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Logik der exakten Wissenschaften
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in 2010 with funding from
University of Toronto
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LOGIK
EINE UNTERSUCHUNG DER PRINZIPIEN
DER ERKENNTNIS UND DER METHODEN
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VON
WILHELM WUNDT
DREI BÄNDE * II. BAND
LOGIK DER EXAKTEN
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3. UMGEARBEITETE AUFLAGE
VERLAG VON FERDINAND ENKE
STUTTGART 1907
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LOUGIK DER EXAKTEN
WISSENSCHAFTEN
VON
WILHELM WUNDT
Dritte umgearbeitete Auflage
VERLAG VON FERDINAND ENKE
STUTTGART 1907
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_ Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttga it
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Vorwort zur ersten Auflage.
In dem vorliegenden Werke ist der Versuch gemacht, die wissen-
schaftlichen Methoden und ihre Prinzipien einer vergleichenden Unter-
suchung zu unterwerfen, welche so viel als möglich unmittelbar aus
den Quellen der Einzelforschung zu schöpfen sucht. Dieser Versuch
ist von so großen Schwierigkeiten umgeben, daß es vielleicht weniger
erforderlich ist, seine Mängel als ihn selbst zu entschuldigen. Die
Mathematik, die Naturforschung, die Geisteswissenschaften, jedes
dieser Gebiete scheint reich genug, um als Grundlage einer logischen
Darstellung zu dienen. Dennoch drängte sich mir bei Vollendung
meiner Arbeit immer mehr die Überzeugung auf, daß nur eine sie
alle umfassende Untersuchung von den methodischen Eigentümlich-
keiten jedes einzelnen zureichende Rechenschaft geben könne, und
daß allein auf diesem Wege dem Fehler unberechtigter Verall-
gemeinerung gewisser Methoden wirksam zu steuern sei. Auch schien
es mir fruchtbringender, der tatsächlichen Entwicklung des wissen-
schaftlichen Denkens in seinen verschiedenartigen Gestaltungen nach-
zugehen, als bei abstrakten logischen Betrachtungen von fragwürdiger
Anwendbarkeit zu verweilen. In diesem Plan des Buches liegt, wie
ich hoffe, eine zureichende Entschuldigung dafür, daß in demselben
auf andere logische Darstellungen nur an wenigen Stellen Bezug
genommen ist. Werke aus den einzelnen Wissenschaftsgebieten habe
ich dagegen in der Regel dann zitiert, wenn ein Hinweis auf spezielle
Belegstellen oder auf weitere Ausführungen zu den im Text gegebenen
Andeutungen erforderlich schien.
Die Entstehungsweise meiner Arbeit brachte es mit sich, daß
die allgemeine Methodenlehre, obgleich der systematische Zweck
vI Vorwort zur ersten Auflage.
ihren Vorantritt verlangte, dennoch fast zuletzt ausgeführt wurde,
nachdem die speziellen Abschnitte der Hauptsache nach vollendet
waren; ich habe dann aber selbstverständlich das Ganze noch ein-
mal einer sorgfältigen Überarbeitung unterzogen. Auf diese Weise
fügte es sich von selbst, daß der Schwerpunkt der Darstellung in
die Logik der einzelnen Wissenschaften verlegt ist. Ich wünsche nicht,
daß hieraus die Meinung entstehe, jeder Abschnitt könne nötigen-
falls als ein für sich bestehendes Ganzes gelesen werden. Ins-
besondere betrachte ich die spezielle Methodenlehre durchaus als ein
zusammenhängendes Werk, dessen einzelne Teile überall aufeinander
hinweisen. Für die Darstellung erwuchs hieraus die Pflicht, sie in
einer Form zu halten, welche — höchstens von einzelnen Ausführungen
abgesehen — jedem wissenschaftlich gebildeten Leser es möglich
machen soll, dem Gedankengang zu folgen. Gegenüber der Zer-
splitterung der Einzelforschungen und der mit ihr so oft verbundenen
Unterschätzung fremder Arbeitsgebiete ist es, wie ich meine, eine
der schönsten philosophischen Aufgaben, das Bewußtsein der Zu-
sammengehörigkeit der Wissenschaften wach zu erhalten und die
Gleichberechtigung der wissenschaftlichen Interessen zu wahren.
Daß nicht alle Disziplinen die nämliche Berücksichtigung ge-
funden haben, wird wohl niemand dem Verfasser verargen. Eine
Beschränkung auf die Hauptgebiete, welche für die Ausbildung der
Methoden und Prinzipien der Forschung vorzugsweise bestimmend
sind, war schon durch den allgemeinen Charakter des Werkes ge-
boten. Überdies ist es unvermeidlich, daß der individuelle Stand-
punkt des Autors die gleichförmige Durchführung einer derartigen
Aufgabe beeinträchtigt. Meine Beschäftigung mit Mathematik und
Naturforschung ist durch den Gesichtskreis des Physiologen, mein
Interesse an den Geisteswissenschaften vorzugsweise durch psycho-
logische Studien bestimmt worden. Vielleicht lag in diesem doppelten
Berufsfach für mich mehr als für manchen andern eine Aufforderung
zur Beschäftigung mit allgemeinen methodologischen Problemen.
Vorwort zur ersten Auflage. VII
Sieht sich doch der Physiologe fast überall auf die Hilfe der ex-
akteren Teile der Naturwissenschaft angewiesen, und der Psychologe,
wenn er die unersprießlichen Pfade des herkömmlichen Subjektivis-
mus verlassen will, ist fortwährend gezwungen, nach beiden Seiten
Umschau zu halten, um bald die experimentellen Methoden des
Physikers und Physiologen für die Analyse der einfachen Bewußt-
seinserscheinungen zu verwerten, bald aus der Untersuchung der
Geisteserzeugnisse, wie sie Sprachwissenschaft, Mythologie, Völker-
kunde und Geschichte ihm bieten, für die Analyse der höheren
psychischen Funktionen Anhaltspunkte zu gewinnen. Die zentrale
Stellung, die ich der Psychologie zwischen den Natur- und Geistes-
wissenschaften angewiesen, mag infolge dieser individuellen Be-
ziehungen vielleicht etwas mehr betont worden sein, als es sonst
geschehen wäre; dennoch ist es meine Überzeugung, daß sie tat-
sächlich der Bedeutung entspricht, welche diese Wissenschaft —
nicht jetzt besitzt, aber in der Zukunft besitzen wird.
Leipzig, im Juli 1883.
Vorwort zur dritten Auflage.
Durch die Trennung der in der vorigen Auflage zu einem
Doppelband vereinigten Methodenlehre in zwei selbständige Bände
ist es nötig geworden, für jeden dieser Bände einen besonderen Titel
zu wählen. Wenn ich demnach den vorliegenden Band eine Logik
der exakten Wissenschaften genannt habe, so ist dies, wie ich nicht
unterlassen möchte zu bemerken, lediglich aus praktischen Gründen
geschehen. Für Mathematik und Naturwissenschaft, vornehmlich in
ihrer Vereinigung, ist nun einmal der Name der „exakten Wissen-
schaften“ im Gebrauch. Niemand wird daher zweifelhaft sein, was
er unter diesem Titel zu erwarten habe. Im übrigen bin ich selbst
der Meinung, daß sich gegen ihn manches einwenden läßt. Versteht
man den Begriff des Exakten in dem üblichen Sinne, nach dem er
eine besondere Genauigkeit und Zuverlässigkeit bezeichnen soll, so
gibt es zweifellos naturwissenschaftliche Gebiete, wie z. B. viele Teile
der Biologie, deren Exaktheit vieles vermissen läßt, während die
philologische und teilweise auch die historische Methodik in ihrer
Weise sehr wohl den Anspruch erheben dürfen, exakt genannt zu
werden. Nimmt man aber den Begriff des Exakten im Kantischen
Sinne, wonach jede Wissenschaft so genannt werden darf, auf die
Mathematik angewandt werden kann, so ist es zwar richtig, daß
solche Anwendungen in der Naturwissenschaft sehr viel häufiger
vorkommen als in den Geisteswissenschaften, daß sie aber auch in
diesen keineswegs ausgeschlossen sind, wie dies z.B. die Maß-
methoden in der Psychologie und die statistischen Methoden in der
Sozialwissenschaft zeigen.
Vorwort zur dritten Auflage. TX
Auch die Aufnahme der allgemeinen Methodenlehre in diesen
Band beruht mehr auf äußeren als auf inneren Gründen. Bildet sie
doch ebenso gut eine Einführung in die Logik der Geistes- wie in
die der mathematischen und Naturwissenschaften. Immerhin haben
die letzteren Gebiete schon infolge ihrer früheren Entwicklung die
Ausbildung der allgemeinen Methoden wissenschaftlicher Forschung
am meisten gefördert. Daß schließlich die Logik der Mathematik
nur in den Hauptrichtungen der Methodik und in ihren Grund-
begriffen in die vorliegende Darstellung hereingezogen wurde, be-
darf wohl kaum der besonderen Rechtfertigung. Ist doch die
Mathematik eine so eminent logische Wissenschaft, daß sie selbst
eigentlich schon eine Methodik des mathematischen Denkens zur
Darstellung bringt, und daß daher eine eingehendere Behandlung
zu den Aufgaben der Mathematik selbst gehört. Dagegen scheint
mir die Erörterung der allgemeinen logischen Gesichtspunkte der
mathematischen Methodik und Begrifisbildung umsomehr eine Auf-
gabe der Logik zu sein, als die Mathematiker aus begreiflichen
Gründen solche Fragen entweder überhaupt nicht oder doch nicht
gerade in ihrem Zusammenhang mit den allgemeinen Prinzipien der
Erkenntnis zu behandeln pflegen.
Leipzig, im Juli 1907.
W. Wundt.
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Erster Abschnitt.
Allgemeine Methodenlehre.
Erstes Kapitel, Die Methoden der Untersuchung.
1. Analyse und Synthese hi Ka Pe a a Be
a. Allgemeine Bedeutung der analytischen und synthetischen
Methode
.b. Die Analyse.
c. Die Synthese }
2. Abstraktion und en
a. Die Abstraktion
b. Die Determination
3. Induktion und Deduktion .
a. Die logischen Elemente der Induktion
b. Die Induktion als Methode
c. Die Deduktion . -
4. Die wechselseitigen Beneknngen nr neergreiieden.
ZweitesKapitel. DieFormender systematischen Darstellung.
1. Die Definition .
2. Die Klassifikation . A
a. Allgemeine Eigenschaften Br Blasaitkatoh nie Mabwidklung
der Klassifikationsformen
b. Die deskriptive Klassifikation
c. Die genetische Klassifikation .
d. Die analytische Klassifikation
3. Der Beweis .
a. Allgemeine Aufgäben den Bewererfährens
b. Die direkten Beweisformen
c. Die indirekten Beweisformen
Drittes Kapitel. Das System der Wissenschaften.
1. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme
2. Das natürliche System der Wissenschaften .
Seite
XJI Inhalt.
Seite
Zweiter Abschnitt.
Die Logik der Mathematik.
Erstes Kapitel. Die allgemeinen logischen Methoden der
Mathematik.
1. Die Aufgaben der mathematischen Untersuchungs . . . . . . 101
2. Die mathematische Analyse und Synthese . . . . 2.2. .107
3. Die mathematische Induktion und Abstraktion . . ....213
a. Der mathematische Realismus und Nominalismus. . . . . 118
b. Die historische Bedeutung der mathematischen Induktion. . 126
c. Die bleibenden Formen der mathematischen Induktion. . . 130
d. Die mathematische. Abatraktion....; u zu N... 0 Se
4.."Die-mathematische Deduktion.... In un m 2 RE
Zweites Kapitel. Die arithmetischen Methoden.
1. Die"Zahlen und ihre Symbole... nn. 20 22
a. Das Ziffernsystem . . ee ee
b. Die Zahlarten und Zulllarsönte N ee
c. Die Zahlgrenzen.. . . ER 0.
2. Die algebraischen Oneshanen BR: . 165
a. Die Entstehung und Bedeutung arabische Gleichenen . 166
b. Die allgemeinen Eigenschaften der algebraischen Gleichungen 172
Drittes Kapitel. Die geometrischen Methoden.
1. Die geometrischen Konstruktionsmethoden . . . „An
a. Die Entwicklung der geometrischen Konztrukkionemeihenen oT,
b. Die Teilung der Figuren . . we a TE a
c. Die ergänzenden Hilfckoarekraklionen BORR: 183
d. Die genetischen Konstruktionen: Beeren Rn Die:
schneidungsfiguren . . . 187
e. Die projektive Kohsimkken. and Yale Snthetinahe deometee 194
2. Die Anwendungen algebraischer Methoden auf die geometrische
Untersuchung. . . ie PR E
a. Die algebraische und a anulyiische Geprueir 2 re I
b. Die. geometrische Analysiıı. 4 Jr. ar De a Ver
Viertes Kapitel. Der Funktionsbegriff und die Infinitesi-
malmethode.
1. Die analytischen Funktionen . . EEE EEE
a. Die Entwicklung des Begriffs a Bankkian N
b. Die Hauptformen der analytischen Funktionen . . . . . 219
2. Der Differentialbegrif. . . ic
a. Allgemeine Entwicklung de Differentialbesriie SE U N.
b. Der phoronomische Differentialbegriff . . . . 2 2.2..2...237
c. Der geometrische Differentialbegrif. . . . - „ „0. m 324
d. Der arithmetische Differentialbegif . - . » . „2.2.7247
e. Der Begriff der derivierten Funktion -. . . .. In .2.243
3. Das Prinzip der Integration . . . A
4. Die Anwendungen der nee ekenh N ne
Inhalt. XII
Seite
Dritter Abschnitt.
Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Erstes Kapitel. Entwicklung und Gliederung der Natur-
wissenschaften.
1. Die Entwicklung der Naturwissenschaften . . » 2 .2.2.2...269
2. Das System der Naturwissenschaften - . » . 2 2.2.2.2... 274
Zweites Kapitel. Heuristische Prinzipien der Naturforschung.
1. Kausale und teleologische Naturbetrachtung . . . .» ..... 281
2. Postulate der empirischen Naturforschung . . . . 2.2..2...287
a, Das’ Postulat der "“Ansehaulichkeit ) .. .. 21.0. 2. 387
ballexı krutucherAwaltebe: ANNE en re hr 120
c. Das Postulat der Einfachheit . . . . 295
d. Die heuristischen Postulate der Natel: und die ubrekk-
Wistische-Hirkennintatbeoriesa eu ae ern „a. 209
Drittes Kapitel. Die Prinzipien der Mechanik und der
Kausalbegriff der mechanischen Naturlehre.,
1. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe . . . . . 306
Bu Ike, Stauık destrchimedesra rn. 2° isn er ee 30
b. Gelileis dynamische Anschauungen . . . EEE RE
c. Die Begründung der synthetischen Mefkanık DE A er SACHEN
2. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . . ie le
a. Die Formulierung der mechanischen Axiome durch Norton . 314
b. Teleologische Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . 317
c. Kausale Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . .. 330
d. Die phoronomischen und die De Vorterkngen
der Mechanik. . . a 2 ra Le
e. Das Prinzip der Finfachheit in er Werne. SR 342
f. Der Kausalbegriff der mechanischen Naturlehre und die Bee
meinen Formen der Kausalgleichungen . . . 2 ...2....847
Viertes Kapitel. Die allgemeinen Methoden der Natur-
forschung.
1. Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden . 355
2. Experiment und: Beobachtung. % ar: 00... We 357
a. Die, experimentelle Methode) =... 1.7 20 2 en 357
b.Die vergleichende. Methode u. Zn nn 2 12 227,0 05 SE
3. Naturbeschreibung und Naturerklärung . . . 2 .2.2.2.2..8366
Vierter Abschnitt.
Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Erstes Kapitel. Die Logik der Physik.
LDie physikalischen: Methoden 4% 1.0 1. naar une! ge a) 868
a. Die Analyse der Naturerscheinungen . . . we end SED
b. Die synthetische Erzeugung der Feng a
eu Die-Dliysikahische Induktion, u 3 var 0 SEE 5
XIV Inhalt.
d. Die physikalische Abstraktion .
e. Die physikalische Deduktion
9. Die Hilfsmittel der physikalischen erschung
a. Die physikalische Beobachtung
b. Die Messung der Naturerscheinungen ’
c. Die mathematischen Hilfsoperationen der ShyMEnlischen Lindlar
suchung . 5
d. Die Enakaheche Konokantenbeinne
. Das Substrat der Naturerscheinungen
a. Kontinuitätshypothese und Atomistik
b. Die dynamische Atomtheorie
c. Die kinetische Atomtheorie .
d. Rückkehr zu Konkinnilalsetellunsn
e. Logische Prüfung der Hypothesen
4. Die allgemeinen Naturgesetze .
a. Kraftgesetze und Kraftfunktionen
b. Die Energiegesetze . s
c. Die physikalischen ec :
Zweites Kapitel. Die Logik der Chemie.
1. Die chemischen Methoden . . .. . f
a. Allgemeine Aufgaben der chemischen Ünlerudiuhe x
b. Die chemische Analyse
c. Die chemische Synthese .
d. Die chemische Induktion
e. Die chemische Abstraktion und Dednklion
2. Die chemische Statik und Dynamik .
a. Die Prinzipien der chemischen Statik .
b. Die Prinzipien der chemischen Dynamik .
3. Der chemische Atombegriff .
a. Entwicklung der chemischen Dee Hppothese der 2
es
atome : .
b. Die Nlekkonenikeone DE die ee der .
setzung der Atome . . ee
c. Die chemischen Elemente ana ee Banep ie Konstahk der
Materie .
Drittes Kapitel. Die Logik der Biologie.
1. Die biologischen Methoden . : .
a. Allgemeine Aufgaben der Biologen Worehaue
b. Die morphologische Analyse Men
c. Die physiologisch-chemische Uteruehung
d. Die physiologisch-physikalische Untersuchung .
e. Die physiologische und pathologische Funktionsanalyse
. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen
a. Die biologischen Richtungen i er
b. Die teleologische Mechanik der Lebanserscheinune ;
c. Teleologische Prinzipien der Biologie. Das Entwicklungs
gesetz
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969
Inhalt.
d. Das Vererbungsgesetz. Stofftheorien und dynamische Theorien
g.
.‚ Das Anpassungsgesetz. Mechanische, chemische und funk-
tionelle Anpassungen .
. Das Prinzip der Summation es, irgen ad Be an
strophenlehre. Variations- und Mutationstheorie . . . .
Kausale Prinzipien der Biologie. Das Regulations- und das
Energieprinzip
3. Die biologischen Canndbeeriite ad de Brbolheskn über 3 Zu:
sammenhang der Lebensvorgänge
a.
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Register
Das organische Individuum und der re ielarereiene
Die systematischen Begriffe der Biologie .
Die Ursachen des Lebens
Untergang und Erneuerung des Deren.
Das Problem der Urzeugung
törungen der Lebensvorgänge
. Der Begriff der Krankheit .
Funktionsstörungen und Infektionen
. Die Theorie der Immunisierung . METER.
. Die Selbstregulierung im kranken Organismus .
Die abnormen Neubildungen
XV
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635
Erster Abschnitt.
Allgemeine Methodenlehre.
Erstes Kapitel.
Die Methoden der Untersuchung.
1. Analyse und Synthese.
a. Allgemeine Bedeutung der analytischen und synthetischen
Methode.
Jede einzelne wissenschaftliche Untersuchung besteht entweder
in der Zergliederung eines zusammengesetzten Gegenstandes in seine
Bestandteile, oder in der Verbindung irgendwelcher relativ einfacher
Tatsachen zum Behuf der Erzeugung zusammengesetzter Resultate.
Analyse und Synthese sind daher die allgemeinsten Formen der Unter-
suchung, die in alle anderen als deren Bestandteile eingehen. So erheben
sich auf beiden zunächst zwei Paare zusammengesetzter Methoden:
erstensdeAbstraktionmitihrer Umkehrung, derDetermina-
tion, und zweitens die Induktion mit ihrer Umkehrung, der
Deduktion. Die Abstraktion gründet sich auf analytische Unter-
suchungen; die Determination ist ein synthetisches Verfahren. Die
Induktion stützt sich vorzugsweise auf eine Analyse der Tatsachen;
die Deduktion verbindet wiederum die durch die Analyse gewonnenen
Elemente. Doch ist damit nur die vorwiegende Richtung der Denk-
operationen bezeichnet; denn es verrät sich gerade in der kombinierten
Anwendung der Analyse und Synthese die zusammengesetztere Be-
schaffenheit der Methoden.
Von den Methoden der Untersuchung sind die Formen der
systematischen Darstellung abhängig. Auch in Bezug
auf diese bewähren daher die Analyse und Synthese ihre grundlegende
Bedeutung. Den einfachen Methoden derselben entsprechen die Formen
der Definition, welche entweder in der Zerlegung eines Begrifis
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 1
2 Allgemeine Methodenlehre,
in seine Elemente oder in dem Aufbau desselben aus diesen Elementen
bestehen kann. Den Methoden der Abstraktion und Determination
schließt sich das Verfahren der Klassifikation an. Die Ge-
winnung der Allgemeinbegriffe eines Systems beruht auf Abstraktion,
während bei der Bildung der Einteilungsglieder das umgekehrte Ver-
fahren der Determination Platz greift. Endlich auf die Induktion
und Deduktion stützen sich die Formen der Demonstration.
Denn der Beweis eines Satzes besteht entweder in einer abgekürzten
Reproduktion des Weges, auf welchem derselbe gewonnen wurde,
oder auf einer umgekehrten Zurücklegung dieses Weges. Da nun alle
wissenschaftlichen Sätze durch Induktion oder Deduktion gefunden
sind, so folgt hieraus, daß auch das Beweisverfahren bald den induk-
tiven, bald den deduktiven Weg einschlagen wird, wobei jedoch wegen
der angedeuteten Umkehrungen ein Übergewicht des deduktiven
Verfahrens bestehen bleibt.
Die allgemeine Methodenlehre muß sich darauf beschränken,
für jede der angegebenen Methoden die allgemeingültigen logischen
Gesichtspunkte zu entwickeln, während die Untersuchung der beson-
deren Bedingungen und einzelnen Formen ihrer Anwendung den
folgenden Abschnitten, welche die Logik der einzelnen Wissenschafts-
gebiete behandeln, überlassen bleibt.
b. Die Analyse.
Die Gegenstände unserer Erfahrung sind von zusammengesetzter
Beschaffenheit. Jedes einzelne Objekt oder Ereignis bietet uns bald
mehrere bleibend koexistierende Bestandteile, bald verschiedene in
der Zeit aufeinanderfolgende Zustände, und nicht selten verbinden
sich diese beiden Merkmale miteinander. Die Analyse ist daher die-
jenige methodische Denkoperation, welche durch die natürliche Be-
schaffenheit der Erfahrungsobjekte in der Regel zuerst angeregt wird.
Eine klare und deutliche Auffassung der Gegenstände ist die Grund-
bedingung der wissenschaftlichen Untersuchung und zugleich das nächste
Merkmal, welches diese von der gewöhnlichen praktischen Betrach-
tung der Dinge unterscheidet. Die bestimmte Vergegenwärtigung der
einzelnen simultan oder sukzessiv wahrzunehmenden Elemente, aus
denen eine Tatsache besteht, muß daher der erste Schritt bei der Unter-
suchung derselben sein. Diese Analyse der Tatsachen vollzieht sich
aber wieder in einer bestimmten Entwicklungsfolge, innerhalb deren
sich im allgemeinen drei Stufen unterscheiden lassen. Naturgemäß
ist es nur die erste dieser Stufen, die in der angedeuteten Weise die
Analyse”und Synthese. Be
Vorbereitung zu jeder weiteren Untersuchung bildet, während sich die
übrigen mit synthetischen Verfahrungsweisen verbinden können und
in dieser Verbindung namentlich Bestandteile der Induktion und
Deduktion zu bilden pflegen.
Jene erste Stufe ist die der elementaren Analyse.
Sie besteht lediglich in der Zerlegungeiner Erscheinung
inihre Teilerscheinungen, ohne daß man sich noch darum
kümmert, in welchen gegenseitigen Beziehungen die Teile des Ganzen
zueinander stehen mögen. Eine solche Zerlegung erfüllt zunächst einen
rein deskriptiven Zweck. Denn darin besteht das Wesen der
Beschreibung, daß man ausschließlich über das Neben- und Nach-
einander der Bestandteile einer Erscheinung Rechenschaft gibt. Außer-
dem kann aber die Beschreibung die eingehendere kausale Unter-
suchung vorbereiten, und es ist dies regelmäßig der Fall, wenn nicht
die Schwierigkeit des Gegenstandes eine einstweilige Beschränkung
auf die bloße Beschreibung gebietet. Im übrigen können die Hilfs-
mittel, deren sich die elementare Analyse bedient, der verschiedensten
Art sein. In den einfachsten Fällen stützt sie sich auf die natürlichen
Sinneswerkzeuge oder, bei der psychologischen Analyse, auf die un-
mittelbare innere Wahrnehmung. Der logische Charakter des Ver-
fahrens bleibt aber der nämliche, wenn künstliche Werkzeuge den
Sinnesorganen zu Hilfe kommen, wie bei den vollkommeneren Formen
der naturwissenschaftlichen Beobachtung, oder wenn aus den Be-
richten verschiedener Augenzeugen, historischen Dokumenten, statisti-
schen Erhebungen u. dgl. eine Anzahl von Tatsachen in Bezug auf
ihre räumliche und zeitliche Verbindung festgestellt wird, wie solches
bei der Untersuchung sozialer und historischer Fragen stattzufinden
pflegt. Selbst dann verliert die Methode noch nicht den Charakter
elementarer Analyse, wenn gewisse Versuchsverfahren zu Rate ge-
zogen werden, deren Anwendung an sich schon auf die Kenntnis ge-
wisser kausaler Beziehungen gegründet ist, so lange sich nur der Zweck
des Verfahrens auf die tatsächliche Feststellung der Elemente einer
Erscheinung beschränkt und bloß die äußere räumliche und zeitliche
Verbindung derselben berücksichtigt. So ist die chemische Elementar-
analyse auch im logischen Sinne eine solche, so weit sich auch hier der
Vorgang von der einfachen Zerlegung einer sinnlichen Wahrnehmung
in ihre Teile entfernen mag. Denn das Resultat der chemischen Elemen-
taranalyse ist bloß die Kenntnis der einfachen Bestandteile des unter-
suchten Körpers ohne Rücksicht auf die näheren Bedingungen ihrer
Verbindung. Aber gerade in diesen verwickelteren Fällen, in denen
4 Allgemeine Methodenlehre.
schon für den deskriptiven Zweck experimentelle Hilfsmittel herbei-
gezogen werden müssen, pflegt die erste unaufhaltsam zu den weiteren
Stufen der analytischen Methode überzuführen.
Als zweite Stufe ergibt sich so die der kausalen Ana-
lyse. Sie besteht in der Zerlegungeiner Erscheinung
inihre Bestandteile mit Rücksicht auf die ur-
sächlichen Beziehungen derselben. Eine derartige
vom Zweck der Erklärung geleitete Zergliederung setzt die ele-
mentare deskriptive Analyse bereits voraus. Doch kann diese unter
Umständen sehr schnell erledigt sein oder auch sofort in die kausale
Zergliederung verwoben werden, so daß die Untersuchung unmittelbar
mit der letzteren zu beginnen scheint. Beispiele solcher Art bieten unter
den Naturwissenschaften die Physik, unter den Geisteswissenschaften
die Psychologie und Geschichte, während anderseits Chemie und Physio-
logie, Staats- und Gesellschaftslehre leicht als Gebiete zu erkennen
sind, in denen das deskriptive Stadium eine selbständigere Bedeutung
besitzt. Der Grund dieses Unterschieds liegt in den verschiedenen Be-
dingungen dieser Wissenschaften. Physik und Psychologie beschäftigen
sich beide mit der Erklärung der allgemeinen Erscheinungen, jene der
äußeren, diese der inneren Erfahrung. Zu diesem Behuf beginnen
beide ihre Analyse mit den einfachsten Tatsachen, bei denen ohne
beschreibende Vorbereitung eine kausale Erwägung unmittelbar nahe
gelegt wird. Die Untersuchung der verwickelteren Erscheinungen
stützt sich dann aber bereits auf jene einfachsten Kausalanalysen,
und es verbindet sich daher sofort mit ihnen der Versuch, durch ein
synthetisches Verfahren die Anwendbarkeit der analytisch gewonnenen
kausalen Prinzipien zu prüfen. Der historischen Untersuchung mangeln
zwar solche einfache Ausgangspunkte; dafür aber bedient sie sich
eines weitgehenden Abstraktionsverfahrens, das es ihr gestattet, zu-
nächst gewisse Hauptmomente des historischen Geschehens heraus-
zugreifen, für welche die Zurückführung auf bestimmte psychologische
Motive nahe liegt. In völlig entgegengesetzter Lage befinden sich die
an zweiter Stelle angeführten Gebiete. Bei ihnen ist meistens schon in
den einfachsten Fällen das rein tatsächliche Verhalten, wie es z. B. in
der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung einer chemischen
Verbindung, in den morphologischen und chemischen Eigenschaften
eines Organs, in den Berufs- und Sittenzuständen einer Bevölkerung
gegeben ist, so wenig der unmittelbaren Beobachtung zugänglich,
daß die deskriptive Analyse der Tatsachen einen selbständigen Wert
für sich in Anspruch nimmt.
Analyse und Synthese. 5
In der Ausführung zeichnet sich die kausale Analyse vor allem
durch ein willkürliches Isolieren einzelner Elemente aus
den zu untersuchenden komplexen Tatsachen aus, welches Verfahren
in der Absicht geübt wird, die kausalen Beziehungen der isoliert be-
trachteten Elemente kennen zu lernen. Während demnach die elemen-
tare Analyse den Gegenstand höchstens insofern verändert, als sie zum
Behuf der Nachweisung seiner Bestandteile diese sukzessiv vonein-
ander trennt, vernachlässigt die kausale von vornherein die Existenz
gewisser Bestandteile; sie beschränkt sich dann aber nicht auf die
Nachweisung der übrigen in Rücksicht gezogenen, sondern sie sucht
so viel als möglich die Bedingungen ihrer Koexistenz oder Aufein-
anderfolge zu verändern. Zu der Isolation gesellt sich auf diese Weise
die VariationderElementeals das wesentlichste Hilfsmittel.
Am vollendetsten gestaltet sich die letztere dann, wenn die Natur des
Gegenstandes es gestattet, willkürlich einzelne Elemente der Erscheinung
entweder ganz zu beseitigen oder in ihrer Größe zu verändern. In einer
solchen willkürlichen Variation besteht die analytische Form
desexperimentellen Verfahrens. Wo das Experiment
angewandt werden kann, verdient es vor jeder anderen Art kausaler
Analyse den Vorzug, weil es auf dem direktesten Wege das kausale
Verhältnis der Bestandteile einer Erscheinung ermitteln läßt. Ist es
wegen der Natur des Gegenstandes nicht anwendbar, wie bei gewissen
den Menschen betreffenden physiologischen Fragen, bei den allge-
meinsten kosmologischen und biologischen, bei historischen und sozialen
Problemen, so muß der Variation der Elemente der untersuchten Er-
scheinung die Variationder Elemente verschiedener
einanderähnlicherErscheinungen substituiert werden.
Es greift daher nun allgemein ein Vergleichungsverfahren
Platz, bei dem man die zu untersuchende Tatsache in Parallele
bringt mit anderen bekannten Tatsachen, die ihr in irgendwelchen Be-
ziehungen ähnlich sind. Je mehr solche Variationen denjenigen Ver-
änderungen gleichen, die man bei der experimentellen Methode will-
kürlich hervorbringen würde, umsomehr gewinnen natürlich auch die
Resultate einen experimentellen Wert. Da jedoch die Auffindung ge-
eigneter Tatsachen von glücklichen Zufällen abhängt, so beansprucht
hier die Untersuchung auch unter den günstigsten Verhältnissen eine
längere Zeit, und sie setzt die Ansammlung eines umfangreicheren Er-
fahrungsmateriales voraus. In nicht seltenen Fällen aber bleibt jede
Annäherung an die experimentelle Methode dadurch ausgeschlossen,
daß die untersuchten Tatsachen einen singulären Charakter be-
6 Allgemeine Methodenlehre.
sitzen, insofern selbst die einigermaßen verwandten Erscheinungen
immer noch zu verschieden sind, um eine unmittelbare Vergleichung zu
gestatten. Dies findet namentlich bei denjenigen Vorgängen der Ent-
wicklung statt, bei denen, wenigstens in einer unserer Beobach-
tung zugänglichen Zeit, periodische Wiederholungen ausgeschlossen
sind, wie bei der ersten Entstehung kosmischer und organischer Ge-
bilde oder bei historischen Ereignissen. Hier muß sich dann die ver-
gleichende Kausalanalyse teils mit entfernteren Analogien begnügen,
teils wird sie von Voraussetzungen geleitet, die einem allgemeineren
Gebiet von Tatsachen angehören, das eine Anwendung auf den unter-
suchten Gegenstand zuläßt. So stützt sich die Analyse der Artent-
wicklung auf die individuelle Entwicklungsgeschichte und auf die nach-
weisbare Bildung von Spielarten; oder die historische Analyse folgt
allgemein anerkannten psychologischen Gesichtspunkten.
Die dritte StufeistdielogischeAnalyse. Sie besteht
inder Zerlegungeinerkomplexen Tatsacheinihre
Bestandteile mit Rücksicht auf die logischen
Beziehungen derselben. Hierzu ist erforderlich, daß eine
allgemeine Feststellung der begrifflichen Eigenschaften der Elemente
des Ganzen bereits erfolgt sei. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so über-
nimmt dann die logische Analyse die Entwicklung der einzelnen Folge-
rungen, die sich aus diesen Eigenschaften ergeben. In doppelter
Weise kann aber jene allgemeine Feststellung geschehen, welche die
Vorbedingung der logischen Analyse ist: erstens durch ein synthetisches
Verfahren, das nach in der Anschauung gegebenen oder willkür-
lichen Motiven die Beziehungen der Elemente eines Begriffs zugleich
mit diesem selbst bestimmt, und zweitens durch die vorangegangenen
Stufen der elementaren und kausalen Analyse. Nur im zweiten dieser
Fälle bildet demnach die logische Analyse das Endglied des analytischen
Verfahrens überhaupt, während im ersten die nachher zu schildernde
synthetische Methode in sie einmündet. Diese auf synthetischer Grund-
lage erwachsene logische Analyse ist die häufigste und zugleich die
vollendetste Form. Insbesondere gehören hierher alle Anwendungen
des analytischen Verfahrens im Gebiet der reinen Mathematik. So be-
sitzt man in der Gleichung einer Kurve einen auf synthetischem Wege
gewonnenen Ausdruck, welcher den Begrifi der Kurve samt den Be-
ziehungen seiner wesentlichen Elemente in sich schließt. Die ana-
lytische Behandlung dieses Ausdrucks entwickelt dann durch Zerlegung
des Begriffs die verschiedenen Eigenschaften der Kurve. Stellt dagegen
der einer solchen Analyse unterworfene mathematische Ausdruck ein
Analyse und Synthese. 7
allgemeines Naturgesetz dar, so pflegt dieses durch eine vorange-
gangene kausale Analyse der Erscheinungen gewonnen zu sein, worauf
nun die nachfolgende logische Analyse Folgerungen entwickelt, die
wiederum durch Beobachtung oder Experiment geprüft werden können.
Auf diese Weise fordern gerade hier, wo die logische Analyse das ana-
lytische Untersuchungsverfahren abschließt, nicht selten die Resultate
derselben eine teilweise Rückkehr zu den vorangegangenen Stufen.
Übrigens pflegt auch in diesen Fällen an der Feststellung der Begriffe,
welche der logischen Analyse zu unterwerfen sind, immerhin in ge-
wissem Grade die synthetische Methode beteiligt zu sein, da die Formu-
lierung allgemeiner Naturgesetze niemals das Resultat einer reinen
Analyse ist, sondern aus dem zusammengesetzten Verfahren der In-
duktion entspringt.
Wegen der exakten Form, in der die mathematische Symbolik
die Beziehungen der miteinander verbundenen Größenbegriffe anzu-
geben vermag, erweist sich der mathematische Ausdruck eines Begriffs
als vorzugsweise geeigneter Ausgangspunkt für die logische Analyse.
Doch kann diese auch in solchen Begrifissystemen, deren Natur die
mathematische Formulierung ausschließt, zu verhältnismäßig großer
Vollendung gelangen. Das hervorragendste Beispiel dieser Art bilden
die Rechtsbegriffe, die, nachdem sie durch Definitionen
festgestellt sind, bald mit Rücksicht auf allgemeine Rechtsfragen,
bald aus Anlaß individueller Rechtsanwendungen der logischen Ana-
lyse unterworfen werden. Immerhin verrät sich die minder exakte
Natur solcher Definitionen noch häufig genug in den widerstreiten-
den Resultaten, zu denen die Analyse gelangen kann, und deren
Ausgleichung eine der erheblichsten Aufgaben juristischen Scharfsinns
zu sein pflegt.
An den hier geschilderten drei Stufen der analytischen Methode
können sich die verschiedenen logischen Funktionen in ziemlich wech-
selnder Weise beteiligen. Eine logische Zergliederung dieser wie jeder
anderen Methode läßt sich daher nur insofern vornehmen, als man die
logischenGrundformen bezeichnet, auf welche die betrefien-
den Methoden vermöge der in ihnen herrschenden Gedankentätigkeit
vorzugsweise zurückgehen. Unter dieser Voraussetzung läßt sich als
die Grundform der elementaren Analyse das dis-
junktive Urteil betrachten, das eine Tatsache M in ihre Teile
A, B,C... zerlegt, ohne über die logische Beziehung dieser Teile zu-
einander Rechenschaft zu geben:
BZANLBICH, HA
8 Allgemeine Methodenlehre.
Die kausale Analyse zerlegt diese Form in ebenso viele A b-
hängigkeitsurteile, als zuvor einzelne Glieder unterschieden
worden sind. Sie gewinnt so Beziehungen von der Form:
EEE
A B,B700,7D,....
E
wobei das obere oder untere Symbol gilt, je nach der Richtung der
kausalen Abhängigkeit, unter Umständen aber auch beide in dem
Zeichen der Wechselbestimmung sich vereinigen können. (Bd. TI,
S. 259.) Endlich die logische Analyse setzt an die Stelle des
kausalen Abhängigkeits- das allgemeinere Bedingungsurteil,
indem sie zugleich die sämtlichen Glieder des untersuchten Begriffs mit-
einander zu verbinden strebt, so daß sie schließlich ein Gesamturteil
gewinnt von der Form:
MEI, BCE)
oder in mathematischer Symbolik ausgedrückt
MA BCE 2.)
wo das Abhängigkeits- oder Funktionssymbol vor der Gesamtheit der
Begrifisglieder andeutet, die Zerlegung des Begrifis M in seine Ele-
mente A, B,C...solle in der Weise stattfinden, daß zugleich die logi-
schen Beziehungen dieser Elemente zueinander angegeben werden.
Mit Rücksicht hierauf kann man daher in der logischen Analyse ein
Verfahren erblicken, das die formalen Eigenschaften der beiden vor-
angehenden Stufen verbindet.
ec. Die Synthese,
Das synthetische Verfahren kann in der einfachen Umkehrung
einer vorausgegangenen Analyse bestehen. Dann ist die Synthese
eine reproduktive: sie hat einen verhältnismäßig beschränkten
Wert, da sie hauptsächlich im Interesse einer nochmaligen Prüfung der
analytischen Resultate unternommen wird. Es kann aber auch das
synthetische Verfahren in einer solchen Weise zur Anwendung kommen,
daß nur gewisse Ergebnisse vorangegangener analytischer Unter-
suchungen oder sogar nur die Begrifiselemente, die eine vorherige Analyse
gefunden hat, benützt werden, während die Synthese selbst in neuer
und unabhängiger Weise die Elemente verbindet. Hier ist die Synthese
eine produktive: sie führt zu Ergebnissen, welche die analytische
Untersuchung in wesentlichen Punkten ergänzen und in vielen Fällen
in dieser nicht einmal angedeutet lagen. Zwischen beiden Arten der
„ Analyse und Synthese. 9
Synthese finden sich mannigfache Zwischenstufen, für die namentlich
die synthetische Form des experimentellen Verfahrens
Belege darbietet. Nachdem die Analyse eines zusammengesetzten Klangs
gewisse Partialtöne in ihm nachgewiesen hat, versucht man aus ein-
fachen Tönen den Klang zusammenzusetzen. Nachdem durch die Ana-
lyse des weißen Sonnenlichts die Spektralfarben als dessen Bestandteile
erkannt sind, erzeugt man das Weiß durch die Mischung der Farben.
Aber hier liegt es dann zugleich nahe, das Verfahren zu modifizieren,
so daß der Weg einer bloß reproduktiven Synthese verlassen wird.
An Stelle aller Bestandteile des Sonnenlichts begnügt man sich mit der
Mischung einzelner Farben und gewinnt so durch selbständige Syn-
these verschiedene Kombinationen derselben, die sich zu Weiß ver-
binden lassen. Ebenso entfernt sich die chemische Synthese, nament-
lich bei den zusammengesetzteren Verbindungen, in der Regel mehr
oder weniger von dem Weg der Analyse, da man, von bestimmten Vor-
aussetzungen über die Konstitution der Verbindungen ausgehend,
von vornherein durch die Synthese eine Prüfung jener Voraussetzungen
zu gewinnen sucht. Am eigentümlichsten gestaltet sich die Synthese
dann, wenn sie von vorangegangenen analytischen Untersuchungen
nur die Elemente übernimmt, mit denen sie ihren Aufbau beginnt.
Sie führt hier den Namen der Konstruktion, ein Ausdruck,
der zunächst dem mathematischen Gebiete entnommen ist. So benützt
die synthetische Geometrie den Punkt, die Gerade und die Ebene als
Elemente, mit denen sie ihre Konstruktionen ausführt. Der produktive
Charakter der letzteren ist aber namentlich auch deshalb ein so aus-
geprägter, weil die Analysen, die zur Auffindung jener Elemente geführt
haben, höchst einfacher Art waren, so daß sie den Erfolg der sich an-
schließenden synthetischen Operationen nicht vorausahnen ließen.
Abgesehen von. dieser in dem Verhältnis zur vorangegangenen
Analyse begründeten Unterscheidung sind bei der synthetischen Unter-
suchung, eben weil sie eine Umkehrung der analytischen ist, die näm-
lichen Stufen wie bei dieser möglich. Doch tritt die elementare Synthese
fast ganz zurück, da der rein tatsächliche Nachweis der Elemente
eines Ganzen in der Regel durch die analytische Untersuchung in zu-
reichender Weise geliefert werden kann. Dagegen ist die kausale Syn-
these von hervorragender Bedeutung. Sie bildet einen wichtigen Be-
standteil des experimentellen Verfahrens, der nicht bloß da seine An-
wendung findet, wo es sich darum handelt, ein analytisches Resultat
durch die Umkehrung des Versuchswegs zu bestätigen, sondern der vielfach
auch selbständig durch neue Kombinationen elementarer Bedingungen
10 Allgemeine Methodenlehre,
komplexe Erscheinungen hervorbringt. Eine logische Synthese endlich
ist bei allen mathematischen und sonstigen begrifllichen Konstruk-
tionen wirksam. Bald werden solche Konstruktionen, wie in der syn-
thetischen Geometrie, durch die Anschauung geleitet, wobei jedoch die
Verarbeitung der letzteren immer logischen Gesichtspunkten unter-
worfen bleibt, bald beruhen sie auf einer rein begrifflichen Zusammen-
fügung, wie bei dem Euklidischen Beweisverfahren in seinen mathe-
matischen, philosophischen und sonstigen Anwendungen, oder bei
gewissen dialektischen Verfahrungsweisen von synthetischem Charakter,
für die Hegels Dialektik ein prägnantes Beispiel ist. Die verhältnis-
mäßig einwurfsfreieste unter diesen Methoden, die Euklidische, zeigt
jedoch deutlich, was bei den anderen zuweilen mehr verhüllt wird, daß
es sich hier im besten Falle um reproduktive Synthesen handelt, bei
denen man, wie dies schon von Newton trotz seiner Hochschätzung
des Euklidischen Verfahrens richtig erkannt wurde, analytische Er-
gebnisse in die synthetische Form umprägt. Wo dies nicht zutrifft,
wie in den synthetischen Verfahrungsweisen philosophischer Dialektik,
da treten an die Stelle einer haltbaren logischen Synthese nur zu leicht
willkürliche Begrifiskombinationen.
Die synthetische Methode ist im allgemeinen von beschränkterer
Anwendung als die analytische. Insbesondere pflegen sich die Tat-
sachen, sobald sie eine gewisse Verwicklung erreichen, der synthetischen
Konstruktion oder selbst Rekonstruktion zu entziehen. So beschränkt
sich schon die synthetische Geometrie auf die Untersuchung verhält-
nismäßig einfacher Raumgebilde, wie der Kurven und Flächen zweiten
Grades; die Untersuchung komplizierterer Probleme überläßt sie der
analytischen Geometrie. Ebenso reicht in der Physik und Chemie
die Analyse bis zu beliebig zusammengesetzten Erscheinungen und
Körpern, während die Synthese immer nur relativ einfachere Prozesse
aus ihren Bedingungen oder einfachere Verbindungen aus ihren Ele-
menten zu erzeugen im stande ist. Aus dem nämlichen Grunde ist die
Synthese im Gebiet der Geisteswissenschaften von beschränkter An-
wendung. Die meisten psychologischen, sozialen und historischen Tat-
sachen sind von allzu verwickelter Beschaffenheit, als daß sie einen
anderen als den analytischen Weg der Untersuchung zuließen. Nur
die Psychologie gestattet bei den einfachsten Prozessen der sinnlichen
Wahrnehmung ein synthetisches Experimentalverfahren. Ebenso hat
auf Grund gewisser allgemeingültiger psychologischer Tatsachen die
Nationalökonomie, indem sie durch eine weitgehende Abstraktion die
Probleme auf einfachste Bedingungen zurückführte, gewisse Folge-
Abstraktion und Determination, 11
rungen auf synthetischem Weg gewonnen. Dabeisind dann freilich diese
insofern nur von hypothetischer Bedeutung, als durch die gemachten
Abstraktionen die Fiktion eines Tatbestandes entsteht, der von dem
wirklichen Geschehen stets mehr oder weniger weit sich entfernt.
Da das synthetische nur eine Umkehrung des analytischen Ver-
fahrens ist, so bleiben auch die logischen Grundformen
hier die nämlichen. Die elementare Synthese entspricht einfach dem
kopulativen Urteil von der Form:
AK BIER EM
Die kausale Synthese führt dann aber sofort zu einem zusammenge-
setzten Abhängigkeitsurteil von der Form:
(Ay. B}C 2). Meoderf ArB CO.) —=H,
da, dem Charakter der synthetischen Methode gemäß, das für die
Analyse charakteristische Herausheben einzelner Kausalbeziehungen
hinwegfällt. Der nämlichen Form folgt dann schließlich die logische
Synthese, bei der nur die Abhängigkeits- und Funktionssymbole eine
allgemeinere Bedeutung gewinnen.
2. Abstraktion und Determination.
a. Die Abstraktion,
Unter der Abstraktion verstehen wir allgemein das Ver-
fahren, durch welches aus einer zusammengesetzten Vorstellung oder
aus einer Mehrzahl solcher Vorstellungen gewisse Bestandteile als Ele-
mente eines Begrifis festgehalten und die übrigen eliminiert werden.
Die logische Abstraktion gründet sich daher auf die fundamentale
psychologische Eigenschaft der Apperzeption, in einer Mehrheit
von Bewußtseinsinhalten einzelne, die durch bestimmte Motive bevor-
zugt sind, in den Blickpunkt des Bewußtseins zu heben. Die logische
Abstraktion ist demnach diejenige Form der Apperzeption, welche
durch die Motive der logischen Vorstellungsverbindungen erregt wird.
Als einfaches logisches Verfahren setzt sie aber die Analyse voraus.
Denn die Objekte der Begrifisbildung müssen in die Bestandteile zer-
legt sein, von denen einzelne apperzipiert und andere eliminiert werden
sollen.
Die wissenschaftliche Bedeutung der Abstraktion beruht teils
auf dem Werte, der ihr an und für sich zukommt, teils und besonders
aber auf der Wichtigkeit, die sie als Bestandteil und Hilfsmittel anderer
12 . Allgemeine Methodenlehre.
logischer Verfahrungsweisen besitzt. Aus der Fülle der einzelnen Er-
scheinungen, die einen komplexen Tatbestand ausmachen, bestimmte
Elemente herausheben und isoliert der weiteren Untersuchung oder
der Ordnung der Erscheinungen zu Grunde legen zu können, ist eine
der wertvollsten Errungenschaften der analytischen Methode. Dabei
gewährt es noch einen besonderen Vorteil, daß die Abstraktion voll-
kommen nach unserer freien Wahl in der verschiedensten Weise und
im verschiedensten Grade geübt werden kann. Denn es ist schließlich
derselbe Vorgang, der den Systematiker befähigt, bei der Untersuchung
einer naturgeschichtlichen Spezies die individuellen Variationen zu ver-
nachlässigen, die eine im übrigen mit zahlreichen konkreten Eigen-
schaften ausgerüstete Artform darbietet, und der es dem Mathematiker
möglich macht, Begriffe festzuhalten, die in der von ihm definierten
Weise in gar keiner konkreten Erfahrung gegeben sind, sondern für
welche die einzelnen Erfahrungsobjekte nur als Hilfsmittel der Ver-
sinnlichung dienen müssen.
Die Abstraktion vollzieht sich in zwei voneinander abweichenden
Formen, die wir als isolierende und generalisierende
unterscheiden können. Unter ihnen ist die erstere die ursprüng-
lichere, da die analytische Methode immer zunächst zu ihr führt,
und da sie jeder generalisierenden Abstraktion notwendig vorausgeht.
Im übrigen aber bilden beide nicht etwa zwei regelmäßig aufein-
anderfolgende Entwicklungsstufen, sondern die isolierende Abstrak-
tion besitzt ihren selbständigen Wert, und bei vielen der wichtig-
sten Anwendungen des Abstraktionsverfahrens bleibt dieses ganz auf
die isolierende Form beschränkt, und die generalisierende bildet eine
verhältnismäßig unwichtigere Ergänzung.
Das Wesen der isolierenden Abstraktion liegt darin,
daß man aus einer in der Beobachtung gegebenen komplexen Erschei-
nung einen bestimmten Bestandteil oder mehrere Bestandteile will-
kürlich abgetrennt denkt und für sich der Beobachtung unterzieht.
So reflektiert der Physiker bei der Untersuchung der Lichtbrechung im
Prisma nur auf den Gang der Lichtstrahlen und die Farbenzerstreuung;
er abstrahiert aber von der gleichzeitigen Erwärmung des Prismas,
seiner thermischen Ausdehnung, der Elastizitätsänderung des Glases
u.s. w. So nimmt der Nationalökonom bei der Untersuchung der all-
gemeinen Gesetze des Güterverkehrs nur auf den Trieb der Menschen,
Güter zu erwerben und zu ersparen, Rücksicht, um dagegen alle mög-
lichen anderen Eigenschaften, moralische Triebe, Leidenschaften,
mangelnde Einsicht u. dgl., die in der Wirklichkeit nicht selten die
Abstraktion und Determination. 13
Effekte jener wirtschaftlichen Eigenschaften durchkreuzen, zu vernach-
lässigen. So reflektiert schließlich der Geometer, wenn er den Begriff
eines mathematischen Punktes bildet, nur auf die Anschauungsfunktion,
die einen Ort im Raume fixiert; er abstrahiert aber von allen Eigen-
schaften der physischen Objekte, die wir zur Ortsbestimmung verwenden,
also nicht bloß von ihrer Lichtbeschaffenheit, sondern insbesondere
auch von ihrer räumlichen Ausdehnung.
Die generalisierende Abstraktion besteht darin,
daß man innerhalb einer der vergleichenden Analyse unterworfenen An-
zahl von Gegenständen oder Tatsachen die von einem individuellen
Fall zum anderen wechselnden Eigenschaften vernachlässigt, um ge-
wisse, der gesamten Gruppe gemeinsam zugehörige zurückzubehalten
und zu Merkmalen eines allgemeinen Begriffs zu erheben. Diese Ab-
straktion zerfällt wieder in zwei Unterformen, je nachdem die der Analyse
unterworfenen Objekte wirkliche Gegenstände der Anschauung oder
des Denkens oder aber einzelne Sätze sind, die sich auf irgendwelche
Relationen von Gegenständen beziehen. Im ersten Fall gehen aus der
Abstraktion Gattungsbegriffe hervor, im zweiten Fall liefert
dieselbe abstrakte Regeln oder Gesetze. So sind die
Begriffe der naturhistorischen Klassifikationen durch eine generali-
sierende Abstraktion der ersten Art gebildet: sie sind zugleich Gegen-
standsbegriffe, wenn ihnen auch nicht unmittelbar reale Gegenstände
entsprechen, da diese stets individuelle Eigenschaften besitzen, die bei
der Bildung der Gattungsbegriffe eliminiert werden. Andere Gattungs-
begriffe entstehen durch eine Generalisation, die nicht von empirischen
Gegenständen, sondern von Begriffen ausgeht, die bereits eine iso-
lierende Abstraktion voraussetzen. Den allgemeinen Begriff des Drei-
ecks z. B. bilden wir aus einer Vielheit einzelner geometrischer Drei-
ecke, deren jedes das Resultat einer mathematischen Abstraktion ist.
Ebenso finden sich innerhalb aller anderen Begrifisgebiete Verhält-
nisse der Über- und Unterordnung, die auf eine Stufenfolge generali-
sierender Abstraktion hinweisen. Nicht minder ist die zweite Form
der letzteren, die Abstraktion von Regeln oder Gesetzen, von genereller
Bedeutung. Wie die Begriffe einer nach dem umgekehrten Quadrate
der Entfernung wirkenden Kraft oder einer transversalen Wellenbewe-
gung durch Generalisation entstanden sind, so beruhen auch die allge-
meinen Gesetze einer solchen Kraft oder Bewegung auf generalisieren-
der Abstraktion. Überhaupt aber ist diese bei der Aufstellung aller
derjenigen Gesetze beteiligt, die eine Vielheit konkreter Regeln, deren
jede durch eine besondere Induktion gefunden ist, unter sich begreifen.
14 Allgemeine Methodenlehre,
Auf diese Weise schließt nicht selten die generalisierende Abstrak-
tion einen zusammengesetzten Induktionsprozeß ab, während um-
gekehrt die isolierende denselben teils vorbereitet, teils in seinen Ab-
lauf unterstützend eingreift. Ein charakteristischer äußerer Unter-
schied beider Formen liegt außerdem darin, daß sich die Isolation
nötigenfalls an einem einzigen Erfahrungsgegenstande vollziehen kann,
die Generalisation aber stets eine Vielheit von Objekten voraussetzt.
Die Gesetze der Liehtbrechung würden sich an einem einzigen Prisma
studieren, der Begriff der Geraden an einer einzigen mit dem Lineal
gezogenen Linie entwickeln lassen, wenn auch in der Wirklichkeit wegen
der wünschenswerten Variation der Bedingungen selten eine solche Be-
schränkung stattfinden wird. Dagegen ist für die Begriffe der Natur-
geschichte oder der systematischen Geisteswissenschaften die Vielheit
der Abstraktionsobjekte ein unbedingtes Erfordernis, da die Heraus-
hebung der den allgemeinen Begriff konstituierenden Elemente nur
durch ihr Vorkommen in einer Vielheit einzelner Gegenstände oder
Spezialbegrifie veranlaßt wird.
Als delogische Grundform der Abstraktion läßt
sich der Vergleichungsschluß, und zwar vorzugsweise in
seiner positiven Form, betrachten (Bd. I, S. 344), nach folgendem
Schema:
A M,; M,, M, ,
B=Z MM,
ÜO< MM, dD:
AB C<M,
worin M, die in Betracht gezogenen Begrifiselemente repräsentiert,
während M,, M,, M,, M, die zu eliminierenden Elemente bedeuten,
von denen einzelne (M,) ebenfalls übereinstimmen können, während
andere (M,, M,, M,) variieren. Die beiden Arten der Abstraktion
unterscheiden sich hierbei nicht sowohl in der Grundform des Vorgangs
als in der Auswahl und weiteren Verwertung der Elemente. Während bei
der Isolation die verglichenen Objekte A, B, C...nur dazu dienen, die
Elemente M, zu gewinnen, und diese dann zum Zweck der Auffindung
allgemeiner Abhängigkeitsbeziehungen den zusammengesetzteren Ver-
fahrungsweisen der Induktion überliefert werden, bleibt bei der Generali-
sation die Ordnung der ursprünglichen Objekte A, B, CC... von ent-
scheidender Bedeutung, und das in die symbolische Formel A, BB O<M f
gefaßte Resultat deutet daher zugleich den wesentlichen Zweck des
Abstraktionsverfahrens selbst an. Denn dieser besteht in der Verbindung
Abstraktion und Determination. 15
der Elemente M, zu einem Gattungsbegriff, der den Objekten oder Tat-
sachen A, B,C .. . übergeordnet ist.
Beide Formen der Abstraktion werden vorbereitet in jenen Be-
grifisentwicklungen des gewöhnlichen Bewußtseins, die überall den von
wissenschaftlichen Zwecken geleiteten Operationen vorangehen. Für
die Isolation fällt dieser Umstand wenig ins Gewicht. Zwar knüpft
auch hier die wissenschaftliche Untersuchung an die durch die ober-
flächlichen Unterschiede der Wahrnehmungen nahe gelegten Abstrak-
tionen an, nur aber um diese sofort einer Bearbeitung durch die Induk-
tion zu unterwerfen, die etwa begangene Fehler leicht auszugleichen
im stande ist. Umso bedeutungsvoller sind die natürlichen Begrifis-
bildungen für die Generalisation. Stets trifit diese bereits Gattungs-
begriffe an, über deren Bildung sich das vorwissenschaftliche Denken
keine zureichende Rechenschaft gibt, und denen es gleichwohl durch
feststehende sprachliche Bezeichnungen eine große Widerstandskraft
verleiht. Dazu kommt bei den untersten Gattungsbegriffen noch der
Umstand, daß sie, da in solchen Fällen die Übereinstimmung der ober-
flächlichen derjenigen der tieferen Merkmale parallel zu gehen pflegt,
meistens von der Wissenschaft sanktioniert werden müssen, wodurch
leicht die Täuschung entsteht, als wenn ein Abstraktionsverfahren
hier überhaupt nicht vorhanden wäre. Hatte sich diese Täuschung
in der Platonischen Ideenlehre auch auf die oberen Gattungen über-
tragen, denen dann freilich nur eine transzendente Existenz zugestanden
werden konnte, so ist sie in der neueren Wissenschaft in der vielleicht
gefährlicheren Form erhalten geblieben, daß man die unteren Gattungen
für wirkliche Erfahrungsgegenstände hielt. In der Naturgeschichte hat
dieser Irrtum zu der lange Zeit herrschenden Lehre geführt, daß jede
organische Spezies eine primitive organische Form sei. Der Canıs
familiaris und die Felis domestica, meinte man, seien wirkliche Objekte
oder mindestens einmal solche gewesen, während niemand der Meinung
war, daß der Wiederkäuer oder das Wirbeltier als solche existieren
oder auch nur jemals existiert haben. Ähnlich verhält es sich noch mit
anderen Produkten generalisierender Abstraktion. Die nordische
Mythologie, die deutsche Sprache gelten als wirkliche geistige Dinge;
aber dem Polytheismus oder der Sprache überhaupt schreibt man eine
solche Realität nicht zu. Doch ist es bemerkenswert, daß hier in ge-
wissem Sinne die Entwieklungslehre zu einer eigentümlichen
Erneuerung der Platonischen Ansicht von der Existenz realer Urbilder
der Begriffe geführt hat, indem sie auf verschiedenen Gebieten bemüht
war nachzuweisen, daß sogar solche Allgemeinbegriffe, die bis dahin als
16 Allgemeine Methodenlehre.
reine Produkte logischer Abstraktion betrachtet worden waren, auf
Tatsachen zurückführten, die freilich nicht einer transzendenten Welt,
wohl aber einer entfernten Vergangenheit der wirklichen Welt ange-
hören sollen. Das abstrakte Wirbeltier nimmt in einem hypothetischen
Akranier der Primordialzeit konkrete Gestalt an, der Begriff der indo-
germanischen Sprachenfamilie hypostasiert sich zu einer arischen Ur-
sprache. Aus dieser in so verschiedenen Gestalten hervorgetretenen
Neigung, begrifflichen Abstraktionen eine reale Unterlage zu geben,
kann selbstverständlich kein Einwand gegen die genetische Auffassung
überhaupt entnommen werden; wohl aber mahnt jene Neigung zur Vor-
sicht gegenüber solchen genetischen Konstruktionen, die nicht von realen
Tatsachen, sondern zunächst nur von Produkten unserer Abstraktion
ausgehen. Diese für sich genommen können, auch wenn sie noch so
zweckmäßig gebildet sind, immer nur auf bestimmte objektive Ur-
sachen unserer Abstraktionen hinweisen; um festzustellen, daß diese
Ursachen wirkliche Gegenstände seien, dazu ist aber stets
ein besonderes Induktionsverfahren erforderlich.
In nahem Zusammenhange mit der Abstraktion steht die Be-
nennungderErscheinungen. Sie ist ein Erzeugnis der Iso-
lation. Denn der Name eines Gegenstandes, mag er nun auf dem natür-
lichen Wege der Sprachbildung entstanden oder aus bestimmten wissen-
schaftlichen Bedürfnissen erfunden sein, bezeichnet stets ein einzel-
nesMerkmal. Hieran schließt sich aber sofort eine Generalisation
an, indem der bei einem bestimmten Gegenstand geschaffene Name auf
andere ähnliche Gegenstände übertragen wird, die er in eine Gattung
zusammenfaßt. Wie die Benennung ein Erzeugnis der isolierenden, so
ist sie demnach das wesentliche Hilfsmittel der generalisierenden Ab-
straktion, und in ihrer Entstehungs- und Anwendungsweise spiegelt
sich die naturgemäße Aufeinanderfolge jener beiden logischen Opera-
tionen. Der Umstand aber, daß die Wissenschaft in der Sprache bereits
ein natürlich entstandenes System von Namen für die Objekte und
Erscheinungen vorfindet, bringt nicht bloß den großen Vorteil leichter
Verständigung, sondern auch mannigfache Nachteile mit sich. Nichts
begünstigt mehr jene Neigung, die nächsten Abstraktionsprodukte für
wirkliche Dinge zu halten, als das Vorhandensein von Namen, denen
jede Spur einer willkürlichen Entstehung verloren gegangen ist. Doch
besitzt die Sprache in dem Vorgang des Bedeutungswechsels ein wirk-
sames Mittel, diesen Nachteil wieder auszugleichen. So ist das Wort
Vogel, das ursprünglich alle fliegenden Tiere bezeichnete, in der wissen-
schaftlichen Bedeutung auf eine bestimmte Klasse derselben einge-
Abstraktion und Determination. 17
schränkt worden; umgekehrt haben Bezeichnungen, wie Keim, Ei,
Nahrung, Atmung, die Namen für die meisten Organe des Tierkörpers
u. s. w., fortschreitende Verallgemeinerungen erfahren, durch die sie
sich den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Terminologie anpaßten.
Immerhin bietet es unverkennbare Vorteile dar, wenn die Wissenschaft,
wie bei gewissen allgemeineren Gattungsbegriffen oder bei solchen, die
eine eindringende wissenschaftliche Untersuchung voraussetzen, in der
Lage ist, die Benennungen selbst schaffen zu können. Nur hierdurch
ist es z. B. der chemischen Terminologie möglich geworden, an die
Namen der Verbindungen zugleich die allgemeinsten Andeutungen
über deren Konstitution zu knüpfen, so daß jene die Stelle allgemeiner
Definitionen vertreten. Dennoch zeigt es sich auch in diesem Falle
an den Namen der Elemente, daß die einfachsten Begriffe, selbst
wenn sie künstlich gebildet sind, unter dem Einfluß ähnlicher zufälliger
Motive stehen wie die natürlichen Benennungen der Sprache.
b. Die Determination.
Die Determination ist die Umkehrung der Abstraktion und setzt
daher stets eine vorangegangene Abstraktion voraus. Ihre wissen-
schaftliche Bedeutung beruht aber hauptsächlich darauf, daß sie den
Weg der Abstraktion in der Regel nicht einfach umkehrt, sondern zu-
gleich in veränderter Weise zurücklegt. Bei der Determination fügen wir
nämlich einem durch Abstraktion gewonnenen Begriff besondere
Merkmale bei, wodurch ein den konkreten Tatsachen näher liegender
Begriff aus ihm hervorgeht. Dabei brauchen nun nicht notwendig die
nämlichen Elemente wiedereingeführt zu werden, die bei der Ab-
straktion eliminiert worden waren. So sind in der Naturgeschichte und
anderen systematischen Wissenschaften die Gattungsbegriffe zunächst
aus einzelnen meist zufällig vorgefundenen Exemplaren der Gattung
durch Generalisation gebildet, worauf dann bei der Rückkehr vom
Gattungsbegriff zu den Arten oder zu den spezielleren Tatsachen außer
jenen ursprünglichen auch andere Objekte für die Bildung der Unter-
gruppen maßgebend werden. Noch selbständiger verfährt die Um-
kehrung der Isolation. Nachdem der Geometer die Abstraktionen der
Geraden, der Ebene u. s. w. vollzogen, versieht er sie durch die Be-
ziehungen, in die er sie zu anderen Vorstellungen bringt, mit näheren
Bestimmungen, die von völlig neuer Beschaffenheit sein können. Ebenso
läßt sich der Physiker bei der Verbindung eines zuerst isoliert unter-
suchten Phänomens mit anderen Erscheinungen von selbständigen
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 2
18 Allgemeine Methodenlehre,
Gesichtspunkten leiten, ohne eine besondere Rücksicht auf jene Er-
scheinungen zu nehmen, von denen ursprünglich abstrahiert werden
mußte. Diese Selbständigkeit der Determination beruht wesentlich
darauf, daß sie überall auf die Anwendung der synthetischen
Methode sich stützt, die ihrerseits zwar eine Umkehrung der Analyse
ist, auf der alle Abstraktion beruht, dabei aber doch unabhängig von
irgend einem speziellen analytischen Prozeß angewandt werden kann.
Den beiden Formen der Abstraktion entsprechen zwei im selben
Sinne voneinander abweichende Formen der Determination, die wir
alsKolligationundalsSpezifikation unterscheiden können.
Die erstere ist die Umkehrung der isolierenden Abstraktion. Sie be-
steht darin, daß man die Veränderungen ermittelt, die an zuerst isoliert
untersuchten Teilerscheinungen durch die Verbindung mit anderen
Elementen entstehen, die mit Hilfe einer ähnlichen Abstraktion ge-
wonnen sind*). So untersucht die Mechanik zunächst die Bedingungen
des Gleichgewichts eines festen Körpers, an dem in bestimmten Rich-
tungen Kräfte angreifen, indem sie bloß seine geometrischen Eigen-
schaften berücksichtigt, ihn also als absolut unveränderlich in seiner
Gestalt voraussetzt, um dann zu ermitteln, wie die unter dieser Annahme
festgestellten Bedingungen des Gleichgewichts abgeäudert werden,
wenn man die in der Elastizität begründete Verschiebbarkeit der Teil-
chen in Rechnung zieht. So kann ferner der Nationalökonom zuerst
den Einfluß der relativen Höhe des Zinsfußes auf die Bewegung des
flüssigen Kapitals losgelöst von allen begleitenden Umständen unter-
suchen, um hierauf sukzessiv diese letzteren, wie z. B. den verschiedenen
Kapitalwert der einzelnen Ländergebiete, die verschiedene Handelslage
u. dgl., einer Mitberücksichtigung zu unterwerfen.
Wesentlich anders verhält sich die Spezifikation,in welcher
die generalisierende Abstraktion ihre Umkehrung findet. Wie schon die
letztere an die Vergleichung einer Vielheit von Objekten gebunden
ist, so hat auch die Spezifikation wiederum auf dem Wege der Ver-
gleichung des Einzelnen diejenigen Begriffselemente zu finden, die sich
zur Bildung der beschränkteren Gattungs- und Artcharaktere geeignet
erweisen. Deshalb bewegt sich diese Form der Determination minder
frei in der Auswahl der zu beachtenden Erscheinungen; sie ist teils an
die Beschaffenheit der Erfahrungsobjekte, teils an die Richtung des
*) Der Ausdruck Kolligation ist hier in einem wesentlich anderen Sinne
gebraucht als in Whewell’s „Philosphy of the inductive sciences“ (Vol. II,
p. 201), wo er die Sammlung einzelner Tatsachen bezeichnet, die der Verf. als
vorbereitendes Stadium der Induktion betrachtet.
Abstraktion und Determination, 19
vorangegangenen Abstraktionsprozesses gebunden. Überall aber, wo es
sich um eine systematische Ordnung von Begriffen handelt, da findet
die Spezifikation ihre Anwendung, also nicht bloß in den verschiedenen
Gebieten der Naturgeschichte, sondern auch in der erklärenden Natur-
wissenschaft, sobald diese zum Zweck der Untersuchung oder Dar-
stellung eine Gliederung ihres Gegenstandes auszuführen sucht, und
in ähnlichem Sinne in den hauptsächlichsten Geisteswissenschaften,
wo insbesondere die Rechtsbegrifie durch die präzise Form ihrer Deter-
mination sich auszeichnen. Ähnlich wie die Kolligation der Induktion
in die Hände arbeitet, indem sie deren durch isolierende Abstrak-
tion gewonnene Grundlagen durch die Mitberücksichtigung begleitender
Erscheinungen vervollständigt, so ist die Spezifikation das hauptsäch-
lichste Hilfsmittel der Klassifikation. Denn diese geht von einem All-
gemeinbegriff aus, den sie sukzessiv durch eine immer vollständiger
werdende Determination in die einzelnen Begriffe zerlegt, die ihm
unterzuordnen sind.
Ihr Vorbild findet die Determination als logische Methode in der ein-
fachen Determination der Begriffe (Bd. I, S. 136 fi. 343 fi.). Sucht man
sich aber nicht bloß über das Resultat des logischen Vorgangs, sondern
über diesen selbst Rechenschaft zu geben, so läßt er sich auf eine Um-
kehrung des der Abstraktion zu Grunde liegenden Vergleichungsschlusses
zurückführen. Hierbei wird zunächst der Allgemeinbegriff M, den Ob-
jekten übergeordnet, aus denen er ursprünglich abstrahiert worden war,
und es werden dann die Begrifiselemente einzelner Objekte A, B, die
unter den Begriff M, fallen, durchgegangen, um irgendwelche ihnen
gemeinsame Merkmale M, mit M, zu verbinden und so einen be-
schränkteren Begriff M, M, zu bilden, nach dem Schema:
M>AB,
A <M,M,
B<M,M,
M>M,N.
Dieses Schema läßt sich auf die beiden Grundformen der Determina-
tion anwenden. Während aber bei der Spezifikation im allgemeinen
die nämlichen Objekte A, B,C..., die zur Abstraktion des Gattungs-
begrifis M, gedient haben, auch für die Determination des engeren
Begrifis M, M, zur Verwendung kommen, können bei der Kolligation
völlig andere Objekte A‘, B’, C’... herbeigezogen werden, sobald
sie nur die Bedingung erfüllen, daß sie dem Allgemeinbegriff M, ent-
sprechen.
20 Allgemeine Methodenlehre.
3. Induktion und Deduktion.
a. Die logischen Elemente «er Induktion.
Von Aristoteles wurde die Induktion oder &raywyrj dem Syllogis-
mus als eine besondere Schlußweise, welche vom Einzelnen zum
Allgemeinen aufsteige, gegenübergestellt. Die Aristotelische Induktion
besteht aber lediglich in der Zusammenfassung gewisser Spezialregeln
in einen allgemeineren Ausdruck*). Der die Aristotelische Logik be-
herrschende Gesichtspunkt der Subsumtion verrät sich überdies
darin, daß der gewonnenen Konklusion erst dann eine allgemeine Be-
deutung zugestanden wird, wenn in der einen Prämisse Prädikat und
Subjekt vollständig sich decken, so daß das Urteil umgekehrt und der
Schluß in einen solchen der ersten Figur umgewandelt werden kann**).
Indem Bacon von der Überzeugung ausging, daß alle Erkenntnis
auf einzelne Erfahrungen gegründet sei, mußte vor allem gegen
diese Zurückführung der Induktion auf den Subsumtionsschluß seine
Polemik sich richten. Der letztere vermag nach ihm höchstens zu zeigen,
wie gegebene Sätze zu ordnen sind, niemals aber zu neuen Erkennt-
nissen zu führen. Solches ist vielmehr die Aufgabe einer wahren Methode
der Induktion, die darum der syllogistischen Logik um ebenso viel vor-
zuziehen ist, wie die Auffindung der Wahrheiten wichtiger ist als ihre
mehr oder minder zweckmäßige Anordnung. Auf diese Weise gewinnt
bei Bacon erst der Begriff der Induktion die Bedeutung, die ihm heute
noch beigelegt wird***).
Dennoch ist dieser Philosoph im Irrtum, wenn er meint, das Prinzip
des Syllogismus finde auf seine induktive Methode gar keine Anwendung.
Wenn er lehrt, man habe zuerst in einer Tafel der „positiven Instanzen“
alle die Fälle zu registrieren, in denen eine der Untersuchung unter-
worfene Erscheinung beobachtet wird, dann eine Tafel der „negativen
Instanzen“ aufzustellen, in der die den vorigen verwandten Fälle
aufgezählt werden, wo die betrefiende Erscheinung fehlt, so haben
wir es hier zunächst mit Vergleichungsschlüssen zu tun, denen sich
leicht die Form der zweiten Aristotelischen Figur geben läßt. Freilich
*) Dies erhellt deutlich aus dem Aristotelischen Beispiel: „Mensch, Pferd,
Maulesel sind langlebig; Mensch, Pferd, Maulesel sind gallenlos; also sind gallen-
lose Tiere langlebig.“ Analytic. poster. II, 23.
**) So entsteht die „vollständige Induktion’: „Mensch, Pferd, Maulesel
sind langlebig; das Gallenlose ist Mensch, Pferd, Maulesel; also ist das Gallen-
lose langlebig.“
.,**) Bacon, Novum organon, Lib. I.
Induktion und Deduktion. PA
ist mit diesen Vergleichungen bei Bacon die Induktion nicht beendet,
sondern es entsteht nun erst die Aufgabe, zu bestimmen, welche allge-
meine Bedingung, oder welcher allgemeine Begriff, von Bacon „Form“
genannt, den übereinstimmenden Fällen zukommt und in den nicht über-
einstimmenden mangelt*). Zu diesem Zweck schreibt er vor, den voran-
gegangenen Tafeln eine dritte, die der „gradweisen Abstufungen“ hinzu-
zufügen, solche Fälle, in denen die untersuchte Erscheinung in quanti-
tativen Unterschieden beobachtet wird. Diese Tafel der Grade bildet
eine Art von Vermittlung zwischen den positiven und den negativen
Instanzen, da ein Fall A’, in welchem M nicht beobachtet wird,
gradweise übergehen kann in den Fall A, welchem M zukommt. Der-
artige Unterschiede sollen sich aber ganz besonders zur Erkenntnis der
„Form“ einer Erscheinung eignen. Denn eine Bedingung, in der sich
eine positive und eine negative Instanz unterscheiden, wird voraus-
sichtlich für das Wesen der untersuchten Erscheinung bedeutsamer
sein als andere Merkmale. Zum Abschluß der Untersuchung bedarf es
daher nur noch der Elimination unwesentlicher Unterschiede, was
mittels der sogenannten „Lese“ und der an sie sich anschließenden Auf-
stellung der „prärogativen Instanzen“ geschieht, einer Sammlung von
Gesichtspunkten, in der neben vielem Unwesentlichen und Irrtümlichen
einzelne Lichtblicke vorkommen, in denen gewisse Grundsätze der expe-
rimentellen Methodik in bewundernswerter Weise vorausgenommen sind.
Es ist längst bemerkt worden, daß sich die Baconische Induktion
einer Weitschweifigkeit schuldig macht, die den wirklich geübten
Induktionen der Wissenschaft niemals eigen ist. In der Tat waltet
in ihr der nämliche Irrtum ob, der die Aristotelische Induktion
beherrscht: daß nur die vollständige Induktion wissenschaftlichen
Wert besitze. Dieser Irrtum ist aber bei Bacon noch augenfälliger, weil
er die Existenz allgemeiner Voraussetzungen, welche die Aufzählung
der Fälle von vornherein beschränken könnten, leugnet, so daß bei ihm
der Induktion das Unmögliche zugemutet wird, sie solle tatsächlich
die Erfahrung erschöpfen. Der zweite Fehler besteht in der Vermengung
der Induktion mit der Abstraktion. Schon der Begriff der „Form“, in
deren Nachweisung Bacon das Ziel des Induktionsverfahrens erblickt,
besitzt die Doppelnatur eines Allgemeinbegrifis und eines allgemeinen
Gesetzes. So lehren denn auch die zwei ersten Tafeln seiner Instanzen
ein Vergleichungsverfahren, das an sich nur zur Abstraktion von Be-
griffen führen kann. Erst bei den gradweisen und prärogativen Instanzen
*) Nov. organ. II, 1, 20.
22 Allgemeine Methodenlehre.
wird die Gewinnung allgemeiner Sätze über die Erscheinungen zum
vorherrschenden Gesichtspunkt.
In beiden Beziehungen hat die neuere induktive Logik, die auf
dem Baconischen Standpunkte weiterbaute, und deren Hauptrepräsen-
tant John Stuart Mill ist, die Lehre von der Induktion zu verbessern
gesucht*). Die Induktion wird hier als das Verfahren definiert, durch
welches wir erkennen, daß was sich in einzelnen Fällen als wahr be-
stätigt hat, in allen unter den gleichen Bedingungen eintretenden
Fällen wahr sein werde. Sie scheidet sich dadurch ebensowohl von der
Begriffsabstraktion wie von der sogenannten vollständigen Induktion,
die nichts anderes als die Einführung einer Kollektivbezeichnung für
eine Anzahl einzelner Tatsachen sei. Die wahre Induktion ist nach Mill
nicht eigentlich ein Schluß vom Einzelnen auf das Allgemeine, sondern
vom Einzelnen auf das Einzelne, da wir zunächst immer nur in einzelnen
den vorangegangenen ähnlichen Fällen auch einen ähnlichen Erfolg er-
warten. Es steht aber ein jeder solcher Schluß unter der Voraussetzung,
daß der Gang der Natur gleichförmig sei, oder daß unter ähnlichen
Umständen immer wieder das Ähnliche eintreten werde. Jede In-
duktion läßt sich daher in die Form eines Syllogismus bringen, in
dem jene Voraussetzung die obere Prämisse bildet.
Hier entsteht nun die Frage, wie der oberste Grundsatz aller
Induktionen, das Axiom von der Gleichförmigkeit der Natur, selber ent-
standen sei. Jener Grundsatz ist aber offenbar nichts anderes als das
allgemeine Kausalgesetz, und rücksichtlich seiner gibt Mill die Antwort,
es sei eine Induktion der rohesten Art, eine bloße „inductio per enumera-
tionem simplicem“. Dies steht jedoch mit der Voraussetzung, daß es der
gemeinsame Obersatz aller Induktionen sei, im Widerspruch. Min-
destens eine Induktion muß es dann geben, die auf andere Weise
entstanden ist, und konsequenterweise wird man nicht leugnen wollen,
daß unter diesen Umständen noch andere Induktionen von dem näm-
lichen unzuverlässigen Ursprunge sein könnten. Es würden dann alle
Induktionen in zwei Formen zerfallen:
in die strenge Induktion: und in die bloß aufzählende In-
Unter gleichen Bedingungen treten duktion:
gleiche Erfolge ein,
unter den Bedingungen a, b,e... trat Unter den Bedingungen a, b, c... trat
häufig der Erfolg X ein, häufig der Erfolg X ein;
also tritt unter den Bedingungen a,b, also tritt unter den Bedingungen a, b,
ce... immer der Erfolg X ein. ©... immer der Erfolg X ein.
*) Mill, System der Logik, 3. Buch, besonders Kap. III—V.
Induktion und Deduktion, 23
Da jedoch der Obersatz der strengen Induktionen seinerseits auf
einer bloßen Aufzählung beruht, so ist der Unterschied beider Formen
in Bezug auf ihre Sicherheit nur ein scheinbarer. Daß die hier zu Grunde
liegende Auffassung des Kausalprinzips eine ungenügende sei, wurde
früher nachgewiesen. (Bd. I, S. 591.) Außerdem steht die darauf ge-
baute Theorie der Induktion ebenfalls noch unter dem Bann der Aristote-
lischen Syllogistik. Die Baconische Forderung einer vollständigen
Induktion hat sie zwar aufgegeben; dafür verlangt sie, daß jede In-
duktion ein regelrechter Subsumtionsschluß sei, um wenigstens eine
formale Sicherheit für sie zu retten.
In verschiedener Weise hat man nun diese formale in eine reale
Gewißheit umzuwandeln gesucht. Entweder ließ man im Anschlusse
an Kants Kategorienlehre das Kausalprinzip als eine apriorische Wahr-
heit gelten, wodurch der Obersatz des Millschen Induktionsschlusses
seines zweifelhaften Charakters entkleidet wurde; oder man zoges vor, zu
der Aristotelischen Ansicht zurückzukehren und nur der vollständigen
Induktion eine vollkommen bindende Kraft zuzugestehen, eine Auf-
fassung, die nebenbei leicht mit der vorigen zu vereinigen war*). Unter
allen diesen Ansichten, welche die Form des Aristotelischen Syllogismus
möglichst für die Induktion zu bewahren suchen, wird diejenige der
spezifisch-logischen Form derselben am meisten gerecht, die die In-
duktion als eine Umkehrung des gewöhnlichen subsumierenden
Syllogismus betrachtet. Denn diese Ansicht erfaßt in der Tat voll-
kommen richtig das schematische Verhältnis der Induktion zu der auf
den Subsumtionsschluß zurückführenden Deduktion**). Aber sie ist
doch nur für den einzelnen Induktionsschluß, nicht für
die zusammengesetzte Methode der Induktion zutrefiend.
Wir schließen nämlich in einfachster Form
induktiv: deduktiv:
SP MP
SM SM
MP SP
’*) So bei Apelt (Theorie der Induktion, Leipzig 1854), der übrigens
jeden disjunktiven Schluß zur Induktion zählt und daher, wie schon früher
(Bd. I, S. 354 Anm.) erwähnt, die Induktions- und Wahrscheinlichkeitsschlüsse
zusammenwirft.
**) Jevons, Principles of Science. 2. edit. p. 122, 218. Sigwart, Logik II,
S. 250, 356. 2. Aufl., S. 289, 401.
24 Allgemeine Methodenlehre.
Die elementare logische Form der Induktion ist, wie dieses Schema
zeigt, dr Verbindungsschluß. Er ist am nächsten verwandt
dem Vergleichungsschluß, welcher der Methode der A b-
straktion zu Grunde liest. Während aber dieser letztere durch
Umkehrung in den klassifizierenden Subsumtionsschluß SM, MP,
Sp übergeht, wandelt sich der erstere durch die gleiche Operation in
den exemplifizierenden Subsumtionsschluß um: MP, SM . Sp. (Bd. I,
S. 319.) Diese Umwandlungsprodukte unterscheiden sich von den ur-
sprünglichen Formen wesentlich dadurch, daß die letzteren mehr-
deutige Schlüsse sind. (Ebend. S. 364 ff.) Bei der Abstraktion
äußert sich diese Mehrdeutigkeit in der freien Auswahl der Merkmale,
die zur Konstitution des allgemeinen Begrifis bestimmt sind, und ihr
äußeres Symptom ist die Willkürlichkeit der Benennung. Bei der In-
duktion kommt sie in der Unbestimmtheit der Beziehung zum Vorschein,
die zwischen den im Schlußurteil verbundenen Begriffen besteht. Diese
Unbestimmtheit aufzuheben und dadurch zu allgemeinen Sätzen von
apodiktischer Geltung zu gelangen, ist die Hauptaufgabe der induk-
tiven Methode.
b. Die Induktion als Methode.
Die induktive Methode bedient sich bei der Lösung ihrer Auf-
gaben zweier wesentlich voneinander verschiedener Verfahrungs-
weisen. Erstens sucht sie durch eine mannigfach wechselnde Benützung
der analytischen und synthetischen Methode die Deutungen der Tat-
sachen zu beschränken. Zweitens nimmt sie eine einzelne Deutung,
die sich ihr als möglich darbietet, hypothetisch als wirklich geltend an,
um die daraus sich ergebenden Folgerungen zu entwickeln und an der
Erfahrung zu prüfen. Auf diese Weise können sukzessiv verschiedene
Hypothesen untersucht werden, damit man schließlich diejenige zurück-
behalte, die sich durch ihre Übereinstimmung mit den Tatsachen am
meisten empfiehlt. Unter diesen beiden Hilfsmethoden gehört nur die
erste vollständig der Induktion an; die zweite besitzt in ihrem ganzen
Verlauf bereits den Grundcharakter der Deduktion, und nur insofern,
als sie sich in eine zusammenhängende Induktion einschiebt und bei der
Prüfung der Tatsachen sich durchaus auf induktive Hilfsmittel stützt,
kann sie noch zu den Bestandteilen der Induktion gerechnet werden.
Immerhin macht dieser Umstand häufig einescharfe Trennung der beiden
Methoden unmöglich, so daß man bei ihrer Unterscheidung zunächst auf
die Gesamtrichtung der Untersuchung Rücksicht zu nehmen hat.
Induktion und Deduktion, 25
Als das Resultat einer Induktion ergibt sich stets ein all-
gemeiner Satz, welcher die einzelnen Tatsachen der Erfahrung,
die zu seiner Ableitung gedient haben, als spezielle Fälle in sich enthält.
Einen solchen Satz nennen wir ein Gesetz. Wie die Konstanz der
Objekte unserer Beobachtung die Bedingung ist für die Abstraktion
von Gattungsbegrifien, so ist die Regelmäßigkeit des Geschehens die
Bedingung für die Induktion von Gesetzen. Aber diese Bedingung
spielt weder die Rolle einer Prämisse, die sich an jeder Induktion be-
teiligt, noch begründet sie die Annahme, daß die Absicht einer Sub-
sumtion unter Gesetze allen Induktionen vorausgehe. Vielmehr ist
jene Beschaffenheit der Erfahrungsobjekte so gut wie die Existenz
derselben ein tatsächliches Verhalten, das durch das Gelingen un-
serer Abstraktionen und Induktionen wirklich erprobt werden muß,
durch welches Erproben dann erst die weiterhin alle wissenschaftliche
Forschung lenkende Maxime des durchgängigen Zusammenhangs der
Erfahrungen entsteht. So kommt hier abermals das allgemeine Prinzip
zur Geltung, daß die logischen Gesetze unseres Denkens zugleich die
Gesetze der Objekte des Denkens sind. (Bd. I, S. 5f. 419 ff.)
Nach dem Grad der Allgemeinheit, welche die durch einzelne
Verbindungsschlüsse gewonnenen Gesetze besitzen, können wir nun
dreiStufenderInduktion unterscheiden: 1) die Auffindung
empirischer Gesetze, 2) die Verbindung einzelner empirischer Gesetze
zu allgemeineren Erfahrungsgesetzen, endlich 3) die Ableitung von
Kausalgesetzen und die logische Begründung der Tatsachen.
Bei der Auffindung empirischer Gesetze entfernt
sich der logische Vorgang noch wenig von dem einfachen Verbindungs-
schlusse, den wir oben als Grundform der Induktion kennen lernten.
Wie wir jedoch bei der Abstraktion der Gattungsbegriffe uns nicht
damit begnügen, die Zusammengehörigkeit gewisser Objekte zu be-
haupten, sondern einen Begriff bilden, in welchem diese Zusammen-
gehörigkeit unmittelbar realisiert ist, so drücken wir bei der Induktion
sofort die nähere Art der Beziehung, die zwischen den Prädikaten
A und B zweier auf die nämliche Erscheinung M sich beziehender
Verbindungsurteile stattfindet, in der Form eines Bedingungs-
urteils aus, das auf ein Verhältnis regelmäßiger Gleichzeitigkeit
oder Aufeinanderfolge hinweist: „Wenn A stattfindet, so findet auch
B statt.“ Zur Entscheidung der Frage, welches unter den verbundenen
Elementen A und B Bedingung oder Folge sei, besitzen wir zwei
Kriterien, die unmittelbar teils aus dem logischen Verhältnis von Grund
und Folge, teils aus den früher erörterten anschaulichen Grundlagen
36 Allgemeine Methodenlehre.
des Kausalbegrifis sich ergeben. (Bd. I, S. 559.) Das Glied A nämlich
ist dann Bedingung und nicht Folge, wenn 1) der Eintritt von A regel-
mäßig den von B mit sich führt, aber nicht umgekehrt, und wenn
2) im zeitlichen Verlauf der Erscheinungen A dem B vorausgeht oder,
falls es sich um permanente Erscheinungen handelt, wenn der ur-
sprüngliche Eintritt von A als ein dem B vorausgehendes Ereignis
gedacht werden kann. (Bd. I, S. 594.) Trifft der erste Teil des ersten
und der letzte Teil des zweiten Kriteriums sowohl für A wie für B zu,
so handelt es sich um ein Verhältnis der Wechselwirkung,
Ein auf solche Weise aufgestelltes empirisches Gesetz enthält nun
noch keine Kausalbeziehung, sondern nur die Aussage über einen regel-
mäßigen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang von Erscheinungen.
Dies schließt nicht aus, daß wir nicht gelegentlich auch solche Gesetze
bloß empirisch formulieren, die auf einen Kausalzusammenhang zurück-
geführt werden können, sobald wir nur aus irgendwelchen Gründen
von dem letzteren abstrahieren wollen. Wir begeben uns dann aber
eigentlich auf einen Standpunkt zurück, welcher der Unterordnung
gewisser empirischer Verbindungen unter ein Kausalverhältnis vor-
ausging. So in den Beispielen: „Der Fallraum ist beim freien Fall
proportional dem Quadrat der Fallzeit“, „die Schwingungen eines Pendels
sind isochronisch“, „die Erde bewegt sich in einer Ellipse um die Sonne“.
Bei der Aufstellung solcher Gesetze können wir, wie diese Beispiele
zeigen, leicht der Form des Bedingungsurteils entbehren. Wo wir aber
die letztere einführen, da geschieht dies regelmäßig in solcher Weise,
daß als Bedingung lediglich die Konstellation von Umständen an-
geführt wird, unter denen eine bestimmte Tatsache zur Beobachtung
komnt. cal
DieVerbindungeinzelnerempirischer Gesetze
zuallgemeineren Erfahrungsgesetzen besteht in der
Herstellung einer allgemeinen Form, die mehrere einzelne empirische
Gesetze als Spezialfälle unter sich begreift. Während sich die erste Auf-
findung dieser Spezialgesetze auf mannigfache Anwendungen der
analytischen und synthetischen Methode stützt, beruht die Gewin-
nung allgemeinerer Erfahrungsgesetze auf einem Abstraktionsver-
fahren, das sich als eine eigentümliche Form derGeneralisation
darstellt. Ganz in derselben Weise wie die Generalisation von Begriffen
zu allgemeineren Gattungsbegrifien, so führt die Generalisation ein-
zelner empirischer Gesetze zu allgemeineren Erfahrungs-
gesetzen. Auch die hierzu erforderlichen logischen Operationen sind
von verwandter Art. Denn die Generalisation der Gesetze eliminiert
Induktion und Deduktion, 37
die variablen und darum minder allgemeinen Bestandteile der einzelnen
Gesetzmäßigkeiten, um die konstanten und gemeinsamen zurück-
zubehalten. So sind das Boylesche Gesetz der Reziprozität von Druck
und Volum der Gase sowie das Gesetz, daß sich die Gase nach einfachen
Volumverhältnissen chemisch verbinden, durch eine Verallgemeinerung
der für die einzelnen Gase festgestellten Volumgesetze entstanden.
Die beiden ersten Keplerschen Gesetze sind Generalisationen aus den
Bewegungsgesetzen der einzelnen Planeten, während das dritte Gesetz,
das sich auf das Verhältnis der Umlaufszeiten zu den mittleren Ent-
fernungen von der Sonne bezieht, aus einer Anzahl von Einzelgesetzen
abstrahiert ist, die durch Vergleichung der Umlaufszeiten und Ent-
fernungen je zweier Planeten gewonnen wurden.
Die Aufstellung empirischer Gesetze in den bisher besprochenen
beiden Stadien ihrer Entwicklung vollzieht sich in genauem Anschlusse
an beobachtete Tatsachen. Die Gesetze enthalten in ihrem Ausdruck
nur eine Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Tatsachen selbst,
ohne daß denselben ein weiterer Begriff hinzugefügt wäre. Sie weichen
nur darin von den Tatsachen ab, daß in beiden Stadien eine wesentliche
Beteiligung des Abstraktionsverfahrens stattfindet, da bereits bei den
einfachen empirischen Gesetzen von den Schwankungen der einzelnen
Beobachtungen und dann bei den durch Generalisation gewonnenen
wiederum von den Besonderheiten der speziellen Gesetze abstrahiert
ist. Bloß insofern läßt sich ein prinzipieller Einfluß auf dieses
Abstraktionsverfahren nachweisen, als sich durchweg das Bestreben
geltend macht, die einzelnen Beobachtungen zu Gunsten möglichst
regelmäßiger allgemeiner Beziehungen zu verbessern. Aber
so zweifellos es ist, daß der Feststellung der meisten Erfahrungs-
gesetze die Voraussetzung einer bestimmten Regelmäßigkeit bereits
voranging, so boten sich doch für diese Voraussetzung in den ein-
fachsten Formen des Geschehens hinreichende Anhaltspunkte, um
dieselbe zugleich vom empirischen Standpunkte aus als gerecht-
fertigt erscheinen zu lassen; und oft genug mußte im einzelnen die
vorschnelle Formulierung eines Gesetzes wieder aufgegeben werden,
weil die genaue Kontrolle der Beobachtungshilfsmittel keine genügende
Übereinstimmung mit den Tatsachen erzielen ließ, so daß dennoch
schließlich die Erfahrung als die allein entscheidende Instanz für die
Gültigkeit eines Erfahrungsgesetzes stehen bleibt.
Dieser Standpunkt wird nun verlassen bei der Ableitung
von Kausalgesetzen. Denn hier wird stets dem Ausdruck
der beobachteten Tatsachen, den das Erfahrungsgesetz enthält, ein
38 Allgemeine Methodenlehre.
Begriff hinzugefügt, welcher selbst nicht in der tatsächlichen Beobach-
tung gegeben ist, aber geeignet erscheint, gewisse in regelmäßiger
Beziehung stehende Tatsachen zusammenzufassen. Der so ergänzte
Begriff ist eine Spezialisierung des allgemeinen Kausalbegriffs, und er
verleiht daher dem betreffenden Gesetze den Charakter eines spe-
ziellen Kausalgesetzes. Insofern die Formulierung des
letzteren, eben deshalb weil sie über den Tatbestand unmittelbarer
Erfahrung hinausgeht, stets mit einer gewissen Willkür geschieht, die
andere Formulierungen nicht absolut ausschließt, ist dieser Vorgang
durchaus demjenigen verwandt, in welchem die Abstraktion von
Gattungsbegriffen infolge der willkürlichen Bevorzugung bestimmter
Gattungsmerkmale sich abschließt. Auch bei der Induktion von Kausal-
gesetzen prägt sich dieser Charakter in der Willkür der Benennung der
gewonnenen Kausalbegriffe aus, an welche sodann die Kausalgesetze
in Form von Definitionen solcher Begriffe sich anschließen. So ergab
sich für Newton aus den Keplerschen Gesetzen die kausale Definition
der Gravitation als einer von der Sonne ausgehenden und auf alle Planeten
nach dem umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernungen
wirkenden Kraft, oder für Dalton aus dem empirischen Gesetz der
Verbindung nach festen Gewichtsverhältnissen die kausale Definition
der chemischen Affinität als einer zwischen Atomen von konstanten
Eigenschaften stattfindenden und bestimmte Lagerungsverhältnisse
derselben herbeiführenden Anziehungskraft. Da alle Naturkausalität
zurückbezogen wird auf die materielle Substanz als ihren Träger, so ist
diese Aufstellung von Kausalgesetzen unmittelbar verbunden mit der
Entwicklung bestimmter Kraftbegriffe. Für jeden der letzteren
sucht man womöglich ein fundamentales Kraftgesetz zu gewinnen,
aus dem die einzelnen kausalen und empirischen Gesetze eines be-
stimmten Gebietes abgeleitet werden können. Wie aber das Streben
nach Verbindung des Mannigfaltigen schon bei den empirischen Gesetzen
zur Abstraktion allgemeiner Erfahrungsgesetze führte, so veranlaßt es
hier zur Aufsuchung allgemeinerer Kraftbegrifie und ihnen entsprechen-
der Kausalgesetze.
Den physischen Kausalgesetzen, auf welche die naturwissen-
schaftliche Induktion hinleitet, stehen im Gebiete der Geisteswissen-
schaften psychische Kausalgesetze gegenüber. Es ist
aber charakteristisch, daß hier dieser letzte Schritt des Induktionsver-
fahrens nur von der Psychologie selbst geschehen kann, während die
von ihr abhängigen Gebiete, wie die Gesellschaftslehre, Sprachwissen-
schaft, Mythologie u. s. w., bloß zur Aufstellung empirischer Gesetze
Induktion und Deduktion. 239
2
gelangen, die erst eine kausale Form annehmen, wenn sie einem der
reinen Psychologie angehörigen Kausalgesetze subsumiert werden.
So kann z. B. durch statistische Ermittlungen festgestellt sein, daß
mit der Erhöhung der Getreidepreise die Zahl der Geburten und Ehe-
schließungen abnimmt. Die Zurückführung dieser empirischen Regel
auf ein Kausalgesetz ist aber nur möglich, insofern man dieses etwa
als einen speziellen Fall des allgemeinen psychologischen Gesetzes
betrachtet, daß, sobald in unserm Bewußtsein ein einzelner Trieb, wie
der Selbsterhaltungstrieb, über seine normale Intensität gesteigert
wird, die übrigen Triebe eine Abnahme erfahren. Es entspricht übrigens
dieses Verhältnis durchaus demjenigen der Naturwissenschaften zur
Physik, wenn man die Aufgabe der letzteren in jenem allgemeinen
Sinne bestimmt, in welchem Chemie und Biologie ihre Teile bilden.
Auch schließt dasselbe keineswegs aus, daß Tatsachen, die den spe-
ziellen Geisteswissenschaften angehören, die Auffindung psychologi-
scher Kausalgesetze veranlassen. Nur ist zur Aufstellung dieser immer
die subjektive Erfahrung ein notwendiges Erfordernis.
Vermöge jener Willkür, die bei der Aufstellung der Kausalgesetze
stattfindet, enthalten diese nun stets ein hypothetisches Ele-
ment, das umso deutlicher hervorzutreten pflegt, von je allgemeinerem
Charakter sie sind. Daß die Planeten von der geradlinigen Bewegung
in der Richtung gegen die Sonne hin abweichen, ist eine Tatsache der
Erfahrung; daß aber diese Abweichung durch eine von der Sonne aus-
gehende Anziehungskraft vermittelt wird, ist eine hypothetische Vor-
aussetzung. Auf diese Weise ist in einem Kausalgesetz immer dasjenige
Tatsache der Erfahrung, was dem empirischen Gesetz angehört, aus
dem es hervorging. Aber der logische Nutzen der kausalen Formulierung
ergibt sich daraus, daß dieselbe auch dem empirischen Inhalt des
Gesetzes eine einfachere und allgemeinere Gestalt gibt, wie dies die
Vergleichung der Keplerschen Gesetze mit dem Newtonschen deutlich
macht. Jener hypothetische Charakter veranlaßt außerdem, nach
weiteren Hypothesen zu suchen, die entweder zur Veranschaulichung
der Erscheinungen oder zur Vereinfachung der Erklärungen dienlich
sind. So liegt esz. B. nahe, der Gravitationskraft ein materielles Sub-
strat zu leihen, dessen Bewegungen die Fernewirkungen der Weltkörper
veranschaulichen. So sind überhaupt alle Annahmen über die Materie
und ihre Bewegungsformen Hypothesen, die unmittelbar aus Anlaß
bestimmter Kausalgesetze und zum Behuf einer tieferen Begründung
und theoretischen Verwertung derselben aufgestellt wurden.
Eine weitere wichtige Folge der teilweise hypothetischen Natur
30 Allgemeine Methodenlehre.
der Kausalgesetze ist es, daß sie Sätze aufzustellen erlaubt, die auch
in Bezug auf den Inhalt der unter ihnen enthaltenen Erfahrungsgesetze
noch hypothetisch, aber einer Prüfung zugänglich sind, durch welche
dann die Kausalgesetze selbst bestätigt werden können. So hat Galilei
die Fallgesetze nicht durch Induktion gefunden, sondern teils bediente
er sich dabei der isolierenden Abstraktion, indem er alle begleitenden
Nebenumstände der Versuche in seiner Anschauung des Vorgangs zu
eliminieren wußte; teils bestand sein Verfahren in der Erfindung von
Hypothesen und in der Vergleichung der Folgerungen aus diesen Hypo-
thesen mit der Erfahrung. In allem dem findet die innige Beziehung
der Deduktion zur Induktion ihren Ausdruck. Fast immer sucht die
erstere das Geschäft der letzteren abzukürzen, indem sie sich nament-
lich an der Entwicklung kausaler Gesetze aus einzelnen empirischen
Gesetzen beteiligt; zuweilen tritt sie aber auch, wie das letzte Beispiel
zeigt, von Anfang an für sie ein, indem eine auf die unmittelbare Ab-
straktion aus der Wahrnehmung gegründete Annahme zu deduktiven
Entwicklungen Anlaß geben kann, durch deren nachträgliche Be-
stätigung dann die ursprünglich fehlende Induktion ersetzt wird.
ec. Die Deduktion.
Die deduktive Methode kann entweder an eine vorangegangene
Induktion anknüpfen oder unabhängig von einer solchen als selbständiges
Verfahren auftreten. Weder aber pflegt sie im ersten Fall in einer
bloßen Umkehrung zu bestehen, da sie in der Regel zu Nebenresultaten
führt, die nicht durch die vorangegangene Induktion gefunden wurden;
noch fehlt im zweiten Fall ganz und gar die induktive Grundlage, sondern
diese gehört entweder den gewöhnlichen Tatsachen der Sinneswahr-
nehmung oder einem anderen Gebiet wissenschaftlicher Untersuchungen
an. Nicht selten würden an sich für die Gewinnung eines gegebenen
komplexen Resultates beide Wege, der induktive und der deduktive,
möglich sein. Dann hängt es von zufälligen Ausgangspunkten und
Gedankenrichtungen ab, welcher von ihnen wirklich gewählt wird.
So hat Galilei die Fallgesetze durch Deduktion gefunden; eine induktive
Entdeckung derselben würde sich aber ebenso leicht denken lassen.
Umgekehrt ist Newton zu dem Gravitationsgesetz durch Induktion
gelangt; es wäre aber ebensogut möglich gewesen, daß er es zuerst als
Hypothese aufgestellt und dann daraus die Keplerschen Gesetze deduziert
hätte, wie solches gegenwärtig in der theoretischen Astronomie zu
geschehen pflegt. In der Tat hat Newton selbst schon bei einer ein-
Induktion und Deduktion, 31
zelnen für seine Theorie sehr wichtigen Frage den Weg der Deduktion
eingeschlagen, bei der Frage nämlich, ob die Kraft, die den Mond von
der geradlinigen Bahn abzieht, mit der irdischen Schwere identisch sei*).
Die Deduktion hat vor der Induktion in allen Fällen den Vorzug,
daß sie sofort alle Folgerungen aus den an die Spitze gestellten Prin-
zipien ableiten kann, während bei der Induktion häufig, wie das zuletzt
angeführte Beispiel zeigt, sehr wichtige Resultate durch hilfsweise
eintretende Deduktionen nachgeholt werden müssen. Hieraus erklärt
sich das durchgängig namentlich in den Naturwissenschaften hervor-
getretene Streben, die Deduktion zur bevorzugten Methode zu er-
heben. Außerdem hat in diesem Fall das Beispiel der Mathematik und
der abstrakten Mechanik mitgewirkt, in denen die Induktion wegen
der einfachen Anschauungsgrundlagen, die hier maßgebend sind, ver-
hältnismäßig zurücktritt. Dagegen besitzt die induktive vor der de-
duktiven Methode den nicht zu unterschätzenden Vorzug, daß sie die
hypothetischen Kausalgesetze, in denen schließlich beide Methoden
gipfeln, gründlicher vorbereitet, und daß sie daher den bei einseitig
gepflegter Deduktion namentlich gegenüber verwickelteren Problemen
so oft begangenen Fehler unzureichender Voraussetzungen vermeiden
hilft. Es ist charakteristisch, daß aus diesem Grunde, in diametralem
Gegensatze zu der gegenwärtigen Tendenz der Naturforschung, auf
manchen Gebieten der Geisteswissenschaften der Ruf nach einer um-
fassenderen Anwendung der Induktion laut geworden ist. Besonders
innerhalb der nationalökonomischen und historischen Forschung liegt
es nahe, von einzelnen beschränkten Erfahrungen aus und unter Zu-
hilfenahme allgemein anerkannter psychologischer Tatsachen eine
Deduktion zu versuchen. Es ist daher begreiflich, daß hier zunächst
diese überwiegt, und daß erst allmählich das Bedürfnis nach einer
gründlicheren Anwendung der induktiven Methode rege wird.
Da die Deduktion, mag sie nun eine Umkehrung einer voran-
gegangenen Induktion sein oder nicht, regelmäßig mit denjenigen
Gesichtspunkten anfängt, bei denen die Induktion aufzuhören pflegt,
so bildet beiihr de Aufstellung kausaler oder logischer
Beziehungen den Ausgangspunkt der Entwicklung. Von diesem
Ausgangspunkt ist der Verlauf der Deduktion abhängig, die demnach
entweder einen kausalen.odereinenrein logischen Charakter
besitzt. Diese Unterscheidung trifft jedoch mehr die äußere Gestalt
als das Wesen der Methode. Denn wie das Kausalprinzip überhaupt
*) Newton, Mathemat. Prinzipien der Naturphilosophie, 3. Buch, 1. Abschnitt.
33 Induktion und Deduktion.
sich betrachten läßt als eine Anwendung des logischen Satzes vom
Grunde auf den Inhalt der Erfahrung, so ist auch die kausale Deduktion
lediglich eine Verbindung kausaler Gesetze durch Schlußoperationen,
wobei sich dann jene durch diese in Erkenntnisgründe für die empi-
rischen Erscheinungen umwandeln. Am augenfälligsten wird dies,
wenn die kausale Deduktion eine mathematische Einkleidung zuläßt,
wie solches z. B. im Gebiete der theoretischen Physik der Fall ist. Die
abstrakte Form, die hierbei die Naturgesetze annehmen, würde ebenso-
gut auf einen rein logischen Zusammenhang von Größenbegriffen
bezogen werden können. So bleibt als der wesentliche Unterschied
beider Fälle nur das verschiedene Anwendungsgebiet übrig, indem die
kausale Deduktion in den Erfahrungswissenschaften, die logische da-
gegen in den reinen Anschauungs- und Begriffswissenschaften die herr-
schende ist.
Bedeutsamer sind die Unterschiede, die aus der verschiedenen
Richtung der logischen Operationen entspringen. Ihnen entsprechen
zwei Hauptmethoden, die wir als diesynthetische und als die
analytischeDeduktion unterscheiden können. In der ersten
herrscht die Synthese, in der zweiten die Analyse als elementare Methode
vor. Die Namen dieser Hauptformen weisen daher zugleich schon
auf einen beachtenswerten Unterschied der Deduktion von der Induktion
hin. Während in der letzteren die Analyse und die Synthese in wechseln-
der Weise, wenn auch in der Regel mit einem gewissen Übergewicht
jener, zur Anwendung kommen, pflegt die Deduktion an der einen oder
andern vom Anfang bis zum Ende festzuhalten. Hierin verrät sich
der auch sonst zur Geltung kommende strengere Gang des deduktiven
Verfahrens. Die synthetische Deduktion ist aber hier voranzustellen,
weil die Synthese bei der Deduktion, im Gegensatze zu ihren sonstigen
Anwendungen, als das näherliegende und daher im ganzen ursprüng-
lichere Hilfsmittel angesehen werden muß.
Diesynthetische Deduktion geht von einfachen Sätzen
von allgemeiner Geltung aus und leitet aus deren Verbindung andere
Sätze von speziellerem und meist zugleich verwickelterem Charakter
ab. Zu dieser Ableitung dient ihr der Subsumtionsschluß, teils in seiner
einfachen kategorischen Form, teils aber und vorzugsweise häufig in
der Gestalt des subsumierenden Bedingungsschlusses. Regelmäßig sind
es verwickelte syllogistische Formen, auf die in dieser Weise die syn-
thetische Deduktion zurückführt: Kettenschlüsse und Schlußver-
zweigungen, deren Konklusionen oft zu neuen Schlüssen verbunden
werden, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Die synthetische
Induktion und Deduktion. 33
Deduktion ist aber nicht bloß, wie es nach dieser äußeren Beschrei-
bung scheinen könnte, eine zusammengesetzte Form des subsumierenden
Syllogismus, sondern ihre fruchtbare Anwendung beruht vor allem
auf einigen weiteren Eigenschaften, die sich zwar nicht so leicht wie die
übrigen in allgemeingültiger Weise schildern lassen, die aber gerade
deshalb, weil sie in einer sehr wechselnden, überall den besonderen
Bedingungen sich anpassenden Form zur Geltung kommen, die metho-
dischen Vorzüge dieser Deduktion ausmachen. Namentlich sind hier
zwei Eigenschaften hervorzuheben. Die erste besteht in dem ver-
schiedenartigenCharakterderallgemeinen Sätze,
welche als Prämissen der Deduktion dienen, die andere in den Hilfs-
verfahren, deren jede Deduktion bedarf.
Die Prämissen der synthetischen Deduktion bestehen zur
einen Hälfte in exakten Beschreibungen oder Erklärungen der Begriffe
oder Tatsachen, auf die sich die Deduktion bezieht, zur anderen in
Erklärungen über bestimmte Relationen von allgemeingültiger Art,
die zwischen den in Betracht kommenden Begriffen oder Tatsachen
bestehen. Die Sätze der ersten Art werden innerhalb der systema-
tischen Darstellungsformen der Deduktion als Definitionen,
die der zweiten als Theoreme oder als Axio me bezeichnet, wobei
man unter den letzteren speziell solche Theoreme versteht, die nicht
aus anderen abgeleitet werden können, sondern als ursprünglich in der
Anschauung oder in den Eigenschaften der Begriffe gegebene Rela-
tionen gelten müssen. Ist die Deduktion eine prinzipielle, d. h. setzt
sie in keiner Beziehung vorangegangene Deduktionen voraus, so scheiden
sich demnach ihre Prämissen regelmäßig in Definitionen und Axiome.
Keiner dieser Bestandteile kann entbehrt werden. Eine Schlußfolgerung
aus lauter Definitionen oder aus lauter Axiomen ist keine methodische
Deduktion mehr, sondern ein gewöhnlicher Syllogismus oder Ketten-
schluß, da in diesem Falle regelmäßig auch jene Hilfsverfahren un-
möglich werden, die das zweite Kennzeichen der synthetischen Deduktion
ausmachen. Hierin zeigt sich zugleich, daß diese beiden Eigenschaften
notwendig zusammenhängen. Fallen sie hinweg, so bleibt bloß die
formale Außenseite des syllogistischen Verfahrens zurück, welches an
sich nur eine Unterordnung gegebener Sätze unter andere gegebene
Sätze oder eine Umformung mittels der Substitution äquivalenter
Begriffe, niemals eine Deduktion neuer Sätze gestattet. Wohl aber
kann es vorkommen, daß Definitionen oder selbst Axiome nicht aus-
drücklich formuliert, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden.
Dies geschieht namentlich bei geläufigen Anschauungen oder Be-
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 3
34 Allgemeine Methodenlehre,
griffen, deren Definitionen man als bekannt annimmt, oder in Bezug
auf die Axiome bei Sätzen, die sich durch eine naheliegende Umfor-
mung aus den vorhandenen Definitionen ergeben. Ein nicht seltener
Fall endlich ist es, daß einzelne der als Grundlagen der Deduktion
dienenden Definitionen oder Axiome einen hypothetischen Charakter
besitzen, sei es nun, daß sie auf willkürlicher Begriffsbildung beruhen,
wie in manchen Gebieten der spekulativen Mathematik, sei es, daß sie
aus dem Bedürfnis hervorgegangen sind, für gewisse empirische Tat-
sachen eine verknüpfende Voraussetzung zu finden, wie solches in den
Theorien der Erfahrungswissenschaften gewöhnlich stattfindet. Es
versteht sich von selbst, daß dann auch die Resultate der Deduktion
hypothetisch werden; doch kann im zweiten der angeführten Fälle die
Vergleichung mit der Erfahrung oder mit parallellaufenden Induktionen
die Folgerungen und dadurch indirekt die ursprünglichen Voraus-
setzungen bestätigen.
Als Hilfsverfahren der synthetischen Deduk-
tion können Begrifisanalysen, Konstruktionen und experimentelle
Verfahrungsweisen in Anwendung kommen. Unter ihnen schließt sich
die Begrifisanalyse am nächsten an den unmittelbaren Gang der Deduk-
tion selbst an, indem sie lediglich durch Zerlegung eines in dem Schluß-
verfahren verwendeten Begriffs die Gewinnung bestimmter Resultate
vermittelt. Ihrer Hilfe bedienen sich naturgemäß vorzugsweise Wissen-
schaften von streng begriffilichem und logischem Charakter, wie Philo-
sophie und Rechtswissenschaft, wogegen die Konstruktion eine an-
schauliche Darstellung der Begriffe und das Experiment sogar em-
pirisch gegebene Objekte voraussetzt, deren gegenseitige Beziehungen
wir willkürlich verändern können. Die Konstruktion ist daher das
hauptsächlichste Werkzeug der mathematischen Deduktion. Sie be-
steht hier nicht nur in den mannigfaltigen Formen der geometrischen
Konstruktion, sondern in einem weiteren Sinne sind ihr auch alle die
Verfahrungsweisen der Analysis unterzuordnen, bei denen man Hilfs-
größen und Hilfsfunktionen zur Lösung bestimmter Probleme an-
wendet. Denn da sich diese Operationen mit Hilfe geometrischer Kon-
struktionen veranschaulichen lassen, so können sie selbst als logische
Formen der Konstruktion betrachtet werden, sobald man den Begriff
der letzteren so erweitert, daß er nicht nur die willkürliche Erzeugung
und Kombination von Gebilden der reinen Anschauung, sondern auch
von Begriffen, die solchen Gebilden entsprechen, enthält. Der Kon-
struktion nahe verwandt ist endlich das experimentelle Verfahren.
Insbesondere teilen beide miteinander das Merkmal der Willkür,
Induktion und Deduktion. 35
der freilich durch die objektiven Bedingungen dort der Gesetze der
Anschauung, hier der Erfahrung bestimmte Schranken gesetzt sind.
Ein Unterschied des experimentellen Verfahrens von der eigentlichen
Konstruktion liegt aber darin, daß diese Schranken bei jenem engere
sind als bei dieser. Denn die Erfahrung ist nicht nur auf das strengste
gebunden an die unveränderlichen Gesetze der Anschauung, sondern
sie wird auch außerdem von dem nach Ort und Zeit veränderlichen
Inhalt dieser Anschauung bestimmt. Das Experiment vermag daher
nur teils Erscheinungen herbeizuführen, deren Verlauf den objektiv
gegebenen Bedingungen überlassen bleibt, teils aber auch in einen ge-
gebenen Verlauf von Ereignissen durch die Veränderung dieser Be-
dingungen verändernd einzugreifen.
DieanalytischeDeduktion besitzt entweder einenrein
logischen oder einen kausalen Charakter. Das erstere ist der
Fall in den reinen Anschauungs- und Begrifiswissenschaften, das letztere
in den Erfahrungswissenschaften. Hier wie dort gehen der analytischen
Deduktion synthetische Operationen voraus, die, teils in genetischen
Konstruktionen teils in der Verbindung einzelner Wahrnehmungen
bestehend, das Material für die nachfolgende Deduktion herbeischaffen.
Für diese selbst ist die allgemeine Bezeichnung der Begriffe, wie sie
aus der algebraischen Symbolik in alle Gebiete der Mathematik und
ihrer empirischen Anwendungen übergegangen ist, ein besonders wirk-
sames Hilfsmittel. Denn indem sie die Beziehungen der Einzelbegrifie
und die Schlußoperationen, die sich aus jenen ergeben, deutlich
übersehen läßt, legt sie von selbst eine Form der Deduktion nahe, bei
der sich alle Ergebnisse als Folgerungen darstellen, die in den anfäng-
lich aufgestellten Sätzen bereits enthalten sind und daher zu ihrer Ge-
winnung nur einer geeigneten Analyse dieser Sätze bedürfen. Eine
deduktive Analyse dieser Art umfaßt aber, wie namentlich das Beispiel
der Mathematik zeigt, drei wesentlich verschiedene Operationen, die
in der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen können.
Die erste dieser Operationen besteht in der Zerlegung
einesallgemeinenBegriffsinseineBestandteile.
Wenn die Begrifiszerlegung schon bei der synthetischen Deduktion als
ein wichtiges Hilfsverfahren in Anwendung kommt, so ist sie bei der
analytischen umso unentbehrlicher, als hier zum großen Teil auf ihrer
vorwaltenden Benützung der analytische Charakter der Methode be-
ruht. In der Zerlegung eines arithmetischen Ausdrucks in seine Fak-
toren, einer Funktion in eine Reihe oder in eine Anzahl elementarer
Funktionen, eines komplexen Bewegungsgesetzes in eine Anzahl ein-
36 Allgemeine Methodenlehre.
facherer Gesetze, eines zusammengesetzten Rechtsbegrifis in die ihn
konstituierenden Elemente begegnen uns verschiedenartige Bun
dieses Verfahrens.
Als zweite Fundamentaloperation schließt sich hieran der
Übergangvoneinemallgemeinenzueineminihm
enthaltenenengeren Begriffeodervoneinemall-
gemeinen Gesetze zu einem speziellen Fall des-
selben. So entwickelt die analytische Deduktion aus dem Begriff
der bürgerlichen Gesellschaft den des Staates, aus der allgemeinen
Form des Newtonschen Potentials den Begriff des elektrischen Poten-
tials u. dgl. In der mathematischen Symbolik vollzieht sich ein der-
artiger Übergang stets in der Form einer Substitution einzelner
bestimmter Werte für solche, die in dem allgemeinen Ausdruck der
Begriffe unbestimmt gelassen sind. Den Charakter der Analyse besitzt
dieses Verfahren, insofern auch hier der durch dasselbe gewonnene
engere Begriff in dem ursprünglich gegebenen enthalten ist. Der Unter-
schied von der einfachen Begrifiszerlegung liegt aber darin, daß die Ana-
Iyse in diesem Fall erst durch die begleitende Substitution ermöglicht
wird.
Die dritte, häufig mit der vorigen nahe verbundene Operation
besteht endlich in der Transformation gegebener Be-
griffe mittels einer veränderten Verbindungs-
weise ihrer Elemente, wobei die neue Verbindung in der
ursprünglichen vorgebildet sein muß, so daß sie aus ihr durch eine
Reihe zwingender Schlußfolgerungen abgeleitet werden kann. So
gewinnt man durch passende Transformationen arithmetischer
Gleichungen die in ihnen enthaltenen unbekannten Größen. Eine
Gleichung, die analytischer Ausdruck einer geometrischen Kurve oder
eines allgemeinen Naturgesetzes ist, läßt durch solche Transformationen
andere Ausdrücke entstehen, aus deren Interpretation sich spezielle
Eigenschaften der vorgelegten Kurve oder einzelne Folgesätze des be-
treffenden Naturgesetzes ergeben. Nicht selten tritt zu dieser Trans-
formation noch eine Kombination verschiedener Begriffe, die gewisse
Elemente miteinander gemein haben, hinzu: man kombiniert z. B. die
Gleichungen zweier Kurven, um daraus die Bedingungen für deren
Schnitt- und Berührungspunkte abzuleiten, oder man verbindet mehrere
einfache Bewegungsgesetze, um eine zusammengesetzte Bewegungs-
form zu gewinnen. Handelt es sich bei diesem Kombinationsverfahren
um ein Hereinragen der synthetischen Methode in die analytische
Deduktion, so ist dagegen das Transformationsverfahren an und für
Induktion und Deduktion. 37
sich, ebenso wie das Substitutionsverfahren, lediglich als eine unter
speziellen Nebenbedingungen stattfindende Begrifiszerlegung aufzufassen.
Diese Nebenbedingungen bestehen hier darin, daß erst die Ausführung
bestimmter Änderungen in der Anordnung der Begrifiselemente, welche
in der Natur derselben ihre Rechtfertigung finden, die für die Deduktion
erforderlichen Schlußoperationen ermöglicht.
Die analytische Deduktion eignet sich ihrem ganzen Charakter
nach vorzugsweise für solche Gebiete, bei denen die Untersuchungs-
objekte von zusammengesetzterer Beschaffenheit nicht in dem Auf-
treten neuer Elemente der Erkenntnis ihre Quelle haben, sondern
lediglich durch eine mehrfache Anwendung gewisser gleichförmig
wiederkehrender logischer Operationen aus den einfacheren hervor-
gehen. Auf keinem Gebiet trifit diese Bedingung vollkommener zu
als auf dem der Mathematik. Von ihr aus hat sich dann die analytische
Deduktionsmethode auf die Behandlung physikalischer Probleme über-
tragen, die aber insoweit nur mathematische Probleme sind, als man sich
bei ihrer Untersuchung auf die Betrachtung des formalen Verlaufs der
Naturvorgänge beschränkt. Das Mittelglied zwischen der reinen Mathe-
matik und der theoretischen Physik bildet hier die Mechanik, deren
verwickeltere Aufgaben aus denselben Gründen wie diejenigen der
Geometrie eine analytische Behandlung erfordern, und die in ihrer
abstraktesten Form als eine analytische Geometrie erscheint, welche
durch die Dimension der Zeit ergänzt ist. Die analytische Mechanik
zerlegt erstens jede Bewegung in die Komponenten der Geschwindigkeit
und der Beschleunigung nach bestimmten Koordinatenrichtungen, und
sie zerlegt zweitens die Bewegungen eines Körpers in die Bewegungen
eines Systems von Punkten, das man dem Körper substituiert denkt.
Auf diese Weise enthalten die allgemeinen Bewegungsgleichungen eines
Systems die sämtlichen begrifilichen Elemente, in welche sich die Be-
wegung zerlegen läßt, samt den wechselseitigen Beziehungen derselben.
In den Geisteswissenschaften herrscht vermöge der
verwickelten Beschaffenheit ihrer Probleme die analytische Deduktion
vor. So pflegt eine Rechtsdeduktion in der Zerlegung irgend eines der
Beurteilung unterbreiteten Tatbestandes zu bestehen, wobei zugleich
nachgewiesen wird, daß bestimmte Rechtsdefinitionen auf die einzelnen
Tatsachen Anwendung finden. Die Erscheinungen des wirtschaftlichen
Verkehrs erklärt man, indem man den Konflikt und die Selbstregulierung
der egoistischen Interessen als deren bedingende Elemente aufzeigt;
ein historisches Ereignis deduziert man teils aus den Willensmotiven
der maßgebenden Individuen, teils aus den Förderungen und Wider-
38 Allgemeine Methodenlehre.
ständen, die sie in den allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft
vorfanden. Wenn die Deduktion in diesen Fällen vielfach Lücken
darbietet und des zwingenden Charakters entbehrt, so beruht dies
darauf, daß die Probleme der Geisteswissenschaften vermöge ihrer
komplexen Beschaffenheit der eindringenden Analyse unbesiegbare
Schwierigkeiten entgegensetzen. Es wird daher überhaupt nur mög-
lich, sie der Analyse zu unterwerfen, indem man sich teils hypothetische
Voraussetzungen gestattet, teils aber ein weitgehendes Abstraktions-
verfahren ausübt, bei welchem es nicht selten dahingestellt bleiben muß,
ob dabei nicht auch von solchen Bedingungen abstrahiert worden sei,
die für den Zusammenhang der zu erklärenden Erscheinungen von
wesentlicher Bedeutung sind.
4. Die wechselseitigen Beziehungen der Untersuchungs-
methoden.
Die geschilderten Methoden der Untersuchung sind in ihren wissen-
schaftlichen Anwendungen so innig verbunden, daß es kein irgendwie
zusammengesetzteres Problem gibt, bei dessen Lösung sie nicht sämt-
lich beteiligt wären. Dabei ist aber nicht bloß jenes Verhältnis sukzes-
siver Überordnung entscheidend, das in der oben gewählten Reihen-
folge seinen Ausdruck fand, und nach dem jeweils eine nachfolgende
Methode die vorangehenden voraussetzt, sondern es greifen im all-
gemeinen überall auch umgekehrt die später aufgezählten in die voran-
gegangenen ein. Auf die Hilfsdeduktionen, ohne die überhaupt keine
irgend zureichende Induktion zu stande kommt, ist in dieser Beziehung
schon hingewiesen worden. Aber auch die übrigen Glieder der Reihe
stehen überall in ähnlichen Wechselbeziehungen, wenngleich die Ver-
bindung keine so augenfällige zu sein pflegt. So bereitet die isolierende
Abstraktion nicht bloß die induktive Untersuchung vor, indem sie die
zur Feststellung gesetzmäßiger Zusammenhänge geeigneten Teil-
phänomene aus den komplexen Erscheinungen ausscheidet, sondern es
werden auch umgekehrt die Resultate der Induktionen wieder für die
Richtung der vorzunehmenden realen Abstraktionen maßgebend.
Noch mehr wird im allgemeinen die generalisierende Abstraktion von
vorausgehenden Induktionen geleitet, und diese greifen dann fortan
berichtigend und weiterführend in die bereits gebildeten Generalisationen
ein. So machen z. B. bei den Klassen-, Ordnungs- und Artbegriffen der
verschiedenen naturgeschichtlichen Disziplinen die anfänglich auf Grund
relativ oberflächlicher Merkmale gebildeten Abstraktionen mehr und
Die wechselseitigen Beziehungen der Untersuchungsmethoden. 39
mehr solchen Platz, die auf umfassende Induktionen gegründet sind,
ein Vorgang, bei dem dann immer zugleich Hilfsgebiete ergänzend ein-
greifen: so in die Mineralogie die Chemie und Geologie, in die syste-
matische Botanik und Zoologie die Physiologie und allgemeine Biologie.
Je elementarer die Methoden in ihrer isolierten Anwendung sind,
umso verwickelter gestalten sie sich daher im Vergleich damit bei ihren
umfassenderen Anwendungen. So kommt es, daß die Analyse und die
Synthese in dem Gebrauch, den man von diesen Begriffen macht,
geradezu entgegengesetzte Endpunkte in der Stufenleiter der wissen-
schaftlichen Methoden bezeichnen. Die ohne weitere Hilfsverfahren
auf Grund der unmittelbaren Wahrnehmung vorgenommene Zerlegung
irgend eines zusammengesetzten Tatbestandes ist die einfachste Aufgabe,
die sich eine Untersuchung stellen kann und darum zugleich die Vor-
bedingung zu allen weiteren Schritten. Anderseits wird in der
Mathematik die abstrakteste und zugleich eine Fülle induktiver und
deduktiver Untersuchungen voraussetzende Disziplin nach dem immerhin
auch hier obwaltenden Übergewicht der analytischen Methode als „Ana-
lysis“ bezeichnet. Nicht anders werden die Ausdrücke „physikalische,
chemische, philologische, historische Analyse“ zum Teil den schwierigsten,
die meisten anderweitigen Vorbereitungen erfordernden Aufgaben dieser
Gebiete vorbehalten. Von der Synthese gilt dies, da sie selbst schon
die Analyse voraussetzt, und da überdies ihre Anwendung an gewisse
beschränkende Bedingungen geknüpft ist, nicht ganz in gleichem Grade;
doch kann auch sie eine ähnlich verschiedene Stellung einnehmen,
wie dies z. B. die einfachen synthetischen Operationen der Mathematik,
die elementaren physikalischen und chemischen Synthesen auf der einen
und die im engeren Sinne sogenannten synthetischen Disziplinen auf
der anderen Seite, die synthetische Geometrie oder die synthetische
Chemie, zeigen.
Aus diesen Wechselbeziehungen folgt von selbst, daß in der An-
wendung auf irgendwelche komplexe Untersuchungen die den einfachen
Methoden entlehnten Ausdrücke immer nur die vorwaltende
Richtung der Forschung bezeichnen, während als Hilfsmethoden
immer zugleich andere in Anwendung kommen. Zugleich steigert sich
die Verbindung mit der Komplikation der Probleme dermaßen, daß kaum
eine verwickeltere Aufgabe vorkommen dürfte, an deren Lösung nicht
überhaupt die sämtlichen Methoden beteiligt wären. Einen sprechenden
Beleg hierzu bildet der Gebrauch, den man von den Ausdrücken „Be-
griff“ und „Gesetz“ nicht selten zur Bezeichnung von Untersuchungs-
ergebnissen macht, die an sich den gleichen Inhalt besitzen, obgleich
40 Allgemeine Methodenlehre.
als die hauptsächlichste Grundlage des Begriffs die Abstraktion, als die
des Gesetzes dagegen die Induktion zu gelten pflegt. Wenn wir dem-
nach z. B. von dem Begriff der Gravitation reden, so setzt dieser selbst-
verständlich die ganze Induktion voraus, die zum Gesetz der Gravi-
tation geführt hat. Nichtsdestoweniger haben auch in diesem Fall die
beiden Ausdrücke eine verschiedene, in ihrer Anwendung hervor-
tretende Bedeutung. Von dem Begriff der Gravitation werden wir
nämlich dann reden, wenn dieser Begriff mit verwandten Begriffen,
z. B. mit denen anderer Naturkräfte, verglichen wird, während das
Gesetz der Gravitation das direkte Ergebnis einer in der gewöhnlichen
Weise von Hilfsdeduktionen unterstützten Induktion ist. Insbe-
sondere bei dem Verhältnis zwischen Begrifisbildung und Gesetzes-
formulierung kommt es daher wesentlich darauf an, welcher der ein-
fachen Methoden die abschließende Bedeutung zukommt. In
diesem Sinne ist dann aber für die Begrifisbildung die Abstraktion,
für die Gewinnung von Gesetzen die Induktion die entscheidende
Methode.
Zweites Kapitel.
Die Formen der systematischen Darstellung.
1. Die Definition.
Untersuchung und Darstellung greifen in ihrer wissenschaftlichen
Anwendung fortwährend ineinander ein. Keineswegs lassen sie daher
in dem Sinne sich scheiden, daß die erstere völlig abgeschlossen sein
müßte, wenn die zweite beginnen soll. Wohl aber setzt jede syste-
matische Darstellung voraus, daß eine Reihe von Begriffen durch voran-
gegangene Untersuchungen zureichend festgestellt sei, um einerseits
die wünschenswerte Abgrenzung der einzelnen Gebiete zu ermöglichen,
und um anderseits für die Fortführung der Untersuchung die erforder-
lichen Grundlagen darzubieten. Diese Aufgabe erfüllt die Defi-
nition. Sie ist die elementarste unter den systematischen Formen,
weil Klassifikation und Beweisführung auf ihr weiterbauen, und sie
steht ihrer tatsächlichen Entstehung nach mitten inne in dem Verlauf
der induktiven Forschung. Denn jedes Resultat der letzteren sucht in
einer zureichenden Begrifisbestimmung seinen Abschluß zu finden,
damit dann an diese die Deduktion anknüpfen könne.
Die Definition. 41
Dieser Doppelstellung entspricht die Natur der Definition. Als
systematische Form sucht sie einen gegebenen Begriff auf das schärfste
von den verwandten Begriffen zu trennen; als nächstes Ergebnis einer
Untersuchung, welcher die Begrenzung der Begriffe erst zu einem
tieferen Eindringen in den Gegenstand verhelfen soll, kann sie nicht das
Wesen dieses Gegenstandes erschöpfend bestimmen wollen, sondern
sie muß sich mit der Hervorhebung derjenigen Elemente begnügen,
welche zur sicheren Unterscheidung zureichend sind. Die Definition
bildet aber in doppelter Weise die Grundlage für die Weiterführung der
Untersuchung: einmal durch sich selbst, insofern die klare Feststellung
der charakteristischen Elemente eines Begrifis für die Untersuchung
desselben und seines Verhältnisses zu anderen Begriffen ein wesentliches
Erfordernis ist, und sodann durch die nahe Beziehung, in der die Defi-
nitionen zu den Grundsätzen stehen, auf welche die Deduktion die
einzelnen Theoreme zurückzuführen sucht. Diese Beziehung stellt
sich wieder in einer doppelten Form dar. Entweder gestatten, wie in der
Mathematik und in den reinen Begrifiswissenschaften, gewisse Funda-
mentaldefinitionen eine unmittelbare Transformation in axiomatische
Sätze; oder es lassen sich umgekehrt Erfahrungsgesetze, die durch In-
duktion gewonnen sind, in Definitionen allgemeiner Begriffe umwandeln,
wie in den physikalischen Disziplinen. Der Unterschied beider Formen
entspringt daraus, daß in den erstgenannten Wissenschaften die Fest-
stellung der Begriffe auf einer willkürlichen, wenn auch durch die
Natur der Anschauung nahegelegten Konstruktion beruht, deren
Sinn festgestellt sein muß, ehe man zu Gesetzesformulierungen über-
gehen kann, während im zweiten Fall der durch den Zwang der Wahr-
nehmung sich aufdrängende Zusammenhang der Erscheinungen zu-
nächst zur Annahme gesetzmäßiger Beziehungen herausfordert, die
dann erst nachträglich einem allgemeinen Begriff subsumiert werden.
Die systematische Darstellung verwischt schließlich diese Unterschiede
der Entstehungsgeschichte. In ihrem Streben nach zwingender Deduk-
tion sucht sie alle Theoreme als apodiktische Folgerungen aus einer
begrenzten Zahl ursprünglich gegebener Begrifisbestimmungen dar-
zustellen, wobei dann die Frage, wie man zu diesen Begrifisbestim-
mungen gelangt sei, nicht weiter zur Erörterung zu kommen braucht, In
diesem Sinne bilden Definitionen die Grundlage einer jeden systemati-
schen Wissenschaft. Es ist aber dazu keineswegs erforderlich, daß sie,
wie in dem Euklidischen System, der Entwicklung der Deduktionen
und sonstigen Untersuchungen vorangestellt werden, sondern es genügt
vollkommen, wenn eine jede an dem Orte vorkommt, wo sie zum ersten
42 Allgemeine Methodenlehre.
Male gebraucht wird. Doch hat dieser Umstand sowie der andere,
daß geläufige Begrifisbestimmungen leicht als selbstverständlich voraus-
gesetzt werden können, zuweilen die fundamentale Bedeutung der
Definition übersehen lassen.
Da wir uns als Zeichen der Begriffe im allgemeinen der Worte
bedienen, so ist jede Definition zunächst eine Worterklärung;
und da Begriffe immer nur durch andere Begriffe, also auch Worte nur
durch andere Worte erklärt werden können, so besteht die Definition
regelmäßig darin, daß ein Wort, dessen begrifflicher Sinn noch nicht
festgestellt ist, durch Worte bestimmt wird, deren begriffliche Be-
deutung als bekannt vorausgesetzt werden darf. Dieser regelmäßigen
Aufgabe scheint es zu widerstreiten, wenn man die Worterklärung
von der eigentlichen Definition zu unterscheiden pflegt, indem man beide
als Nominal- und Realdefinition einander gegenüberstellt.
In der Tat ist auch diese Unterscheidung deshalb bekämpft worden,
weil es niemals Definitionen der Dinge selbst geben könne, sondern
immer nur Definitionen der Wörter, mit denen wir die Dinge bezeichnen.
Die Realdefinition ist daher, wie Mill meint, ebenfalls nur eine Wort-
erklärung; sie unterscheide sich aber von der bloßen Nominaldefinition
durch den Umstand, daß sie daneben noch die Voraussetzung einschließe,
es gebe ein Ding, das dem Wort entspreche*). Dennoch ist es offenbar
nicht der Gedanke an reale Existenz, der uns hier zunächst beschäftigt.
Vielmehr liegt der eigentliche Unterschied darin, daß wir bei der bloßen
Nominaldefinition völlig absehen von dem wissenschaftlichen Zu-
sammenhang, in den der betreffende Begriff durch die Definition ge-
bracht werden soll, indem wir bei ihr den nämlichen Zweck verfolgen
wie bei der Übersetzung eines Wortes aus einer fremden Sprache: die
Nominaldefinition ersetzt nur das Wort von unbekannter Bedeutung
durch synonyme Ausdrücke und Umschreibungen ohne jede Rücksicht
auf die systematische Stellung der Begriffe. Der Realdefinition ist es
dagegen um die letztere zu tun. An und für sich kann daher ebensogut
die Nominaldefinition eines Pferdes wie die Realdefinition eines Cen-
tauren gegeben werden, auch wenn man nicht im geringsten daran
zweifelt, daß das Pferd ein wirkliches Tier und der Centaur ein bloßes
Geschöpf der Phantasie sei. Hiernach bedarf es kaum der Bemerkung,
daß die bloße Worterklärung kein Gegenstand logischer Untersuchung
ist, sondern daß diese sich nur mit Realdefinitionen im obigen Sinne,
d. h. mit solchen Definitionen zu beschäftigen hat, durch welche die
*) Mill, Logik I. Übersetzt von Schiel, 2. Aufl., 8. 172,
Die Definition. , 43
Stellung eines Begriffs innerhalb eines allgemeineren Zusammenhangs
von Begriffen bestimmt wird.
Diese Aufgabe wird nun in der einfachsten Weise erfüllt, wenn
man erstens den zunächst übergeordneten Begriff angibt, unter den
der zu definierende gehört, und wenn man zweitens das Merkmal oder
den Komplex von Merkmalen bestimmt, wodurch er sich von den ihm
koordinierten Begriffen unterscheidet. Im günstigsten Fall können
so zwei Namen, ein Gattungsname und eine Eigenschaftsbezeichnung,
zur Definition genügen. Diese Regel des genus proximum und der
differentia specifica ist in der systematischen Naturgeschichte für die
hauptsächlich seit Linne üblichen, aber schon vor ihm gebrauchten
Doppelbezeichnungen, wie Felis domestica, Canis familiaris u. dgl.,
maßgebend geworden. Die Benennung soll hier eine kurze Definition
ersetzen, die aber freilich infolge der Willkürlichkeit der Genusbenen-
nung und der oft planlosen Auswahl des spezifischen Unterschieds der
eigentlichen Aufgabe einer Realdefinition wenig entspricht. Darum
pflegt man selbst in der systematischen Naturgeschichte diesen Namen
ausführlichere Definitionen folgen zu lassen, und in anderen Gebieten,
wie bei mathematischen, physikalischen, juristischen und national-
ökonomischen Begriffsbestimmungen, behält die Regel des genus
proximum und der differentia specifica nur noch in einem allgemeineren
Sinne ihre Geltung, insofern nämlich, als bei jeder systematischen
Definition die zur Verwendung kommenden Begriffe in zwei Gruppen
zerfallen, von denen die eine einen oder mehrere übergeordnete Be-
grifie enthält, die als bekannt aus vorangegangenen Definitionen voraus-
gesetzt werden, während die andere die besonderen Bestimmungen
hinzufügt, durch welche der betreffende Begriff in eindeutiger Weise
von allen ihm verwandten Begriffen abgegrenzt wird. Damit eine
solche eindeutige Abgrenzung zu stande komme, darf der Definition
selbstverständlich kein für den Begriff wesentliches Element fehlen;
und ebenso fordert der systematische Zweck, daß sie nicht mit un-
wesentlichen, etwa schon in anderen Elementen vorausgesetzten Be-
stimmungen überlastet werde. Je einfacher und zugleich logisch durch-
gebildeter ein Begrifisgebiet ist, umsomehr wird aber eine Definition,
die der Forderung der Eindeutigkeit genügt, doch zugleich eine voll-
ständige Einsicht in die Konstitution des Begriffs gewähren. In voll-
kommenster Weise besitzen diese Eigenschaft die mathematischen
Begriffe. Die exakte Definition einer geometrischen Kurve enthält
ebenso wie die für sie aufzustellende Gleichung bereits alle ihre Eigen-
schaften vorgebildet. Der Definition in Worten kann daher in diesem
44 Allgemeine Methodenlehre.
Fall der analytische Ausdruck als eine symbolische Form der Definition
substituiert werden. Am weitesten dagegen entfernen sich von diesem
idealen Ziel die Begriffsbestimmungen konkreter Naturobjekte. Nur in
geringem Umfange sind wir im stande, die charakteristischen Eigen-
schaften einer Pflanze oder eines Tieres in einen solchen Zusammenhang
zu bringen, daß sich uns aus bestimmten einzelnen dieser Eigenschaften
die anderen mit Notwendigkeit ergeben. Die Definition muß sich darum
in diesem Falle damit begnügen, diejenigen Merkmale herauszugreifen,
in deren Konstanz eine Bürgschaft ihrer begrifflichen Bedeutung zu
liegen scheint, ohne daß sie aber den Anspruch erheben kann, damit
irgendwie das Wesen des Objekts anzugeben, wie man dies so oft
als die Aufgabe aller Definition angesehen hat, eine Aufgabe, die selbst-
verständlich nur erfüllt werden kann bei Begriffen, deren Bestimmung
nach Inhalt wie Umfang schließlich in unserer eigenen Macht liegt.
Neben der Mathematik sind es daher die systematischen Geisteswissen-
schaften, wie die Rechts- und Staatslehre, sowie die verschiedenen
Zweige der systematischen Philosophie, in denen jene ideale logische
Aufgabe der Definition am ehesten annähernd erreichbar ist.
Da jede Definition zur Feststellung eines Begriffs anderer Be-
griffe bedarf, so setzt sie diese als bereits gegeben voraus, sei es, daß sie
durch vorangegangene Definitionen bestimmt, sei es, daß sie unmittelbar
aus der Anschauung bekannt und daher keiner Definition bedürftig
sind. Sobald eine Definition die gewöhnliche Gliederung in das genus
proximum und die differentia specifica zuläßt, so ist regelmäßig das
erstere der Gegenstand vorangegangener Definitionen, während die
letztere an die unmittelbare Erfahrung appelliert, die höchstens eine
anschauliche Zerlegung, in keiner Weise aber eine Feststellung mittels
anderer Begriffe gestattet. Die Definition der übergeordneten Begriffe
zerfällt nun selbstverständlich ihrerseits wieder in ein oberes Genus
und eine spezifische Differenz, von denen jenes abermals eine ähnliche
Zerlegung erfährt, bis man schließlich bei denjenigen Allgemeinbegriffen
des betrefienden Gebietes angelangt ist, die einen weiteren Rückgang
nicht mehr gestatten. Indem dieser Prozeß von den zunächst unter-
suchten Begriffen alle anschaulichen Elemente sukzessiv losgelöst hat,
bleiben schließlich als nicht weiter definierbare oberste Gattungen solche
Begriffe übrig, die völlig abstrakter Art sind, d. h. unmittelbar gar
keine anschaulichen Elemente mehr enthalten, wie die Begriffe Ding,
Substanz, Größe, Zahl u. dgl. Auf diese Weise führt die Analyse der
Definitionen auf zwei undefinierbare Bestandteile von völlig ver-
schiedenem Charakter: erstens auf die Elemente der unmittelbaren
Die Definition. 45
Erfahrung oder die Inhalte des Bewußtseins, die wahrgenommen
werden müssen und eben darum nicht definiert werden können, und
zweitens auf die allgemeinsten Abstraktionen, die, insofern ihnen jeder
anschauliche Inhalt abhanden gekommen ist, eine bloß formale
Bedeutung besitzen, da in ihnen lediglich die intellektuellen Funk-
tionen zum Ausdruck kommen, deren wir uns bei der Ordnung des
empirischen Stoffes bedienen. Diese Funktionen sind wiederum
einer eigentlichen Definition nicht zugänglich, sondern es können bei
ihnen höchstens die Bewußtseinsakte beschrieben werden, die bei der
Erzeugung der Begriffe wirksam sind. So führen wir z. B. den Begriff
des Dings auf die selbständige Apperzeption des einzelnen Wahr-
nehmungsinhalts, den Begriff der Zahl auf die Verbindung einer Reihe
von Apperzeptionsakten zurück u. s. w. (Bd. I, Abschnitt III, Kap. II ff.)
Indem die Definition einen gegebenen Begriff stets durch eine
Mehrheit anderer Begriffe erklärt, kann sie nun entweder auf einer
Zerlegung in diese oder aber auf ihrer Verbindung zu einem
neuen Begriffe beruhen. Die Definition stützt sich daher auf die ele-
mentareren Methoden der Analyse und Synthese, und sie läßt hiernach
zwei Hauptformen zu: die analytische und die synthetische
Definition.
Die analytische Definition ist die nächstliegende und
darum häufigste Form. Fast unerläßlich bei der Begrifisbestimmung von
Erfahrungsobjekten bietet sie sich auch auf abstrakten Gebieten immer
zunächst dar, weil sie von dem gegebenen Begriff, der definiert werden
soll, ausgeht. Die einfachste Art analytischer Definition besteht aber in
der Hervorhebung der unterscheidenden Merkmale, welche die Be-
schreibung des Gegenstandes an ihm kennen lehrt. Diese deskrip-
tive Definition ist selbst nichts anderes als eine abgekürzte,
auf die charakteristischen Eigenschaften eingeschränkte Beschreibung.
Wie die Beschreibung überhaupt, so hat sie den Nachteil, daß sie die
Begrifiselemente nur äußerlich aneinander reiht, ihre innere Beziehung
aber nicht kennen lehrt. So in den bekannten Definitionen der Natur-
geschichte, aber auch bei mathematischen Begrifisgebilden, wo jedoch
die exakte Bestimmung der Begrifiselemente leicht jene Beziehung er-
gänzen läßt. Wenn wir z. B. den Kreis als diejenige in einer Ebene ge-
legene Linie definieren, deren Punkte sämtlich gleich weit von einem
festen Punkte der nämlichen Ebene entfernt sind, so ist diese Begriffs-
bestimmung an sich rein deskriptiv; trotzdem schließt sie infolge der
scharfen Fassung des Begriffs der Äquidistanz alle wesentlichen Eigen-
46 Allgemeine Methodenlehre.
schaften des Kreises in sich. Immerhin müssen wir auch hier die de-
skriptive Definition verlassen, wenn die wechselseitige Beziehung der
Begrifiselemente angegeben werden soll. Dies geschieht in der ana-
IytischenDefinition imengeren Sinne, die symbolisch
immer in der Form einer Funktionsgleichung
M=IEobr2u®9...)
ausgedrückt werden kann, wo M den zu definierenden Begriff, a,b..
die konstanten, u,v... die variablen Elemente, in die er zerlegt wird,
und endlich das Zeichen F die Funktionsbeziehung bezeichnet, die
zwischen allen diesen Elementen stattfindet. In diesem Sinne ist die
Gleichung des Kreises zugleich die analytische Definition desselben.
Sie enthält alle Elemente der deskriptiven Definition und außer ihnen
mit Hilfe der Operationssymbole den exakten Ausdruck ihrer wechsel-
seitigen Relationen. Neben der Mathematik sind es wieder die einer
strengeren logischen Kultur zugänglichen Geisteswissenschaften, wie
die Erkenntnislehre, die Rechtswissenschaft und zum Teil die National-
ökonomie, in denen analytische Definitionen erstrebt werden können.
Da uns aber hier ein dem algebraischen ähnliches Zeichensystem mangelt,
so müssen die Beziehungen der Begriffselemente mit den gewöhnlichen
Hilfsmitteln der Sprache ausgedrückt werden, ein Umstand, der infolge
der ungenügenden Präzision dieser Hilfsmittel nicht selten die De-
finition ganz oder teilweise auf die deskriptive Stufe zurücksinken läßt.
Den entgegengesetzten Weg schlägt die synthetische De-
finitionein. Sie gibt an, wie sich der Begriff aus seinen charakte-
ristischen Elementen zusammensetzt. Hierbei erscheinen dann meistens
diese Elemente zugleich als die Bedingungen seiner Entstehung, und
die synthetische nimmt so die geläufige Form der genetischen
Definition an. Wenn man mit geringer Abänderung der oben
gegebenen Beschreibung den Kreis durch die Bewegung eines Punktes
in der Ebene entstehen läßt, der von einem festen Punkt der näm-
lichen Ebene immer gleich weit entfernt bleibt, wenn man ferner die
verschiedenen Kurven zweiten Grades aus bestimmten Modifikationen
dieses Bewegungsgesetzes ableitet oder noch einfacher als Schnitte
eines geraden Kegels durch eine Ebene von wechselnder Lage auffaßt,
so gewinnt man abermals genetische Definitionen, wobei übrigens, wie
das letzte Beispiel zeigt, im allgemeinen für ein und dasselbe Raum-
gebilde verschiedene Entstehungsweisen und darum verschiedene
genetische Erklärungen möglich sind. Doch ist dies nur der Fall, wo
die Definition, wie in der Mathematik, Ausdruck einer willkürlichen
Die Klassifikation, 47
Konstruktion ist. Bei Erfahrungsobjekten kann die genetische De-
finition immer nur in dem Versuch einer Nacherzeugung der wirklichen
Entstehung des Gegenstandes bestehen, und da diese in der Regel nur
eine einzige ist, so ist hier im allgemeinen nur eine Form derselben
möglich. Bloß wo es sich um eine genetische Definition solcher Objekte
handelt, die unserer unmittelbaren Erfahrung entrückt sind, wie der
Sprache, der ursprünglichen Rechts- und Staatsformen, der mytho-
logischen Vorstellungen, da haben wohl auch verschiedene genetische
Begrifisbestimmungen nebeneinander Raum, die nun aber freilich
nicht, wie in der Mathematik, ein gleiches Recht für sich in Anspruch
nehmen, sondern als Ausdrucksformen verschiedener hypothetischer
Anschauungen einander bekämpfen. Nicht selten geschieht es ferner,
daß nur einzelne Seiten eines Begriffs eine genetische Definition zu-
lassen, während andere, die zur Unterscheidung von verwandten Be-
griffen immerhin der Hervorhebung bedürfen, bloß einer Beschreibung
zugänglich sind. Es entstehen dann gemischte, genetisch-deskriptive
Definitionen. Die Andeutung eines derartigen Verhaltens findet sich
in den Artbenennungen der Naturgeschichte, wo die eine Hälfte der
Doppelbezeichnung, das genus proximum, auf die Abstammung der
Art hinweist, während die differentia specifica, die Aufzählung der
charakteristischen Artmerkmale, einer bloß deskriptiven Aneinander-
reihung überlassen bleibt.
Die angegebenen Unterschiede der Definition stehen in nahem
Zusammenhange mit den Eigenschaften derjenigen systematischen
Form, die sich auf die Definition stützt, indem sie die fundamentalen
Definitionen eines Wissensgebietes zu dessen geordneter Gliederung
verwertet. Diese Form ist die Klassifikation.
2. Die Klassifikation.
a. Allgemeine Eigenschaftender Klassifikation und Entwicklung
der Klassifikationsformen.
Wir bezeichnen als Einteilung jede Gliederung eines Begriffs,
durch welche dieser in eine Anzahl koordinierter und additiv mitein-
ander verbundener Teile zerlegt wird. Die logische Einteilung führt
daher stets zu einem vollständigen disjunktiven Urteil von der Form
Se AN ag 23
Die Einteilung wird zur Klassifikation, wenn die so gewonnenen
Begrifie allgemeine Klassen bezeichnen, an denen der Vorgang der
48 Allgemeine Methodenlehre.
Einteilung einmal oder mehrmals wiederholt werden kann. Jede Klassi-
fikation besteht daher aus einer Haupteinteilung und aus
Untereinteilungen.
Damit die Einteilung eines Begriffs ausgeführt werden könne,
müssen seine wesentlichen Elemente durch vorangegangene Analyse
ermittelt sein, und insbesondere muß diese darüber Aufschluß geben,
welche unter den Begrifiselementen konstant, und welche veränder-
lich sind. Unter den veränderlichen werden dann diejenigen ausgewählt,
die sich zur Abgrenzung der Glieder des einzuteilenden Begriffs als
die geeignetsten erweisen. Ein variables Begrifiselement, dessen Ver-
änderungen in dieser Weise benützt werden, heißt Einteilungs-
grund. In den einfachsten Fällen genügt ein einziger; in ver-
wickelteren wird es aber nicht selten nötig, mehrere Einteilungsgründe
zu kombinieren, um eine hinreichend vollständige Gliederung des
Begriffs zu gewinnen.
Gehen wir auf den allgemeinen analytischen Ausdruck der De-
finition eines Begriffs zurück:
DM NP DES URVERNT
so würden demnach unter den variablen Elementen vw, v.... . die Ein-
teilungsgründe zu wählen sein*). Da die Wahl zwischen ihnen im
allgemeinen, abgesehen von Rücksichten der Zweckmäßigkeit, frei-
steht, so läßt jeder zusammengesetzte Begriff verschiedene Einteilungs-
weisen zu. Erfordert die Vollständigkeit der Einteilung die Kom-
bination mehrerer Einteilungsgründe, so bestimmt sich die Gesamt-
zahl der Teile nach der Anzahl der Kombinationen, die zwischen den
durch die einzelnen Einteilungsgründe gewonnenen Elementen möglich
sind. Wählt man also z. B. u und v, so würde, wenn M nach u einge-
teilt in A, Bund(, nach v eingeteilt in «,ß und y zerfällt, als Resultat
der kombinierten Teilung
M=Aa-+4ABß+4Ar+Ba-+ BB + Br + 0a CB-C7
sich ergeben. In allen solchen Fällen bedarf es jedoch einer besonderen
Untersuchung darüber, ob nicht einzelne der logisch möglichen Glieder
infolge von Bedingungen, die in der speziellen Konstitution des Begriffs
liegen, hinwegfallen.
*) Diese logischen Variabeln dürfen, wie schon hier bemerkt werden mag,
nicht verwechselt werden mit den Variabeln algebraischer Gleichungen. Wir
werden unten sehen, daß vielmehr die logischen Variabeln bei der analytischen
Klassifikation mathematischer Ba _riffe regelmäßig unter den algebraischen Kon-
stanten zu wählen sind.
Die Klassifikation, 49
Für die Wahl der Einteilungsgründe gelten zwei Hauptregeln,
die freilich bei der Klassifikation von Erfahrungsobjekten nicht immer
strenge befolgt werden können. Erstens sollen die Einteilungsgründe
allen Gliedern des einzuteilenden Begriffs zukommen, damit es nicht
nötig werde, plötzlich mit ihnen zu wechseln. Zweitens sollen die Ver-
änderungen der zu Einteilungsgründen gewählten Merkmale den wesent-
lichen Veränderungen des Gesamtbegriffs, also den Veränderungen der
wichtigsten anderen variablen Begrifiselemente, parallel gehen. Wie
auf der ersten dieser Regeln die logische Richtigkeit der Einteilung, so
beruht auf der zweiten die der Natur des Gegenstandes angemessene
Wahl der Einteilungsgründe.
Durch die Hervorhebung einzelner für die gegenseitige Abgren-
zung der Teile eines allgemeinen Begriffs geeigneter Elemente steht
nun die Klassifikation in unmittelbarem Zusammenhang mit der De-
finition. Einerseits setzt sie zureichende Definitionen der einzu-
teilenden Begriffe voraus, anderseits werden durch sie selbst, namentlich
durch die Fortschritte, die sie im Verlauf der systematischen Ent-
wicklung einer Wissenschaft macht, die Definitionen vervollkommnet
und immer mehr in eine sich wechselseitig stützende Verbindung
gebracht. Hierbei verwertet die Klassifikation die verschiedenen
Untersuchungsmethoden, die sich an der Entwicklung des Wissens
beteiligen. Vor allem ist es de Abstraktion, die sich zunächst
in der Form derisolierenden bei der Wahl der Einteilungsgründe
betätigt, um sodann als generalisierende die Feststellung der
allgemeinen Gattungsbegrifie zu vermitteln. Die Art aber, wie diese
Formen der Abstraktion geübt werden, ist wiederum abhängig von der
jeweils erreichten Stufe der Induktion und Deduktion. Auf
diese Weise ist es die Klassifikation nebst dem von ihr getragenen
System von Definitionen, an der am unmittelbarsten der Grad der
Entwicklung, der in der Untersuchung eines bestimmten Gebietes
erreicht ist, erkennbar wird; und der Verlauf der Entwicklung selbst
spiegelt sich regelmäßig in der Aufeinanderfolge der Klassifikations-
systeme einer Wissenschaft. In dem Wechsel der Formen der
Klassifikation ist daher meistens eine bestimmte Regelmäßig-
keit zu erkennen, die von den allgemeinen Gesetzen wissenschaftlicher
Entwicklung beherrscht wird.
Entsprechend den Formen der Definition können wir so zunächst
als Hauptformen die analytische und die synthetische Klassi-
fikation unterscheiden. Wie mit der Analyse jede wissenschaftliche
Untersuchung beginnt, so äußern sich auch die ersten Versuche einer
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 4
50 Allgemeine Methodenlehre.
systematischen Ordnung der Begriffe regelmäßig in analytischen Ein-
teilungen. Die beginnende Analyse vermag nun zwar über die Ko-
existenz der Merkmale eines Begriffs, nicht aber über die innere Be-
ziehung derselben Aufschluß zu geben. Die analytischen Klassi-
fikationen der beginnenden Wissenschaft sind daher stets deskrip-
tiver Art. Erst indem sich mit der AnalysesynthetischeKon-
struktionen oder Beobachtungen nach synthetischer Methode ver-
binden, gewinnt diese Methode auch auf die Einteilungen ihren Ein-
fluß, und es geht so die deskriptive in eine genetische Klassi-
fikation über. Aber nicht unter allen Umständen kann die letztere auf
die Dauer befriedigen. Namentlich in den reinen Anschauungs- und
Begrifiswissenschaften macht sich mehr und mehr das Streben nach
systematischen Einteilungen geltend, die nicht bloß über die Ent-
stehung der Begrifisgegenstände Rechenschaft ablegen, sondern einen
möglichst vollständigen Ausdruck der bleibenden inneren Beziehungen
ihrer Elemente enthalten. Dies ist nur durch ein Zurückkehren zur
Analyse möglich, wobei aber diese sich nicht auf eine deskriptive An-
einanderreihung der Merkmale beschränken darf, sondern im Sinne der
mathematischen Analyse über deren gesetzmäßige Beziehungen Rechen-
schaft geben muß. So entsteht die vollendetste Form der Klassifikation,
die analytische Klassifikationim engeren Sinne,
die der analytischen Definition parallel geht, aber, gleich dieser, infolge
unserer unvollkommenen Einsicht in das Wesen der Erfahrungsobjekte
hauptsächlich nur in den Gebieten der auf Konstruktion beruhenden
Begrifissysteme Anwendung finden kann.
b. Die deskriptive Klassifikation.
Die deskriptive Klassifikation benützt als Einteilungsgründe Merk-
male, die bei der Beschreibung einer zusammengehörigen Reihe von
Gegenständen gewonnen worden sind. Da die Beschreibung an sich
infolge ihrer Beschränkung auf die bloße Betrachtung der tatsächlichen
Koexistenz der Eigenschaften eines Objektes kein Merkmal vor dem
anderen bevorzugt, so ist jene Wahl der Einteilungsgründe vollkommen
freigegeben, und es wird deshalb der deskriptiven Klassifikation ver-
hältnismäßig leicht, den beiden oben namhaft gemachten logischen
Forderungen der Konstanz der Einteilungsgründe und der angemessenen
Variabilität der charakteristischen Merkmale zu genügen. Je mehr
aber dies der Fall ist, in umso höherem Grade muß hinwiederum die
Klassifikation mit den von anderen Gesichtspunkten aus unternommenen
SS
Die Klassifikation. 51
Gliederungen des Gegenstandes übereinstimmen, umsomehr also
müssen auch ihre Resultate mit denjenigen der vollkommeneren gene-
tischen oder analytischen Klassifikation zusammentreffen. In der Tat
besteht zum großen Teil gerade hierin der Dienst, den eine logisch an-
gemessene Klassifikation, mag sie auch noch so sehr nach äußerlichen
Merkmalen ausgeführt sein, der weiteren Untersuchung des Gegen-
standes zu leisten pflegt. Man hat wegen der freien Wahl der Ein-
teilungsgründe, über welche diese erste Einteilungsform mehr als jede
andere verfügt, vorzugsweise der deskriptiven Klassifikation in der
Naturgeschichte den Namen der künstlichen beigelegt. Aber
es ist eine längst gemachte und infolge der angedeuteten Beziehung
der Merkmale leicht verständliche Bemerkung, daß die Unterordnungen
der besseren künstlichen Systeme mit denjenigen der sogenannten
natürlichen vielfach übereinstimmen. Ein weiterer Vorzug der de-
skriptiven Klassifikation, der mit der freien Wahl der Einteilungsgründe
zusammenhängt, besteht in der willkürlichen Beschränkung der Zahl
derselben, eine Eigenschaft, die der klaren Übersicht der Gliederungen
des Systems wesentlich zu statten kommt. In allen diesen Beziehungen
ist besonders Linnes künstliches Pflanzensystem, mehr als seine Klassi-
fikationen auf anderen Gebieten der Naturgeschichte, ein muster-
gültiges Beispiel. Indem dieses System die Beschaffenheit der Frukti-
fikationsorgane zum Einteilungssrunde wählt, geht es zunächst von
den allgemeinsten Unterschieden in der Lage derselben aus, worauf
die weitere Unterscheidung der Klassen nach der Zahl und Befestigungs-
weise der Staubfäden geschieht.
Diesen Vorzügen des deskriptiven Systems stehen jedoch einige
Nachteile gegenüber, die allmählich zur Ersetzung desselben durch
vollkommenere Klassifikationsformen antreiben. Solche Nachteile ent-
springen hauptsächlich daraus, daß die deskriptive Einteilung vermöge
der Beschränkung der Einteilungsgründe, die sie erstrebt, in höherem
Grade als jede andere auf die durchgängige Korrelation der Merkmale
sich stützen muß, während sie doch weniger als jede andere über die
Ursachen dieser Korrelation Rechenschaft zu geben vermag. Wenn
z. B. das deskriptive System als Klassenmerkmal der Säugetiere den
Besitz der Milchdrüsen aufstellt, so macht es nicht im geringsten be-
greiflich, warum mit diesem Merkmal gewisse andere Eigenschaften,
wie der Besitz von Haaren, zweier Hinterhauptskondylen, eines einzigen
auf der linken Seite gelegenen Aortenbogens, eines die Brust- und
Bauchhöhle vollständig trennenden Zwerchfells, regelmäßig verbunden
sind. Und doch sind die Milchdrüsen nur deshalb ein zweckmäßig ge-
53 Allgemeine Methodenlehre.
wählter Einteilungsgrund, weil zwischen ihnen und jenen anderen Merk-
malen ein konstantes Verhältnis der Koexistenz besteht.
Namentlich in zwei Erscheinungen kommt hier die mangelhafte
Einsicht in die wechselseitige Beziehung der Begriffselemente in störender
Weise zur Geltung. Erstens geschieht es, und zwar gerade bei den in
logischer Beziehung vollkommensten deskriptiven Einteilungen, nicht
selten, daß einzelne Glieder, die durch das Einteilungsprinzip logisch
gefordert werden, hinwegfallen, weil sie dem Wesen des eingeteilten
Begriffs widerstreiten. Über die Gründe solcher Lücken des Systems
vermag aber die deskriptive Klassifikation keine Rechenschaft zu
geben, so daß deren Existenz lediglich als eine zufällige erscheint. Dem
läßt sich nun freilich nicht abhelfen, wo überhaupt unsere Kenntnis
der Dinge eine zu unvollkommene ist. Wenn z. B. das Linnesche Pflan-
zensystem alsbald von der Dekandria, der Klasse mit 10 Staubgefäßen,
zu der Dodekandria überspringt, in der es Blüten mit 12—20 Staub-
gefäßen vereinigt, so entzieht sich der hier zu Grunde liegende Mangel
einer Elfzahl männlicher Fruktifikationsorgane vorläufig unserer Er-
klärung. Wenn man dagegen die Kurven dritten Grades erstens nach
der Zahl ihrer unendlichen Zweige und zweitens nach der parabolischen
oder hyperbolischen Gestalt dieser Zweige einteilt, so läßt auch hier
diese deskriptive Einteilung dahingestellt, warum gewisse logisch denk-
bare Kombinationen der stets paarig in den Zahlen 2, 4, 6 und 8 vor-
kommenden Zweige hinwegfallen, warum also z. B. unter den Kurven
mit sechs Zweigen nur solche mit zwei parabolischen und vier hyper-
bolischen vorkommen und vollends die Kurven mit acht Zweigen stets
hyperbolisch sind. Da es sich aber in diesem Fall um Begriffe handelt,
bei denen die Erkenntnis des Zusammenhangs ihrer Eigenschaften
vollkommen in unserer Macht steht, so liegt hierin zugleich ein Motiv,
an die Stelle der deskriptiven eine genetische oder analytische Klassi-
fikation zu setzen, bei denen die logisch möglichen Glieder der Einteilung
immer auch mit den tatsächlich existierenden oder dem Begriff nach
notwendigen zusammenfallen müssen.
Ein zweiter Mangel der deskriptiven Einteilung besteht darin,
daß sie nicht selten genötigt wird, entweder Zusammengehöriges zu
trennen oder, wenn dieser Übelstand vermieden werden soll, dem
gewählten Einteilungsgrund untreu zu werden. Dies ereignet sich
namentlich bei Naturobjekten, deren abweichende Gestaltungen oft
durch mannigfache Übergänge verbunden sind, so daß sie den von
uns willkürlich gezogenen Grenzen nur widerstrebend sich fügen.
So ordnet das Linnesche System sämtliche Liliaceen in die sechste
Die Klassifikation. 53
Klasse, obgleich einige Arten nicht sechs, sondern nur drei entwickelte
Staubgefäße besitzen. Die Gesamtheit der sonstigen Eigenschaften
gewinnt hier das Übergewicht über das einzelne willkürlich bevor-
zugte Merkmal. Indem die deskriptive Klassifikation sich auf diese
Weise genötigt sieht, die allgemeinen Verwandtschaftsbeziehungen
der Objekte auf Kosten der logischen Folgerichtigkeit zu bevorzugen,
legt sie aber selbst schon den Gedanken einer genetischen Ein-
teilung nahe.
c. Die genetische Klassifikation.
Der Versuch, zusammengehörige Objekte unserer Beobachtung
in irgend eine Entwicklungsreihe zu ordnen, ist wohl so alt wie die
wissenschaftliche Beobachtung selber. Auch liegen schon den frühesten
deskriptiven Einteilungen meistens zugleich unvollkommene gene-
tische Anschauungen zu Grunde. So sind die von Aristoteles unter-
schiedenen Klassen des Tierreichs sichtlich nach deskriptiven Merk-
malen gebildet, aber für ihre Anordnung ist nebenbei die Annahme
einer kontinuierlichen Entwicklungsfolge der Organismen von den
Pflanzen aufwärts bis zu den Säugetieren maßgebend. Gerade im
Gebiet der Naturgeschichte mußte sich jedoch bald der prinzipielle
Unterschied deskriptiver und genetischer Einteilung geltend machen.
Denn während hier das Bedürfnis, in der Fülle der Formen eine logische
Ordnung zu schaffen, zu der ersteren drängte, konnte der vergleichenden
Beobachtung die Mannigfaltigkeit genetischer Beziehungen nicht ver-
borgen bleiben. Mit klarem Bewußtsein freilich hat wohl erst der große
Reformator der systematischen Naturgeschichte, Linne, diesen Unter-
schied erfaßt, indem er seinem künstlichen einnatürliches System
an die Seite setzte, dessen Vollendung er übrigens der Zukunft über-
lassen mußte. Auch die später zur Ausführung gelangten natürlichen
Systeme, wie sie für das Pflanzenreich Jussieu und Decandolle auf-
stellten, bilden erst eine Übergangsform zwischen deskriptiver und
genetischer Klassifikation, indem namentlich die Unterabteilungen
nach rein äußerlichen Merkmalen geschieden sind. Dies ist zum Teil
wohl die Folge davon, daß der genetische Grundgedanke hier unter
dem vielleicht noch aus der Aristotelischen Philosophie herüber-
genommenen Vorurteil stand, die Entwicklung erfolge in einer einzigen
Richtung, daher man auch dem natürlichen System eine lineare
Anordnung zu geben suchte. Hierzu kam, daß die ersten erfolgreicheren
Versuche genetischer Klassifikation nicht einer wirklichen Beobach-
tung der Entwicklung, sondern einer bloßen Vergleichung der fertigen
54 Allgemeine Methodenlehre.
Objekte ihren Ursprung verdankten, ein Standpunkt, der in den nament-
lich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung
gelangten vergleichenden Wissenschaften seinen Ausdruck
fand. War in der Linnöschen Schule die Untersuchung der Eigenschaften
der Pflanzen und Tiere fast nur als ein Hilfsmittel betrachtet worden
zur Gewinnung einer Klassifikation, und diese wieder als ein Hilfs-
mittel zur Auffindung und Benennung der Objekte, so wurde nun in
der vergleichenden Anatomie der Pflanzen und Tiere die Untersuchung
sich selbst Zweck, und sie führte dadurch notwendig zu einer Bevor-
zugung der inneren vor den bisher hauptsächlich beachteten äußeren
Merkmalen. Hatte die Mineralogie ohne Rücksicht auf Vorkommen
und Bildung die Mineralien nach gewissen äußeren Unterschieden
geordnet, so traten ihr jetzt in der Geognosie und Geologie Wissen-
schaften zur Seite, deren Aufgabe von selbst auf eine vergleichende
Untersuchung und damit zugleich auf die Erforschung der Ent-
stehungsbedingungen der Gesteine hinwies. Von der Naturgeschichte
ausgehend, ergriff dies Streben nach vergleichender Methode bald noch
weitere Kreise der wissenschaftlichen Forschung. Eine „vergleichende
Erdkunde“ nannte Karl Ritter sein bahnbrechendes geographisches
Werk. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften schlossen sich
daran die vergleichende Sprachwissenschaft, die Anfänge einer ver-
gleichenden Mythologie und schließlich der Versuch einer aus Be-
völkerungs- und Wirtschaftsstatistik allmählich hervorwachsenden ver-
gleichenden Gesellschaftslehre. Manche dieser Disziplinen, wie Geo-
graphie, Sprachwissenschaft und soziale Statistik, waren durch die
Natur ihres Gegenstandes ganz oder großenteils auf die Vergleichung
fertiger Objekte oder Zustände angewiesen. Von der Naturgeschichte
kann dies zwar nicht behauptet werden, sondern es schien hier im
Gegenteil die Erfahrung selbst die Forderung zu stellen, daß ein gene-
tisches System auf die wirkliche Genese der Gegenstände zu gründen
sei. Immerhin war es begreiflich, daß trotzdem der schwierigeren
und zeitraubenderen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung die
Vergleichung vorausging.
Nun kann aber ganz allgemein der Zweck einer genetischen Klassi-
fikation ein doppelter sein. Entweder kann sie, ohne Rücksicht auf die
wirkliche Entstehung, lediglich darüber Rechenschaft geben, wie die
Objekte von uns anschaulich oder begrifflich konstruiert werden
können. In diesem Fall werden möglicherweise mehrere genetische
Einteilungen der nämlichen Gegenstände gleichberechtigt nebenein-
ander bestehen, je nach den wechselnden Gesichtspunkten, von denen
Die Klassifikation. 55
unsere genetische Konstruktion ausgeht. Oder die Klassifikation kann
ein Ausdruck der wirklichen Entwicklung sein. Nur in diesem
Falle haben wir eigentlich das Recht, von einem natürlichen
System zu sprechen, und es ist zugleich klar, daß hier gleichberechtigte
Systeme nicht nebeneinander möglich sind, oder daß, wo sie vor-
kommen, dies bloß eine noch bestehende Unsicherheit über die em-
pirischen Grundlagen eines solchen natürlichen Verwandtschafts-
systems andeutet. Der wesentliche Unterschied beider Formen gene-
tischer Klassifikation ist unschwer an Beispielen zu erkennen. Mathe-
matische Begrifisgebilde gehören regelmäßig der ersten Form an. Ob
ich die Kurven zweiten Grades durch die Bewegungen eines nach be-
stimmten Gesetzen fortschreitenden Punktes oder durch die Schatten-
projektionen eines Kreises bei wechselnder Lage desselben zur Pro-
jektionsebene oder endlich mittels der Durchschneidung eines Kegels
entstehen lasse, ist für die Sache selbst gleichgültig, und jede der auf
einer dieser fingierten Entstehungsweisen beruhenden Einteilungen ist
darum an sich gleichberechtigt. Wenn ich dagegen über den genetischen
Zusammenhang einer Reihe chemischer Verbindungen Rechenschaft
geben will, so ist nicht jede beliebige Art, wie man sich die Entstehung
einer Atomgruppierung denken kann, der anderen gleichwertig, sondern
nur die ist streng genommen berechtigt, die mit der wirklichen Ent-
stehung zusammentrifit. Die Genese ist also willkürlich, so lange es
sich um eine Konstruktion des Begriffs handelt; sie ist an die
Erfahrung gebunden, sobald nur eine Rekonstruktion in
Frage steht.
In den genetischen Systemen, namentlich der Naturgeschichte,
wurden nun diese beiden wesentlich verschiedenen Fälle nicht immer
genügend auseinandergehalten, und es ist begreiflich, daß besonders
die Beschränkung auf die Vergleichung der gewordenen Objekte
zu einer solchen Vermengung von Konstruktion und Rekonstruktion
Anlaß geben konnte. Eine mehr oder minder willkürliche Betrachtung
der Gegenstände wurde in diese selbst verlegt oder als das ideale Ge-
setz angesehen, das durch eine Art mystischer Kausalität die Wirklich-
keit bestimme. Ihren Ausdruck fand diese Betrachtungsweise in einem
Begriff, der, solange man sich seines Ursprungs aus der logischen Abstrak-
tion bewußt blieb, seine Berechtigung hatte, da sein Fehler nur in der
Hypostasierung bestand, die er erfuhr. Dies war der Begrifides Typus.
Es gehört zu den bedeutsamsten Erscheinungen in der neueren Ent-
wicklung der Wissenschaften, daß in den verschiedensten Gebieten,
Zoologie, Botanik, Kristallographie, Chemie, Sprachwissenschaft, der
56 Allgemeine Methodenlehre.
nämliche Begriff beinahe gleichzeitig auftaucht. Geht man aber auf die
empirischen Grundlagen zurück, von denen seine Abstraktion aus-
gegangen ist, so kann eine dreifache Bedeutung desselben unterschieden
werden. Erstens bezeichnet der Typus dieeinfachsteForm,
in der ein gewisses Gesetz der Struktur oder der Zusammensetzung
repräsentiert sein kann. Hier wird daher auch der Ausdruck Grund-
form insynonymer Bedeutung gebraucht. In diesem Sinne betrachtet
die Kristallographie Würfel und Oktaeder als die Grundformen des
regulären, die Doppelpyramide mit quadratischer Basis als die Grund-
form des tetragonalen Systems, oder sucht die Chemie nach der von
Dumas eingeführten typischen Anschauung auf die Typen des Chlor-
wasserstofis (HCl), Wassers (H,O), Ammoniaks (H,N) und Sumpfgases
(H,C) die zusammengesetzteren Verbindungen zurückzuführen. Zwei-
tens versteht man unter dem Typus diejenige Form, in der die
Eigenschaften einer Reihe verwandter Formen am vollkommen-
sten repräsentiert sind. Diese Bedeutung des Begrifis fand besonders
in der Naturgeschichte des Pflanzen- und Tierreichs ihre Verwertung.
So vereinigt der Typus eines Säugetiers nach Cuvier alle Merkmale
in sich, die einer größeren Zahl von Ordnungen zukommen. Zu diesem
Typus gehören also fünf Zehen an den Vorder- und Hintergliedmaßen,
ein vollständiges Gebiß aus drei Zahnformen, obgleich bei der Mehrzahl
der Säugetiere keines dieser Merkmale zutrifft. Zu dem typischen
Charakter der Rosaceen gehört es, daß sie abwechselnde, von Neben-
blättern begleitete Blätter haben, obgleich bei einzelnen, nämlich den
Amygdaleen, die Nebenblätter ganz fehlen. Drittens endlich nimmt
der Typus zuweilen noch die Bedeutung an, daß er nureineformale
Eigenschaft bezeichnet, die den Gliedern einer Gattung oder mehreren
Gattungen gemeinsam zukommt. So wenn von Endlicher die Cormo-
und Thallophyten als die Haupttypen des Pflanzenreiches angesehen
wurden, oder wenn viele Linguisten die isolierende, agglutinative
und flektierende Form als die hauptsächlichsten Sprachtypen unter-
schieden. Wie schon diese Beispiele zeigen, handelt es sich hier um um-
fassendere Eigenschaftsbegriffe, bei denen die Gefahr einer Umwand-
lung zu Objekten weniger nahe lag als in den zwei ersten Fällen, wo der
Typus zwar auch ein Abstraktionsprodukt ist, aber doch zugleich sein
reales Abbild in bestimmten Objekten der Erfahrung findet. Dennoch
ist auch hier diese Gefahr nicht ganz vermieden worden, indem man
solche Abstraktionen zwar als ideale Formen auffaßte, ihnen aber doch
zugleich eine Art unmittelbarer Realität beimaß. So wird in der so-
genannten Spiraltheorie von Schimper und Braun die Blattstellung
Die Klassifikation. 57
auf ein abstraktes geometrisches Gesetz zurückgeführt, dem sich die
Wirklichkeit natürlich immer nur mehr oder weniger annähern kann.
Dieses Gesetz wird aber nicht bloß als eine mathematische Abstraktion
betrachtet, wogegen nichts einzuwenden wäre, sondern zugleich als eine
reale Kraft, die in dem Wachstum der Pflanzen sich äußern soll*). In
ähnlichem Sinne suchte noch H. G. Bronn die Tierformen auf einfache
geometrische Formen, Kegel, Keil u. dgl., zurückzuführen, welchen
Abstraktionen er den Namen „Gestaltungsgesetze“ gab**). In der
Tat bestand die Meinung, morphologische Betrachtungen solcher Art
seien der Aufstellung kausaler Naturgesetze äquivalent. Jener von den
Begründern der natürlichen Systeme des Pflanzen- und Tierreichs
gebildete Begriff des Typus, der mit dem Begriff der repräsentativen,
die Merkmale der Familie, Ordnung oder Klasse am vollkommensten
ausprägenden Art sich deckte, stand zwar an und für sich in näherer
Beziehung zur unmittelbaren Erfahrung. Aber auch er besaß doch in-
sofern den Charakter einer bloß idealen Form, als man sich dabei der
unendlichen individuellen Variabilität innerhalb der Art bewußt war
und sich dennoch den Typus individuell dachte, als ein ideales Indi-
viduum, in welchem alle schwankenden Eigenschaften der realen
Individuen aufgehoben seien. Ebenso fand man keine Schwierigkeit,
die Möglichkeit eines Gattungstypus zuzugestehen, der in keiner einzigen
der in der Gattung enthaltenen Arten, sondern nur in ihnen allen zu-
sammengenommen vollständig realisiert sei, und dennoch diesen nirgends
existierenden Gattungstypus als eine reale Kraft zu betrachten, die in
den einzelnen Formen zur Wirkung komme. Die unbewußte Mystik
dieser Anschauung trat augenfällig in der von Decandolle zunächst
in Bezug auf die Pflanzen ausgebildeten, dann auch für das Tier-
reich adoptierten Lehre vom „Abortus“ zu Tage. Die Abweichungen
einzelner Arten von dem gemeinsamen Typus wurden hier dadurch er-
klärt, daß gewisse Teile verkümmert oder völlig verloren gegangen
seien***). Dieser Verlust wurde aber nicht als ein wirklicher, sondern als
ein idealer Vorgang gedaeht, gleichsam als ein Erlebnis in einer vor-
bildlichen Welt, nach dessen Resultaten sich erst die Dinge der Wirk-
lichkeit gestaltet hätten. Lagen solche Vorstellungen den älteren
Formen der Typenlehre mehr unbewußt zu Grunde, so hat Agassiz
*) A. Braun, Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in
der Natur. 1849. S. 124.
**) H. G. Bronn, Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze der
Naturkörper, 1858.
***) Sachs, Geschichte der Botanik, $. 142,
58 Allgemeine Methodenlehre.
das Verdienst, daß er sie mit vollem Bewußtsein zum Ausdruck brachte.
Schon Cuvier hatte den Typus als die „Idee der Gattung“ bezeichnet;
bei Agassiz wird diese Idee zum Schöpfungsgedanken, aus dessen Ver-
wirklichung die Wesen selber entspringen. Die Idee wird also objek-
tiviert und zugleich als Bestandteil einer transzendenten vorbildlichen
Welt gedacht*). Die bis dahin noch einigermaßen latent gebliebene
Übereinstimmung mit der Platonischen Ideenlehre tritt hier offen zu
Tage. Umso merkwürdiger ist aber jene Übereinstimmung, weil wir
schwerlich bei diesen Morphologen an eine absichtliche Wiedererneue-
rung Platonischer Philosophie denken dürfen.
In der organischen Naturgeschichte hat die Typentheorie durch
ihren Zusammenhang mit der Lehre von der Konstanz der
Artenihr besonderes Gepräge empfangen, und namentlich ist dadurch
ihre zuletzt erwähnte mystische Wendung begünstigt worden. Dennoch
faßt man diese Theorie einseitig auf, wenn man sie bloß von diesem
Gesichtspunkte aus betrachtet. Der Chemie und der Sprachwissen-
schaft liegen solche Nebengedanken ferne, und trotzdem hat hier
der Begrifi des Typus eine ähnliche Rolle gespielt. Die wesentliche
Bedeutung desselben liegt überall darin, daß er eine genetische Ordnung
gewisser Objekte zu vermitteln sucht, daß aber diese Ordnung nicht
auf eine Beobachtung der wirklichen Entwicklungen, sondern auf
die Vergleichung der fertigen Objekte gegründet wird. Darum eben
tritt an die Stelle der rekonstruktiven Genese, die bei Er-
fahrungsobjekten immer gefordert wird, eine konstruktive
Genese, die der Erzeugung mathematischer Objekte nachgebildet ist,
und die so auch im einzelnen in den Irrtum verfallen kann, durch eine
mathematische Abstraktion die kausale Erklärung der wirklichen
Gegenstände ersetzen zu wollen. Das Streben, eine genetische Ordnung
zu gewinnen, ist vorhanden, aber noch fehlt es an den vollständigen Vor-
bedingungen. Deshalb sind die auf der Grundlage des Typenbegrifis
entstandenen Einteilungen offenbare Übergangsformen: sie sind in
Wahrheit deskriptive Klassifikationen in einer genetischen Form.
Diese Form ist aber von außen hinzugebracht: sie stützt sich entweder,
wie in der Chemie oder Sprachwissenschaft, auf hypothetische An-
nahmen, oder, wie in der organischen Naturgeschichte, auf eine postu-
lierte „ideale Entwicklung“, d. h. auf die Umwandlung von Abstrak-
*) L. Agassiz, Essay on Classification. 1857. (Contributions to the
natural history of the Unit. States of America. Vol. I.) Vgl. hierzu Reinh.
Körner in meinen Fhilos. Stud. II, S. 19% £.
Die Klassifikation, 59
tionsgebilden in wirkliche, aber einer transzendenten Welt angehörige
Dinge. Das Merkmal einer wahren genetischen Klassifikation ist es
jedoch, daß sie auseiner genetischen Erklärung der betreffenden
Objekte hervorgeht. So setzt die genetische Einteilung der Kegel-
schnitte vollständige Definitionen ihrer Entstehung voraus. Dagegen
erklärt der chemische Typus ebensowenig die Entstehung einer Ver-
bindung, wie die Abstraktion der Spirallinie die Blattstellung oder der
Arttypus das Werden der organischen Arten begreiflich macht.
Wohl aber enthält in allen diesen Fällen die äußerlich und zum
Teil künstlich angewandte genetische Form einen Hinweis auf
die wirkliche Entwicklung der Objekte, und eben darum bahnen die auf
solche Weise entstandenen Einteilungen den wahren genetischen
Systemen den Weg. Doch wird dem genetischen Prinzip keineswegs
dadurch schon Genüge geleistet, daß man einfach jene ideale Bedeutung
des Typus, wie sie in der vorangegangenen Periode der Naturgeschichte
gültig gewesen, in eine reale umzuwandeln sucht, indem man einen
hypothetischen Stammvater postuliert, aus dessen im Verlauf der Ver-
erbung entstandenen Abänderungen allmählich die Variationen des
Typus hervorgegangen seien. Wo dieser Annahme nicht der irgendwie
durch die Beobachtung mindestens indirekt zu führende tatsächliche
Nachweis zu folgen vermag, da bleibt der Fehler bestehen, daß an die
Stelle der Rekonstruktion eine Konstruktion tritt. Der Typus behält
in Wahrheit seine ideale Bedeutung, mit dem einzigen Unterschied, daß
ihm nicht in einer vorbildlichen Welt, sondern in irgend einem un-
zugänglichen Zeitraum der wirklichen Welt objektive Realität bei-
gemessen wird. Immerhin ist auf diesem zuerst von der Darwinschen
Theorie mit Erfolg eingeschlagenen Wege der Vorteil erreicht, daß die
unhaltbare und mit der genetischen Auffassung im Widerspruch stehende
Annahme einer durch leere Zwischenräume getrennten Entwicklungs-
reihe beseitigt wird. Namentlich aber macht die Übertragung der
Idee des Typus auf ein empirisch erreichbares Gebiet eine Prüfung
möglich, durch welche die von Hypothesen überbrückten Lücken des
genetischen Systems allmählich ausgefüllt werden.
Auf diese Weise vollzieht sich in den systematischen Erfahrungs-
wissenschaften der Übergang von der deskriptiven zur genetischen
Klassifikation in der Regel durch ein Zwischenstadium, in dem an
Stelle der allein zulässigen rekonstruktiven eine konstruktive Genese
benützt wird, deren Anwendung in Wirklichkeit nur ein deskriptives
System in genetischer Form zu stande bringt. Dem gegenüber bewahrt
sich die Mathematik fortan die konstruktive Methode und mit ihr den
60 Allgemeine Methodenlehre.
Vorteil, daß sie die nämlichen Objekte nach verschiedenen Prinzipien
genetisch zu ordnen vermag. Dieser Vorzug ist aber nur die Folge
eines Übelstandes, den auf diesem Gebiete das genetische Verfahren
mit sich führt. Jede genetische Erklärung und Einteilung beleuchtet
nämlich die zu untersuchenden Objekte nur von einer Seite und läßt
zahlreiche andere, oft nicht minder wichtige Eigenschaften unbeachtet.
Dies ist der Grund, weshalb hier, ebenso wie bei der Definition, eine
auf die analytische Begriffsentwicklung gestützte Klassifikation als die
vorzüglichere anerkannt werden muß.
d. Die analytische Klassifikation.
Die analytische Klassifikation, als die vollendetste Form der
Gliederung eines Begriffs, gewährt zugleich den vollkommensten Ein-
blick in die logischen Prinzipien der Klassifikation überhaupt. Be-
zeichnen wir, zurückgehend auf die früher (S. 46) gegebene symbolische
Form der analytischen Definition, mit
M=F (a,b, c, u, v, w)
irgend einen Allgemeinbegrifi, als dessen logische Variabeln v, v und w
zu betrachten sind, so geht die Klasse M in eine unter ihr enthaltene
Gattung M , diese in eine zugehörige Art M, über, wenn wir sukzessiv
die geeigneten Variabeln durch konstante Elemente ersetzen. Wir
erhalten so die im Verhältnis sukzessiver Unterordnung stehende Reihe:
Klasse IM; ==, #.(0, b,.c, vn):
Gattung M,=F(a,b,c, a, v, w),
Art MM, — 2 (@,.b, 68, B.20),
Individuum M, = F (a, b, c, o, ß, 7),
welche Reihe selbstverständlich, je nach dem Bedürfnis der Einteilung,
auch durch eine größere Zahl von Stufen verlaufen kann, ehe der In-
dividualbegrifi erreicht wird. Immer aber ist dieser dann gegeben,
wenn die sämtlichen logischen Variabeln durch Konstanten ersetzt sind.
Jede Stufe dieser Reihe enthält nun mit Ausnahme der letzten eine
Anzahl koordinierter Glieder, die gewonnen werden, indem man die
zum Einteilungsgrund der betreffenden Stufe genommene logische
Variable allmählich alle Werte annehmen läßt, deren sie überhaupt
fähig ist. Die äußersten Grenzwerte bezeichnen dann den Umfang der
Klasse, Gattung oder Art, und die koordinierten Glieder werden er-
halten, wenn man die den Einteilungsgrund abgebende Variable suk-
zessiv zwischen engeren Grenzen veränderlich annimmt oder ihr auch
Die Klassifikation, 61
gewisse ausgezeichnete konstante Werte anweist, so aber, daß diese
Einzelwerte sämtlich zusammen wieder den Umfang der Variabeln
vollständig erschöpfen. Angenommen also, in der oben symbolisch aus-
gedrückten Gattung M, erweise sich der Einteilungsgrund u als ver-
änderlich zwischen den Grenzen a, und a,; außerdem mögen 4,, &, » - -
&..ı Grenzen bezeichnen, die sich als angemessen für die Trennung der
koordinierten Glieder aus der Konstitution des Begrifis ergeben, so wird
das ganze Verfahren der analytischen Einteilung symbolisch aus-
gedrückt werden durch die Gleichung
M I ar m TE AU ee m
er N ö as SEN ; Inte a ’ ee
ee ” 1
Hr URN. ’ )»
worin der Kürze halber die konstanten Elemente a, b, ce durch A und
die Variablen w, v, w durch U bezeichnet sind.
Das Hauptgebiet der Anwendungen der analytischen Klassi-
fikation ist das der mathematischen Analysis. Die Definition eines
Begrifis wird hier in der Form einer Gleichung gegeben, welche den
Vorteil bietet, den Begriff nicht nur zureichend abzugrenzen, sondern
auch erschöpfend zu bestimmen, so daß aus ihr alle seine Eigenschaften
entwickelt werden können. Zu diesen Eigenschaften gehört auch die
Gliederung in Unterbegriffe. Sie verwirklicht sich in einer Reihe spezieller
Gleichungen, die aus der zuvor aufgestellten allgemeinen als deren
einzelne Fälle hervorgehen. Zu ihrer Ableitung bedarf es zunächst der
Auffindung der logischen Variabeln, welche ihrer Natur nach stets
unter den algebraischen Konstanten der Gleichung zu wählen sind, da
nur diese allgemein solche Werte bezeichnen, die in dem Begriff auch
dann konstant bleiben, wenn er sich auf ein individuelles Objekt be-
zieht. Die algebraischen Variabeln dagegen haben die Eigenschaft,
noch für die Individualbegriffe variabel zu bleiben, in denen logische
Variabeln gar nicht mehr vorkommen können. Nachdem nun zum
Zweck der analytischen Klassifikation die logischen Variabeln einer
allgemeinen Gleichung bestimmt und deren einzelne Spezialwerte in
diese eingeführt sind, können sich Transformationen und Ver-
einfachungen der allgemeinen Gleichung ergeben, durch welche die
Spezialgleichungen voneinander abweichende Formen annehmen. Geben
wir z. B. der allgemeinen Gleichung eines Kegelschnitts die Form
= Bart vr,
63 Allgemeine Methodenlehre.
so lassen sich, wenn wir v als logische Variable wählen, die drei Haupt-
fälle v—=—b, v—=0 und v—= --b5 unterscheiden, entsprechend den
drei Hauptformen:
Kreis und Ellipse Parabel Hyperbel
y? = 2ax — ba? y?— 2ax y=2ax + br°.
Ein Beispiel mit z wei Einteilungsgründen sei hier nur andeutend
ausgeführt. Der analytische Begriff der homogenen ganzen
Funktion läßt sich durch das logische Symbol ausdrücken
F (p, m, n),
worin p die Zahl der Konstanten, m den Grad der Funktionsgleichung
und n die Zahl ihrer algebraischen Variabeln bezeichnen. Wählt man
nun m und n, die nur ganze Zahlen sein können, als Einteilungsgründe,
so gewinnt man für m—=1,—=2,... die Funktionen Iten, 2ten....
Grades, und innerhalb jeder dieser Klassen wieder durch Variierung
von n die Funktionen mit 1,2,3... Variabeln. Die Größen m und n
besitzen den Charakter erschöpfender Einteilungsgründe, da durch sie
auch » bestimmt wird. Denn zwischen der Zahl p der Konstanten und
jenen logischen Variabeln m und n besteht die Beziehung:
nn.“ +D).r +23)... n m —D
2 a s
Außerhalb der Mathematik kann zwar ebenfalls eine analytische
Klassifikation erstrebt werden. Sie ist aber hier infolge der mangel-
hafteren Form der analytischen Definitionen, an die sie sich in der
wissenschaftlichen Anwendung anschließt, von geringerer Sicherheit,
so daß ihr selbst auf den für sie geeigneten Begrifisgebieten nicht selten
eine genetische Gliederung vorgezogen wird. (Vgl. S. 45£.)
e. Die Zwei-, Drei- und Vierteilung.
Die Zwei-, Drei- und Vierteilung haben sich, als die einfachsten
äußeren Formen, in denen überhaupt ein Begriff eingeteilt werden
kann, stets einer besonderen Bevorzugung zu erfreuen gehabt. Sie
können in jeder der oben unterschiedenen Klassifikationsformen vor-
kommen, sind aber doch weitaus am häufigsten bei der deskriptiven
infolge der größeren Freiheit, mit der sich diese in der Wahl der Ein-
teilungsgründe bewegt.
Die Zweiteilung gründet sich auf den kontradiktorischen
Gegensatz, insofern er als das logische Prinzip betrachtet werden
kann, welches jeder Unterscheidung eines Begriffs von einem anderen
Die Klassifikation. 63
Begriff zu Grunde liegt. (Bd. I, S.129fi.) Es zerfällt aber die Zwei-
teilung wieder in zwei Formen, je nachdem der einem ersten Be-
griff A gegenübergestellte andere Begriff non-A bloß negativ bestimmt
bleibt, der ursprünglichen Bedeutung des kontradiktorischen Gegen-
satzes entsprechend, oder ebenfalls positiv als ein gewisser Begriff B
unterschieden wird, wo dann der kontradiktorische Gegensatz nur in-
sofern noch Anwendung findet, als die Vollständigkeit der Einteilung
verlangt, daß gleichzeitig B=non-A und A=non-B sei. Ein aus-
gezeichneter Fall dieser positiven Dichotomie ist es, wenn A und B
im Verhältnis des konträren Gegensatzes zueinander stehen. Hiernach
unterscheiden wir drei Formen der Zweiteilung: 1) Die Dichotomie
nach dem kontradiktorischen Gegensatze, 2) die Dichotomie
der einfachen Unterscheidung und 3) die Dichotomie
nach dem konträren Gegensatze. Unter ihnen ist die erste die un-
vollkommenste, obgleich sie sich großer Beliebtheit deshalb erfreut,
weil sie den Vorteil hat immer vollständig zu sein. Dieser Vorteil wird
aber durch den Nachteil erkauft, daß das eine Glied der Einteilung
nur negativ bestimmt ist. Denkt man sich daher eine ganze Klassi-
fikation nach diesem Prinzip durchgeführt, so gewinnt man schließlich
für die Hälfte der Glieder des Systems bloß negative Definitionen.
Auch leistet diese Form insofern der Willkür Vorschub, als es für die
logische Vollständigkeit der Gliederung ganz gleichgültig ist, welcher
Art das Merkmal A ist, nach dem man irgend ein Gebiet in A und
non-A trennt. Ein Beispiel dieser Klassifikationsform bietet Ehrenbergs
zoologisches System. Es scheidet in Wirbeltiere und Wirbellose, die
ersteren in Junge nährende und nicht nährende, die letzteren in Tiere
mit Herz und ohne Herz, die Wirbellosen mit Herz in gegliederte und
nicht gegliederte, die Tiere ohne Herz in solche mit geteiltem Darm
und nicht geteiltem Darm*). Ferner eine Klassifikation der Sprachen
von Steinthal. Sie unterscheidet Formsprachen und formlose Spra-
chen; jene zerfallen in solche mit und ohne Scheidung von Nomen und
Verbum, diese in solche mit und ohne Kategorien**). Häufiger noch
sind die Diehotomien der einfachen Unterscheidung. Sie pflegen nament-
lich Hauptgliederungen von Systemen zu bilden, weil man bei diesen
sich vorzugsweise der Einfachheit befleißigt. Hierher gehören die Ein-
teilungen der Organismen in Pflanzen und Tiere, der Pflanzen in Thallo-
phyten und Cormophyten, der Urteile in kategorische und hypo-
thetische, der Seelenvermögen in Vorstellen und Begehren, des Seienden
*) Carus, Geschichte der Zoologie, $S. 671.
**) Steinthal, Die Klassifikation der Sprachen. 1850.
64 Allgemeine Methodenlehre.
in Stoff und Form u. s. w. Ihnen nahe stehen die Dichotomien nach
dem konträren Gegensatz, wie Kälte und Wärme, Tag und Nacht,
männliches und weibliches Geschlecht. Zur Klassifikation sind diese
minder brauchbar, weil der konträre Gegensatz zuweilen Zwischen-
formen gestattet, so daß hier von vornherein die Einteilung an dem
Fehler der Unvollständigkeit leidet.
Aus diesem Grunde geht denn auch die Dreiteilung nicht
selten aus der Dichotomie des konträren Gegensatzes hervor, indem
man die zwischen den Endgliedern einer Begrifisreihe gelegenen Über-
gänge unter einem gemeinsamen Begriff zusammenfaßt. So liegt
zwischen dem Guten und Bösen das Indifferente, zwischen dem Er-
habenen und Niedrigen das einfach Schöne, oder man verlegt zwischen
den Apriorismus und Empirismus den Kritizismus, zwischen den
Materialismus und Spiritualismus einen unbestimmten Monismus. Auch
aus der Dichotomie nach einfacher Unterscheidung kann auf ähnliche
Weise eine Trichotomie werden. So hat man neben den Pflanzen und
Tieren die Protisten als Zwischenwesen unterschieden, zwischen die .
Gesetzesübertretung und das Verbrechen das Vergehen als eine weitere
Gradabstufung eingeschaltet. Hegels dialektische Methode endlich
besteht in Trichotomien, die auf Zweiteilungen nach kontradiktorischem
Gegensatze gegründet sind. Dabei kann aber selbstverständlich der
dritte Begriff nicht ein Mittelbegriff sein, sondern nur auf dem Weg
der Synthese erzeugt werden, wie z. B. bei der Vereinigung des Seins
und des Nichtseins zum Werden. Übrigens treten in der weiteren Aus-
führung nicht selten an die Stelle der kontradiktorischen auch konträre
Gegensätze und sogar einfache Unterscheidungen.
Die Vierteilung pflegt aus der Kombination von zwei Dicho-
tomien zu entstehen. So gewann die scholastische Logik eine Vier-
teilung der Urteilsformen, indem sie einerseits bejahende und ver-
neinende, anderseits allgemeine und besondere Urteile unterschied.
Ein weiteres Beispiel einer Tetratomie nach konträren Gegensätzen
bietet die Aristotelische Ableitung der vier Elemente, nach welcher
Wasser das feuchte und kalte, Erde das trockene und kalte, Luft das
feuchte und warme, Feuer das trockene und warme Element ist. So
unanfechtbar auch in logischer Beziehung derartige Einteilungen sind,
so gründen sie sich doch, wie diese Beispiele zeigen, auf oberflächliche
und ungenügende Unterscheidungen; daher die künstlichen Tricho-
tomien und Tetratomien in dem Maße verschwinden, als sich die Unter-
suchung der Begriffe vertieft und das Streben nach sachgemäßer Ord-
nung über das Wohlgefallen an äußerer Symmetrie den Sieg davonträgt.
Der Beweis. 65
3. Der Beweis.
a. Aligemeine Aufgaben des Beweisverfahrens.
Als Beweisführung oder Demonstration bezeichnen
wir die Darlegung der Gründe, durch welche die Wahrheit oder Wahr-
scheinlichkeit eines gegebenen, einen realen Erkenntnisinhalt aus-
sprechenden Urteils festgestellt wird. Die Aufgaben eines jeden Be-
weisverfahrens bestehen daher erstens in der Aufsuchung der Prä-
missen zu dem zu beweisenden Satze und zweitens in der Herstellung
einer Schlußfolge aus jenen Prämissen. Der ersten dieser Aufgaben
wird durch die HerbeischaffungdesBeweismaterials
entsprochen, der zweiten durch de Ordnung der Beweis-
gründeundden VollzugderSchlußfolgerung.
Hiernach ist der Beweis diejenige systematische Form, welche
unmittelbar den Forschungsmethoden der Induktion und De-
duktion entspricht. Er hat wie diese den Schluß zu seiner Grund-
form; er unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, daß es sich bei ihm
nicht erst um die Auffindung eines Satzes, sondern um die Nachweisung
der Richtigkeit eines bereits gefundenen handelt. Es kann sich daher
ein Beweis bald auf das engste an eine ihm zu Grunde liegende In-
duktion oder Deduktion anschließen, bald sich mehr oder weniger
weit von ihr entfernen, bald auch eine vorangegangene Induktion in
eine Deduktion, oder sogar umgekehrt diese in eine induktive Form
umwandeln. Mit Rücksicht auf seine systematische Bedeutung hat
zugleich der Beweis im allgemeinen im Vergleich mit jenen Forschungs-
methoden einen engerbegrenzten Zweck. Er bezieht sich auf
die Wahrheit eines einzelnen Urteils, während sich Induktion
und Deduktion über eine große Zahl von Urteilen erstrecken können,
die aus gewissen miteinander im Zusammenhang stehenden Prämissen
abgeleitet werden.
Jede Beweisführung stützt sich schließlich auf irgendwelche Tat-
sachen der Erfahrung. Diese Tatsachen können entweder durch die
Abstraktion zu Sätzen verarbeitet sein, die sich auf die allgemeinen
Formen der Anschauung beziehen und, weil sie sich fortwährend in
der Anschauung bestätigt finden, den Charakter unmittelbarer an-
schaulicher Gewißheit besitzen; oder sie können den konkreten Inhalt
der Erfahrung zu ihrem Gegenstande haben. Demnach können wir
überhaupt die tatsächlichen Grundlagen des Beweises in Tatsachen der
reinen Anschauung und in empirische Tatsachen scheiden. Auf jenen
beruht das Beweissystem der Mathematik, auf diesen das Beweisver-
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 5
66 Allgemeine Methodenlehre.
fahren in den empirischen Wissenschaften und im praktischen Leben.
Die beiden letzteren trennen sich aber wieder dadurch voneinander,
daß die Erfahrungswissenschaft die einzelnen Erfahrungen, ehe sie
dieselben zur Demonstration verwertet, durch Abstraktion und Induk-
tion zuallgemeingültigen Erfahrungssätzen zu er-
heben sucht, während das praktische Beweisverfahren, wie es z. B. zum
Behuf der Rechtsprechung geübt wird, unmittelbar die einzelnen
Tatsachen selbst als Prämissen benützt. Im letzteren Fall
hat der Beweis stets die Form eines Induktionsbeweises,
und es fehlt ihm, dem logischen Charakter der Induktionsschlüsse
entsprechend, im allgemeinen die unbedingt zwingende Kraft, so daß
dem Endurteil immer nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlich-
keit zugestanden werden kann, die aber freilich unter Umständen für
die Zwecke des praktischen Lebens der Gewißheit gleichzuachten ist.
Übrigens pflegen in derartigen Fällen auch solche Formen der Be-
gründung eines Urteils als Beweise bezeichnet zu werden, die diesen
Namen streng genommen nicht verdienen. So ist in dem richterlichen
Verfahren zwar der Indizienbeweis ein echter Induktions-
beweis, dagegen kann der sogenannte Zeugenbeweis, sofern es
sich bei ihm um die unmittelbare Bezeugung der in Frage stehenden
Tatsachen handelt, nicht zu den logischen Beweisverfahren gerechnet
werden, da das Urteil nicht aus anderen Beobachtungen erschlossen
wird, sondern ein Ausdruck der Beobachtung selbst ist.
In den theoretischen Erfahrungswissenschaften gehen außer den
Tatsachen der Erfahrung und den durch Abstraktion und Induktion
aus ihnen gewonnenen Sätzen nicht selten noch hypothetische
Voraussetzungen in die Prämissen der Beweise ein. Dies er-
eignet sich in der Physik z. B. bei jenen Beweisführungen, die auf be-
stimmte Anschauungen über die Konstitution der Materie oder auf die
Annahme gewisser elementarer Gesetzg derselben gegründet sind. Von
hier aus hat die Aufstellung hypothetischer, absichtlich den Tatsachen
der Anschauung irgendwie widerstreitender Definitionen auch in die
Mathematik Aufnahme gefunden. Selbstverständlich haben dann aber
die Beweisresultate ebenfalls so lange nur einen hypothetischen Wert,
als sich nicht etwa aus den Folgerungen die Zulässigkeit der Hypothesen
ergibt.
Die Prämissen des Beweisverfahrens in den theoretischen
Wissenschaften, deDefinitionen,AxıomeundTheoreme,
sind bei der Deduktion bereits besprochen worden (S. 33 ff.). Sie werden
bei der Verbindung der Beweise zu einem deduktiven System in der
Der Beweis, 67
durch ihre logische Abhängigkeit bestimmten Ordnung aneinander
gereiht. Namentlich in der Mathematik ist diese Ordnung strenge aus-
gebildet. Fundamentale Lehrsätze sind hier solche, die
direkt aus evidenten Axiomen bewiesen werden. Abgeleitete
Lehrsätze bedürfen anderer bereits erwiesener Theoreme zu ihrer
Begründung. Ein Korollarsatz endlich ist ein solcher, der aus
einem bestimmten schon bewiesenen Lehrsatze durch bloße Trans-
formation desselben gewonnen werden kann. So gehören in dem Beweis-
system Euklids die Sätze über die Kongruenz der Dreiecke zu den
Fundamentalsätzen; dagegen sind die Sätze über den Flächeninhalt
der Parallelogramme und die Gleichheit der gegenüberliegenden Winkel
in ihnen abgeleitete Lehrsätze. Endlich der Satz, daß Parallelen zwischen
Parallelen gleich lang sind, ist ein Korollar zu dem Lehrsatze, daß in
jedem Parallelogramm die gegenüberliegenden Seiten von gleicher Größe
sind. In den theoretischen Erfahrungswissenschaften behält das Beweis-
verfahren im allgemeinen diesen Charakter. Es gestaltet sich aber
mannigfaltiger infolge des verschiedenartigeren Ursprungs seiner Prä-
missen. Einerseits können, namentlich in der theoretischen Physik,
rein mathematische Axiome und Theoreme herbeigezogen werden, da
ja die allgemeinen Gesetze der Anschauung auch für jede einzelne Er-
fahrung gültig sind ; anderseits treten dazu, dem spezifischen Erfahrungs-
inhalte entsprechend, Verallgemeinerungen aus der Erfahrung und
hypothetische Voraussetzungen, die beide völlig gleichwertig den
Axiomen und Definitionen im mathematischen Beweisverfahren be-
handelt werden. Weil übrigens die an die Stelle der Axiome getretenen
allgemeinen Erfahrungssätze häufig nicht ohne weiteres durch einen
bloßen Hinweis auf die Wahrnehmung als gewiß gelten können, so tritt
zugleich der Induktionsbeweis als ein wichtiges Ergänzungsglied ein.
Je mehr in einer Disziplin die konkrete Erfahrung über die allgemeinen
Voraussetzungen und infolgedessen die empirische über die mathe-
matische oder spekulative Betrachtung überwiegt, einen umso breiteren
Raum nimmt der Induktionsbeweis ein, bis dieser endlich in allen den
Fällen der konkreten wissenschaftlichen Untersuchung oder des prak-
tischen Lebens, wo es sich nicht um die Gewinnung allgemeiner Sätze,
sondern um den Nachweis von Tatsachen handelt, die nicht direkt be-
obachtet, sondern bloß erschlossen worden sind, als der allein mögliche
zurückbleibt.
Obgleich der Beweis die Induktion und Deduktion zu seinen
Zwecken verwertet und außer ihnen keine anderen Hilfsmittel zur
Verfügung hat, so unterscheidet er sich doch von diesen Unter-
68 Allgemeine Methodenlehre.
suchungsmethoden, wie schon oben bemerkt, durch den Umstand, daß
der zu beweisende Satz oder die zu beweisende Tatsache bereits vor
dem Antritt des Beweises gegeben ist. Nicht selten befolgt darum
auch noch heute diejenige Wissenschaft, in der die Kunst des Beweises
zur höchsten Ausbildung gelangt ist, die Mathematik, die Euklidische
Regel, den zu demonstrierenden Lehrsatz dem Beweise voranzustellen,
damit der Zweck des letzteren von Anfang an im Auge behalten werde.
Die Art und der Grad der Erkenntnis eines Demonstrandum können
übrigens wieder auf das mannigfachste variieren, von der bloßen Ver-
mutung an bis zur sicheren, durch unmittelbare Erfahrung oder die
vorangegangene Untersuchung festgestellten Überzeugung. Darum
kann nun auch der Zweck des Beweises entweder darin bestehen, eine
noch unsichere Annahme zur Gewißheit zu erheben, manchmal auch
einem erst in beschränkterem Umfange nachgewiesenen Satz die All-
gemeingültigkeit zu sichern, oder er kann sich darauf beschränken,
die Resultate einer zuvor abgeschlossenen Untersuchung in die Beweis-
form zu ordnen, und im zweiten Fall wird sich dann selbstverständlich
der Beweis mehr oder weniger innig an die Untersuchung anschließen.
Selten aber wird er sich auf eine bloße Reproduktion der Untersuchung
beschränken dürfen. Denn für allgemeine Wahrheiten wie für einzelne
nicht direkt beobachtete Tatsachen pflegen sich nur durch einen beson-
ders günstigen Zufall die Beweisgründe schon der Untersuchung in der
zweckmäßigsten Reihenfolge und Verbindung darzubieten. Erst die
Ordnung des Beweismaterials hat ihnen diese für die Schlußfolge an-
gemessenste Verbindung zu geben. Ein augenfälliges Zeugnis für diese
selbständige Aufgabe des Beweisverfahrens liegt darin, daß es Beweis-
formen gibt, denen keine bestimmten Untersuchungsmethoden ent-
sprechen, ebenso wie sich anderseits nicht alle Bestandteile einer Unter-
suchung in die Beweisform umprägen lassen. Die Mathematik kennt
zahlreiche Sätze von axiomatischem Charakter, die ohne eine eigent-
liche Untersuchung feststehen, weil sie unmittelbar in der Anschauung
gegeben sind. Gleichwohl kann man in solchen Fällen den Versuch
machen, durch einen Beweis den notwendigen logischen Zusammen-
hang derartiger Sätze mit den allgemeinen Gesetzen unserer Anschauung
darzutun. Die Beweise pflegen dann die apagogische Form anzunehmen,
eine Form, der keine spezifische Untersuchungsmethode korrespondiert.
Auf der anderen Seite bleiben alle wissenschaftlichen Aufgaben, die ent-
weder der Gewinnung zu beweisender Lehrsätze vorangehen oder sich
an bewiesene Sätze als deren Anwendungen anschließen, der eigent-
lichen Untersuchung vorbehalten. Indem solche Aufgaben die An-
Der Beweis. 69
wendung konstruktiver und experimenteller Verfahrungsweisen not-
wendig machen, setzen sie ein Maß erfinderischer Tätigkeit voraus,
welches über die bloße Herbeischaffung von Beweismaterial hinausgeht,
da es dieses vielmehr erst hervorbringt. Charakteristisch ist darum
die Stellung, die schon in Euklids Beweissystem das Problem gegen-
über dm Theorem einnimmt. Teils gehen hier Probleme und ihre
Lösungen den Lehrsätzen eines bestimmten Gebietes voran, teils
folgen sie ihnen nach. In den Aufgaben der ersten Art sind die Resultate
der Untersuchungen fixiert, welche die Gewinnung der zu beweisenden
Theoreme vorbereiten; die Aufgaben der zweiten Art zeigen die An-
wendungen, welche die Lehrsätze auf die einzelne Untersuchung zu-
lassen. Nun kann zwar, wie es bei Euklid in der Tat geschieht, der Nach-
weis, daß die in der Aufgabe liegende Konstruktion richtig ausgeführt
wurde, wieder durch eine Demonstration geführt werden. Doch die
Lösung des Problems muß vor dieser Demonstration geschehen, und
sie ist der eigentliche Gegenstand der Untersuchung. Sie aber liefert
für die Beweise der nachfolgenden Lehrsätze das Material, weil bei
ihnen die zur Lösung der Aufgaben angewandten Konstruktionsmethoden
wieder zur Anwendung kommen.
Aus diesem Verhältnis zur vorangegangenen Untersuchung er-
geben sich zugleich die Gesichtspunkte für die Unterscheidung der
Beweisformen. Ist nämlich durch die Untersuchung ein Beweis-
material geschaffen worden, aus welchem der zu beweisende Satz
unmittelbar abgeleitet werden kann, so wird das direkte Beweis-.
verfahren gewählt, das in der einfachen Anwendung der Schluß-
normen auf die durch die Untersuchung gewonnenen Erkenntnis-
gründe besteht. Vermag dagegen die Untersuchung ein solches Be-
weismaterial nicht zu schaffen, sondern nur die Überzeugung zu
erwecken, daß andere Sätze, die an Stelle des zu beweisenden postuliert
werden könnten, aus bestimmten Gründen nicht zulässig sind, so wird
einindirektes Beweisverfahren erforderlich, dessen bin-
dende Kraft lediglich auf der Beseitigung der etwa möglichen anderen
Annahmen beruht.
b. Die direkten Beweisformen.
Da sich das direkte Beweisverfahren unmittelbar an eine voran-
gegangene Untersuchung anschließt, deren Resultate es als Beweis-
gründe verwertet, so richten sich nach den Hauptformen der Unter-
suchung auch die Hauptformen des direkten Beweises. Dieser wird
70 Allgemeine Methodenlehre,
entweder deduktiv oder induktiv geführt, wobei hier die
deduktive Beweisform als die strengere und deshalb in der Regel be-
vorzugte voranzustellen ist. Sie zerfällt in mehrere Unterformen, die
charakteristische logische Unterschiede darbieten.
Unter ihnen schließt sich drsynthetischeDeduktions-
beweis am nächsten an die Form des Subsumtionsschlusses an. Er
ist es daher, der sich überall da, wo aus gegebenen allgemeinen Sätzen
ein einzelnes Urteil oder ein allgemeiner Satz von beschränkterer Be-
deutung als spezielle Folge abgeleitet werden soll, als die geeignetste
Form darbietet. Der überwiegende Wert, den die antike Logik auf den
Subsumtionsschluß legte, hat dieser Beweisform lange Zeit ein Über-
gewicht über alle anderen gesichert. Das Euklidische Beweissystem
stützt sich darum vorzugsweise auf sie. Ihre Anwendung führt hier zu
jener regelmäßigen Anordnung der einzelnen Sätze, wie sie sich zu er-
kennen gibt in der vorläufigen Aufzählung der Definitionen und Axiome,
in der Voranstellung der fundamentalen vor den abgeleiteten Lehr-
sätzen, der Konstruktionsaufgaben vor den sie verwertenden Theo-
remen. In der strengen logischen Ordnung der Beweisgründe und der
abgeleiteten Sätze besteht der Vorzug dieses Verfahrens, sein Nach-
tell in dem Umstande, daß namentlich in verwickelteren Fällen der
Zusammenhang eines Theorems mit seinen Beweisgründen zwar nach
der Führung des Beweises vollkommen deutlich ist, daß aber der Weg,
auf dem man zur Auffindung der Beweisgründe gelangte, durchaus
dunkel bleibt, so daß diese Auffindung wie eine zufällige Entdeckung
erscheinen kann. Wenn z. B. Euklid durch die Ziehung von Hilfs-
linien den Pythagoreischen Lehrsatz auf den einfacheren Satz zurück-
führt, daß ein Parallelogramm, das mit einem Dreieck die nämliche
Grundlinie hat und zwischen denselben Parallellinien liegt, den
doppelten Flächeninhalt besitzt, so wird dadurch der zu beweisende
Satz vollkommen evident; es ist aber nicht im geringsten deutlich,
warum man zu den schließlich durch den Erfolg gerechtfertigten Hilfs-
konstruktionen gelangen mußte. Darum kontrastiert bei diesem Be-
weisverfahren mit der strengen logischen Anwendung der Beweis-
‚gründe die scheinbare Zufälligkeit ihrer Gewinnung.
Ohne Zweifel liegt in diesem Nachteil der Grund, weshalb schon
die Alten für gewisse Fälle an die Stelle des synthetischen ein ana-
lytisches Beweisverfahren treten ließen, und dieses hat
sich, ursprünglich nur ausnahmsweise zugelassen, allmählich auf den
meisten Gebieten den Vorrang vor dem synthetischen zu erringen
vermocht. Das überall zutreffende Kennzeichen des analytischen Be-
Der Beweis, ‚ 71
weises besteht aber darin, daß derselbe den zu beweisenden Satz als
feststehend annimmt, um aus ihm Folgerungen zu ziehen, durch deren
Richtigkeit dann nachträglich seine Wahrheit verbürgt wird. Dieses
Verfahren kann nun wieder in zwei verschiedenen Formen zur An-
wendung kommen, die sich durch die Beschaffenheit der analytisch
gewonnenen Folgerungen wesentlich unterscheiden. In dem einen
Falle nämlich sind diese Folgerungen allgemeinere Sätze, entweder
fundamentalere Theoreme oder Grundsätze, in dem anderen sind sie
speziellere Sätze oder einzelne Tatsachen der Erfahrung. Wir wollen
die erste als die kategorische, die zweite als die hypo-
thetische Form des analytischen Beweises bezeichnen, mit Rück-
sicht darauf, daß nur bei der ersten der Schlußfolgerung eine bindende
Notwendigkeit zukommt, während dieselbe bei der zweiten bloß als
eine mehr oder minder hypothetische betrachtet werden kann.
Die alten Mathematiker haben unter diesen analytischen Beweis-
methoden allein die kategorische gekannt. So beweist Euklid
folgenden Satz sowohl auf analytischem wie auf synthetischem Wege:
„Wenn eine Linie AB nach dem goldenen Schnitt geteilt ist
(AB: AC = AC:CDB), und wenn der größere Teil AC um eine Strecke
AD=—- AC verlängert wird, so ist die zusammengesetzte Linie BD eben-
falls nach dem goldenen Schnitt geteilt (BD:BA=BA:AD).“
Der analytische Beweis nimmt die letztere Proposition als zugestanden
an. Es ist dann, dd AD= ACiıst, auch BD:BA=BA:4C. Wenn
aber die größeren Stücke zweier Linien den ganzen proportioniert
sind, so müssen es auch die kleineren Stücke sein, also BD:AD
—=BA:BC; und da ferner, wenn verbundene Größen proportional
sind, auch die getrennten proportional sein müssen und umgekehrt,
so folgt weiter BA:AD=A(C:BC, und daraus, dd AD=A(,
BA:AC= AC: BC, was vorausgesetzt war. Der synthetische Beweis
dagegen geht von dieser Voraussetzung aus, folgert zunächst BA: AD
— 4C: BC, hieraus, unter Zuhilfenahme des oben angeführten Satzes
von der Proportionalität verbundener und getrennter Größen, BD: AD
— BA: BC, hieraus ferner mittels des Satzes von der Proportionalität
der kleineren und größeren Stücke zu den ganzen Linien, BD: BA
—BA:A4(C, und daraus endlich BD:BA=BA:AD, was zu beweisen
war*). Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß hier der analytische die reine
Umkehrung des synthetischen Beweisganges ist. Die nämlichen Sätze
wie bei diesem kommen auch bei jenem zur Anwendung, nur in um-
*), Euklids Elemente XIII, 5.
72 Allgemeine Methodenlehre.
gekehrter Reihenfolge. Demgemäß ist auch der Schluß in beiden Fällen
in gleicher Weise bindend. Indem der analytische Beweis zeigt, daß
der angenommene Satz auf gewisse andere bereits feststehende Sätze
als seine Erkenntnisgründe zurückführt, kommt für ihn ebenso wie für
den synthetischen das allgemeingültige logische Gesetz zur Anwendung:
„Mit dem Grund ist die Folge gegeben.“ (Bd. I, S. 336 £.)
Dies verhält sich anders bei der hypothetischen Form des
analytischen Beweises. Hier wird der zu erweisende Satz zunächst
hypothetisch angenommen, um aus ihm nicht die ihn bedingenden
Erkenntnisgründe, sondern die einzelnen Folgen abzuleiten, die unter
Voraussetzung seiner Gültigkeit eintreten müssen. Die Bestätigung
dieser Folgen durch die Erfahrung oder auf dem Wege eines ander-
weitigen Beweisverfahrens liefert dann die Bestätigung der Hypothese.
Hier ist nicht der Satz maßgebend: „mit dem Grund ist die Folge
gegeben“, sondern dessen Ergänzung: „mit der Folge ist der Grund
aufgehoben“. Nach diesem Satze kann aber, wie schon bei Erörte-
rung des allgemeinen logischen Verhältnisses von Grund und Folge
erwähnt wurde, aus dem Eintreffen gewisser Folgen zu einem hypo-
thetisch vorausgesetzten Grunde immer nur geschlossen werden, daß
die betreffenden Folgen aus diesem Grunde erklärt werden können,
nicht aber, daß sie notwendig aus demselben erklärt werden müssen.
(Bd. I, 229 £., 561f£.) Es kann daher die Wahrscheinlichkeit eines auf
solchem Wege erwiesenen Satzes nur dadurch allmählich der Gewiß-
heit genähert werden, daß man erstens möglichst viele tatsächlich zu
bestätigende Folgen abzuleiten sucht, die auf einen und denselben
Grund hinweisen, und daß man zweitens zeigt, daß andere Gründe,
die denkbarerweise die nämlichen Folgen hervorbringen könnten, nicht
statthaft sind. Der erste dieser Wege ist im allgemeinen in den em-
pirischen Wissenschaften, der zweite in den mathematischen Disziplinen
der gebotene. In allen diesen Beziehungen steht aber der hypothetische
Deduktionsbeweis mit dem nachher zu besprechenden Induktions-
beweis auf gleichem Boden. In der Tat pflegt er auch am häufigsten
durch die einfache Umkehrung des letzteren zu entstehen.
Es ist ganz besonders das Gebiet der physikalischen Erfahrung,
das zur Änwendung des hypothetischen Beweisverfahrens Veran-
lassung bietet. Nachdem durch Induktion ein bestimmtes Gesetz
gefunden ist, wird der Beweis für dasselbe analytisch geführt, indem
man es als gültig voraussetzt und zeigt, daß die aus ihm abgeleiteten
Folgerungen mit der Erfahrung übereinstimmen. Nicht selten aber
zeigt bereits die Untersuchung dem Beweis diesen analytisch-hypo-
Der Beweis. 73
thetischen Weg, indem sie von irgend einer vermuteten gesetzmäßigen
Beziehung ausgeht, welche durch bestimmte Beobachtungen oder
experimentelle Erfahrungen bestätigt werden. Gerade in solchen
Fällen pflegen wir darum auf die Untersuchung selbst schon den Namen
eines Beweisverfahrens anzuwenden. So bewies Newton, daß die Er-
scheinungen der Ebbe und Flut von der Schweranziehung des Mondes
und der Sonne bedingt sind, indem er zeigte, daß die Beobachtungen
dieser Erscheinungen mit der gemachten Voraussetzung übereinstimmen.
So bewies Cavendish, daß schwere Körper einander anziehen, indem
er die Ablenkung kleiner, an einer Drehwage befestigter Bleikugeln
durch eine in die Nähe gebrachte größere Bleimasse feststellte. In
allen diesen Fällen, wo der Gang des Beweises mit dem der Unter-
suchung zusammenfällt, handelt es sich um Beispiele des analytisch-
hypothetischen Beweisganges.
Im Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendungen hat die
analytische Beweismethode in ihren beiden Formen ein mächtiges
Hilfsmittel an der algebraischen Symbolik gefunden. Dem analytischen
Verfahren kommt diese Symbolik deshalb mehr als dem synthetischen
zu statten, weil sie es möglich macht, nicht nur irgend ein Gesetz, das
entweder hypothetisch angenommen wird oder aus anderweitigen Be-
trachtungen gewonnen ist, symbolisch auszudrücken, sondern auch
durch bestimmte allgemein zulässige Operationen aus demselben andere
Sätze abzuleiten, die nun entweder allgemeine Erkenntnisgründe oder
spezielle Folgerungen zu dem zuerst aufgestellten Gesetze sein können.
Aus der Fülle der Beispiele, welche die reine Mathematik und mathe-
matische Physik hier darbieten, mag ein dem letzteren Gebiet an-
gehöriges genügen, welches sich der zuletzt erörterten Form der hypo-
thetischen Beweisführung anschließt. Die mechanische Wärmetheorie
nimmt an, daß in den gasförmigen Körpern die Moleküle in fort-
währenden geradlinigen Bewegungen begriffen seien, und daß jedes
Molekül seine Bewegung in gleicher Richtung so lange fortsetze, bis
ein Stoß gegen die Gefäßwand oder gegen ein anderes Molekül die
Richtung der Bewegung ändere. Diese Annahme wird bewiesen, indem
man die aus ihr sich ergebenden Folgerungen ableitet. Zu diesem Zweck
muß zunächst der vorausgesetzte Bewegungszustand präziser formuliert
werden. Man denkt sich demgemäß ein Gas, von dessen Teilchen jedes
eine Masse m und eine mittlere Geschwindigkeit u besitzt, in ein würfel-
förmiges Gefäß von der Seitenlänge a eingeschlossen. Man denkt sich
ferner die Bewegungsrichtungen der Moleküle nach drei zueinander
rechtwinkligen Komponenten zerlegt und gestattet sich die verein-
74 Allgemeine Methodenlehre,
fachende Hypothese, daß die Bewegungen gleichförmig nach diesen
Richtungen verteilt seien, daß also, wenn n die Gesamtzahl der Moleküle,
n
=2
jedes Teilchen
je — sich parallel der x-, y- und z-Achse bewegen. Offenbar muß dann
u
2%
stoßen, und bei jedem Stoß wird die Masse m eine Geschwindigkeit «
verlieren und wiedergewinnen, so daß die der Masse m durch die Wand
erteilte Geschwindigkeit dem Betrag 2u gleichkommt. Da aber dies
mu?
mal in der Sekunde gegen eine Wand des Würfels
—_ mal in der Zeiteinheit geschieht, so ist die Kraft, mit welcher
2a a
die Gefäßwand auf das stoßende Molekül reagiert. Demnach kommt
2
auf jede einzelne Würfelfläche ein Druck von der Größe = ß = i
welche Größe durch a? dividiert den auf der Flächeneinheit ruhenden
Gasdruck
n mu? 3 nmu?
ae eye:
ergibt, worin beiderseits mit 2 dividiert und a? —v gesetzt ist, indem
unter vo der Voluminhalt des Würfels verstanden wird. Will man nun
dieses Gesetz, welches die lebendige Kraft der fortschreitenden Be-
nmu?
wegung aller in einem geschlossenen Raum enthaltenen Gas-
moleküle ausdrückt, mit der Erfahrung vergleichen, so bieten sich
hierzu die von Boyle und von Gay-Lussac gefundenen empirischen
Gesetze dar. Nach dem ersteren verhält sich bei gleichbleibender Tem-
peratur das Volum eines Gases umgekehrt wie der Druck, unter dem
es steht, nach dem zweiten wächst der Druck bei gleichbleibendem Volum
proportional der absoluten Temperatur*). Beide Gesetze lassen sich
daher zusammen durch die Gleichung ausdrücken
pvy=T. Konst,
wenn man mit T die absolute Temperatur bezeichnet. Hieraus folgt
durch Vergleichung mit der vorhin theoretisch abgeleiteten Gleichung:
*) Nach Gay-Lussacs Versuchen wächst nämlich der Druck eines
Gases bei dessen Erwärmung für jeden Grad der 100-teiligen Thermometer-
1
skala um 373 des Wertes, den er bei 0° beträgt. Ebenso sinkt er selbst-
1
verständlich bei der Abkühlung für jeden Grad um 913" Bei — 273° C, würde
demnach der Druck gleich Null geworden sein; die Entfernung von diesem
Nullpunkte gilt daher als die absolute Temperatur.
Der Beweis. 75
nmu?
2 == 17, Konst:
D. h. die Summe der lebendigen Kräfte der Gasmoleküle ist propor-
tional der absoluten Temperatur, eine Folgerung, die durchaus mit der
über den Bewegungszustand der Gasmoleküle gemachten Voraussetzung
im Einklang steht. Denn da ein Gas, das auf den Nullpunkt der ab-
soluten Temperatur abgekühlt werden könnte, keinen Druck auf die
umschließenden Wände mehr ausübte, so würde bei dem nämlichen
Punkte auch die lebendige Kraft der Gasmoleküle null sein, und die-
selbe wird darum von hier an proportional der Größe der absoluten
Temperatur zunehmen*).
Im Unterschiede von den bisher besprochenen deduktiven Beweis-
formen sucht nun der Induktionsbeweis die Wahrheit eines Satzes
durch den Hinweis auf die einzelnen Tatsachen darzutun, die ihn als
ihren Erkenntnisgrund fordern. Hierbei kann das Urteil, dessen Wahr-
heit bewiesen werden soll, entweder die Bedeutung eines allgemeinen
Theorems besitzen, oder es kann selbst nur eine einzelne Tatsache ent-
halten. Beide Fälle können als der theoretische und als der
praktischelnduktionsbeweis unterschieden werden.
Der erstere findet überall da seine Anwendung, wo ein Lehr-
satz, der zur Ableitung einer Reihe einzelner Tatsachen dient, selbst
nicht direkt aus anderen Lehrsätzen oder aus axiomatischen Wahr-
heiten abgeleitet werden kann. Schon die Mathematik bedient sich
daher des Induktionsbeweises vorzugsweise, um die Wahrheit der
Axiome selbst oder solcher Sätze, die ihnen sehr nahe stehen, dar-
zutun. Der Satz z. B., daß die Multiplikation zweier Zahlen a und 5
dasselbe Produkt ergibt, in welcher Richtung man sie auch vornimmt,
daß also a.b=b.a ist, kann nur bewiesen werden, indem man seine
Richtigkeit an einzelnen Zahlenbeispielen nachweist. Von hier aus
kann der nämliche Satz dann auf eine beliebige Menge von Zahlen aus-
gedehnt werden, indem man an mehreren herausgegriffenen Beispielen
zeigt, daß er für die Produkte von je zwei, drei oder mehr Zahlen gültig
ist**). Wie hier, so beruht überhaupt in solchen Fällen, in denen sich
der Induktionsbeweis nicht bloß auf die Anschauung beruft, sondern
*) Die genauere mathematische Ausführung des obigen Beweises vgl. bei
Clausius, Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie, Bd. II, 1867.
S. 247 ft. A
*) Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie, 2. Aufl, 8. 2 f.
76 Allgemeine Methodenlehre.
auf Axiome oder bereits bewiesene Sätze zurückgeht, die Führung
desselben auf der Hervorhebung eines oder mehrerer charakteristischer
Beispiele, an denen die Triftigkeit des zu beweisenden Satzes nach-
gewiesen wird. Es kann dann unter Umständen das Induktionsver-
fahren nur in der Sammlung dieser Beispiele bestehen, während bei
jedem der letzteren ein deduktiver Beweis zur Anwendung kommt.
So beweist Euklid den Satz, daß der Mittelpunktswinkel im Kreis
doppelt so groß ist als der zugehörige Peripheriewinkel, indem er zwei
extreme Fälle herausnimmt und nachweist, daß er für diese richtig ist*).
Weit ausgedehnter noch ist die Anwendung des Induktionsbeweises
auf empirischem Gebiet, entsprechend der starken Beteiligung des
Induktionsverfahrens an den Untersuchungsmethoden der Erfahrungs-
wissenschaften. So kann das Gesetz, daß sich die Winkelgeschwindig-
keit, mit der sich die Erde in jedem Teil ihrer Bahn um die Sonne
bewegt, umgekehrt verhält wie das Quadrat der Entfernung beider
Weltkörper, induktiv bewiesen werden aus parallelgehenden Ver-
gleichungen einerseits der Entfernungen und anderseits der täglichen
Winkelgeschwindigkeiten zu verschiedenen Jahreszeiten. Die Ent-
fernungen am 1. Januar und 1. Juli verhalten sich z. B. wie 18910 zu
19556, die täglichen Winkelgeschwindigkeiten an den nämlichen Tagen
wie 1,0695 zu 1. Dies ist aber das umgekehrte Verhältnis der Quadrate
der erstgenannten Zahlen. Den Satz, daß der Kohlenstoff ein vier-
wertiges Element sei, sucht man zu beweisen, indem man an einer
Anzahl einzelner Kohlenstofiverbindungen zeigt, daß seine Affinität
dann durch freie Affinitäten anderer Elemente oder ungesättigter Ver-
bindungen gesättigt wird, wenn sie den freien Affinitäten von vier
Atomen Wasserstoff, des zum gemeinsamen Maß der Affinitätsgröße
genommenen Elementes, äquivalent ist. Auch in diesen Fällen wird
der Induktionsbeweis durch Beispiele geführt. In der Zahl der heraus-
gegriffenen Beispiele kann man sich aber umsomehr beschränken, von
je strengerer Gesetzmäßigkeit die Erscheinungen sind, auf die sich
jene beziehen. So genügen nötigenfalls zwei korrespondierende Ent-
fernungen und Geschwindigkeiten, um das Newtonsche Gesetz zu be-
weisen, während für die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs eine sehr
große Zahl von Beispielen angeführt werden muß, wenn sie auch nur
annähernd als festgestellt gelten soll.
Häufiger als der reine Induktionsbeweis kommt auf einer etwas
fortgeschrittenen Stufe der Naturerklärung ein gemischtes Ver-
*, Euklid IH, 20.
x Der Beweis. 77
fahren zur Anwendung, indem entweder in den Gang des Induktions-
beweises einzelne deduktive Beweismomente eingreifen oder sich an
ihn anschließen. Zahlreiche Beispiele dieser Art enthält das Funda-
mentalwerk der neueren Physik, Newtons Prinzipien der Naturphilo-
sophie, welches, so strenge es in den geometrischen und abstrakt
mechanischen Abschnitten die deduktive, und zwar vorzugsweise die
synthetische Beweismethode einhält, dennoch in den eigentlich phy-
sikalischen Teilen durchweg ein gemischtes Verfahren wählt. So beweist
Newton den Satz, daß die Kräfte, durch welche die Planeten in ıhren
Bahnen erhalten werden, nach der Sonne gerichtet und den Quadraten
ihrer Abstände von ihr umgekehrt proportional sind, einerseits aus
dem ersten und dritten der Keplerschen Gesetze, und anderseits aus
den allgemeinen mechanischen Sätzen über die Zentripetalkräfte*).
Nun sind aber die Keplerschen Gesetze Induktionen, während die
Gesetze der Zentripetalkräfte in streng synthetischer Form aus der
Definition derselben und den allgemeinen Grundsätzen der Mechanik
abgeleitet sind; das ganze Beweisverfahren ist also ein gemischtes.
Ebenso beweist Newton den Satz, daß der Mond durch die irdische
Schwere von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in seiner Bahn
erhalten wird, einerseits aus den empirischen Ermittlungen über die
Entfernung des Mondes von der Erde und über die siderische Umlaufs-
zeit desselben, sowie aus der bekannten Fallgeschwindigkeit der irdischen
Körper, anderseits aber aus der Voraussetzung der Gültigkeit des all-
gemeinen Satzes, daß die Intensität der Schwere mit dem Quadrat
der Entfernungen abnimmt**). Der ganze Beweisgang besitzt in diesen
Fällen den Charakter einer synthetischen Deduktion. In dieser werden
aber einzelne Induktionen teils zur Feststellung des numerischen
Wertes der in die Voraussetzungen eingehenden Größen, teils zur Be-
stätigung der Schlußfolgerungen verwendet.
Derpraktischelnduktionsbeweis, welcher nicht der
Feststellung allgemeiner Gesetze, sondern der Ableitung einzelner Tat-
sachen aus anderen Tatsachen dient, kann ebenfalls auf theoretischem
Gebiete vorkommen. Es findet dies jedesmal im Verlauf einer kon-
kreten Untersuchung statt, sobald es sich darum handelt, die Wahrheit
eines einzelnen Resultates der Beobachtung oder des Versuchs sicher-
zustellen. Auf diese Weise bilden praktische Induktionsbeweise überall
*) Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie, Buch III, Abschn. I,
Lehrsatz 2.
**) Ebend. Lehrsatz 4.
78 Allgemeine Methodenlehre,
die Hilfsmittel der theoretischen Induktion. Wenn z. B. der
Akustiker auf objektivem Wege zeigen will, daß eine gegebene
Stimmgabel die bestimmte der geforderten Tonhöhe entsprechende
Schwingungsdauer besitze, so läßt er sie etwa ihre Schwingungen
auf eine mit bekannter und gleichförmiger Geschwindigkeit rotierende
Scheibe aufzeichnen. Oder wenn der Chemiker das Vorhandensein
eines Eisensalzes in einer Flüssigkeit nachweisen will, so zeigt er, daß
diese die sämtlichen einzelnen Reaktionen des Eisens darbietet.
Durchaus den nämlichen Charakter besitzt der Induktionsbeweis
auf praktischem Gebiete. Der Untersuchungsrichter, der den
Tatbestand eines nicht direkt beobachteten Verbrechens feststellen
soll, sucht zunächst die Beschaffenheit der Tat selbst zu ermitteln,
sammelt dann die Indizien und Zeugenaussagen, die auf bestimmte
Personen als die mutmaßlichen Täter oder Veranlasser der Handlung
hinweisen, sucht den Aufenthalt der Verdächtigen vor, während und
nach der Tat zu erkunden, prüft das sonstige Verhalten derselben, die
Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen, die Widersprüche, in die sie sich
verwickeln, u. s. w. Das Verfahren ist hier mit Rücksicht auf den
logischen Charakter der Methode kein anderes, als es der Naturforscher
oder der Historiker einschlägt, wenn beide eine nicht direkt beobachtete
Tatsache durch die Benützung anderer, der Beobachtung zugänglicher
Data beweisen wollen. Die verschiedene Vollständigkeit der zu Grunde
liegenden Induktionen und die mehr oder weniger verwickelte Verket-
tung der Ursachen begründen zwar große Unterschiede in der Sicher-
heit, aber keine in der Art des Beweisverfahrens.
e.Dieindirekten Beweisformen
Der indirekte oder apagogische Beweis sucht die Wahrheit eines
Satzes festzustellen, indem er die Unwahrheit aller derjenigen An-
nahmen dartut, die an Stelle der zu beweisenden gemacht werden
könnten. Der indirekte Beweis folgert also durch Ausschließung;
seine syllogistische Grundform ist der modus tollendo ponens des
disjunktiven Schlusses, und er stützt sich mit diesem auf das Axiom
des ausgeschlossenen Dritten: A ist entweder B oder non-B (Bd. I,
8.339 f.). Da nun das in diesem Axiom nur negativ bezeichnete Glied
in dem disjunktiven Urteil in verschiedener Weise positiv bestimmt sein
kann, wobei nur jedesmal die Forderung gestellt ist, daß die Vollständig-
keit der Disjunktion der in jenem kontradiktorischen Gegensatze ent-
haltenen gleichkomme, so sind auch für den indirekten Beweis drei
Der Beweis. 79
Hauptformen möglich, die den Hauptformen des disjunktiven
Urteils entsprechen, und die wir als de disjunktive, diekon-
träre und die kontradiktorische Form bezeichnen wollen.
Gegenüber dem direkten Beweise und namentlich den deduktiven
Arten desselben, mit denen er zunächst vergleichbar ist, leidet der in-
direkte in allen seinen Formen an dem Nachteil, daß er die Wahrheit
eines Urteils nicht aus dessen eigenen Erkenntnisgründen deutlich
macht, da er auf den Inhalt des Begriffs selbst nicht eingeht. Dagegen
hat er den Vorzug, daß er den Umfang dieses, den der direkte Beweis
seinerseits unberücksichtigt läßt, untersucht, indem er alle die Wahrheit
des zu beweisenden Satzes aufhebenden oder beschränkenden Gegen-
aufstellungen beseitigt. Im allgemeinen wird daher zwar der direkte
Beweis, wo er möglich ist, vor dem indirekten den Vorzug verdienen;
unter Umständen aber kann es doch wünschenswert sein, den direkten
durch einen indirekten Beweis zu ergänzen, um die Wahrheit des Urteils
auf dem Wege der Ausschließung zu vollerer Evidenz zu bringen.
Namentlich dann pflegt man diese Ergänzung oder selbst den Ersatz
des direkten durch den indirekten Beweis zu wählen, wenn der erstere
ein bloßer Induktionsbeweis ist und daher an sich der wünschenswerten
Bündigkeit ermangelt. Derartige Fälle, in denen zugleich der indirekte
zweifellos dem direkten Beweis überlegen ist, kommen teils auf mathe-
matischem Gebiete, teils und hauptsächlich bei praktischen Induk-
tionsbeweisen vor. So ist z. B. im strafrechtlichen Verfahren der
Alibibeweis ein indirekter Beweis. Der Umstand, daß der Angeschuldigte
im Augenblick der Tat an einem entfernten Orte gewesen ist, beweist
sicherer als alle direkten Verteidigungsgründe, daß er nicht gleich-
zeitig am Ort des Verbrechens selbst gewesen sein kann. Ein anderes
Gebiet, für welches die indirekte Beweismethode bevorzugt zu werden
pflegt, ist das der prinzipiellen, den axiomatischen Wahrheiten nahe-
stehenden oder unmittelbar aus bestimmten Definitionen abzuleitenden
Lehrsätze. In diesen Fällen ist häufig ein direkter Beweis überhaupt nicht
möglich, und auch der indirekte hat mehr den Wert einer Verdeutlichung
des in der unmittelbaren Anschauung oder in den Voraussetzungen
bereits Gegebenen als den einer eigentlichen Argumentation. Endlich
hat man noch die hauptsächlichste, manchmal sogar die allein berech-
tigte Funktion des indirekten Beweises darin gesehen, daß er die Wahr-
heit negativer Sätze feststelle*). Hieran ist aber nur dies richtig,
daß negative Urteile auf anderem als auf indirektem Wege nicht be-
*, Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Aufl., II, S. 396.
80 Allgemeine Methodenlehre.
wiesen werden können, da ihre Beweisführung allein darin bestehen
kann, daß das entgegenstehende positive Urteil als unzulässig dar-
getan wird. Es ist aber nur die dritte, eben wegen dieser Eigenschaft
verhältnismäßig wertloseste Form des indirekten Beweises, die kontra-
diktorische, für die jene Behauptung zutrifft, wogegen die beiden ersten
Formen sogar ausschließlich zum Zweck positiver Beweisführungen
Anwendung finden.
Die disjunktive Form des indirekten Beweises unterscheidet
zunächst die verschiedenen Annahmen A, B,C...N, die in Bezug auf
eine gegebene Frage gemacht werden können; sie zeigt dann, daß
unter diesen Annahmen B, C, D...N nicht statthaft sind, und schließt
hieraus, daß die allein übrig bleibende A die richtige sei. Die wesent-
liche Bedingung der Gültigkeit eines solchen Beweises ist hiernach die
Vollständigkeit der aufgestellten Disjunktion.
Da aber in dieser Beziehung, namentlich auf empirischem Gebiete,
leicht ein unbeabsichtigtes Übersehen stattfinden kann, so ist man be-
strebt, wo immer möglich den indirekten durch einen direkten Beweis
zu ergänzen. Am ehesten kommen noch in der Mathematik disjunktive
Beweise für sich allein vor wegen der größeren Sicherheit, mit der hier
vollständige Disjunktionen gebildet werden können. So in vielen
Fällen bei Euklid. Den Satz z. B., daß, wenn zwei gerade Linien ein-
ander parallel sind, eine dritte, die sie schneidet, mit ihnen gleiche
Wechselwinkel bildet, beweist Euklid, indem er von der Disjunktion
ausgeht: entweder sind die Wechselwinkel « und ß gleich, oder « ist
größer als ß, oder ß größer als «. Er weist dann die Unmöglichkeit
der zwei letzteren Annahmen nach, wobei er sich hier wegen der genauen
Analogie der beiden Fälle auf den Nachweis der Unmöglichkeit des
einen, z.B. von «>ß, beschränken kann*). Astronomisch suchte man
die Eigenbewegung unseres Sonnensystems im Weltraum zu beweisen,
indem man schloß: Es gibt scheinbare Bewegungen der Fixsterne,
welche nicht herrühren können 1) von der Bewegung der Erde (der
Parallaxe), weil sie keine jährliche Periode zeigen, 2) von der Bewegung
des Lichtes (der Aberration), aus demselben Grunde, 3) von der sekularen
Bewegung der Erdachse, weil sie mit der entsprechenden sekularen
Periode nicht übereinstimmen, 4) von der eigenen Bewegung der Fix-
sterne, weil von dieser wegen der sehr großen Zahl der Fixsterne voraus-
gesetzt werden kann, daß sie nach den verschiedenen Richtungen des
*) EuklidI,29. Als weitere Beispiele der disjunktiven Beweisform vgl.
EuklidI, 6 und 19.
Der Beweis, 81
Raumes annähernd gleichförmig verteilt sei. Es bleibt daher nur übrig,
die eigene Bewegung unseres Sonnensystems als die Ursache eines
Teils der scheinbaren Bewegungen anzunehmen.
Diekonträre Form des indirekten Beweises stützt sich auf
ein alternatives Urteil von der Form: A ist entweder B oder ©. (Bd. TI,
S.191f.) Da nun überall, woein Begriff in nur zwei positiv bestimmbare
Teile zerlegt wird, diese zugleich in das Verhältnis des konträren Gegen-
satzes zueinander treten, so besteht das Wesen eines aus einem alter-
nativen Urteil mit positiv bestimmten Begriffen hervorgehenden Be-
weises immer darin, daß die Wahrheit einer Behauptung erwiesen wird,
indem man die Unmöglichkeit ihres konträren Gegensatzes nachweist.
Während die disjunktive Form des indirekten Beweises bereits mehrfach
als eine selbständige gegenüber der kontradiktorischen anerkannt
wurde*), pflegt man die konträre mit dieser zusammenzuwerfen, eine
Verwechslung, die wohl darin ihren Grund hat, daß auch im sprach-
lichen Ausdruck der konträre mit dem kontradiktorischen Gegensatz
häufig vermengt wird. In der Tat aber werden wir überall, wo für das
negativ bestimmte Glied einer Alternative eine zutrefiende positive
Definition möglich ist, das Vorhandensein eines konträren, nicht eines
kontradiktorischen Gegensatzes anerkennen müssen. So sind z. B.
Endlichkeit und Unendlichkeit des Raumes dem ersteren zuzurechnen;
denn die Unendlichkeit läßt sich als diejenige Eigenschaft definieren,
vermöge deren in jeder Richtung über jeden noch so entfernten Punkt
hinaus ein weiterer Fortschritt möglich ist, und ebenso die Endlichkeit
als diejenige Eigenschaft, vermöge deren es in jeder Richtung zwei
Punkte gibt, die weiter als alle anderen Punkte der nämlichen Richtung
und doch zugleich um eine meßbare Größe voneinander entfernt sind.
Ähnlich verhalten sich Primzahlen und Nicht-Primzahlen, denn die
letzteren lassen sich positiv definieren als diejenigen Zahlen, die außer
durch die Einheit und durch sich selbst noch durch eine andere ganze
Zahl teilbar sind, u. s. w. Dagegen sind Substanzen, die nicht existieren,
Kreise, die keinen gemeinsamen Mittelpunkt haben, Funktionen, die
sich in keine Potenzreihe entwickeln lassen, und andere ähnliche Be-
*), Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Aufl., II, S. 431.
Vgl.a. Sigwart, Logik, II, 2. Aufl., S. 285 fi. Völlig unbrauchbar ist die
von Lotze gegebene Einteilung der indirekten Beweise (Logik, S. 222 f.),
welche, lediglich nach Analogie der direkten Beweise ausgeführt, die wichtigsten
Unterschiede ignoriert und dagegen Formen unterscheidet, die nirgends vor-
kommen und zum Teil sogar dem Wesen des indirekten Beweisverfahrens wider-
streiten.
Wundt, Logik. IL 3. Aufl. 6
32 Allgemeine Methodenlehre.
griffe nur negativ definierbar, so daß, wo sie zu Gegenständen indirekter
Beweise werden, diese die kontradiktorische Form annehmen. Da nun
solche nur negativ bestimmte Begriffe regelmäßig dann auftreten,
wenn der zu beweisende Satz selbst verneinender Art ist, so scheidet
sich demnach der kontradiktorische von dem disjunktiven sowie dem
konträren Beweis durch das Kennzeichen, daß jener nur für Sätze von
negativem Inhalt gebraucht wird, während die letzteren stets für positive
Sätze eintreten oder doch für solche, die trotz der etwa gebrauchten
Form der Verneinung eine positive Bedeutung haben und sich daher
leicht in die positive Form umwandeln lassen.
Folgt man dem zuletzt erwähnten Kriterium, so zeigt sich sofort,
daß die wichtigsten unter den sogenannten apagogischen Beweisen der
konträren Form angehören. Während aber die disjunktive Form
auch auf empirischem Gebiete sehr verbreitet vorkommt, ist die kon-
träre vorzugsweise auf spekulativem, in der Mathematik und Philosophie,
zu Hause. Hierher gehören die zahlreichen apagogischen Beweise,
deren sich Spinoza bedient*), die Beweise der Kantischen Anti-
nomien, ferner die Begründungen der Thesen und Antithesen, die in
Bezug auf die allgemeinsten mechanischen und physikalischen Grund-
sätze im Verlaufe der Entwicklung der Physik aufgetreten sind**).
Es ist ein für die Anwendung dieser Demonstrationsart bedenkliches
Symptom, daß sie sich, wie die letzterwähnten Beispiele zeigen, als
Werkzeug zur Unterstützung entgegengesetzter Behauptungen ge-
brauchen läßt. Immerhin kann hierfür nicht der Beweisform als solcher
die Schuld aufgebürdet werden, sondern entweder beruhen die Wider-
sprüche, in die sie verwickelt, auf der Zweideutigkeit der sprachlichen
Bezeichnungen, wie großenteils bei den Dilemmen der Alten, oder auf
widerstreitenden Motiven des spekulativen Denkens, wie bei den onto-
logischen Antinomien der Kosmologie und Physik, und im letzteren
Fall sind die antithetischen Beweisführungen zwar nicht für den Zweck,
für den sie angeblich eintreten, wohl aber für die Untersuchung jener
Motive und ihrer etwaigen Berechtigung von großem Werte.
Völlig anders verhält es sich mit den mathematischen
Beweisen dieser Art. Bei ihnen handelt es sich wirklich um die in-
direkte Begründung eines positiven Satzes durch den Nachweis der
Unrichtigkeit seines konträren Gegenteils. Dabei pflegt aber dieses
nicht strenge begrenzt zu sein, sondern aus einer unbestimmten An-
*) Vgl. z. B. Ethik, I, prop. 5, 8, 11, 12, 13.
**) Vgl. meine Schrift: Die physikalischen Axiome. 1866. 8. 79.
FDer Beweis. 83
zahl von Fällen zu bestehen, von denen immer nur einzelne heraus-
gegriffen werden können, um an ihnen die Annahme des Gegenteils ad
absurdum zu führen. Dadurch tritt diese Art mathematischer Beweis-
führungen in Analogie einerseits mit dem direkten Beweis durch Bei-
spiele, anderseits mit der disjunktiven Form des indirekten Beweises.
Von der letzteren scheidet sie sich aber wesentlich durch die unbe-
stimmte Zahl der Fälle, ein Umstand, der zugleich sehr geeignet ist,
die Verwechslung mit der kontradiktorischen Form des apagogischen
Beweises zu begünstigen. Immerhin bleibt der Gesamtbegriff, welchem
das herausgegriffene Beispiel angehört, positiv definierbar, und es kann
daher auch sein Gegensatz zu dem Demonstrandum stets positiv be-
stimmt werden, eine Eigenschaft, deren Mangel gerade das Wesen des
kontradiktorischen Gegensatzes ausmacht. Schon bei Euklid findet
sich die konträre Beweisform mehrfach angewandt*). Es mag hier an
einigen Beispielen aus neuerer Zeit genügen. Dirichlet beweist den
Satz „wenn die Summe 1.2.3... (p—1)-+-1 durch p teilbar ist, so
muß p eine Primazahl sein“ auf folgende Weise: Wäre p keine Prim-
zahl, so müßte es außer durch 1 und durch sich selbst noch durch eine
andere Zahl a, die der Reihe der Zahlen 2, 3, 4... (p —1) angehörte,
teilbar sein. Dann würde aber einerseits die Summe 1.2.3...(p—1)+1.
anderseits der erste Summand 1. 2.3. ... (p—1) durch a teilbar sein,
was nur stattfinden könnte, wenn auch 1 durch a teilbar wäre**). Der
Satz „eine eindeutige Funktion f (x) kann nur auf eine einzige Art durch
eine nach den Potenzen von x geordnete Reihe dargestellt werden
wird folgendermaßen indirekt bewiesen: Angenommen es gebe mehrere
Arten der Entwicklung, z. B.
fW=atac + ,2°+...a,.,
t=b-+b2-+b,2?+...b,%%,
so würde durch Subtraktion folgen:
0=(a —b)— (a —b)xz + (a, — b)2°”—+...(a, — b,) a”.
Daraus ergibt sich aber, da sämtliche durch sukzessives Differenzieren
erhaltene Ableitungen ebenfalls null sind:
a—b=Ia —b)=I,, —b,=I,...a,—b,=).
D. h. die hypothetisch angenommene zweite Entwicklung ist mit der
*) Vgl. Euklid III, 7 (2. Teil), 8 (3. Teil), 9 (2. Beweis), 19; X, 80
bis 85.
**) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie 2 8 6L
84 Allgemeine Methodenlehre.
ersten identisch*). Beweise der letzteren Form sind in der neueren
Analysis sehr beliebt, und sie sind auch deshalb von Interesse, weil hier
einerseits durch die positive Schlußwendung, die er nimmt, der in-
direkte dem direkten Beweis an bindender Kraft vollkommen gleich-
kommt, und weil anderseits wegen der Allgemeinheit der algebraischen
Zeichen der Beweis durch ein Beispiel eine allgemeingültige Bedeutung
gewinnt.
Der kontradiktorischen Form des indirekten Beweises
liegt der Satz des ausgeschlossenen Dritten „A ist entweder B oder
non-B“ in seiner ursprünglichen Unbestimmtheit zu Grunde. Zweck
desselben ist regelmäßig der Nachweis der Richtigkeit eines negativen
Satzes. Daß A nicht B sei, wird bewiesen, indem man zeigt, daß die ent-
gegengesetzte Annahme, A ist B, auf Widersprüche führt. Sollte diese
Beweisart für die Demonstration positiver Sätze Verwendung finden,
so müßten umgekehrt aus der Annahme „A ist non-B“ ihre Folgen
entwickelt und die Unstatthaftigkeit derselben aufgezeigt werden.
Da sich aber aus einem negativen Satze nichts folgern läßt, so erhellt
ohne weiteres die Unmöglichkeit einer solchen Beweisart. Wo sie schein-
bar stattfindet, da handelt es sich eben in Wirklichkeit um einen Beweis
mittels eines konträren Gegensatzes.
Auch der kontradiktorische Beweis ist ausschließlich in den speku-
lativen Wissenschaften, in Metaphysik und Mathematik, im Gebrauch;
immerhin ist er auch hier vermöge des geringen Wertes rein negierender
Urteile von weit beschränkterem Vorkommen, als man angenommen hat.
Er dient hauptsächlich zum Beweis von Sätzen, die Corollarsätze
anderer positiver und bereits bewiesener Sätze sind, und wo darum
statt des indirekten Beweises manchmal auch der unmittelbare Hinweis
auf jene begründenden Sätze genügen kann. Letzteres ist der Grund
der auffallenden Erscheinung, daß Spinoza, der sonst so sehr den
apagogischen Beweis, namentlich in seiner konträren Form liebt, gerade
für negative Sätze direkte Beweise bevorzugt. Bei näherer Prüfung
zeigt sich freilich, daß solche negative Lehrsätze nichts enthalten, was
nicht in vorangegangenen positiven bereits in anderer Form gesagt wäre.
Am korrektesten hat Euklid die kontradiktorische Beweismethode an-
gewandt, obgleich auch bei ihm viele der so bewiesenen Sätze ent-
weder bereits in bestimmten Definitionen stillschweigend enthalten
sind oder ebenso gut als Corollarsätze anderer direkt bewiesener Theoreme
*), Harnack, Die Elemente der Differential- und Integralgleichung.
1881. S. 157.
Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme. 85
auftreten könnten. Den Satz z. B.: „Wenn in einem Kreise zwei gerade
Linien, die nicht durch den Mittelpunkt gehen, einander schneiden, so
halbieren sie einander nicht“ beweist Euklid, indem er darauf hinweist,
daß die Annahme, es halbierten sich zwei solche Linien, zu der Folgerung
führen würde, daß auch eine vom Kreismittelpunkt nach ihrem Durch-
schnittspunkt gezogene Gerade sie beide halbiere. Nun lehrt aber ein
unmittelbar vorhergehender Satz: „Wenn im Kreise eine durch den
Mittelpunkt gehende Gerade eine andere nicht durch den Mittelpunkt
gehende halbiert, so schneidet sie dieselbe senkrecht“. Es würde also
die Gerade mit beiden Linien einen rechten Winkel bilden, was damit
unvereinbar ist, daß der Annahme nach die Linien selbst miteinander
einen Winkel bilden*). Es ist klar, daß dieser apagogische Beweis
ohne Nachteil durch den unmittelbaren Hinweis auf den Satz, auf den
er sich stützt, und auf den Beweis desselben ersetzt werden könnte.
Diese auch bei den anderen Beweisen ähnlicher Art wiederkehrende
Eigenschaft hat wohl neben dem relativ geringen Wert negativer Sätze
dazu beigetragen, daß in neuerer Zeit die kontradiktorische Beweisform
immer mehr aus dem wissenschaftlichen Gebrauch verschwunden ist.
Drittes Kapitel.
Das System der Wissenschaften.
1. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen
Systeme.
Die Gliederung der Wissenschaft ist ursprünglich aus dem gleichen
Bedürfnis der Arbeitsteilung hervorgegangen, das die menschliche
Gesellschaft in Berufe und Stände mit abweichenden Aufgaben und
Interessen gesondert hat. Die zunehmende Menge des Stofis und die
damit gleichen Schritt haltende Mannigfaltigkeit der Interessen hat auf
diese Weise schon seit langer Zeit dem Einzelnen einen irgend voll-
ständigen Überblick über das Ganze der wissenschaftlichen Arbeit
unmöglich gemacht; und vielfach sind dadurch die verschiedenen Ge-
biete zugleich der fruchtbaren Wechselwirkungen beraubt worden,
die sie in einer vorangegangenen, noch unter einfacheren Bedingungen
arbeitenden Epoche aufeinander ausüben konnten. Das öffentliche
*) Euklid III, 7. Weitere Beispiele sind: III, 5 und 23; VIIL, 17; XL, 1.
86 Allgemeine Methodenlehre.
Leben, die Religion, selbst die Kunst werden, so sehr sie sich in der
Teilnahme der Einzelnen trennen mögen, doch durch die Allgemeinheit
ihrer Zwecke zusammengehalten. Aus der mehr im Verborgenen tätigen
Werkstätte der Wissenschaft dringen höchstens vereinzelte, durch ihre
praktische Brauchbarkeit oder ihren blendenden Glanz die Aufmerksam-
keit erregende Ergebnisse in das allgemeine Bewußtsein. So hat sich hier
ein Prozeß der Differenzierung vollzogen, wie er nirgendwo sonst wieder-
kehrt, ein Prozeß, der gleich sehr durch die Fülle und die Schwierigkeit
der Aufgaben wie durch den abgezogenen, dem allgemeinen Nutzen
relativ fern liegenden Charakter vieler Gebiete befördert wird.
Je mehr nun auf solche Weise die wissenschaftliche Arbeitsteilung
eine Trennung und Isolierung der Gebiete mit sich führt, umsomehr
müssen naturgemäß auch die Produkte dieser Teilung der systematischen:
Ordnung entbehren. Sind sie doch nicht im mindesten aus einer irgendwie
planmäßigen, die Probleme von vornherein nach ihrem sachlichen In-
halt oder nach methodischen Grundsätzen ordnenden Absicht, sondern
teils aus dem wechselnden Übergewicht praktischer Bedürfnisse, teils
auch aus der abweichenden Verteilung theoretischer Interessen ent-
standen. Bei dieser Scheidung mußte aber naturgemäß, je vielseitiger
die praktischen Bedürfnisse wurden, und je stärker neben ihnen der
reine Erkenntniswert der wissenschaftlichen Forschung zur Geltung kam,
die Arbeitsteilung zugleich von der individuellen Begabung abhängig
werden, die der Einzelne den verschiedenen Problemen entgegenbrachte.
So ergab es sich von selbst, daß sich im allgemeinen trotz mancher Fehl-
griffe, wie sie ja noch heute bei keiner Berufswahl ausbleiben, jeweils
die tauglichsten Begabungen in der Bearbeitung der verschiedenen
Gattungen wissenschaftlicher Aufgaben zusammenfanden, und daß,
nachdem hier nur einmal ein Anfang gemacht war, nun auch die ein-
seitige Übung der Kräfte den Sonderleistungen zu gute kam und die
Befähigung zu ihnen steigerte, während sie freilich zugleich die Iso-
lierung der Gebiete begünstigte. Auf dieser Beobachtung beruht wohl
der uns heute seltsam erscheinende Gedanke Francis Bacons bei seiner
Haupteinteilung der Wissenschaften, die zugleich der erste einiger-
maßen vollständige Versuch dieser Art ist, das Klassifikationsprinzip
nicht den Objekten und Aufgaben der Wissenschaft selbst, sondern
den verschiedenen Geisteskräften zu entnehmen, die nach seiner Meinung
in den verschiedenen Gebieten vorwiegend zur Anwendung kommen
sollten. Bei den Unterabteilungen des Systems mußte er dann freilich
dieses Prinzip sofort wieder verlassen, da schon zu seiner Zeit der
Zustand der wirklichen Forschung einer solchen künstlichen Unter-
Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme. 87
ordnung unter die drei angenommenen Seelenvermögen Gedächtnis,
Phantasie und Vernunft durchaus nicht entsprach*).
Zwei Wege hat man, nachdem das ganze Problem lange Zeit geruht
hatte, in der Folge eingeschlagen, um diesem Fehler abzuhelfen. Auf
der einen Seite wurde im Gegensatze zur Baconischen Vermögenslehre
die Einheit und Unteilbarkeit aller intellektuellen Tätigkeiten und
im Zusammenhange damit die Zusammengehörigkeit aller Arten wissen-
schaftlicher Arbeit betont. Einen besonderen Wert legte man hierbei
darauf, daß gewisse Disziplinen unbedingt andere als ihre Vorbereitung
fordern, während diese selbst unabhängig von jenen betrieben werden
können, wie dies z. B. das Verhältnis der Mathematik zur Physik deut-
lich macht. Indem Auguste Comte diese Tatsache zu der Behauptung
einer sukzessiven Reihe einseitiger Abhängigkeiten aller Wissenschaften zu-
spitzte, kam er zu seinem linearen System, in welchem jedes folgende
Glied von allen vorangegangenen abhängig und für alle weiter folgen-
den grundlegend sein sollte. So beruht diese Einteilung auf der Voraus-
setzung, die abstrakteren Wissenschaften seien zugleich die allgemeineren
und der Übergang vom Abstrakten zum Konkreten, wie er, mit der
Mathematik beginnend, sukzessiv zur Mechanik, Astronomie, Physik,
Chemie, Biologie und Soziologie fortschreite, bezeichne eine Abhängig-
keit einer jeden nachfolgenden von allen ihr vorangehenden Disziplinen**).
Einen zweiten Weg hatten schon vor Comte unabhängig voneinander
Bentham und Ampere eingeschlagen***). Sie hielten mit Bacon an der
Verschiedenheit der wissenschaftlichen Aufgaben fest, sahen aber den
Grund dieser Verschiedenheit vor allem in den Gegenständen
der Forschung. Diesem Prinzip folgend waren sie die ersten, die die
seitdem stehengebliebene Gegenüberstellung von Natur- und Geistes-
wissenschaften zu Grunde legten. Die Mathematik wurde hierbei den
Naturwissenschaften zugezählt. Die so begonnene Zweiteilung suchten
sie dann aber möglichst auch bei den weiteren Untereinteilungen fest-
zuhalten. Auf diese Weise entstanden diehotomische Systeme,
die freilich in vielen Beziehungen nicht mehr der tatsächlich bestehen-
*) Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, 1623, Lib. u
Kap. I. Vgl. hierzu und zum Folgenden meine Bemerkungen über die Ge-
schichte der Klassifikationsversuche, Philosophische Studien, V, 1889, S. 1 ff.
und die Einleitung in die Philosophie *, S. 39 fi.
**) Auguste Comte, Cours de philosophie positive, I, 1830,
Lee. I.
***) J Bentham, Oeuvres, 1821, L. III. A.M. Ampere, Essai sur
la philosophie des sciences, 1834.
88 Allgemeine Methodenlehre.
den wissenschaftlichen Arbeitsteilung folgten, sondern statt dessen
künstliche Gebietsscheidungen logisch konstruierten.
So leiden diese beiden Klassifikationen an entgegengesetzten
Fehlern. Das lineare System ist zu einfach: es trägt mit seinem Schema
des stufenweisen Übergangs vom Abstrakten zum Konkreten den
mannigfaltigen Beziehungen der Gebiete, die sich nur zu einem kleinen
Teil in jene Folge einordnen lassen, keine Rechnung. Die dichotomischen
Systeme sind umgekehrt zu verwickelt. In dem Streben, durch fort-
gesetzte Subdivisionen alles was Objekt selbständiger Untersuchung
sein könnte in vollkommen symmetrischer Anordnung zu erschöpfen,
gliedern sie mehr als irgendwie wünschenswert und ordnen meist nach
rein äußeren Merkmalen. Schließlich liegt daher der gemeinsame
Fehler beider Einteilungen darin, daß sie künstliche Systeme
sind. Das verrät sich nicht nur darin, daß Gebiete, die zusammen ge-
hören, getrennt und andere, deren Aufgaben und Methoden wesentlich
abweichende sind, vereinigt werden, sondern das ist eigentlich schon
eine Folge der beiden Teilungsprinzipien selbst, des linearen und des
dichotomischen, von denen das erste auf der Annahme einer tatsächlich
zum großen Teil nicht existierenden Abhängigkeit, das andere auf der
Hereintragung eines ästhetischen Symmetriebedürfnisses beruht, das
sich weder auf die wirkliche Arbeitsteilung noch in dieser Ausdehnung
auf irgendwelche logische Motive berufen kann.
Aus diesem Grunde ist denn auch das dichotomische System in den
neueren Versuchen einer verbesserten Klassifikation durchgängig ver-
lassen worden. Dagegen wurde nach dem Vorbilde von Herbert Spencer
zumeist das Prinzip der linearen Anordnung noch insofern festgehalten,
als man fortan mit Auguste Comte einen stufenweisen Übergang von den
abstrakteren zu den konkreten Aufgaben als das Grundprinzip der
wissenschaftlichen Differenzierung betrachtete und die letztere nur
dadurch den wirklichen Bedürfnissen anzupassen suchte, daß jenem
stufenweisen Übergang eine Teilung in drei Teile substituiert wurde.
Nach dieser Trichotomie sollte die erste Gruppe die abstrakten Gebiete
der reinen Mathematik, die zweite die „abstrakt-konkreten“, endlich
die dritte die „konkreten“ oder die gewöhnlich sogenannten systemati-
schen Wissenschaften enthalten*). Man muß anerkennen, daß eine
*) Dahin gehört außer Herbert Spencer, The Classification of
the Sciences, Essays Vol. III, Nr. 1, namentlich Raoul de la Grasserie,
De la Classification objective et subjective des Arts, de la Literature et des
Sciences, 1893. Auch Alfred Hettner, der sich im übrigen von dem künst-
lichen System Spencers ganz emanzipiert hat, hält immerhin an den drei
Das natürliche System der Wissenschaften. 89
solche Dreiteilung, indem sie auch noch in jeder dieser Gruppen eine
Anzahl koordinierter Gebiete unterscheidet, den tatsächlichen An-
forderungen besser entspricht als das lineare Schema Comtes. Nichts-
destoweniger bleibt auch sie eben in dem Punkte willkürlich und vom
Standpunkt der Methode aus anfechtbar, in welchem sie den Grund-
gedanken der Hierarchie beibehalten hat, nämlich in dem einer nach
dem Gradunterschied der angewandten Abstraktionen bestehenden
Stufenfolge. Diese Stufenfolge ist lediglich der Mathematik entnommen,
für die sie infolge der aus praktischen Gründen bestehenden Übergänge
zwischen rein mathematischer und mathematisch-physikalischer Be-
trachtung zutrifit. Sie gibt aber ein falsches oder doch höchstens in
einzelnen diesem mathematischen Beispiel verwandten Fällen an-
nähernd richtiges Bild der wirklichen Verhältnisse. Denn in Wahrheit
kann auch sie immer nur eine künstliche Gruppierung liefern, da, wie
wir in Kap. I gesehen haben, die Abstraktion nur eine unter einer großen
Zahl wissenschaftlicher Methoden ist, so daß es bei der Scheidung der
Gebiete häufig viel mehr auf den Charakter der untersuchten Er-
scheinungen selbst oder auch auf die anderen Untersuchungsmethoden
ankommt, als auf den Grad der Abstraktion, dessen man sich bedient.
'2. Das natürliche System der Wissenschaften.
Ein natürliches System der Wissenschaften wird hiernach vor allem
zwei Forderungen erfüllen müssen: erstens soll es die wirklich
vorhandenen Gebiete der Wissenschaft vollständig enthalten; aber es
soll nicht Wissenschaften künstlich schaffen, die tatsächlich nicht
existieren, oder zu deren künftiger Entwicklung nicht mindestens An-
fänge und deutlich erkennbare Probleme vorliegen. Zweitens soll es
diese vorhandenen oder zureichend vorbereiteten Gebiete in eine
logische Ordnung bringen, die in erster Linie den Objekten der Forschung
und in zweiter den von ihr angewandten Methoden, nicht aber willkür-
lich an die Objekte von außen herangebrachten Gesichtspunkten ent-
nommen sind. Die erste dieser Forderungen ist gegenwärtig wohl nicht
Stufen fest, wobei er jedoch der „abstrakt-konkreten“ Gruppe den Ausdruck
„abstrakte Erfahrungswissenschaften“ und der „konkreten“ die „systematischen
Erfahrungswissenschaften“ substituiert. Als rein abstrakte Wissenschaft bleibt
dann, wie im wesentlichen auch schon bei Spencer, nur die Mathematik
stehen. (A. Hettner, Das System der Wissenschaften, Preußische Jahr-
bücher, Bd. 122, 1905, S. 251 ff. Allgemeine geographische Zeitschrift, Bd. 11,
1905.)
90 Allgemeine Methodenlehre.
allzu schwer zu erfüllen, da zwar gewisse Spezialgebiete der Forschung
natürlich noch immer neu entstehen können, „Desiderata“ dagegen in
dem umfassenden Sinne, in dem dereinst Bacon sie in sein System auf-
nahm, kaum mehr in Betracht kommen. Umso schwerer ist es der
zweiten Forderung nachzukommen. Gleichwohl ist sie es erst, deren
Erfüllung das System zu einem natürlichen, den wirklichen Beziehungen
der Gebiete entsprechenden macht. Denn auch hier gilt, daß die ge-
schichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung tat-
sächlich und ohne besondere systematische Absichten gewisse Grup-
pierungen geschaffen hat, die wertvollere Anhaltspunkte für eine natür-
liche Systematik geben als die wegen ihrer logischen Uniformität bevor-
zugten, aber gerade darum auch von vornherein der Willkür verdäch-
tigen Einteilungen wie die nach dem Grad der Abstraktion oder nach
einer in konträren Gegensätzen fortschreitenden Dichotomie. In diesem
Sinne hat sich denn auch seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, im
Gegensatze zu den künstlichen Systemen, die die Mathematik den Natur-
wissenschaften zuzählten, mehr und mehr deren Stellung als die einer
reinen Formwissenschaft durchgesetzt, die zwar in ihren
Betrachtungen von empirisch gegebenen Formen auszugehen pflegt,
keineswegs aber an diese oder überhaupt an die durch die Erfahrung
gezogenen Grenzen gebunden ist. Dieser Untersuchung der Formen
möglicher Mannigfaltigkeiten stehen dann die sämtlichen Erfahrungs-
wissenschaften als solche gegenüber, die sich mit der wirklichen
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen beschäftigen und nach diesem
allgemeinen Verhältnis als die realen Disziplinen unterschieden
werden können. Eine zweite, in der Arbeitsteilung schon längst vorbe-
reitete, aber erst um dieselbe Zeit zu allgemeinerer Anerkennung ge-
langte Scheidung ist sodann die der realen Gebiete in Natur- und
Geisteswissenschaften. Sie beruht darauf, daß die Er-
scheinungen der Wirklichkeit abweichende Standpunkte der Betrach-
tung zulassen. Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit den Vor-
gängen und Gegenständen der äußeren Wahrnehmung unter völliger
Abstraktion von der Beziehung, in der jene zu dem geistigen Leben und
seinen Einflüssen auf die Außenwelt stehen, die Geisteswissenschaften
betrachten umgekehrt alle diejenigen Erscheinungen, die wir mit unseren
psychischen Erlebnissen in Beziehung bringen. Aus dieser Art der Be-
grenzung ergibt sich zugleich, daß die Natur- und die Geisteswissen-
schaften in der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen, da die
geistigen Vorgänge nicht nur überall an physische Substrate gebunden
sind, die als solche zugleich zu den Objekten der Naturwissenschaft
Das natürliche System der Wissenschaften. 91
gehören, sondern da auch die geistigen Vorgänge selbst durch Einflüsse
der Naturumgebung bestimmt werden und ihrerseits wieder bestimmend
in diese eingreifen. So bleibt für die methodische Begrenzung beider
Klassen realer Wissenschaften schließlich nur das negative Kriterium
übrig, daß wir der Naturforschung alles das zuweisen, was ohne
Rücksicht auf irgendwelche seelische Eigenschaften und Vorgänge
einer erschöpfenden Untersuchung zugänglich ist, alles dagegen, was
solche voraussetzt, in das Gebiet der Geisteswissenschaften verweisen.
Bei der weiteren Einteilung dieser beiden Klassen hat man dann
häufig wieder innerhalb einer jeden von ihnen „erklärende“ und „be-
schreibende Wissenschaften“ einander gegenübergestellt. Diese Bezeich-
nungen, die zunächst in der Naturforschung aus Anlaß zweier in der Tat
wesentlich verschiedener Formen methodischer Aufgaben entstanden,
konnten sich jedoch, wenn sie auch gegenwärtig noch gelegentlich ge-
braucht werden, keine dauernde Anerkennung erringen. Auf der einen
Seite betonten nicht selten die Vertreter der „erklärenden“ Natur-
wissenschaften, eine andere Aufgabe als die einer exakten Beschreibung
könne eine empirische Wissenschaft überhaupt niemals haben; und auf
der anderen Seite protestierten die Angehörigen der sogenannten
„beschreibenden“ Disziplinen energisch gegen die Zumutung einer
bloßen Aufzählung der Merkmale von Objekten ohne jeden Versuch
einer Interpretation ihres Zusammenhangs. In der Tat besteht hier der
wesentliche Unterschied nicht sowohl darin, daß man in dem einen
Gebiet erklärt und in dem anderen beschreibt, als vielmehr darin, daß
sich die Untersuchung im einen Fall auf die regelmäßige Verbindung
von Vorgängen bezieht, deren Zusammenhang man zu deuten
sucht, während man im anderen Fall natürlich vorkommende oder
künstlich erzeugte Gegenstände in ihrer systematischen Stel-
lung zu anderen, namentlich zu solchen von verwandter Beschaffenheit
zu ergründen sucht. Der angemessenere Ausdruck würde es daher
offenbar sein, auf der einen Seite Wissenschaften der Naturvor-
gänge und der geistigen Vorgänge, und auf der anderen
solche der Naturgegenstände und der Geisteserzeug-
nisse zu unterscheiden. Insofern dort die wechselnden Phänomene
der Natur und des geistigen Lebens, hier dagegen die systematische
Ordnung der untersuchten Objekte im Vordergrund steht, kann man
aber beide Gebiete wohl auch als phänomenologische undals
systematische Wissenschaften einander gegenüberstellen. Da
bei den ersteren die kausale Interpretation der Erscheinungen, bei den
letzteren dagegen die logische Ordnung der Gegenstände nach den für
99 Allgemeine Methodenlehre,
deren Stellung bedeutsamen Merkmalen die Hauptrolle spielt, so be-
steht in der Tat das zunächst in den Vordergrund tretende Verfahren
dort in der Erklärung der Erscheinungen aus ihren in dem Zusammen-
hang mit anderen liegenden Bedingungen, hier dagegen in einer die syste-
matische Ordnung begründenden Beschreibung. Dabei sind aber nicht
nur diese beiden Funktionen immer nebeneinander vorhanden, sondern
es ergeben sich in beiden Fällen noch weitere, nicht minder wesentliche
Unterschiede. Ein solcher besteht vor allem auch darin, daß die phäno-
menologischen Wissenschaften der Gewinnung allgemeiner Gesetze zu-
streben, die die Folge der Erscheinungen in der Zeit beherrschen, und
die, sofern nur die gleichen Konstellationen der Bedingungen wieder-
kehren, von allgemeingültiger Bedeutung sind, während bei den syste-
matischen Disziplinen die bleibenden Eigenschaften der Objekte und
neben den zeitlichen meist auch die räumlichen Bedingungen ihres
Vorkommens von entscheidendem Werte sind. Dadurch treten
die systematischen insofern in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den
phänomenologischen Gebieten, als überall da, wo die Beschaffenheit
der Gegenstände der ersteren zu einer kausalen Erklärung heraus-
fordert, eine solche nur in der Anwendung phänomenologischer Gesetze
gefunden werden kann. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne sind
die phänomenologischen Gebiete die allgemeineren, die systematischen,
die spezielleren, ein Verhältnis, das aber nicht mit dem des Abstrakten
und Konkreten verwechselt werden darf. In der Tat ist z. B. das Phä-
nomen eines elektrischen Funkens eine ebenso konkrete Tatsache wie
ein Stück Kalkspat, und jener wird dadurch, daß er in den mannig-
faltigsten Variationen unzähligemal in ähnlicher Weise vorkommt,
ebensowenig zu einem abstrakten Phänomen, wie der Kalkspat, weil
er sich als ein ähnlicher Körper an den verschiedensten Orten findet,
ein abstrakter Körper wird. Dieses Verhältnis tritt am deutlichsten da
hervor, wo diese Betrachtungsweisen in besonders inniger Weise einander
zugeordnet sind, wie es beispielsweise bei der allgemeinen Chemie als
einer phänomenologischen Wissenschaft von den chemischen Prozessen
und der systematischen Chemie als einer klassifikatorischen Wissenschaft
der Fall ist. Beide sind an und für sich scharf geschieden, auch wo sie
in einer und derselben Darstellung vereinigt sein sollten. Gerade bei
dieser Verbindung zeigt sich aber deutlich die Abhängigkeit der systema-
tischen von der phänomenologischen Disziplin, indem nur die letztere
über die innere Beschaffenheit der chemischen Verbindungen und die
Bedingungen ihrer Stabilität wie ihres Zerfalls Aufschluß geben kann.
Von diesen Gebieten, in denen sich beide Betrachtungen in ihrer vollen
Das natürliche System der Wissenschaften. 93
Eigentümlichkeit und zugleich in ihrer engen Zusammengehörigkeit
gegenüberstehen, scheiden sich nun andere, die wir in Anbetracht des
Übergewichts der kausalen Analyse der Vorgänge ganz zu den phäno-
menologischen Wissenschaften rechnen können, wie die Physik oder die
Psychologie, oder die wir umgekehrt mit Rücksicht auf den Gesichts-
punkt logischer Ordnung, der sie beherrscht, den systematischen Wissen-
schaften zuzählen, wie die sogenannten beschreibenden Naturwissen-
schaften oder die systematische Rechtswissenschaft. Dabei mangelt
freilich auch in diesen Fällen nirgends die Beziehung zu der ergänzenden
Betrachtungsweise. In Physik und Psychologie zeigt sie sich in der
Gliederung des Stofis, wo im einen Fall die Zerlegung in Mechanik,
Akustik, Optik u. s. w., im anderen Fall in Empfindungen, Gefühle,
Vorstellungen u. s. w. das Hereinragen systematischer Gesichtspunkte
in die phänomenologische Behandlung andeuten. Noch weniger können
im allgemeinen die systematischen Gebiete der zugehörigen phänomeno-
logischen, wie die Mineralogie der allgemeinen Chemie, die systematische
Botanik und Zoologie der Pflanzen- und Tierphysiologie, oder endlich
die systematische Rechtslehre der Rechtsgeschichte und im letzten
Grunde der Psychologie entraten, so sehr man sich in diesem Fall
auf das der praktischen Erfahrung Zugängliche beschränken mag.
Am meisten stehen hier noch die „chorologischen“ Wissenschaften als
rein deskriptive Gebiete scheinbar isoliert da, weshalb man sie auch
zu einer besonderen Klasse vereinigt hat: die deskriptive Astronomie
und die Geographie*). Dennoch dürfte auch hier das Verhältnis im
wesentlichen kein anderes sein als bei den verschiedenen Zweigen der
sogenannten Naturgeschichte, abgesehen von dem Umstande, daß die
Verhältnisse der Objekte einer logischen Gliederung wie einer phäno-
menologischen Deutung größere Widerstände bereiten als in anderen
Fällen. Um Ordnung in die Fülle der Erscheinungen zu bringen, sucht
auch der Astronom die Objekte des Sternhimmels zunächst nach den
räumlichen Verhältnissen und Orientierungslinien und dann nach der
Verbindung der einzelnen, so weit es nur immer angeht, systematisch ein-
zuteilen, und in dieses System greifen in der Unterscheidung der Fixsterne,
Planeten und kosmischen Nebel und schließlich in der Erforschung der
Konstitution dieser Gebilde phänomenologische Betrachtungen ein,
wie sich denn auch hieraus eine kosmische Physik und Astrophysik als
Sondergebiete der allgemeinen Physik entwickelt haben. Nicht anders
verhält es sich mit der Geographie, vornehmlich seit man nach Karl
*) A. Hettner,a.a. 0. S. 273.
94 Allgemeine Methodenlehre,
Ritter ihre nächste Aufgabe in der systematischen Betrachtung der Erd-
oberfläche sieht, dann aber in der Geophysik und Geologie innerhalb der
ihr durch die Natur des Gegenstandes gezogenen Grenzen zu einem kau-
salen Verständnis der Formen zu gelangen sucht. Noch in höherem
Grade treten diese vielseitigen Beziehungen in den zum Teil in die
Geisteswissenschaften herüberreichenden Gebieten hervor, wie in der
Pflanzen- und Tiergeographie, der Anthropogeographie und der mit
ihr eng zusammenhängenden Ethnographie, endlich in der politischen
und der historischen Geographie.
Noch gibt es jedoch auf der Seite der Natur- wie der Geisteswissen-
schaften außer den phänomenologischen und den systematischen
Disziplinen ein drittes Gebiet, das in beide hineinreicht, daneben aber
durch die Bedeutung, die in ihm der Begriff der Entwicklung
gewinnt, eine selbständige Stellung behauptet. Das ist die Klasse der
genetischen Wissenschaften. Indem ihre Aufgabe in der Nach-
weisung der Entstehung und der im Laufe der Zeit entstandenen Ver-
änderungen der Naturgegenstände wie der Geisteserzeugnisse besteht,
entnehmen sie die Gesichtspunkte für die Unterscheidung der Objekte
und demnach auch für die Gliederung ihrer Gebiete den systematischen
Disziplinen. In der Untersuchung der Entwicklungsbedingungen sehen
sie sich dagegen ganz und gar auf die Hilfsmittel und Methoden ange-
wiesen, die ihnen die phänomenologischen Gebiete an die Hand geben.
Infolgedessen nehmen sie in ihrem Aufbau selbst durchaus den Charakter
phänomenologischer Wissenschaften an, die aber in ihrer Besonderheit
durch den die untersuchten Erscheinungen beherrschenden Gedanken
der Entwicklung bestimmt sind. Solche genetische Wissenschaften sind
im Gebiet der Natur die Kosmologie, die Geologie, die Entwicklungs-
geschichte der Organismen, im Gebiet des geistigen Lebens die Geschichte
überhaupt mit ihren nach den einzelnen Zweigen der systematischen
Betrachtung bestimmten Untergebieten, wie Kultur-, Kunst-, Literatur-,
Religions-, Rechtsgeschichte u. s. w. Gewinnt schon in der Entwicklungs-
geschichte der Organismen der Begriff der Entwicklung eine auf die
phänomenologischen Gebiete stark herüberwirkende Bedeutung, so
gilt dies naturgemäß in gesteigertem Maße in den Geisteswissenschaften,
deren einzelne Teile es durchweg entweder geradezu mit den be-
sonderen Erscheinungsformen der allgemeinen geistigen Entwicklung
des Menschen oder mit den Erzeugnissen zu tun haben, die aus dieser
Entwicklung in ihrer Wechselwirkung mit den Bedingungen der Natur-
umgebung hervorgegangen sind. In dieser Beziehung ist es überaus
charakteristisch, daß innerhalb des ganzen Umfangs der Geistes-
Das natürliche System der Wissenschaften. 95
wissenschaften das Geisteserzeugnis der dem Natur-
objekt korrespondierende Begriff ist. Das Erzeugnis ruft unmittel-
bar die Frage nach den Ursachen seiner Entstehung wach; ein Objekt
kann nötigenfalls auch unabhängig von dieser Frage Gegenstand der
Untersuchung sein. Im Hinblick auf diese vorherrschende Bedeutung
des Entwicklungsgedankens und der historischen Betrachtung hat man
wohl auch dem Begriff der „Geisteswissenschaften“ überhaupt durch
den der „Geschichtswissenschaften“ zu ersetzen gesucht*). Dennoch
erscheint diese Substitution nach keiner Seite gerechtfertigt. Erstens
ist das Prinzip der genetischen Betrachtung in den hierher gehörigen
Naturwissenschaften nicht in anderem Sinne verschieden, als wie sich
etwa Physik und Chemie als phänomenologische Wissenschaften von
der Psychologie unterscheiden. Wer diese zu den Naturwissenschaften
rechnet, weil sie sich gegenwärtig neben anderen Hilfsmitteln auch des
Experimentes bedient, der verwechselt das Werkzeug mit der Sache,
die oberflächliche Ähnlichkeit kausaler Betrachtung überhaupt mit
dem inneren Gehalt der kausalen Verknüpfungen, der in beiden Fällen
ebenso verschieden ist, wie etwa die Geologie der europäischen Gebirgs-
formationen von der europäischen Staatengeschichte abweicht. Zweitens
gibt es im Gebiet der Geisteswissenschaften gerade so gut systematische
Disziplinen wie unter den Naturwissenschaften, und die logische Ordnung
der Rechtsbegriffe, der Wirtschaftsbegriffe, der poetischen, musikalischen
oder bildnerischen Kunstformen ist im selben Sinne systematisch wie
irgend ein naturwissenschaftliches System, nur daß jene ebenso
von psychologischen und geschichtlichen Gesichtspunkten wie diese
von physikalischen, chemischen und entwicklungsgeschichtlichen be-
herrscht ist.
Mehr noch als die Stellung der genetischen Wissenschaften ist
schließlich die der Philosophie eine umstrittene gewesen. Auguste
Comte hatte sie ganz eliminiert, indem er sie im wesentlichen mit einer
allgemeinen Zusammenfassung der Ergebnisse der einzelnen Disziplinen
zusammenfallen ließ. Bentham und Ampere stellten sie zu den
Geisteswissenschaften**). Dabei war wohl die überlieferte Zugehörigkeit
der Psychologie zu ihr maßgebend. Je nachdem man dieses Gebiet zu
*), Windelband, Geschichte der Naturwissenschaft, 1900. Etwas
allgemeiner, aber im wesentlichen doch mit dieser Unterscheidung zusammen-
treffend formuliert Rickert den Gegensatz als den der „Natur‘- und der
„Kulturwissenschaft“. (Riekert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft,
1899.) Siehe dazu auch meine Einleitung in die Philosophie *, S. 65 ff.
**) Ebenso R. dela Grasserie,a.a. O. p. 282.
96 Allgemeine Methodenlehre,
den Naturwissenschaften zählte oder aber in ihm eine spezifische Seelen-
wissenschaft sah, die einerseits mit der Metaphysik und anderseits
mit den allgemeinen Erscheinungen des geistigen Lebens zusammen-
hing, mußte entweder die Philosophie als selbständiges Gebiet ganz
verschwinden oder die Stellung einer allgemeinsten Geisteswissenschaft
gewinnen. Für den gegenwärtigen Zustand der Psychologie sind aber
diese beiden Standpunkte unhaltbar geworden. Weder ist diese nach
Aufgabe wie Inhalt eine Naturwissenschaft, noch ist sie ein Bestandteil
der Philosophie an sich, sondern sie gehört so gut wie die Physik oder
die Geschichte zu den empirischen Einzelwissenschaften*). So ist denn
auch die Philosophie weder nach ihrer Geschichte noch nach ihrem
gegenwärtigen Zustand eine Geisteswissenschaft. Geschichtlich ist es
eine offenkundige Tatsache, daß nicht nur die Philosophie der
Griechen mit naturphilosophischen Spekulationen begonnen hat,
sondern daß auch in der neueren Zeit von Bacon und Descartes an bis
auf Kant der Einfluß der Naturwissenschaften der vorherrschende
gewesen ist, dem erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Geistes-
wissenschaften die Wage hielten. Aber auch diese zeitweise Verschiebung
des Schwerpunktes bedeutet offenbar keineswegs eine Lösung der alten
Beziehungen zu den exakten Wissenschaften. Wie vielmehr die Er-
kenntnistheorie noch immer in der naturwissenschaftlichen Forschung
die transzendente metaphysische Begrifisbildung in der Mathematik
ihre nächste Grundlage findet, so stützt sich die Philosophie ander-
seits überall da, wo der Gedanke der geistigen Entwicklung auf sie Ein-
Auß gewinnt, auf Psychologie und Geschichte. Ihr eigenstes Streben
ist aber schließlich darauf gerichtet, den Motiven gleichmäßig gerecht
zu werden, die von den verschiedenen Seiten her an sie herantreten,
um so jener „Scientia universalis“ nahezukommen, mit der Leibniz
dereinst ihre Aufgabe bezeichnet hat.
Aus dieser Aufgabe ergibt sich nun zugleich die Gliederung der
Philosophie. Zunächst gibt es nämlich zwei Gesichtspunkte, unter
denen der allgemeine Inhalt der Wissenschaften betrachtet werden
kann: den logischen, der sich auf die in ihnen herrschenden Gesetze
des Denkens bezieht, und den metaphysischen, der die prinzi-
piellen Voraussetzungen und deren Zusammenhang zum Gegenstande
hat. Beide Gesichtspunkte beginnen nicht erst außerhalb der Einzel-
wissenschaften, sondern ihr Ursprung liegt in diesen selbst. Denn
ebenso wie die Erkenntnisfunktionen in allen Einzelgebieten zur An-
*) Vgl. hierzu Bd. III, Abschn. I, Kap I.
Das natürliche System der Wissenschaften. 97
wendung kommen, so operieren diese bereits mit Hypothesen, zu denen
sie durch den Trieb nach durchgängiger logischer Verknüpfung der Tat-
sachen geführt werden. Logik und Metaphysik sind in diesem Sinne
lediglich Verallgemeinerungen und Weiterführungen der innerhalb der
Einzelgebiete überall bereits entstandenen Problemstellungen und der
Versuche zu ihrer Lösung. Ebenso entspricht die weitere Gliederung
dieser philosophischen Aufgaben der im einzelnen schon vorbereiteten
Scheidung der Betrachtungen. So zerfällt die Logik in allgemeine Logik
und Erkenntnistheorie, und auf der Grundlage beider erhebt sich dann
die allgemeine Methodenlehre. Sie hat, wie die obige Darstellung zu
zeigen versuchte, die in der allgemeinen Logik erörterten Formen des
Denkens auf die Hauptaufgaben wissenschaftlicher Forschung anzu-
wenden. Auf diese Weise leitet sie zugleich in die Logik der einzelnen
Gebiete wissenschaftlicher Forschung, die wiederum die Prinzipien
der Methodenlehre und Erkenntnistheorie auf die verschiedenen Wissen-
schaften anwendet und durch die von den letzteren selbst gewonnenen
Forschungsmaximen ergänzt. Genau dieser Gliederung entspricht nun
die der Metaphysik, nur daß in ihr an die Stelle des methodologischen
der systematische Gesichtspunkt und demnach an die der logischen
Analyse der wissenschaftlichen Forschungsmethoden und ihrer Voraus-
setzungen die erkenntnistheoretische Prüfung der Grundbegriffe der
Wissenschaft tritt. Wie die allgemeine Erkenntnistheorie in die Logik
der einzelnen Wissenschaftsgebiete ausläuft, so endet demnach ver-
möge der Gliederung ihrer Aufgaben die Metaphysik als Prinzipienlehre
in Philosophie der Mathematik, Naturphilosophie, Philosophie der
Geschichte und der Gesellschaft u. s. w. Innerhalb dieser Unterdis-
ziplinen kreuzt sie sich dann wieder mit den entsprechenden Zweigen
der konkreten Logik, daher denn auch weder die Logik in diesen ihren
Spezialisierungen ganz von den metaphysischen Begrifisbildungen der
betreffenden Gebiete noch auch die Metaphysik von den logischen
Methoden und den in ihnen herrschenden logischen und methodologi-
schen Gesichtspunkten abstrahieren kann. Gerade in den den Haupt-
gebieten der Einzelforschung beigeordneten Zweigen der Philosophie
durchkreuzen sich daher der logische und der metaphysische Gesichts-
punkt so sehr, daß es sich im allgemeinen nur um ein relatives Überge-
wicht der einen oder der anderen Betrachtungsweise handeln kann, da-
her auch in den philosophischen Disziplinen, die solchen Einzelgebieten
zugeordnet werden, beide Seiten, die logische wie die metaphysische,
berücksichtigt werden. So ist denn das Verhältnis der Philosophie
zu den Einzelwissenschaften von Anfang an ein doppeltes. Auf der
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 7
98 Allgemeine Methodenlehre,
einen Seite vereinigt sie das Getrennte, auf der anderen scheidet sie das
Verbundene. So strebt sie zunächst nach einer Vereinigung der ge-
trennten Quellen des Wissens in einer einheitlichen Weltanschauung.
Diese Aufgabe zerlegt sich ihr aber wieder in die logische, die das
Erkennen in seinem durch die Gesetze des menschlichen Denkens
bestimmten Werden, und in die metaphysische, die es in dem
systematischen Zusammenhang seiner Prinzipien zum Inhalte hat.
Hierauf scheidet sich dann jede dieser Aufgaben wieder nach den ver-
schiedenen Gebieten wissenschaftlicher Erkenntnis, und diese Scheidung
durchkreuzt sich endlich mit der unumgänglichen Verbindung jener ab-
strakten Standpunkte gegenüber den konkreten Problemen. Außerdem
wird der tatsächliche Bestand der philosophischen Disziplinen noch
durch den Umstand beeinflußt, daß gewisse unter ihnen teils wegen
ihrer besonderen Wichtigkeit, teils weil bei ihnen am meisten die von
der Einzelforschung gelassene Lücke empfunden wird, vor anderen das
Bedürfnis nach philosophischer Bearbeitung wachgerufen haben. Das
sind durchweg solche, bei denen die Tatsachen und die aus ihnen ab-
strahierten Gesetzmäßigkeiten zugleich einer psychologischen Durch-
forschung bedürfen. So kommt es, daß insbesondere aus der Philosophie
der Geisteswissenschaften seit langer Zeit drei Gebiete sich der be-
sonderen Beachtung aufgedrängt haben: die Ethik mit der ihr nahe
verbundenen Rechtsphilosophie, deÄsthetikunddieReligions-
philosophie, zu denen sich schließlich als eine vierte, den Gesamt-
inhalt des geistigen Lebens unter dem genetischen Gesichtspunkt um-
fassende Disziplin die Philosophie der Geschichte ge-
sellt. Hiernach können wir das System der Wissenschaften, wenn wir
von den zum Teil durch praktische Rücksichten bestimmten näheren
Spezialisierungen sowie von Zwischengebieten absehen, wie sie z. B.
in der Mechanik zwischen Mathematik und Physik sich einschiebt,
nach dem folgenden Schema systematisch ordnen*).
*) Einteilungen einzelner Gebiete, die zugleich den praktischen Bedürf-
nissen Rechnung tragen, sind z. B. für die Geographie von A. Hettner
(a. a. O.), für die Rechtswissenschaft von H. OÖ. Lehmann gegeben worden
(Die Systematik der Wissenschaften und die Stellung der Jurisprudenz, 1897).
Beide Autoren haben dabei ein allgemeines System der Wissenschaften ent-
worfen, um innerhalb desselben den von ihnen näher behandelten Gebieten ihre
Stellung anzuweisen. Seitdem d’Alembert in der Einleitung zur großen
französischen Enzyklopädie seine im wesentlichen im Anschluß an Bacon ge-
gebene Klassifikation der Wissenschaften durch eine solche der Künste zu er-
gänzen suchte, hat auch dieses Unternehmen mehrfach Nachahmung gefunden:
so besonders noch bei R. de la Grasserie (a. a. ©. p. 91f.). Da die Gesichts-
Das natürliche System der Wissenschaften.
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punkte eines solchen Systems der Künste ästhetischer, nicht erkenntnis-
theoretischer Art sind, so liegen jedoch diese Versuche außerhalb unserer gegen-
wärtigen Aufgabe,
100 Allgemeine Methodenlehre.
Die folgende Darstellung der logischen Prinzipien und Methoden der
Einzelwissenschaften muß sich im Hinblick auf dienotwendigen Grenzen,
die hier zwischen den eigenen Aufgaben der speziellen Forschungs-
gebiete und denen der allgemeineren logischen Untersuchung zu ziehen
sind, darauf beschränken, die reine Mathematik nur insoweit in
den Kreis dieser Betrachtung zu ziehen, als einerseits die Eigenart
ihrer Begriffsbildung eine logische Untersuchung ihrer Grundbegriffe
erheischt, und als sie anderseits durch die formale Allgemeinheit ihrer
Begriffe und Methoden eine grundlegende Bedeutung für alle die Er-
fahrungswissenschaften besitzt, in denen die von ihr ausgebildeten
formalen Methoden bei der Lösung der Probleme Verwendung finden.
Diese Anwendungen sind an und für sich nicht auf die Naturwissen-
schaften beschränkt; sie sind aber in diesen von so überwiegendem Um-
fang, daß es sich rechtfertigen wird, wenn wir hier die Mathematik
vorzugsweise als Grundlage der Naturwissenschaften ins Auge fassen.
Auch handelt es sich überall, wo sonst noch die mathematische Betrach-
tung Platz greift, wie bei den Maßmethoden der Psychologie oder bei
der Behandlung der Massenerscheinungen der Gesellschaft, überall nur
um besondere, dem speziellen Zweck angepaßte Anwendungen derselben
Methoden, die auch schon bei zahlreichen naturwissenschaftlichen Auf-
gaben in Frage kommen. In den Systemen der Natur- und der Geistes-
wissenschaften endlich werden wir uns im wesentlichen auf diejenigen
allgemeinen Gebiete beschränken können, die für die Ausbildung der
Prinzipien und Methoden entscheidend sind. Das sind in der Natur-
wissenschaft, abgesehen von den für alle grundlegenden allgemeinen
Prinzipien, zu denen insbesondere auch die der Mechanik gehören, die
drei Gebiete der Physik, der Chemie und der Biologie.
Zweiter Abschnitt.
Die Logik der Mathematik.
Erstes Kapitel.
Die allgemeinen logischen Methoden der Mathematik.
1. Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung.
Wie die meisten andern Wissenschaften, so hat auch die Mathe-
matik aus praktischen Bedürfnissen ihren Ursprung genommen. Die
Zählung von Wertobjekten, die Messung von Flächen und Körpern
bildeten ihre ersten und lange Zeit ihre einzigen Aufgaben. Zählung
und Messung fallen jedoch immer erst dann in den Bereich mathe-
matischer Erwägungen, wenn sie nicht direkt sich erledigen lassen,
sondern wenn zwischen die Aufgabe und ihre Lösung logische Hilfs-
operationen eintreten müssen; und letzteres geschieht, sobald nicht
die in Frage stehenden Werte und Größen selbst, sondern statt ihrer
irgendwelche andere, die zu den gesuchten in bekannten Beziehungen
stehen, gezählt und gemessen werden. Zu einer solchen indirekten,
erst mit Hilfe der Rechnung zu vollziehenden Größenmessung greifen
wir entweder, weil die direkte Messung zu weitläufig, oder weil sie
überhaupt unmöglich ist. Während wir bei der direkten Größenmessung
auf die Anwendung des ursprünglichsten arithmetischen Verfahrens,
der Addition, uns beschränken, ist schon die Entwicklung der übrigen
einfachen arithmetischen Operationen durchaus an die Aufgaben der
indirekten Größenmessung gebunden. So sucht man z. B. bei der Sub-
traktion zum Maß einer Größe dadurch zu gelangen, daß man sie als
die Differenz zweier anderer direkt gemessener Größen bestimmt. In
diesem Sinne kann man sagen: Die Mathematik hat begonnen, sobald der
menschliche Geist über die Stufe der Addition sich erhoben hatte. Die
drei einfachen Operationen, die sich zunächst an sie anschließen, bilden,
als die einfachsten Fälle indirekter Größenmessung, zugleich die Quellen,
aus denen alle anderen mathematischen Methoden hervorgegangen sind.
102 Die Logik der Mathematik.
Aber wenn sich auch ohne das Problem der indirekten Größen-
messung niemals das mathematische Denken entwickelt hätte, so wird
doch keineswegs durch jenes Problem die wissenschaftliche Aufgabe
der Mathematik erschöpfend bezeichnet. Schon Plato hat der Arith-
metik und Geometrie andere Ziele gesteckt, als sie von der praktischen
Rechen- und Meßkunst verfolgt werden, und lange vor ihm spricht
sich in dem Kultus der Zahlen, wie ihn die Pythagoreische Schule
geübt, ein dunkles Bewußtsein der Wahrheit aus, daß die Objekte der
Mathematik um ihrer selbst willen ein wissenschaftliches Interesse
besitzen. Die Geschichte hat diese Voraussicht bestätigt; denn heute
beschäftigen sich ganze Zweige der mathematischen Untersuchung mit
Fragen, bei denen es auf eine Größenmessung keineswegs abgesehen
wird. Bei den Betrachtungen der Zahlentheorie, des Funktionen-
kalküls, der projektivischen Geometrie u. s. w. handelt es sich überall
um die Feststellung der Eigenschaften der Begriffe und ihrer Bezie-
hungen, während eine wirkliche Messung von Größen höchstens in
nebensächlicher Weise beabsichtigt wird. Nicht sie ist demnach der
eigentliche Zweck der Mathematik, sondern diese stellt sich die weit
allgemeinere Aufgabe: diedenkbaren Gebildederreinen
Anschauung sowie die auf Grund der reinen An-
schauung vollziehbaren formalen Begriffskon-
struktioneninBezugaufalleihre Eigenschaften
und wechselseitigenRelationeneinererschöpfen-
den Untersuchung zu unterwerfen.
Auf die Gliederung der Mathematik ist die allmählich eintretende
bewußtere Erkenntnis dieser Aufgabe nicht ohne Einfluß gewesen.
So lange der Ursprung aus der praktischen Rechen- und Meßkunst
noch nachwirkte, blieben Arıthmetik und Geometrie ihre
Hauptzweige. Die vielfachen Beziehungen zwischen beiden, die bald
in der geometrischen Darstellung arithmetischer Sätze, bald in der
arithmetischen Verwertung geometrischer Resultate ihren Ausdruck
fanden, führten endlich zu dem Gedanken der Größenlehre als
einer allgemeineren Disziplin, deren Voraussetzungen ebensowohl
Zahlen- wie Raumgrößen umfassen sollten. Sie hat in der algebraischen
Behandlung der Gleichungen eine zunächst noch vorwiegend durch
arithmetische Gesichtspunkte bestimmte Form gewonnen, bis ihr
durch Descartes’ Erfindung der analytischen Geometrie ihre allgemeinere
Bedeutung gesichert wurde. Diese Erfindung hat aber zugleich, in-
folge der mit verstärkter Gewalt hervortretenden Notwendigkeit der
numerischen Ausmessung stetiger Raumgrößen, zu Erweiterungen des
Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung. 103
Zahlbegriffs geführt, durch die er allmählich vollständig mit dem
Größenbegriff selber sich deckte, so daß Newton bereits das Gebiet der
seitherigen Algebra mit dem Namen der „Arithmetica universalis“
belegen konnte. Der moderne Ausdruck Analysis (bei dem man
zunächst an die analytische Methode der Logik nicht denken darf)
umfaßt diese aus der Algebra der arabischen Mathematiker allmählich
emporgewachsene allgemeinste Disziplin der Mathematik in ihrem ganzen
Umfange. Vermöge jener Erweiterungen des Zahlbegrifis bildet die
Arithmetik nur noch einen Zweig der Analysis. Im selben Maße wie die
alte Arithmetik ihre Selbständigkeit aufgab, machte sich aber das
Erfordernis fühlbar, die Umwandlungen des Zahlbegrifis selbst sowie
überhaupt dessen allgemeine Eigenschaften der Untersuchung zu
unterwerfen. So entstand die heutige Zahlentheorie, ein
Gebiet der reinen Mathematik, das praktischen Anwendungen und
wirklichen Größenmessungen beinahe am fernsten liegt, obgleich es
sich gerade mit jenen Elementen beschäftigt, auf die schließlich jede
Messung zurückführt. Diesen Umgestaltungen der alten Arithmetik
gegenüber hat die Geometrie in Bezug auf das Objekt ihrer Unter-
suchungen im ganzen mehr ihren ursprünglichen Charakter bewahrt,
so weit sie nicht der Analysis oder diese ihr dienstbar geworden ist.
Immerhin sind auch hier Versuche einer analogen, aber die wesent-
lichen Eigenschaften des Geometrischen bewahrenden Behandlung
hervorgetreten, indem man von allen sonstigen Eigenschaften des
Raumes außer der stetigen Ausdehnung abstrahierte und so der kon-
kreten Raumlehre eine allgemeinere Ausdehnungslehre über-
ordnete*). Von hier ausgehend lag es dann nahe, auch das Stetige
aus dem obersten Begriff zu entfernen, um Ausdehnungs- und Zahlen-
lehre als Gebiete zu behandeln, die nebst anderen denkbaren Begrifis-
konstruktionen wieder in einer abstrakten Mannigfaltigkeits-
lehre oder Formenlehre enthalten seien**). Diese letzte Begriffs-
*), H. Graßmann, Die Ausdehnungslehre von 1844 oder die lineale
Ausdehnungslehre ein neuer Zweig der Mathematik?, 1878.
**) Den Ausdruck „Mannigfaltigkeitslehre“ hat Riemann, den Ausdruck
„Formenlehre“ Graßmann zuerst eingeführt. B. Riemann, Gesammelte
mathematische Werke, 1876, S. 255. Graßmann, Ausdehnungslehre, S.1f£.
Übrigens hat Graßmann auch die Betrachtung der Zahlen in seine Aus-
dehnungslehre hineingezogen, indem er dieselben als „Ausdehnungsgrößen nullter
Stufe“ (d. h. als Punkte) behandelte (a. a. O. S. 107). Vgl. hierzu mein
System der Philosophie”, I, S. 13ff., 233ff. und den Aufsatz über die Einteilung
der Wissenschaften, Philosophische Studien, V, S. 34 ff.
104 Die Logik der Mathematik.
erweiterung führt zur Aufstellung einer allgemeinsten mathematischen
Disziplin, als deren spezielle Zweige alle einzelnen mathematischen
Wissenschaften betrachtet werden können, und durch deren Inhalt
daher auch die Aufgabe der Mathematik in der allgemeinsten Form
bezeichnet sein muß. Die beiden oben gebrauchten Ausdrücke deuten
diesen Inhalt in verschiedener Weise an, indem sie zugleich auf zwei
Erfordernisse hinweisen, die bei den Gegenständen mathematischer
Untersuchung erfüllt sein müssen. Das erste dieser Erfordernisse ist
das Gegebensein einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger
Denkobjekte, das zweite die rein formale, d. h. ausschließlich die
wechselseitigen Relationen der Denkobjekte, nicht ihre eigene kon-
krete Beschaffenheit in Betracht ziehende Behandlungsweise. In
diesem weitesten Umfange umfaßt die Mathematik auch den formalen
Teil der Logik, welcher eben darum vollständig einem mathematischen
Algorithmus sich unterwerfen läßt. Da ferner alles in der Erfahrung
Gegebene auf Relationen mannigfaltiger Denkobjekte zurückgeführt
werden kann, so ist jede Erfahrungswissenschaft an und für sich einer
formalen oder mathematischen Behandlungsweise zugänglich, wobei es
jedoch selbstverständlich von äußeren Bedingungen abhängt, ob und
in welchem Umfange diese mathematische Behandlung anwendbar
ist. Dagegen ist die Mathematik selbst durchaus nicht auf die Unter-
suchung derjenigen formalen Relationen beschränkt, die sie an den
Objekten der Erfahrung verwirklicht findet, sondern es steht ihr frei,
die in der Erfahrung gegebenen Bedingungen beliebig zu erweitern
oder zu verengern. Da sie eine rein logische Wissenschaft ist, so findet
sie ihre Schranken immer nur an der formalen Ausführbarkeit der durch
bestimmte Voraussetzungen geforderten Denkoperationen. Natur-
gemäß aber müssen diese Voraussetzungen anknüpfen an die empi-
risch gegebenen Relationen wirklicher Objekte; sie können nicht
als völlige Neuschöpfungen auftreten, sondern nur als willkürliche
Veränderungen gegebener Beziehungen. Deshalb hat auch die Aus-
bildung der mathematischen Methoden fast nur von denjenigen Auf-
gaben, welche dem Denken aus den mannigfaltigen Beziehungen der
Erfahrungsobjekte erwuchsen, ihre Antriebe empfangen. Insbesondere
läßt sich zeigen, daß jede der fundamentaleren mathematischen Me-
thoden aus bestimmten Rechnungs- oder Messungsaufgaben hervor-
gegangen ist, die bald die Bedürfnisse des praktischen Lebens, bald
die Probleme der Naturwissenschaft nahe legten.
So verdanken zunächst die zwei Hauptzweige der älteren Ma-
thematik, Arithmetik und Geometrie, ihre Trennung und selbständige
Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung. 105
Ausbildung den verschiedenartigen Anforderungen, die der Handels-
verkehr und die Aufgaben der Feldmessung an die Rechenkunst stellten.
Auf diese Weise fügte es ein glücklicher Zufall, daß die äußeren Be-
dürfnisse, die der Mathematik ihre ersten Impulse gaben, mit jener
naturgemäßen Scheidung der Probleme zusammentrafen, welche in
der Verschiedenheit der mathematischen Grundbegriffe selbst ihre
Wurzel hat. Die diskrete Zahl und die stetige Ausdehnung sind bis
auf den heutigen Tag die heterogensten Begriffe der Mathematik ge-
blieben, an deren Vermittlung die letztere in einer mehr als zweitausend-
jährigen Entwicklung gearbeitet hat. Jede Messung muß, wenn sie
praktisch brauchbar sein soll, ein numerisches Resultat ergeben; aber
die stetige Größe fügt sich einer genauen Ausmessung nach ganzen
Zahlen nur in glücklichen Ausnahmefällen. Diese Schwierigkeit würde
vielleicht früher schon in empfindlicherer Weise fühlbar geworden sein,
hätte nicht die nämliche Verschiedenheit der Begriffe, welche die erste
Scheidung der mathematischen Gebiete bewirkte, auch zu einer Ver-
schiedenheit der mathematischen Begabungen geführt, die einer tieferen
Auffassung der Beziehungen im Wege stand. Während der Grieche
die Zahlverhältnisse räumlich darzustellen liebte und daher ohne Be-
denken überall, wo die Zahl nicht ausreichte, zur geometrischen An-
schauung griff, half sich der indische Rechner, wenn die gewohnten
arithmetischen Operationen auf geometrische Objekte nicht ohne wei-
teres anwendbar waren, gelegentlich mit unzureichenden Näherungs-
methoden*). Erst das aus den Anregungen indischer Arithmetik und
griechischer Geometrie hervorgegangene Streben arabischer Algebristen,
ebensowohl arithmetische Beziehungen geometrisch zu gestalten, wie
geometrische Sätze in arithmetische Formen zu bringen, hat allmählich
zu jener allgemeingültigen Form mathematischer Untersuchungen
übergeführt, wie sie in der modernen Analysis Geometrie und Arith-
metik gleichzeitig beherrscht und durch das Mittelglied der Geometrie
selbst die physischen Vorgänge in das nämliche Gewand abstrakter
mathematischer Formeln kleidet. Bei den großen Vorteilen, welche
diese alle Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendungen umfassende
Methode darbietet, ist es begreiflich, daß sie auf längere Zeit beinahe
die Alleinherrschaft behauptete, indem insbesondere die konstruktiven
Methoden der Geometrie jahrhundertelang auf der nämlichen Stufe
stehen blieben, auf die sie schon die Alten erhoben hatten. Da die
*) Vgl. M.Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I,
S. 546 ff.
106 Die Logik der Mathematik.
Analysis die schwierigsten geometrischen und mechanischen Probleme
zu lösen vermochte, so gab man sich mit den Resultaten zufrieden,
gleichgültig ob die Anschauung dem Gang der analytischen Entwick-
lung zu folgen im stande war oder nicht. Erst die synthetischen Me-
thoden der neueren Geometrie haben in dieser Beziehung einen be-
deutsamen Umschwung herbeigeführt. Indem sie zeigten, daß die
Resultate mühseliger Rechnungen durch konstruktive Verfahrungs-
weisen oft leichter und anschaulicher zu erreichen, und daß analytische
Entwicklungen Schritt für Schritt in räumliche Anschauungen über-
tragbar seien, haben sie die mit Descartes begonnene Verbindung
abstrakter Untersuchung und konkreter Anwendung ihrer Vollendung
entgegengeführt und der bis dahin vorherrschenden’ analytischen Be-
handlung die geometrische Anschauung als gleichberechtigtes und ihrer-
seits der Analysis neue Ideen zuführendes Hilfsmittel an die Seite
gestellt. Unter dem Übergewicht abstrakter algebraischer Formeln
hatte sich die geometrische Konstruktion in einem steifen, die freie
Bewegung hemmenden Gewande bewegt. Jetzt begann man überall
nach den der Natur der Objekte angemessensten Konstruktionen zu
suchen, infolge deren dann auch wieder zweckmäßigere arithmetische
Methoden gefunden wurden. Die neu geübte geometrische Gestaltungs-
kraft gestattete es, bisher tot liegende analytische Formen durch die
Anschauung zu beleben, und Begriffen, deren Wert fast nur auf zu-
fälligen Entdeckungen beruhte, wie den komplexen Zahlen, eine reale
anschauliche Bedeutung zu sichern. So ist auch die Arithmetik wieder,
in ähnlicher Weise wie dereinst in der Blütezeit hellenischer Mathe-
matik, nur verändert durch die seitdem weit fortgeschrittene Ent-
wicklung, überall von geometrischen Vorstellungen durchdrungen
worden.
Die hier in flüchtigen Umrissen angedeutete Entwicklung des
mathematischen Denkens macht es begreiflich, daß die logischen
Methoden desselben in ihrer Entstehung einer bestimmten Gesetz-
mäßigkeit gefolgt sind. Dabei ist zwar nicht selten eine ältere Methode
vor einer neu auftauchenden in den Schatten getreten; im allgemeinen
aber wird das Neue dem Schatz des bereits Erworbenen zugefügt und
läßt diesen selbst an Wert und Verwendbarkeit zunehmen. In dieser
Sicherheit ihrer Entwicklung, ebenso wie in ihrem ganzen Aufbau, ist
die Mathematik die logisch vollendetste Wissenschaft; sie steht außer-
dem noch deshalb der Logik am nächsten, weil sie nichts anderes als
die logische Untersuchung der allgemeinen Anschauungsformen und der
mit ihrer Hilfe vollziehbaren Begriffiskonstruktionen zu ihrem Gegen-
Die mathematische Analyse und Synthese. 107
stande hat. Umsomehr ist es erforderlich, hier die Grenze scharf zu
bezeichnen, welche die LogikderMathematik von der Mathe-
matik selber trennt. Insofern die mathematischen Grundbegriffe und
Methoden zum Zweck der Lösung der oben bezeichneten Probleme
entwickelt und angewandt werden, sind sie ganz und gar Gegenstand
der mathematischen Untersuchung. Insofern man aber nach dem
logischen Ursprung jener Begriffe und Methoden und nach ihrem
Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Denkens frägt, werden sie
Objekte der Logik. Darin liegt zugleich eingeschlossen, daß sich die
Logik auf die Untersuchung der allgemeinen Prinzipien der mathe-
matischen Methodik beschränken muß. Auch wird diese Arbeitsteilung
von seiten der Mathematik tatsächlich eingehalten, da diese den prin-
zipiellen logischen Fragen meist aus dem Wege geht oder höchstens
gelegentlich sie berührt, wenn etwa zufällig einmal der Mathematiker
zugleich zum Logiker wird.
Die Logik der Mathematik kann nun aber ihrerseits wieder von
zwei Gesichtspunkten ausgehen. Erstens kann sie fragen, welche
Formen die allgemeinen Methoden der wissenschaftlichen Forschung
in ihrer Anwendung auf das mathematische Untersuchungsgebiet an-
nehmen. Die aus dieser Frage entspringenden Betrachtungen, welche
die Untersuchung der mathematischen Analyse und Synthese, Ab-
straktion, Induktion und Deduktion zu ihrem Gegenstande haben,
weisen wir der im gegenwärtigen Kapitel zu behandelnden all-
gemeinenmathematischen Methodenlehre zu. So-
dann kann zweitens der logische Charakter der in den einzelnen Haupt-
gebieten der Mathematik herrschenden Methoden untersucht werden.
Dies ist Jie Aufgabe einer speziellen mathematischen
Methodenlehre, mit der sich die folgenden Kapitel beschäf-
tigen sollen.
2. Die mathematische Analyse und Synthese.
Die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Methode
ist von Euklid, zum Teil nach Platonischem Vorbilde, in die Mathematik
eingeführt worden. Analysis und Synthesis sind bei ihm die beiden
Unterformen der syllogistischen Beweismethode. Bei der Analysis
nimmt man das zu Beweisende als zugestanden an und zeigt, daß die
daraus gezogenen Folgerungen mit allgemein als wahr anerkannten
Sätzen übereinstimmen. Bei der Synthesis geht man von als wahr an-
erkannten Sätzen aus und zeigt, daß die Folgerungen den zu beweisenden
108 Die Logik der Mathematik.
Satz enthalten*). Beide Methoden fügen sich bei Euklid in das nämliche
vielgliederige Schema von Definitionen, Axiomen, Theoremen und
Problemen, und es ıst klar, daß ın beiden Fällen der zu beweisende
Satz existieren muß, ehe der Beweis angetreten wird, daß sie also
Demonstrations-, nicht Untersuchungsmethoden sind. Zugleich hat die
synthetische Methode einen unverkennbaren Vorzug dadurch, daß sie
stets zu einem bindenden Beweise führt, während das analytische Ver-
fahren nur dann unbedingt richtige Folgerungen gestattet, wenn der
Beweis ein indirekter oder apagogischer ist. Der direkte analytische
Beweisgang dagegen wird nur in dem Falle zwingend, wenn das Ver-
hältnis von Grund und Folge zugleich ein Verhältnis der Wechsel-
bestimmung ist, so daß die Folge als Grund den Grund als Folge her-
vorbringen würde. Gerade deshalb aber kann der direkte analytische
Beweis bei Euklid stets durch einen synthetischen ersetzt werden.
Eine wesentlich andere Bedeutung gewinnt die Unterscheidung
der analytischen und synthetischen Methode erst bei Descartes. Ana-
Iysis nennt er dasjenige Verfahren, durch welches das Wesen eines
Gegenstandes unmittelbar erforscht werde, und welches daher auch
beim Unterricht der Mathematik zu bevorzugen sei, weil es den Schüler
selbst den Weg der Erfindung führe. In seiner Geometrie hat er ein
mustergültiges Beispiel dieser Methode aufgestellt. Überall besteht
hier die Analyse in einer zweckmäßigen Zerlegung des Ganzen, dessen
Untersuchung in Frage steht, in Elemente und eventuell in der kon-
struktiven Hinzufügung anderer Elemente, die zusammen mit den
gegebenen eine vollständige Bestimmung der Eigenschaften des unter-
suchten Gebildes möglich machen. Zugleich aber hält es Descartes
für wesentlich, daß diese analytische Untersuchung in der allgemeinsten
Form geführt werde, damit die Beschaffenheit der Verstandesopera-
tionen und die allgemeine Bedeutung der Resultate deutlich hervor-
trete. In diesem Sinne macht er der Analysis der Alten den Vorwurf,
daß sie den Geist an die Betrachtung der Figuren gebunden und darum
die Einbildungskraft ermüdet, die Übung des Verstandes aber verab-
säumt habe; und seine eigene Methode bezeichnet er als ein Verfahren,
das, die Analysis der Alten mit der Algebra der Neueren und der
syllogistischen Kunst verbindend, die Vorteile dieser aller wahrnehme
und ihre Fehler vermeide**). So äußerlich diese Definition auch erscheinen
mag, so deutet sie doch trefiend den Charakter der neueren Analysis
* Euklids Elemente, XIII, 1, und oben Abschn. I, S. 70 ff.
**) Discours de la methode. Oeuvr. publ. parCousin,l,p. 140.
Die mathematische Analyse und Synthese. 109
an, zu der Descartes’ Geometrie den Grund gelegt hat. Das Prinzip
der analytischen Methode Platos und Euklids, daß das Gesuchte als
bereits gegeben vorausgesetzt werde, ist eines der mächtigsten Werk-
zeuge auch dieser Analysis. Aber die eigentliche Quelle seiner An-
wendungen liegt hier wie in anderen Fällen schon in der Einführung
der algebraischen Symbolik. Indem das Buchstabensymbol jede be-
liebige bekannte, unbekannte oder veränderliche Größe bezeichnen kann,
ist es ein überall brauchbares Hilfsmittel, um das Gesuchte in der Rech-
nung so zu verwenden, als wenn es gefunden wäre. Schon vor Descartes
hatte sich daher das analytische Verfahren in den algebraischen Me-
thoden zur Lösung der Gleichungen praktische Geltung verschaftt.
Doch bewegen sich diese Anwendungen ausschließlich auf arithme-
tischem Gebiete, und es bleibt so Descartes das Verdienst, daß er zuerst
mit durchschlagendem Erfolg die allgemeinere Anwendbarkeit der alge-
braischen Symbolik kennen lehrte. Erst die Einführung dieser Sym-
bolik machte aber die Analysis zu einem der Synthesis logisch gleich-
wertigen Verfahren. Die Analysis der Alten war, als ein Schluß von der
Folge auf den Grund, wegen der Mehrdeutigkeit dieser Schlußform im
allgemeinen unsicherer und eben darum von beschränkterer Anwendung
gewesen als die Synthesis. Dieser Unterschied besteht für die neuere
Analysis nicht mehr: hier ist ein analytisch gewonnener Satz von ebenso
zwingender Gewißheit wie das Resultat einer synthetischen Demon-
stration. Die Analysis der Alten hatte sich in geometrischen Konstruk-
tionen bewegt, deren Ergebnisse in einer Reihe von Bedingungsurteilen
niedergelegt waren. Sollte hier ein direkter Beweis in bindender Weise
geführt werden, so war zu prüfen, ob jedes Bedingungsurteil zugleich
ein Verhältnis der Wechselbestimmung enthalte, also umkehrbar sei.
Diese Prüfung wurde hinfällig, sobald für jede Art mathematischer
Untersuchungen der abstrakte arithmetische Ausdruck jn Anwendung
kam. Denn nun trat an die Stelle ds Bedingungsurteils die algebraische
Gleichung, welche, da sie stets umkehrbar sein muß, bei ihrer Auf-
stellung bereits jene Prüfung bestanden hat. War aber die Analysis
erst in Bezug auf Strenge der Beweise der synthetischen Methode eben-
bürtig geworden, so konnte es nicht fehlen, daß sie bei ihren sonstigen
Vorzügen bald den Vorrang behauptete. Nur als Beweisverfahren hat
die synthetische Methode Euklids noch lange Zeit die Herrschaft be-
halten, und nicht selten mußten sich, wie das Beispiel Newtons zeigt,
Untersuchungen, die auf analytischem Wege geführt waren, die müh-
selige Umprägung in Euklidische Demonstrationen gefallen lassen.
Im Gefolge dieser allmählichen Erweiterung ihrer Anwendungen
110 Die Logik der Mathematik.
erweiterte sich zugleich der Begriff der Methode selbst. Die bei dem
Gebrauch der algebraischen Symbolik vorausgesetzte Maxime, die
gesuchten Größen ebenso wie die bereits gegebenen in die Rechnung
einzuführen, wurde, weil als ein selbstverständliches, zugleich als neben-
sächliches Moment angesehen. Indem sich die Demonstrations- in eine
Untersuchungsmethode umwandelte, konnte nicht mehr die Stellung
des Beweisobjektes, sondern nur noch das wechselseitige logische Ver-
hältnis der aufeinanderfolgenden Sätze entscheiden. Hier aber erwies
sich überall der Fortschritt vom Zusammengesetzten zum Einfachen,
vom Besonderen zum Allgemeinen als das charakteristische Merkmal
der Analyse, der umgekehrte Weg als das der Synthese. In dieser all-
gemeineren, jedoch dem logischen Sinn der Ausdrücke vollkommen
entsprechenden Weise faßten daher namentlich Newton und Leibniz
den Unterschied beider Methoden auf*).
Wie nun in der Regel die fertigen Begriffe mannigfache Spuren
ihrer Vergangenheit an sich tragen, so gilt dies vielleicht von wenig
Begriffen in so hohem Maße wie von dem der Analysis in der Mathe-
matik. Die ganze Geschichte desselben scheint sich in seiner heutigen
Bedeutung verdichtet zu haben. Eine weitere Erschwerung ist noch
durch den Umstand eingetreten, daß der nämliche Ausdruck, der ur-
sprünglich nur auf eine Methode bezogen wurde, nunmehr zur Be-
zeichnung der ganzen Disziplin dient, in der jene Methode vorzugsweise
zur Anwendung kommt, in der aber selbstverständlich auch solche Ver-
fahrungsweisen, die ihrem logischen Charakter nach synthetische
genannt werden müssen, keineswegs fehlen. Bleiben wir hier bei der
methodologischen Bedeutung des Begriffes stehen, so werden sich nach
dem Obigen hauptsächlich drei Kriterien der analytischen Methode
unterscheiden lassen. Das erste besteht in der allgemeinen logischen
Eigenschaft, daß sie den Weg von dem Zusammengesetzten zu dem
Einfachen einschlägt; das zweite in der Wahl einer gleichförmigen,
für die formale Ausführung der arithmetischen Operationen geeigneten
Symbolik, welche alle Bedingungsurteile in Gleichungen umwandelt
und dadurch den Schlußfolgerungen eine eindeutige Form gibt; end-
lich das dritte in dem Euklidischen Prinzip, daß das Gesuchte
gefunden wird, indem man es als gegeben voraussetzt. Diese drei
Kennzeichen der analytischen Methode stehen in innigem Zusammen-
hange miteinander. Sobald eines gegeben war, mußten daher die anderen
*, Newton, Optice Lib. III, Quaestio XXXI. Ed. Lausanne 1740
p. 329. Leibniz, Math. Werke. Ausgabe von Gerhardt. III, S. 206.
Die mathematische Analyse und Synthese. 131
allmählich von selbst entdeckt werden. Aber es ist bemerkenswert,
daß sie nicht in der soeben angegebenen Reihenfolge ihrer logischen
Wichtigkeit, sondern in der umgekehrten, die spezielleren voran, das
allgemeinste zuletzt, zur Entwicklung gelangt sind.
Im Verhältnis zu der Ausbildung der Analysis ist nun die Syn-
thesis, als mathematische Methode betrachtet, verhältnismäßig
lange zurückgeblieben. Augenscheinlich war es hier der Einfluß Euklids,
der einer freieren Auffassung im Wege stand. Während man längst
in dem analytischen Verfahren eine Forschungsmethode erkannt hatte,
die sich nur gelegentlich zugleich in eine Darstellungsmethode ver-
wandeln könne, hatte man bei dem synthetischen Verfahren die geo-
metrische Demonstration im Auge. Nur hieraus erklärt es sich, daß
noch Newton der Analyse ausdrücklich den zeitlichen Vorrang
vor der Synthese einräumt. Nichtsdestoweniger findet diese Auffassung
im Grunde schon in den einfachsten arithmetischen Operationen ihre
Widerlegung. Die Addition, Multiplikation und Potenzierung sind
synthetische Verfahrungsweisen, und sie sind zweifellos früher als die
zu ihnen inversen Operationen der Subtraktion, Division und Radi-
zierung, die als analytische bezeichnet werden können. Aber diese ein-
fachen Operationen setzte man als gegeben voraus, man betrachtete
sie als Hilfsmittel, deren sich jede Methode bedienen müsse, die aber
nicht selbst den Rang von Methoden beanspruchen könnten. Obgleich
daher in Wahrheit in Arithmetik und Zahlentheorie synthetische
Methoden eine nicht geringe Rolle spielen, so ist doch wiederum die
Geometrie es gewesen, in der die Erkenntnis reifte, daß auch die Syn-
these den Wert einer Forschungsmethode besitzen könne. Faßt man
bei Euklid nicht die äußere Form der Demonstration, sondern die Unter-
suchungsmethoden ins Auge, wie sie vor allem in seinen geometrischen
Konstruktionen zu Tage treten, so kann kein Zweifel bleiben, daß hier
das herrschende Verfahren das analytische ist. (Vgl. unten
Kap. III.) Im Gegensatze hierzu ist nun diejenige Richtung der neueren
Geometrie, die sich selbst die synthetische nennt, bestrebt gewesen,
ihre einzelnen Konstruktionen in einen systematischen Zusammenhang
zu bringen, in welchem aus den einfachsten Raumgebilden allmählich
die zusammengesetzteren hervorgehen. Hier ist aber zugleich die syn-
thetische Methode zur Forschungsmethode geworden, und als Dar-
stellungsmethode empfiehlt sie sich nur unter dem nämlichen Gesichts-
punkte, unter dem Descartes auch die analytische empfohlen hat,
und unter dem das Demonstrationsverfahren Euklids bestreitbar ist,
insofern nämlich, als im allgemeinen der zweckmäßigste Weg zur
112 Die Logik der Mathematik.
Nachweisung einer Wahrheit in der Reproduktion ihrer Auffindung
besteht.
Unzweifelhaft ist die synthetische Methode in diesem neuen Sinne
nicht auf die Geometrie beschränkt, sondern sie erstreckt sich über
alle Gebiete der Mathematik. Zu einer folgerichtigen Anwendung
derselben scheint aber allerdings eine anschauliche Beschaffen-
heit der Untersuchungsobjekte erforderlich zu sein. Dafür spricht
schon der Umstand, daß sie bei den komplizierteren Aufgaben der
höheren Geometrie wachsenden Schwierigkeiten begegnet, so daß sie
hier hinter der analytischen Behandlung zurückstehen muß. Diese
Bedingung der Anschaulichkeit resultiert aus dem der synthetischen
Methode eigentümlichen Konstruktionsverfahren, welches stets vor-
aussetzt, daß irgend ein zusammengesetztes Ganzes in leicht zu über-
sehender Weise aus der Synthese seiner Elemente gewonnen werde.
Neben der Geometrie ist es daher die Mechanik, deren elementare
Probleme eine synthetische Behandlung gestatten, wie denn auch in
die nach ihrem vorherrschenden Charakter sogenannte analytische
Mechanik und nicht minder in die analytische Geometrie Konstruk-
tionen von synthetischem Charakter eingehen. Von den aus der Arith-
metik hervorgegangenen Gebieten ist es hauptsächlich die Zahlentheorie,
die bei ihrer Beschäftigung mit den einzelnen Zahlbegriffen und Zahl-
gesetzen synthetischen Untersuchungen zugänglich oder sogar auf sie
angewiesen ist.
Hiernach kann, wenn wir die beiden Methoden unter überein-
stimmenden Bedingungen ihrer Anwendung vergleichen, von einer
zeitlichen Priorität der Analysis im Sinne Newtons nicht mehr die
Rede sein. Vielmehr zeigen sich zahlreiche Probleme ebensowohl der
synthetischen wie der analytischen Behandlung zugänglich. Nur bei
den fundamentalsten Aufgaben gewinnt die synthetische Methode
einen Vorrang und wird bei der Ableitung der einfachsten arithmetischen
und geometrischen Sätze ausschließlich verwendbar, während um-
gekehrt bei der Untersuchung sehr zusammengesetzter Objekte die
Analyse die näherliegende und manchmal selbst die allein mögliche
Methode ist.
Mit diesem Verhältnis, das nahezu eine Umkehrung der früheren
Auffassung in sich schließt, hängt ein weiterer Unterschied der modernen
Begriffe von den älteren zusammen. Nach den letzteren stehen Ana-
lysis und Synthesis beide im Dienste der Deduktion. Jede dieser
Methoden setzt die Prinzipien, aus denen Folgesätze abgeleitet oder
Beweise geführt werden sollen, als gegeben voraus. Nicht nur die
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 148
Definitionen und Axiome der Arithmetik und Geometrie, sondern auch
alle möglichen einzelnen Zahlformeln und mit Lineal und Zirkel im
Raume ausführbaren Konstruktionen, diese von Euklid zum Teil als
Postulate bezeichnet, gelten als ein ursprüngliches Inventar, über
welches die mathematische Deduktion beliebig verfügen könne. Wesent-
lich anders gestaltet sich die Sache, wenn man, wie es in der neueren
Mathematik geschieht, auf beiden Gebieten den genetischen Stand-
punkt zur Geltung bringt. Es erhebt sich dann notwendig die Frage,
wie jenes ursprüngliche Inventar selber entstanden sei, und wie seine
einzelnen Bestandteile miteinander zusammenhängen oder auseinander
hervorgehen. Hier ist es nun gerade auf der einen Seite die Zahlen-
theorie, auf der anderen die synthetische Geometrie, die in ihren grund-
legenden Teilen jene Frage zu beantworten suchen. Dadurch gelangt
in beiden das logische Verfahren der Induktion zu umfassender
Geltung. Auch die induktiven Operationen der Mathematik sind aber
teils synthetischer, teils analytischer Art, wie dies schon an den vier
arithmetischen Fundamentaloperationen zu sehen ist, deren einzelne
Sätze nicht bloß durch Induktion gefunden sind, sondern auch allein
auf induktivem Wege bewiesen werden können.
3. Die mathematische Induktion und Abstraktion.
a. Der mathematische Realismus und Nominalismus,
Bis in die neueste Zeit sind Mathematiker und Philosophen darin
einig gewesen, in der Mathematik das Vorbild einer deduktiven Wissen-
schaft zu sehen, die nur in einigen seltenen Fällen die sogenannte voll-
ständige Induktion zu Hilfe nehme. Umso weiter haben sich die An-
schauungen über die Natur der Voraussetzungen, von denen die mathe-
matische Deduktion auszugehen habe, voneinander entfernt. Bald
gilt die Mathematik deshalb als das Ideal einer Wissenschaft, weil
ihre Fundamentalsätze durch ihre Evidenz und Allgemeingültigkeit
auf eine dem Zufall wechselnder Erfahrungen entrückte Quelle der
Erkenntnis in dem menschlichen Geiste selbst hinzuweisen scheinen.
Bald behandelt man die Prinzipien der mathematischen Deduktion
als empirisch entstandene, aber durch willkürliche Annahmen von den
Erfahrungsobjekten abweichende Vorstellungen. Damit ist die meta-
physische Verwertung der Mathematik beseitigt, und gleichwohl be-
hält diese den Erfahrungswissenschaften gegenüber eine Ausnahme-
stellung, wie sie für die apodiktische Geltung ihrer Sätze unerläßlich
scheint. Beide Auffassungen begegnen sich daher in der Überzeugung,
Wundt, Logik. U. 3. Aufl. 8
114 Die Logik der Mathematik.
daß die Gewißheit der Mathematik auf der Unveränderlichkeit ihrer
Voraussetzungen beruhe. Aber diese Voraussetzungen erscheinen dort
als eingeborene Gesetze des Geistes, die dieser vielleicht aus einem
überempirischen Dasein mitbringe, und in denen man darum geneigt
ist gleichzeitig ursprüngliche Weltgesetze zu erblicken; hier verdanken
sie ihre allgemeinere Geltung der Übereinkunft der Menschen und
höchstens noch der praktischen Anwendbarkeit auf empirische Ob-
jekte. Darum besitzt in diesem Fall das mathematische Wissen einen
subjektiven und hypothetischen, gerade deshalb aber zugleich einen
exakten Charakter: denn nur unsere subjektive Willkür kann den
Begriffen jene Konstanz sichern, die zu einer exakten Beweisführung
erfordert wird. Für beide Anschauungen erscheinen in diesen ihren
Anwendungen auf das Gebiet der mathematischen Vorstellungen noch
heute die alten Bezeichnungen des Realismus und Nomina-
lismus als die passendsten*). Denn nach der einen Ansicht beruht
die Bedeutung der mathematischen Ideen wesentlich auf ihrer realen
Existenz im Geiste; die andere leugnet diese reale Existenz, jene Ideen
gelten ihr als willkürliche Schöpfungen, welche durch die für sie ein-
geführten Namen oder sonstigen Symbole die erforderliche Konstanz
erst empfangen. Weder der mathematische Realismus noch der No-
minalismus ist aber unverändert geblieben, sondern beide haben Wand-
lungen erfahren, durch die sie im Laufe der Zeit einander genähert
wurden.
Der Realismus Descartes’ trägt in mancher Beziehung noch die
Züge der Platonischen Ideenlehre. Die sinnlichen Objekte können
nur darum mathematische Ideen in uns hervorrufen, weil diese vorher
in unserem Geiste gelegen waren. Die Art, wie sie durch die äußeren
Eindrücke erweckt werden, schildert er deutlich als eine Art Wieder-
*) In seiner „allgemeinen Funktionentheorie“ (1882, T. I, 8. ‚58 fi.) hat
Paul du Bois Reymond für die nämlichen Gegensätze, insofern sie
bei den Grundbegriffen der Infinitesimalmethode zur Geltung kommen, die
Ausdrücke Idealismus und Empirismus gewählt. Ich habe es
vorgezogen, die Namen des mathematischen Realismus und Nominalismus,
die ich in einem vor dem Erscheinen des soeben genannten Werkes veröffent-
lichten Aufsatze (Philosophische Studien, I, S. 105) schon gebraucht hatte,
beizubehalten, da die philosophischen Richtungen des Idealismus und Em-
pirismus zwar häufig, aber keineswegs immer mit den hier gemeinten Gegen-
sätzen zusammentreffen, wie sie denn auch selbst keine Gegensätze bilden.
Berkeley z. B. ist als Philosoph bekanntlich Idealist und Empirist zugleich,
daneben huldigt er in mathematischer Beziehung einem entschiedenen No-
minalismus.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 115
erinnerung*). Über das Verhältnis der angeborenen Ideen zu den
sinnlichen Bildern, die ihnen entsprechen, spricht er sich nirgends in
unzweideutiger Weise aus. Im allgemeinen scheint er sich jene eben-
falls in der Form von Anschauungen gedacht zu haben. Zuweilen aber
weisen seine Äußerungen mehr auf eine bloß begriflliche Existenz hin.
Von dem Tausendeck z. B. sollen wir eine vollkommen klare Idee
besitzen, obgleich es unmöglich sei, dasselbe mit der Einbildungskraft
vorzustellen. Ähnlich unbestimmt bleibt überhaupt, was er eine „klare
Idee“ nennt. So sehr er es betont, daß die Klarheit der mathematischen
Vorstellungen ihren auszeichnenden Charakter bilde, der zugleich auf
ihren überempirischen Ursprung hinweise, so wenig hat er sich bemüht,
diesen Begriff der Klarheit sicher zu definieren. Nur dies kann als eine
bemerkenswerte Bestimmung angesehen werden, daß die klare Idee
für uns immer die nämliche überzeugende Kraft besitze, so oft wir uns
auch ihr zuwenden. Offenbar ist also die Unveränderlichkeit
ein sie auszeichnendes Merkmal.
Entschiedener nun als Descartes betont es Leibniz, daß die mathe-
matischen Ideen, um in unserem Geiste lebendig zu werden, der sie
auslösenden Einwirkung der Erfahrungsobjekte bedürfen. Deutlicher
aber zugleich scheidet er die ursprüngliche Natur jener Ideen von den
sinnlichen Bildern, in denen sie sich in der Erfahrung verwirklichen.
Die ursprüngliche Existenz der Idee ist ihm eine rein begriflliche. Hier-
für liegt ihm der unumstößliche Beweis darin, daß Bild und Begriff
vollkommen voneinander verschieden seien**). Der Begriff des Dreiecks
fällt ebensowenig mit dem einzelnen Dreieck zusammen wie die Zahl
mit den gezählten Objekten. Demnach denkt sich Leibniz die Ent-
wicklung der mathematischen Ideen keineswegs mehr in der Form einer
Wiedererinnerung, bei der eine Gleichheit zwischen dem Eindruck
und der zurückgerufenen Idee vorauszusetzen wäre; sondern die sinn-
lichen Bilder sind ihm vielmehr Gelegenheitsursachen, bei denen wir
uns ursprünglich in uns liegender Begriffe bewußt werden. Darum ist
ihm die mathematische Untersuchung umso vollkommener, je abstrakter
sie geführt wird; denn in gleichem Maße nähert sie sich einer adäquaten
Vorstellung der in uns liegenden Begriffe. In diesem Sinne stellt Leibniz
gelegentlich der wissenschaftlichen eine empirische Geometrie gegen-
*) Rep. aux cing. obj. (Desc.& Gassendi). Oeuvr. publ. par Cousin,
II, p. 290.
**) Nouv. ess. I, 1. IV, 17. Vgl. außerdem namentlich die unter den
Titeln „Initia mathematica“ und „Mathesis universalis“ mitgeteilten Schriften.
Math. Werke, Ausg. von Gerhardt, VII, S. 17 fi.
116 Die Logik der Mathematik.
über, die nicht wie jene durch den logischen Beweis, sondern durch die
unmittelbare Anschauung zu überzeugen suche*). Aus dem gleichen
Grunde schätzt er die Euklidische Demonstrationsmethode; nur scheint
es ihm, daß einzelne der Euklidischen Axiome eine Deduktion aus
abstrakteren Axiomen und Definitionen gestatten, und er macht in
dieser Beziehung verschiedene Versuche, das Euklidische System zu
verbessern**). Die Tatsache, daß schließlich auch die Euklidischen
Demonstrationen auf die Überzeugung durch unmittelbare Anschauung
zurückführen, gesteht er ebensowenig zu wie den induktiven Ursprung
der einfachsten arıthmetischen und geometrischen Sätze. Solche Sätze
sind nach ihm intuitiv gewiß; man muß sie anerkennen, sobald man
nur die Aufmerksamkeit auf sie wendet.
Durch die entschiedene Hervorkehrung der begrifilichen Natur der
mathematischen Ideen scheidet sich demnach Leibniz von Descartes.
Freilich hatte auch dieser schon die algebraische Behandlung der
Geometrie in der Absicht eingeführt, dadurch die geometrischen Gesetze
auf eine abstrakte und rein begriffliche Form zurückzuführen. Aber
er tadelt ebenso die Unfähigkeit der früheren Algebristen, ihren For-
meln eine anschauliche Anwendung zu geben, und seine Geometrie
verfolgt daher den doppelten Zweck einer analytischen Untersuchung
geometrischer Objekte und einer geometrischen Darstellung algebraischer
Gleichungen. Bei Leibniz gilt die analytische Behandlung in jeder
Beziehung als die vorzüglichere. Aus diesem Grunde zieht er schon
die Arithmetik als die abstraktere Disziplin der Geometrie vor, und
unter den Euklidischen Axiomen bevorzugt er diejenigen, die den
Charakter abstrakter Größenaxiome besitzen. So eröffnet Leibniz in
der Entwicklung der neueren Mathematik jene Periode unbedingter
Herrschaft der Analysis, die später in Euler und Lagrange kulminierte,
und in der man es sich zu besonderem Ruhme anrechnete, in der Mechanik
und womöglich sogar in der Geometrie der Figuren entraten zu können.
Gerade die Schroffheit, mit der Leibniz die nach ıhm an sıch der
Anschaulichkeit völlig entbehrenden Grundbegriffe von ihren anschau-
lichen Anwendungen scheidet, verwickelt nun aber den mathematischen
Realismus in neue Schwierigkeiten. Sind die ursprünglichen Ideen
selbst anschaulicher Natur, so liefert der psychologische Mechanismus
der Reproduktion ein immerhin verständliches Schema für die Rück-
beziehung des unmittelbar Angeschauten auf eine ideale Form. Der
*) Opera philos., ed. Erdmann, p. 382.
**) Opera philos., ed. Erdmann, p. 81 Nota. Math. Werke, Ausg.
von Gerhardt, VII, S. 260 f.: Specimen Geometriae luciferae.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 117
abstrakte Begriff mit realer Existenz gedacht ist aber gegenüber dem
sinnlichen Objekt ein völlig Inkommensurables. Diese Anschauung ist
mystisch, denn sie setzt hinter die Welt der Vorstellungen noch einmal
eine Welt völlig unvorstellbarer Ideen, und es bleibt unbegreiflich, wie
das vorgestellte Objekt die unvorstellbare Idee im Bewußtsein soll er-
wecken können. So erschien es denn dringend geboten, die Inkongruenz
zwischen Idee und Bild wieder zu beseitigen und der Idee ihre anschauliche
Natur wiederzugeben, um ihre Beziehung zu den sinnlichen Objekten
erklärlich zu machen. Diesen letzten Schritt in der Entwicklung des
mathematischen Realismus hat Kant getan mit seiner Lehre von der
reinen Anschauung und den Anschauungsformen.
Es ist ohne Zweifel einer der glücklichsten Griffe Kants gewesen,
daß er von der vielgestaltigen Menge der einzelnen mathematischen
Ideen zurückging auf die Grundlagen, auf die sie sich alle beziehen
müssen, auf die Raum- und Zeitanschauung. Schon die Zahl, die der
Mathematiker in den Vordergrund zu stellen pflegt, gibt nach Kant
durch die Zusammenfassung der aufeinander folgenden Zeitpunkte
dem Begriff der Quantität eine anschauliche Form, und sie ist daher
ein sekundäres Erzeugnis jenes Begrifisschematismus, der überall erst
die allgemeinen Begriffe durch ihre Darstellung in Formen des Zeit-
verlaufs anwendbar machen soll auf die sinnliche Erfahrung. Die Be-
wegung vollends setzt nicht nur Zeit und Raum, sondern auch die Wahr-
nehmung eines beweglichen Etwas voraus, und er behauptet daher,
daß sie im Unterschied von Zeit und Raum, die aller Erfahrung vor-
ausgehen, ein empirischer Begriff sei*). Endlich die einzelnen arith-
metischen Operationen, die einzelnen geometrischen Gebilde sind nach
Kant durchaus nur Konstruktionen innerhalb der reinen Zeit- und
Raumanschauung, zu denen wir durch den Eindruck empirischer
Objekte veranlaßt werden, und bei deren Ausführung wir uns
daher ebensolcher Objekte bedienen müssen**). Die unendliche
Menge mathematischer Ideen, die der vorangegangene Realismus
als ein angeborenes Besitztum des Geistes angesehen hatte, beschränkt
sich also bei Kant auf die reine Raum- und Zeitanschauung. Diese
allein sind a priori gegeben, und die Zeitanschauung vermittelt über-
dies noch durch ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität
den reinen Begriff der Zahl. Alles weitere dagegen besteht in Vor-
stellungen, die durch „Einschränkungen“ jener allgemeinen Anschau-
*) Kritik der reinen Vern., 2. Aufl., S. 58.
**) Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik. Ausg. von Rosen-
kranz, S. 19.
118 Die Logik der Mathematik.
ungen entstehen, zu welchen Einschränkungen wir durch einzelne
sinnliche Wahrnehmungen veranlaßt werden. Indem wir an dem
sinnlichen Objekt dasjenige auffassen, was an ihm reine Anschauung
ist, entsteht der Gegenstand des mathematischen Begrifis, der in dem
äußeren Objekt nur seine Gelegenheitsursache hat, sonst aber ganz
und gar der reinen Anschauung angehört. Auf diese Weise wird
z. B. das sinnliche Dreieck Anlaß zur Bildung der Idee des geometrischen
Dreiecks. Die mathematischen Definitionen und Axiome sind Sätze,
die sich auf die Verbindung der Bestandteile der reinen Anschauung
beziehen, und sie sind daher nach Kants prägnantem Ausdruck „syn-
thetische Urteile a priori“.
Diese fundamentale Reform der realistischen Lehre unterscheidet
sich von ihrer vorangegangenen Gestaltung bei Leibniz hauptsächlich
dadurch, daß der ursprüngliche Besitzstand des Geistes an mathe-
matischen Ideen nicht mehr als ein begrifflicher, sondern als ein an-
schaulicher angesehen wird. Kants Bemühen ist daher überall
darauf gerichtet, die anschauliche Natur der mathematischen Opera-
tionen und Demonstrationen darzutun, und er weist in sichtlichem
Gegensatze zu Leibniz darauf hin, wie gerade auch bei Euklid der Beweis
schließlich an die unmittelbare Anschauung appelliere*). Alle weiteren
Unterschiede haben hierin ihre Quelle. Besteht der ursprüngliche
Besitz des Geistes, aus dem die Mathematik schöpft, in Anschauungen
und nicht in Begriffen, so genügt es, die allgemeinen Anschau-
ungsformen als ursprüngliche zu betrachten, aus denen sich die ein-
zelnen mathematischen Vorstellungen entwickeln können. Damit
wird auch der Einfluß der Erfahrungsobjekte ein anderer; diese wirken
nicht mehr nach Analogie der psychologischen Reproduktion, sondern
sie erwecken jene Tätigkeit der reinen Einbildungskraft, welche die
äußeren Objekte gewissermaßen in die reine Anschauung überträgt,
indem sie lediglich dasjenige nacherzeugt, was an ihnen der Raum-
und Zeitform angehört. Ist auf diese Weise jede Tätigkeit, welche
mathematische Gebilde schaft, konstruktiver Natur, so be-
sitzen aber auch notwendig die mathematischen Fundamentalsätze den
Charakter synthetischer Urteile. Jene einschränkende Tätigkeit, welche
die Einbildungskraft an den Anschauungsformen ausübt, um die ein-
zelnen Objekte der mathematischen Betrachtung hervorzubringen,
muß zugleich ein Zusammenfügen der einzelnen Elemente sein, aus
denen die Objekte bestehen. So entsteht jede Zahl aus der Verbin-
*) Kritik der reinen Vern., 2. Aufl., S. 39.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 119
dung ihrer Einheiten, jede geometrische Figur aus der Verbindung der
einfacheren Raumgebilde, die zu ihrer Konstruktion verwendet werden.
In dieser starken Betonung der synthetischen Grundlagen der Mathe-
matik kündet sich in der Lehre Kants schon das Ende jener Allein-
herrschaft der Analysis an, die mit Leibniz begonnen hatte.
Von so unbestreitbarer Wahrheit nun aber auch die Behauptung
der synthetischen Natur der mathematischen Fundamentalsätze ist, so
ist doch die Grundlage, auf der das ganze Gebäude von Kants Philo-
sophie der Mathematik ruht, die Apriorität der Anschauungsformen,
von ihm nicht bewiesen worden. Seine beiden Argumente, daß die
Vorstellungen räumlicher und zeitlicher Objekte die allgemeinen Vor-
stellungen von Raum und Zeit als Bedingungen voraussetzen, und daß
alle mathematischen Sätze einen apodiktischen, also über die Zufällig-
keit der Erfahrung hinausweisenden Charakter besitzen, sind hin-
fällig. Denn allerdings kann das Einzelne in Raum und Zeit nicht vor-
gestellt werden, ohne daß die Raum- und Zeitanschauung vorhanden
wäre; aber dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß sich diese an und
mit den einzelnen Vorstellungen gleichzeitig entwickelt, und insofern
es keine Anschauungsformen gibt ohne einen Empfindungsinhalt, ist
diese Annahme die zunächst gebotene. Apodiktisch aber ist das aus-
nahmslos Gültige; der apodiktische Charakter mathematischer Sätze
wird daher vollkommen zureichend durch die Tatsache erklärt, daß
sie sich auf die konstanten Bestandteile aller Erfahrung beziehen.
(Vgl. Bd. I, S. 468, 491 fi.) Hat also auch Kant den anschaulichen und
darum synthetischen Charakter der mathematischen Fundamentalsätze
vollkommen richtig erkannt, so hat er doch keineswegs den Beweis
geliefert, daß sie synthetische Urteile apriorisind. Nun bildet aber
dies gerade den auszeichnenden Bestandteil der Kantischen Lehre.
Nimmt man die Apriorität der mathematischen Prinzipien hinweg, so
mündet Kants transzendentale Ästhetik in den Strom jener empiristischen
Anschauungen, welche sich aus der entgegengesetzten Denkweise des
Nominalismus entwickelt haben.
Weit mehr an der Oberfläche als die Wandlungen des Realismus
sind die Veränderungen geblieben, die die Richtung des mathema-
tischen Nominalismus erfahren hat. Ein weiter Raum trennt
schon die Anschauungen Descartes’ von Leibniz, und die Lehre Kants
hat sich fast in allen Stücken im direkten Gegensatze zu Leibniz
entwickelt. Zwischen Thomas Hobbes und John Stuart Mill dagegen
‚besteht fast nur der Unterschied ungleicher Betonung der verschie-
denen Bestandteile einer im ganzen übereinstimmenden Ansicht. In
120 Die Logik der Mathematik.
seiner Überzeugung von dem Wert der mathematischen Methode läßt
sich Hobbes nur mit Leibniz vergleichen*). Diese Hochschätzung tritt
bei ihm umso augenfälliger hervor, je mehr sie gegen seine Auffassung
der Grundbegriffe kontrastiert. Die Definitionen der Mathematik ver-
danken ihre Unveränderlichkeit nur der Konstanz der Namen, mit
denen wir die willkürlich gebildeten Begriffe festhalten; die Axiome
aber sind aus den Definitionen abgeleitet, sie besitzen daher weder
den Wert von Denkgesetzen noch von objektiven Naturgesetzen,
sondern sie sind willkürliche Festsetzungen wie die ihnen entsprechenden
Definitionen selbst. Der Zweck dieser willkürlichen Festsetzungen
pflegt endlich in der isolierten Inbetrachtnahme gewisser Bestandteile
der sinnlichen Objekte zu bestehen. Darum verbessert Hobbes die
geometrischen Definitionen Euklids: Punkt ist nicht dasjenige, was
keine Teile hat, sondern dasjenige, wovon beim Beweis keine Teile
in Betracht zu ziehen sind; eine Linie ist nicht selbst ohne Breite, sondern
sie soll beim Beweis so betrachtet werden. Auf diese Weise erscheinen
die mathematischen Begriffe durchgängig als Erzeugnisse einer A b-
straktion; diese aber ist nicht eine notwendige Tätigkeit des
Geistes, sondern sie beruht auf willkürlicher Übereinkunft. Nur hier-
durch wird es begreiflich, daß für Hobbes der auszeichnende Charakter
der Mathematik nicht in ihrem begrifflichen Inhalt, sondern nur in ihrer
Methode besteht. Wie er daher einerseits z. B. der Politik die Fähig-
keit zuschreibt, sich zum Rang einer mathematischen Disziplin zu
erheben, so sieht er anderseits in jedem streng logischen Denken eine
Folge mathematischer Operationen.
Sehen wir so in Hobbes den nominalistischen Gesichtspunkt,
die Annahme der willkürlichen Feststellung der Begriffe, durchaus
vorwalten und die Anerkennung der empirischen Motive derselben
verhältnismäßig zurücktreten, so gewinnen dagegen bei Locke diese
das Übergewicht. Das Element der Willkür hat sich bei ihm zu der
Anerkennung ermäßigt, daß die mathematischen Ideen den Objekten
der Wahrnehmung nicht unmittelbar gleich seien, sondern durch freie
Variation der durch die äußeren Eindrücke entstandenen allgemeinen
Ideen des Raumes, der Zahl u. s. w. gebildet würden. Trotz dieses von
ihm zugestandenen idealen Charakters der mathematischen Ideen weist
ihnen aber Locke zugleich eine reale Bedeutung an, da er hervorhebt,
die mathematischen Sätze besäßen eben insofern objektive Wahrheit,
*) Vgl. J. J. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathe«
matik in der neueren Philosophie, 1868, Bd. I, S. 237 ff.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 234
als die Dinge mit ihren mathematischen Vorbildern in unserem Geiste
immer in einem gewissen Grade übereinstimmten*). Sicherlich ist er
zu diesem Zugeständnis wesentlich durch seine empiristische Neigung
geführt worden, der die Annahme von Prinzipien widerstrebte, deren
Anwendbarkeit auf die Erfahrung irgendwie bezweifelt werden konnte.
Dennoch kommt gerade dadurch in seine Auffassung der Mathematik
ein stark realistischer Zug. Erinnert doch die Annahme von Vorbildern
im Geiste, abgesehen von der Behauptung ihrer empirischen Entstehung,
unmittelbar an Cartesianische Vorstellungen. Fast noch näher kommt aber
Locke, durch die Betonung der anschaulichen Natur der mathematischen
Ideen und die Rückbeziehung aller mathematischen Beweise auf die
Anschauung, bereits Kant. Denn was ist die allgemeine Idee des Raumes
anderes als eine reine Anschauung, nur daß sie a posteriori entstanden
gedacht wird? Vollends die Einschränkungen und Variationen dieser
Idee sind ein Konstruieren innerhalb der reinen Anschauung, welches
sogar in die logische Form synthetischer Urteile a priori gebracht
werden könnte. So leidet die Lehre Lockes an einem unheilbaren
Widerspruch zwischen der empiristischen Grundanschauung und den
zum Teil völlig rationalistischen Ausführungen im einzelnen. Ist die
Erfahrung die einzige Quelle des Wissens, so bleibt es in der Tat un-
begreiflich, wie Ideen entstehen können, denen kein adäquates Objekt
in der Erfahrung entspricht.
Ein solcher Widerspruch ließ sich vermeiden, sobald man die
Identität der mathematischen Ideen und der sinnlichen Einzelvor-
stellungen behauptete. Diesen Weg schlug Berkeley ein. Wie er die
abstrakten Begriffe leugnet, so selbstverständlich auch die Existenz einer
reinen Raum- und Zeitanschauung. Die vollkommen zu Recht bestehende
psychologische Unmöglichkeit, das Allgemeine als solches vorzustellen,
veranlaßt ihn, ihm auch die logische und erkenntnistheoretische Be-
rechtigung abzusprechen, und er versetzt sich dadurch in einen schneiden-
den Widerspruch vor allem mit den Postulaten der mathematischen
Wissenschaft. Das Dreieck im Geiste und das wirkliche Dreieck sind
ihm eins und dasselbe. Alle zufälligen Eigenschaften des letzteren
finden sich in jenem wieder. Auch die geometrische Demonstration hat
daher nur dieses sinnliche Dreieck im Auge, und die an ihm bewiesenen
Sätze haben für andere Dreiecke nur insofern Gültigkeit, als sie ihm
gleichen. Die bindende Kraft der mathematischen Folgerungen hat
darum nach Berkeley schließlich ihren Grund in der Konstanz der
*) Essay, B. II, ch. 13; B. IV, ch, 4.
122 ‚Die Logik der Mathematik.
geometrischen Figuren und der sonstigen Objekte,“auf die sich die
Demonstration bezieht*). Die Schwäche dieser Begründung liegt
offen zu Tage. Als sinnliche Einzelvorstellungen entbehren die mathe-
matischen Objekte durchaus der Unveränderlichkeit, die ihnen Berkeley
zuschreibt. Sie gewinnen dieselbe gerade erst durch jene Denkakte,
durch die unter ihnen abstrakte Begriffe gedacht werden, welche Ber-
keley leugnet.
Auf dem Boden der Erfahrungsphilosophie gibt es nur einen
Ausweg aus diesen Schwierigkeiten: die Rückkehr zu der nomina-
listischen Anschauung von Hobbes. Sie beginnt mit Hume. Freilich
glaubt auch Hume die mathematischen Ideen nicht als bloße Erzeugnisse
der Abstraktion ansehen zu können, sondern er gibt ihnen mit Berkeley
ein sinnliches Substrat. Aber er hält es nicht für erforderlich, daß jede
einzelne Zahl, jede beliebige geometrische Figur aus der Anschauung
eines sinnlichen Objekts entspringe, sondern er meint, nur die Elemente,
mit denen wir unsere Konstruktionen ausführen, müßten als reale Ob-
jekte der Erfahrung gegeben sein**). So gewinnen wir eine gegebene
Zahl durch die wiederholte Setzung eines Punktes, so eine geometrische
Kurve durch die Aneinanderreihung von Punkten u. s. w. Auf diese
Weise ist es der in der Wahrnehmung unteilbare Punkt, auf den alle
arithmetischen und geometrischen Konstruktionen als letztes gegebenes
Element zurückführen. Aus diesem Element erzeugen wir aber nach
Willkür alle mathematischen Vorstellungen, und auf dieser unserer
willkürlichen Erzeugung beruht schließlich die Evidenz der mathe-
matischen Folgerungen.
So spielt bei Hume der sicht- und fühlbare Punkt die Rolle eines
psychischen Atoms. Dieses ist ihm eine unmittelbare Tatsache der
sinnlichen Erfahrung. Durch Wiederholung und Aneinanderfügung
desselben sollen wir aber in freier Konstruktion alle möglichen mathe-
matischen Gebilde hervorbringen können, wobei wir freilich auch hier
durch die Beispiele geleitet werden, die uns in der äußeren Erfahrung
gegeben sind. Doch die Schwierigkeiten, denen Berkeleys Anschauung
begegnet war, sind durch diese Beschränkung der sinnlichen Objekte
der Mathematik auf ein letztes Element nicht beseitigt. Denn wie sollen
wir voraussetzen, daß dieses Element in allen mathematischen Vor-
stellungen derselben Art ein konstantes bleibe, wie es doch im mathe-
matischen Denken vorausgesetzt wird, während die Eigenschaften
*) Treatise on the principles of hum. knowledge. Introd. und CXT £.
*%) Treat. on'hum; mat, B..L.27.,
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 123
unserer Empfindung fortwährend wechseln? Wie verträgt sich ferner
die Annahme, daß der mathematische Punkt reale Ausdehnung und
sonstige qualitative Eigenschaften wie Farbe und Festigkeit hat, mit
der mathematischen Voraussetzung, daß ihm alles dies nicht zukomme?
Wenn die sinnliche Wahrnehmung die einzige Quelle unserer Ideen ist,
so dürfen wir auch erwarten, alle Bestandteile jener in diesen wiederum
anzutreffen.
Hier gibt es keine andere Rettung, als den Rückgang auf Hobbes
ganz zu vollziehen, einzugestehen, daß die Voraussetzungen der Mathe-
matik abweichen von den sinnlichen Vorstellungen, durch die sie an-
geregt werden, eben darum aber auch schon den Grundlagen dieser
Wissenschaft nur einen hypothetischen Wert beizulegen. Es ist haupt-
sächlich das Verdienst John Stuart Mills, die Notwendigkeit dieser
Konsequenz erkannt zu haben. Seine Anschauungen fallen in allen
wesentlichen Punkten mit denen von Hobbes zusammen; aber die
erkenntnistheoretische Arbeit eines Locke, Berkeley und Hume ist
für ihn nicht umsonst getan. Das sinnliche Dreieck und das Dreieck
in unserem Geiste, erklärt auch Mill, sind eins und dasselbe; einen Punkt
ohne Ausdehnung und eine Linie von absolut gerader Richtung gibt es
nicht in unserer Anschauung*). Gerade darum aber beziehen sich die
Definitionen und Axiome der Geometrie weder auf die sinnlichen Ob-
jekte noch auf unsere Vorstellungen von ihnen, sondern auf rein
hypothetische Gebilde, denen sich die Objekte immer nur mehr
oder weniger annähern können. Jene Definitionen und Axiome haben
daher nur insoweit reale Gültigkeit, als sich die Objekte ihnen wirk-
lichannähern. Nurineinem Punkte entfernt sich Mill von Hobbes:
die Voraussetzungen der Mathematik sind ihm nicht willkürliche Fik-
tionen, sondern Hypothesen, zu denen wir durch die Erfahrung genötigt
werden. Doch ist auch dieser Unterschied fast nur ein scheinbarer,
denn weder hat Hobbes den Einfluß der Erfahrung geleugnet, noch kann
sich Mill der Anerkennung widersetzen, daß die Aufstellung mathe-
matischer Hypothesen schließlich eine Handlung unseres Willens sei.
Es ist bemerkenswert, daß neuere Mathematiker nicht selten aus
eigenem Antrieb zu der nämlichen Auffassung gedrängt, dabei aber
meistens durch Motive bestimmt worden sind, die von dem Empiris-
mus Mills weit abliegen. Da zahlreiche Objekte mathematischer Speku-
lation ganz und gar imaginärer Art sind, also auf Voraussetzungen
*) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik, übers. von
Schiel?, I, S. 270 £.
124 Die Logik der Mathematik,
beruhen, die nicht unmittelbar aus der Erfahrung entspringen können,
so betrachtet man alle diese Voraussetzungen als willkürliche Hypo-
thesen. Da übrigens von den Vertretern der spekulativen Mathematik
zugestanden wird, daß irgendwelche imaginäre Begriffe stets in Opera-
tionen ihre Quelle haben, die von den einer realen Veranschaulichung
fähigen arithmetischen oder geometrischen Begriffen ausgehen, so
bleibt auch hier in Bezug auf die fundamentalsten Prinzipien die An-
sicht Mills bestehen, daß dieselben hypothetischer Art, aber aus Anlaß
bestimmter Erfahrungsobjekte gebildet seien*).
Das logische Verfahren nun, das aus einzelnen Erfahrungen all-
gemeine mathematische Sätze, Definitionen oder Axiome, ableitet,
bezeichnet Mill als eine Induktion, und er faßt dasselbe als voll-
kommen übereinstimmend mit der Gewinnung physikalischer oder
anderer Naturgesetze durch Induktion auf. Wie sich auf physikalischem
Gebiet die empirischen Erscheinungen den von uns formulierten Gesetzen
immer nur mehr oder weniger annähern, so sollen die Gesetze der Arith-
metik und Geometrie nur eine schematische Bedeutung besitzen, da-
durch aber gerade auf alle möglichen Objekte anwendbar sein. Auch in
diesen Ausführungen treten die Schwächen der nominalistischen Auf-
fassung deutlich zu Tage. Daß die mathematischen Wahrheiten in
irgend einer Art von Erfahrung ihre Quelle haben, wird niemand mehr
leugnen. In diesem Sinne wird auch von vornherein zugestanden
werden, daß die mathematische Erkenntnis schließlich auf Induktionen
zurückführt. Aber daß nun diese Induktionen in ihrem Wesen völlig
mit denjenigen übereinstimmen sollen, aus denen wir allgemeine Natur-
gesetze gewinnen, dies ist eine Annahme, die in der tatsächlichen Ver-
schiedenheit physikalischer und mathematischer Sätze ihre Widerlegung
findet. Wohl stellt auch der Physiker abstrakte Gesetze auf, die in der
Erfahrung immer nur annähernd verwirklicht sind. Aber alle Ab-
weichungen beobachtet er auf das genaueste und sucht sie auf ihre
Ursachen zurückzuführen. Den Geometer dagegen stören die Un-
genauigkeiten seiner Figuren ebensowenig wie die Erkenntnis, daß
es keine Objekte gibt, die seinen Begriffen vollkommen adäquat sind.
Hierin liegt eben der Beweis, daß sich seine Induktionen nicht auf
äußere Objekte beziehen, sondern nur auf seine eigenen Vorstellungen,
und daß hier die Objekte bloß die Rolle von Hilfsmitteln spielen, welche
die Vorstellungen erwecken sollen. Doch ineiner Beziehung existiert
allerdings eine bemerkenswerte Analogie zwischen der Generalisation
*) Vgl. hierzu Bd. I, S. 387 ff., wo diese Beziehungen des neueren Positi-
vismus zum mathematischen Nominalismus näher erörtert sind.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 125
der Naturgesetze und der Aufstellung mathematischer Sätze. Bei den
fundamentalen Naturgesetzen gehen wir im allgemeinen von der Voraus-
setzung aus, daßsievoneinfacher Artsind. daß sie also insbesondere
eine einfache mathematische Formulierung zulassen. Nicht minder
herrscht in der Mathematik diese Lex simplieitatis. In der Geometrie
z. B. gelten der Punkt, die Gerade, die Ebene offenbar deshalb als die
Elemente aller Konstruktion, weil sie die einfachsten Gebilde unserer
geometrischen Abstraktion sind. Aber auch hier besteht ein wesent-
licher Unterschied. In der Mathematik ist die Einfachheit der Prin-
zipien eine selbstverständliche Voraussetzung. Wo es sich zeigen sollte,
daß ein Prinzip dieser Voraussetzung nicht genügt, da muß es zerlegt
werden, bis sie erfüllt ist. In der Naturwissenschaft ist die Einfachheit
ein Postulat, dem immer nur insoweit nachzugehen erlaubt ist, als es
die Erfahrung gestattet. Daraus geht schon hervor, daß dieses Postulat
gar nicht in der Naturwissenschaft selbst entsprungen ist, sondern
von außen in sie hereingetragen wird. In der Tat ist leicht zu erkennen,
daß es nirgend anders als in der Mathematik oder in den formalen
Gesetzen unserer Zeit- und Raumanschauung, die das nächste Objekt
der Mathematik sind, seine Wurzel hat, wie solches auch die Tatsache
andeutet, daß wir für jedes Naturgesetz einen möglichst einfachen
mathematischen Ausdruck zu finden suchen.
Die Auffassung der mathematischen Sätze als Generalisationen,
die den Generalisationen der Naturgesetze entsprechen sollen, kreuzt
sich nun aber außerdem mit einer fast noch unzulässigeren Anwendung
des Begriffs der Abstraktion. Da es keine Objekte oder Vor-
stellungen gibt, die den Begriffen der Einheit, des Punktes, der Geraden
u. s. w. vollkommen adäquat sind, so liegt es nahe, alle mathematischen
Grundbegriffe aus einem Abstraktionsprozeß hervorgehen zu lassen.
So wenig nun zu leugnen ist, daß die Mathematik auf Induktionen
aufgebaut sei, ebensowenig läßt sich die Bedeutung der Abstraktion
bei der Aufstellung ihrer Begriffe in Abrede stellen. Aber auch hier be-
geht wieder der Nominalismus den Fehler, daß er diese Abstraktion
als einen uniformen Prozeß ansieht, der sich in seiner Betätigung auf
mathematischem Gebiete durchaus nicht unterscheide von der Ab-
straktion sonstiger Erfahrungsbegriffe. Nach ihm sollen wir den Begriff
der Geraden in der nämlichen Weise bilden, in der in uns etwa der Be-
griff eines vierfüßigen Tieres entsteht. Wie wir bei diesem von allen
Merkmalen eines Tieres nur dasjenige der vier Füße festhalten, so sollen
wir bei dem Begriff der Geraden nicht nur von der verschiedenen Dicke
und Länge der einzelnen in der Erfahrung gegebenen geraden Linien,
126 Die Logik der Mathematik.
sondern auch von ihrer mehr oder minder großen Abweichung von der
geraden Richtung absehen und so die Gerade in abstracto übrig behalten,
Als wenn diese Eigenschaft gerade zu sein nicht eben allen einzelnen
Linien, die von der geraden Richtung abweichen, fehlte, so daß sie un-
möglich aus ihnen abstrahiert werden kann, sondern offenbar schon
vorhanden sein muß, wenn jene Richtungen als annähernd gerade
erkannt werden sollen. Ja Mill stellt gelegentlich die Eigenschaft der
Dinge zählbar zu sein auf eine Linie mit ihrer Eigenschaft blau oder
hart oder süß zu sein, mit dem einzigen Unterschied, daß dieses Merkmal
der Zählbarkeit allen Dingen ohne Ausnahme zukomme*).
Gibt der Nominalismus in seinen Anfängen von der Entstehung
der Voraussetzungen, von welchen die mathematische Demonstration
ausgeht, gar keine Rechenschaft, so ist die Antwort dieser seiner letzten
Entwicklungen ungenügend; denn indem hier hauptsächlich auf die
äußeren Gelegenheitsursachen der mathematischen Begriffe Wert ge-
legt wird, bleiben die wesentlichen logischen Eigentümlichkeiten, die
bei der Entstehung dieser Begriffe obwalten, unbeachtet. Wirft so der
Nominalismus die mathematischen Begriffe trotz ihrer bedeutsamen
Unterschiede mit den gewöhnlichen Erfahrungsbegriffen zusammen,
so reißt aber der Realismus beide dergestalt auseinander, daß den mathe-
matischen Prinzipien abermals das logische Fundament abhanden
kommt. Sie erscheinen entweder, wie in den älteren Ansichten, als ein
ursprüngliches Besitztum des Geistes oder, wie bei Kant, als Erzeugnisse
einer in ursprünglichen Anschauungsformen frei tätigen Einbildungs-
kraft. So wertvoll hier der Hinweis auf die Beteiligung des Denkens
und der allgemeinen Formen unserer Anschauung ist, so wird doch
dabei nicht nur der Einfluß der äußeren und inneren Erfahrung unter-
schätzt, sondern es fehlt auch jeder Versuch, jener konstruktiven
Tätigkeit, welche die mathematischen Objekte erzeugt, im einzelnen
nachzugehen und die logischen Verfahrungsweisen festzustellen, aus
denen die mathematischen Begriffe entspringen. Ein Versuch dieser
Art darf aber nicht die Prinzipien für sich ins Auge fassen, isoliert von
dem Unterbau zahlreicher einzelner Anschauungen und Sätze, den sie
voraussetzen. Denn die Geschichte der Mathematik lehrt, daß auch in
ihr fast überall einzelne Erkenntnisse den allgemeinen vorangegangen sind.
b. Die historische Bedeutung der mathematischen Induktion.
Wo immer wir im stande sind, die grundlegenden mathematischen
Erkenntnisse auf ihren ersten Ursprung zurückzuverfolgen, da ergibt
*) Mill, Logik, I?, S. 266.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. ar
sich als deren Quelle die Induktion aus der Erfahrung. So wird niemand
daran zweifeln, daß die vier arithmetischen Fundamentaloperationen
aus Anlaß der Wahrnehmungen getrennter Objekte und ihrer ver-
schiedenartigen Gruppierungen entstanden seien, da außer unserem
eigenen Ziffernsystem die sämtlichen Zählmethoden der Naturvölker
auf einen solchen Ursprung hinweisen*). Aber es ist bemerkenswert,
daß wir in den Anfängen der mathematischen Wissenschaft deutlichen
Spuren der Induktion auch bei zusammengesetzten arithmetischen
Problemen begegnen. Eine der frühesten Aufgaben dieser Art, die sich
an die Division anschließt, ist wohl die Umwandlung der durch die
Teilung eines Ganzen gewonnenen Bruchzahlen in eine Summe ein-
facherer Brüche, die ihnen äquivalent ist, eine Aufgabe, die schon von
den altägyptischen Rechnern mit großer Fertigkeit gelöst wurde**).
Der einfachste Bruch ist der, dessen Zähler die Eins ist, weil er un-
mittelbar das Verhältnis des Teils zu dem Ganzen angibt. Die Über-
führung in solche Stammbrüche gewährte eine leichtere Vergleichung
verschiedener Teilungen miteinander, und sie spielte daher, wie es
scheint, in den frühesten Zeiten der Mathematik eine ähnliche Rolle,
wie sie heutzutage dem entgegengesetzten Verfahren der Umwandlung
in Brüche mit gleichem Nenner zukommt. Aber während wir uns zu
dem letzteren Zweck einer einfachen auf die arithmetischen Axiome
gegründeten Regel bedienen, fand der ägyptische Rechner offenbar
rein empirisch durch versuchsweise Teilungen, daß beispielsweise
2 1 1 2 1 1-8; 4 -
a er er sel, u. 8. w. Wie sehr die so
gewonnene Tafel der Induktion entsprungen ist, geht am sichersten
daraus hervor, daß keinerlei übereinstimmende Regel die verschiedenen
Teilungen beherrscht, so daß offenbar jede einzelne Zerlegung eine
besondere Induktion erforderte.
Daß die frühesten geometrischen Sätze in ähnlicher Weise ent-
standen sind, wird nicht minder durch die Umstände, die ihr erstes
Auftreten begleiten, über allen Zweifel erhoben. Eine der ersten
Aufgaben der praktischen Geometrie war wohl die Berechnung des
Flächeninhaltes eines Quadrats aus seiner Seite. Indem man ein be-
liebiges Quadrat in kleine Quadrate von der Seitenlänge 1 zerlegte,
*) A.v. Humboldt, Crelles Journal f. Mathematik, Bd. 4, S. 205. Pott,
Die quinäre und vigesimale Zählmethode 1847. Vgl. auch meine Völkerpsycho-
logie?, I, 2, S. 25 fi.
**) A. Eisenlohr, Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter
(Papyrus Rhind des British Museum), 1877.
128 Die Logik der Mathematik.
ergab sich durch einfache Addition der Satz, daß der Flächeninhalt
= a.a sei, wenn die Länge einer Seite = a ist. Es lag nahe, diesen
Satz sofort auf das Rechteck zu übertragen und festzustellen, daß hier
den Seiten a und 5 ein Flächeninhalt «.b entspricht. Nur wenn in
solcher Weise der erste Schritt durch Induktion getan war, konnte es
geschehen, daß eine ähnliche Übertragung weiterhin auch da stattfand,
wo sie zu falschen Ergebnissen führte, daß man also beispielsweise den
Inhalt des gleichschenkligen Dreiecks von den Seitenlängen a und 5
zu
2 bestimmte*). Auch die Ausmessung der Kreisfläche konnte
in der frühesten Zeit nur empirisch, etwa durch Teilung in kleine Qua-
drate und Vergleichung mit dem über dem Durchmesser errichteten
Quadrate geschehen sein, da sonst kaum begreiflich wäre, daß dieses
Problem von Anfang an gerade in der Form der Quadratur des Kreises
aufgetreten ist.
Von noch größerem Interesse sind die Spuren, die darauf hin-
weisen, daß Sätze, deren verwickelte Beschaffenheit ihre allgemein-
gültige Erkenntnis durch Induktion ausschließt, in gewissen ein-
facheren Fällen dennoch auf diesem Wege gefunden wurden, und der
nachfolgenden Deduktion nur die Aufgabe blieb, einen Beweis zu er-
sinnen, der das in einzelnen anschaulichen Beispielen Erkannte zu einer
allgemeinen Wahrheit erhob. Auch hier mögen nicht selten empirische
Proben, ob das in einem bestimmten Fall Beobachtete auch in einem
anderen davon abweichenden zutrefie, dem verallgemeinernden Be-
weise vorangegangen sein; war aber dieser erst gefunden, so geriet jene
induktive Vorbereitung leicht in Vergessenheit. Wenn uns übrigens
berichtet wird, daß die Alten den Satz von der Winkelsumme im Dreieck
für jede besondere Form des Dreiecks auch besonders bewiesen, zuerst
für das gleichseitige, dann für das gleichschenklige
und zuletzt für das ungleichseitige Dreieck, so
B werden wir hierin die Spuren einer Induktion
umsoweniger verkennen, als für das gleichseitige
und gleichschenklige Dreieck der unmittelbare
Augenschein zu einer Messung der Winkel führen
konnte. Denkt man sich das gleichseitige Dreieck
Ä CE ABO (Fig. 1) in ein Rechteck eingezeichnet, so
lehrt leicht die Beobachtung, daß die drei Winkel
bei B, die zusammen zwei Rechten gleich sind, den drei einander gleichen
Winkeln des Dreiecks A BC entsprechen. War erst der Satz für diesen
Fig. 1.
|
*) M Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 49.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 129
einfachsten Fall gefunden, so lag es nahe, ihn nun auch für das gleich-
schenklige und sodann für jedes beliebige Dreieck durch eine ähnliche
Einzeichnung in ein Rechteck zu konstatieren. Indem jedoch, sobald
alle drei Winkel bei B verschieden waren
(Fig. 2), zugleich sich die entsprechende Ver-
schiedenheit der Dreieckswinkel der Beobach-
tung aufdrängte, mochte aus dieser Erweiterung
außerdem der allgemeinere Satz von der Gleich-
heit der Wechselwinkel entspringen, worauf
dann später umgekehrt aus diesem erst der Satz von der Winkel-
summe im Dreieck abgeleitet wurde*). Ähnlich ist der Pytha-
goreische Lehrsatz sicherlich zuerst aus einzelnen, der Anschauung
leicht zugänglichen Fällen abstrahiert worden, mag man nun etwa
an dem Dreieck von den Seitenlängen 3, 4, 5, dessen man sich
seit alter Zeit zur Konstruktion des rechten Winkels bediente, die
Eigenschaft, daß das Quadrat der dritten Seite der Summe aus
den Quadraten der beiden ersten gleich sei, herausgefunden**), oder
mag man, was noch wahrscheinlicher sein dürfte, an einer Konstruk-
tion wie der in Fig. 3 dargestellten jenen Satz ent-
deckt haben. Eine regelmäßige Figur dieser Art,
die nicht einmal in geometrischer Absicht aus- Ö SR c
geführt zu sein brauchte, läßt sofort die Maßbe-
ziehunge fgh ==> abcd—=2aemh erkennen***. eX——5 77
Dieser einfachste Fall des Pythagoreischen Satzes, N wa |
der sich auf das gleichschenklige rechtwinklige Alb een.
Dreieck bezieht, mußte zugleich zu einer Wahrneh-
mung Anlaß bieten, die für die Weiterentwicklung der Mathematik von
folgenschwerer Bedeutung wurde. So anschaulich sich das Maßverhältnis
der Linien geometrisch erkennen ließ, so widersetzte es sich doch einer
genauen arithmetischen Bestimmung. Die Diagonale e h irgend eines
Quadrates ae mh läßt sich nicht in einer ganzen Zahl angeben, wenn «a e,
die Länge der Seite, durch eine ganze Zahl meßbar ist. So haben wir
Fig. 2.
*) Eine ähnliche, aber in Bezug auf die Reihenfolge der Sätze entgegen-
gesetzte Rekonstruktion vgl. bei H. Hankel, Zur Geschichte der Mathe-
matik im Altertum und Mittelalter, 1874, S. 96.
**) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 153.
***) Ähnliche hypothetische Konstruktionen vgl. bei Hankel,a. a. O.
S. 98, ebenso die in Bd. I, S. 560 mitgeteilte Figur, die jedoch weniger als die
obige dem Geiste frühester Geometrie entsprechen dürfte.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 9
130 Die Logik der Mathematik,
allen Grund anzunehmen, daß die Entdeckung des Irrationalen,
welche die Überlieferung dem Pythagoras zuschreibt, auf dem nämlichen
Weg induktiver Ermittlungen geschehen sei. Nur in einer Beziehung
überschreiten diese geometrischen Versuche bereits den Kreis der
reinen Induktion. Sie bedienen sich, namentlich da, wo sie Sätze, die
in speziellen Fällen gefunden sind, in Bezug auf ihre Allgemeingültigkeit
prüfen wollen, der Ziehung von Hilfslinien. Die geometrische Hilfs-
konstruktion aber bezeichnet, wenn sie auch durch die probeweise Art
ihrer Anwendung hier noch ganz als induktives Hilfsmittel verwendet
wird, doch schon deutlich den Übergang zur Deduktion, da der Ge-
danke nahe liegt, die nämlichen Hilfsmittel, die zur induktiven Auf-
findung eines Satzes gedient haben, nun auch sofort zu dessen Demon-
stration zu benützen. So ist es denn begreiflich, daß im einzelnen
Fall häufig nicht mehr entschieden werden kann, ob eine bestimmte
Hilfskonstruktion sogleich in deduktiver oder ursprünglich in induk-
tiver Absicht gebraucht wurde. Gibt man sich aber Rechenschaft über
den Weg, den heute noch jeder bei der Lösung einer geometrischen
Aufgabe einschlägt, so kann nicht zweifelhaft sein, daß die Konstruktion
überall zunächst in einem experimentellen Verfahren bestand, das
manchmal erst nach vielen vergeblichen Versuchen zum Ziel führte.
Nachdem durch dasselbe die Gültigkeit gewisser Sätze induktiv gefunden
war, konnte man zur Aufsuchung der zweckmäßigsten Konstruktionen
übergehen und auf diese Weise auch der Deduktion die nämliche Methode
dienstbar machen. Die scheinbare Zufälligkeit, die so vielfach bei
den Konstruktionen Euklids auffällt, trägt noch deutliche Spuren
jenes tastenden Verfahrens an sich, das man bei den ersten geometrischen
Induktionen befolgen mußte. Ja selbst darin zeigen sich bei diesem
Geometer die Nachwirkungen der induktiven Periode, daß er nicht
ganz selten ein allgemeines Theorem in mehrere Fälle zerlegt, für die
er einzeln den Beweis führt*).
«©. Die bleibenden Formen der mathematischen Im
duktion.
Nehmen wir alle Überlieferungen zusammen, die uns aus der
frühesten Entwicklungszeit des mathematischen Denkens geblieben
sind, so läßt sich aus ihnen mit der größten Wahrscheinlichkeit schließen,
daß die Mathematik ursprünglich eine induktive Wissenschaft ge-
*) Vgl. z. B. Euklids Elemente, Buch I Satz 26, Buch III Satz 33,
35, 36, Buch IV Satz 5, Buch V Satz 6, 8, 20, 21 u. 8. w.
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 13]
wesen ist. So bedeutsam dies aber auch für die Entwicklung der Er-
kenntnis überhaupt sein mag, so erscheint doch für den wissenschaft-
lichen Charakter der Mathematik von noch größerer Wichtigkeit die
weitere Tatsache, daß es in ihr gewisse bleibende Formen der In-
duktion gibt, und daß gerade die fundamentalsten Sätze auf diese
zurückführen.
Zunächst erweisen sich nämlich alle axiomatischen
Sätze als solche, die nicht nur durch Induktion entstanden sind,
sondern für die auch fortan keine andere Begründung gegeben werden
kann. Der Umstand, daß die mathematischen Axiome im allgemeinen
nur Umformungen der Definitionen sind, die sich von Zahl, Größe,
Raum u. s. w. aufstellen lassen, ändert an dieser Sachlage nichts. Denn
auch für die Definitionen läßt sich kein anderer Ursprung nachweisen
als die Abstraktionaus der Erfahrung. Selbst für die Definitionen
rein imaginärer Gebilde hat dies Geltung, da dieselben von den durch
Abstraktion gewonnenen Fundamentalbegriffen ausgehen, die dann
willkürlich in Bezug auf irgendwelche Eigenschaften verändert gedacht
werden. Insofern die mathematischen Definitionen ausschließlich auf
die Abstraktion, die Axiome außerdem noch auf die Induktion zurück-
führen, offenbart sich jedoch der früher (Bd. I, S. 566 £.) hervorgehobene
Unterschied beider Sätze von einer neuen Seite. Die Axiome werden
regelmäßig zuerst festgestellt. So ist die Wissenschaft lange Zeit im
Besitz gewisser Axiome über Raum, Zahl und Größe gewesen, ehe es
gelang, befriedigende Definitionen dieser Begriffe zu gewinnen. In
dem Abstraktionsprozeß, der zu ihnen führte, spielen Axiome eine
wichtige Rolle. Ohne die Sätze z. B., daß die Lage eines Punktes in
Bezug auf einen anderen immer durch drei Gerade bestimmt werden
kann, und daß jedes Raumgebilde bei beliebiger Lageänderung sich
selbst kongruent bleibt, würde eine allgemeine Definition des Raumes
gar nicht möglich gewesen sein. "Kann man nun aber auch, nachdem
diese Definition aufgestellt ist, aus ihr durch eine bloß formale Um-
wandlung die Axiome gewinnen, so führt doch jeder Versuch, die Rich-
tigkeit dieser nachzuweisen, wiederum auf die ursprünglichen In-
duktionen zurück,
Nächst den Axiomen verdanken sodann solche Sätze einer In-
duktion ihren Ursprung, die als unmittelbare Speziali-
sierungen der Axiome betrachtet werden können. Hierher
gehören alle Zahlformeln, wie ”+5=12, 5.630 u. dgl., alle auf die
einfachsten Raumkonstruktionen sich beziehenden Sätze der synthe-
tischen Geometrie, z. B. daß zwei Gerade, sofern sie nicht parallel
132 Die Logik der Mathematik.
sind, in einem Punkt, zwei solche Ebenen in einer Geraden sich
schneiden, daß alle Strahlen, die durch einen Punkt und eine Ge-
rade gelegt werden, in einer einzigen Ebene liegen, u. s. w. Von
den eigentlichen Lehrsätzen unterscheiden sich diese Fundamental-
sätze dadurch, daß sie, hierin den Axiomen gleichend, keinen Be-
weis zulassen, sondern nur in dem unmittelbaren Hinweis auf die
Anschauung ihre Begründung finden. Von den Axiomen dagegen sind
sie insofern verschieden, als diese die allgemeinsten Abstraktionen
aus jenen sämtlichen in der unmittelbaren Anschauung gegebenen
Sätzen darstellen. Diese lassen sich daher auf die Axiome zurück-
führen, aber sie gestatten keinen eigentlichen Beweis aus denselben,
da in ihnen stets besondere Elemente der Anschauung auftreten, die
in den allgemeinen Axiomen nicht enthalten sind. Der Begriff der
letzteren ist darum ungenügend bestimmt, wenn man sie bloß negativ
als diejenigen Sätze bezeichnet, die einen Beweis aus anderen Sätzen
nicht zulassen. Vielmehr werden durch sie die allgemeinsten
Gesetze festgestellt, von denen die verschiedenen mathematischen
Begrifisgebiete beherrscht sind, und mit denen alle einzelnen Sätze in
Übereinstimmung stehen müssen. Sie sind daher Verallgemeinerungen
aus den durch Induktion gefundenen und nur durch Induktion erweis-
baren einzelnen Tatsachen der mathematischen Anschauung. Die
Axiome selbst lassen sich, eben weil sie völlig abstrakte Sätze sind, nur
in diesen ihren einzelnen Anwendungen in der Anschauung nachweisen.
Das Additionsgesetz z. B. hat für uns eine anschauliche Wirklich-
keit nur, indem wir es uns an einzelnen Additionsformeln deutlich
machen. Den Satz von der Kongruenz des Raumes mit sich selbst
müssen wir auf konkrete Raumgebilde anwenden, die wir uns im Raume
bewegt oder zur Deckung gebracht denken, und alle einzelnen Kon-
gruenzsätze sind solche Anwendungen.
Eindrittes Gebiet der Induktion bilden endlich diejenigen
allgemeinen Sätze, die aus Einzelinduktionen
dersoeben beschriebenen Art durch Generalisa-
tion entstanden sind. Bei der Feststellung des Gesetzes,
nach welchem die Primfaktoren einer Zahl sich bestimmen lassen, oder
der Anzahl der Kombinationen, die eine bestimmte Zahl von Elementen
gestattet, oder der Form, nach der eine durch empirische Entwicklung
gefundene Reihe fortschreitet, ist das induktive Verfahren so augen-
fällig, daß es längst Anerkennung gefunden hat. Es ist aber klar, daß
es sich hierbei nur um eine Weiterführung der vorhin besprochenen ein-
fachen Induktionen handelt. Durch eine einfache Induktion erhält
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 133
man z. B. die Zahlformel 1-+-3=4, durch eine mehrmalige Wieder-
holung solcher Induktionen die Glieder einer arithmetischen Reihe 1, 4,
7, 10, 13 ..., und aus der Betrachtung dieser und ähnlicher Reihen
gewinnt man durch Generalisation den Satz, daß das nte Glied einer
arithmetischen Reihe = a + (n— 1) d ist, wenn mit a das erste Glied
und mit d die konstante Differenz bezeichnet wird. So bilden jene
Spezialisierungen der mathematischen Axiome, wie sie uns in den Zahl-
formeln und in den auf die einfachsten Konstruktionen zurückgehenden
geometrischen Sätzen entgegentreten, den Anfang aller mathematischen
Induktion. Auf der einen Seite gehen ausihnen durch Abstraktion
die Axiome, auf der anderen Seite durch die an eine Anzahl verwandter
Induktionen sich anschließende Generalisation die verwickel-
teren Induktionen hervor.
Besonders bei jenen einfachen Sätzen, die entweder selbst unter
die Axiome gehören oder als nächste Spezialisierungen derselben be-
trachtet werden können, ist es nun ein altes Bestreben der Mathe-
matiker, die Spuren der Induktion zu verwischen. Dies geschieht
entweder, indem man an die Stelle der Induktion die Intuition
setzt, wobei man hervorhebt, daß eine einmalige Beobachtung
zu ihrer Feststellung zureichend sei, oder indem man die Induktion
durch einen angeblich deduktiven Beweis zu ersetzen sucht.
Der erste dieser Einwände übersieht jedoch den Umstand, daß die
Erfahrungen, aus denen wir die Überzeugung von der Richtigkeit
der einfachsten arithmetischen und geometrischen Sätze schöpfen,
zum großen Teil in einer Zeit gemacht wurden, die der wissenschaft-
lichen Induktion lange vorausging. Den Charakter der Allgemein-
heit wird man solchen Sätzen wie der Additionsformel 7+5—=12
oder dem geometrischen Satz, daß zwei Gerade nie mehr als einen
Punkt gemein haben, nicht absprechen dürfen, denn der erste ist für
alle möglichen Gruppierungen von 7 und 5 Einheiten, der zweite für
unendlich viele Gerade im Raum gültig. Eben deshalb aber ist es
nicht denkbar, daß man zur Feststellung dieser Sätze anders als durch
ein mehrfaches Experimentieren gelangt sei. Nur eine Mehrheit von
Anschauungen konnte lehren, daß, wie man auch die einzelnen Einheiten
der Zahlen 7 und 5 aneinanderfüge, die resultierende Anschauung immer
die nämliche Summe von Einheiten enthalte, oder daß, wie man auch
die Richtungen der Geraden sich ändern lasse, niemals ein Bild mit
zwei Durchschnittspunkten entstehen könne. Nicht besser steht es mit
den Beweismethoden, durch die man den experimentellen
Ursprung gewisser Erkenntnisse zu verhüllen sucht. Diese setzen ent-
134 Die Logik der Mathematik.
weder, indem sie apagogischer Art sind, in Wirklichkeit das zu Be-
weisende voraus, oder sie enthalten selbst nichts anderes als die Schil-
derung eines Induktionsverfahrens. In beide Gattungen gehören die
Euklidischen Kongruenzbeweise. Der versuchte Beweis für die Kon-
gruenz zweier Dreiecke besteht hier darin, daß man angehalten wird,
die gleichen Stücke zur Deckung zu bringen, worauf, wenn die drei
Seiten gleich sind, die unmittelbare Anschauung lehren soll, daß auch
die ganzen Dreiecke zusammenfallen (I, Satz 8); oder, falls zwei Seiten
und der eingeschlossene Winkel, eine Seite und zwei Winkel gleich sind,
so wird gezeigt, daß die Voraussetzung der Nichtkongruenz dem Axiom,
nach welchem zwei Gerade keinen Raum einschließen, widersprechen
würde (Satz 4 und 26). Es ist klar, daß auch dieser apagogische Beweis
der Berufung an die unmittelbare Erfahrung nur eine andere Wendung
gibt; denn ich weiß ja nur aus der Anschauung, daß das Dreieck eine
geschlossene Figur ist, der Beweis sagt also bloß, daß die Nichtkongruenz
meiner Anschauung widersprechen würde. Ähnlich verhält es sich mit
den für gewisse mathematische Fundamentalsätze versuchten Beweis-
führungen. Das sogenannte Assoziationsgesetz der Addition und
Multiplikation, wonach («e +b) +c=a-+(b-+c) und (ab).c=a.
(b c) ist, beweist man für beliebig viele Zahlen, indem man zeigt, daß es,
wenn für eine gegebene Anzahl von Elementen richtig, auch für die
nächst größere Anzahl richtig sein müsse*). Dieses in der Mathematik
als vollständige Induktion bezeichnete Verfahren ist in der Tat insoweit
eine Induktion, als die Voraussetzung, das Gesetz sei für eine gegebene
Anzahl zutreffend, nur aus experimentellen Ermittlungen hervorge-
gangen sein kann. Nur ist es nicht zulässig, diese Voraussetzung wie
eine vorläufige Hypothese einzuführen, die durch die nachträgliche
Ausdehnung auf eine beliebige Anzahl von Gliedern, die in Wahr-
heit keine Induktion mehr ist, ihre Bestätigung erst empfange. Diese
Bestätigung würde nichts beweisen, wenn der Satz nicht durch Er-
fahrungen, die sich auf eine beschränkte Anzahl von Gliedern be-
ziehen, vollkommen feststünde. Aber es ist eine bemerkenswerte
Eigentümlichkeit der Mathematik, daß sie es liebt, die Erfahrung zu
verleugnen, indem sie, um ihren deduktiven Charakter zu wahren,
Sätze als Hypothesen behandelt, die in Wirklichkeit durch Induktion
entstanden sind. Sehr augenfällig tritt dies an einer apagogischen
Beweisführung hervor, die man für den mit dem Assoziationsgesetz
nahe zusammenhängenden Satz versucht hat, daß, wenn zwei Zahlen A
*) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie A
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 135
und B aus der nämlichen Anzahl von Einheiten bestehen, keine ein-
deutige Verknüpfung zwischen ihnen möglich ist, bei welcher ein Rest
bleibt. Man nimmt an, das Gegenteil wäre möglich: es soll neben der
Verbindung, die keinen Rest läßt, noch eine andere stattfinden können,
bei der etwa von B eine Einheit 5 übrig bleibe. Nun nehme man dieses
Element b aus der Zahl B und entsprechend das Element «a, mit dem es
bei der restlosen Verknüpfung verbunden war, aus A weg: es wird dann
vorausgesetzt, daß zwischen den gebliebenen Zahlen A’ und B’ wieder
zwei Verknüpfungen, die eine mit einem Rest, die andere ohne einen
solchen, möglich seien, und es sollen nun die einander entsprechenden
Elemente 5’ und a’ weggenommen und so fortgefahren werden, bis von
jeder der beiden Zahlen nur noch eine Einheit übrig bleibt. Daß nun
zwischen zwei Einheiten mehr als eine Art der Verbindung nicht
stattfinden kann, ist unmittelbar einleuchtend, und es wird daher ge-
folgert, daß auch zwischen Zahlen aus beliebig vielen Einheiten nicht
zwei Verbindungen möglich sind*). Der Schluß dieses Beweises ist
offenbar eine demonstratio ad oculos, die allerdings am einleuchtendsten
bei bloß zwei Einheiten wird, aber im allgemeinen auch schon bei
Gruppen von je 2, 3 oder überhaupt einer kleineren Zahl von Einheiten
deutlich genug sein dürfte. Es handelt sich, wie bei den Kongruenz-
beweisen Euklids, um eine Berufung an die Anschauung, die in das Ge-
wand der apagogischen Beweisführung gekleidet ist. Das wirkliche
Induktionsverfahren wird hierbei umgedreht. Während dieses von den
einfachsten Fällen ausgeht, wird hier der zusammengesetzte Fall bis
zum einfachsten zurückverfolgt. Es bedarf hiernach nicht mehr der
näheren Ausführung, daß auch die übrigen allgemeinen Gesetze der
Zahlenverknüpfung, das Kommutations- und das Distributionsgesetz,
a—+b=b-a, ab=ba, (a+b) c=ac-+beu. s. w., andere als
induktive Begründungen nicht zulassen.
Nur auf einen Spezialfall der Multiplikation mag hier deshalb
noch hingewiesen werden, weil bei ihm die Verkennung des induktiven
Charakters eines Satzes zu sehr merkwürdigen Beweisversuchen den
Anlaß geboten hat, nämlich auf die Multiplikationsregel, wonach
das Vorzeichen eines Produktes aus zwei Faktoren positiv ist, wenn
beide Faktoren ein gleiches, negativ, wenn sie ein verschiedenes Vor-
zeichen besitzen. Wenn man es auch für selbstverständlich hielt, daß
—ta.+b=-.ab und allenfalls a.—b=—.ab sei, so wurde
doch lange Zeit das Produkt —a.—b=--ab für eine Art von
*), ErnstSchröder, Lehrbuch der Arithmetik und Algebra, I, S. 19 £.
136 Die Logik der Mathematik.
Paradoxie gehalten, und noch in der neueren Analysis kann man Aus-
führungen begegnen, die sich mit der Bemerkung begnügen, daß —a.
— b notwendig das entgegengesetzte Vorzeichen zu +a.—b emp-
fangen müsse. Auch, wie es zuweilen geschieht, als bloß willkürliche
Voraussetzungen, deren Berechtigung erst durch den Erfolg bewiesen
werde, können jene Gleichungen nicht gelten, da ihre erfolgreiche An-
wendung auf eine Berechtigung hinweist, die sie an und für sich schon
besitzen müssen. Willkürlich ist nur der Gebrauch der Vorzeichen plus
und minus für gewisse reale Gegensätze der durch Zahlen meßbaren
Objekte, wie der Wertgrößen, der Richtungen im Raume u. dgl. Gleich-
wohl ist gerade dieser Gebrauch lediglich aus der Beobachtung der
zählbaren Objekte hervorgegangen. Die Verknüpfung zwischen den
Größen a und 5 ist in den drei Fällen die nämliche, darum erscheint
auch immer das nämliche Produkt @.b. Aber die Gleichung + «a. —
b=—-ab bedeutet, daß die Richtung der Größe db, welche a-mal ge-
nommen werden soll, entgegengesetzt sei einer anderen Richtung des
nämlichen Größenkontinuums, die mit 4 b bezeichnet wurde, wo dann
notwendig auch die aus der Vervielfältigung hervorgehende Größe
einen negativen Wert haben muß. Das nämliche Resultat gewinnt man,
wenn umgekehrt, entsprechend der Gleichung —a.+b=—.ab,
eine positive Größe b a-mal aufgehoben gedacht wird, wenn z. B. eine
Summe von 5b Werteinheiten a-mal hinweggenommen wird: die Ge-
samtsumme der hinweggenommenen Werteinheiten ist hier abermals
—=—-ab, weil von vornherein die Aufhebung der ursprünglich ge-
setzten Größen negativ bezeichnet wurde. Die Gleichung — a. —b=
—-ab endlich sagt aus, daß eine negative Größe b a-mal aufgehoben
gedacht wird, daß also z. B. ein Verlust vom Werte b a-mal wieder-
ersetzt oder ein in rückläufiger Richtung gemessener Weg b in recht-
läufiger Richtung a-mal zurückgelegt sei. Hier muß mit derselben
Sicherheit ein positives Produkt «.b erscheinen, als eine doppelte
Negation verschwindet, eine allgemein logische Regel, von welcher
der mathematische Fall eine Anwendung ist. (Bd. I, S. 554.) Dieser
Zusammenhang mit dem Satz des Widerspruchs beweist nichts gegen
den induktiven Ursprung der Multiplikationsgesetze, da ja die logischen
Axiome selber nicht nur gleichzeitig Gesetze des Denkens und der Ob-
jekte des Denkens, sondern auch unter dem Einfluß dieser Objekte
entstanden sind. Auch wird durch den induktiven Ursprung der Multi-
plikationsregeln keineswegs ausgeschlossen, daß einzelne unter ihnen
deduziert werden können, wenn die anderen gegeben sind. Vielmehr
wird, sobald nur die gegebenen Regeln eine vollständige Definition der
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 137
positiven und der negativen Einheiten enthalten, eine solche Deduktion
möglich sein. In der Tat lassen sich aus den beiden Gleichungen + a.
+b=-abund-+a—a=0 die zweite und dritte Multiplikations-
regel ableiten*). Die Möglichkeit dieser Deduktion beweist aber natür-
lich nur, daß, nachdem die erste Regel und der Begriff der entgegen-
gesetzten Zahlen durch Induktion und Abstraktion gefunden sind, man
sich die besondere induktive Auffindung der übrigen ersparen kann.
Mehr anerkannt ist das Stattfinden einer Induktion in jenen
Fällen zusammengesetzter Induktion, bei denen gleichzeitig eine
Generalisation aus einfacheren Induktionen stattfindet. Hier-
her gehören vor allem die Schlüsse von der Potenz n auf die Potenz
n—-1, bei denen nur die Bezeichnung „vollständige Induktion“ eine
unrichtige ist**). Ähnlich verhält es sich mit anderen Reihenentwick-
lungen. So gewinnt man z. B. die Anfangsglieder der Reihe
3
14404048
durch wirkliche Ausführung der Division von 1 durch 1—x. Nur
weil durch experimentelle Verfahrungsweisen dieser Art tatsächlich
solche Reihen gebildet werden, läßt sich die Voraussetzung recht-
fertigen, daß überhaupt jede Größenfunktion eine Reihenentwicklung
gestatte. Diese Voraussetzung für jeden einzelnen Fall besonders
zu beweisen, ist dann allerdings nicht mehr nötig, sondern es genügt,
daß der Erfolg ihre Richtigkeit ohne Ausnahme bestätigt. Auch in
diesen zusammengesetzteren Fällen kann jedoch die Induktion, in einer
übrigens vollkommen zulässigen Weise, verhüllt werden. Dies ge-
schieht teils durch die Verbindung mit deduktiven Operationen, teils
aber auch dadurch, daß die Induktion in indirekter Weise An-
wendung findet. So benützt man z. B. die induktive Ermittlung der
Primfaktoren einer Zahl m, um daraus deduktiv diejenigen Zahlen zu
finden, die relativ prim zu m sind***). Man würde die letzteren ebensogut
auf dem Wege einer direkten, aber weit langwierigeren Induktion durch
Divisionsversuche bestimmen können.
%
d. Die mathematische Abstraktion.
Der Grund, weshalb die mathematische Induktion besonders
in ihren einfachsten Fällen übersehen zu werden pflegt, liegt vornehm-
*) Eine solche von Weierstraß herrührende Ableitung vgl. bei
Kossak, Die Elemente der Arithmetik, 1872, S. 22 fi.
**) Vgl. hierüber Bd. I, S. 332 f.
***) Lejeune-Dirichlet,a.a. O.S. 19 f.
138 Die Logik der Mathematik.
lich darin, daß sie sich von Anfang an mit einem sehr vollständigen
und durch eigentümliche Merkmale ausgezeichneten Abstrak-
tionsverfahren verbindet. Niemand würde daran zweifeln,
daß die Additionsformel 7—+5==12 der Induktion ihren Ursprung
verdanke, wenn die Zahlsymbole eine konkrete Bedeutung besäßen,
wenn also die Formel etwa lautete: sieben Äpfel und fünf Äpfel sind
zwölf Äpfel. Aber da jene Symbole alle möglichen Objekte bezeichnen
können, so ist man geneigt, die Zahlvorstellungen und ihre Verbin-
dungen sowie die grundlegenden geometrischen Konstruktionen als die
Schöpfungen einer reinen Gedankentätigkeit anzusehen, auf welche der
nur auf empirischem Gebiet zulässige Begriff der Induktion keine An-
wendung finde. In diesem Sinne meinte der ältere Realismus, alle mathe-
matischen Sätze ließen sich aus den abstrakten Begriffen der Zahl,
der Größe, des Raumes ohne jede weitere Beihilfe analytisch entwickeln.
Sobald man dagegen die anschauliche Grundlage der mathematischen
Sätze anerkannte, wurde man entweder durch den abstrakten Charakter
derselben veranlaßt, sie mit Kant auf synthetische Konstruktionen
innerhalb einer reinen Anschauung zurückzuführen, oder man suchte
in einer Weise, die mehr auf die psychologische Natur der Vorgänge als
auf ihre logische Bedeutung Rücksicht nahm, die Unterschiede zwischen
der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Induktion zu ver-
wischen. So besteht der Mangel beider Auffassungen darin, daß in ihnen
jener Abstraktionsprozeß, der den mathematischen Induktionen haupt-
sächlich erst ihre Allgemeinheit sichert, nicht in zureichender Weise
zur Geltung kommt. Bei Kant erscheint die reine Anschauung als
ein ursprüngliches Gebiet innerer Erfahrung, in welchem jede Erkennt-
nis des einzelnen mit der Konstruktion anhebt, während in Wahrheit
die reine Anschauung die höchste der Abstraktionen ist, auf welche die
einzelnen Abstraktionen mathematischer Denkobjekte zurückführen.
Mill dagegen vermengt die mathematischen Begriffsgebilde mit den
Objekten der wirklichen Erfahrung, die Geometrie insbesondere be-
zeichnet er mit Comte als diejenige Naturwissenschaft, die sich mit den
räumlichen Eigenschaften der Körper beschäftige*). So verwandeln
sich ihm die Grundsätze der Mathematik in Induktionen, die sogar nur
eine annähernde Gültigkeit besitzen, da es gerade Linien, Ebenen,
regelmäßige Figuren, wie sie die Geometrie voraussetzt, in der Wirk-
lichkeit nicht gibt. Er nimmt daher die mathematischen Sätze für un-
mittelbare Induktionen aus der Erfahrung, während sie Induktionen
aus Abstraktionen von der Erfahrung sind.
*) A. 3. 0. 11,28..104
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 139
Als Abstraktion überhaupt haben wir nun das Verfahren bezeichnet,
durch das aus einer Anzahl einzelner Vorstellungen gewisse Elemente
eliminiert und die zurückbleibenden als Gegenstand eines Begriffs
festgehalten werden. (Abschnitt I, Kap. I, S. 11.) Vermöge des nega-
tiven Teils dieser Definition können wir nun offenbar die Entstehung
mathematischer Begriffe ohne weiteres dem Verfahren der Abstraktion
unterordnen. Aber der positive Teil begegnet hier eigentümlichen
Schwierigkeiten. Wenn jene Elimination vollständig ausgeführt wird,
so scheint kein Rest übrig zu bleiben, der dem mathematischen Begriff
entspricht. Die Zahl ist ebensowenig eine für sich denkbare objektive
Eigenschaft der zählbaren Objekte, wie gerade Richtung und aus-
dehnungslose Beschaffenheit Merkmale sind, in denen gewisse Linien
übereinstimmen. Trotzdem beweist diese Tatsache nicht, daß hier über-
haupt keine Abstraktion stattfinde, sondern sie beweist nur, daß man
die mathematische Abstraktion falsch interpretiert, wenn man sie voll-
ständig nach Analogie derjenigen Abstraktionen beurteilt, zu denen
die physikalische Beobachtung Anlaß gibt. Aus der Vergleichung
der mathematischen mit den physikalischen Begriffen erhellt aber ohne
weiteres, daß jenes Eliminationsverfahren, in welchem das Wesen der
Abstraktion besteht, bei den ersteren ein vollständigeres ge-
wesen sein muß. Die nächste Frage lautet also: welche Bedingungen
müssen zu der gewöhnlichen Abstraktion, die wir die physische nennen
wollen, hinzutreten, wenn mathematische Begriffe entstehen sollen?
Die Antwort auf diese Frage ist leicht zu geben, sobald man sich
die Schwierigkeiten vergegenwärtigt, in die sich die gewöhnliche Lehre
von der empirischen Entstehung der mathematischen Begriffe ver-
wickelt. Diese Lehre bleibt siegreich, solange sie sich auf die Schil-
derung der negativen Seite der Abstraktion beschränkt; sie scheitert
aber in dem Augenblick, wo sie sich auf die positiven Begriffselemente
besinnt, die ihr zurückbleiben. Die gewöhnliche Ausflucht, daß man
sich auf die Vorstellungen beruft, die in unserem Bewußtsein die Be-
griffe repräsentieren, deckt nur notdürftig dieses Scheitern; denn sie
verwechselt die Zeichen der Begriffe mit den Begriffen selber. Der
ganze Mißerfolg hat aber seine Quelle darin, daß man von Anfang an
diejenigen Vorstellungsmomente, die den zur Einleitung des Abstrak-
tionsprozesses dienenden Objekten angehören, als die allein existierenden
behandelt, die subjektiven, unserer eigenen Gedankentätigkeit an-
gehörenden ganz ignoriert. Führt nun jener Mißerfolg zu dem Ergebnis,
daß das Eliminationsverfahren der Abstraktion scheinbar keinen Rest
zurückläßt, so werden wir demnach sogleich schließen dürfen, daß der
140 Die Logik der Mathematik.
in Wahrheit bleibende Rest nichts anderes als unsere bei der Bildung
der mathematischen Vorstellungen wirksame Gedankentätigkeit selbst
ist, oder mit anderen Worten, daßmathematischeBegriffe
zustandekommen,indemwir vonallendenjenigen
Elementen der Vorstellung abstrahieren, die in
dem Objektihre Quellehaben.
Am deutlichsten kommt dieses Verfahren bei dem Begriff der
Zahl zum Vorschein, weil die abstrakte Natur dieses Begriffs sofort
die Schwäche der physischen Abstraktionstheorie bloßlest. Wenn
wir uns fragen, was zurückbleibt, wenn wir von allen wechselnden
Bestandteilen jener Vorstellungen abstrahieren, an denen sich die
Funktion des Zählens betätigt, so ist dieses Zurückbleibende nichts
anderes als de Funktion des Zählensselber, eine Aufein-
anderfolge und Verbindung von Apperzeptionsakten, deren jeder ein-
zelne den abstrakten Begriff der Einheit darstellt. Wir können freilich
nicht zählen ohne Objekte, die uns in innerer oder äußerer Erfahrung
gegeben sein müssen, und jede Darstellung von Zahlen sieht sich daher
genötigt, zu objektiven Versinnlichungen zu greifen, welche den ein-
fachsten Gelegenheitsursachen, aus denen Zahlen entstehen, nach-
gebildet sind. Aber der Begriff der Zahl ist, was nach Elimination aller
dieser wechselnden Elemente zurückbleibt: die Verbindung der einzel-
nen Denkakte als solcher, abgesehen von jedem Inhalt. (Vgl. Bd. I,
S. 510 £.)
Von hier aus wird es nun nicht schwer, auch den geometrischen
Begriffen gerecht zu werden. Der geometrische Punkt unterscheidet
sich darin vom physischen, daß es sich bei diesem immer um ein Etwas
handelt, was objektiv, mit bestimmten physischen Eigenschaften begabt,
gegeben sein soll. Der geometrische Punkt dagegen bedeutet den ein-
zelnen Ort im Raume, insofern derselbe bloß durch unsere orts-
bestimmende Gedankentätigkeit gegeben ist. Von den Eigenschaften
der physischen Gegenstände, die uns zur äußeren Bezeichnung so gut
wie zur inneren Vorstellung eines Ortes dienen, wird abstrahiert; es
bleibt nur die fixierende Tätigkeit zurück, ohne die sich keine Orts-
bestimmung vollzieht. Die ausdehnungslose Beschaffenheit des Punktes
ist eine selbstverständliche Folge dieser Abstraktion, da die Ausdeh-
nung immer nur den objektiven Bestimmungsmitteln der Örter im
Raum eigen ist. Etwas zusammengesetzter ist der Abstraktionsprozeß,
der zum Begriff der geraden Linie führt. Hier wird nicht einfach, wie
bei der arithmetischen Einheit und dem geometrischen Punkt, von
dem zählbaren oder raumerfüllenden Objekt abstrahiert, sondern der
Die mathematische Induktion und Abstraktion. 141
sinnlichen Vorstellung eines annähernd geradlinigen Stabes folgt
zunächst die Wahrnehmung, daß ein solcher Stab, wie er auch um sich
selbst gedreht werden mag, stets in konstanter Weise zwei voneinander
entfernte Orte im Raum, durch die man ihn gelegt denkt, verbindet.
Dieser Erfahrung bemächtigt sich nun die mathematische Abstraktion:
indem sie aus der Vorstellung des Stabes alle objektiven Bestandteile
eliminiert, bleibt der Denkakt übrig, welcher die relative Lage der zwei
Punkte in Bezug aufeinander bestimmt. Da die Gerade, die zum
Behuf der Lagebestimmung gezogen werden muß, nur in Bezug
auf ihre Richtung und Länge bei jener Lagebestimmung in Betracht
kommt, so bleiben als einzige Elemente des Begriffs einer gegebenen
Geraden Richtung und Länge übrig. Der Umstand, daß es in der Natur
keine absolut geradlinige Grenze gibt, steht diesem Begriff nicht im
Wege, da der Gedanke der lagebestimmenden Verbindung zweier
Punkte ein Postulat unseres Denkens ist, keine wirkliche Vorstellung.
In ähnlicher Weise ist die Verarbeitung der übrigen geome-
trischen Vorstellungen aufzufassen. Die einfacheren unter ihnen werden
ebenfalls durch unmittelbare Erfahrungen nahe gelegt; andere ent-
stehen durch objektive oder subjektive, von unserer Einbildungskraft
geleitete Experimente, also auf dem Wege der Konstruktion.
Das auf solche Weise entstandene Bild wird aber erst zum geometrischen
Objekt im eigentlichen Sinne, wenn wir alle diejenigen Elemente der
Vorstellung eliminieren, die nur nebensächliche Begleiter des Resultates
sind, das unser Denken beabsichtigt. Wollen wir eine gegebene Figur
als Kreis auffassen oder einen Kreis konstruieren, so besteht die For-
derung unseres Denkens in einer kontinuierlichen Folge geometrischer
Punkte, die in einer Ebene liegen und mit einem einzigen festen Punkte
durch gerade Linien von konstanter Größe verbunden werden können.
Bei der geometrischen Untersuchung des Kreises beschäftigt uns nur
diese Forderung, nicht die einzelne Vorstellung, die den Begriff in
unserem Bewußtsein vertreten muß. Man hat vielfach den Hauptwert
darauf gelegt, daß die den Begriffen entsprechenden Vorstellungen
von uns konstruiert werden müßten. Infolgedessen schwinde, wie man
meint, die Schwierigkeit, daß die geometrischen Begriffe keinen realen
Objekten entsprechen, und es sei darum möglich, die konstruierten
Vorstellungen selbst als geometrische Gebilde zu betrachten, ohne
daß ein hinzukommender Abstraktionsprozeß erforderlich wäre. Aber
diese konstruierten Vorstellungen leiden an den nämlichen Ungenauig-
keiten wie die äußeren Objekte; das wesentliche Moment der Begrifis-
bildung bleibt daher immer die Elimination aller empirischen Bestand-
142 Die Logik der Mathematik.
teile der Vorstellung und die Zurückführung auf diejenigen Elemente,
die den Charakter von Postulaten des Denkens besitzen. Die allgemeinen
Bedingungen der mathematischen Begrifisbildung, die Anschauungs-
formen des Raumes und der Zeit, beruhen durchaus auf einer Abstraktion
der nämlichen Art, indem wir uns bei ihnen jeden gegebenen Raum-
und Zeitinhalt eliminiert denken und so nur die subjektiven Apper-
zeptionsformen zurückbehalten, die das räumliche und zeitliche
Vorstellen begleiten. Eben wegen des auch hier vorhandenen Ab-
straktionsprozesses ist die „reine Anschauung“ ein Begriff und keine
Vorstellung.
Von der Kantischen Auffassung unterscheidet sich die hier ent-
wickelte hauptsächlich darin, daß Kant die subjektiven Elemente der
mathematischen Begrifisbildung den objektiven vorangehen läßt und
sie in diesem Sinne als transzendentale Bedingungen der empirischen
Vorstellung selbst bezeichnet. Denn indem Kant die begriffliche Natur
der reinen Anschauung leugnet, wird er genötigt, eine konstruktive
Tätigkeit der reinen Einbildungskraft anzunehmen. Nichts aber berech-
tigt uns, in dieser Weise das letzte Resultat des mathematischen Er-
kennens an dessen Anfang zu stellen, statt dem wirklichen Erkennen
Schritt für Schritt nachzufolgen. Nun besteht in der Reduktion auf
die formalen Bedingungen unserer Auffassung das Wesen des mathe-
matischen Apriori. Darum können wir den Grund desselben nicht in
einer jede Induktion und Abstraktion entbehrlich machenden Konstruk-
tion, am wenigsten aber in einem aller Erfahrung vorausgehenden
Wissen erblicken, da vielmehr die mathematischen Begriffe, von der
Erfahrung ausgehend, den längsten Weg zurücklegen müssen.
Das ganze zur Feststellung der mathematischen Begriffe dienende
Abstraktionsverfahren gehört hiernach der Form der isolierenden
Abstraktion an. Auch in den weiteren Verlauf des mathematischen
Denkens greift aber die Abstraktion unter fortwährender Verbindung mit
der Induktion ein. Als generalisierende macht sie es möglich,
die an einzelnen Gebilden der Anschauung gewonnenen Sätze sofort
auf ganze Klassen solcher Gebilde zu übertragen und so denselben
die ihnen zukommende Allgemeinheit zu sichern. Sodann bemächtigt
sich die nämliche Abstraktion der durch einzelne Induktionen ent-
standenen Sätze, um mit ihrer Hilfe die nachher in der Form von
Definitionen fixierten Grundbegriffe zu gewinnen, die als die allgemeinen
Bedingungen jener einzelnen Sätze angesehen werden können. Ist
auf diese Weise erst die allgemeinste Definition gefunden, die ein be-
stimmtes mathematisches Begrifisgebiet beherrscht, so liegt darin der
Die mathematische Deduktion, 143
Anlaß, nun wiederum solche Sätze zu prüfen, denen ein axiomatischer
Charakter zugeschrieben werden kann, und aus ihnen diejenigen zum
Rang definitiver Axiome zu erheben, die zureichend sind die Defi-
nition zu erschöpfen und daher alle anderen unmittelbar anschau-
lichen, keines Beweises bedürftigen Sätze als spezielle Fälle unter sich
enthalten. Euklids Axiome erscheinen uns nur darum fast zufällig
zusammengetragen, weil ihre Aufstellung nicht von bestimmten Defi-
nitionen der Grundbegriffe von Zahl, Größe und Raum geleitet wird,
weshalb teils Axiome verschiedenartiger Gebiete miteinander, teils
Sätze von untergeordnetem Charakter mit den Axiomen vermengt
sind. Dieser Mangel des Euklidischen Systems ist also wesentlich die
Folge unzureichender Generalisation.
4. Die mathematische Deduktion.
Bei der großen Bedeutung, welche die Mathematik für die Aus-
bildung der deduktiven Methoden besitzt, hat sich bereits die allgemeine
Methodenlehre vielfach auf das Vorbild der mathematischen Wissen-
schaft beziehen müssen. Namentlich sind die Hauptformen mathe-
matischer Deduktion in der Lehre von der Deduktion und vom deduk-
tiven Beweis besprochen worden; mit der Betrachtung der einzelnen,
an bestimmte Grundbegriffe sich anlehnenden logischen Methoden
aber werden sich die folgenden Kapitel beschäftigen. Nur eine all-
gemeine Deduktionsform, die spezifisch mathematischer Natur und
für alle Gebiete der Mathematik von eminenter Wichtigkeit ist, bedarf
hier noch der genaueren Untersuchung: es ist dies de Deduktion
nach exakter Analogie, die auf den früher betrachteten
exakten Analogieschluß als ihre logische Grundform zurückführt.
(Vgl. Bd. I, S. 330 fi.) In dem systematischen Zusammenhang des
mathematischen Denkens pflegt die exakte Analogie eine gewöhnliche
unvollständige Induktion deduktiv abzuschließen, indem sie dem
Resultat derselben Allgemeingültigkeit sichert.
Am deutlichsten ist dies bei dem schon früher erwähnten Schlusse
von einem Gliede n auf ein weiteres Glied n--1, der fälschlich so
genannten „vollständigen Induktion“ der Mathematiker. So findet
man z. B. durch Induktion, daß das Kommutationsgesetz für zwei und
für drei Zahlen gilt, und zeigt dann, daß es in ähnlicher Weise von n
auf n—-1 Zahlen ausgedehnt werden kann, wodurch es, da für n jede
beliebige Zahl gesetzt werden darf, allgemein bewiesen ist*). Der ge-
*) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie, S, 1 fi.
144 Die Logik der Mathematik.
meinsame Grund für diese unbedingte Verallgemeinerung arithmetischer
Induktionen ist die Gleichförmigkeit der Zahlgesetze. Diese gründet
sich aber nicht bloß auf die tatsächliche Bestätigung in aller Erfahrung,
sondern in erster Linie auf jene Konstanz der Begriffe, welche die Be-
dingung unseres eigenen logischen Denkens ist. Wollte ich voraussetzen,
daß für den Fortschritt von nzun 4 1 ein anderes Gesetz der Zunahme
Platz greife als von 1 zu 1-1, so müßte ich annehmen, daß der Begriff
der Eins oder der Vorgang der additiven Verbindung eine Veränderung
erfahren habe, d. h. daß identische Denkoperationen nicht miteinander
identisch seien. Eine solche Annahme widerstreitet freilich auch aller
Erfahrung. Dennoch heißt es Heterogenes vermengen, wenn man nun
deshalb mit Mill mathematische Verallgemeinerungen dieser Art der
Generalisation empirischer Gesetze gleichstellt und sie auf eine bloße
inductio per enumerationem simplicem zurückführt*). Es waltet doch
eine wesentliche Verschiedenheit ob zwischen einem Satze, der seine
allgemeine Geltung nur dem Umstand verdankt, daß bis dahin keine
Erfahrung ihm widersprochen hat, während widerstreitende Erfah-
rungen sehr wohl vorstellbar wären, und einem solchen Satze, dessen
Beseitigung wir uns nicht denken können, ohne gleichzeitig die Gesetze
unserer Anschauung und die Normen unseres Denkens verändert zu
denken.
In wesentlich anderer Weise vervollständigt die Analogie jene
vereinzelten Induktionen, die sowohl den zusammengesetzten Induk-
tionsprozessen wie der Bildung der Axiome zur Grundlage dienen.
Hier haben die einzelnen durch Induktion gewonnenen Sätze die Be-
deutung abstrakter Regeln für singuläre Tatsachen, die an und für sich
einer Verallgemeinerung nicht zugänglich sind; die Analogie gestattet
es dann aber ohne weiteres, andere singuläre Sätze von verwandter Art
festzustellen, für die infolgedessen das Erfordernis einer besonderen
Induktion hinwegfällt. Nachdem die Summe 7 +5==12 durch wirk-
liche Addition der Einheiten gefunden ist, bilden wir sofort die Summen
70 + 50 = 120, 700 + 500 —= 1200 u. s. w., ohne daß es uns notwendig
scheint, auch in diesen Fällen die Addition durchzuführen. Indem man
die 10, 100, 1000 u. s. w. als neue zusammengesetzte Einheiten be-
trachtet, setzt man voraus, die zwischen ihnen möglichen Operationen
seien den nämlichen Gesetzen unterworfen wie die zwischen den ein-
fachen Einheiten. Die einzelnen Induktionen, aus denen die axio-
matischen Gesetze der Addition, Multiplikation, Subtraktion und
*) Mill, Logik, IT?, S. 154.
Die mathematische Deduktion. 145
Division abstrahiert sind, beschränken sich so auf die Feststellung der
für die Zahlen 1 und 10 möglichen Zahlformeln, die bei den direkten
Operationen unter allen Umständen leicht ausführbaren Verknüpfungen
der Einheiten entsprechen, während bei den inversen Operationen in
jenen Fällen, in denen sich negative, irrationale oder imaginäre Größen
ergeben, die aufgestellten Beziehungen wirklichen Induktionen nicht
unmittelbar parallel gehen. In der Tat ist es gar nicht denkbar, daß
man, solange die Zahlen ihre ursprüngliche Bedeutung bewahrten,
durch unmittelbare Zählungen zu negativen oder irrationalen Zahlen
gelangt wäre. Vielmehr wurden die betreffenden Zahlformeln zunächst
nur nach Analogie anderer, aus wirklichen Induktionen hervorgegangener
gebildet, und erst spätere Induktionen von anderer Beschaffenheit
führten zu der Entdeckung, daß ihnen eine reale Bedeutung zukommen
könne. Hier hat sich also der gewöhnliche Verlauf umgekehrt, indem
die Analogie zuerst zu bestimmten Gesetzen führte, welche dann durch
Induktion eine objektive Grundlage gewannen. Selbstverständlich
kann es sich in solchen Fällen auch ereignen, daß die nachfolgende
Induktion ganz ausbleibt. Wo sie sich aber einstellt, da ist der Vorgang
nicht so zu verstehen, als wenn die Begriffe zuerst durch Analogie und
dann noch einmal selbständig durch Induktion gefunden wären. Viel-
mehr hat die Induktion immer nur zu realen Beziehungen geführt, für
deren Ausdruck sich die schon vorhandenen Begriffe als geeignete Hilfs-
mittel erwiesen. Ihre Anwendung ging daher aus einer willkürlichen
Übertragung hervor, zu der die Induktion nur das äußere Motiv bildete.
Kein objektiver Zwang nötigt uns, Gewinn und Verlust, Vermögen und
Schulden durch positive und negative Zahlen auszudrücken; aber durch
Induktion aus der Erfahrung mußten jene gegensätzlichen Begriffe
entstanden sein, wenn die negative Zahl überhaupt eine reale Be-
deutung erhalten sollte.
Auf geometrischem Gebiete ist es die Analogie, welche das in
einer einzelnen Konstruktion anschaulich Gegebene ohne weiteres auf
alle Raumgebilde gleicher Art überträgt, um so der in einem einzelnen
Fall erkannten Tatsache den Wert eines allgemeinen Gesetzes zu sichern,
Diese Analogie ist eine exakte, weil sie sich auf die Unmöglichkeit stützt,
andere Räume außer dem in der wirklichen Anschauung gegebenen sich
vorzustellen. Die große Schwierigkeit, die seit langer Zeit die Geometer
in dem sogenannten Parallelenaxiom gefunden, beruht wesentlich auf
dem Vorkommen der bei diesem Satze mitwirkenden Analogie. Daß
zwei gerade Linien, die von einer dritten unter gleichen Winkeln ge-
schnitten werden, sich selbst niemals schneiden können, wie weit wir
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 10
146 Die Logik der Mathematik.
sie auch verlängern mögen, schließen wir daraus, daß die schneidende
Linie sich selbst parallel beliebig längs der beiden Parallelen verschoben
werden kann, ohne daß sich die schneidenden Winkel ändern. Insoweit
sich dieser Schluß auf die unmittelbare Anschauung stützt, ist er eine
Induktion; insoweit er von uns über jede mögliche Anschauung hinaus
verallgemeinert wird, ist er eine exakte Analogie, die sich auf die durch-
gängige Kongruenz des Raumes mit sich selber stützt.
In einem wesentlich anderen Sinne dagegen verwertet die geo-
metrische Untersuchung die Analogie, wenn sie die Übergänge zwischen
den geometrischen Begriffen über die reale Anschauung hinaus im
Sinne einer bloßen Analogie fortsetzt, wenn sie also einen analogen
Übergang, wie er von der Ebene zum Raum stattfindet, zwischen
Räumen von mehr Dimensionen statuiert. Hier beginnt, ähnlich wie
bei den Erweiterungen des Zahlbegrifis, der Prozeß mit einer Analogie,
der dann unter Umständen Induktionen, die eine reale Anwendung
vermitteln, nachfolgen können. Nur muß man freilich beachten, daß
diese Anwendungen nicht mehr dem Gebiet der eigentlichen Geometrie,
welcher durch die Raumanschauung ihre festen Grenzen gezogen sind,
angehören, sondern daß es sich hierbei immer nur um eine Behandlung
von Problemen anderer Gebiete, der Funktionentheorie oder der Mannig-
faltigkeitslehre, in geometrischer Form handelt.
Auf diese Weise geben sich für die Benützung der exakten Ana-
logie in dem Zusammenhang der mathematischen Methoden allgemein
zwei Formen: dieerste, die sich an die Induktion anschließt und
zur Feststellung der Allgemeingültigkeit gewisser ursprünglich durch
Induktion gewonnener Sätze führt, und eine zweite, die gewisse
Operationen oder auf anderem Wege festgestellte Begriffe über ihr
ursprüngliches Gebiet hinaus erweitert, indem sie einen bestimmten
logischen Prozeß nach Analogie der für ihn in den Erfahrungsgrenzen
gültigen Normen über die letzteren fortsetzt. Während die erste Form
vorzugsweise bei den fundamentaleren Sätzen ihre Anwendung findet,
dient die zweite als Basis der abstraktesten, zuweilen völlig von dem
Boden der Anschauung sich entfernenden Spekulationen. Beide Formen
lassen sich auf verschiedene Prinzipien zurückführen: die erste auf ein
Prinzip der Konstanz mathematischer Gesetze, die
zweite auf ein Prinzip dr Permanenz mathematischer
Operationen. So sehr auch das erste derselben, ds Konstanz-
prinzip, geeignet ist, die in einzelnen Anwendungen festgestellten
Gesetze auf eine beliebige Zahl anderer Fälle auszudehnen, so ist es
doch niemals im stande, zuneuen Begriffen und Gesetzen zu führen.
Die Zahlen und ihre Symbole. 147
Dagegen besitzt ds Permanenzprinzip in hohem Grade diese
Eigenschaft. Durch seine Anwendung werden regelmäßig bedeutsame
Umgestaltungen der Begriffe hervorgebracht, und diese können zu-
gleich von Umwandlungen der für diese Begrifisoperationen gültigen
Gesetze begleitet sein*). Die große Wichtigkeit, welche das Permanenz-
prinzip hierdurch für die Entwicklung des mathematischen Denkens
besitzt, wird sich namentlich aus den Anwendungen ergeben, die es
auf den fundamentalsten Begriff der Mathematik, auf den der Zahl,
gefunden hat.
Zweites Kapitel.
Die arithmetischen Methoden.
1. Die Zahlen und ihre Symbole.
a. Das Ziffernsystem.
Weiter zurück als unsere sonstigen für andere Begriffe gebrauchten
Schriftsymbole reichen die Anfänge der Zahlsymbolik, die ihrerseits die
Quelle des ganzen von der gewöhnlichen Sprache so weit abweichenden
Zeichensystems der Mathematik geworden ist. Ursprünglich sind die
besonderen Zahlzeichen durch nichts als durch den äußeren Vorteil
der Kürze vor den anderen Schriftsymbolen ausgezeichnet. Nur in
der fast überall befolgten Regel, daß bei einem Aggregat aus mehreren
Zahlen die größere der kleineren vorangeht**), läßt sich eine unmittel-
bare Wirkung der arithmetischen Operationen erkennen. Da jede
Zahl aus einer Addition von Einheiten entstanden ist, so wird sie
nämlich durch ebensoviele Summen ausgedrückt, als sie Zahlsymbole
zu ihrer Schreibung bedarf. CLIII z. B. bedeutet die drei Summen
100, 50 und 3. Da nun hierbei die kleinere Summe der nach vollendeter
Abzählung der größeren gebliebene Rest ist, so ergibt sich von selbst,
daß sie nachfolgt. In der Tat kann daher die umgekehrte Anordnung
nur dort eintreten, wo nicht die Addition, sondern die Subtraktion
oder Multiplikation zur Bildung der Zahlbezeichnungen dient, wie dies
z. B. in der lateinischen Sprache und Schrift gelegentlich der Fall
ist. Aber da die wirkliche Bildung der Zahlen von der Addition aus-
*) Den Ausdruck „Permanenzprinzip“ für diesen zweiten auf der exakten
Analogie beruhenden Grundsatz hat bereits H. Hankel gebraucht (Theorie
der komplexen Zahlensysteme, 1860, S. 10).
**) H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und
Mittelalter, S. 32.
148 Die Logik der Mathematik.
geht, so konnten nur ausnahmsweise im Interesse der Kürzung solche
entgegengesetzte Stellungen aufkommen, und sie mußten bei jedem
rationell durchgeführten Ziffernsystem gegenüber der Forderung
gleichmäßiger Ordnung wieder verschwinden.
Derjenige Schritt, der dem Ziffernsystem erst seinen spezifisch
mathematischen Charakter aufgeprägt hat, ist dessen Umwandlung
in ein reines Positionssystem. Dieses unterscheidet sich
aber von den vorangegangenen Systemen regelmäßiger Anordnung da-
durch, daß nicht die Stellung der Zahl nach ihrem
Werte,sondernumgekehrtder WertderZahlnach
ihrer Stellungsich richtet. Diese sinnreiche Umkehrung
der Beziehung wurzelt zwar in dem nämlichen Gesetz der Summierung,
dem die vorangegangene Abhängigkeit der Stellung vom Werte ent-
sprungen war; möglich aber wurde sie durch die Erfindung der Null.
Denn die letztere gestattet es, eine doppelte Wertbezeichnung der
Ziffern anzuwenden: eine erste, die an das Symbol als solches geknüpft
ist, und eine zweite, die von seiner Stellung abhängt. Diese gibt die
allgemeine Klasse an, welcher die Ziffer zugerechnet werden soll. Die
Wertverhältnisse der Klassen sind dabei an sich willkürlich und kon-
ventionell, aber es wird durch sie die Menge der einzelnen Symbole
bestimmt, welche für die in jeder Klasse vorhandenen Zahlen erforder-
lich sind. So beruht das Dezimalsystem auf dem Prinzip, daß die
unterste Klasse neun einfache, jede höhere Klasse aber neun zusammen-
gesetzte Einheiten enthält, deren jede zehn Einheiten der nächst
niederen Klasse gleich ist. Wo in einer Klasse überhaupt keine Einheiten
vorkommen, da wird dies durch das zehnte Zeichen, die Null, ausge-
drückt. Das Geschäft der Zählung dadurch zu erleichtern, daß man
Gruppen von Einheiten bildet und diese als neue Einheiten behandelt,
ist ein so nahe liegender Gedanke, daß er lange vor der Ausbildung
einer Ziffernsymbolik verwirklicht war, daher die letztere überall von
ihm Gebrauch macht. Das von den indischen Mathematikern er-
fundene Positionssystem aber hat diesen Gedanken nach dem durch
die Dezimalmethode geforderten Prinzip systematisch durchgeführt
und dabei durch die reine Stellungsbezeichnung der Einheitswerte den
ungeheuren Vorteil erreicht, daß sie mit der möglichst kleinen Anzahl
von Zeichen auskommt, indem sie außer der Null nur so viele Ziffern-
symbole nötig hat, als die niederste Klasse Einheiten enthält. Daß
hierbei das Dezimalsystem den Vorrang erhielt, ist wie gesagt kon-
ventionell. Man wird ihm den Vorzug einräumen können, daß es in
Anbetracht der durch die praktischen Rechenbedürfnisse gestellten
Die Zahlen und ihre Symbole. 149
Bedingungen zwischen dem Zuviel und Zuwenig eine richtige Mitte
hält. Hätte man die Zahl der Symbole und also auch der Einheiten
jeder Klasse noch mehr beschränkt, wie in dem quinären System mancher
Naturvölker, so würden schon bei mäßigen Summen der Klassen zu viele
sein. Hätte man ein vigesimales oder gar sexagesimales System bevor-
zugt, so wäre die Menge der Zeichen nachteilig für ihre sichere Unter-
scheidung geworden. Nur das duodezimale System, wie es in unserer
Tageseinteilung angedeutet ist, hätte diese Vorteile in ungefähr gleichem
Grad dargeboten, und es würde daneben für die Division den Vorzug
besitzen, daß die Einheiten höherer Klasse in eine größere Anzahl von
Faktoren zerlegt werden könnten als die Zehn und ihre Potenzen. Da
sich jedoch die objektiven Bedingungen der Jahres- und Tageseinteilung,
aus denen möglicherweise ein Duodezimalsystem zu entwickeln war,
minder zwingend geltend machten, und da sie überdies nur in sehr
annähernder Weise auf Verhältnisse ganzer Zahlen zurückführbar waren,
so hatte hier von vornherein die auf den unveränderlichen Eigen-
schaften des Menschen selbst, auf der Anzahl der bei dem einfachsten
Abzählungsverfahren benutzten Finger, beruhende dezimale Zähl-
methode den Vorzug.
Das Positionssystem stellt, ganz abgesehen von der speziellen Form,
die es als Dezimalsystem angenommen hat, jede beliebige Zahl all-
gemein als eine Reihe dar von der Form
„eßt+aß?+eß’+bß-+a
in welcher durch a, b, c,d..... die Einheitswerte der einander folgenden
Klassen bezeichnet sind, während ß die Anzahl der in dem gewählten
System vorhandenen Ziffernsymbole bedeutet; im Dezimalsystem ist
also ß = 10, während für a, b, c, d... irgendwelche unter den Ziffern O0
bis 9 eintreten können. Diese Reihe zeigt deutlich den mathematischen
Charakter des Positionssystems: jede Zahl wird durch dieses in eine
Reihe von Summen zerlegt, die nach absteigenden Potenzen der
Grundzahl des Systems geordnet ist. Da die Reihe bis zu jeder beliebigen
Potenz von ß fortgesetzt werden kann, so ist sie durch keine noch so
große Zahl begrenzt, ohne daß doch der kleine Vorrat der benützten
Ziffernsymbole überschritten zu werden braucht. Das Positionssystem
hat daher die durch die unbegrenzte Menge der Zahlen gestellte Forde-
rung gelöst. In der Tat bemerkten schon die indischen Mathematiker,
daß die unbegrenzt große Zahl, deren Begriff in jener Forderung ge-
geben ist, zwar niemals durch eine wirkliche Summenreihe, wohl aber,
unter Zuhilfenahme des nämlichen Symbols, welches das Fehlen einer
150 Die Logik der Mathematik.
Einheit andeutet, der Null, durch eine Division von der Form - aus-
gedrückt werden kann*).
Nicht in der gleichen Weise wie nach oben sind die Zahlen nach
unten unbegrenzt. Größen, die kleiner als die Einheit sind, können
zwar bis zu beliebiger Kleinheit durch echte Brüche ausgedrückt werden.
Da aber die Nenner solcher Brüche jeden möglichen Wert haben können,
so fehlt es innerhalb der ursprünglichen natürlichen Zählmethoden an
einem Prinzip, welches für derartige Zahlen eine durchgängige Ver-
gleichbarkeit herstellt. Das Positionssystem liefert dieses Prinzip, in-
dem es einfach den Aufbau der Zahl aus einer Summenreihe nach ent-
gegengesetzter Richtung fortsetzt. Wie es die Zahlen, die über der
Einheit liegen, durch die Bildung neuer Einheiten gewinnt, die im
direkten Verhältnis der aufsteigenden Potenzen der Grundzahl des
Systems zunehmen, so gewinnt es die Zahlen unter der Einheit eben-
falls durch die Bildung neuer Einheiten, die den aufsteigenden Potenzen
der Grundzahl reziprok sind. So entsteht beim Dezimalsystem
die Ergänzung durch die Dezimalbrüche oder allgemein die Dar-
stellung einer beliebigen Zahl durch die Reihe
et te tt tt t get
welche Reihe nach beiden Seiten unbegrenzt wachsen kann und so
auf die beiden Begriffe der unbegrenzt großen und der unbegrenzt
kleinen Zahl hinweist. Durch diese Ausdehnung hat sich das Positions-
system zugleich den Erweiterungen angepaßt, die der ursprüngliche
Zahlbegriff durch die Entwicklung der gebrochenen und namentlich
der irrationalen Zahlen erfuhr.
b. Die Zahlarten und Zahlsysteme,
Durch die einfachen arithmetischen Operationen und ihre Wieder-
holung entstehen aus dem ursprünglichen System der positiven ganzen
Zahlen neue Zahlbegriffe, welche dann zugleich eine reale Anwendung
auf geometrische oder beliebige andere Größen gestatten. Allgemein
ist daher zunächst eine doppelte Möglichkeit für die Erzeugung neuer
Zahlbegriffe gegeben. Dieselben können erstens entstehen durch
die Anwendung des Permanenzprinzips auf die Resultate
arithmetischer Operationen, indem man voraussetzt, daß mit diesen
*) M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 523.
Die Zahlen und ihre Symbole. 151
Resultaten stets die nämlichen Operationen wie mit den ursprünglichen
Zahlen wieder ausgeführt werden können; zweitens können sie
sich bilden durch die Anwendung des Konstanzprinzips auf
beliebige in der Anschauung gegebene Objekte, indem man annimmt,
daß jeder Gegenstand, der überhaupt dem Begriff der Größe subsumiert
werden kann, eine analoge Messung durch Zahlen gestatte, wie eine
solche für diskrete abzählbare Objekte möglich ist. Diese historisch
aufeinander gefolgten Entstehungsformen der sekundären Zahlbegriffe
tragen aber logisch, beide aus verschiedenen Gründen, den Charakter
der Zufälligkeitansich. Bei der ersten erscheint es als ein will-
kürlicher Akt, daß Rechnungsresultate, die nicht durch Zahlen aus-
gedrückt werden können, dennoch wie Zahlen behandelt werden; bei
der zweiten entspringen die neuen Begriffe aus den empirischen Eigen-
schaften unserer Sinneswahrnehmung, und sie würden daher möglicher-
weise ganz andere sein können, wenn diese Eigenschaften sich ver-
änderten. Der Versuch erscheint daher gerechtfertigt, daß man jene
beiden äußeren Entwicklungsformen der Zahlbegriffe durch eine
innere, dem ursprünglichen Zahlbegriffe selbst immanente zu er-
setzen strebt.
Diese dritte Erzeugungsweise, die wir im Unterschiede von
der arithmetischen und geometrischen die logische nennen wollen,
kann aber allein dadurch zum Ziele führen, daß sie die begrifflichen
Merkmale, die in den sekundären Zahlbegriffen zur Anwendung kommen,
schon in den ursprünglichen Zahlbegriff aufnimmt. Dies geschieht
am einfachsten, wenn man außer dem Begriff der Einheit und der
Zusammenfassung von Einheiten oder der Anzahl noch den Begriff
des Elementes einführt, indem man von vornherein die Möglichkeit
offen läßt, daß die Einheit aus beliebig angeordneten, selbst aber nicht
weiter zerlegbaren Elementen, die auch „arithmetische Punkte“ genannt
werden, bestehe. Der logische Unterschied von den vorhin hervor-
gehobenen Umwandlungen des ursprünglichen Zahlbegrifis mittels
der Anwendungen des Permanenz- und des Konstanzprinzips besteht
hier darin, daß jener ursprüngliche Zahlbegriff selbst schon dem gene-
rellen BegriffiderMannigfaltigkeitsubsumiert wird, aus welchem
sukzessiv seine logisch möglichen Formen durch Determination ent-
wickelt werden*). Unter diesen Formen müssen dann aber notwendig
auch die verschiedenen Zahlbegriffe anzutreffen sein. Jener allgemeine
*) Über den Begriff der Mannigfaltigkeit ım allgemeinen vgl. mein
System der Philosophie®, I, S. 233 fi.
152 Die Logik der Mathematik.
Begriff enthält so zwei Bestandteile, deren Variierung verschiedene
Entwicklungen ermöglicht: 1) den Begriff des letzten absolut unzerleg-
baren, weil jeder Größe entbehrenden Elementes, und 2) den
Begrifi der Einheit oder des einzelnen irgend einen Inhalt zusammen-
fassenden, aber von der objektiven Beschaffenheit dieses Inhalts ab-
strahierenden Denkaktes. Der Variierung des ersten dieser Begriffe
entsprechen die Unterschiede der ganzen und gebrochenen, der ratio-
nalen und irrationalen Zahlen; aus den Veränderungen des zweiten
entspringen die Unterschiede der positiven, negativen, imaginären und
komplexen Zahlen. Beide Entwicklungen haben eine völlig abweichende
Bedeutung. Durch die erstere ändert sich die innere Konsti-
tution, durch die letztere die äußere Form des Zahlbegrifis;
jene bezieht sich auf die Art des Zählens, diese auf die Rich-
tung desselben. Es wird daher zweckmäßig sein, beide Zahlformen
auch durch verschiedene Namen zu unterscheiden: wir wollen die ersten
als Zahlarten, die zweiten als Zahlsysteme bezeichnen.
Da jene Begriffsvariationen unabhängig voneinander geschehen können,
so sind übrigens in jedem der Zahlsysteme die verschiedenen Zahlarten
möglich*).
Die einfachste Zahlart sind die ganzen Zahlen,
weil sich bei ihnen die Begriffe der Einheit und des Elementes decken.
Ihre nächste anschauliche Verwirklichung finden sie in der zeitlichen
*) Eine unter den Zahlentheoretikern verbreitete Richtung, der besonders
L. Kronecker Ausdruck gegeben hat, ist freilich geneigt, alle diese im
folgenden näher zu besprechenden Entwicklungen des Zahlbegriffs als Um-
gestaltungen desselben zu betrachten, die, aus der Anwendung auf Gegenstände
der Anschauung entsprungen, dem rein logischen Begriff der Zahl fremd seien
(vgl. Kronecker, Über den Zahlbegriff, Crelles Journal für reine und
angewandte Mathematik, Bd. 101, S. 337 fi, und Philosophische Aufsätze
Ed. Zeller zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum gewidmet, S. 265). Aber
man verkennt hierbei, daß schon bei dem ursprünglichen Begriff der Anzahl
nicht anders als bei allen jenen Fortbildungen desselben die empirische
Entstehung und der abstrakt logische Inhalt zu scheiden sind. Beachtet
man dies, so ist das Verhältnis des Begriffs zu seiner Anschauungsgrundlage
bei den irrationalen und imaginären Zahlen schließlich kein wesentlich anderes
als bei den einfachen ganzen Zahlen. Wenn Kronecker glaubt, es werde
dereinst gelingen, den gesamten Inhalt der anderen mathematischen Disziplinen
zu „arithmetisieren“, d. h. „einzig und allein auf den im engsten Sinne ge-
nommenen Zahlbegriff zu gründen, also die Modifikationen und Erweiterungen
dieses Begriffs wieder abzustreifen“, so dürfte eben die dem ursprünglichen Zahl-
begriff immanente logische Fortentwicklung zu den anderen Zahlarten und
Zahlsystemen der Weg sein, auf welchem dieses „Arithmetisieren“ aller Größen-
begriffe bereits erfolgt ist.
Die Zahlen und ihre Symbole. 150
Aufeinanderfolge der Denkakte, indem die Einheit dem einzelnen
Denkakt unter Abstraktion von jedem Inhalt entspricht. (Siehe oben
Bd.I, S.510 ff.) Diese psychologische Grundlage des Zahlbegrifis darf aber
nicht dazu verführen, daß man mit W.R.Hamiltonauchlogisch
die Zahl aus der Zeit ableitet*). Können wir schon psychologisch unter
Umständen mehrere Denkinhalte gleichzeitig auffassen, so ist
es logisch überhaupt nicht nötig, über die Zeitfolge der Einheiten irgend
etwas auszumachen. Das einzige, was vorausgesetzt werden muß, ist,
daß die Einheiten überhaupt zusammengefaßt werden. Logisch ist
demnach die Zahl ein Begriff sui generis, der ebensowenig auf die Zeit
wie auf den Raum zurückgeführt werden kann. Wäre er dies nicht, so
würde auch kaum denkbar sein, wie es möglich ist, den Zahlbegriff
logisch unabhängig von diesen Anschauungen nach seinen verschiedenen
Gestaltungen zu entwickeln.
Bei den gebrochenen Zahlen entsprechen die Begrifis-
elemente der Einheit und des Elementes einander nicht mehr, sondern
es werden bestimmte Einheiten in Elemente von je nach Bedürfnis
wechselnder Menge zerlegt gedacht, indem der Zähler des Bruchs die
Anzahl der Elemente enthält, die zusammengefaßt werden sollen,
während der Nenner die Menge der Elemente angibt, die in der Ein-
heit enthalten sind. Da diese Menge wiederum durch eine ganze Zahl
angegeben werden kann, so bilden die Elemente neue Einheiten, die der
Bedingung entsprechen, daß durch sie die ursprünglichen teilbar sind,
und die gebrochene Zahl drückt daher nicht bloß eine durch Zahlen
meßbare Größe, sondern zugleich das Verhältnis aus, in welchem jene
beiderlei Einheiten zueinander stehen. So sagt z. B. der Bruch ®%, es
solle eine Zahl gedacht werden, die durch die Zusammenfügung von
6 Einheiten entstehe, deren jede durch 5malige Teilung einer ursprüng-
lichen Einheit erzeugt werde. Da das Verhältnis dieser Einheiten be-
liebig wechseln kann, so repräsentieren die gebrochenen Zahlen eine
beliebig veränderliche, im allgemeinen aber ungleich dichte Anord-
nung der Elemente einer Mannigfaltigkeit.
Aus dieser Eigenschaft entspringt nun eine logische Forderung,
die erfüllt gedacht die dritte und letzte Zahlart entstehen läßt. Diese
*) W.R. Hamilton, Lectures on Quaternions, Dublin 1853. Preface.
Hamilton beruft sich dabei auf Kant, aber zu Unrecht, da Kant immer
den Zahlbegriff mittels der Funktion des Abzählens auf das Schema der Zeit
zurückführt, jedoch zur Ausübung jener Funktion stets ein räumliches Substrat
voraussetzt, Darum veranschaulicht Kant die Entstehung von Zahlbegriffen
an Punktmengen.
154 Die Logik der Mathematik.
Forderung besteht in der Voraussetzung, die Elemente der Mannig-
faltigkeit seien ein- für allemal so angeordnet, daß mittels derselben jede
beliebige Teilung möglich sei. Infolgedessen tritt zu dem für die ganzen
Zahlen gültigen Teilungsgesetz, das an und für sich auch für diese neue
Zahlart gültig bleibt, ein zweites Teilungsgesetz hinzu, welches in
der Umkehrung des ersteren besteht. Nach dem ursprünglichen Teilungs-
gesetze werden durch jede beliebige Zahl a, die man aus der Reihe der
ganzen Zahlen herausgreift, die sämtlichen Zahlen in zwei Klassen
zerfällt, von denen die eine nur Zahlen <a, die andere nur Zahlen > a
enthält, während «a selbst entweder der einen oder der anderen Klasse
zugerechnet werden kann. Führt man nun die Forderung beliebiger
Teilbarkeit ein, so bedeutet dies, daß auch das umgekehrte
Prinzip gültig sei, d. h. daß, wenn man irgend eine Teilung
der vorausgesetzten Mannigfaltigkeit vornimmt, dadurch jedesmal
eine bestimmte Zahl a entstehe, welche die Reihe der Zahlen in zwei
Klassen von den vorhin geschilderten Eigenschaften zerfällt. Die
Zahlen, die dieser Forderung Genüge leisten, sind deirrationalen
Zahlen, und die Mannigfaltigkeiten, die denselben entsprechen, be-
sitzen die Eigenschaft, daß sie ins Unendliche teilbar und daß in jedem
noch so kleinen Teil die Elemente gleich dicht geordnet sind*). Mittels
der irrationalen Zahlen kann nun jede in der Anschauung gegebene
stetige Größe und jedes Verhältnis solcher Größen gemessen werden.
Deshalb ist aber doch logisch betrachtet die obige Definition keineswegs,
wie Dedekind und Cantor annehmen, zugleich die Definition einer
stetigen Größe. Vielmehr ist sie nur die Definition derjenigen Zahlart, die
infolge der vorausgesetzten Teilung der ursprünglichen Einheiten in
unendlich viele überall gleich dicht geordnete Elemente eine vollkommen
erschöpfende arithmetische Messung der stetigen Größe zuläßt.
Denn der Begrifi der Zahlenmannigfaltigkeit selbst enthält immer nur
die Begriffe der Einheit und des Elementes, und wie man auch das
Verhältnis dieser zueinander willkürlich fixieren mag: jede solche Fest-
stellung kann sich nur auf die Anordnung und die Dichtigkeit der
Elemente beziehen, sie kann niemals die begrifiliche Trennung der letz-
teren aufheben. Wird, um dies dennoch zu erreichen, die obige arith-
metische Definition durch die Forderung ergänzt, daß die Elemente
stetig ineinander übergehen sollen, oder daß sie eindeutig und wechsel-
*) Vgl. hierzu Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, 1872, und
G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, Leipzig
1883 (Mathem. Annalen, Bd. 15—21).
Die Zahlen und ihre Symbole. 155
weise den Punkten einer in der Anschauung gegebenen stetigen Mannig-
faltigkeit, z. B. einer geraden Linie, zugeordnet werden können, so
sind solche Bestimmungen immer nur aus der Anschauung hinzugefügt,
durch irgend eine Determination des ursprünglichen Zahlbegrifis aber
können sie niemals gewonnen werden. Gebunden in unseren arith-
metischen Messungen an die ursprüngliche Gestaltung des Zahlbegrifts,
vermögen wir übrigens auch die irrationalen Zahlen nicht durch be-
sondere Zahlformen auszudrücken, sondern es bleibt nur die Aufstel-
lung von Näherungswerten mittels gebrochener Zahlen möglich, die
aber wegen der unbegrenzten Fortsetzung der Teilungen, welche die
letzteren gestatten, bis zu jeder beliebigen Grenze den wirklichen Werten
genähert werden können.
Wie auf diese Weise aus der Variation der Bedingungen für die
Elemente der Zahlenmannigfaltigkeit die Zahlarten, so entspringen
nun aus der Einführung verschiedener Voraussetzungen für die Ein-
heiten der Zahlen die Zahlsysteme. Bezeichnen wir die ur-
sprünglicheEinheitdurch e, so hat der Wert a, den wir irgend
einer Zahl beilegen, die Bedeutung, daß e a-mal gedacht werden solle.
Diese einfache Position einer Verbindung von Einheiten nennen wir eine
positive Zahl, und die unbegrenzte Mannigfaltigkeit solcher
Zahlen ist das System der positiven Zahlen. Hiervon
können dann die Zahlen anderer Systeme in doppelter Weise logisch
abweichen. Sie können erstens aus verschiedenartigen
Einheiten gebildet sein, so daß irgend eine Zahl durch das Produkt
a .e' dargestellt werden muß, worin e’ die abweichende Einheit be-
deutet. Derartige Zahlsysteme stimmen mit den gewöhnlichen darin
überein, daß sie einfache sind: zu jeder Zahl «a des gewöhnlichen
existiert eine gleich große Zahl eines solchen neuen Zahlsystems, die
von jener nur durch die Qualitätder Einheit verschieden ist.
Zweitens können neue Zahlsysteme entstehen, indem Gruppen
verschiedenerEinheiten zu neuen Zahlen zusammentreten.
Gruppen, die aus den nämlichen Einheiten bestehen, wie «.e und
b.e, können stets durch Addition zu einfachen Zahlen (a-+b) e ver-
einigt werden. Gruppen aus verschiedenartigen Einheiten, wie @.e
und b..e’, sind aber nicht addierbar, weil die Einheiten e und e’ nicht ver-
einigt werden können. Eine so gebildete Zahl wird also nur in der Form
eines durch Addition verbundenen Aggregates a.e-+b.e‘ darstellbar
sein. Ein System, das aus solchen Zahlen aufgebaut ist, heißt ein ko m-
plexes Zahlsystem, und es wird speziell, wenn jede Zahl zweierlei
Einheiten enthält, ein zweifach ausgedehntes genannt, wenn drei ver-
156 Die Logik der Mathematik.
schiedenartige Einheiten vorkommen, ein dreifach ausgedehntes u. s. w.
Es erhellt hieraus, daß die Menge denkbarer Zahlsysteme, und zwar
sowohl der einfachen wie der komplexen, unbegrenzt ist.
Vergegenwärtigen wir uns nun die Anwendungen der so ent-
standenen Zahlsysteme auf die Objekte der Anschauung, so liegt offenbar
der wesentlichste Unterschied der ursprünglichen positiven Zahlen von
den aus ihnen abgeleiteten darin, daß sich jene ausschließlich auf die
zählbaren Objekte selber beziehen, während durch diese
zugleich die wechselseitigen Beziehungen der Ob-
jekte bestimmt werden. Erst unter dem Einfluß dieser neuen Begriffe
erhalten dann auch die positiven Zahlen neben ihrem unmittelbaren
noch einen relativen Wert, wobei sie jedoch stets die festen Be-
ziehungspunkte bilden, auf welche die anderen zurückgeführt werden
müssen, sobald es sich um eine wirkliche numerische Messung der Ob-
jekte und ihrer Relationen handelt. Dies geschieht, indem man die
Einheiten der übrigen Zahlsysteme durch positive Einheiten ersetzt
und diese mit Operationssymbolen versieht, welche die Entstehungs-
weise der andersartigen Einheiten aus positiven angeben. Auf diese
Weise tritt an Stelle der zweiten Einheit e, das Zeichen der Subtraktion,
an Stelle der dritten © das aus der geometrischen Proportion + 1:
—= 1 :— lentnommene Zeichen | "— 1, und die vierte Einheit, end-
lich nimmt das der Verbindung der Subtraktion und Radizierung ent-
sprechende Zeichen — / — 1 an. Behält man für die positiven Ein-
heiten verschiedener Art die unterscheidenden Zeichen e und z bei, so
zerfallen alle Einheiten in zweierlei Gegensätze: 4 e und — e, + i und
— i, die sich, da ö die mittlere geometrische Proportionale zwischen
—- e und — e ist, durch zwei in einer Ebene zueinander senkrechte
Gerade darstellen lassen, die sich im Nullpunkte schneiden (Fig. 48.158).
Die logische Bedeutung der negativen, der imaginären und der aus den
letzteren zunächst abgeleiteten gemeinen komplexen Zahlen besteht
hiernach darin, daß dieselben neben den rein metrischen Verhältnissen
der Größen auch ihre verschiedenen Richtungsverhältnisse
bestimmen, wobei wiederum die Begriffe der Richtung und Ausdehnung
in einem allgemeineren logischen Sinne zu verstehen sind, in welchem
sie die räumlichen Beziehungen als einen Spezialfall unter sich
begreifen. Diese Übertragung der Richtungsverhältnisse auf den Zahl-
begriff ist es daher zugleich, die an die Einführung der imaginären Zahlen
in die Analysis die wichtigsten Anwendungen der letzteren in der neueren
Mathematik geknüpft hat.
Die Beschränkung des gemeinen komplexen Zahlsystems auf eine
Die Zahlen und ihre Symbole. 157
zweifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit legt nun aber die Frage nahe,
ob sich nicht mit Hilfe weiterer Einheiten noch andere Zahlsysteme
bilden lassen. Mindestens für den Raum scheint die geometrische An-
schauung eine ähnliche numerische Lagebestimmung zu verlangen, wie
sie die gewöhnlichen komplexen Zahlen für die Ebene gestatten. Nichts-
destoweniger erweist sich diese Forderung als undurchführbar. Viel-
mehr führt der Versuch, irgend eine weitere Form imaginärer Einheiten
zu verwenden, immer wieder auf die gewöhnlichen imaginären und
komplexen Zahlen zurück. Der logische Grund dieser Beschränkung
liegt in dem arithmetischen Ursprung der verschiedenen Einheits-
formen. Wie die Gerade mit ihren zwei Richtungen der ersten Stufe
der einfachen arithmetischen Operationen, der Addition und Sub-
traktion, so entspricht die durch zwei Gerade bestimmte Ebene den
Operationen zweiter Stufe, der Multiplikation und Division. Weitere
Formen imaginärer Einheiten würden also nur dann möglich sein,
wenn entweder noch andere arithmetische Fundamentaloperationen
existierten, oder wenn mindestens die gegebenen in verschiedener Weise
ausführbar wären, wenn also z. B. mehrere einander koordinierte Formen
der Multiplikation und Division von verschiedener Bedeutung auf-
gestellt werden könnten. Von dem ersten dieser Fälle kann vermöge
der Natur des Zahlbegrifis nicht die Rede sein. Dagegen ist der zweite
an und für sich denkbar, da bei jeder Operation je zwei Zahlen in zwei
verschiedenen Formen miteinander verbunden werden können, additiv
in den Formen «+5 und b-+a, multiplikativ in den Formen a.b
und b.a. Nimmt man nun an, diese Formen seien nicht äquivalent,
so würde jede Operation in ebenso viele Unterarten zerfallen, als Per-
mutationen zwischen den Gliedern einer Summe oder den Faktoren
eines Produktes möglich sind. Vorausgesetzt also, die Multiplikation
wäre eine vieldeutige Operation, so würde man, da die Anzahl der
Faktoren, die man zu einem Produkte vereinigen kann, unbegrenzt ist,
beliebig viele Arten imaginärer Einheiten und mittels ihrer eine un-
begrenzte Anzahl komplexer Zahlsysteme höherer Ordnung erhalten
können.
Einen realen Wert können diese formalen Bedingungen natürlich
nur dann gewinnen, wenn die wirkliche Anschauung zur Anwendung
entsprechender Zahlbegrifie Veranlassung bieten sollte. Hier ist nun
leicht ersichtlich, daß sofort ein von den Verhältnissen des gemeinen
komplexen Zahlensystems verschiedener Fall eintritt, sobald man als
Konstruktionsfeld nicht die Ebene, sondern de Kugeloberfläche
wählt. Irgend ein in der Ebene gelegener Punkt x (Fig. 4), dessen Lage
158 Die Logik der Mathematik.
durch die komplexe Zahl «+ bi bestimmt ist, läßt sich als Endpunkt
der Diagonale eines Parallelogramms denken, dessen Seiten a und bi
sind. Ob man nun auf den Wegen 2e-+-b oder 2i—-a nach x gelangt,
ist für das Resultat gleichgültig. Man schließt daher, daß a+bi
—=bi-a ist, oder daß für das ebene komplexe Zahlensystem das
kommutative Prinzip gilt. Nun läßt sich aber auch auf der Kugelober-
fläche (Fig. 5) eine Figur konstruieren, welche dem ebenen Parallelo-
gramm in der Weise entspricht, daß eine Seite BC mit einer anderen
AD zur Deckung kommt, wenn sie um den Betrag einer dritten Seite
in der Richtung BA um den Mittelpunkt der Kugel gedreht wird. Doch
ist klar, daß jene zwei parallelen Seiten eines sphärischen Parallelo-
gramms zwar in ihrer Größe, nicht aber in ihrer Richtung einander
Fig. 5.
gleich sind: in diesem Fall wird daher auch einer Bewegung auf! der
Seite BC eine gleich große auf der Seite AD nicht äquivalent sein.
Denken wir uns die diagonalen Hauptkreise gezogen, so entstehen vier
sphärische Dreiecke, die an dem Pol E aneinander stoßen. Die dem
Winkel bei E gegenüberliegende Seite eines jeden solchen Dreiecks
läßt sich durch die Drehung eines von dem Mittelpunkte der Kugel
ausgehenden Vektors um die beiden Winkel «&—=EC und ß=BE
hervorgebracht denken. Das Resultat einer kombinierten Drehung
wird aber in diesem Fall gleich dem Produkt der beiden einfachen
Drehungen sein. Setzen wir also den Vektor—1 und bezeichnen wir
a und ß als Versoren, so ist der Bogen BC gleich dem Produkte « . ß
seiner beiden Versoren. Es zeigt sich aber zugleich, daß dieses Produkt
wegen der vorhin hervorgehobenen Eigenschaften des sphärischen
Parallelogramms verschiedene Bedeutungen annimmt, je nachdem es
in der Form &.ß oder ß.« geschrieben, und je nachdem es mit posi-
tivem oder negativem Vorzeichen eingeführt wird. Setzen wir die
Die Zahlen und ihre Symbole, 159
Drehungen in der Richtung der Pfeile als die positiven voraus, so wird
das Produkt + «a. ß gleichzeitige Drehungen EC und BE bedeuten,
welche aber, da ß Multiplicandus ist, so verlaufen, daß ein von Z um den
Winkel ß entfernter Punkt in die Distanz « geführt wird, daß also
—+a.ß= BC wird. Ebenso kann +ß.« nur derjenige Bogen sein,
bei dessen Anfangspunkt « gegeben und ß=0 ist, also AD. Aus
ähnlichen Erwägungen ergibt sich AB=—a.ßB und DO=—Bß.o.
Diese Betrachtungen lassen sich auf beliebige im Raum ausgedehnte
Gebilde übertragen, indem man jede Strecke erstens in Bezug auf
ihre Größe durch eine reelle Zahl mißt und dazu zweitens in besonderen
imaginären Einheiten den Bogen bestimmt, welcher die Richtung der
Strecke angibt. Bezeichnet man die vom Mittelpunkt der Kugel aus
nach drei zueinander senkrechten Richtungen gelegten Einheitsradien
mit z, 7 und k, so lassen sich diese als zueinander und zu den reellen Ein-
heiten laterale Größen betrachten, für welche die Bestimmungen
gelten
i’.i=—-Ljj=—1Lk.k=—1Li.oj=hk,
und die Zahl «, welche eine geometrische Strecke nach Größe und
Richtung im Raum vollständig bestimmt, nimmt nun die Form an
e=atbitcj+tdk.
Diese viergliedrigen, eine reelle und drei imaginäre Einheiten ent-
haltenden Zahlen sind von ihrem Erfinder W. R. Hamilton als Qua-
ternionen bezeichnet worden. Durch sie wird jene Übertragung
des Zahlbegrifis auf den Raum, die das gewöhnliche System der kom-
plexen Zahlen vermöge der Eindeutigkeit der arithmetischen Funda-
mentaloperationen nicht gestattet, auf einem Umweg erreicht. Der
Umweg besteht aber darin, daß man Größe und Richtung als getrennte
Eigenschaften einer Strecke behandelt und dann die letztere auf die
Drehungen einer imaginären Kugel zurückgeführt denkt. Diese Trennung
bringt es dann mit sich, daß die Quaternionen nicht zwei, sondern
drei imaginäre Einheiten enthalten. Auch hier lassen sich wieder
die Begriffe der Richtung und Strecke selbstverständlich in einem all-
gemeineren, von den räumlichen Beziehungen abstrahierenden Sinne
auffassen. Immerhin ist es klar, daß die so entstandenen Zahlen nicht
wie die gewöhnlichen komplexen Zahlen aus einer mit innerer Not-
wendigkeit sich ergebenden Erweiterung des Zahlbegrifis hervorge-
gangen sind, sondern daß sie auf der Anwendung eines Kunstgrifis
beruhen, der trotz seiner praktischen Fruchtbarkeit doch den Charakter
des Zufälligen besitzt.
160 Die Logik der Mathematik.
Einen logisch strengeren, aber freilich für die anschaulichen An-
wendungen minder fruchtbaren Charakter gewinnt die Entwicklung
neuer komplexer Zahlbegriffe dann, wenn man von der Entstehung
derselben aus arithmetischen Operationen überhaupt abstrahiert und
lediglich die formalen Eigenschaften der gewöhnlichen komplexen
Zahlen zum Ausgangspunkte nimmt. Eine solche Entwicklung kann
dann wieder nach zwei Richtungen ins Unbegrenzte fortgeführt
werden, indem man 1) die Anzahlder Glieder einer komplexen
Zahl zunehmen und 2) an die Stelle des linearen Ausdrucks, aus
welchem die gewöhnlichen komplexen Zahlen bestehen, höhere
Potenzen treten läßt. Logisch betrachtet bewegen sich demnach
diese zahlentheoretischen Spekulationen lediglich in fortwährenden
Anwendungen des Permanenzprinzips.
Die verschiedenen Entwicklungen des Zahlbegrifis haben nunmehr
gezeigt, daß, obgleich dieselben ursprünglich in der Anschauung und
in den von der Anschauung ausgehenden Begrifisoperationen ihre Quelle
haben, dennoch überall diesen anschaulichen Motiven ein rein logisches
Erzeugungsprinzip substituiert werden kann, welches den Vorteil der
größeren Allgemeinheit voraus hat. Mit seiner Annahme werden dann
die anderen Bildungsformen der Zahlen zu bloßen Folgerungen und
Anwendungen herabgedrückt, so daß gelegentlich von ihnen auch ganz
abgesehen werden kann. Dieses Verhältnis ist aber nicht etwa so auf-
zufassen, als sei das logische Erzeugungsprinzip nur aus zufälligen Ur-
sachen das spätere, oder als sei eine intellektuelle Entwicklung denkbar,
bei der sich die Sache umgekehrt verhalten könnte. Diese Annahme
wird durch die Existenz eines Hilfsbegrifis widerlegt, den die logische
Erzeugung der neuen Zahlbegrifie nicht entbehren kann, während die
übrigen Entwicklungen seiner nicht bedürfen: des Hilfsbegrifis der
Mannigfaltigkeit oder, was der Bedeutung nach damit identisch
ist, des arithmetischen Elementes. Der Mannigfaltigkeitsbegriff
ist zunächst durch eine Abstraktion aus den in der Anschauung ge-
gebenen Mannigfaltigkeiten, wie Zeit, Raum, beliebig verteilten Zeit-
momenten oder im Raum gegebenen Punktmengen u. dgl., hervor-
gegangen, und er hat dann seine arithmetische Allgemeinheit durch
die Anwendung des Permanenzprinzips auf diese Abstraktion erlangt,
indem nach demselben nicht nur die Verhältnisse der Dichtigkeit der
Elemente, sondern auch die Richtungen ihrer Anordnung als dem
Begriff nach völlig unbeschränkte und darum die realen Bedingungen
der Anschauung beliebig übersteigende gefordert werden. Darauf
wird außerdem mittels des Konstanzprinzips eine exakte Analogie
Die Zahlen und ihre Symbole. 161
der für verschiedene Mannigfaltigkeiten solcher Art gültigen Gesetze
vorausgesetzt. Aber die Grundlage dieser begrifllichen Konstruktionen
bleibt doch die Anschauung, sie bleibt es auch in dem Sinne, daß hier
wie überall fortwährend Anschauungen als Stellvertreter der Begriffe
funktionieren müssen. Der Unterschied von den beiden anderen Er-
zeugungsformen besteht also im wesentlichen nur darin, daß bei diesen
im einen Falle das Permanenz-, im anderen das Konstanzprinzip erst
nachträglich auf den ursprünglichen Begriff der positiven ganzen
Zahlen angewandt wird, während dort beide Prinzipien gleichzeitig
vor der Ableitung des Zahlbegrifis zur Anwendung kommen, um
zunächst den Begriff einer Mannigfaltigkeit überhaupt herzustellen, der
hinreichend allgemein ist, daß die verschiedensten denkbaren Zahl-
arten und Zahlsysteme aus ihm abgeleitet werden können. Es ist
ersichtlich, daß dieses Verfahren, das die beiden ersten eigentlich als
Teile in sich begreift, das logisch vollendetere ist. Dies bewährt sich
auch darin, daß die Zahlbegriffe, zu denen man auf solchem Wege ge-
langt, an sich unerschöpflich sind, und daß begriffliche Beziehungen
zwischen ihnen hervortreten, die bei den spezielleren Erzeugungen
unbeachtet bleiben.
c. Die Zahlgrenzen.
Die positiven ganzen Zahlen bilden eine unerschöpfliche Reihe,
vor deren Anfang die Nichtexistenz jeder Zahl, die Null, und an deren
Ende die jede denkbare Zahl übersteigende Größe, das Unendliche,
liegt. Diese Eigenschaft geht auf alle anderen Zahlarten und Zahl-
systeme über. Die Symbole 0 und oo bezeichnen daher nicht selbst
Zahlen, sondern die beiden Grenzen des Zahlbegrifis. Aber dies schließt
nicht aus, daß sie gewisse Eigenschaften mit den Zahlen gemein haben
und daher unter bestimmten Bedingungen den Charakter wirklicher
Zahlen annehmen können.
Zunächst nämlich entstehen O0 und oo, ebenso wie die eigentlichen
Zahlen mit Ausnahme der Einheit, durch die arithmetischen Funda-
mentaloperationen. So wird oo durch die unbegrenzte Addition von
Einheiten oder anderen positiven Zahlen, durch die unbegrenzte Mul-
tiplikation von ganzen Zahlen mit Ausnahme der Einheit, oder auch
durch die Division einer Zahl mit 0 erzeugt. Die Null dagegen entsteht
entweder durch die Subtraktion zweier gleicher Zahlen voneinander
oder durch die Division einer Zahl mit oo. Es zeigt sich nun schon bei
der Vergleichung dieser Entstehungsweisen, daß jedes der Symbole
Wundt, Logik. I. 3. Aull. 11
162 Die Logik der Mathematik,
0 und oo verschiedene Bedeutungen besitzen kann. Am deutlichsten
ist dies bei der Null, wie aus den einfachen Beziehungen hervorgeht:
N 0 a
S07 7 og Deere
a— a 0
nern
Jeder der beiden Grenzbegrifie kann hiernach in einer doppelten
Bedeutung auftreten. In der ersten bedeutet er die Grenze
einer veränderlichen Größe, einer unaufhörlich abneh-
menden oder unaufhörlich zunehmenden; in der zweiten dagegen
bedeutet er was alleGrenzen meßbarer Größenüber-
schreitet, weil es entweder keine Größe besitzt, oder weil seine
Größe durch die Reihe aller Zahlen, selbst wenn diese vollendbar
wäre, nicht erschöpft würde. Im ersten Falle handelt es sich um eine
aus der Betrachtung der Größenänderungen, im zweiten um
eine aus der Auffassung des absoluten Wertesder@Größen
hervorgegangene Gestaltung des Null- und des Unendlichkeitsbegriffs.
Die beiden Formen der Null sind durch die oben erwähnten Entstehungs-
weisen hinreichend gekennzeichnet. Während die nach der Subtraktion
a — a zurückbleibende Null das absolute Fehlen jeder Größe bedeutet,
weist die Division — darauf hin, daß a durch Teilung abnehme,
wobei aber, da die teilende Größe unendlich ist, auch diese Abnahme
eine unbegrenzte sein muß. Die beiden Formen des oberen Grenz-
begrifts verhalten sich in Bezug auf ihre Entstehungsweisen insofern
abweichend, als ein absolutes Unendlich überhaupt nicht auf
dem Wege irgendwelcher arithmetischer Operationen entstehen kann.
Denn durch die der Subtraktion entsprechende Operation der Addition
entsteht hier ebenfalls nur der veränderliche Grenzbegrift, da
diese Addition, um eine unendliche Summe zu geben, nicht wie die
Subtraktion a — a eine begrenzte Zahl von Gliedern verlangt, sondern
in der Form einer unvollendbaren Reihe aa--a+ta... fort-
schreitet. Der absolute Unendlichkeitsbegriff kann daher überhaupt
nur in der Form eines von den erzeugenden Operationen völlig abstra-
hierenden Postulates gedacht werden. Zu einem derartigen
Postulat kann aber die mathematische Untersuchung endlicher Größen
Veranlassung finden. Denn es kann für die Fixierung gewisser Begriffe,
die eine absolute Bedeutung besitzen und der Messung durch bestimmte
endliche Größen unzugänglich sind, jener konstante oder absolute
Die Zahlen und ihre Symbole. 165
Unendlichkeitsbegrifi gefordert werden. Wenn man z. B. den Durch-
schnittspunkt zweier Parallellinien in unendliche Entfernung ver-
legt, so ist hier ein absolutes Unendlich gemeint. Als Durchschnitts-
punkt bezeichnet er einen einzigen fest bestimmten Ort im Raume,
und da der Parallelismus der Linien als gegeben, nicht als erst entstehend
vorausgesetzt ist, so kann man ihn nicht etwa als einen Punkt denken,
dem die Linien ohne Ende zustreben. Vielmehr denken wir uns die
Linien über alle meßbaren Grenzen hinaus immer noch als parallel.
Solange wir bloß die erste Form des Unendlichkeitsbegrifies, die Grenze
einer veränderlichen Größe, im Auge haben, ist daher der Begriff eines
Durchschneidungspunktes überhaupt unvollziehbar. Ähnliche Vor-
aussetzungen wie hier für die spezielle Form der Raumgrößen können
nun aber auch für die allgemeinsten Größen, die Zahlen, gemacht
werden. Vermöge der unbeschränkten Freiheit mathematischer Be-
grifisbildung auf Grundlage des Permanenzprinzips ist die Annahme
möglich, es gebe einen absoluten Wert =», welcher nicht
bloß die Grenze bezeichne, dem die Reihe der Zahlen ohne Ende zu-
strebt, sondern in welchem diese Grenze wirklich erreicht sei. In der
Tat hat man diese Fiktion in die arithmetische Spekulation eingeführt
und daran Untersuchungen über die Eigenschaften der jenseits der
Grenzen einer solchen absoluten Größe ® —= © gelegenen Zahlen ge-
knüpft. Dabei stellt sich z. B. heraus, daß diese „transfiniten“
Zahlen schon bei der Addition dem Kommutationsgesetz nicht mehr
folgen, indem 1 o=ow, dagegen + 1>o, also auch 1+ o
nicht gleich » 4 1 ist*). Wenn wir eine in ihrer absoluten Totalität
gedachte unendliche Gerade, die nach ihrer einen Richtung begrenzt
ist, vor ihrem Anfang im Unendlichen um eine Strecke verlängert
denken, so wird dadurch ihre Größe verändert; wenn wir aber die näm-
liche Strecke an ihrer Grenze im Endlichen ansetzen, so bleibt die Gerade
eine unendliche Größe von gleichem Werte wie vorher.
Vielfach sind in der Mathematik und Philosophie die beiden hier
besprochenen Formen der Grenzbegrifife miteinander vermengt worden,
und viele der sogenannten „Paradoxien des Unendlichen“ haben hierin
ihre Quelle**). Auch wenn man zu einem gewissen Bewußtsein der
Unterschiede gelangte, verband sich dies nicht selten mit einer un-
gleichen Wertschätzung beider Begriffe, indem einer derselben als der
allein berechtigte, der andere als ein unrechtmäßiger galt. Besonders
*) G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, S. 39.
**) Vgl. B. Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, 1851.
164 Die Logik der Mathematik.
bezog sich dieser Streit auf den oberen Grenzbegriff, während der untere,
bei dem die arithmetische Anwendung beiden Formen ihr Recht ver-
schaffte, davon kaum berührt wurde. So wurde in der Mathematik
das Symbol & fast nur in der Bedeutung einer ohne Ende wachsenden
Größe gebraucht, während Hegel diese Unendlichkeit der Mathematiker
als die schlechte bezeichnete und ihr die absolute Unendlichkeit
als die wahre gegenüberstellte*). Die dieser Unterscheidung zu
Grunde liegende Anschauung, daß es sich bei der ersten Form in Wahr-
heit um endliche, wenn auch unmeßbar große oder kleine Größen
handle, kann aber nicht als zutreffend anerkannt werden. Obgleich
sie in der Entwicklung der Grundbegriffe des Infinitesimalkalküls ihre
Quelle hat, so ist sie doch in diesem offenbar nicht selbständig ent-
standen, sondern aus den älteren Näherungs- und Exhaustionsmethoden
in ihn übergegangen. Das Unendliche ist die Negation der endlichen
Größe und als solche für die beiden Gestaltungen des oberen Grenz-
begrifis gültig. Der einzige Unterschied liegt in dem zu Grunde liegen-
den Erzeugungsprinzip. Dieses besteht im ersten Falle darin,
daß man das Unendliche aus der endlichen Größe durch
unbegrenztes Wachstum hervorgehen läßt, während man es im
zweiten Fall als einen fertigen Begriff denkt, der von Anfang an
das Merkmal der Begrenztheit, das den endlichen Größen zukommt,
nicht besitzt. Eher werden daher die Bezeichnungen des End-
losen und des Überendlichen oder die zuerst von G. Cantor
gebrauchten des Infiniten und des Transfiniten diesen ver-
schiedenen Entstehungsbedingungen der Unendlichkeitsbegriffe einiger-
maßen gerecht.
Noch einen andern Übelstand hatte aber die Vermengung dieser
verschiedenartigen Grenzbegriffe. In solchen Fällen, wo an sich nur
einer der beiden Unendlichkeitsbegriffe Berechtigung besaß, erzeugte
sie durch die Herbeiziehung des andern einen falschen Zwiespalt der
Anschauungen. Wir werden auf diesen Punkt bei den Grundbegriffen
der Infinitesimalmethode zurückkommen. Doch ist hier schon her-
vorzuheben, daß derabsoluteodertransfinite Unendlichkeits-
begriff in der Mathematik nur für zahlentheoretische oder geometrische
Zwecke eingeführt werden kann, daß dagegen überall da, wo es sich
um die mathematische Darstellung physikalischer, also durch
*) Hegel, Logik, I, S. 263 f. In ähnlichem Sinne unterscheidet
G.Cantor (a.a. O0. 8.13) das uneigentlich und das eigentlich
Unendliche.
Die algebraischen Operationen. 165
die Erfahrung bestimmter Begriffe handelt, nur derinfinite Unend-
lichkeitsbegriff möglich ist.
Nicht zu übersehen ist schließlich, daß beide Unendlichkeits-
begrifie den Charakter logischer Postulate besitzen. Wir
können fordern, es solle die Reihe der positiven ganzen Zahlen in einer
einzigen Zahl —= © zusammengefaßt werden, und es solle eine Größe
ohne Ende wachsen oder zunehmen, ja wir können wegen der begriff-
lichen Freiheit des mathematischen Denkens alle diese Postulate als
erfüllt annehmen und dann die daraus entspringenden Folgerungen
entwickeln. Aber da unser Denken nicht die Macht hat, eine objektive
Realität zu erschaffen, sondern höchstens im stande ist, dieselbe in
subjektiven und darum den Erkenntnisbedingungen des Bewußtseins
unterworfenen Begriffen nachzuerzeugen, so sind auch jene Voraus-
setzungen an sich nichtsalslogischePostulate, und eine
reale Bedeutung gewinnen sie erst von dem Punkte an, wo sie sich in
der begrifilichen Nachbildung der Wirklichkeit als brauchbar bewähren*).
2. Die algebraischen Operationen.
In den Zahlarten und Zahlsystemen ist ein Zahlbegriff zur Ent-
wicklung gelangt, der von dem allgemeinen Begriff der Größe nicht
mehr verschieden ist. Durch die Symbole des an den ursprünglichen
Zahlbegriff sich anlehnenden Ziffernsystems kann daher dieser Begriff
nicht in zureichender Weise ausgedrückt werden, sondern derselbe fordert
Begrifiszeichen von allgemeinerer Bedeutung. Solche Zeichen sind die
algebraischen Buchstabensymbole, denen jene Be-
deutung willkürlich beigelegt worden ist. Neben ihnen bedarf die all-
gemeine Arithmetik der Operationssymbole, welche die mit
den Zahlen vorgenommenen arithmetischen Operationen andeuten.
Außer diesen beiden kann endlich noch eine dritte Art von Sym-
bolen vorkommen, welche Zahlen und die mit denselben vorzunehmen-
den Operationen gleichzeitig bezeichnen. Diese dritte Art ist an sich
nicht unerläßlich wie die beiden ersten, aber sie ist als abkürzendes
Hilfsmittel des Denkens von großer Wichtigkeit und findet deshalb
eine mit der Verwicklung der Aufgaben zunehmende Anwendung.
Die arithmetischen Methoden, welche diese dreierlei Symbole
*) Vgl. hierzu die Bemerkungen über die transzendenten Raumspeku-
lationen, Bd. I, S. 480 ff., und meine Abhandlung über Kants kosmologische
Antinomien und das Problem der Unendlichkeit, Philos. Stud. II, S. 495 ff.
166 Die Logik der Mathematik.
benützen, können nun entweder die direkte Lösung allgemeiner Zahlen-
probleme bezwecken, indem sie sich dazu der vier arithmetischen
Grundoperationen und ihrer Wiederholungen bedienen; oder sie können
der Untersuchung der Eigenschaften gewisser allgemeiner Größen-
beziehungen gewidmet sein, um erst in zweiter Linie von diesen Eigen-
schaften für die Lösung der Probleme Gebrauch zu machen. Auf diese
Weise scheiden sich voneinander die Gebiete der eigentlichen
Algebra und der algebraischen Analysis. Nicht die
Gegenstände, mit denen sich beide beschäftigen, sondern die Stand-
punkte, die sie bei der Untersuchung dieser Gegenstände einnehmen,
sind daher verschieden. Die Algebra betrachtet einen algebraischen
Ausdruck bloß mit Rücksicht auf den Wert der einzelnen Größen und
auf die Beschaffenheit der Operationen, die mit ihnen vorzunehmen
sind; die algebraische Analysis sieht ihn als die Darstellung einer Be-
ziehung zwischen Größen an, und sie untersucht seine Abhängigkeit
von den Veränderungen, die einzelne in ihn eingehende Größen er-
fahren können. Der analytische Standpunkt ist daher der allgemeinere,
welcher den rein algebraischen als speziellen Fall in sich schließt. Nichts-
destoweniger wird es angemessen sein, hier den nämlichen Weg zu
wählen, den die Ausbildung der mathematischen Begriffe selber ge-
nommen hat. Wir beschäftigen uns darum zuerst mit den algebraischen
Methoden im engeren Sinne und wenden uns erst in einem folgenden
Kapitel der logischen Untersuchung des Begriffs der Funktion zu, von
welchem die Analysis beherrscht ist, dessen Entwicklung aber, wie wir
sogleich sehen werden, schon in den gewöhnlichen algebraischen Opera-
tionen beginnt.
a. Die Entstehung und Bedeutung algebraischer
Gleichungen.
Die algebraischen Methoden in dem oben angegebenen engeren
Sinne sind auf zwei logische Grundlagen zurückzuführen. Die eine
besteht inder AllgemeinheitderZahlgesetze. Diese, die
den Gebrauch der Symbole möglich macht, beherrscht auch fortan
deren Anwendungen. Die andere besteht in der unmittelbaren, aber ver-
möge der abgeschlossenen Natur eines jeden Problems stetsbegrenz-
ten Anwendung der vier arithmetischen Operationen und ihrer Wieder-
holungen. Die Art, wie diese Operationen zur Anwendung kommen
und aufeinander folgen müssen, richtet sich nach der Natur des Pro-
blems. Die nächste Aufgabe der algebraischen Methodik besteht daher
Die algebraischen Operationen, 167
darin, daß sie die Beschaffenheit des vorgelegten Problems in einem
allgemeinen symbolischen Ausdruck darstellt. Dies geschieht mittels
der Aufstellung einer Gleichung, welche die Beziehungen zwischen
den in das Problem eingehenden Größen angibt. Die Probleme, die
auf solche Weise eine algebraische Formulierung zulassen, können sich
auf alle möglichen meßbaren Objekte beziehen, auf abstrakte Zahlen,
auf Zeit- und Raumgrößen, auf Waren und Güterwerte u. s. w. Stets
aber besteht die Bedingung zur Aufstellung einer algebraischen Gleichung
darin, daß sich die quantitativen Relationen zwischen den Größen
auf einfache arithmetische Operationen in begrenzter Anzahl zurück-
führen lassen. Das bei der Lösung der gestellten Aufgaben einzu-
schlagende Verfahren muß dann aus Operationen bestehen, welche
denjenigen entgegengesetzt sind, aus denen die quantitativen Re-
lationen der in der Gleichung verbundenen Größen hervorgingen:
eine Addition wird also in einer Subtraktion, eine Multiplikation in
einer Division, eine Potenzerhebung in einer Radizierung ihre Auf-
lösung finden.
Die Gleichung als mathematisches Identitätsurteil ist die einzige
Form, in welcher der Ausdruck fest bestimmter Relationen zwischen
Größen überhaupt möglich ist. Die Aufstellung einer Gleichung ent-
hält aber nur dann zugleich eine bestimmt lösbare Aufgabe, wenn
eine der durch sie in Relation gesetzten Größen unbekannt ist und
aus der in der Gleichung vorgelegten Relation zu den anderen bekannten
Größen gefunden werden soll. Sind alle Größen der Gleichung bekannt,
so enthält diese keine Aufgabe; ist mehr als eine Größe unbekannt,
so genügt sie nicht, um die Aufgabe zu lösen, sondern es müssen ebenso
viele weitere Relationen zwischen den nämlichen Größen in der Form
von Gleichungen gegeben sein, als weitere Unbekannte vorhanden sind.
Da die Algebra aus praktischen Rechenaufgaben hervorging, bei denen
es sich stets um die wirkliche Ermittlung unbekannter Werte aus un-
veränderlich gegebenen bekannten handelte, so ist die Untersuchung
der Gleichungen ursprünglich nur von diesem Gesichtspunkte bestimmt
gewesen. Jede Gleichung galt als der Ausdruck einer Beziehung zwischen
Größen, die sämtlich fest bestimmte Werte besitzen, von denen aber
einzelne zufällig unbekannt sind. Traten mehrere Gleichungen mit
mehreren Unbekannten auf, so wurden solche nur als Hilfsmittel an-
gesehen, um aus ihnen die Normalform mit der einen Unbekannten
herzustellen. Zuerst kam dieser rein arithmetische Standpunkt aus
Anlaß der mehrfachen Werte, welche die Unbekannte bei höheren
Gleichungen annahm, ins Schwanken. Denn eine anschauliche Deutung
168 Die Logik der Mathematik.
dieser mehrfachen Werte lieferte die Geometrie, indem sie zeigte, daß,
sobald man die in der Gleichung aufgestellte Relation als eine solche
zwischen Raumgrößen ansieht, die mehrfachen Werte der Unbekannten
mehreren Raumgrößen entsprechen, die sämtlich der gegebenen
Gleichung Genüge leisten. Hier mußte sich nun zugleich die Wahr-
nehmung aufdrängen, daß eine derartige Bestimmung der Unbekannten
immer nur einen (bei den höheren Gleichungen einige) der Einzel-
werte herausgreift, die eine Größe dann annimmt, wenn anderen mit
ihr in gesetzmäßiger Beziehung stehenden Größen fest bestimmte Werte
gegeben werden, daß aber, sobald man sich diese oder einzelne unter
ihnen stetig verändert denkt, nun auch jene Unbekannte stetige Ver-
änderungen erfährt. So führte hauptsächlich die geometrische Be-
trachtung zu einer neuen Auffassung der algebraischen Gleichungen.
Die Unbekannte wurde untergeordnet dem allgemeinen Begriff der
Veränderlichen. Die algebraische Gleichung mußte nun all-
gemein als ein Ausdruck betrachtet werden, welcher die auf eine be-
grenzte Zahl arithmetischer Elementaroperationen zurückführbaren
Beziehungen zwischen veränderlichen und konstanten Größen angibt.
Werden alle Größen als konstant angenommen mit Ausnahme von
zweien, so drückt die Gleichung eine einfache Reihe stetig veränder-
licher Beziehungen aus, indem jedem Wert der einen Veränderlichen x
im allgemeinen auch ein anderer Wert der zweiten Veränderlichen y
entspricht. Ihre einfachste anschauliche Verwirklichung findet darum
eine solche Gleichung in einer ebenen Kurve, deren Grad dem Grad
der Gleichung entspricht. Wird in dieser Gleichung der einen der
Veränderlichen ein konstanter Wert beigelegt, so ist es klar, daß auch
die zweite Veränderliche einen konstanten Wert oder, wenn das Resultat
mehrdeutig wird, eine begrenzte Anzahl konstanter Werte annehmen
muß. Insofern diese konstanten Werte nicht direkt gegeben sind,
sondern erst aus ihrem Verhältnis zu den übrigen Größen gefunden
werden sollen, verwandelt sich jetzt die Veränderliche in die Unbekannte,
und die Auflösung der Gleichungen wird zu einem Spezialfall der Be-
handlung algebraischer Funktionen. Will man sich\die
Entstehung dieses Spezialfalls vergegenwärtigen, so muß man also
von dem allgemeinen Gesetz einer stetig veränderlichen Funktion aus-
gehen. Eine Funktion zweiten Grades z. B. von der Form y„?=2(a — x)
wird in eine lösbare Gleichung zweiten Grades übergehen, wenn etwa
y=b und demnach x? —ax-+b?—0 wird. Man erhält dann für x die
zwei Werte 5 at > a? — b?. Fragen wir aber nach der realen
Die algebraischen Operationen, 169
Bedeutung dieses Übergangs, so wird, wenn wir eine geometrische Be-
deutung zu Grunde legen, „?=x (a — x) zur Scheitelgleichung eines
Kreises vom Durchmesser a. Setzt man hierin die auf dem Durchmesser
senkrechte Ordinate — b, so ist damit auch der zugehörige Abszissen-
wert x fixiert. Aber da zu der Ordinate b eine gleich große auf der ent-
gegengesetzten Seite des Kreismittelpunktes existiert, so erhält x zwei
Werte, je nachdem man die Wurzelgröße positiv oder negativ nimmt.
Es ist das große Verdienst Descartes’, daß er diese Entwicklung
der Gleichung aus der algebraischen Funktion der Wissenschaft zum
Bewußtsein brachte*). Er hat damit zugleich auf den rationellen Weg
zur methodischen Behandlung der Gleichungen hingewiesen, welcher
darin besteht, daß man sich überall erst von ihren Entstehungsbedin-
gungen Rechenschaft gibt, hieraus die Kenntnis ihrer allgemeinen
Eigenschaften schöpft und auf diese endlich die Methoden zu ihrer
Lösung gründet.
Nun sind die einfachsten Bedingungen zur Aufstellung einer
Gleichung dann gegeben, wenn die realen Größen, die durch sie in Be-
ziehung gesetzt werden, gleichförmig miteinander veränderlich
sind. In diesem Fall entspricht der Konstanz in dem Fortschritt der
Zahlenreihe eine ihr völlig gleichende Konstanz in den Verhältnissen
der Objekte, auf welche die Zahlen Anwendung finden. Ist nun bei
einem solch gleichmäßigen Fortschritt irgend eine der miteinander ver-
änderlichen Größen für einen bestimmten Wert der anderen nicht direkt
gegeben, so bestimmt sie sich aus dem bekannten Verhältnis, in dem
sie zu den anderen Größen steht. Der Ausdruck dieses Verhältnisses
ist eine lineare Gleichung, die durch einfache Isolierung der Un-
bekannten gelöst wird. Bei diesem Verfahren kommen nur die vier
arithmetischen Operationen selbst zur Anwendung, nicht ihre Wieder-
holungen. Zu den einfachsten Aufgaben solcher Art gehören diejenigen
der Regeldetri, bei denen zu drei gegebenen Gliedern einer Proportion
das vierte gesucht wird.
Hiervon unterscheiden sich die verwickelteren Fälle dadurch,
daß die Größen, deren Relation die Gleichung ausdrückt, nicht gleich-
*) Descartes, Geometrie, Oeuvr. T. I. Zwar waren schon die
arabischen Mathematiker durch die von ihnen geübten Methoden der Lösung
von Gleichungen zu ähnlichen Gesichtspunkten gelangt. Ihre Leistungen
wurden aber erst in jüngster Zeit der Vergessenheit entrissen und haben
daher in dieser Beziehung keinen merklichen Einfluß auf die Entwicklung der
neueren Algebra ausgeübt. Vgl. L. Matthießen, Grundzüge der antiken
und modernen Algebra, 1878, S. 921 ff.
170 Die Logik der Mathematik.
förmig zu- und abnehmen, daß also die eine nicht ein konstanter Bruch-
teil oder ein konstantes Vielfaches der anderen ist. Demgemäß reicht
nun auch die einfache Division oder Multiplikation nicht mehr aus,
um eine Unbekannte in bekannten Größen auszudrücken. Der nächst
einfache Fall ist hier dann gegeben, wenn die Geschwindigkeit in der
Zunahme des Wachstums einer Größe proportional der absoluten Zu-
nahme einer anderen ist, oder wenn, während die eine Größe gleich-
förmig zunimmt, die andere mit einer Geschwindigkeit wächst, die fort-
während ihrem eigenen absoluten Werte proportional bleibt. Der erste
dieser Fälle ist in der Natur in vielfältiger Weise verwirklicht, in der
Zunahme der Geschwindigkeit fallender Körper, in der Zunahme der
Licht- und Schallstärke mit der Annäherung an die Licht- und Schall-
quelle u.s. w. Die reine quadratische Gleichung ist der Ausdruck dieser
Beziehung. Dem zweiten Fall entspricht das Wachstum eines Kapitals,
dessen Zinsen wieder kapitalisiert werden. Reine Gleichungen höherer
Grade entstehen demnach überhaupt, wenn zwei Zahlen in solcher
Beziehung stehen, daß sie sich stetig miteinander verändern, daß aber
die Veränderung der einen aus derjenigen der anderen nicht durch eine
einfache Multiplikation oder Division, sondern nur durch mehrfache
Wiederholung dieser Operationen in Bezug auf die nämliche Größe
gefunden werden kann.
Diese bis dahin noch einfachen Aufgaberi werden dann von steigen-
der Verwicklung, wenn nicht bloß das Wachstum der durch die Gleichung
in Beziehung gesetzten Größen ein verschiedenes ist, sondern wenn
außerdem teils die Anzahl der Größen, die zueinander in Relation ge-
bracht sind, teils die Anzahl der zwischen ihnen existierenden Relationen
zunimmt. Geben wir z. B. der Gleichung mit zwei Variabeln z und y
eine geometrische Deutung, so bezeichnen x und y stets zwei gerade
Linien, deren relatives Wachstum den Weg einer Kurve bestimmt, die
in ihrem ganzen Verlauf der Ausdruck der gesetzmäßigen Beziehungen
zwischen den Veränderungen jener beiden Geraden ist. Denken wir uns
zwischen den nämlichen Geraden von denselben Anfangspunkten aus
gleichzeitig zweierlei beziehungsweise Veränderungen nach einem ver-
schiedenen Gesetze oder mindestens mit verschiedener Geschwindig-
keit erfolgen, so werden diese zwei nebeneinander hergehenden Rela-
tionen in zwei Kurven ihren Ausdruck finden, die sich in irgend
einem Lageverhältnis zueinander befinden. Legt man sich nun die
Frage vor, ob es einen oder mehrere Punkte auf der Geraden x gibt,
die für beide Gesetze beziehungsweiser Veränderungen koinzidieren,
wo also zwei Werten y von gleicher Größe auch zwei gleiche Werte
Die algebraischen Operationen. 171
von x entsprechen, so verwandeln sich die beiden Gleichungen zwischen
x und y, welche die Gesetze des Verlaufs der zwei Kurven ausdrücken,
in zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten. Die Werte von z, die man
aus ihnen gewinnt, bezeichnen, auf der Geraden x abgemessen, die den
beiden Kurven gemeinsamen Punkte. Auf diese Weise entsprechen
z. B. zwei Kegelschnitten im allgemeinen vier Schnittpunkte. Die zwei
quadratischen Gleichungen der Kegelschnitte liefern daher als allge-
meinen Ausdruck für die Werte von x eine Gleichung vierten Grades.
Die Lage der beiden Kegelschnitte kann nun aber auch eine solche sein,
daß sie in weniger als vier Punkten, oder daß sie gar nicht sich schneiden.
In diesem Fall ergeben sich als die entsprechenden Werte von zimaginäre
oder komplexe Zahlen. Gemäß der geometrischen Bedeutung der
letzteren ist demnach dieses Resultat so zu erklären, daß sich der be-
treffende Punkt nicht auf der Geraden x selbst befindet, sondern daß
diese in lateraler Richtung bewegt werden müßte, um ihn zu erreichen.
Denken wir uns, die eine der sich schneidenden Linien sei stets eine Ge-
rade, so ist an und für sich klar, daß die andere eine Kurve von immer
zusammengesetzterer Beschaffenheit werden muß, wenn die Zahl der
Schnittpunkte wachsen soll. Wie die Gerade eine andere Gerade in
einem und einen Kegelschnitt in zwei Punkten schneidet, so eine Kurve
dritten, vierten, fünften Grades in je drei, vier, fünf Punkten, von
denen wieder je nach der Lage der Geraden einzelne hinwegfallen
können, wodurch sich imaginäre Werte der Unbekannten x ergeben.
Die geometrischen Objekte bilden so die anschaulichste Darstellung
der Beziehungen, die zur Aufstellung von Gleichungen führen, und
die Verhältnisse anderer Größen können immer leicht in sie übertragen
werden. Versuchen wir es aber, die in dieser Darstellung gegebenen
Bedingungen in abstrakter Allgemeinheit auszudrücken, so bestehen
dieselben offenbar darin, daß aus einer Summe in wechselseitigen Rela-
tionen stehender Größen zunächst die einzelnen Größen isoliert werden,
was in der Bezeichnung jeder einzelnen durch ein besonderes Buchstaben-
symbol ausgedrückt ist. Jede solche isolierte Größe enthält in sich kein
bestimmtes Gesetz des Wachstums, ihre Messung folgt daher dem
durch die natürliche Zahlenfolge gegebenen Gesetz gleichmäßiger
Änderung. Sobald nun aber die Größen in den zwischen ihnen statt-
findenden Relationen beobachtet werden, so zeigt es sich, daß die einen,
a,b,c..., konstant bleiben, während sich die anderen, x, Y, 2. .., ver-
ändern. Zum Ausdruck des Gesetzes dieser Veränderung ist zunächst
die Gleichung bestimmt. Die ihr entsprechende Kurve hat, wie die
Gleichung selbst, die Bedeutung einer Relation zwischen Größen, die
172 Die Logik der Mathematik.
für sich selbst betrachtet sämtlich gerade Linien von teils unveränder-
lichem, teils veränderlichem Werte sind. Auch die Aufgabe, zu welcher
die Gleichung überführt, indem sie an Stelle der mehreren Veränderlichen
die eine Unbekannte zurückläßt, besteht daher geometrisch in der
Ermittlung der Länge einer Geraden oder allgemein des isolierten
Wertes der Größe x. Darum führt die Auflösung einer Gleichung immer
darauf hinaus, daß eine Gleichung nten Grades für x in n Gleichungen
ersten Grades übergeführt werde, die den n Wurzeln für x ent-
sprechen.
b. Die allgemeinen Eigenschaften der algebraischen
Gleichungen.
Der nahe Zusammenhang der Eigenschaften der Gleichungen mit
ihren Entstehungsbedingungen ergibt sich unmittelbar aus den obigen
Erörterungen. Während aber die Betrachtung der Entstehungsbedin-
gungen von den verwickelten Erscheinungen, welche Anlässe zu be-
stimmten Problemen enthalten, ausgehen mußte, ist der Weg für die
Untersuchung der Eigenschaften der Gleichungen notwendig
der umgekehrte. Daraus ergibt sich zugleich die Möglichkeit, daß hier
die Untersuchung sofort in abstrakter Form begonnen werden kann,
wogegen einer verwickelten Gleichung immer erst durch die anschaulich
gegebenen Verhältnisse, auf die sie bezogen wird, ein Verständnis ab-
zugewinnen ist. Hierin besteht nun das zweite große Verdienst
Descartes’ um die algebraische Analysis. Während er auf der einen
Seite das geometrische Bild als das angemessenste Objekt für die Er-
kenntnis der Bedeutung einer Gleichung und der sie konstituierenden
Größen kennen lehrte, zeigte er auf der anderen, daß bei der Unter-
suchung des Aufbaues der Gleichung aus diesen Elementen das alge-
braische Symbol jeder anschaulichen Versinnlichung überlegen ist,
weil es für die Ausführung der arithmetischen Elementaroperationen
das einfachste Werkzeug darbietet.
Das Ergebnis der Auflösung einer Gleichung besteht nun in der Fest-
stellung linearer Gleichungen von der Form =o, 2=ß, @=Y...,
deren Anzahl dem Grad der ursprünglichen Gleichung entspricht,
und in denen a, ß, Yy... sukzessiv die einzelnen Wurzelwerte bedeuten,
die x annehmen kann. Diese Werte &,ß,y... sind in der ursprüng-
lichen Gleichung nicht isoliert enthalten, sondern untereinander und
mit x zu einer einzigen zusammengesetzten Relation verbunden, welche
die Werte —o, 2&—ß, 2&—Y..., die sämtlich gleich Null sind, als
Die algebraischen Operationen. ur:
Faktoren enthält, und worin übrigens «a, ß, y... sowohl negative als
komplexe Werte bedeuten können. Rückwärts wird daher auch aus den
n linearen Endgleichungen die ursprüngliche wieder hergestellt werden,
wenn man die genannten Faktoren miteinander multipliziert, wenn man
also
(.— a0). c — PB). ce —Y)...=0
setzt. Es ergibt dann die wirkliche Ausführung dieser Multiplikation
einen Ausdruck
© +-Aent+- Bari? -...+7=0,
in welchem die Koeffizienten A, B,C... T bestimmte Verbindungen
der Wurzeln «, ß, y.. sind, nämlich
A=ae+ßHtr...
B=aß+toy-+ae...
C=aßytaßi-ayd...
Nzaßpye..:
Diese von Descartes gelehrte Rekonstruktion der Gleichung aus
den linearen Endgleichungen ihrer Wurzeln liefert das vollständige
Material zur Ableitung der Eigenschaften der Gleichungen. Die
oben entwickelte Form, die sämtliche Potenzen von x in absteigender
Reihenfolge enthält, wird dabei als die Normalform angesehen, deren
verschiedene Gestaltungen von der positiven, negativen oder imaginären
Form der einzelnen Wurzeln «, ß, y.. abhängen. Alle Methoden für
die Untersuchung der Gleichungen gründen sich einzig und allein auf
die Herstellung jener Normalform nten Grades aus den vorläufig hypo-
thetisch als gegeben vorausgesetzten n Wurzeln als ihren Elementen.
Die spezielle Verfolgung dieser Methoden gehört nicht zu unserer Auf-
gabe; nur der Ausgangspunkt und allgemeine Charakter derselben
bedarf einer kurzen Erörterung. Ausgangspunkt ist der Satz, daß die
Gleichung nten Grades aus ihren n Wurzelgleichungen rekonstruiert
werden kann. Dieser Satz gründet sich auf das arithmetische Gesetz,
daß die Veränderung, die an einem beliebigen Zahlenausdruck durch
eine begrenzte Anzahl elementarer Operationen vorgenommen wurde,
wieder aufgehoben werden kann, wenn man die umgekehrten Opera-
tionen in der geeigneten Reihenfolge anwendet. Dieses Gesetz selbst ist
aber nur eine Verallgemeinerung des Prinzips der inversen Operationen.
Nachdem unter der Anleitung dieses Prinzips die Normalform der
Gleichung nten Grades durch die wirkliche Ausführung der Multipli-
174 Die Logik der Mathematik.
kation, also durch Induktion gefunden ist, trägt nun die weitere Unter-
suchung der allgemeinen Eigenschaften der so entstandenen Gleichungen
durchgehends einen gemischten Charakter an sich, insofern die Sätze,
zu denen man gelangt, sowohl eine induktive wie eine deduktive Be-
gründung zulassen. In der Regel sind sie zuerst durch Induktion im
Anschlusse an die erste Induktion, welche die Normalgleichung ergibt,
gefunden worden; man hat dann aber außerdem gesucht, sie direkt aus
den Eigenschaften dieser abzuleiten. So ergibt sich z. B. der
Cartesianische Satz, daß eine vollständige Gleichung lauter positive
Wurzeln hat, wenn die Koeffizienten von x abwechselnde Vorzeichen
besitzen, und daß sie lauter negative Wurzeln hat, wenn die Koeffizienten
ohne Ausnahme positiv sind, induktiv aus der Multiplikation der linearen
Faktoren; derselbe ergibt sich aber außerdem auch als eine notwendige
Folge der Eigenschaften der Normalfunktion x&* 4 Ax”"!+ Ba"”?...
Denn sobald von je zwei aufeinander folgenden Gliedern vom ersten
an die höhere Potenz positiv und die niedrigere negativ ist, so muß z
unter allen Umständen einen positiven Wert haben, wenn die Summe
gleich Null werden soll; umgekehrt dagegen, wenn alle Vorzeichen
positiv sind, so kann die Summe nur dann gleich Null sein, wenn x stets
negativ ist. Ähnlich folgt der Satz, daß die Normalgleichung durch jede
der Differenzen < — a, 2 — ß,2 — Y... ohne Rest teilbar ist, induktiv
‚aus der Bildung des Produktes (e— a). (e—ß).(@ —Y)..., wo jede
der Differenzen unmittelbar als ein Faktor jenes Polynoms erscheint.
Der nämliche Satz läßt sich aber aus den allgemeinen Eigenschaften
des Polynoms und dem Begriff der Wurzel erweisen, nach welchem für
jeden Wert «a, ß,y... die nämliche Gleichung wie für x gelten muß, so
daß also auch die Differenzengleichung
(a — ar) + A (et — ar) + B (a? — arm)... .=0
gebildet werden kann, welche durch x — «a teilbar ist.
Bei den Transformationen der Gleichungen, namentlich bei der
Bildung abgeleiteter Wurzelgleichungen und Koeffizientengleichungen,
benützt man sodann die durch die Fundamentalsätze festgestellten
Eigenschaften der Normalgleichung, um aus ihnen auf ausschließlich
deduktivem Wege weitere Sätze zu gewinnen. Es handelt sich hierbei
um fortgesetzte Anwendungen zweier allgemeiner Prinzipien.
Nach dem ersten derselben darf jede in eine Gleichung eingehende
Größe eine beliebige Veränderung erfahren, sobald nur mit den zu ihr
in Relation gebrachten Größen entsprechende Veränderungen vor-
genommen werden. Nach dem zweiten Prinzip darf für eine ge-
Die algebraischen Operationen. 175
gebene Relation einer Größe irgend eine andere der nämlichen Größe
substituiert werden, sobald man nur an Stelle der übrigen ursprüng-
lichen Größen andere von geeigneter Beschaffenheit einführt. Das erste
dieser Prinzipien, welches wir als das Prinzip der korrespon-
dierenden Veränderungen bezeichnen können, beruht un-
mittelbar auf der Konstanz der Zahlgesetze und der Existenz der
inversen Operationen, vermöge deren es jederzeit möglich ist, eine
willkürlich eingeführte Veränderung wieder aufzuheben. Das zweite
Prinzip, welches wir das der Variation der Beziehungen
nennen können, schöpft seine Berechtigung aus dem Wesen der
Gleichung. Da diese aus einer unbegrenzten Anzahl denkbarer Be-
ziehungen einer Größe x eine einzelne herausgreift, so ist es natürlich
immer möglich, der gewählten irgend eine andere jener denkbaren Be-
ziehungen zu substituieren. Bei der Anwendung des ersten Prinzips
bleibt die vorliegende Form der Gleichung unverändert, bei der An-
wendung des zweiten wird sie in der Regel verändert, und im allgemeinen
geht man bei dieser Veränderung darauf aus, eine Gleichung niedrigeren
Grades aus einer solchen höheren Grades herzustellen.
Die zahlreichen Methoden, die zum Zweck der Auflösung der
Gleichungen im Laufe der Zeit erfunden worden sind, bestehen nun
in der fortgesetzten und meist kombinierten Anwendung jener beiden
Prinzipien. Nur die Gleichungen ersten Grades erfordern außer der
einfachen Hilfe der vier arithmetischen Operationen kein weiteres
Verfahren; streng genommen handelt es sich aber bei ihnen gar nicht
um Lösungsmethoden, sondern nur um eine geeignetere Ordnung der
Größen, da sie die Form linearer Wurzelgleichungen bereits besitzen.
Anders bei den Gleichungen höherer Grade, wo nunmehr das eigent-
liche Lösungsverfahren in der schließlichen Reduktion auf Gleichungen
ersten Grades besteht. Zahlreiche Methoden substituieren, um dies zu
erreichen, zunächst der Unbekannten x eine lineare Funktion von x,
z.B. y=x—z. Aus der ursprünglichen Gleichung f (x) =0 erhält
man auf diese Weise eine neue Gleichung f (y)=0, in welcher alle
Größen Veränderungen erfahren haben, die dem Übergang von z in y
entsprechen. Wenn man die unbestimmte Größe z, die in die Koeffi-
zienten der neu gebildeten Gleichung eingeht, unter Rücksichtnahme
auf die sonstigen Faktoren dieser Gleichung in geeigneter Weise bestimmt,
so genügt das so zur Anwendung gekommene Prinzip der korrespon-
dierenden Veränderungen vollständig zur Lösung. Ist dies aber nicht
der Fall, so kann dann außerdem das Prinzip der Variation der Be-
ziehungen herbeigezogen werden, indem man z.B. die Gleichung f (y)=0
176 Die Logik der Mathematik.
in zwei Gleichungen p° (4, 2) = 0 und »“ (y,z) — 0 zerlegt, in welchen die
beiden Größen y und 2 als Unbekannte behandelt werden. Sind diese
Gleichungen niederen Grades, so können sie die Auffindung zunächst
der Wurzeln von y und z und dadurch, vermöge’der angenommenen
Beziehung dieser Größen zu x, auch der Wurzeln von x vermitteln.
Bei der von Descartes erfundenen, für die algebraische Analysis epoche-
machenden Methode der Lösung biquadratischer Gleichungen wird das
Prinzip der Variation der Beziehungen unmittelbar in der hier ange-
deuteten Weise angewandt, indem die vorgelegte Gleichung, nachdem
sie auf die Form 2 +a2?+bxz+c==0 gebracht ist, in zwei quadra-
tische Gleichungen
xz+a,2+b,=0undde!— „zz +b,—=0
zerlegt wird. Der ursprünglichen Beziehung zwischen x und den be-
kannten Größen a, b, c sind hier zwei andere Beziehungen zwischen
x und anderen Größen a,, b,, a,, b,, die zunächst ebenfalls unbekannt
sind, substituiert. Diese unbestimmten Koeffizienten können nun aber
gefunden werden, da die Bedingung besteht, daß die zwei neu aufge-
stellten Relationen mit der ursprünglichen übereinstimmen müssen.
Man sucht daher besondere Gleichungen zu gewinnen, durch welche die
Beziehungen der unbestimmten Koeffizienten a,, b, u. s. w. zu den ur-
sprünglichen a, b, c festgestellt werden. Dies ist im vorliegenden Fall
leicht möglich, da man durch Multiplikation der beiden quadratischen
Gleichungen miteinander eine biquadratische von der Form der ur-
sprünglichen erhält, die nun mit dieser verglichen unmittelbar die Be-
dingungsgleichungen liefert, durch welche die neuen Koeffizienten be-
stimmt werden. Die Methode der unbestimmten Koeffizienten, die
Descartes bei dieser Gelegenheit in die Analysis einführte, ist, wie in
diesem Beispiel, so in zahlreichen anderen ein notwendiges Hilfsmittel
für die Anwendung des Prinzips der Variation der Beziehungen. Jene
Methode selbst aber ist eine der fruchtbarsten Anwendungen des all-
gemeinen Prinzips der analytischen Methode, daß das Gesuchte zum
Behuf seiner Auffindung als bereits gegeben vorausgesetzt werde. (Siehe
oben S. 71.)
Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 177
Drittes Kapitel.
Die geometrischen Methoden.
1. Die geometrischen Konstruktionsmethoden.
a. Die Entwicklung der geometrischen Konstruktionsmethoden,
Der abstrakte Raumbegriff, welcher den Gegenstand der reinen
Geometrie bildet, ist durch eine gleichförmigere Entwicklung aus der
Anschauung hervorgegangen als der Zahlbegriff. In diesem Sinne liegt
er der Anschauung näher als der letztere, so daß Kant sogar ihn selbst
für eine Anschauung halten konnte. (Vgl. Bd. I, S. 480.) Auch die
anschaulichen Objektivierungen der einzelnen geometrischen Begriffe
sind aus diesem Grunde eindeutiger als die arithmetischen Be-
grifisformen, und sie fordern dadurch unmittelbarer eine Untersuchung
mittels der Analyse und Synthese einfacher räumlicher Objekte heraus.
Auf solche Weise erklärt es sich, daß unter allen mathematischen
Methoden die geometrischen am frühesten eine wissenschaftliche
Ausbildung erreicht haben. Im Dienste der Induktion und der
Deduktion gleichzeitig verwendbar zeigen sie am deutlichsten den
Übergang aus der induktiven in die deduktive Periode der Mathe-
matik. Versuchsweise zog man Hilfslinien, um Sätze zu finden, oder
um zu erproben, ob Sätze, die in speziellen Fällen bereits gefunden
waren, eine weitere Ausdehnung zuließen. Ein derartiges Verfahren
beginnt einen deduktiven Charakter anzunehmen, sobald die ausgeführ-
ten Versuche die Kenntnis des nachzuweisenden Satzes bereits voraus-
setzen, wenn auch diese nur in der Form einer Vermutung vorhanden
sein sollte. Die Konstruktion wird dann eben zu dem Zwecke aus-
geführt, den deduktiven Beweis für die Richtigkeit der Vermutung zu
liefern. Die Mathematik steht in dieser Beziehung auf dem nämlichen
Boden wie die Erfahrungswissenschaften. Wo es sich nicht gerade um
den Beweis von Wahrheiten handelt, die durch Induktion oder durch
eine andere Form der Beweisführung bereits vollkommen sicher stehen,
da hat die Deduktion überall die Aufgabe, zunächst Hypothesen zu
Grunde zu legen, um diesen, wenn die Beweisführung gelingt, Gewißheit
zu geben. Hypothesen, auf Grund deren geometrische Konstruktionen
ausgeführt werden, entstehen aber am häufigsten dadurch, daß die
unmittelbare Anschauung der Figuren dieselben an die Hand gibt.
Schon durch die griechischen Geometer wurden die Konstruktions-
methoden mit reicher Erfindungskraft gehandhabt. Sie bedienten sich
ihrer zugleich zum Beweis arithmetischer Sätze, indem sie die Zahlgrößen
durch Raumgrößen versinnlichten. Teils die Anschaulichkeit solcher
Wundt, Logik. II. 3. Aufl.” 12
178 Die Logik der Mathematik.
Beweise, teils die unvollkommene Ausbildung der arithmetischen
Symbolik machten so die geometrische Konstruktion fast zur allgemeinen
mathematischen Methode. Die instrumentellen Hilfsmittel, welche die
alte Geometrie bei diesem Verfahren gebrauchte, waren das Lineal und
der Zirkel, wobei dieser nicht bloß zur Herstellung des Kreises, sondern
namentlich auch zur Abmessung gleicher Strecken auf den mit dem
Lineal gezogenen Geraden diente. Lineal und Zirkel ersetzten also
den Maßstab. Jene Verwendung geometrischer Konstruktionen im
Dienste der Arithmetik scheint aber keineswegs in der Weise entstanden
zu sein, daß man von Anfang an für Zahlbegriffe nach räumlichen Ver-
sinnlichungen suchte. Vielmehr waren wohl umgekehrt die Sätze ur-
sprünglich geometrische und wurden erst durch Messung und Zählung
in arithmetische umgewandelt. Am frühesten scheint die Ausmessung
des Quadrates zu diesem Übergang den Anlaß geboten zu haben. Indem
man den Flächeninhalt desselben durch Zerlegung in kleine Quadrate
bestimmte, ergab sich von selbst die umgekehrte Aufgabe, einem elemen-
taren Quadrate a sukzessiv Teile anzufügen, welche es mit Erhaltung
seiner Gestalt vergrößerten. So erhielt man aus a durch
Hinzufügung eines sogenannten Gnomon (bdc) das
nächst größere Quadrat ab dc, aus diesem auf ähnliche
Weise das noch größere aevf, u.s.w. (Fig. 6). Maß man
aber das zuletzt erhaltene durch Zählung der sukzessiv
hinzugenommenen elementaren Quadrate, so erhielt
man die Reihe der sogenannten Quadratzahlen 1-3
+5-+7-+...+(2n—1) =n?, d.h. man gewann
durch die geometrische Betrachtung den arithmetischen Satz, daß
die Summe der ungeraden Zahlen von 1 bis zu einer beliebigen Zahl
gleich dem Quadrat der Hälfte der nächst höheren geraden Zahl sei.
Die nämliche Zerlegung hat wahrscheinlich Veranlassung gegeben,
die elementaren Quadrate zu summieren, welche die Hälfte des ganzen
Quadrates oder das gleichschenklige rechtwinklige Dreieck akl aus-
messen: man erhielt so sukzessiv a, bc, edf, kg hl oder die natürliche
Zahlen go a nee in Rainer din
Namen der Dreieckszahlen führte, und deren Summierung aber-
mals einen arithmetischen Satz ergab*). Das methodische Interesse
dieser arithmetischen Anwendung geometrischer Konstruktionen be-
*) Hankel, Zur Geschichte der Mathematik, S. 104. Cantor, Vor-
lesungen, I, S. 135 £.
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 179
steht vor allem darin, daß uns diese hier noch vollständig als Hilfs-
mittel der Induktion entgegentreten. Dem entspricht der eigentümliche
Charakter dieser Konstruktionen, bei denen eine Figur aus gleich-
artigen Elementen aufgebaut und dann die Verknüpfung der Elemente
mittels einer einfachen Addition ausgeführt wird.
Diesem synthetischen Verfahren einfachster Art trat nun frühe
schon die Methode der Zerlegung geometrischer Figuren
zum Zweck der Feststellung der wechselseitigen Beziehung ihrer Teile
gegenüber. Man sieht sich zu einer solchen Zerlegung gezwungen, so-
bald die geometrischen Figuren allzu verwickelt sind, so daß sie eine
unmittelbare Erkenntnis ihrer Form- und Maßverhältnisse in der An-
schauung nicht zulassen. Der Zweck der Zerlegung besteht daher zu-
nächst darin, einfachere Teile zu gewinnen, deren Maßbeziehungen un-
mittelbar übersehen werden können. Das älteste Konstruktionsver-
fahren begnügt sich mit der Erreichung dieses Zwecks: der Geometer
gibt die Anleitung zur Ziehung der Hilfslinien und verweist dann auf
die Anschauung. Erst durch die Platonische Philosophie wurde der
Mathematik allmählich das Bedürfnis zum Bewußtsein gebracht, sich
bei dieser Berufung nicht zu beruhigen, sondern über die Gründe Rechen-
schaft zu geben, aus denen gewisse Formverhältnisse für uns evident
sind*). Nun erst entstand die Forderung, mit Hilfe der Konstruktion
alle Sätze auf ein System von Definitionen und Axiomen zurückzu-
führen, eine Forderung, deren getreuen Reflex die Euklidische Geometrie
bildet, welche die Teilung der Figuren mit Vorliebe als Konstruktions-
methode verwendet. Hiermit hat zugleich diese Methode ihren deduk-
tiven Charakter gewonnen, und sie ist analytisch in einem doppelten
Sinne, in einem anschaulichen und in einem begrifilichen: in jenem, weil
das in der Anschauung Gegebene selbst zerlegt wird, in diesem, weil
die Zerlegung auf die logischen Voraussetzungen zurückgeht, aus
denen der Beweis zu führen ist.
An die Zerlegung der Figuren schließt sich dann ein anderes Ver-
fahren nahe an, zu dem man in solchen Fällen zu greifen pflegt, wo die
Zerlegung nicht vollständig genügt, um Formverhältnisse herzustellen,
die eine unmittelbare Anschaulichkeit vermitteln. Hier zieht man er-
gänzende Konstruktionen zu Hilfe, die, außerhalb der
untersuchten Figuren angebracht, die Teile derselben in neue Relationen
bringen, welche die zuvor nicht hinreichend vorhandene Anschaulichkeit
vermitteln und dadurch zugleich die Zurückführung auf bestimmte
*) Cantor, Vorlesungen, I, S. 188 f£.
180 Die Logik der Mathematik,
Axiome gestatten. Es besteht also dieses Verfahren in einer Zwischen-
form zwischen analytischer und synthetischer Methode: die Zerlegung
verbindet sich mit der Erzeugung neuer Raumgebilde, die durch ihre
Verbindung mit den gegebenen die Lösung einer Aufgabe gestatten.
Hierdurch führt diese Methode unmittelbar über zu einem letzten Ver-
fahren, das insofern das vollkommenste ist, als es das zu unter-
suchende Raumgebilde aus bestimmten Entstehungsbedingungen her-
vorgehen läßt, mit denen die wesentlichsten Eigenschaften desselben
teils unmittelbar gegeben sind, teils in einem leicht durchschaubaren
Zusammenhange stehen: zur Methode der genetischen Kon-
'struktion. Sie ist im allgemeinen wieder synthetisch, wird aber,
im wesentlichen Unterschiede von jenem synthetischen Aufbau ein-
facher Figuren aus gleichartigen Teilen, mit dem die geometrische Kon-
struktion anfing, ausschließlich im deduktiven Interesse geübt.
Denn eine genetische Konstruktion läßt sich nicht ausführen, ohne daß
das leitende Prinzip, von dem alle Eigenschaften der erzeugten Gebilde
abhängen, zuvor gegeben ist. Auf diese Weise hat sich die Entwicklung
der geometrischen Konstruktionsmethoden in einer bestimmten Ord-
nung vollzogen: mit synthetischen Verfahrungsweisen nehmen sie
ihren Anfang, und in ebensolchen finden sie wieder ihren Abschluß,
der Übergang aber wird durch Methoden von analytischem und von
gemischtem Charakter vermittelt. Anderseits bewegt sich die nämliche
Entwicklung von induktiven Anfängen aus durch großenteils induktiv
gefundene, aber deduktiv verwertete Methoden zu solchen, die in Auf-
findung und Anwendung vollständig deduktiv geworden sind. Doch ist
auch hier das Nacheinander zugleich ein Nebeneinander, da die neu
gewonnenen Methoden keineswegs die früher vorhandenen verdrängten.
Nur die ältesten synthetischen Konstruktionen haben, weil sie bloß
räumliche Versinnlichunge n einfacher arithmetischer Operationen sind,
der abstrakten Ausübung der letzteren Platz gemacht.
b. Die Teilung der Figuren.
In den einfachsten Fällen, in denen die Euklidische Geometrie
die Teilung der Figuren anwendet, ist diese durch den Inhalt des zu
erweisenden Satzes selbst bestimmt, so daß die konstruktive Erfindungs-
kraft nicht weiter in Anspruch genommen wird. So ergibt sich z. B.
der Satz, daß Parallelogramme auf derselben Grundlinie und zwischen
denselben Parallellinien einander gleich sind (Euklid I, 35), aus der
Konstruktion der Figur ohne Ziehung von Hilfslinien. Für die An-
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 181
schauung ist der Satz unmittelbar einleuchtend; der Beweis greift aber
auf die Definition des Parallelogramms, den Satz von der Gleichheit
der Wechselwinkel und die Kongruenz der Dreiecke zurück. Die Er-
findung zweckmäßiger Hilfslinien wird hier dadurch erspart, daß die
Konstruktion der Figur schon eine hinreichende Zahl von Linien und
Durchschnittspunkten liefert, um eine geeignete Zerlegung in Teile mög-
lich zu machen (Fig. 7).
Diesen Fällen reihen sich zunächst solche an, in denen zwar der
Inhalt eines Satzes unmittelbar durch die Konstruktion anschaulich
wird, jedoch die logische Führung des Beweises eine hinzutretende Teilung
durch Ziehung einer oder mehrerer Hilfslinien erforderlich macht.
So bedarf die geometrische Versinnlichung des Satzes (A—+ B)?— 4?
2A B-+- B? (Euklid II, 4), um sofort anschaulich zu sein, nur der
Fig. 7. Fig. 8.
b EN ER d I _e
| 7
a—e ARE: a9 Dh
Ziehung der durch den Satz selbst geforderten Linien efundgh. Die
Reduktion auf bereits bewiesene Sätze fordert aber außerdem die
Ziehung der Diagonale a c, welche es möglich macht, auf die Sätze von
der Gleichheit der Wechselwinkel und der Winkel an der Basis des
gleichschenkligen Dreiecks zurückzugreifen (Fig. 8).
In einer dritten Klasse von Fällen ist die Art der vorzunehmen-
den Teilung weder mit dem Inhalt des Satzes unzweideutig gegeben,
noch führt sie zu einer unmittelbaren Veranschaulichung desselben,
sondern sie wird zunächst nur durch das Streben nach logischer Zurück-
führung der Theoreme auf bereits bekannte Sätze bestimmt. Hier er-
reicht zwar ebenfalls die zerlegende Konstruktion eine größere An-
schaulichkeit, doch geschieht dies nur für ein durch mannigfache
geometrische Betrachtungen bereits geübtes Anschauungsvermögen
oder unter Zuhilfenahme weiterer, noch mehr ins einzelne gehender
Zerlegungen. Als Beispiel kann der Euklidische Beweis des Pytha-
goreischen Lehrsatzes gelten (I, 47). Auch bei ihm können wir eine
durch den Inhalt des Satzes selbst geforderte Konstruktion von den-
jenigen Konstruktionen unterscheiden, die erst durch die Zurück-
182 Die Logik der Mathematik.
führung auf bekannte Sätze notwendig werden. Der Inhalt des Satzes
macht die Ziehung der Linie al||ce erforderlich, durch welche das
Quadrat be in zwei Rechtecke cl—=ak und bl—bg geteilt wird.
Die weitere Konstruktion, die in der Ziehung der Hilfslinien «ae,
ad,bkundc f besteht, dient dann dem Nachweis, daß wirklich el—=ak
und bl=bg ist. Der große Unterschied von den vorangegangenen
Fällen liest aber darin, daß diese dem Beweis dienende Hilfskonstruk-
tion zugleich die Richtigkeit des Satzes erst
Fig. 9. einigermaßen anschaulich macht. Dies ge-
er R) schieht dadurch, daß die drei genannten Hilfs-
x /\ linien zunächst die Herstellung von zwei Paaren
= kongruenter Dreiecke, cbf und abd, ckb
Ex und ace, vermitteln. Da nun leicht zu sehen
N ist, daß Aabd die Hälfte des Rechtecks b1
und A cbf die Hälfte des Quadrates a f, so
folgt, daß bla f, und daß in analoger Weise
\g el=chist. Prägen sich aber auch diese Ver-
hältnisse einer geometrisch geübten Anschauung
g unmittelbar ein, so läßt sich doch nicht ver-
kennen, daß solches nur vermöge der voran-
gegangenen Beschäftigung mit den Sätzen über die zwischen Parallel-
linien konstruierten Figuren möglich wird, welche von der un-
mittelbar anschaulichen Identität des Flächeninhalts von Dreiecken
oder von Parallelogrammen von gleicher Höhe und Grundlinie
und von der nicht minder anschaulichen Halbierung des Parallelo-
sramms durch die Diagonale konsequent zu dem Satze übergeführt
haben, daß ein Dreieck, das mit einem Parallelogramm einer-
lei Grundlinie hat und zwischen denselben Parallelen konstruiert
ist, die Hälfte vom Flächeninhalt des Parallelogramms einnimmt,
h
daher abd= - blundace= = el sein muß. Anschaulicher noch
wird dieses Verhältnis, wenn man, die in jenen grundlegenden Sätzen
stattfindende Entwicklung rekonstruierend, etwa die Diagonale 51
zieht, wo sofort die Flächengleichheit der Dreiecke abd und bild
— 5 bl einleuchtet. Selbst in solchen Fällen, wo das Konstruktions-
verfahren vorwiegend durch logische Motive bestimmt wird, führt
demnach die Teilung der Figuren auch immer zugleich eine anschau-
liche Vergegenwärtigung des Inhalts der Sätze mindestens als Neben-
erfolg herbei. Es hat dies seinen natürlichen Grund darin, daß die
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 183
durch die Ziehung gerader Linien gewonnenen Teile im allgemeinen
von einfacherer Beschaffenheit sind als die ganze Figur und sich darum
in ihren Formverhältnissen leichter übersehen lassen.
c. DieergänzendenHilfskonstruktionen.
Während für Lehrsätze, die sich auf bestimmte Figuren bezienen,
die Teilung dieser in der Regel als das nächstliegende Hilfsmittel einer
anschaulichen Demonstration erscheint, führt die Lösung irgend-
welcher geometrischer Aufgaben häufiger zur Herbeiziehung von
Hilfskonstruktionen, die darauf abzielen, das Raumgebilde, dessen
Erzeugung die Aufgabe fordert, als einen Teil eines Ganzen erscheinen
zu lassen; die Relationen der verschiedenen Teile dieses Ganzen ver-
bürgen dann die Richtigkeit der gegebenen Lösung. Sehr deutlich ist
dieses Verhältnis in Euklids Elementen zu erkennen, in denen Lehr-
sätze und Aufgaben weit mehr voneinander geschieden sind, als es bei
der neueren Behandlungsweise der Geometrie zu geschehen pflegt.
So löst Euklid die Aufgabe, auf einer geraden Linie a b ein gleichseitiges
Dreieck zu errichten, indem er an den Endpunkten «a und b mit ab als
Halbmesser zwei sich schneidende kongruente Kreise zieht, worauf
die nach einem der Schnittpunkte c gezogenen Radien ac und be die
geforderte Konstruktion ergeben: diese beruht also auf dem Kunstgriff,
daß die gegebene Linie ab zum Radius zweier sich in ihren Mittelpunkten
schneidender gleicher Kreise gemacht wird, wodurch dann auch die
Linien ac und bc zu Radien, also miteinander und mit a b gleich werden
(Elemente I, 1). Die Aufgabe einen Winkel zu halbieren löst Euklid,
indem er auf den Winkelschenkeln gleiche Strecken abträgt und an den
Endpunkten dieser gleiche Radien zieht; die gewonnenen Punkte mit-
einander verbunden ergeben dann zwei kongruente Dreiecke, deren
gemeinsame Grundlinie die Halbierungslinie ist: hier besteht der Kunst-
griff darin, daß die geforderten Winkel als gleich liegende Winkel kon-
gruenter Dreiecke konstruiert werden (I, 9).
Das Verhältnis zwischen Aufgaben und Lehrsätzen beruht demnach
darauf, daß im allgemeinen die Lösung von Aufgaben ein synthe-
tisches Verfahren darstellt, das für die Hilfskonstruktionen der Lehr-
sätze, die den analytischen Gang einzuhalten pflegen, die Hilfsmittel her-
beischafft. Die ergänzenden Hilfskonstruktionen sind daher ebenfalls
vorwiegend synthetischer Art: sie benützen das gegebene Objekt, um
weitere Raumgebilde zu konstruieren, die mit jenem in einem bestimm-
ten Zusammenhange stehen, worauf dann zuweilen allerdings als Neben-
184 Die Logik der Mathematik.
erfolg zugleich eine Teilung des ursprünglichen Objektes auftreten
kann, namentlich wenn diese, wie in dem zweiten der obigen Beispiele,
durch die Aufgabe selber gefordert ist. Es steht also diese Verwendung
ergänzender Hilfskonstruktionen in naher Beziehung zu der allgemeinen
wissenschaftlichen Bedeutung der Aufgaben, und es ist darum charakte-
ristisch, daß Euklids Elemente nicht nur sogleich mit Aufgaben beginnen,
sondern daß auch später neue Lehren wiederum durch solche eingeleitet
werden. Von den fundamentalen Aufgaben, wie wir oben in unserem
ersten Beispiel eine derartige kennen lernten, scheiden sich dann aber
diejenigen, die bestimmten Lehrsätzen folgen, als deren Anwendungen,
die meistens zugleich auf neue Lehrsätze vorbereiten. So ist das zweite
der obigen Beispiele eine Anwendung der Kongruenzsätze und bereitet
anderseits die Sätze über das Verhältnis der Neben- und Außenwinkel
vor, in denen von der Teilung der Winkel Gebrauch gemacht wird.
Nichtsdestoweniger hat auch Euklid Aufgaben und Theoreme nicht
vollständig voneinander getrennt, sondern, namentlich in solchen Fällen,
in denen die Lösung einer Aufgabe dem Beweis eines einzelnen Lehr-
satzes dient, die erstere mit dem letzteren verschmolzen, oder er hat
Sätze in die Form von Theoremen gebracht, die ebensogut als Auf-
gaben behandelt werden könnten. Unter diesen Umständen ist es be-
greiflich, daß auch in der Begründung einer großen Zahl von Lehrsätzen
ergänzende Hilfskonstruktionen teils für sich, teils neben der Teilung
der Figuren auftreten. So beweist Euklid den Satz, daß Dreiecke auf
gleichen Grundlinien und zwischen denselben Parallellinien gleich sind,
indem er die Dreiecke durch Verlängerung der Parallelen, zwischen denen
sie konstruiert sind, und durch Ziehung von Parallelen zu je einer der
Seiten eines jeden Dreiecks zu Parallelogrammen ergänzt, wodurch
der Satz auf den andern von der Gleichheit der Parallelogramme von
gleicher Höhe und Grundlinie zurückgeführt ist (I, 40). Der Satz, daß in
gleichwinkligen Dreiecken die Seiten, die um
Ep. gleiche Winkel liegen, proportioniert sind, wird
= bewiesen, indem die Dreiecke auf derselben
a Grundlinie konstruiert und durch Verlängerung
d gleich liegender Seiten zu einem größeren Drei-
b 52 eck, dessen Teile sie sind, ergänzt werden (VI, 4).
Es ist dann leicht ersichtlich, daß die Ergänzung
afcd (Fig. 10) ein Parallelogramm, daher /b||cd und ac||fe ist. Mit
Hilfe des Satzes, wonach die Parallele zur einen Seite eines Dreiecks die
andern Seiten proportional teilt, folgt aber hieraus ba:af=be:ce oder
ba:cd=bce:ce; ebenso fd4:de=be:ce oder ac:de=bc:ce
Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 185
—=ba:cd. Offenbar ließe sich dieser Satz ebensogut in der Form einer
Aufgabe behandeln. Um auf derselben Grundlinie zwei Dreiecke zu kon-
struieren, deren Seiten proportioniert sind, hat man die beiden andern
Seiten paarweise einander parallel zu ziehen und zu verlängern, wodurch
das Dreieck b fe entsteht und alles weitere wie oben folgt.
In einer noch innigeren Verbindung stehen in der neueren
Geometrie die Lösung der Aufgaben und die Aufstellung der Lehr-
sätze, wie dies häufig schon die durchgängig gewählte Form der äußeren
Darstellung mit sich bringt, in der an die Stelle der Zerlegung in eine
Reihe scheinbar völlig getrennter Sätze die zusammenhängende Unter-
suchung getreten ist. Indem aber diese Untersuchung regelmäßig von
der Lösung bestimmter Aufgaben mittels der Konstruktion zu der
Formulierung der Gesetze fortschreitet, die sich aus jener ergeben,
wird die Konstruktionsmethode eine vorwiegend synthetische.
Die Teilung der Figuren kommt daher nur noch in sehr geringem Maße
zur Anwendung; an ihre Stelle tritt überall da, wo sich die Untersuchung
auf ein bereits gegebenes Raumgebilde bezieht, wo also das Unter-
suchungsobjekt selbst nicht erst durch Konstruktion erzeugt werden
soll, die ergänzende Hilfskonstruktion. Aber sie unterscheidet sich
zugleich in der Art ihrer Durchführung von den Methoden der alten
Geometrie. Diese tragen häufig noch den Charakter des Zufälligen an
sich. Dem Stadium induktiver Untersuchungen näher stehend, oft sicht-
lich aus einer Erprobung verschiedener Mittel hervorgegangen, erscheinen
sie leicht als willkürlich bevorzugte Verfahren, für die ebensogut andere
hätten gewählt werden können. Diesen Charakter trägt die Methode
der Teilung der Figuren am allermeisten an sich; er fehlt aber auch bei
den ergänzenden Hilfskonstruktionen der Alten nicht ganz. Im Gegen-
satze hierzu sucht nun die neueresynthetische Geometrie überall
diejenigen Konstruktionsmethoden anzuwenden, die durch die Natur
des Problems unmittelbar gefordert sind, so daß sie den künstlichen
Verfahrungsweisen Euklids gegenüber als natürliche Methoden er-
scheinen, die sich für jeden, der das allgemeine Prinzip der Methoden
erfaßt hat, von selbst ergeben. Es handle sich z. B. um die Unter-
suchung des Vierecks oder desjenigen Raumgebildes, das durch vier
Punkte in der Ebene, cdc’d’, bestimmt wird. Für Euklid war die
Untersuchung eines solchen Gebildes erschöpft durch die Ermittlung
seines Flächeninhaltes, welche mittels der Konstruktion eines Parallelo-
gramms von gleichem Flächeninhalte geschah, und wobei der Winkel,
den die Höhenseite dieses Parallelogramms mit der Grundlinie bildet,
willkürlich blieb (Elemente I, 45). Die neuere Geometrie sucht die
186 Die Logik der Mathematik.
gesetzmäßigen Beziehungen festzustellen, in denen die aus dem ge-
gebenen Raumgebilde und seinen Elementen von selbst sich ergebenden
Raumteilungen zueinander stehen. Als nächste ergänzende Konstruk-
tion wird so die Verbindung eines jeden der vier Punkte mit jedem der
drei anderen gefordert: auf diese Weise entsteht das aus 6 Linien be-
stehende vollständige Viereck (Fig. 11). Sodann kann eine
jede dieser 6 Geraden beliebig verlängert werden: diese Verlängerungen
samt den so entstandenen Durchschnittspunkten bilden das voll-
ständige Vierseit. In ihm erscheinen die
Fig. 11. Punkte c‘ d’ als Projektionen der Punkte cd, b
und b’ als Projektionen von B‘ oder B. Daraus
aber folgt die fundamentale Beziehung
ac ad _ ad ad
ve vo em wer
eine Beziehung, aus der eine Reihe der wich-
tigsten Folgerungen abgeleitet wird, die in das
Gebiet der später zu betrachtenden geometrischen
Analyse gehören*).
Zuweilen gehen solche Konstruktionen von
speziellen Fällen aus, in denen Hilfslinien von fundamentaler Bedeutung
für die Auffassung der Maß- oder Lageverhältnisse der Figuren durch die
Beschaffenheit dieser an die Hand gegeben sind, worauf sie dann durch
Verallgemeinerung auf alle anderen Fälle ähnlicher Art übertragen wer-
den, um die anschauliche Darstellung eines allgemeinen Gesetzes zu ver-
mitteln. So ist unmittelbar ersichtlich, daß die gemeinsame Sehne zweier
sich schneidender Kreise von jedem Punkte ihrer Verlängerungen aus
die Ziehung von Tangenten, die einander gleich sind, an die beiden Kreise
gestattet. Dies vorausgesetzt ist leicht nachzuweisen, daß jenes Ver-
halten der gemeinsamen Sehne eine Eigenschaft ist, welche allgemein einer
bestimmten Geraden zukommt, die auf der Verbindungslinie der Mittel-
punkte zweier beliebig in einer Ebene gelegener Kreise senkrecht ist,
und die als die Polare der beiden Kreise bezeichnet wird. Es kann
dann die nämliche Linie auch für die Lagebeziehung dreier Kreise
benützt werden, da offenbar die drei Polaren dieser Kreise in einem
Punkte sich schneiden müssen. Im weiteren Sinne können diesen er-
gänzenden Hilfskonstruktionen auch die Projektionsmethoden der
*), Jacob Steiners Vorlesungen über synthetische Geometrie, II,
2. Aufl. Bearb. von H. Schröter, S. 17 f.
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 187
deskriptiven Geometrie, mit Hilfe deren man wichtige Eigenschaften
körperlicher Gebilde in ihren Projektionen auf einer Ebene nachweist,
sowie die mannigfaltigen Verfahrungsweisen der Transformation der
Figuren beigezählt werden. Sie alle haben die gemeinsame Eigen-
schaft zu gegebenen Figuren andere zu konstruieren, die, zu jenen in
bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen stehend, deren räumliche
Verhältnisse erkennen lassen.
Der unterscheidende Charakter der ergänzenden Hilfskonstruk-
tionen in den zuletzt betrachteten Anwendungen gegenüber der Euklidi-
schen Geometrie besteht vor allem darin, daß man nicht bloß die Größe-,
sondern auch die Lagebeziehungen der untersuchten Raumgebilde
mittels der Konstruktion erschöpfend zu bestimmen sucht. Sodann
aber ergeben sich die geforderten Hilfslinien unmittelbar aus den Rela-
tionen der vorhandenen Elemente, und sie führen daher ohne weiteres
zu einem angemessenen Ausdruck dieser Relationen. So zeigt z. B. die
Hilfskonstruktion des vollständigen Vierseits (Fig. 11) sofort, daß die
Lagebeziehung der vier Punkte auf den allgemeineren Fall der pro-
jektivischen Beziehung zweier geradliniger Punktreihen abcd und
a’b’c'd’ zu einem von einem gegebenen Mittelpunkt B ausgehenden
ebenen Strahlenbüschel zurückführbar ist. Indem die Konstruktion
von dem gewöhnlichen zunächst zu dem vollständigen Viereck und
dann von diesem zu dem vollständigen Vierseit überführt, ist sie aber
zugleich eine Erzeugung dieser Raumgebilde. Die ergänzenden
Hilfskonstruktionen bilden daher den Übergang zu den geneti-
schen: sie können, namentlich in der Anwendungsweise, die ihnen
die projektivische Geometrie gibt, selbst als genetische Konstruktionen
betrachtet werden, die in ihrer Ausführung durch bereits vorhandene
Raumgebilde bestimmt sind.
d. Die genetischen Konstruktionen: Bewegungs- und
Durchschneidungsfiguren.
Die genetische Konstruktion ist notwendigerweise zu jeder Zeit
der Ausgangspunkt geometrischer Untersuchungen gewesen. Die Raum-
gebilde müssen erzeugt sein, ehe die Betrachtung ihrer Maß- und Lage-
verhältnisse beginnen kann. Aber nicht immer hat die genetische Kon-
struktion zugleich die Grundlage der Untersuchungen gebildet. Die
Geometrie der Alten ist ausschließlich metrische Geometrie. Sie
betrachtet die mit Lineal und Zirkel hervorgebrachten Figuren als
fertige Objekte, die sie für sich und in ihrem gegenseitigen Verhältnisse
188 Die Logik der Mathematik.
der Messung unterwirft. Dadurch wird von selbst die Teilung der
Figuren, mit gelegentlicher Herbeiziehung ergänzender Hilfskonstruk-
tionen, zur herrschenden Methode, und diese Methode führt beinahe
unvermeidlich zur isolierten Untersuchung der einzelnen Klassen von
Figuren, wobei verbindende Beziehungen nur zwischen solchen Raum-
gebilden sich einstellen, bei denen schon die unmittelbare Anschauung
dieselben erkennen läßt. Indem dabei die genetische Konstruktion nur
den Zweck hat, das Material für die nachfolgende Untersuchung zu ge-
winnen, nicht dieser selbst als vornehmstes Hilfsmittel zu dienen, er-
scheint die Art, wie die verschiedenen Figuren erzeugt werden, ver-
hältnismäßig gleichgültig. Der gleichzeitige Gebrauch von Zirkel und
Lineal ließ überdies von vornherein die einfachsten regelmäßigen
Figuren bevorzugen, eine Neigung, die durch ästhetische Interessen
und durch die Leichtigkeit der Aufgaben begünstigt wurde. So be-
greiflich und notwendig aber auch diese Bevorzugung war, so hinderte
doch gerade sie eine allgemeinere Behandlung der Probleme, die zu-
gleich zu einer planmäßigeren und übereinstimmenderen Anwendung
genetischer Methoden hätte führen können. Es ist charakteristisch für
dieses Zurücktreten des genetischen Gesichtspunktes, daß Euklid die
Definitionen der Raumgebilde möglichst unabhängig macht von ihrer
Erzeugungsweise, und daher erst bei den Körpern mit krummen Öber-
flächen, Kugel, Zylinder, Kegel, wo eine bloße Beschreibung allzu weit-
läufig würde, die deskriptive durch eine genetische Definition ersetzt*).
Obgleich aber die in diesen Fällen naheliegende Entstehungsweise der
Raumgebilde durch Rotation einer ebenen Figur (Halbkreis, Parallelo-
gramm, Dreieck) um ihre Achse darauf hinweisen mußte, daß die Be-
wegung eine überall anwendbare Konstruktionsmethode sei, so
wurde diese doch bei den Kegelschnittlinien aus bloß zufälligen An-
lässen wieder verlassen, um das Prinzip der Erzeugung von Figuren
mittels der gegenseitigen Durchschneidung anderer, die bereits
gegeben sind, zu benützen. Nur bei gewissen verwickelteren Kurven,
wie bei der Quadratrix, der Konchoide des Nikomedes, der Archimedi-
schen Spirale u.s. w., kehrte man, veranlaßt durch die in der Natur zu
beobachtende Entstehung solcher Kurven, abermals zu der Bewegung
zurück. Auf diese Weise pflegt die antike Geometrie von derjenigen
Erzeugungsweise der Formen auszugehen, durch die sie zufällig ge-
funden wurden, ohne sich darum zu kümmern, daß im einen Fall körper-
liche Gebilde zur Erzeugung von Kurven in der Ebene und in einem
*) Euklids Elemente, Buch XI.
Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 189
anderen umgekehrt ebene Figuren zur Erzeugung von Körpern und
krummen Oberflächen verwendet werden.
Die neuere Geometrie hat nun in dem Maße, als sie die genetische
Methode zur herrschenden erhob, mehr und mehr zugleich die einzelnen
Konstruktionen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen ge-
sucht, der durch die gleichförmigen Bedingungen der Erzeugung und
die regelmäßige Ableitung neuer Konstruktionen aus den bereits ge-
gebenen geregelt wird. Indem dieser Zusammenhang die Forderung
mit sich bringt, daß alle Raumgebilde auf die einfachsten Elemente
zurückzuführen sind, aus denen sie erzeugt werden können, werden
die äußeren Hilfsmittel, deren sich die Konstruktion bedient, nicht ver-
mehrt, sondern vereinfacht. Das einzige unerläßliche Werkzeug bleibt
das Lineal. Nicht der Kreis und die Gerade, sondern der Punkt und
die Gerade sind die einfachsten Gebilde; sie dienen zunächst zur Er-
zeugung der Ebene, worauf dann aus diesen drei Elementen alle anderen
Raumformen entstehen können. Hatte die alte Geometrie, durch zu-
fällige Anlässe bestimmt, bald die Bewegung der Elemente, bald die
Durchschneidung gegebener Raumgebilde benützt, ohne daß zwischen
beiden Methoden eine innere Beziehung ersichtlich geworden wäre, so
ist jetzt die wechselseitige Durchdringung beider zur Herrschaft gelangt.
Indem alle Raumgebilde aus gesetzmäßig erfolgenden Bewegungen von
Punkten und Geraden abgeleitet werden, pflegt dann erst eine
solche Bewegung die Entstehung von Durchschnittsfiguren als eine
weitere Folge mit sich zu führen. Der Vorgang, der diese Verbindung
beider Konstruktionen unmittelbar verwirklicht, ist die Projek-
tion. Hiernach scheiden sich die genetischen Konstruktionsmethoden
im ganzen in drei Klassen: de Erzeugung von Raumgebil-
den durch Bewegung, die Bildung von Durch-
schneidungsfiguren und die projektive Konstruk-
tion. Außerdem kommen zuweilen noch Transformationen der
Figuren durch Biegung, Dehnung und Zerschneidung als spezielle Hilfs-
mittel, namentlich im Interesse der geometrischen Versinnlichung analy-
tischer Sätze, zur Anwendung. Unter diesen Methoden ist die Bewegung
und die wechselseitige Durchschneidung von Raumgebilden schon von
der alten Geometrie benützt worden; die projektive Methode ist erst
in der neueren Geometrie zur Entwicklung gelangt.
Die Erzeugung der Raumgebilde durch Be-
wegung hat gegenüber anderen Methoden hauptsächlich zwei
Vorzüge. Der eine besteht in ihrer unbeschränkten Anwendbarkeit:
jedes beliebige Raumgebilde läßt sich auf irgend eine Bewegung oder
190 Die Logik der Mathematik.
auf ein System von Bewegungen zurückführen, und diese Entstehungs-
weise gibt regelmäßig zugleich über gewisse fundamentale Eigenschaften
der Figur unmittelbar Rechenschaft. Der zweite Vorzug besteht in
der Möglichkeit, jede, auch die verwickeltste Form aus sehr einfachen
Bedingungen abzuleiten. In doppelter Weise findet bei der Erzeugung
der Formen durch Bewegung eine solche Zurückführung auf elementare
Bedingungen statt: jede Bewegung zusammengesetzter Raumgebilde
läßt sich in Bewegungen einfacherer, und jede verwickeltere Bewegung
läßt sich in eine Anzahl einfacher Bewegungen zerlegen. Als letztes
Element des Raumes, aus dessen wiederholten Bewegungen jede noch
so komplizierte Figur schließlich abgeleitet werden kann, bleibt so der
Punkt; als einfachste Bewegung, auf deren Wiederholung und Zu-
sammensetzung jede beliebige Bewegung zurückzuführen ist, bleibt die
einfache geradlinige Bewegung. Die Verwicklung der
auf diesen Elementen erzeugbaren Formen kennt aber keine Grenzen,
da sich beliebig viele einfache Bewegungen kombinieren und die durch
vorausgegangene Bewegungen erzeugten Formen als Grundgebilde für
eine neue Erzeugungsreihe verwenden lassen. Die systematische Er-
zeugung zusammengesetzter Formen aus einfachen kann daher den
Übergang von den Formen niederer zu solchen höherer Stufe in zwei-
facher Weise gewinnen: 1) durch gleichzeitige Kombination mehrerer
Bewegungen von gleicher Einfachheit, und 2) durch sukzessive An-
wendung bestimmter Bewegungsgesetze auf die durch vorangegangene
Bewegungen erzeugten Raumgebilde. Beide Formen des systematischen
Fortschritts erfüllen verschiedene Zwecke, nach denen die Wahl der
Methode sich richten muß.
Die gleichzeitige Kombination mehrerer ein-
facher Bewegungen ist das wirksamste Mittel, um Raumge-
stalten derselben Art, aber von wachsender Verwicklung entstehen zu
lassen. Die Zusammensetzung der Bewegungen gibt hier unmittelbar
ein anschauliches Maß ab für den Grad der Verwicklung der Form, wie
er analytisch durch den Grad der Gleichung gemessen werden kann,
die der arithmetische Ausdruck des betreffenden Raumgebildes ist.
So entstehen alle Kurven zweiten Grades durch die Bewegung eines
Punktes, die im allgemeinen durch eine Gerade und zwei feste Punkte,
die Brennpunkte, bestimmt ist: diese Bewegung erzeugt eine Ellipse,
wenn die Entfernungssumme, eine Hyperbel, wenn der Entfernungs-
unterschied von den zwei festen Punkten gleich der gegebenen Geraden
ist; Kreis und Parabel sind Grenzfälle, von denen der erste entsteht,
wenn die zwei Brennpunkte in einen zusammenfallen, der zweite,
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 191
wenn der eine der Brennpunkte in unendliche Entfernung rückt. Wie
auf diese Weise die Kegelschnitte auf Punkte und gerade Linien als
die bestimmenden Elemente zurückführen, so ist eine ähnliche Re-
duktion bei jeder noch so verwickelten Kurve immer ausführbar.
Man pflegt dabei unter den bestimmenden Elementen zunächst ein-
fachere Kurven zu erhalten; da sich aber diese durch Punkte und Gerade
bestimmen lassen, so bleibt jene Reduktion auch bei den höheren
Kurven immer möglich, und es nimmt dadurch teils die Zahl der ein-
fachen Elemente, von denen die Bewegung abhängt, teils die Zahl der
Bewegungen, die zur Erzeugung der Kurve erforderlich sind, fort-
während zu. So erfordert z. B. die Archimedische Spirale an sich nicht
mehr Elemente als der Kreis, nur tritt bei ıhr an die Stelle des festen
Punktes und der Geraden ein fester Kreis und eine Gerade, und die Be-
wegung selbst wird eine doppelte: während die Gerade als Halb-
messer des Kreises bestimmte Bogenlängen beschreibt, legt zugleich
auf ihr der erzeugende Punkt Strecken zurück, die jenen Bogenlängen
proportional sind.
So verwendet die genetische Konstruktion die Bewegung im all-
gemeinen in solcher Weise, daß das bewegte Element durch seine Re-
lationen zu gewissen anderen Elementen vollständig bestimmt wird,
und daß daher von der relativen Geschwindigkeit der stattfindenden
Bewegungen abstrahiert werden kann. Diese Abstraktion findet ihren
Ausdruck in dem Begrifi des geometrischen Ortes. Indem dieser
einen Punkt oder eine Summe von Punkten bezeichnet, welche von
anderen Raumelementen bestimmt sind, ermöglicht er aber zugleich die
vollständige Elimination des Begrifis der Bewegung, während doch alle
sonstigen Vorteile der genetischen Konstruktion beibehalten werden.
Definiert man z. B. die Hyperbel als den geometrischen Ort eines
Punktes, für den die Differenz der Abstände von zwei festen Punkten
einer konstanten Geraden gleich kommt, so ist hier nur noch die gesetz-
mäßige Abhängigkeit von den bestimmenden Elementen der Kurve zum
Ausdruck gelangt. Da der Begriff der Bewegung zur Auffassung eines
Raumgebildes nicht erforderlich ist, so ist die Substitution des geometri-
schen Ortes an ihrer Stelle die vorzüglichere Form der Definition, wenn
auch dieser Begriff in Wirklichkeit erst durch die Verwertung der Be-
wegung zur Erzeugung der Raumgebilde nahegelegt wurde*). Die
*) In prinzipieller Allgemeinheit hat diese auf dem Begriff des geometri-
schen Ortes aufgebaute konstruktive Geometrie zuerst durchgeführt K. G. Chr.
von Staudt, Geometrie der Lage, 1847.
192 Die Logik der Mathematik.
Möglichkeit, den Begriff der Bewegung durch den des geometrischen
Ortes zu ersetzen, unterscheidet insbesondere auch die Konstruk-
tionen der synthetischen von denjenigen der Koordinaten-
geometrie. Diese wird durch die analytischen Zwecke, die sie ver-
folgt, zur Anwendung möglichst gleichförmiger Konstruktionsmethoden
gezwungen. Hierdurch ist sie aber zugleich genötigt, sich auf die Be-
nützung von bestimmten Elementen einfachster Art zu beschränken.
Eine ebene Kurve z. B. denkt man sich erzeugt durch die Bewegung
eines in der Ebene gelegenen Punktes, die in zwei Bewegungen nach
den Koordinatenachsen zerlegt wird: es ist dann die Form der Kurve
von der relativen Geschwindigkeit abhängig, die diese beiden Be-
wegungen in jedem Momente besitzen. Hier ist eine Elimination des
Begriffs der Bewegung zu Gunsten des geometrischen Ortes durchaus
unmöglich, da die gleichförmige Art, in der jene Reduktion auf die
Koordinatenachsen bei Kurven der verschiedensten Ordnung vor-
genommen wird, dazu zwingt, alle Formeigentümlichkeiten der Raum-
gebilde aus Relationen der Geschwindigkeit abzuleiten. Wo sich
die erzeugenden Elemente nach der besonderen Natur der Gebilde
nicht richten, da muß selbstverständlich alles in die Modalitäten der
erzeugenden Bewegungen, ihre relativen Geschwindigkeiten und Ge-
schwindigkeitsänderungen, verlegt werden. Der Vorteil, der aus dieser
Gleichförmigkeit für die analytische Behandlung entspringt, ist aber
ein ebenso großer Nachteil für die rein geometrische Betrachtung.
Die Forderung, jede Konstruktion durch Bewegung auf möglichst
einfache bestimmende Elemente zurückzuführen, gerät nun unver-
meidlich bei Aufgaben von verwickelter Natur mit der anderen Forde-
rung, daß die Zahl der bestimmenden Elemente eine möglichst kleine sei,
so sehr in Konflikt, daß man in der Regel der letzteren nachgeben wird,
sofern nicht, wie bei der Koordinatengeometrie oder bei den unten zu
besprechenden projektivischen Methoden, spezielle Motive die aus-
schließliche Wahl gerader Linien fordern. Hiervon abgesehen erscheint
es als ein wohlbegründetes Recht, daß man durch die sukzessive
Anwendung bestimmter Bewegungsgesetze auf
bereits vorhandene Raumgebilde eine Reihe neuer
Konstruktionen gewinnt. Nicht selten wird dieses Verfahren zu einer
tieferen Einsicht in die Verwandtschaftsbeziehungen geometrischer
Formen führen, als wenn man für jede einzelne Form die einfachste
Erzeugungsweise wählt, die für sie möglich ist. So lassen die oben
angeführten einfachsten genetischen Konstruktionen der Kegelschnitte
durchaus eine Erkenntnis ihrer Beziehungen vermissen. Diese wird da-
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 193
gegen sofort hergestellt, wenn man jeden Kegelschnitt aus der Bewegung
eines Punktes ableitet, der von einem festen Punkte und von einem
Kreise gleich weit absteht, wenn man also statt zweier Punkte und einer
Geraden einen Punkt, einen Kreis und eine Gerade als bestimmende
Elemente wählt*). Weist man nun dem erzeugenden Punkte die ver-
schiedenen für ihn möglichen geometrischen Orte an, so erhält man suk-
zessiv die verschiedenen Formen des Kegelschnitts: dieser ist eine
Ellipse, wenn der Punkt innerhalb des bestimmenden Kreises liegt, er
wird selbst zu einem Kreis, wenn er in den Mittelpunkt desselben fällt,
zu einer Geraden, wenn er in seinen Umfang fällt, zu einer Hyperbel,
wenn er außerhalb des Kreises liegt, und speziell zu einer Parabel,
wenn der Mittelpunkt des bestimmenden Kreises in unendliche Ferne
rückt, wodurch sich der Umfang desselben in die Leitlinie der Parabel
umwandelt. Diese Konstruktion erschöpft also nicht nur vollständig
den Begriff des Kegelschnitts, sondern sie zeigt auch, wie die ver-
schiedenen Formen durch stetige Veränderung der Bedingungen in-
einander übergehen.
Die Bildung von Durchschneidungsfiguren ist
nun eine Konstruktionsmethode, welche zur Erzeugung durch Bewegung
insofern im vollen Gegensatze steht, als sie nicht aus dem Einfachen
das Zusammengesetzte, sondern aus dem Zusammengesetzten das Ein-
fache ableitet. An sich ist diese Methode ebenso konsequent durch-
führbar wie die entgegengesetzte. Wie man durch Bewegung des Punktes
die Linie, durch Bewegung der Linie die Fläche und durch Bewegung
der Fläche den Körper erhält, so ließe sich, von diesem ausgehend,
als sein Durchschneidungsgebilde die Fläche, aus ihr die Linie und aus
der Linie der Punkt gewinnen. Auch hat man zuweilen, mit Rücksicht
darauf, daß uns in der Erfahrung nur Körper gegeben sind, diese Ent-
wicklung für den naturgemäßen Weg zur Erlangung der geometrischen
Grundbegriffe gehalten. Dabei wird jedoch übersehen, daß wir durch
Abstraktion und nicht durch Konstruktion zu den geometrischen Be-
griffen von Fläche, Linie und Punkt gelangen, und zwar durch eine Ab-
straktion, die schon bei dem Begriff des Körpers wirksam ist, da dem
geometrischen Körper zahlreiche Merkmale nicht zukommen, welche
bei den physischen Körpern nicht fehlen können. In der Tat hat daher
auch vorzugsweise in einem Fall die Bildung von Durchschneidungs-
gebilden wichtigere Anwendungen gefunden: bei der Erzeugung von
*) Steiner, Die Theorie der Kegelschnitte in elementarer Darstellung.
Bearbeitet von C. F. Geiser, 2. Aufl, S. 40 fi.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl, 13
194 Die Logik der Mathematik,
krummen Linien durch Flächen. Gerade hier aber pflegt sich trotz des
Übergangs von drei Dimensionen auf zwei das erzeugende Gebilde
durch einfachere Eigenschaften auszuzeichnen. Den augenfälligsten
Beleg hierzu liefert diejenige Klasse von Kurven, die lange Zeit aus-
schließlich auf diesem Wege abgeleitet wurde, die Kegelschnitte. Der
Kegel, namentlich der gerade Kreiskegel, den die Alten allein benützten,
wird durch eine viel einfachere Bewegungskonstruktion gewonnen als
die Kegelschnitte selbst, den Kreis ausgenommen. So leicht es war,
durch Drehung eines Dreiecks auf seiner Basis einen Kegel herzustellen,
so wenig nahe lag es, durch die Bewegung eines Punktes in der Ebene
die Ellipse, Parabel und Hyperbel zu finden. Auch mußte die
Verschiedenheit der Durchschnittsfläche des abgestumpften Kegels
je nach der Lage der schneidenden Ebene frühe schon die Aufmerksam-
keit fesseln. Außerdem bietet diese Konstruktion vor der Erzeugung
durch Bewegung eines Punkts in der Ebene den Vorteil, den Zusammen-
hang der verschiedenen Kegelschnitte untereinander anschaulich zu
machen. Dagegen steht sie mit den fundamentalen Eigenschaften der
Kurven nicht in so unmittelbarer Beziehung, und es muß immerhin
als eine Unvollkommenheit anerkannt werden, wenn man genötigt ist,
zur Erzeugung einer ebenen Figur den Raum von drei Dimensionen zu
Hilfe zu nehmen.
e. Die projektive Konstruktion und die synthetische
Geometrie.
Die zuletzt erwähnte Unvollkommenheit ist es nun, die haupt-
sächlich zur Ausbildung der dritten Form genetischer Methoden,
zu denen der projektiven Konstruktion, beigetragen hat.
Indem diese aus einer Verbindung der beiden vorigen hervorging, hat
sie freilich zur Überwindung jener Unvollkommenheit nur allmählich
geführt. Die nächste Umgestaltung nämlich, welche die Erzeugung
von Durchschnittsgebilden im Sinne einfacherer genetischer Methoden
zuließ, bestand in der Ausbildung der perspektivischenPro-
jektionsmethode. Wie die sämtlichen Kurven zweiten Grades
als Durchschneidungsgebilde der allgemeinsten Oberfläche zweiten
Grades, der Kegelfläche, dargestellt werden können, so lassen sie sich
auch als perspektivische Projektionen der einfachsten dieser Kurven
selber, des Kreises, gewinnen. Denkt man sich den Schatten, den ein
Kreis entwirft, wenn sich hinter ihm ein leuchtender Punkt befindet,
durch eine Ebene von veränderlicher Lage aufgefangen, so erhält man
'Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 195
durch Drehung der Ebene die verschiedenen Kegelschnitte als Schatten-
projektionen. Ähnlich lassen sich, wie Newton gezeigt hat, die ver-
schiedenen Formen der Kurven dritten Grades durch die Schatten-
projektion von fünf divergierenden Parabeln gewinnen*). Denkt man
sich nun aber den Punkt, von dem die Projektionsstrahlen ausgehen,
in unendliche Entfernung gerückt, so verwandelt sich die zentrale Pro-
jektion in die seit Monge von der deskriptiven Geometrie vorzugs-
weise benützte Parallelprojektion. Da bei dieser parallele Linien auch
nach der Projektion parallel bleiben, so werden zwar die Dimensions-
verhältnisse, nicht aber die Lageverhältnisse der Figuren verändert.
Aus räumlichen Gebilden gehen also Figuren in der Ebene hervor,
die jenen in allen ihren Eigenschaften entsprechen. So eröffnet sich
hier eine Reihe theoretisch wie praktisch gleich wichtiger Wechsel-
beziehungen, indem sich bald die Eigenschaften der ebenen Figuren aus
denjenigen der ihnen entsprechenden körperlichen Formen, bald um-
gekehrt diese aus jenen genetisch entwickeln lassen**).
Diese beiden Anwendungen der-Projektionsmethode, die Schatten-
konstruktion und die Parallelprojektion der deskriptiven Geometrie,
setzen jedoch gegebene Raumgebilde voraus, die nach bestimmten
Regeln in andere transformiert werden. Sie stehen auf diese Weise in
gewissem Sinne immer noch zwischen der ergänzenden Hilfskonstruk-
tion und der genetischen Konstruktion in der Mitte. Nur insofern, als
das durch die Transformation erzeugte Gebilde entweder den gleichen
Wert beansprucht wie das ursprüngliche oder sogar den eigentlichen
Zweck der Methode ausmacht, überwiegt bereits der genetische Ge-
sichtspunkt. Zur vollen Geltung gelangt aber dieser bei den projek-
tiven Konstruktionen erst dann, wenn nicht bestimmte Raumgebilde,
sondern nur die zur Ausführung der Projektion un-
erläßlichen Elemente selbst als gegeben vorausgesetzt
werden. Diese Elemente sind der Punkt, als der Ort, von dem ein Pro-
jektionsstrahl ausgeht, die Gerade, welche die Richtung desselben an-
gibt, und die Ebene, welche das zu einem Punkt gehörige Strahlen-
büschel enthält, das durch je zwei in dem Punkt sich schneidende
Strahlen bestimmt wird. Insofern sich hierbei der Punkt stets als Durch-
schnittsgebilde von Strahlen ergibt, können diese Elemente auch auf
zwei, auf die Gerade und die Ebene, zurückgeführt werden. Es über-
*) Neutoni Genesis curvarum per umbras, Lond. 1746.
**) Vgl. hierzu Chasles, Geschichte der Geometrie, Kap. V. Deutsche
Ausgabe von Sohncke, 1839, S. 185 fi.
196 Die Logik der Mathematik.
nimmt dann die Gerade jene Rolle des erzeugenden Gebildes, die
bei der Konstruktion durch Bewegung dem Punkte zukommt. Wie bei
dieser der in einer Ebene bewegte Punkt alle ebenen Figuren hervor-
bringt, so erzeugen bei der projektiven Konstruktion gerade Linien
in der Ebene, indem sie sich kreuzen oder als Tangenten einen Raum
umhüllen, alle in der Ebene möglichen Raumformen. Darum trägt
vornehmlich diese Darstellungsweise auch den Namen der synthe-
tischen Geometrie, insofern sie wirklich durch eine Synthese von
ausgedehnten Gebilden der einfachsten Art, von Geraden, ihre Formen
hervorbringt. Die Bewegungskonstruktion dagegen verfährt nicht im
eigentlichen Sinne synthetisch, da der Punkt selbst kein ausgedehntes
Gebilde, also auch die Erzeugung einer Kurve durch seine Bewegung
nur die sukzessive Darstellung der geometrischen Orte ist, aus
denen die Kurve wirklich besteht, nicht aber eine synthetische Er-
zeugung aus anderen elementaren Raumgebilden.
Die in diesem Sinne angewandte projektive Konstruktion ist dem-
gemäß vom genetischen Gesichtspunkte aus die vollendetste Methode.
Nichts weiter voraussetzend als jene einfachsten zur Konstruktion er-
forderlichen Elemente, wird es ihr möglich, die verschiedenen Formen
in der naturgemäßen Reihenfolge hervorzubringen und unmittelbar
aus ihrer Erzeugungsweise ihre wesentlichen Eigenschaften und inneren
Beziehungen erkennen zu lassen. Um den Charakter dieser Methode
zu kennzeichnen, sei hier nur auf einige einfache Beispiele hingewiesen,
die sich an frühere Konstruktionen anschließen. Wir haben S. 186 be-
merkt, daß, wenn durch ein ebenes Strah-
lenbüschel zwei transversale gerade Linien
gelegt werden, auf diesen zwei Reihen von
Durchschnittspunkten a, b, c, dund a,b’,
c', d’ entstehen, die zueinander perspek-
tivisch sind, indem die eine Reihe als die
perspektivische Abbildung der anderen an-
gesehen werden kann. Denkt man sich nun
den Träger der einen Punktreihe, z. B. A‘
(Fig. 12), durch Drehung um den Punkt «’
aus seiner ursprünglichen Lage gebracht,
während die Punkte auf ihm unverändert
bleiben, so können diese nicht mehr mittels
des Strahlenbüschels S, wohl aber mittels eines zweiten Strahlenbüschels
S’ erhalten werden, welches auf der anderen Seite von A’ so gelegen ist,
daß die Strahlen Sa und S’a‘ zusammenfallen. Verlängert man nun
Fig. 12.
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 197
aber die von S und S’ ausgehenden Strahlen über die zugehörigen
Punkte hinaus, so schneiden sie sich in einer Punktreihe « ß 7 d, deren
Träger wiederum eine gerade Linie ist. Da nämlich (S. 186)
ac ad _ We ,add
N a de ie,
und jedes dieser Doppelverhältnisse nach der Konstruktion = 1: - Ir
ist, so muß auch der Träger @ der Punktreihe « ß y © wiederum eine
Gerade sein. Umgekehrt läßt es sich daher als die Bedingung für die
Erzeugung einer Geraden ansehen, daß die einander zugeordneten oder
homologen Strahlen von perspektivisch gelegenen Mittelpunkten S und
S‘ ausgehen müssen, wobei die perspektivische Lage dieser Mittel-
punkte dadurch charakterisiert ist, daß ein Paar homologer Strahlen
zusammenfällt. Wir können uns nun aber auch den Träger A’ so aus
seiner ursprünglichen Lage gebracht denken, daß diese Bedingung
nicht mehr erfüllt ist. Ist dies der Fall, befinden sich also die beiden
ursprünglich perspektivischen Punktreihen in irgend einer nicht
perspektivischen oder schiefen Lage, so wird auch nicht mehr zu
erwarten sein, daß die Durchschnittspunkte homologer Strahlen auf
einer Geraden liegen. In der Tat zeigt die nähere Untersuchung, daß
hier die Verbindung der Durchschnittspunkte eine regelmäßig ge-
krümmte Linie ergibt, welche allgemein die Form eines Kegel-
schnitts besitzt. Die spezielle Form desselben ist dann wieder
von den Lageverhältnissen der zueinan-
der gehörigen Strahlen abhängig. So er-
hält man einen Kreis, wenn die Strahlen
übereinstimmend liegen und überdies
die Bedingung erfüllen, daß die Winkel,
welche je zwei Strahlen bei, $ bilden, den
Winkeln der ihnen homologen Strahlen
bei $’ gleich sind. Infolgedessen müssen
dann auch die Winkel, welche die von
jedem Kurvenpunkt nach 8 und 8’ ge-
zogenen Geraden bilden, sämtlich ein-
ander gleich sein (Fig. 13). Ist die zweite
der obigen Bedingungen nicht erfüllt,
so entsteht je nach der Lage, die man den Strahlbüscheln (bezw.
den ihnen entsprechenden perspektivischen Punktreihen) zuein-
ander gibt, eine Ellipse, Parabel oder Hyperbel, wobei sich als
spezielle Fälle ein Punkt, eine Gerade oder zwei Gerade ergeben
Fig. 13.
198 Die Logik der Mathematik.
können. So lange die Strahlen nicht nur übereinstimmend laufen,
sondern auch alle homologen Strahlen sich durchschneiden, ent-
steht eine Ellipse, da diese außer dem Kreis der einzige Kegelschnitt
ist, der keinen unendlich entfernten Punkt hat. Ist nur ein einziges
homologes Strahlenpaar parallel, so entsteht die Parabel, der ein
unendlich entfernter Punkt zukommt. Sind endlich zwei Strahlen-
paare parallel, so entsteht die Hyperbel mit ihren beiden, zwei un-
endlich entfernten Punkten entsprechenden Zweigen. Dieser Fall
kann sich auch dann ereignen, wenn die homologen Strahlen der beiden
Strahlenbüschel nicht übereinstimmende Lage haben (nicht gleich-
laufend sind). Hier gehören dann deren Mittelpunkte verschiedenen
Zweigen der Hyperbel an. Der Durchschnitt nicht gleichlaufender
Strahlen erzeugt darum unter allen Umständen eine Hyperbel. Teilt
diese mit dem Kreise die Eigenschaft, daß die Winkel homologer Strahlen
gleich sind, so entsteht der spezielle Fall der gleichseitigen Hyperbel.
Abgesehen von der unmittelbaren Beziehung, in der diese Er-
zeugungsweisen durch projektive Konstruktion zu den geometri-
schen Eigenschaften der erzeugten Gebilde stehen, bietet die Methode den
Vorzug dar, daß sie wegen der
Einfachheit der Elemente, mit
denen sie operiert, leicht Modr-
fikationen zuläßt, welche geeig-
net sind, die Eigenschaften der
erzeugten Gebilde von verschie-
denen Seiten her zu beleuchten.
So läßt sich eine Kurvenicht bloß
als Durchschnittsgebilde von
Strahlenbüscheln in projektivi-
scher Lage, sondern auch als
Tangentengebilde kon-
struieren. Die Parabel z.B. hat
die Eigenschaft, daß die zwischen äquidistanten Punkten irgend zweier
Tangenten gezogenen Strahlen ebenfalls Tangenten sind. Demnach kann
man sie als Umhüllungsgebilde zweier Strahlenbüschel betrachten, die
von zwei projektivisch-ähnlichen Punktreihen in nichtperspektivischer
Lage erzeugt werden (Fig. 14). Ähnlich umhüllt aber überhaupt die
Gesamtheit der Projektionsstrahlen zweier projektivischer Punkt-
reihen eine Kurve, die mit jedem Projektionsstrahl nur einen Punkt,
den Berührungspunkt, gemein hat. Diese Kurve ist ein Kegelschnitt,
und die spezielle Form desselben hängt von dem Lageverhältnis der
Fig. 14.
Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 199
beiden erzeugenden Punktreihen ab*). In dem Verhältnis dieser Er-
zeugungsweise zu der vorhin besprochenen tritt zugleich ein ergänzendes
Verhältnis der konstruktiven Elemente zueinander hervor. Die nämliche
Kurve kann entweder als eine kontinuierliche Reihe von Punkten oder
als eine kontinuierliche Reihe berührender Strahlen (Tangenten) be-
trachtet werden. Dort entsteht sie als Durchschnittsgebilde, hier als
Umhüllungsgebilde. Im ersten Fall aber ist das ursprünglich erzeugende
Gebilde das projektivische Strahlenbüschel, im zweiten die projek-
tivische Punktreihe. Diese ergänzende Beziehung, die man auch als
das Prinzip der Dualitätder Gebilde bezeichnet, tritt in ver-
schiedenen Gestaltungen auf. Wie sich in der Ebene die Punktreihe
und das Strahlenbüschel ergänzen, so treten im Raum Punkt und Ebene
als reziproke Gebilde einander gegenüber. Die Lage einer Geraden
kann ebensowohl durch zwei Punkte wie durch zwei sich schneidende
Ebenen bestimmt werden; im ersten Fall entsteht aber die Gerade als
Bewegungsgebilde, im zweiten als Durchschneidungsgebilde. Ferner
kann sowohl die Ebene wie der Punkt durch zwei Gerade oder die erstere
durch eine Gerade und einen außerhalb liegenden Punkt, der letztere
durch eine Gerade und eine sie kreuzende Ebene, oder endlich jene
durch drei Punkte, dieser durch drei Ebenen bestimmt werden. Diese
Konstruktionen zeigen zugleich die nahe Beziehung zwischen der Er-
zeugung der Raumgebilde durch Bewegung und ihrer Erzeugung durch
Durchschneidung. Einer Erzeugungsweise der ersten Art steht immer
eine solche der zweiten dual gegenüber, und die eine wandelt sich in
die andere um, wenn an die Stelle der erzeugenden Elemente andere
treten, die zu ihnen in einem reziproken Verhältnisse stehen: bei Kon-
struktionen in der Ebene an die Stelle des Punktes die Gerade, bei
Konstruktionen im Raum an die Stelle des Punktes die Ebene.
Insoweit die projektiven Konstruktionen für sich selbst zur Ent-
wicklung der Eigenschaften der betrefienden Raumgebilde nicht zu-
reichen, pflegen sie nun unmittelbar auf gewisse Hilfskonstruktionen hin-
zuweisen, die auch hier ihre ergänzenden Dienste leisten. So läßt z. B.
die Konstruktion der Kegelschnitte als Durchschnittsgebilde pro-
jektiver Strahlenbüschel unmittelbar ersehen, daß jeder Kegelschnitt
durch fünf Punkte seines Umfanges vollständig bestimmt ist. Es ge-
hören nämlich die Mittelpunkte der erzeugenden Strahlenbüschel
stets der Kurve an, und außerdem sind alle Strahlen durch das Doppel-
*) Steiner, Die Theorie der Kegelschnitte, gestützt auf projektivische
Eigenschaften, S. 91 ft.
200 Die Logik der Mathematik.
verhältnis bestimmt, sobald zu drei Strahlen a bc die ihnen homologen
a’b’‘c‘ gegeben sind. Sucht man zu irgendwelchen fünf Punkten eines
Kegelschnitts durch Konstruktion einen sechsten auf, so erhält man
durch Verbindung dieser Punkte ein Sechseck, von dem schon Pascal
die charakteristische Eigenschaft entdeckt hat, daß sich die gegenüber-
liegenden Seiten desselben in drei Punkten schneiden, die in einer
Geraden liegen. Es ist nun aber durch jene sechs Punkte zunächst nur
die Form des vollständigen Sechsecks bestimmt, welches man
(nach der Analogie ‚des vollständigen Vierecks S. 186) erhält, wenn
jeder Punkt mit jedem anderen verbunden wird, und welches, da irgend
ein Punkt a mit jedem der fünf anderen Punkte verbunden werden kann,
mit jeder Verbindung aber die entgegengesetzt gerichtete zusammen-
fällt, = — 15 Seiten hat. Aus diesem vollständigen Sechseck läßt
sich wieder aus ähnlichen Gründen auf nz — 60 verschiedene
Arten ein gewöhnliches Sechseck herstellen. Jedem dieser 60 Sechsecke
entspricht dann eine Pascalsche Gerade, und je drei solcher Geraden
schneiden sich, wie Steiner gezeigt hat, in einem Punkt. So führt diese
Hilfskonstruktion, die selbst durch die Erzeugung der Kurve an die
Hand gegeben ist, in völlig naturgemäßer Weise, ohne irgendwie zu-
fällig entdeckte Kunstgriffe in Anspruch zu nehmen, zu einer Fülle
charakteristischer Linien und Punkte, durch die zusammengenommen
mit den verschiedenen Erzeugungsformen die Eigenschaften der Kurve
erschöpfend bestimmt werden.
Die allgemeine Stellung der projektiven oder synthetischen Geo-
metrie wird schließlich durch ihr Verhältnis zur metrischen
Geometrie einerseits und zur analytischen anderseits gekenn-
zeichnet. Die metrische Geometrie, die in Euklids Lehrgebäude ihre
erste systematische Darstellung fand, nimmt die Raumgebilde als ge-
gebene hin und stellt mit Zuhilfenahme der für jeden einzelnen Fall
besonders ersonnenen Konstruktionen ihre metrischen Eigenschaften
fest; der Raum selbst wird dabei als eine alle diese einzelnen Formen
enthaltende gegebene Größe vorausgesetzt. Die projektive Geometrie
dagegen setzt zunächst nur die Punkte und die geraden Linien voraus,
die sie als Konstruktionselemente verwendet; sie erzeugt dann aus
diesen die zusammengesetzten Raumgebilde und ermittelt an ihnen
die Eigenschaften des ganzen Raumes. Der analytischen Geometrie
Descartes’ liegt ebenfalls der fertige Raum der metrischen Geometrie
mit den in ihm gegebenen Raumgebilden zu Grunde. Aber an Stelle
Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 201
der für den einzelnen Fall erfundenen Messungsmethoden der letzteren
bedient sie sich in dem ein für allemal eingeführten Liniensystem der
Koordinaten eines einheitlichen, den Dimensionen des Raumes un-
mittelbar angepaßten dreifachen Maßstabes, der dann außerdem die
Benutzung der Methoden der allgemeinen Arithmetik zur Lösung der
einzelnen Messungsaufgaben möglich macht. Dem gegenüber ergeben
sich der projektiven Geometrie bei ihrer synthetischen Erzeugung der
Raumgebilde unmittelbar zugleich die erforderlichen Messungshilfs-
mittel, die nun, im Unterschied von dem uniformen Koordinaten-
maßstab, jedesmal der Entstehung der Raumformen und damit
diesen selbst adäquat sind. Insbesondere ergibt sich hierbei der ent-
scheidende Gesichtspunkt für die Gewinnung der gesetzmäßigen Be-
ziehungen zwischen den Elementen einer Form aus der Ermittlung der-
jenigen Elemente und Elementenkomplexe, die bei der bezugsweisen
Veränderung der übrigen unverändert bleiben. Die so gewonnenen
Invarianten einer veränderlichen Form vermitteln dann hier
eine analoge, nur dem einzelnen Fall direkter angepaßte Umsetzung
der geometrischen in arithmetische Beziehungen, wie solche die Ko-
ordinatengeometrie verwendet. In charakteristischer Weise tritt
schließlich noch das Verhältnis der projektiven zur metrischen wie zu
der mit dieser zusammenhängenden analytischen Geometrie in den-
jenigen Betrachtungen hervor, in denen die geometrische Konstruktion
auf Grund des Permanenzprinzips (S. 146) die Grenzen des Raumes
unserer Anschauung überschreitet. Die metrische und die analytische
Geometrie können dies nur durch die Einführung von Fiktionen. So
gewinnt z. B. jene den Begriff eines sphärischen oder elliptischen Raumes
durch die Verallgemeinerung der Eigenschaften bestimmter im wirk-
lichen Raum konstruierter Formen. Die Koordinatengeometrie gelangt
ebenso zum Raum von n Dimensionen, indem sie die drei analytischen
Bestimmungselemente des wirklichen Raumes beliebig vermehrt denkt.
Dem gegenüber ergeben sich der projektiven Geometrie Gebilde, die
nicht mehr im wirklichen Raum vorkommen, unmittelbar aus der
Weiterführung bestimmter in diesem beginnender Konstruktionen. Da
aber diese Geometrie nicht den Raum selbst, sondern nur gewisse
Konstruktionselemente desselben voraussetzt, so besitzen hier die den
metageometrischen Spekulationen der metrischen und analytischen Geo-
metrie entsprechenden Untersuchungen nicht wie dort den Charakter
willkürlicher Fiktionen, sondern sie bilden lediglich Fortführungen
bestimmter Konstruktionen über die Grenzen möglicher Rauman-
schauung. Das beweist natürlich hier so wenig wie dort die anschauliche
202 Die Logik der Mathematik.
Denkbarkeit solcher Konstruktionen. Vielmehr zeigt sich nur deut-
licher als dort der begriflliche Zusammenhang des Raumes mit einer
unbegrenzten Reihe von Mannigfaltigkeitsbegriffen, zu deren Bildung
er den äußeren Anlaß gibt, ohne daß jedoch diese Begriffe über seinen
eigenen Ursprung in der Anschauung irgend etwas aussagen können*).
2. Die Anwendungen algebraischer Methoden auf die
geometrische Untersuchung.
Diealgebraischeunddieanalytische Geometrie.
Der Mangel einer algebraischen Symbolik hatte die antike Geometrie
über ihr eigentliches Gebiet hinaus zu einer Vertreterin der allgemeinen
Arithmetik erhoben. Die ausschließlich metrische Richtung jener
Geometrie, die hierin zum Teil ihre Quelle hatte, war ihrerseits wieder
geeignet, diese Verbindung aufrecht zu erhalten und die Aufmerksam-
keit von den besonderen Bedingungen abzulenken, welche die geometri-
schen Objekte den arithmetischen Verfahrungsweisen entgegenbringen.
Hierdurch geschah es, daß bestimmte Zahlverknüpfungen stets auf
fest bestimmte Raumverhältnisse bezogen wurden, indem man bei dem-
jenigen geometrischen Bilde stehen blieb, das die ursprünglichste
Darstellung einer arithmetischen Operation gewesen war. Demgemäß
betrachtete man allgemein die einfache Zahl als Maß einer linearen
Strecke, das Produkt und die Quadratzahl repräsentierten eine ebene
Fläche, das dreifache Produkt und die Kubikzahl einen Körper. Mehr-
fache Produkte und höhere Potenzen als die dritte verloren überhaupt
jede geometrische Bedeutung. Erst durch die freiere Bewegung, welche
die Arithmetik infolge der Erfindung der algebraischen Symbolik
gewann, wurde diese Beschränkung beseitigt. Die entscheidende Leistung
war hier Descartes’ Geometrie. Der Titel bezeichnet nur unzureichend
ihren Inhalt. Denn indem sich dieser gleichzeitig auf die allgemeine
Untersuchung der algebraischen Gleichungen erstreckt, ist es einer-
seits die freiere geometrische Verwendung der arithmetischen Opera-
tionen, anderseits die synthetische Ableitung und analytische Unter-
suchung der algebraischen Formen, die sich der Verfasser zum Ziel
setzt. So wurde dieses Werk gleichzeitig die Grundlage der neueren
Geometrie und der Analysis. Den Weg zu seiner Behandlung der Geo-
*) Vgl. hierzu Bd. I, S. 480 ff. Dazu Felix Klein, Zur ersten
Verteilung des Lobatschefskypreises (Kasan), 1897”. Fr. Engel, Lobat-
schefskys Leben und Schriften, 1899. Über Invariantentheorie: W. Fr. Meyer,
Encyklopädie der math. Wissensch. I, Bd. 2, 1899.
Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 203
metrie bahnt sich aber Descartes, indem er den arithmetischen Funda-
mentaloperationen eine solche geometrische Deutung gibt, daß nicht
bloß die ursprünglichen Größen gerade Linien sind, sondern daß auch
die Ergebnisse der mit ihnen vorgenommenen Operationen wiederum
als gerade Linien erscheinen. So verwendet er zur Darstellung der
Multiplikation und Division die Konstruktion ähnlicher Dreiecke.
In diesen läßt sich, sobald man eine der Seiten der Einheit gleich setzt,
eine Proportion bilden von der Form a:b=c:1, welche algebraisch
den Gleichungen a—=b.c und b= —,, also einer Multiplikation und
c
Division entspricht. Konstruiert man mit Zuhilfenahme des Kreises
die mittlere Proportionale zwischen der Einheit und einer anderen
Geraden, welche die Einheit zum Durchmesser ergänzt, so erhält die
mittlere Proportionale die Bedeutung der Quadratwurzel aus der zweiten
Geraden, oder diese ist gleich dem Quadrate der ersteren. Da nun
dies Verfahren von den so gefundenen Linien ausgehend beliebig oft
wiederholt werden kann, so steht nichts im Wege, eine dritte, vierte
oder höhere Potenz in der Form einer Geraden zu konstruieren. Hatten
die Alten alle Kurven höherer Grade als „mechanische Linien“ (weil
sie durch gewisse mechanische Vorrichtungen und Bewegungen erzeugt
werden konnten) von den geometrischen unterschieden, so gewinnt nun
der Begriff der geometrischen Kurven bei Descartes einen größeren
Umfang und zugleich eine analytische Bedeutung. Eine geometrische
Kurve ist ihm jede, die sich schließlich auf bestimmte Relationen
einer begrenzten Anzahl gerader Linien zurückführen läßt. Wo dies
nicht mehr der Fall ist, wo also die Relationen der Geraden, die als die
Erzeuger der Kurven angesehen werden können, irgendwie veränder-
lich sind, da ist auch für Descartes die Linie keine geometrische mehr.
Der Begriff der geometrischen Kurve geht also nun vollständig parallel
dem der algebraischen Gleichung, und in dem Gebiet der „mechanischen
Kurven“ verbleiben alle Gebilde, deren Untersuchung nicht durch die
einfachen arithmetischen Operationen und ihre Wiederholungen er-
ledigt werden kann, sondern auf eine unbegrenzte Zahl solcher Opera-
tionen, d. h. auf transzendente Funktionen zurückführt. Auf diese
Weise tritt hier zum ersten Mal die Unterscheidung der algebraischen
und der transzendenten Kurven in die Entwicklung der Geometrie
ein, freilich in noch unvollkommener Gestalt und nur mit sicherer Ab-
grenzung der ersteren. Jene noch heute gebrauchte Bezeichnung rührt
erst von Leibniz her, der damit zugleich die Beschränkung der Carte-
sianischen Geometrie endgültig beseitigte. Ihrem Ausgangspunkte
204 Die Logik der Mathematik.
gemäß war diese noch durchaus einealgebraischeGeometrie
gewesen. Als solche benützte sie die Algebra für die Geometrie und be-
handelte die letztere nur insoweit, als die elementaren algebraischen
Methoden verwendbar sind; anderseits machte sie nicht minder die
Geometrie der Algebra dienstbar, indem einer ihrer wesentlichsten
Zwecke darin bestand, die anschauliche Bedeutung algebraischer
Gleichungen nachzuweisen und so über deren Entstehungsbedingungen
Rechenschaft zu geben. Diesem algebraischen Charakter entspricht es,
daß die Konstruktionen überall dem einzelnen Fall angepaßt sind.
Bei der Untersuchung einer Kurve werden diejenigen Hilfslinien ge-
zogen, welche am einfachsten zu einem algebraischen Ausdruck führen.
Solche Hilfslinien sind aber naturgemäß wechselnder Art, und es exi-
stieren daher, abgesehen von den Fällen, in denen sich ein einzelnes
Problem selbst schon auf mehrere Kurven bezieht, keine zwingenden
Gründe zu einer gleichförmigen Rückbeziehung der untersuchten Ge-
bilde auf ein System gerader Linien von unveränderlicher Lage.
Der Übergang von der algebraischen zur analytischen
Geometrie vollzog sich teils infolge der Ausdehnung der ana-
Iytischen Behandlung auf transzendente Kurven und auf den Raum
von drei Dimensionen, teils unter dem Einfluß der Anwendungen der
Geometrie auf die Mechanik. Die hier sich ergebenden Aufgaben
machten einen festen Ausgangspunkt für die bestimmenden Geraden
wünschenswert. Die analytische Geometrie wurde daher zur Koordi-
natengeometrie. Indem diese die Geraden, durch deren Rela-
tionen die Eigenschaften der Raumgebilde gemessen werden, mit be-
stimmten Richtungen des Raumes zusammenfallen läßt, legt sie ihren
Entwicklungen den mathematischen Raumbegriff in seiner abstrak-
testen Form zu Grunde. Die Gleichungen, die als analytische Ausdrücke
bestimmter Raumgebilde auftreten, besitzen darum den logischen
Charakter von Definitionen, welche die einzelnen geometrischen Be-
griffe mit dem allgemeinen Raumbegriff in unmittelbare Beziehung
bringen. Durch die Gleichung einer Raumkurve wird diese nach drei
von einem festen Anfangspunkt ausgehenden Richtungen, die meist
senkrecht zueinander gewählt werden, zerlegt, indem man feststellt,
wie groß der einem bestimmten Fortschritt in der Richtung X ent-
sprechende Fortschritt in den zwei anderen Richtungen Y und Z ist.
Das Verfahren ist also auch im logischen Sinne ein analytisches, und
zugleich ist in demselben die Vorstellung der Erzeugung der Raum-
gebilde durch Bewegung enthalten. Gerade deshalb liegt hier der
Übergang von der Geometrie zur Mechanik so nahe. In der Tat kommt
Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 205
es häufig nur auf die Interpretation der Symbole einer Gleichung an,
ob man ihr eine geometrische oder eine mechanische Deutung geben
will. Die Mechanik erscheint dabei als ein der Geometrie untergeordnetes
Gebiet, insofern unter den zahllosen Raumgebilden, die überhaupt
möglich sind, einzelne durch die in der Natur wirksamen Bewegungs-
gesetze erzeugt werden. Von den Methoden der antiken Geometrie
entfernt sich aber die analytische Behandlung weit mehr als die al-
gebraische Geometrie Descartes’, da die Beziehung auf ein festes Koordi-
natensystem die Anwendung besonderer, nach der Natur der unter-
suchten Gebilde wechselnder Konstruktionen völlig entbehrlich macht.
Darum kann nun auch hier die Untersuchung in völlig abstrakter Weise
geführt werden. Weil die Hilfskonstruktionen bei der Untersuchung
entbehrlich sind, so werden schließlich die geometrischen Objekte
selber entbehrlich. An ihre Stelle treten die Gleichungen, an die
Stelle der Hilfskonstruktionen die passenden Transformationen der
Gleichungen. Den Vorteilen, welche diese Verwertung der analytischen
Hilfsmittel bietet, stehen die geringe Anschaulichkeit der Resultate
und nicht selten, wegen des Verzichts auf Konstruktionen, die den be-
sonderen Erfordernissen des Falles entsprechen, die Schwerfälligkeit
der Rechnung als Nachteile gegenüber. Diese sind es denn auch, die in
der neueren Zeit zu einer weiteren Form der Verwertung algebraischer
Methoden geführt haben, die wir als die Methode der geometri-
schen Analysis bezeichnen wollen.
b. Die geometrische Analysis.
Die geometrische Analysis, die einen wesentlichen Bestandteil
der synthetischen Geometrie bildet, sucht, wie ihr Name andeutet,
die Stellung umzukehren, die Analysis und Geometrie in der analytischen
Geometrie zueinander einnehmen. Während in dieser das analytische
Verfahren vollständig die geometrische Anschauung beherrscht, sucht
jene die Ausübung der algebraischen Methoden den spezifischen Verhält-
nissen räumlicher Objekte anzupassen, ebenso wie in ihr die geometri-
schen Konstruktionsmethoden den konkreten Objekten angepaßt
sind. Auf der innigen Verwebung naturgemäßer Konstruktionen und
algebraischer Betrachtungen beruht daher der eigentümliche Charak-
ter dieser Geometrie. Auch sie will der Verwertung algebraischer
Methoden keineswegs verlustig gehen; aber sie sucht diese Verwertung
fruchtbarer zu machen, indem sie an der algebraischen Symbolik die-
jenigen Veränderungen vornimmt, die den Eigentümlichkeiten der
206 Die Logik der Mathematik.
Raumanschauung entsprechen. Die Berechtigung eines solchen Ver-
fahrens ergibt sich daraus, daß die algebraische Symbolik in ihrer all-
gemein gebrauchten Form auf rein arithmetischem Boden ruht. Sowohl
die algebraische wie die analytische Geometrie haben dieses Verhältnis
unverändert gelassen, da bei beiden Formen noch immer der metrische
Gesichtspunkt vorwaltet. Dies muß von selbst anders werden, wenn
die Lagebeziehungen der geometrischen Objekte in den Vorder-
grund treten. Denn hier muß sogleich die Frage entstehen, ob nicht die
arıthmetischen Fundamentaloperationen, angewandt auf eine mehrfach
ausgedehnte Mannigfaltigkeit, notwendig Änderungen erfahren, sobald
man nicht bloß auf die Größe, sondern auch auf die Lage und Richtung
des Ausgedehnten Rücksicht nimmt.
Da bei jeder Art geometrischer Untersuchung ausgedehnte Ge-
bilde von verschiedener Form auf die Gerade zurückgeführt werden
können, so bietet sie sich auch bei der geometrischen Analyse als nächstes
Objekt dar. Rein metrisch betrachtet sind zwei Gerade einander gleich,
wenn sie gleich lang sind. Auf dieser Voraussetzung ruht daher sowohl
die antike wie die analytische Geometrie, und so betrachtet unter-
scheidet sich die Gerade nicht von beliebigen anderen durch Zahlen
meßbaren Objekten. Nehmen wir dagegen bei der Definition der Gleich-
heit auf die spezifischen Eigentümlichkeiten des Raumes Rücksicht,
so werden wir gleich zwei Gerade nur dann nennen, wenn sie nicht
nur gleiche Länge, sondern auch gleiche Lage und Richtung haben.
Von gleicher Lage sind sie aber, wenn sie einander parallel sind (worin
zugleich der Spezialtall, daß die eine in der Verlängerung der anderen
liegt, eingeschlossen ist). Gleiche Richtung haben sie, wenn alle Punkte
der einen von den entsprechenden Punkten der anderen gleich weit ent-
fernt sind, wenn also z. B. zwischen den Anfangspunkten A und A’
der Geraden A B und A’ B’ die Distanz die gleiche ist wie zwischen
den um eine je gleiche Strecke von ihnen entfernten Punkten B und B'.
Diese Definition der Gleichheit vorausgesetzt ergeben sich nun die
Modifikationen, welche die vier arithmetischen Elementaroperationen
in ihrer Anwendung auf gerade Strecken erfahren müssen, mit logischer
Notwendigkeit. Bezeichnen wir nämlich in gewohnter Weise die Geraden
durch ihre Anfangs- und Endpunkte, also durch A B, BC die Strecken
zwischen den Punkten A und B, B und (, so gelten für die Addition
von Strecken gleicher Lage folgende Gesetze:
AB=—BA ABIBA=0,
ABA BC=AC ABLBOTC0A=D.
Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 207
Haben zwei Strecken A B und B’C irgend eine andere Lage, so läßt
sich die zweite B’C' ohne Änderung der Gleichheit sich selbst parallel
verschieben, bis B’ mit B zusammenfällt, und es ist dann
ABI BC=ACwd AB—- BO=CA=— AC
d. h. sowohl die Summe wie die Differenz zweier Geraden, die einen
Winkel miteinander bilden, wird durch eine dritte Gerade dargestellt,
welche beide zu einem Dreieck ergänzt; diese dritte Gerade erhält
aber im zweiten Fall eine entgegengesetzte Richtung.
Eine Multiplikation und Division von Geraden werden nun dann
entstehen, wenn Strecken in ihrem Verhältnisse zueinander betrachtet
werden, wobei unter diesem Verhältnis wiederum nicht bloß das der
Länge, sondern auch das der Lage und Richtung zu verstehen ist. Sind
z. B. vier Strecken a, b, c, d so zueinander gelagert und gerichtet, daß
die Proportion besteht
a:b=c:d,
so wird, wenn man d zur Einheit nimmt, a=b.c, oder, wenn man
@— Eseizt, a = 2 Dort wird also die Strecke a gleich dem Produkt,
hier gleich dem Quotienten zweier anderen. Diese Multiplikation und
Division ist der von Descartes angewandten durchaus ähnlich: hier wie
dort wird auf eine Proportion zwischen Strecken zurückgegangen, von
denen eine der Einheit gleich gesetzt ist. In beiden Fällen läßt sich
daher durch zwei ähnliche Dreiecke der Gleichung Genüge leisten.
Aber während es bei Descartes nur auf die Länge der Strecken ankam,
bezieht sich hier die Proportion zugleich auf die Richtung und Lage
derselben, und es vermehren sich auf diese Weise, entsprechend der
mit dem Begriff der Gleichheit vorgenommenen Veränderung, die
Elemente, die den Begriff der Ähnlichkeit zusammensetzen.
Der Gesichtspunkt der geometrischen Analyse, der diesen Be-
trachtungen zu Grunde liegt, gestattet es jedoch nicht, bei der Geraden
stehen zu bleiben, sondern er fordert die Anwendung auf das letzte
Element aller Raumkonstruktionen, auf den Punkt. Läßt dieser für
eine rein metrische Betrachtung keine weitere Bestimmung zu, so ist
dagegen eine Bestimmung der Lage desselben immer möglich. Da sich
auf Lagebeziehungen von Punkten schließlich alle anderen geometrischen
Verhältnisse zurückführen lassen, so muß dann von den in Bezug auf
Punkte ausführbaren Operationen auch ein Übergang zur Geraden,
zur Ebene und zum dreifach ausgedehnten Raumgebilde zu gewinnen
sein. Denken wir uns demgemäß, die für irgend zwei voneinander ent-
208 Die Logik der Mathematik.
fernte Punkte gewählten Symbole & und ß bezeichneten gleichzeitig
die Lage dieser Punkte, so wird ein genau in der Mitte zwischen «und ß
gelegener Punkt y hinsichtlich seiner Lage in Bezug auf die ersteren
bestimmt sein durch die Gleichung.
— 2ER oder «+ ß= 27.
Als die Summe zweier Punkte erscheint also deren doppelt genommener
Mittelpunkt. Diese Relation wird auch für Verbände von Punkten,
z. B. für m Punkte « und für n Punkte ß gelten, indem
metnd=(m+nr
ist, eine Beziehung, in welcher der Mittelpunkt zweier Punktsysteme
einem Schwerpunkt analog erscheint*). Von dem der Addition zu
Grunde liegenden Prinzip aus läßt sich nun offenbar auch die Addition
eines Punktes und einer geradlinigen Strecke vollziehen. Denken wir
uns den Punkt ß von « um die Strecke a entfernt, so wird sich ß als
hervorgegangen aus einer Addition von a zu «& betrachten lassen:
«+a=ßodr a—ßB=aundß—a=—a.
Als Differenz zweier Punkte erscheint demnach in Bezug auf Größe,
Lage und Richtung die zwischen beiden gelegene geradlinige Strecke**).
Die nämliche Strecke entspricht aber dem Produkt der beiden End-
punkte. Es ist also
a.Bß=—ß.a=ß—o.
Man übersieht leicht, daß in Verfolgung dieses Satzes das Produkt
dreier Punkte zu einem ebenen Gebilde wird, das nach Größe und
Lage dem doppelten Flächeninhalt des durch die drei Punkte gebildeten
Dreiecks gleichkommt. In ähnlicher Weise wird das Produkt von vier
Punkten ein dreifach ausgedehntes Raumgebilde, nämlich das durch
die drei Punkte als Eckpunkte bestimmte Parallelepiped.
Es versteht sich von selbst, daß diese Betrachtungen noch erweitert
werden können, wenn man an Stelle des Raumes den allgemeinen Be-
griff der Ausdehnung setzt, wie solches von Graßmann geschehen
ist. Anderseits lassen sich die hier festgestellten Gesetze der Elementar-
operationen ohne Rücksicht auf ihren geometrischen Ursprung als ab-
*) Die erste fruchtbare Verwertung dieses Gedankens hat Moebius
gegeben in seinem Werke: Der baryzentrische Kalkul, ein neues Hilfsmittel
zur analytischen Behandlung der Geometrie, 1827. (A. F. Moebius’ Ges.
Werke, I, S. 1—389.)
**) H. Graßmann, Die Ausdehnungslehre von 1844, 2. Aufl., S. 131 £.
Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 209
strakte Zahlgesetze behandeln, wobei man dann den Begriff der be-
treffenden Zahlsysteme durch diese Gesetze selbst erst bestimmt sein
läßt. So ersieht man unmittelbar, daß die oben besprochene geometrische
Addition von Strecken vollkommen der Addition komplexer Zahlen
entspricht, und ähnlich lassen sich die übrigen Elementaroperationen
aus der geometrischen Analyse auf das System der gewöhnlichen kom-
plexen Zahlen übertragen. Wenn aber die Multiplikation inkommutativ
wird, so nehmen die Zahlen die Eigenschaften der Quaternionen an,
die ebenfalls, unabhängig von ihrer geometrischen Bedeutung, als reine
Zahlbegriffe, definiert durch die Beziehungen der drei imaginären
Einheiten, betrachtet werden können (S. 159). Es wiederholt sich darin
nur eine Entwicklung, die schon dem gewöhnlichen Zahlbegriff zu Grunde
liegt. Die Zahl in ihrer allgemeinen Bedeutung ist die letzte, abstrakteste
Form der mathematischen Auffassung. Wir abstrahieren bei ihr völlig
von den realen Objekten und ihren Verhältnissen. Gerade der Fall der
geometrischen Analyse zeigt aber deutlich, daß neue fruchtbringende
Umgestaltungen des Zahlbegriffs stets gebunden sind an die wirkliche
Anschauung. In dieser Beziehung trefien darum auch die komplexen
Zahlsysteme und die Methoden der geometrischen Analyse von ent-
gegengesetzten Seiten her beim nämlichen Ziel zusammen. Dort findet
es sich, daß Ergebnisse, zu denen man in der konsequenten Verfolgung
der arithmetischen Operationen gelangt, eine Bedeutung nur gewinnen
können, wennmanden Begriff derZahl in dem Sinne erweitert, daß diese
nicht bloß die Größe, sondern auch die Richtung und Lage der Objekte
zu messen im stande ist. Hier zeigt es sich, daß für die arithmetischen
Operationen in ihrer Anwendung auf ausgedehnte Gebilde, d. h. auf
Objekte von verschiedener Größe, Richtung und Lage, Modifikationen
erforderlich werden, die sie selbst und damit auch die zu Grunde liegenden
Zahlbegriffe verändern. Auf solche Weise begegnen sich beide Begriffs-
erweiterungen, und dieses Zusammentreffen zeigt, daß es sich hier nicht
um willkürliche Erfindungen, sondern um eine naturgemäße Entwick-
lung handelt, die sich aus den dem Zahlbegriff wie der geometrischen
Anschauung immanenten Eigenschaften heraus vollzogen hat.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl 14
10 Die Logik der Mathematik,
Viertes Kapitel.
Der Funktionsbegriff und die Infinitesimalmethode.
1. Die analytischen Funktionen.
a. Die Entwicklung des Begriffs der Funktion,
Der Begriff der Funktion ist der älteren Mathematik unbekannt;
in der neueren aber hat er eine immer umfassendere Bedeutung ge-
wonnen: er ist der herrschende Begriff der Analysis und durch sie
der ganzen Mathematik geworden. Aus der Erfindung der algebrai-
schen Symbolik in naturgemäßer Entwicklung hervorgegangen, hat
er in der Anwendung der algebraischen Methoden auf die Geometrie
seine nächste Quelle. Indem Descartes’ Geometrie die Untersuchung
der geometrischen Objekte auf die Maßbeziehungen gerader Linien
zurückführte, deren Zahl für die Ebene gleich zwei und für den Raum
gleich drei ist, operiert sie mit dem Begriff der Funktion, wenn ihr auch
dieser Name noch mangelt. In die Gleichung einer ebenen Kurve
gehen neben konstanten Größen die beiden bestimmenden Geraden
x und y als veränderliche ein. Da aber jedem Werte der einen Ver-
änderlichen x ein bestimmter Wert oder eine Anzahl bestimmter Werte
der anderen Veränderlichen y entspricht, so erscheint hier yals Funk-
tionvon x. Der Begriff der Funktion hat also in dieser seiner nächsten
Anwendung die Bedeutung, daß er die Abhängigkeit einer Größe von
einer anderen oder von einer Mehrheit anderer Größen bezeichnet,
deren Veränderungen nach einem vorgezeichneten Gesetze erfolgen.
Dieses Gesetz findet geometrisch in einer Kurve, analytisch in der zu-
gehörigen Gleichung seinen Ausdruck. Stets wird dabei die abhängig
Veränderliche y selbst als Funktion aufgefaßt, und die unabhängig
Veränderlichen x, z, bei deren Variation y alle für dasselbe möglichen
Werte durchläuft, sind de Argumente dieser Funktion. Vermöge
des beschränkten Gesichtskreises der Cartesianischen Geometrie
kamen aber in ihr zunächst nur solche Gleichungen in Frage, in welchen
alle Größenverbindungen aus einer begrenzten Zahl und Reihenfolge
der vier arithmetischen Fundamentaloperationen hervorgehen, und es
war überdies stillschweigend vorausgesetzt, daß zwar jede beliebige
andere Größe, niemals aber ein Divisor gleich Null werden könne. Auf
diese Weise verengte sich der Begriff der Funktion zu demjenigen der
algebraischen Funktion.
Erst Leibniz führte in die analytische Geometrie den Namen
transzendente Kurven ausdrücklich deshalb ein, weil die Pro-
Die analytischen Funktionen. 21l
bleme, die sich auf solche Kurven beziehen, die Hilfsmittel der Algebra
übersteigen, oder weil mit anderen Worten die in den Gleichungen
derselben darzustellenden Größenbeziehungen nicht durch eine be-
schränkte Anzahl von Additionen, Multiplikationen, Subtraktionen
und Divisionen sich erledigen lassen*). Hat z. B. die Funktion die Form
y= a”, so gestattet dieser Ausdruck nur dann eine genaue Berechnung
von y durch eine beschränkte Zahl von Anwendungen der arıthmetischen
Elementaroperationen, wenn für z ein bestimmter ganzer Zahlenwert
angenommen wird. Da dies aber bei der allgemeinen Form der Funktion
nicht der Fall ist, sondern hier für x jede beliebige gebrochene oder
irrationale Zahl eintreten kann, so ist es klar, daß eine allgemeingültige
Beziehung der beiden Veränderlichen x und y auf algebraischem Wege
nicht herzustellen ist. Ähnlich verhält es sich mit den Funktionen
y=sinz, y=cos« y=tang x, y — cotang x.
Bei der Funktion y=sin x nimmt x von Null an stetig zu, indem
Te IT
Frag
wechselt aber y periodisch und stetig zwischen 0,—+1,0,—1,0. Bei
der Funktion y=tang x wechselt bei stetig wachsendem x der Wert
von y zwischen 0, —- 0, 0, — ©, 0. Auch hier läßt sich die Beziehung
zwischen x und y nicht in allgemeingültiger Weise durch eine begrenzte
Zahl arithmetischer Operationen zum Ausdruck bringen. Nichtsdesto-
weniger entsprechen nicht nur allen diesen Gleichungen geometrische
Gebilde von ebenso strenger Gesetzmäßigkeit wie die algebraischen
Kurven, sondern es verändern sich auch die in Beziehung gesetzten
Größen, abgesehen von den speziellen Fällen, wo die Funktion unend-
lich wird, in gleicher Weise miteinander.
Es können nun aber außerdem bei jeder derartigen Beziehung
Eigenschaften der veränderlichen Größen vorausgesetzt werden, ver-
möge deren eine Stetigkeit der Veränderung nicht mehr möglich ist,
und also auch die geometrische Darstellbarkeit der Funktion mittels
einer zusammenhängenden Kurve hinwegfällt. Dies geschieht, sobald
man annimmt, daß die ursprünglich veränderlichen Größen, die in
irgend einem algebraischen oder transzendenten Ausdruck vorkommen,
die Bedeutung ganzer Zahlen besitzen. Es werden sich dann offenbar
die einzelnen Werte von y, die in dem Ausdruck „=/(x) den ein-
zelnen Zahlwerten von x korrespondieren, nicht mehr kontinuierlich,
sondern sprungweise ändern. Der Begriff der Funktion gewinnt hier
es die Werte ‚3x u.s. w. durchläuft; währenddessen
*) Leibniz, Mathematische Werke, herausg. von Gerhardt, V, S. 228.
>13 Die Logik der Mathematik.
die Bedeutung eines Zahlengesetzes, und es kann daher der so verengte
Begriff speziell als der zahlentheoretische Funktions-
begriff bezeichnet werden. Hat dagegen die Unstetigkeit nicht in
der Voraussetzung eines unstetigen Wachstums der Veränderlichen,
sondern in der Natur der Funktion selbst ihren Grund, indem plötz-
liche Sprünge für beliebig kleine Veränderungen des Arguments vor-
kommen, so ist an denjenigen Stellen, an denen der Verlauf der
Funktion durch solche Unstetigkeiten unterbrochen ist, eine nähere
Untersuchung derselben unmöglich. Denn diese Untersuchung kann
sich immer nur darauf beziehen, daß man zu einer gegebenen Ver-
änderung des Argumentes die zugehörige Veränderung der Funktion
nachweist; in demjenigen Intervall, in welchem der Verlauf der Funk-
tion ein unstetiger, ist aber ein solcher Nachweis offenbar nicht möglich.
Aus diesem Grunde ist die Stetigkeitder Veränderung
ein notwendiges Kriterium der analytischen Funktion. Zugleich ist
es klar, daß der allgemeine Begriff der letzteren auch den zahlen-
theoretischen Begriff der Funktion, in welchem die Stetigkeit nicht
vorausgesetzt wird, insofern in sich schließt, als die Annahme, daß
die Veränderlichen ganze Zahlen bedeuten sollen, eine willkürlich
eingeführte Beschränkung bleibt. Die zahlentheoretische Funktion geht
im allgemeinen in eine analytische Funktion über, welche statt des
Zahlengesetzes eine Beziehung zwischen stetig veränderlichen Größen
darstellt, sobald man jene beschränkende Voraussetzung aufgibt und
an die Stelle des engeren den allgemeineren Zahlbegriff treten läßt,
welcher mit dem Begriff der stetigen Größe zusammenfällt.
In logischer Beziehung läßt sich demnach der Begriff der Funktion
als diejenige Umgestaltung betrachten, welche der
Begriff der logischen Abhängigkeit in der An-
wendung auf den allgemeinen Größenbegriff er-
fahren muß. Bei dem allgemeinen Verhältnis von Bedingung und
Folge bleibt es dahingestellt, ob die Glieder desselben überhaupt sich
begleitenden Veränderungen unterworfen sind, und ob solche, wenn sie
erfolgen, einen stetigen Charakter besitzen. Wo die logische Symbolik
das Funktionszeichen anwendet, da gibt sie daher ihrerseits demselben
eine erweiterte Bedeutung. Die algebraische Symbolik dagegen, welche
unter ihren Zahlsymbolen gerade dann, wenn sie ihnen die allgemeinste
Bedeutung gibt, kontinuierliche Größen denkt, muß in die Abhängig-
keitsbeziehung einerseits den Begriff der Veränderung und anderseits
den der Stetigkeit aufnehmen. Denn die Abhängigkeit zweier Zahlen
kann überhaupt nur darin bestehen, daß die Veränderungen der einen
Die analytischen Funktionen, 213
von den Veränderungen der anderen bedingt sind, und eine feste Be-
ziehung zwischen diesen Veränderungen läßt sich nur dann erkennen,
wenn im allgemeinen (von einzelnen Unstetigkeiten abgesehen) der
stetigen Veränderung der ursprünglich veränderlichen Größe eine
stetige Veränderung der abhängig veränderlichen entspricht. Wenn
daher Johann Bernoulli, der Urheber des Ausdrucks „Funktion“,
dieselbe allgemein als eine Abhängigkeit zwischen Größen definierte,
so war dieser Begriff zu weit und unbestimmt*). Denn es fehlte darin
jenes Merkmal der Stetigkeit, durch welches der mathematische Begriff
der Funktion sich scheidet von dem allgemeineren der logischen Folge.
Wir nennen aber eine Größe estetigveränderlich, wenn sie
bei der Zunahme um einen Wert + ösowie bei der Abnahme um einen
Wert — ö stets Werte durchläuft, die zwischen x und 2 +6 und
zwischen z und £— 6 in der Mitte liegen, auch wenn man Ö so klein
wählt als man will. (Vgl. oben S. 154 f.) Demgemäß werden wir eine
Funktion y= f(x) dann eine stetige nennen, wenn nicht nur für jede
der Größen x und yan und für sich die obige Bedingung zutrifft, sondern
wenn sich außerdem die abhängige Variable y nur dann um ein meß-
bares Intervall verändert, wenn sich auch x um ein meßbares Intervall
ändert, während für jede Veränderung von x, die kleiner ist als
irgend eine meßbare Zahl ö, die beliebig klein gewählt werden mag,
auch y keine Veränderung erfährt, die irgend einer meßbaren Zahl
gleichkommt. Diese Definition der Stetigkeit einer Funktion führt
unmittelbar zu den Grundbegriffen der Differentialrechnung, bei deren
Erörterung wir daher den Begriff der stetig veränderlichen Größe nach
seinen verschiedenen Richtungen weiter verfolgen werden**).
Während so der Begriff der Funktion durch die Bedingung der
Stetigkeit enger begrenzt wird, erfährt er dagegen infolge der An-
wendungen auf komplexe Größen und die damit verbundene
Unterscheidung ein- und vieldeutiger Funktionen eine
bemerkenswerte Erweiterung. In der Gleichung y=f(x) kann
jedem einzelnen Werte des Argumentes z ein einzelner oder eine fest
bestimmte Anzahl einzelner Werte von y entsprechen: dann nennt
man die Funktion eine eindeutige. In dieser Weise eindeutig
*), Joh. Bernoulli, Opera omnia, t. II, p. 241.
**) Als äußeres Kriterium der Stetigkeit einer Funktion betrachtet man in
der Tat im allgemeinen ihre Differenzierbarkeit. Doch hat Weierstraß
gezeigt, das gewisse zusammengesetzte Sinus- und Kosinusfunktionen zwar
stetig, aber nicht differenzierbar sind. Vgl. P. du Bois-Reymond,
Crelles Journ. f. Math., Bd. 29, S. 21.
914 Die Logik der Mathematik.
ad
sind stets die Funktionen reeller Größen. Eine algebraische Gleichung
nten Grades liefert zwar zu jedem Werte von x n Werte von %, aber
diese bezeichnen hier n voneinander isolierte Punkte, welche zusammen-
gehörigen Werten von x und y entsprechen, und die Funktion selbst
bleibt immer durch eine einzige Kurve darstellbar. Mehrdeutig
dagegen kann eine Funktion nur dann genannt werden, wenn dem
Ausdruck == f (x) innerhalb gewisser Grenzen ein ganz verschiedener
Verlauf der zu einer kontinuierlichen Änderung von x gehörigen Werte
von y entspricht, wenn also jene Gleichung durch zwei oder mehr aus-
einanderfallende Kurven dargestellt werden kann. Dieser Fall tritt
nun im allgemeinen dann ein, wenn die Argumente der Funktion kom-
plexe Zahlen sind. Eine reelle Variable x findet, wie wir sahen, ihre Dar-
stellung in einer geraden Linie. Zwischen zwei voneinander entfernten
Punkten a und 5b einer Geraden liegt aber immer nur eine Reihe
stetig aufeinanderfolgender Punkte. Wenn a und b gegeben sind, so
ist darum auch der ganze Verlauf der Linie x gegeben, und in der Glei-
chung y=f(«) sind die Werte von y den korrespondierenden Werten
von x eindeutig zugeordnet. Hat dagegen die Funktion die Form
:=fktiy),
so entspricht zwar hier ebenfalls jeder einzelne Wert des komplexen
Argumentes einem Punkt in der Ebene: die Gesamtheit der stetig auf-
einanderfolgenden Punkte, welche das Wachstum des Argumentes ver-
sinnlichen, braucht aber nicht in einer Geraden zu liegen, sondern da
jeder Punkt durch die zwei zueinander senkrechten Geraden x und %
als Koordinaten bestimmt ist, so kann das Wachstum des Argumentes
einer beliebig veränderlichen Kurve oder einer aus geraden und ge-
krümmten Teilen zusammengesetzten Linie entsprechen. Zwischen
zwei bestimmten Werten a und b eines komplexen Argumentes sind
demnach auch unendlich viele Übergänge möglich, und jedem dieser
Übergänge wird im allgemeinen ein anderer Verlauf der Funktion z
zugehören. Sind a und b als Anfangs- und Endpunkt der Funktion ge-
geben, so werden dieselben Verzweigungspunkte darstellen, zwischen
denen der Übergang durch eine unendliche Schar stetiger oder ge-
brochener Linien vermittelt werden kann. Geometrisch läßt daher das
Verhältnis der Funktionen mit komplexen zu solchen mit reellen Argu-
menten auch so sıch auffassen, daß an die Stelle der Geraden, welche
hier stets das bestimmende Grundelement ist, dort eine veränderliche
Linie tritt, daß also das geradlinige durch ein anderes Koordinaten-
system ersetzt wird. Das letzte Element, von dem man irgend ein krumm-
Die analytischen Funktionen. 215
liniges Koordinatensystem abhängig denkt, muß freilich auch hier die
Gerade bleiben, da jede Richtung und Richtungsänderung immer wieder
durch die Rückbeziehung auf gerade Linien von gegebener Richtung
bestimmt werden muß. In der Tat hat ja jeder einzelne der beiden
Teile x und © y, aus denen ein komplexes Argument besteht, die Be-
deutung einer stetig veränderlichen Geraden. In dieser Beziehung
sind also die Funktionen komplexer Variabeln im eigentlichsten Sinne
Funktionen höherer Ordnung. Sie setzen eine Funktionsbeziehung
zwischen den Teilen ihrer komplexen Argumente voraus. Aber indem
der allgemeine Ausdruck einer Funktion komplexer Variabler jene
Beziehung zunächst unbestimmt läßt, entspricht jedem einzelnen
Werte von x eine unendliche Menge von Werten z y; auch die Funktion
z—=f(z-+-iy) hat daher zu ihrem geometrischen Bilde nicht eine
Kurve, sondern eine Fläche, welche von der Ebene, auf der sich der
Punkt £ + iy bewegt, abhängig ist, und es kommt nun auf besondere
Bedingungen an, ob zwischen gewissen Grenzen zu jedem Werte
von x auch nur ein Wert von : y gehört oder nicht. Ist ersteres der
Fall, so wird die Funktion eindeutig, und es entspricht ihr nur
noch eine einzige unter der unendlichen Zahl von Kurven, die in der
Fläche der mehrdeutigen Funktion zwischen deren Grenzwerten a und b
möglich sind.
Die mathematischen Umgestaltungen des Zahlbegrifis haben hier-
nach einerseits eine Verengerung, anderseits eine Erweiterung des Be-
griffs der Funktion herbeigeführt: die erstere, insofern der allgemeinste
Begriff der Zahl durch die in ihn aufgenommene Stetigkeit diese
auch auf die Funktion übertragen ließ; die letztere, insofern der Be-
griff der komplexen Zahl zur Funktion zwischen komplexen Größen
und damit zur vieldeutigen Funktion führte. Wenn diese
auch immer erst durch die Umwandlung in eine eindeutige Form
mathematisch fruchtbar wird, so muß sie gleichwohl als eine logisch
notwendige Entwicklung des Funktionsbegrifis anerkannt werden.
Dem gegenüber ist nun eine fernere Erweiterung dieses Begriffs zu-
nächst aus physikalischen Anwendungen hervorgegangen. Während näm-
lich die rein mathematische Aufstellung einer Funktion stets voraussetzt,
daß durch die beschränkte oder unbeschränkte Anwendung der alge-
braischen Operationen gewisse Größenbeziehungen entstehen, welche
sich in einer Gleichung ausdrücken lassen, können in anderen Fällen
solche Beziehungen auch rein empirisch gegeben sein oder vollkommen
willkürlich von uns vorausgesetzt werden. Wenn man z. B. die Tem-
peraturen mißt, die ein prismatischer oder zylindrischer Stab in
216 Die Logik der Mathematik.
verschiedenen Teilen seiner Länge besitzt, so wird man zwei Reihen
korrespondierender Zahlen erhalten, von denen die einen die Längen
des Stabs von einem willkürlich angenommenen Nullpunkte an, die
anderen die zugehörigen Temperaturen angeben. Mittels beider Zahlen-
reihen läßt sich eine Kurve konstruieren, die im allgemeinen einen
stetigen Verlauf haben wird, da alle Temperaturunterschiede all-
mählich sich auszugleichen streben. Über die sonstige Beschaffenheit
dieser Kurve läßt sich aber a priori gar nichts aussagen, wenn, wie
wir voraussetzen, die Bedingungen, denen der Stab unterworfen ist,
unbekannt sind. Nichtsdestoweniger kann die Temperaturhöhe y als
Funktion der Länge x des Stabes angesehen werden, und es ist da-
her eine Gleichung y — f (x) denkbar, welche die Temperaturver-
teilung in mathematischer Form darstellt. Die empirische Beob-
achtung gibt vielfache Gelegenheit zur Aufstellung solcher Funktions-
beziehungen, die sich von den auf mathematischem Wege gewonnenen
offenbar dadurch unterscheiden, daß die Kurve, die den Gang
der Funktion darstellt, nicht aus bestimmten algebraischen Opera-
tionen abgeleitet, sondern direkt durch Konstruktion der einander
entsprechenden Werte der Variabeln erhalten wird. Nun steht es
der Mathematik frei, beliebige willkürlich angenommene Zahlenreihen
in ähnliche Beziehungen zueinander zu bringen, wie sie hier durch
die empirische Beobachtung dargeboten werden. Vom mathema-
tischen Standpunkte aus ist zwischen diesen beiden Fällen kein
Unterschied: jede Zuordnung stetig veränderlicher Größen, welche
nicht aus bestimmten Operationen hervorgegangen ist, erscheint umso
mehr als eine willkürliche, da in der Regel auch bei den durch Beobach-
tung aufgefundenen Zahlenreihen eine unmittelbare logische oder
kausale Beziehung zwischen der Funktion und ihrem Argumente nicht
existiert. So sind z. B. die Entfernungen der Punkte eines Stabes von
irgend einem Nullpunkte nicht die Ursachen der Temperaturverteilung,
sondern beide Veränderungen sind auch in physikalischem Sinne bloß
koexistierende Tatsachen. Wenn man hier die eine Veränderung als
Funktion der anderen betrachtet, so beruht dies also auf einer will-
kürlichen Annahme. Demgemäß werden überhaupt derartige Funktionen
als willkürliche bezeichnet. Unter den mathematischen Funk-
tionen sind es die transzendenten, namentlich die trigonometrischen,
die in der Form von Reihenentwicklungen die Hilfsmittel zur Dar-
stellung derselben abgeben. Natürlich aber hat ein solcher Funktions-
ausdruck niemals über die Grenzen der Zahlenreihen hinaus Gültigkeit,
für die er speziell gefunden worden ist.
Die analytischen Funktionen. 217
In logischer Beziehung bieten die willkürlichen Funktionen, deren
Aufstellung erst der neueren mathematischen Physik seit d’Alembert
und Euler angehört*), ein mehrfaches Interesse dar. Zunächst sind
sie es, durch welche der Funktionsbegrifi seine größte Allgemeinheit
erreicht, da es keinerlei Art der Abhängigkeit mehr gibt, mag dieselbe
auch ganz beliebig von uns angenommen sein, welche sich nicht dem
Begriff der Funktion unterordnen läßt und in dieser Form der mathe-
matischen Behandlung zugänglich ist. Für die letztere gewinnt darum
auch das scheinbar Gesetzloseste den Charakter des Gesetzmäßigen;
denn jede, selbst die irregulärste Beziehung läßt sich auf die Form einer
willkürlichen Funktion zurückführen. Es findet darin der logische
Trieb unseres Geistes, der für das Zufällige keinen Raum läßt, seinen
vollendetsten Ausdruck. Denn hier wird nicht nur allem objektiven
Geschehen, sondern auch jeder Beziehung verschiedener Reihen von
Denkobjekten, die aus irgend einer willkürlichen Laune entstehen mag,
der Charakter der Gesetzmäßigkeit zugesprochen. Das Kausalgesetz
bleibt für viele Gebiete ein Postulat, das sich unserer sicheren Nach-
weisung entzieht; das mathematische Gesetz der Funktion beherrscht
alle Größenbeziehungen, weil seine Anwendung vollkommen in unserer
Wahl steht.
Sodann aber hat sich in der willkürlichen Funktion der allgemeine
Begriff der Funktion selbst von den besonderen, an sich zufälligen
Eigenschaften losgelöst, die vermöge seiner mathematischen Ent-
stehungsbedingungen ihm anhafteten. Die rein mathematische Fuik-
tion bleibt stets eine Beziehung zwischen Größen, die aus den mit den-
selben vorgenommenen Operationen hervorgegangen ist. Diese erscheinen
hier als die Bedingungen, die zur Erzeugung der Funktion erforder-
lich sind und daher auch die Form derselben bestimmen. Bei der will-
kürlichen Funktion dagegen tritt die Funktion als der primäre Begriff
auf. Zunächst wird hier die Abhängigkeit gewisser Reihen von Größen
voneinander festgestellt, und dann erst sucht man die Frage zu beant-
worten, welche Operationen ausgeführt werden müssen, um diese Ab-
hängigkeit mathematisch auszudrücken. Darum behält der Begriff
der Funktion vollständig seine Bedeutung bei, wenn man zu jener
zweiten Frage gar nicht übergeht, sondern sich etwa damit begnügt,
die gegebene Abhängigkeit in der Form einer Kurve zu konstruieren,
oder in einem abstrakten symbolischen Ausdruck, wie y= (x), dar-
*) Zur Geschichte derselben vg. Riemann, Ges. mathematische Werke,
ST2l3.H:
218 Die Logik der Mathematik.
zustellen. Auf diese Weise hat erst die Behandlung der willkürlichen
Funktionen das Bewußtsein von der allgemeineren, den mathematischen
Operationen nicht bloß gleichwertigen, sondern übergeordneten Bedeu-
tung des Begriffs der Funktion erweckt. Da es übrigens, sobald die
Abhängigkeitsverhältnisse mathematischer Art sind, für den Ausdruck
der Funktion keinen Unterschied macht, ob derselbe aus vorangegange-
nen Größenoperationen hervorgegangen ist oder nicht, so besteht vom
mathematischen Standpunkte aus zwischen den willkürlichen und den
übrigen Funktionen kein prinzipieller Unterschied. Der Ausdruck
einer wıllkürlichen Funktion muß stets ein solcher sein, daß man sich
denken könnte, er sei aus einer Reihe von Größenoperationen hervor-
gegangen, wie ja auch jede noch so willkürlich und regelmäßig gezogene
Kurve irgend einem komplizierten Gesetze gehorcht. Der Unterschied
bezieht sich also einzig und allein auf die Entstehungsweise des für die
Darstellung der Funktion gewonnenen Ausdrucks. Bei den mathe-
matischen Funktionen geht dieser unmittelbar aus der Operations-
verknüpfung der Elemente hervor, welche den gesetzmäßigen Gang der
gegebenen Kurve bestimmen. Beiden willkürlichen Funktionen wird für
diese Kurve ein Ausdruck von hinreichend allgemeiner Beschaffenheit
gewählt, damit durch die Beibehaltung einer genügenden Anzahl von
Gliedern und durch die Wahl geeigneter Werte für die zunächst un-
bestimmt gelassenen Koeffizienten dieser Glieder der Ausdruck der ge-
gebenen Kurve konform wird. Im ersten Fall wird daher der unter-
suchte Begriff direkt bestimmt, im zweiten wird zuerst ein allgemeinerer
Begriff aufgestellt, den man dann auf den speziellen Fall anwendet. Die
Nötigung zu dem letzteren Verfahren wird naturgemäß dann eintreten,
wenn die Funktion zu verwickelt ist, als daß sie durch ÖOperationsver-
knüpfung ihrer Elemente sich finden ließe. Hier bietet die Mathematik
die Möglichkeit dar, Funktionsausdrücke anzuwenden, welche all-
gemein genug sind, daß sie alle möglichen Verhältnisse der Abhängig-
keit umfassen, und welche doch vermöge der Bestimmtheit, die jedem
einzelnen in sie eingehenden Größenbegriff zukommt, die speziellste
Determination gestatten. Auch hierin bewährt es sich wiederum, daß
die Funktion der allgemeinere Begriff ist, der die einzelnen Größen-
operationen als die speziellen Beziehungen einschließt, aus denen die
besonderen Formen mathematischer Funktionen hervorgehen.
Der Erkenntnis dieser Bedeutung entspricht der zunehmende
Gebrauch der allgemeinen Funktionssymbole in der neueren Mathe-
matik. Nicht nur in solchen Fällen, wo die spezielle Form der Funktion
noch unbekannt ist oder unbestimmt bleiben soll, wendet man dieselben
Die analytischen Funktionen. 219
an, sondern nicht selten auch bedient man sich ihrer der Kürze halber,
indem man durch die Wahl verschiedener Funktionszeichen, wie F, f,
f,, 9, b, die in einem gegebenen Zusammenhang vorkommenden Funk-
tionsformen trennt. Hieran schließt sich dann unmittelbar der Ge-
brauch stehender Zeichen für gewisse in der höheren Mathematik öfter
vorkommende Funktionsformen. Diese Anwendung der Funktionssym-
bole gestattet es außerdem leicht, die Wahl der abhängig Variabeln
und des Argumentes unbestimmt zu lassen, indem man statt der Be-
ziehungen y=f(z), y=f(z,2...) die Gleichungen
ENZUTELZLEN N
aufstellt. Diese impliziten Funktionen repräsentieren den Be-
griff der Funktion in der allgemeinsten Form, die für ihn möglich ist,
insofern sie lediglich angeben, daß eine Abhängigkeit zwischen ge-
wissen Variabeln besteht. Der Übergang zu der expliziten
Funktion oder zu der Voraussetzung, daß irgend welche Variabeln als
die ursprünglich Veränderlichen angesehen werden, von denen dann
die anderen abhängen, erscheint auf diese Weise schon als eine Spe-
zialisierung dieses allgemeinsten Begrifis.
b. Die Hauptformen der analytischen Funktionen.
Der Begriff der analytischen Funktion ist aus den algebraischen
Operationen hervorgegangen. Die algebraische Gleichung, als Aus-
druck einer Relation zwischen gegebenen völlig bestimmten Größen,
verwandelte sıch in einen Funktionsausdruck, sobald zwei oder mehrere
dieser Größen veränderlich angenommen wurden. Der Gesichtspunkt,
den Descartes für die Untersuchung der Gleichungen einführte, ihre
Zerlegung in einfache lineare Faktoren und die Rekonstruktion der
höheren Gleichungen durch Multiplikation dieser Faktoren, ist daher
auch für die Auffassung der Funktionen bestimmend geworden. (Vgl.
S.172f.) Jede noch so verwickelte Funktion läßt sich als hervorgegangen
aus der Verbindung linearer Funktionen betrachten, die in begrenzter
oder in unbegrenzter Anzahl zusammentreten. Die allgemeine Form,
auf die alle Gleichungen zurückgeführt werden können, wird daher
zur allgemeinen Grundform der analytischen Funktionen, sobald man
mindestens zwei voneinander abhängige Variabeln in sie einführt.
Auf diese Weise ist die Form
y=A-+Bx-t 0x? De’-+... Per+0a-+...
die Grundform einer entwickelten Funktion mit einem Argumentes
23230 Die Logik der Mathematik.
Diese Reihe kann je nach der Beschaffenheit der Funktion entweder
bei einem bestimmten Gliede abbrechen, oder sie kann ohne Ende
fortschreiten, in welchem Fall aber ihr Wert nur dann sich bestimmen
läßt, wenn die Glieder immer kleiner werden und sich schließlich der
Null nähern. Während nun die Algebra von der einfachsten Form der
Funktion ausging und auf sie allmählich die verwickelteren zurück-
führte, wobei sie jedoch stets an der Voraussetzung einer begrenzten
Zahl von Gliedern festhielt, legt umgekehrt die Analysis sofort jene
allgemeinste Form, die sie außerdem als nicht notwendig begrenzt
voraussetzt, ihren Untersuchungen zu Grunde, um durch Einführung
spezieller Bedingungen aus ihr die einzelnen Hauptformen analytischer
Funktionen abzuleiten. Diese ihre erste Voraussetzung entnimmt somit
die Analysis der Algebra. Sie fügt nur noch die weitere Annahme hinzu,
daß sich die angegebene Reihe zur Darstellung jeder beliebigen Funktion
eigne, sobald man eine unbegrenzte Zahl von Gliedern zulasse. Diese
Annahme stützt sich auf die Erwägung, daß eine algebraische Gleichung
nur deshalb ein geschlossener Ausdruck ist, weil sie aus einer begrenzten
Anwendung der arithmetischen Fundamentaloperationen hervorging,
daß aber anderseits keine irgendwie beschaffene Funktion denkbar ist,
welche nicht durch eine sukzessive Anwendung jener vier Operationen
entstehen könnte. Wenn es demnach Funktionen gibt, die nicht
in der geschlossenen Form einer algebraischen Gleichung ausgedrückt
werden können, so kann dies nur darin seinen Grund haben, daß die
Zahl der Operationen, die zur Bildung solcher Funktionen geführt haben,
keine bestimmt begrenzte gewesen ist. Denkt man sich nun die Opera-
tionen, aus denen eine algebraische Gleichung beliebigen Grades her-
vorgeht, ins Unbegrenzte fortgesetzt, so entsteht jene Grundform der
Analysis, welche dann als speziellen Fall auch jede algebraische Glei-
chung in sich enthält.
Die Möglichkeit der Anwendung der angegebenen Grundform auf
alle einzelnen Funktionen beruht demnach zunächst auf der Unbestimmt-
heit der Koeffizienten A, B,C.. Die Umwandlung der allgemeinen Form
in eine besondere Funktionsform geschieht dann stets auf solche Weise,
daß aus den für die Funktion geltenden Voraussetzungen Spezialglei-
chungen entwickelt werden, aus denen die Koeffizienten A, B,C...
gefunden werden können. Auf das in dieser Methode der unbestimmten
Koeffizienten zur höchsten Ausbildung gelangte logische Fundamental-
prinzip der Analysis, daß ein gegebenes Problem zum Zweck seiner
Lösung als bereits gelöst vorausgesetzt wird, wurde schon hingewiesen
(8. 176). Die Anwendbarkeit desselben im vorliegenden Fall beruht
Die analytischen Funktionen. 221
aber darauf, daß in jener Reihe wirklich der oberste Begriff einer ana-
lytischen Funktion enthalten ist, der demnach auch durch geeignete
Determinationen in jeden unter ihm enthaltenen besonderen Funk-
tionsbegriff übergeführt werden kann. Die Herstellung der Grund-
form liefert überdies ein einfaches Kriterium für die Entscheidung der
Frage, ob zwei gegebene Funktionen mit einer gleichen Anzahl von
Veränderlichen einander gleich sind oder nicht. Dieses Kriterium besteht
in der Identität der Koeffizienten, welche einander entsprechenden Glie-
dern der beiden Reihen zugehören. Zugleich liegt hierin ein neuer Fall
vor, in welchem der allgemeine arithmetische Begriff der Gleichheit
durch die Bedingungen, unter denen er Anwendung findet, näher deter-
miniert wird. Wie früher die Geometrie durch die Herbeiziehung des
Begrifis der Lage, so sehen wir hier die Analysis durch die Eigenschaften
des Funktionsbegrifis zu einer solchen Umgestaltung der ursprünglich
bloß auf das numerische Maß gegründeten arithmetischen Gleichheit
gelangen. Alle diese Umgestaltungen sind einig in der Tendenz, den
für viele Zwecke allzu unbestimmten Begriff der numerischen Gleichheit
in denjenigen der logischen Identität überzuführen. Bei
ihrem ursprünglichen Gleichheitsbegriff mußte die Arithmetik von
allen denjenigen Momenten der Identität abstrahieren, die einer
unmittelbaren messenden Vergleichung getrennter Gebilde im Wege
stehen. Bei der weiteren Ausbildung ihrer Methoden wird sie ebenso
unvermeidlich zu einer immer umfassenderen Berücksichtigung der
Eigentümlichkeiten der verglichenen Gebilde und auf diese Weise zu
einer Wiederannäherung an die logische Identität getrieben.
Die Entwicklung der Hauptformen, in die der Funktionsbegrift
zerfällt, läßt sich nunmehr unmittelbar an die Betrachtungen an-
schließen, die zur Aufstellung der analytischen Grundform ge-
führt haben. Ist diese aus einer zunächst unbeschränkt gedachten
Anwendung der vier arithmetischen Operationen hervorgegangen, so
werden sich die einzelnen Hauptformen gewinnen lassen, wenn man
für die Anwendung der Operationen besondere Bedingungen einführt.
Solche können sich beziehen: 1) auf die Anzahl der Opera-
tionen, 2) auf de Anzahlihrer Anwendungen, und
3)aufdie Reihenfolge derletzteren. Die Einführung dieser
Bedingungen zeigt, daß die so entstehenden Hauptformen der Funk-
tionen kontinuierlich miteinander zusammenhängen, insofern die Opera-
tionen, aus deren Hinzunahme eine neue Form entspringt, bei einer
vorangegangenen immer bereits vorbereitet sind.
Die Einführung der ersten unter den drei genannten Bedin-
222 Die Logik der Mathematik.
gungen läßt so zunächst verschiedene Formen algebraischer
Funktionen entstehen. Da alle Funktionen, die einer be-
grenzten Anwendung der vier arithmetischen Operationen entsprechen,
algebraische genannt werden, so kann eine weitere Einteilung der-
selben nur darauf beruhen, ob jene vier Operationen sämtlich
bei der Bildung der Funktion mitgewirkt haben oder nicht. Logisch
würden sich demgemäß unterscheiden lassen Funktionen, die aus
bloßen Additionen, solche, die aus Additionen und Subtraktionen
entstanden sind, andere, bei denen die Multiplikation mitgewirkt hat,
und endlich diejenigen, bei denen auch noch die Division herbeigezogen
wird. Nur der letztere Fall begründet aber wesentliche Unterschiede
in der Beschaffenheit der Funktionen. Aus ihr entspringt die wichtige
Einteilung inganzeundingebrochene.algebraische Funktionen.
Die ganzen Funktionen bestehen immer aus einer be-
grenzten Anzahl von Gliedern; denn die entwickelte Funktion mit
einer Variabeln läßt sich stets entstanden denken aus der Multipli-
kation einer beschränkten Anzahl von Faktoren von der Form (c-+ o).
(<+&ß.(@ +)... ., wobei einzelne Größen null, niemals aber Brüche
sein können. Die , Zahl dieser Faktoren und der Glieder, welche in der
aus ihnen gewonnenen geschlossenen Grundform
y=4A+DBxr-+ (x-t...0x
stehen bleiben, bestimmt den Grad der Funktion. Bleibt bloß das
erste Glied, so ist die Funktion nullten Grades; die weiteren Grade
entsprechen den Potenzen der Veränderlichen x. Vermöge ihrer Ent-
stehungsweise kann eine gegebene ganze Funktion im allgemeinen auf
algebraischem Wege auch wieder in ihre Teile, in Faktoren des ersten
Grades, zerlegt werden; nur bedarf es zu diesem Zweck stets der Hinzu-
ziehung der vierten Operation, der Division. Auch gibt es einen
Spezialfall, wo diese Zerlegung innerhalb der realen Einheiten nicht
möglich ist. Er ergibt sich überall da, wo eine Summe von Potenzen
von der Form a? —b? in die Funktion eingeht. Diese Summe kann
nur in die komplexen linearen Faktoren (a—-bi). (a — bi) zerlegt
werden. Auf diese Weise führt schon die ganze Funktion auf den Begriff
der komplexen Größe, durch den sie, wie wir unten sehen werden, im
Zusammenhang steht mit den transzendenten Funktionen.
Wenn außer den drei ersten arithmetischen Operationen auch
noch die Division bei der Bildung einer algebraischen Funktion mit-
wirkt, so gewinnt nun diese die Beschaffenheit einer gebrochenen
Funktion. Denkt man sich die letztere, ähnlich wie die ganze
Die analytischen Funktionen. 223
Funktion, aus linearen Faktoren hervorgegangen, so wird man eine
Anzahl von Faktoren ( +o).(e &ß).(e ty)... erhalten, die
den Zähler, und eine andere Anzahl von Faktoren (e + a‘). («+ ß‘).
(+ Y')..., die den Nenner der gebrochenen Funktion bilden. Jede
gebrochene Funktion = F (z) läßt sich daher als Quotient zweier
ganzer Funktionen f “ betrachten, der entweder, wenn die Division
ohne Rest aufgeht, auf eine einzige ganze Funktion » (x) zurückführt
oder, im entgegengesetzten Fall, neben der Funktion b (x) einen Rest r
zurückläßt, der die Form einer niedrigeren Funktion von x hat, welche
abermals durch den Nenner p (x) geteilt werden muß. Mittels der Ein-
führung negativer Potenzen von x läßt sich nun der so gewonnene echte
Bruch — (@)
Auf diese Weise erhält man schließlich eine Reihe von der Form
in eine neue ganze Funktion und in einen Rest zerlegen.
++:
?(@)
welche ins unendliche fortschreitet, deren Glieder aber kleiner und
kleiner werden. Somit läßt sich auch eine gebrochene Funktion mittels
der Einführung unbestimmter Koeffizienten stets auf die allgemeine
analytische Grundform, eine Reihe mit steigenden Potenzen der
Variabeln, zurückführen; die Zahl der Glieder einer solchen Reihe wird
aber in diesem Falle, sobald die ursprüngliche Funktion selbst einen
echten Bruch darstellt oder in eine ganze Funktion und in einen echten
Bruch zerlegt werden kann, unbegrenzt. Hierdurch überschreiten die
gebrochenen Funktionen das Gebiet der Algebra, auf dem sie ent-
standen sind. Hervorgegangen aus einer begrenzten Anzahl von An-
wendungen der vier arithmetischen Operationen, sind sie dem Begrift
der algebraischen Funktion unterzuordnen. Aber sobald es sich darum
handelt, ihren Wert durch Summation der Reihe, in die sie ent-
wickelt worden sind, zu bestimmen, so übersteigt dies die Hilfsmittel
der algebraischen Operationen, da die Glieder jener Reihe an Zahl un-
beschränkt sind. Nur unter der Voraussetzung, daß schon eine begrenzte
Anzahl von Gliedern eine zureichende Wertbestimmung gestattet,
reichen hier die algebraischen Methoden noch aus.
Wie auf diese Weise der Begriff der ganzen Funktion zu dem der
gebrochenen führt, sobald man annimmt, daß die bei der Zerlegung
einer ganzen Funktion erforderlichen Operationen sämtlich auch bei der
Bildung einer Funktion verwendet werden, so vermittelt nun
224 Die Logik der Mathematik.
eine ähnliche, an den Begriff der gebrochenen Funktion sich an-
schließende Umkehrung den Übergang von dieser zu den trans-
zendenten Funktionen. Die Zerlegung einer gebrochenen Funktion
läßt sich nämlich nicht mehr in allgemeingültiger Weise auf algebraischem
Wege vornehmen, weil diese Zerlegung eine unbegrenzte Anzahl in
bestimmter Reihenfolge auszuführender arithmetischer Operationen
erfordern würde. Sobald man aber voraussetzt, daß auf eben diesem
Wege einer unbegrenzten Anzahl von Operationen eine Funktion en t-
stehe, so gewinnt man damit den Begriff der transzendenten Funk-
tion. Wir kommen damit auf den zweiten.der oben für die Einteilung
der Funktionen geltend gemachten Gesichtspunkte: auf die Anzahl
derAnwendungen, welche die arithmetischen Operationen er-
fahren müssen, um eine Funktion hervorzubringen. Den Fall, wo diese
Anzahl eine beschränkte ist, bilden die algebraischen, den
Fall, wosieeineunbeschränktewird,dietranszendenten
Funktionen.
Die einfachste Form, die hier möglich ist, lehnt sich an die ein-
fachste Form einer algebraischen Funktion an. Diese letztere ist in
Bezug auf zwei Variabeln gegeben in einer Gleichung
VT:
in welcher das Argument x alle möglichen rationalen und irrationalen
Werte durchlaufen kann, der Exponent a aber konstant ist und zwar
eine rationale positive Zahl bedeutet. Kehrt man nun auf der rechten
Seite dieser Gleichung das Verhältnis der Variabeln und Konstanten
um, indem man den Exponenten zum Argument der Funktion nimmt,
so entsteht de Exponentialfunktion
ya".
Es ist klar, daß hier der genaue Wert von y im allgemeinen nicht mehr
durch eine begrenzte Anzahl von Operationen gewonnen werden kann.
Denn sobald & bei seiner Veränderung irrationale Werte durchläuft,
so können solche zunächst mit beliebiger Annäherung durch einen un-
echten Bruch dargestellt werden, der, wenn die Division wirklich aus-
geführt wird, in eine rationale Zahl und eine unbegrenzte Reihe echter
Brüche, die sich immer mehr der Null nähern, zerfällt. Die Bildung der
Funktion führt also hier auf eine ähnliche unendliche Reihe, wie sie bei
der Zerlegung einer gebrochenen Funktion sich ergibt. Demnach
kann auch die Funktion a” auf die analytische Grundform A + Bx
+(0z2?-+...zurückgeführt werden, wenn die Anzahl der Glieder der-
selben unbegrenzt angenommen wird.
Die analytischen Funktionen. 225
Die wesentlichen Eigenschaften der Exponentialfunktion, die
sich unmittelbar aus dem Wesen der Multiplikation ergeben, sind nun
ausgedrückt in den zwei für alle Fälle, in denen a>1 ist, gültigen
Gleichungen:
az
arı
a”. aa = a”+tzı und
hr] 2-72].
Diese Eigenschaften liefern die Bedingungen, durch welche die all-
gemeine Grundform der analytischen Funktionen in einen Ausdruck
für die Exponentialfunktion übergeht. Sie bestehen darin, daß der erste
der unbestimmten Koeffizienten —= 1 und die übrigen den Potenzen
der Veränderlichen konform werden. Man gewinnt nämlich:
A?x? A°x? A*x*
ee Asa Ta 5 Taster
und für den Spezialfall, daß die Konstante A=1 wird,
x? x?
a a 5 A a,
welche Reihe schließlich für 2=1 den Wert von e=2,71828...
ergibt. Der analytische Wert der Exponentialfunktion beruht auf
den in der Beschaffenheit dieser Reihen ausgedrückten Beziehungen
der Veränderungen der Funktion zu den Veränderungen ihres Ar-
gumentes. In der Gleichung y=a” hat für jeden reellen positiven
oder negativen Wert von x, unter der Voraussetzung, daß a größer
als die Einheit ist, die Funktion ynur positive Werte, sie ist
für jedes negative x kleiner als die Einheit, für jedes positive x größer
als die Einheit und für ©—=0 der Einheit gleich; dabei entspricht
übrigens jeder stetigen Änderung des Argumentes eine stetige Ände-
rung der Funktion. Diese bietet demnach die Möglichkeit, jedes be-
liebige System von Zahlen in ein positives Zahlensystem zu über-
tragen, wobei die Beziehung zwischen beiden Systemen nur abhängig
ist von der Konstanten a, welche darum die Basis der Exponential-
funktion genannt wird.
Die Eigenschaft der Exponentialfunktion, daß sie als die Repräsen-
tantin eines neuen Zahlensystems angesehen werden kann, welches
dem durch das Argument x dargestellten ursprünglichen Zahlensystem
eindeutig zugeordnet ist, enthält nun aber außerdem die Möglichkeit
zu einer weiteren wichtigen Anwendung. Es läßt sich nämlich diese
Zuordnung umkehren, indem man x als Funktion und yals das zugehörige
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 15
236 Die Logik der Mathematik.
Argument auffaßt: dann geht die Exponentialfunktion in dielogarith-
mische Funktion z==log y über. Vermöge der oben festge-
stellten Beziehungen entspricht hier jedem unter der Einheit liegenden
Werte der Zahl x ein negativer Logarithmus, einem über der Einheit
liegenden ein positiver, und der Logarithmus der Einheit ist die Null.
Die oben gefundenen Gleichungen a* . a” — a” + *ı und - ara
a
ergeben aber die Beziehungen
log (x.x,) = log x + log x,, log (--) = log x — log x,,
log (21) —= x, log x,
in welchen die große praktische Bedeutung der logarıthmischen Funk-
tion ausgesprochen ist, daß sie jede arithmetische Operation von der
Multiplikation an um eine Stufe zu erniedrigen gestattet. Theoretisch
ist diese Umwandlung der Exponentialfunktion in die logarithmische
deshalb von Interesse, weil in ihr zum ersten Male eine Umkehrbar-
keit der Funktion auftritt, welche weiterhin bei allen höheren
transzendenten Funktionen sich wiederholt, und welche vollständig
der Umkehrbarkeit der arithmetischen Operationen entspricht, die
bei den algebraischen Funktionen zur Anwendung kommen.
Die Entwicklung der Zahl e, der Basis der natürlichen Logarithmen,
bietet endlich ein bemerkenswertes Beispiel für eine in der Analysis
vielfach geübte Methode der Begrifisentwicklung. Durch sukzessive
Determination wurde e erhalten, indem man in der für a® gewonnenen
Reihe zuerst die Konstante A und dann auch die Veränderliche x gleich
der Einheit annahm. Gleichwohl läßt sich die so erhaltene Reihe l + 1
— — —— — ...„, welche die Zahl e darstellt, ihrerseits als die
arithmetische Grundform ansehen, welche in der Entwicklung einer
Funktion von der Form a schon vorausgesetzt ist. Denn unter einer
Reihe von Zahlgesetzen von übereinstimmender Form ist dasjenige
das einfachste und darum allgemeinste, dessen Faktoren der Einheit
gleich sind, da man sich die übrigen Formen durch sukzessive Multi-
plikation der Einheit mit anderen Zahlen kann entstanden denken.
So bietet sich hier die Möglichkeit dar, eine und dieselbe analytische
Form unter entgegengesetzten Gesichtspunkten zu betrachten. Der
Grund dieses Verhältnisses liegt in der Eigentümlichkeit der logischen
Determination. An sich ist diese stets eine Operation, die eine Einschrän-
kung des Begriffs ergibt. Aber der Begriff, welcher als Determinator
Die analytischen Funktionen. 227
gewählt wird, kann so beschaffen sein, daß er diese Einschränkung
wieder aufhebt und in ihr Gegenteil verwandelt. In der Tat werden wir
noch manche Fälle kennen lernen, in denen gerade die Analysis Begrifis-
erweiterungen auf dem Wege der Determination zu stande bringt.
Der vorliegende ist aber dadurch ausgezeichnet, daß bei ihm die Auf-
fassung wechseln kann, je nachdem man von dem analytischen oder
dem arithmetischen Standpunkte ausgeht. Analytisch ist die Reihe e
ein Spezialfall der Funktion a”; arithmetisch dagegen ist e die Grund-
form, die bei jeder Funktion a® vorausgesetzt wird.
Die Bildung der Exponentialfunktion beruht auf der Annahme,
daß die zur Anwendung kommenden arithmetischen Operationen
zwar an Zahl unbegrenzt seien, daß sie aber stets in einer und derselben
Richtung fortschreiten. Diese letztere Bedingung findet in der Reihe
222
a —=1-44Acx-+ z n +... unmittelbar ihren Ausdruck, denn die
Glieder dieser Reihe sind sämtlich in der gleichen Weise additiv ver-
bunden, und sie ändern sich sukzessiv um Az, us — u. 8. w.
Die Exponentialfunktion läßt sich also durch sukzessive Multiplikation
der Einheit mit diesen immer kleiner werdenden Faktoren und durch
Addition der so gebildeten Glieder entstanden denken. Nur unter der
Bedingung einer solchen stetig in der nämlichen Richtung vollzogenen
Bildung ist es auch möglich, daß Funktion und Argument durch ihre
stetige Veränderung einander eindeutig zugeordnete Zahlensysteme
erzeugen, die miteinander zu- und abnehmen. Es läßt sich nun aber
die unbeschränkte Anwendung der arithmetischen Operationen noch
in einer anderen Weise vollzogen denken, so nämlich, daß der gleich-
förmigen Änderung des Argumentes periodisch zu- und ab-
nehmende Änderungen der Funktion entsprechen. Solche Funktionen
werden im allgemeinen aus einer wechselnden Anwendung der arith-
metischen Operationen hervorgehen, und die Reihe, die der Ausdruck
der Funktion ist, wird daher niemals aus lauter positiven oder aus
lauter negativen Gliedern bestehen können. Wir sind hiermit bei der
dritten der oben (8. 221) unterschiedenen Bedingungen angelangt,
wonach die Reihenfolge, in welcher die zur Bildung der Funk-
tion erforderlichen Operationen angewandt werden, eine wechselnde
ist. An sich kann dieser Wechsel ein beliebiger sein. Die hier sich er-
öffnende Klasse von Funktionen umfaßt daher alle Funktionsbezieh-
ungen, die außer den oben erörterten noch denkbar sind. Dabei bilden
aber die einfachsten periodischen Funktionen, d. h. diejenigen, bei
228 Die Logik der Mathematik.
denen die periodischen Veränderungen in der einfachsten und regel-
mäßigsten Weise erfolgen, die Grundlagen für alle anderen.
Der so entstehende Begriff der periodischen Funktion hat
sich nun, wie fast jeder fundamentale Funktionsbegriff, ursprünglich in
einer speziellen Anwendung entwickelt: in der Anwendung auf die Länge
des Kreisbogens und die Seiten des ihm entsprechenden rechtwinkligen
Dreiecks im Kreise. Ist der Radius des Kreises der Einheit gleich,
so erscheint der Sinus eines Winkels zwischen zwei Radien als die
senkrechte Gerade, die von dem Endpunkt des einen der beiden
Einheitsradien auf den anderen gezogen wird, der Kosinus als die
Strecke, die auf dem letzteren durch jene Senkrechte abgetrennt
wird, und die dem Sinus des Ergänzungswinkels gleich ist, u. s. w.
Der geometrische Nutzen dieser trigonometrischen Funktionen, durch
den man zugleich auf deren Gebrauch geführt wurde, besteht da-
rin, daß dieselben es gestatten, den Winkeln im rechtwinkligen
Dreieck überall, wo sie in die Rechnung eingehen, gerade Linien zu
substituieren, wodurch die notwendige Gleichförmigkeit zwischen den
der Rechnung unterworfenen Größen hergestellt wird. Die trigono-
metrischen Funktionen haben also hier, ähnlich den Logarithmen;
die Bedeutung von Hilfsfunktionen, die es leicht ermöglichen, am
Ende der Rechnung wieder zu den ursprünglichen Größen, zu denen sie
gehören, zurückzukehren. Während aber bei der Einführung der Loga-
rithmen die Vereinfachung der arithmetischen Operationen der einzige
Zweck ist, wird man zur Einführung der trigonometrischen Funktionen
durch die inkommensurable Beschaffenheit der Winkelgrößen oder
Bogenlängen gegenüber dem allgemeinen Messungshilfsmittel der Geo-
metrie, der Geraden, genötigt.
Nun ist die Beziehung, die zwischen den Mittelpunktswinkeln
des Kreises und ihren trigonometrischen Funktionen besteht, ein
Spezialfall, der sich in ganz abstrakter Weise verallgemeinern läßt,
indem man unter Sinus, Kosinus, Tangente u. s. w. Funktionen ver-
steht, die sich periodisch verändern, während ihr Argument stetig zu-
nimmt. Zählt man die Winkel oder die ihnen entsprechenden Bogen
über 360° hinaus, so lassen sich dieselben als ein ins Unbegrenzte gleich-
förmig wachsendes Argument betrachten, dessen Funktionen sich
zwischen bestimmten Grenzen hin und her bewegen. Dabei gestattet
dann die Verschiedenheit der trigonometrischen Funktionen die Wahl
solcher Funktionen, welche für die darzustellende Abhängigkeit die geeig-
neten Grenzen abgeben. Die Funktionen Sinus und Kosinus bewegen
sich nämlich stets zwischen den Grenzen — lund + 1. Wenn das Argu-
Die analytischen Funktionen. 229
Bi BL
DER
läuft der Sinus ebenfalls von Null an die Werte 4 1,0, — 1,0 u.s. w.,
während der Kosinus gleichzeitig von + 1 anfangend die parallel
gehenden Werte 0, — 1,0, +1 annimmt. Die Funktionen Tangente und
Kotangente dagegen bewegen sich ebenso periodisch zwischen den
ment von Null an wachsend die Werte ‚2r erreicht, so durch-
bil sin
Grenzen 4 oo und — oo, wie die Beziehungen tang = Fee und kotang
co
cos i
an andeuten. Irgend eine dieser vier Funktionen eignet sich
daher unmittelbar zur Darstellung einer periodischen Veränderung,
sofern dieselbe nur, wie beim Kreise, eine gleichförmig zu- und
abnehmendeist. Bewegt sich die Funktion zwischen der positiven
und negativen Einheit, so wird sie durch den Sinus oder Kosinus dar-
gestellt, durch den ersteren, wenn sie mit Null, durch den zweiten,
wenn sie mit der Einheit beginnt. Bewegt sie sich zwischen entgegen-
gesetzten unendlichen Werten, so entspricht sie der Tangente oder
Kotangente, der ersten, wenn sie mit Null, der zweiten, wenn sie im
Unendlichen beginnt. Da nun die Einheit mit jedem beliebigen end-
lichen Werte multipliziert werden kann, so sind die vier genannten
trigonometrischen Funktionen überhaupt als die Repräsentanten
aller gleichförmig veränderlichen periodischen Funktionen zu be-
trachten, die sich zwischen beliebigen endlichen oder unendlichen Werten
bewegen.
Wie aber die Exponentialfunktion bei den Veränderungen des
Argumentes x ein neues Zahlensystem liefert, welches dem durch
die einzelnen Werte von x repräsentierten zugeordnet ist, so stellt
jede der trigonometrischen Funktionen ein der stetig veränderlichen
Bogenlänge x zugeordnetes Zahlensystem dar. Auch die trigonometri-
schen Funktionen lassen daher, wenn man Argument und abhängig
Variable vertauscht denkt, eine Umkehrung zu: es entstehen so die
zyklometrischen Funktionen, welche die Eigenschaft haben,
daß, während das Argument zwischen endlichen oder unendlichen
Werten hin und her geht, die Funktion stetig ineiner Richtung
veränderlich ist. Infolgedessen können einem und demselben Wert des
Argumentes unendlich verschiedene Werte der Funktion entsprechen.
MR SER OTE
TE
sein. Die zyklometrischen Funktionen sind also im allgemeinen viel-
deutige Funktionen. Hierdurch sind sie geeignet, überhaupt den
So kann z. B.arcsn 0 —(0,r,2r,3r...„arcsinl =
230 Die Logik der Mathematik.
Begriff der Vieldeutigkeit einer Funktion zum Ausdruck zu bringen.
Es steht aber dieser Begriff, wie aus der obigen Entwicklung hervorgeht,
mit dem der Periodizität in unmittelbarer Beziehung. Vieldeutig kann
eine Funktion überhaupt nur dann sein, wenn sie in irgend einer Weise
mit einer periodischen Veränderung zusammenhängt. So haben wir
früher gesehen, daß die Funktionen komplexer Variabeln den Charakter
vieldeutiger Funktionen besitzen (S. 213). Nun kann aber diese Viel-
deutigkeit auch so dargestellt werden, daß man sich die komplexe
Variable = x --iy zwischen ihren beiden Endpunkten a und 5 hin
und her gehend denkt, wodurch sie sukzessiv alle hier möglichen Wege
beschreibt. Bei einem solchen Hin- und Hergehen findet nur eine
wichtige Abweichung von der Beziehung der zyklometrischen Funk-
tionen zu ihren Argumenten statt: die Kurven, welche zwischen den
Punkten a und b beschrieben werden, fallen nicht zusammen, sondern
sie wechseln fortwährend; außerdem können diese Kurven beliebig ge-
krümmt sein, mit anderen Worten: das Problem der gleichförmigen
verwandelt sich hier in dasjenige einer beliebigen ungleichförmigen
Veränderung. Es ist aber klar, daß dieses Problem, abgesehen von dem
besprochenen Spezialfall, eine ganz allgemeine Bedeutung besitzt,
da die gleichförmige Veränderung in gegebenen Perioden nur die ein-
fachste Form unter den unendlich vielen überhaupt möglichen periodi-
schen Veränderungen ist. Hier bietet nun der Umstand, daß jeder
trigonometrischen Funktion eine andere von entgegengesetzter Periode
zugeordnet ist, ein Hilfsmittel dar, um eine in beliebiger Weise un-
gleichförmige Veränderung darzustellen. In der einfachsten Weise
kommt diese Ergänzung einander zugeordneter Funktionen bei der
Darstellung komplexer Variabeln zum Ausdruck. Hier macht es die
Einführung der trigonometrischen Funktionen unmittelbar möglich,
den Ausdruck 2= 2 --iy in die Form 2=r (cos +: sin p) überzu-
führen. Denkt man sich in dieser Gleichung sowohl den Radiusvektor r
wie den Winkel » stetig veränderlich, so kann durch sie jeder beliebige
Weg des Punktes z zwischen zwei gegebenen Endpunkten a und b dar-
gestellt werden. Nun zeichnet sich aber die Form r (cos g-+-isin p)
vor der ursprünglichen &-+iy offenbar dadurch aus, daß in ihr die
beiden Bestandteile der komplexen Variabeln nicht mehr völlig unab-
hängig voneinander, sondern Funktionen der nämlichen Größen r und p
sind. Hierin tritt daher eine direkte Beziehung der trigonometrischen
Funktionen zu den komplexen Größen zu Tage; und die Anwendung
dieser Funktionen macht es möglich, den imaginären Bestandteil einer
komplexen Größe durch eine Funktion der nämlichen Größe auszu-
Die analytischen Funktionen. 231
drücken, von der auch der reelle Bestandteil eine Funktion ist. Der
Grund dieses Verhältnisses liegt aber darin, daß die Beziehung einer
trigonometrischen Funktion zu ihrer Ergänzungsfunktion genau dieselbe
ist wie die Beziehung des imaginären zum reellen Bestandteil einer
komplexen Größe, wenn die letztere geometrisch gedeutet wird. Geben
wir dem Kosinus alle möglichen Werte von +1 bis — 1, so nimmt
indessen der Sinus die hierzu gehörigen lateralen Werte an. Setzt
man daher den Radius r, von dessen Zentriwinkeln die trigonometrischen
Funktionen abhängen, veränderlich, so stellt jeder beliebige Punkt
der komplexen Zahlenebene in Bezug auf seinen reellen Teil eine Kosinus-
funktion, in Bezug auf seinen imaginären Teil eine Sinusfunktion dar.
Vermöge der Beziehung der trigonometrischen Funktionen zu den kom-
plexen Größen führt dann aber auch die Betrachtung der algebraischen
Funktionen überall da zu dieser Form der transzendenten Funktionen,
wo sich als Faktoren algebraischer Ausdrücke komplexe Größen er-
geben. Solche treten z. B. dann auf, wenn in einer Funktion eine Summe
von der Form a? +5? vorkommt, welche nur in die komplexen
Faktoren (a + bi). (a — bi) zerlegbar ist (S. 222). Jeder solche Fak-
tor läßt sich leicht in einer Form darstellen, die den Bedingungen der
trigonometrischen Funktionen entspricht. Denn es ist offenbar
a nern [Mae en en
Hi V er et va)
worin der in der Klammer enthaltene Teil, abgesehen von der ima-
ginären Einheit z, die Eigenschaft hat, daß sein Quadrat der Einheit
gleich ist, entsprechend der Gleichung cos®-+-sin®=1. Demnach lassen
sich beide Glieder als Kosinus und Sinus eines Winkels 9 auffassen.
Nicht minder entsprechen a und b den Katheten eines rechtwinkligen
Dreiecks, dessen Hypotenuse der Radiusvektor r ist, und man erhält
daher die oben allgemein für den Ausdruck einer komplexen Größe
mittels trigonometrischer Funktionen festgestellte Beziehung:
a+bi=r(csp -ising)
Der tiefere Grund dieses Zusammenhangs liegt darin, daß die
algebraischen Funktionen eben insoweit den Charakter periodischer
Funktionen gewinnen, als sie komplexe Faktoren enthalten. Sobald die
Wurzeln einer Funktion nten Grades komplex werden, so wird aber die
Funktion periodisch, indem sie ebenso viele periodisch aufeinander-
folgende Werte annimmt, als ihr Grad beträgt. Diese Eigenschaft ist
eine naturgemäße Folge der schon oben berührten Vieldeutigkeit der
232 Die Logik der Mathematik.
Funktionen komplexer Variabeln. Zu irgend einer reellen Zahl x kann
man, wenn ihr Vorzeichen bestimmt ist, nur in einer Weise und,
wenn ihr Vorzeichen unbestimmt gelassen ist, nur auf zwei Weisen
gelangen, da das System der reellen Zahlen nach zwei entgegengesetzten
Richtungen einfach ausgedehnt ist. Zu einer komplexen Zahl & 4%
dagegen kann man auf vielfältige Weise gelangen, und die sämtlichen
Wege lassen sich, da ein und derselbe Punkt ihren Anfangs- und End-
punkt bildet, immer als Perioden einer zusammengesetzten Bewegung
ansehen. In der Gleichung + iy=r (cosp-+-isinp) ist dies un-
mittelbar ausgedrückt, da cos p und sin $ wegen der Beziehungen
cos = cos (p+2r7)—=cos(p+4r)...,sinp—=sin (p+27)...u.s.w.
vieldeutige Größen sind.
Wenn sich auf diese Weise die trigonometrischen Funktionen unter
bestimmten Bedingungen aus den algebraischen entwickeln, so ist es
nun eine naheliegende Folgerung, daß sie auch, gleich ihnen, sich auf
die allgemeine analytische Form zurückführen lassen. Nur ist dabei
wegen der Periodizität der Funktionen vorauszusetzen, daß die Glieder
der Reihe abwechselnde Vorzeichen annehmen. In der Tat erhält man,
wenn man erwägt, daß sin 0O—0 und cos 0=]1 ist, und wenn man aus
den bekannten Beziehungen sin? 2—+ cos®x—=1 und sin22 —=2sinz®.
cos x Bedingungsgleichungen für die Koeffizienten entwickelt, für die
beiden Grundfunktionen Sinus und Kosinus die Reihen:
i 2° >
Ein a2 5 a ae
2 4
cs z—=1— 2 2
1.2 a: 1 or a In
Diese Reihen lassen sofort eine nahe Beziehung erkennen zwischen
den trigonometrischen Funktionen und der Exponentialfunktion. Ent-
wickelt man die letztere für ein imaginäres Argument i x, so erhält man
X 2 i > c*
em = 1452 ,375 Spore
woraus sich die Beziehung ergibt:
e*— cost 4 :;sin tz.
Der letztere Ausdruck stimmt mit dem allgemein für eine komplexe
Größe gefundenen Funktionsausdruck r (cos + sin p) überein, wenn
in diesem der Radiusvektor r gleich der Einheit angenommen wird.
Demnach lassen sich die trigonometrischen Funktionen als Exponential-
Der Differentialbegriff. 233
funktionen imaginärer Argumente betrachten, und komplexe Größen
sowie periodische Funktionen können ebensowohl in der Form der
trigonometrischen Funktion wie in derjenigen der Exponentialfunktion
dargestellt werden. Wie wir die trigonometrische Funktion aus der
algebraischen sich entwickeln sahen, sobald sich diese auf komplexe
Werte bezieht, so geht sie aus der Exponentialfunktion dann hervor,
wenn in dieser die willkürlich Veränderliche imaginär wird. Auf diesen
periodischen Eigenschaften beruht die Möglichkeit der Anwendung der
trigonometrischen Funktionen zum Ausdruck ganz beliebiger und
beliebig wechselnder Beziehungen zwischen zwei Veränderlichen. Denn
wenn man die trigonometrischen Funktionen in solcher Weise kombiniert,
daß sie unregelmäßig wechselnde und veränderliche Perioden darstellen,
so kann auf die Form derselben jede willkürliche Funktion
zurückgeführt werden (S. 216).
2. Der Differentialbegriff.
a. Allgemeine Entwicklung des Differentialbegriffs.
Aus der Anwendung der Zahl auf stetige Größen ist zunächst,
wie wir sahen, die irrationale Zahl, aus dieser die algebraische Verall-
gemeinerung der arithmetischen Methoden und aus der letzteren end-
lich der Begriff der analytischen Funktion als der Abhängigkeitsbezieh-
ung zwischen stetig veränderlichen Größen hervorgegangen. So lange
es sich nun allein darum handelt, aus einer durch ein bestimmtes Gesetz
vorgeschriebenen Abhängigkeitsbeziehung diejenigen Werte einer Ver-
änderlichen abzuleiten, welche bestimmten Werten anderer willkürlich
veränderlicher Größen entsprechen, so überschreitet diese Aufgabe im
allgemeinen nicht die bisher eingehaltenen Grenzen der Analysis. Ist
nur die Gleichung gegeben, welche die Funktion ausdrückt, so kann
durch Einführung der speziellen Werte des Argumentes auch die Auf-
gabe gelöst werden. Ebenso kann man zu der Aufstellung von Gleich-
ungen für die Funktionsbeziehungen mittels der wiederholten Aus-
führung der gewöhnlichen arithmetischen Operationen gelangen, wenn
sich eine zusammengesetzte Funktion in eine begrenzte Anzahl linearer
Funktionen zerlegen läßt, was bei den algebraischen Funktionen immer
zutrifft, oder wenn die Abhängigkeitsbeziehung für alle Werte der
Funktion einer bestimmten durch eine einfache Exponential- oder
Kreisfunktion gegebenen Regel folgt, wie dies bei den elementaren
Formen der transzendenten Funktionen der Fall ist. Hier überall hat
man es zwar nicht bloß mit veränderlichen Größen, sondern auch mit
234 Die Logik der Mathematik.
veränderlichen Beziehungen zwischen ihnen zu tun; aber die Konstanz
des Gesetzes, welchem die Funktion folgt, gestattet für einen weiten
Bereich von Aufgaben von dieser Veränderlichkeit zu abstrahieren.
Dagegen ist dies nicht mehr möglich, sobald die konstanten Be-
ziehungen, die der analytische Ausdruck einer Funktion enthält, nicht
ausreichen, um mit ihrer Hilfe auch veränderliche Beziehungen aufzu-
finden. So ist es zwar für einfachere algebraische Kurven leicht, die
Richtung der Tangente zu ermitteln, welche an irgend einen durch
gegebene Koordinaten bestimmten Punkt gelegt werden kann, indem
man aus der Gleichung der Kurve analytisch die Gleichung derjenigen
Geraden ableitet, die der Tangente entspricht. Bei den höheren alge-
braischen Kurven wird aber diese Aufgabe sehr verwickelt, und bei
den transzendenten ist sie auf algebraischem Wege nicht mehr zu
lösen. Da sich die Richtung der Tangente stetig von Punkt zu Punkt
verändert, so kann eine allgemeingültige Methode zur Lösung des
Tangentenproblems in der Tat nur aufgefunden werden, wenn es gelingt,
der stetig veränderlichen Richtung einer Kurve in dem allgemeinen
Ausdruck für die Tangente Rechnung zu tragen. Ebenso ist es in der
Regel nicht möglich, durch die gewöhnlichen arithmetischen Hilfs-
mittel zu bestimmen, welche Werte von y in einer Funktion „=f(x)
Maximal- oder Minimalwerte sind, die zwischen Änderungen von ent-
gegengesetzter Richtung liegen. Da solche ausgezeichnete Werte der
Funktion Wendepunkte zwischen vollkommen stetigen Änderungen dar-
stellen, so setzt ihre Ermittlung im allgemeinen ebenfalls die Berücksichti-
gung dieser stetigen Änderungen voraus. Die nämliche Forderung pflegt
sich endlich dann einzustellen, wenn es sich darum handelt, den gesam-
ten Betrag aller der Werte zu bestimmen, die eine Funktion annimmt,
wenn ihre Argumente sich stetig zwischen gewissen Grenzen verändern.
Hierher gehört also z. B. die Bestimmung der Länge einer Kurve, des
Flächeninhalts einer von einer Kurve begrenzten ebenen Fläche, einer
krummen Oberfläche u. s. w. Gerade hier übersteigen schon verhältnis-
mäßig elementare Aufgaben, wie die Messung der Kreisperipherie, die
Hilfsmittel der niederen Arıthmetik. Aufgaben dieser Art sind es daher,
durch die der Begriff derstetigveränderlichenFunktion
Eingang in die analytische Untersuchung gefunden hat. Da aber unsere
Vorstellungen ebenso wie die Dinge außer uns in einem stetigen Flusse
von Veränderungen begriffen sind, so hat durch diese letzte Erweiterung
erst der Funktionsbegriff diejenige Form angenommen, in der er den
Objekten seiner Anwendung vollkommen adäquat geworden ist. So
schließt mit den Grundbegriffen der Infinitesimalmethode der Kreis
Der Differentialbegriff. 235
von Entwicklungen ab, der mit dem primitiven Begriff der posi-
tiven Zahl begonnen hat, und aus dem wir alle fundamentalen Methoden
der Mathematik allmählich entspringen sahen.
Der Begriff der stetigen Änderung einer Funktion bedarf jedoch
einer angemessenen Fixierung, wenn er eine arithmetische Verwendung
soll finden können. Eine solche kann nur darin bestehen, daß man sich
die veränderliche Beziehung, die an sich die numerische Messung aus-
schließt, in Elemente zerlegt denkt, in denen die Veränderung auf-
gehoben ist. So entsteht der Grundbegrift der Infinitesimalmethode,
der Differentialbegriff. Zur näheren Begründung desselben
kann man aber auf verschiedenen Wegen gelangen. Einerseits erwächst
er mit innerer Notwendigkeit aus den einzelnen Gebieten seiner An-
wendung; anderseits ergibt er sich als eine unerläßliche Weiterbildung
des allgemeinen Funktionsbegrifis. Geht man von den in der Anschauung
gegebenen Beziehungen aus, so verknüpft sich der Begriff der stetigen
Änderung am unmittelbarsten mit der Vorstellung der Bewegung:
sie liegt der Fluxionsmethode Newtons zu Grunde. Eine zweite Quelle
desselben von noch allgemeinerer Anwendbarkeit ist in der Betrachtung
geometrischer Objekte gegeben: hieraus ist der Leibnizsche
Differentialbegriff hervorgegangen. Sodann führt der Grundbegriff der
Arithmetik, die Zahl, auf einem allgemeineren Wege zu der nämlichen
Auffassung. Der so entstandene Differentialbegriff Eulers nötigt aber,
sobald man das Differential in seinem Verhältnis zu den ursprünglichen
Größen unter dem Gesichtspunkte der Funktion auffaßt, zu dem
letzten und allgemeinsten Infinitesimalbegriff, zu Lagranges derivierter
Funktion.
Diese verschiedenen Begründungen des Differentialbegrifis sind an
sich vollkommen miteinander vereinbar. Doch bei der Aufstellung der-
selben sind außerdem Gegensätze der Anschauungen wirksam gewesen,
die teils mit den Schwierigkeiten des unteren und oberen Grenzbegrifts,
teils mit der verschiedenen Auffassung der mathematischen Grund-
begriffe zusammenhängen. (Vgl. oben S. 113 und 161.) Indem der
mathematische Realismus das Element einer veränderlichen Be-
ziehung als ein wirklich existierendes denkt, ist er geneigt, in dem
Differential eine elementare Größe zu sehen, die einen ebenso fest be-
stimmten Wert besitze wie die endliche Größe, von der sie sich nur
dadurch unterscheide, daß sie nicht meßbar sei. Diesem unteren steht
das Unendliche als der obere absolute Grenzbegriff gegenüber. Dem
mathematischn Nominalismus dagegen gilt das Differential
lediglich als ein Hilfsbegriff des rechnenden Denkens. Eine wirklich
236 Die Logik der Mathematik.
momentane Veränderung gibt es nicht; denn jede noch so kleine
Zeit-, Raum- oder Zahlgröße läßt sich weiter geteilt denken. Wir be-
gnügen uns daher, eine derartige Teilung als Forderung aufzustellen
und in der weiteren Rechnung so zu verfahren, als wenn die Forderung
erfüllt wäre. Diesem Postulat einer unteren Grenze wird dann das
Unendliche als eine ähnliche Fiktion einer oberen Grenze, die in belie-
bigen Annäherungen erreicht werden könne, gegenübergestellt. Auf
diese Weise bemächtigen sich hier die entgegengesetzten mathematischen
Anschauungen der verschiedenen Gestaltungen der beiden Grenz-
begriffe.. Der Realismus behandelt das Differential als eine trans-
finite, der Nominalismus als eineinfinite Größe. Dabei werden
aber freilich die Standpunkte nicht immer folgerichtig festgehalten.
So schwankt schon Leibniz zwischen beiden, obgleich ursprünglich sein
philosophischer Gegensatz zu Newton gerade darin besteht, daß dieser
den infiniten, er selbst den transfiniten Begriff vertritt. Unter den
Nachfolgenden machte Euler den Versuch, den letzteren festzuhalten,
während hauptsächlich d’Alembert und Lagrange die mathematische
Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit des infiniten Grenzbegrifis ins
Licht setzten. Trotzdem hat man noch in neuerer Zeit die Gleichberech-
tigung beider Standpunkte verteidigt*).. Nun haben wir in der Tat
gesehen, daß die beiden Formen der Grenzbegrifie, die diesem
Streit zu Grunde liegen, ihre logische Berechtigung besitzen. Aber es
ist zugleich aus den für diese Begriffe gewonnenen Bestimmungen er-
sichtlich, daß innerhalb der Infinitesimalmethode nur dieinfiniten
Grenzbegriffe zulässig und verwertbar sind. Denn diese Methode ist
aus der Untersuchung stetig veränderlicher Funktionen hervorgegangen.
Innerhalb dieser Untersuchung kann es sich nun immer nur um den-
jenigen Grenzbegriffi handeln, welcher die Grenze einer ver-
änderlichen Größe bezeichnet. Wenn es hierfür noch eines
Beweises bedarf, so wird derselbe durch die Entwicklung der Infini-
tesimalbegriffe geliefert. Denn so wenig man sich bei derselben auch
des verborgenen Kampfes bewußt gewesen ist, den hier die beiden Un-
*), P. du Bois Reymond, Allgemeine Funktionentheorie, I, S. 58 ff.
Der Verf. ist, wie ich glaube, zu seiner Auffassung nicht bloß durch die Ver-
kennung der beiden Formen des Unendlichkeitsbegrifis, sondern auch durch
den Umstand geführt worden, daß er die Ansichten des Realismus und des
Nominalismus über das Wesen der mathematischen Begriffe überhaupt für
gleichberechtigt hält. Wir haben aber gesehen, daß in dieser Beziehung beide
Standpunkte unhaltbar sind, weil sie die Natur der mathematischen Abstraktion
entweder übersehen oder unrichtig auffassen. Vgl. hierzu oben S. 113 ff.
Der Differentialbegriff. 237
endlichkeitsbegriffe miteinander führten, so kann es doch keinem Zweifel
unterliegen, daß die Auffassungen, die Newton in seiner Grenzmethode
und Lagrange in seinem Funktionenkalkül zur Geltung gebracht, den
Sieg behauptet haben. Diesen Sieg verdanken aber beide Methoden
dem Umstande, daß sie den Differentialbegriffi am unmittelbarsten
mit den sonstigen Entwicklungen des Zahl- und Funktionsbegrifts
verbinden, und daß sie daher auch bei den Anwendungen der In-
finitesimalmethode die Natur der dabei vorliegenden Probleme am
vollkommensten zum Ausdruck bringen. Zugleich ergänzen sich beide
Auffassungen wieder in dem Sinne, daß die Grenzmethode vor allem
der Anwendung auf anschaulich gegebene, stetig veränderliche Größen,
also auf geometrische und mechanische Aufgaben, der reine Begriff der
abgeleiteten Funktion aber den rein analytischen Betrachtungen adäquat
ist. Bei dem engen Zusammenhang dieser Gebiete hat es jedoch von frühe
an auch nicht an Verbindungen zwischen beiden Auffassungen der In-
finitesimalmethode gefehlt, da diese in der Tat im Grunde nur die ver-
schiedenen Standpunkte bezeichnen, von denen aus die Abhängigkeits-
beziehungen stetig veränderlicher Größen betrachtet werden können*).
b. Der phoronomische Differentialbegriff.
Die Vorstellung der Bewegung reicht zwar nicht aus, um den
Differentialbegriff in seiner ganzen Allgemeinheit zu erschöpfen; aber
für seine einfachsten Anwendungen liefert sie die anschaulichste Dar-
stellung. Um den Begriff der Bewegung loszulösen von allem, was für
ihn unwesentlich ist, müssen wir ıhn beschränken auf die abstrakte
Auffassung einer Ortsveränderung in der Zeit, dagegen von der Form
des zurückgelegten Weges vollkommen absehen. In dieser abstrakten
Auffassung enthält der Begriff der Bewegung Zeit und Raum als fort-
während fließende Größen oder Fluenten nach dem Ausdruck
Newtons, und zwar die Zeit als eine gleichförmig wachsende Größe,
den Raum als eine Größe, die nach den verschiedensten Gesetzen mit
dem Wachstum der Zeit sich verändern kann. Denkt man sich nun die
Zeitgrößen auf einer Abszissenlinie, die Ortsveränderungen als zu ihr
senkrechte Ordinaten aufgetragen, so liefert die durch die Verbindung
der letzteren gewonnene Kurve ein Bild der Geschwindigkeit und ihres
Wechsels in jedem Momente der Bewegung. Indem man dann jede be-
*) Zur Geschichte der Infinitesimalmethode in mathematischer Hinsicht
vgl. M.Cantor, Geschichte der Mathematik, Bd. 3, und für die neueste
Zeit A. Voß, Enzyklopädie der mathem. Wissensch., II. A. 2, S. 54 ff.
238 Die Logik der Mathematik.
liebige Größenänderung als eine Bewegung auffaßt, die in einer ge-
wissen Zeit sich vollzieht, gewinnt man in dem einzelnen Zeitmoment
und in der demselben entsprechenden momentanen Geschwindigkeit
oder in den von Newton so genannten Fluxionen elementare Be-
griffe, welchen die dem Begriff der Veränderung mangelnde Konstanz
zukommt, während die Vorstellung eines stetigen Flusses, ohne die
keine Veränderung möglich ist, in ihnen erhalten blieb*). Die Schwie-
rigkeiten des Differentialbegrifis sind dadurch nicht beseitigt, aber sie
sind in den fundamentaleren Begriff der Bewegung zurückverlegt, und
sie müssen darum auch zunächst durch die Zergliederung dieses Be-
griffes gelöst werden.
Nun ist es bekanntlich von dem Eleaten Zeno bereits als ein Wider-
spruch in dem Begriff der Bewegung angesehen worden, daß dieselbe in
fortwährendem Flusse begriffen und doch in einzelne Momente zer-
legbar sei, in denen der bewegte Körper bestimmte Orte im Raume
einnehme. Herbart hat hier den Ausweg eingeschlagen, daß er die Zeit
aus unveränderlichen Zeitpunkten bestehen läßt, so daß der Zenonische
Satz wirklich seine Gültigkeit behält: das Bewegte ruht in jedem Punkte
seiner Bahn. Die Bewegung selbst wird dann zu einem objektiven
Schein, und der angebliche Widerspruch, der im Begriff der Bewegung
liegt, verschwindet, weil es in der Welt des Realen weder eine stetige
Änderung noch überhaupt ein Kontinuum gibt**). Uns ist mit dieser
Auskunft wenig geholfen. Denn der Differentialbegriff bezieht sich
gerade auf jenen objektiven Schein Herbarts, in welchem nur stetige
Änderungen vorkommen. In Wahrheit fällt aber dem Eleatischen
Widerspruch nicht eine Vermengung des Intelligibeln und Sinnlichen,
sondern zunächst nur eine Verwechslung jener beiden Grenzbegriffe
zur Last, denen wir arithmetisch den gleichen Wert Null beilegen,
obgleich wir jedesmal mit diesem Wert einen verschiedenen Begriff
verbinden. (Vgl. 8. 161 f.) Die Bewegung des Pfeils in jedem Punkt
seiner Bahn ist wirklich gleich Null, aber diese Null ist nicht die auf-
gehobene, sondern die verschwindende Größe. Jene würde, auch wenn
wir sie unendlich oft wiederholt dächten, immer gleich Null bleiben;
diese ist das Resultat einer Zerlegung, die man sich ins Unendliche
fortgesetzt denkt, und aus der, wenn der Zerlegungsprozeß umgekehrt
wird, notwendig wieder endliche Größen entstehen müssen. Diese Ver-
tauschung der beiden Formen des Grenzbegrifis wird bei dem Zenoni-
*), Newtoni Methodus Fluxionum, Opuscula I, p. 34.
**) Herbart, Metaphysik, II, $ 284 f. (Werke Bd. 4, S. 233.)
Der Differentialbegriff. 239
schen Beweis noch unterstützt durch den Schein der Wahrnehmung.
Wenn man sich den einzelnen Moment der Bewegung für sich isoliert
vorstellt, so entsteht das Bild des ruhenden Pfeils. Doch der Begrift
der objektiven Bewegung verlangt, daß die einzelne Wahrnehmung
mittels der Ergebnisse der ihr vorangehenden und nachfolgenden
Wahrnehmungen ergänzt werde. Nur auf diesem Wege läßt sich ent-
scheiden, ob der momentane Ort des bewegten Körpers konstant bleibt
oder sich stetig verändert. So erweist sich der Unterschied der wirk-
lichen und scheinbaren Ruhe nur als ein anschauliches Beispiel für den
Unterschied der beiden Formen des Nullbegrifis. Da die Fluxions-
methode der Auffassung der veränderlichen Funktionsbeziehung den
Begriff der kontinuierlichen Bewegung substituiert, so hat in ihr der
absolute Nullbegrifi keine Stelle, sondern sie denkt sich die beiden
Fluenten, welche den Begriff der Bewegung zusammensetzen, die Zeit
und den Raum, in ihre Elemente, in Zeitmomente und geometrische
Punkte, zerlegt. In charakteristischer Weise bezeichnet daher Newton
die zu den Fluenten x und y gehörigen Fluxionen durch einen über die
Buchstabensymbole gesetzten Punkt: x bedeutet zunächst den nach
dem Ablauf der Zeit x eintretenden Zeitpunkt, y den nach dem Durch-
laufen des Raumes y erreichten Raumpunkt. Aber da Zeit und Raum
bei der Bewegung fließende Größen sind, so gewinnen x und % zugleich
die Bedeutung der dem Zeitpunkt x entsprechenden Geschwindigkeit
des Abflusses der Zeit und der dem Raumpunkt y entsprechenden Ge-
schwindigkeit der Ortsveränderung. Statt immerwährend auf die Grund-
bedeutung von x und y zurückzugehen, zieht Newton überdies im all-
gemeinen es vor, die Fluxionen unmittelbar als die momentanen Ge-
schwindigkeiten des Wachstums der beiden Koordinaten einzu-
führen, eine Übertragung, durch welche die geometrische Verwendung
der Methode erleichtert wird. Jene ursprüngliche Bedeutung der beiden
Fluxionen kommt aber darin zur Geltung, daß stets die Geschwindig-
keit x für alle Werte der Fluenten x als konstant angesehen wird,
während die zugehörige Geschwindigkeit y eine wechselnde sein kann.
Da nun z und y momentane Geschwindigkeiten bedeuten, so
muß, wenn man die Werte des Verhältnisses — bestimmen will, die in
einem gegebenen Moment stattfindende Bewegung mit der voran-
gegangenen und nachfolgenden in Beziehung gesetzt werden. Zu diesem
Zweck sondert Newton die Begriffe des Zeitverlaufs und der Orts-
veränderung wieder in je zwei Begriffe, indem er die Fluxionssymbole
z und y bloß Geschwindigkeiten bedeuten läßt und die Zeit- und Raum-
240 Die Logik der Mathematik.
werte, auf die sich diese Geschwindigkeiten beziehen, besonders be-
zeichnet. Insofern nun Geschwindigkeiten bestimmte Zeit- und Raum-
größen zu ihrer Messung bedürfen, behandelt dann Newton z und %
als meßbare Zahlgrößen, welche erst dadurch gleich Null werden,
daß man die Zeit und den Raum, innerhalb deren diese Geschwindig-
keiten angenommen werden, gleich Null setzt. Die so entstehenden
Produkte 2.0 und 4.0 nennt er die Momente der Zeit- und der
Raumgeschwindigkeit. Seine Methode, um zu den Differentialien be-
stimmter Funktionen zu gelangen, besteht dann darin, daß er die Ver-
änderlichen um diese Momente zunehmen läßt, in der Rechnung die
Nullen wie wirkliche Zahlen behandelt, schließlich aber alle Glieder
hinweghebt, welche die Null als Faktor enthalten. Ist z. B. die ein-
fache Funktion „= x? gegeben, so setzt Newton y„+y0—=(2--20)?
—2?42220-+ 220°, und schließt daraus, da (y4y0) — y=
(2-4 20)? — x? sein muß:
0 = 2250 4 5°0%, y—=2x& oder = — 22.
Man sieht deutlich, daß diese Einführung der Momente 20 und y0
nur ein Kunstgriff ist, der dazu dienen soll, in der Gleichung y0
—2r720—=x?0? das zweite Glied hinwegzuschaffen. In Wahrheit
operiert man nur mit den Begriffen x und y, der momentanen Zeit-
geschwindigkeit und der momentanen Ortsveränderung. Der Hervor-
hebung, daß hier die Ausdehnung der Zeit und des Raumes gleich Null
sei, bedarf es gar nicht: das liegt in den Begriffen von z und % schon
eingeschlossen, daher auch in dem endlichen Ergebnisse die letzteren
allein genügend sind. Hätte Newton einfach bemerkt, daß x und y
gleich Null sind und deshalb, wo sie einzeln oder miteinander multi-
pliziert vorkommen, hinwegfallen, daß dagegen das Verhältnis —
darum doch einen bestimmten Wert haben könne, so würde er ohne
die Zwischenrechnung mit der Null zu seiner Fluxionsgleichung gelangt
sein. Aber es wäre dann allerdings ein Hinausgehen über den Begriff
der momentanen Bewegung erforderlich gewesen; denn der Nachweis,
daß der Quotient - im allgemeinen einen bestimmten Wert besitzt,
fordert eine Berücksichtigung des ganzen Verlaufs der Bewegung.
Eine solche liegt nun zwar schon in der Natur der Aufgaben, welche die
Fluxionenrechnung behandelt. Eine gegebene Gleichung y=f(x) ist
ja stets ein Ausdruck für den ganzen Verlauf der Funktion, und die
Differentialgleichung, die für einen bestimmten Moment das Wachs-
Der Differentialbegriff, 241
tum der Veränderlichen bestimmt, kann eben darum nur aus der ur-
sprünglichen Funktionsgleichung abgeleitet werden. Sobald man aber
bei der Ableitung des Fluxionsbegrifis zugleich auf die Beziehung der
momentanen Veränderung zu der vorangehenden und nachfolgenden
Rücksicht nimmt, so führt dies zur geometrischen Darstellung der
Bewegung und damit zum geometrischen Differentialbegriff.
Noch in anderen Beziehungen zeigt sich jedoch die Vorstellung der
Bewegung ungenügend. Ein Mangel derselben liegt namentlich darin, daß
sie, da der Begriff der Bewegung nur z wei Fluenten, die Zeit und den
Raum, enthält, auf Funktionen zwischen mehr als zwei Veränderlichen
nicht anwendbar ist. Newton selbst hat daher für solche Zwecke zu
geometrischen Veranschaulichungen gegriffen, die dem Geist der
Fluxionsmethode eigentlich fremd sind. So nötigt der phoronomische
Difierentialbegrift von verschiedenen Seiten her zu einer Weiterbildung,
die ihn in den geometrischen überführt
c. Der geometrische Differentialbegriff.
Eine Funktion von der Form y=f(x) wird geometrisch dar-
gestellt durch eine Kurve, in welcher einem gleichförmigen Wachs-
tum der Abszissen ein Wachstum der Ordinaten entspricht, dessen
Gesetz durch jene Gleichung bestimmt ist. Wenn die Differenz x, — x,
konstant bleibt, so kann daher die zugehörige Differenz y, — y, im
allgemeinen sehr verschiedene Werte annehmen. Nur in einem
Fall bleibt auch y, — y, konstant, dann nämlich, wenn die Funktion
y==f (x) eine lineare ist. Auf diesen einfachsten Fall läßt sich nun eine
jede Funktion zurückführen, wenn man die Voraussetzung macht,
daß die Differenzen 2, — x, und y, —y, unendlich kleine Größen
bedeuten. Denn ein unendlich kleines Stück einer beliebigen Kurve
kann immer als eine gerade Linie angesehen werden. Das betreffende
Kurvenstück fällt dann seiner Richtung nach vollständig mit der
Tangente der Kurve zusammen. Auf diesen Begriff unendlich kleiner
Differenzen der Koordinaten gründete Leibniz die Bezeichnungen d z,
dy für die Differentiale der Veränderlichen. Geometrisch aber be-
deuten d x und d y die Katheten eines unendlich kleinen rechtwinkligen
Dreiecks, dessen Hypotenuse die Tangente ist. Die Seiten dieses
„Iriangulum characteristicum “, wie Leibniz es nannte, sind, ebenso wie
dessen Flächeninhalt, unendlich klein; dennoch besteht zwischen den-
selben ein bestimmtes Verhältnis, das durch Zahlen ausgedrückt
werden kann, und das ungeändert bleibt, wenn man sich durch ein
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 16
242 Die Logik der Mathematik.
stetiges und gleichförmiges Wachstum das unendlich kleine Dreieck in
ein ihm ähnliches Dreieck von endlicher Größe übergeführt denkt.
Da nun die Tangente als Hypotenuse trigonometrisch durch das Ver-
hältnis der beiden anderen Seiten bestimmt wird, so mißt dieses oder
der Quotient = die Richtung der Kurve an dem betreffenden Punkte,
und die nächste Aufgabe der Differentialrechnung ist gelöst, wenn es
gelingt, aus der aufgestellten Funktionsgleichung y=f (x) den Wert
jenes Quotienten in allgemeingültiger Weise zu. gewinnen.
Man sieht sofort, daß der wesentliche Unterschied dieses geo-
metrischen Differentialbegrifis von dem Fluxionsbegriff in der Ein-
führung der unendlich kleinen Größe besteht. Die Fluxion wurde
als eine momentane Bewegung angesehen. Hier dagegen macht es
der geometrische Ausgangspunkt unmöglich, von der Ausdehnung
ganz zu abstrahieren. Die Seiten des charakteristischen Dreiecks ver-
schwinden zwar im Vergleich mit jeder gegebenen Größe, aber sie
können niemals gleich Null werden. Dadurch hat man den Vorteil,
daß die Beziehung der momentanen Änderung zu der vorangegangenen
und nachfolgenden, die bei der Fluxionsmethode Schwierigkeiten be-
reitet, hier von Anfang an schon in den Differentialbegriff aufgenommen
ist. Dafür aber büßt dieser selbst seine Strenge ein. Die Annahme,
daß ein unendlich kleines Stück einer Kurve einer geraden Linie gleich-
komme, genügt zwar vollkommen, um praktisch zu richtigen Resul-
taten zu gelangen, aber diese Resultate erscheinen nur als Annäherungen,
ähnlich wie bei der in dieser Beziehung auf gleichem Boden stehenden
sogenannten Exhaustionsmethode des Archimedes. Leibniz selbst
suchte dieser Schwierigkeit gelegentlich zu entgehen, indem er das
Differential als das letzte unteilbare Element einer Größe auffaßte und.
erklärte, eine Differenz x, — x, seidx, wenn x, und z, die zwei „ein-
ander nächsten“ Werte von x bezeichneten. In gleicher Absicht ver-
glich er das Verhältnis der Differentialien zu den ursprünglichen Größen
mit dem Verhältnis arithmetischer Reihen von verschiedener Ordnung.
Auf diese Weise hob er aber den Begriff der Stetigkeit, dessen Bedeutung
für die Infinitesimalmethode er sonst mit Recht betonte, gerade bei dem
Grundbegriff derselben wieder auf. Zugleich ist ersichtlich, daß dieser
Versuch, aus absolut unteilbaren und darum eigentlich diskontinuier-
lichen Elementen die stetige Größe entstehen zu lassen, mit dem meta-
physischen Begriff der Monade in einer gewissen Beziehung steht. Be-
kanntlich sind die Grundgedanken der Differentialrechnung älter als die
Ausbildung der monadologischen Vorstellungen. Es mag daher sein,
Der Differentialbegriff. 243
daß gerade die Widersprüche, in die sich Leibniz durch den Begriff der
Stetigkeit zu verwickeln meinte, wenn er nicht letzte unteilbare Elemente
voraussetzte, bei der Bildung des Monadebegrifis mitgewirkt haben.
Daß jene Schwierigkeiten nicht durch eine solche absolute Bedeutung,
die man dem Differential beilegt, gelöst werden können, dies zeigt nun
aber sofort die Unterscheidung unendlich kleiner Größen verschiedener
Ordnung, zu der Leibniz selbst schon veranlaßt wurde. In der Tat wird
man auf rein arithmetischem Wege zu dieser Unterscheidung geführt,
wenn man die Differentialausdrücke für bestimmte Funktionen ent-
wickelt; denn das Verfahren besteht hier immer darin, daß man die
unendlich kleinen Größen zweiter und höherer Ordnung gegen diejenigen
erster Ordnung verschwinden läßt. So gewinnt man z. B. aus der Funk-
tion y= x" das Differential dy=nz"! dx, indem man in dem Aus-
druck (x + dx)" — x" das Binomium in eine Reihe entwickelt, alle
Glieder, welche eine höhere als die erste Potenz von dx enthalten, weg-
hebt, und dann x” subtrahiert. Nimmt man hier an, daß dx aus einer
Teilun En hervorgegangen sel, so werden die höheren Potenzen dx?,
a gegang
dx®... durch die Brüche Ze En ... dargestellt werden können. Bei
002’ 003
der Motivierung des Verschwindens dieser höheren Differentialen
schwankt aber Leibniz selbst noch zwischen zwei verschiedenen Auf-
fassungen. Einerseits nämlich meint er, dieselben hätten, ähnlich den
imaginären Größen, eine bloß formale Bedeutung, da das Element
dr 2 nicht mehr weiter geteilt werden könne; anderseits gesteht
er zu, daß zwischen den unendlich kleinen Größen verschiedener Ordnung
eine ähnliche Relation angenommen werden könne, wie zwischen einem
unendlich Kleinen erster Ordnung und einer endlichen Größe*). Erst
in der Folgezeit ist diese letztere Auffassung und damit überhaupt
die Anschauung, daß das unendlich Kleine keine absolute, sondern nur
eine relative Bedeutung besitze, zur Herrschaft gelangt. Es mochte
dabei wohl hauptsächlich die bereits von Leibniz erkannte geometrische
Bedeutung des zweiten Differentialguotienten mitwirken.
Im Sinne der Theorie des unendlich Kleinen bedeutet nun dy
die Differenz zweier einander unendlich nahe gelegener Ordinaten %,
und y.. und der Quotient = als trigonometrische Tangente des Win-
*) Leibniz’ mathematische Werke, herausgegeben von Gerhardt,
V, 8. 389.
244 Die Logik der Mathematik.
kels, welchen das unendlich kleine Kurvenstück mit der Abszissenlinie
bildet, bestimmt die Richtung der Kurve an der gegebenen Stelle.
Bleiben für eine Reihe aufeinanderfolgender unendlich kleiner Ordinaten-
unterschiede %, — %9 Y5 — %1 Y — Y, die Werte von a die nämlichen,
so ist die Richtung der Kurve an der betreffenden Stelle konstant,
d. h. die Kurve selbst ist hier eine gerade Linie. Sind dagegen jene
unendlich kleinen Differenzen voneinander verschieden, so erhält
man auch für den ersten Differentialquotienten eine Reihe voneinander
verschiedener Werte EN, nr ... Die Geschwindigkeit der Rich-
tungsänderung wird dann offenbar gemessen durch die Differenzen
dy, —dy,dy,—dy,...., welche je
Fig. 15.
nach dem Sinn der Richtungsänderung
positiv oder negativ sein können. Geo-
metrisch läßt sich aber eine Differenz
dy,—dy, darstellen, wenn man die
Endpunkte der beiden Ordinaten y, und
y, durch die Gerade mn verbindet und
diese Gerade bis zum Punkte p der näch-
sten Ordinate y, verlängert. Esentspricht
dann das Stück pq der unendlich klei-
nen Differenz dy, —dy,, welche sym-
bolisch durch d?y bezeichnet wird. Führt man statt der absoluten
Werte dy,, dy, ihre Verhältnisse zu den unendlich kleinen Zuwüchsen
dx ein, so erhält man
Nun besteht der Begriff der Richtungsänderung darin, daß das Ver-
hältnis dieser Differenz der Quotienten zu dem unendlich kleinen Zu-
wachs d x bestimmt wird. Die Gleichung geht also über in die folgende:
dy; ayı dy
Een a
EEE RA an) AL
Ey FF a2 EB der;
oder
dy
Ze
Der Differentialbegriff 245
welche letztere Gleichung eben nichts anderes aussagt, als daß zur
Bestimmung der Richtungsänderung einer Kurve an einem gegebenen
‚ Punkte der erste Differentialquotient, welcher die Richtung angibt,
noch einmal der Operation der Differentiation in Bezug auf die un-
abhängig Veränderliche unterworfen werden muß. Die notwendige
Folge davon ist, daß im Nenner des zweiten Differentialquotienten der
Zuwachs des Argumentes im Quadrat erscheint. Es ist klar, daß sich
diese geometrischen sofort in phoronomische Vorstellungen übertragen
lassen. Wie die Richtung oder der erste Differentialquotient = der
Geschwindigkeit, so entspricht hier die Richtungsänderung oder der
2
zweite Differentialquotient — der Geschwindigkeitsänderung. Unter
Befolgung des Permanenzprinzips kann nun aber die nämliche Operation,
durch die aus dem ersten der zweite Differentialquotient hervor-
gegangen ist, beliebig wiederholt werden, und man gewinnt so die un-
3 4
begrenzte Reihe der höheren Differentialquotienten — = a
- . Kann für dieselben auch eine anschauliche geometrische oder
mechanische Bedeutung nicht mehr gefunden werden, so haben sie
doch jedenfalls eine arithmetische Bedeutung, da, sobald man die
Difierentiation als eine reine Zahlenoperation auffaßt, ihrer beliebigen
Wiederholung keine Schranken gesetzt sind.
Mit dem so erweiterten Begriff des Differentials ist aber jene ab-
solute Bedeutung, die Leibniz demselben beizulegen geneigt war,
nicht mehr zu vereinigen, sondern auf dem Boden der bisherigen geo-
metrischen Betrachtungen bleibt nur noch der Begriff eines relativ
unendlich Kleinen möglich, welcher zugleich die arithmetisch postu-
lierte beliebige Wiederholung der Difierentiation gestattet, da die Reihe
der relativen Unendlichkeiten an und für sich keine Grenzen hat. Doch
damit gewinnt auch die Infinitesimalmethode jenen schon oben berühr-
ten Charakter eines bloßen Annäherungsverfahrens, der umso unbe-
friedigender ist, als die Voraussetzungen, aus denen er entspringt, oflen-
bar der Richtigkeit entbehren. Denn eine Kurve ist in Wirklichkeit
nicht aus geraden Linien, eine veränderliche Bewegung nicht aus gleich-
förmigen Bewegungen von irgend einer wenn auch noch so geringen
Ausdehnung zusammengesetzt. Dazu kommt, daß die Auffassung des
zweiten und der höheren Differentialquotienten als unendlich kleiner
Größen höherer Ordnung brauchbar ist, so lange es sich darum handelt,
246 Die Logik der Mathematik.
dieselben bloß gegen den ersten Differentialquotienten verschwinden
zu lassen, daß aber diese Deutung ungenügend wird, sobald sie eine
reale Bedeutung gewinnen. Der Begriff der Richtungsänderung zum
Beispiel setzt zwar den der Richtung voraus, sicherlich aber wird durch
die Annahme unendlich kleiner Größen verschiedener Ordnung das
Verhältnis beider Begriffe nicht zureichend definiert.
Diese Schwierigkeiten, welche die geometrische Deutung des un-
endlich Kleinen herbeiführt, sind nun auf das glücklichste vermieden in
der eigentümlichen Umgestaltung, die der geometrische Differential-
begriff in der in ihren Grundgedanken zuerst von Newton in seinen
„mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie“ angegebenen und
dann hauptsächlich durch Maclaurin und d’Alembert ausgebildeten
sogenannten Grenzmethode erfahren hat*). Der glückliche
Griff dieser Umgestaltung des Leibnizschen Verfahrens besteht darin,
daß man bei ihr von einer beliebigen endlichen Differenz der Veränder-
lichen durch kontinuierliche Abnahme derselben auf den Grenzfall
zurückgeht, wo die Differenz null wird, und daß man das Differential
als diesen Grenzfall betrachtet. Geometrisch läßt sich auch dieser Be-
trachtung das charakteristische Dreieck zu Grunde legen; aber die
Hypotenuse desselben ist die zwischen den Punkten m und n der Kurve
gezogene Sehne, und die trigonometrische Tangente des Winkels,
welchen diese Sehne mit der Abszissenachse bildet, wird durch den
Differenzquotienten = bestimmt. Denkt man sich jetzt den Punkt n
2
dem mnäher und näher rücken und schließlich mit demselben zusammen-
fallen, so geht für diesen Grenzfall die Sehne in die Tangente und der
Differenzquotient in den Differentialquotienten 2 über. Auch der
zweite Differentialquotient gewinnt auf diesem Wege unmittelbar seine
geometrische Bedeutung, ohne daß es nötig wird, die Annahme von
unendlich kleinen Größen einzuführen. Denn der zweite Differenz-
A?y
Ar?
schied Az stattfindende Richtungsänderung der Kurve. Läßt man
wiederum den Punkt n mit m zusammenfallen, so stellt der für diesen
quotient bezeichnet nun die für einen bestimmten endlichen Unter-
2
Grenzfall zurückbleibende Differentialguotient ei die Richtungs-
* Newton, Principia, liber I, sect. 1. Übersetzung von Wol-
fers, S. 46.
Der Differentialbegriff. 247
änderung der Kurve im Punkte m dar, ebenso wie der erste Differential-
quotient = die Richtung in diesem Punkte bedeutet hat.
Hiernach besteht die Grenzmethode teilweise in einer Umkehrung
der Methode des unendlich Kleinen. Während man bei der letzteren
die Veränderliche von null an um eine unendlich kleine Größe wachsen
läßt, die gerade zureicht, um das Verhältnis ihres Wachstums zu be-
stimmen, geht die Grenzmethode von einer beliebigen endlichen Zu-
nahme der Veränderlichen aus, die sie allmählich bis auf null herab-
sinken läßt. Dadurch wird der Begriff des unendlich Kleinen umgangen.
Es wird möglich, mit der nämlichen Strenge wie bei der Fluxionsmethode
den Begriff der momentanen Änderung festzuhalten, und es wird doch
die für die Messung dieser Änderung unerläßliche Vergleichung mit den
vorangehenden oder nachfolgenden Zuständen ermöglicht. Die Grenz-
methode vereinigt darum die Vorteile der Methoden von Newton und
Leibniz, die begriffliche Strenge der ersteren und die größere Allgemein-
heit und praktische Brauchbarkeit der letzteren. Sie ist, wenn man von
den Anwendungen des Differentialbegrifis ausgeht, die exakteste Be-
gründung desselben. Denn sie wird den beiden Forderungen, daß die
elementare Größenänderung als eine streng momentane aufgefaßt,
und daß zur Bestimmung des Gesetzes derselben der gesamte Verlauf
der Veränderung berücksichtigt werde, gleichmäßig gerecht. Diesen
Vorzügen verdankt die Grenzmethode den Sieg, den sie in der Praxis
allmählich über alle anderen Begründungsweisen des Differentialbegrifis
davongetragen hat. Jenes Verfahren des Zurückgehens von einer gege-
benen Differenz auf den Grenzfall, wo dieselbe null wird, das die Grenz-
methode im Anschluß an geometrische Vorstellungen einschlägt, läßt
nun aber eine Verallgemeinerung zu, indem man den nämlichen Vor-
gang in arithmetischer Form auffaßt.
d. Der arithmetische Differentialbegriff.
Läßt man in einer Funktion y=f(x) das Argument x um end-
liche Intervalle wachsen, so daß es sukzessiv die Werte + Az, c—+
2Az,2c-+3Ax... annimmt, so erscheint jene Gleichung als Ausdruck
für das allgemeine Glied einer arithmetischen Reihe. Die Differenzen
der einzelnen Glieder dieser Reihe bilden eine Differenzreihe, deren all-
gemeines Glied mit Ay bezeichnet werden kann. Aus dieser läßt sich
eine zweite Differenzreihe entwickeln mit dem allgemeinen Glied A?y,
u. s. w. Die Zahl der Differenzreihen und der ihnen entsprechenden
248 Die Logik der Mathematik.
abgeleiteten Funktionen Ay, A®?y... ist von der Beschaffenheit der
ursprünglichen Funktion y—= f(x) abhängig. Ist diese z. B. vom ersten
Grade, so wird schon A y konstant, und demgemäß wird dann die zweite
Differenz A?y und mit ihr jede höhere gleich null. Läßt man nun den
Zuwachs Az des Arguments zu null werden, und bezeichnet man diese
zum Verschwinden gebrachte Differenz Az mit dx, so gehen die ab-
hängigen Differenzen Ay, A?y... ebenfalls in die verschwindenden
Größen dy, d?y... über. Obgleich sie sämtlich ihrem absoluten Werte
nach null sind, so werden doch die Verhältnisse, in denen sie zueinander
stehen, im allgemeinen einen bestimmten numerischen Wert besitzen,
R ‘a
da sie aus endlichen Größen durch eine Operation von der Form —
hervorgegangen sind. (Vgl. S. 161.) Euler definiert daher die Differen-
tiale als Größen, deren arithmetisches Verhältnis stets gleich null sei,
deren geometrisches Verhältnis aber jeden beliebigen Wert erreichen
könne*).
Euler hat hierdurch zum ersten Male klar darauf hingewiesen, daß
von der Messung einer Differentialgröße immer nur dann die Rede
sein kann, wenn dieselbe zu anderen Differentialgrößen in irgend ein
Verhältnis gebracht wird. Von dieser Bemerkung datiert der vorwiegende
Gebrauch des Differentialquotienten. Gleichwohl ist
die Behauptung, daß das arithmetische Verhältnis aller Differential-
größen dasselbe, nämlich gleich null sei, keine völlig korrekte. Die
Null ist ein Rechnungssymbol, welches jede beliebige verschwindende
Größe bezeichnen kann. Nur aus diesem Grunde ist es möglich, daß ein
Quotient u obgleich er nach dem absoluten Wert seines Zählers
und Nenners in der Tat durch den Bruch = ausgedrückt wird, dennoch
einen bestimmten endlichen Wert annehmen kann. Das Wahre von
Eulers Bemerkung liegt also darin, daß die Division die einzige
Operation ist, durch welche die Beziehungen verschwindender Größen
zueinander bestimmt werden können. Aber der Umstand, daß solche
Beziehungen von verschiedener Art existieren, beweist eben zugleich,
daß arithmetisch die Bedeutung der verschwindenden Größen eine ver-
schiedene ist, oder daß mit anderen Worten diejenige Null, die eine ver-
schwindende Größe a repräsentiert, eine andere Bedeutung hat als die
Null, die als Resultat einer Operation a — a zurückbleibt. Im ersteren
*) Leonhard Euler, Institutiones calculi differentialis, Petrop. 1755,
Cap. I—IV.
Der Difierentialbegriff, 249
Fall kann daher nicht bloß ein Quotient nn einen bestimmten Wert,
sondern auch eine Gleichung O0—=0 einen bestimmten Sinn haben.
Der arithmetische Differentialbegriff führt nun von selbst zu
einer neuen Auffassung, sobald man den Gesichtspunkt, auf den der-
selbe gegründet ist, verallgemeinert. Betrachtet man nämlich die
dy d’y d’y
aufeinander folgenden Differentialquotienten —-, IE
” 4 dx’ da?’ dx?
die Werte, in welche die Differenzquotienten de
als
übergehen, wenn Ax=0 wird, so muß auch das Verhältnis jener Differen-
tialquotienten zueinander konform sein dem Verhältnis dieser Differenz-
quotienten. Nun lassen sich aber Ay, A?y, A’y...als Funktionen be-
trachten, welche von der ursprünglichen Funktion y—=f(x) abhängen,
insofern dieselben die allgemeinen Glieder derjenigen Differenzreihen
bezeichnen, die zu der durch die Funktion „=/(x) ausgedrückten
Hauptreihe gehören. Demnach haben auch die Differenzquotienten
und die Differentialquotienten die Bedeutung abgeleiteter Funktionen,
und speziell die letzteren bilden denjenigen Spezialfall, wo in der ur-
sprünglichen Funktion ein stetiges Wachstum der Veränderlichen
vorausgesetzt wird. Auf diese Weise führt die arithmetische Betrach-
tung, sobald man an die Stelle des Begriffs der Operation den all-
gemeinen der Funktion treten läßt, direkt über zu der letzten Ge-
staltung des Difierentialbegrifis, zu der derivierten Funktion.
e. Der Begriff der derivierten Funktion
Geht man von dem allgemeinsten Begriff der Analysis, von dem
Begriff der Funktion aus, so läßt sich die Aufgabe der Infinitesimal-
methode dahin feststellen, daß sie die stetigen Veränderungen der
Funktion y„=f(x) für jede beliebige Veränderung des Argumentes
ermittelt, daß sie also, wenn allgemein die letztere durch A x bezeichnet
wird, die Umwandlung feststellt, die sich mit der Funktion f (x) voll-
zieht, wenn dieselbe in die Funktion f («+ Ax) übergeht. Da Az
alle möglichen Werte von null an bis zu jeder beliebigen endlichen Größe
bedeuten kann, so sind, wenn diese Aufgabe auf analytischem Weg lösbar
ist, alle Schwierigkeiten vermieden, welche bei den sonstigen Begrün-
dungen des Differentialbegrifis entweder die Annahme einer bloß
momentanen Änderung oder der Übergang von einer endlichen zu einer
verschwindenden Differenz bereitet. Lagrange ist es nun gelungen,
250 Die Logik der Mathematik.
jene Aufgabe zu lösen, indem er sich dabei des allgemeinen Satzes der
Analysis bediente, daß jede Funktion in der Form einer Reihe darge-
stellt werden kann, die nach aufsteigenden Potenzen der Veränder-
lichen fortschreitet*). Wir haben früher gesehen, daß dieser Satz aus
der Zerlegung der Funktion in die arithmetischen Operationen, durch
die sie entstanden ist, hervorgeht, und daß, da die Zahl dieser Opera-
tionen nur unter gewissen beschränkenden Bedingungen eine begrenzte
ist, als die allgemeinste Funktionsform eine unendliche Reihe von der
angegebenen Beschaffenheit angesehen werden muß (8. 219). Im
gegenwärtigen Falle handelt es sich nun darum, zu bestimmen, wie
die Funktion f (x) sich verändert, wenn sie durch ein bestimmtes Wachs-
tum der Veränderlichen in eine Funktion f («+ Az) übergeht. Da hier
nicht mehr x selbst, sondern der Zuwachs Az als die willkürlich Ver-
änderliche betrachtet wird, so ist es offenbar gerechtfertigt, diese Funk-
tion nach aufsteigenden Potenzen von Az in eine Reihe zu entwickeln,
welche die Form annimmt
A+ BAx + CAz2-+ DAz®...
Hierin bezeichnen A, B, ©... unbestimmte Koeffizienten, welche
Funktionen von x sind. Die von Az freie Größe A ist aber offenbar
—/ (x), weil, wenn Ac—=0 wird, auf der rechten Seite alle Glieder
außer dem ersten verschwinden und die Gleichung f(z2)= 4 übrig
bleibt. Da die weiteren Koeffizienten B, 0, D... ebenfalls irgend-
welche Funktionen von x sind, so erhält man demnach für die ursprüng-
liche Reihe die Form
f&@) +Axz.e) +Aa2.d(a) +Ar?.y@)..-
worin 9, d, 4%... die Bedeutung von Funktionszeichen besitzen.
Um das Verhältnis dieser abgeleiteten Funktionen zueinander festzu-
stellen, bedient sich Lagrange des Kunstgrifis, daß er in die Funktion
/(<--Ax) einen neuen Zuwachs ö einführt und die so entstehende
neue Funktionsform f (« +Ax2—-8) in doppelter Weise entwickelt, ein-
mal nämlich unter der Voraussetzung, daß ö ein Zuwachs von x, und
sodann unter der Voraussetzung, daß es ein Zuwachs von Az sei. Da
die Koeffizienten gleicher Glieder in beiden Reihen einander gleich sein
müssen, so ergeben diese Entwicklungen eine Anzahl von Koeffizienten-
gleichungen, aus denen sich das gesuchte Verhältnis der Funktionen
» (x), $ (2), 4% (8)... bestimmen läßt. Dieses Verhältnis findet seinen
*) Lagrange, Lecons sur le calcul des fonctions. Nouv. Edit. Paris
1806. Theorie des fonetions analytiques. Paris an V. Prem. part.
Der Differentialbegriff. 251
Ausdruck in der schließlich für die Funktion f (c+ Ax) gewonnenen
Reihe
; Rack, a ER
f@+AD)=f@) Ha. HH +
in welcher die Funktionen f (x), f" (@), f” (x)... dem Gesetze
folgen, daß jede aus der ihr vorangegangenen in übereinstimmender
Weise gebildet ist. Dieses Gesetz für die aufeinanderfolgenden deri-
vierten Funktionen ist aber das nämliche, welches die Bildung
der Differentialquotienten beherrscht. Denn es ist, wie wir sahen,
dy d"!y
a4 i dz oder allgemein a ER Die deriviert
= u en
dx? da : dr“ ds
Funktionen erster, zweiter, dritter... .. Ordnung sind also mit den
Differentialfunktionen entsprechender Ordnung identisch.
Der Wert dieser Ableitung besteht in dem unmittelbar mit Hilfe
des Funktionsbegrifis geführten Nachweis, daß der Differentialbegriff
selbst ein Funktionsbegriff ist, der sich überall da mit Notwendigkeit
ergibt, wo in die Funktion der Begriff der stetigen Veränderung ein-
geführt wird. Bei den vorangegangenen Begründungen des Differential-
begrifis ergibt sich diese Bedeutung desselben immer erst indirekt, in-
sofern man die geometrischen oder arithmetischen Beziehungen dem
Begriff der Funktion unterordnet. Vor allem aber wird durch diese
Ableitung das Verhältnis der Differentialien verschiedener Ordnung zu-
einander in exakter Weise bestimmt. Das Wesen der Infinitesimal-
methode besteht jetzt darin, daß eine stetig veränderliche Funktion in
die ursprüngliche Funktion und in eine an sich unbegrenzte Zahl aus
ihr abgeleiteter Funktionen zerlegt wird, die nach einem und demselben
Gesetze sukzessiv auseinander hervorgehen. Es tritt hierdurch sofort
die nahe Beziehung hervor, in welcher der Infinitesimalbegriff zu dem
Begriff des Irrationalen steht, der aus den nächstliegenden Anwendungen
der Zahl auf stetige Größen hervorgegangen ist. Wie die stetige Größe
nur durch eine unbegrenzte Anzahl von Divisionen arithmetisch ge-
messen werden kann, so ist die stetig veränderliche Funktion nur durch
die Ableitung einer an sich unbegrenzten Anzahl von derivierten Funk-
tionen zu erschöpfen. Auf diese Weise gewinnen sofort die Differential-
quotienten höherer Ordnung ihre berechtigte Bedeutung, während die
phoronomische und die geometrische Begründung des Differential-
begriffs allein dem ersten und zweiten einen bestimmten Sinn unterzu-
legen im stande sind. Nur die arithmetische Auffassung der Differentiale
959 Die Logik der Mathematik.
als verschwindender Differenzen verschiedener Ordnung erreicht in
dieser Beziehung die Methode der Derivation an Allgemeinheit, da sie
in der Tat nichts anderes als eine Umkehrung derselben ist, die von
den Operationen, welche die Funktion erzeugen, statt von dieser selbst
ausgeht. Infolge der rein arithmetischen Auffassung der Operationen
leidet aber jene Methode an dem Übelstand, daß sie nur das quantitative
Verhältnis der Differentialquotienten verschiedener Ordnung zur
Geltung bringt, indem sie dieselben analog den Differenzen verschiedener
arithmetischer Reihen behändelt. Auch diesen Mangel beseitigt der
Begriff der derivierten Funktion. Er vereinigt in sich die qualitative
und die quantitative Bedeutung, die dem Differentialquotienten bei-
gelegt werden kann. Die Richtung der Tangente an dem Punkt einer
Kurve ist abhängig von dem Gesetz, welches den allgemeinen Verlauf
derselben angibt, d. h. sie ist eine aus der ursprünglichen Funktion, die
durch die Kurve repräsentiert wird, abgeleitete Funktion; ihrem arith-
metischen Werte nach betrachtet ist aber die letztere zugleich eine ver-
schwindende Größe. Die Richtungsänderung ferner ist zunächst ab-
hängig von der Richtung, also eine aus der ersten derivierten Funktion
abermals derivierte, und ihrem arithmetischen Werte nach eine ver-
schwindende Größe zweiter Ordnung*).
Ist auf diese Weise der Begriff der derivierten Funktion die korrek-
teste Gestaltung des Infinitesimalbegriffs, bei welcher der Ausdruck
„Differential“ mit der ihm durch seinen Ursprung aus der Differenz
anhaftenden Unklarheit entbehrlich wird, so fehlt dagegen jenem Begriff
der derivierten Funktion selbst teils die Anschaulichkeit, teils die leichte
Anwendbarkeit. Zur vollständigen Erfassung des Wesens der In-
finitesimalmethode ist daher seine Verbindung mit den eigentlichen
Differentialbegriffen, namentlich mit dem arithmetischen und dem auf
geometrische Anschauungen gestützten Grenzbegriff erforderlich. Wie
überhaupt die Einsicht in das Wesen einer Funktion durch die Erkennt-
nis der arithmetischen Operationen, die zu ihr geführt haben, vermittelt
wird, so bildet die arithmetische Ableitung der Differenzquotienten
den angemessensten Weg für die Entwicklung der Differentialquotienten
verschiedener Ordnung. Die Anwendung dieser Operationen auf räum-
liche Größen liefert sodann aber ein anschauliches Bild der Bedeutung,
welche die gewonnenen Begrifie besitzen können, und der Nachweis,
daß die Resultate der arithmetischen Operationen dem Funktions-
begriff unterzuordnen sind, stellt schließlich diese Bedeutung in einer
allgemeingültigen Form fest.
*) Lagrange, Theorie des fonctions analytiques, p. 118.
Das Prinzip der Integration. 953
3. Das Prinzip der Integration.
In dem Wesen einer jeden mathematischen Operation liegt es be-
gründet, daß sie eine Umkehrung zuläßt. Denn bei jeder Operation
werden gegebene Größen oder Größenverbindungen nach einem be-
stimmten Gesetz in andere übergeführt. Vermöge der Konstanz der
befolgten Regel muß aber ein solches Verfahren umkehrbar sein. Kann
irgend ein mathematischer Ausdruck A durch eine Operation f, in
einen anderen Ausdruck B übergehen, so gibt es also stets eine um-
gekehrte Operation f,, durch die B wieder in A übergeht. Doch muß
dabei sogleich bemerkt werden, daß, wenn auch die erste Operation ein
eindeutiges Resultat ergibt, darum das Ergebnis der zweiten nicht not-
wendig ebenfalls eindeutig ist, sondern daß es von der Beschaffenheit
jener Regel abhängt, welche die beiden Ausdrücke miteinander ver-
knüpft, ob man aus B notwendig A wiedergewinnen muß, oder ob man
dasselbe nur neben einer unbestimmten Anzahl anderer Resultate
wiedergewinnen kann.
Von den einfachsten arithmetischen Operationen an ist uns dieses
Verhältnis der Umkehrbarkeit immer wieder begegnet. In der
Analysis hat sich dasselbe in der wechselseitigen Beziehung gewisser
Funktionsformen, wie der Exponentialfunktionen und der Logarithmen,
der trigonometrischen und derzyklometrischen Funktionen, erneuert, und
in dem letzteren Fall ergab sich bereits, daß die Umkehrung zu einem
vieldeutigen Resultate führen kann. Da nun, wie die Entwicklung
des Differentialbegrifis gelehrt hat, die Operation des Differenzierens
stets aus einer gegebenen Funktion eine neue erzeugt, die mit der ur-
sprünglichen nach einem bestimmten Gesetze zusammenhängt, so muß
auch hier eine inverse Operation existieren, die aus den abgeleiteten
Funktionen die ursprünglichen wiederherstellen kann. Diese inverse
Operation ist die Integration.
Die nähere Bestimmung des Begriffs der Integration ist nun zu-
nächst von der Anschauung abhängig, von der man bei der Bildung des
Differentialbegriffs ausgeht. Indem die Fluxionsmethode die ver-
änderliche Größe unter dem Bild der abstrakten Bewegung darstellt,
werden ihr der Differential- und der Integralbegriff zu den einander
entgegengesetzten Formen des Bewegungsproblems. Das Differenzieren
einer Funktion entspricht der Aufgabe: aus dem Raum, der bei einer
nach einem bestimmten Gesetz erfolgten Bewegung zurückgelegt
wurde, für jeden Zeitpunkt die momentane Geschwindigkeit zu finden;
254 Die Logik der Mathematik.
die Integration löst die umgekehrte Aufgabe: wenn die momentane
Geschwindigkeit für jeden Zeitpunkt gegeben ist, den Raum zu finden,
welcher durchlaufen wurde. Indem auf diese Weise die Fluxionsmethode
nur die Verschiedenheiten der Veränderlichen betont, um deren Be-
stimmung im einen und im anderen Fall es sich handelt, kommen bei
ihr die fundamentalen Gegensätze der Operationen selbst nicht zur hin-
reichenden Geltung; sie verbergen sich hinter der nebenhergehenden
Bemerkung, daß die Geschwindigkeit eine momentane, der Raum da-
gegen eine ausgedehnte Größe ist.
Von diesem letzteren Gegensatze geht dann die Methode des un-
endlich Kleinen aus. Ihre Auffassung der beiden Operationen ist daher
zunächst von dem Wert der Größen bestimmt, welche aus diesen Opera-
tionen hervorgehen. Bedeutet das Differential eine unendlich kleine
Größe, so entspricht das Integral einer endlichen Größe, und da man
sich vorstellt, daß aus der Verbindung einer unendlich großen Zahl
unendlich kleiner Größen eine endliche Größe entstehen kann, so wird
der Prozeß der Integration zu einer speziellen Form der Summation,
von der gewöhnlichen Summenbildung nur durch die beiden Bedingungen
verschieden, daß die einzelnen Elemente keinen meßbaren Wert besitzen,
und daß die Zahl der Verbindungen keine begrenzte ist. In so anschau-
licher Weise aber auch diese Auffassung von den einfachsten Anwen-
dungen der Integralrechnung Rechenschaft gibt, so leidet sie doch an
der Ungenauigkeit des Difierentialbegrifis, auf den sie sich stützt, und
sie schiebt deshalb der Differentiation und Integration in Wirklichkeit
andere Operationen unter, nämlich die Subtraktion und die Addition.
Diese trotz der nützlichen Symbolik, die von ihnen ausge-
gangen ist, unzureichenden Anlehnungen an die arithmetischen Ele-
mentaroperationen werden nun durch die Grenzmethode und die ihr
verwandte exaktere Fassung des arithmetischen Differentialbegriffs
unmöglich gemacht. Bezeichnet der Differentialquotient nr das Ver-
hältnis der Funktion y=f(&) zu ihrem Argumente x für den Fall,
daß Funktion und Argument beide verschwinden, entspricht darum
jener Quotient stets einem Bruch — so kann der Rückgang zu der
ursprünglichen Funktion unmöglich ein Verfahren der Addition sein.
Es muß vielmehr die Integration ebensogut als eine Operation von
spezifischer Beschaffenheit angesehen werden wie die Differentiation,
deren Umkehrung sie ist. Aus diesem Grunde hat Euler in der Tat ge-
glaubt, die Definition der Integration dahin beschränken zu solkn, daß
Das Prinzip der Integration. 259
sie eine Umkehrung der Differentiation sei. Auf keinen Fall aber,
meinte er, sei der Begriff der Summe zulässig, denn eine Summe von
Nullwerten müsse ebenfalls gleich null sein. Auch dieser Einwand
steht jedoch unter dem Vorurteil der unmittelbaren Anlehnung an die
arithmetischen Elementaroperationen, und er vermengt überdies die
zwei spezifisch verschiedenen Bedeutungen des Nullbegrifis. Gehen
wir von der geometrischen Bedeutung des Grenzbegrifis aus, so wird,
da man bei demselben die Distanz zwischen zwei Punkten m und n
einer Kurve zu null werden ließ, die Umkehrung des Verfahrens darin
bestehen, daß man jene Distanz von null an bis zu einem gegebenen
endlichen Werte wiederum wachsen läßt. Will man ein solches Wachs-
tum als eine Addition auffassen, so ist diese von der gewöhnlichen doch
insofern wesentlich verschieden, als die zu bildende Summe durch das
stetige Durchlaufen aller möglichen Zwischenwerte erreicht wird. Es
bleibt eben in dem Integral der Begriff der Summe in dem nämlichen
Sinne als ein Grenzbegriff erhalten, in welchem auch das Differential
als Grenze der Differenz erscheint. Das Integral ist nicht eine Summe
von Grenzwerten, sondern vielmehr der Grenzwert einer
Summe von Differenzen. Öbgleich daher auch diese Auf-
fassung die Integration an die Summation anlehnt, so bietet sie doch
den Vorzug, daß sie zugleich die wesentlichen Unterschiede von der
arithmetischen Addition hervorhebt. Diese Unterschiede bestehen
einerseits in dem stetigen Wachstum des Integrals, anderseits darin,
daß jedes Integral ein bestimmtes Gesetz des Wachstums einer Funktion
repräsentiert. Beide Unterschiede sind so tiefgreifend, daß nur noch
die quantitative Zunahme als der wesentliche Punkt der Übereinstim-
mung zurückbleibt. Sie führen zugleich auf die allgemeinste Bedeutung
des Integralbegrifis. Diese besteht aber darin, daß die Integration die
Herstellung der ursprünglichen aus einer ab-
geleiteten Funktion ist.
Eine jede Funktion enthält den mathematischen Ausdruck eines
Gesetzes, welches verschiedene teils veränderliche, teils konstante
Größen miteinander verbindet. Das Integral und der Differential-
ausdruck, da sie beide unter den Begriff der Funktion fallen, stellen
daher Gesetze dar, die einander so zugeordnet sind, daß, wenn das
eine gegeben ist, das andere gefunden werden kann. Für die nähere
Beschaffenheit dieses Verhältnisses der Zuordnung ist aber die Tat-
sache bezeichnend, daß die Differentialfunktionen sich darauf be-
schränken, die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den veränderlichen
Größen, die in dem Funktionsausdruck vorkommen, festzustellen,
256 Die Logik der Mathematik.
während die Integralfunktion außer den veränderlichen noch konstante
Größen als wesentliche Bestandteile enthält. Hiernach hat die Differen-
tialfunktion eine allgemeinere, die Integralfunktion eine speziellere
Bedeutung: in dieser wird durch den Hinzutritt der konstanten Größen
das in dem Differentialausdruck enthaltene Gesetz näher determiniert.
Eine notwendige Folge dieser Determination ist es dann, daß auch die
veränderlichen Größen bestimmte absolute Werte annehmen, während
der Differentialausdruck nur das Gesetz ihrer relativen Änderungen
angibt und sie darum ihrem absoluten Werte nach als verschwindende
Größen behandelt. Somit wird hier die logische Beziehung zwischen den
beiden Infinitesimalbegriffen zu einer Umkehrung der bei den voran-
gegangenen Ableitungen vorausgesetzten. Beider Grenzmethode erscheint
nämlich das Auftreten der Konstanten im Integralausdruck als eine Kon-
sequenz des stetigen Wachstums der Veränderlichen. Ein solches Wachs-
tum kann aber nur dann einem bestimmten Maß unterworfen werden,
wenn es sich zwischen gewissen Grenzen vollzieht, und diese Grenzen
sind es daher, die den Wert der Konstanten bestimmen. Betrachtet man
dagegen den Differential- und den Integralausdruck als Funktions-
formen, denen ein übereinstimmendes Gesetz zu Grunde liegt, so er-
scheint die Tatsache, daß in der ersten dieser Formen die absoluten
Werte der Veränderlichen unbestimmt sind oder verschwinden, erst als
eine Folge der Allgemeinheit des Funktionsverhältnisses. Beide Auf-
fassungen stehen natürlich nicht im Widerspruch, sondern sie ergänzen
einander, und zu einer erschöpfenden Bestimmung dieser Funktions-
begriffe sind sie darum beide erforderlich. Die Differentiation und die
Integration sind, von diesem allgemeinsten Standpunkte aus aufgefaßt,
Funktionsoperationen von entgegengesetzter Richtung. Die Differen-
tiation ist diejenige Operation, durch die zu einer gegebenen Funktion
die allgemeinere Funktion gesucht wird, welche die der ersteren ent-
sprechende Beziehung zwischen dem Wachstum der veränderlichen
Größen losgelöst von jeder Anwendung auf bestimmte einzelne Fälle
angibt. Die Integration dagegen ist diejenige Operation, durch die
aus einem abstrakten, bloß das Gesetz des Wachstums der Veränder-
lichen enthaltenden Ausdruck der Wert der Funktion gesucht wird,
die in irgendwelchen einzelnen Fällen jenem Wachstumsgesetz der Ver-
änderlichen entspricht.
Die von Lagrange gewählten Namen der primären und der deri-
vierten Funktion bezeichnen dieses Verhältnis beider Funktionsformen
auch insofern zutreffend, als sie andeuten, daß zwar die Differen-
tiation, die Herstellung der derivierten Funktion, ein nach selbständigen
Das Prinzip der Integration, 257
Regeln vor sich gehendes Verfahren ist, nicht aber ihre Umkehrung, die
Integration. Denn die Integrale gegebener Differentialfunktionen
können nur mittels der Beziehungen gegebener Funktionen zu ihren
Differentialformeln gefunden werden. In dieser letzteren Eigenschaft
gleicht die Integration den inversen Operationen der Arithmetik. Da
jede Zahl nur durch eine Addition definierbar ist, die schließlich
auf die Addition von Einheiten zurückführt, so folgt von selbst, daß
die Subtraktion keine selbständige Operation ist. Sie wird es auch
dann nicht, wenn sich durch sie negative Zahlen ergeben. Denn die
Verbindungen dieser sind wiederum bloß Additionen unter geänderten
Vorzeichen. Ähnlich ist das Verhältnis der Multiplikation zur Division,
der Potenzierung zur Radizierung und der Exponentialfunktionen
zu den Logarithmen. Nur in dem einen Punkte unterscheiden sich
die Infinitesimalfunktionen, daß bei ihnen nicht die synthetische Opera-
tion als die selbständige erscheint und die analytische als die von ihr
abhängige Ergänzung, sondern umgekehrt. Obgleich also nach ihrem
Zweck die Differentiation mehr der Subtraktion und Division, die
Integration der Addition und Multiplikation analog ist, so besitzt
gleichwohl in diesem Falle nur die analytische Operation einen selbst-
ständigen Algorithmus, auf dessen Resultate dann die synthetische
angewiesen bleibt. Auch dieser Unterschied hat aber seinen Grund in
dem Problem der stetigen Änderung, von dem die Infinitesimalmethode
ausgeht. Indem ihre nächste Aufgabe darin besteht, diesen Begriff der
stetigen Änderung zu fixieren, kann sie hierzu nur durch ein analytisches
Verfahren gelangen, das so zur Grundlage aller weiteren Methoden wird.
Der analytische Ausgangspunkt wird außerdem dadurch ermöglicht,
daß die Infinitesimalrechnung ein Funktionenkalkul ist, der die Exi-
stenz der verschiedenen elementaren Funktionsformen voraussetzt,
während diese durch die niederen arithmetischen Operationen erst
erzeugt werden müssen.
tw, Wir sahen nun, daß der Differentialausdruck, da er nur die Be-
ziehung zwischen den Veränderlichen enthält und überdies von bestimm-
ten Werten der letzteren ganz abstrahiert, stets eine allgemeinere
Bedeutung besitzt als die Funktion, aus der er abgeleitetist. Aus diesem
Grunde kann aus verschiedenen der nämlichen Funktionsform ange-
hörenden Gleichungen ein und derselbe Differentialausdruck erhalten
werden, und es gewinnt so das Integral, das man aus einem solchen
Differentialausdruck durch Umkehrung ableitet, zunächst eine unbe-
stimmte Bedeutung. Das äußere Zeichen der letzteren ist die willkür-
liche Konstante, die dem allgemeinen Integral beigefügt werden muß.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 17
2358 .Die Logik der Mathematik.
Indem dieser Konstanten jeder beliebige Wert gegeben werden kann,
repräsentiert das unbestimmte Integral eine unendliche Zahl von
Gleichungen einer und derselben Funktionsform, die sämtlich unter
dem nämlichen Differentialausdruck enthalten sein können. Wo die
Integration auf konkrete Probleme angewandt wird, da muß deshalb
entweder vermöge der Natur des Problems von vornherein der Wert
der unbestimmten Konstanten fixiert sein, oder es muß die Aufgabe
der Integration dadurch beschränkt werden, daß man das durch einen
allgemeinen Differentialausdruck f (x) dx angegebene Gesetz der Ver-
änderung nur zwischen gewissen Grenzen x, und x, des Argumentes
x bestimmen will. Es geht dann das unbestimmte Integral f (x) dx
zn
in das bestimmte Integral " /(x)dx über. Für die Anwendungen
des Integrationsverfahrens sind die bestimmten Integrale von über-
wiegender Wichtigkeit, teils weil man durch konkrete Aufgaben in der
Regel auf sie geführt wird, teils weil gewisse ausgezeichnete Formen
derselben als Hilfsfunktionen Verwendung finden, welche die Lösung
ganzer Klassen von Problemen vermitteln helfen.
4. Die Anwendungen der Infinitesimalmethode,
Das Gebiet der Anwendungen der Infinitesimalmethode reicht
so weit, als stetige Veränderungen, die bestimmten Gesetzen folgen, der
mathematischen Untersuchung gegeben sind. Da aber dem nämlichen
Gebiet zugleich die wichtigsten Anwendungen des Funktionsbegrifis
angehören, so empfängt dieser erst durch die Entwicklungen der In-
finitesimalmethode seine Vollendung. Das Kriterium der Stetigkeit
einer Funktion besteht darum auch in der Regel in ihrer Differenzier-
barkeit oder in der Möglichkeit, die Beziehungen des Wachstums der
Veränderlichen in der Form von Differentialgleichungen darzustellen.
Eine solche Differentialgleichung pflegt die veränderlichen Größen
und ihre Differentialverhältnisse in irgendwelchen Verbindungen zu ent-
halten. Die Differentialgleichung erster Ordnung einer Funktion zwischen
zwei Veränderlichen x und y hat daher die allgemeine Form
AAN
r(# Yı 2).
Die Anwendungen der Infinitesimalmethode, 259
Die Aufgabe ihrer Auflösung besteht aber regelmäßig darin, daß sie
in eine Gleichung zwischen dem Differentialquotienten einerseits und
den Veränderlichen anderseits übergeführt wird, so daß sie in eine
Gleichung von der Form
day __
übergeht. Ersteres ist die unentwickelte, letzteres die entwickelte
Form. Alle Differentialformeln der einfachen Funktionen gehören
dieser entwickelten Form an, und die Aufgabe der Auflösung der Diffe-
rentialgleichungen besteht darum allgemein in der Zurückführung
auf einfache Differentialformeln und ihre Verbindungen. Die ein-
fachste Deutung, die einer solchen Differentialformel gegeben
werden kann, ist die geometrische. Es bezeichnet dann jede Differen-
tialgleichung zwischen zwei Veränderlichen das allgemeine Gesetz einer
ebenen Kurve, das ein ganzes System einzelner Kurven unter
sich begreift, für die sämtlich das Verhältnis KL: d.h. das beziehungs-
dx
weise Wachstum der Koordinaten für einen beliebigen Punkt der
Kurve, wie es durch die Richtung der Tangente angegeben wird, ein
übereinstimmendes ist. Ähnlich hat eine Differentialgleichung zweiter
Ordnung zwischen zwei Veränderlichen allgemein die Form
dy d’y\ _
Kan Er)
und sie fordert als Lösung die entwickelte Form
Auch durch sie wird ein Gesetz ausgedrückt, das einer unend-
lichen Zahl ebener Kurven gemeinsam ist. Denn sie stellt das Gesetz
fest, nach welchem für ein gewisses System von Kurven die Gestalt
derselben in jedem einzelnen Punkt abhängig ist einerseits von dem
beziehungsweisen Wachstum der Koordinaten und anderseits von der
Richtung der Kurve oder ihrer Tangente an dem betreffenden Punkte.
Es ist klar, daß dieses Gesetz von noch allgemeinerer Natur ist als das
vorangegangene. Denn unter der unendlichen Zahl von Kurven, für
welche die Differentialgleichung erster Ordnung ein gemeinsames
Richtungsgesetz angibt, wird sofort eine einzelne vollständig bestimmt,
wenn für einen einzelnen Wert von x der zugehörige Wert von y an-
gegeben, d. h. wenn irgend ein einzelner Punkt der Kurve seiner ab-
260 Die Logik der Mathematik.
soluten Lage nach festgestellt wird. Dagegen wird aus der ebenfalls
unendlichen Zahl von Kurven, für welche die Differentialgleichung
zweiter Ordnung ein gemeinsames Krümmungsgesetz angibt, eine
einzelne Kurve erst dann vollständig determiniert, wenn nicht nur ein
Punkt der Kurve durch die betreffenden Werte von z und y, sondern
auch ihre Richtung an diesem Punkte in der Form des Quotienten =
bekannt ist. Auf diese Weise gelangt man mit dem Übergang zu Diffe-
rentialgleichungen höherer Ordnung zu Gesetzen von immer größerer
Allgemeinheit. Es hängt aber selbstverständlich ganz und gar von der
Bedeutung der Veränderlichen ab, bis zu welcher Stufe der Allgemein-
heit überhaupt fortgeschritten werden kann. Eine ebene Kurve läßt
ein allgemeineres Gesetz als dasjenige der Richtungsänderung, das
durch die Differentialgleichung zweiter Ordnung zwischen den beiden
Koordinaten dargestellt wird, überhaupt nicht mehr zu. Nehmen wir
jedoch an, es sei irgend ein Substrat gegeben, das, analog der
Ebene, nach zwei voneinander unabhängigen Richtungen wachsen
kann, und das außerdem in jedem Punkt qualitative Differenzen
verschiedener Ordnung in sich schließe, so daß für jeden Punkt ein
stetiger Wechsel verschiedener Qualitäten möglich sei, für jede dieser
Qualitäten wieder ein solcher u. s. w., so würden offenbar je nach der
Zahl qualitativer Unterordnungen für die erschöpfende Feststellung
der Gesetze eines solchen Kontinuums Differentialgleichungen dritter,
vierter und selbst noch höherer Ordnung erforderlich werden können.
Begrifilich hat demnach dieser Fortschritt überhaupt keine Grenzen.
Doch bringen es die Bedingungen unserer Raumanschauung mit sich,
daß bei den Anwendungen der Infinitesimalmethode Differential-
gleichungen höherer Ordnung nur in gewissen Ausnahmefällen vor-
kommen.
Wenn wir hier das Verhältnis der Differentialgleichungen ver-
schiedener Ordnung als ein solches der aufsteigenden Begriffsallgemein-
heit bezeichnet haben, so darf übrigens dasselbe nicht als äquivalent
einer logischen Über- und Unterordnung von Gattungs- und Artbe-
griffen gedacht werden. Die Richtungsänderung läßt sich nicht schlecht-
hin als der allgemeinere Begriff zu demjenigen der Richtung auffassen.
Denn es trifft zwar zu, daß ein und dasselbe Gesetz der Richtungsände-
rung gültig bleiben kann, auch wenn man die Richtung, deren Ände-
rung bestimmt wird, mannigfach wechseln läßt, aber dabei sind doch
beide Begriffe gerade dadurch verschieden, daß sich das charakteristische
Element, das den höheren Begriff auszeichnet, in dem engeren nicht
Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 261
wiederfindet. Die Verschiedenheit der Begriffsallgemeinheit, um die
es sich hier handelt, entspringt daher nicht aus einer einfachen Begrifts-
subsumtion, sondern sie gründet sich auf den Umfang der Geltung des
in der Differentialgleichung formulierten Gesetzes. Wir nennen ein
Gesetz dann allgemeiner, wenn die Zahl der Fälle, auf die es sich
erstreckt, größer ist. Unzweifelhaft ist darum ein Gesetz, das
ein anderes in sich schließt, im Verhältnis zu diesem stets das allge-
meinere, obgleich es neue Begrifiselemente enthalten kann, welche in
dem engeren Gesetz durchaus nicht vorgesehen sind.
Eine fernere Erweiterung erfährt die Bedeutung der Differential-
gleichungen, wenn sie sich auf mehr als auf zwei veränderliche Größen
beziehen. Dieser Fall ist mathematisch dadurch ausgezeichnet, daß er
eine unmittelbare Zurückführung auf die Differentialformeln einfacher
Funktionen nicht gestattet, weilsich das vollständige Differentialeiner sol-
chen zusammengesetzteren Funktion stets nur durch eine Summe von
Teildifferentialen darstellen läßt. Gehen wir nämlich von der Funktion
zwischen drei Veränderlichen x, y und z aus, so wird der Wert irgend
einer der letzteren immer erst dann eindeutig bestimmt sein, wenn die
zugehörigen Werte der beiden andern gegeben sind. Es können darum
in solchen Fällen stets zwei der Veränderlichen, z. B. x und y, als gleich-
zeitige Argumente betrachtet werden, deren Funktion die dritte Ver-
änderliche 2 ist. Die Differentialgleichung einer solchen Funktion muß
dann aber offenbar zwei Differentialquotienten enthalten, einen
ersten, der die Veränderung von z in Beziehung auf x, und einen
zweiten, der die Veränderung in Beziehung auf y bestimmt. Diese
Quotienten - und _ bei denen nach dem Vorgang von Jacobi das
Zeichen 9 statt des für die vollständigen Differentiale gebrauchten d
eingeführt ist, sind die partiellen Differentialquotienten erster Ordnung
der Funktion z= f (z, y). Dem vollständigen Differential dieser Funk-
tion wird daher auch die Form gegeben:
NS = rw Y) 4, ı ren or
Geometrisch bezeichnet die ursprüngliche Funktionsbeziehung zwischen
x, y und z eine Fläche im Raum, die man sich durch x und y als hori-
zontale Abszissen und durch z als vertikale Ordinate bestimmt denken
kann. Die partielle Differentialgleichung erster Ordnung, in welcher
dz als der Zähler, 9x und 9% als die Nenner der Differentialquotienten er-
scheinen, bezeichnet demnach das allgemeine Gesetz der Richtung einer
262 Die Logik der Mathematik.
Fläche, welche durch die an jeden Punkt gelegte tangierende Ebene
bestimmt ist; die partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung aber
bezeichnet die von Punkt zu Punkt stattfindende Richtungsänderung
dieser Fläche. Infolge der räumlichen Bedeutung, die sich so den par-
tiellen Differentialgleichungen zwischen drei Veränderlichen beilegen
läßt, bilden diese das allgemeine Hilfsmittel zur Darstellung der Natur-
vorgänge und als solches eines der wichtigsten Werkzeuge der mathe-
matischen Physik*).
Auch infolge der steigenden Zahl der Veränderlichen, welche die
Differentialgleichungen enthalten, erweitert sich ihre Allgemeinheit.
Die Differentialgleichung mit n Veränderlichen enthält diejenige mit
n — 1 Veränderlichen als einen speziellen Fall in sich, welcher dann
aus ihr hervorgeht, wenn irgend eine der Veränderlichen als konstant
angenommen wird. Doch die hier sich ergebende Begrifisallgemeinheit
ist von anderer Beschaffenheit als diejenige, die aus der verschiedenen
Ordnung der Differentialgleichungen entspringt. Während im letzteren
Fall das Gebiet des Gesetzes dasselbe bleibt, aber der Umfang seiner
Bedeutung und demzufolge auch sein logischer Inhalt sich verändert,
ist es umgekehrt das Gebiet der Anwendungen des Gesetzes, das mit
der steigenden Anzahl der Veränderlichen zunimmt. So verwandelt
sich das nämliche Gesetz, das in der Form einer Differentialglei-
chung zwischen zwei Veränderlichen die Tangente einer ebenen Kurve
bestimmt, in ein Gesetz für die tangierende Ebene einer krummen
Oberfläche, wenn es auf drei Veränderliche ausgedehnt wird. Auch hier
trägt diese wachsende Begrifisallgemeinheit einen durchaus spezi-
fischen Charakter an sich, durch den sie sich von sonstigen logischen
Überordnungen unterscheidet. Ein n-fach ausgedehntes Gebiet ist dem
Gebiet von der Ausdehnungszahl n — 1 übergeordnet, weil sich dieses
in jenem konstruieren läßt, während keine Möglichkeit vorliegt, ohne
die Hinzunahme weiterer Hilfsmittel aus dem zweiten in das erste zu
gelangen. Hier läßt sich also das Gebiet niederer Ordnung stets als
ein Spezialfall betrachten, der aus dem Gebiet höherer Ordnung durch
beschränkende Bedingungen hervorgeht. Die letzteren bestehen aber
nicht, wie bei dem Übergang von der Gattung zur Art, in der Ein-
führung determinierender Merkmale, die dem Gattungsbegrifi fehlen,
sondern im Gegenteil in der Abstraktion von weiteren Bestimmungen,
die dem höheren Begriff eigen sind.
In der Aufstellung der Differentialgleichungen besteht nun überall
*) Vgl. Riemann, Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen. Einl.
Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 263
die nächste Aufgabe bei den Anwendungen der Infinitesimalmethode.
In gewissen Fällen können die vorgelegten Probleme schon durch die
Untersuchung dieser Gleichungen gelöst werden. Dies findet regel-
mäßig dann statt, wenn der logische Charakter des Problems nur die
Kenntnis jener allgemeinsten Gesetzmäßigkeit verlangt, die in der
Differentialgleichung ihren Ausdruck findet. Die Bestimmung der
Tangente und der Krümmung einer Kurve, der Maxima und Minima
der Funktionen, die Formulierung der allgemeinen Bewegungsgesetze
sind Aufgaben solcher Art. Bei einer zweiten Reihe von Problemen
dagegen ist die Aufstellung der Differentialgleichungen nur ein vor-
bereitendes Geschäft, indem die eigentliche Lösung eine einfache oder
mehrfache Integration voraussetzt. Dies ist überall da der Fall, wo es
sich darum handelt, die Beschaffenheit der ursprünglichen Funktion
zu erkennen, deren Differentialgleichung gegeben ist, oder wo das in
der Differentialgleichung aufgestellte Gesetz auf Messungen angewandt
werden soll, für die spezielle Bedingungen vorhanden sind, wie auf
die Messung der Zeit einer Bewegung, der Länge einer Kurve, des Inhalts
einer Fläche oder eines Körperraumes. Die Integralformeln, zu denen
man bei der Lösung solcher Aufgaben gelangt, bilden eine Art Zwischen-
glied zwischen der in der Differentialgleichung ausgedrückten derivierten
und der primären Funktion. Die Integralformel, die sich lediglich
durch das Integrationssymbol und unter Umständen durch hinzu-
tretende Konstanten von dem Differentialausdruck unterscheidet, be-
zeichnet hierbei die Herstellung der ursprünglichen Funktion zunächst nur
als eine Aufgabe. Es ist aber umso wichtiger, diese Aufgabe symbolisch
ausdrücken zu können, als erstens zahlreiche Fälle vorkommen, in denen
eine exakte Lösung derselben unmöglich ist und dennoch ein Ausdruck
notwendig wird, der für den Zusammenhang des mathematischen
Gedankengangs diese Lösung als vollzogen postuliert, und als es zweitens
andere Fälle gibt, in denen eine Integralformel der allgemeine Aus-
druck für eine große Zahl einzelner Funktionen ist, die sämtlich dem
durch die erstere repräsentierten Gesetze unterworfen sind. Infolge-
dessen ist der Geltungsbereich eines unbestimmten Integrals ein ebenso
weiter, wie derjenige der zugehörigen Differentialgleichung. Der Über-
gang auf die speziellen Funktionen, den dasselbe vermittelt, wird durch
die willkürlichen Konstanten nur angedeutet, indem diese dem Aus-
druck einen Bestandteil hinzufügen, dessen Fixierung sofort das all-
gemeine in ein konkretes Gesetz umwandelt. Darum richtet sich auch
die Zahl dieser Konstanten nach dem Umfang des durch die Differential-
gleichung repräsentierten Gesetzes. Einer Differentialgleichung nter
264 Die Logik der Mathematik,
Ordnung entsprechen n Integrationen, deren jede die Bestimmung
einer andern willkürlichen Konstanten voraussetzt. Diese sämtlichen
Konstanten finden sich daher in dem Integral, und sie verleihen dem-
selben die nämliche Allgemeinheit, wie sie die Differentialgleichung
besitzt. Erst durch die sukzessive Ausführung der Integrationen,
durch welche die Konstanten eine nach der anderen determiniert
werden, gewinnt die Integralformel allmählich eine konkretere Be-
deutung. Außerdem besteht ein wichtiges Hilfsmittel, durch das
von vornherein der Geltungsbereich der Integralformeln verengert
wird, in der Voraussetzung gewisser Grenzen für die Argumente der
Funktionen, wodurch die unbestimmten in bestimmte Integrale über-
gehen. Die einzelnen Methoden, die zur Berechnung der Funk-
tionen aus den Integralformeln befolgt werden, sind jedoch von aus-
schließlich mathematischem Interesse. In logischer Beziehung be-
dürfen nur noch die Anwendungen, welche gewisse Integralformeln
zur Lösung bestimmter Klassen von Problemen finden, einer kurzen
Hervorhebung.
In dem bestimmten Integral wird zunächst zwar die Allgemeinheit
des unbestimmten beschränkt, aber zwischen den für dasselbe einge-
führten Grenzen bleibt immer noch eine Mannigfaltigkeit einzelner
Funktionsformen möglich. Es kann nun die Aufgabe gestellt werden, aus
dieser gewisse einzelne Funktionen zu finden, die einen ausgezeichneten
Charakter besitzen. Ein solcher ist dann gegeben, wenn die Funktion
im Vergleich mit den ihr benachbarten einen Maximal- oder Minimalwert
erreicht. Konkrete Beispiele, die unter diese Aufgabe fallen, ergeben
sich nicht selten bei den geometrischen und physikalischen Anwendungen
der Infinitesimalmethode. Hierher gehört z. B. die Ermittlung der
kürzesten Linie, die auf einer gegebenen Fläche zwischen zwei ge-
gebenen Punkten gezeichnet werden kann, oder die Bestimmung der-
jenigen Kurve, in der ein Körper, wenn er sich unter dem Einfluß der
Schwere zwischen zwei gegebenen Punkten bewegt, in der kürzesten
Zeit fällt u. dgl. Diese Aufgaben besitzen eine vollständige Analogie
mit denen, welche die Differentialgleichung in der Theorie der Maxima
und Minima erledigt; sie unterscheiden sich nur darin, daß es sich bei
ihnen nicht um die Vergleichung einzelner ausgezeichneter Punkte der
eine Funktion repräsentierenden Kurve oder Oberfläche mit den benach-
barten Punkten, sondern um eine Vergleichung der ganzen Form jener
Kurven oder Oberflächen, die durch eine bestimmte Integralformel
repräsentiert werden, handelt. Wie man also bei dem entsprechenden
Problem der Differentialrechnung von einem gegebenen Punkt einer
Die Anwendungen der Infinitesimalmethode, 265
Kurve zu dem ihm benachbarten .gelangt, so hier von einer gegebenen
Kurve zu derjenigen, die in der Schar stetig ineinander übergehender
Kurven, welche dem nämlichen allgemeinen Gesetze folgen, ihr benach-
bart ist. Es ist klar, daß diese Aufgabe gleichzeitig der Integral- und der
Differentialrechnung angehört, insofern die Differentialmethode, die
zur Bestimmung der Maxima und Minima einer Funktion dient, auf
gegebene Integralformeln angewandt werden muß. Eine solche Diffe-
rentiation in Bezug auf bestimmte Integrale ist von Lagrange als
Variation bezeichnet worden. Der Algorithmus der Variation ist hier-
nach an sich nicht verschieden von dem der Differentiation, und seine
Anwendung ist immer dann gefordert, wenn eine Funktion V in der
Form eines bestimmten Integrals gegeben ist, dessen Wert so bestimmt
werden soll, daß 9 V = 0 wird, während 9°? V im allgemeinen einen von
null verschiedenen Wert annimmt, worin 9 das von Lagrange einge-
führte Symbol der Variation bedeutet. Die nähere Ausführung der Me-
thode beruht nun wesentlich darauf, daß die Variation der Funktion V
in die Variation ihrer Bestandteile, der abhängig Veränderlichen und
ihrer Differentialquotienten verschiedener Ordnung, zerlegt wird. Logisch
ist aber der Variationskalkul hauptsächlich deshalb bemerkenswert, weil
er die Fruchtbarkeit der Integrationssymbolik in ein helles Licht setzt;
denn gerade die Allgemeinheit der durch ein Integral repräsentierten
Funktion macht es möglich, auf dasselbe jene Regeln der Differential-
methode anzuwenden, die zur Ermittlung ausgezeichneter Werte einer
Funktion dienen.
Auf der nämlichen Allgemeinheit der Integralformeln beruht eine
zweite Anwendung, die noch von größerer Tragweite ist als die eben
besprochene. Sie besteht darin, daß gewisse bestimmte Integrale
und die ihnen entsprechenden transzendenten Funktionen die Be-
deutung von Hilfsfunktionen übernehmen, die den einfachen
transzendenten Funktionen und ihren Umkehrungen entsprechen, aber
zur Darstellung komplizierterer Gesetze als diese sich eignen. Diese
Aufgabe erfüllen die höheren transzendenten Funktionen, die sich im
allgemeinen an bestimmte Integralformeln anlehnen. Auch in dieser
Beziehung bilden die einfachen Funktionen ihr Vorbild. So ist nach
den elementaren Regeln der Differentiation
darsinz _ 1
dz Vı1—: :
und deshalb, wenn man Grenzen einführt, welche die willkürliche Kon-
stante des Integrais zu beseitigen gestatten,
266 Die Logik der Mathematik,
z
: 1x
atcsıınz = SEE u
van a x? %
f)
d. h. die Kreisfunktion läßt sich entstanden denken aus dem Integral
einer gebrochenen algebraischen Funktion zweiten Grades. Demgemäß
darf man von vornherein voraussetzen, daß ein Integral von der Form
z
dz
0
also ein Integral einer gebrochenen algebraischen Funktion vierten
Grades, ebenfalls dem Bogen einer Kurve entspricht, und daß man
durch die Umkehrung dieser Bogenfunktion eine dem Sinus analoge
Funktion erhalten wird. Auf diese Weise gewinnt man in der
Tat trigonometrische Funktionen höherer Ordnung, die ellipti-
schen Funktionen, die insofern eine allgemeinere Bedeutung
besitzen, als sie sowohl die einfachen trigonometrischen Funktionen
wie die Exponentialfunktionen als spezielle Fälle in sich schließen.
Denn setzt man in dem allgemeinen elliptischen Integral die Konstante
k=0, so geht dasselbe in das Integral für are sin x über, und setzt
man k==1, so verschwindet im Nenner das Wurzelzeichen, und man
E4
erhält a en welches Integral der logarithmischen Funktion >
0
1+x
1— x
reelle, die ihnen entsprechenden Exponentialfunktionen eine imaginäre
Periodizität besitzen (S. 232), so vereinigen die elliptischen Funktionen
beide Eigenschaften in sich: sie sind doppelperiodische Funktionen.
Die logische Bedeutung dieser durch die Vermittlung algebraischer
Integrale gewonnenen neuen Hilfsfunktionen besteht demnach darin,
daß sie den mathematischen Ausdruck für den Begriff der periodischen
Veränderung verallgemeinern und so eine genaue Darstellung solcher
Vorgänge gestatten, für welche die einfachen periodischen Funktionen
nicht zureichen. In der nämlichen Richtung, in der aus den trigono-
metrischen die elliptischen Funktionen hervorgegangen sind, läßt sich
nun weiter fortschreiten, indem man zu Funktionen sechsten, achten
Grades u. s. w. übergeht. So entstehen die verschiedenen Ordnungen
der sogenannten hyperelliptischen Integrale. Entspre-
log entspricht. Da die trigonometrischen Funktionen eine
Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 267
chend der Beschränkung der komplexen Größen auf die Darstellung in
einer Ebene zeigt sich übrigens, daß eindeutige Funktionen von mehr
als zwei Perioden unmöglich sind. In logischer Beziehung bieten diese
Entwicklungen nur noch zu zwei Bemerkungen Anlaß. Erstens sehen
wir, daß alle höheren transzendenten Funktionen aus den einfachen
analytisch durch die Anwendung des Permanenzprinzips hervorgehen,
wobei aber dieses nicht direkt auf die Funktion selbst, sondern zunächst
auf die arithmetischen Operationen, die zu ihr führen, angewandt
werden muß. Eben darum bilden gewisse Integralformen, in denen
diese Operationen in einem geschlossenen Ausdruck zusammengefaßt
werden, die Übergangsglieder. Zweitens zeigt es sich, daß die Allgemein-
heit der Funktion mit ihrer Ordnung, bezw. mit der ÖOrdnungszahl
des algebraischen Ausdrucks, welchen das ihr entsprechende Integral
enthält, zunimmt. Diese Allgemeinheit bezieht sich aber lediglich auf
die umfassende Natur des durch die Funktion repräsentierten Gesetzes.
Jede Funktion höherer Ordnung schließt die Funktionen niederer
Ordnung, aus denen sie durch die Anwendung des Permanenzprinzips
hervorgegangen ist, als Spezialfälle in sich. Doch gehen diese Spezial-
fälle auch hier aus der allgemeineren Form nicht durch den Hinzutritt
determinierender Bedingungen hervor, sondern im Gegenteil dadurch,
daß bestimmte Elemente, die in der allgemeineren Form enthalten sind,
zum Verschwinden kommen. So läßt sich denn überhaupt diese wach-
sende Determination der Begriffe in aufsteigender Richtung als der
spezifische Charakter mathematischer Überordnung be-
trachten.
Schließlich liegt die Bemerkung nahe, daß auf dem angedeuteten
Wege, vermöge der auch in diesem Fall unbeschränkten Anwendbarkeit
des Permanenzprinzips, die Ableitung neuer Funktionen von zuneh-
mender Allgemeinheit eine unbegrenzte ist. Aber es ist ebenso gewiß,
daß man gerade infolge dieser zunehmenden Allgemeinheit an eine
Grenze kommen muß, wo die Verwendbarkeit der so entwickelten
Funktionen in der Form von Hilfsfunktionen fraglich wird. Diese
Grenze wird namentlich dann erreicht, wenn die Funktionen einen
vieldeutigen Charakter gewinnen. In der Fähigkeit, neue Funktions-
formen zu erzeugen, bekundet übrigens die Integration wiederum ihre
Verwandtschaft mit den inversen Operationen der Arithmetik. Aus
diesen sahen wir sukzessiv neue Zahlsysteme entspringen, aus der
Subtraktion die negativen, aus der Division die gebrochenen und irra-
tionalen, aus der Radizierung die komplexen Zahlen, und aus den
beiden letzteren Operationen außerdem die gebrochenen und die kom-
268 Die Logik der Mathematik.
plexen Funktionen. Im Gegensatze zu dieser prinzipiellen Entwicklung
waren die einfachen Formen transzendenter Funktionen zunächst aus
zufälligen Betrachtungsweisen hervorgegangen, denen nur mittels der
Übertragung auf alle möglichen analogen Größenverhältnisse eine all-
gemeinere Bedeutung beigelegt werden konnte. Auf eine solche wies
überdies die Beziehung der Exponentialfunktionen und trigonometri-
schen Funktionen zueinander und der letzteren zu den Funktionen
komplexer Variabeln hin. Erst durch die Infinitesimalmethode wird
nun der vollständige Zusammenhang der transzendenten und der alge-
braischen Funktionen aufgeklärt. Auch die Größensysteme der transzen-
denten Funktionen können nämlich unmittelbar aus den ursprünglichen
Zahlen und den aus ihnen gebildeten algebraischen Funktionen durch
eine inverse Operation abgeleitet werden: diese Operation ist die Inte-
gration. Wie die Aufgaben, jeden beliebigen Bruch und jede Wurzel
aus einer negativen Größe in einer einfachen Zahl darzustellen, durch
die irrationalen und komplexen Zahlen gelöst werden, so führt das
Problem, aus derivierten Funktionen von algebraischer Form die ur-
sprünglichen Funktionen, von welchen sie abgeleitet sind, zu finden,
unter gewissen Bedingungen direkt zu der Aufstellung der transzen-
denten Funktionen. Dieser Weg ist aber auch insofern der allgemeinere,
als sich auf ihm mit den niederen zugleich die höheren Formen dieser
Funktionen ergeben.
Dritter Abschnitt.
Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der
Naturforschung.
Erstes Kapitel.
Entwicklung und Gliederung der Naturwissenschaften.
1. Die Entwicklung der Naturwissenschaften.
So innig die Beziehungen sind, die Mathematik und Naturforschung
verbinden, so weit entfernen sich beide voneinander in den Bedingungen
ihrer Entwicklung. Vermöge der einfachen Natur der Erfahrungen,
die den Begriffen von Zahl und Ausdehnung zu Grunde liegen, hat die
Mathematik in dem Augenblick, wo sie in das Licht der Geschichte
trat, den Gang einer gesicherten Wissenschaft eingeschlagen. Die
Naturforschung dagegen erscheint von Anfang an als ein Schauplatz
des Kampfes widerstreitender Weltanschauungen. Spät erst und zu-
nächst bloß auf beschränkten Gebieten hat in ihr durch die Sicher-
stellung allgemein anerkannter Ergebnisse eine friedlichere Entwick-
lung beginnen können. Allmählich sind dann die methodischen Gesichts-
punkte, denen man solche Ergebnisse verdankte, auch auf andere
Gebiete übertragen worden. Doch die Nachwirkungen jener Kämpfe
werden in der Unsicherheit der Grundbegriffe heute noch überall fühl-
bar ; sie verraten sich in dem Zweifel über die Bedeutung der einfachsten
Prinzipien der Mechanik ebensogut wie in den wechselnden Anschau-
ungen über den Ursprung der verwickeltsten Lebenserscheinungen.
Die Aufgabe der Naturwissenschaften besteht in der metho-
dischen Erforschung der einzelnen Naturerscheinungen. Diese Aufgabe
ist aber allmählich aus anderen, älteren Formen der Naturbetrachtung
entstanden. Den Banden mythologischer Weltanschauung entwand sich
in den ersten Anfängen der Wissenschaft die philosophische Betrach-
tung des Weltganzen, und aus ihr sind in viel späterer Zeit erst die ein-
zelnen Naturwissenschaften hervorgegangen. Dieses Verhältnis hat
auf die gesamte Entwicklung der letzteren seine Schatten geworfen.
270 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Während das System der Mathematik aus speziellen Ergebnissen und
Verfahrungsweisen in stetiger Entwicklung zu einem Ganzen sich
fügte, fand die naturwissenschaftliche Forschung bereits als sie begann
zusammenhängende Naturanschauungen vor, die sich jede neu gefundene
Tatsache dienstbar zu machen strebten, und die auf die Methoden, die
man zur Auffindung der Tatsachen benützte, einen beherrschenden
Einfluß ausübten. Uns erscheint dies jetzt als eine Umkehrung der
naturgemäßen Verhältnisse. Wir verlangen, daß der Philosophie
überall durch die Erfahrungswissenschaften der Boden bereitet werde.
Gleichwohl wäre es unbillig, wenn man der alten Naturphilosophie
vorwerfen wollte, daß ihr diese Ansicht fremd war. Mag auch infolge
seines der Erkenntnis vorauseilenden Strebens der menschliche Geist
die größten Schwierigkeiten sich selbst schaffen, — das Interesse an
der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Dinge ist ein so un-
geheures, daß sich jede Zeit damit abfinden muß.
Es liegt nahe, als den wichtigsten Grund, weshalb die Natur-
wissenschaft der Griechen so weit hinter den Leistungen auf andern
Gebieten zurückblieb, ihren gänzlichen Mangel an methodischen Hilfs-
mitteln anzusehen. Welchen Erfolg konnte eine Naturforschung haben,
die auf Zeitbestimmungen ohne Uhr, Temperaturvergleichungen ohne
Thermometer, astronomische Beobachtungen ohne Fernrohr vertrauen
mußte?*) Man vergißt aber bei dieser Frage, daß die mangelnde Er-
findung solcher Hilfsmittel selbst schon eines der lautesten Zeugnisse
für den Mangel der richtigen Methode naturwissenschaftlicher For-
schung ist. Überdies, ein Hipparch und Archimedes hatten ohne
vollkommenere Instrumente, jener die Grundlagen der exakten Astro-
nomie gelegt, dieser die allgemeinsten Gesetze der Statik fester und
flüssiger Körper aufgefunden. Sogar die schiefen Rinnen und die
primitiven Wasseruhren, deren sich Galilei bei seinen Fallversuchen
bediente, hätten nötigenfalls schon dem Aristoteles zur Verfügung
gestanden. Nicht die äußeren Hilfsmittel sind es, die der Methode
der neueren Naturforschung ihr charakteristisches Gepräge verleihen,
sondern die in ihr herrschende Form der Naturbetrachtung. Und
diese war es zugleich, welche die Werkzeuge exakter Beobachtung mit
der nämlichen inneren Notwendigkeit schaffen mußte, mit der die
Aristotelische Naturphilosophie niemals zu ihnen führen konnte.
An solche tiefer liegende Gegensätze mochte man denken, wenn
die Ursachen des Mißerfolgs antiker Naturforschung in die kurze
*) Vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 3. Aufl., II, 2, S. 250.
Die Entwicklung der Naturwissenschaften, ar
Formel gefaßt wurden, es habe den Alten weder an Tatsachen noch
an Ideen gemangelt, ihre Ideen seien aber zu unbestimmt und zu
wenig angemessen den Tatsachen gewesen*). Mit größerem Rechte
könnte man vielleicht sagen: die ihnen bekannten Tatsachen waren zu
unbestimmt, und sie wurden dadurch verführt, an die Stelle der Tat-
sachen ihre eigenen Ideen zu setzen. Aber alle diese Erklärungen,
die mehr auf äußere Unterschiede als auf Ursprung und Bedeutung
der verschiedenartigen Naturanschauungen Rücksicht nehmen, ver-
gleichen, was im Grunde unvergleichbar ist. Die Alten besaßen eine
Naturphilosophie, aber keine irgend nennenswerte Naturwissenschaft.
Als diese ihre ersten Schritte zu machen begann, fand sie darum keines-
wegs freies Feld vor, sondern ihr Gebiet war im Besitz einer philo-
sophischen Weltbetrachtung, die mit ihren allgemeinen Antworten
auch dem einzelnen seine bestimmte Bedeutung anwies,. So kommt
es, daß die Geschichte der Naturforschung von ihren ersten Anfängen
an den Charakter eines Besitzstreites hat, und daß sıe diesen Charakter
bis in unsere Tage herab jedesmal von neuem annimmt, sobald für
ein neues Gebiet festere Beziehungen zu den bereits sicher begründeten
Zweigen der exakten Wissenschaft gewonnen werden. Bei diesem
Besitzstreit tritt regelmäßig eine neue Betrachtungsweise, die jede
Erscheinung in ihre einfachsten empirischen Bestandteile zu zerlegen
sucht, einer älteren bis dahin herrschenden gegenüber, welche die
Unterordnung jeder einzelnen Tatsache unter gewisse allgemeine Be-
griffe als ihre Aufgabe ansieht. Wenn wir die erste dieser Betrach-
tungsweisen die naturwissenschaftliche, die zweite die naturphilo-
sophische nennen, so soll damit nicht die wirkliche Aufgabe der Natur-
philosophie, sondern nur die historische Stellung angedeutet sein, die
sie bis dahin eingenommen. Diese historische Stellung ist aber wesent-
lich dadurch bedingt, daß die Naturphilosophie der naturwissenschaft-
lichen Forschung vorausging und daher in ihren Anfängen ganz und
gar auf die gemeine Erfahrung gegründet war. Indem sich diese einem
hoch ausgebildeten logischen Denkvermögen gegenüber befand, konnte
kaum ein anderes Resultat zu stande kommen als dasjenige, das in
der Naturphilosophie der Griechen niedergelegt ist. In die unendliche
Fülle mannigfach verketteter Erscheinungen, welche die Naturbeob-
achtung darbietet, muß eine erste wissenschaftliche Auffassung vor
allem durch eine nach logischen Gesichtspunkten unternommene
*) Whewell, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch von
Littrow. I,S. 69 £.
372 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung,
Klassifikation eine gewisse Ordnung zu bringen suchen. Stets hat
daher die tiefer eindringende Forschung gegen einen logischen Schema-
tismus zu kämpfen, der in voreiliger Weise ein Wissensgebiet systematisch
abschließt, und der die Dinge zu erklären meint, indem er sie einteilt.
Eine so gewonnene Naturanschauung kann auf lange hinaus das wissen-
schaftliche Bedürfnis befriedigen. Darum verdanken auch die ersten
Regungen der exakten Naturforschung im Altertum nicht dem theo-
retischen Interesse, sondern praktischen Bedürfnissen ihren Ursprung.
Dem theoretischen Interesse an den Himmelserscheinungen war durch
die unbestimmten Vorstellungen über den Umschwung der Gestirn-
sphären, wie sie sich bei Plato und Aristoteles finden, Genüge geleistet;
aber zum Zweck einer exakten Jahreseinteilung bedurfte man quanti-
tativer Bestimmungen, die schließlich in einer für die Hilfsmittel der
Alten erreichbaren Genauigkeit in dem astronomischen System eines
Hipparch und Ptolemäus ihren Abschluß fanden. Durch das Pro-
blem, den Silbergehalt einer goldenen Krone zu bestimmen, wurde
Archimedes, wie man erzählt, zu seinen hydrostatischen Entdeckungen
veranlaßt. Wie ein Körper von gegebener Form zu unterstützen sei,
um seinen Fall zu verhindern, wie eine gegebene Kraft in Bewegung
zu setzen, wie die Spannung einer Bogensehne zunehmen müsse, wenn
die erzielte Kraft um ein bestimmtes Maß wachsen solle: diese und
ähnliche praktische Aufgaben haben einen Archimedes und Heron
von Alexandrien zu ihren mechanischen Untersuchungen geführt.
Unter allen Naturerscheinungen sind nun aber die Bewegungen
schwerer Körper vermöge der Einfachheit der zu ihrer Beobachtung erfor-
derlichen Methoden am leichtesten einer exakten Untersuchung zugäng-
lich. Die Mechanik ist daher die einzige Naturwissenschaft, deren An-
fänge bis in das Altertum zurückreichen. Indem sich die Mechanik des
Archimedes auf statische Probleme beschränkte, bedurfte sie nur
einer kleinen Zahl physikalischer Voraussetzungen; ihr wesentlicher
Inhalt bestand daher in der statischen Verwertung geometrischer
Sätze. Selbst bei Stevinus und Galilei sind noch die Nachwir-
kungen dieser Abhängigkeit von der Geometrie zu erkennen. Doch die
Behandlung der Bewegungsprobleme mußte mit innerer Notwendig-
keit die selbständige Entwicklung der Mechanik und zugleich ihre
Rückwirkung auf die übrigen Gebiete der Naturlehre herbeiführen.
In dem nämlichen Zeitalter, welches die Fundamente der rationellen
Mechanik entstehen sah, wurden in der Tat durch Mersenne und
Snell die einfachsten Grundgesetze der Akustik und Optik entdeckt,
durch Gilbert die Eigenschaften des Magnetes zum ersten Male ge-
Die Entwicklung der Naturwissenschaften. 273
nauer erforscht, und gelang es endlich Kepler, auf der Grundlage
der Kopernikanischen Weltanschauung, die Bewegungen der Planeten
auf die Gesetze zurückzuführen, die noch jetzt seinen Namen tragen,
Ihren Abschluß fand diese Entwicklung der Physik und Astro-
nomie in der folgenden Zeit in der Gravitationstheorie Newtons,
welche der physikalischen Untersuchung auf allen Gebieten den
Weg zeigte, indem sie die Deduktion aus den allgemeinen Prin-
zipien der Mechanik als das Ziel einer jeden physikalischen Theorie
hinstellte.
Langsam folgten die übrigen Naturwissenschaften dem Beispiel,
das ihnen durch die Astronomie und die einfacheren Gebiete der Physik
gegeben war. Zur selben Zeit, als bereits die Fallversuche Galileis
eine tiefere Erkenntnis der Schwerkraft erschlossen und die Kepler-
schen Gesetze die Bewegungen der Himmelskörper einfachen Maß-
beziehungen unterworfen hatten, lag die chemische Forschung noch
in den Händen abergläubischer Goldköche, und bekämpften sich mit
wechselndem Glück die Lehren des Aristoteles und Paracelsus über
die Elemente. Erst als Robert Boyle gegen Ende des 17. Jahrhunderts
dem Begriff des Elementes die Bedeutung eines erfahrungsmäßig nicht
weiter zerlegbaren und durch konstante Eigenschaften sich unter-
scheidenden Stoffes anwies, begann die Chemie den nämlichen
Forschungsprinzipien zu folgen. Die Menge der Elemente, ihre
Beziehungen und ihre Verbindungen richteten sich nun nicht mehr
nach irgend welchen mystischen Zahlsymbolen und anderen Vor-
stellungen, die von außen an die Erscheinungen herangebracht oder
höchstens aus einigen wenigen Tatsachen abstrahiert und ungebührlich
verallgemeinert waren, sondern zur einzigen Richterin über Tatsachen
und Hypothesen wurde auch hier die Erfahrung.
Um einige Jahrzehnte früher als die Chemie hatte die Physiologie
durch William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes den ersten
Schritt auf der Bahn der exakten Forschung getan. So wichtig aber
dieser Schritt auch war, so mußte er doch für die nächste Folgezeit
in gewisser Art umso verhängnisvoller werden, je weiter noch die
übrigen Zweige biologischer Forschung zurückstanden. Denn allzu
groß ward nun die Versuchung, auf beliebige Lebensvorgänge von
unbekannter Natur die nämlichen mechanischen Prinzipien anzu-
wenden. Von Cartesius und den iatromechanischen Schulen des
17. Jahrhunderts an dauert diese Tendenz bis in unsere Tage. Der
mechanischen Auffassung stellen sich aber mit wechselndem Glück
teleologische Anschauungen entgegen. Findet die mechanische Phy-
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 18
274 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
siologie stets an dem Vorbilde der Physik und an gewissen einfachsten
Lebensvorgängen ihren Rückhalt, so stützen sich die animistisch-
vitalistischen Lehren auf das Hereingreifen psychischer Faktoren in
die höheren Lebensvorgänge und vor allem auf die eine Zweckerklärung
herausfordernde Beschaffenheit der Entwicklungserscheinungen. Dieser
Kampf ist noch nicht beendet, und noch mehr als die Physiologie selber
stehen die von ihr abhängigen Zweige der organischen Naturgeschichte
unter dem Einflusse desselben.
2. Das System der Naturwissenschaften,
" Die einzelnen Zweige der Naturwissenschaft haben sich zunächst
aus praktischen Bedürfnissen, nicht aus systematischen Rücksichten
gesondert. Dennoch entspricht diese Gliederung ihrem tatsächlichen
Erfolg wie ihrem zeitlichen Eintritte nach in hohem Grade zugleich den
logischen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Wissenschaften, sowie
den besonderen Gestaltungen der Methodik, die in ihnen herrschend
ist. Nur an einzelnen Stellen, namentlich da, wo spezielle Bedingungen,
wie sie aus der vielseitigen Verknüpfung der verschiedenen Gebiete
hervorgehen, auf eine einzelne Disziplin fördernd oder hemmend ein-
gewirkt haben, entfernt sich die historische Entwicklungsfolge von
dem systematischen Zusammenhang*).
Anfang und Grundlage aller erklärenden Naturwissenschaften ist
die Mechanik. Sie ist die allgemeinste Naturwissenschaft, inso-
fern man auf die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt, auf
die Bewegungen der Körper und ihrer Teile, alle der äußeren Wahr-
nehmung gegebenen Naturerscheinungen vermöge des Grundsatzes
der Unveränderlichkeit der materiellen Substanz zurückzuführen sucht.
Sie bildet außerdem das Bindeglied zwischen Mathematik und Natur-
forschung. Denn nicht nur besitzen diejenigen ihrer Prinzipien, die
sich auf die reine Bewegungsvorstellung beziehen, völlig den Charakter
abstrakter mathematischer Allgemeinheit, sondern selbst jene me-
chanischen Sätze, bei denen die empirisch gegebenen Eigenschaften
der Körper eine wesentliche Rolle spielen, pflegen diese Eigenschaften
auf eine ideale Form zurückzuführen, der sich die Körper unserer Er-
fahrung immer nur annähern können. Infolge dieses Übergewichts
mathematischer Abstraktion besitzt die Mechanik in höherem Grade
*) Vgl. oben Abschn. I, S. 89 ff. und über die Einteilung der Wissen-
schaften, Philos. Studien, VI, S. 1 fl.
Das System der Naturwissenschaften, 275
als irgend eine andere Naturwissenschaft einen spekulativen Charakter.
Zugleich können in ihr mit großer Schärfe die Annahmen von den Fol-
gerungen, sowie unter den ersteren diejenigen Voraussetzungen, die
in allgemeingültigen Anschauungen ihre Quelle haben, von jenen
unterschieden werden, die auf einzelnen Erfahrungen beruhen. Infolge
der vollkommen bindenden Schlußweisen endlich, durch die sich
aus einer kleinen Anzahl allgemeiner Voraussetzungen das System
der rationellen Mechanik entwickelt, ist diese auch in methodischer
Beziehung das vollendete Vorbild einer exakten Naturwissenschaft.
An die Mechanik schließt sich zunächst die Physik an. Wäh-
rend die Mechanik ihren Betrachtungen abstrakte Hypothesen zu Grunde
legt, die in keiner Erfahrung vollständig verwirklicht sind, hat die
Physik den besonderen Bedingungen Rechnung zu tragen, die für die
Geltung der mechanischen Gesetze aus den speziellen Eigenschaften
und Verbindungen der Naturobjekte entstehen. Mit Rücksicht hierauf
und in Anwendung des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Un-
veränderlichkeit der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz
Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik ihre voll-
ständige Überführung in eine angewandte Mechanik. Dabei bleibt
jedoch der Physik eine unermeßliche Fülle eigentümlicher Aufgaben
in der Erforschung der konkreten Bedingungen des Geschehens, ins-
besondere in der Gewinnung haltbarer Voraussetzungen über die
Eigenschaften der Materie und in der Deduktion der verschiedenen
Naturerscheinungen aus denselben. Gerade dadurch, daß die Physik
verpflichtet ist, ihre Annahmen den in der Erfahrung gegebenen Natur-
erscheinungen auf das genaueste anzupassen, entfernt sie sich weiter
als die Mechanik von dem Charakter einer mathematischen Wissen-
schaft, die von der empirischen Gültigkeit ihrer Voraussetzungen
unabhängig ist. Infolge der verwickelten Beschaffenheit der Erschei-
nungen und der Unsicherheit ihrer Hypothesen verliert sie zudem
sogar teilweise den Charakter einer exakten Wissenschaft, indem sie
sich vielfach genötigt sieht, an Stelle einer strengen Deduktion der
Erfahrungen aus gewissen allgemeinen Voraussetzungen eine Beschrei-
bung der durch Beobachtung und Versuch festzustellenden Tatsachen
treten zu lassen. Dieses Verhältnis hat im Verein mit pädagogischen
Rücksichten die Trennung in experimentelle und theo-
retische oder mathematische Physik herbeigeführt. Es ist
aber unrichtig, wenn man hierbei die experimentelle Physik als die
ursprüngliche Wissenschaft bezeichnet, aus der sich die theoretische
allmählich entwickelt habe, eine Ansicht, die mit der geläufigen und
2376 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
im ganzen ebenso unrichtigen Unterscheidung eines induktiven und
deduktiven Stadiums einer jeden Wissenschaft zusammenhängt. Schon
der Umstand, daß die Ausbildung der Mechanik derjenigen der Physik
vorangegangen ist, widerspricht dem. In Wirklichkeit ist darum auch
eine strenge Trennung jener beiden Disziplinen nicht durchzuführen,
sondern wie die mathematische Physik der experimentellen eine Menge
tatsächlicher Bestimmungen entnehmen muß, so pflegen anderseits
in die letztere zahlreiche Abstraktionen und Deduktionen der ersteren
einzugehen. Die mathematische Physik nähert sich übrigens nicht
bloß durch ihren streng deduktiven Charakter, sondern auch darin
der Mechanik, daß sie mit abstrakten Voraussetzungen operiert, von
denen von vornherein zugestanden wird, daß sie nur annähernd ver-
wirklicht sein können. Aber sie sucht diese Voraussetzungen so lange
umzugestalten, bis es ihr gelingt, eine völlige Übereinstimmung mit
gewissen numerischen Daten der Beobachtung herbeizuführen. Auf
diese Weise stellt sie im Verein mit der Mechanik die Vermittlung
her zwischen mathematischer Spekulation und empirischer Forschung.
In ihrem weitesten Sinne umfaßt die Physik das Gesamtgebiet
des Naturgeschehens. Dieses trennt sich dann aber zunächst in zwei
Teile, deren Inhalt von den verschiedenen Gesichtspunkten abhängt,
unter denen das hypothetische Substrat der Naturerscheinungen, die
Materie, der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist. Eine
Reihe allgemein verbreiteter Naturerscheinungen weist nämlich auf
die allgemeinen Eigenschaften zurück, welche der Materie ohne Rück-
sicht auf jene spezifischen Verschiedenheiten zukommen, die den cha-
rakteristischen Unterschieden der einzelnen Naturkörper zu Grunde
liegen. Die Erscheinungen der Schwere, der Wärme, des Lichtes
u.s. w. sind Naturerscheinungen, für deren Gestaltungsweise zwar die
Unterschiede der Naturkörper nicht gleichgültig sind, bei deren Er-
klärung aber doch ein Zurückgreifen auf spezifische Stoffunterschiede
schon deshalb ausgeschlossen ist, weil sie an Körpern von sehr ver-
schiedenen materiellen Eigenschaften in übereinstimmender Weise
auftreten. Die Betrachtung dieser allgemeinen Naturerscheinungen
ist daher die Aufgabe der eigentlichen Physik, während die Untersuchung
jener Eigenschaften der Körper, deren Erklärung die Annahme irgend
welcher spezifischer Stoffunterschiede erheischt, der Chemie an-
heimfällt.
Ein hiervon verschiedener Gesichtspunkt hat noch zu einer weiteren
Spaltung der Physik den Anlaß geboten. Der Biologie bleiben
alle Naturerscheinungen vorbehalten, die, unter dem Gesichtspunkt
Das System der Naturwissenschaften. 277
des Zweckes zusammengefaßt, als Lebenserscheinungen
bezeichnet werden. Damit sollen diese keineswegs der allgemeineren
physikalischen und chemischen Betrachtung entzogen sein, sondern
es wird bloß der eigentümliche Charakter angedeutet, den bestimmte
zusammengesetzte Ergebnisse physikalischer und chemischer Funda-
mentalerscheinungen annehmen. In diesem Sinne betrachtet erscheint
die Biologie als ein Anwendungsgebiet der Physik und Chemie, das zu
diesen seinen Mutterwissenschaften in einem ähnlichen Verhältnisse
steht wie die theoretische Maschinenkunde zur allgemeinen Mechanik.
Die Biologie beschäftigt sich mit der Anwendung der physikalischen
und chemischen Prinzipien auf gewisse natürliche Substanzkomplexe,
die Organismen, die mit Rücksicht auf ihre zweckmäßige Beschaffen-
heit den Charakter natürlicher Maschinen besitzen. Diese Betrach-
tungsweise reicht aber nicht mehr zu, sobald es sich um das Verständnis
jener physischen Erscheinungen handelt, die, wie insbesondere die
Entwicklungs- und Bewegungsvorgänge, mit dem geistigen Leben
in Beziehung stehen. Hier bedarf vielmehr die Biologie der Psych.o-
logie zu ihrer Ergänzung, mit der vereinigt sie das verbindende
Glied ist zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften.
Physik, Chemie und Biologie bilden dergestalt die drei aus der
Physik hervorgegangenen Hauptzweige der theoretischen Naturlehre.
Jeder dieser Hauptzweige läßt aber wieder einzelne Anwendungen auf
die verschiedenen Naturobjekte zu, und hieraus entspringt dann eine
größere Anzahl von Sondergebieten, deren jedes aus der Anwendung
irgend einer der drei Hauptdisziplinen oder mehrerer von ihnen auf
einzelne Gegenstände der Natur hervorgeht.
Der allgemeinen Physik, die sich mit den Naturerscheinungen
ohne spezielle Rücksicht auf bestimmte räumliche und zeitliche Be-
dingungen beschäftigt, ordnet sich so die kosmische Physik
unter als eine Wissenschaft, welche die Ableitung der uns gegebenen
Weltordnung aus den allgemeinen physikalischen Gesetzen zu ihrem
Gegenstande hat. Sie zerfällt wieder in zwei Gebiete: indie Astro-
nomie, deren Aufgabe in der Darlegung der wechselseitigen Bezie-
hungen der Weltkörper besteht, und in die Astrophysik, die
die physikalischen Eigenschaften derselben zergliedert, und der daher
auch die Geophysik als ein wesentlicher Bestandteil zuzurechnen
ist. Die wechselseitigen Beziehungen der Weltkörper finden ihren
nächsten Ausdruck in der allgemeinen Topographie des Sternhimmels,
die den Gegenstand der deskriptiven Astronomie ausmacht.
Sie bildet zusammen mit der Geographie den Inhalt der oben
278 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
(S. 93) charakterisierten „chorologischen Wissenschaften“. An die
Topographie der Gestirne schließt sich sodann als phänomenologische
Disziplin die Himmelsmechanik, welche die zeitlichen Änderungen
in der wechselseitigen Lage der Gestirne als ein Anwendungsgebiet
der Mechanik schwerer Körper behandelt, ausgezeichnet durch die ver-
hältnismäßig einfachen Bedingungen, unter denen die Bewegungen statt-
finden. Von den sonstigen physischen Eigenschaften der Weltkörper
fallen nur diejenigen, die auf die Entstehung der gegenwärtigen Welt-
ordnung Licht werfen, der Mitberücksichtigung der Astronomie an-
heim. Hier ist dann die letztere auf die Resultate angewiesen, welche
die Astrophysik bei der Untersuchung der einzelnen Sterne gewonnen
hat. Die nämlichen Ursachen aber, die eine frühzeitige Ausbildung
der astronomischen Wissenschaft möglich machten, bedingen eine sehr
langsame Entwicklung der astrophysischen Kenntnisse, da sich diese
naturgemäß auf die durch die Hilfsmittel des Gesichtssinns wahr-
zunehmenden Erscheinungen beschränken. So vollständig nun diese
Hilfsmittel zum Aufbau der Mechanik des Himmels genügen, ebenso
unzureichend sind sie im allgemeinen zur Erforschung der übrigen
physikalischen Eigenschaften der Gestirne. Nur ein einziger Welt-
körper macht in dieser Beziehung eine Ausnahme: unsere eigene Erde.
Die Geophysik ist daher unter allen Zweigen der Astrophysik der
vollkommensten Ausbildung fähig, so daß hier das praktische Bedürfnis
zu einer Teilung in verschiedene Zweige geführt hat. Unter ihnen
nimmt die physikalische Geographie die Stelle einer
allgemeinen Geophysik ein, indem sie von den allgemeinsten Eigen-
schaften des Erdkörpers und ihren wechselseitigen Beziehungen Rechen-
schaft zu geben sucht. Sie stützt sich dabei teils auf die spezielleren
Teile der Geophysik, die sich nach einzelnen Seiten hin mit den phy-
sischen Eigenschaften der Erde beschäftigen, wie Meteorologie und
Klimatologie, Chorologie und Geologie; teils verbindet sie sich mit der
organischen Naturgeschichte und bildet so die besonderen Gebiete der
Pflanzen-, Tier- und Anthropogeographie. Hier berührt sich aber
wieder die Geologie mit der Chemie, die Pflanzen- und Tiergeographie
mit der Biologie, und die Anthropogeographie tritt in ein näheres Ver-
hältnis zu den Geisteswissenschaften, insbesondere zur Geschichte und
Völkerkunde. Hierin findet das allgemeine Prinzip seinen Aus-
druck, daß die wissenschaftlichen Gebiete umsomehr ineinander ein-
greifen, je mehr sie sich auf konkrete Naturgegenstände und nicht
auf allgemeine Erscheinungen beziehen.
Von verschiedenartigen Motiven ist die Gliederung der Chemie
Das System der Naturwissenschaften, 279
bestimmt worden. Bei der Einteilung in jene beiden Hauptzweige,
welche die wenig angemessenen Namen der unorganischen und
der organischen Chemie tragen, haben hauptsächlich zwei
Gesichtspunkte zusammengewirkt. Auf der einen Seite schien es
wünschenswert, die fundamentalen Eigenschaften der chemischen
Elemente und ihrer Verbindungen in einem grundlegenden Teile zu
behandeln, dem dann die systematische Beschreibung der einzelnen
Verbindungen in einer besonderen Disziplin zu folgen habe. Auf der
anderen Seite forderten die Kohlenstoffverbindungen durch ihre Zahl
und ihre Eigenschaften eine abgesonderte Behandlung heraus. Infolge
dieser heterogenen Motive trägt die Einteilung in unorganische und
organische Chemie fast mehr das Gepräge einer praktischen Arbeits-
teilung als einer aus den inneren Eigenschaften des Gegenstandes
erwachsenen Trennung. Waltet auch in der unorganischen Chemie,
insofern sie es mit den allgemeinen Grundlagen der chemischen Wissen-
schaft zu tun hat, im ganzen mehr der Versuch theoretischer Erklärung,
in der organischen der Standpunkt systematischer Klassifikation vor,
so hat sich doch teils infolge der Hereinziehung eines großen Teils des
Systems der chemischen Verbindungen in die unorganische Chemie,
teils infolge der Verwertung gerade der Kohlenstoffverbindungen zu
theoretischen Spekulationen dieses Verhältnis mannigfach verschoben.
Auch hat wohl hauptsächlich dieser Umstand zur Abzweigung der
allgemeinen oder physikalischen Chemie Anlaß ge-
geben. Indem man in ihr alle diejenigen Untersuchungen vereinigt,
die irgend eine direkte Beziehung zur Erklärung der chemischen Fun-
damentalerscheinungen besitzen, vollendet sich mehr und mehr die
Scheidung in enetheoretischeundineinesystematische
Chemie. Davon fällt der ersteren die theoretische Erklärung der che-
mischen Erscheinungen, der zweiten die systematische Klassifikation
und Beschreibung der chemischen Verbindungen zu.
Abermals von anderen Gesichtspunkten aus hat sich die Gliede-
rung der Biologie vollzogen. Zunächst erwies sich hier eine ein-
gehende Kenntnis des Baues und der Struktur der Organismen als
unerläßliche Bedingung des Studiums der Lebenserscheinungen. Es
schieden sich daher zunächst de Anatomie und die Physio-
logie der Pflanzen und der Tiere. Bildet als bloß deskriptive Wissen-
schaft betrachtet die Anatomie die Vorbereitung zur Physiologie, so
ist sie als erklärende Untersuchung der Formentwicklung oder als Ent-
wicklungsgeschichte ein integrierender Bestandteil derselben. Die
Physiologie trennt sich sodann nach der durchgreifenden Verschieden-
380 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
heit der Lebenserscheinungen in die Physiologie der Pflanzen und in
die Physiologie der Tiere. Aus beiden hat sich die allgemeine
Physiologie als dasjenige Gebiet abgesondert, das die all-
gemeinen Eigenschaften der Organismen und den Zusammenhang
der gesamten Lebenserscheinungen zum Objekt ihrer Untersuchungen
nimmt.
Von den in den einzelnen Gebieten der Naturlehre zur Geltung
gelangten Prinzipien aus werden nun schließlich die Anschauungen be-
stimmt, die für die systematische Erkenntnis der einzelnen Natur-
objekte gültig sind. Der alte Name der Naturgeschichte deutet
vollkommen treffend dieses Verhältnis an. Denn er bezeichnet als die
eigentliche Aufgabe einer systematischen Beschreibung der Gegen-
stände die Ableitung ihrer Eigenschaften aus den Bedingungen ihrer
Entstehung, d. h. ihre Erklärung aus bestimmten physikalischen,
chemischen oder biologischen Gesetzen. Für den jeweiligen Zustand
der systematischen Wissenschaften ist nun aber außerdem die Tat-
sache bestimmend, daß das Bedürfnis nach einer genauen Beschreibung
und einer geordneten Übersicht der Objekte schon in den Anfängen
der wissenschaftlichen Erkenntnis fühlbar wird, lange bevor in dem
entsprechenden Gebiet der Naturlehre die zu einem genetischen Ver-
ständnis erforderlichen Vorbereitungen gewonnen sind. Die Natur-
geschichte sucht daher zunächst durch provisorische, meist auf die
äußere Form der Gegenstände gegründete Einteilungen eine vorläufige
Ordnung zu schaffen, und erst in der weiteren Entwicklung ihres Systems
kommen allmählich bestimmte theoretische Anschauungen zur Geltung.
Von da an reflektiert sich dann in dem Wechsel der systematischen
Prinzipien die Entwicklung der gesamten Naturanschauung. (Vgl.
Abschn. I, S. 50 fi.) Doch ist bei der tatsächlichen Trennung der ein-
zelnen Zweige des naturwissenschaftlichen Systems voneinander der
eigentümliche Umstand nicht zu übersehen, daß die Klassifikation der
chemischen Verbindungen nicht getrennt zu werden pflegt von der
Theorie der chemischen Erscheinungen. Dies entspringt aus der nahen
Beziehung, in der hier der systematische und der phänomenologische
Teil der Untersuchung zueinander stehen. Außerdem wirkt aber dabei
auch die alte Tradition der Naturgeschichte mit, nach der nur die
natürlich vorgefundenen Objekte, nicht die künstlich erzeugten, als
Gegenstände besonderer systematischer Wissenschaften behandelt
werden. Die folgende Betrachtung wird sich übrigens umsomehr auf
die Untersuchung der Grundbegriffe und Methoden der drei grund-
legenden phänomenologischen Gebiete, der Physik, Chemie und Biologie,
Kausale und teleologische Naturphilosophie. 281
beschränken können, als in den einzelnen Zweiggebieten derselben
die prinzipiellen Gesichtspunkte unverändert bleiben, während die
logischen Grundlagen der systematischen Disziplinen bereits in der
allgemeinen Methodenlehre (Abschn. I, S. 40 fi.) erörtert worden sind.
Zweites Kapitel.
Heuristische Prinzipien der Naturforschung.
1. Kausale und teleologische Naturphilosophie.
Alle Naturforschung geht aus von der Sinneswahrnehmung. So
sehr aber schon für das naive Bewußtsein die Sinneserscheinungen
in Beziehungen zueinander treten und dadurch Versuche zusammen-
hängender Naturerklärung herausfordern, so widersetzen sich doch
die Vorstellungen der einzelnen Sinnesgebiete durch ihre verschieden-
artige Beschaffenheit einer durchgängigen Verbindung der Erschei-
nungen. Da nun gleichwohl das Erkenntnisbedürfnis zu einer solchen
drängt, so wird das einzige Auskunftsmittel ergriffen, das hier möglich
ist: man ordnet die Erscheinungen unter gewisse allgemeine Begriffe,
die aus der Wechselwirkung unseres eigenen Denkens und Handelns mit
der Außenwelt hervorgegangen sind. Die Prinzipien, die hierbei zur
Anwendung kommen, können wir heuristische nennen, weil
sie nicht als Resultate, sondern als leitende Maximen der Forschung
auftreten. Der Gebrauch dieser Prinzipien findet seine Begründung
darin, daß das denkende Subjekt niemals von den Erkenntnisformen
abstrahieren kann, die sich durch die Beziehungen, in die es zu den
Objekten seines Denkens tritt, entwickelt haben. Der berechtigten
Anwendung derselben muß darum stets die sorgfältige Untersuchung
der Frage vorangehen, ob sie notwendige Erkenntnisbedingungen
sind, und ob die Objekte, in ihrem rein erfahrungsmäßigen Zusammen-
hang betrachtet, ihnen wirklich entsprechen. An der Prüfung dieser
Frage läßt es die ursprüngliche Naturphilosophie fehlen. Sie über-
trägt ohne weiteres gewisse Allgemeinbegrifie auf die. Naturgegen-
stände. Aber weder weist sie deren spezifische Berechtigung noch über-
haupt die Zulässigkeit des ganzen Verfahrens nach; daher denn auch
ihr Gebäude skeptischen Angriffen nicht standhalten kann.
Naturgemäß sind nun die Einflüsse, welche die Gestaltung bestimm-
ter Grundanschauungen hervorrufen, von Anfang an doppelter Art: einer-
seits gibt es bestimmte Naturerscheinungen, die vor anderen die Auf-
282 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
merksamkeit fesseln, anderseits subjektive Begriffe und Gefühls-
richtungen, die als das Bewußtsein beherrschende Mächte zugleich
die Auffassung der Außenwelt lenken. Diese beiden Einflüsse grei-
fen stets ineinander: nach den Ideen, die uns lenken, richtet sich
unsere Apperzeption der Objekte, und an diesen wirken wieder gewisse
durch ihre Konstanz ausgezeichnete Eigenschaften auf unsere Ideen
zurück.
Schon in der frühesten Naturphilosophie treten uns auf diese
Weise zwei Grundanschauungen entgegen, die sich in vielfach ver-
änderten Gestalten auch noch innerhalb der späteren Naturforschung
bekämpfen. Auf der einen Seite ist die antike Atomistik beherrscht
von dem Begriff der mechanischen Kausalität. In-
dem sich die Bewegungserscheinungen, vor allem die beim Stoß
der Körper eintretenden Übertragungen der Bewegung, als ein
unmittelbar anschauliches Bild kausaler Beziehung darbieten, ent-
steht die Forderung, alle anderen Formen der Naturkausalität auf
dieses Urbild zurückzuführen und so einen einheitlichen Zusammen-
hang der Naturerscheinungen zu stande zu bringen, der zugleich
der Forderung der Notwendigkeit jedes einzelnen Geschehens genüge.
Die atomistische Hypothese erkennt an, daß zahlreiche Erscheinungen
jenem Bild des Stoßes und der Bewegung nicht unmittelbar entsprechen,
und sie betrachtet demgemäß, um gleichwohl das Postulat der mechani-
schen Naturerklärung aufrecht zu erhalten, alle sonstigen Erscheinungen
als einen sinnlichen Schein, hinter dem als reales Substrat ein der Wahr-
nehmung unzugänglicher mechanischer Vorgang verborgen sei. Der
letztere fordert dann unsichtbare, also unmeßbar kleine Körperelemente,
die Atome, die, ähnlich den wahrnehmbaren Körpern, durch Zwischen-
räume getrennt sind, um gleich ihnen in mechanische Wechselwirkungen
tretenzu können. Ebenso sind alle weiteren Sätze der antiken Atomistik,
insbesondere die Überzeugung von der absoluten Konstanz der Materie,
unmittelbare Folgen des in dieser Lehre zum Ausdruck gelangten
mechanischen Kausalitätsbegriffs.
Einer Annahme gegenüber, für die das denkende Subjekt selbst
in dem Mechanismus der Körperwelt verloren geht, erhebt sich nun aber
umso energischer eine Anschauung, die ein zusammenhängendes Bild
der Natur zu gewinnen sucht, indem sie die ethischen Motive des mensch-
lichen Handelns auf die Außenwelt überträgt. Der Begriff, der jetzt
zum herrschenden wird, ist der Zweck. Unter den Naturvorgängen,
nach deren Vorbild man alle anderen zu beurteilen sucht, fesseln hier
gerade diejenigen hauptsächlich die Aufmerksamkeit, deren Realität
Kausale und teleologische Naturphilosophie. 283
der Atomistiker leugnet: die Erscheinungen des Werdens und Ver-
gehens und die auf sie zurückführenden qualitativen Verände-
rungen. Denn wie der Mensch da in eminentem Sinne zwecksetzend
auftritt, wo er schöpferisch gestaltet, so erscheint auch die Natur vor
allem dann von Zwecken bewegt, wenn sie neue Bildungen hervor-
bringt; das Vergehen aber ist ein notwendiges Korrelat des Werdens.
Nirgends tritt dieses zweckvolle Werden und Vergehen so augenfällig
hervor wie in der organischen Natur. Der organisierte Körper hat
zu jeder Zeit den Vergleich mit einem Kunstwerk herausgefordert,
und die Aufeinanderfolge seiner Entwicklungszustände legt den all-
gemeineren Gedanken einer zweckmäßigen Weltentwicklung nahe.
Zu einer derartigen Anschauung sind daher mannigfache Ansätze
schon bei den älteren Philosophen, einem Heraklit, Anaxagoras,
Empedokles, zu finden. Eine klarere Gestaltung aber gewinnt sie samt
ihren Motiven erst in der Platonisch-Aristotelischen Philosophie.
Während bei Plato die ethische Quelle dieser ganzen Richtung offen
zu Tage tritt, ist es Aristoteles, der zuerst dem Zweckbegriff seine
allgemeinere Bedeutung gibt und in Verbindung damit den Ent-
wicklungsgedanken vollständiger durchführt. Teils hierdurch, teils
durch die Fülle seiner Einzelkenntnisse ist Aristoteles für diese
teleologische Richtung der Physik auf lange Zeit maßgebend ge-
blieben.
Es ist ein Irrtum, wenn man zuweilen die Gegensätze mechanischer
und teleologischer Physik zu den Gegensätzen von Empirie und Speku-
lation in Beziehung bringt, indem man den ersten Standpunkt aus
einer objektiven Bearbeitung der Erfahrung, den zweiten aus einer
durch subjektive Begriffe gefälschten Ordnung derselben zu erklären
sucht. Vielmehr sind beide Anschauungen von objektiven und sub-
jektiven Motiven bestimmt worden, und beide sind überwiegend speku-
lativen Ursprungs. Der mechanische Kausalitätsbegriff eines Demo-
krit war in der Tat ebensogut ein durch die tatsächliche Erfahrung
nur unzureichend unterstütztes Postulat wie der Entwicklungsgedanke
des Aristoteles, und hinter jenem stand nicht minder wie hinter diesem
als subjektive Grundlage das menschliche Handeln; nur ging der
Atomistiker ebenso einseitig von dem äußeren Effekt, der bewegenden
Wirkung auf umgebende Körper, aus, wie der teleologische Physiker
von dem inneren Motiv der Handlung, der sie bestimmenden Zweck-
vorstellung.
Was uns heute vor allem als das Ungenügende aller dieser Be-
strebungen erscheint, ist der vollständige Verzicht auf jede Begründung
284 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
ihrer Voraussetzungen. Durch einen Machtspruch wird von den alten
Naturphilosophen die Idee eines allgemeinen Substrates der Erschei-
nungen eingeführt. Man denkt weder daran nachzuweisen, warum
überhaupt die Annahme eines solchen notwendig sei, noch warum es
die vorausgesetzte Beschaffenheit haben, also z. B. aus Atomen und
leeren Zwischenräumen bestehen müsse. Nicht minder treten in der
Physik des Aristoteles die allgemeinen Begriffe des Stofis, der Form
und des Entblößtseins, die verschiedenen Arten der Formbestimmung,
die vier Elemente u. s. w. ohne jede Rechtfertigung als tatsächliche
Bestimmungen des natürlichen Seins auf; namentlich aber die Grund-
anschauung, daß der Zweck die höchste und letzte Formbestimmung
sei, gilt als eine durchaus selbstverständliche Annahme. Ließe sich auch
denken, einem Demokrit habe seine Anschauung nur als eine hypo-
thetische Form einheitlicher Naturbetrachtung gegolten, ähnlich wie
dies bei dem späteren Erneuerer der Atomistik, bei Epikur, der Fall
war, so liegt doch im allgemeinen eine solche Auffassung nicht im Cha-
rakter der antiken Naturphilosophie, und bei Aristoteles ist sie ganz und
gar ausgeschlossen. Mit Rücksicht auf das Verhältnis der zu Grunde
gelegten Prinzipien und der auf sie gestützten Erklärungsversuche
bewahrt also die antike Naturphilosophie in allen ihren Richtungen
einen überwiegend spekulativen Charakter. Aus einer geringen Anzahl
von Induktionen und Abstraktionen, die von der Oberfläche der
Erscheinungen geschöpft sind, und aus bestimmten Begrifispostulaten
gewinnt sie ihre Voraussetzungen. Da jene Induktionen und Abstrak-
tionen im wesentlichen schon der allverbreiteten vorwissenschaftlichen
Erfahrung angehören, so gelten sie als selbstverständliche Wahrheiten,
bei denen man sich jeder Nachweisung meint entschlagen zu können.
Wie wäre es auch nötig zu beweisen, daß der Stoß den Körper bewegt,
oder daß alles Existierende aus Stoff und Form besteht? Gibt man sich
gleich auf einem Standpunkte reiferer Reflexion einigermaßen schon
darüber Rechenschaft, daß Begriffe wie Stoff und Form erst in unserem
Denken entspringen, so führt dies doch höchstens zu der Überzeugung,
welche die Aristotelische Metaphysik beherrscht, daß die Begriffe Ab-
bilder des substantiellen Seins der Objekte, oder daß, was damit überein-
stimmt, die Objekte realisierte Begriffe seien. Noch weniger ist daran
zu denken, daß man die objektive Berechtigung jener Begrifispostulate,
durch welche die Erfahrungsbegriffe überall erst ihre bestimmte Ge-
staltung gewinnen, anzweifelt. Eben darum, weil Kausalität und
Zweck Postulate sind, bleibt ihre Gültigkeit ursprünglich außer Frage.
Doch besteht hier allerdings ein bemerkenswerter Unterschied zwischen
Kausale und teleologische Naturphilosophie. 285
der kausalen und der teleologischen Naturanschauung, der sich schon
in ihren frühesten Gestaltungen äußert. Wenn diese den Zweck als den
letzten Grund des Geschehens ansieht, so ist sie weit davon entfernt,
gleichzeitig die Kausalität leugnen zu wollen, sondern sie ist im Gegen-
teil der Meinung, damit nur den Kausalbegrifi selber vertieft zu
haben. Dagegen verbindet sich schon der Atombegriff eines Demokrit
mit der energischen Leugnung der Zwecke, und diese Tendenz ist seit-
dem der mechanischen Naturanschauung im allgemeinen erhalten
geblieben.
Dies führt uns auf einen Unterschied beider Grundanschauungen,
der für ihre historische Bedeutung maßgebend geworden ist. Die
mechanische Ansicht hat die Vorzüge der Folgerichtigkeit und der
Einfachheit für sich. Aber eben deshalb setzt sie sich zunächst in Wider-
spruch mit der Vielgestaltigkeit der Erscheinungen, die verschieden-
artige Prinzipien der Erklärung zu fordern scheint. Dieser Forderung
wird die teleologische Physik mehr gerecht, und sie ist daher schon mit
Rücksicht auf die äußere Erfahrung ursprünglich einleuchtender, auch
wenn man von ihren ethischen Beweggründen absieht. Keine Natur-
lehre hat aber wohl so sehr wie die Aristotelische allen den Bedürfnissen
Rechnung getragen, die dem Standpunkte der unmittelbaren, wissen-
schaftlich noch nicht ausgebildeten Erfahrung entsprechen. Schon die
Methode, deren sich der Stagirite überwiegend bedient, erscheint voll-
kommen geeignet, das nächste Wissensbedürfnis zu befriedigen. Sie
besteht, gemäß dem Charakter der Aristotelischen Logik, in der Begriffs-
subsumtion und in der dialektischen Verknüpfung der Allgemeinbegriffe.
Diese sind teils, wie die Gegensätze der Elemente, der natürlichen und
der gezwungenen Bewegung, des Stofis und der Form, dem unmittel-
baren Eindruck der sinnlichen Objekte, teils, wie der Zweck, die Voll-
kommenheit, den nächstliegenden subjektiven Erfahrungen entnommen.
Nachdem die Begrifissubsumtion dem ersten Ordnungsbedürfnis des
Geistes Genüge geleistet, empfängt dann durch die dialektische Verarbei-
tung der Begriffe der spekulative Trieb seine Befriedigung. Durch eine
scharfsinnige Benützung der logischen Technik werden hier, indem
der Philosoph die verschiedenen Begriffe zueinander in Beziehung setzt
und namentlich von den Verfahrungsweisen der Einteilung nach Gegen-
sätzen und der Ausschließung Gebrauch macht, allgemeine Begriffe
gewonnen, die in der Aristotelischen Physik die Rolle von Naturgesetzen
übernehmen. Jede Veränderung, so wird z. B. deduziert, ist entweder
ein Werden oder ein Vergehen; Werden und Vergehen ereignen sich
aber nur zwischen entgegengesetzten Dingen. Nun gibt es eine Be-
986 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
wegung, die nicht zwischen Gegensätzen stattfindet, die kreisförmige;
also ist die kreisförmige Bewegung des Himmels ewig und unveränder-
lich*). Auf diese Weise gelangt Aristoteles zu dem seine ganze Natur-
lehre beherrschenden Satze, daß der gleichförmige Umschwung des
Himmels der Ursprung aller Bewegungen und Veränderungen in der
Natursei. DieseMethode gewährt zugleich den Vorteil, daß sie gestattet,
mehrere parallel laufende Beweisführungen zu entwickeln, in denen aus
verschiedenen Vordersätzen der nämliche Schluß abgeleitet wird. So
wird für den oben angeführten Satz noch eine große Anzahl anderer
Beweise beigebracht, in denen sukzessiv fast alle Grundbegriffe dieser
Physik zur Verwendung kommen, so daß die verschiedenen Deduk-
tionen teils gegenseitig sich stützen, teils die festere Verbindung des
spekulativen Gebäudes vermitteln helfen. Zugleich hat diese teleo-
logische Physik in dem „Zufälligen“, worunter sie alles versteht, was
sich ihrem allgemeinen Zweckzusammenhang nicht fügen will, einen
die Lücken ihrer Erklärung überall ausfüllenden, ebenfalls dem An-
schauungsbereich des vorwissenschaftlichen Denkens entnommenen
Hilfsbegriff zur Verfügung.
Zu diesen scheinbaren Vorzügen der Methode tritt die vielseitigste
Berücksichtigung der verschiedenen Erfahrungsgebiete. Nirgends wird
an das Bewußtsein die harte Zumutung gestellt, von den ihm selbst
innewohnenden Motiven des Geschehens völlig abzusehen oder bestimmte
äußere Naturvorgänge, die sich der unmittelbaren Beobachtung auf-
drängen, schlechthin zu negieren. Neben der qualitativen Veränderung
findet die mechanische Bewegung ihre Stelle, und der teleologische
Grundcharakter seiner Physik hindert den Aristoteles keineswegs an
der richtigen Erkenntnis einfacher mechanischer Sätze, wie des Hebel-
gesetzes**). So ist die Aristotelische Naturphilosophie ein dem Stand-
punkte unmittelbarer Erfahrung vollkommen angemessenes und dem-
selben zugleich durch die unverhältnismäßige Ausbildung der dialek-
tischen Hilfsmittel im höchsten Maße imponierendes System. Darum
hat sie denn auch nicht nur während einer langen Zeit die Herrschaft
behauptet, sondern der Entwicklung anderer Anschauungen als eines
der mächtigsten Hindernisse im Wege gestanden. Je begreiflicher aber
jene Herrschaft erscheint, umsomehr drängt sich die Frage auf, welche
Ursachen schließlich das Übergewicht der mechanischen Naturansicht
herbeiführten.
*) Aristoteles, Physik, VII, 7.
**) Aristoteles, Quaestiones mechanicae, cap. 4.
Postulate der empirischen Naturforschung. 287
2, Postulate der empirischen Naturforschung.
a. Das Postulat der Anschaulichkeit.
Die gewöhnliche Antwort auf die obige Frage besteht darin, daß
man auf die Übereinstimmung der auf der Grundlage der Mechanik
unternommenen Erklärungen mit der Erfahrung hinweist. Aber man
übersieht hierbei, daß diese, übrigens nie mit absoluter Vollständigkeit
und immer nur unter mancherlei hypothetischen Annahmen zu er-
reichende Übereinstimmung das späte Produkt einer langen Entwick-
lung ist, und daß niemals der Nachweis der Durchführbarkeit der
mechanischen Naturansicht gelungen wäre, wenn man diese nicht
lange vorher als Forderung an die Interpretation der Erscheinungen
herangebracht hätte. Nicht bloß die antike Atomistik war ein rein
spekulatives Gebäude, sondern auch im Zeitalter Galileis, als die
mechanische Physik ihren Kampf um die Herrschaft begann, waren
die Voraussetzungen derselben zumeist noch fragwürdig und lückenhaft.
In der Tat ist der Grundgedanke der mechanischen Physik ebensowenig
unmittelbar und ausschließlich der Erfahrung entnommen, wie die
Begriffe der Dynamis und Energie bei Aristoteles, sondern jener Ge-
danke ist zunächst als eine logische Forderung entstanden und hat
dann erst in der fruchtbaren Anwendung, die er zuließ, seine Recht-
fertigung gefunden. Jede wissenschaftliche Erklärung der Natur strebt,
gemäß dem logischen Trieb des Bewußtseins, nach Einheit und Zu-
sammenhang der Erscheinungen. Die teleologische Physik sucht diese
Einheit in dem Zweck als demjenigen Allgemeinbegriff, der aus dem
eigenen Handeln des Bewußtseins entspringt, und dem sie daher die
durch die unmittelbare Erfahrung gewonnenen Reflexionsbegriffe
unterordnet. Dem gegenüber besteht das treibende Motiv, das die
mechanische Physik und schon die antike Atomistik beseelt, in der
vollkommenen Anschaulichkeit der Vorgänge.
Die Bewegungen der Körper und ihre Wechselwirkungen im Stoß sind
ein anschauliches Geschehen, bei dem zugleich der Zuschauer von seiner
eigenen Anwesenheit abstrahieren kann, so daß hierin eine Bürgschaft
dafür zu liegen scheint, daß infolge der Ableitung aus Bewegungen
die Erscheinungen auf ihren objektiven Gehalt zurückgeführt werden.
Wie die teleologische Physik unter dem Postulat dersubjektiven
Begreiflichkeit, so handelt daher die mechanische unter dem
der objektiven Anschaulichkeit des Geschehens, und
dieses erst führt zu jener streng kausalen Betrachtung, welche dann
388 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
durch den dem Kausalitätsprinzip eigenen Vorzug logischer Folge-
richtigkeit ihrerseits das Übergewicht der mechanischen Naturansicht
verstärken hilft. Der Hauptgegensatz, der in dem Kampfe teleologischer
und mechanischer Physik entscheidend wird, dreht sich demnach um
die Frage, ob die Natur als einbegrifflicher, oder ob sie als ein
anschaulicher Zusammenhang aufgefaßt werden solle. Im
ersteren Sinne entscheidet sich das Aristotelische System und jedes,
das nach ihm von analogen dialektischen Voraussetzungen ausgeht,
wie z. B. die Naturphilosophie Schellings und Hegels; im Sinne der
Anschaulichkeit hat die neuere wissenschaftliche Physik die Frage be-
antwortet, und sie hat damit in Bezug auf die allgemeine Richtung
seiner Bestrebungen dem Demokrit gegen Aristoteles und seine ver-
späteten Nachfolger Recht gegeben.
Die innere Notwendigkeit dieser Entscheidung liegt aber im Wesen
der objektiven Erfahrung begründet. Die Natur ist die Gesamtheit
der in der Anschauung gegebenen Erscheinungen. An die Bedingungen
der Anschauung bleibt daher alle Erkenntnis der Natur gebunden.
Niemals kann sich eine solche Erkenntnis anders vollziehen, als in-
dem das anschaulich Gegebene auf ein anderes anschaulich Gegebenes
und so die Gesamtheit der Naturerscheinungen schließlich auf eine ge-
wisse Anzahl primitiver Tatsachen der Anschauung zurückgeführt wird.
Auch die Begriffe, die zur Ordnung dieser Tatsachen dienen, bedürfen
der anschaulichen Verwirklichung; niemals können sie als leere Formen
über der Welt der Erscheinungen schweben. Dies ereignet sich aber
bei jenen Kategorien der teleologischen und dialektischen Naturphilo-
sophie, die teils aus den Erscheinungen abstrahiert, teils aus gewissen
logischen und ethischen Motiven an sie herangebracht werden, ohne in
bestimmten allgemeinen Eigenschaften der äußeren Anschauung un-
mittelbar objektiviert zu sein. Freilich sind auch die Kausalität und der
im richtigen Sinne verstandene Zweckbegriff, der lediglich eine Um-
kehrung der kausalen Beziehung enthält (vgl. Bd.I, S.629f.), Kategorien,
die unser Denken an die Erfahrung heranbringt; aber diese Begriffe
sind eben nur insofern von physikalischer Anwendung, als sie in ein-
fachsten Tatsachen der Anschauung unmittelbar verwirklicht sind.
Dies geschieht für das Gesamtgebiet der Naturlehre in dem mecha-
nischen Kausalbegriff, der als Ursache und als Wirkung bloß an-
schaulich gegebene äußere Bewegungen anerkennt und lediglich in
die regelmäßige Beziehung dieser Bewegungen das Kausalverhältnis
selbst verlegt.
Ohne sich dieser logischen Motive ihres Tuns im allgemeinen
Postulate der empirischen Naturforschung. 289
bewußt zu sein, geht nun die mechanische Physik von der Voraus-
setzung aus, der einzige wirkliche Gegenstand ihrer Untersuchung seien
die Objekte der Anschauung in ihren anschaulich gegebenen Beziehungen.
Wenn sie sich gewisser Allgemeinbegriffe, wie der Substanz und Kau-
salität, bedient, so bedeuten diese nichts, was zu den Anschauungs-
objekten hinzukäme oder außerhalb derselben eine selbständige Wirk-
lichkeit besäße, sondern es sollen durch sie nur gewisse Existenz- und
Beziehungsformen des Wirklichen ausgedrückt werden, zu deren Ge-
staltung unser Denken durch die sinnliche Wahrnehmung genötigt
wird. Indem aber bestimmte Beziehungsformen als konstante Elemente
der Wahrnehmung wiederkehren, neben denen sich veränderliche
und darum für die begriffliche Auffassung zufällige Bestandteile be-
merklich machen, erhebt sich die Forderung, diese letzteren zu elimi-
nieren und so die objektive Erfahrung ausschließlich auf jene konstanten
Elemente zurückzuführen, mit deren Aufhebung die anschauliche und
die begriffliche Auffassung der Welt gleichzeitig verschwinden würden.
Diese konstanten Elemente aller Erfahrung sind die zeitlichen
und räumlichen Formen des Geschehens, losgelöst
von den qualitativen Elementen der Wahrnehmung, die in der einzelnen
Vorstellung niemals fehlen, und von denen wir daher auch nur absehen
können, indem wir ihren Inhalt als einen gleichgültigen auffassen.
Von beiden Elementen der Erfahrung sind aber die räumlichen
wieder diejenigen, die bei allen quantitativen Bestimmungen der Natur-
erscheinungen die allein maßgebende Bedeutung besitzen, da alle Zeit-
maße auf räumliche Maße zurückführen. Die letzten Elemente aller
Messung der Naturerscheinungen sind so die geometrischen: die
gerade Linie und der Winkel. Durch sie wird das räum-
liche Verhalten der Erscheinungen direkt, das zeitliche indirekt
gemessen, indem auf das Postulat eines durchgängig gesetzmäßigen
Verhaltens der Vorgänge die Voraussetzung gegründet wird, daß die
unter übereinstimmenden Bedingungen verflossene Zeit stets der
Linien- oder Winkelgröße einer Bewegung von gleichem Werte ent-
spreche. (Vgl. Bd. I, S. 478 ff. und unten Kap. III.)
Die grundlegende Bedeutung, die auf solche Weise der Raum
für die Verknüpfung der Naturerscheinungen gewinnt, wirkt nun
weiterhin auch auf die Vorstellungen über das Substrat der Er-
scheinungen zurück, indem hieraus die an einer früheren Stelle bereits
besprochene Tendenz der Naturerklärung entspringt, zunächst der
materiellen Substanz die abstrakten Eigenschaften des Raumes, vor
allem seine Konstanz, beizulegen und sodann von hier aus auch den
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 19
290 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
ursprünglich regellos schweifenden Kausalbegriff auf die räumliche
Wechselbeziehung unveränderlicher Gebilde zu beschränken. (Bd. I,
8.519 fi.) Erst indem diese näheren Bestimmungen des allgemeinen
Postulates der Anschaulichkeit, welche die Grundvoraussetzungen der
mechanischen Naturlehre bilden, hinzutreten, wird jenes Postulat
selbst in zureichender Weise erfüllt. Denn durch die Reduktion
der Beziehungen aller Wahrnehmungsobjekte auf die rein geome-
trischen Beziehungen räumlicher Gebilde wird
dem Streben nach Anschaulichkeit überall entsprochen. Eine Ver-
stärkung gewinnt außerdem diese Richtung aus dem praktischen
Wunsche, die sich immer vollkommener entwickelnden Hilfsmittel der
Mathematik der physikalischen Forschung dienstbar zu machen. Hier
treffen vollständig die Entwicklungsbedingungen der Naturwissenschaft
mit denen ihrer abstrakten Grundlage, der Mechanik, zusammen. Wie
diese durch jene mathematische Tendenz dazu getrieben wird, ihre De-
duktionen an geometrische Abstraktionen zu knüpfen, denen keine
Wirklichkeit in der Erfahrung zukommt, so überträgt hinwiederum die
Physik diese Abstraktionen der Mechanik so viel als möglich auf ihr Ge-
biet, um erst nachträglich an ihnen die Veränderungen anzubringen,
die durch die einzelnen Erfahrungen gefordert werden. Die Voraus-
setzungen über die letzten Substrate von Stoff und Kausalität
müssen aber infolgedessen einen begrifflich abstrakten Cha-
rakter bewahren, der ganz jenen abstrakten Formbegrifien entspricht,
welche die Mechanik ihren einfachsten Deduktionen zu Grunde legt.
Auf diese Weise findet das Postulat der Anschaulichkeit in ge-
wissem Sinne an den Voraussetzungen über das Substrat der Naturer-
scheinungen, das niemals selbst in der Anschauung gegeben ist, seine
Grenze. Die Annahmen über dieses Substrat müssen so beschaffen sein,
daß die Wirkungen desselben dem Postulat der Anschaulichkeit
genügen, und dies schließt nur ein, daß das Substrat selbst die abstrakten
zeitlich-räumlichen Elemente der Anschauung enthalte. Aber diese
Elemente brauchen keineswegs irgendwelchen wirklichen Objekten
der Anschauung zu gleichen. Wie sich vielmehr die Mechanik mit vollem
Recht der Abstraktion eines physischen Punktes, eines absolut starren
oder absolut elastischen Körpers u. dgl. bedient, ohne darauf Anspruch
zu machen, daß diese mechanischen Gebilde wirklich in der Natur vor-
kommen, ebenso sind die letzten Voraussetzungen über die Materie
Begrifisbildungen, die zum Behuf der Verknüpfung der in der Anschauung
gegebenen Erscheinungen gemacht werden, die aber darum selbst
keineswegs mit bestimmten Objekten der Anschauung übereinstimmen
Postulate der empirischen Naturforschung. 291
müssen. Wir werden sehen, daß die Nichtbeachtung dieser abstrakten
Natur der hypothetischen Hilfsbegriffe der Naturwissenschaft von frühe
an das Problem der Materie in Verwirrung gebracht hat, indem man
gerade vom Standpunkte der mechanischen Physik aus geneigt war,
dem Postulat der Anschaulichkeit den Sinn zu geben, daß dasselbe
eine mit den Objekten der wirklichen Anschauung durchgängig
übereinstimmende Natur der Begriffe verlange. (Vgl. Abschn. IV,
Kap. I, 3.) Man übersah hierbei, daß diese Annahme sogar mit der
Forderung, alle Naturerscheinungen auf Mechanik zurückzuführen, in
Widerspruch stand, da die Mechanik ihrerseits alle ihre Erklärungen
auf abstrakte Begrifispostulate gründet, die in keiner wirklichen Er-
fahrung gegeben sind. Dieser Widerspruch blieb aber deshalb un-
beachtet, weil man zwar zugab, daß die letzten Abstraktionen der
Mechanik, wie der physische Punkt, der absolut starre Körper, gänz-
lich hypothetischer Natur seien, dagegen glaubte, den Voraussetzungen
über das Substrat der Naturerscheinungen eine nicht bloß hypothetische
Bedeutung oder eine solche doch nur insofern zuschreiben zu sollen,
als der Widerstreit der Meinungen über diese Voraussetzungen noch
nicht ganz ausgeglichen sei. Dabei blieb außer acht, daß die letzteren
ihrer Natur nach zu den definitiven Hypothesen gehören. (Vgl.
Bd. 1, S. 443 fi.) Zugleich hängen übrigens in diesem Fall der defini-
tive und der abstrakt begriffliche Charakter der Hypothesen enge zu-
sammen: denn da das letzte Substrat der Erscheinungen nie unserer An-
schauung gegeben sein kann, so sind alle Annahmen über dasselbe ein
für allemal hypothetisch, und sie sind zugleich, eben weil sie niemals
anschaulich sein können, von abstrakt begrifflicher Art.
Somit sind es bei allen diesen Begrifisentwicklungen logische
Motive, die der naturwissenschaftlichen Erfahrung in dem Sinne als
spekulative Beweggründe gegenübertreten, als sie nicht erst die Be-
gründung durch die Erfahrung abwarten, sondern von vornherein die
Gesichtspunkte abgeben, unter denen man diese beurteilt. Hier
beginnt nun aber zugleich der tiefgreifende Unterschied zwischen den
älteren Antizipationen der mechanischen Naturanschauung und ihrer
Verwirklichung in der neueren Physik. Dort bleibt diese Anschauung
eine spekulative Forderung, hier gilt sie nur deshalb als gesichert, weil
sie nicht bloß Voraussetzung, sondern auch Resultat der wissen-
schaftlichen Erfahrung ist. Es wird zugestanden, daß alle spekula-
tiven Gründe nicht zureichen würden, die Voraussetzungen der mecha-
nischen Physik festzuhalten, wenn sie sich nicht fortwährend brauchbar
erwiesen zu einer wahren Interpretation der Natur.
2392 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
b. Der kritische Zweifel,
Damit kommen wir erst auf den entscheidenden Grund, dem die
mechanische Naturansicht ihren Sieg über die ältere teleologische
Physik verdankt. Dieser Grund, der im historischen Sinne der letzte,
an sich aber der wichtigste ist, besteht in dem Verhalten des er-
kennenden SubjektszurErfahrung. Ein naiver Glaube
an die unmittelbare Wirklichkeit der Erfahrung ist der Standpunkt der
älteren Naturphilosophie. Mochte auch aus spekulativen Bedürfnissen,
die mit einzelnen Erfahrungseinflüssen zusammentrefien, eine Sub-
stanz, die nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, als Grund-
lage der tatsächlichen Erfahrung gefordert werden, so geschah dies
doch nur, um Einheit und Zusammenhang in die vielgestaltige Wahr-
nehmung zu bringen, an deren objektiver Realität nicht gezweifelt
wurde. In dieser Beziehung stehen die Demokritische und die Aristo-
telische Physik auf gleichem Boden. Wohl hat auch die Wissenschaft
des Altertums den Zweifel gekannt. Weist doch schon Protagoras
auf die Subjektivität der sinnlichen Erfahrung hin. Aber dieser Zweifel
ist hier das Erzeugnis einer rein logischen Reflexion, und er bleibt
darum für die positive Wissenschaft unfruchtbar, der er den Weg eher
zu verlegen als zu ebnen sucht. Ganz anders verhält es sich mit dem-
jenigen Zweifel, der die Triebfeder der neueren Naturforschung ist.
Hier ist man weit entfernt, an der Erkennbarkeit der Dinge überhaupt
zu zweifeln; im Gegenteil, die Forderung einer solchen bildet die Vor-
aussetzung aller Naturwissenschaft. Aber mit ihr verbindet sich die
Annahme, daß die unmittelbare Wahrnehmung erst der wissenschaft-
lichen Prüfung bedürfe, ehe bestimmt werden könne, was als das reale
Substrat der Erscheinungen anzunehmen sei. Dieser kritische
Zweifel beseelt die neuere Naturforschung von ihren ersten Anfängen
an, und er hat sie von Stufe zu Stufe bei ihrer Entwicklung begleitet.
Seine Wirkung aber war vielleicht umso größer, je weniger sich die
Forscher, die unter seinem Antriebe handelten, desselben deutlich
bewußt wurden. Ein solches Bewußtsein wäre nicht möglich gewesen
ohne allgemeinere logische Reflexionen, und diese führen zunächst nur
allzu leicht wieder die Gefahr jenes absoluten Zweifels mit sich, der die
Voraussetzung der physikalischen Wissenschaft, das Postulat der Be-
greiflichkeit der Welt, aufhebt.
Mit den rein logischen Prinzipien, die zur wissenschaftlichen Unter-
suchung erfordert werden, sind die Alten im allgemeinen hinreichend
bekannt gewesen; aber es hat ihnen jener kritische Zweifel
Postulate der empirischen Naturforschung, 293
gefehlt, der den Antrieb zu einer von richtigen Grundsätzen geleiteten
Forschung hervorbrinst. Wie sehr in diesem Punkte der ent-
scheidende Unterschied der älteren und neueren Wissenschaft liegt,
das tritt deutlich hervor, sobald man die Behandlung irgend eines
einzelnen Problemes vergleicht. In der Untersuchung der Farben
stützt sich z. B. Aristoteles so gut wie Newton auf die Voraussetzung,
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen müsse auf einen einheitlichen
Grund zurückgeführt werden. Doch dem Aristoteles kommt kein
Zweifel daran, daß Weiß, Schwarz und jede einzelne Farbe so, wie sie
von uns empfunden werden, auch objektiv existieren; für ihn besteht
daher die Aufgabe nur darin, die Gesamtheit der Lichterscheinungen
unmittelbar einem einheitlichen Begriff unterzuordnen. Dieser ist ihm
die „Tätigkeit des Durchsichtigen“, welche die Bedingung aller Licht-
erscheinungen sein soll. Die Farben gelten ihm demnach als unmittel-
bare Eigenschaften der Objekte, die aber erst durch das Licht, die
Tätigkeit des Durchsichtigen, aktuell werden. Die Wahrnehmbarkeit
des Lichts und der Farben wird endlich darauf zurückgeführt, daß
das Durchsichtige sowohl innerhalb wie außerhalb des Auges vor-
komme*). In dieser Theorie ist offenbar der Inhalt der sinnlichen
Wahrnehmung, dem ohne weiteres objektive Realität zugeschrieben
wird, einfach unter gewisse allgemeine Begriffe gebracht, die aus ihm
unmittelbar abstrahiert sind. Newton ging aus von den Erscheinungen
der Farbenzerstreuung. Da er entdeckt hatte, daß ein Sonnenstrahl
durch das Prisma vollständig in divergierende Farben zerlegt wird,
so begannen sich ihm Zweifel an der selbständigen Existenz des weißen
Lichtes zu regen, und er wurde so zu Untersuchungen veranlaßt, deren
Zweck zunächst in der Prüfung jenes Zweifels bestand, und die ihn
schließlich, hauptsächlich infolge der gelungenen Wiedervereinigung der
Farben zu Weiß, zu dem Ergebnisse führten, daß das Sonnenlicht aus
farbigen Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zusammengesetzt
sei. Auch die hierauf von Newton gegründete Emanationstheorie hielt
aber dem kritischen Zweifel nicht auf die Dauer stand. Zunächst waren
es Bedenken über die weiteren Schicksale des angenommenen Licht-
stofis, die hier als skeptische Elemente wirkten. Nachdem schon Huygens
das Phänomen der Doppelbrechung entdeckt und gezeigt hatte, daß
es sich nicht aus den Emanationsvorstellungen, wohl aber aus der
Annahme einer Wellenbewegung herleiten lasse, neigte sich endlich
*) De anima, cap. 5—7. Vgl. außerdem die (unechte) Schrift: De colo-
ribus,
9394 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
infolge von Fresnels Untersuchung der Interferenzerscheinungen dieser
Annahme der Sieg zu. In dem nun folgenden Kampfe zwischen diesen
Hypothesen haben dann die von beiden Seiten beigebrachten kritischen
Einwürfe zur Vervollkommnung der endgültig siegenden Theorie bei-
getragen. Führte die Undulationstheorie Interferenz, Doppelbrechung
und Polarisation als gewichtige Argumente gegen die Emanationslehre
auf, so konnte sie dagegen nur langsam die Schwierigkeiten beseitigen,
die sich ihrer Erklärung der Beugung und Farbenzerstreuung in den
Weg stellten.
In vielen Fällen ist, wie in dem angeführten Beispiel, der kri-
tische Zweifel durch Beobachtungen und Experimente angeregt worden,
und seine Verfolgung hat dann in wachsendem Maße den Anstoß zu
neuen Untersuchungen gegeben. In anderen Fällen sind es spekulative
Voraussetzungen gewesen, die zuerst die Bestreitung gewisser naiver
Vorstellungen veranlaßten. Das hervorragendste Beispiel dieser Art ist
die Kopernikanische Hypothese. Das Ptolemäische Welt-
system war auf die Überzeugung von der unmittelbaren Realität der
wahrgenommenen kosmischen Bewegungen gegründet, und es hatte den
Zusammenhang dieser Bewegungen durch eine große Zahl sinnreich
ausgedachter Hilfsannahmen hergestellt. Der Zweifel an der Wahrheit
dieses Systems entsprang bei Kopernikus zunächst aus dem Gedanken,
daß es die wünschenswerte Symmetrie und Regelmäßigkeit vermissen
lasse*). Erst der Kampf beider Systeme um die Herrschaft führte
dann in der Beobachtung der Jupitermonde und der Lichtgestalten der
Venus durch Galilei zu entscheidenden Erfahrungen.
Das Kopernikanische Weltsystem hat aber mehr als irgend eine
andere Tatsache dem kritischen Zweifel vorgearbeitet. Waren einmal
die sichtbaren Bewegungen der Sternenwelt als ein sinnlicher Schein
nachgewiesen, so erschien jeder Zweifel an der Realität der unmittel-
baren Wahrnehmungen berechtigt. Bald waren es, wie in diesem Fall,
spekulative Gründe, bald zufällige Beobachtungen, die den Zweifel
anregten, bald hat er von einem bestimmten Erfahrungsgebiet
aus auf andere sich ausgebreitet. In letzterer Beziehung ist es bedeu-
tungsvoll, daß die Entwicklung der neueren Physik durch die großen
geographischen und kosmologischen Entdeckungen vorbereitet wurde.
Bei diesen wurde der menschliche Geist durch Tatsachen, die sich mit
zwingender Gewalt der Wahrnehmung aufdrängten, genötigt, einge-
wurzelte Vorstellungen zu berichtigen, und er trat nun von selbst auch
*) Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, lib. I, cap. 1—10,
Postulate der empirischen Naturforschung. 295
den Erscheinungen seiner unmittelbaren Umgebung mit kritischen
Bedenken gegenüber. Da aber diese Erscheinungen willkürlichen Ein-
griffen leicht zugänglich sind, so war damit zugleich der Gedanke
der experimentellen Untersuchung nahegelegt.
c. Das Postulat der Einfachheit.
Die Methode jener naturphilosophischen Behandlung der Er-
scheinungen, für die uns die Aristotelische Physik als typisches Beispiel
gilt, ist hinreichend gekennzeichnet durch die bereits angedeuteten
Eigenschaften, daß sie aus dem Ganzen das Einzelne konstruiert, daß
sie in die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen durch einen fest-
gefügten logischen Begrifisschematismus Ordnung zu bringen sucht,
und daß die Begriffe, die diese Ordnung bewirken sollen, unbedenklich
aus allen dem Denken zugänglichen Gebieten aufgenommen und auf
andere übertragen werden, daß insbesondere aber ethische Begriffe
oder überhaupt solche, die der Sphäre menschlicher Willenstätigkeit
entlehnt sind, in der Naturerklärung eine wichtige Rolle spielen. Dem-
gegenüber erscheint die gewöhnliche Angabe, daß die exakte Natur-
forschung umgekehrt überall mit dem Einzelnen beginne, weder genügend
noch in dieser Allgemeinheit richtig. Denn oft genug muß ein all-
gemeiner Gedanke erst der einzelnen Forschung den Weg zeigen: so
das Kopernikanische System den Beobachtungen und Rechnungen
Keplers, oder das Beharrungsprinzip den mechanischen Versuchen
Galileis. Der Mythus, daß Francis Bacon der große Gesetzgeber natur-
wissenschaftlicher Methodik gewesen sei, ist zwar allmählich im Ver-
schwinden begriffen. Aber die durch diesen Mythus lebendig gewordene
Vorstellung, die Induktion sei das logische Instrument der Naturfor-
schung, dem sie alle ihre Erfolge verdanke, ist noch vielfach geblieben.
Daß Bacon, wenn auch wenig vertraut mit der Naturwissenschaft
seiner Zeit, doch von dem Geiste derselben mächtig erfaßt war, läßt
sich freilich fast aus jeder Zeile seiner Schriften herauslesen. Doch
ebenso offenkundig ist es, daß nicht die von der Naturforschung geübte
Methode ihn mit sich fortriß, sondern die von ihr herbeigeführte und
durch sie geahnte Erweiterung des Horizonts der Erfahrung. Ihn er-
füllt darum ganz der Gedanke, wie in der kürzesten Zeit eine möglichst
große Anzahl fruchtbringender Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen
sei. Über dem Eifer, mit dem er diesen Plan betreibt, versäumt er es,
die von ihm aufgestellte Regel, daß man allgemeine Prinzipien stets
aus einzelnen Tatsachen ableiten müsse, auf das Objekt seiner eigenen
296 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Untersuchungen anzuwenden. Seine Methode der Induktion ist nicht
mustergültigen Beispielen physikalischer Forschung entnommen, sondern
nur aus der allgemeinen Forderung hervorgeflossen, alles Wissen müsse
aus der Erfahrung stammen.
In Wahrheit ist aber auch das Verfahren der Naturforschung
nicht im mindesten aus der Voraussetzung der Baconischen Regeln,
dem Verzicht auf alle Spekulation, die der Sammlung der Erfahrungen
vorausgehe, entstanden, sondern es stützt sich auf einen Gedanken,
der selbst spekulativen Ursprungs ist. Dieser Gedanke, der von den
übrigen Naturforschern der Zeit in einer mehr instinktiven Weise
befolgt, doch von Galilei erst an verschiedenen Stellen ausdrücklich
hervorgehoben wird, besteht in der Voraussetzung, daß alles Ge-
schehen in der Natur einfachsten Regeln folge,
und daß daher jede Untersuchung der Naturer-
scheinungen von möglichsteinfachenAnnahmen
auszugehen habe. Dieses Prinzip der Einfachheit ist es, das
Kopernikus zu seiner heliozentrischen Hypothese führt, das Kepler
veranlaßt, die exzentrischen Kreise und Epizykeln beiseite zu legen,
um zu prüfen, ob die Annahme einer einfachen Kurve den Forderungen
der Beobachtung genüge, und das dann bei Galilei die doppelte Bedeu-
tung eines Naturgesetzes und eines methodologischen Postulates an-
nimmt. Dem Naturgesetz gibt er mehrere Formen, die alle den näm-
lichen Gedanken in verschiedener Weise teleologisch ausdrücken.
Daß die Natur die Dinge nicht ohne Not vervielfältige, daß sie sich der
leichtesten und einfachsten Mittel bediene, und daß sie nichts vergeb-
lich tue: diese Sätze gelten ihm als Axiome*). Ihnen parallel geht
der von ihm überall befolgte methodische Grundsatz, der ihm offenbar
als die logische Kehrseite derselben erschienen ist: man müsse die
Naturerscheinungen so viel als möglich unter den einfachsten Be-
dingungen untersuchen und ihrer Erklärung die einfachsten Annahmen
zu Grunde legen**). Jene teleologisch geformten metaphysischen
Axiome können an sich kritischen Einwürfen ebensowenig stand-
halten wie die Grundbegriffe der Aristotelischen Naturphilosophie.
Dennoch wird kein Einsichtiger bezweifeln, daß der ihnen entsprechende
methodische Grundsatz für die exakte Wissenschaft fruchtbringender
geworden ist als alle Regeln Bacons zusammen genommen.
Der Grundgedanke dieses Prinzips ist freilich älter als das Zeitalter
*) Dialoghi dei massimi sistemi, III. Opp. Tom. I, p. 429,
**) Dial. delle nuove scienze, III. Opp. Tom. XIII, p. 154. (Ediz. Alberi.)
Postulate der empirischen Naturforschung. 297
Galileis. Auch er reicht in die antike Atomistik zurück. Indem
diese alle Veränderungen in der Natur auf anschauliche Formen des
Geschehens zurückzuführen suchte, schwebte ihr unausgesprochen
bereits das Prinzip der Einfachheit vor. Mit Hilfe desselben vermied
sie jene Vermengung ethischer Motive mit dem natürlichen Geschehen,
die der gleichzeitigen Elementenlehre des Empedokles ihre Rich-
tung gab. Der Stoß ist die einfachste anschauliche Form der Ursache
einer Veränderung; darum wird er der Atomistik zum Urbild aller
Kausalität. Dieses Motiv der Einfachheit ist es zugleich, das neben
der Anschaulichkeit den atomistischen Vorstellungen ihren ungeheuren
Einfluß in den kommenden Zeiten gesichert hat, obgleich sie in der
nächsten Zukunft der überwältigenden Macht teleologischer Natur-
anschauungen unterliegen mußten. Auch besaß hier das Prinzip
noch einen ausschließlich metaphysischen Charakter; es
hatte sich noch nicht zu einer methodischen Regel gestaltet. Hieraus
entsprang die Unzulänglichkeit und Einseitigkeit dieser mechanischen
Naturphilosophie.. Der Demokritischen Atomistik lag der Gedanke
des Experimentes und der exakten Beobachtung ebenso fern wie der
Aristotelischen Physik. Nur dadurch, daß Galilei den Grundsatz
der Einfachheit zum Leitstern seiner Methode wählte, wurde er
vor den Gefahren bewahrt, zu denen auch ihn die metaphysisch-
teleologischen Formulierungen des nämlichen Prinzips leicht hätten
verführen können. Denn nun galt ihm die Einfachheit nicht mehr
an und für sich als Kriterium der Wahrheit, sondern sie blieb ihm
lediglich eine Forderung, nach der sich die der Untersuchung vor-
ausgehenden Hypothesen richten müßten. Damit diese Hypothesen
Anspruch auf Wahrheit erheben könnten, wurde weiterhin ihre Bestäti-
gung durch die Erfahrung verlangt. So vollzog sich die der antiken
Naturphilosophie noch fern liegende logische Unterscheidung von
Hypothesen und Tatsachen, eine Unterscheidung, welche
das in der neueren Naturwissenschaft herrschende methodische Ver-
fahren vorzugsweise kennzeichnet. (Vgl. Bd. I, S. 437 ff.)
Schon die oberflächliche Betrachtung eines Gebietes von Natur-
erscheinungen erweckt ja in uns Vorstellungen über die wechsel-
seitige Beziehung der einzelnen in der Erfahrung gegebenen Objekte
und Vorgänge. Diese unüberwindliche Neigung des Geistes zur Inter-
pretation der Erscheinungen, die der wissenschaftlichen Untersuchung
vorausgeht, und in der die ursprüngliche Naturphilosophie ihre Quelle
hat, wird von der exakten Forschung nicht, wie es die Baconische
Vorschrift verlangt, als eine unerlaubte Übereilung angesehen, sondern
398 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
ihr Streben geht dahin, diese unvermeidliche „anticipatio mentis“ in
eine der Prüfung durch die Erfahrung zugängliche Voraussetzung
umzuwandeln. Demgemäß sucht man eine vorläufige Hypothese über
den zu erwartenden Zusammenhang der Tatsachen zu bilden, bei
welcher sich das Prinzip der Einfachheit namentlich in der Weise
betätigt, daß alle Annahmen teils den zu erklärenden Tatsachen selbst,
teils Erfahrungen, die ihnen gleichartig sind, entnommen werden.
Hierdurch erfährt jenes Prinzip seine angemessene Anwendung und
seine notwendige Einschränkung. Denn die wesentliche Bedeutung
desselben besteht nun darin, daß es erstens alle den beobachteten
Erscheinungen fremdartigen Gesichtspunkte fern hält, und daß es
zweitens einen regelmäßigen Fortschritt der Untersuchung von den
einfacheren zu den verwickelteren Tatsachen verlangt. Zugleich hat
aber nıcht mehr die Einfachheit als solche, sondern nur die Über-
einstimmung mit der Erfahrung den Wert eines
Kriteriums der Wahrheit. Das Prinzip der Einfachheit
hat auf diese Weise vollständig die Bedeutung eines metaphysischen
Axioms verloren und diejenige einer methodischen und heuristischen
Regel gewonnen. Bei der Untersuchung eines bestimmten Gebiets
von Erfahrungen geht der Naturforscher von der einfachsten Erschei-
nung dieses Gebietes aus, die ihm zugänglich ist. Er legt der Ableitung
derselben eine einfache, d. h. eine bloß den Tatsachen selbst und den
ihnen ähnlichen entnommene Hypothese zu Grunde. Die Zulässigkeit
dieser Hypothese wird dann durch Beobachtung oder Experiment
geprüft, um sie, wenn sich ein Widerspruch zeigt, angemessen zu ver-
ändern oder durch eine andere Annahme zu ersetzen. Ist auf solche
Weise für eine Anzahl einfacherer Tatsachen eine Erklärung gegeben,
so sucht man verwickeltere Erscheinungen des nämlichen Gebietes
zunächst auf jene einfacheren zurückzuführen und, wo dies nicht
vollständig gelingt, weitere ergänzende Hypothesen zu erfinden,
die wiederum die Probe der Prüfung an der Erfahrung bestehen
müssen.
In diesen Anwendungen aber bewährt es sich, daß sich das Prinzip
der Einfachheit mit dem der Anschaulichkeit verbindet, um einer
Klasse von Naturerscheinungen den Vorzug zu verschaffen vor allen
anderen: dn Bewegungserscheinungen. Sie sind einfach
und anschaulich zugleich, und sie sind es, die einerseits durch ihren
relativ leicht übersehbaren Zusammenhang das Kausalbedürfnis des
Denkens vorzugsweise befriedigen, und die anderseits, wo es gelingt
ihnen die konkrete Erfahrung unterzuordnen, durch die glückliche
Postulate der empirischen Naturforschung. 299
Verbindung von Hypothesen und Tatsachen dem kritischen Zweifel
ein Ziel setzen. So weisen die heuristischen Postulate der Natur-
erkenntnis auf die Prinzipien der Mechanik als diejenigen
Grundsätze hin, die für den ganzen Umfang der Naturforschung All-
gemeingültigkeit besitzen.
d. Die heuristischen Postulate der Naturlehre und
die subjektivistische Erkenntnistheorie.
Die Entwicklung der oben entwickelten heuristischen Prinzipien
der Naturlehre hat sich unter der bewußt oder unbewußt alle Natur-
forschung beherrschenden Voraussetzung der objektiven Wirk-
lichkeit der Naturerscheinungen vollzogen. Nach dieser Voraus-
setzung sind alle Erscheinungen so lange der objektiven Wirklichkeit
zuzurechnen, als sie nicht das Prinzip des kritischen Zweifels infolge
der Widersprüche, in die ihre Objektivierung verwickelt, in das Gebiet
des subjektiven Scheins verweist (Bd. I, S. 407 fi.). Gegen diese Auf-
fassung haben sich nun zwar frühe schon diejenigen philosophischen
Richtungen erhoben, die vom Standpunkt der psychologischen Re-
flexion aus den gesamten Inhalt der Erkenntnis zu subjektivieren suchten.
Gleichwohl ist die naturwissenschaftliche Forschung selbst unbeirrt
von solchen auf einem ihr fremden Boden entstandenen Einwänden
ihren Weg gegangen. Dagegen hat der zunehmende Gebrauch pro-
visorischer und darum zweifelhafter Hypothesen sowie der steigende
Wert, den man auf die technische Bedeutung der Mathematik bei der
Behandlung der Probleme legte, allmählich in der neueren Naturwissen-
schaft selbst eine weit verbreitete Strömung erzeugt, die in ihrer Grund-
anschauung mit dem vormaligen philosophischen Subjektivismus zu-
sammengeht, wenn sie auch aus ganz anderen Motiven entstanden ist
als dieser. Denn wie hier lediglich die Reflexion auf den subjektiven
Ursprung der Denkfunktionen entscheidend gewesen war, so wurde es
dort das Bewußtsein der subjektiven Freiheit der Hypothesenbildung
und das Vertrauen in die Allgewalt der von dem Subjekt beherrschten
mathematischen Technik. So liegt denn auch die philosophische
Richtung, der diese Strömung in der neueren Naturwissenschaft ent-
spricht, weit ab von den Quellen des philosophischen Subjektivismus.
Vielmehr bildet sie eine Teilerscheinung jenes skeptischen Positivismus,
den wir in seinen allgemeinen logischen Voraussetzungen und in den
Folgerungen, die er aus diesen auf den Begriff des allgemeinen Schau-
platzes der Naturerscheinungen, des Raumes, zieht, früher schon kennen
300 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
gelernt haben (Bd. I, S. 387 fi.). Die erkenntnistheoretische Stellung
dieses positivistischen Subjektivismus wird aber dadurch gekennzeichnet,
daß er die sämtlichen in der Naturwissenschaft bis zum heutigen Tage
tatsächlich wirksamen heuristischen Prinzipien entweder durch ihr
Gegenteil ersetzt, oder daß er ihnen mindestens einen wesentlich anderen
Inhalt unterschiebt. So verwirft er in der Regel das Kausalprinzip, um
ihm andere Einheitsprinzipien von durchweg teleologischer Färbung zu
substituieren: so das technische der „Ökonomie des Denkens“, das
physikalische der Erhaltung der Energie, das mechanische der kleinsten
Abweichung der Bewegungen vom Gleichgewicht u.s.w. Auf diese Weise
nimmt der moderne Positivismus die das 18. Jahrhundert beherrschende
teleologische Vorstellung der Naturlehre wieder auf, allerdings ohne
sich meist ihres Zweckcharakters bewußt zu werden. Auch setzt
er durchweg an die Stelle der objektiven Naturzwecke jener Zeit
die subjektiven Zwecke des ökonomischen Denkens. Nicht minder
gewinnt das Postulat der Anschaulichkeit, soweit es nicht überhaupt
negiert wird, eine wesentlich veränderte Bedeutung, indem zwar der in
der wirklichen Anschauung gegebene Inhalt bestimmter Empfindungen
beibehalten, für alle die Hilfshypothesen und Hilfsoperationen dagegen,
durch die verschiedene Erfahrungsinhalte verknüpft werden, jede
Anschaulichkeit für überflüssig erklärt wird: die analytischen Formeln
gelten so als rein begrifflich-technische Hilfsmittel ohne irgend eine
unmittelbare Beziehung zu den Erfahrungsinhalten, die sie verbinden
sollen. Den kritischen Zweifel, der seiner Natur nach stets ein relativer
bleibt, da er gegen widerspruchslos gegebene Tatsachen keine Macht hat,
verwandelt ferner dieser Subjektivismus in den absoluten Zweifel,
der sich auf das alte skeptische Argument stützt, niemand könne aus
seinem eigenen Bewußtsein hinauskommen, ein Argument, das an
sich ebenso unfruchtbar bleibt, wie umgekehrt der kritische Zweifel
ein unentbehrliches Vehikel des wissenschaftlichen Denkens gewesen
ist. Dagegen behält diese Erkenntnistheorie dasjenige Prinzip, das
der größten Einschränkungen bedurfte, um eine gewisse relative
Geltung als methodologische Regel zu bewahren, das Prinzip der
Einfachheit, nicht nur bei, sondern sie nimmt es sogar zu ihrem
obersten Erkenntnisprinzip, aus dem sie die anderen abzuleiten
sucht. Indem auf solche Weise in diesem Prinzip in gewissem
Sinne alle übrigen zusammenfließen, bedarf es hier noch einer kurzen
Beleuchtung in seinem Verhältnis zu dem älteren Prinzip der ob-
jektiven Einfachheit der Naturgesetze und dem daraus hervorge-
gangenen rein methodologischen Grundsatz der Beschränkung der
Postulate der empirischen Naturforschung. 301
Hypothesen auf die unbedingt durch die Tatsachen selbst geforder-
ten Voraussetzungen*).
Indem das Prinzip der Einfachheit in das der „Ökonomie des
Denkens“ übergeführt wird, überläßt man einerseits die aufzustellenden
Hypothesen der subjektiven Willkür, während dieses Prinzip anderseits
eine dogmatische Behauptung enthält, die es wiederum dem Galileischen
Axiom von der Einfachheit der Naturgesetze nahe bringt. Dabei
ist es aber zugleich der polare Gegensatz zu dem Galileischen Ge-
setz. Ist dieses ein objektives Naturgesetz, so ist jenes ein subjektives
Denkgesetz. Beide stimmen nur darin überein, daß sie Allgemein-
gültigkeit fordern: das Galileische fordert sie, weil jedes objektive
Naturgesetz allgemeingültig ist, das Ökonomieprinzip umgekehrt, weil
es objektive Naturgesetze überhaupt nicht geben soll, wir aber bei den
subjektiven Annahmen, die wir an ihre Stelle setzen, vernünftigerweise
stets den einfachsten Weg jedem komplizierteren vorziehen müssen.
Wie nun jene objektive Fassung des Simplizitätsprinzips deshalb un-
haltbar ist, weil sie eine metaphysische Voraussetzung in sich schließt,
die in jedem einzelnen Fall, wo sie angenommen werden soll, der tat-
sächlichen Begründung bedarf, so ist diese subjektive Form deshalb
unzulässig, weil sie umgekehrt auf der stillschweigenden Annahme
ruht, alle Naturgesetze seien im Grunde willkürliche Hypothesen, deren
jede von uns aus einer unbegrenzten Anzahl sonst noch möglicher
Annahmen lediglich nach Maßgabe der Bequemlichkeit gewählt werden
könne. In Wahrheit handelt die naturwissenschaftliche Forschung
nirgends nach dieser Annahme, sondern sie sucht überall durch ihre
Interpretation der Erscheinungen die wirkliche Verknüpfung der
letzteren darzustellen, und erst da, wo etwa mehrere Voraussetzungen
nebeneinander möglich sind, gibt sie der einfacheren den Vorzug. Jene
beiden Formen des Simplizitätsprinzips sind also aus einer miß-
verständlichen Deutung des methodologischen Prinzips hervorge-
gangen: die objektive verwandelt dieses in ein die Naturerscheinungen
selbst beherrschendes Gesetz, die subjektive in ein ursprüngliches
Erkenntnisgesetz. Hinter beiden Formulierungen versteckt sich jedoch
die falsche Teleologie des Utilitätsprinzips, nach dem auf der einen
Seite für die Natur, auf der anderen für unsere Erkenntnistätigkeit
der sparsamste Gebrauch der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel
als oberster Grundsatz gelten soll.
*) Vgl. besonders die allgemeinen Ausführungen über den Standpunkt der
„Ökonomie des Denkens“ bei Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen,
1896, S. 203 fi. Dazu oben Bd. I, S. 391 ft.
302 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
E
Indem sich nun dieses Sparsamkeitsgesetz in seiner subjektiven
Fassung mit der Annahme verband, die Art der Verknüpfung gegebener
Tatsachen sei an sich vollkommen gleichgültig und habe sich eben
deshalb nur nach dem subjektiven Motiv der Ökonomie des Denkens
zu richten, führte sie noch zu einem weiteren Postulat, in dessen Be-
folgung man die vollkommenste Verwirklichung des Ökonomieprinzips
erblickte: zu dem Postulat nämlich, alle Naturwissenschaft solle
sich auf de reine Beschreibung der Naturerscheinungen
beschränken, jeden Versuch einer Erklärung von sich aus-
schließen. Insofern die Beschreibung nur die Tatsachen selbst, die
Erklärung außer diesen auch noch allerlei Hilfsbegriffe, wie den der
Ursache, der Kraft, der Masse u. s. w., enthalte, sei unter allen Um-
ständen die reine Beschreibung einfacher als eine solche Erklärung.
Die Forderung der einfachsten Beschreibung nahm daher häufig
auch die Form an, daß im Prinzip die Elimination aller jener Hilfs-
begriffe verlangt wurde*).
In dieser Forderung laufen nun aber zwei an sich sehr verschiedene
methodologische Regeln zusammen: eine erste, nach der sich die Inter-
pretation der Erscheinungen keiner dunkeln, unklar definierter Hilfs-
begriffe bedienen, und eine zweite, nach der es überhaupt keine
irgendwie über die einfache Beschreibung hinausgehende Interpretation
der Erscheinungen geben soll. Die erste dieser Regeln ist natürlich
vollkommen gerechtfertigt, und in ihrem Sinne wird man daher in
der Tat nur Hilfsbegrifie verwenden dürfen, die entweder selbst Ver-
allgemeinerungen bestimmter leicht zu beschreibender Tatsachen sind
oder mindestens nur solche hypothetische Elemente enthalten, die sich
als anschauliche, die Verknüpfung der Tatsachen erleichternde Dar-
stellungen des Zusammenhangs der zu beschreibenden Erscheinungen
erweisen. Aus demselben Grunde, aus dem nur die Elimination
dunkler und schlecht definierter Hilfsbegriffe, nicht die der Hilfsbegriffe
überhaupt gefordert wird, ist nun aber das zweite Postulat, das der
Beschränkung auf die reine Beschreibung der in der Wahrnehmung
gegebenen Tatsachen, nicht nur undurchführbar, sondern es steht
mit der wirklichen Wissenschaft und mit den Zwecken, die sich diese
immer gestellt hat und auch in Zukunft notwendig stellen wird, in Wider-
»» *) In der letzteren negativen Form hat wohl zuerst d’Alembert die
Beschränkung auf die reine Beschreibung verlangt (Traite de Dynamique, 1743,
Preface). In seiner positiven Form ist dann das Prinzip von Kirchhoff
(Vorlesungen über Mechanik 8. 5 fl.,, Mach u. a. ausgesprochen worden. ,
Postulate der empirischen Naturforschung. 303
spruch. Diese Zwecke bestehen ja nur zum geringsten Teil in der
Nachweisung der einzelnen Tatsachen der Erfahrung; ihre Haupt-
absicht geht auf die Ermittlung des Zusammenhanges verschiedener
Tatsachen, und dieses zweite Ziel ist überdies nicht bloß um seiner selbst
willen vom größten Werte, sondern vor allem auch deshalb, weil die
Ermittlung des Zusammenhanges der Tatsachen der häufigste Weg ist,
auf dem wiederum neue Tatsachen gefunden und der Beschreibung zu-
gänglich gemacht werden können. Das erhellt schon bei einem flüch-
tigen Blick auf die Geschichte der bekanntesten wissenschaftlichen
Entdeckungen, welcher zeigt, daß die isoliert und darum durchweg
zufällig gefundenen Tatsachen gegenüber jenen, auf die zuerst der
Zusammenhang der Erscheinungen geleitet hatte, an Zahl und zumeist
auch an Wert eine verschwindende Minderheit bilden. Nun haben wir
unter „Erklärung“ im naturwissenschaftlichen Sinne gar nichts anderes
zu verstehen als eine Beschreibung von Erscheinungen, bei der man
zugleich deren Zusammenhang mit anderen Erscheinungen berücksich-
tigt. Stellt sich dieser Zusammenhang als ein regelmäßiger und mit
den sonst bekannten Bedingungen des Geschehens übereinstimmender
dar, so geht die Beschreibung in das über, was wir eine „Erklärung“
nennen. Insofern eine solche Darstellung das allgemeine Kausalprinzip
voraussetzt, können wir daher die Erklärung auch die kausale „Beschrei-
bung‘‘ eines Vorgangs nennen, und die Beschreibung überhaupt läßt sich
nun in die einfache und in die kausale Beschreibung unterschei-
den. Hypothesen sind dann allerdings bei der letzteren notwendige Hilfs-
mittel für die Darstellung des Zusammenhangs. Aber je mehr bei der
Aufstellung der letzteren das methodologische Prinzip der Einfachheit
befolgt wird, umsomehr verwandeln sich solche Hypothesen lediglich
inHilfsmittelder Beschreibung komplexer Phö-
nomene und ihres Zusammenhanges. Die Forderung
einer reinen Beschreibung der Naturerscheinungen unter Verzicht auf
jeden Gebrauch interpretatorischer Hilfsmittel entspricht daher weder
dem wirklichen Zustand der Wissenschaft noch dem Zweck, den sie
hat. Dieser Widerspruch entspringt aber einerseits daraus, daß dabei
zwei durch unzweifelhaft bestehende logische Merkmale unterschiedene
Methoden, nämlich eben die der reinen und die der kausalen Beschrei-
bung oder Erklärung, in ihrem sich gegenseitig bedingenden Verhältnisse
verkannt werden, und anderseits daraus, daß jene Forderung der reinen
Beschreibung wiederum unter der V oraussetzungeinesteleologischen Prin-
zips steht, das nicht der naturwissenschaftlichen Forschung selber ent-
nommen, sondern ihr willkürlich entgegengebracht wird, ähnlich wie das
304 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
objektive Gesetz der „einfachsten Mittel“ dereinst der Natur selbst ok-
troyiert wurde. (Vgl.unten das „Prinzip der kleinsten Aktion“, Kap. III.)
Indem das Ökonomieprinzip nicht nur den Anspruch erhebt, ein
allgemeingültiges, sondern auch den, das alleingültige erkenntnis-
theoretische Axiom der Naturlehre zu sein, läßt es endlich, wiederum
im Gegensatz zu dem Galileischen Einfachheitsprinzip, de Anschau-
lichkeit nicht mehr als ein notwendiges Postulat gelten. Vielmehr
beruft man sich hier auf die Tatsache, daß die analytischen Entwick-
lungen, die den Zusammenhang der Phänomene auf exaktem Wege zu
verfolgen suchen, in einem großen Teil ihres Verlaufs der Anschauung,
die ihnen folgen will, unüberwindliche Hindernisse bereiten, und daß
sich daher in Wirklichkeit die mathematische Physik solcher Entwick-
lungen lediglich als technischer Hilfsmittel bedient, die zwar begriff-
lich wohl begründet sind, aber einen Anspruch auf Anschaulichkeit nicht
machen können. Insofern nun diese rein technische Auffassung des
mathematischen Kalküls nicht bloß die einfachste ist, sondern sich
überdies darauf beschränkt, gegebene Phänomene der Wahrnehmung,
die direkt nicht miteinander verknüpft werden können, auf dem in-
direkten Weg passend gewählter Differentialgleichungen in Verbindung
zu setzen, nennt man vom Standpunkt des Ökonomieprinzips aus eine
solche Betrachtungsweise auch de phänomenologische. In
Wirklichkeit ist freilich diese Bezeichnung nur zur Hälfte richtig, und
unter dem Gesichtspunkt, daß ein Phänomen im allgemeinen eine in
der Anschauung gegebene Erscheinung bedeutet, gleicht sie bei-
nahe einem „lucus a non lucendo“. In Wahrheit ist der Standpunkt
gleichzeitig phänomenologisch und nominalistisch: phänomenologisch
in Bezug auf die zu interpretierenden Erscheinungen, nominalistisch
in Bezug auf die hierzu dienenden Interpretationsmittel, wo die Formeln,
ähnlich den Wörtern der Sprache, als willkürlich gewählte Denkmittel
betrachtet werden, die zu dem was sie bedeuten in gar keiner inneren
Beziehung zu stehen brauchen. Diese Auffassung scheitert aber
erstens daran, daß die Gleichungen, in denen die Prämissen formuliert
werden, die zur Lösung der spezielleren Probleme dienen, überall eine
anschaulich interpretierbare Bedeutung besitzen, und zweitens daran,
daß die endgültigen Ergebnisse der Betrachtungen ebenfalls wieder
anschaulich interpretierbar sein müssen, wenn sie überhaupt als Lösungen
der gestellten Aufgaben gelten sollen. Man hat bisweilen die erste dieser
Tatsachen auf Grund der von Maxwell aufgestellten Grundgleichungen
seiner elektromagnetischen Lichttheorie bestritten, indem man be-
hauptete, bei diesen Gleichungen, die sich für die Interpretation der
Postulate der empirischen Naturforschung. 305
mannigfaltigsten Erscheinungen des Lichts, der Elektrizität, des Mag-
netismus und ihrer Wechselbeziehungen fruchtbar erwiesen haben,
sei es ganz gleichgültig, ob man sich darunter anschauliche Vorgänge
denken wolle oder nicht. Nachdem die Gleichungen einmal da sind,
mag das zutreffen, ebenso wie man sich ja des großen Einmaleins be-
dienen kann, ohne die erforderlichen einfachen Multiplikationen oder
gar Additionen jedesmal auszuführen. Aber die erste Aufstellung irgend-
welcher Gesetze, die sich auf die in der Wahrnehmung gegebenen Er-
scheinungen beziehen, ist niemals möglich, ohne daß man sich von den
Gesetzen zugleich ein anschauliches Bild macht. Das bezeugt in diesem
Fall Maxwells eigener Bericht über die Art, wie er zu seinen Gleichungen
gelangt ist*). Er ersann sich einen Mechanismus, der zur Veran-
schaulichung der elektromagnetischen Wechselwirkungen geeignet
erscheinen konnte. Dieser Mechanismus war sehr unwahrscheinlich,
so daß ihn sein Erfinder selbst eine „seltsame Vorstellung“ nannte;
aber anschaulich war er durch und durch, und ohne daß er dies gewesen
wäre, würde Maxwell schwerlich zu seinen Grundgleichungen gelangt
sein. Nicht daß sie wahr, sondern daß sie anschaulich sind, und daß sie
eben dadurch geeignete Formulierungen der Probleme zulassen, darin be-
steht daher im allgemeinen der Hauptwert der naturwissenschaftlichen
Hypothesen. Eine hypothesenfreie und zugleich rein phänomenologische
Wissenschaft würde das Ideal einer reinen Beschreibung verwirklichen.
Aber sie würde auch keine Probleme mehr enthalten und damit darauf
verzichten, über den Zusammenhang der Erscheinungen Rechenschaft
zu geben. Läßt man die Mathematik als ein technisches Hilfsmittel
gelten, das solchen Zusammenhang herstellt, so muß der Anfang und
das Ende der analytischen Entwicklungen immer in der Anschauung
repräsentierbar sein. Wenn sie das sind, so können die Zwischen-
operationen zwar im einzelnen sich der Verfolgung in der Anschauung
entziehen, weil die Verwicklung der Begriffe zu groß wird, als daß wir
sie jedesmal in die Anschauung übertragen könnten. Doch eine logische
Entwicklung, die mit Gliedern von anschaulicher Bedeutung beginnt
und in ihrem Endergebnis wieder einen in der Anschauung interpretier-
baren Sinn haben muß, kann an sich auch in den Zwischengliedern
niemals die Beziehung zur Anschauung verlieren, wenn es gleich bei
der Behandlung der Probleme zu umständlich oder selbst unserem
Anschauungsvermögen versagt sein mag, dieser Beziehung im ein-
zelnen zu folgen. Als direktes Postulat bleibt aber das Prinzip der An-
*) Maxwell, On physical lines of force (1861), Scient. Pap. Vol. I, p. 451,
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 20
306 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturferschung.
schaulichkeit insbesondere für die hypothetischen Elemente bestehen,
die als Hilfsbegriffe in die analytischen Entwicklungen eingehen. Hier
können die Eigenschaften der hypothetischen Substrate der Erschei-
nungen möglicherweise durchaus von den Eigenschaften der uns in
der Wahrnehmung gegebenen Körper abweichen. Mit den allgemeinen
Bedingungen unserer Anschauung, mit den Eigenschaften des Raumes
und der Bewegung, müssen sie stets übereinstimmen. Damitsind dann
aber auch solche hypothetische Substrate vorstellbar, und sie genügen
so dem Prinzip der Anschaulichkeit in dem allgemeinen Sinne, in dem
dieses für alle naturwissenschaftliche Interpretationen gefordert ist.
Drittes Kapitel.
Die Prinzipien der Mechanik und der Kausalbegriff der
mechanischen Naturlehre.
1. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe.
a. Die Statik des Archimedes.
Die wissenschaftliche Mechanik hat mit einzelnen Erkenntnissen
begonnen, die sich auf die Erscheinungen der Bewegung unter den
relativ einfachsten Bedingungen bezogen. Solche einfachste Bedingungen
des mechanischen Geschehens sind dann gegeben, wenn an einem Körper
verschiedene bewegende Wirkungen miteinander im Gleichgewicht
stehen. Denn in diesem Falle kommen, da eine wirkliche Bewegung
nicht eintritt, Zeit und Geschwindigkeit, die sonst unerläßlichen Be-
standteile der Bewegungsvorstellung, nicht unmittelbar ın Betracht,
sondern es genügt die Kenntnis der geometrischen Eigenschaften der
Körper sowie der Größe und Richtung der an ihnen angreifenden Kräfte,
um die Bedingungen des Gleichgewichts aufzufinden. In den Anfängen
der statischen Untersuchung, wie sie das Altertum aufzuweisen hat, wird
aber das Problem noch nicht einmal in dieser Allgemeinheit aufgestellt,
sondern man begnügt sich mit der Berücksichtigung einer Kraftform,
die so zu sagen als selbstverständliche Eigenschaft aller Körper zu den
rein geometrischen Eigenschaften derselben hinzugedacht wird, der
Schwerkraft. Auf diese Weise wird die Statik in den Händen
des Archimedes vollständig zu einem Zweig der Geometrie. Der feste
Körper wird als ein abgegrenzter Teil des Raumes aufgefaßt, dessen
einzelne Punkte, der bei geometrischen Untersuchungen angenommenen
Unveränderlichkeit der Raumgebilde entsprechend, . in . vollkommen
Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe, 307
starrem Zusammenhange stehen. Es tritt nur zu den bei der gewöhn-
lichen Geometrie gültigen Voraussetzungen die weitere hinzu, daß das
betreffende Raumgebilde Gewicht besitze. Das Problem der Bestim-
mung des Schwerpunkts wird so zu einer rein geometrischen Aufgabe,
und selbst das Hebelgesetz, obgleich es durch die Einführung von Ge-
wichten, die in verschiedenen Abständen an der Hebelstange wirken,
zur Unterscheidung äußerer Kräfte nötigt, die nicht einfach den sonstigen
geometrischen Eigenschaften der Körper hinzugefügt werden können,
wird dennoch durch einen eigentümlichen Kunstgriff von Archimedes auf
das Feld geometrischer Betrachtungen übergeführt, indem er dasselbe
aus dem als Axiom angenommenen Satze ableitet, daß gleich große
Gewichte in gleicher Entfernung vom Unterstützungspunkt mit-
einander im Gleichgewicht stehen. Da das nämliche Axiom auch der Be-
stimmung des Schwerpunktes zu Grunde liegt, so besteht die Bedeutung
dieser Ableitung wesentlich darin, daß sie es gestattet, den Hebel
samt den an ihm wirkenden äußeren Kräften wiederum als ein geo-
metrisch gleichförmiges Gebilde zu betrachten, an welchem auch die
Gewichte gleichförmig verteilt seien.
Suchen wir uns, insoweit hier überhaupt von einer Rekonstruk-
tion die Rede sein kann, über den Weg Rechenschaft zu geben, auf dem
Archimedes zu seinen statischen Erkenntnissen geführt wurde, so wird
nun zunächst nicht in Abrede zu stellen sein, daß gewisse experimentelle
Ermittlungen über Gewicht und Gleichgewicht der Körper vorangingen.
Nachdem durch die unmittelbare Wahrnehmung das Gewicht als ein
vertikal abwärts gerichteter Druck erfaßt war, konnten weitere zu-
fällige Beobachtungen leicht zu dem Satze führen, daß es für jeden
Körper einen Punkt gibt, dessen Unterstützung Gleichgewicht herbei-
führt. Hier war aber auch sofort nahe gelegt, die genauere Lösung
des Problems des Schwerpunktes auf geometrischem Wege zu ver-
suchen. Daran schloß sich dann die Ableitung des Hebelgesetzes, das
infolge der leichten experimentellen Bestätigung, die es zuließ, dieses
ganze Gebiet geometrisch-statischer Untersuchungen zum Abschluß
brachte. Im ganzen können wir somit hier drei Stadien der Unter-
suchung unterscheiden: 1) das der induktiven Vorbereitung, in welchem
die Beobachtung im wesentlichen einen qualitativen Charakter besitzt
oder sich höchstens zu approximativen quantitativen Schätzungen er-
hebt; 2) das der spekulativen Bearbeitung der Probleme, in welchem auf
Grund der vorangegangenen Beobachtung allgemeine Voraussetzungen
gebildet und aus diesen Sätze von quantitativem Charakter abgeleitet
werden; 3) das der experimentellen Prüfung, in welchem sich der Nach-
308 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
weis vollzieht, daß die Erscheinungen ihren quantitativen Verhältnissen
nach mit den gemachten Voraussetzungen übereinstimmen. Diese Ent-
wicklungsfolge kommt, wie wir sehen werden, in allen Zweigen der
Naturlehre zur Geltung. Aber schon die antike Mechanik ist gegenüber
anderen Gebieten der Naturwissenschaft dadurch ausgezeichnet, daß
das erste und sogar das dritte jener Entwicklungsstadien im Verhältnis
zu dem zweiten vernachlässigt werden. Infolgedessen tritt die Mechanik
in nahe Beziehung zur reinen Mathematik. Die induktive Vorbereitung
beschränkt sich dort wie hier auf eine geringe Zahl objektiver Wahr-
nehmungen, und die experimentelle Bestätigung erscheint als ein nahe-
zu überflüssiges Geschäft, da sich die betreffenden Sätze schon durch
ihre innere Evidenz Beistimmung zu erzwingen scheinen. Außerdem
wird dieser spekulative und mathematische Charakter der Entwicklungen
noch dadurch verstärkt, daß die Voraussetzungen, die man der Ab-
leitung der Sätze zu Grunde legt, von den in der Erfahrung gegebenen
Bedingungen in einem ähnlichem Sinne abweichen wie die geometrischen
Begriffe von den wirklichen Körpern im Raume. So ist insbesondere
in der Archimedischen Statik die Annahme einer absolut homogenen
und starren Beschaffenheit der Körper lediglich geometrischen Ur-
sprungs, und eben dadurch wird diese Statik gewissermaßen zu einer
Geometrie intensiver Raumgrößen, indem jedem Raumteilchen
außer seinem extensiven auch noch ein intensiver Wert in Gestalt eines
bestimmten Gewichtes zugeschrieben wird*).
b. Galileis dynamische Anschauungen.
Indem die antike Statik die Vorstellung des Gewichtes in der Form,
in der sie in der verbreiteten Anschauung vom Körper enthalten ist,
unmittelbar mit den geometrischen Begriffen verbindet, gelangen in
ihr die spezifisch mechanischen Begriffe noch nicht zur Ausbildung,
und sie wird nicht einmal diese Lücke gewahr, weil sie durch ihre Be-
schränkung auf die Erscheinungen des Gleichgewichts an den wirklichen
Bewegungsproblemen vorübergeht. So wertvoll daher auch die An-
regungen waren, die aus der Archimedischen Periode auf die Anfänge
der neueren Wissenschaft übergingen, so gewinnt doch erst in diesen,
insbesondere in den dynamischen Forschungen Galileis, die Mechanik
*) Von den hydrostatischen Entdeckungen des Archimedes sehen wir
hier ab, da über die Art, wie er zu denselben gelangte, zu wenig bekannt ist.
Vgl. hierüber M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I,
S. 267, 280.
Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe. 309
ihre Selbständigkeit*). Bedeutungsvoll ist in dieser Beziehung die
Rolle, die in Galileis Untersuchungen den Reflexionen über den Kraft-
begriff zukommt. Um diesem Begriff seine allgemeine Geltung zu
sichern, mußte er von der speziellen Vorstellung des Gewichtes los-
gelöst werden. Dies konnte nicht wirkungsvoller geschehen, als indem
Galilei an eine davon völlig verschiedene Kraftform seine Spekulationen
anknüpfte, und wieder konnte er hier keine glücklichere Wahl treffen,
als indem er die menschliche und tierische Muskelkraft zum Urbilde der
Kraft überhaupt nahm**). Denn so notwendig es für die Vollendung
der wissenschaftlichen Begriffe ist, von allen anthropomorphischen Vor-
stellungen abzusehen, so wünschenswert muß es für die erstmalige
klare Aufstellung eines Begriffes sein, daß man sich die psychologischen
Bedingungen vergegenwärtige, die zunächst zur Bildung desselben ge-
führt haben. Der Begriff des Gewichtes schließt Kraft und Masse als
seine Bestandteile ein. Eine Trennung dieser Elemente konnte nur
erfolgen, indem man sich solche Formen der Kraftwirkung vergegen-
wärtigte, bei denen sie deutlich voneinander geschieden sind. Dies ist
aber vor allem in den Fällen verwirklicht, wo die menschliche oder
tierische Muskelkraft eine äußere Last in Bewegung setzt. Die ver-
schiedenen Ausdrücke, deren sich Galilei zur Bezeichnung der Kraft
bedient, impetus, momentum, weisen daher auf die Vorstellung hin, daß
die Kraft von außen die Masse ergreife, um ihr entweder durch einen
augenblicklichen Anstoß (impetus) oder durch einen gleichförmig an-
dauernden Antrieb (momentum) eine Bewegung mitzuteilen***). Diese
Vorstellung führt zu zwei Voraussetzungen, die für die moderne Mechanik
grundlegend geworden sind. Die erste besteht in der Annahme, daß
die Masse des Körpers passiv der sie ergreifenden Kraft gegenüberstehe,
die zweite in der Zurückführung der dauernden Kraftwirkung auf eine
stetige Folge momentaner Impulse, deren Effekte sich summieren.
Beide Voraussetzungen finden ihren Ausdruck in dem von Galilei auf-
gestellten Beharrungsprinzip, welchem später der nicht ganz
*) Die an sich höchst bemerkenswerten Arbeiten des Simon Stevi-
nus, des Zeitgenossen Galileis, müssen hier außer Rücksicht bleiben, weil
sie sich, durch ihre rein statische Richtung der antiken Betrachtungsweise
verwandt, gerade von denjenigen Grundgedanken fernhalten, aus denen die
neuere Mechanik hervorgegangen ist. Vgl. über dieselben E. Dühring,
Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik, 1873, S. 60 ff.
**) Dialogh. delle nuove scienze, giorn. III, lib. II. Opere, ediz. Alberi.
Firenze 1855. T. XIII, p. 154. Vgl. auch Dühring,a.a. O.S. 24 fi.
RP): A. 8. Os, ZIEH, 179,880," Xp: |,
310 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
passende Name des „Trägheitsgesetzes“ verliehen worden ist. Nach dem
Beharrungsprinzip erzeugt der momentane Anstoß eine an sich ins un-
begrenzte dauernde Bewegung von gleichförmiger Geschwindigkeit,
und der dauernde Antrieb einer Kraft läßt sich auf eine Anhäufung
elementarer Anstöße zurückführen, die in gleichen Zeiten gleich
große Zuwüchse an Geschwindigkeit hervorbringen müssen*). Dem
ersten Teil dieses Satzes liegt sichtlich die Vorstellung der durch eine
einmalige Stoß- oder Wurfbewegung angetriebenen Masse zu Grunde.
Aber es bedurfte einer eminenten Abstraktionskraft, um die in der
Beobachtung niemals gegebene Vorstellung einer ins unendliche fort-
dauernden gleichförmigen Geschwindigkeit als den an sich notwendigen
Effekt des Stoßes hinzustellen, und die in der Wirklichkeit stets vorhan-
denen Verzögerungen der Geschwindigkeit auf die wechselnden Wider-
stände zurückzuführen. Gerade diese Abstraktion zeigt, wie unschein-
bar in solchen Fällen der Anteil der Beobachtung an dem endgültig
durch Spekulation gefundenen Prinzip sein kann. Reduziert sich doch
bei dem Trägheitsgesetz die Beobachtung ganz und gar auf die Tat-
sache, daß der gestoßene Körper überhaupt noch sich weiter bewegt,
nachdem der Stoß aufgehört hat. Auch hätte darin allein nie ein zu-
reichendes Motiv gelegen, die eingewurzelte Vorstellung zu verlassen,
daß die Bewegung allmählich von selbst erlösche. Sichtlich war es viel-
mehr ein anderes Element der an die menschliche Kraftäußerung sich
anlehnenden Bewegungsvorstellung, nämlich die oben schon betonte
Trennung von bewegender Kraft und bewegter Masse, das hier der
Spekulation ihre Richtung gab. Wenn die Kraft nicht eine innere
Eigenschaft des Körpers selbst ist, sondern nur als ein äußerer Anstoß
an ihn herantritt, so ist nicht abzusehen, wie an der einmal hervor-
gerufenen Bewegung Änderungen entstehen sollen, wenn sie nicht
abermals durch äußere Kräfte veranlaßt werden. So ist es wesentlich
die Anschauung von dem passiven Verhalten des Körpers, aus
welcher die Konzeption des Beharrungsgesetzes entsprang, und mit
Rücksicht hierauf hat auch der Name der Trägheit seine Berech-
tigung, ebenso wie aus diesem Motiv die spätere Vereinigung des Axioms,
daß ein ruhender Körper einer äußeren Kraft bedarf, wenn er in Be-
wegung geraten soll, mit dem Galileischen Beharrungsprinzip, das
sich nur auf die Bewegung bezieht, erklärlich wird.
Sobald der erste Teil des Beharrungsprinzips, der Satz von der
*) Dialogh. giorn. III, lib. II, p. 163. Hinsichtlich der hierbei von Galilei
stillschweigend gemachten Voraussetzungen über das Maß der Geschwindigkeit
vgl. Bd. I, S. 573 £., 6il £.
Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe, 3ıl
gleichförmigen Geschwindigkeit bei momentanem Impuls, vollkommen
klar erfaßt war, so ergab sich nun der zweite Teil, der Satz von der
gleichförmigen Beschleunigung eines durch eine dauernde Kraft be-
wegten Körpers, als eine notwendige Konsequenz der zu Grunde liegenden
Vorstellung. Verhält sich der Körper passiv gegen die auf ihn einwirken-
den Anstöße, so muß ein neuer Impuls seine Wirkung der schon vor-
handenen Bewegung hinzufügen, und eine dauernde Kraft wird in eine
Summe stetig aufeinander folgender augenblicklicher Impulse auf-
gelöst werden können. Hier aber griff nun die Beobachtung der be-
schleunigten Bewegung beim Fall der Körper nicht bloß bestätigend
in den Verlauf der Spekulation ein, sondern sie war wohl schon bei der
induktiven Vorbereitung derselben beteiligt gewesen. Der wenigstens
qualitativ leicht zu gewinnende Nachweis, daß die alte Annahme einer
Proportionalität zwischen Fallzeit und Fallraum ein Irrtum sei, hat den
Gedanken Galileis frühe schon die Richtung gegeben. Aber zu der
spekulativen Entwicklung des Beharrungsgesetzes konnte dieser Ge-
danke doch nur führen, nachdem mit Hilfe anderer Formen der Kräfte-
wirkung die Unterscheidung von Kraft und Masse vollzogen war, so
daß es nun nahe lag, dieselbe auch auf die Bewegung der Körper beim
Fall zu übertragen.
Das Beharrungsgesetz ist das einzige Prinzip der Mechanik, das
von Galilei als Axiom aufgestellt wurde. Aber gerade darin zeigt sich
die außerordentliche Fruchtbarkeit dieses Prinzips, daß es seinem Ur-
heber gelang, an der Hand desselben eine Menge von Sätzen abzuleiten,
für die eine spätere Zeit noch weitere Voraussetzungen erforderlich hielt.
Dies war freilich nur möglich, weil bei ihm das Beharrungsgesetz eine
allgemeinere Bedeutung besaß, als sie späterhin dem Trägheitsprinzip
zugestanden wurde, wie sie aber allerdings durch die spekulative Be-
gründung, die Galilei seinem Gesetz gegeben, unmittelbar nahe gelegt
war. Insbesondere sind es zwei Prinzipien, die bei Galilei als selbst-
verständliche Folgen des Trägheitsgesetzes erscheinen : der Satz von der
Zusammensetzung der Kräftewirkungen, und das Gesstz der
Zurückführung des Gleichgewichts der Kräfte auf die
Gleichheit ihrer virtuellen Momente. Von dem ersteren Prin-
zip macht Galilei bei der Ableitung der Wurfbewegungen Gebrauch.
Daß die Bahn eines horizontal fortgeworfenen Körpers einfach durch
die Verbindung der durch den Wurf hervorgebrachten gleichförmigen
Geschwindigkeit in horizontaler Richtung mit der durch das Gewicht
hervorgebrachten gleichförmig beschleunigten Geschwindigkeit in
vertikaler gewonnen wird, erscheint bei ihm als eine unmittelbare
313 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Folge des passiven Verhaltens der Körper gegenüber den auf sie ein-
wirkenden Kräften, ohne daß er sich veranlaßt findet, hier ein besonderes
Prinzip der Zusammensetzung herbeizuziehen, wie ein solches späterhin
in dem Satz vom Kräfteparallelogramm entwickelt wurde*). Ähn-
lich verhält es sich mit der Zurückführung des Gleichgewichts auf
mögliche Geschwindigkeiten. Da Galilei von dynamischen Unter-
suchungen ausgegangen war, so war die Reduktion der Statik auf
Dynamik für ihn ein fast unvermeidlicher Schritt. Die Anwendung der
dynamischen Gesichtspunkte auf statische Probleme mußte aber zu
einer Vertiefung des Kraftbegrifis selbst führen, als dessen wesentlicher
Inhalt sich nun erst in vollkommen klarer Weise die durch eine bestimmte
Ursache hervorgebrachte momentane Beschleunigung
einer Masse darstellte, so daß als allgemeines Maß der Kraft das
Produkt der Masse in ihre momentane Beschleunigung dienen konnte.
Das statische Verhalten ergab sich jetzt als derjenige Spezialfall, wo
sich die einzelnen momentanen Geschwindigkeiten, die durch ver-
schiedene Ursachen an gegebenen Massen entstehen, infolge der vor-
handenen Verbindungen der letzteren gegenseitig aufheben. Aber
auch dieses Prinzip tritt bei Galilei, der es auf den Hebel und den
Flaschenzug anwendet, weder als ein selbständiges Axiom auf noch als
ein Satz, der aus anderen abzuleiten wäre, sondern es scheint ihm als
eine notwendige Folge des Kraftbegrifis selbst zu gelten**).
ec. Die Begründung der synthetischen Mechanik,
So fruchtbar nun auf diese Weise das Beharrungsgesetz geworden
ist, indem es teils direkt, teils durch die logische Ausbildung des Kraft-
begrifis, zu der es den Anlaß bot, eine Reihe anderer Prinzipien zur
Entwicklung brachte, die für die neuere Mechanik von grundlegender
Bedeutung sind, so läßt sich doch nicht verkennen, daß in diese Prin-
zipien Voraussetzungen eingehen, die, so sehr sie durch gewisse ein-
fache Beobachtungen nahegelegt sein mögen, keineswegs in dem Be-
harrungsprinzip oder in dem aus ihm abgeleiteten fundamentalen Kraft-
begriff an und für sich schon enthalten sind. Durch die Entwicklung,
welche die Mechanik in der folgenden Zeit genommen, wurde aber das
Bedürfnis nach einer vollständigeren Darlegung der grundlegenden
axiomatischen Voraussetzungen dieser Wissenschaft immer unabweis-
barer. Denn in dem Maße, als sich die mechanischen Probleme, die
*) Dialogh. giorn. IV. A. a. O. p. 221 fi.
**) Della scienza meccanica. Opere T. XIII, p. 91 f.
Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe. 313
man behandelte, verwickelter gestalteten, mußte die Strenge der Be-
weisführung und damit zugleich die bestimmte Sonderung der Prin-
zipien von den gefolgerten Sätzen zunehmen. Eine freie Diskussion,
wie sie Galilei in seinen „Discorsi“ übte, läßt eine solche Sonderung
kaum aufkommen; die Euklidische Demonstrationsweise dagegen,
deren sich ein Huygens und Newton mit Meisterschaft bedienten,
hat dieselbe zur Vorbedingung. Dennoch trennen sich innerhalb
dieser mit den Hilfsmitteln der synthetischen Demonstration die
Mechanik behandelnden Richtung deutlich wieder zwei Entwick-
lungen voneinander, deren charakteristische Unterschiede hauptsäch-
lich in der Verschiedenheit der Probleme, mit denen man sich beschäf-
tigt, ihre Quellen haben. Auf der einen Seite waren es die Kombinationen
frei wirkender Kräfte, die sich der Untersuchung darboten. Wie
hier Galilei selbst schon aus Anlaß der Fall- und Wurfbewegungen
zu der Konzeption des fundamentalsten Axioms der Mechanik, des
Beharrungsgesetzes, gelangt war, so mußte die Weiterführung solcher
Untersuchungen wegen der relativen Einfachheit und Gleichartigkeit
der Bedingungen, die bei frei wirkenden Kräften stattfinden, vorzugs-
weise leicht zur Aussonderung einfachster Voraussetzungen von axio-
matischem Charakter führen. In der Tat ist es Newton, der, indem
er Galileis Gesetze der Bewegung schwerer Körper auf das Welt-
system ausdehnt, zugleich als der erste die sämtlichen Axiome zu
formulieren sucht, die dem System der Mechanik zu Grunde liegen.
Auf der anderen Seite handelte es sich bei derjenigen Weiterbildung
der Mechanik, die durch technische Zwecke, durch die Anwendung der
Bewegungsgesetze auf einfache Maschinen gefordert war, im allgemeinen
um die Kombination gegebener Kräfte mit bestimmten statischen
Bedingungen, die durch die gegenseitige Verbindung der Teile der
Maschine vorgeschrieben sind. Der Hebel und die schiefe Ebene
sind die einfachsten Fälle dieser Art, die zugleich insofern einen typi-
schen Charakter besitzen, als bei allen diesen statischen Kombinationen
die Wirkungen der äußeren Kräfte entweder, wie beim Hebel, durch
den Zusammenhang des Körpers selbst, an dem sie angreifen, oder
aber, wie bei der schiefen Ebene, durch äußere Hemmungen, welche
die Bewegungen des Körpers bestimmen, beschränkt sind. Wie der
Hebel und die schiefe Ebene die einfachsten, so wurden bald das phy-
sische Pendel und die Brachystochrone (die Bahn des schnellsten
Falls) die für die Ausbildung der Mechanik wichtigsten Beispiele aus
diesen beiden einander ergänzenden Klassen von Problemen. Die
verhältnismäßig verwickelte Beschaffenheit der letzteren, sowie die
314 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Komplikation verschiedenartiger, teils dynamischer, teils statischer
Bedingungen bewirkte nun aber hier, daß an Stelle einfacher Axiome
gewisse Prinzipien von zusammengesetzterer Art zur Entwicklung ge-
langten, die sich für die Lösung bestimmter technischer Aufgaben un-
mittelbar fruchtbar erwiesen. So kam es, daß in der Mechanik überhaupt
vorzugsweise solche Sätze fernerhin den Namen von Prinzipien
erhielten, die durchaus nicht den Charakter ursprünglicher Voraus-
setzungen, sondern den von Lehrsätzen besitzen, die des Beweises
bedürfen.
2. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik.
a. Die Formulierung der mechanischen Axiome durch
Newton.
An den Anfang seiner „mathematischen Prinzipien der Natur-
philosophie“ hat Newton außer den grundlegenden Definitionen,
deren seine Mechanik bedurfte, drei axiomatische Gesetze der Be-
wegung gestellt, die er, gleich jenen Definitionen, als die allgemeinsten
Abstraktionen aus der Erfahrung zu betrachten scheint, da er zur
näheren Erläuterung lediglich auf geläufige Erscheinungen hinweist,
in denen sie sich bewähren. Diese drei Axiome Newtons bestehen in
dem Trägheitsgesetz, in dem Satz, daß die Änderung der Bewegung
der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional sei und nach der
Richtung der geraden Linie erfolge, nach der die Kraft wirke, und
endlich in dem Gesetz von der Gleichheit der Wirkung und Gegen-
wirkung. Merkwürdigerweise ist unter diesen Sätzen der erste, das
Trägheitsgesetz, am wenigsten glücklich formuliert. Nicht nur tritt
es hier zum ersten Male in jener seitdem gangbar gewordenen Doppel-
gestalt auf, in der es Bewegung und Ruhe gleichzeitig umfassen soll,
sondern es wird auch auf eine innere Eigenschaft der Körper bezogen,
die als „Vis inertiae“ den äußeren Kräften analog gedacht ist, und es
kommt daher der nämliche Satz in einer doppelten Form vor: zuerst
unter den Definitionen der Materie, und dann noch einmal als oberstes
Bewegungsaxiom. Gerade diese doppelte Aufstellung beweist aber,
daß auch Newton das Streben nach einer spekulativen Begründung
jenes Fundamentalgesetzes nicht überwinden konnte. Denn. für die
empirische Auffassung liegt kein Anlaß vor, ein Gesetz, das sich in
aller Erfahrung bewährt, und das aus keinem anderen Erfahrungsgesetz
abgeleitet werden kann, aus irgend einer Qualitas occulta in den Dingen
selbst zu erklären. Eine solche Qualitas occulta ist die Trägheit,
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 315
wenn sie als eine Eigenschaft oder gar als eine Kraft der Körper ge-
dacht wird. Das Beharrungsgesetz ist ja ein Axiom, das für die Wir-
kungen äußerer Kräfte auf die Körper gültig ist; es ist also in die all-
gemeine Definition der Kraft aufzunehmen und darf nicht auf eine
spezifische innere Kraft zurückgeführt werden, die zu den äußeren
Kräften erst hinzukomme. Die letztere Betrachtung schließt eigent-
lich die Annahme in sich, die äußeren Kräfte für sich genommen
folgten dem Beharrungsgesetze nicht. In der Tat zeigen spätere Aus-
führungen über die Vis inertiae, die sich direkt an die Newtonsche
Definition anschließen, deutlich genug, daß im Hintergrunde dieser
Auffassung der alte scholastische Satz steht: „Cessante causa cessat
effectus“, und daß man in der Zurückführung des Beharrungsgesetzes
auf eine in den Körpern permanent anwesende Kraft eine Art von
spekulativer Begründung desselben gefunden zu haben glaubte*).
Das zweite Gesetz Newtons schließt sodann streng genommen zwei
Axiome oder ein Postulat und ein Axiom in sich: das Postulat, daß
die Änderung der Bewegung der bewegenden Kraft proportional sei, und
das Axiom, daß die Änd:rung in der Richtung der geraden Linie er-
folge, in welcher die Kraft wirkt. Das ganze Gesetz, das schon Galilei
überall vorausgesetzt, aber nirgends formuliert hatte, erscheint als eine
Anwendung der vorangegangenen Definition der Kraft, wonach diese
das auf einen Körper ausgeübte Bestreben ist, seinen Zustand der Ruhe
oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung zu ändern. Als ein
neues Prinzip, das nur in den Arbeiten von Huygens bereits gelegent-
lich seine stillschweigende Verwendung gefunden hatte, tritt endlich
das Gesetz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion auf, dem
allein keine grundlegende Definition gegenübersteht.
Bei der Beurteilung dieses ersten Versuches eines synthetischen
Systems der Mechanik darf man die Kunst, mit der aus den Prinzipien
der Bewegung die Gesetze des Weltsystems entwickelt werden, nicht
mit dem logischen Wert jener Prinzipien selbst vermengen. In ersterer
Beziehung ist Newtons Gravitationsmechanik noch heute für uns
das bewundernswerteste Beispiel einer strengen Deduktion einzelner
Erfahrungsgesetze aus ihren allgemeinen Voraussetzungen. In der
zweiten Beziehung dagegen werden wir bei Newtons Formulierung
der Bewegungsgesetze, abgesehen von dem zwiespältigen Charakter des
*) Vgl. Chr. Wolffs Ontologia, $ 321, sowie Euler, Theoria motus,
Introd. Cap. II. (Mechanik, Ausgabe von Wolfers, Bd. I, S 5, 21 ff.)
Eulergibt im ganzen der Bezeichnung „Eigenschaft“ für die Trägheit den
Vorzug. (Theoria motus, Def. II, Schol.)
316 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Trägheitsprinzips, von der Verbindung zweier Axiome in dem zweiten
Gesetz und von der wechselnden Beziehung zu den vorangegangenen
Definitionen, vor allem die Vollständigkeit vermissen. In der Tat
wiederholt sich hier in beschränkterem Maße der nämliche Vorgang,
der uns schon bei Galilei begegnet ist. Wie dieser alle Erscheinungen
auf sein Beharrungsgesetz zurückführt, dabei aber in Wirklichkeit
eine Reihe weiterer Voraussetzungen stillschweigend hinzunimmt, so
wird bei Newton ein wichtiger Satz scheinbar aus dem zweiten Be-
wegungsgesetz abgeleitet, in Wahrheit aber in den zu diesem Behuf
geführten Beweis als eine Petitio principii eingeführt: es ist dies der
Satz von der Zusammensetzung der Bewegungen. Er tritt als Korollar-
satz zu den drei Bewegungsgesetzen hinzu, und das inihm zur Äußerung
kommende Prinzip, daß eine zweite Kraft nichts an der Geschwindigkeit
ändert, welche die erste für sich allein hervorbringen würde, ist in der
hinzugefügten Erläuterung als eine unmittelbare Folgerung aus dem
zweiten Bewegungsgesetz bezeichnet*). Aber es ist nicht abzusehen,
wie aus einem Gesetz, das die Wirkungsweise einer einzigen Kraft
bestimmt, irgend etwas über die Verbindung der Kräfte gefolgert werden
kann; vielmehr macht offenbar diese letztere eine neue axiomatische
Annahme erforderlich. Außerdem ist in den aufgestellten Bewegungs-
gesetzen die der ganzen neueren Mechanik zu Grunde liegende Voraus-
setzung, daß die Kraft stets räumlich getrennt sei von der Masse, auf
die sie wirkt, nicht zum Ausdruck gekommen. Für Galilei lag
diese Trennung in der Vorstellung von der menschlichen Muskelkraft,
von der er bei seiner Konzeption des Kraftbegrifis ausgegangen war,
als ein selbstverständlicher Bestandteil eingeschlossen. In dem Maße
aber, als man mit Recht diesen anthropomorphischen Ursprung des
Kraftbegriffs zurücktreten ließ, wäre die Nötigung dringender gewesen,
sich von der wirklichen Bedeutung, die jene Vorstellung für die Reform
des Kraftbegriffs gehabt hatte, deutliche Rechenschaft zu geben; nur
so wäre es möglich geworden, die Irrungen zu vermeiden, die sich später
in die Auffassung des Trägheitsgesetzes einmengten. Ein letzter
Mangel dieser frühesten Gestaltung mechanischer Axiome liegt endlich
in der unzureichenden Entwicklung des Begriffs der Bewegung. Ga-
lilei hatte die Bewegungsvorstellung einfach der sinnlichen Wahr-
nehmung entnommen, ohne an eine Zergliederung ihrer Bedingungen
zu denken. Newton scheidet die wirkliche von der scheinbaren
*) Philosophiae naturalis princip. math. Axiomata, Lex III, Coroll. Edit.
7ultim. Amstelod. 114, p. 13.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 317
Bewegung, indem er nur die erstere der Mechanik zuweist, da bloß
die wirkliche Bewegung der Körper im Raum in wirkenden Kräften
ihre Ursache habe. Aber indem er dem Raum, in welchem die wirk-
liche Bewegung vor sich geht, eine absolute Existenz zuschreibt,
wird ihm zugleich die wirkliche zur absoluten, die scheinbare zur
relativen Bewegung, und es verbirgt sich ihm so der aller Mechanik
vorausgehende phänomenologische Grundsatz, daß jede Bewegung an
und für sich nur eine relative sein kann, weil wir die Ortsveränderung
irgend eines Körpers nur wahrnehmen können, insofern wir sie auf irgend
einen Punkt außerhalb desselben beziehen, den wir als ruhend voraus-
setzen*).
Mit dieser mangelhaften Entwicklung des Begriffs der Bewegung
hängt eine Vermengung zusammen, die, so natürlich sie auch für die
Anfänge der Mechanik ist, doch einer klaren Auffassung und Unter-
scheidung der Axiome hindernd im Wege stand: es ist dies die Ver-
mengung solcher Sätze, die einen rein phoronomischen Charakter be-
sitzen, insofern sie nichts als die Anschauung der Bewegung voraus-
setzen, mit anderen Sätzen von dynamischem Inhalt, die auf be-
stimmten Annahmen über die Kräfte und über die Massen, auf die
sie wirken, beruhen. Diese Vermengung ist es aber, die noch weit
mehr als in der immerhin auf die Gewinnung fundamentaler Voraus-
setzungen gerichteten Naturphilosophie Newtons in jener zweiten
Entwicklung der Mechanik hervortritt, die sich vorzugsweise an die
technischen Anwendungen derselben anschließt und der Gestaltung
komplizierter, aber praktisch fruchtbarer Prinzipien zugewandt ist**).
b. Teleologische Fundamentaltheoreme der Mechanik.
Vom Standpunkte der reinen Mechanik aus erscheint es gleich-
gültig, ob die allgemeinen Bewegungsgesetze auf irgend einen natür-
lichen Zusammenhang von Bewegungserscheinungen wie das Welt-
system, oder auf eine künstliche Vorrichtung wie die Pendeluhr an-
gewandt werden. Trotzdem steht die Ausbildung der Mechanik in
beiden Fällen unter sehr verschiedenen Bedingungen. Die Natur
bietet vorzugsweise Kombinationen frei wirkender Kräfte, und am
günstigsten gestaltet sich in dieser Beziehung wieder das Weltsystem
*) Philos. nat. prineip. math. Definitiones, Schol. 1. ce. p. 5.
**) Vgl. zu Obigem die in Bd. I, S. 571 ff. 609 ff. gegebenen Formulierungen
der phoronomischen und physikalischen Axiome.
318 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
als Ganzes, weil hier gegenüber einigen wenigen nach einfachen Gesetzen
wirkenden Ursachen alle etwa stattfindenden Nebeneinflüsse bei einer
approximativen Betrachtung der Erscheinungen vernachlässigt werden
können. Von Anfang an streben daher die aus den allgemeinen Natur-
erscheinungen abgeleiteten Prinzipien einer kausalen Form zu.
Auf die künstliche Maschine dagegen wirken die Bewegungsursachen
unter bestimmten Bedingungen des Zusammenhangs der Teile, und
diese sind von den Zwecken abhängig, denen die Maschine dienen soll.
Hier wird daher die ganze Beurteilung von dem Zweckbegrift gelenkt,
und die auf Grund solcher Betrachtungen gewonnenen Prinzipien
nehmen eine teleologische Form an. Nach der Natur des
Zweckbegriffs kann freilich dies Verhältnis kein ausschließliches sein,
sondern die auf dem ersten Weg entstandenen Kausalgesetze wirken
ebenso auf die technische Mechanik wie die in dieser herrschenden Zweck-
betrachtungen auf die physikalische zurück. Zudem liegen in der Aus-
bildung der letzteren selbständig wirkende teleologische Motive. An
ihren Endpunkten gehen endlich beide Entwicklungen ineinander über,
indem der kausale Gesichtspunkt im ganzen zum Übergewichte gelangt,
während nebenbei gewissen Zweckprinzipien eine allgemeinere Über-
tragung auf die Natur zu teil wird.
Die Entwicklung der Mechanik von Huygens und Newton an
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist der aus beiden Quellen ge-
flossenen Ausbildung der mechanischen Fundamentaltheoreme ge-
widmet. Eine Reihe von Sätzen wurde hier in die Wissenschaft ein-
geführt, deren jeder nach seinem Ursprung die Bedeutung eines aus
axiomatischen Voraussetzungen abzuleitenden Theorems und in Bezug
auf seine Anwendung die Bedeutung eines Prinzips besitzt, auf das
man wo möglich die ganze Mechanik zu gründen sucht. Nicht selten
war man zugleich bemüht, gewisse spekulative Gründe für das gewählte
Prinzip geltend zu machen und dasselbe auf diese Weise dennoch zum
Rang einer axiomatischen Voraussetzung zu erheben. Solche Gründe
sind aber regelmäßig teleologischer Art, so daß hier der technische Aus-
gangspunkt und die philosophische Gedankenrichtung auf das gleiche
Ziel hinwirken. Die letztere verstärkt außerdem die Neigung zu einer
Übertragung der nämlichen Gesichtspunkte auf die Betrachtung der
frei wirkenden Naturkräfte. Erst gegen das Ende dieser Zeit kommt
in der hauptsächlich durch d’Alembert und Lagrange der analy-
tischen Mechanik gegebenen Gestaltung die kausale Betrachtung zum
Übergewicht, und man sucht nun nachzuweisen, daß alle jene teleo-
logischen Prinzipien Folgerungen sind aus den einfachsten Bewegungs-
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 319
gesetzen oder aus einem diese umfassenden mechanischen Grundsatz
von kausaler Bedeutung.
Eine hervorragende Rolle unter den so entstandenen fundamen-
talen Lehrsätzen der Mechanik von teleologischem Inhalt
kommt einer Reihe von Prinzipien zu, die wir unter dem Namen der
Erhaltungsprinzipien zusammenfassen. Sie bilden den
Anfangs- und Endpunkt dieser Entwicklung. Denn zum ersten Male
tritt, in einer freilich ausschließlich spekulativ begründeten und in der
Anwendung irreführenden Form, der Gedanke der Erhaltung in dem
Cartesianischen Satz von der Erhaltung der Quantität
der Bewegung in die Geschichte der Mechanik ein; ihren Ab-
schluß aber findet diese ganze Entwicklung in dem erst der neuesten
Zeit angehörenden Prinzip der Erhaltung der Energie,
welches den Cartesianischen Gedanken auf seine haltbare physikalische
Form zurückführt. Übrigens sind gerade die Aufstellungen dieses
ersten und letzten Prinzips ursprünglich bloß von spekulativen Er-
wägungen ausgegangen, und sie haben daher auch von Anfang an den
Anspruch auf die Bedeutung allgemeiner Naturgesetze erhoben. Da-
gegen kommt die technische Bedeutung des Erhaltungsgedankens in
einer Reihe zwischenliegender Prinzipien zur Geltung, die für das
engere Gebiet der Mechanik fruchtbarer geworden sind als jene all-
gemeinen Formulierungen, deren Wert mehr auf physikalischem Bo-
den liegt.
Unter diesen spezifisch mechanischen Erhaltungsgesetzen nimmt
das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte der
Zeit wie der Bedeutung nach die erste Stelle ein. Als eine selbstver-
ständliche Voraussetzung wurde es von Huygens in die Mechanik
eingeführt, indem dieser bei der Untersuchung der Pendelbewegungen
von dem Satze ausging, daß ein fallender Körper durch die erlangte
Geschwindigkeit niemals in eine größere Höhe gehoben werden könne,
als die er herabgefallen sei*). Seine weitere Ausbildung hat das Prinzip
in mathematischer und physikalischer Richtung durch Jakob, Jo-
hann und Daniel Bernoulli, in philosophischer Beziehung aber durch
Leibniz gewonnen. ‘In rein mathematischer Formulierung lautet
es: „Wenn sich ein System irgendwie verbundener Massen unter
dem Einfluß konstanter Kräfte bewegt, so ist die Summe der Pro-
dukte der Massen in die Quadrate ihrer Geschwindigkeiten zu
allen Zeitpunkten, in welchen die Massen die gleichen relativen Lagen
*) Horologium oscillatorium. Pars IV, hyp. I, II.
320 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
gegeneinander einnehmen, die nämliche“*). Die ersten Begründungen
dieses Satzes stützen sich auf das Beharrungsgesetz und auf die still-
schweigende oder ausdrückliche Annahme, daß keine Kraft aus nichts
entstehen könne. In diesem Sinne suchte namentlich Leibniz dem
Produkt aus der Masse in das Geschwindigkeitsquadrat, für das er
im Gegensatze zu der bei dem Gleichgewicht der Körper in Wirksam-
keit tretenden „toten Kraft“ den Namen lebendige Kraft einführte,
seine allgemeinere philosophische Bedeutung zu sichern, ohne daß es
ihm jedoch gelang, für dasselbe eine andere Ableitung zu finden als
aus den Fallgesetzen und aus der Voraussetzung, die Wirkung
einer Kraft werde durch das Produkt eines gehobenen Gewichtes in
seine Erhebungshöhe gemessen**). In dieser letzten Voraussetzung
lag nun insofern eine Petitio principi, als dabei der Arbeitseffekt,
ohne Rücksicht auf die Zeit, in welcher er zu stande kommt, als
Maß der Kraft angenommen ward. Dem von Leibniz so lebhaft
bekämpften Cartesianischen Kräftemaß dagegen, dem Produkt der
Masse in die einfache Geschwindigkeit, lag gerade die Berücksichtigung
der Zeit zu Grunde, ohne daß dies jedoch in der metaphysisch-teleo-
logischen Erklärung, die Descartes von seinem Prinzip gegeben
hatte, irgend ersichtlich gewesen wäre. So war denn im wesentlichen
dieser ganze Streit um das Kräftemaß, der übrigens in der Entwicklung
der Mechanik große Dienste geleistet hat, ein Streit um Worte, bei
dem man sich sowohl über die einfachen Elemente des Kraftbegriffs
wie über den eigentlichen Grund der Meinungsunterschiede im un-
klaren befand. Übrigens scheint Leibniz selbst in späterer Zeit einer
Erkenntnis des richtigen Sachverhältnisses nahe gewesen zu sein, da
er inseinem „Specimen dynamicum“ für den Stoß der Körper ein Prinzip
der „Erhaltung des Totalfortschritts der Körper“ aufstellt, das mit
dem Cartesianischen Maß übereinstimmt***). Die Grundlosigkeit dieses
Streites, die wohl zuerst d’Alembert durchschaute****), wird voll-
kommen deutlich, wenn man beide Kräftemaße auf ihre einfachen
Voraussetzungen zurückführt. Nach dem Galileischen Beharrungsgesetz
ist die unter dem Einfluß einer konstant wirkenden Kraft in einer
Zeit t erlangte Geschwindigkeit v eines Körpers:
v—g.t,
*), D’Alembert, Traite de dynamique. Paris 1743, p. 169.
**) Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii. Math. Werke, Ausg.
von Gerhardt, VI, p. 122.
***) Math. Werke VI, p. 226 £.
**4*) Trait& de dynamique, pref. p. XVI—-XXi.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 321
wenn g die in der Zeiteinheit erlangte Geschwindigkeit bedeutet. Der
Weg s aber, den der Körper in der Zeit i zurücklegt, ist:
Nun ist die in der Zeiteinheit erlangte Geschwindigkeit proportional
er wenn wir mit k die Kraft und mit m die Masse bezeichnen. Nimmt
m
man also zur Einheit der Kraft diejenige Kraftgröße, die der Einheit
der Masse in der Einheit der Zeit die Geschwindigkeitseinheit mit-
teilt, so wird
oder:
1
me—k.tud—mv=hk.s.
Diese Entwicklung, die nebenbei zeigt, daß das korrekte Maß
der Arbeit einer Kraft das halbe Produkt der Masse in das Quadrat
der Geschwindigkeit ist, deutet auf zwei verschiedene Erhaltungs-
prinzipien hin, die in der Tat als die eigentlichen Früchte jenes
Streites anzusehen sind. Das eine, das an die zweite Gleichung an-
knüpft, ist das Prinzip der Erhaltung der lebendigen
Kräfte: es kommt, wie sein Ursprung andeutet, in solchen Fällen
zur Geltung, wo es sich um die Beurteilung eines Massensystems,
z. B. einer Maschine, nach ihren Arbeitseffekten handelt, ohne daß
bei diesen die Zeit, in der sie geleistet werden, unmittelbar in Rück-
sicht fällt. Es hat in technischer sowohl wie in physikalischer
Beziehung die überwiegende Bedeutung, da es bei der Untersuchung
der Bewegungen zusammenhängender Massensysteme in den meisten
Fällen für uns vorzugsweise von Interesse ist, die Arbeitseffekte zu
kennen, die gewissen Lagen des Systems entsprechen. Das andere
Prinzip, das auf die erste der obigen Gleichungen zurückführt, ist das
derErhaltung des Schwerpunktes. Es kommt in solchen
Fällen zur Anwendung, wo es sich, wie beim Stoß der Körper, darum
handelt, zu wissen, in welcher Weise sich infolge eines während einer
bestimmten Zeit ablaufenden Vorgangs, z. B. eines Stoßes, der Zustand
des beteiligten Massensystems verändert hat.
Die Keime zur Entwicklung des Satzes von der Erhaltung des
Schwerpunktes finden sich schon in den von Wren, Wallis und
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 21
332 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Huygens gelieferten Untersuchungen über den Stoß; auch Des-
cartes hat bei seinem Satz von der Erhaltung der Quantität der
Bewegung hauptsächlich an den Stoß gedacht, aber irrtümlich an-
genommen, die absolute, nicht die algebraische Summe der Be-
wegungsgrößen bleibe erhalten. In exakter Weise wurde das Prinzip
zuerst von Newton ausgesprochen, der dasselbe unter die Korollar-
sätze seiner Bewegungsaxiome aufnimmt und ihm folgende Form gibt:
„Der gemeinschaftliche Schwerpunkt zweier oder mehrerer Körper
ändert seinen Zustand der Ruhe oder Bewegung durch die Wirkung
der Körper unter sich nicht, und derselbe wird daher, so lange keine
äußeren Kräfte einwirken, entweder ruhen oder sich gleichförmig in
gerader Linie fortbewegen“*). Werden demnach durch m, und m,
zwei gegeneinander stoßende Massen, durch v, und v, ihre Geschwindig-
keiten vor dem Stoß, durch v,’ und v,‘ dieselben nach dem Stoß be-
zeichnet, so ist nach dem obigen Prinzip:
Mm, v, + m, v, = m, dv + m, v5),
eine Formel, die unmittelbar zeigt, daß in den Ausdruck dieses Er-
haltungsprinzips das von Descartes als Quantität der Bewegung
bezeichnete Produkt m.v eingeht.
In der Beziehung der beiden genannten Erhaltungsprinzipien zu
den allgemeinen Bewegungsgesetzen liegt nun die Aufforderung, sie des
Charakters ursprünglicher Prinzipien ganz zu entkleiden, um sie unter
die aus den Bewegungsgleichungen gefolgerten Theoreme zu verwei-
sen. Dieser Schritt ist hauptsächlich durch Lagrange geschehen, der
ihnen damit vollends die Bedeutung kausal begründeter Sätze ge-
geben hat**). Es versteht sich von selbst, daß es dadurch leicht wird,
ihnen auch im Ausdruck ihren ursprünglich teleologischen Charakter
zu nehmen, und es mag sein, daß man sich deshalb gegenwärtig, selbst
wenn man die alten Namen beibehält, kaum noch ihrer Zweckbedeu-
tung bewußt ist. Gleichwohl bedarf es kaum des näheren Nach-
weises, daß der Gedanke der Erhaltung notwendig den des Zwecks
in sich schließt. Die Bedeutung des Zweckprinzips besteht ja in allen
Fällen darin, daß wir von einem zu erreichenden Endeffekt aus auf
die Bedingungen zurückgehen, die denselben herbeiführen. (Vgl. Bd. ],
S. 631.) Bei der Anwendung des Begriffs der Erhaltung vergleicht
man aber unmittelbar den Endefiekt mit den Anfangsbedingungen,
indem man beide einander gleich setzt.
*) Philos. nat. prince. math. Coroll. II, l. c. p. 17.
**) Mecanique analytique, sec. part. sect, III, $ Iet V.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 3233
Die beiden Erhaltungsprinzipien, in denen der Streit um das
Kräftemaß seine Lösung gefunden, stehen nun außerdem in naher
Beziehung zu zwei weiteren Prinzipien, in denen sich ebenfalls der Er-
haltungsgedanke bewahrt hat. Aus dem Prinzip der Erhaltung der
lebendigen Kräfte ist das der Erhaltungder Energie hervor-
gegangen; der Satz von der Konstanz der Quantität der Bewegung
aber, der sich in den von der Erhaltung des Schwerpunktes fortsetzte,
hat einen weiteren Ausläufer in dem sogenannten Prinzip der Erhal-
tungderFlächen gefunden. Der beschränkte Wert des letzteren
im Vergleich mit der universellen Bedeutung des Energiegesetzes zeigt
übrigens schon, daß unter den beiden ursprünglichen Erhaltungsgesetzen
das Prinzip der lebendigen Kräfte das entwicklungsfähigere war.
In seiner rein mechanischen Bedeutung betrachtet erscheint das
Energiegesetz als eine Erweiterung des Prinzips der lebendigen
Kräfte. Durch die Erwägung, daß bei einem abgeschlossenen System
von Körpern bei bestimmten periodisch wiederkehrenden Lageverhält-
nissen die Summe der vorhandenen lebendigen Kräfte jedesmal wieder
dieselbe ist, wird diese Erweiterung unmittelbar nahegelegt; denn die
Bedingungen zur Erzeugung jener Kräfte müssen auch in irgend einer
der anderen Positionen, welche das System durchläuft, schon vorhanden
sein, insofern durch die in dem System ursprünglich gegebenen Be-
dingungen auf ein bestimmtes Lageverhältnis alle anderen notwendig
folgen. In diesem Sinne kann aber die Arbeit, die das System in einer
späteren Position leistet, bereits als potentiell vorhanden in irgend
einer vorangegangenen angesehen werden*). So ist die lebendige Kraft
der Schwingung des Pendels bei seinem Durchgang durch die Gleich-
gewichtslage in der äußersten Abweichung von der letzteren, in der
seine wirkliche Geschwindigkeit null ist, potentiell vorhanden, da jene
lebendige Kraft von der Größe der Ablenkung abhängt. Das Wesen
dieser Auffassung besteht also darin, daß man nicht bloß einen gege-
benen Zustand des Systems, sondern den ganzen Zusammenhang auf-
einanderfolgender Zustände berücksichtigt. Die so erweiterte Betrach-
tung erfordert aber auch eine Erweiterung des ursprünglichen Kraft-
begriffs, und diese besteht in seiner Überführung in den allgemeineren
Begriff der Energie. Der Kraftbegrifi bezieht sich nämlich, da der In-
halt desselben die Beschleunigung einer Masse ist, nur auf unmittelbar
*) Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, S. 20 ff.
Thomson und Tait, Handbuch der theoretischen Physik. Deutsche Aus-
gabe, I, 1, S. 211 ff.
3934 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
gegebene Wirkungen; der Begriff der Energie dagegen bezeichnet
überhaupt die in einer Masse oder in einem System von Massen
vorhandene Wirkungsfähigkeit. Die in einem bestimmten
Augenblick vorhandene Energie zerfällt daher in zwei Teile: in die
aktuelle Energie, die dem älteren Begriff der lebendigen Kraft
entspricht und durch das halbe Produkt der Massen in das Quadrat
ihrer Geschwindigkeiten gemessen wird, und in die potentielle
Energie, die sich aus den Lageverhältnissen der Massen ergibt und
daher auch als Energie der Lage bezeichnet werden kann. Das
Energiegesetz nimmt nun die einfache Form an: „Die Energie eines
gegebenen unter unveränderlichen äußeren und inneren Bedingungen
stehenden Systems ist eine konstante Größe.“ Im Gebiete der eigent-
lichen Mechanik bewährt sich dieses Erhaltungsprinzip vor allem in
der genauen Wechselbeziehung, die zwischen Energie der Lage und
aktueller Energie stattfindet, indem jede Abnahme der ersteren mit
einer entsprechenden Zunahme der letzteren verbunden ist, und um-
gekehrt. Dennoch geht hier die Bedeutung des Prinzips kaum über
diejenigen Anschauungen hinaus, die bereits in dem Prinzip der Er-
haltung der lebendigen Kräfte, wenn auch in beschränkterer Form,
ihren Ausdruck fanden. Eine umfassendere Bedeutung gewinnt das
Prinzip erst auf physikalischem Boden, wo es unmittelbar zu der Fest-
stellung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der
Energie, die in der Natur vorkommen, überführt, und wo es die leitende
Maxime abgibt, nach der die mannigfaltigen Transformationen der
Naturkräfte zu beurteilen sind. Während daher das Energiegesetz in
der Mechanik die Stellung eines abgeleiteten Satzes von verhältnis-
mäßig untergeordnetem Werte einnimmt, erhebt es sich in der Physik
zur Rolle des allgemeinsten und fundamentalsten Naturgesetzes. Aus
diesem Grunde muß aber auch die nähere Würdigung dieses Prinzips,
sowie der Modifikationen, die zu bestimmten Zwecken mit ihm vor-
genommen worden sind, der Untersuchung der physikalischen For-
schungsprinzipien vorbehalten bleiben.
Von weit beschränkterer Bedeutung ist das letzte der Erhaltungs-
prinzipien: das Prinzip der Erhaltung der Flächen. Es
wurde für einen speziellen Fall und als ein rein empirisches Gesetz
zuerst von Kepler aufgestellt und dann von Newton aus dem Trägheits-
gesetz sowie aus dem Satz des Kräfteparallelogramms abgeleitet. New-
tons Lehrsatz, der nur eine Verallgemeinerung des ersten Keplerschen
Gesetzes ist, lautet: „Wenn Körper sich in Bahnen bewegen, deren
Radien nach dem unbeweglichen Mittelpunkt der Kräfte gerichtet
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik, 325
sind, so liegen die von ihnen beschriebenen Flächen in festen Ebenen
und sind den Zeiten proportional“*). Durch Euler, Dan. Bernoulli
und d’Arcy erfuhr dieser Satz eine weitere Verallgemeinerung, indem
er auf ein System von Körpern, die sich in verschiedenen Ebenen um
ein festes Zentrum bewegen, ausgedehnt wurde. Hierbei ergab sich
dann die Notwendigkeit, diese verschiedenen Drehungsebenen auf eine
einzige zu projizieren, für welche der ursprüngliche Satz seine Geltung
behielt. Das Prinzip der Erhaltung der Flächen nahm daher die Form
an: „Wenn beliebige Massen um einen Mittelpunkt rotieren, so ist die
Summe der Produkte der Massen in die Projektionen der von ihren
Radiusvektoren beschriebenen Flächenräume auf eine und dieselbe
Ebene der Zeit proportional“, oder in anderer Fassung: „Wenn die
Bewegungen eines um einen Mittelpunkt rotierenden Systems auf eine
und dieselbe Ebene projiziert werden, so ist die Summe der Produkte
der Massen in ihre Geschwindigkeiten und in die Abstände vom Mittel-
punkt eine konstante Größe.“ Diese letztere Formulierung zeigt un-
mittelbar, daß das Flächenprinzip ein Satz ist, der für die drehende
Bewegung die nämliche Bedeutung hat wie das Prinzip der Erhaltung
des Schwerpunktes für die fortschreitende. Es kann daher ebenso wie
dieses aus den Fundamentalgesetzen der Bewegung abgeleitet werden,
was in Bezug auf die speziellere Form des Satzes schon von Newton,
in Bezug auf die allgemeinere aber namentlich von Lagrange dargetan
worden ist**),
Eine zweite Reihe mechanischer Zweckprinzipien, denen der
teleologische Charakter in der Regel noch deutlicher aufgeprägt ist als
den Erhaltungsprinzipien, kann mit dem Namen der Maximal-
und Minimalprinzipien belegt werden. Sobald das Ergebnis
mechanischer Betrachtungen in die Form gebracht ist, daß irgend eine
bei einem mechanischen Vorgang resultierende Größe als eine solche
bezeichnet wird, die entweder einen Maximal- oder Minimalwert an-
nehme, so liegt darin an und für sich eine Anwendung des teleologischen
Gesichtspunktes; denn die relative Größe des Erfolgs ist hier maß-
gebend für die Aufstellung der Bedingungen, und es tritt somit die für
das Zweckprinzip charakteristische Umkehrung der Kausalbeziehung
ein. Ein leicht begreifliches Motiv hat nun aber außerdem in diesem
Falle de Minimalwerte bevorzugen lassen. Geht man nämlich
*) Philos. nat. princip. math., lib. I, prop. I, l. c. p. 34.
**) Mecanique analytique, sec. part. sect. I, 16; sect. III, $ II; 3. edit. t. ],
p. 227, 244.
326 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
ai
von den technischen Anwendungen der Mechanik aus, so wird die
Zweckmäßigkeit irgend einer mechanischen Vorrichtung, einer Maschine
z. B., zunächst danach beurteilt werden, ob der zur Wirkung kommende
Aufwand an Kraft dem von der Maschine zu leistenden Nutzeffekt
möglichst zu statten kommt oder nicht. Denn eine Maschine wird offen-
bar dann am zweckmäßigsten konstruiert sein, wenn ein gegebener Nutz-
effekt durch einen möglichst geringen Kraftaufwand erreicht wird.
Für eine Zeit, welche die Natur mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkte
des Nutzens auffaßte, lag es nahe, diese technische Betrachtungs-
weise auf die natürlichen Bewegungssysteme zu übertragen. Rein logisch
beurteilt würde man nun ebensogut zu einem Maximal- wie zu einem Mini-
malprinzip gelangen können. Ob ich einen gegebenen Effekt als einen
möglichst großen oder den Kraftaufwand, der zu ihm geführt hat, als
einen möglichst kleinen bezeichne, ist für das tatsächliche Verhältnis
gleichgültig. Aber der teleologische Standpunkt begünstigt hier die
Form desMinimalprinzips, da derselbe, von der Folge zum Grund zurück-
gehend, zu der Frage führt, wie ein gegebener Effekt unter möglichst
günstigen Bedingungen entstehen könne, worauf dann als quantitativer
Ausdruck dieser Bedingungen am natürlichsten ein Minimum an Kraft-
aufwand sich herauszustellen scheint.
Diese Erwägungen haben bereits unmittelbar zu derjenigen Gestalt
geführt, in der die hier erörterte Form teleologischer Prinzipien
zum ersten Male in die Entwicklung der Mechanik eingetreten ist: zu
dem um das Jahr 1746 von Maupertuis aufgestellten Prinzip der
kleinsten Aktion*). In der Formulierung, die ihm sein Ur-
heber gibt, reflektiert sich auf das deutlichste die einseitige Teleologie
jener Zeit: „Wenn in der Natur irgend eine Veränderung vor sich geht,
so ist die zu dieser Veränderung nötige Menge von Tätigkeit eine mög-
lichst kleine.“ Die Natur erscheint hier als die große Sparerin, deren
Weisheit man in diesem Prinzip bewundert, und ebendeshalb ist man
geneigt, das letztere als das Fundamentalgesetz anzuerkennen, auf das
alle anderen Sätze zurückgeführt werden sollen. Dabei zeigt freilich
die Durchführung sofort, daß man, um eine solche Behauptung auf-
recht erhalten zu können, von der Unbestimmtheit der Begriffe Tätigkeit
und Veränderung Gebrauch machen muß. Maupertuis selbst benützt als
Maß der Tätigkeit das Produkt aus Masse, Geschwindigkeit und durch-
laufenem Raum (mv s), als Veränderung aber betrachtet er bald, wie
beim Stoß der Körper, die Differenz der lebendigen Kräfte, bald, wie
*) Vzl.hierzuAd.Mayer, Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion.
1877.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik, 327
bei der Brechung und Reflexion des Lichtes, die Summe der Aktions-
mengen vor und nach dem Ereignis, so daß das behauptete Minimum
in verschiedenen Fällen eine sehr verschiedene physikalische Bedeutung
hat und überdies, wie d’Arcy zeigte, bei der Lichtbrechung sogar ge-
legentlich zu einem Maximum werden kann. Es war daher nureine äußer-
liche Anbequemung, die freilich in der philosophischen Zeitrichtung ihre
Quelle hatte, wenn Euler Resultate, die dem Gebiete der sogenannten
isoperimetrischen Probleme angehörten, als Spezialfälle des Prinzips der
kleinsten Aktion betrachtete. Es ist selbstverständlich, daß Aufgaben,
bei denen es sich von vornherein darum handelt, die Bedingungen für
den Minimal- oder auch Maximalwert irgend einer Größe zu finden,
zu Lösungen führen können, die eine äußere Ähnlichkeit mit dem hier
besprochenen Prinzip darbieten, da ja an und für sich jede solche Auf-
gabe auf einem verwandten teleologischen Gesichtspunkt beruht, wie
dies z. B. schon bei dem ältesten isoperimetrischen Problem, dem der
Kurve des schnellsten Falls, deutlich hervortritt. Da aber dieser
Gesichtspunkt schließlich auf alle mechanischen Probleme anwendbar
ist, indem nach den Minimal- und Maximalwerten einer Funktion und
nach den Bedingungen, unter denen sie auftreten, überall gefragt
werden kann, so ist auch die zu Grunde liegende Methode, welche die
Analytiker des 18. Jahrhunderts als die isoperimetrische bezeich-
neten, und aus welcher die von Lagrange begründete Variationsrech-
nung (S. 264 f.) hervorging, von einer ganz allgemeinen Anwendbarkeit,
und sie bietet auf diese Weise die Gelegenheit, jedes mögliche me-
chanische Problem unter dem ihr eigenen Gesichtspunkte zu behandeln.
In der Tat ist nun die ganze Weiterentwicklung des Prinzips der
kleinsten Aktion von diesen beiden Motiven aus bestimmt worden:
von dem philosophischen, das seine ursprüngliche Aufstellung ver-
anlaßte, und von dem rein mathematischen, das aus den isoperime-
trischen Problemen entsprang. Je mehr aber im Laufe der Zeit die Will-
kürlichkeit in der Ausführung des ersten philosophischen Grund-
gedankens zu Tage trat, umsomehr mußte das Prinzip den Charakter
einer bloß mathematischen Formulierung annehmen, die sich durch
ihren Nutzen für bestimmte Anwendungen empfahl. In diesem Sinne
ist es zunächst von Lagrange behandelt worden, der es als das „Prinzip
der größten oder kleinsten lebendigen Kraft“ bezeichnete und gleich
allen anderen zusammengesetzten Prinzipien aus den allgemeinen Be-
wegungsgesetzen ableitete*). Schon der gewählte Ausdruck zeigt, indem
*) M£c. analyt., sec. part. sect. III, $ VI.
328 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
er eine Alternative zwischen dem Maximum und Minimum aufstellt,
daß hier der ursprüngliche teleologische Gedanke zurückgetreten
ist. Das nämliche gilt von den weiteren Entwicklungen, die das Prinzip
bei W. R. Hamilton und Jacobi gefunden hat*). Es verbleibt ihm
allerdings auch hier insofern der teleologische Charakter, als es in direkte
Abhängigkeit von dem Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte
gebracht wird, welches letztere ja, wie oben erörtert, unmittelbar auf
einer Zweckbetrachtung beruht. Nachdem aber diese teleologische Be-
schränkung auf ein „konservatives System“ vorausgesetzt ist, bieten
die Prinzipien von Hamilton und Jacobi lediglich mathematische Aus-
drücke dar, welche die Lösung bestimmter Probleme erleichtern, ohne
im Sinne der ersten Aufstellung des Prinzips der kleinsten Aktion
irgendwie auf eine ursprüngliche Zweckmäßigkeit der Natur selbst
hinzuweisen.
Ihre letzte und definitive Gestaltung haben endlich die Maximal-
und Minimalprinzipien in dem von Gauß aufgestellten Prinzipdes
kleinsten Zwangs gefunden**). Nach ihm erfolgen die Be-
wegungen eines Massensystems, wie auch die Massen miteinander ver-
bunden sein mögen, in jedem Augenblick in möglichst großer Über-
einstimmung mit der freien Bewegung, also unter dem kleinsten Zwang.
Als Maß des Zwangs betrachtet man dabei die Summe der Produkte
aus dem Quadrat der Ablenkung jedes Punktes von der freien Be-
wegung in seine Masse. Man wendet also auf die Abweichung der ge-
zwungenen von der freien Bewegung eine ähnliche Betrachtung an,
wie sie bei der Methode der kleinsten Quadrate in Bezug auf die Aus-
gleichung der Beobachtungsfehler stattfindet. Mit Rücksicht hierauf
bemerkte Gauß, die Natur verfahre, wenn in ihr die Bewegungen durch
irgendwelche hemmende Bedingungen modifiziert werden, in der
nämlichen Weise wie der rechnende Mathematiker, wenn er Erfahrungen
ausgleicht, die sich auf voneinander abhängige Größen beziehen. Man
wird nicht verkennen, daß es auch im ersteren Falle der rechnende
Mathematiker ist, der unter einem bestimmten Gesichtspunkt die Er-
scheinungen betrachtet, und der nun nachträglich diese seine Betrach-
tungsweise der Natur selbst unterschiebt. Werden die Vorgänge in
ihren rein kausalen Beziehungen aufgefaßt, so ist es selbstverständlich,
daß bestimmte Hemmungen eine Bewegung um nicht mehr abändern
können, als dem Betrag der Hemmung entspricht; jedes Mehr wäre
*) Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, S.45. Thomson undTait,
a. 32077, 15, S0258F7:
**) Gauß’ Werke V, S. 25 fi.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 329
ein ursachloses Geschehen. Kehrt man nun dieses kausale Verhältnis
um, indem man den Endeffekt aller Bedingungen der Bewegung, die
nach Maßgabe der vorhandenen Hemmungen eintretende Abweichung
von der freien Bewegung, zum Ausgangspunkt nimmt, so gelangt man
zum Prinzip des kleinsten Zwangs. Der dem letzteren zu Grunde
liegende Zweckgedanke wird erst dann zum objektiven Naturzweck
erhoben, wenn man dieses Prinzip als ein Gesetz hinstellt, nach welchem
die Natur selber verfahre. Eine solche Auffassung ist natürlich bestreit-
bar, weil sich damit die Vorstellung verbinden kann, der erreichte
Endzweck sei zugleich die Ursache der Bewegungsgesetze selbst, wo-
durch die Natur hylozoistisch zu einem mit Zweckbewußtsein handeln-
den Wesen gemacht würde.
Wird dagegen diese falsche Objektivierung vermieden und die teleo- .
logische Formel gemäß der überall zulässigen subjektiven Anwendung
des Zweckbegrifis (Bd. I, S. 620) lediglich als ein Ausdruck für die Be-
dingungen benützt, denen man die Bewegungen unterworfen denkt,
so kann eine solche Formel den Vorteil bieten, daß sich ın ıhr die G e-
samtheit dieser Bedingungen zusammenfassen läßt. So kann
hier ein einziges teleologisches Prinzip als Grundlage genügen, während
die kausale Analyse ihrer Aufgabe gemäß stets auf mehrere vonein-
ander unabhängige Voraussetzungen zurückführt. Noch H. Hertz hat
daher, von diesem Streben nach Einheit geleitet, seine Darstellung der
Mechanik auf den Satz gegründet, ein System zusammengehöriger
Massen bewege sich so, daß die Abweichung von der einfachsten, d. h.
der geraden und gleichförmigen Bewegung in jedem Augenblick ein
Minimum sei*). Dieser Satz ist offenbar dem Prinzip des kleinsten
Zwangs nahe verwandt, und er besteht lediglich in der Verallgemeine-
rung der schon von Hamilton gegebenen Formulierung des Prinzips
der kleinsten Aktion. Aber indem Hertz nachdrücklich dieses Hamilton-
sche Prinzip als ein willkürlich gewähltes bezeichnet, das seine Brauch-
barkeit lediglich durch die Möglichkeit seiner Anwendung auf die wirk-
lichen Bewegungen erproben müsse, hat er ihm mit dieser völligen
Elimination des objektiven Zweckgedankens den Charakter einer rein
mathematischen Regel für die Konstruktion möglicher Bewegungen ge-
geben, wobei es dann der Erfahrung überlassen bleibt, zu prüfen, inwie-
weit die wirklichen Bewegungen damit übereinstimmen. Daraus ergibt
sich dann von selbst, daß die der Newtonschen Mechanik zur Grund-
lage dienenden physikalischen Begriffe der Kraft und ihrer Wirkungs-
*) H. Hertz, Prinzipien der Mechanik, 1894, S. 19 fi.
330 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
gesetze aus dieser mathematisch-teleologischen Begründung der Mecha-
nik verschwinden und nur der auf seine abstrakteste Form gebrachte
Begriff der Masse als des Substrates der Bewegungen zurückbleibt.
So nähert sich dieser Versuch, abgesehen von dem für den physika-
lischen Gebrauch unentbehrlichen Massenbegriff, möglichst vollständig
dem Ziel einer Zurückführung der gesamten Mechanik auf eine rein
mathematische Phoronomie als beschreibende Wissenschaft. Doch um
die so gewonnene allgemeine Formel auf die einzelnen Bewegungspro-
bleme anzuwenden, müssen aus ihr die allgemeinen Bedingungsglei-
chungen abgeleitet werden, welche die Bewegungen, zerlegt nach den
drei Hauptrichtungen des Raumes, in ihren wechselseitigen Beziehungen
bestimmen. Diese Bedingungsgleichungen entsprechen aber vollständig
denjenigen, die man, von den kausalen Fundamentaltheoremen aus-
gehend, direkt gewinnt. Der Unterschied beider Behandlungsweisen
der Mechanik besteht also im wesentlichen nur darin, daß die teleo-
logische, nachdem der objektive Zweckbegriff aus ihr entfernt ist, die
nämlichen Bewegungsgesetze, welche die kausale Analyse auf Grund
des Kraftbegriffs und seiner Wirkungsgesetze ableitet, als rein mathe-
matische Folgerungen eines subjektiven Zweckprinzips erscheinen läßt,
bei denen von der kausalen Bedeutung der Begriffe ganz abstrahiert
werden kann.
c. Kausale FundamentaltheoremederMechanik.
Die in der älteren Entwicklung der teleologischen Fundamental-
theoreme vorherrschende Objektivierung des Zweckbegriffs, bei der die
Natur als der Sitz zwecktätiger Kräfte gedacht wurde, hat in der vor-
nehmlich von d’Alembert und Lagrange begründeten, im wesentlichen
noch heute herrschenden Richtung der klassischen Mechanik zu einer
Wiederherstellung der von Galilei eingeführten einfachen und an-
schaulichen Ableitung der Bewegungsgesetze zurückgeführt. Doch
ging man dabei insofern über jene Anfänge hinaus, als man nun den
teleologischen Formulierungen auch von dem Standpunkte kausaler
Interpretation aus durch die Einführung zusammenfassender einheit-
licher Prinzipien nahezukommen suchte. In dieser Beziehung ist die
exakteste der Naturwissenschaften den nämlichen Wandlungen des
Zeitgeistes unterworfen gewesen wie jede andere. Der teleologischen
Mechanik entspricht eine teleologische Physik und Physiologie, und die
kausale Mechanik gibt auch auf diesen Gebieten der kausalen Betrach-
tung ihre Richtung. Nur werden freilich in beiden Fällen Verirrungen,
denen der exakte Charakter der Mechanik engere Grenzen setzt, umso
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 331
schwerer und andauernder, je verwickelter die Erscheinungen sind.
Die Rückkehr zu den Anschauungen Galileis macht sich vor allem
darin geltend, daß man die mechanischen Prinzipien wieder auf die
einfachsten Bewegungsvorstellungen zu gründen sucht. In diesem
Sinne war zunächst d’Alembert bemüht, den Begriff der Kraft, der in
der teleologischen Periode der Mechanik und namentlich in dem be-
rühmten Streit über das Kräftemaß vielfach verdunkelt worden war,
wieder auf jene anschaulichen Elemente zurückzuführen, die er bei
Galilei und Newton gehabt hatte; und damit Hand in Hand ging sein
Streben, die wegen ihrer nützlichen Anwendungen nicht zu entbehrenden
Erhaltungsprinzipien aus den einfachsten dynamischen Vorstellungen
abzuleiten. Das von ihm begonnene Werk führte Lagrange zu Ende.
Hatte auch d’Alembert bereits mit der kausalen Betrachtung den Plan
verbunden, aus einem durch unmittelbare Evidenz oder durch einen
anschaulichen Beweis feststehenden Fundamentaltheorem alle anderen
Sätze zu g>winnen, so eignete sich doch das von ihm aufgestellte Prinzip
weder zu einer hinreichend allgemeinen Formulierung der Bewegungs-
gesetze noch in der ihm gegebenen Fassung zu einer unmittelbaren
Verbindung der Statik mit der Dynamik, auf die es doch hinwies.
Dies leistete erst Lagrange, indem er auf dasjenige Prinzip zurückging,
das schon dem d’Alembertschen Satze stillschweigend zu Grunde lag:
auf das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten,
das er in einer Weise verallgemeinerte, in der es sich zur Ableitung
aller anderen statischen und dynamischen Prinzipien geeignet erwies.
Auch in dieser Hervorkehrung des virtuellen Prinzips lag eine Rückkehr
zu den Anschauungen Galileis, der dasselbe in einfacherer Gestalt be-
reits besaß, wenn ihm auch der Name noch fehlte. Diese Rückkehr
ist aber doch zugleich verbunden mit einer Umkehrung der Betrach-
tungsweise. Galilei hatte dynamische Vorstellungen in die Statik ein-
geführt. Dazu hatte ihm der Begriff des virtuellen Momentes gedient.
Lagrange reduzierte jedes dynamische Problem auf ein statisches, was
freilich wiederum nur dadurch möglich war, daß schon infolge jener
Galileischen Anschauung das Gleichgewicht als ein Grenzfall der Be-
wegung erscheint.
Das Prinzip von d’Alembert bildet zu dieser syste-
matischen Gestaltung der gesamten Statik und Dynamik auf Grund
eines einzigen kausalen Grundsatzes die Vorbereitung. Es lautet in der
von d’Alembert selbst gegebenen Formulierung: „Um die wirklichen
Bewegungen eines Systems von Körpern zu finden, die miteinander
im Zusammenhang stehen, zerlege man die jedem Körper mitgeteilten
332 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Bewegungen a,b, ce... in je zwei andere a, a, PB; Yy, Ya - : Diese
sollen so beschaffen sein, daß, wenn man dem Körper die Bewegungen
9, Bz, Ya - . . allein mitteilte, das System im Gleichgewicht sein würde.
Es werden dann die Bewegungen a, ß,, %, --. zugleich diejenigen
sein, die der Körper wirklich annimmt“*). Die Nützlichkeit dieses
Prinzips besteht darin, daß es in allen Fällen, wo bewegende
Kräfte unter bestimmten statischen Bedingungen einwirken, eine Zer-
legung des Problems in einen statischen und dynamischen Teil herbei-
führt, worauf nach Feststellung der im Gleichgewicht stehenden oder
der sogenannten „verlorenen Kräfte“ die übrig bleibenden wie frei
wirkende Kräfte behandelt werden können. Es liegt nun nahe, diesem
Resultat eine solche Wendung zu geben, daß der Bewegung vollständig
der Fall des Gleichgewichts substituiert wird. Dies geschieht dann,
wenn man zu den übrig bleibenden Kräften «a, ß,, Y, - . - solche von
gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung hinzugefügt denkt.
Diese Wendung ist dem d’Alembertschen Prinzip in der Tat später ge-
geben worden, und es ist dasselbe dadurch zu der von Lagrange voll-
brachten Zurückführung der Dynamik auf die Statik in noch nähere
Beziehung getreten. Eine besondere Beweisführung für das Prinzip hat
jedoch sein Urheber nicht für nötig gehalten; vielmehr betrachtete er das-
selbeals eine unmittelbar einleuchtende Folge der vorgenommenen Kräfte-
zerlegung. Da sich jede solche Zerlegung auf das Prinzip der Zusammen-
setzung der Kräfte stützt, so ist aber jedenfalls das letztere voraus-
gesetzt.
Die oben angeführte Veränderung des d’Alembertschen Prinzips,
durch die jedes dynamische auf ein statisches Problem reduziert wird,
bot nun den nächsten Anlaß zu der von Lagrange unternommenen
einheitlichen Gestaltung der Mechanik auf Grund eines einzigen kausalen
Fundamentalsatzes. Als solches dient ihm eben das Prinzip der vir-
tuellen Geschwindigkeiten, dem er die Bedeutung eines allgemeinsten
statischen Gesetzes gibt. Maßgebend ist hier zunächst der Begriff des
„virtuellen Momentes“, unter dem man das Produkt einer Kraft in die
im Sinne ihrer Wirkung zurückgelegte unendlich kleine geradlinige
Wegstrecke versteht. Dies vorausgesetzt lautet das Prinzip: „Ein zu-
sammenhängendes System von Körpern oder Punkten ist im Gleich-
gewicht, sobald die Summe seiner virtuellen Momente gleich null ist“**).
*), D’Alembert, Traite de dynamique. 1743, p. 5l.
**) Vgl. hierzu die ausführlichere Formulierung bei Lagrange, a. a. O,
p- 20.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 333
Man ermittelt also hier die Bedingungen des Gleichgewichts, indem man
sich denkt, jede einzelne Kraft übe eine ihrer Größe entsprechende,
aber unendlich kurz dauernde Wirkung aus, und feststellt, daß die
Summe der so gebildeten positiven und negativen virtuellen Geschwin-
digkeiten gleich null ist. Findet kein Gleichgewicht statt, so wird diese
Summe nicht gleich null sein; doch kann dann stets die Bewegung
dadurch aufgehoben werden, daß man die nach den drei Koordinaten-
achsen genommenen Komponenten der Bewegung durch Kräfte von
gleicher Größe und entgegengesetzter Richtung kompensiert denkt.
Durch diese dem d’Alembertschen Prinzip entnommene Betrachtungs-
weise liefert das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten die Grund-
gleichungen der Dynamik für die Bewegung irgend eines Körper-
systems*). Hierbei beruht die mathematische Ableitung der letzteren
auf einem sehr einfachen Verfahren. Ist nämlich im Fall des Gleich-
gewichts die Summe der statischen Momente gleich null, so wird dieselbe,
wenn kein Gleichgewicht vorhanden ist, den momentanen Beschleuni-
gungen nach den drei Koordinatenachsen gleich gesetzt werden können.
Bringt man nun aber diese Beschleunigungen unter abgeändertem
Vorzeichen auf die andere Seite, so wird man wieder eine Summe er-
halten, die der Null gleich ist, und die sich von der statischen Bedingungs-
gleichung nur dadurch unterscheidet, daß sie außer den virtuellen
Momenten die Komponenten der Beschleunigung im umgekehrten
Sinne genommen enthält. Mit demselben Rechte kann man übrigens
auch die Bedingungsgleichungen der Bewegung als den allgemeineren
Fall betrachten, aus dem die statischen Grundgleichungen hervor-
gehen, wenn die Komponenten der Beschleunigung sämtlich gleich null
werden. Die neuere Mechanik hat im ganzen die letztere Auffassung
bevorzugt. Ermöglicht wurde diese Zurückführung auf ein einziges
dynamisches Grundprinzip durch die Anwendung der Infinitesimal-
methode, die bei der Aufstellung der Grundgleichungen der Be-
wegung überhaupt von der Annahme unendlich kleiner Verrückungen
ausgeht, wie solche das virtuelle Prinzip verlangt. Da übrigens bei
jedem Bewegungsvorgang gewisse konstante Bedingungen, unter denen
sich die bewegten Massen befinden, von Einfluß sind, so müssen solche
ebenfalls in den Bewegungsgleichungen berücksichtigt werden. Zu
diesem Zweck werden jene Bedingungen zunächst unabhängig von dem
untersuchten Bewegungsvorgange betrachtet und in gewissen Be-
dingungsgleichungen =c, d=e ausgedrückt, wo die Größen c, e...
*, Lagrange,a.a. O. p. 234.
334 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
irgendwelche, von der Natur des Problems abhängige Funktionen
der Koordinaten bedeuten. Es werden dann derivierte Funktionen
der Werteg, b... in die Bewegungsgleichungen aufgenommen, indem
man sich des S. 261 erwähnten Prinzips der partiellen Differentiation
bedient. Betrachtet man hiernach das bewegte System als ein System
von Punkten, deren Massen m , m, .... sind, und bezeichnet man die
Komponenten der Kräfte nach den drei Koordinatenachsen mit
X, I, Zu Xa, I, Z,.. . so nehmen die Gleichungen Lagranges die
Form an:
ae.
Bei %
EN EN —— +...
Der mathematische Vorzug dieser abstrakten analytischen Formeln
besteht in ihrer Anwendbarkeit auf jedes spezielle Problem, ihr logischer
Vorzug darin, daß sie eine vollständige Zerlegung des Bewegungs-
vorganges in seine Elemente enthalten und hierbei die Bedeutung der
einzelnen Faktoren, wie der Massen (m , m, ...), der Kräfte (definiert
2
durch die Differentialquotienten _ = ) ® rn - ++, d.h. durch die
Beschleunigungen), sowie der äußeren Bedingungen (p, d...), deut-
lich hervortreten lassen*).
Einen wichtigen Teil seiner Dynamik hat nun Lagrange dem
Nachweis gewidmet, daß alle jene komplizierteren Prinzipien von
großenteils teleologischem Charakter, die sich für die Behandlung
bestimmter Arten von Aufgaben nützlich erwiesen, aus dem so ge-
wonnenen Fundamentalgesetz abgeleitet werden können. Auf diese
Weise finden sich bei ihm zum ersten Male die genannten Prinzipien
als einzelne Folgen aus den allgemeinsten Kausalgesetzen der Mechanik
im Zusammenhange entwickelt.
Mit dem hierin hervortretenden Streben einer vollkommen ein-
heitlichen Ausführung der Mechanik geht Hand in Hand der Ver-
such, auch dem zu Grunde gelegten Prinzip eine Selbständigkeit zu
geben, durch die es von allen etwa sonst maßgebend gewesenen Voraus-
*) Vg. Kirchhoff, Vorlesungen über Mechanik. 2. Vorl. S. 28 fi.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 335
setzungen unabhängig wird. Das Ideal wissenschaftlicher Darstellung
würde ja in der Tat dann erreicht sein, wenn es nicht nur gelänge, aus
einem Prinzip alles Einzelne abzuleiten, sondern wenn auch außerdem
dieses Prinzip nur auf sich selber gestellt wäre. So erfolgreich nun
Lagranges Bemühungen in ersterer Beziehung gewesen sind, so ist es
ihm doch zweifellos nicht geglückt, durch seine Ableitung des Prinzips
der virtuellen Geschwindigkeiten wirklich alle anderen Voraussetzungen
entbehrlich zu machen. Vielmehr werden dieselben auch hier still-
schweigend hinzugedacht. Lagrange bezeichnet den Satz vom Hebel
und den vom Kräfteparallelogramm als die beiden Prinzipien, auf
die man bis dahin die Statik gegründet habe, und er ist der Ansicht,
das virtuelle Prinzip sei das allgemeinere, weil es als ein allgemeiner
Ausdruck für die sämtlichen Gesetze des Gleichgewichts betrachtet
werden könne. Das virtuelle Prinzip selbst sei zwar nicht unmittelbar
evident, aber es könne aus einem an-
deren unmittelbar evidenten Prinzip,
aus dem des Flaschenzuges, ab-
geleitet werden, ohne daß es nötig
wäre, das Hebelgesetz und das Gesetz
der Zusammensetzung der Kräfte zu
dieser Deduktion zu benützen. Kaum
dürfte jedoch der Flaschenzug den
Namen eines besonderen Prinzips ver-
dienen, da er lediglich die Bedeutung
einer Veranschaulichung des virtuellen
Prinzips selbst besitzt. Angenommen, es wirkten auf einen Körper X
(Fig. 16) eine Reihe von Kräften DirBsPs-..n.den Richtungena, D>
a, b,,a, b,... ein, so besteht die ka ar Vorstellung des Flaschen-
zuges ein. daß man an den Angrifispunkten a ,a,, a, .... der Kräfte
bewegliche Rollen, irgendwo in der Richtung des Kodktonuees dagegen
feste Rollen b,; b,,b,... angebracht und um eben diese Rollen einen
einzigen unausdehnsamen und absolut biegsamen Faden geschlungen
denkt, dessen Ende an der letzten beweglichen Rolle a, befestigtist. Bringt
man nun an einer beliebigen Stelle außerhalb des Kräftesystems noch
einmal eine feste Rollecan, über welcheder Anfang des Fadens gelegt
wird, so lassen sich alle Kräfte P, P,, P,...durch ein hier angehängtes
Gewicht g ersetzt denken, wenn man zwischen je zwei zusammen-
gehörigen Rollen a, und b,, a, und b, u. s. w. den Faden so oft-
mal geschlungen denkt, daß der durch g ausgeübte Zug succesiv
den Kräften Ba, P,, P,... an Größe gleichkommt. Bezeichnet
336 Die aligemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
also NN N. die Zahl der Fäden zwischen a, und b; q, und
db, a, und b,...., so sind diese Zahlen durch die Bedingung ge-
geben, daß n, . N .9=P,,n,.9=P,... sein muß.
Denkt man sich nun a jede 1 Rollen @,, @, 4, .. . erführe
durch das Gewicht qg unendlich kleine Vericküngen 6, ee,
so wird offenbar ein Sinken dieses "N ER dann nicht eintreten
NND?
können, wenn n, .e,+n,.-8,-+n,- = 0 ist, d. h. wenn die
vorausgesetzten unendlich Flcmen Tonne einander gegenseitig
aufheben. Hieraus ergiebt sich aber, wenn man die zwischen P,
PR Das ... und gq festgestellte Bee berücksichtigt, unmittelbar
die Gleichung der virtuellen Momente
«PA tet: Brt--- =
welche der gewöhnliche Ausdruck des Prinzips der virtuellen Ge-
schwindigkeiten ist. Diese Ableitung gewinnt noch eine abstraktere
Allgemeinheit, wenn man der Schwere des Gewichtes q eine beliebige
Kraft p substituiert, die in irgend einer Richtung b, c wirken kann,
und wenn man, wie dies in der Fig. 16 angedeutet ist, voraussetzt,
die Rollen a, 5 ER seien von verschwindendem Durchmesser, so
daß alle zwischen zwei zusammengehörigen Rollen verlaufende Fäden
in eine einzige gerade Linie zusammenfallen. Es wird aber dann zu-
gleich noch deutlicher, daß dieser ganze Mechanismus des Flaschen-
zuges nur die Bedeutung einer mathematischen Hilfsvorstellung be-
sitzt, die anschaulich machen soil, unter welcher Bedingung Kräfte, die
auf einen Körper oder auf ein System untereinander verbundener
Punkte wirken, im Gleichgewicht stehen. Auf den mathematischen
Charakter der ganzen Vorstellung weist überdies die physikalisch un-
mögliche Annahme unausdehnsamer und absolut biegsamer Fäden
hin, die auf den fingierten Rollen reibungslos gleiten. In dieser Be-
ziehung gleicht die Vorstellung des Flaschenzuges vollständig einer
jener geometrischen Hilfkonstruktionen, die einen Satz, der aus
der ursprünglichen Figur nicht entnommen werden kann, unmittelbar
evident machen. (Vgl. S. 181 ff.) Das Zwingende der Veranschaulichung
liegt in diesem Falle darin, daß die Erfolge der Kombination einer
Mehrheit in verschiedenen Richtungen wirkender Kräfte durch die
Beziehung auf eine einzige mehrfach gebrochene gerade Linie versinn-
licht werden, deren einzelne Teile man durch angemessene Knickungen
sukzessiv mit den Richtungen sämtlicher Kräfte zusammenfallen
läßt, wodurch nun, unter der Voraussetzung, daß sich alle Kräfte-
wirkungen längs derselben fortpflanzen, der Gesamteffekt der auf das
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 331
System ausgeübten Wirkung als eine Bewegung des freien Endes merk-
lich werden muß. Demgemäß läßt es sich dann umgekehrt als Bedin-
gung des Gleichgewichts hinstellen, daß, wenn alle Kräfte momentan
in Wirksamkeit gedacht werden, eine solche Bewegung nicht statt-
finden darf. Die hypothetischen Eigenschaften des geschlungenen
Fadens sind hiernach nur insofern berechtigt, als sie den unveränder-
lichen Zusammenhang der Massenpunkte des Körpers K in einer an-
deren für den vorliegenden Zweck geeigneten Form zur Darstellung
bringen. Im übrigen aber zeigt die obige Zergliederung, wie die ganze
Veranschaulichung ihre zwingende Kraft dadurch gewinnt, daß
man gewisse Voraussetzungen stillschweigend hinzudenkt. Erstens
nämlich wird angenommen, daß Kräfte, die in einer und derselben
geraden Linie auf ein starres Massensystem einwirken, sich in Bezug
auf diese Wirkungen algebraisch addieren lassen, und zweitens, daß
die Größe einer Kraft an sich nicht verändert wird, wenn man der-
selben durch irgendwelche äußere Hilfsmittel eine veränderte Richtung
gibt. Diese beiden Voraussetzungen sind es nun, die allen Sätzen
über die Kombination von Kräftewirkungen, insbesondere also auch
dem Satz vom Parallelogramm der Kräfte zu Grunde liegen. Das virtuelle
Prinzip hat den Vorzug, daß es diese allgemeinsten Voraussetzungen
der Kombination von Kräften unmittelbar in ihrer einfachen Natur
hervortreten läßt, während der Satz vom Kräfteparallelogramm in
direkterer Weise geeignet ist, zu gegebenen Kräften die Resultierende
nach Größe und Richtung zu finden oder eine Kraft von bestimmter
Richtung auf eine beliebige andere Richtung zu reduzieren. Übrigens
bietet auch der Satz vom Kräfteparallelogramm diesen Vorteil nur
so lange dar, als die Kräfte auf einen einzigen Punkt wirken, während,
sobald an einem System fest verbundener Punkte die Kräfte angreifen,
die Möglichkeit des Eintritts rotierender Wirkungen ein Problem der
Kräftekombination einschließt, das durch jenen Satz nicht gelöst wird.
In dieser Beziehung bildet der von Poinsot*) eingeführte Begriff des
Kräftepaars eine wichtige Ergänzung desselben, indem er eine
ähnliche Reduktion auf beliebige Richtungen auch für die drehende
Bewegung gestattet. Dabei hat nun abermals das virtuelle Prinzip den
Vorzug größerer Allgemeinheit für sich, da es sich auf ein System be-
liebig vieler fest verbundener Punkte bezieht, so daß die Bedingungs-
gleichung, zu der es führt, ebensowohl die drehende wie die fort-
schreitende Bewegung umfaßt. Endlich wird auch die Richtungs-
*) Poinsot, Neue Theorie der Drehung der Körper. Deutsch von
Schellbach. 1854.
Wundt, Logik. 1I. 3. Aufl. 22
338 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
reduktion bei dem virtuellen Prinzip verwertet: sie besteht hier darin,
daß alle Kräfte schließlich auf eine einzige Richtung reduziert werden.
So ergibt sich, daß alle die genannten Sätze nur verschiedene Ge-
staltungen eines einzigen Prinzips der Zusammensetzung der Kräfte
sind. Es kommt auf die spezielle Beschaffenheit der Aufgabe an, welche
von ihnen zu bevorzugen ist; doch besitzt der Satz der virtuellen Ge-
schwindigkeiten wegen seiner Ausdehnung auf beliebig viele Kräfte von
translatorischer oder rotatorischer Wirkung jedenfalls die größte All-
gemeinheit. Infolge dieser gemeinsamen Wurzel ist nun auch für keinen
jener Sätze ein eigentlicher Beweis, d. h. eine Ableitung aus anderen
fundamentaleren Prinzipien, möglich. Was man Beweis zu nennen
pflegt, das besteht nur in einer Veranschaulichung, bei der das zu be-
weisende Prinzip schon vorausgesetzt ist. So beweist man z. B. angeblich
den Satz vom Kräfteparallelogramm, indem man die simultane Wirkung
der Komponenten in eine sukzessive auflöst und zeigt, daß, wenn man
sich diese sukzessiven Wirkungen in unendlich kleinen Zeitteilchen
einander folgend denkt, der beschriebene Weg die Diagonale des Par-
allelogramms ist. Nun besteht aber das Prinzip gerade darin, daß die
simultanen Wirkungen der Kräfte ebenso wie die sukzessiven sich
kombinieren. Ähnlich verhält es sich mit der Zusammensetzung der
Kräftepaare, bei der man ganz nach dem Satz vom Kräfteparallelo-
gramm verfährt. Nicht minder hat für das Prinzip der virtuellen Ge-
schwindigkeiten die Anwendung des Flaschenzugs nur die Bedeutung
der Veranschaulichung eines axiomatisch angenommenen Prinzips.
Es besteht jedoch eine wesentliche Aufgabe der kausalen Behandlungs-
weise der Mechanik gerade darin, daß sie über alle einzelnen Voraus-
setzungen Rechenschaft zu geben hat, die der schließlichen Ableitung
der allgemeinen Bewegungsgleichungen zu Grunde liegen, während die
teleologische umgekehrt diese Voraussetzungen in ein einziges kom-
plexes Fundamentaltheorem zusammenzufassen sucht. Jene von Anfang
an analytische Aufgabe wird daher verdeckt, wenn alle die einzelnen
und voneinander unabhängigen Voraussetzungen infolge einer solchen
äußeren Nachahmung der einheitlichen teleologischen Formeln durch
eine sie alle stillschweigend einschließende Veranschaulichung, wie die
des Flaschenzugs, ersetzt werden. So hat denn auch die neuere Mechanik
diesen Weg wieder verlassen und sich im Gegenteil bemüht, die Defini-
tionen und hypothetischen Axiome möglichst vollständig zu entwickeln,
auf denen die Ableitung der mechanischen Grundgleichungen beruht*).
*) Am vollständigsten ist dies von L. Boltzmann geschehen in seinen
„Prinzipen der Mechanik“ (I. Teil, 1897, S. 6 ff.). Seine sieben „Grundannahmen“
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 339
d. Die phoronomischen und die dynamischen Voraus-
setzungender Mechanik.
Der allgemeine, in allen einzelnen Sätzen über die Zusammen-
setzung von Kräften zur Geltung konimende Grundsatz, daß die
eintretenden Erfolge allein durch die geometrischen Eigenschaften der
erzeugten Bewegungen bestimmt werden, gestattet es, alle hier in Rede
stehenden Prinzipien unter einem veränderten Gesichtspunkte zu be-
trachten. Es wird nämlich bei den Problemen über Kräftezusammen-
setzung von den Kräften selbst völlig abstrahiert werden können,
und es werden dann die betreffenden Sätze eine reinphoronomi-
sche Gestalt annehmen, indem sie lediglich die allgemeinsten Gesetze
über die Zusammensetzung von Bewegungen enthalten. In der Tat
ist schon um deswillen diese phoronomische Gestaltung der Prinzipien
die korrekteste Form, weil die veranschaulichenden Beweise für die-
selben ebenfalls phoronomischer Art sind, so daß die Einführung des
Kraftbegrifis hier eine überflüssige Rolle spielt.
Dies führt uns auf denjenigen Punkt, in dem die systematische
Gestaltung, welche die Mechanik bei Lagrange gefunden, un-
genügend geblieben ist. Er betrifft die logische Scheidung der ver-
schiedenen Gebiete der Mechanik nach den in ihnen vorausgesetzten
Grundbegriffen, eine Scheidung, die von ungleich größerer Wichtigkeit
ist als die alte Trennung in Statik und Dynamik, da diese beiden in
ihrer neueren Entwicklung die nämlichen Grundbegriffe zur Anwendung
bringen. Mit Rücksicht hierauf hat in einzelnen Darstellungen der
Mechanik eine Gliederung Platz gegriffen, die in der Tat bestimmt
zu sein scheint, an die Stelle jener älteren zu treten: die Gliederung näm-
lieh n Phoronomie (oder Kinematik) und Dynamik.
Von ihnen hat sich die erstere mit den Gesetzen der Bewegung als solcher
zu beschäftigen, abgesehen von den Ursachen, welche Bewegungen
erzeugen, und von den physischen Eigenschaften der Körper, an denen
sie stattfinden*). Die Phoronomie in diesem Sinne ist eine der
fallen zumeist mit den in Bd. I (S. 571 fi., 623 ff.) formulierten phoronomischen
und physikalischen Axiomen zusammen. Doch hat B. die der Geometrie ent-
lehnte Stetigkeit des Raumes als eine besondere Voraussetzung eingeführt.
*) Zwischn Phoronomie und Kinematik unterscheidet der
Sprachgebrauch der neueren Mechanik im allgemeinen wieder derart, daß man
unter Phoronomie die abstrakte Behandlung der allgemeinsten Bewegungs-
gesetze, unter Kinematik die Anwendung dieser und der geometrischen
Gesetze auf die verwickelteren Bewegungsprobleme versteht. Anfänge einer
rein phoronomischen Behandlung finden sich schon bei d’Alembert, der durch
340 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Geometrie nahe verwandte Disziplin. Auch sie bezieht sich nur auf
reine Anschauungen, sie fügt aber zu den geometrischen Grundbegriffen
den der Bewegung hinzu. Auf diesem letzteren Umstande beruht ihre
Selbständigkeit, welche in der Existenz besonderer phoronomischer
Axiome ihren Ausdruck findet. Diese Axiome, zu denen neben dem
Satz von der Relativität der Bewegung vor allem das Prinzip der Zu-
sammensetzung der Bewegungen gehört, haben gleich den geometri-
schen Axiomen eine anschauliche Gewißheit, d. h. ihre Richtigkeit
kann nur durch den unmittelbaren Hinweis auf die Anschauung fest-
gestellt werden. Die Dynamik dagegen, von welcher die Statik
nur einen Teil bildet, setzt außer den phoronomischen Begriffen noch
die beiden Begriffe der Kraft und der Masse voraus. Auf diese
Begriffe beziehen sich zwei andere Fundamentalgesetze der Mechanik,
welche darum als spezifisch dynamische Axiome bezeichnet werden
können: das Beharrungsgesetz und der Satz von der Gleichheit der
Aktion und Reaktion. Aus ihnen und aus den phoronomischen Axiomen
können die anderen dynamischen Prinzipien, insbesondere die ver-
schiedenen Erhaltungsprinzipien abgeleitet werden. Während die
phoronomischen Axiome nur der Vorstellungen des Raumes und der
Bewegung bedürfen, stützen sich die dynamischen Grundsätze außer
auf diese auch noch auf den Kausal- und Substanzbegrifi. So läßt
sich das Beharrungsgesetz geradezu als Korollarsatz des Kausalgesetzes
auffassen, wenn man die Voraussetzung der Unveränderlichkeit der
Substanz als gegeben annimmt. Die übrigen dynamischen Axiome
aber gehen aus den phoronomischen Grundsätzen hervor, sobald man
in sie den Kausal- und Substanzbegriff mit den näheren Bestimmungen
einführt, die sie durch das Zusammenwirken der Erfahrung und der
Postulate der reinen Anschauung gewonnen haben. (Bd. I, S. 586 ff.)
Die Begriffe von Kraft und Masse enthalten nun aber in der
abstrakten Fassung, die ihnen die Dynamik gibt, noch eine Un-
bestimmtheit, welche den dynamischen Untersuchungen einen weiten
Spielraum sowohl innerhalb wie außerhalb der konkreten Bedingungen
des Geschehens läßt. Die Kraft, indem sie lediglich als Beschleuni-
gung einer Masse definiert wird, ist nur durch die phoronomischen
Gesetze einerseits und durch die allgemeinen dynamischen Grundsätze
anderseits bestimmt. Innerhalb dieser Voraussetzungen ist es der
Dynamik vollkommen freigestellt, beliebige Annahmen über Größe
seine Skepsis gegenüber dem Kraftbegriff hierzu geführt wurde, namentlich
aber beiL.M.N.Carnot. Vgl. dessen Grundsätze der Mechanik vom Gleich-
gewicht und der Bewegung. Deutsche Ausg. 1805.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 341
und Verteilung der Kräfte zu machen. Trotzdem bleibt hier der Über-
gang zu den konkreten physikalischen Problemen stets ein sehr ein-
facher, weil der Begriff der Kraft selbst in diesen Anwendungen nur
spezielle Werte annimmt, sonst aber ungeändert bleibt. Anders ver-
hält es sich mit dem Begriff der Masse. Er enthält an und für sich
nur die Vorstellung eines räumlich selbständigen Gebildes, auf welches
die Kraft wirkt, und welches dieser Wirkung einen bestimmten meß-
baren Widerstand entgegensetzt, nach dem die Größe der Masse ge-
schätzt wird. Hier sind erstens die geometrischen Eigenschaften der
Masse unbestimmt gelassen — in der Tat kann vom Punkt an bis zum
beliebig ausgedehnten Körper jedes denkbare geometrische Gebilde
auch im dynamischen Sinne als Masse gedacht werden, — sodann aber
bleiben, wenn die Masse ausgedehnt ist, hinsichtlich des gegenseitigen
Verhältnisses der einzelnen Punkte derselben die verschiedensten Vor-
stellungen möglich: die Verbindung dieser Punkte kann als eine absolut
starre, als eine in einem gewissen Grade verschiebbare, als eine absolut
verschiebbare gedacht werden u. s. w. Es ist naturgemäß, daß die
Dynamik gegenüber dieser unbeschränkten Zahl von Möglichkeiten
zunächst die einfachste Voraussetzung über die Konstitution der
Massen macht. Sie besteht in der Annahme, daß der Masse, abgesehen
von der in ihrem dynamischen Begriff gelegenen Eigenschaft eines
Widerstandes von bestimmter Größe, nur diejenigen Eigenschaften
zukommen, die in ihrer geometrischen Vorstellung enthalten sind.
Diese Annahme führt zu der in der Mechanik benützten Fiktion absolut
starrer, unausdehnsamer und in sich gleichartiger Linien, Flächen und
Körper. Nimmt man zu diesen geometrischen Abstraktionen die pho-
ronomische Vorstellung der absoluten Beweglichkeit eines gegebenen
Punktes hinzu, so entsteht die Annahme eines unausdehnbaren und
absolut biegsamen Fadens, wie sie z. B. beim Prinzip des Flaschenzugs
zur Anwendung kommt, oder bei noch allgemeinerer Ausdehnung die
Annahme einer körperlichen Masse, deren einzelne Punkte absolut
beweglich sind, wie eine solche zur Ableitung der abstrakten hydro-
dynamischen Grundgesetze verwertet wird*). Diese Behandlungs-
weise der Dynamik, die sich auf den allgemeinen Kraftbegrifi be-
schränkt und in den Begriff der Masse ausschließlich gewisse mathe-
matische Voraussetzungen von absolutem Charakter einführt, die in
der Natur niemals verwirklicht sind, wollen wir als de abstrakte
oder mathematische Dynamik bezeichnen. Dagegen kann der-
*) Lagrange, Mecan. anal. I, p. 172.
342 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
jenigen Behandlungsweise, die gewisse Bestandteile dieser abstrakten
Voraussetzungen aufgibt, um die Probleme den wirklich in der Natur
gegebenen Bedingungen zu nähern, der Name einer konkreten oder
physikalischen Dynamik beigelegt werden. Es ist selbst-
verständlich, daß die abstrakte der konkreten Dynamik vorarbeiten
muß. Diese würde niemals zu einer Lösung der verwickelteren physi-
kalischen Aufgaben gelangen, wenn sie diese Aufgaben nicht zunächst
auf ihre einfachste mathematische Form zurückführte. Aus diesem
Grunde vollzieht sich auch der Übergang von der mathematischen
zur physikalischen Dynamik keineswegs mit einem Schritte, sondern
sukzessiv werden in die ursprünglich ganz abstrakten dynamischen
Voraussetzungen limitierende Annahmen eingeführt. Solange man
im Gebiete der eigentlichen Mechanik verweilt, verläßt man aber
niemals das Gebiet abstrakter Betrachtungen. Denn selbst jene limi-
tierenden Annahmen pflegen zunächst schon um der mathematischen
Behandlung willen wiederum eine abstrakte Form anzunehmen. Un-
merklich erweitert sich auf diese Weise die Mechanik zur theore-
tischen Physik, deren ausgebildetere Teile geradezu als die
einzelnen Zweige der konkreten Dynamik betrachtet werden können.
e. Das Prinzip der Einfachheit in der Mechanik.
Das heuristische Prinzip der Einfachheit hat in der Mechanik, wie
der obige Abriß ihrer Entwicklung zeigt, in doppeltem Sinne eine Rolle
gespielt. Auf der einen Seite suchte man diese Einfachheit in der Auf-
zeigung der letzten, nicht weiter zerlegbaren Voraussetzungen: das
ist das Prinzip der Einfachheit im eigentlichen Sinne, in dem es von
Galilei und Newton bis auf L. Boltzmann die kausale Mechanik
beherrscht hat. Es ist notwendig mit der Annahme einer Vielheit
solcher einfachster Voraussetzungen verbunden, und es treibt daher
immer wieder dazu, jene eigentliche Einfachheit durch eine zweite
Anwendungsform des gleichen Prinzips zu ersetzen: durch die Einheit
der letzten Voraussetzungen. In diesem Fall erblickt man das Endzie!
der Betrachtung vielmehr darin, daß ein einziges Prinzip, das selbst
freilich stets zusammengesetzt ist, die Grundlage aller Deduktionen
bildet: das ist der Charakter der teleologischen Mechanik, die von
Huygens und Leibniz bis auf H. Hertz, zuerst verbunden mit dem
Gedanken objektiver Naturzweckmäßigkeit, dann in der Form einer
bloß subjektiven Maxime der Betrachtung entwickelt worden ist.
Zwischen beiden Richtungen hat es an Vermittlungsversuchen nicht
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 343
gefehlt, deren wichtigster uns in dem Prinzip der virtuellen Geschwindig-
keiten begegnet ist.
Neben diesen zwei Hauptrichtungen ist nun aber frühe schon eine
dritte Richtung hervorgetreten, bei der sich das Streben nach Einfach-
heit mit dem nach Einheit verband, und die zugleich auf eine viel
radikalere Weise auf eine Umbildung der aus der Galileischen
Mechanik überkommenen Grundbegriffe ausging. Ist diese letztere
von dem Dualismus von Kraft und Masse beherrscht, deren Definitionen
zugleich so eng aneinander gebunden sind, daß jeder dieser Begriffe
den anderen voraussetzt, so würde ja eine wesentliche Vereinfachung
dann erzielt werden, wenn es gelänge, bloß auf einen dieser Begriffe,
sei es ausschließlich auf den der Masse, sei es auf den der Kraft, die
ganze Mechanik zu gründen. Der Widerstreit zwischen den durch
eine solche Reduktion auf einen einzigen Begriff denkbaren Grund-
anschauungen spielt in der Tat schon in die frühesten Versuche einer
philosophischen Begründung der Galileischen Mechanik hinein. Hier
steht auf der einen Seite Descartes als der Vertreter einer reinen
Massenmechanik, dem auf der anderen Leibniz mit seinem allbeherr-
schenden Kraftbegriff entgegentritt. Freilich ist es keinem dieser
Philosophen gelungen, seine Anschauung widerspruchslos und ohne
Entlehnungen durchzuführen. Immerhin weisen ihre Gedanken deut-
lich auf die Richtungen hin, in denen die Ausführung einer solchen
einseitigen Massen- oder Kraftmechanik denkbar ist. Die Massen-
mechanik muß dem Begriff der Kraft notwendig ein teleologisches
Prinzip substituieren, das nur die Masse enthält, und das die sonst aus
irgendwelchen Wirkungsgesetzen der Kräfte abgeleiteten Bewegungen
als Verwirklichungen eines allgemeinen Naturzweckes erscheinen läßt,
sei es nun, daß dieser als ein objektiv gesetzgebender oder als ein der
subjektiven Zusammenfassung der Erscheinungen dienender aufgefaßt
wird. Dieses oberste Zweckprinzip ist bei Descartes die Erhaltung
der Quantität der Bewegung, dargestellt in der Formel % m v — konst.
(Siehe o. 8. 319 ff.) Daß dieses Prinzip falsch ist, und daß Descartes
noch weitere, zum Teil der Galileischen Mechanik entlehnte Sätze
hinzunehmen muß, um auch nur notdürftig über die allgemeinsten Be-
wegungserscheinungen Rechenschaft zu geben, tut hier nichts zur
Sache. Charakteristisch ist nur, daß er die Passivität der Materie und
die Unmöglichkeit einer anderen Entstehung von Bewegungen außer
durch Druck und Stoß, also durch die unmittelbaren Eigenschaften
der Massen selbst betont*). Das ist nun aber zugleich der Punkt,
*) Descartes, Principia philosophiae, Pars II, 36 fi.
344 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
in dem Leibniz Descartes’ mechanische Grundanschauungen nicht
bloß berichtigen, sondern durch ihr Gegenteil ersetzen möchte. Nicht
die Masse, sondern die Kraft ist nach ihm das Primäre. Sie tritt
als aktive Kraft in der wirklichen Bewegung oder, wenn Gleichgewicht
besteht, in dem Streben nach Bewegung zu Tage; als passive Kraft
besteht sie in der Masse, die selbst wieder in den Erscheinungen der
Undurchdringlichkeit und der Trägheit sich äußert. Diese passive
Kraft ist, wie er meint, selbst nur ein Grenzfall der aktiven, und
er deutet an, daß sie aus den unendlich kleinen inneren Bewegungen
abzuleiten sei, die in jedem Körper angenommen werden müßten*).
Indem er jedoch diese unendlich kleinen „verborgenen Bewegungen“
als einen Grenzfall der endlichen Bewegungen ansah, analog wie
die Statik ein Grenzfall der Mechanik sei, blieb er gleichwohl bei
der Vorstellung, die letzten Gesetze der Bewegung seien uns in den
Erscheinungen der Massenbewegung gegeben, so daß sein Gedanke
einer Reduktion der mechanischen Grundbegriffe auf die Kraft eine
unbestimmte metaphysische Idee blieb. Überdies drängte ihn sein
Grundsatz der immanenten Zweckmäßigkeit der Natur auch zur
Aufstellung eines allgemeinen teleologischen Prinzips, das für alle ein-
zelnen mechanischen Prinzipien wiederum maßgebend sein sollte. Das
so von ihm formulierte und dem Cartesianischen entgegengestellte
Erhaltungsgesetz L+ T—=konst. (L—X\ mv’), oder „Lebendige und
tote (potentielle) Kraft zusammen sind konstant“, enthielt daher in
der ihm beigefügten Definition L—= mv”, so gut wie das Cartesiani-
sche, den Massenbegrifi. So hat Leibniz seine Forderung, die Masse
auf die Kraft zurückzuführen, nirgends erfüllt. Vielmehr hat gerade
die an ihn sich anschließende teleologische Richtung der Mechanik
des 18. Jahrhunderts den Kraftbegriff dadurch verdunkelt, daß die
Kraft selbst teleologisch gefaßt und damit, wie besonders die älteren
Erörterungen über das Prinzip der kleinsten Wirkung zeigen, aus ihrer
einfachen kausalen Bedeutung als einer die Bewegung beschleunigenden
Bedingung verdrängt wurde, ein Mißbrauch, der schon bei d’Alem-
bert den Gedanken erweckte, diesen Begriff überhaupt in dem Sinne
zu Gunsten des Massenbegriffs zu eliminieren, daß die Dynamik über-
haupt nur bestimmte Formeln aufzustellen habe, welche die tatsäch-
lichen Bewegungen irgendwie verteilter Massen beschreiben.
Das ist nun offenbar der Punkt, von dem aus in neuerer Zeit
u ne a An
*) Leibniz’ mathem. Schriften, herausgeg. von Gerhardt, VI,
Specimen dynamicum, p. 236 ff. Essay de Dynamique, p. 217 fi.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 345
Hertz unter dem Einfluß ähnlicher skeptischer Stimmungen wieder
auf d’Alembert und in indirekter Weise auf Descartes zurück-
ging, indem er unter den teleologischen Formulierungen der vergange-
nen Zeit das Hamiltonsche Prinzip (S. 328) benutzte, das er übrigens
als eine rein beschreibende Definition irgendwelcher Bewegungen von
Massen betrachtete, so daß er anscheinend zu einem reinen Massen-
gesetz gelangte*). Der entgegengesetzte Versuch, den Begriff der
Masse zu eliminieren und mit dem der beschleunigenden Kraft allein
auszukommen, ist bis jetzt nicht zur Ausführung gelangt. An Andeutun-
gen in dieser Richtung fehlt es allerdings nicht. Nur liegen sie außer-
halb der eigentlichen Mechanik im Gebiet der Physik des Äthers.
Infolge der universellen Bedeutung, die man den Prinzipien der Me-
chanık einräumte, hatte es von frühe an als eine beinahe selbstver-
ständliche Voraussetzung gegolten, so viel als nur immer möglich jene
Grundbegriffe der beschleunigenden Kraft und der Masse, deren sich
die Körpermechanik bedient, auch auf das vielumstrittene „im-
ponderable“ Medium und seine Bewegungserscheinungen anzuwenden.
Daß das nicht vollständig oder in vielen Fällen nur insofern gelang,
als man die Massen verschwindend klein annahm, dafür ist schon der
Begriff des „Imponderabeln“ bezeichnend. Vollends kann man be-
zweifeln, ob eine Mechanik des Äthers, wenn sie nicht von vornherein
mit den Begriffen der Körpermechanik arbeitete, überhaupt zu dem
Begriff einer imponderablen Masse gekommen wäre. Betrachtungen
solcher Art konnten daher wohl den Gedanken einer von solchen
aus der traditionellen Mechanik übernommenen Vorstellungen ganz ab-
strahierenden Mechanik des Äthers erwecken; und die mannigfachen
Beziehungen, die die neuere Physik zwischen den elektrischen, magne-
tischen und Lichterscheinungen nachgewiesen hat, konnten ohnehin
nach experimentellen Methoden suchen lassen, mit deren Hilfe sich
Bewegungserscheinungen des Äthers ähnlich unabhängig erforschen
ließen, wie dereinst die Gesetze der Körpermechanik umgekehrt unab-
hängig von solchen „imponderabeln Medien“ festgestellt worden waren.
Fragen dieser Art führen natürlich schon allzu tief in weitere physi-
kalische Voraussetzungen und namentlich in die Hypothesen über die
Konstitution der Materie hinein, als daß sie hier bereits erörtert wer-
den könnten. Nur ein Ergebnis mag hervorgehoben werden, das
in der Tat die Bedeutung des Massenbegrifis möglicherweise dereinst
erschüttern könnte. Die Versuche über die Ablenkung kleinster be-
*) H.Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, 1894, Einleitung, bes. S. 19 fi.
346 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
wegter Elektrizitätsteilchen, der sogenannten Elektronen, scheinen zu
beweisen, daß diese Teilchen eine konstante Masse in dem Sinne
nicht besitzen, in welchem wir den schweren Körpern eine solche zu-
schreiben. Vielmehr zeigt sich der Faktor der Masse bei der Bestim-
mung der lebendigen Kraft dieser Teilchen von einer gewissen Grenze
an in dem Sinne abhängig von der Geschwindigkeit, daß er mit der
letzteren in raschem Wachstum zunimmt*). Das würde beweisen, daß
in diesem Fall die Masse keine unveränderliche, also auch keine kon-
stitulerende Eigenschaft der Materie ist, und es würde als solche nur
die beschleunigende Kraft übrig bleiben, welche die Teilchen aufeinander
ausüben, d. h. die Materie selbst würde aufgelöst sein in Kräfte.
Die Masse würde sich dann als eine aus bestimmten Kräftewirkungen
abzuleitende Erscheinung ergeben müssen, die in jenem Grenzfall, den
die Mechanik der ponderablen Körper verwirklicht, in eine kon-
stante Eigenschaft überginge. Hier treffen nun diese Spekulationen
zugleich mit den Versuchen einer Vereinheitlichung des Begriffs der
Materie zusammen, auf die wir unten kommen werden. In Wahrheit
ist diese Idee der Ableitung der Gesetze der Körpermechanik aus einer
allgemeineren Mechanik des Äthers selbst nur der Reflex der in der
neueren Physik unter dem Einfluß der wachsenden Bedeutung der
elektromagnetischen und optischen Untersuchungen zunehmenden
Tendenz, die ehemals nur als zweifelhafte Notbehelfe verwendeten
„imponderablen“ Medien in der einheitlichen Form des allverbreiteten
Lichtäthers zur eigentlichen Materie zu erheben. Diese würde dann
in gewissen Grenzfällen durch eigentümliche Aggregierung der Elemente
zu relativ stabilen Gebilden die Erscheinungen der wägbaren Körper
erzeugen**). Auch das ist eigentlich wieder nur eine Rückkehr zu längst
dagewesenen Vorstellungen in erneuerter Form; ist doch schon in Des-
cartes’ Naturphilosophie die Annahme, daß die ponderable Materie
durch eine besondere Aggregierung des Äthers entstehe, ein leitender
Gedanke. Sollte nun eine solche Theorie der Materie zur allgemeinen
Rezeption gelangen, so würde naturgemäß auch die entsprechende
Transformation der Mechanik nur noch eine Frage der Zeit, und die
Idee Leibnizens, daß die Masse selbst eine Wirkung der Kraft sei,
*, W. Kaufmann, Göttinger gel. Nachrichten. Math.-phys. Kl.,
1903, S. 90.
**) Hierher gehörige Vorstellungen sind namentlich im Zusammenhang mit
der später zu besprechenden „Elektronentheorie“ von verschiedenen Seiten ent-
wickelt worden. Vgl. z.B. W. Wien, Zeitschrift für Elektrochemie, Bd. 5, 1904,
S. 395. J.J. Thomson, Elektrizität und Materie, 1904, S. 57 fi.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 347
würde in freilich ganz anderer Form, als jener ihn meinte, ver-
wirklicht sein. Erkenntnistheoretisch würde aber eine solche Reduktion
einen letzten Schritt in der Elimination subjektiver Empfindungs-
elemente aus dem objektiven Weltbilde bedeuten. Denn die Begriffe
der Kraft und der Masse sind, wie die Entwicklung der Galileischen
Mechanik zeigt, unter dem beherrschenden Einfluß der Empfindungen
der Muskelanstrengung und des tastbaren Widerstandes der Körper
entstanden (S. 309). Schon die gewaltige Abstraktionskraft ihres
Urhebers hat sie aber durch die unbeschränkte Übertragung auf die
Bewegungen schwerer Körper im wesentlichen von dieser subjektiven
Grundlage unabhängig gemacht. Gleichwohl kann man bezweifeln,
ob ohne jene Empfindungen diese Scheidung erfolgt wäre. Denn die
Bewegung an sich ist ein einheitliches Phänomen, das aus rein ob-
jektiven Gründen die Annahme kausaler Wechselwirkungen voraus-
setzt, das aber eine Interpretation dieser Wechselwirkungen aus jenen
ursprünglich dem Vorbild subjektiver Empfindungen folgenden Ele-
menten nicht mit logischer Notwendigkeit verlangt.
f. Der KausalbegriffdermechanischenNaturlehreund
die allgemeinen Formen der Kausalgleichungen.
Die Annahme, daß die Materie das qualitativ wie quantitativ un-
veränderliche Substrat aller Naturerscheinungen sei, hatte schon
die antike Atomistik zu dem Schlusse geführt, diese Erscheinungen
seien sämtlich aus Bewegungszuständen und Bewegungsvorgängen
teils der unmittelbar wahrzunehmenden materiellen Massen, teils hypo-
thetisch vorauszusetzender Massenteilchen abzuleiten. Die Entwick-
lung der neueren Mechanik hat dann diese Voraussetzung befestigt,
indem sie die Hilfsmittel an die Hand gab, durch die es gelang, die
verschiedensten Teile der Naturlehre in Gebiete der angewandten
Mechanik umzuwandeln. Dabei bleibt jedoch selbstverständlich über-
all da, wo die Bewegungsvorgänge nicht direkt nachweisbar sind, son-
dern nur angenommen werden, um die empirisch gegebenen Er-
scheinungen abzuleiten, diese ganze Subsumtion unter die Mechanik
ein hypothetisches Verfahren, das seine Rechtfertigung lediglich seiner
Fähigkeit verdankt, auf diesem Wege eine widerspruchslose und ein-
heitliche Erklärung der Naturerscheinungen zu stande zu bringen.
Darum ist der Satz, daß alle Naturerscheinungen schließlich auf die
Prinzipien der Mechanik zurückführbar seien, kein Erfahrungssatz,
und er kann sich niemals in einen solchen umwandeln, sondern er ist
und bleibt ein heuristisches Postulat, das sich aber als ein so wirk-
348 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
sames Förderungsmittel der naturwissenschaftlichen Forschung, nament-
lich auf vielen Gebieten der Physik, erwiesen hat, daß es auf alle Natur-
gebiete übertragen worden ist.
So wenig demnach auch die mechanische Naturansicht im Sinne einer
vollständig gelungenen Durchführung dieses Postulats voraussichtlich
jemals absolut beweisbar sein wird, so wenig ist es doch wahrscheinlich,
daß die Naturwissenschaft dasselbe jemals aufgeben sollte. Dazu ist
es zu sehr verwachsen mit allen sonstigen Voraussetzungen: mit dem
Prinzip der Anschaulichkeit, der Einfachheit, sowie mit dem Prinzip
der Konstanz der Materie. Dagegen ist niemals zu vergessen, daß
der Gesamtheit der Naturerscheinungen gegenüber jene Annahme
lediglich ein methodologisches Postulat ist, das uns sagt, in welcher
Richtung die Voraussetzungen zu machen sind, mittels deren wir eine
gegebene Tatsache in den allgemeinen Zusammenhang der Natur-
erscheinungen einreihen können. Darum darf dieses Postulat niemals,
wie es beispielsweise in den mechanistischen Theorien der früheren
Physiologie der Fall war, dazu verführen, daß man empirisch gegebene
Tatsachen vernachlässigt oder unvollständig, etwa mit Hilfe leerer
mechanischer Analogien, interpretiert. In diesem verkehrten Sinn
angewandt wird die mechanische Naturanschauung, statt zu einem
Förderungsmittel, vielmehr zu einem Hindernis der Forschung.
Jener regulative Grundsatz der mechanischen Interpretation
hat nun einen weitgreifenden allgemeinen Einfluß auf das Gesamt-
gebiet der Naturwissenschaft namentlich dadurch ausgeübt, daß er
dem Kausalprinzip die ihm für alle Naturgebiete eigentümliche
Form gab. Diese Form besteht darin, daß jede Kausalbeziehung prin-
zipiell als ausdrückbar durch eine Kausalgleichung angesehen
wird, deren eine Seite den als „Ursache“, und deren andere den als
„Wirkung“ aufgefaßten Komplex von Tatsachen enthält. Der Auf-
stellung solcher Kausalgleichungen entspricht der schon im Beginn der
Entwicklung der neueren Naturwissenschaft zur Geltung gebrachte
Grundsatz: „Causa aequat effectum‘, oder, wie er wegen der Trans-
formationen der Naturkräfte angemessener auszudrücken ist: „Die
Wirkung ist äquivalent ihrer Ursache“*). Sobald sich für bestimmte
Naturerscheinungen solche Kausalgleichungen aufstellen lassen, sind
mit ihrer Hilfe demnach stets die Kriterien gegeben, nach denen der
engere Begriff der Ursache von dem der entfernteren Bedingungen
*) Über die geschichtliche Entwicklung dieses Grundsatzes vgl. meine
Schrift: Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip.
1866, S. 57 ff.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 349
einer Erscheinung zu sondern ist, eine Unterscheidung, die darum im
Gebiet der exakteren Naturwissenschaften niemals Schwierigkeiten
bereiten kann, falls man sich nur dieses tatsächlich von der Natur-
wissenschaft allgemein angewandten Kriteriums bedient. Von den im
Zusammenhang mechanischer und physikalischer Entwicklungen auftre-
tenden Definitionsgleichungen sind aber die Kausalgleichungen dadurch
unterschieden, daß sie auf beiden Seiten verschiedene Begriffe ent-
halten, nicht ein und denselben, wie die Definitionsgleichungen. Sobald
verschiedene Erscheinungen als kausal zusammengehörig und zugleich
als quantitativ einander gleich oder äquivalent erkannt sind, werden
sie demnach in einer Kausalgleichung zusammengefaßt. So ist z. B. die
Gleichung v — ur .t für die Geschwindigkeit einer Masse m, auf die
m
während der Zeit t eine Kraft k wirkt, eine Kausalgleichung: v kann
als die Wirkung der auf der rechten Seite der Gleichung stehenden ur-
sächlichen Faktoren betrachtet werden. Indem sich die Kausal-
gleichungen der Naturwissenschaft stets auf Ereignisse, niemals auf
ruhende Zustände beziehen, fügen sie sich ferner den allgemeinen Be-
dingungen für die Bildung des Kausalbegrifis. (Bd. I, S. 586 ff.) Der
Naturkausalität eigentümlich ist es jedoch, daß in jede Kausalgleichung
neben veränderlichen auch konstante Faktoren eingehen, die in der-
selben Größe in anderen Kausalgleichungen vorkommen können, und
die auf die unveränderlichen Bedingungen der Naturkausalität, auf die
Materie als die Trägerin beharrender Naturkräfte einerseits und kon-
stante Widerstände der Massen anderseits, hinweisen. Mit Rück-
sicht auf diese Gebundenheit an konstante substantielle Substrate
kann man die Naturkausaltiät auch als substantielle Kausa-
lität bezeichnen.
Nun hat die Mechanik, wie wir sahen, z w ei Begriffe von kausaler
Bedeutung entwickelt: die Begriffe der Kraft und der Energie
(S. 323 f.). Demnach können wir auch schon im Gebiet der Mechanik
zweierlei Kausalgleichungen unterscheiden: Kraftgleichungen und
Energiegleichungen. Die Fundamentalgesetze der Mechanik sind die
Kraftgleichungen:so die oben als Beispiel angeführte Relation
zwischen beschleunigender Kraft, Masse und Geschwindigkeit. Vor allem
gehören aber auch Lagranges Grundgleichungen der Bewegung hierher
(5. 334). Energiegleichungen besitzt dagegen die Mechanik in
der Form fester Relationen zwischen Lageenergie und Bewegungsenergie
(S. 324.) Insofern es sich dabei um verschiedene, unter Umständen
zeitlich mehr oder weniger weit voneinander entfernte Zustände der be-
350 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
wegten Massen handelt, können wir diese Gleichungen auch Zu-
standsgleichungen nennen. Wenn wir z. B. ein Gewicht 9
auf die Höhe h heben, so wird ihm dadurch eine Lageenergie mitgeteilt,
vermöge deren es, von der Höhe Ah herabfallend, eine bewegende Energie
mv? mw?
>
entwickeln kann. Demnach ist die Gleichung ph = ——— eine
Le
Kausalgleichung, in welcher der eine Zustand als die Ursache des anderen
betrachtet wird. Diese Gleichungen haben das Eigentümliche, daß
sie auf Zwischenvorgänge, die zwischen dem Übergang aus dem einen
in den anderen Zustand liegen, die aber für die quantitative kausale
Beziehung beider Zustände unwesentlich sind, keine Rücksicht nehmen,
und ferner, daß sie besondere Bedingungen für den Übergang des einen
Zustands in den anderen voraussetzen, von denen ebenfalls abstrahiert
wird. Dabei wird jedoch im allgemeinen stillschweigend angenommen,
daß, wenn auf solche Zwischenvorgänge und Übergangsbedingungen
Rücksicht genommen würde, diese stets in besonderen Kausalglei-
chungen dargestellt werden könnten.
In dem weiteren Gebiet der Naturlehre tritt endlich zu diesen der
Mechanik eigentümlichen Arten der Zustandsgleichungen noch eine
weitere hinzu, bei der die Transformationen der verschiedenen Natur-
kräfte, also z. B. der Übergang von mechanischer Kraft in Wärme,
dieser in Volumänderung, in die Gleichung eingehen. Solche Trans-
formationsgleichungen sind wieder in zwei Formen möglich.
Die erste, die wir die Form der direkten Transformationsgleichungen
nennen können, drückt den unmittelbaren Übergang bestimmter
Energieformen in andere, unter der Voraussetzung, daß er in äqui-
valenten Verhältnissen geschieht, in einer Gleichung aus. Die zweite
Form, die wir als dieindirekte Transformationsgleichung bezeichnen
wollen, verbindet zwei äquivalente Glieder eines Umwandlungsprozesses,
die in Wirklichkeit durch beliebige, nicht berücksichtigte Mittelglieder
zusammenhängen können, in einer Gleichung. Wenn man z. B. den
Übergang einer einem Körper zugeführten unendlich kleinen Wärme-
menge dQ in lebendige Kraft der Molekularbewegungen d W, die Ver-
änderung der Mittellagen der kleinsten Teilchen d J und die Änderung
des Gesamtvolums d Z ausdrückt durch die ideale Gleichung
dQ=A(dW+dJ-+dlI),
so ist dies eine direkte Transformationsgleichung*). Wenn dagegen
die Wärmetheorie die Beziehung zwischen Druckänderung und Tem-
*) Zeuner, Grundzüge der mechanischen Wärmetheorie. 2. Aufl., S. 25.
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 351
peraturänderung eines Gases beim Ausströmen aus einem Behälter
in einen anderen, der mit gleichem Gas von geringerer Spannung ge-
füllt ist, unter der Voraussetzung konstant bleibenden Drucks dar-
stellt durch die Gleichung
worin T, die absolute Anfangs- und T, die absolute Endtemperatur,
P, den Anfangs- und P,den Enddruck, k aber eine von der Natur
des Gases abhängige Konstante bedeutet, so hat diese den Charakter
einer indirekten Transformationsgleichung. Denn es bleibt dabei ganz
dahingestellt, ob die auf der rechten Seite stehende Funktion der rela-
tiven Druckänderung in einer unmittelbaren Kausalbeziehung zu der
auf der linken stehenden relativen Temperaturänderung gedacht wird.
Zu den Zustandsgleichungen gehört diese Form insofern, als ganz davon
abstrahiert wird, mit welcher Geschwindigkeit das Gas aus dem einen
in das andere unter niedrigerem Druck stehende Gefäß ausströmt. Von
dem oben angeführten Beispiel einer mechanischen Zustandsgleichung
2
(pr= -) unterscheidet sich dagegen das vorliegende dadurch,
daß die beiden Zustandsänderungen des Drucks und der Temperatur
während des ganzen Vorgangs aneinander gebunden sind. Gerade diese
willkürliche Abstraktion von dem zeitlichen Verhältnis der kausal ver-
knüpften Zustände, sowie von den weiteren kausalen Bedingungen be-
gründet übrigens die große Brauchbarkeit der Zustandsgleichungen.
An die beiden Formen der Transformationsgleichungen schließt
sich endlich eine letzte große Klasse von Zustandsgleichungen, die für
die Aufstellung rein empirischer Gesetzmäßigkeiten von großer Wichtig-
keit ist. Wir können sie zusammenfassend die Korrelations-
gleichungen nennen. Bei ihnen wird von den bei den Kraft-
und Energiegleichungen vorausgesetzten kausalen Beziehungen ganz
abstrahiert und lediglich ein korrelatives Verhältnis zwischen zwei
regelmäßig verbundenen Erscheinungen in der Form einer aus der Be-
obachtung erschlossenen Funktion dargestellt. Dabei kann diese
Funktion selbst zu irgend einer Klasse der bekannten analytischen
Funktionen gehören, oder sie kann, wo die komplexe Natur der Be-
ziehung eine solche Subsumtion verbietet, aus den einander empirisch
zugeordneten Zahlenreihen, welche die Korrelation ausdrücken, in der
*) Ebend. S. 175.
352 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Form einer willkürlichen Funktion entwickelt werden (8. 216). Em-
pirische Koordinationsgleichungen dieser Art können eventuell später
in irgendwelchen anderen Kraft- oder Energiegleichungen ihre theo-
retische Begründung finden. An sich drücken sie aber lediglich eine
durch noch unbekannte Ursachen erzeugte Regelmäßigkeit aus. Dabei
ist die Aufstellung solcher Gleichungen nur der Bedingung unter-
worfen, daß jede der in Korrelation gebrachten Erscheinungen einem
besonderen, von der anderen unabhängigen Größenmaß unterworfen
werden kann. So ergab sich z. B. bei osmotischen Versuchen mit
Zucker und ähnlich leicht diffundierbaren Salzlösungen die einfache
Korrelation p—=k.e,
wenn man mit p den osmotischen Druck, mit ce die Konzentration der
Lösung und mit % eine von der gelösten Substanz abhängige Konstante
bezeichnet, eine Gleichung, die durch ihre vollkommene Analogie mit
dem Boyleschen Gesetz über das Verhältnis zwischen Gasdruck und
Gasdichte zu einer theoretischen Interpretation bezw. zu einer Ab-
leitung dieser empirischen Korrelation aus den Kausalgleichungen der
mechanischen Wärmetheorie auffordert*). In einer sehr großen Zahl
von Fällen, nämlich in allen denen, in welchen der zeitliche Verlauf
einer Erscheinung näher bestimmt werden soll, werden die Korrela-
tionsgleichungen in der. Weise formuliert, daß als unabhängig Ver-
änderliche die Zeit, als abhängig Veränderliche die in den verschiedenen
Stadien ihres Verlaufs gemessene Erscheinung selbst angenommen wird.
So formuliert man nach einem von Wilhelmy aufgestellten Gesetz,
das später zum Ausgangspunkt zahlreicher Ermittlungen über che-
mische Reaktionsgeschwindigkeiten gedient hat, die Beziehung zwischen
der bei Anwesenheit einer Säure erfolgenden katalytischen Zersetzung
des Rohrzuckers in Dextrose und Lävulose zu der Zeitdauer des Pro-
zesses mit Rücksicht auf die für die Geschwindigkeit des Vorgangs wesent-
liche Konzentration A durch die Korrelationsgleichung
——h.t,
worin z die im Zeitpunkt 2 bereits umgesetzte Zuckermenge und keine
Konstante bedeutet**). Solche Gleichungen kann man dann in
*) Pfeffer, Osmotische Versuche, 1877. Über Beziehung zwischen
Gas- und osmotischem Druck (van t’Hoff). Pfeffer, Pflanzenphysiologie*,
TI, 8. 126.
**) Wilhelmy, Das Gesetz, nach welchem die Einwirkungen der Säuren
auf den Rohrzucker stattfinden, 1850. (Ostwalds Klassiker, 1891.)
Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 353
Korrelationen zwischen der Geschwindigkeit .. des Vorgangs und
q
den übrigen Größen umwandeln, wodurch die obige Beziehung in die
Gleichung der Reaktionsgeschwindigkeit übergeht
dx
N
—=/(A—2).
Solche Korrelationsgleichungen können in der mannigfaltigsten Weise
zum Zweck der Zusammenfassung regelmäßiger numerischer Be-
ziehungen Verwendung finden. Wo die Funktion, welche die Kor-
relation ausdrückt, allzu verwickelt wird, da tritt schließlich an die
Stelle der Gleichung die geometrische Darstellung in einer Kurve,
deren Abszissen die unabhängig, und deren Ordinaten die abhängig
gedachten Veränderlichen bezeichnen.
Natürlich ist nun aber eine solche Darstellung der Beziehungen
irgendwelcher Erscheinungen in Korrelationsgleichungen oder in
geometrischen Veranschaulichungen, die ihnen entsprechen, nur so
lange gestattet, als teils vermöge der Regelmäßigkeit der Beziehungen
selbst, teils aus anderen Gründen ein Kausalverhältnis zwischen den
in der Gleichung verbundenen Größen angenommen werden kann.
Das entscheidende Kriterium ist dabei stets die Regelmäßigkeit
der Korrelation, die mit Sicherheit eine kausale Beziehung auch
da annehmen läßt, wo die nähere Nachweisung einer solchen noch völlig
unmöglich sein sollte. In diesem Sinne gründen sich die Korrelations-
gleichungen auf die Voraussetzung, daß sie bei zureichender Kenntnis
der Bedingungen der in ihnen aufgestellten Beziehungen teils in Kraft-,
teils in Energiegleichungen übergeführt werden könnten. Insofern
jedoch bei den energetischen Zustandsgleichungen eine Abstraktion von
der in alle Kausalverbindungen eingehenden Zeitanschauung nur dadurch
möglich ist, daß auch bei ihnen schon der zwischen den verglichenen
Zuständen liegende Zeitverlauf unberücksichtigt bleibt, stehen wiederum
die Energiegleichungen samt den auf sie gegründeten Transformations-
und Korrelationsgleichungen unter der Voraussetzung, daß auch
die in ihnen auftretenden Glieder zeitlich bestimmt sein würden,
wenn man die nicht berücksichtigten Glieder hinzufügte. Es würden
dann alle Energiegleichungen teils in Kraftgleichungen, teils in solche
Transformationsgleichungen übergeführt sein, in denen die Umwand-
lungen der Energie in Bezug auf ihren zeitlichen Verlauf vollständig be-
stimmt wären. Die mechanische Naturansicht fügt hierzu noch die wei-
tere Voraussetzung, daß auch die übrig bleibenden Transformations-
Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 23
354 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
gleichungen prinzipiell in Kraftgleichungen umgewandelt werden können,
sobald die den verschiedenen Energieformen, Wärme, Licht, Elektrizität
u. S. w., entsprechenden Bewegungsformen ermittelt sind. Da aber dies
nur mit Hilfe bestimmter Annahmen über die jenen Energien zukommen-
den Bewegungsvorgänge möglich ist, so ist diese letzte Überführung
in Kraftgleichungen immer nur durch Hilfshypothesen zu erreichen.
In diesem Sinne interpretiert z. B. die mechanische Wärmetheorie in
den obigen Transformationsgleichungen die Größen dQ, sowie T, und
T, selbst als mechanische Energien, so daß die Gleichungen, da die
auf der rechten Seite derselben angegebenen Werte an und für sich schon
eine mechanische Bedeutung besitzen, in Kausalgleichungen zwischen
verschiedenen Formen mechanischer Energie übergehen: solche müssen
sich aber schließlich immer in Kraftgleichungen nach dem Muster
der Fundamentalformeln Lagranges umwandeln lassen. Dies ist
freilich wegen unserer Unkenntnis der Molekularvorgänge und wegen
der Schwierigkeiten ihrer mechanischen Behandlung bis jetzt nur in
einzelnen Fällen und in hypothetischer Weise möglich. Es bleibt daher
jener letzte Schritt ein bloß regulatives Postulat, das überdies, auch
wenn es einmal theoretisch durchführbar sein sollte, wahrscheinlich
aus praktischen Gründen, wegen der Einfachheit der Betrachtung und
um bei der bloßen Feststellung empirischer Zusammenhänge Hypo-
thesen zu vermeiden, niemals durchgängig zur Anwendung kommen
wird.
In der Vrraussetzung der mechanischen Naturlehre, daß alle
Naturvorgänge auf mechanische Bewegungen, alle Kausalgleichungen
daher schließlich auf Kraftgleichungen zurückgehen, liegt nun ein für
die Naturforschung ausnehmend wichtiges Postulat eingeschlossen:
das Postulat der geschlossenen Naturkausalität. Das-
selbe sagt aus, daß Naturvorgänge immer nur in anderen Naturvor-
gängen, nicht aber in irgendwelchen außerhalb des Zusammenhangs
der Naturkausalität gelegenen Bedingungen ihre Ursachen haben
können. Für die Naturwissenschaft selbst hat dieses Postulat zunächst
eine regulative Bedeutung: es fordert auf, jeden Naturzusammenhang
auf Kausalgleichungen zurückzuführen, in die lediglich genau analysier-
bare und auf die allgemeinen Naturgesetze zurückführbare Natur-
vorgänge als ihre Glieder eingehen. Eine weittragende Bedeutung
empfängt aber dieses Postulat außerdem für die Psychologie und die
Geisteswissenschaften, weil sich aus ihm die Forderung ergibt, die
Voraussetzungen über die geistige Kausalität so zu gestalten,
daß sie mit diesem Grundsatz der Naturwissenschaft nicht in Wider-
Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden. 355
spruch geraten. (Vgl. Bd. III, Abschn. I.) Für das Maß der Sicher-
heit jenes von der heutigen Naturwissenschaft teils stillschweigend,
teils ausdrücklich überall anerkannten Postulates ist es übrigens be-
achtenswert, daß dasselbe zwar ursprünglich aus der mechanischen
Naturansicht hervorgegangen ist, keineswegs aber mit der Nicht-
anerkennung der letzteren ebenfalls fallen würde. Vielmehr bleibt die
Voraussetzung der geschlossenen Naturkausalität so lange eine not-
wendige, als man überhaupt zugibt, daß die Erklärung aller Natur-
vorgänge, wenn sie endgültig zu leisten wäre, lediglich auf Kraft- und
vollständige Transformationsgleichungen zurückführen müßte. Da-
gegen schließen allerdings die Zustandsgleichungen an und für sich
nicht die gleiche Forderung ein. Aber da das anerkanntermaßen nur
deshalb der Fall ist, weil bei ihnen von an sich notwendigen Zwischen-
gliedern der Kausalverknüpfung abstrahiert wird, so muß das Postulat
der geschlossenen Naturkausalität auch noch dann als maßgebend
betrachtet werden, wenn man die mechanische Naturansicht als nicht
zureichend erwiesen aufgeben sollte, falls nur überhaupt ein Übergang
der verschiedenen Naturvorgänge ineinander nach konstanten äqui-
valenten Verhältnissen angenommen wird. Dem entspricht die Tat-
sache, daß dem Postulat der geschlossenen Naturkausalität in Wirk-
lichkeit bald ausdrücklich bald stillschweigend eine noch allgemeinere
Geltung als der mechanischen Naturansicht unter den leitenden
Prinzipien der Naturforschung zugeschrieben wird.
Viertes Kapitel.
Die allgemeinen Methoden der Naturforschung.
1. Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen
Methoden.
Die allgemeinen Methoden der Naturforschung stimmen in allen
wesentlichen Punkten überein mit den im ersten Abschnitte geschil-
derten Methoden der wissenschaftlichen Forschung überhaupt, zu
deren Ausbildung jene hauptsächlich beigetragen haben. Die durch die
spezifische Beschaffenheit der Objekte bedingten Abweichungen aber
gehören großenteils den Einzelgebieten an und werden daher in den
folgenden Kapiteln zu erörtern sein. So bleibt uns hier nur übrig, auf
einige allgemeine, in den gemeinsamen Merkmalen der Naturerscheinungen
begründete Eigentümlichkeiten der Untersuchung hinzuweisen.
356 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Bei jeder Untersuchung unterscheiden wir von den Methoden
selbst die Hilfsmittel, deren sich jene bedienen müssen. Während
die Methode durchaus nur die logischen Verfahrungsweisen der Unter-
suchung umfaßt, bezieht sich der Begriff eines Hilfsmittels auf die natür-
lichen oder künstlichen Werkzeuge und Operationen, die im Dienste
der Methode Verwendung finden. Die Analyse und Synthese der Er-
scheinungen, die Induktion und Deduktion sind Methoden der natur-
wissenschaftlichen Forschung; die Beobachtung und das Experiment,
die geometrische Konstruktion und die mathematische Analysis sind
Hilfsmittel derselben. Alle diese Hilfsmittel können innerhalb jeder
der erwähnten Methoden zur Anwendung kommen, wenn auch die einen
vorzugsweise für das induktive, die anderen für das deduktive Stadium
der Untersuchung verwertet werden. So dienen Beobachtung und
Experiment zumeist der Induktion und Abstraktion, aber sie sind
anderseits für die Verifikation und Determination der auf deduktivem
Wege gefundenen Resultate wnerläßlich; die mathematischen Ver-
fahrungsweisen sind die hauptsächlichsten Werkzeuge der naturwissen-
schaftlichen Deduktion, doch kann auch die induktive Methode der
arithmetischen und geometrischen Hilfsoperationen nicht entbehren.
Der große Vorzug der Naturwissenschaften besteht nun vor
allem in dem reichen Vorrat an Hilfsmitteln, über den sie verfügen.
Diese Hilfsmittel haben auf die Methoden selbst zurückgewirkt,
deren Ausbildung durch jene gefördert wurde. Das ursprüngliche
und fortan für alle Naturforschung unerläßliche Hilfsmittel ist hier
die einfache Sinneswahrnehmung. Mit ihr verbindet sich sodann die
Anwendung mannigfacher künstlicher Werkzeuge, welche die physi-
kalische Methodik zur Verfügung stellt, und deren Beschaffenheit
sich nach den speziellen Untersuchungsgebieten richten muß. Die
durch die Herbeiziehung dieser Hilfsmittel ermöglichte exakte Beobach-
tung kann aber in doppelter Weise die Erforschung eines Gegenstandes
in Angriff nehmen: erstens, indem sie in die Eigenschaften desselben
oder in den Verlauf der untersuchten Vorgänge willkürlich verändernd
eingreift, und zweitens, indem sie eine möglichst große Anzahl über-
einstimmender oder analoger Erscheinungen miteinander vergleicht.
Auf diese Weise ergeben sich de experimentelle und die ver-
gleichende Beobachtung als die zwei einander ergänzenden
methodischen Hilfsmittel der Naturforschung. Beide sind nicht strenge
voneinander zu scheiden, sondern sie können sich in der verschiedensten
Weise kombinieren. Dennoch bringt es das Wesen der experimentellen
Methode mit sich, daß sie sich in der Regel mit einer verhältnismäßig
Experiment und Beobachtung. 357
kleinen Zahl von Beobachtungen begnügen kann, während umgekehrt,
sobald aus irgendwelchen Gründen das Experiment unanwendbar ist,
eine umso umfassendere Sammlung vergleichender Beobachtungen
erfordert wird.
2. Experiment und Beobachtung.
a. Die experimentelle Methode.
Von der unmittelbaren, nur die natürlichen Sinneswerkzeuge
benützenden Beobachtung geht alle Untersuchung der Naturerschei-
nungen aus. Sobald aber diese unseren willkürlichen Eingriffen zu-
gänglich sind, so verbindet sich die Beobachtung mit dem Experiment.
Nachdem sich das letztere ausgebildet hat, wirkt es seinerseits zurück
auf die Beobachtung, indem es derselben künstliche Werkzeuge zur
Verfügung stellt. Erst durch die Verwendung jener technischen Hilfs-
mittel, die auf experimentellem Wege entstanden sind, wird die Beobach-
tung zur exakten Beobachtung. Wie daher das Experiment selbst
nichts anderes als eine Beobachtung ist, die von willkürlichen Ein-
wirkungen des Beobachters auf die Erscheinungen begleitet wird, so
greifen auch im ganzen Verlauf der Untersuchung beide Hilfsmittel
fortwährend ineinander ein. Der Beobachter bedient sich der Werk-
zeuge, die aus experimentellen Untersuchungen hervorgegangen sind,
und die auch in solchen Fällen, in denen das Experiment selbst un-
möglich ist, wenigstens der Beobachtung eine größere Sicherheit und
Genauigkeit geben sollen. Fast jede bedeutendere Untersuchung fügt
außerdem zu diesem im Laufe der Zeiten allmählich gewaltig ange-
wachsenen Inventar technischer Hilfsmittel neue hinzu, welche die
Genauigkeit der Beobachtung unter neuen Bedingungen sicherstellen
oder neue Formen experimenteller Einwirkung möglich machen.
Alle Beobachtung ist ursprünglich von zufälligen Wahr-
nehmungen ausgegangen. Soll sich die Wahrnehmung zur Beobachtung
erheben, so muß die wahrgenommene Erscheinung aus irgend einem
Grunde unser Interesse erregen. Letzteres ist aber nur dann vor-
handen, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Erscheinung mit der
Frage nach der Art ihres Eintritts, nach ihrem Verlauf, nach ihrer
Beziehung zu anderen Vorgängen verbindet. Wer Blitzschlag und
Donner hört, hat ein Gewitter wahrgenommen. Wer es beobachten
will, wird auf die Form und die räumliche Ausbreitung des Blitzstrahls,
die Zeit, die zwischen ihm und dem Eintritt des Donners verfließt, die
Häufigkeit der Blitze, die begleitende Wolkenbildung und ähnliches
358 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
achten. Mit der Beobachtung beginnt daher schon jene Fragestellung
an die Natur, in der alle Untersuchung der Naturerscheinungen ihre
Quelle hat. Die Beobachtung fordert den höchsten Grad aktiver Auf-
merksamkeit, denn sie will nicht nur die Erscheinung selbst in allen
ihren Stadien, sondern auch ihre etwaigen Begleiterscheinungen wahr-
nehmen. Damit ihr von diesem ganzen Verlauf nichts entgehe, bereitet
sich wo möglich, ehe ein Ereignis eintritt, die Aufmerksamkeit auf das-
selbe vor. Darin liegt schon für die fernere Beobachtung ein Impuls,
um, wenn es irgend geschehen kann, zum Experimente fortzuschreiten ;
denn in dem Experiment beherrschen wir in der Regel den Eintritt der
Erscheinungen und können ihn daher nun leicht gerade in den Augen-
blick verlegen, wo unsere Aufmerksamkeit am besten vorbereitet ist.
Fällt aus irgend einem Grunde, etwa weil es sich um ein unerwar-
tetes Ereignis handelt, jene vorläufige Richtung der Aufmerksam-
keit hinweg, so leidet darunter stets die Genauigkeit der Beobachtung,
und zwar wird nicht bloß die Bestimmung des Eintritts der Erscheinung,
sondern meist auch die Verfolgung des weiteren Verlaufs derselben un-
sicherer, da die Aufmerksamkeit eine gewisse Zeit braucht, um sich
zu sammeln.
Jeder Beobachtung liegt die Frage nach dem Wie der Erschei-
nungen zu Grunde. Das Ziel der Beobachtung als solcher ist erreicht,
wenn sich die Erscheinung in Bezug auf ihren Verlauf und auf die ihn
begleitenden Umstände aufs genaueste beschreiben läßt. Das Ex-
periment sucht nun zunächst, indem es den Eintritt der Erschei-
nungen beherrscht, die Sicherheit der Beobachtung zu vergrößern;
vor allem aber schreitet dasselbe, indem es die Bedingungen des Gesche-
hens selber verändert, zu der Frage nach dem Warum der Erschei-
nungen fort. Nur in seltenen Fällen, unter der Voraussetzung teils
einer zureichenden Einfachheit der Vorgänge, teils einer in der Natur
von selbst sich darbietenden Variation der Bedingungen, vermag die
Beobachtung ohne die Hilfe des Experimentes dieser zweiten Frage
näher zu treten. Die Astronomie bietet das hauptsächlichste Beispiel
dieser Art dar. Aber auch sie würde wahrscheinlich niemals ihr deskrip-
tives Stadium verlassen haben, wären ihr nicht die experimentellen
Untersuchungen im Gebiete der irdischen Gravitation zu Hilfe gekommen.
Die Keplerschen Gesetze, in denen alles enthalten ist, was die astro-
nomische Beobachtung der Gravitationstheorie entgegenbrachte, be-
sitzen einen rein beschreibenden Charakter. Das Mittel, durch welches
das Experiment jener Frage nach dem Warum näher tritt, besteht in
der Isolierung und Variierungder Umstände. Unter
Experiment und Beobachtung. 359
ihnen ist es namentlich die erstere, die durch die bloße Beobachtung
niemals erreicht werden kann; denn es ist ein kaum zu erwartender
und darum nie mit der erforderlichen Regelmäßigkeit eintretender
Zufall, daß zwei Ereignisse nur in einer unter den zahllosen Be-
dingungen, die ihren Eintritt begleiten, verschieden sind. Anderseits
führt die Isolierung der Umstände notwendig von der bloßen Be-
schreibung der Tatsachen zu der kausalen Auffassung derselben. Denn
sobald die isolierte Veränderung eines Umstandes regelmäßig be-
stimmte Veränderungen in dem Ablauf der Ereignisse nach sich zieht,
so sehen wir uns durch das logische Prinzip von Grund und Folge ge-
nötigt, jener isolierten Veränderung einen kausalen Wert beizulegen.
In Wahrheit ist jedoch nicht die kausale Betrachtung aus dem experi-
mentellen Verfahren hervorgegangen, sondern sie hat umgekehrt mit
Notwendigkeit zu jener willkürlichen Isolierung und Variierung der
Umstände geführt, in denen das Wesen des Experimentes besteht.
Die UmständeeinerErscheinung werden uns nun stets
durch die Beobachtung gegeben. Sie bestehen aus allen den Tatsachen
der Beobachtung, die den Eintritt und Verlauf der Erscheinung beglei-
ten. Der Umstand unterscheidet sich hier von der Bedingung
dadurch, daß die letztere in einer kausalen Beziehung zu der unter-
suchten Erscheinung steht, während solches bei dem Umstande vor-
läufig dahingestellt bleibt. Es ist gerade die Aufgabe des Experimentes,
nachzuweisen, ob und inwiefern irgend ein das beobachtete Ereignis
begleitender Umstand eine Bedingung desselben sei oder nicht. Indem
die Umstände isoliert und variiert werden, erweisen sie sich zum Teil
als gleichgültig, zum Teil als wesentlich für den Eintritt eines Ereig-
nisses, und durch die weitere Anwendung jener Verfahrungsweisen
wird dann die spezielle Beziehung ermittelt, in der die einzelnen Um-
stände zu den verschiedenen Bestandteilen einer Erscheinung stehen.
Dabei sind es die früher erörterten allgemeinen Regeln der induktiven
Methode, welche dem Experimente den Weg zeigen. (Abschnitt I,
S. 20 ff.)
Eine gewisse Einschränkung erfährt die experimentelle Methode
notwendig dadurch, daß ihr nur die Gegenstände unserer Umgebung
unmittelbar zugänglich sind. Gleichwohl überschreitet sie gelegentlich
diese Grenzen, indem sie, statt die untersuchten Erscheinungen selbst,
andere, die ihnen ähnlich oder künstlich nachgebildet sind, willkür-
lichen Einwirkungen aussetzt. So bildet man bei dem Plateauschen Ver-
such die Bedingungen, unter denen mutmaßlich die Abplattungen der
Planeten nebst dem Ringsystem des Saturn entstanden sind, künstlich
360 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
nach, indem man eine Ölkugel in einem Gemisch gleicher spezifischer
Schwere durch Drehung einer Kurbel in schnelle Rotation versetzt*).
G. Bischof zeigte durch Schmelzen einer Basaltkugel, deren Temperatur-
verhältnisse er mehrere Stunden nach dem Gusse untersuchte, daß
(das Gesetz, nach welchem die Temperatur des Erdinnern mit der Tiefe
zunimmt, der Annahme eines dereinst feuerflüssigen Zustandes ent-
spreche**). Durch spektroskopische Versuche mit bekannten irdischen
Körpern sucht man über die physische Konstitution der Gestirne Auf-
schluß zu gewinnen, oder durch chemische Versuche im kleinen unter
Anwendung physikalischer Hilfsmittel, wie höherer Druck- und Tem-
peraturgrade, die Bedingungen für die einstige Bildung gewisser Gesteine
zu ermitteln***), u.s. w. Diese indirekten Experimente im Gebiet der
Astrophysik und Geologie sind natürlich von umso größerem Werte,
je mehr es gelingt, die Bedingungen des Versuchs denjenigen der wirk-
lichen Erscheinungen ähnlich zu machen. Aber da dies niemals voll-
ständig möglich ist, weil wir in unseren Laboratorien über die Massen
und Kraftgrößen, die bei den zu erklärenden Erscheinungen vorkommen,
nicht verfügen können, so sind die Ergebnisse immer bis zu einem
gewissen Grade hypothetisch. Sie bleiben dies namentlich dann, wenn
solche indirekte Versuche unmittelbar zur induktiven Erforschung
gewisser Naturerscheinungen verwendet werden, wie z. B. bei der
Untersuchung der physischen Konstitution der Gestirne oder der
geologischen Bedingungen bei der Entstehung von Mineralien. Gün-
stiger ist es, wenn das indirekte Experiment, im Dienste der Deduktion
stehend, bloß zur Bestätigung von Ergebnissen dient, die aus anderwei-
tigen Voraussetzungen abgeleitet sind, wie bei den Versuchen von
Plateau und Bischof. Dagegen besitzt es in diesen Fällen insofern einen
geringeren Wert, als die Sätze, die es bestätigt, häufig schon ohnehin
eine zureichende Sicherheit besitzen, so daß es sich manchmal sogar,
wie bei dem Plateauschen Experiment, mehr um eine sinnreiche Ver-
anschaulichung als um einen wirklichen Beweis handelt. Infolge dieses
geringen Wertes indirekter Experimente wird in allen den Gebieten,
in denen sie vorkommen, eine ungleich größere Beteiligung der kom-
parativen Methode erfordert als in den eigentlichen Experimental-
gebieten. So sind insbesondere die Astrophysik, Geologie und Meteoro-
logie zunächst vergleichende Beobachtungswissenschaften, die nur für
*), Plateau, Poggendorffs Annalen, Ergänzungsband II, 1848,
S. 249,
**) Naumann, Lehrbuch der Geognosie, 2. Aufl., I, S. 54 £.
***) A. Daubre&e, Experimentalgeologie. Deutsche Ausgabe, S. 12 fi.
‚Experiment und Beobachtung. 361
gewisse Fundamentalfragen die experimentelle Methode in ihrer in-
direkten Anwendung zur Ergänzung herbeiziehen. Zugleich gehört
dabei stets das experimentelle Verfahren selbst anderen Gebieten,
nämlich der Physik oder Chemie, an und wird daher in seiner Durch-
führung von den hier gültigen Prinzipien geleitet; immerhin gewinnt
es durch die besonderen Probleme jener vergleichenden Wissenscha’ten
einen eigenartigen Charakter. Die isolierende Abstraktion, die in den
grundlegenden Disziplinen vorwaltet, wird hier wieder aufgehoben,
indem man untersucht, wie sich unter komplexen Bedingungen, di»
von mehreren Naturkräften gleichzeitig abhängen, bestimmte Einzel-
erscheinungen verhalten. Trotz der aushilfsweisen Anwendung der
hierbei vorkommenden Experimente bilden diese übrigens einen charak-
teristischen Bestandteil der oben genannten vergleichenden Wissen-
schaften; denn sie legen ein sehr beredtes Zeugnis dafür ab, daß die
Aufwerfung konkreter Kausalprobleme mit unwiderstehlicher Gewalt
zur experimentellen Methode drängt, daher diese in solchen Fällen
selbst da sich indirekte Anerkennung verschafft, wo ihrer unmittelbaren
Verwendung unwiderstehliche Hindernisse im Wege stehen.
b. Die vergleichende Methode.
Jede Beobachtung, die darauf ausgeht, die Naturerscheinungen
in ihrem Zusammenhange aufzufassen, bedarf der Vergleichung, der
Verbindung des Ähnlichen und der Unterscheidung des Widerstreitenden,
wie es überall schon den einfachen Methoden der Analyse und Syn-
these, der Abstraktion und Determination zu Grunde liegt. In diesem
Sinne ist die Vergleichung ein unerläßlicher Bestandteil auch des
experimentellen Verfahrens. Dagegen reden wir von einer Anwendung
der vergleichenden Methode nur da, wo die Vergleichung zum
logischen Prinzip der Methode wird. Wie also der Schwerpunkt des
Experiments in der willkürlichen Abänderung der Erscheinungen
liegt, so besteht das Wesen des vergleichenden Verfahrens darin, daß
die vergleichende Beobachtung, die Sammlung übereinstimmender
Erscheinungen und die Abstufung der nicht übereinstimmenden nach
den Graden ihres Unterschieds zur Gewinnung allgemeiner Ergebnisse
benützt wird. Auf diese Weise angewandt ergänzt die vergleichende
Methode die experimentelle in doppelter Hinsicht: erstens ist jene bei
allen den Gegenständen anwendbar, welche dieser unzugänglich sind;
und zweitens dient überall da, wo eine Verbindung beider möglich ist,
die vergleichende Beobachtung zur Ausfüllung der Lücken des experi-
362 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
mentellen Verfahrens. Beide erschöpfen aber zugleich die allgemeinen
Formen naturwissenschaftlicher Methodik. Willkürliche Veränderung
der Erscheinungen und vergleichende Beobachtung derselben unter den
Verhältnissen, in denen sie unmittelbar uns gegeben sind, bilden zu-
sammen die einzig möglichen Hilfsmittel einer wissenschaftlichen
Bearbeitung der Natur.
Da die experimentelle Methode in ungleich höherem Grade geeignet
ist, die kausalen Bedingungen der Erscheinungen zu erforschen, so
steht sie überall, wo sie überhaupt anwendbar ist, in erster Linie. Ihr
aber tritt die vergleichende Methode in doppelter Weise ergänzend zur
Seite: erstens, indem sie die Probleme für die experimentelle Behand-
lung vorbereitet, durch die Sammlung einer genügenden Anzahl zu-
sammengehöriger exakter Beobachtungen; und zweitens, indem sie die
experimentellen Resultate ergänzt durch die Anwendung derselben
auf eine große Anzahl einzelner der Beobachtung gegebener Erschei-
nungen. So hat die Astronomie von ihren frühesten Anfängen an bis
auf Kepler die vergleichende Methode in bloß vorbereitender Weise
benützt. Noch die Keplerschen Gesetze, mit denen diese Periode ab-
schließt, bestehen nur in Verallgemeinerungen der durch die Verglei-
chung erzielten Ergebnisse. Das zweite Stadium beginnt mit Newtons
Gravitationstheorie, die eine kausale Interpretation der Keplerschen
Gesetze an der Hand der Fallversuche Galileis gibt. Seitdem dient die
vergleichende Methode zur Vervollständigung und feineren Ausarbei-
tung der auf die Gravitationstheorie gegründeten Mechanik des Himmels.
Die Astronomie bildet zugleich für diese letztere Form der Anwendung
ein besonders günstiges Beispiel, weil sie die einzige Wissenschaft ist,
in welcher, obgleich sie ein direktes Experiment nicht zuläßt, dennoch
die Resultate der Vergleichung einen experimentellen Wert gewinnen.
Diese günstige Lage verdankt die Astronomie zwei Umständen: der
relativ großen Einfachheit der Erscheinungen und der Existenz des
Mondes. Wäre unserer Erde nicht dieser fortwährend gegen sie fallende
Trabant beigegeben, der sich unmittelbar mit den zu irdischen Fall-
versuchen verwendeten Körpern vergleichen läßt, so würde die Gravi-
tationstheorie für immer eine unverifizierbare Hypothese geblieben
sein. In der Tat fehlt in den meisten andern Fällen, wo die Wissen-
schaft auf die vergleichende Methode angewiesen ist, diese unmittelbare
Bestätigung; doch kann auch dann bald mittels der Anwendung be-
kannter physikalischer Tatsachen, bald durch indirekte Experimente,
bald auch durch die bloße Verwertung der Vergleichungsresultate zur
Hypothesenbildung eine theoretische Anschauung gewonnen werden,
Experiment und Beobachtung. 363
die einen ähnlichen Umschwung in der Benützung der komparativen
Methode herbeiführt. So ist Dove zu seinem Drehungsgesetz der Winde
zunächst bloß durch statistische Beobachtungen geführt worden; er
hat es dann aber durch die rein theoretische Erwägung der Wechsel-
wirkungen der Erdrotation mit den durch Temperaturdifferenzen ver-
ursachten Luftströmungen in ein meteorologisches Gesetz umge-
wandelt, welches nun wieder umgekehrt die Beurteilung der Wind-
beobachtungen leitet. So ist ferner Kirchhoff bei seiner Theorie des
Sonnenspektrums von den seit Fraunhofer vielfach ausgeführten
Beobachtungen über die dunkeln Linien ausgegangen, mit denen er
experimentelle Untersuchungen über die Spektra irdischer Elemente
verband; hierauf ist aber die vergleichende Beobachtung des Sonnen-
spektrums wiederum von dieser Theorie geleitet worden. Dagegen
hat Darwins Theorie der organischen Entwicklung auf keinerlei all-
gemeingültige Gesetze oder indirekte Experimente von entscheidender
Bedeutung sich stützen können, sondern sie war genötigt, ausschließlich
auf die Resultate der komparativen Methode selbst eine Hypothese
zu bauen, die sie dann den weiteren vergleichenden Untersuchungen
zu Grunde legte. Deshalb ist nun aber auch die so entstandene Theorie
selbstverständlich dem Angriffe ausgesetzt, und es fehlt namentlich an
den geeigneten Hilfsmitteln zur Bestätigung und Widerlegung der
speziellen Voraussetzungen, die in sie eingehen. Unter solchen Um-
ständen ist es begreiflich, wenn manche Forscher es vorziehen, vor-
läufig überhaupt auf eine theoretische Verwertung der durch die Ver-
gleichung festgestellten Tatsachen zu verzichten. Es entsteht s> eine
rein beschreibende Form der Wissenschaft, wie sie überall der
Erklärung vorangeht, namentlich aber auf solchen Gebieten längere
Zeit bestehen bleibt, denen die Hilfe des Experimentes gänzlich ver-
sagt ist.
In beiden oben geschilderten Stadien der vergleichenden Methode,
die durch das Auftreten einer bestimmten, meist auf experimentellem
Wege vermittelten theoretischen Anschauung sich scheiden, ist zwar
die Verwertung der Ergebnisse eine abweichende; der logische Charakter
der Methode selbst bleibt aber der nämliche. Er besteht im allgemeinen
überall in der schon hervorgehobenen Sammlung übereinstimmen-
der Erscheinungen und in der Abstufung der nicht übereinstimmenden
nach den Graden ihres Unterschieds. In dieser Beziehung stimmen die
Vorschriften, die Bacon in seinem neuen Organon für die naturwissen-
schaftliche Forschung überhaupt aufstellt, am meisten mit dem Bild
der vergleichenden Methode überein. Denn die Tatsache, daß
364 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
jede Vergleichung aus der Verbindung des Übereinstimmenden und der
Trennung des Verschiedenen besteht, findet in Bacons Tafeln der posi-
tiven und negativen Instanzen ihren Ausdruck. Freilich aber wird die
Vergleichung von vornherein allzusehr von bestimmten allgemeinen,
durch vorangegangene Analyse und Abstraktion entstandenen Gesichts-
punkten geleitet, als daß übereinstimmende und unterscheidende
Beobachtungen in der Baconischen Weise systematisch sich trennen
ließen; und die weiteren Vorschriften, die Bacon in seinen Tafeln der
Grade und prärogativen Instanzen zusammenstellt, enthalten ein buntes
Gemisch von Gesichtspunkten, die teils unter die komparative, teils unter
die experimentelle Methode gehören. Vollends verschoben wurde das
Verhältnis dieser beiden Methoden durch diejenigen neueren Logiker,
die nach Baconischem Vorbild Regeln des experimentellen Verfahrens
aufzustellen suchten und dazu nun vorzugsweise die Instanzen der
Übereinstimmung und Unterscheidung benützten. Es konnte nicht
fehlen, daß darüber die charakteristischen Eigentümlichkeiten des
experimentellen Verfahrens, wie sie besonders in der physikalischen In-
duktion zur Ausbildung gelangt sind, völlig verloren gingen. (Vgl. unten
Abschn. IV, Kap.I.) Aber auch die komparative Methode wird durch
die Baconischen Regeln in unzureichender Weise bestimmt. Weit be-
deutsamere Anwendungsformen als in der Übereinstimmung und Unter-
scheidung, die überall sich begleitende Denkakte und eben darum
nicht besondere Methoden sind, begegnen uns hier in den Formen der
individuellen und der gen’erischen Vergleichung. Beide
schließen sich zum Teil an die Arten der Abstraktion, die isolierende und
die generalisierende, an, und beide stehen zueinander in einem ähn-
lichen Verhältnis wie diese: die individuelle muß überall der generischen
Vergleichung vorausgehen, aber sie besitzt außerdem eine selbständige
Bedeutung.
Die individuelle Vergleichung sammelt nämlich die
Beobachtungen, die irgend ein einzelner Gegenstand oder eine einzelne
Naturerscheinung in Bezug auf sämtliche koexistierende Bestandteile
und einander folgende Zustände darbietet, um so ein vollständiges
Gesamtbild des Beobachtungsobjektes zu gewinnen. Analyse und
Synthese, Isolation und Kolligation kommen hierbei als logische Hilfs-
methoden zur Anwendung. Die generische Vergleichung
dagegen verwertet Beobachtungen, die von verschiedenen, jedoch
zusammengehörigen Gegenständen oder Erscheinungen gewonnen sind,
und ordnet dieselben nach den miteinander verwandten Erscheinungs-
gebieten. Ihr Zweck ist, auf diesem Wege ein vollständiges Bild der
Experiment und Beobachtung. 365
mannigfachen Gestaltungen zu gewinnen, in denen eine Teilerscheinung
oder ein einzelnes Merkmal eines Objektes auftreten kann, und von den
begleitenden Umständen Rechenschaft zu geben, unter denen solche
Variationen vorkommen. Neben der Analyse und Synthese, der Isolation
und Kolligation werden hier noch die Generalisation und Spezifikation
als elementare Methoden herbeigezogen; und häufiger als bei der in-
dividuellen Vergleichung befähigt die Prüfung der Beobachtungen zur
Ausführung mehr oder minder umfassender Induktionen. Demnach
dient die individuelle Vergleichung mehr der reinen Beschreibung, und
sie gehört dem vorbereitenden Stadium der Untersuchung an; die ge-
nerische Vergleichung kann zwar ebenfalls noch auf dem deskriptiven
Standpunkt verbleiben, es liegt aber in ihr stets die Tendenz, denselben
zu überschreiten und zum Versuch einer kausalen Erklärung der Er-
scheinungen zu gelangen, worauf dann in der Anwendung der kompara-
tiven Methode der oben (S. 362f.) bezeichnete Wendepunkt eintritt.
Infolge dieser Beziehung der beiden Formen der Vergleichung
zu den logischen Funktionen der Beschreibung und Erklärung bilden
nun aber beide nicht bloß aufeinanderfolgende Stadien einer und der-
selben Methode, sondern es kann auch zu bestimmten wissenschaftlichen
Zwecken die eine oder die andere bevorzugt werden, ohne daß dabei
freilich jemals eine vollständige Trennung durchführbar ist. Es sind
besonders die sogenannten deskriptiven oder systematischen Natur-
wissenschaften, in denen die individuelle Vergleichung überwiegt,
während die generische bloß insoweit herbeigezogen wird, als es zu den
Zwecken der Klassifikation erforderlich ist. Dennoch zeigt es sich gerade
hier, daß die bloße Beschreibung das wissenschaftliche Bedürfnis nicht
auf die Dauer befriedigt. Im Zusammenhange mit derfrüher (Abschnitt 1,
S. 47 fi.) geschilderten Entwicklung der Systematik, die an die
Stelle der deskriptiven genetische Klassifikationen treten ließ, sind daher
neben den auf dem Boden der individuellen Vergleichung stehenden
Wissenschaftsgebieten andere entstanden, in denen die generische Ver-
gleichung vorherrscht. So haben sich neben der Zoologie und Zootomie
die vergleichende Anatomie, neben der Botanik die allgemeine Mor-
phologie der Pflanzen, neben der Mineralogie die Geognosie erhoben.
Das jüngere Alter der an zweiter Stelle genannten Disziplinen zeigt hier,
wie selbst in der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaft die ge-
nerische der individuellen Vergleichung nachfolgt. Zugleich ist aber
überall zu bemerken, daß es sich immer nur um ein Übergewicht der
einen oder andern Methode handeln kann, da beide auf das innigste
ineinander eingreifen. So sucht die Zootomie von jeder Gattung oder
366 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Familie des Tierreichs ein vollständiges anatomisches Bild zu gewinnen,
und sie beschränkt sich zu diesem Zweck nicht selten auf die Auswahl
einer oder mehrerer charakteristischer Spezies, an denen sie die Unter-
suchung ausführt. Die vergleichende Anatomie dagegen verfolgt eine
und dieselbe Organgruppe womöglich durch das ganze Tierreich oder
mindestens durch eine größere Anzahl verwandter Tierklassen, um die
verschiedenen Entwicklungsformen derselben nachzuweisen. Dort
waltet also die individuelle, hier die generische Methode vor. Aber der
Zootom kann offenbar bei der Anordnung der von ihm untersuchten
Formen ebensowenig der letzteren wie der vergleichende Anatom bei
der Einzeluntersuchung, der er das Material für seine allgemeineren
Vergleichungen entnimmt, der ersteren entbehren. Alles dies weist
darauf hin, daß auch die Zwecke dieser Wissenschaften, die Beschreibung
der Naturobjekte und die Erklärung ihrer Entstehung, höchstens vor-
übergehend zu sondern sind.
3. Naturbeschreibung und Naturerklärung.
Beschreibung und Erklärung sind zwei Funktionen,
die in keiner naturwissenschaftlichen Untersuchung und Darstellung
entbehrt werden können. Es ließe sich ihnen, der dritten Grundform
des Urteils entsprechend, auch die Erzählung noch anschließen
(Bd. I, S. 172). Aber die in der Zeit verlaufenden Naturereignisse
fordern, sobald sie sich unserer eigenen Beobachtung darbieten, un-
mittelbar eine kausale Erklärung heraus; gehören sie dagegen einer
entfernten Vergangenheit an, so läßt sich auf sie nur aus einer Reihe
von Momenten zurückschließen, die zunächst durch die Beschreibung
festgehalten werden müssen. Mit Rücksicht auf diese letztere Ver-
bindung sind daher lange Zeit die Namen Naturgeschichte und Natur-
beschreibung in fast übereinstimmender Bedeutung gebraucht und der
Naturerklärung gegenübergestellt worden.
Ohne Zweifel wird nun auch diese Scheidung eine gewisse
praktische Bedeutung bewahren, da es fortan Gebiete der Natur-
wissenschaft geben wird, in denen, wie z. B. in der Geographie, in
der systematischen Mineralogie, Botanik und Zoologie, die Funktion
der Beschreibung vorherrscht. Aber als eine prinzipielle Trennung ist
sie nicht aufrecht zu erhalten. Jede Naturwissenschaft hat schließlich
die Aufgabe der Erklärung, und keine kann hierbei der Hilfe der Be-
schreibung entbehren. Teils dient diese als Vorbereitung für die kausale
Interpretation der Erscheinungen, teils sucht sie auf Grund einer
Naturbeschreibung und Naturerklärung. 367
solchen die Erkenntnis‘ der einzelnen Naturobjekte zu vermitteln.
In diesem Sinne bestehen insbesondere die systematischen Naturwissen-
schaften, sobald sie die Stufe der genetischen Klassifikation erreicht
haben, lediglich in Anwendungen der ihnen entsprechenden erklärenden
Zweige der Naturlehre auf die Einzelerscheinungen, und sie suchen
aus diesen das Material zu vervollständigen, mittels dessen eine Ein-
sicht in die Entstehung der Objekte ermöglicht wird. Treffend weist
der Name „Naturgeschichte“ auf diese Aufgabe der systematischen
Naturwissenschaften hin: sie sollen nicht bloß über die Fülle der Natur-
gegenstände einen Überblick verschaffen, sondern über deren Ent-
stehungs- und Entwicklungsbedingungen Rechenschaft geben, und die
Prinzipien der Systematik sollen daher zugleich Erklärungsgründe der
Objekte selbst sein.
Im Gegensatze zu diesem in der Geschichte hervorgetretenen
Streben, die Naturbeschreibung der Naturerklärung dienstbar zu
machen, hat nun eine oben (S. 299 ff.) bereits gekennzeichnete Richtung
der neueren Naturforschung umgekehrt geglaubt, eine einheitliche
Auffassung der wissenschaftlichen Aufgaben dadurch herbeiführen zu
können, daß sie diese überall auf de exakte Beschreib ung
der Erscheirungen beschränkte. Schon der Mechanik wurde
so die Aufgabe gestellt, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen
vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben“*). Trotzdem
beginnt diese Darstellung der Mechanik selbst nicht bloß mit dem
mathematischen Punkt, der nirgends in der Natur vorkommt, sondern
sie zerlegt auch sofort die Geschwindigkeit in drei Komponenten nach
den Richtungen des Raumes und führt den Begriff der bewegenden
Kraft ein; sie operiert also, statt die Erscheinungen zu beschreiben,
mit Abstraktionen und Konstruktionen, und sie vermeidet nicht
einmal den logischen Hilfsbegriff der Naturerklärung, der einer rein
deskriptiven Auffassung der Dinge völlig fremd bleibt, den Kraftbegrifi.
Hier, wie in anderen Fällen, ist die skeptische Tendenz aus einer dunkeln
Furcht vor metaphysischen Gespenstern entsprungen. Man meint,
die Naturerklärung wolle irgend etwas Unsagbares, was in keiner Er-
fahrung entdeckt werden könne, entschleiern; und in Wahrheit be-
zweckt sie doch nichts anderes, als die regelmäßigen Relationen fest-
zustellen, die zwischen den Erscheinungen stattfinden, und zu deren
Ausdruck sich der Kausalbegriff als das einfachste Hilfsmittel bietet.
Nun läßt sich natürlich jede Relation von Erscheinungen auch in die
*, Kirchhoff, Mechanik, 1876, S. 1.
368 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung.
Form einer Beschreibung bringen, wenn man dieser die Bemerkung
beifügt, daß die beschriebene Relation eine ausnahmslos gültige sei.
Aber dieser Zusatz selbst ist eben keine bloße Beschreibung mehr, und
das Wort Naturerklärung soll gar nichts anderes ausdrücken
als die Feststellung der regelmäßigen Beziehungen, welche sich durch
die experimentelle und vergleichende Untersuchung zwischen den
Objekten der Beschreibung ergeben. Da nun auf dem Streben, die
gegebenen Tatsachen nach ihren wechselseitigen Beziehungen in einen
logischen Zusammenhang zu bringen, alle Wissenschaft beruht, so ist
auch die Naturwissenschaft nur insoweit eigentliche Wissenschaft, als
sie bestrebt ist, Naturerklärung zu sein.
Dieser Aufgabe kommt die Naturwissenschaft nach, indem sie
die Hilfsmittel der Analyse und Synthese, der Induktion und De-
duktion in den besonderen Modifikationen anwendet, die durch den
Charakter der Erscheinungen in den Hauptgebieten der Naturforschung
gefordert werden. In dieser Beziehung sondern sich namentlich drei
Gebiete voneinander: de Physik, Chemie und Biologie.
Die logische Methodenlehre kann sich auf die Betrachtung der Me-
thoden, Hilfsmittel und leitenden Prinzipien dieser drei Fundamental-
wissenschaften beschränken, da in den spezielleren Teilen der Natur-
erklärung keine wesentlich neuen Gesichtspunkte zur Geltung kommen.
Hinsichtlich der systematischen Prinzipien der Naturforschung aber
darf hier auf die allgemeine Erörterung der Formen der systematischen
Darstellung verwiesen werden.
Vierter Abschnitt.
Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Erstes Kapitel.
Die Logik der Physik.
1. Die physikalischen Methoden.
a. Die Analyse der Naturerscheinungen.
Die physikalische Untersuchung entspringt überall aus der Wahr-
nehmung bestimmter Naturerscheinungen. Sobald diese in ihrer
eigenen Beschaffenheit oder in ihrem Zusammenhang mit anderen
Beobachtungen Eigenschaften darbieten, die zu irgend einer Frage-
stellung Anlaß geben, so ist damit auch der erste Antrieb zu einer
Zergliederung gegeben, welche die Absicht verfolgt, die zusammen-
gesetzte Erscheinung auf ihre einfachen Bestandteile zurückzuführen.
Diesen allgemeinen Ausgangspunkten der physikalischen Forschung
entsprechend können die nächsten Anlässe derselben doppelter Art
sein. Entweder wird sie durch zufällige Wahrnehmungen oder durch
Resultate, die verwandten Erfahrungen entnommen sind, angeregt
und zugleich in ihrer Richtung bestimmt. Im ersten Fall pflegt auch
die Untersuchung zunächst den Charakter des Zufälligen an sich zu
tragen; sie wird, ehe sie selbst bereits zu Resultaten geführt hat, mehr
durch ein instinktives Taktgefühl als durch einen festen Plan ge-
leitet. Im zweiten Fall ist dieser Plan, in seinen allgemeinsten Zügen
wenigstens, durch die anderwärts gewonnenen Ergebnisse vorgezeichnet,
und er ist darum auch umso bestimmter, je nähere Beziehungen die
sich beeinflussenden Untersuchungsgebiete zueinander besitzen. Im
Beginn der wissenschaftlichen Entwicklung ist natürlich die erste
Entstehungsweise der Probleme vorherrschend. Mit der Ausbildung
der physikalischen Forschung nehmen die Motive der zweiten Art
immer mehr zu; doch hören jene zufälligen Anlässe niemals ganz auf:
wo sie nicht mehr völlig neue Untersuchungsgebiete eröffnen, da
Wundt, Logik. IL. 3. Aufl. 24
370 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
lassen sie wenigstens neue Gesichtspunkte und Methoden entstehen.
Die durch den Luftzug bewegten Kronleuchter im Dom zu Pisa ver-
anlaßten, wie man erzählt, Galilei zuerst, über die Gesetze der
Bewegung nachzudenken. Die Beobachtung, daß ein starker und
ein schwacher Schall in der nämlichen Zeit in der Entfernung zu hören
waren, brachte Gassendi auf den Gedanken, die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit des Schalls in der Luft zu messen. Auf das Phänomen
der Beugung des Lichtes wurde Grimaldi durch die Wahrnehmung
der Ausdehnung des Schattens und seiner farbigen Säume aufmerk-
sam gemacht*). Zuweilen ist es auch nur eine spezielle Problemstellung,
die auf solche Weise angeregt wird. So berichten die Gebrüder Weber,
daß ihre Untersuchungen über Wellenbewegung infolge einer Beobach-
tung geplant wurden, die einer von ihnen machte, als er durch einen
Papiertrichter Quecksilber goß und dabei die verwickelte, aber regel-
mäßige Figur bemerkte, die der auslaufende Strahl auf der Quecksilber-
oberfläche verursachte**). Als Röntgen die bei der elektrischen
Entladung in luftverdünnten Glasröhren von der Kathode ausgehenden
und ins Freie geleiteten Strahlen zufällig bei ihrem Zusammentreffen
mit undurchsichtigen Körpern beobachtete, entdeckte er die nach ihm
genannte neue Gattung von Strahlen***).
In einen gewissen Gegensatz zu diesen durch die nicht beabsich-
tigte Wahrnehmung entstandenen Ausgangspunkten der Untersuchung
treten nun jene Fälle, wo die Tatsachen erst aufgesucht werden, an
welche die weitere Analyse anknüpfen soll, und wo daher zur Vermutung
derselben irgend eine Voraussetzung geführt hat, die sich auf bereits
gewonnene Resultate stützt. Dabei können freilich Voraussetzung
wie Vermutung die verschiedensten Grade der Klarheit und Bestimmt-
heit besitzen, so daß in manchen Fällen kaum ein Unterschied von der
zufälligen Entdeckung zu bestehen scheint, während in anderen eine
präzise Voraussage von vornherein den Gang der Untersuchung regelt.
So hat man häufig Oersteds Entdeckung der Wirkung des galvanischen
Stromes auf die Magnetnadel als eine zufällige bezeichnet. Dennoch
hat Oersted selbst gegen diese Behauptung protestiert, und gewiß
mit Recht, obgleich die ihn leitenden naturphilosophischen Ideen
sehr vager Natur waren, und daher das Gelingen des Versuchs immer-
hin der Gunst des Zufalls bedurfte. Denn je unbestimmter eine
*) Fischer, Geschichte der Physik, I, S. 41 u. 471; II, S. 103.
**) Weber, Wellenlehre. 1825. Vorrede S. VI
***) H.C. Röntgen, Die X-Strahlen, 1896.
Die physikalischen Methoden. 371
Vermutung ist, umso leichter wird natürlich die Aufsuchung der ver-
muteten Tatsache zu einem unsicheren Umhertasten, welches dann
in umso höherem Maße Geduld und Ausdauer von seiten des Beobach-
ters erfordert. In dieser Beziehung ist Faraday ein hervorragendes
Beispiel glücklicher Begabung. Keine seiner Entdeckungen verdankt
ihren Ursprung dem blinden Zufall. Aber die Voraussetzungen, von
denen er ausging, waren meist sehr allgemeiner Art, und er gelangte
daher oft erst nach manchen Mißerfolgen zu einem günstigen Ergebnis.
Seine Entdeckung der magnetoelektrischen Erscheinungen wurde durch
den allgemeinen Gedanken geleitet, daß jeder Wirkung eine Gegen-
wirkung entsprechen müsse. Da der Nachweis erbracht war, daß der
elektrische Strom die Fähigkeit besitzt, Eisen und andere des Magnetis-
mus fähige Körper zu magnetisieren, so schloß er, daß umgekehrt auch
der Magnet die Eigenschaft besitzen werde, einen elektrischen Strom
zu erregen, eine Vermutung, die das Experiment vollkommen be-
stätigte. Noch unbestimmter war der Anlaß, dem er die Entdeckung
der Wirkung des Magnetismus und galvanischer Ströme auf das po-
larisiert> Licht verdankte. Da ihm die Versuche über elektrische
Induktion die Annahme wahrscheinlich machten, daß die elektrische
und magnetische Fernwirkung, ähnlich der des Schalls und des Lichtes,
auf der Fortpflanzung durch ein Medium beruhe, so vermutete er, daß
Elektrizität und Magnetismus von Einfluß auf die Lichtbewegung sein
würden. Erst als seine Versuche, das gewöhnliche Licht durch einen
starken Elektromagnet zu verändern, erfolglos geblieben, nahm er
polarisiertes Licht zu Hilfe, das er durch eine Flüssigkeit leitete, und
so entdeckte er die magnetische Drehung der Polarisationsebene.
Weit planmäßiger kann natürlich von Anfang an die Unter-
suchung verfahren, wenn aus irgendwelchen Gründen sogleich eine
präzise Fragestellung möglich ist, die den Beobachtungen ihre
Richtung anweist. Nachdem man längst die Schwingungsknoten
tönender Saiten beobachtet und außerdem bemerkt hatte, daß die
Bewegungen leichter Körperchen auf schwingenden gespannten Mem-
branen an verschiedenen Stellen mit sehr verschiedener Energie er-
folgen, konnte die Entstehung der von Chladni entdeckten Klang-
figuren im allgemeinen mit Sicherheit vorausgesagt werden, wenn
auch die einzelnen Formen und Bedingungen dieser Erscheinung erst
durch den Versuch festzustellen waren. Nicht minder war den Ver-
suchen Mellonis über die Reflexion, Brechung und Beugung der
Wärmestrahlen der Weg vorgezeichnet, da die Probleme durch die
entsprechenden Gesetze der Fortpflanzung des Lichtes in vollkommen
372 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
bestimmter Weise gegeben waren, so daß die Aufgabe hauptsächlich
in der Erfindung der Apparate und Methoden bestand, mit deren Hilfe
die Erscheinungen nachgewiesen und gemessen werden konnten.
Wie in den zwei letzten Beispielen von gewissen Erfahrungen
aus andere Erfahrungen, die mit jenen in naher Beziehung stehen,
vorausgesagt wurden, so können sich aber auch aus rein theoretischen
Betrachtungen Folgerungen ergeben, die auf noch unbekannte Tat-
sachen hinweisen, deren Bestätigung dann Aufgabe der Untersuchung
wird. So folgerte W. R. Hamilton aus den Voraussetzungen der Un-
dulationstheorie des Lichtes die Tatsache der konischen Refraktion
durch zweiachsige Kristalle, und Lloyd gelang es hierauf, die ent-
sprechenden Erscheinungen am Arragonit experimentell aufzufinden*).
Ohm hatte sein Grundgesetz der galvanıschen Kette, wonach die
Intensität des Stromes der durch die Verschiedenheit der Metalle be-
stimmten elektromotorischen Kraft direkt und dem Strömungswider-
stand umgekehrt proportional ist, zunächst als eine Hypothese auf-
gestellt. Diese Hypothese gab aber exakte Gesichtspunkte für die
Untersuchung der Gesetze des Stromes an die Hand, eine Untersuchung,
die zur Bestätigung des Ohmschen Gesetzes, zugleich aber zu
einer genaueren Bestimmung der Begriffe von elektromotorischer Kraft
und Widerstand geführt hat**). Eines der glänzendsten Beispiele
dieser Art ist endlich Clerk Maxwells elektromagnetische Lichttheorie.
Von den Beziehungen geleitet, die Faraday bereits zwischen Licht und
Elektrizität gefunden, entwickelte Maxwell mathematische Formeln,
in denen die Bewegung der Elektrizität als eine Wellenbewegung
dargestellt war, deren Fortpflanzungsgeschwindigkeit derjenigen der
Lichtwellen gleichkomme. Entsprachen diese Formeln der Wirklich-
keit, so mußte die Elektrizität, gleich dem Lichte, die Erscheinungen
der Reflexion, Interferenz, Brechung und Polarisation darbieten. Indem
nun H. Hertz nachwies, daß diese Voraussetzung zutrifft, und indem
er fand, daß die aus den Interferenzversuchen berechnete Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der elektrischen Wellen derjenigen der Lichtwellen
hinreichend nahekommt, bestätigte er Maxwells Theorie***).
Wo die Untersuchung, wie in den zuletzt angeführten Bei-
spielen, von der Folgerung aus anderen Erfahrungen oder von be-
*) Poggendorffs Ann. Bd. 28, $. 91.
**) Fechner, Maßbestimmungen über die galvanische Kette. 1831.
***) Clerk Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism. 1873.
H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft.
Wiedemanns Ann. Bd. 31—4l, 1892. (Ges. Werke, Bd. 2.)
Die physikalischen Methoden. 373
stimmten theoretischen Ergebnissen ausgeht, da ist von selbst auch
die Fragestellung gegeben, die zur Aufsuchung der geeigneten Methode
überführt. Wenn dagegen irgend eine zufällige Wahrnehmung oder
eine unbestimmte Vermutung die erste Anregung bietet, so sind stets
verschiedene Fragestellungen möglich. Denn jede Naturerscheinung
ist zunächst vieldeutiger Art. Sie tritt uns als Glied eines verwickelten
Kausalzusammenhanges entgegen. Ob die Umstände, die sie be-
gleiten, kausale Bedingungen sind, und wie diese Bedingungen unter-
einander zusammenhängen, zur Entscheidung dieser Fragen bedarf es
vor allem der planmäßigen Analyse der Erseheinungen.
Die einzelnen Fragen, deren Beantwortung diese Analyse vermitteln
soll, können nun teils vor dem Beginn der Untersuchung entwickelt
werden, teils kommen sie erst während ihres Verlaufs dem Beobachter
zum Bewußtsein. Nach der Natur der aufeinander folgenden Frage-
stellungen zerfällt aber die ganze Untersuchung wieder inzwei Stadien.
Eine erste Reihe von Fragen bezieht sich auf die allgemeinen
Bedingungen der beobachteten Erscheinung, eine zweite auf die
spezielleren Eigenschaften und kausalen Bezie-
hungen derselben. Das erste Stadium können wir als das der Vor-
untersuchung, das zweite als das der eigentlichen
Untersuchung bezeichnen. Die Beschaffenheit der Aufgaben
bringt es mit sich, daß die Voruntersuchung vorzugsweise quali-
tativer Art ist, während in die eigentliche Untersuchung quanti-
tative Bestimmungen eingehen; doch ist dieses Kriterium nicht ent-
scheidend, da auch schon in der Voruntersuchung zur Beantwortung
einzelner Fragen Messungen erforderlich sein können. Aus den Re-
sultaten der Voruntersuchung gewinnt die eigentliche Untersuchung
die Gesichtspunkte für ihre Fragestellungen und für die Methoden und
Hilfsmittel, deren sie sich zur Lösung der Probleme bedienen muß.
Die praktische Vorprüfung dieser Methoden und Hilfsmittel pflegt daher
ebenfalls noch, und meistens sogar vorzugsweise, der Voruntersuchung
zugerechnet zu werden, obgleich sie schon den Übergang zur definitiven
Untersuchung bildet. Beide Stadien unterscheiden sich übrigens sehr
augenfällig durch die Art der in ihnen herrschenden Fragestellungen. Auf
die Fragen der Voruntersuchung wird ein Ja oder Nein als Antwort
erwartet. Indem sie eine Reihe möglicher Bedingungen A, B, C...,
welche bei einer Erscheinung X wirksam gedacht werden können,
durchgeht, zerfällt sie in ebenso viele Einzeluntersuchungen, als solche
Bedingungen in Erwägung gezogen werden. Fällt die Antwort ver-
neinend aus, so hat die Voruntersuchung ohne weiteres zu einer ferneren
374 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Frage überzugehen. Ist sie bejahend, so bildet das Resultat einen
Ausgangspunkt für die definitive Untersuchung. Diese kann nun,
anknüpfend an die positiven Ergebnisse der Voruntersuchung, zunächst
bestätigende Tatsachen aufsuchen, die jene Ergebnisse völlig sichern
sollen. Hier bleibt das Verfahren noch ein ähnliches; der Unterschied
besteht nur darin, daß jede Frage schon von einer bestimmten An-
schauung über die Natur der beobachteten Erscheinung geleitet, und
daß daher eine bestimmte Antwort im voraus erwartet wird.
Nach dieser Verifikation der Ergebnisse der Voruntersuchung,
die den Beginn der eigentlichen Untersuchung bildet, wendet sich
die letztere ihrer wichtigsten Aufgabe zu: der Ermittlung derquanti-
tativen Eigenschaften der Erscheinungen. Während bis dahin
das experimentelle Verfahren wesentlich in einer Variation der äußeren
Umstände bestanden hatte, betätigt es sich nunmehr in der genauen
Messung der einzelnen Elemente der Erscheinungen unter den für ihre
Herbeiführung günstigsten Bedingungen. Die Art der Fragestellung
ist in diesem abschließenden Teil der Analyse eine völlig andere. Sie
geht nicht mehr auf ein Ja oder Nein, sondern auf die besondere Art
oder den Grad der unter den gegebenen Bedingungen eintretenden
Veränderungen. Die Antwort selbst ist daher stets eine bejahende,
aber sie enthält zugleich die näheren qualitativen oder quantita-
tiven Verhältnisse, auf deren Ermittlung die Untersuchung gerichtet
war. Sind auf diese Weise alle wesentlichen Fragen erledigt, die sich
auf die Beschaffenheit einer beobachteten Erscheinung beziehen, so
werden dann in der Regel die Resultate unmittelbar oder in Ver-
bindung mit den Ergebnissen anderer Analysen zur Ableitung eines
allgemeinen Gesetzes verwertet, das die Erscheinung als speziellen
Fall in sich enthält. Hiermit tritt die Analyse in den Dienst der
physikalischen Induktion. Ehe jedoch diese beginnt,
pflegt das gewonnene Ergebnis durch eine Umkehrung des Unter-
suchungsweges einer nochmaligen Prüfung und Vervollständigung
unterworfen zu werden, wenn nicht etwa dieses umgekehrte oder
synthetische Verfahren schon gelegentlich in die Analyse der Erschei-
nungen eingegriffen hat. Bevor wir hierzu übergehen, sei der hier
dargestellte Gang der analytischen Untersuchung an einem möglichst
vollständigen Beispiele erläutert. Ich wähle hierzu Newtons Unter-
suchung der Farbenzerstreuung des Lichtes bei der Brechung im Prisma.
Newton selbst hat zwar in der späteren Ausführung seiner Optik
infolge seiner Vorliebe für die synthetische Darstellung den wirklichen
Gang der Analyse verdeckt; dieser läßt sich aber mit Hilfe der voran-
Die physikalischen Methoden. 375
gegangenen einzelnen Arbeiten über den Gegenstand unschwer wieder-
herstellen*). Wenn bemerkt worden ist, die Optik sei das schwächste
Produkt des Newtonschen Geistes**), so mag diesem Ausspruch
hinsichtlich des bleibenden Erfolgs der Theorien eine gewisse Wahrheit
zukommen; für die experimentelle Analyse verwickelter Erscheinungen
aber ist sie noch heute ein mustergültiges Beispiel.
Die Entdeckung der Farbenzerstreuung hat aus einer zufälligen
Wahrnehmung ihren Ursprung genommen. Das Farbenspiel eines
dreiseitigen gläsernen Prismas beobachtend, geriet Newton auf den
Gedanken, dieses vor die Öffnung eines Fensterladens zu halten, durch
welchen das Sonnenlicht fiel. Zu seiner Überraschung bemerkte er,
daß die an der gegenüberliegenden Wand des verdunkelten Zimmers
erscheinenden Farben nicht ein der Gestalt der Ladenöffnung ent-
sprechendes kreisrundes, sondern ein längliches Bild mit geraden Seiten-
linien darboten. Er vermutete zunächst, Unterschiede in der Dicke
oder in der Gestalt des Glases möchten die Erscheinung veranlassen;
er ließ daher das Licht durch verschiedene Stellen des Glases fallen,
veränderte die Größe der Ladenöffnung, brachte das Prisma außerhalb
statt innerhalb derselben an, ohne daß sich jedoch die Erscheinung
veränderte. Nunmehr legte er sich die Frage vor, ob Unregelmäßig-
keiten in der Struktur des Glases die Ursache der Lichtzerstreuung
sein könnten. Demgemäß stellte er dicht hinter dem ersten Prisma
ein zweites ihm völlig gleiches auf, dem aber eine entgegengesetzte
Lage gegeben war. Er schloß, die regelmäßigen Wirkungen der Pris-
men würden auf diese Weise sich aufheben, während irgendwelche
irreguläre Wirkungen nicht aufgehoben, sondern möglicherweise ver-
stärkt würden. Es zeigte sich, daß das durch das zweite Prisma ge-
brochene Licht eine vollkommen kreisrunde Form annahm; die Frage
nach der Existenz jener irregulären Wirkungen war also in verneinendem
Sinne entschieden. Nun war noch die Vermutung möglich, es könnten
die von verschiedenen Punkten der Sonnenscheibe ausgehenden Strahlen
unter verschiedenen Winkeln in das Prisma eintreten und dadurch
eine abweichende Brechung erfahren. Newton maß daher alle bei dem
Versuch in Betracht kommenden Linien und Winkel; es fand sich, daß
die Breite des prismatischen Bildes genau dem scheinbaren Durch-
*) Neben der Optik kommen hier in Betracht die Abhandlungen in den
Philos. Transact. von 1672—1688. Die letzteren sind auszugsweise ins Deutsche
übersetzt in dem Werk: Abhandlungen aus den Philosophical Transactions.
1779, S.-192 ff.
**) Vgl. Poggendorff, Geschichte der Physik. 1879, S. 691.
376 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
messer der Sonnenscheibe entsprach, daß dagegen die Länge um mehr
als das Fünffache größer war. Außerdem zeigte sich, daß sehr geringe
Veränderungen in den Neigungen des Prismas ebenfalls nur sehr geringe
Verschiebungen des prismatischen Bildes bewirkten. Dadurch war die
vermutete Wirkung einer verschiedenen Neigung der einfallenden Licht-
strahlen beseitigt. Endlich blieb eine letzte Annahme zu prüfen: die
Lichtstrahlen könnten, analog einem elastischen Ball, der einen schrägen
Schlag erhalten hat, nach dem Durchtritt durch das Prisma infolge
einer möglicherweise stattfindenden Kombination fortschreitender und
drehender Bewegung krumme Linien beschreiben, wodurch die Licht-
teilchen infolge ihres Zusammenstoßes von den Orten größten nach
denen kleinsten Widerstands abgelenkt würden. Newton maß demnach
die Gestalt des prismatischen Bildes in verschiedenen Entfernungen
vom Prisma; dabei ergab sich aber, daß sich alle gebrochenen Strahlen
geradlinig fortpflanzten: auch diese Frage war also verneinend ent-
schieden. Nun blieb als einzige Auskunft die übrig, anzunehmen, daß
das Sonnenlicht in Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zerlegt
werde, und daß diese verschieden brechbaren Strahlen zugleich von ver-
schiedener Farbe seien. Um dies zu prüfen, fing Newton das prismatische
Bild auf einem Schirm auf, in welchem ein kleines Loch angebracht
war, durch das nur ein kleiner Teil des gebrochenen Lichtes hindurch-
treten konnte. Hinter dem Loch befand sich ein zweites Prisma, in
welchem der hindurchgetretene Strahl abermals gebrochen wurde.
Verschob man nun den Schirm so, daß sukzessiv die einzelnen Farbe-
strahlen nach dem zweiten Prisma gelenkt wurden, so zeigte es sich,
daß sie in diesem eine verschieden starke Brechung erfuhren, das rote
Licht die schwächste, das violette die stärkste. Hiermit war die letzte
Frage bejahend entschieden: nach Ausschluß aller anderen Möglichkeiten
war bewiesen, daß das Sonnenlicht Strahlen von verschiedener Farbe
und Brechbarkeit enthält. Mit Recht hat Newton den Versuch, der
diesen Beweis erbrachte, und der im wesentlichen die noch heute ge-
läufige Form für die Darstellung der verschiedenen Brechbarkeit der
Farben ist, ein Experimentum crucis genannt. Wenn irgend einem, so
kann am ehesten demjenigen Versuch, der die Voruntersuchung ab-
schließt und der eigentlichen Untersuchung ein erstes allgemeines
Resultat zur näheren Analyse überliefert, die Rolle eines entscheidenden
Experimentes zuerkannt werden.
Zunächst suchte nun Newton das gewonnene Ergebnis durch ver-
schiedene Versuche zu bestätigen. Er kombinierte zwei Prismen in
solcher Weise, daß das erste, wie gewöhnlich, ein vertikal stehendes
Die physikalischen Methoden. 377
Farbenband entwarf, das zweite, das gegen jenes um 90° gedreht
war, das Spektrum nach der Seite ablenkte. Wären andere Bedingungen
als die verschiedene Brechbarkeit der verschiedenfarbigen Strahlen
wirksam, so würde in diesem Fall eine horizontale Verbreiterung des
Bildes durch das zweite Prisma zu erwarten sein; eine solche trat aber
nicht ein, und sie blieb auch dann aus, als durch ein hinzugefügtes drittes
und viertes Prisma sehr starke seitliche Ablenkungen des Bildes er-
zielt wurden. In einem weiteren Versuch brachte er zwei Öffnungen
übereinander in dem Fensterladen und vor jeder derselben ein Prisma
an, so daß zwei vertikal übereinander stehende Spektren entworfen
wurden. Ließ er nun aus beiden Prismen die gebrochenen Strahlen durch
ein drittes gehen, dessen brechende Kante vertikal gestellt war, so wurden
beide Spektren vollkommen gleichmäßig nach der Seite abgelenkt.
Eine weitere Modifikation des Versuchs mit zwei Spektren bestand
darin, daß er den zwei vor die beiden Öffnungen gestellten Prismen eine
Lage gab, bei der auf einem weißen Papier das rote Ende des einen
Spektrums dicht neben das violette des anderen zu liegen kam. Be-
trachtete er nun dasBild durch ein drittes Prisma, so erschienen das Rot
und Violett wegen ihrer verschiedenen Brechbarkeit durch einen
Zwischenraum getrennt. Von hier aus schritt Newton endlich zur
quantitativen Bestimmung der einzelnen Elemente der beobachteten
Erscheinung. Zu diesem Zweck mußten möglichst günstige Ver-
suchsbedingungen für die deutliche Entwerfung des Spektrums ge-
troffen werden. Das Zimmer wurde stark verdunkelt, das durch eine
Ladenöffnung eintretende Sonnenlicht durch eine Linse gesammelt
und unmittelbar hinter dieser das Prisma aufgestellt, welches, am Rand
mit schwarzem Papier bedeckt, einen brechenden Winkel von 65—70°
hatte und aus reinstem Glase oder aus Spiegelglasplatten, zwischen
welche Bleizuckerlösung gebracht war, bestand. In dem auf einem
weißen Papier aufgefangenen Spektrum wurden dann die Grenzen der
einzelnen Farben durch gerade Linien bezeichnet. Die Distanzen
dieser Linien konnten den Unterschieden des Brechungssinus propor-
tional gesetzt werden. Nachdem das Brechungsverhältnis der am
stärksten und der am wenigsten brechbaren Strahlen für sich ermittelt
war, ergab sich daher nun das aller anderen.
Nicht immer ist es nötig, daß alle Fragen, die sich im Laufe der
Untersuchung ergeben, so wie in dem erörterten Beispiel auf experimen-
tellem Wege erledigt werden. Zuweilen lassen sich gewisse Vermutungen
a priori beseitigen, da sie zu Folgerungen führen, die mit bereits be-
kannten Erfahrungen im Widerspruch stehen. Für solche Teile der
378 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Untersuchung pflegt dann die mathematische die Stelle der experi-
mentellen Analyse zu vertreten. Insbesondere kann auf diese Weise
die Voruntersuchung teilweise oder ganz vom Gebiete der Physik auf
dasjenige der mathematischen Spekulation verlegt werden. Natürlich
findet dies namentlich in jenen Fällen statt, wo neue Tatsachen auf
Grund bereits bekannter vermutet oder vorausgesagt werden. Über-
haupt aber liegt hierin ein großer Vorzug, den der analytische Scharf-
sinn vor dem bloßen Beobachtungstalente voraus hat, daß er zur Er-
ledigung gewisser Fragestellungen gar nicht des Experimentes bedarf
und dadurch eine Menge unnützer experimenteller Arbeit zu ersparen
weiß. Es kann dann geschehen, daß der Beobachter sogleich mit der
richtigen Vermutung an die Untersuchung herantritt und diese mit
einem Experimentum crucis beginnen läßt. So beseitigte Galilei die zu
seiner Zeit verbreitete und anfänglich von ihm selbst geteilte Annahme,
die Geschwindigkeit frei fallender Körper nehme im Verhältnis des zu-
rückgelegten Weges zu, einfach durch den Nachweis, daß nach dieser
Voraussetzung die Körper beliebige Höhen von verschiedener Größe
in der nämlichen Zeit durchlaufen müßten. Ebenso aber prüfte er die
schließliche Annahme, daß die Geschwindigkeit im Verhältnis der ver-
flossenen Zeit zunehme, zuerst in Bezug auf alle ihre Folgen, ehe er zu
der Bestätigung durch den Versuch schritt. In noch anderen Fällen
kann der Gang der Analyse deshalb scheinbare Abweichungen darbieten,
weil die einzelne Untersuchung nur einen Teil einer zusammenhängenden
Reihe von Arbeiten bildet, die sich unter Umständen über lange
Perioden der wissenschaftlichen Forschung erstrecken. Hier füllt
dann natürlich die Arbeit des einzelnen Forschers nur eine einzelne
Lücke in dem größeren Zusammenhang aus, durch dessen Betrachtung
sich erst ein Überblick über den Gang der Analyse im ganzen gewinnen
läßt. Nimmt man zu dieser historischen Kontinuität der wissenschaft-
lichen Entwicklung noch das schon berührte Eingreifen der mathema-
tischen Analyse sowie die oft sich ereignende Tatsache hinzu, daß zur
Erreichung des nämlichen Zieles nicht selten verschiedene Wege bald
neben, bald nacheinander eingeschlagen werden, so wird es begreiflich,
daß es nicht wenige Analysen physikalischer Erscheinungen gibt, deren
vollständige Schilderung die geschichtliche Darstellung ganzer Gebiete
der Physik voraussetzen würde.
b. Diesynthetische Erzeugung der Naturerscheinungen.
Die Analyse der Erscheinungen kann für sich allein genügen,
um eine exakte Beschreibung derselben möglich zu machen. Ein Bei-
Die physikalischen Methoden. 379
spiel einer in dieser Beziehung vollständigen Analyse haben wir in New-
tons Untersuchung der Farbenzerstreuung kennen gelernt. Es kann sich
aber auch ereignen, daß diese Analyse ein mehrdeutiges Resultat liefert,
und daß zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die sie offen läßt,
auf analytischem Wege keine Entscheidung zu gewinnen ist. So kann
man z. B. bei der von Helmholtz gelehrten Analyse der Klänge mittels
Resonatoren, die auf die in dem Klang vermuteten Partialtöne ab-
gestimmt sind, sukzessiv jeden einzelnen der letzteren für das Ohr ver-
stärken und auf diese Weise den ganzen Klang in seine Bestandteile
zerlegen. Es bleibt aber hier der Einwand, der in der Tat erhoben worden
ist, in dem mit dem Ohr verbundenen verstärkenden Resonatorrohr
entständen möglicherweise erst die Töne, und sie seien also in dem ob-
jektiven Klang gar nicht enthalten. Im ersten dieser Fälle, wo die
Analyse für sich schon ein unzweifelhaftes Resultat liefert, wird
die Hinzufügung der synthetischen Untersuchung erwünscht sein,
da sie immerhin einen bestätigenden Wert besitzt und gegen etwa
übersehene Einwände sichert; im zweiten Fall, wo das analytische Er-
gebnis mehrdeutig ist, wird sie unerläßlich sein, da hier ein Ex-
perimentum crucis eigentlich erst auf dem synthetischen Wege mög-
lich ist.
Zur Bestätigung des analytischen Ergebnisses seiner Unter-
suchungen über das prismatische Spektrum hat Newton selbst schon
zwei Versuche von synthetischem Charakter ausgeführt: er hob erstens
die durch ein Prisma erhaltene Farbenzerstreuung wieder auf, indem
er entweder dicht hinter dem ersten ein zweites von derselben Be-
schaffenheit aber entgegengesetzter Lage anbrachte, oder indem er das
zerstreute Licht durch eine in einiger Entfernung befindliche Sammel-
linse treten ließ; in beiden Fällen wurde durch die Verbindung sämt-
licher Farbestrahlen wieder Weiß erhalten. Zweitens mischte er pul-
verige Pigmente in dem Verhältnisse, welches die Farben im Spektrum
zeigten, und gewann auf diese Weise ein graues oder bei starker Be-
leuchtung weißes Pulver. Diese Versuche enthalten nicht mehr als
eine weitere Bestätigung der auf analytischem Wege gewonnenen Er-
gebnisse. Der Hauptnutzen einer vollständig durchgeführten syntheti-
schen Untersuchung besteht aber darin, daß sie es am leichtesten mög-
lich macht, in willkürlicher Weise die qualitativen und quantitativen
Bedingungen der Erscheinungen zu variieren. In dieser Beziehung
hat zum Teil erst die auf Newton gefolgte Entwicklung der Optik seine
synthetischen Versuche vervollständigt. Dies ist namentlich unter
der Anwendung von zwei Methoden geschehen: erstens durch die
380 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Mischung von Spektralfarben in beliebiger Zahl und in beliebigen
Intensitätsverhältnissen, und zweitens durch die Mischung von Farben-
eindrücken mittels der zuerst von Musschenbroek angewandten rotieren-
den Scheiben. Hierdurch ist es möglich geworden, eine Reihe von Tat-
sachen zu ermitteln, die auf analytischem Wege niemals zu gewinnen
waren. So fand man mittels der synthetischen Methode, daß durch
Mischung zweier einander im Spektrum nahestehender Farben die
zwischenliegende Farbe erhalten wird, daß jede Farbe zusammen mit
einer bestimmten anderen, ihrer sogenannten Ergänzungsfarbe, Weiß
erzeugt; und die Vergleichung der in Bezug auf die Ergänzungsfarben
festgestellten Ergebnisse führte endlich zur Annahme der drei Grund-
farben als derjenigen drei einfachen Farben, aus denen alle möglichen
Farben samt dem Weiß durch Mischung entstehen können, eine An-
nahme, die schließlich ebenfalls direkt auf synthetischem Wege be-
stätigt wurde, indem man die drei Grundfarben in den verschiedensten
Mengeverhältnissen am Farbenkreisel mischte. Man sieht aus diesem
Verlauf, daß auch die synthetische Untersuchung aus einer Reihe von
Fragestellungen samt den darauf gesuchten und gefundenen Antworten
besteht. Diese Fragestellungen knüpfen im allgemeinen an zuvor ge-
wonnene Ergebnisse an, und sie zerfallen wieder in zwei Klassen: in
eine erste, bei der man einfach eine Umkehrung der vorher ausgeführten
Zerlegung der Erscheinungen verlangt, und in eine zweite, bei der eine
genauere Bestimmung und Messung der Erscheinungen mit Rücksicht
auf ihre Faktoren gefordert wird.
Dieses Verhältnis zwischen analytischer und synthetischer Methode
wird nur in jenen schon oben (S. 370) berührten Fällen verschoben,
wo nicht eine unmittelbar gegebene Erscheinung Gegenstand der
Untersuchung ist, sondern wo die Existenz einer noch unbekannten
aus irgendwelchen Gründen vermutet wird, und es sich nun vor
allem um die Herstellung der Bedingungen zur Erzeugung der Er-
scheinungen handelt. Hier ist der vermutete Erfolg in der Regel
von zusammengesetzter Art, und er muß durch die Kombination be-
stimmter, bis jetzt noch nicht in ihrer Verbindung beobachteter Be-
dingungen hergestellt werden. So begannen Oersted, als er die Wirkung
des elektrischen Stromes auf die Magnetnadel, und Faraday, als er die
Wirkung des Magnetes auf das polarisierte Licht nachzuweisen ver-
suchte, mit einem synthetischen Verfahren. In beiden Fällen schloß
sich dann erst an die Entdeckung der Erscheinung die Analyse der-
selben an.
Die physikalischen Methoden, 381
c. Die physikalische Induktion.
Bei der Analyse der Naturerscheinungen ist der Gegenstand der
Untersuchung die einzelne Erscheinung. Die Analys: ist
vollendet, wenn sie dieselbe in ihre sämtlichen Bestandteile zerlegt und
damit alle bei ihr vorkommenden Bedingungen ermittelt hat. Ebenso
bezieht sich die synthetische Erzeugung unmittelbar nur auf einzelne
Tatsachen, jedoch mit dem Unterschiede, daß sie den Gang der
Analyse umkehrt, indem sie durch die Kombination bestimmter Er-
scheinungen andere hervorbringt, die entweder durch eine vorange-
gangene Analyse in jene zerlegt worden sind, oder von denen man aus
irgendwelchen Gründen vermutet, daß sie aus ihrer Verbindung ent-
stehen können. Das Ziel beider ist daher die vollständige Kenntnis
aller Einzeltatsachen, aus denen sich eine Erscheinung zusammensetzt,
und der Art ihrer Verbindung. Hiermit ist nun aber der Zweck der
physikalischen Untersuchung noch nicht erreicht. Diese will dem logi-
schen Erklärungsbedürfnis Genüge leisten, indem sie aus den einzelnen
Ergebnissen allgemeine Naturgesetze gewinnt, aus denen wiederum
die Erscheinungen selbst als notwendige Folgen abgeleitet werden
können. Letzteres Geschäft fällt nun nicht der Analyse und Synthese als
solchen zu, sondern der physikalischenInduktion, welche
dabei die ersteren als Hilfsmittel verwendet. Nichtsdestoweniger kann
auch hier über die logischen Grenzen dieser Methoden kein Zweifel
sein, da die Zerlegung oder Zusammensetzung einer Erscheinung und
die Gewinnung allgemeiner Sätze aus einzelnen Tatsachen sehr ver-
schiedene Prozesse sind, deren logisches Verhältnis es begründet, daß
die beiden ersten dem letzteren vorausgehen müssen. Insofern die
Gesetze, die sich als Resultate von Induktionen ergeben, die verschieden-
sten Grade der Allgemeinheit besitzen können, ist es aber begreiflich,
daß die Induktion nicht etwa bloß das Geschäft der Untersuchung ab-
schließt, indem sie aus den Ergebnissen einer Reihe von Analysen
und Synthesen einen allgemeinen Satz ableitet, sondern daß sie nicht
selten schon ein einzelnes analytisches oder synthetisches Resultat
in ein Gesetz umformt, dessen weitere Prüfung und Verallgemeinerung
sie dann der ferneren Untersuchung überläßt. Doch ist in solchen Fällen
das Resultat der Analyse von der daran geknüpften Induktion logisch
immerhin leicht zu unterscheiden; auch hat der aufgestellte Satz, so
lange die weitere Prüfung nicht eingetreten ist, immer nur einen hypo-
thetischen Wert. So war es zunächst eine Hypothese, wenn Newton
auf das analytische Resultat, daß das Prisma einen Sonnenstrahl in
389 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
farbige Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zerlegt, den Satz
gründete, daß das Sonnenlicht aus Farbestrahlen zusammengesetzt
sei. Wäre z. B. der Versuch, durch die Mischung der Spektralfarben
wieder Weiß zu erzeugen, dauernd mißlungen, so würde es nötig ge-
worden sein, zu einer anderen Voraussetzung zu greifen und diese
durch weitere Versuche zu prüfen. In diesem Fall bestand also der
nächste Schritt zum Vollzug der Induktion in der Umkehrung des ana-
lytischen Verfahrens, in der Synthese des weißen Lichts durch Farben-
mischung. Weitere Unterstützung fand dann die Induktion in der be-
reits von Newton selbst unternommenen Analyse der Körperfarben
mittels des Prismas und späterhin in den Resultaten, welche die Unter-
suchung der unter anderweitigen Bedingungen, wie bei der Beugung
und Interferenz, auftretenden Farbenerscheinungen lieferte.
Wie die Analyse der Erscheinungen nicht seiten von einer zu-
fälligen Wahrnehmung ausgeht, so pflegt die Induktion an das Resul-
tat einer ersten Analyse anzuknüpfen und von diesem aus den ganzen
Gang der weiteren Untersuchung zu lenken. Die Induktion bestimmt
so die Reihe der Fragestellungen und dadurch die Ordnung, in
welcher die einzelnen analytischen und synthetischen Untersuchungen
ausgeführt werden. Diese können an und für sich betrachtet sehr voll-
kommen, und dennoch kann die daran geknüpfte Induktion fehler-
haft sein — sei es, daß die Resultate in unrichtiger Weise verknüpft
wurden, oder daß man nicht alle einzelnen Versuche ausgeführt hat,
die zum Vollzug einer triftigen Induktion erforderlich sind. So ist
Newtons Untersuchung der Farbenzerstreuung ein Muster vorzüglicher
Analyse. Dagegen war es eine fehlerhafte Induktion, als erauf die
Messung der Farbenbänder des prismatischen Spektrums den Schluß
gründete, die Raumverhältnisse der sieben prismatischen Farben ent-
sprächen den relativen Saitenlängen der phrygischen Tonleiter. Hier
versäumte er es, das an seinen Prismen gewonnene Resultat durch Ver-
suche mit verschieden brechenden Substanzen zu prüfen, d. h. die
Analyse der einen Erscheinung durch weitere Analysen ähnlicher Er-
scheinungen unter veränderten Bedingungen zu vervollständigen. In
dieser Beziehung wurde die Untersuchung erst durch Dollond zu
Ende geführt, der die Abhängigkeit der Farbenzerstreuung von der
brechenden Substanz des Prismas und damit zugleich die Unrichtigkeit
der Induktion Newtons nachwies*).
Auch die physikalische Induktion kann sich in den drei Stadien
*) Dollond, Philos. Transact. Vol. X, p. 733.
Die physikalischen Methoden. 383
vollziehen, die wir als die Stufen einer vollständigen Induktion kennen
lernten: in der Aufstellung empirischer Gesetze, der Verallgemeinerung
der letzteren und der Ableitung von Kausalgesetzen zum Zweck der
logischen Verbindung der Tatsachen. (Vgl. Abschn. I, S.25ff.) Aber
die Tendenz der Erklärung, die von Anfang an die physikalische Wissen-
schaft erfüllt, drängt hier rasch über die beiden ersten Stadien hinweg
und verursacht, daß man namentlich bei den einfacheren Naturerschei-
nungen sofort den empirischen Resultaten eine kausale Interpretation
zu geben sucht. Diese Überholung der ersten Induktionsstufen ist natür-
lich umso auffallender geworden, je mehr sich durch den Fortschritt
der Wissenschaft überall in bereits festgestellten Kausalgesetzen Be-
ziehungen darboten, an die neue Ergebnisse anknüpfen konnten. Wäh-
rend daher in den vorangegangenen Jahrhunderten immerhin so ein-
fache Gesetze wie das Snellsche Brechungsgesetz des Lichtes oder
das Boylesche Gesetz der Zusammendrückbarkeit der Luft zunächst
als rein empirische Formulierungen auftraten, besitzt gegenwärtig der
Ausdruck empirisches Gesetz in der Physik geradezu die
Nebenbedeutung einer regelmäßigen Beziehung, die wegen ihrer ver-
wickelten Beschaffenheit vorläufig einer kausalen Analyse unzugänglich
ist. Durch diesen raschen Übergang zur kausalen Betrachtung ist in
der Physik weit mehr als in anderen Erfahrungswissenschaften die In-
duktion in innige Verbindung mit der Deduktion getreten, von der sie
sich nur durch den provisorischen Charakter der hinsichtlich
der kausalen Beziehungen aufgestellten Hypothesen und durch die zur
Prüfung dieser provisorischen Hypothesen eingeschlagenen Methoden
unterscheidet.
Die Hypothese schließt demnach nicht, wie zuweilen angenommen
wird, das Geschäft der Induktion ab, sondern auf physikalischem
Gebiete begleitet sie dieselbe in der Regel während ihres ganzen Ver-
laufes. Die Aufstellung der Hypothesen wird schon vorbereitet inner-
halb jener Analyse der Erscheinungen, welche die der eigentlichen In-
duktion vorausgehende exakte Beschreibung der Tatsachen vermittelt.
Denn hier bereits besteht die Analyse in der Prüfung von Vermutungen,
die durch bestimmte experimentell zu lösende Fragestellungen an die
Hand gegeben sind. Ein wichtiger Unterschied liegt nur darin, daß sich
diese Vermutungen zunächst bloß auf das Wie, nicht aber auf das
Warum der Erscheinungen beziehen. Die Vermutung wird erst in
dem Augenblick zur Hypothese, wo sie die Frage nach den Ursachen des
Geschehens in sich schließt. Die Erfordernisse einer brauchbaren
provisorischen Hypothese bestehen nun darin, daß diese einerseits dem
384 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
durch die exakte Beschreibung gegebenen Inhalt der Erscheinung selbst
oder (bei erst zu entdeckenden Erscheinungen) dem Inhalt des die Hypo-
these liefernden verwandten Erscheinungsgebietes angepaßt ist, und
daß sie anderseits mit den allgemeinen Prinzipien der Naturerklärung
übereinstimmt. Hiermit bleibt immer noch für die Gestaltung der
Hypothesen ein weiter Spielraum, und es ist daher begreiflich, daß
namentlich im Anfang einer physikalischen Untersuchung verschiedene
gegeneinander kämpfen können. . Gerade hierin liegt jedoch ein wesent-
liches Hilfsmoment der Induktion, indem die widerstreitenden An-
schauungen zur Aufsuchung von Tatsachen anregen, die zwischen ihnen
entscheiden. So hat die Optik ihre größten Fortschritte gemacht in der
Zeit, da die Emanations- und Undulationshypothese um die Herrschaft
stritten. Voltas Fundamentalversuche über die Entstehung der Elek-
trizität durch den Kontakt der Metalle verdanken ihre Anregung der
Bestreitung der Hypothese Galvanis von dem tierischen Ursprung des
galvanischen Stroms; später hat der Streit der Kontakt- mit der che-
mischen Hypothese dem nämlichen Gebiet wichtige Untersuchungen
zugeführt. Übrigens wird durch eine in rein deskriptiver Absicht unter-
nommene vorläufige Analyse der Erscheinungen die Zahl möglicher
Annahmen immer bereits erheblich eingeschränkt; darum ist es schon
aus diesem Grunde wünschenswert, daß der eigentlichen Induktion wo
möglich eine bis zur exakten Beschreibung des Tatbestandes führende
Analyse vorausgehe.
Die Prüfung der provisorischen Hypothesen besteht
sodann aus einer Reihe analytischer und synthetischer Untersuchungen,
die zunächst einen vorwiegend qualitativen Charakter besitzen.
Ist für ein bestimmtes Gebiet von Erscheinungen eine größere Anzahl
sich gegenseitig ausschließender Hypothesen aufgestellt, so repräsentiert
jede derselben einen als möglich angenommenen Kausalkomplex. Um
unter diesen ursächlichen Momenten das geeignete wählen zu können,
genügt es im allgemeinen, bestimmte Bedingungen einzuführen oder
hinwegzulassen; und wo dabei eine quantitative Abstufung der Be-
dingungen nötig wird, da ist immerhin eine genaue Messung in diesem
Stadium der Untersuchung noch nicht erforderlich. Die hauptsäch-
lichste Schwierigkeit bei der Ermittlung der ursächlichen Bedingungen
einer Erscheinung liegt daher inder Komplikation der Be-
dingungen. Die Umstände, unter denen eine Naturerscheinung
zur Beobachtung kommt, sind meistens sehr zahlreich; die wichtigste
Aufgabe des induktiven Verfahrens besteht deshalb in einer Variation
dieser Umstände, welche darauf gerichtet ist, die wesentlichen von
Die physikalischen Methoden. 385
den unwesentlichen zu sondern und für die ersteren wiederum die
Beziehungen nachzuweisen, in denen sie zu den einzelnen Teilen des
beobachteten Phänomens stehen. Die allgemeine logische Regel, die
hierbei maßgebend ist, läßt sich hieraach folgendermaßen aus-
sprechen:
UnterdeneineErscheinungbegleitenden Um-
ständen sind diejenigen als wesentliche Bedin-
gungen derselben anzusehen, deren Beseitigung
dieErscheinung selber beseitigt,und deren quan-
titative Veränderung eine quantitative Verän-
derung der Erscheinung herbeiführt.
Diese Regel weist auf zwei experimentelle Methoden hin, die wir
kurz als Elimination und als Gradation der Bedin-
gungen bezeichnen können. Die Eliminationsmethode wird, wo es
möglich ist, zuerst angewandt, und die Gradationsmethode dient dann
zur weiteren Bestätigung der Ergebnisse. Die erstere Methode kann
wieder in zwei verschiedenen Formen zur Anwendung kommen: ent-
weder direkt, indem man die zu eliminierenden Umstände völlig
beseitigt, oderindirekt, indem man diese konstant erhält, während
alle anderen Bedingungen sukzessiv verändert werden*).
*) Abweichend von dem oben aufgestellten Induktionsgesetz und in
näherem Anschlusse an die Baconischen Vorschriften haben JohnHerschel
und John Stuart Milleine größere Zahl logischer Regeln für die experi-
mentelle Forschung entwickelt. (Herschel, Über das Studium der Natur-
wissenschaft. Deutsch vonHenrici. Göttingen 1836, S.156f.;Mill, Logik, I,
S. 453 ff.) Millnamentlich hat fünf Methoden angegeben, von denen die erste
und zweite, die er als Methoden der Übereinstimmung und des Unterschieds
bezeichnet, den positiven und negativen Instanzen, die fünfte, als die Methode
der begleitenden Veränderungen, der Tabula graduum bei Bacon entspricht. Die
dritte und vierte Regel dagegen sind nur Spezialisierungen der zweiten, so daß
diese Vorschriften im wesentlichen auf die Baconischen zurückführen, mit dem
Unterschiede, daß sie nicht eine streng sukzessive Anwendung der drei Grund-
regeln verlangen, sondern ein wechselndes Ineinandergreifen derselben zugeben,
während sie freilich, wie schon Bacon, die maßgebende Bedeutung provisori-
scher Hypothesen verkennen. Prüft man nun aber die Beispiele, die die An-
wendung dieser Methoden erläutern sollen, so zeigt es sich sogleich, daß die
Regel der Übereinstimmung in keiner Weise zu einer Induktion verhelfen kann,
sondern daß bei ihr immer schon zugleich eine Anwendung der Unterscheidungs-
methode stattfindet. So soll in dem von Herschel angeführten, der Inter-
pretation nach Baconischen Regeln besonders günstigen Beispiel der Theorie
der Taubildung die Methode der Übereinstimmung darin ihre Anwendung
finden, daß man als übereinstimmende Eigenschaft aller betauten Körper ihre
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 25
386 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Nachdem die Ursachen festgestellt sind, die sich bei dem Eintritt
der Erscheinungen wirksam erweisen, müssen nun diese Ursachen in
genau meßbarer Weise quantitativ variiert und gleichzeitig
die quantitativen Veränderungen der untersuchten Vorgänge durch
messende Beobachtungen ermittelt werden. Diese Aufgabe gestaltet
sich verhältnismäßig einfach in den Fällen, wo eine Erscheinung auf
eine einzige ursächliche Bedingung zurückgeführt werden kann; sie
kältere Beschaffenheit im Vergleich mit der umgebenden Luft feststellte. Das
Wesentliche dieses Verfahrens ist aber offenbar gar nicht die Ermittlung einer
Übereinstimmung, sondern die eines Unterschieds, nämlich des Temperatur-
unterschieds, der eine konstante Bedingung der Taubildung ist. Daß diese
Bedingung an vielen Körpern beobachtet wurde, ist von verhältnismäßig unter-
geordneter Bedeutung; am allerwenigsten läßt sich aber eine solche Sammlung
übereinstimmender Beobachtungen als eine besondere Methode der Überein-
stimmung auffassen, da hier die Häufung von Beobachtungen lediglich das
Mittel ist, um die Konstanz der betreffenden Bedingung festzustellen, und daher
bei jedem methodischen Verfahren wiederkehrt. Ebenso zeigt dieses Beispiel,
daß sich mit der Methode der Unterscheidung meistens von selbst diejenige der
gradweisen Abstufungen verbindet, da sich hier unmittelbar an die Konstatierung
des Temperaturunterschieds die Beobachtung der steigenden Effekte dieses
Unterschieds anschließt. Elimination und Gradation sind eben zwei nicht nur
nach ihrem logischen Zweck, sondern auch in Bezug auf ihre äußere Anwendung
einander nahe verwandte und bei einem bestimmten Punkte völlig ineinander
übergehende Methoden. Aus diesem Grunde erscheint es angemessen, beide,
wie es oben geschehen ist, einer einzigen Grundregel der Induktion unterzu-
ordnen. Wie in dem hier angeführten, so läßt es sich bei allen andern von
Mill benützten Beispielen leicht zeigen, daß in die Methode der Übereinstim-
mung bereits die Differenzmethode hereinreicht, und daß aus ihr (oder viel-
mehr teils aus der Elimination, teils aus der Gradation der begleitenden Um-
stände) immer die eigentliche Induktion entspringt. So ist für Liebigs
Theorie der schädlichen Wirkung der Metallgifte das nächste Motiv nicht dies,
daß die Lösungen schwerer Metalle innerhalb des Organismus ebenso wie außer-
halb desselben mit den Gewebsstofien Verbindungen eingehen, welche der Fäulnis
widerstehen, sondern die Tatsache, daß solche Verbindungen erfahrungsgemäß
zu den Funktionen des Stofiwechsels unfähig sind. Bei der Feststellung der
Gesetze der Induktion durch statische Elektrizität soll das Verfahren der Über-
einstimmung darin bestehen, daß man nachwies, wie in allen Fällen, in welchen
ein Konduktor mit einer bestimmten Elektrizität geladen ist, eine in der Nähe
befindliche leitende Fläche die entgegengesetzte Elektrizität annimmt. Hier
liegt das Wesen der logischen Induktion abermals nicht in der Sammlung über-
einstimmender Fälle, sondern einerseits in der Vergleichung des durch Influenz
geladenen Leiters mit seinem vorherigen neutralen Zustande, anderseits in dem
Nachweis, daß es niemais möglich ist, eine der beiden Elektrizitäten abzuleiten,
ohne daß zugleich die andere entladen wird. Das erste beruht aber so gut wie
das zweite auf einer Anwendung der Differenzmethode.
Die physikalischen Methoden. 387
wird verwickelter, wenn mehrere Ursachen ineinander eingreifen.
Hier muß dann jede einzelne Ursache für sich unabhängig verändert
und ihr Einfluß quantitativ bestimmt werden. Es findet dabei abermals
das Eliminations- und Gradationsverfahren seine Anwendung, das
erstere meistens in der Form der Konstanterhaltung der übrigen Be-
dingungen. Wo es nicht möglich ist, eine einzelne Ursache isoliert zu ver-
ändern, da ist auch die Induktion für sich nicht ausreichend, das kom-
plexe Gesetz der Erscheinung in die einfacheren Gesetze aufzulösen,
aus denen es sich zusammensetzt. In solchen Fällen müssen dann ent-
weder hypothetische, wo möglich an anderweitige Erfahrungen sich
anlehnende Voraussetzungen über die Verbindung der Ursachen ein-
geführt werden, oder man ist genötigt, das komplexe Gesetz lediglich
als einen die zusammengesetzte Erfahrung repräsentierenden Ausdruck
stehen zu lassen. Derartige Gesetze pflegen, wie schon oben be-
merkt, speziellempirische Gesetze genannt zu werden. Wegen
ihres verwickelten Charakters ist in der Regel bei ihnen eine Verall-
gemeinerung durch Verknüpfung mit Induktionen verwandten Inhalts
unausführbar. Denn wenn es sich auch leicht ereignen kann, daß ver-
schiedene empirische Gesetze eine ähnliche Form besitzen, so weist
dies doch immer nur auf eine ähnliche Entstehung aus einfacheren
Gesetzen hin; es ist aber darum nicht gestattet, die einzelnen kom-
plexen Gesetze als Spezialfälle einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit auf-
zufassen. Dies ist dagegen regelmäßig der Fall, wenn die durch Induktion
gewonnenen Gesetze vermöge der isolierten Variabilität der Bedin-
gungen einen einfacheren Charakter besitzen. So lassen sich die Gesetze
der Reflexion, Beugung, Brechung und Interferenz des Lichtes ohne
weiteres mit den entsprechenden Schallgesetzen vereinigen. Wenn
dagegen eine beliebige zusammengesetzte Klangbewegung durch eine
ähnliche Reihe dargestellt werden kann wie die Fortpflanzung der
Wärme durch die Erdrinde, so läßt sich daraus über die innere Bezie-
hung der physikalischen Vorgänge nicht das geringste entnehmen.
Doch kann es geschehen, daß ein komplexes empirisches Gesetz dieser
Art durch eine weiter eindringende Analyse noch in einfache Gesetze
von kausaler Bedeutung zerlegt wird. Dies hat sich z. B. bei der Dar-
stellung der Klangbewegungen durch eine Sinusreihe ereignet, wo sich
ergab, daß die Glieder der letzteren als wirkliche Repräsentanten ein-
facher Schwingungsgesetze zu betrachten sind. An einer solchen Zer-
legung komplexer empirischer Gesetze pflegt dann die deduktive Methode
schon wesentlich beteiligt zu sein. Denn meist ist es die mathematische
Analysis, die in dem Funktionsausdruck des empirischen Gesetzes
383 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
einfachere Beziehungen nachweist, deren Übereinstimmung mit physi-
kalischen Gesetzen von allgemeinerer Bedeutung unmittelbar erkennbar
ist. Der experimentellen Untersuchung bleibt hier nur noch die Bestäti-
gung der etwa in die Voraussetzungen eingehenden Hypothesen oder
die Ermittlung bestimmter physikalischer Konstanten überlassen. So
zeigt es sich auch hier, daß vermöge der umfassenden Grundlagen, die
in den mechanischen Prinzipien und in den einfacheren Gebieten der
Physik für die Deduktion der Naturerscheinungen gegeben sind, bei
dem heutigen Zustande der Wissenschaft nur selten das Induktionsver-
fahren unvermischt angewandt wird. Am ehesten ist dies natürlich
noch bei solchen Untersuchungen der Fall, bei denen es sich zugleich
um die Entdeckung bisher unbekannter Erscheinungen handelt. Es
mag daher an einem klassischen Beispiel dieser Art der oben ge-
schilderte allgemeine Verlauf der physikalischen Induktion erläutert
werden: ich wähle hierzu die elektrische Induktion, mit be-
sonderer Rücksicht auf Faradays grundlegende Untersuchungen über
dieselbe.
Bei der Erzeugung statischer Elektrizität durch Reibung hatte
du Fay zuerst beobachtet, daß die Beschaffenheit der Elektrizität je
nach der Natur des geriebenen Körpers eine verschiedene sein könne,
da leicht bewegliche Körperchen sich abstießen, wenn die ihnen mit-
geteilte Elektrizität von einerlei Quelle herstammte, dagegen sich an-
zogen, wenn die Elektrizität verschiedenen Ursprungs, z. B. durch
Reiben von Glas und von Harz hervorgebracht war. Als man dann weiter-
hin beobachtet hatte, daß regelmäßig das Reibzeug eine andere Elek-
trizität annimmt als der geriebene Körper, so schloß Franklin, das
Wesen der Elektrizitätserregung bestehe in einer Übertragung von
Elektrizität, wobei der eine Körper, der positiv elektrische, einen Über-
schuß derselben aufnehme, der andere, der negativ elektrische, solche
abgebe; eine Bestätigung dieser Ansicht fand er darin, daß der Funke
nur von dem positiv auf den negativ elektrischen Körper übergehe,
nicht umgekehrt. Dagegen erhoben sich zunächst Bedenken aus Anlaß
der Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen. Konnte man auch
nach Franklins unitarischer Hypothese allenfalls begreifen, daß positiv
und negativ elektrische Körper sich anziehen und positiv elektrische
sich abstoßen, so war es doch kaum einzusehen, warum auch negativ
elektrische einander fliehen sollten. Diese Erwägungen bestimmten
Robert Symmer zur Aufstellung der dualistischen Hypothese,
welcher dann die zuerst von Wilke und Aepinus beobachteten Influenz-
erscheinungen vollends zum Sieg verhalfen. Diese zeigten, daß ein
Die physikalischen Methoden. 389
elektrischer Körper auf einen in seine Nähe gebrachten neutralen Leiter
derart einwirkt, daß auf der dem Körper zugewandten Seite ein ent-
gegengesetzter, auf der abgewandten ein gleichartiger elektrischer
Zustand entsteht. Hierdurch wurde man veranlaßt, die Anziehungs-
und Abstoßungserscheinungen elektrischer Körper auf die Anziehungen
und Abstoßungen der beiden Elektrizitäten zurückzuführen, die man
als eine neue Art unwägbarer Fluida ansah. Es lag dann aber auch die
Vermutung nahe, daß Erscheinungen, die der elektrischen Influenz
entsprächen, überall da auftreten würden, wo überhaupt eine Quelle
von Elektrizitätserregung gegeben sei. Diese Vermutung fand eine
Stütze in Oersteds Entdeckung der bewegenden Wirkung des galva-
nischen Stromes auf die Magnetnadel und in den an diese Entdeckung
sich anschließenden Beobachtungen im Gebiet des Elektromagnetismus.
Nachdem zuerst durch Aragos und dann besonders durch Faradays
Versuche nachgewiesen war, daß Stahl und Eisen durch einen elektri-
schen Strom in den magnetischen Zustand übergeführt werden können,
nachdem ferner Ampere gezeigt hatte, daß ein bewegter Magnet auf
einen in der Nähe befindlichen beweglichen Stromleiter, und daß ebenso
zwei bewegliche Stromleiter aufeinander eine bewegende Wirkung
äußern, die von der Richtung der Ströme bezw. der Bewegungsrichtung
der Magnetpole abhängt, war die Vermutung gerechtfertigt, daß auch
ein elektrischer Strom oder ein Magnetpol in benachbarten leitungs-
fähigen Körpern eine elektrische Verteilung hervorbringen werde.
Diese Vermutung gründete sich demnach teils auf das allgemeine
Prinzip der Korrespondenz von Wirkung und Gegenwirkung, teils auf
eine erwartete Analogie mit den statisch-elektrischen Erscheinungen.
War der elektrische Strom fähig, Magnetismus zu erregen, so konnte
man annehmen, daß auch umgekehrt der Magnetismus auf einen benach-
barten Leitungsdraht stromerregend wirken könne. Da man ferner
auf statisch-elektrischem Gebiete von den Anziehungs- und Abstoßungs-
erscheinungen elektrischer Körper aus zu der Fähigkeit der letzteren
auf umgebende Leiter eine verteilende Wirkung zu äußern gelangt
war, so war auch zu erwarten, daß der wechselseitigen bewegenden
Wirkung von Magneten und durchströmten Leitern eine verteilende
Wirkung elektrischer Ströme und Magnete auf benachbarte Konduktoren
entsprechen werde. Dies waren die Gesichtspunkte, von denen Faraday
bei seiner Untersuchung ausging, bei der es sich demnach zunächst
um eine Aufsuchung der vermuteten Erscheinungen und dann um die
nähere Analyse derselben handelte. Die Untersuchung selbst zerfällt
wieder in zwei logische Induktionen, von denen sich die eine auf die
390 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
volta-elektrische, die andere auf die magneto-elektrische Induktion
bezieht*).
Um verteilende Wirkungen durch den galvanischen Strom nach-
zuweisen, wickelte Faraday einen Kupferdraht in mehreren vonein-
ander isolierten Windungen auf einen Holzzylinder, überzog denselben
mit einer isolierenden Schichte und umgab dann die letztere mit einem
zweiten Kupferdraht: die Enden des ersten Drahts wurden mit einer
Voltaschen Säule, die des zweiten mit einem Galvanometer verbunden.
Es zeigte sich aber zunächst keine Wirkung auf die Magnetnadel. Erst
im Moment der Schließung und ebenso, als eine stärkere Batterie ge-
wählt wurde, im Moment der Öffnung derselben zeigte sich eine
schwache Ablenkung der Magnetnadel; dagegen blieb diese während
der Dauer der Schließung völlig ruhig. Diese Erscheinungen blieben
auch bei noch stärkeren Strömen ungeändert; zugleich erfolgte regel-
mäßig die Ablenkung bei der Öffnung in entgegengesetztem Sinne
als bei der Schließung, und sie war etwas schwächer. Faradays an-
fängliche Vermutung, daß der Strom während seiner Dauer eine ver-
teilende Wirkung ausüben werde, schien also der Berichtigung zu be-
dürfen; es handelt: sich aber noch darum, die sicher beobachtete
Schließungs- und Öffnungsinduktion durch weitere Versuche zu be-
stätigen. Zu diesem Zweck brachte Faraday die Enden des induzierten
Drahtes statt mit dem Galvanometer mit einer auf eine Glasröhre
gewickelten Drahtrolle in Verbindung: befand sich nun, während eine
Schließung oder Öffnung des Batteriestromes erfolgte, eine unmagnetische
Stahlnadel in der Glasröhre, so war dieselbe magnetisch geworden,
und zwar nahm sie bei der Öffnung entgegengesetzten Magnetismus
an als bei der Schließung; wurde aber die Nadel während der Dauer
des Stromes in die Glasröhre gebracht und vor der Öffnung wieder ent-
fernt, so zeigte sie keine Spur von Magnetismus. Ebenso ließ sich an
der Nadel des Galvanometers keine Ablenkung wahrnehmen, wenn die
Verbindung während der Dauer des Stromes erfolgte. Zur weiteren
Bestätigung der sich hieraus ergebenden Bedingungen der Induktions-
wirkung wurden endlich zwei Kupferdrähte in langen Zickzackbie-
gungen auf zwei getrennten Brettern befestigt; der eine Draht wurde
mit der Batterie, der andere mit dem Galvanometer verbunden: als
nun das eine Brett dem anderen rasch genähert wurde, zeigte das
*) Vgl. namentlich die erste und zweite Reihe von Faradays elek-
trischen Untersuchungen. Philos. Transact. 1832. Poggendorfs Annalen
d. Physik, Bd. 25, S. 91 u. 142 ff,
Die physikalischen Methoden. 391
Galvanometer einen Strom an, einen entgegengesetzten bei der Ent-
fernung; solange dagegen beide Drähte in konstanter Nähe blieben,
war kein Strom wahrzunehmen. Bei der Näherung der Drähte war die
Richtung des induzierten Stromes die nämliche wie bei der Schließung,
und in beiden Fällen hatte der erregte Strom die entgegengesetzte
Richtung wie der erregende. Umgekehrt verhielt es sich bei der Ent-
fernung der Drähte oder der Öffnung der Kette. Aus allen diesen Tat-
sachen ergab sich demnach durch logische Induktion der Satz: das
Entstehen eines galvanischen Stromes erregt in einem benachbarten
geschlossenen Leiter einen kurzdauernden elektrischen Strom von ent-
gegengesetzter Richtung, das Verschwinden eines Stromes erregt einen
ähnlichen Strom von gleicher Richtung.
Um nun die Fundamentalerscheinungen der magneto-elektrischen
Induktion aufzufinden, umwickelte Faraday einen starken Ring aus
Schmiedeeisen mit zwei von isolierenden Hüllen umgebenen Kupfer-
drähten, die einander so gegenüberlagen, daß zwischen ihnen eine
zolllange Strecke Eisen unbedeckt blieb. Die Enden des einen Drahtes
konnten mit einer galvanischen Batterie, die des anderen mit einem
Galvanometer verbunden werden. Auch hier zeigte sich im Moment
der Schließung und Öffnung eine Wirkung, und zwar war dieselbe
weit stärker als bei der volta-elektrischen Induktion, so daß, wenn an
den Enden des zweiten Drahtes Kohlenspitzen angebracht waren,
zwischen denselben bei ihrer Näherung ein starker Funke übersprang.
Zum Behuf der genaueren Vergleichung der volta-elektrischen und
der magneto-elektrischen Induktion wurde jetzt ein hohler Pappzylinder
mit zwei isoliert gewundenen Drahtlagen umgeben, von denen wieder
eine mit einer Kette, die andere mit dem Galvanometer in Verbindung
stand: es erfolgte beim Schließen und Öffnen der Kette eine kaum
merkliche Wirkung; als aber ein Zylinder von weichem Eisen in die
Pappröhre gesteckt wurde, war diese Wirkung sehr bedeutend. Ähn-
- liche Wirkungen wie die Elektromagnete übten natürliche Magnete
sowie der Erdmagnetismus aus, und zwar zeigte es sich, daß, wenn ein
Kupferdraht einem Magnete genähert wurde, die Richtung des indu-
zierten Stromes derjenigen entgegengesetzt war, die nach Amperes
Theorie in dem Magnete selber anzunehmen ist. Unter diesen Voraus-
setzungen ließen sich also die Tatsachen der magneto-elektrischen einfach
dem Gesetz der volta-elektrischen Induktion unterordnen. Beide Ent-
stehungsweisen der Induktion variierte endlich Faraday, indem er ver-
schiedene Metalle zur Verfertigung des induzierten Leiters wählte: es
ergab sich, daß in allen Fällen die Erscheinungen in gleicher Weise auf-
393 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
traten, abgesehen von den Intensitätsunterschieden, die durch das
verschiedene Leitungsvermögen der Metalle für den Strom bedingt
waren.
Noch zu einer weiteren Folgerung gaben aber die Beobachtungen
über die Induktion eines vom Strom durchflossenen Leiters auf einen
anderen, der von ihm räumlich getrennt ist, Anlaß. Offenbar war man
nämlich berechtigt zu vermuten, daß die einzelnen voneinander iso-
liertten Windungen eines Kupferdrahtes auch eine wechselseitige In-
duktionswirkung ausübten. In der Tat glaubte Faraday, auf eine solche
Wirkung schon aus der Beobachtung schließen zu dürfen, daß ein in
vielen Spiralwindungen aufgerollter Schließungsdraht beim Öffnen der
Kette einen viel stärkeren Funken gibt als ein kurzer Schließungsdraht,
und er wies dann den durch Induktion des Leiters auf sich selbst ent-
stehenden Strom, den er den Extrastrom nannte, direkt nach,
indem er eine Induktionsspirale gleichzeitig mit einer galvanischen
Batterie und einem Galvanometer verband und die Einrichtung so
traf, daß die Magnetnadel desselben an der Ablenkung durch den
Batteriestrom durch eine angebrachte Hemmung verhindert wurde,
während der Extrastrom, dessen Wirkung in entgegengesetzter Rich-
tung erfolgte, auf sie einwirken konnte*).
Der hi:rauf folgende letzte Schritt aller auf die elektrische Induktion
sich beziehenden Untersuchungen, die Feststellung der quantitativen Ge-
setze der Erscheinungen, war bei der statisch-elektrischen Induktion mit
verhältnismäßig geringen Schwierigkeiten verbunden gewesen, da hier
der zeitliche Verlauf der Vorgänge außer Betracht bleiben konnte und
es also genügte, die Gesetze zu ermitteln, nach denen mit der Verän-
derung der Stärke der Ladung des Influenzerregers einerseits und der ver-
schiedenen räumlichen Bedingungen (Gestalt, Größe, gegenseitige Stellung
und Entfernung der Körper) anderseits die beobachteten Wirkungen sich
änderten. Diese Gesetze wurden bereits von Coulomb in seinen für die
quantitative Induktion mustergültigen Untersuchungen im wesent-
lichen vollständig erledigt. Nachdem er in der Drehwage ein zur Messung
anziehender oder abstoßender Wirkungen geeignetes Hilfsmittel auf-
gefunden, ermittelte er den Einfluß der Stärke der Ladung, indem er
dieselbe quantitativ variierte, alle übrigen Umstände aber konstant
erhielt; ähnlich stellte er den Einfluß der Entfernung der Körper fest,
ihrer Gestalt, der Existenz einer isolierenden Zwischensubstanz u. s. w.,
*) Faradays Untersuchungen, neunte Reihe. Philos. Transact. 1834.
Poggendorffs Ann. Bd. 35, S. 413. Jacobi, ebend. Bd. 45, S. 132,
Die physikalischen Methoden. 393
wobei er überall in gleicher Weise die Eliminationsmethode mit der
Gradationsmethode verband, nämlich die zu eliminierenden Einflüsse
konstant erhielt, während die speziell zu untersuchende Bedingung in
meßbarer Weise variiert wurde*). Ungleich schwieriger war die Unter-
suchung der volta-elektrischen und der magneto-elektrischen Induktion,
da es sich hier um einen Vorgang handelt, der in sehr kurzer Zeit ab-
läuft, in dieser Zeit aber stetige Veränderungen seiner Intensität er-
fährt. Faradays Untersuchung war daher auch im wesentlichen auf
den qualitativen Nachweis der Erscheinungen beschränkt geblieben.
Wollte man von hier aus zu quantitativen Bestimmungen übergehen,
so konnte an eine unmittelbare Messung des ganzen zeitlichen Verlaufs
der Induktionswirkung nicht gedacht werden, weil die Magnetnadel
eines Galvanometers ein allzu träges Werkzeug ist, als daß sie momen-
tanen Veränderungen zu folgen vermöchte, und es nur möglich schien,
den Gesamteffekt eines einzelnen Induktionsstromes durch ihre Ab-
lenkung zu messen. In diesem Falle ist es daher nötig gewesen, aus den
sonst bekannten Tatsachen erst ein hypothetisches Gesetz in mathe-
matischer Formulierung über den Verlauf der Induktionswirkung zu
entwickeln und dieses dann durch Messungen zu prüfen. Im Gegensatze
zu dem induktiven Weg, auf welchem Coulomb die Gesetze der stati-
schen Induktion feststellte, bildet daher diese allgemeinere Unter-
suchung der Induktionsgesetze ein Beispiel für jene Fälle, wo die Auf-
stellung quantitativer Gesetze zunächst ganz ein Problem der Deduk-
tion wird, und der experimentellen Untersuchung nur die Aufgabe der
Bestätigung und der Ermittlung der in der Theorie unbestimmt ge-
lassenen numerischen Werte zufällt.
Blicken wir auf die Gesamtheit der Untersuchungen zurück, die
dieses ganze Erscheinungsgebiet allmählich der Erkenntnis zugänglich ge-
macht haben, so bietet dieselbe beinahe für alle Variationen der logischen
Induktion, die oben erwähnt wurden, Belege dar. Die Untersuchung
der statisch-elektrischen Induktion geht aus von zufälligen Wahrneh-
mungen, die zu verschiedenen Hypothesen Anlaß geben, unter denen
allmählich die dualistische, verbunden mit der Annahme der Ferne-
wirkung der elektrischen Flüssigkeiten, den Sieg davonträgt. Auf
Grund dieser Hypothese unternimmt dann Coulomb die Feststellung
der quantitativen Gesetze der Influenz. Der Nachweisung der übrigen
Formen der Induktion ist ihre hypothetische Annahme vorangegangen.
Da man auch hier zunächst einen dauernden Einfluß des Stromes oder
*) Coulomb, Memoires del’Acad. Paris 1775. Vgl. Gehlers physi-
kalisches Wörterbuch, 2. Aufl., Bd. 3, 2. Abt., S. 690 fi.
394 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
des Magnetes auf den benachbarten Leiter vermutete, so fand die
provisorische Hypothese sofort in der Beobachtung der wirklichen
Erscheinungen ihre Berichtigung. Immerhin bedurfte es dazu einiger
Zeit. In Faradays anfänglicher Annahme, daß der induzierte Leiter
auch in der Zeit zwischen der Schließungs- und Öffnungsinduktion in
einem veränderten Zustand verharre, welchen er den „elektrotonischen
Zustand“ nannte, ist ein Reflex jener ursprünglichen Vermutung er-
halten geblieben; infolge der Erkenntnis, daß sich in dem genannten
Zustand die Eigenschaften der Metalle in nichts von ihren gewöhnlichen
unterscheiden, hat Faraday selbst später jene Annahme aufgegeben, An
die Nachweisung der qualitativen Erscheinungen der Induktion schloß
sich dann sofort die Verknüpfung der einander nahestehenden volta-
und magneto-elektrischen Induktion, die überdies durch die Ampere-
schen Beobachtungen und Theorien von anderer Seite her vorbereitet
war. Zur statisch-elektrischen Induktion blieb dagegen die Beziehung
so lange eine sehr allgemeine, bis eine eindringendere theoretische
Untersuchung der Induktionsgesetze vorgenommen war, und die letztere
hat in diesem Fall auch erst eine Bestimmung der quantitativen In-
duktionsgesetze möglich gemacht. Die Anwendung der allgemeinen
logischen Induktionsregel läßt sich durch alle diese Untersuchungen
verfolgen. So greifen in Faradays Arbeiten das Eliminations- und das
Gradationsverfahren fortwährend ineinander ein. Das letztere wendet er
an, indem er die Stärke des erregenden Stromes oder Magnetes, die
Zahl der Drahtwindungen verändert; das erstere, indem er eine un-
magnetische Nadel in die induzierte Rolle bald während der Schließung
oder Öffnung, bald nur während der Strom geschlossen ist bringt, oder
indem er die Effekte der induzierten Rolle bald mit der Einfügung von
Eisenstäben, bald ohne dieselbe prüft, u. s. w. Für die Anwendung
beider Methoden bei quantitativen Untersuchungen ist Coulombs Fest-
stellung der Influenzgesetze mustergültig. Er eliminiert die Bedingungen
der Erscheinungen meistens dadurch, daß er sie konstant erhält, während
die eine Bedingung, deren Einfluß ermittelt werden soll, gradweise
verändert wird. Nur bei der Feststellung des allgemeinen Gesetzes
der elektrischen Fernewirkung eliminiert er den Einfluß der Größe
und Gestalt der Körper, indem er die Entfernungen so groß wählt,
daß dagegen die Dimensionen der Körper verschwinden.
d. Die physikalische Abstraktion.
Nächst der Mechanik ist die Physik diejenige Naturwissenschaft,
die von dem Verfahren der Abstraktion den ausgiebigsten Gebrauch
‚Die physikalischen Methoden. ? 395
macht. Schon die Trennung der physikalischen Forschung von anderen
Zweigen der naturwissenschaftlichen Untersuchung ist ein spezieller
Fall derisolierenden Abstraktion (8. 12£.). Die Naturgegenstände
werden zu Objekten physikalischer Analyse, indem man übereinstim-
mende Erscheinungen, absehend von den sonstigen Eigenschaften der
Körper, an denen sie vorkommen, zergliedert. So können die Gesetze
der Lichtbrechung an beliebigen festen oder flüssigen durchsichtigen
Körpern untersucht werden; die Aggregatform, die elastischen, ther-
mischen und anderen Eigenschaften der auf ihr Brechungsvermögen
untersuchten Körper bleiben dabei zunächst ganz aus dem Spiele. Wie
die Unterscheidung der Physik von anderen Wissenschaften, so beruht
daher auch die Gliederung derselben in ihre einzelnen Zweige auf dem
nämlichen Abstraktionsverfahren. Schwere, Schall, Wärme, Licht u. s. w.
sind Klassen von Naturerscheinungen, bei deren jeder die übrigen so
viel als möglich außer Betracht bleiben. Ursprünglich ist diese Isola-
tion von den unmittelbaren Unterschieden der sinnlichen Wahrneh-
mung ausgegangen. Schwere und Wärme entsprechen den Empfin-
dungsqualitäten des Tastsinns, der Schall ist das Objekt des Ge-
hörs, das Licht das Objekt des Gesichtssinns. Elektrizität und Mag-
netismus legten zuerst eine Bresche in dieses System einer naiven physi-
kalischen Abstraktion; denn die Wirkungen jener Kräfte äußern sich
bald in diesem, bald in jenem Sinnesgebiet, während doch eine unmittel-
bare Zurückführung auf die anderen Naturkräfte zunächst unmöglich
schien. Dazu kamen die Beziehungen, die sich zwischen den verschie-
denen Erscheinungsgebieten, wie zwischen Licht und Schall, zwischen
diesem und den Wellenbewegungen der Flüssigkeiten, ergaben. Je
mehr die Physik dazu gelangt ist, bestimmte Anschauungen über die
Natur der den einzelnen Erscheinungen zu Grunde liegenden Bewe-
gungsformen schon bei ihren fundamentalen Abstraktionen zu ver-
werten, umsomehr haben daher jene ersten Gliederungen rationelleren
Einteilungsversuchen Platz gemacht, wenn auch für die erste Auf-
fassung des empirischen Tatbestandes die Scheidung nach den Sinnes-
gebieten insofern eine gewisse Bedeutung behält, als den verschieden-
artigen Sinneseinwirkungen tiefere Unterschiede der hypothetisch an-
genommenen oder objektiv nachweisbaren Vorgänge selbst entsprechen.
Auf die physikalische Abstraktion folgt ihre Umkehrung, die
Kolligation derelementaren Erscheinungen. Nach-
dem diese an einem gegebenen Objekt oder an einem bestimmten Zu-
sammenhang von Objekten jede für sich erforscht sind, sucht man
sich über die Art ihrer Verbindung Rechenschaft zu geben. In der
396 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Regel hat dabei eine Erscheinung den Vortritt, und die Untersuchung
der übrigen schließt sich erst an infolge der Fragen, die von jener aus
angeregt werden. Nachdem man z. B. die doppelbrechende Eigen-
schaft eines Kristalls erkannt hat, geht man zu der Untersuchung der
thermischen, elastischen und thermo-elektrischen Erscheinungen an
demselben über. Auf diese Weise gelangt die Physik durch die Ver-
bindung der Untersuchungen zu einer umfassenden Erkenntnis sowohl
der komplexen Naturerscheinungen wie der einzelnen Naturobjekte,
die auch als spezielle Formen komplexer Erscheinungen betrachtet
werden können. Dadurch arbeitet sie einerseits der naturhistorischen
Forschung in die Hände, der sich erst mit Hilfe der physikalischen
Untersuchung eine tiefere Einsicht in die Beschaffenheit der Natur-
objekte eröffnet; anderseits gewinnt sie Aufschluß über den Zusammen-
hang der einzelnen Erscheinungsgebiete und wird so zu allgemeineren
Vorstellungen über deren Substrat und zur Formulierung von Natur-
gesetzen geführt.
In allen diesen Beziehungen ist die physikalische Abstraktion
eine Weiterführung der in der Mechanik geübten Abstraktionsmethode,
und sie ist mit dieser der mathematischen Abstraktion am nächsten
verwandt. Von der letzteren trennt sie nur jenes besondere Merk-
mal des mathematischen Verfahrens, wonach dasselbe von dem physi-
schen Objekt überhaupt abstrahiert und bloß auf die zur Auffassung
desselben erforderliche intellektuelle Tätigkeit Rücksicht nimmt. Da-
gegen haben beide Abstraktionen dies miteinander gemein, daß sie nicht
generalisieren, sondern isolieren. Die Mathematik entnimmt den
sinnlichen Erscheinungen die in sie eingehenden begrifllichen Ele-
mente von allgemeingültigem Charakter, die Zahlwerte und Raum-
konstruktionen. Die in den letzteren bereits enthaltene Bewegungsan-
schauung aufnehmend, fügt dazu die Mechanik zwei auf alle physikalische
Erfahrung anwendbare Begriffe, die der Kraft und derMasse. Die physi-
kalische Abstraktion führt dann auf ihren verschiedenen Gebieten immer
nur zu speziellen Formen dieser Begriffe. Diesem Umstand verdankt
die Mechanik ihre Stellung als die allgemeinere, zunächst der Mathematik
untergeordnete Disziplin. Hinsichtlich des Ursprungs ihrer Begriffe
stehen aber Physik und Mechanik auf einem Boden: beide emp-
fangen die Anregung zu ihren Abstraktionen aus der objektiven
Erfahrung, und zwar ist hier die Physik die vorausgehende Wissen-
schaft, weil sie die speziellere ist. Auf die einzelnen Begriffe, welche die
Physik von den verschiedenen Formen der Materie und ihren Bewegungs-
gesetzen gewinnt, gründet die Mechanik durch eine generalisierende
Die physikalischen Methoden. 28397
Abstraktion jene allgemeinen Begriffe von Kraft und Masse, die sie zu
den geometrischen und phoronomischen Anschauungen hinzufügt. Da
sich diese Generalisation nur allmählich vollziehen konnte, so hat die
Mechanik in ihren Anfängen noch ganz den Charakter eines Zweigs
der Physik: sie fließt mit der Physik der Schwere zusammen und wird
aus dieser Verbindung erst unter dem Miteinfluß geometrischer und
phoronomischer Betrachtungen gelöst.
Mit der isolierenden vereinigt sich aber auch in der Physik die
generalisierende Abstraktion. Wie die Mechanik von allen einzel-
nen Kraftformen und von den spezifischen Unterschieden der materiellen
Substanz absieht, um bloß die allgemeinen Begriffe von Kraft und Masse
zurückzubehalten, so vollzieht sich innerhalb der Physik selbst schon
ein allmählicher Übergang von den besonderen zu den allgemeineren
Begriffen und Gesetzen. Für die wissenschaftliche Entwicklung der
Physik ist es charakteristisch, daß hier die Generalisation stets die
nachfolgende Abstraktionsform ist. Die Galileischen Fallgesetze,
die Keplerschen Gesetze sind Erzeugnisse einer isolierenden Abstrak-
tion, das Newtonsche Gravitationsgesetz dagegen ist durch eine Generali-
sation aus diesen Gesetzen hervorgegangen. Indem man das Gravita-
tionsgesetz hinwiederum mit anderen einzelnen Gesetzen der Ferne-
wirkung zusammennimmt, läßt sich daraus als letzte Verallgemeinerung
das Gesetz der Abnahme der fernwirkenden Kraft mit dem Quadrat
der Entfernung gewinnen. Der letztere Begriff gehört jedoch bereits der
allgemeinen Mechanik an, da in ihm von den besonderen Bedingungen
der einzelnen Naturerscheinungen abgesehen wird. Auf diese Weise
führt überhaupt die physikalische Generalisation stets bei einem be-
stimmten Punkte aus dem Gebiete der Physik in das der Mechanik.
Dieser Grenzpunkt ist daran leicht zu erkennen, daß über ihn hinaus
die Verallgemeinerung eine rein begriflliche wird, während, so lange sie
sich auf physikalischem Gebiete bewegt, der allgemeinere Begriff zu-
gleich eine reale Bedeutung besitzt, insofern er die gemeinsame Ursache
für eine Anzahl verschiedener Erscheinungen bezeichnet. So ist die
Gravitation die gemeinsame Ursache der irdischen Schwere und der
Planetenbewegungen; die nach dem umgekehrten Verhältnis des Qua-
drats der Entfernungen wirkende Kraft ist aber eine bloß begriffliche
Konzeption, der in der Wirklichkeit keine gemeinsame Ursache der Er-
scheinungen, die ihr subsumiert werden können, entspricht. Ebenso
beruht die Annahme einer Wellenbewegung des Äthers auf Grund der
Gesetze der Fortpflanzung des Lichts und der elektromagnetischen
Fernewirkungen auf einer realen Generalisation, der allgemeine Begriff
398 [Die Hauptgebiete der Naturforschung.
einer Wellenbewegung dagegen hat nur eine begriffliche Bedeutung,
und die Untersuchung der abstrakten Gesetze dieser Bewegung fällt
darum dem Gebiet der Mechanik anheim. In allen diesen Beziehungen
bewährt die Mechanik ihre vermittelnde Stellung zwischen der Physik
und den mathematischen Wissenschaften. Die Generalisationen der
Physik werden in dem Momente zu mechanischen Abstraktionen, wo
sie die unmittelbare Beziehung zu konkreten Erfahrungen verlieren,
und nur jene Reflexion auf die intellektuelle Form zurückbleibt,
die überall den Charakter der mathematischen Abstraktion ausmacht.
Von der reinen Mathematik unterscheidet sich aber die Mechanik
wiederum dadurch, daß ihre Abstraktionen nicht schon bei den all-
gemeinen Formen der Erfahrung beginnen, sondern erst an die spezifisch
physikalische Erfahrung, an die Wahrnehmung der verschiedenen
Formen natürlicher Vorgänge und ihre Beziehung auf gemeinsame
Ursachen, sich anschließen.
Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zur vorausgehenden isolierenden
Abstraktion hat die Generalisation der physischen Gesetze eine ge-
wisse Verwandtschaft mit der Umkehrung jenes ersteren Verfahrens,
mit der Kolligation. Beide führen in verschiedener Richtung die Unter-
suchung, die mit der Isolation begonnen, weiter, und beide sind Ver-
bindungsformen ursprünglich getrennter Untersuchungsgebiete, deren
charakteristischer Unterschied hauptsächlich darin liegt, daß nur die
Generalisation zugleich Abstraktion ist. Während die Kolligation
verschiedenartige Erscheinungen an demselben Objekt verbindet,
ohne dabei irgend einen Bestandteil dieser Erscheinungen zu eliminieren,
verknüpft die physikalische Generalisation gleichartige Erscheinungen
an verschiedenen Objekten, indem sie zugleich diejenigen Elemente
eliminiert, in denen sich die betreffenden Erscheinungen unterscheiden.
Übrigens kann auch die Kolligation zu neuen Abstraktionen Anlaß
bieten, indem sie aus der Regelmäßigkeit der Verbindung gewisser
Vorgänge allgemeinere Voraussetzungen gewinnt, die über diese Ver-
bindung Rechenschaft geben. So lassen sich z. B. die Erscheinungen
der Kohäsion, der Lichtbrechung, der Leitung der Wärme und Elektri-
zität, die ein Körper zeigt, vereinigen, um daraus ein allgemeines
Schema seiner Molekularstruktur zu gewinnen. Wesentlich gefördert
werden die auf solcher Grundlage ausgeführten Abstraktionen, wenn
es möglich ist, die verschiedenen Erscheinungsgebiete auch experimentell
zu verknüpfen, indem man also z. B. den Einfluß ermittelt, den die
Erwärmung des Kristalls auf seine optischen Eigenschaften ausübt.
In diesem auf die Kolligation folgenden Abstraktionsverfahren begegnet
Die physikalischen Methoden. 399
uns der Charakter der isolierenden Abstraktion wieder, jedoch mit
einer eigentümlichen Umgestaltung, die für die allgemeinsten Begriffe
der Physik bezeichnend ist. In den Vorstellungen über die Kon-
stitution der Körper, die zum Zweck der Erklärung der Erscheinungen
entwickelt werden, abstrahiert man nämlich von allen denjenigen
Eigenschaften der materiellen Substrate, die für die betreffende Er-
klärung nicht notwendig in Rücksicht gezogen werden müssen. In
diesem Sinne betrachtet die kosmische Gravitationstheorie die Welt-
körper als Punkte, in denen die von ihnen ausgehenden Wirkungen
konzentriert gedacht werden. Die Molekularphysik benützt schematische
Vorstellungen, in denen die zur Ableitung der einzelnen Tatsachen
notwendigen Voraussetzungen auf ihren einfachsten anschaulichen
Ausdruck gebracht sind. Sie betrachtet die Körper bald als absolut
homogene Massen, deren einzelne Teile Wirkungen aufeinander aus-
üben, die nach einem bestimmten Gesetze von ihren Entfernungen ab-
hängen, bald als Komplexe physischer Punkte, die anziehend oder ab-
stoßend aufeinander wirken, oder für die bestimmte Bewegungszustände
vorausgesetzt werden, u. s. w. In allen diesen Fällen ist man sich be-
wußt, daß solchen Abstraktionen höchstens eine annähernde Gültig-
keit für die Erfahrung zukommen kann. Die Abstraktion selbst ist
eine isolierende, insofern bei ihr ausschließlich auf die für die Er-
klärung der Erscheinungen wesentlichen Eigenschaften der Substanzen
Rücksicht genommen wird. Sie unterscheidet sich von jener Ab-
straktion, die den Anfang der physikalischen Untersuchung bildet,
dadurch, daß sie sich nicht auf die Erscheinungen selbst bezieht, sondern
auf die Voraussetzungen, die man zu ihrer Interpretation erforderlich
hält. Es herrscht daher bei dieser Abstraktion eine viel größere Willkür;
denn meist können abstrakte Voraussetzungen von verschiedener Be-
schaffenheit den empirischen Forderungen genügen. Namentlich aber
zeigt es sich, daß sich diese hypothetischen Abstraktionen unter dem
Einfluß der Kolligation der Tatsachen verändern. Indem die letztere
regelmäßige Beziehungen kennen lehrt zwischen ursprünglich getrennt
gehaltenen Erscheinungsgebieten, müssen auch die abstrakten Begriffe
über dasmaterielle Substratder Vorgänge jenen Beziehungen entsprechen.
Auf diese Weise entsteht schließlich die Forderung, die letzten Abstrak-
tionen der Physik so zu gestalten, daß in ihnen zwar keine überflüssige
Voraussetzung gemacht ist, daß sie aber doch über alle Erscheinungen
Rechenschaft geben, welche die wirklichen Naturkörper unserer Beob-
achtung darbieten.
Die Abstraktionen dieser letzten Stufe der physikalischen Unter-
400 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
suchung bilden nun die Grundlagen für die Deduktion der Natur-
erscheinungen. So ist es die isolierende Abstraktion, die in ihren ver-
schiedenen Formen zugleich den verschiedenen logischen Methoden
der physikalischen Forschung parallel geht. Durch Trennung der
Erscheinungen leitet sie die Induktion ein und begleitet sie auf allen
ihren Stadien; mit der Bildung abstrakter Voraussetzungen über
das Substrat der Erscheinungen eröffnet sie aber das deduktive Ver-
fahren und bildet einen wesentlichen Bestandteil der theoretischen
Naturerklärung.
e. Die physikalische Deduktion.
Nachdem durch Analyse, Induktion und Abstraktion die all-
gemeinen Voraussetzungen über die Grundlagen bestimmter Natur-
vorgänge sowie die Gesetze, denen sie folgen, gewonnen sind, beginnt
das Geschäft der physikalischen Deduktion. Diese kann
zwei Methoden einschlagen. Alssynthetische Deduktion
vermittelt sie die Erklärung der zusammengesetzten Erscheinungen
durch Verbindung einfacher Annahmen, die entweder aus der Erfahrung
abstrahiert oder zum Zweck der Deduktion hypothetisch eingeführt
werden. Alsanalytische Deduktion entwickelt sie die ein-
zelnen Erscheinungen und deren spezielle Gesetze durch Zerlegung der
allgemeinen Gesetze, unter denen sie als besondere Fälle enthalten sind.
Da nun einfache Annahmen in der Regel durch eine Analyse der zunächst
in einer mehr oder weniger verwickelten Gestalt gegebenen konkreten
Erfahrungen gewonnen werden, und da umgekehrt die allgemeinen aus
der Verbindung spezieller Gesetze zu entstehen pflegen, so setzt überall
die synthetische Deduktion eine analytische Untersuchung und da-
gegen die analytische Deduktion ein synthetisches Verfahren voraus;
auch kann es vorkommen, daß beide Methoden teils miteinander, teils
mit induktiven Erläuterungen abwechseln.
Die synthetische Deduktion physikalischer Tatsachen
ist in ihrer historischen Entwicklung wesentlich durch das Beispiel
der Mathematik bestimmt worden. Die physikalische Untersuchung
selbst würde niemals zu jenem Beweisverfahren geführt haben, wie es
in den Arbeiten eines Newton und Huygens herrscht und lange Zeit als
die mustergültige Darstellungsform auch in der Physik galt. Vielmehr
ist es der äußere Einfluß der geometrischen Demonstrationsmethode
Euklids, der sich hier das widerstrebende Material der physikalischen
Deduktion dienstbar gemacht hat. Gerade das bedeutendste Werk
dieser Richtung, Newtons „Prinzipien der mathematischen Natur-
Die physikalischen Methoden. 401
philosophie“, zeigt dies in der augenfälligsten Weise. Die Definitionen
und Axiome, die Euklid an die Spitze seiner Elemente und ihrer Haupt-
abschnitte stellt, bieten für die Auffassung keinerlei Schwierigkeiten;
sie erzwingen sich durch die anschauliche Beschaffenheit der Objekte,
auf die sie sich beziehen, unmittelbare Anerkennung, so daß sie selbst
für einen elementaren Lehrgang als naturgemäße Ausgangspunkte
angesehen werden können. Ganz anders verhält es sich mit den Defini-
tionen der Masse, der Geschwindigkeit und der Kraft und mit den drei
mechanischen Axiomen, auf die Newton seine Entwicklungen gründet
(8.314 fi.). Sie sind von so abstrakter Natur, daß an eine unmittelbare
Nachweisung derselben in der Anschauung nicht zu denken ist, und sie
stützen sich so sehr auf Induktionen, die erst auf dem Wege wissen-
schaftlicher Zergliederung möglich sind, daß eine Begründung mittels
dieser Induktionen nicht entbehrt werden kann. Dies macht sich denn
auch in Newtons Darstellung geltend. Jene Begründungen, die ihm die
gewählte systematische Form der Prinzipien voranzustellen verbietet,
sieht er sich genötigt in ausführlichen Anmerkungen nachfolgen zu
lassen. So schließen sich an seine Definitionen Auseinandersetzungen
über absolute und relative Zeit, absoluten und relativen Raum, wirk-
liche und scheinbare Bewegung, über den Begriff der Ursache und
seine physischen Anwendungen; und die mechanischen Axiome er-
läutert er, hinweisend auf die Versuche von Galilei, Wren, Wallis und
Huygens, durch experimentelle Erfahrungen. Alle diese Betrachtungen
besitzen einen induktiven und zugleich analytischen Charakter. In
diesem Sinne bilden sie den näheren Beleg zu der von Cotes in der Vor-
rede zur zweiten Auflage der Prinzipien gemachten Bemerkung, daß
die Methode eine zweifache, eine analytische und eine synthetische
sei: die Kräfte der Natur und ihre einfachen Gesetze würden aus einigen
ausgewählten Erscheinungen mittels der Analyse abgeleitet und dann
mittels der Synthese als Eigenschaften der übrigen Erscheinungen
dargelegt. Wenn dies der naturgemäße Entwicklungsgang der syn-
thetischen Deduktion ist, so wird aber augenscheinlich die Darstellung
desselben durch die unveränderte Annahme der Euklidischen Demon-
strationsform beeinträchtigt, da diese für jene grundlegende Analyse
keinen Platz läßt, so daß die letztere an einer ihrer Bedeutung nicht ent-
sprechenden Stelle Unterkunft suchen muß.
Ein weiterer Übelstand dieser Demonstrationsform tritt in der
Art der Verwendung von Hilfslehren hervor, die für die Deduktion
nicht entbehrt werden können, aber doch dem Gegenstand derselben
eigentlich fremd sind. Dieser Übelstand wird umso fühlbarer, je zahl-
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 26
402 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
reicher die Voraussetzungen werden. Schon Euklids Elemente bringen
fast die ganze damals bekannte Arithmetik in der Form einer Ein-
schaltung, die zu den geometrischen Messungsaufgaben, deren Lösung
nur mittels der Kenntnis der Zahlen möglich ist, vorbereiten soll. In
den physikalischen Darstellungen, welche die synthetische Methode
wählen, nehmen solche Einschaltungen und Vorbereitungen noch einen
größeren Raum ein. So eröffnet Newton das erste Buch seiner Prin-
zipien mit einer rein mathematischen Abhandlung „über die Methode
der ersten und letzten Verhältnisse“, und der ganze Inhalt der beiden
ersten Bücher, der die reine Mechanik behandelt, namentlich des ersten,
verfolgt sichtlich den Zweck, die Entwicklungen des dritten Buchs über
das Weltsystem vorzubereiten. Denn mit Rücksicht darauf werden
von Anfang an die mechanischen Probleme ausgewählt. Die Be-
wegungen von Körpern durch Zentripetalkräfte, in exzentrischen
Kegelschnitten, in beweglichen Bahnen, die Bewegungen kugelförmiger
Körper, welche durch Zentripetalkräfte gegeneinander hingezogen
werden u. s. w., alle diese Probleme sind so beschaffen, daß bei dem
Übergang zu den speziellen Bedingungen des Weltsystems nur noch die
Einführung einzelner durch die Erfahrung gegebener Data, nirgends
mehr die Lösung einer neuen mechanischen Aufgabe erfordert wird.
Wohl aber wird bei diesem abschließenden Teile der Darstellung von
neuem das Bedürfnis nach einer Herbeiziehung der Induktion fühlbar;
denn erst die durch sie ermittelten Tatsachen gestatten die Anwendung
der zuvor gewonnenen allgemeinen mechanischen Sätze auf die konkreten
Erscheinungen. Da nun solche einzelne Data der Erfahrung bei der
synthetischen Methode in die Demonstration der einzelnen Lehrsätze
nicht wohl eingeführt werden können, weil das gesamte Material, über
das der Beweis des Lehrsatzes verfügt, als gegeben in vorangegangenen
Sätzen vorausgesetzt ist, so sieht sich Newton genötigt, jenen Daten
der Erfahrung eine ähnliche Stellung anzuweisen wie zuvor den De-
finitionen und Axiomen: er stellt sie unter dem Titel „Erscheinungen“
neben einigen allgemeinen methodischen Regeln über die Erforschung
der Natur an die Spitze des dritten Buchs der Prinzipien. Darin liegt
freilich insofern keine Inkongruenz, als jene die Mechanik einleitenden
Sätze ebenfalls durch Induktion begründet werden; immerhin handelt
es sich dort um allgemeinste Prinzipien, hier um spezielle, meistens in
einzelnen numerischen Werten auszudrückende Tatsachen.
In vielen Fällen hat übrigens eine solche kurze und beiläufige Er-
gänzung des synthetischen Ganges durch Ausführungen von induktivem
Charakter dem Bedürfnisse nach anschaulicher Begründung, welches
Die physikalischen Methoden. 403
besonders bei der Darstellung neuer physikalischer Lehren obwaltet,
nicht Genüge geleistet, sondern die Urheber derselben sahen sich ge-
drungen, induktiven Entwicklungen und analytischen Deduktionen
einen größeren Spielraum zu lassen, wodurch diese nun als völlig selb-
ständige Begründungen der synthetischen Deduktion, die ihnen ent-
weder vorausgehen oder nachfolgen kann, gegenübertreten. Ein hervor-
ragendes Beispiel hierfür bilden Galileis Discorsi*). Wie die Begabung
dieses großen Physikers eine in eminentem Maße analytische ist, so
bevorzugt er auch durchaus die analytische Deduktionsmethode, in
die er jedoch teils induktive Entwicklungen, teils kritische und pole-
mische Ausführungen einstreut. Dadurch erscheint der in der Zeit
der Wiedererneuerung des Platonismus beliebt gewordene Dialog bei
ihm als eine nicht bloß äußerlich angeeignete, sondern dem inneren Ge-
dankengang vollkommen angepaßte Darstellungsform. Im dritten und
vierten Tag der Discorsi wird aber diese Form durch synthetische De-
duktionen in Euklidischer Weise unterbrochen, für die zugleich die
lateinische Sprache gewählt ist, während der ungezwungenere Dialog
in leichtem Italienisch dahinfließt. Dieser dritte und vierte Tag handeln
von den Bewegungen schwerer Körper, und die einleitenden Worte
Galileis verraten deutlich, daß er mit Absicht gerade den wichtigsten
Teil seiner Forschungen in einer Anzahl streng formulierter Axiome
und Theoreme zusammenfaßt. Aber der Dialog wird durch die so ge-
änderte Form der Darstellung nicht ganz unterdrückt. Wo es nötig
scheint, setzt er in der Form einer Unterhaltung über die vorgetragenen
Sätze ein, um diese näher zu erläutern und dem Leser den analytischen
Gedankengang vorzuführen, durch den sie gefunden sind. Übrigens
wählte auch Newton, der die synthetische Demonstrationsmethode
so hoch schätzte, in der früher von ihm verfaßten populären Abhandlung
über das „Weltsystem “**) einen vorzugsweise analytischen Weg. Er war
eben der Überzeugung, daß die synthetische Methode zwar die logisch
strengere, aber deshalb die schwierigere sei, weil die Resultate selbst
immer analytisch gefunden würden. In der Tat war diese Ansicht
gegenüber jener Handhabung der analytischen Deduktion, wie sie
noch zu Newtons Zeit auf physikalischem Gebiet herrschte, und für
die uns Descartes’ Naturphilosophie ein augenfälliges Beispiel dar-
bietet, vollkommen berechtigt. Gerade sie verzichtete nämlich fast
ganz auf die Anwendung mathematischer Hilfsmittel. Höchstens be-
*) Opere di Galileo Galilei, ediz. E. Alberi,t. XII.
**) Sie ist von Wolfers seiner Übersetzung der Prinzipien beigefügt.
404 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
diente sie sich einfachster arithmetischer Operationen oder geometrischer
Konstruktionen. Noch aber hatte sie sich die mathematische Analysis
nicht dienstbar gemacht. Erst die mathematische Physik des 18. Jahr-
hunderts vollzog diesen schon durch Descartes’ analytische Geometrie
nahe gelegten und durch die Erfindung der Infinitesimalrechnung
vollends unvermeidlich gewordenen Schritt. Hiermit war nun aber
auch der einzige Grund hinweggefallen, der gegen die sonstigen Nach-
teile der synthetischen Methode ins Gewicht fiel: die mit den Hilfs-
mitteln der mathematischen Analysis ausgerüstete analytische Deduk-
tion ließ an Strenge nichts zu wünschen übrig, und sie verband damit
den großen Vorzug, daß sie nicht bloß fertige Resultate in eine beweis-
kräftige Form brachte, sondern daß sie sich vor allem als ein wichtiges
Hilfsmittel der Forschung selbst erwies.
Die analytische Deduktion der Naturerscheinungen
geht hiernach von Erfahrungsgesetzen oder von hypothetischen Vor-
aussetzungen allgemeinster Art aus und sucht aus denselben sukzessiv
die einzelnen Erscheinungen und die speziellen Gesetze, von welchen
dieselben beherrscht werden, abzuleiten. Es geschieht dies durch die
Zerlegung jener allgemeinen Sätze in die besonderen Fälle, die unter
ihnen enthalten sind. Der Weg, der hier eingeschlagen wird, besitzt
demnach den Charakter einer Begriffisanalyse. Er unterscheidet sich
aber von Begriffsanalysen anderer Art durch die anschauliche Form,
welche die Allgemeinbegriffe der physikalischen Deduktion vermöge
der Forderung, daß sie zur Ableitung bestimmter Naturerscheinungen
dienlich sein sollen, besitzen müssen. Schließlich enthalten nämlich
jene Allgemeinbegriffe Voraussetzungen, die sich teils auf die Be-
schaffenheit des materiellen Substrates, teils auf die kausalen Be-
ziehungen der Teile dieses Substrates zueinander beziehen. Da nun die
Materie von der Physik als die unveränderliche, in räumlicher Form
gegebene Grundlage der Erscheinungen angesehen wird, die Gesetze der
Wechselwirkungen ihrer Teile aber wegen der qualitativen und quantita-
tiven Konstanz der Materie nur die Form von Bewegungsgesetzen be-
sitzen können, so wird durch die Festhaltung dieser allgemeinen Voraus-
setzungen jene Forderung der Anschaulichkeit bereits erfüllt, und im
einzelnen haben die Prämissen der Deduktion nur noch der Maxime
zu folgen, daß die aus ihnen abgeleiteten Folgerungen mit der Er-
fahrung übereinstimmen müssen.
Die Zergliederung der allgemeinen Voraussetzungen, in der das
Wesen der analytischen Deduktion besteht, vollzieht sich nun, wie
Die physikalischen Methoden, 405
bei jeder Begriffsanalyse, durch die Einführung spezieller Bedingungen,
mittels deren man sich den in der wirklichen Erfahrung gegebenen
Verhältnissen schrittweise zu nähern sucht. Eine solche Einführung
besonderer Bedingungen kann stets als ein Verfahren der Substi-
tution angesehen werden, indem man dabei für solche Begriffs-
elemente, denen in den ursprünglichen Voraussetzungen eine un-
bestimmtere und darum allgemeinere Bedeutung angewiesen war,
speziellere Begriffe einführt, die irgend einem konkreten Fall der
physikalischen Erfahrung entsprechen. Dieses Substitutionsverfahren
zerfällt in der Regel wieder in zwei Akte: in einen ersten, durch
den aus der allgemeinen Voraussetzung ein einzelnes Erscheinungs-
gebiet nur in abstrakter Weise abgeleitet wird, so daß die konkreten
Werte der Erscheinungen noch nicht in Betracht kommen, sondern
die in den Ausdruck der Gesetze eingeführten Größen eine unbestimmte
Bedeutung bewahren. Daran schließt sich dann als zweiter Akt die
Einführung konkreter Werte in die abstrakt formulierten Gesetze
und die damit zusammenhängende numerische Feststellung gewisser
konstanter Größen, die für die messende Vergleichung der Erschei-
nungen wesentlich sind. Der erste dieser Akte fällt noch vollständig
in den Bereich der reinen Deduktion. Wenn auch bei der Substitution
spezieller Bedingungen eine Rücksicht auf die Erfahrung niemals
fehlen kann, so ist doch diese hier keine andere als bei der Gewinnung
der allgemeinsten Prämissen der Deduktion: es werden Annahmen
aufgestellt, von denen man erwartet, daß sie sich als konform den in
der Erfahrung gegebenen Bedingungen erweisen werden, wobei aber
doch der wirkliche Nachweis dieser Konformität erst durch das Ge-
lingen der Deduktion erbracht wird, zu welchem Gelingen immer
auch noch der zweite Akt der Substitution, die Einführung konkreter
Einzelwerte an Stelle der bis dahin festgehaltenen abstrakten Größen,
erfordert wird. Demgemäß beruht dieser zweite Akt auf einer Herbei-
ziehung der Induktion. Die fraglichen Einzelwerte sind nume-
rische Data, die durch Beobachtung oder Experiment festgestellt werden
müssen. Nun kann es freilich geschehen, daß sie schon vor dem Beginn
der Deduktion durch eine derselben vorangehende Induktion gefunden
wurden; aber ebenso oft ereignet es sich, daß sich die Induktion
an die analytische Deduktion anschließt, oder daß mindestens eine
Revision der früher gewonnenen experimentellen Data vorgenommen
werden muß, weil die deduktiv abgeleiteten Gesetze erst die exakten
Fragestellungen enthalten, deren empirische Beantwortung die Theorie
der Erscheinungen abschließt.
406 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Die Induktion, die diese Vollendung der analytischen Deduktion
bewirkt, verfolgt regelmäßig wieder zwei Ziele. Erstens sucht sie
eine Bestätigung für die Voraussetzungen der Deduktion zu gewinnen,
indem sie nachweist, daß die experimentell gefundenen Tatsachen
mit den abgeleiteten Folgerungen übereinstimmen. Dies ist die veri-
fizierende Induktion, in welcher wesentlich nur relative
Größenbestimmungen vorkommen, da aus abstrakten Voraussetzungen
zwar Schlüsse über die quantitativen Verhältnisse der Naturerschei-
nungen, niemals aber solche über die absoluten Werte gewisser Wir-
kungen gewonnen werden können. Sodann sucht man die abstrakten
Werte, die in die abgeleiteten Naturgesetze eingehen, durch die Messung
zu fixieren, um auf solche Weise die Konstanten zu ermitteln, in denen
die Wirkung bestimmter Ursachen ihren quantitativen Ausdruck
findet. Dies können wir die determinierende Induktion
nennen. Beiihr handelt essich stetsuma bsolu te Maßbestimmungen,
durch welche die konkrete Größe der Erscheinungen, über die der
abstrakte Inhalt der Gesetze nichts aussagt, festgestellt werden soll.
Überblicken wir demnach den ganzen Verlauf der analytischen De-
duktion samt ihren Vorbereitungen und Ergänzungen, so läßt sich der-
selbe in vier Stadien trennen, von denen jedoch nur die zwei ersten
der eigentlichen Deduktion, die zwei letzten der auf sie folgenden In-
duktion angehören. Sie sind: 1) die Aufstellung abstrakter Voraus-
setzungen, 2) die Ableitung einzelner Gesetze aus diesen Voraus-
setzungen, 3) die Verifikation der Gesetze, und 4) die Determination
der in die Gesetze eingehenden Konstanten der Naturerscheinungen.
Bei Deduktionen verwickelterer Art, bei denen die abgeleiteten
Tatsachen meistens wieder in verschiedene Gruppen zerfallen, deren
jede besondere Voraussetzungen erfordert, pflegt dieser regelmäßige
Verlauf Abänderungen zu erfahren, die sich dadurch oft noch mannig-
faltiger gestalten, daß eine möglichst vollständige Darstellung natur-
gemäß auch jene vorbereitende Induktion, die dem Beginn der ana-
lytischen Deduktion vorangeht, herbeizuziehen sucht, um durch sie
von vornherein die Aufstellung der Voraussetzungen zu rechtfertigen.
Da nun die Verifikation und die Determination der Größenwerte der
Erscheinungen ebenfalls der Induktion zugehören, so kann es geschehen,
daß die letztere der eigentlichen Deduktion nur einen verhältnismäßig
kleinen Raum übrig läßt. Aber gerade hierin verrät sich nicht zum
wenigsten, wie sehr die analytische Deduktion den Bedürfnissen der
Naturerklärung angepaßt ist, indem sie es gestattet, einen solchenWechsel
der logischen Hilfsmittel in jedem Augenblick eintreten zu lassen,
Die physikalischen Methoden, 407
sobald er durch die Beschaffenheit des Gegenstandes gefordert ist,
ohne daß dadurch der naturgemäße Gang der Entwicklungen unter-
brochen wird.
Ein hervorragendes Beispiel dieser Art ist schon das bahnbrechende
Werk der neueren Naturwissenschaft, die Schrift des Kopernikus
„De revolutionibus orbium coelestium“. Das erste Buch bringt die
Begründung der allgemeinen Voraussetzungen des neuen Weltsystems.
Abgesehen von spekulativen Betrachtungen, denen wir heute keine
bindende Kraft mehr beimessen, und die sich hauptsächlich auf die
Forderungen der Vollkommenheit und der Symmetrie in der Anordnung
der Gestirne beziehen, besteht diese Begründung aus einer Reihe
von Induktionen. Die erste bringt den Nachweis für die kugel-
förmige Gestalt der Erde, eine zweite stellt fest, daß die Erde nicht den
Mittelpunkt der Planetenbahnen bilde, und eine dritte zeigt, daß die
Größe der Erde verschwindend im Verhältnis zu der Entfernung der
Fixsterne sein müsse. Teils auf diese Gründe, teils auf die Darlegung
der Unzulänglichkeit der Ptolemäischen Anschauung stützt dann
Kopernikus seine im 10. und 11. Kapitel aufgestellte neue Hypo-
these von der Ordnung der Himmelskreise und von der dreifachen
Bewegung der Erde. Hiermit ist die allgemeine Voraussetzung für
die Deduktion der Erscheinungen gewonnen. Doch setzt die letztere
noch einige geometrische Hilfsmittel voraus, die in den letzten Kapiteln
des ersten Buchs in der von der Entwicklung der astronomischen
Lehren völlig abweichenden synthetischen Form der Euklidischen
Demonstration auseinandergesetzt werden. Nun beginnt erst mit
dem zweiten Buch die eigentliche Deduktion. Diese gliedert sich aber
wieder in mehrere Teile, bei deren jedem sich sofort die Verifikation
und die Determination der Erscheinungen mit der Ableitung aus der
vorangestellten Grundhypothese verbinden. In dieser Weise umfaßt
das zweite Buch die Theorie der täglichen Bewegungen der Erde, das
dritte die der jährlichen Bewegungen und der sekularen Veränderungen,
das vierte die Bewegung des Mondes, das fünfte und sechste die
Planetenbewegungen. Man findet hier überall das Beobachtungs-
material an den geeigneten Stellen eingefügt in die Darstellung. Den-
noch bringt es der logische Gang der letzteren mit sich, daß in der
Auseinandersetzung der einzelnen Lehren die verschiedenen Stadien
der analytischen Deduktion meistens ihre normale Stellung bewahren.
Haben wir hier das Beispiel einer Naturerklärung vor uns, die
sich auf das engste an Tatsachen der Erfahrung anschließt und darum
eines reichen Unterbaues von Induktionen sowie einer fortwährenden
408 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Beihilfe derselben bedarf, so liefert dagegen Descartes’ Natur-
philosophie den ersten umfassenden Versuch einer physikalischen
Theorie, deren Voraussetzungen der induktiven Begründung fast
ganz entbehren, so daß sie nur durch die nachträgliche Anpassung an
die Erfahrung sich rechtfertigen können. Es wird gestattet sein, dieses
Beispiel trotz seiner großen Mängel hier anzuführen, da es für eine
bestimmte Klasse physikalischer Theorien eine vorbildliche Bedeutung
gewonnen hat. In der Tat können wir zwei Hauptrichtungen unter-
scheiden, in denen sich seit den Anfängen der neueren Naturwissenschaft
die physikalische Deduktion bewegt. Die eine sucht im Sinne des
großen Werkes des Kopernikus aus allgemeinen durch Induktion
gefundenen Erfahrungssätzen die Erscheinungen abzuleiten. Die be-
deutendste Leistung in dieser Richtung, die übrigens für die Darstellung
den synthetischen Weg wählt, sind Newtons Prinzipien. Die andere
sucht aus willkürlichen oder auf spekulativem Wege gewonnenen An-
nahmen die Tatsachen der Erfahrung zu entwickeln. Hier ist Des-
cartes’ Naturphilosophie das Vorbild, das später in zahlreichen
mathematischen Theorien Nachfolge gefunden hat. Die Begründung,
die Descartes im Eingang des zweiten Teils seiner „Prinzipien
der Philosophie“ seinen Voraussetzungen über die Materie zu geben
sucht, nimmt diesen, physikalisch betrachtet, kaum den Charakter
willkürlicher Hypothesen, abgesehen von der strengen Leugnung des
leeren Raumes und der Annahme der qualitativen Gleichartigkeit und
Konstanz der Materie, für welche zwar nicht die von Descartes
geltend gemachten Gründe, aber doch bestimmte Motive der An-
schauung eintreten. (Vgl. Bd. I, S. 5095.) Zu dieser allgemeinen Hypo-
these kommen dann neben dem teleologischen Prinzip der Erhaltung
der Quantität der Bewegung drei Bewegungsgesetze, von denen die zwei
ersten mit den Galileischen Prinzipien der Trägheit und der geradlinigen
Bewegung identisch sind, während das dritte eine falsche Anwendung
jenes teleologischen Prinzips ist. Aber diese Bewegungsgesetze spielen
keine erhebliche Rolle in der nachfolgenden Deduktion. Indem diese
sich auf qualitative Betrachtungen beschränkt, macht sie im wesent-
lichen nur von den vorausgegangenen Annahmen über die Konstitution
der Materie Gebrauch. Nacheinander werden so die verschiedenen
Erscheinungsgebiete, die kosmischen Bewegungen, die geophysischen
Tatsachen, Schwere, Wärme, Licht, Magnetismus, abgeleitet, indem
Descartes, gemäß dem Prinzip der analytischen Deduktion, dar-
zutun sucht, daß sie sich aus dem aufgestellten Begriff der Materie
mittels der Einführung einiger besonderer Voraussetzungen über die
Die physikalischen Methoden. 409
Lage- und Bewegungsverhältnisse der Elemente ergeben. Mit der
Erklärung der einzelnen Erscheinungen verbindet sich außerdem noch
eine Art von Verifikation, bei der auf die Übereinstimmung mancher
Nebenumstände mit der angenommenen Grundhypothese hingewiesen
wird, wogegen die determinierende Induktion in diesem Fall wegen der
qualitativen Natur der Entwicklungen keine Stelle findet. Der wesent-
lichste Unterschied dieser Anwendungsform der analytischen Deduktion
von der vorigen besteht demnach offenbar darin, daß hier die vorberei-
tende Induktion völlig hinwegfällt, da den aufgestellten Voraussetzungen
eine ihnen vor jeder einzelnen physikalischen Erfahrung zukommende
Notwendigkeit beigemessen wird. Die spätere Entwicklung der Physik
hat darum spekulative Begründungen, wie sie zu diesem Zweck Des-
cartes anwendet, allmählich ausgeschlossen. Die gemachten Voraus-
setzungen wurden vielmehr entweder als willkürliche Hypothesen behan-
delt, die ihre Rechtfertigung nachträglich erst durch die gelingende De-
duktion erlangen müssen, oder man übertrug abstrakte Begriffe
der reinen Mechanik unmittelbar auf das physikalische Gebiet, indem
man das Prinzip der Einfachheit, das bei der Gestaltung dieser Be-
grifie maßgebend gewesen war, auch auf die Modifikationen an-
wandte, die mit ihnen zum Behuf der Anwendung auf bestimmte Er-
scheinungen notwendig wurden.
Erst durch die Einführung der mathematischen Analysis ist es
der analytischen Deduktion möglich geworden, den Charakter der
logischen Strenge, den bis dahin das synthetische Verfahren allein für
sich in Anspruch nahm, mit den Vorzügen einer naturgemäßen, ebenso-
wohl der Untersuchung wie der Darstellung dienenden Gedanken-
entwicklung zu verbinden. Längere Zeit noch, nachdem die Analysis
der Physik bereits völlig dienstbar geworden, dauerte es, bis das Vorur-
teil, als ob die synthetische Methode allein die hier erforderliche Strenge
gewähre, beseitigt war. Allmählich nur sprengte di» mit den Hilfs-
mitteln der Analysis operierende Deduktion die Form der syn-
thetischen Demonstration. In den mechanischen und physikalischen
Schriften eines Euler, eines Johann und Daniel Bernoulli spielt
noch immer die Beweisführung in Euklidischer Manier eine hervor-
ragende Rolle. In der Vorrede zu seiner Mechanik hat Euler dem
synthetischen Verfahren vorgeworfen, daß es zwar von der Wahrheit
der vorgetragenen Sätze überzeuge, daß es aber keine hinreichend
klare Erkenntnis derselben verschaffe, und er hat seine eigene Darstellung
als eine analytische bezeichnet, was sie in der Tat nach dem vorherrschen-
den Verfahren in der Behandlung der einzelnen Probleme auch ist.
410 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
Gleichwohl trennt er den Stoff in der hergebrachten Weise in eine Reihe
lose aneinander gefügter Definitionen, Lehrsätze und Aufgaben und
verkümmert sich dadurch gerade einen der größten Vorzüge der ana-
Iytischen Methode, den Zusammenhang der Untersuchungen. Zugleich
bemerkt man aber, daß diese Ähnlichkeit mit Euklid oder Newton
nur eine äußerliche bleibt. Weitaus den größten Raum nehmen Auf-
gaben und ihre Lösungen ein. Axiome fehlen ganz; dafür besitzen
die wenigen Lehrsätze, die im Eingang der Hauptabschnitte vorkommen,
zumeist einen axiomatischen Charakter, trotz der ihnen beigefügten
ontologischen Scheinbeweise in Wolffscher Art. Nun läßt sich die
analytische Deduktion eines einzelnen Falles aus den für ihn gelten-
den allgemeinen Gesetzen selbstverständlich immer leicht in die Form
einer Problemstellung bringen, wo dann die Auflösung des Problems
die eigentliche Deduktion in sich schließt. Dieses Übergewicht der
Aufgaben ist daher ein äußeres Zeichen dafür, daß hier eine Methode
zu Grunde liegt, die sich nur gezwungen der synthetischen Form fügt.
Das nämliche gilt von anderen analytischen Arbeiten des 18. Jahr-
hunderts.
Einer der ersten, die mit Erfolg die Fesseln einer überlebten
Form abstreiften, ist Lagrange, dessen „Möcanique analytique“ von
maßgebendem Einflusse auf die ganze nachfolgende Entwicklung der
mathematischen Physik geworden ist. Obgleich sich dieses Werk nicht
mit physikalischen Problemen im engeren Sinn beschäftigt, so mag
wegen dieser mustergültigen Bedeutung für die jetzt herrschende Art
der physikalischen Deduktion hier dessen Gedankengang kurz skizziert
werden. Abgesehen von den historischen Einleitungen, die jedem der
beiden Hauptteile, der Statik und Dynamik, vorangestellt sind, ist
in diesen selbst die Entwicklung eine vollständig analoge. Zunächst
wird auf dem Wege einer vorbereitenden Induktion dort ein allgemeines
Gesetz des Gleichgewichts, hier ein allgemeines Gesetz der Bewegung
mathematisch formuliert, aus dem nun in der nachfolgenden Dar-
stellung alle einzelnen statischen und dynamischen Gesetze analytisch
entwickelt werden. Der abstrakte Charakter der Mechanik bringt es
in diesem Falle mit sich, daß die vorbereitende Induktion nicht auf
experimentelle Erfahrungen, sondern auf allgemeingültige Anschauungen
sich berufen kann. Die Begründung, die Lagrange von dem Prinzip
der virtuellen Geschwindigkeiten gibt, hat durchaus den Charakter
einer solchen Induktion. Dieses Prinzip liefert ihm aber unmittelbar
die allgemeine Formel für das Gleichgewicht irgend eines Systems, und
mittels einer weiteren Begrifisbestimmung über das Maß einer be-
Die physikalischen Methoden. 411
schleunigenden Kraft, die sich auf eine ähnliche Induktion stützt,
gewinnt er im Eingang des zweiten Teils aus dem nämlichen Prinzip
die Grundgleichung der Dynamik. Der ganze Aufbau der Mechanik
vollzieht sich nun in der Form einer Analyse der an die Spitze ge-
stellten Grundformeln. In der Statik wird die allgemeine Gleichung
des Gleichgewichts zunächst auf die fortschreitende, dann auf die dre-
hende Bewegung eines Systems angewandt; es wird das Gleichgewicht
in Bezug auf den Schwerpunkt eines solchen untersucht, und es werden
die Fälle nachgewiesen, in denen die allgemeine Funktion, welche die
Gleichgewichtsbedingungen ausdrückt, zu einem Maximum oder Mini-
mum wird. Hierauf werden analytische Methoden entwickelt, mittels
deren die verwickelten Bedingungen des Gleichgewichts irgend eines
beliebigen Systems stets auf den einfachsten Fall eines freien Systems
zurückzuführen sind. Daran reiht sich naturgemäß die Lösung der
hauptsächlichsten einzelnen statischen Probleme, die wieder in dem
verwickeltsten, darum aber in gewissem Sinne auch allgemeinsten
ihren Abschluß finden, nämlich in der Aufzeigung der Gleichge-
wichtsbedingungen eines festen Körpers von beliebiger Gestalt, auf
dessen sämtliche Punkte irgendwelche Kräfte einwirken. Alle diese
Entwicklungen der Statik sind, abgesehen von der zu Grunde liegenden
Induktion, die sich auf die unmittelbare Anschauung beruft und
insofern einen mathematischen Charakter besitzt, noch von einem
zweiten Begriff beherrscht, der aus einer mathematischen Abstraktion
hervorgegangen ist, von dem Begriff eines absolut festen Körpers.
Wie dieser aus der empirischen Vorstellung der wirklichen festen Körper
durch Verwandlung ihrer relativen in eine absolute Unveränderlichkeit
entstand, so kann nun aber auch der flüssige Körper zu einer ähnlichen
Abstraktion den Anlaß bieten, indem man die Flüssigkeit als eine Masse
betrachtet, deren Teilchen absolut beweglich, jedoch nicht zusammen-
drückbar sind. In der Tat entwickelt Lagrange aus dieser Voraus-
setzung und aus der allgemeinen Formel des Gleichgewichts die Grund-
gleichungen der Hydrostatik. In ähnlicher Weise werden aus der
Grundgleichung der Dynamik zunächst die allgemeinen Eigenschaften
der Bewegung abgeleitet, indem die früher vielfach als selbständige
Ausgangspunkte aufgestellten dynamischen Prinzipien, wie das Prinzip
der Erhaltung des Schwerpunktes, der Flächen, der lebendigen Kräfte
u. s. w., analytisch aus jener Grundgleichung abgeleitet werden. Hierauf
wird dieselbe in ein System von Differentialgleichungen zerlegt, durch
welche die Anwendung auf die einzelnen Probleme, deren Behandlung
den Schluß des ganzen Werkes bildet, erleichtert ist. Auch hier tritt
412 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
_
endlich die Anwendung der allgemeinen dynamischen Gesetze auf eine
Flüssigkeit als ein absolut labiles und inkompressibles System von
Teilchen hinzu. In dieser ganzen Darstellung besteht die Kunst
der analytischen Deduktion wesentlich darin, daß die allgemeinen
Gleichungen durch angemessene Substitutionen in Ausdrücke für
speziellere Gesetze verwandelt werden. Indem diese Substitutionen
sukzessiv den besonderen Bedingungen, die man sich eingeführt denkt,
Rechnung tragen, vollzieht sich die gesamte Entwicklung in der Form
einer Zerlegung eines einzigen aus ursprünglicher Induktion gewonnenen
und in mathematische Form gebrachten Gesetzes. Es ist klar, daß
eine derartige Ableitung einer umfangreichen Wissenschaft aus einem
einzigen Grundgesetz ohne die Hilfsmittel der mathematischen Ana-
lysis unmöglich wäre. Indem sie es gestattet, den gebrauchten Sym-
bolen die umfassendste Bedeutung zu geben, macht sie es gleich-
zeitig möglich, mit denselben alle Transformationen vorzunehmen, die
durch die speziellen Probleme gefordert werden.
Die analytische Mechanik ist nicht bloß durch ihre formale Aus-
bildung das mustergültige Beispiel für die Anwendung der analytischen
Deduktion in der Physik geworden, sondern sie hat auch durch ihren
materiellen Inhalt die Grundlage aller auf diesem Wege entwickelten
physikalischen Theorien gebildet. Das regelmäßig hierbei eingeschlagene
Verfahren besteht darin, daß man die abstrakten Voraussetzungen
der Mechanik in dem durch die betreffenden Erscheinungen geforderten
Sinne abändert, zugleich aber sich gemäß dem Prinzip der Einfachheit
stets mit der möglichst kleinen Abänderung begnügt, um erst, wenn
diese durch die Prüfung an der Erfahrung als nicht genügend befunden
wird, zu weiteren Voraussetzungen zu schreiten. So gibt die Elasti-
zitätstheorie die von der Mechanik festgehaltene Annahme absolut
starrer Körper auf, indem sie voraussetzt, daß äußere Kräfte eine Ver-
schiebung der kleinsten Teilchen eines festen Körpers hervorbringen.
Sie bleibt aber bei der einfachsten Annahme stehen, da sie diese Ver-
schiebung als so klein betrachtet, daß sie gegen die Dimensionen der
Körper verschwindet und daher durch eine lineare Funktion der Ent-
fernung der Teilchen ausgedrückt werden kann, während alle höheren
Potenzen verschwinden. Ebenso nimmt die Theorie der Kapillarität
an, daß die in der Hydrostatik vorausgesetzte absolute Beweglichkeit
der Teilchen durch Kohäsionskräfte der Moleküle und durch Ad-
häsionskräfte gegenüber den Wandungen des Gefäßes modifizert werde;
sie macht aber hier wieder die einfachste Annahme, die möglich ist,
um den Erscheinungen zu genügen, indem sie voraussetzt, daß beiderlei
Die physikalischen Methoden. 415
Molekularkräfte nur in unmeßbar kleinen Entfernungen wirken, und
daß daher nur die Wandschichte und die freie Oberfläche einer Flüssig-
keit unmittelbar der Kapillarattraktion unterworfen seien. Die Theorie
der Schallschwingungen geht zunächst von der bereits für die Elasti-
zitätslehre maßgebenden Vorstellung aus, daß die Teilchen eines Körpers
durch bestimmte Kräfte in ihrer Gleichgewichtslage festgehalten werden;
sie fügt derselben nur die einfache Annahme hinzu, bei der Entfernung
aus der Gleichgewichtslage sei die beschleunigende Kraft dieser Ent-
fernung proportional: Die so gewonnene Fundamentalgleichung
kann dann in der verschiedensten Weise ergänzt, verändert und zerlegt
werden, um auf kompliziertere Fälle Anwendung zu finden. Sind die
Schwingungsamplituden groß, so ersetzt man jene Annahme einer
Proportionalität der beschleunigenden Kraft mit der Entfernung aus
der Gleichgewichtslage durch die nächst einfache einer Funktion,
die neben der ersten auch die zweite Potenz der Entfernung enthält.
Kommt der Widerstand der umgebenden Luft in Betracht, so fügt
man der Fundamentalformel ein Glied bei, welches eine der Geschwin-
digkeit proportionale Verzögerung in der Richtung nach der Gleich-
gewichtslage ausdrückt, u. s. w. Wo die Deduktion nicht an bestimmte
der Beobachtung gegebene einfachste Erscheinungen anknüpfen kann,
wie dies bei den Theorien von Wärme, Licht, Elektrizität und Magne-
tismus der Fall ist, da kann es dann leicht geschehen, daß ganz ver-
schiedene abstrakte Voraussetzungen der reinen Mechanik die Aus-
gangspunkte für die Erklärung des nämlichen Erscheinungsgebietes
abgeben. So bediente sich Fourier für seine Theorie der Wärme-
leitung in festen Körpern einfach der hydrodynamischen Voraus-
setzungen, indem er die Wärme als eine bewegte Flüssigkeit betrachtete;
Poisson verwertete die Gesetze der Licht- und Wärmestrahlung,
indem er die Leitung als einen Vorgang intramolekularer Strahlung
behandelte. In der Theorie des Lichtes suchte man, nachdem die Un-
dulationshypothese rezipiert worden war, zunächst von der in der
Mechanik bereits geläufigen Vorstellung der Schwingungsbewegung in
einem kontinuierlichen Medium auszugehen. Als jedoch die Entdeckung
der Polarisation die Annahme der Transversalschwingungen erforder-
lich machte, führte diese auf die Voraussetzung von Äthermolekülen,
die durch leere Zwischenräume getrennt seien. Die Bewegungsgleichun-
gen eines solchen aus diskreten Teilchen bestehenden Mediums nahmen
nun eine Form an, die sie zur Ableitung wenigstens einer großen Zahl
der Lichterscheinungen besonders geeignet machte. Weiter noch wurde
man im Gebiet der elektrischen und magnetischen Erscheinungen ge-
414 ‘Die Hauptgebiete der Naturforschung.
nötigt, sich von den einfachen Voraussetzungen zu entfernen, welche
die Mechanik aus den allgemeinsten Eigenschaften der Naturkörper
abstrahiert hatte. Namentlich war dies der Fall, so lange man an der
Annahme besonderer elektrischer Medien festhielt. Seitdem jedoch
die elektromagnetische Lichttheorie und die Bestätigung einer großen
Anzahl ihrer Folgerungen die Einheit der elektrischen, der magne-
tischen und der Lichterscheinungen im höchsten Grade wahrschein-
lich gemacht haben, reduzieren sich die in allen diesen Gebieten
vorhandenen Schwierigkeiten wesentlich auf das allgemeine Problem
der Ätherschwingungen und ihrer Fortpflanzung, ein Problem,
dessen Lösung teils wieder mechanischer Art ist, teils aber auch, wie
alle Aufgaben der Molekularmechanik, von dem endgültig wohl nie-
mals zu schlichtenden Streit über die Eigenschaften und Kräfte der
Materie abhängt.
Auf diese Weise ist die physikalische Theorie auf allen Gebieten
aus den mathematischen Voraussetzungen der Mechanik durch eine
allmähliche Hinzufügung weiterer Annahmen hervorgegangen, in
deren Aufstellung man sich einerseits durch den Wunsch möglichster
Annäherung an die mechanischen Vorstellungen, anderseits durch die
Forderung der Übereinstimmung der Folgerungen mit der Erfahrung
bestimmen ließ. Hierbei ist es bezeichnend für die zwingende Gewalt,
die die mechanischen Vorstellungen auf das physikalische Denken aus-
üben, daß man sich eher dazu entschloß, irgendwelche mechanische
Hilfsvorrichtungen zu ersinnen oder der Materie bezw. dem Äther
Eigenschaften zuzuschreiben, die allen uns bekannten Eigenschaften
wirklicher Körper widerstreiten, als die Allgemeingültigkeit der mechani-
schen Gesetze aufzugeben. Ein sprechendes Beispiel hierfür bildet
Maxwells elektromagnetische Lichttheorie, in der, um die Erscheinungen
der elektrischen Induktion zu interpretieren, nicht nur reibungslos
stattfindende Wirbelbewegungen in einem kontinuierlichen und in seinen
sonstigen Eigenschaften einem starren Körper gleichenden Medium
angenommen, sondern auch noch ein Zwischenmechanismus inter-
poliert wurde, eigens um die Fernewirkung durch eine mechanische
Kontakthypothese zu veranschaulichen. (Vgl. oben S. 305.) Setzt man
voraus, wie es in allen diesen Fällen geschieht, die mechanischen Gesetze
seien gültig für alle Naturerscheinungen, so kann nun eine Übereinstim-
mung mit der Erfahrung offenbar nur dadurch bewirkt werden, daß die
Physik an die Stelle der abstrakten Annahmen über das Substrat der
Bewegungen, welche die Mechanik im möglichsten Anschlusse an die
(eometrie aufstellt, andere Annahmen über jenes Substrat sowie spezi-
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 415
fische Voraussetzungen über die Bewegungszustände desselben treten
läßt. Der empirische Inhalt der physikalischen Forschung findet so
schließlich seinen allgemeinsten Ausdruck in den hypothetischen
Voraussetzungen über die Materie und in den Ge-
setzen für den Zusammenhang der Naturerschei-
nungen. Gleichwohl geht schon aus jener gemischten Entstehungs
weise der physikalischen Deduktionen hervor, daß sowohl der Begriff der
Materie wie die allgemeinsten Naturgesetze nicht schlechthin Abstrak-
tionen aus der Erfahrung, sondern daß sie diejenigen Abstraktionen
sind, die den mathematischen und mechanischen Anforderungen in
möglichst hohem Maße entsprechen. Insofern nun in Geometrie und
Mechanik der Anteil der reinen Anschauung an der äußeren Erfahrung
enthalten ist, finden in dieser Abhängigkeit zugleich die früher er-
örterten erkenntnistheoretischen Beziehungen des Substanz- und
Kausalbegrifis zu den Anschauungsformen ihren geläuterten wissen-
schaftlichen Ausdruck. (Vgl. Bd. I, S. 532 fi., 586 ff.)
2. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung.
Der natürliche Anfang aller physikalischen Beobachtung ist die
unmittelbare Sinneswahrnehmung. So bewundernswert aber auch
unsere Sinneswerkzeuge den praktischen Zwecken des Lebens an-
gepaßt sind, so wenig genügen sie den Bedürfnissen exakter Beob-
achtung. Durch die willkürliche Beweglichkeit des Auges, durch seine
leichte Akkommodation für Nähe und Ferne, durch die kombinierte
Funktion beider Augen bei der Tiefenwahrnehmung ist das Gesichts-
organ in unübertrefllicher Weise dazu geschickt, uns eine rasche Orien-
tierung über die räumlichen Verhältnisse der umgebenden Außenwelt
zu ermöglichen. Vermöge der wunderbaren Vorrichtungen des inneren
Ohrs zur Zerlegung des Schalls und zur Dämpfung der Schallschwin-
gungen vermag unser Gehörorgan mit erstaunlicher Leichtigkeit eine
große Zahl gleichzeitiger Klänge zu unterscheiden und dem schnellsten
Wechsel aufeinander folgender Schalleindrücke ohne Verwirrung
zu folgen. Aber hinsichtlich der Schärfe des Bildes, der Vermeidung
der Farbenzerstreuung, der Feinheit der Einstellung ist das Auge ein
optisches Werkzeug von mäßiger Güte, und zu genauen räumlichen
Messungen schon deshalb ungeeignet, weil es meistens nicht gestattet,
die zu messenden Objekte direkt zu vergleichen, sondern sich mit ihrer
sukzessiven Schätzung begnügen muß. Ebenso verschafft uns das
Gehör nur ungenaue Vorstellungen von der Stärke des Schalls, und
416 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
über die Form der Klangbewegungen gibt es unmittelbar keinen Auf-
schluß. Noch weniger genügen die übrigen Sinne den Ansprüchen
exakter Messung, und diese Mangelhaftigkeit der äußeren Werkzeuge .
der Beobachtung wird schließlich verstärkt durch die Unsicherheit,
mit der unser Bewußtsein den zeitlichen Verlauf der Erscheinungen
quantitativ zu schätzen vermag. Dadurch bleibt aber eine der wich-
tigsten Aufgaben der physikalischen Forschung, die Zeitbestimmung
der Ereignisse, fast ganz unerledigt. So wird von allen Seiten her die
Naturbeobachtung zur Erfindung künstlicher Werkzeuge an-
getrieben, die unsere Sinne bei der Untersuchung der Erscheinungen
unterstützen sollen. Dieses Bedürfnis ist dort am frühesten fühlbar
geworden, wo die natürlichen Hilfsmittel am meisten zu wünschen
übrig lassen, bei den schließlich von psychologischen Faktoren ab-
hängigen Bestimmungen der Ausdehnung räumlich oder zeitlich ge-
trennter Objekte und der relativen oder absoluten Dauer der Ereignisse.
Maßstab und Zirkel, die einfachsten Werkzeuge räumlicher Messung,
diese frühesten Hilfsmittel der Mathematik, sind daher zugleich die
ersten Apparate physikalischer Forschung; ihnen zunächst kommt der
Gnomon, die primitive Sonnenuhr, als Werkzeug der Zeitmessung.
Daran schließt sich die Erfindung des Archimedes, die Wage, das In-
strument der Massebestimmung der Körper. Viel später und zumeist
unter dem direkten Einflusse der experimentellen Richtung der neueren
Physik sind die mannigfaltigen Vorrichtungen entstanden, welche,
wie Fernrohr und Mikroskop, unmittelbar die Leistungsfähigkeit unserer
Sinne zu verstärken suchen. Die logische Betrachtung wird diese
historische Reihenfolge einigermaßen umkehren müssen, indem sie
die Hilfsmittel voranstellt, die derphysikalischenBeobach-
tung dienen, und an sie erst jene anschließt, die beiderMessung
derNaturerscheinungen wirksam sind. Beide greifen natür-
lich vielfach ineinander ein, denn jede exakte Beobachtung wird zur
Messung, die ihrerseits nichts anderes als eine Form der Beobachtung
ist. Immerhin bezeichnet die Möglichkeit des bloß qualitativen
Gebrauchs eine Grenze, welche die allgemeineren Hilfsmittel der Be-
obachtung von den spezielleren der Messung scheidet. Die Unterord-
nung der Messung unter die Beobachtung kommt aber darin zum Aus-
druck, daß die Hilfsmittel der Beobachtung häufig unmittelbar oder
mit geringen Abänderungen zugleich als Messungswerkzeuge Anwen-
dung finden.
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 417
a. Diephysikalische Beobachtung.
Mit Rücksicht auf den nächsten Zweck, dem die verschiedenen
Hilfsmittel der Beobachtung dienen, lassen sich diese in zwei
Hauptklassen bringen. Die erste enthält Vorrichtungen, welche die
Leistungsfähigkeit unserer Sinne zu erhöhen streben; die zweite
umfaßt Hilfsmittel, die dazu bestimmt sind, die Erscheinungen eines
bestimmten Sinnesgebietes dergestalt umzuwandeln, daß sie der Wahr-
nehmung eines anderen Sinnes, dem genauere Werkzeuge zu Gebote
stehen, zugänglich werden.
Die Hilfsmittel zur Analyse der Wahrneh-
mungen teilen sich nach den zwei Sinnesorganen, die bei der Be-
obachtung eine hervorragende Rolle spielen, in optische und in
akustische. Unter ihnen sind die ersteren von überwiegender Be-
deutung, der Herrschaft entsprechend, die der Gesichtssinn in unserer
Auffassung der Außenwelt ausübt. Durch die optischen Hilfsmittel
kann entweder eine bloße Schärfung der natürlichen Sinneswahrneh-
mung erstrebt werden, oder es kann sich dabei um eine Zerlegung der
Erscheinungen handeln, deren unsere Sinnesorgane an und für sich
unfähig sind. Im ersten Fall ist die Analyse der Wahrnehmungen
eine rein physiologische: die beobachteten Erscheinungen
behalten vollständig den Charakter, den sie bei dem natürlichen Sehen
besitzen; dieses wird nur befähigt, die Verhältnisse der räumlichen
Anordnung der Objekte genauer zu bestimmen und daher Details dieser
Anordnung zu erkennen, die der natürlichen Wahrnehmung entgehen.
Fernrohr und Mikroskop sind die zwei wichtigen Werkzeuge, die diesen
Zwecken dienen. Im zweiten Fall ist die Analyse der Wahrnehmungen
eine physikalische: die Erscheinungen werden durch künstliche
Hilfsmittel in Elemente zerlegt, die der physiologische Vorgang des
Sehens niemals zu unterscheiden vermöchte, zu deren genauer Auf-
fassung dann aber weiterhin die Mittel der ersten Klasse Anwendung
finden können. Hierher gehören die Vorrichtungen zur spektroskopischen
Zerlegung des Lichtes und zur Untersuchung der Polarisationserschei-
nungen. Naturgemäß sind die Hilfsmittel der ersten Art früher als die
der zweiten ausgebildet worden. Jene sind zwar aus experimentellen
Erfahrungen hervorgegangen, dienen aber selbst noch ausschließlich
der Beobachtung; bei diesen schließt jede einzelne Anwendung ein Ex-
periment in sich, und nur durch die regelmäßige Form, in der sich das
experimentelle Verfahren mit der Beobachtung verbindet, erhalten die
in Rede stehenden Vorrichtungen die Bedeutung von Beobachtungs-
Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 27
418 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
instrumenten, die ebenso wie Mikroskop oder Fernrohr in jedem Augen-
blick der Untersuchung zu Gebote stehen.
Die Kenntnis der Wirkungen konvexer und konkaver Linsen-
gläser und das an dieselbe sich anschließende Studium der Gesetze
der Lichtbrechung führten so unmittelbar zu der Konstruktion des
Fernrohrs und des Mikroskops, daß diese Instrumente fast
gleichzeitig und, wie es scheint, unabhängig an mehreren Orten er-
funden wurden, so daß über dem ersten Urheber der Idee ein ge-
wisses Dunkel schwebt. Diese Idee ist bei beiden Instrumenten die
nämliche. Wie schon ein einfaches konvexes Brillenglas das Auge be-
fähigt, entfernte Objekte in größere Nähe zu bringen und sie dadurch
deutlicher zu erkennen, so will das optische Instrument dies teils für
die Objekte selbst, teils und vorzüglich aber für die Bilder möglich
machen, die durch die Sammlung der von ihnen ausgehenden Strahlen
entworfen werden. Unterstützt wird die so bewirkte Zergliederung
durch die hinzutretende Ablenkung der Lichtstrahlen, die eine Ver-
größerung des Bildes erzeugt. Die zergliedernde Kraft des Instru-
mentes beruht ganz und gar auf der ersten dieser Bedingungen, auf der
Annäherung des Bildes oder des Objektes selbst an das Auge. Die weitere
Vergrößerung soll nur dem auf diese Weise gewonnenen Bilde die für
die deutliche Auffassung der einzelnen Teile erforderliche Ausdehnung
geben. Diese gemeinsamen Zwecke werden bei beiden Instrumenten
nur durch die verschiedenen Aufgaben, denen sie dienen, modifiziert.
Die Objekte des Fernrohrs stehen nicht in der Macht des Beobachters,
Hier kann nicht der Gegenstand selbst, sondern nur das von ihm auf
dioptrischem oder katoptrischem Wege entworfene Bild in beliebige
Nähe gerückt werden; um ein klares Bild zu gewinnen, müssen ZU-
gleich möglichst viele der von dem Objekt ausgehenden Lichtstrahlen
durch Linsengläser oder Konkavspiegel von bedeutender Oberfläche
gesammelt werden. Das mikroskopische Objekt dagegen steht ganz
unter der Herrschaft des Beobachters. In den einfachsten Fällen
(bei der Lupe oder dem einfachen Mikroskop) kann daher die durch
eine Konvexlinse ermöglichte Annäherung des Objektes an das Auge
den Zwecken der Zergliederung genügen. Bei dem zusammengesetzten
Mikroskop wird, ähnlich wie bei dem Fernrohr, zunächst durch ein
System von Sammellinsen ein reelles Bild entworfen, das dann erst
durch ein direkt vor das Auge gebrachtes Konvexglas betrachtet wird.
Aber da das Objekt beliebig genähert und in seitlicher Richtung ver-
schoben werden kann, so genießt man hier den Vorteil, sich mit einer
sehr kleinen Oberfläche der Objektivlinse begnügen und daher die
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 419
brechende Kraft derselben durch verstärkte Krümmung erhöhen zu
können. Beiden Instrumenten gemeinsam sind dann wieder diejenigen
Vorrichtungen, welche die Schärfe der entworfenen Bilder zu erhöhen
streben, indem sie teils durch Ablenkung der Randstrahlen, teils
durch geeignete Kombination von Linsensystemen die durch die Kugel-
gestalt der Linsen bedingte Lichtzerstreuung sowie die prismatische
Wirkung der Gläser beseitigen. Auf diesen großenteils dem späteren
Fortschritt der Optik zu dankenden Verbesserungen beruht haupt-
sächlich die Vervollkommnung der neueren Instrumente. Da sich
aber die durch die unzureichende Sammlung der Lichtstrahlen ent-
stehenden Übelstände aus naheliegenden Gründen bei den mikroskopi-
schen Objekten in viel empfindlicherer Weise geltend machen als bei den
teleskopischen, so gehört die umfangreichere wissenschaftliche An-
wendung des Mikroskops erst einer verhältnismäßig neuen Zeit an.
Das Fernrohr wurde sofort nach seiner Erfindung zu dem mächtigsten
Werkzeug in den Händen der Astronomen. Nicht nur lieferte es in den
Beobachtungen der Jupitermonde und der Lichtgestalten der Venus
durch Galilei, der Rotationen des Mars durch Cassini die wichtigsten
Beweismittel für das Kopernikanische System, sondern bald wurde es
auch durch die Einfügung des Fadenkreuzes und in Verbindung mit dem
Mikrometer ein Messungswerkzeug von bis dahin nicht erreichter Ge-
nauigkeit. Als solches ist es dann zu terrestrischen und physikalischen
Zwecken ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden. Das Mikroskop
hat nach der ersten Aufsehen erregenden Entdeckung, die es vermittelte,
der Auffindung der Spermatozoen durch Leuwenhoek, durch die zahl-
reichen Täuschungen, zu denen es verführte, zunächst nur geringe Fort-
schritte gebracht. Erst dem 19. Jahrhundert war es vorbehalten, die
große Wichtigkeit dieses Instrumentes für die verschiedensten Zweige der
Naturlehre ans Licht zu stellen. Hand in Hand mit der Ausbreitung
seiner Anwendungen gingen hier die Bemühungen der Optiker, durch fort-
schreitende Vervollkommnung der Linsensysteme, der Beleuchtungsvor-
richtungen und der Hilfsmittel zur vollkommenen Auswertung der von
dem Objekt ausgehenden Strahlenbüschel die Leistungsfähigkeit des In-
strumentes immer weiter zu treiben, damit sie den fortan sich steigernden
Aufgaben namentlich auf dem Gebiet der Biologie zu folgen vermöge*).
*) Für die Erfolge, die hier durch die Verbindung theoretischer Über-
legung und praktischer Erfahrung erzielt worden sind, ist es bezeichnend, daß,
kurz bevor Ernst Abbe die letzten großen Verbesserungen ins Werk setzte,
manche Physiker geneigt waren, aus theoretischen Gründen anzunehmen, daß
das seitherige Mikroskop die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht habe.
420 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Der neueren Entwicklung der experimentellen Physik gehören
auch durchgehends diejenigen optischen Hilfsmittel an, die nicht
eine Schärfung der Wahrnehmung, sondern eine physikalische
Analyse der Erscheinungen bezweckn. Wie Teleskop
und Mikroskop auf die Gesetze der Lichtbrechung durch Linsengläser,
so stützt sich das Spektroskop auf die Gesetze der Farbenzer-
streuung durch Prismen. Die instrumentelle Anwendung ist hier der
physikalischen Kenntnis der prismatischen Wirkungen verhältnis-
mäßig spät erst nachgefolst, da sich jene Anwendung nicht auf die
Farbenzerstreuung als solche, sondern auf gewisse mit derselben ver-
bundene Erscheinungen stützte. Diese Erscheinungen bestanden in
den dunkeln Frauenhoferschen Linien des Sonnenspektrums sowie
in den hell leuchtenden Linien und Bändern, welche glühende Metall-
dämpfe durch das Prisma gesehen darbieten. Erst als durch Kirch-
hoff und Bunsen diese beiden Tatsachen miteinander in Verbin-
dung gebracht waren, als man erkannt hatte, daß ein dunkles Linien-
spektrum aus einem hellen regelmäßig infolge der Absorption der
Strahlen eines glühenden Gases durch die abgekühlten Teile des näm-
lichen Gases entsteht, wurde die prismatische Zerlegung des Lichtes
ein zu den verschiedensten Zwecken verwendbares Untersuchungs-
hilfsmittel. Bald dient dieselbe einfach zur Erkennung der in einer
gegebenen Lichtquelle enthaltenen Farbenmengungen; bald soll mit
Hilfe der hellen oder dunkeln Linien entschieden werden, ob das aus-
gesandte Licht zu einem Emissions- oder Absorptionsspektrum Veran-
lassung gibt, um hieraus Rückschlüsse auf die physikalische Konsti-
tution des lichtgebenden Körpers und die Beschaffenheit des Ver-
brennungsprozesses zu machen; bald soll durch die Feststellung der
Lage der hellen oder dunkeln Linien und ihre Vergleichung mit den
Spektrallinien bekannter Stoffe die chemische Konstitution eines Körpers
ermittelt werden. Endlich kann bei durchsichtigen Substanzen die
Veränderung, die der Durchtritt des Lichtes durch dieselben in dem
Spektrum einer bekannten Lichtquelle hervorbringt, teils zur Erkenntnis
der Absorptionswirkungen, teils wieder zur chemischen und physi-
kalischen Charakterisierung Verwendung finden.
Während das Spektroskop das Licht unmittelbar in seine einzelnen
Brechbarkeitsstufen zerlegt, sucht man bei den Polarisations-
apparaten über die in einem Lichtstrahl vorhandenen Schwingungs-
richtungen auf dem Wege der Ausschließung Aufschluß zu
gewinnen. Der Grund hierfür liegt darin, daß wir Licht von verschiedener
Brechbarkeitsstufe unmittelbar durch die Farbe zu unterscheiden ver-
Die. Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 431
mögen, daß dagegen verschieden polarisiertes Licht dem Auge voll-
kommen gleich erscheint. Objektiv kann daher die Schwingungs-
richtung des Lichtes nur daran erkannt werden, daß ein Körper, der
das Licht polarisiert, Licht von entgegengesetzter Schwingungsrichtung
zurückhält. Da nun in dem gewöhnlichen Licht Schwingungen von
allen möglichen Richtungen vorkommen, so ist es für die Entscheidung
der Frage, ob irgend ein durchsichtiger Körper polarisierende Eigen-
schaften besitze, stets erforderlich, daß das zu seiner Prüfung ver-
wendete Licht durch eine polarisierende Vorrichtung bereits auf eine
Schwingungsrichtung zurückgeführt sei. Weil aber außerdem die
untersuchten Körper in den dünnen Schichten, in denen sie noch eine
hinreichende Durchsichtigkeit besitzen, die polarisierende Eigenschaft
nur in geringem Grad zeigen, so muß dem Polariskop eine solche Ein-
richtung gegeben werden, daß es die geringste Veränderung in der
Schwingungsrichtung noch deutlich angibt. Zu diesem Zweck wird
also das gewöhnliche Licht durch zwei polarisierende Vorrichtungen
geleitet, zwischen denen das Untersuchungsobjekt eingeschaltet ist.
Sind nun beide Vorrichtungen so gegeneinander gedreht, daß die
zweite das durch die erste polarisierte Licht vollständig auslöscht,
so wird die leiseste Veränderung, welche die eingeschaltete Substanz
in der Schwingungsrichtung hervorbringt, durch eintretende Licht-
und Farbenerscheinungen angezeigt. Das Wesen dieses Verfahrens
besteht also darin, daß es die Wirkungen, die ein Körper auf die
Schwingungsrichtung des ihn durchsetzenden Lichtes ausübt, ermittelt,
indem es zunächst einen Grenzzustand herstellt, von dem aus jede
Veränderung leicht zu erkennen ist. Dadurch ist zugleich das Prinzip
an die Hand gegeben, das eine Messung der polarisierenden
Wirkung gestattet, da sich die eingetretene Veränderung der Schwin-
gungsrichtung stets durch eine veränderte Stellung der Polarisations-
apparate zueinander kompensieren läßt. Der Grad der zur Wieder-
herstellung jenes Grenzzustandes erforderlichen Stellungsänderung
läßt dann unmittelbar auf die polarisierende Wirkung zurückschließen.
Durch die Anwendung dieses Prinzips ist der Polarisationsapparat das
feinste Hilfsmittel für die qualitative und quantitative Untersuchung
der Molekularstruktur der Körper geworden, das namentlich in solchen
Fällen, wo diese bestimmte Richtungsunterschiede erkennen läßt,
wie bei den Kristallen oder organischen Geweben, von unschätzbarem
Werte ist.
Sehr spät erst ist die Ausbildung akustischer Werkzeuge
zur Analyse der Wahrnehmung den optischen Hilfsmitteln nach-
4223 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
gefolgt. Kaum läßt sich der einfachen Verwendung der Schallreflexion
und der Leitung durch feste Körper, wie sie zum Zweck der
Verstärkung des Schalls und seiner Übertragung in größere Ent-
fernung seit lange im Gebrauch sind, die Bedeutung eines wissen-
schaftlichen Hilfsmittels beilegen. Erst das Telephon und das
Mikrophon haben, wie ihre Namen schon andeuten, für das Ohr
das nämliche zu leisten gesucht wie das Teleskop und das Mikroskop
für das Auge. Aber dabei zeigt sich freilich die Inferiorität des Schalls
als physikalischen Hilfsmittels darin, daß bei diesen Apparaten
Elektrizität und Magnetismus herbeigezogen werden müssen,
um die erwünschte Fernewirkung und Verstärkung der Schallefiekte
hervorzubringen. Auch ist es, so groß die praktische Bedeutung dieser
neuen Hilfsmittel ist, kaum wahrscheinlich, daß sie für wissenschaftliche
Untersuchungen weiter als zu gewissen nebensächlichen Zwecken An-
wendung finden werden. Denn das Telephon kann unserm Ohr immer
nur Schallquellen erschließen, die sich in zugänglicher Ferne be-
finden, und das Mikrophon vermag nur Eindrücke zu verstärken,
nicht neue Wahrnehmungen dem Ohr zuzuführen. Ebenso sind die
Hilfsmittel zur physikalischen Analyse der akustischen Erscheinungen
hier von verhältnismäßig unvollkommener Beschaffenheit, abgesehen von
dem Sinnesorgan selbst, das durch seine natürliche Fähigkeit der
Klanganalyse dem Auge überlegen ist. Einigermaßen läßt sich zwar die
Unterstützung der Klanganalyse durch verstärkende Resonatoren, die
auf bestimmte Töne abgestimmt sind, den spektroskopischen und
polariskopischen Hilfsmitteln vergleichen. Mit den letzteren namentlich
hat sie das Prinzip gemeinsam, gewisse Schwingungsarten vor andern
zu bevorzugen. Aber da sie die übrigen Klangbestandteile nicht völlig
ausschließen und die ursprüngliche Stärke des bevorzugten Tones in un-
bestimmter Weise vergrößern, so sind die Resonatoren hauptsächlich
Hilfsmittel, welche die Übung des Sinnesorganes in der Unterscheidung
der Töne fördern.
Verrät sich schon in dem Übergewicht der optischen Werkzeuge
vor denen der übrigen Sinne die größere Bedeutung des Gesichtssinns,
so tritt diese herrschende Rolle nun noch deutlicher hervor bei jenen
Hilfsmitteln der physikalischen Beobachtung, welche die Erscheinungen
eines bestimmten Sinnesgebiets dergestalt umwandeln, daß sie der
Wahrnehmung eines andern, einer genaueren Auffassung fähigen Sinnes
zugänglich werden. DieseHilfsmittelzurTransformation
der Erscheinungen sind nämlich durchweg dahin gerichtet,
andersartige Sinneseindrücke umzuwandeln in Eindrücke des
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 423
Gesichtssinns. So gewinnen wir die Vorstellung der Schwere der
Körper ursprünglich durch den Tastsinn. Aber die Wage ersetzt
diesen Eindruck durch ein Gesichtsbild, das eine genaue Schätzung
des Gleichgewichts zweier schwerer Körper und auf diesem Wege eine
quantitative Abstufung der Körper in Bezug auf ihre Schwere gestattet.
Nur die Schwere gasförmiger Körper, wie der Luft, läßt sich, wie sie der
Wahrnehmung durch den Tastsinn in der Regel unzugänglich ist, so
auch auf dem gewöhnlichen Wege der Wägung im allgemeinen nicht be-
stimmen. Doch das Barometer verwandelt den Druck der Luft wieder-
um in eine Erscheinung des Gesichtssinns. Bei dem Quecksilberbarometer
besteht diese in der in einer luftleeren Glasröhre emporsteigenden
Quecksilbersäule, bei dem Aneroidbarometer in den durch den äußeren
Luftdruck bewirkten Krümmungsänderungen einer kreisförmig ge-
bogenen und luftleeren elastischen Röhre, welche Änderungen durch die
Übertragung auf ein Zeigerwerk deutlicher sichtbar und meßbar gemacht
werden. Ähnlich wird in dm Thermometer die Ausdehnung
einer Flüssigkeit durch die Wärme benützt, um ein räumliches Maß
der Temperaturänderungen zu gewinnen. Bei dem Thermogalvanometer
wird der nämliche Zweck durch eine doppelte Transformation erreicht,
indem man zuerst durch einen Temperaturunterschied einen elektrischen
Strom erzeugt, der dann seinerseits wieder die Ablenkung einer Magnet-
nadel hervorbringt. Für die praktische Beobachtungskunst ist die
Wirkung des elektrischen Stromes auf den Magnet vor allem deshalb
von unschätzbarem Werte geworden, weil es sich hier um die Herstellung
eines sichtbaren Vorgangs handelt, der leicht wahrzunehmen und in
seinen quantitativen Veränderungen zu verfolgen ist. Übrigens beruhen
auch alle andern Hilfsmittel für die Beobachtung elektrischer Wirkungen
auf irgend einer Umwandlung in sichtbare Bewegungsvorgänge, mögen
nun diese, wie bei dem Elektrometer und der elektrischen Dreh-
wage, Bewegungen der elektrisierten Körper selbst sein oder, wie bei
der Voltaschen Wasserzersetzung, der Galvanischen Zuckung des
Froschschenkels und der Beobachtung des elektrischen Lichtbogens, auf
bestimmten Transformationen in chemische, physiologische und optische
Erscheinungen beruhen. So bewundernswert die Fähigkeit des Ohres
ist, eine Menge gleichzeitiger Klänge deutlich zu unterscheiden, so kann
doch die physikalische Analyse der Schallschwingungen die Darstellung
derselben in räumlichen Bildern nicht entbehren, wobei die Bewegungen
schwingender Körper entweder unmittelbar oder mit Hilfe gewisser
Wirkungen, die sie auf andere leicht bewegliche Körper hervorbringen,
sichtbar gemacht werden. So liefert der Vibrograph, indem er die
494 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Aufzeichnung der Schwingungen eines starren Körpers auf einen mit
gleichförmiger Geschwindigkeit rotierenden Zylinder besorgt, bleibende
Bilder der vergänglichen Erscheinung, an denen sich sowohl die Schnel-
ligkeit wie die Form der Schwingungen studieren läßt. Bei dem von
Lissajous erfundenen Vibrationsmikroskop werden die schwingenden
Bewegungen eines Körpers, z. B. einer Violinsaite, durch einen an ihm
angebrachten lichtreflektierenden Punkt kenntlich gemacht, den man
durch ein Mikroskop beobachtet, welches, an einer Stimmgabel befestigt,
parallel der Saitenlänge in regelmäßige Schwingungen versetzt wird.
Man erhält so das Bild einer aus zwei zueinander senkrechten Schwin-
gungen resultierenden Bewegung, aus der sich, da die Schwingungsform
der Stimmgabel bekannt ist, diejenige der Saite rekonstruieren läßt.
Bei der Erzeugung von Klangfiguren endlich dienen die Formen, in
denen sich der auf schwingende elastische Platten gestreute Sand grup-
piert, zur Erkennung der Knotenlinien, aus denen dann Rückschlüsse
auf die Schwingungsform der Platte möglich werden.
b. Die Messung der Naturerscheinungen.
Von dem Streben, die Wahrnehmungen der übrigen Sinnesgebiete in
Gesichtserscheinungen umzuwandeln, ist nun die Beobachtung vor allem
auch in allen den Fällen geleitet, wo sie Hilfsmittel zur Messung
der Erscheinungen zu gewinnen sucht. Die exakten Maße, über welche
die Physik verfügt, zerfallen mn Raummaße, Gewichtsmaße
und Zeitmaße. Da aber die Feststellung der beiden letzteren stets
auf räumliche Messungen zurückführt, so besteht jede exakte Messung
in der Bestimmung der räumlichen Eigenschaften von Gewichtsob-
jekten oder, da die geometrischen Elemente aller räumlichen Beziehun-
gen die gerade Linie und der Winkel sind, schließlich in der Messung von
geraden Linien und Winkeln. Diese vielseitige Verwendung der einfachen
geometrischen Maßelemente würde freilich nicht möglich sein, wenn uns
nicht durch die Empfindungen des Tast- und Muskelsinnes die Kraft-
und Massenvorstellung gegeben wäre, und wenn nicht allen Wechsel der
Wahrnehmungen die Zeitvorstellung begleitete. Aber diese Vorstellungen
entziehen sich jeder genaueren unmittelbaren Messung. Sie sind gerade
zureichend, um das Bedürfnis nach exakten Kraft- und Zeitmaßen zu
erwecken; doch dieses Bedürfnis beginnt erst in dem Moment befriedigt
zu werden, wo sich, vermöge jener Tendenz, unsere ganze Anschauung
der Außenwelt in Gesichtserscheinungen umzuwandeln, die Zeit so-
wohl wie das Gewicht in räumlichen Vorstellungen fixiert haben. Für
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 425
die Zeit fällt dieses Ereignis in die frühesten Anfänge des menschlichen
Denkens, für das Gewicht, das uns noch heute der nächste unserer un-
mittelbaren Wahrnehmung zugängliche Repräsentant sowohl des Kraft-
wie des Massebegriffs ist, geschah der nämliche Schritt sogleich bei
der ersten Begründung der wissenschaftlichen Statik durch Archimedes.
Zu astronomischen und geodätischen Zwecken ist seit uralter Zeit
das Längenmaß für die Messung der geradlinigen Entfernung und die
Kreisteilung für die Messung des Winkels im Gebrauch gewesen. Auch
nötigten jene Zwecke frühe schon, über das primitive Verfahren des ge-
wöhnlichen Lebens, das nur mittels der unmittelbaren Anlegung
des Messungswerkzeuges an den Gegenstand eine Messung auszuführen
weiß, hinauszugehen, um mit Hilfe der Anbringung geeigneter Visier-
punkte die Winkeldistanzen entfernter Objekte direkt zu ermitteln,
und um ihre linearen Entfernungen durch die Kombination solcher
Winkelmessungen mit der Ausmessung leicht zugänglicher näherer
Lineardistanzen auf dem Wege der geometrischen Konstruktion und
der Rechnung zu bestimmen. Gleichwohl befanden sich alle diese
Messungsmethoden noch auf ihrer Kindheitsstufe, da man jede be-
liebige Messungsaufgabe mit zureichender Genauigkeit erledigt glaubte,
wenn sie auf die unmittelbare Vergleichung mit einem gegebenen Maß-
stab zurückgeführt war. Ein erster Schritt zur Verfeinerung solcher
Messungen geschah, als man durch verschiedene Hilfsmittel die Schät-
zung der Bruchteile der Maßeinheiten zu verbessern suchte, was zuerst
von den Astronomen nicht lange vor der Zeit Tychos durch die Ziehung
von Transversalen zwischen den entgegengesetzten Endpunkten der
benachbarten Teilungslinien eines Maßstabes versucht wurde. Aber es
ist bezeichnend, daß das vollkommenere, noch jetzt gebrauchte Hilfs-
mittel dieser Art, der Nonius, erst aufkam, als gleichzeitig auch das
Fernrohr durch die Einfügung des Fadenkreuzes zu Messungszwecken
Verwendung fand. Noch mehr ist die Einführung anderer Hilfsmittel
zur Verfeinerung der Messungen direkt an die Benützung der optischen
Instrumente, des Fernrohrs und des Mikroskops, gebunden gewesen.
Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Auges ließ nach einem Hilfs-
mittel suchen, das die Genauigkeit der Einstellung auf die Visier-
punkte vergrößerte. Dieses Hilfsmittel wurde in der Mikrometer-
schraube gefunden, deren Vorteil auf der Transformation einer ver-
hältnismäßig umfangreichen Kreisbewegung in eine sehr kleine lineare
Bewegung beruht, so daß sie mittels der Vorbeiführung des Maßstabes
an dem Objekte noch minimale Bruchteile der Maßeinheit abzulesen
gestattet. Auf der Anwendung der Mikrometerschraube beruhen da-
496 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
her wiederum die Hilfsmittel zur Anfertigung der genauesten und fein-
sten Maßstäbe, wie sie durch die Benützung der vergrößernden opti-
schen Instrumente zu Messungen erforderlich geworden sind. Je emp-
findlicher diese Hilfsmittel der Messung sich gestaltet haben, umsomehr
mußte man zugleich bestrebt sein, die bei jeder Messung gleichwohl
unvermeidlichen Fehler durch wiederholte Beobachtungen und durch
die Ermittlung und Berücksichtigung der vorhandenen Fehlerquellen
zu eliminieren. So wird es begreiflich, daß, während in der Periode
Hipparchs die Fehler der astronomischen Messungen noch halbe Winkel-
grade und zu Tychos Zeiten einige Minuten betragen konnten, sie heute
höchstens um den Wert einer Sekunde zu schwanken pflegen. Ganz
in entsprechender Weise hat sich aber die physikalische Messung auf
allen Gebieten vervollkommnet, und mit Hilfe des Mikroskops und des
Mikrometers ist überdies eine genaue Messung zahlreicher Objekte
möglich geworden, die wegen ihrer Kleinheit für eine frühere Zeit
unmeßbar und häufig selbst unsichtbar waren.
Im Gegensatze zu diesen hauptsächlich durch die Verwendung
der optischen Instrumente bedingten Umgestaltungen, welche die
Längen- und Winkelmessung erfuhren, ist das Hilfsmittel für die Be-
stimmung der bewegenden Kraft der Körper, die Wage, im Prinzip
unverändert geblieben: sie ist nur in der technischen Ausführung ver-
vollkommnet worden, und ihr Anwendungsgebiet hat sich stetig er-
weitert. Zunächst lag es nahe, das Prinzip des Hebels mit dem
ebenfalls von Archimedes gefundenen Gesetz der Gewichtsabnahme
der Körper in Flüssigkeiten zu verbinden, um auf diese Weise die
zur absoluten Gewichtsbestimmung dienende Hebelwage gleichzeitig
als hydrostatische Wage zu spezifischen Gewichtsbestimmungen zu
benützen. Beruht in beiden Fällen die Messung des Gewichts auf
der mit dem Auge leicht erkennbaren Herstellung der Gleichgewichts-
lage des Wagebalkens, so konnte nun aber auch umgekehrt der Grad
der Ablenkung aus dieser Lage dem nämlichen Zweck dienen, ein
Prinzip, welches bei der Zeigerwage und in verschiedentlich modifi-
zierter Form auch bei der Federwage und dem Aräometer oder, unter
Benützung von Flüssigkeiten zur Druckbestimmung, bei dem Baro-
meter und Manometer Anwendung findet. Eine wichtige Umgestaltung
der Wage für wissenschaftliche Zwecke ist endlich die Drehwage, bei
welcher die Drehung eines elastischen Fadens, an dem ein gleich-
armiger Hebel aufgehängt ist, zur Messung irgendwelcher anziehender
oder abstoßender Kräfte, die an dem einen der beiden Hebelarme an-
greifen, benützt wird. Auf das Prinzip der Drehwage führt die An-
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 427
wendung drehbarer Magnete für die Messung elektrischer und mag-
netischer Fernewirkungen zurück. Während die gewöhnliche Hebel-
wage wegen der Forderung des Gleichgewichtszustandes, die bei ihr
erfüllt sein muß, nur für die Messung konstant bleibender Gewichte
dienen kann, machen diejenigen Formen der Wage, die statt dessen
den Grad der Abweichung aus einer bestimmten Gleichgewichtslage
benützen, eine unmittelbare Verfolgung etwaiger Veränderungen in
der Zeit möglich, und manche von ihnen, wie das Manometer, die Dreh-
wage, der Magnetstab, gestatten außerdem eine ähnliche Verwendung
der Gleichgewichtsmethode wie bei der gewöhnlichen Hebelwage. Alle
diese Instrumente, die auf das Prinzip der Wage zurückführen, be-
dienen sich, welcher Art die Naturkräfte auch sein mögen, deren Wir-
kungen gemessen werden sollen, schließlich der Vergleichung mit be-
stimmten Gewichtsgrößen fester oder flüssiger Körper. Teils geschieht
dies unmittelbar, wie bei der gewöhnlichen Hebelwage, dem Baro-
meter und Manometer, dem auf einer Spitze drehbaren Magnete, teils
auf indirekte Weise, wie bei der Federwage, der Drehwage und dem
an drehbaren Fäden aufgehängten Magnete. In diesen Fällen wird der
elastische Widerstand, der zu überwinden ist, wenn Bewegungen von
bestimmter Größe zu stande kommen sollen, zunächst in Gewichts-
einheiten bestimmt. Auf diese Weise bildet die Schwere das gemein-
same Maß für alle anderen einer exakten Messung zugänglichen Natur-
kräfte. In der Tat ist sie dazu in bevorzugter Weise geeignet
wegen ihrer absoluten Konstanz an einem gegebenen Beobachtungs-
orte und wegen ihrer verhältnismäßig geringen und leicht zu bestim-
menden Unterschiede in den verschiedenen Gegenden der Erde.
Gerade aber weil das Gewicht das gemeinsame Maß abgibt für alle
anderen Naturkräfte, kann durch dasselbe die Kraft der Schwere selbst
nicht gemessen werden. Indem diese auf jedes Teilchen eines schweren
Körpers die nämliche Wirkung ausübt, ist die Größe des Gewichts
immer nur ein Maß der Masse oder des Widerstandes, den ein
Körper einer bewegenden Kraft entgegensetzt. Will man dieses
Maß außerdem unabhängig machen von den räumlichen Verschie-
denheiten der Schwerkraft auf der Erdoberfläche, so muß es über-
all auf die nämliche Größe reduziert werden. Darum dient in der
rationellen Mechanik nicht das Gewicht P, sondern der Quotient =
als Maß der Masse. Die Größe g, welche die Intensität der Schwere an
einem gegebenen Ort bezeichnet, wird aber durch die Beschleunigung
gemessen, die ein Körper in einer gegebenen Zeit durch die Wirkung
428 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der Schwere erfährt. Bei diesem Punkte führt daher die Intensitäts-
messung wieder zurück auf eine Längenmessung, mag man nun un-
mittelbar den Weg ermitteln, der infolge der erlangten Beschleunigung
von einem fallenden Körper in der Zeiteinheit zurückgelegt wird, oder
mag man diesen Weg aus der Länge des einfachen Pendels berechnen,
das eine Schwingung in der Zeiteinheit der Sekunde vollendet.
Durch ihre Konstanz am Beobachtungsorte und durch die Leichtig-
keit, mit der ihre Wirkungen in einfache räumliche Maße umgesetzt
werden können, empfiehlt sich die Schwere in so hohem Grade als
Maßstab aller Naturkräfte, daß eine andere für uns in dieser Rolle
kaum denkbar ist. Dieses Verhältnis bedingt aber wieder eine eigen-
tümliche Ausnahmestellung. Die Intensität der Schwere selbst kann,
wie bemerkt, auf statischem Wege nicht ermittelt werden, da die
Wage nur die Massen zu messen gestattet, auf welche die konstante
Schwerkraft wirkt. Für andere Naturkräfte dagegen ist eine statische
Messung ausführbar, indem man umgekehrt die schweren Massen be-
stimmt, die durch sie im Gleichgewichte gehalten werden. In allen
Fällen, wo die Intensität der Naturkräfte die zureichende Konstanz
besitzt, macht in der Tat diese statische Methode die größte Ge-
nauigkeit möglich, weil sie nur eine einzige räumliche Messung, nicht
aber außerdem noch eine Zeitbestimmung erfordert. Auf diese Weise
dient die Schwerkraft zu zwei Arten der Intensitätsbestimmung:
zunächst ist sie bei der Gewichtsbestimmung der Körper das geläufige
Maß für die Menge der ponderabeln Materie, und sodann wird sie, in-
dem beliebige andere Naturkräfte in Gewichtsgrößen bestimmt werden,
zum allgemeinen Maß der Kräfte, die außer der Schwere auf die pon-
derable Materie wirken können. Dagegen ist bei der Messung der
Schwere selbst nur die einer beliebigen Masse in einer gegebenen Zeit
erteilte Beschleunigung verwendbar: darum muß in diesem Falle stets
mit der räumlichen Messung eine Zeitmessung verbunden werden.
Aber hier bietet nun die absolute Konstanz der Schwere an dem Be-
obachtungsorte den Vorteil, daß die Zeit, während deren die Wir-
kungen gemessen werden, beliebig lang genommen werden kann. Dies
geschieht vornehmlich bei den Pendelversuchen, durch die daher der
Nachteil der doppelten Messung wieder ausgeglichen wird.
Durch die Zurückführung aller anderen Naturkräfte auf das Maß
der Schwerkraft ist es nun der physikalischen Forschung erst möglich
geworden, von den qualitativen Eigentümlichkeiten, welche die einzelnen
Erscheinungen für die Sinneswahrnehmung darbieten, ganz zu ab-
strahieren, und indem diese Reduktion auf die Schwere die Idee der
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 429
Einheit der Naturkräfte praktisch vorausnahm, hat sie nicht nur den
Begriff der Transformation vorbereitet, sondern auch, nachdem sich
dieser in der Erfahrung bestätigt hatte, demselben sofort die erforder-
lichen Maßmethoden zur Verfügung gestellt. Außerdem ist durch die
Reduktion auf die Schwere und die Erkenntnis der Transformationen
ein neuer Begriff entstanden, der sich für viele Anwendungen geeig-
neter erweist als der Kraftbegriff, der Begriff der Energie. Unter ihr
versteht man allgemein die Fähigkeit zur Herbeiführung einer
Ortsveränderung von Massen oder, da wir eine solche Ortsver-
änderung als Arbeit bezeichnen, kürzer ausgedrückt: die Fähigkeit
zur Leistung von Arbeit. Diese Fähigkeit ist notwendig
immer selbst an bestimmte Massen gebunden, sei es dadurch, daß
dieselben in einer Bewegung begriffen sind, die sie an andere Massen
mitteilen können, sei es dadurch, daß sie in eine Lage gebracht sind,
in welcher die Schwere oder eine andere Naturkraft eine bewegende
Wirkung auf sie auszuüben strebt. Im ersten dieser Fälle wird die
Energie als aktuelle oder kinetische, im zweiten als
potentielle oder auch als Energie der Lage bezeichnet.
Die kinetische Energie fällt in ihrer mechanischen Bedeutung mit dem
früher erörterten Begriff der „lebendigen Kraft“ zusammen, und sie
wird daher durch das der letzteren entsprechende Produkt = mv?
gemessen (S. 321).
Neben dem Begriff der Energie behält aber derjenige der Kraft
die ihm seit der Begründung der Mechanik beigelegte Bedeutung,
welche Newton in die Definition zusammenfaßte: „Kraft ist das gegen
einen Körper ausgeübte Bestreben, seinen Zustand der Ruhe oder der
gleichförmigen Bewegung zu ändern.“ Die Energie ist eine durch
die Reduktion auf die Schwere veranlaßte Unterform dieses Kraft-
begrifis. Wir nennen eine Kraft dann Energie, wenn wir von den Be-
dingungen ihres Ursprungs absehen und nur auf ihre Messung durch
das Gleichgewicht oder die Bewegung schwerer Massen Rücksicht
nehmen. Die uniforme Messung ist es, die hier jene Abstraktion von
den Entstehungsbedingungen veranlaßt hat, und die zugleich die Nütz-
lichkeit des so gebildeten Begriffs bedingt. Bei der wirklichen Messung
der Erscheinungen kann, eben weil dieselbe mittels der Schwere ge-
schieht, immer nur die Energie in Betracht kommen. Aus diesem
Grunde hat sich denn auch die Anwendung des allgemeineren Begriffs
der Kraft auf diejenigen Fälle zurückgezogen, in denen wir bei der
Bezeichnung der Bedingungen einer bestimmten Bewegungserscheinung
430 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
die Reduktion auf die Schwere außer acht lassen. Dies geschieht aber
vorzugsweise dann, wenn wir ausdrücklich den spezifischen Charakter
einer einzelnen Bewegungsursache oder des übereinstimmenden Grundes
eines allgemeinen Erscheinungsgebietes hervorzuheben wünschen. In
diesem Sinne unterscheiden wir etwa die Dampfkraft und die Wasser-
kraft als verschiedene Motoren, oder bezeichnen wir ganz allgemein
Licht, Wärme, Elektrizität und die Schwere selbst als verschiedene
Naturkräfte.
Insofern die Schwere nur eine Naturkraft unter anderen ist, kann
man nun aber auch den so entstandenen Begriff der Energie verall-
gemeinern, indem man die thermische, elektrische, magnetische, che-
mische u. s. w. Energie der mechanischen Bewegungsenergie koordi-
niert und die Aufgabe der physikalischen Forschung lediglich dar-
auf richtet, die quantitativen Beziehungen zu ermitteln, in denen diese
verschiedenen Energieformen ineinander übergehen können*). Diese
Auffassung bietet den Vorteil, daß sie die Theorie der Transforma-
tionen der Naturkräfte von den Voraussetzungen über die Beschaflen-
heit der Materie, insbesondere auch von dem Postulat, daß alle Natur-
vorgänge auf mechanische Bewegungsvorgänge zurückführbar seien,
unabhängig macht. Dies ist bei dem gewöhnlichen, an den mechanischen
Begriff der lebendigen Kraft sich anlehnenden Energiebegriff nicht der
Fall. Denn dieser setzt nicht bloß voraus, daß die übrigen Formen
aktueller Energie eventuell in Bewegungsenergie umgewandelt werden
könnten, sondern daß sie selbst in letzter Instanz Bewegungsenergie
seien. Er macht dadurch bestimmte Hypothesen über die materiellen
Elemente, welche die Träger der Energie sind, sowie über die Be-
schaffenheit ihrer Bewegungen erforderlich. Anderseits hat aber jene
allgemeinere Auffassung des Energiebegriffs den Nachteil, daß sie auf
eine jede anschauliche Darstellung desselben verzichtet, ausgenommen
bei der Bewegungsenergie schwerer Körper. Nun kann zweifellos ein
zeitweiliger Verzicht auf das Postulat der Anschaulichkeit, das, wie oben
(5. 288 fi., 347 ff.) erörtert, von Anfang an das treibende Moment für
die mechanische Naturanschauung gewesen ist, nützlich sein, nament-
lich so lange die mechanischen Hypothesen über gewisse Naturvorgänge
*) Eine solche allgemeinere Auffassung des Energiebegriffs wird bereits an-
gedeutet von G. Helm, Die Lehre von der Energie, 1887. (Vgl-.auch Max Planck,
Das Prinzip der Erhaltung der Energie, 1887, S. 96 ff.) Eingehender hat sie durch-
zuführen gesucht W. Ostwald in seinen „Studien zur Energetik“, Sitzungsber.
der Leipziger Ges. der Wiss. 1891, S. 271, 1892, S. 211 ff, und Lehrbuch der
allgemeinen Chemie, 2. Aufl. II, S. 1—51.
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung.| 431
noch der zureichenden Sicherheit entbehren. Indessen ist es unleug-
bar, daß gerade der Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungs-
gebiete, wie er in dem Prinzip der Erhaltung der Energie seinen näch-
sten quantitativen Ausdruck findet, immer wieder zur Aufstellung
mechanischer Vorstellungsweisen und eben damit auch zu einer Um-
deutung anderer Energieformen, wie der thermischen, der elektrischen,
in Bewegungsenergie herausfordert. So ist die mechanische Wärme-
theorie zunächst durch die Beobachtung der Beziehungen zwischen
Volum und Temperatur gasförmiger Körper veranlaßt worden, das
Wesen der Wärme in mechanischen Bewegungen der Teilchen zu er-
blicken*). So führt ferner die elektromagnetische Lichttheorie auf
Schwingungsbewegungen eines materiellen Mediums zurück; oder für
denjenigen, der dieser Theorie seine Zustimmung versagt, ergibt sich
wenigstens aus dem gesamten Zusammenhang der Lichterscheinungen,
vor allem aus der Existenz der Interferenzerscheinungen, die Notwendig-
keit der Voraussetzung irgend einer oszillierenden Bewegung. Da aber
eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar ist, so
ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen aus einem mecha-
nischen Vorgang ein unumgängliches Erfordernis**). Damit ist in allen
diesen Fällen die Forderung einer Umsetzung der bloß begriftlich
fixierten Energiewerte in die anschauliche Form der Bewegungsenergie
von selbst gegeben, und wenn die Unsicherheit der Theorien eine ein-
deutige Feststellung letzterer Art in manchen Fällen noch nicht möglich
macht, so kann dies jene Forderung selbst nicht aufheben. Auch ist
vom logischen Standpunkte aus hervorzuheben, daß man sich über den
eigentümlichen Charakter der Evidenz, den das Energieprinzip mit
gewissen allgemeinen Voraussetzungen der Mechanik teilt, nur Rechen-
schaft zu geben vermag, wenn man sich alle Energie an ein bestimmtes
unveränderlich im Raum gegebenes Substrat gebunden denkt, dessen
Veränderungen in Lageänderungen seiner Teile, und dessen Wirkungs-
fähigkeit demnach allein in Bewegungsenergien bestehen kann, wo-
*) Vgl. das früher auf S. 73 ff. angeführte Beispiel eines analytischen Be-
weises aus diesem Gebiete.
**) Allerdings hat Ost wald der letzteren Annahme zu entgehen gesucht,
indem er die „strahlende Energie“ nicht auf die Schwingungen eines materiellen
Mediums zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung befindliche
Energie definiert. Gerade dieser aus einem anschaulichen und einem rein be-
grifflichen Bestandteil zusammengesetzte Doppelbegriff beweist aber, daß der
Energiebegriff selbst eine Zerlegung fordert, die ihn in Elemente der Anschauung
auflöst. Denn eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung eines im
Raum gegebenen realen Substrates definiert werden.
433 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
gegen die rein begriffliche Fixierung des Energiebegrifis genötigt sein
würde, die Triftigkeit der Gründe völlig zu leugnen, vermöge deren
wir dem Energiegesetz vor seiner speziellen Nachweisung in jedem ein-
zelnen Fall bereits eine allgemeine Wahrscheinlichkeit zugestehen. Dies
würde aber wieder im Widerspruch stehen mit dem Einflusse, den jenes
Prinzip tatsächlich als heuristische Hypothese von axiomatischem
Charakter in der Entwicklung der Wissenschaft ausgeübt hat*).
Jene Reduktion auf die Schwere, aus der mit dem Begriff der
Energie auch das Prinzip der Erhaltung der Energie hervorgegangen
ist, setzt übrigens voraus, daß die verschiedenen Formen der Energie,
die gemessen werden sollen, den erforderlichen Transformationen zu-
gänglich sind. Diese Bedingung trifit nun bei zwei Erscheinungsgebieten,
*) Vgl. hierzu die Formulierung dieses Prinzips, Bd. I, S. 613. Freilich
hat man geglaubt, den Satz von der Erhaltung der Energie aus anderen Sätzen,
und zwar namentlich aus dem sogenannten Satz „von der Unmöglichkeit des
Perpetuum mobile“ beweisen zu können: so Helmholtz (Über die Erhaltung
der Kraft. 1847, S. 7 ff.), Mach (Geschichte und Wurzel des Satzes von der
Erhaltung der Arbeit. 1872, S. 36 fl.) und M. Planck (Das Prinzip der Er-
haltung der Energie, 1887, S. 138 fl.). Dieser Beweis ist aber logisch betrachtet
nicht ein induktiver Beweis, wie Planck meint, sondern ein Zirkelbeweis,
da der Satz von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in der allgemeinen
physikalischen Bedeutung, in der er hier gemeint ist, vollständig den Satz von
der Erhaltung der Energie bereits einschließt. In der Polemik, die Planck
bei dieser Gelegenheit gegen die Behauptung führt, daß das Energieprinzip
a priori gewiß sei, übersieht er gerade den Fall, der bei den allgemeinen Voraus-
setzungen der Mechanik und Physik stattfindet: diese Voraussetzungen, vom
Trägheitsprinzip an bis zum Satz von der Erhaltung der Energie, sind nämlich
nicht Axiome im mathematischen Sinne, d. h. durch die unmittelbare Anschau-
ung evidente Sätze, sondern sie sind Hypothesen von einem den Axiomen ver-
wandten Charakter, insofern ihnen der Versuch, sie anschaulich verwirklicht
zu denken, a priori eine größere Wahrscheinlichkeit verleiht als anderen etwa
möglichen Hypothesen. Auf diese Weise erklärt sich ebensowohl die der Er-
fahrung vorauseilende Entdeckung solcher Sätze wie die immer bestehen
bleibende Forderung, daß sie mit der Erfahrung in Übereinstimmung stehen
(vgl. Bd. I, S. 532 ff., 609 fi.). Den Bedenken, welche Edm. König (Die Ent-
wicklung des Kausalproblems, II, 1890, S. 448) gegen eine axiomatische Auf-
fassung des Energiegesetzes geltend gemacht hat, daß man vor der Entdeckung
Rob. Mayers einen Verlust von Energie für möglich, einen Verlust von Materie aber
für unmöglich hielt, und daß wir das Quantum der Materie nach dem Gewicht
und nicht nach Energiewerten messen, kann man wohl entgegenhalten, daß
als Prinzip a priori das Energiegesetz schon vor Mayer namentlich von
Leibniz ausgesprochen wurde, und daß übrigens hier, ähnlich wie bei dem
Beharren der Substanz, das Prinzip in dem früher (Bd. I, S. 616) ausgeführten
Sinne axiomatisch und hypothetisch zugleich ist.
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 433
die an und für sich in hohem Grade zur Anwendung exakter Beob-
achtungen geeignet sind, noch nicht zu, nämlich beim Schall und
beim Licht. Die Messung von Schall- und Lichtintensitäten ist darum
hinter der Messung der Intensität anderer Naturkräfte zurückgeblieben,
und die wenigen Versuche, die gemacht worden sind, auch hier ob-
jektive Maßmethoden zu gewinnen, haben bis jetzt zu einer allge-
meinen praktischen Anwendung nicht geführt. In der Regel be-
schränkt man sich daher darauf, aus theoretischen Voraussetzungen
Werte abzuleiten, ohne sie durch Beobachtung zu verifizieren, oder
man sieht sich auf die unmittelbare Vergleichung von Empfindungs-
stärken, also auf das ursprünglichste und ungenaueste Verfahren
der Intensitätsmessung angewiesen. Um die Unterscheidung unter
diesen beschränkenden Bedingungen möglichst zuverlässig zu machen,
wendet man dann aber das nämliche statische Prinzip an wie bei
der gewöhnlichen Form der Gewichtsmessung durch die Wage: man
bestimmt z. B. bei den photometrischen Vorrichtungen die Stärke
zweier Lichtquellen, indem man durch Abstufung ihrer Entfernungen
von einem auffangenden Schirm zwei einander gleich erscheinende
Lichtintensitäten hervorbringt, worauf sich das gesuchte Intensitäts-
verhältnis aus dem Verhältnis der Quadrate der Entfernungen der
Lichtquellen ergibt. Da das Licht hierbei keine merkliche Trans-
formation in eine andere Bewegungsform erfährt, so ist eine solche
Bestimmung immerhin so genau, als es die Schätzung mit dem Auge
gestattet. Es ist übrigens kaum zu zweifeln, daß sich mit dem weiteren
Fortschritt der Physik auch die Messung der Schall- und Lichtstärken
der allgemeinen Tendenz zur Messung der Kraftgrößen mittels der
Bewegungen schwerer Massen nicht entziehen wird. Der Zeitpunkt
dazu dürfte gekommen sein, sobald eine geeignete Transformation ge-
funden ist, welche die Benützung des elektrischen Stroms und seiner
Wirkungen auf den Magnet und dadurch abermals die Hilfe des Prinzips
der Wage gestattet. Übrigens ist leicht ersichtlich, wie selbst jene un-
vollkommene Form der Intensitätsmessung, die sich der unmittelbaren
Vergleichung von Empfindungsstärken bedient, keine Ausnahme von
der Regel bildet, daß die gerade Linie und der Winkel die Elemente
aller exakten Messungen sind. Denn das wirkliche Maß für die Ver-
gleichung wird hierbei immer erst durch die Abmessung der Entfernungen
gewonnen, in denen sich die verschiedenen Licht- oder Schallquellen
befinden müssen, wenn der subjektive Eindruck der gleiche sein soll.
In einer neuen und eigentümlichen Form tritt uns schließlich
diese Übertragung in das räumliche Maß bei der dritten und letzten
Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 28
434 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Klasse allgemeiner Messungshilfsmittel entgegen, bei den Zeit-
maßen. Jede objektive Zeitmessung setzt eine Bewegung voraus,
bei der in gleichen Zeiten gleiche Räume zurückgelegt werden. Ist
diese Voraussetzung erfüllt, so liefert die Einteilung des durchlaufenen
Raumes unmittelbar die entsprechende Teilung der Zeit. Eine dauernde
Bewegung solcher Art ist aber schon vermöge der begrenzten Be-
schaffenheit unseres Gesichtsraumes nur in periodischer Form mög-
lich, so also, daß der bewegte Körper in regelmäßigen Zeitzwischen-
räumen immer wieder zu dem nämlichen Ort zurückkehrt. Diese
Bedingung bot sich für die Anfänge des menschlichen Denkens in den
periodischen Bewegungen der Gestirne. Ihre Verwendung zu Zeitmaßen
war daher eine so naheliegende Handlung, daß man sich der Willkür-
lichkeit derselben nicht einmal bewußt wurde, sondern geneigt war, in
der regelmäßigen Bewegung der Gestirne die objektive Existenz der
Zeit selbst zu erblicken. Man kann es als ein Glück für die Wissenschaft
betrachten, daß dieses sich alsbald mit einem zweiten Vorurteil ver-
band, ohne das der Gedanke einer objektiven Zeitmessung kaum
möglich gewesen wäre. Die Zeit einer Erdrotation ist viel zu groß,
als daß sich aus unmittelbarer Anschauung eine Gewißheit darüber
gewinnen ließe, ob jede solche Periode der anderen gleich ist, und die
Bewegung der Gestirne erfolgt für unsere Wahrnehmung viel zu lang-
sam, als daß sich ohne andere Hilfsmittel entscheiden ließe, ob sie eine
gleichförmige ist. Nichtsdestoweniger ist bis in die neueren Zeiten
niemals den Menschen ein Zweifel an der Regelmäßigkeit der täg-
lichen Bewegungen der Gestirne gekommen, und selbst die Abwei-
chungen, die sich schon frühe innerhalb längerer Zeiten der Beob-
achtung aufdrängten, versuchte man alsbald abermals einer bestimm-
ten Gesetzmäßigkeit unterzuordnen*). Erst diese Voraussetzung
lieferte aber die Möglichkeit einerseits zur Einteilung des Tages in
kleinere Zeitteile und anderseits zur Messung größerer Zeiträume.
Für jene bot der Stand der Sonne, der aus der Länge oder Richtung
des Schattens nach empirischen Regeln leicht zu bestimmen war, für
diese boten die Perioden der Mond- und der Sonnenbewegung die
nächstliegenden und zugleich wegen ihrer relativen Konstanz die
bleibenden Hilfsmittel. Doch so gut diese im ganzen, nachdem sie
nur erst durch die geeigneten Korrektionen in Übereinstimmung ge-
bracht waren, den Zwecken der Zählung größerer Zeiträume ent-
*) Über die dieser Voraussetzung zu Grunde liegenden logischen
Postulate vgl. Bd. I, S. 475 fl.
\
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 435
sprachen, so wenig genügten sie dem Bedürfnis nach einer Messung
kleiner Zeitteile, wie es sich einigermaßen schon im praktischen Leben
und späterhin noch in viel höherem Grade bei physikalischen Beobach-
tungen geltend machte. Die Sonnenuhr erlaubt im günstigsten Fall
Unterschiede von einigen Minuten zu schätzen, und sie versagt ihre
Dienste ganz, wenn die Sonne nicht sichtbar ist. Frühe schon verfiel
man daher zu solchen Zwecken auf die Benützung der Schwerkraft.
Die Wasser- und Sanduhren, deren sich bereits das Altertum be-
diente, sind noch in den Anfängen der neueren Physik zu physikalischen
Zwecken benützt worden, und im wesentlichen der nämliche Gedanke
lag den um dieselbe Zeit aufkommenden Räderwerken zu Grunde, bei
denen man Gewicht und Reibungswiderstände so gegeneinander ab-
geglichen hatte, daß die Fallbewegung des ersteren zu einer annähernd
gleichförmigen wurde. Eine rationellere Verwendung der Schwerkraft
begann erst mit der von Huygens gelehrten Benützung des Pendels
zur Regulation der Bewegungen. Hatten die Wasseruhren mit
gleichem Niveaustand und die Räderwerke mit Widerständen der
niemals in exakter Weise zu lösenden Aufgabe einer völlig gleich-
förmigen Bewegung in unzureichenden Annäherungen zu entsprechen
gesucht, so ersetzte die Pendeluhr die kontinuierliche durch eine stoß-
weise Bewegung und begnügte sich mit der exakten Gleichheit der
einzelnen durch die Pendelschläge abgetrennten Zeitteile. Alle neueren
Chronometer und Chronoskope haben dieses Prinzip adoptiert, auch
wenn sie sich nicht direkt eines Gewichts zur Erzeugung der Bewegung
und des Pendels zur Regulierung derselben bedienen. Statt des Ge-
wichts kann eine gespannte Feder das Räderwerk in Bewegung setzen,
und statt des Pendels kann ein oszillierendes Schwungrad, dessen Be-
wegungen ebenfalls durch Federkraft unterhalten werden, den Gang
der Uhr regulieren. Ein anderes Hilfsmittel, das namentlich bei
rasch ablaufenden, zur Messung sehr kleiner Zeitteile dienenden Chrono-
skopen Anwendung findet, ist ein schwingender Stab oder eine Stimm-
gabel, die durch ihre gleich bleibende Tonhöhe die Gleichmäßigkeit
der Bewegung sichern. Nicht selten zieht man es aber auch für physi-
kalische Zwecke vor, auf den gleichmäßigen Gang des Uhrwerks zu ver-
zichten und mittels der Registrierung von Pendelschlägen oder Stimm-
gabelschwingungen auf einer bewegten Fläche, auf welcher gleich-
zeitig die Momente des Eintritts bestimmter Ereignisse markiert
werden, deren absolute oder relative Zeitdauer zu messen. Auf diese
Weise ist allen zeitmessenden Hilfsmitteln von der Bewegung der
Gestirne bis zur schwingenden Stimmgabel die Eigenschaft des periodi-
436 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
schen Verlaufs der Bewegungen gemeinsam. Je kleiner aber die Zeit-
teile sind, die gemessen werden sollen, umso kürzer muß die Periode
der Bewegung sein, die als Maß dient. Mit der Feinheit des Hilfsmittels
steigen ferner die Vorsichtsmaßregeln, durch welche die genauen
Zeitangaben sichergestellt werden müssen; denn einerseits werden
die objektiven Störungen der Bewegung bedeutender, und anderseits
erreichen die subjektiven Fehler der Messungen relativ größere Werte.
So bedürfen die periodischen Bewegungen des Pendels, der Unruhe,
des schwingenden Stabes einer fortwährenden Berücksichtigung
der Temperatur und wo möglich einer sorgfältigen Kompensation
der Temperatureinflüsse sowie einer häufig wiederholten Reduktion
auf das unveränderlich gegebene Maß der Sternzeit, wenn die An-
gaben der Instrumente vergleichbar bleiben sollen. Die Messung
kleinster Zeitteilchen endlich findet an den Schranken unserer sinn-
lichen Wahrnehmung ihre Grenzen. Wir können diese Grenzen ver-
engern, indem wir die Zeitbestimmung der Ereignisse dadurch, daß
wir diese sich selbst registrieren lassen, unabhängig machen von
der schwankenden Aufmerksamkeit des Beobachters, und wir können
für die Ausmessung der auf solche Weise in eine Raumstrecke über-
tragenen Zeit noch mikroskopische und mikrometrische Hilfsmittel
herbeiziehen. Immer aber bleibt eine Grenze, die für uns unüber-
schreitbar ist. Indem jede exakte Messung, auch die Gewichts- und
die Zeitmessung, schließlich auf räumliche Messungen zurückführt,
ist naturgemäß von der Schärfe, mit der wir eine räumliche Strecke
durch das Auge unter Herbeiziehung optischer Hilfsmittel zu messen
vermögen, alle Messung der Naturerscheinungen abhängig.
c. Die mathematischen Hilfsoperationen der physi-
kalischen Untersuchung.
Auf die große Bedeutung, welche die mathematische Analysis
als Werkzeug der physikalischen Deduktion besitzt, wurde bereits
hingewiesen (S. 404 ff.). Die so entstandene rein mathematische Be-
handlung der Physik, durch die sich diese fast zu einem Zweig der
angewandten Analysis erhoben hat, ist aber allmählich aus der fort-
währenden Benützung geometrischer und arithmetischer Operationen
hervorgewachsen, deren die physikalische Untersuchung schon bei der
induktiven Verarbeitung der durch die Beobachtung gegebenen Tat-
sachen bedarf. Während die analytische Behandlung der physikalischen
Probleme nur gewisse Voraussetzungen der Beobachtung entnimmt
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 437
und diese wieder zur Bestätigung gewisser Folgerungen sowie zur
numerischen Feststellung bestimmter Größen herbeizieht, im übrigen
aber durchaus in der Form einer selbständigen mathematischen Unter-
suchung verläuft, greifen jene mathematischen Hilfsoperationen in
wechselnder Weise in den Gang der Untersuchung ein; sie werden immer
nur für einzelne Zwecke, die sich aus den Resultaten der Beobachtung
oder des Experimentes ergeben, benützt, und ihre Anwendung gleicht
hierin vollständig derjenigen der technischen Hilfsmittel, welche die
genaue Messung der Erscheinungen ermöglichen. In der Tat bilden
die mathematischen Hilfsoperationen eine unerläßliche Ergänzung
der physikalischen Messungswerkzeuge, weil die selbstverständliche Be-
dingung für die Anwendung der letzteren darin besteht, daß die zu
messenden Erscheinungen unseren instrumentellen Hilfsmitteln un-
mittelbar zugänglich sind. Wo dies nicht der Fall ist, da kann eine
Messung nur dann ermöglicht werden, wenn die Erscheinungen mit
anderen direkt meßbaren in bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen
stehen, die einen Ausdruck in mathematischer Form zulassen,
und aus denen sie infolgedessen durch bestimmte mathematische
Operationen abgeleitet werden können. Überall daher, wo physikalische
Größen nur auf diesem indirekten Wege meßbar sind, bilden
mathematische Hilfsoperationen die Werkzeuge solcher Messung.
Weil aber nur an verhältnismäßig wenige unter den Erscheinungen,
auf deren genaue Kenntnis es uns ankommt, unsere verschiedenen
Maße direkt angelegt werden können, so fällt die Mehrzahl der physi-
kalisch wichtigen Größen einer indirekten Messung anheim, die in
der mathematischen Ableitung der gesuchten Größen aus anderen
durch die direkte Messung gefundenen besteht.
Da nun alle physikalischen Maße auf Raummaße zurückführen, so
bildet die geometrische Konstruktion den natürlichen
Ausgangspunkt dieser Hilfsoperationen, und erst an sie schließen sich
die arithmetischen Verfahrungsweisen an, durch die es schließlich
möglich wird, die gefundenen Größen in bestimmten Zahlwerten aus-
zudrücken. Bei der Anwendung der geometrischen Hilfskonstruktionen
stützt sich die Physik einfach auf die Sätze der Geometrie, die es mög-
lich machen, aus gewissen Bestimmungsstücken eines Raumgebildes
von bekannten Eigenschaften andere zu finden, die nicht unmittel-
bar gegeben sind. Die wissenschaftliche Physik ist hier zunächst bei
der Feldmeßkunst in die Lehre gegangen. Freilich aber bedurfte sie
bald genauerer Methoden als diese, um die Beziehungen zwischen
den Elementen aller räumlichen Messung, dem Winkel und der Geraden,
438 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
in ausgiebigster Weise zu verwerten. Aus diesem Bedürfnis sind zuerst
innerhalb der Alexandrinischen Astronomie die trigonometrischen
Methoden entstanden, die man bald auch zur Berechnung der Bogen
und Winkel auf der Kugel anwenden lernte*).
Indem die neuere Physik nicht bloß die bleibenden räumlichen
Lageverhältnisse der Körper, sondern die mannigfaltigen Formen ihrer
Bewegung vor das Forum ihrer Untersuchungen zog, konnten ihr aber
die für den ersteren Zweck erfundenen trigonometrischen Methoden nicht
mehr genügen, sondern sie mußte die reicheren Hilfsmittel verwerten,
welche die Geometrie der Kurven, namentlich der Kegelschnittslinien,
gewährte. Nichtsdestoweniger blieb noch lange Zeit, gemäß dem natür-
lichen Entwicklungsgang dieser Hilfsoperationen, den geometrischen
Konstruktionen die eigentliche Lösung der Probleme vorbehalten,
und es wurde dadurch zugleich für die Darstellung der Untersuchungs-
ergebnisse das Festhalten an der Euklidischen Demonstrationsform
unterstützt. Erst jene Verwertung der Arithmetik, welche die
analytische Geometrie geschaffen, eröffnete einem freieren Ineinander-
greifen geometrischer und analytischer Methoden die Bahn; insbe-
sondere wirkte in dieser Beziehung der herrschend gewordene ana-
lytische Gang der physikalischen Deduktion auf die spezielleren Hilfs-
operationen zurück, die gelegentlich in dem Verlauf einer induk-
tiven Untersuchung benützt werden. Es konnte hier um so leichter
eine der analytischen Deduktion verwandte Behandlungsweise Platz
greifen, als jede durch die Rechnung vermittelte indirekte Messung
eben nur insoweit auf Induktion beruht, als sie auf eine ursprüngliche
direkte Messung zurückführt, wogegen das mathematische Verfahren
selbst in diesen Fällen immer in einer Deduktion besteht. So ist es
schließlich nur noch der Umfang, in welchem man die Deduktion hand-
habt, und die Frage, ob sie bloß auf der sicheren Grundlage bestimmter
Messungen, oder ob sie ausgehend von irgendwelchen hypothetischen
Voraussetzungen geübt wird, wodurch sich die mathematischen Opera-
tionen der physikalischen Untersuchung von der allgemeineren Form
der mathematisch-physikalischen Deduktion unterscheiden.
Ursprünglich beschränkte sich nun die Anwendung dieser Hilfs-
operationen ganz und gar auf die Ermittlung indirekt gegebener
Größen, indem man voraussetzte, daß jeder direkten Messung an
und für sich unmittelbare Wahrheit zukomme. Eine solche Voraus-
setzung ist natürlich irrig, weil dabei keine Rücksicht genommen ist auf
*) M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 312, 349.
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 439
die mannigfachen Fehlerquellen der Beobachtungen, die in der Be-
schaffenheit unserer Sinnesorgane, in der Ungenauigkeit der tech-
nischen Hilfsmittel sowie in der unzureichenden Aufmerksamkeit
des Beobachters ihre Quellen haben. Die wiederholte Messung eines
und desselben Gegenstandes mußte frühe schon durch die Schwan-
kungen der Resultate diese Unsicherheit der einzelnen Beobachtung
verraten, und sie führte zugleich auf jenes einfache arithmetische Hilfs-
mittel, dessen wir uns noch heute zur Erzielung genauerer Ergebnisse
bedienen, auf die Bildung des arithmetischen Mittels. Die
gesteigerten Ansprüche der physikalischen Beobachtungskunst zeigten
jedoch, daß dieses Verfahren für exakte Zwecke meistens unzureichend
ist. Zunächst werden durch dasselbe alle die Fehler nicht eliminiert,
die aus konstanten Fehlerquellen unserer Sinnesorgane oder Instru-
mente entspringen. Auch nachdem durch eine genaue Kontrolle der
letzteren sowie durch eine angemessene Variation der Beobachtungen
diese Fehler möglichst eliminiert wurden, sind aber die übrig bleibenden
zufälligen Schwankungen der einzelnen Messungen nicht immer von
solcher Beschaffenheit, daß sie sich durch die Bildung des arithmeti-
schen Mittels aus einer größeren Anzahl von Fällen zureichend aus-
gleichen. Denn die Voraussetzung des arithmetischen Mittels, daß ein
Fehler ebenso oft in positivem wie in negativem Sinne begangen werden
könne und in beiden Fällen durchschnittlich gleich groß sei, kann nur
dann zutreffen, wenn die einzelnen Messungen oder Messungsreihen
unter genau gleichen Bedingungen ausgeführt sind. Demgemäß hat
die mathematische Fehlertheorie Methoden entwickelt, nach denen auf
Grund der Abweichungen der Beobachtungen der Grad der Präzision
derselben oder der wahrscheinliche Fehler der gewonnenen Werte er-
mittelt und auf diese Weise eine Korrektion dieser Werte gewonnen
werden kann, die sie so weit wie möglich den wirklichen Werten der
zu messenden Größen nahe bringt.
Im wesentlichen die nämlichen Methoden können dann noch zu
einem weiteren Zweck, der mit der direkten Größenmessung zusammen-
hängt, Anwendung finden. Bei verwickelteren Erscheinungen, wie auf
physikalischem Gebiete besonders die Meteorologie sie darbietet,
können nämlich durch objektive Naturbedingungen ähnliche, nur
meist noch umfangreichere Abweichungen der Einzelwerte einer Er-
scheinung gegeben sein, wie sie bei der wiederholten Messung eines
Gegenstandes infolge subjektiver Bedingungen stattfinden. Die Regen-
menge eines Ortes wechselt von Tag zu Tag, die Temperatur, der Druck
und Feuchtigkeitsgehalt der Luft sind fortwährenden Schwankungen
440 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
unterworfen. Nichtsdestoweniger können wir zum Zweck gewisser
Vergleichungen nach Mittelwerten aller dieser Größen fragen.
Hier entspricht der Mittelwert nicht einem wirklichen, sondern einem
idealen Objekt, welches möglicherweise in keinem einzigen der be-
obachteten Fälle verwirklicht ist. Auch hier beschränkt man sich zu-
weilen auf die Bildung des arithmetischen Mittels. Erscheint dieses
ungenügend, so wird nun aber, entsprechend der veränderten Be-
deutung der Mittelwerte, die Art, wie die Beobachtungen weiter ver-
arbeitet werden, eine wesentlich andere. Denn es handelt sich ja nicht
darum, dem arıthmetischen Mittel eine Größe zu substituieren, die
mit dem wahren Wert der physikalischen Erscheinung genauer zu-
sammentrifft, sondern den idealen Durchschnittswert einer Summe von
Erscheinungen mit ähnlichen Durchschnittswerten gleicher Art oder
mit anderen begleitenden Erscheinungen, die meistens ebenfalls zuvor
auf ideale Mittelwerte reduziert wurden, in Beziehung zu setzen. Auf
diese Weise soll einerseits eine Übersicht über den gesamten Verlauf
und Zusammenhang der Erscheinungen gewonnen, anderseits aber
auch eine einigermaßen sicherere Vorausbestimmung derselben er-
möglicht werden. Insoweit der letztere Zweck zur Geltung kommt,
sind dann wieder mathematische Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen
unerläßlich. Der zuerst genannte Zweck, die Kombination verschie-
dener idealer Mittelwerte, erfordert dagegen die nämlichen mathe-
matischen Hilfsmittel, die überhaupt bei der Kombination physikalischer
Beobachtungen angewandt werden. Der nächste Schritt besteht hier
darin, daß man den Verlauf einer Erscheinung oder den Zusammenhang
der Erscheinungen gleicher Art an verschiedenen Orten auf geometri-
schem Wege zur Darstellung bringt, indem man die beobachteten
Mittelwerte als die Ordinaten einer Kurve betrachtet, deren Abszissen
entweder der Zeit oder einer stetigen Folge von Beobachtungsörtern
entsprechen. Jede solche graphische Darstellung hat die Bedeutung
eines empirischen Gesetzes. In Ermanglung einer zureichenden Kennt-
nis der Ursachen einer Erscheinung substituiert dieses empirische Gesetz
hier wie überall den ursächlichen Bedingungen, als deren Funktion die
Erscheinung anzusehen wäre, entweder den gleichförmigen Zeitverlauf
oder eine stetige Abmessung im Raume, da alle Vorgänge, die über-
haupt eine Gesetzmäßigkeit zeigen, eine solche durch eine gewisse Regel-
mäßigkeit in ihrem zeitlichen Verlauf oder in ihrer räumlichen Ver-
teilung verraten müssen. Aus der graphischen Darstellung kann
dann immer auch, wenn es wünschenswert scheint, eine analytische
Formel abgeleitet werden, welche die Berechnung des idealen Durch-
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 441
schnittswertes der Erscheinung für einen beliebigen Zeitpunkt oder
Ort gestattet. Immerhin pflegt man zu einer derartigen analytischen
Umformung der graphischen Darstellung nur in solchen Fällen zu
schreiten, wo entweder die einzelnen Abweichungen von den idealen
Mittelwerten nicht allzu groß sind, oder wo mit Herbeiziehung der
Hilfsmittel der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu praktischen Zwecken
Vorausbestimmungen für die Zukunft getrofien werden sollen. Die
analytische Verwertung der graphischen Darstellungen ist überdies im
allgemeinen dann eine schwierigere, wenn nicht die Zeit, sondern der
Raum die unabhängig Veränderliche ist, auf welche die Erscheinungen
bezogen werden. Da bei dem Raume in der Regel zwei und unter Um-
ständen sogar drei Dimensionen berücksichtigt werden müssen, nach
denen sich die Erscheinungen abstufen, so wird schon die graphische
Darstellung eine verwickeltere, und sie vermag im allgemeinen nur
durch unvollkommene Hilfsmittel, z. B. durch Farben- und Licht-
abstufungen bei den kartographischen Versinnlichungen, die Gesetze
der räumlichen Ausbreitung einer Erscheinung zum Ausdruck zu
bringen. Eine analytische Formel aber würde sich in solchen Fällen so
kompliziert gestalten, daß man die einfache Zusammenstellung der
Durchschnittswerte in tabellarischer Gestalt vorzieht. Mit Hilfe dieser
läßt sich dann unter Umständen auch eine vereinfachte graphische
Darstellung gewinnen, indem man gewisse ausgezeichnete Werte heraus-
greift, oder indem man einfach die Punkte, für die überhaupt der Durch-
schnittswert einer Erscheinung der nämliche ist, durch eine Kurve ver-
bindet. So hat z. B. Dana durch die sogenannten Isokrymen alle
diejenigen Punkte der Meeresoberfläche verbunden, an denen die Tempe-
ratur während 30 aufeinander folgender Tage gleich niedrig ist. Die Iso-
thermen veranschaulichen die Verteilung der Temperatur an der Erd-
oberfläche, indem sie als Monatsisothermen die Punkte gleicher mitt-
lerer Monats-, als Jahresisothermen die Punkte gleicher mittlerer
Jahrestemperatur verbinden. Die auf der Erdoberfläche nach allen
Richtungen veränderliche Erscheinung ist auf diese Weise auf ein
System linearer Veränderungen zurückgeführt, die sich unmittelbar
leicht übersehen lassen. Dies ist aber nur durch einen Kunstgriff er-
möglicht: an die Stelle der Abhängigkeit der Temperatur vom Orte
setzt man eigentlich eine Abhängigkeit des Ortes von der Temperatur,
indem man bestimmt, welche Bewegungen auf der Erdoberfläche aus-
geführt werden müßten, wenn man immer nur Orte passieren wollte,
für die gewisse konstante Temperaturverhältnisse existieren.
442 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
d. Die physikalische Konstantenbestimmung.
Eine besonders wichtige Verwendung finden die mathematischen
Hilfsoperationen bei der Bestimmung jener Größen, die als unver-
änderliche Maße der einzelnen Naturerscheinungen dienen, und die
man darum als physikalische Konstanten bezeichnet. Bei
weitem in den häufigsten Fällen sind die Konstanten nicht selbst ge-
geben, aber sie können aus bestimmten Daten der Beobachtung durch
verhältnismäßig einfache arithmetische Operationen gefunden werden.
Nun beziehen sich, wie früher bemerkt, alle unsere Messungen auf
räumliche Größen, Gewichte und Zeiten, von denen die beiden letzteren
wieder auf die ersteren, d. h. auf die Messung von geraden Linien und
Winkeln, zurückführen. Dies findet auch in den Einheiten, die man
für jene drei fundamentalen Begriffe festgesetzt hat, seinen Ausdruck.
Diese Einheiten sind schließlich willkürliche, und wenn man unter ihnen
das Meter zuweilen als eine „natürliche Einheit“ bezeichnet hat, so
sollte dies nicht die willkürliche Feststellung ausschließen, sondern
nur darauf hinweisen, daß die Erhaltung dieser Einheit als einer in der
Natur objektiv gegebenen Größe, nämlich als des zehnmillionten Teils
des Erdquadranten, nicht von der Aufbewahrung künstlicher Maß-
stäbe abhängig sei. Übrigens ist diese Absicht durch die Ungenauig-
keiten der Gradmessung, aus der die Feststellung des Metermaßes
hervorging, vereitelt worden, so daß in Wahrheit doch nur durch die
Aufbewahrung der Normalmaße die Erhaltung der Einheit verbürgt
wird. Ähnlich ist die Zeitsekunde schließlich eine willkürliche Einheit,
obgleich sie von der Tageslänge abhängt, deren Wahl zur Zeitmessung
so nahe lag, daß sie wohl kaum zu umgehen war. Die Gewichtseinheit
endlich, das Gramm als Gewicht eines Kubikzentimeter Wasser im Zu-
stand seiner größten Dichte, ist einerseits auf die Längeneinheit, ander-
seits auf die Wahl eines Körpers gegründet, der durch seine Verbreitung
und die Konstanz seiner Eigenschaften ein besonders geeignetes Mes-
sungshilfsmittel zu sein schien. Auf diese Weise führen die Längen-
‘und Zeiteinheit auf je ein Bestimmungsstück, die erste auf eine gerad-
linige Strecke, die zweite auf einen Winkel, die Gewichtseinheit aber
auf zwei Bestimmungsstücke, nämlich auf das Längenmaß und auf
die spezifische Dichte des Wassers, zurück. Die meisten physikalischen
Konstanten enthalten daher entweder Längen- und Zeitangaben oder
Längen-, Zeit- und Gewichtsangaben, wobei diese Elemente in multi-
plikativer Form verbunden und nach den angegebenen Einheiten ge-
messen werden. Wegen der Beziehung, die zwischen dem Längen-
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 443
und dem Gewichtsmaß besteht, pflegt man hierbei übereinstimmende
Einheiten beider zu kombinieren, also das Millimeter mit dem Milli-
gramm oder das Zentimeter mit dem Gramm. Außerdem können aber
auch noch Zahlen entweder für sich oder in Verbindung mit einer der
genannten Maßeinheiten den Wert von Konstanten gewinnen. Solche
Zahlen drücken bald die Häufigkeit einer gewissen Erscheinung aus,
wie z. B. der Schall- oder Lichtwellen, und werden dann mit der
Zeiteinheit verbunden, bald bezeichnen sie eine Winkelgröße, wie der
sogenannte Randwinkel in der Theorie der Kapillarität, bald beziehen
sie sich auf unveränderliche Relationen bestimmter Größen, wie die
Brechungsindizes in der Optik.
Das Gebiet der physikalischen Konstantenbestimmung ist ver-
möge der Verschiedenheiten, die gewisse gleichförmig festzustellende
Größen je nach der individuellen Beschaffenheit der Naturkörper
darbieten, unermeßlich. Die Dichtigkeiten, Elastizitätskoeffizienten,
Brechungsindizes, Kapillaritätskonstanten u. s. w. variieren in der
mannigfaltigsten Weise; jede einzelne Bestimmung bietet darum ein
verhältnismäßig beschränktes, meist nur gewissen praktischen Zwecken
dienendes Interesse dar. Von weit größerer Bedeutung sind diejenigen
Konstantenbestimmungen, bei denen man für die Wirkungen der un-
veränderlich gegebenen Naturkräfte ein einheitliches Maß zu gewinnen
sucht. Je nachdem von den drei wesentlichen Bestimmungselementen
der räumlichen Strecke (bezw. des Winkels), der Zeit und der Masse nur
eines oder zwei oder drei in Betracht kommen, lassen sich ein-, zwei-
und dreidimensionale Konstanten unterscheiden. Die
eindimensionalen sind allgemein einfache Raumgrößen, und
zwar in der Regel Längen, seltener Winkel. Hierher gehören die Dimen-
sionen des Erdsphäroids, die kosmischen Entfernungsbestimmungen,
die Wellenlängen der Töne und Farben u. s. w. Man erhält sie durch
Multiplikation der gewählten Längeneinheit oder irgend einer Potenz
derselben mit einer Zahl, in deren genauer Ermittelung in diesem Fall
die eigentliche Aufgabe der Konstantenbestimmung besteht. Die z wei-
dimensionalen Konstanten enthalten in der Regel die
Faktoren der Länge (seltener des Winkels) und der Zeit. Sie umfassen
ale Geschwindigkeitsbestimmungen, welche durch
Division der durchlaufenen Länge oder des Drehungswinkels durch die
Zeit erhalten werden. Die so gewonnene Zahl bedeutet dann die in der
Sekunde zurückgelegte Strecke und besteht demgemäß aus dem Produkt
einer Zahl in die Längeneinheit dividiert durch die Zeiteinheit. Hierher
gehören die Konstanten der Licht-, Schall-, Elektrizitätsgeschwindig-
444 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
keit u.s. w. Auch die Bestimmung des elektrischen Stromwiderstandes
führt auf das Geschwindigkeitsmaß zurück. Zweidimensionale Kon-
stanten, welche die Elemente der Länge und der Masse enthalten, be-
sitzen dagegen nur eine beschränkte Bedeutung, und solche mit den
alleinigen Elementen der Masse und der Zeit sind prinzipiell unmöglich.
Zu einer Konstanten der ersteren Art führt nämlich bloß der Begriff
des Trägheitsmomentes in Bezug auf Drehung, welcher durch das
Produkt einer Masse in das Quadrat ihres kürzesten Abstandes von der
Drehungsachse gemessen wird, also die Bestimmung einer Länge und
einer Masse voraussetzt. Eine ähnliche Bedeutung besitzt der Begriff
des magnetischen Momentes, der in analoger Weise zusammengesetzt
ist. Doch ist leicht zu bemerken, daß in dem Begriff des Drehungs-
momentes derjenige der Geschwindigkeit verborgen liegt, wenn auch
wegen des vorausgesetzten statischen Verhaltens von einer Zeitbestim-
mung abgesehen werden kann. Dadurch bildet derselbe den Übergang
zu den Konstanten der folgenden, dritten Klasse, aus denen er durch
Elimination des Zeitbegrifis hervorgegangen ist. Diese dreidimen-
sionalen Konstanten enthalten neben den Elementen der
Raumstrecke und der Zeit noch dasjenige der Masse. Bezeichnet man
daher die Einheiten dieser drei Elemente mit /, t und m, so führt jede
Konstantenbestimmung dieser Art bei der gewöhnlich gewählten Auf-
einanderfolge der Elemente auf einen Ausdruck von der Form
n.m? lt,
worin n eine Zahl ist, deren Ermittlung das eigentliche Objekt der
Messung darstellt, während x, y, z ganze oder gebrochene, positive oder
negative Potenzen bedeuten können. Hierher gehören zunächst die
Konstanten der verschiedenen Kraftformen, wie der Schwere,
der Wärme, der elektrischen und der magnetischen Kräfte, außer-
dem alle diejenigen Konstanten, durch die in irgend einer Weise die
Wirkungen dieser Kräfte auf materielle Massen unter besonderen
Bedingungen gemessen werden: so in der Mechanik die Energie einer
bewegten Masse, die Arbeit einer Kraft, das Drehungsmoment bei
einer drehenden Bewegung, der hydrostatische Druck einer Flüssig-
keit, in der Elektrizitätslehre die Potentialfunktion eines elektrischen
oder magnetischen Stromelements, die Intensität eines Stromes, die
elektromotorische Kraft u. s. w.*).
*) Vgl. Herm. Hertwig, Physikalische Begriffe und absolute Masse.
1880. Nimmt man den allgemeinen Energiebegriff in dem oben (S. 430) ange-
Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 445
Unter diesen Konstanten besitzen die der Naturkräfte
selbst eine hervorragende Bedeutung, weil sie die unveränderlichen
Größen darstellen, von denen schließlich alle anderen hier in Betracht
kommenden Werte abhängen. Unter ihnen steht wieder dieSchwer-
kraft in erster Linie, da sie allen Konstantenbestimmungen,
welche das Element der Masse enthalten, zu Grunde gelegt wird.
Zum Maß der Schwere dient aber die Fallbeschleunigung.
Diese wird gemessen, indem man die Geschwindigkeit bestimmt, die
in einem frei fallenden Körper durch die während einer Sekunde kon-
tinuierlich einwirkende Schwere erzeugt wird. Diese gewöhnlich mit g
bezeichnete Konstante der Schwerkraft beträgt unter dem Äquator
9781 Mm. und wächst von da nach den Polen stetig infolge der ab-
nehmenden Zentrifugalbeschleunigung der Erde. Der Umstand, dab
die Schwerkraft die Maßeinheit für alle anderen Naturkräfte abgibt,
kommt hierbei insofern zur Geltung, als die für sie gefundene Zahl an
und für sich nur jene auf die Zeiteinheit bezogene Länge bedeutet,
und daß sie daher ungeändert bleibt, welche Gewichtseinheit man auch
wählt. Die Konstante der Schwerkraft würde also ebenso gut durch das
Produkt 9781 Grm.-Mm.-Sek. wie durch das andere 9781 Mgr.-Mm.-Sek.
ausgedrückt werden können, und nur die Rücksicht auf die Gleich-
mäßigkeit der Längen- und der Gewichtsdimension verleiht dem letz-
teren Ausdruck den Vorzug, bei dem deshalb auch die Angabe der Ge-
wichtseinheit hinwegbleiben kann. Dies ist nun nicht mehr gestattet
bei den Maßangaben über andere Naturkräfte, denen man die Einheiten
der Schwerkraft zu Grunde legt. Jeder Ausdruck besteht daher in diesem
führten Sinne zur Grundlage der physikalischen Konstantenbestimmungen, so
läßt sich, wie Ostwald ausgeführt hat, statt der Masse als drittes Bestim-
mungselement neben Länge und Zeit die Energie selbst anwenden (Sitzungs-
bericht d. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, 1891, S. 283). Der abstrakte Charakter jenes
allgemeinen Energiebegriffs bringt es dann mit sich, daß nur noch die zwei
Dimensionen der Länge und der Zeit eine geometrische Veranschaulichung zu-
lassen, während die Energie eine rein begriffliche Größe bleibt. Zugleich aber
fordert in diesem Fall auf jedem einzelnen Gebiet das Maßelement der Energie
eine Zerlegung, die derjenigen der Bewegungsenergie in Masse und Geschwindig-
keitsquadrat analog ist. So zerfällt die Wärmeenergie in Wärmekapazität
(oder Entropie) und Temperatur, die elektrische Energie in Elektrizitätsmenge
und Potential u. s. w. Die Energie kann also zwar als Maßfaktor gewählt
werden, sie kann aber niemals die Bedeutung eines wirklichen Maßelementes
annehmen. Auch weist das erste der beiden Elemente, in die sie zerfällt, über-
all auf besondere, in den Zuständen der Materie begründete Bedingungen hin,
auf deren Analyse man bei einer solchen Voranstellung des Energiebegriffs Ver-
zicht leistet.
446 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Falle aus vier Gliedern, nämlich aus einer Zahl und den drei Einheits-
werten des Gewichts, der Länge und der Zeit. Die nach diesem Prinzip
vorgenommenen Maßbestimmungen pflegt man absolute zu nennen,
um sie von den für einzelne Zwecke nicht selten gebrauchten konven-
tionellen Maßen zu unterscheiden. Eine strenge Durchführung des
absoluten Maßsystems ist aber nur da möglich, wo die betreffenden
Naturkräfte entweder eine unmittelbare Vergleichung mit der Schwer-
kraft zulassen, wie dies z. B. bei der Konstanten der Newtonschen
Gravitation stattfindet, oder wo eine Transformation der in irgend einer
anderen Form gegebenen Energie in Energie der Schwerkraft möglich
ist. In diesem Fall, der bei der Messung der Wärme nach absolutem
Maß vorkommt, wird demnach das Prinzip der Erhaltung der Energie
vorausgesetzt. Die Wärmeeinheit, die man meistens bei dieser Messung
benützt, bleibt dabei insofern willkürlich, als man von einer be-
stimmten Substanz, dem Wasser bei seiner größten Dichte, und in der
Regel sogar von einer konventionellen Temperatureinheit, dem Grad
der hundertteiligen Thermometerskala, ausgeht. Hierauf beruht die
gewöhnliche Bestimmung des Wärmeäquivalents, nach welcher die
Wärmeeinheit einer Energie der Schwere von 430 Kilogr.-Meter ent-
spricht. Besser genügt es der Forderung eines absoluten Maßes, wenn
man umgekehrt als Wärmeeinheit diejenige Wärmemenge bezeichnet,
die der Einheit der Bewegungsenergie gleichkommt, und danach auch
die Temperatureinheit als diejenige Temperaturerhöhung bestimmt,
welche diese absolute Wärmeeinheit an der Gewichtseinheit des Wassers
bei konstantem Druck hervorbringt. In noch höherem Grade werden
jedoch willkürliche Festsetzungen bei anderen Naturerscheinungen
erforderlich. So gehen die üblichen Maßbestimmungen elektrischer
und magnetischer Wirkungen gegenwärtig noch von zwei Begriffen
aus, für die sich nur willkürliche Einheiten finden lassen: von dem
Begriff einer Quantität freier Elektrizität und dem einer Quantität
freien Magnetismus. Als Einheiten dieser Quantitäten setzt man nicht,
wie es sein müßte, die Einheiten der ponderomotorischen Wirkungen,
denen sie äquivalent sind, sondern die Einheiten der ponderomotorischen
Wirkungen, die sie in der Entfernung hervorbringen. In beiden Fällen
dient demnach diejenige Menge von Elektrizität oder Magnetismus
als Einheit, die in der Einheit der Entfernung der Einheit der Masse
eine Beschleunigung Eins erteilt. Von diesen elektrostatischen und
elektromagnetischen Einheiten unterscheidet sich dann die elektro-
dynamische nur dadurch, daß sie an Stelle der Quantität der Elek-
trizität oder des Magnetismus die Intensität zweier aufeinander wirken-
Das Substrat der Naturerscheinungen. 447
der Stromelemente einführt. Die Einheit der Intensität wird dann aber
wieder nach der Einheit der Elektrizitätsmenge bestimmt, indem man
unter jener die Intensität eines Stromes versteht, in welchem in der
Zeiteinheit durch jeden Querschnitt die Elektrizitätsmenge Eins sich
bewegt. Diesen mechanischen Einheiten zieht man übrigens meistens
die von Gauß eingeführte elektromagnetische Konstantenbestim-
mung vor, bei der jede elektrodynamische Wirkung auf eine ihr gleiche
magnetische reduziert wird. Alle diese Maßbestimmungen, zwischen
denen feste Beziehungen stattfinden, stimmen wieder darin überein,
daß sie die drei Dimensionen der Masse, der Länge und der Zeit enthalten.
3. Das Substrat der Naturerscheinungen.
Die physikalische Deduktion stützt sich auf gewisse Fundamental-
begriffe, die in den verschiedensten Erklärungsgebieten gleichförmig
wiederkehren und darum eine prinzipielle, von den besonderen Bedin-
ungen der einzelnen Erscheinungen unabhängige Bedeutung in An-
spruch nehmen. Diese Fundamentalbegriffe beziehen sich teils auf
das Substrat der Naturerscheinungen, teils auf die allen Natur-
vorgängen gemeinsamen Gesetze. Beide werden durch die Induk-
tion vorbereitet; sie bilden unter jenen Hypothesen, mit deren
sukzessiver Prüfung sich das induktive Verfahren beschäftigt, die
letzten und allgemeinsten. Sie unterscheiden sich aber von den
spezielleren Hypothesen, die ihnen vorausgehen, dadurch, daß der
Induktion selbst eine Bestätigung oder Widerlegung derselben un-
möglich ist. Aus diesem Grunde bilden sie die Ausgangspunkte der
Deduktion, deren Aufgabe nun in dem Nachweis besteht, daß die
einzelnen durch Induktion gefundenen Gesetze mit jenen Voraus-
setzungen übereinstimmen. Die Art dieser Verifikation bringt es mit
sich, daß sie im allgemeinen keine vollkommen bindende ist. Denn ein
derartiger Nachweis der Übereinstimmung schließt nicht aus, daß
noch andere Hypothesen zu dem nämlichen Zwecke tauglich sein
würden. Diese relative Unsicherheit der fundamentalen Begriffe macht
sich aber bei den Hypothesen über das Substrat der Naturerscheinungen
in höherem Maße geltend als bei den allgemeinen Naturgesetzen. Denn
während die letzteren nur hinsichtlich ihrer Tragweite und speziellen
Anwendungsweise einer unbegrenzten Vervollständigung fähig sind, be-
wahren die ersteren fortwährend den Charakter willkürlicher Annahmen,
die zwar durch die Prüfung an der Erfahrung mannigfache Korrekturen
erleiden, niemals aber in zwingender Weise bestimmt werden können.
448 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Dieses Verhältnis ist in den Bedingungen der Erkenntnis begründet.
Die Naturgesetze sind den Beziehungen des empirischen Geschehens
entnommen, und ihre Allgemeingültigkeit wird durch den logischen
Zwang des Kausalprinzips gefordert: hier kann daher nur die be-
sondere Form der Gültigkeit noch Zweifeln begegnen; das Substrat
der Erscheinungen dagegen bleibt uns notwendig stets unbekannt:
wir können hier immer nur die Möglichkeit unserer Annahmen
behaupten, insofern wir nachweisen, daß die Folgerungen aus den-
selben mit der Erfahrung übereinstimmen.
a. Kontinuitätshypotheseund Atomistik.
Die logischen Motive, die zu der Aufstellung des Begrifis der Materie
geführt haben, und die allgemeinen Postulate der Anschauung, die bei
der Ausbildung dieses Begriffs wirksam gewesen sind, wurden bei der
Untersuchung des Substanzbegrifis bereits erörtert*). Hier bleibt uns
daher nur übrig, die methodologische Bedeutung der Hypothesen zu
würdigen. Für die Deduktion der Naturerscheinungen sind diese
nicht zu entbehren. Aber ihre Unentbehrlichkeit darf nicht dazu
verführen, in ihnen mehr zu sehen als logische Hilfsmittel, deren wir
uns zur Ausfüllung der vielfachen Lücken, die uns in der Verbindung
der Tatsachen begegnen, bedienen müssen. Über das nicht in die Er-
fahrung tretende Wesen der Dinge können sie niemals etwas aussagen,
sondern sie können immer nur angeben, in welcher Weise die Her-
stellung eines lückenlosen kausalen Zusammenhangs zwischen den Er-
scheinungen für uns denkbar ist. Diese Aufgabe schließt die Forderung
in sich, daß aus den Voraussetzungen über das Substrat der Natur-
erscheinungen die in der Anschauung gegebenen allgemeinen Eigenschaf-
ten der Naturobjekte sowie die Begriffe, die wir über ihre wechsel-
seitigen Relationen uns bilden, abgeleitet werden können. Da man nun
aber bald im unmittelbaren Anschlusse an die in der Wahrnehmung
gegebenen Eigenschaften der Dinge, bald vorzugsweise geleitet von
begrifflichen Forderungen die Voraussetzungen über die Materie
zu gestalten sucht, so wird hierdurch nicht weniger als durch das tiefere
Eindringen in den Zusammenhang der Erscheinungen ein Wechsel der
Hypothesen veranlaßt. Von zwei entgegengesetzten Motiven der sinn-
lichen Wahrnehmung ist dieser Wechsel bestimmt worden. Indem
*) Bd. I, S. 592 ff. Über die Geschichte des Begriffs der Materie (bis
auf Kant einschl.) vgl. BR. Abendroth, Das Problem der Materie. I,
1889, S. 172 f.
Das Substrat der Naturerscheinungen. 449
einerseits de Raumerfüllungals die konstanteste Eigenschaft der
Körperwelt erscheint, wurzeln hierin de Kontinuitätshypo-
thesen, welche die Stetigkeit des Raumes zugleich als die Grund-
eigenschaft der Materie ansehen. Indem anderseits die Existenz dis-
kreter, in wechselnden räumlichen Verhältnissen stehender Objekte
als die Bedingung aller Veränderungen in der Natur betrachtet wird,
entspringen hieraus die atomistischen Vorstellungen,
welche kleine unteilbare Körperchen von verschiedener oder von
gleicher Form als Elemente voraussetzen.
Beiderlei Hypothesen sind an sich in gleicher Weise vereinbar mit
dem allgemeinen Grundsatz der Konstanz der Materie, der alle Ver-
änderungen in der Körperwelt auf Bewegungen eines unveränderlichen
Substrates zurückzuführen verlangt. Sie sind daher noch in neueren
Zeiten für verschiedene Gebiete des physischen Geschehens neben-
einander der Deduktion der Erscheinungen zu Grunde gelegt worden*).
So sind namentlich die Arbeiten von Laplace über die Fortpflanzung
des Schalls, von Navier und Poisson über die Theorie der Elastizität,
von Fourier über die Fortpflanzung der Wärme von der Kontinuitäts-
hypothese ausgegangen, die sie je nach Bedürfnis bald auf die ponderable
Materie, bald auf ein imponderables Fluidum bezogen. Die atomistische
Anschauung dagegen ist der neueren Physik zunächst von der Chemie
entgegengebracht worden, in der die Motive zu ihrer Annahme die
zwingendsten waren. Auch für die spezifisch physikalischen Phänomene
hat jedoch vielfach schon frühe die Analyse der Erscheinungen zu
atomistischen Vorstellungen geführt. So legen Huygens wie Newton
atomistische Anschauungen zunächst ihrer Optik, dann aber auch der
Erklärung anderer Erscheinungen zu Grunde**), Ebenso sah sich
später Coulomb durch seine Analyse der Wirkungen des Magnets zu
solchen genötigt. Auf Grund der Interferenz- und Polarisationser-
scheinungen unternahmen dann Fresnel, Cauchy u. a. eine mathe-
matische Behandlung der Undulationstheorie. Den Schlußpunkt dieser
Entwicklung bildet Maxwells elektromagnetische Lichttheorie, die
einerseits die bisher getrennten Erscheinungen des Lichts, der Elek-
trizität und des Magnetismus miteinander in Verbindung brachte, ander-
seits aber zugleich die Voraussetzungen über die Schwingungen des
als Substrat dieser Erscheinungen dienenden Lichtäthers so allgemein
*) Über die ältere Entwicklung dieser Hypothesen bis zu Newton vgl.
Kurd Laßwitz, Geschichte der Atomistik. 2 Bde. 1890.
**) Newton, Prineip. Lib. II, Sect. VIIL, 1. c. p. 329, Über Huygens
vgl. Laßwitza.a. O. II, S. 341 fi.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 29
450 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
gestaltete, daß sich dieses Substrat schließlich ebensogut als ein kon-
tinuierliches wie als ein Staub von Atomen denken ließ.
Da ging ein neuer Anstoß in der Richtung atomistischer Vorstel-
lungen von den Erscheinungen der Kathoden- und Anodenstrahlen
und der mit diesen in nahe Beziehungen tretenden Strahlungen
des Radiums aus. Indem diese auf die Annahme rasch beweglicher
negativer und positiver elektrischer Teilchen, der sogenannten Elek-
tronen, führten, von denen die positiven im allgemeinen an ponderable
Atome gebunden, die negativen von diesen trennbar und dann in gerad-
linig fortschreitenden Bewegungen begriffen seien, machte dies wieder
die Voraussetzung einer atomistischen Konstitution mindestens der
Elektronen selbst wahrscheinlich. Dann lag es aber nahe, diese Voraus-
setzung auf den Äther überhaupt, zu dessen konstituierenden Be-
standteilen jene gehören, zu übertragen; und da für die ponderablen
chemischen Elemente die atomistische Konstitution ohnehin durch
alle diese Wandlungen der Ätherhypothesen hindurch festgehalten
worden war, so konnte es sich nur noch um die Frage handeln, ob
Elektronen und chemische Atome spezifisch verschiedene Elemente
der Materie, oder ob nicht schließlich die chemischen Atome selbst
aus Elektronen zusammengesetzt seien, eine Vorstellungsweise, die
durch die Strahlungs- und Emanationserscheinungen des Radiums und
der ihm verwandten Substanzen nahegelegt wurde*).
Neigt sich so in diesem Streit der Hypothesen, im Hinblick auf die
immer noch unentbehrlichen chemischen Atome einerseits und auf die
Erscheinungen einer aus positiven und negativen Teilchen bestehen-
den strahlenden Materie anderseits, das Übergewicht der Motive der
atomistischen Ansicht zu, so findet nun diese überdies eine gewisse
Stütze in den mathematischen Gesichtspunkten, die bei der theoreti-
schen Behandlung der Probleme zur Anwendung kommen. Hier sieht
sich nämlich auch die Kontinuitätstheorie genötigt, in gewissem Sinne
atomistische Vorstellungen einzuführen. Da man in diesem Fall die kon-
tinuierliche Materie in irgendwie gestaltete, sich unmittelbar berührende
Teilchen zerlegt, so haben besonders die hierher gehörigen Formen der
Elastizitätstheorie den Namen der Kontakthypothesen erhalten.
Die Teilchen, in die man sich die Körper zerlegt dachte, wurden dann
*) Vgl. J. J. Thomson, Elektrizität und Materie. Deutsch von
G. Siebert, 1904. Über das Tatsächliche vgl. besonders die zusammenfassen-
den Berichte von Rutherford u.a., Physikal. Zeitschr. 1892 fi., W. Wien,
Vortrag zur Naturforscherversammlung in Meran, 1905, P. Lenard, Über
Kathodenstrahlen, 1906.
Das Substrat der Naturerscheinungen. 451
aber im allgemeinen nur in Bezug auf ihre Massenmittelpunkte in Be-
tracht gezogen, so daß in den Entwicklungen der Kontakthypothesen
eigentlich immer schon eine atomistische Anschauung verborgen lag.
Diese Tendenz, die dem mathematischen Werkzeug der physikalischen
Deduktion ihren Ursprung verdankt, erstreckt sich nun noch
weiter. Indem die algebraische Analysis eine rein begriffliche Behand-
lung der Naturerscheinungen ermöglicht, läßt sie die im Interesse der
Anschaulichkeit vorausgesetzte räumliche Ausdehnung der materiellen
Elemente als ein unwesentliches Attribut erscheinen. Was für die mathe-
matische Betrachtung der Elemente in Rücksicht kommt, ist schlecht-
hin nur der geometrische Ort. Waren von den beiden im Eingang
erwähnten Bedingungen in den älteren Formen der Kontinuitäts-
hypothese wie der Atomistik die anschaulichen die überwiegenden
gewesen, so kamen daher unter dem Einfluß der mathematischen
Abstraktion die begrifflichen immer mehr zur Geltung. Eine
bedeutsame Rolle bei dieser Wendung spielte jener Begriff der ferne-
wirkenden Kraft, wie er als allgemeinstes Ergebnis der Abstraktion
aus der Gravitationstheorie Newtons hervorgegangen war. Bei der
Annahme fernewirkender Kräfte verzichtete man auf jede Beziehung
zu den aus der unmittelbaren Erfahrung geläufigen mechanischen Vor-
stellungen; aber begrifllich hatte man den Vorteil, den aus der Ent-
fernung aufeinander wirkenden Körpern in Anbetracht ihrer im Ver-
hältnis zu dieser Entfernung verschwindenden Größe Massen-
punkte substituieren zu können. Gebieterisch forderte dann diese
Anschauung vermöge der leichten mathematischen Einkleidung, die sie
zuließ, die Übertragung auf die verschiedenen Gebiete der Molekular-
physik. So sind aus dieser rein begrifllichen Auffassung jene Ansich-
ten hervorgegangen, die wir als dynamische Atomistik be-
zeichnen können, weil sie sich auf den bereits von Leibniz ausge-
sprochenen Satz berufen, daß uns die Materie nur durch die Kräfte
gegeben sei, die von ihr ausgehen.
So waren schon in den dynamischen Kontakthypothesen auch die
abstoßenden Molekularkräfte zu fernewirkenden Kräften geworden, wo-
bei nur vorausgesetzt wurde, daß sie nach einer Funktion der Entfernung
abnehmen, die sehr rasch sinke und daher für jede meßbare Distanz
verschwindend klein werde. Infolgedessen sahen sich aber diese
Hypothesen meistens veranlaßt, die anziehenden und abstoßenden
Kräfte überdies an verschiedene Substrate zu binden, die ersteren an
die ponderable Materie, die letzteren an einen deren Zwischenräume
erfüllenden Äther. So drängte diese Annahme, sobald man von der
452 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
schwer vollziehbaren Vorstellung einer Durchdringung dieser ver-
schiedenen Materien absah, wiederum zu atomistischen Anschauungen.
b. Diedynamische Atomtheorie.
Wie die Kontinuitätshypothese, so ist nun auch die Atomistik ur-
sprünglich von dem Bedürfnis nach einer anschaulichen Gestaltung
des wirklichen Geschehens ausgegangen. Indem sie von dem Grund-
satze der Konstanz der Materie bestimmt wurde, übertrug sie
zugleich die geläufigen Vorstellungen vom Stoß der Körper auf die
Atome, die sich, abgesehen von ihrer Kleinheit, nur durch die absolute
Härte, die man ihnen zuschrieb, von den aus der Erfahrung bekannten
festen Körpern unterscheiden sollten. Diese bereits durch die antike
Atomistik entwickelten Vorstellungen sind von der neueren zunächst
nur unerheblich modifiziert worden. Einerseits ließ man die verschiedene
Gestalt der Demokritischen Atome fallen und begnügte sich mit der
einfachsten Form kugelförmiger Atome; anderseits sah man sich ge-
nötigt, zum Behuf der Ableitung der einzelnen Kräfteformen ver-
schiedene Atome mit verschiedenartigen Eigenschaften einzuführen.
Für die speziellere Gestaltung dieser Vorstellungen wurde aber die
Annahme der fernewirkenden Kräfte maßgebend. Nach ihr schienen
sich von selbst die Erscheinungen den zwei Klassen der Anziehungs-
und Abstoßungskräfte unterzuordnen, wobei dann diese zwei Kräfte-
formen an zwei Arten von Atomen gebunden wurden. So ent-
stand die in der neueren theoretischen Physik, namentlich in der
Elastizitätslehre und Optik, herrschend gewordene Unterscheidung
der Körperatome und der Ätheratome. Den ersteren schrieb man eine
Anziehungskraft unter sich und gegen die Ätheratome zu; die letzteren,
deren Kräfte übrigens nur in Molekulardistanzen merklich seien, sollten
sich wechselseitig abstoßen. Nachdem diese Vorstellungen in der
Optik Eingang gefunden, versuchte man es, mit ihrer Hilfe die
sonstigen imponderablen Fluida zu verbannen. Das Wärmefluldum
machte infolge der Begründung der mechanischen Wärmetheorie den
Öszillationen der ponderablen Teilchen Platz. Für die Elektrizität ließ
sich der Lichtäther benützen, sei es nun, daß man mit W. Weber posi-
tive und negative Ätheratome annahm, die sich rotierend um die pon-
derablen Teilchen bewegten, sei es, daß man mit ©. Neumann die eine
der beiden Elektrizitäten als eine unveränderliche Eigenschaft der pon-
derablen Atome betrachtete.
In diesen neueren Entwicklungen wurde im allgemeinen die Voraus-
setzung leerer Zwischenräume zwischen den Atomen strenger fest-
Das Substrat der Naturerscheinungen. 453
gehalten als in der antiken Atomistik, die in dem Stoß der Atome ein
Ereignis angenommen hatte, bei dem jedesmal eine unmittelbare Be-
rührung eintrete. Dort dagegen machte es das angenommene Gesetz
der Wirkungen zwischen den Atomen unmöglich, daß diese über eine
gewisse Grenze sich näherten. Auf diese Weise blieb das Prinzip der
Stetigkeit aufrecht erhalten, indem sich jede Wirkung streng genom-
men in eine Fernewirkung verwandelte. Der so zur Ausbildung gelan-
gende Begriff der Wirkungssphäre des Atoms erlaubte es aber
weiterhin, der Hypothese jene Wendung zu geben, die in der mathe-
matischen Behandlung der Atomwirkungen vorbereitet war. Abstra-
hierte diese schon völlig von der Ausdehnung der Atome, indem sie
dieselben lediglich als Kraftzentren in Betracht zog, so schien die
Umsetzung dieser mathematischen Abstraktion in eine physikalische
Voraussetzung umso näher zu liegen, als damit die Fragen über Ge-
stalt und Größe der Atome ohne weiteres hinwegfielen, Fragen, die sich
im allgemeinen der Beantwortung entziehen, da das einzige, was eventuell
einer Messung zugänglich sein kann, eben die Wirkungssphäre des
Atoms ist. Hiermit war der Übergang zur einfachen Atomi-
stik vollzogen, wie sie schon im 18. Jahrhundert zuerst von verschiedenen
Naturforschern und Philosophen, z. B. von Kant, entwickelt und dann
später in engerem Anschlusse an die mathematische Theorie von Am-
pere, Cauchy u. a. ausgebildet wurde. Die Atome betrachtete man
hier als ausdehnungslose Punkte, deren jedem eine Wirkungssphäre
zukomme, die von der ihm inhärierenden Zentralkraft abhänge. Man
verzichtete demnach auf jede Kongruenz mit den sinnlich wahrnehm-
baren Eigenschaften der Naturobjekte und begnügte sich damit, die
wesentlichen Eigenschaften der Materie rein begrifilich festzustellen*).
Zuweilen verband sich aber mit dieser Annahme noch das Streben,
auch die Verschiedenartigkeit der Atome zu beseitigen. Der physische
Punkt, wie er an sich keine Verschiedenheiten erkennen lasse, sollte
sich auch in seinen Wirkungen gleichförmig verhalten. In dieser Rich-
tung haben namentlich Boscovich und in neuerer Zeit Fechner die
Statthaftigkeit der einfachen Atomistik zu erweisen gesucht. Auch
*) Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre.
2. Aufl. 1864, S. 147 ff. Kant gehört nur in seiner älteren Schrift „Monadologia
physica“ (1756) hierher. Die in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft“ (1786) aufgestellte dynamische Kontinuitätstheorie bot
der physikalischen Analyse keine brauchbaren Anhaltspunkte. Sie stimmt
aber darin mit der früheren Schrift überein, daß sie die räumlichen Eigen-
schaften der Materie aus Kraftwirkungen abzuleiten sucht.
454 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Cauchy legte die nämliche Annahme einem Teil seiner analytischen
Untersuchungen zu Grunde. Selbstverständlich konnte jedoch hierbei
die Einfachheit des Substrates nur auf Kosten der Einfachheit der
angenommenen Wirkungen erreicht werden. Denn man mußte nun
eine kompliziertere Form der Kräftefunktion einführen, welche an-
ziehende und abstoßende Wirkungen als spezielle Fälle unter sich be-
greift. Selbst mit derartigen Hilfsannahmen gelang es aber nicht, solche
Erscheinungen abzuleiten, die, wie z. B. die Doppelbrechung des Lichtes
in Kristallen, auf eine abweichende Anordnung der Teilchen nach
verschiedenen Richtungen hinweisen. Für die Zwecke der analytischen
Deduktion hielt man daher im allgemeinen an der Annahme eines so-
genannten Doppelmediums aus Körper- und Ätherpunkten fest.
c. Die kinetische Atomtheorie.
Die zuletzt erwähnten Hypothesen wurden zunächst durch die
Anschauungen erschüttert, die hinsichtlich mancher sonst auf eine
Distanzwirkung der Atome bezogener Erscheinungen die mecha-
nische Wärmetheorie herbeiführte.e Hatte man früher die
Ausdehnung der Gase vom statischen Gesichtspunkte aus auf ein
Übergewicht der Repulsivkräfte der Ätheratome bezogen, so lehrte
nun die Auffassung der Wärme als einer Bewegung der Teilchen die
nämliche Erscheinung weit befriedigender aus der unbeschränkten
Beweglichkeit der Moleküle im gasförmigen Zustand erklären*). Waren
damit für einen speziellen Fall die abstoßenden Kräfte direkt aus
molekularen Stoßwirkungen abgeleitet, so schien es jedoch geboten,
ähnliche Voraussetzungen auch für andere Fälle anscheinender Repulsiv-
wirkungen zu versuchen. Und war erst einmal das Prinzip der Actio
in distans für die Repulsivwirkungen beseitigt, so konnte es auch für
die Attraktionserscheinungen kaum länger standhalten. Nicht bloß
für Elektrizität und Magnetismus, für welche die Beziehungen zu Licht
und Wärme solche Vorstellungen nahe legten, ging man daher wieder
auf die Annahme von Kontaktwirkungen zurück, sondern auch für
die Erklärung der Schwere begann man teils an ältere Hypothesen
anzuknüpfen, welche die Schweranziehung durch unmittelbare Stöße
*) Krönig, Grundzüge einer Theorie der Gase, 1856. Clausius,
Abhandl. über die mechanische Wärmetheorie. Bd. 2, 1867. Weiter ausgebildet
wurde diese Theorie namentlich von Maxwell, Theorie der Wärme. Deutsch
von F. Auerbach, 1877. Eine zusammenfassende präzise Form gab ihr
Boltzmann, Vorlesungen über Gastheorie, 2 Teile, 1896—1898.
Das Substrat der Naturerscheinungen. 455
eines im Weltraum bewegten Äthers veranschaulicht hatten, teils suchte
man die Gravitation mit den der elektrischen und magnetischen Ferne-
wirkung zu Grunde gelegten Bewegungen in Beziehung zu bringen*).
Mangelt es auch solchen Annahmen immer noch an dem Nachweis
einer Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gravitation, dem hier ent-
scheidende Bedeutung zukommen würde, so läßt sich doch nicht ver-
kennen, daß, sobald man nur erst die übrigen Naturkräfte den Ge-
sichtspunkten der kinetischen Atomistik vollständig unterworfen hätte,
auch die Gravitation sich dem Zwang der gleichen Anschauung kaum
länger entziehen könnte, umsomehr, da das Gesetz der Abnahme ihrer Ih-
tensität mit dem Quadrat der Entfernung unmittelbar auf die räumliche
Übertragung einer Bewegung hinzuweisen scheint. Mit der Beseitigung
der Actio in distans war aber gegenüber der rein begrifflichen Auffas-
sung des materiellen Substrates wieder die Forderung der Anschau-
lichkeit erhoben, während zugleich die Voraussetzung einer Berührung
der Elemente beim Stoß die Rückkehr zu Kontinuitätsvorstellungen
begünstigte. Denn es kann zwar die mechanische Gastheorie ihre
Moleküle ebenfalls im Sinne der dynamischen Atomistik aus Kraft-
punkten und Äthersphären aufgebaut und dadurch die Stöße der Gas-
teilchen in molekulare Fernewirkungen umgewandelt denken. Immer-
hin wurde durch den Grundgedanken der kinetischen Atomistik der
Versuch näher gelegt, alle Naturerscheinungen wo mög-
lich aus dem unmittelbaren Kontakt bewegter
Atome zu erklären. Dies aber konnte nur geschehen, wenn man
zugleich zur Kontinuitätshypothese zurückkehrte oder mindestens die
Vorstellungen der letzteren mit denjenigen der kinetischen Atomistik
verband.
d. Rückkehr zu Kontinuitätsvorstellungen.
Den entscheidenden Anstoß zur Ausbildung solcher Vorstellungen
gab die elektromagnetische Lichttheorie. Sie bot
neben dem großen Vorzug, daß sie die bisher getrennten und zuweilen
immer noch auf verschiedene materielle Medien zurückgeführten Phä-
nomene des Lichts, der Elektrizität und des Magnetismus vereinigte,
noch den weiteren, daß sie die Schwierigkeiten beseitigte, die den Vor-
*), Isenkrahe, Das Rätsel von der Schwerkraft, 1879. S. T. Pres-
ton, Phil. Mag. (5) IV, 206, 364; V, 117, 297. A. Korn, Eine Theorie der
Gravitation und der elektrischen Erscheinungen, 1892. Th. Schwartze,
Elektrizität und Schwerkraft, 1892.
456 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
aussetzungen der theoretischen Optik anhafteten. Nachdem durch die
Erscheinungen der Interferenz die Undulationstheorie sicher begründet
und durch die Entdeckung der Polarisation die Wellenbewegung des
Lichts als eine transversale, analog der Bewegung einer schwingenden
Saite oder der Wellen an der Oberfläche des Wassers, nachgewiesen
war, bereitete das Problem, diese transversale Form der Lichtwellen
mit einer irgendwie wahrscheinlichen Konstitution des Äthers in Ver-
bindung zu bringen, neue Schwierigkeiten. Betrachtete man mit Fresnel
und seinen der dynamischen Atomistik huldigenden Nachfolgern den
Äther als ein elastisches Medium, das aus einzelnen Atomen be-
steht, deren Abstände im Vergleich zur Länge der Wellen hinreichend
groß sind, so können sich zwar, wie Fresnel zeigte, in einem solchen
Medium transversale Wellen fortbewegen. Immerhin würden auch
longitudinale möglich sein, und sie würden bei jeder Reflexion
oder Brechung aus den Transversalwellen hervorgehen müssen. Nur
wenn man den Äther als inkompressibel voraussetzt, wenn
man ihm also die Eigenschaften eines starren Körpers, nicht einer
Flüssigkeit beilegt, können die transversalen Schwingungen in ihm
unter allen Umständen erhalten bleiben. Die Vorstellung einer solchen
Konstitution ist aber angesichts der Tatsache, daß die Weltkörper bei
ihrer Bewegung durch den äthererfüllten Weltraum keinen merklichen
Widerstand erfahren, schwer vollziehbar, und auch die Hilfshypothese,
daß sich der Äther nur gegenüber den Lichtwellen wegen ihrer enormen
Geschwindigkeit wie ein fester Körper, in allen anderen Beziehungen
wie eine Flüssigkeit verhalte*), ist kaum geeignet, jenes Bedenken hin-
wegzuräumen. Dies verhält sich nun anders bei der elektromagnetischen
Lichttheorie. Sie geht von der Annahme aus, daß alle elektrischen und
magnetischen Erscheinungen auf Schwingungen in zwei zueinander
senkrechten Ebenen beruhen, so zwar, daß diese beiden Schwingungs-
formen stets miteinander verbunden sind, indem die elektrischen
Schwingungen senkrecht zur Polarisationsebene, die magnetischen inner-
halb derselben erfolgen. Für das Verhältnis der Elektrizität zum Magne-
tismus kann diese Voraussetzung als experimentell bewiesen gelten**).
Die Erfordernisse der Undulationstheorie des Lichtes ergeben sich
aber, sobald man annimmt, daß die Wellenlänge solcher Schwingungen
auf Millionteile derjenigen Größe herabsinkt, die sie bei den gewöhn-
*) Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Optik, 1891, S. 4f.
**) Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen
Kraft. S. 190 fi.
Das Substrat der Naturerscheinungen. 457
lichen elektrodynamischen Wirkungen besitzt. Mit dieser Kleinheit
der Lichtwellen läßt sich dann auch die Tatsache in Zusammenhang
bringen, daß bei ihnen bleibende Verschiebungen des Äthers nicht nach-
zuweisen sind, während die ponderomotorischen Wirkungen der Elek-
trizität und des Magnetismus aus solchen Verschiebungen abgeleitet
werden können. Im übrigen sind die Fortpflanzungsgesetze der Licht-
wellen und der elektromagnetischen Wellen durchaus übereinstimmen-
der Art: diese wie jene pflanzen sich nur im Äther, nicht aber durch
eigentliche Fernewirkung fort, und die früher sogenannten Nichtleiter,
die Dielektrika, die im allgemeinen auch die das Licht fortpflanzenden
Medien sind, erscheinen als die wahren Träger der elektromagnetischen
Schwingungen, während die Leiter, namentlich die Metalle, dieselben
nur schwierig und nur bis in eine gewisse Tiefe aufnehmen: eben diese
Eigenschaft macht sie aber gerade geeignet, die auf sie übergehenden
elektrischen Schwingungen zusammenzuhalten und in sich fortzu-
pflanzen, ohne sie merklich an die Umgebung zu übertragen*). Da
nun nach dieser Theorie die Ätherschwingungen immer in zwei zu-
einander senkrechten Richtungen transversal erfolgen, nicht, wie nach
der elastischen Theorie, bloß in der einen, zur Polarisationsebene
senkrechten Richtung, in der sie bei großer Wellenlänge als Elektrizität,
bei sehr kleiner innerhalb gewisser Grenzen als Licht wahrgenommen
werden, so kann ein Übergang der Transversal- in Longitudinalwellen
nicht stattfinden, auch dann nicht, wenn der Äther ein zusammen-
hängendes, absolut flüssiges Medium ist, welches den in ihm bewegten
Körpern keinen Widerstand leistet. Denn jene beiden zueinander senk-
rechten Transversalschwingungen lassen sich als die Komponenten
einer Wirbelbewegung betrachten, die in der Richtung der Achse des
Wirbels fortschreitet. Aus solchen Wirbeln läßt sich dann insbesondere
auch jene drehende Wirkung der Magnete auf die Schwingungsrichtung
des polarisierten Lichtes ableiten, aus der Faraday zuerst auf einen
inneren Zusammenhang dieser Erscheinungen geschlossen hatte.
Demnach gestattet diese Theorie, indem sie Elektrizität und
Magnetismus aus der Reihe der fernewirkenden Kräfte verschwinden
läßt und, ähnlich wie Licht, Schall und Wärme, auf schwingende Be-
wegungen zurückführt, nicht nur eine einheitlichere Betrachtung der
Naturvorgänge, sondern sie macht auch eine Reihe bis dahin unerklärter
*) Über das Verhältnis der elastischen zur elektromagnetischen Licht-
theorie vgl. P. Volkmann, Vorlesungen über die Theorie des Lichts, 1892,
über das Verhältnis der Maxwellschen zu einigen anderen Elektrizitäts-
theorien Poincar&, Elektrizität und Optik, deutsche Übersetzung I, II. 1892.
458 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Zusammenhänge begreiflich. Bleibt aber als einzige Naturkraft, die bis
dahin nicht aus einem bestimmten Bewegungszustand der Materie ab-
geleitet werden konnte, die Gravitation zurück, so wird dadurch die
Vermutung verstärkt, daß dies auch für sie noch gelingen und damit die
alte, dem Einheitsbedürfnis der Theorie längst widerstrebende Trennung
des Äthers und der ponderablen Materie mit ihren verschiedenen Eigen-
schaften gänzlich beseitigt werde, eine Vorstellung, die, wie wir oben
sahen, von einer anderen Seite her auch die Strahlungserscheinungen
der Elektroden und die mit ihnen zusammenhängenden Zersetzungs-
vorgänge gewisser chemischer Elemente, wie des Radiums, nahe legen.
Werden doch hier selbst die Tatsachen der Chemie, die vor allen an-
deren auf atomistische Vorstellungen geführt hatten, in ein anderes Licht
gerückt, indem die Konstanz der chemischen Atome nicht mehr als eine
absolute, sondern nur noch als eine relative erscheint, wenn auch die
Zusammensetzung der chemischen Atome aus einfacheren Elementen
als eine sehr stabile angenommen werden muß*). Um über diese
Stabilität Rechenschaft zu geben, sieht sich daher immerhin auch
die Kontinuitätshypothese genötigt, alle der sogenannten ponderablen
Materie zukommenden Eigenschaften in diesem relativen Sinne in dem
Begriff des Atoms festzuhalten oder aber Vorstellungen zu entwickeln,
die geeignet sind, die atomistische Hypothese zu ersetzen. Ein Versuch
dieser Art ist zuerst in Analogie mit Maxwells Wirbeltheorie von
W. Thomson gemacht worden**). Ein Wirbelfaden in einer vollkomme-
nen, nicht zusammendrückbaren Flüssigkeit würde, wie schon Helm-
holtz***) gezeigt hat, unzerstörbar sein; beim Versuch, ihn zu zerschnei-
den, würde er in die verschiedensten Formen gebracht, nicht aber wirk-
lich zerschnitten werden können, ausgenommen, wenn er irgendwo mit
der Grenze der Flüssigkeit in Berührung käme, also, auf die Materie an-
gewandt, niemals, da die Materie keine Grenze besitzt. Nach dieser Vor-
stellungsweise würden demnach die Wirbel des Äthers das sein, was wir
sonst die Atome der ponderablen Materie nennen. Damit würde zugleich
das oben erwähnte Streben nach einer Vereinheitlichung des Begriffs der
Materie befriedigt werden, indem nunmehr die verschiedenen schwingen-
den Bewegungen des sogenannten Lichtäthers, sowie die fortschreitenden
Bewegungen der freien Elektronen als Vorgänge in der zwischen den
ponderablen Wirbelatomen befindlichen Materie gedacht werden können.
*) Über die besonderen Erfordernisse der chemischen Atomistik vgl.
übrigens unten Kap. II.
**) Proceedings of the Roy. Soc. 1867.
***) Orelles Journ. 1858, Bd. 56.
Das Substrat der Naturerscheinungen. 459
e. Logische Prüfungder Hypothesen.
In der geschilderten Entwicklung der hypothetischen Voraus-
setzungen über die Materie lassen sich deutlich zwei Bestrebungen er-
kennen. Die erste besteht darin, daß man den Begriff der materiellen
Elemente und ihrer Bewegungszustände in einer Weise zu bestimmen
sucht, die eine einheitliche Ableitung der Naturerscheinungen gestattet;
die zweite darin, das man sich diese Elemente in ihren Eigenschaften
möglichst entsprechend den Eigenschaften der sinnlich wahrnehmbaren
Körper denkt. Diese beiden Tendenzen treten aber in einen Kampf
miteinander, indem die begrifflichen Forderungen gewisse aus der sinn-
lichen Wahrnehmung stammende Vorstellungen unmöglich machen.
So beseitigt das Bedürfnis, die Erscheinungen von Wärme, Licht, Schall
u. s. w. im Zusammenhang abzuleiten, von vornherein die Vorstellung,
daß den Atomen auch die optischen, thermischen, akustischen Eigen-
schaften zukommen, die wir an den wirklichen Körpern beobachten.
Wollte man dies annehmen, so würde ja ohne weiteres der Begriff der
Materie mit der Vorstellung der Körper identisch werden, d. h. jener
Begriff selbst würde damit aufgehoben sein. Darum beschränkte man
sich zunächst darauf, den Elementen der Materie diejenigen all-
gemeinen Eigenschaften zuzuschreiben, welche de Mechanik zum
Gegenstand ihrer Untersuchungen nimmt: Masse und bewegende Kraft.
Dies entsprach der allgemeinen Voraussetzung der neueren Physik, daß
alle Naturvorgänge auf mechanische Prozesse zurückzuführen seien.
(Vgl. oben S. 298, 347 fi.) Damit ist nun aber jener Kampf, in den das
Postulat der Begreiflichkeit und das der Anschaulichkeit miteinander
geraten sind, noch keineswegs geschlichtet. Wenn wir feststellen,
die Eigenschaften der Materie seien so zu denken, wie sich die Mechanik
die der Körper vorstellt, so ist damit zwar die Ausdehnung im Raume
und allenfalls auch die Undurchdringlichkeit gegeben. Ob aber die
Teilchen der Materie starr oder elastisch, absolut verschiebbar gegen-
einander oder zusammenhängend seien u. dergl. mehr — alles dies
bleibt dahingestellt, weil die Mechanik selbst bald diese bald jene Voraus-
setzung macht, je nach der besonderen Gruppe mechanischer Phäno-
mene, mit deren Untersuchung sie es zu tun hat. Nur eines ist allen
ihren Untersuchungen gemeinsam: überall geht sie von Voraussetzungen
aus, die sich bei den wirklichen Körpern niemals vollständig verwirk-
licht finden, und ihre Resultate erhalten daher im allgemeinen auch für
die wirklichen Körper erst Geltung, wenn nachträglich empirische
Beschränkungen hinzugefügt werden. Diese pflegen dann wieder so
460 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
viel als möglich auf gewisse allgemeine Voraussetzungen zurück-
zuführen, ohne daß sich jedoch hierbei jemals das wirkliche Ver-
halten der Dinge völlig erschöpfen ließe. So untersucht die Mechanik
absolut starre und absolut elastische, absolut feste und absolut
flüssige Körper, aber gerade das, was der wirkliche Körper immer
ist, ein Mittleres zwischen solchen abstrakt gedachten Zuständen, ver-
mag sie nur durch eine nachträgliche Verbindung verschiedener ab-
strakter Begriffe, und auch dann immer nur in Annäherungen, zu
deuten.
Ist die Interpretation der Erscheinungen aus irgendwelchen Be-
wegungsvorgängen der Zweck aller Hypothesen über die Materie, so
kann demnach von vornherein nicht erwartet werden, daß diese Hypo-
thesen auch nur in Bezug auf die mechanischen Eigenschaften dem
wirklichen Verhalten realer Körper entsprechen werden. In der
Tat enthält daher jede der zur Geltung gelangten Hypothesen einen
Widerspruch gegen die Anschauung, und sie alle unterscheiden sich
nur dadurch, daß dieser Widerspruch bei jeder an einer anderen
Stelle zum Vorschein kommt. Die dynamische Atomistik setzt in ihrer
folgerichtigen Form Kraftpunkte voraus: der bewegte Punkt ist aber
lediglich die einfachste begriffliche Konzeption der abstrakten Mechanik.
Die kinetische Atomistik nimmt ausgedehnte, absolut starre Körper
von willkürlicher, nach der verbreitetsten Annahme von kugelförmiger
Gestalt an: der starre Körper ist aber zwar ein minder einfacher, doch
ist er darum nicht weniger ein ebenso abstrakter Begriff wie der Punkt.
Endlich die Hypothese der Wirbelatome setzt an die Stelle dieses Grund-
begrifis der Mechanik fester Körper den der abstrakten Hydrodynamik:
den Begriff der absolut reibungslos beweglichen Flüssigkeit. Besitzt
in dieser Beziehung keine der gegenwärtig um die Herrschaft kämpfen-
den Hypothesen einen Vorzug vor der anderen, so bleibt die dyna-
mische Atomistik höchstens darin gegenüber der kinetischen und der
Kontinuitätshypothese scheinbar im Nachteil, daß diese die Fernewirkung
vollständig beseitigen, indem sie alle Vorgänge auf die Aktion und
Reaktion bei der unmittelbaren Berührung zurückführen, während
die dynamische Atomistik eigentlich alle Wirkungen als Fernewirkungen
betrachtet. Auf der anderen Seite nötigt aber die Kontinuitätshypo-
these zu auffälligeren Widersprüchen mit den wirklichen Eigenschaften
der in der Erfahrung gegebenen stetig ausgedehnten Körper; und die
Annahme starrer Atome führt zu der Vorstellung, daß ein gegen eine
feste Wand stoßendes Atom momentan seine Geschwindigkeit in eine
entgegengesetzt gerichtete umwandle. Wollte man auch, um dieser
Das Substrat der Naturerscheinungen. 461
Schwierigkeit zu entgehen, elastische Atome voraussetzen*), so bliebe,
sobald man den Begriff des Atoms im absoluten Sinne nimmt, wiederum
das Bedenken, daß die Eigenschaft der Elastizität eine Verschiebung
und Wechselwirkung der Teilchen des elastischen Körpers einschließt
und daher, wie dies die Existenz der Elastizitätstheorien bezeugt, zu
einer Zerlegung nötigt, die den Begriff des absoluten Atoms aufhebt.
Hält man umgekehrt die Annahme starrer Atome deshalb für zulässig,
weil auch bei einer plötzlichen Geschwindigkeitsänderung das Prinzip
der Erhaltung der Energie gewahrt bleiben könne**), so kehrt hier der
Versuch wieder, die Forderungen der Anschauung durch rein begriff-
liche Feststellungen zu befriedigen. In ähnliche Widersprüche mit der
Anschauung verwickelt sich endlich die Annahme von Wirbelatomen,
welche die leicht vorstellbare Unvergänglichkeit kleinster Teilchen
durch die immerhin schwerer vollziehbare einer widerstandslos in einem
kontinuierlichen Medium fortdauernden Bewegung ersetzt. Demgegen-
über bietet die dynamische Atomistik den Vorzug, daß sie auf das Be-
streben, die Materie selbst mit anschaulichen Eigenschaften auszu-
statten, von vornherein verzichtet, indem sie vielmehr von der Forde-
rung ausgeht, die begrifflichen Voraussetzungen über dieselbe
seien so zu gestalten, daß die Wirkungen jener Eigenschaften mit
den in der Anschauung gegebenen Erscheinungen übereinstimmen.
Dieser Vorzug war es, der denjenigen Physiker, der, wie kein anderer
vor ihm, den endlichen Fernewirkungen den Boden entzog und
von ihrer Unwahrscheinlichkeit auch auf dem Gebiet, wo sie noch an-
genommen werden, bei der Gravitation, durchdrungen war, Faraday,
bestimmte, an der Vorstellung von Kraftpunkten, die in unendlich
kleinen Entfernungen wirken, festzuhalten. In der Tat sind diese beiden
Fälle einer Actio in distans immerhin insofern verschieden, als die
Fernewirkung zwischen Weltkörpern ein Vorgang sein würde, der unserer
unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung angehört, während die Wechsel-
wirkung der Atome in ihren unendlich kleinen Entfernungen, wie jede
andere Voraussetzung über die Materie, ein hypothetischer Begriff
bleibt, den wir nach Anleitung der mathematischen Postulate der ab-
strakten Mechanik zu konstruieren haben, ohne daß wir für diesen Be-
griff jemals eine völlige Übereinstimmung mit den Gegenständen der
sinnlichen Wahrnehmung erreichen können. Gleichwohl hat das Wider-
*) Helmholtz, Populäre wissensch. Vorträge, 3. Heft, S. 13.
**) O. E. Meyer, Die kinetische Theorie der Gase, 1877, S.239 f. La Bß-
witz, Atomistik und Kritizismus, S. 96 ff., Geschichte der Atomistik, II,
8. 384 ff.
462 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
streben, das Faraday mit so vielen Physikern gegen die endlichen
Fernewirkungen teilte, zwar ein zureichendes Motiv in dem Versuch,
die Voraussetzungen über die verschiedenen Kräftefunktionen mög-
lichst übereinstimmend zu gestalten; es besteht aber darum noch keine
Berechtigung, von der „Unmöglichkeit“ einer Fernewirkung zu reden.
In der Tat würde eine durch keinerlei Zwischenvorgänge vermittelte
Wirkung der Sonne auf die Erde an und für sich ebenso vorstellbar sein
wie die hypothetische Wirkung eines Atoms auf ein anderes durch eine
unendlich kleine Entfernung oder die Wirkung eines Körpers auf einen
anderen in unmittelbarer Berührung. Auch die Wirkung des mechani-
schen Stoßes erscheint uns ja nur deshalb begreiflich, weil sie sich in
der Erfahrung immer und immer wieder darbietet. Wenn man diese
Wirkung dadurch dem Verständnisse näher zu bringen sucht, daß man
sie mit der Undurchdringlichkeit der Körper in Beziehung bringt, so
wird damit eigentlich nichts weiter geleistet, als daß man.eine Er-
fahrungstatsache durch eine Folgerung erläutert, die selbst aus jener
Tatsache gezogen wurde. Wenn wir, wie es wissenschaftlich gefordert
ist, den Begrifi der Erfahrung über das unmittelbar Wahrgenommene
hinaus auf das aus Wahrnehmungen Erschlossene erweitern, so ist in
der Tat die Wirkung der Sonne auf die Erde eine ebenso konstante und
anschauliche Erfahrung wie die Wirkung des Stoßes auf den gestoßenen
Körper. Davon also, daß die eine dieser Wirkungen a priori wahr-
scheinlicher wäre als die andere, kann keine Rede sein. Vielmehr kann
sich hier, wo verschiedene Voraussetzungen möglich sind, immer nur aus
der Übereinstimmung mit anderen Tatsachen der Erfahrung eine Wahr-
scheinlichkeit für die eine oder andere Annahme ergeben. Betrachtet
man die Frage von diesem Gesichtspunkte aus, so bestehen nur
zwei Gründe, die gegen eine endliche Fernewirkung geltend gemacht
werden können: der erste liegt darin, daß, nachdem die elektromag-
netischen Fernewirkungen auf die Bewegungen durch ein Zwischen-
medium zurückgeführt sind, die Gravitation als einzige Erscheinung
übrig bliebe, auf die der Begriff der Fernewirkung in jenem ursprünglichen
Sinne anzuwenden wäre; der zweite, vielleicht gewichtigere, darin,
daß sich auch für die Gravitation die nämliche Kräftefunktion bewährt,
wie für diejenigen Kräfte, die sich, wie Licht und Schall, durch einen
Bewegungsvorgang fortpflanzen. Dem steht vorläufig noch als ein
freilich nur negatives Argument für die Fernewirkung die Tatsache
gegenüber, daß jede Fortpflanzung einer Bewegung Zeit braucht, und
daß eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gravitation bis jetzt nicht
nachgewiesen ist. Die Möglichkeit, daß dies noch geschehe, kann aber
Das Substrat der Naturerscheinungen, 463
umsoweniger bestritten werden, als die Vorstellung, irgend eine Kraft
erstrecke ihre Wirkungen momentan in unendliche Entfernungen,
Schwierigkeiten bietet, die uns nötigen, hier den Tatbestand der Er-
fahrung lediglich so auszudrücken, daß die Fortpflanzungsgeschwin-
digkeit als unmeßbar groß für unsere bisherigen Hilfsmittel anzu-
sehen sei.
Hält man nun, wie es diese Entwicklung verlangt, an der Forde-
rung fest, daß nur die notwendigen mathematischen Voraussetzungen,
frei von zufälligen und willkürlichen Zugaben, in den Hypothesen über
die Materie ihren Ausdruck finden, und daß nicht die Begriffe selbst,
sondern nur die aus ihnen abgeleiteten Phänomene das Postulat der
Anschaulichkeit erfüllen müssen, so entspricht zunächst die einfache
dynamische Atomistik dieser Bedingung. Denn jede mathematische
Theorie materieller Vorgänge ist genötigt, mit dem Begriff des Kraft-
punktes zu operieren, insofern die Ausgangs- und Angrifispunkte be-
stimmter Wirkungen stets als mathematische Punkte gedacht werden.
Anderseits bietet die Kontinuitätshypothese den Vorzug, daß sie der
Materie von vornherein diejenige Eigenschaft zuschreibt, die die Grund-
bedingung für alle an sie geknüpften Bewegungsvorstellungen ist: die
stetige räumliche Ausdehnung. Die auf den einfachen Massepunkten
der Mechanik fester Körper beruhende dynamische Atomistik und die
mit der abstrakten. Flüssigkeit der Hydrodynamik operierende Kon-
tinuitätshypothese erscheinen so als die zwei entgegengesetzten, an
rein begrifflichem Charakter sich nichts nachgebenden, wenn auch auf
gänzlich abweichende Abstraktionen gestützten Vorstellungsweisen, die,
so verschieden sie sein mögen, doch in der anschaulichen Ableitung der
Erscheinungen schließlich zusammentreffen können. Darum ist die Zeit
zur Ausgleichung aller in der Entwicklung der Hypothesen über die
Materie hervorgetretenen Gegensätze augenscheinlich weder gekommen,
noch ist es überhaupt wahrscheinlich, daß diese Ausgleichung jemals
anders erreicht werde als in der Entwicklung verschiedener Hypothesen
von äquivalentem Erklärungswert. Denn da der Begriff der Materie
ein allezeit hypothetischer bleibt, so ist auch im allgemeinen stets eine
Mehrheit von Voraussetzungen denkbar, die dem Zweck der Natur-
erklärung genügen.
Von logischer Seite läßt sich deshalb nur auf die allgemeine Rich-
tung, in der sich die Anschauungen entwickeln, und auf die erkenntnis-
theoretischen Forderungen hinweisen, denen jede Theorie nachkommen
muß. Die Richtung der Entwicklung ist unzweifelhaft. Nachdem die
rohen, vielfach mit überflüssigen Nebenvorstellungen belasteten älteren
464 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Hypothesen durch die Begriffe, die von der Newtonschen Gravitations-
theorie und der mathematischen Abstraktion ausgegangen waren, ihre
Läuterung erfahren, wird überall die Notwendigkeit fühlbar, die unter
diesen Einflüssen entstandenen abstrakten Theorien im Interesse der
konkreten Erfahrung umzugestalten, und an dieser Umgestaltung kommt
dem Streben der neueren Physik, statische Verhältnisse auf Bewegungs-
vorgänge zurückzuführen, ein hervorragender Anteil zu. Die hierin
angedeutete Richtung entspricht zugleich den logischen Forderungen,
die an eine Theorie der Materie als des Substrates der in der äußeren
Anschauung gegebenen Erscheinungen zu stellen sind. Stimmt die
physikalische Erfahrung mit dem logischen Trieb, alles Geschehen auf
Bewegungsvorgänge dieses Substrates zurückzuführen, im allgemeinen
überein, so müssen in den Voraussetzungen über dasselbe die für
eine solche Zurückführung erforderlichen Bedingungen erhalten bleiben.
Daraus hat sich das in verschiedener Weise in den einzelnen Theorien
zu Tage getretene Streben entwickelt, die Teile der Materie so weit als
nur immer möglich mit den gleichen Eigenschaften auszustatten, die
wir an den wirklichen festen Körpern oder Flüssigkeiten wahrnehmen.
Aber da die Materie selbst ein abstrakter Begriff und keine sinnliche
Vorstellung ist, so lag darin zugleich das Motiv, solche Voraussetzungen
völlig abstrakt und in diesem Sinne abweichend von den wirklichen Eigen-
schaften der Körper zu gestalten. Den abstrakten Begriff des festen Kör-
pers legten so die atomistischen Vorstellungen, den der Flüssigkeit die
Kontinuitätshypothesen zu Grunde. In beiden Fällen sah man es
freilich meist noch als eine unabweisbare Forderung an, daß das mate-
rielle Substrat selbst eine anschauliche Beschaffenheit besitzen müsse.
Auf die zweifelhafte Berechtigung dieser Forderung mußte jedoch
schon der Umstand aufmerksam machen, daß man genötigt war, unter
den verschiedenen Eigenschaften der wahrnehmbaren Objekte eine
Auswahl zu treffen, wenn man die Atome schlechterdings nur als aus-
gedehnte, undurchdringliche und je nach Umständen entweder als ab-
solut harte oder als absolut elastische Körper ansah, ihnen aber Farbe,
Wärme und andere Eigenschaften aberkannte, oder wenn man ein
Kontinuum von absoluter, Reibung und wechselseitigen Widerstand
ausschließender Beweglichkeit annahm. In der Tat ist ersichtlich,
daß die Forderung der Anschaulichkeit in dieser Form immer noch auf
der Voraussetzung beruht, die in der Anschauung gegebenen Natur-
erscheinungen müßten auf letzte Bedingungen zurückführen, die eben-
falls in der Anschauung gegeben seien. In dieser Form ist aber das
Postulat der Anschaulichkeit nicht haltbar. Wäre eine durchgängige
Das Substrat der Naturerscheinungen, 465
Übereinstimmung der Eigenschaften des Substrates der Erscheinungen
mit diesen selbst vorhanden, so würden die Motive zur Bildung des Be-
grifis der Materie überhaupt hinwegfallen. Die Nötigung zu dieser be-
steht vielmehr nur deshalb, weil eine widerspruchslose Erklärung der
Erscheinungen erst gelingt, wenn man sie als Wirkungen einer Substanz
voraussetzt, die uns niemals selbst, sondern immer
nurinihren Wirkungen anschaulich gegebenist.
(Vgl. oben S. 290.) Man kann also umgekehrt behaupten: der Begriff
der Materie verbietet jede unmittelbare Übertragung in die
Anschauung, weil ihm als ein wesentliches Merkmal zukommt, daß nur
die der Materie zugeschriebenen Wirkungen in die Anschauung treten.
Darum ist man aber auch nicht berechtigt, der Anschauung zuliebe die
Materie mit Eigenschaften auszuschmücken, zu denen die logischen
Motive, welche die Bildung dieses Begrifis veranlaßt haben, an und für
sich nicht nötigen würden.
Diese Gesichtspunkte treten nun in der augenfälligsten Weise bei
einer dritten, ursprünglich aus naheliegenden Gründen ganz vernach-
lässigten Richtung hervor, in der sich die Abstraktionen bewegen
können. Es ist nicht der feste Körper und nicht die Flüssigkeit in den
abstrakten Idealen, welche die Mechanik von ihnen entwirft, sondern
der Äther, dieses von unserer unmittelbaren Anschauung am weitesten
abliegende, eben darum aber der Begrifisbildung von vornherein den
weitesten Spielraum eröffnende Substrat, auf das in steigendem Maße
die modernen Spekulationen über die Materie zurückgehen. So ent-
spricht die Reihenfolge dieser Hypothesenbildungen der Physik durchaus
dem Verhältnis, in dem sie in unserer sinnlichen Wahrnehmung, und in
dem sie infolgedessen auch in der Ausbildung der entsprechenden Ge-
biete der Mechanik zueinander stehen. Die festen Körper in ihren
geometrischen und phoronomischen Eigenschaften bilden in beiden
Fällen das nächste Substrat der Begriffe. Dann kommen die Flüssig-
keiten, die vollends in den nach ihren allgemeinsten Eigenschaften
ihnen zuzurechnenden Gasen bereits weiter dem Gesichtskreis der
unmittelbaren Wahrnehmung entrückt sind. Nach dem Vorbild
einer Flüssigkeit wird daher ursprünglich auch das dritte Substrat,
das man zur Abstraktion des Begriffs der materiellen Substanz nimmt,
der Äther gedacht. Aber indem die elektromagnetische Lichttheorie
auf der einen und die in Ausbildung begriffene Elektronentheorie auf
der anderen Seite diesem Medium neue, von den Eigenschaften der
festen Körper wie der Flüssigkeiten gleich sehr abweichende Eigen-
schaften zuzuschreiben nötigen, beginnt die Äthertheorie der Materie
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 30
466 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
zugleich einen spezifischen Charakter zu gewinnen. Dabei besteht
ein besonderer Vorteil derselben darin, daß sie sich von vornherein auf
die begrifflichen Attribute, welche die Theorie fordert, beschränken
darf, ja beschränken muß, da der Äther in der Anschauung gar kein
Korrelat hat außer den Wirkungen, die ihm in der Erscheinungswelt
zugeschrieben werden, während das feste Atom und die Flüssigkeit der
Kontinuitätshypothesen immer noch an die festen Körper und Flüssig-
keiten der unmittelbaren Wahrnehmung denken lassen. Darum be-
steht nun aber auch eine gewisse Schwierigkeit der Ätherhypothesen
gegenwärtig noch darin, daß sie sich der Spuren ihres Ursprungs aus
der Hypothese der idealen Flüssigkeit schwer entledigen können.
Wie die Atomistik und die Kontinuitätshypothese in ihren älteren
Gestalten darauf ausgegangen waren, auch die Bewegungserscheinungen
des Äthers schließlich nach dem Vorbild der Mechanik der festen Körper
oder der Flüssigkeiten zu interpretieren, so mußte sich jedoch mit dem
Gedanken einer auf dem selbständigen Begriff des Äthers aufgebauten
Theorie der Materie allmählich der andere einer selbständigen Mechanik
des Äthers verbinden, die nun umgekehrt die Mechanik der schweren
Körper als einen besonderen, je nach den Bedingungen der Aggregat-
zustände wieder modifizierten Fall unter sich begreife. Dieser der
traditionellen Mechanik von der Physik des Äthers her drohenden Um-
wälzung ist schon oben gedacht, und es ist dort auch bereits die hier
möglicherweise bevorstehende Elimination der Masse aus den kon-
stanten Grundbegriffen der Mechanik erwähnt worden (S. 346). Nun
hat man gelegentlich als eine Konsequenz dieser Elimination der Masse
wohl auch die Beseitigung der Materie selbst bezw. ihren Übergang
in ein „immaterielles Substrat“ bezeichnet. Diese Folgerung wird
durch die Gewohnheit begreiflich, die uns mit dem Begriff der
Materie den der Masse fest verbinden läßt, und die zu der alten,
freilich prinzipiell falschen Definition der Masse als der „Menge der
in einer Raumeinheit enthaltenen Materie“ geführt hat. In Wahrheit
gibt es, wenn uns der Ausdruck, sie sei „das hypothetische Substrat der
Naturerscheinungen“, nicht genügt, keine andere Definition der Materie
als die Kantische, sie sei „das Bewegliche im Raum“. Da freilich in der
Zurückführung der Naturerscheinungen auf Bewegungen jenes hypo-
thetischen Substrats alle Naturerklärung besteht, so sind beide Defi-
nitionen unter dem tatsächlich die Naturforschung beherrschenden
Postulat der mechanischen Naturanschauung identisch. Weder würde
aber dieses Postulat durch eine Mechanik beseitigt werden, in der der
Massenbegriff irgendwie auf den der beschleunigenden Kraft reduziert
Das Substrat der Naturerscheinungen. 467
wäre, noch würde die Materie beseitigt, wenn die Masse selbst in eine Er-
scheinung umgewandelt würde, die jene unter gewissen Bedingungen
der Bewegung darbietet. Immer würden auch in diesem Fall die Teile
der Materie als wechselseitig aufeinander einwirkende und selbst im
Raum bewegliche beschleunigende Kräfte übrig bleiben. Diese objek-
tiven Eigenschaften genügen jedoch vollständig zu dem Begriff einer
von dem wahrnehmenden Subjekt unabhängigen objektiven Substanz.
Durch diese Bedingungen sind zugleich dem Postulat der Anschau-
lichkeit die Grenzen angewiesen, die ihm als einem heuristischen Prinzip
der Naturforschung zukommen. Auf den Begriff der Materie angewandt
schließt dasselbe lediglich die Forderung in sich, daß die vorausgesetz-
ten Elemente und elementaren Prozesse den Gesetzen unserer
Anschauung konform seien. Diese Übereinstimmung hat aber
hier durchaus den nämlichen Sinn wie in der realen Geometrie und
Mechanik: sie verhindert eine Hinzufügung begrifilicher Elemente,
die mit unseren Anschauungsformen im Widerspruch stehen; sie hindert
nicht eine Abstraktion von solchen Bestandteilen, die in der sinn-
lichen Anschauung die für die Begrifisbildung wesentlichen Elemente
begleiten. Eine derartige Abstraktion wird vielmehr gefordert, so-
bald es sich, wie bei den mathematischen Begriffen und bei dem Begriff
der Materie, um Feststellungen handelt, die sich nicht auf die Erschei-
nungen selbst, sondern entweder auf ihre formalen Gesetze oder auf
ihre hypothetischen Grundlagen beziehen. Indem das Postulat der An-
schaulichkeit in diese Grenzen eingeschränkt wird, bleibt es zugleich
in Übereinstimmung mit der Forderung objektiver Begreif-
lichkeit, die als das Prinzip angesehen werden darf, das an die
Stelle des von der teleologischen Naturphilosophie zur Geltung gebrach-
ten der subjektiven Begreiflichkeit zu treten hat. (Vgl. S. 287.)
Durch die Berücksichtigung jener Forderung und durch die unter
ihrer Anleitüng ausgeführte fortgesetzte Berichtigung der vorhandenen
Hypothesen über die Materie und ihre Bewegungsformen wird nun
immerhin der Spielraum, innerhalb dessen sich diese Hypothesen be-
wegen, voraussichtlich immer mehr eingeschränkt, so daß schließlich
mindestens als das ideale Endziel dieses Prozesses irgend eine Voraus-
setzung angesehen werden darf, die unter den gegebenen Bedingungen
der Naturerkenntnis allen anderen überlegen ist. Um diesem Ziel
näher zu kommen, darf jedoch die theoretische Physik die zwei me-
thodischen Regeln nicht aus den Augen verlieren: keine Hypothese
ist im strengsten Sinne zulässig, die zwar für ein engeres Gebiet von
Tatsachen ausreicht, aber dem weiteren Zusammenhang der Erschei-
468 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
nungen nicht Genüge leistet; und: alle Bestandteile einer Hypothese
sind zu verwerfen, durch welche die Begriffe mit überflüssigen, zur
Deduktion der Erscheinungen nicht erforderlichen Vorstellungen be-
lastet werden.
Von diesen beiden Regeln kann freilich die erste umsoweniger
ausnahmslos befolgt werden, je mehr die Beschränkung der Unter-
suchung zugleich im Interesse der zweiten eine Ausscheidung solcher
hypothetischer Elemente veranlaßt, die bei der Erklärung ander-
weitiger Zusammenhänge nützlich, für die gestellte Aufgabe jedoch
überflüssig sind. Daneben kann aber auch solchen Hypothesen min-
destens ein provisorischer Wert zukommen, bei denen man sich absicht-
lich auf ein einzelnes Gebiet beschränkt, unbekümmert darum, ob sie
anderen unter dem Einfluß dieser isolierenden Abstraktion entstan-
denen Hypothesen widersprechen. Zwar drängt dieser Widerspruch
immer zu Versuchen seiner Auflösung. Trotzdem können solche
isolierte Hypothesen nicht nur den speziellen Nutzen einer zweck-
mäßigen Zusammenfassung bestimmter Erscheinungen besitzen, sondern
sie sind auch gerade durch den Widerspruch, in den sie treten, in be-
sonderem Maße geeignet, das Bewußtsein von dem für alle Zeit hypo-
thetischen Charakter des Begrifis der Materie zu wecken. In diesem
Sinne haben überhaupt die starken Wandlungen, welche die theore-
tischen Vorstellungen unter dem Einfluß wichtiger neuer Entdeckungen
um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts erlebten, unverkennbar
den großen erkenntnistheoretischen Fortschritt mit sich geführt, daß sie
die dogmatische Vorstellung von der Materie als einem teils durch die
Sinne teils durch die Analyse der Erscheinungen unmittelbar erkennbaren
Gegenstand auch in den Kreisen der Naturforscher beseitigt haben,
um ihr die ihr gebührende Stellung eines allezeit hypothetischen und
in diesem Sinne metaphysischen Hilfsbegriffs der Naturwissenschaft
anzuweisen.
4. Die allgemeinen Naturgesetze.
a. Kraftgesetzeund Kraftfunktionen.
Die allgemeinen Naturgesetze, auf welche die Physik bei der Kausal-
erklärung der Erscheinungen geführt wird, lassen sich in zwei Klassen
unterscheiden: erstens in Gesetze, die sich auf die Wirksamkeit des
materiellen Substrates der Bewegungen beziehen, und zweitens in
solche, die den Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen
untereinander beherrschen. Wir können die ersteren als Kraft-
Die allgemeinen Naturgesetze. 469
gesetze, die zweiten als Energiegesetze bezeichnen. Denn
das Verhältnis dieser Gesetze zueinander wird durch die beiden wich-
tigen Begriffe der Kraft und der Energie bestimmt, deren Ent-
wicklung mit den oben besprochenen Entwicklungen des Begriffs der
Materie in innigem Zusammenhange steht.
Der Kraftbegriff der neueren Physik ist durch Galilei festgestellt
und durch Newton weiter ausgebildet worden. Indem Galilei, aus-
gehend von dem Beispiel der Muskelkraft, das Wesen der Kraftleistung
in dem Bewegungsantriebe sieht, der einer Masse durch irgend eine
Ursache, z. B. durch einen Stoß, mitgeteilt wird, gewinnt er als das heute
noch gültige Maß der Kraft das Produkt der Masse in ihre Beschleuni-
gung. Indem sich sodann im Gefolge von Newtons Gravitationstheorie
der Begriff der Fernewirkung entwickelt, wird die Kraft zu dem nach
eben diesem Maße zu bestimmenden Bewegungsantrieb einer Masse durch
eine andere, wobei zugleich den räumlichen Relationen der Massen unter
den entsprechenden Bedingungen diejenigen ihrer Mittelpunkte substi-
tuiert werden können. Alle in der Natur wirksamen Kräfte werden
darum Zentralkräfte genannt, und es wird als die allgemeine
Eigenschaft dieser angesehen, daß sie in der Richtung der geradlinigen
Verbindungslinien der Massenmittelpunkte Beschleunigungen der Massen
zu erzeugen streben. So wird infolge der Wechselwirkungen zwischen
allen Teilen der Materie diese zu einem großen Kraftreservoir. Jedem
ihrer Teile bleibt die Fähigkeit, in anderen Teilen Beschleunigungen
hervorzubringen, unveränderlich erhalten; diese Beschleunigungen aber
sind teils wirkliche, teils, infolge der wechselseitigen Hemmungen ver-
schiedener Bewegungsantriebe, potentielle. (Vgl. oben S. 349 ff.)
Wenn man von dem auf solche Weise festgestellten Kraftbegriff
ausgeht, so kann nun der Begriff eines allgemeinen Naturgesetzes nur
die Bedeutung haben, daß man unter ihm die Funktion versteht, nach
der sich die beschleunigende Wirkung mit der Größe der Massen
und mit der Entfernung der Massezentren verändert. Das allgemeinste
Gesetz dieser Art ist das Newtonsche Gravitationsgesetz, nach welchem
die beschleunigende Wirkung dem Produkt der Massen direkt und dem
Quadrat ihrer Entfernungen umgekehrt proportional ist. Da überein-
stimmende Beziehungen auch für die elektrostatischen und mag-
netischen Fernewirkungen Platz greifen, so pflegt man dieses Gesetz
als das allgemeine Kraftgesetz für fernewirkende Kräfte zu betrachten.
Es läßt sich demselben eine anschauliche Bedeutung geben, wenn man
es dem Prinzip unterordnet, daß die Kraftleistung proportional ihrer
räumlichen Ausbreitung abnimmt. Denn es muß dann in einer Ent-
470 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
fernung R die Wirkung auf einen einzelnen Punkt der Größe der zu
R gehörigen Kugeloberfläche umgekehrt proportional sein. Dadurch
tritt das Gesetz der fernewirkenden Kräfte in unmittelbare Analogie
mit dem Gesetz der Fortpflanzung einer Bewegungsenergie, wie es
z. B. theoretisch für die Ausbreitung der Licht- und Schallwellen gültig
ist, wo die in einer Entfernung R von der Licht- oder Schallquelle
vorhandene Wellenamplitude dem Quadrate von R umgekehrt pro-
portional ist. Diese Analogie ist es, die den Versuch einer Zurück-
führung der Fernewirkungen auf die Bewegungen eines Mediums und
damit zugleich die Umwandlung des Begriffs der fernewirkenden Kraft
in den der Bewegungsenergie wesentlich unterstützt hat.
Wenn nun auch eine solche Umwandlung, wie es nicht unwahr-
scheinlich ist, dereinst für die Gravitation ebenso gelingen sollte, wie
sie mit Hilfe der elektromagnetischen Lichttheorie für die elektro-
dynamischen und elektromagnetischen Fernewirkungen gelungen ist,
so würde doch die mathematische Analyse der physikalischen Erschei-
nungen in den meisten Fällen, wo es sich um die Untersuchung von
Wirkungen handelt, die im Verhältnis des Quadrats der Entfernungen
abnehmen, die vereinfachte Betrachtung, die der Begriff der ferne-
wirkenden Kräfte gestattet, nicht entbehren können. Denn für die
Analyse der in irgend einer gegebenen Distanz auftretenden Wirkungen
kommen die etwa zu postulierenden Zwischenvorgänge nicht in Betracht,
sondern es tritt an ihre Stelle eben nur die mathematische Funktion,
welche die Beziehung von Abstand und Wirkung ausdrückt. Gerade für
die Zwecke der Analyse erscheint aber noch eine weitere Zerlegung dieser
ursprünglichen Kraftfunktion geboten, indem man von dem überall
in der analytischen Mechanik angewandten Hilfsmittel einer Zerlegung
nach bestimmten Koordinatenrichtungen Gebrauch macht. Wird diese
Zerlegung nach drei zueinander senkrechten Raumkoordinaten x, y und z
ausgeführt, so werden die drei Kraftkomponenten durch die Differen-
2 x N und Ai ausgedrückt, wo die Funktion V
dx dy dz
m m’
tialquotienten
dem einfachen Verhältnis entspricht, wenn m und m‘ zwei in
Wechselwirkung stehende Massen und r ihre Entfernung bedeutet.
Diese vereinfachte Kraftfunktion V pflegt nach Green die Poten-
tialfunktion oder nach Gauß das Potential genannt zu
werden. Die analytische Bedeutung derselben liegt teils in ihrer Ein-
fachheit, teils und hauptsächlich darin, daß in ihr auf die Zerlegung
nach den drei Raumkoordinaten Rücksicht genommen ist, da das
Die allgemeinen Naturgesetze. 471
Potential einfach als diejenige Funktion definiert werden kann,
deren Differentialquotienten nach den drei Richtungen des Raumes
die Kraftkomponenten nach diesen Richtungen sind. Der Begriff des
Potentials hat demnach zunächst die Bedeutung einer mathematischen
Hilfsfunktion, durch deren Differentialquotienten die Kraftkomponen-
ten, d.h. die intendierten Beschleunigungen nach den drei Koordinaten-
richtungen gemessen werden. Nichtsdestoweniger läßt sich auch dem
Potential selbst ein bestimmter mechanischer Sinn unterlegen. Denkt
man sich nämlich zwei Massen m und m’ zuerst aus unendlicher Ent-
fernung in die Entfernung r und dann abermals aus unendlicher Ent-
fernung in die Entfernung r’ voneinander gebracht, so verhalten sich
die Arbeiten V und V‘, die beidemal durch die wechselseitige Ein-
wirkung der Massen geleistet werden, umgekehrt wie die angegebenen
Entfernungen, also V:V'=r‘:r. Demnach kann auch das Potential
mm’
De mechanisch definiert werden als diejenige Arbeit, die infolge
der Wechselwirkung zweier Massen geleistet wird, wenn dieselben aus
unendlicher Entfernung in die vorhandene Entfernung r versetzt
werden*). Doch besitzt diese Definition einen mehr sekundären Charak-
ter und kommt daher in der Verwendung des Potentialbegrifis, gegen-
über der ursprünglicheren rein mathematischen Bedeutung desselben
als Hilfsfunktion, kaum in Betracht.
Das Gesetz der Fernewirkung, das aus Newtons Gravitations-
theorie abstrahiert worden ist, und für das zugleich das Potential die
einfachste Form einer linearen Funktion annimmt, hat sich nun aber in
zwei Erscheinungsgebieten nicht bewährt gefunden: erstens bei
‘ solchen Fernewirkungen , deren materielles Substrat in einer sehr
raschen Bewegung begriffen ist, und zweitens bei den molekularen
Entfernungen benachbarter Körperelemente. Der erste dieser Fälle
kommt bei den elektrodynamischen Fernewirkungen vor. Hier weist
das Amperesche Gesetz der Wechselwirkung elektrischer Ströme auf
Fernewirkungen hin, die nicht bloß von der Menge der Elektrizitäten
und ihrer Entfernung, sondern auch von ihrer Bewegung abhängig
sind. Man hat sich daher genötigt gesehen, in diesem Fall kompliziertere
Gesetze der Fernewirkungen aufzustellen, die außer der Masse und
Entfernung auch noch die Bewegung der Stromelemente oder von ihr
abhängige Größen, wie die Stromintensität, enthalten. Am direktesten
ist dieser Einfluß der Bewegung in W. Webers elektrodynamischem
* W. Weber, Poggendorfis Annalen, Bd. 156, 1875, S. 1 fi.
472 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Grundgesetz zum Ausdruck gebracht, in welches neben der Entfernung r
sowohl die Geschwindigkeit (7) wie die Geschwindigkeitsänderung
() eingeht, so daß dieses Gesetz die Form annimmt:
mm‘ dr\2 d?r
ee +]
welche, wenn die beiden letzten Glieder null werden, in das gewöhn-
liche Gesetz der Fernewirkungen, das auch für die elektrostatischen
Wirkungen gilt, übergeht.
Ein zweites Gebiet von Erscheinungen, das sich der Unterordnung
unter das Newtonsche Gesetz entzieht, bilden die Molekular-
wirkungen. So lange der Gesichtspunkt der Actio in distans und
die statische Auffassung der Körperzustände herrschend waren, suchte
man hier den Erscheinungen gerecht zu werden, indem man einfach
die gewöhnliche Kraftfunktion durch eine andere ersetzte, welche die
Eigenschaft besaß, bei der Vergrößerung der Entfernung über eine
bestimmte Grenze hinaus sehr rasch abzunehmen und bald verschwin-
dend klein zu werden, also z. B. durch eine Funktion von der Form:
oe ’
in welcher r die Entfernung der in Wechselwirkung stehenden Masse-
teilchen u pw‘, « den Zwischenraum zwischen je zwei benachbarten
Teilchen und n und m zwei sehr große positive Zahlen bedeuten*).
Diese Funktion bleibt nahezu konstant, so lange r nicht sehr viel größer
als & ist; sie wird aber verschwindend klein, sobald » > na geworden
ist. Es ist selbstverständlich, daß eine derartige Formel, die zwischen
den Molekularkräften und den fernewirkenden Kräften gar keine Be-
ziehungen statuiert, obgleich sie doch für beide auf das Prinzip der
Actio in distans zurückgeht, nicht befriedigen kann. Es lag daher nahe,
diesen Widerspruch dadurch zu vermeiden, daß man die spezifische
Eigentümlichkeit der Molekularwirkungen aus der Kombination zahl-
reicher Kraftzentren erklärte. So sprach Fechner die Hypothese aus,
die Potenz der Kräftefunktion entspreche der Anzahl der Distanz-
faktoren der in Wechselwirkung stehenden Elemente, für 2 Elemente
sei sie also — 2, für 3= 6, für 4—= 12, für 5—=% u. s. w. Dabei läßt
*) Poisson, Mem. de l’Acad. T. VIII, p. 357.
Die allgemeinen Naturgesetze. 475
sich zugleich ein dem Gegensatz anziehender und abstoßender Kräfte
entsprechender Wechsel des Ausdrucks gewinnen, wenn man ent-
gegengesetzte Richtungen der mitgeteilten Bewegung mit entgegen-
gesetzten Vorzeichen versieht. Die 2 Elementen entsprechende zweite
Potenz, die eine anziehende Kraft repräsentiert, wäre demnach als
Produkt+r.— r negativ zu nehmen, ebenso alle höheren Potenzen,
welche aus einer ungeraden Zahl von Quadraten zusammengesetzt sind,
wogegen diejenigen, die in eine gerade Zahl von Quadraten zerlegt
werden können, positive Vorzeichen erhalten und demnach abstoßen-
den Kräften entsprechen würden*). In ähnlichem Sinne hat Buys
Ballot angenommen, die allgemeine Kraftfunktion werde durch eine
Reihe repräsentiert, die nach reziproken Werten der aufsteigenden
Potenzen von r fortschreite, und in welcher der Wechsel der Vorzeichen
dem Wechsel anziehender und abstoßender Kräfte entspreche; für
endliche Distanzen aber verschwänden alle Glieder dieser Reihe .mit
Ausnahme des ersten, das r? enthalte**). Die erste dieser Betrachtungen
scheitert jedoch an der praktischen Unmöglichkeit ihrer Durchführung;
die zweite besteht lediglich in der Anwendung einer analytischen Form,
die sich infolge ihrer Allgemeinheit zur Darstellung jeder möglichen
empirischen Gesetzmäßigkeit eignet, eben darum aber nicht den An-
spruch auf die Bedeutung eines allgemeinen Naturgesetzes erheben
kann.
Allen solchen Versuchen, ein gleichförmiges Gesetz für die Ferne-
wirkung der Atome aufzufinden, wurde schließlich durch die von der
neueren mechanischen Wärmetheorie ausgehenden Vorstellungen der
Boden entzogen. Indem dieselbe die Äußerungen der sogenannten
Molekularkräfte als Wirkungen auffassen lehrte, die aus der Be-
wegung der Elemente resultieren, näherte sich für dieses Gebiet der
Begriff der Kraft wieder seinem ursprünglichen Ausgangspunkte.
Er verwandelte sich in die durch den direkten Anprall der Teilchen ver-
ursachte Beschleunigung. Dadurch verlor er aber zugleich an un-
mittelbarer physikalischer Bedeutung. Denn es konnte zwar voraus-
gesetzt werden, daß die mechanischen Gesetze des Stoßes für den An-
prall der Elemente ihre Gültigkeit bewahren würden; aber bei der un-
geheuren Verschiedenheit der Bewegungszustände der Atome und ihrer
räumlichen Verteilung war es unmöglich, an ein einfaches Prinzip
zu denken, das die Gesichtspunkte zur Entwicklung einer gleich-
*), Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre,
2. Aufl., S. 303 £.
**) Buys Ballot, Poggendorfis Annalen, Bd. 103, S. 241.
474 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
förmigen und für alle Fälle ausreichenden Kräftefunktion hätte dar-
bieten können. Dafür trat zuerst im Gebiete dieser Untersuchungen
der Molekularphysik ein neuer, dem der Kraft verwandter Begriff her-
vor, der sich bald auch für das Ganze der Physik von großer Frucht-
barkeit erwies: der Begriff der Energie. Seine Bedeutung liegt
hauptsächlich darin, daß in allen den Fällen, wo die Aufstellung eines
Kraftgesetzes ein Ding der Unmöglichkeit ist, die Gewinnung und
Anwendung allgemeiner Prinzipien in Bezug auf das Verhalten der
Energie immer noch möglich bleibt. In der heutigen Physik ist daher
die Überzeugung zur Herrschaft gelangt, daß die allgemeinsten Natur-
gesetze überhaupt nicht in irgendwelchen Kräftefunktionen, sondern
allein in Energiegesetzen bestehen können. Im Zusammenhange
mit dieser Umgestaltung der Anschauungen ist denn auch zuweilen die
völlige Elimination des Kraftbegrifis als eine Aufgabe der Zukunft be-
zeichnet worden, wobei man meistens zugleich auf die Dunkelheit dieses
Begriffes hinwies*). Hiergegen ist jedoch zu bemerken, daß der Begriff
der Kraft nur dann dunkel ist, wenn man ihn ohne Not dazu macht.
Als Ausdruck für die durch irgendwelche Bedingungen entstandene
wirkliche oder intendierte Beschleunigung ist er unentbehrlich, wenn
man lästige Umschreibungen vermeiden will. Es ist aber auch klar,
daß sich der Begriff in diesem Sinne, in welchem er durchaus dem
von Galilei und Newton eingeführten Wortgebrauch entspricht, zur
Aufstellung universeller Naturgesetze nicht eignet.
b. Die Energiegesetze.
Der Begriff der Energie unterscheidet sich in seiner mechani-
schen Bedeutung von dem der Kraft wesentlich dadurch, daß bei
ihm nicht, wie bei diesem, die bloße Veränderung in dem Bewegungs-
zustand einer Masse, sondern der Effekt einer Bewegung, also die
geleistete Ar beit berücksichtigt wird. Nun wird die Arbeit gemessen
durch das Produkt der Größe der Kraft in die Länge des Weges, auf
welchem sie eine Masse zu beschleunigen strebt. Unter der Energie
versteht man dann die in einer Masse oder einem Massensystem vor-
handene Arbeitsfähigkeit. Diese Arbeitsfähigkeit kann ent-
weder darin begründet sein, daß bestimmte Massen in Bewegungen be-
griffen sind, die sie auf andere Massen übertragen können, wodurch
Arbeit geleistet wird; oder sie kann darin bestehen, daß sich eine Masse
in einer Lage befindet, aus der sie in eine andere Lage überzugehen
*) Vgl. oben $. 302, sowie die Ideen über eine allgemeine Energetik, 8.430 ff.
Die allgemeinen Naturgesetze. 475
strebt, wie z. B. ein gehobenes Gewicht oder eine gespannte Feder. Im
ersten Fall bezeichnet man die Energie als aktuelle oder kine-
tische, im zweiten Fall als potentielle oder als Energie der
Lage (S.324). Die kinetische Energie ist es, die man auch als leben-
dige Kraft bezeichnet, wonach dann für die potentielle der Aus-
druck Spannkraft gebildet wurde. Diese Ausdrücke sind deshalb
minder geeignet, weil bei ihnen der Begriff der Kraft in einem seiner
ursprünglichen Bedeutung entfremdeten Sinne gebraucht wird. Die
lebendige Kraft, die durch das halbe Produkt der Masse in das Quadrat
der Geschwindigkeit gemessen wird, ist etwas von der wirklichen oder
intendierten Beschleunigung durchaus Verschiedenes; sie entspricht der
Arbeit, welche die bewegte Masse leisten kann, und deckt sich darum
vollständig mit dem oben definierten Begriff der Energie. Auch diese
wird gemessen durch das Produkt —m vo’. Es kann aber dabei die
Geschwindigkeit v entweder eine aktuelle oder eine potentielle sein,
insofern der Masse m auch dann diese Energie zukommt, wenn sie
in eine Lage gebracht ist, aus der sie in eine Bewegung überzugehen
strebt, durch die sie die Geschwindigkeit v erreicht. Im allgemeinen
ist zu einer solchen Lageänderung eine gewisse, durch das Produkt der
Kraft k in den zurückgelegten Weg s meßbare Arbeitsleistung erforder-
lich. Die potentielle Energie kann daher ebensowohl durch die zu ihrer
Erzeugung erforderliche Arbeit %.s gemessen werden wie durch die
aktuelle Energie 307 mv’, in die sie überzugehen fähig ist. Sie selbst ist
lediglich ein Hilfsbegriff zur Verbindung verschiedener zeitlich ge-
trennter, aber kausal zusammenhängender Äußerungsformen aktueller
Energie. Für sich betrachtet ist demnach die potentielle Energie eine
Summe räumlicher Bedingungen, die beim Hinzutritt einer bestimm-
ten Ursache die Entstehung eines gewissen Quantums wirklicher Energie
herbeiführen. Auf diese Weise führt die begrifiliche Entwicklung
der beiden Formen der Energie zum Prinzipihres Übergangs
ineinander.
Diesem ersten tritt nun infolge der Ausdehnung des Energiebe-
grifis auf andere Naturvorgänge, Wärme, Licht, Elektrizität, chemische
Verbindungen, ein zweites Transformationsprinzip zur Seite. Es
besteht in dem Satze, daß qualitativ verschiedene Formen der Energie
nach festen quantitativen Verhältnissen ineinander über-
gehen; und dieses Prinzip der Umwandlung verschiedener Formen
aktueller Energie erfährt endlich eine Einschränkung durch ein
476 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
drittes Prinzip, nach welchem die Energiemenge, die durch eine
bestimmte Transformation entstanden ist, in die ursprüngliche Energie-
form nur dann vollständig zurückverwandelt werden kann, wenn der
erste Übergang in einer Erzeugung mechanischer Energie aus anderen
Energieformen besteht, in welchem Fall neben der aktuellen Energie
stets ein gewisses Quantum potentieller Lageenergie erzeugt wird, von
denen die erstere direkt, die zweite, sobald sie in Bewegungsenergie über-
gegangen ist, vollständig wieder in andere Energieformen, z. B. in
Wärme, umgewandelt werden kann. Dagegen können die übrigen
Formen aktueller Energie, z. B. die Wärme, immer nur derart in mecha-
nische Energie zurückverwandelt werden, daß ein der Umwandlung
sich entziehender Rest bleibt, dessen Größe durch die Erreichung
der Grenze des Energiegleichgewichts zwischen den Teilen des Systems,
in welchem sich die Transformation vollzieht, bestimmt wird. So kann
durch die Einwirkung eines wärmeren auf einen kälteren Körper so
lange mechanische Energie hervorgebracht werden, bis die Temperatur
beider Körper gleich geworden ist. Ist die hierbei verwendete Wärme
selbst aus mechanischer Energie hervorgegangen, so ist aber der auf
solche Weise nicht wieder in mechanische Bewegung zurückzuver-
wandelnde Rest zusammen mit der bei der Rückverwandlung wirklich
gewonnenen Summe mechanischer Energie gleich der ursprünglichen
Ennergiemenge.
Das allgemeine Prinzip der Erhaltung der Energie ist
nun nichts anderes als eine Zusammenfassung der erörterten drei
Prinzipien: erstens des Prinzips der Umwandlung kinetischer Energie
in Energie der Lage und umgekehrt, zweitens des Prinzips der Um-
wandlung qualitativ verschiedener Energieformen ineinander nach
äquivalenten Verhältnissen, und drittens des Prinzips der Gleichheit
der aus irgend einer anderen Energieform gewonnenen mechanischen
Energie mit der ursprünglichen Energiemenge plus dem mechanischen
Äquivalent des infolge der Bedingungen des Energiegleichgewichts der
Umwandlung unzugänglichen Restes. In dieser allgemeinen Form
kann das Prinzip der Erhaltung der Energie zur Verknüpfung der
Erscheinungen benützt werden, ohne daß man sich über die inneren
Beziehungen der qualitativ verschiedenen Energieformen irgendwelche
Rechenschaft gibt, und ohne daß man demgemäß über die Materie
irgend eine andere Voraussetzung macht als die, daß sie das unbestimmte
Substrat aller dieser Energien sei. Dennoch kann sich schon das Kausal-
bedürfnis des Physikers bei einer solchen Auffassung nicht befriedigen.
Die Tatsache der Umwandlung der qualitativ verschiedenen Energie-
Die allgemeinen Naturgesetze, 477
formen ineinander fordert, daß man über das Wie dieses Übergangs
Rechenschaft gebe. Dazu kommt ein zweiter logischer Grund von ent-
scheidender Bedeutung. Es ist der gleiche, in dem die mechanische Natur-
ansicht überhaupt wurzelt. Die logische Analyse der Widersprüche in den
ursprünglichen Dingvorstellungen nötigte zur Elimmation der Quali-
tätsunterschiede der Objekte und zu ihrer Reduktion auf im Raum
denkbare quantitative Verhältnisse, also auf Lage- und Bewegungs-
vorstellungen. Damit ist auch die Annahme gegeben, daß alle anderen
Formen der Energie nur molekulare Formen der Bewegungsenergie
seien, eine Annahme, die zugleich die zentrale Stellung, die bei der
Anwendung des Transformationsprinzips die mechanische Energie ein-
nimmt, verständlich macht. Daß die Theorien über die Beschaffen-
heit der den verschiedenen Energieformen zu Grunde liegenden Mole-
kularbewegungen noch nicht durchgängig zu übereinstimmenden An-
nahmen gelangt sind und ohne Zweifel sogar niemals zu völlig eindeutigen
Feststellungen gelangen werden, bildet dagegen umsoweniger einen
Einwand, als sich immerhin der Weg der kinetischen Molekularhypo-
thesen in der Verknüpfung verschiedener Erscheinungsgebiete fruchtbar
erwiesen hat, während das Energiegesetz allein hier immer nur zur
Aufstellung allgemeiner quantitativer Beziehungen ohne jeden vor-
stellbaren Inhalt führen kann. Übrigens bezeugt zugleich die Ge-
schichte des Energieprinzips, daß dieses selbst lediglich auf dem Wege
jener logischen Elimination der Qualitätsbegriffe aus dem Objekt-
begrifi, welche den der mechanischen Naturansicht entsprechenden
Hypothesen ihren Ursprung gegeben hat, entstanden ist, ähnlich wie
ja auch schon die allgemeinsten Abstraktionen der mathematischen
Mechanik darauf zurückführen. Denn seit Leibniz ist das Energieprinzip
trotz des scheinbaren Widerspruchs mit der Erfahrung immer und
immer wieder als Postulat hingestellt worden, bis es sich endlich durch
die Erweiterung und Berichtigung der Erfahrung siegreich die Bahn
gebrochen hat. Wäre es aber als logisches Postulat nicht vorhanden
gewesen, so würde es bei seiner Zusammensetzung aus mehreren zu-
nächst unverbunden nebeneinander stehenden Transformationsprin-
zipien mit ihrer Beschränkung durch das Prinzip der Reste vielleicht
niemals entstanden sein, wie sich ja denn auch alle Begründungen des-
selben von Leibniz bis herab auf R. Mayer und Helmholtz nicht oder
doch nur in zweiter Linie auf die Erfahrung, in erster aber auf die ab-
solute Konstanz der Eigenschaften der Materie berufen. In der Tat,
sobald man zu der Erkenntnis durchgedrungen war, daß uns die Materie
nur durch ihre Wirkungen gegeben sei, und daß sie demnach lediglich
478 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
als ds Wirkungsfähige im Raume definiert werden könne,
so führte die der Begründung der Mechanik und mechanischen Physik
zu Grunde liegende Übertragung der Konstanz und Kongruenz der
Eigenschaften des Raumes auf die Materie von selbst zu der Forde-
rung einer Konstanz ihrer Wirkungsfähigkeit oder Energie, die sich
nun, wie vor allem die frühe Schöpfung des ergänzenden Begriffs der
potentiellen Energie lehrt, gegen alle Widersprüche. der Erfahrung
durchsetzte.
Alle jene Vorteile, die man sich dereinst von einer universellen
Kräftefunktion vergeblich versprochen hatte, bietet nun das allgemeine
Energiegesetz in Wirklichkeit dar. Vermöge seiner Allgemeingültig-
keit eignet es sich zur Verknüpfung der verschiedenartigsten Erschei-
nungen, und vermöge seiner Allgemeinheit gestattet es noch solche
Vorgänge festen quantitativen Beziehungen unterzuordnen, die uns
hinsichtlich der elementaren Bewegungsformen, aus denen sie bestehen,
völlig unbekannt sind. Vor allem aber gewinnt das Energieprinzip, in-
dem es den Charakter eines allgemeinen Erfahrungsgesetzes mit dem-
jenigen eines a priori gültigen Postulates verbindet, die Bedeutung
eines für die Deduktion der physikalischen Erscheinungen geeigneten
obersten methodologischen Grundsatzes, mit welchem alle einzelnen
Sätze in Übereinstimmung bleiben müssen, sofern ihnen ein Anspruch
auf wahrscheinliche Gültigkeit zukommen soll.
e. Die physikalischen Grenzbegriffe.
In den allgemeinen Voraussetzungen über das Substrat der Natur-
erscheinungen liegt die Quelle zur Bildung zweier physikalischer
Grenzbegriffe, die den beiden Zahlgrenzen auf mathematischem Ge-
biete entsprechen. (Vgl. Abschn. II, S. 161 fi.) Der untere Grenzbegrifi
bezieht sich auf das Element der Materie, der obere auf die
Gesamtmasse derselben oder die Totalität des Uni-
versums. Die Hypothesen über die Materie genügen für sich allein
nicht, um diese beiden Begriffe widerspruchslos zu gestalten, sondern
es sind neben ihnen die Kraft- und Energiegesetze zu berücksichtigen,
die hier, wo es sich, wie bei allen Grenzbegriffen, nur um Postulate
unseres Denkens handeln kann, diesem seine Richtung anweisen müssen.
Bei dem unteren Grenzbegriff findet jene Wechselbe-
ziehung darin ihren Ausdruck, daß der allgemeine Begriff des Atoms
als des letzten Elementes der Materie unmittelbar durch die Beschaffen-
heit der Kraft- und Energiegesetze bestimmt worden ist. Dies ver-
Die allgemeinen Naturgesetze. 479
rät sich sowohl in den anschaulichen Gestaltungen der älteren wie in
den mathematischen der neueren Atomistik. Dort verlangt man Ele-
mente, zwischen denen Stoßwirkungen möglich sind; hier fordert man,
daß die materiellen Elemente als Ausgangspunkte von Kräftefunktionen
oder als geeignete Medien für die Aufbewahrung und Übertragung
von Energie von der mathematischen Deduktion benutzt werden
können. Darum ist im Bereich der mathematischen Physik der Gegen-
satz zwischen Kontinuitätshypothese und Atomistik nur ein schein-
barer: der Unterschied beider entspringt allein aus dem Streben, den
Begrifi des materiellen Elementes zugleich philosophisch zu rechtfertigen,
genau ebenso wie bei den entsprechenden Begründungen der mathe-
matischen Infinitesimalmethode. Die Kontakthypothese nimmt an,
die Elemente, deren sie bedarf, besäßen nur die Bedeutung mathe-
matischer Konzeptionen, während physisch, der unmittelbaren sinn-
lichen Erscheinung entsprechend, die Materie stetig ausgedehnt sei.
Hier waltet also der nominalistische Standpunkt vor. Die
Atomistik betrachtet die diskreten Elemente, die ihr als die Träger
der Kraft- und Energiegesetze gelten, als die wirklichen Elemente
der Materie. Sie ist realistisch in dem früher besprochenen Sinne.
(Vgl. S. 113fi.) Dabei ist sie aber zugleich in sich mannigfach ge-
spalten hinsichtlich der Frage, ob die Atome den empirischen Objekten
der Anschauung zu gleichen haben oder nicht. Ursprünglich ganz und
gar den Motiven der Anschauung folgend, hat sie sich allmählich mehr
von denselben befreit und ist so in der dynamischen Atomistik
zu einer begrifflichen Konzeption des Atoms gelangt, bei der dieses
wieder einen rein mathematischen Charakter annimmt.
Während nun die analogen Widersprüche über den mathematischen
Infinitesimalbegrift in der Feststellung der eigentümlichen Form der
mathematischen Abstraktion ihre Lösung fanden, liegt die logische
Entscheidung dieser physikalischen Frage zum Teil auf anderem Boden.
Wohl wird auch hier der Streit dadurch begünstigt, daß man geneigt
ist, den Produkten begrifflicher Abstraktion reale Wirklichkeit zuzu-
schreiben und darum die Begriffe mit den Attributen der sinnlichen
Anschauung auszustatten. Aber daneben macht noch der Umstand
seine Wirkungen geltend, daß die Materie ein hypothetischer Begriff
ist, der zum Behuf einer widerspruchslosen Erklärung der empirisch
gegebenen Erscheinungen gebildet wird, und daß hieraus das Streben
entsteht, ihn so wenig wie möglich von den Erscheinungen selbst
abweichen zu lassen. Dies Streben ist den entgegengesetzten Hypo-
thesen gemeinsam, aber es bemächtigt sich verschiedenartiger Bestand-
480 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
teile derselben. Die Kontakthypothese nimmt neben den nominalistisch
gefaßten Elementarbegriffen ein anschauliches Substrat an, das, für
die mathematische Deduktion nicht erforderlich, nur jenem Streben
der Übereinstimmung seinen Ursprung verdankt; die Atomistik stattet
in ihren meisten Gestaltungen die Elemente selbst mit anschaulichen
Eigenschaften aus. Nun haben wir oben gesehen, daß das Streben nach
Anschaulichkeit in diesem Falle in unvermeidliche Widersprüche ver-
wickelt (S.459fi.). Darin liegt das Zugeständnis, daß die Materie nur eine
begriffliche Fassung zuläßt, d. h. daß sie nur als Substrat bestimm-
ter Wirkungen zu denken ist. Mit der Beseitigung der überflüssigen
anschaulichen Zugaben, mit denen Nominalismus und Realismus hier
gleicherweise den Begriff der Materie versehen, verschwinden
aberdie GegensätzedieserAnschauungenselbst.
Der Kontakthypothese wie der Atomistik bleiben allein Kraftzentren
und ihre Wirkungssphären als rein begriffliche Feststellungen, die erst
in Verbindung mit den an sie geknüpften Kraft- und Energiegesetzen
anschauliche Erfolge herbeiführen.
Von wesentlich anderem Charakter ist der Gegensatz, in dem
sich de philosophische Fassung der Kontinuitätshypothese zu
den atomistischen Vorstellungen befindet. Da sie die Materie zu einem
kontinuierlichen und zugleich ins unendliche teilbaren Kraftträger
macht, hebt sie die allen physikalischen Hypothesen gemeinsame
Voraussetzung auf, daß jeder endliche Teil der Materie aus einer end-
lichen Anzahl von Kraftzentren bestehe. So entwickelt sich hier
ein Streit, welcher dem nachher zu erörternden über die Endlichkeit
oder Unendlichkeit der Totalität des Universums analog ist. In Bezug
auf die Elementarbegriffe löst sich aber dieser Streit durch die Bemer-
kung, daß sich beide Auffassungen auf verschiedene Gegenstände be-
ziehen. Der philosophische Dynamiker hat die Körper unserer An-
schauung im Auge; er behauptet, daß die räumliche Zerlegung eines
Körpers nie bei einer Grenze anlange, bei der sie aufhören müßte. Der
Begriff des Physikers dagegen bezieht sich auf das hypothetische Sub-
strat der Erscheinungen; er behauptet, nicht dieses Substrat selbst,
sondern die ihm beigelegten Wirkungen müßten in den Eigenschaften
der Körper anzutreffen sein. So wird in diesem Fall durch eine selt-
same Vertauschung der Rollen der Philosoph zum Empiriker und der
Empiriker zum Philosophen. Es kann aber kein Zweifel darüber sein,
wem die Schuld eines error loci der Begriffe hierbei aufgebürdet werden
muß. Die Übereinstimmung mit den Kraft- und Energiegesetzen
bildet die einzige Richtschnur für die Gestaltung des Begriffs der Materie.
Die allgemeinen Naturgesetze. 481
Darin liegt zugleich, da sich jene Gesetze auf räumliche Wirkungen be-
ziehen, die Übereinstimmung mit den allgemeinen Eigenschaften des
Raumes. Insofern es sich aber hier überall nur um begriffliche
Feststellungen handelt, kann nur eine Übereinstimmung mit den ge o-
metrischen Raumbegriffen, nicht mit unseren Vorstellungen
physischer Körper im Raume in Frage kommen. Wie schon die Mechanik
an geometrische Abstraktionen anknüpft, so werden sich darum auch
unsere hypothetischen Feststellungen über die Materie mit voller Frei-
heit solcher Abstraktionen bedienen dürfen. Auf diese Weise wird die
Antinomie zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit bei den physi-
kalischen Elementarbegrifien durch die Erwägung beseitigt, daß die
Abstraktion des physikalischen Kraftpunktes als eine rein begriffliche
Konzeption sich unmittelbar anschließt an die Abstraktion des geo-
metrischen Punktes, in welchem wir mit der Ausdehnung zugleich
die Teilbarkeit aufgehoben denken. Wie der geometrische Punkt den
durch unsere Gedankentätigkeit fixierten Ort im Raume, abgesehen
von den objektiven Hilfsmitteln der Ortsbestimmung, so bezeichnet
das Atom als Kraftzentrum den von unserem Denken postulierten
kausalen Ausgangspunkt eines Bewegungsvorganges,
Hat die Physik den Widerstreit zwischen Endlichkeit und Un-
endlichkeit bei dem unteren Grenzbegrifil, gezwungen durch die For-
derungen der Naturerklärung, praktisch gelöst, so treibt nun aber die
nämliche Antinomie bei dm oberen Grenzbegriff noch
immer ihr Spiel. Die Lösung wird hier durch den Umstand erschwert,
daß in die Frage über Endlichkeit oder Unendlichkeit des Weltganzen
der Gegensatz zwischen jenen beiden Formen der Unendlichkeit, der
unvollendbaren und der vollendeten, sich einmengt, der uns schon auf
mathematischem Gebiete begegnet ist. (Vgl. S. 161 ff., 236.) In der Tat
handelt es sich in den von Kant aufgestellten kosmologischen Anti-
nomien nur um diesen Gegensatz. Zugleich ist aber dort die wahre
Natur des Streites verhüllt teils durch den Parallelismus, in den die
Antinomien mit der Untersuchung der anderen transzendenten Ideen
gebracht sind, teils durch den Umstand, daß Kant selbst den Unter-
schied jener beiden Unendlichkeitsbegriffe noch nicht erkannt hat*).
Tritt man, gestützt auf deren mathematische Unterscheidung, an Kants
Antinomien heran, so fällt in die Augen, daß der Thesis jedesmal die
*) Vgl. meine Abhandlung: Kants kosmologische Antinomien und das
Problem der Unendlichkeit, Philos. Stud. II, S. 495 fi.
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 3l
482 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
vollendete Unendlichkeit, das Transfinite, der Antithesis die unvollend-
bare Unendlichkeit, das Infinite, bei ihrer Argumentation vorschwebt.
Nun ist das Transfinite auf empirischem Gebiete ein unvollziehbarer
Begriff. Der Durchschnittspunkt zweier Parallellinien hat geometrisch
auch dann noch einen Sinn, wenn wir den Parallelismus als einen voll-
kommenen und darum die Unendlichkeit der Entfernung als eine
absolute auffassen. Unter parallelen Lichtstrahlen aber, die von einem
physischen Punkt im Weltraume ausgehen, können wir immer nur
solche verstehen, deren Divergenz für uns unmerklich ist; dem Fixstern,
der sie aussendet, können wir daher höchstens eine relativ unendliche
Entfernung zuschreiben. Irgend ein räumlich oder zeitlich noch so ent-
fernter Ort oder Zustand des Universums gebietet unserem unter der
Leitung der Anschauungsformen und des Kausalprinzips handelnden
Denken, über denselben hinauszugehen; aber wollten wir uns diesen
unendlichen Progressus wirklich vollendet vorstellen, so würde der
Begriff in ein rein mathematisches Postulat verwandelt sein, von dem
für physikalische Zwecke kein Gebrauch zu machen wäre. Denn unser
naturwissenschaftliches Denken steht gleichzeitig unter der Herrschaft
der Erkenntnisnormen und der Erfahrung. Verbieten uns die ersteren,
den Zusammenhang der Erscheinungen bei irgend einem erreichbaren
Punkte aufhören oder beginnen zu lassen, so verbietet es uns die letztere
nicht minder, diesen unendlichen Zusammenhang anders denn als einen
unvollendbaren zu denken. Die Thesis in den beiden ersten, auf Raum,
Zeit und Materie sich beziehenden Antinomien (die dritte und vierte
entspringen zum Teil anderen Motiven) hat darum leichtes Spiel,
wenn sie der vollendeten Unendlichkeit gegenüber an der Endlich-
keit der Welt festhält. Anderseits sind wir aber ebenso bei unserer
räumlichen und zeitlichen Ordnung der Erscheinungen, ebenso wie
bei ihrer kausalen Verknüpfung, aufgefordert, die jeweils erreichten
Grenzen zu überschreiten und in diesem Progressus ohne Ende fortzu-
fahren. Der Antithesis wird es daher wiederum nicht schwer, wenn sie
den infiniten dem endlichen Weltbegrifi vorzieht. So ist der ganze
Streit ein Scheingefecht, das aus der doppelten Natur des Unendlichen
entsprungen ist. Darum ist nun aber auch die von Kant gegebene
Lösung, die beiden Gegnern in gleichem Maße recht gibt, indem sie
die Frage für unentscheidbar erklärt, nicht die richtige; sondern auf
dem Boden von Kants eigener Beweisführung hat die Antithese den
Vorzug. Ihre Aufstellungen werden durch die Beweisführungen der
These gar nicht getroffen, während diese der Macht der Gegengründe
nicht widerstehen kann. Durch diesen Ausgang ist jedoch für uns
Die allgemeinen Naturgesetze, 483
die Sache noch nicht entschieden. Denn in Kants Erörterung sind
nicht alle Momente berücksichtigt, welche die physikalische Betrach-
tung dem Problem der kosmologischen Unendlichkeit entgegenbringt.
Insbesondere bedürfen zwei Punkte einer näheren Erwägung: erstens
sind die drei Beziehungen, in denen die Unendlichkeit des Universums
angenommen werden kann, zeitliche Dauer, räumliche
Ausdehnung und Masse der Materie, voneinander zu
sondern; und zweitens muß in jeder dieser Beziehungen der Ein-
fluß der Kraft- und Energiegesetze berücksichtigt
werden.
In der Geschichte der Physik hat sich sowohl die Annahme der
Endlichkeit wie die der Unendlichkeit der Welt selten auf jene Bestand-
teile sämtlich bezogen, sondern, wenn wir die Zeit als das zunächst
maßgebende Element betrachten, so lassen sich auf jeder Seite wieder je
drei Hypothesen unterscheiden. Die Endlichkeitshypothese
nimmt entweder nur die Zeit endlich, Raum und Masse aber unendlich,
oder sie nimmt Zeit und Masse endlich, den Raum unendlich an, oder
sie postuliert ein nach Zeit, Raum und Masse endliches Universum.
Ebenso existiert de Unendlichkeitshypothese als eine
einfache, in Bezug auf die Zeit, als eine zweifache, in Bezug auf Zeit
und Raum, oder als eine dreifache, in Bezug auf Zeit, Raum und Masse*).
Die erste dieser sechs Hypothesen liegt den von Kant in seiner „Theorie
und Mechanik des Himmels“ entwickelten Anschauungen zu Grunde,
der zweiten scheint sich Laplace zuzuneigen, die dreifache Endlichkeit
ist in den meisten neueren Spekulationen über die Erhaltung der Energie
im Universum vorausgesetzt. Dagegen könnte die dreifache Unendlich-
keitshypothese die populärwissenschaftliche genannt werden; sie pflegt
in denjenigen Kreisen zu herrschen, in denen man den Vorurteilen,
welchen der Endlichkeitsbegriff entsprungen ist, entwachsen zu sein
glaubt, aber von den Schwierigkeiten des Unendlichkeitsbegrifis keine
Vorstellung hat. Die Hypothese der einfachen Unendlichkeit findet
sich in gewissen mystischen Anschauungen vertreten, die aus der Über-
tragung transzendenter Raumspekulationen auf physikalisches Gebiet
hervorgegangen sind. Die Annahme, daß das Universum nach Zeit und
Raum unendlich, in Bezug auf die Masse der Materie aber endlich
anzunehmen sei, hat in den kosmologischen Theorien kaum eine Berück-
sichtigung gefunden. Dennoch ist sie es, die mit den hinsichtlich der
*) Historische Erläuterungen zu dem folgenden finden sich in meinem
Aufsatze: Über das kosmologische Problem. Vierteljahrsschrift für wissensch.
Philosophie, I, S. 80 fi.
484 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Kraft- und Energiegesetze gegenwärtig angenommenen Voraussetzungen
vielleicht am besten übereinstimmen würde. Dies zeigt sich, wenn
man die Folgerungen erwägt, die sich aus den zwei einander am meisten
entgegengesetzten Hypothesen der dreifachen Endlichkeit und der
dreifachen Unendlichkeit ergeben.
Die Annahme, daß die Materie nach Zeit und Raum und infolge-
dessen auch in ihrer Masse begrenzt sei, stellt an unsere Anschauungs-
formen wie an unser begrifiliches Denken gleich unerfüllbare Forde-
rungen. Da Zeit und Raum konstante Bestandteile aller Erfahrung
sind, so kann auch unser Denken in der Verknüpfung der Erfahrungen
niemals von ihnen abstrahieren. Wollten wir aber eine Grenze von Zeit
und Raum voraussetzen, so würde darin zugleich die begriffliche Fik-
tion einer zeit- und raumlosen Erfahrung oder die Forderung eines
Denkens von unvorstellbarem Inhalt gegeben sein. Aus der Annahme
einer Zeit- und Raumbegrenzung des Universums folgt daher, daß auch
das Kausalprinzip, die Form, in welcher unser Denken die Erfahrungen
verknüpft, zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen wäre. In den
älteren kosmologischen Anschauungen findet diese Begrenzung ihren
Ausdruck darin, daß man die Idee der Schöpfung und des Weltunter-
gangs aus dem Gebiet der religiösen Vorstellungen auf das der Wissen-
schaft zu übertragen sucht. Beide Ereignisse werden dann als Glieder
einer höheren Kausalreihe angesehen, zwischen denen die empirische
Kausalität enthalten sei. Diese Auffassung krankt, wie der damit zu-
sammenhängende Leibnizsche Begriff des „Übervernünftigen“, an dem
Widerspruch, daß man die Formen unseres Denkens anwendet, während
man sie gleichzeitig für unanwendbar erklärt. In der neueren Zeit
hat im Gegensatze hierzu die physikalische Theorie meist an der An-
sicht festgehalten, daß der auf dem Boden der Endlichkeitshypothese
vorauszusetzende Anfang der Welt nur als ein bestimmter Anfangs-
zustand gedacht werden könne, über dessen Entstehung keine
Rechenschaft zu geben sei. Gewöhnlich gilt der Nebelball der Kant-
Laplaceschen Hypothese als dieser Anfangszustand. Da die in ihm vor-
handene Anordnung der materiellen Elemente die kausale Bedingung
zu allen weiteren Veränderungen in sich enthält, so war es logisch,
diesem Anfangszustand nun auch einen in endlicher Zeit erreichbaren
Endzustand gegenüberzustellen, wo jede mögliche Veränderung ab-
gelaufen und eine Stabilität des Kosmos eingetreten sei. Schon La-
place hat ein solches Stabilitätsprinzip aufgestellt, das aber bei ihm
bloß eine relative Bedeutung besaß, da es sich auf die Anordnung und
die Bewegungen der Körper des Sonnensystems beschränkte und da-
\
Die allgemeinen Naturgesetze, 485
gegen den physikalischen Einzelvorgängen, also namentlich auch den
Lebenserscheinungen, einen unbegrenzten Spielraum weiterer Ent-
wicklung ließ. Jene relative Stabilität meinte Laplace schon in dem
gegenwärtigen Zustand des Sonnensystems erreicht zu sehen. Die
aus den Energiegesetzen gezogenen Folgerungen haben jedoch diese An-
nahme nicht bestätigt, und sie haben die Herstellung der kosmischen
Stabilität zwar in eine beträchtliche Zeitferne gerückt, dafür aber den
Stillstand des Ganzen zu einem umso durchgreifenderen gemacht. Die
hierher gehörigen Folgerungen gründen sich nämlich auf jene Gesetze
der Verwandlung der Energie, nach welchen die in der Natur
vorkommenden Transformationen der Naturkräfte immer nur in
einer Richtung unbeschränkt stattfinden können (vgl. S. 476). Hieraus
ergibt sich, daß der Zustand der Welt sich fortwährend im Sinne der-
jenigen Umwandlungen verändern muß, welche nicht ohne Rest umkehr-
bar sind, und daß so schließlich eine Grenze erreicht wird, bei der
überhaupt keine Umwandlung mehr stattfinden kann, weil ein all-
gemeiner Gleichgewichtszustand eingetreten ist. In diesem Endzustand,
in welchem der Verwandlungsinhalt der Energie, die sogenannte En-
tropie der Welt, ihr Maximum erreicht hat, würde vollständige
Temperaturgleichheit herrschen, und es würden demnach im Sinne der
kinetischen Wärmetheorie alle Teilchen der Materie um stabile Gleich-
gewichtslagen schwingen*). Wäre unter solchen Bedingungen noch ein
menschlicher Zuschauer möglich, so würde aber dieser auch keinen
Anlaß finden, den Kausalbegriff zu bilden, da sich keine Veränderung
ereignete, welche die Frage nach ihrer Ursache erheben ließe. Diese
physikalische Gestaltung der Endlichkeitshypothese führt daher eben-
falls zu einer empirischen Begrenzung des Kausalbegrifis. Das logische
Interesse der Deduktion liegt übrigens offenbar nicht darin, daß sie
uns etwa eine Vorstellung von dem wirklich zu erwartenden Ende
der Dinge erwecken könnte, sondern daß sie für ein begrenztes und
während einer gewissen Zeit annähernd unabhängiges System, wie ein
solches vielleicht unser Sonnensystem ist, in eben dieser Zeit die all-
gemeine Richtung der Energieverwandlungen angibt, während zu-
gleich die Ansicht, welche das Universum selbst für ein begrenztes
System hält, an einer speziellen physikalischen Folgerung ad absurdum
geführt wird.
Stellt man sich nun dem gegenüber auf den Standpunkt der Hypo-
these der dreifachen Unendlichkeit, so begegnet diese
*), Clausius, Abhandlungen zur mechanischen Wärmetheorie, II, S. 42.
486 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Schwierigkeiten anderer Art. Wie die vorige an den Energiegesetzen,
so scheitert sie an den Kraftgesetzen. Zwar wird bei allen Naturkräften,
deren Wirkung eine gewisse Zeit zu ihrer Fortpflanzung bedarf, wie
Wärme und Licht, die Unendlichkeit der Masse im unendlichen Raum
durch die Unendlichkeit der Zeit kompensiert. So kann z. B. an einem
Punkt die Menge der durch Strahlung fortgepflanzten Wärme schon
deshalb nicht unendlich groß werden, weil es einer unendlich langen
Zeit bedürfte, bis sich von den unendlich entfernten Massen des Weltalls
die Wärme bis zu dem Punkt fortgepflanzt hätte, während überdies
durch die Vorgänge der Emission und Absorption ein fortwährendes
Streben nach Ausgleichung der Wärmeunterschiede stattfindet. Dagegen
gibt es eine Naturkraft, für welche diese Kompensation nicht zutrifft,
weil sie nach der gegenwärtig gültigen Annahme keiner Zeit zu ihrer
Fortpflanzung nötig hat: die Gravitation. Merkwürdigerweise hat
nun hier die Physik dadurch eine Kompensation zu erreichen vermocht,
daß sie der momentanen Fortpflanzung durch den Raum die nämliche
Abnahme der Wirkung zuschreiben mußte, die bei anderen Naturkräften
im Gefolge der zeitlichen Fortpflanzung eintritt (vgl. S. 455). Trotz-
dem bleibt die Schwierigkeit, daß ein unendliches System, solange
man kein bestimmtes Gesetz der Verteilung der Massen voraussetzt,
weder einen gemeinsamen Schwerpunkt, noch überhaupt einen Punkt
hat, auf den die sämtlichen relativen Bewegungen schließlich zu be-
ziehen wären*). Auch schließt die Hypothese, daß die Gravitations-
wirkung keine Zeit zu ihrer Fortpflanzung bedürfe und daher einen
unendlichen Raum nicht nur in einer endlichen, sondern sogar in
einer verschwindend kleinen Zeit durchlaufe, offenbar eine vollendete
Unendlichkeit ein.
Die erste dieser Schwierigkeiten läßt sich durch die Hilfsannahme
beseitigen, daß die Dichtigkeit der Materie von einem bestimmten
Punkte an allmählich ins Unendliche abnehme. Die einfachste Voraus-
setzung würde hier die Abnahme nach dem Verhältnis einer konver-
gierenden unendlichen Reihe sein, so daß zwar die Ausdehnung der
Materie unendlich, ihre Masse aber endlich bliebe. Denn nicht dieselben
logischen Motive, die uns verhindern, eine endliche Größe von Raum
und Zeit zu statuieren, nötigen uns, auch der Masse Unendlichkeit
zuzuschreiben, da der materielle Substanzbegriff hypothetisch nach
*) Über die Forderung eines solchen Punktes vgl. meine Schrift über die
physikalischen Axiome, $S. 110, und C. Neumann, Über die Prinzipien der
Galilei-Newtonschen Theorie, 1870, 8. 15.
Die allgemeinen Naturgesetze. 487
Anleitung der Erfahrung gebildet wird, wobei wir der Regel folgen,
nichts in unsere Voraussetzung aufzunehmen, was nicht durch das Be-
dürfnis der kausalen Erklärung der Erfahrungen gefordert wird. Wie
wir auf diese Weise dazu gelangen, bei der Anordnung der Materie im
Kleinen leere Räume zwischen ihren Elementen anzunehmen, so könnten
wir darum auch in Bezug auf ihre Anordnung im Großen ohne Wider-
spruch zu einer Hypothese geführt werden, welche die Endlichkeit der
Masse in sich schließt, indem sie entweder eine räumliche Begrenzung
der materiellen Welt oder eine Verteilung derselben im unendlichen
Raume voraussetzt, bei der die Masse endlich bleibt. Die erste dieser
Möglichkeiten würde mit der physikalischen Annahme, daß die
materiellen Atome vermöge ihrer Bewegungsenergie überall bestrebt
sind den leeren Raum zu erfüllen, im Widerspruche stehen. Dagegen
würde die zweite, wonach die Materie dergestalt um einen bestimmten
Schwerpunkt verteilt wäre, daß ihre Dichtigkeit von einer gewissen
Grenze an immer mehr und zuletzt ins Unendliche abnimmt, nicht nur
mit den sonstigen physikalischen Voraussetzungen im Einklange sein,
sondern sie würde auch der allgemeinen Forderung der kosmischen
Mechanik nach einem festen Punkt, auf den alle Bewegungen bezogen
werden, entsprechen. Zugleich könnte das Gesetz der Konstanz der
Energie die Bedeutung eines universellen Naturgesetzes bewahren; denn
es ist klar, daß der Begrifi einer solchen Konstanz nur bei einem endlichen
System von Massen einen bestimmten Sinn besitzt. Auf der anderen
Seite aber würde die aus dem Verwandlungsgesetz gezogene Folgerung
in Bezug auf den Stillstand der kosmischen Veränderungen in end-
licher Zeit hinwegfallen, da eine solche Folgerung nicht mehr statt-
haft ist, sobald sich die Materie über einen unendlichen Raum ver-
breitet. Sollte schließlich dieser Hypothese entgegengehalten werden,
auch die Annahme einer Abnahme der materiellen Masse nach dem Ge-
setz einer konvergierenden Reihe schließe eine vollendete Unendlich-
keit ein, so würde dieser Vorwurf durch die Bemerkung zurückzuweisen
sein, daß er auf einer Verwechslung des Endlichen mit dm MeBß-
baren beruht. Eine Größe kann endlich sein, ohne daß es möglich
ist, sie in einer bestimmten Zahl anzugeben. Wir könnten aus dem
Gesetz der Verteilung der Materie schließen, daß sie von endlicher
Masse sei, ohne diese Masse wirklich messen zu wollen. In der Tat hat
ja in der obigen Voraussetzung der Begriff der Masse von den zwei
Unendlichkeiten, die man in ihm vereinigt denken kann, der unend-
lichen Größe und der unendlichen Ausdehnung im Raume, nur die
erstere verloren, während die zweite in der nämlichen infiniten Be-
488 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
deutung erhalten geblieben ist, die Raum und Zeit selbst in allen ihren
physikalischen Anwendungen besitzen müssen.
So sehr nun aber auch die gegenwärtig gültigen physikalischen
Vorstellungen einer solchen Gestaltung des kosmologischen Grenz-
begrifis das Wort zu reden scheinen, so soll damit doch nicht behauptet
werden, daß sie auch die logisch vorzüglichste sei, oder daß sie mut-
maßlich physikalisch das Feld behaupten werde. Ist das Transfinite
überhaupt ein physikalisch unzulässiger Begriff, so kann er auch nicht
auf jenem indirekten Wege der zeitlosen Fortpflanzung einer Bewegungs-
energie eingeführt werden. So ergibt sich auch von dieser Seite die
Wahrscheinlichkeit, daß die Gravitation auf Fernewirkungen zurück-
zuführen sein wird, die sich mit sehr großer, aber nicht unendlicher Ge-
schwindigkeit fortpflanzen. Die empirischen Data für eine solche An-
nahme müßten astronomischen Beobachtungen entnommen werden.
Obgleich solche bis jetzt nicht vorliegen, so ist übrigens die Annahme
einer unendlichen Geschwindigkeit der Gravitation zunächst nur
in dem Sinne gefordert, daß sie jeden für uns meßbaren endlichen
Raum in verschwindender Zeit durchdringt. Als eine weitere Folge
der dreifachen Unendlichkeit würde dann noch die eintreten, daß
von einer universellen Gültigkeit des Gesetzes der Konstanz
der Energie, wenn man unter einer solchen die Gültigkeit für das Ganze
der Welt versteht, nicht mehr geredet werden könnte. Eine physi-
kalische Größe ist konstant, wenn sie niemals zu- oder abnehmen kann.
Eine unendliche Zahl kann aber um beliebige endliche Größen vermehrt
oder vermindert werden, ohne daß sie sich darum in ihrer Größe merk-
lich verändert. Das physikalische Maß der Konstanz ist also überhaupt
nur auf endliche Größen oder auf abgeschlossene Massensysteme an-
wendbar. Da nun die einzelnen kosmischen Massensysteme niemals
absolut abgeschlossen sein können, so würde unter der Voraussetzung
eines dreifach unendlichen Universums das Energiegesetz nur eine
relative, für gewisse nach Zeit und Raum abgegrenzte Teile
der Welt annähernd zutrefiende Gültigkeit bewahren. Es versteht
sich von selbst, daß hierin nicht im mindesten ein Widerspruch
gegen jene Voraussetzung liegt. Vielmehr zeigt sich gerade an den aus
dem Verwandlungsgesetz gezogenen Folgerungen, daß die an ein end-
liches System geknüpfte absolute Gültigkeit der Energiegesetze einer
Korrektur bedarf, die am wirksamsten durch den Übergang zu dem
Begrifi der dreifachen Unendlichkeit herbeigeführt wird.
Die chemischen Methoden. 489
Zweites Kapitel.
Die Logik der Chemie.
1. Die chemischen Methoden.
a. AllgemeineAufgabenderchemischen Untersuchung.
Indem sich die Chemie die Aufgabe stellt, die Erscheinungen zu
untersuchen, die mit den stofflichen Eigenschaften der Körper
zusammenhängen, hat sie vor allem Rechenschaft zu geben von den
Eigenschaften der einfachen Stofie, der durch unsere Hilfsmittel nicht
weiter zerlegbaren Elemente, die in der Natur vorkommen. Sie hat
sodann die Bedingungen, unter denen diese Elemente zu Verbindungen
zusammentreten, sowie die Beziehungen zu ermitteln, in welchen die
Eigenschaften der zusammengesetzten Körper zu denen ihrer Bestand-
teile stehen. Damit Hand in Hand geht die Aufsuchung der Ursachen,
durch welche die zusammengesetzten Stofie in ihre Elemente zerlegt
werden, sowie die Feststellung der physikalischen Erscheinungen, von
denen die Verbindungen und Zersetzungen der Körper begleitet sind.
Das Ziel, das die Chemie durch die Ergebnisse aller dieser Einzelunter-
suchungen zu erreichen hofit, ist somit im allgemeinen ein doppeltes:
es besteht in der Kenntnis der Stoffe und ihrer Verbindungen, und
in dem Studium der Verbindungs- und Zerlegungsprozesse und
ihrer Begleiterscheinungen. Der erste Teil dieser Aufgabe findet seine
Verwirklichung in einem System derchemischen Verbin-
dungen, der zweite in einer Theorie der chemischen
Stoffbewegungen.
Die Existenz der chemischen Verbindungen legt unmittelbar die
Annahme eigentümlicher Anziehungen zwischen den Bestandteilen
derselben nahe. Diese Annahme findet in dem Begriff der chemi-
schen Affinität ihren Ausdruck, einem Begriff, den die Chemie
schon in ihren Anfängen gewonnen hat, und der eben deshalb an und
für sich völlig unbestimmt ist, da er die Ermittlung der Ursachen che-
mischer Verbindungen durchaus der näheren Untersuchung vorbehält.
Von den beiden Teilen des chemischen Lehrgebäudes, in welchem diese
Untersuchung abschließt, dem System der chemischen Verbindungen
und der Theorie der chemischen Stoffbewegungen, ist es speziell der
letztere, dem die Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Affinität
zufällt. Nun kann erst mit Hilfe dieser Theorie eine rationelle Klassi-
fikation der Verbindungen gewonnen werden, während anderseits die
490 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Erkenntnis der Stofibewegungen wiederum eine gewisse Übersicht
der Verbindungen voraussetzt. Hierdurch entsteht eine ziemlich ver-
wickelte Wechselwirkung beider Untersuchungsgebiete. In den An-
fängen und zum Teil noch in dem gegenwärtigen Zustande der Wissen-
schaft war der Einfluß der systematischen Klassifikation auf die theo-
retischen Anschauungen der vorwaltende; doch ist die umgekehrte
Rückwirkung in der neueren Entwicklung der Chemie zu immer größerer
Bedeutung gelangt. Insofern die Kenntnis der quantitativen Ver-
bindungsverhältnisse der Stoffe, die das System bietet, an und für sich
schon gewisse Aufschlüsse über die aus der Affinität der Elemente
hervorgehenden Gleichgewichtszustände gewährt, pflegt man wohl auch
die aus solchen Betrachtungen hervorgehenden theoretischen An-
schauungen einer chemischen Statik zuzurechnen und dieser
die eigentliche Theorie der Stoffbewegungen als chemischeDyna-
mıik gegenüberzustellen. Da wir nun auf die Art der Stoffbewegungen
hauptsächlich aus den begleitenden optischen, thermischen, elektrischen
Erscheinungen sowie aus den Veränderungen, die bei den chemischen
Umsetzungen in den physikalischen Konstanten der Körper, in ihrer
Dichtigkeit, Wärmekapazität, ihrem Brechungs- und elektrischen
Leitungsvermögen u. s. w., eintreten, Rückschlüsse machen können, so
sieht sich bereits die chemische Statik, noch mehr aber die Dynamik
genötigt, physikalische Untersuchungen zu Hilfe zu nehmen.
Dies hat zunächst zur Abtrennung einer „physikalischen Chemie“ Ver-
anlassung gegeben, einer Übergangsdisziplin, die jedoch, in dem Maße
als sie auf die allgemeine Richtung der chemischen Wissenschaft Ein-
fluß gewann, wieder in eine allgemeine oder theoretische
Chemie sich umwandelte.
Die Chemie ist diejenige Naturwissenschaft, in der die Methoden
der Induktion ihre schärfste Ausprägung gefunden haben. Äußere
und innere Ursachen wirken hierbei zusammen. Wie die deduktive
Natur der Mathematik und theoretischen Physik wesentlich durch
die klare Erkenntnis der mathematischen und mechanischen Prin-
zipien bedingt ist, von denen die Erklärung ausgehen kann, so ver-
dankt umgekehrt die Chemie ihre methodischen Eigenschaften zum Teil
der Unsicherheit, in der man sich in ihr über die notwendigen prinzi-
piellen Voraussetzungen befindet, noch mehr aber dem Umstande, daß
in ihr das induktive Verfahren besonders günstige Bedingungen vorfindet.
Während bei physikalischen Problemen alle Einzelaufgaben innig in-
einander eingreifen, so daß sich meist bei einer und derselben Unter-
suchung verschiedene logische Methoden kombinieren, sondern sich auf
Die chemischen Methoden, 491
chemischem Gebiete deutlicher die einzelnen Verfahrungsweisen. Denn
die Stoffbestandteile sind in gewissem Sinne stabiler als andere Natur-
erscheinungen. Sie gestatten es der Forschung, die Probleme, die sich
ihr in Bezug auf die materielle Zusammensetzung der Körper darbieten,
in regelmäßig geordneter Folge von Stufe zu Stufe zu lösen, und selbst
in solchen Fällen, wo die späteren Aufgaben noch nicht lösbar sind,
bieten die zunächst zugänglichen ein hinreichendes Interesse dar, um
sie selbständig in Angriff zu nehmen. So kommt es, daß schon die
der Induktion als vorbereitende Hilfsmittel dienenden Methoden der
Analyse und Synthese namentlich in Bezug auf ihre elemen-
taren Formen innerhalb der chemischen Forschung klarer als in irgend
einem anderen Gebiete entwickelt sind.
b.Diechemische Analyse.
Die erste Frage, mit der wir an die Untersuchung der stofllichen
Eigenschaften eines Körpers herantreten, ist die nach seiner Zusammen-
setzung aus einfacheren Bestandteilen. Die Analyse ist daher historisch
die zuerst zur Ausbildung gelangte chemische Methode, und sie bleibt
fortan diejenige, die bei einer konkreten Untersuchung allen anderen
voranzugehen pflegt. In den alchemistischen Anfängen der Chemie war
sie noch getrübt durch die aus der Aristotelischen Elementenlehre über-
kommene Annahme einer Verwandlungsfähigkeit der einfachen Stoffe.
Erst Robert Boyle stellte, indem er diese Annahme beseitigte, der
chemischen Untersuchung das bestimmte Ziel, die unveränderlichen
Elementarbestandteile der Körper nachzuweisen. Er wurde dadurch
der eigentliche Schöpfer der chemischen Analyse, die er zum ersten
Male mit diesem Namen in die Wissenschaft einführte*). Seine Analyse
ist aber noch ausschließlich eine qualitative: sie begnügt sich mit
dem Nachweis der Bestandteile einer Verbindung. Dennoch lag bereits
in den korpuskularen Vorstellungen, die sich dieser Chemiker von dem
Wesen der Verbindungen machte, der Keim zu der Entwicklung messen-
der Untersuchungen. Indem er sich nämlich die Körper aus kleinsten
und unveränderlichen Teilchen bestehend dachte, von deren wechsel-
seitigen Anziehungen alle Verbindungs- und Zersetzungserscheinungen
abhingen, wurde unmittelbar die Frage nahegelegt, in welchen Menge-
verhältnissen sich die Teilchen verschiedener Elemente in den zusammen-
gesetzten Körpern verbinden. Noch aber fehlte dem Zeitalter Boyles
die bestimmte Idee der Verbindung der Elemente nach konstanten
*) Vgl. Kopp, Geschichte der Chemie, II, S. 58.
492 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Gewichtsverhältnissen. Erst die Chemiker des 18. Jahrhunderts, ein
Bergmann und Wenzel, die von dieser Idee ausgingen, wurden dadurch
Urheber der quantitativen Analyse. Diese blieb jedoch in ihrem
Fortschritt gehemmt, so lange die phlogistische Verbrennungstheorie
durch die Annahme eines Stofis von negativer Schwere, des Phlogiston,
die Ausbildung folgerichtiger Vorstellungen über die chemischen Ver-
bindungserscheinungen unmöglich machte. Indem Lavoisiers Ver-
brennungstheorie diese Unklarheit beseitigte, bestätigte sie zugleich
nach vorübergehenden Kämpfen die Voraussetzung, daß die konstanten
Gewichtsverhältnisse der Elemente einer Verbindung einfachen und
regelmäßigen Zahlenverhältnissen entsprechen. Durch dieses Gesetz
der multiplen Proportionen wurde nunmehr der quantitativen Analyse
eine Reihe bestimmter Aufgaben gestellt und zugleich der Weg gezeigt,
auf dem mit ihrer Hilfe ein auf die dauernden Affinitätswirkungen der
Elemente gegründetes System der chemischen Verbindungen zu erreichen
war. So ist hier von Stufe zu Stufe die Ausbildung der analytischen
Methoden von Ideen ausgegangen, die ursprünglich einen hypothetischen
Charakter besaßen, dann aber infolge der empirischen Bestätigungen,
die sie erfuhren, den Wert von Prinzipien gewannen, die für alle ein-
zelnen Verfahrungsweisen maßgebend wurden. Das Gesetz der Un-
veränderlichkeit der Stoffelemente bildete die Grundlage einer rationellen
qualitativen Analyse; aus dem Gesetz der Verbindung nach konstanten
Gewichtsverhältnissen gingen die ersten Anfänge der quantitativen
Analyse hervor, und das Gesetz der multiplen Proportionen lieferte
endlich die stöchiometrischen Grundsätze, die für die Verwertung der
Resultate dieser Analyse maßgebend wurden.
Als sich die chemische Untersuchung in den Anfängen ihrer Ent-
wicklung befand, lag ihre größte Schwierigkeit darin, daß die elementaren
Bestandteile der Körper erst aufgefunden werden mußten, während
doch die methodische Zerlegung einer Verbindung in ihre Bestandteile
eigentlich schon eine Kenntnis der Elemente und ihrer Eigenschaften
voraussetzt. Darum machen hier die frühesten analytischen Versuche
in viel höherem Grade als im Gebiet der physikalischen Forschung
den Eindruck eines unsicheren Umhertastens. Der einzige einigermaßen
zuverlässige Weg war, daß man zunächst die Eigenschaften solcher
Stoffe untersuchte, die sich den gewöhnlichen Trennungsmitteln gegen-
über als unzerlegbar erwiesen hatten, und daß man nun nachforschte,
welche unter den so gefundenen Elementen aus einer gegebenen Ver-
bindung sich ausscheiden ließen oder an deren Eigenschaften wieder zu
erkennen seien. Der Durchführung dieser Methode stand aber die
Die chemischen Methoden. 493
mangelhafte Ausbildung der analytischen Operationen im Wege. Die
früheste Chemie, von der Metalluntersuchung ausgehend, kannte fast
nur die Schmelzung in der Hitze, meist unter Beihilfe zufällig als nütz-
lich erfundener Zusätze zu den Metallerzen oder Legierungen, ein Ver-
fahren, das ausschließlich der Ausscheidung des edleren Metalls aus Ver-
bindungen oder Gemengen diente. Allmählich gesellte sich dazu die An-
wendung der einfachsten physikalischen Hilfsmittel zum Behuf der
Isolierung bestimmter Verbindungen von anderen, mit denen sie mecha-
nisch gemengt vorkommen: so die Sublimation und Destillation für
die Trennung flüchtiger Stoffe, der Gebrauch der Lösungsmittel zum
Zweck der Scheidung der unlöslichen von den löslichen Bestandteilen.
Zuletzt wurde die dritte und wichtigste Klasse analytischer Operationen
ausgebildet, darin bestehend, daß man die zu untersuchenden Stoffe
an den Erscheinungen erkennt, die sie infolge der chemischen Wechsel-
wirkung mit anderen Stoffen von bekannten Eigenschaften, den so-
genannten Reagentien, darbieten. Die chemische Einwirkung
des Reagens kann hierbei wieder durch erhöhte Temperatur oder durch
Lösung vermittelt werden. Diese dritte Methode ist für die analytische
Chemie die weitaus fruchtbarste geworden; ihr gegenüber hat nament-
lich die zweite mehr den Charakter eines vorbereitenden Hilfsmittels
angenommen, welches dazu dient, die chemischen Verbindungen eines
Gemenges in gewisse Gruppen zu trennen, die dann gesondert der
näheren Analyse mittels der Reagiermethode unterworfen werden.
Die letztere aber gestattet es teils durch die Niederschläge, welche die
aus der Einwirkung der Reagentien hervorgehenden Verbindungen
bilden, teils durch die charakteristischen Färbungen, welche die Ver-
bindungen annehmen, die verschiedenen Bestandteile eines untersuchten
Körpers zu erkennen. Ferner macht es die Kombination mit der Lösungs-
methode möglich, allmählich aus einer komplizierten Stoffverbindung
alle einzelnen Bestandteile teils direkt, teils mit Hilfe chemischer Bindung
zu isolieren, indem man die zuerst erhaltenen Niederschläge mit Lösungs-
mitteln behandelt, in den gewonnenen Lösungen wieder Niederschläge
hervorbringt, u. s.w. Durch dieses Verfahren der sukzessiven Isolierung
der Stoffe wird die Reagiermethode namentlich auch das wirksamste
Hilfsmittel der quantitativen Analyse.
Dagegen liegt es in dem Wesen dieser Methode, daß sie in der
Regel nicht zu einer vollständigen Zerlegung der Körper in ihre ein-
fachen Bestandteile zu führen vermag. Indem sie nämlich im allge-
meinen die gegebenen Verbindungen in andere Verbindungen über-
führt, deren Eigenschaften eine leichtere Isolierung gestatten, wird es
494 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
ihr nur in seltenen Ausnahmefällen möglich, die letzten Elemente der
Körper direkt darzustellen. In dieser Beziehung treten ihr daher zwei
physikalische Hilfsmittel ergänzend zur Seite, deren rationeller Be-
nützung vorzugsweise die neuere Chemie ihre Kenntnis der elementaren
Stoffe verdankt. Sie bestehen in der Zerlegung durch die Wärme
und durch den elektrischen Strom. Obgleich, wie schon oben
bemerkt, die Benützung erhöhter Temperatur, speziell zum Zweck der
Reindarstellung der edeln Metalle, eines der frühesten analytischen
Hilfsmittel bildete, so beginnt doch die bewußte, von der Einsicht in
die physikalischen Wirkungen der Wärme geleitete Anwendung dieses
Verfahrens erst mit Lavoisier, und es liegt darin zum Teil die epoche-
machende Bedeutung der wissenschaftlichen Richtung, die er einschlägt.
Während die vorangegangene Chemie an der Hand der Reagiermethode
nur sporadisch mit elementaren Stoffen bekannt geworden war und
sichere Hilfsmittel der Unterscheidung zwischen den zusammengesetzten
und einfachen Körpern überhaupt noch nicht besaß, wird von Lavoisier
und seinen Nachfolgern die Aufgabe der vollständigen Zerlegung der
Körper in ihre Elemente mit Erfolg in Angriff genommen, an die dann
unmittelbar die Frage nach der Gruppierung der Elemente in den Ver-
bindungen oder nach der Elementarkonstitution der Körper sich an-
schließt. Bei diesem Übergang kommt der Einführung eines weiteren
chemischen Scheidemittels von physikalischer Natur, der Elektrizität,
die größte Bedeutung zu. Denn die Ausscheidung der verschiedenen
Bestandteile einer Verbindung an den beiden Polen des galvanischen
Stromes erweckte zugleich bestimmte Vorstellungen über die Art der
wechselseitigen Bindung der Elemente, wodurch, abgesehen von der
Richtigkeit der so entstandenen Vorstellungen, jedenfalls das Problem
der Elementarkonstitution zu klarerem Bewußtsein gebracht wurde.
Hiernach können wir allgemein die Hilfsmittel der chemischen
Analyse in solche von physikalischem und in solche von spezi-
fisch cehemischem Charakter unterscheiden. Ein Teil der ersteren
benützt ausschließlich Bewegungsvorgänge, an denen dieungetrenn-
ten chemischen Moleküle beteiligt sind. Hierher gehören die seit
alter Zeit geübten Verfahrungsweisen der Lösung, Filtration,
Destillation und Sublimation, zu denen in neuerer Zeit
noch, als ein die mechanische Scheidung gewisser Lösungsgemenge
vermittelnder Vorgang, die Diffusion getreten ist. Alle diese
Hilfsmittel, die sich auf die Aggregatverhältnisse der Körper stützen,
besitzen im ganzen nur einen vorbereitenden Charakter: sie bezwecken
nicht die Zerlegung der Verbindungen selbst, sondern deren Aus-
Die chemischen Methoden. 495
scheidung aus Gemengen zum Behuf der nachfolgenden eigentlichen
Analyse. Anders verhält es sich mit den physikalischen Methoden,
welche die inneren Bewegungsvorgänge der chemischen Moleküle
verwerten, wie de Wärme und den elektrischen Strom.
Ihr Streben ist dahin gerichtet, durch diese Bewegungen eine chemische
Verbindung in ihre Elemente zu trennen. Wie jene mechanischen Vor-
bereitungsmittel den Anfang, so bilden daher sie in der Regel das Ende
der Analyse. In der Mitte zwischen beiden liegen dann die chemi-
schen Methoden im engeren Sinne, die Reagiermethoden, die in plan-
mäßiger Weise von den Affinitätsverhältnissen der Körper Gebrauch
machen, um teils die durch mechanische Mittel nicht trennbaren Stoffe
eines Gemenges, teils die näheren Bestandteile einer chemischen Ver-
bindung qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Dabei kann übrigens
diese chemische Methode in der mannigfaltigsten Weise mit den voran-
gegangenen physikalischen verbunden werden. So pflegt die Anwendung
der Wärme durch die Zerlegungen, die sie bewirkt, zugleich neue Affini-
täten freizumachen, wodurch sie von selbst zur Kombination mit
der Reagiermethode führt, ein Verfahren, welches dann noch durch
die absichtliche Hinzufügung von Reagensstofien unterstützt werden
kann. Ein augenfälliges Beispiel dieser Art bietet die gewöhnliche
Methode der organischen Elementaranalyse, bei der durch die Hin-
zufügung einer leicht reduzierbaren Substanz im Überschuß zu dem
einer starken Temperaturerhöhung ausgesetzten organischen Stoff die
vollständige Verbrennung des Wasserstoffs zu Wasser und des Kohlen-
stofis zu Kohlensäure eintritt, worauf man dann beide in gasförmigem
Zustand mit Stoffen in Berührung bringt, die zu den gebildeten Ver-
brennungsprodukten eine starke Affinität äußern. Hierdurch werden
beide Gase in fixe Verbindungen übergeführt, in denen sie leicht durch
Wägung bestimmt werden können. Ähnlich pflegt sich die Zersetzung
durch den galvanischen Strom sofort mit Affınitätswirkungen zu ver-
binden. Bei der Einwirkung des Stroms auf wässerige Lösungen z. B.
wirkt am negativen Pol der ausgeschiedene Wasserstoff reduzierend
und am positiven der Sauerstoff oxydierend, sobald reduzierbare und
oxydierbare Körper vorhanden sind.
Mit den angeführten Hilfsmitteln ausgerüstet kann nun die che-
mische Analyse zwei Ziele verfolgen. Das eine besteht in der Er-
mittlung der Bestandteile eines gegebenen Kör-
pers, das andere in dr Bestimmung der Elementar-
konstitution einer chemischen Verbindung. Das
erste Verfahren entspricht der allgemeinen Form der elementaren
496 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Analyse, das zweite ist ein spezieller Fall kausaler Analyse (Abschn. I,
S.4 ff.). Auch hier muß selbstverständlich die erste der zweiten voraus-
gehen; doch kann für manche praktische Zwecke und in solchen Fällen,
wo die Konstitution der aufgefundenen Verbindungen bereits als be-
kannt vorausgesetzt werden darf, mit der Lösung der elementaren
Aufgabe die ganze Untersuchung abgeschlossen sein. Da es sich hierbei
im allgemeinen nur um die Anwendung fest bestimmter Regeln handelt,
die aus den bekannten Reaktionen der einzelnen Stoffe gewonnen sind,
so trägt der gewöhnliche Gang der qualitativen und quantitativen
Analyse bei dem heutigen in Bezug auf die allgemeine Unterscheidung
und Nachweisung der Elemente vorläufig beinahe schon abgeschlossenen
Zustande der Chemie mehr einen technischen als wissenschaftlichen
Charakter an sich. Nur in solchen Fällen, wo neue Untersuchungs-
methoden der Elementaranalyse zu Hilfe kommen, wird für diese
so lange ein höheres Maß erfinderischer Tätigkeit in Anspruch genommen,
bis sich auch hier bestimmte Regeln der technischen Ausführung ent-
wickelt haben. Abgesehen von solchen Ausnahmefällen beginnt aber
die eigentlich wissenschaftliche Aufgabe erst mit der an die Resultate
der Elementaranalyse sich anschließenden Untersuchung der elemen-
taren Konstitution einer Verbindung, also mit der Frage, in welcher
Weise die Elemente infolge der Affinitätswirkungen aneinander ge-
kettet sind. Die erschöpfende Beantwortung derselben gehört an und
für sich nicht mehr in das Gebiet der bloßen Analyse, sondern sie fällt
erst der auf Grund analytischer und synthetischer Untersuchungen
operierenden chemischen Induktion anheim. Gleichwohl ist es jene
Frage, die schon der Analyse ihre Richtung anweist, und die zur An-
wendung bestimmter analytischer Methoden geführt hat, die für die
bloße Kenntnis der elementaren Bestandteile der Körper nicht erforder-
lich sein würden.
Nur bei den einfachsten chemischen Verbindungen ist mit der
Elementaranalyse alles erledigt, was die analytische Untersuchung
überhaupt zu leisten vermag. Sobald aber mehr als zwei Elemente
in eine Verbindung eingehen, tritt an die Analyse die Aufgabe heran,
nicht bloß die letzten Elemente nachzuweisen, sondern zunächst dar-
zutun, ob und in welcher Weise die zusammengesetzte Verbindung
in einfachere Verbindungen zerlegt werden kann. Es tritt so der Elemen-
taranalyse die stufenweise Analyse gegenüber als diejenige
analytische Methode, die der chemischen Induktion die für die Auf-
findung der Konstitution der Verbindungen zunächst maßgebenden
Erfahrungen entgegenbringt. Diese Methode wird ein umso unent-
Die chemischen Methoden. 497
behrlicheres Hilfsmittel, je verwickelter sich die Verbindungen gestalten.
Darum ist es vorzugsweise das Gebiet der organischen Chemie, in dem
sie zur Entwicklung gelangt ist. Die Hilfsmittel, deren sie sich bedient,
sind im wesentlichen die nämlichen, die auch bei der Elementaranalyse
zur Anwendung kommen. Nur bringt in diesem Fall der Zweck der
Analyse gewisse Beschränkungen mit sich, da dieser Zweck eine all-
mähliche Zerlegung fordert, bei der die Zwischenstufen einfacherer
Verbindungen möglichst vollständig durchlaufen werden. Unter den
physikalischen Einwirkungen ist es vor allem die Wärme, die sich,
weil sie selbst eine sehr vollkommene Abstufung zuläßt, zur Einleitung
stufenweiser Veränderungen besonders geeignet erweist, sei es, daß sie
für sich allein angewandt wird oder, wie es gewöhnlich geschieht, in
Verbindung mit gewissen chemischen Affinitätswirkungen, die man
durch sie zu steigern sucht. Selbst in den Fällen übrigens, wo ohne die
Zuhilfenahme einer äußeren Affinität die Wärme zur Verwendung
kommt, pflegt es an solchen begleitenden Affinitätswirkungen nicht
zu fehlen. Denn indem die Wärme durch die Zunahme der molekularen
Bewegungen, die sie erzeugt, die komplexen Verbindungen spaltet,
ruft sie zugleich zwischen den so entstandenen Bestandteilen neue
Affinitätswirkungen hervor, aus denen einfachere Verbindungen ent-
springen. So zerfallen die sauerstofireichen organischen Säuren unter
dem Einfluß der Wärme einerseits in die noch sauerstoffreicheren
binären Verbindungen der Kohlensäure und des Wassers und ander-
seits in einfachere organische Säuren von geringerem Sauerstoffgehalt;
die sauerstoffarmen Fettsäuren spalten sich in Kohlensäure und in
flüchtige, völlig sauerstofifreie Produkte, die Kohlenwasserstoffe.
Ähnlich wie in diesen Fällen der in den ursprünglichen Verbin-
dungen vorhandene Sauerstoff unter dem Einfluß der Wärme Affini-
tätswirkungen äußert, die auf die Art der Zerlegung von wesentlichem
Einflusse sind, so spielen auch unter den äußeren Reagentien, welche
Zerlegungen einleiten, die Oxydationsmittel, wie die Salpetersäure, die
Hyperoxyde, die Hydrate der Alkalien, die hervorragendste Rolle.
Durch die Oxydation der zusammengesetzten Fettsäuren z. B. ent-
stehen einerseits einfachere flüchtige Fettsäuren, anderseits gewisse
fixe Säuren, wie Bernsteinsäure, Oxalsäure u. s. w., beide von höherem
Sauerstoffgehalt. Das tierische und pflanzliche Eiweiß liefert teils eine
Reihe flüchtiger Fettsäuren, teils Ammoniakderivate, und diese zu-
nächst entstehenden Produkte können durch weitere Einwirkung des
Sauerstoffs schließlich vollständig in die binären Verbindungen Kohlen-
säure, Wasser und Ammoniak übergeführt werden.
Wundt, Logik. I. 3. Auf. 32
498 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Der Versuch, andere Elemente von starker Affinität in ähnlicher
Weise wie den Sauerstofi zur Zerlegung der zusammengesetzten Kohlen-
stoffverbindungen .zu verwenden, bildet einen wichtigen Wendepunkt
in der Entwicklung der organischen Chemie. Insbesondere ist das Chlor
in diesem Sinne benützt worden; neben ihm die nächstverwandten
Elemente Brom und Jod, außerdem Schwefel, Phosphor, Arsen und die
mit starken Affinitätswirkungen begabten Metalle. Die so bewirkten
Veränderungen unterscheiden sich jedoch von den Sauerstofizer-
setzungen organischer Substanzen wesentlich dadurch, daß, sofern nicht
andere analytische Hilfsmittel, wie die Wärme und Oxydation, zu Hilfe
gerufen werden, die Einwirkung des zersetzenden Elementes sich darauf
beschränkt, daß es an der Stelle eines anderen Elementes, welches frei
wird, in der Regel des Wasserstofls, in die Verbindung eintritt. Man be-
zeichnet aus diesem Grund derartige Zersetzungen als Sub-
stitutionen. Zugleich aber ist klar, daß sie ihrem allgemeinen
Charakter nach den Übergang zu den synthetischen Methoden bilden.
In der Tat kann man die Überführung einer Verbindung in ein Sub-
stitutionsprodukt gleicher Stufe als einen Vorgang betrachten, bei dem
sich eine einfache Zerlegung, z. B. die Ausscheidung von Wasserstoff
durch die Affinität des Chlor, und eine einfache Synthese, der Eintritt
von Chlor an die Stelle des ausgeschiedenen Wasserstoffs, unmittelbar
aneinander anschließen.
ce. Diechemische Synthese.
Nachdem die chemische Analyse die zusammengesetzten Körper
zerlegt hat, entsteht die umgekehrte Aufgabe: die Verbindungen aus
ihren Elementen zusammenzusetzen. Durch die Lösung dieser Auf-
gabe sollen die Entstehungsbedingungen der Verbindungen erkannt,
zugleich aber die Resultate der stufenweisen Analyse geprüft werden,
um auf diese Weise eine vollständigere Grundlage für die chemische
Induktion zu gewinnen.
Die äußeren Hilfsmittel der chemischen Synthese sind nun mit
denen der Analyse völlig übereinstimmend. Wärme, Elektrizität und
chemische Affinität sind auch hier die hauptsächlichsten Agentien. Dies
hat seinen naheliegenden Grund darin, daß die synthetischen Opera-
tionen immer analytische voraussetzen, die ihnen unmittelbar voran-
gehen müssen. Die Elemente, die in eine neue Verbindung eintreten
sollen, müssen aus anderen Verbindungen getrennt werden. Die che-
mische Synthese stützt sich daher auf die Affinität, welche die Elemente
im Status nascendi entwickeln, und ihre Hilfsmittel sind analytische;
Die chemischen Methoden, 499
sie sind dazu bestimmt, durch die Zerlegung vorhandener Verbindungen
einen Status nascendi herbeizuführen, durch den sich ohne weitere Bei-
hilfe die beabsichtigte Synthese vollziehen muß. Das Verständnis der
synthetischen Operationen, namentlich insoweit die elementaren Körper
an ihnen beteiligt sind, ist deshalb wesentlich erst durch die Annahme
einer wechselseitigen Bindung gleichartiger Atome in den einfachen
Stoffen, sowie durch die Anschauungen der neueren Wärmetheorie über
den Bewegungszustand der Körperelemente ermöglicht worden, und die
synthetischen Prozesse haben ihrerseits zur Befestigung dieser theo-
retischen Vorstellungen beigetragen. Eine Mischung aus 2 Volum-
teilen Wasserstoff und 1 Volum Sauerstofigas kann bei mäßiger Tem-
peratur eine beliebig lange Zeit aufbewahrt werden, ohne daß die
Affinität der beiden Gase zueinander rege wird, während ein wieder-
holtes Durchschlagen des elektrischen Funkens genügt, um in kurzer
Zeit das Gasgemenge in Wasser zu verwandeln. Diese und zahlreiche
ähnliche Erscheinungen werden vollkommen verständlich, wenn man
voraussetzt, daß in dem Wasserstoff und Sauerstoff die gleichartigen
Atome aneinander gebunden sind, aus dieser Verbindung aber durch
die Erschütterung, die der elektrische Funke bewirkt, getrennt werden,
so daß nun erst die Affinität der ungleichartigen Atome zur Wirkung
gelangen kann. Auf das nämliche Prinzip läßt sich die Wirkung der
Wärme zurückführen, die ein noch allgemeiner gebrauchtes Hilfsmittel
zur Hervorbringung des für die chemische Synthese erforderlichen Ent-
stehungszustandes ist.
Die Einwirkung der genannten physikalischen Agentien genügt in
der Regel, um die einfachen binären Verbindungen, wie z. B. die des
Chlor, Jod, Sauerstoff, Schwefel u. s. w. mit dem Wasserstoff, die der
meisten nichtmetallischen und metallischen Elemente mit dem Sauer-
stoff, die einfachsten Kohlenwasserstoffe, auf synthetischem Wege zu
erzeugen. Dagegen verlangen die zusammengesetzteren Verbindungen,
namentlich des Kohlenstofis, außerdem noch die Zuhilfenahme be-
stimmter Affinitätswirkungen, und es muß die Synthese eine stufen-
weise sein, wenn sie in fundamentaler Form, d. h. von den Elementen
ausgehend, durchgeführt werden soll. Diese stufenweise Synthese ent-
spricht dann dem umgekehrten Verfahren der stufenweisen Analyse
auch darin, daß sie neben ihr das hauptsächlichste Mittel ist, um einen
Einblick in die Konstitution der Verbindungen zu erlangen. Eine be-
sondere Wichtigkeit besitzt dabei die stufenweise Synthese der Kohlen-
stoffverbindungen. In ihr spielt der Wasserstoff, als solcher oder in
Verbindungen, eine ähnlich bedeutsame Rolle wie der Sauerstoff bei
500 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der stufenweisen Zersetzung. Der Wasserstoff kann aber hierbei teils
direkt an den Kohlenstoff gebunden, teils durch seine Affinität zum
Sauerstoff wirksam werden, indem er sauerstoffreicheren organischen
Stoffen Sauerstoff entzieht und dadurch sauerstoffärmere Verbindungen
zurückläßt. Auf diese Weise verbindet sich die Synthese ähnlich mit
dem Verfahren der Reduktion, wie die Analyse der organischen
Substanzen die Oxydation zu Hilfe nahm. Direkte Wasserstoffbin-
dungen kommen vor allem bei der Synthese der Elemente zu binären
Verbindungen vor. So vereinigt sich der einfachste Kohlenwasserstoff,
das Acetylen (C,H,), der unter dem Einfluß des elektrischen Funkens
direkt aus den Elementen entsteht, in der Wärme mit weiteren Mengen
Wasserstofis, indem aus ihm komplexere Kohlenwasserstoffe von
höherem Wasserstoffgehalte hervorgehen. Ähnliche Umwandlungen
vollziehen sich durch den Einfluß einfacher wasserstoffhaltiger Ver-
bindungen, wie der Jodwasserstofisäure, in der Wärme. Wie in dem
letzteren Fall die Affinität des Wasserstofis im Status nascendi benützt
wird, so geschieht dies auch bei den Synthesen, die sich als Reduktions-
vorgänge darstellen: so bei der Synthese der Ameisensäure (CH,O,)
aus Kohlensäure und Wasser durch Einwirkung des metallischen Kalium,
der Oxalsäure (0,H,O,) aus Kohlensäure und Natrium oder aus Cyan
und Wasser, u. dergl. In den meisten dieser Fälle wird die starke
Affinität der Alkalimetalle zum Sauerstoff als Reduktionsmittel ver-
wertet.
Da nun aber die einfachen Einwirkungen der elektrischen Ent-
ladung und der Wärme genügen, um die binären Verbindungen des
Kohlenstofis und Wasserstofis direkt aus den Elementen zusammen-
zusetzen, so spielt bei der aufsteigenden Synthese der Kohlenstoffver-
bindungen auch die Oxydation eine sehr wichtige Rolle; neben ihr
kommt die Bindung anderer Elemente, wie des Chlors, der Alkali-
metalle, sowie die direkte Aufnahme des Wassers zu mannigfacher Ver-
wertung. So werden aus den Kohlenwasserstoffen auf synthetischem
Wege Alkohole erzeugt, indem man zunächst durch Einwirkung von
Chlor einen Chlorwasserstoffäther bildet und dann diesen durch Ein-
wirkung von Kali oxydiert, wobei er in einen Alkohol und in Chlor-
kalium zerfällt. Aus dem Alkohol läßt sich dann durch direkte Oxy-
dation die zugehörige Säure gewinnen u. s. w.
Indem sie auf diese Weise in der mannigfaltigsten Art die Affinitäts-
wirkungen der Elemente benützt, stützt sich die chemische Synthese
auf die bei der analytischen Untersuchung gewonnenen Ergebnisse über
die Affinitätsverhältnisse der Stoffe. Die synthetischen Versuche selbst
Die chemischen Methoden. 501
werden sodann durch Vermutungen über die Gruppierung der Elemente
in den herzustellenden Verbindungen geleitet. Da durch die Aus-
führung der Operationen solche Vermutungen bald bestätigt, bald
widerlegt werden, so werden auf diesem Wege die mittels der Analyse
gewonnenen Anschauungen über die Konstitution der Verbindungen
berichtigt und die für die chemische Induktion und Deduktion erforder-
lichen Voraussetzungen vervollständigt.
d. Diechemischelnduktion.
Die chemische Elementaranalyse begnügt sich mit der Nachweisung
der unzerlegbaren Bestandteile einer Verbindung und ihres quantita-
tiven Verhältnisses. Die stufenweise Analyse ermittelt die einfacheren
Zwischenprodukte, die bei der allmählichen Zerlegung einer komplexen
Verbindung entstehen. Die Synthese bestätigt und vervollständigt so-
dann die hierbei erhaltenen Resultate, indem sie die Verbindungen teils
aus ihren Elementen, teils aus einfacheren Verbindungen zusammen-
setzt. Da nun aber die bei der stufenweisen Zerlegung entstehenden
Zwischenprodukte in der Regel keineswegs in der Form, in der sie ge-
wonnen werden, in der ursprünglichen Verbindung enthalten sind, und
da ebenso bei der stufenweisen Synthese neue Stofigruppierungen
sich bilden können, so geben diese Methoden niemals unmittelbaren
Aufschluß über die Konstitution einer Verbindung. Vielmehr müssen
zu diesem Zweck zahlreiche unter verschiedenen Bedingungen vor-
genommene analytische und synthetische Untersuchungen kombiniert
und mit den Untersuchungsresultaten an anderen verwandten Ver-
bindungen verglichen werden. Diese Kombination der Resultate, bei
der überdies die physikalischen Begleiterscheinungen der Zersetzungen
und Verbindungen zu berücksichtigen sind, ist die Aufgabe der chemi-
schen Induktion.
Wie die physikalische Induktion, so bedarf auch die chemische
irgendwelcher hypothetischer Voraussetzungen, die ihr zur Führung
bei der Verknüpfung der Untersuchungsresultate dienen müssen. Diese
Voraussetzungen werden irgend einer an sich noch unzureichenden
Gruppe von Erfahrungen entnommen. Der weitere Fortschritt voll-
zieht sich dann mittels der Bestätigung, Widerlegung oder Be-
richtigung solcher Hypothesen, ein Entwicklungsgang, der zu einer
immer vollständigeren Übereinstimmung der gewonnenen theoretischen
Anschauungen mit den verschiedenartigen Erfahrungen führt. In der
Chemie hat jedoch, wie in allen von der Physik abhängigen Zweigen
der Naturlehre, diese Entwicklung dadurch einen eigentümlichen
502 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Charakter angenommen, daß vorwiegend durch die jeweils dominieren-
den physikalischen Anschauungen zunächst den provisorischen Hypo-
thesen, dann aber auch den definitiven theoretischen Ansichten ihre
Richtung gegeben wurde. In dieser Beziehung lassen sich vier Perioden
in der Entwicklung der neueren Chemie unterscheiden, in deren jeder eine
eigentümliche Form der Induktion herrschend ist, wobei diese übrigens
nur in einer jener vier Perioden ausschließlich von spezifisch chemi-
schen Tatsachen, in den drei andern vorwiegend von physikalischen
Anschauungen bestimmt wird.
In der ersten Periode der chemischen Induktion ist es die Gra-
vitationstheorie, welche die maßgebende Bedeutung besitzt.
Schon der Umstand, daß sich die Chemie seit dem Beginn ihres quanti-
tativen Zeitalters der W age als des einzig geeigneten Hilfsmittels zur
Nachweisung der Mengeverhältnisse der Stoffe bediente, konnte auf die
Schwerkraft als die nächste Ursache der chemischen Affinität hin-
weisen, umsomehr, da auch diese als eine anziehende Kraft erschien.
Denn das 18. Jahrhundert war unter der Nachwirkung der Newtonschen
Gravitationstheorie ohnehin geneigt, alle Anziehungserscheinungen auf
die allgemeine Schwere zurückzuführen. In zwei Formen hat nun die Idee
der Gravitation auf den Begriff der Affinität Anwendung gefunden.
Bei der ersten suchte man den Erfahrungen über die konstanten Ge-
wichtsverhältnisse der in den Verbindungen enthaltenen Elemente un-
mittelbar mittels bestimmter Voraussetzungen über die anziehenden
Eigenschaften der kleinsten Teilchen der Körper Rechnung zu tragen;
bei der zweiten suchte man die Abhängigkeit der Schweranziehung von
der Masse direkt auch auf die chemische Anziehung anzuwenden und
die mit dieser Voraussetzung im Widerspruch stehende Konstanz der
Zusammensetzung gewisser Verbindungen aus physikalischen Neben-
bedingungen zu erklären. Die erste Richtung ist durch Bergmann
vertreten, der damit der Hauptbegründer des Begriffs der chemischen
Affinität wird. Sie erscheint bei ihm als derjenige Spezialfall der
Schwerkraft, wo diese zwischen den kleinsten Teilchen der Körper
wirksam wird, so daß sie unmittelbar von deren Form und Stellung
abhängig ist. Hierdurch soll es geschehen, daß sich gewisse Atome
leichter anziehen als andere, und daß sie sich regelmäßig in be-
stimmten Zahlverhältnissen aneinander lagern. So wird hier die
allgemeine Anziehung zu einer „attractio electiva“, bei der alles von
der ursprünglichen Natur der Elemente abhängt. Der Vertreter der
zweiten Richtung ist Berthollet. Ihm gilt die Abhängigkeit der
Anziehung von der Masse als ein festes Naturgesetz, das auch bei
Die chemischen Methoden. 503
den chemischen Anziehungen keine wirklichen, sondern höchstens
durch die Kombination mit anderen Naturgesetzen scheinbare Aus-
nahmen erleiden kann. Als solche Nebenbedingungen, welche die
Wirksamkeit der Massen in den kleinsten Entfernungen beschränken,
betrachtet er die Unlöslichkeit mancher Verbindungen, die Kristallisier-
barkeit anderer, den gasförmigen Zustand gewisser Stoffe. Aber mit so
richtigem Blick er hierbei die von der starren Affinitätstheorie vernach-
lässigte Bedeutung der physikalischen Bedingungen der Verwandt-
schaftsäußerung vorausahnen mag, so ist er doch allzu sehr in der
Gravitationsidee befangen, um der spezifischen Eigentümlichkeit der
chemischen Erscheinungen gerecht werden zu können. Das Gesetz
der konstanten Gewichtsverhältnisse der Elemente in den Verbindungen
bleibt ihm eine Ausnahme, während es sich mehr und mehr durch die
Fortschritte der quantitativen Analyse als die ausnahmslose Regel be-
stätigt, die demnach auch den Hypothesen über das Wesen der che-
mischen Verbindungen ihre Richtung anweist. So erringt die Berg-
mannsche Affinitätslehre den Sieg, und sie führt zugleich, indem das
Gesetz der konstanten Gewichtsverhältnisse durch Dalton zum Gesetz
der multiplen Proportionen, d. h. der konstanten und
einfachen Gewichtsverhältnisse, eingeschränkt wird, mit innerer
Notwendigkeit zur atomistischen Hypothese. Die An-
ziehungen zwischen den Atomen werden nun zwar vielfach noch als
Anziehungen kleinster Massen gedacht. Nachdem aber der spezifische
Inhalt des Gravitationsgesetzes verschwunden ist, steht der Unter-
ordnung unter eine andere Naturkraft, die den Affinitätswirkungen
homogener erscheint, nichts mehr im Wege.
Eine solche Naturkraft bietet sich nun in der galvanischen Elek-
trizität dar. Die zweite Periode der chemischen Induktion, zu welcher
die auf das Gesetz der multiplen Proportionen gegründete atomistische
Vorstellung den Übergang bildet, gehört daher derelektrochemi-
schen Hypothese an. Zwischen den Erscheinungen der Volta-
schen Säule und der chemischen Wahlverwandtschaft besteht an sich
schon eine gewisse Analogie. Wie die entgegengesetzten elektrischen
Spannungen der Pole sich ausgleichen in dem elektrischen Strom, so
neutralisieren sich Stoffe von entgegengesetzten Eigenschaften, wie
Säure und Basis, indem sie sich durch chemische Wahlverwandtschaft
verbinden. Die im Jahre 1800 von Nicholson und Carlisle ent-
deckte Wasserzersetzung durch die galvanische Kette, der bald die
Nachweisung der zerlegenden Wirkung des Stromes auf andere Ver-
bindungen nachfolgte, mußte daher sofort die Idee einer näheren Be-
504 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
ziehung der elektrischen Kraft zu der chemischen Affinität nahe legen.
Auch diese Idee fand in zwei verschiedenen sukzessiv entstandenen
hypothetischen Anschauungen ihren Ausdruck. Daß die Affinität auf
den entgegengesetzten elektrischen Eigenschaften der chemischen
Elemente beruhe, war die Überzeugung, von der beide ausgingen. Der
Gegensatz der Elemente selbst konnte aber wieder entweder als
eine bloße Folge ihrer Berührung betrachtet oder auf ursprüngliche
Eigenschaften bezogen werden. In der ersten unmittelbar an die physi-
kalische Kontakthypothese Voltas anknüpfenden Weise dachte sich
Humphry Davy den elektrochemischen Vorgang, in der zweiten, welche
die elektrischen Gegensätze in direkte Beziehung zur chemischen
Affinität bringt, faßte Berzelius die Erscheinungen auf. Während
dort die elektrischen Vorgänge immer noch als Begleiterscheinungen
der chemischen Wechselwirkungen betrachtet werden können, werden
hier beide einander gleichgesetzt: die chemische Affinität selbst ist der
elektrische Gegensatz der Atome. Diese aber dachte sich Berzelius,
nach Analogie der einfachen Kette oder des Magnetes, jedes mit einem
positiven und einem negativen Pole versehen; nur sollte für die ver-
schiedenen Elemente die absolute Elektrizitätsmenge und bei jedem
einzelnen Elemente die relative der beiden Pole eine verschiedene sein,
beim Sauerstoff also z. B. die negative, beim Wasserstoff die positive
überwiegen. Die absolute Elektrizitätsmenge der Atome wurde dann
als maßgebend für die Größe, das relative Übergewicht der einen oder
anderen als maßgebend für die Richtung der Affinität betrachtet.
Die aus dieser Hypothese hervorgegangenen Vorstellungen haben
während einer längeren Zeit die chemische Induktion geleitet. Auch
in solchen Fällen, wo nicht etwa die wirkliche Zerlegung durch den
galvanischen Strom diese Betrachtungsweise unmittelbar rechtfertigte,
gewöhnte man sich, die Resultate der chemischen Analyse nach dem
dualistischen Schema zu interpretieren, das sich aus der elektrischen
Spannungsreihe der Elemente ergab. Das Gebiet der sogenannten
unorganischen Chemie fügte sich leicht diesem Schema. Die meisten
zusammengesetzten Körper ließen sich hier unmittelbar entweder als
binäre Verbindungen aus einem elektropositiven und einem elektro-
negativen Bestandteile betrachten, wie die Säuren, Basen und Haloid-
salze, oder als quaternäre Verbindungen, die wieder aus zwei binären
bestünden, wie die Salze der Sauerstofisäuren. Zugleich hat diese ein-
fache und gleichförmige Betrachtungsweise der chemischen Forschung
zweifellos die größten Dienste geleistet, wenn auch einzelne Erschei-
nungen sich nur gezwungen der Voraussetzung fügten. So erregte es
Die chemischen Methoden. 505
frühe schon Bedenken, daß den Haloid- und den Sauerstoffsalzen trotz
ihres ähnlichen Verhaltens eine ganz verschiedene Konstitution zu-
geschrieben wurde, und daß gewisse Säuren, wie die Phosphor- und
Arsensäure, mit verschiedenen Mengen einer Basis neutrale Salze bilden
können*). Größere Schwierigkeiten ergaben sich jedoch erst innerhalb
der Chemie der Kohlenstoffverbindungen. Hier wurde man mehr und
mehr gezwungen, sich von den tatsächlichen Grundlagen der elektro-
chemischen Hypothese zu entfernen, indem nicht mehr die wirkliche
Zersetzbarkeit durch den elektrischen Strom, sondern die äußere Ana-
logie der Verbindungsformeln mit denjenigen der unorganischen Chemie
fast ausschließlich maßgebend wurde. Um diese Analogie herzustellen,
sah man sich genötigt, zu einer Hilfshypothese zu greifen, die übrigens
abgesehen von dem Gesichtspunkte, der zunächst auf sie führte, der
chemischen Forschung wichtige Dienste geleistet hat. Es ist dies die
Hypothese der Radikale oder der Existenz gewisser Verbindungen,
die in zusammengesetzteren die Rolle von Elementen übernehmen.
Mittels dieser Voraussetzung wurde es leicht möglich, die binären
Formeln der unorganischen Chemie auf die Kohlenstofiverbindungen
zu übertragen. Man betrachtete also z. B. den gewöhnlichen Äther als
ein Oxyd des hypothetischen Radikals Äthyl, den Alkohol als das
Hydrat dieses Oxyds und dachte sich die verschiedenen Ätherverbin-
dungen analog den Salzen der Metalloxyde zusammengesetzt; um die
in die nämliche Reihe gehörende Essigsäure abzuleiten, war man dann
freilich genötigt, zu einem neuen wasserstoffärmeren Radikal seine Zu-
flucht zu nehmen, als dessen Sauerstofiverbindung nun diese Säure
erschien. Abgesehen von der hypothetischen Natur der angenommenen
Radikale war hier die Analogie mit den unorganischen Basen, Hydraten
und Salzen vielfach nur noch in den Formeln, nicht mehr in dem che-
mischen Verhalten der Stoffe vorhanden, und noch weniger konnte an
eine Durchführung des elektrochemischen Grundgedankens der dua-
listischen Hypothese gedacht werden. Diese letztere Tatsache kam in
besonders augenfälliger Weise zum Vorschein, als man auf die um-
fangreiche Substituierbarkeit gewisser Elemente organischer Verbin-
dungen durch andere aufmerksam wurde, Umwandlungen, bei denen
die Verbindungen ihren chemischen Charakter beibehielten, obgleich
dabei sehr häufig der elektropositive Wasserstoff durch elektronegative
Elemente, wie das Chlor, ersetzt wurde.
So ging denn auch von der Untersuchung der Substitutions-
*) Liebig, Ann. d. Chem. u. Pharm., Bd. 25, 1838, S. 138 fi.
506 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
erscheinungen der Sturz der elektrochemischen Hypothese aus, und
es eröffnete sich damit die dritte Periode der chemischen In-
duktion, deren charakteristische Eigentümlichkeit in ihrer spezi-
fisch chemischen Richtung besteht, insofern man nun die
chemische Affinität nicht mehr als die Äußerung irgend einer allge-
meineren Naturkraft, wie der Gravitation oder der elektrischen An-
ziehung, sondern als eine den chemischen Atomen spezifisch zukom-
mende Kraft anzusehen begann. Durch die Substitutionserscheinungen
wurde man aber zugleich zu der Anschauung gedrängt, daß die Eigen-
schaften einer Verbindung nicht sowohl von den Eigenschaften der
in ihr enthaltenen Elemente als von der Gruppierung dieser Elemente
abhingen. Das Hauptinteresse konzentrierte sich daher nun auf das
Studium der Struktur der Verbindungen. Es entstand so jene
hauptsächlich von Dumas, Gerhardt und Laurent eingeschlagene
Richtung, die man als die der Strukturchemie bezeichnet hat.
Zur Erkenntnis der Struktur einer Verbindung dient deren stufen-
weise Analyse und ganz besonders das Verfahren der Substitution.
Jedes Element, das einem anderen, und jede Atomgruppe, die einer
anderen substitutiert werden kann, muß eben darum als denselben
äquivalent in ihrer Affinitätswirkung angesehen werden. Die Haupt-
aufgabe der chemischen Forschung ist es demgemäß, alle chemischen
Verbindungen auf gewisse Haupttypen zurückzuführen, aus denen
sie entweder wirklich durch sukzessive Substitution entstehen können,
oder aus denen man sie wenigstens auf diesem Wege entstanden denken
kann. Als solche Typen wurden zunächst Chlorwasserstofisäure (HC]),
Wasser (H,O) und Ammoniak (H,N) aufgestellt, denen dann später
noch das Sumpfgas (H,C) sich anreihte. Es läßt sich nicht verkennen,
daß diese Auffassung, so unbefriedigend sie auch hinsichtlich der Frage
nach dem Wesen der chemischen Affinität ıst, doch für die Entwick-
lung der chemischen Induktion von großer Bedeutung, und daß sie
selbst in dieser Entwicklung notwendig begründet war. Das ungeheure
Material der Chemie, namentlich der Chemie der Kohlenstoffverbin-
dungen, bedurfte dringend einer systematischen Ordnung, die es zu-
gleich möglich machte, die etwa noch bestehenden Lücken des Systems
zu erkennen und durch die Darstellung neuer Verbindungen auszufüllen.
Diese Aufgabe hat die Strukturchemie in vollkommener Weise gelöst.
Sie hat zum ersten Male eine Übersicht über die Gesamtheit der Verbin-
dungen gegeben, in der die Methoden der stufenweisen Analyse und
Synthese zur Herstellung natürlicher Gruppen möglichst verwertet
wurden, und sie hat außerdem mit Hilfe der Substitutionsmethode
Die chemischen Methoden. 507
das chemische System mit einer Fülle neuer Verbindungen bereichert.
Aber der große Mangel dieser Richtung war, daß unter ihren Händen
die Chemie völlig den Charakter einer erklärenden Naturwissenschaft
verlor. Sie war eine deskriptive und klassifikatorische Wissenschaft
geworden, in der selbst das Experiment nur zu systematischen Zwecken,
zur Herstellung von Verbindungen, die das System voraussehen
ließ, nicht zur Auffindung der Ursachen der Erscheinungen diente.
Darum ist auch der in der Chemie meistens gebrauchte Ausdruck
Typentheorie für die hier zu Grunde liegende Auffassung kaum
ein geeigneter. Jede Theorie verlangt eine Hypothese, die über den
Grund der untersuchten Erscheinungen Rechenschaft gibt. Eine der-
artige Hypothese ist aber in der Annahme der Typen ebensowenig
enthalten wie etwa in den Klassifikationsprinzipien des Linneschen
oder Decandolleschen Pflanzensystems.
Dennoch weist die sogenannte Typentheorie auf eine Affinitäts-
hypothese hin, die denn auch in folgerichtiger Entwicklung aus ihr
hervorgegangen ist. Trotz mancher Willkürlichkeiten leitete nämlich
das von ihr aufgestellte System nicht bloß die chemische Induktion,
sondern es wurde auch umgekehrt von ihr geleitet, da man die Resultate
der stufenweisen Zerlegung und Substitution bei den aufgestellten
Strukturformeln verwertete. So war das System zwar in den Haupt-
gliederungen ein künstliches, in Bezug auf die Zusammenfassung der
einzelnen Gruppen der Verbindungen aber im wesentlichen ein natür-
liches. Notwendig mußten daher an den typischen Formeln die wirk-
lichen Affinitätsverhältnisse der in sie eingehenden Atome und Atom-
gruppen irgendwie zum Vorschein kommen, und es bedurfte im Grunde
nur einer geeigneten Interpretation jener Formeln, um zu einer rein
chemischen Affinitätshypothese zu gelangen. In der Tat ist auf diesem
Wege aus den Anschauungen der Strukturchemie die sogenannte
Valenzhypothese hervorgegangen, in welcher der von der
ersteren angebahnte rein chemische Standpunkt seinen theoretischen
Ausdruck fand. Die Valenzhypothese stützte sich auf die im allgemeinen
schon aus den Strukturformeln ersichtliche Tatsache, daß die verschie-
dene Affinitätsgröße der Elemente an den verschiedenen Atommengen
anderer Elemente, die sie zu binden vermögen, gemessen werden kann.
So lehrt schon der Anblick der Formeln für die vier Haupttypen
Chlorwasserstoff, Wasser, Ammoniak, Sumpfgas, daß, wenn man die
Affinität des in allen diesen Verbindungen enthaltenen Wasserstofts
als Einheit annimmt, das Chlor eine, der Sauerstoff zwei, der
Stickstoff drei und der Kohlenstoff vier Affinitätseinheiten besitzt.
508 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Demnach werden diese vier Elemente von der Valenzhypothese als 1-,
2-, 3- und 4-wertig bezeichnet. Die meisten anderen einfachen Stoffe
zeigen entsprechende Affinitätsverhältnisse; nur einige der seltenen Ele-
mente ist man genötigt als 5- und 6- oder selbst 8-wertige aufzufassen.
Die nähere Betrachtung dieser Hypothese zeigt freilich, daß sie
nur in unzureichender und einseitiger Weise von den Eigenschaften
der chemischen Verbindungen Rechenschaft gibt. Sie berücksichtigt
nur die quantitativen Verbindungsverhältnisse der Elemente, läßt
aber die Abhängigkeit der Eigenschaften der Verbindungen von den
Eigenschaften der in sie eingehenden Grundbestandteile, den größeren
oder geringeren Grad der Zersetzbarkeit der Körper sowie ihr physi-
kalisches Verhalten ganz außer Betracht. Dazu kommt, daß sich
manche Verbindungen, wie das Kohlenoxyd, viele Kohlenwasserstoffe,
dem Maßstab der konstanten Wertigkeit nicht fügen, und daß es nötig
sein würde, für die meisten Elemente mehrere Valenzwerte anzunehmen,
von denen in der Regel einer als die Hauptvalenz, die anderen als Neben-
oder Kontravalenzen bezeichnet worden sind*). Diese Tatsachen weisen
darauf hin, daß der Affinitätswert keine konstante, sondern eine mit
äußeren Bedingungen, wie Temperatur, Einfluß anderer Stoffe, einiger-
maßen variable Größe ist. Nur ist diese Größe nicht stetig, sondern,
gemäß dem Gesetz der multiplen Proportionen, nach bestimmten ein-
fachen ganzen Zahlenverhältnissen veränderlich, und außerdem scheint
es für jedes Element einen bestimmten Maximalwert der 2;
zu geben, der nicht überschritten werden kann.
Diese Erwägungen leiten unmittelbar zu den Gesichtspunkten
über, die in der vierten Periode der chemischen Induktion maß-
gebend werden, in der die Mitberücksichtigung der physikalischen
Bedingungen chemischer Wechselwirkungen im Vordergrund steht.
Zunächst waren es hier die begleitenden Wärmeerscheinungen,
die ebensowohl durch den Einfluß der Temperatur auf die Entstehung
der Verbindungen und auf ihre Eigenschaften wie durch die Tempe-
raturänderungen, welche die chemischen Vorgänge selbst hervorbringen,
der Untersuchung eine Reihe von Fragen stellten, deren Beantwortung
dann der chemischen Induktion neue Gesichtspunkte an die Hand gab.
Dabei wurden diese außerdem durch die theoretischen Vorstellungen
bestimmt, auf welche die mechanische Wärmetheorie in der neueren
Physik an der Hand des Energieprinzips geführt worden war. Jene
theoretischen Vorstellungen schienen zugleich eine gewisse Recht-
*) Werner, Neuere Anschauungen auf dem Gebiete der anorganischen
Chemie, 1905.
Die chemischen Methoden. 509
fertigung für die überwiegende Berücksichtigung derthermischen
Vorgänge gegenüber anderen die chemischen Prozesse begleitenden
physikalischen Erscheinungen zu enthalten. Indem nämlich die mecha-
nische Wärmetheorie die Wärmeerscheinungen auf die Bewegungen
der ponderablen Teilchen der Körper zurückführt, muß sie die chemi-
schen Zerlegungen und Verbindungen, die ebenfalls auf solchen Be-
wegungen beruhen, als gleichartige Vorgänge auffassen, und sie wird
von vornherein erwarten dürfen, daß jedem chemischen Vorgang ein
bestimmter thermischer entsprechen werde, so zwar, daß beide als
innig miteinander zusammenhängende Bestandteile eines und des-
selben Prozesses erscheinen. Auf solche Weise trat diese vierte Periode
in ihrem ersten Stadium den die erste und zweite beherrschenden
physikalischen Ideen als eine Periode thermochemischer Theo-
rien gegenüber. Dabei waltete auch hier noch ein Standpunkt vor,
den zu verlassen die früheren Richtungen kein zwingendes Motiv vor-
fanden, dessen Festhaltung aber namentlich durch den starren che-
mischen Affinitätsbegriff, wie ihn die Valenzhypothese zur Geltung
gebracht, gefordert war: der Standpunkt der statischen Betrach-
tung chemischer Vorgänge. Er besteht darin, daß bei jeder Zersetzung
oder Synthese nur der Anfangs- und Endzustand der in Wechselwirkung
tretenden Stoffe in Betracht gezogen wird, ohne Rücksicht auf die etwa
durchlaufenen Zwischenzustände, und ohne Rücksicht auf die Ge-
schwindigkeit, mit der die Prozesse vor sich gehen. Auf die Untersuchung
der thermischen Vorgänge ließ sich diese Beschränkung leicht über-
tragen. Denn die bei der Oxydation eines Körpers entwickelte Verbren-
nungswärme, die bei den meisten Zerlegungen eintretende Wärmebindung,
die Wärmekapazität eines einfachen oder zusammengesetzten Körpers,
endlich die unter Berücksichtigung der Temperatur und des Drucks
eintretenden Volumänderungen gasförmiger Stoffe bei ihrer Verbindung
oder Zerlegung sind statische Größen, insofern es sich bei ihrer Bestim-
mung lediglich um die Vergleichung zweier Gleichgewichtszustände
handelt, nicht um die Frage, wie der eine dieser Zustände in den
anderen übergegangen sei. Gleichwohl liegt diese Frage hier so nahe,
daß sie nicht auf die Dauer umgangen werden konnte. So entstand die
Notwendigkeit, teils die einseitige thermische Betrachtung zu einer
Untersuchung der gesamten die chemischen Prozesse begleitenden
physikalischen Vorgänge zu erweitern, teils das bisher bei dem Studium
der Prozesse meist völlig vernachlässigte Element der Zeit mit in
Betracht zu ziehen. Auf diese Weise trat jener chemischen Statik eine
chemische Dynamik mit neuen Aufgaben gegenüber. Indem diese
510 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
den chemischen Vorgang lediglich als Teilerscheinung eines Zusammen-
hangs physikalisch-chemischer Vorgänge auffaßte, wurde nunmehr die
chemische Induktion genötigt, auf alle Nebenbedingungen der Prozesse,
wie die Massen der in Wechselwirkung tretenden Stoffe, die Vorgänge der
Diffusion, der Lösung und der Dissoziation, endlich auf die optischen
und elektrischen Begleiterscheinungen sorgfältig Rücksicht zu nehmen.
Während so der Gesichtspunkt einseitig thermischer Betrachtung
allmählich zurückgedrängt wurde, mußte notwendig der allgemeine
physikalische Begrifi, auf den die thermochemische Untersuchung
bereits hingewiesen hatte, noch mehr in den Vordergrund treten: der
Begriff der Energie. So gewann denn diese vierte Periode der
chemischen Induktion in einem zweiten Stadium vornehmlich den
Charakter einer chemischen Energetik. Das Prinzip der Er-
haltung der Energie, wie es eine wichtige Grundlage physikalischer
Forschung ist, gilt hier als die letzte Voraussetzung auch der chemischen
Induktion, und diese sucht die sämtlichen chemischen Affinitäts-
wirkungen samt ihren Begleit- und Folgeerscheinungen aus ihm
und aus dem ihm beigeordneten Prinzip der Verwandlungen der
Energie abzuleiten. Wie die physikalische Wärmelehre die nächste
Grundlage für die Gewinnung der allgemeinsten Energiegesetze gewesen
war, so bildete die Thermochemie das natürliche Mittelglied zwischen den
Affinitätsbegrifien der älteren Chemie und der energetischen Betrach-
tung der chemischen Verbindungs- und Zersetzungsvorgänge. Beider-
lei Vorgänge erschienen dabei unter dem durch das Energieprinzip
nahe gelegten teleologischen Gesichtspunkt eines Haushalts der Natur-
kräfte als die Hauptformen der Konservierung und Konzentrierung
der Energie auf der einen und der Überführung aufgesammelter poten-
tieller in aktuelle Energie auf der anderen Seite. Damit wurde die
energetische Behandlung der chemischen Prozesse zugleich das ein-
fachste Hilfsmittel für die allgemeine Betrachtung des Energiewechsels
beim Lebensprozeß der Organismen wie bei der Arbeitserzeugung der
auf die Umwandlung chemischer Energie in mechanische Arbeit gerich-
teten Maschinen. Überall gestattete es hier der energetische Stand-
punkt, von der Beschaffenheit der Molekularvorgänge und den zu ihrer
Interpretation ersonnenen Hypothesen ganz zu abstrahieren, was umso
wertvoller war, je unbekannter in manchen Fällen jene Vorgänge, oder
je unsicherer die zu ihrer Erklärung ersonnenen Hypothesen waren*).
*, W.Ostwald, Sitzungsber. der sächs. Ges. d. Wiss. 1891, S. 283,
Grundlinien der energetischen Chemie. 1900, S. 17 ff. Abhandlungen und Vor-
träge. 1904, S. 59ff. Leitlinien der Chemie. 1906, S. 216.
Die chemischen Methoden, SIE
Doch so nützliche Dienste die energetische Betrachtung bei der
Untersuchung der äußeren Maßbeziehungen der chemischen Vorgänge
zu den sie begleitenden physikalischen Erscheinungen leistet, so ver-
sagt sie doch gerade da, wo es sich um das Studium der Affinitäts-
wirkungen selbst und um die Analyse der inneren Beziehungen handelt,
in denen diese Wirkungen zu bestimmten physikalischen Vorgängen
stehen. So ist schon das Gesetz der multiplen Proportionen aus irgend-
welchen energetischen Voraussetzungen nicht abzuleiten, sondern es
weist dringend auf molekulare Gruppierungen der Stoffe hin, von denen
sowie von deren Beziehungen zu thermischen, elektrischen, Diffusions-
und anderen Vorgängen man sich notwendig ein anschauliches Bild
machen muß, das aus den Betrachtungen über das wechselseitige
Verhältnis der Energieformen nicht zu gewinnen ist. Das zeigt sich
vor allem auch bei dem für die energetische Theorie hauptsächlich
maßgebenden Verhältnis der chemischen Vorgänge zu den Wärme-
erscheinungen.
So sind denn die Versuche einer rein energetischen Behandlung
ungefähr gleichzeitig mit der einseitig thermochemischen Betrachtungs-
weise, mit der sie ursprünglich zusammengingen, in dem dritten
und bis dahin letzten Stadium dieser physikalischen Periode chemi-
scher Forschung zurückgetreten, um einer Richtung Platz zu machen,
diein mancher Beziehung wieder in diejenige zurücklenkt, die in der klassi-
schen zweiten Periode der chemischen Induktion die Wissenschaft be-
herrscht hatte. Wie hier das Vorbild der Voltaschen Säule und der
Vorgang der Zersetzung chemischer Verbindungen durch den galvani-
schen Strom zu der Auffassung der chemischen Affinität als einer elek-
trischen Anziehungskraft zwischen Elementen von entgegengesetzten
elektrischen Eigenschaften geführt hatte, so gewann unter der Fülle
physikalischer Beziehungen, die die energetische Behandlungsweise der
chemischen Vorgänge teils weiter verfolgt, teils zum ersten Male auf-
gedeckt hatte, mehr und mehr die Beziehung zu den elektrischen
Vorgängen die Oberhand über alle anderen, indem sich die elektrische
Affinitätsmessung als die den übrigen, insbesondere auch der thermi-
schen gegenüber, bevorzugte erwies, und indem sich bei ihr überdies
die nächsten Beziehungen zu den sonstigen physikalischen Begleiterschei-
nungen sowie zu der rein chemischen Seite der Erscheinungen darboten.
Als wichtiges Motiv kam hier natürlich der Aufschwung hinzu, den in
der Physik selbst die Theorie der elektrischen Erscheinungen genommen,
und durch den diese Theorie insbesondere auch den entscheiden-
den Einfluß auf die Vorstellungen von der Materie errungen hatte.
12 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
So mußten sich denn notwendig die Interessen der chemischen und
der physikalischen Forschung bei diesen letzten, die Grundlagen
aller Naturerscheinungen berührenden Problemen begegnen. Das
Mittelglied zwischen jener alten, durch Berzelius für lange Zeit
zur Basis des chemischen Systems erhobenen und in ihrer Aus-
führung vorzugsweise systematischen Phase der elektrochemischen
Theorie und dieser neuen, in ihrer allgemeinen Tendenz der Statik und
Dynamik der Prozesse zugewandten Richtung bilden die Untersuchungen
Faradays über die Elektrizitätsleitungen in Elektrolyten. Sie waren
noch im direkten Anschluß an die der älteren elektrischen Affinitäts-
theorie zu Grunde liegenden Versuche von Nicholson und Carlisle aus-
geführt; aber in ihrer Deutung hatte der weitschauende Blick dieses
Physikers bereits eine wesentliche Grundlage der neueren elektrochemi-
schen Anschauungen vorausgenommen. Indem er die Vorstellung von
der sukzessiven Polarisation der Teilchen einer elektrisch durchströmten
Flüssigkeit mit positiven und negativen Ladungen entwickelte, legte
er den Grund zu der Theorie der Wanderung der Ionen, wie man jetzt
diese elektrisch geladenen Teilchen nannte. Indem diese Theorie
mit den aus der mechanischen Wärmetheorie entstandenen Vor-
stellungen über die fortwährende Beweglichkeit der Moleküle der
Flüssigkeiten in Verbindung trat, erweckte sie zugleich neue An-
schauungen über den Gleichgewichtszustand chemischer Verbindungen
und über den Verlauf der Reaktionsvorgänge. Von da aus eröff-
neten sich dann weitere Ausblicke auf die Lösungs-, die Diffusions-,
die osmotischen Prozesse. Die Beziehungen zur Valenztheorie, zu den
über die Volumverhältnisse der Elemente und ihrer Verbindungen im
gasförmigen und flüssigen Zustand, über Siedepunkte und spezifische
Wärme gefundenen Gesetzen traten hinzu, wobei mindestens in vielen
Fällen die elektrochemischen Verhältnisse diejenigen Gesichtspunkte
abgaben, die vor anderen geeignet waren, die verschiedenartigen
Erscheinungen zu verknüpfen. Schließlich hat die an die Vor-
stellungen von der Wanderung der Ionen sich anlehnende physi-
kalische Elektronentheorie in ihrer Anwendung auf die Strahlungen
des Radiums auch noch die bisherigen Anschauungen über die Konstanz
und die Einfachheit der chemischen Atome erschüttert. Wiederum
hat hier das neue elektrochemische Stadium ältere Vorstellungen über
die Beziehungen der chemischen Atome aufgegriffen, sie aber zu-
gleich verschiedenen Versuchen einer Vereinheitlichung physikalischer
und chemischer Betrachtung entgegengeführt. Solche sind vor allem
von der Elektronentheorie aus unternommen worden, um die chemische
Die chemischen Methoden. 513
mit der physikalischen Atomistik zu verbinden und auf dieser Grund-
lage über die Verhältnisse der chemischen Affinität Rechenschaft zu
geben*).
e. Diechemische AbstraktionundDeduktion.
Die Erhebung der Chemie zu einer selbständigen Wissenschaft
ist aus dem nämlichen isolierenden Abstraktionsverfahren hervor-
gegangen, das die Trennung der verschiedenen Zweige physikalischer
Forschung veranlaßt hat. Auch wird hinsichtlich der letzten Probleme
der chemischen Untersuchung diese Abstraktion stets aufrecht erhalten
bleiben, da die elektrischen, optischen, thermischen und sonstigen
physikalischen Begleiterscheinungen der chemischen Vorgänge von
der Chemie nur insoweit in Betracht gezogen werden, als sie mit den
Verbindungen und Zerlegungen der Stoffe, diesem eigentlichen Objekt
chemischer Forschung, in kausalem Zusammenhange stehen.
Ein unmittelbares Ergebnis dieser Abstraktion ist die Aufstellung
eines Systems von Zeichen für die einfachen Stoffe, das durch
Kombination zugleich die symbolische Darstellung jeder beliebigen
chemischen Verbindung gestattet. Die Anwendung solcher Zeichen
geht bis in die alchemistischen Anfänge der Chemie zurück; alle früheren
Versuche sind aber durch die von Berzelius eingeführten Buchstaben-
symbole verdrängt worden. Sie vereinigen drei Eigenschaften, deren
einleuchtender Zweckmäßigkeit sie ihre rasche Einführung verdanken.
Erstens gestattet das hier benützte Prinzip der Bezeichnung ohne
weiteres die Anwendung auf neu entdeckte Elemente; zweitens ergibt
sich aus den den Symbolen beigefügten Zahlen unmittelbar die stöchio-
metrische Zusammensetzung einer Verbindung; drittens lassen sich die
Anschauungen über die Struktur der Verbindungen durch Gruppierung
der Symbole, diejenigen über synthetische und analytische Vorgänge
durch Gleichungen versinnlichen, indem man von dem Plus-, Minus-
und Gleichheitszeichen mit einer durch die chemische Anwendung
nahe gelegten Modifikation der Bedeutung Gebrauch macht. Bei allem
dem aber wird von den physikalischen Begleiterscheinungen der chemi-
schen Vorgänge vollständig abstrahiert. Die chemischen Verbindungs-
und Operationsformeln veranschaulichen uns nur den rein chemischen
*) Eine allgemeine Übersicht über das ganze Gebiet der physikalischen
Chemie vom heutigen Standpunkte aus geben J. T.vant’Hoff, Vorlesungen
über theoretische und physikalische Chemie, I—III?, 1898—1903, und $. Ar-
rhenius, Theorien der Chemie, 1906.
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 33
514 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Teil des Vorgangs; über die thermischen und elektrischen Erschei-
nungen, den Einfluß der Aggregatzustände oder die Anwesenheit anderer,
nicht direkt bei dem betreffenden Prozeß beteiligter Stoffe geben sie gar
keine Auskunft. Dieser abstrakte Charakter der chemischen Formeln
darf umsoweniger aus dem Auge verloren werden, als er zugleich eine
zureichende Berücksichtigung der ursprünglichen Bedingungen eines
Vorgangs ausschließt. Von einer algebraischen Gleichung, der sie
äußerlich ähnlich sieht, ist darum eine chemische Operationsformel
wesentlich verschieden. Während jene unter allen Umständen richtig
ist, sobald sich beide Seiten zu Null aufheben, ist die chemische Gleichung
selbstverständlich nur dann richtig, wenn die linke Seite den Anfangs-
zustand, die rechte den Endzustand eines Vorgangs in Bezug auf die
tatsächliche Gruppierung der Elemente richtig darstellt. Da nun
die chemischen Bedingungen für den eintretenden Erfolg in der ur-
sprünglichen Konstitution der in Wechselwirkung tretenden Stoffe ent-
halten sein müssen, so enthält jede Operationsgleichung zugleich den
Hinweis auf diejenige symbolische Darstellung der einzelnen in sie
eingehenden Verbindungsformeln, die von vornherein den wirklichen
Erfolg als den unter allen möglichen wahrscheinlichsten erscheinen
läßt. Auf diese Weise gehen aus den bloß die stöchiometrischen Ver-
hältnisse der Elemente berücksichtigenden empirischen Formeln
mit Hilfe der die Verbindungs- und Zersetzungserscheinungen zum
Ausdruck bringenden Operationsgleichungen rationelle Formeln her-
vor. Hierbei kann es sich nun aber ereignen, daß unter verschiedenen
physikalischen und chemischen Bedingungen abweichende Operations-
gleichungen gewonnen werden, aus denen sich auch verschiedene
rationelle Formeln für eine und dieselbe Verbindung ergeben können.
Unter allen diesen Formeln die wahrscheinlichste zu finden, ist die
Aufgabe der chemischen Induktion. Es erhellt ohne weiteres, ein wie
mächtiges Hilfsmittel derselben hier die chemische Symbolik ist, in-
dem sie eine große Anzahl analytischer und synthetischer Ergebnisse
schnell übersehen läßt. Ihr Mangel liegt darin, daß sie, der Schrift sich
anschließend, genötigt ist, die Verbindungen in Gruppen zu zerlegen, die
in einer Ebene und so viel als möglich sogar linear angeordnet werden,
während doch die Elemente in den wirklichen Verbindungen jedenfalls
nach drei Dimensionen geordnet sind. Darin liegt zunächst eine deut-
liche Warnung, daß man der hypothetischen und beschränkten Bedeu-
tung der durch die gewöhnliche Symbolik ausgedrückten Beziehungen
eingedenk bleibe, zugleich aber auch eine Aufforderung, zu versuchen,
ob sich nicht über bestimmte, sowohl chemische wie physikalische
Die chemischen Methoden. 515
Eigenschaften der chemischen Verbindungen durch eine körperlich
gedachte Anordnung der Atome Rechenschaft geben lasse*).
Je weniger demnach überhaupt die Betrachtung der rein chemischen
Seite der chemischen Wechselwirkungen eine ausreichende Erklärung
derselben zu liefern vermag, umsomehr bedarf auch hier die Abstraktion
des ergänzenden Verfahrens der Kolligation. Diese besteht im
vorliegenden Falle darin, daß die Untersuchung den spezifisch chemi-
schen Standpunkt mit dem physikalischen vereinigt, indem sie sukzessiv
über die einzelnen physikalischen Phänomene, welche die ‚Verbindungen
und Zersetzungen der Stoffe begleiten, Rechenschaft gibt. Ist auch der
nächste Erfolg dieser Umkehrung des ursprünglichen Abstraktionsver-
fahrens eine größere Verwicklung der Untersuchungsmethoden und
eine Vermehrung der in Rücksicht gezogenen Tatsachen, so wird doch
schließlich im allgemeinen auf diesem Wege eine Vereinfachung der
Gesichtspunkte herbeigeführt. Denn indem jene Kolligation die Sub-
sumtion der chemischen Erscheinungen unter physikalische Prinzipien
ermöglicht, sucht sie zugleich die chemische Statik und Dynamik zu
einem Bestandteil der Molekularmechanik zu machen, wobei die chemi-
schen Vorgänge auf verhältnismäßig einfache mechanische Anschauungen
zurückgeführt werden, die gleichwohl nicht bloß über den spezifisch
chemischen Inhalt der Erscheinungen, sondern auch über alle anderen
begleitenden Prozesse Rechenschaft ablegen.
Von der jeweiligen Stufe der chemischen Abstraktion ist nun
die Form der Deduktion der chemischen Tatsachen
wesentlich abhängig. Je isolierender noch die Abstraktion verfährt,
umsomehr herrscht als die fast ausschließliche Deduktionsmethode die
Analogie vor. Jede der grundlegenden Anschauungen, die während
der Entwicklung der Chemie maßgebend waren, stützte sich auf eine
meistens nicht sehr große Anzahl von durch Induktion gefundenen
Tatsachen. Nach Analogie dieser Tatsachen wurden dann alle übrigen
Erfahrungen beurteilt, und in der Regel wurden die Experimente, die
man zur Zerlegung bestimmter Verbindungen oder zur Herstellung
neuer unternahm, von eben solchen Analogieschlüssen geleitet. So
konstruierte die dualistische Richtung der Chemie alle Verbindungen
nach Analogie gewisser binärer Zusammensetzungen. Von einer Analogie
mit dem Verhalten der Elemente, namentlich der Metalle, ausgehend,
*) Vgl.J.H. van t’Hoff, Die Lagerung der Atome im Raume, deutsch von
F. Hermann, 1877. J. Wislicenus, Über die räumliche Ausdehnung der
Atome etc., Abh, d. kgl. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl. XIV, 1888, S. 1 ff.
516 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
bildete man den Begriff des Radikals.. Während der Herrschaft der
Strukturchemie war dieses Verfahren nicht einmal mehr, wie bei der
elektrochemischen Hypothese, von gewissen physikalischen Gesichts-
punkten geleitet; umsomehr aber verdrängte es jetzt sogar die Induktion,
da oft genug Analogien für die Anschauungen über die Struktur einer
Verbindung bestimmender wurden als die unmittelbaren Resultate
der stufenweisen Analyse und Synthese. Die Valenztheorie vertiefte
zwar diese lediglich von der chemischen Gruppierung ausgehenden
Analogien, indem sie den Affinitätswert der Elemente zur Geltung
brachte. Aber nachdem letzterer für jedes Element aus einer beschränk-
ten Anzahl von Verbindungen durch Induktion gefunden war, wurde
er nun wieder der Ausgangspunkt zahlreicher Analogiebildungen.
Erst infolge der umfassenderen Berücksichtigung der physikalischen
Bedingungen und Begleiterscheinungen der chemischen Vorgänge ist
zu diesem Analogieverfahren teilweise die vollkommenere Form der phy-
sikalischen Deduktion hinzugetreten, die nicht wie die Analogie von
dem einzelnen auf das einzelne schließt, sondern aus bestimmten
allgemeinen Prinzipien die speziellen Tatsachen ableitet. Zunächst hat
auch hier unter dem Einfluß der thermochemischen Studien das Prinzip
der Energie seine allgemeingültige Bedeutung bewährt. Neben ihm
sind einige andere Voraussetzungen, die aus der Anwendung speziellerer
Vorstellungen der mechanischen Wärmetheorie auf die chemischen
Prozesse entsprangen, fruchtbare Ausgangspunkte für die Deduktionen
der chemischen Statik und Dynamik geworden. In erster Linie steht
hier die aus dem Gesetz der gleichen thermischen Ausdehnung der
vollkommenen Gase abgeleitete Voraussetzung, die unter dem Namen
des Avogadroschen Gesetzes bekannt ist, sowie das von Dulong und
Petit für den festen Aggregatzustand der Körper aufgestellte Gesetz
der gleichen Wärmekapazität der Atome, woran sich dann in neuerer
Zeit die allgemeine Nachweisung der Abhängigkeit der physikalischen
Konstanten, wie des Gefrier- und Siedepunktes, des Lichtbrechungs-
vermögens, der elektrischen Leitungsfähigkeit, von der chemischen
Konstitution und der Versuch der Zurückführung dieser Abhängig-
keiten auf bestimmte Gesetze anschloß. Während diese Gesetze die
Grundlagen der chemischen Statik abgeben, stützt sich die
chemische Dynamik teils unmittelbar auf das allgemeine
Energiegesetz, teils auf die Erforschung der gesetzmäßigen Verände-
rungen, welche die physikalischen Konstanten, insbesondere die
thermischen Eigenschaften und bei den Elektrolyten die elektrische
Leitungsfähigkeit, bei den chemischen Vorgängen erfahren.
Die chemische Statik und Dynamik. 517
2. Die chemische Statik und Dynamik.
a. DiePrinzipienderchemischen Statik.
Die Entwicklung der Prinzipien der chemischen Statik hat von
dem Gesetz der multiplen Proportionen ihren Ausgang genommen.
Dasselbe stellt fest, daß diejenigen Gewichtsmengen zweier Elemente
A und B, die sich mit einer und derselben Menge eines dritten Elementes
C verbinden, entweder die nämlichen sind, in denen sich A und B auch
untereinander verbinden, oder zu ihnen in dem Verhältnisse einfacher
ganzer Zahlen stehen. Dieses Gesetz führt fast unvermeidlich zu ato-
mistischen Vorstellungen. Denn es legt die Deutung nahe, daß die
einfachsten Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Elemente verbinden
können, dem Gewichtsverhältnisse ihrer Atome entsprechen. Auf diese
Weise hat in der Tat Dalton, der Entdecker des Gesetzes der multiplen
Proportionen und der Begründer der chemischen Atomistik, den Be-
griff des Atomgewichts geschaffen. Dieser Grundbegriff der
chemischen Statik läßt nun zwei verschiedene Deutungen zu. Man
kann ihn erstens im nächsten Anschlusse an das Gesetz der multiplen
Proportionen einfach als einen hypothetischen Ausdruck für die tat-
sächlichen Verhältnisse der Verbindungsgewichte der Stofie
auffassen; es lassen sich aber auch zweitens unter Hinzunahme des
Begriffs der chemischen Affinität die Atomgewichte als diejenigen rela-
tiven Mengen einfacher Stoffe betrachten, die bei der chemischen Bin-
dung einander vertreten körfnen, also hinsichtlich ihres Affinitätswertes
einander äquivalent sind. Auf diese Weise geht der Begriff
des Atomgewichts in den des Äquivalentgewichts über.
Man hat längere Zeit diesen Ausdruck deshalb vorgezogen, weil er nicht,
wie der des Atomgewichts, eine hypothetische Voraussetzung enthalte.
Es ist aber leicht zu sehen, daß, wenn man das Atomgewicht lediglich
in der ihm durch das Gesetz der multiplen Proportionen gegebenen
tatsächlichen Bedeutung auffaßt, das Umgekehrte der Fall ist. Dann
nämlich bedeutet das Atomgewicht nichts weiter als das relative Ge-
wicht der kleinsten Menge eines Elementes, die in Verbindungen
eintreten kann. Diese Menge wird nur deshalb ein chemisches Atom
genannt, weil sie bei allen chemischen Verbindungs- und Zersetzungs-
erscheinungen als eine nicht weiter teilbare Menge in Betracht kommt.
Das Atomgewicht bezeichnet also eine aus dem Gesetz der multiplen
Proportionen unmittelbar zu folgernde Tatsache. Der Begriff des
Äquivalentgewichts dagegen verbindet diese Tatsache mit der weiteren
518 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Voraussetzung, daß jene kleinsten Verbindungsgewichte in Bezug auf
ihren Affinitätswert einander gleichwertig seien, einer Voraussetzung,
die nicht nur hypothetisch, sondern in dieser Fassung sogar unrichtig ist.
Nichtsdestoweniger hat diese Umwandlung in den Begriff des
Äquivalentgewichts das nächste vom rein chemischen Standpunkte
aus zu erlangende Hilfsmittel zur Bestimmung der Atomgewichte
oder einfachsten Mischungsgewichte dargeboten. Denn das Gesetz der
multiplen Proportionen gab darüber keinen sicheren Aufschluß. Wenn
man z. B. fand, daß das Kaliumoxyd auf 1 Teil Sauerstoff 4,9 Kalium
enthält, so blieb unsicher, ob das Atomgewicht des Sauerstofis zu 1, 2,
3..., und demgemäß dasjenige des Kaliums zu 1, 2,3... mal 4,9 an-
zusetzen sei. Als man aber fand, daß der dem Kalium in seinen Affini-
tätsverhältnissen analoge Wasserstoff sich mit Sauerstoff im Verhältnis
von 1:8 zu Wasser verbinde, so sah man sich, sobald das kleinste Ver-
bindungsgewicht des Wasserstofis als Einheit des Atomgewichts be-
trachtet wurde, genötigt, das letztere für den Sauerstoff=8 und für
das Kalium = 39,2 anzunehmen. Ebenso konnten dann die Atomge-
wichte der übrigen Metalle aus ihren analogen Sauerstoffverbindungen
bestimmt werden. Diese Ermittlung der Äquivalentgewichte empfing
außerdem eine Stütze an der quantitativen Bestimmung der durch die
Elektrolyse gewonnenen Zersetzungsprodukte der Verbindungen, da
nach dem von Faraday gefundenen Gesetze der festen elektrolytischen
Aktion gleich große Mengen strömender Elektrizität die Elemente
aus analog zusammengesetzten Verbindungen in Mengeverhältnissen
ausscheiden, die ihren Atomgewichten entsprechen.
Gleichwohl gab diese Bestimmungsweise, namentlich in solchen
Fällen, wo zwei Elemente mehrere Verbindungen miteinander eingehen,
keine unzweideutigen Werte für die Atomgewichte. Auch beruhte sie
auf der Annahme, daß die im freien Zustand existierende einfachste
Verbindung zweier Elemente die einfachste überhaupt mögliche sei,
eine Voraussetzung, die an sich durchaus nicht gerechtfertigt ist, und
gegen die sich späterhin namentlich aus der Konstitution der organischen
Verbindungen gegründete Bedenken ergaben. So war z. B. nur unter
jener Voraussetzung für das Wasser die Formel HO (1 Atom Wasser-
stoff auf 1 Atom Sauerstoff mit dem Gewichtsverhältnis 1 : 8) gerecht-
fertigt. Sobald aber in irgend einer zusammengesetzteren Verbindung
eine Atomgruppe anzunehmen war, in der das Gewichtsverhältnis von
H zu O 1:16 betrug, so mußte offenbar für diese die einfache Formel
HO reserviert, also das Atomgewicht des Sauerstofis verdoppelt und
demnach das Wasser=H,O angesetzt werden.
Die chemische Statik und Dynamik. 519
Bevor jedoch diese Gesichtspunkte zur Geltung kamen, war es
eine bei den Verbindungen der gasförmigen Elemente zu beobachtende
Regelmäßigkeit, die eine Verwertung für die Bestimmung der Atom-
gewichte nahe legte. Nach einem von Gay Lussac entdeckten Gesetze
verbinden sich nämlich die Gase entweder nach gleichen oder den nächst-
stehenden einfachen Volumverhältnissen. Dieses Gesetz veranlaßte
bereits Berzelius zu der Vermutung, daß die Gewichte gleicher Volumina
gasförmiger Elemente im selben Verhältnisse stehen wie ihre Atom-
gewichte oder, mit anderen Worten, daß die Atome aller Elemente im
gasförmigen Zustand den gleichen Raum einnehmen. War diese Hypo-
these richtig, so entsprachen die Volumteile der in einer Verbindung
enthaltenen gasförmigen Elemente unmittelbar den Atomzahlen. Die
Chlorwasserstoffsäure erhielt also die Formel HCl, weil sich 1 Volum
Wasserstoff mit 1 Volum Chlor verbindet, das Wasser dagegen die
Formel H,O, weil in ihm 2 Volumina Wasserstoff auf 1 Volum Sauer-
stoff enthalten sind. Bedeutsamer für die chemische Statik wurde dieses
Berzeliussche Volumgesetz erst, als Avogadro neben den Volumverhält-
nissen der einfachen auch diejenigen der zusammengesetzten Gase in
Rücksicht zog und dabei insbesondere die etwaigen Volumverände-
rungen beachtete, die infolge der chemischen Bindung eintreten. Diese
Erwägungen führten ihn zu dem neuen wichtigen Begriff des chem i-
schen Moleküls als der kleinsten für sich bestehenden Atom-
gruppe und zu der Hypothese, daßingleichenRaumteilen
aller Gase bei gleichem Druck und gleicher Tem-
peratur dienämliche Anzahl von Molekülen ent-
halten sei. Als ein Korollarsatz hierzu hat dann der Satz zu gelten,
daß auch in den einfachen Gasen die Moleküle
zusammengesetzt sind, indem die einfachen von den zu-
sammengesetzten Körpern nur dadurch sich unterscheiden, daß in
jenen die Moleküle aus gleichartigen, in diesen aus verschiedenartigen
Atomen bestehen*). Dieser Satz ergab sich, sobald die Berzeliussche
Hypothese von den Atomen auf die Moleküle der zusammengesetzten
Gase übertragen wurde, ohne weiteres aus der Vergleichung der Volum-
verhältnisse der Verbindungen und ihrer Bestandteile. Da sich z. B.
1 Volum Chlor und 1 Volum Wasserstoff verbinden, um 2 Volumina
chlorwasserstofisaures Gas zu bilden, so müssen notwendig, wenn in
jedem Volum dieser Gase gleich viel Moleküle enthalten sein sollen, die
*) Zur Geschichte der Avogadroschen Hypothese vgl. H. Kopp, Die
Entwicklung der Chemie in der neueren Zeit, 1873, S. 349 ff., und Lothar
Meyer, Die modernen Theorien der Chemie, 5. Aufl., S. 22 fi.
920 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Moleküle des Chlors und des Wasserstoffs aus zwei Atomen zusammen-
gesetzt sein.
In doppelter Beziehung bildet die Avogadrosche Hypothese einen
bedeutsamen Wendepunkt in den chemischen Anschauungen. Einerseits
erweiterte sie im Anschlusse an den neu gebildeten Begriff des chemi-
schen Moleküls den Affinitätsbegriff, indem sie dessen Anwendung auch
auf die chemisch unzerlegbaren Stoffe veranlaßte; anderseits gab sie
ein unzweideutiges physikalisches Maß ab für die Bestimmung der
Atomgewichte der Elemente und der Elementarkonstitution der Ver-
bindungen. Beide Rückwirkungen gelangten aber erst dann zu ihrer
Bedeutung, als der Avogadrosche Satz selbst durch die mechanische
Wärmetheorie seine theoretische Begründung empfangen hatte. Die
Vorstellung der gleichen Molekülzahl aller Gase im gleichen Volum er-
schien nun als eine notwendige Folgerung aus den Grundbedingungen
des molekularen Bewegungszustandes der Gase, und sie trat in un-
mittelbare Beziehung zu den aus denselben Bedingungen entspringenden
einfachen Gesetzen von Boyle und von Gay Lussac über das Verhältnis
des Volums gasförmiger Körper zu Druck und Temperatur. (Vgl. S. 74 f.)
Weiterhin wurde nun aber auch der Übergang zur Erklärung des
chemischen Verhaltens flüssiger Körper aus ihren physikalischen
Eigenschaften durch die Erwägung nahe gelegt, daß sich der Bewegungs-
zustand der Gasmoleküle notwendig in dem Augenblick ändern müsse,
wo infolge eines äußeren Drucks oder innerer Konstitutionsbedingungen
die Teilchen einander so nahe kommen, daß zwischen ihnen Attraktions-
kräfte wirksam werden. Es wird dann ein kritischer Punkt anzunehmen
sein, wo diese Attraktionskräfte im ganzen über die aus den Wärme-
bewegungen resultierenden Repulsivwirkungen überwiegen. Von der
Annahme ausgehend, daß die nämlichen Kräfte in gewissem Grade auch
schon im gasförmigen Zustande vorhanden sein müssen, stellte demnach
von der Waals für Gase und Flüssigkeiten eine einzige Zustands-
gleichung auf, deren Konstanten nur von der Beschaffenheit der Mole-
küle abhängen, und nach welcher daher die Eigenschaften der Stoffe
in beiden Zuständen gesetzmäßig an einander gebunden sind*). Aus
diesen Betrachtungen konnten einerseits die wahrscheinlichen Werte
von Volum, Dichte und Zahl der Moleküle in einer Flüssigkeit er-.
mittelt werden, anderseits war es nahe gelegt, den Grundgedanken der
kinetischen Gastheorie auf die Lösungen zu übertragen, also anzu-
nehmen, daß die Bewegungen der in einer Lösung oder einem Lösungs-
*, W. Ostwald, Lehrbuch der allgemeinen Chemie. 2.:Aufl. I, 1891,
S. 224, 289 ff.
Die chemische Statik und Dynamik. 521
gemisch enthaltenen Moleküle denselben Gesetzen gehorchen wie die
Bewegungen der Gasteilchen (Prinzip von van t’Hoff)*). Eine Be-
stätigung dieser Annahme lag darin, daß der Druck, den eine Lösung
auf eine den direkten hydrostatischen Druck abhaltende permeable
Wand ausübt, der sogenannte osmotische Druck, unabhängig von der
Natur des Lösungsmittels gefunden wird, und daß er dagegen der
Konzentration der Lösung und der absoluten Temperatur proportional
geht, eine Beziehung, die sich unmittelbar dahin interpretieren läßt,
daß man Lösungen von gleichem osmotischem Druck erhält, wenn man
in einem und demselben Lösungsmittel eine gleiche Anzahl von Mole-
külen verschiedener Substanzen zur Lösung bringt, und daß für den
aus der kinetischen Energie der gelösten Moleküle resultierenden osmo-
tischen Druck das Boylesche und das Gay Lussacsche Gesetz gilt.
Entsprechend tritt bei gleichem Molekulargehalt an gelöster Substanz
immer auch die gleiche Gefrierpunktserniedrigung des Lösungsmittels ein.
Erscheinen auf diese Weise für den gasförmigen und den flüssigen
Aggregatzustand die Beziehungen zwischen den physikalischen und
den chemischen Eigenschaften auf die gleiche Gesetzmäßigkeit zurück-
geführt, so ist dies für den festen Aggregatzustand nur unter den
beschränkten Bedingungen möglich, daß eine allmähliche Diffusion
zwischen zwei sich berührenden Körpern stattfindet**). Übrigens
steht auch hier das thermische Verhalten der Körper in einer bestimm-
ten Beziehung zum Atomgewicht, indem nach einem schon 1818 von
Dulong und Petit aufgefundenen Gesetze die Wärmekapazität oder
diejenige Wärmemenge, die erforderlich ist, um die Temperatur der
Gewichtseinheit einer Substanz um 1 Grad C. zu erhöhen, ein reziprokes
Verhalten zeigt zu dem Atomgewichte, so daß die Produkte aus den
Wärmekapazitäten in die Atomgewichte innerhalb bestimmter, für die
verschiedenen Elemente etwas wechselnder Temperaturgrenzen an-
nähernd einander gleich sind***). Dieses Verhalten läßt nur die Deutung
zu, daß die Atome der einfachen Körper im festen Zustand die näm-
liche spezifische Wärme besitzen, oder daß ihnen, mechanisch aus-
gedrückt, bei gleicher Wärmezufuhr die gleiche Energie der Schwin-
gungsbewegung mitgeteilt wird, daß also im starren, ähnlich wie im
gasförnigen und flüssigen Zustande, das physikalische Verhalten
der Körper ein gleichförmiges, nur von der Anzahl, nicht von der
*), van t’Hoff, Ostwalds Zeitschrift für physik. Chemie, I, 1887,
S. 481 ff.
**) vant’Hoff, Ebenda V, 1890, S. 322.
***) Vgl. H. F. Weber, Poggendorffs Annalen, 1875, Bd. 154, S. 367.
522 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Beschaffenheit der Atome abhängiges ist. Unter dieser Voraus-
setzung liegt es aber zugleich nahe, die Bedeutung des Gesetzes
von den Atomen auf die Moleküle zu übertragen. In der Tat ist
dies in einem von F. Neumann aufgestellten Theorem geschehen,
nach welchem die Molekulargewichtswärmen analog
zusammengesetzter Verbindungen annähernd einander gleich sind*).
Wie bei den auf die Gesetze von Dulong und Petit und F. Neumann
gegründeten Beobachtungen die Effekte der Wärmezufuhr benützt
werden, um über das Verhalten der Atome und ihrer Verbindungen
Aufschluß zu gewinnen, so kann nun aber überhaupt das gleichartige
oder verschiedene physikalische Verhalten der Körper zu Rückschlüssen
auf ihre chemische Konstitution dienen. So schließt man bei Verbin-
dungen, bei denen man aus chemischen Gründen eine Analogie der Zu-
sammensetzung annehmen darf, aus der Gleichheit der Kristallform
auf ein korrespondierendes Verhalten der Atomzahl ihrer Elemente,
so daß, wenn das Atomgewicht des einen Elementes einer binären Ver-
bindung bekannt ist, dasjenige des anderen daraus abgeleitet werden
kann. Insbesondere sieht man sich zu einer solchen Folgerung dann
berechtigt, wenn die analoge Zusammensetzung der isomorphen Ver-
bindungen darin ihren Ausdruck findet, daß die eine Verbindung in
die andere lediglich durch Ersetzung eines bestimmten Elementes durch
ein anderes umgewandelt werden kann. In ähnlicher Weise lassen sich
aus dem analogen Verhalten bestimmter physikalischer Konstanten,
wie des Siedepunkts, der Schmelzwärme, der Verbrennungswärme,
des Brechungs- und elektrischen Leitungsvermögens, sowie aus der
regelmäßigen Veränderung einzelner unter diesen Konstanten bei
gleichartigen chemischen Änderungen Rückschlüsse machen auf die
atomistische Konstitution der Körper**). Indem die chemische Statik
von diesen Konstanten Gebrauch macht, stützt sie sich aber bereits
zum Teil auf dynamische Gesichtspunkte.
b. Die Prinzipien derchemischen Dynamik
Durch die Benützung der erörterten Prinzipien sucht die chemische
Statik die Bedingungen der wechselseitigen Bindung der Atome zu er-
mitteln. Doch gewinnt sie auf diesem Wege keinen Aufschluß über das
Wesen der chemischen Affinitätskräfte, ja sie vermag nicht einmal ein
zureichendes Maß für deren Wirksamkeit in verschiedenen Fällen auf-
*) F. Neumann, Poggendorfis Annalen, Bd. 23, S. 1.
**) van t’Hoff, Vorlesungen, III, S. 42 fi.
Die chemische Statik und Dynamik. 533
zufinden. Insbesondere enthält der aus der Struktur der Verbindungen
abgeleitete Begriff der Valenz ein solches Maß durchaus nicht, da
durch ihn nur ein verhältnismäßig beschränkter einzelner Effekt der
Affinitätskräfte bestimmt wird. Denn die Größe der wirklichen Affinität
hängt zunächst von der Festigkeit ab, mit der die Atome aneinander
gebunden sind, während der Valenzbegriff bloß für die relativen
Zahlenwerte der Atome im chemischen Molekül Maximalgrenzen
feststellt.
Dagegen stehen gewisse unter den oben erwähnten physi-
kalischen Konstanten der chemischen Vorgänge zu der Größe der
Affinität in einer so nahen Beziehung, daß sie unter geeigneten Be-
dingungen ein Maß für die Intensität der Affinitätswirkungen abzu-
geben vermögen. Hierher gehört zunächst die Verbrennungs-
wärme oder diejenige Wärmemenge, die infolge der Verbindung
der Atome frei wird und auf kalorimetrischem Wege bestimmt werden
kann. Indem sie die Energie der schwingenden Bewegungen mißt, die
während eines durch die Wirkung der Affinitätskräfte stattfindenden
Überganges aus einem gegebenen Zustand chemischer Bindung in einen
anderen stattfinden, gestattet sie einen Rückschluß auf die Größe des
Kraftaufwandes, der zur Herbeiführung dieser Zustandsänderung er-
forderlich ist. Aber auch hier kann diese Größe nicht etwa unmittelbar
aus der beobachteten Verbrennungswärme erschlossen werden, sondern
es ist dazu außerdem die Erwägung des vorangegangenen Zustandes
der Atome sowie der sonstigen die thermischen Vorgänge beeinflussen-
den Veränderungen, insbesondere also der etwa gleichzeitig eintreten-
den und regelmäßig von Wärmebindung begleiteten Dissoziationen
erforderlich. Auf diese Weise stellt sich die wirklich als Maß einer
Affinitätswirkung verwertbare Verbrennungswärme als Glied einer
thermischen Gleichung dar, in der sich auf der nämlichen Seite noch
weitere, teils positive, teils negative Glieder befinden, während die
andere als einziges Glied die gesamte bei dem betreffenden chemischen
Vorgang beobachtete thermische Veränderung enthält. Man bezeichnet
jede solche Veränderung als Wärmetönung und nennt diese
positiv, wenn sie einem Freiwerden von Wärme, negativ, wenn
sie einer Bindung derselben entspricht. Hiernach ist die gesamte in
einem Versuch beobachtete Wärmetönung im allgemeinen einer Summe
positiver und negativer Wärmetönungen gleichzusetzen, deren Einzel-
bestimmung erfordert wird, wenn der thermische Wert einer gegebenen
Affinitätsäußerung gemessen werden soll. Diese Messung wird mög-
lich, sobald es gelingt, eine hinreichende Zahl thermischer Gleichungen
524 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
zu gewinnen, um aus ihnen das gesuchte Glied berechnen zu können*).
Mittels der Vergleichung der so erhaltenen thermischen Affinitätswerte
lassen sich dann zuweilen auch Rückschlüsse machen auf die Grup-
pierung der Atome. Doch ist im Auge zu behalten, daß die chemischen
Kräfte nicht bloß Wärme, sondern auch andere Formen der Energie
hervorbringen können, wobei keineswegs eine der Größe der Leistung
entsprechende Änderung der Temperatur einzutreten braucht, ein Fall,
der z. B. bei den Arbeitsleistungen der galvanischen Batterien in
augenfälliger Weise verwirklicht ist. Die zuweilen gemachte Vor-
aussetzung, daß die sämtlichen Affinitätswirkungen in thermischen
Veränderungen ihren Ausdruck fänden, ist also im allgemeinen nicht
zulässig**).
Als weitere Vorgänge, die zu den chemischen Affinitätswirkungen
wichtige Beziehungen darbieten, treten so besonders die ihrer Natur
nach mit den chemischen Verbindungserscheinungen enge zusammen-
hängenden Dissoziationen in den Vordergrund. Eine Disso-
ziation, d. h. eine zeitweise Zerlegung zusammengesetzter Moleküle
in ihre Bestandteile, kann entweder durch Erwärmung oder durch
die Einwirkung des elektrischen Stromes zu stande kommen. Die
thermische Dissoziation wird allein bei Gasen, die elektrische bei
Flüssigkeiten, namentlich bei flüssigen Lösungen beobachtet. Die
Untersuchung der Gase hat nun gezeigt, daß unter geeigneten Be-
dingungen des Drucks und der Temperatur alle mehratomigen Moleküle
mehr oder minder dissoziiert sind***). Bei den Flüssigkeiten hatten die
Erscheinungen der Elektrolyse längst schon die Vorstellung einer näheren
Beziehung der elektrischen Kräfte zur chemischen Affinität wach-
gerufen (S. 503£.). Nicht minder forderten aber die auf Grund der
mechanischen Wärmetheorie gewonnenen Anschauungen über die Kon-
stitution der Flüssigkeiten unmittelbar eine Übertragung der kineti-
schen Hypothese auf die Theorie der elektrolytischen Aktionen her-
ausy). Von solchen Ideen geleitet, suchte man nun nach Beziehungen
*) Vgl. Berthelot in zahlreichen Aufsätzen der Comptes rend. de l’Acad.
des Sciences, Julius Thomsen, Thermochemische Untersuchungen, 1882
bis 1886 und W. Ostwald, Lehrb. der allgemeinen Chemie, 2. Aufl. 1893.
31,71.78 218;
**) Helmholtz, Zur Thermodynamik chemischer Vorgänge. Sitzungs-
ber. der Berl. Akad. 1882, S. 22.
***) ViktorMeyer(undC. Langer), Pyrochemische Untersuchungen.
1885.
7) Clausius, Abhandlungen zur mechanischen Wärmetheorie, II,
S. 202 ff.
Die chemische Statik und Dynamik. 525
zwischen dem Leitungsvermögen, dem chemischen Verhalten und den
sonstigen physikalischen Eigenschaften der gelösten Stoffe. Den
nächsten Hinweis auf derartige Beziehungen gab die Tatsache, daß
das Prinzip van t’Hofis von der Übereinstimmung des gelösten mit
dem gasförmigen Zustande (S. 521) volle Geltung nur für elektrolytisch
unwirksame Lösungen besitzt, daß sich dagegen erhebliche Abwei-
chungen darbieten, wenn die Lösung den Strom leitet und, was damit
immer verbunden ist, durch ihn zersetzt wird. Denn in diesem Falle,
also namentlich bei Säuren, Basen und Salzen in wässeriger Lösung,
ist der osmotische Druck stets größer, als gemäß dem Molekularvolum
der Stoffe zu erwarten ist, und er kann sich in gewissen Fällen einem
Werte nähern, der dem Volum der chemischen Bestandteile der Molekeln
entspricht. Hieraus schließt man, daß die Elektrolyte in ihren Lösungen
an und für sich schon teilweise dissoziiert sind, analog einem durch
hohe Temperatur dissoziierten Gase, während zugleich die chemisch
verschiedenen Teilmolekeln entgegengesetzte elektrische Ladungen
besitzen, wodurch dann bei der Durchleitung eines elektrischen Stromes
die entgegengesetzt gerichtete Bewegung dieser Ionen entsteht (Prinzip
von Arrhenius). Dieses Prinzip hat nicht nur die elektrochemischen
Wirkungen in eine neue Beleuchtung gerückt, sondern es hat auch
manche wichtige Aufschlüsse über die Beziehungen der elektrolytischen
Eigenschaften zu den osmotischen Eigenschaften, den Gesetzen des
Gasdrucks, des Siede- und Gefrierpunkts, sowie zu der Affinitäts-
größe der Stoffe ergeben*).
Da in den Satz von der Erhaltung der Energie ebenso wie in das
mit ihm verbundene Transformationsprinzip die Zeit, während deren
sich ein Energiewechsel vollzieht, nicht eingeht, so geben die Zustands-
gleichungen, die nach dem früher (S. 350) erwähnten allgemeinen Prinzip
die Transformationen der chemischen Energie darstellen, über die
Zeitdauer der chemischen Vorgänge keine Rechen-
schaft. Die chemische Dynamik bedarf darum hier der Ergänzung
*) Vgl. Ostwald, Über die Affinitätsgröße organischer Säuren, Abh.
der sächs. Ges. d. Wiss. XV, S. 95 ff., ferner Zeitschr. f. phys. Chemie IX,
S.533 ff.u.a. Arrhenius, Theorien der Chemie, S. 134 ff, vant’Hoft,
Vorlesungen, I, S. 97 fi. Eine Zusammenstellung der hierhergehörigen Tat-
sachen gibt W. Ostwalds Lehrbuch der allgemeinen Chemie, 2. Aufl., 1891
bis 1893, namentlich in dem die Affinitätslehre behandelnden 2. Bande. Eine
kürzere Übersicht vom Standpunkte der kinetischen Theorie W. Nernst,
Theoretische Chemie, 1893.
526 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
durch die Feststellung der Gesetze drReaktionsgeschwindig-
keit unter den verschiedenen sie beeinflussenden physikalischen Be-
dingungen. Den Ausgangspunkt haben hier jene katalytischen Wir-
kungen gebildet, die durch die Beschränkung der Reaktion auf einen
der Fermentation unterworfenen Körper besonders einfache Bedingungen
darbieten. In dieser Beziehung hat namentlich das früher (S. 353) er-
wähnte, von Wilhelmy abgeleitete Gesetz für die Geschwindigkeit der
Umsetzung des Rohrzuckers die Grundlage für die dynamische Be-
trachtung aller weiteren, unter komplizierteren Bedingungen statt-
findenden Reaktionsvorgängen gebildet*). Die hier maßgebenden
Gesichtspunkte hat die Chemie zunächst der physikalischen Wärme-
theorie und den von ihr entwickelten Vorstellungen über die Molekular-
zustände der Körper, namentlich der Gase und Flüssigkeiten, entnommen.
Hiernach besitzen die chemischen Stoffbewegungen die Eigenschaft aller
Molekularbewegungen, daß sie auch im Zustand des chemischen Gleich-
gewichts fortwährend andauern, daß sie aber für uns erst meßbar werden,
wenn bestimmte bleibende Veränderungen in dem bestehenden Gleich-
gewichtszustand eintreten, und daß sie sich sofort wieder der Messung
entziehen, wenn ein neuer Gleichgewichtszustand entstanden ist, ohne
daß darum dieser als ein wirklicher Ruhezustand der Atome und Mole-
küle aufzufassen wäre. Die nächste Analogie zeigen in dieser Beziehung
die chemischen Stofibewegungen mit den durch gewisse äußere Be-
dingungen beschränkten Änderungen der Aggregatzustände, z. B. mit
der Verdampfung einer Flüssigkeit in einem abgeschlossenen Raume.
So lange dieser nicht bei der vorhandenen Temperatur mit Dampf ge-
sättigt ist, findet eine meßbare Molekularbewegung statt, indem sich
innerhalb eines jeden Zeitteilchens eine bestimmte Flüssigkeitsmenge
in Dampf verwandelt. Ist dagegen der über der Flüssigkeit befindliche
Raum mit Dampf gesättigt, so hört die Molekularbewegung auf un-
mittelbar meßbar zu sein, ohne daß sie darum aufhörte zu existieren.
Vielmehr besteht der eingetretene Gleichgewichtszustand eben darin,
daß jetzt in jedem Zeitteilchen ebenso viele Moleküle aus der Flüssigkeit
in den umgebenden Raum übergehen, als umgekehrt aus diesem wieder
zur Flüssigkeit zurückkehren. Nun verwandeln sich bei dem allgemein-
sten Fall chemischer Wechselwirkung zwei Verbindungen A und B
durch zwischen ihnen stattfindende Affinitätsbeziehungen in zwei neue
*) Rücksichtlich der Umformungen, die hierbei die Gesetze der Reaktions-
geschwindigkeit bei wechselnder Komplikation der Bedingungen erfahren, vgl.
besonders van t’Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische
Chemie, I’, S. 170 ff.
Die chemische Statik und Dynamik. 527
Verbindungen A’ und B’. Da aber auch in den ursprünglichen Stoffen
A und B die Elemente durch bestimmte Kräfte zusammengehalten sind,
so werden sich nun umgekehrt A’ und B’ wieder in einem gewissen
Grade in die Verbindungen A und B umzuwandeln streben. Es werden
also im allgemeinen zwei entgegengesetzte Verwandlungen erfolgen,
und Gleichgewicht wird eingetreten sein, sobald die in der Zeiteinheit
stattfindende Rückbildung von A+ B der Neubildung von 4’-+ B*
gleich geworden ist. Von diesem Augenblick an hört die chemische
Molekularbewegung auf meßbar zu sein, während, so lange die Reaktion
stattfindet, die Größe der chemischen Affinitätswirkung durch die in
der Zeiteinheit gebildete Menge der neuen Stoffe 4’ und B’ gemessen
werden kann. Es erhellt ohne weiteres, daß die so bestimmte Affinitäts-
kraft nicht bloß von dem allgemeinen chemischen Verhalten der Stoffe,
sondern auch von den relativen Massen, die in Wechselwirkung treten,
abhängig ist; auch ist die Anwesenheit fremder Stoffe auf die Größe
der Affinitätswirkungen von einem gewissen Einfluß, wie sich das in
der augenfälligsten Weise bei den Erscheinungen der sogenannten
Katalyse zeigt, wo ein Körper, z. B. fein verteiltes Platin, die
unter gewöhnlichen Bedingungen nur sehr langsam erfolgende Ver-
bindung zweier Stoffe, wie Wasserstoff und Sauerstoff, enorm be-
schleunigt. Das erwähnte Prinzip der Massenwirkung, welches, in
freilich verändertem Sinne, den Gedanken Berthollets (S. 502)
erneuert, zeigt nun aber vor allem wesentliche Abweichungen bei
Veränderungen der Temperatur und des Drucks, indem durch
Temperaturzunahme bei konstant erhaltenem Druck stets die-
jenigen chemischen Kräfte, die eine Wärmeentwicklung bedingen,
geschwächt, und diejenigen, die eine Wärmeabsorption bedingen,
verstärkt werden, während umgekehrt eine Zunahme des Drucks
bei konstant erhaltener Temperatur jene chemischen Kräfte steigert,
deren Wirkung mit einer Volumverminderung verbunden ist. Die
nähere Verfolgung dieser Gesichtspunkte hat eine Reihe gesetz-
mäßiger Beziehungen ergeben, die auf die Äußerungen der Affini-
tätskräfte unter verschiedenen Bedingungen Licht werfen, während
sie zugleich zur Charakterisierung der einzelnen Gruppen chemischer
Stoffe beitragen*).
*) Vgl. Guldberg und Waage, Journ. f. prakt. Chem. N.F., Bd.19, 1879,
S.69ff. Lothar Meyer, Theorien der Chemie’, 8.479 ff. van tHoff,
Vorlesungen? I, 8.185 ff, Über Katalyse Ost wald, Abhandlungen und Vor-
träge, 1904, S.71 fl. Bredig, Ergebnisse der Physiol. von Asher und Spiro,
1,102, 8. 177.4,
528 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
3. Der chemische Atombegriff.
a. Entwicklung der chemischen Atomistik. Hypothese
der Uratome.
Früher als die Physik ist die Chemie durch zwingende Gründe
zur Annahme atomistischer Vorstellungen geführt worden. Darum
fehlt hier fast vollständig jener Kampf der Atomistik mit der Konti-
nuitätshypothese, der die physikalische Naturerklärung entzweit.
Seit man überhaupt das Prinzip der Konstanz der Materie festhielt,
mußte man das Wesen der chemischen Verbindungserscheinungen auf
wechselnde Gruppierungen an sich unveränderlicher Elemente zurück-
zuführen suchen. Seit Boyle waren daher korpuskulare Vorstellungen,
die den Keim der späteren Atomistik Daltons in sich schlossen, in der
Chemie verbreitet. Für Dalton selbst wurde die Aufstellung des Prin-
zips der multiplen Proportionen das Motiv zur weiteren Ausbildung
dieser Vorstellungen. Er zuerst entwickelte jenen folgenreichen Be-
griff ds Atomgewichts, der sich als unmittelbarer theoretischer
Ausdruck des Gesetzes der multiplen Proportionen ergab und zur Grund-
lage aller folgenden stöchiometrischen Untersuchungen geworden ist.
Auch Daltons Atome besitzen eine korpuskulare Beschaffenheit: er
schreibt ihnen der Einfachheit wegen kugelförmige Gestalt zu. Da
aber dieser Atombegriff aus dem Begriff des chemischen Elementes
hervorgegangen ist, so werden ebenso viele qualitativ verschiedene
Atome angenommen, als es verschiedene Elemente gibt. Das Atom-
gewicht gilt nur als diejenige unter den Eigenschaften der Elemente,
die für die quantitative Untersuchung die größte Wichtigkeit besitzt;
doch finden neben ihm noch weitere, namentlich das elektrische Ver-
halten und die spezifische Wärme, ihre Würdigung. Alle diese Eigen-
schaften des Atoms werden aber als letzte nicht weiter erklärbare
Tatsachen betrachtet.
In dieser Form ist der chemische Atombegrifi im wesentlichen bis
in die neueste Zeit bestehen geblieben. Hervorgegangen aus dem Prinzip
der Konstanz der Materie und aus dem Gesetz der Verbindung der
Elemente nach einfachen Gewichtsverhältnissen, ermöglichte er eine
anschauliche Darstellung der Erscheinungen, die in jenen Prinzipien ihren
Ausdruck finden. Nichtsdestoweniger suchte man fast von dem Moment
der Begründung der chemischen Atomistik an zu einer tieferen Ein-
sicht in die Natur der chemischen Atome zu gelangen, die nicht bloß
die Eigenschaften der Verbindungen aus denjenigen ihrer Elemente,
Der chemische Atombegriff. 529
_
sondern auch die Eigenschaften der Elemente selbst in ihren gegen-
seitigen Verhältnissen begreiflich mache. Damit verband sich zu-
gleich die Hoffnung, auf diesem Wege möge eine nähere Beziehung
des chemischen zu dem allgemeinen physikalischen Atombegriff mög-
lich werden. In methodischer Beziehung war es hierbei wichtig, daß,
während der bisherige Atombegriff einfach aus dem Motiv der Um-
setzung der analytischen Fundamentalgesetze in eine anschauliche
Vorstellung hervorgegangen war, nunmehr jene Versuche einer Weiter-
bildung zunächst auf die Nachweisung von Analogien in dem Ver-
halten verschiedener Elemente sich stützten. In erster Linie richtete
sich hier die Aufmerksamkeit auf die Analogie in dem chemischen Ver-
halten gewisser Elemente mit demjenigen von Verbindungen, eine
Analogie, aus der mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die zusammen-
gesetzte Natur der gewöhnlich als elementar angesehenen Stofie ge-
schlossen werden konnte. Neben diesem auch in anderen Teilen der
chemischen Theorie einflußreichen Verfahren der Analogie war dabei
zugleich das allgemeine Streben nach Vereinfachung der Voraus-
setzungen wirksam, das sich durch die auf den ersten Blick sehr zufällig
erscheinende Reihe chemischer Elementarstoffe nicht befriedigt finden
konnte. Die größte Einfachheit in Bezug auf die letzten Elemente der
Erklärung würde aber offenbar erreicht sein, wenn es gelänge, alle
chemischen Erscheinungen aus den wechselnden Gruppierungen und
Bewegungen eines einzigen Urstofies abzuleiten. Indem die Annahme
irgendwelcher qualitativer Unterschiede für diesen hinwegfiele, würde
dann das nämliche Prinzip der Reduktion aller Erscheinungen auf die
Bewegungen eines nur durch seine Wirkungen für uns wahrnehmbaren
Stoffes Platz greifen, das in der physikalischen Naturerklärung längst
zur Geltung gelangt ist; und damit würde auch für die Chemie der Über-
gang aus der qualitativen in eine quantitative Atomistik vollendet sein.
Die Versuche einer derartigen Umgestaltung des chemischen
Atombegrifis beginnen in der Tat alsbald nach den ersten quantitativen
Bestimmungen der Atomgewichte. Sie finden ihren Ausdruck in der
Hypothese Prouts, die Atomgewichte aller Elemente seien Multipla
vom Atomgewicht des Wasserstofis, einer Hypothese, die von selbst
dazu führte, in dem Wasserstoff das Urelement zu vermuten. Während
längerer Zeit zurückgedrängt, hat diese Annahme schließlich in den
genauesten Atomgewichtsbestimmungen der neueren Zeit wenigstens
eine approximative Bestätigung empfangen, die aber freilich, eben
weil sie keine vollkommen genaue ist und die Abweichungen die Grenzen
der Beobachtungsfehler überschreiten, darauf hinwies, daß das Prout-
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 34
530 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
sche Gesetz höchstens eine Annäherung an die Wahrheit enthalten
könne.
Zu der Tatsache, daß die Atomgewichte fast sämtlicher Elemente
nahezu durch ganze Zahlen ausgedrückt werden, wenn man das Ge-
wicht des Wasserstoffatoms der Einheit gleichsetzt, trat nun aber
weiterhin eine Reihe von Analogien zwischen den Atomgewichten
und den sogenannten Molekulargewichten chemischer Verbindungen, auf
die zuerst der russische Chemiker Mendelejeft hinwies*). Unter dem
Molekulargewicht versteht man die Summe der Atomgewichte, die ein
Molekül als kleinster, ohne Zersetzung isolierbarer Teil eines Körpers
enthält. Das Molekulargewicht des Radikals Methyl (CH,) besteht
also z. B. aus 1 Atomgewicht Kohlenstoff und 3 Atomgewichten Wasser-
stoff. Die Molekulargewichte solcher Verbindungen, die homologe
Reihen bilden, werden demnach in regelmäßigen Verhältnissen zu-
einander stehen. So bilden die organischen Radikale von der all-
gemeinen Formel C,H, +1, wie Methyl (CH,), Äthyl (C,H,),
Propyl (C,H), Butyl (C,H,), eine homologe Reihe. Denn jedes Glied
dieser Reihe unterscheidet sich von dem vorangehenden durch die Atom-
gruppe CH,, also auch jedes Molekulargewicht von dem voran-
gehenden durch die dem Molekulargewicht von CH, entsprechende kon-
stante Zahl. Nun finden sich aber zwischen den Atomgewichten chemisch
verwandter Elemente ähnliche konstante Differenzen. So unterscheiden
sich Lithium, Natrium und Kalium je durch eine Atomgewichtsdifferenz
16. In dieselbe Reihe gehören Rubidium und Caesium, wo annähernd
die Differenz Rb—Ka und ebenso Cs—Rb=3.16 ist. Solche kon-
stante Differenzen, die noch zwischen anderen Elementen wiederkehren,
legten daher die Vermutung nahe, die Atomgewichte besäßen in Wahr-
heit die Bedeutung von Molekulargewichten höherer Ordnung, und die
Verwandtschaft gewisser Elemente beruhe also auf ähnlichen Überein-
stimmungen in der Gruppierung ihrer Atome, wie die Verwandtschaft
der durch die analytischen Hilfsmittel zerlegbaren Verbindungen. Auf
diese Weise erfuhr die früher (S. 505) hervorgehobene Analogie zwischen
den Radikalen organischer Verbindungen und den Elementen eine An-
wendung in umgekehrter Richtung: die Elemente erschienen nun ana-
log den Radikalen, so daß man in ihnen Radikale aus einfacheren
Elementen vermuten konnte.
Zur Aufsuchung weiterer Analogien zwischen Elementen und
*) Vgl. zu dem folgenden Lothar Meyer, Die modernen Theorien
der Chemie°, S. 129 fi.
Der chemische Atombegrifi. 531
Verbindungen ist endlich noch der Begrifi ds Atomvolums neben
dem des Atomgewichts herangezogen worden. Wie wir allgemein durch
die Vergleichung des Gewichts eines Körpers mit dem spezifischen Ge-
wicht sein Volum bestimmen können, so läßt sich das Atomvolum
eines Elementes gewinnen, indem man das Atomgewicht durch das
spezifische Gewicht dividiert. Da das Atomgewicht nur in Bezug auf
seinen relativen Wert festgestellt werden kann, so ist das nämliche
mit dem Atomvolum der Fall: dieses mißt das Volum irgend eines
Atoms, wenn das Volum eines bestimmten Atoms, z. B. des Wasser-
stoffatoms, zur Einheit genommen wird. Nun ist von vornherein zu
erwarten, daß dem Verhältnis zwischen Atomgewicht und Molekular-
gewicht ein analoges Verhältnis zwischen Atomvolum und Molekular-
volum parallel gehen werde. In der Tat lassen die unter gleichen Be-
dingungen von Druck und Temperatur ausgeführten spezifischen Ge-
wichtsbestimmungen einfacher und zusammengesetzter Körper den
Schluß zu, daß das Volumen eines Moleküls der Summe der Volumina
seiner Atome entspreche. Wäre das chemische Atom eine Verbindung
aus einfachen und gleichartigen Uratomen, so würde demnach zunächst
erwartet werden können, daß das Atomvolum dem Atomgewicht pro-
portional sei. Nun bestätigt sich allerdings diese Erwartung selbst nicht.
Wohl aber ergibt sich zwischen Atomvolum und Atomgewicht ein ge-
setzmäßiges Verhältnis, das die Annahme einer molekularen Kon-
stitution der chemischen Atome nahelegt. Trägt man nämlich die
Atomgewichte der Elemente auf einer einzigen Abszissenlinie auf,
und stellt man die Atomvolumina durch die zugehörigen Ordinaten
dar, so wachsen diese nicht proportional den Abszissen, sondern man
erhält durch Verbindung ihrer Endpunkte eine in mehreren aufeinander-
folgenden Wellenlinien auf- und absteigende Kurve. Die Elemente
von verwandtem chemischem Verhalten entsprechen dann nicht etwa
benachbarten Punkten, wohl aber entsprechen sie solchen Punkten in
verschiedenen Teilen der Kurve, die in Bezug auf den ganzen Verlauf
eine übereinstimmende Lage besitzen. So bilden z. B. die leichten
Metalle Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium die Maxima der Wellen-
kurven, während Kohlenstoff, Silicium, die schweren Metalle die tief
gelegenen Stellen einnehmen. Dort ist also die Substanzverdichtung
am kleinsten, hier am größten im Verhältnis zu dem Atomgewicht
oder zu der in dem chemischen Gesamtatom vorauszusetzenden An-
zahl von Uratomen. Zusammen mit der Tatsache der regelmäßigen
Differenzen zwischen den Atomgewichten scheinen demnach auch diese
Erfahrungen die Anschauung zu unterstützen, daß die Unterschiede
533 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der chemischen Atome auf gesetzmäßigen Gruppierungen einfacherer
Urbestandteile beruhen. Ist aber diese Voraussetzung richtig, so werden
dann wiederum die sonstigen physikalischen Eigenschaften der unzer-
legbaren Stoffe, wie Aggregatzustand, elektrisches Verhalten, Licht-
brechungsvermögen, in einem gewissen Zusammenhang mit der Ver-
bindungsweise der Uratome und mit der etwa stattfindenden Sub-
stanzverdichtung stehen müssen. In der Tat war es möglich, einige
Beziehungen dieser Art insofern aufzufinden, als auf der das Verhält-
nis zwischen Atomvolum und Atomgewicht darstellenden Kurve den
Punkten von entsprechender Lage analoge physikalische Eigenschaften
der Elemente korrespondieren. Nur eine physikalische Eigenschaft
macht in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme: die spezifische
Wärme, deren Verhältnis zu dem Atomgewicht, wie wir oben (S. 516,
521) sahen, nach dem Gesetze von Dulong und Petit ein konstantes ist,
eine Tatsache, die darauf hinzuweisen scheint, daß die im gewöhnlichen
Sinne angenommenen chemischen Atome selbst die Träger der Wärme-
schwingungen sind. Auch bliebe es möglich, daß die Abweichungen,
welche die Atomwärmen verschiedener Elemente bei wechselnden
Temperaturen darbieten, aus der mit wachsender Temperatur zu-
nehmenden Beteiligung der Uratome an den Wärmeschwingungen zu
erklären wären, wie schon lange vorher Kopp in Bezug auf die Elemente
Kohlenstoff, Brom und Silicium, deren Atomwärme in besonders hohem
Grade mit der Temperatur schwankt, angenommen hatte.
Dieses zumeist auf die Analogie zwischen chemischen Atomen
und Molekülen zurückgehende Beweismaterial suchte man noch durch
eine Analogie anderen Ursprungs zu verstärken. Sie bestand darin,
daß die Spektra der Elemente beim Übergang von niedrigeren zu höheren
Temperaturen ähnliche Veränderungen wie die Spektra der Verbin-
dungen unter der nämlichen Bedingung darbieten. Da nun die Tem-
peratursteigerung die allgemeinste Ursache der chemischen Dissoziation
ist, so erweckt dies Verhalten die Vermutung, daß auch die Elemente
dissoziationsfähig, also zusammengesetzt seien*). Unterstützt wird
eine solche Folgerung durch die Vergleichung der Fixsternspektren,
welche zeigt, daß, je wärmer ein Stern, desto einfacher sein Spektrum
ist, und daß mit abnehmender Temperatur der Gestirne die metallischen
Elemente in der Reihenfolge ihrer Atomgewichte erscheinen. Auch die
Untersuchung der sogenannten planetarischen Nebel trat für die näm-
*, J. N. Lockyer, Studien zur Spektralanalyse, deutsche Ausgabe,
1879, S. 172.
Der chemische Atombegrift. 533
liche Vermutung ein, da die Spektralanalyse nachwies, daß viele der-
selben vorwiegend aus einfachen Gasen von niedrigem Atomgewichte,
besonders aus Wasserstoff und Stickstoff, bestehen.
b. Die Elektronentheorie und die Hypothese der Zusammen-
setzung der Atome.
Diese Folgerungen haben schließlich eine wichtige Stütze in einer
noch weit über die einstige Hypothese Prouts hinausgehenden Richtung
durch die Beobachtungen empfangen, die sich an die früher (S. 458)
erwähnte Entdeckung der Strahlungen des Radiums anschlossen und
den engen Zusammenhang dieser mit den Kathoden-, Anoden- und
Röntgenstrahlen erwiesen. Die unter Wärmeentwicklung erfolgende
Strahlung des Radiums beruht, wie besonders die Beobachtungen
Rutherfords lehren, auf einer Mischung von Vorgängen, bei denen sich
die Materie in den verschiedensten Graden der Dissipation zu be-
finden scheint. Denn sobald diese Strahlung der Einwirkung elektrischer
oder magnetischer Kräfte unterworfen wird, sondert sie sich durch die
verschiedene Ablenkung, die die Strahlen erfahren, in mehrere charak-
teristisch verschiedene Teile. Vor allem sondert sich hier eine Gattung
solcher Strahlen als die leichtbeweglichste, die in allen Eigenschaften den
negativen Elektronen gleicht, welche von der Kathode einer evakuierten
Röhre ausgehen (Rutherfords ß-Strahlen). Daran schließen sich träger
bewegliche, die den positiv elektrisch geladenen Atomen des Radium-
metalls entsprechen und demnach, ähnlich den von der Anode der gas-
verdünnten Röhre ausgehenden Strahlen, als positive Ionen im Sinne
der bei der Elektrizitätsleitung in Elektrolyten gebildeten Begriffe be-
zeichnet werden können («-Strahlen).. An die letzteren schließt sich
eine dritte Gattung, die durch elektrische und magnetische Kräfte
gar nicht abgelenkt wird und die sich im übrigen ähnlich den Röntgen-
strahlen verhält (y-Strahlen). (Vgl. oben S. 345 £.) Außer diesen Elek-
tronen und Ionen scheidet sich endlich noch ein chemisch indifferentes
Gas aus, die „Emanation“, das nach seinem spektroskopischen Verhalten
mit einem zuerst in sehr kleiner Menge in der Sonnenatmosphäre, dann
in größerer in den Spektren der heißesten Fixsterne und spurweise auch
in der irdischen Atmosphäre und in einigen Mineralien von W. Ramsay
gefundenen Helium identisch ist, und das selbst wiederum positive
Ionen (a-Strahlen) aussendet. So bieten sich hier Elektronen, elektrisch
geladene Atome (Ionen) und Atomgruppierungen nebeneinander und
zum Teil im Übergang ineinander, Damit eröffnet sich ein Ausblick
auf Anschauungen, nach denen die bisher angenommenen chemischen
534 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Atome nur noch eine relative Konstanz beanspruchen können, während
in dem Maße, als sich hier engere Beziehungen zu den physikalischen
Vorstellungen über die Konstitution der Materie gestalten, zugleich
neue Probleme sich auftun, unter denen das der chemischen Affinität mit
dem ihm eng verbundenen der Valenz wiederum im Vordergrund steht.
Als die nächste unter diesen Folgen erscheint aber die Reform
des Atombegriffs. Hatten die seit Prout schwebenden Spekulationen
über die Verhältnisse der Atomgewichte und der chemisch-physikalischen
Eigenschaften der für einfach gehaltenen Stoffe die Frage, ob diese
Stoffe als die wahren Elemente anzusehen seien, nicht zur Ruhe kom-
men lassen, so schien nun das wesentlichste Erfordernis jener An-
nahme, die Konstanz der chemischen Atome, unmöglich geworden. Das
Radium, obgleich nach allen bis dahin gültigen Kriterien ein ein-
facher Körper, erwies sich, wie die Emanation zeigte, als eine zusammen-
gesetzte Substanz, und es erwies sich, wie überdies seine fortwährende,
ohne Ersatz stattfindende Wärmeabgabe lehrte, als ein vergänglicher
Körper. So konnten die bisher für konstante Elemente der Materie
gehaltenen chemischen Atome nur noch als relativ stabile Gebilde
gelten, stabiler im allgemeinen als die bekannten chemischen Ver-
bindungen, aber nicht von absoluter Dauer, wie man bis dahin an-
genommen und als eine empirische Bestätigung des Gesetzes der Kon-
stanz der Materie angesehen hatte. Die Anzahl der während einer
bestimmten Zeit ausgesandten Ionen und der beobachteten Helium-
entwicklung ließ sogar die Lebensdauer des Radiums und seiner Mutter-
substanzen, des Uran und Thorium, annähernd berechnen. Mochte
diese Zeit selbst für die zersetzbarsten Elemente noch so lang sein,
die Vermutung ließ sich nicht abweisen, daß die Stabilität der che-
mischen Elemente überhaupt nur eine relative sei, und daß daher der
Satz von der Konstanz der Materie wenigstens für die bis dahin ange-
nommenen Elementarstoffe nicht gelte.
Zugleich mit diesem negativen Ergebnis eröffnet aber die Stufen-
folge der Produkte, die jene auf dem Weg der Strahlung und Emanation
erfolgende Selbstzersetzung eines chemischen Elementes darbietet,
unmittelbar die Aussicht auf eine weitere Reihe von Problemen, die
das Wesen der chemischen Affinität und ihren Zusammenhang mit
den elektrischen Kräften berühren. Jene Reihenfolge der Strahlungs-
erscheinungen, Elektronen, Ionen, Heliumemanation, führt anschei-
nend direkt von dieser als der elektrisch neutralen Atomgruppe
zurück zum Atom mit elektrischer Ladung und endlich, als zu dem
letzten nicht weiter zerlegbaren Bestandteil, zu der Ladung selbst,
Der chemische Atombegrift. 535
dem isolierten negativen und dem wahrscheinlich nur vorübergehend
im isolierten Zustand existierenden positiven Elektron. Schon diese
Reihenfolge legt die Vermutung nahe, in den negativen und positiven
Elektronen selbst seien die letzten Bestandteile der Materie zu sehen,
aus deren Zusammensetzung relativ stabile Gebilde dann hervorgehen
können, wenn die positiven und negativen Ladungen sich kompen-
sieren. Solche relativ stabile Verbände würden dann die gewöhnlich
sogenannten chemischen Atome sein. Sie würden aber natürlich nicht
minder geeignet sein, sich unter ihrem Bilde die beweglichen Teil-
chen zu denken, deren die Physik bei der Erklärung der Eigenschaften
der Gase und Flüssigkeiten oder der Wanderung der Ionen in den
Elektrolyten bedarf. Die lange gesuchte Einheit der chemischen und
der physikalischen Atomtheorie würde also damit auf dem neutralen
Boden einer elektrischen Elementartheorie erreicht sein, die es je nach
Bedürfnis erlaubte, die Zusammensetzung wie die Stabilität der Gebilde
von wechselnder Beschaffenheit zu denken. Für die chemischen
Atome würde sich aber mit einem solchen hypothetischen Aufbau aus
Elektronen auch das Problem der Affinität und der Valenz in ein elek-
trisches umwandeln, ein Ziel, auf das schon längst von den Erschei-
nungen der Elektrolyse aus die Vorstellungen über die Bewegungen
der Ionen hinwiesen. Der Elektronentheorie würde dann zugleich die Auf-
gabe gestellt sin, über die Valenz der chemischen Elemente auf der
Grundlage der von ihr entwickelten Vorstellungen über die Konstitution
der Atome Rechenschaft zu geben. Die Zukunft muß lehren, ob die Ver-
suche, die in dieser Richtung gemacht worden sind, dieses Ziel einer
alle Erscheinungen der chemischen Affinität zusammenfassenden
Theorie erreichen. Die Mittel dazu liegen einerseits in den durch das
verschiedene Verhalten der positiven und der negativen Elektronen
gegebenen Bedingungen, anderseits in den in einem ziemlich weiten
Spielraum möglichen, selbst ihre Direktive durch das chemische Ver-
halten der Stoffe empfangenden Voraussetzungen, die über die Grup-
pierungen der Elemente in den einzelnen chemischen Atomen je nach
ihren Affinitätseigenschaften zu machen sind*). Der nächste Schritt
freilich, der hier zu tun wäre, um solchen Spekulationen einen
sicheren Boden zu bereiten, würde in dem Nachweis bestehen müssen,
daß jene bis jetzt nur bei einigen seltenen Metallen beobachteten Strah-
lungserscheinungen in irgend einem Grade auch bei den stabileren
chemischen Atomen nicht fehlen.
*)J.J. Thomson, Elektrizität und Materie, 1904, Phil. Mag. (6), Vol. VII,
1904, p. 237 ff, besonders 255 ff. Arrhenius, Theorien der Chemie, S.77ft.
536 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
@ Die chemischen Elemente und das Prinzip der Konstanz der
Materie.
Wie es sich nun aber hiermit verhalten möge, in einer Be-
ziehung wird die Möglichkeit einer allgemeinen Durchführung der
Elektronentheorie und der Nachweis der zusammengesetzten, nur
relativ stabilen Beschaffenheit der chemischen Elemente unsere Vor-
stellungen von der Materie selbst ungeändert lassen. Diese wird,
auch wenn sich alle bis dahin für einfach gehaltenen Stoffe als zu-
sammengesetzt erweisen, in den letzten Elementen, in die die relativ
stabilen Atome zerfallen, selbst wieder als unveränderlich vorausge-
setzt werden. Falls die Elektronen diese letzten Elemente sein
sollten, so würden daher sie die vorauszusetzenden absoluten Atome
sein; sollte sich aber irgend einmal die Nötigung ergeben, auch
die Elektronen wieder zusammengesetzt anzunehmen, so würde der
Begriff der letzten unteilbaren Elemente nur abermals um eine Stelle
weiter zurückrücken. Auch wird diese Situation nicht wesentlich ver-
ändert, wenn man, wie es in einigen der mathematischen Ausge-
staltungen der Theorie geschehen ist, den Voraussetzungen der Elek-
tronen- und denjenigen der elektromagnetischen Lichttheorie gleichzeitig
gerecht zu werden sucht, indem man den für die letztere angenom-
menen Äther als ein kontinuierliches Substrat betrachtet, in welchem
sich die Elektronen bewegen*). Vielmehr kommt damit nur jener
abstrakt begriffliche Charakter, der sich in der Verschiedenheit der
Materie von dem Verhalten wirklicher Körper und Flüssigkeiten äußert,
abermals darin zum Vorschein, daß sich nun auch die Elektronen
wiederum widerstandslos in diesem Äther bewegen. (Vgl. oben $. 459 fi.)
Darum hat hier die Annahme eines letzten Elementes überhaupt
nicht die metaphysische Bedeutung einer niemals zu überschreitenden
Grenze. Würde doch der Begriff eines absoluten Elementes in diesem
metaphysischen Sinne selbst die Grenze möglicher Erfahrung über-
schreiten, so daß er als Grenze der Erfahrung niemals vorkommen
kann. Vielmehr kann für die empirische Analyse der Erscheinungen
das letzte immer nur das für den gegebenen Zustand der Erfahrung
letzte Element bezeichnen, dem als weitere relative Elemente alle
jene Einheitsbegrifie gegenüberstehen, die, wie die gewöhnlichen
chemischen Atome oder in gewissen physikalischen Zusammenhängen
die für sich isoliert beweglichen Teilchen, durch eine unter anderen
*), H.A, Lorentz, Sichtbare und unsichtbare Bewegungen. Deutsch
von Siebert. 1902. Ergebnisse und Probleme der Elektronentheorie. 1905.
Der chemische Atombegriff. 537
Gesichtspunkten unternommene physikalisch-chemische Analyse sehr
wohl weiter zerlegt werden können.
Wie auf diese Weise jede Theorie der Materie letzte Elemente
voraussetzen muß, ohne jemals behaupten zu dürfen, daß die bei dem
gegenwärtigen Stand der Erfahrung gefundenen für alle Zeit die
letzten bleiben werden, so muß sie auch zu jeder Zeit solche
Elemente als unzerstörbar in dem Sinne denken, daß, wenn in der
Zukunft eine weitere Zerlegung möglich sein sollte, die resultieren-
den neuen Elemente abermals als unzerstörbar angenommen würden,
Denn diese Voraussetzung gilt in Wahrheit für die Elemente nur
insofern, als sie für die materielle Substanz überhaupt gilt. Sie ist
eingeschlossen in dem aller objektiven Erkenntnis zu Grunde liegen-
den Prinzip, daß alle Veränderungen der Objekte nicht in den
qualitativen Veränderungen, die unserer subjektiven Empfindung an-
gehören, sondern daß sie allein in den wechselnden objektiven Be-
wegungen oder Gruppierungen eines von unserer Empfindung unab-
hängigen und erst bei der Wirkung auf unsere Sinne Empfindungen
auslösenden Substrates bestehen können. Die Elemente der Materie
sind also konstant, weil sie als solche auch in ihren Verbindungen
konstant sind und jede Veränderung zusammengesetzter Gebilde in
räumlichen Änderungen der sie konstituierenden Elemente bestehen muß.
Nicht die Voraussetzung letzter absoluter Elemente führt also zur
Annahme der Konstanz der Materie, sondern umgekehrt: die von vorn-
herein postulierte Beharrlichkeit der Materie führt zur Voraussetzung
letzter, an sich keiner Veränderung fähiger Elemente; und in
jedem Stadium wissenschaftlicher Analyse werden daher diejenigen Be-
standteile, die sich als unzerlegbar erweisen, im empirischen Sinne als
letzte Elemente betrachtet. Aber da im Hintergrund dieses empi-
rischen Elementes der Begriff des nie in der Erfahrung erreichbaren
metaphysischen Elementes steht, so kann damit die Möglichkeit
eines künftigen weiteren Regressus niemals negiert werden. Dieses
Verhältnis hängt durchaus mit der allgemeinen Entwicklung des Sub-
stanzbegrifis zusammen, wie er aus den Bedingungen der Anschauung
auf der einen und den besonderen Bedingungen der Verknüpfung der
in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen auf der anderen Seite her-
vorgegangen ist (Bd. I, S. 525 fi.). Abgesehen von jeder einzelnen Er-
fahrung ist, nachdem der Empfindungsinhalt der Erscheinungen sub-
jektiviert wurde, der Raum mit den in ihm möglichen Lageverhält-
nissen der Raumgebilde das Substrat, aus dem die Naturforschung
ihren Substanzbegriff zu bilden hat. Damit ist die Beharrlichkeit der
538 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Substanz als eine Eigenschaft gegeben, die sich auf jeder Stufe der
weiteren Entwicklung dieses Begriffs wiederfinden muß. Die Art jedoch,
wie die Elemente der Substanz, ihr Verhältnis und ihre Wechsel-
wirkungen bestimmt werden, ist innerhalb dieser durch die Raum-
und Zeitanschauung gegebenen formalen Bedingungen ganz und gar
von der Erfahrung und von dem Stadium abhängig, in dem sich jeweils
die Analyse der Erscheinungen befindet. Dies ist der Grund, weshalb
der Begriff der Substanz in seinen allgemeinsten Bestimmungen, seiner
Konstanz und seinen nur in wechselseitigen Bewegungen der Teile
bestehenden Veränderungen, nachdem erst einmal das Stadium der
Abstraktion vom Empfindungsinhalt erreicht ist, unabänderlich der-
selbe bleibt, während doch innerhalb dieses allgemeinen Umfangs
formaler Bestimmungen die konkreten Vorstellungen von der Materie
sich nicht nur fortwährend mit dem Fortschritt der naturwissenschaft-
lichen Analyse verändern, sondern selbst in einem gegebenen Stadium
je nach den besonderen Gesichtspunkten der Betrachtung verschieden
sein können. In dieser Zusammensetzung aus relativ apriorischen,
konstant bleibenden und empirisch veränderlichen Faktoren gleichen
die Voraussetzungen über die Materie vollständig den allgemeinsten
Naturgesetzen, insbesondere den Prinzipien der Dynamik mit ihrer
Zusammensetzung aus einem der reinen Bewegungsanschauung an-
gehörenden phoronomischen und aus einem empirischen Faktor. Auch
die Substanz ist in allen den Eigenschaften, die aus der Raum- und
Bewegungsanschauung in sie eingehen, maßgebend für alle speziellen
Voraussetzungen und in diesem Sinne ein a priori bestimmter
Begriff. In allem aber, was die besondere Gestaltung jener Voraus-
setzungen angeht, ist sie nach der Erfahrung orientiert, und ist sie zu-
gleich, insofern innerhalb jener fest bleibenden formalen Bedingungen
verschiedene Gestaltungen möglich sind, mehrdeutig bestimmt.
Eben deshalb bleiben die Voraussetzungen über die Materie, so nützlich
und notwendig sie sind, allezeit Hypothesen. Es ist schlechter-
dings gar keine Aussicht vorhanden, daß jemals irgend eine spezielle
Hypothese als die alleingültige erwiesen werden könnte. Gerade die
Entwicklung des chemischen Atombegrifis hat daher, abgesehen von
ihrer besonderen Bedeutung für die chemische Wissenschaft, auch noch
die allgemeinere erkenntnistheoretische, daß sie dieses Verhältnis des
definitiv Hypothetischen zu dem Allgemeingültigen in dem naturwissen-
schaftlichen Substanzbegrift mit besonderer Klarheit ins Licht stellt.
Die biologischen Methoden. 539
Drittes Kapitel.
Die Logik der Biologie.
1. Die biologischen Methoden.
a. Allgemeine Aufgaben der biologischen Forschung.
Schon der rohesten Beobachtung treten die spezifischen Eigen-
tümlichkeiten der Lebenserscheinungen so augenfällig entgegen, daß
die Unterscheidung der lebenden von den leblosen Körpern in die
ersten Anfänge der Wissenschaft zurückreicht. Die hierdurch bedingte
Abzweigung der biologischen Forschung von dem Gesamtgebiet der
Naturlehre ist für die Ausbildung der systematischen Teile der ersteren
ohne Zweifel förderlich gewesen. Doch mit den wachsenden Kenntnissen
der beschreibenden Naturgeschichte konnte die physiologische Er-
klärung der Lebenserscheinungen nicht gleichen Schritt halten. Bis
in den Anfang des 19. Jahrhunderts war daher fast das ganze Material,
über das die Physiologie zu ihren Schlüssen verfügte, der naturgeschicht-
lichen Forschung entlehnt, indem auch die Anatomie, diese Haupt-
stütze der Physiologie, ganz und gar im Sinne einer beschreibenden
Naturwissenschaft betrieben wurde. Die Versuche Harveys und seiner
Nachfolger über den Blutkreislauf, Hallers und Fontanas über die Sen-
sibilität und Irritabilität der tierischen Teile, Spallanzanis über die
Bedingungen der Befruchtung sind fast die einzigen Anfänge experi-
menteller Untersuchung aus älterer Zeit, die eine bleibende Bedeutung
in Anspruch nehmen können. Umso freier ergingen sich Physiologie
und Pathologie in den willkürlichsten Hypothesen. Vitalistische und
mechanistische Anschauungen wechselten in bunter Folge. Während
jene von vornherein einer Einordnung der Lebenserscheinungen in den
allgemeinen Kausalzusammenhang der Dinge entsagten, meinten diese
die Prinzipien der exaktesten physikalischen Disziplin, der Mechanik,
hier sofort anwenden zu können. Der Erfolg war in beiden Fällen ein
Gebäude von Hypothesen, dem die sichere Basis der Beobachtung
mangelte.
Diese Umstände, die in der Schwierigkeit der biologischen Auf-
gaben begründet sind, machen es begreiflich, daß die Biologie weiter
als irgend ein anderer Zweig der Naturforschung zurückgeblieben ist,
und daß noch jetzt, obgleich man sich mehr als früher der methodologi-
schen Forderungen bewußt geworden, der Streit der Hypothesen in
ihr eine bedeutsame Rolle spielt. Sogar die Anordnung und die wechsel-
540 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
seitige Abhängigkeit der einzelnen Disziplinen beginnt erst allmählich
eine logisch korrektere Form anzunehmen. Je mehr die systematische
Naturgeschichte in ihrer Ausbildung von der Physiologie eingeholt
wird, umso energischer erhebt diese den Anspruch, als das Fundament
der gesamten Biologie zu gelten. Auf der einen Seite zieht sie die ana-
tomische Untersuchung in ihre Dienste und verleiht ihr eine erhöhte
Fruchtbarkeit durch die Verbindung mit dem physiologischen Experi-
mente; auf der anderen Seite reformiert sie die Grundbegriffe der
Naturgeschichte und sucht dem Zusammenhang ihres Systems ein
genetisches Verständnis abzugewinnen. Gleichzeitig beginnt man das
Gebiet der abnormen Lebenserscheinungen nicht mehr als ein dem
normalen Leben fremdartiges zu betrachten. Die Pathologie sucht
sich in eine pathologische Physiologie umzuwandeln, indem sie auf
Grund physiologischer Tatsachen und Gesetze ein Verständnis der
Krankheitsformen und ihres Verlaufs zu gewinnen strebt.
In diesen Betrachtungen über die Entwicklung der biologischen
Aufgaben sind die Gesichtspunkte enthalten, nach denen die Gliederung
der biologischen Wissenschaften zu beurteilen ist. Wie die Gesamtheit
der Naturwissenschaften auf der Physik, so ruht die Biologie auf der
Physiologie als derjenigen Disziplin, die sich mit der Erklärung
der Lebenserscheinungen beschäftigt. Während hier deallgemeine
Physiologie die Probleme der Organisation und des Lebens über-
haupt zu untersuchen hat, sind die verschiedenen Gebiete der spe-
ziellen Physiologie bestrebt, den besonderen Gestaltungen
nachzugehen, die diese Probleme infolge der Existenz- und Organisations-
bedingungen der verschiedenen Klassen lebender Geschöpfe annehmen.
Mit jenem glücklichen Instinkt, mit dem so manchmal die Unter-
scheidungen der Sprache der wissenschaftlichen Zergliederung vorauseilen,
wurden von Anfang an Pflanze und Tier als die beiden Haupt-
objekte der speziellen Physiologie hingestellt. Die tiefer eindringende
Untersuchung hat, so sehr es infolge der Bemühungen um eine genauere
Begriffsbestimmung an Grenzverschiebungen nicht fehlte, doch im
ganzen daran nichts zu ändern vermocht. Auch die Annahme von
Zwischenwesen zwischen Pflanzen- und Tierreich würde, wenn sie
sich sollte rechtfertigen lassen, die Haupteinteilung in Pflanzen- und
Tierphysiologie kaum berühren, da gerade infolge ihrer systematischen
Stellung derartige Zwischenwesen dem Untersuchungsgebiet der all-
gemeinen Physiologie zugewiesen werden müßten. Dagegen steht nichts
im Wege, die beiden Teile der speziellen Physiologie nach theoretischen
oder praktischen Rücksichten noch weiter zu gliedern. So nimmt ın
Die biologischen Methoden. 94l
der Tat die Tierphysiologie in ihrer heutigen Gestalt vorwiegende
Rücksicht auf den Menschen, so daß sie ein Aggregat aus spezieller
Tierphysiologie und Physiologie des Menschen bildet, zu dem außer-
dem noch einzelne Entlehnungen aus der allgemeinen Physiologie zu
kommen pflegen. In weiterem Umfange als, wie hier, das praktische
Bedürfnis dürfte in der Zukunft das theoretische Interesse eine Ab-
lösung speziellerer physiologischer Untersuchungen fordern. Denn
nur durch die Erforschung der einzelnen ÖOrganisations- und Ent-
wicklungsbedingungen kann die Physiologie den Anspruch, für die
Systematik des Pflanzen- und Tierreichs eine erklärende Grundlage
zu schaffen, mit Erfolg zur Geltung bringen, ähnlich wie in der Chemie
das System der chemischen Verbindungen sich stützt auf das Studium
der chemischen Affinitätswirkungen. In der Tat hat in diesem Sinne
die Entwicklungsgeschichte bereits eine umfassende Verwertung gefun-
den. Doch wird die Bedeutung ihres Einflusses, so hoch sie an sich zu
stellen ist, bis jetzt noch beeinträchtigt durch die geringen Kenntnisse,
die wir von den Bedingungen der Entwicklungsvorgänge besitzen.
Während auf diese Weise die Physiologie durch ihre fortgesetzte
Spezialisierung die systematische Naturgeschichte der Organismen aus
sich hervorgehen läßt, führt auf der anderen Seite von selbst die normale
zur pathologischen Physiologie, indem die Beeinträchtigung der Lebens-
funktionen durch willkürlich gesetzte Störungen überall schon in
der normalen Physiologie als eines der wirksamsten Hilfsmittel Ver-
wendung findet. Wie dort zwischen Physiologie und Systematik eine
vergleichende Physiologie, so tritt darum hier zwischen
Physiologie und Pathologie eine experimentelle Patho-
logie als vermittelnde Hilfswissenschatft.
b. Die morphologische Analyse.
Die Anatomie hat sich zwar aus praktischen Ursachen speziell
als Anatomie des Menschen eine selbständige Stellung errungen. Theo-
retisch betrachtet ist sie aber keine besondere Wissenschaft, sondern
eine mit eigentümlichen Hilfsmitteln arbeitende physiologische Methode
und eine Darstellung der Resultate, die mittels dieser Methode gewonnen
wurden. Zwar scheint sie sich auf den ersten Blick dadurch von der
Physiologie zu unterscheiden, daß sie am toten, diese am lebenden
Körper ihre Studien macht*). Aber gerade dies ist nur ein Unterschied
*) Vgl. Cohnheim, Vorlesungen über allgem. Pathologie, 2. Aufl.,
LSs.8R ,
542 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der Methode, und ein solcher, der nicht einmal überall standhält. Es
gibt eben physiologische Tatsachen, die sich auch noch an der Leiche
feststellen lassen; und sie sind es, welche die Anatomie mit den ihr ver-
fügbaren Methoden untersucht. Aber im einzelnen findet diese Regel
mannigfache Ausnahmen. Wo wir Grund haben anzunehmen, daß
unmittelbar nach dem Tode erhebliche Veränderungen eintreten, wie
bei der Elementarstruktur jugendlicher Zellen, der Nervenfasern u. dgl.,
da verlangt auch der Anatom, daß die Teile während des Lebens unter-
sucht werden. Er gestattet sich also die Untersuchung des toten Orga-
nismus nur insoweit, als die Voraussetzung erlaubt ist, daß keine durch
die anatomischen Methoden nachweisbaren Strukturveränderungen in-
folge des Todes eingetreten sind.
Es gibt nur ein Merkmal, das klar und scharf die Anatomie von
den übrigen Gebieten der Physiologie trennt. Es liegt darin, daß sich
die Anatomie allein mit jenen Eigenschaften und Vorgängen beschäf-
tigt, die in der Form der lebenden Wesen und ihrer Teile zum Aus-
druck kommen. Aber auch dies beruht bloß auf einem Unterschied der
Methode. Denn es ist begreiflich, daß die Untersuchung der Form-
verhältnisse eigentümliche Methoden verlangt, die z. B. von den zur
Untersuchung der Stoffbestandteile, der mechanischen, thermischen,
elektrischen Eigenschaften benützten Methoden wesentlich abweichen.
Die Form ist deshalb kein von diesen anderen Eigenschaften isoliertes
oder wenigstens auf die Dauer zu isolierendes Objekt. Vielmehr wird
ein Verständnis der Formen schließlich nur durch die Berücksichtigung
aller anderen physiologischen Faktoren zu gewinnen sein. In der Tat
ist dieser Standpunkt der Betrachtung in der Pflanzenphysiologie be-
reits allgemein zur Anwendung gelangt. Nur in der animalischen Physio-
logie taucht der Gedanke einer Morphologie, die es mit eigen-
tümlichen, allen sonstigen physiologischen Erscheinungen fremd-
artig gegenüberstehenden Gestaltungsgesetzen der tierischen Körper
zu tun habe, zuweilen noch auf. Er ist hier als ein Rest jener Ver-
wechslung ästhetisierender Naturbetrachtung mit wirklicher Natur-
erklärung zurückgeblieben, die als eine Nachwirkung der Schelling-
schen Naturphilosophie in der systematischen Naturgeschichte lange
noch einen bedeutsamen und während einer gewissen Zeit in mancher
Beziehung fruchtbaren Einfluß ausgeübt hat*).
*) Es sei hier erinnert auf botanischem Gebiet an die morphologischen
Arbeiten von C. Schimper und Alex. Braun, und an die großenteils
der tierischen Morphologie gewidmeten Betrachtungen von H. G. Bronnin
seinen „Morphologischen Studien“. Vgl. Abschn. I, S. 56 fi.
Die biologischen Methoden. 45
Schon bei der anatomischen Methode kommt nun sofort eine
Eigentümlichkeit der biologischen Methodik zur Geltung, die in der
Schwierigkeit und Verwicklung der Probleme ihren naheliegenden
Grund hat. Sie besteht in dem großen Übergewicht des analy-
tischen Elementes. In dieser Beziehung steht der gegenwärtige
Zustand der Biologie noch um eine Stufe zurück hinter dem der chemi-
schen Forschung. In der Biologie geht die Untersuchung fast völlig
auf ineiner AnalysederErscheinungen. Innerhalb dieser
nimmt die anatomische oder morphologische Analyse die erste Stelle
ein, nicht nur, weil sie am frühesten und unmittelbarsten sich darbietet,
sondern auch, weil ohne sie ein fruchtbarer Übergang zu den anderen
Methoden nicht zu gewinnen ist. Die morphologische Analyse zerfällt
aber wieder in verschiedene Stadien. Nach den Hilfsmitteln, mit denen
sie operiert, lassen sich deren drei unterscheiden. Das erste be-
steht in der Zerlegung des zusammengesetzten Organismus in seine
Organe und Gewebe. Es erledigt diejenigen Aufgaben, die man, weil
sie sich zumeist ohne die Hilfe des Mikroskops erledigen lassen, häufig
der „gröberen Anatomie“ zurechnet; wir ziehen es vor, die hierher ge-
hörigen Methoden, weil sie durchgängig mechanischer Art sind, als die
der mechanischen Morphologie zu bezeichnen. Das
zweite Stadium sucht, an das erste anknüpfend, die Organe und
Gewebe in ihre Formelemente zu zerlegen. Es bedarf dazu
des Mikroskops und seiner Hilfsapparate und mag daher das Stadium
der optischen Morphologie genannt werden. Endlich das
dritte begnügt sich nicht mit einer Analyse der vorhandenen Form-
elemente, sondern es sucht auf diese durch physikalische und chemische
Hilfsmittel verändernd einzuwirken, um über ihre funktionelle Bedeu-
tung Aufschluß zu gewinnen: das Stadium der experimentellen
Morphologie. Man darf sich nun aber nicht vorstellen, daß diese
Stadien strenge zu sondern seien. Vielmehr finden sich im einzelnen
mannigfache Abweichungen von jener regelmäßigen Reihenfolge. Einer-
seits sehen sich die früheren Stufen genötigt, gelegentlich die Hilfsmittel
der späteren zu ihren Zwecken herbeizuziehen; und anderseits werden
die Hilfsmittel und Resultate der früheren in die späteren hinüber-
genommen. So gewinnen mechanische Gesichtspunkte eine große Be-
deutung in der optischen Morphologie, und die Hilfsmittel dieser bilden
fortan einen integrierenden Bestandteil der experimentellen morpho-
logischen Untersuchung.
Sehen wir ab von solchen Übergängen und Wechselwirkungen,
so ist drmechanischen Morphologie in der Untersuchung
544 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der Lage- und Formverhältnisse der unmittelbar sinnlich wahrnehm-
baren Organe und Gewebe ihr Arbeitsgebiet klar vorgezeichnet. Sie
hat keineswegs eine bloße Beschreibung der Teile zu geben, wie dies
in der älteren Anatomie geschah, sondern, so weit sie es mit ihren
Hilfsmitteln vermag, hat sie in die Bedingungen der Formeigentüm-
lichkeiten einzudringen, die sich ihr durch die anatomische Zergliede-
rung erschließen. Eine Beschreibung des Skeletts, die auf die Wachs-
tumsbedingungen und die mechanische Bedeutung der Knochenformen
keine Rücksicht nimmt, eine Untersuchung des Muskelsystems, die
den Zusammenhang der Elastizität, Form und Anordnung der Muskeln
mit ihrer Funktion mit Stillschweigen übergeht, eine Darstellung der
Kreislaufsorgane, die von den hydraulischen Prinzipien, die ein Ver-
ständnis derselben erschließen können, nichts zu sagen weiß — eine
Anatomie dieser Art würde eine Wissenschaft sein, aus welcher der
Geist der Wissenschaft verschwunden wäre. Nun liegt es in der Natur
der anatomischen Probleme, die mit denen der praktischen Mechanik
die größte Verwandtschaft haben, daß die anatomische Untersuchung
zunächst von teleologischen Prinzipien geleitet wird*). Der nächste
Standpunkt der mechanischen Morphologie ist daher der, daß sie in
dem Organismus einen natürlichen Mechanismus sieht, dessen Ein-
richtungen sie mit Rücksicht auf seine Leistungen zergliedert. Aber es
ereignet sich von selbst im Verlaufe dieser Untersuchung, daß sich die
teleologische in die kausale Betrachtung umkehrt. Indem der Orga-
nismus bestimmte mechanische Leistungen verrichtet, sind die Organe,
die sich daran beteiligten, selbst mechanischen Bedingungen unter-
worfen, die zu einem großen Teil in der Funktion ihre Quelle haben und
verstärkend auf die Leistungsfähigkeit der Organe zurückwirken. Die
Anordnung der absorbierenden und saftführenden Zellen in der Pflanze
ist in eminentem Sinne zweckmäßig für die Mechanik des Stoflaus-
tausches, und der letztere erzeugt wieder Wachstumsbedingungen,
welche die Zweckmäßigkeit der Struktur befestigen und vergrößern**).
Die Gelenkenden der Knochen sind vortreflliche Hilfsmittel für die
Mechanik der tierischen Bewegungen, diese Bewegungen aber ver-
leihen ihrerseits den Gelenken die zur Funktion günstigste Beschaffen-
heit, indem die in Kontakt tretenden Flächen sich abschleifen, der
Muskelzug die Angrifisstellen der bewegenden Kräfte zweckmäßig ge-
staltet, und schließlich der mechanische Druck selbst auf die Ernährung
*) Vgl. hierzu die allgemeinen Erörterungen über das Zweckprinzip, Bd. I,
S. 619 fi.
**) W, Pfeffer, Pflanzenphysiologie?, II, Kap. I—-VII.
Die biologischen Methoden. 545
in solcher Weise zurückwirkt, daß die Ablagerung der Knochenmasse
den mechanischen Bedingungen sich anpaßt. Dieser mechanischen
Analyse der Entstehungsbedingungen der Funktion tritt dann die
ihrer Wirkungen zur Seite, indem man teils auf theoretisch-
mechanischem, teils auf experimentell - physiologischem Wege ihre
funktionelle Bedeutung zu ermitteln sucht. Ihre glänzendsten Erfolge
hat diese mechanische Funktionsanalyse begreiflicherweise in der
Anatomie des menschlichen Skeletts und seiner Gelenke aufzuweisen*).
Vielfach zeigt es sich jedoch, daß die mechanischen Hilfsmittel
zur Lösung schon der einfachsten morphologischen Aufgabe, der ge-
nauen Beschreibung der Teile, nicht ausreichen, sondern daß die Unter-
suchung zur optischen Morphologie ihre Zuflucht nehmen
muß. Nach ihrem logischen Charakter ist die mikroskopische Er-
forschung der Gewebe und Organe eine bloße Fortsetzung der mechani-
schen. In nicht anderer Weise als diese sucht auch jene die Organismen
in die durch ihre äußere Form unterscheidbaren Bestandteile zu zer-
legen. Aber durch die Herbeiziehung optischer Werkzeuge gelingt es
ihr, was für das bloße Auge homogen erscheint, in weitere Teile zu
trennen; dadurch erhebt sie sich zu der Untersuchung der Form-
elemente und ihrer Beziehungen, bei der sie übrigens
selbstverständlich die Hilfsmittel der mechanischen Zerlegung mit
verwendet, indem sie nur, der Kleinheit ihrer Objekte entsprechend,
durchgehends einer feineren Technik bedarf. Teils weil diese Technik
immer noch verhältnismäßig roh ist den zarten und leicht zerstörbaren
mikroskopischen Objekten gegenüber, teils weil für die optische Zer-
gliederung nur solche Formbestandteile unterscheidbar sind, die
verschiedenes Lichtbrechungsvermögen besitzen, sieht sich nun die
optische Morphologie genötigt, zahlreiche weitere Hilfsmittel herbei-
zuziehen, die irgendwie verändernd auf die untersuchten Formelemente
einwirken und so Gegenstände zur Anschauung bringen, die dieser
sonst mehr oder minder entgehen würden. Hierher gehören die zahl-
reichen Härtungs- und Färbungsmethoden, von denen die ersteren
hauptsächlich dazu bestimmt sind, den Lagezusammenhang der Ele-
mente weicher Gewebe sichtbar zu machen, während die letzteren
die Unterschiede der Gewebe oder Formelemente erkennen lassen,
daher sich diese Färbungsmittel besonders dann nützlich erweisen,
*) W. und Ed. Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge,
1836. W. Braune und O. Fischer in den Abh. der kgl. sächs. Ges. d,
Wiss., math.-phys. Kl., Bd. 14, 15, 17 und 18.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl, 35
546 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
wenn sie sich infolge chemischer Einwirkungen nur mit einzel-
nen Bestandteilen verbinden, während andere unverändert bleiben.
Je mehr es bis jetzt fast ausschließlich das Glück des Zufalls
ist, das den Mikroskopiker bei der Wahl solcher Mittel leitet, umso
reicher ist der Vorrat möglicher Hilfsquellen, und umso leichter
scheint es denkbar, daß auf diesem Wege trotz der unzähligen Versuche,
die schon gemacht sind, auch in der Zukunft noch manches erreichbar
sei. Viel wichtiger aber als eine Vermehrung dieser sekundären Hilfs-
mittel würde es sein, wenn die Leistungsfähigkeit des Mikroskops selber
noch weiter vergrößert werden könnte. Denn gewiß mit Recht hat man
bemerkt, daß die Entdeckungen der mikroskopischen Anatomie in erster
Linie den Optikern zu verdanken sind*). In der Tat, wie die Ein-
führung des zusammengesetzten Mikroskops in das Arbeitszimmer des
Biologen unmittelbar gefolgt war von der Entdeckung der Formelemente
des Pflanzen- und Tierkörpers, so ist in der neuesten Zeit die Auffindung
einer feineren Struktur dieser Formelemente eine unmittelbare Rück-
wirkung der Einführung der Linsenimmersion mit ihrer stärkeren und
lichtreicheren Vergrößerung und den sich an sie anschließenden wich-
tigen Verbesserungen der optischen Technik durch Ernst Abbe ge-
wesen**). Eine bedeutsame Hilfe entsteht der unmittelbaren optischen
Zergliederung außerdem durch die Herbeiziehung von Polarisations-
instrumenten, die teils über kristallinische Strukturen der mikro-
skopischen Objekte, teils über ungleiche Spannungsverhältnisse der
festen Gewebe Aufschluß geben, wobei freilich die Beobachtung häufig
zwischen diesen beiden Deutungen die Wahl läßt***).
So wenig wie die mechanische kann sich aber die optische Morpho-
logie auf eine bloße Beschreibung des Gesehenen beschränken. Viel-
mehr wird sie von selbst dazu gedrängt, über die mechanischen Be-
dingungen Rechenschaft abzulegen, denen die einzelnen Formelemente
eines Gewebes vermöge ihrer Wechselwirkungen ausgesetzt sind. Bei
zahlreichen pflanzlichen und tierischen Geweben genügt ein Blick in
das Mikroskop, um dem Beobachter die Überzeugung zu geben, daß
die Form der Elemente wesentlich durch die Art ihrer Koexistenz be-
stimmt wird. Bei der Pflanze nehmen dadurch die Grenzlinien der
Zellwände und ihrer Komplexe nicht selten geometrisch regelmäßige
Formen an, die unmittelbar Rückschlüsse auf die mechanischen Wachs-
*) Flemming, Zellsubstanz, Kern und Zellteilung, 1882, S. 9.
**) Q, Wiener, Nekrolog auf E. Abbe, Berichte der sächs. Ges. d. Wiss,,
1906.
***) Nägeliund Schwendener, Das Mikroskop, 1867, 8. 307 ff.
Die biologischen Methoden. 547
tumsbedingungen gestatten*). In tierischen Geweben sind die Ver-
hältnisse durchweg verwickelter; doch begegnen uns auch hier, wie
z. B. in den Epithelial- und Drüsengeweben, gewisse regelmäßige An-
ordnungen**). Alle derartige Untersuchungen über die wechselseitige
Formbestimmung der morphologischen Elemente müssen jedoch ge-
wisse Fundamentalbedingungen als gegeben hinnehmen, weil deren
kausale Verfolgung der mikroskopischen Zergliederung als solcher ver-
schlossen bleibt. Diese Bedingungen bestehen vor allem in der un-
gleichen Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Elemente und
Elementenkomplexe. Über sie lassen sich nicht oder doch nur zum
allergeringsten Teil durch die bloße Beobachtung Aufschlüsse gewinnen.
Hier muß sich daher die mikroskopische Untersuchung mit den anderen
biologischen Methoden verbinden. Für dieses wie für manche ähnliche
Probleme ist daher die Kombination mit der experimentellen Ein-
wirkung fruchtbringend geworden.
Die Methoden der aus einer solchen Kombination hervorgehenden
experimentellen Morphologie bilden, diesem gemischten
Ursprung gemäß, nicht eigentlich selbständige Verfahrungsweisen,
sondern sie sind Verbindungen der mikroskopischen Beobachtung
mit verschiedenen Formen des physiologischen Experimentes. Dabei
werden aber diesem durch die Verhältnisse der ersteren Schranken
auferlegt, die hier dem Experiment eine eigentümliche Stellung sichern.
Vor allem sind zwei Bedingungen für dasselbe charakteristisch. Erstens
kann es sich nur auf solche Vorgänge beziehen, die an den mikro-
skopischen Gebilden isoliert zur Erscheinung kommen, und zweitens
ist es im allgemeinen nicht möglich, die Elemente, deren experimentelle
Beeinflussung beabsichtigt wird, allein zu verändern. Beide Bedingungen
stehen miteinander und zugleich mit den schwierigen, nur in entfernter
Annäherung erreichbaren Aufgaben der experimentellen Morphologie
im Zusammenhang. Diese bezweckt schließlich eine experimentelle
Untersuchung der elementaren Lebensprozesse. Bis jetzt ist es aber
nur möglich die letzteren zu verfolgen, insoweit sie sich in unmittel-
baren Veränderungen des mikroskopischen Bildes oder allenfalls noch
derjenigen Eigenschaften zu erkennen geben, die sich der Untersuchung
mit dem polarisierten Lichtstrahl verraten; alle sonstigen physi-
*) J. Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, S. 531. Pfeffer,
Pflanzenphysiologie?, II, S. 52 ff.
**) W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus, 1881. Gesammelte
Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen, 2 Bde., 1895. Vor-
träge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik, I, 1905.
548 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
kalischen und chemischen Veränderungen bleiben ausgeschlossen.
Ein wichtiger Unterschied solcher Experimente von den an größeren
Organen oder am ganzen Pflanzen- und Tierorganismus auszuführenden
besteht nun darin, daß das mikroskopische Experiment eine räumliche
Isolierung der Einwirkungen nur in sehr unvollkommener Weise vor-
nehmen kann. Dadurch beschränken sich wesentlich seine Aufgaben.
Sein hauptsächlichstes Gebiet blieben bis jetzt de elementaren
Bewegungsvorgänge, wie Protoplasma-, Wimper- und Muskel-
bewegungen, letztere namentlich mit Rücksicht auf die etwaigen Ver-
änderungen der doppelbrechenden Muskelelemente. Daran schließt
sich das Studium der kapillaren Kreislaufserscheinungen und der in
das pathologische Gebiet der Entzündungs- und Exsudationsprozesse
herüberreichenden Effekte experimenteller Einwirkungen. Auch die
Regenerations-, Befruchtungs- und Entwicklungserscheinungen sind in
mannigfacher Weise Objekte der experimentellen Morphologie ge-
worden. Gegenüber diesem Umfang wachsender Aufgaben ist das
Inventar experimenteller Methoden ein verhältnismäßig beschränktes:
mechanische Einwirkungen, Licht und Wärme, chemische Stoffe und
der elektrische Strom, sie alle — namentlich bei mikroskopischen
Objekten — im Verhältnis zur Zartheit derselben in ziemlich roher
Form, bilden neben dem Polarisationsapparat und den Färbemetho-
den die Hilfsmittel, über die der mikroskopische Versuch gebietet*).
c. Diephysiologisch-chemische Untersuchung.
An die Untersuchung der Formbestandteile schließt sich diejenige
der Stoffbestandteile am unmittelbarsten an. Die Physiologie ver-
wendet hier keine ihr eigentümlichen Methoden, sondern sie entlehnt
diese der Chemie, aber sie bedient sich ihrer allerdings unter wesentlich
anderen Gesichtspunkten. Die Eigenschaften der organischen Stoff-
bestandteile sind für sie nur insofern von Interesse, als sie auf die
Lebenseigenschaften der Organismen, ihrer Gewebe und Organe Licht
werfen. Da nun an und für sich sowohl die Eigenschaften einer chemi-
schen Verbindung wie ihre Entstehungsbedingungen in der rationellen
Zusammensetzung ihren Ausdruck finden müssen, so ist die Kenntnis
der Konstitution der organischen Stoffe auch für die Physiologie von
unschätzbarem Werte, und nicht minder lassen sich reiche Aufschlüsse
*) M. Verworn, Allgemeine Physiologie”, 1901, S. 218 ff. Jacques
Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, 1906, S. 89,
163 fi.
Die biologischen Methoden. 549
über die chemischen Vorgänge im Tierkörper erwarten, wenn es ge-
lingt, dessen Stofiverbindungen auf synthetischem Wege aus den
Elementen oder aus einfacheren Verbindungen herzustellen. Leider
ist die chemische Analyse und Synthese noch weit von diesem Ziele
entfernt. Gerade von den physiologisch wichtigsten Stoffen, den Bi-
weißkörpern und ihren Verwandten, kennen wir mit Sicherheit nur die
elementare Zusammensetzung; auch die für die Lebensfunktionen so
wichtigen pflanzlichen und tierischen Farbstoffe, wie das Chlorophyll
und Hämoglobin, sind uns noch dunkel in Bezug auf ihre Konstitution.
Dementsprechend ist man zwar im allgemeinen im stande, die ein-
facheren organischen Stoffe, welche die Bestandteile tierischer und
pflanzlicher Exkrete bilden, auch auf künstlichem Wege durch Oxy-
dation und Spaltung zu erzeugen. Für die zusammengesetzteren
Gewebsbestandteile aber sind bis jetzt nur die Organismen selbst,
namentlich die Pflanzen, als Erzeugungsstätten bekannt. Dieser Um-
stand hat die Folge mit sich geführt, daß die chemischen Prozesse im
Tierkörper unserer Erkenntnis verhältnismäßig zugänglicher sind als
die in der Pflanze.
Da die Untersuchung der chemischen Stoffbestandteile für die
Physiologie nur das Mittel bildet, um zu einem Verständnis der chemi-
schen Lebenserscheinungen zu gelangen, so verwendet sie neben der
chemischen Analyse hauptsächlich noch zwei Methoden: 1) die ver-
gleichende Beobachtung der die chemischen Prozesse begleitenden
morphologischen Vorgänge, und 2) die Nachbildung der physiologisch-
chemischen Prozesse außerhalb des Organismus. Bei allen synthe-
tischen Prozessen im Pflanzen- und Tierkörper, deren künstliche Nach-
erzeugung unmöglich ist, wie der Bildung des Amylon, der Zellulose,
des Chlorophyll, der Eiweißstoffe in der Pflanze, oder der Rückbildung
des Verdauungseiweißes in genuines Eiweiß, der Bildung von Hämo-
globin, Protoplasma- und Kernsubstanzen der Zellen im Tierkörper,
ist man zu einem großen Teil auf die erste dieser Methoden angewiesen.
Hier ist es besonders die Pflanzenphysiologie, in der auf das glücklichste
die mikroskopische Beobachtung der chemischen Analyse zu Hilfe
gekommen ist, indem es ihr gelang, die Sukzession des Auftretens der
einzelnen Zellbestandteile mit einiger Sicherheit zu ermitteln*). Zu-
rückgeblieben ist in dieser Beziehung die animalische Physiologie wohl
deshalb, weil sich hier einige der wichtigsten Stoffbildungsvorgänge,
*) Vgl. Jul. Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, S. 357 fl.
W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, I, S. 266 fl.
550 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
wie die Regeneration des genuinen Eiweißes, der morphologischen
Untersuchung entziehen; nur über die Bildung der Blutbestandteile
besitzen wir zahlreiche, allerdings chemisch noch schwer zu deutende
Beobachtungen. Überhaupt ist es ein Nachteil dieser Methode, daß
sie nur über die äußere Sukzession der Erscheinungen Auskunft gibt,
und daß daher die eigentlich chemische Seite des Vorgangs zumeist
der Hypothese überlassen bleibt, die natürlich umso unsicherer ist,
je weniger wir von der wahren Konstitution der in Frage kommenden
Verbindungen unterrichtet sind. Hier ist daher die Methode der Nach-
bildung der Prozesse außerhalb des Organismus ungleich fruchtbarer;
ihr Nachteil besteht nur darin, daß sie im allgemeinen bloß auf die
organischen Zersetzungsprozesse, und auch auf diese nicht in allen
Fällen, anwendbar ist. So können wir zwar durch Einwirkung von
Mineralsäuren, Alkalien und Fermenten Eiweißkörper in Peptone und
andere albuminoide Substanzen, ebenso die komplexeren Kohlehydrate
in einfachere verwandeln, wir vermögen ferner die meisten tierischen
Exkretionsstoffe künstlich aus Gewebebildnern auf demselben Wege
zu erzeugen. Aber da in diesen Fällen die Produkte quantitativ und
zum Teil auch qualitativ von denjenigen abweichen, die bei der natür-
lichen Zersetzung im Körper selbst entstehen, so lassen sie zwar auf
die allgemeine Richtung zurückschließen, in welcher die im lebenden
Organismus stattfindende Zersetzung der gewebebildenden Stoffe ver-
läuft; doch gestatten sie es nicht, die Vorgänge dieser Zersetzung selbst
mit Sicherheit zu erkennen, und sie gestatten es im allgemeinen noch
weniger, den bei der Gewebebildung stattfindenden Aufbau komplexer
chemischer Moleküle aus einfacheren zu rekonstruieren. Gleichwohl
vermag dieses Studium der außerhalb des Organismus durch willkür-
liche chemische Einwirkung erzeugten Umwandlungsprodukte der
Gewebestoffe offenbar tiefer in die chemische Werkstätte desselben
einzudringen, als die direkt am lebenden Körper selbst ausgeführte
Statik und Dynamik des Stoffwechsels, die im wesentlichen auf eine
qualitative und quantitative Vergleichung der eingeführten Nahrungs-
stoffe und der Ausscheidungsprodukte beschränkt bleibt. Da es natür-
lich unendlich viele Wege gibt, auf denen diese Anfangs- und End-
produkte des Stoffwechsels ineinander übergehen können, so muß sich
hier notgedrungen die Untersuchung auf die Schlüsse beschränken,
die bei mannigfacher Variation aller Bedingungen und unter gleich-
zeitiger Kontrolle der Gewebezunahme, sowie der Ausgaben des Körpers
an Wärme und mechanischer Arbeit über die Beteiligung der einzelnen
komplexen Gewebestoffe an diesen verschiedenen Funktionen zu ziehen
Die biologischen Methoden. 551
sind. Die Schwierigkeiten, die hier einer sicheren Entscheidung im
Wege stehen, erhellen deutlich aus dem langen, noch immer nicht ab-
geschlossenen Streit über die Frage nach den chemischen Quellen der
tierischen Muskelarbeit, insbesondere darüber, inwieweit diese aus-
schließlich in der Spaltung und Verbrennung der Proteinstoffe oder
außerdem zu einem wesentlichen Teil in derjenigen der eingeführten
Fette zu suchen seien*). Dagegen hat uns die außerhalb des Organis-
mus im Laboratorium durchgeführte stufenweise Zersetzung der Ei-
weißstoffe in deren Spaltungsprodukte, die zunächst zu den primären
Albuminoiden und löslichen Peptonen, zu den einfacheren Verbindungen
der Fettsäure und der Benzolreihe (Aminsäuren, Tyrosin, Indol u. s. w.),
und schließlich zu den letzten Zerfallsprodukten Kohlensäure, Wasser
und Ammoniak herabreichen, wenigstens gewisse Leitlinien an die
Hand gegeben, nach denen man sich die verschiedenen Proteinsub-
stanzen als Kombinationen komplexer Kohlenstoffkerne zu deuten hat,
an die sich dann durch freie Affinitäten weitere, namentlich auch
schwefelhaltige Atomgruppen anlagern können**). Indem unter diesen
Spaltungsprodukten diejenigen, die durch die lebenden Fermente der
Gärung und Fäulnis erzeugt werden, den im Organismus durch
die in ihm vorkommenden Enzyme (Pepsin, Ptyalin, Trypsin) er-
zeugten am nächsten kommen, ist der Chemismus des tierischen wie
des pflanzlichen Lebens unter den Gesichtspunkt jener katalyti-
schen Vorgänge gerückt worden, wie sie mannigfach schon in der
unorganischen Natur beobachtet werden, in den Organismen aber
eine ungleich tiefer greifende Bedeutung gewinnen. Die in ihnen ent-
stehenden Enzyme, die selbst zu den regelmäßigen Spaltungsprodukten
der Proteinstoffe gehören, vermitteln zugleich deren allmähliche
Selbstzersetzung. Diese aber ist derjenige Teil des organischen Stoff-
wechsels, an den hauptsächlich der Übergang der chemischen Energie in
andere Energieformen, namentlich in Wärme und mechanische Arbeit,
gebunden ist. So ist das Problem des organischen Chemismus auf das
engste an das Problem der katalytischen Vorgänge geknüpft. (Vgl. oben
S. 551.) Darum hat sich die Physiologie genötigt gesehen, den Bereich
*) Vgl. über diese Frage Voit in Hermanns Handbuch der Physiol.,
Bd. 6, I, 1881, S. 26 fi. Pflüger in seinem Archiv, Bd. 50, 1891, S. 98 fi.
Speck, Über Kraft- und Ernährungsstofiwechsel, Ergebnisse der Physiologie
von Aster und Spiro, II, 1903, S. 1 ff.
**) FF Hofmeister, Über den Bau des Eiweißmoleküls, Vortrag vor
der Naturforscherversammlung in Karlsbad, 1902. (Naturw. Rundschau, 1902,
S. 259 ff... E. Fischer, Sitzungsber. der Berliner Akad. 1907, 8. 35 ff.
552 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
dieser katalytischen Vorgänge von den engeren Gebieten der diastatischen
Umsetzungen der Stärke innerhalb der Pflanzenzelle und der Ver-
dauungsfermente im Magen und Darmkanal auf die chemischen Vor-
gänge im Inneren der Organe, namentlich der Drüsen, und auf
den Chemismus der Atmung bei Tieren wie Pflanzen zu übertragen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden hierdurch in naher Zukunft
schon die bisher noch gebrauchten allgemeinen Begriffe der „Assimi-
lation“ und „Dissimilation“ aus dem Wörterbuch des Physiologen ver-
schwinden, um den einzelnen synthetischen und analytischen Enzym-
wirkungen zu weichen, die dann freilich in jedem einzelnen Fall eine
Untersuchung der besonderen chemischen Reaktionsvorgänge und
ihres Verlaufs erheischen. Noch steht dem die Schwierigkeit im Wege,
daß, gemäß dem allgemeinen Vorsprung der analytischen vor den
synthetischen Methoden der Chemie, fast nur die Spaltungswirkungen
der Enzyme die Aufmerksamkeit gefesselt haben, und daß man daher
meist die Existenz katalytischer Synthesen überhaupt bezweifelte.
Nachdem aber eine Reihe umkehrbarer Spaltungsprozesse
nachgewiesen ist, bei denen komplexe Moleküle aus ihren Spaltungs-
produkten unter der Wirkung von Enzymen wieder aufgebaut werden
können, ist die Aussicht vorhanden, daß auf ähnlichem Wege auch
dereinst noch die Synthese der komplexen gewebebildenden Stoffe
und ihrer nächsten Derivate möglich sein werde*). Damit ist zugleich
die früher verbreitete Annahme hinfällig geworden, daß die organischen
Assimilationsvorgänge spezifischer, nur in der lebenden Zelle wirksamer
Kräfte zu ihrer Entstehung bedürften. Vielmehr sind sie offenbar nur
chemische Synthesen, die aber in den lebenden Geweben besonders gün-
stigen Bedingungen begegnen, und die hier, ebenso wie die künstlichen
Synthesen, als Umkehrungen bestimmter katalytischer Spaltungs-
prozesse vorkommen.
d. Die physiologisch-physikalische Untersuchung.
Wie die chemische Untersuchung der Lebenserscheinungen der
Chemie, so entlehnt die physikalische der Physik ihre fundamentalen
Methoden. Auch hier gliedert sich die Untersuchung in eine Analyse
der Eigenschaften und in eine solche der Vorgänge. Wir unter-
suchen, um die Leistungsfähigkeit der einzelnen Organe und Gewebe
zu würdigen, die Elastizität und Kohäsion der Knochen und Muskeln,
*) Beispiele bis jetzt gelungener Umkehrung der Spaltungswirkungen der
Enzyme vgl. bei Bredig, Ergebnisse der Physiologie, 1903, I, S. 191.
Die biologischen Methoden. 959
die osmotischen Eigenschaften pflanzlicher und tierischer Membranen,
die Wärmeverhältnisse der verschiedenen Organe, die elektrischen
Eigenschaften bestimmter Gewebe. Manche dieser Untersuchungen,
wie die der Elastizität und Kohäsion, berühren sich mit den Aufgaben
der mechanischen Morphologie, andere, wie die der optischen Eigen-
schaften, werden, von der Prüfung der brechenden Medien des Auges
abgesehen, fast ganz von der optischen Morphologie in Anspruch ge-
nommen. Überall da bleibt aber die Untersuchung der physikalischen
Eigenschaften der spezifisch physikalischen Untersuchung vorbehalten,
wo diese nur die Vorbereitung bilden soll für die Erforschung der
Veränderungen, welche die Teile bei ihrer Funktion erfahren. In diesem
Sinne prüfen wir zunächst die elastischen Eigenschaften des Muskels
im Ruhezustand, um dann deren Veränderungen während seiner Kon-
traktion zu ermitteln, oder wir vergleichen die elektrischen Eigen-
schaften der Nerven und Muskeln vor und während der Reizung. Ähn-
lich bildet die thermische Untersuchung der Teile in ihrem gewöhnlichen
normalen Zustand die Vorbereitung, um die mannigfachen Abweichungen
davon infolge bestimmter innerer Vorgänge oder äußerer Einwirkungen
messend zu verfolgen.
Auch die physikalische Untersuchung versucht es, wo irgend
möglich, Erscheinungen, die im lebenden Körper zur Beobachtung
kommen, außerhalb desselben nachzubilden, um sie auf diese Weise
vollständig in ihren Entstehungsbedingungen zu erforschen. Aber
diese Nachbildung gelingt noch viel schwieriger als die der chemischen
Prozesse. Denn gerade die physikalische Seite der Lebensvorgänge ist
nicht nur an jene zusammengesetzten organischen Stoffe gebunden,
deren synthetische Erzeugung unabhängig vom Pflanzen- und Tier-
körper bis jetzt nicht gelang, sondern sie hängt sogar von bestimmten
physiologischen Eigenschaften der Stoffe ab, die außerhalb des lebenden
Organismus unwiederbringlich verloren gehen. Dadurch ist das Gebiet
der synthetischen Untersuchungen der physiologischen Physik außer-
ordentlich eng umgrenzt. Es beschränkt sich fast ganz auf einige Fälle,
in denen sich die dem toten Körper entnommenen Gewebe noch zu
Versuchen verwerten lassen, aus denen auf die physiologischen Pro-
zesse, an denen jene Gewebe beteiligt sind, Rückschlüsse gemacht
werden können. Ein wichtiges Gebiet dieser Art bilden die osm o-
tischen Versuche. Hier werden pflanzliche und tierische Membranen
oder andere poröse Scheidewände benützt, um über die allgemeinen
Gesetze der unter ähnlichen Bedingungen jedenfalls auch innerhalb
des Organismus stattfindenden Diffusion von Flüssigkeiten oder Gasen
554 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
durch feuchte Membranen Aufschluß zu gewinnen. Ein anderes
Gebiet bilden die kalorimetrischen Versuche, die den Zweck
verfolgen, aus der Verbrennungswärme der Nahrungs- und Gewebs-
bestandteile auf den Wert, den diese für die Wärmebildung und
Arbeitserzeugung innerhalb des lebenden Körpers besitzen, zurück-
schließen zu lassen. In anderen Fällen versucht man eine schematische
Nachbildung physiologischer Vorgänge, indem man von der Voraus-
setzung ausgeht, daß ähnlichen Wirkungen auch ähnliche Ursachen
entsprechen werden. So konstruierte z. B. du Bois-Reymond durch
Verlötung von Kupfer- und Zinkstücken Elemente, die, in eine leitende
Flüssigkeit getaucht, Effekte hervorbrachten, die den von ihm be-
obachteten Nerven- und Muskelströmen ähnlich waren*). Engelmann
suchte seine Annahme, daß die Kontraktion des Muskels eine durch
die plötzliche Wärmeentwicklung in den Disdiaklasten entstehende
thermische Quellung sei, an einer in Wasser gequollenen Darmsaite,
die sich bei der Erwärmung energisch verkürzt, zu veranschaulichen**).
Bei Versuchen dieser Art darf jedoch die logische Regel, daß zwar mit
dem Grund die Folge, keineswegs aber mit der Folge der Grund gegeben
ist, nicht übersehen werden. Der schematische Versuch kann höchstens
die allgemeine Möglichkeit einer Hypothese beweisen; ihre Verifikation
muß auf anderen Wegen gesucht werden.
e. Die physiologische und pathologische Funktions-
analyse.
Die Hilfsmittel der morphologischen, chemischen und physikalischen
Untersuchung reichen, so unerläßlich sie sind, doch für sich allein
niemals zu, um einen zureichenden Einblick in den Zusammenhang der
Funktionen des lebenden Organismus und seiner Teile zu gewinnen, son-
dern sie müssen zu diesem Zweck durch eine experimentelle Ana-
lyse der Funktionen ergänzt werden. Unter dieser verstehen wir
aber jeden willkürlichen Eingriff in die Lebensvorgänge, der nachweis-
bare Veränderungen derselben herbeiführt. In den meisten Fällen
bringt es ein solcher Eingriff mit sich, daß der Zusammenhang der Teile
durch mechanische Gewalt verändert werden muß, indem man bald
einzelne Organe völlig eliminiert, bald sie irgendwelchen instrumen-
tellen Einwirkungen zugänglich macht. Das häufigste und unerläßlichste
*), E.Edu Bois-Reymond, Untersuchungen über tierische Elektri-
zität, I, S. 577 ft.
**) Th.W.Engelmann, Der Ursprung der Muskelkraft. 1893.
Die biologischen Methoden. 555
Hilfsmittel der Funktionsanalyse ist daher die Vivisektion; aber
sie ist keineswegs das einzige, da zu ähnlichen Zwecken auch Ein-
wirkungen auf den ganzen Organismus oder dessen einzelne Organe
vorkommen können, bei denen keine Visisektion stattfindet.
Die physiologische Funktionsanalyse kann entweder von der
Frage nach der Funktion gewisser Organe oder Organkomplexe oder
aber von der Frage nach der Wirkung bestimmter äußerer Agentien
auf den Organismus oder auf einzelne Teile desselben ausgehen. Die
erste dieser Fragen ist die nächstliegende und kommt bei der Unter-
suchung der normalen Lebensvorgänge zur Anwendung; wir wollen
die aus ihr entspringenden Methoden als die der direkten Funk-
tionsanalyse bezeichnen. Die zweite Frage erhebt sich vor-
zugsweise in solchen Fällen, wo die funktionellen Erscheinungen im
allgemeinen bereits bekannt sind, und wo ihre Veränderungen unter
bestimmten ungewöhnlichen Einwirkungen erforscht werden sollen.
Die so entstehenden Methoden, die wir als die Influenzmetho-
den bezeichnen können, dienen teils zur näheren Untersuchung be-
stimmter normaler Lebenseinflüsse mittels der Abänderung derselben,
teils bilden sie, unter Zuhilfenahme abnormer Einwirkungen, das haupt-
sächlichste Inventar der experimentellen Pathologie. Übrigens ist
es selbstverständlich, daß sich beide Methoden nur an ihren Ausgangs-
punkten unterscheiden, in der Durchführung aber fortwährend inein-
ander eingreifen.
Die direkte Funktionsanalyse henützt zwei Funda-
mentalmethoden, die meistens nach- oder nebeneinander zur Anwendung
kommen, wenn nicht aus bestimmten Gründen die eine von ihnen
unmöglich wird. Sie lassen sich als spezielle Fälle der allgemeinen
Methoden der Elimination und der Gradation der Be-
dingungen betrachten (8.385 ff). Die erste besteht in der Funk-
tionsaufhebung, die zweiteinderquantitativenFunk-
tionsänderung. Eine Funktionsaufhebung wird bald durch
die völlige Entfernung eines Organs, bald durch die Lösung seiner
funktionellen Verbindungen bewirkt. Es ist besonders der Anfang der
Funktionsanalyse, bei dem es sich nur um die Feststellung der all-
gemeinen Funktion bestimmter Organe handelt, der diese Hilfsmittel
verwendet. So hat die Pflanzenphysiologie die Wege der Saftströmung
in den dikotylen Holzpflanzen durch die Beobachtung des Einflusses,
den Partialdurchschneidungen des Stengels auf die Ernährung der
einzelnen Teile ausüben, zu ermitteln gesucht. Die animalische Physio-
logie hat zur Bestimmung der Funktionen der Nervenwurzeln, der
556 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Nervenfasern des Rückenmarks, der einzelnen Teile des Gehirns Durch-
schneidungs- und Exstirpationsversuche angewandt. Ebenso sind
einzelne Drüsen, wie die Milz, bei niederen Tieren die Leber, zum Behuf
der Feststellung ihrer physiologischen Bedeutung ganz aus dem Körper
entfernt worden. Eine weit mannigfaltigere Anwendung lassen die
Methoden der quantitativen Funktionsänderung zu.
In den einfachsten Fällen bedient man sich ihrer zum Behuf der Be-
stätigung der auf dem Weg der Aufhebung der Funktion gewonnenen
Resultate. Hier verlangt dann der Gegensatz, daß die Änderung in
einer Steigerung der Funktion bestehe. Dahin gehören nament-
lich die qualitativen Reizversuche der animalischen Nervenphysiologie.
Bei Reizung einer Nervenwurzel z. B. müssen die eintretenden Schmerz-
äußerungen oder Muskelkontraktionen den bei der Durchschneidung
beobachteten Ausfallserscheinungen entsprechen. Kompliziertere Auf-
gaben für diese Methode ergeben sich, wenn die allgemeine Beschaffen-
heit der Funktion ermittelt ist und es sich nun darum handelt, sie ın
ihren einzelnen Bedingungen näher zu verfolgen. Hier wird es erforder-
lich, die Veränderungen bei bestimmten äußeren Einwirkungen zu be-
stimmen und unter steter Vergleichung mit der quantitativen Ab-
stufung jener äußeren Einwirkungen messend zu prüfen. Da nun die
letzteren stets physikalischer und chemischer Art sind, so sieht sich die
Funktionsänderung in der Regel genötigt, die physikalisch- und chemisch-
physiologische Untersuchung zu Hilfe zu nehmen. So untersucht die
Pflanzenphysiologie die vegetabilischen Ernährungsvorgänge, indem sie
in willkürlicher Weise die chemische Beschaffenheit der die Wurzel um-
gebenden Ernährungsflüssigkeiten oder der umgebenden Luft verändert
und nun teils das Wachstum der Pflanze, teils die Beschaffenheit ihrer
Stoffwechselprodukte quantitativ ermittelt; so seit den berühmten Ver-
suchen von Knight den Einfluß der Schwere auf das Wachstum, indem
man teils die Pflanze in eine von ihrer Normalstellung abweichende
Lage bringt, teils die normale Wirkung der Schwere in einem bestimmten
Grade durch die Wirkung einer zentrifugalen Beschleunigung kompen-
siert*). Die animalische Physiologie verfolgt die Schwankungen des
Blutdrucks, indem sie gleichzeitig bald das Herz, bald die Blutgefäße,
bald die Atmungsmechanik bestimmten verändernden Bedingungen
aussetzt, u. s. w. Je exakter in allen diesen Fällen die physikalischen
oder chemischen Reize sich variieren und abstufen lassen, die eine be-
stimmte Steigerung oder Hemmung der Funktionen herbeiführen,
*) Pfeffer, Pflanzenphysiologie”, II, S. 127 ff., 566 ff.
Die biologischen Methoden. 557
umsomehr ist natürlich Aussicht dazu vorhanden, daß die äußere
Funktionsanalyse in eine kausale Analyse der Erscheinungen über-
geführt werden könne. So verdankt die Nerven- und Muskelphysiologie
ihre verhältnismäßig frühen Erfolge wesentlich der Sicherheit, mit der
sich die Einwirkungen des elektrischen Stroms auf diese Gewebe vari-
ieren lassen. Nicht minder sind hier Beziehungen, die zuerst den Cha-
rakter zufälliger Entdeckungen besaßen, durch die Fortschritte der
physikalischen Elektrizitätstheorie dem Verständnis näher gerückt
worden. So hat schon Galvanis zuckender Froschschenkel, wie er selbst
den Weg zur Voltaschen Säule gezeigt hatte, in der in der neueren
Physiologie wieder eingetretenen Rücklenkung zu seinem physiologischen
Ausgangspunkt das Studium der sogenannten „Zuckungsgesetze” er-
öffnet, das zu Pflügers Entdeckung des Ausgangs aller erregenden
Wirkungen von der Kathode und zu dem Nachweis einer außerdem
von der Anode ausgehenden, mit sehr viel langsamer fortschreitenden
Quellungserscheinungen verbundenen Hemmungswelle geführt hat*).
Stehen einerseits diese Beobachtungen mit den gegenwärtig in der physi-
kalischen Ionentheorie zusammengefaßten Erscheinungen in engem
Zusammenhang, so sind sie anderseits durch die Vermittlung der
letzteren zugleich in nähere Verbindung mit den Versuchen über
chemische Reizung getreten, indem sich die negativen Ionen hier stets
als die Träger der Reizwirkung betrachten lassen**).
Beruht schon in den bisherigen Fällen die Funktionsanalyse zu-
weilen auf der Beobachtung von abändernden Wirkungen, die will-
kürlich eingeführte Bedingungen in dem Verlauf gewisser Erscheinungen
hervorbringen, so gilt dies nun vor allem auch bei denjenigen Ver-
suchen, die dem Gebiet der Entwicklungsgeschichte und der formativen
Kräfte der einzelnen Zellen, Gewebe und der Organismen selbst an-
gehören: bei den Regenerations-, Generations- und Vererbungsver-
suchen. So bestehen bei den Regenerationsversuchen die möglichen
Variationen des experimentellen Eingriffs lediglich in der Verschieden-
heit des Orts und des Umfangs der willkürlich gesetzten Organverluste
oder eventuell, wie bei den Versuchen von J. Loeb, in der Wahl ver-
schiedener Stellen, an denen bei gewissen niederen Tieren eine künst-
liche Bildung, z.B. eine künstliche Mundöffnung, die natürliche funk-
*) Pflüger, Untersuchungen zur Physiologie des Elektrotonus, 1859.
Wundt, Archiv für Anatomie u. Physiol., 1862. Untersuchungen zur Mechanik
der Nerven, I, 1871, S. 25 ff.
**) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen,
1906, S. 112 ft.
558 Die Hauptgebiete- der Naturforschung.
tionell vertreten kann*). Bei den Vererbungsversuchen hat die willkür-
liche Bastardierung zur Feststellung der empirischen Gesetze gedient,
unter denen die Anlagen des einen der beiden Eltern über die des
anderen das Übergewicht erlangen, sowie der relativen Unabhängigkeit,
mit der sich verschiedene Merkmale vererben können**).
Schon in manchen der bisher erwähnten Beispiele verbindet sich die
direkte Funktionsanalyse mit der zweiten, indirekten Methode der
experimentellen Beeinflussung oder geht in sie über: mit der Influenz-
methode. Die Frage, welche Wirkung ein bestimmtes Agens auf
den Organismus ausübt, ist an und für sich ebensogut möglich wie die
andere, welche Leistungen der Organismus selbst oder ein einzelner
Teil vollbringt. Aber in dem Zusammenhang physiologischer Unter-
suchungen wird man doch nur unter zwei’ Bedingungen zu jener
ersten Fragestellung kommen: erstens in den Anfängen der Forschung,
in denen noch ein unsicheres Umhertasten nach den zweckmäßigsten
Hilfsmitteln der Funktionsanalyse stattfindet, und wo sich nun die
Influenzmethode mit der Funktionsaufhebung kombiniert, um der
tiefer eindringenden quantitativen Funktionsänderung den Weg zu
bereiten; und zweitens in dem speziellen Fall, wo es sich darum handelt,
teils die Bedingungen des Übergangs der normalen in die abnormen
Lebenserscheinungen, teils aber auch die Heilsamkeit oder Schäd-
lichkeit gewisser äußerer Einwirkungen zu erforschen. Mit diesen
Problemen befinden wir uns aber schon auf dem Boden der experi-
mentellen Pathologie, in deren Diensten daher auch vorzugsweise
die Influenzmethode Verwendung gefunden hat. Natürlich können in
diesem Sinne alle möglichen Einflüsse, mechanische, thermische, elek-
trische, chemische, in Frage kommen. Doch sind es vorzugsweise
zwei Arten der Einwirkung, die das physiologische und pathologische
Interesse in Anspruch nehmen: erstens gewisse Intoxikationen,
d.h. Einwirkungen chemischer Stoffe, die auf bestimmte Funktionen einen
störenden und im äußersten Fall einen die Funktion aufhebenden Einfluß
ausüben, und zweitens gewisse Einwirkungen niederer Organismen auf
höhere, unter denen die unter dem Namen der Infektionen bekannten
Einwirkungen von Spaltpilzen oder andern Mikroorganismen eine hervor-
ragende Stellung einnehmen. Beide Formen der Influenz sind offenbar nur
*) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen,
S. 281 ff.
**) Qorrens, Über Vererbungsgesetze, 1905. (Mendels Bastardierungs-
methode.)
Die biologischen Methoden. 559
in ihrer äußeren Erscheinungsweise, nichtihrem Wesen nach verschieden.
Auchdie infizierenden Bakterien stören und verändern die normalen Funk-
tionen durch Gifte, die sie selbst bei ihrem Lebensprozeß erzeugen; und
wie die gefährdende Wirkung einesanderen Giftes durch ein neutralisieren-
des Gegengift aufgehoben werden kann, so können auch die giftigen
Wirkungen gewisser Bakterien durch andere Mikroorganismen beseitigt
werden, oder es können die infizierenden Pilze selbst Produkte erzeugen,
die antitoxisch gegen die von ihnen produzierten Gifte wirken, oder
sie können endlich den infizierten Organismus zur Erzeugung solcher
Gegengifte anregen. Diese Reaktionen, die im allgemeinen den ver-
schiedenen Methoden der Immunisierung zu Grunde liegen, haben die
Infektion und die Intoxikation einander umso näher gebracht, als
die Vorstellung, die von solchen niederen Organismen ausgehenden
Wirkungen seien an das Leben derselben gebunden, der Analyse sowohl
der allgemeinen Fermentwirkungen außerhalb des Organismus wie
den bei den Immunisierungsmethoden gemachten Erfahrungen gegen-
über nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten. Bei jenen zeigten
die Versuche von E. Buchner, daß die Alkoholgärung des Zuckers
nicht bloß durch lebende Hefezellen, sondern auch durch den aus diesen
ausgepreßten, aller organisierten Elemente entbehrenden Saft ein-
geleitet werden kann. Nicht minder zeigten aber die Immunisierungs-
versuche, daß die von Bazillen erzeugten Gegengifte auch dann wirken,
wenn sie in Flüssigkeiten, die keine organisierten Elemente enthalten,
und die überdies durch besondere Reagentien von beigemengten Gift-
stoffen befreit sind, in die Blutbahn gebracht werden. Die überein-
stimmenden Gesichtspunkte, die sich so für die verschiedenen Formen
der Influenzmethode ergaben, lassen auf diese Weise auch die Reaktion
des Organismus gegen die Giftwirkung wiederum als ein Problem er-
scheinen, das nur im Zusammenhang mit den allgemeinen Vorstel-
lungen über den Chemismus der organischen Gewebe zu lösen ist.
Giftige und antitoxische, aufbauend und zerstörend wirkende Fermente
erscheinen dabei meist zugleich als fließende Begriffe, die unmittelbar
mit dem Wechsel äußerer Bedingungen oder durch sehr geringe Ver-
änderungen der Molekularstruktur der Stofle ineinander übergehen
können. So eröffnet sich hier im Anschluß an die Subsumtion der In-
fluenzerscheinungen unter die allgemeinen Gesetze des organischen
Chemismus die Aussicht auf eine mögliche Prüfung der durch die Unter-
suchung der allgemeineren katalytischen Vorgänge der Dissimilation
und Assimilation gewonnenen Ergebnisse, eine Prüfung, die sich
freilich vorläufig noch durchaus in dem Stadium provisorischer Hypo-
560 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
thesen über das Wesen der toxischen wie der antitoxischen Wirkungen
bewegt*).
Neben diesem experimentellen Weg der toxischen und antitoxischen
Influenz gibt es endlich noch eine zweite, der unmittelbaren Funktions-
analyse angehörende Methode, bei der die pathologische der normalen
Physiologie Dienste leistet: sie besteht in der Beobachtung der durch
Krankheitsbedingungen herbeigeführten Funktionsstörungen und ihrer
Vergleichung mit den sie verursachenden Strukturveränderungen. Die
Resultate der klinischen und der pathologisch-ana-
tomischen Beobachtung können so in ihrer Vereinigung
einen Wert gewinnen, welcher dem der Vivisektion äquivalent ist.
Dabei findet lediglich eine Umkehrung der bei dieser befolgten Methodik
statt, indem die Beobachtung der anatomischen Läsion derjenigen der
funktionellen Veränderungen nicht vorangeht sondern nachfolgt. Doch
ist oft genug auch das physiologische Experiment genötigt diesen Gang
einzuhalten, da eine genauere Untersuchung selbst der willkürlich ge-
setzten anatomischen Störungen nicht immer während des Lebens
möglich ist. Der größte Nachteil der pathologischen Beobachtung
liegt darin, daß sie von der Gunst des Zufalls abhängt. Aber für die
meisten Gebiete der Physiologie ist sie das einzige Hilfsmittel, das den
Menschen selbst zum Objekt der funktionellen Analyse zu machen ge-
stattet. Unschätzbar ist sie darum namentlich in solchen Fällen, wo
die Bedingungen der menschlichen Organisation erheblich abweichen,
wie z. B. bei den Funktionen der höheren Nervenzentren. Außerdem
hat hier die Beobachtung am Menschen noch den besonderen Vorteil,
daß sie eine zuverlässigere Prüfung der psychischen Verände-
rungen gestattet, welche die physischen Störungen begleiten.
2. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen.
a.Die biologischen Richtungen.
Auf anderen Gebieten der Naturforschung sind die Gegensätze
der Zweck- und Kausalerklärung gegenwärtig beinahe verschwunden,
oder sie haben doch aufgehört Gegensätze zu sein, da man den teleo-
logischen Prinzipien stets zugleich eine kausale Bedeutung zugesteht.
(Vgl. oben S. 318 ff.) Anders in der Biologie. Hier ist der Kampf
jener Anschauungen noch immer nicht erloschen. Zugleich aber hat
*) S. Arrhenius, Immunochemie Anwendungen der physikalischen
Chemie auf die Lehre von den physiologischen Antikörpern. 1907.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 561
vermöge der besonderen Natur des Gegenstandes die teleologische
Auffassung eigentümliche Formen angenommen, die, historisch aus-
einander hervorgegangen, unter den Namen des Animismus und
Vitalismus bekannt sind. Ihnen gegenüber hat die kausale Auf-
fassung der Lebensprozesse stets die mechanische Natur derselben
behauptet und demnach die Forderung aufgestellt, die Physiologie
habe den Organismus unter dem Gesichtspunkt einer natürlich ent-
standenen Maschine zu betrachten*).
Der Streit dieser Anschauungen reicht bis in die frühesten Anfänge
der Spekulation zurück. Indem der Hylozoismus der ältesten Natur-
philosophie das menschliche Bewußtsein in die äußere Natur hinein-
trägt, denkt er sich vor allen andern Naturerscheinungen die Lebens-
vorgänge nach Analogie der zweckbewußten Willenshandlungen. Um-
gekehrt unterwirft die Atomistik dem der äußeren Natur entnommenen
Prinzip der mechanischen Bewegung das eigene Sein des Menschen:
das Leben entspringt ihr, wie alles Geschehen, aus dem Stoß der
Atome. Gerade wegen der Ausschließlichkeit, mit der diese Richtungen
ihre Prinzipien anwenden, stehen sie sich aber näher als die später
aus ihnen hervorgegangenen Entwicklungen. Dem antiken Atomis-
mus gilt schließlich ebensogut wie dem ursprünglichen Hylozoismus
die Seele als der Grund des Lebens. Erst die Platonisch-Aristotelische
Philosophie hat durch den Gegensatz, in dem sie sich zu dem Materialis-
mus der älteren Naturphilosophie entwickelte, die animistische An-
schauung in ihrer engeren Begrenzung auf die eigentlichen Lebens-
erscheinungen durchgeführt. Auch sind in ihr die höheren geistigen
Kräfte von den niederen, an die Materie gebundenen Lebenskräften
zum erstenmal scharf geschieden. Als daher späterhin die peripa-
tetische und die stoische Schule den Platonischen Dualismus zu be-
seitigen suchten, lag es nahe, diese Lebenskräfte selbst als materielle
Prinzipien zu denken und auf diese Weise dem kausalen Materialis-
mus der Atomistiker einen teleologischen gegenüberzustellen. Er-
zwangen sich nun vollends innerhalb des letzteren wiederum die
Bewußtseinsvorgänge die Anerkennung einer Selbständigkeit, die ihre
Trennung von den übrigen Lebenserscheinungen rechtfertigte, so war
damit jener Vitalismus fertig, den hauptsächlich Galen in die
Biologie einführte, der aber die Herrschaft der Galenischen Medizin
lange überdauert hat.
*) Über die allgemeinere Bedeutung der genannten Richtungen vgl. Bd. I,
S. 621 fi.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 36
562 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Dieser Entstehung gemäß bildet der Vitalismus eine Art Mittel-
glied zwischen Animismus und Mechanismus. Mit jenem nimmt er
in den lebenden Wesen zwecktätige Kräfte an, mit diesem setzt er
voraus, daß die Ursachen des Lebens an die lebende Materie als solche
gebunden seien. Eben deshalb läßt sich die vitalistische Anschauung
leicht mit einer mechanistischen und atomistischen in Bezug auf die
leblose Natur vereinigen. Gerade in dieser Form hat der Vitalismus
die neuere Physiologie von Albrecht Haller bis auf Johannes Müller
beherrscht. Dann ist während einiger Jahrzehnte infolge des Auf-
schwungs der physikalischen und chemischen Forschungsmethoden
die mechanistische Anschauung in den Vordergrund getreten, bis in
der neuesten Zeit durch die Beschäftigung mit den Entwicklungs-
problemen abermals teleologische Erklärungsprinzipien zu größerer
Geltung gelangten. Diese moderne Teleologie scheidet sich aber in
zwei Richtungen. Die eine schließt sich offen und mit ausdrücklicher
Bekämpfung einer rein mechanisch-chemischen Theorie des Lebens
an den alten Vitalismus mit seinen spezifischen Lebenskräften an,
die sie meist unter Anlehnung an gewisse philosophische Weltanschau-
ungen neu zu stützen sucht*). Die andere Richtung bekennt sich an-
geblich selbst zu einer physikalisch-chemischen Theorie des Lebens. In
Wirklichkeit huldigt sie aber, trotz ihrer Versicherung, eine neue Mecha-
nik des Lebens anzubahnen, mit ihrer Annahme dominierender Kräfte,
die das Spiel der mechanisch-chemischen Wirkungen im Organismus
beherrschen sollen, einer Teleologie von vitalistischem Gepräge**).
Beide Richtungen vermeiden übrigens unter der sichtlichen Nach-
wirkung der vorangegangenen Periode meist geflissentlich die Form
des früheren Vitalismus. Hierdurch gewinnen dann zugleich die
gegenwärtig in der Biologie herrschenden Anschauungen ihren eigen-
tümlichen, deutlich einen Übergangszustand der Wissenschaft ver-
ratenden Charakter.
An verschiedenen Erscheinungen gibt sich dieser Übergangs-
zustand zu erkennen. Die auffallendste besteht in dem weitverbreiteten
Vorkommen einer unbewußten Teleologie, indem gewisse teleo-
logische Erklärungen von ihren Urhebern oder Anhängern für kausale
*) Hierher gehören N. Cossmann, Elemente der empirischen Teleologie,
1899, Hans Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwicklung, 1894,
Die organischen Regulationen, 1901, und Die „Seele“ als Naturfaktor, 1906,
K.C. Schneider, Vitalismus, 1903.
**) Vgl. J. Reinke, Die Welt als Tat, 1899, und besonders dessen Ein-
leitung in die theoretische Biologie, 1901.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 563
gehalten werden. So wenn es in Schriften über die Darwinsche Theorie
nicht selten als ein besonderes Verdienst Darwins gepriesen wird,
daß durch ihn eine „mechanische Kausalerklärung“ der Lebensformen
durch die Gesetze der Vererbung, der Anpassung und des Kampfes
ums Dasein gewonnen sei*). Nun wird das Verdienst Darwins nicht im
geringsten geschmälert, wenn man zugesteht, daß diese Gesetze an sich
einen teleologischen Charakter besitzen. Die Bedeutung seiner Theorie
besteht vielmehr darin, daß sie eine unfruchtbare durch eine fruchtbarere
Teleologie ersetzte, indem die von ihr aufgestellten teleologischen Prin-
zipien mehr Aussicht zu einer künftigen Kausalerklärung bieten mochten
als die Lebenskräfte der älteren Biologie. Dieser Nutzen würde aber
wieder in Frage gestellt, wenn man sich bei den Begriffen der Vererbung
und Anpassung beruhigen wollte.
Beide Formen der Teleologie, die unbewußte, die den Zweckbegriff
bekämpft, um ihn in gewissen spezielleren Formen selbst zu verwenden,
und die bewußte, die zu formbildenden zwecktätigen Kräften ihre Zu-
flucht nimmt, stimmen in der Tat in der Verkennung der wahren Natur
des Zweckprinzips durchaus überein. Sie betrachten den Zweck als ein
der Kausalität entgegengesetztes oder mindestens als ein von ihr gänz-
lich verschiedenes Erkenntnisprinzip, so daß, wo eine kausale Erklärung
möglich sei, die teleologische von selbst hinfällig werde, und daß, wo man
Zweckprinzipien zulasse, von kausaler Interpretation nicht mehr die
Rede sein könne. Beides ist falsch. Das zeigt ebenso der logische Cha-
rakter des Zweckprinzips wie seine Anwendung in dem für die exakte
Ausbildung dieser Begriffe wichtigsten Gebiet, in der Mechanik. (Vgl.
Bad. 1, S. 629 ff. und oben S. 317 fi.) Da die Verknüpfung nach Zweck und
Mittel die reine Umkehrung der von Ursache und Wirkung ist, so kann
jede Kausalbeziehung prinzipiell in eine Zweckbeziehung umgewan-
delt werden. Eben deshalb ist aber auch mit der Aufstellung
irgend einer Zweckformulierung an und für sich die logische Forderung
verbunden, daß die Verknüpfung als eine umkehrbare zu betrachten
sei, wenngleich wegen unserer mangelhaften Kenntnis der Bedingungen
der Erscheinungen eine solche Umkehrung im einzelnen Fall nicht immer
vorgenommen werden kann. Daraus erhellt, daß es in der Biologie, wie
in der Naturwissenschaft überhaupt, eine doppelte Form berechtigter
Anwendung des Zweckprinzips gibt: eine der kausalen Betrachtung
äquivalente, die dieser nur aus Gründen logischer Zweckmäßigkeit
*) Vgl. z. B. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 1,
S.97 ft.
564 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
substituiert wird, und eine provisorische, die als Ersatz einer end-
gültig noch nicht zu leistenden Kausalbetrachtung dienen soll.
Die erste Form ist von der künstlichen Maschine ausgegangen,
bei der sich das Ineinandergreifen beider Gesichtspunkte ebenso
aus der der Erfindung der Maschine vorausgehenden logischen Über-
legung wie aus ihrem Gebrauch von selbst ergibt. Sie ist von da aus
teils in die theoretische Mechanik, teils aber auch in die biologische
Betrachtung der natürlichen Mechanismen, wie z. B. der Gehwerkzeuge,
der Herz- und Atmungsbewegungen, übertragen worden. In der theoreti-
schen Mechanik und den an sie sich anlehnenden Gebieten der Physik dient
so die teleologische Formulierung als ein Mittel der Zusammenfassung
einer Mehrheit einfacher Kausalbeziehungen in eine einheitliche Form.
In der praktischen Mechanik und ihren biologischen Analogien bildet
sie eine nützliche und in vielen Fällen unentbehrliche Vorbereitung
der diesem regressiven Verfahren entgegengesetzten progressiven
Kausalbetrachtung.
Anders verhält es sich mit der zweiten, der provisorischen An-
wendung des Zweckprinzips. Sie hat zu ihrem Schauplatz heute fast nur
noch die Biologie, was aus der komplexen Natur der biologischen Prob-
leme begreiflich ist, aber wegen dieser Beschränkung auch die Gefahr
eines Rückfalls in die wissenschaftlich überlebten Zweckursachen des
Vitalismus mit sich führt. Zu solchen provisorischen Zweckbe-
trachtungen gehört z. B. die Vorstellung von einer auf dem Gleichge-
wicht zwischen Assimilation und Dissimilation beruhenden Erhaltung der
Lebenseigenschaften der Zellen, von der Selbststeuerung der Atmung und
der Herzbewegungen, von der Anpassung der Organismen an ihre Lebens-
bedingungen und anderes mehr. Alles dies sind teleologische Begriffe,
die durch die Funktionen unmittelbar nahe gelegt werden, die aber
ebenso viele kausale Probleme enthalten, wie denn auch in manchen
Fällen, z. B. bei dem Stoffwechselgleichgewicht und den Selbststeue-
rungen, die kausale Analyse teilweise mit Erfolg bereits durchgeführt
ist. Wenn sie zur Zeit noch nicht in allen Fällen gelingt, so liegt
darin natürlich nicht der mindeste Grund, hier die teleologische Be-
trachtung für die endgültige zu halten. Vielmehr führt uns jeder weitere
Schritt in der physikalisch-chemischen Analyse der Lebenserscheinungen
neue Fälle besonders in dem Chemismus der Lebensvorgänge vor Augen,
die wenigstens die Richtung anzeigen, in der auch hier die provi-
sorische Teleologie in eine substitutive und vereinfachende Umkehrung
eines aus dem Zusammenfluß zahlreicher kausaler Elemente resultieren-
den Verlaufs der Erscheinungen übergeht. Dabei ist aber das Ver-
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 565
hältnis nicht so aufzufassen, als wenn, so lange diese Umkehrung in
irgendwelchen Fällen nicht gelungen sei, immer noch die Annahme
zwecktätiger Lebenskräfte erlaubt wäre, da in dieser Annahme vor allem
ein logischer Irrtum über das Wesen des Zweckprinzips selbst
verborgen liegt. Insofern das letztere die Umkehrung einer Kausalität
ist, enthält eben jede Zweckerklärung zugleich ein Problem, das
endgültig nicht durch seine Hypostasierung zu einer Zweckursache,
die selbst in umgekehrter Richtung wirksam sein soll, sondern nur
durch die wirklich vollführte Umkehrung der Zweckreihe in eine
Kausalreihe gelöst werden kann. Darum ist der Vitalismus, wie er sich
auch hinter metaphysischen Ideen verschanzen mag, nicht bloß die
vorzeitige Fixierung eines bei einzelnen Fragen noch provisorischen
Zustandes der Forschung, sondern er beruht zugleich auf einer falschen
Auffassung des Zweckprinzips selbst.
Noch gibt es jedoch eine Form des Zweckbegrifis, die diesem bei
gewissen Lebensvorgängen eine Ausnahmestellung anzuweisen scheint:
das geschieht in jenen Fällen, wo der Zweck in dem früher (Bd. I,
S. 633) erörterten Sinne eine objektive Bedeutung gewinnt, weil
die Zweckreihe tatsächlich nicht bloß die logische Umkehrung einer
Kausalreihe ist, sondern wo der Zweck, wie dies bei den Willenshand-
lungen des Menschen und der Tiere geschieht, als Zweckvorstellung
das primum movens zu sein scheint, von dem ein ursächlicher Zu-
sammenhang ausgeht. In der Tat ist es ja diese zwecktätige Willens-
kausalität, die bewußt oder unbewußt schließlich überall dem Begriff
der Vitalkräfte zu Grunde liegt. Stützt sich doch auch der neueste
Vitalismus im wesentlichen auf die Annahme eines unbewußten Willens
in den Lebenserscheinungen*). Gleichwohl macht sich gerade hier die
Naturphilosophie, wie man auch im übrigen über das Recht oder Un-
recht dieser Konzeption eines transzendenten Willensprinzips denken
mag, der unzulässigen Vermengung einer die Grenzen aller Erfahrung
überschreitenden Spekulation mit der Erfahrung selbst schuldig. Die
empirische Forschung hat das Wollen da anzuerkennen, wo es vorhanden
ist, und sie hat es da abzulehnen, wo es eine willkürlich zu der Wirk-
*) Vgl.z.B. H. Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwick-
lung, 1894, S.161 ff. K.C. Schneider, Vitalismus 1903, S. 242ff. Philo-
sophisch haben besonders Ed. v. Hartmann, zum Teil auch vor ihm bereits
Schopenhauer diese Anschauung von einem unbewußten zwecktätigen Willen
ausgebildet. Auf beide Philosophen berufen sich daher vielfach die Vertreter
des Vitalismus in der neueren Biologie. (Ed. v. Hartmann, Philosophie des
Unbewußten’, S. 51ff.)
566 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
lichkeit hinzugedichtete Idee ist. Aber auch den wirklichen Willen
hat die Wissenschaft in das Gebiet zu verweisen, zu dem er ge-
hört: in das der Bewußtseinsvorgänge, nicht in das der physischen
Lebenserscheinungen. Die Physiologie, die es allein mit diesen zu tun
hat, kann darum hier nur in demselben Sinne aushilfsweise auf psychische
Phänomene zurückgreifen, wie sie noch bei manchen anderen
Problemen, z. B. bei den Sinnesempfindungen, den Gehirnfunktionen,
das Psychische als vikariierendes Zwischenglied benützt, wo die ent-
sprechenden Glieder des physischen Geschehens der Beobachtung ent-
gehen, während umgekehrt bei der Analyse der psychologischen
Übungs- und Erinnerungsvorgänge die psychologische Analyse die
der Untersuchung leichter zugänglichen physischen Parallelerschei-
nungen zu Hilfe ruft. Hier überall macht es sich eben geltend, daß
die Physiologie, wie im Grunde jede Wissenschaft, in ihrer Son-
derung von anderen Gebieten auf einer Abstraktion beruht, die aber
in diesem Fall nicht bloß anderen Naturgebieten, die in das ihre
eingreifen, sondern auch der Psychologie gegenüber geübt werden
muß, obgleich sie mit dieser schließlich den gleichen Gegenstand, näm-
lich das belebte Wesen, gemein hat. Nun werden wir später sehen,
daß eben jene Kausalverknüpfung, die mit einem subjektiven Zweck-
motiv beginnt und mit dessen objektiver Verwirklichung endet,
eine wesentliche Eigenschaft derjenigen psychischen Vorgänge ist,
die vor anderen in die psychophysische Entwicklung der Tiere eingreifen,
der Willensvorgänge. Es ist daher unvermeidlich, daß, wo immer man
aushilfsweise den physischen Gliedern einzelner Lebensvorgänge die uns
zugänglicheren psychischen substituiert, die Betrachtung den Cha-
rakter einer objektiven Teleologie gewinnt, bei der irgend
eine organische Form als das Produkt zwecktätiger Willenshand-
lungen und ihrer äußeren Wirkungen erscheint. So gelten uns
in der Tat schon die durch willkürliche Einübung auf gewisse Be-
wegungen erworbenen technischen Fertigkeiten zu einem wesentlichen
Teil als physiologische Erfolge, deren letzte Ausgangspunkte wir aber
nur innerhalb der psychologischen Erfahrung nachweisen können. Doch
wie diese vom Psychischen zum Physischen fortschreitende Betrach-
tung gleichzeitig unter der Voraussetzung steht, daß die physischen
Effekte als solche auf physikalisch-chemischen Lebensvorgängen beruhen,
ganz so hat auch die Physiologie jene psychologischen Ausgangspunkte
selbst immer nur als Substitutionen für physische Prozesse anzusehen,
die der allgemeinen Kausalität der körperlichen Lebenserscheinungen
angehören. So schließt also auch diese aushilfsweise Benutzung des
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 567
den begleitenden psychischen Prozessen entlehnten objektiven Zweck-
prinzips, so sehr sie den verwickeltsten Problemen des Lebens der
höheren Organismen gegenüber als eine endgültige erscheinen mag,
immer zugleich das allgemeine Postulat ein, daß auch hier der teleo-
logischen eine kausale Verknüpfung entspricht, deren Auffindung das
Problem einer teleologischen Mechanik ist, für die Zweckerfolg und
mechanisch notwendige Wirkung zusammenfallende Begriffe sind*).
b. Die teleologische Mechanik der Lebenserscheinungen.
Daß die Biologie zu jener Umkehrung der kausalen Betrachtung,
in der alle Zweckerklärung besteht, in bevorzugter Weise veranlaßt
wird, ergibt sich aus der Beschaffenheit ihrer Objekte. Niemand hat
dies, ohne sich dessen bewußt zu sein, so nachdrücklich anerkannt wie
die mechanistische Richtung der Physiologie, indem sie den Organismus
als eine „natürliche Maschine“ bezeichnete. Werden doch die Leistungen
einer Maschine vor allem nach ihren Zwecken beurteilt, daher auch nächst
der Biologie gerade die Mechanik am reichsten an teleologischen Prin-
zipien ist. In ihr ist zugleich für alle anderen Naturwissenschaften
ein Vorbild für die Beziehung gegeben, in welche die teleologischen zu
den kausalen Prinzipien treten müssen, wenn beide in fruchtbarer
Weise zusammenwirken sollen. Nach diesem Vorbild sucht denn auch
die morphologische Methode als Entwicklungsmechanik die mechanische
*) Der Grundsatz, daß die physiologische Analyse der Lebenserschei-
nungen die Glieder ihres Verlaufs gemäß dem Standpunkte objektiver Natur-
betrachtung, den sie einnimmt, wo immer möglich auf physischer Seite zu suchen
hat, kann als das „Prinzip der Ausschaltung des Psychischen“ bezeichnet werden.
Diesem Prinzip läßt sich jedoch entweder ein absoluter oder ein relativer Sinn
beilegen. Versteht man es im absoluten Sinne, wie dies von manchen neueren
Tierbiologen geschehen ist, so erweist es sich nicht nur als undurchführbar,
sondern es setzt sich auch in Widerspruch mit der Erfahrung und nötigt zu
physiologischen Hilfsgriffen von teleologischem Charakter, die in Wirklichkeit
nur den psychologischen Tatbestand verschleiern, statt ofien die Unmöglichkeit
zuzugestehen, die ihm entsprechenden physiologischen Zwischenglieder auf-
zufinden. Man kann eben das Psychische selbst unmöglich aus der Erfahrung
ausschalten, und wo daher das Physische, das ihm entspricht, seinerseits noch
unserer empirischen Nachweisung unzugänglich ist, da läßt es sich auch nicht
aus der Physiologie ausschalten, wenn man nicht gleichzeitig auf das Maß von
Verständnis verzichten will, das uns überhaupt zu Gebote steht. Wie würde
es z. B. mit unseren Vorstellungen über die optischen Netzhauterregungen
beschaffen sein, wenn man nach dem Prinzip der absoluten Ausschaltung des
Psychischen von den Licht- und Farbenempfindungen deshalb, weil sie psychische
Elemente sind, keinen Gebrauch machen wollte?
68 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Zweckmäßigkeit der organischen Formen, und sucht die chemische
Methode in der Nachwirkung der antagonistischen Enzymwirkungen
die Teleologie des Stoffwechsels kausal verständlich zu machen. In
analogem Sinn darf man dann aber von einer „teleologischen Mechanik *
auch in solchen Fällen sprechen, wo die Zweckmäßigkeit als gegeben
in den vorhandenen Eigenschaften der Organismen vorausgesetzt wird.
So z.B. wenn man darauf hinweist, daß trockene Stoffe die Nerven der
Mundschleimhaut erregen, wodurch die für das Verdauungsgeschäft
äußerst wichtige Speichelabsonderung bewirkt werde, oder daß Sauer-
stofimangel die Atembewegungen in Gang bringe, die diesen Mangel
wieder beseitigen, u. s. w.*). Hier fehlt zwar zum vollen Verständnis
der mechanischen Zweckmäßigkeit die Kenntnis der ursächlichen Be-
dingungen, durch die jene Einrichtungen der Organisation entstanden
sind, vermöge deren, wie Pflüger sich ausdrückt, „die Ursache eines
jeden Bedürfnisses eines lebendigen Wesens zugleich die Ursache der
Befriedigung des Bedürfnisses ist“. Dieser Satz selbst berechtigt aber,
unter Voraussetzung der gegebenen Organisation, das Zweckprinzip
immerhin nur in dem Sinne zu verwenden, in dem jeder Zweckzu-
sammenhang zugleich ein Kausalzusammenhang ist. Auf diese Weise
hat sich in der Tat der Gedanke der mechanischen Zweckmäßigkeit,
den William Harvey zuerst für die Mechanik des Kreislaufs verwertete,
allmählich über alle anderen Funktionen ausgebreitet. Und zwar hat dies
die neuere Physiologie vollbracht, indem sie bei ihrer Bekämpfung des
vorangegangenen Vitalismus zuerst jede Teleologie verwarf, um schließ-
lich doch selbst, gezwungen durch die Natur ihrer Untersuchungsobjekte,
in der mechanischen Teleologie zu endigen. Dabei wirkte jener Be-
griff der „natürlichen Maschine“, der sich in den alten iatromechani-
schen Schulen ausgebildet hatte, zunächst noch insofern nach, als man
den letzten Grund der zweckmäßigen Mechanik des Lebens, den Orga-
nismus, meist als gegeben voraussetzte. Erst mit dem Problem der
Entwicklung der Arten wurde dann in neuerer Zeit auch die Frage
nach der Entstehung des Lebens, die seit dem Streit der vitalistischen
und mechanistischen Schule des 17. und 18. Jahrhunderts in der Phy-
siologie fast völlig geruht hatte, wieder in den Vordergrund gerückt.
Hier übernahm zunächst der Natur der Sache nach die morphologische
Methode die Führung, neben der dann allmählich die übrigen Hilfs-
mittel der Experimentalphysiologie der Entwicklungsgeschichte dienst-
bar wurden. Ob freilich eine teleologische Mechanik, die nicht bloß
*) Pflüger, in seinem Archiv für Physiologie, Bd. 15, S. 57 ff.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 569
die gewordenen, sondern auch die werdenden Organismen umfaßt,
jemals zur Vollendung gelangen wird, mag zweifelhaft scheinen, und
schwerlich wird sich eine solche ganz der Herrschaft unverifizierbarer
Hypothesen entziehen können. Auch wird hier an entscheidenden
Punkten die teleologische Mechanik wohl die Ergänzung durch das
der Psychologie entlehnte objektive Zweckprinzip, dessen oben gedacht
wurde, wohl niemals entraten können. Wenn aber die Biologie darin
dem Vorbilde der Mechanik nachstrebt, daß sie die teleologische und
die kausale Betrachtung in äquivalentem Sinne verwendet, so ergibt
sich daraus, daß auch sie, je nach Bedürfnis, teleologische oder kausale
Prinzipien verwenden kann, wobei sie sich nur des logischen Zu-
sammenhangs dieser Prinzipien bewußt bleiben muß.
c. Teleologische Prinzipien der Biologie. Das Entwicklungs-
gesetz.
Der Begriff des Zwecks läßt auf die lebenden Wesen im allgemeinen
in doppelter Weise eine sachliche Anwendung zu: entweder indem ihre
Eigenschaften, oder indem die an ihnen beobachteten V or-
gänge unter dem Gesichtspunkt jenes Begriffs betrachtet werden.
Die erste dieser teleologischen Auffassungen ist im ganzen die ältere,
doch geht sie ohne deutliche Grenze in die zweite über. Was uns in
die Augen fällt, ehe wir uns noch den Zusammenhang der einzelnen
Lebensprozesse klar gemacht haben, ist die Zweckmäßigkeit der Orga-
nisation. Verbindet sich auch eine solche stets mit der Rücksicht
auf die Leistungen, zu denen die lebenden Wesen befähigt sind, so ist
man doch meist geneigt, für jene Leistungen sofort in den voraus-
gesetzten dauernden Lebenseigenschaften die zureichende Erklärung zu
finden. Dies geschieht, indem die Eigenschaften ohne weiteres in
zwecktätige Kräfte umgewandelt werden. In diesem Sinne pflegt der
Vitalismus an die Stelle einer Erklärung der Lebenserscheinungen eine
Klassifikation der Eigenschaften lebender Wesen zu setzen, wobei
er jeder fundamentalen Eigenschaft das Prädikat einer Kraft bei-
legt. Am augenfälligsten gibt sich diese Verwechslung von de-
skriptiver Klassifikation und Erklärung darin zu erkennen, daß gewisse
Generalbegriffe aufgestellt werden, die für sehr differente Erscheinungen
den gemeinsamen Erklärungsgrund enthalten, während man doch
außerdem für jede eigentümlich geartete Leistung noch eine spezifische
Kraft annimmt. So tritt hier an die Stelle des Prinzips der Kräfte-
komposition, wie es in der physikalischen Mechanik Geltung be-
ansprucht, eine Art von Kräftehierarchie. Der allgemeinen
570 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Lebenskraft sind einzelne Lebenskräfte, der Bildungs- und Wachs-
tumstrieb, die Assimilations- und Organisationskraft, die Sensibilität
und Irritabilität, untertan, und unter diesen teilt sich z. B. wieder der
Bildungstrieb in eine Generations- und Reproduktionskraft*). Wir
können in diesen Klassenbegriffen keine Erklärungsprinzipien mehr
sehen. Immerhin können sie in einer berichtigten Bedeutung teils zur
abkürzenden Bezeichnung für gewisse komplexe Eigenschaften und
Vorgänge dienen, teils aber auch deshalb nützlich sein, weil hinreichend
sicherstehende Kausalbegriffe noch nicht existieren. Wenn wir beob-
achten, daß ein abgeschnittener Körperteil in seiner ursprünglichen
Beschaffenheit wiedererzeugt wird, oder daß das Wachstum der Organe
bei der Entwicklung nach einer gewissen Norm vor sich geht, so ver-
binden wir zwar mit solchen Erscheinungen den Gedanken, daß sie
aus bestimmten physikalischen und chemischen Ursachen entspringen.
So lange uns aber diese Ursachen dunkel sind, befinden wir uns mit
der Deutung der Vorgänge notgedrungen auf der teleologischen Stufe.
Nicht anders geht es mit dem Begriff des Lebens selbst. Nicht bloß
für die Unterscheidung des Lebendigen und Toten pflegen wir uns noch
heute dieses Begrifis zu bedienen, sondern wir können insbesondere
die verschiedenen Grade der Resistenzfähigkeit, die ein Organismus
gleichen äußeren Einwirkungen gegenüber darbietet, kaum anders als
durch die Statuierung gradweiser Verschiedenheiten der Lebenskraft
ausdrücken**). Aber selbst wenn es einmal gelingen wird, die physi-
kalischen und chemischen Bedingungen der Lebenserscheinungen tiefer
zu durchschauen, so werden jene Begriffe zur abkürzenden Bezeichnung
der komplexen Vorgänge kaum zu entbehren sein. Es kann darum
hier nur die Aufgabe sein, die teleologische mit der kausalen Erklärung
in dem Sinne zu verbinden, in weichem der Zweck in letzter Instanz
überall nur als Umkehrung gegebener oder noch aufzufindender Kausal-
beziehungen erscheint.
Eine solche Verbindung wird nun angebahnt durch die zweite
Form biologischer Zweckerklärung, durch die Aufstellung tele o-
logischer Gesetze der Lebensvorgänge. Nachdem
sich für die Funktionen des fertigen Organismus durchgängig das
Prinzip der Kausalerklärung praktische Geltung errungen, ist es nur
*) Vgl. J. F. Blumenbach, Über den Bildungstrieb, 1791, S. 92.
**) Auch der Ausdruck „konstitutionelle Kraft“, den man in der Gene-
rationslehre gebraucht hat, um damit die Fähigkeit der Arterhaltung bei der
Fortpflanzung zu bezeichnen (V. Hensen, Physiologie der Zeugung, Her-
manns Handbuch, VI, 2, S. 175), ist offenbar synonym mit Lebenskraft.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 571
noch das Gebiet der Entwicklungserscheinungen, in welchem der
Hauptsache nach die einseitig teleologische Form der Erklärung nicht
überschritten ist. Dennoch hat die neuere Biologie darin einen Fort-
schritt gemacht, daß sie das allgemeine Entwicklungs-
gesetz, das man früher für jede organische Spezies annahm, ohne
damit etwas anderes auszudrücken als den gesamten Erscheinungskom-
plex regelmäßig aufeinander folgender Entwicklungszustände, in eine
Anzahl von Teilgesetzen zerlegte, die einer kausalen Deutung
zugänglicher zu sein scheinen. Einer solchen Zerlegung mußte zuerst
eine Verallgemeinerung des Entwicklungsgesetzes selbst vorausgehen.
Sie bestand darin, daß sich neben drindividuellenEntwick-
lung, welche die frühere naturwissenschaftliche Tradition allein
anerkannte, de EntwicklungderArten Geltung errang, wor-
auf sich dann notwendig auch die mannigfachen Beziehungen zwischen
individueller und genereller Entwicklung der Beobachtung aufdrängten.
Dieser Standpunkt, schon vorbereitet in der spekulativen Naturphilo-
sophie des 19. Jahrhunderts, und in Bezug auf den Parallelismus der
generellen und individuellen Entwicklung namentlich durch die palä-
ontologischen Arbeiten von Louis Agassiz nahe gelegt, hat in der
Darwinschen Theorie seinen epochemachenden Ausdruck gefunden.
Die Bedeutung dieser Theorie besteht jedoch, wie schon oben bemerkt,
keineswegs darin, daß sie eine Kausalerklärung der Entwicklungs-
erscheinungen gibt oder auch nur zu geben versucht. Vielmehr sucht
sie nur ein teleologisches Gesetz von komplexem Charakter, das Ent-
wicklungsgesetz, in einige einfachere teleologische Prinzipien zu zer-
legen.
Das Entwicklungsgesetz sagt aus, daß alle organischen
Wesen aus der Differenzierung einfacher Formen von gleichartiger
Beschaffenheit ursprünglich hervorgegangen sind und bei der indivi-
duellen Entwicklung noch fortwährend hervorgehen. Dieses Gesetz
ist ein teleologisches, denn es faßt die Differenzierung der einfachen
Formen als einen Prozeß auf, der die Erzeugung der zusammengesetzten
zu seinem Zweck hat. Auch wo dies nicht ausdrücklich gesagt ist, da
tritt doch der Zweckgedanke darin hervor, daß jener Differenzierungs-
prozeß zunächst nicht in Bezug auf seine Kausalbedingungen, sondern
nur mit Rücksicht auf seinen Erfolg untersucht wird. Die Darwinsche
Theorie zerlegt in diesem Sinne das Entwicklungsgesetz in zwei speziellere
Gesetze: in das Vererbungs- und dass Anpassungsgesetz.
Zwischen beiden sind die Entwicklungsprobleme dergestalt verteilt,
daß auf das Vererbungsgesetz alle Vorgänge zurückgeführt werden,
572 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
die einer konstanten Wiederkehr unterworfen sind, auf das Anpassungs-
gesetz alle Erscheinungen, in denen die Regel der konstanten Wieder-
kehr Ausnahmen erfährt. Das Vererbungsgesetz sucht daher haupt-
sächlich die individuelle, das Anpassungsgesetz die generelle Entwick-
lung begreiflich zu machen. Denn jene wiederholt sich nicht nur von
Generation zu Generation, sondern es wiederholen sich in ihr auch außer-
dem die Hauptzüge der generellen Entwicklung. Die letztere dagegen
hat sich wahrscheinlich nur einmal vollzogen, und sie kann daher
nur aus Abänderungen erklärt werden, denen die Individuen bei ihrer
Entwicklung unterworfen waren. Aber eine Befestigung und Häufung
solcher Abänderungen wird doch nur verständlich, wenn man auch hier
das Vererbungsgesetz zu Hilfe nimmt. Auf diese Weise wird es beiden
Prinzipien durch ihr Ineinandergreifen möglich, die wechselvollen
Vorgänge der Entwicklung teleologisch zu deuten.
d. Das Vererbungsgesetz. Stofftheorien und dynamische
Theorien.
Hierbei ist es nun ein mißlicher Umstand, daß die Hauptlast
der Erklärung dem Vererbungsgesetz zufällt, das einer kausalen
Interpretation am schwersten zugänglich ist. Indem es nicht bloß
die Wiederkehr bestimmter Erscheinungen, sondern auch deren regel-
mäßige Zeitfolge verbürgen soll, ist es von dem Entwicklungsgesetz
eben nur darin verschieden, daß es die auf Anpassung bezogenen Aus-
nahmeerscheinungen abgestreift hat. Zur Deutung des Entwick-
lungsgesetzes hatte schon die ältere vitalistische Physiologie zwei
Anschauungen ausgebildet, die der Epigenesis und der Evolu-
tion, deren wesentlicher Gegensatz darin lag, daß die Wiederkehr
der gleichen Erscheinungen bei der Epigenesis auf die Wiederkehr
der nämlichen äußeren Bedingungen, bei der Evolution auf ein
Freiwerden innerer latenter Kräfte zurückgeführt wurde, die von
den Erzeugern auf ihre Nachkommen übergehen und daher in den
Stammeltern einer jeden Spezies ursprünglich enthalten sein sollten.
Ihre naivste Gestaltung fand die evolutionistische Hypothese in
den Lehren der „Ovulisten“ und „Animalkulisten“ des 17. Jahrhunderts,
nach denen die Eier oder die Spermatozoen die seit Anfang der Schöp-
fung in den Ureltern der Spezies eingeschachtelten, aber noch nicht
ausgewachsenen Tiere sein sollten. Diesen zum Teil von den Trug-
bildern unvollkommener Mikroskope unterstützten Theorien gegen-
über war die von Casp. Friedr. Wolff ausgebildete epigenetische Theorie,
welche die Entwicklung als eine der Kristallisation ähnliche Kontakt-
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 573
wirkung organisierter Elemente auf unorganische Stoffe betrachtete,
ein wichtiger Fortschritt*). Gleichwohl kann man auch in ihr heute nur
noch eine unzureichende Analogie sehen; und es ist darum kaum ge-
rechtfertigt, neu auftauchende Erklärungsversuche immer noch den
alten Begriffen unterzuordnen. Vielmehr besitzen die heutigen Hypo-
thesen im allgemeinen ebensowohl epigenetische wie evolutionistische
Elemente. So vertritt Darwins „provisorische Hypothese der Pan-
genesis“ zunächst den Standpunkt der Epigenesis; aber sie erweitert
ihn, indem sie nicht, wie es bei Wolff geschehen war, von einem
Punkte sukzessiv alle Teile des Körpers sich organisieren, sondern aus
jedem Teil, aus jeder einzelnen Zelle organisierende Elemente ent-
springen läßt, die zuerst in die Sexualzellen und dann aus diesen in den
Embryonalkörper übergehen, in welchem sie, wachsend und sich ver-
mehrend, das Wachstum aller Organe veranlassen sollen**). Durch diese
Verallgemeinerung nähert sich nun die Pangenesis der Evolution. Denn
insofern zu allen Organanlagen die Keime in dem elterlichen Organismus
enthalten sind, ist der Vorgang der Vererbung zugleich eine Evolution
vorhandener Anlagen***). Doch setzt sich diese anderseits wieder aus
einer Summe epigenetischer Elementarvorgänge zusammen, indem den
Keimchen die Fähigkeit zugeschrieben wird, unorganisierten Stofi zu
organisieren. In Wahrheit ist es daher ein anderer Unterschied, der an
Stelle jener nur noch in gewissen Anklängen weiterlebenden Gegensätze
in den neueren Entwicklungstheorien in den Vordergrund tritt. Auf
der einen Seite begegnen uns Deutungsversuche, die darauf ausgehen,
die Vererbungs- und Entwicklungserscheinungen aus der Konstitution
eines ursprünglichen Stoffs, eines Keimplasmas oder kleinster Keim-
moleküle und -molekülgruppen (Keimchen, Pangene, Biophoren,
Iden u. s. w.) abzuleiten: wir wollen sie die Stofftheoriennennen.
Auf der anderen Seite treten Anschauungen auf, die in der regelmäßig
periodischen Wiederholung des Formenwandels das wesentliche Merk-
*) Zur Geschichte dieser Theorien vgl. His, Arch. für Anthrop., IV,
S. 197, 317, V, S. 69. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien seit dem
Ende des 17. Jahrh., 1905.
**) Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen. Deutsche Ausgabe,
II, S. 470 fi. Noch mehr nähern sich der epigenetischen Theorie Wolffs die
Anschauungen Herbert Spencers (Prinzipien der Biologie, Deutsche
Ausg. I, S. 440 ff., II, S. 1 fi... Doch nimmt auch er eine unzählige Menge
„Pphysiologischer Einheiten“ an, deren jede die Eigenschaft besitzen soll, auf
geeignete Stoffe eine „polarisierende“ Wirkung auszuüben.
***) In der Tat zählt A. Weismann (Das Keimplasma. 1892, S. 3 ff.)
Darwins Lehre zu den evolutionistischen Hypothesen.
574 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
mal aller Entwicklung erblicken und ihre Betrachtung daher an die
anderer regelmäßig periodischer Naturvorgänge anlehnen: wir können
sie als de dynamischen Theorien bezeichnen.
Die Stofftheorien, zu denen die größte Zahl der in neuerer
Zeit ausgebildeten Vererbungshypothesen gehört, sind im allgemeinen
Modifikationen der oben skizzierten Darwinschen Pangenesis, die ihrer-
seits schon in den Vorstellungen der Atomistiker des Altertums ihr
Vorbild hat. Mag noch so sehr anerkannt werden, daß man in den ver-
schiedenen Gestaltungen der pangenetischen Stofitheorie bemüht ge-
wesen ist, teils dem Zusammenhang der Entwicklung mit den übrigen
Lebensvorgängen, wie Ernährung und Wachstum, Rechnung zu
tragen*), teils die Aufschlüsse, die wir der mikroskopischen Beob-
achtung über die Prozesse der Kernteilung und Befruchtung verdanken,
in eine nähere Beziehung zu den Erklärungsversuchen zu bringen**),
so leiden doch alle diese Stofihypothesen an dem nämlichen Mangel:
das Problem der Entwicklung wird von dem Ganzen hinweggenommen,
um es auf hypothetische Elemente zu übertragen. Weder erfahren wir,
wie das Wachstum und die Vermehrung der Keimchen geschehen
soll, noch wird begreiflich gemacht, durch welche Wahlverwandt-
schaft die aus allen Körperteilen in die Sexualzellen übergegangenen
Elemente in der gehörigen Weise sich anordnen, oder durch welche
Bedingungen die vererbten Eigenschaften in einer bestimmten zeit-
lichen Reihenfolge auftreten. Um auf diese Fragen zu antworten, müßte
die Stofitheorie die Eigenschaften, die sie an ihren Keimelementen
voraussetzt, irgendwie auf bekannte Eigenschaften chemischer Ver-
bindungen zurückführen oder sie wenigstens durch solche verständlich
machen. Dies geschieht aber nicht, sondern die Hypothesen bleiben im
Kreise rein biologischer und teleologischer Betrachtungen***).
*) So besonders Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Ab-
stammungslehre. 1884,
**) Hierher gehören namentlich Hugo de Vries, Intrazellulare Pan-
genesis, 1889, und A. Weismann, Das Keimplasma, 1892.
***) Eine große Rolle hat in dem Kampf der Theorien dieser Richtung die
Frage gespielt, ob, wie Darwin annahm, eine Vererbung erworbener
Eigenschaften stattfinde, oder ob dies nicht möglich sei, alle individuellen
Differenzen also, insofern sie nicht in äußeren Einwirkungen ihren Grund haben,
aus der Vermischung verschiedener Keimstoffe bei der sexuellen Fortpflanzung
entspringen, wie Weismann nachzuweisen suchte. Natürlich ist dies zu-
nächst eine tatsächliche Frage. Gleichwohl steht sie in enger Beziehung zu den
theoretischen Vorstellungen. Vererben sich erworbene Eigenschaften, so muß
man eine fortwährende Veränderlichkeit der Keimelemente durch äußere Ein-
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 575
Wie die Stofitheorien bei der Erklärung der Entwicklung auf die
Vererbung der Eigenschaften, so stützen sichnundiedynamischen
auf den zeitlichen Verlauf der Entwicklungen. In diesem Sinne hat
vor allen W. His auf die Periodizität der Reizungserschei-
nungen hingewiesen. Seine Anschauungen sind dann von W. Roux
u. a. zu einer „Entwicklungsmechanik“ weitergebildet worden. Im An-
schluß an allgemeine energetische und teilweise vitalistische Anschau-
ungen haben endlich J. Reinke, K. C. Schneider, H. Driesch u.a. Vor-
stellungen entwickelt, die im weiteren Sinne ebenfalls dynamische
genannt werden können*). Davon ausgehend, daß die Entwicklung
als eine Folge sukzessiv ausgelöster Bewegungen zu deuten sei, be-
trachtet man hier im allgemeinen das Ei als eine erregbare Substanz,
in welcher durch die Befruchtung oder (bei ungeschlechtlicher Zeugung)
durch andere ihr entsprechend wirkende Vorgänge die Wachstums-
erregung ausgelöst werde, um nun in einer gewissen, von den ur-
sprünglich bestimmenden Faktoren abhängigen Regelmäßigkeit in
Raum und Zeit zu verlaufen**). Diese Theorien fügen sich der erweiter-
ten Bedeutung ein, die in der neueren Physiologie der Begrifi des
Reizes gewonnen hat. Bot hier zunächst das Nervensystem der
Tiere Fälle dar, wo der endliche Reizeffekt von dem ursprünglichen
Reizimpuls räumlich wie zeitlich weit getrennt sein können, und wo sich
dann ein zusammengesetzter Reizungsvorgang stets in eine Folge
einzelner Reizübertragungen zerlegen läßt, so lag es nahe, das Schema
dieses zusammengesetzten Reizverlaufs auf alle jene verwickelten
Lebensvorgänge, die eine periodische Wiederkehr darbieten, wie z. B.
flüsse annehmen. Ist das Gegenteil der Fall, so ist eine Kontinuität des Keim-
plasmas vorauszusetzen, die während der ganzen Lebensgeschichte einer Spezies
dauert. Die erste Ansicht ist daher epigenetischen, die zweite evolutionistischen
Vorstellungen zugeneigt. Vgl. zu diesem Streit Weismann, Das Keimplasma,
S. 515 ff., Die Kontinuität des Keimplasmas, 1855, und im entgegengesetzten
Sinne Th. Eimer, Die Entstehung der Arten, I, 1888, S.84ff. E. Rignano,
Über die Vererbung erworbener Eigenschaften, 1907, S. 173 ff.
*) W. His, Unsere Körperform, 1875, S.145f. W. Roux, Die
Entwicklungsmechanik ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft, 1905,
J. Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie, 1901, S. 139 ff. K. C.
Schneider, Vitalismus. Elementare Lebensfunktionen, 1903, S. 1 fl.
**) Ähnliche Anschauungen hat Haeckelentwickelt, wobei er besonders
die Ähnlichkeit der periodischen Entwicklungserscheinungen mit den Wellen-
bewegungen hervorhob, eine übrigens so äußerliche und entfernte Analogie, daß
sie eigentlich nur ein anderes Wort für die Periodizität der Entwicklung ist.
(Haeckel, Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebens-
teilchen, 1876.)
576 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
auf die Reifung der Eier im Eierstock, auf den Wechsel von Wachen
und Schlaf, zu übertragen*). Einen noch weiteren Schritt vollzog die
Pflanzenphysiologie, da sie, von den einfachsten Reizbewegungen aus-
gehend, mehr und mehr genötigt wurde, ein Ineinandergreifen von
Reizungen anzunehmen, durch das selbst räumlich weit entfernte Organe
in Verbindung gesetzt werden können, und die Lebenserscheinungen
besonders der niederen Tiere, der Protozoen und Cölenteraten fügten
sich überall dem gleichen Schema der Reizübertragung, während
Schwere, Licht, Wärme, mechanische und chemische Reize sich als die
schon unter den natürlichen Lebensbedingungen hauptsächlich wirk-
samen Reize erwiesen. Um den im letzten Grunde mechanischen Charakter
aller dieser Bewegungen anzudeuten, bezeichnet man sie als Geotropis-
mus, Chemotropismus, Heliotropismus, Thermotropismus oder auch
als Barotaxis, Chemotaxis u. s. w.**). In der Tat legt der Begriff des
Reizes in allen diesen Fällen eine Interpretation aus physikalisch-
chemischen Wirkungen nahe. Die Übertragung auf zusammengesetz-
tere, eine Vielheit von Organen und einen längeren Zeitverlauf umspan-
nende Vorgänge wird dann im Hinblick auf die zähflüssige Kon-
stitution der reizbaren Substanzen wohl verständlich. Das physikalische
Mittelglied, das hier den Gesichtspunkt zur Erklärung solcher Prozesse
abgibt, ist der Begriff der Auslösung. Jeder Reizungsvorgang ist,
physikalisch gesprochen, ein Auslösungsprozeß. Das physikalische
Merkmal der Auslösung besteht aber darin, daß bei ihr eine geringe
lebendige Kraft, wenn sie nur an geeigneter Stelle einwirkt, latente in
aktuelle Energien überführt, die an Größe die auslösende Kraft weit
übertreffen können. Wahrscheinlich sind es auch hier wieder kata-
lytische Vorgänge, die bei den Auslösungen wirksam werden. Greifen
nun solche Auslösungen mehrfach und regelmäßig ineinander ein, indem
ein Teil der ausgelösten Energie wieder fernere Auslösungen bewirkt,
so kommt dadurch ein regelmäßiger Verlauf von Erscheinungen zu
stande, der sich über immer weitere Strecken des Raumes und der
Zeit ausdehnen kann. Es ist klar, daß diesem allgemeinen Charakter
der Auslösungsvorgänge auch die Entwicklungserscheinungen ent-
sprechen. Indem die dynamische Hypothese die organische Entwick-
*) Pflüger, Untersuchungen aus dem Bonner physiol. Laboratorium,
1865, und Archiv für Physiologie, Bd. 10, S. 468.
**) Vgl. W. Pfeffer, Die Reizbarkeit der Pflanzen. Verh. der Ges.
deutscher Naturforscher und Ärzte. Allg. TI. 1893. Pflanzenphysiologie, I?,
S. 516 fl. Verworn, Allgem. Physiologie”, S. 380 ff. J. Loeb, Dynamik
der Lebenserscheinungen, S. 204 ff.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen, 577
lung auf den Begriff der Reizung und mit dieser auf den der Auslösung
zurückführt, steht sie also einer kausalen Erklärung der Erscheinungen
näher als die Stofihypothese mit ihren lediglich die Lebenseigenschaften
im kleinen wiederholenden Keimelementen. Aber so lange der Begriff
des Reizes selbst nur als der teleologische Ausdruck für eine Summe
von Auslösungsvorgängen anzusehen ist, für deren Erklärung wir
lediglich physikalische und chemische Analogien zu Hilfe nehmen
können, steht auch hier zunächst noch der teleologische Begriff im Vor-
dergrund. Zugleich bezeichnet jedoch der Hinweis auf den Mechanismus
oder Chemismus der Auslösungen eine kausale Aufgabe, die bei einzelnen
Punkten direkt, bei anderen wenigstens mit Hilfe bekannter physi-
kalisch-chemischer Beispiele in Angriff zu nehmen ist.
e. Das 'Anpassungsgesetz. Mechanische, chemische und funk-
tionelle Anpassungen.
Mehr als das Vererbungsgesetz erscheint das zweite teleologische
Gesetz, das Anpassungsgesetz, in manchen Fällen einer direk-
ten kausalen Interpretation zugänglich, Dabei kann nach den
Vorgängen, die sich dem Begriff der Anpassung unterordnen lassen,
eine mechanische, eine chemische und eine funk-
tionelle Anpassung unterschieden werden.
Unter ihnen ist de mechanische Anpassung die verständ-
lichste. Sie bezieht sich fast ausschließlich auf das wechselseitige Ver-
hältnis der Teile im Einzelorganismus. Bei dem Wachstum der Gewebe
und Organe formen und ordnen sich die Elemente teils unter dem
Einfluß der durch ihr eigenes Wachstum erzeugten Spannungen, teils
unter der Wirkung äußerer Druck- und Zugkräfte. So scheint bei der
Bildung von Zellennetzen durchweg das „Prinzip der kleinsten Flächen“
befolgt zu sein, nach welchem sich die Oberflächen der einzelnen zäh-
flüssigen Zellkörper derart ins Gleichgewicht setzen, daß die Summe
der Oberflächen unter den gegebenen Bedingungen ein Minimum
wird*). Bei der Pflanze hinterlassen infolge des festen Gefüges der
Zellwände und der Regelmäßigkeit des Wachstums die Wachstums-
spannungen deutliche Spuren sowohl in den Schichtungen der Zell-
wände wie in den Anordnungen der Zellreihen, indem sich regelmäßige
Kurvensysteme bilden, die auf die nach den verschiedenen Richtungen
stattfindenden Wachstumsgeschwindigkeiten schließen lassen. Charak-
teristisch ist in dieser Hinsicht besonders das Verhältnis der zu dem
Umfang des wachsenden Pflanzenteils konzentrischen, meist kreis-
*) G. Berthold, Studien über Protoplasmamechanik, 1886, Kap. VII,
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 37
578 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
förmigen oder elliptischen Kurven zu den sie senkrecht durchschneiden-
den hyperbolischen oder parabolischen Linien, ein Verhältnis, für das
die Jahresringe und die sie durchsetzenden Markstrahlen ein bekanntes
Beispiel abgeben*). Ebenso läßt sich die regelmäßige spiralige An-
ordnung der Blattstellungen auf die mechanischen Folgen des wechsel-
seitigen Drucks zurückführen, den die Blattanlagen an den Vegetations-
punkten ausüben**). Am Tierkörper sind wegen der meist verwickelteren
Wachstumsbedingungen mechanische Wirkungen von ähnlicher Regel-
mäßigkeit von vornherein nur bei relativ einfachen Verhältnissen der
Organisation zu erwarten. Unter solchen, wie z. B. bei der Anordnung
der Furchungszellen in den Schichtungen epithelialer Gewebe, treten
sie aber in völlig analoger Weise auf***). Wo dagegen die durch das
Wachstum entstehenden Formen von so komplexer Art sind wie die ent-
wickelteren Tierformen, da können wir natürlich auch nicht mehr
einfache geometrische Anordnungen der Elemente erwarten. Immer-
hin werden selbst dann gewisse Gestaltungen als mechanische Folgen
voraufgegangener Wachstumsbedingungen zu deuten sein. So hat man
die Faltungen der Keimscheibe aus einem ungleichen Flächenwachstum
derselbenf), so den Verlauf der Gehirnfurchen der Säugetiere aus den
verschiedenen Verhältnissen des Längen- und Breitenwachstums der
Hirnmasse abzuleiten gesuchtff).
So wertvoll jedoch die Mechanik der Wachstumsbewegungen für
das Verständnis der organischen Formen sein mag, so ist nicht zu
übersehen, daß dabei das Prinzip der mechanischen Anpassung immerhin
nur unter der Voraussetzung gegebener Wachstumsbedingungen
einer kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird. In dieser Beziehung
befinden wir uns bei der zweiten Form mechanischer Anpassung,
bei der äußere Druck- und Zugkräfte als die ursächlichen Faktoren
auftreten, in einer günstigeren Lage. Hierher gehören die für die bleiben-
den oder vorübergehenden Formgestaltungen der Pflanzen maßgeben-
den Richtungsbewegungen, für die teils die Schwere, teils äußere mecha-
nische Einwirkungen bestimmend sindfff). Eine bedeutsame Erscheinung
*) Schwendener, Monatsber. der Berl. Akademie, 1880, S. 412.
**) Schwendener, Mechanische Theorie der Blattstellungen, 1878
Pfeffer, Pflanzenphysiologie?, IIRES. 267m
***) A. Rauber, Tier und Pflanze. Akadem. Programm. 1881, S. 34.
W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus, 1881.
7) W. His, Unsere Körperform, S. 45 £.
-r) Vgl. meine Grundzüge der physiol. Psychologie’, I, S. 142 fi.
tr) Pfeffer, Sitzungsber. der sächs. Ges. der Wiss., math.-phys. Kl.,
1891, S. 638. Pflanzenphysiologie?, II, 8. 76 fi.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 579
gleicher Art ist ferner die Ausbildung mechanischer Struk-
turformen, d.h. solcher Anordnungen von Gewebselementen, die
einerseits bestimmten mechanischen Zwecken dienen, anderseits aus
mechanischen Ursachen entspringen, die mit diesen Zwecken in un-
mittelbarer Verbindung stehen. So bilden die durch größere Kohäsion
und Elastizität sich auszeichnenden Bastzellen der Pflanze ein mecha-
nisches System, das im allgemeinen nach den Richtungen der stärksten
Zug- und Druckkräfte angeordnet ist, während die weicheren Parenchym-
zellen die Lücken dieses Systems ausfüllen*). Unter den tierischen
Geweben zeigt am augenfälligsten die spongiöse Substanz gewisser
Knochen, wie des menschlichen Oberschenkels, eine solche mechanische
Struktur. Indem der Gelenkkopf samt Hals einen nahezu horizontalen,
etwas schief nach oben gerichteten Träger bildet, auf dem eine sehr
bedeutende Last ruht, ordnen sich die Knochenbälkchen der spongiösen
Substanz nach einem genau den statischen Druck- und Zugkurven
entsprechenden Kurvensystem**).
Schwieriger ist der Zusammenhang der chemischen An-
passungen zu durchschauen. Zwei Wege sind im allgemeinen
zur Erforschung der hierher gehörigen Erscheinungen eingeschlagen
worden: erstens die experimentelle Beeinflussung der Lebensvorgänge
durch von außen zugeführte chemische Stoffe, bei denen nach einer
gewissen Zeit ein neuer Gleichgewichtszustand des Stofi- und Kräfte-
wechsels eintritt; und zweitens die Untersuchung der in den Geweben
stattfindenden Assimilations- und Dissimilationsvorgänge durch das
Studium der außerhalb des Organismus zu beobachtenden Reaktionen
der bei der Analyse gewonnenen Gewebsbestandteile. Auf dem ersten
dieser beiden Wege sucht man über die allgemeinen Einwirkungen
der Umgebung auf die lebenden Wesen, ihr Wachstum und ihren Stoff-
wechsel Aufschluß zu gewinnen, teils indem direkt die Zusammensetzung
des Wassers oder des Bodens durch den Zusatz von Salzen und
von anderen Stoffen verändert wird***), teils indem die Organismen
aus einer bestimmten Umgebung in eine andere verpflanzt werden. Im
ersteren Fall sucht man die Bedingungen künstlich nachzuahmen, die
bei dem natürlichen Vorgang der Akklimatisation verändernd auf die
*) Schwendener, Das mechanische Prinzip im anatomischen Bau
der Monokotylen, 1874.
**) G, H. Meyer, Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochen-
gerüstes, 1873. Jul. Wolff, Virchows Archiv, Bd. 50, S. 398 ff.
***) Pfeffer, Untersuchungen aus dem botan. Institut zu Tübingen, I,
II, 1884—88. Ber. der sächs. Ges. der Wiss., Bd. 41, 1889, Bd. 47, 1895.
380 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Organisation einwirken, um auf diese Weise die im letzteren Fall großen-
teils noch unbekannten Ursachen der Veränderungen zu ermitteln*).
Auf dem zweiten der oben angedeuteten Wege hat man namentlich die
katalytischen Vorgänge zu erforschen gesucht, die durch die Gegen-
wirkungen der verschiedenen in den Sekreten und Körpersäften vor-
kommenden Enzyme ebenso die Zersetzung der Gewebsbestandteile
wie ihren Aufbau und infolge wechselseitiger Kompensation ver-
schieden gerichteter Enzymwirkungen ein Gleichgewicht des organischen
Stoffwechsels erhalten können. Dabei ist die Erforschung des Chemismus
dieser Vorgänge besonders auch durch die Beobachtung der toxischen
Enzymwirkungen und ihrer Aufhebung durch die Erzeugung antito-
xischer Stoffe (sogenannter Antikörper) angeregt worden. Denn in der
Infektion und ihrer Aufhebung summieren sich jene elementaren kata-
lytischen Wirkungen, die im normalen Organismus in unendlich mannig-
faltigen, aber wegen der fortwährenden Auslösung kompensierender
Vorgänge im allgemeinen in verborgener Weise tätig sind. Unter dem
Einfluß der toxischen Enzyme steigern sie sich so zu intensiven Reak-
tionen und Gegenreaktionen, die nun ein verstärkter Ausdruck des Che-
mismus der Lebensvorgänge überhaupt sind**).
Die Anpassungen, die oben als funktionelle bezeichnet
wurden, können nach sehr verschiedenen Richtungen gehen. Sie stim-
men aber sämtlich darin überein, daß die Ausübung irgendwelcher physio-
logischer Funktionen auf den Körperbau oder auf andere Funktionen,
sei es des nämlichen Organismus, sei es anderer mit ihm in Wech-
selbeziehungen stehender Wesen irgend einen Einfluß ausübt. Ver-
hältnismäßig am klarsten gestalten sich diese Anpassungen dann, wenn
sie sichinnerhalbeineseinzigen Wesens vollziehen. Die einfach-
sten Fälle, die zugleich in das Gebiet der mechanischen und chemischen
Anpassungen herüberreichen, bestehen hier in der Ausbildung der
Organe durch Übung, ihrer Verkümmerung durch Nichtübung***). Andere
individuelle Anpassungen werden durch das Nervensystem vermittelt,
dessen Zentralteile wichtige Einrichtungen zur wechselseitigen Regu-
*) Vgl. Beispiele solcher Akklimatisationseinwirkungen bei Darwin,
Das Variieren der Tiere und Pflanzen, II, S. 369 ft.
**) FF Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle. Naturw.
Rundschau, 1901, S. 581 ff. C. Weigert, Neuere Arbeiten zur Theorie der Anti-
toxinimmunität, 1899. P. Ehrlich, Berliner klin. Wochenschrift. 1898 ff, Ge-
sammelte Abhandlungen, 1903. S. Arrhenius, Immunochemie. 1907.
***) Vgl. Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen etc., I, S. 91,
153 ft.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 581
lation der Funktionen enthalten. Die Wechselwirkungen zwischen
Herz- und Gefäßinnervation, die Selbststeuerung der Atmung, die
Wärmeregulierung durch Haut und Lungen sind Beispiele dieser Art.
Indem so schon der normale Ablauf der Lebensprozesse überall auf einer
wechselseitigen Beeinflussung der Funktionen beruht, wird es zugleich
begreiflich, daß bei der Einwirkung abnormer Verhältnisse durch die
nämlichen Hilfsmittel eine Ausgleichung der Störungen geschehen kann,
welche die Widerstandsfähigkeit des Organismus vergrößert. So werden
Zirkulationsstörungen zunächst durch gesteigerte Herzaktion und
dann durch die eintretende Vergrößerung des Herzens kompensiert;
die Abnahme der atmenden Oberfläche bei Lungenerkrankungen
gleicht sich aus durch gesteigerte Respirationsfrequenz, u. Ss. w.
Liegen in allen diesen Fällen in bestimmten Reflexmechanismen
des zentralen Nervensystems oder anderen verhältnismäßig leicht
übersehbaren Wechselbeziehungen der Organe die Quellen der funk-
tionellen Anpassung, so wird dagegen das Verständnis dieser erschwert,
wenn sie sich zwischen verschiedenen Wesen vollzieht, die nicht
selten in ihrer Organisation weit voneinander abstehen. Wie sollen
wir es deuten, wenn Insekten und die Blüten, die sie besuchen,
die Form der Mundteile und die Gestaltung der Blütenorgane ein-
ander angepaßt sind, oder wenn in einer den Zufall ausschließen-
den Anzahl von Fällen die Färbungen der Tiere mit ihrer Um-
gebung übereinstimmen, ja wenn manchmal Form und Färbung
umgebende Gegenstände, wie ein Blatt oder einen Baumzweig, nach-
zuahmen scheinen?*) Darwin suchte diese Erscheinungen hauptsäch-
lich durch zwei Voraussetzungen zu erklären: erstens durch die An-
nahme einer unbegrenzten Variabilität der Individuen, und zweitens
durch den „Kampf ums Dasein “, der den alleinigen Fortbestand solcher
Varietäten sichere, deren Eigenschaften den Lebensbedingungen am
meisten angepaßt seien. Von diesen Voraussetzungen läßt sich aber nur
die zweite einigermaßen durch die Beobachtung bestätigen. Dagegen
bewegt sich die Variabilität der Individuen erfahrungsgemäß nur
zwischen engen Grenzen, wie dies ja auch die Gültigkeit des Ver-
erbungsgesetzes mit sich bringt. Nun steht es allerdings frei, eine bei-
nahe beliebig lange Zeit für die Ausbildung einer dauernden Ver-
änderung zu Hilfe zu nehmen. Doch es bleibt die Schwierigkeit, daß
bei jedem einzelnen Vorgang dieser Art ein Anfang gegeben sein muß,
*) Herm. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten, 1872.
Wallace, Beiträge zur Theorie der natürl. Zuchtwahl, 1870, S. 51 fi.
582 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der die bestimmte Richtung zweckmäßiger Anpassung bereits besitzt,
und der doch noch nicht durch den Kampf ums Dasein bedingt sein
kann. Wenn z. B. Farbe und Geruch für viele Blüten nützlich sind,
weil sie dadurch aus der Ferne den sie besuchenden Insekten, die den
Samenstaub von einer Blüte zur anderen tragen, kenntlich werden, so
ist damit nicht im geringsten begreiflich gemacht, durch welche Be-
dingungen ursprünglich bestimmte Farb- und Geruchstoffe in jenen
Blüten entstanden sind. Kennten wir aber die Ursachen dieses Vor-
gangs, so wäre uns damit auch für die weitere Steigerung desselben
eine von dem Insektenbesuch ganz unabhängige Erklärung an die
Hand gegeben, und jener würde vielleicht zu einem sekundären Moment
von bloß unterstützendem Charakter. Ebenso ist es verständlich, daß
der Schmuck gewisser männlicher Tiere durch die Bevorzugung, welche
die Weibchen den damit ausgestatteten Bewerbern gewähren, befestigt
und gesteigert werden kann. Aber es bleibt nicht nur unerfindlich, wie
das Liebesbedürfnis einer primitiven Henne im stande gewesen sein soll,
den Hahn mit den Anfängen von Kamm und Sporn auszustatten,
sondern es spricht auch alle psychologische Wahrscheinlichkeit dagegen,
daß jemals dem Ungewohnten freiwillig der Vorzug vor dem Gewohnten
gegeben worden sei.
Darwin selbst hat sich diesen Bedenken wohl nicht ganz ver-
schlossen, da er in den späteren Auflagen seines Werkes „Über die Ent-
stehung der Arten“ gegenüber der unbegrenzten Variabilität und Kon-
kurrenz die Bedeutung der. direkt verändernden Wirkung der Lebens-
bedingungen stärker betonte. Freilich aber sind hier gerade die funk-
tionellen Anpassungen zwischen verschiedenen Wesen in ihrer
ersten Entstehungsweise noch beinahe völlig dunkel. Vorläufig steht
nur die eine Forderung fest, daß deren Ursachen zunächst individuelle
sein müssen, und daß daher durch Wechselbeziehungen der Individuen
zwar gewisse Wirkungen verstärkt, niemals aber solche hervorgebracht
werden können. Diese Erwägungen legen die Vermutung nahe, der erste
Anstoß zu neuer Artbildung müsse durch irgend ein einmaliges und
plötzliches Eingreifen äußerer oder innerer Einflüsse entstehen, wobei
dann natürlich auch die Abänderung selbst nicht allmählich, sondern
plötzlich und stoßweise erfolge. Begünstigt wird diese Vermutung
sowohl durch die Erscheinungen der Bastardbildung wie durch die
Abänderungen in der Entwicklung, die durch mechanische oder che-
mische Einwirkungen auf die Keimzelle herbeigeführt werden. In
beiden Fällen vollzieht sich aber die Abweichung plötzlich; und da
solche momentane Veränderungen der Lebensbedingungen eines Keimes
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 583
auch in der Natur leicht vorkommen können, so kann möglicherweise
eine solche Mutation, wie man nach Hugo de Vries diesen
plötzlichen Vorgang im Gegensatze zu der allmählich erfolgenden Ent-
wicklung neuer Formen durch Variation nennt, sehr wohl als Ausgangs-
punkt neuer Artbildung gedacht werden*). In der Tat hat de Vries
bei mehreren Pflanzenarten solche plötzlich eintretende Abweichungen,
die sich bei der Selbstbefruchtung der abgeänderten Individuen als erb-
lich erwiesen, beobachtet. Denkt man sich nun derartige Mutationen
im Laufe langer Zeiträume mehrmals nacheinander eintreten, so würde
sich auch hier eine wachsende Divergenz der Arten ergeben. Aber der
Prozeß würde dann kein stetiger, sondern ein stoßweiser, katastrophen-
artiger sein.
Auf diese Weise erneuert sich in der Variations- und der Muta-
tionstheorie ein Gegensatz, der weit über das biologische Gebiet hinaus-
reicht.
f. Das Prinzip der Summation kleiner Wirkungen und die Kata-
strophenlehre. Variations- und Mutationstheorie.
Indem Darwin Vererbung und Anpassung derart miteinander
verband, daß die wachsende Differenzierung der organischen For-
men begreiflich werden sollte, brachte er ein Prinzip zur Anwendung,
das sich, von den allgemeinsten nach und nach auf die beschränkteren
Erfahrungsgebiete übergehend, in der neueren Naturwissenschaft über-
haupt eine hervorragende Bedeutung als heuristisches Hilfsprinzip er-
rungen hat: das Prinzip der Anhäufung großer Veränderungen durch
die langsame Entstehung kleiner Abweichungen oder, wie wir es kürzer
nennen können, das Prinzip der Summation kleiner
WirkungeninlangerZeit. Seinen Ursprung hat dieses Prinzip
in der Astronomie genommen, in der durch die ungeheuren räumlichen
Größen, über die sich ihr Beobachtungsgebiet erstreckt, der Gedanke,
auch mit unermeßlichen Zeitgrößen zu rechnen, nahe gelegt wird. Die
durch den biblischen Schöpfungsmythus genährte Vorstellung einer
einmaligen, in wenigen aufeinanderfolgenden Akten verlaufenden
Schöpfungsgeschichte wurde so zuerst durch die Nachweisung überaus
langer Perioden für gewisse astronomische Vorgänge, wie z. B. für die
Präzession der Tag- und Nachtgleichen, die Störungen der Planeten-
bahnen, und dann durch die großen kosmogonischen Theorien des
*, Hugo de Vries, Die Mutationstheorie, 1901.
584 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
18. Jahrhunderts aus der Wissenschaft verdrängt*). In der Folgezeit
begann nun das nämliche Prinzip auf die Betrachtung der irdischen
Vorgänge, zunächst der geologischen Veränderungen an der Erdober-
fläche ausgedehntere Anwendung zu finden. Hier erwies es sich deshalb
überaus fruchtbar, weil es die Annahme gestattet, die nämlichen Kräfte,
die wir noch jetzt bei der Bildung unserer Erdrinde tätig sehen, seien
stets in ähnlicher Weise wirksam gewesen, im Gegensatze zu der voran-
gegangenen Katastrophentheorie, die umgekehrt kurzdauernde
Umwälzungen durch außergewöhnliche gewaltige Naturkräfte ange-
nommen und so namentlich in ihrer Anwendung auf die lebenden
Wesen meist nur dem Schöpfungsmythus eine wissenschaftlichere
Form zu geben versucht hatte**).
Die Mutationstheorie nimmt nun in einer durch das
Prinzip der Anhäufung kleiner Abweichungen modifizierten Form
*) Eine bezeichnende Stelle inKants „Naturgeschichte des Himmels“
lautet: „Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke... Es
werden Millionen und ganze Gebirge von Millionen Jahrhunderten verfließen,
binnen welcher immer neue Welten und Weltordnungen nach einander in den
entfernten Weiten von dem Mittelpunkte der Natur sich bilden und zur Voll-
kommenheit gelangen werden.“ (Werke, Ausg. von Rosenkranz und
Schubert, Bd. 6, S. 160.) Auf die Erwägung, „daß, wenn man bei der
Berechnung der Planetenbahnen bloß auf die Ungleichheiten von sehr langen
Perioden sieht, die Summe der Massen aller Planeten, wenn sie stückweise
durch die großen Achsen ihrer Bahnen dividiert werden, immer sehr nahe be-
ständig ist“, gründete ferner Laplace seine früher erwähnte Stabilitäts-
hypothese (Vgl. Laplace, Darstellung des Weltsystems, deutsch von
Hauff, S. 51, und oben S. 484 ff.)
**) Darwin hat es selbst ausgesprochen, daß das vornehmlich von
Lyell in der Geologie durchgeführte Prinzip der langsamen Veränderungen
seinen eigenen Ideen über die Entstehung der organischen Arten durch all-
mähliche Anpassung ihre Richtung gegeben habe. Der erste, der den Gedanken
der langsamen geologischen Veränderungen aussprach, scheint übrigens
K.E.A.vonHoff gewesen zu sein, in einem Werke, dessen Kenntnis ich der
Güte Fr. Ratzels verdanke: Geschichte der durch Überlieferung nach-
gewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche, 1. Teil, Gotha 1822.
Sehr klar hat schon von Hoff ausgeführt, daß der wesentliche Unterschied
des neuen geologischen Standpunkts vom alten nur darin bestehe, daß dieser
mit unermeßlichen Kraftgrößen, jener mit unermeßlichen Zeiträumen operiere
(Einl. S. 4 ff.), daß aber durch diese Verschiebung des Begriffs die Vorgänge
eigentlich erst aus unbegreiflichen in begreifliche und natürliche sich umwandeln.
vonHoffs Werk ist erst in neuester Zeit der Vergessenheit wieder entrissen
worden. Lyell hat daher in seinen „Principles of Geology“ (zuerst 1830—33
erschienen) unabhängig von ihm das Prinzip der langsamen Transformationen
zur Geltung gebracht.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 585
den Grundgedanken der Katastrophentheorie wieder auf. Unter der
Mithilfe jenes Prinzips sieht sie daher nicht mehr, wie L. Aggassiz in
seiner Lehre von der Artbildung, eine selbständige, auf einem transzen-
denten Weltplan beruhende Neuschöpfung, sondern eine stufen- und
stoßweise erfolgende Evolution, die so gut wie die stetige Entwicklung
auf natürlichen Bedingungen beruht. Damit stellen sich nunmehr
beide Theorien auf den gleichen Boden kausaler Betrachtung, und nur
die Erfahrung kann darüber entscheiden, welche von ihnen über
den wirklichen Verlauf der Artentwicklung am vollständigsten Rechen-
schaft gibt. Hier stehen aber der Mutationstheorie die Versuche über
Bastardierung und Selbstbefruchtung stark abgeänderter Individuen,
der Variationstheorie die Erfahrungen über die Entstehung von Varie-
täten bei künstlicher Züchtung zur Seite. Angesichts dieser Ver-
schiedenheit und doch unbestreitbaren Zuverlässigkeit der Beobach-
tungsgrundlagen gewinnt man den Eindruck, daß die Mutationstheorie
zwar eine wichtige Ergänzung, daß sie aber nicht im geringsten eine
Widerlegung der in der Darwinschen Theorie enthaltenen Prinzipien ist.
Vielmehr verhält es sich in dieser Beziehung mit den biologischen
Theorien offenbar nicht anders als wie mit den entsprechenden der
Geologie. Wie hier einzelne plötzliche Katastrophen neben langsamen
und stetigen Veränderungen der Erdoberfläche vorkommen, so auch
wahrscheinlich bei der Entwicklung der lebenden Wesen. Zugleich aber
scheinen sich diese Formen des Verlaufs einigermaßen abweichend
auf die verschiedenen Stufen der Organisation zu verteilen. In dieser
Beziehung ist es schon bemerkenswert, daß die Beispiele der Mutation
vorzugsweise dem Pflanzenreich, die der stetigen Variation dem Tier-
reich entlehnt sind. Die Pflanzen und die einfacheren Lebensformen
überhaupt sind, wie auch der starke Einfluß willkürlicher experimen-
teller Einwirkungen lehrt, augenscheinlich in höherem Grade durch
äußere Einflüsse bestimmbar, während sie doch zugleich durch rasche
Anpassung an veränderte Lebensbedingungen sich leichter erhalten
können als die Organismen mit größerer Differenzierung der Funktionen.
Anderseits können bei den letzteren bis herauf zum Menschen all-
mähliche Änderungen anscheinend leichter eintreten und sowohl in-
dividuelle Unterschiede wie eine stärkere Divergenz einzelner Varietäten
erzeugen. So gehören die auffallendsten Anpassungen, wie die durch
spezifische Schutzorgane für den Kampf ums Dasein oder die merk-
würdigen Erscheinungen der sogenannten „Mimiery“, die die Um-
gebung oder einzelne Objekte derselben nachahmenden Färbungen und
Formen, ausschließlich dem Tierreich an. Solche Eigenschaften anders
586 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
als auf dem Wege langsamer und durch den Schutz, den sie gewähren,
geförderter Abänderungen zu erklären, scheint kaum möglich.
Dazu kommt noch ein weiteres Moment, welches innerhalb des
Tierreichs für ein mit steigender Organisation zunehmendes Über-
gewicht der langsamen und stetigen über die plötzlichen Abänderungs-
bedingungen spricht: es besteht in dem Einfluß, den schon auf verhält-
nismäßig niederen Stufen und dann in immer steigendem Grade die eige-
nen Triebhandlungen der Tiere auf ihre Organisation gewinnen. Folgen
wir dem oben (S. 567 Anm.) erörterten physiologischen Prinzip der
„Ausschaltung des Psychischen “, nach dem wir, wo immer es möglich ist,
psychologische Zwischenglieder als Ersatzmittel für gewisse uns noch
unbekannte Glieder einer physiologischen Funktionsreihe mehr und
mehr auszuschalten suchen, so ist eine solche Ausschaltung, abgesehen
von den Pflanzen, zweifellos bei den niedersten tierischen Lebewesen im
allgemeinen am ehesten durchführbar. So sehr die Bewegungen hier vom
psychologischen Standpunkte aus als Triebhandlungen erscheinen mögen,
die als Ausgangspunkte der Willensentwicklung gelten können, physio-
logisch lassen sie sich unschwer als chemische, thermische und andere
Tropismen deuten. Je höher wir aber in der Reihe der Organismen
aufwärts gehen, umsomehr versagt diese Deutung, während die ihr
dort schon parallel gehende psychologische uns immer noch zu Gebote
steht, ja in dem Maße gefordert wird, als die Erscheinungen auf zusam-
mengesetztere Bewußtseinsreaktionen und eine längere Kontinuität
der psychischen Vorgänge hinweisen. Indem nun gerade bei den höheren
Tieren solche nur psychologisch zu motivierende Handlungen immer
stärkere Rückwirkungen auf die Organisation ausüben, werden jene
unentbehrlichen psychologischen Zwischenglieder immer mehr zu Aus-
gangspunkten solcher Veränderungen, die zu der Verdrängung der minder
widerstandsfähigen und zum Übergewicht der durch ihre psychischen
und physischen Eigenschaften überlegenen Individuen führen. In der
Tat hat daher auch die Darwinsche Theorie diesen psychologischen
Motiven insofern Rechnung getragen, als sie den Kampf ums Dasein
vorzugsweise als einen in Triebhandlungen der Tiere sich äußernden
Kampf um die Nahrung und um die Fortpflanzung betrachtete. Den-
noch ist der Kampf selbst nur der Ausgangspunkt tief greifender Ver-
änderungen, die infolge der physiologischen Korrelation der Organe
und durch den Einfluß der in den Handlungen sich fortwährend
steigernden Funktionsübung auf den höheren Stufen des Tierreichs
vielleicht den wesentlichsten Teil der generellen Entwicklung aus-
machen. Sie sind es daher, die hier, unter dem Gesichtspunkt der mit
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 587
dem psychologischen Hilfsprinzip zugleich eingeführten teleologischen
Wertbegriffe, der Entwicklung selbst den Charakter der „Vervoll-
kommnung“ verleihen*).
g. Kausale Prinzipien der Biologie. Das Regulations-
und das Energieprinzip.
Der Biologie ist die Forderung einer kausalen Erklärung der Lebens-
erscheinungen zunächst von außen, von den exakteren Gebieten der
Naturlehre aus, entgegengebracht worden, und lange sind die Nachteile
dieses fremden Ursprungs fühlbar gewesen. Die iatromechanischen
Richtungen erschöpften sich in mechanischen Deutungen, ohne meist
nach einer Bestätigung ihrer Hypothesen zu fragen. Nur wenige Er-
scheinungen von verhältnismäßig einfachem Charakter, wie der Kreis-
lauf des Blutes und die tierischen Ortsbewegungen, waren schon frühe
dem Verständnisse zugänglich geworden. Für die meisten anderen
Lebensvorgänge eröffnete sich erst dann die Möglichkeit einer kausalen
Analyse, als die Chemie in das Stadium ihrer wissenschaftlichen
Entwicklung getreten war. Denn nicht lange konnte es verborgen
bleiben, daß die Lebensprozesse entweder selbst in chemischen Ver-
bindungs- und Zersetzungsvorgängen bestehen oder innig an solche
gebunden sind. Nichts bezeichnet deutlicher diese nahe Beziehung, in
der die neuere Entwicklung der physiologischen zu derjenigen der
chemischen Forschung steht, als die Tatsache, daß beide von einer und
derselben Entdeckung ausgegangen sind: von der Erkenntnis des
Wesens der Verbrennung. Lavoisier, der Entdecker des
Sauerstofis, ist zugleich der erste, der die tierische Atmung als
einen Verbrennungsvorgang auffassen lehrte und damit auf die Quellen
der tierischen Wärmebildung hinwies. Lavoisier und Laplace unter-
nahmen es, die Intensität dieses Verbrennungsprozesses an der erzeug-
ten Wärmemenge zu messen. Sie eröffnen damit die Reihe jener kalori-
metrischen Versuche, die im 19. Jahrhundert die Hauptgrundlagen für
die Erkenntnis des tierischen Kräftewechsels gebildet haben. Bald
schloß sich an die chemische Erforschung der tierischen Atmung die
durch die Untersuchungen von Ingenhouss, Senebier und Saussure ver-
mittelte Erkenntnis des reduzierenden Gaswechsels der grünen Pflanzen-
teile und ihrer Beeinflussung durch das Licht. Damit war der erste
Schritt zu jener Statik des organischen Stoffwechsels getan, deren Be-
*) Mit Rück sicht auf die psychologische Seite dieser in die biologische
Entwicklungstheor ie eintretenden Zweckbegriffe vgl. Bd. 3, Abschn. I, Kap. 2.
588 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
gründung die erste glänzende Leistung des chemischen Teils der neueren
Physiologie ist. Die Beziehung zwischen Pflanzen- und Tierwelt, die der
Kreislauf der Stoffe eröfinet, ist aber weniger an sich von Interesse,
da dieser Kreislauf selbst nur eine beschränkte Geltung hat, als deshalb,
weil sie das erste klar erkannte Beispiel einer wechselseitigen
Regulation von Lebensvorgängen war. Je mehr es in-
folge des Fortschritts der physikalischen und chemischen Methodik der
Physiologie gelingt, die Erscheinungen in ihre physikalischen und
chemischen Elementarprozesse zu zerlegen, umso klarer stellen sich
solche regulatorische Vorgänge innerhalb des Organismus als eine wesent-
liche Eigentümlichkeit des Lebens heraus. So wird die Nahrungsauf-
nahme bestimmt durch den Wärme- und Kraftverbrauch, die Blutzufuhr
zu den Verdauungsdrüsen und die sekretorischen Prozesse in diesen
werden angeregt durch die mechanischen und chemischen Bedingungen,
welche die Nahrungsaufnahme begleiten, u. s. w. Ebenso gehören
hierher die oben besprochenen funktionellen Anpassungen, die nament-
lich durch das Nervensystem der Tiere in vielseitigster Weise vermittelt
werden, für die es aber auch der Pflanze keineswegs an mannigfaltigen
Vorrichtungen fehlt, endlich die chemischen Korrelationen, die vornehm-
lich durch das Ineinandergreifen und die wechselseitigen Regula-
tionen der katalytischen Prozesse bedingt sind. So erweist sich der
Organismus selbst als ein aus einer unabsehbaren Anzahl ineinander-
greifender Selbstregulierungen zusammengesetzter Apparat, der, so-
bald er mit anderen gleich- und verschiedenartigen Organismen in
Wechselwirkung tritt, nun alsbald auch auf das so entstehende Ganze
das Prinzip der Selbstregulierung übertragen muß.
Mit dem Umsichgreifen dieser Betrachtungsweise, durch welche
die von den alten Iatromechanikern gehegte Idee der „natürlichen
Maschine“ in die richtige Beleuchtung rückt, ist die Physiologie schließ-
lich auch dem allgemeinen Prinzip nahe getreten, das sie ihren Kausal-
erklärungen zu Grunde legen kann, auf so verschiedenen physikalischen
und chemischen Bedingungen diese im einzelnen auch beruhen mögen,
Dieses allgemeinste Prinzip ist das der gesamten Naturlehre: das
PrinzipderKonstanzderEnergie. Es ist, wie oben be-
merkt wurde, an sich ein teleologisches Prinzip, aber es weist, ähnlich
den teleologischen Prinzipien der Mechanik, mit denen es nahe ver-
wandt ist, unmittelbar zugleich auf die kausalen Zusammenhänge
hin, auf die es stets bei einer vollständigen Analyse der Erscheinungen
zurückgeführt werden kann.
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 589
Die Biologie gebraucht das Energieprinzip bald als ein Gesetz, in
welches die durch Induktion gefundenen Tatsachen als spezielle Fälle
sich einfügen, bald als ein Postulat, das sie einem Zusammenhang noch
zu zergliedernder Erscheinungen entgegenbringt. Als ein Gesetz hat
es sich im allgemeinen für alle jene Erscheinungen des Kräftewechsels
in der organischen Natur bewährt, die an die Vorgänge des Stofiwechsels
gebunden sind. Die Verhältnisse wechselseitiger Regulierung in der
Statik des Stofiwechsels wiesen von Anfang an auf eine ähnliche Kon-
stanz, wie sie der Austausch der Stoffe der Beobachtung bietet, auch
für die dynamische Seite des Vorgangs hin. In der Tat bildet schon der
einzelne Organismus vermöge der Vorrichtungen der Selbstregulierung,
mit denen er ausgestattet ist, ein bis zu einem gewissen Grade in sich
geschlossenes System des Stoff- und Kräftewechsels, wie es ähnlich
nur entweder an künstlichen Maschinen oder im großen und hier frei-
lich zugleich viel vollkommener an unserem Sonnensystem verwirk-
licht ist. Ebenso nähert sich einem solchen geschlossenen System ein
Komplex verschiedenartiger, pflanzlicher und tierischer Organismen,
der einen vollständigen Stofiwechselkreislauf zu bilden vermag, und
den man daher schon bei der Entdeckung der komplementären Formen
des respiratorischen Gasaustausches einem „Mikrokosmus“ verglich.
Aber in der Unerläßlichkeit des Sonnenlichts für die chemische Werk-
stätte der Pflanze tritt zugleich die Gebundenheit einer solchen Welt
im kleinen an den allgemeinen Zusammenhang kosmischer Wirkungen
zu Tage. So ist es denn wohl kein zufälliger Umstand, daß Physio-
logen die ersten Verkünder des Energieprinzips gewesen sind, und
daß der Kräftewechsel der Organismen zu dessen ersten Anwendungen
gehörte*).
Die physiologische Durchführung des Energieprinzips trennt sich
nun in zwei verschiedene Aufgaben. Die erste besteht in der Beur-
teilung des gesamten Wechsels der Energie in einem einzelnen Organis-
mus oder in einem gegebenen Zusammenhang organischer Wesen.
Diese Untersuchung, die bis jetzt allein in einigermaßen zureichender
Weise durchgeführt ist, geht vollständig der allgemeinen Statik des Stoff-
wechsels parallel. Sie frägt nicht nach den speziellen Umwandlungen der
Energie im Verlauf der Lebensvorgänge, sondern sie sucht nur, ähnlich
*) J. R. Mayer, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur.
Liebigs Annalen, 1842. Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange
mit dem Stoffwechsel. Heilbronn 1846. (Abgedruckt in: Die Mechanik der
Wärme, 2. Aufl, S.13 ff.) H. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft,
1847.
590 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
wie es bei der Beurteilung des Nutzeffekts einer Arbeitsmaschine geschieht,
die Zu- und Abfuhr der Energie und die Umwandlungen der Energie-
formen quantitativ zu schätzen. Die Schwierigkeiten, die sich hier bieten,
gehören mehr der thermochemischen als der physiologischen Unter-
suchung an. Es führt zu falschen Resultaten, wenn man, wie es ur-
sprünglich geschah, den Energiewert der im Pflanzen- und Tierkörper
enthaltenen organischen Verbindungen bloß nach der Kohlenstoff- und
Wasserstoffimenge bemißt, ohne Rücksicht auf die Art, wie die Atome
aneinander gebunden sind. Denn eine Verbindung repräsentiert einen
umso größeren Vorrat an potentieller Energie, je loser, einen umso ge-
ringeren, je fester ihre Atome aneinander gekettet sind. Eine voll-
ständige Beurteilung des Energiewechsels in einem Organismus setzt
also nicht nur voraus, daß die Zu- und Abfuhr an aktueller Energie
in der Form von Licht, Wärme und mechanischer Arbeit bekannt
seien, sondern daß außerdem der Verbrennungs- oder Energiewert aller
Stoffbestandteile sowie die Veränderungen, die er infolge der statt-
findenden Verbindungen und Zersetzungen erfährt, gemessen werden.
Dieses umfassende Problem ist, obgleich es keine erheblichen metho-
dischen Schwierigkeiten bietet, dennoch wegen der zahlreichen Einzel-
untersuchungen, die es voraussetzt, erst teilweise gelöst.
Die zweite Aufgabe bei der physiologischen Anwendung des Energie-
prinzips besteht in der unter seiner Führung vorgenommenen Unter-
suchung der einzelnen Lebensvorgänge. Hier handelt es sich
darum, nicht bloß im allgemeinen die Bewegung der Energie quantitativ
zu verfolgen, sondern ihre speziellen Umwandlungen mit Rücksicht
auf die daraus hervorgehenden physiologischen Leistungen nachzu-
weisen. Es ist klar, daß dabei die eingehendste physikalische und
chemische Zergliederung der Prozesse vorausgesetzt wird. Infolge der
methodischen Schwierigkeiten, die sich einer solchen bieten, ist darum
diese Seite der Anwendungen des Energiegesetzes erst wenig fortge-
schritten. So sind z. B. die Physiologen noch keineswegs darüber
einig, auf welchen speziellen Vorgängen jene Oxydationsprozesse be-
ruhen, durch die das Blut die bekannten Veränderungen aus der arte-
riellen in die venöse Beschaffenheit erfährt, ja an welchen Orten, ob
im Blute selbst oder in den Geweben, diese Oxydationen stattfinden.
So hat uns ferner das Studium der elektrischen, thermischen, elasti-
schen und sonstigen Eigenschaften des Muskels noch kaum der Lösung
des Problems nach dem Wesen der Kontraktionskraft viel näher geführt.
Immerhin hat sich in solchen Fällen eine Art provisorischer Anwendung
des Energieprinzips fruchtbar erwiesen, indem man, von der näheren
Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 591
Beschaffenheit der Energieformen abstrahierend, die Vorgänge ledig-
lich als Bewegungen irgendwelcher Art ansah, auf die das Energie-
gesetz anwendbar sei, ähnlich wie dies schon auf physikalischem Gebiet
in den allgemeinen Untersuchungen der mechanischen Wärmetheorie
zu geschehen pflegt. Namentlich die Zergliederung der Innervations-
vorgänge fordert zu einer derartigen Betrachtung heraus*).
Alle diese Anwendungen des Energieprinzips beziehen sich noch,
ebenso wie die speziellen physikalisch-chemischen Kausalerklärungen,
zu denen bestimmte einzelne Lebensvorgänge herausfordern, auf die
Verhältnisse des entwickelten Organismus, bei welchem die
oben erörterten Bedingungen des Stoffwechsels die Annahme gestatten,
daß innerhalb gewisser Grenzen der Zeit und der funktionellen Leistung
jede Abgabe aktueller Energie nach außen durch eine äquivalente Zu-
fuhr potentieller Energie kompensiert und so ein Zustand der Stabilität
des Kräftewechsels hergestellt werde. Diese Voraussetzung hört nun
aber auf gültig zu sein bei den Vorgängen der Entwicklung,
für deren Beurteilung wir, wie oben erörtert, vorläufig auf komplexe
teleologische Prinzipien, wie das Prinzip der Vererbung und der An-
passung, angewiesen sind, die eine kausale Umdeutung noch nicht
oder nur mit Hilfe unsicherer, auf allgemeine Analogien gestützter
Hypothesen zulassen. Dennoch gehören die Entwicklungserscheinungen
zu denjenigen Lebensvorgängen, die, ähnlich wie etwa die einzelnen
Ernährungsprozesse oder die Reizbewegungen, speziellere Erklärungen
verlangen, bei denen man sich mit der allgemeinen Subsumtion
unter das Energiegesetz nicht begnügt, sondern über die physikalische
oder chemische Natur der Vorgänge Rechenschaft zu geben sucht.
Bietet sich doch die Entwicklungsgeschichte eines organischen Wesens
der Beobachtung als eine Reihe von Formwandlungen dar, die auf
Stoffbewegungen, also zunächst auf mechanische, und dann, da diese
Bewegungen wesentlich von chemischen Affinitätswirkungen bestimmt
sind, auf chemische Vorgänge zurückgeführt werden müssen. Für die
kausale Interpretation der Entwicklung wird daher viel weniger die
allgemeine Anwendung des Energieprinzips von Bedeutung sein, das
sich vorzugsweise für Stabilitätszustände fruchtbar erweist, als die
Ermittlung der Kräfte, die jene Stoffbewegungen hervorbringen.
*) Anwendungen des Energieprinzips auf pflanzenphysiologische Probleme
vgl. bei Pfeffer, Studien zur Energetik der Pflanzen, Verh. der sächs. Ges.
der Wiss., math.-phys. Kl., XVIII, 1892, auf nervenphysiologische in meinen
Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren, I, S. 261 fi.;
II, S. 108 ff., im Auszug Physiol. Psych, 5. Aufl., I, S. 49 ff.
5993 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Die Unzulänglichkeit des Energieprinzips in diesem besonderen
Fall ist übrigens nur eine Folge der allgemeinen Eigenschaft desselben,
überhaupt nur gewisse, in Zustandsgleichungen darstell-
bare Beziehungen herauszugreifen, ohne den kausalen Verknüpfungen
im einzelnen nachzugehen, durch die, insofern eine exakte Darstellung
derselben möglich ist, in der Form von Kraft- und von Transformations-
gleichungen erst eine erschöpfende Interpretation der Erscheinungen
gewonnen werden kann*). Die vorherrschende Geltung allgemeiner
Energiebetrachtungen in der Physiologie ist daher unverkennbar zu-
gleich das Symptom einer noch unzureishenden Analyse der Erschei-
nungen. Daß dieser Zustand als ein definitiver zu betrachten sei, ist
aber umso unwahrscheinlicher, als gerade das letzte und wichtigste
physiologische Problem, das der Entwicklung, als eine eminent dyna-
mische Aufgabe bei den vorzugsweise für die Statik des Stofi- und
Kräftewechsels fruchtbaren Energiebetrachtungen leer ausgeht. Diese
Tatsache findet schließlich auch darin ihren Ausdruck, daß namentlich
das Entwicklungsproblem zunächst zur Bildung eigentümlicher bi o-
logischer Grundbegriffe und dann im Anschlusse an sie
zur Aufstellung spezieller physiologischer und psychophysischer Hypo-
thesen herausfordert, die zwar nicht eine Kausalerklärung im einzelnen,
aber doch ein zusammenhängendes Verständnis für das Ganze der
Lebensvorgänge eröffnen sollen.
3. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen über
den Zusammenhang der Lebensvorgänge.
a. Das organische Individuum und der Elementarorganismus.
Die unmittelbar gegebenen Objekte der biologischen Forschung
sind deindividuellenÖrganismen. Sie erweisen sich nach
Bau und Funktion zumeist als höchst zusammengesetzte Gebilde, und
es erhebt sich daher notwendig die Frage nach den biologischen
Elementen, aus denen sie aufgebaut sind. Diese Frage entspricht
vollständig der innerhalb der physikalischen und chemischen Forschung
entstehenden nach dem elementaren Substrat der physikalischen und
chemischen Vorgänge. Aber wenn schon in diesen beiden Fällen die
Elementarbegrifie gewisse Unterschiede zeigten, die aus ihrer ver-
schiedenen Anwendung entspringen, so trennt eine noch größere Kluft
*) Vgl. oben Kap. I, S. 349 fi.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 593
die biologischen Elemente von den analogen Einheiten der unorganischen
Naturlehre. Diese, die physikalischen und chemischen Atome und
Moleküle, müssen sich wiederfinden in den Organismen, und jede physi-
kalische oder chemische Untersuchung der letzteren muß auf sie zurück-
greifen. Aber außerdem ist es eine naheliegende Forderung, daß die
Erscheinungen, in denen die charakteristischen Unterschiede des
Lebendigen und Leblosen bestehen, in ihrer elementarsten Form an
gewissen Einheiten von spezifischer Beschaffenheit verwirklicht seien.
Solche Erscheinungen sind die Funktionen ds Wachstums durch
Assimilation,derspontanenBewegung und der Fort-
pflanzung. Die Elemente, an denen sie auftreten, besitzen die
physiologische Bedeutung von Elementarorganismen, und
die Analyse ihrer Lebenserscheinungen muß gemäß dem Prinzip der
Einfachheit der erste Schritt zur Erforschung der kausalen Bedingungen
des Lebens überhaupt sein.
Die Biologie genießt nun den großen Vorteil, daß ihre Elemente
nicht bloß aus den Erscheinungen an zusammengesetzten Körpern er-
schlossen, sondern direkt mit Hilfe des Mikroskops gesehen werden
können. Dennoch hatte man auch die Elementarorganismen aus all-
gemeinen Gründen vorausgesetzt, noch ehe sie beobachtet waren*).
Ihre wirkliche Entdeckung beginnt mit dem hauptsächlich durch
Schleiden geführten Nachweis, daß alle Pflanzen aus Zellen ent-
stehen und aus solchen zusammengesetzt sind. Nach diesem Vorbilde
bezeichnete Schwann auch die tierischen Elementarteile als Zellen
und schrieb ihnen eine analoge, aus Kern, Membran und flüssigem In-
halt bestehende Zusammensetzung zu**). Seit dieser Zeit hat die Auf-
fassung von dem Bau der Zelle so gewaltige Umwandlungen erfahren,
daß der Name „Zelle“ nur noch die Bedeutung einer gleichgültigen Ge-
samtbezeichnung beanspruchen kann, die ihre Bevorzugung vor dem
an sich zutreffenderen und bereits von Schwann gebrauchten Wort
„Elementarorganismus“ nur ihrer Kürze verdankt. Diese Umgestal-
tungen sind teils durch die Vervollkommnung der morphologischen
Methoden, teils durch die eindringendere Erforschung des Chemismus
*) Vgl. in dieser Beziehung besonders O ken, Lehrbuch der Naturphilo-
sophie, II, 1809, S. 25 fi. Trotz der leeren Analogien zwischen dem Kosmo-
logischen und Organologischen, welche Okens Darstellung durchzieht, läßt
sich nicht verkennen, daß die Konstruktion seiner „Urbläschen“ nebenbei auf
den oben angedeuteten biologischen Forderungen beruht.
*) Th. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Überein-
stimmung in der Struktur und in dem Wachstum der Tiere und Pflanzen, 1839.
Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 38
594 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
der Zelle herbeigeführt worden, wobei die letztere freilich nur zum aller-
geringsten Teil an dem einzelnen Elementarorganismus möglich, son-
dern hauptsächlich auf die Untersuchung großer Zellenkomplexe und
ihrer Produkte angewiesen ist.
Frühe schon ist in der Morphologie der Zelle die Frage nach dem
Verhältnis des organischen zu dem unorganischen Individuum, der
Zelle zum Kristall erörtert worden. Schwann hielt die Zellen-
bildung für eine Kristallisation imbibitionsfähiger Stoffe, die infolge der
Bildung einer den zuerst ausgeschiedenen Kern umgebenden Membran,
die von außen Flüssigkeit einsauge, in der Form von weichen kugel-
förmigen Massen erfolge. Wenn diese Vorstellungen in der Folgezeit
aufgegeben wurden und vielleicht mehr als sie es verdienten in Ver-
gessenheit gerieten, so trug daran teils der Wert, den Schwann
unter dem Einfluß der pflanzenanatomischen Entdeckungen auf
die Existenz der Zellmembran legte, die Schuld; teils aber traten
seiner Analogie mit der Kristallbildung die Anschauungen in den
Weg, die man sich nach dem Vorgang Grahams von der Natur der
sogenannten „Kolloidsubstanzen“ bildete, zu denen vor allem auch
das Protoplasma der Zelle gezählt werden muß. Auf die sekundäre
Bedeutung der Zellmembran und ihren häufigen Mangel selbst an den
ausgebildeten Zellen wies besonders Max Schultze hin*). Als das
wesentliche Merkmal der Kolloide betrachtete man aber im Sinne des
von Graham eingeführten Unterschieds zwischen ihnen und den „Kristal-
loiden“ neben dem festflüssigen Aggregatzustand vor allem ihre völlige
Unfähigkeit zu kristallisieren**). Dennoch begannen sich an dieser
letzteren Anschauung hauptsächlich aus Anlaß der mikroskopischen
Untersuchung der Zellen und Gewebe im polarisierten Licht allmählich
Zweifel zu regen. So wies Nägeli auf die doppelbrechenden Eigen-
schaften der Zellmembranen und vieler Niederschläge innerhalb der
Zellen hin. Er betrachtete daher diese Elemente als kleine, regelmäßig
orientierte Kristalle, die sich infolge der Verwandtschaft ihrer Substanz
zum Wasser nicht zu größeren Kristallen verbänden. Während also der
eigentliche Kristall aus vollkommen gleichartigen Molekülen oder
Molekülgruppen bestehe, seien in der organisierten Substanz die
kristallinischen Moleküle und Molekülgruppen durch veränderliche
Wassermengen zu kolloiden Körpern vereinigt***). Auch die Tatsache,
*) Max Schultze, Archiv f. Anatomie und Physiol., 1861, S. 17 ff.
**) Graham, Philosophical Transactions, Vol. 151, 1861.
***) Nägeli, Theorie der Gärung, 1879, S. 121 fl. Mechanisch-physio-
logische Theorie der Abstammungslehre, 1884, S. 30 ff.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 595
daß die Lösungen der Kolloide, ähnlich wie die asymmetrisch gebauten
kristallisierbaren Kohlenstofiverbindungen, z. B. die Weinsäure, der
Traubenzucker, die Ebene des polarisierten Lichtes drehen, läßt sich
vielleicht hierher beziehen. Noch näher wurden endlich die sogenannten
Kristalloide und Kolloide einander durch den von O. Lehmann geführten
Nachweis gerückt, daß der Unterschied zwischen der Grundgestalt der
letzteren, dem zähflüssigen kugelförmigen Tropfen, und der nach be-
stimmten Richtungen orientierten Form des Kristalls selbst ein fließen-
der sei, so daß die mannigfachsten Zwischenstufen zwischen diesen
Formen vorkommen und unter bestimmten Bedingungen bald der
Tropfen sich zum Kristall verdichten, bald umgekehrt dieser sich zum
Tropfen verflüssigen kann*). Danach erscheinen die Kolloide nicht
mehr bloß als amorphe zähflüssige Körper, die aus kristallinischen Mole-
külen aufgebaut sind, sondern die Kugelformen des Kolloidtropfens
selbst als Grenzformen, in denen die Kohäsionskräfte nach allen Rich-
tungen ausgeglichen sind, so daß sie nun auch die weiteren Eigen-
schaften annehmen, die sie von dem Kristallzustand unterscheidet:
die Fähigkeit des Zusammenfließens und der wechselseitigen Diffusion,
Eigenschaften, die vor allem für die Funktionen der kolloidalen
Protoplasmamassen von Bedeutung sind. Auf diese Weise haben sich
die Anschauungen über die physikalische Natur der Elementarorganis-
men ihrem Ausgangspunkte, wo Schwann in ihnen Kristalle in zäh-
flüssigem Zustande sah, in gewissem Sinne wieder genähert.
Umso weiter haben sie sich freilich in anderer Beziehung von
jenem entfernt. Dachte man sich einst die einfache Zelle aus drei und
eventuell, wenn die umschließende Membran fehlte, aus zwei homogenen
und wenig voneinander verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt,
dem Inhalt, der Zellhaut und dem Kern, so hat die tiefer eindringende
morphologische und chemische Analyse nicht bloß den Protoplasma-
inhalt und Kern als höchst komplexe Körper kennen gelehrt, die von-
einander wie nicht minder von den genuinen Eiweißstoffen abweichen,
und von denen namentlich das Protoplasma auch morphologisch eine
sehr zusammengesetzte Beschaffenheit besitzt. Darum ist diese
Substanz keinesfalls unmittelbar einem homogenen Kolloidkörper zu
vergleichen, sondern, mag auch das Protoplasma in seiner Hauptmasse
von kolloidaler Beschaffenheit sein, so hat es daneben doch den Charak-
*), OÖ. Lehmann, Annalen der Physik und Chemie, Bd. 40, 1900.
Flüssige Kristalle. (Mit Figuren und Tafeln.) 1904. Flüssige Kristalle und die
Theorien des Lebens, 1906,
596 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
ter eines organisierten und morphologisch differenzierten Gebildes.
Daß man die Frage nach dem Wie dieser Organisation zunächst un-
mittelbar nach dem mikroskopischen Eindruck zu beantworten suchte,
ist begreiflich. Hier trat nun aber die Analyse des mikroskopischen
Bildes schließlich ergänzend und berichtigend ein. Sie ging von der
Erwägung aus, daß das mikroskopische Bild als eine ebene Projektion
eines körperlichen Objektes an und für sich vieldeutiger Art ist. Um
die Form des wirklichen Objektes zu finden, das in diesem Fall jener
Projektion entspricht, beschritt daher O. Bütschli den experimentellen
Weg: er suchte künstliche Gemische herzustellen, die ein der Proto-
plasmasubstanz entsprechendes Bild darboten; und er fand sie in den
Schaum- und Wabenbildungen zähflüssiger Stoffe, wie sie ähnlich die
Wachszellen eines Bienenstocks mit ihrem Inhalt zeigen*). So lenkte
auch hier die Untersuchung wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück,
zu Experimenten von Ascherson und M. Traube über künstliche
Zellenbildung, die sich unmittelbar an die Schwannsche Zellentheorie
angeschlossen hatten**). Aber für den indessen eingetretenen Wandel
der Anschauungen ist es zugleich bezeichnend, daß in diesen älteren
Versuchen, ähnlich wie bei der Vergleichung mit der Kristallisation, die
Zellmembran die vorherrschende Rolle spielte, während es sich jetzt
um den Aufbau des Protoplasmas handelt.
Hier wies nun zugleich die komplizierte Struktur, die sich der
Analyse der vollkommneren Mikroskope eröffnete, mochte sie mit Bütschli
als eine „Wabenstruktur“ mit von Flüssigkeit erfüllten Vakuolen
oder mit anderen Beobachtern als eine von Röhren, Fäden und Körn-
chenreihen durchsetzte Masse gedacht werden, den Vorstellungen über
den Chemismus des Protoplasmas eine neue Richtung an. Mußte
doch der Zelle selbst, in der man dereinst nicht bloß eine organische
Einheit, sondern auch ein relativ einfaches Gebilde gesehen hatte, eine
zusammengesetzte Organisation zugeschrieben werden, vermöge deren
sie zu einem Nebeneinander und einem teilweisen Ineinandergreifen zahl-
reicher chemischer Prozesse befähigt sei. Damit eröffnete in physi-
kalischer Beziehung der kolloidale Aggregatzustand, in chemischer der
allgemeine Charakter der katalytischen Wirkungen einen Ausblick
auf die Verwieklung der hier in einem für unsere Wahrnehmung
verschwindend kleinen Raum stattfindenden Prozesse. Schon Ber-
*) O. Bütschli, Untersuchungen über mikroskopische Schäume und
das Protoplasma, 1892.
**) M. Traube, Archiv für Anatomie und Physiologie, 1867.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 597
zelius hatte, als er den Begriff der Katalyse einführte, bei einem der
einfachsten Fälle katalytischer Wirkung, bei der Zersetzung des Wasser-
stofisuperoxyds durch fein verteiltes Platin, auf den, wie wir ihn heute
nennen, kolloidalen Zustand des Metalls als eine wesentliche Bedingung
der Wirkung hingewiesen. Dieser physikalische Zustand macht aber die
Katalyse verständlich, weil diese nun als eine durch die ungeheure
Vergrößerung der Oberfläche des katalysierenden Körpers bewirkte
Verstärkung einer sonst verschwindenden Reaktion erscheint, bei der die
lose gebundenen zweiten Sauerstoffatome des Hyperoxyds vom Metall
angezogen und dann wieder abgegeben werden. In gesteigertem Maße
muß nun eine solche Wirkung bei der vorausgesetzten Wabenstruktur
des Protoplasmas vorhanden sein, wo der Oberflächenvermehrung
auch noch die zahlreichen Vakuolen zu statten kommen, in denen sich
die Produkte der Enzymwirkungen ansammeln können. Die hoch
zusammengesetzte chemische Struktur des Protoplasmas, das, wie die
Verschiedenheit seiner Eigenschaften von denen des genuinen Ei-
weißes zeigt, offenbar eine Eiweißverbindung höherer Ordnung ist,
steht daher wahrscheinlich in Beziehung zu der Mannigfaltigkeit der
nebeneinander wirksamen Enzyme, wie sie in Anbetracht der zahlreichen
Stoffwechselprodukte der Zellen anzunehmen ist. Dabei können dann
die verschiedenen Fermente wieder bald fördernd, bald hemmend auf-
einander wirken*).
Ergeben diese Betrachtungen schon den Zustand des Stoffwechsel-
gleichgewichts, wo der Elementarorganismus ruhend erscheint oder das
Protoplasma nur in langsamen Bewegungen seiner Teile begriffen ist, als
einen überaus zusammengesetzten, so gestalten sich nun natürlich die Ver-
hältnisse noch verwickelter, wenn jene Prozesse der Teilung und Ver-
mehrung der Zellen eintreten, die den Wachstums- und Entwicklungs-
erscheinungen zu Grunde liegen. Sie sind freilich bis dahin fast nur der
morphologischen Untersuchung zugänglich, während die chemische Seite
derselben, so sehr der zu beobachtende Formenwandel selbst auf sie hin-
weist, noch im Dunkel liegt oder auf unsichere Analogien und Hypothesen
angewiesen bleibt. Alle diese Entwicklungsvorgänge sind, wie die mikro-
skopische Untersuchung lehrt, daran geknüpft, daß zu jenen im Stoff-
wechselgleichgewicht stattfindenden Prozessen neue Wirkungen hinzu-
treten, bei denen der aus besonderen, phosphorhaltigen Eiweißderivaten,
den Nukleinen, bestehende Kern der Zelle eine Rolle spielt. Plötzlich
*), FF Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle, 1901.
598 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
scheinen hier von der Kernsubstanz Wirkungen auf den Protoplasma-
inhalt auszugehen, infolge deren, während der Kern sich im Proto-
plasma auflöst, dieses meist mit geometrischer Regelmäßigkeit in
einzelne Inhalte zerfällt, ın denen sich neue Kerne bilden. Dieser bei der
Entwicklung des Eies unter dem Namen der „Furchung“ bekannte Ver-
mehrungsprozeß erweckt unmittelbar die Vorstellung eines Reizungsvor-
ganges, der von der durch irgend einen äußeren Anstoß in Zersetzung
geratenen Kernsubstanz ausgeht und nun von einzelnen Punkten des
Protoplasmas aus Kontraktionen anregt, die als die Ausgangsorte neuer
Zellbildungen erscheinen. Dies sind physiologische Vorgänge, denen vor-
aussichtlich entsprechende chemische Prozesse von umkehrbarer Natur,
Spaltungen und Synthesen durch die infolge der Reizwirkung in Tätigkeit
tretenden Fermente, zu Grunde liegen werden. Bei der Befruchtung ist
es offenbar das in die Eizelle eindringende Sperma, von dem jene primäre
Reizwirkung ausgeht. Betrachtet man hiernach den Entwicklungs-
prozeß unter dem Gesichtspunkt der Auslösung einer Reihe von Be-
wegungen durch einen einwirkenden Reiz, so wird es nun aber auch
verständlich, daß der normale Befruchtungsreiz unter Umständen
durch irgend einen anderen chemischen Reiz ersetzt werden kann, den
man auf das unbefruchtete Ei einwirken läßt. So beobachtete Jacques
Loeb bei seinen Versuchen über „künstliche Parthenogenese“, daß ver-
schiedene Stoffe, namentlich Salz- und Säurelösungen, die unbefruch-
teten Eier des Seeigels und anderer niederer Wirbellosen zur Furchung
und in manchen Fällen zur Entwicklung brachten*).
Jene Übereinstimmung der Zeugung des zusammengesetzten Or-
ganismus mit der Vermehrung der einfachen Zellen hat nun zuerst den
für die genetische Auffassung der organischen Welt bezeichnenden Be-
griff der Zelle als des Elementarorganismus nahegelegt.
Nimmt man hierzu die Tatsache, daß, so weit unsere sichere Erfah-
rung reicht, keine Zelle anders als aus einer vorhandenen älteren ent-
steht, so gewinnt daher der Satz „omne vivum ex ovo“ William Harveys,
und die neue Form „omnis cellula e cellula“, die Virchow ihm ge-
geben, eine identische Bedeutung. Mit dieser hängt aber zugleich die
wichtige Frage nach dem Verhältnis des Elementar-
organismus zum Gesamtorganismus nahe zusammen.
*) J. Loeb, Untersuchungen über künstliche Parthenogenese, 1906. Dy-
namik der Lebenserscheinungen, 1906, S. 239 ff. Furchungserscheinungen durch
chemische Reize wurden zuerst von R. Hertwig beobachtet (Festschrift für
K. Gegenbaur, 1906, II, S. 23). Vgl. auch dessen Bemerkungen zu Loebs
Versuchen, Sitzungsber. der Berliner Akad., 30. März 1905.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 599
Nun sind über dieses Verhältnis im allgemeinen zwei Anschau-
ungen möglich. Entweder denkt man sich, der Gesamtorganismus sei
potentiell in dem Elementarorganismus, in der Keimzelle, aus der er
unter bestimmten Bedingungen, in der Regel infolge der Wechsel-
wirkung mit einer anderen Keimzelle, hervorgegangen ist, enthalten,
seine Entwicklung beruhe also auf den ursprünglich in dieser latent
liegenden Kräften. Oder man nimmt an, jede einzelne Stufe der Ent-
wicklung sei eine notwendige Folge der teils unmittelbar in dem Keime
selbst vermöge seines gerade vorhandenen Zustandes, teils in äußeren
Verhältnissen gegebenen Bedingungen, und es sei demnach auch der
Gesamtorganismus ein Produkt aller der einzelnen Wirkungen, die der
Keim im Laufe der Entwicklung erfährt. Es ist klar, daß diese Anschau-
ungen wieder auf die Gegensätze der Evolution und der Epigenesis
hinauskommen (8. 572). Doch scheint es auch hier, daß sie sich mit dem
zunehmenden Streben nach kausalem Verständnis der Vorgänge all-
mählich ausgleichen. Durch den Nachweis, daß der Keim die morpho-
logische Natur der Zelle besitzt, wird nämlich zunächst die Auffassung
nahe gelegt, alle Unterschiede organischer Entwicklung seien auf
latente Differenzen der Keimzellen zurückzuführen. Sie hat in der
Vererbungstheorie eine Unterstützung gefunden, da man es in der
Regel als einen selbstverständlichen Korollarsatz des Vererbungsgesetzes
betrachtete, daß die vererbten Charaktere in einer bestimmten zeit-
lichen Reihenfolge entstehen, indem jeder nur während einer gewissen
Zeit latent bleibe. Dem gegenüber wurde besonders durch die mecha-
nischen Anpassungen der Gewebe die Ansicht begünstigt, ein wesent-
licher Faktor bei der Gestaltung des Gesamtorganismus sei in den un-
mittelbaren Wechselwirkungen der Teile gegeben. Die erste dieser Vor-
stellungen mußte nun für sich allein zu einer teleologischen Auffassung
des Vererbungsgesetzes führen. Denn die Kausalerklärung kann einen
gegebenen Zustand immer nur aus dem unmittelbar vorangegangenen
ableiten, und die Beziehung voneinander entfernter Entwicklungs-
zustände kann daher nur durch die sukzessive Verfolgung der vor-
handenen Zwischenstufen ermittelt werden. Da aber, wie die Erschei-
nungen der mechanischen Anpassung lehren, bei dem Übergang jeder
Stufe in die nächstfolgende äußere Einflüsse und Wechselwirkungen
koexistierender Elemente zur Geltung kommen, so wird die Annahme,
daß in der Keimzelle selbst alle aus ihr hervorgehenden Entwicklungen
als latente Energien enthalten seien, unmöglich. Vielmehr erscheint
jetzt vom Standpunkte kausaler Betrachtung aus die ganze Entwicklung
der Keimzelle zum fertigen Organismus als eine Reihenfolge von A us-
600 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
lösungen, deren Erfolge außerdem unter dem Einfluß der Bedin-
gungen stehen, die durch die unmittelbaren Wechselwirkungen der
Teile sowie durch die Einflüsse der Außenwelt hervorgebracht werden.
Wenn gleichwohl gewisse Entwicklungskreise einander so ähnlich sind,
daß die Beobachtung kaum merkliche Unterschiede zwischen ihnen
aufzufinden vermag, so beweist dies eben nur, daß selbst so verwickelte
Vorgänge in Bezug auf die bei ihnen wirksamen Faktoren und die Art
ihres Ineinandergreifens eine große Konstanz darbieten können. Des-
halb ist aber doch die Befruchtung des Eies in nicht anderem Sinne
Ursache des entwickelten Organismus, als etwa das Sonnenlicht die
Ursache für die Existenz der lebenden Wesen auf unserer Erde ist.
Nicht einmal in der Periodizität der Entwicklungserscheinungen kann,
angesichts der zahlreichen Beispiele periodischen Wechsels der Energie
in der unorganischen Natur, eine spezifische Eigentümlichkeit gesehen
werden. Wohl aber weist diese Eigenschaft darauf hin, daß mit jenen
Auslösungsprozessen, die wir bei der Entwicklung des Keimes zum Ge-
samtorganismus voraussetzen, Bedingungen verbunden sein müssen, die
schließlich einen Stillstand des Prozesses herbeiführen. Da Ver-
mehrung und Wachstum der Zellen die elementaren Vorgänge sind, die
das Wachstum des gesamten Organismus zusammensetzen, so lassen
sich jene Bedingungen dahin formulieren: Jeder Elementar-
organismusist nureinerbegrenzten Vermehrung
und einer begrenzten Massezunahme fähig. Daß
die hier gemeinten Grenzen nicht völlig feste, sondern infolge meist noch
unbekannter Ursachen variable sind, lehren die individuellen Unter-
schiede der Wachstumsgröße und die Fälle von Bildungsmangel und
-exzeß. Die Existenz jener Grenzen aber ist eine Teilerscheinung der
allgemeinen Tatsache, die in der Begrenzung des Lebens selbst uns
entgegentritt.
b. Diesystematischen BegriffederBiologie.
Da unserer unmittelbaren Beobachtung überall nur das Indi-
viduum gegeben ist, so sind die Begriffe von Art, Gattung, Familie
u. s. w. Erzeugnisse einergeneralisierendenAbstraktion.
Die Bedingungen und Zwecke derselben sind in der allgemeinen
Methodenlehre erörtert worden. (Abschn. I, Kap. II, S.53ff.) Hier
bleibt uns übrig, die Bedeutung zu untersuchen, die diese Begriffe
für die Probleme der erklärenden Biologie besitzen.
In den wissenschaftlichen Anschauungen hat sich in dieser Be-
ziehung eine eigentümliche Wandlung vollzogen. Die ältere Natur-
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 601
geschichte legte den oberen Klassenbegriffen einen umso geringeren
theoretischen Wert bei, je mehr sie sich bei ihrer Feststellung logischer
Willkür bewußt war. Nur die Spezies galt als ein natürlich gegebener
Zusammenhang, mochte man sie nun rein morphologisch definieren als
die Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstimmen,
oder physiologisch als diejenigen, die bei sexueller Verbindung einer
unbeschränkten Fortpflanzung fähig seien. Die vergleichende Rich-
tung der Naturgeschichte fügte zu der Spezies noch den Typus als
einen ebenfalls durch die Natur selbst gebildeten allgemeineren Gat-
tungsbegriff, der zwar nicht auf gemeinsame Abstammung, aber doch
auf irgend eine tiefere Beziehung der unter ihm enthaltenen Formen
zurückschließen lasse. Darwin beseitigte die bisherige Form des Spezies-
begrifis, indem er auf die fließenden Übergänge der Art in die Varietät
und dieser in die individuelle Änderung sowie auf die Unhaltbarkeit
der physiologischen Kriterien der Fortpflanzungsfähigkeit aufmerksam
machte. Die Spezies rückte dadurch unter die willkürlichen Kategorien
der Systematik. Die Mutationstheorie bezeichnet, in welchem Um-
fange man ihr auch Geltung zuschreiben mag, nur eine für die Syste-
matik unwesentliche Modifikation dieser Anschauungen, da sie lediglich
den stetigen durch einen sprungweisen Übergang ersetzt. Umsomehr
scheiden sich die ältere, polyphyletische und die monophyletische Form
der Abstammungstheorie, der die Entwicklungslehre mit Notwendig-
keit zustrebte. Die erstere ließ dem Begriff des Typus noch seine ihm
durch die vergleichende Morphologie zugewiesenen Rechte. Nur ihren
Charakter der Ursprünglichkeit hatte die Spezies so dem Typus ab-
getreten. Mit dem Übergang der polyphyletischen in die monophy-
letische Anschauung wurden aber alle: Typen auf einen einzigen oder
mindestens auf unerhebliche Variationen eines einzigen, der Keimzelle
gleichenden Urorganismus, wenn nicht auf eine formlose Protoplasma-
masse eingeschränkt. Die entwickelteren Typen behielten nur die Be-
deutung abgeleiteter Stammformen für die einander näheren Gattungen,
womit sie übrigens immer noch der auf dieser Stufenleiter tiefer stehen-
den Spezies weit überlegen blieben.
Mit dieser Umkehrung, die sich durch die Entwicklungstheorie in
der biologischen Wertschätzung der systematischen Begriffe vollzog,
verband sich mit innerer Notwendigkeit eine bestimmtere Auffassung
von der Bedeutung der Merkmale, die für die Zwecke der syste-
matischen Einteilung verwendet werden. Auf dem Standpunkt der
älteren Naturgeschichte erschienen zwei Formunterschiede als gleich-
wertig, sobald sie für die Beobachtung ungefähr mit gleicher Deutlich-
6023 Die Hauptgebiete der Naturforschung,
keit bemerkbar waren. Gerade bei verwandten Formen waren dies
nicht selten solche Eigenschaften, die mit den Lebensbedingungen
der Spezies und der Funktion bestimmter Organe in nahem Zusammen-
hang standen. Mit dem Vorwalten des genetischen Gesichtspunktes
mußte nun diesen physiologischen oder Anpassungsmerk-
malen gegenüber bei der Beurteilung der systematischen Stel-
lung den rein morphologischen oder Vererbungsmerk-
malen der Vorzug eingeräumt werden. Der Charakter eines solchen
kommt aber einer bestimmten Formeigenschaft umso gewisser zu, je
weniger eine unmittelbare physiologische Bedeutung derselben er-
sichtlich ist. In der Tat stellt daher Darwin die Regel auf, je weniger
ein Teil der Organisation für bestimmte physiologische Zwecke geeignet
sei, umso wichtiger sei er für die Beurteilung der systematischen Stel-
lung; insbesondere wird aus diesem Grunde den rudimentären Organen
ein hoher genetischer und systematischer Wert beigemessen*). Auch
in dieser Beziehung ist übrigens die genetische Auffassung Darwins
in der vergleichenden Richtung der Naturgeschichte vorbereitet. Denn
bereits Cuvier und Decandolle bevorzugen in ähnlicher Weise die morpho-
logischen oder „homologen“ vor den physiologischen oder „analogen“
Charakteren. In beiden Fällen ist dies eine Folge des Vorrangs, den
sich der Begriff des Typus vor dem der Spezies errungen. Gerade die
Darwinsche Auffassung läßt jedoch jenen Unterschied der Charaktere
wieder als einen fließenden erscheinen, da es nach ihr kein Merkmal
geben kann, das nicht irgend einmal ein physiologisches Bedürfnis er-
füllt hätte. Die rein morphologischen sind also lediglich solche physio-
logische Merkmale, die sich überlebt haben. Dabei ist nun nicht ein-
zusehen, warum sich ein Merkmal überlebt haben muß, um einen syste-
matischen Wert zu gewinnen, und so erfährt denn auch jene Regel
zahlreiche Ausnahmen, in denen gewisse Eigenschaften der Organisation
gleichzeitig genetische und funktionelle Bedeutung beanspruchen.
Wie auf solche Weise die Entwicklungstheorie die unteren Be-
grifie der Systematik, vor allen den Speziesbegriff, ihrer Unveränder-
lichkeit beraubt hat, so sind schließlich unter ihrer Einwirkung auch
die obersten Begriffe, die schon in der gemeinen Wahrnehmung
verhältnismäßig sicher fixierten Unterschiede von Pflanze und
Tier, schwankend geworden. Nachdem durch das theoretische Ein-
heitsbedürfnis die ursprünglichen Stammtypen auf einen einzigen ein-
fachsten reduziert waren, erhob sich die Frage, welches Verhältnis
*), Darwin, Entstehung der Arten, 6. Aufl., S. 495 fi.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 603
zwischen diesem Urorganismus und den beiden Hauptformen organischer
Wesen anzunehmen sei. Die nächstliegende Antwort lautete: der Ur-
organismus ist weder Pflanze noch Tier, aber er enthält in sich die
Anlage zu beiden, ähnlich wie auch die Zelle bei ihrer ersten Entstehung
die spezifischen Unterschiede von Pflanzen- und Tierzelle noch nicht
ausgebildet hat. Aus dieser Reflexion ist Haeckels Reich der Pro-
tisten hervorgegangen, das alle diejenigen niedersten Lebens-
formen vereinigt, die nicht mit Sicherheit zum Pflanzen- oder Tier-
reich gerechnet werden können. Sucht man jedoch nach einer scharfen
Begriffsgrenze, so läßt sich eine solche zwar für die Unterscheidung
von Pflanze und Tier, nicht aber für die Abtrennung jener indifferenten
Zwischenorganismen feststellen. Derartige fundamentale Unter-
scheidungsmerkmale können nämlich wieder morphologischer
oder physiologischer Art sein. Nun ist es im gegenwärtigen
Falle eine selbstverständliche Folge der genetischen Überein-
stimmung zwischen pflanzlicher und tierischer Organisation, daß zwar
die ausgebildeten Formen sofort rein morphologisch nach den Struktur-
und Wachstumsverhältnissen der Zellen unterschieden werden können,
daß dies aber in den Anfängen der Entwicklung, gerade da also, wo es
sich um die Abgrenzung der Protisten von den niedersten Pflanzen und
Tieren handelt, nicht mehr möglich ist. In der Tat suchte darum
Haeckel ene physiologische Charakteristik der drei Reiche
zu geben, und er benutzte dazu, weil die früher angewandten Merkmale
der Empfindung und Bewegung teils unsicher, teils hinfällig sind, die
Erscheinungen des Stoff- und Kräftewechsels*). Da die
Pflanzen organische Verbindungen produzieren und die lebendige Kraft
des Sonnenlichts in potentielle chemische Energie überführen, während
die Tiere jene Verbindungen zersetzen und aus chemischer Energie
Wärme und Bewegung erzeugen, so schien ihm dieser Gegensatz ein
entscheidendes Kriterium zu sein. Doch bei den Protisten geraten wir
sofort in Verlegenheit. Wenn Haeckel behauptet, daß sich bei ihnen
Reduktion und Oxydation das Gleichgewicht halten, daß sie bald
Wärme binden, bald mechanische Arbeit erzeugen u. s. w., so ist diese
Definition offenbar nur zum Behuf der Konstruktion eines „indifferen-
ten Organismus“ erfunden. Nach allem, was wir von dem Stoffwechsel
dieser Organismen wissen, ist er mit demjenigen der Tiere identisch,
denen sie auch durch ihre Bewegungs- und anscheinende Empfindungs-
fähigkeit gleichen. Damit gerät aber gleichzeitig die Unterscheidung
*) Haeckel, Generelle Morphologie, I, S. 232,
604 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
zwischen Pflanze und Tier ins Wanken. Sie ist dem Stoff- und Kräfte-
wechsel bei der Chlorophyllatmung entnommen. Doch diese ist immer
nur ein transitorisches Phänomen und überdies bei der zusammen-
gesetzten Pflanze an einzelne Organe gebunden, während die übrigen
Teile fortwährend und die ganze Pflanze in der Zeit, wo sie dem Lichte
entzogen ist, in ihrem Stoffwechsel dem Tiere gleichen. Von diesem Ge-
sichtspunkte aus müßte also, wie Pflüger mit Recht bemerkt hat, das
Tier als der Urorganismus und die Pflanze als ein einseitig entwickeltes
Tier betrachtet werden*). In Wahrheit aber wird man in dieser Un-
möglichkeit, überall zutrefiende Unterschiedsmerkmale aufzufinden,
nur eine Bestätigung der Tatsache sehen können, daß auch die all-
gemeinsten Begriffe der organischen Systematik künstliche Grenzen
bezeichnen, um die sich die Natur selbst nicht kümmert. Zwar ent-
sprechen selbstverständlich jenen Grenzen natürliche Unterschiede,
doch diese werden, wie jede Entwicklung, in allmählichen stetigen
Übergängen erreicht. In der Ausbildung solcher Unterschiede kommt
dann jedem der physiologischen Momente, die man meist einseitig
bevorzugte, seine relative Bedeutung zu. Empfindung und Be-
wegung besitzt, wie wir nach den Zeugnissen der generellen und in-
dividuellen Entwicklungsgeschichte annehmen dürfen, jedes ursprüng-
liche organische Wesen. In der Pflanze gehen jene Eigenschaften in-
folge der eigentümlichen Assimilations- und Wachstumsverhältnisse,
die sich in ihr ausbilden, frühzeitig verloren. Dies Schicksal muß aber
wieder auf die ganze Richtung der Organisation verändernd zurück-
wirken. Es ist augenfällig, daß der innere Bau der Pflanzen ein weit
gleichförmigerer ist, und daß unter den äußeren Organen diejenigen,
die den unmittelbaren Wirkungen der Außenwelt am meisten aus-
gesetzt sind, wie Blüte, Blätter, Wurzeln, die größten Variationen dar-
bieten. In diesen Unterschieden dürfte eine Tatsache ihren Ausdruck
finden, auf die überdies der ganze Bauunterschied beider Lebensformen
hinweist: die Pflanze verhält sich fast durchaus passiv gegenüber
den Wirkungen der Außenwelt; das Tier steht ihr mit seinem Wollen
aktiv gegenüber. So liegt es denn nahe, die verwickeltere Zweck-
mäßigkeit der tierischen Organisation zu einem großen Teil auf die
Zweckmäßigkeit der eigenen Handlungen der Tiere zurückzuführen,
und die Vielgestaltigkeit der tierischen Triebe hinwiederum abzuleiten
aus der größeren Mannigfaltigkeit der Organisation.
Damit sind wir bei einer Grenzfrage der Systematik angelangt,
*) Pflüger, Arch. f. Physiologie, Bd. 10, S. 305.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 605
die zugleich eine Grenzfrage der Biologie selbst gegenüber dem sie hier
berührenden und in sie übergreifenden Gebiet der Psychologie ist.
Wo sollen wir anfangen, die Reaktionen der Organismen auf äußere
oder innere Reize, abgesehen davon, daß sie in dem Kausalzusammen-
hang der physischen Lebensvorgänge eingeschlossen sein müssen, da-
neben auch als psychische Symptome, als Bewegungen, die mit Ge-
fühlen, Empfindungen, Willensvorgängen verbunden sind, zu deuten?
Die naive Anschauung ist geneigt, in jeder Reaktion eines lebenden
Wesens, bei der nicht eine äußere mechanische Übertragung in die
Augen fällt, eine Willenshandlung zu sehen. Die vitalistische Physio-
logie substituierte auch hier der Seele eine Lebenskraft. So dachte man
sich nach dem Vorgange Hallers die Sensibilität und die Irritabilität
als zwei der lebenden Substanz zukommende Eigenschaften, die als
solche noch keineswegs eine psychische Bedeutung besäßen. Als der
Vitalismus gestürzt war, empfand man natürlich die Nötigung, diese
Eigenschaften der lebenden Substanz auf bestimmte physikalisch-
chemische Bedingungen zurückzuführen. Damit erhob sich jedoch eine
Schwierigkeit infolge der nun einmal nicht wegzuleugnenden Tatsache,
daß der Mensch und die höheren Tiere doch nicht bloße Mechanismen,
sondern daß gewisse, die äußeren Handlungen begleitende Bewußtseins-
vorgänge beim Menschen direkt zu beobachten, bei den Tieren wenigstens
mit der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen sind. Wo sollte also
hier das Psychische beginnen, und wie sollte man sich sein Verhältnis
zu den begleitenden physischen Reaktionen denken? Die Antwort auf
die letztere Frage kann hier einstweilen dahingestellt bleiben, da bei ihr
schließlich der Psychologie das entscheidende Wort zufällt, und da
das systematische Problem unmittelbar von ihr nicht berührt wird.
Umso wichtiger ist für das letztere die Frage, ob es eine sicher zu be-
stimmende Grenze für das erste Auftreten psychischer Elemente in der
organischen Welt überhaupt gibt, und wo, wenn es eine solche geben
sollte, diese anzunehmen ist. Die Tierphysiologie und Tierpsychologie
hat bei ihren Versuchen, diese Frage zu beantworten, in der Regel von
jenem Prinzip der „Ausschaltung des Psychischen“ Gebrauch gemacht,
dessen relative Berechtigung für die physiologische Betrachtung der
Lebenserscheinungen oben ausdrücklich anerkannt wurde (S. 567).
Aber dieses Prinzip wurde vielfach nicht in dem Sinne angewandt, daß
die Physiologie von den psychischen Lebensvorgängen, die etwa die
physischen begleiten mögen, abstrahieren solle, sondern sie
wurde als eine „Lex parsimoniae“ in dem Sinne aufgefaßt, daß überall da,
wo irgendwelche Reizerscheinungen mit Sicherheit oder Wahrschein-
606 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
lichkeit auf physiologische Ursachen zurückgeführt werden können,
psychische Vorgänge überhaupt nicht existierten. Dadurch wurde man,
da nun einmal nicht zu leugnen ist, daß gewisse Tiere Handlungen aus-
führen, die wir, abgesehen von ihrer physiologischen Herkunft, als
Bewußtseinsreaktionen deuten können, in die schwierige Lage versetzt,
nach dem Grenzpunkt zu suchen, wo in der organischen Welt das
Psychische überhaupt beginne. Die Beobachter, die sich von diesem
Standpunkte aus mit den Lebensäußerungen der Tiere beschäftigten,
blieben uneins, wo hier die Grenze zu ziehen sei. Während die einen sie
dicht über den Hydroidpolypen ansetzten, waren andere geneigt, bis
nahe an die Wirbeltiere heranzugehen*). So blieb man schließlich nicht
allzu weit mehr hinter Descartes und manchen Iatromechanikern des
J8. Jahrhunderts zurück, die überhaupt nur dem Menschen ein seelisches
Leben zuschrieben und in den Tieren samt und sonders reine Reflex-
maschinen erblickten. Dadurch geschah es, daß man im Bestreben, das
Prinzip der Ausschaltung des Psychischen so konsequent wie möglich
durchzuführen, ein anderes, wichtigeres Prinzip verletzte, nämlich das
der Ausschaltung des Wunders. Descartes konnte ein
solches Wunder noch behaupten, da er an eine besondere Schöpfung
des Menschen glaubte. Die heutige Naturwissenschaft, die ohne die
Deszendenztheorie in irgend einer Form nicht auszukommen weiß, kann
das nicht mehr. Sie muß das Prinzip der Kontinuität auch auf diesen
Fall übertragen. In Wahrheit steht dem aber auch nicht das geringste
im Wege, wenn man die Ausschaltung des Psychischen selbst in jene
Grenzen einschränkt, in denen sie überhaupt nur Gültigkeit bean-
spruchen darf, nämlich in die der rein physiologischen Betrachtung, wo
sie nun, wie wir oben sahen, jene aushilfsweise Herbeiziehung eines
psychophysischen Standpunktes der Betrachtung nicht ausschließt,
ohne die sich schließlich keine Interpretation der Lebenserscheinungen
durchführen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt wird man daher ohne
weiteres zugeben können, daß die verschiedenen Bewegungen der Pro-
tozoen sämtlich auf irgendwelche Tropismen, d. h. auf rein physiologische
Reizwirkungen zurückgeführt werden können. Umso bemerkenswerter
ist es dann jedenfalls, daß die gleichen Reizbewegungen außerdem
durchaus den Charakter einfacher Triebhandlungen, also von mit
Empfindung und Gefühl verbundenen Willensreaktionen besitzen.
*) F.Luka s, Psychologie der niederen Tiere, 1905, S.124ff. A.Bethe,
Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben?
Pflügers Archiv, Bd. 70, 1898, S.15 fl. Vgl. dazu meine Vorlesungen über
die Menschen- und Tierseele*, S. 373 ff.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 607
Natürlich läßt sich das Vorhandensein von Empfindungen und
Gefühlen hier so wenig wie in irgend einem anderen Fall selbst bei
höheren Geschöpfen zwingend beweisen, sondern wir sind ledig-
lich auf die Ähnlichkeit mit unseren eigenen Handlungen angewiesen.
Wenn man aber auf Grund des Prinzips der Stetigkeit diese Analogie
zuläßt, so erscheint es umso wertvoller, daß nun schon die einfachsten
psychischen Lebensäußerungen zugleich als physiologische Reaktionen,
ohne auf die begleitenden psychischen Elemente Rücksicht zu nehmen,
interpretiert werden können. Das ist eben augenscheinlich so lange
der Fall, als nicht mit der Organisation Einrichtungen verbunden sind,
die eine über längere Zeiten sich erstreckende Kontinuität durch die
Ausbildung psychophysischer Dispositionen möglich machen*). In
systematischer Beziehung unterstützt endlich diese Betrachtung, da
sie die Kontinuität der Entwicklung als eine doppelseitige, eine physische
und psychische, erscheinen läßt, die Annahme eines einheitlichen Ur-
sprungs alles Lebendigen. Freilich bleibt hier die Biologie, so gut wie
ihrerseits die Psychologie, bei dem Elementarorganismus als der letzten
psychophysischen Einheit stehen, die sie zu erreichen vermag. Wie
in dieser letzten empirisch gegebenen Lebenseinheit psychophysische
Reaktionen entstehen können, das bleibt eine metaphysische Frage,
die jenseits des Gesichtskreises der hier sich begegnenden Einzelwissen-
schaften überhaupt liest.
c. Die UrsachendesLebens,
Leben und Tod unterscheiden sich vor allem durch die Fähigkeit
des lebenden Körpers, während einer längeren Zeit das Gleichgewicht
seiner Stofizusammensetzung bewahren zu können. Er gleicht darin den
stabilen Stoffverbindungen der unorganischen Natur. Während aber hier
das Gleichgewicht die Folge der Unveränderlichkeit ist, resultiert es
dort aus einer Summe unablässiger Veränderungen. Noch ist die Kon-
stitution des Protoplasmas und der anderen gewebebildenden Stoffe zu
wenig bekannt, als daß über die spezielle Natur der elementaren Stoff-
wechselvorgänge, deren Ergebnis jenes physiologische Gleichgewicht ist,
andere als relativ unsichere Vermutungen möglich wären, die sich teils
auf den Charakter der hier vorwiegend wirksamen katalytischen Pro-
zesse, teils auf die allgemeinen Prinzipien des Energiewechsels stützen.
Durch Pflüger wurde der Nachweis geführt, daß ein Tier ohne
*) Vgl. hierzu das Schema der hypothetischen Bewußtseinsentwicklung
im Tierreich in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 2.8.38,
608 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Sauerstoffzufuhr während einer gewissen Zeit fortzuleben vermag).
Damit ist die einst durch Lavoisier zur Geltung gebrachte Annahme,
daß das Leben ein Verbrennungsprozeß sei, nicht vereinbar. Ebenso
widersprechen dieser Auffassung die der Stabilität zersetzbarer Ver-
bindungen entnommenen allgemeinen Gesichtspunkte. Beruht das
Gleichgewicht der Zusammensetzung des lebenden Protoplasmas dar-
auf, daß es einzelne Teile seines komplexen Moleküls verliert und wieder
aus seiner Umgebung ergänzt, so ist damit vor allem eine fortwährende
Selbstzersetzung als die chemische Bedingung des Lebens ge-
fordert. Sie bewirkt, daß sich neue Moleküle der Nahrung dem Proto-
plasma aggregieren, worauf dann erst die abgestoßenen allmählich
durch den zugeführten Sauerstoff verbrannt werden. Soll Gleichgewicht
bestehen, so müssen daher in einer gegebenen Zeit ebenso viele
Moleküle aggregiert als abgestoßen und unter Kraftausgabe oxydiert
werden.
Dieser Zustand des Gleichgewichts kann nun aber entweder durch
ein Übergewicht der Erneuerung über die Zersetzung oder umgekehrt
durch ein solches der Zersetzung über die Erneuerung gestört sein.
Auf der ersten dieser Gleichgewichtsänderungen beruhen alle Wachs-
tums- und Zeugungserscheinungen, die beide eng mit-
einander zusammenhängen, da das Wachstum der zusammengesetzten
Individuen zum Teil aus der Zellenfortpflanzung entspringt, und da die
einfachen Formen der Zellenvermehrung als unmittelbare Folgen des
Zellenwachstums auftreten. Für die Auffassung dieser Vorgänge ist es
aber von größter Bedeutung, daß sie in hohem Grade unabhängig von
den Bedingungen der äußeren Stofizufuhr zu sein scheinen. Hört auch
der lebende Körper zu wachsen auf, wenn ihm der Stoff mangelt, so
bleibt dieser doch wirkungslos, wenn die günstigen inneren Bedingungen
in dem lebenden Protoplasma fehlen. Darum ist das Wachstum keines-
wegs ein Prozeß einfacher Aggregation, ähnlich etwa der Vergrößerung
eines Kristalls. Vielmehr setzt bei dem organischen Wachstum jede
Ansetzung neuer Masse eine neue chemische Umwandlung voraus,
durch die das leblose Nahrungseiweiß in lebendes Protoplasma übergeht.
Eine solche Umwandlung kann, ähnlich wie im stationären Ernährungs-
zustand, nicht das ganze Eiweißmolekül auf einmal ergreifen, sondern
sie vollzieht sich wieder nur an einzelnen Molekülteilen, die dem leben-
den Protoplasma aggregiert werden. Hier greifen daher jene Spaltungen
*) Pflüger, in seinem Archiv für Physiologie, Bd. 10, 8. 251 und
Bd. 11, S. 222.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 609
der Eiweißstoffe ein, die mit der Wirkung der Enzyme des Nahrungs-
kanals beginnen und in den Geweben selber sich fortsetzen, wo sie sich
nun sofort mit synthetischen Prozessen verbinden, aus denen die Ge-
websstoffe hervorgehen. Aber während beim Gleichgewicht auf diese
Weise nur der abgehende Ausfall gedeckt wird, müssen in diesem Fall
mehr Teilmoleküle aufgenommen werden, als verloren gegangen sind.
Dies kann man sich nach sonstigen chemischen Analogien auf doppelte
Weise geschehend denken. Zunächst ließe sich mit Pflüger eine Ent-
stehung polymerer Verbindungen annehmen, bei der die Größe
des Gesamtmoleküls durch die Aggregierung neuer Teilmoleküle von
gleicher Zusammensetzung zunimmt*). Da polymere Verbindungen
meist analoge chemische und physikalische Eigenschaften besitzen, so
ist es denkbar, daß auf diese Weise das Protoplasma wächst, ohne daß
sich die Zahl seiner Gesamtmoleküle vermehrt. Man kann aber auch
an Spaltungsprozesse denken, aus deren Teilungsprodukten
unter Mitwirkung der Moleküle des Nahrungseiweißes mehrere Gesamt-
moleküle wieder entstehen können. Sucht man diese chemischen
Vorgänge mit den morphologischen Veränderungen in Beziehung zu
bringen, so kann man annehmen, daß die Zunahme durch Polymeri-
sierung dem einfachen Wachstum, die Zunahme durch
Spaltung aber allen denjenigen Formen des Wachstums und der Zeugung
entspreche, die auf Zellenteilung beruhen. Wollte man alles
Wachstum auf die Aggregation polymerer Moleküle zurückführen, so
würde man, um eine Beziehung zu den morphologischen Tatsachen
herzustellen, genötigt sein, schließlich den ganzen Organismus als ein
einziges chemisches Riesenmolekül anzusehen. Betrachtet man dagegen
die Zellenteilung als das morphologische Bild einer chemischen Spaltung,
so wird damit von selbst die Größe des Protoplasmamoleküls auf den In-
halt der einzelnen Zelle beschränkt. Die häufig mit der Zellenteilung ver-
bundene Erscheinung einer Ausscheidung von Bestandteilen, die teils in
die Exkretionsstofie übergehen, teils zur Bildung sekundärer Erzeug-
nisse, wie der Membran und vielleicht auch des Kerns, verwendet werden,
läßt sich leicht mit dieser Anschauung in Verbindung bringen, da die
chemische Spaltung in der Regel mit der Bildung von Nebenprodukten
verbunden ist. Manche andere Begleiterscheinungen aber, wie die oft
vorausgehenden Bewegungen des Protoplasmas, die Anordnung der
*) Man erinnere sich z. B. an folgende einfache Reihe:
CH,.CO.HO Essigsäure,
CH,.CH,.CO.HO Propionsäure,
CH,.CH,.CH,.CO.HO normale Buttersäure u. s. w.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 39
610 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Körnchenreihen desselben in Strahlenform und die Zerlegung des Kerns,
würden nun unmittelbar als ein Ausdruck der Molekularbewegungen
anzusehen sein, die den chemischen Vorgang begleiten*).
Über den Grund der eigentümlichen Periodizität der Wachs-
tums- und Entwicklungsvorgänge geben jedoch diese chemischen Ge-
sichtspunkte noch keinen Aufschluß. Völlig irreführend ist hier die
physikalische Analogie mit der Wellenbewegung. Diese ist ein kon-
tinuierlicher Bewegungsvorgang mit periodisch wiederkehrenden Phasen,
die Fortpflanzung ist bloß ein periodisch wiederkehren-
der Vorgang. Darin gleicht sie anderen physiologischen Funktionen,
wie der Herzbewegung, der Atmung, dem Wechsel von Wachen und
Schlaf. Von diesen physiologischen Analogien ist His ausgegangen
bei seiner Annahme, daß die Anregung zur Entwicklung in einem
Reizungsvorgang bestehe. (S. 575 £.) Nach den oben erörterten An-
schauungen wird diese Voraussetzung auf den Vorgang der Zellen-
teilung beschränkt werden können, wodurch, abgesehen von der
größeren Länge der Perioden, die Analogie mit der Theorie der Herz-
und Atembewegungen vollständiger ist. Hiernach ließe sich annehmen,
daß sich in jeder entwicklungsfähigen Zelle während des Stoffwechsels
Reizungsstoffe anhäufen, die, sobald sie in zureichender Menge ent-
standen sind, den Vorgang der Reizung, den wir in diesem Fall Zellen-
teilung nennen, auslösen. Vom chemischen Standpunkte aus würde
daher die Reizung als eine Spaltung, der Reizungsstoff als ein Spal-
tungsferment zu deuten sein.
Diese Hypothese dürfte vor allem in den Erscheinungen der
sexuellen Fortpflanzung eine Stütze finden. Rein morphologisch
betrachtet besteht diese darin, daß eine Zelle, die für sich selbst die
Fähigkeit der Spaltung verloren hat, sie wiedererlangt durch die Ein-
wirkung eines aus einer fremden Zelle hervorgegangenen Elementes.
Das Fermentartige des Vorgangs ist augenfällig; zugleich ist aber
dessen stellvertretender Charakter nicht zu verkennen. Nachdem
das Wachstum des Gesamtkörpers zum Stillstand gekommen ist
und in den meisten Geweben auch die Regeneration durch Zellen-
*) Über die erwähnten morphologischen Erscheinungen vgl. O. Hert-
wig, Morphol. Jahrbuch, I, III u. IV (1875—78), Flemming, Zellsubstanz,
Kern und Zellteilung, S. 191 fi, und Th. Boveri, Art. „Befruchtung“ in
Merkel und Bonnet, Ergebnisse der Anatomie etc. I, 1891. Über die
oben angedeutete Theorie der Entwicklungsvorgänge vgl. ferner mein System
der Philosophie, 3. Aufl., II, S. 84 ff., und den Aufsatz „Biologische Probleme“,
Philos. Stud. V, S. 327 fi.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 611
teilung ganz aufgehört hat oder nur noch unter ungewöhnlichen Be-
dingungen erfolgt, beginnt in den Sexualorganen erst jene Zellen-
produktion, die meist in periodischen Zwischenräumen zur Reifung
und Abstoßung der Sexualzellen führt. Die Ei- und die Spermazelle
sind beide Träger des Zeugungsfermentes. Aber jedes dieser Elemente
enthält das Zeugungsferment in einer wirkungsunfähigen Form. Die
Rolle, die nach den Beobachtungen von Hertwig, Fol u. a. der
Spermakern und der Eikern bei der Befruchtung spielen, ihre attraktive
Bewegung, Verschmelzung und Teilung in die Kerne der Furchungs-
zellen, machen es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß der Kern
zunächst der Sexualzellen und dann der Zellkern überhaupt der
Träger der Zeugungsfermente ist. Die Eigenschaft eines Spaltungs-
fermentes gewinnen aber diese erst durch ihre Vereinigung, und die
Fermente der Zellkerne entwickeln jene Eigenschaft im allgemeinen
umso energischer, je näher ihre Entstehung noch dem Stadium der
unmittelbaren Verbindung der ursprünglichen Fermente liegt. Alle
diese Tatsachen rechtfertigen die Vermutung, daß der Zellkern über-
haupt ein Produkt der sexuellen Entwicklung sei, in welchem sich das
in dem ersten Furchungskern enthaltene Spaltungsferment immer
wieder erneuert.
d. Untergang und Erneuerung des Lebens.
Wie kommt es nun aber, daß diese Erneuerung allmählich ab-
nimmt und endlich erlischt? Mit dieser Frage nähern wir uns dem
zweiten Problem der dem Gleichgewicht gegenüberstehenden
Lebensvorgänge, dem Problem der abnehmenden Verände-
rungen. Die Abnahme der Wachstums- und Entwicklungsfähig-
keit ist nur die Teilerscheinung eines allgemeineren, der aufsteigenden
Entwicklung entgegengesetzten Prozesses. Zwischen beiden steht das
Gleichgewicht eigentlich nur als ein idealer, auf die Dauer wenigstens
niemals vollkommen verwirklichter Zustand. Man würde jedoch die
richtige Auffassung jener Abnahme der Lebenskräfte von vornherein
trüben, wenn man hier auf- und absteigende Bewegung als zwei Vor-
gänge ansehen wollte, die sich ablösen, wie das die ältere Evolutions-
theorie mit ihrer Annahme einer sukzessiven Aus- und Einschachte-
lung getan hat. Vielmehr sind die Hemmungen der Lebensprozesse
von Anfang an wirksam; wie wäre es sonst denkbar, daß die Fähigkeit
der Zellenvermehrung schon bald nach der ersten Furchung der Eizelle
wieder erlischt? Und anderseits steht die Produktionskraft des leben-
den Organismus niemals ganz stille; wie wollte man es sonst deuten,
612 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
daß bis ins höchste Alter einzelne Gewebe sich regenerieren, und daß
die krankhaften Geschwülste der Greise manchmal die üppigste Zellen-
wucherung zeigen?
Das Aufhören des einfachen, nach unserer Voraussetzung auf Poly-
merisierung beruhenden Wachstums ergibt sich als eine unmittelbare
Folge dieses hypothetischen Vorgangs. Je komplizierter polymere Mole-
küle werden, umsomehr sind sie im allgemeinen geneigt, wieder in ihre
Bestandteile zu zerfallen, und bei einer gewissen Grenze hört darum das
polymere Wachstum überhaupt auf. Befremdender erscheint auf den
ersten Blick der Stillstand der Spaltungsvorgänge. Hier wird man
offenbar dazu gedrängt, die Ursache nicht in das Protoplasma selbst zu
verlegen, das sich ja unverändert regeneriert, sondern in jene ferment-
artigen Stofle, die wir als die äußeren Ursachen der Regeneration an-
sehen. Am nächsten liegt es, nach der Analogie mit anderen Gärungs-
vorgängen, an eine Entstehung und Anhäufung von Zersetzungsproduk-
ten zu denken, die den Spaltungsprozeß zuerst verlangsamen und dann
völlig aufheben. Haben wir die Spaltungsfermente reizende Stoffe
genannt, so können diese Gegenfermente als hemmende bezeichnet
werden. Nun haben wir gesehen, daß das Spaltungsferment jedenfalls
in dem Augenblick am wirksamsten ist, wo es direkt aus der Verbindung
der beiden sexuellen Zeugungselemente hervorging, wo also voraus-
sichtlich beide dem Verhältnis des Gleichgewichts am nächsten kommen.
Demgemäß würde die einfachste Annahme sein, daß das Spaltungs-
ferment in dem Maße an Wirksamkeit einbüßt, als der eine oder andere
seiner Bestandteile im Überschusse vorhanden ist. Hiermit steht in
Übereinstimmung, daß die wahrhaft zwittergeschlechtlichen Pflanzen
und Tiere, beidenengleichzeitig männliche und weibliche Sexual-
zellen zur Reife gelangen, nicht selten ein unbeschränkteres, haupt-
sächlich nur durch die Ernährungsbedingungen oder äußere Schädlich-
keiten gehemmtes Wachstum darbieten. Dennoch würde ein Baum
wahrscheinlich sogar dann allmählich aufhören zu wachsen, wenn der
Stamm den neuen Trieben immerfort gleichmäßig den Ernährungssaft
zuführen könnte. Da die Begegnung der heterogenen Zeugungselemente
notwendig lokalen Beschränkungen unterworfen ist, so wird dadurch
auch die aus den inneren Bedingungen der vitalen Prozesse resultierende
Grenze des Lebens immer nur um gewisse endliche Größen erweitert
werden können. In irgend einem Grad wird aber jene Erschöpfung des
Lebens, die uns die Folgen der sogenannten Inzucht in vielen Fällen
verraten, auch dann nicht fehlen, wenn der Kreis der Lebenden, zwischen
denen sich der Austausch vollzieht, ein noch so großer sein sollte, da er
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 613
eben ein unendlicher niemals sein kann. Die Annahme, daß der Tod
der Individuen und der Gattungen im letzten Grunde eine Folge der
äußeren Störungen sei, denen das Leben begegnet*), ist daher mit einer
kausalen Auffassung der Entwicklungserscheinungen kaum vereinbar.
Die eigentümliche Stufenfolge der letzteren wird vielmehr nur unter
Voraussetzungen verständlich, in denen das Ende des Prozesses zugleich
eingeschlossen ist. Den Keim des Todes trägt jede Entwicklung von
Anfang an in sich.
Auf der anderen Seite bedürfen die für die sexuelle Fortpflanzung
entwickelten Annahmen nur gewisser Erweiterungen, um über die
dem Untergang gegenüberstehenden Prozesse der Erneuerung des
Lebens im allgemeinen Rechenschaft zu geben. Noch aus anderen
Gründen müssen wir voraussetzen, daß die stoflliche Zusammensetzung
der Organismen Unterschiede bietet, die den Unterschieden der Ab-
stammung parallel gehen. Demnach sind die Gattungen ofienbar ver-
schiedener voneinander als die Arten, diese verschiedener als die engeren
Stammesgemeinschaften; und als die letzten Unterschiede werden die der
Individuen bleiben, bei denen die genetischen außerdem noch von den
sexuellen Eigenschaften begleitet sind. Wenden wir diese Voraussetzung
auf die Fortpflanzungsvorgänge an, so läßt sich unschwer verstehen, daß
eine nahe Verwandtschaft der Organismen erfordert wird, wenn sich ihre
Zeugungsfermente zu einem wirksamen Spaltungsferment vereinigen
sollen, daß aber doch auch dauernde Gleichartigkeit der Elemente die
Entwicklung beeinträchtigt. Schon die allgemeine Bedingung der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung, die Begegnung verschiedener Zeugungs-
stoffe, zeigt ja, daß eine gewisse Verschiedenheit der Komponenten zur
Einleitung der Entwicklung notwendig ist. Wir haben also nur anzu-
nehmen, daß die nämliche Regel, welche die sexuelle Fortpflanzung be-
herrscht, auch für die begleitenden Nebenbedingungen individueller
Befähigung gültig sei. Ähnlich wie wir den Einfluß der individuellen
Eigentümlichkeiten auf die Fortpflanzung zunächst aus den sexuellen
zu begreifen suchen, so läßt sich dann umgekehrt von den dort ge-
wonnenen Anschauungen aus der Geschlechtsdifferenz selbst ein ge-
wisses Verständnis abgewinnen. Fassen wir, wie oben geschehen, den
Zellenkern als den Träger der Geschlechtsstofie auf, in welchem die
ursprüngliche Wirkung der Befruchtung für die ganze Lebenszeit
nachwirkt, so werden wir, worauf auch andere Tatsachen hinweisen,
die Anlage zur Geschlechtsdifferenz in eine sehr frühe Zeit der
*), A. Weismann, Über die Dauer des Lebens, 1882,
614 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
organischen Entwicklung, wenn nicht mit Hensen*) in den Anfang
derselben zurückverlegen müssen. Von mehr als von der Ausbildung
verschieden gearteter Zeugungsstoffe wird aber auf der frühesten Stufe
nicht die Rede sein können. Hier liegt daher die Annahme nahe, daß die
ersten Spaltungsfermente überhaupt aus der Verbindung individuell ver-
schiedener Protoplasmamassen ihren Ursprung nehmen. In der Kopu-
lation gewisser Algen und Protozoen scheinen uns heute noch Zeugungs-
vorgänge jener elementarsten Form bewahrt zu sein, wo diesexuelle
lediglich mit der individuellen Differenz zusammenfällt und
bei ihr zugleich in dem Sinne reziprok ist, daß jedes Individuum
für ein anderes von differentem Geschlecht ist. Auf einer weiteren
Stufe, welche durch die Fortpflanzungsverhältnisse der meisten
Infusorien repräsentiert wird, bilden sich die getrennten Zeugungs-
fermente in dem Protoplasma eines und desselben Elementarorganismus
als Ausscheidungsprodukte, die in kernähnlichen Gebilden (Nucleus und
Nucleolus der Infusorien) abgelagert werden, bis sie durch Selbst-
zersetzung oder durch Einwirkung von Zersetzungsprodukten des Proto-
plasmas in den Zustand der sogenannten Reife gelangen, der zugleich
die physikalischen Bedingungen zu ihrer Verbindung mit sich führt.
Wie nun von diesen Anfängen aus sich die unendlich vielgestaltigen
Formen der Fortpflanzungsvorgänge bei Pflanzen und Tieren entwickelt
haben, läßt sich nicht weiter verfolgen. Bei der Frage nach der Er-
neuerung des Lebens kann es sich aber überhaupt nur darum handeln,
daß man sich auch hier über die Entstehung der einfachsten Lebens-
erscheinungen Rechenschaft gebe. Der weiteren Differenzierung wird man
dann nur auf Grund einer allmählichen Ermittlung der Entwicklungs-
bedingungen näher treten können. Dagegen dürfen wir dem entgegen-
gesetzten Problem, obgleich es unserer positiven Erkenntnis mindestens
ebenso unzugänglich ist, dem der Urzeugung oder der ersten Ent-
stehung lebender Substanz, hier nicht aus dem Wege gehen. Denn der
Gesichtspunkt, unter dem dasselbe betrachtet wird, ist für die Frage
nach dem Wesen des Lebens von ebenso entscheidender Bedeutung wie
die Interpretation der einfachsten Lebensvorgänge.
e. Das Problem der Urzeugung.
Die Schwierigkeiten dieses Problems hat man entweder dadurch
zu beseitigen gesucht, daß man annahm, das Leben sei niemals ent-
*) Physiologie der Zeugung, Hermanns Handbuch der Physiologie,
VI, 2, S. 147.
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 615
standen, es sei ebenso ursprünglich wie die Materie selber, oder daß
man sich die Urzeugung als einen Vorgang dachte, der den Formen ein-
fachster Fortpflanzung analog sei. Die erste dieser Anschauungen hat in
etwas verhüllter Form noch in neuerer Zeit in der Hypothese sich er-
halten, organische Keime seien durch Meteore von einem auf den anderen
Weltkörper übertragen worden, und es habe sich also das organische
Leben gewissermaßen auf dem Wege der Ansteckung übertragen*).
Daß diese Hypothese das Problem zurückschiebt, statt es zu lösen, liegt
auf der Hand. Die lebensfähigen Substanzen sind chemische Verbin-
dungen von bestimmten Affinitätseigenschaften. Mit dem nämlichen
Rechte, mit dem man die Erforschung ihrer Entstehung durch eine
solche Hypothese abwehrt, könnte ein Geologe der Frage nach der
Bildung des Granits mit der Antwort begegnen wollen, der Granit
sei immer in der Welt vorhanden gewesen. In einer hiervon wesent-
lich verschiedenen Form hat zu allen Zeiten der philosophische Hylo-
zoismus die Ewigkeit des Lebens gelehrt. War es ihm zunächst auch
mehr darum zu tun, das Leben für die ganze Natur zu retten, als es
zu erklären, so galt doch das letztere oder vielmehr die Möglichkeit,
eine solche Erklärung entbehren zu können, meist als ein erwünschter
Nebenerfolg. Aber je mehr diese Anschauung es versuchte, mit sonstigen
Erfahrungen im Einklang zu bleiben, umsomehr zeigte es sich, daß in
ihr der Begriff des Lebens den Inhalt verloren hatte, den ihm die Physio-
logie gibt. So soll nach Fechner das Organische das frühere, das
Unorganische das spätere, ein Ausscheidungsprodukt der lebenden
Materie sein, wobei dann diese infolge solcher Ausscheidungen und
Reinigungen immer mehr sich vervollkommne**). Hierdurch wird dann
alles, was die Physiologie lebende Materie nennt, das Protoplasma mit
seinen Entwicklungsformen, zu einem sekundären Erzeugnis. Das ur-
sprüngliche Leben ist die einst in der glühenden Masse unseres Planeten
enthaltene, der Trennung des organischen und unorganischen Stofis
vorausgehende Bewegung. Der so gebildete Begriff des Lebens ist aber
*) Da der erste, der diese Hypothese aufstellte, ein Arzt war, der sich
mannigfach mit der Verbreitung der Infektionskrankheiten durch Pilzsporen
beschäftigt hat, nämlich H. E. Richter (Schmidts Jahrbücher der
Medizin, Bd. 126, S. 248), so wird man in der Tat nicht fehlgehen, wenn man
die Idee der Ansteckung als die eigentliche Grundlage derselben betrachtet.
Übrigens haben auch W.Thomson und Helmholtz unabhängig vonein-
ander und von Richter die nämliche Hypothese angedeutet. (Helmholtz,
Wissensch. Vorträge, 3. Heft, S. 138 £.)
**) G. Th. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungs-
geschichte der Organismen, 1874, S. 41 fi.
616 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
ein vollkommen willkürlicher, für den die wesentlichsten Merkmale, die
der empirische Begriff des Lebens darbietet, nicht zutreffen. Somit
hätte auch diese Anschauung immer noch zu erklären, wie das Leben
im physiologischen Sinne entstanden ist.
Von der zweiten der oben unterschiedenen Hypothesen sind daher bis
jetzt auch alle Versuche, eine Urzeugung auf experimentellem Wege
zu stande zu bringen, ausgegangen. Wie jedes organische Wachstum mit
der Zersetzung schon vorhandener organischer Substanzen verbunden ist,
so hoffte man in sich zersetzenden, der Fäulnis unterworfenen Gemischen
organischer Stoffe die günstigsten Bedingungen für eine Generatio
aequivoca vorzufinden. Nähere Auskunft über die hierbei vermuteten
morphologischen oder chemischen Vorgänge ist zwar von keinem der An-
hänger einer Urzeugung aus Infusionen gegeben worden. Doch scheint
es, daß man dabei die heftige molekulare Bewegung in einem faulenden
Gärungsgemisch für besonders geeignet hielt, um die Synthese eines
lebenden Protoplasmamoleküls zu bewirken. Überdies ist es ersichtlich,
daß die einfachsten Fäulnisorganismen in faulenden Massen leicht sich
ernähren und fortpflanzen können; und man glaubte wohl annehmen zu
dürfen, die für das Wachstum eines organischen Wesens günstigsten
Bedingungen seien auch für die Entstehung eines solchen die besten.
Die experimentelle Widerlegung einer Urzeugung aus Infusionen hat
den letzteren Gedanken als die schwache Seite des Beweisverfahrens
herausgegriffen. Denn es läßt sich ihm offenbar mit größerem Rechte
die Vermutung entgegenhalten, daß die Infusionsorganismen umso
leichter in eine Flüssigkeit von außen eindringen werden, je bessere
Ernährungsbedingungen sie ihnen darbietet. Von dieser Erwägung aus-
gehend und unter gebührender Rücksichtnahme auf die außerordentliche
Lebenszähigkeit niederer Keime ist in der Tat der Beweis, daß auf dem
angenommenen Wege eine Urzeugung nicht stattfindet, als geliefert
zu betrachten, insoweit negative Resultate beweisend sein können.
Auch findet dies Resultat darin eine Stütze, daß die hier vorausgesetzten
Bedingungen nach unseren sonstigen Erfahrungen durchaus nicht solche
sind, unter denen sich eine ursprüngliche Synthese organischer Ver-
bindungen vollzieht. Wäre aber selbst die Infusionshypothese im Rechte,
so würde damit dennoch für die Frage nach dem Ursprung des Lebens
nicht viel gewonnen sein. Denn die Substanzen, die man zu den In-
fusionsgemischen verwendet, sind selbst schon Produkte des Lebens-
prozesses. Wie bei der Theorie der Meteorinfektion, so wird darum auch
hier das Problem selbst nicht gelöst, sondern zurückgeschoben.
In Wahrheit sind es nun zwei Momente, die in einer unter sich
Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 617
übereinstimmenden, aber von den drei hier besprochenen Anschauungen
abweichenden Weise die Richtung unserer Vermutungen bestimmen
müssen. Die Entstehung lebenden Protoplasmas aus unorganischen
Materien vermögen wir in der jetzigen Natur nirgends nachzuweisen;
und wir müssen doch die Tatsache einer solchen Entstehung voraus-
setzen, da in früheren Zuständen unseres Planeten eiweißartige Körper
nicht existieren konnten. Es bleibt also allein die Annahme übrig, daß
die Bedingungen zum Eintritt jenes Ereignisses nur während einer ge-
wissen Übergangsperiode existierten, nach der sie wieder verschwunden
sind, ähnlich wie ja auch die Bedingungen für die Bildung gewisser
Gesteinsarten, wie Flußspat, Feldspat, Quarz u. s. w., ofienbar vorüber-
gehender Art waren. Zweitens haben wir nach dem, was uns die
künstliche Synthese organischer Verbindungen lehrt, allen Grund zu
vermuten, daß eine so verwickelt konstituierte Verbindung wie das
Protoplasma allmählich entstanden sei, wobei die noch jetzt in
der Glühhitze bei Gegenwart reduzierender Metalle leicht aus unorgani-
schen Verbindungen entstehenden einfachsten Kohlenstofiverbindungen,
wie Acetylen, Ameisensäure, Cyan, vermutlich die ersten Stufen gebildet
haben werden*).
Gesetzt aber auch, die hier postulierten Kausalbeziehungen seien
zutreffend, und es gelänge sogar lebendes Protoplasma im chemischen
Laboratorium hervorzubringen, so würde damit das Problem des
Lebens immer erst nach seiner physischen Seite gelöst sein. Aus
den Eigenschaften, die wir den chemischen Atomen beigelegt, würden
wir die Gruppierungen der Stoffe und ihre Zersetzungen, vielleicht
auch die damit verbundenen physikalischen Erscheinungen erklären
können. Sobald aber diese Erscheinungen zugleich das Vorhandensein
von Empfindungen oder von sonstigen psychischen Elementar-
vorgängen verraten, sind diese als Tatsachen anzuerkennen, die in
den für die physikalisch-chemische Erklärung gemachten Voraus-
setzungen nicht mit enthalten und darum auch unmöglich aus ihnen
abzuleiten sind. Darin liegt schon für den physiologischen Stand-
punkt die Nötigung, die einfachsten Formen des psychischen
Geschehens nicht erst mit der Erzeugung der lebenden Substanz
entstehen zu lassen, sondern die Anlage zu diesem Ge-
schehen den ursprünglichsten Substanzelementen beizulegen. Daß
*) Diese Annahme habe ich schon in den verschiedenen Auflagen meines
Lehrbuchs der Physiologie entwickelt. (Vgl. 3. Aufl., 1873, S. 169.) Dann ist
auch Pflüger durch seine Betrachtungen über das Wesen der Lebensvor-
gänge auf sie geführt worden (a. a. OÖ. Bd. 10, 1875, S. 339 £.).
618 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
Leben und Beseelung innig zusammenhängen, und daß beide nicht
entstehen könnten, wenn nicht die Bedingungen zu ihnen in dem
Substrat der Naturerscheinungen gegeben wären, dies ist der wahre
Gedanke, der die hylozoistischen Ansichten leitet, den sie aber ver-
fälschen, indem sie das potentielle in ein aktuelles Leben umwandeln,
und indem sie das Bild des Organismus, das den entwickelten
Lebensformen entnommen ist, willkürlich auf zusammenhanglose Sub-
stanzkomplexe der leblosen Natur übertragen, in deren letzten Teilen
vielleicht nur der Lebensfunke glimmt. Denn wenn der biologischen
Beobachtung irgend ein Wert beizumessen ist, so kann dies eine
Resultat als feststehend gelten, daß, so notwendig es auch scheinen
mag, schon in den Eigenschaften der leblosen Körper die Bedin-
gungen des Lebens anzunehmen, doch die zusammengesetzten Formen
desselben erst die Erzeugnisse einer langen, unter den verwickelt-
sten Kausalbedingungen stattgefundenen Entwicklung sind. Diese Ent-
wicklung ist aber gleichzeitig eine physische und eine psychische. Daher
ist es auch insbesondere deren psychische Seite, die die objek-
tive Zweckmäßigkeit der Lebensformen begreiflich macht. So er-
fährt hier für eine psychologische Betrachtung die der Physiologie
geläufige Anschauung über die Wechselbeziehung der körperlichen und
geistigen Vorgänge ihre vollständige Umkehrung: nicht das geistige
leben erscheint als ein Erzeugnis der physischen Organisation, son-
dern diese wird in allem, was sie an zweckvollen Einrichtungen der
Selbstregulierung und der Energieverwertung vor den Substanzkom-
plexen der unorganischen Natur voraus hat, eine geistige Schöpfung.
Hier führt die Biologie bei ihren letzten Aufgaben unmittelbar hinüber
zu den Grundproblemen der Psychologie*).
4. Störungen der Lebensvorgänge.
a. Der Begriff der Krankheit
In der Pathologie, dem verwickeltsten und schwierigsten Zweig
der Biologie, hat jene mit mythologischen Vorstellungen zusammen-
hängende Form naturphilosophischer Betrachtung, die der selbst-
ständigen Entwicklung der Naturwissenschaften auf allen Gebieten
*) Vgl.oben S.586 und Bd. III, Kap. III, wo auch auf die Voraussetzungen
einzugehen sein wird, die sich aus dieser Wirkung psychischer Kräfte auf mate-
rielle Vorgänge einerseits und aus dem oben S. 354 entwickelten Postulat der
in sich geschlossenen Naturkausalität anderseits ergeben.
Störungen der Lebensvorgänge. 619
voranging*), am dauerndsten nachgewirkt. Reichen doch die An-
schauungen, zu denen auf dieser naturphilosophischen Grundlage
die Heilkunde der Griechen gelangt war, in ihren letzten Aus-
läufern noch bis in unser Zeitalter hinein. Der Gegensatz, der die
Philosophie der ionischen Physiker entzweit, ob die Mannigfaltigkeit
der Dinge von einem einzigen Prinzip oder von einer Mehrheit quali-
tativer Urstoffe, die dann wieder als Gegensätze zu denken seien, her-
komme, — dieser im letzten Grund aus rein logischen Gesichtspunkten
entsprungene Streit trennt auch die ärztlichen Schulen der Griechen.
Für die Anhänger eines einzigen Urstofis steht hier die Lehre des Ana-
ximenes, der die Luft für diesen Stoff hält, infolge der Bedeutung
des Atmungsprozesses für alle Lebensvorgänge begreiflicherweise im
Vordergrund. Eine gründlichere Untersuchung der Krankheitser-
scheinungen dagegen mußte bemüht sein, den mannigfachen Unter-
schieden derselben durch die Feststellung der Veränderungen im ein-
zelnen, namentlich der symptomatisch wichtigen Veränderungen des
Blutes und der flüssigen Sekrete, besser gerecht zu werden. So entstand,
jener Richtung der „Pneumatiker“ gegenüber, die von dem größten
der griechischen Ärzte, von Hippokrates, vertretene „Humoralpatho-
logie“**). Indem diese die Krankheiten, wie überhaupt die wichtigsten
organischen Vorgänge, auf die wechselnde Mischung der vier Kardinal-
säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zurückführt, erinnert sie
zweifellos nicht bloß durch die Vierzahl an die Empedokleischen Elemente,
sondern sie ist eine Übertragung derselben auf den Organismus, wie
solches später namentlich von Galen nachdrücklich betont wurde,
und sie beruht demnach gleich jenen auf dem Prinzip des logischen
Gegensatzes. Nachdem im Mittelalter die Hippokratische Auffassung
in der ihr durch das Galenische System gegebenen dogmatischen Ge-
staltung die Pathologie durchaus beherrscht hatte, regte sich erst
vom Beginn der Neuzeit an wieder das Streben, auch auf diesem Gebiete
zu einer selbständigen Beobachtung der Erscheinungen zurückzu-
kehren, wie sie dereinst Hippokrates gelehrt; zugleich aber begann nun,
von den exakten Wissenschaften und der in ihr wurzelnden mechanischen
Weltanschauung ausgehend, die Tendenz nach einer mechanischen Er-
klärung herrschend zu werden. Diese iatromechanische Richtung nahm
gewissermaßen die Anschauungen der alten Pneumatiker wieder auf, in-
*) Vgl. oben S. 271.
**) H. Diels, Über die Exzerpte von Menons Jatrike in dem Londoner
Papyrus 137. Hermes, Bd. 28, S. 407. Im Auszug in den Preuß. Jahrbb.
Bd. 44, S. 412.
620 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
dem sie bemüht war, aus einerin den Nerven angenommenen feinen und
leichtbeweglichen Materie, den „Nerven-“ oder „Lebensgeistern “ die wich-
tigsten Funktionen des gesunden wie des kranken Organismus zu erklären.
So erneuerten sich in dem Kampfe der Humoral- und der Soli-
darpathologie, die der Gegenüberstellung des soliden Nerven-
systems und der flüssigen Säfte des Körpers ihre Namen verdankten,
die uralten naturphilosophischen Gegensätze. Zugleich begannen aber
teils innerhalb dieser Gegensätze, teils unabhängig von ihnen mannig-
fache Einflüsse von anderen naturwissenschaftlichen Gebieten aus auf die
Biologie und durch diese auf die Auffassung der Krankheitserscheinungen
einzuwirken. Auf diese Weise ist die Pathologie bis in die neueste Zeit
von animistischen und vitalistischen, mechanischen und chemischen
Hypothesen mit wechselndem Glück beherrscht worden. Vielfach haben
aber auch die allgemeinen biologischen Anschauungen in der Pathologie
ihre Hauptstütze gefunden. Vor allem gilt dies von denjenigen Lehren,
die im Beginn der Neuzeit als eigentümliche Neugestaltungen uralter
Anschauungen den überkommenen Systemen entgegentraten. So
schöpften ein Paracelsus und van Helmont ihre animistisch-chemischen
Ideen zumeist aus der Beobachtung der Krankheitserscheinungen. Für
den Vitalismus konnte es keine augenfälligere Bestätigung geben als
der anscheinend so deutlich auf einen Kampf der Lebenskraft mit äußeren
oder inneren Schädlichkeiten hinweisende Verlauf der Krankheiten.
Selbst die mechanische Auffassung des Lebens gewann aber aus der
pathologischen Beobachtung fruchtbare Anregungen. Ergab sich doch
der für diese Lehre so wichtige Begriff der Selbstregulierung
am leichtesten aus denjenigen im Gefolge der Krankheit auftretenden
Reaktionen, die entweder auf eine Beseitigung der Störung oder auf die
Herstellung eines neuen, die Störung kompensierenden Gleichgewichts-
zustandes gerichtet sind.
Der Kampf aller dieser Anschauungen dreht sich auf dem Gebiete
der Pathologie hauptsächlich um einen Punkt: um die Frage nach
der Krankheitsursache. Daß in den meisten Fällen die
Krankheit durch &u ßere Einwirkungen verursacht werde, konnte von
frühe an der Beobachtung nicht verborgen bleiben. Als die eigentliche
Bedingung der Störung betrachtete man dabei aber doch die Ver-
änderung, die in den Säften oder Geweben des Organismus entstehe,
und die nun weitere Störungen und Ausgleichserscheinungen nach sich
ziehe. Diese Ansicht paßte ebensogut in die mechanistische wie in die
vitalistische Lehre. Ihr gegenüber führte Paracelsus eine in dem Volks-
aberglauben längst verbreitete Vorstellung in die wissenschaftliche
Störungen der Lebensvorgänge. 621
Medizin ein: die Vorstellung, daß die Krankheit selber ein Wesen sei,
in dessen Bekämpfung teils das natürliche Heilungsbestreben des
Organismus bestehe, teils das künstliche Heilverfahren des Arztes
bestehen müsse. So treten von nun an eine ontologische und
eine funktionelle Auffassung einander gegenüber. Schon Para-
celus hat seine Lehre von den krankmachenden Wesen, von der Keimung
und Entwicklung derselben besonders auf die Beobachtung der konta-
giösen Krankheiten gestützt, deren Entstehung und typischer Verlauf
auch in späterer Zeit immer wieder solche Ideen nahe legte*). Trotzdem
ist lange die funktionelle Auffassung die fast allein herrschende ge-
blieben, und wenn man auch nicht umhin konnte, bei den Kontagien
und Miasmen den Einfluß äußerer krankmachender Stofie zuzugeben,
so war man doch mehr geneigt, in ihnen die Wirkungen unbekannter
chemischer Substanzen als die organisierter Elemente zu sehen. Das
Hauptaugenmerk blieb dabei immer auf die funktionellen Verände-
rungen des erkrankten Organismus gerichtet, und je nachdem man
hier den Ernährungsflüssigkeiten oder dem Nervensystem den ent-
scheidenden Wert beilegte, siegte wieder die humoral- oder die solidar-
pathologische Auffassung, Richtungen, die in ihrer Einseitigkeit an die
wechselnde Herrschaft des Vulkanismus und Neptunismus in der
Geologie oder der Gravitations- und der elektrischen Spannungstheorie
in der Chemie erinnern. In der Tat, wie diese chemischen Theorien aus
einer Übertragung von Begriffen entstanden, die anderen Wissens-
gebieten entnommen waren, so hatte sich auch im Wechsel der Zeiten
die humoralpathologische Lehre immer mehr einer einseitig chemischen,
die solidarpathologische der mechanischen Richtung in der Physiologie
angepaßt. Denn das Blut, das allmählich die übrigen Kardinalsäfte in
den Hintergrund drängte, galt als der Hauptsitz der chemischen Lebens-
vorgänge; die Bewegung des in den Nerven eingeschlossenen hypothe-
tischen Fluidums, der „Nervengeister“, war namentlich seit Descartes
ein Lieblingsgegenstand iatromechanischer Spekulationen geworden.
Daneben spiegelt sich übrigens in den epochemachenden Systemen
des 17. und 18. Jahrhunderts deutlich der besondere Einfluß der Zeit:
so in der von Sydenham auf humoralpathologischer Grundlage unter-
nommenen Wiedererneuerung der Hippokratischen Beobachtungs-
methode der Geist der Baconischen Induktion, in seinem Begriff der
Krankheitsspezies das beginnende Zeitalter der systematischen Natur-
*) Vgl. Kurt Sprengel, Geschichte der Arzneikunde, 3. Aufl., III,
S. 449 ff.
622 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
geschichte; so in Browns solidarpathologischem „Irritabilitätssystem “
die Bedeutung, die der Begriff der Reizbarkeit in der Physiologie ins-
besondere durch Hallers Irritabilitätslehre gewonnen hatte.
Gegenüber solchen von außen in die Pathologie hineingetragenen
Vorstellungen konnte die Aufgabe einer selbständigen Erforschung der
im Organismus gelegenen Krankheitsursachen und Krankheitswirkungen
erst von dem Augenblick an in den Gesichtskreis einer strengeren Metho-
dik treten, als durch die systematische Zergliederung der erkrankten
Organe an die Stelle der bisherigen äußeren allmählich ene innere
Symptomatologie der Krankheiten trat. Für die Auffassung des Wesens
der Krankheit gewann aber die pathologische Anatomie einen entschei-
denden Einfluß, namentlich seit die mikroskopische Untersuchung
eine tiefere Einsicht in die elementare Beschaffenheit der krankhaften
Veränderungen gewährte. Ihren Ausdruck fand die so entstandene
neue Richtung in Virchows Zellularpathologie. Im Gegen-
satz zu jenen älteren humoral- und solidarpathologischen Lehren,
die zumeist nur von der Beurteilung allgemeiner Krankheitsbilder aus-
gegangen waren, suchte die Zellularpathologie die Elementar-
teileder Gewebe, insbesondere die letzten Lebenseinheiten, die
Zellen, überall als die Träger der Krankheit darzutun, während sie zu-
gleich an dem im Grunde bereits von Sydenham aufgestellten Postulat
festhielt, daß es spezifische Unterschiede der elementaren Lebensvor-
gänge im normalen und im krankhaft veränderten Zustande nicht
geben könne, und daß daher der letztere lediglich ein unter störenden
Bedingungen, im übrigen aber nach allgemeingültigen physiologischen
Gesetzen ablaufender Prozeß sei*). Der so gewonnene Standpunkt
ging demnach darauf aus, die Pathologie in eine „pathologische Physio-
logie“ umzuwandeln, die in ähnlicher Weise der mikroskopisch-ana-
tomischen Untersuchung des krankhaft gestörten Körpers bedürfe,
wie die normale Physiologie die normale Anatomie zu ihrer Grundlage
habe. In dieser Forderung lag jedoch bereits die Tendenz zu einer Er-
gänzung und Erweiterung der zellularpathologischen Auffassung.
Denn eine pathologische Physiologie mußte sich notwendig die Auf-
gabe stellen, mit der mikroskopischen Untersuchung das Experi-
ment zu verbinden, und die Lösung dieser Aufgabe führte nun weiter-
hin zu Ergebnissen, die an verschiedenen Stellen die zellularpatholo-
gischen Anschauungen verdrängten. Hierdurch wurde die bereits
von der Zellularpathologie angebahnte Überzeugung befestigt, daß
#\ BR. Virehow, Zellularpathologie*, 1871.
Störungen der Lebensvorgänge. 623
es überhaupt unmöglich sei, den Begriff der Krankheit einem einzigen
allumfassenden Allgemeinbegriff unterzuordnen, sondern daß, ent-
sprechend der großen Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen, mannig-
fach verschiedene und oft ineinander eingreifende Formen der Störung
und ihrer Ausgleichung anzunehmen seien. Eine entscheidende Rolle
spielte hierbei wiederum das Studium der Infektionskrank-
heiten, indem es auf diesem wichtigen Gebiete zu einer partiellen
Wiederherstellung des ontologischen an Stelle des rein funktionellen
Begriffs der Krankheit führte.
Der nächste, an sich freilich unzureichende Grund zu dieser Um-
wälzung bestand in der Beobachtung der Lebenszyklen niederer Organis-
men. Hatte bereits van Helmont die Krankheit als eine „Fermen-
tation“ bezeichnet, so wurde in der neueren Zeit die genauere Kenntnis
der bei den Gärungen organisierter Stoffe wirksamen Spaltpilze und
ihrer weiten Verbreitung die Hauptquelle ähnlicher Hypothesen*).
Zu dieser inneren kam bald noch eine äußere Analogie, die Ähnlich-
keit mit den durch parasitische Wesen hervorgerufenen Erkrankungen.
Schönlein, der Entdecker des Favuspilzes, hatte schon mit den Borken
desselben die Darmabschorfungen im Typhus verglichen. Noch mehr
erinnerte später die Trichinosis durch ihren typischen Verlauf an die
Entwicklung kontagiöser Erkrankungen. Ohne durch solche Analogien
vorbereitet zu sein, würde man schwerlich den entscheidenden Schritt
getan haben, der in der direkten mikroskopischen Nachweisung der
Infektionsbakterien, ihrer künstlichen Züchtung und Übertragung be-
stand. War auf diese Weise nachgewiesen, daß die an gewissen Orten
haftende oder von erkrankten Individuen ausgehende Ansteckung sowie
der typische Verlauf gewisser Krankheiten auf der Übertragung
und Entwicklung bestimmter Bakterien oder anderer Mikroorganismen,
namentlich Protozoen beruhe, so knüpfte sich aber hieran sofort eine
abermalige, jetzt berechtigtere Analogie: es konnte angenommen
werden, daß auch in anderen Fällen, wo der direkte Nachweis noch nicht
gelungen war, Infektionsfähigkeit und typischer Verlauf für das Vor-
handensein krankmachender Organismen beweisend seien. Von diesen
beiden Merkmalen mußte die Infektionsfähigkeit wieder als das wert-
vollere erscheinen, weil hier die Übertragung eines Krankheitsstofies
außer Frage stand, andere Krankheitsstoffe als organisierte aber, ab-
gesehen von den im allgemeinen leicht zu unterscheidenden eigent-
lichen Giftwirkungen, nicht bekannt waren. Der typische Verlauf für sich
*) J. Henle, Handbuch der rationellen Pathologie, II, 2, S. 424 fi.
624 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
dagegen konnte ebensogut bloß in den Lebenseigenschaften des er-
krankten Organismus seinen Grund haben; auch war aus dem Mangel
eines solchen Verlaufs noch nicht ohne weiteres auf das Fehlen einer
Infektion zu schließen, da jener außerdem eine regelmäßige Entwick-
lung der Infektionsorganismen voraussetzt. Wie diese, so hat sich noch
eine andere Analogie nicht als überall zutrefiend erwiesen. Bei vielen
Infektionskrankheiten von ausgeprägt typischem Verlauf, z. B. bei den
akuten Exanthemen, verleiht die einmalige Erkrankung, auch wenn sie,
wie bei der Schutzpockenimpfung, in einer milderen Form verläuft, eine
gewisse Immunität gegen künftige Infektionen. Diesen stehen aber andere
Fälle gegenüber, wo im Gegenteil die Erkrankung zu künftiger Infektion
geneigter zu machen scheint: so die Tuberkulose, die Lungenentzündung,
der Rheumatismus. Für diese beiden einander entgegengesetzten Fälle
bieten sich jedoch abermals Analogien in den verschiedenartigen Vege-
tationsbedingungen der Pflanzen, unter denen es manche gibt, die rasch
den Boden erschöpfen, so daß eine zweite Kultur erst nach längerer Zeit
gelingt, indes andere solchen Beschränkungen nicht unterworfen sind.
Es konnte kaum ausbleiben, daß die überraschenden Entdeckungen
der Bakteriologie zunächst zu einer Überschätzung der Bedeutung
dieser mikroskopisch nachweisbaren Krankheitserreger führten, die in
der Verschiedenheit ihrer Formen und Entwicklungsbedingungen in
vielen Fällen wenigstens der typischen Verschiedenheit bestimmter
Infektionskrankheiten parallel gehen. Bald machte sich daher eine
kritische Reaktion fühlbar. Man konnte sich der Einsicht nicht ver-
schließen, daß der krankheitserregende Pilz immer nur als ein Faktor
unter mehreren betrachtet werden könne. Ein zweiter Faktor mußte
in jenen noch rätselhaften Bedingungen, die wir deindividuelle
Disposition nennen, ein dritter in den teils unbekannten, teils
wenigstens in ihrer Wirkungsweise unverstandenen lokalen Ein-
flüssen gesehen werden. Wo die letzteren auffällig hervortraten,
wie bei den endemischen Krankheiten, stellte man in älterer Zeit den
eigentlichen Infektionen die „miasmatischen“ Erkrankungen als beson-
dere, ausschließlich aus solchen lokalen Bedingungen entspringende Epi-
demien gegenüber. In dem Kampf der „Grundwassertheorie“ Max
Pettenkofers mit Robert Kochs Bazillentheorie über den Ursprung der
Cholera hat diese Scheidung ihren letzten Ausdruck gefunden. Sie hat
mit dem unbedingten Sieg der Bazillentheorie geendist. Allerdings
behielt aber dabei der Einfluß lokaler Bedingungen insofern recht, als
neben der Infektion von Mensch zu Mensch die Verbreitung der Mikro-
organismen, welche die Träger des Krankheitsgiftes sind, durch die
Störungen der Lebensvorgänge. 025
Umgebung, durch Pflanzen, Tiere, namentlich aber auch durch das
Trinkwasser, in vielen Fällen sich als die entscheidende Bedingung
der Verbreitung herausstellte.
b. Funktionsstörungen und Infektionen,
Unter dem Eindruck dieser Ergebnisse konnte sich die Vorstel-
lung ausbilden, die längere Zeit in der Tat die herrschende war und es
zumeist wohl noch ist, die Gesamtheit der Krankheiten zerfalle, ab-
gesehen von den direkt durch äußere mechanische oder chemische Mittel
erzeugten Schädigungen, in zwei Klassen: in die durch irgendwelche
innere Veränderungen der organischen Prozesse, namentlich der Stoff-
wechselvorgänge, erzeugten Funktionsstörungen, und in die
durch von außen eingedrungene Mikroorganismen entstehenden Infek-
tionen, die entweder bei begrenzter Lebensdauer der Infektionsorganis-
men akut oder bei ihrem Verbleiben im Körper chronisch verlaufen. Eine
Kombination der funktionellen Theorie der Humoralpathologen und
der vitalistisch-ontologischen, in der die Ideen des Paracelsus in neuer
Gestalt wieder auflebten, schien dieser Situation zu entsprechen. Aber
diese Gegensätze der Pathogenese ließen sich dem erreichten Stand-
punkte der physiologischen Chemie gegenüber auf die Dauer nicht
aufrecht erhalten. Die Humoralpathologie wies an und für sich schon
auf die Erforschung der chemischen Gleichgewichtsstörungen bei den
Krankheitsprozessen hin. Für die Bakteriopathologie lag es nahe, die
Wirkungen, welche die Spaltpilze außerhalb des von ihnen infizierten
Organismus ausüben können, also die Vorgänge der Alkoholgärung, der
Fäulnisprozesse und andere ähnliche herbeizuziehen. So wurde die
Pathogenese der Infektion auf das allgemeinere Gebiet der Gärungs-
chemie hingewiesen. Gleichwohl bildeten die Gärungsvorgänge noch
lange insofern ein von den sonstigen katalytischen Prozessen abgeson-
dertes Gebiet, als man bei ihnen das Vorhandensein lebender Fer-
mente für ein wesentliches Erfordernis hielt. Indem Pasteur durch
seinen Nachweis der weiten Verbreitung der Mikroorganismen und
ihrer Mitwirkung bei den Gärungs-, Fäulnis- und Verwesungserschei-
nungen das Mittel zur endgültigen Widerlegung einer Urzeugung
niederer organischer Wesen aus sich zersetzenden Gemischen organischer
Stoffe gefunden hatte, war er gewillt, nun auch rückwärts zu schließen,
daß umgekehrt solche Zersetzungsprozesse nie ohne bereits organisierte
Fermente vor sich gehen könnten*). Dieser Schluß war logisch natür-
*) Pasteur, Theorie der Gärung, 1872. Prüfung der Lehre von der
Urzeugung, 1862. In Ostwalds Klassikern, Heft 39, 1892.
Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 40
626 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
lich keineswegs berechtigt. Aber der unter dem Eindruck der Pasteur-
schen Versuche festgewurzelten Überzeugung von der Unentbehrlich-
keit organisierter Fermente wurde doch erst durch E. Buchners Ent-
deckung der katalytischen Kraft des ausgepreßten Saftes der Hefe-
zellen der Boden entzogen. In gleichem Sinne wirkten zudem die
theoretischen Betrachtungen, zu denen die nach dem Vorbilde der
Schutzpockenimpfung vorgenommenen und dann nach verschiedenen
Richtungen modifizierten Versuche der Immunisierung gegen die
Mikroorganismen anregten. Damit änderten sich die Anschauungen
über das Wesen der Infektion abermals in einer Richtung, in der sie
sich den Vorstellungen über die Wirkung sonstiger Krankheitsursachen
wiederum näherten. Diese Entwicklung der neueren pathologischen
Anschauungen ist auch in logischer Beziehung umso bemerkenswerter,
als es ganz zufällige Beobachtungen oder fast planlose, bloß durch
das praktische Interesse angeregte Versuche waren, von denen man
zunächst ausging.
Die Methode der Schutzpockenimpfung verdankt man bekanntlich
der Beobachtung Jenners, daß die Mägde, die sich beim Melken eine
Infektion durch die wenig gefährliche Kuhpockenlymphe zugezogen
hatten, bei Epidemien der gefährlichen menschlichen Pockenkrankheit
verschont blieben. Der Versuch, eine solche Immunisierung auch auf
andere Infektionsgifte zu übertragen, lag daher nahe. Auch scheint es,
daß namentlich gegen den Schlangenbiß ähnliche Mittel seit alter Zeit
schon bei manchen Völkern im Gebrauch waren. Von einer wissen-
schaftlich geregelten Übertragung bei den eigentlichen Infektionskrank-
heiten konnte aber doch erst die Rede sein, als die Gifte selbst in der
Gestalt von Reinkulturen der infizierenden Mikroorganismen isoliert
und so in einen der beliebigen Verdünnung fähigen Zustand gebracht
waren. Dieser Schritt ist vor so kurzer Zeit erst getan worden, daß die
Bemühungen um die Erforschung und Bekämpfung der auf diesem
Wege ermittelten und weiter zu ermittelnden Krankheitsgifte noch
mitten im Flusse sind. Nichtsdestoweniger hat sich bereits in
doppelter Hinsicht eine wichtige Entwicklung der Anschauungen und
in ihr eine wachsende Annäherung an die Auffassung der normalen
Lebensvorgänge vollzogen. Der erste Fortschritt betraf das Wesen der
Immunisierung; der zweite bestand in der eindringenderen, wenn auch
immer noch viele Probleme ungelöst lassenden und neue anregenden
Erkenntnis der Prozesse, die der Infektion und ihren Gegenmitteln
zu Grunde liegen. Das Vorbild der Jennerschen Schutzimpfung, das
selbst vielleicht an den Gedankengängen Hahnemanns, des Stifters der
Störungen der Lebensvorgänge. 627
Homöopathie, nicht ganz unbeteiligt gewesen ist, ließ die Immunisierung
gegen die künftige Infektion durch einen geringeren Grad der gleichen
Infektion fast wie eine Bewährung des Grundsatzes „Similia simi-
libus“ erscheinen. Auch die von den Homöopathen gelehrte Um-
kehrung der Giftwirkung in Heilwirkung bei kleinsten Gaben ent-
sprach einigermaßen jenem Vorbild. Indem man nun aber weiter-
hin durch Variation des Immunisierungsverfahrens, bei der zugleich
die Erfahrungen über sonstige Fermentwirkungen wegweisend waren,
die günstigsten Bedingungen der Heilwirkung zu ermitteln suchte,
fand sich, daß die lebenden Mikroorganismen durchaus nicht zu einer
solchen Wirkung erforderlich seien, sondern daß die Veränderungen,
die die Infektion in den Körpersäften, z. B. in dem Blutserum eines
infizierten Tieres erzeuge, eine Schutz- oder Heilwirkung ausüben könne.
Noch einen für die Theorie wie für die Praxis der Immunisierung wich-
tigen Schritt weiter führten aber diese Versuche, als sich bei der Therapie
des Diphtherieheilserums ergab, daß die eine Infektion paralysierende
Wirkung der Körpersäfte infizierter Tiere auch dann noch erhalten
blieb, wenn man die schädlichen Stoffe der Infektion durch antitoxische
Mittel, z. B. durch die Behandlung des Blutserums mit Jodoform, un-
schädlich gemacht hatte. Damit war nun völlig ausgeschlossen, daß der
infizierende und der immunisierende Stoff ein und derselbe seien,
sondern die Folgerung ließ sich nicht mehr abweisen, das Infektionsgift
selbst erzeuge ein Gegengift, das bei jeder Immunisierung das eigent-
lich wirksame Agens sei. Das „Similia similibus“ war damit wieder
in den verständlicheren Grundsatz des „Contraria contrariis“ überge-
gangen, der nun auch die Angrifispunkte bot, um den bei solchen Wirkun-
gen und Gegenwirkungen stattfindenden Prozessen auf die Spur zu
kommen. Denn jetzt traten die Erscheinungen in eine Beleuchtung,
die sie anderen bereits bekannten nahe brachte. Dabei konnten sich
aber solche Analogien wieder nach zwei Richtungen erstrecken, je nach-
dem man von physiologisch-morphologischen oder von rein chemischen
Betrachtungen ausging, wenn man sich auch von vornherein auf beiden
Seiten bewußt war, daß in letzter Instanz das Problem ein chemisches
sei und daher beide Wege schließlich zusammentreffen müßten.
ec. Die Theorie der Immunisierung.
Die physiologisch-morphologischen Hypothesen
über die Ursachen der Immunisierung knüpften direkt an die allge-
meine Dynamik der Lebenserscheinungen an. So ging Metschnikoffs
628 Die Hauptgebiete der Naturforschung
Theorie der „Phagozyten* von der Beobachtung aus, daß die Lymph-
körper des Blutes die in dieses gelangten Bazillen in sich aufnehmen
und zerstören könnten, daher ihm diese Körperchen als die Stätten
eines der Verdauung analogen Gärungsprozesses erschienen, bei der
durch abgeschiedene Fermente die geformten Infektionsstoffe ver-
nichtet würden. Aus einer Verbindung chemischer Analogien mit
den physiologischen Begrifien der Assimilation und Dissimilation
der Gewebsbestandteile entwickelten sich dann die Vorstellungen
von C. Weigert und P. Ehrlich, nach denen die loseren Atomgruppen
des komplexen Protoplasmamolekels der Gewebszellen einerseits die
aus dem Nahrungseiweiß stammenden Albuminoide fortwährend bin-
den und an die Grundbestandteile der Zelle abgeben, anderseits
aber eben darum auch, wenn sie mit toxischen Substanzen Verbin-
dungen eingehen, die Nahrungswege der Zelle unwirksam machen und
so deren Tod herbeiführen sollen, während die immunisierenden Sub-
stanzen die Gifte neutralisieren und dadurch die „Empfänger“ der zuge-
führten Stoffe ihrer Funktion zurückgeben. Diese Hypothese, die offen-
bar den oben (S. 597 ff.) angedeuteten Vorstellungen von den normalen
Prozessen des Wachstums, der Vermehrung und des Verfalls der organi-
sierten Elemente verwandt ist, macht es denn auch verständlich, daß
neben den eigentlichen, selbst zu den Enzymen gehörenden Gegen-
giften noch andere Stoffe, sei es durch Aggregatänderung, z. B.
Koagulation, oder durch bloße Umlagerungen der Molekularstruktur,
antitoxisch wirken können, wie denn überhaupt die Grenze zwischen
den Infektions- und anderen Giftwirkungen und endlich zwischen
beiden und den normalen Zersetzungsvorgängen im Organismus als
eine fließende erscheint.
Ähnlich verhält es sich aber, wenn der rein chemische
Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt wird. Hier bietet dann
einerseits der große Einfluß, den geringe Änderungen der Mole-
kularstruktur chemischer Verbindungen auf ihre Eigenschaften und ins-
besondere auch auf ıhr Verhalten zu den Gewebestoffen ausüben können,
nahe Beziehungen dar. Durch solche Änderungen kann ein Gift
bei gleich bleibender elementarer Zusammensetzung in ein Gegengift
oder in eine indifferente Substanz übergehen. Anderseits besitzen die
Fermente und unter ihnen wieder in erster Linie die organischen oder
organisierten Enzyme in hohem Grade die Eigenschaft, daß die von
ihnen eingeleiteten Spaltungsprozesse durch die Ansammlung der Spal-
tungsprodukte allmählich gehemmt, oder daß andere Fermente erzeugt
werden, die die Wirksamkeit der ersteren kompensieren. Bedenkt
Störungen der Lebensvorgänge. 629
man, daß die Menge der in der lebenden Zelle vorhandenen Enzyme
von verschiedener Wirksamkeit an und für sich schon sehr groß ist
(S. 558 fi.), daß aber unter irgendwelchen hinzutretenden Bedingungen
neue Enzyme entstehen können, so bietet sich hier ein vorläufig noch
unübersehbares Spiel für die Wechselwirkungen der in den Organis-
mus von außen eingedrungenen oder in ihm selbst erzeugten toxischen
und antitoxischen Substanzen. So erinnern diese pathologischen Er-
scheinungen dadurch, daß jede toxische Substanz Reaktionen auslöst, die
auf ihre Vernichtung und damit zugleich auf die Beseitigung der von ihr
gesetzten Störungen gerichtet sind, an den Satz des Paracelsus, daß
jedes organische Wesen seinen eigenen „Alchimisten“ in sich trage, der
die Stoffe scheide und den kranken Körper heile, indes der Arzt nur dazu
berufen sei, diesen „natürlichen Alchimisten“ in seinem Streben zu
unterstützen. Indem aber dabei das nämliche Prinzip der Selbst-
regulation, wie es in allen physiologischen Vorgängen als die Bedin-
gung der Erhaltung des Lebens sich darstellt, auch die Erscheinungen
der Krankheit hervorbringt, bestätigt sich nicht minder der von Virchow
ausgesprochene Satz, die Erscheinungen der Krankheit selbst beruhten
ganz und gar auf den physiologischen Lebensvorgängen, wie sie sich
nach den ihnen immanenten Gesetzen unter den gegebenen Bedingungen
der Störung notwendig gestalten*).
d. Die Selbstregulierungim kranken Organismus.
Die für die allgemeine Biologie wichtigste Bedeutung der bei der
Infektion erzeugten Toxine und Antitoxine liegt nun schließlich darin,
daß sich ihre Wirkungen nicht sowohl von den normalen physiologi-
schen Elementarprozessen selbst unterscheiden, als daß sie in gewissem
Sinne nur ein vergrößertes und zeitweise in ungewöhnlichem Grade
von dem normalen Gleichgewicht abweichendes Bild jener Vorgänge
vor Augen führen. So beruht schon der Zerfall des Organismus bei den
dem Tode folgenden Prozessen der Fäulnis und Verwesung wesentlich
darauf, daß er den vom Körper selbst erzeugten und den von außen
in der Form zahlreicher Mikroorganismen in ihn eindringenden Fermenten
widerstandslos preisgegeben ist, weil die Gegengifte und die anderen
antitoxischen Reaktionen, über die der lebende Körper verfügt, hier
versagen. Mit der Auflösung der Gewebe durch die nicht mehr neutrali-
sierten Verdauungsfermente beginnt daher dieser Prozeß der Ver-
*) Metschnikoff, L’iimmunite, 1891. P. Ehrlich, Die Kon-
stitution des Diphtheriegiftes, 1898. Gesammelte Abhandlungen zur Immuni-
tätslehre, 1903. S. Arrhenius, Immunochemie, 1907.
630 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
nichtung. Eine wichtige Seite der pathologischen Selbstregulierungen,
die dieser Vernichtung entgegenwirken, besteht aber darin, daß jene
elementaren Gleichgewichtsstörungen, sobald sie eine gewisse Grenze
überschreiten, den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft ziehen, indem
nun dessen Vorrichtungen umfassender Selbstregulierung im selben
Sinne in Wirksamkeit treten, in welchem schon die elementaren
Kompensationen arbeiten. Charakteristische Erscheinungen dieser Art
sind die Fieberreaktionen, deren durch Blut und Nervensystem ver-
mittelte Allgemeinwirkungen ähnlich den Elementarvorgängen auf die
Kompensation der Störung gerichtet sind, wobei dann freilich auch hier
wiederum, ebenso wie bei den elementaren Prozessen, die Gefahren der
Unter- wie der Überkompensation entstehen können. So kann der
Typhuskranke sterben, weil die vermehrte Verbrennungswärme nicht
zureicht, um das Krankheitsgift zu zerstören; er kann aber auch der
allzu starken Wärmeentwicklung und ihren Rückwirkungen erliegen.
Dasjenige Gebiet der Pathologie, das durch den allgemeineren Charak-
ter der Erscheinungen in gewissem Sinne einen gemeinsamen Boden für
die Betrachtung der durch spezifische Infektionsgifte erzeugten Störungen
abgibt, ist die Theorie der Entzündung. Denn die Entzündung
ist eine Reaktion, die stärkeren Eingriffen in den Zusammenhang der
Gewebe und ihrer Funktionen zu folgen pflegt, und die sich daher sehr
häufig auch mit den durch spezifische Infektionen verursachten Stö-
rungen verbindet. Hatte die alte Pathologie in der zunächst der Be-
obachtung sich bietenden Stauung des Blutes und ihrem Produkt,
dem Exsudat, und in dem diesen Erscheinungen vorausgehenden inneren
oder äußeren Reiz die Ursachen der Entzündung gesehen, so verlegte
die Zellularpathologie das Wesen der letzteren in die Gewebe selbst
und vor allem in die durch den Entzündungsreiz erzeugte Wucherung
der Gewebszellen. Als dann die Wanderung der farblosen Blutzellen
durch die Wände der Kapillargefäße und die Zunahme dieses Wande-
rungsprozesses infolge der Entzündungsstauung entdeckt wurde, be-
gann man die eigentliche Ursache der Störung in der Vermehrung der
im Blute enthaltenen Leukozyten zu sehen. Als die Ursprungsstätten
des entzündlichen Exsudates erschienen aber infolgedessen wiederum
nicht mehr die entzündeten Gewebe, sondern die allgemeinen Organe
der Leukozytenbildung: die Milz, die Lymphdrüsen, das Knochenmark*).
Die fortschreitende Beobachtung hat dann freilich zwar nicht die
*) Virchow, Zellularpathologie*, S. 371 ff. Cohnheim, Virchows
Archiv f. pathol. Anatomie und Physiologie, Bd. 40, 1867.
Störungen der Lebensvorgänge. 631
Beobachtungsgrundlagen dieser Theorie erschüttert, aber doch die
Erscheinungen in dem erkrankten Gewebe nicht vollständig aus ihr
abzuleiten vermocht. So ist allmählich eine vermittelnde Auffassung zur
Vorherrschaft gelangt, die neben jenen Wanderungserscheinungen eine
Umwandlung der Eigenschaften des entzündeten Gewebes statuiert,
die als eine Art Rückkehr der Zellen und wahrscheinlich auch der
aus den Zellen hervorgegangenen und mit ihnen fortan in lebendiger
Wechselwirkung stehenden Interzellularsubstanz auf eine embryonale
Stufe der Entwicklungsfähigkeit gedeutet werden kann*). Auch hier
zieht nun aber der lokale Prozeß, wenn er nicht selbst schon auf der
Grundlage einer allgemeinen Intoxikation entstanden ist, sobald er
eine größere Ausdehnung gewinnt, den Gesamtorganismus in Mit-
leidenschaft. Auf der einen Seite werden die Entzündungsprodukte
in die Lymph- oder in selteneren Fällen in die Blutgefäße aufgenommen,
um entweder in den Lymphdrüsen einer langsamen, durch die hier er-
regte Funktionssteigerung bewirkten Assimilation anheimzufallen, oder
aber hier wie in weiteren Organen sekundäre Entzündungsprozesse an-
zuregen. Auf der anderen Seite kann die Entzündung den den Organis-
mus überall umgebenden und namentlich auf seiner Körperfläche
lebenden Mikroorganismen die Wege in die Blut- und Lymphbahn
öffnen und auf diese Weise eine septische Allgemeininfektion hervor-
rufen, die wiederum mit den einer solchen sich beigesellenden febrilen
Allgemeinreaktionen verbunden ist. So fügen sich auch diese Erschei-
nungen in das Schema jener mit den lokalen Ausgleichungen durch
Exsudaterguß und vermehrte Leukozytenbildung beginnenden und
mit der fermentzerstörenden Temperatursteigerung endenden Selbst-
regulierungen ein, die das Wesen eines jeden akut verlaufenden Krank-
heitsprozesses ausmachen.
e. Die abnormen Neubildungen.
Wie in diesen Fällen durch Unter- oder Überkompensation das
Leben bedroht wird, so ist nun jedes chronische Siechtum im letzten
Grunde gleichfalls eine durch allgemeingültige physiologische Bedin-
gungen gesetzte Störung in dem Gleichgewicht antagonistischer Pro-
zesse, das mit reaktiven Selbstregulierungen verbunden zu sein pflegt.
Aber solche Selbstregulierungen sind in diesem Fall unzulänglich,
bis sie schließlich völlig versagen. Ein für die Entwicklung der patho-
*) Vgl. Julius Weiß, Beiträge zur Entzündungslehre. Eine histo-
rische Studie, 1893.
632 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
logischen Anschauungen besonders bezeichnendes Beispiel bietet hier das
Gebiet der bösartigen Geschwülste. Nach ihren Ursachen wie
nach der morphologischen Bedeutung ihrer Elementarstrukturen bilden
sie noch immer ein Gebiet streitender Hypothesen, auf dem bis jetzt
im wesentlichen wiederum Analogien mit anderen, bekannteren Er-
scheinungen maßgebend sind.
Die mikroskopische Untersuchung lehrt die Karzinome als Ge-
websformen kennen, die den embryonalen Bildungen verwandt erscheinen.
Nimmt man nun als Ursache des oft enormen Wachstums dieser Neu-
bildungen eine embryonale Spaltungsfähigkeit der Zellen an, so liegt es
nahe, die Anlage zur Erkrankung entweder in wirklich persistierenden
Embryonalzellen zu sehen, die in irgend einer späteren Periode des
Lebens, namentlich etwa unter dem Einfluß verminderter Resistenz
der umgebenden Gewebe, zur Entwicklung gelangten, oder aber eine
Störung des normalen Zellenstoffwechsels im Sinne einer durch irgend-
welche Reize verursachten Wiederkehr der embryonalen Spaltungs-
fähigkeit zu vermuten. Eine Bestätigung der ersten dieser Hypothesen
glaubte Cohnheim darin zu finden, daß die Geschwülste in dem all-
gemeinen Typus ihrer Gewebsform meist dem umgebenden Gewebe
homolog sind und vorzugsweise an solchen Orten des Körpers auftreten,
an denen wegen bestimmter Komplikationen der Entwicklung eine
überschüssige Ablagerung von Embryonalzellen begreiflich erscheine*).
Auf der anderen Seite kann schon die äußere Form der Geschwülste
leicht den Gedanken an eine parasitische Bildung erwecken, und diese
früher unter dem Einfluß vorherrschend humoral- und zellularpatho-
logischer Anschauungen zurückgedrängte Analogie erhob sich natur-
gemäß mit verstärkter Macht, als durch die Fortschritte der Bakterio-
logie und der Protozoenkunde die Mikroorganismen mehr und mehr die
Bedeutung allgemeiner Krankheitserreger zu gewinnen schienen. Auch
die embryonalen Zellenformen der meisten Geschwülste standen dieser
Deutung nichtim Wege, da ja die embryonalen Elemente des Organismus
morphologisch von Protozoen nicht wesentlich verschieden sind. Welche
dieser Hypothesen aber recht behält, steht dahin, so lange die als Träger
der Infektion vermuteten Mikroben noch nicht nachgewiesen sind, wäh-
rend die Möglichkeit einer Übertragung durch Impfung und Transplan-
tation ebensogut im einen wie im anderen Sinne gedeutet werden kann.
*) Cohnheim, Vorlesungen über allgemeine Pathologie?, I, S. 744.
Über diese und andere noch immer weit divergierende Theorien orientiert die
Übersicht derselben kei von Dungernund Werner, Das Wesen der bös-
artigen Geschwülste, 1907, S. 126 ft.
EEE EEE EUR
Störungen der Lebensvorgänge. 633
Eben darum ist aber wohl auch die praktisch wichtige Frage, ob der
zerstörenden Wirkung der Neubildung durch irgendwelche antitoxische
Mittel begegnet werden könne, von dem Streit dieser Theorien nicht
unbedingt abhängig. Wie der normale Organismus giftige Enzyme
erzeugen und durch die von ihm gebildeten Antitoxine oder durch
andere Selbstregulierungen wieder zerstören kann, so ist es auch nicht
ausgeschlossen, daß in dem Körper gegen die in ihm entstehenden ab-
normen, ebensogut wie gegen die durch eingedrungene Mikroorganis-
men hervorgerufenen Neubildungen Gegengifte gefunden werden, die
die schädlichen Stoffe neutralisieren und die Gewebebildung wieder zu
ihrem normalen Gleichgewichtszustand zurückführen.
Vergegenwärtigen wir uns nochmals die hauptsächlichsten logischen
Hilfsmittel, die bei der Ausbildung der pathologischen Anschauungen
wirksam waren, so fällt, der Physiologie gegenüber, vor allem die große
Rolle der Analogie in die Augen. Dieser überwiegende Gebrauch
des im naturwissenschaftlichen Erfahrungsgebiet unvollkommensten
logischen Verfahrens beruht teils auf der Schwierigkeit der Probleme,
teils auf der verspäteten Einführung der experimentellen Beobachtung
am Tiere. Immerhin macht sich in dem Analogieverfahren selbst ein
deutlicher Fortschritt von der Aufstellung vieldeutiger Ähnlichkeiten
zur allmählichen Erkenntnis bestimmterer Beziehungen geltend, und
diese nehmen zugleich eine Form an, in der sie sich zu konkreten Fragen
gestalten, die Beobachtung und Experiment herausfordern. Auf diese
Weise schließt das Verfahren ab mit der Verifikation und Vervoll-
ständigung der ursprünglich nur durch Analogien gestützten Hypo-
thesen. Obgleich in keinem Gebiet der Pathologie dieser Weg ganz voll-
endet ist, so bietet doch namentlich die Infektionslehre schon jetzt
einzelne Beispiele, in denen die Methode wenigstens in Bezug aufeinen
der ursächlichen Faktoren, den äußeren Krankheitserreger, und in
manchen Fällen auch hinsichtlich der antitoxischen Gegenwirkungen
wohl einen gewissen Abschluß gefunden hat, während freilich gerade
hier andere Momente, wie die lokale und die individuelle Disposition,
noch der näheren Untersuchung bedürfen.
Die Auffassung vom Wesen der Krankheit hat sich jedoch in-
folge der wachsenden Berücksichtigung aller dieser ursächlichen Fak-
toren dergestalt erweitert, daß nur noch der allgemeine Begriff der
Störungundihrer Ausgleichung für sie übrig geblieben
ist. Liegt die Ursache eines von der Norm abweichenden Verlaufs
der Lebensvorgänge stets in irgend einer äußeren oder inneren Störung,
634 Die Hauptgebiete der Naturforschung.
die diese Vorgänge erfahren, so setzt sich dann der Krankheitsverlauf
selbst aus der Summe aller der Reaktionen zusammen, die vermöge
der natürlichen Lebenseigenschaften der Gewebe, Organe und ihrer
Elemente teils von selbst, teils infolge willkürlicher Einwirkungen,
denen sie ausgesetzt werden, entstehen. Diese Reaktionen sind im all-
gemeinen Selbstregulierungen, die, den überall während des normalen
Lebens stattfindenden gleichend, der durch die Störung gesetzten Ver-
änderung angepaßt sind. Ein Teil derselben ist daher auf die allmähliche
Überwindung und Beseitigung der störenden Agentien, ein anderer auf
die dauernde Anpassung des Organismus an diese gerichtet. Jenach dem
Verhältnis der Selbstregulierungen zueinander und zu den Störungs-
ursachen kann so entweder der gestörte wieder in den normalen Lebens-
vorgang einmünden, oder, sei es auf die Dauer, sei es für eine gewisse
Zeit, einen mit dem allgemeinen Fortbestehen des Lebens verträglichen
neuen Gleichgewichtszustand erreichen. Endlich können aber auch die
Selbstregulierungen ihrerseits Funktionsstörungen herbeiführen, durch
die sie die Bedeutung sekundärer Krankheitsursachen annehmen,
die sich mit den primär erzeugten verbinden oder, falls diese be-
seitigt sein sollten, einen neuen selbständigen Krankheitsverlauf be-
dingen.
an ar m u un de
Register.
Bearbeitet von Dr. Hans Lindau.
1. Namenverzeichnis.
Abbe, Ernst, 419. 546.
Abendroth, R., 448.
Ägyptische Mathematiker 127.
Aepinus 388,
Agassiz, L., 57 f. 571. 585.
d’Alembert 98. 217. 236. 246. 302. 318.
320. 330 fi. 339 f. 344 f.
Alexandrinische Astronomen 438.
Ampere, A. M., 87. 95. 389. 453. 471.
Anaxagoras 283.
Anaximenes 619.
Apelt 23.
Arabische Mathematiker 103. 105. 169.
Arago 389.
Archimedes 188. 190. 242. 270. 272.
306 ff. 416. 425 f.
d’Arcy 325. 327.
Aristoteles 20. 23. 53. 64. 270. 272 f.
283 ft. 292 f. 295 ff. 491. 561.
Arrhenius, S., 513. 525. 535. 560. 580.
629.
Ascherson 596.
Avogadro 516. 519 f.
Bacon, Francis, 20 fi. 86 f. 96. 98.
295 fi. 364. 385. 621.
Baumann, J.J., 120.
Bentham, J., 87. 95.
Bergmann 492. 502 f.
Berkeley 114. 121 fi.
Bernoulli, Daniel, 319. 325. 409.
—, Jakob, 319.
—, Johann, 213. 313. 409.
Berthelot 524.
Berthold, G., 577.
Berthollet 502 f. 527.
Berzelius 504. 512 £. 519. 596 f.
Bethe, A., 606.
Bischof, G., 360.
| Blumenbach, J. F., 570.
Bois Reymond, E. du, 554.
—, P. du, 114. 213. 236.
Boltzmann, L., 338 f. 342. 454.
Bolzano, B., 163.
Boscovich 453.
Boveri, Th., 610.
Boyle, Robert, 27. 74. 273. 383. 491.
520 f. 528.
Braun, Al., 56 f. 542.
Braune, W., 545.
Bredig 527. 552.
Bronn, H. G., 57. 542.
Brown 622.
Buchner, E., 559. 626.
Bunsen 420.
Bütschli, O., 596.
Buys-Ballot 473.
Cantor, G., 154. 163 £.
—+.M.;7.105.2128 8. 150.178. 87
308. 438.
Carlisle 503. 512.
Carnot, L. M.N., 340.
Carus 63.
Cassini 419.
Cauchy 449. 453 f.
Cavendish 73.
Chasles 195.
Chladni 371.
Clausius 75. 454. 485. 524.
Cohnheim 541. 630. 632.
Comte, Auguste, 87 ff. 95. 138.
Correns 558.
Cossmann, N., 562.
636 Namenverzeichnis.
Cotes 401.
Coulomb 392 ff. 449.
Cuvier 56. 58. 602.
Dalton 26. 503. 517. 528.
Dana 441.
Darwin 59. 363. 563. 571. 573 f. 580 ff.
601 f£.
Daubree, A., 360.
Davy, Humphry, 504.
Decandolle 53. 57. 507. 602.
Dedekind 154.
Demokrit 283. 285. 288. 292. 297. 452.
Descartes 96. 102. 106. 108 f. 114 ff.
119. 121. 169. 172 fi. 176. 202 ff. 207.
210: 273. 3197. 8322734312405
408 f. 606. 621.
Diels, H., 619.
Dirichlet 75. 83. 134. 137. 143.
Dolloud 382.
Dove 363.
Driesch, Hans, 562. 565. 575.
Dühring, E., 309.
Dulong 516. 521 f. 532.
Dumas 56. 506.
Dungern, von, 632.
Ehrenberg 63.
Ehrlich, P., 628 £.
Eimer, Th., 575.
Eisenlohr, A., 127.
Empedokles 283. 297. 619.
Endlicher 56.
Engel, Fr., 202.
Engelmann, Th. W., 554.
Epikur 284.
Euklid 10. 41. 67 ff. 76. 80. 83 fi. 107 fi.
116. 118. 120. 130. 134. 143. 179 ft.
187 f. 200. 313. 400 ft. 407. 409 f.
438.
Euler, Leonhard, 116. 217. 235 f. 248.
254. 315. 325. 327. 409 f.
Faraday 371 f. 380. 383 ff. 457. 461.
512. 518.
du Fay 388.
Fechner, G. Th., 372. 453. 472 f. 615.
Fischer, E., 551.
—, 0. 545.
—, 370.
Flemming 546. 610.
Fol 611.
Fontana 539.
Fourier 413. 449.
Franklin 388.
Fraunhofer 363. 420.
Fresnel 294. 449. 456.
Galen 561. 619.
Galilei, Galileo, 30. 270. 272 f. 287.
294 fi. 301. 304. 308 ff. 315 f. 320.
330 f. 342 f. 347. 362. 370. 378. 397.
401. 403. 408. 419. 469. 474. 486.
Galvani 384. 423. 557.
Gassendi 370.
Gauß 328. 470.
Gay-Lussac 74. 519 ft.
Gehler 393.
Geiser, C. F., 193.
Gerhardt 506.
Gilbert 272.
Graham 594.
Grasserie, Raoul de la, 88. 95. 98.
Graßmann, H., 103. 208.
Green 470.
Grimaldi 370.
Guldberg 527.
Haeckel, E., 563. 575. 603.
Hahnemann 6% f.
Haller 539. 605. 622.
Hamilton, W.R., 153. 159. 328 f. 345.
372.
Hankel, H., 129. 147. 178.
Harnack 84.
Hartmann, E. v., 565.
Harvey, William, 273. 539. 598.
Hauff 584.
Hegel 10. 64. 164. 288.
Helm, G., 430.
Helmholtz, H., 323. 379. 432. 458. 461.
477. 524. 589. 615.
Helmont, van, 620. 623.
Henle, J., 623.
Hensen, V., 570. 614.
Heraklit 283.
Herbart 238.
Heron von Alexandrien 272.
Herschel, John, 385.
Hertwig, Herm., 444.
—, 0, 610 £.
—, R., 598.
Hertz, H., 329. 342. 345. 372. 456.
Hettner, Alfr., 88 f. 98.
Hipparch 270. 272. 426.
Hippokrates 619. 621.
His, W., 572. 578. 610.
Hobbes, Th., 119 f. 1227
en on
Namenverzeichnis,
Hoff, K.E. A. von, 584.
zei vmt, 352: 513 515: 521£
525 ff.
Hofmeister, F., 551. 580. 597.
Humboldt, A. v., 127.
Hume, D., 122 f.
Huygens 293. 313. 315. 318 f. 322. 342.
400 f. 435. 449.
Indische Mathematiker 105.
Ingenhouss 587.
Isenkrahe 455.
Jacobi 262. 328. 392.
Jenner 626.
Jevons 23.
Jussien 53.
Kant 23. 82. 96. 117 ff. 121. 126. 138.
142. 153. 165. 177. 448. 453. 466.
481 fi. 584.
Kaufmann, W., 346.
Kepler 27 ff. 77. 273 f. 295 f. 324. 358.
362. 397.
Kirchhoff 302. 334. 363. 367. 420. 456.
Klein, Felix, 202.
Knight 556.
Koch, Rob., 624.
König, Edm., 432.
Kopernikus 273. 294 ft. 407 f. 419.
Kopp, H., 491. 519. 532.
Korn, A., 455.
Körner, Reinh., 58.
Kossak 137.
Kronecker, L., 152.
Krönig 454.
Lagrange 116. 235 ff. 249 ff. 256. 265.
318. 322. 325. 327. 330 fi. 339. 341.
354. 410 ff.
Langer, C., 524.
Laplace 449. 483 ff. 584. 587.
Laßwitz, Kurd, 449. 461.
Laurent 506.
Lavoisier 492. 494. 587. 608.
Lehmann, O., 595.
—, H.O,, 98.
Leibniz 96. 110. 115 f. 118 fi. 203.
210 f. 235 f. 241 ff. 319 f. 342 ff. 346.
432. 451. 477. 484.
Lenard, P., 450.
Leuwenhoek 419.
Liebig 386. 505.
Linne 43. 51 ft, 507.
Lissajous 424.
Lloyd 372.
637
Locke 120 f. 123.
Lockyer, J. N., 532.
Loeb, Jacques, 557. 576. 584. 598.
Lorentz, H. A., 536.
Lotze 831.
Lukas, F., 606.
Lyell 584.
Mach 301 f. 432.
Maclaurin 246.
Matthießen, L., 169.
Maupertuis 326.
Maxwell, Clerk, 304 f. 372. 414. 449 £.
454. 457 f.
Mayer, Ad., 326.
—, G. H., 579.
—, Robert, 432. 477. 589.
Melloni 371.
Mendelejeff 530.
Mersenne 272.
Metschnikoff 627 ff.
Meyer, W.Fr., 202.
—, 0. E., 461.
—, Lothar, 519. 527. 530.
—, Viktor, 524.
Mill, John Stuart, 22 f. 42. 119. 123.
126. 138. 144. 385.
Moebius, A. F., 208.
Müller, Herm., 581.
—, Joh., 562.
Musschenbroek 380.
Nägeli 546. 574. 594.
Naumann 360.
Navier 449.
Nernst, W., 525.
Neumann, C., 452. 486.
—, F., 522.
Newton 10. 28 ff. 36. 73. 76 f. 103.
109 f#. 195. 235ff. 246 f. 273. 293.
313 f. 322. 324. 329. 331. 342. 362.
374 fi. 379. 381 f. 400 ff. 407. 410.
429. 446. 449. 451. 464. 469. 471.
474. 486. 502.
Nicholson 503. 512.
Nikomedes 188.
Oersted 370. 380. 389.
Ohm 372.
Oken 593.
Ostwald, W., 430 f. 445. 510. 520. 524.
Paracelsus 273. 620 f. 625. 629.
Pascal 200.
Pasteur 625 f.
Peripatetiker 561.
638 Namenverzeichnis.
Petit 516. 521 f. 532. Spinoza 82. 84.
Pettenkofer, Max, 624. Sprengel, Kurt, 621.
Pfeffer, W., 352. 544. 547. 549. 556. | Staudt, K. G. Chr. v., 191.
576. 578 f. 591. Steiner, Jakob, 186. 193. 199 f.
Pfüüger 551. 557. 568. 576. 604. 607 ff. | Steinthal 63.
617. Stoiker 561.
Planck, Max, 430. 432. Sydenham 621 f.
Plateau 359 f. Symmer, Rob., 388.
Plato 15. 58. 102. 107. 109. 114. 179.
272. 283. 403. 561. Tait 323. 328.
Poggendorff 375. Thomsen, Julius, 524.
Poincare 457. Thomson, J.J., 323. 328. 346. 450. 535.
Poinsot 337. —, W., 458. 615.
Poisson 449. 472. Traube, M., 596.
Preston, S. T., 455. Trendelenburg 79. 81.
Protagoras 292. Tycho 425.
Prout 529 f. 533 f.
Ptolemäus 272. 294. 407. Verworn, M., 548. 576.
Pythagoras 70. 102. 129. 181 £. Virchow, R., 598. 622. 629 £.
Voit 551.
Rädl 572. Volkmann, P., 457.
Ramsay, W., 533. Volta 384. 390 f. 423. 504. 557.
Ratzel, Fr., 584. Voß,A. 287
Rauber, A., 578. Vries, Hugo de, 574. 583.
Reinke, J., 562. 575.
Richter, H. E., 615. Waage 527.
Rickert 95. Wallace 581.
Riemann, B., 103. 217. 262. Wallis 321. 401.
Ritter, Karl, 54. 93 £. Weber, Gebr., 370.
Röntgen, H. C., 370. 533. —, Ed., 545.
Roux, W., 547. 575. 578. —, H. F., 521.
Rutherford 450, 533. —, W., 452. 471.
Weierstraß 137. 213.
Sachs, Jul., 57. 547. 549. Weigert, C., 628.
Saussure 587. Weismann, A., 573 ff. 613.
Schelling 288. 542. Weiß, Julius, 631.
Schimper, C., 56 f. 542. Wenzel 492.
Schleiden 593. Werner 508. 632.
Schneider, K. C., 562. 565. 575. Whewell 18. 271.
Schönlein 623. Wien, W., 346. 450.
Schopenhauer 565. Wiener, O., 546.
Schröder, Ernst, 135. Wilhelmy 352. 526.
Schröter, H., 186. Wilke 388.
Schultze, Max, 594. Windelband 95.
Schwann, Th., 593 ft. Wislicenus, J., 515.
Schwartze, Th., 455. Wolff, Caspar Friedr., 572 f.
Schwendener 546. 578 f£. — , Christian, 315. 410.
Senebier 587. —, Julius, 579.
Sigwart 23. 81. Wren, 321. 401.
Snell 272. 383.
Spallanzani 539. Zeller, E., 152. 270.
Speck 551. Zeno 238 f.
Spencer, Herbert, 88. 573. Zeuner 350.
Sachregister.
II. Sachregister.
Abhängigkeit 7. 11. 67. 210. 212 f. 217.
233. 237. 255. 441; vgl. Funktion.
Abortus (Decandolle) 57.
Absolute Größe 162 ff.; absolute Maß-
bestimmungen 406.
Absorption 486.
Abstammungstheorie, polyphyletische
und monophyletische 601.
Abstraktion 1f. 4. 11 ff. 22. 24. 27 f. 38.
49. 65. 356. 361. 367; isolierende A.
12 f. 30. 38. 49. 361. 364 f. 395.
397 ff. 468. 513.515; generalisierende
A. 12f. 26 f. 38. 49. 132. 137. 142 ff.
364 f. 397 f. 463 600; mathema-
tische A. 107. 113 ff. 120. 236. 481;
physikalische A. 394 ff.; chemische
A. 513 ff.
Abstufung 21 f. 497 ff. 506. 516. 555 f.
Abszissen und Ordinaten 241. 244.
Abzählen 149.
Addition 101. 111. 132 ff. 138. 144.
147. 155. 157. 161 f. 167. 206 ff. 211.
209. 254. 1.:257..305.
Affinität 489. 492. 495 ff. 520. 523.
525 fl. 534 f. 541. 551. 591. 615;
Größe und Richtung 504.
Aggregation 608.
Akklimatisation 579 f.
Aktives und passives Verhalten, Tier
und Pflanze 604.
Akustik, Grundlagen 272; akustische
Instrumente 417. 421 f.
Alchemie 513.
Algebra 103. 108; Symbolik 109; A.
und Anschauung 116; algebraische
Operationen 165 ff. ; algebraische Geo-
metrie 202 ff.
Algorithmus, mathematischer 104.
Alibibeweis 79.
Allgemeinbegriffe 15 f. 19. 21. 45. 60.
Allgemeingültigkeit 68. 113.
Allgemeinheit, Grade 25. 381; mathe-
matische A. 262. 267; A. der Zahl-
gesetze 166.
Analogie 515 f. 522. 529 f. 573. 577.
593 f. 597. 607. 623 f.; exakte A.
143 ff. 160f.; analoge und homologe
Charaktere 602.
Analyse 1 ff. 11. 356. 361. 364. 368 ff.
588 f. 592. 627 f. 632 f.; elementare
‚A. 3f. 7; kausale A. 4 ff. 8. 496;
logische A. 6 ff.; mathematische Ana-
lysis 39. 61. 103. 105 ff. 112. 156.
166. 176. 200 ff. 210. 387. 404. 409 ft.
436. 438. 451; A. bei Leibniz 116.
119; morphologische A. 541 ff.; A.
der Wahrnehmung, Hilfsmittel 417 ff. ;
qualitative A. 491. 495 f.; quanti-
tative A. 492 f. 495 f. 503; stufen-
weise A. 496 tf. 506. 516.
Anatomie 539. 543 f. 622; A. u. Bio-
logie 279; vergleichende A. 365 f.;
Pflanzena. 594.
Anfangszustand der Welt 484.
Angeborene Ideen 115.
Animalkulisten 572.
Animismus 274. 561 f. 620.
Anlagen 573; Anlage zum Seelischen
617.
Anodenstrahlen 450. 533.
Anorganische Chemie 505. 508.
Anpassung 563. 571 f. 591; mecha-
nische A. 577 ff. 599; chemische A.
577. 579 f.; funktionelle A. 577.
580 ff. 588; A.smerkmale 602.
Anschaulichkeit 237 ff. 297. 304 ff. 348.
401 ff. 430 f. A51f. 459f. 463 ff. 479 f.;
A. überflüssig 300; A. als heuristi-
sches Prinzip 467.
Anschauung, Postulate 340; mathe-
matische A. 132 f. 135. 142; A. und
Algebra 116; A.sformen bei Kant
117 ff. 121. 126. 138. 177.
Ansteckung 615 f. 623.
Anthropogeographie 278.
Antikörper 580.
Antinomien, kosmologische 481 ft.
Anziehungserscheinungen 502 f.
Apagogischer Beweis 69. 78 ff. 108.
432.
Apperzeption 11. 45. 140; A. und Ideen
282.
Apriorismus bei Kant 117. 119.
Äquivalentgewicht 517 f. 529.
Aräometer 426.
Arbeit 323; A. bei Leibniz 320 f.; A.
u. Energie 429. 444. 474 f. 510; A,
und Wärme 551. 554. 590. 603;
A.smaschine, Nutzeffekt 590; A.stei-
lung 279.
Argumente der Funktion 210. 214.
219 ff.
640 Sachregister.
Arithmetik 102 ff. 111. 113; A. u. Geo-
metrie bei Leibniz 116; arithmetische
Methoden 147ff.; arithmetisches
Mittel und Beobachtungsfehler
439 f.
Art 60. 600; Konstanz 58; Entwicklung
6. 583. 585 f.; Erhaltung 570.
Assimilation 552. 559. 564. 579. 604.
628. 631; A.skraft 570; Wachstum
durch A. 593.
Assoziationsgesetz 134 f.
Ästhetik 98 f.
Astronomie, Grundlagen 270. 272 f.;
Aufgabe 277f.; A. und Fernrohr
419; älteste Hilfsmittel 425; alexan-
drinische A. 438; Zeitgrößen der A.
583.
Astrophysik, Aufgabe 277 f.
Äther 345 f. 397. 414. 450 f. 465 f.;
positive und negative Atome (W. We-
ber) 452; Körper- und A.-Atome 452.
454; Ä. als elastisches Medium 456;
als inkompressibel 456; Ä.-theorie
der Materie 465 f.
Atmung 589. 604. 610. 619; Chemismus
552; Selbststeuerung 564. 581; A.
als Verbrennungsvorgang 537.
Atom als unterer Grenzbegriff 478;
Atomistik 282 ff. 287. 297. 513. 561.
574; Atomistik und Kontinuitäts-
hypothese 448 ff.; dynamischeA. 451 ff.
460 f. 463. 479 f.; kinetische A. 454 f.
460; chemische A. 528 ff. 593; Hypo-
these der Uratome 528 fi.; Atom-
gewicht 517 ff. 528. 531; Atomvolum
531; Atomgruppierung 533 f.
Aufgaben und Theoreme bei Euklid
184.
Aufhebung der Funktion 558.
Auge 553.
Ausdehnung 269; stetige A. 105; A.s-
lehre 103.
Ausgleichung und Störung 581. 633 f.
Auslösung 576 f.; 599 £.
Ausschachtelung 611.
Ausschaltung des Psychischen 567. 586.
605 f.; A. des Wunders 606.
Ausschließung 78f.; ausgeschlossenes
Drittes 78 f.
Axiome 22. 33f. 66 f. 70. 75. 78 f. 108.
113. 116. 118. 120. 123£. 131 £. 143 ff.
179 f. 401 ff. 410. 432; A. bei Galilei
296. 301. 304. 311£.; A. bei Newton
314. 322.
Bakteriologie 623 fi. 632.
Barometer 423. 426 f.
Basis der Exponentialfunktion 225.
Bastardierung 558. 582. 585.
Bazillen 559. 624. 628.
Bedeutungswechsel 16 f.
Bedingung und Umstand 359; Kompli-
kation der Bedingungen 384; Grada-
tion 555; Elimination und Gradation
385 f.; B.surteil 8. 25 f. 109.
Befruchtung 539. 548. 574 f. 598. 600.
611. 613.
Begreiflichkeit 459; subjektive B. 287 £.
290. 292; objektive und subjektive
B. 467.
Begriff und Abstraktion 39 f.; begriff-
liche Behandlung der Naturerschei-
nungen 451. 461. 463. 466f. 480;
b. Natur der mathematischen Ideen
bei Leibniz 116; B.sanalyse 34 ff.
Beharrungsprinzip 295. 309 ff. 314 ff.
320. 324. 340. 408. 432.
Benennung 16.
Beobachtung 633; exakte B. 415£.;
physikalische 417 ff.
Beschreibung 3. 45. 302ff. 345. 358.
363. 365 ff. 507. 546: B. und Klassi-
fikation 50 ff. 58. 62; B. und gene-
tische Definition 188; exakte B. 367.
378. 384; beschreibende Wissenschaft
g1f. 365. 507.
Beseelung und Leben 618.
Beugung 382. 337.
Bewegung zur Figurenerzeugung 189f.;
wirkliche und scheinbare B. 401;
absolute und relative B, 317. 340;
periodische B. 434 ff.; spontane B.
593; B. u. Empfindung 604 f.; B. der
Protozoen 606; B. bei Aristoteles 286;
bei Galilei und Newton 316 £.; bei
Kant 117; bei Zeno 238 £.; B. u. Difte-
rentialbegriff bei Newton 235. 237 ff.;
Erhaltung der Quantität der B. 408;
B.senergie 349f. 430 ff.; B.sgesetze
396; vgl. Mechanik, Dynamik, Phoro-
nomie.
Beweis 2. 10. 40. 65 ff. 108. 112. 133.
181; direkte B.formen 69 ff. ; indirekte
B.formen 69. 78ff. 108. 432; syn-
thetischer Deduktionsbeweis 70 ff.
108f.; analytischer B. 70ff. 108 £.;
kategorisch analytischer B. 71£.;
hypothetisch analytischer B. 71 ff.;
Induktionsbeweis 72. 75 ff. 79; theo-
Sachregister.
retischer I. 75 ff.; praktischer I. 75.
77f.; gemischtes Verfahren 76£.;
disjunktiver indirekter B. 79 ff.; kon-
trärer i. B. 79 ff.; kontradiktorischer
i. B. 79 ff. 84; ontologische Beweise
410; Zirkelb. 432. Vgl. auch Demon-
stration.
Bewußtseinsvorgänge 565 f.; 605 f.
Beziehungen, Variation der B. 175 f.
Bildungstrieb 570.
Binäre chemische Verbindungen 497.
499 f. 504. 515.
Biologie 100. 368. 419. 539 ff.; Aufgabe
276 f.; Gliederung 279; B. und
Pflanzen- und Tiergeographie 278;
B. und Psychologie 605 f. 618.
Biophoren 573.
Biquadratische Gleichungen 176.
Blattstellung 578.
Blutkreislauf 539. 587.
Botanik 365 f.
Brechung 372. 383. 387; B.sindizes 443.
Bruchzahlen 150. 153. 155. 267.
Chemie 100. 368; Grundlagen 273;
Aufgabe 276 f. 489 ff.; systematische
undphänomenologischeUntersuchung
280; Gliederung 278 ff.; organische
Ch. 497f.; anorganische Ch. 505.
508; wissenschaftliches Stadium 587;
Logik 489 ff.; chemische Analyse 3.
491 ff.; chemische Synthese 491. 496.
498 ff.; Ch. u. Geologie 278; chemische
Anpassung 577. 579 £.; Typen 56. 59.
Chemismus des Protoplasma 596 ff.
Chemotropismus 576.
Chlorophyllatmung 604.
Cholera 624.
Chorologie 93. 278.
Chronometer 434 f.
Chronoskop 435.
Darstellungs- und Forschungsmethoden
110f. Vgl. Demonstration.
Deduktion 1 ff. 23. 30 ff.; 49. 65 ff. 107.
112. 356. 368. 383. 387 f. 393. 400 ff.
438. 448 f. 451. 454. 468. 478f. 485;
synthetische D. 32ff. 400 ff.; ana-
Iytische D. 32 ff. 400. 404 ff.; mathe-
matische D. 113. 116. 133£. 137.
143 ff.; chemische D. 501. 513 fl.
Definition 1. 7. 33f. 40 ff. 66 £. 70. 84.
108. 113. 116. 118. 120. 123£. 131.
142. 179. 181. 204. 345. 401f. 410;
Wundt, Logik, I 3. Aufl,
641
analytische D. 45f. 60; synthetische
D. 45ff.; genetische D. 46f. 188;
deskriptive D. 45 ff.; gemischte D. 47;
D.sgleichung 349; D. beiNewton314ff.
Demonstration 2. 65 ff. 400 ff. 407. 438;
D.en Euklids 116. 118; vgl. auch Be-
weis.
Derivierte Funktion (Lagrange) 235.
249 ff. 268.
Deskriptiver Zweck der elementaren
Analyse 3; deskriptive Definition 45 ff. ;
d. Klassifikation 50ff. 58. 62; d.
Wissenschaft 91f. 365. 507. Vgl.
Beschreibung.
Destillation 493 f.
Deszendenztheorie 606; vgl. Entwick-
lungslehre.
Determination 1f. 17 ff.; 151. 356. 361;
generalisierende D. 12ff.; determi-
nierende Induktion 406 f.; Kolligation
18f. 364f. 395. 398f. 515; Spezi-
fikation 18.
Dezimalsystem 148 ft.
Dialektik 10. 285. 238.
Dialogform 403.
Dichotomie 62 ff. 87£.
Dichtigkeitsabnahme,
456 f.
Dielektrika 457.
Differentialbegriff 213. 233 ff.; phoro-
nomischer D. (Newton) 237f. 251;
geometrischer D. (Leibniz) 235. 241 ff.
251; arithmetischer D. 247 ff. 251.
254; Differentialgleichung 411.
Differenz, sexuelle und individuelle D.
614; Differenzierung 571; D. der
Funktionen 585; Differenzmethode
385 f.
Diffusion 494. 510 ff. 553. 595.
Ding 44f.
Disjunktives Urteil 7. 47. 78ff.; dis-
junktiver Schluß 23; d. indirekter
Beweis 79 ff.
Diskrete Zahl 105.
Dissimilation 552. 559. 564. 579. 628.
Dissipation 533.
Dissoziation 510. 523 ff. 532.
Distributionsgesetz 135.
Division 111. 127. 137. 145. 149. 157.
161. 167. 170. 203. 207. 211. 222.
257. 267; D. bei Euler 248.
Doppelbrechung 594.
Doppelmedium; Körper- und Äther-
punkte 454,
unendliche D.
4l
642
Drehwage 426 f.
Dreiteilung 62. 64. 88f.
Dualismus 561.
Dualität der Gebilde 199.
Duodezimalsystem 149.
Durchschneidung 188f. 193. 556-
Durchschnittswert, idealer D. 440 f.
Dynamik 410 f£.; D. bei Galilei 308 ff.
331; bei Lagrange 331 ff. 339; bei
d’Alembert 331 ff. 339 f. 344; physi-
kalische (konkrete) D. 342; chemische
D. 490. 509 f. 512. 515 ff.; dynamische
Atomistik 451ff. 460f. 463. 479f.;
d. Theorie der Entwicklung 574 ff.
Dynamis bei Aristoteles 237.
Ei, Furchung 598; omne vivum ex ovo
598; Eiweißkörper 549 ff.; genuines
Eiweiß 595. 597; Eizelle 611.
Eigenschaft und Vorgang 552f. 569;
E.sbezeichnung 43.
Einbildungskraft, reine 118. 126.
Einfachheit 125. 295 ff. 300f. 342 ff.
348. 409. 412. 454. 470. 593; lex
simplieitatis in der Mathematik 125.
Einheit 125. 229; E. und Zahlsystem
155 £.; willkürliche Messungseinheit
442.
Einschachtelung 611.
Einteilung 47ff.; E.sgründe 48f. 52.
60 ff. Vgl. Klassifikation.
Einzelwissenschaften undPhilosophie 99.
Elastizität 449. 452. 457. 461. 5521.
579; Kontakthypothese 450.
Elektrizitätstheorie 557; E. und Chemie
511f.; Geschwindigkeit der Elektri-
zität 443; Stromwiderstand 444;
Elektrizität und Lichtäther 452;
E. und Affinität 498 ff.; Zerlegung
durch den elektrischen Strom 494 f.;
elektrische Induktion (Faraday) 388 ff.
Elektrochemie 503 ff. 516. 525-
Elektrodynamische Einheit 446 £.; elek-
trodynamisches Grundgesetz 471.
Elektrolyse 512. 516.518. 524f.533. 535.
Elektromagnetismus 370 ff. 380. 384.
389 ff. 397. 413. ; elektromagnetische
Lichttheorie 372. 414. 431. 449.
455 ff. 465. 470. 536; e. Einheit 446 f.
Elektrometer 423.
Elektronen 346. 450. 465. 512f. 533 ff.
Elektrostatische Einheit 446 f.
Elementarorganismus 592 f.; Gesamt-
organismus und E. 598 ff.
Sachregister.
Elemente der Materie 478 ff; Elementen-
lehre 491; chemische E. 273. 528 £.
Elimination 11. 385 ff. 393 f. 555.
Ellipse 62. 190. 194. 197; elliptische
Funktion 266.
Emanation 534; E.serscheinungen 450;
E.shypothese 384.
Emission 486.
Empfindung und Bewegung 604f.; E.
und Gefühl 605 £.
Empirismus, mathematischer E. 114.
121. 123; empirische Entstehung der
mathematischen Begriffe 139; empi-
rische und rationelle Formeln 514;
empirische Unvollziehbarkeit des
Transfiniten 482. 488; empirisches
Gesetz 383. 387. 440; e. G. und all-
gemeinere Erfahrungsgesetze 25 ff.;
Empirie u. Spekulation 283.
Endemische Krankheiten 624.
Endlichkeit und Unendlichkeit 480 ff.;
E. und Meßbarkeit 487 f.; endlos und
überendlich 164.
Energetik, chemische 510 f.
Energie 429. 444f. 474; E. bei Ari-
stoteles 287; aktuelle (kinetische,
lebendige Kraft) 321. 324. 429 f.
475 f. 590 f. 603; potentielle (E. der
Lage, Spannkraft) 324. 349f. 429.
475 f. 478. 590 f. 603; E.gesetze 469.
474 ff. 483 f. 486. 508 ff.; Erhaltung
der E. 319. 323. 411. 431 f. 446. 461.
476. 483. 437 £. 510. 588 ff.; strahlende
E. 431; E. und Arbeit 474 f.; E.glei-
chungen 349. 352 ff.; E. nicht Maß-
element, aber Maßfaktor 445.
Entdeckung und Zufall 369 f.
Entropie 485.
Entwicklung 6. 15. 94. 548. 591; E.s-
fähigkeit 611; E.sgeschichte 541;
E.slehre 59. 601 f.; E.smechanik 575;
stetige Übergänge 604; E. der Arten
568; E.sgesetz 571ff.; Periodizität
575. 600. 610.
Entzündung 630 f.
Enzyme 551 f. 568. 580. 597. 628 f. 633.
Epidemien 624.
Epigenesis 572 f. 575. 599.
Erdrotation, Zeit 434.
Erfahrung und Mathematik 124. 127;
E.standpunkt 273. Vgl. Empirismus.
Erhaltungsprinzipien 319 ff.; Erhaltung
der Energie 319. 323. 411, 4311.
446. 461. 476. 483. 487 f. 510. 588 ff. ;
Sachregister.
E. der Flächen 323f. 411; E. des
Schwerpunkts 321 f. 325. 411; E. der
Quantität der Bewegung 321£. 325.
Erkenntnisnormen 482; Erkenntnis-
theorie 97. 538; subjektivistische E.
299 f.; E. u. Materie 463. 468.
Erklärung 4. 19. 91 f. 280. 303. 365 ff.
507. 540. 542. 570. 600 ff.; genetische
E. 59; E. abgelehnt 302.
Ernährung 574. 591; E.sflüssigkeiten
621.
Erneuerung des Lebens 613f.; E. und
Zersetzung 608.
Erzählung 366.
Erzeugung des Unendlichen 164.
Ethik 98 f.
Evidenz, mathematische 122.
Evolution 572 f. 575. 599, 611.
Ewigkeit des Lebens 615.
Exaktheit und subjektive Willkür 114;
exakte Beobachtung 270 ff. 356 ff.
415 f.; e. Beschreibung 367. 378. 384;
e. Messung 424. 427. 433. 436; e.
Naturwissenschaft 275. 295 ff.
Exemplifizierender Subsumtionsschluß
24.
Exhaustionsmethode 164. 242.
Exkretion 609.
Experiment 4. 7. 34. 69. 73. 133f. 294.
297. 307 £. 345. 356 ff. 368. 372. TA ff.
385. 388. 405. 416f. 420. 437. 507.
5l5. 554 f. 557 ff. 568. 585. 596. 616.
622. 633; experimentum crucis 376.
378; experimentelle Methodik 21;
E. und Willkür 34f.; analytische
Form 5; synthetische Form 9f.; ex-
perimentelle Physik 275f.; e. Mor-
phologie 543. 545 ff.
Exponentialfunktion 244 ff, 253. 257.
266. 268.
Exstirpation 556.
Fadenkreuz 419. 425.
Fall 30; bei Galilei 311. 313. 362. 378.
397; F.beschleunigung als Maß der
Schwere 445.
Familie 600.
Farbenlehre, Altertum u. Neuzeit 293 £.;
F.mischung 379 f. 382; F.zerstreuung
374 ff. 382. 420; pflanzliche und
tierische Farbstoffe 549; Färbungs-
methoden 545. 548.
Fäulnis 551. 616. 625. 629.
Federwage 426 f.
643
Fehlerquellen der Beobachtung 439.
Feldmessung 105. 437.
Fermentation 526. 559. 597 f. 610. 628.;
organisierte Fermente 625 f.
Fernewirkung 397. 414. 451. 453. 455.
457. 460 ff. 469 ff.
Fernrohr 416 ff. 425.
Filtration 494.
Fläche 193 f.; Erhaltung der Flächen
323 f. 411.
Flaschenzug 335 ff. 341.
Fluenten 237 ff.
Fluidum, bypothetisches F. 621.
Flüssigkeiten 553 f.; chemisches Ver-
halten flüssiger Körper 521.
Fluxionsmethode (Newton) 235. 238 ff.
247. 253 f.
Form 284 f.; F. bei Bacon 21; Form-
wissenschaft 90; Formenlehre 103.
Formeln, empirische und rationelle F,
514.
Forschungs- und Darstellungsmethoden
110 £.
Fortpflanzung 570. 574. 593. 601. 608.
610. 613 f.; Kampf um die F, 586.
Fraunhofersche Linien 420.
Funktion 11. 46. 137. 168 ff. 351 X.
387. All ff. 440. 451. 454. 469 ff. 553;
Theorie 146; willkürliche F. 216 f.
233. 351 f.; implizite und explizite
219, transzendente F. 203. 210. 224.
231. 233 f. 268; analytische F. 210 f.;
primäre und derivierte F. 235. 249 ff.
256. 268; homogene ganze F. 62;
algebraische F. 222 f.; ganze und
gebrochene F. 222. 267 f.; logarith-
mische F, 226; komplexe F. 267 f.;
zyklometrische F. 253; trigonometri-
sche F. 253. 268; zahlentheoretische
F, 212; eindeutige und vieldeutige
F. 213 ff. 229 ff.; periodische F. 228;
Umkehrbarkeit 226; mechanische F.s-
analyse 545; physiologische und pa-
thologische F.sanalyse 554 ff.; funk-
tionelle Anpassung 577. 580 ff. 588;
f. und genetische Merkmale 602;
F.sübung 586; F.sstörungen 625 ff.;
Steigerung 556, Aufhebung 558; f.
Anpassung 621. 623. 625.
Furchung 598; F.skern 611; F.szellen
978.
Gärung 551. 559. 612. 616. 625. 628.
Gase 454 f. 519 f. 524 f. 553; Wägung
644
495; Ausdehnung der vollkommenen
Gase 516; Gaswechsel der grünen
Pflanzenteile 537. 589.
Gattung 13. 15. 17. 25. 28. 43. 60. 600;
determinierende Merkmale und Ab-
straktion von Bestimmungen 262.
Gefühl und Empfindung 605 ft.
Gegensatz, kontradiktorischer G. 62 ff.
78; konträrer G. 63; Einteilung nach
Gegensätzen bei Aristoteles 285;
Prinzip des logischen Gegensatzes
619 f.
Gegenstände und Vorgänge 91.
Geisteserzeugnis und Naturobjekt 95;
geistige Schöpfung 618; Geistes-
wissenschaften 37 f. 46. 90f. 94 ft.
99 f. 277; Vergleichung 54; Geistes-
wiss. und Anthropogeographie 278.
Generalisation 12 ff. 26 f. 38. 49.
132£. 137. 142 fi. 364 f. 397 f. 468.
600.
Generatio aequivoca 616.
Generation 557.
Generationskraft 570.
Generationslehre 570.
Genese, konstruktive und rekonstruktive
58; genetische Auffassung 16; g. De-
finition 46; g. Klassifikation 45 £. 50.
53. 62; g. Wissenschaft 94; g. Kon-
struktion 180. 187 fi.; g. und funk-
tionelle Bedeutung 602.
Geodätik 425.
Geognosie 365.
Geographie 366; Aufgabe 277 f.; physi-
kalische G. 278; Pflanzeng. 278;
Tierg. 278; Anthropog. 278.
Geologie 278; langsame Veränderungen
584 f.
Geometrie 102 £. 104 ff. 111 ff. 397. 400;
analytische G. 39. 61. 103. 105 f.
112. 156. 166. 176. 200 ff. 210. 337.
404. 409 fi. 436. 438. 451; synthe-
tische G. 10. 131f. 196 ff.; algebrai-
sche Behandlung 116. 202 f£.; met-
rische G. 200 f. 402; praktische G.
127 £.; geometrische Methoden 177 ff.;
g. Konstruktion 437 f.; g. Abstraktion
481; G. als Naturwissenschaft 138,
geometrisches Objekt und Differential-
begriff (Leibniz) 235. 241 f.; G. in-
tensiver Raumgrößen (Statik) 308.
Geophysik, Aufgabe 277 f.
Geotropismus 576.
Gerade 125f. 140 f. 189 ff. 195 ff. 206 ft.
Sachregister.
289; G. und Winkel als Maßelemente
424 f. 433. 437 ff. 442 f.
Gesamtorganismus und Elementarorga-
nismus 598 ff.
Geschichte 95. 278; Philosophie d.G.98 £.
Geschlechtsdifferenz 613 f.
Geschwindigkeit, momentane G. 239 £.
253 f.; G.sbestimmung 443 ff.; Prin-
zip der virtuellen G. (Lagrange) 410 f.
Geschwülste 632.
Gesetze 13. 21. 25. 92; G. und Induk-
tion 39 f.; Formulierung 41; empiri-
sche G. 383. 387. 440; G. und Vor-
aussetzungen 406.
Gestaltungsgesetze (Bronn) 57.
Gewebebildung 550. 552. 632 f.
Gewichtsmessung 424 ff. 433. 436. 442 ff.
Gift und Gegengift 559 f.; G.wirkungen
623. 628; Homöopathie 627.
Gleichförmigkeit, Axiom 22; G. der
Zahlgesetze 144.
Gleichgewicht 411, vgl. Statik; physio-
logisches G. 607 f.
Gleichungen 166 ff. 348 ff.; algebraische
G. und chemische Operationsformel
514; thermische G. 523 £.
Gliederung s. Klassifikation.
Gnomon 178. 416.
Gradation 385 ff. 393. 555; Grade bei
Bacon 21 f.
Gradmessung 442.
Gramm 442 f.
Graphische Darstellung 440 f.
Gravitation 28 f. 40. 73. 273. 306 f.
315. 358. 362. 397. 399. 446. 464.
469; fernewirkende Kraft 451. 454 £.
469; endliche Fernewirkungen 461 f.;
Zeitfaktor der Fortpflanzung 455.
462f. 486. 488; Einfluß der G.stheorie
auf die Chemie 502 f. 506. 621.
Grenzbegriffe 60. 236 f. 478 ff.; Grenz-
methode 246 f. 254 f.; Grenzen der
Vermehrung des Wachstums 600.
Größe 44. 131. 138. 143. 151. 165; ver-
änderliche G. 162. 168. 170; unend-
lich kleine G. (Leibniz) 241 ff.; G.n-
lehre 102; direkte und indirekte G.n-
messung 101 f£.
Grundform 56.
Härte, absolute H. 452; Härtungs-
methoden 545.
Hebel 286. 307. 312 f. 335. 426; H.wage
496 f.
Sachregister.
Heilkunde 618 ff.
Heliotropismus 576.
Helium 533 f.
Hemmung und Reizung 612.
Herzbewegung 610.
Heuristische Prinzipien der Naturfor-
schung 281 ff. 299 ff.
Hilfskonstruktion 183 ff.
Himmelsmechanik 278.
Homologe und analoge Charaktere 602.
Homöopathie 627.
Humoralpathologie 619 ff. 625. 632.
Hydraulisches Prinzip 544.
Hydrodynamik 341. 413. 460. 463.
Hydrostatik 411f. 521; hydrostatische
Wage 426; hydrostatischer Druck
444.
Hylozoismus 561. 615. 618.
Hyperbel 62. 190 f. 193 f. 197 £.
Hyperelliptische Integrale 266 f.
Hypostasierung 565.
Hypothesen 24. 29 f. 34. 38. 47. 58 f.
Bat. 71.83. 97. 134. 177.278.
275 f. 284. 287. 290 f. 294. 296 ff.
345. 347. 354. 360. 362 f. 372. 381.
388. 393. 395. 399. 407 ff. 430 ff. 438.
447 f. 492. 501 ff. 512. 515 fl. 528 ff.
500. 554. 569. 574 ff. 587. 592 ff. 597.
615 f. 620 f. 623. 628. 632 f.; allge-
meine Regel 467 f.; Vermutungen
und H. 383 f.; H. und Tatsachen
297 f£.; provisorische H. 383 ff. 394.
559. 573; definitive H. 291. 538;
hypothetischer Charakter der Mathe-
matik 114. 123 f.; Streit der H. 539.
Iatromechanische Schule 273. 568. 587 £.
606. 619. 621.
Idealismus, mathematischer 114.
Ideen und Apperzeption 282; I.lehre
Platos 15. 58. 114.
Iden 573.
Identität 167. 221.
Imaginäre Größen 145. 152. 156 f. 159.
171. 209. 230 ff.; i. Spekulation der
Mathematik 123 f.
Immunität durch Impfung 624. 626 fi.
632; Methoden der Immunisierung
559 f.
Impfung 624. 626 ff. 632.
Imponderabilien 345 f. 389; imponde-
rables Fluidum 449. 452.
Individuum 60. 600; algebraischer In-
dividualbegriff 61.
645
Indizienbeweis 66. 78.
Induktion 1 ff. 13. 20 ff. 49. 65 ff.
307. 356. 365. 368. 447. 621; I. bei
Bacon 296; I.sbeweis 66; Stufen 25;
vollständige I. 20. 22f. 134. 137. 143;
verifizierende I. 406 f. 409; determi-
nierende ]J. 406 f.; mathematische I.
107. 113 ff.; physikalische I. 374.
381 ff.; elektrische I. 388 ff.; chemi-
sche I. 490 f. 496. 498. 501 ff. 514.
Infektion 558 f. 615 f. 623 ft.
Infinit (unvollendbar unendlich) 164.
236. 479 fi. 482. 487 ff. Vgl. Trans-
finit. Infinitesimalbegriff und Irratio-
nalbegriff 251; Infinitesimalmethode
210 f. 258 fi. 333. 404.
Influenzerscheinungen, elektrische |.
388 f. 393.
Influenzmethode 555. 558 £.
Infusorien 614. 616.
Innervation 591.
Instanzen, prärogative I. 21.
Integration 253 ff. 263 ff. 268.
Intensitätsmessung 433.
Interferenzerscheinungen 372. 382. 337.
431. 449. 456.
Interzellularsubstanz 631.
Intoxikation 558 f. 631.
Intuition und Induktion 133; intuitive
Gewißheit 116.
Invarianten 201 f£.
Inzucht 612 £.
Ionen 512. 525.533 & 597.
Irrationale Größe 145. 152. 154 f. 224.
233. 267 £.; Entdeckung des Irratio-
nalen 130; Irrationalbegriff und In-
finitesimalbegriff 251.
Irritabilität 539. 570. 605. 622.
Isokrymen 441.
Isolierende Abstraktion 5. 14.f. 17. 29.
38. 49. 142. 361. 364 f. 395. 397 ff.
468. 513. 515; Isolierung der Um-
stände 358 f.; sukzessive Isolierung
der Stoffe 493.
Isothermen 441.
Jahres- und Tageseinteilung 149.
Jupitermonde 419.
Kalorimetrik 523. 554. 587.
Kampf ums Dasein 563. 581 f. 585 f.
Kapillarität 412 f. 443.
Kardinalsäfte 619. 621.
Kartographische Versinnlichung 441.
646 Sachregister.
Karzinome 632.
Katalyse 526 f. 551 f. 580. 588. 596 f.
607. 625 f.
Katastrophenlehre 583 ft.
Kategorien bei Kant 23.
Kathodenstrahlen 450. 533. 557.
Kausalgesetz 22f. 25f. 340. 347 ff. 415.
448. 484; Ableitung 27 f.; psycho-
logische K.e 28 f.; biologische K.e
587 ff.; Kausal- und Zweckzusammen-
hang 231 ff. 568; kausale Analyse 4ff.
496; Kausalerklärung 599; Kausal-
gleichung 348 ff.; Kausalbegriff und
Veränderungen 485.
Kegel 188; K.schnitte 61f. 190 ff. 197 £.
Keimplasma 573.601; Kontinuität 574f.;
latente Differenzen 599.
Kernteilung 574.
Kettenschluß 33.
Kinematik 339; kinetische Atomistik
454 f. 460; k. Gastheorie 520; k. Hypo-
these und elektrolytische Aktionen
924.
Klanganalyse 9. 379. 422 f.; Klang-
bewegung 337 ;Klangfiguren (Chladni)
371. 424.
Klarheit bei Descartes 115.
Klasse 60; K.nbegriffe als Erklärungs-
prinzipien 570; K.nbegriffe der älte-
ren Naturgeschichte 601.
Klassifikation 2. 13. 19. 24. 40. 47 fl.
365; analytische K. 49 f. 60 ff.; syn-
thetische K. 49 ff.; deskriptive K.
50 ff. 62; künstliche K. 51; genetische
K. 53 ff. 367; chemische K. 489 f.
507.
Klimatologie 278.
Klinische Beobachtungen 560.
Koagulation 628.
Koeffizienten, Methode der unbestimm-
ten K. 176.
Kohäsion 552 f. 579.
Kohlenstoffverbindungen 505 ff.
Kolligation 18 f. 364 f. 395. 398 f. 515.
Kolloidsubstanzen 594 ff.; kolloidaler
Zustand des Metalls 597.
Kombination 48. 440; K. und Trans-
formation 36.
Kommutationsgesetz 135. 143. 163.
Komparative Methode s. Vergleichung.
Komplexe Zahl 106. 152. 155 ff. 171.
173. 209. 213 fi. 230 ff. 267 £.
Komplikation der Probleme 39; K. der
Bedingungen 334.
Konchoide 188.
Kongruenz 132. 134. 146.
Konstanzprinzip 146. 151 f. 160 £.;
Konstanz der Arten 58; K. der Energie
319. 323. 411. 431 f. 446. 461. 476.
483. 487 f. 510. 588 ff.; K. der Materie
348. 408. 449. 452. 477 f. 528. 534 ft.;
K. der Merkmale 44; Konstanten der
Einteilung 60 ff.; Konstanterhaltung
von Bedingungen 387; physikalische
Konstantenbestimmung 388. 442 ff.
523; konstante Erfahrungselemente
289; Konstanz der anschaulichen Er-
fahrungsbestandteile 119.
Konstitutionelle Kraft 570.
Konstruktion 9 f. 16. 34 f. 41. 46 £. 59.
58 fi. 69. 105 f. 112. 118 2IE
128 ff. 138. 142. 177 &. 367. 437 £.
Kontagien 621.
Kontakthypothese 384. 414. 450 f. 454.
479 f. 504.
Kontaktwirkung 572.
Kontinuität 453. 606 f.; K.shypothese
528; K. und Atomistik 448 ft.
Kontinuum 238. 260. Vgl. Stetigkeit.
Kontradiktorischer Gegensatz 62 ff. 78;
k. indirekter Beweis 79 ff. 84.
Konträrer Gegensatz 63 f.; k. indirekter
Beweis 79 ff.
Konvergierende unendliche Reihe 486 f.
Koordinaten, unendlich kleine Diffe-
renzen 241; K.geometrie 192. 201.
204 f.
Kopulation 614.
Korollarsatz 67.
Körper 193; korpuskulare Vorstellungen
491. 528.
Korrelationsgleichungen 351 f.
Korrespondierende Veränderungen 175.
Kosinus 223 f. 231 £.
Kosmogonische Theorien 583 f.
Kosmologische Antinomien 481 ft.
Kotangente 229.
Kraft 340 f. 343 #. 396 f. 401. 459. 466;
lebendige K. 321. 324. 429 f. 475 f.
590 f. 603; K.- und Energiebegriff
429 f.; K.begriff und Beschreibung
367; K.vorstellung 424 f.; K.gesetze
468 fi. 483 f. 486; K.begriffe 28; K.-
formen 444 f.; K.begriff bei Galilei
309 ff. 316. 331; bei Newton 314 ff.
331. 429; Kräftemaß 424. 433; bei
Descartes 320. 343 f.; bei Leibniz
319 f. 320. 343 f. 346. 451; beid’Alem-
Ar Zu
Sachregister.
bert 331. 339 f.; K.punkt 463; Kräfte-
paar (Poinsot) 337 ;organischer Kräfte-
wechsel 587 ff.; Stabilität 591 £.;
Kräfte- und Stoffwechsel 603 f.; Er-
haltung der lebendigen K. 319 ft.
323; K.gleichungen 349. 352 ff. 592;
Kräftekomposition und -hierarchie
569 f.
Krankheit 618 ff.; K.sursache 620.
Kreis 62. 190 f. 194 f.; Quadratur 128;
K.funktion 233; K.lauf der Stoffe 588.
Kristall und Zelle 594 ff. 608; flüssige
K.e 595; kristallinische Struktur 546;
Kristallisierung 503.
Kristallographie, Grundformen 56.
Kristalloide und Kolloide 594 f.
Kugel 188; K.oberfläche und komplexe
Zahlen 157 ff.
Kurven zweiten Grades 190; Kurve im
unendlich Kleinen linear betrachtet
(Leibniz) 241.
Lage, Energie der L. 324. 349 f. 429.
475 f. 478. 590 f. 603.
Länge vgl. Gerade.
Langsame Veränderungen 584 ff.
Leben, Begrenzung 600; Ewigkeit 615;
Untergang und Erneuerung 611ff.; |
L.sgeister 620; L.skräfte 570. 605
vgl. Vitalismus; Ursachen 606 ft.;
Chemismus der L.svorgänge 580; Stö-
rungen 618 fi.; Verbrennungsprozeß
608; L.sfähigkeit niederer Keime 616;
Ursprung 614 ff.; L. und Beseelung
618.
Leere Zwischenräume 452 f. 487.
Lehrsätze 69. 79; fundamentale und
abgeleitete L. 67.
Lese bei Bacon 21.
Leukozyten 630.
Licht, Fortpflanzung 371 f. 397. 443.
462; Messung 433; Zerstreuung 374 fi.
382; Brechung 516; Doppelbrechung
in Kristallen 454; elektromagnetische
L.theorie 372. 414. 431. 449 f. 455 ff.
465. 470. 536; Undulationshypothese
413; L. und Pflanze 587. 589.
Linie bei Hobbes 120; bei Mill 123.
Logarithmen 228. 253. 257; logarith-
mische Funktion 226 ff. 266.
Logik und Metaphysik 96 ff.
Lösung 493 f. 503. 510. 512. 520 f. 525.
Luft, Zusammendrückbarkeit (Boyle)
383; L.druck 423.
647
Magnete, drehbare M. zur Messung 427,
Magneto-elektrisca Erscheinungen
370 ff. 380. 384. 389 ff. 397. 413 f.
Mannigfaltigkeitsbegriff 202; Mannig-
faltigkeitslehre 103 f. 146. 151. 154.
157. 160.
Manometer 426 f.
Marsrotationen 419.
Maschine 510. 564; natürliche M. 567 f.
588 f.; künstliche M. 589 £.
Masse 309 ff. 319 ff. 340 f. 343 ff. 396 £.
401. 443 fi. 459. 466 f. 469 ff. 510;
M. und Wage 416; M.nvorstellung
424 f.; Maß d. M. 427 f.; M.npunkte
451; Endlichkeit oder Unendlichkeit
483 ff.
Materie 447 ff.; strahlende M. 450;
Konstanz 348. 408. 449. 452. 477 f.
528. 534 ff.; Probleme der M. 290 £.;
hypothetische Voraussetzungen 414f.;
Elemente 478 fi.; Ausdehnung und
Masse 483. 486 f.; logische Prüfung
der Hypothesen 459 ff.; metaphysi-
scher Hilfsbegriff 468; lebendige M.
615.
Mathematik, konstruktive Methoden
59 f.; M. als reine Formwissenschaft
90; Logik der M. 101 #.; Hilfsmittel
416; mathematische Analysis 39. 61.
103. 105 ff. 112. 156. 166. 176. 200 ff.
210. 337. 404. 409 ff. 436. 438. 451;
allgemeingültige Elemente 396; M.
und Mechanik 398. 415.
Maximal- und Minimalprinzipien 325 ff.
Mechanik 539. 563; M. als analytische
Geometrie mit Zeitdimension 37;
synthetische Behandlung 112; analy-
tische M. 112; M. ohne Figuren 116;
mechanische Linien 203; m. Kurven
203; M. und Geometrie 204 f.; ra-
tionelle M. 427; Fundamente 272.
306 ff.; Fundamentaltheoreme 314 ff. ;
M. des Himmels 273; Abstraktionen
396 fi.; Stellung 274 ff. 290; mecha-
nische und teleologische Auffassung
273 f. 281 ff. 563; m. Morphologie
543 ff.; mechanistische Schule 562,
568; m. Deutungen 587; m. und che-
mische Hypothesen 620; mechanische
Anpassung 577 ff. 599.
Medizin 618 ff.
Mehrdeutige Schlüsse 24.
ı Merkmale 16. 601 f.
| Messungsaufgaben 101 f. 104 f. 201.
648 Sachregister.
. 402. 416; Werkzeuge 419. 421.423 f.;
direkte und indirekte Messung 438 f.;
Meßbarkeit und Endlichkeit 487 f.
Metalle, Reindarstellung 494; Metall-
gifte (Liebigs Theorie) 386.
Metaphysik 367. 607; M.und Logik 96 ff.
Meteore, Hypothese der Lebensüber-
tragung 615 f.
Meteorologie 278; meteorologische Mes-
sung 439 f.
Meter 442.
Methoden der Untersuchung 1ff.; M.-
lehre 97; mathematische Methode bei
Hobbes 120.
Miasmen 621.
Mikroben 632.
Mikrokosmus 589.
Mikrometer 419. 425 f. 436.
Mikroorganismen 558. 623 ff.
Mikrophon 422.
Mikroskop 416 ff. 424 ff. 436. 543.
545 ff. 572. 593 f. 622 ff. 632; Analyse
des mikroskopischen Bildes 596 f.
Milligramm 448.
Millimeter 443.
Mimicry 585 f.
Mineralogie 365 f.
Minimal- und Maximalprinzipien 325 ft.
Mittelwerte 439 f.
Moleküle 593 ff. 608; chemische M.
519 ff. 523. 526 f.; Molekulargewicht |
530 f.; Molekulargewichtswärme 522; |
Molekularphysik 398 f. 412 ff. 451;
M.distanzen 452; M.wirkungen 472 f.
477; M.vorgänge 510 ff.; M.struktur
421. 628.
Momentane Veränderung 235 f. 242.
Momente der Geschwindigkeit 239 f.
Monade 242 f.
Morphologie 365; morphologische Ana-
lyse 541 ff.; optische M. 545 f. 553;
m. Methoden 567 ff. 593 f.; verglei-
chende M. 601 f.; m. und physio-
logische Merkmale 602. 604.
Multiple Proportionen 492. 503. 508.
511. 517 f. 528.
Multiplikation 111. 134 f. 144. 147. |
197.:. 170. -173.5:1776.1203.. 2072209:
211. 219. 222. 225. 229. 257. 305.
Muskel 552 ff.; M.arbeit 551; Kontrak-
tion 590.
Mutation 583 ff. 601.
Mystik mit Zahlsymbolen 273.
Mythologie 269.
Nachbildungsmethode 549 f.
Näherungsmethoden 105. 164. 242.
Nahrung, Kampf um die N. 586; N.s-
aufnahme 588.
Namen 16.
Nationalökonomie und Synthese 10 f.
Natur, Gleichförmigkeit 22; Substrat
der N.erscheinungen 447 ff.; N.ge-
schichte 280; N.geschichte und N.-
beschreibung 366 ff.; N.gesetze 448,
468 ff.; N.kausalität in sich geschlos-
sen 618; N.kräfte 430. 444 f.; N.-
objekt und Geisteserzeugnis 95; N.-
philosophie 271. 281 ff. 542. 561. 571.
593. 618 fi.; N.wissenschaften 90 f.
94 ff. 99 ff. 269 f.
Negative Definition 63; n. Sätze 79 f.
84; n. Größe 145. 152. 173 f. 257.
267; n. Schwere (Phlogiston) 492.
Neptunismus 621.
Nervengeister 620 f.;N.physiologie 556f.;
N.system 588. 621.
Neubildung, abnorme N. 631 ft.
Nominaldefinition 42.
Nominalismus 304. 479 f.; mathemati-
scher N. 113 ff. 235 £.
Nonius 425.
Nukleine 597.
Null 148. 150. 161 f. 229. 238 ff. 246.
248 f.; N. bei Euler 255.
Ökonomie des Denkens 300 ff.
Ontologische Beweise 410; o. und funk-
tionelle Auffassung 621. 623. 625.
Optik 452. 456; Grundlagen 272; New-
tons Analyse 374 ff.; Emanations- und
Undulationshypothese 384; optische
Morphologie 545 f. 553; o. Instru-
mente 417 fi. 424 fi.
Ordinaten und Abszissen 241. 244.
Organisationskraft 570.
Organische Chemie 497 f.
Organismus 618; Elementaro. 592 ff.;
Gesamto. und Elementaro. 598 ff.;
indifferenter O. 603.
Ort, geometrischer O. 191. 193. 196.
Ortsbewegung, tierische O. 587.
Osmotische Prozesse 512; osmotischer
Druck 521; osmotische Eigenschaften
908.
Ovulisten 572.
Oxydation 497 f. 500. 509. 549. 590.
603. 608.
ee
al a ln an a 5.
Sachregister.
Pangenesis (Darwin) 573 f.
Parabel 62. 190 f. 193 ff. 197 f.
Parallelenaxiom 145 f.; Parallelprojek-
tion 195; psychophysischer Parallelis-
mus 566.
Parthenogenese, künstliche P. 598.
Partialtöne 379.
Passives und aktives Verhalten, Pflanze |
| Polarisation 371. 380. 413. 449. 456 f.;
und Tier 604.
Pathogenese 625.
Pathologie 539 f. 618 ff.; experimentelle
P. 541. 548. 558 ff.; pathologisch-
anatomische Beobachtungen 560.
Pendel 313. 319. 323. 423; P.uhr 435 f.
Perigenesis 575.
Periodizität 610; periodische Funktion
228. 232; imaginäre p. F. 232. 266;
p. Bewegung 434 ff.; P. der Reizungs-
erscheinungen 575; P. der Entwick- |
| Präzision und Fehlermethoden 439.
lungserscheinungen 575. 600. 610.
Permanenzprinzip- 146 f. 150f. 160.
| Produktionskraft 611 f.
| Projektionsmethode 186 f. 189. 194 ff.
Proportionale, geometrische P. 156;
163. 201. 245. 267.
Perpetuum mobile 432.
Perspektivische Projektion 194 ff.
Pflanze, Gaswechsel der grünen Teile
587. 589; P. und Licht 587. 589;
P. und Tier 540. 602 ff.; passives
und aktives Verhalten 604 f.; Pflan-
zenanatomie 594; Pflanzengeographie
278; Pflanzenphysiologie 279 f. 540.
555 f.
Phagozyten 627 f.
PhänomenologischeWissenschaften 91ff.
95; ph. Naturforschung 280 f.; ph.
Betrachtung 304 f.; ph.r Grundsatz
der Bewegung 317.
Philosophie 95 f. 99. 269 ff.; Ph. der
Geschichte 98 f.
Phlogiston 492.
Phoronomie 317. 330. 339 ff. 397.
Photometer 433.
Physik 100. 368 ff.; Stellung 275 fl.;
experimentelle, theoretische, mathe-
matische Ph. 275 f.; kosmische Ph.
277; partielle Differentialgleichung
zwischen drei Veränderlichen 262;
Einfluß physikalischer Hypothesen
auf die Chemie 502 f.; ph. Bedin-
gungen chemischer Wechselwirkun-
gen 508 ff.; ph. Hilfsmittel 415 ff.;
ph. Konstanten 523; ph.-chemische
Analyse der Lebenserscheinungen 564.
649
und Tiere 279 f.; Pflanzenph. 540.
555 f.; Ph. des Menschen 540; ver-
gleichende Ph. 541; physiologisch-
chemische Untersuchung 548 ff.; ph.-
physikalische U. 552ff.; ph. und mor-
phologische Merkmale 602.
Plastidule 575.
Pneumatiker 619 f.
polarisiertes Licht und Zelle und Ge-
webe 594 f.; P.sinstrumente 546 ff.
Polariskop 417. 420 f.
Polymere Verbindungen 609. 612.
Positionssystem der Zahlen 148 ff.
Physiologie 539 f. 604; Anfänge 273f.; |
allgemeine Ph. und Ph. der Pflanzen |
Positive Zahlen 152. 155.
Positivismus 124. 299 ft.
Potential 470 f.
Potenzierung 111. 167. 202. 225. 257.
Prärogative Instanzen 21.
Probleme 69. 108.
mittlere P. 203.
Protisten 603.
Protoplasma 601. 609. 612. 614 ff. 628;
Aufbau 595 fi. 607 f.; P.mechanik
577.
| Protozoen 606. 623. 632.
Psychische Kausalgesetze 28 f.; ein-
fachste Formen des ps.n Geschehens
617.
Psychologie, Stellung 277; Ps. und Bio-
logie 605 ff. 618; psychologischer
Standpunkt 606 f£.
Punkt 125. 140. 189 ff. 207 f. 290 f.
341. 367. 458. 460. 463. 481; arith-
metische P.e 151; Massenp. 451;
Kraftp. 463; P. bei Hobbes 120, bei
Hume 122, bei Mill 123; ausgezeich-
nete Werte in Kurvendarstellungen
441; Beziehungsp. der Bewegungen
487.
Pyrochemie 524.
Quadratrix 188.
Quadratur des Kreises 128.
Qualitative Voruntersuchung 373. 384;
qu. Analyse 491. 495 f.
Quantität bei Kant 117; Erhaltung der
Qu. der Bewegung 319. 322 f. 343;
quantitative Untersuchung 373 f.
384 ff.; qu. Analyse 492 f. 495 f.;
650
qu.s Zeitalter der Chemie 502 f.; qu.
Funktionsänderung 555 f.; Abstufung
21 f. 497 ff. 506. 516.
Quaternäre chemische Verbindungen
504.
Quaternionen 159. 209.
Quinäres System 149.
Radikale, chemische 505. 516. 530.
Radium 450. 458. 512. 533 f.
Radizierung 111. 156. 167. 257. 267.
Rationelle und empirische Formeln
514.
Raum 125. 131 f. 138. 143. 160; R.-
anschauung bei Kant 117. 119. 121.
177, bei Berkeley 121; R. und Be-
wegung 237 ff. 253 f.; konstante Er-
fahrungselemente 289; R.konstruk-
tion 396; absoluter und relativer R.
401; R.maße 424 f. 433 f. 437 f. 442 ff. ;
Antinomien 421 f.; Endlichkeit und
Unendlichkeit 483 ff.
Reagiermethode, chemische R. 493 f.;
Reaktionsvorgänge 512. 552; Reak-
tionsgeschwindigkeit 526.
Realdefinition 42 f.
Reale Disziplinen 90 f.
Realismus, mathematischer R. 113 ff. 138.
235 f. 479 £.
Rechtsbegriffe 7.
Reduktion 500. 603.
Reflexion 372. 387.
Regeldetri 169.
Regeln, abstrakte R. 13.
Regeneration 548. 550. 557. 610. 612.
Reibungselektrizität 388.
Reife 614.
Reihenentwicklung 137.
Reizbarkeit 622.
Reizung 598. 605 f. 610; R. und Hem-
mung612; Periodizität der R.serschei-
nungen 575 f.
Regulationsprinzip 5853 f.
Relative Größenbestimmungen 406.
Religionsphilosophie 98f.; religiöse Vor-
stellungen 484.
Reproduktionskraft 570.
Resistenzfähigkeit 570.
Respiration s. Atmung.
Resonatoren 379. 422.
Richtung und Zahl 152. 156. 159.
Röntgenstrahlen 533.
Rotation 188.
Rudimentäre Organe 602.
Sachregister.
Sanduhr 435.
Sauerstoff 587; S. und Leben 607 f.
Schall, Geschwindigkeit 370. 443. 449.
462; Messung 433; Theorien 413.
Schattenprojektion 194 f.
Schaum- und Wabenbildung 596 f.
Scheidemittel 494.
Schlaf und Wachen 610.
Scholastik 64.
Schwere 28 f. 40. 73. 273. 306 f. 315.
358. 362. 397. 399. 446. 464. 469;
Schwerpunkt 208. 307; Erhaltung
des Schwerpunkts 321f. 325. 411;
Schwere und Tastsinn 423; Sch. als
gemeinsames Maß 427 ft. 445; Kraft-
und Energiebegriff 429 f.; Schwer-
anziehung und Äther 454 f.; nega-
tive Sch. (Phlogiston) 492; Sch. und
Wachstum 556.
Sekunde (Zeit) 442.
Selbstbefruchtung 583. 585.
Selbstregulierung 564. 581. 583. 618.
620. 629 ff. 634.
Selbstzersetzung 608.
Sensibilität 539. 570. 605.
Sexagesimales System 149.
Sexualzellen 611 f.; sexuelle Fortpflan-
zung 610. 613; s. und individuelle
Differenz 614.
Singuläre Erscheinung 5 f.
Sinneswahrnehmung 231.
Sinus 218 f. 231 £.
Skelett 544 f.
Solidarpathologie 620. 622.
Sonnensystem 589.
Sonnenuhr 435.
Spaltpilze 558.
Spaltung 549. 551 f. 609 f. 612. 628.
632; Sps.ferment 610 ff.
Spannkraft 475.
Spannungstheorie, elektrische Sp. in
der Chemie 621.
Spektralanalyse 9. 533.
Spektroskop 417. 420.
Spekulation und Empirie 283.
Sperma 598; Spermatozoen 419. 572;
Spermazellen 611.
Spezies 601 f.
Spezifikation 18 f. 365.
Spirale des Archimedes 188. 190.
Spiraltheorie 56 f. 59.
Sprache 16.
Stabilität 484 f. 584. 591. 607 £.
Statik 410 f.; Grundlagen 270. 272.
Sachregister.
306 ff. 425; Messung 428. 433; che-
mische St. 490. 509. 512. 515 ft.;
St. und Dynamik bei Lagrange 331 ff.
339; bei d’Alembert 331 ff.
Statistik 29.
Steigerung der Funktionen 556.
Stetige Ausdehnung 105; st. Größe 154
233 fl.; Stetigkeit 453. 606 f.; St. bei
Leibniz 242 f.; st. Veränderung 211 ff.
227. 585 f.; st. Übergänge 604; stetig
veränderliche Funktion bei Lagrange
251; Kontinuum 238. 260; Kontinui-
tätshypothese 528; K. und Atomistik
448 ff.
Stimmgabel und Chronoskop 435.
Stöchiometrie 492. 513 f.
Stoff 284 f. 290; Stofftheorien der Ent-
wicklung 573 f. 577; stoffliche Eigen-
schaften 489 fi.; Stoffwechsel 579 £.
587 ff. 592. 597. 603 f. 607. 610. 625.
632; Statik und Dynamik 550. 564.
568.
Störungen der Lebensvorgänge 618 ff.
Stoß 282. 234. 287. 297. 310. 320 f.
326. 343. 452 ff. 462. 469. 473. 479.
Strahlenbüschel 196 ff.
Strahlungserscheinungen 450. 458. 512.
933 ff.
Strukturchemie 506 f. 516.
Subjektivistische Erkenntnistheorie
299 ff.
Sublimation 493 f.
Substanz 44. 289. 340. 415. 448; ob-
jektive S. 467; Beharrlichkeit 538;
substantielle Kausalität 349.
Substitution 36 f. 405. 498. 506 f.
Substrat der Naturerscheinungen 447 ff.
Subsumtion 70; S. bei Aristoteles 20.
23; exemplifizierende S. 24.
Subtraktion 101. 111. 144 147. 156 f.
161. 167.211.222. 248 f. 254. 257. 267.
Summation kleiner Wirkungen 583 f.
Syllogismus 20. 22. 33.
Symbolik, mathematische S. 36; alge-
braische 8. 73. 109. 202. 205. 210.
212; arithmetische 8. 147 ff.; logische
S. 212; chemische S. 513 ft.
Symmetrie 64. 88. 407.
Synthese 1. 18. 356. 361. 364. 368. 379 ff. ;
mathematische S. 107. 111 £.; syn-
thetische Geometrie 10. 131f. 196 f.;
stufenweise S. 499 fi. 516; s. Urteile
a priori 118 f. 121. 138; s. Mechanik
312 #.; chemische $. 491. 496. 498 #. |
651
Systematische Darstellung 1. 40 ff.;
System der Wissenschaften 85 ft.;
systematische und phänomenologische
Wissenschaften 91 ff. 95; naturwissen-
schaftliche Systematik 274 ff.; s. Na-
turwissenschaften 365. 367 f.; bio-
logische Systematik 600 ff.
Tabelle und analytische Formel 441.
Tag, Einteilung 434.
Tangente 228 f.; T.ngebilde 198; T.
und Kurve 241 ff. 252. 259. 262 f.
Taubildung (Methodenbeispiel) 385 £.
Teilbarkeit 236.
Teilung der Figuren 180 ff.
Teleologie 300 ff. 317 ff. 544. 561 ff.
587 f. 591. 599; unbewußte T. 562 ff.;
objektive T. 566; T. und mechanische
Auffassung 273 f. 231f.; teleologische
Prinzipien der Biologie 569 ff.
Telephon 422.
Teleskop 416 ff.
Terminologie 17.
Tetratomie 62. 64.
Theoreme 33. 41. 66 f. 7Of. 84. 108.
184. 403; Th. und Probleme 69; Th.
der Mechanik 314 ff.
Thermochemie 509 ff. 516.
Thermodynamik 524.
Thermogalvanometer 423.
Thermometer 423. 446.
Thermotropismus 576.
Tier und Pflanze 540. 602 f.; aktives
und passives Verhalten 604 f.; Tier-
geographie 278; Tierphysiologie 540 f.
556 f. 605; Tierpsychologie 605.
Tod 607. 613. 628.
Toxine und Antitoxine 629; toxische
und antitoxische Wirkungen 559 f.;
t. Enzymwirkungen 580.
Trägheitsgesetz 295. 309 ff. 314 ff. 320.
324. 340. 408. 432.
Transfinit (vollendete Unendlichkeit)
482. 486. 488; t.e Größen 163 f. 236.
Transformation 422 f. 429 f. 432 f.
475 fi. 485. 487 f. 525; durch ver-
änderte Verbindungsweisen 36; T.s-
gleichungen 350 f. 353 ff. 592; lang-
same T. 584 ff.
Transzendentale Ästhetik 119.
Transzendenz 15 f.; transzendente vor-
bildliche Welt der Typenlehre 57 ff.;
t. Funktion 203. 210. 224. 231. 233 £.
267 £.
652
Triangulum characteristieum (Leibniz)
241 f. 246.
Trichotomie 62. 64. 88 f.
Triebhandlungen 585. 606.
Trigonometrische Funktion 228 ff. 253.
266. 268; t. Methoden 438.
Tropfen und Kristall 595.
Tropismen 606 f.
Typentheorie, chemische T. 506 f.;
Typus 55 ff. 601 £.
Übereinstimmung 364; Ü.smethode 385f.
Überendlich und endlos 164.
Überordnung, mathematische Ü. und
Allgemeinheit, besonderer Fall 262.
267.
Übervernünftiges 484.
Übung 580. 586.
Uhr 435.
Umstand und Bedingung 359.
Unbewußt, Annahme eines unbewußten
Willens 565 f.
Undulationstheorie 372. 384. 413. 449.
456.
Unendlich 161 f#. 236 f. 480 fi.; Para-
doxien 163; vollendete und unvoll-
endbare Unendlichkeit 161 ff. 236.
481 f. 486.
Universum, Totalität 478. 480 fi.
Unlöslichkeit, chemische U. 503.
Unruhe (Zeitmessung) 436.
Unterscheidung 63f. 364; Unterschieds-
methode 385 f.
Untersuchungs- und Demonstrations-
methode 110 f.; Untersuchung und
Voruntersuchung 373 f.
Uratome 532.
Urbläschen 598.
Urorganismus, Tier und Pflanze 603 f.
Urstoff 619.
Urzeugung 614 ff. 625.
Utilität 301.
Vakuolen 596 £.
Valenztheorie 507 f. 512. 516. 523.
534 f.
Variabeln, logische V. 48. 60 f.; alge-
braische V. 61£.
Variabilität der Individuen 581 fi.
Variation der Elemente 5; V. der Be-
ziehungen 175 f.; Vs.rechnung 264 f.
327; V. der Umstände 358 f. 374.
384 ff. 393; V. der Beobachtungen 439.
Sachregister.
Varietät 601.
Venus, Lichtgestalten 419.
Veränderliche Größe 162. 168. 170;
Anzahl der Veränderlichen und Ge-
setz 262; korrespondierende Verän-
derungen 175.
Verbindung und Zersetzung 587. 590;
Verbindungsschluß 24; V.sgewicht
517. Vgl. Synthese.
Verbrennung 492. 551. 587. 590; V.s-
wärme 523. 554; V. und Leben 608.
Verdauungsfermente 629.
Vererbung 557. 563. 571 ff. 581. 591.
599; V.smerkmale 602; V. erworbe-
ner Eigenschaften 574 f.; V. und An-
passung bei Darwin 583.
Vergleichung 5. 14. 20 f. 356. 361 ff.
368. 549; V.sschluß 24; V. und Ab-
messung 433; vergleichende Wissen-
schaften 54; v. Morphologie 601 f.;
v. Naturgeschichte 601 f.
Verifikation 356. 374. 406 f. 409. 433.
447. 504. 633.
Verkümmerung durch Nichtübung 580.
Vermögenslehre (Bacon) 87.
Vermutung und Hypothese 383 f.
Vervollkommnung 587.
Verwandlung s. Transformation.
Verwesung 625. 629.
Vibrationsmikroskop 424.
Vibrograph 423 f.
Vierteilung 62. 64.
Vigesimales System 149.
Virtuelles Moment bei Galilei 331.
Vitalismus 274. 561 f. 564 f. 568. 605.
620. 625.
Vivisektion 555. 560.
Völkerkunde 278.
Vollkommenheit 407.
Voraussetzungen, abstrakte V. und Ge-
setzableitung 406.
Vorgänge und Gegenstände 91; V. und
Eigenschaften 552 f. 569.
Voruntersuchung 373 £.
Vulkanismus 621.
Wabenstruktur 596 £.
Wachen und Schlaf 610.
Wachstum 544. 546 f. 573 f. 575. 577 f.
597. 600. 603 f. 608 f. 616. 628. 632;
W. durch Assimilation 593; Perio-
dizität 610; Schwere und W. 556;
W.strieb 570; W.sfähigkeit 611.
Wage 416. 423. 426 fi. 433. 502.
Sachregister.
Wahlverwandtschaft s. Affinität.
Wahrnehmung, Hilfsmittel der Analyse
417 fi.
Wahrscheinlichkeit 66. 72. 432; W.s-
rechnung 440 f.; W.sschluß 23.
Wärmetheorie 73 fl. 350 ff. 413. 452.
454. 473. 485. 499. 508 ff. 512. 516.
520 f. 591; Fortpflanzung der Wärme
449; Zerlegung durch Wärme 494 f.;
Abstufung 497 f.; Wärmetönung 523;
Wärme und Arbeit 551. 554. 603;
Wärmebildung 587.
Wasseruhr 435.
Wechselbestimmung 8.
Wechselwirkung 26. 237. 290. 504.
508 ff. 515; W. der Teile 600.
Wellenbewegung 370.372.395. 397 f. 610;
Wellenzeugung.d. Lebensteilchen 575.
Weltschöpfung und Untergang 484.
Wertigkeit 507 £.
Widerspruch, Satz des W.s 136; wider-
spruchslose Naturerklärung 347.
Wiedererinnerung der mathematischen
Ideen 114 f.
Wille,transzendentesW .nsprinzip 565f.;
W.nsentwicklung 586; W.und Zweck-
mäßigkeit 604; W.nsreaktionen 606.
Willkür und Konstruktion 34 f. 46 f.,
W. und Klassifikation 5l; W. und
Ezaktheit 114; W. und mathemati-
sche Ideen 120.
Winkel und Gerade als Maßelemente
289. 424 f. 433. 437 f. 442 f.
Wirbeltheorie 458. 460.
Wirkungsfähigkeit s. Energie.
Wirkungssphäre des Atoms 453.
Wissenschaftliche Arbeitsteilung 85 ff.
Worterklärung 42.
Wunder, Ausschaltung des W.s 606.
Wurf 310. 313.
Wurzelgleichungen 173 fl.; vgl. Radi-
zierung.
X-Strahlen 370.
Zahl 44 f. 131 ff. 138 ff. 143. 147 ff.
237. 269. 396; Z. bei Kant 117; bei
Hume 122; diskrete Z. 105; kom-
plexe Z. 106; Z.entheorie 103. 111 ff.;
Z.formeln 131 f£.; Z.arten und Z.-
systeme 150 ff.; Z.grenzen 161 ff.; 2.
und Eulers Differentialbegriff 235;
Z.enkultus 102; Z.enmystik 273.
Zählen 140; Art und Richtung 152;
Zählmethoden der Naturvölker 127.
653
Zeit 125. 160; Z.anschauung bei Kant
117. 119; bei Berkeley 121; Z. und
Mechanik 37; astronomische Z.größen
583; Z. und Bewegung 237 ff. 253 f.;
konstantes Erfahrungselement 239;
absolute und relative Z. 401; Anti-
nomien 482; Endlichkeit und Unend-
lichkeit 483 ff.; Z.einteilung 434; Z.-
messung 416. 424 f. 428. 434 fi. 442 ff.
Zelle 552. 564. 573. 593 f£.; Chemismus
593 ff.; zusammengesetzte Organi-
sation 596; Zellmembran 594 ff.;
künstliche Z.nbildung 596; Z.nteilung
609 ff.; omnis cellula e cellula 598;
Prinzip der kleinsten Flächen 577.
Zellularpathologie 622 f. 630. 632.
Zentralkräfte 469.
Zentralprojektion 195.
Zergliederung s. Analyse.
Zerlegung durch Wärme und den elek-
trischen Strom 494 f.
Zersetzung, organische Z. 550; Z. und
Verbindung 587. 590; Z. und Er-
neuerung 608.
Zeugenbeweis 66. 78.
Zeugung 598. 608 f. 612; Z.sferment
611. 613.
Ziffernsystem 147 ff.
Zoologie 365 f.
Zootomie 365 f.
Zuckungsgesetz 557.
Zufällickeit, scheinbare Z. bei Euklid
130; Zufall bei Aristoteles 286; Z.
und Entdeckung 369 ff.
Zusammenhang der Erfahrung 25 f.
Zustandsgleichungen 350 f. 353. 355.
592.
Zwang, kleinster 328 f.
Zweck 282 ff. 587; Umkehrung der
kausalen Beziehung 288. 563 ff. 570;
Z.zusammenhang zugleich Kausalzu-
sammenhang 568; Z.vorstellung 565;
Z.mäßigkeit 544; Z. und Wille 604;
Z. der Lebensformen 616; zweck-
tätige Kräfte 300 ff. 317 ff. 544. 561.
537 f. 591. 599.
Zweifel, kritischer Z. 292 ff.; absoluter
Z. 300.
Zweiteilung 62 ff. 87 f.
Zwischenorganismen 603.
Zwischenräume, leere Z. 452 f. 487.
Zwittergeschlechtliche Pflanzen 612.
Zyklometrische Funktionen 229 f. 253.
Zylinder 188.
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V. Plotin. — VI. Thomas von Aquino. — VII, Meister Eckhart. — VIII. Francis Bacon.
IX. Descartes. — X. Spinoza. — XI. Locke. — XII. Berkeley. — XII. Leibniz. —
XIV. Hume, — XV. Kant. — XVI. Fichte. — XVII. Hegel. — XVII. Herbart. —
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Inhalt: I. Überblick über die anthropologische Forschung. — II. Die phylo-
genetische Entwickelung der Menschheit. — II. Die Ontogenese des Menschen.
a) Die embryonale Entwickelung. b) Das Wachstum des Menschen. c) Die ge-
schlechtliche Entwickelung. — IV. Die körperlichen Merkmale des Menschen (Kranio-
logie, Anthropometrie, Proportionen). — V. Die Rassenentwickelung. — VI. Die
menschlichen Rassen. ı. Die Australier. 2. Die Papuas. 3. Die Koikoins. 4. Ameri-
kaner und Ozeanier. 5. Die melanoderme Hauptrasse. 6. Die xanthoderme Haupt-
rasse, 7. Die leukoderme Hauptrasse, Schlußwort,
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Ästhetik
und
Allgemeine Kunstwissenschaft.
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INHALTSÜBERSICHT.
Erster Hauptteil. Ästhetik.
Einleitung. — I. Die Geschichte der neueren Ästhetik. Grundlegung
im Altertum. Französische Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Englische und
schottische Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Die Ästhetik der deutschen Aufklärung.
Die Ästhetik der deutschen Klassiker. Romantische und spekulative Ästhetik. Forma-
listische und eklektische Ästhetik. Anmerkungen. — Il. Die Prinzipien der
Ästhetik. Der Objektivismus. Der Subjektivismus. Das Problem der Methode.
Anmerkungen. — Ill. Der ästhetische Gegenstand. Der Umkreis ästhetischer
Gegenstände. Harmonie und Proportion. Rhythmus und Metrum. Größe und Grad.
Anmerkungen. — IV. Der ästhetische Eindruck. Zeitverlauf und Gesamt-
charakter. Die Sinnesgefühle. Die Formgefühle. Die Inhaltsgefühle. Anmerkungen.
— V. Die ästhetischen Kategorien. Das Schöne. Das Erhabene und das Tra-
gische. Das Häßliche und das Komische. Anmerkungen.
Zweiter Hauptteil. Allgemeine Kunstwissenschaft.
I. Das Schaffen des Künstlers. Zeitverlauf und Gesamtcharakter. Die Unter-
schiede der Anlagen. Die Seelenkenntnis des Künstlers. Die Seelenverfassung des
Künstlers. Anmerkungen. — II. Entstehung und Gliederung der Kunst. Die
Kunst des Kindes. Die Kunst der Naturvölker. Der Ursprung der Kunst. Das
System der Künste. Anmerkungen. — Ill. Tonkunst und Mimik. Die Mittel der
Musik. Die Formen der Musik. Der Sinn der Musik. Mimik und Bühnenkunst.
Anmerkungen. — IV. Die Wortkunst. Die Anschaulichkeit der Sprache. Rede
und Drama. Erzählung und Gedicht. Anmerkungen. — V. Raumkunst und Bild-
kunst. Mittel und Arten der Raumkunst. Die plastische Bildkunst. Die malerische
Bildkunst. Die graphische Bildkunst.e. Anmerkungen. — VI. Die Funktion der
Kunst. Die geistige Funktion. Die gesellschaftliche Funktion. Die sittliche Funk-
tion. Anmerkungen. — Sachverzeichnis.
sses Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. ses
Zeitschrift für Ästhetik
und
Allgemeine Kunstwissenschaft.
Herausgegeben von
Max Dessoir.
I. Band. 37 Bogen. Lex. 1906. geh. M. 19.40.
MH. Band. 1. Heft. 10 Bogen. Lex. 1907. geh. M. 5.—
2. Heft. 79 Bogen. ‘Lex. 1907.
3. Heft. 9 Bogen. Lex. 1907. geh. M. 4.60.
Die Zeitschrift erscheint in Heften von acht bis zehn Druckbogen, wovon je vier
einen Band bilden. Der Preis der Hefte wechselt nach dem Umfang, die Berechnung
Der Sinn für die ästhetischen Fragen und die allgemeine Theorie der Künste
hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie die Zahl derer, die auf diesem
Gebiet wissenschaftlich tätig sind; die Probleme besitzen einen Umfang und eine
Tiefe, die ein besonderes literarisches Organ für ihre weitere Bearbeitung geradezu
notwendig machen. Es ist ein Übelstand, daß sachlich Zusammengehöriges gegen-
wärtig in viele und verschiedenartige Zeitschriften verzettelt wird, daß jeder, der
sich mit ästhetischen und künstlerischen Dingen beschäftigt, die neuen Forschungen
mühselig sich zusammensuchen und aus der Verbindung mit anderen Angelegenheiten
lösen muß, daß nirgends durch Berichte ein umfassender Überblick über die so
mannigfaltigen ästhetischen Untersuchungen geboten werden kann.
Aus solchen Erwägungen heraus ist die obengenannte Zeitschrift begründet
worden. Sie erscheint in Heften von S—ıo Bogen Umfang; jährlich werden etwa
vier Hefte, die einen Band bilden, ausgegeben. Jedes Heft enthält außer einem
systematisch geordneten Verzeichnis der neu erschienenen Bücher und Aufsätze
eine Anzahl von Abhandlungen und Besprechungen. Nur wissenschaftlich wert-
volle Beiträge kommen in Betracht, doch werden sie im Hinblick auf die er-
hoffte Anteilnahme aller ernstlich Interessierten ohne übertriebene Gelehrtenhaftig-
keit abgefaßt sein. Studien zur Geschichte der Ästhetik, experimentelle Unter-
suchungen über die elementaren Verhältnisse, Analysen der ästhetischen Wirkungen,
exakte Forschungen über die Kunst der Naturvölker und der Kinder, über das
Schaffen des Künstlers und die allgemeinen Fragen der Poetik, der Musikästhetik
und der Theorie der bildenden Künste, endlich auch inhaltreiche Erörterungen der
Stellung, die die Kunst im geistigen und gesellschaftlichen Leben einnimmt — das
wären die Arbeiten, die hier gesammelt werden sollen. Auf dasselbe, nur ungefähr
umschriebene Feld beziehen sich auch die Berichte,
ass Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. asos
Kulturgeschichte der Menschheit
in ihrem organischen Aufbau.
Yon.
Julius Lippert.
Zwei Bände.
gr. 8°. 1886 u. 1887. geh. M. 20.-;; in Haibfrz. geb. M. 25.—
Inhalt: Einleitung. — Die Lebensfürsorge als Prinzip der Kulturgeschichte.
— Die Urzeit. — Ausblick auf die Verbreitung der Menschheit. — Die ersten Fort-
schrittsversuche der Lebensfürsorge. — Die Zähmung des Feuers. — Die Fortschritte
des Werkzeugs als Waffe. — Ausblick auf die Entwickelung differenzierter Geräte.
— Fortschritte der Speisebereitung. — Fortschritte des Schmuckes und der Kleidung
und ihr sozialer Einfluß. — Der beginnende Anbau und die Verbreitung der jüngeren
Völker in Europa. — Das Nomadentum und die Verbreitung der Zugtiere. — Die
Nahrungspflanzen im Gefolge der Kultur. — Die Genußmittel engeren Sinnes und
ihre kulturgeschichtliche Bedeutung.
Lipperts leitender Grundgedanke ist, die Lebensfürsorge als das trei-
bende Agens in der Entwickelung der menschlichen Kultur anzusehen; er
geht von dem Grundsatz aus: unsere Bedürfnisse sind unsere treibende Kräfte, und
von diesem Ausgangspunkte aus deduziert er in streng logischer, von echt philosophi-
schem Geiste getragener Weise den ganzen Aufbau unserer Kultur. In der geistvoll
Klaren Einleitung zeichnet er uns den Urmenschen, so wie er sich uns noch im Wilden
der heutigen Welt darstellt, als ein Wesen, welches beinahe ohne Phantasie und Ge-
dächtnis auch den erschütterndsten Naturerscheinungen seiner Umgebung im ganzen
fast gleichgültig gegenüberstand und die höchsten Glieder der Tierwelt nur um weniges
überragte. Die an den Urmenschen herantretenden Anforderungen der Lebensfür-
sorge weckten in dem Menschen Tätigkeiten, welche zunächst als unbewußt vorhan-
dene »Reflexbewegungen« sich geltend machten, sich von Geschlecht zu Geschlecht
fortpflanzten, sich mit der Zeit anhäuften und so den »vererbten Instinkt« bildeten.
Die Lebensfürsorge oder der darwinische Kampf ums Dasein führte zur Erweckung,
Entwickelung und allmählichen Vervollkommnung der Geisteskräfte des Menschen,
welche uns so hoch über alle anderen Glieder der organischen Schöpfung erheben.
Aus der Sorge für das Notwendigste entstand die Sorge für das Nützliche, dann für
das Angenehme; aus Eitelkeit und wirklichem Bedürfnis entstand die Sorge für
Kleidung, Nahrung und Obdach, aus der Not das sittliche und das Pflichtgefühl, die
Schamhaftigkeit, die Rechtsbegriffe, die Idee der Religion, die Fürsorge für die Zu-
kunft, der Mensch wurde erfinderisch und haushälterisch und er lernte sich den An-
forderungen anbequemen, welche das einfache physische Dasein an ihn, den Wehr-
losen und Schwächeren, machte, So entstanden in ihm Erinnerungsvermögen oder
Gedächtnis, Ideen, Vorstellungen, Gewohnheiten, Begriffe, Sprache u. s. w. Dies ist
der Entwickelungsgang der Kultur, wie ihn Lippert mit logischer Schärfe und in echt
philosophischem Geiste im vorliegenden Buche schildert, und zwar in so streng logi-
schem Gedankengang, in solcher Klarheit und Faßlichkeit, daß jeder Denkende und
Strebsame auch ohne philosophische Vorbildung seinen Ideen und Darlegungen mit
höchstem Interesse zu folgen vermag. Lipperts Buch ist ein Werk ersten Ranges,
von höchstem Interesse und größter Lehrhaftigkeit für jeden Gebildeten.
(Ausland 1886, Nr. 24.)
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