  der  Zergliederung  der  Veranlassungen,  aus 
denen  sie  uns  entsprungen  ist;  die  Geschichte  ihrer  Ent- 
stehung soll  uns  lehren,  ob  sie  Wahrheit  ist,  oder  wie  sie 
als  Irrthum  sich  hat  bilden  müssen.  So  oft  die  Frage  nach 
der  Wahrheitsfähigkeit  unserer  Erkenntniß  überhaupt  in 
der  Geschichte  der  Philosophie  aufgetaucht  ist,  hat  derselbe 
Weg  zum  Ziele  zu  führen  geschienen:  aus  der  Art,  wie 
unsere  Vorstellungen  und  Urtheile  sich  bilden,  hat  man 
über  ihre  Ansprüche  auf  den  Namen  von  Wahrheiten  ent- 
scheiden zu  können  geglaubt.  Diese  Ueberzeugung,  welche 
Berücksichtigung  verdient,  da  sie  auch  gegenwärtigen  Rich- 
tungen philosophischer  Untersuchung  in  großer  Ausdehnung 
zu  Grunde  liegt,  lenkt  mich  für  den  Augenblick  von  der 
Fortsetzung  meiner  Gedanken  ab ;  ich  muß  zu  zeigen  ver- 
suchen, daß  jene  genetische  Betrachtungsweise  für  den 
zweiten  allgemeineren  Fall  die  Vortheile  nicht  hat,  welche 
sie  für  den  ersten  speciellen  unzweifelhaft  verspricht.  Denn 
beide  sind  nicht  von  gleicher  Art.  So  oft  wir  die  Triftig- 
keit einer  einzelnen  Ansicht  prüfen  wollen,  benutzen  wir 
als  Entscheidungsgrund  den  zugestandenen  Besitz  anderer 
Wahrheit,  theils  allgemeiner  Sätze,  mit  denen  übereinzu- 
stimmen allen  andern  obliegt,  die  uns  gelten  sollen,  theils 
feststehender  Thatsachen,  denen  die  andern  Thatsachen 
nicht  widerstreiten  dürfen,  die  jene  zu  prüfende  Ansicht 
behauptet  oder  voraussetzt,  endlich  gewisser  Regeln  des 
Denkens,  nach  denen  das,  was  aus  gültigen  Prämissen 
triftig  folgt,  von  untriftigen  Folgerungen  unterschieden  wird ; 
es   ist  überall   hier  eine  Wahrheit   bereits  vorhanden,   die 


Apriorismus  und  Empirismus.  525 

auf  das  zu  prüfende  Gemeng  unserer  Gedanken  wie  ein 
Ferment  wirkt,  Entsprechendes  sich  assimilirt,  Irriges  aus- 
stößt. Dieser  gegebene  und  von  dem  Gegenstand  der  Frage 
unabhängige  Maßstab  fehlt  uns  in  dem  zweiten  allgemeineren 
Falle:  die  Prüfung  der  Wahrheit  unserer  Erkenntniß  im 
Ganzen  ist  unmöglich,  ohne  die  zu  prüfenden  Grundsätze 
als  Entscheidungsgründe  aller  Zweifel  vorauszusetzen. 
Diesen  Cirkel,  nach  welchem  unsere  Erkenntniß  sich  die 
Grenzen  ihrer  Competenz  selbst  zu  bestimmen  hat,  haben 
wir  als  unvermeidlich  kennen  gelernt;  aber  man  vermehrt 
die  Schwierigkeit,  wenn  man  nicht  jene  Grundsätze  selbst, 
sondern  eine  unzergliederte  Anwendung  derselben,  wenn 
man  nämlich  ausdrücklich  die  angebliche  Einsicht  in  die 
Entstehung  unserer  Erkenntniß  als  jenen  gewissen  Be- 
standtheil  betrachtet,  von  dem  aus  ihr  übriges  Gebiet  in 
Besitz  genommen  werden  könnte.  Soll  die  Art  der  Ent- 
stehung über  den  Anspruch  auf  Wahrheit  entscheiden,  und 
zwar,  wie  es  hier  gewöhnlich  gemeint  wird,  auf  Wahrheit 
in  Bezug  auf  ein  dem  Erkennen  fremdes  und  jenseitiges 
Sein,  so  ist  es  unmöglich,  einen  Schritt  zu  thun,  ohne 
speciellere  Voraussetzungen  über  die  Stellung  zu  machen, 
in  welcher  sich  das  erkennende  Subject  gegenüber  jenen 
Gegenständen  seines  Erkennens  befindet,  und  über  die  Art 
des  Verhältnisses  zwischen  beiden,  durch  welches  der  Vor- 
gang des  Erkennens  verwirklicht  wird;  denn  nur  die  Kennt- 
niß  dieser  Umstände  könnte  die  Gefahren  beurtheilen  lehren, 
die  der  Bildung  wahrer  Vorstellungen  hier  entgegenstehen. 
Darum  ist  das  Vorgeben,  man  wolle  zunächst  durch  völlig 
unbefangene  Beobachtung,  ohne  Einmischung  fraglicher 
Verstandesgrundsätze,  den  Hergang  der  Erkenntniß  kennen 
lernen,  eine  haltlose  Täuschung;  jeder  Versuch  zur  Aus- 
führung ist  nothwendig  voll  von  metaphysischen  Voraus- 
setzungen, aber  von  unzusammenhängenden  und  ungeprüf- 
ten, weil  man  sie  nur  gelegentlich  im  Augenblick  des  Er- 
klärungsbedürfnisses macht.  Da  mithin  dieser  Cirkel  un- 
vermeidlich ist,  so  muß  man  ihn  reinlich  begehen;  man 
muß  zuerst  festzustellen  versuchen,  was  Erkenntniß,  ihrem 
allgemeinsten  Begriff  nach,  bedeuten  kann  und  welches 
Verhältniß  zwischen  einem  erkennenden  Subject  und  dem 
Object  seiner  Erkenntniß  in  Gemäßheit  der  noch  all- 
gemeineren Vorstellungen  denkbar  ist,  nach  welchen  wir 
die  Einwirkung  jedes  beliebigen  Elementes  auf  jedes  zweite 
zu  denken  haben.  Diesem  letzteren  Gedanken,  also  einer 
metaphysischen   Ueberzeugung,   haben   wir  das   Verhältniß 


526  Drittes  Kapitel. 

zwischen  Subject  und  Object  des  Erkennens  unterzuordnen; 
nicht  aber  zuerst  über  dieses  specielle  Verhältniß  einen  zu- 
fälligen mehr  oder  minder  probablen  Einfall  aufzustellen, 
um  dann  nach  ihm  über  die  Wahrheitsfähigkeit  aller  unserer 
Erkenntniß  zu  urtheilen.  Ich  lasse  ganz  unberücksichtigt 
die  andere  Frage,  inwieweit  es  denn  ausführbar  sein  möge, 
auch  nur  das  Thatsächliche  der  allmählichen  Entwicklung 
unserer  ganzen  Vors tellungs weit  festzustellen;  beobachtbar 
ist  ihr  Hergang  nicht,  denn  jeder  Beobachter  hat  ihn  längst 
hinter  sich.  Mag  nun  in  vielen  Fällen  auch  das  ausgebildete 
Bewußtsein  sich  noch  des  Weges  erinnern,  auf  welchem 
es  zu  seinen  jetzigen  Vorstellungen  gekommen  ist,  so  wird 
man  mir  anderseits  zugeben,  daß  in  vielen  andern  Fällen 
diese  angeblichen  Beobachtungen  nur  ziemlich  willkürliche 
Einfälle  über  die  Art  sind,  auf  welche  man  sich  die  Ent- 
stehung der  Vorstellungen  glaubt  denken  zu  können. 

323.  Verfolgen  wir  die  Versuche,  die  gemacht  worden 
sind,  zuerst  eine  zweifellose  Thatsache  zu  gewinnen,  von 
der  aus  die  Entstehung  der  Erkenntniß  und  die  Wahrheit 
derselben  beurtheilbar  würde,  so  begegnen  wir  am  Anfang 
der  modernen  Zeit  dem  Satze  des  Descartes:  cogito, 
ergo  sum;  der  einzigen  Gewißheit,  die  ihm  aus  dem  Zweifel 
an  aller  überkommenen  Erkenntniß  übrig  zu  bleiben  schien. 
An  diesen  Satz  ist  oft  angeknüpft  worden,  und  immer, 
schon  seit  Augustinus,  bei  dem  wir  ihn  zuerst  finden,  hat 
er  sich  als  eine  ebenso  zweifellose  als  vollkommen  un- 
fruchtbare Wahrheit  erwiesen;  nicht  der  kleinste  Schritt 
zur  Begründung  irgend  einer  Erkenntnißtheorie  ist  aus 
ihm  allein,  ohne  Zuziehung  anderer  von  ihm  unabhängiger 
Gedanken,  möglich  gewesen;  schon  das  nächste  Kriterium: 
wahr  seien  die  Vorstellungen,  die  gleiche  Evidenz  und 
Klarheit  genießen,  meinte  Descartes  selbst  aus  jenem  Satze 
nicht  ableiten  zu  können,  ohne  sich  gegen  die  Möglichkeit, 
vollkommen  unwahre  Ideen  betrögen  uns  mit  derselben 
Evidenz,  auf  einem  früher  erwähnten  Umwege  sicher  zu 
stellen.  In  der  That  ist  leicht  einzusehen,  daß  aus  diesem 
Anfang  nichts  Neues  fließen  kann.  Betrachtet  man  den 
Satz  in  seiner  negativen  Bedeutung,  nämlich  daß  nichts 
uns  gewiß  sei  als  die  Thatsache  unseres  Denkens,  nicht 
aber  die  Wirklichkeit  einer  Außenwelt,  so  erinnere  ich  an 
eine  früher  gemachte  Bemerkung:  auch  wenn  jene  Außen- 
welt wirklich  ist,  so  kann  doch  in  uns  von  ihr  nur  ein 
Gedankenbild,   nicht  sie  selbst  vorhanden  sein;   die  That- 


Apriorismus  und  Empirismus.  527 

Sache  mithin,  daß  nichts  uns  unmittelbar  gewiß  ist  als 
unsere  eigne  Gedankenwelt,  kann  niemals  darüber  ent- 
scheiden, ob  nur  sie,  imd  ob  nicht  außer  ihr  eine  Welt 
des  Seins  vorhanden  ist,  auf  welche  sie  sich  bezieht.  Und 
selbst,  wenn  die  Vorstellung  dieser  Außenwelt  sich  als  ein 
nothwendiges  Erzeugniß  unserer  erkennenden  Thätigkeit 
nachweisen  ließe,  unvermeidlich  gemacht  durch  die  Organi- 
sation unseres  Geistes  und  durch  die  Gesetze,  nach  denen 
unsere  Gedanken  sich  verknüpfen  müssen,  wenn  also  aus 
der  Thatsache  dieses  cogito  sich  die  Nothwendigkeit  dieses 
subjectiven  Ursprungs  unserer  Annahme  einer  Außen- 
welt des  Seins  ableiten  ließe:  auch  dann  würde  die  Wahr- 
heit dieser  Annahme  weder  widerlegt  noch  bewiesen  sein; 
denn  auch  wenn  es  diese  Welt  wirklich  gibt,  können  wir 
dennoch  auf  die  Vorstellung  derselben  nur  dann  gerathen, 
wenn  die  Natur  unseres  Geistes  und  der  Verlauf  unserer 
Gedanken  sie  als  eine  zur  Vermeidung  innerer  Wider- 
sprüche für  uns  nothwendige  Ergänzung  hervortreibt 
Achten  wir  aber  auf  den  bejahenden  Sinn  des  Satzes,  so 
finden  wir  diesen  nicht  zweckmäßig  formulirt,*  er  ist  nicht 
mehr  Ausdruck  einer  unmittelbaren  Thatsache,  sondern 
einer  Abstraction.  Dies  freilich  mache  ich  ihm  nicht  zum 
Vorwurf,  daß  er  an  der  ersten  Person  der  Verba  cogito 
und  sum  festhielt;  denn  gewiß,  so  dunkel  auch  und  zu 
weiteren  Untersuchungen  anregend  die  hierin  enthaltene 
Vorstellung  des  Ich  sein  mag:  zu  dem  ursprünglichsten 
Thatbestand  dieser  einfachsten  Erfahrung  gehört  sie  un- 
widersprechlich ;  und  Meinungen,  welche  dem  cogito  das 
cogitare,  dem  sum  das  esse  als  die  erste  und  gewisseste 
Thatsache  der  Beobachtung  unterschieben  möchten,  ver- 
fehlen  ganz  den  Ruhm  vorurtheilsloser  und  unbefangener 
Grundlegung,  den  sie  mit  dem  exacten  Verfahren  der  Natur- 
wissenschaft zu  theilen  suchen.  Nirgends  begegnet  uns 
als  eine  einfachste  Thatsache  eine  Vorstellung,  die  blos 
wäre,  die  aber  Niemand  hätte;  nirgends  ein  Bewußtsein, 
das  nur  als  Bewußtsein  überhaupt  und  nicht  als  das  Be- 
wußtsein eines  Ich  erschiene,  welches  in  ihm  entweder 
seiner  selbst  oder  eines  Andern  sich  bewußt  wird;  von 
dieser  bestäadigen  Zurückbeziehung  auf  ein  Subject,  dessen 
Natur  völlig  im  Dunkel  bleibt,  mag  später  die  Wissenschaft 
die  Ereignisse  des  Denkens  und  Wissens  irgendwie  zu 
sondern  suchen;  ursprünglich  gewiß  und  gegeben  aber  sind 
sie  nur  in  der  Form  des  cogito,  nicht  in  der  infinitivischen 
des   cogitare.     Anderseits   freilich,  w£ls  in   dieser  richtigen 


528  Drittes  Kapitel. 

Personalendung  Fruchtbares  liegen  mag,  ist  von  Descartes 
übersehen  worden ;  welche  Gedanken  Kant  daran  zu  knüpfen 
wußte,  ist  nicht  dieses  Ortes.  Eine  nicht  förderliche  Ab- 
straction  liegt  nun  aber  in  dem  Satze  des  Descartes  in- 
sofern, als  er  von  allen  den  einzelnen  Zuständen,  die  als 
solche  die  unmittelbare  Gewißheit  der  Selbsterfahrung  be- 
sitzen, nur  ihren  allgemeinen  Charakter  hervorhebt:  den 
der  cogitatio,  d.  h.  jenes  Bewußtseins  in  weitester  Be- 
deutung, durch  welches  sich  sehr  verschiedene  Zustände 
der  Seele,  Empfinden  und  Vorstellen  Fühlen  und  Wollen, 
gemeinsam  von  dem  unterscheiden,  was  wir  uns  als  Zu- 
stand eines  selbstlosen  unbeseelten  Wesens  glauben  denken 
zu  können.  Gewiß  geht  nun  dieses  Bewußtsein  in  jede 
der  einzelnen  Selbstbeobachtungen  ein ;  aber  welchen  Nutzen 
konnte  es  haben,  nur  diesen  gemeinsamen  Zug  aller  zu  er- 
wähnen und  die  einzelnen  Inhalte  zu  verschweigen,  in 
denen  allein  er  doch  wirklich  sein  und  unmittelbarer  Gegen- 
stand der  Selbstbeobachtung  werden  kann?  Nicht  daß 
dieses  cogito  überhaupt  vorkommt,  in  irgend  einer  der 
Formen,  die  es  annehmen  kann,  sondern  in  welchen 
Formen  es  vorkommt,  darin  lag  ein  fruchtbarer  Anfangs- 
punkt; nicht  die  nackte  Thatsache,  daß  wir  bewußt  sind 
oder  denken,  lehrt  uns  die  uns  zugängliche  Wahrheit  kennen, 
sondern  was  wir  denken,  der  Inhalt  unserer  cogitatio, 
ist  nicht  nur  das  Ursprünglichste,  was  uns  gegeben  ist, 
sondern  auch  das  Einzige,  woraus  folgen  kann,  was  wir 
denken  sollen  oder  müssen.  Wies  doch  Descartes 
selbst  darauf  hin,  daß  auch  der  Zweifler,  indem  er  zweifelt 
oder  jedes  Wissen  leugnet,  die  Thatsache  der  cogitatio 
durch  sein  eignes  Thun  bestätigt;  eben  deshalb  nun,  weil 
sie  mit  jedem  wahren  Wissen  jedem  Zweifel  und  jedem 
Irrthum  auf  gleiche  Weise  verknüpft  ist,  kann  sie  nicht 
dazu  dienen,  Wahres  von  Unwahrem  zu  unterscheiden. 

324.  Es  war  daher  unvermeidlich  ein  neuer  Anfang, 
an  den  die  Untersuchung  über  unsere  Erkenntniß  anknüpfte : 
der  Glaube  an  die  Wahrheit  dem  Geiste  eingeborener 
Ideen.  An  diesen  Namen,  der  einen  langen  Streit  in 
die  Geschichte  der  Erkenntnißtheorie  eingeführt  hat,  muß 
man  nicht  Einwürfe  knüpfen,  die  mit  einigem  guten  Willen 
sich  leicht  beseitigen  lassen.  Schon  die  Alten,  wenn  sie 
von  dem  sprachen,  quod  a  Natura  nobis  insitum  est,  und 
Alle,  die  sich  ähnlich  ausdrückten,  sind  gewiß  weit  von 
der  Annahme  einer  Wahrheit  entfernt  gewesen,  die,  dem 


Apriorismus  und  Empirismus.  529 

Geiste  an  sich  fremd,  in  irgend  einem  Augenblick  seines 
beginnenden  Lebens  ihm  eingeprägt  und  von  da  ein  be- 
ständiger Gegenstand  seines  bewußten  Vorstellens  geworden 
sei.  Nur  dies  meinten  sie:  so  sei  eben  unser  Geist  durch 
seine  eigene  Natur,  daß  er,  unter  Bedingungen  die  auf  ihn 
einwirken,  bestimmte  Gewohnheiten  der  Gedankenver- 
knüpfung nothwendig  entwickeln  werde,  zuerst  als  eine 
Verfahi*ungsweise,  die  er  unbewußt  befolgt;  zuletzt,  auf 
unzählige  so  ausgeübte  Handlungen  seines  Denkens  reflec- 
tirend,  hebe  er  die  unbewußt  in  ihnen  befolgte  Regel  seines 
Verhaltens  nun  selbst  zum  Gegenstande  seines  Vorstellens 
hervor.  Angeboren  aber  nannte  man  diese  Ideen  in  der 
Voraussetzung,  es  reiche  nicht  hin,  daß  der  Geist,  in  dem 
sie  sich  bilden  sollen,  nur  im  Allgemeinen  den  Charakter 
eines  vorstellungsfähigen  Wesens  trage,  so  daß  unter  den- 
selben Bedingungen  dieselben  Ideen  in  jedem  Wesen  ent- 
stehen müßte,  das  diesen  formalen  Charakter  theilte;  es 
schien  vielmehr  nothwendig,  daß  in  jedem  Geiste  eine 
concrete  Anlage  seiner  Natur,  durch  die  er  sich  von  andern 
vorstellungsfähigen  Wesen  unterscheiden  könnte,  die 
Form  bestimmte,  in  welcher  von  ihm  jene  Vorstellungs- 
thätigkeit  ausgeübt  und  ihre  einzelnen  Handlungen  ver- 
knüpft werden.  Allerdings  lag  keine  Veranlassung  vor,  diese 
Annahme  eines  solchen  möglichen  Unterschiedes 
zwischen  verschiedenen  vorstellungsfähigen  Wesen  für 
mehr  als  eine  Fiction  zu  halten,  durch  die  man  nur  zu 
verdeutlichen  suchte,  daß  der  hinreichende  Grund  unserer 
Erkenntniß  nicht  in  dem  allgemeinen  Charakter  der  cogitatio 
liege,  sondern  in  einer  concreteren,  aher  allen  Geistern  in 
Wirklichkeit  gemeinsamen  Bestimmtheit  ihrer  Natur.  In- 
dessen konnte,  nach  dem  Zugeständniß  der  Denkbarkeit 
dieses  Unterschiedes,  doch  der  Versuch  nicht  mehr  ab- 
gewehrt werden,  zu  sehen,  was  aus  ihm  folgt,  wenn  man 
ihn  für  wirklich  nimmt.  Und  dann  fielen  die  beiden  Theile 
des  Cartesischen  Gedankens,  die  Apriorität  der  Ideen  und 
ihre  Wahrheit,  auseinander:  jedem  Wesen  muß  dasjenige 
als  Wahrheit  erscheinen,  was  aus  der  Folgerichtigkeit 
seiner  Natur  fließt;  ist  daher  ein  Schatz  von  Ideen  jedem 
in  der  angegebenen  Weise  eingeboren,  so  ist  es  nur  ein 
lebhafter,  aber  grundloser  Glaube,  wenn  wir  diejenigen, 
die  uns  Menschen  gegeben  sind,  in  höherem  Sinne  für 
Wahrheit  halten,  als  die  von  ihnen  abweichenden,  die  sich 
vielleicht  mit  gleicher  Evidenz  anders  gearteten  Wesen 
aufdrängen.  Man  sieht,  daß  dies  Bedenken  nicht  nur  Geltung 

Lotze,  Logik.  34 


öoO  Drittes  Kapitel. 

hat,  wenn  wir  die  Gesammtheit  unserer  Erkenntniß  einer 
objectiven  Welt  des  Seins  entgegensetzen,  dessen  Abbildung 
sie  sein  soll,  sondern  auch  dann,  wenn  wir,  was  noch 
unerläßlicher  scheint,  nur  das  für  Wahrheit  halten,  was 
allen  Geistern  auf  gleiche  Weise  nothwendig,  nicht  aber 
dem  einen  so  dem  andern  anders  vorkommt.  Die  spätere 
Polemik  hat  hieran  angeknüpft  und  behauptet:  sind  unsere 
Ideen  angeboren,  so  haben  sie  keinen  Anspruch  auf  Wahr- 
heit; sie  können  ihn  nur  erlangen,  wenn  wir  sie  von  der 
möglichen  Verschiedenheit  der  vorstellenden  Subjecte  un- 
abhängig und  abhängig  nur  von  der  Natur  einer  für  alle 
gemeinsamen    Objectenwelt    denken. 

325.  Ehe  man  in  das  Für  und  Wider  über  diese  Fragen 
eintritt;  muß  man  sich  überzeugen,  daß  hier  der  Punkt  ist, 
an  welchem  man  anstatt  der  verstohlenen  Voraussetzungen, 
denen  man  sich  zu  überlassen  liebt,  unumwunden  eine 
ausdrückliche  Voraussetzung  machen  muß.  Keine  dieser 
Untersuchungen  kann  ihr  Ergebniß,  worin  es  auch  bestehen 
mag,  überhaupt  begründen  ohne  irgend  eine  beiläufig  ge- 
machte Annahme  über  die  Art,  in  welcher  sie  die  Ein- 
wirkung eines  Erkenntnißobjectes  auf  das  erkennende  Sub- 
ject  für  möglich  denkt.  Anstatt  sie  beiläufig  zu  machen, 
setzen  wir  diese  Annahme  an  die  Spitze  unserer  Gedanken, 
und  zwar  so,  wie  die  vielseitige  Erfahrung  des  Denkens 
sie  formuliren  gelehrt  hat:  wo  auch  immer  zwischen  zwei 
Elementen  A  und  B  von  irgend  welcher  Natur  das  Ereigniß 
stattfindet,  welches  wir  eine  Einwirkung  des  A  auf  B 
nennen,  niemals  besteht  dieses  Wirken  darin,  daß  ein 
Bestandtheil  a  oder  ein  Prädicat  a  oder  ein  Zustand  a, 
welcher  dem  A  angehörte,  sich  von  diesem  löste  und  fertig 
unverändert  selbständig  nach  B  überginge,  um  diesem  sich 
anzuknüpfen  oder  von  ihm  aufgenommen  zu  werden  oder 
jetzt  dessen  Zustand  zu  sein;  immer  ist  jener  im  A 
entstehende  oder  vorhandene  Zustand  a  nur  der  Grund, 
um  dessenwillen,  unter  Voraussetzung  einer  zwischen  A 
und  B  bestehenden  oder  eintretenden  Beziehung  C,  nun 
auch  B  einen  neuen  Zustand  b  aus  seiner  eignen  Natur 
heraus  und  in  sich  selbst  erzeugen  muß.  Wodurch  diese 
Nothwendigkeit  des  Zusammenhangs  der  Zustände  von  A 
und  B  herbeigeführt,  wie  es  also  gemacht  wird,  daß  B 
nach  A  sich  richten  muß,  worin  ferner,  entweder  allgemein 
oder  in  verschiedenen  Fällen  verschieden,  die  Beziehung  C 
besteht,  welche  nothwendig  ist  zur  Erzeugung  der  Wirkung : 
alle   diese  Fragen  sammt  der  Vorfrage,   ob   sie   überhaupt 


Apriorismus  und  Empirismus.  531 

beantwortbar  sind,  können  unserm  jetzigen  Gedankengang 
fremd  bleiben;  uns  genügt  das  ausgesprochene  formale 
Verhalten,  gleichviel  wie  es  in  der  Wirklichkeit  realisirt  wird. 
Aus  ihm  aber  folgt,  daß  niemals  die  Form  der  Wirkung  b 
unabhängig  von  der  Natur  des  Objectes  B  sein  kann,  welches 
sie  erfährt;  sie  ändert  sich  vielmehr  mit  ihm,  und  dieselbe 
Beziehung  C,  die  zwischen  A  und  B  stattfand,  wird,  wenn 
sie  zwischen  A  und  Bi  eintritt,  in  B^  eine  andere  Wirkung  b^, 
verschieden  von  b  hervorbringen.  Ebensowenig  ist  die 
Wirkung  b  unabhängig  von  der  Natur  des  einwirkenden 
Elementes  A  und  von  der  Art  der  Beziehung  C;  sie  ändert 
sich  mit  beiden ;  sie  wird  ß  werden,  wenn  nicht  A,  sondern 
AI  mit  B  in  die  Beziehung  C,  und  ßi,  wenn  B  mit  A  in 
die  Beziehung  C^  tritt.  Immer  aber  werden  b  b^  ß  ßi  eine 
geschlossene  Reihe  von  Ereignissen  bilden,  die  nur  in  B 
m.öglich  sind,  und  A  und  C  werden  nur  als  Reize  zu  be- 
trachten sein,  die  da  bestimmen,  welche  von  den  vielen 
der  Natur  des  B  möglichen  Wirkungen  in  jedem  Augen- 
blicke und  in  welcher  Reihenfolge  sie  wirklich  werden 
sollen.  Gefällt  man  sich,  die  vielgebrauchten  Bezeichnungen 
der  Receptivität  und  Spontaneität  hier  anzuwenden, 
so  ist  jedes  Element  receptiv  für  Anregungen  seiner  Spon- 
taneität und  keines  spontan  wirksam,  ohne  diese  An- 
regungen recipirt  zu  haben. 

326.  Diesem  allgemeinen  Verhalten  ordnen  wir  die  Ein- 
wirkung von  Erkenntnißobjecten  auf  ein  erkennendes  Subject 
unter.  Jede  Annahme  zuerst  ist  ganz  unzulässig,  welche 
den  Ursprung  unserer  Erkenntnisse  ganz  und  einseitig  in 
das  erkennbare  Object  verlegt;  es  genügt  wenige  Aufmerk- 
samkeit, um  selbst  in  der  tabula  rasa,  mit  der  man  die 
empfängliche  Seele  verglichen  hat,  oder  in  dem  Wachse,  dem 
ähnlich  sie  Eindrücke  nur  aufnehmen  sollte,  die  Unver- 
meidlichkeit der  spontanen  Rückwirkung  zu  entdecken.  Nur 
weil  die  Tafel  durch  die  ihrer  Natur  und  Consistenz  eigenen 
Wirkungsweisen  die  farbigen  Punkte  festhält  und  sie  am 
Verfließen  in  einander  hindert,  nur  weil  das  Wachs  den 
Anziehungen  seiner  Theile  diesen  unelastischen  Aggregat- 
zustand verdankt,  zwar  leicht  verschiebbar  zu  sein,  aber 
die  aufgezwungene  Form  festzuhalten,  nur  deswegen  eignen 
sich  beide,  Eindrücke  auf  sich  malen  oder  in  sich  ein- 
prägen zu  lassen;  ein  Element,  das  gar  keine  eignen  Wir- 
kungsweisen dem  ankommenden  Reize  entgegenstellt,  würde 
nicht  einmal  die  ihm  zugeschriebene  Eigenschaft  der  reinen 

34* 


632  '  Drittes  Kapitel. 

Receptivität  besitzen.  Es  ist  ferner  nothwendig  sich  klar 
zu  machen,  daß  in  einer  Erkenntniß  zwar  der  von  dem 
Object  herrührende  unmittelbare  Beitrag  fehlen  kann,  aber 
niemals  derjenige,  den  die  Natur  des  Subjects  liefert;  denn 
dies  ist  denkbar,  daß  zwei  Vorstellungen  a  und  ß,  nachdem 
sie  einmal  auf  äußere  Veranlassung  in  der  Seele  entstanden 
sind,  sich  nun  nach  Gesetzen,  die  nur  aus  der  Eigen- 
thümlichkeit  der  Seele  fießen,  und  ohne  wiederholte 
Beihülfe  der  Außenwelt,  zu  einem  neuen  Ergebniß  y 
verschmelzen;  undenkbar  dagegen,  daß  ein  Eindruck  von 
außen  auf  uns  geschähe,  an  dessen  Gestaltung  unser  eignes 
Wesen  nicht  Theil  nähme.  Und  darum  können  wir  auch 
der  Unterscheidung  nicht  beistimmen,  welche  Kant,  in 
seinen  Gedanken  zwar  nicht  irrend,  aber  lässig  im  Aus- 
druck, so  aufstellte,  daß  er  den  gesammten  Inhalt  unserer 
Erkenntniß  der  Erfahrung,  und  nur  ihre  Form  der  an- 
gebornen  Thätigkeit  des  Geistes  zuschrieb.  Denn  Kant  wußte 
sehr  wohl,  was  wir  hier  hervorheben,  daß  auch  die  ein- 
fachen sinnlichen  Empfindungen,  die  recht  eigentlich  den 
primitiven  Inhalt  aller  unserer  Wahrnehmungen  bilden, 
uns  nicht  fertig  von  außen  kommen,  daß  sie  vielmehr, 
wenn  wir  überhaupt  die  Vorstellung  dieser  Außenwelt  fest- 
halten, nur  als  Rückwirkungen  unserer  eignen  geistig  sinn- 
lichen Natur  auf  die  von  dorther  kommenden  Reize  gelten 
können ;  sie  sind  die  a  priori  uns  eigenthümlichen  Möglich- 
keiten des  Empfindens,  zur  Wirklichkeit  in  bestimmter 
Reihenfolge  freilich  durch  äußere  Veranlassungen  berufen, 
aber  nie  durch  diese  Veranlassungen  uns  fertig  überliefert. 
Was  aber  ferner  aus  der  Zusammensetzung  dieser  em- 
fachen  Elemente  sich  bildet,  das  räumlich  anschauliche 
Bild  dieser  bestimmten  Gestalt,  der  zeitliche  Verlauf  jener 
Melodie  oder  Reihenfolge,  auch  das  ist,  selbst  in  allen 
Einzelheiten  seiner  Zeichnung,  nicht  minder  ein  Erzeugniß 
des  vorstellenden  Subjects,  nicht  minder  also  a  priori. 
Denn  auch  wenn  wir  annähmen,  in  einem  wirklich  sich 
ausdehnenden  Räume  oder  einer  wirklich  verlaufenden  Zeit 
befänden  sich  Dinge  in  denselben  Lagen  oder  in  demselben 
Wechsel,  in  welchem  wir  sie  dann  räumlich  oder  zeitlich 
auffassen:  auch  dann  würde  diese  räumlich  zeitliche  Vor- 
stellung derselben  etwas  anderes  sein  als  ihr  eignes 
räumlich  zeitliches  Sein;  wir  könnten  nicht  dahin  ge- 
langen, unsere  Vorstellungen  a  ß  y  in  dieselbe  Ordnung 
zu    bringen,    welche    zwischen    ihren    objectiven    Ursachen 


Apriorismus  und  Empirismus.  533 

a  b  c  besteht,  wenn  nicht  unsere  eigene  Natur  und  die 
Gesetze  unseres  Vorstellens  uns  dazu  befähigten  und 
nöthigten. 

327.  Oder  wollte  man  sich  durch  Worte  täuschen  lassen 
und  meinen,  diese  geringfügige  Leistung  einer  Abbildung 
verstehe  sich  von  selbst  und  bedürfe  keiner  wiedererzeugen- 
den Arbeit?  Aber  was  heißt  abbilden  und  wie  entsteht 
ein  Bild?  Lassen  wir  noch  ganz  das  Auge  beiseit,  für 
welches  zuletzt  jedes  Bild  erst  Bild  ist,  und  fragen  wir 
nur:  wie  stellt  ein  Spiegel  die  Bedingungen  her,  unter 
welchen  für  ein  Auge  das  Bild  eines  Gegenstandes  ent- 
stehen kann  ?  Er  vermag  es  nur,  indem  er  die  Lichtstrahlen, 
die  der  Gegenstand  auf  ihn  sendet,  mit  Beibehaltung  ihrer 
gegenseitigen  Ordnung  nach  einer  anderen  Richtung  zurück- 
wirft, und  hierzu  wird  er  nur  durch  Glätte  und  Form 
seiner  Oberfläche  befähigt.  Von  diesen  Eigenschaften  hängt 
es  ab,  ob  er  die  Strahlen  so  regellos  zerstreut,  daß  kein 
Auge  sie  zu  einem  Bilde  vereinigen  kann,  oder  ob  er  sie 
so  wieder  ausschickt,  daß  sie  divergirend  dem  Blicke  doch 
zusammenfaßbar  werden  und  convergirend  ein  reelles  Bild 
zusammensetzen,  das  dem  Auge  wie  ein  neuer  Gegenstand 
sichtbar  wird.  Mit  dem  allen  aber  stellt  der  Spiegel  doch 
nur  den  Reiz  her,  der  auf  die  Sehkraft  ähnlich  wirkt, 
wie  der  Gegenstand  selbst,  und  deshalb  ihn  vertreten  kann; 
fragen  wir  aber,  wie  nun  in  Folge  desselben  ein  Bild 
gesehen  werden  kann,  so  empfinden  wir,  wie  unpassend 
überhaupt  die  Vergleichung  einer  Erkenntniß  mit  einer  Ab- 
bildung war.  Das  erkennende  Bewußtsein  ist  keine  wider- 
stehende gekrümmte  oder  ebene,  glatte  oder  rauhe  Ober- 
fläche, und  es  würde  ihm  nichts  helfen,  empfangene  Strahlen 
irgendwohin  zu  reflectiren;  in  sich  selbst  und  in  seiner 
zusammenfassenden  Einheit,  die  kein  Raum  und  keine 
Platte,  sondern  eine  Thätigkeit  ist,  muß  es  die  erregten 
Einzelvorstellungen  zu  der  Anschauung  einer  räum- 
lichen Ordnung  verbinden,  welche  nicht  selbst  wieder  eine 
räumliche  Ordnung,  sondern  eben  nur  deren  Vorstellung 
ist.  Denn  wenn  nun  auch,  wie  vielleicht  Einige  meinen, 
die  Vorstellung  eines  linken  Punktes  in  unserem  Bewußtsein 
links  neben  der  Vorstellung  eines  rechten  Punktes  läge, 
und  die  eines  oberen  über  der  eines  unteren,  so  wäre 
durch  diese  Thatsache  noch  nicht  die  Anschauung  dieser 
Thatsache  gegeben;  hierdurch  allein  würden  wir  uns  in 
der  That  nur  als  ein  Spiegel  verhalten,  in  welchem  die 
Wahrnehmung   einer  andern   Seele  die  Lage  jener  Punkte 


534  Drittes  Kapitel. 

entdecken  könnte,  wenn  diese  Seele  wenigstens  das  voll- 
brächte, was  unsere  eigene  nicht  gethan  hätte:  wenn  sie 
nämlich  die  von  uns  in  bestimmter  Ordnung  ihr  zugestrahl- 
ten Eindrücke  nicht  blos  erlitte  und  in  sich  beherbergte, 
sondern  sie  sich  zur  Veranlassung  dienen  ließe,  eine  zu- 
sammenfassende Anschauung  dieser  Ordnung  zu  er- 
zeugen. Nichts  also  bleibt  von  diesem  ungenauen  Gleichniß 
übrig,  als  die  Ueberzeugung,  daß  selbst  die  bloße  Wahr- 
nehmung eines  Sachverhaltes,  so  wie  er  ist,  nur  unter 
der  Voraussetzung  möglich  ist,  das  wahrnehmende  Subject 
sei  durch  seine  eigene  Natur  befähigt  und  genöthigt,  die 
von  den  Gegenständen  ihm  zugekommenen  Anregungen  in 
diejenigen  Formen  zu  vereinigen,  die  es  an  ihnen  anschauen 
soll  und  von  ihnen  einfach  zu  empfangen  glaubt.  Daß 
es  sich  ebenso  verhält  mit  allen  Vorstellungen,  die  wir 
über  den  inneren  Zusammenhang  verschiedener  Wahr- 
nehmungen bilden,  füge  ich  vor  der  Hand  nur  kurz  hinzu: 
denn  eben  dies  ist  am  öftersten  zugestanden  worden.  Daß 
wir  eine  ursächliche  Verbindung  zwischen  zwei  Ereignissen 
nicht  sehen,  daß  vielmehr  die  Vorstellung  einer  solchen 
erst  von  uns  zu  der  wahrnehmbaren  Zeitfolge  der  Be- 
gebenheiten hinzugebracht  wird,  hat  man  allseitig  ein- 
geräumt, bald  um  durch  diesen  apriorischen  Ursprung  dem 
Begriff  des  Causalnexus  die  höhere  Würde  eines  nothwendig 
allgemeingültigen  Gedankens  zu  sichern,  bald  um  ihm  jede 
Gültigkeit  in  Bezug  auf  die  Welt  der  Dinge  abzusprechen, 
aus  deren  Wahrnehmung  er  nicht  entstanden  sei.  Beide 
Folgerungen  sind  unrichtig;  in  Bezug  auf  die  zweite  wieder- 
hole ich  die  einfache  Betrachtung:  auch  wenn  ein  ursäch- 
licher Zusammenhang  zwischen  den  Ereignissen  der  Außen- 
welt stattfindet:  als  unmittelbarer  Gegenstand  einer  Wahr- 
nehmung, die  sich  völlig  receptiv  verhielte,  könnte  er  uns 
auch  dann  nicht  gezeigt  werden ;  immer  kann  uns  durch 
die  Art  der  Verbindung  zwischen  Einzeleindrücken  nur 
eine  Veranlassung  gegeben  werden,  ihn  hinzuzudenken,  und 
diese  Veranlassung  kann  nur  dann  wirksam  sein,  wenn  es 
unserer  geistigen  Natur  unvermeidlich  ist,  jene  Verbin- 
dung des  Mannigfaltigen  in  unserem  Bewußtsein  uns  durch 
diese  Ergänzung  erst  zu  vervollständigen  und  zu  recht- 
fertigen. 

328.  Die  ausgedehnte  Apriorität,  die  wir  so  für  unsere 
Erkenntniß  in  Anspruch  nehmen,  ist  indessen  nur  die  eine 
Seite    der    Sache.     Eben    dann,    wenn   wir   alle    sinnlichen 


Apriorismus  und  Empirismus.  535 

Empfindungsweisen,  unsere  Raumanschauung,  unsere  Be- 
griffe von  Ding  und  Eigenschaft,  von  Ursache  und  Wirkung, 
endlich  die  ethischen  Vorstellungen  des  Gut  und  Böse, 
als  angeborene  Aeußerungsweisen  des  Geistes  betrachten, 
eben  dann  kann  der  Grund  zu  den  besonderen  einander 
ausschließenden  Anwendungen  ihrer  aller  nicht  ebenso  in 
dem  Wesen  dieses  Geistes  liegen.  In  unserer  Raum- 
anschauung sind  unzählige  Figuren  möglich,  aber  nur  be- 
stimmte beobachten  wir  in  jedem  Augenblick;  vielerlei 
Farben  könnten  wir  sehen  und  sehr  verschiedene  Reihen- 
folgen von  Tönen  hören,  aber  wir  können  das  Roth  nicht 
ändern,  das  wir  jetzt  und  hier  bemerken,  obgleich  an 
derselben  Stelle  uns  auch  Blau  und  Gelb  empfindbar  wäre, 
und  der  jetzt  gehörten  Melodie  können  wir  keine  der  un- 
zähligen unterschieben,  die  wir  in  andern  Augenblicken 
vernommen  haben;  unabhängig  von  uns  ordnen  sich  die 
Ereignisse  bald  so  daß  sie  uns  zur  Vorstellung  eines  ursäch- 
lichen Zusammenhangs  nöthigen,  bald  so  daß  sie  uns  die 
Annahme  desselben  unmöglich  machen ;  endlich  diese  C  o  m  - 
bination  der  Veranlassungen,  die  uns  zur  Aus- 
Übung  unserer  apriorischen  Fähigkeiten  ge- 
geben werden,  ändert  sich  von  Person  zu  Person;  sie 
kann  also  nicht  in  der  allgemeinen  Natur  unseres  Geistes 
begründet  sein.  Es  ist  gleichgültig  für  unsern  gegenwärtigen. 
Zusammenhang,  wo  wir  ihre  Ursachen  suchen.  Vielleicht 
hat  die  gewöhnliche  Meinung  Recht,  der  wir  uns  im  Leben 
alle,  fügen,  und  von  der  wir  in  dieser  Betrachtung  aus- 
gingen :  vielleicht  besteht  eine  Welt  von  Dingen  außer  uns, 
in  welcher  wir  selbst  bestimmte  Plätze  haben,  und  deren 
eigene  Veränderungen  verschieden  auf  uns  wirken  je  nach 
den  verschiedenen  oder  veränderlichen  Stellungen,  die  wir 
in  ihr  einnehmen.  Dann  wird  das  Gewebe  der  Vorstellungen, 
die  in  uns  entstehen,  zwar  nicht  in  dem  Sinne  Anspruch 
auf  den  Namen  der  Wahrheit  haben,  als  könnte  es  ein 
ähnliches  Bild  dessen  darstellen,  was  in  dieser  Welt  der 
Dinge  ist  oder  geschieht;  aber  jede  Verknüpfung  Trennung 
oder  Abwechselung  der  Erscheinungen,  die  uns  so  vor- 
schweben, wird  doch  als  Folge  den  Gang  einer  vielleicht 
andersgearteten  aber  bestimmten  Veränderung  verrathen, 
die  in  den  Verhältnissen  der  auf  uns  wirkenden  Dingwelt 
stattgefunden  hat.  Zu  demselben  Ergebniß  würde  die  andere 
idealistische  Meinung  führen,  die  uns  im  Leben  stets  un- 
geläufig bleibt,  und  zu  welcher  zulängliche  Beweggründe 
nur  innerhalb  philosophischer  Untersuchungen  aufzufinden 


53G  Drittes  Kapitel. 

sind.  Vielleicht  gibt  es,  ihr  zufolge,  keine  Welt  der  Dinge 
und  der  Ereignisse  außer  uns,  sondern  nur  die  Erscheinung 
einer  solchen  wird  durch  eine  einzige  unbekannte  und 
alle  Geister  durchdringende  Macht  eben  nur  in  diesen 
Geistern  selbst  und  so  hervorgebracht,  daß  die  Weltbilder, 
welche  die  verschiedenen  um  sich  herum  zu  schauen 
glauben,  zu  einander  passen  und  alle,  jeder  an  seiner 
besonderen  Stelle,  sich  in  ein  und  dasselbe  Universum  ein- 
geordnet erscheinen.  Immer  wird  auch  diese  Vorstellungs- 
weise zugestehen  müssen,  daß  für  jeden  einzelnen  Geist 
die  Anregung,  die  er  zur  Erzeugung  seines  Weltbildes 
erhält,  eine  ihm  selbst  fremde  ist  und  zugleich  unerklärlich 
aus  der  allgemeinen  geistigen  Natur,  die  er  mit  allen  andern 
theilt;  woher  sie  auch  stammen  mag,  sie  bleibt  ein 
empirisches  oder  aposteriorisches  Element  unserer  Er- 
kenntniß.  Und  wieder:  jede  Verknüpfung  Trennung  oder 
Abwechselung  der  Erscheinungen,  die  uns  so  entstehen, 
wird  auf  ein  anderes  Geschehen,  auf  Veränderungen  hin- 
weisen, die  jetzt  zwar  nicht  mehr  in  den  Verhältnissen 
mannigfacher  Dinge,  wohl  aber  in  dem  Handeln  jener  ein- 
heitlichen Macht  vorgehen,  welche  diesen  Traum  einer 
Außenwelt  uns  verschafft.  Hier  endlich  wie  dort  wird  es 
eine  würdige  Aufgabe  sein,  aus  der  Beobachtung  und  Ver- 
gleichung  der  Erscheinungen  die  beständigen  Gesetze  zu 
ermitteln,  nach  denen  ihr  wechselreiches  Spiel  erfolgt,  und 
die  Auflösung  dieser  Aufgabe  wird  die  Erkenntniß  einer 
Wahrheit  sein,  auch  wenn  es  kein  Mittel  geben  sollte,  zu 
entscheiden,  von  welcher  anderen  Gesetzmäßigkeit  einer 
uns  unbekannt  bleibenden  Außenwelt  diese  Gesetzlichkeit 
des  Verlaufs  unserer  Innenwelt  hervorgebracht  wird.  Es 
ist  im  Wesentlichen  die  Ansicht  Kant's,  die  ich  hier 
vertrete,  und  von  der  die  deutsche  Philosophie  nie  hätte 
ablassen  sollen.  Ich  vertrete  sie  aber  unter  ausdrücklicher 
Ablehnung  jeder  Beantwortung  der  letztgedachten  Frage. 
Mag  es  immerhin  sein,  daß  Jemand  eine  unmittelbare 
Gewißheit  über  Sein  oder  Nichtsein  jener  Außenwelt  zu 
besitzen  glaubt:  was  und  wie  sie  sei,  wird  er  doch  immer 
nur  durch  Rückschlüsse  von  den  Erscheinungen  aus  ent- 
räthseln  können;  hier  muß  daher  zuerst  Recht  geschaffen 
werden:  die  gewissen  Grundsätze,  nach  denen  der  Zu- 
sammenhang dieser  Innenwelt  zu  beurtheilen  ist,  müssen 
zuerst  festgestellt  werden,  ehe  von  einer  Anwendung  der 
gewonnenen  Einsicht  auf  jene  der  Metaphysik  zu  über- 
lassende Sonderfrage  zu  reden  ist. 


Apriorismus  und  Empirismus.  537 

329.  Wenn  wir  nun  aber  Wahrheiten  voraussetzen, 
die,  in  dem  früher  angegebenen  Sinne  des  Wortes,  unserem 
Geiste  angeboren  sind,  woher  erlangen  wir  die  Kenntniß 
derselben,  wenn  nicht  dadurch,  daß  wir  sie  in  uns  finden? 
also  durch  eine  innere  Erfahrung?  so  daß  doch  zuletzt 
Erfahrung  die  einzige  Quelle  aller  unserer  Erkenntniß 
wäre?  Dieser  Einwurf  ist  gemacht  worden;  man  wird 
ihn  zunächst  für  ebenso  unfruchtbar  als  unwiderleglich 
halten.  Denn  sicher :  wenn  wir  eine  Wahrheit  wissen  sollen, 
müssen  wir  uns  ihrer  bewußt  sein,  und  w^enn  wir  früher 
uns  ihrer  nicht  bewußt  waren,  so  ist  der  Uebergang  zum 
Wissen  derselben  eine  Begebenheit,  die  wir  nur  erleben, 
oder  erfahren  können ;  in  demselben  Sinne  ist  unser  ganzes 
Dasein  eine  Thatsache,  die  wir  vorfinden.  Gegen  den 
Apriorismus  angeborener  Ideen  kann  mithin  dieser  Einwand 
nicht  gelten;  vielmehr:  auch  wenn  es  angeborene  Ideen, 
auch  wenn  es  sie  sogar  in  dem  Sinne  gäbe,  daß  sie 
einen  unablässigen  Inhalt  unsers  Bewußtseins  bildeten,  auch 
dann  würde  eine  hierauf  gerichtete  Reflexion  ihr  Vorhanden- 
sein zunächst  immer  nur  als  eine  gegebene  Thatsache 
erfahren  oder  erleben.  In  dieser  weitläufigen  Bedeutung 
genommen  ist  der  Begriff  der  Erfahrung  nicht  mehr  der 
Anlaß  zu  einer  Verschiedenheit  der  Meinungen;  von  Wich- 
tigkeit ist  nur,  als  was  wir  jene  Gedanken  erfahren, 
ob  als  angeborene  Wahrheiten  oder  als  Erfahrungen  in 
dem  beschränkteren  Sinne,  in  welchem  sie  im  Gegensatz 
zu  diesen  auf  einen  dem  Geiste  selbst  auswärtigen  Ursprung 
hindeuten.  Und  hier  verschärft  sich  zunächst  die  vorige 
Frage,-  wenn  wir  nach  Kennzeichen  suchen,  welche  den 
einen  Fall  von  dem  andern  unterschieden.  Aufgenöthigt 
werden  uns  die  Eindrücke,  die  von  außen  kommen,  und 
wir  können  sie  nicht  ändern;  aber  unvermeidlich  und 
nothwendig  erscheinen  uns  auch  jene  Wahrheiten;  daß 
wir  im  ersten  Fall  einen  fremden  Zwang,  im  zweiten  nur 
den  unserer  eigenen  Natur  erlitten,  können  wir  vermuthen, 
aber  wie  beweisen?  In  der  That  ist  indessen,  im  un- 
befangenen Gebrauch  des  Denkens,  nicht  dies  das  Erste, 
was  uns  jetzt,  in  dem  Zusammenhange  unserer  methodo- 
logischen Betrachtung,  das  Wichtigste  war:  nicht  in  dieser 
ihrer  Eigenschaft,  dem  Geiste  angeboren  zu  sein,  werden 
jene  Wahrheiten  erfahren,  sondern  die  sachliche  Selbst- 
verständlichkeit ihres  Inhalts  fällt  uns  zuerst  auf  und  macht 
sie,  nachdem  irgend  ein  Beispiel  uns  veranlaßt  hat,  sie 
zu   denken,  von  aller  Bestätigung  durch  fernere  Beispiele, 


538  Drittes  Kapitel. 

mithin  von  der  Erfahrung  unabhängig,  welche  diese  liefern 
könnte.  Allgemeinheit  und  Noth wendigkeit  sind 
daher  immer  die  beiden  Eigenschaften  gewesen,  die  den 
apriorischen  Erkenntnissen  zugeschrieben  wurden.  Wir  ver- 
stehen die  erste  in  dem  Sinne,  daß  überall,  sobald  das 
Subject  einer  solchen  Erkenntniß  gedacht  wird,  auch  das 
zugehörige  Prädicat  als  selbstverständlich  mit  ihm  ver- 
bunden erscheint;  und  in  nichts  Anderem  als  in  dieser 
Selbstverständlichkeit  besteht  anderseits  auch  die  Noth- 
wendigkeit  der  Geltung,  die  allgemeinen  Wahrheiten  offen- 
bar in  anderer  Bedeutung  zukommt,  als  den  Verknüpfungen 
verschiedener  Inhalte,  die  uns  die  veränderliche  Erfahrung 
vorführt.  Gegeben  sind  auch  diese  so,  daß  in  dem  Augen- 
blick, in  welchem  sie  stattfinden,  unsere  Willkür  sie  nicht 
zu  trennen  vermag;  aber  obwohl  nothwendig  in  dem  Sinne, 
in  welchem  es  jede  Thatsache  ist,  die  nicht  hinweggeleugnet 
werden  kann,  entbehrt  doch  der  Inhalt  der  Erfahrung  jene 
Selbstverständlichkeit  der  inneren  Verknüpfung,  die  uns 
den  einen  seiner  Bestandtheile  nicht  ohne  den  andern 
zu  denken  erlaubt.  Aber  zuletzt:  was  in  diesem  einen 
Augenblicke  uns  selbstverständlich  erschiene,  woher  hätten 
wir  das  Recht  zu  behaupten,  daß  es  in  jedem  andern 
Augenblicke  uns  ebenso  erscheinen  werde?  ihm  also  jene 
Allgemeingültigkeit  zuzuschreiben,  durch  die  es,  der  ver- 
änderlichen Erfahrung  gegenüber,  zu  einem  feststehenden 
Grundsatze  für  deren  Beurtheilung  würde?  Schon  die  antike 
Skepsis  erhob  diesen  Zweifel,  und  er  bewog  sie,  die  Zu- 
lässigkeit  jeder  allgemeinen  Behauptung  zu  leugnen.  In 
der  That,  welchen  Grundsatz  wir  auch  immer  erdenken 
niöchten,  um  uns  zu  berechtigen,  von  der  Evidenz  eines 
Gedankens  im  jetzigen  Augenblick  auf  gleiche  Evidenz  des- 
selben in  aller  Folgezeit  zu  schließen,  als  allgemeiner  Grund- 
satz würde  er  genau  dem  Bedenken  unterliegen,  welches 
er  zu  heben  bestimmt  wäre.  So  würde  es  denn,  um  uns 
der  Allgemeingültigkeit  eines  Gedankens  zu  versichern,  kein 
Mittel  geben,  wenn  uns  die  Evidenz  nicht  genügt,  mit 
welcher  sein  Inhalt,  einmal  gedacht,  sich  selbst  ewige 
Geltung  der  Erfahrung  vorgreifend  zuschreibt.  Und  man 
würde  bedenken  müssen,  daß  diese  Unfähigkeit  nicht  eine 
beklagenswerthe  Unvollkommenheit  nur  der  menschlichen 
Einsicht  sein  würde;  jeder  Geist  th eilte  sie,  dessen  Vor- 
stellungsleben, in  der  Zeit  sich  entwickelnd,  irgend  noch 
Aehnlichkeit  mit  dem  unsrigen  hätte;  welche  wahrste  Wahr- 
heit ihm  auch  angeboren  sein  möchte,  sie  würde  in  sein 


Apriorismus  und  Empirismus.  539 

Bewußtsein  doch  nur  in  einem  bestimmten  Augenblicke 
treten,  und  alle  Evidenz,  die  sie  dann  für  ihn  hätte,  würde 
den  Zweifel  an  ihrer  Denknothwendigkeit  im  nächsten 
Augenblicke  nicht  heben. 

330.  Vielleicht  stimmt  man  diesem  Ergebnisse  eifrig 
zu  und  fährt  fort:  eben  dies  beweise  die  Vergeblichkeit 
unserer  Parteinahme  für  Wahrheiten,  die  dem  Geiste 
a  priori  gegeben  seien;  selbst  nachdem  er  sie  besitze,  habe 
er  kein  Mittel,  sie  von  dem  zu  unterscheiden,  was  ihm 
nur  durch  Erfahrung  zukomme;  oder  anders  ausgedrückt; 
eben  nur  durch  Erfahrung  lerne  er  ihre  Allgemeingültigkeit 
kennen,  wenn  in  jedem  folgenden  Versuche,  sie  zu  denken, 
sich  ihre  Evidenz  immer  wieder  erneuere,  dann  habe  man 
zwar  nicht  den  strengen  Beweis,  aber  die  größte  Wahr- 
scheinlichkeit ihrer  allgemeinen  Geltung,  und  hierauf,  auf 
diese  wachsende  empirische  Wahrscheinlichkeit,  habe  alle 
unsere  Erkenntniß  sich  dann  in  der  That  zu  beschränkeni 
Hierin  liegt  ein  Theil  von  Wahrheit,  dessen  ich  nachher 
gedenken  will ;  aber  das  Ganze  dieser  Behauptung  ist  falsch. 
Eben  dann,  wenn  zugestandenermaßen  die  in  dem  einen 
Augenblick  erfahrene  Evidenz  eines  Gedankens  nicht 
für  die  Erfahrung  derselben  Evidenz  in  einem  zweiten, 
bürgen  soll,  eben  dann  kann  auch  eine  tausendfach  wieder- 
holte gleiche  Erfahrung  das  Eintreten  der  tausend  und 
ersten  nicht  wahrscheinlicher  machen,  als  schon  das  der 
zweiten  oder  dritten  gewesen  wäre.  Wenn  wir  nach  viel- 
fachen Beispielen  einer  Verknüpfung  zweier  Ereignisse  a 
und  b,  deren  Reihenfolge  durch  kein  Gegenbeispiel  untere 
brochen  worden  ist,  auf  jedes  neue  Eintreten  von  a  auch  b 
mit  immer  wachsender  Zuversicht  erwarten,  so  thun  wir 
dies  auf  Grund  sehr  bestimmter  Voraussetzungen.  War 
jene  Verknüpfung  von  a  und  b  nicht  von  der  Art,  daß 
sie,  einmal  gedacht,  sich  als  selbstverständlich  erwies  und 
sich  selbst  als  allgemeingültig  für  alle  Zukunft  ausgab, 
so  leiten  wir  ihre  beständige  Wiederkehr  davon  ab,  daß 
die  wechselnden  Bedingungen,  welche  diesen  Erfolg  hätten 
ändern  können,  nicht  eingetreten  sind;  daß  sie  aber 
auch  später  nicht  eintreten  werden,  finden  wir  nach  einer 
großen  Anzahl  gleichartiger  Erfahrungen  nur  deshalb  wahr- 
scheinlich, weil  wir  im  Ganzen  des  Weltlaufs  und  in  dem 
besondern  Theile  desselben,  dem  jene  Ereignisse  angehören, 
eine  Beständigkeit  des  Verhaltens  voraussetzen,  die 
an  einer  hinlänglichen  Anzahl  von  -Beispielen  erkennbar 
wird;  nun,  nachdem  wir  vorausgesetzt  haben,  daß  die  zu- 


540  Drittes  Kapitel. 

künftigen  Wiederholungen  der  Bedingungen  den  beobach- 
teten gleichen  werden,  schließen  wir:  unter  gleichen  Be- 
dingungen werde  Gleiches  eintreten  müssen.  Haben  wir 
uns  in  jener  Voraussetzung  geirrt,  so  werden  wir  eine 
falsche  empirische  Behauptung  allgemein  aufgestellt  haben, 
die  durch  eine  später  kommende  Erfahrung  widerlegt  wird ; 
gilt  uns  dagegen  der  allgemeine  Grundsatz  nicht  mehr 
für  allgemein,  daß  unter  gleichen  Bedingungen  gleiche  Folgen 
entstehen,  so  ist  das  ganze  logische  Verfahren  grundlos 
und  haltlos,  durch  welches  man  aus  Erfahrungen  Sätze 
von  auch  nur  wahrscheinlicher  Allgemeingültigkeit  zu 
finden  hofft;  denn  jede  Folgerung  von  m  zu  m-fl,  gleich- 
viel ob  sie  strenge  oder  wahrscheinliche  Geltung  irgend 
eines  Satzes  vermitteln  will,  setzt  die  strenge  Allgemein- 
gültigkeit jenes  logischen  Grundsatzes  voraus.  Man  sieht 
daher,  daß  die  Neigung,  alle  allgemeine  Erkenntniß  aus 
Erfahrung,  d.  h.  aus  Summirung  von  Einzelwahrnehmungen 
zu  gewinnen,  nicht  zum  Ziele  kommt;  irgendwo  ist  stets 
als  nothwendiges  Hülfsmittel  einer  jener  Gedanken  voraus- 
zusetzen, dessen  einmal  gedachtem  Inhalt  man  mit  unmittel- 
barem Zutrauen  den  von  ihm  erhobenen  Anspruch  auf 
allgemeine   Gültigkeit  zugibt. 

331.  In  der  That  ist  nun  hierüber  im  wirklichen  Ge- 
brauche des  Denkens  niemals  Streit  gewesen.  Man  hat 
manchen  mathematischen  Beweis  erneuter  Prüfung  unter- 
zogen, aber  immer  nur  um  zu  ermitteln,  ob  jeder  der 
einzelnen  Sätze,  aus  denen  er  bestand,  für  sich  evident 
war  oder  folgerecht  aus  anderen  evidenten  floß;  niemals 
dagegen  hat  man  das  an  sich  Evidente  einer  bloßen  Wieder- 
holungsprobe unterworfen,  um  zu  sehen,  ob  nicht  doch 
einmal  ein  Augenblick  käme,  in  welchem  sein  Gegentheil, 
die  Gleichheit  etwa  des  Ungleichen  oder  ein  Ueberschuß 
des  Theiles  über  das  Ganze,  ebenso  evident  würde ;  und 
wäre  jemals  dies  Unerwartete  geschehen,  so  würde  Niemand 
gezweifelt  haben,  daß  ein  Fehler  vorliege,  den  die  Un- 
achtsamkeit des  Rechnenden  allein  verschuldet  habe.  Zwie- 
spalt ist  dagegen  vorhanden  über  den  Umfang  jener  selbst- 
verständlichen und  allgemeingültigen  Wahrheiten,  und  hier 
kommt  nun  der  Theil  Wahrheit  in  Betracht,  den  ich  oben 
der  zurückgewiesenen  Ansicht  doch  zugestehen  mußte.  Aber 
auch  dies  meine  ich  nicht  so,  als  könnte  die  Erfahrung 
als  solche  uns  helfen,  das  festzustellen,  was  nicht  nur 
als  allgemeine  Thatsache,  sondern  mit  selbstverständlicher 
Nothwendigkeit  allgemein  gilt;  vielmehr  ist  es  gerade  die 


Apriorismus  und  Empirismus.  541 

Erfahrung,  deren  oft  wiederholte  gleichförmige  Aussagen 
uns  verlocken,  zuletzt  für  nothwendig  und  selbstverständ- 
lich zu  halten,  was  nur  wirklich,  oder  nicht  einmal  dies  ist. 
Ich  habe  früher  der  täuschenden  Evidenz  gedacht,  die 
für  uns  manche  Gedanken  annehmen,  deren  Inhalt  ein 
beschränkter  Beobachtungskreis  uns  beständig  ohne  Gegen- 
beispiel vorgeführt  hat;  die  psychologische  Association,  die 
sich  dann  zwischen  den  Vorstellungen  a  und  b  zweier 
stets  aufeinander  gefolgten  Ereignisse  gebildet  hat,  nimmt 
sehr  bald  den  Schein  einer  selbstverständlichen  sachlichen 
Verknüpfung  der  vorgestellten  Inhalte  an.  Ich  habe  schon 
damals  angeführt,  daß  der  Versuch,  das  contradictorische 
Gegentheil  eines  so  evident  gewordenen  Gedankens  zu 
denken,  zuweilen  dazu  dient,  diesen  täuschenden  Schein 
zu  zerstreuen;  mit  Verwunderung  bemerken  wir  dann,  daß 
eine  Annahme,  die  der  scheinbar  selbstverständlichsten  Be- 
hauptung widerspricht,  dennoch  keinen  Widerstand  unseres 
Denkens  erfährt,  daß  sie  denkmöglich  ist  wie  diese,  daß 
also  die  Gewißheit,  die  wir  dieser  zuerkannten,  nicht  auf 
allgemeingültiger  und  selbstverständlicher  Zusammen- 
gehörigkeit ihres  Inhaltes  beruht.  Aber  ich  mußte  auch 
schon  früher  hinzufügen,  daß  dieser  Versuch  nicht  immer 
entscheidend  sein  wird;  sehr  mannigfaltig  sind  in  der  That 
die  Einflüsse  der  vorgängigen  Erfahrung,  die  auch  seinen 
Nutzen  vereiteln.  Könnten  wir  sicher  sein,  wenn  wir  irgend 
einen  Satz  dieser  Prüfung  unterwerfen,  nicht  nur  sein 
Subject  a,  sein  Prädicat  b  und  den  Sinn  der  Copula  c 
oder  derjenigen  Verknüpfung,  in  welche  wir  a  und  b  bringen 
wollen,'  genau,  ohne  Mangel  und  Ueberf luß  bestimmt  zu 
haben,  sondern  auch  bei  der  endlichen  Entscheidung 
darüber,  ob  dies  c  zwischen  diesem  a  und  diesem  b  selbst- 
verständlich stattfinde  oder  nicht,  uns  durch  keinerlei 
Beweggrund  leiten  zu  lassen,  der  dem  festbestimmten  Inhalt 
dieser  drei  Begriffe  fremd  wäre,  so  würden  die  endlichen 
Aussagen  aller,  bejahend  oder  verneinend,  gewiß  überein- 
stimmen. Wo  diese  Bedingungen  erfüllbar  sind,  wie  es 
auf  dem  Gebiete  der  Mathematik  der  Fall  ist,  da  finden 
wir  solche  Uebereinstimmung  wirklich.  Die  verwickelten 
Begriffe  von  Gegenständen  der  Wirklichkeit  gestatten  da- 
gegen nicht  von  fern  diese  Genauigkeit  der  Zerlegung; 
und  jedes  besonnene  Denken  erwartet  hier  Ergebnisse  nur 
von  der  Erfahrung  oder  vielmehr  von  genauer  Bearbeitung 
der  Erfahrungen;  die  einfachsten  und  allgemeinsten  Be- 
griffe   und    Gedanken    endlich,    die    wir   eben    dieser    Be- 


542  Drittes  Kapitel. 

arbeitung  gern  überordnen  möchten,  würden  an  sich  aller- 
dings jene  Genauigkeit  zulassen,  wenn  nicht  eben  der  Ein- 
fluß der  vorangegangenen  Erfahrungen  sie  erschwerte.  Wir 
meinen  gewiß  etwas  sehr  Einfaches  und  Bestimmtes,  wenn 
wir  die  Worte:  Sein  Ding  Ursache  Kraft  Wirkung  und 
Stoff  aussprechen;  aber  jeder  dieser  Begriffe  ist  von  uns, 
auf  Veranlassung  unseres  Beobachtungskreises  oder  be- 
sonderer Lieblingsrichtungen  unserer  Aufmerksamkeit,  ge- 
wöhnlich nur  auf  einen  Theil  des  Umfanges  angewandt 
worden,  den  er  nach  unserer  eignen  Ueberzeugung  ganz 
beherrschen  soll,  und  zugleich  anderseits  in  mancherlei 
Verbindungen  gebracht,  die  ihm  möglich,  aber  nicht  wesent- 
lich sind.  Definiren  würden  wir  daher,  wenn  man  uns 
aufforderte,  denselben  Begriff  vielleicht  übereinstimmend, 
unsere  wirklichen  Anschauungen  seines  Inhalts  würden 
dennoch  verschieden  genug  sein,  so  verschieden  wenigstens, 
wie  dieselben  Formen  unter  verschiedenen  Beleuchtungen 
erscheinen.  Alle  diese  unzergliederten  Nebengedanken  nun, 
die  Stimmungen  und  Wünsche,  die  sich  so  verstohlen  an 
das  Gedachte  knüpfen  und  ihm  sein  eigenthümliches  Colorit 
geben,  machen  uns  geneigt,  Prädicate  an  ihm  selbstver- 
ständlich zu  finden,  die  der  bloße  Eigeninhalt  desselben 
nicht  gerechtfertigt  hätte.  Dies  ist  der  Werth  und  die 
Gefahr  der  Erfahrung:  ohne  durch  sie  veranlaßt  zu  sein, 
treten  die  allgemeinen  Grundsätze  unseres  Urtheilens  nicht 
vor  unser  Bewußtsein;  durch  sie  veranlaßt  aber  sind  sie 
zugleich  mit  Einseitigkeiten  Mängeln  und  Ueberschüssen 
behaftet,  von  denen  eine  spätere  Reflexion  Mühe  hat  sie 
zu  reinigen.  Hier  beginnt,  als  eine  unermüdlich  fortzu- 
setzende Kritik,  jene  dankenswerthe  Bemühung,  psycho- 
logisch den  Ursprung  der  Gestalt  zu  erforschen,  die  sie 
zuletzt  in  unserem  Bewußtsein  angenommen  haben;  nicht 
sowohl  um  zu  zeigen,  wie  alle  Wahrheit  und  Gewißheit 
allmählich  aus  den  Aussagen  der  Erfahrung  entspringt, 
sondern  im  Gegentheil,  um  deutlich  zu  machen,  wie  viel 
Fremdartiges,  nur  aus  den  Besonderheiten  der  beobachteten 
Beispiele  stammend,  sich  incrustirend  an  den  Inhalt  jener 
ursprünglichen  Wahrheiten  angelagert  hat,  die,  einfach  und 
rein  gedacht,  uns  nicht  nur  nothwendig  und  selbstver- 
ständlich erscheinen,  sondern  so  auch  sich  in  allen  ihren 
Anwendungen  bewähren  würden. 

332.  Ich  glaube  nicht,  daß  diese  Kritik  der  Vor- 
urtheile,  wie  ich  sie  kurz  nennen  möchte,  sich  anders 
als  stückweis  und  in  unmittelbarem  Anschluß  an  bestimmte 


Apriorismus  und  Empirismus.  543 

zu  lösende  Aufgaben  ausführen  läßt;  denn  die  Schwierig- 
keiten^ die  sich  bei  den  Bearbeitungen  dieser  erheben,  sind 
es  eigentlich  erst,  die  uns  den  Verdacht  der  Unrichtigkeit 
unserer  Grundsätze  und  eine  Vermuthung  über  die  Quellen 
der  begangenen  Irrthümer  erwecken.  Ich  unterlasse  daher, 
hierüber  ins  Einzelne  zu  gehen;  aber  ich  muß  mein  bis- 
heriges Verfahren  rechtfertigen  gegenüber  der  entgegen- 
gesetzten Ansicht,  welche  durch  diese  psychologischen  Zer- 
gliederungen unserer  Erkenntnisse  nicht  nur  ursprüngliche 
Wahrheiten  aus  der  Umhüllung  irriger  Nebengedanken  zu 
befreien,  sondern  die  Natur  des  Denkens  systematisch  auf- 
zuklären und  die  Gültigkeit  seiner  Grundsätze  zu  erweisen 
sucht.  Ich  bin  in  meiner  ganzen  Darstellung  nicht  dieser 
Meinung  gewesen,  daß  die  Logik  wesentlichen  Nutzen  aus 
der  Erörterung  der  Bedingungen  ziehen  könne,  unter  denen 
das  Denken  als  psychischer  Vorgang  verwirklicht 
wird.  Die  Bedeutung  der  logischen  Formen  besteht  in  dem 
Sinne  der  Verknüpfungen,  in  welche  wir  den  Inhalt  unserer 
Vorstellungswelt  bringen  sollen;  in  dem  also,  was  das 
Denken  aussagt  oder  befiehlt,  nachdem  oder  indem  es  in 
uns  zu  Stande  kommt,  aber  nicht  in  dem,  was  als  er- 
zeugende Bedingung  seiner  eignen  Wirklichkeit  hinter  ihm 
liegt.  Gewiß  muß  es  Bedingungen  dieser  Art  geben,  nicht 
blos  solche  eines  psychischen  Mechanismus,  die  in  jedem 
einzelnen  Augenblick  jede  einzelne  seiner  Bewegungen 
ebenso  bestimmen,  wie  jeden  Zug  eines  äußeren  Natur- 
ereignisses die  im  Moment  seines  Entstehens  vorhandenen 
physischen  Data;  vielmehr  auch  die  Nothwendigkeit,  mit 
welcher  im  Allgemeinen  das  Denken  jene  Regeln  seines- 
Verfahrens  unwissentlich  befolgt,  die  eine  spätere  Reflexion 
als  bewußte  Grundsätze  ausspricht,  muß  eine  unvermeid- 
liche Folge  der  Natur  des  Geistes  sein,  deren  Erforschung 
der  Psychologie  zufällt.  Aber  wenn  wir  nun  Alles  wüßten, 
was  wir  hierüber  zu  wissen  wünschen  können,  so  würde 
es  doch  eine  Täuschung  sein,  wenn  wir  darum  besser 
über  die  Wahrheit  unserer  logischen  Grundsätze  urtheilen 
zu  können  glaubten;  wäre  doch  ihre  Gültigkeit  vielmehr 
die  Voraussetzung  für  die  Möglichkeit  der  Untersuchung 
gewesen,  durch  die  wir  diese  ihre  psychologische  Ent- 
stehungsgeschichte zu  Stande  gebracht  hätten.  Diesen 
Cirkel,  der  uns  so  oft  schon  ermüdet  hat,  will  ich  hier 
zum  letzten  Male  erwähnt  haben;  es  muß  klar  sein,  daß 
keine  sensualistische  oder  empirische  Theorie  der  Ent- 
stehung unseres  Denkens  und  Wissens  dahin  kommen  kann. 


544  Drittes  Kapitel. 

den  Satz  der  Identität  oder  des  ausgeschlossenen  Dritten 
zu  beweisen  oder  zu  widerlegen;  sie  bedarf  beider  zu 
jedem  Schritt  ihrer  Folgerungen;  sie  kann  ebensowenig  die 
Geltung  des  Causalgesetzes  erst  begründen  oder  hinweg- 
räumen wollen,  denn  jeder  Versuch,  seine  Anwendung  auf 
Association  und  Reproduction  der  Vorstellungen  zurück- 
zuführen, setzt  in  anderer  Form  es  selbst  als  gültig  in 
Bezug  auf  die  Wechselwirkung  der  psychischen  Zustände 
voraus,  und  sowohl  seine  Bejahung  als  seine  Verneinung 
wäre  hinfällig,  wenn  nicht  zuerst  seine  Gültigkeit  fest- 
stände, aus  der  dann  freilich  die  Verneinung  nur  durch 
einen  sonderbaren  Selbstmord  der  Untersuchung  entspringen 
könnte.  So  bleibt  denn  nichts  übrig,  als  daß  diese  psycho- 
logischen Zergliederungen  auf  die  Aufgabe  beschränkt 
werden,  zu  zeigen,  wie  an  sich  gültige  Wahrheiten  im 
Denken  und  für  dasselbe,  sofern  es  ein  psychischer  Vor- 
gang ist,  als  unbew^ußt  befolgte ;  Regeln  seines  Verfahrens 
verwirklicht  werden. 

333.  Und  hier  möchte  ich  nun  noch  deutlich  machen, 
daß  wir  auch  von  alle  dem,  was  wir  in  dieser  Beziehung 
zu  wissen  wünschen  können,  in  der  That  nichts  wissen, 
und  daß  die  Logik  noch  lange  auf  ein  tieferes  Verständniß 
der  Denkhandlungen  würde  verzichten  müssen,  wenn  sie 
der  Aufklärung  durch  psychologische  Ableitung  derselben 
bedürfte.  In  den  sensualistischen  Darstellungen,  wie  sie 
nach  dem  hierin  unerreichten  Vorbild  Locke's  und  nach 
dem  kecken  Versuche  Condillac's  vielfältig  wiederholt 
sind,  kann  ich  nichts  finden,  was  überhaupt  dieser  Aufgabe 
entspräche.  Als  Kritik  der  Vorurtheile  unseres  Erkennens 
hat  Locke's  Werk  in  der  Entwicklung  der  neueren 
Philosophie  die  Wirkung  völlig  gehabt,  welche  die  Größe 
des  von  ihm  eröffneten  Gesichtskreises  und  die  Schärfe 
seines  Eindringens  verdiente;  aber  der  Mannigfaltigkeit  der 
inneren  Vorgänge,  die  er  in  Betracht  zieht,  steht  er  doch 
mit  keinem  andern  Organ  als  jenem  common  sense  gegen- 
über, der,  an  der  Beurtheilung  des  äußern  Weltlaufs  geübt, 
mit  den  hier  erworbenen  achtbaren  und  probablen,  aber 
unsystematischen  Maximen  überall  auszureichen  glaubt.  Es 
liegt  mir  näher,  von  dem  zu  reden,  was  in  deutscher 
Philosophie  versucht  worden  ist.  Wenn  wir  von  Erklärung 
eines  Kreises  von  Vorgängen  sprechen  und  sie  vermissen, 
so  schwebt  uns  als  Muster  des  Gewünschten  die  Gesammt- 
heit  der  naturwissenschaftlichen  Weltansicht  vor.  In  ihr 
ist,   eben  durch   Beachtung  der  Gesetze   des   Denkens  und 


Apriorismus  und  Empirismus.  545 

ihre  sorgfältige  Anwendung  auf  den  Inhalt  genauer  Be- 
obachtungen, die  Auffindung  weniger  Urthatsachen  gelungen, 
aus  deren  Ineinandergreifen  höchst  mannigfache  Erschei- 
nungen mit  nachweisbarer  Nothwendigkeit  entspringen. 
Glückliche  Eingebungen  haben  in  jüngster  Zeit  auch  einen 
Theil  des  innem  Lebens,  die  Abhängigkeit  wenigstens  der 
Empfindungen  von  äußeren  Reizen,  dem  so  beherrschten 
Gebiet  hinzugefügt;  nicht  indem  man  versuchte,  die  Eigen- 
art psychischer  Ereignisse  aus  physischen  Vorgängen  zu 
construiren,  die  ihnen  ewig  unvergleichbar  bleiben,  sondern 
indem  man  sich  beschränkte,  auf  die  Glieder  beider  Reihen, 
welche  thatsächlich  aber  in  unbekannter  Weise  die  Natur- 
ordnung aneinanderkettet,  genaue  Maßbestimmungen  an- 
wendbar zu  machen  und  aus  den  gefundenen  zusammen- 
gehörigen Werthpaaren  das  Gesetz  ihrer  Correspondenz  zu 
entwickeln.  Schon  früher  war  diesen  Bemühungen  ein 
werthvoller  Versuch  vorangegangen,  zwar  ohne  Anknüpfung 
an  Erfahrung  im  Einzelnen,  aber  nach  Hypothesen,  die  sich 
dem  Gesammteindruck  der  Erfahrungen  anschlössen,  in 
gleichem  Sinne  auch  die  inneren  Zustände  der  Seele  einer 
mechanischen  Theorie  ihres  Zustandekommens  zu  unter- 
werfen. Alle  diese  Leistungen  indessen,  durch  welche  die 
psychologische  Anschauungsweise  der  Gegenwart  den  An- 
sichten der  Vorzeit  sehr  weit  überlegen  ist,  reichen  nicht 
an  den  räthselhaften  Punkt  hinan,  dessen  helle  Beleuchtung 
der  Logik  neue  Wege  öffnen  könnte.  Sie  alle  lehren  uns 
nur  die  Wechselwirkung  verschiedener  dem  Maße  nach 
bestimmter  psychischer  Einzelzustände  mit  Rücksicht  auf 
die  Veränderung  kennen,  die  jeder  von  ihnen  durch  sein 
-Zusammentreffen  mit  andern  erfährt,  mit  Rücksicht  also 
auch  auf  den  Gesammtzustand  der  Seele,  soweit  er  nichts 
als  das  mechanische  Resultat  aller  dieser  Gegenwirkungen 
ist.  Aber  sie  erklären  nicht  ebenso  die  neuen  Rück- 
wirkungen, zu  denen  jeder  so  entstandene  Zustand  die  Seele 
veranlaßt,  und  die  eben  nicht  berechenbare  Ergebnisse  von 
Größenverhältnissen  zusammentreffender  Bedingungen  sind, 
die  vielmehr  mit  einer  andersgearteten,  sagen  wir :  mit  einer 
xlialektischen  oder  teleologischen  Nothwendigkeit  von  dem 
Sinne  oder  der  Idee  abhängen,  zu  deren  Verwirklichung  die 
Seele  bestimmt  ist.  Die  Erforschung  der  äußeren  Natur  läßt 
ähnliche  Fragen  zurück,  bedarf  aber  für  ihre  Zwecke  deren 
Beantwortung  nicht.  Wie  es  zugehe,  wie  es  gemacht  werde, 
oder  wozu  es  denn  so  sei,  daß  Massenelemente  einander 

Lotze,  Logik.  35 


546  Drittes  Kapitel. 

nach  Maßgabe  ihrer  Zwischenentfernung  anziehen,  kann 
dahingestellt  bleiben;  nachdem  das  Gesetz  dieser  Wirkung 
bekannt  ist,  darf  sie  als  ein  constantes  Element  des  Natur- 
laufs, d.  h.  hier  als  ein  solches  gelten,  dessen  Variationen 
in  jedem  Einzelfall  durch  die  gegebenen  Umstände  mit- 
bestimmt sind;  je  mehr  es  gelingt,  alle  Naturvorgänge  auf 
so  sich  verhaltende  gleichartige  Bewegungskräfte  zurück- 
zubringen, um  so  mehr  wird  auch  seiner  Form  nach  jedes 
einzelne  Ereigniß  aus  seinen  veranlassenden  Bedingungen 
construirbar  werden.  Dies  würde  sich  ändern,  wenn  die 
Naturforschung  Ursache  zu  der  Annahme  erhielte,  daß  auch 
die  für  unveränderlich  geachteten  Elemente  unter  der 
Wirkung  solcher  Kräfte  innere  Zustände  erlitten  und  durch 
diese  bestimmt  würden,  mit  neuen  vorher  nie  angeregten 
Formen  der  Rückwirkung  in  das  Spiel  der  Ereignisse  ein- 
zutreten. Gewiß  würde  man  auch  diese  neuen  Einflüsse, 
soweit  sie  in  der  Umgestaltung  physischer  Umstände  wirk- 
sam würden,  unmittelbar  an  die  erkennbaren  äußeren  Be- 
dingungen anschließen,  unter  denen  sie  entstanden,  also 
allgemein  ausgedrückt,  sie  als  Functionen  dieser  letzteren 
betrachten  können;  scheinbar  würde  daher  nicht  die  Stetig- 
keit der  wissenschaftlichen  Construction  eine  Unterbrechung, 
sondern  nur  ihre  Ausführung  eine  vermehrte  Schwierigkeit 
erfahren:  in  der  That  aber  würde  ein  Sprung  in  dieser 
Continuität  doch  vorhanden  sein.  Denn  daß  überhaupt 
unter  der  Summe  m  gewisser  physischer  Bedingungen  eine 
neue  Wirkungsweise  [i,  unter  der  anderen  Summe  n  eine 
andere  neue  Wirkung  v  auftreten  werde,  würde  doch  ein 
neues  Datum,  eine  Thatsache  sein,  die  man  aus  Erfahrung 
weiß,  aber  nicht  selbstverständlich  und  analytisch  als 
nothwendige  Folge  jener  Bedingungen  ableiten  kann.  In 
einem  solchen  Falle  nun  befinden  wir  uns  hier.  Alle  die 
inneren  Vorgänge,  die  wir  psychologisch  als  nothwendige 
Voraussetzungen  für  die  Verwirklichung  irgend  einer  Denk- 
handlung kennen,  sind  nur  jene  Veranlassungen  m 
oder  n,  unter  denen  diese  logischen  Rückwirkungen  )li  und  v 
des  Geistes  zum  Vorschein  kommen;  aber  erklärlich 
wird  uns  aus  m  und  n  weder  die  Thatsache,  daß  jii  und  v 
hinzukommen,  noch  finden  wir  wieder  in  dieser  Thatsache 
selbst  die  mindeste  Erklärung  für  die  weiteren  Verknüp- 
fungen, die  das  Denken  zwischen  \x  und  v,  überhaupt 
zwischen  den  verschiedenen  elementaren  Ausübungen  seiner 
Thätigkeit  in  immer  sich  steigernder  Verwicklung  anstiftet. 


Apriorismus  und  Empirismus.  547 

Ich  würde  hierbei  verweilen,  wenn  nicht  ohnehin  der  Gegen- 
stand des  nächsten  Abschnittes  mich  nöthigte,  im  Einzelnen 
auf  die  tiefe  Kluft  hinzuweisen,  die  zwischen  dem 
psychischen  Mechanismus  imd  dem  Denken  unausgefüllt 
liegt;  ich  begnüge  mich  hier  mit  dem  Ausdruck  meiner 
Ueberzeugung,  daß  man  alle  logischen  Rückwirkungen  des 
Geistes  als  ein  in  sich  zusammengehöriges  Ganze,  als  eine 
einheitliche  Tendenz  aufzufassen  hat,  deren  einzelne  Aeuße- 
rungen  ihrem  Sinne  nach  sich  verständlich  in  eine  Reihe 
gliedern  lassen,  dagegen  nach  ihrer  Entstehung  als  psychische 
Vorgänge  noch  völlig  unbegreiflich  sind.  Es  ist  eine  Illusion 
der  Psychologie  und  eine  Verderbniß  der  Logik  zugleich, 
die  Veranlassungen,  unter  denen  sie  sich  kundgeben,  für 
sie  selbst  zu  halten;  hoffnungsloser  ist  nur  noch  der  Wahn, 
durch  eine  vervollkommnete  Theorie  der  Nervenphysik  das 
deutlich  zu  machen,  worauf  die  Möglichkeit  jeder  Theorie 
beruht. 


35' 


Viertes  Kapitel. 

Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen. 

334.  Thatsachen  der  Wahrnehmung  erkennen  wir  an; 
nur  dem  discursiven  Denken  mißtrauen  wir,  das  sie 
deutet,  am  meisten  den  langen  Gedankengeweben,  die  es 
der  Anschauung  abgewandt  und  doch  mit  der  Hoffnung 
auf  ein  Ergebniß  fortspinnt,  das  diese  später  bestätigen 
werde.  Als  Thätigkeit  oder  Bewegung  der  Seele  folgt  das 
Denken  Gesetzen  ihrer  Natur;  werden  die  Regeln,  nach 
denen  es  seine  Vorstellungen  verknüpfen  muß,  zu  dem- 
selben Abschluß  führen,  den  der  Zusammenhang  der  Sachen 
hervorbringt?  so  daß  das  Ende  unseres  Gedankenganges, 
wenn  wir  zur  Wahrnehmung  zurückkehren,  mit  dem  zu- 
sammentrifft, was  der  Lauf  der  Dinge  inzwischen  hervor- 
gebracht? Und  wenn  wir  im  Ganzen  für  unwahrscheinlich 
halten,  daß  Denken  und  Sein,  die  eine  natürliche  Ver- 
muthung  als  für  einander  geschaffen  ansieht,  völlig  aus- 
einander gehen,  wird  dann  auch  jeder  einzelne  Schritt 
des  Denkens  einer  Phase  des  Geschehens  entsprechen,  die 
in  der  Entwicklung  des  gedachten  Inhalts  vorkäme?  Aus 
solchen  Zweifeln  entsteht  die  Ansicht  von  einer  blos 
formalen  oder  subjectiven  Geltung  des  Denkens.  Sie 
ist  klar  in  dem,  was  sie  behauptet:  die  logischen  Formen 
und  die  Gesetze  ihrer  Anwendung  sind  die  Bedingungen, 
durch  deren  Erfüllung  das  Denken  sich  selbst  genügt  und 
den  Zusammenhang  des  Vorgestellten  zu  dem  macht,  was 
für  es  selbst,  das  Denken,  Wahrheit  ist;  aber  unklar  bleibt, 
in  welchem  Verhältnisse,  das  sie  doch  nicht  entbehren 
können,  diese  Formen  und  Gesetze  zu  dem  Inhalt  stehen, 
den  sie  nicht  erzeugen,  sondern  vorfinden,  und  durch  dessen 
Bearbeitung  allein  doch  die  gedachte  Wahrheit  den  ihrigen 
erhält.  Kann  ein  Inhalt  in  Formen  gebracht  werden,  für 
die  er  nicht  paßt?  und  selbst  wo  wir  einen  Stoff  gewalt- 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  549 

sam  in  eine  Gestalt  pressen,  die  er  freiwillig  nicht  an- 
nähme, muß  nicht  in  ihm  selbst  eine  Eigenschaft  sein, 
die  diese  Gewalt  wenigstens  möglich  macht?  in  jedem  ge- 
gebenen Inhalt  mithin,  den  das  Denken  seinen  Formen 
unterwirft,  eine  Beziehung  und  Verwandtschaft  zu  diesen 
Formen,  die  höchstens  mißbraucht  werden  kann?  Muß 
nicht  endlich  diese  Annahme  in  Bezug  auf  jede  einzelne 
logische  Operation  gelten?  Keine  von  ihnen  ließe  sich 
als  blos  subjectives  Verfahren  des  Denkens  ausführen,  läge 
nicit  in  dem  gegebenen  Inhalt  ein  Zug,  der  sie  verlangte 
ode|*  gestattete.  Nun  wissen  wir,  daß  jenes  Mißtrauen,  dem 
wir  oben  Worte  gaben,  sich  nicht  in  der  befürchteten  All- 
gemeinheit bestätigt;  wie  viel  wir  auch  in  langen  Ge- 
dankengängen irren,  das  tägliche  Leben  zeigt  doch,  wie 
gut  durchschnittlich  unsere  Ueberlegungen  mit  dem  Lauf 
der  Dinge  wieder  zusammentreffen.  Warum  sollen  wir 
nicht  diese  Zuversicht  zu  der  Wahrhaftigkeit  unseres 
Denkens  festhalten,  die  unsere  natürliche  dem  Zweifel  vor- 
angehende Stimmung  ist  ?  warum  sie  nicht  bis  zu  der  Ueber- 
zeugung  steigern,  der  sachliche  Inhalt  des  Vorstellens  sei 
an  keine  anderen  Gesetze  als  an  die  gebunden,  die  das 
Denken  ihm  auflegt?  so  daß  es  nur  sorgfältiger  Aufmerk- 
samkeit auf  alle  Feinheiten  in  dem  logischen  Verfahren 
des  Geistes  bedürfte,  um  in  ihm  wie  in  einem  Spiegelbilde 
die  eigenen  realen  oder  objectiven  Entwicklungsformen  alles 
Seins  zu  finden?  So  entsteht  die  Ueberzeugung  von  einer 
realen  Bedeutung  des  Denkens,  in  ihren  allgemeinsten 
Zügefi  die  frühere  in  der  Entwicklung  des  menschlichen 
Geistes,  ein  Erzeugniß  der  Neuzeit  in  der  ausdrücklichen 
Steigerung,  die  wir  ihr  zuletzt  gaben;  zwischen  ihr  und 
der  entgegengesetzten  Ansicht  hat  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie einen  langen  Streit  zu  erzählen.  Wir  können  ihn 
nicht  dadurch  entscheiden,  daß  wir  den  logischen  Formen 
und  Gesetzen  die  des  realen  Seins  und  Geschehens  ver- 
gleichend gegenüberstellten,  denn  wir  haben  keine  Kennt- 
niß  der  letztern,  an  der  nicht  das  Denken  bereits  mit- 
wirkend Theil  hätte;  aber  wir  können  fragen,  wie  denn 
das  Denken  selbst  über  die  Bedeutung  seiner  eignen  Hand- 
lungen urtheilt,  und  inwieweit  es  diejenigen  Formen,  die 
es  als  psychische  Bewegung  des  denkenden  Subjects  an- 
nehmen muß,  für  Eigenbestimmtheiten  des  von  ihm  be- 
arbeiteten Inhalts  ausgibt. 

335.  Welche  Handlung  des  Denkens  wir  auch  ins  Auge 
fassen:  keine  besteht  in  dem  bloßen  Vorhandensein  zweier 


550  Viertes  Kapitel. 

Vorstellungen  a  und  b  in  demselben  Bewußtsein,  jede  in 
dem,  was  wir  eine  Beziehung  der  einen  Vorstellung 
auf  die  andere  nennen.  Nach  ihrer  Ausführung  läßt  diese 
Beziehung  sich  als  eine  dritte  Vorstellung  C  fassen,  aber 
weder  ist  dann  C  gleichartig  mit  a  und  b,  noch  ist  sie 
ein  blos  mechanischer  Effect  von  Gegenwirkungen,  die 
nach  irgend  einem  Gesetz  zwischen  beiden,  als  psychischen 
Vorgängen  von  bestimmter  Größe  und  Verschiedenheit, 
stattgefunden  hätten.  Als  einfachste  Beispiele  mögen  Gleich- 
setzung und  Unterscheidung  zweier  Vorstellungsinhalte 
dienen.  Setzen  wir  a  gleich  a,  so  ist  ohne  Zweifel  die 
Vorstellung  a  doppelt  in  unserem  Bewußtsein;  aber  welche 
mechanische  Analogie  wir  auch  anwenden,  nie  folgt  aus 
diesem  Umstände  etwas  Anderes,  als  daß  entweder  beide  a 
für  eines  zählen,  weil  sie  ohne  Unterschied  einander  decken, 
oder  daß  sie,  als  gleichartige  Erregungen  der  Seele,  zu 
einer  dritten  Vorstellung  von  größerer  Stärke  verschmelzen, 
oder  daß  es  bei  ihrem  getrennten  Bestehen  lediglich  sein 
Bewenden  habe.  Ihre  Vergleichung  aber,  die  zu  der 
Vorstellung  C  der  Gleichheit  führt,  besteht  weder  in  ihrem 
bloßen  Zusammensein  noch  in  ihrer  Vermischung;  sie  ist 
eine  jetzt  erst  angeregte  völlig  einheitliche  That  der  Seele, 
welche  beide  Vorstellungen  zugleich  festhält,  von  der  einen 
zur  andern  übergeht  und  sich  bewußt  wird,  während  dieses 
Ueberganges  und  durch  ihn  keine  Veränderung  ihres  vor- 
stellenden Zustandes  oder  Handelns  erfahren  zu  haben. 
Vergleichen  wir  ferner  zwei  verschiedene  Vorstellungen  a 
und  b,  Roth  und  Gelb.  Zwei  äußere  Reize,  die  für  sich 
einwirkend  je  eine  dieser  Empfindungen  erweckt  hätten, 
mögen  gleichzeitig  wirkend  in  dem  Nerven,  durch  den  sie 
sich  noch  als  physische  Zustände  fortsetzen,  in  eine  dritte 
mittlere  Erregung  verschmelzen  können,  die  der  Seele  nur 
Veranlassung  zu  einer  einfachen  dritten  Empfindung  gäbe; 
zwei  Vorstellungen,  die  als  solche  einmal  in  der  Seele  ent- 
standen sind,  erfahren  diese  Vermischung  nicht.  Geschähe 
sie,  so  wäre  mit  dem  verschwundenen  Unterschiede  auch 
Anlaß  und  Möglichkeit  der  Vergleichung  und  hiermit  in 
weiterer  Folge  die  Möglichkeit  alles  Denkens  und  Erkennens 
verschwunden.  Denn  sichtlich  beruht  jede  Beziehung  dar- 
auf, daß  die  verschiedenen  Inhalte  unverfälscht  durch  eigene 
Wechselwirkungen  in  dem  Bewußtsein  aufbewahrt  bleiben, 
daß  die  einheitliche  Thätigkeit,  welche  sie  zusammenfassen 
will,  sie  als  solche  vorfindet  und  zwischen  ihnen  hin  und 
hergehend   sich  der  entstehenden  Aenderung  ihres   eignen 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen,  551 

vorstellenden  Zustandes  bewußt  wird.  Indem  ich  mich 
so  ausdrücke,  fühle  ich  vollständig  die  Berechtigung  des 
Vorwurfs,  daß  meine  Bezeichnung  dieser  Thätigkeit  lauter 
unconstruirbare  Umschreibungen  enthalte.  Aber  dies  ist 
es  eben,  was  deutlich  werden  muß,  daß  die  geistigen  Vor- 
gänge, auf  denen  alles  Denken  beruht,  keinerlei  Aehnlich- 
keit  mit  dem  physischen  Geschehen  haben,  nach  dessen 
Analogien  solche  Klagen  sie  modellirt  sehen  möchten.  Eine 
Thätigkeit,  die  nicht  einfach  eine  Bewegung  ist,  sondern 
eine  Bewegung  ausübt,  auf  zwei  Objecte  sich  bezieht,  ohne 
sie  doch  zu  ändern,  endlich  sich  der  Richtung  und  Größe 
des  zurückgelegten  Weges  an  dem  Unterschiede  ihrer  eigenen 
Zustände  bewußt  wird,  läßt  sich  nicht  auf  das  gewöhnliche 
Schema  von  unveränderlichen  Elementen  mit  veränderlichen 
Relationen,  von  Gleichheit  der  Wirkung  und  der  Gegen- 
wirkung bringen;  dennoch  ist  sie  etwas,  dessen  Wirklich- 
keit wir  alle  empfinden;  ist  doch  eben  sie  das  Werkzeug, 
durch  das  wir  auch  jene  bewunderten  Constructionen  aus- 
führen. In  dieser  ihrer  ganzen  Eigenthümlichkeit  muß 
man  sie  gelten  lassen  und  zu  ihrer  Bezeichnung  neue  ihr 
Wesen  nicht  verfälschende  Grundbegriffe  suchen,  deren 
Mangel  wir  noch  fühlen,  und  die  ich.  keineswegs  durch  meine 
sehr  unvollkommenen  Ausdrucksweisen  für  gefunden  halte. 
336.  In  unserem  Beispiele  waren  a  und  b,  Roth  und 
Roth  oder  Roth  und  Gelb  unmittelbare  Gegenstände  einer 
Anschauung.  Die  Vorstellungen  C  der  Gleichheit  oder  Ver- 
schiedenheit, die  wir  als  Ergebniß  der  angestifteten  Be- 
ziehung erhielten,  sind  dies  nicht  mehr;  als  Verhältnisse 
des  einen  zum  andern,  als  Gleichheit  des  a  mit  a,  als 
Verschiedenheit  des  a  von  b,  lassen  sich  die  Inhalte  beider 
nicht  ohne  die  mitreproducirten  Vorstellungen  dieser  ihrer 
Beziehungspunkte  und  nur  durch  Miterinnerung  eben  jener 
Bewegung  wirklich  denken,  die  uns  von  dem  einen  zum 
andern  hinüberführte.  So  oft  daher  der  Name  der  Gleich- 
heit oder  des  Unterschieds  uns  genannt  wird,  werden  wir 
zur  Wiederholung  aller  jener  Bewegungen  aufgefordert, 
durch  die  allein  es  möglich  ist,  ihren  Sinn  zu  erfassen; 
aber  indem  wir  das  Ergebniß,  welches  wir  denkend  er- 
zeugen wollen,  dahin  aussprechen,  daß  a  gleich  a  oder 
a  verschieden  von  b  sei,  drücken  wir  die  Ueberzeugung 
aus,  daß  die  sachliche  Erkenntniß,  die  zu  gewinnen 
war,  ganz  und  ungetheilt  in  diesem  letzten  Schritte  liege; 
nicht  dem  a  und  dem  b  schreiben  wir  jene  hin  und  her- 
gehende Bewegung  zu,  durch  welche  wir  dies  ihr  Verhält- 


552  Viertes  Kapitel. 

niß    zu   einander   fanden;    sie   bildet   vielmehr   nur  einen 
psychischen  Vorgang,  ohne  den  dieses  Ergebniß  weder  zu- 
erst zu  erreichen  noch  in  der  Erinnerung  zu  wiederholen 
ist,  der  aber  doch,  gleich  einem  Lehrgerüst,  das  man  nach 
vollendeter  Arbeit  wieder  abbricht,  von  der  sachlichen  Be- 
deutung  unserer  Denkhandlung   wieder  abgezogen  werden 
muß.    So  zeigt  sich  hier  zuerst,  in  einem  einfachsten  Falle, 
der  Gegensatz  der  blos  formalen  Bedeutung  unserer  Denk- 
handlung zu  der  realen  ihres  Productes.    Ehe  ich  diese 
Spur   weiter  verfolge,    erinnere   ich   an    zwei   Reihen   von 
Vorgängen,    die   im   Großen   dasselbe   bestätigen,    was   wir 
hier  an  einem  bestimmten  Beispiel  fanden.    Zuerst  erhalten 
wir  die  sinnlichen  Anschauungen,  von  denen  unser  Denken 
ausgeht,  fast  alle  in  räumlicher  Gestalt  Ordnung  oder  Be- 
ziehung; durch  symbolische  Benutzung  dieser  Form  suchen 
wir   daher  jedem   verwickelten   Verhältniß   die   ihm   sonst 
fehlende    Anschaulichkeit   zu    geben;    wir   ersetzen    Unter- 
schiede   durch   Entfernungen    von   bestimmter   Größe    und 
Richtung,  Vielheit  des  Gleichen  durch  Zerstreuung  in  ver- 
schiedene Raumpunkte,  Identität  des  Einen  mit  sich  selbst 
durch    einen   unveränderlichen    Ort,    an   den    unsere    Vor- 
stellung   immer   zurückgeführt    wird;    wir   finden    endlich 
Schwierigkeit  für  die  Klarheit  begreifender  Uebersicht,  wo 
die   Natur   der   räumlichen   Schemata   zum   Ausdruck   der 
Vielseitigkeit  denkbarer  Beziehungssysteme  nicht  ausreicht 
Dennoch  sind  wir  uns  bewußt,  damit  nicht  das  Wesen  der 
Sache   bezeichnet   zu    haben;    alle   diese    Symbolisirungen 
waren    subjective   Hülfsmittel,    benutzbare    Wege   für    das 
Denken,  das  sein  eigentliches  Ziel  C  durch  Hin-  und  Her- 
gehen auf  ihnen  zu  erreichen  hat;  was  wir  meinen,  ist 
unabhängig    von   der   Art,    wie   wir   es    verbildlichen. 
Der  Ausdruck  unserer  Gedanken  ist  zweitens  an  die  Sprache, 
längst  auch  ihr  innerer  Verlauf  an  die  Reproduction  der 
Worte    gewöhnt;    Wahrnehmungen    Erinnerungen   und   Er- 
wartungen haben  volle  Klarheit  kaum,  bis  wir  für  sie  er- 
schöpfende   Ausdrücke   in    Sätzen    der   Sprache    gefunden. 
Der   so   erreichte   Vortheil   hängt  nicht   eigentlich   an   der 
Sprache  und  ihren  Lauten,  sondern  an  einer  innern  Arbeit 
der  Zergliederung  und  Verknüpfung,  welche  dieselbe  bliebe, 
auch  wenn  sie   andere  Formen  der  Mittheilung  benutzte; 
thatsächlich  aber,  nachdem  die  Sprache  zu  diesem  Zweck 
entstanden,  ist  Form  und  Leichtigkeit  der  Denkbewegungen 
allerdings  von  den  Mitteln  abhängig,  welche  sie  darbietet, 
und  deshalb  selbst  national  verschieden,  nachdem  mancher- 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  553 

lei  Ursachen  sich  verbunden  haben,  Bau  und  Fügung  ver- 
schiedener Sprachen  ungleichartig  zu  machen.  An  sich  ist 
daher,  was  wir  logisch  meinen,  unabhängig  von  der  Art, 
wie  wir  es  sprachlich  ausdrücken;  in  wirklicher  Ausführung 
ist  aber  doch  alles  menschliche  Denken  genöthigt,  den  ge- 
meinten Gedanken  durch  Trennungen  Verknüpfungen  und 
Umformungen  der  Vorstellungsinhalte  herzustellen,  welche 
die  Sprache  in  ihren  Worten  verfestigt  hat.  Nur  mit  diesem 
discursiven  Charakter,  im  Gegensatz  zur  Anschauung, 
ist  das  Denken  eine  psychische  Thatsache;  mit  diesem 
Charakter  ist  es  auch  Gegenstand  unserer  logischen  Dar- 
stellung gewesen  und  nie  überhaupt  hat  Logik  sich  mit 
einem  Denken  beschäftigt,  das  seine  verschiedenen  Vor- 
stellungen nicht  nach  einander  zum  Zielpunkt  seiner  Auf- 
merksamkeit gemacht,  nicht  vergleichend  und  beziehend  sich 
zwischen  ihnen  bewegt,  nicht  Abstractes  räumlich  symbo- 
lisirt,  nicht  endlich  seine  Gedanken  in  Constructionen  einer 
Sprache  ausgedrückt  hätte.  Wir  müssen  daher  erwarten, 
in  dem,  was  wir  logische  Handlungen,  Formen  und  Gesetze 
nennen,  viel  eines  blos  formalen  Apparates  zu  finden, 
der,  obwohl  zur  Ausübung  des  Denkens  unentbehrlich,  doch 
der  realen  Bedeutung  entbehrt,  die  das  Denken  dem  End- 
ergebniß  seines  Thuns  allerdings  zuschreibt. 

337.  Kehren  wir  zu  diesem  Ergebnisse  jetzt  zurück. 
Wenn  wiij,  a  und  b  vergleichend,  uns  einer  Veränderung  C 
bewußt  werden,  die  wir  im  Ueberagang  von  einem  zum 
andern  erleiden,  so  wird  zwar  gewiß  C  von  der  Natur  jener 
beiden  Beziehungspunkte  abhängen,  denn  C  wird  anders 
und  zu  C^  werden,  wenn  c  und  d  an  deren  Stelle  treten; 
dennoch  scheint  C  von  diesem  sachlichen  Verhalten  nur 
abzuhängen,  nicht  aber  identisch  es  abzubilden;  als 
unsere  subjective  Erregung  erreicht  es  den  sachlichen  und 
objectiven  Gehalt  des  zu  Erkennenden  nicht.  Diesen 
grübelnden  Einwurf  würde  ich  nicht  erwähnen,  wenn  er 
nicht  Veranlassung  gäbe,  auf  die  schwer  zu  definirende 
Natur  des  Vorstellens  zurückzukommen.  Das  Vorstellen 
ist  nicht  das,  was  es  vorstellt,  die  Vorstellung  nicht  das, 
was  sie  bedeutet;  nicht  nur  in  dem  handgreiflichen  Sinne, 
daß  weder  jenes  noch  diese  die  vorgestellte  Sache  selbst 
ist;  vielmehr  auch  die  einfachsten  Vorstellungen,  die  nur 
denkbaren  Inhalt  bezeichnen,  haben  diesen  Inhalt  nicht 
zu  ihrem  eigenen  Prädicat:  die  Vorstellung  des  Gelben  ist 
nicht  gelb,  die  des  Dreieckigen  nicht  dreieckig,  die  des 
Furchtsamen  nicht  furchtsam  und  die  Vorstellung  dos  Halben 


554  Viertes  Kapitel. 

nicht  halb  so  groß  als  die  des  Ganzen.  Gleichwohl  ist 
das  Vorstellen  von  diesem  seinem  Inhalt  nicht  so  trennbar, 
daß  es  für  sich  sein  geschehen  oder  sich  ändern  könnte; 
es  ist  nur,  indem  es  vorstellt,  was  es  selbst  nicht  ist; 
es  ändert  sich  nur,  indem  es  einen  dieser  Inhalte  mit  dem 
andern  vertauscht;  es  wird  mithin  auch  die  Veränderung 
seiner  eigenen  Zustände,  deren  es  sich  bewußt  wird,  nur 
in  der  Veränderung  der  vorgestellten  Inhalte  bestehen,  die 
es  in  einer  einheitlichen  Thätigkeit  vergleichend  zusammen- 
faßt; sie  kann  nicht  in  einer  andersgearteten  Affection  ge- 
sucht werden,  die  das  Bewußtsein  nur  in  Folge  seiner 
Erregung  durch  jene  Vorstellungsinhalte  erlitte,  und  die 
ihm,  abgetrennt  von  diesen,  als  eine  deren  eigenem  Ver- 
hältnisse unähnliche  Vorstellung  C  merkbar  würde.  Wer 
Roth  und  Gelb  in  gewissem  Grade  verschieden  und  doch 
verwandt  findet,  wird  sich  ohne  Zweifel  dieser  beiden  Be- 
ziehungen nur  mit  Hülfe  der  Veränderungen  bewußt,  die  er, 
als  vorstellendes  Wesen,  bei  dem  Uebergang  von  der  Vor- 
stellung des  einen  zu  der  des  andern  erfährt,  aber  er  hegt 
dabei  nicht  die  Befürchtung,  das  Verhältniß  von  Roth  und 
Gelb  könne  an  sich  noch  ein  anderes  sein,  als  das  der 
Affectionen,  welche  sie  beide  ihm  veranlassen;  an  sich 
etwa  sei  Roth  dem  Gelb  gleich  und  erscheine  blos  uns 
verschieden  von  ihm,  oder  an  sich  finde  zwischen  beiden 
ein  größerer  Unterschied  statt,  der  nur  uns  noch  eine  ge- 
wisse Verwandtschaft  einzuschließen  scheine.  Solche  Be- 
denken hätten  Grund,  wo  wir  unsere  Gedankenwelt  zu 
einer  außer  ihr  vorausgesetzten  Sachenwelt  in  Beziehung 
brächten;  so  lange  jedoch  statt  dieser  unsere  eignen  Vor- 
stellungen unsem  Gegenstand  bilden,  zweifeln  wir  nicht, 
daß  die  bei  ihrer  Vergleichung  erfahrenen  Gleichheiten 
oder  Unterschiede  unseres  Vorstellens  zugleich  ein  sach- 
liches Verhalten  unserer  Vorstellungs  i  n  h  a  1 1  e  bedeuten. 

338.  Wie  aber  ist  dies  doch  eigentlich  möglich?  wie 
können  Sätze:  a  sei  gleich  a  oder  a  sei  verschieden  von  b, 
ein  sachliches  Verhalten  ausdrücken,  das  folglich  unab- 
hängig von  unserem  Denken  bestände  und  von  ihm  nur 
aufgefunden  oder  anerkannt  würde?  Mag  Jemand  noch 
zu  wissen  glauben,  was  er  unter  der  an  sich  bestehenden 
Gleichheit  des  a  mit  a  sich  denke,  wie  wird  er  aber 
über  den  an  sich  bestehenden  Unterschied  zwischen  a 
und  b  urtheilen?  und  welches  sachliche  Verhalten  wird 
diesem  Zwischen  entsprechen,  das  uns  nur  verständ- 
lich ist,  so  lange  es  an  die  räumliche  Entfernung  erinnert. 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  555 

welche  wir,  als  wir  a  und  b  vorstellten,  symbolisirend 
zu  beider  Auseinanderhaltung  und  zugleich  als  den  ver- 
bindenden Weg  einschalteten,  auf  dem  unser  Vorstellen 
von  dem  eiaen  zu  dem  andern  übergehen  konnte?  Oder 
anders  ausgedrückt:  da  Verschiedenheit  weder  Prädicat 
des  a  für  sich  noch  des  b  für  sich  ist,  wessen  Prädicat 
ist  sie?  und  wenn  sie  nur  Sinn  hat,  sobald  a  und  b  auf 
einander  bezogen  sind,  welche  sachliche  Verbindung  findet 
denn  zwischen  a  und  b  dann  statt,  wenn  wir  die  be- 
ziehende Thätigkeit  als  nicht  ausgeübt  betrachten,  durch 
welche  wir  in  unserem  Bewußtsein  beide  in  Verbindung 
setzten?  Diese  Fragen  nicht  beachtet  zu  haben  ist  der 
Grund  mancher  Irrungen  der  antiken  Dialektik;  was  Dingen 
nur  in  der  gegenseitigen  Beziehung  zukommen  kann,  die 
unser  zusammenfassendes  Denken  zwischen  ihnen  anstiftet, 
wurde,  nicht  ohne  der  logischen  Einbildungskraft  Gewalt 
anzuthun,  als  Prädicat  der  einzelnen  auf  sich  beruhenden 
ausgesprochen.  Damit  a  und  b  verschieden  seien,  ohne 
unser  Denken  zu  ihrer  Unterscheidung  zu  bedürfen,  wurde 
jedem  der  beiden  zugeschrieben,  an  sich  ein  hegov  zu 
sein,  und  die  Vergleichung  mit  dem  andern  sollte  dabei 
ungedacht  bleiben,  die  doch  diesem  Ausdruck  allein  Be- 
deutung gibt;  die  Verneinung,  die  das  Denken  durch  seine 
vergleichende  Unterscheidung  ausspricht,  indem  es  sagt, 
a  sei  nicht  b,  kam  an  dem  a  für  sich  als  ein  positives 
Prädicat,  mit  Hinweglassung  des  verneinten  Beziehungs- 
punktes b,  als  ein  seiendes  Nichtsein  mithin,  zu  eigner 
Wirklichkeit,  und  diese  Unklarheit  galt  für  einen  großen 
Fund  des  Tiefsinns;  wenn  b  kleiner  als  a  und  größer 
als  c,  so  war  es  ein  ärgerliches  Räthsel,  wie  die  von 
ihren  Beziehungspunkten  abgelösten  und  nun  einander 
widerstrebenden  Prädicate  des  Kleinerseins  und  des  Größer- 
seins sich  an  demselben  b  vertragen  mögen.  Diesen 
Irrungen  im  Einzelnen  zu  folgen,  würde  nicht  ohne  viel- 
seitiges Interesse  sein,  aber  zu  weitläufig  für  unsere  Dar- 
stellung, die  sich  mit  folgendem  Abschluß  begnügen  mag. 
Sind  a  und  b,  wie  bisher,  nicht  Dinge  von  unabhängiger, 
unserem  Denken  jenseitiger  Wirklichkeit,  sondern  vorstell- 
bare Inhalte,  wie  Roth  und  Gelb  Gerade  und  Krumm,  so 
besteht  eine  Beziehung  zwischen  ihnen  nur,  sofern  wir 
sie  denken,  und  dadurch  daß  wir  sie  denken.  Aber  so 
ist  unsere  eigene  Seele  beschaffen,  und  so  setzen  wir  jede 
andere  voraus,  deren  Inneres  der  unseren  gleicht,  daß  die- 
selben a  und  b,  so  oft  sie  und  von   wem  sie  auch  vor- 


556  Viertes  Kapitel. 

gestellt  werden  mögen,  stets  im  Denken  dieselbe  nur 
durch  das  Denken  und  nur  in  ihm  bestehbare  Beziehung 
hervorbringen  werden.  Unabhängig  ist  diese  daher  von 
dem  einzelnen  denkenden  Subject  und  unabhängig  von 
einzelnen  Momenten  seines  Denkens;  hierin  allein  liegt  das, 
was  wir  meinen,  wenn  wir  sie  als  an  sich  bestehend 
zwischen  a  und  b  betrachten  und  sie  von  unserem  Denken 
wie  ein  für  sich  dauerndes  Object  auffindbar  glauben;  sie 
steht  wirklich  so  fest,  aber  nur  als  ein  Ereigniß,  das  im 
Denken  stets  unter  gleichen  Bedingungen  gleich  sich  er- 
neuem wird.  Und  dies  gilt  nicht  allein  von  dem  Unter- 
schiede, sondern  von  jedem  Verhältniß,  das  wir  zwischen  a 
und  b  auffinden.  So  oft  von  irgend  einem  Geiste  ein 
vollkommener  Kreis  vorgestellt  wird,  so  oft  wird  zwischen 
seinem  Durchmesser  und  seinem  Umfang,  hier  freilich  nur 
durch  eine  Reihe  von  Zwischengedanken,  das  Verhältniß 
1:11  gefunden  werden;  deshalb  gilt  diese  Proportion  an 
sich,  aber  obwohl  sachlich  gültig,  hat  sie  doch  ein 
Sein  nur  in  Gestalt  des  Denkens,  welches  sie  auffaßt. 
Es  verhält  sich  anders,  wenn  a  und  b  ausdrücklich  Wirk- 
lichkeiten Dinge  Wesen  bedeuten,  die  wir  denkend  nicht 
erzeugen,  sondern  als  jenseitige  Gegenstände  anerkennen; 
dann  drückt  der  Name  der  Beziehung  weniger  aus,  als 
wir  zwischen  diesen  Beziehungspunkten  wirklich  bestehend 
denken  müssen.  Nur  so  lange  wir  blos  die  vorstellbaren 
Inhalte  dieser  a  und  b  in  willkürlicher  Zusammenstellung 
vergleichen  wollen,  würden  wir  durch  Behauptung  einer 
Beziehung  zwischen  ihnen,  richtiger  dann  zwischen  ihren 
Vorstellungen  oder  Denkbildern,  unseren  Gedanken  voll- 
ständig ausgedrückt  haben.  So  oft  wir  dagegen,  um  eine 
in  der  Wahrnehmung  uns  aufgenöthigte  Verbindung  dieser 
Vorstellungen  zu  erklären,  uns  auf  eine  Beziehung  C  be- 
rufen, die  an  sich  eben  nicht  zwischen  ihnen,  sondern 
zwischen  den  Dingen  a  und  b  bestehe,  deren  Denkbilder 
sie  für  uns  sind,  so  müssen  wir  inne  werden,  daß  das, 
worauf  wir  uns  hier  berufen,  nicht  eine  Beziehung 
zwischen  a  und  b,  und  deshalb  überhaupt  nicht  mehr 
eine  Beziehung  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  dieses  Namens 
sein  kann.  Denn  nur  unser  Denken,  indem  es  von  der 
Vorstellung  a  zu  der  Vorstellung  b  übergeht  und  sich 
dieses  Uebergangs  bewußt  wird,  erzeugt  als  eine  für  es 
selbst  verständliche  Anschauung  das,  was  wir  hier  ein 
Zwischen  nennen;  ganz  unausführbar  dagegen  würde 
jeder   Versuch  sein,    dieser   Beziehung,   zugleich   Trennung 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  557 

und  Verknüpfung  des  a  und  b,  die  nur  die  Erinnerung  an 
eine  durch  die  Einheit  unseres  Bewußtseins  vollziehbare 
Denkhandlung  ist,  eine  reale  Geltung  der  Art  zu  geben, 
daß  sie  etwas  wäre  auch  abgesehen  von  dem  Bewußtsein, 
welches  sie  denkt.  Unabhängig  von  unserem  Vorstellen, 
in  objectiver  Geltung,  kann  diese  angebliche  Beziehung 
nur  bestehen,  wenn  sie  mehr  ist  als  Beziehung,  und  sie 
besteht  dann  nicht  zwischen  a  und  b,  denn  dieses 
Zwischen  selbst  ist  nirgends  als  in  uns,  sondern  in  beiden 
als  ein  Wirken  und  Leiden,  das  sie  wechselseitig  auf  ein- 
ander ausüben  und  von  einander  erfahren,  und  das  nur 
für  uns,  wenn  wir  es  denken,  logisch  die  abgeschwächte 
und  seine  volle  Bedeutung  nicht  mehr  erreichende  Form 
einer  Beziehung  annimmt.  Ich  muß  der  Metaphysik  über- 
lassen, zu  zeigen,  zu  welchen  Folgerungen  diese  Bemerkung 
führt;  auf  Einiges,  was  mit  ihr  zusammenhängt,  komme 
ich  bald  zurück. 

339.  Die  Vergleichung  von  a  und  b  führt  nicht  blos 
zu  Gleichsetzung  oder  Unterscheidung;  in  Gestalt  eines 
Allgemeinen  suchen  wir  auch  das  Gleiche  im  Ver- 
schiedenen zum  Inhalte  einer  gesonderten  Vorstellung  C 
zu  machen.  Es  ist  eine  häufige  kritische  Bemerkung  der 
Logik,  daß  unsere  allgemeinen  Begriffe  die  Festigkeit  nicht 
besitzen,  die  wir  ihnen  im  gewöhnlichen  Gebrauch  des 
Denkens  zutrauen;  ihr  Inhalt  und  ihre  Gliederung  bilde 
sich  allmählich  aus  und  derselbe  Begriff  bedeute  Ver- 
schiedenes für  verschiedene  Entwicklungsstufen  unserer 
immer  hinzulernenden  Erkenntniß.  Dies  gilt  in  sehr  deut- 
licher Weise  von  Begriffen,  deren  Inhalt  blos  aus  Erfahrung 
stammend  erst  nach  und  nach  uns  bekannt  wird;  nicht 
ebenso  unvollendbar  wird  man  die  Begriffe  einer  Ganz- 
zahl oder  eines  Bruches,  einer  Linie  oder  Figur  finden. 
In  dem  Begriff  des  Dreiecks  denkt  der  Geometer  nicht  mehr 
als  sein  aufmerksamer  Schüler;  aber  bei  diesem  Begriffe 
erinnert  er  sich  zahlreicher  Relationen,  die  diesem  noch 
unbekannt  sind;  so  scheint  es  als  sei  für  ihn  der  Begriff 
des  Dreiecks  reicher  an  Inhalt,  während  nur  sein  Wissen 
über  ihn  ausgedehnter  ist.  Dies  dahinstellend  hebe  ich 
vielmehr  hervor,  daß  jeder  Allgemeinbegriff,  auch  wenn 
wir  nur  denjenigen  Inhalt  in  Betracht  ziehen,  den  er  in 
einem  einzelnen  Augenblicke  ausdrücken  soll,  eine  in  wirk- 
licher Vorstellung  unvollendbare  Aufgabe  bezeichnet.  Ein 
bestimmtes  Roth  und  Blau  kann  man  sehen;  die  allgemeine 
Farbe  läßt  sich  weder  sehen,  noch  in  gleich  anschaulicher 


558  Viertes  Kapitel. 

Gestalt,  wie  die  Erinnerungsbilder  von  Roth  und  Grün, 
der  Einbildungskraft  gegenüberstellen.  Wer  von  Farbe  über- 
haupt spricht,  rechnet  darauf,  der  Hörende  werde  zunächst 
das  anschauliche  Bild  einer  Einzelfarbe,  des  Roth  viel- 
leicht, in  sich  erzeugen,  zugleich  aber  es  mit  einer  Ver- 
neinung begleiten,  die  es  nicht  für  sich,  sondern  als  Bei- 
spiel des  Allgemeinen  gelten  läßt;  diese  Verneinung  aber, 
wenn  sie  nicht  allen  Inhalt  aufheben  soll,  kann  er  nur 
ausführen,  wenn  er  zugleich  Einzelbilder  anderer  Farben 
mitvorstellt  und  von  der  einen  dieser  Vorstellungen  zur 
andern  übergehend  sich  des  bleibenden  Gremeinsamen  in 
seinen  veränderlichen  Vorstellungszuständen  bewußt  wird. 
Eine  solche  Reihenfolge  psychischer  Thätigkeiten  schreibt 
uns  der  ausgesprochene  Name  jedes  Allgemeinen  vor;  er- 
reichbar aber  als  wirkliche  Vorstellung  ist  das  nicht,  was 
durch  diese  Thätigkeiten  gesucht  wird;  niemals  läßt  sich, 
was  Roth  und  Grün  zu  Farben  macht,  von  dem  abtrennen, 
was  Roth  zu  Roth  und  Grün  zu  Grün  macht.  Man  pflegt 
als  selbstverständlich  zuzugeben,  daß  die  Gattung  eines 
Wirklichen  nicht  für  sich  wirklich  sei;  das  Einzelpferd 
sehe  man,  das  allgemeine  laufe  nirgends;  aber  man  muß 
sich  überzeugen,  daß  auch  im  Denken  das  Allgemeine 
immer  nur  als  eine  angestrebte,  nie  vollzogene  Vorstellung 
über  den  anschaulichen  Bildern  seiner  Einzelbeispiele 
schwebt.  Diesen  inneren  Bewegungen  in  uns  kann  keine 
sachliche  Bedeutung  zukommen;  sie  bleiben  subjective 
Anstrengungen  unseres  Geistes,  und  selbst  die  Art,  wie 
wir  ihr  Ergebniß  ausdrücken:  der  Inhalt  des  Allgemeinen 
sei  enthalten  in  dem  Inhalt  des  Besondern,  dieses  in  dem 
Umfang  des  Allgemeinen,  bezeichnet  nur  in  räumlicher 
Symbolik  die  Denkbewegungen,  die  ein  sachliches  Verhält- 
niß  zwischen  beiden  vorzustellen  streben.  Da  wir  nun 
überdies  in  wirklicher  Vorstellung  nicht  erreichen,  was  wir 
suchen,  hat  denn  dann  das  Allgemeine  überhaupt  eine  sach- 
liche Bedeutung?  Oder  hat  eine  weitverbreitete  Meinung 
Recht,  nur  in  dem  psychischen  Mechanismus  die  Ursache 
zu  sehen,  die  uns  verleitet,  ähnliche  Eindrücke  mit  Ver- 
mischung ihrer  Unterschiede  und  zuletzt  nur  mit  Schaden 
für  die  Genauigkeit  des  Denkens  unter  gemeinsame  Namen 
zusammenzufassen?  Aber  diese  Meinung  gibt  zu,  was  sie 
leugnen  will;  um  zu  begreifen,  daß  nicht  alle,  sondern  nur 
ähnliche  Vorstellungen  diese  Zusammenziehung  in  ein  Ge- 
meinsames erfahren,  setzt  sie  eben  die  Aehnlichkeit  der- 
selben und  hiermit  offenbar  nur  in  anderer  Form  die  sach- 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  559 

liehe  Gültigkeit  unserer  Annahme  eines  Allgemeinen  voraus, 
das  in  ihnen,  wie  unabtrennbar  auch  immer,  enthalten  sei. 
Wäre  es  anderseits  nur  eine  angeborene  Bestrebung  des 
Denkens,  Allgemeines  zu  suchen,  so  möchte  immerhin 
dies  Streben  ohne  sachliche  Bedeutung  sein;  aber  die  That- 
sache,  daß  das  Gesuchte  gefunden  wird,  gibt  ihm  diese 
doch.  Ich  widerspreche  mir  hier  nur  scheinbar;  denn 
obgleich  das  Allgemeine  nicht  als  anschauliche  Vorstellung 
fixirt  werden  kann,  erfolglos  ist  doch  die  Bemühung  nicht, 
es  zu  denken.  Wir  könnten  Roth  und  Blau  nicht  einmal 
dem  allgemeinen  Namen  der  Farbe  unterordnen,  wenn 
das  Gemeinsame  in  ihnen  nicht  wäre,  dessen  Bewußtwerden 
wir  durch  die  Schöpfung  dieses  Namens  bezeugen;  wir 
könnten  von  Thieren  und  Pflanzen  keine  Gattungsbegriffe 
bilden,  wenn  nicht  die  Merkmale  der  einzelnen  und  ihre 
Verbindungsweisen  die  Vergleichbarkeit  wirklich  besäßen, 
die  uns  erlaubt,  sie  allgemeinen  Merkmalen  und  Formen 
unterzuordnen  und  durch  Einsetzung  dieser  anstatt  ihrer 
das  allerdings  unanschauliche  Denkgebild  der  Gattung  zu 
erzeugen.  In  der  Thatsache  mithin,  daß  wir  Allgemeines 
denken  können,  liegt  allerdings  eine  Behauptung  von 
realer  Geltung:  die  W^elt  der  vorstellbaren  Inhalte,  die  wir 
denkend  nicht  erzeugen,  sondern  vorfinden,  zerfällt  nicht 
atomistisch  in  lauter  singulare  Bestandtheile,  deren  jeder 
unvergleichbar  mit  anderen  wäre,  sondern  Aehnlichkeiten 
Verwandtschaften  und  Beziehungen  zwischen  ihnen  finden 
so  statt,  daß  das  Denken,  Allgemeines  bildend,  Besonderes 
ihm  unterordnend  und  einander  nebenordnend,  durch  diese 
seine  formalen  und  subjectiven  Bewegungen  mit  der  Natur 
des  sachlichen  Inhalts  zusammentrifft. 

340.  Gehen  wir  von  diesen  einfachsten  Fällen  zu  den 
Hauptformen  der  logischen  Thätigkeit  über,  so  begegnet 
uns  in  Bezug  auf  die  Bedeutung  der  allgemeinen  Be- 
griffe der  Streit  des  Nominalismus  und  des  Realis- 
mus, der  das  Mittelalter  heftig  bewegte.  Beide  Richtungen 
faßten  den  Gegenstand  der  Frage  nicht  in  rein  logischem 
Sinne;  überwiegend  metaphysisches  Interesse  ließ  sie  die 
Innenwelt  unserer  Vorstellungen  hauptsächlich  in  ihrem 
Verhältniß  zu  der  Welt  der  Dinge  betrachten.  So  kam  der 
Realismus  dahin,  mit  Uebertreibung  der  mißverstandenen 
Selbständigkeit  platonischer  Ideen,  den  Allgemeinbegriff  für 
das  wahrhaft  Seiende  in  den  Dingen,  Alles  aber,  wodurch 
eines  seiner  verwirklichten  Beispiele  sich  von  den  andern 
unterscheidet,     als     eine    freilich    sehr    räthselhafte,     aber 


560  Viertes  Kapitel. 

secundäre  Nebenbestimmung  anzusehen,  die  vergänglich  zu 
der  ewigen  Substanz  des  Allgemeinen  hinzutrete;  der 
Nominalismus,  von  der  richtigen  aristotelischen  Ueber- 
zeugung  beginnend,  die  Wirklichkeit  des  Seins  gehöre 
nur  dem  Einzeldinge,  fand  keinen  Weg,  mit  dieser  die 
Geltung  des  Allgemeinen  zu  vereinigen,  sah  in  den  Be- 
griffen höchstens  subjectiv  verwendbare  Mittel  für  die 
Ordnung  unserer  Vorstellungen  ohne  Bedeutung  für  die 
vorgestellten  Dinge,  und  verirrte  sich,  auch  dies  noch 
leugnend,  bis  dahin,  sie  nur  als  aussprechbare  und  hörbare 
Laute  ohne  wirklichen  Denkinhalt  gelten  zu  lassen.  Ich 
vermeide  zunächst  jene  ausschließliche  Beziehung  auf  das 
Sein;  sie  beschränkt  widerrechtlich  den  Sinn  der  Frage; 
auch  wo  es  sich  in  Mathematik  nicht  um  Dinge  und  ihr 
Wesen  handelt,  auch  wo  praktische  Philosophie  und  Juris- 
prudenz von  Tugenden  und  Verbrechen  sprechen,  die  sein 
sollen  oder  nicht  sollen,  überall  ferner  wo  im  Leben  eine 
wichtige  Entscheidung  durch  Unterordnung  einer  gegebenen 
Sachlage  unter  einen  allgemeinen  Begriff  gesucht  wird: 
überall  da  kommt  die  gesetzgebende  Bedeutung  des  All- 
gemeinen für  diese  sachlich,  aber  doch  nicht  dinghaft, 
uns  gegebenen  Inhalte  in  Betracht. 

341.  Entwöhnt  man  sich,  nur  naturgeschichtliche 
Gattungsbegriffe  als  Beispiele  des  Allgemeinen  zu  denken, 
erinnert  sich  vielmehr,  daß  wir  auch  von  Figuren  und 
Zahlen  Ereignissen  und  Verhältnissen  Wahrheiten  und  Irr- 
thümern  allgemeine  Begriffe  bilden,  so  verschwindet  die 
abenteuerliche  Neigung  von  selbst,  ihnen  als  solchen  eine 
dinghafte  oder  doch  wesenhafte  Realität  zuzuschreiben. 
Die  Urbilder  selbständiger  Geschöpfe,  der  Pflanze  des 
Thieres  des  Menschen,  mag  allenfalls  unsere  Einbildungs- 
kraft in  einer  hypostasirten  Ideenwelt  in  ewiger  Wirklichkeit 
für  sich  bestehen  lassen,  Gegenstände  der  Anschauung  für 
eine  Seele,  die  noch  nicht  an  die  Beschränkungen  ihres 
irdischen  Daseins  gebunden  wäre;  aber  die  Allgemein- 
begriffe von  Ruhe  und  Bewegung  Gleichheit  und  Gegensatz 
Thun  und  Leiden  könnten  auch  in  jener  Welt  nicht  in 
gleichartiger  Wirklichkeit  neben  ihnen  sein,  sondern  nur 
als  prädicative  Bestimmungen  von  ihnen  gelten.  Diese 
leicht  einzusehende  Nothwendigkeit  vergessen  wir  freilich 
zuweilen:  Eigenschaften  Verhältnisse  oder  Ereignisse,  an 
deren  Inhalt  sich  ein  hervorragendes  Interesse  der  Ver- 
ehrung oder  der  Purcht  knüpft,  sind  "wir  geneigt,  mit 
Verkennung  ihrer  dennoch  nur  prädicativen  Natur  als  All- 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  561 

gern  einheilen  von  wesenhafter  Wirklichkeit  zu  behandeln; 
von  dem  Schönen  an  sich  sprechen  wir  wie  von  einem 
Wesen,  das  nur  uns  unzugänglich  sei,  aber  an  sich  ein 
Gegenstand  möglicher  Anschauung;  von  der  Sünde  reden 
wir  nicht  nur  wie  von  einer  That,  die  wirklich  wird,  wenn 
wir  sie  begehen,  sondern  auch  wie  von  einer  selbständigen 
Macht,  die  wesenhaft  auf  uns  einwirke.  Wir  verwechseln 
hier  die  Wichtigkeit,  die  dem  Inhalt  beider  Begriffe  in 
dem  Ganzen  der  Weltordnung  gebührt,  mit  einer  Form 
der  Wirklichkeit,  die  ihm  unzugänglich  ist,  und  die  nur 
am  ausdrucksvollsten  seine  Unabhängigkeit  von  unserer 
Anerkennung  hervorhebt.  Dieser  falschen  und  nicht  un- 
gefährlichen Gewohnheit  entsagen  wir  doch  leicht;  nur 
die  Allgemeinbegriffe  dessen,  was  nach  der  Natur  seines 
Inhalts  substantivische  Fassung  ursprünglich  verlangt,  unter- 
halten länger  die  Neigung  zu  solcher  Hypostasirung ;  auch 
sie  jedoch  weicht  vor  einer  einfachen  Betrachtung.  Nicht 
nur  einmal  bilden  wir  ja,  von  dem  Einzelnen  der  Wahr- 
nehmung ausgehend,  ein  Allgemeines  Q,  sondern  auch  dies 
verbinden  wir  mit  einem  andern  seines  Gleichen  zu  einem 
höheren  Allgemeinen  P,  und  indem  wir  dieses  Verfahren 
fortsetzen,  ist  es  zugleich  in  weiten  Grenzen  in  unser 
logisches  Belieben  gestellt,  durch  wie  viele  ebenfalls  all- 
gemeine Mittelglieder  wir  Q  mit  dem  höchsten  All- 
gemeinen A,  bei  dem  unsere  Abstraction  anhalten  wird, 
in  Verbindung  setzen  wollen.  Jedes  dieser  Allgemeinen 
würde  gleiches  Recht  auf  jene  wesenhafte  Existenz  haben; 
neben  das  allgemeine  Thier  an  sich  träte  in  gleicher  Wirk- 
lichkeit das  allgemeine  Wirbelthier,  das  Säugethier  an  sich, 
der  allgemeine  Einhufer,  das  Pferd  an  sich  und  der  all- 
gemeine Rappe;  neben  einander,  sagte  ich  absichtlich, 
denn  es  gäbe  in  der  That  keine  Vorstellungsweise,  durch 
welche  wir  die  Unterordnung,  vermöge  deren  in  unserem 
Denken  einer  dieser  Allgemeinbegriffe  den  andern  ein- 
schließt, auf  diese  Wesen  von  gleichartiger  Wirklichkeit 
des  Seins  übertragen  könnten;  so  neben  einander  gestellt 
aber  würden  sie  das  nicht  mehr  bedeuten,  was  sie  bedeuten 
wollen.  Die  Einsicht  befestigt  sich  daher,  daß  diejenige 
Realität,  die  wir  den  durch  unser  Denken  erzeugten  All- 
gemeinbegriffen zuerkennen  wollen,  völlig  unähnlich  einem 
Sein  ist  und  nur  in  einer  Geltung  von  dem  Seienden 
bestehen  kann.  Aber  wie  viel  von  dem  Ganzen  eines 
Allgemeinbegriffs  diese  Geltung  besitze  und  was  es  über- 
haupt heiße,  sie  zu  besitzen,  bedarf  noch  einiger  Erörterung. 

Lotze,  Logik.  36 


562  Viertes  Kapitel. 

342.  Ich  erinnere  zunächst  daran,  daß  es  sich  hier 
nicht  um  einen  objectiven  Werth  handelt,  der  diesem  oder 
jenem  der  von  uns  erzeugten  Allgemeinbegriffe  auf  Grand 
seines  richtig  zusammengefügten  Inhalts  zukommen  mag; 
die  Frage  bezieht  sich  auf  die  allgemeine  Bedeutung  der 
logischen  Form  des  Allgemeinbegriffes;  daß  dieser,  wie 
jeder  andern  von  den  Formen,  welche  die  Logik  als  Ideale 
vorzeichnet,  ein  ihr  anzupassender  Inhalt  gegeben  werden 
kann,  bedarf  besonderer  Erwähnung  nicht;  aber  die  Kritik 
dieser  unzähligen  Anwendungen  der  Begriffsform  ist  keine 
hier  zu  lösende  Aufgabe.  Nun  dachten  wir  einen  Inhalt  S 
dann  in  der  Form  des  Begriffs,  wenn  wir  seine  mannig- 
fachen Bestandtheile  nicht  nur  als  ein  Ganzes  überhaupt 
zusammenfaßten,  sondern  ein  Allgemeines  M  mitvorstellten, 
von  dessen  in  bestimmter  Weise  verknüpften  allgemeinen 
Merkmalen  P  Q  .  .  jedes  in  S  zu  einer  besondern  Modi- 
fication  p"  q'  determinirt  war.  Diese  Structur  unseres 
Begriffes  entspricht  keinem  Vorgang,  der  in  der  Natur  eines 
Dinges  oder  Gegenstandes  vorkäme;  sie  entspricht  auch 
dem  nicht,  was  wir  als  die  eigne  Natur  eines  zwar  sachlich, 
aber  nicht  dinghaft  gegebenen  Inhalts  bezeichnen  könnten. 
Es  gibt  keinen  Augenblick  in  dem  Leben  einer  Pflanze, 
in  welchem  sie  nur  allgemeine  Pflanze  oder  Conifere  an 
sich  wäre  und  von  späteren  Einflüssen,  die  unsere  hinzu- 
kommende logische  Determination  ersetzten,  Entscheidung 
darüber  erwartete,  zu  welchem  bestimmten  Baume  sie  aus- 
wachsen  solle.  Allerdings  ist  die  Pflanze  das,  was  sie 
zuletzt  wird,  nicht  schon  als  vollständige  Miniatur  im  Keime ; 
aber  ihre  Entwicklung  erfolgt  nicht  so  daß  hinzutretende 
Bedingungen  eine  Determination  in  allgemeiner  und  un- 
bestimmter Gestalt  vorhandener  Merkmale  erzeugten, 
sondern  zu  völlig  bestimmten  treten  sie  hinzu  und  bringen 
im  Verein  mit  ihnen  neue  Folgen  hervor,  die  nicht  als 
mögliche  Arten  in  den  Umfangen  früherer  allgemeiner 
Merkmale  lagen  und  jetzt  nur,  mit  Ausschluß  aller  dis- 
juncten,  zur  Wirklichkeit  kämen.  Ellipsen  haben  keine 
natürliche  Existenz  und  Entwicklung  wie  Pflanzen;  aber 
auch  in  ihre  Natur  dringen  wir  doch  nicht  dadurch  mit 
ausschließlicher  Wahrheit  ein,  daß  wir  sie  zuerst  als  Curven 
überhaupt  mit  den  allgemeinen  Eigenschaften  aller  krummen 
Linien  denken,  und  dann  diese  Eigenschaften  bis  zu  der 
Besonderheit  determiniren,  die  dieser  Curve  als  solcher 
gehört;  so  können  wir  zu  ihrem  Begriffe  kommen,  dann 
nämlich,    wenn    in    unserer   ungeübten    Erinnerung    zuerst 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  563 

nur  die  allgemeinen  Umrisse  der  Figur  auftreten,  nach  der 
man  uns  fragt,  und  erst  nachfolgende  Besinnung  sie  uns 
bestimmter  zeichnen  lehrt;  in  den  mathematischen  Gleichun- 
gen, mögen  sie  die  Gestalt  der  Linie  auf  ganz  willkürliche 
Ausgangspunkte  beziehen  oder  auf  eine  ihrer  graphischen 
Entstehungsarten  Rücksicht  nehmen,  ist  die  Krümmung 
selbst  gar  nicht  direct  ausgedrückt,  sondern  nur  als  eine 
Folge,  die  man  aus  den  bestimmten  Verhältnissen  der 
Coordinaten  ableiten  kann.  Diese  Betrachtungen  gelten 
ebenso  von  der  classificatorischen  Unterordnung  der  Be- 
griffe; sie  hat  keine  reale  Bedeutung  für  die  eigne  Structur 
und  Entwicklung  der  Dinge.  Weder  ist  dies  Pferd  zuerst 
Thier  überhaupt  gewesen,  dann  Wirbelthier  im  Allgemeinen, 
später  Säugethier  an  sich  und  zuletzt  erst  Pferd  geworden, 
noch  kann  man  in  jedem  Augenblick  seines  Daseins  die 
völlig  determinirte  Gruppe  von  Merkmalen,  die  es  zum 
Pferd  macht,  von  der  allgemeineren  und  weniger  bestimmten, 
durch  die  es  Wirbelthier  wäre,  und  von  der  unbestimm- 
testen, die  es  nur  zum  Thiere  überhaupt  gestaltete,  in 
irgend  einer  Weise  selbständig  absondern.  Und  hierzu 
kommt,  daß  nicht  nur  auf  Grund  mangelhafter  Kenntniß 
und  Beobachtung  verschiedene  Classificationen  sich  über 
dieselben  Gegenstände  streiten  und  zwischen  ihnen  und 
dem  höchsten  Allgemeinen  verschiedene  Stufenleitern  all- 
gemeiner Begriffe  einschalten;  sondern  an  sich  ist  das 
logische  Recht  des  Denkens  unanfechtbar,  von  beliebig 
gewählten  Gesichtspunkten  aus  dasselbe  S  verschiedenen 
höhern  Allgemeinbegriffen  unterzuordnen,  oder  durch  sehr 
abweichende  Reihen  aufeinanderfolgender  Determinationen 
seinen  Begriff  zu  construiren.  Im  Hinblick  auf  bestimmte 
Zwecke  einer  Untersuchung  können  wir  dann  fragen,  welche 
dieser  Constructionen  vorzuziehen  sei,  weil  sie  den  Gegen- 
stand am  günstigsten  für  die  Unterordnung  unter  die  hier 
entscheidenden  Grundsätze  darstelle;  wüßten  wir  uns  im 
Besitz  einer  Kenntniß  der  höchsten  Principien  des  ganzen 
Weltlaufs,  welche  die  Entscheidungsgründe  aller  Sonder- 
fragen einschlössen,  so  könnten  wir  noch  weiter  aus  den 
verschiedenen  gleichmöglichen  Begriffen  eines  Gegenstandes 
jenen  vornehmsten  auszuwählen  suchen,  der  in  dieser 
Classification  seine  Stelle  bezeichnete,  und  in  welchem 
als  ableitbare  Folgen  alle  jene  anderen  Begriffe  desselben 
mit  enthalten  wären.  Allein  so  sehr  wir  auch,  wenn  uns 
dies  gelänge,  den  Erkenntniß  w  e  r  t  h  dieses  Begriffes  durch 
die   Wichtigkeit  seines   Inhalts   und  der  Verbindungsweiso 


564  Viertes  Kapitel. 

dieses  Inhalts  gesteigert  hätten :  die  logische  Structur,  die 
er  als  Begriff  hätte,  würde  dennoch  keiner  realen  Structur 
seines  Gegenstandes  entsprechen.  In  diesem  Erkenntniß- 
werthe  aber,  den  wir  zugestehen,  liegt  die  andere  Seite 
der  Sache,  das  was  wir  meinen,  wenn  wir  nun  dennoch 
alle  behaupten,  daß  durch  den  Allgemeinbegriff  und  die 
Classification  jedenfalls  doch  etwas  die  Sache  selbst  Be- 
treffendes gesagt  sei.  Man  wird  vielleicht  versuchen  es 
so  auszudrücken,  daß  actu  zwar  nicht,  aber  doch  potentia, 
die  ganze  Reihe  der  einander  übergeordneten  Allgemein- 
begriffe in  dem  Wesen  der  Sache  selbst  enthalten  sei; 
und  diese  Bemerkung  wird  man  zugleich  auf  anders  ge- 
formte Constructionen  oder  Auffassungen  eines  Gegebenen 
ausdehnen:  nicht  wirklich,  aber  der  Möglichkeit  nach  sei 
jeder  Theilstrich  enthalten  in  der  stetigen  Größe,  die  wir 
durch  ihn  zerfallen,  der  Möglichkeit  nach  in  jeder  ein- 
fachen geradlinigen  Bewegung  das  Paar  der  Componenten, 
in  die  wir  sie  nach  unserer  Wahl  zergliedern;  die  7  sei 
nicht  4  -|-  3,  aber  gewiß  lasse  sie  diese  Substitution  zum 
Zwecke  einer  Rechnung  zu.  Diesen  Ausdrücken  geben  wir 
eine  bestimmtere  Bedeutung:  alle  unsere  Begriffsbildungen 
Classificationen  und  Constructionen  sind  subjective  Be- 
wegungen unseres  Denkens  und  nicht  Vorgänge  in  den 
Sachen;  so  aber  ist  zugleich  die  Natur  der  Sachen,  der 
gegebenen  vorstellbaren  Inhalte  geartet,  daß  das  Denken, 
wenn  es  sich  den  logischen  Gesetzen  dieser  seiner  Be- 
wegungen überläßt,  am  Ende  seines  richtig  durchlaufenen 
Weges  wieder  mit  dem  Verhalten  der  Sachen  zusammen- 
trifft; der  Wege  aber,  die  es  zwischen  den  einzelnen  Ele- 
menten seines  Inhalts  mit  gleicher  Hoffnung  durchlaufen 
kann,  sind  viele  und  nicht  nur  einer;  nach  unzähligen 
Richtungen  hin  hängt  die  Gesammtheit  des  Vorstellbaren 
als  ein  vielfach  gegliedertes  System  von  Reihen  zusammen, 
und  das  Denken,  wenn  es  mit  willkürlicher  Wahl  seines 
Weges,  aber  mit  Beachtung  seiner  eigenen  Gesetze,  sich 
von  einem  Gliede  desselben  zum  andern  bewegt,  gleicht 
etwa  einer  Melodie,  deren  unberechenbarer  Lauf  überall 
auf  Stufen  der  Tonreihe  von  festbestimmten  harmonischen 
Verhältnissen    trifft. 

343.  Nicht  nur  was  an  den  Urth eilen  logische  Form 
ist,  sondern  auch  das  Erkenntnißresultat,  das  in  dieser 
Form  ausgesprochen  wird,  hat  eine  unmittelbare  reale  Be- 
deutung nicht.  Wir  sagen  kategorisch:  dieser  Baum 
blüht;   die  atmosphärische  Luft  ist  ein   permanentes  Gas; 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  565 

jedes  Dreieck  hat  zwei  rechte  Winkel;  im  ersten  Fall 
war  es  nur  das  Verdienst  des  hier  ausgesprochenen  Inhalts, 
daß  wir  dem  Baum  in  Wirklichkeit  eine  von  dem  augen- 
blicklichen Zustande  seines  Blühens  unabhängige  Existenz 
zuschreiben  konnten,  daß  also  Subject  und  Prädicat  so 
auseinandertraten,  wie  wir  sie  in  der  Form  des  Urtheils 
scheiden  und  verknüpfen;  in  den  beiden  andern  Fällen 
enthält  die  Sache  diese  Spaltung  nicht;  sie  ist  eine  völlig 
subjective  Bewegung  des  Denkens,  die  willkürlich  aus  dem 
einheitlichen  Inhalt  des  Vorgestellten  einen  seiner  Bestand- 
theile  zu  gesonderter  Betrachtung  hervorhebt.  Auch  die 
Verschiedenheit  der  Copula  in  diesen  drei  Urtheilen  gehört 
nur  der  Einbildungskraft  an,  die  sich  der  Eigenthümlichkeit 
des  jedesmaligen  Inhalts  anschmiegt  und  in  der  Sprache 
ihren  Ausdruck  findet;  die  Logik  selbst,  indem  sie  für 
ihre  technische  Uebersicht  allen  Urtheilen  die  Form :  S  ist  P 
gibt,  bezeugt,  daß  in  dieser  gleichmäßigen  Copula  ist 
alle  sachlichen  Verschiedenheiten  des  Zusammenhanges 
zwischen  S  und  P  ausgelöscht  sind;  mögen  diese  sich 
verhalten  wie  Ganzes  und  Theil,  wie  ein  Ding  zu  seinen 
Zuständen  oder  wie  Ursache  zur  Wirkung:  in  der  Form 
des  Urtheils  erscheinen  sie  nur  wie  Subject  und  Prädicat, 
zwei  Bezeichnungen,  die  nur  die  relativen  Stellungen  be- 
deuten, welche  die  Vorstellungen  beider  in  unserer  sub- 
jectiven  Denkbewegung  einnehmen,  aber  nichts  über  das 
sachliche  Verhältniß  aussagen,  welches,  wenn  es  gedacht 
wird,  sie  in  unsem  Gedanken  diese  Stellungen  einzunehmen 
nöthigt.  Auch  in  hypothetischen  Urtheilen  berufen  wir 
uns  nur  auf  ein  solches  sachliches  Verhalten,  bringen  es 
aber  durch  die  Form  des  Urtheils  weder  zum  Ausdruck 
noch  zum  Verständniß.  Die  Verknüpfung  von  Vordersatz 
und  Nachsatz :  wenn  B  gilt,  so  gilt  F,  behauptet  durch  sich 
selbst  nichts  weiter,  als  die  allgemeine  Zusammengehörig- 
keit von  B  und  F  zu  einem  einheitlichen  Gedanken  M; 
daß  wir  dies  Zusammengehörige  nun  dennoch  trennen  und 
den  einen  Theil  des  Gedankens  dem  andern  voranschicken, 
wodurch  wegen  des  untrennbaren  Zusammenhangs  beider 
jener  zum  Grunde,  dieser  zur  Folge  wird,  ist  eine  jener 
subjectiven  Denkbewegungen,  die  in  dem  vorgestellten 
Inhalte  nicht  vorgehen,  und  diese  subjective  Natur  zeigt 
sich  durch  die  Möglichkeit,  die  Richtung  der  Bewegung 
umzukehren.  Wir  sagen:  jedes  gleichseitige  Dreieck  ist 
gleichwinklig,  oder:  wenn  ein  Dreieck  gleichseitig  ist,  so 
ist  es  gleichwinklig;  wir  konnten  ebenso  gut  sagen:  wenn 


566  Viertes  Kapitel. 

es  gleichwinklig  ist,  so  ist  es  gleichseitig;  der  ungetheilte 
Gedanke  oder  die  Anschauung  des  gleichseitig-gleichwink- 
ligen Dreiecks  bildet  hier  den  sachlichen  Inhalt,  zwischen 
dessen  gleichzeitig  gültigen  Bestandtheilen  sich  unser  Denken 
mit  willkürlichem  Ausgangspunkt  trennend  und  ver- 
knüpfend hin  und  her  bewegt.  Dies  gilt  von  allen  Urtheilen, 
die,  wie  die  mathematischen,  sich  nur  mit  Vorstellbarem, 
nicht  mit  Wirklichem  beschäftigen;  sie  würden  alle  reci- 
procabel  sein,  wenn  ihr  sachlicher  Ausdruck  durch  Sätze 
eine  ebenso  genaue  Determination  aller  in  ihnen  vorkom- 
menden Begriffe  gestattete,  wie  sie  in  der  Form  der 
Gleichung  ausführbar  ist.  Beziehen  sich  dagegen  unsere 
hypothetischen  ürtheile  auf  Data  der  Wirklichkeit,  so  ist 
es  zwar  unsere  Meinung,  daß  hier  Vordersatz  und  Nachsatz 
unvertauschbar  sein  sollen,  aber  die  hypothetische  Urtheils- 
form  drückt  durch  sich  selbst  das  nicht  aus,  wodurch 
diese  unsere  Forderung  erfüllt  werden  könnte.  Denn  wenn 
einmal  die  Bedingung  B  gilt,  so  gibt  es  logisch  keinen 
Zwischenraum  mehr,  der  ihre  Gültigkeit  von  der  der 
Folge  F  trennte;  beide  bilden,  eben  in  Gemäßheit  dessen, 
was  diese  hypothetische  Urtheilsform  als  ihr  eignes  Er- 
kenntnißresultat  behauptet,  nur  einen  untheilbaren  Vor- 
gang M;  und  da  femer,  wenn  wir  unsern  Gedanken  genau, 
ohne  Ueberschuß  und  Mangel,  gedacht  annehmen,  mit 
diesem  B  kein  F^  sondern  nur  F,  mit  diesem  F  kein  B^ 
sondern  nur  B  verbunden  sein  kann,  so  gehen  wir  im 
Denken  mit  gleichem  Recht  und  gleicher  Noth wendigkeit 
von  dem  willkürlich  gewählten  Ausgangspunkt  B  zu  F  wie 
von  F  zu  B  über;  der  Grund  ist  uns  Erkenn tnißgrunid 
der  Folge,  die  Folge  Erkenntnißgrund  des  Grundes.  Daß 
in  dem  wirklichen  realen  Verhalten  hier  etwas  liege,  was 
ausschließlich  B  zum  Antecedens,  ausschließlich  F  zum 
Consequens  macht,  das  wissen  wir  wohl,  weil  wir  den 
Inhalt  kennen,  von  dem  wir  reden,  aber  in  der  Form 
xmseres  logischen  Thuns  bringen  wir  es  nicht  zum  Aus- 
druck. Denn  diese  Form  beruht  ganz  nur  auf  dem  abstracten 
Gedanken  einer  Bedingtheit  des  F  durch  B  überhaupt; 
diese  aber,  eine  bloße  Beziehung,  ist,  wie  wir  früher  zeigten, 
weniger,  als  was  zwischen  B  und  F  als  Dingen  oder 
Vorgängen  wirklich  stattfinden  kann;  bestehen  kann  ein 
Verhältniß,  durch  welches  einseitig  B  zum  Realgrund  wird, 
nur  dann,  wenn  B  die  Ursache,  F  die  Wirkung  ist;  anstatt 
dieses  realen  und  speciellen  Verhältnisses  der  Causalität 
erscheint  im  hypothetischen  Urtheil  nur  das  allgemeinere 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  Ö67 

und  abstracte  der  Bedingtheit  überhaupt,  das  so  keine 
reale  Bedeutung  hat.  Disjunctive  Urtheile  endlich 
wollen  gar  keine  Wirklichkeit  aussagen:  das  unent- 
schiedene Schwanken  zwischen  einander  ausschließenden 
Prädicaten  kann  kein  Vorgang  in  dem  Realen  sein,  sondern 
bleibt  ein  Zustand  des  Denkens,  dem  zur  Erkenntniß  des 
Wirklichen    die    zulänglichen    Data   fehlen. 

344.  Eine  kurze  Erinnerung  an  die  verschiedenen 
Formen  der  Schlüsse  führt  zu  ähnlichen  Ergebnissen. 
Am  leichtesten  wird  man  eine  reale  Bedeutung  jenen  sub- 
sumptiven  Figuren  zuschreiben,  die  durch  Unterordnung 
des  Besondern  unter  das  Allgemeine  ihren  Schlußsatz  er- 
zeugen; denn  diese  Unterordnung  allerdings  sieht  man  in 
dem  nun  schon  hinlänglich  erklärten  Sinn  als  eine  sachlich 
gültige  in  Bezug  auf  alles  Vorstellbare  an.  Aber  die  logische 
Form  des  Schlußverfahrens  entspricht  doch  auch  hier  keinem 
Verhalten  der  Sache.  In  mathematischen  Schlüssen  hat 
der  allgemeine  Obersatz,  von  dem  aus  wir  den  specielleren 
Schlußsatz  ableiten,  keine  Priorität  der  Geltung  vor  diesem 
oder  dem  Untersatz,  alle  drei  sind  Theile  einer  ewigen 
Wahrheit  von  simultaner  Geltung;  die  Priorität  größerer 
Einfachheit  oder  unmittelbarer  Evidenz  kann  der  Obersatz 
voraus  haben,  aber  beide  Prädicate  würden  ihn  schon 
nur  in  seiner  Beziehung  zu  unserem  Denken  charakterisiren, 
ohne  daß  er  darum  schon  einen  Vorzug  an  sich  vor  andern 
gleich  gewissen  Sätzen  hätte;  endlich  ist  die  Form  des 
subsumptiven  Schlusses  gar  nicht  genöthigt,  von  einem 
so  einfachen  Obersatz  auszugehen;  eben  die  simultane  Ver- 
kettung aller  mathematischen  Wahrheiten  erlaubt,  auch  die 
einfacheren  unter  ihnen  als  Grenzfälle  aus  der  Verkettung 
von  weniger  einfachen,  und  immer  in  subsumptiver  Figur, 
abzuleiten.  Diese  völlig  subjective  Bedeutung  der  syllo- 
gistischen  Form  vergessen  wir  zuweilen  in  ihrer  Anwendung 
auf  Wirkliches.  So  lange  der  allgemeine  Obersatz  doch 
noch  eine  sehr  inhaltreiche  und  specielle  Wahrheit  aus- 
drückt, dann  etwa  wenn  wir  sagen:  alle  Thiere  respiriren, 
so  lange  zweifeln  wir  nicht,  daß  dieser  Obersatz  keine 
Wirklichkeit  bezeichne,  die  der  Geltung  des  Schlußsatzes: 
auch  die  Fische  respiriren,  irgendwo  anders  als  in  unserem 
Denken  vorangehen  könnte;  kommen  wir  jedoch  auf  die 
allgemeinsten  Zusammenhänge  der  Dinge,  so  bildet  sich 
wieder  die  Neigung,  ihren  Ausdrücken,  den  allgemeinsten 
Naturgesetzen,   die  in  unserer  Ueberlegung  des  Welt- 


568  Viertes  Kapitel. 

laufs  als  Obersätze  auftreten,  eine  in  der  That  ganz  un- 
begreifliche reale  Priorität  vor  den  Vorgängen  zuzuschreiben, 
in  denen  sie  gelten  sollen.  Diese  Neigung  ist  nicht  un- 
gefährlich für  den  richtigen  metaphysischen  Zusammenhang 
unserer  Weltauffassung;  sie  führt  zu  dem  umfassenden 
Aberglauben,  als  ließe  sich  das  Wirkliche  der  Welt  aus 
Unwirklichem  und  dennoch  Wesenhaftem  und  Gebietendem 
ableiten,  während  wir  uns  umgekehrt  mit  der  Ueberzeugung 
durchdringen  müssen,  daß  alle  nothwendigen  Wahrheiten, 
denen  wir  das  Seiende  als  etwas  secundär  Hinzukommendes 
unterordnen  zu  können  glauben,  eben  nur  Natur  und  Con- 
sequenz  des  Seienden  selbst  sind  und  nur  durch  die  Re- 
flexion unseres  Denkens  von  ihm  abgelöst  und  ihm  selbst 
als  ein  gebietendes  Prius  antedatirt  werden.  Schlüsse  durch 
Induction  erregen  dies  Mißverständniß  nicht;  Niemand 
verkennt,  daß  die  Verknüpfung  der  Einzeldaten  zu  einem 
generellen  nicht  blos  universellen  Satze  nicht  der  Real- 
grund der  Geltung  des  letztern,  sondern  nur  für  uns  ein 
Erkenntnißgrund  dieser  Geltung  ist.  Viel  deutlicher  noch 
überführen  uns  die  vielfachen  Formen  der  Beweise  von 
der  blos  subjectiven  Bedeutung  der  Schlüsse,  aus  denen 
wir  sie  zusammensetzen.  Wie  viele  verschiedene,  directe 
und  indirecte,  progressive  und  regressive  Beweise,  alle 
gleich  triftig,  sind  für  einen  und  denselben  Satz  möglich! 
wie  viel  verschiedene  selbst  in  direct  progressiver  Form 
allein!  Und  wenn  nun  wirklich  einer  von  diesen  vielen 
das  Vorrecht  hätte,  allein  das  Wesen  der  Sache  in  seiner 
eigenen  Structur  darzustellen,  so  würde  die  bloße  Möglich- 
keit der  anderen  doch  immer  zeigen,  daß  es  die  logische 
Form  allein  nicht  ist,  welche  diese  reale  Geltung  erzeugt 
oder  ausdrückt,  sondern  daß  jener  Vorzug  auf  der  Auswahl 
des  Inhalts  beruht,  den  man  in  ihr  verbunden  hat.  Was 
endlich  die  letzten  Denkhandlungen  betrifft,  mit  denen  wir 
die  reine  Logik  abschlössen,  so  haben  wir  schon  damals 
gesehen,  daß  sie  sich  zwar  anstrengen.  Formen  zu  finden, 
in  welchen  das  eigne  Wesen  der  Sache  im  Gegensatz  zu 
den  zufälligen  Ansichten  zum  Vorschein  käme,  die  wir 
subjectiv  von  ihm  fassen  können;  aber  ebenfalls  schon  dort 
haben  wir  uns  überzeugt,  daß  diese  Formen  weitfaltiger 
ausfallen  als  das,  was  sie  fassen  wollen;  wenn  das  eigne 
Wesen  der  Sache  in  unser  Denken  eingeht,  so  kann  es 
nur  in  diesen  Formen  begriffen  werden,  aber  die  Formen 
erzeugen    es    nicht    und    drücken    es    nicht   voll    aus;    sie 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  569 

lassen  immer  Anwendungen  zu,  die  nach  unserer  eigenen 
Ueberzeugung  subjective  Ansichten  sind,  und  zwischen 
denen  die  Auswahl  der  real  berechtigteren  nicht  durch 
logische  Mittel,  sondern  nur  durch  Sachkenntniß,  wenn  es 
eine   solche   gibt,    vollzogen   werden   kann. 

345.  Es  ist  jetzt  Zeit,  den  Sinn  einiger  Ausdrücke 
genauer  zu  bestimmen,  in  deren  Gebrauch  ich  bisher  lässiger 
gewesen  bin.  Von  subjectiver  und  objectiver,  von  formaler 
und  sachlicher,  von  formaler  und  realer  Bedeutung  der 
Denkformen  ist  die  Rede  gewesen;  diese  drei  Gegensätze 
decken  einander  nicht.  Unterscheiden  wir,  wie  früher  ge- 
schehen ist,  unsere  logische  Denkhandlung  von  dem  Ge- 
danken, den  sie  als  ihr  Product  erzeugt,  so  gebührt  der 
ersten  nur  eine  subjective  Bedeutung :  sie  ist  lediglich 
die  durch  unsere  Natur  und  durch  unsere  Stellung  in 
der  Welt  uns  nothwendig  gewordene  innere  Bewegung, 
durch  die  wir  jenen  Gedanken,  z.  B.  den  vorhandenen 
Unterschied  zwischen  a  und  b  oder  das  in  beiden  ent- 
haltene Allgemeine  C,  zum  Gegenstand  unseres  Bewußtseins 
machen;  so  hat  jeder,  um  die  Aussicht  von  einem  Berge 
zu  genießen,  von  seinem  Standpunkt  aus  einen  bestimmten 
geraden  oder  gewundenen  Weg  bis  auf  den  Gipfel  zurück- 
zulegen, der  die  Aussicht  eröffnet;  dieser  Weg  gehört  nicht 
zu  dem .  was  er  sehen  will.  Der  erzeugte  Gedanke  selbst 
dagegen,  die  gefundene  Aussicht,  hat  objective  Geltung; 
von  allen,  nach  Zurücklegung  jener  Wege,  auf  gleiche  Art 
empfunden,  bildet  das  jetzt  Gesehene  ein  von  der  Sub- 
jectivitäf  des  einzelnen  Denkenden  unabhängiges  Object; 
nicht  nur  einen  Zustand  mehr,  den  er  leidet,  sondern 
einen  Inhalt,  den  er  vorstellt,  und  der  als  derselbe  und 
sich  selbst  gleiche  auch  dem  Bewußtsein  Anderer  gegenüber- 
steht. Dasselbe  Verhaltea  beleuchtet  von  anderer  Seite 
.her  der  zweite  Gegensatz.  Es  würde  nicht  hinreichen, 
unsere  Denkhandlungen  nur  subjectiv  zu  nennen;  diese 
Bezeichnung  würde  sie  von  dem  Verhalten  der  Sachen 
lediglich  trennen  und  die  Beziehung  unklar*  lassen,  die 
doch  stattfinden  muß,  wenn  der  erzeugte  logische  Gedanke 
eine  objective  Gültigkeit  besitzen  soll,  die  der  ihn  erzeugen- 
den Denkhandlung  selbst  nicht  zukommt.  Formal  nennen 
wir  daher  die  logischen  Thätigkeiten,  weil  ihre  Eigenthüm- 
lichkeiten  zwar  nicht  die  eigenen  Bestimmungen  der  Sachen 
sind,  aber  doch  Formen  des  Verfahrens,  eben  die  Natur 
der   Sachen   zu   erfassen,   und   deshalb   nicht  außer   jedem 


570  Viertes  Kapitel. 

Zusammenhang  mit  dem  sachlichen  Verhalten  selbst. 
Die  früher  besprochenen  Beispiele  werden  hierüber  keinen 
Zweifel  lassen.  Die  Beschränkung  auf  nur  formale  Geltung 
zeigte  sich  darin,  daß  es  der  Denkhandlungen  mehrere 
und  gleichtriftige  geben  kann,  die  zu  demselben  Endgedanken 
oder  demselben  sacMichen  Ergebniß  führen;  keine  von 
ihnen  kann  daher  ausschließliche  Bedeutung  für  den  be- 
stimmten sachlichen  Inhalt  haben,  mit  dem  sie  sich  alle 
beschäftigen;  alle  sind  vielmehr  nur  Formen  des  Ver- 
fahrens, ein  Ergebniß  zu  erhalten,  das  einmal  gefunden 
ohne  Rücksicht  auf  den  Weg  gilt,  auf  dem  man  zu  ihm 
gekommen  ist.  Aber  es  würde  ja  unmöglich  sein,  auf 
jenen  verschiedenen  Wegen  zu  dem  aussichteröffnenden 
Gipfel  zu  kommen,  wenn  nicht  alle  diese  Wege  mit  be- 
stimmten gegenseitigen  Lagenverhältnissen  in  dem  Ganzen 
der  geographischen  Situation  mitenthalten  wären,  deren 
anderen  Bestandtheil  die  von  jenem  Gipfel  übersehbare 
Landschaft  bildet.  Hierin  besteht  das  Positive,  das  der 
zweite  Gegensatz  von  den  Denkhandlungen  aussagt:  jede 
derselben  ist  eine  der  verschiedenen  durch  den  all- 
gemeinen vielseitig  gegliederten  Zusammenhang  der 
Sachenwelt  möglich  gemachten  Weisen,  durch  Bewegung 
von  einem  Element  dieser  Welt  zum  andern  ein  bestimmtes 
sachliches  Verhalten  zu  erreichen,  ohne  daß  deshalb  die 
gewählte  Bewegung  die  eigene  Entstehung  oder  das  eigne 
Bestehen  dieses  bestimmten  Verhältnisses  wäre  oder  nach- 
ahmte. Der  dritte  Gegensatz  enthält  nicht  nur  andere  Be- 
zeichnungen für  die  Glieder  des  zweiten,  sondern  betrifft 
eine  Frage  eigner  Art.  Als  sachlich  gegeben  betrachten 
wir  jeden  Denkinhalt  von  fester  in  dem  oben  erörterten 
Sinne  objectiver  Bedeutung,  die  Vorstellungen  von  Nicht- 
seiendem  nicht  minder  als  die  von  Seiendem;  unter 
Realem  würden  wir  nur  die  Dinge  sofern  sie  sind  und 
die  Ereignisse  sofern  sie  geschehen,  in  ihrer  dem  Denken 
jenseitigen  Wirklichkeit  verstehen  müssen.  Nun  kann  davon 
nicht  die  Rede  sein,  daß  dieses  Reale  sich  selbst  in  den 
Formen  des  Begriffs  des  Urtheils  und  des  Schlusses  bewegte, 
welche  die  subjectiven  auf  seine  Erkenntniß  gerichteten 
Anstrengungen  unseres  Denkens  annehmen;  aber  selbst  die 
logischen  Gedanken,  welche  das  Produkt  dieser  Denk- 
handlungen sind,  haben  in  Bezug  auf  dieses  Reale  jene 
unmittelbare  Geltung  sachlich  nicht,  die  ihnen  jedem  Denk- 
inhalt als  solchem  gegenüber  zukam.  Ich  thue  besser,  der 
Metaphysik  die  weitere  Erörterung  dieses  wichtigen  Punktes 


Reale  und  formale  Bedeutung  des  Logischen.  571 

zu  überlassen;  zu  seiner  vorläufigen  Verdeutlichung  reicht 
die  Wiederholung  bereits  besprochener  Beispiele  hin.  Wir 
sahen,  daß  der  Begriff  einer  Bedingung  nicht  ausreicht, 
um  das  zu  bezeichnen,  was  wir  unter  einem  zwischen  zwei 
realen  Elementen  wirklich  bestehenden  Verhältniß  meinen; 
um  so  zu  bestehen,  mußte  es  mehr  als  Verhältniß,  mußte 
volle  Wechselwirkung  sein;  in  dieser  realen  Verknüpfung 
der  realen  Elemente  lag  dann  der  Grund,  der  ihre  Er- 
scheinungen für  uns  in  die  formale  Beziehung  brachte, 
die  wir  nun  blos  logisch  eine  Bedingtheit  der  einen  durch 
die  andere  nennen.  Gleiches  gilt  von  allen  logischen 
Formen.  Kein  reales  S  kann  nur  Subject  für  ein  reales  P 
sein,  das  nur  sein  Prädicat  wäre;  in  Wirklichkeit  kann  P 
an  S  nur  haften  entweder  als  erlittener  Zustand,  oder 
als  ausgeübte  Wirkung,  oder  als  bleibende  Eigenschaft 
in  dem  allerdings  hier  noch  dunklen  Sinne,  in  welchem 
wir  metaphysisch  diesen  Begriff  dem  blos  logischen  des 
Merkmals  entgegensetzen.  Erst  wenn  eines  dieser  Ver- 
hältnisse zwischen  S  und  P  bejaht  ist,  begreifen  wir,  was 
es  realiter  bedeutet,  wenn  wir  logisch  S  als  Subject  P  als 
Prädicat  fassen;  erst  dann  entspricht  ein  wirklicher  Sach- 
verhalt der  logischen  Copula,  die  an  sich  ganz  unbestimmt 
läßt,  was  wir  denn  eigentlich  den  realen  Inhalten  dann 
begegnet  zu  sein  behaupten,  wenn  wir  die  Vorstellungen 
beider  in  dieser  Weise  glauben  verbinden  zu  müssen.  So 
oft  man  daher  Ausdrücke  wie  Einheit  Vielheit  Gleichheit 
Gegensatz  Beziehung  und  Bedingung  anwendet,  hat  man 
durch  sie  allein  noch  gar  nichts  über  das  Seiende  gesagt'; 
nun  bleibt  erst  noch  zu  zeigen,  durch  welche  Leistung 
sich  die  Einheit  des  Einen  als  eine  Wirklichkeit,  nicht 
nur  als  logischer  Titel  ohne  Einkünfte  beweist;  wodurch 
das  viele  Gleiche,  da  es  doch  im  Denken  eben  gleich  ist, 
dennoch  im  Sein  wirklich  als  Vieles  auseinandertritt;  in 
welchem  wechselseitigen  Leiden  von  einander  sich  der 
Gegensatz,  in  welchem  andern  die  Beziehung  zwischen 
verschiedenen   Seienden   real   bethätigt. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  apriorischen  Wahrheiten. 

346.  Fassen  wir  noch  einmal  unsere  letzten  Ueber- 
legungen  zusammen.  Weder  in  dem  Inhalt  unseres  Vor- 
stellens  noch  in  dem  Realen,  das  wir  als  jenseitigen  Grund 
desselben  betrachten,  entsprach  etwas  den  logischen  Denk- 
handlungen, die  mit  willkürlicher  Wahl  ihres  Weges 
die  einzelnen  Bestandtheile  des  vorgestellten  Inhalts  ver- 
knüpften oder  sonderten;  aber  in  Bezug  auf  diesen  Inhalt 
wenigstens,  abgesehen  von  dem  Realen,  das  seine  jenseitige 
Ursache  sein  mag,  kam  den  Gedanken,  die  wir  durch 
jene  Denkhandlungen  zu  erzeugen  suchten,  eine  sachliche 
Bedeutung  zu.  Die  Unterschiede  Aehnlichkeiten  Gegensätze 
und  Unterordnungen,  deren  wir  uns  in  unserem  Bewußtsein 
nur  durch  ein  Hin-  und  Hergehen  unserer  Thätigkeit  he- 
mächtigen  konnten,  galten  wirklich  von  dem  vorgestellten 
Inhalt,  obgleich  er  selbst  nicht  an  diesen  Bewegungen  theil- 
nahm;  sie  bestanden  sachlich  an  sich  selbst  in  dem 
Sinne,  in  welchem  wir  das  Bestehen  jeglicher  Beziehung 
zwischen  zwei  Beziehungspunkten  möglich  fanden:  sie 
hatten  zwar  nie  anders  eine  Wirklichkeit  des  Seins  als 
in  den  Augenblicken,  in  welchen  sie  gedacht  wurden,  aber 
so  war  zugleich  die  Natur  aller  Geister  geartet,  daß  immer, 
sobald  dieselben  beiden  Beziehungspunkte  a  und  b  gedacht 
wurden,  auch  sich  selbst  gleich  dasselbe  Urtheil  C  über  ihr 
gegenseitiges  Verhältniß  gefällt  wird.  Es  ist  das  platonische 
Ideenreich,  zu  dem  wir  uns  hier  zurückgeführt  sehen; 
in  festen  und  unveränderlichen  Beziehungen  stehen  alle 
vorstellbaren  Inhalte,  und  mit  welchen  willkürlichen  oder 
zufälligen  Bewegungen  auch  immer  unsere  Aufmerksamkeit 
von  dem  einen  zum  andern  übergehen,  oder  in  welcher 
Ordnung  auch  uns  unbekannte  Veranlassungen  einen  nach 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  573 

dem  andern  in  unsere  Wahrnehmung  bringen  mögen:  wir 
werden  zwischen  ihnen  immer  dieselben  Verhältnisse  finden, 
die  in  dieser  sachlichen  unendlich  vielseitigen  Gliederung 
der  Ideenwelt  ein  für  alle  mal  gegeben  sind.  So  oft  diese 
Behauptung  wiederholt  wird,  wird  sie  als  überflüssiger 
Ausdruck  des  Selbstverständlichsten  erscheinen,  und  ebenso 
oft  wiederhole  ich,  daß  eben  die  Thatsache  des  Vorhanden- 
seins dieser  Selbstverständlichkeit  das  Wunderbarste  in 
der  Welt  ist.  Obgleich  unentbehrliche  Grundlage  alles 
Denkens,  und  eben  deswegen  mit  Uebermuth  von  uns  als 
selbstverständlich  übergangen,  ist  sie  nicht  einmal,  wie 
ich  früher  schon  bemerkte,  in  demselben  Sinne  denk- 
nothwendig,  in  welchem  es  innerhalb  ihrer  selbst  jedes 
einzelne  von  ihr  eingeschlossene  Verhältniß  ist.  Ausdenken 
freilich  können  wir  uns  nicht,  wie  es  dann  sein  würde, 
wenn  diese  Thatsache  nicht  bestände,  aber  vorstellen  können 
wir  uns  doch  eine  Welt,  in  der  sie  nicht  vorkäme;  in 
welcher  unzählige  Inhalte  zwar  dem  vorstellenden  Geiste 
sich  darböten,  aber  jeder  beziehungslos  zum  andern,  alle 
so  disparat  gegen  einander,  daß  nie  sich  zwei  unter  irgend 
ein  Allgemeines  als  verwandte  Arten  vereinigten,  und  daß 
niemals  ein  Unterschied  zwischen  zweien  für  größer  ge- 
ringer oder  anders  geartet  geschätzt  werden  könnte,  als 
der  zwischen  zwei  anderen.  Daß  jeder  einzelne  dieser 
Inhalte  sich  selbst  gleich  sein  müsse,  würde  das  Einzige 
sein,  was  das  Denken,  seinem  Identitätsgesetz  gemäß, 
verlangen  müßte,  damit  jeder  von  ihnen  überhaupt  vor- 
stellbar  werde,  und  diese  Forderung  könnte  ja  jene  Welt 
erfüllen;  darüber  hinaus  aber  kann  das  Denken  zwar  für 
die  Möglichkeit  seiner  ferneren  Handlungen  wünschen, 
aber  nicht  als  denknothwendig  gebieten,  daß  zwischen  den 
verschiedenen  Inhalten  jene  abgestuften  Verwandtschaften 
stattfinden,  die  allein  ihm  die  Ausführung  seiner  Bestrebun- 
gen ermöglichen:  es  ist  nicht  denknothwendig,  daß  das 
Denken  müsse  stattfinden  können.  Und  dann,  wenn  es 
auch  aus  eigner  Macht  jene  Verwandtschaften  forderte, 
hervorbringen  könnte  es  sie  doch  nicht  und  müßte 
immer  darauf  hoffen,  daß  sie  in  irgend  einer  von  ihm 
selbst,  unerfindbaren  Weise  gegliedert,  als  Tonreihe  als 
Farbenreihe  als  Gradunterschiede  des  qualitativ  Gleichen 
oder  sonstwie,  thatsächlich  ihm  gegeben  würden.  Aber 
so  wunderbar  und  wichtig  diese  nun  wirklich  gegebene 
Thatsache  ist,  so  bildet  doch  sie  selbst  und  das,  was  aus 
ihr  folgt,  nicht  das  letzte  Ziel  unserer  Ueberlegungen.    Ver- 


574  Fünftes  Kapitel. 

bürgt  wird  uns  durch  sie  nur  die  Sicherheit,  mit  welcher 
sich  das  Denken  innerhalb  der  Ideenwelt  als  solcher  bewegt, 
die  systematischen  ewig  gleichen  Zusammenhänge  ihrer 
Elemente  erforscht  und  durch  Verknüpfung  derselben  neue 
Gebilde  erzeugt,  die  unfehlbar  an  einer  andern  vorher- 
bestimmbaren Stelle  dieser  Ideenwelt  vorgefunden  werden, 
alle  untereinander  nach  mannigfachen  Richtungen  und  in 
festen  Entfernungen  so  verbunden,  daß  die  verschieden- 
artigsten Wege  und  Umwege  des  Denkens  zur  sicheren 
Auffindung  eines  jeden  dienen  können.  Dies  allein  ist  es 
aber  doch  nicht,  was  man  zu  wissen  verlangt.  Gesucht 
wird  vielmehr  die  Bedeutung,  die  diese  systematische 
Gliederung  alles  Vorstellungsinhalts  für  die  empirische 
nicht  systematische  Ordnung  hat,  in  welcher  ein  vom 
Denken  unabhängiger  Grund  die  Inhalte  möglicher  Vor- 
stellungen in  unsere  Wahrnehmung  treten  läßt;  wir  wollen 
nicht  nur  die  ewige  Classification,  sondern  auch  den 
veränderlichen   Verlauf   der   Sachen  verstehen  lernen. 

347.  Beide  sind  von  einander  völlig  verschieden.  Die 
Wahrnehmungen  führen  uns  nicht  eben  das  verbunden 
vor,  was  in  dem  System  des  Vorstellbaren  verwandtschaft- 
lich coordinirt  nebeneinander  steht,  noch  ist  ihr  ganzer 
Verlauf  ein  periodisch  sich  wiederholender  Vorüberzug  der 
Gattungen  Arten  und  Unterarten  in  jener  Ordnung,  in 
welcher  die  Classification  sie  absteigend  auf  einander  folgen 
läßt;  in  verschiedenen  Punkten  des  Raums  gleichzeitig, 
in  verschiedenen  Zeitpunkten  nach  einander,  finden  wir 
die  heterogensten  Elemente  jenes  Reiches  der  Inhalte  als 
Erscheinungen  verbunden:  gibt  es  in  diesem  Wechsel  Ge- 
setze, so  sind  sie  völlig  anderer  Art  als  jene  logischen, 
in  deren  Betrachtung  wir  uns  bisher  bewegten.  Bezeichnen 
wir  von  jetzt  an  diesen  empirischen  Verlauf  der  uns  ge- 
gebenen Erscheinungen  als  reale  Wirklichkeit,  so 
fragt  es  sich  nach  der  Bedeutung,  die  ihr  gegenüber  unser 
Denken  haben  kann,  dessen  Behauptungen,  selbst  wenn 
sie  gültig  bleiben,  doch  unfähig  erscheinen,  den  Zusammen- 
hang derselben  zu  beherrschen.  Denn  wenn  es  nun  auch 
wahr  ist,  daß  a  und  b,  in  wirklicher  Wahrnehmung  ge- 
geben, denselben  Unterschied  und  dieselbe  Verwandtschaft 
zeigen  werden,  die  ihnen  in  imserem  Denken  zukommt, 
so  liegt  darin  doch  kein  Entscheidungsgrund  für  ihr  Zu- 
sammensein in  der  Wahrnehmung  oder  dessen  Unmöglich- 
keit; wenn  auch  ausnahmslos  der  Satz  der  Identität  gilt, 
so  behauptet  er  doch  nach  seiner  eignen  Aussage  nur,  daJi 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  575 

jedes  a=:a  und  jedes  b=:b  sei  und  sein  werde,  wenn 
und  wo  auch  immer  beide  vorkommen  mögen;  aber  dieser 
letztere  Zusatz  gehört  schon  nicht  mehr  dem  Identitäts- 
gesetz selbst  an;  wir  fügen  ihn  hinzu,  weil  wir  anderweitig 
wissen,  daß  denkbaren  Inhalten  außer  ihrer  ewigen  Geltung 
im  Reiche  der  Ideen  ein  Wechsel  zeitlicher  Wirklichkeit 
und  Unwirklichkeit  in  der  Erscheinung  zukommen  könne; 
davon  enthält  jenes  Gesetz  keine  Andeutung  und  folglich 
auch  nicht  die  geringste  Bestimmung  über  die  Gleichzeitig- 
keit oder  Reihenfolge,  in  welcher  beide  Erscheinungen  hier 
einander  herbeiführen  oder  ausschließen  müssen.  Die  classi- 
ficatorische  Unterordnung  der  Begriffe  wird  gelten  von 
Wahrgenommenem  ebenso  wie  von  zeitlos  Vorgestelltem; 
wenn  wir  indessen  ein  wahrgenommenes  S  unter  den  All- 
gemeinbegriff M  bringen,  so  gelten  zwar  von  S  jetzt  auch 
alle  die  höheren  Allgemeinbegriffe  N  L  K,  die  in  dem 
Inhalt  von  M  eingeschlossen  sind;  aber  diese  FolgeiTing 
erzeugt  keine  neue  sachliche  Kenntniß;  sie  zergliedert  nur 
logisch,  was  durch  die  Unterordnung  des  S  unter  M  bereits 
gegeben  war;  richtig,  wenn  diese  richtig,  und  falsch,  wenn 
diese  falsch  ist,  berechtigt  sie  nicht,  das  in  der  Wahr- 
nehmung gegebene  S  mit  einem  in  dieser  nicht  gegebenen  P 
zu  verbinden.  Hypothetische  Urtheile  scheinen  einer  Er- 
weiterung der  Erkenntniß  günstiger.  Wenn  sie  zu  einem 
Subject  S  eine  Bedingung  x  treten  und  aus  beiden  ein  P 
als  Prädicat  entspringen  lassen,  das  weder  in  S  allein  noch 
in  X  allein  bereits  enthalten  war,  so  nähern  sie  sich  formell 
dem,  was  wir  als  Verlauf  der  Wirklichkeit  denken.  Im 
problematischen  Vordersatz  drücken  sie  die  Verbindung 
von  S  und  x  als  eine  mögliche  aus,  unterscheiden  also 
ihren  Denkinhalt  noch  von  einer  Verwirklichung,  die  er 
im  Laufe  der  Dinge  erfahren  kann,  und  über  die  sie  sich 
jeder  Behauptung  enthalten;  dann  aber,  wenn  diese  Be- 
dingung gegeben  ist,  scheinen  sie  der  weiteren  Wahr- 
nehmung vorgreifend  das  Neue  zu  bestimmen,  das  in  dieser 
folgen  muß.  Worauf  aber  beruht  unsere  Berechtigung,  einem 
bestimmten  S  -]-  x  ein  bestimmtes  P  hinzuzufügen  oder 
gleichzusetzen?  Im  Denken  doch  immer  hur  darauf,  daß 
wir  durch  eine  logische  Determination  x  den  Begriffs- 
inhalt S,  der  P  nicht  enthielt,  so  umformen,  daß  nun  P 
in  ihm  enthalten  ist;  von  diesem  Subject,  nicht  von  dem 
früheren,  behaupten  wir  nun  das  Prädicat  P,  das  wir  in 
ihn  bereits  aufgenommen  haben.  Was  uns  dagegen  die 
Wahrnehmung    unmittelbar    darbietet,    ist    etwas    Anderes. 


576  Fünftes  Kapitel. 

Wenn  in  ihr  zu  einer  früheren  Erscheinung  S  eine  neue  x 
in  Beziehung  tritt,  so  pflegt  aus  dem  Zusammendenken 
beider  jenes  Subject  S-j-x  eben  noch  nicht  zu  entstehen, 
aus  dem  die  Folgeerscheinung  P  als  identischer  Ausdruck 
desselben  selbstverständlich  flösse;  das  vielmehr  ist  die 
zunächst  ungelöste  Frage,  wie  dies  x  jenes  S  so  um- 
gestalten könne,  daß  aus  ihm  der  früher  fehlende  Grund 
für  die  Verwirklichung  von  P  entstehe.  So  weit  wir  daher 
hypothetische  Urtheile  auf  die  Betrachtung  der  Wirklichkeit 
anwenden,  finden  wir  sie  zuletzt  immer  auf  der  schon 
vorausgesetzten  Gültigkeit  von  Sätzen  beruhen,  die  eine 
aus  Begriffen  nicht  ableitende  Verkettung  einer  bestimmten 
Bedingung  mit  einer  bestimmten  Folge  als  allgemein  be- 
stehende Thatsache  aussprechen.  Gilt  sie  wirklich  all- 
gemein, so  kann  das  Denken  dann  ihre  Einzelfälle  ana- 
lytisch entwickeln;  ihr  eigner  Inhalt  aber  erscheint  zu- 
nächst als  ein  synthetisches  Urtheil,  welches  zwei  Be- 
griffe als  Subject  und  Prädicat  verbindet,  deren  Denkinhalte 
durch  keine  logische  Zergliederung  als  identisch  nach- 
gewiesen werden  können. 

348.  Unsere  Hoffnung,  durch  Denken  den  Verlauf  der 
Wirklichkeit  beherrschen  zu  können,  beruht  daher  auf  drei 
Punkten.  Keinem  einzelnen  Bestandtheile  b  der  Ideenwelt 
kann  zuerst  das  Denken  außer  der  ewigen  Bedeutung,  die 
ihm  in  dieser  gebührt,  die  Nothwendigkeit  einer  zeitlichen 
Verwirklichung  im  Laufe  der  Sachen  zuerkennen;  nur  wenn 
diese  Wirklichkeit  thatsächlich  einem  andern  Element  a 
zukommt,  mit  welchem  b  in  nothwendiger  Verbindung  steht, 
kann  sie  nun  auch  auf  b  übergehen.  Alle  unsere  Erkennt- 
niß  ist  daher  in  dieser  Hinsicht  hypothetisch;  an  einem 
bestimmten  Punkt  thatsächlich  gegebener  Wirklichkeit  setzt 
sie  ein,  um  aus  diesem  wirklichen  Grunde  die  Folgen  als 
wirkliche  abzuleiten,  die  dem  gedachten  Grunde  als  denk- 
nothwendige  zugehörten;  niemals  aber  ist  es  möglich,  aus 
bloßen  Begriffen  des  Denkens  die  reale  Wirklichkeit  des 
in  ihnen  Gedachten  zu  beweisen.  In  der  That  ist  denn 
auch  dieser  Versuch  nur  in  dem  einen  Falle  eines  onto- 
logischen  Argumentes  für  das  Dasein  Gottes  gewagt  worden. 
Hier  lag  eine  begreifliche  Verlockung  vor:  Gott  als  noth- 
wendige  Folge  b  einer  andern  durch  Wahrnehmung  ge- 
gebenen Wirklichkeit  a  zu  fassen  widerstritt  dem,  was 
man  in  seinem  Begriff  denken  mußte,  denn  eben  er  sollte 
ja  der  Grund  aller  Folgen  sein;  so  schien  nichts  übrig, 
als  in  seiaem  Begriffe  selbst  seine  Wirklichkeit  zu  suchen. 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  577 

Finden  freilich  konnte  man  nur  den  Anspruch  auf  solche, 
den  der  Inhalt  desselben  erhebt;  gewiß  schließt  der  Be- 
griff Gottes  den  des  Seins  in  sich  ein,  ja  mehr  als  diesen, 
den  Begriff  des  lebendigen  Seins;  denn  alle  übrigen  Prä- 
dicate,  durch  die  wir  Gott  als  Gott  denken,  lassen  sich  nur 
vereinigen  und  selbst  denken,  wenn  sie  an  einem  wirk- 
lichen die  Zeit  füllenden  und  des  Wechsels  seiner  Zustände 
fähigen  Wesen  vorgestellt  werden.  Aber  in  diesem  Sinne 
ist  in  jedem  Begriffe  eines  Wesens  der  Gedanke  derjenigen 
Art  der  Wirklichkeit  eingeschlossen,  welche  die  Natur  und 
Verknüpfungsweise  seines  Inhalts  verlangt;  auch  der  Be- 
griff jedes  Organismus  ist  undenkbar  ohne  diese  Voraus- 
setzung: Ernährung  Wachsthum  und  Fortpflanzung  sind 
sinnlos  an  einem  Subject,  das  nicht  wäre,  und  ebenso 
sinnlos  an  jedem,  das  nur  wäre  und  nicht  sich  entwickeln 
könnte.  Wenn  daher  der  Inhalt  eines  dieser  Begriffe 
Wirklichkeit  hat,  so  hat  er  diejenige  Art  derselben,  die 
ihm  entspricht :  Wesen  die  des  Seins,  nicht  die  des  Ge- 
schehens, Ereignisse  die  des  Geschehens,  nicht  die  des 
Seins;  Verhältnisse  keine  von  beiden,  sondern  die  des 
Geltens  von  Wirklichem;  es  war  Täuschung,  daß  es  sich 
mit  dem  Begriffe  Gottes  anders  verhalte  und  daß  es  er- 
laubt sei,  den  in  ihm  unentbehrlich  eingeschlossenen  Gei- 
danken  der  höchsten  Wirklichkeit  für  eine  Wirklichkeit  des 
ganzen  ihn  einschließenden  Inhalts  anzusehen.  Nur  schein- 
bar begehen  denselben  Fehler  verwandte  Ueberlegungen, 
die  von  dem  unab  weislichen  Wert  he  eines  Gedachten  zu 
der  Ueberzeugurig  seiner  Wirklichkeit  übergehen.  .  Nicht 
ganz  gerecht  wird  behauptet,  an  ein  höchstes  Gut,  ein 
überirdisches  Leben,  eine  ewige  Seligkeit  glaube  man  nur, 
weil  man  sie  wünsche;  in  der  That  beruht  dieser  Glaube 
auf  einer  sehr  breiten,  obgleich  unzergliederten  Grundlage 
der  Wahrnehmung;  wir  gehen  von  der  Thatsache  dieser 
gegebenen  Welt  aus,  in  welcher  wir  unerträgliche  Wider* 
Sprüche  befürchten,  wenn  wir  jene  der  Wahrnehmung  ent- 
zogenen Fortsetzungen  des  Weltbaues  nicht,  als  wirkliche 
Ergänzungen  des  Wahrnehmbaren  anerkennen  wollten; 
Formell  verfahren  daher  diese  Folgerungen  richtig ;  sie 
verknüpfen  mit  der  gegebenen  Wirklichkeit  eines  ä  die 
nicht  gegebene  eines  b,  das  ihnen  die  denknothwendige 
Folge  des  a  scheint.  .1     . 

349.  Der  zweite  Punkt  wird  stillschweigend  allgemein 
vorausgesetzt,  ausdrücklich  ,als  logische  Voraussetzung  selten 
erwähnt.  Wir  könnten  offenbar  auf  eine  Bearbeitung  der 
Wirklichkeit  durch  unser  Denken  nicht  hoffen,   wenn  wir 

Lotze,  Logik.  37 


578  Fünftes  Kapitel. 

nicht  in  dem  empirischen  Verlauf  der  Dinge  eine  allgemeine 
Gesetzlichkeit  als  vorhanden  annehmen  dürften,  die  ims 
erst  die  Möglichkeit  verschafft,  von  den  formalen  Gesetzen 
unseres  Denkens  Nutzen  zu  ziehen.  Wir  haben  gesehen, 
daß  die  Gründe,  welche  die  Reihenfolge  der  Wahr- 
nehmungen möglicher  Denkinhalte  bestimmen,  gänzlich 
unabhängig  von  den  systematischen  Relationen  sind,  die 
wir  im  Denken  zwischen  jenen  blos  gedachten  Inhalten 
finden.  Woher  nehmen  wir  nun  die  Gewißheit,  daß  über- 
haupt noch  Gründe  von  allgemeiner  Geltung  für  diese 
Reihenfolge  bestehen?  daß  nicht  vielmehr  die  unbekannte 
Ursache  des  empirischen  Verlaufs  der  Wahrnehmungen 
ganz  principlos  mit  den  systematisch  geordneten  Elementen 
der  Ideenwelt  spielt  und  wie  ein  sich  bewegendes  Kaleido- 
skop bald  diese  bald  jene  Verknüpfung  erscheinen  läßt, 
ohne  jemals  einer  Regel  dieser  Combinationen  zu  folgen? 
Man  hat  gar  keine  Ursache,  die  bunte  Unordnung  dieser 
letzteren  Annahme  überhaupt  unvorstellbar  zu  finden; 
eine  sehr  große  Mannigfaltigkeit  empirischer  Vorgänge,  die 
wir  noch  nicht  begreifen,  steht  uns  genau  in  dieser  Ge- 
stalt wirklich  noch  gegenüber;  wäre  gesetzlicher  Zusammen- 
hang überhaupt  in  der  ganzen  Wirklichkeit  nicht  vor^ 
banden,  so  würde  nur  überall  uns  dasselbe  Schauspiel 
sich  zeigen,  welches  wir  jetzt  da  wahrnehmen,  wo  er  uns 
verborgen  ist.  Die  Gesetze  unseres  Denkens  würden 
fortfahren  zu  gelten,  aber  als  ein  leerer  Anspruch,  dem 
sich  die  Wirklichkeit  nicht  fügt,  gerade  so  wie  wir  noch 
jetzt  sie  vergeblich  auf  manche  Ereignisse  anzuwenden 
suchen,  die  mit  ungleichen  Folgen  unter  gleichen  Be- 
dingungen des  Satzes  der  Identität  zu  spotten  scheinen. 
Gleichwohl  wird  diese  Annahme  der  Gesetzlosigkeit  der 
Wirklichkeit  von  Niemandem  festgehalten;  überall  wo  die 
Erscheinungen  sie  uns  aufdrängen  möchten,  halten  wir 
den  wahrnehmbaren  Thatbestand  nur  für  räthselhaft 
und  zweifeln  nicht,  daß  erweiterte  Erfahrung  durch  früher 
unbeachtet  gebliebene  Mittelglieder  den  gesetzlichen  Zu- 
sammenhang des  Beobachteten  herstellen  werde.  Worauf 
beruht  nun  diese  Zuversicht  ?  Weder  selbst  denknothwendig 
ist  die  allgemeine  Gesetzlichkeit  der  Wirklichkeit  noch  als 
eine  denknothwendige  Folge  aus  gegebenen  Thatsachen  ab- 
zuleiten. Man  konnte  sagen,  daß  die  Gesetze  des  Raumes, 
auch  wenn  dieser  nur  als  angeborene  Anschauung  in  uns 
Dasein  hat,  dennoch  von  allen  Gegenständen  unserer  Er- 
fahrung gelten  müssen;  denn  nichts  wird  je  in  unsere  Er- 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  579 

fahrung  eintreten,  ohne  die  räumliche  Formung  schon  er- 
fahren zu  haben,  durch  die  es  unser  Gegenstand  wird; 
man  kann  nicht  ebenso  den  Beweis  versuchen,  daß  ohne 
gesetzlichen  Zusammenhang  im  Wirklichen  die  Erfahrung 
unmöglich  sei,  die  wir  doch  besitzen.  Was  wir  wirklich 
besitzen,  ist  nur  ein  Verlauf  von  Vorstellungen;  daß  dieser 
Verlauf  einen  lückenlosen  Zusammenhang  nach  allgemeinen 
Gesetzen  bilde,  daß  also  Erfahrung  in  diesem  gesteigerten 
Sinne,  in  welchem  sie  sich  von  bloßer  Wahrnehmung 
unterschiede,  wirklich  gegeben  sei,  ist  eine  Verwechselung 
dessen,  was  wir  voraussetzen,  mit  dem  was  wir  als  that- 
sächlich  wissen.  Denn  nichts  wissen  wir  wirklich,  als 
daß  eine  große  Anzahl  von  Vorgängen  sich  so  ansehen 
lassen,  als  ob  sie  von  allgemeinen  Gesetzen  bedingt  würden ; 
immerhin  ist  die  Menge  derjenigen  noch  viel  größer,  deren 
Unterordnung  unter  solche  noch  nicht  gelungen  ist;  eine 
ausnahmslose  Herrschaft  von  Gesetzen  über  die  ganze  Wirk- 
lichkeit ist  daher  weder  ein  wirkliches  noch  ein  mögliches 
Ergebniß  der  Erfahrung,  sondern  eine  Voraussetzung,  mit 
der  wir  an  jede  Erweiterung  unserer  Erfahrung  gehen. 
Nur  zweierlei  bleibt  daher  übrig;  entweder  diese  Voraus- 
setzung als  eine  solche  anzuerkennen  und  ihr  zu  glauben, 
mithin  diese  eine  gewisse  Einsicht  uns  zuzutrauen,  durch 
welche  unser  Denken,  sein  eignes  Gebiet  überschreitend, 
etwas  über  die  Natur  des  Wirklichen  festsetzt;  oder  sie 
gleichfalls  für  eine  bloße  Voraussetzung  anzusehen  und 
ihr  deswegen  zu  mißtrauen,  mit  Dank  die  Fälle  anzu- 
nehmen, in  denen  sie  sich  bestätigt,  zugleich  aber  die  Mög- 
lichkeit im  Auge  zu  behalten,  daß  wir  auf  Gebiete  stoßen 
werden,  in  denen  sie  sich  nicht  bestätigt.  So  oft  nun 
menschliches  Nachdenken  bis  zu  wissenschaftlicher  Be- 
trachtung der  äußern  Welt  fortgeschritten,  hat  es  ohne 
Ausnahme  die  erste  dieser  Meinungen  vorgezogen;  auch 
diejenigen,  die  am  meisten  unberechtigte  Uebergriffe  der 
Vernunft  abwehren  und  sich  rühmen,  der  Natur  nur  ihre 
eigenen  Gesetze  abzufragen,  halten  nur  den  Inhalt  dieser 
Gesetze  für  unbekannt,  nicht  ihr  allgemeines  Vorhandensein 
für  zweifelhaft;  sie  bemerken  blos  nicht,  daß  sie  mit  dem 
zweiten  Gliede  dieses  Ausspruchs  dennoch  über  die  Wirk- 
lichkeit eine  Behauptung  a  priori  aufstellen,  deren  Mög- 
lichkeit sie  in  dem  ersten  verneinen.  Die  andere  Meinung 
kann  man  an  einem  einzelnen  Punkte  zu  entdecken  meinen : 
in  dem  Glauben  an  die  Freiheit  des  menschlichen  Willens, 
lieber  das  sachliche  Recht  dieser  Annahme  habe  ich  hier 


580  Fünftes  Kapitel. 

nicht  zu  urtheilen;  formell  aber  gehört  sie  nur  scheinbar 
diesem  zweiten  Gesichtspunkt  an;  sie  behauptet  nicht,  daß 
principlos  dasselbe  bald  frei  bald  bedingt  sei;  indem  sie 
vielmehr  einen  Theil  der  Wirklichkeit  einer  gesetzlichen 
Determination  beständig  und  ausnahmslos  unterwirft,  das 
Vorkommen  der  Freiheit  aber  ausschließlich  an  das  Vor- 
handensein einer  bestimmten  geistigen  Natur  des  wollenden 
Subjectes  knüpft,  setzt  sie  vielmehr  eine  allgemeine  ge- 
setzliche Ordnung  der  Wirklichkeit  voraus  und  gibt  nur 
dieser  Ordnung  den  eigenthümlichen  Inhalt,  an  bestimmten 
Stellen  des  Weltlaufs  das  Eintreten  unbedingter  Elemente 
zu  gestatten,  die  dann,  einmal  in  die  Wirklichkeit  auf- 
genommen, nun  in  ihr  gesetzlich  bedingte  Folgen  hervor- 
bringen. Auch  diese  Meinung  also,  noch  deutlicher  aber 
jede,  die  mit  Leugnung  der  Freiheit  auch  die  innere  Welt, 
wie  die  äußere,  einem  gesetzlich  determinirten  Zusammen- 
hang unterwirft,  erlaubt  sich  hiermit  eine  apriorische  Be- 
hauptung über  die  Wirklichkeit,  deren  aligemeine  Gültig- 
keit empirisch  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Ob 
sie  dies  mit  Recht  thue,  darüber  ist  logisch  eine  zwingende 
Entscheidung  unmöglich;  denn  jeder  Versuch,  diese  Be- 
hauptung als  d  e  n  k  nothwendig  zu  erweisen,  würde  ihre 
Gültigkeit  für  die  Wirklichkeit  unentschieden  lassen,  jeder 
Versuch  aber,  sie  als  übereinstimmend  mit  der  Natur  der 
Wirklichkeit  darzuthun,  würde  in  andern  Formen  und 
Worten  denselben  Anspruch  einschließen,  den  er  recht- 
fertigen will,  nämlich  den,  durch  Denken  überhaupt  etwas 
a  priori,  nämlich  allgemein,  über  die  Wirklichkeit  be- 
haupten zu  können,  die  wir  empirisch  ja  niemals  allgemein 
kennen  lernen.  Mit  Grund  wird  man  daher  sagen,  daß 
alle  unsere  Beurtheilung  der  Wirklichkeit  auf  dem  un- 
mittelbaren Zutrauen  oder  auf  dem  Glauben  beruht,  mit 
dem  wir  einer  Forderung  des  Denkens,  die  das  eigene  Ge- 
biet desselben  überschreitet,  allgemeine  Gültigkeit  zuer- 
kennen. Thatsächlich  liegt  diese  unbegründbare  Zuversicht 
aller  Logik  zu  Grunde,  so  auch  dem  Ausdruck,  auf  den 
wir  die  allgemeine  Tendenz  des  Denkens  zurückbrachten, 
gegebenes  Zusammensein  in  Zusammengehörigkeit  zu  ver- 
wandeln. Alle  Verfahrungsweisen  der  angewandten  Logik 
bedeuten  etwas  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Wirk- 
lichkeit den  inneren  Zusammenhang  besitzt,  den  jene 
Tendenz  ihr  zuschreibt ;.  besäße  sie  ihn  nicht,  so  würde 
der  Rechtsgrund  nicht  bestehen,  auf  den  jede  Induction 
sich   stützt,   wenn   sie   eine  bestimmte   Folgerung   aus   Er- 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  58t 

fahrungen  auch  nur  für  wahrscheinlicher  hält  als  eine 
andere;  es  würde  sein  Bewenden  haben  müssen  bei  der 
Aufzählung  der  Prämissen  und  der  Schlußsatz  würde  fehlen. 

350.  Der  dritte  Punkt  blieb  übrig.  Die  Annahme  eines 
allgemeinen  gesetzlichen  Zusammenhangs  der  Wirklichkeit 
lehrt  nicht  von  selbst  die  Einzelgesetze  kennen,  nach  denen 
bestimmte  Vorgänge  b  an  bestimmte  andere  a  gebunden 
sind.  Wir  haben  ferner  schon  uns  überzeugt,  daß  analytisch 
aus  .der  begrifflichen  Zergliederung  der  Denkinhalte  von  a 
und  b  die  Nothwendigkeit  nicht  zu  ermitteln  ist,  mit 
welcher  die  Verwirklichung  des  einen  auf  die  des  andern 
folgen  müßte.  Es  bleibt  nur  übrig,  daß  wir  uns  entweder 
eine  unmittelbare  Gewißheit  über  die  allgemeine  und  noth- 
wendige  Geltung  synthetischer  Urtheile  zutrauen,  die  eine 
solche  Verknüpfung  dennoch  befehlen,  oder  daß  wir  alle 
jene  bestimmten  Gesetze  der  Wirklichkeit  den  Aussagen 
der  Erfahrung  durch  die  früher  geschilderten  Methoden 
der  Untersuchung  abgewinnen.  An  diesem  Scheidewege 
möchte  ich  mich  ^nit  einer  allgemeinen  Formel  willfähriger 
Anbetung  von  weiterer  Lobpreisung  der  zweiten  Annahme 
loskaufen.  Es  wird  allmählich  langweilig,  endlos  wieder- 
holt zu  hören,  wie  selbstentsagend  die  Vernunft  sich  der 
Natur  gegenüber  zu  verhalten  habe,  wie  sie  so  gar  nichts 
aus  eignen  Mitteln  entscheiden  könne  und  sich  in  wesenr 
lose  Hirngespinste  verirre,  wenn  sie  nicht  bei  jedem  Schritte 
sich  die  nothwendigen  Data  ihrer  Folgerungen  von  der  Er- 
fahrung erbitte.  Leider  können  wir  nicht  behaupten,  daß 
diese  Warnungen  überflüssig  und  gegenstandlos  sind,  denn 
geirrt  ist  genug  durch  ihre  Mißachtung;  aber  wie  jede 
Sittenpredigt  unleidlich  wird,  wenn  sie  gar  kein  Ende 
nimmt,  so  regt  auch  diese  zuletzt  uns  nur  zu  der  Frage 
an,  ob  die  Ansprüche,  welche  sie  erhebt,  nicht  ebenso 
einseitig  sind,  als  zugegebenermaßen  die  sind,  welche  sie 
zurückweisen  will.  Kann  also  die  empirische  Aufsuchung 
von  Gesetzen  der  Wirklichkeit  ihre  Aufgabe  wirklich  ganz 
aus  eignen  Mitteln  lösen,  etwa  mit  Hülfe  des  Identitäts- 
princips,  im  Uebrigen  aber  ohne  synthetische  Urtheile 
a  priori  vorauszusetzen?  Daß  sie  es  nicht  könne,  war 
die  Lehre  Kant's;  wenn  wir  zu  gleicher  Behauptung 
kommen,  so  trifft  es  sich,  daß  wir  zugleich  einen  wesent- 
lichen Punkt  deutscher  Philosophie  vertheidigen,  über 
den  wir  von  allen  Nationen  angegriffen  werden. 

351.  Darauf  hatte  uns  durch  Hume  der  englische 
Skepticismus  beschränken  wollen,  entweder  in  Mathematik 


582  Fünftes  Kapitel. 

Erkenntnisse  auszusprechen,  die  ihm  nur  auf  dem  Satze 
der  Identität  zu  beruhen  schienen,  oder  in  Geschichte  durch 
synthetische  Urtheile  a  posteriori  das  Geschehene  wieder 
zu  erzählen,  nachdem  es  geschehen  und  somit  Gegenstand 
der  Erfahrung  geworden  ist;  unmöglich  sei  jede  wissen- 
schaftliche Folgerung,  die  ein  zukünftiges  b  aus  einem  a 
voraussagen  wolle,  das  mit  ihm  nicht  identisch  sei.  Ehe 
ich  den  letzten  Theil  der  Behauptung  erörtere,  scheint 
es  mir  nützlich  zu  zeigen,  daß,  wenn  er  gilt,  die  beiden 
ersten  nicht  gültig  sein  können.  Die  Möglichkeit  syntheti- 
scher Urtheile  a  posteriori  beargwöhnt  man  zu  wenig, 
weil  man  sie  für  einfache  Ausdrücke  der  Erfahrung  hält, 
in  die  sich  nichts  von  vorwitziger  Thätigkeit  unseres 
Denkens  eingemischt  habe.  So  lange  sie  indessen  Urtheile 
sind,  gleichviel  ob  in  sprachlicher  Form  ausgeprägt  oder 
nicht,  sind  sie  immer  Bearbeitungen  des  Gegebenen  durch 
Hineindeutung  innerer  Zusammenhänge,  die  in  unmittel- 
barer Beobachtung  niemals  in  ihm  gegeben  sind.  Keine 
Wiedererzählung  eines  Ereignisses  ist  möglich,  ohne  daß 
wir  einen  Theil  der  sinnlichen  Bilder,  die  uns  bei  seiner 
Wahrnehmung  entstanden,  als  Subject,  einen  andern  als 
Prädicat  zusammenfassen,  und  ohne  daß  wir  zwischen  den 
Inhalten  dieser  beiden  Begriffe  eine  Beziehung  des  Wirkens 
und  Leidens  oder  der  gegenseitigen  Aenderung  von  Zu- 
ständen mitdenken,  die  in  den  Wahrnehmungen  selbst  gar 
nicht  gegeben  ist.  Man  kann  behaupten,  der  Satz :  Cäsar 
ging  über  den  Rubico,  bedeute  nur:  eine  gewisse,  zwar 
etwas  veränderliche,  aber  doch  beisammenbleibende  Gruppe 
sinnlicher  Eindrücke,  die  man  der  Kürze  halber  Cäsar 
nenne,  habe  ihre  räumliche  Stellung  gegen  eine  andere 
Gruppe  sinnlicher  Eindrücke,  die  Rubico  heiße,  so  ver- 
ändert, daß  sie  in  der  Anschauung  eines  und  desselben 
Beobachters  erst  rechts  dann  links  von  dieser  zweiten  wahr- 
genommen worden  sei;  ich  antworte  mit  gleicher  Hart- 
näckigkeit: daß  jene  Gruppe  Cäsar  dieselbe  rechts  und 
links  gewesen  sei,  daß  sie  also  ihre  Stellung  verändert 
habe,  liegt  nicht  in  dem  Inhalt  der  Wahrnehmung,  sondern 
ist  eine  Annahme,  die  einer  zusammenhängenden  und 
stetigen  Aenderung  der  Erscheinung  ein  beständiges  Sub- 
strat mit  nur  wechselnden  Relationen  unterschiebt.  So 
oft  wir  erzählend  von  irgend  einer  räumlichen  Bewegung 
sprechen,  drücken  wir  schon  nicht  mehr  die  Wahrnehmung, 
sondern  eine  Hypothese  über  sie  aus;  gesehen  haben 
wir  nicht,  daß  dasselbe  reale  a  nach  und  nach  die  Orte 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  583 

m  n  p  durchlief;  die  beobachtete  Thatsache  ist  nur, 
daß  in  aufeinanderfolgenden  Zeitpunkten  gleiche  Erschei- 
nungen a  an  aufeinanderfolgenden  Raumpunkten  sichtbar 
waren;  wer  kein  Bedürfniß  hätte,  diese  Thatsache  sich 
durch  die  Annahme  eines  bleibenden  Subjects  zu  erklären, 
könnte  die  Behauptung:  a  habe  sich  bewegt,  nicht 
mehr  als  Erzählung  einer  Wirklichkeit,  sondern  nur  als 
bequeme,  sachlich  bedeutungslose  Manier  seines  Ausdrucks 
wagen;  versagt  er  sich  diese  Einmischung  von  Gesichts- 
punkten, nach  denen  wir  den  Wahrnehmungsinhalt  deuten, 
so  sind  auch  alle  synthetischen  Urtheile  a  posteriori,  alle 
Urtheile  überhaupt  unzulässig,  und  anstatt  der  Wieder- 
erzählung bleibt  in  der  That  nur  die  Möglichkeit  der 
Wieder  e  rinn  er  ung  einer  Reihe  von  Wahrnehmungen 
übrig,  eine  Reproduction  des  Rohmaterials,  aus  dem  man 
Urtheile  bilden  könnte,  wenn  es  erlaubt  wäre. 

352.  Man  wird  anderseits  weder  die  Gültigkeit  noch 
die  Wichtigkeit,  um  so  mehr  aber  die  Fruchtbarkeit  des 
Satzes  der  Identität  in  Erzeugung  mathematischer  Wahr- 
heit bezweifeln,  ja  vielmehr  behaupten  müssen,  daß,  wenn 
er  allein  gälte,  diese  Wahrheit  nicht  auffindbar  sein  würde. 

Welche  Gleichung  oder  Ungleichung  a=:b  oder  a^b  wir 

auch  aussprechen  mögen,  immer  müssen  wir  diejenige 
Geltung  des  Identitätssatzes  voraussetzen,  vermöge  deren 
a  =  a,  b==b,  jede  Größe  also,  die  wir  mit  andern  in 
irgend  eine  Beziehung  bringen  wollen,  mit  sich  selbst 
identisch  ist;  denn  offenbar  geht  jede  Gleichung  oder  Un- 
gleichung zwischen  verschiedenen  ihrer  Bedeutung  verlustig, 
wenn  jede  der  Größen  unbeschränkt  vieldeutig  ist,  die  in 
ihr  zusammengestellt  werden.  An  dieser  Stelle  gilt  der 
Identitätssatz  deutlich  und  ist  die  Bürgschaft  aller  Wahr- 
heit; gerade  hierauf  hat  man  indessen  am  wenigsten  ge- 
achtet; man  hat  vielmehr  jene  andere  Anwendung  des- 
selben hervorgehoben,  durch  welche  beide  Seiten  einer 
Gleichung  einander  gleich  gesetzt  werden;  in  ihr,  als 
einem  Ausdruck  des  Identitätssatzes,  fand  man  nicht  nur 
die  Bürgschaft  der  Wahrheit,  sondern  in  der  verketteten 
Wiederholung  solcher  Gleichsetzungen  das  fruchtbare  Ver- 
fahren zu  deren  Entdeckung.  Von  beiden  Behauptungen 
kann  ich  mich  nicht  überzeugen,  daß  sie  genau  ausdrücken, 
was  sie  meinen.  Gleichungen  geben  entweder  wie :  ^^lt=^  2 
den  bestimmten  Größenwerth  einfach  an,  der  aus  der 
Ausführung   einer  Rechnungsoperation   in  Bezug  auf   eine 


584  Fünftes  Kapitel. 

gegebene  Größe  entsteht,  oder  sie  sagen  aus,  wie 
^ab  =  \'a-V^,  daß  man  zu  demselben  Ergebniß  gelangt, 
wenn  man  formell  verschiedene  Operationen  in  vorge- 
schriebener Reihenfolge  oder  Verbindung  auf  irgend  welche 
innerhalb  bestimmter  Grenzen  gegebenen  Größen  anwendet. 
In  beiden  Fällen  liegt  nun  doch  der  Werth  des  ganzen 
mathematischen  Verfahrens  nicht  einseitig  auf  der  ge- 
fundenen Gleichheit  des  Ergebnisses,  sondern  eben  darauf, 
daß  verschiedene  Wege  zu  demselben  Ziele  führten,  daß 
es  also  möglich  war.  Verschiedenes  gleich  zu  setzen. 
Wollte  man  mir  entgegnen,  daß  doch  der  Größenwerth  der 
verschiedenen  hier  verglichenen  Glieder  nicht  nachträglich 
gleich  gemacht  werde,  sondern  immer  gleich  gewesen  sei 
und  daß  diese  Gleichheit  sich  nur  unter  den  verschiedenen 
Formen  verborgen  habe,  in  denen  beide  ursprünglich  ge- 
geben waren,  oder  daß  der  eine  dieser  Ausdrücke  nur  die 
Aufgabe,  der  andere  die  Auflösung  bezeichne,  so  würde 
man  genau  das  sagen,  was  ich  selbst  will,  und  nur  etwas 
als  selbstverständlich  ansehen,  was  ich  nicht  dafür  halten 
kann.  Denn  woher  nimmt  man  das  Zutrauen  zu  der  Mög- 
lichkeit, daß  ein  mit  sich  identischer  Werth  unter  ver- 
schiedenen Gestalten  gegeben  werden  könne?  Aus  dem 
Satze  der  Identität  allein  doch  nicht ;  denn  in  ihm  liegt 
nicht  die  mindeste  Hindeutung  auf  einen  Gegensatz  zwischen 
Form  und  Inhalt  oder  Form  und  Werth;  brächte  man  aber 
die  Vorstellung  dieses  Gegensatzes  aus  anderer  Quelle  hinzu, 
so  würde  selbst  dann  der  Satz  nichts  über  ihn  aussagen 
können.  Er  würde  nur  wiederholen:  jede  Form  ist  mit 
sich  selbst  und  jeder  Werth  mit  sich  selbst  identisch;  daß 
aber  derselbe  Werth  unter  verschiedenen  Formen  möglich 
sei,  könnte  er  nicht  behaupten,  weil  er  für  diese  Be- 
hauptung keine  Grenze  ihrer  Gültigkeit  festzustellen  wüßte, 
außer  einer  solchen,  die  zu  einer  unfruchtbaren  Tautologie 
zurückführte;  denn  die  Frage:  welche  verschiedengeformte 
Ausdrücke  identische  Werthe  bezeichnen,  könnte  er  nur 
dahin  beantworten:  diejenigen  eben,  in  denen  ein  und 
derselbe  identische  Werth  enthalten  ist.  Ich  brauche  nun 
nicht  weitläufig  hinzuzufügen,  daß  in  dieser  Möglichkeit> 
Verschiedenes  gleich  zu  setzen,  nicht  aber  in  der 
nackten  Anwendung  des  logischen  Identitätsgesetzes,  der 
bewegende  Nerv  aller  fruchtbaren  mathematischen  Denk^ 
arbeit  liegt.  Man  käme  nicht  weiter,  wenn  man  unter  das 
Subject  eines  gegebenen  Obersatzes  immer  nur  ein  ihm 
schlechthin  identisches  subsumiren  dürfte ;  man  kommt  aber 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  585 

weiter,  weil  man  durch  unzählige  Substitutionen,  durch 
Zerfällung  und  Wiederverknüpfung  eine  in  der  Form  a 
gegebene  Größe  in  die  Form  b  bringen  und  sie  so  jedes- 
mal demjenigen  Oberbegriffe  subsumirbar  machen  kann, 
mit  dessen  Hülfe  wir  nach  bekannten  Rechnungsregeln  ihr 
ein  Prädicat  beilegen  können,  das  aus  ihrer  ursprünglichen 
Fomi  nicht  ableitbar  war.  Alles  hängt  daher  von  der 
Berechtigung  ab,  Verschiedenes  gleichzusetzen,  und  diese 
Berechtigung  fließt,  unmittelbar  wenigstens,  nicht  aus  dem 
Sinne  des  Identitätsprincips. 

353.  Ich  knüpfe  das  Weitere  an  die  Ueberlegungen  an, 
die  ich  in  der  reinen  Logik  bereits  über  Urtheile  von 
formal  synthetischer  dem  Inhalt  nach  identischer  Natur  an- 
stellte. Ich  habe  damals  Kant 's  erwähnt,  der  in  seinem 
Bestreben,  synthetische  Urtheile  a  priori  in  allen  Rich- 
tungen unseres  Vernunftgebrauchs  nachzuweisen,  auch  den 
arithmetischen  Satz  7  -f-  5  =  12  unter  ihnen  zu  finden 
glaubte.  An  jener  Stelle  kam  es  mir  darauf  an,  die 
Nothwendigkeit  der  Inhaltsgleichheit  hervorzuheben,  die 
zwischen  dem  vollständigen  Subject  und  dem  vollständigen 
Prädicat  jedes  wahren  Urtheils  stattfinden  müsse;  nicht 
ganz  befriedigt  damit,  daß  Kant  diese  Forderung  weniger 
ausdrücklich  erwähnt,  habe  ich  doch  damals  schon  mir 
vorbehalten,  auf  das  Richtige  seiner  Behauptung  zurück- 
zukommen (vergl.  58).  Eine  Anschauung  schien  ihm  hin- 
zukommen zu  müssen,  um  uns  in  12  die  Auflösung  der 
Aufgabe  erkennen  zu  lassen,  die  in  7-[-ö  ausgedrückt  war; 
um  uns  also  zu  zeigen,  daß  die  zur  Richtigkeit  der  Gleichung 
erforderliche  Identität  beider  Seiten  besteht.  Nur  als  Bei- 
spiel halte  ich  diesen  Satz  nicht  für  glücklich  gewählt, 
weil  er  den  formalen  Unterschied,  auf  den  Gewicht  zu 
legen  ist,  nicht  recht  in  die  Augen  fallen  läßt.  Denn  ge- 
wiß ist  zwar  12  nicht  lediglich  ein  anderer  Name  für  7  -\-o, 
'  sondern  bedeutet,  daß  man  dieselbe  Größe,  die  durch  Ad- 
dition dieser  beiden  entsteht,  außerdem  als  bestimmtes 
Glied  der  Zahlenreihe  zwischen  11  und  13  finde;  aber 
anderseits  ist  es  doch  die  einfachste  Vorstellung  dieser 
Reihe  selbst,  sie  aus  wiederholter  Addition  der  Einheit, 
also  aus  derselben  Operation  entstanden  zu  denken, 
durch  welche  man  7  und  5  verband;  man  faßt  also  so- 
wohl die  linke  als  die  rechte  Seite  dieser  Gleichung  als 
Summe  von  Einheiten  und  zerlegt  nur,  wie  es  der  Be- 
griff der  Summe  zuläßt,  links  in  zwei  Schritte,  was  man 
rechts  zusammenfaßt.    Der  Ausdruck  7  -f  5  =  4^  —  2^,  ohne 


586  Fünftes  Kapitel. 

übrigens  wirklich  das  Wesentliche  des  Kantischen  Gedankens 
mehr  zu  enthalten  als  jene  erste  Formel,  würde  deutlicher 
gemacht   haben,   daß   es   verschiedene   Wege   gibt,   auf 
denen  man  zu  einem  und  demselben  Werthe  gelangen  kann. 
Denn  das,  worauf   es  ankommt,   ist  eben  nichts  Anderes, 
als   die  in   dem   Additionszeichen   enthaltene   Behauptung: 
Größeu  seien  überhaupt  summirbarzu  einer  gleichartigen 
neuen  Größe,  ein  Satz,  über  dessen  Wichtigkeit  man  wieder 
geneigt  sein  wird  ganz  hinwegzusehen,  weil  er  ganz  selbst- 
verständlich und  nichts  als  eine  identische  Definition  der 
ZaJilengröße  scheint.     Das  ist  er  nun  auch;  aber  wodurch 
wird   uns   diese   selbstverständliche   Erkenntniß   zu   Theil? 
Nicht  jeder  Vorstellungsinhalt  läßt  sich  denselben  Opera- 
tionen unterwerfen :  man  kann  nicht  Roth  und  Grün  addiren 
und   davon   Blau   abziehen;   die   Töne   c   und   d    gestatten 
keine  Summirung  zu  einem  dritten  x,  der  in  der  Tonreihe 
um  das  Intervall  c  höher  läge  als  d,  sowie  in  der  Zahlen- 
reihe   12   um    7   höher  liegt   als   5.     Hier   wird   man   ver- 
wundert fragen,  wozu  diese  Bemerkung  dienen  solle  ?  natür- 
lich könne  man  mathematische  Operationen  nur  auf  Größen 
anwenden,   in  deren   Natur  es  liege,   ihnen   zugänglich  zu 
sein,   nicht  aber,    oder  wenigstens   nicht   unmittelbar,    auf 
qualitativ   verschiedene  Eindrücke.     Man  will  hier  in  der 
That   das   Nächstliegende   nicht  sehen:   eben    dies,   daß   es 
so  etwas,  wie  Größe,  in  der  Welt  des  Vorstellbaren  gibt, 
während   doch  das   Vorstellen  selbst  nicht,   um  nur  über- 
haupt geschehen  zu  können,  an  das  Vorstellen  gerade  dieser 
vergleichbaren    Größen   gebunden    ist,    eben    dies    ist    eine 
Thatsache  unmittelbarer  Anschauung,  die,  wenn  wir 
sie   nicht  hätten,    durch   logische   Operationen,    an   andern 
Inhalten  ausgeführt,  gerade  so  wenig  supplirt  werden  könnte, 
als     wir    den    Begriff     qualitativer   Aehnlichkeit    erzeugen 
würden,   wenn  uns   keine   vergleichbaren   Sinneseindrücke, 
Farben  oder  Töne,   als  Bestandtheile  des   Ideenreiches  ge- 
geben  wären.     Identisch   also  ist  der   Satz   gewiß,   daß 
Größen   summirbar  sind ;    aber   daß   Subject   und   Prädicat 
dieses    Satzes   in    der   Welt   des    Vorstellbaren   gültig   vor- 
kommen und  daß  er  nicht  gleichwerthig  dem  andern  eben- 
falls identischen  Satze  ist :  jedes  hölzerne  Eisen  ist  hölzernes 
Eisen,    das   folgt   nicht  selbst  wieder   aus   dem   Satze    der 
Identität.      Nicht    dieses     nackte    logische   Princip    mithin, 
sondern  die  Anschauung  der  Größe,  deren  Natur  es  mög- 
lich   macht,    unzählige    inhaltlich    identische    und    formal 
synthetische    Urtheile    zu    bilden,    ist    die    Bürgschaft    der 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  587 

Wahrheit  und  zugleich  der  Grund  der  Fruchtbarkeit  arith- 
metischer Gedankenverknüpfung.  Was  sich  hieran  in  mathe- 
matischem Interesse  weiter  anfügen  ließe,  muß  ich  dahin- 
gestellt lassen;  logisch  bekenne  ich  meine  völlige  Ueber- 
einstimmung  mit  Kant  auch  darin,  daß  ich  eine  reine 
oder  apriorische  Anschauung  der  Zahlgröße,  in  dem 
früher  bestimmten  Sinne  dieses  Ausdrucks,  festhalte.  Ohne 
Veranlassung,  die  zuletzt  immer  durch  äußere  Anregungen 
erfolgt,  tritt  in  unser  Bewußtsein  weder  die  Vorstellung  der 
Größe  überhaupt,  noch  die  bestimmtere  ihrer  Summirbar- 
keit,  noch  endlich  ein  einzelner  arithmetischer  Satz;  wir 
denken  sie  alle  nur,  wenn  wir  irgendwie  zur  Vorstellung 
zählbarer  Objecte  veranlaßt  werden;  wenn  aber  diese  Ver- 
anlassung gegeben  ist,  so  lernen  wir  nicht  aus  dem  Inhalt 
dieser  Wahrnehmung,  daß  7  -j-  5  =  12  sei,  so  daß  die  Sicher- 
heit dieser  Erkenntniß  mit  der  Zahl  der  Fälle  zunähme,  in 
denen  sie  von  späteren  Wahrnehmungen  bestätigt  würde, 
sondern  die  einmalige  Vorstellung  von  7-}- 5,  gleichviel 
ob  durch  äußere  Wahrnehmung  vermittelt  oder  nicht,  reicht 
hin,  um  für  sich  allein  und  allgemeingültig  die  Gleichheit 
mit  12  zu  lehren.  Hätten  wir  bei  wirklichen  Zählver- 
suchen äußerer  Objecte  in  verschiedenen  Wiederholungs- 
fällen dies  Ergebniß  bald  bestätigt  bald  nicht  bestätigt  ge- 
funden, so  würden  wir  alle,  auch  die  entschiedensten  An- 
hänger empiristischer  Erklärungsweisen,  nicht  unsern  arith- 
metischen Satz  nach  unsern  Zählungen,  sondern  diese  nach 
ihm  corrigiren. 

354.  Vielleicht  noch  deutlicher  als  an  diesem  arith- 
metischen Beispiele  läßt  sich  dasselbe  an  geometrischen 
wiederholen.  Gegen  das  eine,  Reiches  Kant  als  synthetischen 
Satz  anführt :  die  gerade  Linie  zwischen  zwei  Punkten  sei 
die  kürzeste,  habe  ich  ähnliche  Bedenken  wie  gegen  das 
vorige  gerichtet:  auch  dies  Beispiel  ist  nicht  glücklich 
gewählt,  weil  wir  für  den  Begriff  der  Entfernung,  der  in 
dem  Prädicat  der  Kürze  enthalten  ist,  ein  anderes  un- 
mittelbares Maß  als  die  gerade  Linie  nicht  besitzen; 
dieser  Satz  macht  daher  überwiegend  den  Eindruck  der 
Identität  von  Subject  und  Prädicat.  Sie  ist  auch,  dem 
Inhalt  nach,  vorhanden,  und  der  Satz  würde  gar  nicht 
richtig  sein,  wenn  sie  nicht  bestände;  aber  wodurch  wird 
sie  hergestellt?  Nur  dadurch,  daß  wir  die  beiden  Punkte 
durch  das  verbinden,  was  wir  ein  Zwischen  ihnen  nennen. 
Nun  ist  klar,  daß  durch  diesen  Ausdruck  die  beiden  Punkte 
nicht    blos    logisch    als    nicht    identisch    oder   verschieden 


588  Fünftes  Kapitel. 

überhaupt  bezeichnet  werden,  denn  das  sind  Grün  und 
Sauer  auch,  ohne  zu  einem  ähnlichen  Satze  zu  führen; 
auch  nicht  als  vergleichbar  überhaupt,  denn  das  sind,  eben- 
falls ohne  solche  Folge,  Grün  und  Roth  auch;  sie  werden 
vielmehr  in  einer  eigenthümlichen  Weise  verbunden,  deren 
Denkbarkeit  und  Bedeutung  uns  nur  durch  ursprüngliche 
räumliche  Anschauung  erkennbar  wird,  durch  keine,  an 
anderem  Inhalt  ausgeführte,  logische  Operation  verständ- 
lich werden  würde,  wenn  sie  uns  fehlte,  und  noch  jetzt, 
da  sie  uns  allen  hekannt  ist,  durch  keinerlei  Umschreibungen, 
in  denen  sie  nicht  selbst  schon  versteckt  enthalten  wäre, 
verdeutlicht  werden  kann.  Ausdrucksvoller  sind  andere 
Beispiele  Kant's.  Nehmet  nur,  sagt  er,  den  Satz:  daß 
durch  zwei  gerade  Linien  sich  gar  kein  Raum  einschließen 
lasse,  mithin  keine  Figur  möglich  sei,  und  versucht  ihn 
aus  dem  Begriffe  von  geraden  Linien  und  der  Zahl  Zwei 
abzuleiten*;  oder  auch,  daß  aus  dreien  geraden  Linien  eine 
Figur  möglich  sei,  und  versucht  es  eben  so  blos  aus 
diesen  Begriffen;  alle  eure  Bemühung  ist  vergeblich  und 
ihr  seht  euch  genöthigt,  zur  Anschauung  eure  Zuflucht  zu 
nehmen,  wie  es  die  Geometrie  auch  jederzeit  thut.  Diese 
Worte  bleiben  auch  dann  richtig,  wenn  man  eine  kleine 
Ungenauigkeit  ihres  Ausdrucks  zum  Versuch  der  Bestreitung 
benutzt.  Nicht  drei  gerade  Linien  sind  im  zweiten  Falle  das 
vollständige  Subject,  dem  das  Prädicat  zukommt,  ein  Drei- 
eck zu  bilden;  sie  müssen  außerdem  in  derselben  Ebene 
liegend,  einander  nicht  parallel  und  beliebiger  Verlängerung 
fähig  gedacht  werden ;  im  ersten  kann  man  nicht  verlangen, 
die  Unmöglichkeit  der  geschlossenen  Figur  aus  den  ver- 
einzelten Begriffen  der  Zahl  Zwei  und  der  geraden  Linie 
abzuleiten;  vor  allem  muß  Zwei  als  Anzahl  dieser  Linien, 
die  Linien  selbst  als  enthalten  in  demselben  Räume  vor- 
gestellt werden.  Fügt  man  diese  Nebenbestimmungen  hinzu, 
so  wird  man,  obwohl  nicht  beide  gleich  kurzer  Hand,  doch 
beide  Ergebnisse  als  identische  Folgen  der  vorausgesetzten 
vollständigen  Subjecte  erkennen  und  so  die  Bedingung  der 
Inhaltsgleichheit  herstellen,  unter  der  beide  Sätze  allein 
wahr  sein  können.  Allein  dies  ändert  die  Sache  nicht. 
Alle  jene  Ergänzungen,  das  Enthaltensein  in  derselben 
Ebene,  der  Nichtparallelismus,  die  mögliche  Verlängerung, 
bedeuten  ganz  und  gar  nichts,  wenn  wir  nicht  die  räumliche 
Anschauung  voraussetzen,  die  allein  bezeugt,  daß  so  etwas, 
wie  man  es  durch  diese  Worte  bezeichnet,  in  der  Welt 
des  Vorstellbaren  anzutreffen  sei,  und  die,  indem  sie  dem 
vollständigen  Subject  jener  Sätze  überhaupt  erst  einen  vor- 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  589 

stellbaren  Sinn  gibt,  zugleich  auch  das  in  ihnen  enthaltene 
identische  Prädicat  begründet.  Identisch  sind  daher  diese 
_Sätze  gewiß,  obgleich  unter  synthetischer  Form;  daß  es 
aber  ihren  ganzen  Inhalt  mit  allen  seinen  innem  Verhält- 
nissen gibt,  ist  nicht  Verdienst  des  Satzes  der  Identität; 
ich  meine :  nicht  vermittelst  dieses  Princips  kann  man  von 
der  einen  Ausdrucksform  einer  geometrischen  Thatsache 
zu  einer  andern  gleichgeltenden  übergehen,  sondern  die 
eigenthümliche  Natur  des  Raumes  macht  es  möglich,  daß 
eine  sachliche  Identität  verschiedener  Ausdrucksformen  be- 
stehen kann.  Hierauf,  auf  der  unbegrenzten  Möglichkeit 
besonders,  durch  willkürliche  Hülfsconstructionen  jedes 
Raumgebilde  immer  andern  mathematischen  Gesichtspunkten 
oder  Oberbegriffen  unterzuordnen  und  ihm  so  die  Prädicate 
zu  verschaffen,  die  seiner  ursprünglichen  Auffassung  fremd 
waren,  nicht  aber  auf  der  bloßen  Anwendung  des  nackten 
Identitätsprincips,  beruht  die  Fruchtbarkeit  der  geometri- 
schen Methode. 

355.  Nun  kann  ich  den  Einwurf  erwarten,  daß  meine 
Betrachtung  anderswo  ende,  als  wohin  sie  kommen  wollte. 
Zur  Erweiterung  der  Erkenntniß,  überhaupt  um  Gesetze 
des  Verlaufs  der  Dinge  zu  finden,  behauptete  ich  die  Noth- 
wendigkeit  synthetischer  Grundsätze  a  priori;  jetzt  habe 
ich  mich  auf  Anschauungen  berufen,  die  auf  einmal  SuJ>- 
ject  Prädicat  und  Copula  des  Urtheils  liefern,  durch  das  wir 
sie  ausdrücken,  und  deren  Annahme  zuletzt  nichts  weiter 
als  den  wenig  förderlichen  Satz  zu  bedeuten  scheint,  man 
könne  nicht  denken  ohne  Vorstellung  des  Inhalts,  über  den 
man  denken  will ;  gegeben  aber  sei  dieser  Inhalt  nicht 
durch  das  Denken,  sondern  dem  Denken,  in  nicht  wesent- 
lich anderer  Weise  als  jeder  andere  Inhalt,  nämlich  durch 
Erfahrung.  Ueber  den  letztern  Punkt  wiederhole  ich  kurz, 
daß  jede  Erkenntniß,  angeboren  oder  nicht,  in  diesem 
weiteren  Sinne  des  Wortes  Gegenstand  der  Erfahrung  für 
denjenigen  ist,  der  sie  entweder  beständig  oder  auf  Ver- 
anlassungen entstanden  in  seinem  Bewußtsein  vorfindet; 
überdies  haben  wir  von  Anfang  an  zugestanden^ 'daß  keiner 
der  Grundsätze,  die  wir  als  angeboren  ansehen,  auch  nur 
als  praktisch  befolgter  Obersatz  unseres  Urtheilens  in  uns 
wirksam  wird,  bevor  uns  eine  empirische  Anregung  zu 
seiner  Befolgung  gegeben  ist,  daß  er  aber  vollends  zuni. 
Gegenstand  unseres  Bewußtseins  erst  durch  Reflexion 
auf  seine  unbewußt  geschehenen  Anwendungen  werden 
kann.  Ich  habe  daher  in  diesem  Sinne  nichts  einzuwenden 
und   halte   es   nur  für  unfruchtbar,    wenn   man   darauf   be- 


590  Fünftes  Kapitel. 

steht,  das  Innewerden  apriorischer  Grundsätze  selbst  eine 
innere  Erfahrung  zu  nennen;  aber  auch  darin  kann  der 
Streit  aprioristischer  und  empiristischer  Ansichten  nicht 
bestehen,  ^aß  die  letztern  einer  äußern  Erfahrung  zu- 
schreiben, was  wir  einer  inneren  verdanken  wollen.  Denn 
dieser  Gegensatz  besteht  lediglich  nicht;  was  man  auch 
über  eine  vorausgesetzte  Außenwelt  sich  für  Gedanken 
machen  mag:  Erfahrungen  können  wir  immer  nur  über 
ihre  Abbilder  in  uns,  über  den  Zusammenhang  unserer 
Vorstellungen  machen.  Hierüber  möchte  ich  kurz  sein 
dürfen.  In  Deutschland  wenigstens  huldigt  man  noch  nicht 
dem  importirten  Irrthum,  als  könne  es  gelingen,  durch 
Nachmessung  der  Kanten  und  Flächenwinkel  körperlicher 
Gebilde  die  Sätze  der  Geometrie  zu  bestätigen,  oder  andere 
zu  entdecken  als  diejenigen,  die  wir  auch  mit  geschlossenen 
Augen  aus  vorausgesetzten  Verhältnissen  bloßer  Raum- 
punkte entwickeln;  man  weiß  noch,  daß  jene  Messungen, 
wenn  wir  sie  ausführen,  sich  unmittelbar  nicht  auf  die 
Natur  der  materiellen  Ausfüllungen  des  Raumes,  sondern 
auf  Bestimmungen  des  Raumes  beziehen,  der  durch  sie 
ausgefüllt  wird;  daß  sie  endlich  ausgeführt  werden  können 
nur  durch  äußerliche  Hülfsmittel  und  durch  Methoden,  die 
sich  alle  auf  die  innere  Gesetzlichkeit  unserer  Rauman- 
schauung bereits  gründen ;  daß  wir  also  nicht  dahin  kommen 
können,  durch  Messungen  diese  unsere  geometrische  Er- 
kenntniß  an  einer  andern  von  ihr  unabhängigen  Erkenntniß- 
quelle  zu  prüfen,  sondern  daß  wir  auf  diesem  Wege  ledig- 
lich eine  einzelne  räumliche  Anschauung  den  Gesetzen 
der  allgemeinen  geometrischen  Anschauung  subsumiren. 
Darauf  allein  würde  daher  der  Unterschied  der  Meinungen 
zurücklaufen,  daß  wir  die  einfachen  Grundsätze  der  Geo- 
metrie, die,  daß  jede  gerade  Linie  ins  Unendliche  ver- 
längert werden  kann,  daß  die  Gegenwinkel  sich  schneiden- 
der Geraden  gleich  sind,  daß  alle  Nebenwinkelpaare  die- 
selbe Summe  geben,  als  Wahrheiten  betrachten,  die,  ein- 
mal vorgestellt,  für  immer  gelten;  daß  dagegen  eine  empi- 
ristische Auffassung  folgerecht  jedes  einmalige  Bewußt- 
werden derselben  nur  für  eine  psychische  Thatsache  an- 
sehen müßte,  von  der  nicht  feststände,  ob  sie  sich  mit 
gleichem  Inhalt  wiederholen  würde,  deren  allgemeine  Gel- 
tung daher  als  wahr  niemals,  als  wahrscheinlich  aber  nur 
durch  Uebereinstimmung  sehr  vieler  Wiederholungsfälle  be- 
wiesen werden  könnte. 

356.  Wie   wir  uns   zu   dieser  Ansicht  verhalten,  muß 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  591 

ich  noch  einmal  wiederholend  zusammenfassen.  Zuerst 
würde  die  Behauptung,  jede  Wahrheit  bedürfe  zu  ihrer 
Allgemeingültigkeit  diese  Erfahrungsprobe,  sich  selbst  wider- 
sprechen. Denn  einestheils  müßte  sie  ja  sich  selbst  ihrem 
eignen  Ausspruche  subsumiren  und  könnte  folglich  nicht 
als  allgemeiner  Grundsatz  gelten;  anderntheils  sahen  wir 
früher,  daß  ohne  die  Voraussetzung  der  unbedingten  Gültigr 
keit  gewisser,  der  Erfahrung  nicht  verdankter  Grundsätze 
auch  von  den  aus  Erfahrungen  zu  gewinnenden  Erkennt-r 
nissen  keine  für  wahrscheinlicher  gelten  kann,  als  eine 
andere  (329).  Auf  der  Möglichkeit  unmittelbarer  Erkenntniß 
des  Allgemeingültigen  beruht  daher  jede  Ueberzeugung,  die 
unsere  nicht  mehr  als  die  unserer  Gegner;  Zwiespalt  kann 
nur  darüber  sein,  welche  Wahrheiten  wir  dieser  Erkenntniß 
zugänglich  glauben.  Selbstverständlich  aber  kann  für  Wahr- 
heiten, die  unmittelbar  als  allgemeingültig  erkannt  werden 
sollen,  das  Kennzeichen  dieses  ihres  Rechtsanspruches  nur 
in  der  Evidenz  bestehen,  mit  der  sie  sich  dem  Bewußtsein 
aufdrängen  und  Anerkennung  verlangen,  ohne  sie  durch  einen 
Beweis  ihrer  Richtigkeit  zu  erzwingen.  Nun  steht  es  endlos 
Jedem  frei,  sich  diesem  Verlangen  zu  fügen  oder  nicht; 
Jeder  kann  entweder  ehrlich  der  Evidenz  mißtrauen,  mit 
der  ein  bestimmter  Erkenntnißinhalt  sich  seinem  Bewußtsein 
darstellt,  oder  er  kann  wenigstens  chicanös  sich  darauf 
steifen,  daß  keine  Evidenz  in  der  Welt  den  Beweis  für 
die  Wahrheit  des  Evidenten  gebe;  nur  wird  er  im  letztern 
Falle  sich  gefallen  lassen  müssen,  daß  auch  der  Evidenz 
jedes  versuchten  Beweises  sowie  seiner  eigenen  Behauptung 
mit  gleicher  Chicane  die  Gültigkeit  bestritten  werde.  Diese 
eitle  Disputirsucht  überlassen  wir  sich  selbst;  jenes  ehrliche 
Mißtrauen  dagegen  ist  berechtigt;  denn  gewiß  kann  die  Ruhe 
und  das  streitlose  Gleichgewicht  des  Gemüths,  in  welcherri 
die  Evidenz  einer  Erkenntniß,  als  psychischer  Vorgang  be- 
.  trachtet,  zuletzt  besteht,  auch  durch  Vorstellungsverknüpfun^ 
gen  von  keineswegs  allgemeiner  Geltung  hervorgebracht 
werden.  Diese  falschen  Evidenzen  haben  wir  zugegeben 
und  die  logischen  Versuche  erwähnt,  durch  die  wir  uns 
von  ihnen  zu  befreien  suchen :  sie  laufen  alle  darauf  hinaus, 
daß  wir  durch  verschiedene  Formungen  Ausgangspunkte 
und  Fortschritte  unserer  Ueberlegung  von  einem  Subject  S, 
dem  wir  ein  Prädicat  P  zuschreiben  wollen,  alle  in  ihm 
selbst  nicht  enthaltenen,  wohl  aLer  in  unserem  Innern 
verstohlen  mitwirkenden  Nebenvorstellungen  x  sondern, 
die  uns  den  Schein  erweckon  könnten,  als  gehöre  dem  S 


592  Fünftes  Kapitel. 

allein  und  allgemein  ein  P,  das  nur  diesem  S  -f  x  zukommt. 
Die  bestimmte  Form  eines  Beweises  erlangen  diese  Uebor- 
legungen  nicht  immer;  daß  eine  gerade  Linie  ins  Unendliche 
verlängert  werden  könnte,  ist  zu  einfach,  als  daß  es  eine 
Erörterung  darüber  geben  könnte,  die  nicht  ganz  tautologisch 
auf  die  unmittelbare  Anschauung  zurückkäme;  für  andere 
Grundsätze  nehmen  die  Beweise  die  apagogische  Form 
einer  Zurückführung  auf  das  Absurde  an;  sie  leiten  dann 
nicht  die  Wahrheit  derselben  aus  der  vorangeltenden  eines 
ändern  Satzes  ab,  sondern  bestätigen  nur  die  Unmöglichkeit 
ihrer  Nichtanerkennung.  Wo  dies  nun  geschehen  und  ge- 
lungen ist,  da  sehen  wir  den  fraglichen  Satz  als  einen 
allgemeingültigen,  der  empirischen  Bestätigung  durch  die 
Wahrheit  seiner  Beispiele  nicht  bedürftigen,  vielmehr  ihnen 
gegenüber  a  priori  feststehenden  an;  wir  leugnen  die  Mög- 
lichkeit nicht,  daß  dieses  Vertrauen  der  Vernunft  in  einzel- 
nen Fällen  dennoch  täuschen  kann;  aber  die  günstige 
Präsumption  der  Wahrheit  eines  so  gefundenen  Satzes 
würden  wir  nicht  aufgeben,  nur  weil  das  Mißtrauen  mög- 
lich ist,  sondern  dann  erst,  wenn  entweder  die  Befolgung 
seiner  vorausgesetzten  Richtigkeit  in  Widersprüche  ver- 
wickelt, oder  weil  positiv  sich  die  Wahrheit  eines  andern 
Satzes  darthun  läßt,  aus  der  zugleich  die  Entstehung  der 
scheinbaren    Evidenz    des    falschen   begreifbar   wird. 

357.  Verschiedene  Punkte  bedürfen  hier  noch  der  Er- 
läuterung. Von  reiner  Anschauung  ist  in  der  Kantischen 
Schule  im  Gegensatz  zu  dem  Denken  so  gesprochen  worden, 
daß  mit  diesem  Ausdruck  sich  die  Vorstellung  eines  be- 
sondem  etwas  geheimnißvoll  bleibenden  Verfahrens  ver- 
knüpft hat,  durch  welches  der  erkennende  Geist  eine  Leistung 
vollziehe,  die  seinem  discursiven  Denken  unmöglich  sei. 
Die  Dunkelkeit,  die  dann  über  diesem  Gedanken  schwebt, 
rührt  davon  her,  daß  in  der  That  gerade  von  der  An- 
schauung nicht,  wohl  aber  von  dem  Denken  sich  eine 
aus  der  Verknüpfung  verschiedener  Einzelhandlungen  ent- 
stehende Verfahrungsweise  schildern  läßt;  die  Anschautmg 
verhält  sich  ihrem  Inhalt  gegenüber  wie  thatlose  Receptivität 
und  ihre  Leistung  geschieht  so  mit  einem  Schlage,  daß 
keine  Schritte  zu  unterscheiden  sind,  die  zu  einer  Be- 
schreibung Veranlassung  gäben.  Man  muß  dies  nicht  miß- 
verstehen. Wenn  geometrische  Anschauung  uns  lehrt,  daß 
zwei  Gerade,  wenn  sie  sich  schneiden,  nur  einen  Punkt 
gf^mein  haben  können,  so  findet  hierbei  ohne  Zweifel   ein 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  593 

Vorstellungsverlauf  als  psychischer  Vorgang  statt,  den  wir 
schildern  könnten,  wenn  er  uns  im  einzelnen  Falle  genau 
bekannt  wäre;  wir  könnten  angeben,  wie  wir  zuerst  jede 
der  geraden  Linien  für  sich  denken,  sie  dann  in  eine  Ebene 
rücken,  sie  aus  paralleler  Lage  convergiren  lassen,  jede 
bis  zu  dem  Schnittpunkt  und  darüber  hinaus  verfolgen; 
aber  das  alles  ist  nicht  die  geometrische  Anschauung  selbst ; 
bis  hierher  sind  nur  alle  die  zusammengehörigen  Be- 
ziehungspunkte ins  Bewußtsein  gebracht,  über  welche  jetzt 
die  Behauptung  der  Anschauung:  nur  ein  Punkt  könne 
beiden  Geraden  gemeinsam  sein,  wie  eine  einzige  plötzliche 
Offenbarung  erfolgt.  Auf  welche  Weise  dieser  letzte  Schritt 
vollbracht  wird,  das  unmittelbare  Innewerden  der  noth- 
wendigen  Wahrheit,  die  in  den  vollständig  vorhandenen 
Beziehungsgliedern  liegt,  darüber  ist  jetzt  gewiß,  für  mich 
nicht  minder  gewiß  in  aller  Zukunft,  jede  weitere  psycho- 
logische Analyse  unmöglich.  Nur  in  diesem  Sinne  völlig 
unmittelbarer  Erkenntniß  habe  ich  hier  den  Namen  der 
Anschauung  gebraucht  und  es  folgt  daraus  eine  weitere 
Bemerkung  über  die  Bedeutung  der  Apriorität,  die  wir  ihr 
zuschrieben.  Ich  habe  früher  erwähnt,  warum  Erkenntniß 
nicht  in  bloßer  Aufnahme  von  Eindrücken,  sondern  in 
einer  Rückwirkung  bestehen  muß,  deren  Form  von  der 
Natur  des  angeregten  Geistes  abhängt;  ich  habe  nicht  ver- 
hehlt, daß  ich  mit  Kant  darin  übereinstimme,  zu  diesen 
Rückwirkungen  die  räumliche  Anschauung  zu  rechnen,  sie 
also  für  a  priori  oder  angeboren  in  dem  Sinne  zu  halten, 
in  welchem  von  diesem  Namen  Gebrauch  gemacht  Werden 
kann;  für  die  gegenwärtige  Frage  aber  hat  diese  Ansicht 
dennoch  keine  Bedeutung.  Nicht  deswegen,  weil  die  Vor- 
stellung des  Raumes  uns  angeboren  ist,  sind  wir  im  Stande 
allgemeine  geometrische  Sätze  auszusprechen,  die  einmal 
gedacht  immer  gültig  sind;  wäre  es  nur  sonst  begteiflich, 
•wie  lediglich  durch  äußere  Eindrücke  die  Vorstellung  einer 
bestimmten  Verbindung  räumlicher  Beziehungspiinkfe  in  uns 
entstehen  könnte,  so  würde  ihr  gegenüber  jenes  unmittel- 
bare Innewerden  der  in  ihnen  liegenden  allgemeinen  Wahr- 
heit, die  Leistung  der  Anschauung,  nur  ebenso  aber  nicht 
mehr  unerklärlich  und  nicht  weniger  möglich  sein,  als 
wenn  dieselben  Beziehungspunkte  nur  durch  die  Mithülfe 
einer  angebornen  Rückwirkungsweise  in  unser  Bewußtsein 
gebracht  worden  wären.  Ich  überlasse  daher  die  Frage 
nach  der  Apriorität  in  dem  Sinne  des  Angeborenseins  und 
das,    was    hieraus    folgen   kann,    der   Metaphysik   und    be- 

Lotze,  Logik.  38 


594  Fünftes  Kapitel. 

schränke  den  Gebrauch  des  Namens  dahin,  daß  jene  Er- 
kenntnisse a  priori  sind,  weil  sie  nicht  durch  Induction 
oder  Summation  aus  ihren  einzelnen  Beispielen  entstehen, 
sondern  zuerst  allgemeingültig  gedacht  werden  und  so  als 
bestimmende    Regeln   diesen    Beispielen   vorangehen. 

358.  Und  hiermit  endlich  hängt  der  letzte  hier  zu  er- 
wähnende Punkt  zusammen.  Von  reinen  Anschauungen, 
als  einem  angeborenen  Besitz  des  Geistes,  ist  auch  in 
Ausdrucksweisen  gesprochen  worden,  aus  denen  als  natür- 
liche Consequenz  die  Annahme  hätte  fließen  müssen,  alle 
Wahrheit,  die  auf  einer  dieser  Anschauungen  beruhe,  sei 
gleichfalls  ein  Schatz  immer  gegenwärtiger  Erkenntniß,  mit 
dem  wir  der  Erfahrung,  um  sie  zu  beurtheilen,  entgegen- 
kommen. In  der  That  hat  schon  Locke  diese  Consequenz 
zur  Bestreitung  der  Lehre  von  den  angeborenen  Ideen 
benutzt;  daß  sie  aber  falsch  ist,  bedarf  nur  kurzer  Ueber- 
legung.  Wer  überhaupt  von  angeborenen  Erkenntnissen 
spricht,  rechnet  die  mathematischen  am  gewissesten  zu 
ihnen;  gleichwohl  haben  sie  alle  erst  entdeckt  werden 
müssen,  und  der  allen  angeborene  Besitz  der  Raum- 
anschauung war  nicht  gleichbedeutend  mit  dem  der  Geo- 
metrie. Entdeckt  aber  wurden  die  elementarsten  von  ihnen, 
sobald  die  Aufmerksamkeit  Veranlassung  erhielt,  von  den 
höchst  mannigfaltig  gezeichneten  Raumfiguren,  mit  denen 
uns  die  Wahrnehmungswelt  umgibt,  sich  auf  die  einfachsten 
Beziehungen  zu  richten,  die  in  ihnen  allen  enthalten  sind; 
dann  sprang  unvermittelt  die  evidente  Wahrheit  der  einzel- 
nen Grundsätze  als  selbstverständlich  hervor,  ganz  so  wie 
es  Platon's  vortreffliche  Darstellung  im  Menon  zeigt;  nur 
die  Berufung  auf  ein  Vorleben  war  überflüssig,  aus  dessen 
Erinnerung  diese  plötzlich  auftauchende  Einsicht  stamme, 
denn  auch  in  diesem  Vorleben  hätte  die  Ueberzeugung 
von  der  allgemeingültigen  Gewißheit  der  damals  in  all- 
gemeiner Gestalt  angeschauten  Wahrheiten  doch  nur 
durch  dasselbe  unmittelbare  Innewerden  entstehen  können, 
durch  welches  wir  sie  in  diesem  Leben  in  ihren  Einzel- 
beispielen wiedererkennen.  Noch  leichter  versteht  sich, 
warum  verwickeitere  mathematische  Relationen  auf  Ent- 
deckung warten  mußten  und  warum  noch  immer  ein  un- 
ermeßliches Gebiet  vor  uns  liegt,  in  welchem  neue  Ent- 
deckungen zu  machen  sind;  zur  Wissenschaft  werden  die 
Consequenzen  der  einfachen  mathematischen  Principien 
eben  erst  dadurch,  daß  sie  denkend  gezogen  werden;  dies 
aber  schließt  eine  höchst  umfängliche  immer  fortschreitende 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  595 

Arbeit   genauer   Definition   mannigfaltiger   Sonderung   und 
bestimmter  Verknüpfung  gemachter  Abstractionen  ein,  durch 
welche    erst    die    Subjecte    zweifellos    festgestellt    werden, 
von   denen  ein  vielleicht  nicht  minder  zusammengesetztes 
Prädicat    behauptet    werden    soll.      So    paradox    es    daher 
scheinen   mag,   wir   müssen   uns    der  falschen  Vorstellung 
entwöhnen,  als  läge  die  Welt  des  Selbstverständlichen  von 
selber  selbstverständlich  vor  uns  und  es  käme  nur  darauf 
an,    mit   dieser    bequem   besessenen   Wahrheit   die   wider- 
spenstige   Welt    der    Wahrnehmungen    zu    meistern;    auch 
das    Allgemeingültige,    zu    dessen   Einsicht   der   Geist   nur 
sich  selbst  bedarf,  muß  von  ihm  erst  aus  der  Unermeßlich- 
keit der  Vorstellungen,  die  sein  Bewußtsein  wirklich  füllen, 
aufgefunden  und  gesondert  werden.    Und  nicht  einmal  dies 
kann  man  allgemein  erwarten,  daß  auf  dem  Wege   dieser  . 
Besinnung  auf  sich  selbst  ihm  die  einfachsten  aller  seiner 
angeborenen  Wahrheiten,  die  höchsten  Grundsätze,  zuerst 
zum   Bewußtsein  kommen;   alle   thun   es  ja  nur   auf  Ver- 
anlassung   eines   bestimmten   Beispiels   oder   eines   Falles, 
den  Wahrnehmung  oder  Einbildungskraft  dem  Geiste  vor- 
führen, damit  er  über  ihn  Becht  spreche;  so  aber  können 
die  Wahrnehmungen  beschaffen  sein,  daß  sie  nie  den  reinen 
Fall  darbieten,  und  daß  sie  demgemäß  auch  die  Einbildungs- 
kraft  abhalten,    die   Vorstellung   des   reinen   Falles   auszu- 
bilden, über  den,  sobald  er  nur  dem  Bewußtsein  gegeben 
wäre,    der   Geist   unmittelbar   mit   der   in   ihm    erweckten 
Ueberzeugung  einer  allgemeinsten  grundsätzlichen  Wahrheit 
urtheilen  würde.   So  kann  daher  eine  sehr  schwere  Aufgabe 
der  Erkenntniß  darin  bestehen,  uns  durch  Hinwegräumung 
aller    der    Hindernisse,     welche    die    uns    aufgedrungene 
empirische    Verknüpfung   unserer    Vorstellungen    entgegen- 
stellt, zu  der  Einsicht  in  das  Selbstverständliche  erst  hin- 
durchzuringen. 

359.  Der  Mathematik,  die  am  leichtesten  die  Gegen- 
stände ihrer  Betrachtung  von  der  Natur  des  Bealen  sondern 
konnte,  an  dem  sie  zur  Wahrnehmung  kommen,  ist  es  im 
Ganzen  möglich  gewesen,  von  den  einfachsten  Wahrheiten 
zu  ihren  Folgen  fortzuschreiten,  nicht  ohne  daß  dennoch 
die  spätere  Einsicht  auch  den  früher  erkannten  Principien 
neue  und  umfassendere  Ausdrücke  gab.  Anders  ist  der 
Weg  der  Mechanik  gewesen,  die  unmittelbar  auf  das  wirk- 
liche Geschehen  eingehend  den  Wechselwirkungen  der  Dinge 
ihre  Gesetze  vorzuzeichnen  suchte.  Ich  brauche  diesen 
vielgetadelten    Ausdruck    Kant's,    um   die   Vorwürfe   gegen 

38* 


596  Fünftes  Kapitel. 

ihn  auf  ihr  richtiges  Maß  zurückzubringen.  Niemand  will 
ja  mit  ihm  gemeint  haben,  menschliche  Vernunft  könne 
mit  willkürlicher  Wahl  Gesetze  ersinnen,  denen  die  Natur 
zu  folgen  verpflichtet  sei;  wenn  aber  die  Vorstellung  einer 
Beziehung  zwischen  verschiedenen  Elementen  uns  gegeben 
ist,  einfach  genug,  um  jenen  reinen  Fall  darzustellen,  in 
welchem  die  eignen  Gesetze  der  Natur  ihre  einfachste  durch 
keine  Vielheit  mitwirkender  Nebenbedingungen  verhüllte 
Folge  hervorbringen:  warum  soll  dann  die  Vernunft,  zu 
dem  Ganzen  derselben  Welt  gehörend,  in  welcher  diese 
Wirkungen  geschehen,  nicht  unmittelbar  das  Ergebniß  inne 
werden  können,  das  aus  jener  Beziehung  entspringen  muß  ? 
Nicht  ihre  subjectiven  Gesetze  drängt  sie  dann  der  Natur 
auf,  sondern  sie  erräth  die  eigenen  dieser  und  stellt  sie  nun 
als  verbindliche  Regeln  dem  Gewirr  der  einzelnen  Vorgänge 
zu  deren  BeUrtheilung  und  Erklärung  voran.  In  diesem 
Sinne  ist  die  reine  Mechanik  eine  apriorische  Wissenschaft; 
viele  ihrer  Sätze  mag  immerhin  die  Erfahrung  zuerst  an- 
gedeutet und  das  Suchen  nach  ihnen  veranlaßt  haben; 
gefunden  und  in  die  genaue  Gestalt  eines  Gesetzes  sind 
sie  alle  gebracht  worden  nicht  auf  Zeugniß  wiederholter 
Wahrnehmungen,  sondern  durch  eine  Gedankenarbeit,  die 
in  einem  vorgestellten  reinen  Fall  mit  unmittelbarer  Klarheit 
das  Selbstverständliche  sah  und  verwickelte  Fälle  auf  ein- 
fache zurückzuführen  Mittel  fand.  Man  pflegt  dies  so  aus- 
zudrücken, daß  innerhalb  ihrer  selbst  die  Mechanik  eine 
vollständig  demonstrative  Wissenschaft  sei,  die  aus  selbst- 
gemachten Voraussetzungen  nothwendige  Folgen  mit  voll- 
kommener Schlußkraft  entwickle;  dafür  habe  sie,  der  Er- 
fahrung gegenüber,  nur  hypothetische  Gültigkeit,  unter  der 
Voraussetzung  nämlich,  es  gäbe  Wirklichkeiten,  die  sich 
genau  den  Begriffen  subsumiren  lassen,  aus  denen  sie  ihre 
Folget'ungen  gezogen  hatte.  Diese  Ausdrucksweise  gibt  un- 
berechtigten Zweifeln  an  der  Erfüllung  jener  Voraussetzung 
zu  viel  Raum  und  entspricht  auch  der  Sache  nicht.  Denn 
entstanden  ist  die  Mechanik  nicht  in  einem  nachsinnenden 
Bewußtsein,  das  vor  aller  Erfahrung  mit  Möglichkeiten  ge- 
spielt hätte,  sondern  unter  dem  unablässigen  Drucke  der 
Erfahrung,  die  Erklärung  verlangte;  die  abstracten  all- 
gemeinen Bedingungen,  aus  denen  wir  in  ihr  bestimmte 
Folgen  ableiten,  sind  nicht  problematische  Entwürfe 
von  Etwas,  was  sich  vielleicht  finden  könnte,  sondern 
Reductionen  des  assertorisch  Gegebenen  auf  seine  all- 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  597 

gemeingültige  Gestalt.  Nothwendig  aber  war  diese  Reduction 
um  der  einzigen  wirklichen  Voraussetzung  willen,  mit  der 
die  Mechanik  steht  und  fällt,  der  nämlich,  daß  überhaupt 
in  dem  Geschehen  gesetzliche  Ordnung  gilt.  Besteht  diese 
Annahme  einmal  zu  Recht,  und  wirken  in  dem  Verlauf 
der  Dinge  viele  Elemente  ABC...  zusammen,  jedes  von 
ihnen  in  verschiedenen  Formen  a  a^  a^ . . .  ß  ßi  ß^ . . .  endlich 
alle  in  veränderlichen  Beziehungen  M  N . . .,  deren  jede  die 
verschiedenen  Werthe  ja  |lii  . . .  vvi . .  .  annehmen  kann,  so 
muß  dann  jedes  Einzelereigniß  das  Gesammtergebniß  vieler 
Einzelgesetze  sein,  deren  jedes  nur  von  zwei  Elementen  A  B 
und  ihrer  Beziehung  M  handelt  und  die  Wirkung  W  be- 
stimmt, die  aus  diesen  Datis  folgt,  und  die  sich  in  w  w^ . . . 
ändert,  wenn  A  B  und  M  ihre  veränderlichen  Formen  oder 
Werthe  durchlaufen.  Vielleicht  gibt  die  Erfahrung  niemals 
ein  reines  Beispiel  eines  dieser  Einzelgesetze;  aber  es  wäre 
doch  Unverstand,  die  Mechanik  deswegen  zu  tadeln,  weil 
sie  zuerst  von  einer  Bewegung  spricht,  ohne  den  Widerstand 
zu  beachten,  der  doch  keiner  fehlt,  von  einer  gleichartigen 
Masse  ferner,  die  nirgends  aufzuweisen  ist,  von  einem 
völlig  starren  Körper  endlich,  statt  dessen  die  Wahrnehmung 
immer  nur  elastische  nachgiebige  mehr  oder  minder  harte 
zeigt.  Es  wird  Zeit  sein,  die  Einflüsse  dieser  Neben- 
bedingungen in  Betracht  ?u  ziehen,  sobald  die  allgemeinen 
Gesetze  bekannt  sind,  auf  deren  Folgen  sie  umgestaltend 
einwirken;  wenn  aber  auch  niemals  die  Theorie  der  wider- 
stehenden Mittel  der  specifischen  ^Eigenschaften  der  Materie 
und  ihrer  Molecularzustände  die  einfache  Klarheit  der 
übrigen  mechanischen  Lehren  erreichte,  so  würde  sicher 
eine  Naturbetrachtung  noch  weniger  Glück  haben,  die  nicht 
einmal  die  Gesetze  der  einfachen  und  reinen  Fälle  wüßte, 
von  denen  jeder  einzelne  unreine  um  eine  bestimmbare 
Differenz  abweicht.  Denn  es  ist  eben  keineswegs  bloße 
Bequemlichkeit  einer  ungenau  abkürzenden  Untersuchung, 
wenn  wir  von  der  ganzen  Eigenthümlichkeit  eines  concreten 
Falles  absehend  zunächst  das  Gesetz  eines  allgemeinen  und 
äbstracten  suchen;  jene  Voraussetzung  von  der  Gesetzlich- 
keit des  wirklichen  Geschehens  schließt  die  sachliche  Noth- 
wendigkeit  ein,  daß  die  Gesammtwirkung  vieler  Elemente 
aus  den  Einzelwirkungen  zusammengesetzt  sei,  die  je  zwei, 
in  bestimmter  Beziehung  zusammengefaßt,  für  sich  er- 
zeugen und  nach  einem  beständigen  Gesetz  mit  der 
Aenderung    dieser   Beziehung    ändern. 


598  Fünftes  Kapitel. 

360.  Den  mechanischen  Betrachtungen  hat  es  nun  der 
empirische  Inhalt  und  Verlauf  der  Wahrnehmungen  keines- 
wegs leicht  gemacht,  auch  nur  die  Vorstellungen  der  ein- 
fachen und  reinen  Fälle  zu  fassen,  über  welche  dann  eine 
unmittelbare  Anschauung  der  Wahrheit  ein  selbstverständ- 
liches und  allgemeingültiges  Urtheil  auszusprechen  gewußt 
hätte;  im  Gegentheil  hat  hier  die  Erfahrung  am  meisten 
ihre  früher  berührte  schädliche  Wirkung  geübt,  durch  be- 
ständige Vorführung  des  Besonderen  und  Bedingtgültigen 
von  der  Auffassung  des  Allgemeinen  und  Unbedingten  ab- 
zulenken. Das  ganze  Alterthum  ist  vergangen,  ohne  daß 
der  Begriff  der  Bewegung,  der  Mittelpunkt  aller  Mechanik, 
zu  der  Einfachheit  herausgearbeitet  worden  wäre,  in  welcher 
er  Gegenstand  unmittelbarer  Erkenntniß  werden  kann.  Drei 
große  Beispiele  hielt  die  Erfahrung  der  Einbildungskraft 
vor :  die  unablässige  Bewegung  der  Himmelskörper,  die  bald 
wieder  aufhörende  der  von  außen  angetriebenen  irdischen 
Massen,  die  von  innen  kommende  aber  ermüdende  Reg- 
samkeit der  lebendigen  Wesen;  von  den  widerstreitenden 
Nebenbestimmungen  dieser  Fälle  den  einfachen  Vorgang 
aller  Bewegung,  die  stetige  Veränderung  des  Ortes,  abzu- 
lösen wollte  nicht  gelingen;  es  blieb  bei  einer  Vermischung 
des  Phänomens  mit  vorausgesetzten  Ursachen,  die  dazu 
führte,  entweder  den  Lauf  der  Gestirne  als  göttliche  Be- 
wegung über  die  allgemeinen  Naturgesetze  erhöht  oder  die 
Bewegungen  der  irdischen  Körper  als  erzwungene  unter 
das  hinabgedrückt  zu  denken,  was  in  der  Natur  Rechtens 
wäre;  die  Analogie  der  Ermüdung  unserer  eigenen  Thätig- 
keit  trug  dazu  bei,  im  Ganzen  das  baldige  Erlöschen  jeder 
Bewegung  als  selbstverständlich,  ihre  ewige  Fortdauer  als 
göttliche  Ausnahme  anzusehen.  Eine  viel  spätere  Zeit  erst 
kam  dahin,  das,  was  jeder  Bewegung  wesentlich  ist,  ein- 
fach als  Verhältniß  von  Geschwindigkeit  Zeitdauer  und 
Raum  zu  fassen  und  mit  der  unscheinbaren  Formel  s  =  et 
die  Grundlage  einer  wissenschaftlichen  Bewegungslehre  zu 
schaffen.  Mit  ihr  trat  das  Gesetz  der ''Beharrung  von  selbst 
in  das  Bewußtsein;  denn  auch  wenn  die  Auffindung  dieses 
Gesetzes  aus  der  Verallgemeinerung  der  Versuchsergebnisse 
hervorging,  die  jede  Bewegung  um  so  länger  fortdauern 
zeigten,  je  mehr  alle  äußeren  Hindernisse  entfernt  wurden, 
so  zweifelt  doch  Niemand,  daß  das  einmal  aufgefundene 
der  Ausdruck  einer  spät  eingesehenen  Denknothwendigkeit 
ist.  Daß  es  Bewegung  gebe,  mußte  man  aus  Erfahrung 
lernen;  wenn  es  sie  aber  gibt  oder  geben  soll,  so  gehörte 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  599 

die  Voraussetzung  ihrer  Beharrung  dazu,  um  ihre  An- 
schauung auclj  nur  möglich  zu  machen  (247).  Aehnlichen 
Schwierigkeiten  unterlag  es,  den  Begriff  der  Masse  zu 
bilden.  Die  Körper,  mit  denen  wir  zu  hantieren  gewohnt 
sind,  feste  wie  flüssige,  folgten  dem  Zuge  der  Schwere, 
aber  Dämpfe  und  Feuer  stiegen  empor;  so  entstand  die 
Vorstellung  zweier  entgegengesetzten  Triebe,  die,  zu  der 
Natur  der  Körper  wesentlich  gehörend,  nach  zwei  Rich- 
tungen auseinandergingen,  Richtungen,  die  man  allerdings 
durch  qualitative  Verschiedenheit  der  Endpunkte,  zu  denen 
sie  führen,  gültig  hätte  unterscheiden  können,  aber  doch 
mit  unverständlichen  Gegensätzen  des  Oben  und  Unten 
eines  absoluten  Raumes  verwechselte.  Spät  erst,  nachdem 
die  Combination  erweiterter  Beobachtungen  die  Einseitig- 
keit der  ursprünglich  gegebenen  ausgeglichen  und  gezeigt 
hatte,  daß  weder  die  Richtung  noch  die  Intensität  der 
Schwere  überall  dieselbe  ist,  kam  die  natürliche  Vorstellung 
zur  Geltung,  daß  jede  neubeginnende  Bewegung  eine  Be- 
stimmung ihrer  Richtung  a  fronte  oder  a  tergo,  durch  An- 
ziehung oder  Abstoßung  in  gerader  Linie  bedarf,  daß  sie 
also  immer  aus  einer  Wechselwirkung  verschiedener  Ele- 
mente im  Räume  entspringt  und  daß  die  Größen  dieser 
Wirkung  von  den  Mengen  eines  gleichartigen  Realen  ab- 
hängen, die  in  jedem  dieser  Elemente  vereinigt  sind.  Auch 
die  so  entstandene  Vorstellung  der  Masse,  die  nur  auf 
die  Größe  des  Trägheitswiderstandes,  den  ein  Reales  im 
Raum  jeder  ihm  angesonnenen  Bewegung  entgegensetzt, 
sowie  auf  die  Größe  der  Kraft  Rücksicht  nimmt,  mit  der 
es  selbst  jede  von  ihm  ausgehende  Bewegung  zu  erzwingen 
sucht,  mag  neue  Fragen  anregen,  auf  welche  die  Philosophie 
zu  antworten  hätte;  sobald  indessen  ein  gesetzlicher  Ver- 
lauf von  Naturereignissen  da  ist  oder  da  sein  soll,  in 
^  welchem  jeder  einzelne  Vorgang  die  Bedingung  für  ein  be- 
stimmtes Maß  eines  auf  ihn  folgenden  sein  soll,  wird  man 
als  eine  selbstverständliche  Voraussetzung  hierzu  die  in 
dem  Begriff  der  Masse  ausgesprochene  Vergleichbarkeit  der 
realen  Elemente  in  Bezug  auf  die  Größe  aller  von  ihnen 
zu  erwartenden  Leistungen  leicht  erkennen.  Wie  groß  aber 
die  Macht  einseitiger  Beobachtung  über  unsere  Auffassungen 
ist,  beweist  der  Unglaube,  den  noch  jetzt  die  gewöhnliche 
Einbildungskraft  der  Möglichkeit  der  Antipoden  entgegen- 
setzt, und  die  Irrthümer  naturphilosophischer  Schulen,  für 
welche  zwar  nicht  mehr  die  ewige  Abwärtsbewegung  des 


600  Fünftes  Kapitel. 

Alterthums,  aber  doch  die  concentrisch  zusammendrängende 
Schwere  so  sehr  zu  dem  allgemeinen  Begriffe  des  Realen 
gehörte,  daß  die  Vorstellung  gewichtloser  Masse  ihr  stets 
ein  Widerspruch  schien.  Ich  muß  hier  abbrechen;  aber 
eine  Geschichte  der  Ausbildung  der  mechanischen  Vor- 
stellungen würde  eine  anregende  Aufgabe  darin  finden, 
nicht  immer  blos  zu  wiederholen,  wie  wir  lediglich  durch 
Verknüpfung  der  Erfahrungen  zur  Kenntniß  der  Naturgesetze 
gekommen  sind,  sondern  auch  hervorzuheben,  wie  zuerst 
die  Einseitigkeit  der  Erfahrungen  uns  eine  Menge  falscher 
Gedanken  aufgezwungen  und  uns  verhindert  hat,  selbst- 
verständliche Wahrheiten  früher  einzusehen. 

361.  Ueber  den  logischen  Charakter  der  einfachsten 
mechanischen  Grundsätze  bestehen  entgegengesetzte  Mei- 
nungen. Eben  weij  man  sie  zunächst  nicht  auf  die  wirk- 
lichen Körper,  sondern  auf  vorausgesetzte  Substrate  be- 
zieht, (leren  ganze  Natur  durch  unsere  Definition  derselben 
feststeht  glaubt  m^in  einerseits  sie  für  analytische  Urtheile 
ansehen  zu  müssen,  deren  Wahrheit  das  Gesetz  der  Iden- 
tität verbürge;  anderseits  hält  man  sie,  auch  in  jener 
abstr9,cten  Reinheit  gefaßt,  noch  immer  für  synthetisch 
und  deswegen  nur  für  probable  Hypothesen,  deren  Richtig- 
keit nur  durch  das  Zusammentreffen  mit  der  Erfahrung 
und  durch  die  allseitige  Uebereinstimmung  ihrer  Folgen 
untereinander  bestätigt  werde.  Ich  kann  über  diese  Frage 
nur  ebenso  urtheilen,  wie  über  die  verwandte  in  Bezug 
auf  Arithmetik  und  Geometrie,  muß  jedoch  mich  mit  einer 
kurzen  Andeutung  begnügen,  ohne  ihr  hier  die  wünschens- 
werthe  Ausdehnung  geben  zu  können.  Allgemein  könnte 
ich  mich  dahin  ausdrücken,  daß  die  beiden  Data  A  und  B, 
über  deren  Zusammenhang  ein  mechanischer  Satz  urtheilen 
soll,  uns  nicht  nur  einzeln  gegeben  sind,  sondern  daß  ihre 
Vorstellungen  nur  innerhalb  einer  gemeinsamen  Anschau- 
ung verständlich  sind  und  verstanden  werden,  durch  welche 
zugleich  die  Beziehung  zwischen  beiden  bestimmt  wird. 
Kehren  wir  zuerst  zu  einem  arithmetischen  Beispiel  zurück. 
Daß  3  a  —  3a  =  0,  wird  man  geneigt  sein,  unmittelbar  auf 
den  Satz  der  Identität  zurückzuführen;  gleichwohl  sagt 
dieser  für  sich  allein  doch  nur,  daß  3a=:3a  und 
—  3 a  =  —  3a,  endlich  3a  —  3a  =  3a  —  3a;  daß  diese  letzte 
Formel  =0  sei,  können  wir  nur  auf  Grund  der  sachlichen 
Anschauimg  behaupten,  es  gebe  zwei  ausführbare  Opera- 
tionen der  successiven  Hinzufügung  von  a  zu  a  und  der 
Abziehung   des  a  von  2  a,   die   einander  gerade  aufheben 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  601 

uiid  deren  gleich  oftmalige  Wiederholung  zur  Wiederver- 
nichtung  jeder  erzeugten  Größe  führe.  Denn  in  der  That 
bezeichnet  doch  in  -\-sl  —  a  das  Zeichen  —  nicht  blos 
einen  Gegensatz  zu  -\-,  sondern  zugleich  die  Art,  wie  dieser 
Gegensatz  wirksam  werden  kann  und  soll,  die  Subtraction; 
wüßte  man  von  der  Möglichkeit  dieser  Operation  nichts, 
oder  wäre  sie  nicht  ausführbar,  so  würde  man  aus  a  —  a 
die  Folg«  0  ebensowenig  erzeugen,  als  man  aus  der  bloßen 
Vereinigung  der  contradictorischen  Begriffe  Möglichkeit  und 
Unmöglichkeit  im  Denken  irgend  ein  Resultat  erzielen 
könnte;  gleichwohl  können  beide  auch,  als  Gegensätze, 
durch  a  und  —  a  bezeichnet  werden,  aber  dieses  —  läßt 
sich  nicht  durch  eine  Subtraction  deuten.  Man  sieht  da- 
her, daß  man  den  Satz  a  —  a  =  0  ebensowohl  für  identisch 
als  für  synthetisch  ansehen  kann.  Identisch  ist  er,  weil  er 
ja  f  a  1  s  c  h  sein  würde,  ?;venn  die  beiden  Seiten  der  Gleichung 
nicht  vollkommen  denselben  Inhalt  vorstellten;  daß  aber 
diese  Identität  stattfindet,  ist  durch  keine  blos  logische 
Zergliederung  des  a  des  — a  und  des  —  zu  ermitteln, 
sondern  lediglich  durch  die  unmittelbare  Anschauung  der 
Bedeutung,  welche  hier  dieses  —  haben  kann,  weil  es  auf 
Vermehrung  und  Verminderung  von  Größen  bezogen  ist; 
der  Satz  ist  mithin  eine  synthetische  Behauptung  der  Ideu- 
tität  zweier  formverschied^ner  Inhalte,  einer  Aufgabe  und 
ihrer  Lösung.  Ein  ähnliches  Beispiel  bietet  mechanisch 
die  Bestimmung  der  Resultante  zweier  Bewegungen,  die 
einen  Winkel  einschließen.  Ich  beschränke  mich  auf  An- 
führung der  Voraussetzung,  von  der  die  gewöhnlichen  Be- 
weisversuche beginnen,  nämlich  daß  die  Resultante  zweier 
gleichen  Bewegungen  den  Zwischenwinkel  halbire.  Man 
sieht  diesen  Satz  für  selbstverständlich  an  und  glaubt  in 
diesem  einfachsten  Falle  unmittelbare  Gewißheit  eines  Er- 
gebnisses zu  besitzen,  auf  welches  man  verwickeitere  Auf- 
gaben zurückzuführen  hätte,  und  gewiß  werden  auch  die 
Vorsichtigsten  in  ihm  nicht  blos  eine  probable  Hypothese 
sehen  wollen,  sondern  eine  Wahrheit,  die  nur  zu  einfach 
ist,  um  aus  einer  noch  einfacheren  bewiesen  werden  zu 
könneu.  Was  man  aber  zur  Erläuterung  noch  hinzuzufügen 
pflegt:  es  sei  kein  Grund  vorhanden,  warum  die  Resultante 
der  einen  Componente  näher  liegen  sollte  als  der  andern, 
kann  uns  dienen,  die  logische  Natur  des  Satzes  zu  verdeut- 
lichen. Denn  das  Fehlen  zweier  Gründe  für  zwei  andere 
Klassen  von  Richtungen  kann  an  sich  selbst  keinen  positive^ 


602  Fünftes  Kapitel. 

Grund  für  die  Nothwendigkeit  der  angenommenen  Richtung 
der  Resultante  vorstellen,  so  lange  man  nicht  den  Ge- 
danken schon  festhält,  irgend  eine  Richtung  müsse  noth- 
wendig  eingeschlagen  werden,  und  sie  könne  mit  keiner 
der  beiden  Componenten  zusammenfallen.  Dies  ist  es  nun 
eben,  was  man  aus  Anschauung  weiß;  eine  blos  logische 
Zergliederung  würde  nur  lehren:  unter  der  Bedingung  a 
bewegt  sich  das  Element  M  nach  der  Richtung  a,  unter 
der  Bedingung  b  nach  ß;  wirken  beide  Bedingungen  zu- 
gleich, so  kann  M  sich  weder  nach  a  noch  nach  ß  be- 
wegen, weil  bei  der  Wahl  jeder  von  beiden  Richtungen  die 
eine  Bedingung  wirkungslos  würde;  was  würde  also  ge- 
schehen? Da  beide  Bedingungen  gleichwerthig  gedacht 
sind,  so  müßte  entweder  sowohl  die  eine  als  die  andere 
wirkungslos  werden  und  M  in  Ruhe  bleiben,  oder  es  müßten 
beide  Bedingungen  zu  gleichem  Maße  befriedigt  werden 
und  unbefriedigt  bleiben,  falls  es  eine  Art  und  Weise 
gäbe,  wie  dies  geschehen  könnte.  Dies  ist  nun  die  Haupt- 
sache: daß  es  eine  solche  Art  und  Weise  gibt,  und  worin 
sie  besteht,  ist  durch  gar  kein  Mittel  des  Denkens  aus- 
findig zu  machen,  dagegen  liegt  es  ganz  offenbar  in  der 
Anschauung  des  Raumes  und  des  Zusammenhangs  der  in 
ihm  möglichen  Richtungen,  sowie  in  der  Anschauung  der 
Bewegung  vor;  hier  findet  man,  daß  M  beide  Bedingungen 
zugleich  voll  befriedigen  kann,  wenn  es  sich  so  bewegt, 
daß  es  am  Ende  der  Zeiteinheit  t  sich  an  dem  Endpunkt 
der  Diagonale  des  Parallelogramms  befindet,  an  den  es 
gekommen  wäre,  wenn  es  in  zwei  Zeiteinheiten  t  in  be- 
liebiger Reihenfolge  erst  den  Weg  a  oder  ß  ganz,  dann  den 
Weg  ß  oder  a  auch  ganz  zurückgelegt  hätte;  daß  endlich 
die  Bahn,  auf  der  es  an  diesen  Punkt  gelangt,  eben  diese 
Diagonale  selbst  ist,  folgt  dann  daraus,  daß  für  jeden 
kleinen  Zeittheil  dt  ganz  dieselbe  Betrachtung  gilt;  die 
Diagonale  ist  der  geometrische  Ort  aller  der  Orte,  an  welchen 
sich  M  nach  dt,  2  dt,  3  dt  u.  s.  f.  befinden  muß.  Auch 
dieser  mechanische  Satz  ist  mithin  ein  synthetisches  Ur- 
theil,  welches  die  Identität  einer  Aufgabe  mit  ihrer  Auf- 
lösung durch  unmittelbare  Anschauung  feststellt. 

362.  Ich  muß  mir  hieran  genügen  lassen  und  benutze 
nur  noch  in  anderer  Absicht  einen  Blick  auf  den  Fortgang 
der  Mechanik.  Während  ihre  Anfänge  durch  Einfachheit 
formelle  Beweise  unmöglich  machen,  werden  ihre  späteren 
Aufgaben  so  verwickelt,  daß  ihre  Auflösungen,  obgleich 
strenge   Consequenzen  jener   Grundlagen,   doch  wegen   der 


Die  apriorischen  WaJirheiten.  603 

Mannigfaltigkeit  der  im  Auge  zu  behaltenden  Beziehungs- 
punkte sehr  weitläufige  Umwege  der  Abstraction  und  Rech- 
nung nöthig  machen.  So  zweifellos  nun  auch  die  so  er- 
haltenen Resultate  sind,  so  hat  sich  doch  nirgends  so  leb- 
haft wie  in  dieser  strengen  Wissenschaft  das  Verlangen 
geregt,  die  gewonnenen  Ergebnisse  unabhängig  von  dem 
Gerüst  des  Calcüls  auf  einfache  Gedanken  zurückzuführen, 
die  der  Rechnung  nur  bedürfen,  um  auf  die  dem  Maße 
nach  bestimmten  Bedingungen  der  Einzelfälle  anwendbar 
zu  werden.  Ich  erinnere  nur  an  das  Gaußische  Princip 
des  kleinsten  Zwanges,  das  in  größter  Allgemeinheit  das 
Gesetz  aller  Bewegung  dahin  ausspricht:  ein  System 
materieller  wie  auch  immer  unter  einander  verbundener 
Punkte,  deren  Bewegungen  an  was  immer  für  äußere  Be- 
schränkungen gebunden  sind,  bewege  sich  in  jedem  Augen- 
blicke in  möglich  größter  Uebereinstimmung  mit  der  freien 
Bewegung  oder  unter  möglich  kleinstem  Zwange,  indem 
man  als  Maß  des  Zwanges,  den  das  ganze  System  in 
jedem  Zeittheilchen  leidet,  die  Summe  der  Producte  aus 
dem  Quadrate  der  Ablenkung  jedes  Punktes  von  seiner 
freien  Bewegung  in  seine  Masse  betrachtet.  Der  zweite 
Theil  dieses  Satzes  dient  dazu,  dem  allgemeinen  Gedanken, 
den  der  erste  ausspricht,  die  mathematische  Gestalt  zu 
geben,  durch  welche  für  jeden  Einzelfall  der  Sinn  dessen, 
was  er  fordert,  genau  bestimmt  und  auf  die  gegebenen 
Maßverhältnisse  anwendbar  gemacht  wird;  in  jenem  ersten 
aber  glauben  wir  nicht  blos  eine  thatsächlich  gültige  all- 
gemeine Regel,  sondern  die  eigentliche  ratio  legis  zu 
besitzen,  aus  welcher  alle  Einzelgesetze  der  verschiedenen 
Bewegungen  fließen.  Machen  wir  die  Anwendung  auf  den 
einfachsten  Fall  der  Resultante  zweier  Bewegungen,  so 
haben  wir  232  und  ff.  gesehen,  daß  man  sich  von  ver- 
schiedenen Ausgangspunkten  aus  über  sie  Gewißheit  ver- 
schaffen kann;  aber  die  so  versuchten  Beweise  dienen  mehr 
oder  weniger  nur  dazu,  uns  zum  Glauben  zu  zwingen; 
der  Gedanke  dagegen,  daß  die  Bewegung  in  der  Diagonale 
diejenige  ist,  durch  welche  beide  Bewegungsantriebe  voll- 
ständig befriedigt  werden,  und  von  beiden  nichts  verloren 
geht,  erscheint  uns,  sobald  wir  ihn  fassen  und  bestätigt 
finden,  als  ein  Entscheidungsgrund  von  ganz  anderem 
Werthe,  als  ein  Princip,  das  durch  seine  sinnvolle  Be- 
deutung den  unmittelbaren  Glauben  erweckt,  daß  wir  in 
ihm  nicht  blos  eine  der  Regeln  besitzen,  nach  denen  der 
Zusammenhang     der    Ereignisse     sich    betrachten    läßt. 


604  Fünftes  Kapitel. 

sondern  den  höchsten  Gesichtspunkt,  nach  dem  er  geordnet 
ist.  Ich  habe  ausdrücklich  hinzugefügt,  daß  wir  die  vor- 
gängige Bestätigung  eines  solchen  Satzes  voraussetzen 
müssen;  in  der  That,  so  überredend  die  Behauptung  sein 
würde,  der  Conflict  aller  Bewegungen  sei  so  geordnet,  daß 
in  dem  Endergebniß  nichts  von  dem  beabsichtigten  Effecte 
der  Componenten  verloren  gehe,  dennoch  würde  sie,  ohne 
jene  Bestätigung  ausgesprochen,  von  sehr  zweifelhafter 
Gültigkeit  sein;  sie  würde  einen  Grundsatz  vorstellen,  nach 
welchem  wir  vielleicht  die  Welt  oj:dnen  würden,  wenn  dies 
unsere  Aufgabe  sein  könnte,  und  vorausgesetzt,  daß  eine 
Möglichkeit  vorhanden  und  von  uns  aufgefunden  wäre, 
die  allgemeine  Forderung,  die  in  diesem  Grundsatze  liegt, 
wirklich  in  jedem  Einzelfalle  zu  erfüllen;  daß  aber  die 
Welt  des  Wirklichen  oder  auch  nur  die  des  Denkbaren  den 
Inhalt  die  Form  und  Fassung  und  den  Zusammenhang 
ihrer  Elemente  besitzt,  durch  den  es  möglich  wird,  ihre 
einzelnen  Vorgänge  oder  auch  nur  die  einzelnen  denknoth- 
wendigen  Gesetze,  die  wir  in  abstracter  Betrachtung  ge- 
funden haben,  unter  diesen  gemeinsaijaen  höchsten  Ge- 
sichtspunkt zu  vereinigen,  dies  lernen  wir  erst  am  End,e 
unseres  Weges.  Man  weiß,  wie  oft  in  der  Geschichte  der 
Mechanik  Versuche  gemacht  worden  sind,  das  Ganze  des 
physischen  Weltlaufs  an  solche  höchste  philosophische  Ge- 
setze* zu  binden;  von  der  beständigen  Summe  der  Be- 
wegungen in  dem  Weltall,  von  der  Unverlierbarkeit  der 
Kraft,  von  einem  Principe  der  kleinsten  Wirkung  und  der 
Sparsamkeit  ist  gesprochen  worden;  in  allen  diesen  Ver- 
su<;hen  lag  nicht  blos  Sehnsucht  nach  einem  selbstvei:- 
ständlichen  Grundgedanken,  aus  dem  die  mathematisch  be- 
stimmbaren Einzelgesetze  der  Ereignisse  flössen,  vielmehr 
auch  die  Richtung,  in  der  das  Ersehnte  zu  suchen  ist, 
verfehlten  sie  nicht  ganz;  aber  es  gelang  nicht,  scharf 
und  reift  die  Beziehungspunkte  ohne  Ueberfluß  und  Mangel 
festzustellen,  in  Bezug  auf  welche  ein  so  allgemeiner  Ge- 
danke sich  auch  ebenso  allgemeingültig  aussprechen  ließ. 
Inwieweit  jetzt  Fortschritte  hierin  geschehen  sind,  habe 
ich  nicht  zu  untersuchen ;  nur  die  Lebhaftigkeit  des  Ver- 
langens wollte  ich  hervorheben,  unsere  Untersuchungen 
durch  höchste  Principien  abschließen  zu  können,  welche 
in  der  Form  synthetischer  Urtheile  zwei  Beziehungs- 
glieder allgemeingültig  und  selbstverständlich  verknüpfen, 
die  durch  kein  Mittel  logischer  Beweisführung  als  analytisch 
oder  identisch  zusammengehörig  nachweisbar  sind. 

363.  Man  pflegt  sich  über  das  letzte  Ziel  der  Erkenntniß 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  605 

anders  auszudrücken;  man  verlangt  Zurückführung  aller 
synthetisch  erscheinenden  Verknüpfungen  auf  analytische, 
anstatt  deren  man  übrigen^  richtiger  identische  fordern 
würde;  man  glaubt  endlich  auf  dem  Wege  zur  Erfüllung 
dieser  Aufgabe  zu  sein.  Am  Anfange  unserer  Erkenntniß 
werde  ein  Begriff  S  zunächst  aus  den  wenigen  Merk- 
malen P  Q  R  gebildet,  die  man  verbunden  bereits  kennen 
gelernt  habe;  zeige  dann  neue  Erfahrung  mit  ihm  in  einein 
Einzelfalle  noch  ein  Merkmal  Z  verknüpft,  so  sei  de)c  Satz : 
S  ist  Z,  der  diese  Wahrnehmung  ausdrückt,  ein  syntheti- 
sches Urtheil;  bestätige  sich  jedoch  die  neue  Erfahrung  all- 
gemein, so  werde  Z  nun  mit  in  den  Begriff  S  aufgenommen 
und  der  Satz:  S  ist  Z  sei  nun,  mit  so  verändertem  S, 
analytisch  geworden;  eben  dahin  endlich  gehe  alle  An- 
strengung unserer  Erkenntniß,  anfänglich  so  synthetisch 
erscheinende  Verbindungen  auf  diese  analytische  Fotm, 
Zusanimensein  also  auf  Zusammengehörigkeit  zurückzu- 
führen. Der  Hergang  unseres  Erkennens  ist  hierdurch 
richtig  geschildert;  denn  leider  ist  zuzugestehen,  daß  es 
selten  weiter  als  bis  zu  diesem  Ziele  vordringt;  aber  be- 
merken muß  man  doch,  daß  die  zuletzt  gedachte  Absicht 
nur  in  sehr  bescheidenem  Maße  erreicht  wird;  in  dem 
Sinne  gar  nicht,  daß  der  frühere  Schein  eines  bloßen  Zu- 
sännnenseins  wirklich  der  Einsicht  in  eine  selbstverständ- 
liche Zusammengehörigkeit  wiche.  Hätten  wir  den  Begriff 
des  Körpers  zuerst  nur  aus  den  Merkmalen  der  Ausdehnung 
der  Undurchdringlichkeit  und  des  Trägheitswiderstandes  ge- 
bildet, aus  denen  die  Nothwendigkeit  gegenseitiger  An- 
ziehung nicht  folgt,  so  würde  der  Satz,  der  Körper  sei 
schwer,  ohne  Zweifel  synthetisch  gewesen  sein;  aber  er 
selbst  wird  auch  dann  nicht  zu  einem  analytischen,  wenn 
wir  die  allgemein  beobachtete  Gravitation  mit  in  den  Be- 
griff des  Körpers  aufnehmen;  nach  wie  vor  bleibt  diese  aus 
jenen  andern  Merkmalen  unableitbar,  mit  ihnen  also  doch 
ebenso  synthetisch  verbunden,  wie  in  dem  Urtheile,  das 
diese  Verbindung  zuerst  als  eine  bestehende  Thatsache 
aussprach.  Allerdings,  nachdem  wir  diese  synthetische 
Verknüpfung  aller  Merkmale  des  S  einmal  als  gegeben  be- 
trachten, können  wir  auf  sie  ein  analytisches  Verfahren 
anwenden  und  eines  derselben  nach  dem  andern  zum 
Gegenstand  gesonderter  Betrachtung  hervorheben;  aber  nur 
ein  Verzicht  auf  Erkenntniß  liegt  in  dieser  Anerkennung 
eines  nur  thatsächlich  allgemeinen  Zusammenseins,  dessen 
Zusammengehörigkeit  wir  nicht  begreifen ;  befriedigt  könnten 
wir  nur  sein,  wenn  die  Verknüpfung  je  zweier  Merkmale 


606  Fünftes  .Kapitel. 

von  S  uns  die  Nothwendigkeit  der  Gegenwart  je  eines 
dritten  verbürgte.  Solche  Beweise  können  wir  in  einiger 
Ausdehnung  führen,  und  überall,  wo  sie  gelingen,  be- 
zeichnen sie  einen  erreichten  Fortschritt  der  Erkenntniß; 
aber  es  ist  klar,  daß  sie  nicht  gelingen  können,  ohne  zu- 
letzt irgendwo  eine  Prämisse  von  der  Form  A  -j-  B  =  C 
vorauszusetzen,  d.  h.  eine  solche,  die  nicht  nach  dem 
nackten  Princip  der  Identität  Gleiches  einander  gleich  setzt, 
sondern  ohne  Möglichkeit  der  Zurückführung  auf  dieses 
Princip  die  Gleichheit  des  Verschiedenen  behauptet.  Die 
angebliche  Umwandlung  aller  synthetischen  Erkenntniß  in 
analytische  läuft  daher  in  der  That  doch  auf  die  Auf- 
suchung der  einfachsten  synthetischen  Wahrheiten  hinaus. 
364.  Dies  wird  man  nun,  wenn  auch  vielleicht  als  eine 
unnöthig  veränderte  Ausdrucks  weise,  zuletzt  doch  zuge- 
stehen; aber  man  wird  daran  die  Betrachtung  knüpfen, 
eben  diese  Nothwendigkeit,  synthetische  Verbindungen  als 
gegeben  zuzugestehen,  beweise  die  Unfähigkeit  der  Erkennt- 
niß, wirklich  zu  Ende  zu  kommen  und  die  Zusammen- 
gehörigkeit des  Zusammenseienden  einzusehen;  überall 
bleibe  ein  Rest  des  Thatsächlichen,  dessen  innerer  Zu- 
sammenhang unverständlich  sei  und  nur  durch  die  Er- 
fahrung verbürgt  werde.  Ich  kann  dieser  Meinung  nicht 
beipflichten,  die  Verständniß  nur  da  erreicht  zu  haben 
glaubt,  wo  sie  Gleiches  einander  gleichsetzen  kann.  Denn 
daß  nun  A  =  A  sei,  worauf  beruht  es  denn,  daß  wir  diesen 
Satz  unbeanstandet  als  eine  verständliche  Wahrheit 
betrachten,  wenn  nicht  auf  der  unmittelbaren  Evidenz,  mit 
welcher  er  sich  uns  aufdrängt  und  keine  weitere  Vermitt- 
lung seiner  Gewißheit  wünschenswerth  macht?  Wie  es 
aber  zugehe,  wie  es  gemacht  werde  oder  aus  welchem  in- 
wendigen Zusammenhange  es  folge,  daß  A  sich  selbst  gleich 
sei,  wissen  wir  weder,  noch  wird  Jemand  glauben,  daß 
eine  solche  Frage  überhaupt  noch  Sinn  habe.  Wenn  nun 
mit  gleicher  Evidenz  sich  uns  ein  einfachster  synthetischer 
Satz  von  der  Form  A  +  B  =  C  darbietet,  warum  soll  hier 
diese  Frage  aufgeworfen  werden,  die  dort  ohne  Bedeutung 
war?  und  warum  soll  diese  Gleichung  erst  mit  Hülfe  irgend 
einer  Vermittlung  gelten,  die  uns  zeigte,  w  i  e  C  dem  A  +  B 
gleich  sein  könnte,  da  es  doch  vorhin  als  hinreichend 
zum  Verständniß  galt,  zu  wissen,  daß  A  =  A  sei?  Ich 
will  nicht  weiter  wiederholen,  daß  in  unserem  Denken 
keine  solche  Vermittlung  von  dem  bloßen  Satz  der  Identität, 
daß  jede  vielmehr  von  einem  analogen  Satze  A^  +  B^^C^ 


Die  apriorischen  Wahrheiten.  607 

beginnen  müßte;  denn  hiermit  würde  ich  freilich  der  Klage 
über  die  Unvollkommenheit  der  Erkenntniß  nicht  begegnen, 
die  zu  keinem  selbstverständlichen  höchsten  Princip  ge- 
langen könne;  wie  aber  verhält  es  sich  damit,  daß  wir 
irgend  eine  synthetische  Verknüpfung  dieser  Art  als  ge- 
geben, als  gültig  und  nur  für  unser  Verständniß  un- 
durchdringlich ansehen  sollen?  Wollen  wir  annehmen, 
daß  thatsächlich  in  der  Wirklichkeit  M  und  N  immer  ver- 
bunden sind,  ohne  doch  einander  etwas  anzugehen?  Wenn 
aber  zugleich  dies  unmöglich  ist,  zugleich  auch  unmöglich, 
daß  aus  einem  identischen  A  Unterschiede  M  und  N  ent- 
springen, was  bleibt  dann  übrig,  als  der  Gedanke,  daß  es 
sachlich  ursprüngliche  Zusammengehörigkeiten  des  Ver- 
schiedenen gibt,  ursprüngliche  Synthesen,  deren  Beziehungs- 
glieder durch  keine  Zwischenvermittlung  zusammenhängen, 
welche  ihre  Vereinigung  als  noch  so  entfernte  Folgen  des 
Identitätsgesetzes  erscheinen  ließe,  und  die  dennoch  un- 
mittelbar zusammengehören?  Wenn  nun  dies  im  Sein 
sich  so  verhalten  muß,  wie  könnte  das  Erkennen  ge- 
nöthigt  sein,  sich  die  Gewißheit  und  das  Verständniß  eines 
Zusammenhanges  durch  eine  weitere  Vermittlung  zu  ver- 
schaffen, die  in  dem  Zusammenhange  selbst  nicht  vorhanden 
ist?  Gewiß  kann  es  daher  letzte  und  einfachste  synthe- 
tische Wahrheiten  geben,  die,  rein  aufgefaßt,  nicht 
blos  thatsächlich  gelten,  sondern  auch  selbstverständlich, 
deren  Evidenz  aber,  wenn  man  alles  Logische  auf  den  Satz 
der  Identität  gründen  will,  nicht  mehr  eine  logische,  sondern 
eher  eine  ästhetische  zu  nennen  ist,  und  demgemäß 
nicht  an  der  Denkunmöglichkeit,  sondern  an  der  evidenten 
Absurdität  ihres  contradictorischen  Gegen theils  ihren 
Prüfstein  hat.  Zu  diesen  Wahrheiten  gehören  die  ein- 
fachsten mechanischen  Grundsätze;  daß  wir  sie  und  alle 
ihres  Gleichen  nicht  als  die  frühesten,  stets  besessenen 
Bestandtheile  unserer  Erkenntniß,  sondern  als  die  müh- 
sam zu  erringenden  Endergebnisse  derselben  betrachten,, 
ist  zu  deutlich  schon  oben  ausgesprochen  worden,  um  hier 
wiederholt  werden  zu  müssen. 

365.  Von  einzelnen  Untersuchungen  ausgehend  finden 
wir  zuerst  einzelne  solche  Wahrheiten,  jede  für  ^sich  evident 
und  der  Anlehnung  an  andere  unbedürftig;  nichts  hindert 
jedoch,  sie  alle,  als  zu  derselben  Welt  gehörig,  unter  ein- 
ander in  Verbindung  zu  bringen  und  für  sie  einen  höchsten 
vereinigenden   Gesichtspunkt  ebenso   zu   suchen,   wie   jede 


608  Fünftes  Kapitel. 

von  ihnen  für  einen  Kreis  zusammengehöriger  Thatsachen 
ihn  darbot.  Es  kann  sein,  daß  dann  manche  dieser  Wahr- 
heiten ihren  selbständigen  Werth  verliert,  und  in  der  That 
noch  durch  logische  Mittel  als  Sonderfall  einer  allgemeineren 
nachweisbar  wird,  zu  deren  Ausdruck  man  Begriffe  von 
hinlänglich  umfassender  Höhe  der  Abstraction  gefunden 
hat;  es  ist  ebenso  möglich  und  wahrscheinlicher,  daß  die 
vielen  sich  als  zusammengehörige  Elemente  in  die  Ein- 
heit eines  Grundgedankens  nur  mit  derselben  Evidenz 
ästhetischer  Gerechtigkeit  einordnen  lassen,  mit  welcher 
jede  einzelne  die  Bestandtheile  ihrer  Aussage  logisch  un- 
beweisbar zusammenfaßte.  Diese  Aufgabe  synthetischer 
und  dennoch  nothwendiger  Entwicklung  synthetischer  Wahr- 
heiten aus  einem  höchsten  Princip  ist  vielleicht  schon  in 
noch  unbestimmter  Ahnung  die  Aufgabe  Platonischer 
Dialektik  gewesen;  mit  Recht  kann  man  sie  für  das  Ziel 
halten,  dem  Hegel's  Erneuerung  dieser  antiken  Be- 
strebung galt.  Ueber  diese  Versuche,  welche  Deutschland 
einst  begeisterten,  ist  die  Gegenwart  sehr  nüchtern  zur 
Tagesordnung  übergegangen,  zu  der  unablässigen  empiri- 
schen Forschung,  deren  Unvollkommenheit  den  gewagten 
Flug  dieses  Idealismus  lähmte;  auch  hatte  er  darin  ohne 
Zweifel  Unrecht,  für  vollendet  und  vollendbar  anzusehen, 
was  wir  nur  als  das  letzte  Ziel  einer  der  Vollendung  sich 
nähernden  Erkenntniß  betrachten  können.  Aber  im  An- 
gesicht der  allgemeinen  Vergötterung,  die  man  jetzt  der 
Erfahrung  um  so  wohlfeiler  und  sicherer  erweist,  je  weniger 
es  noch  Jemanden  gibt,  der  ihre  Wichtigkeit  und  Unent- 
behrlichkeit  nicht  begriffe,  im  Angesicht  dieser  Thatsache 
will  ich  wenigstens  mit  dem  Bekenntniß,  daß  ich  eben 
jene  vielgeschmähte  Form  der  speculativen  Anschauung 
für  das  höchste  und  nicht  schlechthin  unerreichbare  Ziel 
der  Wissenschait  halte,  und  mit  der  Hoffnung  schließen, 
daß  mit  mehr  Maß  und  Zurückhaltung,  aber  mit  gleicher 
Begeisterung  sich  doch  die  deutsche  Philosophie  zu  dem 
Versuche  immer  wiedererheben  werde,  den  Weltlauf  zu 
verstehen  und  ihn  nicht  blos  zu  berechnen. 


Namenverzeichnis. 

Die  Zahlen  bedeuten  die  Seiten. 


Akademie  517. 

d'Alembert  XXIX,  310. 

Alte  Logik  269. 

die  Alten  528,  600. 

Ambrosi,  L.  CIL 

Antike  Skepsis  485-487,  499-504, 
538  vgl.  auch  Skepsis  des  Alter- 
tums. 

Archimedes  287. 

Aristoteles  CXIII,  CXVII,  CXXI, 
50,  52f.,  61,  73f.,  108 f.,  US- 
US, 120f.,  125—127,  136,234f., 
238,  268 f.,  277 f.,  287,  335 f., 
338,  348,  477,  517f.,  520f.,  560. 

Augustinus  526. 

Beneke  XVI. 

Bergson  XXXI. 

Bemoulli,  Jacob  284. 

Bolzano  XVI  f  ,  XXIV,  LXVI. 

Boole  256,  258,  2G 1—266. 

Brentano  XVI f.,  LI,  LXIIL 

Cartesius,  s    Desoartes. 

Chalybäus  XIX,  XX. 

Comte  LIX,  LXI. 

Condillac  544. 

Copernikus  400. 

Darwin  232. 

DescartesLXXX,  XCVIIIf.,  488f., 
526—529. 

Destutt  de  Tracy  LH. 

Deutsche  Bewegung  IX f.,  XV, 
XVIII,  XXIV,  LIV,  LXVI, 
LXVII.  LXXII,  LXXVIII,  XC. 

Deutsche  Philosophie  536,  544, 581. 

Deutsche  Systeme  XX. 

Dilthey  XIX,  CIL 

Driesch,  H    CIL 

Drobisch  XIX. 

Droysen  XLL 

Dühring  XXX. 
Lotze,  Logik. 


Eleaten  XL  VI  506. 
Englische  Logik,  neuere  268. 
Englische  Moralisten  LXVI. 
Englischer  Skepticismus  581  f. 
Epimenides  349. 
Euathlus  352. 
Eucken  XIX,  CIL 
Euklid  196. 

Falkenberg  XIX,  XCII. 
Fechner   IX,    XII  f.,    LI,   LXVI, 

LXXXIL 
Fichte  XXIII,  XXXVII,  XLIII, 

XL  VII,  XCIII. 
Frege  CIL 
Fries  XXIV,  LXXIX. 

Galenus,  Claudius  109,  113. 
Galilei  LXXX. 
Gauß  458,  603, 
Goethe  LIV. 
Goklenius  120. 

Hartenstein  XIX. 

Hartmann,  Ed.  v.  XXL 

Hegel  XlXf.,  XXX,  XXXVIIf., 
LlXf.,  LXVII,  LXXI,  LXXX, 
XCIII,  XCVI,  52,  184,  243f., 
249,  519,  608. 

Schule  Hegels  45. 

Helmholtz  LH. 

Heraklit  und  seine  Schule  505 — 
507,  514. 

Herbart  Xf.,  XVIII f.,  XXII f., 
XXXI,  XXXVII,  XL,  XLII, 
LXII,  LXXV,  LXXXII,  89. 

Herbarts  Schule  XVIII,  Herbart- 
schüler XVI. 

Humboldt  XLL 

Hume  581  f. 

Husserl  XI,  XVIf.,  XXX, 
LXXIX,  CIL 

39 


610 


Namenverzeichnis. 


lonier  235. 
James  LXVIII. 
Jean  Paul  350. 
Jevons  267. 

Kant  XI,  XIV.  XVII,  XVIIIf, 
XXIII.  XXV,  XXVI,  XXX, 
XXXVf.,  XLIIIf.,  LXXIVf, 
LXXXIVf..  LXXXVI, 

LXXXIX,  C,  cm  f.,  CXII.  59, 
61,  74,  78,  81  f.,  222,  251  f., 
528.  532,  536,  581,  585  f.,  5931, 
596  f. 

Kantbewesung  L,  LH,  LXII. 

Kantische  Schule  592. 

Kepler  392. 

Kritizismus  XXXV. 

Külpe  L. 

Lagrange  XXIX. 

Laplace  LXXXVI,  444. 

Lask  XVI,  CIL 

Leibnitz      XX,     XXIII,     XXX, 

251  -  253. 
Liebmann  LH,  CIL 
Linne  156. 

Locke  CHI  f.,  CXII,  544,  594. 
Lotze  243. 

Maine  de   Biron  LIL 
MarJy  XVIL 
Meinong  XVII,  XXIX. 
Müller,  Johannes  XIV. 
Münchhausen  350. 

Natorp  XXXV. 
Keuere  Puilosophie  544. 
Neokritiz'smus  XXVI,  XXXV. 
Newton  374—376. 
Nohl  IX,  XXIV. 
Nominalismui  5ö9f. 

Paulsen  L. 

Plat<.n  XIX  f.,  XXVIII,  XXXII, 
LXXIVf.,  LXXX,  54,  73,  li<5, 
211.  £08f.,  513—523.  573, 
594,  608. 


Porphyrius  53. 

Positivismus  LVIIIf. 

Pragmatismus  LXVIII. 

Protagoras  352,  506,  515. 

Prihoni^ky  XXIV. 

Pynhon  501. 

Pythagoras  233—239.  243,  297  f. 

Realismus  559f. 
Rehmke  XXXIII. 
Rehnisch  95. 
Rickert  CIL 
Riehl  XVI. 

Schelling  XIX,  XXII,  XXXIV, 
XLIII,  XLVII,  XCVI. 

Schleiermacher  LXX. 

Schopenhauer  LIL 

Schröder  256,  265—267. 

Servius  TuUius  464. 

Sextus  Empiricus  499—502. 

Sigwart  XIX,  L,  LXIII,  LXXXIV. 

Skeptische  Schulen  485. 

Skepsis  des  Altertums  122,  vgl. 
Antike  Skepsis. 

Sokrates  195,  211,  506. 

Sophisten  215,  224,  338,  468,  506. 

Spinoza  XL  VI. 

Steinlhal  CIL 

Stoa  227. 

Stumpf  XIV,  XVII,  LXXIV,  CIL 

Taylor  329. 
Teichmüler  LXXI. 
Trendelenburg  XIX,  XXVIU,  470. 
Twardowski  CIL 

Völkerpsychologen  XXIII. 

Weber  XII. 

Weißs  XVII,  XlXf.,  XXV. 

Windelband  XVI,  XIX,  XXXIX, 

XLIII,  LXIII,  CIL 
Wolf  XXVIIL 
Wundt  XVI,  LL 

Zeno  347. 


Sachregister. 


A. 

Abhärtung,  §263,  3—4. 

Absicht,  §134  A.  als  Neben- 
voi  Stellung  des  Zwecks;  §  139 
A.  des  BegriÜs. 

absolut,  §233  Proportionen  ent- 
scheiden nichts  über  absolute 
Gröl'en,  z.  B.  §  176  in  der  musi- 
kal  sehen  Skala  gibt  es  ke  nen 
absolu  eu  Anfangspunkt. 

Abstimmungen,  §289ff. 

Abstraktion,  §23f  Die  A.  im 
alten  Sinne  fand  das  begrifi  liehe 
AUgeme  ne  dui  ch  bloße  Weg- 
lassung der  besonderen  Me  k- 
male,  Lotze  will  ihre  Ei  Set- 
zung durch  Allgeme  nmeikmale; 
§  lööff.  A.  als  M  ttel  gegen  die 
Vieldeutigkeit  eines  Wortes. 

absurd,  §200  Unterschied  von  a. 
und  undenkba  ;  §212  Definition 
von  a.;  §  3()4  Absurdität  des 
cont  adi(  to  ischen  Gegentheils 
als  Prüfs  ein  der  ästhetischen 
Evidenz  letz  er  Wahrheiten. 

Accidens,  §53  A  ist  e.n  meta- 
phys  scher  Begriff. 

Adjektiv,  §§  4,  5,  19  Unter- 
sc  iied  des  log  sehen  Sinns  des 
Adjektivs  von  der  metaphysi- 
schen Hedeiung  der  Eigen- 
schaft; §24  Merkmale  als  adjek- 
tivische Bezeichnungen  von 
Vit  altung  weisen;  §166  Defini- 
tion ad  ektiv. scher  Inhalte. 

Adverb  en,  §  7  A.  als  solche 
haben  keinen  eigenen  logischen 
Werth. 

Aehnlichkeit,  §215  Ae.  als  Mi- 
schung von  Gleichheit  in  einer 


und  Ungleichheit  in  einer  andern 
Rücksicht;  §§  16,  30  Aehnliche 
Einzelfälle  nur  als  quantitative 
Abstufungen  eines  Gemeinsamen 
denkbar;  §  17  innere  Erfahrung 
führt  zu  Ae.  §  121  Ae.  des  Zu- 
sammenhangs  zusammengesetz- 
ter Vors  Cilungen  wird  durch 
psych.  Mechanismus  in  Erinne- 
rung reproduziert;  §  171  Durch 
Hinweis  auf  die  Ae.  der  Ent- 
stehungs-  und  Begründungs- 
weise d  sparater  Inhalte  wird 
ihre  Un  vergleich  bar  keit  nicht 
widerlegt. 

aesthetisch,  §7  ae.  Phantasie 
in  der  Sprache;  §  133  ae.  An- 
schauungsweise; §  137  Wider- 
streit in  der  ae.  Würdigung 
der  Erscheinungen:  Typus  und 
Ideal;  §  147  ae.  Abneigung  ge- 
gen die  bloß  erkläiende  Theorie; 
Forderung  der  Aesthetik,  daß 
die  Untersätze  unserer  Welt- 
betrachtung keine  bloß  hypothe- 
tische Form  der  Möglichkeit, 
sondern  assertorisch  jeden  ein- 
getretenen Fall  in  der  Gesanlt- 
reihe  des  Wirklichen  auf ze  gen; 
§  178  Moral  und  Aesthetik; 
§  272  bloß  aesthetischer  Grund, 
daß  die  Einfachheit  der  innere 
Charakter  der  Wahrheit  sei; 
§  279  Personificationen  von  ab- 
strakten Eigenschaften  ae.  un- 
befriedigend; §  364  ae.  Evidenz 
der  ursprünglichsten  Wahr- 
heiten. 

affirmativ,  §  40  a.  Urtheils- 
qualität. 

39* 


612 


Sachregister. 


Akt,  S.  CXIII  psychologischer 
Akt. 

Algorithmus,  S.  260  Forderung 
eines  allgemeinen  math.  Alg. 

Allgemeine,  §  12  Verallgemeine- 
rung des  sinnlich  empfundenen 
Inhalts  in  der  Sprache;  §  13 
Diese  Verallg.  ist  jedoch  keine 
Verfälschung,  soudern  denkt 
auf  eine  tatsächliche  Einrich- 
tung der  Welt  des  Vorstell- 
baren hin:  erstes  Allgemei- 
nes; §§  14,  19  Das  erste  A. 
ist  kein  Erzeugnis  des  Denkens, 
sondern  Ausdruck  einer  inneren 
Erfahrung;  es  wird:  §  15  nicht 
empfunden  im  Sinne  einer  an- 
schaulichen Vorstellung,  s.  auch 
§173;  §23f.  Das  zweite  All- 
gemeine: Der  Begriff;  §24 
Die  Allgemeinen  Merkmale  sind 
immer  als  erste  Allgemeinheiten 
die  Bausteine  des  Begriffs;  §26  f. 
Allgemeinbild  u.  Begriff  (ebenso 
§254);  §30  Höhere  Allgemein- 
heiten; §  31  als  Bedinsungscom- 
plexe;  §  30  Möglichkeit  der  Ver- 
anschaulichung des  A.;  §39 
Allg.  Urtheilsquantität;  §  66 
Möglichkeit  der  Bildung  von 
Allgemeinbegriffen  nicht  denk- 
nothwendig,  sondern  tatsächlich 
gegeben;  §67  Das  Besondere  u. 
das  A.;  §  122  Unterschied  von 
Allgemeinbegriffen  (als  durch- 
dringenden Bildungsgesetzen  für 
das  Einzelne)  und  bloßen  All- 
gemeinheiten, welche  sonst  ün- 
.  ähnliches  unter  eine  Minderheit 
gleicher  Bestandtheile  unter- 
ordnen: §  131  Gefüge  des  all- 
gemeinen Gattungsbegriffes,  als 
Mehrheit  von  Beziehungspunk- 
ten, an  deren  jedem  je  eine 
Gruppe  einfacher  Merkmale  ver- 
einigt ist;  §  140  Reizung  der 
AUgemeinbegriffe  zur  Erzeugung 
der  Arten;  §  173  Fühlbarkeit 
eines  (ersten)  Allgemeinen;  §  190 


Unterschied  des  Allgemeinen  (als 
Bildungsgesetz)  vom  Ganzen  (als 
der  Summe  aller  möglichen  Bei- 
spiele); §251  a.  Sätze  aus  Wahr- 
nehmungen; §  339  Das  A. 
schwebt  auch  im  Denken  immer 
nur  als  eine  angestrebte,  nie  voll- 
zogene Vorstellung  über  den  an- 
schaulichen Bildern  seiner  Ein- 
zelbeispiele; §341  f.  Hyposta- 
sierung  des  Allgemeinen. 

ambitos,  §  25. 

Analogie,  §  103f.  Schluß  durch 
A.;  §  111  Analogieen  der  Er- 
fahrung; §  116  Zusammenge- 
hörigkeit aller  einander  be- 
stimmender Merkmale  eines 
Begriffs  als  Grundgedanke  der 
A.;  §  167  Analogieen  bei  descrip- 
tiven  Definitionen;  §  214  A. 
als  erfinderische  Gedanken  be- 
wegung;  §216f.  Schlüsse  nach 
strenger  A.  als  mathematische 
Verfahrungs weise;  §217  Diese 
Analogieen  führen  auf  Propor- 
tionen zurück,  beruhen  auf 
Subsumption  und  dienen  nur 
dazu,  das  richtige  Ergebnis  zu 
errathen,  nicht  zu  beweisen; 
§  255f.  unvollständige  A.;  §274 
A.  in  Naturwissenschaft. 

analytisch,  §56  Rechtfertigung 
des  a.  Urtheils  vor  dem  Identi- 
tätsgesetz; §  99  Wenn  der  Ober- 
satz eines  Schlüsse  sein  a.  Urtheil 
ist,  so  ist  die  log.  Leistung  des 
Schlusses  unmöglich;  §§  297  f., 
361  f. 

anders  sein,  §  192f. 

angeborene  Wahrheiten,  §  192; 
§  303  a.  denknoth  wendige  Ideen- 
fülle bei  Descartes  (s.  auch 
S.  XCIX);  §  355  f.  a.  Erkennt- 
nisse; §  357  Apriorität  der  all- 
gemeinen Grundgesetze  im  Sinne 
des  Angeborenseins  ist  Frage 
der  Metaphysik;  §  358  a.  Er- 
kenntnisse als  Besitz  des  Geistes 
gibt  es  nicht. 


Sachregister. 


613 


Anschauung,  §20Synthesis  der 
A.  durch  räumh'che  u.  zeitliche 
Ordnung  ist  gegeben  im  Mecha- 
nismus der  inneren  Zustände 
ohne  Denken;  §24  unmittelbare 
A.  des  ersten  Allgemeinen;  §  133 
unsere  Anschauungsweise  ist 
nicht  geometrisch,  sondern  ästhe- 
tisuh;  §  158  A.  u.  Geometrie; 
§  172  Raum  als  ursprüngliche 
A.;  §§353f.,  357 f.,  reine  A. 

An  sich,  §192  A.  s.  sein;  §303 
Die  Annahme  eines  „An  sich"  als 
Vorurtheil  des  Skeptizismus. 

Anwendung,  Ausführung, 
§  102 f.  reine  Bedeutung  einer 
logischen  Form  darf  nicht  mit 
Schwierigkeit  wirksamer  An- 
wendung verwechselt  werden, 
die  Schwierigkeit  der  Ausfüh- 
rung ändert  die  allgemeine  log. 
Gültigkeit  nicht;  §  222  Ausfuhr- 
barkeit  einer  log.  Vorschrift 
als  Aufgabe  der  Angewandten 
Logik. 

apagogisch,  §§204,  234. 

apodiktisch,  §41  f.;  §43  Die 
gewöhnliche  a.  Modalität  be- 
hauptet nur  die  Nothwendig- 
keit,  ohne  ihre  formalen  Be- 
dingungen anzugeben;  geschieht 
dies,  so  ergeben  sich  3  Formen 
apodiktischer  Modalität:  gene- 
relle, hypothetische  und  dis- 
junktive. 

A  posteriori,  §  56. 

Apprehension,    §20    Synthesis 

>  der  Apprehension  durch  Ein- 
heit der  Seele  und  Mechanismus 
der  Erinnerung. 

Apriori,  §§  56,  252,  322  ff, 
Apriorismus;  §  326  f.  Die  ein- 
fachen sinnlichen  Empfindungen 
als  apriorische  Möglichkeit  des 
Empfindens,  ausgedehnte  Aprio- 
rität;  §  329  Allgemeinheit  und 
Noth wendigkeit  als  Eigenschaf- 
ten apriorischer  Erkenntnis ; 
§  346  ff.  Die  apriorischen  Wahr- 


heiten; §  353  reine  oder  aprio- 
rische Anschauung  der  Zahl- 
größen; §  357  Apriorität  im 
Sinne  des  Angeborenseins  ist 
metaphysische  Frage. 

Arithmetik,  §58  arithmetische 
Sätze  sind  nicht  synthetisch; 
§  172  Raum  als  ursprüngliche, 
aus  arithmetischen  Beziehungen 
nicht  ableitbare  Anschauung; 
§  186  arithmetische  Mystik;  §  187 
Antike  A.  S.  262  Logik  bedarf 
nicht  arithmetischer  Hilfsmittel; 
§  353  arithmetische  Sätze  sind 
inhaltlich  identisch  und  formal 
synthetisch;  Wahrh-  it  arithme- 
tischer Gedankenverknüpfung 
ist  nicht  allein  durch  das  nackte 
logische  Prinzip,  sondern  auch 
durch  Anschauung  der  Größe 
verbürgt. 

Art,  §§25,  29f.  A.  und  Gattung; 
§  131  Veränderungen  des  Wertes 
der  Merkmale  und  ihrer  Be- 
ziehungen lassen  aus  dem  Gat- 
tungsbegriff die  A.  entspringen. 
Die  logisch  vollkommenste  A. 
ist  die,  für  welche  die  Summe 
der  Abstände  vor  dem  nächst- 
verwandten Gattungsbegriffen 
ein  Größtes  wird  (s.§133);  §132 
Die  Arten  einer  Gattung  können 
durch  Größenänderungen  sich 
allmählich  dem  Bildungsgesetz 
einer  andern  Gattung  so  nähern, 
daß  es  Grenzglieder  geben  kann; 
§  133  Typische  A.  als  logisch 
vollendete  ist  die,  deren  Einzel- 
merkmale die  höchsten  Werte 
haben;  §  134  bestimmender 
Grund  für  Bildung  der  Arten 
liegt  nicht  im  Gattungstypus, 
sondern  in  den  Übergangsbe- 
ziehungen der  Gattungen  unter- 
einander; §  135  Höhe  der  Arten; 
§  142  Die  allgemeinen  Gesetze 
des  Zusammenhangs  der  Merk- 
male bestimmen  die  Bildung 
der  Arten;  §§  144.  149  f. 


6U 


Sachregister. 


Artikel,  §§  3,  19  Logischer  Sinn 
des  bestimmten  A. 

assertorisch,  ii§41f.,  44f.,  49, 
68,   147  assertorische  Modalität. 

Assoziation,  §52  Verknüpfung 
yon  Subjekt  und  Prädikat  im 
kategorischen  Urteil  ist  keine 
bloße  A. 

Atom,  §277  A.  als  Tatsache. 

Aufmerksamkeit,  §§  22.  254 
A.  wird  durch  Gesetze  unseres 
Yorstellungsverlaufs  ohne  log. 
Zutun  gelenkt:  unwillkürl.  A,; 
I  121  vergleichende  und  aus- 
wählende A.;  §  131  logische  A.; 
§  157  nachdenkende  A.  bei  ab- 
sichtlicher Abstraktion. 

Aussage,  §  52  Urteil  als  A. 

Axiome,  §  200  unbeweisbare  A. 


B. 

Bedeutung,  §263  Sinn  und  Be- 
deutung; §3341  reale  u.  formale 
B.  d.  Logischen. 

Begriff,  §8  Lehre  vom  B.  geht 
der  Lehre  vom  Urteil  voraus 
(s.  a.  §  139.);  §§  20 ff.,  120f. 
Bildung  des  Begriffs;  §  21  voll- 
kommene  u.  unvollkommene  Be- 
griffe; §  25  Definition  des  Be- 
griffs; §25  Reciprocitätsgesetz 
(widerlegt  in  §  31);  §26  singulare 
Begriffe;  §  27  Unterschied  des 
metafihysischen  xmd  logischen 
Begriffs;  §  28  Symbol  für  den 
ßau  des  Begriffs  ist  die  math. 

j  Funktion  (ebenso  §  HO  f.);  §  33 
Stammbegriffe  als  Bedeutungen 
der  Redeteile  (s.  a.  §  158); 
§  52  Ewige  Allgemeinbegriffe 
Piatos;  §§  103f.,  110  Inhalt 
des  Begriffs;  §110  Umgestaltung 
der  Begriffe;  §§  117  f.,  §  129 
konstitutiver  oder  gesetzgeben- 
der B.;  §  122  Der  psychische 
Mechanismus  begünstigt  die 
Bildung  wirklich  gesetzgebender 
Begriffe;     §  124    Klassifikation 


der  Begriffe;  §  131  Bildung  der 
Arten  aus  dem  Allgemein  begriffe; 
§  139  B.  setzt  Verhältnisse  seiner 
Merkmale  voraus,  deren  Sinn 
erst  im  Urteil  klar  wird;  §  139 
Der  B.  hängt  in  der  Bildung 
seiner  Arten  nicht  nur  von  sich 
selbst,  sondern  auch  von  einer 
andern,  dieVerwirkliohung  seiner 
Absicht  möglich  machenden 
Macht  (auch  §  143);  §  141  reine 
Begriffe,  Emanation  der  Welt 
aus  einem  Urbegriffe;  §  157  Be- 
griffe als  Aufgab;  n;  §  158  Die 
einfachsten  Begriffe  nur  durch 
abstrahierende  Aufzeiguns:  an 
Beispielen,  nicht  durch  oonstru- 
ierende  Zusammensetzung  find- 
bar; §  168  Vorstell  uns?  und  B., 
sokratische  Begriffsklärung; 
§  169  ff.  Begrenz,  der  Begriffe; 
§171  Begriffe  alsBilduno:sregeln; 
§  179  entgegengesetzte  Begriffe; 
§  181  f.  Zwischenbegriffe;  §  183 
Transformation  der  Begriffe; 
§  184  ff.  Bezeichnung  der  Begriffe; 
§  195  dialektische  Selbstauf« 
hebung  der  Begriffe;  §  196  B. 
und  Zahl;  §  202  Reclitfertigung 
der  Begriffe;  §233  Mängel  der  all- 
gemeinen Begriffsbildung;  §  254 
Allgemeinbegriff  und  Allgemein- 
bild. 

Bejahung,  §168;   S.  262;  §316. 

Beobachtung,  §  253  gereinigte 
B.  §§253  ff.,  264,  288. 

Beschaffenheit,  §33. 

Beschreibung,  §  159  B.  u.  De- 
finition; §  167  Methodisch  ge- 
regelte B.  als  descriptive  De- 
finition. 

Bestehen,  §§  19,  167.  240,  316, 
B.  ist  ein  metaphysischer  Be- 
griff. 

Bestimmung. §  134  BegriffdetB. 

Bestimmtheit,  s.  Gewißheit. 

Bewegung,  mechanisch:  §§28, 
73,  220  ff.,  247,  249  (Zeno).  273. 
360f.;  logisch:  §§  336,  339  Denk- 


Sachregister. 


615 


b«wegungen;  §334  Denken  als 
Bewegung  der  Seele ;  metaphy- 
sisch: §§  149,  321  {vXr}):  §  313 
Beständige  Bewegung  als  Mög- 
lichkeit sbedingung  alles  natür- 
lichen Seins. 

Beweis.  §  199ff.;  §  202  Recht- 
fertiarung  der  Begriffe  muß  dem 
Beweise  vorangehen ;  §§204—213 
Formen  der  Beweise;  §§  214, 
215  Schlüsse  nach  Analogie  sind 
keine  Beweise;  §§  216,  217 
Schlüsse  nach  strenger  Analogie 
in  der  Mathematik  sind  auch 
keine  eigentlichen  Beweise; 
§218  ff.  Beweisführung  und  Er- 
findung; §  234  Nebenbeweise; 
§2401.  Beweisfehler. 

Bewußtsein,  §§  13,  257.  327 
logisches  B.;  §§  I,  III,  20,  158, 
323  B.  im  bloß  psychol.  Sinne. 

Beziehung,  §§24,  35 ff.,  56,  158, 
167,  338  f. 

Bild,  §  22  zusammengesetztes 
Bild;  §23  allgemeines  B.;  §§  254 
140  Gattungsbilder. 

Bitte,  §  44. 


C. 

Calcül,  log.  §196f.,  S.  260f. 

Causalgesetz,  §248  obj.:  Gel- 
tung des  Causalgesetzes. 

Causalzusamraenhang,  §213f. 

Charakteristik,  §  196  allg.  Ch. 
der  Begriffe. 

Chemie,  §§117,  172,  197. 

Cirkel,  §§24,  98,  158,  163,  228, 
241,  286,  306,  322,  332,  S.  CXI. 

Classifikation,  §§119,  124ff.; 
§  125  künstliche  oder  combina- 
toriFche  C;  §§  257,  129  C.  als 
logisches  Ideal;  §  131  Verschie- 
denartigkeit der  Beispiele  einer 
Idee  als  treibenden  Nebenge- 
danken einer  natürlichen  C; 
§134 f.  Aufgaben  natürlichere.; 
§  136f.  Unterschied  d.  natürl. 
u.  künstl.  C;  §  142  entwickelnde 


C,  Originalität  der  Merkmale 
als  Hindernis  der  C. ;  §  145  f. 
C.  und  erklärende  Theorie. 

collectiver  Beweis  §209. 

Combination  von  Merkmalen, 
§  103  u.  a. 

Con junktionen,  §  7  log.  Sinn 
d.  C. 

con8titutiverBegriff(s.  Begriff), 
§  129  Schluß  aus  constitutiven 
Gleichungen. 

Construktion.  §  156  C.  als 
Mittel,  die  Werte  eindeutig  zu 
machen;  §  139  C.  nur  in  Math, 
genau  anwendbar,  für  andere 
Gegenstände  wird  C.  zu  Be- 
schreibung abgeschwächt;  §  202 
C.als  Rechtfertigung  der  Begriffe. 

conträr,  §§71,  78. 

contradictorisch,  §§71,  72  c. 
sind  nie  Begriffe,  nur  Urteile; 
§§  77,  200  Undenkbarkeit  des 
contradictorischen  Gegenteils  als 
Probe   auf   wahrhafte  Evidenz. 

Contraposition,  §§82,   163. 

Coordination,  §§25,  27,  131 
Merkmale  sind  nicht  coordiniert, 
sondern  determinieren  sich  ge- 
genseitig. 

Copula,  §§  35ff.,  §  48,  §  60ff. 
logischer  Sinn  der  Copula;  §  345 
wirklicher  Sachverhalt,  der  der 
logischen  C.  entspricht. 

oopulativ,  §§69,  95. 

Cyclus,  §  191  Entwickelung  der 
Welt  in  dialektischen  Cyclen; 
§  192  triadischer  C.  des  Absoluten. 


Dasein,  §3  D.  ist  kein  logischer 
Begriff. 

Deduktion,  §  204  deduktive 
Beweisform. 

Definition,  §§119,  154ff.,  160 
D.  von  Begriffen  als  Vereinigung 
von  Construktion  und  Beschrei- 
bung; §  160  Wert  der  D.;  §  161 
Formen  derD.;  §162  Nominal- 


616 


Sachregister. 


und  Realdefinition  (§202);  §  163 
Definitionsfehler;  §  104  f.  For- 
derung der  Eleganz  und  Kürze 
bei  Definitionen;  §  166  D.  adjek- 
tivischer und  verbaler  Inhalte; 
§  167  descriptive  und  genetivi- 
sche D.;  §  168  Verwandlung  von 
iflaren  Vorstellungen  in  deutliche 
d.  h.  von  bloßen  Vorstellungen 
in  Begriffe  als  eigentliche  Aufg. 
der  D.;  §  176  D.  durch  Angabe 
der  Ursache  {Tonempfindungen) 
und  durch  beobachtbare  andere 
Erfolge  der  unbekannten  Ur- 
sache (Wärmeempfindungen). 

descriptiv,   §  167 d.    Definition. 

Denken  (Aufgabe  des  Denkens, 
das  Zusammensein  in  Zusammen- 
gehören zu  verwandeln  siehe 
„Zusammengehörig");  §§III,IV, 
19,  52,  334  D.  als  rückwirkende 
Tätigkeit;  §§  VI,  VII,  19  D.  als 
Rechtfertigung  der  Vorstellungs- 
verbindungen durch  beziehende 
Rechtsgründe  und  Nebenge- 
danken; §  VII  verkürztes  D.; 
§§  VIII,  IX,  334  ff.  reale  und 
formale  Geltung  des  Denkens; 
§§  Iff.,  4,  19  f.  erste  Leistung 
des  Denkens;  §§  6.  129  D.  und 
Sprache  (s.  auch  Sprache); 
§§  9,  19  Unterschied  der  ersten 
und  zweiten  Denkhandlung  be- 
züglich ihrer  Abhängigkeit  von 
der  Natur  des  Inhalts;  §§  19, 
62,  200,  241,  329  Denknotwen- 
digkeit; §§  13,  27,  30,  40,  101, 
104,  108,  S.  268,  S.  269  natür- 
liches  D.;  S.  57,  §§  50,  56,  59 f., 
69,  S.  108,  §§  102,  104,  105f., 
113,  116,  139,  S.  186  f.:  Der 
Mangel  einer  Denkhandlung  als 
weitertreibendes  Prinzip  einer 
höheren  Denkhandlung;  §  36 
Urteil  als  Denkhandlung;  §  54 
Identitatsgesetz  als  erstes  Denk- 
geaetz;  §58  D.  stellt  den  gleichen 
Inhalt  unter  verschiedenen  For- 
men vor;§62ff.zweitesDenkgesetz 


ist  das  Gesetz  vom  zureichenden 
Grunde.  Das  erste  Denkgesetz 
hat  notwendige,  das  zweite 
Denkgesetz  tatsächlicheGeltung; 
§  65  Welt  des  Denkbaren  als 
innere  Erfahrung  fügt  sich  dem 
zweiten  Denkgesetz;  §  71  drittes 
Denkgesetg:  disjunktives  Denk- 
gesetz; §  97  ff.  Schluß  als  Form 
der  Denkhandlung;  §  102  Unter- 
schied des  inneren  Zusammen- 
hangs des  Denkinhaltes  (logisch) 
von  der  Gedankenarbeit  (psy- 
chologisch); §  104  Denkinhalt 
und  Denkform  (S.  C  bei  Kant); 
§§  121  f.,  §  140  Wahrnehmung 
und  D.;  §  131  lebendiges  D.; 
§  149  höchste  Denkform;  §  151 
Denkformen  als  Ideale;  §  176 
D.  bedarf  eines  willkürlichen 
Ausgangspunktes  für  die  imma- 
nente Ordnung  der  Sachen; 
§  200  Unterschied  von  undenk- 
bar und  absurd;  §  255  reines  D. ; 
§§  106,  255  wirkliches  D.;  §305 
Inhalt  der  Wahrheit  durch 
Selbstbesinnung  des  Denkens; 
§§  334,  336  discursives  D.;  §  336 
Denkbewegung;  §  342 f.  subjek- 
tive Denkbewegungen  selbst 
haben  keine  reale  Bedeutung, 
aber  ihr  Ergebnis  kann  sachlich 
sein;  §  345  Scheidung  von  log. 
Denkhaltung  (subj.)  von  dem 
Gedanken  (obj.).  Denkinhalte 
haben  sachliche  Bedeutung; 
S.  XCV  Geistiges  Leben  ist  mehr 
als  Denken. 

Determination,  §§  28,  103, 
109,  116,  126,  139,  142,  S.  257  f. 
gegenseitige   D.   der  Merkmale. 

dialektische  Methode,  §§  150, 
191  ff.— 196,  321,  333,  365. 

Diaphora,   §32. 

Differentiae  specificae,  §  32. 

Differential,  §  228f.  Massen- 
differentiai;  §  263  Differential- 
quotient in  math.  Ausdrücken 
natürlicher  Wirkimgsfofmen. 


Sachregister. 


617 


Dilemmen,  §  95  Schlüsse  mit 
disjunktiven  Obersätzen;  §250f. 
D.  als  Gedankenverknüpfungen 
aus  denen  entgegengesetzte 
Folgen  gleich  notwendig  und 
gleich  unmöglich  fließen. 

Dingbegriff,  metaphysischer, 
§§  5,  521,  61,  115,  188,  195, 
260,  310  (das  relationslose  Ding 
an  sich  ist  unsagbar),  316;  §311 
AUes  Erkennen  kann  Dinge  nur 
vorstellen,  nicht  sein;  §  312 
Erscheinung  und  Wesen  der 
D.;  §  314  Ideen  als  Präd.  der 
Dinge. 

Discursives  Denken,  §§150,  334. 

disjunktiv,  §§  38,  42f.,  69fif. 
disj.  Urteil;  §  71  Disj.  Denk- 
gesetz; §  97  log.  Wahrheit  des 
disj.  Urteils;  §  244  Dem  doktri- 
nären Idealismus  tut  Beachtung 
des  disj.  Denkgesetzes  not;  §  248 
unvollständige  Disjunktion. 

disparate  Merkmale,  §§  73,  108, 
115;  §§171,  218Disparatheitder 
sinnlichen  Empfindungen. 

Dreieck,  das  allgemeine,  §  257. 

Dritten,  Satz  vom  ausgeschlos- 
senen (s.  Principien  excl.  latii). 


Eidos,  §§  30,  317. 

Eigenname,  §§  26,  87. 

Eigenschaft,  §§  5,  52,  53,  166, 
345  E.  als  metaphysischer  Begriff. 

Eindruck,  §§  1,  13,  133,  254 
(Wahrnehmung  u.  E.),  267. 

Einfachheit,  §  272. 

eingeboren,  §  324  e.  Ideen. 

Einheit,  log.  E.  §§  10,  21,  101, 
148,  S.  262,  §  314;  math.  E. 
§§  113,  174,  S.  259,  S.  262, 
§§  233,  263;  metaphys.  E.  §§  150, 
191  f.,  201,  S.  XCV;  psycholog. 
E.  §§  20,  173,  327;  §§  158,  201 
Vieldeutigkeit  des  Wortes  E. 

Elimination,  S.  263f.,  §§  260, 
293. 


Emanation  des  Weltinhalts  aus 
einem  höchsten  Begrifife  §§  139, 
141. 

Empfinden,  §  2  Entstehung  der 
E.  E.  und  Empfindbares;  §  11 
unmittelbare  Empfindung;  §  15 
Das  erste  Allgemeine  kann  nicht 
empfunden  werden,  empfunden 
wird  immer  nur  eine  bestimmte 
Einzelschattierung;  §  16  Größen- 
bestimmung erlebt  empfunden; 
§  24  unmittelbar  empfundenes 
Gremeinsames;  §  171  Begrenzung 
der  einfachen  Inhalte  sinnlicher 
Empfindung;  §  173  Empfundener 
Inhalt  und  Empfindungsakt; 
§  315  E.  hören  nicht  auf,  wirk- 
lich zu  sein,  wenn  man  äußere, 
ihnen  unähnliche  Entstehungs- 
ursachen für  sie  entdeckt;  §  326 
Einfache  innerliche  Empfindun- 
gen und  die  a  priori  uns  mög- 
lichen Eigentümlichkeiten  des 
Empfindens. 

Empirie,  Empirismus,  §§  65, 
322 flf.,  328,  346f.,  S.  GVL 

Endlich,  §  195. 

Entstehung,  Entwickelung,  §  18 
psychologische  E.  des  Denkens, 
ebenso  §§47,  50,  130;  §§  141, 
149  f.  Entwickelung  der  Welt 
(metaphysisch),  ebenso  §  191; 
§  167  genetische  Definition  unter- 
sucht E.  der  Vorstellungen; 
§  183  Darwins  Entwickelungs- 
lehre;  §  191  ff.  Schematische 
Entwickelung  des  Weltinhalts; 
S.  262  Entwickelung  bei  Boole; 
§  333  die  logischen  Rückwir- 
kungen sind  nach  ihrer  psycho- 
logischen E.  als  psychische  Vor- 
gänge noch  völlig  unbegreiflich. 

Erfahrung,  §§  14,  16,  19,  43. 
47,  56,  65,  100,  101,  103,  113, 
126,  145,  162,  174,  193,  262, 
253,  256,  326,  328  f.,  330,  331, 
349  f. 

Erfindung,  Entdeckung, 
§§64,   199,  209,  218. 


«id 


Sachregister. 


Erfüllung,  §  192  Für  sich  sein 
als  E.  der  Möglichkeit  durch 
das  Werden  (s.  a.  §  138). 

Erkenntnis,  §  XIII;  §20  Syn- 
thasi.s  der  E.;  §§2I,  43  Formen 
nothwendiger  E. ;  §  65  Erweite- 
rung der  E.;  §§  102,  103;  §112 
Mangel  der  E.;  §  115  Propor- 
tion als  Grenze  der  E.;  §  126 
Fortschritt  der  sachl.  E.;  §  145 
erfahrungsmäßige  E.;  §146  mo- 
derne Erkenntniskunst;  §§  151, 
206,  363  Ziel  der  E.;  §§  241, 
252,  267,  297,  314,  322  ff.  Ur- 
Sprung  der  E. ;  §  303  Bedeutung 
der  sittlichen  Wahrheit  für  die 
E.;  §306,  303  Inhalt  der  E.; 
§325  ff.  apriorische  und  aposte- 
riorische Elemente  der  E. ;  §  329 
Nicht  alle  allgemeine  E.  kann 
durch  Erfahrung  gewonnen  wer- 
den; §§  314,  355  f.  unmittelbare 
E.;  XCIXPrincip  der  E.;  CHI, 
CIX,  Kritik  der  E.;  CXVI 
Methode  der  E. 

Erkenntnistheorie,  §  138  E. 
u.  Logik;  §§309  f.,  322  E.  u. 
Metaphysik;  §CIX  E.  u.  Psycho- 
logie. 

erklären,  §§206,  247. 

errathen,  §§217,  260,  269,  273. 

Ethik,  §244. 

Etwas,  §33  das  E.  als  Stamm- 
begriff; §59. 

Etymologie,  §§  183,  196. 

Evidenz,  s.  Gewißheit. 

Existentialsatz,  §49. 

Experiment:  keine  neue  Me- 
thode, sondern  nur  Vorberei- 
tungsmittel zur  Beobachtung 
§260  ff. 


F. 

fallacia,  §242ff. 

Farbe,  §28  F.  als  erstes  Allge- 
meines; §§  14,  15  F.  als  logische 
Aufgaben;  §§24,   173. 

Fiktion,  §273. 


Folgerungen,   unmittelbare 
S.  101  ff. 

formal  (s.  Geltung,  real),  §§  193, 
334  ff.,  345. 

Formung,  §§  Iff.,   19, 

Fragesatz,  §§40,  44  F.  als  Aus- 
druck  des  bloßen,  von  Bejahung 
und  Verneinung  freien  Inhalts. 

Für  sich,  §  192. 

Funktion,  §§  28,  110  math.  F. 
als  Symbol  für  den  logischen  Be- 
griff; §  188  Jede  Zahl  ist  eine 
F.  der  anderen  Zahlen;  §§  197. 
238  math.  F.;  S.  262f.  logische 
Entwicklung  der  math.  F. 


G. 

Ganzheit,  §§21,  27  G.  als  un- 
bestimmter  Nebengedanke  bei 
werdenden  Begriffen. 

Geschehen,  §§5,  94,  316  G.  als 
metaphysischer  Begriff;  §  135 
die  natürliche  Classification  er- 
streckt sich  auch  auf  das  G.; 
§  268  projiziertes  scheinbares  G. 
ist  ebenso  gesetzmäßig  als  das 
projizierende  wirkliche. 

Gattungsbegriff,  §§25,  29f., 
30  (G.  ist  nicht  anschaulich); 
§§33,  49,  68,  80ff.,  100,  106, 
131  f.,  134  (Gattungstypus); 
§§  135,  140. 

Gedanke,  §§  1,  102  innere  Glie- 
derung des  Denkinhalts  und 
der  Gedankenarbeit;  §§  129, 
130,  345  f. 

gegeben,  §  306  Vorstellungen  als 
unmittelbar  gegeben. 

Gegenstand,  §§  XIII,  20f.,  27, 
61,  118,  129,  148,  301,  309, 
Gegensatz  von  Vorstellung  und 
G.  ist  metaphysisch. 

Gefühl,  §§111,  128,  155, 161,  285. 

Gelehrsamkeit,  §  163  Vorzug 
der  G. 

Geltung,  §§43,  65,  99,  123,  148, 
300,  316  Begriff  des  Gelten« 
leugnet    die    Wirklichkeit    des 


Sachregister. 


619 


Seins  und  behauptet  die  Unab- 
hängigkeit von  unserem  Den- 
ken; §  64. 

Gemeinsames,  §§  12f.,  16,  22, 
24,   121. 

Gemeinte,  das  §§  36,  42,  54, 
57,  63,  85,   105,   152,   159,  168, 

.  175, 180, 192;  S.  265,  §266,  316f., 
336,  338,  345. 

generelles Urtheil,  §§431,  68flf., 
102. 

genetisch,  §  167  genetische  De- 
finition ;  §  322  genetische  Be- 
trachtungsweise zur  Prüfung 
der  Wahrhei  en  unserer  Er- 
kenntnis ist  nur  in  speziellen 
Fällen,  nicht  aber  bei  Prüfung 
unserer  Erkenntnis  im  Ganzen 
möglich. 

Genes,  §30. 

genus  proximum,  §  160. 

Geometrie,  §§14,  20,  117,  118, 
158,  162,  179,  202,  206,  297,  354. 

Gesammtwille,  §  289f. 

Geschichte,  §§  141,  278,  284. 

Geschmack,  §  128,   173. 

Geschwindigkeit,  §249. 

Gesetz,  §1  G.  unseres  Seelen- 
lebens; §  19  G.  des  Denkens; 
§  22  G.  unseres  Vorstellungs- 
verlaufs.; §§54.ff.,  62 ff.,  71  ff. 
Denkgesetze;  §  112  G.  der  Ge- 
sellschaft; §  115  G.  gibt  Zu- 
sammenhang der  Dinge,  ohne 
sie  in  einem  dritten  zu  ver- 
schmelzen; §§117f.,  121ff.,  129, 
134,  142,  238  Begriff  als  Bil- 
dungsgesetz; §  148  Geltung  der 
Gesetze;  §  152  Gesetzliche  Zu- 
sammenhänge der  Außenwelt 
gründen  sich  auf  gesetzliche 
Beziehungen  der  Vorstellungen; 
§  176  sachliche  Gesetzlichkeit; 
§  190  Natur  des  Gesetzes; 
§  264  ff.  Auffindung  von  Ge- 
setzen; §  265  Der  Name  G.  hat 
verschiedene  Bedeutung  aber 
denselbenSinn;  §266 Unterschied 
von  G.   und  Regel;   §269  Auf- 


findung  eines  allgemeinen  Ge- 
setzes ist  eine  Leistung  der 
errathenden  Einbildungskraft; 
§270  partielle  Gesetze;  §283 
wahrscheinliche  Richtigkeit  spe- 
zieller und  Wahrheit  allgemeiner 
G.;  §§  287,  305  Wahrheit  als 
G.  unserer  Erkenntnisfähigkeit. 

Gewißheit,  Klarheit,  Evidenz, 
§§65,  100,  138,  191,  193,  200, 
242,  252,  278,  299 f.,  306,  323 f., 
329  f.  Evidenz  und  Denknoth- 
wendigkeit;  §  364  logische  und 
ästhetische  Evidenz;  S.  XCIII 
intuitive  Evidenz;  XCVIIL 

Gewöhnung,  §263,  3—4  G.  als 
log.   Begriff. 

Gleichheit,  S.  261  Unpassender 
Gebrauch  des  Gleichheitszei- 
chens.  §267. 

Gleichnis,  §167  G.  bei  descrip- 
tiven  Definitionen. 

Gleichung,  s.  constitutiv. 

Gott,  §201  Einheit  von  G.  und 
Welt;  §  348  ontologisoher  Gottes- 
beweis. 

Gravitation,  §§  115,  266. 

Größe,  Größenbestimmung,  Grö- 
ßenvorstellung, §§16,  17,  18, 
19,  24,  66,112,  131,209,2630., 
363  (Natur  der  Größe). 

Grund:  logischer  G.,  §§21,  22, 
26;  §62  Gesetz  von  zureichendem 
Grunde;  §§65,  94,  103,  123, 
130,  258,  259;  §  147  Das  Seiende 
als  Gegenstand  des  Denkens 
ist  G.  des  allgemeinen  Gesetzes; 
§  242  Erkenntnisgrund  und 
Realgrund. 

Gut,  §178  Gut  imd  böse. 


H. 

handgerecht,  §  157  handge- 
rechte Ordnung  der  Inhalte  ge- 
nügt für  praktische  Absichten; 

Harmonie  des  Kosmos  §  186. 

Hoffnung,  §  262,  6  mathema- 
tische H. ;  §  282,7  moralische  H. 


620 


Sachregister. 


Homogeneität ,  §  247  math. 
Princip  der  H. 

ÖQiofiog,  §  161. 

Utj,  §  321. 

Hypostase,  §§  318,  341. 

Hypothese,  §§  38,  42f.,  60ff., 
93,  das  hypothetische  Urtheil; 
§§  202,  207  naturwissenschaft- 
liehe  H.;  §  250  Mißbrauch  hypo- 
tetischer  Gedankenverknüpfung 
in  Dilemmen ;  §  258  hyp.  Ur- 
theil als  Form  der  fortschreiten- 
den Induktion ;  §  265  Gesetz 
als  allgemeines  hyp.  Urtheil ; 
§  273  H.,  Postulate  und 
Fiktionen.;  §  274 ff.  Bildung, 
Umgrenzung  u.  Einfachheit  der 
H. ;  §  277  Möglichkeit  der  H.; 
§  359  hyp.  Gültigkeit  der 
apriori^'chen  Wissenschaften. 

Hysteron  proteron,  §  241. 


Ichvorstellung,  §  323. 

Ideal,  Idealismus,  §§  102,  103, 
129,  135,  137  (Ideal  und  Typus), 
§  138,  151,  Denkformen  als 
Ideale.  S.  186  idealistische 
Philosophie;  §  112  Mathematik 
als  I.  d.  logischen  Bestrebung; 
§  194  I.  d.  Kechts;  §  243  Feh- 
ler des  doctrinären  Idealismus ; 
§  304 f.  Ideali -mus  u.  Realismus; 
§  CVIIIf.  Idealismus  und  Em- 
pirismus, 

Idee:  Ideenwelt;  §§34,  313ff., 
31 7  f.,  346  Begriff  als  logische 
L;  §§  129,  131,  314  f.  I.  als 
höchste  Denkform :  §  149f.  Em- 
heit  der  L:  §§  150,  318.  §  324  f. 
Apriorität  und  Wahrheit  von 
Ideen,  angeborene  I. 

Identität:  §§  51,  54f.,  102,252, 
283. 

I  d  i  o  n ,  §  32 1.  als  unterscheidendes, 
aber  nicht  wesensbestimmendes 
Merkmal. 

Imaginär,  §  256  das  math.  I. 


Immanenz,  §  151. 

Impersonales  Urtheil,  §  47f. 

Individuelles,  §  25 f.  i.  Begriffe; 
§  87  Mittelbegriff  in  indiv.  Be- 
deutung. 

Induktion,  §  258  I.  macht  den 
Bedingungszusammenhang  des 
Wahrnehmungsinhaltes;  §§101f. 
204  i.  Beweisform;  §  209  voll- 
ständige I.  ;  §  256  unvollstän- 
dige I. ;  §  257  f.  Analogie  u.  I. 

Infinitesimalrechnung, 
§  238  f. 

Inhalt  s.  Begriff,  Denken. 

Inhärenz,  §  53  I.  als  bisher  nur 
metaphysisch  gerechtfertigter 
Begriff. 

Intellektualismus,  Kritik  des 
I.  S.  C,  CV. 

Intensität,  §§  131,  174,  180. 

Intention,  §  266. 

Interjektion,  §§  2,  4,  7. 

Interpolation,  §  269f. 

intuitiv,  S.  XCIII. 

irrationale,  Gewohnheit  des 
Benehmens,  §  279. 

Irrthum,  §§  180,  200. 


Jurisprudenz,  §§  162,  161. 


K. 

kategorisches  Urtheil,  §§  38, 
42,  47,  50,  53  k.  U.  behauptet 
nicht  eine  metaphysische  Re- 
lation (v.  Ding  und  Eigenschaft) 
sondern  nur  die  logische  Be- 
zieliung  (Subjekt  und  Prädikat) 
§§  54,  67,  60 f.;  139  k.  U.  ent- 
spricht der  logischen  Classifi- 
cation ;  §  143  kategorische  Ent- 
wickelung  der  Begriffe  durch 
Emanation ;  §  268  die  fortschrei- 
tende Induktion  strebt  nicht 
mehr  zur  Erlangung  kategori- 
scher, sondern  nur  hypothe- 
tischer Urtheile. 


Sachregister. 


621 


Kennzeichen,  §§  32,  79,  161 
Definition  durch  K.  ;  §  176 
Fehlen  von  K.  bei  stetig  wach- 
senden Größen;  §  200  Evidenz 
als  K.  der  Axiome ;  §  205  K. 
und  Grund;  §255. 

Klarheit,  s.  Gewißheit. 

Klasse,  S.  260f. 

Körper,  §  220ff.  völlige  Freiheit 
und  absolute  Festigkeit  des  K. 

Kosmos,  §  186. 

Kraft,  mechanische  K. ;  §§  220ff., 
231,  130  tätige,  lebendige  K. 
als  Nebenvorstellung  der  lo- 
gischen Idee. 

Krankheit,  Definition  der  K. 
§§  166,  182. 

Kreis,  §  164  Definition   des  K. 

Kritik  des  Erkenntnisvermögens 
setzt  eine  andere  Quelle  der 
Wahrheit  voraus,  §  305. 


Leben,  §  150  lebendige  Ent- 
wickelung  der  Welt ;  §  243  par- 
ticulare  Lebensauffassung. 

Lex  lata  und  lex  ferenda  bei 
Definitionen  §  161. 

Libertinismus,  §  170  L,  über- 
sieht und  verwischt  Grenzen  und 
Werthunt  erschiede  der  Begriffe. 

Linie,  gerade  L.  bei  Kant  §  58. 

limitatives  Urtheil  hat  keine 
logische  Berechtigung  §§  40,  72. 

logarithmische  Ausdrücke  er- 
halten wir  bei  Berechnung  von 
Wirkungen,  die  durch  ihre 
eigenen  Erfolge  sich  Hinder- 
niese ihrer  Wiederholung,  pro- 
portional jenen  Erfolgen , 
schaffen,  §  263,  3. 

Logik,  §§  36  47,  50,  52,  123,  S. 
186  L.  und  Psychologie;  §§  5, 
27,  53,  62,  152,  195  L.  und  Me- 
taphysik;  §§  6,  105  L.  und 
Sprache;  §§  18,  152,  S.  260 ff. 
L.  u.  Mathematik  (s.  Math.); 
§§  XI,    Iff.    reine  L. ;   §§  XU, 


152 ff.,  222,  255  angewandte  L.; 
§§8,  94,  151,  S.477  reine  und  an- 
gewandte L;  §§  19,  22f.  67,  89, 
107  Fehler  der  alten  L. ;  §  134 
Mangel  der  L.  ;  §  152  Juri- 
sprudenz u.  L.  ;  §§10  19  L. 
als  Wissenschaft  vom  Selbst- 
verständlichen (s.  a  daslbst); 
§  251  induktive  und  deduktive 
L. ;  §  36  L.  wendet  sit  h  vom 
Ausgedrückten  zum  Gemeinten. 
Lüge,  §  244. 

M. 

Masse,  §§  228ff.,  230f. 

Materie,  §  274. 

Mathematik,  §§  18,  112  M,  u. 
Logik,  (s.  Logik)  §§  Ulf.,  206 
Subsumption  in  der  M.  §§  117f., 
119,  133,  152  Gegenstände  und 
Methode  der  M. ;  §§  159,  185, 
187,  197  Zeichensprache  der 
M.  S.  257.  S.  2(0  Forderung 
eines  allgemeinen  matliemati- 
schen  Algorithmus  .  §  2iOSch  uß 
von  n  auf  n  -|-  1 ;  §  216  Sc'ilüsse 
nach  strenger  Analogie  in  M.  ; 
§  236  Schwierigkeiten  der  in- 
veisen  Operationen  in  der  reinen 
M. ;  §238f.  mathematische  Funk- 
tion ;  §  281  ff.  ni athematische 
Wahrscheinlichkeit;  §  282,  6 
mathematische  Hoffnung  ;  §  359 
M.  hat  als  apriorische  W  is  en- 
schaft  nur  hypothetische  Gül- 
tigkeit; §  331  M.  und  Er- 
fahrung; S.  CXIIIf.  M.  be- 
kümmert sich  nicht  um  die 
psychologische  Entstehung 

ihrer  Postulate. 

Maxime,  §  244  Lüge  als  allge- 
meine M.  höbe  die  Erfüllbar- 
keit aller  Zwecke  auf;  §2.0f. 
natürliche  M.  der  Beurteilung; 
§2ö5. 

Mechanik,    §§64,   220ff.,  359ff. 

mechanisch,  §  145  logische  Ge- 
sinnung der  mechanischenNatur- 
wissenschaften. 


622 


Sachregister. 


Mechanismus,  §  17  M.  der  in- 
neren Zustände;  §  20  M.  der 
Erinnerung;  §  121  psychischer 
M.  empfiehlt  ähnliche  Merkmal- 
gruppin  der  Aufmerksamkeit; 
§  145  flf.  erklärende  Theorie  als  M. 

Merkmal,  .§§4,  21,  23,  35  All- 
gemeinmerkmal und  Sonder- 
me.kmal;  §24  Merkmale  kön- 
nen aufgefaßt  werden  1.  als 
ruhende  Eigenschaften  (Farbe, 
Glanz)  und  2.  als  adjektivische 
Bezeichnungen  von  Verhaltungs- 
we.sen:  Beziehungen;  §  26  Merk- 
male werden  wahrgenommen; 
§28  Merkmale  eines  Begriffs  sind 
nicht  gleichwerthig  einander 
coo. diniert  (§25),  sondern  deter- 
mioieren  sich  gegen-eitig  (s.  a. 
§§  103,  143  u.  a.);  §  32  Idion 
oder  Kennzeichen  ist  ein  unter- 
scheidendes aber  nicht  wesens- 
bestimmendes M.,  8.  a.  §  161; 
§32  M.  a  s  yymbekos  bezeichnet 
einen  Zustand;  §  33  M.  des 
Denkbaren  umfaßt  alles  auf  ein- 
mal; §  35  ungleichartige  Merk- 
male im  Begriff  verknüpft; 
§69f.  Urlheile  -ind  kein  bloßes 
Aggregat  von  Merkmalen,  son- 
dern d  ese  gehören  zusammen 
zu  einem  gemeinsamen  Etwas, 
das  diesen  wechselnden  Ele- 
menten als  Merkmalen  einen 
Träger  bietet;  §99  Grundsatz 
der  Subsumption:  Das  Einzelne 
teilt  das  M.  seines  Allgemeinen; 
fließende  Merkmale;  §§  103, 
123 ff.  wesoni  liehe  und  unwesent- 
liche Merkmale;  §  1 16  Merkmale 
Btehen  nicht  bei  jedem  Subjekt, 
an  dein  sie  vorkommen,  in  dem- 
selben Verhältnis;  §  119  Dis- 
paratheit  der  Merkmale  läßt 
sich  math.  nicht  bewältigen; 
§  120  der  dutch  Vergleichung 
gefundene  Merkmalbestand  als 
Regel  des  Zusammenhangs  eines 
Inhalts;  §  124  bedingende  Kraft 


eines  Merkmals  gegenüber  der 
ganzen  Natur  des  Begriffs;  §  128 
Schätzung     des     Werthes     der 
Merkmaie  beruht  auf  Kenntnis 
der    Sache    und  richtigem  Ge- 
fühl; §  131  einfache  Merkmale; 
§  135     bleibender    Merkmal  be- 
stand    eines    Allgemein  begriffß 
als   bedingende   Regel   der  Fü- 
gung    aller    Merkmale;     §  142 
Originalität    der   Merkmale   als 
Hindernis      der      Classification 
der  Begriffe.     Die  Allgemeinen 
Gesetze     des     Zusammenhangs 
der    Merkmale    bestimmen    die 
Bi  düng  der  Arten;  §  143  drei 
fache  Beziehung  zwischen  Merk 
malen:      Einschließung,      Aus 
Schließung  ui  d  Determination 
§  161    Unterschied    von    Kenn 
zeichen  u.   artbildenden  Merk 
malen;     §  255     simultane    und 
successive      Merkmale;      §  345 
Eigenschaft  als  metaphysischer 
Begriff  und  M.  als  entsprechen- 
der logischer. 

Messung,  §  32. 

Metall,  §§  23,  29  u.  a.,  M.  ala 
zweites  Allgemeines. 

Metaphysik  (s.  a,  Logik),  §  5 
logischer  Sinn  der  Redetheile 
ist  nur  ein  Schatten  der  meta- 
physischen Begriffe.  M.  als 
Untersuchung  des  nicht  bloß 
Denkbaren,  sondern  des  Wirk- 
lichen, oder  dessen,  was  als 
wirklich  erkannt  werden  soll; 
§  5  Ding,  Eigenschaft  und  Ge- 
schehen als  metaphysische  Be- 
griffe; §  27  Unterschied  der  log. 
Form  u.  metaphysi-chen  Ge- 
danken; §52  log.  u.  ii.etaphy- 
si  eher  Sinn  der  Copula  im  kate- 
gorischen Urtheile;  §53  Unter- 
schied der  metaphysischen  Re- 
lation von  der  log.  Bezie  lung 
im  kat.  Urtheil;  §  55  metaphy- 
sische P'olgeungen  können  aus 
dem   Identitätssatze   nicht   ge- 


Sachregister. 


62S 


sogen  werden;  §  62  M.  u.  Logik; 
§  148  Metaphysisches  Bedenken 
gegen  die  Einseitigkeit  der  bloß 
erklärenden  Theorie;  §  191  f 
metaphys  i  sehe  Voraussetzung 
der  Entwicklung  der  Welt  aus 
dem  Einen;  §309  Frage  nach 
der  Wahrheit  des  Gegensatzes 
von  Vorstellung  und  Gegenstand 
ist  metaphysi-ch;  §  322  Die 
metaphysiche  Überzeugung  von 
der  Möglichkeit  der  Einwirkung 
zweier  Elemente  aufeinander 
ist  der  erkenntnistheoretischen 
Subjekt-Objektbeziehung  über- 
geordnet; §  '645  M.  u.  Logik; 
§  357  Frage  nach  Apriorität  im 
Sinne  des  Angeborenseins  ist 
metaphysisch. 

metathesis,  §  92. 

Methode,  §  102  Unterschied  von 
logischem  Ideal  und  instrumen- 
taler M.;  §297fiF.  Methodologie: 
synthetische  und  analystische 
Meth(  den  sind  als  allgemeine 
Methoden  für  sich  nicht  rein 
durchfuhrbar;  §£01  Unterschied 
von  wissenschaftlich  speziellen 
Einzelmethoden  und  allgemeinen 
M.;  S  CXVI:  M.  der  Erkenntnis; 
S.  CXXI:   üniversalmethode. 

Mittelbegriff,  §83,  109  völlige 
Identität  des  Mittelbegriflfs  als 
Bedingung  für  die  Schlußkraft 
der  Figuren;  §  1£0  M.  braucht 
in  Subsumptionsschlüssen  in 
nichts    das  Gepräge  eines   Be- 

•  griffe  zu  haben;  §  243  Zwei- 
deutigkeit des  Mittelbegriffs. 

Modalität,  §§38,  41,  43,  44, 
46,  82. 

Modi,  s.  Schluß. 

Modification,  §  25  M.  einer 
Merkmalgruppe;  §  30  M.  von 
Beziehungen;  §  94  M.  von 
Schlüssen;  §§  97.  108  M.  von 
Prädikaten;  §§  103,  109,  124, 
127  u.  a.  epecifische  M.  von  Merk- 
malen; §  109  dxe  M.  eines  Merk- 


mals darf  im  Allgemeinen  nicht 
der  modifizierenden  Bedingung 
gleichgesetzt  werden. 

Möglichkeit,  §41f.  problema- 
tisches Urtheil  drückt  die  M. 
aus;  §  46  Unterschied  von  M. 
wegen  Mangels  an  Beweisen 
der  Unmöglichkeit  und  wohl- 
begründeter, auf  Bedingungen 
sicher  ruhender  Fähigkeit;  §  192 
das  Ans  ichsein  als  absolute  M. 
(metaphysisch);  §  277  M.  einer 
Hypothese;  §348  f.  M.  der  Er- 
fahrung. 

Moral,  §  178  M.  u.  Ästhetik; 
§287,  7  moralische  Hoffnung. 

Musik,  §  6  M.  ist  kein  Denken; 
§  279  lebendige  Elastizität  der  M. 

Mystik,  §§  186,  189  arithmetische 
Mystik. 

Mythologisierung  verbaler 
oder  adjektivischer  Begriffe 
dui  ch  substantivische  Form, 
§  166. 

N. 

Name,  §  2 f.  logischer  Sinn  der 
Schöpfung  des  Namens. 

naturalistisch,  §  163  Vorzug 
der  Gelehrsamkeit  vor  dem  n. 
Verfahren  ;  §  iOl  n.  Philosophie 
des    unoeschulten    Verstandes. 

Naturphilosophie  der  lonier,. 
§  186. 

Natursachen  wirken  nie  «ao- 
mentan,  §  263,  3. 

Naturwissenschaft,  §  112 
Nothwendigkeit  der  Mathema- 
tikfür die  N. ;  §  145  ei klärende 
Theorie  als  systematische  Form 
in  meclianiscben  N. ;  §  153  N. 
betrachten  die  vorausgesetzte 
Außenwelt  nur  so  weit,  als  sie 
zu  einer  Welt  von  Vorstellungen 
geworden  ist:  §i 02  naturwissen- 
schaftliche Hypo  he?en  recht- 
fertigen ihren  Begriff  durch 
Deduktion;  §274 ff.  HypotheseÄ. 
in  der  N. 


624 


Sachregister. 


Nebengedanken:  §  Vllf.  Er- 
zeugung der  rechtfertigenden 
N.  als  eigentliche  Aufg.  des 
Denkens:  §  6  logische  N.  be- 
dürfen der  Lautsprache  nicht ; 
§  lOf.  N.  der  einheitlichen 
Setzung  begleitet  jegliche  Wort- 
form. Denkhandlungen  beruhen 
auf  rechtfertigenden  N.  §§  21, 
27  N.  der  Ganzheit  und  Einheit 
bei  werdenden  Begriffen;  §  38N. 
als  Bedeutungen  der  Copula;  §  52 
verschwiegene  N.  des  katego- 
rischen Urtheils ;  §  57  parti- 
cularisierende  N.  §  131  N.  der 
Verschiedenartigkeit  der  Bei- 
spiele einer  gestaltenden  Idee. 

Nebenvorstellungen,  §  130ff. 
Kraft  und  Zweck  als  N.  der 
logischen  Idee  bedeuten  nur 
etwas  unter  Voraussetzung  eines 
rein  logischen  Gedankens. 

Nominalismus,  §  340. 

notiones  communes,  §§  128,  189. 

Nothwendigkeit,  log.  N.  §§  18, 
411,  62,  94,  233;  §333  dialek- 
tische, teleologische  N.  ;  §§  19, 
31,  346.  Vergleichbarkeit  von 
Inhalte  ist  nicht  denknoth- 
wendig,  sondern  nur  nothweadig 
für  die  Möglichkeit  des  Denkens; 
§  346  Gliederung  der  Ideenwelt 
ist  unentbehrliche  Grundlage 
des  Denkens,  aber  nicht  denk- 
notwendig. 

Noumenon,  §  310. 

Null,  §  178  Nullpunkt  des  Gleich- 
gültioren  an  Beispielen  gegen- 
sälzlicher  Begriffe.  S.  262  Ver- 
neinung  als  log.  Sinn  der  Null ; 
§  244  Sonderstelluug  der  N. 


Obersatz,  §§83,  99;  §149  Ober- 
satz  denkt  die  Wirklichkeit  in 
Gestalt  eines  entwickelungs- 
fähigen  Princips. 

Objektiv,  §  3  logische  Objek- 
tivierung verleiht  den  Inhalten 


keine  Wirklichkeit;  §  267  Ob- 
jektives  Verhalten  der  Wirk- 
lichkeit (s.  a.  Bedeutung). 

Ordnung,  §  20  Raum  und  Zeit 
als  O.  in  Synthesis  der  An- 
schauung; 0.  in  Sjmthesis  der 
Erkenntnis:  tatsächliche  O. 
durch  bedingenden  Werth; 
S.  186  Unterschied  von  log. 
und  psychol.  O.  ;  §  129  sach- 
gerechte und  handgerechte  O.  ; 
§  136  Reihenf  rm  als  0.  in  der 
natürlichen  Classification  ;  §  154 
O.  der  Vorstellungen  in  der 
Sprache  als  innere  Bedingung 
der  Mittheilung;  §  176  imma- 
nente O.  der  Sachen. 

Originalität  der  Merkmale  wäre 
ein  Hindernis  der  Class  fication 
§  142. 

Ort,  §  28  Definition  des  0.;  §  318 
intellegibler  0.  der  Ideen. 

P. 

Parallelismus  der  Erschei- 
nungsgruppen in  der  ionischen 
Naturphilosophie  §  186,  seine 
Mängel  und  moderne  Ergänzung 
§  191. 

Paralogismen,  §  249. 

particulares  Unheil,  §§39,  57f., 
268. 

Partikel,  §  7  P.  tragen  nicht 
zu  logischer  Fassung  bei. 

Partition,  §  125. 

Pathologie,  §  182. 

Pedanterie,  logische §§128, 170, 
206,  207. 

perceptio  clara  et  distincta §  1 68. 

persönlicher  Fehler,  §267. 

petitio  principii,   §  241. 

Phänomen,  §§  258,  272,  310. 

Phantasie,  §  7  ästhetische  Eh.; 
§§  131,  133  logische  Ph.;  §  191 
moderne  Ph.;  §  196  sprachbil- 
dende  Ph.;  §249  besser  unter- 
richtete Ph.;  §297  construieren- 
de  Ph. 


Sacliregister. 


625 


Philosophie,  praktische,  §161; 
§  193  vollendete  Ph. 

phoronomisch,  §249. 

Physik,  §§  64,   131,  171. 

Physiologie,  §§  171,  262,4; 
§  172  physiolog.  Optik. 

Poesie,  §§155,  159  P.  als  Bei- 
spiel  prägnant  anschaulicher  Be- 
schreibung. 

Poetik,  §  155. 

Polarität,  §  189;  Schema  der  P. 

Polylemmen,  §  95. 

Position,  §  316  P.  als  Allgemein 
begriff  der  Bejahtheit. 

Postulate,  §  273. 

Potenz,  §  187. 

Prädikat,  §§  35,  37,  48,  52;  §  55 
unterschied  von  verträglichen 
und  unverträglichen  Prädikate; 
§73  conträre,  vergleichbarePrädi- 
kate  sind  unvereinbar,  weil  sie  ein 
drittes,  einfaches  P.  bilden;  ver- 
einbar sind  nur  disparate,  unver- 
gleichbare Prädikate  (§§87,  lOS). 
§§80ff.,103.  §105demEinzehien 
kommt  nicht  das  allgemeine  P. 
seiner  Gattung  zu,  sondern  nur 
eine  bestimmte  Modification  des- 
selben zu;  S.  268  Quantitative 
Bestimmung   der  P.  im  Urteil. 

Prämissen,  §§  83ff.,  1311,  S.268 
bloße  Summierung  zweier  P. 
gibt  nie  einen  Schluß. 

Präpositionen,   logischer   Sinn 

der  P.,  §  7. 
Princip,  §  70f.  principium  ex- 
clussii  tertii  (s.  a.  S.  258).  prin- 
cipium rationis  sufficientis  s. 
Grund;  §  135  leitendes  P.  aller 
Untersuchungen;  §  297  Prinzi- 
pien sind  nicht  Atom©  der 
Wahrheit,  sondern  ihre  ent- 
wickelungsfähigen  Bedingungen; 
§  300  Geltung  formaler  und 
materialer  P.;  §  301  P.  und 
Gegenstand  der  Untersuchung, 
probabelste  Annahme  als  Mittel 
des  logischen  Gedankengangs, 
§  233  f. 
Lo  tze,  Logik. 


Problematische     Modalität, 
§§  41  f.,  44 f. 

Pronom,  log.  Sinn  des  P.,    §  7. 

Proportion, §113ff.  Schluß  durch 
P.;  §  115  Schluß  durch  P.  beruht 
auf  Möglichkeit  der  Zurück - 
führung  des  qualitativ  verschie- 
denen Wirklichen,  auf  reine 
Größenbestimmung.  P.  als  Er- 
kenntnisgrenze; §§  116,  143, 
174,  216;  §2300.  P.  in  Mechanik 
entscheidet  nichts  über  absolute 
Größen. 

Prosyllogismus,  §  96. 

Pseudomenoa,  §260. 

Psychologie,  P.  u.  Logik,  §§  X, 
37,  47,  121  f.,  S.  186,  §§  255, 
257,  333;  Erkenntnistheorie  u. 
P.,  S.  ClXff.,  §  332 

Q. 

Quadrate,  Methode  der  klein- 
sten Qu.  §288. 

Qualität,  §  17  systematische 
Ordnung  des  Vorstellbaren  ent- 
spricht seiner  qualitativen  Ver- 
wandtschaft, die  nicht  denk- 
nothwendig  ist  (§  19);  §§  38, 
40  ff.,  85  Qu.  der  Urtheile; 
§  113  Qualitative  Verschieden- 
heit der  sinnlichen  Empfindun- 
gen auf  vergleichbare  Bewe- 
gungen vergleichbarer  Elemente 
zurückgeführt  durch  die  Pro- 
portion. 

Quantität,  §24  Ohne  quanti- 
tative Abstufung  und  Vergleich 
barkeit  würde  Bildung  des  Be- 
griffs unmöglich  sein;  §§38ft"., 
81,  85,  S.  268  Qu.  der  Urtheile. 

quaternio  terminorum,  §§  84, 
240,  243. 

R. 

Räthsel,  §  160  Definition  des  R. 

Realität,  §§62,   103,  162  (Real- 

definition);  §  188  R.  der  Zahlen; 

Wesen  der  Dinge  als  R.;  §  195 

reale  Elemente   verhindern  die 

40 


626 


Sachregister. 


vollständige  Verwirklichung  der 
Idee  des  Lebens;  §  239  Real- 
ursache; §306  Reales  einer  vor- 
ausgesetztenAußenwelt;  §§334f., 
345  Unterschied  von  formaler, 
sachlicher  und  realer  Bedeutung. 

Realismus,  §  304ff.  R.  und 
Idealismus;  §§306,  340  (R.  u. 
Nominalismus). 

Rezeptivität,  §§  19,  325. 

Rechnen,  §18  R.  eine  Art  des 
Denkens;  §  112  R.  gehört  zu 
logischen  Tätigkeiten;  S.  260 
Unterschied  mathematischer 
und  logischer  Rechnung;  §  289 
logisches  Rechnen  bei  Wahlen 
und  Abstimmungen. 

Recht,  §§  152,   193,  265,  273. 

Rechtfertigung,  §  202  jedem 
Beweis  muß  eine  R.  voran- 
gehen, die  zeigt,  ob  der  Satz 
einen  Beweis  verdient  oder  nicht. 

Reciprocitätsgesetz,  s.  Be- 
griff. 

reciprokable  Urtheile,  §  80; 
§  163  r.  Definitionen. 

Redetheile,  §§  4f.,  33  logischer 
und  metaphysischer  Sinn  der  R. 

Reflexion§  302  vergleichende R. 

Regel,  §§22,  23,  26f.,  30,  S.  125, 
§§  111,  127f.,  198,  216f.,  266. 

Reihe,  §§136  R.  als  Form  der 
natürlichen  Classificationen; 
§  238  ff.  Taylor'sche  Reihe; 
§  239  R.  als  bloße  Definition 
des  Wachstums  bleibt  lo- 
gisch richtig,  wenn  sie  auch 
durch  Divergenz  mathematisch 
unbrauchbar  wird;  §  269  Über- 
gang der  Einzelglieder  einer 
R.  zum  allgemeinen  Bildungs- 
gesetz ist  logischer  Sprung. 

Reiz,  §§lf.,  3261;  Reizung  der 
der  Allgemeinen  Begriffe  zur 
Erzeugimg  der  Arten  §  140. 

Relation  des  Urtheils,  §  38f., 
S.  267  R.  im  logischen  Calcül; 
§  53  metaphysische  R.  zwischen 
Ding  und  Eigenschaft. 


Relativität  der  Begriffsbestim- 
mungen, §  178. 

remotive  Urtheile,  §§69,  95. 

Rhetorik,  §  155. 

Rhythmus,  §  189  Schematiseher 
Rh.;  §  192  Rh.  der  dialektischen 
Entwickelung. 

Rigorismus,  logischer  §  178. 

Rückwirkung:  Denken  als 
rückwirkende  Tätigkeit,  s.  Den- 
ken; §  333  R.  der  Seele  auf 
ihre  einzelnen  Zustände:  alle 
logischen  Rückwirkungen  des 
Geistes  lassen  sich  ihrem  Sinne 
verständlich  in  eine  Reihe  ord- 
nen, sind  aber  ihrer  psycho- 
logischen Entstehung  nach  un- 
begreiflich; S.  CI  Rückwirkende 
Tätigkeit  unseres  Geistes. 


Sache,  sachlich,  §§43,  52,  67, 
80,  126,  138,  151;  §157  Ver- 
schiedenheit der  Standpunkte 
bei  Kenntnis  der  Sache;  §  176, 
S.  257,  §§  206,  234,  240,  255, 
267,  329;  §  340  s.  und  dinghaft; 
§§342,  345  s.  Geltung;  §3461 
Verlauf  der  Sachen. 

sachgerechte  Ordnung  vom  lo- 
gischen Denken  verlangt,  §  129. 

Schema,  §§26,  110,  184ff.,  189, 
IGO. 

Schluß,  §  74,  S.  108ff;  §83ff. 
Schlußfiguren;  §§91,  97ff.,98ff. 
Untersuchung  und  Abweisung 
des  skeptischen  Zweifels  an  der 
logischen  Leistung  des  Schlusses; 
§§  101  ff.,  109  S.  als  bloße  Be- 
zeichnung einer  Aufgabe;  S.  269 
S.  ist  nie  eine  blosse  Summie- 
rung von  Prämissen ;  §344  Schluß- 
formen haben  keine  reale  Be- 
deutung. 

Schönheit,  §  147  Würde  und 
Ursprung  der  S.  durch  erklä- 
rende Theorie  nicht  gefährdet; 
§  162  Real-  und  Nominaldefini- 


Sachregister. 


627 


tion  der  S.;  §  178  S.  u.  Sittlich- 
keit. 

Seele,  §  VI  Tierseele;  §20  Ein- 
heit der  S.  §32;  §62  S.  des 
Denkens;  §  162  Real-  und  No- 
minaldefinition der  S.;  §  171 
Empfindungen  als  Zustände  der 
S.;  §326,  S.  CV:  S.  als  tabula 
rasa;  §  333  die  Rückwirkung 
der  S.  auf  ihre  Zustände  ist 
nicht  berechenbar,  sondern  mit 
dialektischer  oder  teleologischer 
Nothwendigkeit  von  dem  Sinne 
oder  der  Idee  abhängig,  zu 
deren  Verwirklichung  die  S.  be- 
stimmt ist. 

Sein,  §§135,   148,   158. 

Selbstbeobachtung,  §323. 

Selbstbesinnung,  §305  S.  des 
Denkens;  S.  CXI  f.  S.  der  Ver- 
nunft. 

selbständig,  §§5,  10,  19  logische 
Selbständigkeit. 

Selbstverständliches  als 

eigentlicher  Gegenstand  der 
Logik,  §§  10,  329,  331,  346,  358, 
364. 

sensualistische  Theorie  der 
Entwickelung  unseres  Denkens 
und  Wissens,  §332. 

Setzung,  §  9ff. 

Singular.  §§  26 f,  39  singulares 
Urtheil;  §276  Hypothese  für  s. 
Tatsache  muß  vollständig  sein; 
§  278  Bestimmung  singularer 
Tatsachen. 

sinnlich,  siehe  Empfindung,  Ein  - 
druck. 

Sitte  der  Wirklichkeit,  §  274. 

sittlich,  §178f  Sittenlehre;  §303 
Bedeutung  der  s.  Idee  für  die 
Wahrheit  der  Erkenntnis 

Skepsis,  §§  98,  302ff. 

Sophismen,  §  249. 

Sorites,  §  96. 

specifisch,  §§32,  105,  160  specif. 
Differenz;  §  104  sp.  Modifica- 
tion  der  Prädikate;  §  109  sp. 
Bestimmtheit      der      ]Merkmale 


durch  Allgemein  begriff  zugelas- 
sen, aber  nicht  bestimmt;  §  180 
S.  257. 

Speculation,  S.  183f.,  §§  189, 
201,  247,  261,  272,  365,  S.  CXX. 

sphaera,  §  25. 

Spontaneität,  §§  19,  325. 

Sprache,  §§  1,  2,  4,  6,  7,  10, 
12,  13,  21,  26,  48,  105,  121, 
148,  154,  156,  168,  170,  I96ff., 
316,  317. 

Sprung,  logischer,  §269. 

Statistik,  §  113. 

Sterblichkeit,  §  42,  S.  264. 

stetig,  §§  174,   175,  269. 

Straf  recht,  müßte  nach  dem 
Subsumptionsschluß  schließen 
§  112. 

Struktur,  §  191,  S.  des  dekadi- 
schen Zahlensystems;  §  215 
Unterschied  der  Größe  und 
Struktur  eines  Produktes;  §  342 
Struktur  der  Begriffe  (logisch) 
und  Struktur  der  Dinge  (real); 
S.  XCIII,  logische  Struktur  der 
Systeme. 

subalternatam,  ad,  §  75. 

SU  balternantem,  ad, §§76,  102, 

subconträr,  §  78. 

Subjekt,  logisches,  §§35,37,39, 
47  ff.,  52 f.,  68 f. 

Subjektivität  der  Erkenntnis, 
§§  248 f.,  267. 

Subordination,   §§  25,   29,    33. 

Substantiv,  als  logische  Be- 
zeichnung für  sich  feststehender 
Inhalte,  §§  4,  5,  19,  33,  49,  166. 

Substanz,  §5  Definition  der  S. 
§  35  beherrschende  logische  S. 
§  53  Substanz  als  Ding;  §  248 
die  realen  Elemente  können  nie 
in  Substanz  in  unser  Inneres 
einziehen. 

Substitution,  §§109,  111,  112, 
113. 

Substrat,  §  255. 

Subsumption,  §§  25,  29,  33^ 
S.  110,  S.  121  ff.,  §§  99,  102, 
120,   141,  217. 

40* 


628 


Sachregister. 


Symbebekos,  §  32  S.  als  Zu- 
stand. 

Symbol,  §  28  S.  des  Begriffes, 
8.  a.  §  HO;  §53  Verhältnis  von 
Ding  und  Eigenschaft  symbolisch 
übertragen  in  Subjekt-Prädikat- 
heziehimg;  §§  187,  196  (adäquate 
S.  in  log.  Sprache);  S.  259  Sym- 
bol der  Gesamtheit  des  Denk- 
baren; §  257  Das  einzelne 
Dreieck  als  S.  des  allgemeine 
Dreiecke. 

Symmetrie,  §  190  logischer 
Grund  der  S. 

Synthese,  synthetisch,  §§58, 
99,  297,  347  ff.,  362. 

Synth«sis,  §  20  vierfache  Syn- 
thesis  des  Mannigfaltigen; 
§  169ff.  Synthesis  als  Erfüllung 
in  der  dialektischen  Methode. 

Syst«m,  §§  33,  136  logische  Ge- 
samtsysteme; §  120  ff.  systema- 
tische Formen. 


T. 

Tabelle  als  Urform  zur  Auffin- 
dung von  Beweisen,  §  270. 

Tatsache,  §§  19,  34,  65,  66, 
68,  115,  195,  199,  202,  276 
bis  278. 

Tautologie,  §§  163,  214. 

teleologische    Notwendig- 
keit, §  333. 

Theorie,  §  145 ff  erklärende  Th.; 
§  147  Verteidigung  der  erklä- 
renden Th.  gegen  die  Einwände 
der  Ästhetik,  die  nur  darin  be- 
rechtigt sind,  daß  sie  die  Unter- 
sätze unserer  Weltbetrachtung 
nicht  hypothetisch,  sondern 
assertorisch  finden. 

Thesis,  §  189. 

Ton,  §  15  T.  als  erstes  Allge- 
meines, kurze  Bezeichnung  einer 
logischen  Aufgabe;  §  174  Ein- 
teilung der  Töne  nach  Eigen - 
klang,  Höhe  und  Intensität; 
§  175   einfache  Tonempfindung 


für  sich  undefinierbar:  Defi- 
nition durch  Ursache:  Schall- 
wellen. 

Transformation  der  Begriffe, 
§  1. 

Trichotomie,  S.  259. 

Trieb,  §  130  Begriff  der  Kraft 
als  Vorstellung  des  wirkenden 
Triebes;  §  105  Begriff  des  Triebes 
zerfällt  in  Vorstellung  der  her- 
vorbringenden Wirksamkeit  und 
und  Begriff  des  allgemeinen 
Verhältnisses. 

Trilemmen,  §  95. 

Trugschlüsse,  §§  143ff.,  249. 

typisch,  Typus  (s.  a.  Gattungs- 
typus), §§  133,  150,  186;  §  257 
Typen  der  reinen  Logik;  §  272 
Typen  der  Wirklichkeit. 

ü. 

Übergang,  §  158  Vorstellung 
des  Ü. 

Übung,  §263,  3. 

unendlich,  §  40  u.  Urteil;  §245 
Sonderstellung  des  mathemati- 
schen Unendlichen. 

Umformungen  der  Schlüsse,  §92. 

Umkehrung  der  Urteile,  §  79f. 

universal,  §  68  u.  Urteil,  §102 
u.  Urteil  als  Schlußsatz  bei 
Induktionsschluß;  §  193  Uni- 
versalreihe; §  195  u.  Weltplan. 

Unterordnung,  §  29  U.  der 
Arten  unter  die  Gattung:  Sub- 
ordination; U.  eines  Begriffs 
unter  sein  Allgemeinmerkmal: 
Subsumption;  §  102  U.  in  der 
ersten  Aristotelischen  Figur 
drückt  die  innere  Gliederung 
des  Denkinhalts,  nicht  der  Ge- 
dankenarbeit aus;  §205  U.  eines 
gegebenen  Inhalts  unter  eine 
allgemeine  Wahrheit. 

Untersatz,     §§  83f.,    147,    148. 

Unterscheidung,  §  9ff.  U.  der 
einfachen  Vorstellungsinhalte 
als   zweiter   Nebengedanke   der 


Sachregister. 


629 


ersten  Denkleistung,  der  jedoch 
untrennbar  mit  Setzung  ver- 
bunden ist;  §  183  f.  Unterschiede 
von  vergleichbaren  Begriffen 
als  Abwandlungen  eines  fühl- 
baren Allgemeinen. 

Untersuchung,  §  301  Prinzip 
und  Gegenstand  der  U. 

ürbegriff,  s.   Begriff. 

Ursache,  §  62  wirkende  U. 
(causa  efficiens)  als  metaphys. 
Begriff,  ebenso  §  94;  §  259  ff. 
Verhältnisse  zwischen  U.  und 
Wirkung  in  Beobachtung  und 
Experiment;  §  263  Beobachtung 
der  Größenänderungen,  welche 
die  Wirkungen  für  bestimmte 
Änderungen  der  U.  erfahren; 
§  263,  3  Natur  Ursachen  wirken 
niemals  momentan;  §  263, 5 
einem  Wachstum  der  U.  muß 
immer  ein  Wachstum  der  Wir- 
kung entsprechen  und  umge- 
kehrt; §  276  Prinzip  der  klein- 
sten U.;  §  287  konstante  und 
variable  Ursachen  bei  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung. 

Urteil,  §  8  Begriff  u.  U.;  §  35 
U.  als  Form  von  Denkbewegung, 
welches  zu  der  Verknüpfung 
von  Merkmalen  den  Grund  der 
Zusammengehörigkeit  angibt; 
§§  36,  52  U.  bezeichnet  nicht 
das  Verhältnis  der  Vorstellungen, 
sondern  des  Vorgestellten;  §  38 
Auffassung  der  U.  als  Unter 
suohung    der    Umfangsverhält- 

•  nisse  von  Vorstellungen  ist  falsch; 
§38 ff.  Einteilung  der  U.  nach 
Rücksichten  der  Quantität 
Qualität,  Relation  und  Moda- 
lität; §§  43,  53  sachliche  Richtig- 
keit der  U.  ist  nie  durch  logi;  che 
Form  verbürgt;  §56  analytisches 
und  synthetisches  U.  U.  legt 
den  Tatsachen  innere,  nicht 
beobachtbare  Beziehungen  un-  j 
ter;  §  57  kategorische  U.  meinen  i 
etwas  anderes  als  sie  ausdrücken,    j 


durch  particularisierende  Neben- 
gedanken werden  sie  zu  iden- 
tischen; §  59  U.  ist  kein  bloßes 
Aggregat  von  Merkmalen;  §  105 
Natur  der  Urteile;  §§  142,  198, 
S.  268,  §  289;  §  321  Mangel  der 
Platonischen  Ideenlehre,  daß 
sie  Wahrheiten,  die  sich  nur 
in  U.  aussprechen  lassen,  in  die 
Form  von  einzelnen  Begriffen 
bringt;  §  343  U.  haben  der 
Form  und  dem  Inhalt  nach  keine 
unmittelbare  reale  Bedeutung. 
Urvorstellung,  s.  Vorstellung 


V. 

Variation,  S.  146  Variations- 
rechnung benutzt  Schlüsse  nach 
konstitutiven  Gleichungen;  §  124 
V.  des  Begriffsinhaltes;  §  136 
V.  einzelner  Merkmale;  §  234 
V.  unseres  Erkenntnisverfahrens. 

Veränderung,  §  34  große  Tat- 
sache der  V.  des  Wirklichen; 
§  113. 

Verbrechen,  Begriff  des  Ver- 
brechens,  §  182. 

Verb  um,  §4  verbal  gefaßte  In- 
halte stellen  die  flüssigen  Be- 
ziehungen adjektivischer  und 
substantivischer  Inhalte  dar; 
§  5  rein  logischer  Sinn  der  ver- 
balen Form,  die  aber  §  33  auf 
den  metaphysischen  Stammbe- 
griff des  Werdens  hinführt; 
§  166  Definition  verbaler  Inhalte. 

Vergegenständlichung,  §§  4, 
6,  8,   10. 

V  e  r  g  1  e  i  c  h  u  n  g,  Vergleichbariteit, 
§§  9  ff.,  13,  19,  24,  66,  71, 
111,  120f.,  142,  169;  §  171 
qualitative  Unvergleichbarkeit 
der  sinnlichen  Empfindungen 
kann  nicht  durch  Hinweis  auf 
die  Ähnlichkeit  ihrer  Entstehung 
und  Begründung  weggeschafft 
werden 


630 


Sachregister. 


Verhältnis,  §  33  V.  als  Stamm- 
begriff; §§  36,  51,  52,  115,  116, 
120,  123,  134,  213;  §  234  sach- 
liche Verhältnisse  von  Variation 
unseres  Erkenntnisverfahrens 
unabhängig;  §  316,  Verhältnisse 
haben  Wirklichkeit  des  Be- 
stehens. 

Verneinung,  §  158  V.  als  ein- 
facher  Begriff;  S.  261  V.  als 
logischer  Sinn  der  Null,  §  220. 

Vernunft,  Grundsatz  des  Selbst- 
vertrauens der  V.;  §303f.,S.CIIf. 

Verpflichtung,  §  134  Vor- 
stellung der  V. 

verstehen,  §  346  Aufgabe  des 
Denkens  ist  nicht  bloß  die  ewige 
Classification  zu  suchen,  sondern 
auch  den  veränderlichen  Verlauf 
der  Sachen  zu  verstehen;  ebenso 
§365. 

Versuch,  §  260ff. 

Voraussetzungen,  §§  47f.,  60, 
103,  116,  130,  139,  147,  154, 
191,267,  272,  302f.,  304 ff.,  322. 

Vorstellung,  §§  I,  II,  IV,  1, 
3,  8,  9 ff.;  §§  13,  19,  66  Ver- 
gleichbarkeit als  tatsächliche 
Einrichtung  der  Welt  des  Vor- 
stellbaren; §  15  (Definition  der 
V.);  §  17  (ungleichartige  V.); 
§  18  Alle  Vorstellungen  müssen 
mit  Notwendigkeit  der  Größen- 
bestimmung zugänglich  sein; 
§  19  auffordernde  Tatsache  des 
Vorstellungslaufs;  §  23  (allge- 
meine V.);  §  25  (Begriff  als 
zusammengesetzte  V.);  §  37 
V.  und  Vorgestelltes;  §  58,  65 
Vorstellungswelt  vom  Denken 
als  Gegenstand  innerer  Erfah- 
rung angetroffen;  §§  66,  120, 
130f.,  134,  155,  157f.  (V.  u. 
Vorstellungsinhalt),  160,  167 
(Entstehung  von  Vorstellun- 
gen), 168  (klare  und  deut- 
liche V.,  V.  und  Begriff); 
§  173  Einheit  der  V.;  §  114  Wir 
besitzen  deutliche  V.  auch  von 


sinnlich  nicht  erfalu-enen  Tönen; 
§§  175,  254  (mechanischer  Vor- 
stellungslauf); §  306  V.  als  das 
unmittelbar  Gegebene  der  Er- 
kenntnis ;  §  314  Unterschied 
zwischen  Inhalt,  den  wir  vor- 
stellen und  Affektion,  die  wir  er- 
leiden; §31 6  Wirklichkeit  der  Vor- 
stellungen, insofern  wir  sie  als 
Erregungen  unseres  Bewußtseins 
haben,  ist  die  des  Geschehens,  ihr 
Inhalt  aber  hat  Wirklichkeit  des 
Geltens;  §  337  Die  bei  der  Verglei- 
chung  erfahrenen  Gleichheiten 
undUnterschiede  unseresVorstel- 
lens  bedeuten  zugleich  ein  sach- 
liches Verhalten  unserer  Vor- 
stellungsinhalte ;  §  339  Das  All- 
gemeine als  bloß  angestrebte 
Vorstellung;  §353  Das  Vorstel- 
len ist  nicht  immer  an  vergleich- 
bare Größen  gebunden,  wie  die 
unmittelbare  Anschauung  zeigt. 
Vorurtheil,  §§  101,  272,  302ff. 
(V  des  Skepticismus),  §  331  f. 
Kritik  der  V. 


W. 

Wärmeempfindungen,  §§  175, 
176. 

Wahrheit,  §111  W.  als  Werth- 
unterschied;  §§5,  81.  90,  97  f. 
100  (unmittelbare  Anschauung 
als  Quelle  der  W.),  148,  S.  186, 
§  240 :  §  272  W.  und  Einfach- 
heit ;  §  300  ewige  W.  ;  §  302 
Leugnung  aller  W.  setzt  irgend- 
eine W.  schon  voraus ;  §  303 
Bedeutung  der  sittlichen  Idee 
für  die  W.  der  Erkenntnis ; 
§  305  W.  als  allgemeines  Gresetz 
unserer  Erkenutnisfähigkeit ; 
§  309ff.  W.  be  teht  nur  in  all- 
gemeinen  Gesetzen  des  Zu- 
sammenhangs unserer  Vor- 
stellungen;  §  310—321  metho- 
dische Untersuchung  der  W. 
und  ihres  Ursprungs  als  Frage 


Sachregister. 


631 


nach  den  Grundsätzen  unseres 
Erkennens,  dem  wir  die  Mannig- 
faltigkeit der  Ideen  unterzu- 
ordaen  haben.  S.  XCVIII  Klar- 
heit u.  Deutlichkeit  als  Merk- 
male  der  W. 

Wahrnehmung,  §§  19,  21,  26, 
47  ff.  59,  76,  105,' 113;  §140  W. 
als  Gegenstand  und  Anregung 
des  Denkens;  §§  155,  171,  241, 
251  ff.,  25tf.,  258;  §  262,6 
Umkehrung  der  W.  in  induk- 
tiver Naturforschung. 

Wahrscheinlichkeit,  §§  111 
(Gefühl  d.  W.),  208,  255,  278, 
281  f.  (Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung), 284  (coilective  und  sin- 
gulare W.),  286. 

Wechselwirkung,    §  8  Denken 

*  ist  keine  W.  sondern  rück- 
wirkende Tätigkeit;  §  17  W. 
der  inneren  Zustände;  §  130 
W.  des  Gedankens  mit  den  be- 
sonderen Beziehungspunkten ; 
§  345  metaphysische  W. 

Weltauffassung,  §  146. 

Welt  des  Denkbaren,  W.  des 
Wirklieben  s.  daselbst. 

Welt  §141f.  Emanation  der  W. 
aus  einem  Ur begriffe ;  §  148 
Welt  als  lebendigeEntwickelung; 
§§  189.  191,  Gliederung  des 
Weltinhalts;  §  192  Wesen  des 
absoluten  Weltgrundes,  §  201 
Einheit  von  Gott  und  Welt; 
§  251  Äußere  Welt  umgibt  uns 
mit  Verknüpfungen  von  Er- 
.  scheinungen,  deren  Zusammen- 
hangsbedingungen sie  uns  ver- 
schweigt ;  §  365  Speculation 
als  Mittel,  den  Weltlauf  nicht 
bloß  zu  berechnen,  sondern  auch 
zu  verstehen.  S.  XCV.  Ein- 
heit der  Welt.  S.  CXVI.  Zu- 
sammenhang und  Einrichtung 
der  Welt  ist  nicht  durch  bloße 
Classification  faßbar. 

Werden  als  met  aphysischer 
Stammbegriff  §§  33,    158,    192. 


Wesen  eines  Dinges  und  Wesen 
der  Dhige  muß  unterschieden 
werden  §  188. 

Widerlegungsbeweise   §  207. 

Widerspruchsgesetz  s.  Iden 
tität. 

Wille,  §  193f. 

Wirken  als  einfacher  Begriff 
§  158. 

Wirklichkeit  als  metaphysischer 
Begriff  §§  I,  3,  5,  20,  34,  41, 
61,  65,94,  103,  130,  140,  148f., 
152  (äußere  W.  als  nur  schein- 
bar gemeinter  Gegenstand  des 
Denkens  ;  §  195  Oidnung  d.  W. ; 
§  274  Allgemeine  Sitte  und 
specieller  Ortsgebrauch  der  W. ; 
§  278  Gewißheit  über  W.  von 
Tatsachen  gibt  nur  die  un- 
mittelbare Wahrnehmung ;  §316 
W.  als  allgemeinster  Begriff 
von  Bejahtheit  hat  eine  vier- 
fache Form ;  §  348  aus  allge- 
meinen Begriffen  des  Denkens 
ist  die  reale  W.  des  in  ihnen 
Gedachten  nicht  ableitbar ;  §  349 
die  allgemeine  Gesetzlichkeit 
der  W.  ist  weder  denknoth- 
wendig  noch  als  denknoth- 
wendige  Folge  uns  gegebener 
Tatsachen  abzuleiten. 

Wirksamkeit,  S.  165  Vorstel- 
lung  der  hervorbringenden  W. 

Wirkung,  s.  a.  Ursache;  §99  W. 
als  fließendes  Merkmal  in  hy- 
pothetischem Obersatz;  §  345 
W.  als  metaphysischer  Begriff. 

Wissenschaft,  §§99,  107,  Ulf., 
113  ff.  W.,  die  sich  mitVermitte- 
lung  unvergleichbarer  Merkmale 
abgeben  (z.  B.  Physik)  bedie- 
nen sich  der  Proportion;  §  145 f. 
Unterschied  der  antiken  und 
modernen  Wissenschaft  als  Un- 
terschied der  Classification  und 
erklärenden  Theorie;  §172  mehr- 
dimensionaler Raum  als  Laune 
der  W.;  §  300  wirkliche  und 
ideale  Wissenschaft;    §  359  hy- 


632 


Sachregister. 


pothetische  Gültigkeit  der  Ge- 
setze apriorischer  W.;  §  365 
höchstes  Ziel  der  W.  ist,  den 
Weltlauf  nicht  bloß  zu  berech- 
nen, sondern  auch  zu  verstehen. 

Z. 

Zahl,  §^64,  111,  185 f.  (Pytha- 
goras),  188  (Realität  der  Zahl; 
jede  Zahl  ist  eine  Funktion  der 
andern  Z.),  196  Begriff  u.  Z., 
287  (Gesetz  der  großen  Zahlen), 
353  reine  oder  apriorische  An- 
schauung der  Zahlgröße. 

Zahlwort,  §  7  logischer  Sinn 
des  Z. 

Zeichen,  §  48  Naturlaut  als  blo- 
ßes Zeichen  eines  inneren  Zu- 
standes. 


Zeitwort,  §  7  losfischer  Sinn 
des  Z. 

Zusammengehörig,  Aufgabe 
des  Denkens,  das  bloße  Zu- 
sammensein in  ein  Zusammen- 
gehören zu  verwandeln,  §§  I,  2, 
17,  20—22,  25,  26,  34  f.,  56,  59, 
60,  62,  65,  101,  103,  113,  116, 
120,  124,  125,  151,  307,  363. 

Zustand,  §§  1,  2,  17,  20  (Mecha- 
nismus d.  inneren  Z.),  48,  171 
psycholog.  Z.;  §§32  (Symbebe- 
kos),  99  (Z.  als  fliehendes  Merk- 
mal), 166  logischer  Z.;  §  147 
(Weltzustände);  §  345  Z.  als 
metaphysischer  Begriff. 

Zweck,  §  130,  §  314. 

Zweifel,  §  181,  §  302ff.,  S.  CII 


Katalog 


DER 


PHILOSOPHISCHEN 
BIBLIOTHEK  «• 


INHALT 

Seite 

Neuerscheinungen  1911/12 1 

Alphabetisches  Verzeichnis  der  „Philosophischen  Biblio- 
thek"   5 

Lehrbücher  der  „Philosophischen  Bibliothek"     ...  20 

Neuere  philo.sophische  Werke 21 


neuerschßlnun$ßn  (nn)  der  Jahre  1911/12 


Kirchner-Michaelis.  Wörterbuch  der  philosophischen 
Grundbegriffe.    6.  Aufl.    1911.    VIII,  1124  S. 

Preis  M.  12.50,  geb.  M.  14.— 

Die  Festigkeit  der  Grundlagen,  die  umfassende  Vollständigkeit  des  Stoffes,  die 

durchsichtige  Anlage  und  vortreffliche  Form,   sowie  die  würdige  Ausstattung  machen 

das  Buch  zu  einem  treuen  Führer  auf  den  verschlungenen   Pfaden   der  Philosophie. 

Man   kann   ihm  nur  weitere  und  weitere  Verbreitung  wünschen. 

Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  1911. 

Vorländer,  Karl.  Geschichte  der  Philosophie. 

I.  Bd. :   Altertum,  Mittelalter  und  Übergang  zur  Neuzeit.     3.  Aufl. 
1911.   XII,  368  S.  Preis  M.  3.60,  geb.  M.  4.50 

II.  Bd.:  Philosophie  der  Neuzeit.    3.  Aufl.    1911.    VIII,  524  S. 

Preis  M.  4.50,  geb.  M.  5  50 

Selten  ist  die  Geschichte  der  Philosophie  in  den  letzten  Jahrzehnten  so  faßlich  und 
übersichtlich  dargestellt.  Diese  vaterländische  Geschichte  der  Philosophie  wird  gewiß 
auf  Jahrzehnte  hin  das  Lieblingsbuch  aller  Freunde  der  Philosophie  sein. 

Literaturbericht  für  Theologie. 

D'Alembert's  Einleitung  in  die  französische  Enzyklopädie 
von  1751  (Discours  preliminaire).  Herausgeg.  und  er- 
läutert von  Dr.  Eugen  Hirschberg. 

I.  Teil:   Text.   XXIII,  153  u.  11  S.  Preis  M.  2.50,  geb.  M.  3.— 

II.  Teil:    Erläuterungen.    VIII,  192  S.  Preis  M.  1.50 

Beide  Teile  in  1  Band  gebunden  M.  4.50 

Diese  Schrift  des  ,, Vaters  des  Positivismus"  dürfte  besonders  geeignet  sein,  zur 
Einführung  in  die  Philosophie  überhaupt  zu  dienen.  In  den  französischen  Schulen 
ist  sie  seit  langem  als  Lehrbuch  und  Prüfungsgegenstand  eingeführt,  wozu  sie  sich 
durch  ihre  einfache,  jedem  verständliche  Sprache  besonders  eignet.  —  Die  Erläuterungen 
führen  den  D'Alembertschen  Text  bis  zur  Gegenwart  fort. 

Aristoteles.  Nikomachische  Ethik.  Neu  übers,  u,  erläut.  v 
Dr.  theol.  Eug.  Rolf  es.     XXIV,  234  u.  40  S. 

Preis  M.  3.20,  geb.  M.  3.80 
Diese  Ausgabe  benutzt  als  erste  den  von  der  Forschung  bisher  regelmäßig  über- 
sehenen Kommentar  des  Thomas  von  Aquin,  eines  dem  Aristoteles  kongenialen  Geistes. 
Durch    das    Heranziehen    dieses    Kommentars,    der   reifsten    Frucht  der   Aristoteles- 
forschung aller  Zeiten,  wird  der  Wert  derselben  ein  unschätzbarer. 

Aristoteles.  Drei  Bücher  über  die  Seele.  Neu  übers,  von 
Gvmn.-Dir.  Dr.  A.  Busse.    1911.    XX,  94  u.  27  S. 

Preis  M.  2.20,  geb.  M.  2.70 

Die  systematische  Psychologie  ist  ein  Werk  des  Aristoteles.  Für  das  Studium 
und  das  Verständnis  dieser  Quellenschrift  ersten  Ranges  die  sichere  Grundlage  zu 
schaffen,  war  die  Aufgabe  dieser  Neuausgabe. 

Descartes.  Über  die  Leidenschaften  der  Seele.  Neu  übers, 
u.  erläut.  v.  Dr.  A.  ßuchenau.  Mit  dem  Register  der  Gesamt- 
ausgabe.    XXXI,  120  u.  30  S.  Preis  M.  2.20,  geb.  M.  2.80 

Mit  dem  Erscheinen  dieses  Bandes  liegt  nunmehr  die  Descartes-Ausgabe  voll- 
ständig in  der  neuen  Bearbeitung  vor.  Dem  Bande  ist  das  schon  lange  dringend  ge- 
wünschte Gesamtregister  beigegeben. 

1 


Neuerscheinungen   1911/12, 


Fichte.     Werke.  Bd.  I.    Mit  Einleitung  von  Prof.  Dr.  F.  Medicus. 
1911.     Gr.  80.     CLXXX,  603  S.   Preis  M.  7.—,  geb.  in  Hfz.  M.  9.^0 

Die  Textbehandlung  ist  durch  mustergültige  Genauigkeit  ausgezeichnet.  Die 
Einleitungen  des  Herausgebers  führen  vortrefflich  in  die  zeitgeschichtlichen  Be- 
dingungen dieser  Schriften  ein  und  zeigen,  daß  Fichte  auch  für  unsere  Zeit  noch 
manches  zu  sagen  hat,  daß  er  noch  nicht  lediglich  historisch  geworden  ist.  Es 
scheint  aber,  als  ob  auch  die  geistige  Stimmung  vielfach  zu  Fichte  zurücklenkt  als 
dem  Denker,  der  unter  der  Hülle  seiner  Metaphysik  des  Ich  der  Persönlichkeit  ihre 
Stellung  gewinnt.  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht. 

Daraus  einzeln: 

Fichte.     Über  den  Begriflf  der  W^issenschaftslehre  (1794). 
IV,  61  S.  Preis  M.  1.— 

—  Grundlage   der  gesamten    Wissenschaftslehre  (1794). 
Mit  Einltg.  von  Medicus.  XXX,  245  S.  Preis  M.  3.—,  geb.  M.  4.— 
Nach  Friedrich  Schlegel  bedeutete  dies  Buch  ,,eine  der  großen  Tendenzen  des  Zeit- 
alters, neben  der  französischen  Revolution  und  dem  Wilhelm  Meister". 

Einzeln  erschienen  früher  u.  a.: 

Fichte.     Schriften  zum  Atheismusstreit.      Mit  Einleitung  v. 
F.  Medicus.    XXXIII,  142  S.  Preis  M.  2.—,  geb.  M.  2.60 

—  Die  Bestimmung  des  Menschen.   IV,  155  S.   Preis  M.  1.80 

—  Die  "Wissenschaftslehre  (1801   u.   1804).    396  S. 

Preis  M.  4.—,  geb.  M.  5.— 

—  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters.      IV,   264  S. 

Preis  M.  3.—,  geb.  M.  4.— 

—  Drei  Schriften  über  den  Gelehrten  (1794.  1805.  181 1). 
IV,  224  S.  Preis  M.  3.—,  geb.  M.  4.— 

—  Anweisung  zum   seligen   Leben. •  Mit  Einleitg.  v.  F.  Me- 
dicus. XVIII,  205  S.  Preis  M.  2.50,  geb.  M.3.50 

—  Reden  an  die  deutsche  Nation.    250  S. 

Preis  M.  2.—,  geb.  M.  2.80 

Hegel.    Grundlinien  der  Philosophie  des   Rechts.    Mit  den 

von  Gans  redigierten  Zusätzen  aus  Hegels  Vorlesungen  neu  heraus- 
geg.  von  Greorg  Lasso n.  Preis  M.  5.40,  geb.  M.  6. — 

Die  Ausgabe  Lassons  ist  mustergültig.  Die  Einleitung  gehört  zu  dem  Schätzens- 
wertesten ,  was  in  unserer  Zeit  über  Hegel  geschrieben  wurde.  Neben  den  außer- 
ordentlichen Seiten  des  großen  Werkes  werden  seine  Schwächen  unverhohlen  zur  Dar- 
stellung gebracht.  Überall  aber  blickt  die  Verehrung  gegenüber  dem  Meister  durch 
und  das  Bestreben,  dem  größten  Denker  des  vorigen  Jahrhunderts  zu  seiner  gerechten 
Anerkennung  zu  verhelfen. 

Josef  Kohler  im  Archiv  für  Rechts-  und  Wirtschaftsphilosophie. 

Humboldt,  Wilh.  V.,  Ausgewählte  philosophische  Schriften. 
Mit  ausführl.  Einltg.  hersgeg.  v.  Dr.  Joh.  Schubert.     39,  222  S. 

Preis  M.  3.40,  geb.  M.  4.— 
Inhalt:  Zur  Ästhetik.    Zur  Geschichtsphilosophie.    Zur  Sprachphilosophie.    Zur 
Religionsphilosophie.    Zur  Pädagogik.    Register. 

Über  das  Wesen  der  Universitäten.    Drei  Aufsätze  von  Fichte, 

Schleiermacher  und  Steffens.     Mit  ausführl.  Einltg.  hersgeg.  v. 

Prof.  Dr.  E  d.  S  p  r  a  n  g  e  r.  43,  280  u.  1 1  S.     Preis  M.  4.—,  geb.  M.  4.50 

Da  wir  heute  über  das  alte  Humboldt  sehe  Sprachgymnasium    hinaus  wollen, 

müssen  uns  Humboldts  Gedanken  zur  Selbstbesinnung  über  die  verschiedenen  Formen 

unserer  heutigen  höheren  Schulen  von  der  größten  Wichtigkeit  sein. 


Neuerscheinungen   1911/12. 


Nur  auf  den  Universitäten  herrscht  der  Humboldtsche  Geist  noch,  die  „Idee  der 
Universitäten",  wie  sie  vor  100  Jahren  in  deutschen  Denkern  lebte.  Um  diesen  Geist 
leljendig  zu  erhalten  gegen  amerikanisierende  und  polytechnische  Tendenzen ,  ist  die 
von  Spranger  gegebene  Zusammenstellung  dreier  Gutachten  von  Fichte,  Schleier- 
macher und  Steffens  über  die  Neugründung  einer  Berliner  Universität  besonders 
freudig  zu  begrüßen,  wenn  auch  alle  drei  Vorschläge  nicht  realisiert,  sondern  nur 
sehr  teilweise  von  Humboldt  benutzt  wurden. 

Die  verschiedene  Ausprägung  idealistischer  Gedankengänge  über  ein  und  das- 
selbe Problem  kann  besonders  gut  an  dieser  Ausgabe  von  ^Universitätsschriften" 
erkannt  werden.  Ich  möchte  sie  für  Durcharbeitung  in  einem  philosophischen  Seminar 
ganz  besonders  empfehlen,  ihr  aber  ebenso  wie  der  Schubertschen  Humboldtausgabe 
auch  sonst  die  weiteste  Verbreitung  wünschen.  Pädagogisches  Archiv. 

Isidoros.     Das   Leben   des  Philosophen.     Wiederhergestellt, 

übersetzt  u.  erklärt  von  Dr.  Rudolf  Asmus. 

Preis  M.  7.50,  geb.  M.  8.50 

Unter  den  Urkunden  zur  Geschichte  des  Neuplatonismus  ist  die  von  Damaskios  ver- 
faßte Biographie  des  Isidoros  eine  der  allerwichtigsten.  Auf  dem  Hintergrunde  des 
Hellenismus  eines  Julian  des  Abtrünnigen  mit  der  Glut  seiner  Liebe  und  seines  Hasses 
erhebt  sich  ein  religionsphilosophisches  Kulturbild  des  5.  Jahrhunderts,  dem  sich  an 
Figurenreichtum  und  Farbenfülle  nichts  Ähnliches  an  die  Seite  stellen  läßt. 

Kants  Leben.     Dargestellt  von  Karl  Vorländer.    Supplementband 
zur  KantauBgabe.    Mit  dem  Doblerschen  Bildnis.    XI,  211  u.  12  S. 
Preis  M.  3.—,  geb.  M.  3.60,  Gesclienkband  M.  4.20 
Diese  erste  Sonderdarstellung  von  Kants  Leben,  die  seit  der  Schubertschen  Bio- 
graphie (seit  1840!)  erschienen  ist,  verdient  ein  Buch  für  jedes  Haus  zu  werden.    Denn 
trotz  des   Fehlens   der  in  die  Augen  fallenden   großen  Momente  mangelte  es  dem 
Leben  des  großen  Philosophen  keineswegs  an  innerer  Bewegung,  die  Vorländer  in 
der  dem  Gegenstand  so  gut  angepaßten,  ruhig  dahinfließenden  Darstellung  trefflich  hat 
hervortreten  lassen. 

Locke,  John.  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand. 
2.  Bd.  Buch  3  u.  4.  Neu  übersetzt  von  Dr.  C.  Win  ekler.  VII, 
428  S.  Preis  M.  5.40,  geb.  M.  6.20 

Eine  völlige  Neuübertragung  des  wichtigen  Werkes  und  die  erste,  die  die 
kritische  Ausgabe  Fräsers  zugrunde  legt.  Band  I  soll  in  kürzester  Frist  nachfolgen. 

Lotze,  Hermann.  Logik.  Drei  Bücher  vom  Denken,  vom  Unter- 
suchen und  vom  Erkennen.  (System  der  Philosophie.  Tl.  I.)  Mit 
ausführl.  Einleitung  von  Prof.  Greorg  Misch. 

Preis  ca.  M.  7.50,  geb.  ca.  M.  8.50 
Dies  Werk,  das  die  ausführliche  Darstellung  des  Systems  des  großen  Göttinger 
Philosophen  enthält,  war  im  Buchhandel  lange  Zeit  gänzlich  vergriffen  und  auch  anti- 
quarisch kaum  mehr  aufzutreiben.  Durch  den  Neudruck  des  Werkes  wird  also  eine 
eingehendere  wissenschaftliche  Beschäftigung  mit  dem  Philosophen,  die  gerade  in 
letzter  Zeit  verheißungsvoll  eingesetzt  hat,  überhaupt  erst  ermöglicht. 

Plato.  Theätet.  Neu  übers,  u.  erläut.  von  Dr.  Otto  Apelt. 
IV.  28,  1 16  u.  48  _S.  Preis  M.  3.40,  geb.  M.  4.— 

Ohne  die  Apeltsche  Übersetzung  wird  sich  niemand  mehr  über  Theätetfragen 
äußern  können.  Die  Lektüre  ist  ein  Genuß,  namentlich  sind  dem  Verfasser  die  Glanz- 
stellen des  Dialoges  vortrefflich  gelungen.  —  Das  Buch  bietet  in  gewissem  Sinne  einen 
Abschluß  der  Theätetforschung.  Wochenschr.  f.  klass.  Philologie. 

Schellings  Schriften. 

Einzeln  erschienen  u.  a.  (sämtlich  in  Gr.  8°): 

—  Bruno,  oder  über  das  götthche  und  natürliche  Prinzip  der  Dinge 
(1802).  Preis  geb.  M.  2.40 

—  Darstellung  eines  Systems   der  Philosophie   (1801). 

Preis  geb.  M.  2.40 

—  Vom  Ich  als  Prinzip  der  Philosophie  (1795).     Preis  geb.  M.  2. — 

—  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur  (1797). 

Preis  geb.  M.  5.40 


Neuerscheinungen   1911/12. 


Schelling.     Methode  des  akademischen   Studiums    (1803). 

Preis  geb.  M.  2.80 

—  Philosophie  der  Kunst  (aus  dem  Nachlaß).  Preis  geb.  M.  5.40 

—  Positive  Philosophie  (1840/45).  Preis  geb.  M.  5.— 

—  System  des  transzendentalen   Idealismus  (1800). 

Preis  geb.  M.  5.— 

—  Von  der  Weltseele  (1808).  Preis  geb.  M.  4.40 

—  Wesen  der  menschlichen  Freiheit  (1809). 

Preis  geb.  M.  1.60 

Schleiermacher,   Friedrich.     Grundriß  der  philosophischen 
Ethik.     In  der  Twestenschen  Fassung  neu  hrsgeg.  von  D.  Fried- 
rich M.  Schiele.   VIII,  219  S.  Preis  M.  2.80,  geb.  M.  3.40 
Diesem  Neudruck  der  Schleiermacherschen  Sittenlehre  ist  die  praktische  und  sorg- 
fältige Twestensche  Ausgabe  zugrunde  gelegt,  die  unter  Schleiermachers  eigenhändigen 
Entwürfen   die   beiden   besten   auswählt  und  sie  in  ihrer   ursprünglichen  Gestalt 
gibt.     Doch  hat  der  Herausgeber  auch  hieran  noch  gebessert,   indem  er  die  Stücke 
wesentlich  übersichtlicher   ineinander    ordnet,    wodurch    sich   die  störenden  Anhänge 
Twestens  erübrigen. 

Schieiermachers  Werke  in  4  Bänden.  IVIit  Geleitwort  von 
Prof.  D.  Dt.  A,  Dorn  er.  Hrsg.  u.  eingeleitet  von  Privat-Doz.  Dr. 
Otto  Braun.     1910/11.    Groß-8o.    (Bisher  erschienen  Bd.  1,  3  u.  4.) 

Preis  M.  28.—,  geb.  in  Hfz.  M.  38.— 
Solange  wir  noch  nicht  aus  der  Krisis,  in  der  die  ganze  christliche  Ideenwelt  steht, 
heraus  sind,  so  lange  ist  der  Mann,  der  in  dieser  Krisis  mitten  inne  stand  und  zu  einem 
Führer  aus  ihr  bestimmt  war,  ein  Prophet  für  unsere  Tage.  Er  hat  unter  allen  den 
Großen  seiner  Zeit  am  persönlichsten  und  eindringlichsten  mit  dem  eigentlichen  reli- 
giösen Problem  gerungen,  hat  aber  ebensosehr  daneben  die  ethischen  und  erkenntnis- 
theoretischen Überzeugungen  und  Werte  zu  behaupten  gesucht,  indem  er  sie  in  eigener 
Weise  durchdachte  und  ins  praktische  Leben  mit  unermüdlicher  Tätigkeit  einführte. 

Kantstudien. 
Daraus  einzeln: 

—  Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.  (1803.  1834. 
1846.)     Mit  einer  Inhaltsanalyse.    XXXII,  346  S. 

Preis  M.  4.—,  geb.  M.  5.— 

—  Akademieabhandlungen  (Tugendbegriff,  Pflichtbegriff,  Natur- 
gesetz und  Sittengesetz,  Begriff  des  Erlaubten,  Begriff  des  höchsten 
Gutes,  Beruf  des  Staates  zur  Erziehung,  Begriff  des  großen  Mannes.) 
IV,  185  S.  Preis  M.  2.— 

Hierin  enthalten  u.a.  der  am  Geburtstag  Friedrichs  des  Großen  gehaltene 
Vortrag-,  der  den  Begriff  des  großen  Mannes  im  Sinne  Piatos  analysiert  und  den  Ver- 
fasser des  konstitutionellen  Staatsgedankens  als  konservativen  Träger  der  friderizia- 
nischen  Tradition  erscheinen  läßt. 

—  Predigten  über  den  christlichen  Hausstand.  Hrsgeg.  und  ein- 
geleitet von  Prof.  D.  J oh.  Bauer.    IV,  42,  176  und  4  S. 

Preis  M.  3.—,  geb.  M.  4.— 
Eine  wahre  Perle  sind  die  Predigten  Schlei  er  machers  über  den  christlichen 
Hausstand;  man  erschrecke  nicht:  Predigten,  die  ihrem  Inhalt  nach  zu  den  ethischen 
Hauptschriften  gehören.  In  wundervoller  Weise,  eingehend,  feinsinnig  sind  sie  von 
Bauer  eingeleitet  und  in  Beziehung  gesetzt  zu  Schleiermachers  Leben,  Ideenwelt  und 
sonstigen  Außeningen.  Kantstudien. 

—  Reden  über  die  Religion.     IV,  193  S. 

Preis  M.  1.40,  in  Pappband  M.  1.80 

Wer  heute  über  den   Fall  Jatho  mitreden,  nein,   wer  ihn  ganz  innerlich  und  in 

feinstem  Empfinden  miterleben  und  mitdurchleiden  will,   der  lese  die  vierte  Rede  aus 

Schleiermachers  ,, Reden  über  Religion".  Christliche  Freiheit. 


Alphabetisch   geordnetes  Verzeichnis 


der 


Philosophischen    Bibliothek. 

Sammlung  der  philoso-  /^Jp5\  Mit  ausführlichen  Ein- 
phischen  Hauptwerke  I  j  ||  jl  leitungen  sowie  Sach- 
alter   und  neuer  Zeit.      V     JL^v/       und  Namensregistern. 


Die  Philosophische  Bibliothek  ist  ein  wirklich  wundervolles  In- 
strument der  Forschung  und  der  Kultur,  um  das  alle  Nationen,  in 
denen  der  Geschmack  an  den  tiefsten  Problemen  des  Geistes  vorhanden 
oder  im  Erwachen  ist,  Deutschland  beneiden  müssen. 

La  Cultura  (Rom). 

Band  Jf  ^ 

2     Aristoteles.     Metaphysik.   Übers.,   erläut.  u.  mit  e.  Lebensbe- 
schreibung versehen   v.  Dr.  E.  Rolfe s.     Bd.  I.    1904.    18, 

162  u.  36  S.  (geb.  3.—) 2.50 

8 Bd.  IL    1904.    154  u.  46  S.  (geb.  3.—) .      2.50 

Das  Bestreben,  den  inneren  Znsammenhang  hervortreten  zu 
lassen^  charakterisiert  die  Übersetzung  Rolf  es'  und  führt  nebst 
glücklicher  "Wahl  des  deutschen  Ausdrucks  zu  einer  flüssigen,  auch 
an  schwierigen  Stellen  verständlichen  Sprache. 

Monatshefte  für  Mathematik  und  Physik. 

Die  Übersetzung,  wahrlich  keine  leichte  Aufgabe,  ist  vorzüg- 
lich gelungen;  sie  legt  überall  von  einem  tiefgründigen  Verständ- 
nisse Zeugnis  ab.  Ganz  besonders  tritt  dies  noch  in  dem  dritten 
Teile  der  Arbeit  hervor:  in  den  Anmerkungen  zu  den  einzelnen 
Büchern.  Überall  sieht  man  die  gründliche  Kenntnis  der  plato- 
nischen und  aristotelischen  Philosophie  und  völlige  Vertrautheit 
mit  der  einschlägigen  Literatur  bis  m  die  neueste  Zeit  herab ;  da- 
bei zeigt  sich  der  Verfasser  als  selbständiger  Denker.  Ein  Namen- 
und  Sachverzeichnis  bildet  den  Schluß  der  höchst  verdienstlichen 
Arbeit.  Prof.  A.  Stölzle  in  der  Theologischen  Revue. 

4  —  Über  die  Seele.     Neu  übersetzt  von  Gymn.-Dir.  Dr,  Adolf 

-Busse.     1911.     XX,  94  u.  27  S.    (geb.  2.70) 2.20 

5  —  Nikomachische  Ethik.     2.  Aufl.     Neu  übersetzt  u.  erläut.  von 

Dr.  theol.  E.  R  o  1  f  e  s.    191 1 .  XXIV,  234  u.  40  S.     (geb.  3.80)      3.20 

In  den  Anmerkungen  sind  die  Beziehungen  zwischen  Tugend, 
Glück  und  Vergnügen  im  Eudämonismus  gut  herausgearbeitet; 
man  kann  sich  nur  dazu  beglückwünschen,  einen  so  zuverlässigen 
Führer  in  dieser  Frage  zu  haben,  die  die  Pundamentalfrage  in  der 
Aristotelischen  Ethik  ist.  Revue  N6o-Scolastiqne. 

7     —  Politik.     38,  268  S.   (geb.  3.—) 2.50 

9-13  —  Organon  kompl.  126,  606  S.    (geb.  6.—) 6.10 

Daraus  einzeln: 

9     —  Kategorien  und  Hermeneutica.     12,  82  S.    (geb.  1.40)      .     .  1.— 

10  —  Erste  Analytiken,  oder:  Lehre  vom  Schluß.  172  S.  (geb.  1.20)  —.80 

11  —  Zweite  Analytiken,  oder:  Lehre  vom  Erkennen.    136  S.  .     .  —.80 

12  —  Topik.     32,  206  S.     (geb.  2.40) 2  — 

2 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  .^    <^ 

13    Aristoteles.  Sophistische  Widerlegungen.    26,  66  S.  (geb.  0.90)  —.50 

14—18 Erläuterungen  zum  Organon  kompl.    729  S.  (geb.  3.80)  .  3.— 

*  —  Ars  poetica.     Ed.  Fr.  Ueberweg.     40  S —.40 

•JO     Berkeley,     Abhandlung  über  die  Prinzipien  der  menschlichen 

Erkenntnis.  Übers,  u.  mit  Anm.  versehen  von  Friedrich 
Ueberweg.  4.  Auü.  1906.  166  S.  (geb.  2.50)  ....  2.— 
"Wer  einen  Einblick  pfewinnen  will  in  die  so  einfach^Q  und  da- 
bei so  überraschend  wirkenden  Anfang^sfragen  des  Erkenntnis- 
problems, wer  das  Gebiet  der  zunächst  lieg-enden  Erfahrung  nicht 
verlassen  und  doch  einmal  eine  Luft  atmen  willj  die  der  jetzt  fast 
auf  allen  Gebieten  sich  hervordrängenden  matenalisti»chen  Gmnd- 
anschauung  vollständig  entgegengesetzt  ist,  der  nehme  Berkeley 
zur  Hand.  Deutsches  Protestantenblatt. 

102     —  Drei  Dialoge  zwischen  Hylas  imd  Philonous.  Übers,  u.  eingel. 

v.Raoul  Richter,  gr.  8°.  1901.  XXVH,  131  S.  (geb.  2.50)  2.— 
Die  vorliegende  Übersetzung  ist  in  doppelter  Hinsicht  dankens- 
wert. Einmal  macht  sie  dem  deutschen  Leser  diejenige  Schrift 
des  Philosophen  zugänglich,  die  sich  am  besten  zur  Lektüre  eignet 
für  den,  welcher  ihm  zum  ersten  Male  näher  zu  treten  wünscht. 
Sodann  hat  der  Übersetzer  diese  seine  Aufgabe  in  sorgfältiger  und 
glücklicherweise  gelöst;  die  Verdeutschimg  ist  nicht  nur  gut  les- 
bar, sondern  wahrt  auch  geschickt  die  stehenden  technischen  Aus- 
drücke des  Originals.  Deutsche  Literaturzeitung. 
143     —  Theorie  der  Gesichtswahrnehmung.  Im  Druck. 

'    21     Brano,  Giordano.     Von   der  Ursache,   dem  Prinzip  und  dem 
Einen.  Übers,  u.  mit  Anm.  versehen  von  Prof.  AdolfLasson. 

3.  Aufl.     1902.    XXIV,  115  u.  47  S.   (geb.  2.—) 1.50 

Die  Übersetzung,  die  Prof.  Lasson  von  den  fünf  Dialogen 
Brunos  schon  im  Jahre  1872  veröffentlichte,  ist  allgemein  bekannt 
wegen  ihrer  Genauigkeit  und  der  Meisterschaft,  mit  welcher  der 
Schwung  und  der  Glanz  des  italienischen  Stiles  wiedergegeben  ist. 
Man  kann  sich  also  auf  eine  dritte  noch  verbesserte  Auflage  nur 
freuen.  Eine  Einleitung  und  zahlreiche  Anmerkungen  setzen  jeden 
Leser  in  den  Stand,  ohne  eine  besondere  Vorbereitung  Brunos  Ge- 
danken ziemlich  gut  zu  verstehen. 

Viertel]  ahrsschrift  f.  wiss.  Philosophie. 

22  Cicero.     Fünf  Bücher  über  das  höchste  Gut  und  Übel.     346  S.  1.— 

23  —  Drei  Bücher  über  die  Natur  der  Götter.    262  S.    (geb.  1.20)  —.80 

24  —  Lehre  der  Akademie.     176  S.     (geb.  1. — ) — .60 

*  Comte,  Augfuste.     Die  positive  Philosophie.     Im  Auszuge  von 

Jules  Rig.     2  Bde.  in  Groß  S^.     32,  472  S.    12,  524  S.      .    16.- 
—  Levy-Bruhl,  L.     Die  Philosophie  Comtes.     Übersetzt  von 

H.  Molenaar.     VI,  288  S 6.— 

25  Condillac.    Abhandlung  üb.  die  Empfindungen.    Zur  Zeit  vergriffen. 
140a/l>  D'Alembert's  Einleitung  in  die  französische  Enzyklopädie  von 

1751  (DiscouTB  preliminaire).     Herausgeg.  und  erläutert  vou 

Dr.  Eugen  Hirschberg. 
Uüa         I.  Teil:    Text.     XXIII,  153  u.  11  S.     (geb.  3.—)    ....      2.50 

140  b        II.  Teü:    Erläuterungen.     VIII,  192  S 1.50 

Beide  Teile  in  1  Band  gebunden      4.50 

*  Dante.    Über  die  Monarchie.    91  S.    (kart.  —.90)   .     .     .     .     .      -.60 
26-    Descartes'  Philosophische  Werke.  Mit  einem  Gesamtregister. 

29  In  2  Bibliotheksbände  geb 15.— 

Die  reichhaltigste  deutsche  Ausgabe  Descartes'! 

*)  Außerhalb  der  Nummernfolge  der  Philosophischen  Bibliothek. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in   Leipzig. 


Band  ^   ^ 

Deseartes. 

26  u.  I.  Abhandlung     über     die     Methode.       Die     Regeln    zur 

26a  Leitung  des  Geistes.  Die  Erforschung  der  Wahrheit  durch 

das  natürliche  Licht.     Neu  übers,  u.  mit  Einleitung  u. 
Anm.  herausgeg.  von  Dr.  Artur  Buchenau  (geb.  3. — )      2.4C 
Die  „Eeg-eln"  und  die  „Erforschung:  der  Wahrheit"  erscheinen 
hier  zum  ersten  Male  überhaupt  in  deutscher  Übersetzung'.    Die 
Eegfeln  bilden  das   methodische  Grundwerk  der  Philosophie  Des- 
cartes':   es  sind  darin  die  erkenntnistheoretischen  und  die  Unter- 
suchungen über  die  grundlegenden  Probleme  der  Mathematik  in 
einer  Klarheit  enthalten,  die  durch  die  späteren  Werke  nicht  über- 
troffen, ja  kaum  je  erreicht  wird.    Die  „Erforschung"  aber  bildet 
eine  wichtige  Ergänzung  zum  anchen  in  den  Eegeln  berührten  Fragen . 
Daraus  einzeln: 
20  —  Abhandlung  über  die  Methode.     2.  Aufl.  1905.    82  S.    —.60 

26  a  —  Die   Regeln    zur  Leitung  des    Geistes.     Die  Erfor- 

schung   der   Wahrheit    durch  das    natürliche  Licht. 
1906.    168  S.    (geb.  2.40) 1.80 

27  II.  Meditationen  über  die  Grundlagen  der  Philosophie.   Neu 

übers,  u.  auf  Grund  der  „Objectiones  et  Responsiones" 
erläutert  von  Dr.  Artur  Buchenau.   3.  Aufl.     1904. 

68  u.  246  S.     (geb.  3.50) 3.— 

Erst  die  bisher  in  der  Seminarlektüre  unberechtigt  vernach- 
lässigten „Einwendungen  und  Erwiderungen",  die  ja  einen  weit 
größeren  Umfang  einnehmen  als  das  zugrunde  gelegte  Werk,  geben 
einen  vollständigen  und  sicheren  Einblick  in  die  Tendenz  und  Ab- 
sicht dieser  Schrift  Descartes'.  Immer  sieghafter  kann  man  den 
kritischen  Gedanken,  der  in  den  Meditationen  noch  in  einer 
metaphysisch-dogmatischen  Umhüllung  auftritt,  in  der  Verteidi- 
gfung  gegen  die  Einwürfe  und  Mißverständnisse  der  Gegner  durch- 
brechen sehen.  0.  Buek  im  „Literarischen  Zentralblatt*. 

28  III.  Die  Prinzipien  der  Philosophie.     3.  Aufl.,  von  Dr.  Artur 

Buchenau.    1908.    48,  310  S.    (geb.  5.60)  .     ....      5.— 

29  IV.  Über  die  Leidenschaften   der  Seele.     Übers,  u.  erläut. 

von  Dr.  A.  Buchenau.     3.  Aufl.    1911.    XXXII,  120 
u.  30  S.    M.  d.  Register  d.  Gesamtausgabe,    (geb.  2.80)      2.20 
*      —  Regulae  ad  directionem  ingenii.     Nach  der  Originalausg.  von 

1701  herausgeg.  von  Dr.  Artur  Buchenau.  1907.  IV,  66  S.      1.— 
—  Jungmann,  K.     Rene  Descartes.   Eine  Einführung  in  seine 

Werke.     1908.     VIII,  234  S 6.50 

127—  Flehte,  Job.  Gottl.  Werke  in  6  Bänden.  Hrsg.  v.  Prof.  Dr. 
132  ■  F.  Medicus.  Groß  8».  1908—12.  (geb.  in  Hfz.  57.—)  .  42.— 
Die  Textbehandlung  ist  durch  mustergültige  Genauigkeit  aus- 
gezeichnet. Die  Einleitungen  des  Herausgebers  führen  vortrefflich 
in  die  zeitgeschichtlichen  Bedingungen  dieser  Schriften  ein.  Daß 
Fichte  auch  für  unsere  Zeit  noch  manches  zu  sagen  hat,  daß  er 
noch  nicht  lediglich  historisch  geworden  ist,  mögen  besonders  die 
Einleitungen  zum  „Handelsstaat"  und  zur  „Anweisung"  lehren. 
Es  scheint  aber,  als  ob  auch  die  geistige  Stimmung  vielfach  zu 
Pichte  zurücklenkt  als  dem  Denker,  der  unter  der  Hülle  seiner 
Metaphysik  des  Ich  der  Persönlichkeit  ihre  Stellung  gewinnt. 

Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht. 
Die  umfangreiche  Einleitung  (170  Seiten)  gibt  nicht  nur  eine 
mit  großer  Sorgfalt  ausgeführte  Biographie,  sondern  vor  allem  ein 
geistiges  Bild  von  Fichtes  Persönlichkeit,  wie  es  nur  von  tiefem 
Verständnis  und  Liebe  für  einen  Großen  erreicht  wird.  Diese  Dar- 
stellung erweitert  sich  zu  einem  Kulturbilde,  je  mehr  Fichtes  Wirk- 
samkeit  mit  seiner  Berufung  nach  Berlin  an  Bedeutung  gewinnt. 

Zeitschr.  f.  d.  dtsch.  Unterricht 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  Jl  ^ 

127     Fichte,  «T.  O.  Bd.  I.  Mit  Bildnis  Fichtes  nach  der  Büste  von  L. 

Wichmann.  1911.  CLXXX  u.  603  S.     (geb.  in  Hfz.  9.50)      7.— 

Einleitungr  von  Medious  S.  I— CLXXX.    Versuch  einer  Kritik 

aller  Offenbarung  (1792).    S.  1.-128.  —Rezension  des  Aenesidemos 

(1794).     S.   129—164.  —  Über   den   Begrriff  der  Wissenschaftslehre 

(1794).    S.  156-216.  —  Bestimmung  des  Gelehrten  (1794).    S.  217—274. 

—  Grundlage  der  presamten  Wissenschaftslehre  ('1794).    S.  276—520. 

—  Grundriß  des  Eigentümlichen  der  Wissenschaftslehre  in  Rück- 
sicht auf  das  theoretische  Vermögen  (1795).    S.  521-603. 

Daraus  einzeln: 

127a Über  den  Begriff  der  Wissenschaftslehre  (1794).  IV,  61  S.      1.— 

127b Grundlage  der  gesamten  Wissenschaftslehre  (1794).    Mit 

Einltg.  von  P.  Medious.     XXX,  245  S.     (^eb.  4.—)      .     .      3.— 
127c  —  —  Grundriß    des    Eigentümlichen    der    Wissenschaftslehre 

in  Rücksicht  auf  das  theoretische  Vermögen.    IV,  83  S.     .      1.20 

12S     —  Bd.  II.     1908.     759  S.     (geb.  in  Hfz.  9.60) 7.— 

Grundlage  des  Naturrechts  (1796),     S.   1—390.  —  Das  System 
der  Sittenlehre  (1798).    S.  391—759. 
Daraus  einzeln: 
12Sa  —  —  Das    System    der  Sittenlehre    nach    den  Prinzipien    der 

Wissenschaftslehre  (1798).     1908.  IV,    371  S.     (geb.  4.60)  .      3.50 

128b Grundlage  des  Naturrechts.    1908.  IV,  389  S.    (geb.  5.—)      4.— 

129     —  Bd.  111.     Mit  e.  Bildnis    Fichtes   (Kupferstich    von    Schult- 
heis).    1910.     739  S.     (geb.  in  Hfz.  9.50) 7.— 

Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre  (1797).  S.  1—84.  — 
Zweite  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre  (1797).  S.  35—102.  — 
Versuch  einer  neuen  Darstellung  der  Wissenschaftslehre  (1797). 
S.  103—118.  —  Die  philosophischen  Schriften  zum  Atheismusstreit 
(1798—1800).  S.  119—260.  —  Die  Bestimmung  des  Menschen  (1800). 
S.  261—416.  —  Der  geschlossene  Handelsstaat  (1800).  S.  417—544.  — 
Sonnenklarer  Bericht  an  das  größere  Publikum  über  das  eigent- 
liche Wesen  der  neueren  Philosophie  (1801).  S.  545—644.  —  Fried- 
rich Nicolais  Leben  und  sonderbare  Meinungen  (1801).  S.  646—789. 
Daraus  einzeln: 

129a Erste  und  zweite  Einleitung  in  die  Wisse nschaftslehie. 

1910.  IV,  102  S.     (geb.  2.—) .•     •   .•      ^-^^ 

129b  —  —  Die  philosophischen  Schriften  zum  Atheismusstreit.    Mit 

Einltg.  V.  F.  Medicus.  XXXIII,  142  S.  (geb.  2.60)  .  .  2.- 
Gerade  in  unserer  Zeit  der  Religionsstreitigkeit^n ,  da  auch 
wieder  gegen  Männer  der  Vorwurf  des  Atheismus  erhoben  wird, 
die  sich  durch  ein  tieferes  Gotteserleben  auszeichnen,  sind  diese 
Schriften  nicht  nur  für  den  Philosophen,  sondern  allgemeinhln 
interessant,  fast  hätte  ich  gesagt:  aktuell.  Eine  vorzügliche  Ein- 
leitung von  Medicus  zeichnet  den  äußeren  Verlauf  des  Atheismus- 
streites und  trägt  nicht  vinwesentlich  zum  Verständnis  der  Fichte- 
schen und  Forbergschen  Schriften  bei.  A.  D.  B,  Zeitschrift. 

129r Die  Bestimmung  des  Menschen.     1910.  IV,  155  S.    .     .      1.80 

129d Der   geschlossene   Handelsstaat.    Mit  Einleitung  von  F. 

Medicus.     1910.  XII,  127  S 1.50 

129e Sonnenklarer  Bericht  über    das  eigentliche  Wesen    der 

neueren  Philosophie.     IV,   102  S 1.20 

129  f NicolaisLeben  und  sonderbare  Meinungen.  1910.  IV,  95  S.      1.— 

130  —  Bd.  IV.     1908.     648  S.  (geb.  in  Hfz.  9.60) 7.— 

Darstellung   der   Wissenschaftslehre.      Aus    dem    Jahre  1801. 
S.    1—164.    —    Die   Wissenschaftslehre.     Vorgetragen    i.    J.    1804. 
S.  165—392.  —  Die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters  (,1806). 
S.   393—648. 
Daraus  einzeln: 
130a Die  Wisaenschaftslehre  von  1801  u.  1804.  396  S.  igeb.  5.—)      4.— 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  M  ^ 

130b  Fichte,  Joh.  Oottl.     Grrundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters. 

1908.     IV,  264  S.     (ffeb.  4.—) 3.— 

Die  Grundzüge  geoen  eine  äußerst  lein  durchgearbeitete  Ana- 
lyse der  geistigen  Bewe^ngen,  die  vor  hundert  Jsinren  unser  Volk 
durchströmten.  Sie  mit  den  Grundzügen  unseres  Zeitalters  zu 
vergleichen,  den  Abstand  und  die  innere  Einheit  sich  klar  zu 
machen,  ist  eine  lohnende,  uns  bereichernde  Aufgabe. 

Die  Studierstube. 

131  —  Bd.  V.     Mit  e.  Bildnis    Fichtes    (Medaillon    von    Wich- 

mann).     1910.     692  S.     (geb.  in  Hfz.  9.50) 7  — 

Über  das  "Wesen  des  Gelehrten  (1806).    S.  1—102.  —  Anweismig 
zum  seligen  Leben  (1806).    S.  108-808.  —  Bericht  über  den  Begriff 
der  Wissenschaftslehre  und  die  bisherigen  Schicksale  ders.  (1806). 
S.  309—356.  —  Zu  „Jacobi  an  Fichte"  (1807).     S.  857-364.  —  Reden 
an  die  deutsche  Nation  (1808).    S.  865—610.  —  Die  Wissenschafts- 
lehre in  ihrem    allgemeinen  Umriß  fl810).      S.  611—628.   —  Vor- 
lesungen über  die  Bestimmung  des  Gelehrten  (1811).    S.  629—692 
Daraus  einzeln: 
131a  —  —  Über  den  Grelehrten.      Bestimmung  des  G-elehrten  (aus 
Bd.  I)  (1794)  —  Wesen  des  Gelehrten  (1805)  —  Bestimmung 

des  Gelehrten  (1811).    lY,  224  S.     (geb.  4.—) 3.— 

131b  —  —  Anweisung  zum  seligen  Leben.     Mit  Einltg.  v.  F.  Medi- 

eus.     XVIIl,  205   S.     (geb.   3.50) 2.60 

Diese  verhältnismäßig  leicht  verständlichen  Vorträge  verdienen 
weitgehende  Beachtung  auch  in  unserer  Zeit ;  denn  sie  sind  nichts 
weniger  als  veraltet.  Konzentration,  Selbstbesinnung.  Vertiefung 
tut  unserer  oberflächlichen,  viel  zu  vieles  überfliegenden  Zeit  not. 
Und  auf  diese  dringt  Fichte  in  seinen  Vorlesungen. 

A.  D.  B.  Zeitschrift. 
ISlc Eeden  an  die  deutsche  Nation.    1910.   250  S.  (geb.  2.80)      2.— 

132  —  Bd.  VI.    Mit  dem  Gesamtregister.  1912.    (in  Htz,  geb.  9.60}      7.— 

Inhalt:  System  der  Sittenlehre  (1812).  S.  1—118.  —  Über  das 
Verhältnis  der  Logik  zur  Philosophie  oder  transzendentale  Logik 
(1812).  S.  119—416.  —  Die  Staatslehre  oder  über  das  Verhältnis  des 
Urstaates  zum  Vemunftreiche  (1818).  S.  417—625.  —  Register  der 
Gesamtausgabe. 

Daraus  einzeln: 

132a System  der  Sittenlehre,     (geb.  2.20) 1.60 

1321> Transzendentale  Logik,     (geb.  5. — )        4.— 

132c Die  Staatslehre,     (geb.  4.—) 3.— 

Außerhalb  der  Gesamtausgabe  erschien: 
30     —  Versuch   einer  Kritik   aller  Offenbarung.      Hrsg.  v.  J.  H.  v. 

Kirchmann.     202  S.     (geb.  1.50) 1.— 

120  Fichte,  Schleiermacher,  Steffens.  Über  das  Wesen  der  Uni- 
versität. Mit  einer  Einltg.  herausgeg.  von  Eduard  Spranger. 
1910.  XLni,  280  u.  11  S.  (geb.  4.50) 4.— 

Die  Einleitung  von  Spranger  ist  als  eine  Abhandlung  von  selb- 
ständigem Wert  anzusehen.  Sie  zeigt  uns  in  großen  Zügen,  wie 
der  Kampf  zwischen  Staat  und  Universität  sich  vom  Mittelalter  bis 
zur  Neugründung  der  Berliner  Hochschule  gestaltete. 

Zeitschrift  für  Philosophie. 
*     Friedrich  der  Große.  Antimachiavell.  XX,  120  S.  (kart.  0.90)    —.60 

109  Goethes  Philosophie  aus  seinen  Werken.  Ein  Buch  für  jeden 
gebildeten  Deutschen.     Mit  ausfuhrl.  Einltg.  herausgeg.  von 

Max  Heynacher.    1905.    Vni,  110  u.  318  8 3.60 

—  —  Einfach  geb.  M.  4. —     In  Geschenkband  ......      5. — 

Als  ich  dieses  Buch  las,  in  einem,  was  man  sonst  nur  von  da 
und  dort  sich  zusammenholen  und  sich  selber  zurechtkonstruieren 


Verlag  von   Felix   Meiner  in   Leipzig. 

±>aiia  miiß,    so  Zug    um  Zug  vom  Urquell  trank  —  da   kam  es    auch  - 

über  mich  immer  wieder  wie  ein  Erschrecken  und  Erschauern. 
Und  mir  war's  als  wieder  etwas  ganz  Neues,  als  hätte  ich's  zum 
ersten  Male  erfunden  und  entdeckt  und  noch  nie  gehört :  Goethes 
Philosophie  bedeutet  wirklich  und  wahrhaftig  etwas  ganz  Neues. 

Julius  Hart  im  ,.Tag". 

81 '2    Crrotius,  Hugro,    Drei  Bücher  über  das  Recht  des  Krieges  und 

Friedens.    2  Bde.     630  S.    480  S.     (geb.  7.—) 6.— 

33    Hegel,  Georg  Wilh.  Friedr.    Encyclopädie  der  philosophischen 
Wissenschaften   im  Gnindiisse.     In  2.  Aufl.   neu  herausgeg. 
von  Georg  Lassen.      1905.     76,  499  u.  23  S.   (geb.  4.20)      3.60 
Diese  Ausgabe  der  Enzyklopädie  bildet  eine  Zierde  der  Philo- 
sophischen Bibliothek  und  wird  auch  an  ihrem  Teile   dazu  bei- 
trapren,  immer  weitere  Kreise  der  Gebildeten  von  neuem  für  die 
Philosophie  des  tiefsten  Denkers  der  deutschen  Nation  zu  gewinnen. 

Preuß,  Jahrb. 
114     —  Phänomenologie  des  Geistes.    Jubiläumsausgabe.    Hrsgeg.  u. 

eingeleitet  v.  G.  Lassen.  1907.  119,  532  S.  (geb.  6.—)  .  5.— 
Ganz  besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdient  die  aus- 
führliche Einleitung,  die  der  Herausgeber  diesem  Werke  voran- 
feschickt  hat.  Er  gibt  darin  eine  Entwicklung  des  Hegeischen 
Denkens  bis  zur  „Phänomenologie"  hin  und  eine  Charakteristik 
dieser  Schrift  selbst,  die  als  die  beste  und  wirkungsvollste  Ein- 
führung in  das  Studium  dieses  Philosophen  hingestellt  werden 
können.  Preußische  Jahrbücher. 

124  —  Grundlinien  der  Philosophie  des  Rechts.  Mit  den  von  Gans 
redigierten  Zusätzen  aus  Hegels  Vorlesungen  neu  herausgeg. 
von  Georg  Lassen.     1911.     XCVI,  380  S.     (geb.  6.—)    .      6.40 

*  —  Phänomenologie  des  Geistes.     Hrsg.   u.   eingeleitet  v.  Otto 

Weiß.  1909.  XLIV,  612  u.  15  S.  Gr.  S«.  (in  Hfz.  geb.  9.—)  7.— 
Die  Fortsetzung  dieser  von  dem  Verlage  von  Fritz  Eckardt 
begonnenen  und  in  meinen  Besitz  übergegangenen,  auf  12  Bände 
berechneten  Gesamtausgabe  der  "Werke  Hegels  wird  mit  der  von 
Georg  Lassen  besorgten  Ausgabe  vereinigt  und  im  Eahmen 
der  „Philosophischen  Bibliothek.''  f  ortgfeführt  werden.  Als  nächste 
Bände  werden  erscheinen  die  „Ästhetik",  hrsg.  von  O.  Weiß,  und 
die  „Kleinen  Schriften  zur  Rechtsphilosophie  und  Staatslehre", 
hrsg.  von  G.  Lasson. 

112  Herders  Philosophie.  Ausgewählte  Denkmäler  aus  der  Werde- 
zeit   der   neuen  deutschen  Bildung.     Herausgeg.   v.  Horst 

Stephan.     1906.     44,  275  u.  35  S.  (geb.  4.20) 3.60 

Herder  ist  der  Sämann,  der  am  Eingang  unserer  modernen 
Kultur  steht.  Mit  dem  weitausgreifenden  Scfiritt  des  Sehers  und 
Propheten  hat  er  als  erster  das  große  Eeich  unseres  "Weltempfin- 
dens und  "Welterkennens  durchschritten  und  überallhin  über  das 
fruchtbare  Land  seine  Keime  ausgestreut,  die  heute  langsam  der 
Blüte  und  Frucht  entgegenreifen. 
Hobbes.     De  corpore.  In  VorbereituDg. 

123     Humboldt,  Wilh.  Ton.    Ausgewählte  philosophische  Schriften. 

Herausgeg.  v.  Joh.  Schubert.  1910.  39,  222  S.  (geb.  4.—)  3.40 
Die  Bedeutung  Humboldts  als  eines  bedeutenden  und  originellen 
Denkers  ist  mit  seinen  sprachphilosophischen  und  geschichts- 
philosophischen  Arbeiten  nicht  erschöpft.  Besteht  die  größte  der 
Künste  darin,  sein  ganzes  Leben  zum  Kunstwerke  zu  gestalten, 
den  ledernen  Verrichtungen  des  Berufs  einen  höheren  Stempel 
aufzudrücken,  so  hat  Humboldt  diese  Kunst  geübt.  Alles  was 
er  schreibt,  und  seien  es  die  geringfügigsten  Erlasse,  ist  voller 
Ideen;  seine  Yerordnungen  als  Gesandter  und  preußischer  Staats- 
beamter zeigen  eine  Großzügigkeit  des  Denkens,  die  ein  Haupt- 
grund seiner  Erfolge  ist.  Der  Tag. 

*  —  Denkschrift  über  Preußens  ständische  Verfassung  1819  und 

andere  Abhandlungen  zur  Staatslehre.     36  u.  96  S.    .     .     .    --.()0 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 


Band  M    ^ 

35  Hiime,  Dayid.    Eine  Untersuchung  über  den  menschlichen  Ver- 

stand.    7.  Aufl.    Herausgeg.  von  Raoul  Richter.     1911. 
VIII,  193  u.  31  S.    (geb.  2.90) 2.40 

—  In  vornehmem  Geschenkband 3.60 

Die  Übersetzung  Richters  ist  in  jeder  Beziehung^  mustergültig:. 
Mit  bewundernswertem  Sj»rachgescnick  und  nie  versagender  Ge- 
wissenhaftigkeit hat  er  es  verstanden,  auch  in  schwierigen  Fällen 
Humes  eigentümliche  Eedeform  in  eine  wirklich  entsprechende  und 
doch  wirklich  deutsche  Ausdrucksweise  umzugießen. 

Zeitschrift  für  Philosophie. 

36  —  Dialoge      über     natürliche     Religion.       XJber    Selbstmord 

und  Unsterblichkeit  der  Seele.  Übersetzt  u.  eingeleitet  von 
Friedrich  Paulsen.  3.  Aufl.  1905.  28  u  188  S.  (geb.  2.—)  1.60 
Diese  Schrift  kann  uns  auch  heute  noch  ermutigen  in  unserm 
heißen  Eingen  um  Gewissensfreiheit  und  Toleranz.  „Mit  meister- 
hafter Klarheit  entwickelt  Paulsen  in  seiner  Einleitung  die  naög- 
lichen  Verhaltungsweisen  zu  den  Religionswahrheiten  überhaupt. 
Die  Ausgabe  gewinnt  dadurch  einen  über  die  Bedeutung  ihrer 
ursprünglichen  Bestimmung  weit  hinausreichenden  "Wert." 

Kantstudien. 

*      —  Nationalökonomische  Abhandlungen.    Übers,  v.  H.  Nieder- 
müller.    VI,  135  S 1.— 

125     Isidoros,  Das  Leben  des  Philosophen.  Wiederhergestellt,  übers. 

u.  erklärt  von  R.  Asm  US.  1911.  XVI,  126,  58u.30S.  (geb.8.50)      7.50 
IU>     Kaiser  Julian.     Philosophische  Werke.     Übers,  u.  erklärt  von 

Rud.  Asm  US.  1908.  Vn,  205  u.  17  S.  (geb.  4.25)  .  .  .  3.76 
37 —  Kant,  Imm.  SUmtliche  Werke.  Herausgeg.  von  K.  Vorländer, 
52  in  Verbindung  mit  0.  Buek,  0.  Gedan,  W.  Kinkel,  F. 
M.  Schiele,  Th.  Valentiner u.  a.  In  9  Bibliotheksbänden 
und  1  Supplementband,  enthaltend  Vorland  er  s  Kantbio- 
graphie und  Cohens  Kommentar  z.  Kr.  d.  r.  V 65. — 

Dies  ist  dte  einzige  Ausgabe  von  Kants  Sämtlichen  Werken,  die  zur- 
zeit im  Buchhandel  vollständig  zu  haben  ist.  Besonders  freudig 
wird  es  daher  begrüßt  werden,  daß  hier  zum  voUen  Verständnis 
des  gewisspnhaft  revidierten  Textes  eine  wesentliche  Erleich- 
terung durch  die  Einleitungen  und  Anmerkungen  erster  Autori- 
täten geboten  wird. 

37  —  Bd.  !.     Kritik  der  reinen  Vernunft.     9.  Aufl.     Neu  heraus- 

geg. von  Th.  Valentiner.    1906.    XII,   770  S.    (geb.  4.70)      4.— 

—  —  In  Geschenkband  geb 5.40 

In  der  9.  Avjüage  sind  nun  auch  die  Textänderungen,  die  Erd- 
mann vorgeschlagen  und  Goldschmidt  rezensiert  hat,  berücksich- 
tigt worden.  Der  Ausgabe  von  1787  sind  die  Abweichungen  vom 
Texte  der  ersten  Ausgabe  —  in  Anmerkungen  und  Beilagen  —  an- 
geschlossen. So  genügt  der  vorliegende  Band  auch  höheren  An- 
sprüchen, zumal  wichtige  Textänderungen  früherer  Herausgeber 
und  Vorschläge  modemer  Kant-Interpreten  in  reichlichen  Fußnoten 
Platz  gefunden  haben.       Wissenschaftliche  Beilage  d.  Leipz.  Ztg. 

IIJJ     —  Kitrzer  Handkommentar  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

Von  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Hermann  Cohen.   1907.    242  S.      2.— 
"Wer  an  Cohens  Hand  wandelt,  dem  sind  hundert  Ab-  und  Irr- 
wege  erspart,   dem  bleibt  die  volle  Kraft  für  das  Wesentliche  an 
der  Vernunftkritik,  der  mag  schöne  Stunden  sichtlich  wachsender 
Erkenntnis  genießen.   Und  so  wird  in  unseren  Tagen,  wo  unleug- 
bar der  Sinn  weiter  Schichten  sich    der  Philosophie  öffnet,  nur 
die  Auswahl  der  philosophischen  Lektüre  oftmals  durch  geringere^« 
Schwierigkeit  des  Eindringens  bestimmt  wird  und  darum  ins  All-^g^. 
gemeine  geht,  Cohens  Kommentar  viel  Segen  stiften.   Er  sei  vielen 
enjpfohlen.  Leipziger  Zeitunp. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  Ji  oS 

3S    Kant.  Bd.  II.  Kiitik  der  praktischen  Vernunft  5.  Aufl.  M.  Einltg. 

hrsg.  V.  Karl  Vorländer.    1906.    47  u.  220  S.     (geb.  3.40)      2.80 

39  —  Kritik  der  Urteilskraft.    3.  Aufl.  Neu  herausgeg.  u.  eingeleitet 

vonProf.Dr.KarlVorländer.  1902.  38, 378 u. 36 S.  (geb. 4.10)      3.50 
Ich  stehe  nicht  an,  diese  Ausgabe  eine  Zierde  der  Philosophi- 
schen Bibliothek  zu  nennen. 

Ferd.  J.  Schmidt  in  den  Preuß.  Jahrbüchern. 

40  —  Bd.  ill.    Prolegomena  zu   einer  jeden  künftigen  Metaphysik. 

4.  Aufl.     Herausgeg.  u.  eingeleitet  von  Karl  Vorländer. 

Mit  3  Beilagen.    1905.    44,  196  u.  12  S.     (geb.  2.50)      ...      2.— 

41  —  Grrundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,   3,  Aufl.  M.  Einltg. 

herausgeg.  V.  K.  Vorländer.   1906.  30  u.  102  S.  (geb.  1.80)      1.40 
4*2     —  Metaphysik   der   Sitten.     2.  Aufl.      Hrsg.   u.   eingeleit.   von 

Prof.  Dr.  Karl  Vorländer.  1907.  LI,  360  u.  18  S.  (geb.  5.20)      4.60 

43  —  Bd.  IV.    Logik.     3.  Aufl.   Neu  herausgeg.  u.  eingeleitet  von 

Prof.  Dr.  Walter  Kinkel.    1904.     28  u.  171  S.     (geb.  2.50)      2.— 

44  —  Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht.  4.  Aufl.  1899.  279  S.      1.50 

45  —  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft. 

3.  Aufl.    Herausgeg.   u,   eingeleitet  von  Karl  Vorländer, 

1903.    96,  236  u.  24  S.   (geb.  3.70) 3.20 

Der  große  Vorzug:  der  Ausgaben  Dr.  Vorländers  besteht  in  den 
ausführlichen  Einleitungen,  welche  die  Grundgedanken  des  kriti- 
schen Idealismus  erläutern  und  so,  in  Verbindung  mit  genauen 
Sachregistern,  das  Studium  Kants  zu  erleichtem  und  sein  Ver- 
ständnis zu  fördern  recht  geeignet  sind.  Wie  trefflich  jene  Ausg'aben 
ihrem  Zwecke  dienen,  wird  nur  der  recht  zu  würdigen  wissen, 
der  sich  ohne  solche  Hilfsmittel  durch  Kants  Philosophie  mühsam 
hat  hindurcharbeiten  müssen.  Protestantische  Monatshefte. 

46  —  Bd.  V.    Kleinere  Schriften  zur  Logik  u.  Metaphysik.    2.  Aufl. 

Herausgeg.  u.  eingeleitet  von  Prof.  Dr.  Karl  Vorländer. 
1905.  32,  169;  40,  172;  20,  175;  31,  175  S.  (geb.  6.—) .     .     .      6.20 
Hiervon  einzeln: 

46a  —  Versuch,  den  Begrifi"  der  negativen  Grrößen  in  die  Welt- 
weisheit einzuführen,     (geb.  2, — )       1.50 

46b  —  Träume    eines  treistersehers ,    erläutert    dui'ch  Träume    der 

Metaphysik,     (geb.  2.—)    . 1.50 

46c  —  "Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die  Metaphysik 
seit  Leibnizens  und  Wolfs  Zeiten  in  Deutschland  gemacht 
hat?  (geb.  2.—) 1.50 

46d  —  Der  Streit  der  Fakultäten,   (geb.  2.—) 1.50 

47  —  Bd.  VI.    Kleinere  Schriften  zur  Ethik  u.  Kelig^onsphilosophie. 

(2.  Abt.  in  2.  Aufl.)  VIU,  224;  VIII,  172  S.    (geb.  2.50)   .  2.— 

Hiervon  einzeln: 
4711  __  Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration 
des  Daseins  Gottes  und  die  anderen  kleinen  Schriften  zur 
Rel.-Phü.  3.  Aufl.,  rev.  von  Fr.  M.  Schiele.  1911.  (geb.  2.—)      1.50 

48  —  Bd.  VII.    Kleinere  Schriften  zur  Naturpliilosophie.     2.  Aufl. 

Herau8g.u.eingel.v.  0.  Buek.  Bd.l.  1909.  42,  338 S.  (geb. 4.60)      4.— 
49 Bd.  2.  1907.     12  u.  454  S.  (geb.  5.60) 5.— 

50  —  Bd.  VIII.    Vermischte  Schriften  und  Briefwechsel.  VI,  562  S. 

(geb.  4.60) 4.— 

51  —  Bd.  IX.  Physische  Geographie.    2.  Aufl.    Neu  herausgeg.  von 

Paul  Gedan.    1905.    30,  366  u.  20  S.    (geb.  3.40)  .     .     .     .      2.80 

52  —  Die  vier  lat.  Dissertationen  im  Urtext.    VI,  122  S.    (geb.  1.40)      1.— 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  Jl  ^ 
126     —  Kants  Leben.  Dargestellt  von  K.  Vorländer.  Mit  e.  Bildnis 

u.  e.  Zeittafel.     1911.     XI,  211  u.  12  S.     (geb.  3.60) .     .  3.— 

—  —  In  vornehmem  Greschenkband    .....  .  .     .  4.20 

Die  großen  Kantbiogfi-aphien  sind  alle  durchsetzt  mit  der  Ana- 
lyse seiner  Werke;  darum  tritt  in  jenen  die  Gestalt  des  "Weisen 
von  Königsberg-  in  den  Hintergrund,  und  die  schlichte  Größe  des 
Menschen  kommt  uns  nicht  recht  zum  Bewußtsein.  Vorländer 
dagegen  sucht  das  Leben  Kants,  seine  menschlichen  Erlebnisse, 
die  Entwicklung  und  das  äußere  Geschick  des  Denkers  darzustellen. 
Es  ist  trotz  der  Herbe  der  Züge  ein  wohltuendes  Ganze,  das  uns 
hier  geboten  wird  .  . .  Kants  Leben  bleibt  vorbildlich  durch  seine 
Eeinheit,  der  Wert  desselben  überpersönlich,  wie  die  Natur  und 
alles,  was  den  Stempel  der  Genialität  trägt.  Pester  Lloyd. 

—  Busse.  Immanuel  Kant.     Ansprache   an    die  Königsberger 
Studentenschaft.     1904.     11  S -.50 

—  Falckenberg,  Richard.     Kant  und  das  Jahrhundert.  Cie- 
dächtnisrede  zum  lOOjähr.  Todestag.     2.  Aufl.    1907.    28  S.    —  ßO 

Siehe  auch:  Wolflfeche  Begriffsbestimmungen. 
66     Kirehmaun,  J,  H.  v.    Grundbegriffe  des  Rechtes  und  der  Moral.    — .80 
Kirchner,  "Wörterbuch  (12.50),    siehe    unter  Lehrbücher    der 
Philosophischen  Bibliothek. 
68     La  Mettrie.     Der  Mensch  eine  Maschine.    Übers,  u.  erläutert 

von  Dr.  MaxBrahn.  1909.  22,  72  S.  (geb.  2.20)  ...  1.80 
Der  neue  Herausgeber  hat  es  sich  angelegen  sein  lassen,  die 
Gedanken  La  Mettries  in  klarer  und  flüssiger  Sprache  möglichst 
genj,u  wiederzug-eben.  Die  Einleitung  macht  uns  mit  dem  Leben 
und  Charakter  des  Verfassers  bekannt  und  skizziert  mit  liebe- 
vollem Verständnis  seine  Geistesrichtiing. 

Literarische  Bundschau  f.  d,  kath.  Deutschland. 

Leibniz.  Philosophische  Werlte.  In  4  Bibliotheksbände  geb.  24.— 
Diese  vierbändige  Leibniz- Ausgabe  ist  die  einzige,  die  in  hand- 
lichem Umfang  ein  Gesamtbild  der  Weltanschauung  dieses  Philo- 
sophen gibt,  der  für  die  Grundlegung  der  Probleme  wissenschaft- 
licher Forschung  noch  heute  maßgebend  ist.  Wer  um  die  philo- 
sophische Begründung  der  Physik  oder  der  Biologie  sich  bem  ht, 
wer  Geschichte,  Ethik  oder  Eeligionsphilosophie  durchdenkt,  oder 
wer  nach  einer  strengeren  und  tieferen  Gestaltung  der  logischen 
und  mathematischen  Prinzipienlehre  strebt,  muß  auf  Leibniz  zu- 
rückgreifen. 

107  —  Bd.  I.   Hauptschriften  zur  Grundlegung  der  Philo- 

sophie. Übers,  von  Dr.  Artur  Buchenau.  Durch- 
gesehen u.  mit  Einleitungen  u.  Erläuterungen  herausgegeben 
von  Dr.  Ernst  Oassirer.  L:  Zur  Logik  und  Methoden- 
lehre;  Zur  Mathematik;  Zur  Phoronomie  und  Dynamik; 
Zur  geschichtlichen  Stellung  des  metaphysischen  Systems. 
Mit  17  Fig.     1904.    382  S.  (geb.  4.20) 3.60 

108  —  Bd.  II.     Hauptschriften  usw.    IL:    Zur  Metaphysik  (Bio- 

logie und  Entwicklungsgeschichte ;  Monadenlehre);  Zur  Ethik 
und  Rechtsphilosophie;  —  Anhang;  —  Sach-  und  Namen- 
register.    1906.    580  S.  (geb.  6.—) .      5.40 

Der  vorliegende  Band  enthält  Abhandlung-en ,  die  weiteren 
Kreisen  wenig  bekannt  sind,  die  aber  das  g-rößte  Interesse  ver- 
dienen, weil  sie  für  die  Leibnizsche  Philosophie  grundlegend  sind. 
Die  Schriften  zur  Logik  und  Methodenlehre  sind  heute  um  so 
aktueller,  als  der  Streit  zwischen  Psychologismus  und  Antipsycho- 
log-ismus,  der  gegenwärtig  die  Geister  bewegt,  teilweise  zu  An- 
schauungen führt,  die  schon  bei  Leibniz  zu  finden  sind. 

Neue  Freie  Presse. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

and  «^^  ^ 

Die  Auswahl,  welche  Cassirer  Ton  den.. Schriften  gibt,  strebt  in 
glücklicher  Weise  Vollständigkeit  der  Übersicht  in  intensivem 
Sinne  an.  Die  Einleitungen  des  Herausgebers  sind  zur  Einführung 
in  die  geschichtlichen  und  sachlichen  Vorbedingungen  des  Systems 
auch  für  den  höchst  wertvoll,  welcher  Cassirers  Gesamtauffassung 
des  Systems  nicht  überall  teilt.  Literarisches  Zentralblatt. 

(Ifl  Leibniz.  Bd.  III.  Neue  Abhandlungen  über  den  mensch- 
lichen Verstand.  Übers.,  mit  Einltg.  u.  Lebensbeschrei- 
bung von  Prof.  Dr.  C.  Schaarschmidt.  2.  Aufl.  1904. 
68,  690  S.  (geb.  6.80) 6.— 

70  —  —  Erläuterungen   dazu   von  Prof.  Dr.  C.  Schaarschmidt. 

2.  Aufl.    1908.    122  S.    (geb.  2.50) 2.— 

71  —  Bd.  IV.    Theodicee.    Übers,  u.  erläut.  von  J.  H.  v.  Kirch- 

mann.    Mit  2  Tfln.     XVI,  533  S.  (geb.  3.60) 3.— 

72 Erläuterungen  dazu.    162  S — .50 

—  Merz,  J.  Th.     Leibniz'  Leben  iind  Philosophie.     Aus  dem 

Englischen  mit  Vorwort  von  C.  Schaarschmidt.     226  S.      2.— 
119     Lessings  Philosophie,     Denkmäler  aus  der  Zeit  des  Kampfes 
zwischen  Aufklärung  u,  Humanität  in  der  deutschen  Geistes- 
bildung.    Herausgeg.    von  Dr.  Paul   Loren tz.     1909.     80, 

396  S.  (geb.  5.20) 4.50 

Loren  tz'  Auswahlband  ist  wohl  das  beste  und  brauchbarste 
Werk,  das  wir  über  diesen  Gegenstand  in  neuerer  Zeit  erhalten 
haben  .  .  .  Wer  schnell  die  Quellenbelege  für  die  Lessingsche 
Lebens-  und  "Weltanschauung  gebraucht  und  sich  in  der  Kürze 
eine  Ühersicht  über  die  Ansicht  des  Denkers  in  einzelnen  Fragen 
auch  entwicklungsgeschichtlich  verschaffen  will,  folge  diesem  ge- 
diegenen Führer.  Monatshefte  der  Comeniusgesellschaft. 

121  Lessing:.  Über  das  Trauerspiel.  Briefwechsel  mit  Mendelssohn 
und  Nicolai.  Nebst  verwandten  Schriften  Nicolais  u.  Mendels- 
sohns herausgeg.  u,  erläut,  von  Prof.  Dr.  Robert  Petsch. 

1910.  55,  144  S.  (geb.  3.50) 3.— 

75  Locke.  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand.  I.  Bd. 
Neuauflage  in  Vorbereitung. 

76 IL  Bd.    Neu  übers,  v.  Dr.  C.  Win  ekler.     1911.     VIT. 

428  S.     (geb.  6.20) 5.40 

78 Erläuterungen  zu  Bd.  IL    138  S 1.— 

79     —  Leitung  des  Verstandes.  Übers,  v.  J.  B.  M  e  y  e  r.  104  S.  (geb.  1.20)  —.80 
141     Lotze,  Hermann.  Logik.  (System  der  Philosophie.     Tl.  I.)    Mit 
ausfühi'l.  Einleit.  von  Prof.  Georg  Misch.    Preis  ca.  M.  7.50, 

geb.  ca.      8. 50 
Macchiavelli,  N.     Vom  Staate.     (Erörterungen  über  die  erste 
Dekade  des  Livius.)    Übers,  v.  W.  Grüzm acher.      2n8  S 
(kart.  1.40)    . L— 

*  —  Der   Fürst.     Übers,   u.    eingeleitet    von   "\V.  (irüzm acher. 

72  S.     (kart.  —.70) —.40 

*  Melanehthon.    Ethik.     In  dir  ältesten  Fassung  zum   1.  Male 

herausgeg.  v.  H.  Heineck.  5>  S 1.20 

Mendelssohn,  Moses.    Von  der  HeiTschaft  über  die  Neigungen 
(3.—  ).     Siehe  unter  Lessitigs  Briefwechsel. 

*  Milton,  John.  Pohtische  Hanptschriften.  Übers,  u.  m.  Anm.  vers. 

V.  Wilh.  Bernhardi.    ü  Bde.    328;    359;   XVIII,  342  S.  .      6.— 
Nicolai,  Friedrieh.    Abhandlung  vom  Trauerspiel  (3.—).  Siehe 
unter  Lessingrs  Briefwechsel. 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 


Ji  ^ 


Band 

SO     Plato.     Der  Staat.     Übers,   von  Friedr.   Schleiermacher. 

3.  Aufl.,  durchges.  von  Th.  Siegert.    1907.  432  S.  (geb.  4.60)      4.— 

81  —  Gastmahl.  .Neuausgabe  in  Vorbereitung. 

82  —  Theätet.     Übers,  u.  erläut.   von  Dr.  Otto  Apelt.     2.  Aufl 

1911.     IV.  28,  116  u.  48  S.  (geb.  4.—) 3.40 

Ohne  die  Apeltsche  Übersetzung  wird  sich  niemand  mehr 
über  Theätetfragen  äußern  können.  Die  Lektüre  ist  ein  Genuß, 
namentlich  sind  dem  Verfasser  die  Glanzstellen  des  Dialoges  vor- 
trefflich geliingen.  -  Das  Buch  bietet  in  gewissem  Sinne  einen 
Abschluß  der  Theätetforschung.     Wochenschr.  f.  klass.  Philologie 

83  —  Parmenides.     42,  142  S.     (geb.  2.—) 1.50 

*  Pufendorf,  Samuel  v.     Über  die  Verfassung  des  Deutschen 

Reiches.     Übers,  u.  eingeleit.  v.  H.  Breßlau.     20  u.  118  S.    — .80 

*  Renau,  Ernst.     Philosophische  Dialoge  u.  Fragmente.     Übers. 

V.  Konrad  v.  Zdekauer.     XIX,  239  S •      2.— 

133/5    Schellings  Werke  in  3  Bänden.    Mit  drei  Porträts  Sch.'s  und 
Geleitwort  von  Prof.  Dr.  A.  Drews,  hrsg.  u.  eingel.  v.  Dr. 

A.  Weiß.    1907.    Groß  8 o.    (geb.  in  Hfz.  30.—) 25.— 

(Vorzugsausgabe,    30  numerierte   Exemplare    in   Ganzleder- 
bänden 40.—). 

Wer  die  tJberzeu^ung  teilt,  daß  Schellings  rastlos  fortstürmende 
Gedankenarbeit  in  Tiefen  der  Wahrheit  oder  doch  wenigstens  des 
"Wahrheitsuchens  hineinführt,  die  kein  anderer  Denker  uns  er- 
schließen kann,  dem  muß  es  eine  Freude  sein,  obige  prächtige 
Ausgabe  der  Werke  Schellings  anzuzeigen  ...  Die  Auswahl  der 
WeÄe  ist  so  getroffen,  daß  dem,  der  diese  Ausgabe  durcharbeitet, 
ein  geschlossenes  Bild  der  Gedankenentwicklung  Schellings  vor 
Augen  liegt.  Christliche  Welt. 

133  —  Bd.  I.    Schriften  zur  Naturphilosophie.   1907.  CLXII,  816  S. 

Mit  Bildnis  Schellings  in  Photogravüre,    (geb.  in  Hfz.  11. —  ]      9. — 
Geleitwort  von  Prof.  Dr.  A.  Drews.     S.  IX— XXXII.  —  Ein- 
leitung;   Schellings   Leben   und   Lehre.     Von  Dr.  O.  Weiß.    S. 
XXXin— CLXII.  —  Vom  Ich  als  Prinzip  der  Philosophie.    (1795). 
S.  1—96.  —  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur.  (1797).   S.  97—440. 

—  Von  der  Weltseele.  (1798).  S.  441—680.  —  Einleitung  zu  dem 
Entwurf   eines  Systems  der  Naturphilosophie.    (1797).    S.  681 — 738. 

—  Allgemeine  Deduktion  des  dynamischen  Prozesses.  (ISO:». 
S.  739—816. 

134  —  Bd.  II.    Die  Schriften  zum  Identitätssj'stem.    682  S.  (geb.  in 

Hfz.  10.—) 8.— 

System  des  transzendentalen  Idealismus  (1800).  S.  1 — 308.  — 
Darstellung  eines  Systems  der  Philosophie  (1801).  S.  309—416.  — 
Bruno,  oder  über  das  göttliche  und  natürliche  Prinzip  der  Dinge 
(1802).  S.  417 — 536.  —  Vorlesungen  über  die  Methode  des  akade- 
mischen Studiums  (1803).     S.  537—682. 

135  —  Bd.  ili.     Philosophie  der  Kunst.    —   Freiheitslehre.   —  Posi- 

tive Philosophie.     935  S.    (geb.  in  Hfz.  11.— )     .  ...      9.— 

Philosophie  der  Kunst  (a.  d.  handschr.  Nachl.  1802/3).    S.  1—384. 

—  Über  das  Verhältnis  der  bildenden  Künste  zur  Natur  (1807). 
S.  385—426.  —  Über  das  Wesen  der  menschlichen  Freiheit  (1809). 
S.  427—512.  —  Darstellung  des  philosophischen  Empirismus  (1827). 
S.  513 — 574.  —  Auswahl  aus  der  positiven  Philosophie  (Philosophie 
der  Mythologie  und  Offenbarung.  1840/45).  S.  575-856.  —  Biblio- 
graphie und  Register.     S.  857—935. 

Einzeln  erschienen: 
184c   —  Bruno,  oder  über  das  göttliche  und  natürliche  Prinzip  der 

Dinge  (1802) geb.      2.40 

1341»   —  Darstellung  eines  Systems  der  Philosophie  (1801)     geb.      2.40 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 

Pand  -'^^  ^ 

::?8d   —  Einleitung  zu  dem  Entwurf  eines  Systems  der  Natur- 
philosophie (1797).  —  Allg.  Deduktion  des  dynamischen 

Prozesses  (1800) 2.40 

I33a  —  Vom  Ich  als  Prinzip  der  Philosophie  (1795)  .  .  .  geb.  2.— 
1331)  —  Ideen  zu  einer  Philosophie  der  Natur  (1797)  .  ,  geb.  5.40 
I34d  —  Methode  des  akademischen  Studiums  (1803)  .  geb.  2.80 
135a  —  Philosophie  der  Kunst  (aus  dem  Nachlaß)    .     .     .    geb.      5  40 

135c    —  Positive  Philosophie  (1840/45) geb.      5.— 

Unendlich jgToß  sind  Schellings  Schriften  über  die  Kunst,  und  die 
Lichtblicke,  die  ihm  in  das  Wesen  und  die  Bedeutung  des  künstle- 
rischen Schaffens  g-eworden,  sind  unvergleichlich.  Schellin^  war 
mehr  Künstler  als  Philosoph  und  alles  ging  bei  ihm  auf  das  mtui- 
tive  Schauen.  Was  er  in  dieser  Beziehung,  namentlich  in  seiner 
Schrift  über  die  „Philosophie  der  Kunst"  und  in  seinem  Vortrag 
„Über  das  Verhältnis  der  oildenden  Künste  zur  Natur"  geschaffen, 
gehört  zum  Bedeutendsten,  was  die  intuitire  Ästhetik  jemals  ge- 
leistet hat. 

Joseph  Kohler  im  Archiv  f.  Eechts-  u.  Wirtschaf tsphilos. 
134a    —  System  des  transzendentalen  Idealismus  (1800).    geb.      5. — 

133c    —  Von  der  Weltseele  (1808) geb.     4.40 

1351)    —  Wesen  der  menschlichen  Freiheit  (1809)  .     .     .    geb.      1.60 
Außerhalb  dieser  Ausgabe  erschien: 
104     —  Münchener    Vorlesungen:     Zur    Geschichte     der    neueren 
Philosophie.     Darstellung  des    philosophischen  Empirismus. 
Neu    herausgeg.  mit  Erläuterungen   von   Prof.    Dr.    Artur 

Drews.     1902.   XVI,  262  u.  92  S.  (geb.  5.20) 4.60 

*  Schelling  als  Persönlichkeit.  Briefe,  Reden,  Aufsätze.  Hrsg. 
V.  0.  Braun.  Mit  Abb.  der  Jugendbüste  Sch.'s.  1908.  282  S. 
(geb.  5.-) 4.- 

—  GrooB,  Karl.     Die  reine  Vemunftwissenschaft.     Systemat. 
Darstellung  v.  Schellings  rational,  od.  negativ.  Philos.  X,  187 S.      3.— 

—  Braun,  0.     Hinauf  zum    Idealismus!      Schelling- Studien. 
1908.     XII,  154  S.     (geb.  3.50) 2.50 

Inhalt:  Hinauf  zum  Idealismus I  —  Schelling  und  imsere  Zeit. 

—  Schellings  geistige  Persönlichkeit  und  ihr  Verhältnis  zu  Goethes 

Geisteswesen.  —  Schellings  Methode   und   ihre   Beziehungen    zu 

Plato,   Goethe   und   Schiller.  —  Schelling   und    die   Bomantik.  — 

Schellings  Gotteslehre  und  das  religiöse  Suchen  unserer  Zeit.  — 

Die  Entwickelung  des  Gottesbegriffes  bei  Schelling. 

103     Schiller.     Philosophische   Schriften   und   Gedichte   (Auswahl). 

Zur  Einführung  in  s.  Weltanschauung.    Mit  ausführl.  Einltg. 

herausgeg.  von  Eugen  Kühnemann.     2.  vermehrte  Aufl.  • 

1910.    94  u.  344  S.  (geb.  5.20) 4.50 

Wertvoll  ist  die  umfangreiche  Einleitung,  die  den  pädagogi- 
schen Wert  der  Philosophie  Schillers  betrachtet  und  dann  insbe- 
sondere das  Werden  der  Weltanschauung  Schillers  auf  K-.mtischem 
Boden  liebevoll  behandelt.  Über  der  femsinnigen  Arbeit  liegt  ein 
stimmungsvoller  Hauch,  der  das  Studium  der  Schrift  zu  einem 
Kunstgenuß  macht.  Pädagogische  Zeitung. 

Kiümemanns  Buch,  gerade  in  der  neuen  Gestelt  der  zweiten 
Auflaj|-e,  geht  jeden  wissenschaftlich  gebildeten  Lehrer  an,  ohne 
Bücksicht  auf  sein  „Fach",  das  er  auf  Grund  seiner  Fakultäten  im 
Unterricht  vertritt  —  imd  hoffentlich  auch  in  jeder  Primanergene- 
ration immer  den  einen  oder  den  anderen. 

Monatsschrift  für  höhere  Schulen. 

136—  Schleiermaohers  Werke  in  4  Bänden.  Mit  Geleitwort  von  Prof. 

139  D.  Dr.  A.  Dorner.  Hrsg.  u.  eingel.  v.  Priv.-Doz.  Dr.  Otto 

Braun.    1910.11.   (iroß  S®.    (Bisher  erschienen  Bd.  1,  3  u.  4) 

(geb.  in  Hfz.  88.—) 28.— 


Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig. 
Band  M  ^ 

Solange  wir  noch  nicht  aus  der  Krisis,  in  der  die  glänze 
christliche  Ideenwelt  steht,  heraus  sind,  so  lange  ist  der 
Mann,  der  in  dieser  Krisis  mitten  inne  stand  und  zu  einem 
Führer  aus  ihr  bestimmt  war,  ein  Prophet  für  unsere  Tage.  Er 
hat  unter  allen  den  Großen  seiner  Zeit  arn  persönlichsten  und  ein- 
dringlichsten mit  dem  eigentlichen  religiösen  Problem  gerungen, 
hat  aber. ebensosehr  daneben  die  ethischen  und  erkenntnistheore- 
tischen Überzeugungen  und  Werte  zu  behaupten  gesucht,  indem 
er  sie  in  eigener  Weise  durchdachte  und  ins  praktische  Leben  mit 
unermüdlicher  Tätigkeit  einführte.  Kantstudien. 

136     Sehleiermacher.     Bd.  i.     Mit  Bildnis  Schl/e  nach    der  Büste 

von    Rauch.     CXXVIII,  547  S.    (geb.  in  Hfz.  9.50)   ...      7.— 
Geleitwort  von  Prof.  D.  Dr.  A.  Dorner.     S.  I.— XXXIL   — 
Allgemeine  Einleitung  von  Priv.-Doz.  Dr.  0.  Braun.    S.  XXXIII-C. 
Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.    Mit  Inbalt»- 
analyse  von  Dr.  O.  Braun.    XXVIIL  846  S.  —  Akademieabhand- 
lungen   (Tugendbegriff,    Pflichtbegris.    Naturgesetz    und    Sitten- 
gesetz, Begriff  des  Erlaubten,  Begriff  des  höchsten  Gutes,  Beruf 
des  Staates  zur  Erziehung,  Begriff  des  großen  Mannes)  S.  347 — 632. 
—  Register  usw.  S.  533—547. 
Daraus  einzeln: 
138a   —    Grundlinien  einer  Kritik  der  bisherigen  Sittenlehre.    (1803 
1834.  1846.)     Mit  einer  Inhaltsanalyse.    1911.  XXXII,  346  S. 

(geb.  5.-) 4.- 

13eb Akademieabhandlungen.    1911.    IV,  185  S 2.— 

138  —  Bd.  III.    1910.    XII,  748  S.    (geb.  in  Hfz.  9.50) 7.— 

Dialektik  (Auswahl).  S.  1—118.  —  Die  christliche  Sitte  (Aus- 
wahl). S.  119—180.  —  Predigten  über  den  christlichen  Hausstand. 
Hrsg.  von  Prof.  D.  J oh.  Bauer.  S.  181—398.  —  Zur  Pädagogik 
(Auswahl).  S.  899—536,  -  Die  Lehre  vom  Staat  (Auswahl).  S. 
537—630.  —  Der  christliche  Glaube  (Auswahl)  S.  631—729.  — 
Register.  S.  731—748. 
Daraus  einzeln: 
138a  —  —  Predig-ten  über  den  christlichen  Hausstand.    Hrsg.  u.  ein- 

gel.  V.  Prof.  D.  Joh.  Bauer.   IV,  42,  176  u.  4  S.    (geb.  4.—)      3.— 

Eine  wahre  Perle  sind  die  Predigten  Schleiermachers  über  den 
christlichen  Hausstand;  man  erschrecke  nicht:  Predigten,  die 
ihrem  Inhalt  nach  zu  den  ethischen  Hauptschriften  gehören.  In 
wundervoller  Weise,  eingehend,  feinsinmg  sind  sie  von  Bauer 
eingeleitet  und  in  Beziehung  gesetzt  zu  Schleiermachers  Leben, 
Ideenwelt  und  sonstigen  Äußerungen.  Kantstudien. 

139  —  Bd.  IV.    1911.    X,  663u.  17S.    (geb.  in  Hfz.  9.—).     .     .     .      T.- 

Auswahlen aus:  Psychologie.  S.  1—80.  —  Vorlesungen  über 
Ästhetik.  S.  81-134.  —  Hermeneutik.  S.  136—206.  —  Beden  über 
die  Religion.  S.  207—400.  —  Monologen.  S.  401—472.  —  Weih- 
nachtsfeier. S.  473—632.  —  Universitäten  im  deutschen  Sinne. 
S.  688—642.  —  Zwei  Rezensionen.  S.  643—662.  —  Register. 
S.  663—680. 

139a Über  Universitäten  im  deutschen  Sinne.   1911.  IV,  110  S.      2.— 

139b Reden  über  die  Religion.    1911.     IV,  198  8.     (In  Papp- 
band 1.80) 1-40 

Wer  heute  über  den  Fall  Jatho  mitreden,  nein,  wer  ihn  ganz 
iimerlich  und  in  feinstem  Empfinden  miterleben  und  mitdurch- 
leiden  will,  der  lese  die  vierte  Rede  aus  Schleiermachers  .Reden 
über  Religion".  Christliche  Freiheit. 

139  e Monologen  und  Weihnachtsfeier.     II,  132  S.  (geb.  2.50)      2.— 

Außerhalb  der  Gesamtausgabe  erschienen  femer: 
84     —  Monologen.     2.  Aufl.     Kritische  Ausgabe.      Mit  Einleitung, 
Bibliographie  und  Index  von    D.  Friedrich  M.  Schiele. 
1902.     46u.  130S.    (geb.  1.90) 1-^ 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  Endlich   sind   uns    die  Monologen   in  mustergfültig'er  Ausgabe      «^  ^ 

vorgelegt  1  Während  die  bisherigen  Neudrucke  sich  an  die  dritte 
und  vierte  Ausgabe  hielten,  gibt  Schiele  den  Text  der  Ausgabe  vom 
Jahre  1799  und  fügt  die  Abweichungen  sämtlicher  späteren  Aus- 
gaben im  kritischen  Apparat  hinzu.  Er  hat  damit  eine  gediegene 
Arbeit  geliefert,  und  die  Vergleichung  der  Texte  bietet  reiche  Aus- 
beute zur  Erkenntnis  des  Umbildun^prozesses  in  Schleiermachers 
Gedanken.  Für  eine  richtige  Würdigung  der  Monologen  ist  aber 
der  erste  Text  die  einzig  maßgebende  Unterlage. 

Zeitschrift  für  Philosophie. 

117     —  Weihnachtsfeier.     Krit.  Ausg.     Mit  Einig,  u.  Reg.  von  Priv.- 

Doz.  Lic.  Hermann  Mulert.  1908.  84  u.  78  S.  (geb.  2.50)  2.— 
S5  —  Grundriß  der  philosophischen  Ethik.  (Grrundlinien  der  Sitten- 
lehre.) Hrsgeg.  V.  F.  M.  Schiele.  1911.  219  S.  (geb.  3.40)  2.80 
iVIit  besonderem  Danke  nehmen  wir  die  von  Er.  M.  Schiele..neu 
herausgegebene  philosophische  Ethik  Schleiermachers  auf.  Über 
die  Bedeutung  dieses  Werkes  braucht  nichts  weiter  gesagt  zu 
werden.  Es  führt  uns  in  die  zentralen  Gedanken  Schleiermachers 
ein.  Mit  Eecht  hat  der  Herausgeber,  da  eine  abschließende  Ge- 
staltung des  Textes  noch  nicht  möglich  ist,  die  Ausgabe  Twestens 
an  die  Stelle  des  veralteten  Schweizerschen  Textes  gesetzt.  Aber 
sein  Verdienst  ist,  daß  die  beiden  besten  Manuskripte  Schleier- 
machers, aus  denen  Twesten  den  Text  konstituiert  hatte,  hier  in 
anderer  Ordnung  geboten  werden.  Der  in  sich  geschlossene  Text 
der  Vorlesungen  von  1812—13  wird  als  Einheit  gelassen  und  um- 
schlossen von  einem  andern  Entwurf  von  1816.  Wir  haben  damit 
eine  Textgestalt  des  wichtigen  Werkes,  die  sowohl  den  inneren 
Gedankengang  darstellt  wie  auch  sein  Werden  erkennen  läßt. 

Zeitschr.  f.  d.  dtsch.  Unterricht. 

86/7    Scotus  Eriugreua.    Über  die  Einteilung  der  Natur.    Übers,  von 

L.  Noack.     2  Bde.     428  S.  416  S.     (geb.  3.80) 3.— 

S8     —  Leben  und  Schriften.     Von  L,  Noack.     64  S —.50 

89     Sextiis   Empiricus.     Pyrrhone'ische    Grundzüge.      Übers,    von 

E.  Pappenheim.     19  u.  222  S.     (geb.  2.40) 2.— 

90 Erläuterungen  dazu.     296  S 1 .60 

110  Shaftesbury.    Untersuchung  über  die  Tugend.    Übers,  und  ein- 

geleitet V.  Paul  Ziertmann.  1905.  15  u.  122  S.  (geb.  1.80)  1.40 
Die  vorliegende  Übertragung  der  Hau^tschrift  Shaftesburys  ist 
wohlgelungen  ...  Es  ist  bekannt,  wie  Goethe,  Herder  und 
Schiller  von  Shaftesbury  abhängen;  Leibniz  bedauert  gerade  von 
unserer  Schrift,  daß  er  sie  nicht  vor  Veröffentlichung  seiner 
Theodicee  kennen  gelernt  hat.  Allgemeine  Zeitung. 

111  —  Ein  Brief  über  den  Enthusiasmus.  —  Die  Moralisten.    Übers. 

u.  eingeleitet  von  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler.     1909. 

31  u.  212  S.    (geb.  3.50) 3.— 

Die  Aufnahme  dieser  beiden  Schriften  in  die  „Philosophische 
Bibliothek"  kann  als  eine  recht  glückliche  Wahl  bezeichnet  werden. 
Sie  charakterisieren  gerade  durch  ihre  Zusammenstellung  das 
Denken  Sh.s  aufs  beste  und  enthalten  zweifellos  das  Bedeutendste 
seines  literarischen  Schaffens.  Seiner  Übersetzung  der  beiden 
Schriften  hat  F.-K.  eine  Einleitung  vorausgeschickt,  die  in  ge- 
drängter Kürze  und  unter  völligem  Verzicht  auf  biographische 
Einzelheiten,  aber  dafür  in  außerordentlich  großzügiger  Weise  die 
historische  Stellung  des  englischen  Philosophen  zu  zeichnen  unter- 
nimmt . . .  Die  Übersetzung  liest  sich  fließend  und  gibt  den  Cha- 
rakter des  Originals  sehr  gut  wieder.      liiterarisches  Zentralblatt. 

91—  Spinoza.     SUmtliclie  Werke.     Übersetzt   von  0.  Baensch, 
96  A.  Buchenau,  C.  Gebhardt,  J.  H.  v.  Kirchmann  und 

0.  Schaarschmidt.     In  2  Bibliotheksbände  geb.      .     .     .    21.— 
Dies  ist  die  einzige  deutsehe  Ausgabe  der  Werke  Spinozas,  die 
auf  Grund  der  umwälzenden  Ergebnisse  der  modernen  Textkritik 
erfolgt  ist.     So   bietet  sie  in  ihrer  Textgestaltung  der  Forschung 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 

and  die    sicherste    Grundlage;     die   Einleitung-en   bemühen   sich,    das     J^   o^ 

Verständnis  der  Schriften  S.s  nach  allen  Seiten   sicher  zu  stellen. 

91  —  Abhandlung  von  Gott,   dem  Menschen  und  dessen  Grlück. 

Übers,  u.  eingeleitet  von  Prof.  C.  Schaarschmidt,  3.,  verb. 

Aufl.     1007.     12  u.  128  S.     (geb.  2.30) 1.80 

92  —  Ethik.     Übers,  u.  mit  e.  Einleitung  u,  Register  versehen  von 

Otto  ßaensch.  7.  Aufl.  1910.  29,  276  u.  39  S.  (geb.  4.—)  3.40 
Die  nicht  leichte  Aufgabe,  Spinozas  Ethik  sachlich  treffend 
zu  übersetzen,  ist  von  O.  Baensch  mit  großer  Sorgfalt  weiter- 
geführt worden.  Sehr  genau  ist  die  neuere  Forschung  zum  Spinoza- 
text behandelt.  Die  Einleitung  gehört  zu  dem  Besten,  was  zur 
Einführung  in  Spinozas  Denkweise  gegeben  werden  kann.  Die 
spinozistische  Lehre  vom  Parallelismus  der  Attribute  wird  aus  dem 
Seelenbe|friff  Spinozas  erläutert.  Und  von  hier  gewinnt  auch  das 
Verhältnis  von  Intellektualismus  und  Voluntarismus  bei  Spinoza 
Klarheit.  Die  Bedeutung  dieser  Übersetzung  wird  man  darin  sehen 
dürfen,  daß  sie  die  fiir  uns  oft  schwierig  gewordenen  Gedanken- 
verschiebungen bei  Spinoza  klarlegt. 

Zeitschr..|.  d.  dtsch.  Unterricht. 

93  —  Theologisch-politischer  Traktat.  3,  Aufl.  Übers,  u.  eingeleitet 

von  Dr.  Carl  Gebhardt.  1908.  34,  362  u.  61  S.  (geb.  6.—)  5.40 
Eine  vorzügliche  Übersetzung  dieses  ungewöhnlich  bedeut- 
samen Buches,  die  Gebhardt  mit  einer  lehrreichen  und  fesselnden 
Einleitung,  kundigen  Erläuterungen  und  guten  Begistem  versehen 
hat.  Der  Politiker  in  Spinoza  ist  bisher  unterschätzt  wor- 
den. Eben  unser  Traktat  zeigt  ihn  als  einen  der  klügsten  und 
umsichtigsten  Staatsmänner,  die  Holland  hervorgebracht  hat.  Als 
politische  Tendenzschrift  entworfen,  die  zunächst  die  Bärchen- 
politik  Jan  de  Witts  zu  rechtfertigen  unternimmt,  greift  sie  dann 
weiter  aus,  um  die  Freiheit  des  Denkens,  die  Autonomie  der 
Vernunft,  das  Prinzip  der  voraussetzungslosen  "Wissenschaft  gegen 
die  Ansprüche  der  jüdischen  und  christlichen  Theologie  zu  ver- 
teidigen. Berliner  Tageblatt. 

94  —  Descaxtes'    Prinzipien     der    Philosophie    auf    geometrische 

Weise  begründet.  —  Anhang,  enthaltend  metaphysische  Ge- 
danken. 3.  Aufl.  Neu  übers,  u.  herausgeg.  von  Dr.  Artur 
Buchenau.     1907.     VIII,  164  u.  26  S.  (geb.  3.—)      .     .     .      2.40 

95  —  Abhandlung  über  die  Verbesserung^  des  Verstandes.  —  Ab- 

handlung vom  Staate.  3.  Aufl.  Übers,  u.  eingeleitet  von 
Dr.  Carl  Gebhardt.  1907.  32,  181  u.  33  S.  (geb.  3.60)  3.— 
Beide  Schriften  sind  unvollendet.  Und  doch  betont  der  Heraus- 
geber mit  Eecht,  daß  ein  gemeinsames  Band  sie  umschlingt,  da 
in  beiden  der  Gedanke  vom  Glück  des  Menschen,  das  bei  der  freien 
Persönlichkeit  ruht,  zum  Ausdruck  kommt  ...  In  unserer  Zeit, 
wo  die  wirtschaftlichen  Interessen  überwuchern,  ist  philosophische 
Politik  etwas  Erquickendes.  Und  dabei  gibt  Spinoza  mehr  als 
eine  Utopie.  Leipziger  Zeitvmg. 

96  ^  Briefwechsel.     13  u.  258  S.     (geb.  2.40) 2.— 

Renan,  E.^,  Spinoza.     Rede,  gehalt.  zum  200j ähr.  Todestag  im 

Haag.     Übers,  v.  C.  Schaarschmidt.     24  S —.40 

SteJffens,  Henrik.     Über    die  Idee  der    Universitäten    (4.—). 
Siehe  unter  Fichte. 
122     Wolflfsche  Begriffsbestimmimgen.     Ein  Hilfsbüchlein  beim  Stu- 
dium   Kants.      Zusammengestellt    von    Julius    Baumann. 

1910.     VI,  54  S.    (geb.  1.40) 1.— 

Aus  der  Erfahrung  heraus,  zu  welcher  Schärfe  in  Auffassung 
und  Überdenken  die  Parallelisierung  Kantischer  mit  "Wolffischen 
Begriffsbestimmungen  nötigt,  ist  dieses  nützliche  Buch  erwachsen. 
Bei  der  ersten  Lektüre  Kants  halte  man  sich  an  diesen.  Bei  wieder- 
holtem Studium  aber  wird  eine  vergleichende  Heranziehung  der 
"WolfBlschen  Begriffsbestimmungen  anregend  zum  Selbstdenken  sein. 

Zeitschrift  für  Philosophie. 
Pichler,  H.     Über  Christian  Wolffs  Ontologie.     1910.     95  S.      2.— 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

Band  '        Ji  c^ 

Lehrbücher  der  Philosophischen  Bibliothek. 

()7  Kirchner -Michaelis.  Wörterbuch  der  philosophischen  Grund- 
begriffe.    6.  Aufl.  1911.     VIII,  1124  S.  (geb.  14.—)  .     .     .    12.50 

Die  hier  Torlieg-ende  dritte  Neubearbeitung  des  altbewährten 
Barchnerschen  Wörterbuchs  durch  die  Hand  des  Herrn  Stadtschul- 
rat Dr.  Michaelis  wird  sich  ohne  Zweifel  bald  viele  neue  Freunde 
zu  den  alten  hinzuerworben.  Der  Umfang  des  "Werkes  schwoll 
durch  die  Fülle  des  neuen  Stoffes  von  45  auf  über  70  Bogen  an 
—  schon  dies  ein  Maßstab,  wie  gründlich  die  Umarbeitung  erfolgte. 
*      Döring,  A.  Grundlinien  der  Logik.  1912.  XII,  181  S.  (geb.  3.—)      2.50 

Diese  kleine  „Logik"  bemüht  sich,  die  Mitte  zu  halten  zwischen 
den  allzuknappen  „Leitfäden"  und  den  voluminösen  „Lehrbüchern". 
Das  pädagogische  Geschick  des  als  Gymnasial-  und  Hochschul- 
lehrer bewährten  Verfassers  dürfte  das  Buch  zu  einer  vorzüg- 
lichen Einführung  und  zu  einem  bequemen  Kompendiuna  dieser 
Wissenschaft  machen. 

118     Messer,  Ang.    Einführung  in  die  Erkenntnistheorie.    1909.    VI, 

188  u.  11  S.  (geb.  3.—) 2.40 

Dies  ist  die  beste  einführende  Schrift  in  die  Erkenntnistheorie, 
die  Eef.  kennt.  Sie  zeichnet  sich  besonders  dadurch  aus,  daß 
sie  trotz  des  kleinen  Umfanges  eine  Anschauung  erweckt  von  der 
Fülle  der  Probleme,  die  der  Erkenntnistheorie  erwachsen;  femer 
daß  sie  stets  auf  die  richtige  Problemstellung  hinweist^  endlich 
ragt  sie  noch  durch  große  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  hervor. 
Vierteljahrsschrift  f.  wissensch.  Philosophie  u.  Soziologie. 

105     Vorländer,  Karl.  Geschichte  der  Philosophie.  I.  Bd. :  Altertum, 
Mittelalter  und   Übergang  zur  Neuzeit.    3.  Aufl.  1911.  XII. 

368  S.  (geb.  4.50) 3.60 

106 rr.  Bd.:    Phüosophie  der  Neuzeit.    3.  Aufl.    1911.    VIII, 

524  S.  (geb.  5.50) 4.60 

Zur  Einführung  wird  man  schwerlich  ein  besseres  Buch  finden 
als  die  „Geschichte  der  Philosophie"  von  Vorländer,  die  den  viel- 
fach empfundenen  Wunsch  nach  einer  knappen,  aber  doch  klaren, 
inhaltlich  ausreichenden  und  zuverlässigen  Darstellung  der  ge- 
samten Geschichte  der  Philosophie  aufs  vortrefflichste  erfüllt  hat. 
Dieses  Buch  hat  nicht  wenig  große  Vorzüge.  Zwar  beschränkt  es 
sich  auf  die  Geschichte  des  philosophischen  Denkens  und  läßt  den 
kulturhistorischen  Hintergrund  zurücktreten.  Aber  in  diesem 
Bahmen  gibt  es  alles,  was  nur  wünschenswert  sein  kann.  Vortreff- 
lich ist  die  Darstellung  des  Entwicklungsganges  der  Philosophie, 
was  schon  im  Aufbau  des  Werkes  klar  hervortritt.  Die  biogra- 
phische Behandlung  der  einzelnen  Philosophen  und  die  Darstellung 
ihrer  Lehren  stehen  in  allem  auf  der  Hohe  der  Forschung.  Dazu 
kommt,  daß  sich  das  Buch  auch  als  Wegweiser  für  tiefer  eindrin- 
gende Arbeit  bewährt  durch  die  gute  Auswahl  in  den  Literatur- 
angaben. Zeitschr.  f.  d.  dtsch.  Unterricht  1919. 
Vorländers  Buch  reizt  geradezu  zum  Studium.  Die  gediegene 
Art,  in  der  er  das  historische  mit  dem  systematischen  Element  zu 
vereinigen  verstanden  hat,  macht  das  Buch  zum  philosophiepre- 
schichtlichen  Handbuch  par  excellence.  Es  gehört  auf  den  Arbeits- 
tisch eines  jeden  der  Philosophie  „Beflissenen".  Kant-Studien. 

115     Witasek,  Stephan.    Grundlinien  der  Psychologie.    Mit  15  Fig. 

im  Text     1908.     VHI,  370  u.  22  S.  (geb.  3.50) 3.— 

Was  Witasek  bietet,  ist  so  gefaßt,  daß  niemand  sein  Buch 
ohne  Gewinn  aus  der  Hand  legen  wird.  Der  Stil  ist  einfach  und 
durchsichtig,  die  erläuternden  Beispiele  sind  anschaulich  und  be- 
lebend, neue  Begriffe  werden  so  erklärt,  daß  auch  der  Laie  bei 
einiger  Aufmerksamkeit  gut  folgen  kann.  Besonders  wohltuend 
ist  die  Präzision,  mit  der  überall  zwischen  gesicherten  Erkennt- 
nissen und  vorläufigen  Hypothesen  unterschieden  wird.  Alles  in 
allem:  ein  tüchtiges  Buch,  dem  auch  wegen  seines  ungemein 
billigen  Preises  weiteste  Verbreitung  zu  gönnen  ist. 

ChristUche  Welt. 


Neuere  philosophische  Werl<e 

aus  dem  Verlag  von  Felix   Meiner  in  Leipzig,    ji  . 

Bluwstein,  J.     Weltanscliauung  Ardigos.    1911.    122  S-    .     .      1.50 
Braun,  0.     Hinauf  zum  Idealismus!    Schelling-Studien.     1908. 
XII,  154  S.    (geb.  3.50) 2.50 

Dem  Verfasser  ist  es  gelungen,  mit  seinem  eigenen  wann- 
herzigen Idealismus  den  Leser  zu  fesseln  und  auch  solche  für  den 
an  sich  recht  spröden  Gegenstand  zu  interessieren,  die  unsere  klas- 
sische Spekulation  und  ihre  Vertreter  bisher  höchstens  nur  vom 
Hörensagen  kannten.  Deutsche  Literaturzeitung. 

—  Zum  ßildungsproblem.    2  Vorträge.     (Philosophie  u.  Schule. 
Kunst  u.  Schule).    1911.    49  S.      .     .     .     .  ......    —.75 

Beide  Aufsätze  enthalten  eine  Fülle  klarer  und  kluger  Ge- 
danken, denen  man  mit  Teilnahme  folgt  und  die  zu  weiterem 
Nachdenken  anregen.  Ich  kann  die  Schrift  den  Fachgenossen  nur 
dringend  empfehlen.  Zeitschrift  f.  d.  Gymnasialschulwesen. 

Busse,  L.     Greist  und  Körper,  Seele  und  Leib.   1903.    X,  488  S. 

(geb.  10.—) 8.50 

„Eine  glänzende  systematische  Darstellung".      Allgemeine  Ztg. 

—  Immanuel  Kant,    Ansprache  an  die  Köuigsberger  Studenten- 
schaft.   1904,    HS.... —.50 

Dietering,  Paul.    Die  Herbartsche  Pädagogik  vom  Standpunkt 

moderner  Erziehungsbestrebungen.  1908,  18,  220  S,  (geb,  7. — )      6. — 
Dorner,  A.     Encyklopädie  der  Philosophie.     Mit  bes.  Berück- 

sicht.  der  Erkenntnistheorie  u.  Kategorienlehre.  1910.  343  S. 

In  steifem  Karton 6. — 

—  G-rundriß  der  ßeligionsphilosophie.    1903.    466  S,    (geb.  8.50)      7,— 

Zu  den  hervorragendsten  Erscheinungen  der  heutigen  Eeligions- 
wissenschaft  gehört  ohne  Zweifel  der  Grundriß  der  Eeligions- 
philosophie  von  Aug.  Dorner. 

Otto  Pfleiderer  in  den  Protestant.  Monatsheften. 

—  Pessimismus,  Nietzsche  und  Naturalismus  mit  besonderer  Be- 
ziehung auf  die  Religion.    1911.    VIII,  328  S.    (geb.  7.—)     .      6.— 

Mit  wohltuender  Sicherheit  der  Logik  und  eingehender  Sach- 
kenntnis legt  der  Verfasser  die  Gedankengänge  des-Brahmanismus, 
des  Buddhismus,  Schopenhauers,  Hartmanns,  Drews'  auf  und  unter- 
zieht ihre  Philosophie  einer  vorurteilsfreien,  aber  tief  einschneiden- 
den Kritik,  die  Unzulänglichkeit  des  Pessimismus  vornehmlich 
nach  der  religiösen  Seite  aufweisend  ....  Das  Werk  gehört  zu 
dem  Besten,  was  von  theologischer  Seite  über  die  philosophischen 
Zeitfragen  geschrieben  worden  ist.  Wartburg. 

DUliring,  E,     Kursus   der  Philosophie  als  streng  wissenschaft- 
licher Weltanschauung  u.   Lebensgestaltung.     XII,   559   S.      9. — 
Dürr,  Ernst.     Über  die  Grenzen  der  Gewißheit.     1903,     160  S,      3. — 
Ehrenber^,  Hans.     Die    Parteiung    der  Philosophie.     Studien 

wider  Hegel  und  die  Kantianer.     1911,    VI,  133  S.    ,     .     .      4.— 
Eucken,  Rudolf.     Gesammelte  Aufsätze    zur  Philosophie    und 

Lebensanschauung.     IV,  242  S,     (geb,  5.20) 4,20 

Wenn  irgend  Gelegenheitsschriften  die  Probe  der  Sammlung  und 
Ausgabe  in  Buchform  glänzend  bestehen,  so  sind  es  die  Euckens. 
Sie  reichen  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  nahe  an  das  heran, 
was  die  wundervollen  Aufsätze  Treitschkes  uns  auf  historischem, 
die  Michael  Bernays'  auf  literarhistorischem  Gebiete  geben. 

Deutsche  Literatur-Zeitung. 

—  Beiträge  zur  Einführung  in  die  Geschichte  der  Philosophie. 

2.  erweit.  Aufl,     1906.     VI,  196  S.     (geb.  4.50)  .     .     .     .     .      3.60 
Aus  dem  Inhalt:    Nikolaus  von  Cues  als  Bahnbrecher  neuer 
Ideen,    Par^celsus'  Lehren  von  der  Entwicklung.    Kepler  als 
Philosoph.    Über  Bilder   und  Gleichnisse    bei   Kant.    Bayle  und 
Kant.     Parteien  iind  Parteinamen  in  der  Philosophie. 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

—  Braun,  0.    Euckens  Philosophie  und  das  Bildungsproblem.      Jl  ^ 
1909.    54  S —.60 

Falckenberg,  Richard.  Kant  und  das  Jahrhundert.  Gedä-chtnis- 

rede  zum  100  jähr.  Todestag.     2.  Aufl.  1907.     28  S.     .     .     .    —.60 
Flouruoy,  TIi.     Beiträge   zur  Religionspsychologie.     Übers,  v. 

M.Regel.    Mit  Vorwort  v.  G.  Vor  bro  dt.  1911.  LH,  62  S.      2.60 
Groos,  Karl.     Die  reine  Vernunftwissenschaft.     Systematische 
Darstellung    von    Schellings     rationaler     oder    negativer 

Philosophie.     X,  187  S.     .     .     .     ._ 3.— 

Jacoby,  Günther.    Herders  u.  Kants  Ästhetik.    1907.    X,  348  S. 

(geb.  6.30) 5.40 

Es  scheint,  als  könne  man  es  Herder  niemals  verg-eben,  daß  er 
Kant  angegriffen  hat;  und  es  scheint,  als  müsse  es  Herder  für 
immer  wie  ein  historischer  Makel  anhaften,  daß  er  in  der  Zeit  der 
Freundschaft  Schillers  und  Goethes  uneins  war  nnit  den  Weimarer 
Dioskuren,  Er  hatte  aber  recht.  Zum  mindesten  hatte  er  auf  dem 
Gebiete  der  Ästhetik  recht.  Auf  dem  Gebiete,  über  das  er  sein 
Leben  lang  nachgedacht  und  dem  er  die  besten  Kräfte  seines  weit- 
schauenden Geistes  g-eschenkt  hatte.  Auf  dem  Gebiete,  auf  dem 
ihm  Goethe  mit  dem  g-anzen  Wesen  seiner  Persönlichkeit  folgte 
und  auf  dem  der  schartsinnige,  aber  nüchterne,  ja  hausbackene 
Geist  des  Königsberg'er  Philosophen  nur  gar  zu  begreiflicherweise 
in  die  Irre  g'ing-.  Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen. 

—  Der  Pragmatismus.    Neue  Bahnen  in  der  "Wissenschaftslehre 

des  Auslands.     1909.    68  S. 1.20 

Jacoby  versteht  die  nicht  leichten  Gedanken  so  einfach ,  ele- 
mentar und  anschaulich  darzustellen,  daß  sie  auch  der  philoso- 
phisch noch  Ungeschulte  begreifen  kann.  Das  Büchlein  ist  da- 
durch auch  geeignet,  als  Einführung  in  die  philosophischen  Pro- 
bleme überhaupt  zu  dienen.  Literaturbericht  für  Theologie. 

—  Herder  als  Faust.     1911.     XII,  485  S.     (geb.  8.50)     ...      7.~ 
Jiiiig:nianii,  K.    Rene  Descartes.    Eine  Einführung  in  seine 

Werke.    1908.    VIII,  234  S 6.50 

Kinkel,  Walter.    Der  Humanitätsgedanke.    Betrachtungen  zur 

Förderung  der  Humanität.    1908.    192.  S 2.50 

Koeber,  II.     Die  Philosophie  Schopenhauers.    327  S.     .     .      5. — 
Kühnert,  H.     Comtes  Verhältnis  zur  Kunst.    1910.     65  S.        .      1. — 
Lasson,  A.   Über  Gegenstand  u.  Behandlungsart  der  Religions- 
philosophie.    55  S — .60 

Lempp,  Otto.     Das  Problem  der  Theodicee  in  der  Philosophie 
u.  Literatur   des  18.  Jahrhunderts  bis  auf  Kant  u.  Schiller. 
Gekrönte    Preisschrift    der  Walter   Simon-Preisaufgabe    der 
Kantgesellschaft.     1910.     VI,  432  S.     In  steifem  Karton     .      9.— 
Eine  sorgfältige,   erschöpfende,   streng  wissenschaftliche  und 
dabei  doch  gut  lesbare  Schrift,   die  über  diese  viel  umstrittenen 
Gedankengäng'e  Abschließendes  bietet . . .   AVer  sich  in  den  mannig-- 
fachen  Gottesbeweisen  und  den  Anschauung'en  über  die  Willens- 
freiheit zurechtfinden  will,  muß  zu   diesem  Buche  greifen.    Man 
wird  immer  wieder  staunend  gewahr,  welche  Erkenntnisschätze  in 
unserer  klassischen  Zeit  des  Idealismus  oft  noch  so  ungehoben 
liegen.  Pfarrer  Traub  in  der  Christlichen  Freiheit. 

L6Ty-Bruhl,  L.     Die  Philosophie  Auguste  Comtes.    Übers. 

von  H.  Molenaar.     VI,  288  S 6.— 

LewkOTTitz,  A.     Hegels  Ästhetik   im   Verhältnis    zu   Schiller. 

1910.     77  S 1.80 

Lipps,  Theodor,  Psychologische  Studien.  2.,  umgearb.  u.  er- 
weit. Aufl.  1905.     IV,  287  S.     (geb.  6.—) 5.— 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

^ 

In  dieser  neuen  Fassung  trägt  die  Darstellung-  ganz  jenes  J^  ä 
eigentümliche  G-epräge,  das  für  den  Lipps  des  letzten  Jahrzenntes 
charakteristisch  ist,  jenes  eindringlich  Bohrende  der  Analyse,  das 
pfeilscharf  Geschlirfene  der  Polemik,  das  sokratische  Fortschrei- 
ten von  Frage  und  Antwort,  -wodurch  allmählich  das  gewünschte 
Resultat  aus  den  Tiefen  der  Seele  herausgeholt  wird. 

Dr.  William  Stern  in  der  „Zeit". 

Mehlis,  €^.    Die  G-eschichtspliilosophie  Comtes,  1909.  IV,  158  S.     3.— 
Heinong,  A.    Über   die    Stellung   der  Gregenstandstheorie   im 

System  der  Wissenschaften.    1907.    YIII,  156  S 4.80 

Dies  Buch  ist  eine  Verteidigung  von  Meinongs  Ansichten 
gegenüber  verschiedenen  Kritikern  und  eine  weitere  Erklärung  der 
neuen  Wissenschaft,  die  er  „Gegenstandstheorie"  nennt.  Die  Not- 
wendigkeit und  die  Wichtigkeit  dieser  Wissenschaft  werden  dar- 
gelegt und  Gründe  dafür  angegeben,  daß  sie  weder  mit  Logik, 
noch  mit  Erkenntnistheorie,  noch  mit  irgendeiner  anderen  bisher 
bekannten  Wissenschaft  identifiziert  werden  kann.  Der  Stil  ist 
bemerkenswert  klar,  und  die  polemischen  Argumente  erscheinen 
dem  Eeferenten  im  allgemeinen  zwingend.  „Mind." 

Merz,    Joli.  Theod.     Leibniz'  Leben   und  Philosophie.     Aus 

dem  Englischen  mit  Vorwort  von  C.  Schaarschmidt.  226  S.      2. — 
Xatorp,  Paul.     Piatos  Ideenlehre.     Eine  Einführung  in  den 

Ideaüsmus.     1903.    VIII,  474  S.     (geb.  8.70) 7.50 

Ein  Werk,  das  in  den  hellsten  Vordergrund  philosophischen 
Interesses  gehört,  eins  der  bedeutsamsten  der  Philosophiegeschichte 
überhaupt,  wie  in  den  letzten  Jahrzehnten  nur  sehr ,  sehr  wenige 
erschienen  sind  von  ähnlich  zentralem  Interesse,  ähnlicher  wissen- 
schaftlicher Intensität,  Energie  und  Kühnheit  l  Eine  völlige  Neu- 
auffassung Piatos I  Ein  kraftvolles  Werk  aus  einem  Guß  und 
eigener  Kraft  I  .  .  .   Karl  Joel  in  der  „Deutschen  Literaturzeitung". 

yoack,  Ludwig".     Philosophie-geschichtliches  Lexikon.     Histo- 
risch-biographisches   Handwörterbuch    der    Geschichte    der 

Phüosophie.     XII,  936  S. 12.— 

Gehler,  Richard.     Friedrich  Nietzsche  u.   die  Vorsokra- 

tiker.     1904.     VIII,  168  S.   . 3.50 

—  Nietzsche  als  Bildner  der  Persönlichkeit.  Vortrag.  1911.  31  S.    — .60 
Pichler,  Hans.    Über  Christian  Wolffs  Ontologie.    1910.  95  S.      2.— 
Plümacher.  0.     Der  Pessimismus  in  Vergangenheit  u.  Gegen- 
wart.    Geschichtliches  u.  Kritisches.     2.  Aufl.  XII,  355  S.      7.20 
Pochhammer,  L.,    Prof.   d.  Mathematik.      Zum    Problem    der 

Willensfreiheit.     1908..  82  S 1.20 

Die  außerordentlich  klar  und  anschaulich  geschriebene  Abhand- 
lung ist  ein  interessantes  und  beachtenswertes  Zeugnis  dafür,  wie 
an  an  präzises  Denken  gewöhnter  ernster  Forscher  der  Gegenwart 
die  Postulate  des  sittlichen  Lebens  mit  der  naturwissenschaftlichen 
Anschauungsweise  auszugleichen  versucht.  Christliche  Welt. 

Kichter,  Raoul.    Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.    2  Bde. 

Bd.  I.     1904.     XXIV,  303  u.  61  S.    (geb.  7.50) 6.— 

Bd.  II.     1908.     VI,  529  u.  55  S.   (geb.  10.—) 8.60 

Der  griechische  Skeptizismus  hat  auf  deutschem  Boden  noch 
niemals  eine  so  energische  —  sagen  wir  es  gleich  —  im  ganzen 
treffliche  Darstellung  und  Beurteilung  erfahren.  Richter  nimmt 
ihn  ernst  und  weiß  ,  obwohl  keineswegs  blind  für  seine  Schwä- 
chen, Plattheiten  und  Naivitäten,  die  ihm  innewohnende  philoso- 
phische Kraft  und  seine  bahnbrechende  Bedeutung  für  die  Pro-, 
bleme  der  Erkenntnistheorie  klar  herauszustellen. 

Wochenschrift  für  klassische  Philologie. 
ßichter,  Kaoul.    Friedrich  Nietzsche.    Sein  Leben  u.  sein 

Werk.    2.,  vermehrte  Aufl.    1909.   VIII,  356  S.     (geb.  6.— )  .      4.80 
Ich  habe  selten  ein  Buch  {und  niemals  eins  über  Nietzsche!) 
mit  soviel  Freude  und  Genuß  gelesen,  wie  diese  musterhaft  klare, 
MiTgends  überschwengliche,  doch  überall  von  woltuender,  liebe- 


Verlag  von   Felix   Meiner  in  Leipzig. 

vollster  Wärme  gleichsam  durchleuchtete  Arbeit,  deren  letzter  Ab-  Jl  X 
schnitt  mit 'seiner  sachlich  historischen  Bearbeitung'  der  Lehre 
Nietzsches  vorbildlich  beweist,  wie  bewvindernde  Verehrung  für 
einen  Großen  und  unbestechliche  kritische  Besonnenheit  zu  ver- 
einigen sind.  Das  Literarische  Echo. 
Rüge,  Aruold.  Das  Problem  der  Freiheit  in  Kants  Erkenntnis- 
theorie.   1910.    VIII,  84  S 1.50 

—  Das  Wesen  der  Universitäten  und  das  Studium  der  Frauen. 
1912.     34  S —.80 

Schaarsehmidt,  C.     Die   Religion.     Einführung  in   ihre   Ent- 
wicklungsgeschichte.    1907.     VIII,  253  S.     (geb.  5.40)    .     .      4.40 
Seheler,  Max  F.  Die  transzendentale  und  die  psychologische  Me- 
thode, E.  grundsätzl.  Erörterung  zur  philosoph,  Methodik.  1 84  S.      4. — 
Schmidt,  Ferdinand  Jakob.   Zur  Wiedergeburt  des  Idealismus. 

1908.     VIII,  325  S.    (geb.  7.~) •    .     .     .     .      6.— 

Aus  dem  Inhalt:  Kapitalismus  und  Protestantismus.  Der 
mittelalterliche  Charakter  des  kirchlichen  Protestantismus.  Der 
theologische  Positivismus.  Adolf  Harnack  und  die  Wiederbelebung 
der  spekulativen  Forschixng.  Das  Erlebnis  und  die  Dichtung. 
Goethe  und  das  Altertum.  Kant-Orthodoxie.  Die  Philosophie  auf 
den  höh.  Schulen.  Die  Frauenbildung  u.  das  klassische  Altertum. 
Stern,  L.  "William.  Die  Analogie  im  volkstümlichen  Denken. 
Eine  psychologische  Untersuchung.  Mit  einer  Vorbemerkung 

von  M.  Lazarus.     IV,  164  S 3.— 

Vorländer,    Karl.      Kant-Schiller-Groethe.      Gesammelte 

Aufsätze      1907.     XIV,  294  S.    (geb.  6.—) 5.— 

Das  Buch  wird  durch  seine  ganze  Anlage  für  lange  Zeit,  wenn 
nicht  für  immer,  den  Anspruch  erheben  dürfen,  als  das  grund- 
legende Werk  über  dies  Thema  zu  Eate  gezogen  zu  werden. 

Zeitschrift  für  Gymnasialwesen. 

Weichelt,  Hans.     Friedrich  Nietzsche:  Also  sprach  Zara- 

thustra,  erklärt  und  gewürdigt.  1910.  VIII,  319  S.  (geb.  6.20)  5,— 
Der  Zarathustra  bedarf  eines  Kommentars:  das  wird  jeder  zu- 
geben, der  darin  studiert  oder  auch  nur  geblättert  hat;  jeder  auch, 
der  es  beklagt,  daß  das  falsch  verstandene  Werk  in  manchem  un- 
reifen Kopfe  Verwirrung  angerichtet  hat.  Weichelts  Buch  bietet 
nun  eine  feinsinnige,  in  die  Tiefe  dringende  Erklärung  und  eine 
besonnene,  gerecht  abwägende  Würdigung.        Prof.  Dr.  A.  Messer. 

Ziegler,  Leopold.    Zur  Metaphysik  des  Tragischen.  Eine  philo- 
sophische Studie.    1902.    XII,  104  S 1.60 

Einen  Autor,  der  in  seinem  Erstlingswerk  die  Metaphyysik 
xles  Tragischen  zu  seinem  Gegenstand  erwählt,  diesen  Gegenstand 
in  so  große  und  weittragende  Beziehungen  zu  den  höchsten  Ge- 
bieten des  menschlichen  Lebens  zu  setzen  weiß  und  sich  damit  in 
einer  so  glänzenden  Weise  abfindet  wie  Ziegler,  einen  solchen 
Autor  wird  man  alle  Veranlassung  haben,  für  die  Zukunft  im  Auge 
zu  behalten.    Prof.  Arthur  Drewa  i.  d.  „Südwestdeutsch.  Eundseh.". 

—  Das  Weltbild  Hartmanns.    Eine  Beurteilung.    1910.    196  S. 
(geb.  3.50)      . 2.50 

Zieglers  Abhandlung  ist  von  so  entschiedener,  ungewöhnlicher 
Begabung  und  g^roßer,  seltener  Eähigkeit,  tiefe  Gedanken  zur  Klar- 
heit herauszustellen,  daß  sie  gewiß  bei  jedem  Sachkundigen  die 
freudigste  Aufnahme  finden  wird  —  als  die  weitaus  beste  Schrift 
über  Hartmann  und  zugleich  als  sachlich  wertvoller  Beitrag  zur 
Philosophie  der  Gegenwart.  Man  darf  den  Verfasser  aufrichtig 
beglückwünschen  zu  dieser  Arbeit. 

Prof.  A.  B,iehl  in  einein  Briefe  an  den  Verlag. 

Die  Arbeit  als  Ganzes  ist  geradezu  ein  Muster  klarer  und  um- 
sichtiger Anwendung  der  kritischen  Methode  und  ist  dem,  der  diese 
immerhin  schwere  Methode  auf  verhältnismäßig  einfachem  Woge 
kennen  lernen  will,  sehr  zu  empfehlen.  Das  Buch  ist  anschau- 
lich geschrieben  und  ganz  floskelfrei.     Sozialistische  Monatshefte. 

Druck  von  C.  Grumbach  in  Leipzig. 


Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig. 


Herder  als  Faust. 

Von 

Günther  Jacoby, 

Privatdozent  der  Philosophie  in  Oreifswald. 

XII,  485  Seiten. 

Preis  M.  7.—,  gebunden  M.  8.50. 

Atis  einem  Briefe  von  Geheitnrai  Prof.  Dr.  Vaihinger : 

Welche  Überraschung  und  welche  Freude  hat  mir  Ihr  Faustbuch  ge- 
macht! Ich  beglückwünsche  Sie  herzlich  dazu.  Sie  haben  durch 
dieses  Buch  eine  neue  Seite  Ihrer  literarischen  Persönlichkeit  dar- 
geboten. Sie  haben,  was  Sie  als  Philosoph  in  Ihrem  Herder- Kant- Buch 
begonnen  haben,  als  Literarhistoriker  in  Ihrem  Herder- Faust -Buch 
fortgesetzt  und  eine  Fülle  neuer  Aufschlüsse  wie  damals  über  Herders 
Beziehungen  zu  Kant,  so  jetzt  über  Herders  Beziehungen  zu  Goethe 
gegeben.  Man  kann  Ihr  neues  Buch  geradezu  eine  Entdeckung  nennen, 
und  mit  Recht  haben  Sie  ihm  den  hellklingenden  Titel  gegeben  ^Herder 
als  Faust".  Freilich,  dieser  Titel  ist  provokatorisch:  er  ruft  alle  Geister 
des  Widerspruches  herbei,  gerade  jene  Schulmeister  und  Kleinmeister, 
welche  gegen  Herder  und  Goethe  und  gegen  welche  Goethe  und  Herder 
kämpften. 

Sie  werden,  wie  ich  fürchte,  bei  manchen  ..Fachmännern"  einen  schweren 
Stand  haben,  denn  gerade  die  ^Fachmänner"  sind  ja  oft  diejenigen, 
welche  allem   Neuen  das  Schwergewicht  der  Tradition  entgegenhalten. 

Man  wird  es  Ihnen  vielleicht  verübeln,  daß  Sie  nicht  in  der  braven 
Weise  der  üblichen  akademischen  Arbeiten  nur  von  den  „Beziehungen" 
Herders  zum  Faust  geredet  haben. 

Aber  Sie  haben  ganz  recht  daran  getan,  daß  Sie  jenen  Titel  gewählt 
haben,  der  keinen  Kompromiß  schließt,  sondern  scharf  und  schroff  das 
Neue  hinstellt,  was  Siegefunden  haben.  Sie  haben  mit  einer  staunenswerten 
Belesenheit  die  Parallelstellen  zusammengestellt  und  haben  mit  schlagen- 
den Gründen  bewiesen,  daß  nicht  bloß  Herders  Lehren,  sondern  auch 
Herders  Persönlichkeit  für  Goethes  „Faust"  maßgebend  gewesen  ist. 
Mit  Genehmigung  des  Brief  Schreibers  abgedruckt. 

.. .  Viel  wichtiger  ist  der  innere  Nachweis,  daß  sich  der  Aufriß  der 
Handlung  des  Faust  in  seinen  Grundzügen  mit  Herders  Reisetagebuch 
aus  jener  Zeit  deckt.  Vollends  der  umfangreichste  Beweis  des  Werkes, 
daß  nämlich  Fausts  seelische  Erlebnisse,  vor  allem  seine  wissenschafts- 
überdrüssigen Selbstgespräche,  seine  Arbeit  am  Johannisevangelium,  die 
parsistischen  Elemente,  seine  Stellung  zum  Wissenschaftsbetrieb  der 
Aufklärung  und  vieles  andere  Herders  Auffassung  genau  entsprechen, 
ja  oft  bis  ins  einzelste  in  Herders  Aufzeichnungen  vorgebildet  sind, 
daß  endlich  vor  allem  Herders  Lehre  vom  „Gefühl"  in  das  ganze 
Schauspiel  unauflöslich  verflochten  ist  —  dieser  Beweis  enthält  ein  so 
erdrückendes  Material,  daß  es  nicht  lohnt,  um  Kleinigkeiten  mit  dem 
Verfasser  zu  rechten.  Die  Jünger  des  ^Luther-Goethe-Bismarck«-Kultus 
werden  dem  Verfasser  diese  Profanierung  ihres  Heiligsten  nicht  ver- 
zeihen. Wir  anderen  aber  werden  ihm  danken,  daß  er  das  geschicht- 
liche Verständnis  Goethes  und  seines  herrlichsten  Gedichtes  so  tapfer 
und  bedeutend  gefördert  hat.  Theologisches  Liter aturhlatt.'