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Logik 


1. 


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LOGIK 


von 


Dr.  Christoph  Sigwart 

o.  ö.  Professor  der  Philosophie  au  der  Universität  Tttbingen. 


Erster  Band. 


Die  Lehre  Tom  ürtheil,  vom  Begriff  und  vom  Schluss. 


Zweite  durchgesehene  und  erweiterte  Auflage. 


Freiburg  i.  B.  1889. 
Akademische  Verlagsbuchhandlung  von  J.  C.  B.  Mohr, 

(Paul  Siebeck). 


Pyuck    yo»  H.  Laupp  jr.  in  Tftbingen, 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Dem  folgenden  Versuche,  die  Logik  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Methodenlehre  zu  gestalten,  und  sie  dadurch  in 
lebendige  Beziehung  zu  den  wissenschaftlichen  Aufgaben  der 
Gegenwart  zu  setzen ,  muss  ich  überlassen ,  sich  durch  die 
Ausführung  zu  rechtfertigen,  zu  der  dieser  erste  Band,  in 
möglich  engem  Anschluss  an  die  überlieferte  Gestalt  der 
Wissenschaft,  die  Vorbereitung  und  Grundlegung  enthält.  Nur 
eine  Bitte  habe  ich  voranzuschicken,  nemlich  die,  dass  man 
mir  die  Sparsamkeit  zu  Gute  halten  möge,  mit  der  ich  frühere 
und  gleichzeitige  Behandlungsweisen  im  Ganzen  und  Ansichten 
im  Einzelnen  ausdrücklich  berücksichtigt  habe.  In  einer  so 
ausserordentlich  viel  bearbeiteten  Disciplin  schien  es  mir  nicht 
bloss  eine  ausserliche  üeberbürdung  des  Werkes  zu  sein, 
wenn  ich  zustimmend  oder  bestreitend  überall  auch  nur  die 
wichtigsten  der  bisher  aufgestellten  Lehren  anführen  wollte; 
ich  hätte  auch  fürchten  müssen,  dass  der  durch  meine  Fassung 
der  Aufgabe  vorgezeichnete  Gang  der  Untersuchung  und  Dar- 
stellung verhüllt  und  verwirrt  werde,  wenn  ich  mir  zur  Regel 
gemacht  hätte,  Aufstellungen ,  die  vielfach  aus  ganz  anderen 
Voraussetzungen  hervorgegangen  sind,  überall  zu  discutieren. 


yi  Vorwort. 


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So  glaubte  ich  mich  auf  das  beschränken  zu  sollen ,  was  zur 
genauen  Darlegung  und  Rechtfertigung  meiner  eigenen  Sätze 
unentbehrlich  schien.  Dass  ich  ältere  und  neuere  Arbeiten 
in  ziemlichem  Umfange  benützt  habe,  brauche  ich  kaum  zu 
sagen.  Drei  der  Männer,  deren  Werke  ich  am  meisten  vor 
mir  gehabt  habe ,  und  denen  ich  meinen  Dank  hier  auszu- 
sprechen gedachte,  Trendelenburg,  Ueberweg,  Mill,  sind 
während  des  Entwurfs  und  der  Ausarbeitung  dieses  Buchs 
gestorben;  ausserdem  muss  ich  besonders  der  Förderung  ge- 
denken, welche  ich  Prantl's  grossartigem  Werke  verdanke. 
Juli  1873. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

In  den  fünfzehn  Jahren,  die  seit  dem  ersten  Erscheinen 
dieses  Buches  verflossen  sind,  ist  die  logische  Litteratur  durch 
eine  stattliche  Reihe  werthvoller  Arbeiten  bereichert  worden. 
Von  demselben  Gedanken  aus,  der  auch  diesen  Versuch  leitete,  die 
Logik,  statt  auf  eine  unfruchtbar  gewordene  Tradition,  auf  eine 
neue  Untersuchung  des  wirklichen  Denkens  nach  seinen  psycholo- 
gischen Grundlagen  wie  nach  seiner  Bedeutung  für  die  Erkennt- 
niss  und  seiner  Bethätigung  in  den  wissenschaftlichen  Methoden 
zu  begründen,  sind  die  grossen  Werke  von  Lotze,  Schuppe, 
Wundt,  Bradley  —  um  nur  die  hervorragendsten  zu  nennen  — 
ausgegangen;  über  einzelne  Hauptfragen  der  Logik  haben 
speciellere  Untersuchungen,  unter  denen  Windelbands  Arbeiten 
über  das  negative  Urtheil,  Meinongs  Behandlung  der  Relations- 
begriffe, Volkelts  scharfsinnige  und  originelle  Ausführungen 
sich  mit  meiner  Auffassung  am  nächsten  berühren,  willkommenes 
Licht  verbreitet. 


Vorwort.  Yll 

Für  micli  ergab  sich  daraus  die  Aufgabe,  an  den  Sätzen  der 
Mitarbeiter  die  eigenen  Aufstellungen  aufs  neue  zu  prüfen, 
manches,  was  zu  Missverständnissen  Anlass  geben  konnte,  ge- 
nauer zu  fassen,  anderes  zu  ergänzen  und  weiter  auszuführen, 
oder  gegen  abweichende  Auffassungen  sicher  zu  stellen.  Aber 
aus  den  Gründen,  die  ich  schon  im  ersten  Vorwort  angeführt, 
musste  ich  darauf  verzichten  in  ausgedehnterem  Masse  die  Ueber- 
legungen,  die  mich  zum  Festhalten  meiner  Sätze  bestimmten, 
dem  Werke  einzuverleiben,  oder  die  kritischen  Bemerkungen, 
deren  ich  mich  reichlich  zu  erfreuen  hatte,  alle  einzeln  zu  er- 
wähnen; wo  sie  wirklich  treffen,  was  ich  gesagt,  habe  ich  sie 
dankbar  benützt;  wo  sie  nur  auf  Missverständnissen  beruhten, 
glaubte  ich  den  Leser  nicht  durch  eine  unfruchtbare  Discussion 
ermüden  zu  dürfen.  Ebenso  musste  ich,  auch  wo  ich  den 
Ausführungen  anderer  zustimmte,  mir  doch  versagen,  in 
grösserem  umfang  das  Werk  durch  die  Aufnahme  von  Unter- 
suchungen zu  bereichern,  die  seinem  ursprünglichen  Plane 
fernlagen;  bei  der  Unerschöpflichkeit  des  Gegenstandes  ist 
Vollständigkeit  doch  nicht  erreichbar,  und  ich  wollte  lieber 
den  Schein  der  Vollständigkeit  der  Ausführung,  als  die  Ueber- 
sichtlichkeit  des  Planes  opfern. 

Wann  eine  zweite  Auflage  des  zweiten  Bandes  wird  folgen 
können,  vermag  ich  heute  noch  nicht  zu  bestimmen ;  inzwischen 
ist  durch  Wiederholung  der  Seitenzahlen  der  ersten  Auflage 
in  dem  vorliegenden  Bande  dafür  Sorge  getragen,  dass  der 
zweite  Band  nebst  seinem  Register  ohne  Hinderniss  mit  ihm 
zusammen  gebraucht  werden  kann. 

Tübingen,  October  1888. 

Der  Verfasser. 


Inhaltsübersicht. 

Seite 

Einleitung 

§  1.    Aufgabe  der  Logik 1    ^ 

§  2.    Grenzen  der  Aufgabe 1  10 

§  3.    Postulat  der  Logik I   15 

§  4.    Eintheilung  der  Logik \JL6 

J^  //    Erster,  analytischer  Theil.   Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen 

des  Urtheilens 23 

§  5.    Der  Satz  als  Ausdruck  des  Urtheils.  Subject  und  Prädicat  25 

Erster  Abschnitt.     Die    Vorstellungen   als  Elemente  des  Ur- 
theils und  ihr  Verhältniss  zu  den  Wörtern   ....  30 
§  6.    Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten     ....  30 
§  7.    Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort    ....  45 
§  8.     Nothwendigkeit  des  Worts  für  das  Prädicat      ...  60 

Zweiter  Abschnitt.    Die  einfachen  ürtheile 63 

I.    Die  erzählenden  ürtheile 63 

§  9.    Die  Benennungsurtheile 63 

§  10.  Eigenschafts-  und  Thätigkeitsurtheile 70 

§  11.  Impersonalien  und  verwandte  Urtheilsformen   ...  72 

§  12.  Relationsurtheile.    Existenti aisätze ..80 

§  13.  ürtheile  über  Abstracta 95 

§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils  und  das  Princip 

der  Identität 98 

§  15.  Die  Zeitbeziehung  der  erzählenden  ürtheile      .    .    .  111 

II.    §  16.  Die  erklärenden  ürtheile 112 

III.    §  17.  Der  sprachliche  Ausdruck  des  Urtheilsaots     ....  117 

Dritter  Abschnitt.  Die  Entstehung  der  ürtheile.  Der  Unter- 
schied analytischer  und  synthetischer  ürtheile      .     .  128 

§  18.  Unmittelbare  und  vermittelte,  analytische  und  syn- 
thetische ürtheile 128 

§  19.  Der  Process  des  synthetischen  Urtheilens       ....  142 

Vierter  Abschnitt.     Die  Verneinung 150 

§  20.  Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  Urtheils  .     .     .  150 

§  21.  Die  verschiedenen  Arten  verneinender  ürtheile      .    .  161 


X  Inhaltsübersicht. 

8«li6 

§  22.  Privation  und  Gegensatz  als  Grund   der  Verneinung  167 

§  23.  Der  Satz  des  Widerspruchs 182 

§  24.  Der  Satz  der  doppelten  Verneinung 194 

§  25.  Der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten 196 

Fünfter  Abschnitt.     Die  pluralen  Urtheile 205 

1.     Positive,  plurale  Urtheile       205 

§  26.     Positive  copulative  und  plurale  Urtheile      ....  205 

§  27.    Das  allgemeine  bejahende  Urtheil 209 

§  28.    Das  particuläre  bejahende  Urtheil 216 

II.    §  29.     Verneinende  plurale  Urtheile 221 

III.     §  30.    Die  Verneinung  der  pluralen  Urtheile 224 

Sechster  Abschnitt.     Möglichkeit  und  Nothwendigkeit      .     .  229 

I.     Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität      .....  229 

§  31.    Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität   .     .     .  229 

§  32.    Das  Gesetz  des  Grundes 245 

II.     Möglich  und   nothwendig  als  Prädicate  in  wirklichen  Ur- 

theilen 255 

§  33.    Die  reale  Nothwendigkeit 255 

§  34.    Die  Möglichkeit 265 

Siebenter  Abschnitt.    Das  hypothetische  und  das  disj unctive 

Urtheil 276 

I.     §  35.    Die  verschiedenen  Arten  von  Satzverbindungen  und 

ihre  logische  Bedeutung 277 

II.    §  36.    Das  hypothetische  Urtheil       284 

III.    §  37.     Das  disjunctive  Urtheil 297 

Ergebnisse.    §38 803 

Zweiter,  normativer  Theil.     Die  logische  Vollkommenheit  der 
Urtheile  und  ihre  Bedingungen,  bestimmte  Begriffe 

und  gültige  Schlüsse 309 

§  39.    Die  Bedingungen  vollkommener  Urtheile     ....  309 

Erster  Abschnitt.     Der  Begriff 316 

§  40.     Wesen  des  logischen  Begriffs       316 

§  41.     Die  Analyse  des  Begriffs  in  einfache  Elemente    .     .  328 
§  42.     Ueber-  und  Unterordnung,  Inhalt  und  Umfang  der 

Begriffe 343 

§  43.    Die  Eintheilung  der  Begriffe 359 

§  44.     Die  Definition 370 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile  382 

§  45.    Die  Wahrheit  der  Urtheile   über  Begriffe    ....  382 

§  46.     Die  Wahrheit  der  Aussagen  über  uns  selbst    .     .     .  390 

§  47.    Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurtheile   ....  396 

§  48.    Axiome  und  Postulate    ,.,.,....,.  409 


Inhaltsübersicht.  XI 

Seite 

Dritter  Abschnitt.    Die  Begründung  der  vermittelten Urtheile 

durch  die  Regeln  des  Schlusses   ........  422 

§  49.     Der  hypothetische  Schluss 422 

§  50.    Der  hypothetische  Schluss  vermittelst  einer  Einsetzung  427 

§  51.    Verschiedene  Quellen  hypothetischer  Obersätze    .    .  434 

§  52.     Die  Folgerungen  nach  formalen  logischen  Gesetzen  437 

§  53.    Die  Schlüsse  aus  BegriflFs Verhältnissen 443 

§  54.     Die  Bedeutung  der  aristotelischen  Figuren  und  Modi  450 

§  55.    Der  Werth  des  Syllogismus 459 

§  56.     Der  Subsumtionsschluss 476 

§  57.    Der  Schluss  aus  divisiven  Urtheilen 477 

§  58.    Der  disjunctive  Schluss       481 

§  59.     Das   Verhältniss  der   Wahrheit   der  Conclusion  zur 

Wahrheit  der  Prämissen 483 


• 


Berichtigung. 

S.  289,  15  V.  u.  für  »dast  lies:  deren  ZusammentreflFen. 


Einleitung. 

§■  1. 

Von  der  Thatsache  aus,  dass  ein  wesentlicher  Theil  un- 
seres Denkens  den  Zweck  verfolgt,  zu  Sätzen  zu  gelangen, 
welche  gewiss  und  allgemeingültig  sind,  und  dass  dieser 
Zweck  durch,  die  natürliche  Entwicklung  des  Denkens  häufig 
verfehlt  wird,  entsteht  die  Aufgabe  sich  über  die  Bedingungen 
zu  besinnen,  unter  welchen  jener  Zweck  erreicht  werden  kann, 
und  danach  die  Regeln  zu  bestimmen,  durch  deren  Befolgung 
er  erreicht  wird.  Wäre  diese  Aufgabe  gelöst,  so  würden  wir 
im  Besitze  einer  Kunst  lehre  des  Denkens  sein,  welche  An- 
leitung gäbe  zu  gewissen  und  allgemeingültigen  Sätzen  zu  ge- 
langen.    Diese  Kunstlehre  nennen  wir  Logik. 

1 .  Zu  bestimmen ,  was  Denken  überhaupt  ist ,  wie  es 
sich  von  den  übrigen  geistigen  Thätigkeiten  unterscheidet, 
in  welchen  Beziehungen  es  zu  denselben  steht,  und  welche 
Arten  es  etwa  hat,  ist  zunächst  Sache  der  Psychologie.  Nun 
können  wir  uns  zwar  auf  keine  allgemein  anerkannte  Psycho- 
logie beziehen ;  es  genügt  aber  für  unsere  vorläufige  Unter- 
suchung schon  die  Erinnerung  an  den  Sprachgebranch.  Dieser 
bezeichnet  durch  Denken  im  weitesten  Sinne  jedenfalls  eine 
Vorstellungsthätigkeit,  d.  h.  eine  Solche,  in  welcher  -j  \J 
an  sich  weder  die  innere  subjective  Erregung  liegt ,  die  wir 
als  Gefühl  bezeichnen,  noch  eine  unmittelbare  Wirkung  auf 
uns  selbst  oder  auf  anderes  hervorgebracht  wird,  wie  im  Wollen 
und  Handeln,  deren  Bedeutung  vielmehr  darin  aufgeht,  dass 
etwas  dem  Bewusstsein  als  Gegenstand  gegenwärtig   ist.     Im    ^N^.^ 

Sigwart,  Logik.    I.    2.  Auflage.  1 


2  Einleitung.  1.  Aufl.  S.  2 

Unterschiede  von  der  Wahrnehmung  und  Anschauung  aber, 
welche  eine  unmittelbare  Beziehung  auf  ein  der  subjectiven 
Thätigkeit  unabhängig  von  ihr  gegebenes  Object  ausdrücken, 
bezeichnet  Denken  eine  rein  innere  Lebendigkeit  des 
Vorstellens,  die  eben  darum  als  ein  spontanes,  aus  der  Kraft 
des  Subjects  allein  hervorgehendes  Thun  erscheint;  und  ihre 
Producte,  die  Gedanken,  unterscheiden  sich  darum  als  bloss 
subjektive  ideelle  Gebilde  von  den  Objekten,  welche  Wahr- 
nehmung und  Anschauung  als  real  sich  gegenüberstellen.  In 
diesem  Sinne  nennt  die  Sprache  sowohl  die  Erinnerung  —  an 
etwas  denken  —  als  die  Einbildung  —  sich  etwas  denken  — 
ebensogut  ein  Denken,  wie  das  Nachdenken  und  Ueberdenken. 
Wo  aber,  wie  in  der  Erkenntniss  der  äusseren  Welt,  Wahr- 
nehmung und  Denken  sich  auf  dasselbe  Object  beziehen,  unter- 
scheiden wir  ebenso  die  spontane  Aufsuchung,  Verknüpfung 
und  Verarbeitung  der  der  Wahrnehmung  unmittelbar  gege- 
benen Elemente  als  den  dem  Denken  angehörigen  Factor  von 
dem  unmittelbaren  Gegebensein  derselben. 

2.  Verstehen  wir  zunächst  unter  Denken  alles,  was  der 
Sprachgebrauch  darunter  versteht :  so  ist  sicher,  dass  mit  der 
Entwicklung  des  bewussten  Lebens  Denken  nothwendig  und 
unwillkürlich  entsteht,  und  dass  der  Einzelne,  wenn  er 
anfängt  auf  sein  inneres  Thun  zu  reflectiren,  sich  immer  schon 
in  manigfaltigem  Denken  begriffen  findet,  ohne  dass  er  vom 
Beginne  des  Denkens  und  seinem  Hervorwachsen  aus  ein- 
facheren und  früheren  Thätigkeiten  eine  unmittelbare  Kennt- 
niss  haben  könnte.  Nur  durch  eine  schwierige  psychologische 
Analyse  des  immer  schon  in  Bewegung  begriffenen  Denkens 
vermögen  wir  auf  seine  einzelnen  Factoren  und  hervorbringen- 
den Kräfte  zurückzuschliessen,  und  uns  eine  Vorstellung  über 
die  Gesetze  seines  unbewussten   Werdens  zu  bilden. 

Die  unwillkürliche  Gedankenerzeugung  geht  ferner  unser 
ganzes  Leben  hindurch  fort;  es  ist  schlechterdings  unmöglich, 
im  bewussten  wachen  Zustande  die  innere  Lebendigkeit  zu 
hemmen,  welche  durch  die  manigfaltigsten  Anlässe  angeregt 
fortwährend  Vorstellungen  an  Vorstellungen  reiht,  sie  in  immer 
neuen  Verbindungen  verknüpft  und  so  ohne  unsere  Absicht 
eine  innere  Welt  von  Gedanken  uns  gegenwärtig  erhält. 


3  §  1.     Aufgabe  der  Logik.  3 

3.  Allein  über  diesem  unwillkürlichen  Denken  erhebt 
sich  ein  willkürliches  Thun,  ein  Denkenwollen,  das 
von  bestimmten  Interessen  und  Zwecken  geleitet  den  zuerst 
unwillkürlichen  Lauf  der  Gedanken  zu  regeln  und  auf  be- 
stimmte Ziele  zu  richten  sucht,  unter  dem  unwillkürlich  ent- 
stehenden auswählend ,  dieses  fallen  lassend ,  jenes  durch  Auf- 
merksamkeit festhaltend  und  entwickelnd,  Gedanken  suchend 
und  verfolgend.  Wir  können  die  Frage,  ob  es  überhaupt  eine 
directe  willkürliche  Gedankenerzeug  ang  gebe,  oder  ob  wir  nur 
indirect  die  Bedingungen  herstellen  können,  unter  denen  die 
unwillkürliche  Gedankenerzeugung  das  Gewünschte  herbeiführt, 
auf  sich  beruhen  lassen,  da  das  Resultat  im  Wesentlichen 
dasselbe  ist:  die  unter  dem  Einflüsse  des  Wollens  geschehene 
Entstehung  von  Gedanken  die  ein  bestimmtes  Interesse  be- 
friedigen *). 

Dieses  Interesse  ist  aber  ein  zweifaches.  Von  einer 
Seite  steht  die  willkürliche  Thätigkeit,  die  wir  imserem  Denken 
zuwenden,  unter  dem  allgemeinen  Gesetze,  dass  das  Angenehme 
gesucht,  das  Unangenehme  gemieden  wird.  Nun  kann  uns 
das  Denken  in  doppeltem  Sinne  unter  den  Gesichtspunkt  des 
Angenehmen  fallen :  einmal  sofern  jede  naturgemässe  Thätig- 
keit ein  Gefühl  der  Befriedigung  innerhalb  gewisser  Schranken 
ihrer  Intensität  gibt;  dann  sofern  der  manigfache  Inhalt  un- 
seres Denkens  ans  angenehm  oder  unangenehm  berührt. 

Achten  wir  allein  hierauf:  so  findet  sich  in  uns  eine 
Neigung,  theils  überhaupt  unser  Denken  anzuregen  und  an- 
regen zu  lassen,  um  der  langen  Weile  zu  entgehen  und  uns  Unter- 
haltung zu  verschaffen,  theils  es  in  der  Richtung  zu  leiten 
dass  uns  das  Gedachte  angenehm  ist.  Indem  wir  bei  ange- 
nehmen Erinnerungen  verweilen  und  sie  zu  beleben  suchen, 
indem  wir  Projecte  machen  und  Luftschlösser  bauen,  indem 
wir  widerwärtige  Erinnerungen  zu  verscheuchen  oder  Furcht 
und  Angst  zu  zerstreuen  streben,  ist  der  Einfluss  der  Willkür 
auf  unser  Denken  durch  diese  Motive  bestimmt. 


*)  Vgl.  Windelband  Ueber  Denken  und  Nachdenken  (Präludien 
S.  176  ff.)  dessen  Ausführungen  im  Einzelnen  sehr  viel  Richtiges  und 
Treffendes  enthalten,  wenn  auch  das  Verhältniss ,  in  das  er  »unbe- 
wusstes«  und  bewusstes  Wollen  setzt,  mir  nicht  richtig  bestimmt  er- 
scheint. 

1* 


4  Einleitnng.  4 

Die  Befriedigung  die  dabei  entsteht,  hat  einen  durchaus 
individuellen  Charakter ;  das  einzelne  Subject  bezieht 
sich  dabei  nur  auf  sich  selbst,  seine  besondere  Natur  und  Lage, 
und  darum  ist  hier  die  individuelle  Verschiedenheit  des  Denkens 
die  Regel,  und  Niemand  kann  sie  aufheben  wollen. 

4.  Dieses  Interesse  sich  durch  Denken  unmittelbar  an- 
genehm zu  afficieren  ist  aber  das  untergeordnete;  die  dem 
Umfange  wie  dem  Werthe  nach  bedeutendere  Masse  der  mensch- 
lichen DenkthUtigkeit  verfolgt  ernstere  Zwecke. 

Zunächst  nimmt  das  Bedürfniss  und  die  Noth  des 
Lebens  das  Denken  in  seinen  Dienst,  und  setzt  ihm  Zwecke 
die  mit  Bewusstsein  aufgefasst  und  verfolgt  werden.  Un- 
sere Existenz  und  unser  Wohlsein  hängt  von  bewusstem  Han- 
deln, von  zweckmässiger  Einwirkung  auf  die  Dinge  um  uns 
ab.  Dieses  Handeln  gelingt  nicht  mit  müheloser  instinctiver 
Sicherheit,  sondern  ist  bedingt  durch  aufmerksame  und  nach- 
denkende Beobachtung  der  Natur  der  Dinge  und  ihrer  Ver- 
hältnisse zu  uns,  und  durch  luanigfaltige  Berechnung  und  Ueber- 
legung  in  welcher  Weise  sie  als  Mittel  zur  Befriedigung  un- 
serer Bedürfnisse  dienen  können.  Das  menschliche  Denken 
erreicht  seinen  Zweck,  die  Sicherung  unseres  Wohls,  nur  dann, 
wenn  es  auf  Grund  der  Kenntniss  der  Dinge  die  Zukunft 
richtig  vorbildet,  das  voraussehende  Vorstellen  also  mit  dem 
wirklichen  Verlaufe  übereinstimmt,  der  durch  unsere  Eingriffe 
mit  bedingt  ist. 

Nach  richtiger  Erkenntniss  der  Dinge  und  ihres  Ver- 
haltens verlangt  aber,  auch  über  das  practische  Bedürfniss 
hinaus,  der  überall  lebendige  Wissenstrieb;  rein  um  des 
Erkennens  willen  soll  unser  Denken  sich  anstrengen  die  Natur 
der  Dinge  zu  erforschen,  und  in  der  Gesammtheit  unseres 
subjectiven  Wissens  ein  getreues  und  vollständiges  Bild  der 
objectiven  Welt  entwerfen.  Die  Befriedigung  des  Erkenntniss- 
triebes schliesst  also  jene  Ziele  des  praktischen  Denkens  mit 
ein;  Erkenntniss  des  Seienden  ist  der  unmittelbare 
Zweck  der  unser  Denken  in  Bewegung  setzt  und  seine  Rich- 
tung bestimmt. 

5.  Allein  mit  diesem  Interesse  des  Wissenstriebs  sind 
die    Zwecke    unseres  Denkens   keineswegs    erschöpft.     Gleiche 


5  §  1.     Aufgabe  der  Logik.  5 

Anstrengung  muthen  wir  ihm  in  einer  Richtung  zu,  die  nicht 
unter  den  Begriff  der  Erkenntniss  des  Seienden  gebracht  werden 
kann.  Wir  stehen  thatsächlich  unter  der  Herrschaft  bestimmter 
Gesetze,  nach  denen  wir  den  W  e  r  t  h  der  menschlichen 
Handkingen  beurtheilen  und  denen  wir  uns  in  unserem  Wollen 
und  Thun  unterwerfen  wollen.  Es  ist  für  unsere  Untersuchung 
gleichgültig,  woher  diese  Gesetze  stammen  und  was  das  Motiv 
ist,  dass  wir  sie  als  für  uns  gültig  anerkennen;  genug,  dass 
wir  fortwährend  beflissen  sind,  die  Regeln  des  Anstandes,  der 
Sitte,  des  Rechts,  der  Pflicht  zu  beobachten,  und  in  jedem 
Augenblicke  aufgefordert  sind  uns  die  Frage  zu  beantworten, 
was  wir  thun  und  wie  wir  handeln  sollen,  um  mit  den  für 
uns  geltenden  Grundsätzen  in  Uebereinstinimung  zu  bleiben, 
unsere  Ehre  und  unser  Gewissen  rein  zu  erhalten.  Nicht  ein 
reeller  Erfolg,  der  uns  die  Uebereinstimmung  unserer  Berech- 
nung mit  der  Natur  der  Dinge  verbürgte ,  belehrt  uns ,  ob 
unser  Denken  seinen  Zweck  erreicht  hat  oder  nicht;  der  Er- 
folg selbst  der  beabsichtigt  wird,  besteht  in  lauter  Gedanken ; 
der  wirkliche  Erfolg  sind  ebenso  die  Gedanken  die  verklagen 
oder  entschuldigen,  die  Anerkennung  oder  Nichtanerkennung 
der  Angemessenheit  des  einzelnen  Handelns  an  die  allgemeine 
Regel  von  Seiten  anderer  und  unser  selbst. 

6.  Fassen  wir  die  letztere  Sphäre,  die  den  wichtigsten 
Theil  unseres  practischen  Denkens  sowie  unserer  Beurtheilung 
der  practischen  Verhältnisse  ausmacht,  ins  Auge:  so  haben 
wir  vor  dem  Forum  unseres  eigenen  Gewissens  kein  anderes 
Merkmal,  ob  das  unser  Handeln  leitende  Denken  seinen  Zweck 
erreicht  hat  oder  nicht,  als  das  innere  Bewusstsein  der  Noth- 
wendigkeit  unseres  Denkens,  die  Gewissheit, 
dass  aus  der  allgemeinen  Regel  die  bestimmte  Handlungs- 
weise unabweislich  folgt,  die  Evidenz,  bei  der  wir  uns  be- 
ruhigen ,  dass  es  im  gegebenen  Falle  recht  und  gut  war  so 
zu  handeln,  weil  die  allgemeinen  Principien  des  Rechts  und 
der  Sittlichkeit  es  so  forderten.  Ebenso  haben  wir  keine 
äussere  Bestätigung  dass  wir  unseren  Zweck  erreicht,  als  die 
Zustimmung  anderer,  welche  von  denselben  Voraussetzungen 
aus  dieselben  Folgerungen  für  nothwendig  erklären. 

Wenn  wir  von  Not  h  wendigkeit  unseres  Denkens 


Q  Einleitung.  6 

reden :  so  ist  der  Sinn  derselben  zunächst  vor  einer  Verwechs- 
lung zu  schützen.  Psychologisch  betrachtet  mag  man  alles 
was  der  Einzelne  denkt  ftir  nothwendige,  d.  h.  gesetzm'assig 
aus  den  jeweiligen  Voraussetzungen  erfolgende  Thätigkeit  an- 
sehen ;  dass  gerade  dies  und  nichts  anderes  gedacht  wird, 
ist  nothwendige  Folge  des  Vorstellungskreises,  der  Gemüths- 
stimmung,  des  Charakters,  der  augenblicklichen  Anregung, 
welche  das  einzelne  Individuum  erfährt.  Allein  neben  dieser 
Nothwendigkeit  der  psychologischen  Causalität  steht  eine  an- 
dere ,  die  rein  in  dem  Inhalt  und  (legen stand  des 
Denkens  selbst  wurzelt,  die  also  nicht  in  den  veränderlichen 
subjectiven  individuellen  Zuständen,  sondern  in  der  Natur  der 
Objecto  begründet  ist,  welche  gedacht  werden,  und  insofern 
o  b  j  e  c  t  i  V  heissen  mag.  • 

Kommt  nun  hier  unser  Denken  im  Bewusstsein  seiner 
objectiven  Nothwendigkeit  und  Allgemeingültig- 
keit zur  h'uhe,  so  sind  es  genau  betrachtet  dieselben 
Merkmale,  welche  den  Zweck  unseres  Denkens  ausdrücken 
wo  es  der  Erkenntniss  des  Seienden  dienen  will.  Auch  hier 
können  wir  mit  Sicherheit  das  Ziel ,  dem  unser  absichtliches 
Denken  zustrebt,  nicht  anders  bestimmen  als  so ,  dass  unser 
Denken  darauf  ausgehe  in  dem  Bewusstsein  seiner  Nothwen- 
digkeit und  Allgemeingültigkeit  zu  beruhen. 

Eine  psychologische  Nothwendigkeit  treibt  allerdings  den 
unbefangenen  Menschen  dazu ,  seine  Empfindungen  und  die 
darauf  sich  beziehenden  Gedanken  zu  objecti vieren,  und  sich 
eine  Welt  vorzustellen  der  er  ein  von  seinen  subjectiven  Thä- 
tigkeiten  unabhängiges  Dasein  zuschreibt ;  und  indem  sein 
Erkenntnisstrieb  sich  regt,  setzt  er  sich  ohne  Weiteres  den 
Zweck  diese  objective  Welt  zu  erkennen ,  seine  Gedanken  so 
zu  bilden  dass  sie  mit  dem  Seienden  übereinstimmen.  Allein 
ob  dieser  Zweck  erreichbar  sei,  ist  streitig ;  die  kritische  Be- 
hauptung, dass  alle  unsere  Erkenntniss  zunächst  und  unmittel- 
bar nur  für  uns  etwas  sei,  in  einem  System  von  Vorstellungen 
bestehe,  ist  unwiderlegbar;  dass  diesem  Vorgestellten  ein  mit 
ihm  übereinstimmendes  Sein  entspreche,  ist  entweder  bloss  ein 
blinder  Glaube;  oder,  wenn  es  eine  Gewissheit  darüber  geben 
kann  die  den  Zweifel  aufhebt,  so  beruht  sie  auf  einer  W^ider- 


7  §  1.    Aufgabe  der  Logik.  7 

legung  des  Zweifels,  auf  dem  Nachweise  dass  er  unmöglich 
ist,  also  einerseits  darauf,  dass  die  Annahme  eines  Seienden 
uns  in  keine  Widersprüche  verwickelt ,  die  wir  nicht  denken 
könnten,  andererseits  darauf,  dass  die  Beschaffenheit  unserer 
Vorstellungen  uns  zwingt  ein  solches  Sein  anzunehmen ;  beides 
geht  also  auf  eine  Nothwendigkeit  in  unserem  Denken  zurück. 
Es  kann  zu  den  sichersten  Ergebnissen  der  Analyse  unserer 
Erkenntniss  gerechnet  werden,  dass  jede  Annahme  einer  ausser 
uns  existierenden  Welt  eine  durch  Denken  vermittelte,  aus 
den  subjectiven  Thatsachen  der  Empfindung  durch  unbewusste 
Denkprocesse  erst  ^irgendwie  abgeleitete  ist ;  es  gibt  also  ausser- 
halb des  Denkens  kein  Mittel  sich  zu  vergewissern  ob  wir 
den  Zweck  das  Seiende  zu  erkennen  wirklich  erreicht  haben; 
die  Möglichkeit,  unsere  Erkenntniss  mit  den  Dingen  zu  ver- 
gleichen wie  sie  abgesehen  von  unserer  Erkenntniss  existieren, 
ist  uns  für  alle  Ewigkeit  verschlossen ;  wir  müssen  uns  schlech- 
terdings auch  im  besten  Falle  mit  der  widerspruchslosen 
Uebereinstimmung  der  Gedanken  begnügen  die  ein  Seiendes 
voraussetzen,  wie  wir  im  Gebiete  unseres  äusseren  Handelns 
uns  vollständig  damit  begnügen,  dass  unsere  Vorstellungen 
und  unsere  Bewegungen  nebst  ihren  Erfolgen  unter  sich  und 
ebenso  mit  den  Vorstellungen  anderer  durchaus  übereinstimmen. 

Gibt  es  also  ein  erkennbares  Sein :  so  ist  eine  Erkennt- 
niss desselben  nur  dadurch  möglich,  dass  eine  gesetzmässige 
Beziehung  zwischen  dem  Sein  und  unserem  subjectiven  Thun 
besteht,  vermöge  der  dasjenige  was  wir  auf  Grund  des  in 
unserem  Bewusstsein  Gegebenen  nothwendig  denken 
müssen,  auch  dem  Seienden  entspricht,  und  die  Gewissheit 
unserer  Erkenntniss  ruht  überall  auf  der  Einsicht  in  die  Noth- 
wendigkeit unserer  Denkprocesse.  Ferner :  Gibt  es  ein  er- 
kennbares Sein  ausser  uns :  so  ist  es  dasselbe  für  alle  denkenden 
und  erkennenden  Subjecte,  und  jeder  der  das  Seiende  erkennt 
muss  in  Beziehung  auf  denselben  Gegenstand  dasselbe  denken, 
ein  Denken  also,  welches  das  Seiende  erkennen  soll,  ist  noth- 
wendig ein  allgemeingültiges  Denken. 

Läugnet  man  dagegen  die  Möglichkeit  etwas  zu  erkennen 
wie  es  an  sich  ist;  ist  das  Seiende  nur  einer  der  Gedanken 
die  wir  producieren:  so  gilt  doch  das,  dass  wir  eben  denjenigen 


g  Einleitung.  8 

Vorstellungen  die  Objectivität  beilegen,  die  wir  mit  dem  Be- 
wusstsein  der  Nothwendigkeit  producieren,  und  dass,  sobald 
wir  etwas  als  seiend  setzen,  wir  eben  damit  behaupten,  dass 
alle  andern,  wenn  auch  nur  hypothetisch  angenommen,  den- 
kenden Wesen  von  derselben  Natur  wie  wir  es  mit  derselben 
Nothwendigkeit  producieren  iiiüssten. 

Wir  können  also  ohne  Weiteres  behaupten :  Wenn  wir 
nichts  als  nothwendiges  und  allgemeingültiges  Denken  pro- 
ducieren, so  ist  die  Erkenntniss  des  Seienden  mit  darunter 
begriffen ;  und  wenn  wir  mit  dem  Zwecke  der  Erkenntniss 
denken,  so  wollen  wir  unmittelbar  nur  nothwendiges  und  all- 
gemeingültiges Denken  vollziehen.  Dieser  Begriff  ist  auch 
derjenige  der  das  Wesen  der  »W  a  h  r  h  e  i  t«  erschöpft.  Wenn 
wir  von  mathematischen,  thatsächlichen,  sittlichen  Wahrheiten 
sprechen:  so  ist  der  geraemsame  Charakter  dessen  was  wir 
wahr  nennen ,  dass  es  ein  nothwendig  und  allgemeingültig 
Gedachtes  sei. 

7.  Indem  wir  die  Aufgabe,  welche  das  von  der  Logik 
zu  betrachtende  Denken  sich  setzt,  so  fassen,  weichen  wir 
einmal  den  Schwierigkeiten  aus,  welche  jede  Logik  drücken 
die  sich  als  Erkenntnisslehre  ankündigt,  dass  sie  nemlich  erst 
nachweisen  muss  ob  und  inwiefern  überhaupt  Erkenntniss 
möglich  sei,  und  damit  nicht  nur  auf  das  bestrittene  Gebiet 
der  Metaphysik  hinübergeht ,  sondern,  indem  sie  beweist  und 
widerlegt,  bereits  eine  Nothwendigkeit  und  Allgemeingültig- 
keit des  Denkens  voraussetzt,  aus  der  erst  die  üeberzeugung 
von  der  Objectivität  des  Denkens  hervorgehen  soll;  ebenso 
aber  entgehen  wir  der  Einseitigkeit ,  in  welche  die  erkennt- 
niss-theoretische  Logik  in  der  Regel  verfallt,  dass  sie  nemlich 
nur  dasjenige  Denken  berücksichtigt ,  welches  der  Erkennt- 
niss des  rein  Theoretischen  dient,  das  andere  aber  vergisst, 
welches  unser  Handeln  leiten  soll.  Und  doch  sind  die  geistigen 
Thätigkeiten  in  beiden  Fällen  ganz  dieselben  ihrem  Wesen 
nach,  und  die  Zwecke  fallen  unter  denselben  Gesichtspunkt. 

8.  Fassen  wir  nun  alles  dasjenige  Denken  zusammen, 
welches  den  gemeinsamen  Zweck  verfolgt,  seiner  Nothwendig- 
keit gewiss  und  allgemeingültig  zu  werden :  so  lässt  sich  auch 
seine    psychologische    Abgrenzung     vervollständigen.       Alles 


9  §  1.    Aufgabe  der  Logik.  9 

Denken,  das  unter  diesen  Gesichtspunkt  fällt,  vollendet  sich 
in  U  r  t  h  e  i  1  e  n ,  die  als  Sätze  innerlich  oder  äusserlich 
ausgesprochen  werden.  In  Uitheilen  endigt  jede  practische 
Ueberlegung  über  Zwecke  und  Mittel,  in  Urtheilen  besteht 
jede  Erkenntniss,  in  Urtheilen  schliesst  sich  jede  üeberzeugung 
ab.  Alle  andern  Functionen  kommen  nur  in  Betracht  als 
Bedingungen  und  Vorbereitungen  des  Urtheils.  Das  ürtheil 
kann  ferner  nur  insofern  Gegenstand  wissenschaftlicher  Unter- 
suchung sein  als  es  sich  im  Satze  ausspricht ;  nur  vermittelst 
des  Satzes  kann  es  gemeinsames  Object  der  Betrachtung  sein, 
und  nur  als  Satz  kann  es  allgemeingültig  werden  wollen. 

9.  Nun  lehren  die  Thatsachen  des  Irrthuras  und 
des  Streites,  dass  unser  wirkliches  Denken  in  den  Urtheilen 
die  es  erzeugt  seinen  Zweck  häufig  verfehlt ;  dass  diese  Ur- 
theile  theils  von  den  einzelnen  Denkenden  selbst  wieder  auf- 
gehoben werden,  indem  die  Üeberzeugung  eintritt,  dass  sie 
ungültig  sind  d.  h.  dass  nothwendig  anders  geurtheilt  werden 
muss,  theils  dass  die  Urtheile  von  andern  Denkenden  nicht 
anerkannt  werden,  indem  diese  ihre  Noth wendigkeit  bestrei- 
ten, sie  für  blosse  Meinung  und  Vermuthung  erklären,  oder 
ihre  Möglichkeit  läugnen ,  sofern  über  denselben  Gegenstand 
nothwendig  anders  geurtheilt  werden  müsse. 

Darin,  dass  das  wirklich  entstehende  Denken  seinen  Zweck 
verfehlen  kann  und  wirklich  verfehlt,  liegt  das  Bedürfniss 
einer  Disciplin,  welche  den  Irrthum  und  den  Streit  vermeiden 
und  das  Denken  so  vollziehen  lehrt,  dass  die  daraus  hervor- 
gehenden Urtheile  wahr,  d.  h.  nothwendig,  und  gewiss,  d.  h. 
vom  Bewusstsein  ihrer  Nothwendigkeit  begleitet,  und  eben- 
darum allgemeingültig  seien. 

Die  Beziehung  auf  diesen  Zweck  scheidet  die  logische 
Betrachtung  des  Denkens  von  der  psychologischen. 
Dieser  ist  es  um  die  Erkenntniss  des  wirklichen  Denkens  zu 
thun,  und  sie  sucht  demgemäss  die  Gesetze ,  nach  denen  ein 
bestimmter  Gedanke  unter  bestimmten  Bedingungen  gerade 
so  und  nicht  anders  eintritt,  sie  setzt  sich  zur  Aufgabe,  jedes 
wirkliche  Denken  aus  den  allgemeinen  Gesetzen  der  geistigen 
Thätigkeit  und  den  jeweiligen  Voraussetzungen  des  indivi- 
duellen Falles  zu  begreifen  —  in  gleicherweise  also  das  irr- 


10  Einleitung.  10 

thüraliche  und  streitige,  wie  das  wahre  und  allgemein  aner- 
kannte Denken.  Der  Gegensatz  von  wahr  und  falsch  hat 
ebensowenig  eine  Stelle  in  ihr,  wie  der  Gegensatz  von  gut 
und  böse  im  menschlichen  Handeln  ein  psychologischer  ist. 

Die  logische  Betrachtung  dagegen  setzt  das  Wahrdenken- 
wollen voraus,  und  hat  nur  für  diejenigen  einen  Sinn,  welche 
sich  dieses  Wollens  bewusst  sind  und  nur  für  dasjenige  Ge- 
biet des  Denkens,  welches  von  demselben  beherrscht  wird. 
Indem  sie,  von  diesem  Zwecke  ausgehend,  die  Bedingungen 
untersucht  unter  denen  er  erreicht  wird,  will  sie  einerseits 
die  Kriterien  des  wahren  Denkens  aufstellen,  die  aus  der 
Forderung  der  Nothwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  fliessen, 
andererseits  die  Anweisung  geben  die  Denkoperationen 
so  einzurichten,  dass  der  Zweck  erreicht  wird.  So  ist  die 
Logik  nach  einer  Seite  eine  kritische  Disciplin  gegenüber  dem 
schon  vollzogenen  Denken ,  auf  der  andern  Seite  eine  Kunst- 
lehre. Da  aber  die  Kritik  einen  Werth  nur  hat  sofern  sie 
ein  Mittel  ist  den  Zweck  zu  erreichen:  so  ist  die  oberste 
Aufgabe  der  Logik  und  diejenige  die  ihr  eigentliches  Wesen 
ausmacht,  Kunstlehre  zu  sein. 

§•2. 

Die  Logik  als  Kunstlehre  des  Denkens  kann  nicht  unter- 
nehmen Anweisung  zu  geben,  wie  von  einem  gegebenen  Zeit- 
punkte an  lauter  absolut  wahres  Denken  erzeugt  werden 
soll.  Sie  muss  sich  darauf  beschränken  zu  zeigen,  theils  welche 
allgemeinen  Forderungen  vermöge  der  Natur  unseres 
Denkens  jeder  Satz  erfüllen  muss,  damit  er  nothwendig  und 
allgemeingültig  sein  könne,  theils  unter  welchen  Bedingungen 
und  nach  welchen  Regeln  von  gegebenen  Voraussetzungen 
aus  auf  nothwendige  und  allgemeingültige  Weise  fortgeschritten 
werden  kann,  indem  sie  darauf  verzichtet  über  die  Nothwen- 
digkeit und  Allgemeingültigkeit  der  jeweiligen  Voraussetzungen 
zu  entscheiden.  Die  Befolgung  ihrer  Regeln  verbürgt  dem- 
nach nicht  nothwendig  materiale  Wahrheit  der  Resultate, 


11  §  2.    Grenzen  der  Aufgabe.  11 

sondern  nur  die  formale  Richtigkeit  des  Verfahrens.  In 
diesem  Sinne  ist  unsere  Kunstlehre  nothwendig  formale 
Logik. 

1.  Wenn  für  irgend  eine  menschliche  Thätigkeit  eine 
Kunstlehre  aufgestellt  wird,  welche  den  Anspruch  macht  den 
Erfolg  der  Thätigkeit  zu  sichern  für  welche  sie  Regeln  gibt : 
so  wird  dabei  vorausgesetzt,  dass  diese  Thätigkeit  eine  voll- 
komm en  freie  und  willkürliche  sei;  und  darin  liegt 
einmal,  dass  ich  die  Bedingungen  meiner  Thätigkeit  jederzeit 
in  meiner  Gewalt  habe  sobald  ich  nur  will ,  und  dann ,  dass 
das  Bewusstsein  des  Zweckes  und  der  für  seine  Erreichung 
gültigen  Regeln  genüge,  um  jede  einzelne  Operation  diesen 
Regeln  gemäss  zweckmässig  zu  vollziehen.  Sollte  also  der 
Zweclc  noth wendiges  und  allgemeingültiges  Denken  zu  erzeugen 
und  vermittelst  desselben  die  Wahrheit  zu  erkennen  mit 
Hülfe  einer  Kunstlehre  gesichert  werden:  so  wäre  vorausge- 
setzt, dass  wir  alle  Bedingungen  für  dasselbe  in  unserer  Ge- 
walt hätten,  und  dass  wir  von  einem  bestimmten  Zeitpnnkt 
an  vollkommen  frei  unser  Denken  beherrschen  könnten  um 
es  den  Regeln  gemäss  zu  vollziehen. 

In  diesem  Sinne  hat  Cartesius  seine  Methodus  recte 
utendi  ratione  et  veritatem  in  scientiis  investigandi  entworfen; 
sie  sollte  bewirken,  dass  mit  Einemmale  aller  Möglichkeit 
eines  Irrthums  ein  Ende  gemacht,  aller  Zweifel  ausgeschlossen 
und  eine  Reihe  von  Gedanken  hergestellt  werde,  die,  von 
einem  nothwendig  wahren  und  gewissen  Satze  ausgehend,  in 
untrüglicher  Weise  fortschreitend,  lauter  absolut  wahre  Sätze 
enthielte.  Seine  Voraussetzung  war,  dass,  wenn  auch  nicht 
das  Haben  von  Vorstellungen,  doch  das  Urtheilen  ein  voll- 
kommen freier  und  willkürlicher  Act  sei,  sofern  wir  uns  der 
Zustimmung  zu  jedem  Satze  enthalten  können,  den  wir  nicht 
mit  voller  Ueberzeugung  als  wahr  und  gewiss  erkennen ;  dass 
es  darum  möglich  sei  durch  einen  radicalen  Zweifel  sich  aller 
und  jeder  Voraussetzungen  zu  entschlagen,  welche  die  Gefahr 
eines  Irrthums  in  sich  schliessen,  und  die  Thätigkeit  des 
Denkens  vollkommen  von  neuem  zu  beginnen;  und  ebenso 
nahm    er  an,    dass    die   Hauptbedingungen    dieser  Thätigkeit, 


12  Einleitung.  12 

Begriffe  und  Grundsätze,  uns  angeboren,  also  von  nichts  als 
unserem  Selbstbewusstsein  abhängig  seien. 

Wäre  nun  die  letzte  Annahme  auch  ebenso  sicher  als 
sie  bestritten  ist,  so  würde  höchstens  im  Gebiete  apriorischen 
Wissens  die  Methode  rein  anwendbar  sein ;  und  nur  für  die- 
jenigen, welche  den  Entschlnss  fassen  und  ausführen  könnten, 
sich  aller  Voraussetzungen  zu  entschlagen.  Es  ist  aber  schlech- 
terdings unmöglich  die  Continuität  zwischen  dem  früheren 
und  dem  jetzigen  Denken  willkürlich  abzubrechen  und  ganz 
ab  ovo  zu  beginnen ;  wie  das  willkürliche  Denken  in  dem  un- 
willkürlichen Erzeugen  von  Gedanken  wurzelt  und  aus  ihm 
fortwährend  Nahrung  zieht,  so  hätten  wir  ohne  den  Vorrath 
immer  schon  vorhandener  Gedanken,  und  die  Sprache,  welche 
denselben  repräsentiert,  gar  nicht  die  Mittel  von  der  Stelle 
zu  kommen ;  und  das  eigene  Beispiel  des  Cartesius  zeigt,  dass 
dem  besten  Vorsatze  zum  Trotz  eine  Menge  von  früheren 
Elementen  in  die  neu  begonnene  Reihe  eindringt.  Ebenso- 
wenig ist  es  richtig ,  dass  wir  uns  willkürlich  jedes  Urtheils 
enthalten  können,  wenn  es  auch  nicht  in  unserer  Wahl  stehe 
die  Vorstellungen  auf  die  es  sich  bezieht  zu  haben  oder  nicht 
zu  haben.  Denn  theils  sind  die  Voraussetzungen  die  wir  mit- 
bringen Urtheile,  welche  andere  Urtheile  unausweichlich  nach 
sich  ziehen ;  theils  sind  mit  der  Natur  der  Vorstellungen  die 
wir  haben  die  Urtheile  über  ihre  Verhältnisse  schon  bestimmt, 
und  es  ist  nicht  von  unserer  Willkür  abhängig,  ob  wir  be- 
jahen oder  verneinen  wollen. 

Es  kann  also  schlechterdings  keine  Methode  geben  das 
Denken  von  vorne  anzufangen,  sondern  immer  nur  eine  Me- 
thode es  von  schon  vorhandenen  Voraussetzungen  aus  fortzu- 
setzen, die,  selbst  wenn  sie  als  ungewiss  anerkannt  würden, 
doch  den  Ausgangspunkt  unseres  ferneren  Denkens  abgeben 
müssten. 

2.  Die  Noth  wendigkeit  einer  Einschränkung  der  Logik 
auf  Regelung  des  Fortschritts  im  Denken  gilt  insbesondere 
in  Bezug  auf  dasjenige  Denken,  welches  die  empirische  Er- 
kenntniss  der  Welt  anstrebt.  Die  Voraussetzungen  dieser  Er- 
kenntniss  sind  richtige  Wahrnehmungen,  und  ihr  zweckmäs- 
siger Vollzug  hängt  nicht   allein  von   dem   dieselben  beglei- 


13  §  2.     Grenzen  der  Aufgabe.  |3 

tenden  Denken,  sondern  ebenso  von  den  Bedingungen  der 
sinnlichen  Empfindung  und  dem  Verhältniss  unserer  Sinne 
zu  den  Objecten  ab.  Die  Kunst  richtiger  Beobachtung  ist 
nur  zum  Theil  mit  der  Kunst  richtig  zu  denken  gegeben,  zum 
Theil  beruht  sie  auf  der  Schärfe  und  üebung  der  Sinnesorgane, 
auf  mechanischer  Geschicklichkeit,  auf  der  Kunst  das  Object 
und  unsere  Sinnesorgane  in  die  günstigsten  Verhältnisse  zu 
bringen  und  die  Beobachtungsfeh i er  zu  eliminieren;  sie  muss 
sich  in  ihren  verschiedenen  Hülfsmitteln  nach  der  manigf al- 
tigen Natur  der  Gegenstände  richten,  von  denen  jede  Classe 
ihre  besondere  Technik  verlangt.  Wollten  wir  im  Gebiete 
der  empirischen  Erkenntniss  unser  Denken  und  Urtheilen  sus- 
pendieren, bis  wir  von  absolut  gewissen  und  nothwendigen 
Voraussetzungen  ausgehen  könnten:  so  wäre  eine  empirische 
Wissenschaft  gar  nicht  möglich,  und  es  bliebe  nichts  übrig 
als  mit  der  Gültigkeit  und  Genauigkeit  unserer  Wahrnehmungen 
nicht  bloss  die  Realität  der  sinnlichen  Welt  überhaupt,  son- 
dern auch  die  Möglichkeit  allgemeingültiger  Gesetze  der  Phä- 
nomene in  suspenso  zu  lassen. 

Die  Geschichte  der  Entwicklung  unseres  Wissens  zeigt 
ferner,  dass  häufig  nur  auf  dem  Umwege  eines  Ausgangs  von 
irrthümlichen  und  ungewissen  Voraussetzungen  aus  die  Wahr- 
heit gefunden  worden  ist;  und  der  Gang  der  wissenschaft- 
lichen Forschung  bringt  es  fortwährend  mit  sich,  dass  Streit 
geschlichtet  wird  durch  Verfolgung  falscher  Sätze  in  ihre 
Consequenzen.  Jeder  apagogische  Beweis  ist  ein  Beispiel  dieses 
Verfahrens. 

Ein  weites  Gebiet  unseres  Allgemeingültigkeit  anstreben- 
den Denkens  ist  endlich  an  Voraussetzungen  gebunden,  die 
ihre  Gültigkeit  von  einem  Wollen  ableiten  und  in  diesem  Sinn 
rein  positiv  sind.  Es  hiesse  die  ganze  practische  Jurisprudenz 
von  der  logischen  Betrachtung  ausschliessen,  wenn  an  der 
Forderung  festgehalten  würde,  dass  die  Logik  die  materiale 
Wahrheit  aller  Sätze  begründen  müsse. 

ii.  Was  also  eine  Kunstlehre  des  zweckmässigen  Denkens 
allein  ausführen  und  also  auch  allein  sich  vorsetzen  kann,  ist 
die  Anleitung,  von  gegebenen  Voraussetzungen  im  Denken 
so  fortzuschreiten,  dass  jeder  fernere  Schritt  mit  dem  Bewusst- 


14  Einleitung.  Ul 

sein  der  Noth wendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  verbunden 
sei.  Sie  lehrt  nicht  w  a  s  zu  denken  sei,  sonst  müsste  sie  der 
Inbegriff  aller  Wissenschaft  sein,  sie  lehrt  nur,  dass  wenn 
etwas  s  o  gedacht  wird,  ein  anderes  s  o  gedacht  werden  rauss ; 
mag  nun  das  Gegebene,  der  Vorrath  von  irgendwie  entstandenen 
Vorstellungen,  einzelnen  Beobachtungen,  allgemeinen  Sätzen, 
im  Uebrigen  beschaffen  sein  wie  er  will. 

Es  versteht  sich  dabei,  dass  wir  unter  »Fortschreiten« 
ein  Vorwärtsgehen  in  jeder  Richtung,  vom  Grund  zu  den 
Folgen  wie  von  der  Folge  zum  Grund,  vom  Allgemeinen  zum 
Besonderen  wie  umgekehrt  begreifen,  so  dass  die  Kunstlehre 
auf  alle  Probleme  sich  muss  anwenden  lassen  die  überhaupt 
unserem  Denken  gestellt  sind. 

4.  In  diesem  Sinne,  dass  wir  um  der  Allgemeinheit  und 
practischen  Ausführbarkeit  unserer  Aufgabe  willen  nicht  da- 
rauf ausgehen  können ,  ein  voraussetzungslos  von  vom  an- 
fangendes Denken  zu  fingieren,  und  dass  wir  nicht  die  Gültig- 
keit der  jedesmaligen  Voraussetzungen,  von  denen  das  wirk- 
liche Denken  ausgeht,  sondern  nur  die  Correctheit  des  Fort- 
schrittes von  gegebenen  Voraussetzungen  in  die  logische  Unter- 
suchung aufzunehmen  haben,  verstehen  wir  es,  dass  die  Logik 
eine  formale  Wissenschaft  sei.  Nicht  aber  wollen  wir  in 
dem  Sinne  die  Logik  für  formal  erklären ,  dass  sie  den  ver- 
geblichen Versuch  machen  soll,  das  Denken  überhaupt  als 
eine  bloss  formale  Thätigkeit  aufzufassen ,  welche  getrennt 
von  jedem  Inhalte  betrachtet  werden  könnte  und  den  Unter- 
schieden des  Inhalts  gegenüber  gleichgültig  wäre,  noch  in 
dem  Sinne,  dass  die  logische  Untersuchung  von  der  allge- 
meinen Beschaffenheit  des  Inhalts  und  der  Voraussetzungen 
des  wirklichen  Denkens  ganz  absehen  und  sie  ignorieren  sollte. 
Gerade  desshalb ,  weil  wir  kein  rein  aus  sich  selbst  im  einzelnen 
Individuum  anfangendes  Denken,  sondern  nur  ein  Denken  unter 
den  allgemeinen  Verhältnissen  und  Bedingungen  und  mit  den 
allgemeinen  Zwecken  des  menschlichen  Denkens  kennen,  kann 
weder  von  der  bestimmten  Art ,  wie  unser  Denken  von  der 
Sinnesempfindung  Stoff  und  Inhalt  erhält  und  ihn  zu  Vor- 
stellungen von  Dingen,  Eigenschaften  ,  Thätigkeiten  u.  s.  w. 
gestaltet,  noch  von  seiner  historischen  Bedingtheit    durch  die 


15  §  3.    Postulat  der  Logik.  15 

menschliche  Gesellschaft  abgesehen  werden,  sondern  es  wird 
[nur  abgesehen  von  der  besonderen  Beschaffenheit  des  jeweiligen 
Ausgangspunktes  einer  Reihe  von  Denkprocessen. 

§.  3. 
Die  Möglichkeit,  die  Kriterien  und  Regeln  des  nothwen- 
fdigen  und  allgemeingültigen  Fortschritts  im  Denken  aufzu- 
Istellen,  beruht  auf  der  Fähigkeit  objectiv  nothwen- 
fdiges  Denken  von  nicht  nothwendigem  zu  unter- 
scheiden, und  diese  Fähigkeit  manifestiert  sich  in  dem 
unmittelbaren  Bewusstsein  der  Evidenz,  welches 
nothwendiges  Denken  begleitet.  Die  Erfahrung  dieses  Be- 
wusstseins  und  der  Glaube  an  seine  Zuverlässigkeit  ist  ein 
Postulat,  über  welches  nicht  zurückgegangen  werden  kann. 

1.  Wenn  wir  uns  fragen,  ob  und  wie  es  möglich  sei 
die  Aufgabe  in  dem  Sinn  in  dem  wir  sie  gestellt  haben  zu 
lösen:  so  concentriert  sich  diese  Frage  in  der  Schwierigkeit 
ein  sicheres  Kennzeichen  anzugeben  an  welchem  sich  objectiv 
nothwendiges  und  allgemeingültiges  Urtheilen  unterscheiden 
lasse  von  individuell  differentem  und  damit,  im  obigen  Sinne, 
den  Zweck  verfehlendem.  Und  hier  gibt  es  zuletzt  keine  an- 
dere Antwort  als  Berufung  auf  die  subjectiv  erfahrene  Noth- 
wendigkeit,  auf  das  innere  Gefühl  der  Evidenz,  das  einen 
Theil  unseres  Denkens  begleitet ,  auf  das  Bewusstsein ,  dass 
wir  von  gegebenen  Voraussetzungen  aus  nicht  anders  denken 
können  als  wir  denken.  Der  Glaube  an  das  Recht  dieses 
Gefühls  und  seine  Zuverlässigkeit  ist  der  letzte  Ankergrund 
aller  Gewissheit  überhaupt ;  wer  dieses  nicht  anerkennt ,  für 
den  gibt  es  keine  Wissenschaft  sondern  nur  zufälliges  Meinen. 

2.  Die  Sicherheit  der  Allgemeingültigkeit  unseres  Denkens 
beruht  in  letzter  Instanz  auf  dem  Bewusstsein  der  Nothwen- 
digkeit  und  nicht  umgekehrt;  indem  wir  eine  allen  gemein- 
same Vernunft  voraussetzen,  sind  wir  überzeugt,  dass  was  wir 
mit  dem  Bewusstsein  unausweichlicher  Nothwendigkeit  denken, 
auch  von  andern  so  gedacht  werde;  und  die  empirische  Be- 
stätigung durch  die  factische  Üebereinstimumug  aller    vermag 


16  Einleitung.  16 

wohl  unsere  Voraussetzung  zu  erhärten,  dass  andere  unter 
demselben  sie  bindenden  Gesetze  stehen,  aber  das  unmittelbare 
Gefühl  der  Noth wendigkeit  weder  zu  ersetzen  noch  viel  we- 
niger zu  erzeugen.  Die  Uebereinstimmung  der  Erfahrung  mit 
unserer  Berechnung  aber,  und  die  Gewohnheit  auf  welche  sich 
die  Empiristen  berufen,  afficiert  wiederum  nur  die  Gültigkeit 
unserer  Voraussetzungen  von  denen  wir  ausgehen,  vermag  aber 
den  specifischen  Charakter  der  Denknothwendigkeit  weder 
hervorzubringen  noch  zu  alterieren.  So  dass  wir  hier  vor  dem 
fundamentalen  Factum  stehen  auf  dem  jedes  logische  Gebäude 
erbaut  sein  muss;  und  keine  Logik  kann  anders  verfahren, 
als  dass  sie  sich  der  Bedingungen  bewusst  wird  unter  denen 
dieses  subjective  Gefühl  von  Nothwendigkeit  eintritt,  und  die- 
selben auf  ihren  allgemeinen  Ausdruck  bringt.  Will  man 
sagen,  dann  sei  die  Logik  eine  empirische  Wissenschaft,  so 
ist  das  in  demselben  Sinne  richtig,  in  welchem  auch  die  Ma- 
thematik eine  empirische  Wissenschaft  ist ;  auch  sie  geht  von 
inneren  Thatsachen  aus,  und  der  Nothwendigkeit  die  ihnen 
anhaftet.  Was  aber  beide  von  der  bloss  empirischen  Wissen- 
schaft unterscheidet,  ist  eben  dass  sie  in  ihren  Thatsachen 
die  Nothwendigkeit  finden,  welche  der  zufälligen  Erfahrung 
mangelt,  und  diese  zur  Basis  der  Gewissheit  ihrer  Sätze  machen. 

§•  4. 

Mit  der  gestellten  Aufgabe  ist  der  Gang  der  Untersuchung 
gegeben.  Zuerst  ist  das  Wesen  der  Function  zu  betrach- 
ten, für  welche  die  Regeln  gesucht  werden  sollen;  dann  sind 
die  Bedingungen  und  Gesetze  ihres  normalen  Voll- 
zugs aufzustellen;  endlich  die  Regeln  des  Verfahrens  zu 
suchen,  durch  welches  von  dem  unvollkommenen  Zustande  des 
natürlichen  Denkens  aus  auf  Grund  der  gegebenen  Voraussetz- 
ungen und  Hülfsmittel  der  vollkommene  erreicht  werden  kann. 
Somit  zerfällt  unsere  Untersuchung  in  einen  analytischen, 
einen    gesetzgebenden    und   einen   technischen   Theil. 

1,  Wenn  —  wie  oben  S.  9  festgestellt  wurde  —  diejenige 
Thätigkeit  in  welcher  unser  absichtliches  Denken  seinen  Zweck 


17  §  4.    Eintheilung  der  Logik.  17 

erreicht,  das  ü  r  t  h  e  i  1  e  n  ist :  so  ist  noth wendig  der  erste 
Schritt,  dass  die  Function,  um  deren  richtigen  Vollzug  es 
sich  handelt,  in  ihrer  Natur  richtig  verstanden,  und  die  in 
derselben  liegenden  Voraussetzungen  erkannt  werden.  Um  so 
mehr,  da  dieselbe  Form  des  Urtheils  dem  zweckmässigen,  all- 
gemeingültigen, und  dem  seinen  Zweck  verfehlenden  Denken 
gemeinschaftlich  ist.  Wahrheit  und  Irrthum,  Gewissheit  und 
Zweifel,  Uebereinstimmung  und  Streit  treten  nur  insoweit  her- 
vor, als  das  Denken  die  Gestalt  von  Urtheilen  annimmt,  und 
in  urtheilen  sich  abschliessen  will  oder  abgeschlossen  hat. 
Es  ist  also  dieselbe  Function ,  die  hier  richtig ,  dort  falsch 
vollzogen  wird ;  und  es  lassen  sich  erst  dann  Regeln  geben 
sie  richtig  zu  vollziehen,  wenn  erkannt  ist,  worin  sie  besteht. 

Diese  Erkenntniss  ist  nur  durch  eine  Analyse  unseres  wirk- 
lichen TJrtheilens,  durch  Besinnung  auf  das  zu  gewinnen,  was 
wir  thun  wenn  wir  urtheilen,  welche  anderen  Functionen  etwa 
dem  Urtheilen  vorausgesetzt  sind,  auf  welche  Weise  aus  ihnen 
das  Urtheilen  sich  bildet,  und  welche  allgemeinen  Principien 
diesen  Bildungsprocess  von  Natur  beherrschen.  Es  muss  dabei 
vorausgesetzt  werden,  dass  vorläufig  bekannt  sei,  welche  Denk- 
acte  unter  die  Bezeichnung  des  Urtheils  fallen;  und  es  genügt 
zunächst,  sich  an  die  Sprache  zu  halten,  und  als  nächstes  Ob- 
ject  dieser  Untersuchung  alle  diejenigen  Sätze  auszusondern, 
die  eine  Aussage  enthalten,  welche  den  Anspruch  macht  wahr 
zu  sein  und  von  andern  als  gültig  anerkannt  und  geglaubt  zu 
werden. 

Von  den  Sätzen,  welche  die  Grammatik  aufführt ,  stellen 
wir  also  alle  diejenigen  vorläufig  bei  Seite ,  welche ,  wie  Im- 
perative und  Optative  *),  ein  individuelles  und  un übertragbares 

*)  Der  Imperativ  schliesst  allerdings  auch  eine  Behauptung  ein, 
nemlich  die,  dass  der  Redende  die  von  ihm  geforderte  Handlung  jetzt 
eben  will,  der  Optativ,  dass  er  das  Ausgesprochene  wünscht.  Diese 
Behauptung  liegt  aber  in  der  Thatsache  des  Redens,  nicht  in 
dem  Inhalt  des  Ausgesprochenen ;  ebenso  enthält  ja  auch  jeder  Aus- 
sagesatz von  der  Form  A  ist  B  bloss  durch  die  Thatsache  des  Redens 
die  Behauptung,  dass  der  Redende  das  denkt  und  glaubt  was  er  sagt. 
Diese  Behauptungen  über  den  subjectiven  Zustand  des  Redenden,  welche 
in  der  Thatsache  seines  Redens  liegen  und  unter  Voraussetzung  seiner 
Wahrhaftigkeit  gültig  sind,  begleiten  in    gleicher  Weise   alles  Reden, 

Öiji^waTt,   Logik.  I.    2.  Auflage,  2 


18  Einleitung.  17 

Moment  enthalten ,    und  ebenso  alle ,    die   zwar   auf  eine  Be- 
hauptung hinweisen,    aber  dieselbe   nicht  als  wahr  aufstellen, 


und  können  also  keinen  Unterschied  der  verschiedenen  Sätze  begründen. 
Der  Imperativ:  Schweige!  drückt  natürlich  aus:  Ich  will,  dass  du 
schweigst;  aber  er  beabsichtigt  direct  nicht  diese  Thatsache  raitzu- 
theilen,  sondern  den  Willen  des  Angeredeten  zu  bestimmen,  er  verlangt 
nicht  Glauben  an  seine  Wahrheit,  sondern  Gehorsam.  Unübertragbar 
nenne  ich  das  darin  liegende  Moment,  weil  der  Angeredete  nicht  in 
demselben  Sinne  den  Willensact  des  Befehlenden  wiederholt,  wie  er, 
indem  er  einer  Aussage  glaubt,  den  Gedanken  des  Redenden  in  sich 
aufnimmt. 

An  dieser  nächsten  und  gewöhnlichen  Bedeutung  des  Imperativs 
als  Ausdruck  eines  bestimmten  individuellen  Wollens  wird  nichts  We- 
sentliches geändert,  wenn  er  als  Form  eines  allgemeinen  Gesetzes  auf- 
tritt. Indem  der  Gesetzgeber  den  Staatsbürgern  oder  den  Religions- 
genossen mit  einem  Imperativ  gegenübertritt,  verhält  er  sich  zu  ihnen 
wie  der  Einzelne  zu  dem  Einzelnen ;  er  spricht  nicht,  um  eine  Wahr- 
heit mitzutheilen  die  geglaubt,  sondern  am  ein  Gebot  zu  verkündigen 
das  befolgt  werden  soll;  ob  der  Befehlende  als  wirkliches  Individuum 
oder  als  CoUectivum  auftritt,  ob  das  vorausgesetzte  Motiv  des  Gehor- 
sams Unterwerfung  unter  persönliche  Autorität  oder  unpersönliche 
Staatsordnung  ist  —  der  Inhalt  des  Ausgesprochenen  ist  nicht  die  Mit- 
theilung einer  Wahrheit,  sondern  die  Aufforderung  das  eine  zu  thun, 
das  andere  zu  lassen. 

Auch  die  Form  »du  sollst«,  in  der  solche  Gebote,  wie  im  Decalog, 
auftreten,  drückt  zunächst  nichts  anderes  aus.  Sollen  ist  das  Correlat 
von  Wollen;  wer  den  Befehl  des  Herrn  dem  Diener  überbringt,  sagt 
ihm:  du  sollst  das  und  das  thun;  in  »du  sollst«  liegt  also  zunächst 
nichts  anderes  als  im  einfachen  Imperativ,  die  Eröffnung  eines  Gebots 
an  den  Angeredeten,  den  ich  von  dem  Willen  eines  anderen,  sei's  ein 
Dritter  oder  auch  ich  selbst,  abhängig  denke. 

Aber  nun  liegt  allerdings  in  diesem  »du  sollst«  eine  Zweideutig- 
keit, die  in  dem  einfachen  Imperativ  nicht  liegt.  Denn  »Sollen«  hat 
auch  die  Bedeutung  eines  eigentlichen  Prädicats  in  einer  Aussage,  die 
wahr  sein  will;  es  bedeutet  verpflichtet  sein,  gebunden  sein  —  ein 
modales  Prädicat  (s.  u.  §  6,  3,  d),  welches  ein  bestehendes  Verhältniss 
des  subjectiven  individuellen  Wollens  zu  einer  gebietenden  Macht  oder 
einer  objectiven  Norm  ausspricht.  Der  ursprüngliche  Imperativ  ist  jetzt 
in  die  Bedeutung  des  Prädicats  gewandert,  welche  das  verpflichtende 
Verhältniss  eines  Gebots  zu  einem  Willen  an  den  es  sich  wendet  ein- 
schliesst;  und  die  Behauptung,  dass  ich  verpflichtet  bin,  kann  —  auf 
Grund  einer  vorausgesetzten  rechtlichen  oder  moralischen  Ordnung, 
wahr  oder  falsch  sein.  Aebnliche  Zweideutigkeit  liegt  in  »dürfen«. 
Du  darfst  —  ist  zunächst  der  Ausdruck  der  augenblicklichen  Erlaubniss, 


17  §  4.    Eintheilung  der  Logik.  19 

wie  die  Fragesätze  oder  diejenigen,  welche  nur  eine  Vermu- 
thung  oder  eine  subjective  Ansicht  ausdrücken;  in  wieweit 
die  letzteren  als  Vorbereitung  des  Urtheils  in  Betracht  kom- 
men, kann  erst  die  spätere  Untersuchung»  lehren. 

Alle  wirklichen  Aussage-  oder  Behauptungssätze  aber  sind 
Gegenstand  unserer  Untersuchung,  mögen  sie  betreffen  was 
sie  wollen.  Wir  schliessen  uns  damit  der  Auffassung  des  Ari- 
stoteles *).  an  ,  und  verwerfen  die  Unterscheidung  eines  soge- 
nannten logischen  Urtheils  von  anderen  Behauptungen,  wonach 
nur  etwa  die  Subsumtion  eines  Einzelnen  unter  sein  Allge- 
meines in  der  Logik  zu  betrachten  wäre,  blosse  Mittheilungen 
von  Thatsachen  aber  ausserhalb  derselben  fielen.  Denn  auch 
diese  Sätze  wollen  wahr  sein  und  machen  Anspruch  geglaubt 
zu  werden ,    auch    in  Beziehung    auf  sie    findet   Trrthum    und 


durch  die  ich  den  Willen  eines  anderen  freigebe,  auf  eine  Bestimmung 
seines  Thuns  und  Lassens,  auf  eine  Hinderung  seines  Wollens  ver- 
zichte; die  Aussage,  die  es  enthält,  ist  nur  das  subjective  Factum,  dass 
ich  nicht  den  Willen  habe  zu  verbieten;  der  eigentliche  Zweck  des 
Satzes  ist  ein  practischer;  insofern  ist  »du  darfst«  mit  einem  Impe- 
rativ verwandt.  Andererseits  kann  »dürfen«  ebenso  Prädicat  einer 
wirklichen  Behauptung  sein,  welche  aussagt,  dass  einer  Handlung  kein 
Verbot  einer  Autorität  entgegenstehe,  dass  sie  nach  der  bestehenden 
Ordnung  erlaubt  sei. 

Schliesslich  geht  dieselbe  Zweideutigkeit  auch  über  auf  Sätze,  welche 
die  grammatische  Form  einer  einfachen  Aussage  zeigen.  Der  Para- 
graph des  Strafgesetzbuchs:  Wer  das  und  das  thut,  wird  so  und  so 
bestraft  —  will  nicht  mittheilen,  was  wirklich  geschieht,  wie  die  For- 
mel eines  Naturgesetzes,  sondern  eine  Vorschrift  geben;  derselbe  Satz 
enthält  aber  eine  wirkliche  Aussage,  wenn  das  Gesetz  in  seiner  Wirk^ 
samkeit  geschildert  wird ;  er  sagt  jetzt,  was  innerhalb  eines  bestimmten 
Staates  regelmässig  geschieht.  Vrgl.  hiezu  Zitelmann,  Irrthum  und  Rechts- 
gesciiäft  S.  222  ff.  Bierling,  zur  Kritik  der  juristischen  Grundbegriffe  11,  259  ff. 

Die  blosse  grammatische  Form  ist  also  kein  untrügliches  Zeichen, 
dass  wir  es  mit  einer  Behauptung  zu  thun  haben.  Eine  Behauptung 
ist  nur  ein  solcher  Satz,  der  seinem  Sinne  nach  wahr  sein  will,  und  für 
den  die  Frage  gestellt  werden  kann,  ob  er  wahr  oder  falsch  ist. 

*)  Aristoteles  nennt  beständig  als  das  Merkmal,  welches  das  ür- 
theil,  die  dTiocpavotg,  von  anderen  Redeformen  unterscheidet,  nur  das, 
dass  ihm  das  Wahr-  oder  Falschsein  zukommt.  De  inter|)r.  4.  {Xöyoc) 
ctTcocpavTtxög  ou  uas,  aXX'  ^v  (p  zb  dXyj-ö-sustv  yj  ^'söSea'^'at  uk(x{jx^i.  Kbenso 
De  anima  III,  6. 

2* 


20  Einleitung.  18 

Streit  statt ,  und  darum  fordern  sie  ebensogut  wie  die  Sub- 
sumtionsurtheile  auf,  die  Bedingungen  ihrer  Gültigkeit  zu 
untersuchen  *).  Nur  wo  die  scholastische  Ansicht  vom  Wesen 
der  Wissenschaft  herrschte ,  dass  nur  die  Definition  wissen- 
schaftlichen Werth  habe,  könnte  man  die  Logik  auf  Subsum- 
tionsurtheile  beschränken  wollen;  wo  aber  das  Bewusstsein 
lebendig  ist,  dass  für  einen  grossen  Theil  unseres  Wissens 
einzelne  Thatsachen  die  Basis  und  der  Prüfstein  sind,  gehören 
auch  die  Urtheile,  welche  Thatsachen  aussprechen,  unter  die 
logische  Betrachtung. 

Es  liegt  ferner  in  der  Anlage  unserer  Untersuchung, 
dass  wir  die  Analyse  des  Urtheils  da  aufnehmen ,  wo  es  sich 
ohne  Reflexion  kunstlos  im  natürlichen  Verlaufe  des  Denkens 
bildet. 

2.  Ist  die  Untersuchung  dessen,  was  im  Urtheilen  geschieht, 
beendigt,  so  lässt  sich  dann  erst  fragen,  welches  die  Anforde- 
rungen sind,  welche  an  ein  vollkommenes,  dem  Zwecke  nach 
allen  Seiten  entsprechendes  Urtheilen  gestellt  werden  müssen, 
und  damit  ein  Ideal  aufstellen,  mit  dem  unser  Denken  über- 
einstimmen will  und  soll.    Indem  wir  nemlich  von  der  Forde- 


*)  Gegen  ülrici,  Comp,  der  Logik  2.  Afl.  §  72.  S.  266.  267. 
H  e  g  e  1 ,  der  das  Urtheil  als  das  Bestimmen  des  Begriffs  durch  sich 
selbst  bezeichnet,  sagt  zuerst  (Logik,  Werke  IV.  69j:  »Ein  Satz  hat 
zwar  im  grammatischen  Sinne  Subject  und  Prädicat,  ist  aber  darum 
noch  kein  ürtheil.  Zu  Letzterem  gehört,  dass  das  Prädicat  sich  zum 
Subject  nach  dem  Verhältniss  von  Begriff'sbestimmangen ,  also  als  ein 
Allgemeines  zu  einem  Besonderen  oder  Einzelnen  verhalte.  Aristoteles 
ist  im  73.  Jahre  seines  Alters,  in  dem  4.  Jahre  der  115.  Olympiade 
gestorben,  ist  ein  blosser  Satz,  kein  Urtheil«.  Er  fügt  aber  bezeich- 
nender Weise  hinzu:  *Es  wäre  von  Letzterem  nur  dann  etwas  darin, 
wenn  einer  der  Umstände,  die  Zeit  des  Todes  oder  das  Alter  jenes 
Philosophen  in  Zweifel  gestellt  gewesen,  aus  irgend  einem  Grunde 
aber  die  angegebenen  Zahlen  behauptet  würden  ....  So  ist  die  Nach- 
richt: mein  Freund  N.  ist  gestorben,  ein  Satz;  und  wäre  nur  dann  ein 
Urtheil,  wenn  die  Frage  wäre,  ob  er  wirklich  todt,  oder  nur  scheintodt 
wäre«.  Somit  ist  auch  nach  Hegel  jeder  Satz  doch  ein  ürtheil ,  s  o- 
fern  man  nach  s  ei  n  e  r  W  a  h  r  h  e  i  t  fragen  und  Gründe 
dafür  verlangen  kann.  Vergl.  auch  die  Bemerkungen  Fr. 
Kern's  (die  deutsche  Satzlehre,  1S83  S.  1  ff.)  die  nur  irrthümlich 
gegen  die  Logik,  statt  gegen  eine  einseitige  logische  Theorie  gerichtet  sind. 


19  §  4.     Eintheilung  der  Logik.  21 

rung  ausgehen,  dass  unser  Denken  notliwendig  und  allgemein- 
gültig sei ,  und  diese  Forderung  an  die  nach  allen  ihren 
Bedingungen  und  Factoren  erkannte  Function  des  Urtheils 
halten,  ergeben  sich  daraus  bestimmte  Normen,  welchen  das 
Urtheilen  genügen  muss,  und  ebendamit  bestimmte  Kriterien 
zur  Unterscheidung  des  vollkommenen  und  unvollkommenen 
Urtheilens,  Diese  Normen  concentrieren  sich,  soweit  die  logische 
Betrachtung  in  unserem  Sinne  sie  verfolgen  kann ,  in  zwei 
Punkten :  erstens,  dass  die  Elemente  des  Urtheils  durchgängig 
bestimmt ,  d.  h.  begrifflich  fixiert  sind ;  und  zweitens ,  dass 
der  Urtheilsact  selbst  auf  nothwendige  Weise  aus  seinen  Vor- 
aussetzungen hervorgehe.  Damit  fällt  in  diesen  Theil  die 
Lehre  von  den  Begriffen  und  Schlüssen  als  Inbegriff  norma- 
tiver Gesetze  für  die  Bildung  vollkommener  ürtheile. 

3.  Da  nun  aber  mit  der  Erkenntniss,  wie  beschaffen  ein 
ideal  vollkommenes  Denken  sein  muss,  nicht  von  selbst  auch 
schon  die  Möglichkeit  gegeben  ist ,  diesen  idealen  Zustand 
wirklich  zu  erreichen,  noch  die  Kenntniss  des  Weges  der  zum 
Ziele  führt :  so  bedarf  es  der  Besinnung  darüber,  wie  aus  dem 
uns  gegebenen  Zustande  heraus,  mit  den  Mitteln  die  uns  von 
Natur  zu  Gebote  stehen ,  und  unter  den  Bedingungen ,  unter 
denen  unser  menschliches  Denken  steht,  die  logische  Voll- 
kommenheit erreichbar  sei;  es  handelt  sich  also  um  die  Me- 
thoden, zu  richtigen  Begriffen  und  brauchbaren  Voraus- 
setzungen von  Urtheilen  und  Schlüssen  zu  gelangen.  Dies  ist 
das  Gebiet  der  Kunstlehre  im  engeren  Sinn ,  der  eigentlich 
technischen  Anweisung,  zu  welcher  die  beiden  vorangehenden 
Theile  die  noth wendigen  Vorbereitungen  sind.  In  ihr  hat 
als  wichtigster  Theil  die  Theorie  der  Induction  ihre 
Stelle,  als  die  Lehre  von  der  Methode  aus  einzelnen  Wahr- 
nehmungen Begriffe  und  allgemeine  Sätze  zu  gewinnen. 

4.  Durch  diese  Fassung  der  Aufgabe  und  Anordnung 
der  Untersuchung  glauben  wir  die  verschiedenen  Gesichtspunkte 
zu  vereinigen  ,  welche  in  der  Bearbeitung  der  Logik  heraus- 
getreten sind,  und  jedem  sein  Recht  widerfahren  zu  lassen. 
Denn  wenn  man  einerseits  der  Logik  zuwies,  die  Naturformen 
und  Naturgesetze  des  Denkens  aufzustellen,  denen  es  notli- 
wendig folge,  so  erkennen  wir  die  Nothwendigkeit  an,  solche 


22  Einleitung.  20 

Naturgesetze,  unter  denen  alles  Urtheilen  überhaupt  steht,  auf- 
zustellen, und  die  Principien  zu  finden,  unter  denen  es  als  be- 
wusste  Function  von  dieser  bestimmten  Art  noth  wendig  stehen 
muss ;  aber  wir  läugnen  dass  damit  die  Aufgabe  der  Logik  erfüllt 
sei,  weil  diese  nicht  eine  Physik  sondern  eine  Ethik  des  Den- 
kens sein  will;  wenn  man  sie  andererseits  als  Lehre  von  den 
Normen  des  menschlichen  Denkens  oder  Erkennens  definiert  hat, 
so  erkennen  wir  an,  dass  ihr  dieser  normative  Character  we- 
sentlich ist ;  aber  wir  läugnen  dass  diese  Normen  erkannt  werden 
können  anders  als  auf  Grundlage  des  Studiums  der  natürlichen 
Kräfte  und  Functionsformen  ,  welche  durch  jene  Normen  ge- 
regelt werden  sollen,  und  wir  läugnen  ebenso,  dass  ein  blosser 
Codex  von  Normalgesetzen  für  sich  schon  fruchtbar  sei  und 
genüge  den  Zweck,  um  dessen  willen  es  überhaupt  eine  Logik 
aufzustellen  lohnt,  zu  erreichen.  Vielmehr  halten  wir  es  für 
nöthig  dasjenige,  was  meist  nur  anhangsweise  abgehandelt 
wird,  zum  eigentlichen,  letzten  und  Hauptziel  unserer  Wissen- 
schaft zu  machen ,  nemlich  die  Methodenlehre.  Indem  diese 
zu  ihrem  Hauptgegenstande  das  Werden  der  Wissenschaft  aus 
den  natürlich  gegebenen  Voraussetzungen  des  Wissens  haben 
muss,  hoffen  wir  auch  denjenigen  gerecht  zu  werden,  welche, 
um  der  Leerheit  und  Abstractheit  der  formalen  Schullogik  zu 
entgehen ,  ihr  die  Aufgabe  der  Erkenntnisstheorie  zuweisen, 
nur  dass  wir  allerdings  alle  Fragen  über  die  metaphysische 
Bedeutung  der  Denkprocesse  ausschliessen  und  uns  rein  inner- 
halb des  vorgeschriebenen  Rahmens  halten,  innerhalb  dessen 
wir  das  Denken  als  subjective  Function  betrachten,  und  die 
Anforderungen  an  dasselbe  nicht  auf  eine  Erkenntniss  des 
Seienden  ausdehnen,  sondern  auf  das  Gebiet  der  Nothwendig- 
keit  und  Allgemeingültigkeit  beschränken,  in  welchen  Charac- 
teren  auch  der  Sprachgebrauch  immer  und  überall  das  unter- 
scheidende Wesen  des  Logischen  sieht. 


Erster  analytischer  Theil. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen 
des  Urtheilens. 


^1 


§5. 

Der  Satz ,  in  welchem  etwas  von  etwas  ausgesagt  wird, 
ist  der  sprachliche  Ausdruck  des  Urtheils.  Dieses  ist  ur- 
sprünglich ein  lebendiger  Denkact,  der  jedenfalls  vor- 
aussetzt, dass  zwei  unterschiedene  Vorstellungen 
dem  Urtheilenden  gegenwärtig  sind,  indem  das  Urtheil  voll- 
zogen und  ausgesprochen  wird,  die  Subjects-  und  die 
Prädicatsvorstellung,  die  sich  vorerst  nur  äusserlich 
so  unterscheiden  lassen,  dass  das  Subject  dasjenige  ist,  wovon 
etwas  ausgesagt  wird ,  das  Prädicat  dasjenige ,  was  ausge- 
sagt wird. 

1.  Was  uns  als  Urtheil  entgegentritt  in  Form  eines 
ausgesprochenen  Behauptungssatzes,  erscheint  zunächst  als 
ein  fertiges  Ganzes,  als  ein  abgeschlossenes  Resultat  der 
Denkthätigkeit,  das  als  solches  im  Gedächtniss  wiederholbar, 
in  neue  Combinationen  einzugehen  fähig,  durch  Mittheilung 
an  andere  übertragbar,  in  der  Schrift  für  alle  Zeit  fixierbar 
ist.  Aber  dieses  objective  Dasein  und  diese  selbstständige 
Existenz,  vermöge  der  wir  zu  sagen  pflegen,  dass  das  Urtheil 
aussage,  verknüpfe,  trenne,  ist  blosser  Schein,  und  diese 
Redensarten  sind  Tropen ;  so  wie  wir  eigentlich  reden  wollen, 
hat  das  Urtheil  als  solches  seine  wirkliche  Existenz  nur  im 
lebendigen  Urtheilen,  in  demjenigen  Acte  eines  denkenden 
Individuums,  der  sich  in  einem  bestimmten  Momente  innerlich 
vollzieht,  und  jedes  Fortbestehen  des  Urtheils  als  lebendigen 
Vorgangs  im  Denken  ist  nur  dadurch  möglich,  dass  dieser 
Act  immer  und  immer  wieder  mit  dem  Bewusstsein  seiner 
Identität  wiederholt  wird.  Das  objective  Dasein  kommt  nie 
dem  Urtheile  selbst,  sondern  nur    seinem    sinnlichen  Zeichen, 


26  I.    Wesen  und  Voraussetzungen  des  TJrtheilens.  24 

dem  gesprochenen  oder  geschriebenen  Satze  zu,  der,  äusserlich 
für  andere  gegenwärtig  und  erkennbar,  beurkundet,  dass  ein 
bestimmter  Denkact  im  lebendigen  Denken  vollzogen  worden  ist. 

Der  Satz  als  dieses  äusserliche  Zeichen  lässt  sich  nun 
aber  von  zwei  Seiten  betrachten,  die  von  Anfang  an  genau 
zu  scheiden  wichtig  ist:  einerseits  weist  er  auf  seine  Quelle 
zurück,  auf  die  inneren  Vorgänge  in  demjenigen,  der  ihn 
ausspricht  und  darin  seine  Gedanken  offenbart;  andrerseits 
wendet  er  sich  an  den  Hörenden  und  will  verstanden  werden; 
der  Hörende  ist  aufgefordert,  die  äusseren  Zeichen  zu  inter- 
pretieren und  daraus  den  Gedanken  zu  construieren,  den  der 
Redende  ausgedrückt  hat.  Die  Functionen  dessen,  der  ge- 
sprochene Worte  versteht,  sind  aber  nicht  dieselben,  wie  die 
Functionen  dessen,  der  spricht;  wenn  auch,  das  vollkommene 
Verstehen  vorausgesetzt,  das  letzte  Resultat  im  Geiste  des 
Hörenden  übereinstimmen  muss  mit  dem,  wovon  der  Sprechende 
ausgieng.  Drücke  ich  eine  von  mir  gemachte  Wahrnehmung 
in  den  Worten  aus :  das  Schloss  brennt,  so  ist  mein  Ausgangs- 
punkt das  Bild  des  brennenden  Schlosses;  in  diesem  erkenne 
ich  die  bekannte  Gestalt  des  Gebäudes  und  die  aus  demselben 
schlagenden  Flammen ;  indem  ich  diese  beiden  Elemente  zuerst 
unterscheide  und  dann  im  Satze  vereinige,  beschreibe  ich,  was 
ich  sah.  Wer  meinen  Satz  hört,  muss  erst  die  für  ihn  durch 
die  beiden  Wörter  erweckten  bisher  getrennten  Vorstellungen 
vereinigen;  und  erst  dadurch  hat  er  am  Schlüsse  die  Vor- 
stellung, von  der  der  Sprechende  ausgegangen  war. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  Grammatik 
und  Hermeneutik,  welche  von  den  gesprochenen  oder  geschrie- 
benen Worten  ausgeht,  geneigt  ist,  sich  überwiegend  auf  den 
Standpunkt  des  Hörenden  zu  stellen,  und  diejenigen  Functionen 
in's  Auge  zu  fassen,  welche  bei  dem  Verstehen  wirksam  sind, 
und  sie  in  der  Ordnung  zu  betrachten,  in  der  sie  der  Hörende 
vollzieht;  für  die  psychologische  Analyse  aber,  welche  das 
Wesen  des  urtheilenden  Denkens  untersuchen  will,  kommt 
in  erster  Linie  die  andere  Seite,  das  Thun  des  Sprechenden 
in  Betracht;  um  so  mehr,  da  nicht  alles  Denken,  das  sich  in 
Worte  kleidet,  nothwendig  die  Tendenz  zur  Mittheilung  an 
andere  hat. 


24.  25    §  5.  Der  Satz  als  Ausdruck  des  Urtheils.  Subject  und  Prädicat.     27 

Das  Wesen  des  Urtheils  untersuchen  heisst  also  für  uns 
den  D  e  n  k  a  c  t  betrachten,  den  wir  vollziehen,  wenn  wir  im 
lebendigen  Urtheilen  begriffen  sind,  und  dem  wir  in  Worten 
dann  Ausdruck  geben;  und  da  jede  (innere  oder  ausgesprochene) 
Wiederholung  eines  Urtheils  seine  erstmalige  Erzeugung  vor- 
aussetzt, so  sind  wir  an  diejenigen  Fälle  gewiesen,  in  denen 
wir  denkend  ein  Urtheil  neu  erzeugen  und  ihm  seinen  sprach- 
lichen Ausdruck  schaffen  (wie  es  z.  B.  immer  geschieht,  wenn 
wir  eine  neue  Beobachtung  aussprechen). 

2.  Das  was  vorgeht,  indem  ich  ein  Urtheil  bilde  und 
ausspreche,  kann  zunächst  äusserlich  so  bezeichnet  werden, 
dass  ich  etwas  von  etwas  aussage*).  Es  sind  jedenfalls  zwei 
Elemente  da;  das  eine  ist  das,  was  ausgesagt  wird,  xö  xaxyjyo- 
pou{X£vov,  das  Prädicat,  das  andere  das,  wovon  ausgesagt  wird 
oder  auf  welches  etwas  hingesagt  wird,  t6  6ti;ox£C{X£Vov,  das 
Subject.  Damit  ist  aber  nur  eine  äusserliche,  von  dem  Sprechen 
hergenommene  Bezeichnung  gegeben ;  Aussagen  ist  eine  Thätig- 
keit  der  Sprachorgane,  und  es  fragt  sich,  was  innerlich  in 
unserem  Denken  vorgeht,  wenn  wir  »etwas  von  etwas  aus- 
sagen.« 

3,  Gehen  wir  von  dem  gesprochenen  Satze  aus:  so  ist 
vor  allem  ein  Unterschied  zu  machen.  Es  gibt  Sätze,  in  denen 
als  Subject  oder  Prädicat  nur  die  Wörter  als  solche 
gemeint  sind,  als  diese  bestimmten  Lautcomplexe ;  sei  es,  dass 
über  sie  bloss  sprachliche  Bemerkungen,  ganz  abgesehen  von 
ihrer  Bedeutung,  gemacht  werden ' (Samiel  ist  ein  hebräisches 
Wort ,  contra  ist  eine  Präposition) ,  sei  es ,  dass  der  Satz  die 
Bedeutung  eines  bestimmten  Wortes  oder  Namens  betrifft 
(Oxyd  ist  eine  Verbindung  mit  Sauerstoff,  Alexandros  ist  ein 
anderer  Name  für  Paris,  Jagsthausen  ist  ein  Dorf  und  Schloss 
an  der  Jagst).  Scheiden  wir  diese,  die  bloss  sprachlichen  und 
hermeneutischen  Aussagen  zunächst  aus,  so  bleiben  uns  als 
Gegenstand  der  Untersuchung  diejenigen  Sätze,  in  denen  die 
Wörter  als  Zeichen  von  Vorstellungen  auf- 
treten und   vorausgesetzt   wird,    dass    sowohl    der  Sprechende 

*)  XöYOg  xaxa^axtxöc  ^  dTco^axtxög  xtvög  xaxa  xtvög.  Aristoteles  Anal, 
pr.  I,  1;  Die  Ansicht,  dass  nicht  jedes  Urtheil  zwei  Elemente  habe, 
wird  später  (§.  12)  besprochen  werden. 


28  !•     Wesen  und  Voraussetzungen  des  ürtheilens. 


1 

Ewar  II 


als  der  Hörende  sie  versteht,  d.  h.  eine  bestimmte  und  zwar 
dieselbe  Vorstellung  mit  ihnen  verbindet;  in  denen  also  die 
Aussage  nicht  die  Wörter  selbst,  sondern  das  durch  die  Wörter 
bezeichnete  Vorgestellte  betrifft. 

4.  In  diesem  Falle  müssen  beide  Elemente,  Subject  und 
Prädicat,  wenn  die  Aussage  Sinn  haben  soll,  etwas  meinem 
Bewusstsein  Gegenwärtiges,  eben  jetzt  Vorge- 
stelltes sein.  Die  Subjectsvorstellung  erscheint  für 
die  erste  und  allgemeinste  Auffassung  als  dasjenige,  was  mir 
zuerst  gegenwärtig  ist;  jedes  beliebige  Object,  das  ich  im 
Bewusstsein  für  sich  festhalten  kann,  ist  an  und  für  sich 
fähig,  Subject  eines  ürtheils  zu  werden,  sei's  eine  unmittelbare 
Anschauung  von  Einzelnem,  sei's  eine  abstracte  Vorstellung, 
sei's  ein  Ding,  ein  Geschehen  etc.  Zu  ihr  tritt  als  zweites 
in  unserem  Bewusstsein  die  Prädicatsvorstellung.  Ihr 
ist  es  wesentlich,  dass  sie  dem  schon  bekannten  und  durch 
verstandene  Wörter  bezeichneten  Gebiete  unserer  Vorstellungen 
angehört,  dass  sie  also  eine  durch  frühere  Acte  in's  Bewusst- 
sein aufgenommene,  mit  dem  Worte  verknüpfte,  mit  ihm 
festgehaltene  und  reproducierbare,  von  allen  andern  Vor- 
stellungen unterschiedene  ist.  Um  zu  sagen:  dies  ist  blau, 
dies  ist  roth,  muss  ich  die  Vorstellungen  blau,  roth  u.  s.  f. 
schon  von  früher  her  kennen  und  eben  jetzt  als  bekannte 
mit  dem  Worte  reproducieren ;  und  Urtheilen  ist  erst  von  da 
an  möglich,  wo  eine  Anzahl  solcher  festgehaltener  und  unter- 
schiedener Vorstellungen  leicht  in's  Bewusstsein  tritt.  Das 
bewusste  Urtheilen  setzt  also  voraus,  dass  diese  Vorstellungen 
schon  gebildet  sind. 

Nun  ist  allerdings  in  dem  Process,  durch  den  sie  sich 
bilden,  bereits  ein  Denken  enthalten;  mag  man  die  Functionen, 
durch  welche  wir  zur  Vorstellung  bestimmter  Gegenstände 
und  überhaupt  zu  Vorstellungen  gelangen,  die  wir  als  Prä- 
dicate  verwenden  können,  im  Einzelnen  sich  denken  wie  man 
will,  so  ist  unzweifelhaft  dabei  ein  Unterscheiden  verschiedener 
Empfindungen,  ein  Zusammenfassen  einer  Manigfaltigkeit  zu 
einem  Ganzen,  ein  Beziehen  dieses  Ganzen  als  Einheit  auf 
seinen  manigialtigen  Inhalt,  ein  Festhalten  des  so  gewonnenen 
Products  nÖthig  —  lauter  Acte  die  wir  nur  in  Analogie  mit 


26      §  5.  Der  Satz  als  Ausdruck  des  TJrtheils.  Subject  und  Prädicat.      29 

bewussten ,  urtheilsartigen  Denkacten  uns  vorzustellen  ver- 
mögen. Aber  diese  Thätigkeit,  durch  welche  uns  bestimmte 
von  einander  unterschiedene  und  für  sich  festhaltbare  Vor- 
stellungen entstehen,  fällt  vor  unser  bewusstes  nnd  absicht- 
liches Denken  und  folgt  unbewussten  Gesetzen ;  wenn  wir 
anfangen  uns  zu  besinnen,  sind  nur  die  Resultate  dieser  Pro- 
cesse  in  Form  von  fertigen  benannten  Vorstellungen  im  Be- 
wusstsein,  und  die  Processe  selbst  müssen  theils  ursprünglich 
durch  eine  psychologische  Nothwendigkeit  geleitet  worden 
sein,  da  sie  von  allen  Menschen  im  Wesentlichen  überein- 
stimmend vollzogen  werden,  theils  sind  sie  so  eingeübt  und 
zur  mechanischen  Fertigkeit  ausgebildet,  dass  sie  auch  inner- 
halb des  bewussten  Lebens  mit  unbewusster  Sicherheit  vor 
sich  gehen.  Andererseits  ist  die  ursprüngliche  Entstehung 
und  die  erste  Aneignung  der  Sprache  ebenso  schon  voraus- 
gesetzt, da  sich  das  bewusste  und  willkürliche  Denken  fast 
ausnahmslos  mit  Hülfe  derselben  vollzieht.  Es  fällt  also  zu- 
nächst ausserhalb  unserer  Aufgabe,  dasjenige  Denken  zu  be- 
trachten, durch  welches  Vorstellungen  zuerst  entstehen,  und 
ebenso,  die  Entstehung  der  Sprache  überhaupt  und  die  An- 
eignung derselben  von  Seite  des  Einzelnen  zu  untersuchen, 
wenn  auch  vielleicht  die  fortschreitende  Analyse  diese  Fragen 
berühren  muss ;  wohl  aber  ist  es  nöthig,  das  Gebiet  der  Vor- 
stellungen zu  übersehen,  welche  als  Elemente,  sei  es  als  Sub- 
ject oder  als  Prädicat ,  in  unsere  Urtheile  einzugehen  ver- 
mögen, und  das  Verhältniss  des  innerlich  Vorgestellten  zu 
seinem  sprachlichen  Ausdruck  zu  bestimmen. 


Erster  Abschnitt. 

Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils  und 
ihr  Verhältniss  zu  den  Wörtern. 

§  6. 

'Was  wir  vorstellen  und  was  als  Subject  oder  Pr'ädicat 
oder  Theil  des  Subjects  und  Prädicats  in  unsere  ürtheile 
einzugehen  vermag,  sind : 

I.     Dinge,    ihre    Eigenschaften    und    Thätig 
keiten,  mit  deren  Modilicationen; 

IL     Relationen    der    Dinge,    ihrer    Eigenschaften 
und  Thätigkeiten ,    und    zwar    theils   räumliche  und  zeit 
liehe,   theils    logische,    theils  causale,  theils  modale. 


1 


1.  Die  Sprache  selbst  scheint  durch  ihre  Unterscheidung 
der  verschiedenen  Wortgattungen  den  Leitfaden  zu  geben 
zur  Aufsuchung  der  verschiedenen  Arten  des  Vorgestellten ; 
ein  Leitfaden  den  Aristoteles  bei  der  Aufstellung  der  Kate- 
gorien als  der  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten  und 
Seienden  jedenfalls  mit  benützt  hat.  Allein  dieser  Leitfaden 
ist  nicht  untrüglich.  Denn  es  ist  das  Eigenthüm liehe  der 
Sprachbildung,  dass  ihre  verschiedenen  Formen  im  Verlaufe 
der  Entwicklung  verschiedene  Functionen  annehmen ;  nicht  für 
jede  neue  Art  von  Vorstellung  wird  eine  besondere  Form  aus- 
geprägt, sondern  wie  im  organischen  Gebiete  morphologisch  ' 
gleichwerthige  Organe  doch  physiologisch  wesentlich  verschie- 
dene Verrichtungen  besorgen  können,  so  ist  es  auch  mit  den 
Wortgattungen  des  Substantivs,  Verbs,  Adjectivs  u.  s.  w. 
Die  Unterschiede  der  Wortgattungen    sind    nicht  nothwendig 


28  §  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  31 

congruent  den  Unterschieden  der  Bedeutungen,  so,  dass  sich 
an  diesen  äusseren  Charakteren  alles  ablesen  liesse-^^  der  Ver-  ^^ 
such  lässt  sich  nicht  umgehen,  immer  die  Andeutungen  der 
Sprache  im  Auge,  doch  aus  der  Natur  des  Vorgestellten  heraus 
eine  üebersicht  zu  gewinnen,  und  daraus  erst  zu  erkennen, 
inwieweit  die  Unterschiede  der  Sprachformen  den  inneren 
Unterschieden  ihres  Inhalts  gefolgt  sind. 

2.  Als  der  allgemeinste  menschliche  Besitz,  dessen  Ent- 
stehung wir  auch  ohne  Sprache  in  jedem  Individuum  auf 
dieselbe  Weise  möglich  denken  müssen,  wenn  er  auch  factisch 
in^der  Regel  schon  unter  Mitwirkung  der  Sprache  entsteht, 
tritt  uns  der  Kreis  von  Vorstellungen  entgegen,  deren  Ge- 
sammtheit  die  Welt  des  Seienden  ausmacht,  zu  der  neben 
der  Vorstellung  unser  selbst  die  Vorstellung  unserer  gesamm- 
ten  erfahrungsmässig  erkannten  Umgebung  und  weiterhin 
die  Vorstellung  alles  dessen  gehört,  was  in  derselben  Weise 
existierend  gedacht  wird,  wie  wir  selbst  und  die  Gegenstände 
unserer  unmittelbaren  Wahrnehmung. 

Den  Grundstock  dieser  Welt  bilden  die  Vorstellungen 
einzelner  Dinge,  welche  durch  die  concreten  Substantiva 
sprachlich  bezeichnet  werden.  Diese  Dinge  stellen  wir  vor 
als  Eigenschaften  an  sich  tragend,  welche  in  Adjectiven 
ihren  Ausdruck  finden,  und  im  Verfluss  der  Zeit  Thätig- 
keiten  aus  sich  entwickelnd  und  in  Zustände  gerathend, 
welche  sich  in  Verben  aussprechen*),   x, 

Diese  Trennung  der  Vorstellungen  der  Dinge  von   denen 


*)  Es  beeinträchtigt  die  Allgemeinheit  des  Processes,  durch  welchen 
sinnliche  Atfectionen  auf  Dinge  bezogen  werden,  nicht,  dass  diese  Be- 
ziehung im  Einzelnen  schwankend  und  die  Auffassung  des  Dinges,  das 
in  einer  bestimmten  Erscheinung  wahrgenommen  wird,  wechselnd  sein 
kann.  Nacht,  Schatten,  Regenbogen,  Wind  u.  s.  w.  sind  ursprünglich 
Dinge  im  vollen  Sinn  des  Worts,  concrete  Einzelwesen;  erst  die  wissen- 
i^chaftliche  Reflexion  entkleidet  sie  dieser  Festigkeit,  und  lässt  sie  als 
blosse  Wirkungen  bestimmter  Verhältnisse  von  Dingen  erkennen.  Wir 
vermeiden  darum  auch  den  Ausdruck  »Substanz«  in  diesem  Zusammen- 
hang, weil  er  bereits  an  eine  wissenschaftliche  Reflexion  und  eine  Kritik 
'lur  unmittelbar  auf  natürlichem  Wege  entstehenden  Vorstellungen 
'rinnert.  Nicht  alles,  was  das  gewöhnliche  Bewusstsein  unbefangen, 
von    den    Analogieen  seiner    üenkprocesse   geleitet,   als    Ding    aufl'asst, 


32  I,  !•    Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  Ürtheils.  29 

der  Eigenschaften  die  ihnen  inhäriercn  und  der  Thätigkeiten 
in  denen  sie  begriffen  sind,  zusammen  mit  der  Nothwendi^»- 
keit,  sie  fortwährend  aufeinander  zu  beziehen  und  jeden  für 
sich  denkbaren  und  festhaltbaren  Gegenstand  als  Einheit 
eines  Dings  mit  seinen  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  zu 
betrachten ,  gilt  uns  hier  als  ein  Grundf actum  unseres  Vor- 
stellens,  weil  sie  unserem  bewussten  und  von  der  Reflexion 
leitbaren  ürtheilen  immer  schon  vorausgesetzt  ist ,  wie  auch 
die  sprachliche  Unterscheidung  der  Wortformen  in  allen  ent- 
wickelteren Sprachen  —  und  nur  innerhalb  dieser  können 
wir  eine  Logik  aufstellen  wollen  —  dem  Aussprechen  des 
Ürtheils  immer  zu  Grunde  liegt.  Es  sind  zwar  dieselben 
Eindrücke,  welche  uns  die  Vorstellung  des  Leuchtens  und  die 
des  leuchtenden  Gegenstands,  die  Vorstellung  der  Härte  und 
Kälte  und  die  des  harten  und  kalten  Dings  geben ;  aber  wir 
können  für  unser  bewusstes  Denken  uns  nicht  mehr  auf  den 


« 


ist  darum  Substanz   im   strengen  Sinne    und    hält   der   bewussten  An- 
wendung dieser  Kategorie  Stand. 

Die  schwierige  Frage,  ob  der  heutigen  Verbalform,  in  allen  ihren 
Anwendungen  überhaupt  ein  bestimmter  einheitlicher  gemeinsamer 
Begriff  zu  Grunde  liegt,  und  welcher  es  ist,  dürfen  wir  hier  unerörtert 
lassen.  Dass  in  der  ursprünglichen  Scheidung  von  Nomen  und  Verbum 
diesem  der  Ausdruck  eines  in  der  Zeit  vor  sich  gehenden  Thuns  (im 
weitesten  Sinne)  zufällt ,  und  der  Gedanke  einer  von  dem  Ding  aus- 
gehenden, aus  ihm  entspringenden  Bewegung  und  Veränderung,  die 
weiterhin  auf  andere  Dinge  wirksam  übergreifen  kann,  den  ersten  Kern 
der  Vorstellungsgruppe  bildet,  zu  deren  Bezeichnung  das  Verbum  ver- 
wendet wird,  scheint  mir  unzweifelhaft.  Je  lebendiger  die  L^hantasie 
ursprünglich  die  Dinge  denkt,  desto  gewisser  erscheinen  auch  dauernde 
Zustände,  wie  Liegen,  Stehen,  Bleiben  als  ein  »sich  halten«,  »sich  ver- 
halten« als  ein  actives,  gleichsam  gewolltes  Verharren  und  Zurück- 
halten einer  Veränderung,  oder  wenigstens,  wie  in  dem  griechischen 
Soxyjxa,  xd^rjjjiat  zu  Tage  tritt,  als  Folge  eines  Thuns.  Es  scheint  mir 
also  richtiger,  den  Begriff"  des  Thuns  als  den  ursprünglichen  hinzustellen 
und  den  des  Zustands  ihm  zu  subordinieren,  als  das  Verhältniss,  wie 
z.  B.  Wundt  thut,  umzukehren.  Dass  für  unsere  jetzige  Autfasaungsweise 
viele  Verba  den  Werth  adjectivischer  Prädicate  zu  haben  scheinen, 
ändert  an  der  ursprünglichen  Unterscheidung  nichts  ;  dasselbe  Verhalten 
eines  Dings  kann  einerseits  als  ruhende  Eigenschaft,  andrerseits  als  fort- 
gehende Bethätigung  des  Dings  aufgefasst  werden,  wie  ruhig  und  ru- 
hen, ruber  und  rubeo,  still  und  schweigen  u.  s.  f. 


29.  30  §  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  33 

Standpunkt  zurückschrauben ,  auf  dem  die  Trennung  noch 
nicht  geschehen  war,  so  wenig  als  wir  in  den  Wurzeln  reden 
können  aus  denen  die  Verbal-  und  Nominalformen  hervorge- 
wachsen sind.  Die  Bedeutung  der  Wortformen  des  Substantivs, 
Verbs  und  Adjectivs  ist  keine  andere,  als  dass  sie  in  ihrem 
Unterschied  eben  auf  jene  Einheit  hinweisen ;  jedes  Verbum 
weist  auf  ein  Subject,  jedes  Adjectiv  auf  ein  Substantiv  hin, 
und  erst  wenn  sie  ihre  Ergänzung  gefunden  haben,  kommt 
das  Denken  in  einem  relativ  abgeschlossenen  Acte  zur  Ruhe, 
und  hat  ein  für  sich  als  selbstständig  vorstellbares  Ganze  er- 
reicht. Dem  Substantiv  kommt  es  dabei  zu,  überwiegend  die 
Einheit  zu  bezeichnen,  welche  aber  immer  in  ihre  Elemente 
sich  zu  entfalten  drängt;  das  Adjectiv  und  Verb  stellen  diese 
Elemente  für  sich  heraus,  aber  so  wie  sie  immer  zur  Einheit 
zurückstreben.  Wo  also  die  Objecte  unseres  Vorstellens  in 
Redewendungen  bezeichnet  werden,  welche  sich  in  den  Formen 
der  Substantiva,  Adjectiva,  Verba  bewegen,  da  ist  das  nach 
den  Kategorieen  des  Dings,  der  Eigenschaft  und  der  Thätig- 
keit  unterscheidende  und  verknüpfende  Denken  wirksam  ge- 
wesen, und  unsere  xlusdrucksweise  steht  unter  der  Herrschaft 
der  Gewohnheit ,  allen  Inhalt  unter  diese  Kategorieen  zu 
bringen ;  höchstens  in  einigen  onomatopoetischen  Wörtern, 
wie  patsch,  plumps,  können  wir  einen  Eindruck  auf  der  Stufe 
wiedergeben,  auf  der  sich  jenes  Denken  desselben  noch  nicht 
bemächtigt  hat. 

c)  Der  Gegensatz  von  Verb  und  Substantiv  ist  sachlich 
und  sprachlich  der  ursprünglichere.  Wenn  es  wahr  wäre,  dass 
die  Urbedeutungen  der  Wurzeln  verbaler  Natur,  und  Vorgänge, 
Veränderungen ,  Bewegungen  das  Erste  gewesen  wären  was 
bezeichnet  wurde,  so  bewiese  dies  zunächst  nur,  dass  die 
lebendige  Bewegung  und  Thätigkeit  den  stärkeren  Reiz  aus- 
geübt und  leichter  den  begleitenden  Laut  erregt  hätte ,  nicht 
dass  die  Vorstellung  des  Thuns  überhaupt  früher  gewesen 
wäre  als  die  des  Thätigen.-  Denn  die  Grundanschauung,  die 
aller  Vorstellung  von  Thätigkeit  ausser  uns  zu  Grunde  liegt, 
die  Bewegung,  kann  nicht  wahrgenommen  werden,  ohne  das 
Bewegte  und  seinen  Hintergrund  zu  fixieren,  und  eine  Ver- 
gleichung  anzustellen  welche  festgehaltene  und  ruhende  Bilder 

Sigwart ,  Logik.    I.     2.  Auflage.  3 


34         J.  1-     Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  30.  31 

voraussetzt*);  gerade  in  der  Bewegung  ist  die  Identität  des 
Thätigen  in  seiner  Thätigkeit  wie  der  Unterschied  des  beharr- 
lichen Dinges  von  dem  zeitlichen  Geschehen  am  leichtesten  zu 
erfassen ;  schwerer  im  Werden  und  Verschwinden,  in  der  Ver- 
änderung der  Eigenschaften.  Denn  die  Eigenschaft,  die  das 
Adjectiv  ausdrückt,  ist  da  wo  es  rein  sinnliche  Bedeutung 
hat,  wie  z.  B.  in  der  Farbe,  gar  nicht  von  der  Vorstellung 
des  Gegenstands  gesondert,  beharrlich  wie  dieser;  was  wir  von 
dem  Dinge  wahrnehmen  ist  eben  seine  Eigenschaft.  Erst  in  der 
Vielheit  der  Eigenschaften,  vermöge  welcher  dieselbe  Eigenschaft 
an  Verschiedenem  in  verschiedenen  Combinationen  sich  zeigen 
kann,  und  in  der  Veränderlichkeit  der  Eigenschaften  an  demselben 
continuierlich  angeschauten  Ding  liegt  das  Motiv  sie  für  sich 
loszulösen  und  zu  einem  für  sich  Vorstellbaren  zu  machen ; 
erst  in  der  Wiederholung  des  Thuns  das  Motiv,  seinen  blei- 
benden Grund  in  einem  Adjectiv  auszusprechen.  Daraus  er- 
geben sich  die  zwei  Classen  der  Adjectiva,  diejenigen,  welche 
dem  Nominalcharakter ,  und  diejenigen ,  welche  dem  Verbal- 
charakter näher  liegen. 

d)  Während  die  Vorstellungen  des  Dings,  der  Eigenschaft 
und  Thätigkeit  an  einander  gebunden  sind ,  ein  Thun  immer 
das  Thun  von  Etwas,  eine  Eigenschaft  die  Eigenschaft  von 
Etwas  sein  muss,  das  als  ein  Ding  vorgestellt  wird,  und  um- 
gekehrt ein  Ding  immer  mit  bestimmter  Eigenschaft  und  Thä- 
tigkeit vorgestellt  werden  muss:  so  liegt  doch  in  der  Unter-^ 
Scheidung  die  Möglichkeit,  eine  Eigenschaft  oder  Thätigkeit 
für  sich  festzuhalten,  und  von  der  Beziehung  auf  ein  bestimm- 
tes Ding  in  Gedanken  loszulösen.  So  vorgestellt  werden  sie 
abstract  gedacht,  d.  h.  in  künstlicher  Isolierung  der  Ein- 
heit fernegehalten,  der  sie  ihrer  Natur  nach  zustreben.  In 
dieser  Abstraction  liegt  neben  der  Losreissung  von  der  Ein- 
heit mit  bestimmten  Dingen  zugleich  die  Erhebung  in  die 
Allgemeinheit,  d.  h.  die  Möglichkeit  sie  auf  beliebig 
vieles  Einzelne  zu  beziehen  und  darin  wiederzufinden ;  und 
beide  Processe,  die  Auflösung  eines  bestimmten  Vorstellungs- 
ganzen in  die  unterschiedenen  Elemente  von  Eigenschaften  und 


*)  üebereinstimmend   Steinthal,    Abriss   der  Sprachwiss.   I.  396  ffi 


32  §  6.    Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  35 

Thätigkeiten,  und  die  Bildung  abstracter  und  allgemeiner  Vor- 
stellungen von  diesen  bedingen  sich  gegenseitig,  oder  sind 
vielmehr  ein  und  derselbe  Process,  dessen  Resultat  nur  von 
verschiedenen  Seiten  erscheint.  Indem  ich  die  Anschauung 
eines  Steins  mir  zum  Bewusstsein  bringe  als  eines  runden 
weissen  u.  s.  w.  Dings,  sind  zugleich  die  Vorstellungen  der 
runden  Form,  der  weissen  Farbe  u.  s.  w.  aus  diesem  bestimm- 
ten Verband  losgelöst  in  mir,  und  eben  darum  fähig  in  jeden 
beliebigen  andern  einzugehen  und  in  jedem  andern  wiederer- 
kannt zu  werden. 

e)  Indem  mit  der  Unterscheidung  der  Eigenschaften  und 
Thätigkeiten  von  den  Dingen  dieselbe  Eigenschaft  und  dieselbe 
Thätigkeit  in  verschiedenen  Dingen  vorgestellt  wird  ,  ist  zu- 
gleich die  Basis  dafür  gegeben,  die  gleichartigen  Thätigkeiten 
und  Eigenschaften  verschiedener  Dinge  unter  sich  zu  verglei- 
chen und  ihre  Unterschiede  zum  Bewusstsein  zu  bringen,  die 
theils  als  verschiedene  Grade,  theils  als  verschiedene  Weisen 
gedacht  werden;  und  wie  die  Dinge  durch  ihre  Thätigkeiten 
und  Eigenschaften  sich  unterscheiden,  so  die  ähnlichen  Thätig- 
keiten und  Eigenschaften  der  einzelnen  Dinge  nach  Graden 
und  Weisen,  die  wir  zusammenfassend  Modificationen 
nennen  mögen.  Damit  ist  eine  neue  Unterscheidung  und  eine 
neue  Einheit  gegeben,  die  sich  sprachlich  in  der  Beziehung 
der  Adverbia  zu  den  Adjectiven  und  Verben  ausdrückt.  Es 
ist  wiederum  mit  der  Wortform  des  Adverbs  gegeben,  dass 
es  sich  als  ein  unselbstständiges  Element  ankündigt  und  die 
Einheit  mit  einer  Eigenschafts-  oder  Thätigkeitsvorstellung 
fordert;  nur  an  einer  solchen,  als  ihre  genauere  Bestimmung 
gedacht,  hat  es  seinen  verständlichen  Sinn. 

f)  Sofern  die  abstracten  Vorstellungen  für  sich  festge- 
halten werden  und  als  Anknüpfungspunkte  von  anderen  Vor- 
stellungen auftreten  können ,  verleiht  ihnen  die  Sprache  sub- 
stantivische Form ,  indem  sie  die  S  u  b  s  t  a  n  t  i  v  a  a  b  s  t  r  a  c  t  a 
bildet,  deren  Bedeutung  Vorstellungen  von  Eigenschaften  und 
Thätigkeiten  sind.  Die  Analogie  der  Sprachform  weist  ihnen 
damit  eine  Vergleichbarkeit  mit  den  Dingen  insofern  zu ,  als 
sie  zu  Adjectiven  und  Verben  in  ähnlicher  Weise  in  l^eziehung 
treten  sollen,  wie  die  concreten  Substantiva.     Allein    sie  sind 

3* 


30         T,  1.    Die  Vorstellungen   als  Elemente  des  Urtheils.  3 

darum  nicht  Dinge,  und  die  Einheit,  welche  zwischen  ihnen 
und  ihren  adjectivisch  oder  verbal  ausgedrückten  Bestimmungen 
besteht,  ist  nicht  die  der  Inhärenz  oder  Action,  durch  welche 
sie  selbst  als  Abstracta  rückwärts  auf  ihre  Träger  hinweisen. 
Vielmehr  kann  es  nur  —  wo  nicht  Relationen  hereintreten  — 
die  ßesonderung  eines  Gemeinsamen,  die  Modification  der 
Eigenschaft  oder  Thätigkeit  sein,  welche  in  analoger  Weise 
mit  ihr  zusammengedacht  und  auf  sie  bezogen  wird,  wie  die 
Eigenschaft  auf  das  Ding;  und  das  Gemeinschaftliche  beider 
Verhältnisse  ist  zunächst  nur  das,  dass  sie  eine  Eins-Setzung 
in  dem  Sinne  gestatten,  dass  in  der  substantivischen  Vorstel- 
lung ihre  näheren  Bestimmtheiten  und  die  unterscheidenden 
Merkmale ,  die  sie  dem  vergleichenden  Denken  darbietet ,  zu- 
gleich für  sich  zum  Bewusstsein  gebracht  und  in  Einheit  mit 
ihr  gehalten  werden.  (Der  Ball  ist  rund  —  der  Ball  bewegt 
sich  —  die  Bewegung  ist  schnell  —  die  Schnelligkeit  wächst 
u.  s.  f.) 

Das  Gemeinschaftliche  der  bisher  betrachteten  Vorstel- 
lungen der  Dinge,  ihrer  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  ist, 
dass  sie  ein  unmittelbar  anschauliches  Element  haben,  das  der 
Function  eines  oder  mehrerer  unserer  Sinne  oder  der  inneren 
Wahrnehmung  seine  Bestimmtheit  verdankt.  Dieser  anschau- 
liche Gehalt  ist  für  sich  niemals  das  Ganze  der  Vorstellung; 
er  ist  vom  Denken  ergriffen  und  geformt,  als  Vorstellung  der 
Eigenschaft  oder  Thätigkeit  eines  Dinges  festgehalten  und  auf 
dieses  als  beharrliche  Einheit  bezogen ;  und  diese  Einheit  liegt 
in  dem  Vorgestellten  ebenso  mit ,  wie  das  sinnlich  anschau- 
liche Element ;  aber  während  jene  Kategorieen  des  Dinges,  der 
Eigenschaft  und  Thätigkeit  überall  dieselben  sind,  macht  das 
Product  sinnlicher  Anschauung  oder  einer  dieselbe  nachbil- 
denden Imagination  den  eigentlichen  Kern  der  Vorstellung  aus 
und  gibt  ihr  den  unterscheidenden  Inhalt. 

3.  Dadurch  unterscheiden  sich  diese  Vorstellungen  der 
Dinge  mit  ihren  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  von  der  zweiten 
Hauptclasse,  den  Relationsvorstellungen.  Diese  setzen 
einerseits  die  Vorstellung  von  Dingen  immer  schon  voraus, 
und  haben  andrerseits  einen  Gehalt  der  immer  erst  durch  eine 
beziehende  Thätigkeit   erzeugt   ist    und    in  Folge    dessen    von 


34  §  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  37 

Hause  aus  eine  Allgemeinheit  an  sich  hat,  vermöge  der  die 
entsprechenden  Wörter  niemals  für  sich  die  Vorstellung  eines 
Einzelnen  zu  erwecken  vermögen. 

a)  Die  Relationen,  welche  am  frühesten  und  leichtesten 
aufgefasst  werden ,  weil  sie  implicite  schon  in  unserer  An- 
schauung der  Dinge  und  ihrer  Thätigkeiten  mitliegen ,  sind 
die  des  Orts  und  der  Zeit.  Rechts  und  links ^  oben  und 
unten,  vor  und  nachher  sind  Vorstellungen,  die  ihren  Ursprung 
als  bewusst  gesonderte  Bestandtheile  unserer  Vorstellungswelt 
nur  einer  subjectiven  Thätigkeit  verdanken,  welche  zwischen 
den  schon  in  räumlicher  und  zeitlicher  Ausbreitung  ange- 
schauten Dingen  hin  und  her  geht;  ihr  Gehalt  besteht  in  dem 
Bewusstsein  der  Bestimmtheit  dieser  den  Raum  und  die  Zeit 
durchlaufenden  Thätigkeit,  ist  also  von  den  jeweiligen  be- 
stimmten Beziehungspunkten  von  Hause  aus  unabhängig.  In- 
dem wir  die  Dinge  als  räumlich  ausgedehnt  und  zeitlich  dauernd 
vorstellen,  ihre  Vielheit  in  räumlicher  und  zeitlicher  Ordnung 
ausgebreitet  vor  uns  haben,  ist  in  diesem  Vorstellen  aller- 
dings schon  die  ganze  Menge  dieser  Beziehungen  implicite 
enthalten;  sie  sind  aber  nicht  für  sich  zum  Bewusstsein  ge- 
kommen. Damit  dass  wir  ein  räumliches  Object  vorstellen, 
das  ein  rechts  und  links,  ein  oben  und  unten  hat,  dass  unsere 
den  Raum  durchlaufende  Anschauung  in  diesen  verschiedenen 
Richtungen  hin  und  her  geht,  um  ein  räumliches  Gebilde  als 
Einheit  festhalten  zu  können,  ist  noch  nicht  gegeben,  dass  wir 
uns  des  Hin  und  Hergehens  selbst  und  seiner  unterschiedenen 
Richtungen  bewusst  sind;  zunächst  ist  nur  das  Resultat,  die 
bestimmte  Gestalt  und  ihre  Lage  zu  andern  in  unserem  Be- 
wusstsein. Erst  wenn  uns  die  Thätigkeit  des  Hin-  und  Her- 
gehens selbst  zum  Bewusstsein  kommt,  wenn  wir  eine  Rich- 
tung von  der  andern,  die  weiter  fortschreitende  Bewegung  des 
Blicks  oder  der  Hand  von  der  kürzeren  unterscheiden  und  sie 
fixieren,  entsteht  uns  der  Gehalt  jener  Beziehungswörter,  die 
eben  darum,  weil  sie  eine  zu  dem  unmittelbar  gegebenen  Stoff 
hinzukommende  spontane  Bewegung  der  Vorstellung  voraus- 
setzen ,  auch  von  jeder  bestimmten  sinnlichen  Affection  sich 
loslösen  und  so  eine  ganz  eigene  Art  von  Allgemeinheit  haben. 
»Bewegung«   können  wir  uns  immer  zuletzt  nur  vorstellen  als 


38         Ii  1-    Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  34.  35 

Bewegung  von  Etwas,  wenn  es  auch  noch  so  blass  als  sinn- 
liches Bild  gedacht  wird;  »Richtung«  aber  setzt  nur  unser 
eigenes  Linienziehen  im  Räume  voraus  und  das  Bewusstsein 
seiner  Unterschiede.  Der  sprachliche  Ausdruck  dieser  Rela- 
tionen sind  die  Orts-  und  Zeitadverbien,  die,  wo  sie  dazu  ver- 
wendet werden ,  die  Relationen  bestimmter  Objecte  als  mit 
diesen  zusammen  vorgestellt  auszudrücken,  zu  Präpositionen 
oder  Casussuffixen  werden  oder  als  Präfixe  u.  s.  w.  mit  den 
Adjectiven  und  Verben  verschmelzen,  während  in  andern  Wör- 
tern (folgen,  fallen  u.  s.  w.)  eine  räumliche  oder  zeitliche  Re- 
lation mit  der  Bedeutung  des  Wortes  verschmolzen  ist  und 
keinen  gesonderten  Ausdruck  findet. 

Auf  räumliche  Verhältnisse  geht  ursprünglich  auch  die 
Relation  des  Ganzen  und  der  Theile  zurück.  Es  liegt  in 
der  Entstehung  unserer  Anschauungen,  dass,  was  wir  als  ein 
einheitliches  Ding  auffassen,  durch  eine  begrenzende  Unter- 
scheidung aus  der  weiteren  Umgebung  losgelöst  ist ,  die  der 
unmittelbaren  Empfindung  zugleich  mit  ihm  gegeben  war;  so 
entstehen  uns  die  Bilder  der  Menschen  und  Thiere  in  Folge 
ihrer  freien  Bew^eglichkeit,  die  sie  von  dem  Hintergrunde  zu 
unterscheiden  zwingt,  so  fassen  wir  den  Baum,  den  Stein  als 
Einheit  auf,  indem  ihre  Form  die  allseitige  Umgrenzung  und 
Unterscheidung  begünstigt.  Aber  indem  sich  innerhalb  der 
zuerst  so  gewonnenen  Einheit  neue  Unterschiede  zeigen,  neue 
Grenzen  sich  ziehen  lassen,  entstehen  untergeordnete  räum- 
liche Einheiten  innerhalb  des  ersten  Umrisses ;  die  Glieder  des 
menschlichen  und  thierischen  Leibes  setzen  sich  vermöge  ihrer 
relativ  freien  Beweglichkeit  als  solche  Einheiten  heraus;  das 
Blatt  löst  sich  selbst  vom  Baume  los  ,  die  Zerschlagung  des 
Steines  vollzieht  eine  Trennung  zwischen  den  einzelnen  Stücken 
für  die  Anschauung,  der  die  vorangehende  Form  noch  gegen- 
wärtig war.  Damit  nun ,  dass  wir  so  ein  Ganzes  zerlegen, 
entsteht  zunächst  nur  eine  Mehrheit  neuer  Einheiten ,  neuer 
Dinge  für  uns,  die  wir  abgrenzen;  damit,  dass  wir  die  Vor- 
stellung des  Kopfes  neben  der  des  ganzen  Leibes,  des  Fingers 
neben  der  der  ganzen  Hand  haben ,  ist  der  Kopf  noch  nicht 
als  Tlieil  des  Leibes,  der  Finger  noch  nicht  als  Theil  der 
Hand  vorgestellt,    wenn  auch  durch    unmittelbare  weiter   ge- 


36  §.  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  39 

hende  Anschauung  oder  Reproduction  zu  dem  Kopf  der  Leib 
dem  er  angehört,  zu  dem  Finger  die  Hand  ergänzend  vorge- 
stellt wird;  erst  indem  wir  uns  des  Verhältnisses  der  unter- 
geordneten Einheit  zu  der  höheren  bewusst  werden,  das  Zer- 
legte wieder  zusammensetzen  und  beide  Processe  aufeinander 
beziehen,  erscheint  der  Kopf  als  Theil  des  Leibes,  der  Finger 
als  Theil  der  Hand;  und  mit  der  Vorstellung  der  Dinge,  die 
wir,  wie  die  Glieder  des  Leibes,  immer  nur  als  Theile,  niemals 
als  isolierte  Ganze  wahrnehmen,  verknüpft  sich  allerdings  neben 
dem  anschaulichen  Bilde  die  Vorstellung  der  Relation,  der 
Angehörigkeit  an  ein  Ganzes,  (Kopf,  Arm,  Glied  u.  s.  w.) 
während  es  anderen  Objecten  zufällig  ist,  ob  sie  als  Theile 
oder  als  selbstständige  Ganze  vorgestellt  werden  (Blume  als 
Ganzes,  Blüthe  als  Theil). 

Diese  Relationsvorstellung  ist  sodann  die  Voraussetzung 
aller  Vorstellung  von  Grösse.  A  ist  B  gegenüber  gross, 
wenn  B  ein  Theil  von  A  ist  oder  (durch  Aneinander  oder 
Uebereinanderleoen  u.  s.  f.)  als  Theil  von  A  angesehen  werden 
kann;  alles  Vergleichen  von  Grössen  und  alles  eigentliche 
Messen  beruht  auf  nichts  anderem ,  als  auf  der  Beobachtung 
oder  der  Herstellung  eines  Verhältnisses  von  Theilen  zu  einem 
Ganzen ,  und  der  Grundsatz ,  dass  das  Ganze  grösser  ist  als 
der  Theil,  enthält  genau  genommen  eine  Interpretation  der 
Vorstellung  «gross».  (Erst  in  zweiter  Linie,  nemlich  wenn 
wir  die  Gewohnheit  eines  bestimmten  Massstabes  gewonnen 
haben,  können  gross,  hoch  u.  s.  w.  den  Schein  absoluter  Prä- 
dicate,  den  Schein  von  Eigenschaften  annehmen.) 

Weiterhin  bleibt  dann  die  Vorstellung  des  Ganzen  als 
Dinges  mit  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  nicht  gleichgültig 
gegen  die  Vorstellung  der  Theile ;  diese  stehen  nicht  bloss  in 
ihrem  äusserlichen  Aneinander  da,  sind  nicht  bloss  in  dem 
Ganzen  als  dem  umfassenden  Rahmen ;  es  verknüpft  sich  viel- 
mehr damit  eine  causale  Relation  —  das  Ganze  umfasst  die 
Theile,  hält  sie  zusammen,  hat  sie.    Davon  weiter  unten. 

Dieselbe  Unterscheidung  ist  im  Gebiete  der  Zeit  zu  voll- 
ziehen. Das  Wort  zerfällt  in  Silben ,  die  Melodie  in  einzelne 
Absätze ;  auch  hier  entwickeln  sich  die  Vorstellungen  der  Zeit- 


40  1»  !•    I^ie  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  36.  87 

grossen,  des  länger  und  kürzer,  in  dem  Masse  als  die  Zeitrela- 
tionen für  sich  zum  ßewusstsein  koQimen. 

b)  Gehen  diese  Gruppen  von  Vorstellungen  zurück  auf  die 
beziehende  Thätigkeit,  die  sich  in  Kaum  und  Zeit  bewegt,  und 
haben  sie  ihren  Inhalt  an  dem  anschaulichen  Bewusstsein  des 
Durchlaufens  von  Raum  und  Zeit ,  so  können  sie  sich  doch 
nicht  vollziehen,  ohne  dass  zugleich  Functionen  des  beziehenden 
Denkens  mitwirken,  und  andere  Relationsvorstellungen  als 
Resultate  des  Unterscheidens  und  Vergleichens  ent- 
stehen. Die  Vorstellung  des  Unterschieds  ist  nichts  Ge- 
gebenes ;  damit  dass  mehrere  unterschiedene  Objecte  im  Bewusst- 
sein sind,  ist  wohl  das  Unterscheiden  vorausgesetzt;  aber  zunächst 
kommt  nur  das  Resultat  dieser  Function  zum  Bewusstsein,  das 
in  dem  Nebeneinander  mehrerer  Objecte,  deren  jedes  für  sich 
festgehalten  wird,  besteht.  Die  Vorstellung  des  Unterschieds 
aber,  der  Gleichheit  oder  Verschiedenheit,  entwickelt  sich  erst, 
wenn  das  Unterscheiden  mit  Bewusstsein  vollzogen  und  auf 
diese  Thätigkeit  reflectiert  wird ;  die  Vorstellung  der  Identität 
setzt  nicht  bloss  voraus,  dass  dasselbe  Object  längere  Zeit  oder 
wiederholt  gegenwärtig  war,  sondern  sie  entsteht  erst  durch 
Negation  des  inhaltlichen  Unterschieds  zweier  oder  mehrerer, 
zeitlich  aufeinanderfolgender  Vorstellungen  und  hat  ihren 
Inhalt  an  dieser  Thätigkeit ;  sie  kann  einem  Objecte  nur  zu- 
gesprochen werden,  sofern  es  die  Bedingungen  und  den  Grund 
zu  dieser  Thätigkeit  darbietet.  Unterschied,  Identität,  Gleich- 
heit sind  niemals  als  blosse  Abstractionen  zu  begreifen  von 
dem  anschaulichen  Inhalte,  der  immer  nur  sich  selbst  zu  geben 
vermag,  sie  sind  bewusst  gewordene  Denkprocesse  und  haben 
an  diesen  ihren  Inhalt.  Aus  solchen  Denkprocessen  entspringen 
die  Zahlen,  indem  Gleiches  räumlich  oder  zeitlich  unter- 
schieden wird  und  die  Thätigkeit  der  unterscheid  baren  Wie- 
derholung derselben  Anschauung  als  solche  zum  Bewusstsein 
kommt,  jeder  Schritt  der  Wiederholung  im  Gedächtniss  be- 
halten und  mit  jedem  die  Reihe  der  vorangegangenen  zu  einer 
neuen  Einheit  zusammengefasst  wird.  Die  Vorstellung  der 
Zahl  drei  ist  ja  nicht  damit  gegeben ,  dass  ich  drei  Dinge 
sehe,  und  diese  einen  andern  Eindruck  machen  als  zwei  und 
eines.     Dass  die  Verschiedenheit  dabei  die  der  Zahl   ist,   er- 


38  §  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  41 

kenne  ich  erst  indem  ich  zähle,  d.  h.  den  Act  des  Fortschrei- 
tens von  einer  Einheit  zur  andern  mit  Bewusstsein  vollziehe. 
c)  Die  dritte  Hauptclasse  der  Relationen  sind  die  cau- 
sa 1  e  n ,  welche  sämmtlich  die  Vorstellung  des  Wirkens 
(des  auf  ein  anderes  bezogenen  Thuns)  zu  ihrem  unendlich 
manigf altig  modificierten  Gehalte  haben  (Verba  transitiva). 
So  wenig  der  Causalbegriff  nach  seinem  Ursprünge  hier  er- 
klärt oder  auch  nur  genauer  bestimmt  werden  soll ,  was  wir 
einem  späteren  Zusammenhange  vorbehalten,  muss  ihm  doch 
seine  Stelle  in  der  Gesammtheit  unserer  Vorstellungen  angewiesen 
werden ;  und  dies  ist  insofern  nicht  ganz  leicht,  als  durch  den 
engen  Zusammenhang  des  Wirkens  mit  dem  Thun  die  Auf- 
fassung des  Wirkens  als  einer  Relation  auch  das  Thun  in  die- 
selbe Betrachtung  mit  hineinzureissen  und  demgemäss  auch  das 
Verhältniss  des  Thätigen  zu  seinem  Thun  als  blosse  Relation 
hinzustellen  droht,  wonach  das  Thun  eines  Subjects  als  etwas 
ihm  gegenüber  Zweites ,  als  ein  selbstständiges  von  ihm  Er- 
zeugtes erschiene ;  und  die  Betrachtung  des  Verhältnisses  eines 
Dings  zu  seinem  wechselnden  Thun  unter  dem  Gesichtspunkt 
einer  Relation  scheint  um  so  näher  zu  liegen,  als  ja  ohne  eine 
zusammenfassende  Synthesis  die  Identität  eines  Dings  in  seinen 
Veränderungen  gar  nicht  festzuhalten  ist,  und  diese  in  der  That 
von  ihm  unterschieden  werden  müssen.  Die  Unmöglichkeit  eine 
feste  Grenze  zu  ziehen  scheint  noch  in  doppelter  Hinsicht  eine 
Bestätigung  zu  finden.  Wenn  der  Mensch  geht,  so  bewegt  er 
seine  Beine ;  dasselbe,  was  von  einer  Seite  als  blosses  Thun  dar- 
gestellt wird,  erscheint  von  der  andern  als  Wirkung,  auf  seine 
Glieder,  die  etwas  relativ  Selbstständiges  sind ;  und  ebenso  in 
allen  Fällen,  wo  wir  schwanken  können,  was  wir  als  einheitliches 
Ding  festhalten,  was  wir  als  Complex  verschiedener  Dinge  be- 
trachten sollen  ;  selbst  das  ruhende  Verhältniss  des  Ganzen  zu 
den  Theilen  erscheint  als  ein  Wirken,  das  vom  Ganzen  gegen  die 
Theile  oder  von  diesen  gegen  jenes  ausgeübt  wird ;  das  Ganze  hat, 
d.  h.  hält  die  Theile,  bindet  sie  durch  ein  Wirken  zur  Ein- 
heit zusammen,  die  Theile  »bilden«  das  Ganze.  Wird  ferner 
darauf  gesehen,  dass,  was  wir  gewöhnlich  als  Eigenschaft  auf- 
fassen, wie  Farbe,  Geruch  u.  s.  w. ,  der  fortschreitenden  Er- 
kenntniss  sich  in  eine  Wirkung  auf  unsere  Sinnesorgane  auf- 


42  I»  1-     Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  38.39 

gelöst  hat,  so  hat  der  Satz,  dass  auch  Wirken  und  Eigen- 
schaft ineinander  übergehen,  dass  die  Substanz  in  ihren  Eigen- 
schaften causal  sei,  viel  für  sich,  und  Inhärenz  und  Causalität 
sind  dann  nur  verschiedene  Betrachtungsweisen  eines  und  des- 
selben Verhältnisses. 

Allein  alle  diese  Betrachtungen  heben  doch  bloss  die  Schwie- 
rigkeit hervor  zu  entscheiden,  auf  was  die  Bestimmungen  der 
Eigenschaft,  des  Thuns,  des  Wirkens  mit  objectiver  Gültigkeit 
angewendet  werden  können,  ohne  dass  darum  der  Unterschied 
der  Begriffe  Eigenschaft ,  Thun ,  Wirken  als  unterschie- 
dener Elemente  in  unserer  Vorstellung  aufgehoben 
wäre.  Wenn  erkannt  wird,  dass,  was  wir  erst  als  eine  einem 
Ding  inhärierende  Eigenschaft  angesehen  haben,  wie  die  Farbe, 
dem  Dinge  nicht  inhäriert,  sondern  seine  Wirkung  auf  unsere 
Sinnlichkeit  ist:  so  wirkt  es  doch  vermöge  einer  Eigenschaft 
die  jetzt  nur  nicht  sinnlich  direct  erkennbar  ist ,  sondern  er- 
schlossen werden  muss,  vermöge  der  Structur  seiner  Ober- 
fläche und  seiner  Kraft  Lichtwellen  theils  zurückzuwerfen  theils 
zu  absorbieren ;  und  um  wirken  zu  können  ,  muss  es  vor 
allem  thätig  sein,  an  sich  selbst  eine  Veränderung  seines 
Zustands,  eine  Bewegung  oder  dergl.  vornehmen.  Es  bleibt 
bestehen ,  dass  wir ,  um  ein  bestimmtes  Ding  zu  denken ,  es 
mit  Eigenschaften  denken  müssen,  die  ihm  inhärieren,  die  sein 
unterschiedenes  Wesen  ausmachen  und  von  ihm,  wie  es  an 
sich  ist,  prädiciert  werden  können.  Ebenso  ist  es  mit  dem 
Thun.  Wenn  nicht  alles  in  ein  Chaos  zusammenstürzen  soll, 
in  welchem  wir  keine  festen  Unterschiede  mehr  zu  erkennen 
vermögen,  so  müssen  wir  die  Welt  als  eine  Vielheit  von  ein- 
zelnen individuellen  Dingen  denken,  deren  jedes  seine  Bestimmt- 
heit hat,  und  thätig  ist,  indem  es  in  der  Zeit  diese  Bestimmt- 
heit behauptet,  oder  wechselt  und  ändert,  sich  bewegt,  wächst  etc. 
Dass  es  in  diesem  Thun  einerseits  von  anderen  Dingen  be- 
stimmt wird,  die  wirken,  andererseits  auf  andere  Dinge  wirkt, 
und  ihr  Thun  bestimmt,  ist  eine  davon  verschiedene  Betrach- 
tung ;  das  Wirken  kann  gar  nicht  ausgesagt  werden ,  ohne 
dass  es  vom  Thun  unterschieden  wird.  Es  ist  der  Gegensatz 
der  causa  immanens  und  der  causa  transiens.  Was  aus  der 
ersteren  hervorgeht,  ist  von  der  Vorstellung  des  Subjects  un- 


40  §  6.     Die  obersten  Gattungen  des  Vorgestellten.  43 

trennbar,  eine  Seinsweise  desselben;  was  aus  der  zweiten  her- 
vorgeht ,  kann  nur  durch  sein  Verhältniss  zu  einem  zweiten 
gedacht  werden.  Somit  ist  der  Unterschied  nicht  aufzuheben, 
dass  die  Vorstellung  des  Wirkens  zu  den  Relationsvorstellungen 
zwischen  verschiedenen  Dingen  gehört,  während  die  des  Thuns 
einen  integrierenden  Bestandtheil  der  Vorstellung  des  einzelnen 
Dinges  für  sich  ausmacht,  und  ihr  nur  die  Relationen  des 
Raums  und  der  Zeit  anhängen  ohne  die  überhaupt  nichts 
Einzelnes  gedacht  werden  kann.  Darum  ist  auch  die  Vor- 
stellung des  Wirkens  niemals  anschaulich ;  der  Uebergang  der 
Causalität  von  einem  Ding  aufs  andere  ist  immer  hinzugedacht 
und  ein  Product  des  zwischen  ihnen  verknüpfenden  Denkens ; 
anschaulich  ist  nur  das  Thun  selbst,  die  Veränderung  der  in 
Relation  tretenden  Dinge. 

Auf  die  Manigfaltigkeit  des  sprachlichen  Ausdrucks  dieser 
Relation  können  wir  nur  kurz  hinweisen.  Ihre  nächste  und 
eigentlichste  Bezeichnung  findet  sie  in  den  transitiven  Verben; 
indem  diese  aber  aus  beharrlichem  Grunde  hervorgehend  ge- 
dacht werden,  entwickeln  sich  die  Adjectiva,  welche  ein  Ding 
als  einer  Wirkung  fähig,  zu  derselben  bereit,  sie  stetig  übend 
bezeichnen,  und  indem  die  Vorstellung  des  Wirkens  mit  dem 
Ding  selbst  zusammengedacht  und  dieses  von  der  Wirkung 
benannt  wird ,  entstehen  die  zahlreichen  Substantiva ,  welche 
die  Dinge  nur  nach  einer  causalen  Relation  bezeichnen.  Hier 
ergibt  sich  leicht  eine  Incongruenz  der  substantivischen  Form, 
die  das  Dauernde  und  für  sich  Seiende  andeutet,  mit  der  Zu- 
fälligkeit und  dem  Wechsel  der  Relation ,  und  die  Möglich- 
keit von  Verwechslungen  dessen  was  bloss  von  der  Relation, 
und  dessen  was  von  dem  Dinge  gilt.  Dies  findet  auf  den 
Ausdruck  Ursache  selbst  Anwendung ;  einerseits  ist  etwas  Ur- 
sache nur  sofern  es  wirkt ,  und  in  dem  Moment  in  welchem 
es  wirkt;  andererseits  bezeichnen  wir  mit  Ursache  ein  Ding, 
das  dauernde  Existenz  hat.  Sagt  man  nun:  wo  keine  Wir- 
kung ist,  ist  auch  keine  Ursache,  so  ist  dies  vollkommen 
richtig  in  Beziehung  auf  die  Relation;  aber  es  wird  unrichtig, 
sobald  es  auf  die  Dinge  ausgedehnt  wird,  welche  unter  Um- 
ständen Ursache  werden  könnten  oder  in  anderer  Hinsicht 
Ursachen  sind.     Dasselbe  ist  es   —    im  Gebiete    einer    andern 


44  Ii  1.     Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  40 

Relation  —  mit  dem  berühmten  Satze:  ohne  Subject  kein 
Object;  denn  wenn  ich  beim  Worte  Object  bloss  an  die  Rela- 
tion denke,  nach  der  etwas  nur  insofern  als  Object  bezeichnet 
werden  kann  als  es  wirklich  vorgestellt  wird,  so  ist  der  Satz 
eine  Binsenwahrheit ;  bezeichne  ich  aber  mit  Object  alles,  was 
ausser  mir  oder  gar  nur  als  ein  von  meinem  Denken  Ver- 
schiedenes existiert  und  nenne  es  Object,  weil  es  unter  Um- 
ständen fähig  ist  vorgestellt  zu  werden :  so  folgt  aus  dem 
Fehlen  des  Subjects  und  dem  Aufhören  der  Relation  nicht 
das  Verschwinden  aller  Dinge  die  ich  vorher  vorgestellt  habe; 
sonst  müsste  auch  ich  selbst  verschwinden ,  sobald  ich  ein- 
schlafe. Ich  habe  geschlafen  —  sagen  wir  ganz  unbefangen ;  aber 
Ich  bezeichnet  doch  ein  Subject  das  seiner  selbst  bewusst 
ist;  das  Bewusstsein  verschwindet  im  Schlaf,  also  kann  Ich 
nicht  schlafen,  wenn  ich  mit  Ich  eben  das  Subject  bezeichne, 
sofern  es  seiner  selbst  bewusst  ist ;  und  nach  der  Theorie : 
ohne  Subject  kein  Object,  müsste  ich  im  Schlafe  aufhören  zu 
sein.  »Ein  Reiter  zu  Fuss«  ist  ein  lächerlicher  Widerspruch, 
wenn  ich  mit  »Reiter«  den  Mann  bloss  bezeichnen  will,  so 
lange  er  zu  Pferde  sitzt;  bezeichne  ich  aber  damit  den  Mann, 
der  in  der  Reiterei  dient,  so  ist  es  eine  ganz  selbstverständ- 
liche Sache ,  dass  er  auch  zu  Fuss  geht.  Der  Satz :  »kein 
Object  ohne  Subject«  ist  in  demselben  Sinne  wahr,  wie  der 
Satz:  Ein  Reiter  kann  nicht  zu  Fuss  gehn. 

d)  Mit  keiner  andern  Relation  vergleichbar  ist  diejenige, 
in  welcher  die  Objecte  unseres  subjectiven  Thuns, 
unseres  Anschauens  und  Denkens  wie  unseres  Begehrens  und 
Wollens  zu  uns  selbst,  als  dem  Subjecte  geistiger  Thätigkeit 
stehen.  Das  Gedachte  oder  Gewollte  als  solches,  als  bestimmter 
Inhalt,  enthält  alle  Kategorieen  die  wir  bisher  betrachtet ;  es 
ist  Ding,  Eigenschaft,  Thätigkeit,  Wirkung  u.  s.  w. ;  aber  unter 
welche  Kategorie  gehört  sehen,  hören,  anschauen,  denken, 
wollen,  wenn  wir  diese  Functionen  in  Beziehung  auf  ihre  Ob- 
jecte und  nicht  bloss  als  Thätigkeitsäusserungen  des  Subjects 
betrachten?  Gehört  sehen,  hören,  vorstellen  unter  die  causalen 
Relationen  ?  Sie  sind  weder  ein  blosses  Thun ,  denn  sie  sind 
auf  ein  von  dem  thätigen  Subject  Verschiedenes  bezogen;  sie 
sind  aber  auch   kein  Wirken,    denn    sie   erzeugen  weder   ein 


41  §  7.    Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  45 

Ding  noch  verändern  sie  es.  Nur  dasjenige,  was  wie  die  freien 
Bildungen  der  Phantasie  von  vornherein  nur  als  Gedachtes 
gilt,  kann  unter  den  Gesichtspunkt  der  causalen  Relation  des 
Hervorbringens  und  Schaffens  fallen,  sofern  wir  auch  einen 
Gedanken,  ein  Traumbild  u.  s.  w.  als  ein  »Ding«  anzusehen 
berechtigt  sind;  was  wir  aber  als  irgendwie  seiend  denken, 
das  ist  nicht  von  unserem  Denken  hervorgebracht,  und  es  ge- 
schieht ihm  realiter  nichts  damit  dass  es  gedacht  wird;  und 
doch  soll  es  ein  Object  unseres  Denkens  sein  und  in  Beziehung 
dazu  stehen.  Nennen  wir  diese  Classe  von  Relationen  mit 
einer  Erweiterung  des  kantischen  Sprachgebrauchs  die  mo- 
dalen: so  fallen  darunter  alle  Beziehungen,  in  welche  wir 
Objecte  zu  uns  setzen,  sofern  wir  sie  vorstellen,  und  als  vor- 
gestellte begehren,  wünschen,  in  ihrem  Werthe  für  uns  beur- 
theilen;  also  nicht  bloss  alle  die  Verba,  welche  eine  auf  Ob- 
jecte bezogene  ideelle  Thätigkeit  ausdrücken,  sondern  ebenso 
die  Adjectiva  und  Adverbia,  welche  wie  wahr  und  falsch  das 
Verhältniss  meiner  Vorstellung  zu  dem  Ding  auf  welches  sie 
sich  bezieht,  oder  wie  schön  und  gut  eine  Beziehung  des  In- 
halts einer  Vorstellung  zu  einem  Massstabe  der  Werthschätz- 
ung  ausdrücken  ,  und  darum  nur  wo  dieser  Massstab  absolut 
feststeht  indirect  Ausdruck  für  eine  Eigenschaft  werden  kön- 
nen, die  dem  Ding  als  solchem  zukommt;  endlich  Substantiva 
wie  Zeichen,  Zweck  etc. 

§7. 
Alles  Vorgestellte  wird  entweder  vorgestellt  als  einzeln 
existierend  (als  einzelnes  Ding  oder  als  Eigenschaft,  Thä- 
tigkeit, Relation  einzelner  Dinge)  beziehungsweise  unter  den 
Bedingungen  der  Einzel existenz  (wie  die  Producte  der  Bilder 
schaffenden  Phantasie) ,  oder  es  wird  abgesehen  von  den 
Bedingungen  seiner  Einzelexistenz  vorgestellt 
und  insoweit  allgemein,  als  das  Vorgestellte,  wie  es  rein 
innerlich  gegenwärtig  ist,  in  einer  beliebigen  Menge  von  ein- 
zelnen Dingen  oder  Fällen  existierend  gedacht  werden  kann. 
Der  Ausdruck  für  diesen  innerlich  gegenwärtigen  Gehalt  des 
Vorgestellten  ist  das  Wort  als  solches. 


46  I.  1-    Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  42 

Die  Wörter  aber,  wie  sie  als  Ausdruck  des  natürlichen 
individuellen  Denkens  aus  der  vorhandenen  Sprache  angeeignet 
und  verwendet  werden,  haben  individuell  differente 
und  in  vielfacher  Umbildung  begriffene  Bedeu- 
tungen; vermöge  dieser  Umbildung  hat  die  Allgemeinheit,  ; 
welche  ihrer  Bedeutung  zukommt ,    verschiedenen  Sinn. 

1.  Welche  Vorstellungen  in  einem  urtheilenden  Subjecte 
dem  Urtheilen  selbst  voransgelien,  wird  im  allgemeinen  durch 
ihre  sprachliche  Bezeichnung  angedeutet.  Nun  ist  zwar  mit 
dem  Zwecke  der  Sprache  gegeben,  dass  jeder  unter  demselben 
Worte  dasselbe  denkt;  allein  im  wirklichen  Leben  ist  dieser 
Zweck  durchaus  nicht  vollständig  erreicht,  vielmehr  bedeuten 
die  Wörter  Verschiedenen  Verschiedenes,  und  demselben  Ver-  ' 
schied enes  zu  verschiedenen  Zeiten*).  Es  darf  also  niemals, 
wenn  wir  das  wirkliche  Urtheilen  analysieren  wollen,  ohne 
Weiteres  von  einer  allgemeingültigen  Bedeutung  eines  Wortes 
ausgegangen,  sondern  das  Wort  darf  immer  nur  als  Zeichen 
der  eben  in  dem  urtheilenden  Individuum  gegenwärtigen  Vor- 
stellung angesehen  werden. 

2,  Nun  ist  das  Verhältniss  der  sprachlichen  Ausdrücke^ 
zu  den  durch  sie  bezeichneten  Vorstellungen  ein  verschiedenes. 
Ein  Theil  der  Wörter  (wie  Nomina  und  Verba)  ist  mit  einem 
bestimmten  Vorstellungsgehalt  verbunden,  der  ihre  Bedeutung 
ausmacht  wae  sie  für  das  Individuum  gilt,  ein  anderer  Theil 
—  wie  Pronomina  und  Demonstrativa  —  bezeichnet  für  sich 
durch  den  blossen  Wortlaut  nichts  bestimmtes,  sondern  dient 
nur  dazu  eine  Beziehung  zu  dem  denkenden  und  sprechenden 
Subjecte  (oder  zu  dem  eben  von  ihm  Gesprochenen)  auszu- 
drücken ,  und  vermag  also  erst  wenn  diese  Beziehung  durch 
die  Anschauung  selbst  bekannt  ist,  Zeichen  einer  bestimmten 
Vorstellung  zu  werden.  Ich  und  du  ,  dieses  und  jenes ,  hier 
und  dort,  drücken  durch  ihren  Wortlaut  nicht  die  Vorstellung 
einer  bestimmten  Person ,  eines  bestimmten  Etwas ,  eines  be- 
stimmten Orts  u.  s.  w.  aus,  obgleich  sie  dazu  verwendet  werden, 
ein  bestimmtes  Etwas,  einen  bestimmten  Ort  zu  bezeichnen ;  in 

*)  Vgl.  Paul,  Principieu  der  Sprachgeschichte.     2.  Aufl.  S,  83. 


43  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  47 

verschiedenen  Fällen,  von  Verschiedenen  gebraucht,  bezeichnen 
sie  ganz  Verschiedenes,  und  was  sie  bezeichnen  wird  erst  an- 
derswoher ergänzt. 

3.  Die  für  sich  bedeutungsvollen  Wörter  aber  sind  alle, 
sofern  sie  verstanden  werden,  zunächst  und  unmittelbar  nur 
Zeichen  von  Vorstellungen  die  innerlich  gegenwärtig,  aus  der 
Erinnerung  reproducierbar  sind.  Mag  ein  Wort  ein  Eigen- 
name sein  oder  etwas  ganz  Allgemeines  bezeichnen:  immer 
ist  es  erst  dann  fähig  gebraucht  zu  werden,  wenn  es  die  Macht 
erlangt  hat,  durch  seinen  blossen  Laut  ohne  Hülfe  einer  ge- 
genwärtigen Anschauung  einen  bestimmten  Vorstellungsgehalt 
ins  Bewasstsein  zu  rufen.  Umgekehrt  ist  was  wir  vorstellen 
nur  dann  unser  sicherer  und  fester  Besitz,  der  im  Denken 
verwerthet  werden  kann ,  wenn  wir  das  bezeichnende  Wort 
dazu  haben;  wir  empfinden  das  Fehlen  des  Wortes  zu  einer 
Vorstellung  immer  als  einen  Mangel  und  als  ein  Hinderniss, 
das  uns  erschwert  sie  in  ihrer  Eigenthümlichkeit  und  Ge- 
schiedenheit von  andern  festzuhalten  ,  sicher  zu  reproducieren 
und  vor  Verwechslung  zu  bewahren.  Es  ist  mit  dem  Gange 
unserer  geistigen  Entwicklung,  die  sich  einmal  thatsächlich 
nur  mit  Hülfe  der  Sprache  und  unter  ihrem  mächtigen  Ein- 
flüsse vollzieht ,  von  selbst  gegeben ,  dass  jeder  von  uns  er- 
worbene und  innerlich  angeeignete  Vorstellungsinhalt  sein  be- 
zeichnendes Wort  sucht;  darum  bemühen  wir  uns  vor  allem 
die  Namen  zu  wissen,  und  begnügen  uns  auf  die  Frage:  was 
ist  das?  mit  der  Angabe  eines  neuen  und  nie  gehörten  Na- 
mens, indem  wir  uns  leicht  der  Täuschung  hingeben  als  sei 
mit  dem  Lernen  der  Namen  eine  Bereicherung  unserer  Er- 
kenntniss  der  Dinge  gegeben  ,  während  wir  doch  damit ,  dass 
wir  wissen,  dass  diese  Pflanze  Aristolochia  und  jene  Clematis 
heisst,  direct  gar  nichts  gewinnen  ;  wohl  aber  haben  wir  ein 
Mittel  gewonnen  leichter  auf  diese  Dinge  zurückzukommen, 
sie  in  unserer  Erinnerung  zu  befestigen  und  später  unsere 
ii]rkenntniss  zu  erweitern.  So  ist  auch  jeder  Fortschritt  des 
Wissens  von  einer  Veränderung  und  Erweiterung  der  wissen- 
schaftlichen Terminologie  begleitet. 

4.  Besinnen  wir  uns  nun  auf  die  Natur  der  Vorstellungen, 
welche  unsere  Wörter   beijleiten:    so   ist    vor   allem   daran  zu 


48  Ti  1-    I^ie  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils. 

erinnern ,  dass  wir  es  hier  mit  demjenigen  Denken  zu  thurf" 
haben,  das  sich  im  natürlichen  Verlaufe  der  geistigen  Ent- 
wicklung in  den  einzelnen  Individuen  vollzieht ;  und  was  sich 
hier  für  den  Einzelnen  mit  einem  und  demselben  Worte  ver- 
knüpft, macht  eine  Reihe  von  Entwicklungsstufen  durch,  über 
die  uns  direct  weder  die  Sprachforschung,  welche  nur  den  all- 
gemeingültigen Sinn  des  Worts  feststellen  will,  noch  die  ge- 
wöhnliche Auffassung  des  Worts  in  der  Logik  Aufschluss 
geben  kann. 
f  5.     Die  Wörter  gelten   gewöhnlich  als  Zeichen  von  B  e- 

;  griffen.  Allein  dass  sie  einen  Begriff  im  logischen  Sinn 
darstellen,  wie  er  ein  Kunstproduct  einer  bewussten  Bearbei- 
tung unserer  Vorstellungen  ist,  in  der  seine  Merkmale  ana- 
lysiert und  in  der  Definition  fixiert  werden,  ist  ein  idealer 
Zustand,  den  zu  erreichen  eben  die  Logik  helfen  soll ;  factisch 
sind  die  meisten  unserer  Wörter  nur  in  der  Annäherung  an 
diesen  Zustand  begriffen,  und  gehen  wir  an  den  Anfang  un- 
seres Urtheilens  zurück,  wie  es  mit  der  ersten  Aneignung  der 
einfachsten  Sprachelemente  beginnt,  so  kann  es  nur  verwir- 
ren ,  wenn  das  unter  dem  Wort  Gedachte  ohne  Weiteres  als 
Begriff  bezeichnet  wird,  man  mtisste  denn  den  Ausdruck  »Be- 
griff«, wie  flerbart  thut,  in  einem  viel  weiteren  als  dem  ge- 
wöhnlichen Sinne  nehmen. 

i^.  Nun  scheint  ein  doppeltes  Verhältniss  hiebei  unter- 
scheidbar. Ein  Theil  unserer  Vorstellungen,  nemlich  die  auf 
unmittelbarer  Anschauung  beruhenden,  bilden  sich  bis  zu  einem 
gewissen  Punkte  unabhängig  von  der  Sprache ,  und  diese  in 
jedem  Einzelnen  selbstständig  sich  entwickelnden  Vorstellungen 
sind  die  Bedingung,  unter  der  überhaupt  erst  das  Sprechen 
möglich  ist,  das  also  von  dieser  Seite  zu  einem  fertigen  Ge- 
bilde erst  hinzukommt.  Ein  anderer  Theil  aber,  z.  B.  das 
ganze  Gebiet  des  Unsinnlichen,  wird  durch  die  Tradition  in 
uns  erweckt,  und  die  Bildung  dieser  Vorstellungen  ist  ver- 
anlasst und  bestimmt  durch  den  Gedankenkreis  der  Gesell- 
schaft, wie  er  in  der  gehörten  Sprache  sich  ausdrückt;  das 
Wort  geht  voran  und  erst  allmählich  erfüllt  es  sich  mit  einer 
reicheren  und  bestimmteren  Bedeutung  in  dem  Masse  als  der 
ßinzeine  sich  in  das  Denken  der  Gesammtheit  hineinlebt.    Aber 


45  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  49 

der  Gegensatz  ist  nur  scheinbar;  denn  jedes  Verstandniss  eines 
Worts  muss  an  Selbsterzeugtes  anknüpfen,  und  der  indivi- 
duelle Gehalt  desselben  besteht  eben  aus  den  Elementen,  welche 
der  Einzelne  wirklich  mit  Bewusstsein  erfasst  und  festgehalten 
hat.  Auch  die  unmittelbare  sinnliche  Anschauung  des  Kindes 
wird  frühe  schon  von  der  Sprache  geleitet,  und  umgekehrt 
sind  die  Termini  der  höchsten  Abstraction  nur  dann  mehr 
als  leere  Laute ,  wenn  ihr  Inhalt  selbstständig  durch  Denken 
nacherzeugt  ist ;  es  ist  immer  eine  Entdeckung ,  wenn  die 
TJebereinstimmung  eines  selbsterzeugten  Gedankens  mit  der  in 
dem  Sprachgebrauch  geltenden  Bedeutung  eines  Worts  erkannt 
wird;  und  alles  Erklären  der  Wörter  muss  darauf  ausgehen, 
die  Bedingungen  herzustellen,  unter  denen  nach  den  psycho- 
logischen Gesetzen  die  ihnen  entsprechenden  Vorstellungen  er- 
zeugt werden  müssen.  Der  wahre  Unterschied  besteht  nur 
darin,  dass  in  der  natürlichen  Entwicklung  die  sinnlichen  Vor- 
stellungen vorangehen  und  auf  ziemlich  übereinstimmende 
Weise  sich  bilden  ;  während  mit  der  Zunahme  der  Menge  von 
Voraussetzungen,  welche  die  höheren  und  abstracteren  Vorstel- 
lungen erfordern,  auch  die  Manigfaltigkeit  der  Wege  wächst, 
auf  denen  sie  gebildet  werden,  und  damit  die  individuelle 
Verschiedenheit  der  Producte  schwerer  darzulegen  ist.  Der 
allgemeine  Gang  aber,  in  dem  Vorstellung  und  Wort  für  den 
Einzelnen  sich  vermählen,  ist  im  Wesentlichen  derselbe ;  das 
Wort  knüpft  an  einen  in  irgend  einem  Moment  zum  ersten - 
male  selbsterzeugten  Gehalt  an ,  und  durchläuft  eine  Reihe 
von  Entwicklungen ,  in  denen  dieser  Gehalt  sich  bereichert 
und  modificiert. 

7.  Wenn  wir  ins  Auge  fassen,  wie  das  Kind  die  — 
fast  ausschliesslich  sinnlichen  —  Vorstellungen  erwirbt,  die 
zu  seinen  ersten  Wörtern  gehören  und  seine  ersten  Urtheile 
möglich  machen:  so  geschieht  das  immer  von  der  einzelnen 
Anschauung  eines  Dings  oder  eines  Vorgangs  aus ,  die  ihm 
benannt  wird ;  an  einzelnen  Fällen  geht  das  erste  A^erständ- 
niss  der  Wörter  auf.  Je  weniger  aber  seine  Auffassung  geübt 
und  durch  einen  Reichthum  schon  vorhandener  Vorstellungen 
vorbereitet  ist,  desto  weniger  kann  das  Anschauuiigsbild,  das 
in  die  Erinnerung  eingeht  und  später  mit  dem  Worte  repro- 

S  i  g  w  a  r  t ,  Logik.    1.     2.  Auflage.  i 


50  !•  1*    ^i^  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  46 

duciert  wird,  ein  getreues  und  erschöpfendes  Abbild  des  sinn- 
lich gegenwärtigen  Dinges  selbst  sein,  und  alles  das  enthalten, 
was  an  dem  Objecte  wahrgenommen  werden  könnte;  auch 
was  der  Erwachsene  in  der  Regel  von  einem  ihm  gegen- 
wärtigen Objecte  wirklich  sieht  und  in  seine  Anschauung  und 
weiterhin  seine  Erinnerung  aufnimmt,  bleibt,  wenn  er  nicht 
ein  geübter  Beobachter  ist,  weit  hinter  dem  Objecte  selbst 
zurück;  um  so  mehr  kann,  was  beim  Beginn  des  Sprechen- 
lernens von  dem  einzelnen  gesehenen  Objecte  haften  bleibt, 
nur  ein  rohes  und  verwaschenes  Abbild  des  Dinges  sein,  in 
welchem  nur  die  hervorstechendsten  Züge,  wie  in  einer  rohen 
Zeichnung,  erscheinen;  so  dass  wir  meist  gar  nicht  wissen 
können,  welches  Bild  jetzt  das  Kind  eigentlich  mit  dem  ge- 
hörten Worte  verknüpfte.  Tritt  eine  ähnliche  Anschauung  ein 
wie  diejenige,  die  es  wirklich  behalten  hat:  so  sind  die  Be- 
dingungen gar  nicht  gegeben,  unter  denen  eine  Differenz  des 
früheren  und  des  jetzigen  Objectes  wahrgenommen  werden 
könnte,  die  Verschmelzung  erfolgt  unmittelbar,  und  spricht 
sich  darin  aus,  dass  das  Neue  mit  dem  gelernten  Namen  be- 
nannt wird.  Die  Gewohnheit  der  Kinder,  auch  entfernt  Aehn- 
liches,  wenn  es  nur  in  den  sicher  aufgefassten  Zügen,  oder 
auch  nur  in  einem  oder  dem  andern  übereinstimmt,  mit  dem- 
selben Namen  zu  belegen,  ermöglicht  ihre  Kunst  mit  wenigen 
Wörtern  hauszuhalten;  daraus  erklärt  sich  einerseits  der  oft 
überraschende  Witz  der  kindlichen  Sprache,  andrerseits  die 
zahllosen  Verwechslungen,  die  ihnen  nach  unserer  Meinung 
begegnen.  Der  Fortschritt,  den  sie  machen,  besteht  nicht 
darin  dass  sie  Neues  unter  schon  bekannte  Vorstellungen 
subsumieren,  sondern  darin  dass  sie  vollständiger  auffassen 
und  genauer  unterscheiden  lernen*). 

8.     Für  unser  individuelles  Denken  knüpft  sich  also   am 

/    Anfange  seiner  Entwicklung   die  Bedeutung  jedes  Wortes   an 

eine  einzelne  Anschauung ,   um   so   mehr ,    als   zwischen   einer 

Einzelvorstellung  und  einer  allgemeinen  gar  kein  Unterschied 

besteht.     Das  Erinnerungsbild,   das   von  einer  ersten   unvoll- 

*)  Vgl.  die  treffenden  Bemerkungen  Steinthals,  Abriss  der  Sprach- 
wissenschaft 1,  S.  148  ff.  401  ff.  und  Paul,  Princ.  d.  Sprachgeschichte 
2.  Aufl.,  S.  75  ff-. 


47  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  51 

kommenen  Auffassung  eines  Objects  zurückbleibt,  haftet  ja 
nicht  wie  ein  fester  Abdruck  in  der  Seele;  seine  Reproduction 
ist  eine  neue  Thätigkeit,  und  wo  wir  von  Bildern  und  Vor- 
stellungen sprechen,  wie  von  festen  Dingen,  die  im  Schachte 
des  Gredächtnisses  ruhen,  sollten  wir  eigentlich  von  erworbenen 
und  erlernten  Gewohnheiten  und  Fertigkeiten  des  Vorstellens 
reden ,  die  nicht  ausschliessen ,  dass  bei  jeder  Reproduction 
leichtere  oder  eingreifendere  Veränderungen  der  Thätigkeit 
und  damit  ihres  Products  stattfinden.  Wie  oft  machen  wir 
die  Erfahrung ,  wenn  wir  einen  bekannten  Gegenstand ,  ein 
Haus  oder  eine  Landschaft  u.  s.  w.  nach  längerer  Zeit  wieder 
sehen,  dass  er  ganz  anders  aussieht,  als  wir  ihn  in  der  Er- 
innerung gehabt  haben.  Diese  Unsicherheit  des  Erinnerungs- 
bildes ,  und  das  allgemeine  Gesetz ,  das  Beneke  passend  das 
der  Anziehung  des  Gleichartigen  genannt  hat,  genügen,  um 
es  mit  einer  Reihe  von  neuen  Bildern  zu  vereinigen ,  und 
ihm  so  die  Function  einer  allgemeinen  Vorstellung  zu  geben. 
Der  Process  des  fortwährenden  Benennens  neuer  Dinge  — 
um  zunächst  bei  den  Substantiven  stehen  zu  bleiben  —  be- 
festigt einerseits  die  hervorragenden  und  gemeinschaftlichen 
Züge,  und  erhält  andererseits  doch  das  Bild  flüssig  und  ver- 
schiebbar, so  dass  bald  dieser  bald  jener  Zug  desselben  in 
den  Vordergrund  treten  und  neue  Associationen  bestimmen 
kann.  Darum  haben  im  natürlichen  Verlauf  des  Denkens  alle 
Wörter  ein  Bestreben  ihr  Gebiet  zu  erweitern;  ihre  Grenzen 
sind  unbestimmt  und  immer  bereit  sich  für  neue  verwandte 
Vorstellungen  zu  öffnen;  und  diese  Erweiterung  wird  fort- 
während dadurch  begünstigt ,  dass  an  neuen  Gegenständen 
immer  dasjenige  am  leichtesten  beachtet  und  aufgefasst  wird, 
was  mit  einem  schon  eingeübten  Schema  übereinstimmt;  wir 
legen  so  zu  sagen  unsere  fertigen  Bilder  immer  über  die 
Dinge  her  und  verhüllen  uns  dadurch  das  Neue  und  Unter- 
scheidende an  ihnen. 

Diesem  Process  geht  nun  aber  ein  anderer  zur  Seite. 
Mit  der  zunehmenden  Uebung  der  Auffassung  werden  nicht 
bloss  die  frappantesten  Züge,  sonderu  auch  die  weniger  her- 
vorstechenden beachtet;  damit  werden  die  liildcr  bestimmter 
und    inhaltsreicher,    und  in  demselben  Masse  beschränkt  sich 

4* 


52  I»  1-     Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  48 

einerseits  das  Gebiet  ihrer  Anwendung  auf  Neues,  vermehrt 
sich  andrerseits  ihre  Zahl  und  die  Fähigkeit  sie  zu  unter- 
scheiden. Diese  Unterscheidung  aber  vergleicht  Ganzes  mit 
Ganzem;  sie  geht  nicht  so  vor  sich,  dass  man  zuerst  sich 
Rechenschaft  gäbe,  worin  der*  Unterschied  im  Einzelnen  be- 
steht, und  die  übereinstimmenden  und  differenten  Merkmale 
mit  Bewusstsein  sonderte;  wir  unterscheiden  fortwährend  ganz 
sicher  unbekannte  Personen  von  bekannten ,  ohne  uns  zum 
Bewusstsein  zu  bringen,  worin  sie  sich  denn  eigentlich 
unterscheiden ;  es  ist  ein  nicht  analysierter  Gesammteindruck, 
von  der  Unmittelbarkeit  eines  Gefühls,  der  uns  das  Bekannte 
als  solches  anerkennen  und  von  dem  Unbekannten  urtheilen 
lässt,  dass  es  nichts  Bekanntes  sei. 

Weniger  die  Häufigkeit  der  Beobachtung,  als  das  Inte- 
resse des  Menschen  bestimmt  seine  Aufmerksamkeit  und  die 
Genauigkeit  seiner  Auffassung.  Die  Bilder  dessen  was  ihn 
erfreut  oder  schreckt,  was  mit  seinen  Bedürfnissen  und  Trieben 
im  Zusammenhang  steht,  prägen  sich  mit  allen  Einzelnheiten 
dem  Gedächtnisse  ein;  was  ihm  gleichgültig  ist,  nimmt  er 
sich  nicht  die  Mühe  genau  aufzufassen,  und  so  lässt  es  nur 
einen  verwaschenen  Eindruck  der  hervorstechendsten  Züge 
zurück,  der  in  weitester  Ausdehnung  sich  mit  Aehnlichem 
verschmelzen  kann. 

So  erklärt  es  sich,  wie  nebeneinander  bestimmtere  und 
inhaltsreichere  Bilder,  und  unbestimmtere,  leichter  verschieb- 
bare ihn  erfüllen  und  sich  mit  seinen  Wörtern  verknüpfen. 
Er  benennt  etwa  das  Huhn  das  ihm  Eier  legt,  den  Sperling 
der  ihn  in  seinem  Garten  ärgert,  den  Storch  der  auf  seinem 
Dache  nistet;  alles  Weitere  ist  Vogel,  und  er  bekümmert 
sich  um  die  Unterschiede  der  einzelnen  Arten  nicht,  hat  aber 
ebensowenig  das  Bewusstsein,  dass  die  Vorstellung  »Vogel« 
in  ihrer  Unbestimmtheit  auch  die  speciell  bekannten  Arten 
unter  sich  begreift;  »es  ist  kein  Vogel,  es  ist  ein  Huhn« 
kann  man  nicht  bloss  Kinder  sagen  hören.  Das  unbestimmtere 
und  ärmere  Bild ,  das  nur  von  den  Hauptzügen  der  Gestalt 
und  des  Fluges  hergenommen  ist,  genügt  wo  kein  Interesse 
ist,  die  Dinge  zu  unterscheiden ;  es  dehnt  sich  auf  ,den  flie- 
genden Käfer  und  den  Schmetterling  aus. 


49  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort;  53 

Die  Geschichte  der  Sprache  zeigt  eine  ganz  ähnliche 
Entwicklung.  Ihre  Wurzeln  haben  eine  sehr  allgemeine 
Bedeutung;  nicht  weil  von  Hause  aus  durch  einen  umfassen- 
den Abstractionsprocess  gleich  das  Allgemeinste  fixiert  wor- 
den wäre,  sondern  weil  wenig  unterschieden  und  nur  leicht  %/ 
auifassbare,  besonders  hervorstechende  Erscheinungen  behalten 
und  benannt  worden  sind.  Die  einzelnen  Dinge  werden  meist 
nach  irgend  einer  dieser  Erscheinungen  benannt,  der  Fluss 
vom  Gehen,  der  Hahn  vom  Krähen  u.  s.  w.  Indem  dann  ver- 
schiedene Seiten  an  ihnen  aufgefasst,  und  sie  nur  nach  diesen 
benannt  werden,  entstehen  die  zahlreichen  Synonyma,  welche 
sie  in  verschiedene  Reihen  gleichartiger  Erscheinungen  stellen ; 
im  Verlaufe  der  Sprachentwicklung  erst  tritt  weitergehende 
Specialisierung  durch  Ableitung  und  Verwendung  ursprüng- 
licher Synonyme  für  verschiedene  specielle  Classen  von  Dingen 
und  Vorgängen  ein,  aber  das  Allgemeinere  besteht  neben  dem 
Specielleren  fort.  Ganz  entgegen  der  gemeinen  Lehre  von  der  j 
Bildung  der  allgemeinen  Vorstellungen  ist  im  Individuum  wie 
in  der  Sprache  das  Allgemeine  früher  als  das  Specielle,  so 
gewiss  die  unvollständigere  und  unbestimmtere  Vorstellung 
früher  ist  als  die  vollständige,  die  eine  weitergehende  Unter- 
scheidung voraussetzt. 

Ein  ähnlicher  Process  vollzieht  sich  hinsichtlich  der  Vor- 
stellungen der  Eigenschaften  und  Thätigkeiten.  Auch  hier 
sind  die  ursprünglichen  Auffassungen  allgemeinster  Art,  und 
betreffen  nur  die  grossen  leicht  unterscheidbaren  Züge.  Mit 
wenigen  und  unsicher  geschiedenen  Vorstellungen  der  Farben 
sehen  wir  das  Kind  wie  die  Sprache  beginnen;  erst  allmäh- 
lich übt  sich  der  Blick  zu  unterscheiden ,  was  früher  ohne 
Weiteres  als  ähnlich  gesetzt  wurde;  die  geläufigsten  Formen 
der  Bewegung  werden  aufgefasst,  und  ohne  Weiteres  auf  alles 
Aehnliche  übertragen ;  die  manigfaltigen  Unterschiede  finden 
erst  später  ihre  Beachtung  und  Bezeichnung.  Wie  vielerlei 
Bewegungen  muss  ein  Wort  wie  gehen  oder  laufen  bezeichnen ! 
*).  Dürfen  wir  voraussetzen,  dass  auf  diesem  Wege  die 
mit  einem  Worte  verbundene  Vorstellung  aus  der  Anschauung 
eines  einzelnen  Gegenstandes  ursprünglich  entsteht ,  dessen 
unvollkommenes  und  verschiebbares  Bild  die  erste  B(?deutung 


54  I>  1-    ^ic  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  50 

des  Wortes  ausmacht,  so  ergibt  sich  daraus  auch,  in  welchem 
Sinn  einer  solchen  mit  dem  Worte  verbundenen  Vorstellung 
Allgemeinheit  zukommt. 

Die  Fähigkeit  irgend  einer  Vorstellung,  eine  allgemeine, 
d.  h.  auf  eine  beliebige  Vielheit  von  Einzelvorstellungen  anwend- 
bare zu  werden,  ist  schon  mit  ihrer  Natur  als  reproducierbare 
Vorstellung  gegeben,  und  durchaus  nicht  davon  abhängig,  dass 
sie  von  einer  Vielheit  solcher  Einzelvorstellungen  schon  er- 
zeugt worden  ist.  Sobald  sie  sich  von  der  ursprünglichen 
Anschauung  und  ihren  räumlichen  und  zeitlichen  Verbin- 
dungen losgerissen  hat  und  ein  inneres  Bild  geworden  ist, 
das  frei  reproduciert  werden  kann  ,  hat  sie  auch  die  Fähig- 
keit mit  einer  Reihe  neuer  Anschauungen  oder  Vorstellungen 
zu  verschmelzen,  und  als  Prädicat  derselben  in  einem  Urtheile 
aufzutreten.  Sehen  wir  nur  auf  den  Gehalt  der  Vorstellung, 
so  kommt  diese  Art  von  Allgemeinheit  nicht  blos  den  Bildern 
der  Sonne ,  des  Mondes  u.  s,  w. ,  sondern  auch  den  Bildern 
bestimmter  Personen  ohne  weiteres  zu  ;  so  oft  die  Sonne  am 
Himmel  aufgeht  oder  der  Mond  sichtbar  wird,  ist  eine  neue 
Einzelanschauung  da ,  welche  mit  der  von  früher  zurückge- 
bliebenen Vorstellung  in  Eins  gesetzt  wird;  die  Erkenntniss 
der  materiellen  Identität  aller  dieser  Sonnen  und  Monde 
ist  etwas  Späteres,  und  gar  nichts  nothwendiges,  wo  die  Con- 
tinuität  der  Anschauung  fehlt;  ebenso  wird  das  Spiegelbild 
einer  Person  oder  ihr  Porträt  ohne  weiteres  mit  dem  Erinne- 
rungsbilde identificiert ,  und  wieder  ist  die  Erkenntniss,  dass 
das  blosse  Bilder  seien,  und  der  Name  eigentlich  nur  Einem 
zukomme ,  ein  Zweites  das  erst  hinzutritt ,  und  den  begon- 
nenen Versuch  die  Vorstellung  als  eine  im  vollen  Sinn  all- 
gemeine zu  behandeln  wieder  aufhebt ;  es  ist  für  die  Vorstel- 
lung selbst  zufällig,  dass  sie  keine  wahrhaft  allgemeine  wird. 

Nicht  in  der  besonderen  Natur  dessen  was  vorgestellt 
wird ,  noch  in  seinem  Ursprung  also  liegt  es ,  ob  es  im 
gewöhnlichen  Sinne  allgemein  wird  oder  nicht,  sondern  darin, 
dass  die  Vorstellung  wirklich  auf  eine  Vielheit  von  Einzel- 
anschauungen, die  als  Abbild  einer  realen  Vielheit  von  Dingen 
gelten,    angewendet  wird,    und  dass    diese  Vielheit  als  solche 


51  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  55 

zum  Bewusstsein  kommt,  dass  der  Singularis  einen  P 1  u - 
r  a  1  i  s  erhält. 

10.  Diese  Vielheit  ist  zuerst  eine  bloss  numerische. 
Indem  in  der  Anschauung  gleichzeitig  oder  successiv  eine 
Reihe  gleicher  oder  ununterscheidbar  ähnlicher  Dinge  sich  dar- 
bietet, wird  nicht  bloss  jedes  einzelne  mit  dem  Erinnerungs- 
bilde identificiert,  sondern  die  Gleichheit  des  Inhalts  der  Vor- 
stellung bringt  das  Bedürfniss  des  Z  ä  h  1  e  n  s  hervor,  durch  das 
die  äussere,  räumliche  oder  zeitliche  Unterschiedenheit  ver- 
mittelt wird  mit  der  Gleichheit  des  Bildes.  Erst  damit  tritt 
der  Gegensatz  der  Einzigkeit  und  der  Vielheit  heraus. 

11.  Nicht  diese  numerische  Allgemeinheit  jedoch  wird 
in  der  Regel  gemeint,  wenn  davon  die  Rede  ist,  dass  die 
Wörter  allgemeine  Bedeutung  haben ,  sondern  darin  soll  die 
Allgemeinheit  bestehen,  dass  sie  verschiedene,  ihrem  In- *^ 
halte  nach  unterscheidbare  und  wirklich  unterschiedene  Ob- 
jecte  unter  sich  befassen.  So  soll  die  Vorstellung  .Baum 
das  Allgemeine  zu  Eichen,  Buchen,  Tannen  u.  s.  w.  sein,  die 
Vorstellung  Farbe  das  Allgemeine  zu  roth,  blau,  grün  u.  s.  w. 

Hier  ist  nun  aber  genau  zu  scheiden  zwischen  der  All- 
gemeinheit der  Vorstellung  und  der  Allgemein- 
heit des  Wortes.  Bleiben  wir  in  dem  Gebiete  stehen,  in 
welchem  die  wirkliche  individuelle  Bedeutung  der  Wörter  aus 
Einzelanschauungen  stammt:  so  ist  die  Fähigkeit  einer  Vor- 
stellung, auf  nicht  bloss  räumlich  und  zeitlich,  sondern  inhalt- 
lich Verschiedenes  angewendet  zu  werden,  zunächst  mit  ihrer 
Unbestimmtheit  gegeben.  Wie  es  für  ein  sichtbares 
Ding  eine  endlose  Zahl  von  Stufen  äusserer  Abbildung  gibt, 
von  den  paar  Strichen  mit  denen  die  Schuljungen  Pferde  und 
Männer  auf  ihre  Hefte  malen  bis  zur  vollendeten  Photographie : 
so  gibt  es  eine  analoge  Stufenreihe  von  Vorstellungen,  die 
nacheinander  möglicherweise  von  demselben  Object  in  immer 
zunehmender  Bestimmtheit  abgenommen  werden,  und  neben- 
einander fortbestehen  können.  Je  unbestimmter,  desto  leichter 
die  Anwendung.  So  lange  nun  aber  die  Differenz  der  einzelnen 
Objekte,  auf  welche  immer  aufs  Neue  ein  einmal  entstandenes 
Bild  angewendet  wird ,  nicht  zum  Bewusstsein  kommt ,  ver- 
hält sich    eine  solche  Vorstellung   nicht   anders    als  die  Vor- 


56  I,  1.    Die  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  52 

Stellung  der  Sonne  oder  eine  Vorstellung  von  bloss  nume- 
rischer Allgemeinheit.  Wenn  mit  dem  Worte  Gras  nur  ein 
paar  zusammenstehende  grüne,  schmale  und  zugespitzte  Blätter 
reproduciert  werden,  die  DiflPerenzen  der  einzelnen  Gräser  gar 
nicht  beachtet  sind,  so  finden  wir  überall  eine  Menge  Gras, 
eines  ist  Gras  wie  das  andere.  Sobald  aber  die  einzelnen 
Auffassungen  bestimmter  und  die  Unterschiede  der  Dinge,  die 
auf  den  ersten  Anblick  mit  einer  gegebenen  Vorstellung 
zusammenfallen,  beachtet  werden ,  so  tritt  ein  doppeltes  ein : 
der  gemeinschaftliche  Name  bleibt,  und  es  bilden  sich  zugleich 
die  Namen  für  die  bestimmteren  Vorstellungen.  Die  bestimm- 
teren Vorstellungen  aber  verdrängen  im  Laufe  der  Zeit  die 
unbestimmtere ;  diese  kann  in  ihrer  Verschwommenheit  gar 
nicht  mehr  lebendig  gemacht  werden;  der  Botaniker  hat 
keine  bildliche  Vorstellung  mehr ,  die  dem  Worte  Gras  oder 
Baum  entspräche,  sondern  es  entsteht  jetzt,  wie  der  Wett- 
streit im  Sehfelde  zwischen  verschiedenen  Bildern  die  beiden 
Augen  geboten  werden,  ein  Wettstreit  der  verschiedenen  be- 
stimmteren Formen ,  die  eine  ungeübtere  Auffassung  gleich 
setzen  konnte.  Damit  ist  gemeinschaftlich  nur  das  Wort 
geblieben.  Das  Wort  hat  eine  allgemeine  Bedeutung,  sofern 
^s  Verschiedenes  zusammenfasst,  und  eine  Reihe  unterscheid- 
barer Bilder  nach  dem  was  in  ihnen  allen  ähnlich  ist,  be- 
zeichnet. Erst  jetzt  ist  das  Bedürfniss  da,  sich  klar  zu  ma- 
chen, was  denn  das  Gemeinschaftliche  neben  dem  Unterschie- 
denen sei,  d.  h.  den  Begriff  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes 
durch  Abstraction  zu  bilden. 

Derselbe  Process  wiederholt  sich  mit  den  bestimmteren 
Vorstellungen.  In  dem  Masse  als  die  Auffassung  schärfer 
und  das  Gedächtniss  für  kleine  Unterschiede  treuer  wird,  lost 
sich  auch  hier  das  ursprünglich  einheitliche  Bild  in  eine 
Reihe  differenter  auf.  Die  Sprache  vermag  aber  mit  ihren 
Ableitungen ,  Zusammensetzungen  ,  Attributivbestimmungen 
u.  s.  w.  dieser  Specialisierung  nicht  zu  folgen ,  und  ebenso- 
wenig vermag  das  Gedächtniss  alles  in  gleicher  Weise  fest- 
zuhalten, die  Einbildungskraft  alle  Bilder  in  gleicher  Weise 
zu  beleben.  So  bleibt  schliesslich  jedem  Worte  ein  Kreis 
von    unterscheidbaren    Vorstellungen,    die   durch  dasselbe  be- 


53  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung  und  das  Wort.  57 

zeichnet  werden  können ;  dieselben  verhalten  sich  aber  nicht 
gleich,  sondern  ein  bestimmteres  Bild  bleibt  vorzugsweise  mit 
ihm  verknüpft,  als  Mittelpunkt  der  Gruppe,  um  welchen  sich 
die  andern  anschliessen.  Der  Bewohner  einer  Nadelholzland- 
schaft verbindet  mit  »Baum«  zunächst  das  Bild  der  Tanne 
oder  Föhre ;  die  übrigen  Formen ,  die  er  etwa  kennt ,  stehen 
verblasst  und  im  Hintergrunde.  Mit  dem  Worte  roth  ver- 
bindet sich  zunächst  ein  besonders  auffallender  und  von  allen 
andern  leicht  unterscheidbarer  Eindruck;  in  dem  Masse  als 
es  auf  weitere  und  weitere  Abstufungen  der  Farbe  angewendet 
wird,  hört  es  auf  etwas  bestimmtes  zu  bezeichnen ;  bald  diese 
bald  jene  Abschattung  wird  mit  dem  Hören  des  Worts  zu- 
nächst reproduciert,  aber  so,  dass  eine  Reihe  von  andern  als 
gleich  möglich  sich  darbietet ,  und  durchlaufen  wird ;  das 
Wort  ist  allgemein  geworden,  indem  es  die  bestimmte  Bedeu-  K 
tung  verloren  hat,  und  eine,  zunächst  nicht  bestimmt  abge- 
grenzte Reihe  von  Schattierungen  reproduciert.  Jede  derselben  ist 
eine  allgemeine  Vorstellung,  sofern  sie  wieder  auf  eineManig- 
faltigkeit  einzelner  Anschauungen  anwendbar  ist;  ihre  Be- 
zeichnung (blutroth,  kirschroth  u.  s.  w.)  erinnert  aber  wieder 
an  den  ursprünglichen  Process ,  durch  den  die  Wörter  ihre 
Bedeutungen  von  Einzelanschauungen  ableiten. 

12.  Von  diesem  natürlichen  Gange  der  Beziehungen 
zwischen  Wort  und  Vorstellung *ist  ein  anderer  Process  wesent- 
lich zu  unterscheiden ,  der  dadurch  bedingt  ist,  dass  die  Be- 
nennung fortwährend  unter  dem  Einfluss  einer  schon  vorhan- 
denen Sprache  stattfindet,  und  der  vorhandene  Sprachgebrauch 
die  Combinationen ,  die  von  selbst  entstehen  würden,  kreuzt, 
andere ,  die  nicht  von  selbst  entstehen  würden ,  aufdrängt. 
Anzugeben,  was  das  Gemeinschaftliche  aller  Dinge  ist,  welche 
die  Sprache  mit  demselben  Wort  bezeichnet,  ist  ein  ganz  an- 
deres Geschäft,  als  anzugeben,  was  ein  bestimmtes  Individuum 
unter  eine  gegebene  Vorstellung  bringt  und  mit  ihr  ähnlich 
setzt;  für  das  individuelle  Denken  gibt  es  eine  Menge  blosser 
Homonymen,  bei  denen  die  innere  Aehnlichkeit  der  Vorstellung 
gar  nicht  zum  Bewusstsein  kommt,  welche  ursprünglich  die 
gleiche  Benennung  hervorgebracht  hatte,  und  ebenso  werden 
eine    Menge    von    Aehnlichkeiten  *der    Dinge    erst    durch    die 


58  I>  ^'    ^i^  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils.  54 

Sprache  zum  Bewusstsein  gebracht,  auf  welche  das  sich  selbst 
überlassene  Vergleichen  eines  Einzelnen  niemals  gekommen 
wäre.  Andrerseits  verbietet  und  zerstört  der  Sprachgebrauch 
eine  Menge  von  Aehnlichkeiten  und  drängt  Unterscheidungen 
auf,  welche  das  individuelle  Denken  nicht  gefunden  hätte. 
Während  nun  im  letzteren  Falle  die  Vorstellung  gezwungen 
wird  bestimmter  zu  werden,  lässt  sich  im  ersteren  gar  nicht 
ausmachen ,  wie  viele  unter  sich  zusammenhangslose  Vorstel- 
lungen einem  und  demselben  Wort  entsprechen  mögen.  Die 
sprachliche  Etymologie  geht  mit  Recht  darauf  aus,  auch  die 
entlegensten  Combinationen  zu  versuchen ;  ihre  Aufgabe  ist 
aber  eine  total  andere  als  die,  den  wirklichen  Process  des 
Denkens  in  den  einzelnen  Individuen  sich  zu  vergegenwärtigen. 

Für  das  einzelne  Individuum  wird  die  Bedeutung  eines 
Worts  nicht  durch  die  Etymologie,  sondern  durch  die  Vor- 
stellung der  Objekte  bestimmt,  auf  welche  der  Sprachgebrauch 
es  anwendet.  Niemand  von  uns  denkt  vor  geschichtlicher  Be- 
lehrung daran,  dass  der  Hahn  am  Fasse,  der  Hahn  am  Ge- 
wehr und  der  Hahn  im  Hühnerhof  ein  gemeinschaftliches 
Element  haben  könnten,  das  die  Bezeichnung  mit  demselben 
Worte  vermittelt  hätte;  die  drei  Bedeutungen  sind  für  uns 
vollkommen  zusammenhangslos,  die  Wörter  blosse  Homonyme 
geworden.  Ebenso  ist  in  den  meisten  Ausdrücken  für  geistige 
Thätigkeiten  der  ursprüngliche  Sinn  der  Wörter,  mit  denen 
wir  sie  bezeichnen,  für  uns  vollkommen  entschwunden;  in 
Wörtern  wie  Begriff,  ürtheil,  Schluss  empfindet  Niemand  mehr 
einen  bildlichen,  metaphorischen  Ausdruck. 

13.  Sind  die  Wörter  im  lebendigen  Gebrauche  nur  Zei- 
chen eines  bestimmten  Vorstellungsinhalts,  der  von  der  gegen- 
wärtigen Anschauung  losgerissen  ein  selbstständiges  Dasein 
in  der  Fähigkeit  gewonnen  hat,  beliebig  innerlich  reprodu- 
ciert  zu  werden,  so  folgt  daraus,  dass  sie  für  sich,  durch  ihren 
blossen  Laut,  niemals  die  Fähigkeit  haben ,  das  Einzelne  als 
solches  zu  bezeichnen,  wie  es  ^er  Anschauung  gegenwärtig 
ist.  Vielmehr  bedarf  es  besonderer  Hülfsmittel,  wie  eines  Pos- 
sessivs, Demonstrativs  oder  der  hinweisenden  Gebärde,  damit 
das  allgemeine  Wort  von  einem  bestimmten  einzelnen  Objekt 
verstanden  werde,  oder  es  muss  vorausgesetzt  werden  können, 


54  §  7.     Die  allgemeine  Vorstellung-  und  das  Wort.  59 

dass  auch  unansgesprochen  die  Beziehung  auf  ein  bestimmtes 
Einzelnes  vom  Hörenden  richtig  vollzogen  werde;  immer  aber 
kann  ein  Einzelnes  nur  darum  mittels  des  Wortes  bezeichnet 
werden,  weil  seine  Uebereinstimmung  mit  der  allgemeinen  . 
Vorstellung,  welche  das  Wort  ausdrückt,  erkannt  ist;  ich 
kann  das  mir  vorliegende  Ding  nur  darum  als  dieses  Buch 
oder  mein  Buch  bezeichnen,  weil  die  allgemeine  Bedeutung  des 
Wortes  »Buch«   darauf  anwendbar  ist*). 

Nun  bezeichnet  allerdings  ein  Theil  der  Wörter  einzelne 
Dinge  als  solche,  entweder,  weil  das  der  Vorstellung  entspre- 
chende Ding  thatsächlich  nur  einmal  in  der  Welt  vorhanden 
ist,  wie  Sonne  und  Mond,  Himmel  und  Erde,  oder  weil  durch 
ausdrückliche  Uebereinkunft  dem  Einzelnen  als  solchem  ein 
Name  gegeben  wurde  mit  der  Absicht,  es  dadurch  von  allen 
anderen  ähnlichen  Objecten  zu  unterscheiden,  wie  es  bei  den 
Eigennamen  der  Personen,  Städte,  Berge  u.  s.  f.  der  Fall  ist. 
W^o  die  Bedeutung  dieser  Namen  noch  erkennbar  ist,  geht 
sie  auf  allgemeine  Wörter  zurück,  wie  Montblanc,  Neustadt, 
Erlenbach  u.  s.  w.,  aber  diese  Bedeutung,  welche  die  Namen- 
gebung  erklärt,  ist  meist  vergessen,  und  die  Vorstellung,  welche 
die  für  sich  jetzt  bedeutungslosen  Namen  erwecken ,  ist  nur 
die  eines  bestimmten  einzelnen  Objects.  Aber  auch  so  können 
sie  als  verstandene  Wörter  nur  fungieren ,  wenn  die  An- 
schauung dieses  Objects  in  die  'Erinnerung  aufgenommen  wor- 
den ist ;  der  augenblicklichen  Anschauung  der  Person ,  des 
Berges  u.  s.  w.  steht  die  Bedeutung  des  Namens  doch  noch 
ähnlich  gegenüber ,  wie  das  allgemeine  Wort  dem  einzelnen 
Ding;  um  auf  das  jetzt  sinnlich  Gegenwärtige  angewendet  zu 
werden,  bedarf  es  immer  noch  der  Erkenntniss  der  Identität 
der  gegenwärtigen  Anschauung  mit  dem  innerlich  Vorgestell- 
ten. Was  den  Eigennamen  von  dem  allgemeinen  Wort  unter- 
scheidet ,  ist  nur  das  begleitende  Bewusstsein ,  dass  das  ihm 
entsprechende  Wirkliche  ein  Einziges,  und  realiter  immer  das- 
selbe sei. 


*)  In  dieser  Beziehung  ist  Milla  Auseinandersetzung  (liOgik  I.Buch 
2.  Cap.)  durchaus  oberflächlich,    wenn  er    die  Adjectiva  weis«,  schwer*^ 
oder  gar  das  Demonstrativ  »dies«   als  Namen    von   Dingen    bezeichnet. 
Vgl.  auch  Paul,  Princ.  d.  Sprachg.  2.  Aufl.  ö.  06  fl'. 


50  I*  !•     nie  Vorstellungen  als  Elemente  des  Urtheils.  56 

Dieselbe  Function,  nur  auf  ein  Einziges  anwendbar  zu 
sein ,  haben  endlich  auch  gewisse  Relationswörter  von  allge- 
meinem Gehalt,  in  deren  Bedeutung  aber  die  Beziehung  auf 
ein  einziges  Object  eingeschlossen  ist;  so  alle  ächten  Su- 
perlative, die  Ordinalzahlen  u.  s.  w.  Sofern  aus  dem  jedes- 
maligen Zusammenhange  erst  sich  ergibt,  was  verglichen  und 
was  gezählt  wird,  sind  sie  den  Demonstrativen  verwandt,  die 
ihr  bestimmtes  Object  auch  nur  durch  eine  Relation  aus- 
drücken. Der  erste  Januar  1871  ist  ein  einziger  Tag;  ein 
bestimmter  aber  nur  unter  Voraussetzung  einer  ganz  be- 
stimmten Zählung;  für  den  russischen  Kalender  ein  anderer 
als  für  den  unsrigen ;  und  die  Bedeutung  des  Ausdrucks  be- 
ruht wieder  auf  der  Vorstellung  einer  zunächst  bloss  gedach- 
ten Reihe  von  Jahren  und  Tagen. 

§.  8. 
Vermöge  ihrer  eigenthümlichen  Function  sind  die  Wör- 
ter der  für  die  Vollendung  des  Urtheils  unentbehrliche 
Ausdruck  der  Prädicatsvorstellung,  während  der 
Subjectsvorstellung,  wo  sie  nicht  selbst  ein  allgemein 
Vorgestelltes  ist,  der  sprachliche  Ausdruck  fehlen 
k  ann. 

1.  Aus  den  obigen  Aasführungen  über  das  Wesen  der 
Wörter  folgt  zunächst,  dass  genau  zu  unterscheiden  ist,  ob 
ein  Wort  nur  den  von  ihm  unmittelbar  bezeichneten  Vor- 
stellungsgehalt bedeutet,  oder  ob  es  dazu  verwendet  wird, 
ein  bestimmtes  Einzelnes  zu  bezeichnen,  das  als  solches  durch 
die  Wortbedeutung  noch  nicht  angezeigt  ist ,  sondern  nur 
dieselbe  in  sich  darstellt,  und  also  mit  dem  Worte  benannt 
werden  kann. 

Darauf  beruht  das  wesentlich  verschiedene  Verhältniss 
der  Wortbezeichnung  zum  Subject  und  Prädicat  eines  Urtheils. 
Wo  iiemlich  eine  Aussage  nicht  den  Gehalt  des  Subjects- 
wortes  als  solchen  trifft ,  wie  z.  B.  eine  Definition,  sondern 
ein  bestimmtes  Einzelnes,  da  ist  es  durchaus  nicht  nothwen- 
dig ,  dass  die  Subjectsvorstellung  durch  ein  bedeutungsvolles 
Wort   bezeichnet    werde   oder    bezeichnet   werden   könne.     Es 


55  §  8.     Nothwendigkeit  des  Worts  für  das  Prädicat.  ßX 

kann  sprachlich  ein  blosses  Demonstrativ  erscheinen  —  dies 
ist  Eis,  dies  ist  roth,  das  fällt;  es  kann  dieses  Demonstrativ 
durch  eine  blosse  Gebärde  ersetzt,  es  kann  ohne  all  das  auch 
bloss  das  Prädicat  ausgesprochen  werden ,  ohne  dass  darum 
der  innere  Vorgang  aufhörte,  ein  Urtheil  zu  sein,  in  welchem 
etwas  von  etwas  ausgesagt  wird. 

Dies  tritt  am  klarsten  heraus  bei  den  Urtheilen,  mit 
welchen  das  Urtheilen  des  Menschen  überhaupt  beginnt ,  in 
denen  bestimmte  sinnlich  anschauliche  Gegenstände  wieder 
erkannt  und  benannt  werden.  Wenn  das  Kind  die  Thiere 
in  seinem  Bilderbuche  benennt,  indem  es  mit  dem  Finger 
hinweisend  ihre  Namen  ausspricht,  urtheilt  es;  ebenso  sind 
Ausrufe,  welche  ein  überraschender  Anblick  hervortreibt,  — 
der  Vater !  Feuer !  die  Kraniche  des  Ibycus !  vollgültige  ür- 
theile ;  nur  der  sprachliche  Ausdruck ,  nicht  der  innere  Vor- 
gang ist  unvollständig*). 


*)  Herbart,  Psychologie  S.  W  IV.  169:  Der  Anblick  geht  voran, 
die  Vorstellung,  die  er  unmittelbar  gibt,  weckt  die  frühere  Vorstellung 
welche  mit  jener  verschmilzt ;  die  unmittelbare  Wahrnehmung  gibt 
das  Subject,  die  Verschmelzung  ist  das,  was  die  Copula  zu  bezeichnen 
hätte,  die  frühere,  erwachende  und  mit  jener  ersten  verschmelzende 
Vorstellung  nimmt  die  Stelle  des  Prädicats  ein. 

Paul  (a.  a.  0.  S.  104)  nimmt  Sätze  an,  in  denen  sowohl  für  den 
Sprechenden  als  den  Hörenden  das  Ausgesprochene  Subject,  die  Situa- 
tion Prädicat  ist.  »Es  sieht  z.  H.  Jemand,  dass  ein  Kind  in  Gefahr 
kommt,  so  ruft  er  wohl  der  Person,  welcher  die  Bewachung  desselben 
anvertraut  ist,  nur  zu  »das  Kind«.  Hiemit  ist  nur  der  Gegenstand 
angezeigt,  auf  den  die  Aufmerksamkeit  hingelenkt  werden  soll,  also 
das  logische  Subject,  das  Prädicat  ergibt  sich  für  die  angeredete  Per- 
son aus  dem,  was  sie  sieht,  wenn  sie  dieser  Lenkung  der  Aufmerksam- 
keit Folge  leistet«.  Allein  hier  ist,  glaube  ich,  zweierlei  zu  unterschei- 
den. Der  Ausruf  ist  der  Absicht  nach  ein  Imperativ,  keine  Aus- 
sage, und  kann  nur  so  verstanden  werden;  denn  das  von  dem  Rufenden 
wirklich  gefällte  Urtheil  »das  Kind  ist  in  Gefahr«  kommt  in  den 
Worten  des  Ausrufs  gar  nicht  zur  Geltung,  höchstens  in  dem  ängst- 
lichen Tone  desselben;  aber  es  »soll  die  Aufmerksamkeit  auf  den  ge- 
nannten Gegenstand  hingelenkt  werden«.  In  dieser  Absicht  wird  er 
einfach  genannt ;  der  volle  Ausdruck  des  (»edankens  würde  also  lau- 
ten :  Achte  auf  das  Kind.  Ks  ist  ein  ähnlicher  Unterschied,  wie  zwi- 
schen dem  Alarmruf  »Feuer«  und  dem  Commiindo  »Feuer«.  Jener  ist 
ein  Urtheil  ,  und  Feuer  ist  Prädicat ,  dieser  ist  ein  Imperativ  —  gebt 
Feuer;  Feuer  ist  für  den  zu  ergänzenden  Imperativ  Object,  nicht  Sab- 


62  h  ^'    I^i©  Vorstellungen  als  Elemente  des  ürtheils. 


1 

56 1 


2.  Dagegen  ist  es  dem  Urtheile  wesentlich  sich  im  A  u  s- 
sprechen  des  Prädicats  zu  vollenden.  Es  kann  zwar 
Fälle  geben  ,  in  welchen  z.  B.  ein  bestimmtes  Object  wieder 
erkannt  wird  ,  für  welches  uns  das  bezeichnende  Wort  fehlt, 
und  darum  der  innere  Vorgang  nicht  ausgesprochen  werden 
kann ;  aber  wir  betrachten  eben  darum  denselben  als  mangel- 
haft, als  eine  unreife  Geburt,  und  als  vollendetes  Urtheil  nur 
das ,  in  welchem  das  Prädicat  mit  der  Wortbezeichnung  er- 
scheint. Und  zwar  ist  es  dem  Prädicat  wesentlich,  dass  die 
zugehörige  Vorstellung  eben  die  Bedeutung  des  Wortes 
ist,  der  mit  dem  Worte  verbundene  Vorstellungsgehalt  als 
solcher ,  der  in  unser  Eigenthum  übergegangen  ist ;  gleich- 
gültig, ob  diese  Vorstellung  eine  allgemeine  im  gewöhnlichen 
Sinn,  oder  die  Vorstellung  eines  einzigen  ist.  »Dieser  ist  So- ' 
crates«  ist  so  gut  ein  Urtheil  als  »Socrates  ist  ein  Mensch«; 
»der  heutige  Tag  ist  der  1.  Januar  1871«  so  gut  als  »der  heu- 
tige Tag  ist  kalt«,  obgleich  weder  »Socrates«  noch  »der  1.  Ja- 
nuar 1871«  ihrem  Inhalt  nach  allgemeine  Vorstellungen  sind*). 
Es  genügt,  dass  sie  überhaupt  Vorstellungen  sind,  die  auf 
Veranlassung  des  gesprochenen  Worts  und  mit  diesem  repro- 
duciert  werden  können. 

ject,  ebenso  aber  auch  das  »Kind«  im  obigen  Beispiel.  Mit  dem  blossen 
Ausrufe  »das  Kind«  kann  ich  Niemanden  etwas  anderes  als  Gegen- 
stand meines  und  seines  Glaubens  und  Fürwabrhal- 
t  ens  mittheilen,  als  dass  das  von  mir  Gesehene  oder  Gemeinte  das  Kind 
ist  ;  dann  ist  aber  das  Wort  Prädicat.  Ebenso  wenn  ich  au.srufe  :  der 
Schurke  —  ein  Daniel,  ein  zweiter  Daniel  —  so  liegt  darin  das  Urtheil, 
dass  der  Gemeinte  ein  Schurke,  ein  zweiter  Daniel  ist ;  und  dieses  be- 
gründet die  Entrüstung  oder  die  Freude,  welche  sich  im  Tone  des  Aus- 
rufs kund  gibt. 

*)  Wenn  Volkelt  (Erfahrung  und  Denken  S.  319)  ausführt,  in  Sätzen 
wie  dies  ist  mein  Vater,  dies  ist  der  Mond,  meine  das  Prädicat  die  ge- 
meinsamen Merkmale  dessen,  was  ich  als  meinen  Vater  u.  s.  w.  be- 
zeichne, also  nicht  das  Individuum  als  solches,  so  ist  allerdings  das 
Verhältniss  eines  als  Prädicat  gebrauchten  Eigennamens  zu  seinem 
Subject  (nach  S.  09)  ein  ähnliches,  wie  das  einer  allgemeinen  Vorstel- 
lung zu  dem  darunter  befassten,  sofern  (zumal  bei  veränderlichen  Dingen) 
der  Eigenname  nicht  einen  momentanen  Zustand,  sondern  das  in  allen 
Zuständen  Identische  meint,  das  weniger  genau  auch  als  Gemein- 
sames bezeichnet  werden  kann;  aber  daraus  folgt  nicht,  dass  nicht  das 
Individuum  als  solches  gemeint  sei. 


Zweiter  Abschnitt. 
Die  einfachen  Urtheile. 

Wir  verstellen  unter  »  e  i  n  f  a  c  h  e  m  TJ  r  t  h  e  i  1 «  ein  solches, 
in  welchem  das  Subject  als  eine  einheitliche,  keine  Vielheit 
selbstständiger  Objecte  in  sich  befassende  Vorstelhmg  betrachtet 
werden  kann  (also  ein  Singularis  ist)  ,  und  von  diesem  eine 
in  Einem  Acte  vollendete  Aussage  gemacht  wird.  Unter  den 
einfachen  TJrtheilen  in  diesem  Sinne  sind  zwei  Classen  genau 
zu  unterscheiden :  diejenigen  in  denen  als  Subject  ein  als  ein- 
zeln existierend  Vorgestelltes  auftritt  (dies  ist  weiss),  —  er- 
zählende Urtheile  —  und  diejenigen,  deren  Subjectsvor- 
stellung  in  der  allgemeinen  Bedeutung  eines  Worts  besteht, 
ohne  dass  damit  von  einem  bestimmten  Einzelnen  etwas  aus- 
gesagt würde  (Blut  ist  roth)  —  erklärende  Urtheile. 

I.  Die  erzählen  den  Urtheile. 

§  9. 
Das  einfachste  und  elementarste  Urtheilen  ist  dasjenige,  das 
sich  in  dem  Benennen  einzelner  Gegenstände  der 
Anschauung  vollzieht.  Die  Subjectsvorstellung  ist  ein  un- 
mittelbar Gegebenes ,  in  der  Anschauung  als  Einheit  aufge- 
fasstes ;  die  Prädicatsvorstellung  eine  innerlich  mit  dem  zuge- 
hörigen Worte  reproducierte  Vorstellung;  der  Act  des  Urthei- 
lens  besteht  zunächst  darin ,  dass  beides  mitBewusst- 
sein  in  Eins  gesetzt  wird  (auvli-satg  voy^lJLaxwv  ü^mp  sv 
ÖVTWV,  Aristot.  de  anima  III,  C.  430  a  27). 


64  I.  2.    Das  einfache  Urtheil.  58 

1.  Der  innere  Vorgang,  der  einem  Satze  wie  »dies  ist 
Socrates  —  dies  ist  Schnee  —  dies  ist  Blut«,  oder  den  sprach- 
lich abgekürzten  Rufen:  »Feuer«,  der  »Storch«  u.  s.  w.  ent- 
spricht, wo  sie  als  Ausdruck  unmittelbaren  Erkennens  auftre- 
ten, ist  einfach  zu  deuten,  üer  gegenwärtige  Anblick  erweckt 
eine  von  früher  her  vorhandene  mit  dem  Worte  verbundene  Vor- 
stellung, und  beide  werden  in  Eins  gesetzt.  Das  eben  ange- 
schaute ist  seinem  Inhalte  nach  Eins  mit  dem  was  ich  in 
meiner  Vorstellung  habe,  ich  bin  mir  dieser  Einheit  bewusst, 
und  dieses  ßewusstsein  ist  es,  welches  ich  im  Satze  aus- 
spreche. Damit  unterscheidet  sich  das  Urtheil  von  ver- 
wandten Vorgängen.  Einmal  von  demjenigen,  den  man  als  un- 
bewusste  Verschmelzung  bezeichnet  —  es  soll  hier  nicht  un- 
tersucht werden ,  ob  der  Ausdruck  treffend  und  ein  wirk- 
licher Vorgang  damit  richtig  beschrieben  ist  —  wo  das 
neue  Bild  ohne  weiteres  mit  den  älteren  Vorstellungen  so 
sich  verbinden  soll,  dass  das  Product  dieser  Verbindung  nur 
wieder  dieselbe ,  höchstens  lebhaftere  Vorstellung  wäre ,  die 
schon  früher  da  war,  wo  also  jedes  Unterscheiden  und  Aus- 
einanderhalten des  Neuen  und  Alten,  des  Gegenwärtigen  und 
Erinnerten  fehlen  würde.  Dem  gegenüber  macht  Herbart 
mit  Recht  geltend,  dass  nur  wo  solche  Verschmelzung  aufge- 
halten, beide  Vorstellungen  in  der  Schwebe  sind ,  ein  Urtheil 
als  bewusster  Act  möglich  ist ,  und  dass  dieser  Charakter 
darum  am  vschärfsten  hervortritt ,  wo  eine  Frage  oder  ein 
Zweifel  dazwischenkam ;  während  allerdings  gewöhnlich  die 
Aufmerksamkeit  von  der  Gegenwart  vorzugsweise  in  Anspruch 
genommen  ist,  und,  zumal  beim  blossen  Ausruf,  der  das  Er- 
kennen begleitet ,  nur  der  Laut  verräth ,  dass  die  schon  er- 
worbene Vorstellung  wirksam  geworden  ist*). 

*)  Stumpf  Tonpsychologie  Bd.  I.  S.  5  will  von  den  oben  beschrie-' 
benen  Benennungsurtheilen,  bei  denen  das  gegebene  Object  mit  frühe- 
ren bereits  bekannten  verglichen  und  mit  dem  Namen  derselben  be- 
nannt werde,  noch  gewohnheits  massige  Urtheile  unterschei- 
den ;  denn  vielfach  werde  rein  gewohnheitsmässig  durch  eine 
gesehene,  gehörte  Erscheinung  auch  der  entsprechende  Name  und  mit 
demselben  zugleich  das  Urtheil  >x  ist  roth,  x  ist  der  Ton  a«  im  ße- 
wusstsein reproduciert;  »wobei  also  das  früher  wahrgenommene  Object 
gar  nicht  ins  Bewusstsein  kommt,  geschweige  denn  mit  dem 


59  §  9.     Benennungsurtheile.  65 

Zum  zweiten  scheidet  sich  das  Urtheil  von  der  blossen 
unwillkürlichen  Reproduction  eines  früheren  Bildes,  das  neben 
das  erste  zu  stehen  käme,  ohne  mit  ihm  in  Eins  gesetzt  zu 
werden.  Dies  wäre  der  Fall,  wo  mir  bei  einem  Feuer  z.  B.  wohl 
frühere  Wahrnehmungen  einfielen,  aber  in  ihrer  Einzelnheit 
festgehalten  nur  eine  Reihe  ähnlicher  Bilder  böten,  weil  mit 
jedem  die  unterscheidenden  Nebenumstände  mit  reproduciert 
würden,  welche  das  Zusammengehen  zur  Einheit  hindern.  Nur  wo 
ein  solches  Hinderniss  nicht  eintritt,  weil  entweder  alle  Nebenum- 
stände gleich  oder  der  Inhalt  der  Vorstellung  schon  isoliert  und 
zur  Allgemeinheit  erhoben  ist,  kann  die  Vereinigung  eintreten. 

2.  Wo  dieses  einfachste  und  unmittelbarste  Urtheilen,  das 
Erkennen  im  ursprünglichen  Sinne  stattfindet ,  werden 
beide  Vorstellungen  als  ungetheilte,  nicht  mit  Bewusstsein  in 
einzelne  Elemente  aufgelöste  Ganze  vorausgesetzt.  Dadurch 
unterscheidet  sich  die  unmittelbare  Ineinssetzung  von  dem 
andern  Falle,  in  welchem  eine  Reihe  dazwischenliegender 
Denkaete   erst   nöthig   ist  um  Subject    und  Prädicat   in  Eins 


gegenwärtigen  verglichen  wird».  Ich  vermag  jedoch  einen  zureichen- 
den Grund  zu  dieser  Unterscheidung  nicht  zu  finden.  Einerseits  han- 
delt es  sich  in  der  Regel  bei  den  Benennungsurtheilen ,  wie  ich  sie 
fasse,  gar  nicht  darum,  dass  ein  gegenwärtiges  Object  mit  früheren 
Objecten  in  dem  Sinne  verglichen  würde,  daßs  diese  als  gesonderte 
einzelne  vorgestellt  und  der  Name  derselben  auf  das  neue  übertragen 
würde;  sondern  was  von  dem  gegenwärtigen  Objecte  reproduciert  wird,  ist 
nur  die  allgemeine  mit  dem  Worte  verknüpfte  Vorstellung,  und  es  be- 
darf keiner  ausdrücklichen  Vergleichung,  um  ihrer  Coincidenz  mit  dem 
Gegenwärtigen  bewusst  zu  werden.  Andererseits  ist  es  offenbar  zu  viel 
gesagt,  dass  das  früher  wahrgenommene  »gar  nicht  ins  Bewusstsein 
komme«  —  wie  sollte  sonst  ein  Erkennen  stattfinden?  Richtig  ist  nur, 
dass  es  nicht  nothwendig  gesondert  zum  deutlichen  Bewusstsein  ge- 
langt; der  Process  geht  so  rasch  vor  sich,  dass  ich  nicht  das  Bewusst- 
sein seiner  einzelnen  Schritte  habe;  wenn  ich  einem  Bekannten  be- 
gegne, verblasst  das  Erinnerungsbild,  das  ich  nöthig  habe,  um  ihn  zu 
erkennen,  gegenüber  dem  gegenwärtigen  Anblick,  aber  es  muss  im  Be- 
wusstsein wirksam  geworden  sein.  So  dass  es  unmöglich  wird,  eine 
Grenze  zwischen  den  gewohnheitsmässigen  und  den  nicht  gewohnheits- 
mässigen  Urtheilen  zu  ziehen;  zuzugeben  ist  nur,  dass  der  im  Wesent- 
lichen überall  gleiche  Process  da  rascher  vollzogen  wird  ,  wo  wir  es 
mit  bekannten  und  geläufigen,  oft  angewendeten  Vorstellungen  zu  thun 
haben. 

S  i  gw  a  X  t ,  Logik.    I.    2.  Auflage.  5 


66  1»  2.     Das  einfache  Urtheil.  59 

zu  setzen.  Bezeichnet  »Schnee«  oder  »Blut«  einen  natur- 
wissenschaftlichen Begriff,  dessen  unterscheidende  Merkmale 
im  Gedächtniss  gegenwärtig  sind ,  so  wird  nicht  auf  den 
ersten  Anblick  geurtheilt,  sondern  es  findet  eine  Untersuchung 
des  Objects  nach  seinen  verschiedenen  Eigenschaften  statt, 
um  sich  zu  vergewissern,  ob  auch  alle  Merkmale  des  Begriffs 
auf  dasselbe  passen ,  und  erst  auf  Grund  eines  Schluss- 
verfahrens wird  das  Object  unter  den  Begriff  gestellt,  d.  h. 
ihm  der  ganze  Complex  von  Eigenschaften  zugesprochen,  der 
in  dem  Terminus  Schnee  oder  Blut  allgemeingültig  fixiert 
ist.  Dieses  Urtheil  also  ist  ein  vielfach  vermitteltes;  es 
wiederholt  sich  in  ihm  mehrmals,  was  bei  der  Coincidenz 
zweier  Bilder  auf  einmal ,  durch  einen  nicht  analysierbaren 
Act,  der  ein  Bild  mit  dem  andern  zusammenbringt,  stattfindet. 
Zwischen  diesen  beiden  Endpunkten  liegt  eine  ganze  Stufen- 
reihe von  Vorstellungen ,  die  sich  mit  den  Prädicatswörtem 
verbinden  können,  und  dem  entsprechend  eine  Stufenfolge 
von  Vermittlungen  des  Urtheils.  Immer  aber  sagt  dieses  aus, 
dass  die  Vorstellung  des  Prädicats  mit  der  des  Subjects  so 
übereinstimme,  dass  das  Prädicat  als  Ganzes  mit  dem  Subject 
eins  sei. 

Man  könnte  auch  in  den  häufigen  Fällen  ein  Schlussver- 
fahren sehen  wollen,  in  denen  die  Prädicats  Vorstellung  mehr 
enthält,  als  die  erste  Anschauung,  welche  das  Urtheil  hervor- 
treibt, bieten  kann.  Sieht  das  Kind  einen  Apfel  und  benennt 
ihn ,  so  enthält  die  Prädicatsvorstellung  die  Essbarkeit  und 
den  Geschmack  des  Apfels  u.  s.  w.  mit;  und  wenn  geur- 
theilt wird  :  dies  ist  ein  Apfel ,  so  könnte  darin  ein  Schluss 
aus  dem  Gesichtsbilde  auf  das  Vorhandensein  der  übrigen 
Eigenschaften  gesucht  werden.  Allein  die  Association  der 
übrigen  Eigenschaften  mit  dem  Gesichtsbilde  ist  schon  von 
früheren  Erfahrungen  her  eine  so  feste  geworden,  dass  eine 
bewusste  Unterscheidung  des  blossen  Gesichtsbildes  von  den 
ül5rigen  Eigenschaften  gar  nicht  stattfindet;  das  Gesichtsbild 
erweckt  sofort  die  Erinnerung  an  die  übrigen  Eigenschaften, 
und  erst  mit  dieser  bereicherten  Anschauung  tritt  die  Prädi- 
catsvorstellung zusammen.  Das  Kind  schliesst  nicht:  dies  sieht 
aus  wie  ein  Apfel,  also  kann  man  es  essen ;  sondern  mit  dem 


60  §  9.    Benennungsurtheile.  67 

Anblick  erwacht  die  Lust,  und  beides  zusammen  reproduciert 
die  Vorstellung  »Apfel«  und  führt  die  Benennung  herbei. 
Es  bleibt  also  auch  in  solchen  Fällen  die  einfache  Coincidenz 
der  gegenwärtigen  Anschauung  und  der  erinnerten  Vorstel- 
lung, und  sie  sind  von  denjenigen  zu  unterscheiden,  wo  uns 
erst  über  dem  Namen  nachträglich  weitere  Eigenschaften  ein- 
fallen. 

3.  Die  vollkommene  Coincidenz  eines  gegenwärtigen  und 
eines  reproducierten  Bildes  findet  nicht  nur  da  statt,  wo  es 
sich  um  das  Wiedererkennen  eines  und  desselben  Gegenstandes 
als  solchen  handelt,  also  zu  dem  Urtheil,  welches  die  Vorstel- 
lungen gleichsetzt,  noch  das  Bewusstsein  der  realen  Identität 
der  Dinge  hinzuzutreten  vermag,  das  an  und  für  sich  in  dem 
Urtheil  noch  nicht  enthalten  ist  (vgl.  S.  50);  sondern  sie 
tritt  auch  überall  da  ein,  wo  ein  Bewusstsein  der  Diifferenz 
zwischen  Subjects-  und  Prädicatsvorstellung  sich  nicht  geltend 
macht ,  also  an  dem  Gegenstande  eben  das  aufgefasst  und 
mit  Bewusstsein  angeschaut  wird,  was  mit  der  Prädicatsvor- 
stellung sich  deckt.  Dies  wird  überall  da  der  Fall  sein,  wo 
einzelne  gleichartige  Erscheinungen  nur  bei  besonderer  Auf- 
merksamkeit zu  unterscheiden  wären  (dies  ist  Schnee  —  dies 
ist  ein  Schaf  —  dies  ist  eine  Pappel  u.  s.  w.)  oder  wo  die 
Auffassung  eines  Gegenstands  durch  die  schon  vorhandene 
Vorstellung  bestimmt  ist,  das  was  von  ihm  zum  Bewusstsein 
kommt  in  der  Prädicatsvorstellung  sich  erschöpft  —  wobei 
die  Prädicatsvorstellung  selbst  nicht  absolut  starr  ist,  sondern 
unbewusst  häufig  durch  das  eben  gegenwärtige  Subject  ver- 
schoben wird. 

4.  An  diese  •  Fälle  schliessen  sich  andere  an ,  in  denen 
zwar  die  Differenz  im  Bewusstsein  ist,  aber  nicht  zu  einem 
ausdrücklichen  Urtheile  führt.  Das  sind  theils  die  Urtheile, 
die  sich  mit  einer  Vergleichung,  einer  Aehnlichkeit  begnügen 
und  die  häufig  —  wie  bei  phantasievoller  oder  witziger  Ver- 
gleichung —  ganz  die  äussere  Form  der  Benennungsurtheile 
annehmen,  wie  auch  die  meisten  Metaphern  der  Sprache  auf 
diesem  Processe  beruhen ;  theils  die  Urtheile ,  in  denen  die 
Subjectsvorstellung  reicher  und  bestimmter  ist  als  die  Prä- 
dicatsvorstellung, aber  nur   dasjenige  in  derselben  heraustritt, 


68  I.  1-     Das  einfache  Urtheil.  61 

was  sich  mit  der  Pradicatsvorstellung  deckt;  solche  nemlich, 
in  denen  das  Prädicat  eine  unbestimmtere  und  allgemeinere 
Vorstellung  ist ,  mit  dem  Bewusstsein  ,  dass  sie  das  Subject 
nicht  erschöpft.  Dies  ist  besonders  deutlich  da,  wo  ich  von 
einem  Gegenstande  den  specielleren  Namen  der  Vorstellung, 
die  sich  mit  ihm  deckt,  nicht  kenne,  und  darum  genöthigt  bin, 
mich  mit  dem  allgemeineren  zu  begnügen  (dies  ist  ein  Vogel, 
ein  Baum,  eine  Flüssigkeit)  oder  wo  der  speciellere  Name  mir 
nicht  so  geläufig  ist,  als  der  viel  häufiger  verwendete  allge- 
meine; denn  an  und  für  sich  verknüpft  sich  im  natürlichen 
Verlaufe  des  Denkens  mit  jedem  Bilde  am  leichtesten  die  ihm 
ähnlichste  und  bestimmteste  Pradicatsvorstellung.  Das  Inte- 
resse ,  unter  möglichst  allgemeine  Vorstellungen  zu  subsu- 
mieren ,  gehört  erst  dem  wissenschaftlichen  Denken  an ;  das 
gewöhnliche  Denken,  das  sich  mit  dem  Einzelnen  beschäftigt, 
pflegt  sich  an  die  concretesten  Vorstellungen  zu  halten,  die 
ihm  zu  Gebote  stehen.  (Logisch  betrachtet,  müssen  Vorstel- 
lungen ,  welche  sprachlich  durch  attributive  nähere  Bestim- 
mung eines  Substantivs  ausgedrückt  werden ,  wie  schwarzes 
Pferd,  rundes  Blatt  u.  s.  w. ,  ebenso  als  einheitliche  gelten, 
wie  diejenigen  die  zu  bezeichnen  Ein  Wort  genügt.  Wenn 
sie  als  Prädicate  auftreten,  so  ist  die  Zusammenfassung  in 
Ein  Ganzes  fertig.) 

5.  Während  nun  der  Natur  der  Sache  nach  überall  zu- 
erst der  einheitliche  Inhalt  der  Vorstellungen  in  Be- 
tracht kommt ,  wenn  benannt  wird ,  so  ist  die  Pradicatsvor- 
stellung im  weiteren  Verlaufe  des  Oenkens  überall  da  mit 
der  Vorstellung  einer  Vielheit  verbunden,  wo  entweder 
die  numerische  Allgemeinheit  vieler  der  Erinnerung  vor- 
schwebender Individuen,  oder  die  Reihe  abgestufter  Vorstel- 
lungen eintritt,  welche  die  Bedeutung  eines  Wortes  ausmachen. 
Wo  ein  Wort  ein  scharf  abgegrenztes  individuelles  Bild  be- 
zeichnet, entstehen  mit  ihm  zugleich  eine  Reihe  individueller 
Bilder,  denen  sich  der  neue  Gegenstand  als  ein  weiteres  an- 
reiht (dies  spricht  sich  im  Deutschen  in  der  Form  »das  ist  ein 
Baum«  u.  s.  w.  aus);  wo  seine  Bedeutung  diese  individuelle 
Bestimmtheit  nicht  hat,  tritt  die  Allgemeinheit  des  Prädicats 
darin  zu  Tage,  dass  neben  der  eben  besonders  hervortretenden 


62  §  9.    Benennungsurtheile.  69 

Vorstellung  die  benachbarten  ins  Bewusstsein  treten  (dies  ist 
Papier,  dies  ist  Wein  u.  s.  f.,  wobei  mit  Papier,  Wein,  eine 
grössere  ode?  kleinere  Reihe  abgestufter  Differenzen  durch- 
laufen wird).  Insofern  ist  die  Bemerkung  Herbarts  (Einl. 
S.  W.  I,  92)  richtig ,  dass  der  Begriff,  welcher  zum  Prädicate 
diene,  als  solcher  allemal  in  beschränktem  Sinne  gedacht 
werde,  nemlich  nur  insofern  er  an  das  bestimmte  Subject 
kann  angeknüpft  werden ;  von  den  vielerlei  Vorstellungen,  die 
das  W^ort  zusammenfasst,  tritt  eine  vorzugsweise  heraus,  welche 
sich  mit  dem  Subjecte  deckt. 

6,  Diese  Benennungsurtheile  *)  sind  überall  da  schon  vor- 
ausgegangen ,  wo  das  bestimmte  Object ,  über  welches  geur- 
theilt  wird,  nicht  bloss  durch  ein  Demonstrativ,  sondern  durch 
ein  bedeutungsvolles  Wort  bezeichnet  wird.  Diese  Blume  ist 
eine  Rose  —  schliesst  ein  doppeltes  Benennungsurtheil  in  sich  : 
erst  die  Benennung  durch  das  unbestimmtere  Blume,  welche 
vorangegangen  und  deren  Resultat  nur  in  dem  sprachlichen 
Ausdruck  des  Subjects  niedergelegt  ist;  dann  die  genauere 
Benennung,  welche  den  Inhalt  des  Urtheils  selbst  ausmacht. 

7.  Die  Gewohnheit ,  Eigenschaften  und  Vorgänge  auf 
Dinge  zu  beziehen,  ist  so  stark,  dass  Benennungsurtheile  in 
Beziehung  auf  jene,  bei  denen  nicht  zugleich  ein  Urtheil  der 
Eigenschaft  oder  Thätigkeit  ausgesprochen  würde,  verhältniss- 

*)  Ich  wähle  diesen  Ausdruck,  um  eine  gemeinschaftliche  Bezeich- 
nung für  die  Aussagen  zu  haben,  welche  sonst  theils  als  Subsumtions- 
urtheile  (wo  das  Prädicat  eine  allgemeinere  Vorstellung  ist)  theils  als 
Identitätsurtheile  ^wo  das  Prädicat  dem  Subject  vollkommen  congruent 
ist)  aufgeführt  werden.  Zwischen  beiden  besteht  in  den  einfachsten 
Fällen  keine  bestimmte  Grenze;  und  der  Vorgang,  das  Bewusstsein 
der  Einheit  des  Gegebenen  als  Ganzen  mit  einer  von  früher  bekannten 
Vorstellung,  ist  in  beiden  Fällen  im  Wesentlichen  derselbe.  Wenn 
Schuppe  (Erk.  Logik  S.  375  ff.)  in  seinen  sachlich  eingehenden  und  zu- 
treffenden Ausführungen  denselben  als  reine  Identificierung  be- 
zeichnet, so  möchte  ich  diesen  Ausdruck  doch  vermeiden,  da  es  sich  meist 
nicht  um  absolute  Identität  der  Prädicats Vorstellung  mit  der  Subjects- 
vorstellung  handelt;  ebenso  vermeide  ich  auch  den  Ausdruck  Subsum- 
tion, der,  wenn  er  in  strengem  Sinne  angewendet  werden  soll,  nicht 
die  mit  den  populären  Wörtern  verbundene  Allgemeinvorstellung,  son- 
dern einen  logisch  fixierten  Gattungsbegriff  voraussetzt,  unter  den  ein 
Einzelnes  oder  ein  apeciellerer  Begriff  gestellt  wird. 


70  I.  2.    Das  einfache  Urtheil. 


I 


weise  selten  vorkommen.  Doch  vermögen  wir,  so  gut  wir 
Abstracta  bilden,  mit  unserem  ,das'  und  ,dies'  auch  bloss  die 
Eigenschaft  oder  Thätigkeit  als  solche  zu  bezeichnen.  Das 
ist  nicht  Gehen,  sondern  Rennen  —  das  ist  dunkelblau,  nicht 
schwarz  —  meint  nicht  Dinge,  sondern  die  Farbe,  die  Thä- 
tigkeit für  sich ;  obgleich  die  Tendenz  immer  vorhanden  ist, 
von  der  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  zu  dem  zugehörigen 
Dinge  weiter  zu  gehen.     Vergl.  §  11. 

§.  10. 
Wo  das  Prädicat  eines  Urtheils  über  ein  bestimmtes 
einzelnes  Ding  ein  Verb  oder  A  d  j  e  c  t  i  v  ist ,  enthält  das 
Urtheil  eine  doppelte  Synthese:  1.  Diejenige  Synthese, 
welche  in  der  Subjectsvorstellung  selbst  die  Einheit  des 
Dings  und  seiner  Thätigkeit,  des  Dinges  und 
seiner  Eigenschaft  setzt;  2.  Diejenige  Synthese, 
welche  die  am  Subject  vorgestellte  Thätigkeit  od  er 
Eigenschaft  mit  der  durch  das  Prädicatswort  bezeichneten 
Thätigkeit  oder  Eigenschaft  in  Eins  setzt,  d.  h.  mit  dem 
Prädicats Worte  benennt. 

1.  So  oft  wir  ein  Urtheil  aussprechen  wie:  diese  Wolke 
ist  roth  —  der  Ofen  ist  heiss  —  das  Eisen  glüht  —  das 
Pferd  läuft  — ,  drücken  wir  einmal  die  Einheit  eines  Subjects 
mit  seiner  Thätigkeit  oder  Eigenschaft  aus,  welche  durch  die 
Wortformen  angedeutet  ist,  und  dann  benennen  wir  die  wahr- 
genommene Eigenschaft  oder  Thätigkeit,  indem  wir  sie  mit 
der  allgemeinen  Vorstellung  roth,  heiss,  glühen,  laufen.  Eins 
setzen.  Was  der  Wahrnehmung  gegeben  ist,  ist  die  rothe 
Wolke,  der  heisse  Ofen ,  das  glühende  Eisen ,  das  laufende 
Pferd;  das  zunächst  ungeschiedene  Ganze  unserer  Wahrneh- 
mung zerlegen  wir  aber,  indem  wir  von  der  Vorstellung  des  Sub- 
j  ects  die  Eigenschaft  und  Thätigkeit  aussondernd  unterscheiden. 
Dass  das  Gesehene  eine  Wolke  ist,  haben  wir  an  der  Form 
und  am  Ort  erkannt;  und  diese  Erkenntniss  drückt  sich  in 
der  Bezeichnung  durch  das  bestimmte  Subjects  wort  Wolke 
aus;    ihre  jetzige   Farbe   fällt   uns  auf   und  löst   sich  darum 


63  §  10.    Eigenschafts-  und  Thätigkeitsurtheile.  71 

leicht  aus  dem  Ganzen  los.  Diese  Farbe  ist  es  dann,  die 
wir  mit  roth  benennen,  und  der  Wolke  als  ibre  Eigenschaft 
zusprechen.  Was  dort  läuft  erkennen  wir  als  ein  Pferd;  es 
ist  -uns  in  der  Bewegung  des  Laufens  gegeben ,  aber  wir  un- 
terscheiden diesen  Vorgang  von  dem  Subjecte,  das  wir  sonst 
auch  stehend  kennen ;  und  diese  bestimmte  Bewegung  ist  es, 
die  wir  als  Laufen  ausdrücken.  In  dem  Gesammtbilde  haben 
wir  also  zwei  Bestandtheile  unterschieden,  das  Ding  und  seine 
Thätigkeit ;  in  jedem  derselben  finden  wir  eine  bekannte  Vor- 
stellung wieder;  indem  wir  diese  beiden  Elemente  in  unserer 
Aussage  vereinigen,  drücken  wir  eben  das  Gesehene  aus,  als 
Einheit  eines  Dings  mit  seiner  Eigenschaft  oder  Thätigkeit.  Die 
Voraussetzung  des  Urtheils  ist  also  eine  Analyse ;  das  Urtheil 
selbst   vollzieht   die  Synthese  der  verschiedenen  Elemente*). 

Durch  diese  doppelte  Synthese  unterscheiden  sich  die  Ur- 
theile,  welche  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  aussagen,  von 
den  einfachen  Benennungsurtheilen ;  in  diesen  wird  das  Sub- 
ject  aJs  ungetheiltes  Ganzes  mit  dem  Prädicat  Eins  gesetzt. 

In  Beziehung  auf  das  Verhältniss  der  Allgemeinheit  der 
Prädicatsvorstellung  zu  dem  correspondierenden  Elemente  der 
Subjects Vorstellung  gilt  dasselbe,  was  von  den  Vorstellungen 
der  Dinge  beziehungsweise  der  Allgemeinheit  der  Substantiva 
gesagt  wurde;  von  der  vollständigen  Deckung  beider  für  das 
Bewusstsein  des  Urtheilenden  (z.  B.  bei  scharf  charakterisier- 
ten Farben  —  diese  Flechte  ist  schwefelgelb)  gibt  es  eine 
Stufenreihe  von  Verhältnissen  bis  zu  den  Fällen,  in  denen 
das  Prädicatswort  wegen  seiner  Unbestimmtheit  die  Eigen- 
schaft oder  Thätigkeit  des  Subjects  nicht  nach  ihrer  Be- 
stimmtheit zu  bezeichnen  vermag,  sondern  erst  durch  unter- 
scheidende Determination  vermittelst  der  Adverbia  etc.  zur 
Congruenz  mit  der  dem  Sabject  anhaftenden  Vorstellung  ge- 
bracht werden  könnte. 

2.  Die  Auffassung  des  Paragraphen  tritt  der  Ansicht 
gegenüber,  welche  auch  solche  Urtheile  unter  den  Begriff 
einer  einfachen  Subsumtion  des  Subjects  unter 
das  allgemeinere  Prädicat  zwängen  will.  Aber  das  Prä- 

*)  Vgl.  Wundt,  Logik  I,  13G  ff.  und  meine  Ausführungen,  Viertel- 
jahrsschr.  für  wiss.  Fhiloj.  1880,  IV,  458  tf. 


72  Ii  2.   Das  einfache  Urtheil.  64 

dicat,  das  eine  Eigenschaft  ausdrückt,  ist  immer  nur  das 
Allgemeine  zu  der  Eigenschaft  des  Subjects,  nicht 
zu  diesem  selbst ;  das  Prädicat  das  eine  Thätigkeit  aus- 
drückt, nur  das  Allgemeine  zu  seiner  Thätigkeit; 
Eigenschaft  und  Thätigkeit  müssen  am  Subject  unterschieden 
sein,  wenn  sie  mit  einem  adjectivischen  oder  verbalen  Prädi- 
cate  belegt  werden  sollen.  Die  einfache  Benennung  ist  die 
Antwort  auf  die  Frage:  was  ist  dies?  Damit  aber  mit  einem 
Adjectiv  oder  Verb  geantwortet  werden  könne,  muss  gefragt 
werden  wie  beschaffen  ist  dies  ?  was  thut  dies  ?  Die  Unter- 
scheidung des  Thuns  und  der  Eigenschaft  von  dem  Ding  ist 
also  dem  Urtheile  schon  vorausgesetzt. 

§  11. 

Die  Bewegung  des  Denkens  in  den  Urtheilen,  welche  die 
Eigenschaft  oder  Action  eines  Dinges  ausdrücken,  geht  t  h  e  i  1  s 
so  vor  sich,  dass  das  Ding  (das  grammatische  Subject),  theils 
so,  dass  die  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  (das  gram- 
matische Prädicat)  zuerst  im  Bewusstsein  gegenwärtig  ist.  In 
jenem  Falle  wird  die  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  zuerst  als 
Bestandtheil  einer  gegebenen  Gesammtvorstellung  unterschie- 
den und  dann  benannt,  in  diesem  zuerst  die  Eigenschaft  oder 
Thätigkeit  für  sich  wahrgenommen  und  benannt  und  dann 
auf  ein  Ding  bezogen. 

Der  letztere  Act  —  die  Beziehung  auf  ein  Ding  —  un- 
terbleibt unter  bestimmten  Bedingungen ;  daraus  erklären  sich 
die  sogenannten  Impersonalien. 

Im  eigentlichen  und  strengen  Sinn  impersonale  Sätze  sind 
übrigens  nur  diejenigen,  bei  welchen  der  Gedanke  an  ein 
Dingsubject  ausgeschlossen  ist,  nicht  diejenigen,  die 
ein  Dingsubject  zwar  meinen,  dasselbe  aber  nur  unbestimmt 
und  bloss  andeutend  ausdrücken  *). 

*)  Vergl.  zu  diesem  §  F.  Miklosich,  Subjectlose  Sätze,  2.  Aufl.  Wien 
1883,  W.  Schuppe  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach- 
wissensch.  Bd.  XVI,  3.  1886,  meine  Abhandlung:  die  Impersonalien, 
Freiburg  1888,  und  Steinthals  Recension  z,  f.  Völkerps.  XVIIl,  170. 


65  §  11-    Impersonalien  und  verwandte  Urtheilsformen.  73 

1.  Wenn  die  Aussage,  welche  einem  Ding  eine  Eigen- 
schaft oder  Thätigkeit  zuspricht,  von  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung ausgeht,  so  ist  ein  Doppeltes  möglich :  entweder 
die  Wahrnehmung  gibt  mir  von  Anfang  an  das  Ding  mit 
seiner  Action,  seinem  Zustand,  seiner  Eigenschaft,  so  dass  ich 
diese  Gesammtvorstellung  analysiere  und  daraus  mein  Urtheil 
bilde  —  das  Blatt  ist  welk  ,  das  Eisen  glüht ,  der  Ballon 
steigt;  oder  die  Wahrnehmung  gibt  mir  zuerst  nur  dasjenige 
Element,  welches  durch  das  Adjectiv  oder  Verb  ausgedrückt 
wird,  eine  Farbe,  ein  Leuchten,  eine  Bewegung,  und  erst  her- 
nach ,  durch  einen  zweiten  Act ,  erkenne  ich  das  bestimmte 
Subject  der  Eigenschaft  oder  Thätigkeit ,  und  vermag  es  zu 
nennen ;  da  läuft  —  ein  Hase,  dort  fliegt  —  ein  welkes  Blatt, 
dort  glänzt  —  der  Rhein  u.  s.  f. 

Im  letzteren  Falle  wird  von  den  beiden  Synthesen,  welche 
in  diesen  ürtheilen  enthalten  sind,  zuerst  diejenige  vollzogen, 
welche  die  gegebene  Erscheinung  des  Leuchtens,  Glänzens,  der 
Bewegung  u.  s.  f.  benennt,  und  erst  als  zweites  tritt  die 
Beziehung  der  Eigenschaft  oder  Action  auf  das  zugehörige 
Ding  hinzu.  In  solchen  Fällen  wird  auch  die  Sprache  natur- 
gemäss  mit  demjenigen  beginnen,  was  zuerst  im  Bewusstsein 
gegenwärtig  ist,  mit  dem  Adjectiv  oder  Verb;  die  Gewohn- 
heit des  Hebräischen,  das  Prädicat  voranzustellen,  ist  der  un- 
mittelbare Ausdruck  eines  überwiegend  in  sinnlicher  Wahrneh- 
mung sich  bewegenden  Denkens,  und  in  dem  Masse ,  als  die 
einzelnen  Sprachen  unmittelbarer  und  ungekünstelter  Ausdruck 
der  lebendigen  Bewegung  der  Vorstellungen  geblieben  sind, 
haben  sie  sich  auch  die  Freiheit  bewahrt,  bald  mit  dem  Prä- 
dicat bald  mit  dem  Subject  zu  beginnen;  am  weitesten  von 
dieser  ursprünglichen  Lebendigkeit  hat  sich  das  Französische 
entfernt,  das  die  Wortstellung  einseitig  nach  der  Kategorie 
der  Wörter  bestimmt  *). 

*)  Man  könnte  die  Ansicht  durchführen  wollen,  dass  dasjenige,  was 
zuerst  ins  Bewusstsein  tritt,  immer  als  das  logische  Subject  betrachtet 
werden  müsse,  weil  es  der  gegebene  Anknüpfungspunkt  für  ein  weiteres 
Element  sei.  Allein  es  wäre  doch  misslich  ,  allein  auf  die  zufällige 
Priorität  in  der  individuellen  Folge  der  einzelnen  Elemente  des  Ur- 
theils  den  Unterschied  von  8iibject  und  Prädicat  z\i  gründen,  statt  auf 
den  Inhalt  der  Vorstellungen  selbst.     In  dem  Verhältniss  der  Vorstel- 


74  I»  2.    Das  einfache  ürtheil.  65 

2.  Die  beiden  Acte,  die  Benennung  einer  wahrgenom- 
menen Eigenschaft  oder  Thätigkeit,  und  die  Beziehung  der- 
selben auf  das  zugehörige  Ding,  treten  noch  weiter  und  deut- 
licher auseinander ,  wo  in  die  unmittelbare  Wahrnehmung 
überhaupt  nur  ein  Eindruck  fällt,  der  nach  sonstiger  Analogie 
durch  ein  Verb  oder  Adjectiv  bezeichnet  wird,  und  das  zuge- 
hörige Ding  nur  durch  Association  auf  Grund  früherer  Erfah- 
rung hinzugedacht  wird.  Dies  findet  besonders  bei  Gehörs- 
und Geruchsempfindungen  statt.  Dass  ich  Klingen  oder  Rie- 
chen von  einem  sichtbaren  und  tastbaren  Ding  aussagen  kann, 
ist  ja  überhaupt  zuletzt  nur  durch  eine  Combination  möglich, 
durch  welche  die  Empfindung  des  Ohrs  oder  der  Nase  auf 
dasselbe  Object  bezogen  wird,  das  sich  zugleich  meinem  Auge 
und  meiner  tastenden  Hand  kund  gibt ;  diese  Combination, 
deren  Zustandekommen  wir  hier  nicht  weiter  untersuchen,  ist 
aber  in  den  gewöhnlichen  Fällen  so  eingeübt,  wir  kennen, 
wie  beim  Schreien  und  Sprechen,  dem  Klopfen  eines  Hammers, 
dem  Stampfen  des  Fusses  u.  s.  f.  die  sichtbaren  Zeichen  der 
Hervorbringung  des  Lautes  so  genau,  dass  wir  unmittelbar 
das  Tönen  als  Thätigkeit  bestimmter  sichtbarer  Dinge  wahr- 
zunehmen glauben.  Wo  aber  ein  Schall  unser  Ohr  trifft, 
ohne  dass  wir  das  ihn  erzeugende  Ding  sehen  können,  darauss 
dieses  hinzugedacht  werden;  unser  Urtheil  erscheint  nicht 
als  Folge  der  Analyse  eines  gegebenen  Complexes,   wie  wenn 


lungen,  die  wir  mit  Verben  und  Adjectiven  einerseits,  mit  Substantiven 
andrerseits  bezeichnen  ,  liegt  mit  Nothwendigkeit  der  Gedanke,  dass 
das  in  der  Verbalform  ausgedrückte  objectiv  das  vom  Substantiv  be- 
zeichnete zu  seiner  Grundlage  und  Voraussetzung  habe;  was  wir  als 
Bewegung  u.  s.  f.  auffassen,  denken  wir  von  vornherein  nach  sonstiger 
Analogie  als  etwas  Unselbstständiges,  das  ein  Ding  voraussetzt  und  die 
Beziehung  auf  ein  solches  fordert ;  in  der  Wahl  der  ad jecti vischen  oder 
verbalen  Form  liegt  schon  die  Hinweisung  auf  ein  Subject  einge- 
schlossen, als  dessen  Bestimmungen  Verb  und  Adjectiv  zu  denken  sind. 
Die  Grammatik  hat  darum  Recht,  das  Substantiv  als  Subject  auch 
dann  festzuhalten,  wenn  in  der  psychologischen  Reihenfolge  der  Ver- 
balbegriff zuerst  zum  bestimmten  Bewusstsein  kommt;  es  widerspricht 
den  Grundvoraussetzungen  unseres  Denkens,  ein  Ding  von  einer  Eigen- 
schaft oder  Thätigkeit  zu  prädicieren.  Inwiefern  diese  Regel  schein- 
bare Ausnahmen  erleidet,  wird  später  zur  Sprache  kommen. 


65  §  11«     Impersonalien  und  verwandte  ürtheilsformen.  75 

ich  sage  :  das  Blatt  ist  gelb,  sondern  als  Folge  einer  Synthese, 
die  zu  dem  allein  gegebenen  Laut  erst  den  Gedanken  des  zu- 
gehörigen Dings  hinzubringt.  In  sehr  vielen  Fällen  ist  diese 
Association  eine  vollkommen  leichte  und  sichere,  und  wir  sind 
ihrer  kaum  bewusst ;  höre  ich  meinen  Hund  vor  der  Thüre 
bellen ,  so  ist  mit  dem  gehörten  Laute  auch  sofort  die  be- 
kannte Vorstellung  des  Hundes  da,  ich  stelle  ihn  in  der  Thä- 
tigkeit  des  Bellens  vor,  und  mein  Urtheil  »der  Hund  bellt« 
kann  selbst  als  Analyse  dieser  durch  Association  ergänzten 
Vorstellung  des  bellenden  Hundes  betrachtet  v^erden.  Anders 
aber ,  wenn  die  Association  nicht  sicher  ist,  wenn  ich  unge- 
wohnte oder  mangelhaft  charakterisierte  Laute  höre,  wie  den 
Schrei  eines  unbekannten  Thieres  im  Walde;  nun  tritt  die 
Frage  dazwischen,  was  schreit  ?  und  ich  vermag  kein  bestimm- 
tes Bild  zu  ergänzen.  Dass  der  Laut  von  einem  Ding  ausgeht, 
ist  nach  sonstiger  Analogie  sicher;  aber  ich  kann  keine  be- 
stimmte Vorstellung  gewinnen,  die  Synthese,  die  den  Laut  auf 
ein  Ding  bezieht ,  bleibt  unvollendet ,  und  das  letztere  kann 
nur  mit  einem  ganz  unbestimmten  , Etwas'  bezeichnet  werden. 
Es  hängt  damit  zusammen,  dass  die  gehörten  Laute  uns 
leicht  wie  selbstständige  Objecte  erscheinen ,  indem  von  den 
sie  erzeugenden  Dingen  abstrahiert  wird;  indem  sie  in  der 
Zeit  kürzer  oder  länger  dauern  und  sich  abgrenzen,  werden  sie 
als  abgeschlossene  Erscheinungen  aufgefasst,  und  Substantive 
wie  Donnerschlag,  Schuss,  Pfiff,  Ruf  u.  s.  f.  sind  in  der  Schwebe 
zwischen  den  Abstr actis,  die  auf  ein  Ding  hinweisen,  und  den 
concreten  Substantiven,  die  selbstständige  Objecte  bezeichnen, 
und  von  denen  ihrerseits  wieder  Verba  prädiciert  werden  — 
ein  Ruf  ertönt  u.  s.  f.,  wobei  die  Beziehung  auf  den  Rufen- 
den unterbleibt.  Dasselbe  findet  auch  im  Gebiete  anderer 
Sinne  statt;  Kälte  und  Wärme  sind  einerseits  Bezeichnungen 
der  Eigenschaft  eines  Dings,  andrerseits  erscheinen  sie  wie 
selbstständige  Wesen,  bei  denen  die  Frage  nach  dem  Subjecte, 
dem  sie  zukommen,  im  Hintergrunde  bleibt.  Auch  in  diesen 
Fällen  wird  also  die  Synthese,  welche  zu  jeder  zunächst  ad- 
jectivisch  oder  verbal  ausdrückbaren  Sinnesempfindung  ein 
Ding  hinzudenkt ,  gar  nicht  oder  wenigstens  nicht  ausdrück- 
lich vollzogen. 


76  -  1,  2.  Das  einfache  Urtheil. 

3.  Die  Einsicht,  dass  in  allen  Sätzen,  welche  Actionenj 
oder  Eigenschaften  einem  Dingsubjecte  beilegen,  eine  doppelte 
Synthese  stattfindet,  bietet  auch  den  Schlüssel  zu  der  rich- 
tigen Lösung  der  schwierigen  und  vielverhandelten  Frage  nach 
der  logischen  Natur  der  sogenannten  Impersonalien  oder 
genauer  der  im  personalen  Sätze. 

Unter  den  Aussagen,  welche  ein  Prädicat  —  ein  einfaches 
Verbum  oder  das  mit  einem  Adjectiv  oder  Substantiv  verbun- 
dene Verbum  Sein  —  ohne  ein  ausdrücklich  und  bestimmt 
bezeichnetes  Subject  enthalten,  sind  vor  allem  zwei  Classen 
zu  unterscheiden,  die  ächten  und  die  nur  scheinbaren 
Impersonalien.  Aechte  Impersonalien  sind  nur  solche, 
bei  denen  der  Gedanke  an  ein  Ding,  dem  das  Prädicat  zu- 
käme, ganz  wegfällt  und  die  Frage  nach  einem  solchen  gar 
keinen  Sinn  hat ;  ihnen  stehen  diejenigen  Redewendungen  ge- 
genüber, die  zwar  ein  Dingsubject  nicht  nennen,  aber  ein 
solches  wenigstens  meinen,  wenn  es  auch  nur  unbestimmt  vor- 
gestellt und  nur  durch  das  Pronomen  des  Neutrums,  bezieh- 
ungsweise die  Flexionsendung  bezeichnet  wird.  Mich  hungert, 
mich  dürstet,  lässt  die  Frage  gar  nicht  zu,  was  mich  hungert 
oder  dürstet,  ebensowenig  als  zu  pudet  oder  poenitet  ein  Sub- 
stantiv als  Subject  ergänzt  werden  kann.  Sage  ich  aber:  es 
fängt  an,  jetzt  geht's  los ,  es  ist  aus ,  es  ist  zu  Ende ,  so 
meine  ich  immer  etwas  bestimmtes,  eine  erwartete  oder  im 
Gange  befindliche  Reihe  von  Ereignissen,  ein  Schauspiel,  eine 
Musikaufführung,  einen  Kampf  oder  dergl.,  und  von  dem  Hö- 
renden wird  vorausgesetzt,  dass  seine  Aufmerksamkeit  auf  das- 
selbe gerichtet  ist,  dass  also  eine  genauere  Bezeichnung  nicht 
nöthig  ist.  »Es«  ist  also  wirkliches  Pronomen,  das  nur  der 
Kürze  wegen  gewählt  wird,  weil  die  ausdrückliche  Bezeich- 
nung des  Gemeinten  überflüssig,  oder  auch  wegen  der  Be- 
schaffenheit des  Gemeinten  zu  umständlich  ist.  Ebenso  wenn 
ich  sage:  es  ist  draussen  glatt,  staubig,  nass  u.  s.  w.,  meine 
ich  die  Wege;  wegen  der  unbestimmten  Ausdehnung  dessen, 
was  glatt  oder  nass  ist ,  wäre  es  schwierig  ein  bestimmtes 
Subject  in  Worten  zu  nennen ,  andererseits  sind  durch  die 
Natur  der  Prädicate  schon  die  Subjecte,  denen  sie  zukommen, 


64  §  !!•     Impersonalien  und  verwandte  Urtbeilsformeli.  77 

hinlänglich  bestimmt  angedeutet ;  es  ist  schattig,  es  ist  voll, 
kann  nur  einen  Raum,  es  thaut   nur  Schnee  und  Eis  meinen. 

Allerdings  findet  ein  unmerklicher  Uebergang  von  der 
einen  Classe  zur  andern  statt,  und  der  blossen  grammatischen 
Form  lässt  sich  nicht  ansehen ,  ob  das  Pronomen  »es«  oder 
die  Personalendung  der  alten  Sprachen  noch  ein  Dingsubject 
andeutet  von  dem  das  Prädicat  gilt,  oder  nicht ;  derselbe  sprach- 
liche Ausdruck  kann  bald  den  einen  bald  den  andern  Sinn 
haben.  Daraus  erklärt  sich,  dass  die  beiden  Classen  von  so- 
genannten Impersonalien,  die*doch  an  den  Enden  der  Reihe 
bestimmt  unterschieden  sind,  vielfach  vermischt  wurden,  und 
dass  man  glaubte,  für  alle  impersonalen  Wendungen  ein  Sub- 
ject  im  Sinne  eines  Dings  finden  zu  müssen,  dem  das  Prädi- 
cat als  seine  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  zukäme,  und  als 
solches  Subject  zuletzt  nur  die  unbestimmt  vorgestellte  Tota- 
lität des  Seienden  überhaupt  finden  konnte,  an  die  doch  Nie- 
mand denkt,  wenn  er  eine  einzelne  Wahrnehmung  erzählt. 

Wo  acht  impersonale  Sätze  dazu  dienen ,  etwas  auszu- 
drücken ,  was  der  unmittelbaren  äusseren  Wahrnehmung 
zugänglich  ist  —  es  donnert,  es  wetterleuchtet,  da  ist  der 
Ausgangspunkt  ein  einfacher  sinnlicher  Eindruck,  zu  dem  weder 
die  Wahrnehmung  selbst  noch  die  Erinnerung  ein  zugehöriges 
Subject  gibt ,  wie  es  der  Fall  wäre ,  wenn  ich  eine  Rakete 
steigen  sähe  oder  einen  Wagen  über  das  Pflaster  rasseln  hörte; 
an  den  allein  gegebenen  Gehöreindruck ,  die  Gesichtserschei- 
nung ,  knüpft  sich  als  nächster  Act  die  Benennung,  die 
Einssetzung  des  Gegenwärtigen  mit  einer  bekannten  Vorstel- 
lung. Diese  Benennung  könnte  mittels  flexionsloser  onoma- 
topoietischer  Wörter  geschehen,  welche  eben  nur  die  Beson- 
derheit des  Eindrucks  widergeben,  und  ebenso  durch  Substan- 
tive (das  ist  Donner,  das  ist  Wetterleuchten),  welche  in  ihrer 
Schwebe  zwischen  Concretum  und  Abstractum  unentschieden 
lassen,  in  welcher  Richtung  das  Denken  den  Vorgang  weiter- 
hin auffassen  will.  Die  Sprache  bietet  aber  nach  sonstiger 
Analogie  für  den  zeitlichen  Vorgang  Verba,  und  die  gegen- 
wärtige Wahrnehmung  wird  mittels  der  gewohnten  Flexion  aus- 
gedrückt —  mit  um  so  mehr  Recht,  als  die  Personalendung  der 
dritten  Person  gewiss  ursprünglich  ein  Demonstrativ  war,  und 


7Ö  I,  2.    Bas  einfache  tJrtheil.  64 

donnert  soviel  ist  als  »Donnern  das«.  Ein  hinzutretendes  Sub- 
stantiv würde  das  so  Angedeutete  interpretieren  und  näher 
als  das  donnernde  Ding  bestimmen  ;  ist  aber  diese  Beziehung, 
auf  welche  das  Verb  hinweist,  nicht  wirklich  auszuführen,  so 
bleibt  als  Subject  der  Aussage  nur  der  Eindruck  selbst,  und 
die  Endung  kann  allein  auf  den  gegenwärtigen  Eindruck  selbst 
hinweisen.  Die  Andeutung  eines  Dingsubjects,  die  in  dem  Pro- 
nomen der  neueren  Sprachen  liegt,  ist  dann  leere  gewohn- 
heits massige  Form ;  man  kann  nicht  fragen :  was  wetter- 
leuchtet, und  antworten  »es«  im  Sinne  eines  wenn  auch  unbe- 
stimmt vorstellbaren  Dings;  das  Impersonale  reicht  nicht  weiter, 
als  die  eben  gegenwärtige  Erscheinung  zu  benennen ;  das  Sub- 
ject ist  nichts  als  die  einzelne  Lichterscheinung  selbst. 

Ganz  deutlich  wird  diese  Beschränkung  dann,  wenn  das 
zugehörige  Ding,  das  leuchtet  oder  tönt,  ganz  wohl  bekannt 
ist,  aber  als  selbstverständlich  keinen  Ausdruck  in  der  Sprache 
findet,  weil  das  uns  Wichtige  nur  das  unmittelbar  Gesehene 
oder  Gehörte  ist.  Es  läutet,  es  pfeift,  es  klopft  sagen  wir, 
wenn  gar  nicht  zweifelhaft  ist,  von  welcherlei  Ursache  die 
Laute  kommen.  Das  Wichtige  aber  ist  das  gehörte  Zeichen 
selbst  und  seine  Bedeutung;  wer  es  gibt,  soll  gar  nicht  ausge- 
drückt werden.  Ebenso  legt  »es  brennt«  Gewicht  darauf, 
dass  ein  Feuer  ausgebrochen  ist ;  dass  etwas  brennt,  ist  selbst- 
verständlich, aber  nicht  dieses  Brennende  ist  das  verschwiegene 
Subject  des  Verbums,  sondern  nur  der  wahrgenommene  Brand 
selbst. 

Unzweifelhaft  ist  vollends  diese  Beschränkung  der  Aus- 
sage auf  den  wahrgenommenen  oder  empfundenen  Zustand  bei 
den  zahlreichen  Impersonalien,  welche  subjective  Gefühlszu- 
stände  ausdrücken.  Mich  hungert,  dürstet,  mir  ist  heiss,  mir 
schwindelt,  ekelt,  graut  u.  s.  w.  lassen  schlechterdings  keine 
Beziehung  dieser  Verba  auf  ein  Subject  zu,  dessen  Thätig- 
keit  sie  wären;  was  gegeben  ist,  besteht  allein  in  dem  gegen- 
wärtigen Gefühl  selbst,  das  in  sich  keine  Hindeutung  auf  ein 
dasselbe  erregendes  Ding  enthält. 

Nach  anderer  Seite  erscheinen  Aussagen,  die  eine  wahr- 
genommene Thätigkeit  ohne  ausdrückliche  Beziehung  auf  das 
Thätige  ausdrücken,  in  der    passiven  Form:  es  wird   gespielt, 


65  §.  11.      Impersonalien  und  verwandte  Ürtheilsformen,  7Ö 

u.  s.  f. ;  ancli  hier  findet  nur  eine  Benennung  des  eben  wahr- 
genommenen Vorgangs  statt,  ohne  dass  zu  der  Bezeichnung 
des  Subjects  fortgeschritten  würde,  an  dem  er  stattfindet. 
Für  weitere  Beispiele  darf  ich  auf  meine  oben  erwähnte  Ab- 
handlung verweisen. 

Diese  Trennung  der  benennenden  Synthese  von  der  an- 
dern, welche  die  benannte  Erscheinung  einem  Dingsubjecte  zu- 
weist, ist  schon  durch  die  Unterscheidung  der  Wortformen  des 
Substantivs,  Adjectivs  und  Verbs  vorbereitet  und  nahe  gelegt; 
so  gut  wir  abstracte  Substantiva  aus  Verben  und  Adjectiven 
bilden,  die  das  als  ein  selbstst'ändig  denkbares  hinstellen,  was 
gewöhnlich  nur  als  abhängig  von  einem  Ding  erscheint,  so 
gut  die  gleichfalls  unpersönlichen  Infinitive  :  ich  höre  sprechen, 
läuten  u.  s.  w.  verständlich  sind,  so  gut  ist  eine  Aussage 
möglich,  deren  logisches  Subject  nur  das  gegenwärtig  wahr- 
genommene Geschehen,  der  gegenwärtig  wahrgenommene  Zu- 
stand ist. 

»Subjectlos«-  sind  diese  Sätze  nur  in  dem  engeren  Sinne, 
dass  ein  Dingsubject  fehlt;  aber  sie  bilden  keine  Ausnahme 
von  der  allgemeinen  Natur  des  Satzes,  der  ein  ürtheil  aus- 
spricht ;  sie  enthalten  die  Synthese  einer  allgemeinen  bekannten 
Vorstellung  mit  einer  gegenwärtigen  Erscheinung,  und  diese 
ist  es,  welche  das  Subject  bildet,  und  welche  von  der  Perso- 
nalendung mit  ihrem  ursprünglich  demonstrativen  Sinne  ge- 
meint ist. 

Eben  darum  aber,  weil  sie  ein  Gregenwärtiges  benennen, 
enthalten  solche  Sätze  allerdings  implicite  zugleich  die  Aus- 
sage der  Wirklichkeit  des  benannten  Vorgangs,  weil  das  ein- 
zelne Wahrgenommene  unmittelbar  zugleich  als  ein  Wirkliches 
vorausgesetzt  wird.  Darum  sind  sie  aber  nicht  Existential- 
urtheile  im  gewöhnlichen  Sinn;  denn  »es  rauscht«  wil)  nicht 
von  dem  Rauschen  das  Prädicat  Wirklichsein,  sondern  von 
einem  Wirklichen  das  Prädicat  Rauschen  aussagen ;  die  Be- 
nennung des  gegenwärtigen  Eindrucks  ist  der  fundamentale 
Act,  ohne  welchen  der  Satz  als  Ausdruck  gegenwärtiger  Wahr- 
nehmung gar  nicht  entstehen  könnte.  Wer  sagt  »es  blitzt, 
es  rauscht«,  muss  das  Leuchten  am  Himmel  gesehen  und  als 
Blitzen  erkannt,  muss  eine  Gehörempfindung  gehabt   und    sie 


80  1»  2.     Das  einfache  Urtheil. 

als  Rauschen  benannt  haben ;  er  sagt  aber  auch  direct  nicht 
mehr,  als  dass  das  Gesehene  Blitzen,  das  Gehörte  Rauschen 
sei.  Für  den  Hörenden  allerdings  vollzieht  sich  derselbe  Pro- 
cess,  der  bei  einem  Existentialurtheil  stattfindet ;  er  erhält  zu- 
erst durch  das  Wort  die  allgemeine  Vorstellung  des  Blitzens, 
durch  die  Flexionsforra  desselben  die  Aufforderung,  sich  das 
Blitzen  als  ein  einzelnes,  gegenwärtiges  vorzustellen ;  er  muss 
sich  zu  dem  allgemeinen  Wort  die  entsprechende  einzelne  Er- 
scheinung hinzudenken;  insofern  ist  die  von  dem  fertigen 
Satze  ausgehende,  grammatisch  erklärende  Betrachtung  berech- 
tigt, diese  Seite  hervorzuheben,  wonach  das  Urtheil  die  Wirk- 
lichkeit des  Blitzens  behaupte.  Die  Behauptung  der  Existenz 
tritt  auch  für  den  Sprechenden  in  den  von  der  ursprünglichen 
Form  abgeleiteten  Sätzen  in  den  Vordergrund,  in  welchen  aus 
der  Erinnerung  oder  fremder  Mittheilung  berichtet  wird,  ebenso 
im  Futurum  und  in  allgemeinen  Sätzen  —  in  den  Alpen  regnet 
es  häufig  meint:  findet  Regnen  häufig  statt;  die üoppelseitigkeit 
der  ursprünglichen  Form  ermöglicht  diese  Verwendung. 

§.  12. 

Die  Urtheile,  welche  eine  Relation  von  einem  bestimm- 
ten einzelnen  Ding  aussagen,  enthalten  eine  mehrfache 
Synthese.  An  die  Stelle  der  Einheit  von  Ding  und  Eigen- 
schaft oder  Thätigkeit,  welche  den  §  10  betrachteten  Urthei- 
len  zu  Grunde  liegt,  tritt  diejenige  Verknüpfung,  welche  durch 
die  Relationsvorstellung  selbst  hergestellt  wird.  Jede 
Relationsvorstellung  setzt  mindestens  zwei  als  selbstständig 
gedachte  Beziehungspunkte  voraus,  und  fasst  sie,  während  sie 
jedem  für  sich  äusserlich  bleibt,  durch  einen  Act  des  beziehen- 
den Denkens  zusammen.  In  dem  Urtheil,  das  eine  bestimmte 
Relation  von  gegebenen  Dingen  aussagt,  wird  also  theils  die 
gegebene  Relation  durch  eine  allgemeine  Relationsvorstellung 
benannt,  und  zugleich  die  von  dieser  geforderten  Beziehungs- 
punkte mit  bestimmten  Objecten  Eins  gesetzt. 

Die  Existentialurt heile  fallen  ihrem  logischen  Cha- 


67  §  12.     Eelationsurtheile.  81 

rakter  nach  unter  den  Gesichtspunkt  der  Eelationsurtheile; 
sie  drücken  in  erster  Linie  die  Beziehung  aus,  in  der  ein  vor- 
gestelltes Olj^ect  zu  mir  als  zugleich  vorstellendem  und  an- 
schauendem Subject  steht,  greifen  aber  durch  den  Sinn  ihres 
Prädicats  über  die  blosse  Beziehung  hinaus. 

1 .  Die  Urtheile,  welche  Relationen  aussagen  (A  ist  gleich 
B,  verschieden  von  B ,  grösser  als  B ,  rechts  von  B ,  links 
von  B,  früher,  später  als  B  u.  s.  f.)  enthalten  eine  Synthese 
anderer  Art,  als  die  Aussagen,  welche  Eigenschaften  oder  Thätig- 
keiten  einem  Subjecte  beilegen.  Denn  ihre  Prädicate  bleiben 
der  Subjectsvorstellung  äusserlich,  und  können  in  keine  innere 
Einheit  mit  derselben  gesetzt  werden.  Keines  derselben  kommt 
ja  dem  Subjecte  zu,  wie  es  für  sich  als  dieses  einzelne,  be- 
stimmte gedacht  wird;  an  der  Vorstellung  des  Subjects  selbst 
wird  nichts  geändert,  ob  sie  dem  Subjecte  zu  oder  abgesprochen 
werden ;  ob  die  Sonne  zu  meiner  Rechten  oder  Linken  steht,  ob 
sie  sichtbar  oder  unsichtbar  ist,  es  ist  genau  dieselbe  Sonne, 
die  ich  meine;  an  der  Vorstellung  der  Sonne  selbst  wird  durch 
die  verschiedenen  Prädicate  gar  nichts  geändert,  wie  wenn  ich 
sage:  die  Sonne  ist  blass,  die  Sonne  ist  blutroth,  die  Sonne 
bewegt  sich ,  die  Sonne  steht  still.  Während  die  bisher  be- 
trachteten Prädicate,  mögen  sie  Prädicate  von  Benennungs- 
urtheilen  oder  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  sein,  zum  Be- 
stände der  Subjectsvorstellung  gehören,  muss  ich,  um  ein  Re- 
lationsprädicat  auszusagen,  über  die  Vorstellung  des  Subjects 
hinausgehen,  dasselbe  zu  anderem  erst  in  Beziehung  setzen 
und  mir  der  bestimmten  Art  dieser  Beziehung  bewusst  werden. 

Denn  das  Eigenthümliche  der  Relations Vorstellungen  be- 
steht eben  darin,  dass  sie  mindestens  zweiObjecte  voraus- 
setzen, die  zunächst  getrennt  von  einander  und  selbstständig 
gegeneinander  gedacht  werden,  und  deren  Vorstellung  fertig  ge- 
gegeben sein  muss,  ehe  eine  Relation  von  ihnen  ausgesagt 
wird.  Die  Einheit,  welche  die  Elemente  der  Relationsurtheile 
zusammenbindet,  ist  also  von  ganz  anderer  Art,  als  die  Ein- 
heit der  Bestandtheile  eines  einzelnen,  für  sich  denkbaren  Ob- 
jects ;  sie  ist  nur  in  der  Relations  Vorstellung  selbst  enthalten ; 

Öigwart,   Logik,  i.    2.  Auflage.  V 


82  I,  2.    Das  einfache  Urtheil.  67 

in  dieser  also  liegt   der  Grund  der  eigenthümlichen  Synthese, 
welche  uns  hier  entgegentritt. 

Aus  diesem  Verhältniss  der  Relationsvorstellungen  zu  den 
von  ihnen  vorausgesetzten  Beziehungspunkten  geht  femer  her- 
vor, dass  jede  Relation  zwischen  zwei  Objecten  A  und  B  in 
doppelter  Weise  aufgefasst  und  ausgedrückt  werden  kann,  je 
nachdem  man  von  A  zu  B,  oder  von  B  zu  A  geht.  Die  Be- 
ziehung ist  immer  eine  gegenseitige;  die  Relationen  un- 
terscheiden sich  aber  darin ,  dass  sie  entweder  in  der  einen 
wie  in  der  andern  Richtung  gleich,  oder  dass  sie  entge- 
gengesetzt sind  —  A  neben  B,  B  neben  A,  A  gleich  B, 
B  gleich  A ;  oder  A  auf  B ,  B  unter  A ,  A  grösser  als  B, 
B  kleiner  als  A.  Es  hängt  von  dem  Gange  unseres  die  Re- 
lation knüpfenden  Denkens  ab ,  in  welcher  Weise  eine  ge- 
gebene Beziehung  aufgefasst  und  ausgedrückt  wird;  jedes  Re- 
lation surth  eil  schliesst  also  vermöge  seiner  Natur  ein  zweites 
gleichwerthiges  ein,  jeder  Relationsbegriff  hat  seinen  Correlat- 
begriff. 

2.  Gehen  wir  dem  psychologischen  Grunde  der  durch  die 
Relationen  hergestellten  Synthese  nach,  so  ist  er  bei  den  un- 
mittelbar anschaulichen  räumlichen  Beziehungen  am  leich- 
testen klar  zu  machen.  Es  liegt  in  der  Natur  unserer  Vor- 
stellung räumlicher  Dinge,  dass  sie  uns  immer  nur  zusammen 
mit  ihrer  Umgebung  wahrnehmbar  werden,  aus  der  wir  sie 
als  einzelne  aussondern  müssen;  in  der  Anschauung  selbst, 
vor  aller  bewussten  Reflexion  verknüpfen  wir  die  einzelnen 
Theile  des  uns  umgebenden  Wahrnehmbaren  zu  einem  Raum- 
bild, und  so  erscheint  uns  alles  Einzelne  in  einem  grösseren 
räumlichen  Ganzen  befasst.  Wir  vermögen  den  einzelnen 
Gegenstand,  diesen  Baum,  dieses  Haus,  für  unsere  Aufmerk- 
samkeit zu  isolieren;  die  Beweglichkeit  einer  grossen  Anzahl 
einzelner  Dinge  begünstigt  diese  Isolierung ,  welche  sie  uns 
losgelöst  von  jeder  bestimmten  Umgebung  vorstellen  lässt; 
aber  wo  wir  sie  auch  wahrnehmen  mögen,  immer  stehen  sie 
zwischen  anderen  in  demselben  conti nuirlichen  Räume.  So- 
bald wir  über  die  Anschauung  des  einzelnen  Dings  hinaus- 
gehen, sind  andere  schon  in  bestimmter  Lage  da;  und  indem 
wir  die  Richtungen  dieses  Hinausgehens  und  Zusammenfassens, 


67  §  12.     Relationsurtheile.  83 

die  ursprünglich  alle  auf  unsern  eigenen  Standpunkt  bezogen 
sind,  von  einander  unterscheiden  und  uns  zum  Bewusstsein 
bringen,  —  rechts  und  links,  vor  und  hinter,  über  und  unter 
—  haben  wir  das  complexe  Bild,  das  sich  uns  darstellt,  ana- 
lysiert und  durch  allgemeine  Relationsbegriffe  ausgedrückt, 
welche  die  bestimmte  Art  der  Einheit  darstellen,  in  der  das 
räumliche  Ganze  seine  Bestandtheile  enthält. 

Sage  ich :  das  Haus  ist  an  der  Strasse ,  so  ist  der  Aus- 
gangspunkt meines  Urtheils  ein  Gesammtbild  des  Hauses  mit 
seiner  Umgebung;  ich  achte  zuerst  auf  das  Gebäude  und  be- 
nenne es  als  Haus;  ich  gehe  mit  dem  Blicke  weiter  und  achte 
auf  seine  Nachbarschaft,  ich  benenne  was  ich  hier  sehe,  als 
Strasse;  und  das  Verhältniss,  in  dem  die  beiden  Bestandtheile 
meines  Bildes  stehen,  ist  das  des  unmittelbaren  Aneinander- 
grenzens,  ich  bezeichne  es  durch  die  Präposition  »an«,  in  der 
diese  Art  von  räumlichem  Zusammensein  benannt  ist.  Ebenso 
setzen:  der  Storch  ist  im  Neste,  der  Himd  ist  unter  dem 
Tisch ,  dieselbe  Analyse  eines  gegebenen  Gesammtbildes  in 
seine  Bestandtheile  und  die  Art  ihres  räumlichen  Zusammen- 
seins voraus;  dasjenige,  was  die  Vereinigung  zu  einem  Ganzen 
ausdrückt,  was  den  Hörer  auffordert,  die  ihm  gebotenen  Be- 
standtheile in  bestimmter  Weise  zu  vereinigen,  ist  die  Präpo- 
sition, welche  die  Relations Vorstellung  enthält  und  auf  das 
Gegebene  anwendet.  Wir  haben  also,  damit  das  Urtheil  aus- 
gesprochen werden  könne,  eine  dreifache  Benennung  der  ein- 
zelnen Bestandtheile;  und  ausserdem  die  Einheit,  welche  der 
in  dem  Relationswort  ausgesprochene  Gedanke  enthält.  Eine 
dieser  Benennungen  ist  dem  Urtheil  vorangegangen,  und  er- 
scheint in  der  Bezeichnung  des  Subjects ;  die  andern  Synthesen 
werden  durch  das  Urtheil  selbst  ausgedrückt. 

3.  Diese  verschiedenen  Synthesen  können  sich  nun  in 
manigfaltiger  Weise  verflechten  und  in  verschiedener  Ord- 
nung vollzogen  werden;  hauptsächlich  darum,  weil  sich  mit 
jedem  Object  nach  den  (Gewohnheiten  unseres  Vorstellens  der 
Gedanke  der  möglichen  Relationen  in  denen  es  stehen  kann 
verknüpft.  Sind  mir  zwei  Gegenstände  A  und  B  nebeneinan- 
der gegeben,  so  kann  ich  zunächst  A  ins  Auge  fassen  ;  jeder 
Gegenstand  aber  steht  in  räumlicher  Nachbarschaft  zu  andern, 


84  I»   2.    Das  einfache  Urtheil.  68 

die  Vorstellung  von  etwas  was  neben  ihm  ist,  stellt  sich  ein, 
und  ich  bestimme  nun  diesen  zweiten  Beziehungspunkt;  um- 
gekehrt kann  ich  von  B  ausgehen,  mit  diesem  zunächst  die 
Relation  verknüpfen,  und  dann  dem  zweiten  Punkt  A  als  Sub- 
ject  diese  Relation  beilegen ;  endlich  kann  ich  beide  zusammen 
ins  Auge  fassen  und  ihr  Verhältniss  bestimmen.  A  neben  B, 
neben  B  A,  A  und  B  nebeneinander,  drücken  diesen  verschie- 
denen Gang  aus. 

Am  deutlichsten  zeigt  sich  dies  in  den  räumlichen  Re- 
lationen, die  von  mir  als  Beziehungspunkt  ausgehen.  Ein 
Urtheil  wie  »Socrates  ist  hier«  geht  von  einer  Anschauung 
aus,  die  mich  und  Socrates  in  demselben  Räume  begreift. 
Nun  ist  mit  jeder  anschaulichen  Vorstellung  eines  Raumes 
mein  eigener  Ort  und  ein  denselben  umgebender  Raum  ge- 
setzt; diese  mich  stets  begleitende,  durch  »hier«  ausgedrückte 
Vorstellung  tritt  also  zu  der  jetzt  gegebenen  Anschauung, 
und  wird  mit  ihr  Eins.  Der  mich  umgebende  Raum  aber 
fordert  etwas  was  darin  ist ;  er  ist  die  allgemeine  Möglichkeit 
eines  Zweiten,  und  dieses  Zweite  ist  jetzt  Socrates;  Socrates 
füllt  die  leere  Stelle  des  »hier«  aus.  Darum  ist  die  natürliche 
Form  der  Beschreibung  solcher  Verhältnisse,  in  denen  mein 
eigener  Ort  als  Beziehungspunkt  zunächst  im  Bewusstsein  ist, 
die  Vora  nstellung  der  Ortsbezeichnung.  (Rechts 
ist  A,  links  B,  vorn  C,  hinten  D.) 

Umgekehrt  kann  übrigens  auch  zunächst  eines  der  Ob- 
jecte  ins  Auge  gefasst  werden  —  es  wird  als  Socrates  er- 
kannt. Aber  mit  dieser  Vorstellung  kann  sich  sofort  wie  mit 
der  jedes  räumlichen  Dings  die  einer  Umgebung,  der  Nach- 
barschaft anderer  Dinge  verknüpfen  ;  Socrates  ist  irgendwo  — 
und  diese  unbestimmte  Beziehung  wird  jetzt  mit  der  bestimm- 
ten in  Eins  gesetzt,  der  ihn  umgebende  Raum  mit  meinem 
Raum,  mit  »hier«.  Auch  in  diesem  Falle  also  ist  ein  Urtheil, 
wie  »Socrates  ist  hier«,  insofern  auf  doppeltem  Wege  möglich, 
als  es  einerseits  als  Antwort  auf  die  Frage:  »Wer  ist  hier«, 
andrerseits  auf  die  Frage:  »Wo  ist  Socrates«  gelten  kann. 

Eine  Menge  von  Prädicaten  ,  die  zunächst  Zustände  und 
Bewegungen  ausdrücken,  bieten  Anknüpfungspuncte  für  Re- 
lationsbestimmungen, welche  sie  genauer   determinieren.     Der 


69  §  12.    Relationsurtheile.    Gleichungen.  85 

Hund  steht,  sitzt,  liegt,  bezeichnet  zunächst  verschiedene  Hal- 
tungen seines  Körpers,  die  nur  auf  ihn  selbst  bezogen  werden ; 
aber  die  Verba  selbst  deuten  hinaus  auf  die  Unterlagen  oder 
den  bestimmten  Ort,  und  die  Relationsvorstellung  verknüpft 
sich  als  nähere  Bestimmung  mit  dem  Prädicat.  Andere  Verba 
wie  folgen,  fallen,  haben  in  ihrer  Bedeutung  schon  die  Re- 
lation zu  einem  andern ;  in  solchen  Aussagen  verknüpft  sich 
also  mit  der  Relation  noch  die  Synthese  von  Ding  und  Zu- 
stand oder  Thätigkeit. 

Was  von  den  räumlichen  Relationen  gilt,  lässt  sich  ebenso 
auf  die  zeitlichen  anwenden.  Auch  hier  liegt  es  in  der  Na- 
tur unserer  Auffassung,  dass  uns  jedes  einzelne  Object  in  zeit- 
lichem Zusammen  mit  andern  erscheint,  und  als  Glied  einer 
zeitlichen  Reihe,  der  andere  zeitliche  Reihen  parallel  gehen. 

4.  Weniger  anschaulich  sind  die  Relations Vorstellungen 
die  durch  gleich,  verschieden,  ähnlich  u.  s.  w.  bezeichnet  wer- 
den. Denn  die  Beziehung  ist  hier  nicht  mit  der  Anschauung 
selbst  schon  gegeben,  sondern  erst  durch  unser  vergleichendes 
Denken  gesetzt,  das  beliebig  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen hinausgehen  kann,  um  eines  gegen  das  andere  zu  hal- 
ten. Zwei  gleiche  oder  verschiedene  Dinge  bilden  nicht  schon 
unabhängig  von  meiner  Reflexion  ein  einheitliches  Ganzes,  das 
sich  in  seine  Bestandtheile  auflösen  liesse;  die  Einheit,  in 
welche  sie  das  Relationsurtheil  setzt,  entspringt  dem  Bewusst- 
sein  von  Denkthätigkeiten ,  welche  sich  auf  den  Inhalt  des 
Vorgestellten  selbst  beziehen.  Die  unmittelbare  Evidenz,  mit 
welcher  in  den  einfachsten  Fällen  Gleichheit,  Verschiedenheit, 
Aehnlichkeit  von  uns  aufgefasst  und  erkannt  werden ,  lässt 
leicht  diese  Bestimmungen  wie  etwas  sinnlich  Gegebenes  er- 
scheinen und  die  eigenthümlichen  Functionen  übersehen,  durch 
die  sie  uns  zum  Bewusstsein  kommen,  und  die  immer  eine 
Mehrheit  gegebener  Objecte,  die  nach  ihrer  Beschaffenheit 
verglichen  werden,  schon  voraussetzen.  Denn  auch  hier  sind 
die  Relationsvorstellungen  für  sich  genommen  vollkommen 
leer;  zu  sagen  A  ist  gleich,  A  ist  verschieden,  wäre  sinnlos; 
nur  zusammen  mit  einem  bestimmten  Beziehungspunkt  Icönnen 
gleich  und  verschieden  wirkliche  Prädicate  werden. 

Darum  können   auch    die  mathematischen    Gleich- 


80  I,  2.    Das  einfache  ürtheil.  69.    70 

ungen  nicht  ursprünglich,  nach  der  Formel  »A  und  B  sind 
gleich«,  als  ürtheile  aufgefasst  werden,  welche  über  zwei  Sub- 
jecte  dasselbe  Prädicat  aussagen,  wie  »A  und  B  sind  10  Puss 
lang« ;  denn  sie  können  nicht  in  zwei  Urtheile  zerlegt  werden 
A  ist  gleich  und  B  ist  gleich.  Geht  man  von  beiden  8ub- 
jecten  aus,  so  ist  der  vollständige  Ausdruck:  A  und  B  sind 
einander  gleich;  und  darin  liegen  die  zwei  ürtheile  A  ist 
gleich  ß,  B  ist  gleich  A ;  die  eigentlichen  Prädicate  sind  also 
gleich  B,  gleich  A. 

Wiederum  liegt  es  in  der  Natur  eines  mathematischen 
Objects,  dass  die  Frage,  was  ihm  gleich  ist,  sich  von  selbst 
daran  heftet,  und  es  über  sich  hinaus  seine  Beziehung  streckt, 
um  durch  sie  ein  zweites  zu  erreichen;  ebenso  drängen  sich 
die  Vergleichungen  mit  dem  Grösseren  und  Kleineren  überall 
auf;  je  nachdem  die  eine  oder  die  andere  Grösse  zuerst  ins  Auge 
gefasst  wird,  entsteht  dann  A  >   B  oder  B    C   A. 

5.  Schwierig  sind  wegen  der  engen  Beziehung  zwischen 
»Thun«  und  »Wirken«  die  causalen  Relationen  zu  ana- 
lysieren, die  sich  in  Sätzen  mit  transitiven  Verben  und  ihrem 
Objecte  ausdrücken.  Gehen  wir  wieder  von  einer  bestimmten 
Anschauung  aus,  die  das  ürtheil  erzählen  soll,  z.  B.  eines 
Stiers  der  einen  Baum  stösst;  so  ist,  was  mit  der  Vorstellung 
des  Subjects  unmittelbar  in  irgend  einem  Momente  gegeben 
ist,  sein  Thun,  das  als  bestimmte  Form  der  Bewegung  für 
sich  vorgestellt  werden  kann;  Stossen,  Schlagen,  Schleudern, 
Greifen  u.  s.  w.  enthalten  die  Vorstellung  bestimmter  Bewe- 
gungsformen, die  ganz  abgesehen  von  einem  bestimmten  Ob- 
jecte gedacht  und  so  rein  auf  das  Subject  als  dessen  Thun 
bezogen  werden  können.  Aber  das  ürtheil:  der  Stier  stösst, 
erschöpft  das  Bild  noch  nicht  vollständig,  in  welchem  der 
Stier  nicht  ohne  den  Baum  ist ;  was  geschieht,  muss  irgend- 
wie als  Relation  zwischen  beiden  ausgedrückt  werden.  Dies 
kann  von  einer  Seite  so  geschehen ,  dass  nur  die  allgemeine 
Form  der  Bewegung  durch  ihre  Richtung  determiniert  wird, 
in  ähnlichem  Sinn,  in  welchem  es  durch  Adverbien  der  Rich- 
tung geschehen  könnte  (der  Stier  stÖsst  gegen  den  Baum  — 
locale  Bedeutung  der  Casus  und  Präpositionen).  Soweit  ent- 
hält also  das  ürtheil  keine  andere  Relation  als  diejenige,  welche 


71  §  12.     Relationsurtheile.    Passiva.  87 

durch  die  räumliche  Natur  der  Bewegung,  in  der  das  Thun 
besteht,  gefordert  wird,  wenn  sie  als  eine  im  einzelnen  Fall 
bestimmte  ausgedrückt  werden  soll;  die  Angabe  eines  be- 
stimmten Gregenstands  dient  nur  zur  näheren  Bestimmung  der 
Prädicatsvorstellung ,  diese  selbst  ist  darum  noch  kein  reines 
Relation sprädicat,  sondern  enthält  nur  ein  durch  eine  Rela- 
tionsvorstellung ergänztes  Thun. 

Wird  aber  auf  den  Erfolg  gesehen,  welchen  das  Object 
durch  die  Thätigkeit  des  Subjects  erfährt,  die  Erschütterung 
und  Quetschung  des  Baumes,  so  tritt  insofern  die  causale 
Relation  ein ;  dieser  Erfolg  gehört  nicht  mehr  zum  Thun 
des  Subjects  für  sich,  sondern  zu  dem  was  am  Object  vor- 
geht, das  bewirkte  als  solches  ist  ausserhalb  des  bewirkenden. 
Jetzt  wird  in  der  allgemeinen  Vorstellung ,  welche  »Stossen« 
bezeichnet,  nicht  mehr  bloss  die  Form  der  Bewegung  gedacht, 
welche  ein  Subject  verlangt,  sondern  eine  Bewegung  die  einen 
erschütternden  oder  zermalmenden  Erfolg  an  einem  andern  hat. 
Indem  der  Vorgang  mit  der  Vorstellung  des  Stossens  in 
diesem  Sinne  übereinstimmend  gesetzt  wird,  wird  auch  ge- 
fordert, dass  die  Vorstellung  sich  durch  Beziehung  auf  ein 
bestimmtes  Object  näher  bestimme,  und  damit  haben  wir 
die  beiden  ersten  Synthesen;  die  Beziehung  auf  das  Subject 
ist  die  dritte. 

Handelt  es  sich  um  Verba  die  ihrer  Natur  nach  eine 
Wirkung,  ein  Hervorbringen,  Vernichten,  Zerstören  u.  s.  w. 
bedeuten,  so  ist  in  der  Wortbedeutung  selbst  die  causale  Re- 
lation gesetzt,  sie  ist  das  Allgemeine  zu  den  bestimmten  Wirk- 
ungen auf  einzelne  verschiedene  Objecte,  und  fordert  ein  Etwas 
das  hervorgebracht  oder  zerstört  wird.  Bewirken  und  Etwas 
bewirken  ist  gleichbedeutend;  bestimmter  oder  unbestimmter 
ist  mit  dem  Verb  selbst  die  Vorstellung  eines  Objects  ver- 
bunden, das  durch  die  im  Verb  ausgedrückte  Thätigkeit  affi- 
ciert  wird  und  mit  welchem  von  einer  Seite  das  bestimmte 
Object  in  Eins  gesetzt  wird;  in  der  Wortbedeutung  liegt  ferner 
die  Vorstellung  des  zweiten  Beziehungspunktes,  des  Ausgangs 
der  Wirkung,  und  mit  diesem  wird  das  Subject  identisch  ge- 
setzt. Ich  esse,  ich  esse  etwas,  ich  esse  Speise  sind  vollkom- 
men gleichbedeutend;   mit  der   Bedeutung   des  Verbums  sind 


§8  I,  2.    Das  einfache  ürtheil. 


seine  zwei  Beziehungspunkte  gegeben,  sie  mögen  genannt  sei 
oder  nicht.  Das  Eigenthümliche  ist  nur  umgekehrt,  dass  jetzt 
in  der  Vorstellung  des  Wirkens  die  des  Thuns  eingeschlossen, 
und  mit  den  Synthesen,  welche  die  Relation  herbeiführt,  auch 
die  Synthese  in  der  Kategorie  der  Action  als  eine  mitgedachte 
und  begleitende  vollzogen  wird.  Die  möglichen  Reihenfolgen, 
in  denen  diese  Synthesen  vollzogen  werden,  sind  wiederum  an 
den  Fragen  zu  veranschaulichen :  Wer  bewirkt  B  ?  Was  bewirkt 
A?  Was  thut  A? 

0.  Die  Natur  dieses  Relationsverhältnisses  spricht  sich 
in  der  Wechselbeziehung  der  activen  und  passiven 
Formen  aus,  durch  welche  derselbe  Vorgang  ausgedrückt 
werden  kann.  Sage  ich  »der  Stein  wird  geworfen« :  so  ist 
der  Vorgang  am  Stein  nicht  so  ausgedrückt,  wie  er  zunächst 
als  Thun  des  Steins  erscheint  (der  Stein  fliegt) ;  an  die  Stelle 
dieser  nächsten  und  unmittelbaren  Aussage  tritt  die  entferntere 
Relation,  welche  dieses  Thun  als  Wirkung  eines  andern  be- 
zeichnet und  in  deren  Vorstellung  das  Woher  dieser  Wirkung 
unbestimmt  oder  bestimmt  mitgedacht  wird.  Die  Prädicats- 
vorstellnngen,  welche  durch  passive  Verba  bezeichnet  werden, 
können  also  nicht  unter  dieselbe  Form  der  Einssetzung  sub- 
sumiert werden,  welcher  die  Kategorie  der  Action  zu  Grunde 
liegt,  sondern  sind  durchweg  Relationsprädicate ,  obwohl  in 
ihnen  eine  Action,  die  sich  lediglich  auf  das  Subject  bezieht, 
mit  eingeschlossen  ist. 

Unter  unendlich  manigfachen  Formen  und  Verkleidungen 
des  sprachlichen  Ausdrucks  verstecken  sich  allerdings  häufig 
diese  einfachen  unterschiedenen  Grund  Verhältnisse ;  die  Wort- 
formen der  Sprache  congruieren ,  ihrer  geläufigen  Bedeutung 
nach,  durchaus  nicht  immer  mit  den  Unterschieden  der  Vor- 
stellung; »leiden«  selbst  ist  ein  Activum,  bei  dem 
wir  meist  vergessen,  dass  es  als  solches  das  Subject  in  der 
Thätigkeit  des  Ertragens  oder  Schmerzempfindens  darstellt, 
und  das  uns  in  der  Regel,  als  Gegensatz  zum  Wirken,  nur 
die  Relation  zu  einem  andern  Wirkenden  bedeutet. 

7.  Unter  den  Gesichtspunkt  der  Relation,  und  zwar  der 
modalen ,    fällt  auch ,   wiewohl   mit  eigenthümlicher  Stellung, 


bzt    1 


72  §  12.     Relationsurtheile.    Existentialsätze.  89 

das    Prädicat    »Sein«     in    den    sogenannten    Existential- 
sätzen. 

Darüber  kann  zunächst  kein  Zweifel  sein ,  dass  diese 
Sätze  ihrer  äusseren  Form  nach  vollkommen  denselben  Bau 
aufweisen,  wie  alle  andern  Sätze,  deren  Prädicat  ein  beliebiges 
Verbum  ist ;  von  dem  durch  das  Subjectswort  Bezeichneten  und 
bei  dem  Subjectswort  Gedachten  wird  das  Sein  ausgesagt,  es 
wird  zwischen  dem  Subject  und  dem  allgemeinen  Begriffe  des 
Seins  eine  bestimmte  Einheit  hergestellt;  es  wird  also  in 
ihnen  so  gut  eine  Synthese  unterscheidbarer  Gedanken  voll- 
zogen, wie  in  jedem  andern  Urtheil;  wie  auch  die  Frage: 
Existiert  A?  gar  nicht  anders  verstanden  werden  kann,  als 
dass  sie  den  Zweifel  ausdrückt,  ob  von  dem  gedachten  A  die 
wirkliche  Existenz  behauptet,  d^r  Gedanke  der  Existenz  in 
Wahrheit  damit  verbunden  werden  könne*). 


*)  Brentano  (Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte  Bd.  I.  1874 
S.  266  ff.)  bestreitet  die  gewöhnliche  Lehre,  dass  in  jedem  Urtheil 
eine  Verbindung  oder  Trennung  zweier  Elemente  stattfinde.  Das  We- 
sentliche des  Urtheilens  sei  Anerkennung  oder  Verwerfung ,  die  sich 
auf  den  Gegenstand  einer  Vorstellung  richten;  Anerkennung  und  Ver- 
werfung sei  eine  ganz  andere  Beziehung  des  Bewusstseins  zu  einem 
Gegenstand,  als  Vorstellen.  Anerkennen  und  Verwerfen  aber  betreffe 
theils  Verbindungen  von  Vorstellungen ,  theils  einzelne  Gegenstände. 
In  dem  Satze  »A  ist«,  sei  nicht  die  Verbindung  eines  Merkmals  Exi- 
stenz mit  A ,  sondern  A  selbst  sei  der  Gegenstand ,  den  wir  aner- 
kennen. 

Dass  das  ürtheilen  nicht  bloss  in  einem  subjectiven  Verknüpfen 
von  Vorstellungen  besteht,  ist  unzweifelhaft  richtig  und  wird  unten 
§  14  näher  dargelegt  werden;  dass  es  aber  ein  ürtheilen  gebe,  das 
überhaupt  keine  Verknüpfung  von  Vorstellungen  enthält,  dass  neben 
den  zweigliedrigen  ürtheilen  auch  eingliedrige  stehen,  und  dass  diese 
eingliedrigen  ürtheile  eben  die  Existentialurtheile  seien,  kann  ich  nicht 
zugeben.  Denn  stelle  ich  einen  »Gegenstand«  A  vor ,  so  ist  er  für 
mein  Bewusstsein  zunächst  als  vorgestellter,  gedacliter  vorhanden;  er 
steht  zunächst  in  dieser  Beziehung  zu  mir,  Object  meines  Vorstellen» 
zu  sein.  Insofern  kann  ich  ihn  nicht  verwerfen,  da  ich  ihn  wirklich 
vorstelle  ;  und  wollte  ich  ihn  anerkennen,  so  könnte  ich  eben  nur  an- 
erkennen, dass  ich  ihn  wirklich  vorstelle;  aber  diese  .Anerkennung' 
wäre  nicht  die  Behauptung,  dass  er  existiert;  denn  es  handelt  sich  ja 
eben  darum,  ob  er  ausserdem,  dass  ich  ilin  vorstelle,  noch  die  weitere 
Bedeutung  hat,    dass  er  einen  Theil  der  mich  umgebenden  wirklichen 


90»  1,  2.    Das  einfache  Urtheil.  73 

Auch  der  Sinn  des  Prädicats  kann,  wenn  wir  von  seiner 
populären  Bedeutung  ausgehen,  wie  sie  vor  aller  kritischen 
philosophischen  Reflexion  vorhanden  ist,  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, wenn  auch  der  Begriff  des  Seins  nicht  definiert  und 
aus  andern  Begriffen  abgeleitet  werden,  sondern  nur  durch 
seinen  Gegensatz  hervorgehoben  werden  kann.  Das  »Sein« 
steht  dem  bloss  Vorgestellten,  Gedachten,  Eingebildeten  gegen- 
über; was  »ist«,  das  ist  nicht  bloss  von  meiner  Denkthätig- 
keit  erzeugt,  sondern  unabhängig  von  derselben,  bleibt  das- 
selbe, ob  ich  es  im  Augenblick  vorstelle  oder  nicht,  dem 
kommt  das  Sein  in  demselben  Sinne  zu,  wie  mir  selbst,  es 
steht  mir  dem  Vorstellenden,  als  etwas  von  meinem  Vorstellen 
Unabhängiges  gegenüber,  das  nicht  von  mir  gemacht,  sondern 
in  seinem  unabhängigen  Dasein  nur  anerkannt  wird.  Aber 
obgleich  diese  Unabhängigkeit  des  Seienden  von  mir  zunächst 
gemeint  ist,  liegt  doch,  offener  oder  versteckter,  zugleich  eine 
Beziehung  zu  mir,  dem  das  Seiende  denkenden,  und  realiter 
von  ihm  afficier baren  Subject  eingeschlossen. 

Ebenso  vergeblich,  als  der  Versuch  das  Selbstbewusstsein 
aus  dem  Unbewussten  zu  erklären,  ist  auch  der  Versuch  den 
Gedanken  des   Seins   auf  irgend   eine   Weise   abzuleiten.     Er 


Welt  bildet,  von  mir  wahrgenommen  werden  kann,  Wirkungen  auf 
mich  und  anderes  ausüben  kann.  Diesen  letzteren  Gedanken  muss  ich 
mit  der  blossen  Vorstellung  verknüpfen,  wenn  ich  seine  Existenz  be- 
haupten will.  Beginne  ich  einen  Satz:  der  Thurm  zu  Babel  —  so  sind 
diese  Worte  zunächst  ein  Zeichen,  dass  ich  die  Vorstellung  des  Thurmes 
zu  Babel  habe,  wie  sie  durch  die  Erzählung  der  Grenesis  erweckt  ist, 
und  dem  Hörer  entsteht  eben  diese  innere  Vorstellung ;  diese  Vorstellung 
ist  einfach  da,  und  kann  als  solche  weder  verworfen  werden,  noch  be- 
darf sie  irgend  einer  Anerkennung;  nun  fragt  sich  aber,  welche  Bedeu- 
tung diese  Vorstellung  hat.  Vollende  ich  den  Satz  :  der  Thurm  zu  Babel 
existiert,  so  behaupte  ich,  über  die  blosse  Vorstellung  hinausgehend, 
dass  das  durch  die  Worte  bezeichnete  an  irgend  einem  Orte  wahr- 
nehmbar sei;  sage  ich:  existiert  nicht,  so  habe  ich  nicht  die  Vorstell- 
ung des  Thurmes  zu  Babel  verworfen,  sondern  den  Gedanken,  dass 
diese  Vorstellung  die  eines  sichtbaren  und  greifbaren  Dings  sei.  Was 
ich  also  anerkenne  oder  verwerfe,  ist  der  Gedanke,  dass  die  gegebene 
Vorstellung  die  eines  wirklichen  Dings  sei,  also  eine  Verknüpfung. 
Vergl.  zu  der  ganzen  Frage  meine  Schrift  »die  Impersonalien«  S.  50  ff. 


73  §.  12.    Relationsurtheile.     Existentialsätze.  9^1? 

ist  in  dem  Selbstbewusstsein-  ursprünglich  mit  enthalten ,  er 
wird  mitgedacht ,  so  oft  wir  Ich  sagen ,  ohne  dass  wir  ihn 
ausdrücklich  hervorheben ;  und  ebenso  ursprünglich  haftet  er 
an  den  Objecten  unseres  Anschauens  und  Denkens ;  denn  wir 
finden  in  unserem  Bewusstsein  uns  selbst  niemals  ohne  eine 
uns  umgebende  Welt  von  Objecten,  die  ebenso  sind,  wie  wir 
selbst;  wir  haben  uns  selbst  nur  zusammen  mit  anderem  was 
ist,  und  im  Gegensatz  zu  anderen  Dingen,  die  nicht  wir 
selbst  sind. 

Die  Vorstellung  des  Seins  aus  dieser  ursprünglichen  Ver- 
bindung mit  dem  Bewusstsein  unserer  selbst  und  der  uns  ge- 
genüberstehenden Objecte  loszulösen ,  und  das  Sein  von  uns 
selbst  und  der  Welt  ausser  uns  ausdrücklich  zu  behaupten, 
ist  zunächst  gar  kein  Anlass  vorhanden,  weil  der  Gredanke, 
dass  ich  selbst  nicht  sein  könnte,  oder  die  gesammte  Welt 
ausser  mir  nicht  wäre,  gar  nicht  entsteht ;  zu  versichern  »Ich 
bin«,  was  weder  ich  noch  sonst  Jemand  bezweifelt,  ist  voll- 
kommen überflüssig ;  erst  eine  fortgeschrittene  Reflexion  kann 
dazu  kommen,  sich  der  Wahrheit  des  eigenen  Seins  ausdrück- 
lich bewusst  zu  werden ;  zuerst  ist  in  dem  unmittelbaren  Be- 
wusstsein meiner  selbst  auch  mein  Sein  ungeschieden  mit  ent- 
halten; es  kommt  nur  darauf  an,  in  welchem  Zustande  oder 
welcher  Thätigkeit  ich  mich  finde. 

Was  für  mich  selbst  dieses  unmittelbare  Selbstbewusst- 
sein  leistet,  das  leistet  den  äussern  Dingen  gegenüber  die  un- 
mittelbare sinnliche  Wahrnehmung ;  wenn  wir  reflectierend  uns 
besinnen,  auf  welche  Veranlassung  hin  wir  das  Sein  der  ein- 
zelnen äusseren  Dinge  annehmen,  so  ist  es  die  sinnliche  Em- 
pfindung ;  was  wir  tasten  und  sehen,  das  ist  da,  wir  verbinden 
mit  »Sein«,  wenn  wir  uns  den  Gedanken  näher  verdeutlichen, 
das  Wahrgenommenwerden  und  Wahrgenommen  werdenkönnen, 
die  Fähigkeit  einer  Wirkung  auf  die  Sinnesorgane  eines  em- 
pfindenden Subjects  ;  aber  das  Wahrgenommenwerden  ist  nicht 
das  Sein  selbst,  sondern  nur  Zeichen  und  Folge  desselben; 
denn  mit  dem  Wahrgenommenwerden  fangt  das  Sein  nicht 
erst  an,  noch  hört  es  auf,  wenn  das  Wahrgenommen  werden 
aufhört;  das  Wahrnehmbare  muss  sein,  um  wahrgenommen 
werden  zu  können.     Die  Wahrnebmung   eines  Dings    ist   nur 


92  I»  2.     Das  einfache  ürtheil.  73 

der  directeste  und  imwiderleglichste  Beweis  dafür,  dass  es 
existiert. 

Wo  wir  unsinnlichen  oder  übersinnlichen  Dingen  das  Sein 
beilegen,  wie  es  im  ontologischen  Beweise  für  das  Dasein 
Gottes  oder  im  Begriffe  des  Dings  an  sich  geschieht,  haben 
wir  es  immer  schwer  die  Reste  der  den  Gedanken  des  Seins 
in  der  sinnlichen  Welt  begleitenden  räumlichen  Vorstellungen 
los  zu  werden;  wir  reden  vom  »Dasein«  Gottes;  und  wenn 
wir  uns  diesen  Gedanken  beleben  wollen,  bleibt  uns  nur  die 
Wirkung  auf  eine  wahrnehmbare  Welt,  und  in  ihr  und  durch 
sie  die  Wirkung  auf  uns,  wodurch  das  Unsinnliche  sich  offen- 
bart und  zu  erkennen  gibt;  aber  auch  dieses  Wirken  ist  nicht 
der  Ursprung  des  Gedankens  »Sein«,  sondern  nur  eine  Folge 
desselben,  und  damit  der  Erkenntnissgrund  dafür,  dass  das 
Wirkende  ist. 

Daraus  erhellt  die  eigenthümliche  Schwierigkeit,  die  dieser 
Begriff  des  Seins  mit  sich  führt ;  einerseits  ist,  um  ihn  über- 
haupt aussprechen  zu  können ,  eine  Relation  zu  mir ,  dem 
Denkenden  vorausgesetzt ;  das  Object  ist  von  mir  vorgestellt, 
weil  es  in  irgend  eine  Beziehung  zu  mir  getreten  ist;  dass  es 
sei,  ist  mein  Gedanke ;  aber  durch  diesen  Gedanken  selbst  wird 
die  blosse  Relativität  wieder  aufgehoben,  und  behauptet,  dass 
das  Seiende  auch  sei  abgesehen  von  seiner  Beziehung  zu  mir  und 
einem  andern  denkenden  Wesen,  dass  das  Sein  nicht  in  dieser 
Relation  aufgehe,  als  Gegenstand  meines  Bewusstseins  gedacht 
zu  werden;  die  Herbart'sche  Formel  der  absoluten  Position 
drängt  in  ihrem  Doppelsinn  diese  beiden  Gesichtspunkte  zu- 
sammen, ohne  die  Schwierigkeit  lösen  zu  können;  aber  sie 
hat  das  Verdienst  wenigstens  klar  gemacht  zu  haben,  was 
unser  natürliches  Denken,  unbekümmert  um  die  Schwierig- 
keiten, wirklich  meint,   wenn  es  das  Sein  prädiciert. 

Von  diesem  gewöhnlichen,  noch  nicht  kritisch  angefoch- 
tenen Sinne  haben  wir  auszugehen,  wenn  wir  die  Existen- 
tialurtheile  analysierend  verstehen  wollen ;  und  es  erhebt  sich 
also  die  Frage,  was  denn  gedacht  wird,  wenn  gesagt  wird  A 
existiert,  und  in  welchem  Sinne  die  Einheit  von  Subject  und 
Prädicat  behauptet  wird. 

Um    diese    Frage   zu    lösen,    müssen    wir    uns    erst  klar 


74  §  12.     Belationsurtheile.    Existentialsätze.  93 

machen,  unter  welcher  Voraussetzung  denn  überhaupt  das 
ürtheil  entsteht  »A  existiert«  ,  wo  es  im  gewöhnlichen  Ver- 
lauf unseres  Denkens  als  ürtheil  über  ein  Einzelnes  auftritt. 
Die  Voraussetzung  ist  offenbar,  dass  an  der  Existenz  des  Sub- 
jects  gezweifelt  worden  ist,  oder  gezweifelt  werden  kann ;  und 
dies  ist  nur  möglich,  wenn  das  Subjectswort  zunächst  etwas 
nur  Vorgestelltes,  in  Form  der  Erinnerung  oder  auf 
Grrund  der  Mittheilung  anderer  in  meinem  Bewusstsein  er- 
scheinendes bedeutet.  Von  dem  was  mir  unmittelbar  gegen- 
wärtig ist,  kann  ich  nicht  fragen,  ob  es  existiert ;  mit  der  Art, 
wie  es  von  mir  angeschaut  wird,  ist  auch  die  Gewissheit  seiner 
Existenz  gegeben.  Aber  die  Erfahrung  des  Vergehens  und 
Verschwindens  von  Dingen ,  die  ich  früher  an  bestimmten 
Orten  gesehen,  und  die  Erfahrung  der  Täuschung  durch  andere 
belehrt  mich,  dass  nicht  alles,  was  ich  innerlich  vorstelle,  auch 
in  der  wirklichen  Wahrnehmung  gefunden  wird ;  sie  zwingt 
mich,  zwischen  der  Anschauung  des  Gegenwärtigen  und  der 
blossen  Vorstellung  zu  unterscheiden,  der  keine  gegenwärtige 
Anschauung  entspricht.  Habe  ich  etwas  verloren,  ist  was  ich 
früher  besass  oder  kannte,  nicht  mehr  zu  finden,  so  habe  ich 
zwar  das  Bild  des  Dings  in  der  Erinnerung,  aber  die  gegen- 
wärtige Anschauung  fehlt ;  es  ist  nicht  da,  ist  nicht  vorhan- 
den, ist  nicht  zu  finden.  Was  jetzt  als  Subjectsvorstellung  in 
meinem  Bewusstsein  ist,  ist  nur  das  vorgestellte  Ding,  zu  dem 

Iich  die  entsprechende  Wahrnehmung  suche ;  nur  in  Beziehung 
I   auf  dieses  ist  die  Frage    nach    seiner  Existenz    möglich;    und 
'f    die  Frage  bedeutet,  ob  was  ich  vorstelle  noch  einen  Bestand- 
theil  der  wahrnehmbaren  Welt  bildet. 

Jedes  Existentialurtheil  macht  also  das  Subjectswort  zum 
Zeichen  von  etwas,  was  bloss  vorgestellt  ist,  eben  dadurch, 
dass  es  den  Gedanken  seiner  Existenz  von  ihm  trennt,  um  sie 
erst  ausdrücklich  ihm  zuzusprechen.  Das  letztere  geschieht, 
sobald  ich  das  Vermisste  gefunden,  d.  h.  die  correspondierende 
Wahrnehmung  gemacht  habe,  oder  durch  irgend  welche  Schlüsse, 
durch  Mittheilung  anderer  u.  dgl.  mich  überzeugt  habe,  dass 
es  noch  irgendwo  wahrnehmbar  ist.  Alle  Existentialurtheile 
im  Gebiete  der  empirischen  Welt  beruhen  also  auf  dem  Unter- 
schiede   der    blossen    inneren    (Erinnerungs-  oder    Phantasie-) 


Ö4  I»  2.     Das  einfache  Urtheil.  74 

Vorstellung  von  der  gegenwärtigen  WahrnehmuAg,  und  was 
sie  behaupten,  ist  die  Identität  des  Wahrgenommenen  mit  dem 
bloss  Vorgestellten,  das  als  Subject  genannt  ist. 

Das  ist  besonders  deutlich  dann ,  wenn  die  Vorstellung 
des  Gegenstands,  dessen  Existenz  in  Frage  kommt,  nur  durch 
Mittheilung  anderer  in  mir  entstanden  ist.  Diese  erzeugen  die 
Vorstellung  eines  Hercules  oder  Theseus,  des  Thurms  zu  Babel 
oder  des  Magnetbergs;  die  Frage  ist,  ob  sie  existiert  haben, 
die  mit  den  Wörtern  verbundenen  Vorstellungen  also  Vor- 
stellungen wirklicher  Wesen  oder  blosse  Phantasiegebilde  sind, 
ob  die  Berichte  auf  Wahrnehmung  oder  Fiction  beruhen. 

Eben  darum  ist  auch  klar,  was  Kant  hauptsächlich  her- 
vorhebt, dass  durch  das  Prädicat  Sein  zum  Inhalt  der 
Vorstellung  als  solcher  schlechterdings  nichts  hinzu- 
kommt ;  ob  ich  sage  A  ist,  oder  A  ist  nicht ,  beidemal  denke 
ich  unter  A  genau  dasselbe;  der  Sinn  der  Aussage  selbst  ver- 
langt, dass  in  der  wirklichen  Welt  nicht  mehr  und  nicht  we- 
niger vorhanden  sei,  als  eben  das  von  mir  gedachte  A.  >Sein« 
bildet  also  keinen  Bestandtheil  der  Subjectsvorstellung ,  kein 
»reales  Prädicat«  wie  Kant  sagt;  es  drückt  nur  das  Verhält- 
niss  des  gedachten  A  zu  meinem  Erkenntnissvermögen  aus. 
Die  Synthese  also ,  welche  das  Existentialurtheil  zunächst  im 
empirischen  Gebiete  enthält,  ist  die  Identität  eines  vorgestellten 
und  eines  angeschauten  Objects ;  seine  Möglichkeit  beruht  da- 
rauf, dass  ich  desselben  Inhalts  in  zweierlei  Form  bewusst 
werden  kann,  in  Form  der  blossen  Vorstellung  und  in  Form 
der  Anschauung ;  mit  dem  angeschauten  Object  ist  der  Ge- 
danke des  Seins  unmittelbar  verbunden. 

Insofern  kehren  die  Existentialurtheile  den  Process  der 
Benennungsurt heile  um.  Bei  diesen  ist  ein  anschauliches,  also 
von  vornherein  als  wirklich  gedachtes  Object  gegeben;  zu 
ihm  tritt  eine  von  früher  bekannte  Vorstellung,  und  die  Ueber- 
einstimmung  beider  wird  in  dem  Benennungsurtheile  ausge- 
sprochen. Beim  Existentialurtheil  geht  die  blosse  Vorstellung 
voran;  von  ihr  wird  gesagt,  dass  sie  mit  einem  anschaubaren 
einzelnen  Object  übereinstimme. 

Indem  aber  zunächst  dieses  Verhältniss  ausgedrückt  wird, 
die  Uebereinstimmung  des  vorgestellten  Dings  mit  einer  mÖg- 


74  §.    12.    Relationsurtheile.     Existentialsätze.  ^5 

liehen  Wahrnehmung,  greift  doch  der  Sinn  des  Prädicats 
»Existieren«  weiter;  was  existiert,  steht  nicht  bloss  in  dieser 
Beziehung  zu  mir,  sondern  zu  allem  andern  Seienden,  nimmt 
zwischen  anderen  Objecten  seinen  Raum  ein,  existiert  zu  be- 
stimmter Zeit  nach  und  vor  andern  Dingen,  steht  in  Causal- 
verhältnissen  zu  der  übrigen  Welt ;  darauf  hin  kann  auch  von 
dem  Wahrnehmbaren  eine  bloss  erschlossene  Existenz  be- 
hauptet werden.  (Wenn  Herbart  in  dem  Begriffe  des  Seins 
die  völlige  Unbedingtheit  und  Beziehungslosigkeit  findet,  so 
hat  Lotze  gegen  ihn  mit  Recht  hervorgehoben ,  dass  wir  in 
dem  Begriff  des  Seins  gerade  ein  in  Beziehung  stehen  mit- 
denken). 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ist  jedem  einzelnen  Exi- 
stentialurtheil  der  mich  immer  begleitende  Gedanke  einer  mich 
umgebenden  wirklichen  Welt  vorausgesetzt,  es  füllt  nur  eine 
Stelle  in  dieser  Gesammtheit  des  Seienden  durch  ein  bestimmtes 
Subject  aus.  Dass  etwas  ausser  mir  sei,  ist  immer  voraus- 
gesetzt; die  Frage  ist  ob  das  von  mir  Gedachte  unter  dem 
Gegebenen  sich  finde,  oder  aber,  ob  ein  Wirkliches  unter  einen 
bestimmten  Begriff  falle. 

Diese  letztere  Richtung  unseres  Denkens  führt  zu  den- 
jenigen Aussagen,  welche  den  Ausdruck  des  Seins  voranstellen 
und  dadurch  den  Impersonalien  verwandt  werden ,  theilweise 
auch  ausser  lieh  die  Form  impersonaler  Sätze  annehmen  — 
eaxi,  there  is,  es  gibt  —  diese  Wendungen  weisen  zuerst  auf 
ein  Existierendes  hin,  das  ist,  da  ist,  von  der  gegebenen  Welt 
dargeboten  wird ,  um  es  nachher  bestimmt  zu  bezeichnen. 
Diese  Form  des  Existentialsatzes  ist  dann  die  natürliche,  wenn 
es  sich  nicht  darum  handelt,  ob  ein  Ding,  das  als  bestimmtes 
einzelnes  gedacht  wird  —  etwa  weil  es  von  früherer  Zeit  her 
mir  bekannt  war  —  vorhanden  ist,  sondern  ob  ein  Ding  exi- 
stiert, das  unter  einen  gegebenen  Begriff  fällt,  nur  als  »ein  A« 
bezeichnet  werden  kann  *). 


*)  Vgl.  meine  Impersonalien  S.  65  ff. 


06  U  2.    Das  einfache  Urtheil.  75 

§  13. 

Diejenigen  ürtheile  über  Einzelnes,  deren  Subjecte 
Abstracta,  deren  Pradicate  adjectivisch  oder 
verbal  sind,  können  nicht  auf  die  Kategorieen  des  Dings 
und  der  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  zurückgeführt  werden. 
Es  liegt  ihnen  vielmehr  als  erste  Synthese  theils  die  Ein- 
heit der  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  mit  ihrer 
Modification,  theils  die  Betrachtungsweise  zu  Grunde, 
welche  einem  Dinge  nur  vermöge  einer  bestimmten 
Eigenschaft,  Thätigkeit  oder  Relation  ein  Prä- 
dicat  beilegt. 

1.  Die  nächstliegende  und  einem  wenig  entwickelten 
Denken  natürliche  Auffassung  wahrgenommener  Vorgänge  ist 
die  Beziehung  derselben  auf  die  concreten  Dinge  und  der  Aus- 
druck alles  dessen  was  ist  und  geschieht  als  Eigenschaft, 
Thätigkeit,  Verhältniss  des  Einzelnen ;  Homer  hat  nur  wenige 
Sätze,  deren  Subjecte  nicht  einzelne  Personen  oder  Dinge  sind. 
Erst  das  Bedürfniss  des  genauer  unterscheidenden  und  in 
weiterem  umfange  vergleichenden  Denkens  kann  veranlassen, 
Eigenschaften,  Thätigkeiten  oder  Verhältnisse  des  Einzelnen 
für  sich  zum  Gegenstande  einer  Aussage  zu  machen ;  und  es 
geschieht  vor  allem  in  zwei  Richtungen,  theils  in  der  Absicht 
einen  Vorgang  oder  eine  Eigenschaft  unterscheidend  genauer 
zu  bestimmen,  oder  eine  causale  Relation  auf  ein  bestimmtes 
Element  eines  Dinges  zu  beziehen. 

2.  In  Urtheilen  wie :  dieses  Roth  ist  lebhaft ,  der  Gang 
dieses  Thiers  ist  hüpfend  u.  s.  w.  ist  das  Eigenschafts-  oder 
Thätigkeitsurtheil  schon  vorausgesetzt,  welches  das  Gegebene 
in  ein  Ding  und  seine  Bestimmungen  zerlegt;  die  Synthesis 
des  Urtheils  besteht  einerseits  in  der  Synthesis  der  Eigenschaft 
oder  Thätigkeit  mit  ihrer  Modification,  andrerseits  der  Benen- 
nung dieser  (vgl.  §  6,  2,  d — f  S.  34  ff.). 

3.  Wenn  eine  Eigenschaft  oder  eine  Thätigkeit  Subject 
einer  causalen  Relation  wird :  so  setzt  dies  voraus ,  dass  die 
allgemeine  Vorstellung  des  Wirkenden,    welche  sich  zunächst 


75  §  13.     Urtheile  über  Abstracta.  97 

an  ein  Ding  knüpft,  das  Ursache  ist,  in  Folge  von  Vergleichung 
näher  dahin  bestimmt  wird,  dass  ein  Ding  nur  wirkt  vermöge 
einer  seiner  Eigenschaften,  oder  wirkt  sofern  es  in  einer  be- 
stimmten Thätigkeit  begriffen  ist.  Wenn  wir  sagen,  dass  die 
Reibung  erhitze  und  das  Gewicht  drückend  sei,  so  ist  das 
eigentliche  Subject,  das  zu  den  Verben  gehört,  der  in  Reibung 
begriffene  Körper,  das  schwere  Ding;  nur  dieses  ist  fähig,  als 
eigentliches  Subject  eines  Wirkens  zu  gelten.  Aber  unser  ver- 
gleichendes Denken  unterscheidet  an  dem  Körper  dasjenige, 
vermöge  dessen  er  die  Wirkung  ausübt,  und  drückt  es  durch 
ein  Abstractum  aus,  weil  auf  diesem  Wege  der  Vorgang  schon 
als  Ausdruck  eines  allgemeinen  Gesetzes  hingestellt  wird. 

4.  In  demselben  Sinne  können  auch  Relationsvorstel- 
lungen —  Entfernung,  Unterschied  u.  s.  w.  —  als  Subjecte 
von  Adjectiven  oder  Verben  auftreten,  die  eine  Wirkung  aus- 
drücken. Wenn  die  Entfernung  zweier  Körper  ihre  Anziehung 
vermindert,  so  ist  durch  den  Wortlaut  der  Veränderung  einer 
räumlichen  Relation  ein  Wirken  zugeschrieben,  wie  einer  sub- 
stantiellen Ursache.  Allein  es  bedarf  keines  Beweises',  dass 
hier  nur,  was  wir  auf  Grund  allgemeiner  Gesetze,  welche  mit 
der  Thatsache  des  Wirkens  auch  die  Bedingungen  seiner  Mo- 
dification  enthalten,  als  nothwendige  Folge  des  veränderten 
Abstands  erkennen,  durch  eine  abgekürzte  Redeweise  als  die 
Wirkung  dieser  Veränderung  selbst  hingestellt  wird.  In  je 
höheren  Abstractionen  sich  unser  Denken  und  Wissen  bewegt, 
desto  incongruenter  werden  ihm  die  ursprünglichen  Bedeu- 
tungen der  Wörter  und  der  Constructionen  ;  ohne  dass  wir  es 
fühlen,  kürzt  vorzugsweise  mit  Hülfe  ihrer  Abstracta  die 
Sprache  ab  und  lässt  unausgesprochen ,  was  sich  nach  den 
Gewohnheiten  unseres  Denkens  von  selbst  versteht ;  sie  schiebt 
den  einfachen  Ausdrucksformen  die  verwickelten  Verhältnisse 
wissenschaftlicher  Gesetze  unter,  die  das  Einzelne  von  einer 
Reihe  von  Bedingungen  abhängig  machen,  und  damit  die 
wirkende  Ursache  selbst  in  den  Hintergrund  stellen  gegen  die 
wechselnden  Umstände  unter  denen  sie  wirkt;  die  ursprüng- 
liche Vorstellung  des  Wirkens  vergeistigt  sich  zu  der  gesetz- 
mässigen  Abhängigkeit  verschiedener  Bewegmigen,  deren  adä- 
quater Ausdruck  nur  die   mathematische   Formel    ist,    welche 

S  i  g  w  a  r  t ,  Logik.    1.    2.  Auflage.  7 


gg  I,  2.     Das  einfache  Urtheil.  77* 

aber  in  Worten  nur  mit  Hülfe  von  Personificationen  und  Me- 
taphern dargestellt  wird,  die  wir  gar  nicht  mehr  als  solche 
empfinden. 

§  14. 

Mit  der  In-Einssetzung  verschiedener  Vorstellungen  ist 
das  Wesen  des  ürtheils  noch  nicht  erschöpft ;  es  liegt  zugleich 
in  jedem  vollendeten  Urtheil  als  solchem  das  Bewusstsein 
der  objectiven  Gültigkeit  dies  er  In-Einssetzung. 

Die  objective  Gültigkeit  aber  beruht  nicht  unmittelbar 
etwa  darauf,  dass  die  subjective  Verknüpfung  den  Verhält- 
nissen des  entsprechenden  Seienden  entspricht ,  sondern  auf 
der  Noth  wen  dig  keit  der  In-Einssetzung. 

Diese  Nothwendigkeit  wurzelt  in  dem  Princip  der 
Uebereinstimmu ng,  welches  zugleich  dieConstanz 
der  Vorstellungen  zur  Voraussetzung  hat ;  diese  logischen 
Principien  vermögen  aber  die  reale  Identität  der  Dinge 
nicht  zu  gewährleisten. 

1.  Alle  die  Definitionen  des  ürtheils,  welche  dasselbe 
auf  die  bloss  subjective  Verknüpfung  von  Vorstel- 
lungen oder  Begriffen  beschränken ,  übersehen  ,  dass 
der  Sinn  einer  Behauptung  niemals  ist,  bloss  dieses  subjective 
Factum  zu  constatieren,  dass  ich  im  Augenblick  diese  Ver- 
knüpfung vollziehe;  vielmehr  macht  das  Urtheil  durch  seine 
Form  Anspruch  darauf ,  dass  diese  Verknüpfung  die  Sache 
betrefi'e,  und  dass  sie  ebendarum  von  jedem  andern  anerkannt 
werde.  Dadurch  scheidet  sich  das  Urtheil  von  den  bloss 
subjectiven  Conibinationen  geistreicher  und  witziger  Ver- 
gleichung ,  welche  die  äussere  Form  des  Satzes  annehmen, 
ohne  im  Sinne  des  Ürtheils  eine  objectiv  gültige  Behauptung 
aufstellen  zu  wollen ;  und  ebenso  von  den  blossen  Vermu- 
thungen,  Meinungen,  Wahrscheinlichkeiten*). 


*)    Von    dieser  Seite    richtif;^    definiert 
Urtheil  ist  das  Bewusstsein  über  die  objective  Gültigkeit  einer  subjec- 
tiven Verbindung  von  Vorstellungen. 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils  u.  das  Princip  d.  Identität.    99 

2.  Die  objective  Gültigkeit  aber  hat  mehrfacben 
Sinn.  Zunächst  ist  eine  wörth'che,  nominale  Gültigkeit  von 
einer  sachlichen,  realen  zu  unterscheiden.  Wenn  ich  be- 
haupte »dies  ist  roth« ,  so  kann  zunächst  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  ob  ich  das  roth  nenne ,  was  alle  Welt  roth 
nennt ;  die  Objectivität,  die  meinem  Urtheile  bestritten  wird, 
bezieht  sich  auf  den  Sprachgebrauch,  der  dem  subjectiven  Be- 
lieben als  eine  objective  Norm  ,  als  ein  allgemeines  Gesetz 
gegenübersteht.  Aller  Wortstreit  dreht  sich  um  die  Frage 
dieser  Gültigkeit ;  er  ist  möglich  theils  dadurch  dass  die 
subjectiven  und  individuellen  Bedeutungen  der  Wörter  ver- 
schieden sind  von  dem  was  allgemein  anerkannt  ist ,  theils 
dadurch  dass  der  allgemeine  Sprachgebrauch  selbst  nicht  fest 
bestimmt  und  die  Grenzen  der  einzelnen  Wörter  schwankend 
sind. 

3.  Ist  aber  die  nominale  Richtigkeit  vorhanden,  die  in 
jedem  Urtheile,  sofern  es  gesprochen  wird  und  verstanden  sein 
will,  implicite  mitbehauptet  wird  *) ;  verbindet  der  Sprechende 

*)  Gegen  die  Ansicht,  dass  in  jedem  Urtheil  die  Richtigkeit  der 
"Wortbezeichnung  impHcite  mitbehauptet  werde,  hat  Marty  (Viertel- 
jahrsschr.  für  wiss.  Phil.  1884  VTIl,  1  S.  85)  bemerkt:  »Der  Glaube, 
dass  alle  Welt  dasjenige  Schnee  nennt ,  was  ich  so  nenne ,  ist  aller- 
dings Voraussetzung  dafür,  dass  ich  in  redlicher  Absicht  den  Satz 
äussere:  dies  ist  Schnee.  Allein  man  kann  nicht  sagen,  dass  dieses 
sprachliche  ürtheil  implicite  mitbehauptet  sei.«  Wenn  ich 
aber  Jemand  sage:  das  ist  carmoisinroth,  und  er  entgegnet  mir:  Nein, 
das  ist  scharlachroth  ,  will  er  damit  sagen ,  dass  ich  mich  über  die 
Farbe  selbst  täusche,  und  eine  andere  Farbe  sehe,  als  die  der  Gegen- 
stand wirklich  hat,  und  nicht  vielmehr,  dass  ich  nur  in  der  Bezeich- 
nung irre,  dass  ich  das  carmoisinroth  nenne,  was  nach  dem  allgemei- 
nen Sprachgebrauch  scharlachroth  heisst?  Also  war  in  dem  ürtheil: 
das  ist  carmoisinroth ,  auch  mitbehauptet ,  dass  ich  die  Farbe  nicht 
bloss  richtig  sehe,  sondern  auch  richtig  bezeichne,  denn  nur  dagegen 
richtete  sich  das  ,Nein'.  Marty  fügt  dann  hinzu,  dass,  während  ich 
den  fraglichen  Satz  ausspreche,  das  sprachliche  Urtheil  (die  Ueberein- 
stimmung  meines  Sprachgebrauchs  mit  dem  allgemeinen)  in  gar  keiner 
Weise  in  meinem  Bewusstsein  gegenwärtig  zu  sein  brauche.  »Genug, 
dass  es  früher  einmal  da  war ,  und  sich  auf  Grund  seiner  zu- 
versichtlichen Annahme  die  Sprechgewohnheit  gebildet  hat, 
die  nun  für  sich  allein  wirksam  sein  kann«.  Also  liegt  nach  Marty 
selbst  in  meinem  ürtheil   eine  zuversichtliche  Annahme   einge- 

7* 


100  h  2.    Das  einfache  Urtheil.  78.  79 

mit  seinen  Wörtern  dieselben  Vorstellungen  die  jeder  damit 
verbindet:  so  handelt  es  sich  jetzt  darum,  dass  die  Verbin- 
dung der  Vorstellungen  als  eine  objectiv  gültige,  der 
ausgesprochene  Satz  als  wahr  behauptet,  und  damit  der  An- 
spruch erhoben  wird,  dass  er  geglaubt  und  von  Jedem  in  Be- 
ziehung auf  denselben  Gegenstand  dasselbe  Urtheil  vollzogen 
werde. 

Den    Sinn    dieser   sachlichen    Gültigkeit    festzustellen    ist 
nicht  so  einfach,  als  es  da  scheinen  möchte,  wo  gesagt  wird, 
es  müsse   zwischen   den    entsprechenden   objectiven  Elementen 
dieselbe   Verbindung   bestehen   wie    zwischen    den   Elementen 
des  Urtheils,  oder  das  Gedachte    müsse  stattfinden.     Denn  es 
ist    das  Eigenthümliche  unseres    im  Urtheil    sich  bewegenden 
Denkens,  dass  seine  Processe  dem  Seienden,  das  sie  treffen 
wollen ,  incongruent   sind.      Bleiben   wir   bei    den  bisher 
betrachteten  Urtheilen    stehen ,    die  einzelnen    Dingen  Eigen- 
schaften und  Thätigkeiten  beilegen  oder  sie  mit  einem  Appel- 
lativum    benennen:    so   ist  zunächst    der    Prädicatsvorstellung 
als  solcher ,    die  ihrer  Natur    nach    allgemein   ist   und  direct 
nichts  Einzelnes,  als  einzeln  seiend  Vorgestelltes  meint,  nichts 
Seiendes    in  demselben  Sinne  congruent  wie   der  Subjectsvor- 
stellung,    und  alle  Wörter   (mit  Ausnahme   der  Eigennamen) 
sind  unmittelbar  Zeichen  von  Vorstellungen  die  wohl  aus  An- 
schauungen des  Seienden  gebildet  sind,    aber   dieses  nicht  als 
Einzelnes  darstellen  wie  es  im  gegebenen  Einzelfalle  existiert. 
Damit   hängt   ein  zweites    zusammen.      Das  Urtheil   setzt  die 
Trennung  von  Subject  und  Prädicat   in  Gedanken  voraus;    es 
vollzieht  sich  in  der  Erkenntniss  der  Einheit  zweier  Vorstel- 
lungselemente,   die   vorher   ein    gesondertes  Dasein   für  unser 
Bewusstsein  hatten.     Im  Seienden,  das  wir  durch  unser  Urtheil 
treffen  wollen,    besteht  diese  Trennung  nicht;   das  Ding  exi- 
stiert   nur    mit   seiner  Eigenschaft,   diese  nur  mit  dem  Ding, 
beide  bilden  eine  ungeschiedene  Einheit;    ebenso  existiert  ein 
Körper  nur  als  ruhend  oder  bewegt,  sein  Zustand  ist  realiter 
nicht  von  ihm  zu  trennen.     Das  Allgemeine  und  Einzelne,  das 

schlössen,  die  mir  nur  nicht  jedesmal  ausdrücklich  zum  Bewusstsein 
kommen  muss.  Was  heisst  denn  das  aber  anders,  als  dass  es  implicite 
mitbehauptet  sei? 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  ürtheils  u.  das  Princip  d.  Identität.  101 

Prädicat  und  das  Subject  finden  also  in  ihrer  vorangehenden 
Trennung  und  dem  Acte  ihrer  Vereinigung  schlechterdings 
kein  Gegenstück  im  Seienden,  und  man  kann  darum  nicht 
sagen,  dass  die  Verknüpfung  der  Elemente  des  ürtheils  einer 
Verknüpfung  analoger  objectiver  Elemente  entspreche.  Nur 
indem  die  subjective  Trennung  von  Subject  und  Prädicat  durch 
den  ürtheilsact  selbst  wieder  aufgehoben  und  dadurch  die  Ein- 
heit beider  gedacht  wird,  kehren  wir  zum  Seienden  zurück, 
das  ungeschieden  Eins  bleibt  und  nie  eine  reale  Trennung 
durchmacht,  die  ein  Gegenbild  der  blossen  Unterscheidung 
wäre;  der  distinctio  rationis  hat  keine  distinctio  realis  ent- 
sprochen. 

Ist  es  also  das  charakteristische  Wesen  des  Urtheilens,  eine 
Function  von  bloss  subjectiver  Form  zu  sein,  so  muss  auch  seine 
objective  Gültigkeit  einen  andern  Sinn  als  den  der  Uebereinstim- 
mung  der  ürtheils  Verbindung  mit  einer  objectiven  Verbindung 
haben,  einen  Sinn,  der  nur  mit  Berücksichtigung  der  eigen- 
thümlichen  Natur  unserer  Prädicatsvorstellungen  verstanden 
werden  kann. 

4.  Bleiben  wir  bei  den  einfachsten,  den  blossen  Benen- 
nungsurth eilen  stehen,  wie  sie,  unvermittelt  durch  Subsumtions- 
schlüsse,  die  unmittelbare  Coincidenz  von  Bildern  aussprechen : 
so  gehört,  die  nominale  Bichtigkeit  vorausgesetzt,  zu  der  Gül- 
tigkeit eines  solchen  ürtheils,  wie  wir  sie  im  gewöhnlichen  Leben 
verstehen  ,  dass  erstens  Anschauung  und  Vorstellung  sich 
decken,  was  ein  rein  inneres  Verhältniss  ist ,  und  dann,  dass 
das  subjective  Anschauungsbild ,  welches  Abbild  eines  objec- 
tiven Dings  sein  will,  diesem  wirklich  entspricht,  d.  h.  dass 
dasselbe  subjective  Bild  vorhanden  ist ,  das  nach  den  allge- 
meinen Gesetzen  unserer  sinnlichen  Anschauung  bei  Jedem 
durch  denselben  Gegenstand  geweckt  Averden  müsste.  Das 
Urtheil :  »dies  ist  Schnee«  ist  objectiv  gültig ,  wenn  das  Ge- 
sehene mit  der  von  allen  durch  »Schnee«  bezeichneten  Vor- 
stellung sich  deckt,  und  wenn  es  von  einem  normalen  Auge 
deutlich  gesehen  wird.  Die  objective  Gültigkeit  reduciert  sich 
also  darauf,  dass  sowohl  der  Process  der  Bildung  der  Anschau- 
ung als  der  ürtheilsact  auf  allgemeingültige  Weise  vollzogen 
sind.     Ein  Streit  kann  sich  nun,  bei  üebereiustimmung  über 


102  I.  2.    Das  einfache  ürtheil.  80.  81 

1 
die  Bedeutung  des  Pradicats  ,  nur  darauf  beziehen ,  ob ,  wer 
das  ürtheil  »dies  ist  Schnee«  ausspricht,  richtig,  d.  h.  so  wie 
alle  andern,  und  ob  er  unter  den  Bedingungen  des  richtigen 
Erkennens  sieht ;  dies  ist  aber  im  Einzelnen  eine  rein  indivi- 
duelle quaestio  facti,  die  nach  keiner  allgemeinen  Regel  ent- 
schieden werden  kann  ;  die  allgemeine  Frage  aber,  woher  wir 
das  Recht  nehmen,  unsere  Vorstellungen  auf  wirkliche  Gegen- 
stände zu  beziehen  und  dem  Wahrgenommenen  ein  von  uns 
unabhängiges  Sein  beizulegen ,  gehört  einem  andern  Gebiete 
als  dem  logischen  an;  die  subjectiven  Functionen,  die  im  Ur- 
theile  thätig  sind ,  bleiben  ganz  dieselben ,  ob  die  dem  ge- 
wöhnlichen Denken  zu  Grunde  liegende  Voraussetzung ,  dass 
wir  ein  Seiendes  erkennen,  in  realistischem  Sinne  bejaht  oder 
in  idealistischem  Sinne  so  umgedeutet  wird,  dass  Sein  nur  ein 
nothwendig  und  von  allen  in  derselben  Weise  Vorgestelltes 
bezeichnet. 

TJeber  die  metaphysische  Gültigkeit,  die  wir  unsern  Vor- 
stellungen beilegen,  hat  unsere  Logik  zunächst  nichts  zu  ent- 
scheiden ;  sie  untersucht  das  Denken  als  subjective  Function, 
und  kann  also  über  die  Bedeutung  des  Anschauungsbildes  nichts 
ausmachen. 

Dass  nun  aber,  wenn  eine  Anschauung  und  eine  Prädicats- 
vorstellung  da  ist,  in  dem  inneren  Acte  des  Eins- 
setzens Verschiedenes  möglich  wäre,  und  der 
Eine  gleiche  Vorstellungen  nicht  gleich  setzte, 
der  Andere  verschiedene  gleich,  das  gilt  uns  un- 
möglich, weil  wir  in  uns  selbst  die  unmittelbare  Gewissheit 
über  die  Nothwendigkeit  unseres  Einssetzens  und  die  Un- 
möglichkeit des  Gegentheils  haben,  also  jeden,  bei  dem  wir  ein 
anderes  Resultat  voraussetzten ,  von  der  Gemeinschaft  des 
Denkens  ausschliessen  müssten.  Mit  andern  Worten  :  das 
ürtheil  ist  uns  darum  objectiv  gültig ,  weil  es  nothwen- 
dig ist  üebe  rein  stimmendes  in  Eins  zu  setzen*). 

*)  Ein  Vertreter  einer  objectiven  Logik  könnte  einwenden ,  das 
ürtheil  »dies  ist  Schnee«  wolle  doch  über  die  Natur  und  Beschaffen- 
heit eines  Dings  etwas  aussagen,  und  bei  seiner  objectiven  Gültigkeit 
komme  es  darauf  an ,  ob  dies  wirklich  Schnee  ist  oder  nicht.  Das 
würde  an  die  Frage   eines    klugen  Kritikers   erinnern :   Woher  wissen 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils     u.  das  Princip  d.  Identität.103 

5.     Man   konnte  versucht  sein,  in  dem  eben  gefundenen 
Grundsatze  dasjenige  wiederzufinden,    was  in  der  überlieferten 


denn  die  Astronomen,  dass  der  Stern,  den  sie  Uranus  nennen,  aucb 
wirklich  der  Uranus  ist?  Vorausgesetzt,  was  die  Bedingung  des 
Gebrauchs  der  Wörter  überhaupt  ist,  dass  in  irgend  einem  Stadium 
unserer  Kenntniss  »Schnee«  nach  allgemeiner  Uebereinstimmung  etwas 
bestimmtes  bezeichne,  und  dass  unsere  Benennungen  in  einem  Gebiete 
sich  bewegen  ,  wo  wir  vor  Verwechslungen  geschützt  sind ,  weil  die 
Unterschiede  des  Gegebenen  nicht  zahlreicher  sind  als  die  der  benannten 
Vorstellungen,  so  mögen  wir  die  Behauptung  dass  dies  wirklich  Schnee 
ist ,  drehen  und  wenden  wie  wir  wollen ,  ihre  objective  Gültigkeit 
kommt  auf  die  obigen  Momente  hinaus.  Legte  ich,  statt  einer  sinnlich 
hinlänglich  charakterisierten  Vorstellung  wie  oben,  einen  strengen  Be- 
griff mit  genau  festgestellten  Merkmalen  zu  Grunde,  dann  hiesse  die 
Behauptung  dies  ist  Schnee:  dies  hat  alle  Merkmale  des  Schnees,  ist 
weiss,  besteht  aus  Krystallen  die  unter  Winkeln  von  60°  aneinander- 
liegen,  wird  bei  0  Grad  zu  Wasser  u.  s.  f.,  aber  ich  käme  doch  nicht  weiter 
mit  der  objectiven  Gültigkeit ,  als  zu  der  Behauptung  1.  dass  ich  im 
Augenblick  richtig  wahrnehme,  meine  Sinne  mich  nicht  täuschen  und 
mir  andere  Eindrücke  geben,  als  derselbe  Gegenstand  sonst  mir  und 
andern  gibt ;  2.  Die  Elemente  dieses  Bildes,  die  ich  unterscheide,  stimmen 
einzeln  vollkommen  zusammen  mit  den  Vorstellungen  von  weiss,  Kry- 
stallen, schmelzen  u.  s.  w ,  die  ich  innerlich  als  festen  Besitz  habe  und 
wie  alle  andern  durch  diese  Wörter  bezeichne,  und  also  stimmt  das 
Gesammtbild  vollkommen  mit  dem  was  ich  unter  dem  Worte  Schnee 
zu  denken  gewohnt  bin;  und  ich  bin  ferner  sicher,  erstlich  dass  ich 
nicht  vergessen  habe  was  weiss  u.  s.  w.  heisst,  und  zweitens  dass  ich 
nicht  ein  angeschautes  Blau  oder  Roth  mit  meiner  Vorstellung  von  Weiss 
identificiere ;  dass  ich  vielmehr  nothwendig  das  Gesehene  und  das 
Vorgesiellte  Eins  setzen  muss.  Eine  andere  objective  Wahrheit  und 
subjective  Gewissheit  dieses  Satzes  gibt  es  nicht  und  kann  es  nicht 
geben,  so  lange  das  Allgemeine  als  solches  nur  in  meinem  Kopfe,  und 
realiter  nur  das  Einzelne  existiert. 

Wollte  man  sagen,  der  Satz  »dies  ist  Schnee«  heisse,  das  Gegen- 
wärtige ist  gleich  oder  ähnlich  anderem  Einzelnem ,  was  ich  früher 
wahrgenommen,  und  diese  reale  Gleichheit  existierender  Dinge  ist  der 
Inhalt  meines  Urtheils :  so  liegt  dies  allerdings  indirect  mit  darin ; 
aber  nur  sofern  diese  einzelnen  Dinge  gleichfalls  als  Schnee  behauptet 
werden;  das  Urtheil  hätte  sich  nur  vervielfältigt. 

Aber,  wird  man  fragen,  ist  denn  aller  Irrthum  in  diesem  Gebiet 
nur  sprachlicher  Fehler  der  Bezeichnung  oder  falsche  Wahrnehmung, 
nicht  auch  falsche  Subsumtion  des  Einzelnen  unter  das  Allgemeine, 
HO  dass  also  doch  in  der  Synthese  beider  Vorstellungen  Ungleiches 
gleich  gesetzt  würde  V     Allerdings  findet  das  statt,  sot'orn  unsere  fest- 


104  I-  2.    Das  einfache  Urtheil.  81 

Logik  das  Princip  der  Identität  genannt  wird.  Denn 
dieses  soll  ja  den  (Jrtheilen ,  welche  einem  Subjecte  ein  Prä- 
dicat  beilegen,  ihre  Gültigkeit  begründen  und  darum  ein  Grund- 
gesetz unseres  Denkens  sein*). 

Leider  ist  aber,  das  Wort  Identität  im  Laufe  der  Zeit 
sehr  vieldeutig  geworden,  und  das  sogenannte  Gesetz  der  Iden- 
tität in  sehr  verschiedenem  Sinne  angewendet  worden. 

Einmal  sollte  es,  nach  der  Formel  A  ist  A ,  behaupten, 
dass  jedes  Denkobject  mit  sich  selbst  identisch  sei ,  eben  als 
dieses  und  als  kein  anderes  gedacht  werden  müsse ; 

dann  sollte  es ,  als  Princip  aller  bejahenden  Urtheile, 
aussprechen,  dass  Subject  und  Prädicat  im  Verhältniss  der 
Identität  stehen  müssen,  damit  das  Urtheil  möglich  oder  gül- 
tig wäre,  (je  nachdem  es  als  Naturgesetz  aufgestellt  wurde, 
nach  welchem  immer  gedacht  wird  ,  oder  als  N  o  r  m  a  1  g  e- 
setz,  nach  welchem  gedacht  werden  soll,  und  dann  als  Kri- 
terium der  gültigen  Urtheile) ; 


1 


gewordenen  und  sicher  unterschiedenen  und  benannten  Vorstellungen 
in  keinem  Stadium  unseres  Urtheilens  ausreichen,  um  der  Manigfaltig- 
keit  des  Einzelnen  zu  genügen.  Tä  (xsv  yo'P  övöiiaxa  usTiepavxat,  xai  x6 
Tcov  Xöywv  TiX-^O-og,  xä  5s  Ttpayiiaxa  xov  dptd-|j,öv  dcTistpd  laxtv.  (Arist.  de 
soph.  el.  1.)  Ein  vollständiges  System  sicher  unterschiedener  und  un- 
zweideutig bezeichneter  Prädicatsvorstellungen  herzustellen,  welche  je- 
den Irrthum  der  Subsumtion  unmöglich  machen,  ist  die  schwere  Auf- 
gabe der  Wissenschaft ;  so  lange  dieses  Ideal  nicht  im  Ganzen  und  von 
jedem  Einzelnen  erreicht  ist,  wird  es  immer  Einzelvorstellungen  geben, 
welche  die  mit  ihnen  übereinstimmende  allgemeine  unter  den  uns  be- 
kannten und  geläufigen  nicht  finden  ,  und  welche ,  da  ein  unmittel- 
bares In-Einssetzen  nicht  möglich  ist,  durch  Schlüsse  ihre  Benenn- 
ung suchen.  Sind  diese  voreilig  und  dehnen  sie  nach  blosser  Analogie 
die  Benennungen  aus,  so  ist  der  Irrthum  da;  aber  er  ist  in  erster 
Linie  ein  nominaler,  indem  er  nach  einer  Seite  der  Begriffsbildung 
vorgreift  wo  sie  nicht  folgt,  und  er  widerlegt  das  obige  Princip  nicht, 
das  nur  unter  der  Voraussetzung  und  für  das  Gebiet  gilt,  wo  das 
Allgemeine  zu  dem  Einzelnen  schon  gebildet  ist.  Nur  für  dieses  Ge- 
biet ist  auch  die  volle  Gewissheit  möglich;  wo  blosse  Schlüsse  der  ge- 
wöhnlichen Art  das  Prädicat  vermitteln ,  kann  wohl  mit  Worten  be- 
hauptet, aber  die  Gewissheit  der  Nothwendigkeit  des  Urtheilsacts  nicht 
erreicht  werden. 

*)  Vergl.  zu  dem  Folgenden  meine  Ausführungen  Viertel jahrsschr. 
für  wiss.  Philos,  IV,  S.  482  ff. 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils  u.  das  Princip  d.  Identität.  105 

endlich  ist  ihm  auch  noch  die  metaphysische  Bedeutung 
beigelegt  worden ,  dass  es  sage :  jedes  Seiende  sei  mit  sich 
schlechthin  identisch,  und  das  Sein  könne  also  nur  dem  schlecht- 
hin mit  sich  Identischen,  also  dem  Unveränderlichen,  keinerlei 
Vielheit  in  sich  enthaltenden  beigelegt  werden. 

Versuchen  wir  zunächst  die  Bedeutung  des  Terminus 
Identität  festzustellen ,  wie  sie  seiner  Etynjologie  gemäss  die 
ursprüngliche  und  ausserhalb  dieses  Capitels  der  Logik  auch 
allgemein  gebräuchliche  ist,  so  sagt  derselbe,  dass  w^as  wir  zu 
verschiedenen  Zeiten ,  oder  unter  verschiedenen  Namen ,  oder 
in  verschiedenen  Zusammenhängen  vorstellen,  doch  nicht  zweier- 
lei, sondern  eines  und  dasselbe  sei,  das  nur  zweimal  vorgestellt 
werde ;  denn  auf  ein  schlechthin  einfaches  ,  einmaliges  Vor- 
stellen lässt  sich  der  Terminus  gar  nicht  anwenden;  er  for- 
dert, wie  jeder  Relationsbegriff,  zwei  Beziehungspunkte ;  auch 
um  etwas  sich  schlechthin  Gleichbleibendes  als  mit  sich  iden- 
tisch zu  erkennen,  muss  ich  mir  bewusst  sein,  dass  ich  es  in 
verschiedenen  Momenten  vorstelle,  und  den  Inhalt  dieses  wie- 
derholten Vorstellens  vergleichen. 

Dass  das  zweimal  Vorgestellte  das  sei  be  sei,  wird  nun  in 
doppeltem  Sinne  gesagt :  theils  im  Sinne  einer  realen,  theils 
im  Sinne  einer  logischen  Identität.  Eine  reale  Identität 
wird  ausgesagt,  wenn  zwei  Vorstellungen,  zwei  Wahrnehm- 
ungen, zwei  Berichte,  zwei  Namen  oder  sonstige  Bezeichnungen 
auf  dieselbe  Person  ,  dasselbe  Ding ,  denselben  Vorgang  be- 
zogen werden.  So  behaupte  ich ,  dass  der  Tragiker  Seneca 
mit  dem  Philosophen  Seneca  identisch  ist,  dass  der  in  Olym- 
pia gefundene  Hermes  identisch  ist  mit  der  Statue  des  Praxi- 
teles von  der  Pausanias  berichtet,  dass  die  Sonnenfinsterniss 
des  Thaies  dieselbe  ist ,  welche  nach  astronomischer  Berech- 
nung am  25.  Mai  585  stattfand ,  dass  der  mir  heute  begeg- 
nende derselbe  ist,  den  ich  vor  Jahren  da  und  da  gesehen 
habe.  Diese  reale  Identität  schliesst  die  Verschiedenheit  der 
Objecte  zu  verschiedener  Zeit  nicht  aus  ;  derselbe  Baum  ist 
jetzt  kahl,  den  ich  früher  belaubt  gesehen,  derselbe  Mann  ein 
Greis,  den  ich  in  seiner  Jugend  gekannt.  Wo  es  sich  aber 
nicht  um  die  Beziehung  unserer  Vorstellungen  auf  einzelne 
Dinge  oder  Vorgänge   in  Raum   und  Zeit   handelt ,    muss  die 


106  I»  2.    Das  einfache  Urtheü.  82 

Identität  eine  logische  sein,  d.  h.  den  Inhalt  derVor- 
stellung  als  solcher  betreffen;  es  wird  gesagt,  dass 
was  ich  zu  verschiedenen  Zeiten  und  aus  verschiedener  Veran- 
lassung vorstelle ,  nichts  Verschiedenes ,  sondern  inhaltlich 
schlechthin  dasselbe  sei;  so  bezeichnen  verschiedene  Wörter 
oder  Ausdrücke  denselben  Begriff,  verschiedene  Formeln 
dieselbe  Zahl.  Sofern  wir  dann  Eigenschaften  verschie- 
dener Dinge  abstrahierend  nur  nach  ihrem  Inhalte  vergleichen, 
können  wir  auch  noch  sagen,  die  Farbe  eines  Stoffes  sei  die- 
selbe wie  die  eines  andern ,  die  Länge  eines  Stabes  d  i  e- 
selbe  wie  die  eines  zweiten ;  die  Stoffe  und  Stäbe  sind  aber 
darum  nicht  identisch,  sondern  nur  in  bestimmter  Be- 
ziehung gleich.  Ebenso  reden  wir  in  der  Diplomatie  von 
identischen  Noten,  wenn  der  Wortlaut,  der  jetzt  abgesehen 
von  der  Vielheit  der  Schriftstücke  nur  seinem  Inhalte  nach 
betrachtet  wird,  derselbe  ist. 

Soweit  reicht  die  Anwendbarkeit  des  Wortes  Identität,  wenn 
ihm  sein  ursprünglicher  Sinn  und  überhaupt  ein  bestimmter 
Sinn  gewahrt  bleiben  soll.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  Iden- 
tität entweder  ganz  stattfindet  oder  gar  nicht;  dass  Identität 
keine  Grade  haben  kann,  und  die  Ausdrücke  »partielle  Iden- 
tität, relative  Identität«,  wenn  sie  Arten  oder  Grade  der  Iden- 
tität bezeichnen  sollen,  eine  contradictio  in  adjecto  enthalten. 
Man  kann  von  einer  identitas  partium  (z.  B.  von  Theilen  Eu- 
ropas und  Theilen  des  russischen  Reichs)  aber  nicht  einer 
identitas  partialis  reden. 

Kehren  wir  zu  unserem  Princip  der  Identität  zurück:  so 
drückt  die  Formel  A  ist  A  in  ihrem  ersten  Sinne  allerdings 
eine  not h wendige  Voraussetzung  alles  Denkens  und 
Urtheilens  aus;  alles  Denken  und  Urtheilen  ist  nur  möglich, 
wenn  die  einzelnen  Vorstellungsobjecte  festgehalten ,  als  die- 
selben reproduciert  und  wiedererkannt  werden  können ,  da 
zwischen  fortwährend  Schwankendem  und  Zerfliessendem  keine 
bestimmte  Beziehung  hergestellt  werden  könnte.  Es  handelt 
sich  also  um  die  Constanz  unserer  einzelnen  Vorstellungs- 
inhalte als  Bedingung  alles  Denkens.  Sofern  diese  Constanz 
immer  schon  in  bestimmtem  Umfang  verwirklicht  ist,  kann 
von   einem   Princip   der   Constanz   in   dem   Sinne   gesprochen 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils  u.  das  Princip  d.  Identität.  107 

werden,  dass  es  eine  fundamentale  Thatsache  aus- 
spricht; sofern  sie  als  Bedingung  alles  wahren  ürtheilens  er- 
kannt wird ,  enthält  die  Formel  A  =  A  zugleich  eine  For- 
derung, der  überall  genügt  sein  muss,  wenn  unser  Denken 
vollkommen  sein  soll. 

Allein  dieses  Princip ,  das  nur  die  Stetigkeit  jeder  Vor- 
stellung für  sich  betrifft,  kann  nicht  zugleich  die  Vereinigung 
von  Subject  und  Prädicat  im  Urtheile  begründen  wollen. 
Denn  Urtheile ,  die  nur  die  Identität  eines  Denkobjects  mit 
sich  selbst  aussprechen  wollten,  sind  völlig  leer ;  dass  ein  Kreis 
ein  Kreis ,  und  diese  Hand  diese  Hand  sei ,  fällt  Niemanden 
ein  zu  behaupten;  und  Sätze,  welche  scheinbar  doch  der  For- 
mel A  ist  A  entsprechen,  meinen  unter  dem  Subjectswort  und 
dem  Prädicatswort  in  Wirklichkeit  Verschiedenes.  »Kinder 
sind  Kinder«  meint  unter  dem  Subjectswort  nur  das  Merkmal 
des  kindlichen  Alters ,  unter  dem  Prädicatswort  die  übrigen 
damit  verknüpften  Eigenschaften ;  »Krieg  ist  Krieg«  sagt,  dass 
wenn  einmal  der  Zustand  des  Kriegs  eingetreten  ist,  man  sich 
nicht  wundern  dürfe ,  dass  auch  alle  gewöhnlich  damit  ver- 
knüpften Folgen  sich  einstellen;  das  Prädicat  fügt  also  neue 
Bestimmungen  zu  der  Bedeutung  hinzu,  in  welcher  das  Sub- 
ject zuerst  genommen  wurde. 

Bei  den  einfachen  Benennungsurtheilen  aber  lasst  sich 
von  strenger  logischer  Identität  dessen,  was  bei  dem  Sub- 
jectswort und  dem  Prädicatswort  vorgestellt  wird,  nicht  reden ; 
urtheile  ich  über  Einzelnes,  so  ist  die  Prädicats Vorstellung  in 
der  Regel  eine  unbestimmtere,  sie  erschöpft  nicht  die  ganze 
Besonderheit  der  Subjectsvorstellung,  man  kann  nur  von  Ue  b  e  r- 
einstimmung  beider  reden;  was  ich  bei  dem  Prädicats- 
worte  denke,  finde  ich  in  meiner  Subjectsvorstellung  wieder; 
das  Einzelne  gleicht  dem  allgemeinen  Bilde,  das  in  meiner 
Vorstellung  ist.  Was  also  diesen  Urtheilen  zu  Grunde  liegt, 
wird  richtiger  Princip  der  TJebereinstimmung  ge- 
nannt; es  sagt  die  Nothwendigkeit  aus,  dass  was  als  Subject 
und  Prädicat  verbunden  wird,  in  seinem  Vorstell angsgehalte 
übereinstimmen  muss,  dass  das  Bewusstsein  dieser  Ueberein- 
stimmung  in  dem  Urtheile  ausgedrückt  wird;  und  es  enthält 
zugleich,    dass   kein  Denkender    darüber   sich    täuschen  kann, 


108  1»  2.    Das  einfache  ürtheil.  83 

ob  Vorstellungen,  die  er  als  Subject  und  Prädicat  gegenwär- 
tig hat,  und  sofern  er  sie  gegenwärtig  hat,  übereinstimmen. 
So  behauptet  es  die  unmittelbare  und  unfehlbare  Sicherheit 
des  Bewusstseins  der  Uebereinstimmung  zugleich  als  eine  fun- 
damentale psychologische  Thatsache  und  als  noth wendige  Vor- 
aussetzung des  Urtheilens. 

Ist  das  Prädicat  eines  Benennungsurtheils  ein  Nomen 
proprium  oder  überhaupt  ein  sprachlicher  Ausdruck,  der 
durch  seinen  Wortlaut  die  Vorstellung  eines  einzelnen  existie- 
renden Dings  als  solchen  erweckt  und  als  Zeichen  desselben 
gebraucht  wird,  (dies  ist  Socrates,  diese  Uhr  ist  die  meinige) 
und  ruht  das  Urtheil  auf  einem  unmittelbaren  Erkennen ,  so 
ist  auch  hier  die  Uebereinstimmung  der  beiden  Vorstel- 
lungen, der  Anschauung  und  des  Erinnerungsbildes,  die  Vor- 
aussetzung, ohne  dass  dabei  die  absolute  Identität  des 
Vorstellungsinhaltes  noth  wendig  wäre  —  ich  erkenne  ja  einen 
Bekannten  auch  in  einem  neuen  Kleide,  oder  wenn  er  bleicher 
aussieht  als  sonst  —  aber  zu  dieser  Uebereinstimmung  gesellt 
sich  das  Bewusstsein  der  realen  Identität  dieses  Sub- 
jects  mit  dem  einzelnen  Dinge,  das  durch  das  Prädicat  be- 
zeichnet wird.  Diese  reale  Identität  des  Dinges, 
das  zwei  zu  verschiedenen  Zeiten  entstandenen  Vorstellungen 
desselben  entspricht,  ist  wiederum  etwas  von  der  Ueberein- 
stimmung und  der  Constanz  der  Vorstellungen  gründlich 
Verschiedenes ;  sie  betrifft  eine  Bestimmung  des  Seins 
gegenüber  demVorgestelltwerden;  es  kann  immer- 
hin auch  in  dieser  Hinsicht  ein  Princip  aufgestellt  werden, 
dass  nemlich  im  Begriffe  des  einzelnen  Dinges  selbst 
einerseits  die  Einzigkeit  und  andrerseits  diese  Identität  mit 
sich  selbst  liege,  die  allein  der  Vorstellung  der  Dauer  und 
Beharrlichkeit  der  Dinge  einen  Sinn  gibt ,  dass  also  die  An- 
nahme mit  sich  identischer  Dinge  in  dem  Begriffe  des  Dings 
selbst  enthalten  sei.  Damit  ist  aber  noch  nicht  etwa  nach 
der  Formel :  jedes  Ding  ist  was  es  ist ,  das  eleatische  und 
das  Herbart'sche  Princip  der  absoluten  Unterschiedslosigkeit 
oder  der  Identität  und  Un Veränderlichkeit  des  Was  ausge- 
sprochen ;  im  Gegentheil  meint  unsere  Ueberzeugung  von  der 
realen  Identität   der   einzelnen   Dinge  mit   sich  ihre  Beharr- 


§  14.  Die  objective  Gültigkeit  des  TJrtheils  ii.  das  Princip  d.  Identität.  lOÖ 

lichkeit  im  Wechsel  des  Thuns,  ihre  Fortdauer  unter  ver- 
schiedener Erscheinung ;  wir  beziehen  fortwährend  inhaltlich 
zum  Theil  verschiedene  Vorstellungen  auf  ein  und  dasselbe 
Ding. 

Das  ürtheil :  dies  ist  Socrates  sagt :  der  Gegenwärtige  ist 
mit  dem  bestimmten  von  früher  her  bekannten  Einzelnen,  der 
Socrates  genannt  wird,  realiter  identisch;  und  die  Behauptung 
ist  auch  hier  wiederum  deshalb  auf  die  objective  Gültigkeit 
dieser  Identität  gerichtet,  weil  sie  von  dem  Bewusstsein  der 
N o  t h  we n  d i g k  e i  t  begleitet  ist ,  die  beiden  Vorstellungen 
auf  ein  und  dasselbe  Ding  zu  beziehen.  Denn  wenn  die  ob- 
jective Gültigkeit  in  Anspruch  genommen  würde:  so  würde 
damit  behauptet,  das  als  Subject  gemeinte  und  das  als  Prädi- 
cat  gemeinte  Ding  können  zwei  verschiedene  Dinge  sein,  oder 
seien  zwei  verschiedene  Dinge,  und  die  Nothwendigkeit  sie  als 
eines  zu  setzen  sei  nicht  vorhanden.  Nur  genügt  zum  Erweise 
der  Nothwendigkeit,  zwei  Vorstellungen  auf  ein  einziges  reales 
Ding  zu  beziehen,  das  Gesetz  der  Uebereinstimmung  unter 
unsern  Vorstellungen  nicht ,  das  bloss  die  Uebereinstimmung 
ihres  Inhalts  gewährleistet ;  hier  treten  vielmehr  Voraus- 
setzungen über  die  Natur  des  Seienden  und  die  Kennzeichen 
realer  Identität  ein,  welche  nicht  mit  der  Function  des  Ur- 
theilens  selbst  gegeben  sind.  So  die  Voraussetzung,  dass  in 
gewissen  Gebieten  alle  Individuen  sich  sicher  unterscheiden 
lassen  und  es  keine  zwei  so  gleiche  Gegenstände  gebe,  dass 
wir  sie  auch  bei  genauer  Betrachtung  verwechseln  könnten  — 
darauf  beruht  z.  B.  die  Ueberzeugung  von  der  Identität  der 
uns  bekannten  Personen;  wo  die  Sicherheit  unserer  Erinne- 
rung der  äusseren  Gestalt  zweifelhaft  ist,  gehen  wir  auf  die 
Identität  des  Bewusstseins  und  die  individuelle  Verschieden- 
heit und  Einzigkeit  seines  Inhalts  zurück,  wie  Penelope,  wenn 
sie  Odysseus  prüft  ob  er  um  die  Herstellung  des  Ehebettes 
weiss;  in  Betreff  der  äusseren  Dinge  aber  sind  es  zuletzt 
räumliche  Bestimmungen  und  der  Grundsatz  der  Undurchdring- 
lichkeit, durch  welche  wir  ihre  Identität  feststellen.  Erst  aus 
solchen  aus  der  Kenntniss  der  Natur  der  Dinge  flicssonden 
Voraussetzungen  ergibt  sich  die  Nothwendigkeit ,  an  reale 
Identität  zu  glauben.     An  solche  erst  durch  anderweite  Ueber- 


110  I,  2.    Das  einfache  Urtheil.  $4. 

legungen  vermittelte  Aussagen  über  reale  Identität  schliessä 
sich  auch  die  ürtheile  an  ,  welche  die  Coincidenz  eines  be- 
stimmten Subjects  mit  einem  bestimmten  Gliede  einer  Reihe 
oder  einem  sonst  durch  ein  Relationspr'ädicat  bestimmten  Ein- 
zelnen ausdrücken  —  Augustus  ist  der  erste  der  Cäsaren, 
Aristoteles  ist  der  Lehrer  Alexanders  u.  s.  w. 

8.  Was  die  objective  Gültigkeit  der  Ürtheile  betrifft, 
welche  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  aussagen :  so  gilt  von 
ihnen  vermöge  der  doppelten  darin  vollzogenen  Synthesis  von 
einer  Seite  alles,  was  in  Beziehung  auf  die  Benennung  gesagt 
ist ;  die  an  dem  Subjecte  vorgestellte  Eigenschaft  oder  Thätig- 
keit  muss  mit  der  allgemeinen  Prädicatsvorstellung  überein- 
stimmen. Andrerseits  kann  ihre  objective  Gültigkeit  nur 
unter  der  Voraussetzung  behauptet  werden,  dass  die  Einheit 
von  Ding  und  Eigenschaft ,  von  Ding  und  Thätigkeit  über- 
haupt ein  reales  Verhältniss  ist,  dass  wir  also  ein  Ding  durch 
seine  Eigenschaften  zu  erkennen  und  einen  Wechsel  in  unserer 
Vorstellung  als  seine  Veränderung  anzuschauen  vermögen. 
Dieses  Verhältniss  des  Dings  zu  seinen  Eigenschaften  und 
Thätigkeiten  ist  ebenso  schon  unter  den  Begriff  der  Identi- 
tät gestellt  worden;  aber  auch  hier  hat  man  dem  Terminus 
eine  Elasticität  zugemuthet  die  ihm  nicht  zukommt.  Iden- 
tisch ist  nur  das  Ding  mit  sich  als  der  dauernde  Träger 
seiner  Eigenschaften,  als  das  in  der  Thätigkeit  Eins  mit  sich 
bleibende  Subject ,  aber  es  ist  nicht  identisch  mit  seinen 
Eigenschaften  noch  mit  seinen  Thätigkeiten,  es  ist  nicht 
diese  selbst,  der  Zinnober  ist  nicht  mit  seiner  Röthe,  und 
die  Sonne  nicht  mit  ihrem  Leuchten  identisch;  und  das 
Princip ,  das  die  ürtheile:  der  Zinnober  ist  roth,  die  Sonne 
leuchtet,  legitimieren  soll,  kann  nicht  Princip  der  Identität 
heissen.  Als  ein  allgemeines  Denkgesetz,  das  zugleich  eine 
fundamentale  Thatsache  ausdrückt,  kann  nur  das  aufgestellt 
werden,  dass  wir  alles  Seiende  vermittelst  dieser  Kategorieen 
der  Inhärenz  und  Action  allein  zu  unterscheiden,  festzuhalten 
und  zu  erkennen  vermögen;  und  dass  das  Sein  eines  jeden 
Dings  zugleich  das  Sein  seiner  Eigenschaften  und  seiner 
Thätigkeiten  ist. 

Ist  aber  dieses  vorausgesetzt,  und  behauptet  unser  Urtheilen 


86      §  14.  Die  obj.  Gültigkeit  d.  Urtheils  u.  das  Princip  d.  Identität,     ll  1 

das  Seiende  zu  treffen:  so  kann  dies  zuletzt  auch  hier  nur 
soviel  heissen,  dass  das  Seiende,  worüber  wir  urtheilen,  diese 
bestimmte  Bewegung  unseres  Denkens,  diese  Eigenschaft  von 
ihm  zu  unterscheiden  und  wieder  Eins  mit  ihm  zu  setzen, 
nothw endig  macht. 

9.  Sofern  mit  unsern  allgemeinen  Vorstellungen  der  Dinge, 
welche  wir  als  Prädicate  von  Benennungsurtheilen  verwenden, 
bei  jeder  weiteren  Entwicklung  des  Denkens  auch  die  Eigen- 
schafts -  und  Thätigkeitsurtheile  mit  reproduciert  werden, 
deren  Subjecte  sie  gewesen  sind,  und  »Schnee«  z.  B.  nicht  ein 
unaufgelöstes  Bild,  sondern  ein  weisses,  lockeres,  kaltes,  vom 
Himmel  gefallenes  etc.  Ding  bedeutet ,  der  allgemeine 
Name  also  Inbegriff  von  Eigenschaften  geworden 
ist,  rückt  das  Inhärenz-  und  Actionsverh'altniss  implicite  auch 
in  die  Benennungsurtheile  herein ,  sofern  es  zu  der  dem  Be- 
wusstsein  gegenwärtigen  Bedeutung  des  Worts  gehört.  Tritt 
die  reale  Identität  von  Dingen  hinzu,  welche  unter  verschie- 
dene Vorstellungen  fallen  (Wasser,  Eis,  Dampf —  Knabe,  Mann, 
Greis) ,  so  kann  ein  Substantiv  auch  nur  zur  Bezeichnung 
eines  Complexes  von  Eigenschaften  dienen,  die  einen  zeitlichen 
Zustand  eines  Subjects  von  bestimmter  Art  ausdrücken. 

§15. 

Da  alles  einzelnSeiende  uns  inderZeit  gegeben 
ist,  eine  bestimmte  Stelle  in  der  Zeit  einnimmt,  als  eine  Zeit- 
I  länge  hindurch  dauernd,  und  in  dieser  Zeit  wechselnde  Thätig- 
keiten  entfaltend  und  seine  Eigenschaften  möglicherweise 
verändernd  angeschaut  wird :  so  haftet  noth wendig  allen 
unsern  Urtheilen  über  Dasein ,  Eigenschaften,  Thätig- 
keiten  und  Relationen  einzelner  Dinge  die  Beziehung  zur 
Zeit  an,  und  jedes  derartige  Urtheil  kann  nur  für  eine 
bestimmte  Zeit  gelten  wollen. 

1.  Während  der  Satz  von  Thatigkeiten  selbstver- 
ständlich ist,  scheint  schon  einem  Theile  der  E  i  g  e  n  s  c  h  a  f  t  s- 
prädicate  die  Beziehung  zur  Zeit  zu  fehlen ,  sofern  sie 
als  imveränderlich ,    mit    dem  Dasein    des  Subjects  selbst   ge- 


112  1,  2.    Das  einfache  ürtheil.  87 

geben  angesehen  werden.  Allein  der  allgemeinen  Möglichkeit 
gegenüber,  dass  trotz  der  Identität  des  Subjects  die  Eigen- 
schaften wechseln,  kann  dieses  Verhältniss  nur  ausnahms- 
weise stattfinden  ,  und  ist  in  der  blossen  Form  des  Urtheils 
nicht  enthalten ,  sondern  höchstens  in  Neben beziehungen, 
welche  an  der  Bedeutung  der  Prädicate  hängen,  oder  in  diesen 
selbst  (unveränderlich  u.  s.  w.).  Nur  die  Benennung  mit 
dem  Nomen  proprium  schliesst  die  Beziehung  auf  die  Zeit 
aus,  und  gilt,  der  Natur  des  Prädicats  nach,  für  das  Subject 
unangesehen  von  Zeitunterschieden ;  die  übrigen  Benennungs- 
urtheile  aber  lassen  die  Beschränkung  ihrer  Gültigkeit  auf 
eine  bestimmte  Zeit  insoweit  zu,  als  die  Benennung  Prädi- 
cierung  von  Eigenschaften  und  Actionen  in  den  Vordergrund 
stellt  (s.  Ende  des  vorigen  §  14),  dasselbe  also  nacheinander 
verschieden  benannt  werden  kann. 

2.  Damit  ist  es  dem  erzählenden  ürtheil  wesentlich, 
dass  es  nur  dann  vollständig  ausgedrückt  ist,  wenn  es  zu- 
gleich die  Zeit  mit  angibt,  für  welche  die  Einheit  von  Subject 
und  Prädicat  objectiv  gültig  ist;  es  muss  im  Präsens,  Prä- 
teritum oder  Futurum  ausgesprochen  sein;  und  es  ist 
einer  der  Massstäbe  der  logischen  Vollkommenheit  der  Sprachen, 
wie  weit  sie  im  Stande  sind,  zugleich  mit  der  Prädicierung 
das  Zeitverhältniss  auszudrücken.  Nur  dem  unzusammen- 
hängenden Denken  des  Kindes,  das  dem  jeweiligen  Gegenstand 
ganz  hingegeben  ist,  wird  alles  Gegenwart,  was  ihm  eben 
vorschwebt ;  mit  der  Klarheit  des  Selbstbewusstseins  und  seiner 
ordnenden  Kraft  wächst  auch  die  Fähigkeit  der  Unterscheidung 
der  Zeiten. 


II.  Die  erklärenden  Ürthelle. 

§.  16. 

Wesentlich  verschieden  von  den  bis  jetzt  betrachteten, 
über  Einzelnes  aussagenden  Ürtheil en  sind  solche,  deren  Sub- 
ject in  der  Bedeutung  des  Subjectsworts  besteht, 
und  in  denen  von  der  bestimmten  Existenz   einzelner,   durch 


87  §  16.     Die  erklärenden  Urtheile.  113 

das  Subjectswort  benennbarer  Dinge  nicht  die  Rede  ist,  wenn 
sie  auch  häufig  durch  die  Natur  des  Vorgestellten  selbst  oder 
in  Folge  des  Ursprungs  der  Vorstellung  vorausgesetzt  ist. 
Ihre  objective  Gültigkeit  ist  von  der  Zeit  unabhängig. 
Indem  sie  den  Inhalt  einer  allgemeinen  Vorstellung  erklären, 
können  sie  i  n  d  i  r  e  c  t  in  Beziehung  auf  das  Seiende  eine 
Regel  ausdrücken  wollen. 

1.  Blut  ist  roth  und  Schnee  ist  weiss,  —  solche  ürtheile 
reden  nicht  von  diesem  oder  jenem  Einzelnen  und  drücken 
keine  eben  gegenwärtige  Wahrnehmung  aus.  Indem  das  Sub- 
jectswort absolut  gesetzt  ist,  kann  es  nichts  ausdrücken  als 
was  seine  Bedeutung  ausmacht;  diese  Bedeutung  ist  ein  von 
der  Vorstellung  des  einzeln  Existierenden  losgerissener  Vor- 
stellungsgehalt von  unbestimmter  Allgemeinheit,  von  welchem 
man  in  dieser  Unbestimmtheit  nicht  sagen  kann  dass  er  exi- 
stiert. Die  Behauptung  »Blut  ist  roth«  kann  darum  auch  nur 
über  diesen  Vorstellungsgehalt  etwas  aussagen,  und  sie  meint 
nichts  anderes,  als  dass  mit  dem  Subjecte  das  Prädicat  zu- 
sammen gedacht  werde.  Welcher  Art  die  Einheit  von  Subject 
und  Prädicat  ist,  hängt  von  der  Natur  der  verknüpften  Vor- 
stellungen ab.  Gehören  beide  derselben  Kategorie  an,  so  wird 
die  einfache  Coincidenz  der  Vorstellungen  ausgesprochen ;  von 
dem  was  als  concretes  Ding  vorgestellt  wird,  werden  Eigen- 
schaften und  Thätigkeiten  ausgesagt,  die  mit  der  Vorstellung 
des  Dings  selbst  gegeben  sind. 

In  demselben  Sinne  gebrauchen  wir  den  Artikel,  beson- 
ders wo  die  Subjectsvorstellung  die  eines  Dings  von  indivi- 
dueller Form  ist:  der  Mensch  ist  zweifüssig. 

Erklärend  sind  aber  auch  die  Ürtheile,  die  mittels  des  sog. 
unbestimmten  Artikels  scheinbar  von  einem  einzelnen  Indivi- 
duum, einem  einzelnen  Zustand  u.  s.  f.  etwas  aussagen :  eine 
Tanne  ist  eine  Conifere,  ein  Scharlach  ist  mit  hohem  Fieber 
verbunden  u.  s.  w. ;  denn  sie  meinen  nichts  bestimmtes  Ein- 
zelnes, sondern  wollen  sagen :  was  eine  Tanne  ist ,  ist  eine 
Conifere;  und  diese  Behauptung  kann  nur  auf  dem  Verhält- 
niss  der  allgemeinen  Vorstellungen  Tanne  und  Conifere,  nicht 
auf  der  Erkenntniss  des  Einzelnen  ruhen. 

Sigwart ,  Logik.    I.    2.  Auflage.  ö 


114  I,  2.    Das  einfache  Urtheil. 

2.  Die  objective  Gültigkeit  dieser  Urtheile  betrii 
unmittelbar  nur  das  Gebiet  des  Vorstellens,  und  es  kann 
ihnen  nichts  anderes  ausgesprochen  werden,  als  dass,  wo  dt 
Subject  —  die  nominale  Richtigkeit  vorausgesetzt  —  gedacht 
werde,  es  mit  dem  Prädicate  gedacht  werde;  dass  das,  was 
ich  und  alle  Welt  unter  »Blut«  vorstellt,  als  roth  vorgestellt 
wird;  und  erst  abgeleiteter  Weise,  wenn  von  der  Allgemein- 
heit des  Worts  auf  darunter  befassbare  wirkliche  Dinge  zu- 
rückgegangen wird,  trifft  das  Urtheil  auch  das  Sein  dieser 
Dinge,  und  spricht  in  Beziehung  auf  sie  die  Regel  aus,  dass 
wo  ein  Ding  sei,  das  unter  die  Benennung  des  Subjects  falle, 
ihm  auch  das  Prädicat  zukomme. 

Wenn  man  meint,  solche  urtheile  von  vorn  herein  als 
durch  Induction  aus  der  Erfahrung  gewonnene  allgemeine 
Urtheile  ansehen  zu  können,  deren  Subject  das  Einzelne,  nur 
in  unbestimmter  Vielheit  gedacht,  sei:  so  vergisst  man,  dass 
zu  einer  solchen  Induction  vor  allem  gehört,  dass  man  einen 
Massstab  habe,  nach  welchem  man  die  einzelnen  Dinge  mit 
demselben  Worte  benennt  und  damit  in  ein  gemeinsames  Ur- 
theil zusammenzufassen  vermag.  Dieser  Massstab  kann  aber 
nur  in  der  Bedeutung  der  Wörter  liegen,  mit  welcher  wir 
an  die  Benennung  herantreten;  diese  muss  schon  vorher  eine 
Festigkeit  gewonnen  haben,  ehe  von  Inductionsurtheilen  die 
Rede  sein  kann.  Es  ist  vollkommen  richtig,  dass  unter  dem 
Eindrucke  fortschreitender  Erfahrung,  die  immer  Neues  unter 
die  schon  vorhandenen  Vorstellungen  aufzunehmen  veranlasst, 
diese  sich  umbilden,  und  dass  es  im  Allgemeinen  zufällig  ist, 
wo  die  gewöhnliche  Vorstellungsweise  Halt  macht  und  die 
Grenzen  ihrer  Wörter  zieht.  (Das  Wort  Blut  z.  B.  dessen 
Bedeutung  sich  zunächst  aus  der  Anschauung  des  mensch- 
lichen, Säugethier-  und  Vogelbluts  gebildet  und  daraus  die 
rothe  Farbe  in  seinen  Inhalt  aufgenommen  haben  kann,  wie 
es  im  populären  Sprachgebrauch  wirklich  der  Fall  ist,  konnte 
auf  den  weisslichen  Saft  anderer  Thiere  ausgedehnt  werden, 
aber  erst  nachdem  es  seine  ursprüngliche  Bedeutung  erweitert 
hätte.)  Allein  das  Urtheilen  des  Einzelnen  muss  auf  irgend 
einem  Stadium  ihrer  Bildung  die  Wortbedeutungen  voraus- 
setzen; sind  sie  auf  einem  solchen  festgehalten,    so  gehen  sie 


8Ö  §  16.    Die  erklärenden  Urtheile.  115 

mit  ihrer  festen  Bedeutung  der  Benennung  und  damit  der 
Möglichkeit  Erfahrungsurtheile  aus  Induction  auszusprechen 
voran;  bedeutet  also  »Blut«  die  Flüssigkeit  die  in  den  Adern 
der  Säugethiere  und  Vögel  ist,  so  gehört  »roth«  zu  seiner 
Bedeutung,  und  in  dieser  Festigkeit  genommen  kann  es  dann 
nicht  zur  Benennung  anders  gefärbter  Flüssigkeiten  verwen- 
det werden. 

Ehe  also  ein  Urtheil  ausgesprochen  werden  kann,  das 
den  Sinn  eines  viele  Fälle  zusammenfassenden  Erfahrungs- 
urtheils  hat  —  wovon  später  — ,  muss  ein  einfaches  Urtheil 
vorangehen,  dessen  Aufgabe  es  ist,  den  Inhalt  der  einheit- 
lichen Vorstellung,  welche  ein  bestimmtes  Wort  bezeichnet, 
zu  explicieren ;  und  die  allgemeine  Regel  die  darin  liegen  kann, 
ist  in  erster  Linie  eine  Regel  der  Benennung,  welche  verbietet 
etwas,  was  nicht  roth  ist ,  Blut  zu  nennen ;  das  Inductions- 
urtheil  hat  erst  seine  Stelle,  wo  an  dem  so  gemeinschaftlich 
bezeichneten  eine  neue  gemeinschaftliche  Eigenschaft  entdeckt 
wird;  wenn  gesagt  wird,  mit  den  Eigenschaften,  welche  den 
Inhalt  der  Subjects Vorstellung  A  ausmachen,  ist  ausnahmslos 
B  verknüpft,  ohne  dass  B  schon  vorher  in  A  mitgedacht  ge- 
wesen wäre. 

Nur  sofern  in  der  substantivischen  Benennung  die  Vor- 
stellung eines  dauernden  und  beharrlichen  Dings 
und  damit  zugleich  die  Möglichkeit  veränderlicher 
Eigenschaften  liegt,  kann  in  einem  solchen  Urtheil  auch 
eine  Aussage  über  eine  die  Dinge  selbst  betreffende  Regel 
liegen,  nemlich  dass  den  Dingen,  welche  einmal  unter  die  Be- 
zeichnung fallen,  das  Prädicat  immer  und  stetig  zukomme, 
mit  ihren  übrigen  Eigenschaften  unveränderlich  verknüpft 
sei.  Auf  diese  Unveränderlichkeit  der  rothen  Farbe 
dessen,  was  unter  den  existierenden  Dingen  mit  »Blut«  zu 
bezeichnen  ist,  richtet  sich  eigentlich  das  Urtheil,  wo  es  auf 
die  Realität  hinausgreift. 

3.  Eine  eigenthümliche  Stellung  nehmen  übrigens  dabei 
die  Verba  ein.  Nur  wo  von  einer  continuierlichen ,  mit  der 
Existenz  der  in  der  Subjects  Vorstellung  befassten  Dinge  gleich - 
dauernden  Thätigkeit  die  Rede  ist,  kann  genau  genommen 
ein    Verb    Prädicat    eines    allgemeinen    Subjects    werden    (die 

8* 


116  I,  2.    Das  einfache  Urtheil. 

Flamme  leuchtet,  der  Wind  weht  u.  s.  f.);  wo  dagegen  das 
Verb  eine  wechselnde,  zeitweise  beginnende  und  aufhörende 
Thätigkeit  ausdrückt,  kann  es  nur  durch  einen  Tropus  als 
Prädicat  erscheinen  (das  Schaf  blockt,  das  Pferd  wiehert  u. 
s.  w.)  und  der  eigentliche  Ausdruck  könnte  nur  ein  Vermögen 
oder  eine  Gewohnheit,  d.  h.  eine  Eigenschaft  bezeichnen,  aus 
der  die  Thätigkeit  hervorgehen  kann,  nicht  die  wirkliche  Thä- 
tigkeit selbst. 

4.  Stellen  wir  diese  Classe  von  Urth eilen  den  zuerst  be- 
trachteten gegenüber:  so  springt  vor  allem  in  die  Augen, 
dass  ihre  Gültigkeit  nicht  davon  abhängig  ist,  dass  hier  oder 
dort,  jetzt  oder  ein  andermal  ein  der  Subjectsvorstellung  ent- 
sprechendes Ding  existiert;  dass  sie  also  auch  für  keine  be- 
stimmte Zeit  gültig  sind ,  vielmehr  unbedingte  Gültig- 
keit gerade  darum  beanspruchen,  weil  sie  sich  bloss  auf 
Vorgestelltes  beziehen.  Ihnen  gegenüber  sind  alle  bloss 
erzählenden  Urtheile  zeitlich  gültige. 

5.  Damit  tritt  ein  charakteristischer  Unterschied  in  der 
Bedeutung  des  Präsens  ein,  mit  welchem  die  unbedingt 
gültigen  Urtheile  ebensowohl  ausgesprochen  werden ,  als  die- 
jenigen unter  den  zeitlich  gültigen ,  welche  sich  auf  die  Ge- 
genwart beziehen.  Was  wir  als  ein  gegebenes  einzeln  exi- 
stierendes Ding  vorstellen,  dem  haben  wir  ebendamit  in  der  all- 
umfassenden für  alle  gleichen  Zeit  seine  Stelle  angewiesen  ; 
es  steht  seinem  Dasein  nach  zwischen  andern  Dingen ,  die 
gleichzeitig,  vor  ihm,  nach  ihm  sind,  seiner  Beschaffenheit 
nach ,  die  unser  Urtheil  trifft ,  ebenso  in  einem  bestimmten 
Zeitpunkt,  und  hat  eben  dadurch  seine  bestimmte  Zeitbe- 
ziehung zum  Moment  des  Urtheilens. 

Haben  wir  aber  als  Subject  eines  Urtheils  die  Vor- 
stellung ,  welche  die  Bedeutung  des  Worts  ausmacht ,  so 
ist  diese  aus  dem  zeitlichen  Complexe  losgerissen,  und  steht, 
dem  Wechsel  der  Zeit  entrückt  ,  in  einer  fortwährenden 
inneren  Gegenwart  vor  uns  ,  bei  der  es  keinen  Unter- 
schied von  gestern  und  heute  gibt ,  wobei  vielmehr  das  Be- 
wusstsein  der  Constanz  unseres  Vorstellens  bei  jeder  Wieder- 
holung alle  Zeitunterschiede  zwischen  den  einzelnen  Momenten 
des    lebendigen    Vorstellens    wieder    vernichtet.       Als    ein    so 


91  §  17.     Der  sprachliche  Ausdruck  des  ürtheilsacts.  117 

Gedachtes  hat  das  Subject  Prädicate  die  ihm  unabhängig  von 
der  Zeit  zukommen,  die  ihm  zukommen  so  oft  es  vorgestellt 
wird.  Derselbe  Satz :  der  Himmel  ist  blau,  der  den  Zustand 
des  gegenwärtigen  Moments  bezeichnet,  und  so  als  erzählendes 
Urtheil  ein  wirkliches  Präsens  ist ,  kann  auch  den  ganz  ver- 
schiedenen Sinn  haben ,  dass  der  Himmel ,  so  wie  ich  ihn 
überhaupt  vorstelle ,  wie  er  festes  Object  meiner  Gedanken 
ist,  immer  als  blau  gedacht  wird ;  und  jetzt  steht  dem  Präsens 
kein  Präteritum  noch  Futurum  gegenüber ;  die  Gültigkeit  des 
Urtheils  wird  nicht  gemessen  an  der  Wahrnehmung  des 
Objects  in  einem  bestimmten  momentanen  Zustand ,  sondern 
an  der  Constanz  des  Vor  Stellungsinhalts ,  den  ich  ein  für 
allemal  mit  einem  Worte  verbinden  will,  eine  Constanz,  welche 
Bedingung  meines  Redens  und  Denkens  überhaupt  ist. 

III.  Der  sprachliche  Ausdruck  des  ürtheilsactes. 

§  17. 

Der  sprachliche  Ausdruck  der  im  Urtheil  sich  voll- 
ziehenden In-Einssetzung  von  Subject  und  Prädicat  ist  in  den 
entwickelten  Sprachen  die  F  lexionsfor m  des  Verbs,  die 
übrigens  selbst  aus  einer  ursprünglichen  blossen  Nebeneinander- 
stellung erwachsen  ist.  Auch  wo  das  Verbum  »Sein«  als 
Bindemittel  eines  substantivischen  oder  adjecti vischen  Prädi- 
cats  mit  dem  Subjecte  erscheint,  vollzieht  sich  der  Urtheils- 
act  nur  durch  die  Verbalendung,  und  das  Verbum 
»Sein«  bildet    einen  Bestandtheil  des  Prädicats. 

1.  Weniger  entwickelte  Sprachen  und  auch  entwickelte 
in  einfacheren  Fällen  begnügen  sich  für  den  Ausdruck  der 
In-Einssetzung  im  Sinne  des  Urtheils  mit  der  blossen  Neben- 
einanderstellung der  beiden  Wörter,  welche  Subject  und  Prä- 
dicat ausdrücken,  und  diese  Nebeneinanderstellung  hat  nicht 
bloss  anzudeuten,  dass  die  entsprechenden  Vorstellungen  vom 
Sprechenden  eben  jetzt  in  Eins  gesetzt  werden ,  sondern  auch 
die  objective  Gültigkeit  des  Urtheils  auszusprechen ;  die  Be- 
tonung   allein    kann    die    Behauptung    von    der    Frage    oder 


113  I,  2.     Das  einfache  ürtheil.  92 

andern  Verknüpfungsweisen  wie  der  attributiven  unterscheiden, 
welche  die  schon  hergestellte  und  fertige  Einheit  zweier  Vor- 
stellungen ausdrückt.  Wo  dagegen  die  Entwicklung  der 
Sprachformen  allen  logischen  Unterschieden  gefolgt  ist ,  hat 
für  die  verbalen  Prädicate  die  Personalendung  (welche  das 
pronominale  Aequivalent  des  Subjects  mit  dem  Verbalstamm 
unmittelbar  verschmilzt  und  damit  an  diesem  die  Congruenz 
von  Person  und  Numerus  resp.  Genus  herstellt)  die  Bedeutung, 
die  urtheilsmässige  Verknüpfung  von  Subject  und  Prädicat 
zu  bezeichnen  ,  und  der  Indicativ ,  /.usammen  mit  der  die 
Aussage  von  der  Frage  unterscheidenden  Betonung  und  Wort- 
stellung ,  die  Kraft  sie  als  objectiv  gültige  zu  behaupten ; 
während  das  Tempus  angibt ,  für  welche  Zeit  das  ürtheil 
gültig  sein  solle. 

In  der  Personalendung  des  Indicativs  und  also  nur  in 
dieser  lie,L>t,  was  die  Logiker  mit  dem  Ausdruck  Copula  be- 
zeichnen wollen,  dasjenige  Element  der  Sprache,  welches  eine 
Verbindung  von  Wörtern  zum  Satze  und  zum  Ausdruck  einer 
Aussage  zu  machen  vermag.  Dabei  ist  der  Sinn  der  durch 
die  Flexionsendung  ausgedrückten  Einheit  von  Subject  und 
Prädicat  verschieden  je  nach  der  Beschaffenheit  der  vereinigten 
Vorstellungen. 

2,  Wenn  in  Urtheilen,  deren  Prädicat  durch  ein  Adjectiv 
oder  Substantiv  ausgedrückt  wird ,  nicht  durch  einfache 
Nebeneinanderstellung  (6  jasv  ßto?  ßpaxü?,  i]  Be  tsxvt^  fxaxpTfj) 
das  Ürtheil  vollzogen,  sondern  das  Verbum  Sein  zu  Hülfe 
genommen  wird ,  so  ist  dieses  nicht  vermittelst  seiner  B  e- 
d  e  u  t  u  n  g  das  den  Vollzug  des  Urtheils  ausdrückende  Ele- 
ment, sondern  die  Urtheilsfunction  liegt  nur  in  der  Flexions- 
form desselben.  Das  Verbum  Sein  ist  aber  das  Mittel  dem 
Prädicate  die  Verbalform  zu  geben  ,  und  die  Möglichkeit  zu 
erreichen,  dass  es  die  Endung  annimmt,  die  es  äusserlich 
erkennbar  in  das  prädicative  Verhältniss  zu  einem  Subjecte 
setzt.  In  dem  ürtheil  »Zinnober  ist  roth«  fügt  das  Verbum 
Sein  dem  Sinne  nach  nichts  hinzu,  was  nicht  schon  in  »roth« 
seiner  Wortgattung  nach  läge,  sofern  es  doch  als  Adjectiv 
die  Hinweisung  auf  ein  Substantiv  enthält,  dessen  Eigen- 
schaft es  ist;  »rothsein«  sagt  nicht  mehr  als  »roth«,  »Rothes« 


93  §  17.    Der  sprachliclie  Ausdruck  des  ürtheilsacts.  119 

und  »Rothseiendes«  als  Concreta,  Rothsein  und  Röthe  als 
Abstracta  sind  schlechterdings  dasselbe ;  es  wird  nur  ausdrück- 
lich angedeutet,  dass  »roth«  nicht  für  sich  abstract  gedacht, 
sondern  von  einem  bestimmten  Subjecte  prädiciert  werden  soll. 
Das  Wort  »Sein«  ist  also  allerdings  ein  Mittel,  dem  Worte 
roth  diese  bestimmte  Verwendung  äusserlich  zu  erleichtern, 
und  —  dem  bloss  attributiven  Verhältniss  gegenüber,  das 
die  Nebeneinanderstellung  bedeuten  könnte,  —  es  als  ein 
Prädicat  anzukündigen ,  aber  es  ist  damit  bloss  der  An- 
knüpfungspunkt für  die  Copula,  nicht  diese  selbst;  es  macht 
nicht  das  Urtheil,  sondern  es  bereitet  dasselbe  nur  vor.  Noch 
deutlicher  tritt  diese  Function  von  »Sein« ,  den  Sinn  zu  be- 
zeichnen ,  in  welchem  ein  Wort  gebraucht  werden  soll ,  bei 
den  Substantiven  heraus ,  welche  nicht  wie  die  Adjectiva  in 
ihrer  Form  schon  die  Beziehung  auf  ein  Anderes  an  sich 
tragen ,  aber  doch  ihrer  Bedeutung  nach  von  Hause  aus  die 
Function  eines  Prädicats  erfüllen  können,  so  gewiss  ihre  Be- 
deutung eine  allgemeine  ist,  und  erst  durch  ein  Benennungs- 
urtheil  einem  bestimmten  einzelnen  Dinge  zugeeignet  wird. 
»Mensch«  ist  nicht  der  Name  eines  bestimmten  Individuums, 
wiewohl  die  Vorstellung  individueller  Gestalt  in  seiner  Be- 
deutung eingeschlossen  ist;  es  ist  überhaupt  kein  Name, 
sondern  das  Zeichen  eines  bestimmten  Vorstellungsgehalts. 
Demonstrativ  oder  Artikel  machen  das  Wort  erst  zum  Namen 
bestimmter  Menschen;  »Sein«  dagegen  macht  es  zum  Prädi- 
cat, und  es  muss  immer  erst  Prädicat  gewesen  sein ,  ehe  es 
Name  wird.  So  ist  auch  Mensch,  als  allgemeine  Vorstellung, 
die  erst  ihre  Beziehung  auf  ein  bestimmtes  Individuum  er- 
wartet, und  Menschsein  dem  Sinne  nach  dasselbe,  das  Ver- 
bum  dient  nur  die  Function  als  Prädicat  äusserlich  anzu- 
kündigen, die  sonst  durch  Stellung  und  Betonung  allein  an- 
gekündigt werden  könnte.  Es  kommt  ihm  also  die  Function 
eines  sprachlichen  Formelements  zu;  aber  es  ist  nicht  das- 
jenige Formelement,  welches  den  Urtheilsact  ausdrückt  und 
den  Namen  der  Copula  verdient. 

3.  Wie  kommt  es  aber,  dass  gerade  das  Verbum  Sein 
verwendet  wird,  und  welcher  Zusammenhang  besteht  zwischen 
der    Bedeutung,    welche    »Sein«    als    selbstständiges    Verbum 


120  I.  2.    Das  einfache  ürtheil.  94 

hat,  wo  es  für  sich  allein  als  Prädicat  auftritt,  und  dieser 
Function  in  der  Verbindung  mit  Adjectiven  und  Substantiven  ? 
J.  St.  Mill  macht  im  vierten  Capitel  des  ersten  Buches 
seiner  Logik  auf  die  Zweideutigkeit  aufmerksam ,  welche  in 
dem  Worte  Sein  liege,  sofern  es  da,  wo  es  als  sogenannte  Copula 
gebraucht  werde,  durchaus  nicht  aussagen  wolle,  dass  das  Sub- 
ject  existiere ,  sondern  nur  das  Verhältniss  der  Prädication 
bezeichne;  ein  Satz  wie:  ein  Centaur  ist  eine  Erfindung  der 
Poeten,  hebe  ja  direct  die  Behauptung  auf,  dass  ein  Centaur 
ist;  und  er  verwundert  sich,  dass  diese  Zweideutigkeit,  ob- 
gleich sie  in  den  neueren  so  gut  wie  in  den  alten  Sprachen 
bestehe  ,    von  fast  allen  Schriftstellern   übersehen  worden  sei. 

Mill  hat  Herbart  so  wenig  als  andere  deutsche  Philo- 
sophen beachtet.  Herbart  hat  (Einl.  in  die  Phil.  §  53)  nach 
dem  Vorgang  Fichte's  *)  mit  gewohnter  Schärfe  hervorge- 
hoben ,  das  Urtheil  A  ist  B ,  und  ebenso  die  Frage :  Ist  A 
wohl  B?  enthalte  keineswegs  die  gewöhnlich  hinzugedachte, 
aber  ganz  fremdartige  Behauptung ,  dass  A  sei ;  denn  von  A 
für  sich  allein,  und  von  seinem  Dasein,  seiner  Gültigkeit  sei 
gar  keine  Rede. 

Diese  Bemerkung  ist  unzweifelhaft  richtig  und  hätte 
nie   bestritten   werden   sollen**).      Nirgends    hat   ein   Urtheil 


*)  Grundlage  der  gesammten  Wissenschaftslehre.  Erster  Theil  §  1, 
eine  Stelle,  an  die  ich  durch  Bergmann  (Reine  Logik  I.  S.  235)  erin- 
nert worden  bin. 

**)  Es  wird  eingewendet  (vgl.  Ueberweg  S.  162) :  Sätze  wie  Gott  ist 
gerecht,  die  Seele  ist  unsterblich,  wahre  Freunde  sind  zu  schätzen,  invol- 
vieren allerdings  die  Behauptung,  dass  es  einen  Gott,  dass  es  eine  Seele, 
dass  es  wahre  Freunde  gebe;  diese  Voraussetzung  liegein  dem  Indicativ; 
wer  die  Vorraussetzung  nicht  annehmen  wolle ,  müsste  jenen  Sätzen 
die  Clausein  beifügen  wodurch  sie  zu  hypothetischen  werden  :  falls  es 
einen  Gott  etc.  gibt.  Nur  wenn  der  Zusammenhang  des  Ganzen  (wie  in 
einem  Roman)  oder  der  bekannte  Sinn  eines  Wortes  (wie  Zeus,  Sphinx, 
Chimäreetc.)  auf  eine  bloss  fingierte  Wirklichkeit  oder  eine  blosse  Namen- 
P'rklärung  hinweise,  sei  eine  derartige  Clausel  entbehrlich.  In  dieser  Ein- 
wendung ist  soviel  richtig,  dass  von  denjenigen,  die  solche  Urtheile  aus- 
sprechen oder  hören,  die  Realität  der  Subjecte  in  der  Regel  vorausgesetzt 
wird,  weil  sonst  im  Zusammenhange  gar  kein  Motiv  wäre  sie  auszu- 
sprechen; aber  dies  ist  etwas  gänzlich  anderes,  als  dass  das  Urtheil  selbst, 
wie  es  für  sich  lautet,  die  Behauptung  der  Realität  des  Subjects  involviere, 


95  §  ^7.     Der  sprachliche  Ausdruck  des  Urtheilsacts.  12l 

von  der  Form  A   ist  B    dadurch  ,    dass  Subject   und  Prädicat 
durch  »ist«  verknüpft  sind,  die  Kraft,  das  Urtheil  »A  existiert« 


d.  h.  dass  diese  durch  den  Wortlaut  des  ürtheils,  insbesondere  durch  den 
Indicativ,  nothwendig  mit  behauptet  werde.  Wäre  dies  der  Fall,  so  wäre 
es  nicht  begreiflich  wie  eine  Ausnahme  stattfinden  könnte;  denn  hat  der 
Indicativ  des  kategorischen  ürtheils  mit  »ist«  die  Kraft  die  Realität 
des  Subjects  zu  behaupten,  so  muss  er  sie  immer  und  überall  haben. 
Die  Ausnahmen  die  Ueberweg  zulässt,  beweisen  selbst,  dass  es  nicht 
von  der  Form  des  ürtheils,  sondern  von  Nebenvorstellungen,  die  sich  an 
die  Bedeutung  der  Subjectswörter  knüpfen,  die  aber  im  ürtheil  nicht 
ausgesprochen  sind,  abhängt,  ob  die  Voraussetzung  ihrer  Existenz  »in 
der  Regel«  angenommen  wird  oder  nicht,  und  welchen  Sinn  soll  über- 
haupt die  Behauptung  der  Existenz  haben,  wo  das  Subject  nicht  wie 
in  dem  Satze  Gott  ist  gerecht ,  oder  wahre  Freunde  sind  zu  schätzen, 
individuelle  Wesen  als  solche  bezeichnet,  sondern  wo  es  allgemein  ge- 
setzt ist?  Wenn  ich  sage  »Schnee  ist  weiss«,  in  welchem  Sinne  invol- 
viert dieses  ürtheil  die  Behauptung,  dass  Schnee  existiert?  Nicht  in 
dem  Sinne  jedenfalls,  den  das  Präsens  des  Indicativs  anzeigt,  wo  es 
von  einzeln  existierenden  bestimmten  Dingen  gebraucht  wird ,  dass 
eben  jetzt  Schnee  existiere.  Denn  das  ürtheil  Schnee  ist  weiss  gilt 
Sommer  und  Winter  gleich ;  und  ebensowenig  wird  damit  gesagt  sein 
sollen,  dass  immer  Schnee  existiert.  Soll  aber  damit  behauptet  werden, 
dass  irgendwo  und  irgendwann  solche  Körper,  wie  ich  sie  unter  dem 
Worte  Schnee  vorstelle ,  wirklich  existiert  haben,  so  wäre  wieder  nur 
die  Existenz  bestimmten  Schnees  gemeint,  die  allein  behauptet  werden 
kann,  nicht  aber  von  Schnee  überhaupt  gesagt,  dass  er  existiere.  Das 
ürtheil  Schnee  ist  weiss  gilt  aber  von  Schnee  überhaupt,  nicht  von 
diesem  und  jenem. 

Nun  ist  allerdings  mit  der  Vorstellung,  die  wir  mit  »Schnee«  ver- 
binden ,  immer  die  Erinnerung  an  wirklich  wahrgenommenen  Schnee 
verknüpft,  und  darum,  wegen  der  Art,  wie  ich  zu  der  Bedeutung  des 
Wortes  gekommen  bin,  wird  vorausgesetzt,  dass  es  sich  um  etwas  Existie- 
rendes handle.  Nehme  ich  aber  das  vollkommen  gleichwerthige  ürtheil 
'  »der  Pegasus  ist  geflügelt« :  so  ist  die  Vorstellung  von  Flügeln  ebenso 
sicher  mit  der  Vorstellung  verknüpft ,  die  ich  mit  dem  Wort  Pegasus 
verbinde,  als  die  der  weissen  Farbe  mit  iSchnee;  aber  ich  habe  noch 
keinen  existierenden  Pegasus  gesehen,  weiss  vielmehr,  dass  er  ein  Ge- 
schöpf der  Phantasie  ist ,  und  darum  wird  die  Existenz  des  Pegasus 
nicht  vorausgesetzt.  Das  ürtheil  selbst  aber  sagt  mir  weder,  dass  Pe- 
gasus existiere,  noch  dass  er  nicht  existiere,  sondern  nur  wie  beschaffen 
die  Vorstellung  sei,  die  ich  mit  dem  Worte  verknüpfe.  Nehme  ich  das 
ürtheil:  die  Aeste  der  Hyperbel  sind  unendlich,  so  ist  dieses  Urtheil 
unzweifelhaft  gültig ,  obwohl  von  der  Existenz  der  Aeste  dieser  oder 
je»er  einzelnen  Hyperbel    gar    nicht   die  Hede   sein   kann;    die  unend- 


X22  I>  ^*    ^^^  einfache  Urtheil. 

einzuschliessen   und  iiiitzubehaupten ;    in  vollkommen  gleicher 
Weise  fungiert  dieses  »ist«,  ob  von  existierenden  oder  nicht- 


lichen  Aeste  der  Hyperbel  existieren  genau  so,  wie  alle  Suhjecte  meiner 
Urtheile  existieren,  als  Objecte  meines  Denkens,  die  ich  als  überein- 
stimmend von  allen  gedacht  voraussetze. 

Vorsichtiger  hat  W.  Jordan  in  seiner  Abhandlung  ȟber  die 
Zweideutigkeit  der  Copula  bei  Stuart  Mill«  (Stuttgarter  Gymnasial- 
programm 1870)  diese  Frage  behandelt.  Er  sagt  zwar  S.  13:  »Das 
»Ist«  schliesst  durchaus  den  Begriff  der  Existenz  ein«;  aber  er  gibt 
diesem  Begriff  der  Existenz  ein  viel  weiteres  Gebiet  als  Ueberweg, 
wenn  er  S.  14  sagt:  »Wo  immer  das.  denkende  Subject  etwas  unab- 
hängig von  diesem  seinem  Denkact  Vorhandenes  annimmt ,  sei  es  in 
der  körperlichen  oder  geistigen  Welt,  da  wird  die  Logik  den  Gebrauch 
des  Ist  anerkennen.«  Fassen  wir  diese  Erklärung  beim  Wort:  so  ist 
allerdings  in  jedem  Urtheilsact ,  sofern  er  das  Subject  des  Urtheils 
schon  vorraussetzt  und  nicht  hervorbringt,  etwas  von  diesem  Denk- 
acte  unabhängig  Vorhandenes  —  nemlich  eben  die  durch  das  Subjects- 
wort  bezeichnete  Vorstellung  anerkannt;  und  wenn  es  bei  dieser  Reali- 
tät des  Vorgestelltwerdens,  die  sobald  das  Urtheil  in  der  Sprache  sich 
ausdrückt,  überdem  als  eine  gemeinsame  in  mehreren  Individuen  vor- 
ausgesetzt wird,  sein  Bewenden  hätte,  so  wäre  die  Frage  erledigt,  und 
das  Ist  stünde  überall  mit  Recht,  sobald  das  Subjectswort  und  damit 
das  Urtheil  überhaupt  einen  Sinn  hat;  es  hätte  aber  ebendarum  mit 
der  Behauptung  der  wirklichen  Existenz  des  unter  dem  Subjectswort 
gedachten  im  gewöhnlichen  Sinne  von  Existieren  gar  nichts  mehr 
zu  thun. 

Das  soll  nun  aber  doch  nicht  gesagt  sein ;  und  Jordan  versucht  — 
gegen  Herbart  und  Mill  ~  dem  »Ist«  seine  Bedeutung  realer  Existenz  zu 
retten.  Einerseits  indem  die  Wirklichkeit,  die  gemeint  ist,  der  Prädi- 
catsbestimmung ,  aber  nicht  der  Subjectsbestimmung  zukomme.  In 
Sätzen  wie  Selbsthilfe  ist  verboten,  Masshalten  ist  schwer,  sei  aller- 
dings die  Existenz  der  SubjectsvoMßtellung  dahingestellt,  im  Prädicat 
dagegen  sei  auf  etwas  wirklich  Existierendes  hingewiesen,  das  Ganze 
ein  versteckter  Existentialsatz :  Es  gibt  Gesetze  oder  Gründe,  welche 
die  Selbsthilfe  verbieten,  Umstände,  welche  das  Masshalten  erschweren. 
Allein  ist  einmal  diese  Umschreibung  zugelassen,  so  ist  zuletzt  auch 
der  Satz  »ein  viereckiger  Cirkel  ist  undenkbar«  ein  Existentialsatz :  Es 
gibt  logische  Gesetze,  welche  den  viereckigen  Cirkel  unmöglich  machen. 
Nur  ist  damit  der  ganze  Boden  des  Streites  verlassen,  der  davon  aus- 
gieng;  ob  die  Wirklichkeit  des  Subjects  behauptet  werde.  Dass  in 
jeder  Behauptung,  eben  weil  sie  objectiv  sein  will,  die  Anerkennung 
von  objectiven  »Gründen«  und  »Gesetzen«  liegt,  läugnen  wir  keines- 
wegs ;  aber  wir  läugnen ,  dass  darum  die  Existenz  eines  der  Subjects- 
yorsteliung  entsprechenden  Dings,    resp.  Attributs   oder  Vorgangs  be- 


I 


97  §  17.     Der  sprachliche  Ausdruck  des  TJrtheilsacts.  123 

existierenden  Dingen,    ob    von    einzeln    vorgestellten  oder  all- 
gemein gedachten  Subjecten  (denen  als  allgemeinen  die  Einzel- 


I 


hauptet  werde.  Die  andere  Distinction  Jordans  ,  welche  auf  das  Bei- 
spiel Mills  vom  Centaiiren  angewendet  wird  ,  ist  zutreffender.  Wenn 
der  Satz  aufgestellt  wird:  der  Centaur  ist  eine  Erfindung  der  Poeten, 
so  nähert  sich  dieser  einer  Definition.  Unter  den  Definitionen  hebt 
nun  Jordan  eine  besondere  Classe,  die  »berichtigenden«  hervor,  weche 
die  im  Subject  gesetzte  Vorstellung  aufheben  und  durch  eine  andere 
ersetzen.  "  Der  Satz  sagt :  der  Centaur  in  dem  vom  Wort  angedeuteten 
Sinne  eines  wirklichen  Wesens  existiert  nicht,  sondern  die  Vorstellung 
des  Centauren  ist  eine  Fiction.  Es  ist  keine  Frage,  dass  es  eine  Menge 
derartiger  Prädicate  gibt,  welche  das  Subjectswort,  das  gewohnheits- 
mässig  als  Bezeichnung  eines  existierenden  Dings  genommen  werden 
konnte  ,  zum  Zeichen  eines  bloss  vorgestellten  Wesens  herabsetzen. 
Nur  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  unter  diesen  Prädicaten  das  Verbum 
Sein  =  Existieren  oben  an  steht :  wenn  ich  von  einem  Subjecte  aus- 
drücklich behaupte,  dass  es  existiere,  so  gilt  mir  das  Subjectswort  als 
Zeichen  einer  Vorstellung,  und  mein  Prädicat  behauptet,  dass  dieser 
ein  wirkliches  Ding  entspricht. 

Neuerdings  hat  Fr.  Kern  (die  deutsche  Satzlehre  S.  64  ff.) 
wieder  entschieden  die  Ansicht  vertreten,  dass  die  Bedeutung  des 
Wortes  ,8ein*  immer  dieselbe  sei,  und  sich  gegen  die  Unterscheidung 
zweier  Bedeutungen  desselben  erklärt.  »In  den  Sätzen  »hölzernes  Eisen 
ist  ein  Unding«  »Ein  viereckiger  Kreis  ist  ein  Widerspruch«  wird  die 
Existenz  des  hölzernen  Eisens,  des  viereckigen  Kreises  mit  genau  der- 
selben Klarheit  und  Nachdrücklichkeit  behauptet ,  wie  in  dem  Satze 
»der  Knabe  ist  im  Garten«  die  Existenz  des  Knaben.  Während  aber 
.  .  der  Knabe  auch  ausserhalb  meines  Denkens  existiert  .  .  so  existiert 
jenes  Eisen  und  dieser  Kreis  nur  in  meiner  Vorstellung,  und  zwar  mit 
der  von  mir  erkannten  und  ausgesprochenen  Eigenschaft,  ein  Unding 
oder  ein  Widerspruch  zu  sein,  also  in  einer  von  mir  unabhängigen 
Wirklichkeit  unmöglich  anzutreffen.« 

Mit  der  Distinction  aber,  dass  das  eine  Subject  ausser  mir  in  Wirk- 
lichkeit ,  das  andere  nur  in  meiner  Vorstellung  existiere ,  ist  ja  die 
Zweideutigkeit  des  Wortes  unmittelbar  zugegeben ;  denn  steht  es  allein, 
im  Sinne  von  »existieren«  ,  so  behauptet  es  ,  dass  das  Subject  eben 
nicht  nur  in  meiner  Vorstellung  existiere,  sondern  unabhängig  von 
derselben;  der  Satz:  Gott  existiert  -  aber  nur  in  meiner  Vorstellung, 
hebt  ja  durch  den  Beisatz  den  Sinn  direct  wieder  auf,  in  dem  »Gott 
existiert«  nothwendig  zuerst  verstanden  werden  musste.  Aber  es  ist 
nicht  einmal  wahr,  dass  ein  viereckiger  Kreis  in  meiner  Vorstel- 
lung exibtiert;  denn  wer  vermöchte  sich  einen  solchen  zu  denken? 
Widersprechendes  ist  nicht  bloss  in  der  von  mir  unabliäni^igeii  Wirk- 
lichkeit, sondern  auch  in  meinen  Gedanken   unmöglich;   das  Prädicat; 


124  h  2.    Das  einfache  ürtheil.  97 

existenz  nicht  zukommen  kann),  ob  von  Prädicaten  die  Rede  ist, 
die  einem  Existierenden  zukommen  können  oder  von  solchen, 
welche  durch  ihre  Bedeutung  die  Existenz  aufheben;  es  hat 
keine  andere  Function,  als  das  Prädicat  für  die  Verwendung 
im  Urtheil  formell  tauglich  zu  machen  und  ihm  die  Annahme 
der  Personalendung  zu  gestatten.  In  welchem  Sinne  Subject 
und  Prädicat  Eins  gesetzt  werden,  und  ob  die  Existenz  des 
Subjects  vorausgesetzt,  unentschieden  gelassen  oder  aufgehoben 
ist ,  darüber  entscheidet  einzig  und  allein  die  Beschaffenheit 
der  Subjects-  und  Prädicatsvorstellungen.  Das  Quadrat  ist 
ein  reguläres  Viereck  meint  logische  Identität;  dies  ist  meine 
Uhr  reale  Identität ;  das  Gold  ist  Metall  eine  Subsumtion 
unter  eine  allgemeinere  Vorstellung;  das  Gold  ist  gelb  die 
Einheit  von  Ding  und  Eigenschaft;  A  ist  von  B  eine  Meile 
entfernt  eine  Relation ;  die  Bewegung  ist  langsam  die  Einheit 
eines  Allgemeinen  mit  seiner  näheren  Determination  u.  s.  f. 
»Socrates  ist  krank«  setzt  die  Existenz  des  Subjects  voraus, 
weil  Socrates  der  Name  eines  als  existierend  gedachten  Indi- 
viduums, und  krank  ein  in  bestimmter  Zeit  wirklich  gedachter 
Zustand  ist;  »der  Pegasus  ist  geflügelt«  lässt  die  Existenz  des 
Pegasus  für  denjenigen  unentschieden ,  der  nicht  weiss  ob  er 
es  mit  dem  Namen  eines  wirklichen  oder  eines  bloss  fingierten 
Wesens  zu  thun  hat;  »der  Pegasus  ist  eine  mythologische 
Fiction«    hebt   die  Existenz    des  Subjects  auf;   nirgends   aber 

»ist  ein  Widerspruch«  sagt  vielmehr,  dass  ich  bei  den  Worten  »Vier- 
eckiger Kreis«  nicht  denken  kann,  was  sie  verlangen;  es  hebt  auch  die 
Existenz  in  Gedanken  auf. 

Wenn  dann  S.  74  das  Beispiel  angeführt  wird,  dass  einem  Zweif- 
ler gegenüber  mit  Betonung  gesagt  wird :  A  i  s  t  der  Thäter,  und  dieses 
betonte  i  s  t  nun  die  Existenz  des  A  als  Thäters  nachdrücklich  hervor- 
heben .«olle,  so  ist  klar,  dass  die  Existenz  von  A  gar  nicht  angefochten 
war,  also  auch  kein  Grund  vorliegt,  sie  nachdrücklich  hervorzuheben; 
bestritten  war  nicht  die  Existenz  des  A,  sondern  sein  Thätersein,  das 
Recht  von  dem  unbestritten  existierenden  A  das  Prädicat  Thäter  aus- 
zusagen. Sonst  mfisste  ja  der  Satz  »A  ist  nicht  der  Thäter«  nicht 
bloss  die  Qualität  des  Thäterseins ,  sondern  die  Existenz  des  A  auf- 
heben wollen.  Ueber  die  ICinwendungen  Bergmanns  (a.a.O.  S.  235  ff.) 
vgl.  Vierteljahrsschrift  für  wiss.  Philos.  V,  113  ff. 


98  §   17.     Der  sprachliche  Ausdruck  des  Urtheilsacts.  l25 

ist  darüber  anderswo  etwas  abzunehmen  als  aus  der  Bedeutung 
der  Wörter,  sei  es  der  Subjects-  oder  Prädicatswörter. 

4.  In  Beziehung  auf  die  Prädicate  können  dabei  zwei 
Classen  derselben  unterschieden  werden. 

Alle  modalen  Relationsprädicate  nemlich,  welche 
ein  Verhältniss  zu  meinem  Erkennen  ausdrücken  ,  haben  (mit 
Ausnahme  der  sinnlichen  ,  wie  sichtbar ,  fühlbar  u.  s.  w.) 
durch  ihre  Bedeutung  selbst  die  Kraft,  das  Subjectswort  zum 
Zeichen  eines  bloss  Vorgestellten,  abgesehen  von  der  wirklichen 
Existenz  zu  machen,  mögen  sie  seine  Existenz  bejahen,  verneinen 
oder  unentschieden  lassen.  Von  was  ich  die  Prädicate  wahr, 
falsch,  glaublich,  unglaublich,  Thatsache,  Erfindung,  möglich, 
unmöglich  u.  s.  w.  gebrauche,  das  ist  ebendamit'als  ein  nur 
Vorgestelltes  bezeichnet ,  über  dessen  Verhältniss  zu  mir  und 
meinem  subjectiven  Denken  eben  das  Prädicat  Auskunft  geben 
soll.  Die  Sätze :  Teils  Apfelschuss  ist  eine  Thatsache ,  der 
trojanische  Krieg  ist  ein  geschichtlicher  Vorgang,  Atome  sind 
wirklich  existierende  Körper  u.  s.  w.  wären  schlechterdings 
unmöglich,  wenn  das  ,ist'  und  ,sind'  für  sich  schon  die  Exi- 
stenz des  Subjects  auszusagen  die  Kraft  hätte. 

Zu  den  modalen  Relationsprädicaten  gehört  aber  das  ab- 
solut gesetzte  Verbum  Sein  —  Existieren  selbst ;  indem  es  die 
Existenz  des  Subjects  ausdrücklich  behauptet,  entscheidet  es 
erst  die  Frage,  ob  das  unter  dem  Subjectswort  zunächst  bloss 
Vorgestellte  auch  wirklich  sei.     Vergl.  oben  §  12,  7  S.   93. 

Bei  den  andern  Präd  icaten  aber  kommt  alles  darauf 
an,  über  was  und  in  welchem  Sinn  geurtheilt  wird  ,  und  dies 
lässt  sich  dem  Urtheil  an  der  blossen  äusseren  Form  und 
der  Verwendung  des  »Ist«  nicht  ansehen.  Ist  das  Subjects- 
wort allgemein  gesetzt  und  nicht  als  Name  eines  oder  mehrerer 
bestimmter  Dinge  eingeführt:  so  kann  auch  das  vermittelst 
des  Verbums  Sein  gebildete  Prädicat  nichts  als  den  Inhalt 
dieser  Subjectsvorstellung  angeben  und  von  einer  Existenz 
des  Subjects  ist  gar  keine  Rede.  Ob  ich  sage  Gold  ist  gelb 
oder  Atome  sind  untheill)ar  -  gelb  sein  und  unthcilbar  sein 
kommen  demjenigen  zu,  was  ich  unter  dem  Subjectswort  vor- 
stelle, die  Sätze  behaupten  aber  nicht  das  Sein  oin/(4ner  Dinge. 
Ob  das  Subjectswort  auf  solche  anwendbar  ist,   niiiss  anders- 


126  I.  2.    Das  einfache  Urtheil. 


woher  bekannt  sein.  Tritt  aber  das  Subjectswort  von  vorn- 
herein als  Bezeichnung  einzelner  existierender  Dinge  auf: 
dieses  Stück  Gold  ist  gelb ,  dieses  Pferd  ist  schwarz :  dann 
ist  allerdings  die  Existenz  vorausgesetzt ,  aber  nicht  durch 
»ist«,  sondern  durch   »dieses«. 

5.  Dann  betrifft  aber  die  »Zweideutigkeit  der  Copula« 
nicht  bloss  das  Verbum  Sein,  sondern  alle  Pr'ädicate,  welche 
an  sich  reale  Zustände  und  Eigenschaften  bezeichnen  können, 
sofern  sie  das  einemal  aussagen  wollen,  was  im  einzelnen 
Falle  wirklich  stattfindet,  das  anderemal,  was  zu  dem  vorge- 
stellten Subject  als  seine  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  gehört, 
und  zweideutig  ist  streng  genommen  nur  das  Präsens, 
sofern  es  bald  die  empirische  zeitliche  Gegenwart,  bald  die 
allgemeine  Noth wendigkeit  des  Denkens  ausdrückt.  Der  Satz: 
Grosse  Seelen  verzeihen  Beleidigungen,  behauptet  weder  dass 
grosse  Seelen  existieren,  was  doch  die  Voraussetzung  des  wirk- 
lichen Verzeihens  ist,  noch  dass  einige  grosse  Seelen  eben  jetzt 
Beleidigungen  verzeihen;  sondern  er  sagt  nur,  dass  wenn  einer 
eine  grosse  Seele  ist,  er  Beleidigungen  verzeihen  rauss.  Der 
Satz  aber  »Socrates  spricht«  behauptet  die  Existenz  des  So- 
crates  so  gut  als  der  Satz  »Socrates  ist  krank« :  weil  Socrates 
ein  einzelnes  existierendes  Individuum  als  solches  bezeichnet, 
kann  von  ihm  nur  eben  sofern  er  existiert  geredet  werden, 
und  was  ihm  an  Handlungen  oder  Eigenschaften  zugeschrieben 
wird,  schliesst  seine  Existenz  immer  mit  ein*). 

6.  Wie  kommt  nun  aber  das  Verbum  »Sein«,  der  Aus- 
druck wirklicher  Existenz,  überhaupt  dazu  eine  formelle  Func- 
tion zu  übernehmen,  in  der  es  seine  Bedeutung  aufgibt,  ja 
derselben  zu  widersprechen  scheint? 

Denn  nicht  das  ist  das  Merkwürdige,  dass  die  Zweideu- 
tigkeit in  dieser  Beziehung  so  wenig  bemerkt  worden  ist, 
sondern  dass  sie  in  allen  uns  geläufigen  Sprachen  in  voller 
Uebereinstinmiung  sich  findet.  Die  Erklärung  ist  nicht  schwer. 
V^ie    üeberweg    (S.  162)    richtig    hervorhebt    und    wir    oben 


I 


*)  Die  Theorie,  welche  das  Urtheil  »A  spricht«,  um  die  unver- 
meidliche Copula  »ist«  zu  haben,  in  »A  ist  sprechend«  verwandelt, 
kann  wohl  als  antiquiert  gelten. 


100  §  17.    Der  sprachliche  Ausdruck  des  Urtheilsacts.  127 

(S.  91)  betont  haben,  ist  die  Voraussetzung,  dass  die  Dinge 
von  denen  wir  reden  existieren,  in  der  Regel  selbstverständ- 
lich, und  bedarf  keiner  ausdrücklicben  Versicherung;  es  in- 
teressiert uns  nicht,  dass  die  Dinge  sind,  sondern  was  und 
wie  sie  sind.  Wenn  es  nun  darauf  ankommt,  die  Prädication 
nicht  bloss  durch  Nebeneinanderstellung  auszudrücken ,  son- 
dern dem  Prädicate  Verbalform  zu  geben,  bietet  ^ich  das  Ver- 
bum  Sein'  eben  wegen  seiner  Allgemeinheit  und  Inhaltslosig- 
keit von  selbst;  es  ist  zunächst  immer  vorausgesetzt,  aber 
damit  man  wisse  was  man  zu  wissen  wünscht ,  bedarf  es  der 
näheren  Bestimmung  des  Dieses  seins  und  So  seins;  wie  die 
Behauptung  der  Existenz  durch  das  Hier  sein  und  Jetzt  sein 
näher  bestimmt  wird.  Das  Prädicat  roth,  das  der  Wortform 
nach  schon  etwas  an  einem  andern  Seiendes  bezeichnet,  tritt 
jetzt  als  Modification  des  Seins  auf,  Roth  sein,  u.  s.  w. 

Wie  nun  das  Präsens  einerseits  die  empirische  sinnliche 
Gegenwart  ausdrückt ,  andrerseits  die  zeitlose  Gegenwart  in 
Gedanken  bezeichnet,  so  erweitert  sich  auch  die  Bedeutung 
des  Seins  in  dieser  Verbindung;  das  Verhältniss  der  Eigen- 
schaft ist  an  dem  gedachten  Ding  dasselbe  wie  an  dem  in 
seiner  Existenz  sinnlich  wahrnehmbaren;  wie  die  Voraus- 
setzung des  Seins  früher  bloss  mitverstanden  war ,  so  kann 
jetzt  von  ihr  abgesehen  werden ;  als  Gegenstände  meiner  Vor- 
stellung verändern  die  Dinge  sich  nicht;  ihr  Sein  kann  auf- 
hören, ihr  Dieses  sein  und  So  sein  bleibt,  sofern  ich  sie  in 
Gedanken  festhalte. 

Ein  Rest  der  ursprünglichen  Bedeutung,  und  der  wich- 
tigste ,  ist  aber  trotzdem  dem  Verbum  geblieben.  In  dem 
Verbum  Sein  liegt  ursprünglich  die  reale  Existenz.  Was  exi- 
stiert, gilt  unabhängig  von  meinem  Denken  und  gilt  für  alle. 
Diese  Objectivität  der  Verbindung,  die  mein  Urtheil  ausspricht, 
ist  ein  wesentlicher  Factor  des  Urtheils  selbst;  sie,  nicht  die 
Existenz  des  Subjects  wird  mitbehauptet;  und  eben  für  sie 
ist  Sein  ein  ganz  passendes  Ausdrucksmittel.  Es  verstärkt 
durch  seine  erweiterte  Grundbedeutung ,  was  an  sich  schon 
die  Plexionsform  zu  sagen  fähig  ist  —  die  Behauptung  der 
Objectivität  und  Allgemeingültigkeit  des  Urtheils. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Entstehung  der  TJrtheile  und  der  Unterschied 
analytischer  und  synthetischer  Urtheile. 

§  18. 

Unmittelbare  Urtlieile  sind  diejenigen ,  welche  nur 
die  in  ihnen  verknüpften  Vorstellungen  voraussetzen,  um  sie 
als  Subject  und  Prädicat  mit  dem  Bewusstsein  der  Gültigkeit 
zu  vereinigen;  mittelbare  oder  vermit  t  el  t  e  diejenigen, 
welche  hiezu  noch  einer  weiteren  Voraussetzung  bedürfen. 

Kants  Unterscheidung  analytischer  und  syntheti- 
scher Urtheile  betriift  nur  das  Verhältniss  des  Prädicats  zu 
dem  durch  das  Subjectswort  bezeichneten,  als  gegeben  ange- 
nommenen Begriffe.  Sie  wird  von  Kant  nicht  angewendet 
auf  diejenigen  Urtheile,  in  denen  das  Subject  eine  einzelne 
anschauliche  Vorstellung  ist.  Alle  Relationsurtheile 
ferner  müssen  vom  kantischen  Gesichtspunkte  als  synthe- 
tische betrachtet  werden,  auch  wenn  sie  auf  einer  Analyse 
einer  gegebenen  Gesammtvorstellung  beruhen. 

1.  Wenn  wir,  nach  Analyse  der  Functionen,  in  denen 
sich  das  einfache  Urtheil  vollzieht,  nach  der  Entstehung  des 
Urtheils  fragen,  so  betrifft  diese  Frage  nicht  die  Entstehung 
der  Vorstellungen ,  welche  das  Urtheil  verknüpft,  weder  der 
Subjects-  noch  der  Prädicats  Vorstellung;  diese  setzen  wir 
vielmehr ,  wo  wir  bloss  von  der  Analyse  des  thatsächlichen 
Urtheilens  reden ,  als  gegeben  voraus ;  sondern  die  Frage 
betrifft  nur  die  Genesis  des  Urtheilsactes  selbst  und 


102  §  18.  Analytische  und  synthetische  TTrtheile.  129 

zwar  nach  seinen  beiden  Seiten ,  der  Verknüpfung  von  Sub- 
ject  und  Pr'ädicat  zur  Einheit  und  dem  Bewusstsein  ihrer 
objectiven  Gültigkeit. 

Diese  Genesis  kann  eine  unmittelbare  oder  mittel- 
bare sein.  Unmittelbar  ist  sie,  wenn  das  Urtheil  nichts 
als  die  in  ihm  verknüpften  Vorstellungen  des  Subjects  und 
Prädicats  selbst  voraussetzt,  um  mit  dem  Bewusstsein  objectiver 
Gültigkeit  vollzogen  zu  werden ;  mittelbar,  wenn  erst 
durch  das  Hinzutreten  anderer  Voraussetzungen  dieser  Voll- 
zug möglich  wird,  sei  es  dass  die  Auf  einanderbezieh- 
ung vonSubject  und  Prädicat  überhaupt  mit  dem  Ge- 
danken ihrer  urtheilsmässigen  Einheit  erst  einer  Vermittlung 
bedarf,  oder  dass  wenigstens  das  Bewusstsein  ihrer  ob- 
jectiven Gültigkeit  anderswoher  gewonnen  werden  muss. 
Nennen  wir  vorläufig  Grund  desUrtheils  dasjenige, 
was  die  Einssetzung  von  Subject  und  Prädicat  herbeiführt: 
so  ist  das  unmittelbare  Urtheil  dasjenige,  dessen  Grund  in 
den  verknüpften  Vorstellungen  selbst ,  für  sich ,  liegt ;  das 
mittelbare  dasjenige,  dessen  Grund  in  ihnen  nur  zusammen 
mit  anderen  liegt;  und  zwar  kann  die  Vermittlung  entweder 
Subject  und  Prädicat  überhaupt  erst  in  Beziehung  setzen, 
indem  sie  die  Frage  herbeiführt  ob  A  B  sei,  oder  darüber 
hinaus  zugleich  die  Entscheidung  der  Frage  geben,  und  die 
Gewissheit  der  Gültigkeit  des  Urtheils  A  ist  B  verbürgen. 

Soll  der  Grund  nur  in  den  durch  das  Urtheil  verknüpf- 
ten Vorstellungen  selbst  liegen:  so  muss  nach  dem  Obigen 
das  Verhältniss  derselben  ein  solches  sein,  dass  die  im  Urtheil 
ausgedrückte  Einheit  unmittelbar  erkannt  werden  kann.  Bei 
einem  Ben  ennungsurtheil  bin  ich  mir  ohne  weitere 
Vermittlung  der  Coincidenz  der  gegenwärtigen  und  der  repro- 
ducierten ,  durch  das  Prädicatswort  bezeichneten  Vorstellung 
bewusst ;  sage  ich :  das  ist  eine  Tanne ,  so  finde  ich  in  der 
gegenwärtigen  Anschauung  eben  das,  was  mit  der  allgemeinen 
Vorstellung  der  Tanne  übereinstimmt.  In  den  unmittelbaren 
Eigenschafts-  und  Thätigkeitsurtheilen  ist  die  dem  Prädicat  ent- 
sprechende Vorstellung  ein  Bestandtheil  der  Subjects  vor  Stel- 
lung; indem  ich  diese  zerlegend  ein  bestimmtes  Element,  z.  B. 
die  Farbe,  hervorhebe ,  erkenne  ich  sie    übereinstimmend  mit 

Sigwart,   Logik,  I.    2.  Auflage,  0 


130  I.  3.     Entstehung  der  ürtheile.  102. 

einer  bekannten  Farbe ;  wiederum  habe  ich  nichts  als  die  gege^^ 
bene  Gesamtvorstellung  des  Subjects  nöthig,  um  in  ihr  den  dem 
Prädicat  entsprechenden  Bestandtheil  zu  entdecken. 

Bei  den  Relationsurtheilen  kann  allerdings  nicht  eine 
Zerlegung  der  Subjectsvorstellung  fürsich  das  mit 
dem  Prädicat  übereinstimmende  Element  ergeben;  ich  mag  die 
Vorstellung  der  vor  mir  stehenden  Lampe  drehen  und  wenden, 
wie  ich  will,  ich  kann  in  ihr  nicht  finden,  dass  sie  links  vom 
Schreibzeug  steht.  Aber  gegeben  ist  mir  jetzt  eine  zwei  Ob- 
jecte  und  ihr  Verhaltniss  enthaltende  Gesamtanschauung ;  in- 
dem ich  diese  in  ihre  Elemente  zerlege,  gewinne  ich  das  ürtheil, 
zu  dem  nichts  erfordert  wird,  als  die  in  ihm  verknüpften  Vor- 
stellungen; die  gegebene  Gesamtvorstellung  ist  der  Grund  zu 
der  Behauptung :  die  Lampe  steht  links  vom  Schreibzeug. 

Alle  unmittelbaren  ürtheile  sind  also  noth wendig  ana- 
lytisch, wenn  analytische  ürtheile  solche  sind,  welche 
nur  die  Elemente  wieder  vereinigen,  die  durch  Analyse  einer 
gegebenen  Vorstellung  gewonnen  waren  ;  in  welchen  entwe- 
der, wie  in  den  Benennungs-,  Eigenschafts-  und  Thätigkeits- 
urtheilen ,  der  Inhalt  des  Pradicats  schon  im  Subjecte  mit 
vorgestellt  ist,  oder,  wie  bei  den  Relationsurtheilen,  Subject 
und  Prädicat  mit  ihrer  Beziehung  nur  die  Bestandtheile  einer 
gegebenen  complexen  Vorstellun g  darstellen.  Synthetisch 
aber  müssten  dann  die  g  e  f  o  1  g  e  r  t  e  n  sein,  und  diejenigen 
welche  sonst  eines  ausserhalb  der  gegebenen  Vorstellungen 
liegenden  Grundes  bedürfen ,  um  die  Synthese  des  ürtheils 
herbeizuführen. 

2.  Dass  alle  unmittelbaren  ürtheile  in  diesem  Sinne  ana- 
lytisch sind,  widerspricht  dem  Wesen  des  ürtheils,  eine  auv- 
•8-eaLc;  vorjptaxwv  zu  sein ,  durchaus  nicht.  Denn  die  Analyse 
oder  Zerlegung  ist  nur  die  Vorher  eitungdesürt  heil  s- 
acts,  nicht  dieser  selbst;  der  ürtheilsact  stellt  vielmehr  die 
Einheit  der  unterschiedenen  Elemente  her  (vergl.  §  8,  1). 

3.  Die  Termini  analytisch  und  synthetisch  in  dem  eben 
bezeichneten  Sinne  ohne  Weiteres  zu  verwenden,  widerräth  je- 
doch der  durch  Kant  eingeführte  Sprachgebrauch.  Denn  die 
obige  Unterscheidung  unmittelbarer  und  vermittelter  ürtheile 
steht  auf  wesentlich  anderem  Boden  als  die  K  a  n  t  i  s  c  h  e  ün- 


104  §  18.     Analytische  und  synthetische  Urtheile.  131 

terscheidung  der  analytischen  und  synthetischen 
Urtheile,  sofern  es  für  jene  rein  auf  die  jeweilige  Genesis  des 
Urtheils  in  dem  urtheilenden  Subjecte  ankommt,  ob  ein  Ur- 
theil  unmittelbar  oder  mittelbar,  durch  Zerlegung  oder  Zu- 
sammenfügung entstanden  ist;  eine  Genesis  die  man  aus  dem 
sprachlichen  Ausdruck  des  Urtheils  in  der  Regel  nicht  abzu- 
nehmen vermag;  wahrend  Kant  sich  zunächst  an  die  Vor- 
aussetzung bestimmter  begrifflicher  Bedeutung  der  als  Subjecte 
auftretenden  Wörter  hält.  ' 

»In  allen  Urtheilen,  sagt  er  in  der  bekannten  Stelle  der 
Kr.  d.  r.  V.  (1.  Afl.  S.  6.  2.  Afl.  Einl.  lY.) ,  worinnen  das 
Verhältniss  eines  Subi'ects  zum  Prädicat  gedacht  wird ,  ist 
dieses  Verhältniss  auf  zweierlei  Art  möglich.  Entweder  das 
Prädicat  B  gehört  zum  Subject  A  als  etwas,  was  in  diesem 
Begriffe  A  (versteckter  Weise)  enthalten  ist;  oder  B  liegt 
ganz  ausser  dem  Begriff  A ,  ob  es  zwar  mit  demselben  in 
Verknüpfung  steht.  Im  ersten  Falle  nenne  ich  das  Urtheil 
analytisch,  in  dem  andern  synthetisch.  Analytische  Urtheile 
(die  bejahenden)  sind  also  diejenigen ,  in  welchen  die  Ver- 
knüpfung des  Prädicats  mit  dem  Subjecte  durch  Identität,  die- 
jenigen aber,  in  denen  diese  Verknüpfung  ohne  Identität  ge- 
dacht wird,  sollen  synthetische  heissen.  Die  ersteren  könnte 
man  auch  Erläuterungs-,  die  andern  Erweiterungsurtheile  heis- 
sen, weil  jene  durch  das  Prädicat  nichts  zum  Begriff  des  Sub- 
jects  hinzuthun,  sondern  diesen  nur  durch  Zergliederung  in 
seine  Theilbegriffe  zerfallen ,  die  in  selbigem  schon  (obgleich 
verworren)  gedacht  waren ;  da  hingegen  die  letzteren  zu  dem 
Begiffe  des  Subjects  ein  Prädicat  hinzuthun,  welches  in  jenem 
gar  nicht  gedacht  war ,  und  durch  keine  Zergliederung  des- 
selben hätte  können  herausgezogen  werden«.  Folgt  das  Bei- 
spiel der  beiden  Sätze :  alle  Körper  sind  ausgedehnt,  und  aJle 
Körper  sind  schwer.  Um  zu  jenem  Urtheile  zu  gelangen,  darf 
ich  »jenen  Begriff  (des  Körpers)  nur  zergliedern,  d.  i.  desMa- 
nigfaltigen,  welches  ich  jederzeit  in  ihm  denke,  nur  bewusst 
werden,  um  dieses  Prädicat  darin  anzutreffen.  Dagegen,  wenn 
ich  sage:  alle  Körper  sind  schwer,  so  ist  das  Prädicat  etwas 
ganz  anderes,  als  das  ,  was  ich  in  dem  blossen  Begriff  eines 
Körpers  überhaupt  denke.« 


132  I»  3.     Entstehung  der  Urtheile.  104 

Ebendarum,  fügen  die  Prolegomena  §  2,  6  an,  sind  auch 
alle  analytischen  Sätze  Urtheile  a  priori,  wenn  gleich  ihre  Be- 
griffe empirisch  sind,  z.  B.  Gold  ist  ein  gelbes  Metall;  denn 
um  dieses  zu  wissen,  brauche  ich  keiner  weiteren  Erfahrung 
ausser  meinem  Begriff  vom  Golde,  der  enthielte,  dass  dieser 
Körper  gelb  und  Metall  sei;  denn  dieses  macht  eben  meinen 
Begriff  aus. 

>Erfahrungsurtheile,  als  solche,  fährt  Kant  in  der  zweiten 
Aufl.  fort,  sind  insgesammt  synthetisch.  Denn  es  wäre  unge- 
reimt, ein  analytisches  Urtheil  auf  Erfahruntr  zu  gründen, 
weil  ich  aus  meinem  Begriffe  gar  nicht  herausgehen  darf, 
um  das  Urtheil  abzufassen,  und  also  kein  Zeugniss  der  Er- 
fahrung dazu  nöthig  habe.  Dass  ein  Körper  ausgedehnt  sei, 
ist  ein  Satz,  der  a  priori  feststeht,  und  kein  Erfahrungsur- 
theil.  Denn ,  ehe  ich  zur  Erfahrung  gehe ,  habe  ich  alle 
Bedingungen  zu  meinem  Urtheile  schon  in  dem  Begriffe,  aus 
welchem  ich  das  Prädicat  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs 
nur  herausziehen ,  und  dadurch  zugleich  der  Noth wendigkeit 
des  Urtheils  bewusst  werden  kann ,  welche  mir  Erfahrung 
nicht  einmal  lehren  würde.  Dagegen  ob  ich  schon  in  dem 
Begriff  eines  Körpers  überhaupt  das  Prädicat  der  Schwere 
gar  nicht  einschliesse,  so  bezeichnet  jener  doch  einen  Gegen- 
stand der  Erfahrung  durch  einen  Theil  derselben,  zu  welchem 
ich  also  noch  andere  Theile  eben  derselben  Erfahrung,  als 
zu  dem  ersteren  gehörig,  hinzufügen  kann.  Ich  kann  den 
Begriff  des  Körpers  vorher  analytisch  durch  die  Merkmale  der 
Ausdehnung,  der  Undurchdringlichkeit,  der  Gestalt  etc.,  die 
alle  in  diesem  Begriffe  gedacht  werden,  erkennen.  Nun  er- 
weitere ich  aber  meine  Erkenntniss  ,  und  indem  ich  auf  die 
Erfahrung  zurücksehe,  von  welcher  ich  diesen  Begriff  des  Kör- 
pers abgezogen  hatte,  so  finde  ich  mit  obigen  Merkmalen  auch 
die  Schwere  jederzeit  verknüpft,  und  füge  also  diese  als  Prä- 
dicat zu  jenem  Begriffe  synthetisch  hinzu.  Es  ist  also  die 
Erfahrung ,  worauf  sich  die  Möglichkeit  der  Synthesis  des 
Prädicats  der  Schwere  mit  dem  Begriffe  des  Körpers  gründet, 
weil  beide  Begriffe,  ob  zwar  einer  nicht  in  dem  andern  ent- 
halten ist,  dennoch  als  Theile  eines  Ganzen,  nemlich  der  Er- 
fahrung, die  selbst  eine  synthetische  Verbindung  der  Anschau- 


105  §  18.  Analytische  und  synthetische  TJrtheile.  133 

ungen  ist,  zu  einander,  wiewohl  nur  zufälliger  Weise,  ge- 
hören«. 

Wir  haben  diese  Stellen  ausführlich  mitgetheilt ,  weil  es 
von  Werth  ist,  der  Voraussetzungen  bewusst  zu  werden,  auf 
denen  diese  Unterscheidung  ruht.  Zuerst  hat  Kant  —  nach  der 
herkömmlichen  Auffassung  des  ürtheils  —  lediglich  den  Begriff 
im  Auge ,  der  durch  das  Subjectswort  bezeichnet  wird ,  und 
der  seine  Bedeutung  constituiert ;  die  Frage  ist,  ob  das  Prädi- 
cat  eines  der  Merkmale  sei,  welche  ich  in  dem  Begriffe  des 
Subjects  »obgleich  verworren«  denke,  oder  ob  es  in  diesem 
Begriffe,  wie  ich  ihn  eben  denke,  noch  nicht  enthalten  ist. 
Auch  bei  dem  particulären  Urtheil  »Einige  Körper  sind  schwer«, 
das  die  Prolegomena  statt  des  allgemeinen  ürtheils  der  Kr.  d. 
r.  V.  als  Beispiel  gebrauchen,  handelt  es  sich  nur  darum,  dass 
das  Prädicat  schwer  »in  dem  allgemeinen  Begriffe  von  Körper 
nicht  wirklich  gedacht  wird. «  Kant  setzt  dabei  in  den  von  ihm 
gewählten  Beispielen  voraus,  dass  der  Begriff  aus  der  Erfah- 
rung abgezogen  sei,  aber  nur  einen  Theil  der  Erfahrung  von 
diesem  Gegenstande  ausmache,  oder,  wie  er  sich  in  der  ersten 
Aufl.  ausdrückt,  die  vollständige  Erfahrung  durch  einen  Theil 
derselben  bezeichne.  Darin  liegt  zweierlei:  einmal  dass  der 
Begriff  durch  ein  Abstractionsverfahren  gebildet,  seine  Merk- 
male also  (als  gemeinschaftliche  Merkmale  des  Verschiedenen 
von  dem  er  abstrahiert  worden)  schon  fixiert  worden  seien; 
und  dann,  dass  es  sich  nicht  um  den  erschöpfenden  Begriff 
eines  Gegenstandes  der  Erfahrung  handle,  der  sein  gesammtes 
Wesen  ausdrückt ,  sondern  um  ein  rein  subjectives  Gebilde, 
in  welchem  aus  Ursachen,  die  dem  Wesen  des  Dinges  gegen- 
über zufällig  sind,  ein  Theil  der  Merkmale,  die  der  bestimmten 
Classe  von  Dingen  wirklich  zukommen,  zusammengefasst  und 
zur  Bezeichnung  dieser  Classe  von  Dingen  verwendet  worden 
ist.  Nur  auf  Grund  einer  eben  factisch  allgemeingeltenden 
oder  als  allgemein  geltend  vorausgesetzten  Bedeutung  des  Wor- 
tes Körper  also  kann  man  sagen,  das  Urtheil,  alle  Körper  sind 
ausgedehnt,  sei  analytisch,  das  andere  synthetisch. 

Dass  Kant  dabei  es  hinsichtlich  der  empirischen  Begriffe  als 
zufällig  betrachtet,  welche  Merkmale  zur  Constituierung  eines 
solchen  Begriffs  verwendet  werden,  geht  aus  den  Ausführungen 


134  i»  3.     Kntstehung  der  Urtheile.  106 

der  Methodenlehre  (S.  721  ff.  der  ersten  Ausgabe)  unzweifelhaft 
hervor.  Dort  wird  gezeigt,  dass  es  im  empirischen  Gebiete  Defini- 
tionen in  strengem  Sinne  gar  nicht  gebe,  da  sich  alle  Merk- 
male,  welche  dem  Gegenstande,  z.  B.  Gold  oder  Wasser  zu- 
kommen, niemals  erschöpfen,  die  Forderung  der  Ausführlich- 
keit einer  Definition  also  nicht   erfüllen    lasse;    wir  fassen  in 
unseren  Begriffen   nur  so   viele  Merkmale  zusammen,    als  zur 
Unterscheidung  der  Gegenstände  hinreichend  sind;  es  ist  nie- 
mals sicher,  ob  man  unter  dem  Worte,  das  denselben  Gegen- 
stand bezeichnet,    nicht  einmal  mehr,  das  anderemal  weniger 
Merkmale  desselben  denke;    die  angeblichen  Definitionen  sind 
nur  Wortbestimmungen,  Nominaldefinitionen.     Damit 
stimmen  auch  die  §§  90 — 106   der  Kant'schen  Logik  überein. 
Wenn  Kant   also    das  Urtheil :    »alle  Körper  sind  ausge- 
dehnt« für  analytisch,   »alle  Körper  sind  schwer«  für  synthe- 
tisch erklärt,  so  kann  er  nur  eine  f actisch  allgemein  geltende 
Nominaldefinition   voraussetzen.    Dagegen  richtet  sich  zunächst 
die  Kritik  Schleiermachers,  in  der  er  (Dial.  §  308  S.  264  vgl. 
S.  563)    den  Unterschied    der  analytischen   und  synthetischen 
Urtheile  für  nur  relativ  erklärt,    weil   der   Begriff   immer 
nur  werdend    sei.     Das^^elbe  Urtheil    (Eis  schmilzt)    kann   ein 
analytisches  sein,  wenn  das  Entstehen  und  Vergehen  durch  be- 
stimmte Temperaturverhältnisse  schon  in  den  Begriff  des  Eises 
aufgenommen  war ,    und  ein  synthetisches,   wenn  noch  nicht ; 
die  Differenz  sagt    also    nur  einen    verschiedenen  Zustand  der 
ßegriffsbildung  aus.     Auf  das  Kantische  Beispiel  angewandt: 
Ehe  ich  die  Erfahrung  mache,  die  mich  zu  dem  Satze  berech- 
tigt: alle  Körper  sind  schwer,  habe  ich  den  Begriff p;  des  Kör- 
pers nur    durch   die  Merkmale    der  Ausdehnung  u.  s.  w.    ge- 
bildet;   nachdem  ich  sie  aber  gemacht  habe,    kann  und  muss 
ich  das  Merkmal  der  Schwere  mit  in  den  Begriff  des  Körpers 
aufnehmen,  um  die  vollständige  Erfahrung  auszudrücken,  und 
mein  Urtheil  alle  Körper  sind  schwer  ist  nun  ein  analytisches ; 
ich  könnte   jetzt  mit    diesem  Begriffe   zu    weiterer  Erfahrung 
schreiten,  z.   B.  sagen  alle  Körper  sind  electrisch,  alle  Körper 
sind  warm.     Wäre  mein  Begriff  der  Ausdruck  einer  vollstän- 
digen Erkenn tniss  ,    was  freilich  erst   bei  der  Vollendung  des 


107  §  18.   Analytische  und  synthetische  IJrtheile.  135 

Wissens  überhaupt  möglich  wäre,  so  wären  alle  ürtheile  der 
Art  analytisch. 

Diese  Kritik  ist  nach  Kants  eigenen  Ausführungen  voll- 
kommen berechtigt.  Ob  ein  Urtheil  über  empirische  Gegen- 
stände analytisch  ist  oder  nicht ,  kann  niemals  entschieden 
werden,  wenn  ich  nicht  den  Sinn  kenne,  welchen  der  Urthei- 
lende  mit  seinem  Subjectsworte  verbindet,  den  Inbegriff  der 
Merkmale,  die  er  auf  diesem  bestimmten  Stadium  der  Begriffs- 
bildung darin  zusammen gefasst  hat.  Der  Fortschritt  aber  von 
einer  Bedeutung  des  Worts  zur  andern  entsteht  ihm  durch 
ein  synthetisches  Urtheil.  Dieses  Urtheil  ist,  was  nicht  über- 
sehen werden  darf,  das  Resultat  eines  Inductionsschlusses, 
denn  nur  dieser  vermag  ein  allgemeines  aus  der  Erfahrung  ge- 
zogenes Urtheil  zu  begründen;  es  ist  aber  ebendarum  (wie  die 
Methodenlehre  S.  721  ausdrücklich  betont)  kein  nothwendiges 
und  apodictisches.  Diese  Unsicherheit  fällt  weg  bei  den  ma- 
thematischen Begriffen,  aber  nur  darum,  weil  sie  vorsätzlich 
gemacht  sind,  und  eine  willkürliche  Synth  es is  enthal- 
ten (a.  a.  0.  S.  729). 

Sollte  ein  Urtheil  an  und  für  sich  als  analytisch 
betrachtet  werden  müssen:  so  wäre  offenbar  vorausgesetzt, 
dass  keine  subjectiven  Differenzen  zwischen  den  Begriffen 
wären,  welche  Verschiedene  mit  demselben  Worte  verbinden 
können;  unter  der  Voraussetzung  also  vollkommen  fester  und 
abgeschlossener  Bedeutung  der  Wörter  kann  es  Ürtheile  geben, 
die  sicher  analytisch  sind ;  sie  sind  in  diesem  Fall  mit  der  an- 
erkannten Bedeutung  des  Wortes  gegeben.  Das  Kantische  Bei- 
spiel ist  streng  richtig,  wenn  vorausgesetzt  ist,  dass  mit  dem 
Worte  Körper  immer  Jedermann  das  Merkmal  ausgedehnt, 
Niemand  je  das  Merkmal  schwer  verbindet. 

Es  ist  aber  ebenso  klar,  dass  damit  schliesslich  jedes 
Motiv  wegfällt,  das  mich  vernünftigerweise  bestimmen  könnte 
solche  Ürtheile  auszusprechen,  da  sie  lauter  Binsenwahrheiten 
sind,  die  niemanden  etwas  sagen.  Wer  wird  sich  in  Urtheilen 
herumtreiben,  wie  alle  Dreiecke  sind  dreieckig,  alle  Vierecke 
sind  viereckig?  Ein  in  diesem  Sinne  analytisches  Urtheil 
kann  immer  nur  für  den  ausgesprochen  werden,  der  in  Ge- 
fahr ist  die  Bedeutung  eines  Wortes  zu  vergessen,  die  Merk- 


136  I»  3.    Entstehung  der  ürtheile.  107.  108 

male  des  Begriffs  nur  »verworren«  zu  denken,  es  über  seine 
Sphäre  auszudehnen  u.  s.  w. ,  d.  h.  für  denjenigen  für  den 
es  streng  genommen  schon  nicht  mehr  analytisch  ist;  denn 
so  lange  er  selbst  die  Merkmale  nur  verworren  denkt,  kann 
er  es  nicht  einmal  vollziehen ;  und  so  führen  die  analy- 
tischen ürtheile  in  diesem  Sinne  von  selbst  zu  denjenigen 
hinüber,  welche  die  unverstandene  Bedeutung  eines  Worts  dem 
Unkundigen  angeben ,  die  mit  ihrer  Behauptung  nicht  mehr 
das  Gedachte,  sondern  nur  die  Wörter  treffen.  Sie  sind  streng 
analytisch  für  den  der  der  Sprache  mächtig  ist ;  der  aber, 
der  sie  erst  lernt,  vollzieht  synthetische  ürtheile,  nur  so  dass 
er  nicht  auf  Grund  seines  eigenen  Wissens  urtheilt,  sondern 
auf  Grund  eines  Glaubens  an  die  Aussage  des  Andern. 

4.  Mit  dieser  Ausführung  sowohl  bei  Kant  als  bei  Schleier- 
macher ist  nun  aber  noch  nicht  gesagt,  wie  es  denn  mit  den 
Urtheilen  steht,  die  unter  die  Voraussetzung  deswegen  nicht 
fallen,  weil  ihre  Subjecte  gar  nicht  Begriffe  sind,  und  weil 
aus  der  sprachlichen  Bezeichnung  gar  nicht  bestimmt  werden 
kann,  welche  Vorstellung  der  ürtheilende  hat,  darum  nicht, 
weil  nicht  über  den  Inhalt  der  durch  das  Subjectswort  be- 
zeichneten Vorstellung  in  ihrer  Allgemeinheit  etwas  ausgesagt 
wird,  sondern  über  ein  concretes  Ding,  das  wohl  unter  den 
allgemeinen  Begriff  fällt,  aber  als  einzelnes  und  concretes  durch 
das  Subjectswort  nicht  vollkommen  bezeichnet  werden  kann  *). 
Der  Art  aber  sind  alle  wirklichen  und  ursprünglichen  Erfah- 
rungsurtheile.  Wir  machen  unsere  Erfahrung  an  Einzelnem, 
die  Synthesis  in  dem  synthetischen  ürtheil  »alle  Körper  sind 
schwer«  ist  durch  ürtheile  bedingt,  deren  Subjecte  bestimmte 
Körper  sind  ,  in  letzter  Instanz  durch  die  einzelne  Wahrneh- 
mung und  Beobachtung.  Vergegenwärtigen  wir  uns  nun  den 
Vorgang,  der  irgend  einem  Wahrnehraungsurtheil  zu  Grunde 
liegt,  z.  B.  diese  Rose  ist  gelb,  diese  Flüssigkeit  ist  sauer  u. 
s.  f. :  so  scheint  hier,  wenn  wir  auf  die  Wörter  und  ihre  Be- 
deutung sehen,  ganz  evident  eine  Synthesis  vorhanden  zu  sein ; 
denn  in  dem  Begriff  der  Rose  liegt  es  nicht  gelb  zu  sein,  im 
Begriff  der  Flüssigkeit   liegt  es  nicht  sauer    zu   sein;   und   in 


*)  Vergl.    Trendelenburg  Log.  Unters.  2.  Auö.  II,  241.   3.  Afl.  265. 


109  §.  18.   Analytische  und  synthetische  Urtheile.  137 

der  Bedeutung  von  »diese«,  was  eine  blosse  Relation  ausdrückt, 
liegt  auch  nichts  woraus  etwas  abzunehmen  wäre.  Allein  um 
die  Bedeutung  der  immer  allgemeinen  Wörter 
handelt  es  sich  auch  gar  nicht;  »diese  Rose«  ist  die 
Bezeichnung  eines  concreten  Dings,  das  nur  sehr  unvollkommen 
in  seiner  concreten  Einzelnheit  durch  das  Wort  bezeichnet 
werden  kann,  das  »diese«  hat  nur  die  Function  durch  das 
Demonstrativ  dem  der  gegenwärtig  ist  die  Anschauung  vorzu- 
fiähren,  die  durch  Wörter  gar  nicht  ausdrückbar  ist;  und  dieses 
.anschauliche  Ding  ist  das  Subject  meines  Urtheils ,  von  dem 
ich  aussage  dass  es  gelb  sei. 

Ich  könnte  mich  begnügen  zu  sagen :  dies  ist  gelb ;  das 
Subject  von  dem  ich  urtheile  wäre  dasselbe,  nur  in  der  Sprache 
noch  unbestimmter  ausgedrückt.  Wenn  ich  sage :  diese  Rose 
ist  gelb ,  so  liegt  darin  eigentlich  ein  doppeltes  Urtheil ;  zu- 
erst ein  Benennungsurtheil :  dies  ist  eine  Rose ;  mit  diesem 
Benennungsurtheil  habe  ich  meine  concrete  Vorstellung  unter 
ein  allgemeines  Bild  subsumiert,  ihrer  ganzen  Form,  ihrem 
Bau  u.  s.  w.  nach  fällt  mir  die  concrete  Anschauung  mit  dem 
allgemeinen  Bilde  zusammen.  Aber  dieses  Benennungsurtheil 
wird  nur  nebenher  gefällt;  es  erscheint  nicht  als  solches, 
sondern  nur  in  seinem  Resultate,  dem  Subjectswort  mit  welchem 
ich  dieses  Ding  bezeichne. 

Das  vorliegende  Urtheil  selbst  aber  sagt  aus,  dass  dies, 
was  ich  eine  Rose  nenne,  gelb  ist.  Auf  Grund  wovon?  Nicht 
auf  Grund  einer  Synthesis  zwischen  »Rose«  und  »gelb«, 
sondern  auf  Grund  einer  Analyse  meiner  Anschauung ,  in 
der  mit  Form  und  Bau  auch  die  gelbe  Farbe  in  ungeschiedener 
Einheit  enthalten  ist.  Ein  Element  meiner  Anschauung  ist 
identisch  mit  dem  was  ich  gelb  nenne,  und  dieses  prädiciere 
ich  denn  von  dem  Ganzen  in  meinem  Eigenschaftsurtheil. 

Oder  genauer,  wenn  wir  den  Process  von  Anfang  be- 
schreiben :  in  meiner  Anschauung  habe  ich  zunächst  die  Elemente 
beachtet,  wonach  sie  mit  dem  allgemeinen  Bild  der  Rose  zu- 
sammenfällt, daher  die  Benennung  des  Subjects;  ich  habe  ein 
weiteres  Element  darin  beachtet,  das  mit  der  Benennung  noch 
nicht  ausgedrückt  ist ;   daher  das  Urtheil. 

Das  Verhältniss    der    »Begriffe«    Rose   und   gelb    kommt 


138  I.  3.     Entstehung  der  Urtheile.  109.  110 

allerdings  dabei  in  Betracht.  Wäre  »gelb«  in  »Rose«  analytisch 
enthalten,  wie  »weiss«  in  Schnee  oder  »kalt«  in  Eis,  so  hätte 
ich  in  der  Regel  kein  Motiv  es  ausdrücklich  zu  behaupten; 
mit  der  Benennung  »Rose«  wäre  auch  dies  schon  ausgedrückt 
gewesen;  da  dem  nicht  so  ist,  muss  ich,  um  meine  Anschauung 
vollständig  zu  beschreiben ,  zu  der  Bezeichnung  »Rose«  das 
Prädicat  gelb  noch  hinzufügen;  und  derjenige  der  etwa  in 
einer  Beschreibung  mein  Urtheil  hört,  vollzieht  eine  Synth esis, 
indem  er  zu  dem  Bild,  das  ihm  das  Wort  Rose  erweckt,  die 
besondere  Bestimmtheit  der  Farbe  hinzufügt.  Ich  aber,  der 
Urtheilende,  habe  bloss  meine  Subjectsvorstellung  analysiert. 

Aber  das  andere  Beispiel:  diese  Flüssigkeit  ist  sauer? 
findet  nicht  hier  eine  Synthesis  statt?  Allerdings,  aber  vor 
dem  Urtheil,  nicht  durch  das  Urtheil.  Das  Beispiel  unter- 
scheidet sich  von  dem  vorangehenden  dadurch,  dass  verschie- 
dene Sinne  concurrieren.  Ob  etwas  Flüssigkeit  ist  oder  nicht, 
pflege  ich  durch  das  Auge  zu  unterscheiden.  Das  vorausge- 
setzte Benennungsurtheil  bewegt  sich  also  in  lauter  Gesichts- 
vorstellungen. Nun  bringe  ich  die  Flüssigkeit  auf  die  Zunge 
und  entdecke  ihren  sauren  Geschmack ;  und  ich  spreche  meine 
Wahrnehmung  in  dem  Urtheile  aus :  diese  Flüssigkeit  ist 
sauer.  Um  das  Urthei!  aussprechen  zu  können,  muss  ich 
schon  meine  Geschmacksempfindung  auf  dasselbe  Object  be- 
zogen haben ,  das  mir  durch  das  Gesicht  bekannt  war ;  ich 
muss  gewiss  sein,  dass  was  meine  Zunge  berührt  dasselbe  ist 
was  ich  vorher  im  Glase  gesehen ;  sonst  habe  ich  für  das 
Prädicat  »Sauer«  kein  Subject  und  kann  nicht  urtheilen,  kann 
nicht  das  Prädicat  Sauer  auf  das  Subject  Flüssigkeit  beziehen 
und  diese  Beziehung  in  einem  Eigenschaftsurtheil  aussprechen. 
Mein  Urtheil  analysiert  also  eine  Combination,  welche  den 
Wahrnehmungsprocess  ausmacht ;  aber  die  Function  der  Be- 
ziehung der  Geschmacksempfindung  auf  ihr  Object  ist  eine 
andere,  als  die  Function  des  Urtheils.  Jene  lautet,  im  Urtheil 
ausgedrückt :  Was  sauer  schmeckt  ist  dasselbe  was  ich  vorher 
als  Blüssigkeit  gesehen;  diese  lautet:  Diese  Flüssigkeit  hat 
die  Eigenschaft  sauer  zu  sein.  Ich  muss  das  Sauersein  an 
ihr  und  in  ihr  erkannt  haben,  ehe  ich  es  prädicieren  kann. 

5.     Genauer    zugesehen  ist   nun,    um  auf   das  Kantische 


111  §.  18.  Analytische  und  synthetische  Urtheile.  139 

Beispiel  zurückzukommen,  doch  ein  zureichender,  wenn  auch 
von  Kant  selbst  nirgends  angedeuteter  Grund  vorhanden ,  der 
es  rechtfertigt,  wenn  er  das  Urtheil  »alle  Körper  sind  schwer« 
für  synthetischi  erklärt.  Nur  liegt  der  Grund  nicht  in  dem 
Begriffe  »Körper«,  sondern  in  dem  Wesen  des  Prädicats. 
Schwer  ist  ja,  genau  betrachtet,  einRelationsprädicat; 
es  betrifft  nicht,  was  ein  Körper  für  sich  als  isolierbarer  Gegen- 
stand meiner  Anschauung  und  meines  Denkens  ist,  sondern 
was  er  im  Yerhältniss  zu  andern  Körpern  ist.  Das  Urtheil 
»alle  Körper  sind  ausgedehnt«  gilt  in  ganz  gleicher  Weise 
von  jedem  einzelnen,  wenn  ich  ihn  auch  allein  in  der  Welt 
dächte  ;  das  Urtheil  »alle  Körper  sind  schwer«  drückt  eine  Be- 
ziehung jedes  einzelnen  zu  allen  andern  aus,  und  kann  also  in  dem 
»Begriff  eines  Körpers  überhaupt«  noch  nicht  enthalten  sein. 
Ist  dies,  wie  ich  glaube,  neben  der  geschichtlichen  Nach- 
wirkung der  alten  Cartesianischen  Definition  von  Körper  der 
verborgene  Grund  zu  der  scheinbar  unmotivierten  Distinction 
Kants ,  so  fällt  daraus  auch  ein  Licht  auf  seine  synthe- 
tischen Urtheile  a  priori:  denn  die  Beispiele ,  die 
er  von  solchen  gibt,  sind  alle  Relations  urtheile.  Dass 
7  +  5=  12  sei,  ist  ein  Relationsurtheil  über  die  Zahlen,  die 
durch  7+5  und  durch  12  dargestellt  sind ;  das  Urtheil  be- 
hauptet ihre  Gleichheit.  Das  Prädicat  »B  gleich«  kann 
selbstverständlich  niemals  in  dem  Subjecte  A  für  sich  enthalten 
und  mitgedacht  sein  und  durch  Analyse  desselben  entdeckt 
werden,  weil  ausser  der  Vorstellung  von  A  auch  die  von  B 
nöthig  ist,  um  es  überhaupt  zu  denken  ;  und  es  ist  vollkommen 
richtig,  dass  in  dem  Ausdruck  7+5  die  Gleichheit  mit  12 
noch  nicht  analytisch  enthalten,  sondern  erst  durch  wirkliches 
Addieren,  durch  Fortgehen  zu  einer  Zahl,  die  um  5  grösser  ist 
als  7  entdeckt  wird ;  das  Urtheil  ist  überhaupt  erst  möglich, 
wenn  die  Addition  vollzogen  und  zw^ei  vergleichbare  Zahlaus- 
drücke damit  gegeben  sind ;  dann  aber  ist  es  analytisch, 
sofern  die  Anschauung  der  gleichen  Zahl  Einheiten  ,  die  auf 
die  eine  wie  auf  die  andere  Weise  gewonnen  wird,  den  Grund 
des  Urtheils  abgibt.  Nicht  im  Urtheilen  selbst  wird  das  Hin- 
ausgehen über  die  Vorstellung  7  f  5  vollzogen ,  sondern  in 
dem  was  dem  Urtheil   vorangeht    und    die  Vergleichung   erst 


140  I'  3.    Entstehung  der  Urtheile.  112 

möglich  macht ;  sobald  diese  möglich  ist,  ist  das  ürtheil  blosse 
Analyse  der  gegebenen  Relation.  Aehnlich  ist's  mit  Kants 
geometrischem  Beispiel,  dass  die  gerade  Linie  der  kürzeste 
Weg  zwischen  zwei  Punkten  sei.  »Der  kürzeste  Weg«  ist 
ebenso  ein  Relationsprädicat,  das  in  der  Vorstellung 
der  geraden  Linie  für  sich  noch  nicht  liegen  kann;  es  setzt 
Vergleichung  mit  anderen  Linien  voraus.  Aber  die  Vor- 
stellung der  geraden  Linie  ist  in  der  Anschauung  niemals 
möglich  ohne  den  Raum,  in  dem  sie  gezogen  ist  und  der  die 
Möglichkeit  anderer  Linien  neben  ihr  enthält;  und  die  Ge- 
sammtanschauung,  welche  die  Gerade  zwischen  anderen  dieselben 
Punkte  verbindenden  Linien  darbietet,  ist  dasjenige,  was  dem 
Urtheil  zu  Grunde  liegt,  und  was  in  demselben  analysiert  wird. 
Somit  sind  auch  diese  synthetischen  Urtheile  a  priori ,  sofern 
sie  unmittelbar  sind,  in  Wahrheit  analytisch,  weil  es  sich  darin 
gar  nicht  um  eine  Explication  des  Begriffs  handelt,  der  durch 
das  Subjectswort  für  sich  ausgedrückt  ist,  sondern  um  ein  com- 
plexes  Object,  das  durch  das  Subjectswort  zwar  zu  einem  Theile 
bezeichnet  wird,  ausser  dem  Subject  des  Urtheils  aber  noch  an- 
deres enthält.  In  demjenigen,  was  nicht  durch  das  Subjectswort 
bezeichnet  ist,  liegt  der  Grund  des  Urtheils. 

Ueber  den  Grundsatz  der  Causalität  werden  wir  später 
reden  müssen. 

6.  Die  Kantische  Unterscheidung  der  Urtheile  in  analy- 
tische und  synthetische  trifft  im  Gebiete  der  empirischen  Begriffe 
Urtheile  mit  ganz  verschiedenen  Subjecten, 
und  damit  auch  einen  verschiedenen  Grund  der  Gültigkeit  der- 
selben. Seine  analytischen  Urtheile  sind  solche,  in  denen  ganz 
ohne  Rücksicht  auf  das  in  der  Anschauung  v(>rgestellte  Seiende 
nur  der  Inhalt  eines  irgendwie  in  einem  Worte  fixierten 
Begriffes  expliciert  wird;  seine  synthetischen  Urtheile 
setzen  die  Anschauung  voraus  und  die  synthetische  Verbindung 
der  Anschauungen  in  der  Erfahrung ;  ihre  Subjecte  sind  Dinge, 
welche  unter  das  Wort  fallen,  aber  nur  unvollständig  durch 
das  Wort  bezeichnet  werden  ;  jene  sind  erklärend,  diese  erzählend. 

Haben  wir  uns  aber  überzeugt,  dass  auch  in  den  Wahr- 
nehmungsurtheilen  eine  Analysis  stattfindet,  nur  nicht  des 
Begriffs,  sondern  der  Anschauung,   die    allerdings  durch   eine 


113  §  18.     Analytische  und  synthetische  Ürtheile.  l4l 

Synthesis,  nur  nicht  durch  eine  im  Urtheil  vollzogene,  sondern 
diesem  vorausgehende  Synthesis  zu  Stande  kam  :  so  ist  danach 
auch  die  Kantische  Behauptung  zu  prüfen,  dass  in  den  ana- 
lytischen Urtheilen  die  Verknüpfung  von  Subject  und  Prä- 
dicat  durch  Identität ,  in  den  synthetischen  nicht  durch 
Identität  gedacht  werde.  Lassen  wir  den  Terminus  Iden- 
tität, den  wir  oben  (S.  107  ff.)  als  unpassend  nachgewiesen, 
für  jetzt  gelten :  so  ist  nicht  abzusehen,  wie  irgend  ein  (be- 
jahendes) Urtheil  ohne  Identität,  d.  h.  ohne  das  Bewusstsein 
der  Einheit  von  Subject  und  Prädicat  ausgesprochen  werden 
könne.  Auch  das  Wahrnehmungsurtheil  setzt  sein  Prädicat 
in  dasselbe  Verhältniss  zu  seinem  Subjecte,  wie  das  begriff- 
liche Urtheil ;  und  dass  keine  Identität  gedacht  werde  im  Er- 
fahrungsurtheil,  gilt  nur,  wenn  man  nicht  auf  das  eigentliche 
Subject  des  Erfahr ungsurtheils  sieht,  sondern  auf  die  Bedeu- 
tung des  Worts  mit  dem  es  bezeichnet  wird ,  oder  den  Be- 
griff der  Identität  auf  das  Gebiet  der  blossen  Begriffe  be- 
schränkt, was  willkürlich  ist. 

Insofern  aber  hat  Kant  Recht,  als  ein  verschiedener  Grund 
der  Gültigkeit  seiner  analytischen  und  seiner  synthetischen 
Ürtheile  a  posteriori  da  ist.  Jene  setzen  nichts  voraus  als 
die  Gewohnheit  mit  einem  Worte  bestimmte  Vorstellungen  zu 
verbinden,  sie  bedürfen  also  nur  der  Constanz  der  Vor- 
stellungen und  der  Uebereins  t  i  mmung  im  Sprach- 
gebrauch, um  immer  wieder  aufs  Neue  vollzogen  zu  wer- 
den; bei  diesen  ist  der  letzte  Grund  der  Gültigkeit  eine  in- 
dividuelle T  hat  Sache  der  Anschauung,  die  sich  als 
solche  gar  nicht  zum  Gemeingut  machen  lässt.  Die  Noth wen- 
digkeit jener  Ürtheile  ist  begründet  in  dem  irgendwoher  ent- 
standenen Bestände  unserer  allgemeinen  Vorstellungen;  die 
Nothwendigkeit  dieser  in  den  Gesetzen,  nach  denen  wir  die 
Vorstellungen  des  Einzelnen  mit  dem  Bewusstsein  ihrer  ob- 
jectiven  Realität  bilden.  Und  hier  kehrt  auch  der  Unterschied 
in  der  Bedeutung  des  Urtheils  wieder,  dessen  Erkenntniss  sich 
an  die  Zweideutigkeit  der  Copula  knüpfte ;  in  den  Urtheilen, 
die  Kant  analytische  nennt,  ist  vom  Sein  ihrer  Subjecte  gar 
nicht  die  Rede ;  in  denen,  die  er  synthetische  nennt,  bezeichnet 
das  Subjectswort  »Gegenstände    einer   möglichen  Erfahrung«. 


142  1.  3     Entstehung  der  Urthcile.  113.  114 

§.  19. 
Soll  ein  Urtheil  zu  Stande  kommen,  in  welchem  mit  der 
Subjectsvorstellung  nicht  unmittelbar  die  Prädicatsvor- 
stellung  als  Eins  erkannt  wird:  so  bedarf  es  einer  Ver- 
mittlung, sowohl  um  die  B  ezieh  ung  eines  ausserhalb 
des  Subjects  liegenden  Prädicats  auf  dieses  her- 
beizuführen, als  um  diese  Beziehung  als  ein  Eins- 
sein im  Sinne  des  Urtheils  erkennen  und  desselben 
gewiss  werden  zu  lassen. 

1.  Das  nächste  und  geläufigste  Beispiel  eines  vermittel- 
ten, ein  Prädicat  zu  einem  gedachten  Subject  erst  hinzufügen- 
den und  in  dasselbe  aufnehmenden  Urtheilens  ist  der  Denk- 
act  desjenigen ,  der  ein  Urtheil ,  das  er  selbst  zu  vollziehen 
weder  Veranlassung  noch  Grund  hat,  von  einem  andern  hört. 
Alles  wirkliche  Lernen  ist  vermitteltes  Urtheilen.  Die  socra- 
tische  Maieutik  freilich,  welche  von  dem  Satze  ausgeht,  dass 
es  kein  Lernen,  sondern  blosse  Erinnerung  gibt,  begnügt  sich 
dadurch  ,  dass  sie  Subjects-  und  Prädicatsvorstellungen  ver- 
mittelst der  Frage  überhaupt  ins  Bewusstsein  ruft,  die  blossen 
Materialien  zu  liefern,  die  Urtheile  aber  den  Gefragten  selbst 
vollziehen  zu  lassen,  und  so  die  üeberzeugung  von  ihrer  Gül- 
tigkeit auf  seine  eigene  Einsicht  zu  gründen;  und  wäre  sie 
vollkommen  durchgeführt,  so  würde  allerdings  alles  Urtheilen, 
das  sie  hervorruft,  unmittelbares,  die  Prädicate  in  den  Subjec- 
ten  selbst  findendes,  analytisches  Urtheilen  sein,  und  der  fra- 
gende Maieute  träte  nur  in  die  Rolle  der  psychologischen  Re- 
productionsgesetze,  welche  gerade  die  zum  Prädicat  geeignete 
Vorstellung  dem  Subjecte  zuführen ,  damit  sie  von  der  fort- 
während lebendigen  Lust  zu  urtheilen  ergriffen  werde. 

Allein  zu  diesem  Process  haben  Lehrende  und  Lernende 
selten  Zeit ;  alles  Lernen  beginnt  vielmehr  mit  der  Tradi- 
tion, bei  der  der  Lernende  die  ihm  vorgesprochenen  Urtheile 
aufnimmt  und  nachbildet;  und  eben  sofern  er  lernt,  nimmt 
er  auf  Veranlassung  des  gehörten  Satzes  in  ein  Subject,  dessen 
Vorstellung  ihm  das  Subjectswort  erweckt,    ein  Prädicat  auf, 


115  §  19.     Der  Process  des  vermittelten  Ürtheiiens.  l43 

hinsicMicli  dessen  das  Subject  noch  unbestimmt  gewesen 
war.  Wer  lernt,  dass  Eis  gefrorenes  Wasser  ist,  für  den  ist 
»Eis«  in  der  Anschauung  gegeben,  aber  seine  Entstehungs- 
weise unbekannt,  und  keinerlei  Beziehung  zu  »Wasser«  in 
seiner  Anschauung  enthalten ;  wer  lernt ,  dass  die  Erde  sich 
bewegt,  für  den  tritt  zu  der  Vorstellung  der  Erde  die  ihr 
völlig  neue  Bestimmung  der  Bewegung,  und  er  ist  aufgefor- 
dert, Subject  und  Prädicat  in  eine  Einheit  zu  setzen,  die  ganz 
gegen  seine  Gewohnheiten  geht.  Erst  wenn  er  das  Gehörte 
verstanden,  d.  h.  die  verlangte  Synthese  wirklich  vollzogen 
hat,  hat  er  als  Resultat  seines  Denkactes  gewonnen,  was  der 
Lehrende  als  Ausgangspunkt  hatte,  die  Einheit  von  Subject 
und  Prädicat  in  dem  durch  ihre  Kategorie  bestimmten  Sinne  — 
insoweit  freilich  noch  mit  einer  individuellen  Differenz  zwischen 
Lehrendem  und  Lernendem,  als  die  Wörter  einerseits  in  ihrer 
Bedeutung  nicht  absolut  fixiert  und  für  beide  gleich werthig 
sind,  andrerseits  selbst  dann  bei  der  Anwendung  auf  Einzelnes 
noch  eine  grössere  oder  geringere  Breite  der  Wahl  zwischen 
den    einzelnen  Abstufungen  der  Bedeutung  gestatten  würden. 

In  dem  Masse  als  der  Einzelne  unwissend  ist,  und  mit 
seinen  Wörtern  erst  arme ,  auf  unvollständiger  Kenntniss 
ruhende  Vorstellungen  verbindet,  ist  er  auf  solches  synthe- 
tisches Urtheilen  angewiesen,  durch  das  ihm  allmählich  die 
Wörter  gehaltreicher  werden,  indem  er  immer  mehrere  einzelne 
Bestimmungen  mit  ihnen  verknüpfen  lernt.  Unter  »Löwe« 
denkt  das  Kind  zunächst  nur  an  die  äussere  sichtbare  Form, 
die  ihm  sein  Bilderbuch  zeigt ;  aus  Erzählungen  und  Schilde- 
rungen aber  bereichert  sich  ihm  die  Vorstellung  durch  alle 
Eigenschaften  und  Gewohnheiten  des  Thieres;  der  Zoologe 
hat  die  erfüllte  Vorstellung. 

Je  vollkommener  das  Wissen  und  je  reicher  damit  die  Be- 
deutungen der  W^örter,  desto  weniger  Raum  mehr  bleibt  für 
solche  Synthesen,  in  denen  etwas  hinzugelernt  wird ;  und  zuletzt 
uiüsste  sich  das  synthetische  Urtheilen  auf  dasjenige  Gebiet 
beschränken,  was  niemals  Gegenstand  der  Bezeichnung  durch 
das  Wort  sein  kann,  auf  das  einzelne  Factum  für  jeden  der  es 
nicht  selbst  beobachtet,  auf  die  einzelnen  Veränderungen  und 
Relationen,  die  allein  in  zeitlich  gültigen  Urtheilen  ausdrück- 


144  ^  3.     Entstehung  der  Urtheile.  116 

bar  sind.  Alle  Urtheile,  welche  die  Bedeutung  des  Worts, 
die  allgemeine  Vorstellung  des  Gegenstands  betreffen  können, 
sind  dann  analytisch.  (In  diesem  Sinn  hat  Schleiermacher 
dem  eigentlichen ,  synthetischen  Urtheile  das  Gebiet  der  ein- 
zelnen Thatsachen  zugewiesen.    Dialektik  §  155.  S.  88.  405.) 

2.  Wo  es  sich  um  Lernen  durch  Tradition  handelt, 
ist  der  Grund  der  Gewissheit  des  Urtheils  für  den  Lernenden 
bloss  die  Autorität  des  Lehrenden ;  die  objective  Gültigkeit 
wird  im  Vertrauen  auf  das  Wissen  und  die  Wahrhaftigkeit 
des  Lehrenden  angenommen,  ihm  geglaubt.  Da  alle  erzählen- 
den Urtheile  für  den  Hörenden  nothwendig  synthetisch  sind,  so 
sind  es  auch  diese,  die  ihrer  Natur  nach  sich  an  den  Glauben 
der  Hörenden  wenden  und  diesen  verlangen;  und  es  gibt 
neben  der  eigenen  Wahrnehmung  (und  dem  was  etwa  daraus 
gefolgert  wird)  kein  Wissen  um  Einzelnes  anders  als  auf  dem 
Wege  des  Glaubens,  der  in  diesem  Falle  der  historische 
Glaube  ist. 

3.  Ein  ganz  ähnlicher  Process ,  wie  durch  das  Lehren 
und  Erzählen,  das  zu  einer  noch  bestimmbaren  Subjectsvor- 
stellung  Prädicate  herzubringt  und  dieselben  mit  ihr  in  Eins 
zu  setzen  auffordert ,  wird  auch  durch  das  innere  Spiel 
unsererVorstellungen  eingeleitet,  welches  durch  die 
Gesetze  der  associierenden  Reproduction  und  die  Thätigkeit 
der  von  Analogieen  geleiteten  Einbildungskraft  bestimmt  wird. 
Wenn  durch  Wahrnehmung  oder  Erinnerung  irgend  ein  Ob- 
ject  ins  Bewusstsein  tritt,  so  werden  von  ihm  nicht  bloss  die 
Prädicate  herbeigerufen,  welche  mit  seinem  gegenwärtigen  und 
vorgestellten  Inhalte  übereinstimmen  und  zu  unmittelbaren 
Urtheilen  führen,  sondern  Erinnerung,  Association,  Analogie 
bringen  auch  noch  andere  Vorstellungen  herbei ,  welche  als 
Prädicate  mit  dem  Subjecte  sich  zu  vereinigen  streben ,  ohne 
dass  sie  in  seiner  eben  gegenwärtigen  Vorstellung  schon 
enthalten  wären.  Von  einer  Seite  kann  schon  der  S.  66 
besprochene  alltägliche  Fall  hieb  er  gezogen  werden,  dass  die 
Gesichtsbilder  der  einzelnen  Objecte  die  Erinnerung  an  ihre 
übrigen  Eigenschaften  herbeirufen,  und  diese  sofort  als  Prä- 
dicate ihnen  zugetheilt  werden.  (Dies  ist  eine  Traube  — 
dies  ist  süss  —  dies  ist  ein  Stein  —  hart  u.  s.  w.)    Während 


116.  117         §  19.    t)er  Process  ^es  vermittelten  Frtheilens.  145 

sich  aber  liier  mit  absoluter  Sicherheit  die  Association  so  voll- 
zieht,  dass  das  Urtheil  schon  die  ergänzte  Vorstellung  trifft 
(s.  0.) :  so  schliessen  sich  daran  mit  unmerklichen  Abstufungen 
Fälle,  in  denen  die  Verschmelzung  nicht  sofort  eintritt,  viel- 
mehr die  herbeigerufene  Vorstellung  —  mit  Herbart  zu  reden 
—  in  der  Schwebe  bleibt,  und  nur  die  Erwartungeines 
U  r  t  h  e  i  1  s  herbeiführt.  Dies  tritt  am  deutlichsten  da  ein, 
wo  verschiedene  einander  ausschliessende  Vorstellungen  herbei- 
gezogen werden  und  ein  Wettstreit  entsteht;  so  wenn  ich  eine 
menschliche  Gestalt  von  Ferne  sehe,  die  mir  zugleich  das  Bild 
von  A  und  das  von  B  erweckt,  bald  diesem  bald  jenem  zu 
gleichen  scheint. 

Auf  solchen  Associationen  beruhen  insbesondere  alle  Ur- 
theile,  die  in  die  Zukunft  hinausgreifen;  sie  können  nie- 
mals aus  der  Analyse  der  Gegenwart  hervorgehen,  sondern 
sind  durch  irgendwelche  Folgerungen  vermittelt.  Der  Schnee 
wird  schmelzen  —  das  kann  ich  ihm  nicht  ansehen,  sondern 
aus  früherer  Erfahrung  denke  ich  zu  der  gegenwärtigen  An- 
schauung ein  Prädicat  hinzu,  das  in  dieser  noch  nicht  ent- 
halten ist. 

4.  Die  allgemeine  Neigung  zu  urtheilen  und  Neues  mit 
schon  Bekanntem  zu  verknüpfen  ist  so  stark ,  dass ,  wo  eine 
Hemmung  nicht  stattfindet,  dieselben  Processe,  welche  das 
Prädicat  herbeibringen,  sehr  leicht  auch  das  Urtheil  entstehen 
lassen,  d.  h.  den  Glauben  an  die  objective  Gültigkeit  der  auf- 
gegebenen Synthese  herbeiführen.  Je  ungeschulter  das  Denken 
ist,  desto  unvorsichtiger  ;  desto  weniger  ist  die  Differenz  zwischen 
rein  subjectiven  und  psychologischen  Combinationen  und  ob- 
jectiv  gültigen  bekannt;  desto  leichter  wird  geglaubt,  was 
einem  einfällt,  zumal  wenn  es  die  mächtige  Hülfe  eines  Wunsches 
oder  einer  Neigung  findet.  Die  Erinnerung  an  einen  oder 
wenige  Fälle,  in  denen  einem  Subject  A  ein  Prädicat  B  zukam, 
ist  in  der  Regel  genügend,  jedem  Subjecte,  das  auf  den  ersten 
Anblick  A  ähnlich  ist,  das  Prädicat  B  zuzusprechen;  und  es 
ist  oft  kaum  ein  Bewusstsein  vorhanden  von  dem  Processe 
des  Folgerns,  durch  welchen  die  Synthese  des  Urtheils  zu 
Stande  kommt.  Diese  Leichtgläubigkeit  des  natürlichen  Denkens, 
die  Quelle  einer  Menge  von  Täuschungen,  voreiligen  Annahmen, 

Sigwart,  Logik.    I.    2.  Auflage.  IQ 


146  1.  3.     Entstehung  der  Urtheile.  117.  118 

abergläubischen  Meinungen,  ist  zugleich  die  unentbehrliche 
Bedingung,  unter  der  wir  allein  Erfahrungen  machen  und 
über  das  Gegebene  hinausgehen  lernen.  Wie  es  mit  der  Ver- 
allgemeinerung der  Vorstellungen  gieng ,  dass  wir  dieselbe 
nicht  zu  lernen,  sondern  vielmehr  zu  hemmen,  und  das  Unter- 
scheiden zu  üben  haben  ,  so  geht  es  auch  mit  dem  über  das 
Gegebene  hinausgreifenden  Urtheilen ;  unsere  natürlichen  Nei- 
gungen gehen  immer  dahin,  uns  eine  Menge  von  Prädicaten 
zuzuführen  und  ihre  Beilegung  zu  vollziehen,  was  wir  lernen 
müssen  ist  Vorsicht  und  Zweifel,  Unterscheidung  des  Gültigen 
und  des  Ungültigen ,  Besinnung  darüber,  welche  dieser  Syn- 
thesen objectiv  nothwendig,  welche  nur  durch  unsere  natür- 
lichen Gewohnheiten  aufgedrungen  sind. 

5.  Wo  in  Folge  einer  stärkeren  Hemmung  das  über  das 
Gegebene  hinausgreifende  Urtheil  sich  nicht  vollenden  kann, 
entsteht  die  Frage  in  doppelter  Richtung.  Einmal  wird 
zu  einer  gegebenen  Vorstellung  eine  nach  sonstiger  Analogie 
geforderte  Ergänzung  gesucht,  die  uns  von  keiner  zweifel- 
losen Association  geboten  wird;  so  wenn  ich  zu  einem  neuen 
und  unbekannten  Object  keine  mit  ihm  übereinstimmende  Vor- 
stellung aus  früherer  Erinnerung  gegenwärtig  habe  —  was  ist  das  ? 
oder  zu  einer  gegebenen  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  das  Subject 
suche  —  wer  spricht  ?  was  glänzt  dort  ?  oder  wenn  ich  unge- 
wiss bin,  welche  weiteren  Eigenschaften  oder  Thätigkeiten  als 
die  wahrgenommenen  einem  Dinge  zukommen  —  wie  schmeckt 
das?  In  einer  zweiten  Reihe  von  Fällen  ist  zwar  durch 
die  Association  diese  Ergänzung  herbeigeführt,  aber  die  Ge- 
wissheit ihrer  Gültigkeit  fehlt;  das  Urtheil  ist  zwar  in  Ge- 
danken fertig  vorgebildet  aber  nicht  vollzogen ;  und  so  entsteht 
die  Frage,  welche  die  Entscheidung  über  die  Gültigkeit  einer 
bestimmten  Prädicierung  sucht  —   Ist  A  wohl  B? 

6.  ■  Sowohl  jene  auf  Ergänzung  als  diese  auf  Bestätigung 
gerichtete  Frage  setzt  psychologisch  das  einfache  und  unmittel- 
bare, mit  dem  Bewusstsein  seiner  Gültigkeit  untrennbar  ver- 
bundene Urtheil  voraus.  Ich  kann  nur  das  suchen,  wovon  ich 
wenigstens  eine  allgemeine  und  unbestimmte  Vorstellung  habe ; 
nur  die  Erfahrung  vollständiger  Synthesen  kann  mir  das  Ver- 
langen  erzeugen,   eine   unvollständige    Vorstellung    durch   ein 


118  §  lÖ.    Der  Process  des  vermittelten  Urtheilens.  147 

weiteres  Element  zu  ergänzen ;  ich  muss  die  Gewohnheit  haben, 
sinnliche  Empfindungen  auf  bestimmte  Dinge  zu  beziehen,  ehe 
ich  dazu  kommen  kann ,  zu  einer  Empfindung ,  die  mir  ohne 
eine  sichere  Beziehung  gegeben  ist,  das  zugehörige  Ding  zu 
suchen. 

Ebenso  sucht  die  auf  Ja  oder  Nein  gestellte  Frage  eine  Gewiss- 
heit, deren  Erfahrung  in  unmittelbaren  Urtheilen  vorangegangen 
sein  muss,  um  gesucht  werden  zu  können ;  indem  sie  sucht, 
schliesst  sie  den  Gedanken  der  Gewissheit  schon  ein ,  die  in 
anderen  Fällen  mit  der  Prädicierung  verknüpft  war. 

In  den  einfachen  und  unmittelbaren  Urtheilen  —  das  ist 
ein  Baum ,  das  ist  roth ,  Schnee  ist  weiss ,  Kohle  ist  schwarz 
u.  s.  f.  ist  mit  der  Synthese  des  Subjects  und  Prädicats  die 
Gewissheit  ihrer  Gültigkeit  untrennbar  gegeben;  ich  kann 
nicht  fragen  ob  Kohle  schwarz  oder  Schnee  weiss ,  ob  der 
Gegenstand  vor  mir  roth  oder  ein  Baum  sei.  Sobald  die  beiden 
Vorstellungen  überhaupt  in  meinem  Bewusstsein  sind,  ist  auch 
das  Bewusstsein  der  Nothwendigkeit  ihrer  Synthese  da. 

Erst  wenn  über  das  Gegebene  hinausgegangen,  wenn  ein 
in  der  gegenwärtigen  Subjects  Vorstellung  noch  nicht  enthaltenes 
Element  mit  ihr  verknüpft  werden  soll,  vermögen  sich  die 
beiden  Elemente,  welche  im  unmittelbaren  Urtheile  vereinigt 
sind,  die  einfache  oder  mehrfache  Synthese  zwischen  Subject 
und  Prädicat,  und  das  Bewusstsein  ihrer  Nothwendigkeit  und 
objectiven  Gültigkeit  zu  trennen ;  nur  im  Gebiete  der  vermittelten 
Urtheilsbildung  kann  die  Frage  entstehen:  Ist  A  wohl  B? 

Daraus  folgt,  dass  man  nicht  ganz  allgemein,  wie  z.  B. 
Bergmann*)  thut,  psychologisch  von  einer  »qualitätslosen 
Prädicierung«  von  einer  blossen  »Vorstellung«  in  der  Subject 
und  Prädicat  zusammengedacht  sind^  als  erstem  Stadium  der 
Urtheilsbildung  ausgehen,  und  erst  durch  eine  hinzukommende 
»kritische  Reflexion«  auf  ihre  Gültigkeit  das  Urtheil  sich  vol- 
lenden lassen  kann;  denn  in  den  einfachsten  Fällen  ist  beides 

*)  Reine  Logik  1879  S.  42.  169  ,  vergl.  Schuppe's  Einwendungen 
dagegen  Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Phil.  III,  484  und  meine  Ausfüh- 
rungen, Vierteljahrsschr.  für  wiss.  Phil.  V,  1  S.  97  und  Bergmanns 
P^widerung  ebenda  V,  3  S.  370.  Ueber  Brentanos  Auflassung  meine 
Impersonalien  S.  58. 

10* 


148  l  3.    Entstehung  der  Urtheile.  118 

nicht  getrennt,  und  was  der  Sinn  einer  Pr'ädicierung  überhaupt 
sei,  lässt  sich  gar  nicht  darstellen,  wenn  nicht  von  der  objectiv 
gültigen  Prädicierung  ausgegangen  wird,  wie  sie  in  dem  un- 
mittelbaren positiven  Urtheile  A  ist  B  stattfindet. 

Alle  ähnlichen  Theorien  übersehen  die  fundamentale 
Wichtigkeit  des  Unterschiedes  zwischen  unmittelbaren  und 
vermittelten  Urtheilen,  der  in  der  Logik  keine  geringere  Be- 
deutung hat,  als  der  Unterschied  analytischer  und  synthetischer 
Urtheile  in  der  Transscendentalphilosophie. 

7.  In  der  Frage :  »Ist  A  wohl  B«  sind  alle  Elemente  in 
demselben  Sinne  genommen  und  verknüpft,  wie  im  Urtheile; 
sie  drückt  die  Erwartung  einer  Synthese  zwischen  A  und  B, 
und  zwar  einer  gültigen  Synthese,  nicht  bloss  einer  willkürlichen 
Combination  aus ;  das  Urtheil  ist  fertig  concipiert,  aber  es  bedarf 
noch  des  Siegels  der  Bestätigung;  denn  die  Gev^dssheit  der 
Gültigkeit  fehlt.  Dieses  Entwerfen  und  Versuchen  von  Ur- 
theilen, die  über  das  Gegebene  und  die  darin  begründeten 
unmittelbaren  Urtheile  hinausgehen ,  stellt  die  lebendige  Be- 
wegung, den  Fortschritt  des  Denkens,  das  erfinderische  Thun 
im  Gebiete  des  Urtheil s  dar;  man  kann  geradezu  sagen,  Fragen 
sei  Denken.  Zweifel,  Vermuthung  und  Erwartung  sind  nur 
bestimmte  Variationen  desselben  Zustandes,  unterschieden  durch 
den  Grad,  in  welchem  das  ßewusstsein  des  mangelnden  Grundes 
zum  Vollzug  des  Urtheils  lebendig  ist,  gleich  in  Beziehung 
auf  die  Bedeutung  der  Synthesis  zwischen  Subject  und  Prädicat. 

8,  Die  Entscheidung  einer  Frage  kann  erfolgen 
theils  durch  Verdeutlichung  und  Vervollständigung  der  Sub- 
jectsvorstellung  selbst;  wenn  diese  die  Anschauung  eines  ein- 
zelnen Objects  ist,  durch  genauere  Auffassung  und  Beobachtung, 
welche  vorher  nicht  beachtetes  entdeckt  —  so  wenn  ich  beim 
Anblick  eines  weissen  Pulvers  frage,  ob  das  wohl  süss  ist, 
und  es  auf  die  Zunge  bringe,  so  habe  ich  die  Wahrnehmung 
vervollständigt,  meine  Antwort  ist  dann  ein  analytisches  Urtheil 
aus  der  neuen  Wahrnehmung  heraus;  ist  meine  Subjectsvor- 
stellung  nicht  anschaulich  gegeben ,  so  kann  Besinnen  eine 
vollständigere  Erinnerung  herbeiführen  und  ebenso  ein  ana- 
lytisches Urtheil  möglich  machen.  Gelingen  aber  diese  Ver- 
suche nicht :  so  bleibt  kein  anderer  Weg  zur  Entscheidung  zu 


1 


119  §.  19.    Der  Process  des  vermittelten  Urtheilens.  149 

gelangen,  als  das  Aufsuchen  von  Vermittlungen,  welche  die  Ge- 
wissheit der  versuchten  Synthese  herbeiführen  können ;  und  die 
Vermittlung,  welche  die  gesprochene  Frage  zunächst  anzurufen 
bestimmt  ist,  ist  die  Belehrung  durch  einen  andern. 

9.  Führen  weder  Verdeutlichung  oder  Ergänzung  der  Sub- 
jectsvorstellung,  noch  vermittelnde  Vorstellungen  einen  Grund 
für  die  versuchte  Synthesis  herbei,  der  sie  erlaubte  als  Urtheil 
zu  vollziehen:  so  bleibt  entweder  die  Frage  unentschieden 
stehen,  ohne  dass  es  zu  einem  Bewusstsein  über  objective  Gültig- 
keit kommt ,  oder  es  entspringt  die  Verneinung  daraus, 
dass  die  Subjects Vorstellung  unmittelbar  oder  mittelbar  die 
Prädicatsvorstellung  abweist. 

Indem  wir  den  ersteren  Fall,  das  missbräuchlich  sogenannte 
problematische  Urtheil,  einer  späteren  Untersuchung 
vorbehalten,  wenden  wir  uns  zur  Verneinung. 


Vierter  Abschnitt. 
Die  Verneinung. 

§  20. 

Die  Verneinung  richtet  sich  immer  gegen  den 
Versuch  einerSynthesis,  und  setzt  also  eine  irgendwie 
von  aussen  herangekommene  oder  innerlich  entstandene  Zu- 
muthung,  Subject  und  Prä  die  at  zu  verknüpfen, 
voraus.  Object  einer  Verneinung  ist  immer  ein  vollzogenes 
oderversuchtesUrtheil,  und  das  verneinende  Urtheil  kann 
also  nicht  als  eine  dem  positiven  ürtheil  gleichberechtigte  und 
gleich  ursprüngliche  Species  des  Urtheils  betrachtet  werden. 

1.  Wenn  nach  dem  Vorgange  des  Aristoteles  eine  Reihe 
von  Logikern  das  Urtheil  von  vornherein  als  ein  entweder  be- 
jahendes oder  verneinendes  bestimmen,  und  diese  doppelte  Rich- 
tung des  Urtheilens  in  die  Definition  aufnehmen :  so  ist  daran 
soviel  richtig,  dass  diefertigenUrtheilein  bejahende  und 
verneinende  erschöpfend  getheilt  werden  können,  und  dass,  wo 
überhaupt  geurtheilt  wird,  es  nur  in  der  einen  oder  andern 
Richtung  geschehen  kann,  dass  einem  Subjecte  ein  Prädicat 
zu-  oder  abgesprochen  wird.  Sollte  aber  damit  gesagt  werden, 
dass  Bejahung  und  Verneinung  gleich  ursprüngliche  und  von 
einander  völlig  unabhängige  Formen  des  Urtheilens  seien,  so 
wäre  diese  Ansicht  falsch ;  denn  das  verneinende  Urtheil  setzt 
für  seine  Entstehung  den  Versuch  oder  wenigstens  den  Ge- 
danken einer  Bejahung  d.  h.  der  positiven  Beilegung  eines  Prä- 
dicats  voraus,  und  hat  einen  Sinn  nur  indem  es  einer  solchen 
widerspricht  oder  sie  aufhebt.     Oder  vielmehr,  das  Ursprung- 


120         §  20.    Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  Urtheils.  151 

liehe  Urtheil  darf  gar  nicht  das  bejahende  genannt  werden, 
sondern  wird  besser  als  das  positive  bezeichnet ;  denn  nur  dem 
verneinenden  Urtheil  gegenüber  und  sofern  sie  die  Möglichkeit 
einer  Verneinung  abweist,  heisst  die  einfache  Aussage  A  ist 
B  eine  Bejahung;  es  gehört  aber  nicht  zu  den  Bedingungen 
des  Urtheils  A  ist  B,  dass  an  die  Möglichkeit  einer  Vernei- 
nung gedacht  oder  eine  Frage  aufgeworfen  worden  wäre,  die 
durch  Ja  oder  Nein  zu  entscheiden  ist*). 

2.  Dass  die  Verneinung  nur  einen  Sinn  gegenüber  einer 
versuchten  positiven  Behauptung  hat,  ergibt  sich  sofort,  wenn 
man  überlegt,  dass  von  jedem  Subject  nur  eine  endliche  Anzahl 
von  Prädicaten  bejaht,  eine  unabsehliche  Menge  von  Prädicaten 
verneint  werden  kann.  Allein  alle  Verneinungen,  die  an  sich 
möglich  und  wahr  wären,  zu  vollziehen  fällt  Niemanden  ein, 
weil  nicht  das  geringste  Motiv  dazu  vorliegen  kann ;  denn  da- 
mit es  einen  Sinn  hätte  zu  sagen:  dieser  Stein  liest  nicht, 
schreibt  nicht,  singt  nicht,  dichtet  nicht,  die  Gerechtigkeit  ist 
nicht  blau,  nicht  grün,  nicht  fünfeckig,  rotiert  nicht  u.  s.  f. 
müsste  Gefahr  sein,  dass  Jemand  dem  Stein  oder  der  Gerechtig- 
keit diese  Prädicate  beilegen  wollte. 

Die  Verneinung  hat  keinen  andern  Sinn ,  als  die  subjec- 
tive  und  individuell  zufällige  Bewegung  des  Denkens,  die  in 
ihren  Einfällen,  Fragen,  Vermuthungen,  irrthümlichen  Behaup- 
tungen über  das  objectiv  Gültige  hinausgreift,  in  die  ihr  durch 
die  Natur  der  gegebenen  Vorstellungen  gesteckten  Schranken 
zu  weisen.  Indem  so  ihre  Voraussetzung  ein  subjectiv  willkür- 
liches und  zufälliges  Denken  ist,  das  unbegrenzte  Gebiet  des 
Falschen,  das  eben  in  der  Abweichung  des  individuellen 
Denkens  vom  objectiv  nothwendigen  und  allgemeingültigen 
besteht ,  haftet  auch  ihrer  Entstehung  diese  individuelle  Zu- 
fälligkeit an ;  und  es  kann  niemals  allgemein  und  erschöpfend 
gesagt  werden,  was  von  einem  Subjecte  zu  verneinen  noth- 
wendig  ist**). 

*)  Vergl.  Beneke,  System  der  Logik  1,  140  f. 

*♦)  Kant  Kr.  d.  r.  V.  Methodenlehre  1.  Afl.  S.  709  (eine  Stelle 
auf  die  Windelband  Strassb.  Abh.  S.  169  hinweist)  sagt:  In  Ansehung 
des  Inhalts  unserer  Erkenntniss  überhaupt  haben  die  verneinenden 
Sätze  das  eigenthümliche  Geschäft,  lediglich  den  Irrthum    abzuhalten, 


152  I»  4.    Die  Verneinung.  121 

3.  Was  »nicht«  heisse,  und  was  die  Verneinung  meine, 
lässt  sich  nicht  weiter  definieren  noch  beschreiben;  es  lässt 
sich  nur  an  das,  was  jeder  dabei  thut,  erinnern.  Wohl  aber 
kann  unrichtigen  und  künstelnden  Auffassungen  gegenüber 
der  wahre  Sinn  des  Satzes  A  ist  nicht  B  verdeutlicht  werden. 

Zunächst  werden  Subject  und  Prädicat,  jedes  für  sich 
genommen,  im  verneinenden  Satze  ganz  in  derselben  Weise 
gedacht  wie  im  positiven;  die  Wörter  stellen  dasselbe  vor. 
Wenn  ich  sage,  Schnee  ist  nicht  schwarz  —  so  bedeutet 
Schnee  dasselbe  wie  in  dem  Urtheil  Schnee  ist  weiss,  und 
schwarz  dasselbe  wie  in  dem  ürtheil  Kohle  ist  schwarz;  an 
ihnen  tritt  zunächst  keine  Wirkung  der  Verneinung  heraus, 
sie  haben  ihren  gewohnten  Gehalt.  Die  von  Aristoteles  (de 
interpr.  2  und  3)  angeregte  Frage,  ob  es  ein  övojjia  aopiaxov 
(oöx  äv%'piünoc,)  und  ein  ffjjxa  aopiaxov  (ou  xa^vet)  gebe,  das 
als  Subject  oder  Prädicat  eines  Urtheils  auftreten  könnte, 
betrifft  das  Wesen  des  verneinenden  Urtheils  gar  nicht,  son- 
dern nur  die  Beschaffenheit  der  Subjecte  und  Prädicate,  die 
in  einem  Urtheil  überhaupt  verwendbar  sind,  und  einander 
zu-  oder  abgesprochen  werden  können.  Eine  natürliche  und 
ursprüngliche  Vorstellung  kann  durch  den  Ausdruck  nonA 
oder  nonB  keinenfalls  bezeichnet  werden,  es  wäre  aber 
immerhin  möglich,  dass  diese  Ausdrücke  abkürzende  Hülfs- 
formeln  wären,  unter  denen  sich  bestimmte  Subjecte  oder 
wenigstens  Prädicate  denken  Hessen.  Dann  aber  fungieren 
sie  als  Zeichen  von  solchen,  und,  wo  überhaupt  eine  Entschei- 
dung möglich  ist,  werden  solchen  Subjecten  irgendwelche 
Prädicate,  oder  solche  Prädicate  irgend  welchen  Subjecten  zu- 
oder  abgesprochen;  das  Urtheil  nonA  ist  B  und  das  Urtheil 
A  oder  nonA  ist  nonB  bejahen,  die  Urtheile  nonA  ist  nicht 
B,  und  A  oder  nonA  ist  nicht  nonB  verneinen.  Dies  hat 
Aristoteles  vollkommen  richtig  aufgestellt;  er  versucht  zwar 
(De  interpr.  10)  alle  möglichen  Combinationen  mit  unbe- 
grenzten Subjecten  und  Prädicaten,  aber  er  macht  keine  be- 
sondere Art   von  Urtheilen    aus  denen,   in  welchen  ein  Sub- 


daher  auch  negative  Sätze,  welche  eine  falsche  Erkenntniss  abhalten 
sollen,  wo  doch  niemals  ein  Irrthum  möglich  ist,  zwar  sehr  wahr,  aber 
doch  leer  ....  und  ebendarum  oft  lächerlich  sind. 


122         §  20.    Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  ürtheils.         153 

ject  oder  Pradicat  von  der  Form  nonA  vorkommt.  Wenn 
Kant  (Kr.  d.  r.  V.  §  9)  dagegen  dem  bejahenden  und  ver- 
neinenden Urtheile  das  unendliche  *)  oder  limitierende  als 
drittes  zur  Seite  stellt,  (die  Seele  ist  nicht-sterblich,  soviel 
als  gehört  in  die  unendliche  Sphäre,  die  übrig  bleibt,  wenn 
ich  das  Sterbliche  aussondere)  so  geht  er  von  einer  Ansicht 
des  ürtheils  aus,  welche  wir  später  noch  werden  bekämpfen 
müssen,  als  sei  dabei  das  Wesentliche,  ein  Subject  in  die 
Sphäre  eines  Begriffs  zu  stellen,  und  er  vermag  dadurch  einen 
Unterschied  zwischen  den  Sätzen:  die  Seele  ist  nicht  sterb- 
lich, und :  die  Seele  ist  nicht-sterblich,  herauszubringen ;  allein 
er  gewinnt  damit  kein  drittes  zum  positiven  und  negativen 
Urtheil,  sondern  muss  selbst  einräumen,  dass  in  der  allge- 
meinen Logik  kein  Grund  sei,  ein  Urtheil  von  der  Form  A 
ist  non-B,  in  welchem  ein  bloss  verneinendes  Pradicat  dem  A 
beigelegt  wird,  für  etwas  anderes  als  eine  bejahende  Aussage 
zu  halten. 

4.  Den  Versuchen  gegenüber,  alle  verneinenden  Urtheile 
so  aufzufassen,  als  ob  ein  Pradicat  non-B  einem  Subjecte  zu- 
gesprochen werde,  ist  die  überwiegende  Tradition  die,  dass 
die  Verneinung  die  Copula  afficiere;  und  man  spricht  daher 
von  bejahender  oder  verneinender  Qualität  der  Copula.  An 
dieser  Lehre  ist  soviel  richtig,  dass  die  Verneinung  nicht  in 
den  Elementen  des  Ürtheils  ist,  sondern  nur  in  der  Art  und 
Weise  wie  sie  auf  einander  bezogen  werden.  Falsch  aber  ist, 
einer  bejahenden  Copula  eine  verneinende  gegenüberzustellen. 
Versteht  man  unter  Copula  den  Ausdruck  desjenigen  Denk- 
acts,  durch  welchen  im  Urtheil  ein  Pradicat  auf  ein  Subject 
als  mit  ihm  congruierend,  als  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  be- 
zogen wird,  so  ist  damit  eine  Einssetzung  ausgesprochen;  und 
es  kann  keine  Art  der  Einssetzung  sein,  Subject  und  Pradicat 
auseinanderzuhalten  und  es  gar  nicht  zur  Einheit  kommen  zu 
lassen;  ein  Band,  welches  trennt,  ist  ein  Unsinn.  Vielmehr 
hat    im    verneinenden    wie  im  bejahenden  Urtheil  die  eigen t- 


*)  Der  Name  rührt  von  einer  ungeschickten  Uebersetzung  und 
Anwendung  des  dcöptoxoc,  das  Aristoteles  nicht  vom  Urtheil,  sondern  von 
seineA  Bestandtheilen  gebraucht  hatte,  cfr.  Trendelenburg  Eiern.  Log. 
Ar.  §  5. 


154  I»  4.    Die  Verneinung.  123 

liehe  Copula  (sprachlich  die  Verbalendung)  genau  den- 
selben Sinn:  die  urtheilsmässige  positive  Beziehung  von 
Subject  und  Prädicat,  ein  Hinsagen  des  Prädicats  auf  das 
Subject  auszudrücken,  den  Gedanken  zu  erwecken, 
dass  das  Prädicat  dem  Subjecte  zukomme; 
denn  eben  dieser  Gedanke,  den  ja  auch  die  Frage  ent- 
hält, vsrird  für  falsch  erklärt,  eben  diesem  Versuch  wehrt  die 
Negation.  Die  Copula  ist  nicht  der  Träger, 
sondern  das  Object  der  Verneinung;  es  gibt 
keine  verneinende,  sondern  nur  eine  verneinte  Copula. 

In  dem  einfachen  positiven  Urtheile  können  also  zunächst 
drei  Elemente  unterschieden  werden,  Subject,  Prädicat  und 
der  Gedanke  ihrer  Einheit  (in  dem  bestimmten  Sinn  der 
durch  die  Kategorien  bedingten  Synthese),  der  der  Gegenstand 
der  Gewissheit  ist,  die  sich  im  positiven  Urtheile  ausspricht; 
im  verneinenden  Urtheile  sind  dieselben  drei  Elemente  in  dem- 
selben Sinne  vorhanden,  aber  als  viertes  tritt  (auch  sprach- 
lich) die  Negation  hinzu,  welche  dem  Versuche  wehrt,  jene 
Synthese  als  eine  gültige  zu  vollziehen,  dem  ganzen  Satze 
A  ist  B  ihr  Nein!  entgegenhält;  und  das  Object  der  Gewiss- 
heit, durch  die  auch  der  verneinende  Satz  eine  Behauptung 
enthält,  ist  jetzt  eben  dieses  Nein.  Das  Urtheil  A  ist  nicht  B 
bedeutet  soviel  als :  Es  ist  falsch,  es  darf  nicht  geglaubt  wer- 
den, dass  A  B  ist;  die  Verneinung  ist  also  unmittelbar  und 
direct  ein  Urtheil  über  ein  versuchtes  oder  vollzogenes  positives 
Urtheil,  erst  indirect  ein  Urtheil  über  das  Subject  dieses  Ur- 
theils*). 


*)  Der  oben  aufgestellten  Auffassung  der  Negation  und  ihres  Ver- 
hältnisses zu  der  positiven  Behauptung,  dass  einem  Subjecte  S  ein  Prä- 
dicat P  zukomme,  treten  nach  verschiedenen  Richtungen  die  Ausfüh- 
rungen von  Lotze,  Brentano,  Bergmann,  Windelband  (in  den  Strass- 
burger  Abhandlungen  1884  S.  167  ff.)  gegenüber,  die  alle  darin  überein- 
stimmen, dass  sie  Bejahung  und  Verneinung  coordinieren,  und  lehren, 
zu  dem  zunächst  unentschiedenen  Gedanken,  der  P  von  S  prädiciert, 
trete  ein  entgegengesetzes  Verhalten,  das  diesen  Gedanken  entweder 
für  gültig  oder  für  ungültig  erkläre.  Während  Lotze  nun  (2.  Afl. 
S.  61)  den  Gedanken  der  Beziehung  von  P  und  S  als  den  Kern  des 
Urtheils  ansieht,  und  die  Bejahung  oder  Verneinung  dieses  Gedankens 
als  zwei  entgegengesetzte  Nebenurtheile  darstellt,  die  jenem  Gedanken- 


123         §  20.    Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  Urtheils.  155 

5.  Würde   die   Negation   durch   eine   verneinende  Copula 
vollzogen,  also  das  »Ist  nicht«  im  Urtheile  A  ist  nicht  B  als 


Inhalt  das  Prädicat  der  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit  geben,  finden  die 
anderen  Logiker  das  Wesen  des  Urtheils  umgekehrt  in  dieser  Entschei- 
dung über  Gültigkeit  oder  Ungültigkeit,  und  bezeichnen  das,  worüber 
entschieden  wird,  noch  nicht  als  Urtheil,  sondern  als  Vorstellungsver- 
bindung oder,  wie  Bergmann,  einfach  als  Vorstellung. 

Diese  scharfe  Trennung  des  Actes  der  Bejahung  und  Verneinung 
von  dem  Gegenstande,  der  bejaht  oder  verneint  wird,  wird  dadurch 
motiviert,  dass  in  Bejahung  oder  Verneinung  eine  wesentlich  andere 
Function  des  Geistes  in  Thätigkeit  trete,  als  in  dem  blossen  Vorstellen 
von  Objecten  oder  Verbindungen  von  Objecten,  eine  Function,  die  dem 
practischen  Verhalten  näher  verwandt  sei,  als  dem  Vorstellen  von  Ob- 
jecten. 

Nachdem  Brentano  (Psychologie  I  S.  266  ff.)  diesen  Gegensatz  zuerst 
entschieden  aufgestellt  hatte,  folgt  ihm  Bergmann  (Reine  Logik  1,  S.  46), 
indem  er  das  Urtheilen  ein  kritisches  Verhalten  gegen  eine  Vorstellung, 
eine  Reflexion  auf  ihre  Geltung  nennt,  und  hinzufügt:  Das  Entscheiden 
über  die  Geltung  einer  Vorstellung,  also  das  im  Urtheilen  zum  blossen 
Vorstellen  Hinzukommende,  ist  gar  kein  lediglich  theoretisches  Verhal- 
ten, keine  blosse  Function  der  Intelligenz,  sofern  diese  dem  Wollen 
entgegengesetzt  wird,  es  ist  eine  Aeusserung  der  Seele,  an  welcher  ihre 
practische  Natur,  das  Begehrungsvermögen  betheiligt  ist. 

Dieselbe  Grundanschauung  vertritt  Windelband,  und  da  seine  Aus- 
führungen die  eingehendsten  und  am  sorgfältigsten  begründeten  sind, 
wird  es  genügen,  mich  mit  seinen  Gründen  auseinanderzusetzen,  indem 
ich  gegenüber  von  Bergmann  und  Brentano  auf  Vierteljschr.  f.  wiss.  Phil. 
V,  97  ff.  und  meine  Impersonalien  S.  58  ff.  verweise.  Windelband  un- 
terscheidet (Präludien  S.  28  ff.)  Urtheile  und  Beurtheilungen. 
In  den  ersteren  werde  die  Zusammengehörigkeit  zweier  Vorstellungs- 
inhalte, in  den  letzteren  ein  Verhältniss  des  beurtheilenden  Bewusst- 
seins  zu  dem  vorgestellten  Gegenstande  ausgesprochen.  In  einem  Ur- 
theil wird  jedesmal  ausgesprochen,  dass  eine  bestimmte  Vorstellung 
(das  Subject  des  Urtheils)  in  einer  nach  den  verschiedenen  Urtheilsfor- 
men  verschiedenen  Beziehung  zu  einer  bestimmten  anderen  Vorstellung 
(dem  Prädicat  des  Urtheils)  gedacht  werde.  In  einer  Beurtheilung 
dagegen  wird  einem  Gegenstande,  der  als  vollständig  vorgestellt,  resp, 
erkannt  vorausgesetzt  wird  (dem  Subject  des  Beurtheilungssatzes)  das 
Beurtheilungsprädicat  hinzugefügt,  durch  welches  die  Erkenntniss  des 
betreffenden  Subjects  in  keiner  Weise  erweitert,  wohl  aber  das  Gefühl 
der  Billigung  oder  der  Missbilligung  ausgedrückt  wird ,  mit 
welchem  sich  das  beurtheilende  Bewusstsein  zu  dem  vorgestellten  Gegen- 
stande verhält  (ein  Ding  ist  weiss  —  ein  Ding  ist  angenehm  oder  un- 
angenehm, ein  Begriff  ist  wahr  oder  falsch,  eine  Handlung  ist  gut  oder 


156  Ii  4-    D>©  Verneinung.  123 

Ausdruck  eines  einfachen  Denkacts  betrachtet  werden  müssen: 
so    müssten    consequenter   Weise    diejenigen   Logiker,    welche 


schlecht,  eine  Landschaft  ist  schön  oder  hässlich  u.  s.  w.).  Alle  diese 
Prfldicationen  der  Beurtheilung  haben  wieder  nur  in  soweit  Sinn,  als  der 
vorgestellte  Gegenstand  daraufhin  geprüft  wird,  ob  er  einem  Zwecke, 
nach  welchem  ihn  das  beurtheilende  Bewusstsein  auffasst,  entspricht 
oder  nicht  entspricht ;  die  Beurtheilungsprädicate  enthalten  eine  Be- 
ziehung auf  ein  zwecksetzendes  Bewusstsein. 

Dies  findet  insbesondere  auf  den  Zweck  der  Erkenntnis  Anwendung. 
Soweit  unser  Denken  auf  Erkenntniss,  d.  h.  auf  Wahrheit  gerichtet 
ist,  unterliegen  alle  unsere  Urtheile  sofort  einer  Beurtheilung,  welche 
entweder  die  Giltigkeit  oder  die  Ungiltigkeit  der  im  Urtheil  vollzo- 
genen Vorstellungs Verbindung  ausspricht.  Das  rein  theoretische  Urtheil 
ist  eigentlich  nur  in  dem  sog.  problematischen  Urtheil  gegeben,  in 
welchem  nur  eine  gewisse  Vorstellungsverbindung  vollzogen,  aber  über 
ihren  Wahrheitswerth  nichts  ausgesprochen  wird.  Sobald  ein  Urtheil 
bejaht  oder  verneint  wird,  hat  sich  mit  der  theoretischen  Function 
auch  diejenige  einer  Beurtheilung  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Wahr- 
heit vollzogen  .  .  .  alle  Sätze  der  Erkenntniss  sind  Vorstellungsver- 
bindungen, über  deren  Wahrheitswerth  durch  die  Affirmation  oder 
Negation  entschieden  worden  ist. 

Jede  Beurtheilung,  fährt  S.  34  fort,  ist  die  Reaction  eines  wol- 
lenden und  fühl  enden  Individuums  gegen  einen  bestimmten 
Vorstellungsgehalt.  —  Die  Gesichtspunkte  der  Beurtheilung  aber  sind 
durch  die  Gegensätze  angenehm  und  unangenehm,  wahr  und  falsch, 
gut  und  böse,  schön  und  hässlich  ausgedrückt.  Das  erste  Paar  ist  in- 
dividuell; den  andern  liegt  der  Anspruch  auf  allgemeine  Geltung  zu 
Grunde.  Und  in  Uebereinstimmung  damit  sagen  nun  die  »Beiträge 
zur  Lehre  vom  negativen  Urtheil«  (Strassburger  Abh.  S.  170),  die  Ver- 
neinung sei  ein  practisches  Urtheil,  eine  Beurtheil  ung,  der  Aus- 
druck nicht  bloss  einer  Beziehung  von  Vorstellungen,  sondern  eines 
missbilligenden  Verhaltens  des  Bewusstseins  zu  dem  Ver- 
suche einer  solchen  ;  darin  bestehe  die  Verwerfung.  Eben  darum  will 
Windelband  nicht  mit  Brentano  das  Urtheilen  als  eine  besondere 
Classe  der  Seelenthätigkeiten  zwischen  das  theoretische  Vorstellen  und 
die  practischen  Bethätigungen  in  Liebe  und  Hass  stellen;  er  ordnet 
vielmehr  die  logische  Werthbeurtheilung  von  Vorstellungen  der  prac- 
tischen Seite  des  Seelenlebens  ein ;  der  Wahrheitswerth  ist  den  übrigen 
Werthen  zu  coordinieren. 

Diesen  Ausführungen ,  so  viel  Richtiges  sie  enthalten ,  kann  ich 
nicht  nach  allen  Seiten  zustimmen.  Dass  die  Logik  als  solche,  als 
kritische  und  normative  Wissenschaft  von  einem  Zwecke,  dem  Zwecke 
der  Wahrheit  ausgeht,  dass  sie  das  Wahrdenkenwollen  voraussetzt, 
und  jedes  wirkliche  Urtheil  an  diesem  letzten  Zwecke  misst,   dass  sie 


123         §  20.    Die  Verneinung  als  AufhelDung  eines  Ürtteils.         l57 

dem  »Ist«  des  bejahenden  Urtheils  die  Kraft  zuschreiben,  die 
Existenz  des  Subjects  zu  behaupten,  nun  im  verneinenden  dem 


zu  unterscheiden  sucht,  welche  Denkoperationen  diesem  Zwecke  ent- 
sprechen, welche  ihm  widersprechen,  habe  ich  in  der  Einleitung  §  1 — 4 
selbst  betont;  die  logische  Betrachtung  im  Unterschied  von  der  psy- 
chologischen ruht  einzig  und  allein  auf  dem  Bewusstsein  des  Zwecks; 
und  ich  stimme  auch  den  weiteren  Consequenzen  bei ,  welche  die  Prä- 
ludien S.  43  ziehen,  dass  die  Logik  von  einem  Ideal  eines  normalen 
Bewusstseins  ausgeht  (vergl.  unten  §32,7  und  Bd.  IL  §61.  62).  Allein 
daraus  folgt  nicht  einmal  für  den  Logiker ,  dass  im  einzelnen  Falle 
sein  Bejahen  oder  Verneinen  selbst  ein  practisches  Verhalten 
sei,  weil  es  an  dem  allgemeinen  Zwecke  der  Wahrheit  die  einzelne 
Vorstellungs Verbindung  misst,  und  dass  es  eine  Reaction  des  Gefühls 
oder  Willens  sei  und  nicht  eine  theoretische  Thätigkeit.  Wenn  ich 
den  Zweck  habe,  mich  gesund  zu  erhalten,  so  habe  ich  mir  freilich 
diesen  Zweck  durch  mein  Wollen  auf  Grund  eines  Gefühls  gesetzt; 
und  wenn  ich  darum  eine  schädliche  Gewohnheit  aufgebe,  oder  die  Auf- 
forderung zu  einem  Excess  ablehne:  so  ist  in  dem  Aufgeben  einer  Ge- 
wohnheit oder  in  dem  Abweisen  der  Aufforderung  allerdings  mein  Wille 
thätig,  der  um  des  Zweckes  willen  mein  Verhalten  bestimmt;  mein 
Nein  ist  ein  practisches  »Ich  will  nicht«.  Aber  dieser  Wille  ruht  doch 
auf  der  rein  theoretischen  Erkenntniss,  dass  jene  Gewohnheit  schäd- 
lich, diese  Aufforderung  gefährlich  ist ;  hiebei  ist  mein  Wille  und  mein 
Gefühl  direct  gar  nicht  betheiligt,  denn  was  für  meine  Gesundheit 
zweckmässig  oder  unzweckmässig  ist,  hängt  von  der  erfahrungsmässig 
erkannten  Natur  der  Dinge ,  nicht  von  meinem  Wollen  oder  Gefühl 
ab.  Ebensowenig  ist  darum,  weil  ich  die  Wahrheit  erkennen  will,  auch 
die  Beurtheilung  eines  Satzes  selbst  ein  Willensact.  Der  Unterschied 
zwischen  einem  rein  objectiven  Urtheil  und  einer  »Beurtheilung«  in  Be- 
ziehung auf  einen  Zweck  ist  hinsichtlich  des  Inhalts  wichtig  genug; 
aber  jede  solche  Beurtheilung  selbst  ist  doch  auch  wieder  ein  Urtheil, 
das  wahr  oder  falsch  sein  kann,  nur  ein  Urtheil  über  eine  Beziehung 
des  Objects  zu  mir  und  meinem  Zweck,  nicht  ein  Urtheil  über  das 
Object  an  sich;  jene  Beziehung  aber  besteht  einfach,  und  wird  aner- 
kannt, aber  nicht  gebilligt  oder  missbilligt.  »Sonnenschein  ist  mir 
angenehm«  ist  freilich  eine  Beurtheilung  des  Sonnenscheines  im  Ver- 
hältniss  zu  meinem  Gefühl;  aber  diese  Beurtheilung  selbst,  die  der  Satz 
ausspricht,  ist  nicht  ein  Gefühl  noch  ein  Wollen,  sondern  die  einfache 
Anerkennung  der  Thatsache,  dass  Sonnenschein  mir  dieses  Gefühl  er- 
weckt. Die  Reaction  des  fühlenden  Menschen  ist  das  Behagen  der 
Wärme;  der  Satz,  in  dem  er  das  ausspricht,  ist  eine  Function  seines 
Denkens.  Aus  den  Erfahrungen  entgegengesetzter  Gefühle  hat  er  die 
allgemeinen  Begriffe  des  Angenehmen  und  Unangenehmen  gebildet, 
die   nicht   selbst  Gefühle   sind,  und    mittels   dieser  Begriffe  drückt  er 


158  I,  4.     Die  Verneinung.  123 

»Ist  nicht«  die  Bedeutung  geben,    die    Existenz    des    Subjects 
aufzuheben.      Das    ist    aber    schlechterdings    nicht    der    Fall, 


das  thatsächliche  Verhältniss  aus,  das  zwischen  ihm  und  gewissen 
Dingen  besteht.  Dasselbe  ist  es  mit  gut  und  böse,  schön  und  häss- 
lich  ;  die  Urtheile,  in  denen  sie  prädiciert  werden,  sind  nur  durch  die 
Beschaffenheit  der  Prädicate,  nicht  durch  die  Function  des  ürtheilens 
selbst  verschieden ;  die  Prädicate  drücken  ein  Verhältniss  eines  Ob- 
jects  zu  mir,  zu  meinem  Willen  und  Gefühl  aus,  das  ich  im  einzelnen 
Falle  wiederfinde. 

Bei  den  Prädicaten  wahr  und  falsch  aber  ist  nicht  einmal  eine  so 
directe  Beziehung  zu  Willen  und  Gefühl  vorhanden,  wie  bei  den  ihnen 
von  Windelband  coordinierten  Paaren  ;  denn  wahr  und  falsch  als  all- 
gemeine Begriffe  bezeichnen  gar  kein  Verhältniss  zu  der  practischen 
Seite  unseres  Lebens;  es  hängt  weder  von  unserem  Gefühl  noch  von 
unserem  Wollen  ab,  was  wahr  und  falsch  ist,  wie  es  davon  abhängt, 
was  schön  und  was  gut  ist.  Denn  wahr  und  falsch  sind  ja  nicht  Prä- 
dicate von  irgend  welchen  vorgestellten  oder  gedachten  Gegenständen, 
sofern  sie  in  irgend  einem  Verhältniss  zu  mir  stehen ;  wahr  und  falsch 
sind  auch  nicht,  wie  Windelband  nicht  ganz  genau  sagt,  Prädicate  von 
Begriffen ,  sondern  Prädicate  von  Urtheilen ,  die  wir  vollziehen ;  sie 
betreffen,  wie  ein  andermal  richtiger  gesagt  vdrd,  Vorstellungsverbind- 
ungen, aber  nicht  in  dem  Sinne,  dass  schon  verbundene  Vorstellungen, 
also  fertige  Vorstellungsverbindungen,  wie  grüner  Baum  oder  schwarzes 
Pferd  für  wahr  oder  falsch  erklärt  würden,  sondern  dass  der  Act  des 
Verbindens  selbst,  durch  den  das  Bewusstsein  der  Einheit  entsteht, 
unter  diesen  Gegensatz  fällt.  Was  also  durch  die  Prädicate  wahr  und 
falsch  beurtheilt  wird,  sind  nicht  Vorstellungen  irgend  welcher  Objecte, 
sondern  die  urtheilende  Thätigkeit  selbst. 

Nun  ist  es  vollkommen  richtig,  dass  wo  diese  Prädicate  wirklich 
auftreten,  und  die  Frage  entsteht,  ob  ein  versuchtes  oder  vollzogenes 
ürtheil  wahr  oder  falsch  ist,  ein  klar  gedachter  oder  wenigstens  dunkel 
angestrebter  Zweck  zu  Grunde  liegt,  der  Zweck  des  Erkennens 
—  denn  wo  es  sich  um  willkürliche  Fielion  und  blosses  Spiel  mit  Ge- 
danken handelt,  hat  der  Gegensatz  keine  Stelle  ~  und  dass  wir  aus 
diesem  Zwecke  den  Massstab  abnehmen,  an  dem  wir  die  von  uns  ent- 
worfenen oder  von  andern  aufgestellten  Behauptungen  messen,  die  eine 
dem  Zweck  entsprechend,  die  andere  ihm  widersprechend  erklären. 
Man  kann  darin  wohl  auch  ein  Billigen  und  Missbilligen  im  weiteren 
Sinne  finden,  sofern  je  klarer  der  Zweck  gedacht  und  je  lebhafter  er 
angestrebt  wird,  desto  gewisser  die  Uebereinstimmung  eines  gegebenen 
Urtheils  mit  dem  Zweck  ein  angenehmes,  die  Nichtübereinstimmung 
ein  unangenehmes  Gefühl  erwecken  wird  (im  engeren  und  strengeren 
Sinn  freilich  würde  Billigen  und  Missbilligen  sich  nur  auf  ein  Thun 
erstrecken  können,  das  als  willkürlich  betrachtet  wird  ;  wir  missbilligen 


123         §    20.     Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  Üriheils.         ^^Cf 

sondern  das  Urtheil  »A  ist  nicht  B«  setzt  im  Allgemeinen  in 
allen    den  Fällen   die  Existenz  von  A  voraus,  in  welchen  das 


den  Irrthum,  wenn  er  eine  Schuld,  Folge  von  Unachtsamkeit  u.  dgl. 
ist).  Aber  dieses  Billigen  und  Miss  billigen  hat  doch  zu  seiner  Voraus- 
setzung, dass  zuerst  rein  objectiv  das  Verhältniss  eines  versuchten  oder 
vollzogenen  Urtheils  zur  Norm  der  Wahrheit  erkannt  worden  ist; 
wir  missbilligen  das  Falsche,  weil  es  falsch  ist,  aber  es  ist  nicht  da- 
rum falsch,  weil  wir  es  missbilligen ;  die  theoretische  Erkenntniss,  dass 
ein  ürtheil  wahr  oder  falsch  ist,  kann  erst  ein  Gefühl  begründen,  ebenso 
wie  die  Erkenntniss  der  Zweckmässigkeit  eines  Mittels  vorangehen 
muss,  ehe  wir  es  wählen. 

Von  dem  logischen  Standpunkte,  der  jedes  ürtheil  an  dem  Zwecke 
der  Wahrheit  misst,  erstreckt  sich  nun  aber  die  Frage  nach  der  Wahr- 
heit oder  Falschheit  ebenso  auf  Bejahungen  wie  auf  Verneinungen; 
wir  erklären  ebenso  Verneinungen  für  wahr  oder  falsch,  und  darum 
schon  kann  der  Gegensatz  des  Billigens  und  Missbilligens  nicht  ohne 
Weiteres  mit  dem  der  bejahenden  und  verneinenden  Urtheile  sich 
decken,  und  es  lässt  sich  aus  jenem  kein  Grund  für  die  Coordination 
von  Bejahung  und  Verneinung  ableiten. 

Die  logische  Beurtheilung  nach  dem  Zweck  findet  also  in  der  That 
sowohl  positive  als  verneinende  Urtheile  schon  vor;  und  darum  ist 
von  dieser  logischen  Betrachtung,  die  vom  Zwecke  ausgehend  die  wirk- 
lich vorkommenden  Bewegungen  des  Denkens  beurtheilt,  die  psycho- 
logische Untersuchung  zu  unterscheiden ,  welche  fragt  was 
in  unserem  wirklichen  Denken  vorgeht,  wo  im  Verlaufe  desselben  die 
Verneinung  entspringt ,  und  wie  denn  überhaupt  jener  allgemeine 
Zweckgedanke  der  Wahrheit  entstehen  kann,  der  der  Billigung  oder 
Missbilligung  zu  Grunde  liegt.  Und  hier  ist  meine  Ansicht,  der  Win- 
delband selbst  in  den  wesentlichen  Punkten  zustimmt,  kurz  die  fol- 
gende: Ich  gehe  aus  von  den  einfachsten  unmittelbaren  Urtheilsacten 
die  in  der  Anschauung  wurzeln,  bei  denen  die  Verknüpfung  der  Vorstel- 
lungen und  die  Gewissheit  ihrer  Gültigkeit  auf  eine  völlig  unreflec- 
tierte  Weise  zugleich  gegeben  sind,  und  bei  denen  auch  von  einem 
irgendwie  bewussten  Zwecke  noch  nicht  die  Rede  sein  kann;  Urtheils- 
acten, die  wir  vollkommen  absichtslos  mit  der  Sicherheit  eines  natur- 
nothwendigen  Processes  vollziehen  —  das  Erkennen  der  Gegenstände 
unserer  Umgebung,  das  Urtheil  dass  dieses  hier  und  jenes  dort  ist, 
u.  s.  w.  —  bei  denen  unmittelbare  Evidenz  unsere  Schritte  begleitet. 
Würden  wir  nach  psychologischen  Gesetzen  keine  andern  Vorstellungs- 
verknüpfungen vollziehen  und  vollziehen  können,  so  käme  uns  gar 
nicht  in  den  Sinn  nach  Wahrheit  oder  Falschheit  zu  fragen.  Nun 
greift  jedoch  unser  Denken  über  das  Gegebene  hinaus;  vermittelt  durch 
p]rinnerungen  und  Associationen  entstehen  Urtheile,  die  zunächst  ebenso 
mit  dem  Gedanken  gebildet  werden,  dass  sie  das  Wirkliche  ausdrücken, 


löO  t  4.    Die  Verneinung.  123 

XJrtheil,  »A  ist  B«  sie  voraussetzen  würde,    d.  h.  wo  die  Be- 
deutung   der  Wörter   sie    einschliesst ;    an    und  für  sich  aber 


z.  B.  wenn  wir  das  Bekannte  am  bekannten  Orte  zu  finden  erwarten, 
oder  von  einer  Blume  voraussetzen  dass  sie  riecht.  Aber  nun  ist  ein 
Theil  des  so  Vermutheten  mit  dem  unmittelbar  Gewissen  im  Wider- 
streit: wir  werden  uns,  wenn  wir  das  Erwartete  nicht  finden,  des 
Unterschieds  zwischen  dem  bloss  Vorgestellten  und  dem  Wirklichen 
bewusst;  dasjenige,  dessen  wir  unmittelbar  gewiss  sind,  ist  ein  an- 
deres, als  das,  was  wir  anticipierend  geurtheilt  haben;  und  jetzt  tritt 
die  Negation  ein,  welche  die  Vermuthung  aufhebt,  und  ihr  die  Gültig- 
keit abspricht.  Damit  tritt  ein  neues  Verhalten  ein,  sofern  die  sub- 
jective  Combination  von  dem  Bewusstsein  der  Gewissheit  getrennt 
wird ;  es  wird  die  subjective  Combination  mit  einer  gewissen  verglichen 
und  ihr  Unterschied  von  dieser  erkannt ;  daraus  entspringt  der  Begriff 
der  Ungültigkeit.  Aber  dieses  Verhalten  ist  eben  nur  möglich  unter 
Voraussetzung  nicht  bloss  der  subjectiven  Combination,  sondern  auch 
der  Neigung,  dieselbe  für  gültig  zu  halten;  die  Verneinung  ist,  wie 
Fichte  sagt,  dem  Gehalte  nach  bedingt,  nur  der  Form  nach  unbedingt, 
so  gewiss  der  Begriff  des  Unterschieds  (den  Schuppe  mit  vollem  Recht 
in  seiner  Bedeutung  für  die  Negation  hervorhebt)  zwar  die  Vorstellung 
der  unterscheidbaren  Objecto  voraussetzt,  aber  mit  dieser  Vorstellung 
noch  nicht  gegeben  ist,  und  als  allgemeiner  Begriff  nur  durch  Reflexion 
auf  einzelne  Unterscheidungen  entsteht.  So  hängt  in  doppelter  Weise 
die  Negation  von  dem  positiven  Urtheile  ab:  sie  setzt  als  Object  ein 
solches  voraus,  das  mit  der  Erwartung  seiner  Gültigkeit  gedacht  wurde, 
und  weist  eine  versuchte  Behauptung  ab;  und  der  Grund  dieser  Ab- 
weisung ist  ursprünglich  wieder  etwas  Positives  —  ein  gegebenes  Ob- 
ject, dessen  Unterschied  von  meiner  Vorstellung  erkannt  wird  —  verum 
sui  index  et  falsi.  Erst  indem  wir  diese  Erfahrungen  machen ,  kann 
auch  der  bewusste  Zweck  der  Wahrheit  entstehen ;  wir  können  den 
W  e  r  t  h  der  Wahrheit  nicht  empfinden,  wenn  wir  nicht  durch  ihren 
Gegensatz  darauf  aufmerksam  geworden  sind;  aber  wir  müssen  einer- 
seits die  unmittelbare  Evidenz  der  unmittelbaren  Urtheile,  andrerseits 
den  Unterschied  der  subjectiven  Combinationen  von  dem  unmittelbar 
Gewissen  erfahren  haben ,  ehe  wir  den  Begriff  der  Wahrheit  bilden 
konnten. 

Dieses  Verhältniss,  wonach  die  Verneinung  nicht  gleich  ursprüng- 
lich ist,  wie  das  positive  Urtheil,  sondern  dieses,  sowohl  nach  der  Seite 
der  Synthese  von  Subject  und  Prädicat  als  nach  der  Seite  der  Gewiss- 
heit derselben  voraussetzt,  spiegelt  sich  in  der  Sprache  deutlich  wieder. 
Wäre  die  Ansicht  richtig,  dass  Bejahung  und  Verneinung  zwei  gleich 
ursprüngliche  Verhaltungsweisen  zu  einer  zunächst  problematischen 
Synthese  S  P  wären,  so  wäre  doch  zu  verwundern,  was  Bergmann 
und  Windelband  ausdrücklich  anerkennen ,    dass   die   Bejahung    meist 


123.  1Ö4    §  20.    Die  Verneinung  als  Aufhebung  eines  TTrtheils.      161 

wird  über  Existenz  oder  Nichtexistenz  durch  das  ver- 
neinende Urtheil  so  wenig  etwas  behauptet  als  durch  das  be- 
jahende. »Socrates  ist  nicht  krank«  setzt  zunächst  die  Exi- 
stenz des  Socrates  voraus,  weil  nur  unter  dieser  Voraussetzung 
von  seinem  Kranksein  die  Rede  sein  kann;  sofern  damit  aber 
überhaupt  nur  für  falsch  erklärt  wird,  dass  Socrates  krank  ist, 
ist  diese  Voraussetzung  allerdings  keine  so  bestimmte,  wie 
bei  dem  bejahenden  Urtheile  Socrates  ist  krank;  denn  dieses 
kann  auch  verneint  werden,  weil  Socrates  todt  ist.  (Weiteres 
s.  u.  §  25.) 

§.  21. 
Die  Verneinung  folgt  den  verschiedenen  Formen 
des  positiven  Urtheil s,  und  hat  ihren  Gegenstand  an 
den  verschiedenen  Beziehungen  zwischen  Subject  und  Prädicat, 
welche  den  verschiedenen  Sinn  der  Einheit  beider  ausmachen ; 
sie  ist  darum  vieldeutig,   wo  das  Urtheil  eine  mehr- 


keinen  besonderen  sprachlichen  Ausdruck  findet ,  wohl  aber  die  Ver- 
neinung; nur  dann  erscheint  ein  ^  jjlyjv,  ein  fürwahr  u.  dgl.  wenn  einer 
drohenden  Verneinung  entgegengetreten  werden  soll. 

Dass  bei  fortgesetzter  Reflexion  mit  den  Prädicaten  gültig  und 
ungültig  ins  Endlose  fortgegangen  werden  könnte,  wie  Windelband 
(Strassb.  Abb.  S.  170)  hervorhebt,  ist  vollkommen  richtig:  A  ist  B  — 
es  ist  wahr,  dass  A  B  ist  —  es  ist  wahr,  dass  A  ist  B  ein  wahrer 
Satz  ist  u.  s.  f. ;  A  ist  nicht  B  —  es  ist  wahr ,  dass  A  nicht  B  ist  — 
es  ist  falsch,  dass  A  ist  nicht  B  ein  falscher  Satz  —  falsch,  dass  A 
ist  B  ein  wahrer  Satz  ist  u.  s.  f. ;  aber  das  begründet  keinen  Kinwand 
gegen  unsere  Auffassung  ,  bestätigt  im  Gegentheil,  dass  »der  Satz  ist 
wahr,  der  Satz  ist  falsch«  nichts  von  einem  beliebigen  Urtheil  anders 
als  durch  sein  Prädicat  Verschiedenes  ist.  Dieselbe  endlose  Reflexion 
findet  hinsichtlich  unseres  Selbstbewusstseins  statt:  qui  seit,  eo  ipso  seit 
se  scire  .  .  et  sie  in  infiriitum  (Spin.  Eth  II,  21.  Seh.)  ~  freilich  nur  der 
abstracten  Möglichkeit  nach;  denn  in  Wirklichkeit  ist  irgend  einmal 
eine  Gewissheit  vorhanden,  die  von  dem  Inhalt  auf  den  sie  sich  bezieht 
nicht  mehr  durch  Reflexion  getrennt  und  besonders  hervorgeho))en  wer- 
den kann;  und  so  beweist  der  Einwand,  was  er  widerlegen  will,  dass  es 
kein  Urtheilen  gibt  ohne  dass  jenes  unmittelbare  Urtheilen  zu  Grunde 
läge,  bei  dem  sich  nicht  mehr  Vorstellungsverbindung  und  »Billigung« 
oder  »Bestätigung«  trennen  lässt. 

Sigwart,  Logik.     I.     2.  Auflage.  11 


162  I.  4.    Die  Verneinung.  124.  125 

fache  Synthese  enthält.  Direct  vermag  sie  nichts 
Seiendes  auszudrücken,  weder  Eigenschaft,  noch  Thätigkeit, 
noch  Relation. 

1.  Wenn  die  Verneinung  eine  versuchte  Behauptung  ab- 
weist, so  folgt  sie  damit  all  den  verschiedenen  Arten  von 
Aussagen  und  erklärt  eben  das  für  falsch,  was  diese  behaupten. 

Dem  Urtheil,  das  zwei  Vorstellungen  als  Ganze  zusammen- 
fallen lassen  will,  hält  die  Verneinung  den  Unterschied 
entgegen.  Affen  sind  nicht  Menschen  —  Roth  ist  nicht  Blau 
—  Freiheit  ist  nicht  Zügellosigkeit  wehren  einer  drohenden 
Verwechslung  oder  bewussten  Aufhebung  der  festen  Unter- 
schiede der  Objecte.  Dieses  verneinende  Urtheilen  hebt  durch 
einen  ausdrücklichen  Act  ins  Bewusstsein,  was  unbewusst 
schon  in  der  Bildung  unserer  Vorstellungen  und  ihrer  sprach- 
lichen Bezeichnung  enthalten  war,  die  Unterscheidung  ver- 
schiedenen Vorstellungsinhaltes,  durch  welche  wir,  indem  sie 
immer  auf  dieselbe  Weise  vollzogen  wird,  eine  feste  Vielheit 
von  Vorstellungen  gewinnen,  der  die  Vielheit  und  der  Unter- 
schied der  sprachlichen  Bezeichnung  entspricht.  Dieses  Unter- 
scheiden, durch  das  unsere  Vorstellungen  erst  werden,  muss 
immer  schon  vorangegangen  sein,  ehe  es  vom  verneinenden 
Urtheil  zum  Bewusstsein  gebracht  und  bestätigt  wird. 

Dem  Eigenschaftsurtheil  gegenüber  verhindert  die  Ver- 
neinung, dass  zwischen  einem  Subjecte  und  einer  ihm  zuge- 
mutheten  Eigenschaft  das  Verhältniss  der  Inhärenz  gesetzt 
werde.  Das  Inhärenzverhäitniss  an  und  für  sich  liegt  auch 
dem  verneinenden  Urtheil  zu  Grunde ;  durch  den  Satz  Blei  ist 
nicht  elastisch  wird  nicht  verneint,  dass  das  Subject  überhaupt 
eine  Einheit  von  Ding  und  Eigenschaft  sei;  allein  die  in  der 
Aussage  nicht  ausgedrückte  Eigenschaft,  welche  das  Subject 
wirklich  hat,  ist  nicht  diejenige,  von  der  die  Rede  ist  und  die 
etwa  an  ihm  vermuthet  wurde;  die  Eigenschaft,  die  »elastisch« 
bezeichnet,  kann  ich  an  dem  Subjecte  Blei  nicht  finden;  die 
wirklichen  Eigenschaften  des  Bleies  sind  andere,  als  Elasticität. 
So  ist  auch  hier  zuletzt  der  feste  Unterschied  gewisser 
Eigenschafts  Vorstellungen  dasjenige,    was  die  Verneinung    be- 


125         g  21.    Die  verschiedenen  Arten  verneinender  Urtheile.        163 

tont.    Dasselbe  gilt  von  den  Urtheilen,  deren  Prädicate  Thätig- 
keiten  sind. 

2.  Je  nachdem  nun,  im  Sinn  des  §  11,  die  Bevregung  des 
Denkens  von  der  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  zu  dem  Dinge, 
an  welchem  sie  ist,  oder  umgekehrt  geht,  modificiert  sich 
auch  —  sprachlich  durch  Stellung  oder  Betonung  ausgedrückt 
—  die  Richtung,  welche  die  Verneinung  nimmt,  indem  sie 
entweder  darauf  Gewicht  legt,  dass  ein  gegebenes,  als  fest  be- 
trachtetes Ding  eine  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  nicht  habe, 
die  in  Frage  kommt,  oder  das  betont,  dass  es  nicht  dieses 
Ding  sei,  welchem  eine  gegebene  Eigenschaft  oder  Thätig- 
keit zukomme.  Das  Urtheil  Ich  habe  gerufen  ist  sowohl  dann 
falsch,  wenn  überhaupt  nicht  gerufen  worden  ist,  als  dann, 
wenn  zwar  ein  Ruf  gehört  w^urde,  aber  ein  Anderer  ihn  laut 
werden  Hess.  Im  ersten  Fall  ist  die  Wirklichkeit  des  Prä- 
dicats  verneint,  im  zweiten  Fall  die  Beziehung  desselben  auf 
das  Subject;  dann  pflegt  dieses  betont,  oder  die  Negation  ihm 
vorangesetzt  zu  werden.  (Ich  habe  nicht  gerufen,  —  nicht 
ich  habe  gerufen).  Zuletzt  kann  die  Verneinung  meinen,  dass 
weder  das  Prädicat,  noch  das  Subject  gefunden  werde.  Von 
der  gewöhnlichen  Auffassung  der  Negation  aus  ist  der  Satz: 
das  Feuer  brennt  nicht,  eine  Contradictio  in  adjecto;  wie  kann 
von  dem  Subject  Feuer  das  Prädicat  brennen  negiert  werden? 
Und  doch  sprechen  wir  ihn  ganz  unbefangen  aus,  wenn  wir 
etwa  im  Ofen  nachsehen;  wir  erwarten  das  brennende  Feuer 
zu  finden,  die  Negation  sagt:  es  ist  falsch,  dass  das  Feuer 
brennt,  und  dieser  Satz  ist  richtig,  wenn  überhaupt  kein  Feuer 
da  ist.  Dies  trifft  insbesondere  bei  der  Verneinung  der  Imper- 
sonalien zu:  »Es  donnert  nicht«  meint  entweder,  dass  die 
Benennung  falsch,  das  Gehörte  kein  Donnern  sei,  oder  es  hebt 
die  durch  das  Prädicat  gemeinte  Erscheinung  selbst  auf  — 
die  Verneinung  greift  auch  auf  die  vorausgesetzte  Wirklich- 
keit des  Subjects  über. 

3.  Aehnliche  Modificationen  treten  bei  den  R  elations- 
urtheilen  ein.  Sofern  nemlich  hier  die  Synthese  des  posi- 
tiven Urtheils  eine  dreifache  ist,  erhellt  aus  dem  einfachen 
Verneinen  des  Relationsurtheils  noch  nicht,  gegen  welche  Seite 
der  Behauptung  die  Verneinung    sich  in    erster  Linie   richtet^ 

11* 


154  1,  4.    Die  Verneimifig.  125.  126 

und  was  als  der  Ausj^angspunkt  gelten  soll,  den  der  Verneinende 
im  Auge  hat.  Ist  das  Urtheil  »A  geht  nach  Hause«  falsch, 
so  kann  entweder  bloss  die  Richtung  des  Gehens,  oder  die  Art 
der  Bewegung  (wenn  er  reitet  oder  fährt),  oder  das  Weggehen 
überhaupt  verneint  oder  endlich  das  bestritten  werden ,  dass 
A  es  ist,  der  nach  Hause  geht.  Alle  diese  Bedeutungen  kann 
der  Satz  haben :  A  geht  nicht  nach  Hause.  Diese  Vieldeutig- 
keit der  Negation ,  der  wieder  höchstens  durch  die  Betonung 
begegnet  werden  kann  ,  ist  ein  neuer  Beweis  dafür ,  dass  sie 
gar  keine  andere  Kraft  hat,  als  das  positive  ürtheil  als  Ganzes 
für  falsch  zu  erklären,  für  sich  aber  keine  bestimmte  Bezieh- 
ung herzustellen  vermag.  Bei  den  causalen  Relationen,  welche 
durch  transitive  Verba  ausgedrückt  werden,  richtet  sich  die 
Negation  entweder  bloss  gegen  das  bestimmte  Object  der  Thätig- 
keit,  während  diese  selbst  stattfindet,  oder  gegen  die  Thätigkeit 
selbst,  oder  gegen  das  Subject,  dem  die  Thätigkeit  zugeschrieben 
wird  —  ich  habe  diesen  Satz  nicht  geschrieben  kann  entweder 
die  ganze  Thatsache  läugnen,  dass  der  fragliche  Satz  geschrieben 
worden  sei,  oder  diesen  Satz,  oder  ich  betonen.  »Ich  habe 
nichts  geschrieben«  läugnet  das  Schreiben  überhaupt  durch 
Verneinung  jeder  möglichen  Art  seiner  Objecte ;  ich  trinke 
keinen  Wein  verneint  nur  eine  bestimmte  Art  des  Objecis. 

4.  Wo  ein  unbedingt  gültiges  Urtheil  verneint  wird,  kann 
die  Verneinung  ebenso  nur  für  falsch  erklären ,  was  das  un- 
bedingt gültige  ürtheil  sagt,  dass  nemlich  in  der  Subjects- 
vorstellung  als  solchen,  wie  sie  die  Bedeutung  des  Subjects- 
worts  ausmacht,  das  Prädicat  enthalten  sei  (die  Pflanze  em- 
pfindet nicht  —  das  Licht  ist  kein  Stoff).  In  wiefern  solche 
Verneinungen  zweideutig  sein  können ,  (z.  B.  das  Dreieck  ist 
nicht  gleichseitig)  wird  unten  §  25  erörtert  werden. 

Dem  zeitlich  gültigen  Urtheile  gegenüber  trifft  die  Ver- 
neinung nur  die  Gültigkeit  für  den  behaupteten  Zeitpunkt, 
und  vermag  darum  nicht  zu  sagen ,  wie  es  ausserhalb  dieses 
Zeitpunktes  um  das  Subject  bestellt  war.  Wenn  das  ürtheil 
»diese  ühr  geht  nicht«  das  zeitlich  gültige  ürtheil  »diese 
Uhr  geht«  für  falsch  erklärt ,  so  ist  damit  eben  gesagt,  dass 
sie  jetzt  nicht  geht;  ob  sie  sonst  geht  oder  nicht,  ist  durch 
diese  Verneinung  noch  nicht  entschieden. 


127  §  21.    Die  verschiedenen  Arten  verneinender  Urtheile.        165 

5.  Es  hat  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  die  Verneinung 
der  Armuth  des  blossen  Aufhebens  zu  entkleiden  und  ihr  die 
Fähigkeit  zu  verleihen,  direct  eine  inhaltsvolle  Aussage  zu 
machen,  so  dass,  was  das  verneinende  Urtheil  behauptet,  als 
ein  Selbstständiges  und  für  sich  Gültiges  dem  gegenüberstünde, 
was  die  Bejahung  aussagt ,  und  eben  damit  Verneinung  und 
Bejahung  ebenbürtige  Formen  der  Aussage  wären. 

Aristoteles  selbst  hat  hiezu  in  gewisser  Weise  das  Bei- 
spiel gegeben,  wenn  er  (besonders  Metaph.  6,  10  1051  b  1  ff.) 
Bejahung  und  Verneinung  einer  Vereinigung  (Guy^elaO-aL)  und 
Trennung  (biiQpfia^ai)  entsprechen  lässt,  und  damit  dem  Ver- 
hältniss  des  Prädicats  zum  Subjecte  zunächst  im  bejahenden 
ürtheil  die  Bedeutung  gibt,  ein  Zusammengesetztes  (aus  Sub- 
stanz und  Accidens)  auszudrücken.  Wir  haben  schon  oben 
(§  14  S.  100  f.)  diese  Betrachtungsweise  für  unmöglich  erklärt, 
da  das  Prädicat  des  Urtheils  niemals  als  ein  Seiendes,  und 
am  wenigsten  als  ein  von  dem  Subjecte  getrennt  zu  denkendes 
Seiendes  aufgefasst  werden  kann ;  es  hat  keinen  Sinn  zu  sagen, 
im  Seienden  sei  »commensurabel«  immer  von  der  Diagonale 
des  Quadrats  getrennt;  die  Trennung  wie  die  Vereinigung 
gehört  nur  dem  Denken  an.  Aus  demselben  Grunde  aber  kann 
auch  die  Verneinung  keiner  Trennung  entsprechen.  Zu- 
nächst würde ,  was  im  Object ,  realiter ,  getrennt  wäre ,  gar 
keine  Beziehung  auf  einander  haben,  und  es  wäre  nicht  zu  er- 
klären, wie  sich  das  Getrennte  in  Einem  Denkacte  zusammen- 
finden sollte;  weiterhin  aber  lässt  sich  auch  hier  von  dem 
Prädicate,  das  immer  nur  ein  Vorgestelltes  bedeuten  kann, 
gar  nicht  sagen,  dass  es  irgendwo  vorhanden  sei,  um  mit  dem 
Subjecte  sich  zu  vereinigen  oder  von  ihm  getrennt  zu  bleiben. 
Nur  unter  den  Nachwirkungen  der  platonischen  Ideenlehre 
kann  der  Satz,  »der  Mensch  ist  weiss«,  als  Ausdruck  einer  Ver- 
einigung der  Substanz  Mensch  mit  der  Idee  des  Weissen  ge- 
fasst  werden,  weil  dieser  eine  selbstständige  Existenz  zukommt; 
nur  unter  diesen  Nachwirkungen  kann  das  Verhältniss  eines 
Dinges  zu  einem  mit  ihm  unvereinbaren  Prädicate  als  ein  »für 
immer  Getrenntsein«  bezeichnet  werden  *). 

*)  Ueber  die  Mängel  der  aristoteliscben  Tlieoric  in  dieser  Hinsicht 


166  I,  4.    Die  Verneinung.  127. 128 

Von  anderer  Seite  ist  der  bekannte  Satz  Spinoza's  De- 
terminatio  est  neyatio  als  Ausdruck  einer  Ansicht  verwendet 
worden,  welche  die  Negation  in  das  Wesen  der  Dinge  selbst 
zu  verlegen  und  damit  das  verneinende  Urtheil  als  ursprüng- 
lichen Ausdruck  ihrer  Erkenntniss  hinzustellen  unternimmt. 
Trendelenburg  hat  mit  Recht  auf  Thomas  Campanella  als 
einen  der  entschiedensten  Vertreter  der  Meinung  hingewiesen, 
dass  alle  Dinge  aus  Ja  und  Nein,  Sein  und  Nichtsein  bestehen, 
jedes  dieses  Bestimmte  nur  dadurch  sei,  dass  es  ein  anderes 
nicht  sei.  Der  Mensch  ist,  das  ist  seine  Bejahung;  aber  er 
ist  Mensch  nur  dadurch,  dass  er  nicht  Stein,  nicht  Lowe,  nicht 
Esel  ist,  er  ist  also  zugleich  Sein  und  Nichtsein.  In  demselben 
Sinne  spricht  Spinoza  sein  Determinatio  negatio  est;  eine  Figur 
ist  determiniert,  sofern  sie  der  übrige  Raum  nicht  ist,  und  sie 
kann  also  nur  mit  Hülfe  der  Negation  gedacht  werden,  als  eine 
Beschränkung ,  d.  h.  Negation  des  Unendlichen.  Allein  in 
diesen  Ansichten  steckt  überall  die  Verwechslung  der  Vernei- 
nung selbst,  als  einer  Function  unseres  Denkens,  mit  dem  vor- 
ausgesetzten objectiven  Grunde  dieser  Verneinung,  der  in  sich 
geschlossenen  Individualität  und  Einzigkeit  jedes  unter  den 
vielen  realen  Dingen.  Was  sie  nicht  sind,  gehört  niemals  zu 
ihrem  Sein  und  Wesen;  es  ist  nur  von  dem  vergleichenden 
Denken  von  aussen  an  sie  herangebracht ;  und  es  handelt  sich 
nur  darum,  zu  erkennen ,  warum  wir  dieser  subjectiven  Um- 
wege bedürfen,  um  die  Welt  des  Realen  zu  erkennen,  in  der 
kein  Gegenbild  unseres  verneinenden  Denkens  existiert.  Dass  die 
HegeFsche  Logik  nur  durch  fortwährende  Verwechslung  der 
Verneinung  im  Denken  mit  den  realen  Verhältnissen  im  Sein, 
welche  wir  durch  blosse  Verneinung  nur  unvollkommen  aus- 
drücken, den  Schein  erzwingt,  als  ob  die  Negation  eine  reale 
Macht  und  das  Wesen  der  Dinge  selbst  sei ,  müsste  fast  bei 
jedem  Schritte  derselben  nachgewiesen  werden,  wenn  es  nicht 
—  zumal  seit  Trendelenburg's  eindringender  Kritik  —  als  zu- 
gestanden gelten  könnte. 

siehe  die  vollkommen  zutreffenden  Bemerkungen  von  Prantl,  Ge- 
schichte der  Logik  I.  118.  144  f.  Aristoteles  erkennt  sonst  ausdrücklich 
an,  dass  die  Verneinung  nur  dem  Gebiete  des  Denkens  angehöre.  Me- 
taph.  VI,  4. 


129    §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.     167 

§22. 

Wenn  der  Versuch,  einem  Subjecte  ein  Prädicat  beizu- 
legen, durch  die  Verneinung  abgewiesen  wird:  so  liegt  der 
Grund  hiezu  entweder  darin,  dass  an  demSubjecte  das 
fragliche  Prädicat  (oder,  bei  gewissen  Relationsur theilen, 
das  Sübject  zu  dem  Prädicate)  fehlt,  oder  dass  das  Sub- 
ject,  beziehungsweise  ein  Element  desselben,  mit  dem 
Prädicate  unverträglich  ist.  Die  blosse  Aussage  der 
Verneinung  deutet  nicht  an,  ob  das  eine  oder  andere  stattfinde. 

Ebenso  wenig  vermag  die  Verneinung  diejenigen  Verhält- 
nisse der  Vorstellungen,  vermöge  deren  sie  unverträglich  sind 
(den  sog.  contradictorischenundconträrenGegen- 
satz),  zu  erklären  oder  auch  nur  vollständig  zum  Ausdruck 
zu  bringen. 

1.  Wenn  ein  verneinendes  ürtheil  nicht  ein  erschlossenes, 
die  Verneinung  also  nicht  durch  Zwischenglieder  vermittelt 
ist,  so  haben  wir,  um  eine  Verneinung  auszusprechen ,  nichts 
als  das  gegebene  Subject  und  das  ihm  zugemuthete  Prädicat. 
In  dem  gegebenen  Verhältniss  der  Subjectsvorstellung  zur 
Prädicatsvorstellung  muss  also  der  Grund  liegen,  das  Prädicat 
abzuweisen. 

Dies  ist  auf  zweierlei  Weise  möglich.  Entweder  fehlt 
das  Prädicat  in  meiner  Subjectsvorstellung  (resp.  ein  Element 
in  der  durch  ein  Relationsurtheil  gedachten  Gesammtvorstel- 
lung),  oder  es  wird  durch  die  Subjectsvorstellung 
(resp.  die  gegen wärtige Gesammtvorstellung)  ausgeschlossen; 
der  Verneinung  liegt  entweder  ein  Mangel  (aiepyjac^,  privatio) 
oder  ein  Gegensatz  (evavTioxyj^,  oppositio)  zu  Grunde. 

2.  Ist  die  Subjectsvorstellung  ein  concretes  Einzelnes,  ein 
Gegenstand  der  Anschauung ,  das  versuchte  positive  Urtheil 
ein  zeitlich  gültiges,  das  in  demselben  Sinne,  in  dem  es  gelten 
soll,  auch  aufgehoben  wird  ;  so  ruht  das  verneinende  Urtheil 
auf  dem  Bewusstsein,  dass  ich  in  meiner  Subjectsvorstellung 
das  Prädicat  nicht  finde ,    auf  der    unmittelbaren  Erkenutniss 


168  I»  4.     Die  Verneinung.  129.  130 

der  Differenz  des  Subjects,  wie  es  ist,  von  einem  andern  denk- 
baren Dinge,  welches  das  Prädicat  an  sich  hätte,  auf  dem 
Bewusstsein  also  der  Armuth  seiner  Bestimmungen.  Diese 
Uhr  geht  nicht,  diese  Blume  riecht  nicht,  der  Kranke  rührt 
sich  nicht,  die  Sonne  wärmt  heute  nicht  —  alle  diese  Urtheile 
gehen  daraus  hervor ,  dass  ich  der  Differenz  des  Ge<^ ebenen 
von  dem  bloss  Vorgestellten  bewusst  bin ,  dieser  Uhr  von 
einer  gehenden  Uhr,  dieser  Blume  von  einer  riechenden  Blume ; 
denn  dass  ich  mit  der  reicheren  Vorstellung  an  das  Gegebene 
herantrete,  bringt  ja  erst  mein  Urtheil  hervor.  Handelt  es 
sich  um  Relationsprädicate  (Socrates  ist  nicht  hier),  so  ist 
wiederum  der  Complex  von  Dingen,  den  das  versuchte  Urtheil 
ausdrückt  (Socrates  und  ich  in  demselben  Räume),  verschieden 
von  dem  Complex,  der  meiner  Anschauung  gegeben  ist  (in 
demselben  Räume,  in  dem  ich  bin,  fehlt  Socrates). 

Der  Mangel  wird  um  so  auffälliger,  je  leichter  die  voll- 
ständigere Vorstellung  zur  Vergleichung  bereit,  je  gewöhnter 
sie  ist,  je  enger  das  veriiiisste  Prädicat  zum  ganzen  Complexe 
zu  gehören  scheint;  und  das  Fehlen  wird  zum  Mangel  im 
engeren  Sinn,  zum  Fehlen  von  etwas,  was  da  sein  sollte,  wo 
eine  Zweckbeziehung  oder  ein  ästhetisches  Gesetz  die  Voll- 
ständigkeit der  Prädicate  fordert;  aber  diese  Beziehungen, 
welche  Urtheil en  wie  er  sieht  nicht,  er  hört  nicht,  er  will 
nicht  zur  Einsicht  kommen,  der  Satz  hat  keinen  Sinn,  die 
unwillige  Färbung  der  Enttäuschung  geben ,  haben  logisch 
doch  bloss  den  Werth ,  die  Aufmerksamkeit  für  den  Mangel 
zu  schärfen  und  den  Massstal)  der  Vergleichung  um  so  le- 
bendiger zu  erhalten ;  eine  besondere  Schattierung  der  Ver- 
neinung als  solcher  begründen  sie  nicht. 

o.  Dasselbe  Fehlen  eines  Prädicats  findet  auch 
bei  allgemeinen  Vorstellungen  statt;  das  verneinende  Urtheil 
kann  darauf  ruhen,  dass  das  Prädicat  in  dem,  was  die  Bedeu- 
tung des  Subjectsworts  ausmacht,  nicht  mitgedacht  wird:  die 
Pflanze  empfindet  nicht,  Wasser  hat  keinen  Geschmack  u.  s.  w. 
Die  Vergleichung  mit  sonst  Verwandtem,  der  Pflanze  mit  den 
thierischen  Organismen,  des  Wassers  üüt  andern  Flüssigkeiten 
liegt  dem  privativen  Urtheil  /u  Grunde;  was  an  dem  Subjecte 
seiner  sonstigen  Beschaflenheit  nach  sein  könnte,  ist  nicht  daran. 


131     §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.     169 

4.  Derselbe  Grund  einer  Verneinung  wäre  da  vorhanden, 
wo  einer  Vorstellung  von  höherer  Allgemeinheit  Prädicate 
beigelegt  werden  sollen ,  welche  nur  einzelnen  darunter  be- 
fassten  bestimmteren  Vorstellungen  zukommen.  In  der  allge- 
meinen Vorstellung  des  Dreiecks  liegt  weder,  dass  es  eben, 
noch  dass  es  sphärisch,  in  der  des  ebenen  Dreiecks  weder,  dass 
es  rechtwinklich,  noch  dass  es  spitzwinklich  ist;  in  der  Vor- 
stellung des  Menschen  überhaupt  liegt  nicht,  dass  er  schwarz 
oder  weiss,  schlichthaarig  oder  wollhaarig  ist ,  in  der  allge- 
meinen Vorstellung  der  Bewegung  nicht,  dass  sie  fortschreitend, 
noch  dass  sie  rotierend  ist.  Allein  wir  vermögen  nun  doch 
nicht  diese  blosse  Unbestimmtheit  der  subjectiven  Allgemein- 
vorstellung durch  die  einfache  Negation  jener  Prädicate  auszu- 
drücken ;  das  Dreieck  ist  nicht  sphärisch,  ist  nicht  rechtwinklich, 
der  Mensch  ist  nicht  schwarz,  die  Bewegung  ist  nicht  rotierend, 
würde  in  dem  ganz  anderen  Sinne  verstanden  werden,  dass 
an  allen  Objecten,  welche  unter  die  Bezeichnung  fallen,  das 
Prädicat  fehlt.  So  mächtig  ist  die  Gewohnheit,  von  den  all- 
gemeinen Vorstellungen  gleich  auf  die  concretesten  und  be- 
stimmtesten überzugehen,  in  denen  jene  enthalten  sind ,  dass 
der  an  sich  ganz  richtige  Satz,  das  Dreieck  sei  nicht  recht- 
winklich ,  missverstanden  würde ,  und  den  Ausdruck  fordert, 
das  Dreieck  sei  nicht  nothwendig  rechtwinklich  oder  nicht 
alle  Dreiecke  seien  rechtwinklich.     Vgl.  unten  §  25. 

5,  Der  Negation,  welche  auf  dem  privativen  Verhältniss 
und  damit  auf  einer  einfachen  Differenz  ruht,  steht  die 
andere  gegenüber,  welche  daraus  entspringt,  dass  ein  Element 
der  Subjectsvorstellung  die  Prädicatsvorstellung  zurückstösst; 
so  dass  auch  der  bei  der  Privation  begleitende  Gedanke,  das 
Subject  könnte  das  Prädicat  wohl  an  sich  haben,  abgewiesen 
wird.  (Dasselbe  findet  bei  Relationsvorstellungen  statt ;  A  ist 
links  von  B  ist  entweder  darum  falsch ,  weil  A  überhaupt 
nicht  in  der  Nähe  von  B  ist,  oder  weil  es  rechts  von  H 
steht,  diese  Relation  die  andere  versuchte  abweist.)  Wir  sind 
damit  auf  die  Untersuchung  derjenigen  Verhältnisse  der  Vor- 
stellungen untereinander  geführt,  vermöge  der  sie  sich ,  als 
Prädicate  eines  und  desselben  Subjects ,  ausschliessen 
können. 


170  I.  4.    Die  Verneinung.  131.  132 

0.  Handelt  es  sich  um  ein  Benennungsurtheil, 
in  welchem  Subject  und  Prädicat  als  Ganzes  mit  Ganzem  in 
Eins  gesetzt  werden  soll,  so  ist  das  ausschliessende  Verhält- 
niss  verschiedener  Vorstellungen  gegeben  durch  die  feste 
Bestimmtheit  und  U  n  t  e  r  s  ch  i  e  d  e  n  h  e  i  t  des 
Vorgestellten,  und  zwar  innerhalb  der  verschiedenen 
Kategorieen,  welche  allem  Urtheilen  vorausgesetzt  ist,  da  sie 
Bedingung  der  Continiiit'ät  und  Uebereinstimmimg  des  Bewusst- 
seins  selbst  ist.  Socrates  ist  nicht  Kriton ,  Holz  ist  nicht 
Eisen,  roth  ist  nicht  blau,  sehen  ist  nicht  hören,  rechts  ist 
nicht  links  —  solche  Urtheile  beruhen  auf  der  Thatsache, 
dass  wir  eine  Vielheit  sicher  unterschiedener  und  vor  jeder 
Verwechslung  und  Vertauschung  geschützter  Vorstellungen 
haben ,  und  sie  können  nur  an  diese  immer  gegenwärtigen 
Unterschiede  erinnern  (§  21,  1).  Und  zwar  ist  die  Erkennt- 
niss,  dass  zwei  Vorstellungen  sich  unterscheiden,  im  Allge- 
meinen früher  als  die  Erkenntniss,  wie  sie  sich  unterscheiden ; 
denn  um  anzugeben,  w  i  e  sie  sich  unterscheiden,  muss  ich  doch 
zuletzt  auf  Elemente  zurückkommen,  von  denen  ich  einfach 
weiss,  dass  sie  verschieden  sind.  Ich  unterscheide  ganz  sicher 
meinen  Freund  A  von  meinem  Freund  B,  ehe  ich  mir  Rechen- 
schaft gebe,  wodurch  sie  verschieden  sind ;  und  wenn  ich  mir 
darüber  Rechenschaft  gäbe,  und  mir  zum  Bewusstsein  brächte, 
dass  der  eine  blond,  der  andere  schwarz,  der  eine  von  runden 
und  vollen,  der  andere  von  mageren  und  eckigen  Formen  ist : 
so  würde  der  Unterschied  von  blond  und  schwarz,  von  rund 
und  eckig,  mager  und  voll  übrig  bleiben,  und  hier  kann  ich 
doch  zuletzt  nur  noch  sagen,  dass,  nicht  mehr  wie  sie  sich 
unterscheiden. 

Wie  wir  nun  (§  14.  S.  102  £F.)  als  Voraussetzung  der  Mög- 
lichkeit des  bejahenden  Urtheils  einPrincip  derUeber- 
einstimmung  aufstellen  mussten ,  vermöge  dessen  die 
Gleichheit  des  Vorgestellten  unfehlbar  gewiss  erkannt  wird, 
und  wie  alle  Möglichkeit  eines  bejahenden  Urtheils  gewiss  zu 
sein  darauf  ruht:  so  liegt  der  Verneinung  in  diesem  Sinne 
ebenso  zu  Grunde,  dass  verschiedeneVorstellungen 
unmittelbar  und  unfehlbar  aisverschiedene 
erkannt  werden,  und  ein  Irrthum  darüber ,  ob  zwei  im 


133     §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.     171 

Bewusstsein  gegenwärtige  Vorstellungen  verschieden  sind  oder 
nicht,  unmöglich  ist.  Wäre  die  Formel  »A  ist  nicht  nonA« 
nicht  missbraucht  worden,  um  alles  Mögliche  zu  bezeichnen, 
so  könnten  wir  sie  in  dem  Smne  anwenden,  dass  sie  ausdrückte : 
A  ist  von  allen  anderen  Vorstellungen  verschieden;  jedes  Ge- 
dachte ist  dieses  und  kein  anderes ;  und  es  wäre  damit  ebenso 
ein  Gesetz  unseres  unterscheidenden  Verneinens,  wie  eine  funda- 
mentale psychologische  Thatsache  ausgesprochen. 

Sollte  man  sich  dagegen  auf  die  Thatsache  berufen,  dass 
wir  doch  vieles  verwechseln  und  dadurch  irren  :  so  ist  zu  ant- 
worten ,  einmal ,  dass  Verwechslungen  in  Beziehung  auf  die 
Dinge  stattfinden,  weil  die  augenblicklichen  Vorstellungen 
die  Unterschiede  derselben  nicht  wiederholen,  so  wenn  ich  bei 
oberflächlicher  Betrachtung  eine  künstliche  Blume  für  eine 
natürliche  halte  —  hier  besteht  zwischen  meinen  Vorstellimgen 
die  Differenz  nicht,  die  bei  vollständiger  Auffassung  bestehen 
würde ;  zweitens ,  dass  Verwechslungen  stattfinden  in  Folge 
mangelhafter  Reproduction  und  Constanz 
der  Vorstellungen,  indem  im  Laufe  der  Zeit  eine  der  andern 
sich  unterschiebt.  So  kann  ich  einen  Fremden  als  alten  Be- 
kannten begrüssen,  weil  sich  das  Bild  des  Bekannten  mir 
verwischt,  und  unter  dem  Eindruck  des  gegenwärtigen  An- 
blicks verschoben  reproduciert  hat.  Damit  ist  aber  nicht  ge- 
sagt, dass  es  möglich  sei,  zwei  im  Bewusstsein  gegenwärtige, 
während  eines  Urtheilsactes  unverrückt  festgehaltene  Vorstel- 
lungen ,  die  verschieden  sind ,  als  nicht  verschieden  zu  setzen. 
Vielmehr  ruht  alle  Einheit  und  Klarheit  unseres  Selbstbe- 
wusstseins  auf  dieser  Macht  der  Verneinung,  das  Viele,  das  uns 
gegenwärtig  ist,  vor  dem  Verschwimmen  zu  bewahren  und  aus- 
einanderzuhalten, und  ebenso  ruht  alle  Möglichkeit  der  Gültig- 
keit eines  Urtheils  sicher  zu  sein,  und  damit  die  Möglichkeit 
des  Urtheilens  darauf,  dass  ein  unmittelbares  Bewusstsein 
der  Verschiedenheit  in  vollkommen  sicherer  Weise  möglich  sei. 
Wo  wir  dies  nicht  voraussetzen  könnten  —  wie  etwa  in  der 
Narrheit  —  da  wäre  die  Gemeinschaft  des  Denkens  aufgehoben. 

7.  Schwieriger  wird  die  Untersuchung  der  Bedingungen 
der  Verneinung ,  wo  die  Urtheile  Eigenschaftsurtheile  sind. 
Denn  da  dasselbe  Ding  verschiedene  Eigenschaften,   und  ver- 


f 


172  I.  4.    Die  Verneinung.  133.  134 

schiedene  Dinge  dieselben  Eigenschaften  haben  können,  so  ist 
mit  der  einfachen  Verschiedenheit  der  Eigenschaftsvorstel- 
lungen noch  kein  Grund  gegeben ,  von  dem  Dinge  A  die  Ei- 
genschaft ß  zu  verneinen  ,  weil  es  die  davon  verschiedene  Ei- 
genschaft a  hat,  oder  von  B  die  Eigenschaft  a  zu  verneinen, 
weil  A  sie  hat,  wie  ein  Grund  vorhanden  ist  zu  sagen,  A  ist 
nicht  B,  a  ist  nicht  ß.  Die  Frage  ist :  Unter  welchen  Vor- 
aussetzungen können  wir  von  einem  Ding  A  sagen ,  dass  die 
Eigenschaft  ß  mit  ihm  unvereinbar  sei?  Offenbar  nur  dann, 
wenn  eine  der  Eigenschaften  von  A  zur  Eigenschaft  ß  in  dem 
Verhältnisse  steht,  dass  sie  nicht  zusammen  demselben  Sub- 
jecte  zukommen  können.  So  schliesst  eine  bestimmte  Farbe 
einer  Oberfläche,  z.  B.  weiss,  alle  anderen  Farben  aus ;  daraus, 
dass  Schnee  weiss  ist,  kann  ich  sofort  alle  andern  Farben  von 
ihm  verneinen  ;  daraus ,  dass  eine  Linie  gerade  ist ,  kann  ich 
das  Prädicat  krumm  von  ihr  verneinen  u.  s.  f.  Dasselbe  gilt 
von  verbalen  und  Relationsprädicaten  ;  Sitzen  schliesst  Stehen, 
Stehen  schliesst  Gehen ,  rechts  schliesst  links,  gleich  schliesst 
grösser  und  kleiner  gegenseitig  aus ;  von  was  das  eine  gilt,  von 
dem  muss  das  andere  verneint  werden. 

8«  Wie  der  Ausdruck  Identität ,  so  ist  der  Ausdruck 
»Gegensatz«  und  »entgegengesetzt«  fast  unbrauchbar 
geworden  durch  den  verschiedenen  Sinn,  den  man  ihm  gegeben 
hat ,  und  die  häufig  unklare  Stellung  dessen ,  was  man  als 
Gegensatz  bezeichnete ,  zur  Verneinung  einerseits ,  zur  Ver- 
schiedenheit andrerseits.  Mit  dem  Widerspruch  der  Ur- 
theile  ist  der  Widerstreit  der  einzelnen  Vorstellungen 
unter  demselben  Namen  vermengt,  und  in  Betreff  der  Bezeich- 
nung der  specielleren  Verhältnisse  widerstreitender  Vorstellungen 
ist  geradezu  babylonische  Sprachverwirrung.  Versuchen  wir 
aus  der  Natur  der  Sache    die  Unterscheidungen   zu   gestalten. 

Die  blosse  Verschiedenheit  der  Vorstellungen, 
welche  Bedingung  alles  Denkens  ist ,  kann  kein  vernünftiger 
Grund  bestehen  als  Widerstreit  oder  Gegensatz  zu  bezeichnen. 
Wie  die  verschiedensten  Dinge  im  Räume  friedlich  nebenein- 
ander sind ,  in  den  verschiedensten  Eigenschaften ,  ohne  sich 
zu  stören,  die  bunte  Erscheinung  der  Welt,  in  den  verschieden- 
sten Thätigkeiten  ihren  unaufhörlichen  Wechsel  darstellen ,  so 


135     §  22.    JPrivation   nnd  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.    17B 

wohnt  die  unabsehbare  Manigfaltigkeit  des  Vorgestellten ,  je- 
des einzeln  betrachtet,  zwar  geschieden,  aber  ohne  Streit  in 
unseren  Gedanken ;  die  unterscheidende  Verneinung  genügt, 
jeder  ihr  Recht  werden  zu  lassen.  Die  Vorstellungen  von 
Mensch  und  Löwe  sind  an  sich  so  wenig  im  Streit ,  wie  die 
von  schwarz  und  roth  oder  schwarz  und  weiss.  Streit  kann 
ja  überhaupt  erst  entstehen,  wo  zwei  auf  dasselbe  Anspruch 
machen ;  und  so  kann  ein  Verhältniss  des  Streites  unter  Vor- 
stellungen erst  eintreten,  wo  sie  sich  als  versuchte  Prä- 
dicate  eines  und  desselben  Subjects  begegnen; 
also  bloss  auf  dem  Gebiete  des  subjectiven,  ins  Falsche  hin- 
übergreifenden Denkens,  da  in  Wahrheit  jedes  Subject  im 
unbestrittenen  Besitz  Eines  Prädicates  ist.  Und  hier  findet 
zwischen  den  Gliedern  bestimmter  kleinerer  oder  grösserer 
Gruppen  von  Vorstellungen  das  Verhältniss  statt,  dass  sie, 
als  Prädicate  desselben  Subjects  versucht ,  sich  abstossen  und 
ausschliessen ;  und  zwar  nicht  etwa  wegen  der  besonderen 
Beschaffenheit  eines  einzelnen  Subjects,  sondern  wegen  ihres 
eigenen  Gehalts.  Wir  nennen  sie  mit  einer  gangbaren  Be- 
zeichnung unverträglich,  da  incomprädicabel,  was 
die  Sache  am  genauesten  ausdrücken  würde ,  zu  ungewohnt 
klingt.  Ursprünglich  findet  dieses  Verhältniss  zwischen  Eigen- 
schafts-, Thätigkeits-  und  Relationsvorstellungen,  abgeleiteter 
Weise  auch  zwischen  Vorstellungen  von  Dingen  statt ,  sofern 
diese  als  Prädicate  von  Benennungs-  und  Subsumtionsurtheilen 
auftreten.  Denn  zwei  substantivische  Vorstellungen  wider- 
sprechen sich,  sofern  sie  unvereinbare  Bestimmungen  ent- 
halten *). 

9.  Welche  Vorstellungen  unverträglich  sind,  lässt  sich 
aus  keinen  allgemeinen  Regeln  ableiten,  sondern  ist  mit  der 
factischen  Natur  der  Vorstellungsinhalte  und  ihrer  Verhältnisse 
zueinander  gegeben.  Es  Hesse  sich  eine  Einrichtung  unseres 
Gesichtssinnes  denken,  bei  der  wir  dieselbe  Fläche  in  verschie- 
denen Farben  leuchten  sähen,  wie  sie  ja  Licht  verschiedener 
Brechbarkeit  aussendet ,  gerade  wie  wir  in  einem  Klang  ver- 

*)  Tdc  ävavxCa  (XXXYjXa  ob  8exi|xeva    untersucht   in    lelirreiclier  Weise 
Plato  im  Phsßdon,  Cap.  52.  103  D  ff. 


174  l  4.    Die  Verneinung.  135.   136 

schiedene  ObertÖne ,  in  einem  Accord  die  einzelnen  Klänge 
unterscheiden ;  es  ist  rein  factisch,  dass  die  Farben  als  Pr'ädicate 
derselben  Lichtquelle  unverträglich  sind ,  die  verschiedenen 
Töne  als  Prädicate  derselben  Tonquelle  nicht,  und  ebensowenig 
die  Druck-  und  Ternperaturempfindungen  des  Tastsinns,  die 
in  den  verschiedensten  Combinationen  (kalt  und  hart,  kalt  und 
weich  u.  s.  f.)  auf  dasselbe  Subject  bezogen  werden  können. 

Wohl  aber  lässt  sich  im  Allgemeinen  sagen,  in  Betreff 
welcher  Vorstellungen  ihre  Unverträglichkeit  am  häufigsten 
zum  Bewusstsein  kommen,  welche  am  leichtesten  in  wirklichen 
Streit  gerathen  werden.  Offenbar  diejenigen  ,  die  am  leich- 
testen nebeneinander  als  Prädicate  versucht  werden  können, 
weil  sie  unter  sich  am  gleichartigsten  und  verwandtesten  sind, 
gleichartigen  und  ähnlichen  Subjecten  zukommen;  diejenigen, 
welche  sich  eben  wegen  dieser  Verwandtschaft  zugleich  als 
die  specielleren  Bestimmungen  und  Modificationen  eines  All- 
gemeineren darstellen.  Darum  ist  die  Unverträglichkeit  ver- 
schiedener unter  derselben  allgemeineren  Vorstellung  zusam- 
mengefasster  Bestimmungen  wie  der  Farben,  der  Qualitäten 
des  Tastsinns,  der  Formen,  der  Zahlen  u.  s.  f.  die  geläufigste, 
diejenige,  die  uns  sofort  einleuchtet,  weil  wir  am  häufigsten 
Gelegenheit  hatten  uns  derselben  bewusst  zu  werden.  An  die 
Unverträglichkeit  von  Mensch  und  Känguruh,  von  schmelzen 
und  fliegen  denkt  Niemand ,  weil  der  Fall  nie  eintreten  wird 
zu  fragen,  ob  irgend  ein  Wesen  Mensch  oder  Känguruh  sei, 
irgend  ein  Ding  zerschmelze  oder  fliege ;  die  Unverträglichkeit 
von  schwarz  und  weiss,  von  jung  und  alt,  von  stehen  und  liegen 
stösst  uns  jeden  Augenblick  auf,  weil  die  Fälle  zahllos  sind, 
in  denen  die  Frage  sich  nahe  legt ,  ob  etwas  schwarz  oder 
weiss,  eine  Person  jung  oder  alt  sei,  ob  etwas  stehe  oder 
liege.  Daraus  entsteht  die  Täuschung,  als  ob  es  sich  zwischen 
den  Unterschieden  einer  allgemeineren  Vorstellung  um  ein 
specifisches  Verhältniss  der  Unverträglichkeit  handle,  das  ihnen 
ganz  abgesehen  vom  Urtheilen  zukomme,  als  ob  schwarz  und 
weiss,  krumm  und  gerade  als  Söhne  desselben  Vaters  eine 
ganz  besondere  Feindschaft  gegeneinander  hätten. 

10.  Die  Unverträglichkeit  hat  keine  Grade;  und  sofern 
es    sich  bloss  um  den  Grund   der  Verneinung   handelt,    steht 


136     §  22i   Privation   und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.     l75 

schwarz  und  unsichtbar  in  keinem  andern  Verhältnisse  als 
schwarz  und  blau,  und  schwarz  und  blau  in  keinem  anderen 
als  schwarz  und  weiss.  Es  knüpfen  sich  aber  an  die  Ver- 
hältnisse, auf  denen  die  Unverträglichkeit  beruht,  andere  an, 
welche  bloss  die  Grösse  des  Unterschieds  betreffen,  und 
leicht  mit  jenen  vermischt  werden,  die  gewöhnlich  soge- 
nannten Gregensätze.  Schwarz  und  weiss  sind  in  ganz 
anderem-  Sinne  entgegengesetzt  als  schwarz  und  blau;  der 
Unterschied  beider  Verhältnisse  ruht  auf  dem  Abstände 
gleichartiger  Vorstellungen,  der  allmählich  wächst 
und  endlich  ein  Maximum  erreicht.  So  setzen  wir  Tag  und 
Nacht,  Maus  und  Elephant,  Tropfen  und  Meer  einander  ent- 
gegen. Der  schroffe  Uebergang  von  einem  Extrem  zum  an- 
dern scheidet  sich  für  unser  Gefühl  scharf  von  dem  Ueber- 
gang zum  nächstähnlichen ,  besonders  in  den  Gebieten ,  wo 
stetige  Uebergänge  die  näherliegenden  Unterschiede  verknüpfen ; 
und  zumal  wo  der  Gefühlseindruck  selbst  ein  entgegengesetzter 
ist,  wohlthuend  und  gefällig  auf  der  einen,  schmerzlich  und 
missfallend  auf  der  andern  Seite,  schärft  dieser  Gefühlswerth 
den  Eindruck  der  Grösse  des  objectiven  Unterschieds.  So 
stehen  sich  Licht  und  Finsterniss ,  gut  und  böse ,  schön  und 
hässlich,  Lust  und  Schmerz  selbst  gegenüber;  und  es  bedarf 
keiner  Erläuterung,  wie  die  Gleichartigkeit  und  Zusammen- 
fassbarkeit  unter  eine  gemeinschaftliche  höhere  Vorstellung 
hier  durchweg  vorausgesetzt  ist.  Aber  wir  würden  vorziehen, 
dieses  Verhältniss  Contrast  zu  nennen  ,  um  es  nicht  mit 
dem  der  Unverträglichkeit  zu  vermischen.  Dass  das  Wachsen 
der  Unterschiede  in  einer  solchen  Reihe  nebengeordneter  Vor- 
stellungen und  die  Stellung  der  Extreme  uns  in  räumlichem 
Bilde  erscheint,  hat  schon  Aristoteles  bemerkt  und  Trendelen- 
burg mit  feinem  Sinne  dargelegt  *) ;  aber  auch  das  räumliche 
Entgegen ,  das  geometrisch  ein  Maximum  des  Unterschieds 
der  Richtung  darstellt  und  physicalisch  durch  Druck  und 
Gegendruck,  Wirkung  und  Gegenwirkung  Bedeutung  gewinnt. 


•)  Trendelenburg,  Logische  Unters.  Xll.  2.  Afl.  IT,  151.  3.  Afl.  171. 
vergl.  El.  log.  Arist.  zu  §  10.  Arist.  Cat.  6.  6  a  12  und  die  Stellen  bei 
Waitz  zu  Cat.  IIb,  34. 


176  l  4.     Die  Verneinung.  137.  138 

und  das  an  unserem  eigenen  Wollen  eine  ähnliche  Resonanz 
findet  wie  der  Contrast  an  unserem  Gefühl,  zeichnet  sich,  wie 
der  Contrast,  unter  dem  vielen  Unverträglichen  nur  durch 
Züge  aus,  welche  direct  keine  besondere  Beziehung  zur  Ver- 
neinung haben. 

11.  Dies  zeigt  sich  am  deutlichsten  an  den  Versuchen, 
die  Verhältnisse ,  die  man  als  Gegensatz  bezeichnete ,  vermit- 
telst der  Negation  zu  begreifen  oder  wenigstens  auszudrücken. 
Aus  der  Verneinung  einer  Vorstellung  sollte  der  Gegensatz 
ursprünglich  hervorgehen,  indem  einem  A  ein  nonA  zur  Seite 
trete.  Man  unterschied  mit  Herbeiziehung  eines  Terminus, 
der  ursprünglich  für  zwei  sich  entgegenstehende  Urtheile  ge- 
schaffen war  (s.  unten  §  23),  contradictorisch  und  con- 
tra r  entgegengesetzte  Vorstellungen.  Die  contradic- 
torisch entgegengesetzten,  lehrt  man,  verhalten  sich  wie  A  und 
nonA,  so  dass  die  eine  Vorstellung  nur  die  Verneinung  des 
Inhalts  der  anderen  enthält ;  die  conträr  entgegengesetzten  so, 
dass  eine  zwar  die  andere  aufhebt,  ausserdem  aber  noch  eine 
positive  Bestimmung  enthält.  Gleich  und  nicht  gleich,  weiss 
und  nicht  weiss  gelten  als  Beispiele  von  contradictorischen, 
weiss  und  schwarz,  gut  und  böse  als  Beispiele  von  conträren 
Gegensätzen. 

Um  das  Recht  dieser  Lehre  zu  prüfen ,  muss  zunächst 
festgestellt  sein,  dass  alle  Verneinung  nur  einen  Sinn  hat  im 
Gebiete  des  Urtheils.  Jede  Verneinung  ist  die  verneinende 
Antwort  auf  eine  Frage,  und  verbietet  eine  Prädicierung ; 
Nein  und  nicht  haben  ihre  Stelle  nur  gegenüber  einem  Satze 
oder  in  einem  Satze.  Die  Formel  nonA,  wenn  A  ein  beliebig 
Vorgestelltes  bezeichnet,  hat  wörtlich  genommen  gar  keinen 
Sinn  ;  eine  Vorstellung,  die  nur  die  reine  Verneinung  des  In- 
halts einer  andern  Vorstellung  wäre,  gibt  es  gar  nicht.  Soll 
Verneinung  soviel  sein  als  A  u  f  h  e  b  u  n  g :  so  kann  allerdings 
eine  Vorstellung  —  Mensch,  Himmel,  blau,  grün  —  da  sein 
oder  nicht  da  sein  ,  mit  Bewusstsein  vorgestellt  werden  oder 
gar  nicht  vorgestellt  werden  und  insofern  »aufgehoben«  sein; 
aber  dass  Mensch  nicht  vorgestellt  wird,  ist  dann  nicht  selbst 
eine  Vorstellung*),  und  den  Sinn,  dass  oOx  av^pWTco?  bedeute 

*)  ouS^v  Y«?  ^vSdxsxat  vostv  n^j  voouvxa  §v.  Arist.  Met.  F  49.  100  b  610. 


138    §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.    177 

es  werde  »Mensch«  nicht  vorgestellt,  kann  die  Formel  schon 
desv^egen  nicht  haben,  weil  um  sie  zu  verstehen  »Mensch« 
vorgestellt  werden  muss,  die  Formel  also  ebenso  ihren  Zweck 
verfehlte,  wieKant's  Denkzettel  »Lampe  muss  vergessen  werden.« 

Sollte  nonA  alles  dasjenige  bezeichnen  ,  was  nicht  vor- 
gestellt wird ,  wenn  A  —  rein  seinem  Inhalte  nach  —  vor- 
gestellt wird,  dessen  Vorstellung  also  mit  der  Vorstellung  A 
nicht  unmittelbar  gegeben  ist:  so  hören  A  und  nonA  auf  un- 
verträgliche Bestimmungen  zu  bezeichnen ,  und  es  ist  nicht 
wahr,  dass  sie  sich  ausschliessen.  Wenn  ich  »weiss«  vorstelle, 
so  habe  ich  gar  nichts  als  die  Farbe  vor  mir;  ist  nonA  alles 
was  nicht  diese  Farbe  ist,  so  gehört  dazu  auch  rund,  vier- 
eckig, schwer,  in  Schwefelsäure  löslich;  alles  das  ist  »nicht 
weiss«,  d.  h.  etwas  anderes  als  »weiss«;  aber  diese  Prädicate 
sind  mit  weiss  durchaus  nicht  unverträglich ,  und  bilden  kei- 
nen Gegensatz  im  gewöhnlichen  Sinne ;  man  müsste  erst  von 
»weiss«  zurückgehen  auf  alle  weissen  Dinge,  und  dann  diese 
von  der  gesammten  Welt  abziehen ;  aber  wo  bedeutet  das  Wort 
»weiss«  ohne  Weiteres  alle  weissen  Dinge? 

Soll  es  sich  aber  um  eine  eigentliche  Verneinung 
handeln,  so  muss  das  Vorgestellte  von  etwas  verneint  wer- 
den, also  —  ausdrücklich  oder  stillschweigend  —  in  ein  Ur- 
theil  eingehen.  Dies  ist  auch  wirklich  die  Meinung;  nonA 
soll  dasjenige  bezeichnen,  was  nicht  A  ist,  wovon  A  verneint 
werden  muss.  Es  setzt  also  ein  verneinendes  Urtheil,  oder 
eine  Reihe  verneinender  Urtheile  über  ungenannte  Subjecte 
voraus,  die  erst  auf  Grund  d  ieser  Vernein  ungen  und 
sehr  indirect  als  das  bezeichnet  werden  können,  was  nicht  A 
ist.  Soll  also  unter  nonA  irgend  etwas  vorgestellt  werden, 
so  müssen  diese  Subjecte  irgendwoher  kommen,  durch  die 
blosse  Forderung  A  zu  verneinen  sind  sie  noch  nicht  da;  ich 
muss  alles  Mögliche  in  Gedanken  durchgehen,  um  A  von  ihm 
zu  verneinen ;  dieses  Positive  wäre  der  Inhalt,  der  durch  nonA 
bezeichnet  würde.  Aber  es  ist  ein  un vollen dbares  Geschäft, 
auch  wenn  es  einen  Sinn  hätte ;  und  sehr  mit  Recht  hat 
darum  Aristoteles  diesen  Ausdruck  ein  övopia  ocopiazoy  genannt  *). 

*)  Vergl.  über  dieses  nonA  auch  Prantl,  Geschichte  der  Logik  I,  144. 
Lotze,  Logik  2  Afl.  S.  61  f. 

Sigwar  t,  Logik.    1.    2.  Auflage.  12 


178  I,  4.    Die  Verneinung^.  139.  140 

Fragen  wir  Kant's  Logik:  so  zeigt  nonA  als  Pr'ädicat 
an,  dass  ein  Subject  unter  der  Sphäre  eines  Prädicats  nicht 
enthalten  sei,  sondern  dass  es  ausser  der  Sphäre  desselben  in 
der  unendlichen  Sphäre  irgendwo  liege;  der  Satz:  die  Seele 
ist  nicht-sterblich,  setzt  die  Seele  in  den  unbeschränkten  Um- 
fang der  nichtsterbenden  Wesen ,  die  von  dem  ganzen  Um- 
fange möglicher  Wesen  übrig  bleiben,  wenn  ich  das  Sterb- 
liche insgesammt  wegnehme.  Damit  scheint  ein  einfaches 
Recept  gegeben,  um  sich  zu  verdeutlichen  was  unter  nonA 
gehört.  Allein  es  ist  nur  da  anwendbar,  wo  es  sich  um  Prä- 
dicate  handelt,  die  als  Bezeichnung  von  Einzelwesen  genommen 
werden  können;  hier  kann  ich  die  Welt  als  eine  unendliche 
Zahl  von  solchen  betrachten,  von  der  ich  die  Zahl  der  A  ab- 
ziehe. Was  ist  aber  mit  den  Begriffen  anzufangen,  die  ab- 
stracter  Natur  sind  und  deren  Umfang  niemals  eine  Anzahl 
von  Wesen  bedeuten  kann?  Ist  A  =  sterblich,  und  theile 
ich  den  Umfang  möglicher  Wesen  in  sterbliche  und  nicht 
sterbliche,  wo  hat  die  Tugend,  die  Gerechtigkeit,  das  Gesetz, 
die  Ordnung,  die  Entfernung  ihren  Sitz?  Sie  sind  weder 
sterbliche  Wiesen,  noch  nicht-sterbliche  Wesen,  weil  sie  gar 
keine  Wesen  sind ;  sie  sind  Eigenschaften  und  Relationen  von 
Wesen,  die  sowohl  sterblichen  als  nichtsterblichen  Wesen  zu- 
kommen können.  Will  man  sie  deshalb  nicht  unter  nonA 
rechnen,  weil  sie  einem  sterblichen  Wesen  zukommen  können 
—  so  darf  man  sie  auch  nicht  unter  A  begreifen,  und  wir 
erhalten  gegen  die  Voraussetzung  ein  Mittelreich  zwischen 
A  und  nonA.  Ist  A  Mensch:  so  scheint  es  leicht,  die  Men- 
schen aus  der  Welt  heraus  bei  Seite  zu  stellen ;  was  übrig 
bleibt,  Sonne  Mond  und  Sterne,  Mineralien ,  Pflanzen ,  Thiere 
ist  Nicht-Mensch;  aber  wohin  gehört  schwarz,  grün,  weich, 
hart,  als  Eigenschaftsbegriffe  gedacht?  zu  A  oder  nonA?  Die 
so  gemeinte  Theilung  der  möglichen  Wesen  in  A  und  nonA 
vergisst  ganz ,  dass  es  verschiedene  Kategorieen 
gibt ;  dass  jeder  Begriff  theils  zu  solchen  gleicher  Kategorie 
im  Verhältniss  steht,  theils  zu  solchen  verschiedener  Kategorie ; 
und  dass  die  Linien,  die  sie  scheiden,  sich  in  wunderlichster 
Weise  kreuzen. 

Gesetzt  aber  auch  es  wäre   ausführbar,   unter  allem  was 


141  §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.    179 

niclit  A  ist,  irgend  etwas  fassbares  zu  denken,  das  zu  prä- 
dicieren  einen  Sinn  hätte  —  woran  läge  es  zuletzt,  dass  ich 
von  all  dem ,  was  nonA  bedeuten  kann ,  A  verneinen  muss  ? 
Nicht  darin ,  dass  es  nonA  ist ,  denn  das  wird  nur  auf  in- 
directe  und  abgeleitete  Weise  von  ihm  gesagt,  sondern  in 
dem  was  es  ist,  und  was  hindert,  A  von  ihm  zu  prädicie- 
ren.  Der  Gegensatz,  der  durch  nonA  ausgedrückt  und  ver- 
ständlich gemacht  werden  sollte,  ist  vielmehr  die  Voraus- 
setzung des  nonA,  und  dieses  bloss  ein  abgeleitetes  Zeichen 
desselben,  nicht  sein  Wesen  und  Grund. 

Dieselbe  Unbestimmtheit,  in  der  sich  der  contradictorische 
Gegensatz  auflöst ,  haftet  auch  dem  conträren  nach  der 
gewöhnlichen  Lehre  an.  Soll  einer  Vorstellung  A  alles  con- 
trär  entgegengesetzt  sein,  was  durch  die  Formel  nonA  +  B 
ausdrückbar  ist :  so  träten  roth  und  tugendhaft,  schwarz  und 
unsterblich  in  conträren  Gegensatz  —  ganz  abgesehen  von 
den  wunderlichen  Verwirrungen  ,  die  entstünden ,  wenn  man 
A  und  B  aus  verschiedenen  Kategorien  nähme,  was  durch 
die  Formel  nicht  ausgeschlossen  ist ;  denn  sie  bezeichnet  alles 
unter  nonA  befasste,  und  nicht  bloss  negativ,  sondern  direct 
bezeichnete ;  so  kommt  grasgrün  und  Algebra,  gefühlvoll  und 
Ellipse  in  conträren  Gegensatz.  Man  verzeihe  die  Beispiele ; 
aber  die  Gedankenlosigkeit  der  von  einer  Logik  zur  andern 
sich  fortschleppenden  Formeln  kann  nicht  anders  deutlich  ge- 
macht werden. 

12.  Die  Einsicht,  dass  man  nur  da  verneinen  kann,  wo 
eine  vernünftige  Möglichkeit  zu  fragen,  beziehungsweise  zu  be- 
jahen erfindlich  ist ,  hat  Andere  dazu  geführt ,  sowohl  jenes 
ins  Blaue  hinausgeschleuderte  nonA,  als  die  gewöhnliche  Er- 
klärung des  conträren  Gegensatzes  durch  nonA  4-  B  fallen  zu 
lassen,  und  den  contradictorischen  wie  den  conträren  Gegen- 
satz nur  da  zu  suchen,  wo  eine  allgemeinere  Vorstellung  sich 
durch  Unterschiede  weiter  bestimmt,  die  sich  ausschliessen, 
wie  die  Linie  durch  die  Unterschiede  der  Richtung  zur  ge- 
raden oder  krummen,  das  Verhalten  eines  Körpers  im  Raum 
zu  Ruhe  oder  Bewegung.  Der  contradictorische  Gegensatz 
wird  nun  da  gefunden,  wo  nur  zwei  Bestimmungen  einander 
gegenüberstehen,  also  mit  der  Verneinung    der   einen  die    an- 

12* 


180  I»  4-     Die  Verneinung.  141.142 

dere  bestimmt  gemeint  sein  mnss  —  eine  Linie,  die  nicht  ge- 
rade ist  muss  krumm  sein;  der  conträre  Gegensatz  da,  wo 
mehrere  Bestimmungen  gleichmässig  eintreten,  wie  bei  den 
Farben.  Damit  ist  unter  diesen  Namen  des  Contradictorischen 
und  Conträren  die  Unterscheidung  wieder  eingeführt,  die 
Aristoteles  (Categ.  10.  11  b  33)  zwischen  Entgegengesetztem 
macht,  das  kein  Mittleres  habe,  wie  gerade  und  ungerade  bei 
den  (ganzen)  Zahlen ,  Krankheit  und  Gesundheit  bei  einem 
lebenden  Wesen ,  und  Entgegengesetztem ,  das  ein  Mittleres 
habe,  wie  schwarz  und  weiss  *). 

Ist  diese  Wendung  der  Lehre  rationeller,  weil  sie  we- 
nigstens in  der  allgemeineren  Vorstellung  ein  Subject  für  die 
Negation  gibt:  so  birgt  sie  dafür  eine  andere  Gefahr,  nem- 
lich  dass  man  glauben  könnte,  nun  doch  durch  blosse  Ne- 
gation Entgegengesetztes ,  also  Positives  zu  erzeugen ,  indem 
an  dem  Allgemeineren  die  Bestimmungen  a  und  non  a  gesetzt 
werden.  Aber  das  Allgemeinere  ist  nicht  vor  seinen  Bestim- 
mungen, sondern  mit  diesen  zugleich;  es  gibt  nicht  erst  eine 
Linie  überhaupt ,  die  sich  entscheiden  könnte ,  gerade  oder 
nicht  gerade  zu  sein ;  sondern  in  der  Natur  des  Raumes ,  in 
welchem  die  Linie  ist,  liegt  es,  dass  in  ihm  sowohl  gerade 
als  krumme  Linien  möglich  sind.  So  hängt  es  überhaupt 
von  der  Natur  der  Objecte,  welche  wir  in  einer  allgemeineren 
Vorstellung  zusammenfassen,  ab,  welche  Bestimmungen  sie 
.  an  sich    gestatten  ,    ob    neben   einem  Prädicate ,    das    wir   als 


*)  Man  ist  dann  noch  weiter  auch  dazu  fortgegangen,  den  Namen 
des  conträren  Gegensatzes  auf  die  am  weitesten  von  einander  abstehen- 
den Glieder  einer  Reihe  solcher  Unterschiede  zu  beschränken,  unter 
den  Farben  also  nur  schwarz  und  weiss  als  conträren  Gegensatz  anzu- 
nehmen, roth  und  gelb  aber  nur  als  disjunct ,  nicht  als  conträr.  Dies 
geschah,  übereinstimmend  mit  der  aristotelischen  Bestimmung  (Categ. 
6.  6  a  17  und  sonst,  s.  die  Stellen  bei  Waitz  Org.  I,  p.  309) ,  dass  die 
^vavxta  xä  rcXslatov  dXXigXtov  SteaTYjxöxa  xöiv  sv  xcp  aüxq)  ysvst  seien ,  von 
Trendelenburg  in  den  Log.  Unters.  Cap.  XII,  und  nach  seinem 
Vorgang  von  Dro bisch,  Logik  3.  Afl.  §  24.  S.  27  und  Ueberweg, 
Logik  3.  Afl.  §  53,  S.  108  f.  Damit  aber  tritt  (nach  den  Ausführungen 
S.  180)  ein  ganz  neuer  Gesichtspunkt,  der  der  Vergleichung  der  Ab- 
stände des  Vorgestellten  herein ,  der  uns  hier ,  wo  wir  bloss  von  den 
Gründen  der  Negation  handeln,  nichts  angeht. 


143    §  22.    Privation  und  Gegensatz  als  Grund  der  Verneinung.    181 

möglich  erkennen,  auch  noch  ein  anderes  zulässig  ist,  und 
es  hängt  ebenso  von  der  Natur  der  Objecte  ab ,  wie  gross 
der  Kreis  solcher  nebeneinander  möglicher  Bestimmungen  ist. 
Auch  so  kann  die  Negation  und  die  vermittelst  ihrer  gebil- 
dete Formel  nur  für  uns  interpretieren,  was  in  der  Natur  der 
Vorstellungen  liegt ,  aber  diese  Natur  nicht  erst  bestimmen. 
Vielmehr  bleibt  die  Unverträglichkeit  gewisser  Vorstellungen 
für  unsere  jetzige  Betrachtung  ein  factisches  Verhältniss,  und 
die  Logik  ist  auch,  genau  betrachtet,  nirgends  über  eine  Be- 
schreibung desselben  hinausgekommen;  die  Bedeutung  des 
Verfahrens  aber,  durch  a  und  non  a  Unterschiede  an  einem 
Allgemeineren  zum  Ausdruck  zu  bringen,  kann  erst  in  der 
Lehre  vom  Begriff  erörtert  werden. 

13.  In  Einem  Falle  scheint  jedoch  die  Entstehung  eines 
Gegensatzes  durch  Negation  unabweisbar :  nemlich  da ,  wo 
das  eine  Glied  wirklich  bloss  negative  Bedeutung  hat.  Ge- 
rade und  krumm  sind  zwei  verschiedene  Anschauungen ,  jede 
in  sich  bestimmt  und  positiv;  bei  Ruhe  und  Bewegung  kann 
man  wenigstens  streiten,  ob  das  eine  bloss  Negation  des  an- 
dern sei  *) ,  und  dabei  das  eine  wie  das  andere  als  positiv 
nehmen;  aber  blind,  taub,  unglücklich,  unverständig,  unver- 
nünftig, sprachlos,  gefühllos  und  wie  die  zahllosen  un-  und 
-los  sonst  lauten  ?  Lässt  sich  das  Verhältniss  von  sehend 
und  blind  anders  ausdrücken ,  als  dass  blind  soviel  sei  als 
nichtsehend,  die  einfache  Privation  des  Sehens,  und  haben 
wir  also  nicht  hier  einen  Gegensatz,  welcher  durch  Vernei- 
nung entstanden  ist,  und  dessen  eines  Glied  gar  nichts  als  ein 
Nichtsein  bedeutet  ?  hat  nicht  also  doch  die  Sprache  ,  indem 
sie  die  Negation  mit  dem  Prädicate  verschmolz,  das  nonA  der 
logischen  Theorie  zum  Voraus  legitimiert? 

Dann  müsste  es  vollständig  gleichbedeutend  sein,  ob  ich 
das  eine  Glied  des  Gegensatzes  negiere,  oder  das  andere  be- 
jahe ;  ob  ich  sage,  dies  sieht  nicht,  oder  dies  ist  blind ;  A  ist 
nicht  glücklich,  oder  A  ist  unglücklich.  Es  bedarf  keines 
Beweises,  dass  dem  nicht  so  ist.  Wenn  nur  das  Urtheil  falsch 
ist,  dass  A  sieht  —  und  mehr  sagt  »A  sieht  nicht«  niemals 

*)  Die  Ruhe  ist  nicht  ein  blosses  Nichts,   sagt  Spinoza  (Tract.  de 
Deo  II,  19)  und  baut  darauf  seine  ganze  Physik. 


182  I,  4.    Die  Verneinung.  143.  144 

durch  seinen  Wortlaut  —  so  ist  nicht  ausgesprochen  warum 
er  nicht  sieht ;  blind  aber  bezeichnet  einen  bestimmten  Zu- 
stand des  Subjects,  eine  organische  Veränderung  des  Seh- 
apparats, in  Folge  deren  das  Sehen  nicht  stattfindet.  Wer 
also  das  Sehen  verneint,  bejaht  darum  nicht  das  Blindsein, 
wie  es  sein  müsste,  wenn  diese  sog.  privativen  Prädicate  wirk- 
lich nichts  als  den  Ausdruck  einer  Verneinung  enthielten. 
Auch  hier  also  reicht  die  Verneinung  nicht  aus,  um  den  Ge- 
gensatz zu  erklären;  und  nur  darum,  weil  unsere  Ver- 
neinungen fast  immer  auf  solchen  Gegensätzen 
ruhen,  erweckt  die  Verneinung  nach  psycholo- 
gischen G  esetzen  zuerst  die  Vors  tellung  des  Ge- 
gensatzes, und  die  Sprache,  welche  die  psychologischen 
Kräfte  benutzt,  und  jedem  Worte  eine  engere  Bedeutung,  als 
seine  Etymologie  mit  sich  bringt,  zu  geben  die  souveräne 
Macht  hat,  kann  diese  Gewohnheit  verwerthen,  um  Gegensätze 
durch  Negationen  zu  bezeichnen ;  aber  sie  meint  immer  mehr, 
als  sie  sagt,  und  der  logischen  Analyse  kommt  zu,  zu  unter- 
scheiden ,  was  die  Verneinung  an  und  für  sich  nothwendig 
und  was  sie  nur  vermöge  einer  Association  gewöhnlich,  auf 
Grund  der  bekannten  Verhältnisse  der  Prädicate,  bedeutet. 

§  23. 

Der  Satz  des  Widerspruchs  bezieht  sich  auf  das 
Verhältniss  eines  positi  ven  Urtheils  zu  seiner 
Verneinung,  und  drückt  Wesen  und  Bedeutung  der 
Verneinung  aus,  indem  er  sagt,  dass  die  beiden  Urtheile, 
A  ist  B  und  A  ist  nicht  B,  nicht  zugleich  wahr  sein  können. 
Er  sagt  damit  etwas  wesentlich  anderes  als  das  ge- 
wöhnlich sogenannte  Principium  contradictionis  (A  ist  nicht 
nonA) ,  welches  das  Verhältniss  eines  Prädicats  zu 
seinem  Subjecte  betrifft,  und  verbietet,  dass  das  Prädicat 
dem  Subjecte  entgegengesetzt  sei. 

Das  Verhältniss  eines  positiven  Urtheils  zu  seiner  Ver- 
neinung (abgeleiteterweise  auch  das  Paar  in  diesem  Verhält- 
niss stehender  Urtheile)  heisst  avTLcpaatg,  Contradictio  ;  sie  sind 


145  §  23.    Der  Satz  des  Widerspruchs.  JgS 

sich  contradictorisch  entgegengesetzt  (dvTtcpaTtXü)? 
dvTixeta'O'at,  contradictorie  oppositum  esse). 

1.  Aehnliche  Verwirrung,  wie  über  Identität  und  Gegen- 
satz, besteht  hj^s^htüßh  des  sogenannten  Principium  contra- 
dictionis,  Aristoteles  formuliert  es  in  der  bekannten  Stelle*) 
so:  »Es  ist  unmöglich,  dass  dasselbe  demselben 
in  derselben  Beziehung  zugleich  zukomme  und 
nicht  zukomme...  Dies  ist  der  allergewisseste  Grund- 
satz .  .  .  denn  es  ist  unmöglich,  dass  irgend  Jemand  annehme, 
dasselbe  sei  und  sei  nicht,  (wie  einige  meinen,  dass  Heraklit 
es  sage ;   denn  es  ist  nicht  nöthig,  dass  einer  das  wirklich  an- 


*)  Metaph,  T,  3.  1005  b  19:  Tö  ydp  aöxo  &[ia  undpxstv  ts  y,ai  [xr] 
ÖTtdpxetv  aSOvaxov  xcp  aöxtp  y.cd  xaxdc  x6  ccuzb  (xal  6aa  dXXa  7rpogSt,optaa{|X£'8-' 
dv,  laxd)  TcpogStoptotidva  upog  xdg  Xoytxdg  Suoxspetag),  aöxYj  Sv]  naawv  ioxi 
ßeßatoxdxY]  xwv  dp^wv  .  .  .  dSövaxov  ydp  övxtvoöv  xauxöv  U7i;oXa|jißdvetv  slvat 
xal  [iTj  stvat,  xa'ö-dTiep  xtvsg  o'iovxat  Xsysiv  'HpdxXeixov  *  oux  laxt  ydp  dvay- 
xatov,  dxig  Asyst,  xaöxa  xal  UTcoXajjtßdvstv.  el  d^  jiyj  ^vSe^exat  &|jLa  uudpxstv 
x^  aöxq)  xdvavxCa  (ixpogSwüpiaO-o)  d'  :^|Jilv  xal  xaÖTKj  xf;  upoxdasi  xd  sloö'ö'öxa) 
Ivavxla  8'  §axl  So^a  dö^yj  yj  x-^g  dvxtcpdascos,  cpavepöv  öxt  dSövaxov  djxa  ötio- 
Xajißdvstv  xöv  auxöv  slvat,  xal  |jlyj  slvat  xb  aöxö  •  dji-a  ydp  dv  Ix^^  "^^C  Ivav- 
xias  Sögag  6  Stecl^suojjtivoc  Tiepl  xouxou.  Atö  udvxss  oE  duoSstxvövxsg  sig  xau- 
xyjv  dvdyouotv  loxdxvjv  Sö^av  qjöast  ydp  dpx"*^  xal  xwv  dXXoDV  d^twijtdxcüv 
aöxYj  Tcdvxwv.  4.  1006  b33:  oux  dpa  Ivd^xstat  djxa  dXvjO-sg  stvai  slustv  xö 
auxö  dv'ö-pcoTiov  slvat  xal  {xtj  sTvat  dV'O-pWTiov  (vergl.  dazu  Metaph.  B,  2 
996  b  31 :  Xdyco  §s  dTcoSstxxtxdg  xdg  xotvdg  Sö^agj  §|  wv  duavxsg  Sstxvö- 
aatv  ,  olov  8xi  itdv  dvayxaiov  >)  cpdvat  -i^  drcocpavat,  xal  &bbyccxoy  djia  slvai 
xal  |jLYj  slvat).  Wenn  Aristoteles  im  obigen  Zusammenhange  den  Satz 
verwendet,  dass  Entgegengesetztes  (ävavxla)  nicht  demselben  zugleich 
zukommen  könne,  und  ihn  als  Beweisgrund  dafür  zu  verwenden  scheint, 
dass  derselbe  nicht  annehmen  könne,  dass  dasselbe  zugleich  sei  und 
nicht  sei,  so  darf  das  natürlich  nicht  so  verstanden  werden,  als  ob  da- 
mit ein  höherer  oder  vom  Satze  des  Widerspruchs  unabhängiger  Grund- 
satz aufgestellt  würde;  das  widerlegt  Aristoteles  nicht  nur  im  selben 
Zusammenhang,  sondern  kommt  auch  später  (Metaph.  IV,  6.  1011  b  15) 
darauf  zurück:  InslS'  dSuvaxov  xijv  dvxlcpaatv  dXyjd-susaO-at  d|i,a  xaxd  xoö 
auxoö  ,  cpavepöv  5xi  oö5ä  xdvavxia  dp,a  UTidpxstv  ivSsxetat  x(p  auxqj,  erklärt 
also  umgekehrt  diesen  von  jenem  abhängig.  Der  obige  Beweis  ist  viel- 
mehr nur  ein  ai> XXoytaiiög  Ig  oTTo^doscog  im  aristotelischen  Sinn,  d.  h. 
eine  argumentatio  ex  concessis,  die  nachweisen  will,  dass  der  Satz: 
Niemand  kann  annehmen,  dass  demselben  dasselbe  zukomme  und  nicht 
zukomme,  in  dem  anerkannten  Satze :  demselben  kann  nicht  Entgegen- 
gesetztes zukommen,  liegt. 


184  I.  4.    Die  Verneinung.  145.  146 


1 


nimmt,  was  er  sagt).  .  .  Jedermann ,  der  einen  Beweis  führt, 
führt  ihn  deshalb  auf  diesen  Satz  als  letzten  zurück;  denn  er 
ist  von  Natur  das  Princip  auch  für  alle  andern  Axiome«. 

Damit  ist  also  gesagt:   der  Satz  A  ist  B,    und  der  Satz 
A  ist  nicht  B,    können    nicht    zugleich  wahr   sein;    wer    den 
Satz  A  ist  nicht  B  behauptet,  muss  den  Satz  A  ist  B  für  falsch 
erklären ;   und   wer  den  Satz  A  ist  B  behauptet ,   erklärt  den^-— 
Satz  A  ist  nicht  B  für  falsch. 

2.  Damit  ist  nichts  als  eine  Declaration  über  die 
Bedeutung  der  Verneinung  gegeben,  die  Wesen  und 
Sinn  derselben  in  einem  Satze  darlegt,  der  übrigens  selbst 
nicht  ohne  die  Verneinung  ausgesprochen  werden  kann,  und 
darum  nur  den  Werth  hat,  demjenigen,  der  die  Negation 
gebraucht,  sein  eigenes  Thun  zum  Bewusstsein  zu  bringen. 
Wer  mit  »nicht«  denselben  Sinn  verbindet,  den  alle  damit 
verbinden,  der  kann  wohl  mit  Worten  zugleich  sagen  A  ist 
B  und  A  ist  nicht  B,  er  kann  es  aber  nicht  glauben  und  im 
Ernste  behaupten ;  oder  er  kann  wohl  mit  Worten  den  Schein 
erwecken ,  als  ob  beides  zugleich  wahr  sei ,  aber  nur ,  indem 
er  die  Wörter  in  verschiedenem  Sinne  gebraucht  oder  von 
verschiedenen  Zeiten  spricht.  Darum  verwahrt  Aristoteles 
seinen  Satz  so  vorsichtig  durch  die  Bestimmungen  »zugleich« 
und  »in  derselben  Hinsicht«. 

So  gewiss  die  Verneinung  nur  in  einer  über  das  Seiende 
hin  ausgreifenden  Bewegung  unseres  Denkens  wurzelt,  welche 
auch  das  Unvereinbare  an  einander  versucht,  so  gewiss  kann 
Aristoteles  mit  seinem  Princip  unmittelbar  nur  die  Natur 
unseres  Denkens  treffen  wollen.  Dahin  weist  die  Begründung: 
Es  ist  unmöglich ,  dass  irgend  Jemand  annehme,  dass  das- 
selbe zugleich  sei  und  nicht  sei ;  dahin  weist  die  weitere  Aus-  f 
führung  (Metaph.  IV,  4),  dass  diejenigen,  die  sagen,  es  sei 
möglich ,  dass  dasselbe  sei  und  nicht  sei ,  und  es  sei  möglich 
das  zu  glauben  ,  die  Möglichkeit  des  Denkens  und  Sich-ver- 
ständigens  überhaupt  aufheben;  denn  dieses  beruht  darauf, 
dass  jedes  Wort  etwas  Bestimmtes  bedeutet,  und  der  Redende 
bei  dieser  Bedeutung  stehen  bleibt,  und  sie  nicht  wieder  auf- 
hebt*).  1\) 

'*)  j[ergl.  Prantl,  Gesch.  der  Logik  1,  131  ff.  134:  Immer  wird  über- 


147  §  23.     Der  Satz  des  Widerspruchs.  185 

3.  Ist  dies  der  Sinn,  in  welchem  Aristoteles  sein  Princip 
des  Widerspruchs  gemeint  hat,  so  erhellt  auch,  was  die  po- 
sitive Kehrseite  desselben  sein  muss:  nemlich  der  Satz,  dass 
Jeder,  der  mit  Bewusstsein  etwas  behauptet,  eben  das  be- 
hauptet, was  er  behauptet,  dass  seine  Rede  einen  festen  Sinn 
haben  muss,  weil  er  sonst  in  der  That  nichts  sagte,  wenn 
sich  ihm,  während  er  denkt  und  spricht,  ein  anderer  Sinn  ^ 
unterschöbe ;  es  muss  gelten :  was  ich  geschrieben ,  das  habe 
ich  geschrieben,  was  ich  sage,  das  sage  ich.  Es  ist  aber  klar, 
dass  damit  nur  eine  Ergänzung  zu  dem  gemeint  sein  kann, 
was  wir  oben  Constanz  der  Vorstellungen  genannt 
haben ;  es  ist  die  E  i  n  d  e  u  t  i  g^k_je  i  t^  des  Urtheilsacts. 
Wollte  man  dem  aristotelischen  Grundsatz  als  seine  positive 
Kehrseite  ein  Princip  der  Identität  gegenüberstellen,  so  musste 
diese  Eindeutigkeit  des  Urtheilsacts  seinen  Inhalt  bilden.  Allein 
erst  aus  der  Abweisung,  des  zugleich  Bejahens  und  Verneinens 
kommt  diese  Eindeutigkeit  zum  Bewusstsein,  und  sagt  nichts, 
was  nicht  der  Satz  des  Widerspruchs  auch  sagte.    Es  ist  also 

einstimmend  mit  dem  subjectiven  Ursprünge,  welchen  das  menschliche 
ürtheilen  hat ,  erst  an  das  im  subjectiven  Reden  und  Annehmen  be- 
stehende Verhältniss  der  gleiche  Grundsatz  betreffs  der  Objectivität  an- 
geknüpft. Allerdings  scheint  die  Fassung ;  es  ist  unmöglich,  dass  das- 
selbe zugleich  sei  und  nicht  sei,  darauf  hinzudeuten,  dass  es  sich  zu- 
gleich und  sogar  in  erster  Linie  um  einen  metaphysischen,  erst  in 
zweiter  um  einen  logischen  Grundsatz  handle  (wie  z.  B.  üeberweg  §  77. 
S.  198  ff.  annimmt,  indem  er  die  Aussprüche  des  Aristoteles  in  solche 
scheidet,  welche  den  metaphysischen,  und  solche,  welche  den  logischen 
Grundsatz  aussprechen).  Allein  eine  solche  Trennung  von  Metaphysik 
und  Logik  kann  niemals  im  Sinne  des  Aristoteles  gelegen  haben,  schon 
darum  nicht,  weil  er  das  wahre  Urtheil  immer  als  Ausdruck  eines  Seins 
fasst,  und  das  laxtv  der  Prädication  häufig  geradezu  als  ein  Sein  schlecht- 
hin bezeichnet;  seinem  ausdrücklichen  Ausspruch  gegenüber  aber  (Me- 
taph,  VI,  4),  dass  das  Wahre  und  Falsche  nicht  in  den  Sachen,  sondern 
in  Gedanken  sei,  kann  ein  Satz,  der  von  zwei  Behauptungen  eine  für 
falsch  erklärt,  immer  in  erster  Linie  nur  das  Thun  des  Denkens  in  der 
ab'^^eoii  und  Siafpeatg  treffen:  dass  dasselbe  nicht  zugleich  ist  und 
nicht  ist,  dasselbe  demselben  (objectiv)  nicht  zugleich  zukommt  und 
nicht  zukommt,  ergibt  sich  von  selbst,  weil  vermöge  des  aristotelischen 
Begriffes  der  Wahrheit  auch  der  logische  Grundsatz  sonst  gar  keine 
Geltung  hätte.  Beide  Ausdrucksweisen,  die  subjective  und  die  objective, 
sagen  für  Aristoteles  zuletzt  genau  dasselbe.  Vgl.  Zeller  Phil.  d.Gr.  11,2,174, 


A 


186  I,  4.    Die  Verneinung.  147.  148 

vollkommen  naturgemäss,  dass  Aristoteles  den  Satz  des  Wider- 
spruchs allein  als  Princip  heraushebt,  und  seine  positive  Kehr- 
seite nur  gelegentlich  zum  Ausdruck  bringt  *),  jyie  auch  lange 
Zeit  unter  dem  Principium  identitatis  der  aristotelisclie  Satz 
des  Widerspruchs  verstanden  wurde. 

4.  Was  die  spätere  Logik,  insbesondere  Leibniz  mid 
Kant*),    als  Principium  contradictionis  in    der  Formel  A   ist 

*)  Was  Trendelenburg,  Elem.  log.  Arist.  §  9  aus  Anal.  pr.  I,  32. 
47  a  8  anführt :  Ast  uav  xö  dXyjS-feg  aÖTÖ  laux^  öjjLoXoyooiievov  elvat  TtAvT-Q,  ist 
der  späteren  Lehre  zu  lieb  herbeigezogen,  und  hat  im  Zusammenhange 
nicht  diese  principielle  Bedeutung;  diese  kann  man  nur  den  Ausfüh- 
rungen Metaph.  VI,  4  ff,  beilegen,  und  das  dort  enthaltene  formuliert 
Prantl,  Gesch.  der  Logik  I,  131,  richtig  dahin,  dass  jede  Annahme  be- 
treffs eines  u7tdpxov(ich  würde  nur  gesetzt  haben  öudpxstv)  in  sich  fest- 
stehe, was  wiederum  zuletzt  nur  unter  Voraussetzung  der  begrifflichen 
Festigkeit  der  Wortbezeichnungen  möglich  ist.  Baumann,  der  neuer- 
dings (Philosophie  als  Orientierung  über  die  Welt  S.  373  ff.)  sich  be- 
müht hat,  den  ächten  aristotelischen  Sinn  der  logischen  Grundsätze 
wieder  zu  Ehren  zu  bringen,  verwischt  doch  die  Bedeutung  des  Ge- 
setzes ,  wenn  er  es  auf  den  bloss  factischen  Thatbestand ,  dass  etwas 
vorgestellt  oder  gedacht  worden  ist,  bezieht  (»Es  drückt  nichts  aus,  als 
dass  die  Thatsache  des  Vorstellens  stattgefunden  hat  in  der  Weise,  wie 
wir  sie  vollzogen  haben«) ,  und  es  bloss  als  einen  speciellen  Fall  des 
factum  infectum  fieri  nequit  hinstellt;  denn  nicht  darauf  kommt  es  an , 
in  einem  hintenher  kommenden  Urtheile  die  Thatsache  festzustellen, 
dass  etwas  gedacht  worden  ist;  dieses  nachfolgende  Urtheil  selbst 
steht  ja  unter  der  Regel,  dass  es  etwas  bestimmtes  meint,  nemlich  eben 
das  Stattgefundenhaben  dieses  und  keines  andern  Denkacts.  Es  handelt 
sich  vielmehr  darum,  wie  jeder  Urtheilsact  stattgefunden  hat,  nemlich 
so,  dass  darin  eine  bestimmte,  einzige  Meinung  liegt,  dass,  wer  irgend 
etwas  behauptet,  es  nur  in  einem  Sinne  behaupten,  und  in  demselben 
Acte  nicht  zugleich  das  Gegentheil  meinen  kann. 

*)  Wann  zum  erstenmale  als  Principium  identitatis  nicht  der  ari- 
stotelische Satz  (wie  das  ganze  Mittelalter  hindurch,  laut  Prantl's  Be- 
legstellen), sondern  die  Formel  A  est  A  oder  Ens  est  Ens  bezeichnet 
wurde ,  und  im  Zusammenhange  damit  auch  das  Principium  contra- 
dictionis (und  das  Princ.  exclusi  tertii)  seine  veränderte  Bedeutung  er- 
hielt, gestehe  ich  nicht  zu  wissen.  Bei  Leibniz  lässt  sich  der  üeber- 
gang  der  einen  Fassung  in  die  andern  deutlich  sehen.  In  den  Nouveaux 
Essais  IV,  2  (l^rdm,  p.  838.  339)  wird  als  Princip  der  Identität  A  est 
A,  chaque  chose  est  ce  qu'elle  est  genannt,  als  Princip  des  Widerspruchs 
aber  :  üne  proposition  est  ou  vraie  ou  fausse.  Darin  sollen  zwei  Sätze 
liegen:  1.  que  le  vrai  et  le  faux  ne  sont  point  compatibles  dans  une 


148.  149  §  23.    Der  Satz  des  Widerspruchs.  187 

nicht  nonA  aufgestellt  hat,  ist  nach  Sinn  und  Anwendung 
von  dem  aristotelischen  Satze  durchaus  verschieden.  Der  Satz 
des  Aristoteles  betrifft  das  Verhältniss  eines  bejahenden  und 
eines  verneinenden  Urtheils,  bei  ihm  widerspricht  ein  Urtheil 
dem  andern;  der  spätere  Satz  betrifft  Verhältniss  von  Sub- 
ject  und  Prädicat  in  einem  einzigen  XJrtheile,  das  Prädicat 
widerspricht  dem,  Subject.  Aristoteles  erklärt  das  eine  Ur- 
theil für  falsch,  wenn  ein  anderes  wahr  ist;  die  Späteren  er- 
klären ein  ürtheil  für  sich  und  absolut  für  falsch,  weil  das 
Prädicat  dem  Subjecte  widerspricht.  Die  Späteren  wollen  ein 
Princip,  aus  dem  die  Wahrheit  gewisser  Sätze  J^X-  sich  er- 
kannt werden  könne;  aus  dem  aristotelischen  Satze  folgt 
unmittelbar  keines  einzigen  Satzes  Wahrheit  oder  Falschheit, 
sondern  nur  die  Unmöglichkeit,  Bejahung  und  Verneinung  zu- 
gleich für  wahr  zu  halten. 

So  ist  denn  K  a  n  t's  Polemik  gegen  Aristoteles  ein  Schlag 
in  die  Luft.  Bei  ihm  lautet  der  Grundsatz  (Kritik  der  r. 
Vern.  Hart.  S.  166  fl'.) :  »Keinem  Dinge  kommt  ein  Prä- 
dicat zu,  welches  ihm  widerspricht.«  Er  ist  ein  allgemeines, 
obzwar  bloss  negatives  Criterium  aller  Wahrheit;  er  gilt  von 
allen  Erkenntnissen  überhaupt,  unangesehen  ihres  Inhalts,  und 


m^me  proposition,  ou  qu'une  proposition  ne  saurait  etre  vraie  et  fausse 
a  la  fois  ;  2.  qne  l'oppose  ou  la  negation  du  vrai  et  du  faux  ne  sont 
pas  compatibles,  ou  qu'il  n'y  a  point  de  milieu  entre  le  vrai  et  le  faux, 
ou  bien  il  ne  se  peut  pas  qu'une  proposition  soit  ni  vraie  ni  fausse. 
Soweit  schliesst  sich  Leibniz  hier  wie  Theod.  1 ,  44  im  Wesenthchen 
an  Aristoteles  an;  von  den  Beispielen  aber,  die  er  anführt,  ist  das 
erste:  ce  qui  est  A  ne  saurait  etre  nonAj  und  man  sieht  wie  aus 
diesem,  das  noch  die  zwei  Urtheile,  »dasselbe  ist  A  und  ist  nicht-A« 
erkennen  lässt,  doch  schon,  durch  das  nonA,  zur  Hälfte  die  Formel  A 
ist  nicht  nonA  geworden  ist.  Diese  erscheint  dann  wirklich  Nouveaux 
Essais  I,  §  18  (Erdm.  p.  211)  neben  der  andern  Formel:  il  est  im- 
possible  qu'une  chose  soit  et  ne  soit  pas  en  mOme  temps.  In  den  Princ. 
phil.  dagegen  (§  31)  gibt  er  als  Inhalt  des  Principium  contradictionis 
an,  dass  wir  kraft  desselben  für  falsch  erklären,  was  einen  Widerspruch 
enthalte,  und  für  wahr,  was  dem  Widersprechenden  oder  Falschen  ent- 
gegengesetzt sei.  Hier  ist  also  die  contradictio  im  Prädicate;  endlich 
wird  §  3-5  gesagt,  dass  das  Gegentheil  der  identischen  Sätze  einen 
ausdrücklichen  Widerspruch  enthalte,  womit  sich  Ä  ist  A  und  A  ist 
nonA  als  noth wendig  wahr  und  nothwendig  falsch  gegenübersteheii. 


188  If  4.    Die  Verneinung.  149.  150 

sagt ,  dass  der  Widerspruch  sie  gänzlich  vernichte ;  er  ver- 
bürgt zwar  im  Allgemeinen  noch  nicht  die  Wahrheit  eines 
Satzes,  denn  ein  Urtheil  kann,  auch  wenn  es  von  innerem 
Widerspruche  frei  ist,  dennoch  falsch  oder  grundlos  sein; 
man  kann  aber  doch  von  demselben  auch  einen  positiven  Ge- 
brauch machen,  um  Wahrheit  zu  erkennen.  Denn  wenn  das 
Urtheil  analytisch  ist,  es  mag  nun  v^neinend  oder  be- 
jahend sein,  so  muss  dessen  Wahrheit  jederzeit  nach  dem 
Satze  des  Widerspruchs  hinreichend  können  erkannt  werden. 
Denn  von  dem,  was  in  der  Erkenntniss  des  Objects  schon 
als  Begriff  liegt  und  gedacht  wird,  wird  das  Widerspiel  jeder- 
zeit richtig  verneint,  der  Begriff  selber  aber  nothwendig ^^on 
ihm  bejaht  werden  müssen,  darum  weil  das  Gegentheil  des- 
selben  dem  Objecte  wi3efsprechen  würde. 

Von  hjer  aus  veiurtheilt  dann  Kant  die  Formel:  Es  ist 
unmöglich,  dass  etwas  zugleich  sei  und  nicht  sei ;  sie  enthalte 
nemlich  eine  Synthesis,  welche  aus  Unvorsichtigkeit  und  ganz 
unnöthigerweise  in  ihr  gemischt  worden.  Der  Satz  sei  durch 
die  Bedingung  der  Zeit  afficiert ,  und  sage  gleichsam : 
Ein  Ding  A,  welches  etwas  =  B  ist,  kann  nicht  zu  gleicher 
Zeit  nonB  sein ;  aber  es  kann  gar  wohl  beides  (B  sowohl  als 
nonB)  nach  einander  sein.  »Nun  muss  der  Satz  des  Wider- 
spruchs, als  ein  bloss  logischer  Grundsatz,  seine  Aussprüche 
gar  nicht  auf  Zeitverhältnisse  einschränken,  daher  ist  eine 
solche  Formel  der  Absicht  desselben  ganz  zuwider.«  Der 
Missverstand  komme  bloss  daher,  dass  man  von  synthetischen 
Sätzen  ausgehe;  in  dem  einen  sei  ein  Prädicat  (z.  B.  unge- 
lehrt) mit  dem  Subject  (Mensch)  synthetisch  verbunden ,  und 
da  entstehe  ein  Widerspruch,  wenn  man  zu  gleicher  Zeit  dem 
Subject  ein  entgegengesetztes  Prädicat  (gelehrt)  zutheile;  der 
Widerspruch  finde  aber  statt  zwischen  dem  einen  Prädicat 
und  dem  andern,  nicht  zwischen  dem  Prädicat  und  dem  Sub- 
ject. _Sage_man  aber:  kein  ungelehrter  Mensch  ist  gelehrt, 
so  erhelle  der  verneinende  Satz  aus  dem  Princip  des  Wider- 
spruchs ,  ohne  dass  die  Bedingung  »zugleich«  hinzukommen 
dürfe.  In  demselben  Sinne  führt  auch  die  Logik  Kants  das 
Princip  des  Widerspruchs  auf. 

Es    bedarf    keiner    langen   Ausführung ,    dass    Kant   von 


150.  151  §  23.     Der  Satz  des  Widerspruchs.  189 

etwas  ganz  anderem  redet,  als  der  ursprüngliclie  Satz  des 
Widerspruchs  meinte.  Wie  Leibniz  die  Wahrheiten  in  noth-  | 
wendige  und  thatsächliche  theilte,  und  für  jede  beider  Classen  \ 
ein  besonderes  Princip  ihrer  Wahrheit  aufisteilte,  für  die  noth-  ; 
wendigen,  die  alle  zuletzt  sog.  identische  Sätze  sind,  das  Princip 
des  Widerspruchs ,  für  die  thatsächlichen  das  Princip  des  zu- 
reichenden Grundes,  so  verfährt  Kant  mit  seinen  beiden  Classen 
der  analytischen  und  synthetischen  Urtheile ;  er  sucht  ein  ^ 
Princip  für  die  Wahrheit  analytischer  Urtheile.  Nun  haben 
es  analytische  Urtheile  immer  bloss  mit  Subjecten  zu  thun, 
die  Begriffe  sind,  und  sagen  was  in  diesen  als  Begriffen  — 
damit  ganz  unabhängig  von  der  Zeit  —  gedacht_wirdj  das 
Prädicat  eines  analytischen  Urtheils  ist  immer  schon  in  dem 
Begriffe,  der  sein  Subject  bildet,  enthalten.  Das  Princip  des 
Widerspruchs  im  Kantischen  Sinne  sagt  nun :  keinem  Be- 
griffe darf  ein  Prädicat  bei^elegt^  werden,  das  ihm  wider- 
spricht. Sofern  dann  auch  andere  Urtheile  ihr  Subject  mit 
Hülfe  eines  Begriffs  ausdrücken  (dieser  Mensch  ist  gelehrt, 
enthält  schon  \ die  Erkenntniss  des  Objects  durch  den  Begriff 
Mensch),  findet  der  Satz  auf  sie  Anwendung,  dass  sie  sich 
selbst  vernichten  würden,  wenn  sie  dem  Subject  ein  Prädicat 
beilegen  wollten ,  das  dem  Begriffe ,  unter  den  es  gestellt  ist, 
widerspricht.  Was  es  heisse,  einem  Begriffe  widersprechen, 
und  ob  auf  diesen  Widerspruch  ein  allgemeines  logisches 
Princip  gegründet  werden  könne,  soll  nachher  untersucht 
werden ;  vorerst  ist  deutlich,  dass  nach  diesen  Voraussetzungen 
Kant  allerdings  ganz  Recht  hatte ,  die  Zeitbestimmung  aus 
seinem  Princip  auszuschliessen ;  allein  wenn  er  die  aristote- 
lische Formel  darum  des ^Missyerstandes  beschuldigt,  weil  sie 
ihr  »Zugleich«  aufnimmt,  so  kommt  dies  nur  aus  seinem 
eigenen  Missverstande,  dass  nemlich  Aristoteles  dasselbe  sagen 
wolle  wie  er;  denn  Aristoteles  will  allerdings,  zwar  nicht  den 
Widerspruch  zwischen  zwei  Prädicaten,  aber  den  Widerspruch 
zwischen  Bejahung  und  Verneinung  desselben  Prädicats_verbieten. 
5.  Man  fragt  nun  billig:  wie  ist  es  doch  möglich,  dass 
zwei  so  verschiedene  Sätze,  wie  der  aristotelische  und  der 
Kantische,  meist  als  dasselbe  Grundgesetz  des  menschlichen 
Denkens  angesehen  werden,  und  besteht  denn  kein  Zusammen- 


190  l  4.     Die  Verneinung.  151.  152 

hang  zwischen  ihnen?  Allerdings.  Das  gewohnliche  Princip 
des  Widerspruchs  will  eine  Regel  geben ,  nach  welcher  die 
Gültigkeit  verneinender  Urtheile  geprüft  werden  kann.  Von 
der  Einsicht  aus ,  dass  eine  Verneinung  meist  darauf  ruht, 
dass  das  Subject  das  Prädicat  ausschliesst,  und  in  dem  Wahne, 
dieses  Verhältniss  der  Unverträglichkeit  ruhe  rückwärts  wieder 
auf  der  Verneinung,  ^llen  die  allgemein  gültigen  Vernei- 
nungen auf  Widerspruch  reduciert  werden.  Allein  die  Formel 
dreht  sich  eben  darum  im  Kreise. 

Was  kann  es  doch  heissen:  ein  Prädicat  B  widerspricht 
einem  Subjecte  A  ?  Ein  Satz,  der  ein  Prädicat  B  einem  Sub- 
jecte  A  beilegt,  schliesst  einen  Widerspruch  ein  ?  Es  gibt 
keinen  andern  Weg ,  auf  dem  ein  Widerspruch  zu  Stande 
kommen  kann ,    als  so ,    dass  das  Urtheil ,  das  dieses  Prädicat 


B  einernTSuBjecte  A  beilegt ,  einem  andern  (wenn  auch  nicht 
ausdrücklich  aufgestellten,  so  doch  vorausgesetzten)  Urtheile 
widerspricht ,  welches  dieses  Prädicat  B  dem  Subjecte  A  ab- 
spricht; und  indem  das  leztere  Urtheil  (A  ist  nicht 
B)  als  selbstverständlich  oder  als  andersw  oh  er 
bekannt  angenommen  wird,  hebt  allerdings  der  Wider- 
spruch das  erste  Urtheil  auf,  und  zwar  nach  dem  Satze  des 
Aristoteles ,  dass  nicht  beide  zugleich  wahr  sein  können. 
Warum  ist  der  Satz  in  Kant's  Beispiel  »Ein  ungelehrter 
Mensch  ist  gelehrt«  ein  Widerspruch?  Weil  das  Prädicat 
gelehrt  einem  Subjecte  zugesprochen  wird,  von  welchem  durch 
das  Urtheil,  das  implicite  in  seiner  Bezeichnung  mit  dem  Sub- 
jects Worte  »ungelehrter  Mensch«  liegt,  behauptet  war,  es  sei 
nicht  gelehrt;  es  lässt  sich  also  zurückführen  auf  die  zwei 
Urtheile  X  ist  gelehrt,  und  derselbe  X  ist  nicht  gelehrt.  Diese 
zwei  Urtheile  werden  von  dem  Satze  behauptet, 
und  darum  enthält  er  einen  Widerspruch,  und  darum  ist  er 
falsch,  d.  h.  es  ist  falsch,  dass  derselbe  gelehrt  und  nicht  ge- 
lehrt sei ;  und  wenn  es  wahr  ist,  dass  er  nicht  gelehrt  ist,  ist 
es  falsch,  dass  er  gelehrt  ist. 

Ein  Widerspruch  kann  also  nur  insofern  zu  Stande  kom- 
men, als  im  Subjecte  schon  implicite  ein  Urtheil  ausgesprochen 
ist.  Dies  trifft  bei  den  analytischen  Sätzen ,  welche  Kant  im 
Auge  hat,  und  bei    den  Sätzen,   welche  die  Schullogik  allein 


152.  153  §  23.     Der  Satz  des  Widerspruchs.  191 

zu  betrachten  pflegt,  allerdings  zu.  Kant's  analytische  Satze 
sind,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  nur  möglich  unter  Vor- 
aussetzung von  Begriffen,  die  übereinstimmend  fixiert  sind, 
d.  h.  unter  Voraussetzung  allgemeingültiger  Urtheile  über  die 
Bedeutung  von  Wörtern ,  welche  sagen ,  Körper  heisst  soviel 
als  ausgedehntes  Ding;  die  mit  dem  Worte  »Körper«  bezeich- 
nete Vorstellung  enthält  die  Vorstellung  »Ausdehnung«.  Sage 
ich:  alle  Körper  sind  ausgedehnt:  so  heisst  das  also:  Alles 
was  ich  Körper  nenne,  muss  ich  auch  ausgedehnt  nennen;  in 
der  Bezeichnung  irgend  eines  X  mit  Körper  ist  das  ürtheil 
enthalten :  X  ist  ausgedehnt.  Sage  ich  nun :  ein  Körper  ist 
nicht  ausgedehnt ,  oder  auch :  dieser  Körper  ist  nicht  ausge- 
dehnt, —  so  habe  ich  den  Widerspruch:  dies  ist  ausgedehnt, 
und  dies  ist  nicht  ausgedehnt;  und  da  es  absolut  feststeht, 
dass  was  Körper  ist,  ausgedehnt  ist,  so  ist  noth wendig  das 
Entgegengesetzte  falsch. 

Soweit  steht  sich  Bejahung  und  Verneinung  gegenüber, 
A  ist  B  und  A  ist  nicht  B.  Allein  jetzt  Jrejtßn  statt  der 
widersprechenden  Sätze  die  contradictorisclT^entgegengesetz- 
ten  Prädicate  B  und  nonB  ein,  und  der  Widerspruch  der 
Bejahung  und  Verneinung  wird  auf  die  beiden  Bejahungen 
A  ist  B  und  A  ist  nonB  übertragen;  wenn  »A  ist  B«  wahr, 
ist  »A  ist  nonB«  falsch. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  allein  kann  ein 
Widerspruch  eines  Prädicats  mit  dem  Subjecte  stattfinden; 
und  nur  unter  dieser  Voraussetzung,  dass  die  Begriff sbil- 
dung  infallibel  und  die  Wort  b  eze  ich  n  u  ng  ab- 
solut fest  ist,  und  dass,  wo  es  sich  um  Einzelnes  handelt, 
die  Subsumtion  des  Einzelnen  unter  den  Begriff 
ebenso  infallibel  ist,  kann  aus  dem  Widerspruch  des 
Prädicats  mit  dem  Subjectsbegriff  die  Falschheit  eines  Satzes 
erkannt  werden.  Nun  ist  allerdings,  so  lange  es  sich  bloss 
um  die  subjectiven  Gebilde  handelt,  die  Kant  seinen  analyti- 
schen Urtheilen  zu  Grunde  legt  (s.  oben  S.  133),  die  Möglich- 
keit nicht  zu  bestreiten,  einen  Begriff  mit  Leichtigkeit  zu 
machen  und  einzelne  Merkmale  in  ihm  zu  vereinigen,  zu  sagen 
Körper  ist  ausgedehntes  Ding ;  jetzt  ist  das  ürtheil  die  Körper 
sind   ausgedehnt    soviel  _als    das  Ausgedehnte   ist  ausgedehnt; 


192  I,  4.    Die  Verneinung.  153.  1 


ich  habe  nur ,  wie  Hobbes  aufstellt ,  Gleichungen  zwischen 
Wortbedeutungen,  die  willkürlich  gemacht  sind ,  es  ist  schon 
eine  Erschleichung,  wenn  ich  sage:  alle  Körper  sind  aus- 
gedehnt ;  denndamit  setze  ich  unter  der  Hand  voraus ,  dass 
mein  Begriff  sich  auf  mögliche  Dinge  anwenden  lasse,  und 
dass  ich  in  jedem  einzelnen  Fall  diese  Anwendung  sicher 
machen  könne;  nur  so  hat  das  »alle«  einen  Sinn;  davon 
vollends,  dass  ich  über  das,  was  ich  Körper  nenne,  mehr 
sagte,  als  was  schon  in  der  Benennung  liegt,  ist  gar  keine 
Rede;  alle  Sätze  werden  identische,  d.  h.  sinnlose  und  leere. 
Gerade  daran  knüpft  nun  aber  die  Formel  A  ist  nicS 
nonA  als  Ausdruck  des  Principium  contradictionis  an.  Indem 
sie  voraussetzt,  dass  alle  wahren  Urtheile  sich  müssen  auf  A 
ist  A  zurückführen  lassen ,  und  dass  wir  daran ,  an  dem  fer- 
tigen Begriffssysteme,  in  dem  sich  allein  unser  Denken  und 
Erkennen  bewege,  den  absoluten  Massstab  der  Wahrheit  haben, 
bringt  sie  den  Widerspruch  eines  Prädicats  mit  seinem  Sub- 
ject  auf  diese  Formel.  Diese  leidet  nun  zunächst  an  ihrem 
dopiaxov  nonA.  Dieses  könnte  man  zwar  versuchen,  wegzu- 
erklären.  Man  kann ,  vom  sog.  Princip  der  Identität  A  ist 
A  ausgehend,  den  Satz  aufstellen;  Es  ist  falsch,  dass  A  nicht 
A  ist,  —  darum  nemlich,  weil  es  dem  wahren  Satze  A  ist  A 
widerspricht  — ;  man  kann  dann,  mit  einer  kleinen  Ver- 
renkung der  Sprache ,  das^  in  den  Satz  zusammenziehen :  Non 
[A  non  est  A] ;  dann  ist  immer  das  bestimmte  A  Subject, 
und  es  wird  verneint,  dass  von  diesem  A  als  Prädicat  ver- 
neint werden  dürfe;  ebenso  hätte  die  Formel  einen  Sinn,  wenn 
man  A  als  Zeichen  eines  Satzes  nähme.  So  ists  aber  nicht 
gemeint ;  es  wird  nonA  im  Ernste  eingeführt ,  der  contradic- 
torische  Gegensatz  von  Begriffen  statt  der  Contradiction  von 
Sätzen;  und  jetzt  soll  man  nonA  nicht  von  A  bejahen  dürfen. 
Nun  könnte  man  sich  von  gewissen  Gesichtspunkten  aus  nonA 
schon  ^^eMlen  lassen,  und  die  Formel  für  theoretisch  richtig 
erkennen;  nur  dass  sie  in  der  Praxis  unbrauchbar  ist.  Denn 
so  nackt ,  dass  gesagt  würde  Gold  ist  Nicht-gold ,  grün  ist 
nicht-grün.  Sein  ist  Nichtsein,  tritt  uns  der  Widerspruch 
nicht  leicht  entgegen ;  wir  müssen  ihn  meist  in  seinen  Ver- 
hüllungen entdecken ;    wenn    nur  so   leicht   festzustellen  wäre, 


54.  l55  §  24.    t)er  Satz  der  doppelten  Verneinung.  19^ 

welche  Bestimmungen,  wenn  A  gegeben  ist,  nun  unter  non-A 
fallen,  und  deshalb  A  widersprechen! 

Aber  nun  zeigt  sich  ,  dass  das  Principium  contradictionis 
recht  wie  ein   Orakel  uns  rathlos  lässt,  wenn  wir  fragen,  was 
denn  von   A  nicht  behauptet  werden    dürfe.     Denn  zöge  man    I 
sich  darauf  zurück,  A  als  Begriff  enthalte  die  Merkmale  a,  b,    | 
c,  d,  also  dürfe  ihm  non  a,  non  b,  non  c,  non  d  nicht  zuge-    j 
sprochen   werden,    so    vervielfältigt    sich    nur    die    Noth    des     | 
non A ;  und  bleibt  man  dabei  stehen,  -  es  dürfe  a,  b,  c,  d  ^icht 
verneint  werden  —  nun,    so  ist  das  der  aristotelische  Grund- 
satz,  angewendet    auf  Urtheile,    deren    Gültigkeit   schon  Jiß- 
kannt^ist. 

Eine    allgemeine  Formel    aber,    nach   der    ohne   weiteres 
entschieden  werden  könnte,  was  einem  Subjecte  entgegengesetzt 
ist ,  kann  es  schon  darum  für  die  Kant'sche  Logik  nicht  ge-     | 
ben,  weil  unsere  Begriffe,  nach  Kant's  ausdrücklicher  Lehre,      | 
das  Wesen^  ihrer  Gegenstände  nur  nach  einem  Theil  der  Er-      I 
fahrung   von  ihnen  zu  bezeichnen  pflegen;    daraus   also,   dass       1 
etwas    nicht   in    dem  Begriffe    enthalten    ist,    niemals  ab-       | 
genommen  werden  kann,  dass  es  der  Sache  nicht  zukommt, 
daraus ,    dass  es   dem  Begriffe   nicht    widerspricht ,   nie   folgt, 
dass    es    der   Sache    nicht    widerspricht.     Es    ist    auch    eine 
Fiction,  dass  wir  alle  Verhältnisse   der  Begriffe  nach  Gegen- 
satz und  Ausschliessung  kennen. 

X    P^^i'^iSL- ist  allein  der  aristotelische  Grundsatz  ein  oberstes,    j 
schlechthin   unbedingtes  und  auf  all  unser  ürtheilen  anwend-    | 
bares  Princip,  weil  er  nur  betrifft  was  wir  kennen,  die  Function   j 
des  Verneinens ,    und    sich    nicht   bloss    auf  Urtheile   bezieht,   v 
deren  Subjecte  Begriffe  sind;  weil  er  ferner,    soweit   wir   die   l 
Verhältnisse   des   Gegensatzes   und    der  Unverträglichkeit    der 
Begriffe   überhaupt   kennen ,    den  Grund    enthält ,    um    dessen 
willen  es  unmöglich  ist,    einem  Begriff    ein   von  ihm    ausge- 
schlossenes Prädicat  beizulegen. 

Das  gewöhnliche  Principium  contradictionis  kann  aber 
nur  sagen:  Ein  Satz  ist  falsch,  wenn  sein  Prädicat  mit  oAner 
Bestimmung  des  Subjects  unverträglich  ist,  und  darum  yerr 
bieten ,  ein  mit  ihm  unverträgliches  Prädicat  beizulegen ;  er 
setzt  damit  die  Kenntniss  dessen,  was  imverträglicli  ist,  schon 

Sigwart,   Logik.  I.    2.  Auflage.  13 


194  I,  4.    Die  Verneinung.  155.  156 

voraus ,  und  kann  daher  kein  unbedingtes  oberstes  Princip  sein, 
das  für  sich  zureichend  wäre,  die  Falschheit  eines  Satzes  (und 
damit  weiterhin  nach  dem  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten  die 
Wahrheit  seines  contradictorischen  Gegentheils)  zu  begründen. 

§  24. 

Das  Wesen  der  Verneinung  ist  aber  nur  dann  vollständig 
erschöpft,  wenn  zu  dem  Satze  des  Widerspruchs  der  Satz  hin- 
zutritt, dass  die  Verneinung  der  Verneinung  bejahe, 
die  Aufhebung  einer  Verneinung  der  Bejahung  desselben  Prä- 
dicats  von  demselben  Subjecte  gleichkomme. 

1.  Es  ist  auffallend,  dass  der  Satz  Duplex  negatio  affir- 
mat,  den  die  Grammatik  aus  der  Beobachtung  häufig  vor- 
kommender Wendungen  der  Sprache  abstrahiert  hat,  in  der 
Logik  keine  Stelle  finden  konnte;  man  hat  ihn  wohl  als  Con- 
sequenz  des  Princips  des  ausgeschlossenen  Dritten  angesehen, 
er  ist  aber  vielmehr  die  unentbehrliche  Brücke  vom  Satz  des 
Widerspruchs  zum  Princip  des  ausgeschlossenen  Dritten.  Der 
Satz  des  Widerspruchs  erklärt  es  für  unmöglich,  dass  Be- 
jahung und  Verneinung  zugleich  wahr  sei;  er  führt  damit, 
wenn  die  Bejahung  gilt,  auf  die  Ungültigkeit  der  Verneinung ; 
er  erklärt  aber  damit  noch  nicht ,  was  es  Jieisse ,  eine 
Verneinung  für  falsch  erklären.  Nur_darum,  weil 
die  Aufhebung  der  Verneinung  die  Bejahung 
selbst  ist,  gibt  es  kein  Mittleres  zwischen  Bejahung  und 
Verneinung. 

Aristoteles  hat  sich  diesen  einfachen  Zusammenhangjda^ 
durch  verhüllt,  dass  er  von  Anfang  an  Bejahung  und  Ver- 
neinung als  durchaus  parallele  und  gleichwerthige  Formen 
der  Aussage  fasste,  und  sich  darum  über  das  Wesen  der  Ne- 
gation selbst  keine  genügende  Rechenschaft  gab ,  ja  genau 
genommen  für  die  Verneinung  einer  Verneinung  gar  keine 
Stelle  Hess.  Sobald  aber  erkannt  ist,  dass  jede  Negation  schon 
eine  positive  Synthese  voraussetzt,  und  dass  sie  nur  gegen  diese 
sich  richten  kann ,  um  sie  für  ungültig  zu  erklären ;  sobald 
erkänüTTst,  dass  die  Verneinung  ein  besonderer  Act  ist,  in 
welchem  »nicht«    den  Werth    eines  Urtheils   über    ein 


156.  157  §  25.    Der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten.  195 

(versuchtes  oder  vollzogenes)  Urtheil  hat:  so  erhellt  auch 
inwiefern  die  Verneinung  einer  Verneinung  möglich  ist.  A 
ist  nicht  B  enthält  ja  die  Behauptung ,  dass  der  Satz  A  ist 
B  falsch  sei,  dass  dem  A  andere  Bestimmungen  als  B,  mit  B 
unvereinbare  Bestimmungen  zukommen^  dass  es  unmöglich  ist, 
B  mit  A  zu  vereinigen.  Diese  Behauptung,  oder  der  Versuch 
einer  solchen,  kann  selbst  wieder  aufgehoben  werden;  es  ist 
falsch,  dass  A  nicht  B  ist,  sagt:  es  ist  unmöglich  den  Satz 
A  ist  B  für  falsch  zu  erklären,  dem  A  ein  anderes  Prädicat 
als  B  zuzuschreiben,  die  Vereinigung  von  A  und  B  zu  hindern  ; 
wenn  die  Einsprache  gegen  die  Synthese  A  ist  B  unmöglich 
ist,  so  muss  diese  Synthese  gelten*). 

2.  Erst  in  dieser  Eigenschaft  der  Verneinung,  dass  sie 
gegen  eine  Verneinung  gerichtet  ein  Positives  behauptet,  er- 
hellt vollständig  der  durchaus  subjective  Character  der  ge- 
sammten  Bewegung  des  Denkens,  welche  sich  im  Gebiete  der 
Verneinung  vollzieht.  Es  kann  durch  den  Process  der  Ver- 
neinung keine  Wahrheit  erzeugt  und  nichts  geschaffen  werden, 
was  nicht  unabhängig  von  ihr  bestünde ;  wie  die  Voraus- 
setzung ihrer  GültigkeiFürj"  ^ss  eine  bloss  subjective  und 
individuelle  Combination  versucht  werde,  welche  von  der 
festen  Noth wendigkeit  des  Denkens  abgewiesen  wird,  so  ver- 
schwindet sie,  wo_ sie  ohne  Grund  versucht  wurde,  spurlos, 
und  das  wiederholte  »nicht«  zeigt  nur  den  Ümweg'^an ,  den 
das  individuelle  Denken  genommen  hat,  um  bei  einer  Wahr- 
heit anzulangen,  die  zu  gewinnen  es  dieses  Umwegs  nicht  be- 
durft hätte;  denn  woraus  die  Verneinung  für  falsch  erklärt 
wird,  ist  zuletzt  immer  ein  Positives,  und  in  diesem  liegt  der 
Grund,  der  die  Verneinung  scheitern  macht. 

3.  Doch  ist  dieser  Umweg  nicht  völlig  vergeblich.  Wie 
die  Grammatik  in  ihrem  Gebiete  ^erkannt  hat ,  wächst  die 
psychologische  Festigkeit  der  Ueberzeugung  durch 
den  ahgeschlagenen  Angriff;  die  Bejahung,  welche  sich  durch 


•)  Vergl.  Bradley,  The  principles  of  Logic  1883  p.  149  ff.,  wo  beson- 
ders darauf  zurückgegangen  wird,  dass  jeder  Verneinung  eine  positive 
Erkenntniss  zu  Grunde  liegen  müsse;  der  einzige  (»rund,  auf  den  hin 
A  ist  nicht  B  verneint  werden  kann,  ist  die  Erkenntniss,  dass  AB  ist; 
diese  ist  also  in  der  doppelten  Verneinung  eingeschlossen. 

13* 


196  ti  4.    Die  Verneinung.  167.  158 

eine  Verneinung  durchgekämpft  hat,  scheint  fester  zu  stehen 
und  gewisser  zu  sein.  Diesen  Gewinn  kann  sie  davon  tragen; 
niemals  aber  den  anderen,  dass  sie  nun /mehr  enthalte,  als 
zuvor,  und  eine  innere  Bereicherung  erfanren  habe.  A  ist  B 
sagt  dasselbe,  ob  es  direct  erkannt  oder  aus  der  Verneinung 
von  A  ist  nicht  B  hervorgegangen  ist  —  so  lange  A  und 
B  dasselbe  bedeuten,  und  nicht  der  blossen  Verneinung 
»A  ist  nicht  B«  die  Bejahung  eines  positiven,  B  entgegen- 
gesetzten Merkmals  untergeschoben  wurde.  Denn  dann  aller- 
dings wäre  insofern  ein  Neues  gewonnen ,  als  A  zu  einem 
weiteren  Prädicate  in  Beziehung  getreten  wäre.  Ist  es  falsch, 
dass  das  Licht  nicht  eine  Bewegung  ist,  so  sagt  der  dadurch 
gewonnene  Satz  kein  Jota  mehr,  als  der  Satz:  das  Licht  ist 
eine  Bewegung.  Nur  wenn  dem  ersten,  auf  Grund  einer  an- 
derswoher bekannten  Disjunction,  der  Satz  sich  untergeschoben 
hätte:  das  Licht  ist  ein  Stoff,  so  wäre  durch  dessen  Ab- 
weisung ein  Neues  hervorgebracht,  eine  Unterscheidung 
zwischen  »Licht«  und  »Stoff«  ;  aber  dies  ist  nicht  das  Ver- 
dienst der  doppelten  Verneinung. 

§  25. 

Aus  dem  Satze  des  Widerspruchs  und  dem  Satze  der 
doppelten  Verneinung  folgt  von  selbst,  dass  von  zwei  con- 
tradictorisch  entgegengesetzten  Urtheilen  das 
eine  noth wendig  wahr  ist,  dass  es  also  neben  Bejahung 
und  Verneinung  keine  dritte  Aussage  gibt,  neben  der  jene 
beiden  falsch  wären.  Dies  ist  der  Satz  vom  ausge- 
schlossenen Dritten,  der  demnach,  wie  die  beiden  voran- 
gehenden, nur  das  Wesen  und  die  Bedeutung  der 
Verneinung  weiter  zu  entwickeln  bestimmt  ist. 

Die  gewöhnlicheFassung  des  Principium  exclusi  tertii 
durch  die  Formel  Omne  A  est  aut  B  aut  non  B,  wonach  jedem 
Subjecte  von  zwei  contradictorisch  entgegengesetzten  Prädicaten 
eines  zukommt,  ist  ebenso  von  dem  ursprünglichen  und  ächten 
Satze  des  ausgeschlossenen  Dritten  verschieden,  wie  das  gewöhn- 
liche Principium  contradictionis  von  dem  Satze  des  Widerspruchs. 


158.159        §  25.    Der  Satz  des  ausgeschlossene»  Dritten,  197 

l,  Dass  von  den  beiden  Urtlieilen  A  ist  B  und  A  ist 
nicht  ß  das  eine  notli wendig  falsch  ist,  weil  nicht  beide  zu- 
gleich behauptet  werden  können,  sagt  der  Satz  des  Wider- 
spruchs, und  fixiert  damit  den  Sinn  der  Verneinung.  Dass 
aber  das  eine  noth wendig  wahr  ist,  ergibt  sich  sofort,  weil 
nicht  beide  zugleich  verneint  werden  können. 
Denn  verneine  ich  A  ist  B ,  so  behaupte  ich  eben  damit  A 
ist  nicht  B;  verneine  ich  aber  A  ist  nicht  B,  so  heisst  das 
wiederum  nichts  anderes  als  behaupten  A  ist  B.  Wollte  ich 
also  zugleich  verneinen,  dass  A  B  ist,  und  verneinen,  dass  A 
nicht  B  ist:  so  würde  ich  mit  jener  Verneinung  sagen  A  ist 
nicht  B,  mit  dieser  A  ist  B,  also  in  Widerspruch  fallen.  So- 
mit bleibt  zwischen  Bejahung  und  Verneinung  kein  Mittleres 
übrig,  das  eine  Beziehung  des  Prädicats  B  auf  das  Subject  A 
enthalten  könnte ;  und  jedes  Urtheil,  das  B  und  A  als  Prädicat 
und  Subject  in  Verbindung  setzen  will,  muss  entweder  B  von 
A  bejahen  oder  B  von  A  verneinen. 

2»  Aristoteles  hat  diesen  Satz  wiederholt  aufgestellt, 
und  in  der  Hauptstelle  (Metaph.  IV,  7)  einen  Beweis  des- 
selben versucht,  der  aber  eine  petitio  principii  enthält ;  sonst 
stellt   er  ihn   als  selbstverständlich   hin  *).     Seine  ^^ogß^  Ver- 


*)  Arist.  Metaph.  T,  1011  b  23:  'AXXd  ixyjv  ou8s  p-s-cagi)  dvxtcp(£aeü)g 
ivS^xsTat  sTvat  oö^iv,  dXX""  äc^^dyy.ri  %  ^öl'^oli  f^  dixocpdvat  Sv  xa^ö-'  Ivög  öxtoöv  • 
S^Xov  8s  TcptoTOv  [i^v  6pt,aa|jisvots  xt  xh  dXTjO-^s  %al  cjjsöSog.  tö  {xsv  ydp  X^ystv 
TÖ^öv  jjiTj  sTvat  "i^  xb  \yf\  öv  sTvai  c{jsu8og,  xö  bk  x6  öv  sTvai  xal  xö  (jlyj  öv  [xy] 
elvat  dcXrj'9'Sg,  waxs  6  X^ycov  xomo  stvat,  ri  p,Yj  dXyj^soost  y)  cpsuosxai  •  dXX'  ouxe 
xö  öv  Xdysxai  |j,y]  etvat,  y\  sTvat,  oöxs  x6  {xyj  öv.  Der  Sinn  dieser  verschieden 
erklärten  Stelle  ist :  Zwischen  den  Gliedern  der  Antiphasis  gibt  es  nichts 
Mittleres,  sondern  man  muss  jedes  von  jedem  entweder  bejahen  oder  ver- 
neinen. Das  erhellt,  wenn  wir  zuerst  bestimmen  was  wahr  und  falsch  ist. 
Sagen,  dass  das  Seiende  nicht  ist  oder  das  Nichtseiende  ist,  ist  falsch  ;  sa- 
gen, dass  das  Seiende  ist  und  das  Nichtseiende  nicht  ist,  ist  wahr,  so  dass 
wer  sagt,  das  dies  (d.  h.  irgend  ein  bestimmtes  entweder  Seiendes  oder 
Nichtseiendes)  sei  oder  nicht  sei,  entweder  wahr  redet  oder  falsch.  Aber 
weder  vom  Seienden  wird  gesagt,  dass  es  nicht  sei  oder  sei,  noch  vom 
Nichtseienden  -  in  der  vorausgesetzten  mittleren  Behauptung  nemlich 
zwischen  Bejahung  und  Verneinung;  denn  würde  eines  dieser  Urtheile 
ausgesprochen,  so  wäre  es  eine  Bejahung  oder  Verneinung  und  wahr 
oder  falsch  ;  das  Mittlere  aber  könnte  weder  vom  Seienden  noch  vom 
Nichtseienden  etwas  aussagen,  und  darum  auch  weder  wahr  noch  falsch 


196  h  ^'    Die  Verneinung.  •  159.  160 

wandtschaft  mit  dem  Satze  des  Widerspruchs  tritt  darin  her- 
vor, dass  schon  Aristoteles  Formeln  aufstellt,  die  beide  in 
sich  enthalten,  und  Leibniz  beide  ausdrücklich  in  der  Formel : 
Ein  Satz  ist  entweder  wahr  oder  falsch  zusammenfasste  *). 
Aber  in  dem  Entweder-Oder  verschlingt  sich  in  nur  scheinbar 
einfachem  Ausdruck  Mehrfaches,  und  verhüllt  sich  die  Stel- 
lung des  Abgeleiteten  zu  dem~  Ursprünglichen ;  darum  ist  es 
naturgemässer ,  den  öätz  des  ausgeschlossenen  Dritten  als  ein 
besonderes  Corollarium  zu  den  Sätzen  stehen  zu  lassen,  welche 
die  Bedeutung  der  Verneinung  unmittelbar  entwickeln ;  falsch 
aber,  ihn  als  gleich  unmittelbares  Princip  neben  das  des 
Widerspruchs  zu  stellen,  von  dem  er  abhängt;  um  so  mehr, 
als  ihm  nicht  dieselbe  leichte  und  evidente  Anwendbarkeit  zu- 
kommt, wie  dem  Fundamentalsatze. 

3«  Es  ist  eine  Folge  der  Schwäche  der  blossen  Ver- 
neinung und  ihrer  Unfähigkeit,  den  Sinn  zu  sagen,  in  welchem 
sie  verneint,  dass  aus  der  Anwendung  des  Satzes  vom  aus- 
geschlossenen Dritten  sich  Schwierigkeiten  zu  ergeben  scheinen. 

Die  gewöhnlichen  zwar,  aus  der  Stetigkeit  der  Uebergänge 


sein.  Was  aber  weder  wahr  nocb  falsch  ist,  ist  gar  keine  Behauptung, 
da  es  zum  Wesen  einer  solchen  gehört,  wahr  oder  falsch  zu  sein  {(boxe 
ouxB  dXYj^Eoast  xig,  oux'  oüx  d^TjO-soosi  1012  a  6).  Aehnlich  erklärt  Ueber- 
weg  3.  Aufl.  §  79.  S.  216.  Es  ist  klar,  dass  in  der  Definition  des  wahren 
und  falschen  Urtheils  und  in  der  Eintheilung  der  Urtheile  in  bejahende 
und  verneinende  schon  vorausgesetzt  ist,  es  gebe  kein  [jLsxagu,  wenn 
nur  behauptet  werden  kann ,  dass  das  Seiende  oder  Nichtseiende  ist, 
oder  dass  es  nicht  ist ;  als  Beweis  kann  also  die  Ausführung  nicht  gelten, 
sondern  nur,  wie  auch  der  fernere  Verlauf  des  Capitels,  als  Aufzeigung, 
dass  überall  vorausgesetzt  wird,  es  gebe  kein  Mittleres. 

Caleg.  10.  13  a  37:  "Oaa  Ss  wg  xaxdcpaais  %al  duöcpaots  dvxCxsixat  .... 
inl  jjtovcov  xoüxcüv  dvayxaiov  dcsl  xö  \xhw  ötXvjO-sg  xö  Sä  c};£ö8oc  aöxtöv  efvat 
—  wiederholt  13  b  27.  33. 

Metaph.  1,  7.  1057  a  38:  xöv  d'  dvxcx£i[jLevü)v  dvxi,q;da£(i)g  {isv  oux  loxt 
{isxagu"  'coOio  ydp  ioxtv  dvxicpaaig,  dvxiO-eatg  -^g  öxcpoöv  0-dxspov  |j,öptov  Tidp- 
eoxiv,  oöx  ix^^^'^i'^  oö^lv  jjLsxago.  K,  12.  1069  a3:  dvxtcpdaswg  oöSäv  dvd 
{idaov,  gleichlautend  Phys.  ausc.  V,  3,  227  a  9. 

Analyt.  post.  I,  2.  72  a  II  wird  sogar  der  ein  Drittes  ausschliessende 
Gegensatz  als  die  Basis  angenommen,  um  zu  erklären,  was  ein  Urtheil 
sei :  dTtöcpavatg  dvxtcpdaswg  ÖTioxspovoöv  p,öpt.ov,  dvxtcpaaig  Ss  dvxt'9-saig  ^c  obY, 
laxi  jisxagij  xa^S-'  auxigv.     Vergl.  De  interpr.  9.  18  a  28, 

*)  S.  oben  S.  148.  Anm. 


160.  161         §.  25.    Der  Sat?  des  ausgeschlossenen  Dritten.  199 

und  der  Vielseitigkeit  der  Subjecte  hergenommenen,  sind  leicht 
zu  lösen;  während  die  Sonne  aufgeht,  ist  von  den  beiden 
Sätzen  »sie  ist  aufgegangen«  und  »sie  ist  nicht  aufgegangen« 
der  eine  oder  andere  wahr,  je  nachdem  man  »aufgegangen- 
sein«  von  der  Erhebung  des  oberen  oder  des  unteren  Randes 
über  den  Horizont  versteht.  Sagt  man:  im  Momente  des 
Todes  sei  es  falsch  zu  sagen  »er  lebt«  und  falsch  »er  lebt  nicht« 
—  so  trifft  auch  das  nicht,  denn  da  »Leben«  einen  dauernden 
Zustand  ausdrückt,  so  gilt  vom  Sterbenden  in  articulo  mortis 
»er  lebt  nicht« ;  und  ähnlich  in  allen  Fällen,  wo  es  sich  um 
räumliche  und  zeitliche  Grenzen  handelt.  Noch  gröber  sind  die 
Beispiele :  es  sei  falsch  ein  Schachbrett  ist  schwarz,  und  falsch 
es  ist  nicht  schwarz;  soll  das  Prädicat  vom  Ganzen  gelten, 
so  ist  die  Verneinung  wahr ;  im  andern  Fall  ist  das  Subject 
nicht  dasselbe*).    Allein  es  erheben  sich  noch  andere  Bedenken.  \\ 

Aristoteles  schon  hat  die  Frage  erörtert ,  wie  sich  die 
beiden  Sätze :  Socrates  ist  krank  und  Socrates  ist  nicht  krank 
verhalten,  wenn  Socrates  nicht  ist  **),  und  ob  auch  dann  einer 
von  beiden  nothwendig  wahr  sei ;  er  entscheidet  dahin  ,  dass 
in  diesem  Falle  zwar  die  Sätze,  die  den  realen  Gegensatz  aus- 
sprechen, Socrates  ist  krank  und  Socrates  ist  gesund,  beide 
falsch  wären ,  die  blosse  Negation  aber ,  Socrates  ist  nicht 
krank,  sei  auch  in  diesem  Falle  wahr,  und  rette  die  Allge- 
meinheit des  Grundsatzes.  Vollkommen  befriedigend  zwar 
scheint  diese  Entscheidung  nicht;  denn  der  Satz:  »Socrates 
ist  nicht  krank«  wird  ja  doch  gewöhnlich  in  dem  Sinne  ver- 
standen, dass  Socrates  zwar  lebt ,  aber  nicht  krank  ist ;  und 
zwar  darum,  weil,  wer  die  Frage:  ist  Socrates  krank?  über- 
haupt mit  Ja  oder  Nein  beantwortet,  nach  der  gewöhnlichen 
Redeweise  damit  auf  die  Voraussetzung  eingeht ,  unter  der 
allein  die  Frage  möglich  ist,  und  darum  sich  einer  Zweideutig- 
keit schuldig  macht,  wenn  er  von  dem  Gestorbenen  sagt :  Er 
ist  nicht  krank.  Man  kann  sich  nun  zwar  darauf  berufen,  dass 
wer  eine  solche  Antwort  zweideutig  nennt,  eben  damit  aner- 


l- 


*)  Ueber  diese  und  ähnliche  Einwendungen  vergl.  Ueberweg  §  78—80, 
bes.  S.  205  ff.  Drobiscb,  Logik  §  60.  S.  66. 
*)  Categ.  10.  13  a  27-b  35. 


200  I,  4.    Die  Verneinung.  161.  162 

kennt,  dass  der  Wortlaut  den  anderen  Sinn  nicht  ausschliesse, 
und  formell  sei  also  die  Wahrheit  des  Satzes  unanfechtbar. 

4.  Man  kann  diese  Rechtfertigung  anerkennen,  und  daraus 
doch  die  Lehre  abstrahieren,  dass  im  Gebiete  zeitlich  gül- 
tiger ürtheile  mit  dem  Frincip  des  ausgeschlossenen  Drit- 
ten nicht  viel  anzufangen  sei.  Denn  nicht  darum  handelt  es 
sich  ja,  dass  Socrates  überhaupt  nicht  existiert  (sonst  müsste 
von  den  beiden  Urtheilen :  der  Pegasus  ist  geflügelt  und  der 
Pegasus  ist  nicht  geflügelt,  das  letztere  wahr  sein),  sondern 
die  Voraussetzung  ist  die  seiner  Existenz,  nur  seiner  Existenz 
in  einer  früheren  Zeit;  und  die  Schwierigkeit  betrifi't  das 
Präsens.  Denn  da  zeitlich  gültige  Ürtheile  nur  für  einen 
b  e  s  t  imm  ten  Zeitpunkt  ihre  Bejahung  meinen ,  bleibt  es 
unsicher,  ob  die  Verneinung  derselben  nur  diesen  Zeitpunkt, 
oder  das  Subject  überhaupt  in  seiner  ganzen  Dau^  trifft;  ob 
also  nur  das  Präsens  oder  Präteritum  oder  Futurum  falsch 
ist,  oder  das  Prädicat  überhaupt.  Von  den  beiden  Sätzen: 
Er  wird  sterben  —  er  wird  nicht  sterben,  ist  nothwendig 
einer  wahr,  der  andere  falsch;  ob  aber  »er  wird  nicht  ster- 
ben« darum  wahr  ist,  weil  er  schon  gestorben  ist,  oder  darum, 
weil  er  im  Wetter  gen  Himmel  fahren  wird,  wie  Elia,  sagt 
der  Satz  nicht  *).     Wo   man    also   vermittelst  des  Satzes  vom 


*}  In  der  wunderlichen  Ausnahme,  welche  Aristoteles  (De  interpr. 
9.  18  a  27)  hinsichtlich  der  Zukunft  statuiert,  indem  er  ausführt,  wenn 
der  eine  sage,  es  werde  etwas  sein,  der  andere  es  verneine,  so  gelte 
nicht,  dass  der  eine  nothwendig  die  Wahrheit  sage,  weil  sonst  alles 
Zukünftige  nothwendig  wäre  und  dem  Ueberlegen  kein  Kaum  mehr 
bleibe,  ist  dem  Stagiriten,  wie  auch  Zeller  (Gesch.  d.  griech.  Phil.  II,  2. 
S.  157)  anerkennt,  ein  Versehen  begegnet,  indem  er  die  Behauptung, 
dass  nothwendig  einer  oder  der  andere  Recht  habe ,  mit  der  andern 
Terwechselt,  dass  einer  von  beiden  nothwendig  Recht  habe,  d.  h.  darum 
Re  cht  habe,  weil,  was  er  sage,  nothwendig  sei,  oder  nothwendig  nicht 
sei;  während  nur  nothwendig  ist,  dass  der  faktische,  wenn  auch  zu- 
fällige Erfolg  dem  einen  oder  dem  andern  Recht  gibt.  Aristoteles 
meint  aber,  die  Behauptung,  dass  nothwendig  einer  Recht  habe,  setze 
voraus,  dass  jetzt  schon  einer  bestimmt  Recht,  der  andere  Unrecht 
haben  müsse,  während  doch  die  Behauptung  des  einen  ebensowenig  ge- 
wiss sei  als  die  des  andern,  und  eigentlich  weder  laxat  noch  oux  soxai 
im  Sinne  eines  Wissens  gesagt  werden  könne.  Es  zeigt  sich,  wie  er, 
gewöhnt  jede  Aussage  auf  das  Sein  zu  beziehen,  kein  Correlat  für  eine 


162.  163        §  25.    Der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten.  201 

ausgeschlossenen   Dritten    bei   der    Wahrheit    einer  Bejahung 
anlangen    kann,    da    ist    der  Satz    auch    bei   bloss    zeitlichen 
Urtheilen    werthvoll ,    denn     die    Bejahungen    sind    eindeutig ;  \  \ 
blosse  Verneinungen   aber  zu   gewinnen,    ist  nicht    der  Mühe  ll 
werth. 

5.  Besser  ist  es^  in  Beziehung  auf  die  unbedingt 
gültigen  Urth'elle  bestellt.  Denn  da  diese  den  Inhalt 
der  Subjectsvorstellung  treffen,  so  scheint  auch  die  Verneinung 
eindeutig  sein  zu  müssen.  Von  den  beiden  Urtheilen:  die 
Materie  ist  schwer  und  die  Materie  ist  nicht  schwer ,  der 
Raum  ist  unendlich  und  der  Raum  ist  nicht  unendlich,  scheint 
sowohl  Bejahung  als  Verneinung  eindeutig.  Allein  hier  tritt 
eine  Schwierigkeit  anderer  Art  ein,  welche  schon  oben  (§  22, 
3.  4.  S.  130)  berührt  worden  ist,  und  die  in  der  Allgemein- 
heit der  Subjecte  wurzelt ,  welche  das  Urtheil  zugleich  auf 
alles  unter  JIiii^n_^befasste  bestimmtere  Einzelne  auszudehnen 
fortwährend  emiadt.  Während  nun  die  Prädicate  bejahender 
Urtheile  selbstverständlich  wie  von  der  allgemeinen  Vorstel- 
lung so  von  den  einzelnen  Objecten  gelten,  die  unter  sie  fallen, 
kann  nicht  ebenso  von  ihnen  verneint  werden,  was  in  der 
allgemeinen  nicht  mitgedacht  wird.  In  der  allgemeinen  Vor- 
stellung des  Dreiecks  liegt  es  nicht ,  gleichseitig ,  in  der  all- 
gemeinen Vorstellung  des  Menschen  nicht,  weiss  zu  sein ;  aber 
darum  kann  nicht  von  allen  Dreiecken  gleichseitig  von  allen 
Menschen  weiss  verneint  werden.  Dadurch  erhalten  die  ge- 
genüberstehenden Urtheile :  »Das  Dreieck  ist  gleichseitig  — 
das  Dreieck  ist  nicht  gleichseitig«  etwas  Schiefes ;  und  wieder 
wird  die  Negation  zweideutig,  indem  sie  jetzt  nur  die  All- 
gemeinheit aufheben  und  die  Vereinbarkeit  des  Pradicats  zu- 
lassen soll.  Hier  ist  die  Lücke,  in  welche  zunächst  das  di- 
visive  unS^^veiterhin  das  darauf  gegründete  disjunctive  Urtheil 
einzutreten  haben ,  das  eine  um  die  Verträglichkeit  verschie- 
dener Prädicate  mit  der  allgemeinen  Vorstellung,  das  andere 
um  ihre  Unverträglichkeit  unter  sich  auszusprechen. 

6.  Die  gewöhnliche  Formel  des  "Principium  exclusi  tertii 
liest  den  Satz,  dass  von  zwei  sich  widersprechenden  Urtheilen 

Behauptung  finden    kann ,  welche   Sein    und    Nichtsein  unentschieden 
lässt. 


202  I.  4.    Die  Verneinung.  163. 164 

eines  nothwendig  wahr  sein  müsse,  (Entweder  gilt:  A  ist  B 
odei-  A  ist  nicht  B)  so ,  dass  er  lautet :  Jedem  denkbaren 
Subject  A  muss  eines  von  zwei  contradictorisch  entgegenge- 
setzten Prädicaten  zukommen  (A  ist  entweder  B  oder  nonB); 
sie  verlegt  also  die  Negation  an  die  Prädicate,  und  gewinnt 
auf  diese  Weise  streng  genommen  zwei  bejahende  ür- 
t  h  e  i  1  e ,  zwischen  denen  kein  drittes  möglich  sei.  Nachdem 
die  Wolff'sche  Logik  diesen  üebergang  gemacht,  beutet  ihn 
Kant  für  seine  Zwecke  aus,  indem  er  zeigt,  wie  der  Grund- 
satz, dass  jedem  Ding  von  allen  möglichen  Prädicaten,  sofern 
sie  mit  ihren  Gegentheilen  verglichen  werden,  eines  zukom- 
men müsse,  über  das  bloss  Logische  hinausgehe,  und,  als 
Grundsatz  der  durchgängigen  Bestimmung ,  einen  Inbegriff 
aller  Prädicate  als  die  gesammte  Möglichkeit  voraussetze.  Ob 
nicht  in  diesem  üebergang  eine  quaternio  terminorum  in  dem 
»alle«  liege,  sofern  es  das  einemal  von  einer  ganz  unbestimm- 
ten Allgemeinheit,  das  anderemal  von  einer  bestimmten  Zahl 
gebraucht  wird,  kann  hier  unerörtert  bleiben;  er  zeigt  jeden- 
falls den  Sinn,  in  welchem  Kant  den  Grundsatz  auffasst,  dass 
es  sich  nemlich  dabei  darum  handle ,  ein  Subject  zu  allen 
möglichen  positiven  und  negativen  Prädicaten  in  Beziehung 
zu  setzen  ,  um  zu  sehen ,  durch  welche  es  zu  bestimmen  sei ; 
und  der  Satz  »A  ist  entweder  B  oder  nonB«  ,  gibt  also  die 
Anleitung,  für  B  nacheinander  alle  denkbaren  Prädicate  zu 
setzen.  Nun  ist  aber ,  auch  ganz  abgesehen  von  der  Berech- 
tigung der  Formel  nonB,  dies  ein  vollkommen  leeres  Geschäft, 
da  doch  keine  Bestimmung  gewonnen  wird,  sondern  immer 
unentschieden  bleibt,  ob  nun  B  oder  nonB,  X  oder  nonX 
dem  Subjecte  zukomme;  und  wüssten  wir  auch  zu  entschei- 
den, so  würde  für  die  grosse  Mehrzahl  solcher  Prädicate  keine 
denkbare  Combination  die  Möglichkeit  herbeiführen,  das  Prä- 
dicat  bejahend  zu  versuchen  und  dadurch  eine  Verneinung 
herauszufordern;  in  Betreff  der  Allgemeinbegriffe  bliebe  aber 
dieselbe  Noth  bestehen,  dass  sowohl  B  als  nonB  mit  ihnen 
verträglich  ist ;  so  dass  also  auch  hieraus  der  Werth  des  Satzes 
bedeutend  sinkt. 

7.    In  Wirklichkeit  leitet   der  Satz  des  ausgeschlossenen 
Dritten  das  Ansehen,   in   welchem  er  steht ^   vielmehr  daraus 


164. 165        §.  25.     Der  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten.  203 

ab,  dass  er  ein  speciellerer  Fall  eines  allerdings  sehr  wichtigen 
und  folgenreichen  Verhältnisses  ist,  nemlich  des  disjunctiven. 
Es  ist  mit  der  Natur  unserer  Vorstellungen  gegeben,  dass 
wir  sehr  häufig  im  Stande  sind ,  die  Wahl  unter  verschie- 
denen Behauptungen  über  dasselbe  Subject  auf  wenige,  oft 
nur  auf  zwei  zu  beschränken ;  dass  wir ,  auf  Grund  unserer 
Erkenntnisse  und  des  bestimmten  Inhalts  unserer  Subjecte  und 
Prädicate,  zwei  positive  Behauptungen  aufstellen  kön- 
nen, von  denen  wir  wissen,  dass  sie  sich  insofern  wie  con- 
tradictorisch  entgegengesetze  ürtheile  verhalten,  als  sie  nicht 
beide  zusammen  wahr ,  aber  auch  nicht  beide  falsch  sein 
können ;  und  in  diesem  Falle  gewinnen  wir  durch  Verneinung 
jedes  Gliedes  eine  bestimmte,  eindeutige  Bejahung.  Der  Grund- 
satz des  ausgeschlossenen  Dritten  erweckt  nun  leicht  den 
Schein,  als  lasse  sich  auf  die  bequemste  und  wohlfeilste  Weise 
zu  solchen  fruchtbaren  Disjunctionen  gelangen;  man  dürfe 
nur  aussprechen ,  dass  jeder  Satz  wahr  oder  falsch  sei ,  so 
habe  man  immer  eine  unanfechtbare  Wahrheit  und  eine  sichere 
Basis  für  strenge  Untersuchung.  Allein  es  schiebt  sich  dann 
unvermerkt  der  blossen  Negation  der  Gegensatz  der  Prä- 
dicate unter,  und  die  negative  Behauptung  scheint  mehr 
zu  sagen  als  sie  wirklich  sagt,  indem  sie  von  dem  verstanden 
wird,  worauf  sie  allerdings  in  der  Regel  ruht,  von  der  Wahr- 
heit des  Satzes  mit  entgegengesetztem  Prädicat.  Könnten 
wir  durch  alle  schwierigen  Fragen  hindurchkommen,  indem 
wir  frischweg  beginnen  :  Entweder  ist  es  so  oder  so  —  was 
noch  eigentlicher  trancher  la  question  wäre,  als  was  die  Fran- 
zosen so  nennen  -  entweder  ist  er  geistig  gesund  oder  geistes- 
krank ,  entweder  ist  die  Zahl  gerade  oder  ungerade ,  —  dann 
wäre  freilich  das  Princip  des  ausgeschlossenen  Dritten  eine 
unüberwindliche  WafiPe ;  aber  es  vermag  als  solches  immer  nur 
die  Negation  in  ihrer  ärmsten ,  nichtssagendsten  Rolle  der 
Bejahung  entgegenzusetzen.  Und  so  werthvoll  für  den  Sinn 
der  Negation  selbst  die  Einsicht  ist,  dass  es  nichts  Mitt- 
leres zwischen  Bejahung  und  Verneinung  gibt,  so  wenig  ver- 
dient dieser  Satz  die  Würde  eines  besonderen  Princips. 

8.    Auch  der  apagogische  Beweis    leitet  seine  Kraft 
nur  scheinbar  von  dem  Grundsatze  des  ausi^eschlossenen  Drit- 


204  h  4.    Die  Verneinung.  165 

ten  ab ;  er  endet  allerdings,  indem  er  von  der  Falschheit  einer 
Verneinung  auf  eine  Bejahung  schliesst ;  aber  die  Falschheit 
dieser  Verneinung  konnte  nur  erwiesen  werden,  wenn  an  die 
Stelle  der  rein  negativen  und  damit  unbestimmten  Contra - 
diction  eine  bestimmte  trat,  die  auf  einer  Disjunction  fusste, 
und  diese  Disjunction  war  für  sich  allein  genügend,  den  Be- 
weis zu  stützen*). 

*)  Die  weitere  Ausführung  einem  späteren  Abschnitt  vorbehaltend, 
zeigen  wir  vorläufig  wenigstens  an  einem  Beispiel,  dass  der  Satz  des 
ausgeschlossenen  Dritten  für  den  indirecten  Beweis  nicht  nöthig  ist. 
Euclid  I,  29  beweist  die  Gleichheit  der  Wechselwinkel  an  Parallelen. 
Wären  sie  nicht  gleich,  so  würde  folgen,  dass  die  inneren  Winkel  zu- 
sammen kleiner  als  zwei  Rechte,  die  Linien  also,  nach  dem  bekannten 
Poatulate,  nicht  parallel  wären.  Der  Widerspruch  mit  der  Voraus- 
setzung ergibt,  dass  es  falsch  ist,  dass  die  Wechselwinkel  nicht  gleich 
sind,  wahr  also  dass  sie  gleich  sind.  In  dieser  Form  ausgedrückt, 
scheint  der  Beweis  auf  dem  Grundsatz  des  ausgeschlossenen  Dritten  zu 
ruhen.  Allein  es  scheint  nur.  Würde  der  Annahme  »die  Winkel  sind 
nicht  gleiche  nicht  substituiert  »ein  Winkel  ist  grösser  als  der  andere«, 
so  könnte  der  Beweis  nicht  fortschreiten  ;  die  Voraussetzung,  die  sich 
als  unmöglich  erweist,  ist,  dass  ein  Winkel  grösser  sei  als  der  andere ; 
und  daraus  dass  diese  falsch  ist,  ergibt  sich  die  Wahrheit  des 
Demonstrandum.  Worauf  also  der  Beweis  ruht,  ist  nicht,  dass  von  den 
Sätzen:  die  zwei  Winkel  sind  gleich, 

die  zwei  Winkel  sind  nicht  gleich, 
einer  nothwendig  wahr  ist,  sondern  dass  dies  gilt  von  den  Sätzen: 

die  zwei  Winkel  sind  gleich, 

der  eine  Winkel  ist  grösser  als  der  andere. 
Der  disjunctive  Satz  schliesst  die  blosse  Verneinung  ein,  aber  nicht 
umgekehrt;  und  auf  jenem  ruht  der  Beweis. 


Fünfter  Abschnitt. 

Die  pluralen  Urtheile. 

Wir  verstellen  unter  pluralen  Urtheilen  solche,  welche  in 
Einem  Satze  von  einer  Mehrzahl  von  Subjecten  ein  Prädicat 
aussagen. 

I.    Positive  plurale  Urtheile. 

§26. 

Wenn  einfache  Urtheile  dasselbe  Prädicat  an  einer 
Reihe  von  Subjecten  wiederholen,  und  der  Urtheilende 
dem  Bewusstsein  dieser  Uebereinstimmung  dadurch  Ausdruck 
gibt,  dass  er  sprachlich  die  Prädicierung  in  Einem  Act  in 
Beziehung  auf  eine  Mehrheit  vollzieht,  entstehen  zunächst  die 
Urtheile  von  der  Form  A  und  B  und  C  sind  P  (copula- 
tive  Urtheile.) 

Fallen  A  und  B  und  C  unter  dieselbe  Benennung 
N,  welche  sie  als  mehrereNzu  zählen  erlaubt  oder  auf- 
fordert, so  entsteht  das  plurale  Urtheil  im  engern  Sinn, 
welches  mit  bestimmter  oder  unbestimmter  Angabe  der  Zahl 
auch  die  Mehrheit  der  Subjecte  in  einem  sprachlichen  Aus- 
druck zusammenfasst.     (Mehrere  N  sind  P.) 

1.  Indem  unsere  Lust  zu  urtheilen  sich  befriedigt,  wie 
eben  die  psychologischen  Veranlassungen  ihr  Stoff  bieten, 
entsteht  zunächst  eine  Kette  von  Urtheilsacten,  die  nur  dadurch 
verknüpft  sind,  dass  sie  in  dem  urtheilenden  Subjecte  einander 


206  I»  5.    Die  pluralen  TJrtheile.  167 

folgen  ,  und  von  demselben  Bewusstseiu  umfasst  sind ,  das 
von  einem  zum  andern  übergeht,  ohne  die  früheren  Acte  so- 
fort zu  verlieren.  Die  sprachliche  Verknüpfung  der  Sätze 
mit  »Und«,  die  ursprünglichste  und  indifferenteste  von  allen, 
sagt  zunächst  nichts  anderes  als  diese  subjective  Thatsache  des 
Zusammenseins  in  Einem  Bewusstsein  aus,  und  es  kommt  ihr 
darum  keine  objective  Bedeutung  zu;  das  Heterogenste  kann 
ebenso  durch  »Und«  verknüpft  werden,  wie  das  Verwandteste. 
Aber  schon  die  psychologischen  Gesetze  bringen  es  mit  sich, 
dass  leicht  sich  Urtheile  aneinanderreihen,  die  entweder  von 
demselben  Subjecte  nacheinander  verschiedene  P  r  ä- 
dicate  aussagen  oder  dasselbe  Prädicat  von  verschiedenen 
Subjecten.  Jene  Urtheile,  die  das  Verweilen  der  Aufmerk- 
samkeit auf  einer  und  derselben  Subjectsvorstellung  voraus- 
setzen, fassen  sich  von  selbst  in  die  conjunctive  Form 
A  ist  B  und  C  und  D  u.  s.  w.  zusammen,  welche  nicht  bloss 
enthält,  dass  die  Prädicate  eins  ums  andere  dem  Subjecte  zu- 
kommen, sondern  auch  das  Bewusstsein  dieses  Neben- 
einander von  verschiedenen  Bestimmungen  ausdrückt.  Das 
conjunctive  Urtheil  sagt  insofern  mehr,  als  seine  einzelnen 
Theilurtheile.  Es  ist  aber  keine  Veranlassung,  diese  Form 
hier  ausführlicher  zu  betrachten ;  sie  wird  erst  wichtig ,  wo 
sie,  mit  dem  Bewusstsein  logischer  Forderungen,  auf  erzählende 
Urtheile  angewendet,  der  Beschreibung,  auf  erklärende, 
der  Definition  dient. 

2.  Die  Zusammenstellung  von  Urtheilen,  welche  das- 
selbe Prädicat  verschiedenen  Subjecten  zuschreiben, 
setzt  eine  Aufmerksamkeit  auf  das  Prädicat,  den  innerlich  vor- 
handenen allgemeinen  Factor  des  Urtheils,  und  damit  die 
Thätigkeit  des  vergleichenden  und  beziehenden  Denkens  voraus, 
das  Einzelnes  zusammenzufassen,  das  Uebereinstimmende  in 
Verschiedenem  zu  erkennen  sucht;  das  Urtheil  von  der  Form 
A  und  B  und  C  sind  P  liegt  damit  in  derselben  Richtung, 
in  der  das  Urtheilen  überhaupt  sich  bewegt,  mit  Hülfe  der 
schon  vorhandenen  und  festen  Vorstellungen  das  Manig- 
f altige  und  Neue  sich  anzueignen;  und  es  stellt  darum  eine 
höhere  Entwicklung  des  Denkens  gegenüber  dem  einfachen 
Urtheil  dar. 


168  §  26.     Positive  und  plurale  Urtheile.  207 

3.  Der  einfachste  Fall,  in  dem  eine  Wiederholung  von 
Prädicaten  eintritt,  ist  die  Anschauung  einer  Mehrheit  glei- 
cher oder  ähnlicher  Dinge,  welche  mit  demselben  Worte 
benannt  werden,  sei  es  dass  sie,  discret  wahrgenommen,  eine 
räumliche  oder  zeitliche  Reihe  bilden,  sei  es  dass  sie  als 
sich  besondernde  Theile  eines  Ganzen,  als  Glieder  einer  Gruppe 
erkannt  werden.  Die  Wiederholung  derselben  Anschauung 
und  derselben  Benennung  kommt  zum  Bewusstsein  in  der 
Unterscheidung  der  vielen  A  von  einem  A,  sprachlich  in 
der  Bildung  des  Pluralis.  Wo  das  Interesse  bloss  darauf 
gerichtet  ist,  was  das  Gesehene  ist,  da  erfolgt  ein  Benen- 
nungsurtheil  im  Plural  (das  sind  Schafe,  das  sind  Buchstaben) ; 
aber  jede  Vielheit  von  Gleichartigem  fordert  weiterhin  zum 
Zählen  und  zum  Vergleichen  nach  der  Anzahl  auf,  und  die 
Antwort  auf  die  Frage  »Wie  viele«  erscheint  in  einem  un- 
bestimmten oder  bestimmten  Zahlausdruck.  Je  nachdem  die 
Benennung  oder  die  Zahl  vorangeht,  ist  in  dem  Urtheil  »das 
sind  drei  Schüsse«  das  Zahlwort  oder  das  Nomen  das  eigent- 
liche Prädicat,  das  der  Sprechende  betont. 

4»  So  rasch  und  unbewusst  in  der  Regel  das  Benennen 
vor  sich  geht,  so  dass  wir  daraus  keine  besonderen  Urtheile 
bilden,  und  die  Benennung  nur  in  der  Wortbezeichnung  des 
Subjects  niederlegen,  so  schnell  verläuft  meistens  auch  die 
Unterscheidung  der  Einheit  und  Mehrheit,  das  Zählen  kleiner 
Anzahlen  und  die  Schätzung  der  verschiedenen  Abstufungen 
der  Vielheit  —  wenige  —  einige  —  mehrere  —  viele  u.  s.  w. 
Wir  machen  daraus  nur  dann  besondere  Prädicate ,  wenn  es 
darauf  ankommt  wie  viele  es  sind ,  oder  wenn  es  gilt  eine 
zweifelhafte  oder  bestrittene  Angabe  festzustellen ;  die  Syn- 
these des  Urtheils  ist  dann  zwischen  der  gegebenen,  jetzt 
gezählten  Vielheit  und  der  bestimmten  oder  unbestimmten 
Zahlvorstellung*).     Meist   wird  auch  dies  nur    als  Theil    der 


*)  Die  Logiker,  welche  in  jedem  Urtheile  eine  Subsumtion  des  Sub- 
jects unter  einen  allgemeineren  Prädicatsbegriff  sehen,  der  dem  Subject 
als  seine  Gattung  gegenübersteht ,  dürften  in  Verlegenheit  kommen  zu 
sagen,  wozu  denn  Drei  oder  Sieben  oder  Hundert  das  Allgemeine  sei, 
und  welcher  Umfang  diesen  Begriften  zukomme?  Gehört  zum  Umfang 
von  Drei  alles  in  der  Welt,  woran  ich  eins,  zwei,   drei  zählen  kann? 


208  t,  6.    Die  pluralen  Urtheile.  168.  169 

Bezeichnung  des  Subjects,  als  fertiges  Resultat  ausgedrückt, 
und  es  handelt  sich  darum,  was  von  den  so  und  so  vielen  Sub- 
jecten  auszusagen  ist. 

5.  Wenn  auf  diese  Weise  Urtheile  entstehen  wie  Hagel- 
körner fallen  —  Einige  Sterne  werden  sichtbar  —  Viele  Bäume 
sind  entwurzelt  —  Fünfzig  Mann  sind  verwundet  —  welcher 
Art  ist  die  Urtheilsfunction  ? 

Am  nächsten  liegt  die  Auffassung,  welche  den  Plural  des 
Verbs  —  also  auch  der  Copula  —  als  Zeichen  einer 
Mehrheit  von  [Jrtheilsacten  ansieht,  welche  in  ge- 
meinschaftlichem Ausdruck  summiert  werden.  Um  zu  sagen 
Einige  Sterne  werden  sichtbar,  muss  ich  hier  einen  —  dort 
einen  —  dort  wieder  einen  —  gesehen  haben;  jedem  Einzelnen 
kommt  das  Prädicat  zu;  aber  ich  kenne  ihre  Namen  nicht 
oder  will  sie  nicht  nennen,  statt  zu  sagen  a  Lyrse  und  a  Cygni 
und  a  Bootis  werden  sichtbar,  bezeichne  ich  diese  bestimmten 
nur  mit  ihrem  gemeinschaftlichen  Namen ;  ich  meine  aber 
diese  bestimmten  Einzelnen.  Allein  dies  ist  die  Ent- 
stehung des  pluralen  Urtheils  nur  in  einem  Theil  der  Fälle; 
im  andern  wird  das  Subject  als  eine  Vielheit  so  zu  sagen 
mit  Einem  Blick  wahrgenommen  und  erst  von  dieser  Vielheit 
das  Prädicat  ausgesagt;  die  Synthese  ist  also  in  der  That 
eine  einfache.  Dies  zeigt  sich  besonders  deutlich  in  Urtheilen, 
in  welchen  das  Prädicat  dem  Einzelnen  gar  nicht  zukommen 
kann.  Zahllose  Vogel  beleben  den  Wald  —  die  Bäume  stehen 
dicht  gedrängt,  sind  keine  Urtheile,  die  aus  einer  Summierung 
von  vielen  Urtheilen  entstanden  wären. 

Anders ,  wenn  das  Zahlwort  das  eigentliche  Prädicat 
ist.  »Viele  Menschen  sind  kurzsichtig«  will  mir  nicht  mit- 
theilen ,  dass  A  und  B    und  C  u.  s.  f.  kurzsichtig  sind ,    und 


Oder  ist  nicht  vielmehr  Drei  eine  vollkommen  in  sich  bestimmte  Vor- 
stellung, bei  der  von  Umfang  gar  keine  Rede  sein  kann,  da  sie  immer 
schlechterdings  dieselbe  Zahl  ist  ,  so  gut  als  der  Process  des  Zählens 
immer  auf  dieselbe  Weise  vollzogen  wird  ?  Und  wenn  sie  Prädicat  ist, 
ist  sie  wirklich  Prädicat  der  Dinge,  von  denen  sie  ausgesagt  wird,  und 
nicht  vielmehr  Prädicat  ihrer  Zahl,  die  bloss  dadurch  existiert, 
dass  ich  jetzt  eben  gerade  diese  und  keine  anderen  Dinge  zusammen- 
fassend zähle  ? 


169.  170  §  27.    Allgemeine  bejahende  Urtheile.  209 

meint  auch  gar  nicht  die  bestimmten  mit  seiner  Aussage; 
sondern  was  mitgetheilt  werden  soll,  ist  die  leidige  Thatsache, 
dass  der  Kurzsichtigen  Viele  sind  —  viele  vergleichsweise, 
im  Verhältniss  zur  Gesammtzahl.  Wenn  der  Gefechtsbericht 
eintrifft,  so  versteht  es  sich  von  selbst,  dass  es  Todte  oder 
wenigstens  Verwundete  gegeben  hat;  es  handelt  sich  darum 
wie  viele;  und  die  Fassung  des  Telegramms:  Todt  10,  ver- 
wundet 50  ist  logisch  die  correcteste. 

Dass  ebenso  wie  Dinge  auch  wiederholte  Thätigkeiten 
zu  pluralen  Urtheilen  Veranlassung  geben,  bedarf  keiner  Aus- 
führung. 

Allerdings  muss  jeder  solchen  Zahlangabe  eine  Reihe 
von  Einzelurtheilen  vorangehen  —  A  ist  kurzsichtig,  ß  ist 
kurzsichtig  u.  s.  f. ,  die  Beobachtung  muss  an  jedem  Einzelnen 
festgestellt  sein  ,  ehe  ich  sie  zählen  kann.  Aber  indem  ich 
sie  zähle,  sehe  ich  eben  damit  von  allem  ab ,  was  sie  unter- 
scheidet ,  vergesse  wer  kurzsichtig  ist ,  weiss  bloss ,  dass  ich 
an  Menschen  meine  Beobachtungen  gemacht  habe,  halte  nur 
die  bestimmte  Zahl  der  Wiederholungen  derselben  Beobach- 
tung an  gleichartigen  Individuen  fest,  und  bestimme  ihre  re- 
lative Grösse ;  ich  verfahre  wie  der  Statistiker  verfährt ,  der 
nur  seine  Rubriken  mit  Zahlen  füllt  und  dem  es  gleichgültig 
ist ,  wer  die  gezählten  Geborenen,  Gestorbenen ,  Selbstmörder 
u.  s.  w.  sind ;  die  Frädicate  seiner  Urtheile  sind  ebenso  die 
Zahlen. 

Es  ist  nöthig,  diese  selbstverständlichen  Dinge  hier  aus- 
führlicher darzulegen,  um  in  die  Unklarheiten  der  traditionellen 
Lehre  vom  allgemeinen  und  particulären  Urtheil  einiges  Licht 
zu  bringen. 

§27. 
Alle,  womit  das  Subject  des  sogenannten  allgemei- 
nen Urtheils  (Alle  A  sind  B)  verbunden  ist ,  meint  ur- 
sprünglich eine  bestimmte  Zahl,  und  ein  Urtheil  mit  Alle 
setzt  eine  begrenzte  Anzahl  von  zählbaren  einzelnen  Objecten 
voraus.  Alle  A  sind  B  kann  darum  in  seiner  ursprünglichen 
Bedeutung  nur  in  Beziehung  auf  bestimmtes  Einzelnes 

ti  i  gw  a  r  t ,  Logik.    I.    2.  Auflage.  14 


210  Ii  ^-    I^ie  pluralen  Ürtheile.  171 

ausgesprochen    werden.     Dabei    ist    »Alle«    logisch    be- 
trachtet Prädicat  (die  A,  die  B  sind,  sind  alle  A). 

Von  diesem  empirisch  allgemeinen  ürtheil 
ist  genau  zu  unterscheiden  das  unbedingt  allgemeine, 
das  dienothwendigeZusammengehörigkeitdes 
Prädicats  B  mit  der  Subjectsvorstellung  A  auf  inadäquate 
Weise  durch  Zurückgehen  auf  die  unbegrenzte  Menge  des 
Einzelnen  ausdrücken  will.  (Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  noth- 
wendig  auch  B). 

1.  »Alle«  setzt  nach  seiner  ursprünglichen  Bedeutung 
eine  bestimmte  Zahl  voraus ;  denn  es  drückt  aus ,  dass  zwei 
bestimmte  Zahlen  einander  gleich  sind.  Um  ein  Urtheil  zu 
fällen  von  der  Form  Alle  A  sind  B,  muss  ich  ein  doppeltes 
Zählen  vornehmen ;  erstlich  die  Dinge  zählen  die  A  sind,  und 
dann  die  A  zählen  die  B  sind;  sind  beide  Zahlen  crleich,  so 
drücke  ich  das  in  dem  Satze  aus :  Alle  A  sind  B  (alle  beide, 
alle  viere,  alle  nenne  erinnern  direct  daran).  Wenn  »alle  da 
sind«  —  z.  B.  die  eingeladenen  Gäste :  so  weiss  ich,  wie  viele 
ich  eingeladen,  zähle  die  Anwesenden,  und  die  gleiche  Zahl 
gibt  mir  »alle«;  vermuthe  ich,  dass  in  einem  Spiel  eine  Karte 
fehlt,  so  zähle  ich  nach,  und  wenn  die  Zahl  derer,  die  ich  in 
Händen  habe,  gleich  der  ist,  welche  zum  Spiel  gehören,  so 
sind  »alle  da«. 

Es  ist  dabei  nicht  nöthig,  dass  die  bestimmte  Zahl  aus- 
drücklich bekannt  und  genannt  ist,  um  ein  Urtheil  mit  »alle« 
auszusprechen.  Wenn  sich  ein  Saal  entleert  hat,  und  ich 
sage:  »es  sind  alle  hinausgegangen«,  so  brauche  ich  ihre  Zahl 
nicht  zu  kennen ;  es  genügt,  dass  Keiner  zurückgeblieben  ist, 
dass  ich  also  in  Gedanken  die  Reihe  derer  durchgehe,  die  da- 
gewesen, und  nun  weiss,  dass  jeder  Einzelne,  der  dagewesen, 
auch  hinausgegangen  sein  muss ;  dass  also  das  Prädicat  a  n 
Keinem  fehlt. 

Durch  diese  doppelte  Negation  ist  überhaupt 
»Alle«  immer  hindurchgegangen.  Es  geht  aus  von  der  An- 
nahme einer  möglichen  Differenz  zwischen  der  einen  und  der 
andern  Zahl,  also  von  der  Frage :  ob  es  keine  Ausnahme  gibt  ? 


17Ö  §  27.    Das  allgetneine  bejahende  tFrtheil.  211 

Alle  negiert  die  Ausnahme;  und  auf  welche  Weise 
ich  mich  nun  versichern  mag,  dass  keine  Ausnahme  stattfindet, 
ob  durch  directes  Abzählen  oder  nur  so ,  dass  ich  Eins  ums 
andere  vornehme  und  mich  versichere,  dass  mir  keines  entgeht, 
ich  bin  meines  »Alle«  gleich  sicher.  Darum  ist  die  Formel 
nemo  non,  nullus  non  u.  s.  f.  eine  ganz  ursprüngliche,  und 
keine  Umschreibung ;  sie  drückt  vollkommen  genau  den  Pro- 
cess  aus,  welchen  ich  durchmache ;  und  »omnes«  vielmehr  ist 
der  secundäre  Ausdruck. 

2.  Die  eigentliche  Behauptung  richtet  sich  nun  streng 
genommen  auf  das  Alle.  Dieses  ist,  logischbetrach- 
tet, dasPrädicat,  wenn  es  auch  grammatisch  nicht  als 
solches  erscheint.  Der  Satz  lautet :  diejenigen  A,  die  B  sind, 
sind  alle  A.  Dass  es  viele  A  gibt,  ist  in  dem  Plural  impli- 
ciert;  dass  es  überhaupt  A  gibt,  welche  B  sind,  ist  gleich- 
falls implicite  mitgevsetzt ;  aber  um  was  es  zu  thun  ist,  worauf 
die  Frage  gestellt  ist,  welche  von  dem  Urtheil  beantwortet 
werden  soll,  ist,  ob  die  A  ,  denen  B  zukommt ,  alle  sind,  ob 
es  keine  Ausnahme  gibt.  (Wo  es  sich  nicht  von  Dingen,  die 
im  Räume  nebeneinander  gezählt  werden,  sondern  von  Zu- 
ständen oder  Thätigkeiten  handelt,  die  in  verschiedenen  Zeit- 
punkten stattfinden,  gilt  von  »immer«  und  »jedesmal«  dasselbe.) 

3.  Daraus  ist  klar,  dass  in  einem  Urtheil  mit  Alle  es 
sich  dem  Wortlaute  nach  ursprünglich  um  einzelneDinge 
handelt;  dass  diese  einzelnen  Dinge  in  bestimmter,  begrenzter, 
zählbarer  Anzahl  vorhanden  sein  müssen,  und  dass  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  ein  Urtheil  mit  »alle«  der  adäquate  Aus- 
druck meines  Gedankens  ist. 

Mit  andern  Worten :  Alle  A  sind  B  ist  ursprünglich  dem 
Wortlaute  nach  nur  Ausdruck  einer  empirischen,  d.  h. 
durch  factisches  Zählen  erreichbaren  Allgemeinheit,  und 
kann  nur  in  Beziehung  auf  Subjecte  ausgesprochen  werden, 
die  in  bestimmter  zählbarer  Anzahl  vorhanden  sind,  und  von 
denen  einzeln  das  Prädicat  behauptet  wird ;  es  ist  der  Aus- 
druck einer  bestimmten,  begrenzten  Vergleichung  der  vor- 
liegenden Fälle  und  es  setzt  voraus  ,  dass  ich  von  jedem  ein- 
zelnen erst  des  Urtheils  gewiss  bin ,  ehe  ich  es  von  allen 
behaupten  kann. 

U* 


212  l  5.    Die  pluralen  Urtheile.  173 

4.  Wie  verhalten  sich  nun  dazu  die  Urtheile :  Alle  Men- 
schen sind  sterblich ,  alle  Körper  sind  ausgedehnt  u.  s.  w.  ? 
Ihr  Sinn  ist  nicht,  dass  der  Urtheilende  alle  Menschen  oder 
alle  Körper  einzeln  durchgegangen  und  abgezählt  habe;  son- 
dern dass ,  was  auch  ein  Mensch ,  was  auch  ein  Körper  sei, 
das  Prädicat  sterblich  oder  ausgedehnt  habe. 

Der  Sinn  aber,  in  welchem  sie  wirklich  gelten,  kann  ein 
doppelter  sein.  Entweder  nemlich  sind  sie  erklärende 
Urtheile  (analytische  in  Kant's  Sinn),  weil  sie  auf  der  an- 
erkannten Bedeutung  des  Subjectsworts  ruhen. 
Alle  Thiere  empfinden  —  kann  ich,  ohne  die  einzelnen  durch- 
gezählt zu  haben,  dann  mit  vollkommener  Gewissheit  be- 
haupten, wenn  in  meiner  Vorstellung  von  Thier  das  Empfinden 
enthalten  ist,  ich  also  etwas,  was  nicht  empfände,  eben  des- 
wegen gar  nicht  ein  Thier  nennen  würde.  In  diesem  Falle 
ist  der  Ausdruck  des  Gedankens  mit  »Alle«  secun- 
där;  er  ist  eine  einfache  Folge  der  Analyse  der  Vorstellung, 
die  ich  mit  dem  Worte  Thier  verbinde;  die  Bedeutung  des 
Wortes  bestimmt  den  Umfang,  in  dem  es  anwendbar  ist,  und 
ich  kann  darum  aus  der  Bedeutung  voraussagen,  dass  in  dem- 
selben Umfang,  in  welchem  die  Benennung  Thier  gerecht- 
fertigt ist,  auch  das  Prädicat  empfinden  eintreten  muss  (s. 
oben  S.  114  f.).  Weil  das  Thier  empfindet,  empfinden  alle 
Thiere.  Der  analytische  Satz,  der  die  Bedeutung  der  Wör- 
ter, die  sie  in  den  Gedanken  haben,  ausdrückt,  wird  in  die 
gewohntere  Sprache  der  erzählenden  Urtheile  über  Einzelnes 
übersetzt  und  dadurch  anschaulicher,  dass  ich  vom  allgemeinen 
Gedanken  zu  den  Individuen  fortgehe.  Darum  hat  sich  der 
Ausdruck  mit  »Alle«  auch  da  eingebürgert,  wo  er  nicht  ur- 
sprünglich ist,  wo  die  alles  Einzelne  durchgehende  Erfahrung 
nur  anticipiert  wird,  auch  da  anticipiert  wird,  wo  sieder 
Natur  der  Sache  nach  unvoUendbar  ist. 

Im  andern  Falle  ist  das  Prädicat  in  der  Bedeutung  des 
Worts  nicht  analytisch  enthalten.  Das  Wort  »Mensch«  z.  B. 
kann  nur  die  bestimmte  Gestalt  des  Leibes,  das  Leben ,  die 
Sprachfähigkeit  u.  s.  w.  enthalten;  eine  bestimmte  Lebens- 
dauer ist  nicht  nothwendig  darin  eingeschlossen;  es  gibt  für 
Jeden   eine   Zeit,   in  welcher    er   Menschen    sicher    von   allem 


174  §  27.    Das  allgemeine  bejahende  Urtheil.  218 

andern  unterscheidet,  und  nie  fragt,  wie  lange  sie  leben  und 
ob  sie  alle  sterben.  Das  Urtheil  alle  Menschen  sind  sterblich 
ist  unter  dieser  Voraussetzung  nicht  analytisch.  Es  ist  eben- 
sowenig ein  Erfahrungsurtheil  in  dem  Sinne,  dass  »alle  Men- 
schen« nur  diejenigen  bezeichnete,  die  ich  kenne  und  an  denen 
ich  durch  Erfahrung  das  Prädicat  gefunden  habe.  Es  ist  aber 
um  so  gewisser  das  Resultat  eines  Schi  uss  es,  und  zwar 
entweder  des  Schlusses  aus  allen  beobachteten  Fällen  auf 
alle  übrigen,  deren  Zahl  eine  unbestimmte  und  unabsehbare 
ist;  oder  des  Schlusses  aus  den  im  Worte  mitverstan- 
denen Bestimmungen  auf  andere,  die  nothwendig 
damit  verknüpft  sind.  Derjenige,  der  das  Urtheil  wirklich 
bildet  und  nicht  bloss  nachspricht,  kann  es  nur  auf  einen 
solchen  Schluss  hin  bilden. 

Dem  sprachlichen  Ausdruck  des  Urtheils  kann  man  es 
durchaus  nicht  ansehen,  in  welchem  Sinne  es  genommen  werden 
soll;  ob  im  Sinne  eines  empirisch  allgemeinen  Urtheils,  das 
eine  bestimmte  Zahl  von  Subjecten  voraussetzt,  oder  im  Sinne 
eines  unbedingt  allgemeinen  Urtheils,  und  wenn  dieses,  ob 
im  Sinne  eines  analytischen  oder  eines  synthetischen;  die 
gewöhnliche  Lehre  pflegt  aber  ohne  Weiteres  jedes  Urtheil,  das 
mit  »Alle«  anfängt,  als  zu  derselben  Species  gehörig  zu  betrachten. 

5,  Ist  ein  Urtheil  mit  »Alle«  ein  unbedingt  allgemeines 
Urtheil:  so  ist  klar,  dass  darin  von  der  wirklichen  Existenz 
der  Subjecte  direct  gar  nicht  geredet  wird,  die  von  dem  em- 
pirischen, wenn  es  sich  überhaupt  auf  reale  Dinge  bezieht, 
allerdings  vorausgesetzt  wird;  alle  A  sind  B  heisst  dann  nur: 
Was  A  ist,  ist  B;  oder  Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  B.  Dass 
etwas  existierendes  Einzelnes  als  ein  A  erkannt  und  mit  dem 
Namen  A  benannt  werde,  das  ist  zwar  unbestimmt  voraus- 
gesetzt, wird  aber  in  diesem  Urtheil e  gar  nicht  behauptet; 
und  eben  darum  ist  der  Pluralis  und  damit  die  ganze  Aus- 
drucksweise streng  genommen  inadäquat,  eine  ixexaßaatg  eic, 
äXko  yevo.;,  ein  Rückfall  aus  dem  Gebiete  des  freien  und  un- 
abhängigen, in  unsern  festen  Vorstellungen  sich  bewegenden 
Denkens  in  die  Gewohnheiten  der  Anschauung,  die  es  mit  Ein- 
zelnem zu  thun  hat.  Der  adäquate  Ausdruck  ist  schlechthin :  A 
ist  B,  der  Mensch  ist  sterblich,  das  Quadrat  ist  gleichseitig  u.  s.  w. 


214  I»  5.    Die  pluralen  ürtheile.  175 

6.  Die  traditionelle  Lehre  pflegt  in  der  Einführung  des 
allgemeinen  Urtheils  gar  keine  Schwierigkeit  zu  finden.  Wenn 
ein  Prädicat  B,  pflegt  man  zu  sagen,  von  dem  ganzen  um- 
fang des  SubjectsbegrifiFes  A  behauptet  wird,  so  ist  das  Ur- 
theil  universal;  wenn  von  einem  Theile  des  Subjectsumfangs, 
particular.  Ist  das  Subjectswort  ein  Nomen  proprium,  oder 
ein  gleichwerthiger  Ausdruck,  so  ist  sein  Umfang  mit  Einem 
Individuum  erschöpft;  das  Urtheil  »Kallias  ist  reich«  hat  also 
insofern  den  Charakter  eines  universalen. 

In  dieser  einleuchtenden  Lehre  steckt  doch,  neben  der 
zweifelhaften  Verwendung  des  Nomen  proprium  als  Zeichen 
eines  Begriä's,  eine  Undeutlichkeit,  deren  Folgen  überall  wie- 
derkehren. Während  nemlich  sonst  gelehrt  wird,  der  Umfang 
eines  Begriffs  werde  gebildet  durch  seine  Artbegriffe,  indem 
durch  die  Unterschiede,  welche  er  noch  an  sich  zulässt,  eine 
Mehrheit  bestimmterer  allgemeiner  Vorstel- 
lungen gebildet  werden  können,  pflegt  im  Capitel  vom  all- 
gemeinen Urtheil  ohne  Weiteres  angenommen  zu  werden,  dass 
der  Umfang  eines  Begriffs  aus  einzelnen  existierenden 
Dingen  besteht,  und  dass  diesen  Umfang  zu  übersehen, 
festzustellen  und  zu  erkennen  gar  keine  Schwierigkeit  macht, 
—  deshalb  nicht,  weil  vorausgesetzt  wird,  dass  unsere  Be- 
griffe bereits  dem  entsprechen,  was  sie  leisten  sollen,  nemlich 
der  Ausdruck  des  Wesens  der  Dinge  nach  ihren  festen  Art- 
unterschieden zu  sein.  Darum  pflegt  die  Logik  gar  nicht  zu 
unterscheiden  zwischen  den  Urtheilen,  die  nur  auf  dem  Be- 
griff, d.  h.  der  Bedeutung  des  Subjectsworts  fussen,  und  diese 
erklärend  zum  Voraus  jedem  Ding,  welches  mit  dem  Subjects- 
wort benannt  werden,  also  »den  Umfang  des  Begriffs«  mit- 
bilden wird,  ein  Prädicat  beilegen,  und  denjenigen  Urtheilen, 
welche  von  allen  bekannten,  wegen  gleicher  Eigenschaf- 
ten unter  gleiche  Benennung  fallenden  Dingen,  etwa  auf 
Grund  übereinstimmender  Erfahrung,  ein  Prädicat  aussagen; 
und  sie  verhüllt  damit  das  Wichtigste,  nemlich  den  Uebergang 
aus  einem  empirisch  allgemeinen  zu  einem  unbedingt 
allgemeinen  Ürtheile,  die  Begriffs-  und  Urtheilsbildung 
aus  der  Erfahrung.  »Alle  Planeten  bewegen  sich  von  West 
nach  Ost    um    die  Sonne«    ist    zunächst    ein   empirisch  allge- 


176  §  27.  Das  allgemeine  bejahende  Urtheil.  215 

meines  ürtheil ;  wer  es  vor  1781  aussprach,  meinte  unter 
allen  Planeten  alle  sechs;  wer  zwischen  1781  und  1801, 
rechnete  den  Uranus  mit  und  verstand  alle  sieben  darunter; 
von  1807  bis  1845  meinte  man  alle  elf;  und  heute  meint 
man  ebenso  alle  200  oder  wieviele  es  inzwischen  geworden 
sind  —  immer  aber  nur  alle  bekannten,  an  deren  jedem 
einzelnen  die  rechtläufige  Bewegung  in  seiner  Bahn  constatiert 
ist.  Der  Satz  sagt:  Alle  die  Weltkörper,  die  ich  Planeten 
.nenne,  haben  die  gemeinschaftliche  Richtung  der  Bewegung 
von  West  nach  Ost;  ich  kenne  keine  Ausnahme.  Hätte  ich 
nun  aber,  etwa  auf  Grund  der  Kant-Laplace'schen  Hypothese, 
die  Nothwendigkeit  erkannt,  dass  alle  unsere  Sonne  in 
Constanten  Bahnen  umkreisenden  compacten  Weltkörper  die- 
selbe Richtung  der  Bewegung  haben  müssen,  weil  innerhalb 
des  Raumes,  in  welchem  es  solche  geben  kann,  keine  rück- 
läufige Bewegung  möglich  ist ,  so  würde  ich  die  Bewegung 
von  West  nach  Ost  in  die  Bedeutung  des  Wortes  Planet  auf- 
nehmen müssen  —  z.  B.  um  sie  von  den  Sternschnuppen  zu 
scheiden  —  und  dann  würde  mein  Urtheil :  »Alle  Planeten 
bewegen  sich  von  West  nach  Ost«  ein  analytisches  im  Kan- 
tischen Sinne  sein,  und  darum  auch  auf  die  ungezählten,  erst 
künftig  oder  gar  nie  zu  entdeckenden  gehen;  es  hiesse:  Was 
ein  Planet  genannt  werden  kann,  bewegt  sich  von  West  nach 
Ost;  und  es  folgt  daraus,  dass,  was  sich  rückläufig  bewegte, 
kein  Planet  wäre. 

7.  Die  Schwierigkeit,  das  sog.  singulare  Urtheil  in  die- 
selbe Eintheilung  unterzubringen,  welche  allgemeine  und  par- 
ticuläre  ürtheile  scheidet,  erhellt  nach  dem  Vorangehenden 
leicht  daraus,  dass  jenes  mit  diesen  ganz  unvergleichbar  ist.  Denn 
bei  dem  allgemeinen  und  particulären  Urtheil  handelt  es  sich 
um  ein  Prädicat,  das  eine  absolute  oder  relative  Zahlangabe 
meint;  ihr  Genus  sind  nicht  Urtheile  überhaupt,  sondern  Ur- 
theile,  deren  Prädicate  Zahlvorstellungen  sind.  Bei  dem  sog. 
singulären  Urtheile  handelt  es  sich  aber  darum,  was  einem 
bestimmten  einzelnen  Subjecte  zukommt  und  nicht  zukommt, 
und  nicht  darum,  in  welcher  Anzahl  die  mit  einem  Prädicat 
behafteten  Subjecte  vorhanden  sind. 

Man   kann  also  erstlich   nicht  singulare,    particuläre   und 


21 Ö  I,  5.     Die  pluralen  Urtheile.  177 

allgemeine  Urtheile  als  eine  richtige  erschöpfende  Eintheilung 
betrachten ;  und  es  besteht  zum  zweiten  kein  Grund,  aus  par- 
ticulären  und  allgemeinen  Urtheilen  besondere  Arten  des  Ur- 
theils  überhaupt  zu  machen;  denn  so  gut  man  aus  den  Ur- 
theilen, deren  Prädicat  »alle«  ist,  in  der  gewöhnlichen  Logik  eine 
besondere  Art  macht,  müsste  die  Mathematik  aus  den  Urtheilen, 
deren  Prädicat  »gleich«  oder  »unendlich«  ist,  eine  besondere 
Art  zu  machen  verlangen.  Ebendarum  ist  es  eine  Gewalt- 
thätigkeit  der  traditionellen  Lehre,  von  jedem  Urtheile  den 
Ausweis  zu  verlangen,  ob  es  ein  particuläres  oder  allgemeines 
sei.  Die  singulären  Urtheile  über  Einzelnes,  Concretes,  haben 
sich  müssen  als  allgemeine  ansehen  lassen,  (obgleich,  Avas  ge- 
wöhnlich singulär  heisst,  dreierlei  ist:  das  individuelle  — 
Kallias  ist  reich;  das  Zahlurtheil  -  Ein  Planet  hat  einen 
Ring,  das  particuläre  des  folgenden  §  —  es  gibt  einen  Kome- 
ten, der  sich  getheilt  hat) ;  die  pluralen  als  particuläre,  wenn 
sie  auch  nicht  von  weitem  an  eine  Vergleichung  des  Gegebenen 
mit  dem  »ganzen  Begriffsumfange«  dachten ;  und  die  einfachen 
erklärenden  Urtheile,  selbst  die  Definitionen,  waren  ebenfalls 
heimatlos,  bis  sie  sich  bequemten,  zum  Scheine  allgemein  zu 
werden.  Die  Allheit  spielt  eine  wichtige  Rolle  im  mensch- 
lichen Denken;  zuletzt  aber  entlehnt  sie  ihre  Wichtigkeit 
doch  von  der  Noth  wendigkeit. 


§.  28. 

Das  sogenannte  particuläre  Urtheil,als  dessen  all- 
gemeine Formel  »Einige  A  sind  B«  angegeben  wird,  ist  als 
empiris  che s  Urt heil  über  einzelne  Dinge  nur  dann 
von  dem  rein  pluralen  verschieden,  wenn  es  dazu  bestimmt 
ist,  entweder  dem  allgemeinen  gegenüber  eine  Aus- 
nahme zu  constatieren  oder  ein  allgemeines  Ur- 
theil  vorzubereiten. 

Wo  das  Subject  nicht  in  empirischem  Sinne  ge- 
nommen werden  soll,  ist  es  ein  durchaus  inadäquater 
Ausdruck  für  den  Gedanken,    welchen    es    bezeichnen    soll, 


178  §  28.     Das  particuläre  Urtheil.  217 

und  verwirrt  den  durchgreifenden  Unterschied  der  empirischen 
und  der  unbedingt  gültigen  Urtheile. 

1.  Dem  allgemeinen  Urtheil  pflegt  die  traditionelle  Logik, 
im  Anschluss  an  Aristoteles  zwar,  aber  nicht  in  seinem  Sinn, 
ein  particuläres  gegenüberzustellen,  dessen  Formel  sei  »Einige 
A  sind  B«.  Dieses  particuläre  Urtheil,  wie  es  gewöhnlich  ge- 
handhabt wird,  gehört  zu  den  unglücklichsten  und  unbequem- 
sten Schöpfungen  der  Logik.  Seinem  Wortlaute  nach  völlig 
unbestimmt,  ist  es  dem  Gedanken,  den  es  ausdrücken  soll,  in 
der  Regel  incongruent  und  verhüllt  ihn.  Man  pflegt  den 
Unterschied  des  allgemeinen  und  particulären  Urtheils  zwar 
durch  die  Erwägung  einleuchtend  zu  machen,  dass  in  jenem 
der  Subjectsbegriff  nach  seinem  ganzen  Umfange,  in  diesem 
nur  nach  einem  Theile  seines  ümfangs  (ev  \iipei)  gesetzt 
werde.  Diese  Unterscheidung  triff't,  die  Beziehung  des  Üm- 
fangs auf  die  Gesammtheit  der  einzelnen  Individuen  zugegeben, 
da  zu,  wo  vorausgesetzt  ist,  dass  wir  den  ganzen  Umfang 
kennön,  und  darum  auch  alle  Theile  des  Umfangs  uns  wirk- 
lich gegeben  sind;  und  für  die  Naturbetrachtung  des  Aristo- 
teles, welche  davon  ausgeht,  dass  ein  System  von  festen  und 
unveränderlichen  Begriflen  sich  in  den  festen  Formen  der 
Natur  verwirklicht  habe  und  fortwährend  verwirkliche,  und 
dass  unsere  empirische  Kenntniss  diese  Verwirklichung  des 
Begrifi^s  nach  allen  seinen  wesentlichen  Unterschieden  über- 
sehe, war  diese  Unterscheidung  des  allgemeinen  und  des  par- 
ticulären Urtheils  um  so  rationeller,  als  er  sie  in  der  That 
nur  in  den  Richtungen  verwandte,  in  welchen  sie  berechtigt 
ist.  Wenn  aber  eine  spätere  Logik,  die  sich  nur  in  Begriff's- 
verhältnissen  bewegt  und  von  der  realen  Verwirklichung  des 
Begriffs  ganz  absieht,  doch  die  aristotelische  Unterscheidung 
aufnimmt  und  seine  Formeln,  dazu  noch  in  schlechter  Ueber- 
setzung,  verwendet,  so  ergeben  sich  eine  Menge  von  Unge- 
reimtheiten, und  die  gewöhnliche  Lehre  ist  vollkommen  falsch, 
wenn  man  sie  nach  dem  gewöhnlichen  Wortsinne  versteht. 

2.  Der  Plural  der  Formel  »Einige  A  sind  B«,  mit 
welcher  das  aristotelische  uyl  uTiapxetv,  [it]  Tcavxc  bndpx^iy 
übersetzt  zu  werden  pflegt,  hat  nur  einen  Sinn,  wenn  er  Ein- 
zelne», Bestimmtes  und  darum  Zählbares  meint,  also  ein  erzäh- 


218  r.  5.    Die  pluralen  ürtheile.  179 

lendes  Urtheil  voraussetzt,  das  von  wirklich  Existierendem 
handelt  (wie  denn  auch  Kant  dem  particulären  Urtheil  die 
Kategorie  der  Vielheit  entsprechen  lässt);  und  er  hat  ebenso, 
wenn  das  particuläre  Urtheil  dem  allgemeinen  gegenüberstehen 
soll,  nur  einen  Sinn,  wenn  vorausgesetzt  wird,  dass  jeder 
Theil  eines  Begriffs umfangs  doch  schon  eine  Mehrheit  von 
Individuen  enthalte,  während  doch  nicht  abzusehen  ist,  warum 
Ein  Individuum  nicht  auch  schon  einen  Theil  des  Begriffs- 
umfangs  bilden  soll. 

Das  erste  ist  nun  in  allen  Fällen  richtig,  wo  einem 
empirisch  allgemeinen  Urtheil  ein  particuläres  gegenübersteht 
—  alle  Planeten  bewegen  sich  in  Ellipsen,  einige  Planeten 
haben  Monde;  wo  es  sich  aber  um  abstracte  Subjecte  handelt, 
deren  Umfang  nicht  in  einer  Vielheit  von  Dingen  besteht,  lässt 
uns  die  Formel  im  Stich :  soll  man  sagen  einige  Tugenden  sind 
Gerechtigkeit  oder  einige  Tugend  ist  Gerechtigkeit?  einige 
Liebe  ist  Affenliebe  oder  —  aber  da  haben  wir  ja  gar  keinen 
Plural.  Ja  schon  in  Fällen,  wo  das  Zählen  nicht  widersinnig 
ist,  verrückt  der  Plural  den  Boden,  auf  dem  das  Urtheil  steht. 
Einige  Parallelogramme  haben  gleiche  Diagonalen,  einige 
Kegelschnitte  sind  Parabeln,  nimmt  sich  vom  Standpunkte  der 
Geometrie  schon  wunderlich  aus,  die  ja  ihre  Constructionen 
nicht  in  einer  Vielheit  von  Exemplaren  in  der  Welt  verbreitet 
denkt,  um  von  ihnen  zu  sprechen  wie  von  einigen  Katzen, 
die  blaue  Augen  haben,  und  einigen  Vierfüssern,  die  fliegen 
können.  Das  allgemeine  Urtheil,  alle  Parallelogramme  werden 
von  der  Diagonale  in  congruente  Dreiecke  zerlegt,  alle  Kegel- 
schnitte sind  Kurven  zweiten  Grades,  lässt  sich  noch  eher 
hören,  da  Alle,  in  unbedingtem  Sinn  gebraucht,  von  selbst 
über  das  empirisch  Bekannte  hinausgreift ;  aber  dieser  Vortheil 
kommt  dem  particulären  nicht  zu,  das  noth wendig  den  Ge- 
danken in  den  Kreis  des  Einzelnen  bannt.     ""H  xaxa   [iipoq  sie, 

In  der  zweiten  Hinsicht  aber  ist  der  übliche  Pluralis 
falsch  und  irreführend;  »ein  Mensch  ist  sündlos«  ist  ebensogut 
ein  particuläres  Urtheil,  wie  »einige  Menschen  sind  sündlos« 
es  wäre  ;  wie  denn  Aristoteles  in  seinem  zlc,  dv^pianoc,  Xsuxög 
den    Singular    mit    eingeschlossen    hat.     Herbart  (Einl.  §  62) 


180  §  28.    Das  particuläre  Urtheil.  219 

corrigiert  in  dieser  Hinsicht  die  gewöhnliche  Lehre   vollkom- 
men richtig. 

3.  Wenn  ein  Urtheil  von  der  Form  Ein  A  ist  B  oder 
einige  A  sind  B  ein  erzählendes,  auf  empirischem  Gebiete  er- 
wachsenes ist:  so  scheint  ihm  keine  andere  Bedeutmig  zuzu- 
kommen, als  ein  bestimmtes  Prädicat  von  einem  oder  mehreren 
Subjecten  auszusagen,  die  nur  nicht  einzeln  genannt,  sondern 
unbestimmt  durch  ein  allgemeines  Wort  bezeichnet  sind;  das 
zweite  scheint  als  plurales  Urtheil  keine  andere  Rolle  spielen 
zu  können  als  eine  Reihe  von  Einzelurtheilen,  da  die  Zahlbe- 
stimmung nicht  betont  ist. 

Und  doch  ist  in  dem  Urtheile  »Einige  Menschen  ver- 
wechseln roth  und  grün«  noch  etwas  Anderes  angedeutet,  als 
in  dem  copulativen  Urtheile  Hans  und  Peter  und  Paul  ver- 
wechseln roth  und  grün.  Indem  Hans  und  Peter  und  Paul 
als  »einige  Menschen«  bezeichnet  werden,  geht  zwar  die  in- 
dividuelle Bestimmtheit  der  Aussage  verloren;  aber  durch  die 
Bezeichnung  mit  dem  allgemeinen  Namen  werden  sie  zur  Ge- 
sammtheit  der  Menschen  in  eine  Beziehung  gesetzt,  welche 
zur  Yergleichung  auffordert,  und  das  Urtheil  meint  und  deutet 
es  durch  die  unbestimmte  Bezeichnung  der  Subjecte  an,  dass 
solche,  die  als  Menschen  allen  anderen  gleich  sind,  in  dieser 
Hinsicht  von  den  anderen  verschieden  sind  und  etwas  Beson- 
deres an  sich  haben;  dass  es  gegenüber  der  vorausgesetzten 
Gleichheit  der  Farbenempfindung  Unterschiede  gibt. 

Durch  diese  Absicht,  Unterschiede  und  Ausnahmen 
hervorzuheben,  wird  das  plurale  Urtheil  zu  einem  particu- 
läre n.  Es  ist  aber  klar,  dass  diese  Absicht  ebensogut  durch 
ein  singuläres  Urtheil  erreicht  wird,  sobald  sein  Subject 
nicht  mit  dem  Nomen  proprium,  sondern  mit  dem  allgemeinen 
Namen  bezeichnet  wird.  Es  gibt  einen  Kometen,  der  sich  in 
zwei  getheilt  hat  —  ist  bereits  ein  particuläres  Urtheil  in 
diesem  Sinne. 

4.  Die  Tradition  lehrt  nun  aber,  dass  das  particuläre 
Urtheil  das  allgemeine  nicht  auszuschliessen  meine.  Einige 
A  sind  B  wolle  nicht  sagen,  dass  nicht  alle  A  B  sind.  Dies 
ist  ein  neuer  Beweis  für  die  Vieldeutigkeit  der  Formel;  denn 
in    der  Regel    soll    allerdings  eben  dies  gesagt   werden,    dass 


220  I»  5.    I>ie  pluralen  Urtheile.  181 

einige  A  sich  von  den  übrigen  A  unterscheiden.  Allein  jene 
Bestimmung  weist  doch  auf  etwas  Richtiges  hin;  nemlich 
dass  das  plurale  Urtheil  ebenso  auf  dem  Wege  zu  einem 
allgemeinen  liegen  und  dieses  vorbereiten  kann,  wie  es  sich 
gegen  ein  allgemeines  als  Ausnahme  abzuschliessen  vermag. 
Wenn  der  scheinbaren  Unbeweglichkeit  des  Fixsternhimmels 
gegenüber  erst  an  einigen  Fixsternen  die  eigene  Bewegung 
nachgewiesen  wird;  wenn  dem  copulativen  Urtheil  »a  Centauri 
und  61  Cygni  und  Sirius  haben  eigene  Bewegung«  durch  den 
Ausdruck  »Einige  Fixsterne  haben  eigene  Bewegung«  nicht 
die  Bedeutung  gegeben  worden  ist,  dass  darum  diese  drei 
keine  Fixsterne  seien,  sondern,  indem  man  ihre  Zugehörigkeit 
zu  den  Fixsternen  stehen  lässt,  die  Bedeutung,  dass  dem  alten 
Glauben  entgegen  an  einzelnen  Bewegung  wahrgenommen 
werde,  so  wandte  sich  damit  das  Urtheil  als  Ausnahme  gegen 
den  Satz:  »Alle  Fixsterne  stehen  absolut  fest«;  es  war  ein 
particuläres,  das  einen  Unterschied  innerhalb  der  Fixsterne 
ausdrücken  wollte. 

Wie  nun  aber  die  Zahl  wuchs  und  die  Beobachtungen 
fortschritten,  konnte  dasselbe  Urtheil:  »Einige  Fixsterne  haben 
eigene  Bewegung«  den  anderen  Sinn  gewinnen:  Von  einigen 
weiss  man's  gewiss,  von  allen  ist  es  wahrscheinlich.  Während 
jenes  Urtheil  die  fertige  Erkenntniss  voraussetzt,  dass  einigen 
A  ein  Prädicat  zukommt,  das  anderen  fehlt,  setzt  dieses  die 
erst  werdende  Erkenntniss  voraus,  und  die  Parti cularität  ist 
nur  eine  provisorische. 

5.  Auf  diesem  Gebiete  des  Fortschritts  der  Erkenntniss 
durch  Erfahrung  an  Einzelnem  pflegt  sich  aber  die  Schul- 
logik gar  nicht  zu  bewegen;  ihre  particulären  Urtheile  setzen 
die  festen  Begriffsverhältnisse  voraus  und  sind  nur  dazu  be- 
stimmt, sie  abzulesen.  Nun  kommt  sie  aber  mit  der  For- 
derung ,  dass  ihre  Sätze  sich  müssen  aus  dem  Princip  der 
Identität  und  des  Widerspruchs  als  richtig  einsehen  lassen, 
ins  Gedränge.  Einige  Parallelogramme  haben  gleiche  Diago- 
nalen —  woher  kommt  mir  diese  Erkenntniss?  Aus  dem 
Begriffe  des  Parallelogramms  nicht,  denn  dieser  enthält  nichts 
von  rechten  Winkeln ;  und  wenn  ich  zu  »Parallelogramm« 
»einige«  setze,  so  nehme  ich  damit  einen  Theil  des  Umfangs, 


182  §  28.     Das  particuläre  ÜrtheÜ.  ^21 

aber  der  Begriff  ist  nicht  bestimmter  geworden,  und  ich  kann 
bloss  darauf  hin  vom  Theil  nichts  aussagen,  was  nicht  im 
Begriffe  läge.  Kann  damit  aus  einer  blossen  Erklärung  kein 
particuläres  Urtheil  hervorgehen,  so  muss  aus  dem,  was  die 
Vorstellung  des  Parallelogramms  enthält,  die  Möglichkeit 
einer  näheren  Bestimmung  sich  ergeben,  welche  das  Prädicat 
mit  sich  führt,  und  neben  der  andere  nähere  Bestimmungen 
möglich  sind;  oder  diese  Bestimmung  muss  in  Gedanken  ge- 
setzt sein,  um  das  Subject  meines  Urtheils  zu  constituieren ; 
sie  wird  nur  in  der  Bezeichnung  des  Subjects  verschwiegen, 
ich  meine  die  rechtwinklichen  Parallelogramme,  ich  bezeichne 
sie  aber  bloss  als  einige  Parallelogramme. 

Der  adäquate  Ausdruck  ist  dann  aber  vielmehr:  Das 
Parallelogramm  kann  gleiche  Diagonalen  haben,  und:  Eine 
Art  des  Parallelogramms  hat  gleiche  Diagonalen. 

Nun  könnte  man  allerdings  der  Logik  nicht  verbieten, 
ihre  Formel  »Einige  A  sind  B«  in  dem  Sinne  beizubehalten, 
dass  »einige  A«  einen  Theil  der  möglichen  A  bezeichnet, 
wenn  nicht  die  Gefahr  nahe  läge,  dass  unvermerkt  statt  der 
möglichen  immer  wieder  die  wirklichen  gesetzt  werden,  welche 
der  Plural  zunächst  andeutet. 

IL    Verneinende  plurale  ürtheile. 

§  29. 

Ganz  dieselben  Bestimmungen  gelten,  wo  von  einer 
Mehrheit  von  Subjecten  ein  und  dasselbe  Prä- 
dicat verneint  wird;  insbesondere  ist  das  Urtheil,  welches 
allgemein  verneint,  ebenso  entweder  empirisch 
oder  unbedingt  allgemein. 

1.  Das  copulative   verneinende  Urtheil  *).  Weder  A  noch 


*)  Von  ihm  ist  wieder  die  conjunctive  Verneinung  verschie- 
dener Prädicate  von  demselben  Subjecte  (A  ist  weder  B  noch  C  noch 
D)  zu  unterscheiden,  deren  Bedeutung"  wiederum  erst  später  erhellen 
kann.  Ich  halte  es  für  einen  überflüssigen  und  lästigen  Luxus  der 
Terminologie,  für  die  copulative  Verneinung  den  Ausdruck  reraotivea 
U  r  th  ei  1  zu  gebrauchen. 


222  I»  5.    Die  pluralen  tTrtheile.  18S 

B  noch  C  sind  P  führt,  wenn  A  und  B  und  C  unter  eine 
gemeinschaftliche  Bezeichnung  fallen,  zu  der  pluralen  Ver- 
neinung Mehrere  N  sind  nicht  P,  und  an  diese  schliesst  sich 
wiederum  die  Aussage,  welche  die  Zahl  treffen  will:  der  N, 
die  nicht  P  sind,  sind  viele,  sind  hundert.  Das  Verhältniss 
dieser  Aussagen  zu  der  Verneinung  über  Einzelnes  ist  genau 
dasselbe,  was  g  26  in  Beziehung  auf  die  positiven  Urtheile 
ausgeführt  ist. 

2.  Das  allgemein  verneinende  Urtheil :  die  A,  die  nicht 
B  sind,  sind  alle  A  —  wird  ursprünglich  auf  demselben  Wege 
des  Durchgehens  einer  bestimmten  Zahl  gewonnen ,  wie  das 
allgemein  bejahende  Urtheil.  Wenn  ich  von  einer  bestimmten 
Anzahl  von  Bäumen  einen  um  den  andern  darauf  ansehe,  ob 
er  Früchte  trägt,  wenn  ich  es  von  jedem  Einzelnen  bis  auf 
den  letzten  verneinen  musß,  dann  entsteht  mir  die  allgemeine 
Verneinung,  welche  ganz  bezeichnend  die  Sprache  in  den  Aus- 
druck kleidet :  Keiner  trägt  Frucht  *).  Denn  dieses  Kein 
lässt  eben  eins  ums  andere  an  mir  vorübergehen ;  nicht  Einer, 
ouo£  £?^,  ne  unus  quidem  ist,  dem  das  versuchte  Prädicat  zu- 
käme ;    ein    einziges  A ,    das  B   wäre ,  Hesse  es  nicht  zu    dem 

*)  Keiner,  Niemand,  Nichts  u.  s.  f.  sind  also  nicht  etwa  negative 
Subjecte  wie  das  aristotelische  oux  äv^pwTtog ;  ich  behaupte  nicht  etwas 
von  Nichts,  Niemand  u.  s.  f.;  wenn  ich  sage  Niemand  ist  gut,  denn 
der  alleinige  Gott,  so  sind  das  Subject  meines  Urtheils  die  Menschen, 
denen  das  Gutsein  abgesprochen  wird;  und  der  Sinn  ist:  da  ist  keiner, 
der  gerecht  sei,  auch  nicht  einer ;  wenn  ich  sage :  es  thut  mir  nichts 
weh  —  so  meine  ich  nicht ,  dass  mir  das  Ding,  Nichts  genannt  ,  wehe 
thue,  sondern,  dass  alles  das  ,  was  mir  etwa  weh  thun  könnte  ,  nicht 
weh  thut.  Aber  dass  die  Negation  am  Subject  auftritt,  ist  darum  höchst 
ausdrucksvoll,  weil  ich  mit  meinem  Prädicate  so  zu  sagen  vergeblich 
herumgehe  um  ein  Subject  dazu  zu  finden.  Dasselbe  ist  es,  wo  Niemand, 
Nichts,  kein,  im  Accusativ  steht:  Doch  ich  sehe  Niemand  gehn,  sehe 
Niemand  kommen  —  grammatisch  erscheint  der  kommende  »Niemand« 
als  Object  des  Sehens;  in  der  That  wird  das  Sehen  eines  Kommenden 
verneint.  Ebenso  fällt  in  dem  Satze  »ich  höre  nichts«  nicht  bloss  das 
Object,  sondern  auch  das  Hören  selbst  weg ;  es  ist  falsch,  dass  ich  etwas 
höre.  Daraus  geht  weiter  hervor  ,  dass  Nichts  (so  gut  wie  Niemand) 
nur  im  Satze  einen  Sinn  hat ;  und  es  ausserhalb  des  Satzes  als  selbst- 
ständiges Zeichen  eines  Begriffs  zu  verwenden,  wie  in  dem  berühmten 
Sein,  Nichts  und  Werden  geschieht,  muss  nothwendig  zum  blossen  Wort- 
spiel führen. 


183. 184  I  29.    Verneinende  plurale  Ürtkeile.  S2S 

allgemeinen  Satze  kommen.  Daraus  erklärt  sich  auch  die 
Vieldeutigkeit  der  Negation ,  und  der  verschiedene  Sinn  ,  den 
ürtheile  von  der  Form  »kein  A  ist  B«  haben  können.  Einerseits 
nemlich  setzen  sie  das  Vorhandensein  einer  Mehrheit  von  A 
voraus,  und  wollen  sagen,  dass  das  Prädicat  B  an  allen  vor- 
handenen A  fehlt  —  kein  Baum  trägt  Frucht;  andrerseits 
können  sie  (innerhalb  des  gemeinten  räumlichen  oder  zeitlichen 
Kreises)  das  Vorhandensein  von  Subjecten,  denen  das  Prädicat 
zukäme,  selbst  negieren  wollen :  kein  Baum  verstreuet  Schatten, 
kein  Quell  durchdringt  den  Sand  —  keines  Mediceers  Grüte  lächelte 
der  deutschen  Kunst.  Wenn  ich  verneine,  dass  ein  A  existiert, 
das  B  ist :  so  setzt  das  voraus,  dass  ich  zu  dem  Prädicate  B  ein 
Subject  A  suche,  von  dem  es  prädiciert  werden  kann.  Ent- 
weder finde  ich  nun  zwar  ein  oder  einige  A,  aber  ohne  das 
Prädicat  B ;  oder  ich  finde  überhaupt  kein  A ,  und  das  wird 
der  Fall  sein,  wenn  das  Prädicat  B  gar  nicht  fehlen  könnte, 
wenn  ein  A  da  wäre.     (Vergl.  »das  Feuer  brennt  nicht«  S.  163.) 

Das  TJrtheil  kein  A  ist  B  verneint  also  unmittelbar,  dass 
ein  A,  das  B  ist,  existiert;  und  erst  in  zweiter  Linie  und  nur 
dann,  wenn  das  Prädicat  B  überhaupt  an  A  fehlen  kann,  lässt 
sich  das  so  ausdrücken,  dass  die  A,  die  nicht  B  sind,  alle  A  sind. 

3.  Daraus  geht  wiederum  hervor,  dass  diese  Formel 
Kein  A  ist  B  nur  dann  adäquat  ist,  wenn  sie  einzelne  A  im 
Sinne  hat,  und  als  Resultat  von  Urtheilen  über  einzelne  A 
erscheint,  also  ein  erzählendes  ürtheil  darstellt.  Soll  aber 
ausgesprochen  werden,  dass  durch  die  Subjectsvorstellung 
das  Prädicat  ausgeschlossen  sei,  dass  also ,  was  auch 
immer  mit  A  benannt  werden  könne,  ebendeswegen  nicht  B  sei: 
so  ist  der  adäquate  Ausdruck  A  ist  nicht  B,  oder  Es  ist  un- 
möglich, dass  A  B  sei ;  und  es  ist  nur  die  Gewohnheit,  immer 
auf  das  Concret-anschauliche  zurückzugehen ,  welche  das  un- 
bedingt verneinende  Urtheil  ebenso  von  den  Einzelnen  aus- 
sprechen will,  obgleich  weder  ihre  Zahl,  noch  auch  nur  ihre 
Existenz  direct  in  Frage  kommt,  wie  das  allgemein  bejahende. 
Statt  zu  sagen :  Kein  Mensch  vermag  die  Zukunft  zu  erkennen, 
ist  es  richtiger  zu  sagen :  der  Mensch  vermag  die  Zukunft 
nicht  zu  erkennen.  Denn  mein  Urtheil  verneint  nicht  die 
Existenz,   sondern   die   Möglichkeit   des  Propheten.     Deutlich 


224  1,  ß.    Die  pluralen  Urtheile.  184.  185 

wird  dies,  wo  modale  Prädicate  die  Existenz  eines  dem  Sub- 
jectswort  entsprechenden  Einzelnen  in  Frage  stellen ;  wir 
sagen  nicht  Kein  Gespenst  existiert,  kein  Mord  ist  geboten, 
sondern  Gespenster  existieren  nicht ,  der  Mord  kann  niemals 
geboten  sein. 


III.    Die  Verneinung  der  pluralen  Urtheile. 

§  30. 

Wenn  ein  allgemeines  Urtheil  verneint  wird, 
so  richtet  sich  die  Verneinung  gegen  das  was  es  eigentlich 
aussagt,  dass  die  Subjecte,  denen  das  Prädicat  zukommt  oder 
nicht  zukommt,  alle  seien,  welche  unter  das  Subjectswort 
fallen.  Die  Verneinung  von  Alle  A  sind  B  meint :  d  i  e  A 
dieB  sind,  sind  nicht  alleA;  und  je  nachdem  das  Ur- 
theil als  empirisches  oder  als  unbedingt  allgemeines  gelten 
wollte,  ist  auch  seine  Verneinung  zu  verstehen. 

Die  Verneinung  des  empirisch  allgemeinen  Ur- 
t  h  e  i  1  s  sagt,  dass  eineAusnahme  wirklich,  die  des 
unbedingt  allgemeinen  aber  nur ,  dass  eine  Ausnahme 
möglich  sei. 

Die  von  Aristoteles  aufgestellte,  von  der  Logik  immer 
wiederholte  Lehre ,  dass  das  allgemein  bejahende 
undparticulär  verneinende,  das  allgemein 
verneinende  und  particulär  bejahende  Ur- 
theil sich  c  on  t  ra  di  et  or  i  s  ch  entgegengesetzt 
seien,  führt  auf  Falsches,  wenn  der  Unterschied  der 
empirischgültigen  und  der  allgemeingül- 
tigen Urtheile  nicht  beachtet  wird. 

1.  Der  eigentliche  Charakter  der  bisher  betrachteten 
Urtheile  erhellt  am  deutlichsten,  wo  sich  die  Verneinung  gegen 
sie  richtet.  Die  Verneinung  eines  copulativen  oder  pluralen 
Urtheils  ist  mehrdeutig,  sofern  entweder  bloss  der  Plural,  oder 


185.186  §  30.     Verneinung  der  pluralen  Urtheile.  225 

die  Zusammengehörigkeit  von  Subject  und  Prädicat  überhaupt 
dasjenige  sein  kann,  was  falsch  ist.  Insbesondere  vermag  die 
Verneinung  eines  negativen  ürtheils  auch  hier  auf  keine  be- 
stimmte Behauptung  zu  führen  ;  wenn  es  falsch  ist,  dass  weder 
Petrus,  noch  der  Magier  Simon  in  Rom  gewesen  ist,  so 
weiss  ich  nicht,  welcher  von  beiden,  oder  ob  beide  dort  ge- 
wesen sind ;  wenn  es  falsch  ist ,  dass  mehrere  Kometen  Un- 
glück gebracht  haben,  so  weiss  ich  nicht,  ob  nur  einer  oder 
gar  keiner.  Die  Verneinung,  welche  sich  gegen  ein  Zahl- 
prädicat  richtet,  wird  zunächst  dieses  bestreiten,  aber  es  ist 
unsicher,  ob  sie  nicht  weiter  greift.  Wenn  es  falsch  ist,  dass 
10  Häuser  abgebrannt  sind,  so  sind  entweder  mehr  oder  weniger 
oder  gar  keines  abgebrannt. 

2.  Bestimmteren  Werth  hat  nach  der  gewöhnlichen  Lehre 
die  Verneinung  eines  allgemeinen  —  sei  es  bejahenden  oder 
verneinenden  ürtheils. 

Tritt  eine  Verneinung  gegen  ein  bejahendes  ürtheil  mit 
»Alle«  auf,  so  hebt  sie  die  Behauptung  auf,  welche  eben  auf 
die  ausnahmslose  Vollständigkeit  der  Zahl  gieng;  die  Allge- 
meinheit ist  negiert.  Da  das  bejahende  allg.  ürtheil  sagt: 
Es  gibt  keine  Ausnahme  —  so  sagt  seine  Verneinung:  Es 
gibt  eine  Ausnahme.  Wenn  ich  weiss,  es  ist  falsch,  dass  alle 
Raben  schwarz  sind:  so  gibt  es  wenigstens  einen,  der  nicht 
schwarz  ist;  ich  kann  also  sagen:  Ein  Rabe  ist  nicht 
schwarz. 

Wendet  sich  die  Verneinung  gegen  den  Satz  Kein  A  ist 
B :  so  heisst  der  nach  dem  obigen  soviel  als :  Ein  A ,  das  B 
wäre,  gibt  es  nicht ;  dann  muss  also  wahr  sein,  dass  es  ein  A 
gibt,  das  B  ist.  Ist  es  falsch,  dass  kein  Rabe  weiss  ist  — 
so  gibt  es  einen  weissen  Raben. 

Aus  dem  Sinn  des  allgemeinen  ürtheils  folgt  also  direct, 
indem  der  Satz  des  Widerspruchs  und  der  doppelten  Vernei- 
nung auf  Sätze  mit  dem  Prädicat  »alle«  angewendet  werden, 
was  Aristoteles  (De  interpr.  7,  17,  b  16)  lehrt:  dvxtxeta^at 
zamcpaatv  aTiocpaaet  avTLcpaTLXws  tyjV  zb  xad-oXou  ayjfiacvouaav 
T(j)  auxq)  ÖTi  o5  xai^oXou,  olov  Tzäc,  avD-pWTCo?  Xeux^g  —  ou  izäc, 
dv^-piüTzoc,  Xexjxbc, ;  ouoelq  dy\hp(i)'!ioc,  Xeuxbc,  —  eaxi  Tic,  äv^pionoq 
Xeuxo^.    Dies  ist  die  vollkommen  richtige  Formel,  welche  noch 

Sigwart,  liogik.    I.    2.  Auflage.  15 


226  I»  5.    Die  pluralen  ürtheile.  186. 187 

nicht  durch  die  gedankenlose  Gewohnheit,  statt  ou  n&c,  und 
Tc^  den  Plural  einige  zu  setzen  ,  falsch  geworden  ist*). 

3.  Richtig  aber  nur,  solange  man  nicht  von  unbedingt 
gültigen  Urtheilen  auf  empirisch  gültige  und  umgekehrt 
übergeht. 

Wendet  sich  die  Verneinung  gegen  ein  unbedingt  allge- 
meines Urtheil,  welches  durch  die  anschaulichere  Allgemein- 
heit bejahend  die  nothwendige  Zusammengehörig- 
keit von  Subject  und  Prädicat,  verneinend  die  nothwendige 


*)  Die  gewöhnliche  Lehre  ist: 

Contradictorisch  entgegengesetzt  sind :  Alle  A  sind  B 

Einige  A  sind  nicht  B 
Ebenso  Kein  A  ist  B 

Einige  A  sind  B. 

Conträr  (IvavxCw^)  entgegengesetzt :  Alle  A  sind  B 

Kein  A  ist  B, 
Diese  können  nicht  beide  wahr,  wohl  aber  beide  falsch  sein. 

Die  ürtheile  Einige  A  sind  B  —  Einige  A  sind  nicht  B,  von  denen 
Aristoteles  (Anal.  pr.  II,  15.  63  b  27)  ganz  treffend  sagt;  xö  xtvl 
xq)  ou  xtvl  xaxct  xyjv  Xd^tv  dvxCxetxat,  jxovov  —  weil  gar  nicht  dasselbe 
Subject  vorhanden  ist  —  hat  die  spätere  Terminologie  widersinnig 
genug  als  subconträr  bezeichnet;  sie  sollen  beide  wahr,  aber  nicht 
beide  falsch  sein  können.  (Würde  in  den  beiden  Sätzen  :  Einige  A 
sind  B ,  Einige  A  sind  nicht  B,  dasselbe  Subject  vorausgesetzt, 
das  nur  unbestimmt  bezeichnet  ist,  so  würden  sie  natürlich  contradic- 
torisch entgegengesetzt  sein ;  aber  der  Ausdruck  lässt  ja  unentschieden 
welche  A  gemeint  sind). 

Die  Richtigkeit  unserer  obigen  Darstellung,  dass  die  Contradiction 
des  allgemeinen  und  besonderen  TJrtheils  von  entgegengesetzter  Qua- 
lität die  einfache  Folge  davon  sei ,  dass  als  Prädicat  alle  betrachtet 
werde,  erhellt  aus  einer  Schwierigkeit,  in  welche  die  gewöhnliche  Lehre 
zu  führen  scheint.  Wenn  ich  nemlich  die  Sätze  gegeneinander  stelle: 
Das  Licht  ist  Materie  —  Das  Licht  ist  nicht  Materie  --so  sind  sie  con- 
tradictorisch entgegengesetzt ,  und  einer  ist  nothwendig  wahr ;  die 
gleichbedeutenden  Alles  Licht  ist  Materie  —  Kein  Licht  ist  Materie, 
sollen  nur  conträr  entgegengesetzt  sein,  und  also  beide  falsch  sein 
können.  Die  Schwierigkeit  löst  sieb,  sobald  man  darauf  achtet,  dass  im 
zweiten  Paare  ein  ganz  anderes  Subject  auftritt,  das  die  Voraussetzung 
in  sich  schliesst,  es  sei  vom  Licht  nicht  nach  seiner  Einheit,  sondern  von 
den  Unterschieden  desselben  die  Rede;  und  daraus  erhellt,  dass  der 
Satz  Alles  Licht  ist  Materie  doch  ein  inadäquater  und  nicht  vollkommen 
gleichbedeutender  Ausdruck  ist  für:  das  Licht  ist  Materie. 


187. 188  §  30.     Verneinung  der  pluralen  Ürtheile.  227 

Ausschliessung  des  Pr'ädicats  vom  Subjecte  behaupten 
will :  so  kann  sie  nur  verneinen,  was  gemeint  ist,  und  sagen, 
es  sei  dort  nicht  nothwendig,  hier  nicht  unmöglich, 
dass  dem  Subjecte  das  Prädicat  zukomme.  Aber  dass  einem 
oder  einigen  wirklichen  A  das  Prädicat  B  zukomme,  oder  nicht 
zukomme,  muss  diese  Verneinung  nicht  meinen,  welche 
es  mit  der  Voraussetzung ,  dass  einzelne  Subjecte  abgezählt 
worden  seien ,  gar  nicht  zu  thun  hat ;  und  die  Anwendung 
des  contradictorischen  Verhältnisses  wäre  jetzt  ganz  unzulässig. 
Wenn  es  falsch  wäre  ,  dass  alle  Menschen  Sünder  sind ,  im 
Sinne  einer  mit  ihrer  Natur  gegebenen  Sündhaftigkeit:  so 
wäre  damit  noch  nicht  gesagt,  dass  in  Wirklichkeit  einige 
Menschen  nicht  Sünder  sind;  und  das  empirische  Urtheil,  alle 
Menschen  sind  Sünder,  konnte  gelten,  »dieweil  sie  alle  gesündiget 
haben«.  Wenn  es  falsch  wäre,  dass  kein  Mensch  vollkommen 
böse  ist,  im  Sinne  der  Verneinung  einer  Unmöglichkeit  —  so 
wäre  darum  noch  nicht  wahr,  dass  einer  oder  einige  in  Wirk- 
lichkeit es  sind. 

Umgekehrt  kann  die  Verneinung  eines  empirisch  gültigen 
particulären  Urtheils  immer  nur  ein  empirisch  allgemeines, 
niemals  ein  unbedingt  cllgemeines  begründen.  Wenn  es  falsch 
ist,  dass  es  Lebendiges  gibt,  das  nicht  aus  Lebendigem  ent- 
standen wäre,  so  ist  der  Satz  Omne  vivum  ex  vivo  richtig  in 
dem  Sinne,  dass  alles  Lebendige,  was  wir  kennen,  wieder  aus 
Lebendigem  entstanden  ist ;  ob  aber  daraus  folgt ,  dass  der 
Satz  eine  absolute  Noth wendigkeit  ausspreche ,  ist  eben  noch 
bestritten.  Wenn  es  falsch  ist,  dass  es  Menschen  gibt,  welche 
über  200  Jahre  leben :  so  ist  damit  das  Urtheil  »Kein  Mensch 
lebt  über  200  Jahre«  noch  nicht  in  dem  Sinne  motiviert,  dass 
es  unmöglich  wäre,  Mensch  zu  sein  und  doch  über  200  Jahre 
alt  zu  werden. 

Es  ist  das  Charakteristische  der  Schlüsse  der  Erfahrungs- 
wissenschaften, von  empirisch  gültigen  auf  unbedingt  gültige 
allgemeine  Ürtheile  überzugehen ;  aber  die  Berechtigung  dazu 
liegt  nicht  in  der  Lehre  von  dem  contradictorischen  Gegensatz 
der  allgemeinen  und  particulären  Ürtheile,  noch  in  der  Zwei- 
deutigkeit des  »Alle«  ;  und  es  ist  die  schwierige  Aufgabe  einer 
Theorie  der  Induction,  festzustellen,  imter  welchen  Bedingungen 

15* 


228  I,  5.    Die  pluralen  Urtheile.  188 

von  einem  empirischen  ürtheil  auf  ein  allgemeingültiges  über- 
gegangen werden  darf. 

4.  Was  also  Aristoteles  und  die  traditionelle  Logik  mit 
dem  allgemeinen  und  particulären  ürtheile  wollten  und  weshalb 
sie  ihnen  eine  so  grosse  Bedeutung  beilegten,  war  nicht  das, 
was  sie  eigentlich  nach  der  gewöhnlichen  Theorie  sagen,  dass 
»dem  ganzen  Umfang  oder  einem  Theil  des  Umfangs  eines 
Begriffs«  ein  Prädicat  zukommt,  sondern  dass  die  Verknüpfung 
des  Prädicats  mit  dem  Subjecte  nothwendig  oder  möglich 
sei.  Das  ganze  Interesse  der  Ausnahmslosigkeit  liegt  in  der 
Hinweisung  auf  ein  bindendes  Gesetz ;  das  ganze  Interesse  der 
Ausnahme  darin,  dass  sie  eine  Mehrheit  von  Möglichkeiten  zeigt. 

Damit  sind  wir  von  selbst  auf  die  genauere  Untersuchung 
des  Nothwendigen  und  Möglichen  in  Beziehung  auf  das  Ur- 
theilen  geführt. 


Sechster  Abschnitt. 

Möglichkeit  und  Nothwendigkeit. 

Der  Behandlung  der  logischen  Fragen,  welche  das  Mög- 
liche und  Nothwendige  betreffen,  ist  zur  vorläufigen  Orien- 
tierung eine  fundamentale  Unterscheidung  voranzuschicken: 
Die  Behauptung,  dass  ein  Urtheil  möglich  oder  nothwendig 
sei,  ist  verschieden  von  der  Behauptung,  dass  es  möglich  oder 
nothwendig  sei ,  dass  einem  Subjecte  ein  Prädicat  zukomme. 
Jene  betrifft  die  subjective  Möglichkeit  oder  Nothwendigkeit 
des  Urtheilens ;  diese  betrifft  die  objective  Möglichkeit  oder 
Nothwendigkeit  des  im  Urtheile  Ausgesprochenen.  Auf  jene 
geht  die  Kantische  Unterscheidung  der  verschiedenen  Mo- 
dalität der  Urtheile,  wonach  sie  entweder  problematische 
oder  assertorische  oder  apodictische  sind ;  auf  diese 
geht  der  aristotelische  Satz:  Ilaaa  npozocaiq  iaxtv  7)  toö  bndp- 

(Anal.  pr.  I,  2.  24  b  31). 

I.    Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität. 

§  31. 

Das  sogenannte  problematische  Urtheil  (A  kann 
B  sein  im  Sinne  von  A  ist  vielleicht  B)  kann  insofern 
nicht  als  Urtheil  bezeichnet  werden,  als  ihm  das 
Bewusstsein  objectiver  Gültigkeit  fehlt,  d.h.  es 
ist  kein  Urtheil  über  das  durch  das  Subject  des  Satzes  Bezeich- 
nete. Es  ist  ein  Urtheil  nur,  sofern  es  aussagt,  dass  der  Redende 
hinsichtlich  der  Frage,  ob  A  wohl  B  ist,  unentschieden  sei. 


230  1»  ö-     Möglichkeit  und  Noth wendigkeit.  190 

Das  sogenannte  assertorische  Urtheil  (die  einfache 
Behauptung  A  ist  B)  ist  von  dem  a  p  o  d  i  c  t  i  s  c  h  e  n  (es  ist 
nothwendig  zu  behaupten,  dass  A  B  ist)  nicht  wesentlich 
verschieden,  sofern  in  jedem  mit  vollkommenem 
Bewusstsein  aus  gesprochenen  Urtheile  dieNoth- 
wendigkeit  es  auszusprechen  raitbehauptet  w^ird. 
Die  Urtheile  unterscheiden  sich  allerdings  hinsichtlich  des 
Weges,  auf  dem  die  Gewissheit  erlangt  wird,  ob 
unmittelbar  oder  mittelbar ;  wollte  man  aber  darauf  den  Unter- 
schied des  assertorischen  und  apodictischen  [Jrtheils  gründen, 
so  käme  dem  apodictischen  die  untergeordnete  Stelle  zu,  weil 
seine  Gewissheit  nur  eine  abgeleitete  wäre. 

1.  Die  unmittelbaren  Urtheile,  in  welchen  sich  Subject 
und  Prädicat  ohne  weitere  Vermittlung  als  einstimmig  er- 
weisen, bringen  für  sich  die  Unterschiede  der  bloss  möglichen 
und  der  nothwendigen  Behauptung  nicht  zum  Bewusstsein;  'Y'^ 
sie  vollziehen  sich  gemäss  dem  Grundsatz  der  Uebereinstim- 
mung  mit  unreflectierter  Sicherheit,  rl  Vo  aber  das  vermittelte 
(synthetische)  ürtheilen  sich  dadurch  einleitet ,  dass ,  sei  es 
von  aussen  durch  Frage  und  Behauptung  Anderer,  sei  es  von 
innen  durch  psychologische  Combinationen j  Vorstellungen  von 
Synthesen  bestimmter  Subjecte  mit  bestimmten  Prädicaten 
sichbilden,  die  in  der  eben  gegenwärtigen  Subjectsvorstellung 
noch  nicht  enthalten  sindUund  wo  diese  Synthesen  mit  dem  Be- 
wusstsein objectiver  Gültigkeit  zu  vollziehen  kein  Grund  vorliegt, 
wo  sich  also  die  Vorstellung  einer  Synthese  als  Frage  oder 
JV-er^iuthung  in  der  Schwebe  hält,  und  die  gewisse  Entschei- 
dung erst  sucht,  welche  das^rädicat  bestätigt  oder  abweist : 
da  wird  ein  Urtheil  als  möglich  vorgestellt;  was  soviel 
heisst,  als  dass  weder  es  wirklich  zu  vollziehen,  noch  zu  ver- 
neinen für  den  Denkenden  in  diesem  Momente  nothwendig 
ist.  Nennen  wir,  um  eine  kurze  Bezeichnung  zu  haben,  das 
bloss  als  möglich  vorgestellte,  noch  nicht  vollzogene  Urtheil 
A  ist  B  die  H  y  p  o  t  h  e  s  i  s  A  ist  B  :  so  ist  der  reinste  Aus- 
druck dieses  Stadiums  zwischen  Synthese  und  Urtheil  d  i  e 
Frage,   die  nur  dann  wahrhaftig  ist,  wenn  sie  ein  Ja  oder 

/ 


191  §  31.    Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.         231 

Nein  erst  erwartet  (denn  wo  sie  nur  um  einen  andern  zu 
versuchen  von  dem  schon  Entschiedenen  gestellt  wird,  ist  sie 
keine  eigentliche  Frage,  sondern  ein  Imperativ) ;  während  aber  H  (? 
die  Frage  das  Stadium  der  ersten  Conception  der  Hypothese 
ausdrückt,  welche  die  Entscheidung  sucht,  so  folgt  ihr,  wenn 
sie  diese  weder  im  bejahenden  noch  im  verneinenden  Sinne 
findet,  das  Bewusstsein  der  Unentschiedenheit,  und  dieses  drückt 
sich  in  den  Formeln  aus :  A  ist  vielleicht  B,  A  ist  vielleicht 
nicht  B.  (Die  häufig  gebrauchte  Formel  »A  kann  B  sein«  ist 
zweideutig  und  irreführend;  denn  sie  drückt  sowohl  das  ob- 
jective  Können  (SuvaaO-at)  als  das  subjective  Schwanken  aus). 
Diese  Form  der  Aussage  unterscheidet  sich  also  von  der  Frage 
nur  dadurch ,  dass  sie  das  Bewusstsein,  die  Frage  nicht  ent- 
scheiden zu  können ,  zum  Ausdruck  bringt;  während  in  der 
Frage  der  Wunsch  nach  Entscheidung  liegt,  bezeichnet  sie  die 
Resignation,  die  in  der  üngewissheit  verharren  muss ;  im  We- 
sentlichen ist  beidemal  dasselbe  gedacht,  eine  Synthese  ohne 
Entscheidung  über  ihre  Gültigkeit. 

2.  Diesen  Ausdruck  der  üngewissheit  pflegt  man 
ein  problematisches  Urtheil  zu  nennen,  und  ihm  das 
assertorische  und  apodictische  als  den  Ausdruck  ver- 
schiedener Grade  von  Gewissheit  entgegenzustellen*).  Kant 
selbst  gibt  zwar  dem  problematischen  Urtheil  eine  etwas  an- 
dere Bedeutung.  Die  Modalität,  sagt  die  Kritik  d.  r.  V.  §  9,  .4 
trägt  nichts  zum  Inhalte  des  Urtheils  bei,  sondern  geht  nur 
den  Werth  der  Copula  in  Beziehung  auf  das  Denken  überhaupt  /  j\ 
an.  Problematische  IJrtheile  sind  solche,  wo  man  das  Be- 
jahen oder  Verneinen  als  bloss  möglich  (beliebig)  annimmt. 
Assertorische,  da  es  als  wirklich  (wahr)  betrachtet 
wird.  Apodictische,  in  denen  man  es  als  n  o  t  h  w  e  n  d  i  g 
ansieht.  Die  beliebige  Annahme  des  problematischen  Urtheils 
wird  dann  von  Kant  auf  Urtheile  ausgedehnt,  die  offenbar 
falsch  sind ;  sie  sind  von  problematischer  Bedeutung ,  wenn 
gedacht  wird,  dass  Jemand  einen  solchen  Satz  etwa  auf  einen 
Augenblick  annehmen  möge.     In  dieser  Fassung  des  Begrifi's, 


*)  Vergl.  z.  B.  Ueberweg,  Logik  3.  Aufl.  i>  69  S.  164  ff.  5.  Afl.  S.  207. 
Drobisch  §  61.  §  62. 


232  !•  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  192 

der  das  problematische  ürtheil  der  aristotelischen  ÖTi'SO'eat^  *) 
gleichstellt,  liegt  demnach,  dass  jedes  Urtheil  problematisch 
sei,  sofern  seine  Gültigkeit  nicht  eben  jetzt  behauptet  werde. 
Allein  es  ist  darin  zweierlei  zusammengefasst,  was  unterschieden 
zu  werden  verdient;  nemlich  ob  über  die  Gültigkeit  eines 
vorgestellten  Urtheils  deshalb  nichts  behauptet  wird ,  weil 
nichts  behauptet  werden  kann,  darum  weil  der  Sprechende 
noch  zu  keiner  Entscheidung  gelangt  ist,  oder  deshalb,  weil 
über  seine  Gültigkeit  nichts  behauptet  werden  will,  darum, 
weil  der  Sprechende  um  irgend  eines  weiteren  Zweckes  willen 
vorübergehend  ein  gültiges  Urtheil  wie  ein  ungültiges,  ein 
ungültiges  wie  ein  gültiges,  ein  ungewisses  wie  ein  gewisses 
behandelt.  Die  Tradition  hat  sich  hierin  nicht  an  Kant  ange- 
schlossen, wie  auch  Kant's  Logik  (Einleitung  IX)  unter  dem 
problematischen  Urtheil  nur  ein  ungewisses  Fürwahrhalten 
versteht. 

3.  Die  herkömmliche  Bezeichnung  des  Satzes  »A  ist  viel- 
leicht B«,  als  problem  atischen  Urthei  Is  droht  nun  aber 
den  Begriff  des  Urtheils  selbst  zu  zerstören,  und  mit  allen 
andern  Lehren  in  Widerspruch  zu  gerathen.  Denn  gehört 
zum  Wesen  des  Urtheils ,  dass  es  eine  Behauptung  aufstellt, 
welche  Anspruch  macht  wahr  zu  sein  und  geglaubt  zu  wer- 
den :  so  kann  eine  Aussage,  die  nichts  behauptet  und  es  frei 
lässt,  dass  das  Gegentheil  wahr  sei,  keine  Art  des  Urtheils 
sein.  Ist  jedes  Urtheil  entweder  Bejahung  oder  Verneinung 
einer  Frage:  so  kann  die  Aussage,  welche  die  Frage  weder 
bejaht,  noch  verneint,  kein  Urtheil  sein ;  denn  es  ist  keine 
Art  der  Entscheidung,  die  Frage  unentschieden  zu  lassen, 
und  keine  Stufe  der  Gewissheit,  ungewiss  zu  sein;  und  dem 
Gesetz  des  Widerspruchs  zum  Trotz  wäre  A  ist  vielleicht  B 
und  A  ist  vielleicht  nicht  B  zugleich  gültig. 


♦)  Für  Aristoteles  ist  bnö^eoig  ein  Urtheil  über  Stattfinden  oder 
Nichtstattfinden,  das  nur  angenommen  wird,  ohne  dass  es  gewiss,  oder 
wenigstens  ohne  dass  es  als  gewiss  erwiesen  wäre,  und  das  im  Gespräch 
oder  im  Beweis  nur  verwendet  werden  kann,  wenn  es  zugestanden  wird. 
Vgl.  mein  Programm:  Beiträge  zur  Lehre  vom  hypothetischen  Urtheile 
(Tübingen,  Laupp  1870)  S.  2.  Daraus  möge  sich  auch  der  oben  einge- 
führte Gebrauch  dieses  Wortes  rechtfertigen. 


193  §  31.    Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.  233 

Als  Urtheil  über  A  gefasst,  ist  also  das  sogenannte  pro- 
blematische Urtheil  kein  XJrtbeil ,  sondern  nur  der  Gedanke 
an  ein  Urtbeil,  der  unvollendete  Versuch  eines  Urtheils.  Die 
einzige  wirkliche  Aussage,  welche  durch  die  Formel  A  ist 
vielleicht  B  gemacht  wird ,  ist :  Die  Hypothesis  A  ist  B  ist 
ungewiss.  Zunächst  und  unmittelbar  ist  das  nur  ein  Urtheil 
über  den  Redenden  selbst,  über  sein  Verhältniss  zu  der  Hypo- 
thesis A  ist  B,  die  Formel  sagt :  ich  weiss  nicht,  ob  die  Hypo- 
thesis gilt  öder  nicht  gilt ,  ich  habe  weder  einen  Grund  sie 
zu  bejahen  noch  zu  verneinen ;  sie  constatiert  einen  eben  vor- 
handenen Zustand  meines  Denkens,  aber  nichts  was  hinsicht- 
lich des  Subjects  A  objective  Geltung  hätte. 

Nun  könnte  man  der  Formel  eine  weiter  tragende  Be- 
deutung geben  wollen  durch  die  Ueberlegung ,  dass  sie  nicht 
bloss  meinen  könnte:  ich  weiss  nicht,  ob  A  B  ist,  sondern 
man  weiss  nicht  ob  A  B  ist ,  dass  also  die  Ungewissheit 
nicht  bloss  als  individuelles  Factum ,  sondern  als  dem  Satze 
überhaupt  anhaftend  bezeichnet  würde.  Allein  abgesehen  da- 
von, dass  der  Wortlaut  das  nicht  einschliesst,  so  würde  auch 
dann  diese  Aussage  zu  keinem  Urtheil  über  A  führen ,  das 
dem  positiven  und  negativen  Urtheil  coordiniert  werden  könnte; 
sie  würde  auch  dann  nur  eine  Behauptung  über  ein  subjectives 
Verhalten  aussprechen,  nur  nicht  über  ein  individuelles,  son- 
dern über  ein  in  dem  gegenwärtigen  Zustande  des  gesammten 
Wissens,  oder  noch  allgemeiner  über  ein  in  den  Schranken  der 
menschlichen  Intelligenz  überhaupt  begründetes  subjectives 
Verhalten.  Es  ist  vollkommen  richtig,  dass  wir  hinsichtlich 
vieler  Fragen  über  die  Constatierung  der  Unmöglichkeit  der 
Entscheidung  nicht  hinauskommen,  und  dass  diese  Erkenntniss 
ihren  Werth  hat,  wenn  wir  die  menschliche  Erkenntnissiähig- 
keit  an  dem  Ideal  des  Erkennens  messen ;  aber  diese  Erkennt- 
niss constatiert  immer  nichts ,  was  ein  Urtheil  über  A  wäre. 
Für  ein  ideales  Bewusstsein,  für  eine  allwissende  Intelligenz 
ist  der  eine  Satz  wahr,  der  andere  falsch;  erst  wenn  wir  des 
einen  oder  andern  gewiss  sind ,  ist  der  Zweck  des  Denkens, 
ein  Urtheil  von  objectiver  Gültigkeit  erreicht;  so  lange  das 
nicht  der  Fall  ist,  bleibt  die  Hypothesis  als  unentschiedenes 
Problem  stehen,  und  es  kann  nur  verwirren ,  wenn    man  den 


234  I,  ö-     Möglichkeit  und  Noth wendigkeit.  193 

Ausdruck  der  subjectiven  üngewissheit  und  den  Ausdruck  der 
Gewissheit  der  objectiven  Gültigkeit  eines  Satzes  unter  den- 
selben Begriff  des  Urtheils  subsumiert.  Darum  ist  auch  die 
einzig  mögliche  Verneinung  des  problematischen  Urtheils,  es 
sei  dem  Urtheilenden  nicht  ungewiss  ob  A  B  sei,  sondern  die 
Bejahung  oder  die  Verneinung  sei  gewiss  *). 


•)  Gegen  die  gegebene  Auffassung  ist  das  problematische  Urtheil 
nicht  bloss  von  Wundt  (Logik  I,  S.  197 ,  vergl.  meine  Entgegnung  in 
der  Viertel jahrschr.  für  wiss.  Phil.  IV,  473  ff.)  sondern  auch  von  Windel- 
band (Strassb.  Abh.  S.  185  tf.)  in  Schutz  genommen  vsrorden.  Von  seiner 
S.  154  ff.  besprochenen  Auffassung  aus  sucht  er  zu  zeigen,  dass  das  proble- 
matische Urtheil  dem  affirmativen  und  negativen  als  eine  dritte  Art 
des  »practischen  Verhaltens«  zu  coordinieren  sei,  das  sich  in  der  Beur- 
theilung  einer  gegebenen  Vorstellungsverbindung  ausspreche.  »Auch 
die  Beurtheilung  hat,  wie  alle  Functionen  des  Billigens  und  Verwerfens, 
die  Möglichkeit  einer  graduellen  Verschiedenheit«.  Die  Gradation  der 
Gewissheit  trete  in  den  verschiedenen  Graden  der  Wahrscheinlichkeit 
zu  Tage;  sie  repräsentieren  verschiedene  Intensitäten  des  üeberzeu- 
gungsgefühls,  das  sowohl  negative  als  affirmative  Sätze  treffen  könne. 
»Diese  verschiedenen  Intensitäten  der  Wahrscheinlichkeit  lassen  sich 
derartig  auf  einer  Linie  schematisiert  denken,  dass  von  den  beiden  End- 
puncten  völliger  Gewissheit,  auf  der  einen  Seite  der  Bejahung,  auf 
der  andern  Seite  der  Verneinung,  sie  sich  durch  allmähliche  Abschwäch- 
ung  einem  Indifferenzpunkte  nähern,  auf  welchem  weder  Bejahung  noch 
Verneinung  vorhanden  ist«.  Dieser  Nullpunkt  sei  nicht  eindeutig;  die  In- 
differenz zwischen  positiver  und  negativer  Reaction  könne  eine  totale 
oder  eine  kritische  sein.  Die  totale  Indifferenz  finde  einmal  bei 
allen  denjenigen  Vorstellungsverläufen  statt,  welche  ohne  jede  Rück- 
sicht auf  ihren  Wahrheitswerth  von  Statten  gehen,  dann  bei  der  Frage, 
die  eine  Vorstellungs  verbindung  ohne  Entscheidung  des  Wahrheitswerthes, 
aber  mit  dem  Verlangen  danach  sei.  Die  Frage  nun  will  W.  nicht 
(wie  Lotze  versucht)  als  Urtheilsart  mit  Affirmation  und  Negation  coor- 
dinieren, weil  ihr  jede  Entscheidung  über  die  Geltung  des  Gedachten 
fehlt.  Allein  wenn  die  Betrachtung  einer  durch  eine  Frage  vollzogenen 
Vorstellungsverbindung  zu  der  Einsicht  führt ,  dass  weder  für  die  Be- 
jahung noch  für  die  Verneinung  zureichende  Gründe  der  Gewissheit 
und  auch  nur  der  Wahrscheinlichkeit  vorliegen,  so  entsteht  das  proble- 
matische Urtheil,  das  bedeutet,  dass  über  die  Geltung  der  Vorstellungsver- 
bindung A — B  nichts  ausgesagt  werden  solle.  Das  ist  die  ausdrückliche 
Suspension  der  Beurtheilung,  die  kritische  Indifferenz.  Der  darin  lie- 
gende bewusste  Verzicht  auf  die  Entscheidung,  sagt  W.,  sei  eine  voll- 
ständige Entscheidung  über  die  Stellung,  welche  der  Urtheilende  zu  der 
in  Frage  stehenden  Vorstellungs Verbindung  einnimmt,  und  darum  das 


193  §  31.     Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.  235 

Die  Lehre,  dass  das  sog.  problematische  Ur- 
theil  eine  Art  des  Urtheils  sei,  ist  also  aufzu- 
geben, sobald  man  in  den  Begriff  des  Urtheils  die  Behaup- 
tung der  Wahrheit  der  Aussage  aufnimmt,  und  lehrt,  ein 
Urtheil  müsse  entweder  wahr  oder  falsch  sein. 


problematische  Urtheil  in  der  Eintheilung  nach  der  Qualität  dem  affir- 
mativen und  dem  negativen  zu  coordinieren. 

Ich  erkenne  natürlich  die  Richtigkeit  dessen,  was  über  den  Sinn 
des  sog.  problematischen  Urtheils  gesagt  ist,  und  die  treffende  Unter- 
scheidung der  einfachÄi  Frage  von  demselben ,  die  ich  oben  im  Texte 
dankbar  aufgenommen  habe,  vollständig  an:  aber  ich  muss  daraus  die 
entgegengesetzte  Consequenz  ziehen.  Stelle  ich  mich  ganz  auf  den  Stand- 
punkt Windelbands,  dass  Bejahung  und  Verneinung  gleicherweise  eine 
Beurtheilung  einer  Vorstellungsverbindung  unter  dem  Gesichtspunkte 
des  Wahrheitswerthes  seien,  so  vermag  ich  in  einer  Suspension  der  Be- 
urtheilung nicht  eine  Art  der  Beurtheilung  zu  erkennen ;  wenn  über 
die  Geltung  der  Vorstellungsverbindung  nichts  ausgesagt  werden  soll, 
so  kann  keine  Beurtheilung  vollzogen  werden,  und  es  bleibt  nur  die 
Erkenntniss  dieses  subjectiven  Factums  übrig.  Das  Verhältniss  der  drei 
»ürtheilsformen«  kann  keine  Coordination  sein.  Entweder  vermag 
ich  nicht  zu  entscheiden ,  oder  ich  vermag  zu  entscheiden ;  entscheide 
ich,  so  entscheide  ich  entweder  bejahend  oder  verneinend.  Coordiniert 
sind  also  nur  Bejahung  und  Verneinung  als  Richtungen  der  Entschei- 
dung; sie  stehen  beide  zusammen  der  Nichtentscheidung  gegenüber; 
das  ist  es,  was  ich  ausdrücken  wollte.  Und  wenn  nur  dann  eine  Er- 
kenntniss der  Sache  vorhanden  ist,  wenn  ich  entweder  bejahen  oder 
verneinen  kann,  so  ist  im  entgegengesetzten  Falle  keine  Erkenntniss 
der  Sache,  sondern  nur  eine  Erkenntniss  meines  subjectiven  Unvermögens 
gegeben ;  also  nur  ein  Urtheil  über  mich ,  nicht  ein  Urtheil  über  das 
Subject  des  Satzes.  Ich  kann  auch  nicht  zustimmen,  dass  es  Grade  der  Ge- 
wissheit gebe,  weil  Gewissheit  ein  Gefühl  sei  und  alle  Gefühle  Intensi- 
tätsunterschiede zeigen.  Gewissheit,  das  Wort  im  strengen  Sinne  ge- 
nommen, ist  entweder  da  oder  nicht  da;  was  nicht  absolut  gewiss  ist, 
ist  ungewiss.  Die  Gewissheit  kündigt  sich  allerdings  auf  unmittelbare 
Weise  in  unserem  Bewusstsein  an,  es  gibt  ein  Gefühl  der  Gewissheit, 
ebenso  wie  sich  die  Ungewissheit ,  das  Schwanken  zwischen  entgegen- 
gesetzten Wahrscheinlichkeiten  im  Gefühl  ankündigt ;  aber  entgegenge- 
setzt sind  sich  nun  nicht  Gewissheit  der  Bejahung  als  ein  Extrem, 
Gewissheit  der  Verneinung  als  das  andere,  und  dazwischen  die  Unge- 
wissheit als  Uebergang ;  sondern  entgegengesetzt  sind  Gewissheit  und 
Ungewissheit,  und  die  Gewissheit  ist  gleicherweise  bei  Bejahung  und 
Verneinung  vorhanden.  Würde  mit  der  Lehre,  dass  die  Gewissheit  Grade 
habe,  Ernst  gemacht,  so  wäre  der  Unterschied  von  Meinen  und  Wissen 
nur  ein  relativer.     Grade  hat  nur  die  Hoffnung  der  Gewissheit. 


236  T>  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  193 

4.  Nicht  viel  glücklicher  ist  die  traditionelle  Lehre  in 
ihrer  Unterscheidung  des  assertorischen  und  a p o d i c- 
tischen  Urtheils.  Wenn  Kant  sagt  (Krit.  d.  r.  V.  §  9,  4. 
Logik  §  30)  das  assertorische  Urtheil  sei  vom  Bewusstsein  der 
Wirklichkeit  des  Urtheilens,  das  apodictische  vom  Bewusstsein 
der  Nothwendigkeit  desselben  begleitet,  so  handelt  es  sich  beim 
assertorischen  Urtheil  also  nur  darum,  dass  überhaupt  in 
Worten  eine  Behauptung  ausgesprochen  wird,  auch  wenn  das 
Bewusstsein  der  Nothwendigkeit  des  Urtheilens  nicht  dabei  ist; 
wie  denn  in  der  Einl.  der  Logik  IX  das  assertorische  Urtheil 
als  Ausdruck  eines  bloss  subjectiven  Glaubens  auftritt,  der 
nur  für  mich  gilt;  wogegen  was  ich  weiss,  apodictisch  gewiss, 
d.  h.  allgemein  und  objectiv  nothwendig  für  alle  geltend  sein 
soll;  gesetzt  auch  dass  der  Gegenstand  selbst,  auf  den  sich 
dieses  gewisse  Fürwahrhalten  bezieht,  eine  bloss  empirische 
Wahrheit  wäre. 

Nach  dieser  Unterscheidung  würde  auch  das  assertorische 
Urtheil  ausserhalb  unserer  Definition  des  Urtheils  fallen,  welche 
es  als  wesentliches  Merkmal  desselben  aufstellt,  dass  es  objec- 
tiv gültig  sein  wolle.  Es  gibt  in  der  That  in  dieser  Hinsicht 
nur  Einen  Sinn  des  Urtheils,  das  eine  wirkliche  Behauptung 
enthält  —  den,  dass  jeder  dasselbe  behaupten  und  glauben 
muss,  darum,  weil  es  nothwendig  ist,  es  zu  glauben  und  zu 
behaupten.  Alle  unsere  Rede  verlöre  ihren  Halt  und  würde 
zu  Kinderspiel  oder  Lüge,  wenn,  wer  einen  Satz  aufstellt,  nicht 
zugleich  damit  sagen  wollte,  dass  dessen  Verneinung  falsch  sei, 
und  wer  etwas  damit  Unverträgliches  behaupte,  irre;  d.  h. 
wenn  zwischen  einem  assertorischen  und  apodictischen  Urtheil 
der  Unterschied  wäre,  dass  dieses  zwar  nothwendig  ist,  jenes 
aber  nicht;  dieses  für  jeden  gilt,  jenes  aber  nur  für  mich. 
Wahrheit  hat  keinen  Sinn,  wenn  sie  nicht  diese  Nothwendigkeit 
des  subjectiven  Thuns  meint.  Auch  wo  die  bloss  zeitliche 
Aussage  über  das  allerzufälligste  Einzelne  —  dieses  Eisen  ist 
heiss  —  vollzogen  wird :  da  setzt  sie  voraus,  dass  es  eben  jetzt 
nothwendig  ist,  so  und  nicht  anders  zu  urtheilen;  meine 
Empfindung  macht  die  Verknüpfung  dieses  Subjects  mit  diesem 
Prädicate  zu  einer  unabweislichen ;  und  gegen  jeden  Wider- 
spruch würde  ich  festhalten,  dass  ich  nichts  anderes  als  eben 


194  §  81.     Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.        237 

dies  als  den  Ausdruck  meiner  Empfindung  aussprechen  könne, 
sobald  die  Frage  gestellt  ist,  ob  dieses  Eisen  heiss  sei  oder  nicht. 

5.  Damit  fällt  jeder  wesentliche  Unterschied  des  asser- 
torischen und  apodictischen  Urtheils  zusammen ;  wenn  ich  sage 
»das  ist  so«,  so  ist  das  nur  dann  ein  vollkommen  reifes  ürtheil, 
wenn  es  so  viel  heisst,  als:  ich  muss  nothwendig  urtheüen^ 
dass  das  so  ist;  die  ganze  Gewissheit  meiner  Aussage  ruht  auf 
der  Voraussetzung  dieser  Nothwendigkeit. 

Es  bleibt  nur  übrig,  theils  dass  der  Grrund,  auf  welchem 
die  Nothwendigkeit  ruht,  verschieden  ist,  theils  dass  sie  in  ver- 
schiedener Weise  ins  Bewusstsein  tritt. 

6.  In  ersterer  Hinsicht  lassen  sich  zunächst  unmittelbare 
und  vermittelte  Urtheile  unterscheiden.  Bei  den  unmittelbaren 
(in  specie  analytischen)  Urtheilen  ist  die  Nothwendigkeit,  das 
Prädicat  von  dem  Subjecte  auszusagen  (beziehungsweise  zu  ver- 
neinen), auf  das  Prinzip  der  Uebereinstimmung  (beziehungs- 
weise des  Unterschieds)  gegründet;  bei  den  mittelbaren  ent- 
weder auf  Autorität  oder  auf  Folgerung.  Die  unmittelbaren 
Urtheile  gehen  dabei  entweder  auf  ein  individuelles  Factum 
(wie  in  der  Wahrnehmung)  zurück,  auf  das  hin  einem  Subject 
ein  Prädicat  zugesprochen  wird ;  oder  auf  die  gemeinschaftlich 
anerkannte  Bedeutung  eines  Worts.  Derselbe  Unterschied 
eines  individuellen  und  eines  Allen  zugänglichen  Grundes 
scheidet  unter  den  mittelbaren  Urtheilen  die  auf  Autorität 
und  die  auf  Folgerung  zurückgehenden;  denn  dass  einer  für 
mich  Autorität  ist,  ist  ein  individueller  Grund,  der  nur  für 
mich  gilt,  so  lange  nicht  auf  eine  allgemeingültige  Weise  die 
Glaubwürdigkeit  festgestellt  und  bewiesen  ist;  die  Folgerung 
aber  bindet  mich  nur,  wenn  sie  (von  denselben  Voraussetz- 
ungen aus)  alle  bindet. 

So  hat  man  denn  z.  B.  unterschieden  zwischen  unmit- 
telbarer (auf  eigene  oder  fremde  Wahrnehmung  gegründeter) 
Gewissheit,  und  vermittelter,  auf  Beweis  gegründeter  Ge- 
wissheit —  wobei  nur  die  auf  fremde  Wahrnehmung  gegründete 
Gewissheit  vielmehr  zur  vermittelten  zu  rechnen  sein  wird, 
und  die  unmittelbare  sich  nicht  bloss  auf  Wahrnehmungen 
bezieht;  und  man  hat  auf  jene  das  assertorische,  auf  diese, 
seinem  Wortlaute  entsprechend,  das  apodictische  Urtheil  (Tipo- 


238  I.  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  195.  196 

zaaic,  aTioSetxTixifj)  bezogen.  Dem  bieten  sich  auch  die  her- 
gebrachten Formeln  dar :  A  ist  B,  und  A  muss  B  sein  (»muss« 
als  Ausdruck  des  bloss  Erschlossenen  genommen,  wie  in  dem 
Satze:  Es  muss  heute  Nacht  geregnet  haben).  Nur  dass  dann 
die  gewöhnliche  Vorstellung  aufgegeben  werden  muss,  als  ob 
das  apodictische  Urtheil  etwas  Höheres  bezeichne,  als  das 
assertorische,  und  vom  problematischen  hinauf  zum  apodicti- 
schen  eine  Steigerung  der  Gewissheit  und  damit  des  Werths 
und  der  Würde  der  XJrtheile  stattfinde;  denn  jede  vermittelte 
Gewissheit  muss  ja  zuletzt  auf  unmittelbarer,  jeder  Beweis 
auf  Prämissen  ruhen,  die  selbst  keines  Beweises  bedürfen. 
In  komischem  Widerspruch  mit  der  Emphase,  mit  welcher 
man  von  apodictischer  Gewissheit  zu  reden  pflegt,  bezeichnet 
im  gewöhnlichen  Leben  das  »apodictische«  Urtheil  »Es  muss 
so  sein,  es  muss  so  gegangen  sein«  einen  sehr  bescheidenen 
Grad  von  Zuversicht,  weil  man  aus  guten  Gründen  der  Sicher- 
heit der  gewöhnlichen  Schlüsse  misstraut,  und  sich  lieber  an 
das  unmittelbar  Wahrgenommene  hält;  aber  auch  den  streng- 
sten Beweis  vorausgesetzt,  kann  das  Erwiesene  niemals  einen 
höheren  Grad  von  Gewissheit  ansprechen,  als  dasjenige,  woraus 
es  erwiesen  ist. 

Andere  Auffassungen  scheinen  vielmehr  den  Unterschied 
von  Sätzen,  die  schlechthin  allgemein  gelten,  von  denen, 
welche  von  einer  individuellen  Bedingung  abhängen,  im  Auge 
zu  haben,  wenn  z.  B.  der  Charakter  des  Apodictischen  in  die 
Vernunftnothwendigkeit  gegenüber  dem  Thatsächlichen  gesetzt 
wird.  So  hat  Leibniz  die  nothwendigen  Wahrheiten  von 
den  thatsächlichen  unterschieden  *).  Die  nothwendigen  Wahr- 
heiten   sind   diejenigen,    deren   Gegentheil    einen  Widerspruch 


*)  Leibn.  Princ.  phil.  §  33  (Erdm.  p.  707):  II  y  a  deux  sortes  de 
verit^s,  Celles  de  raisonnement  et  Celles  de  fait.  Les  veritös  de  raisonne- 
ment  sont  necessaires  et  leur  oppos^  est  impossible,  et  celles  de  fait 
sont  contingentes  et  leur  oppos^  est  possible.  Quand  une  veritö  est 
necessaire,  on  peut  en  trouver  la  raison  par  l'analyse  ,  la  r^solvant  en 
id^es  et  en  vörites  plus  simples,  jusqu'ä,  ce  qu'on  vienne  aux  primitives  ... 
35 :  ce  sont  les  enontiations  identiques,  dont  l'opposd  contient  une  con- 
tradiction  expresse.  Nouv.  Ess.  IV,  §  1.  Erdm.  340:  Pour  ce  qui  est 
des  veritds  primitives  de  fait,  ce  sont  les  experiences  immediates  internes, 
d'une  immediation  de  sentiment.  Vergl.  De  scientia  universali  Erdm.  p.  83. 


197  §  31.     Die  sogenannten  Unterschiede  der   Modalität.         239 

enthält;  die  thatsächlichen  diejenigen,  deren  Gegentheil  mög- 
lich ist.  Jene  kommen  zuletzt  auf  identische  Sätze  zurück ; 
diese  ruhen  auf  unmittelbarer  Empfindung.  In  dieser  Formu- 
lierung tritt  nicht  heraus,  dass  die  Subjecte,  auf  welche  sich 
die  nothwendigen,  und  diejenigen,  auf  welche  sich  die  thatsäch- 
lichen Wahrheiten  beziehen,  verschieden  sind.  Die  nothwen- 
digen Vernunftwahrheiten  stellen  Gleichungen  zwischen  Be- 
griffen dar,  welche  als  ein  fester  und  allgemeiner  Besitz 
vorausgesetzt  werden;  nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann 
ja  (nach  §  23.  S.  190  f.)  überhaupt  von  einem  Satze  gesagt 
werden,  dass  er  widersprechend,  also  sein  Gegentheil  noth- 
wendig  wahr  sei;  sie  entsprechen  den  analytischen  Urtheilen 
Kant's.  Die  Subjecte  der  thatsächlichen  Wahrheiten  sind  ein- 
zeln  existierende  Dinge,  und  die  thatsächlichen  Wahr- 
heiten sagen  allerdings,  sofern  sie  das  Dasein  und  das  ver- 
änderliche Geschehen  betreffen,  etwas  aus,  was  in  dem  Begriffe 
des  Dinges  nicht  liegt;  denn  es  ist  weder  mit  seinem  Begriffe 
gegeben,  dass  es  existiert,  noch  dass  es  eine  bestimmte  zufällige 
Beschaffenheit  hat;  sie  verneinen,  führt  also  keinen  logischen 
Widerspruch  herbei,  wie  sagen,  ein  Dreieck  sei  nicht  dreieckig. 
Allein  daraus,  dass  das  Gegentheil  einer  thatsächlichen  Wahr- 
heit nicht  a  priori  unmöglich  ist,  folgt  nicht,  dass  es  für 
mich  nicht  nothwendig  wäre,  das  Factum  zu  behaupten,  nach- 
dem es  geschehen  ist,  und  dass  die  entgegengesetzte  Behaup- 
tung für  den  möglich  wäre,  der  das  Factum  kennt ;  eine  Wahr- 
heit ist  auch  die  thatsächliche  Wahrheit  nur  darum,  weil  es 
unmöglich  ist,  das  Gegentheil  zu  behaupten  —  nur  unmöglich 
auf  Grund  einer  individuellen  Erfahrung,  statt  auf  Grund  der 
festen  Begriffe,  von  denen  ich  ausgehe.  Und  auch  die  Ver- 
wandlung eines  unmittelbaren  Bewusstseins  in  einen  Satz  von 
objectiver  Gültigkeit  setzt  ja  allgemeingültige  Grundsätze 
voraus,  nach  denen  die  Empfindung  auf  ein  Sein  und  ein 
Seiendes  bezogen  wird;  somit  ist  auch  in  den  thatsächlichen 
Wahrheiten  Vernunftwahrheit  insofern  enthalten,  als  nach  all- 
gemeinen Grundsätzen  (z.  B.  dass  jede  Veränderung  ein  be- 
harrliches Subject  voraussetze,  an  dem  sie  geschieht)  allein  aus 
einem  individuellen  Geschehen  ein  wahres  Urtheil  hervorgehen 
kann.     Auf  der  anderen  Seite  ist  das  Haben  der  allgemeinen 


240  h  6.     Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  197.  198 

Begriffe,  auf  denen  die  identischen  Sätze  ruhen,  zuletzt  ebenso 
etwas  Factisches,  was  da  sein  muss,  ehe  das  Princip  der  Iden- 
tität darauf  angewandt  werden  kann,  um  ein  nothwendiges 
Urtheil  zu  erzeugen.  Die  Nothwendigkeit  beider  Arten  von 
Wahrheit  ist  also  zuletzt  eine  hypothetische.  Wenn  ich 
bestimmte  Begriffe  denke,  muss  ich  das  in  ihnen  Gedachte  von 
ihnen  prädicieren;  und  wenn  ich  bestimmte  Wahrnehmungen 
habe,  muss  ich  von  den  wahrgenommenen  Subjecten  das  prä- 
dicieren, was  mich  die  Wahrnehmungen  zu  prädicieren  nöthi- 
gen  *).  Auch  diese  Unterscheidung  löst  sich  also  hinsichtlich 
des  Charakters  der  Nothwendigkeit  auf  und  nur  der  Grund 
der  Nothwendigkeit  ist  verschieden,  weil  die  Subjecte  der  Ur- 
theil e  verschieden  sind. 


*)  Wollte  man  sich  darauf  berufen,  dass  ja  die  Sinne  täuschen  und 
dass  es  möglich  sei  an  dem  Vorhandensein  der  ganzen  realen  Welt  zu 
zweifeln,  nicht  aber  an  dem  Satze  A=A :  so  ist  das  vollständig  richtig, 
hebt  aber  den  Satz  nicht  auf,  dass  jedes  Urtheil  nur  insofern  wahr  sei, 
als  es  nothwendig  ist.  Denn  vermöchten  wir  aus  unsern  factischen  Em- 
pfindungen deshalb,  weil  wir  sie  als  rein  zufällig,  individuell  verschieden 
und  gesetzlos  wie  Traumvisionen  eintretend  voraussetzen,  keine  Aussage 
über  ein  Seiendes  und  überhaupt  keine  allgemeingültige  Aussage  zu 
machen ,  so  wäre  überhaupt  kein  thatsächliches  Urtheil  über  etwas 
anders  als  unsere  momentane  Affection  möglich;  würden  wir  aber  vor- 
aussetzen, die  Empfindungen  seien  zwar  einer  für  alle  gleichen  Noth- 
wendigkeit unterworfen,  wir  kennen  aber  diese  Nothwendigkeit  und 
ihr  Gesetz  nicht,  so  wäre  wiederum  dasselbe  —  wir  könnten  kein  Ur- 
theil über  ein  ausser  uns  Seiendes  vollziehen.  In  Beziehung  auf  die 
Frage,  was  das  Seiende,  das  wir  empfinden,  seinem  letzten  Wesen  nach 
ist,  sind  wir  in  der  That  in  diesem  Falle;  ebendarum  gibt  es  darüber 
nur  Vermuthung  und  Hypothese,  aber  keine  ürtheile,  die  sich  als  wahr 
ankündigen  dürfen;  soweit  wir  aber  die  Nothwendigkeit  in  den  Pro- 
cessen, durch  welche  wir  aus  Empfindungen  Ürtheile  bilden,  zu  kennen 
überzeugt  sind,  soweit  reicht  auch  das  Gebiet  des  sicheren ,  von  der 
Ueberzeugung  der  Wahrheit  begleiteten  Urtheilens.  Wir  wissen,  dass 
wir  jetzt  diese,  jetzt  jene  Farbe  empfinden,  dass  wir  sie  an  diesen  Ort 
des  Raums  verlegen,  als  Farbe  dieses  bestimmten  erscheinenden  Gegen- 
standes ansehen  müssen;  ob  dieser  Gegenstand  blosse  Erscheinung,  oder 
ob  er  Erscheinung  eines  Seienden  und  eines  wie  beschaffenen  Seienden 
sei  —  darüber  kann  man  streiten,  und  je  nach  den  Voraussetzungen 
darüber  richtet  sich  der  Sinn ,  in  welchem  ein  thatsächliches  Urtheil 
wahr  ist. 


198. 199      §  31.    Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.        241 

7.  Dass  die  Nothwendigkeit,  ein  Pradicat  mit  einem  Sub- 
jecte  zu  verbinden,  in  verschiedener  Weise  ins  Be- 
wusstsein  tritt,  ist  nicbt  zu  bestreiten.  Eine  Menge  von 
unmittelbaren  Urtheilen  vollziehen  wir  mit  unbefangener,  un- 
reflectierter  Sicherheit,  welche  an  die  Möglichkeit  des  Irr- 
thumes,  des  Andersseins  gar  nicht  denkt;  die  absolute  Ge- 
wissheit, das  reine  Beruhen  in  unserem  Denkacte  ist  von 
demselben  unzertrennlich;  mit  solchen  Urtheilen  beginnt  all 
unser  Denken.  Die  Aussprüche  unseres  unmittelbaren  Selbst- 
bewusstseins,  wie  das  unmittelbar  Einleuchtende,  sei  es  der 
Anschauung  oder  des  allgemeinen  Urtheils,  sind  von  keinem 
Gefühle  des  Zwangs  begleitet,  wie  ihn  die  behauptete  Noth- 
wendigkeit voraussetzen  sollte,  noch  von  dem  Gedanken  an 
die  Unmöglichkeit  des  Gegentheils;  erst  gegenüber  dem  Ver- 
suche des  Widerspruchs  stellt  sich  dieses  Bewusstsein  ein. 
Zur  Gewissheit  anderer  Urtheile  gelangen  wir  auf  dem  Wege 
des  Zwangs,  indem  uns  alle  andern  Möglichkeiten  abgeschnitten 
werden;  und  hier  tritt  uns  zugleich  mit  dem  Urtheile  seine 
Nothwendigkeit  in  dem  Bewusstsein  dieses  Zwangs  entgegen. 
Wenn  man  also  Nothwendigkeit  als  Unmöglichkeit  des  Anders- 
seins definiert,  und  darin  das  Wesen  derselben  sieht,  so  kann 
man  sagen,  jene  Urtheile  seien  vom  Bewusstsein  der  Noth- 
wendigkeit nicht  begleitet,  nur  diese. 

Allein  jene  unmittelbare  Sicherheit  und  Gewissheit  ist 
vielmehr  die  ursprüngliche  und  ächte  Form,  in  welcher  die 
Nothwendigkeit  im  Gebiete  des  Denkens  erscheint;  in  ihr 
zeigt  sich  die  Form  und  Richtung,  in  welcher  die  volle  le- 
bendige Kraft  des  Denkens  wirkt,  und  diese  unmittelbare 
Evidenz  ist  durch  nichts  anderes  vollkommen  zu  ersetzen.  Der 
Versuch  eines  Widerspruchs  kann  wohl  dazu  dienen,  das  Vor- 
handensein jener  Sicherheit  zu  constatieren  und  das  Mass  der 
Kraft  zu  messen,  welche  in  einer  Behauptung  th'ätig  ist;  aber 
die  Einsicht,  dass  das  Gegentheil  unmöglich  sei,  setzt  in  der 
Regel  die  Gültigkeit  des  ursprünglichen  Satzes  schon  voraus; 
dass  A  ist  nicht  B  widersprechend  sei,  ist  unmittelbar  nur 
dann  klar,  wenn  fest  steht,  dass  A  B  ist;  die  doppelte  Ne- 
gation erzeugt  nicht  den  Satz,  sondern  umgeht  ihn  bloss,  in- 
dem   sie   ihn    abscheidet   von  seinem  Gegentheil ;    aber  sie  ist 

Sigwar  t  ,  Logik.    1.    2.  Auflage.  16 


242  1»  6«    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  199.  200 

die  Form,  in  welcher  uns  die  Wahrheit  zum  ausdrücklichen 
Bewusstsein  kommt,  indem  wir  uns  von  ihr  entfernen  und 
wieder  zu  ihr  zurückkehren.  Wie  die  Identität  erst  durch  die 
Verneinung  des  Anderen,  die  Bejahung  durch  Verneinung  der 
Verneinung  zum  ausdrücklichen  Bewusstsein  kommt,  so  die 
Nothwendigkeit  durch  die  Unmöglichkeit  des  Andersseins.  Aber 
in  den  Gedanken,  durch  welche  sie  sich  aufklärt,  ist  sie  selbst 
schon  enthalten ;  die  Verneinung  der  Verneinung  bestätigt  nur 
darum  die  Bejahung,  weil  dieser  Process  selbst  in  seinen  ein- 
zelnen Schritten  unmittelbar  gewiss  ist.  Jene  unreflectierte 
Nothwendigkeit  ist  das  rein  ursprüngliche,  das  in  all  unserem 
Denken  wirkt,  und  daher  niemals  in  jedem  Punkte  ins  Be- 
wusstsein erhoben  werden  kann. 

Wollte  man  assertorische  und  apodictische  Urtheile  so 
scheiden,  dass  bei  diesen  ihre  Nothwendigkeit  zum  ausdrück- 
lichen Bewusstsein  komme  und  darum  auch  im  sprachlichen 
Ausdrucke  erscheine,  bei  jenen  nur  ungeschieden  in  dem  Ur- 
theilsacte  selbst  liege:  so  wäre  damit  eine  wirklich  statt- 
findende Differenz  getroffen,  welche  zwar  nicht  den  Grad,  aber 
die  Art  der  Gewissheit  eines  Satzes  angeht;  nur  eine  Differenz, 
die  ganz  auf  psychologischem  Gebiete  sich  bewegt,  und  sagt 
was,  von  individuellen  Bedingungen  abhängig,  bei  demselben 
Urtheile  bald  so,  bald  anders  eintreten  kann,  und  eine  Diffe- 
renz, welche  das  gerade  Gegentheil  von  dem  bedeutet,  was 
die  Ausdrücke  sagen  sollen.  Denn  die  apodictische  Form  A 
muss  B  sein  erinnert  an  den  Zweifel  und  die  Denkbarkeit 
des  Gegentheils ;  sie  schreitet,  vorsichtig  sich  umsehend,  von  A 
zu  B  fort ;  die  assertorische  geht  geradeswegs  auf  ihr  Ziel  zu. 
Gerade  wo  ein  Urtheil  ein  erschlossenes  ist,  spricht  die  asser- 
torische Form  die  festere  Zuversicht  aus  als  die  apodictische, 
welche  gleichsam  auffordert,  den  Beweis  erst  zu  prüfen;  und 
jene  ist  also  überall  der  natürlichere,  weil  directere  Ausdruck 
auch  der  sog.  apodictischen  Gewissheit;  wie  denn  auch  die 
Logik  die  Schlusssätze  der  Syllogismen  in  assertorischer  Form 
auszusprechen  pflegt. 

Wollte  man  entgegenhalten,  es  werde  thatsächlich  viel 
ins  Blaue  hinein  behauptet,  wo  der  Sprechende  es  nicht  so 
genau  nehme  mit  der  Nothwendigkeit  seiner  Aussage:    so  ist 


200. 201      §  31.     Die  sogenannten  Unterschiede  der  Modalität.        243 

dies  ebenso  riclitig,  als  dass  viel  gelogen  wird ;  nur  widerlegt 
es  den  Satz  nicht,  dass  derjenige  Act,  für  den  die  ernsthafte 
Aussage  der  adäquate  Ausdruck  ist,  die  Nothwendigkeit  des 
Urtheils  mitbehaupte,  und  die  Aussage  von  Jedem  so  ver- 
standen werde.  Sonst  wäre  die  Rede  gedankenlos,  indem  sie 
Worte  ohne  Sinn  gebrauchte,  oder  mit  der  Lüge  behaftet,  wenn 
als  gewiss  hingestellt  wird,  was  dem  Redenden  selbst  nicht 
gewiss  ist.  Dass  im  Streite  der  Interessen  und  Parteien  in 
diesem  Sinne  viel  gelogen  wird,  geht  die  Logik  nichts  an,  welche, 
wie  das  Wahrdenken  wollen,  so  auch  das  Wahrredenwollen  vor- 
aussetzt. Ebenso  ist  zuzugeben,  dass  dieses  Wahrdenken-  und 
Wahrredenwollen  erst  allmählich  ein  bewusstes  Wollen  wird, 
und  zuerst  nur  als  ein  seiner  Ziele  unbewusster  Trieb  auftritt, 
aber  ehe  dieses  Bewusstsein  klar  ist,  wissen  die  Redenden  nicht 
was  sie  thun;  so  lange  ist  das  Urtheilen  thatsächlich  aber 
nicht  als  freies  und  bewusstes  vorhanden,  und  hat  seine  volle 
Reife  noch  nicht  gefunden. 

8.  Die  Nothwendigkeit  des  Denkens,  welche  in  der  Gewiss- 
heit des  einzelnen  Urtheilsacts  sich  manifestiert,  erhält  ihren 
eigenthümlichen  Charakter  zuletzt  von  der  Einheit  des 
Selbstbewusstseins.  Indem  jedes  einzelne  Urtheil  mit 
dem  Bewusstsein  der  Identität  des  Subjects  und  des  Prädicats 
wie  des  Urtheilsacts  wiederholbar  ist,  von  denselben  Voraus- 
setzungen immer  dieselbe  Synthese  sich  vollzieht,  und  unser 
Selbstbewusstsein  nur  mit  dieser  Constanz  bestehen  kann,  er- 
scheint unser  urtheilendes  Ich  mit  seiner  constanten  Thätigkeit 
als  ein  allgemeines  gegenüber  den  einzelnen  Urtheilsacten,  als 
das  Gleiche  und  Beharrliche,  welches  die  verschiedenen  zeitlich 
getrennten  Momente  unseres  Denkens  verknüpft.  Mit  der  Sicher- 
heit der  Bewegung  des  einzelnen  Falls  verknüpft  sich  das  Be- 
wusstsein der  unveränderten  Wiederholung,  der  Rückkehr  zu 
demselben;  an  dieser  Stetigkeit,  welche  dem  einzelnen  Acte 
gegenüber  ein  allgemeines  Gesetz  darstellt,  kommt  das  Ur- 
theilen ebenso  als  etwas  der  subjectiven  Willkür  und  dem  Anders- 
machenkönnen  entzogenes  zum  Bewusstsein,  wie  wenn  es  sich 
dem  Widerspruch  gegenüber  im  einzelnen  Acte  behauptet.  Diese 
Identität  und  Beharrlichkeit  unseres  Thuns  ist,  weil  Bedingung 
unseres  einheitlichen  Bewusstseins  überhaupt,    auch  das  letzte 

16  ♦ 


244  h  6-      Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  201.202 

Fundament,  auf  das  wir  zurückgehen  können;  und  so  lange, 
wie  in  dem  imreifen  Kindesalter,  diese  vollständige,  zusammen- 
fassende Besinnung  nicht  da  ist,  sind  auch  die  psychologischen 
Bedingungen  des  Urtheilens  nur  unvollständig  entwickelt;  und 
dasselbe  ist's  im  Traume,  wo  die  allseitige  Verknüpfung  fehlt. 

Somit  ergibt  sich,  dass  jeder  einzelne  Urtheilsact  durch 
den  Sinn,  in  welchem  er  sich  vollzieht,  auf  nothwendige  und 
allgemeingültige  Gesetze  zurückweist,  —  allgemeingültig  so- 
wohl für  das  einzelne  Subject  in  seinen  zeitlich  verschiedenen 
Momenten,  als  für  die  verschiedenen  denkenden  Subjecte,  mit 
denen  wir  in  der  Gemeinschaft  des  Denkens  stehen,  Gesetze, 
welche  zunächst  unbewusst  bleibend  nur  die  Sicherheit  des 
Urtheils  wirken,  ins  Bewusstsein  erhoben,  die  fundamentale 
Anschauung  eines  Nothwendigen  geben. 

9.  Die  Nothwendigkeit  des  Denkens,  welche  in  der  Ge- 
wissheit des  einzelnen  Urtheilsacts  und  der  Stetigkeit  in  seiner 
Wiederholung  ursprünglich  zu  Tage  tritt,  ist  etwas  durchaus 
Positives,  die  unmittelbare  Wirkungsweise  der  Intelligenz,  die 
Form  unseres  Selbstbewusstseins  selbst,  und,  zum  Bewusstsein 
gebracht,  eine  unmittelbare  Anschauung,  so  gut  wie  der  Ge- 
danke des  Ich  oder  des  Seins.  Sie  ist  darum  zugleich  das 
Mass  der  anderen  Begriffe,  der  Möglichkeit  und  Unmöglichkeit. 
Möglich  ist  im  Gebiete  des  Urtheilens  dasjenige,  was  weder 
zu  bejahen  noch  zu  verneinen  nothwendig  ist ;  der  Einfall,  der 
Versuch,  der  sich  nicht  zum  entscheidenden  Urtheüe  vollen- 
den und  nicht  in  die  Einheit  des  Selbstbewusstseins,  in  das 
feste  Gefüge  dessen,  was  ebenso  gewiss  ist,  wie  mein  eigenes 
Sein,  aufgenommen  werden  kann.  Die  blosse  Möglichkeit  ist 
eine  Privation.  Das  Unmögliche  dagegen  ist  in  doppeltem 
Sinn  zu  nehmen ;  was  unmöglich  zu  denken  wäre,  würde  eben- 
darum gar  nicht  gedacht,  höchstens  in  Worten  ausgesprochen; 
den  Worten  »der  Kreis  ist  viereckig«  entspricht  kein  vollzieh- 
barer Gedanke,  und  in  demselben  Sinn  meint  Aristoteles,  es 
sei  unmöglich  zu  denken,  dass  dasselbe  zugleich  sei  und  nicht 
sei;  »denn  es  ist  nicht  nöthig,  das,  was  man  sagt,  auch  an- 
zunehmen.« Diesem  Unmöglichen  steht  das  Mögliche  gegen- 
über, das  nothwendig  verneint  werden  muss,  die  Hypothesis, 
die  als  solche  vollziehbar  ist,    wenn  man  sie    isoliert    nimmt, 


202.  203  §  31.    Das  Gesetz  des  Grundes.  245 

welche  zu  behaupten  aber  mit  einem  gültigen  Satze  streiten 
und  so  das  Denken  entzweien  würde.  Dieses  Unmögliche  hat 
seine  Stelle  nur  in  dem  Gebiete  des  vermittelten  ürtheilens; 
weil  die  Unvereinbarkeit  des  Prädicats  mit  dem  Subject  nicht 
analytisch  erkannt  wird,  kann  seine  Vereinbarkeit  gedacht, 
der  Satz  sogar  vorübergehend  angenommen  werden,  so  lange 
die  entgegenstehende  Wahrheit  dem  Bewusstsein  entschwunden 
ist;  die  durchgängige . Beziehung  unserer  Urtheile  aufeinander 
erst  verneint  das  Mögliche.  Nur  in  diesem  Sinne  trifft  die 
Leibniz'sche  Unterscheidung  zu,  dass  die  Verneinung  der  noth- 
wendigen  Wahrheiten  unmöglich,  die  der  thatsächlichen 
möglich  sei.  Man  kann  sie  aufzustellen  versuchen,  aber  das 
Gegebene  versagt  ihnen  die  Bestätigung  und  zwingt  sie  zu 
verneinen. 

10,  Aus  dem  Obigen  geht  nun  hervor,  dass  eine  wirk- 
liche Bejahung  oder  Verneinung,  d.  h.  ein  mit  dem  Bewusst- 
sein der  Gültigkeit  ausgesprochenes  Urtheil  nur  für  den 
möglich  ist,  für  den  es  nothwendig  ist ;  für  das  Urtheil  selbst 
fallen  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit  vollkommen  zusammen. 
Eine  Hypothesis  dagegen  ist  möglich,  wenn  und  solange 
es  nicht  nothwendig,  ^Iso  unmöglich  ist  sie  entweder  zu  be- 
jahen oder  zu  verneinen.  Sie  ist  —  als  Ausdruck  eines  sub- 
jectiven  Zustandes  der  Unentschiedenheit  —  allerdings  in  ge- 
wissem Sinne  ein  Drittes  zu  Bejahung  und  Verneinung;  aber 
ebendarum  kein  Urtheil. 

§  32. 
Das    sog.    Gesetz    des    Grundes    ist   in  seiner  ur-' 
sprünglichen   Fassung    bei    Leibniz   kein    logisches    Gesetz, 
sondern  ein  metaphysisches  Axiom,  das  nur  auf  einen 
Theil  unserer  Urtheile  Bezug  hat. 

Sofern  jedes  Urtheil  die  Gewissheit  seiner  Gültigkeit  vor- 
aussetzt, kann  der  Satz  aufgestellt  werden,  es  werde  kein 
Urtheil  ausgesprochen  ohne  einen  psychologi- 
schen Grund  seiner  Gewissheit;  und  sofern  es  nur 
berechtigt,  ist,  wenn  es  logisch  nothwendig  ist,  behauptet 


246  I.  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  203.  204 

jedes  ürtheil  einen  logischen  Grund  zu  haben, 
der  es  für  jeden  Denkenden  nothwendig  macht.  Es  erhebt 
aber  damit  nur  einen  Anspruch,  dessen  Recht  zu  untersuchen 
eben  Aufgabe  der  Logik  ist. 

Das  Wesen  der  Nothwendigkeit  im  Denken 
spricht  der  Satz  aus,  dass  mit  dem  Grunde  die  Folge 
nothwendig  gesetzt,  mit  der  Folge  der  Grund 
aufgehoben  sei.  Dieser  Satz  vom  Grund  und  der  Folge 
entspricht  dem  Satze  des  Widerspruchs  als  ein  fundamentales 
Functionsgesetz  unseres  Denkens. 

1 .  Die  Ergebnisse  dgs  vorigen  Paragraphen  scheinen  sich 
ganz  von  selbst  in  dem  Satze  auszusprechen,  dass  nicht  ge- 
urtheilt  werden  koifne  ohne  Grund;  denn  unter 
Grund  versteht  man  ja  eben  dasjenige,  was  ein  ürtheil  noth- 
wendig macht.  So  ergäbe  sich  aus  der  Analyse  des  ^iimes,  W 
in  welchem  ]  jedes  ürtheil  überhaupt.  I  vollzogen  und  ausge- 
sprochen wird,  das  vierte  der  sogenannten  Denkge- 
setze  von  selbst ;  es  spräche  die  ganz  allgemeine  Eigenschaft 
alles  ürtheilens  überhaupt  aus,  dass  im  Glauben  an  die  Gül- 
tigkeit des  Urtheils  zugleich  der  Glaube  an  seine  Nothwendig- 
keit liegt. 

2.  Das  Gesetz  des  Grundes  ist  übrigens  in  verschie- 
denem Sinne  verstanden  worden,  und  hat  darin  das  Schicksal 
der  anderen  sog.  Denkgesetze  getheilt.  Leibniz  hat  es 
zuerst  ausdrücklich  als  oberstes  Princip  neben  dem  Princip 
des  Widerspruchs    aufgestellt,     »unsere    Schlüsse,    sagt   er*), 


*)  Princ.  phil.  31  ff.  Erdm.  707:  Nos  raisonnements  sont  fond^s 
siir  deux  grands  principes,  celui  de  la  Contradiction  ...  et  celui  de  la 
Eaison  süffisante,  en  vertu  duquel  nous  consid^rons  qu'aucun  fait  ne 
saurait  se  trouver  vrai  ou  existant,  aucune  enontiation  veritable ,  sans 
qu'il-j-ait  une  raison  süffisante  ponrquoi  il  en  soit  ainsi  et  non  pas 
autrement,  quoique  ces  raisons  le  plus  souvent  ne  puissent  point  nous 
etre  connues.  Dasselbe  hatte  Leibniz  früher  De  scientia  universali 
('Erdm.  p.  83)  so  formuliert;  Omnie  veritatis  (quae  immediata  sive 
identica  non  est)  reddi  posse  rationem ,  hoc  est  ,  notionem  praedicati 
semper  notioni  sui  subjecti  vel  expresse  vel  implicite  inesse ;  er  hatte 
darunter    also  ein   rein  logisches  Princip   verstanden,   vermöge   dessen 


204.205  §  32.    Das  Gesetz  des  Grundes.  247 

sind  auf  zwei  grosse  Principien  gegründet,  das  des  Wider- 
spruchs .  .  .  und  das  der  ratio  sufficiens,  kraft  dessen  wir 
annehmen,  dass  kein  Factum  wahr  oder  wirklich,  kein  Satz 
wahr  sei,  ohne  dass  es  einen  zureichenden  Grund  gäbe,  warum 
es  so  sei  und  nicht  anders,  obgleich  diese  Gründe  in  den 
meisten  Fällen  uns  unbekannt  sein  können.«  Es  ist  leicht,  in 
dieser  Fassung  die  zwei  Seiten  zu  unterscheiden,  dass  nemlich 
theils  von  der  wirklichen  Existenz  von  realen  Dingen  und 
Vorgängen,  theils  von  der  Wahrheit  von  Sätzen  die  Rede  ist ; 
allein  sobald  man  sich  erinnert,  dass  Leibniz  nur  die  that- 
sächlichen  Wahrheiten,  d.  h.  die  Wahrheit  der  Sätze,  welche 
eine  Thatsache  aussagen ,  auf  dieses  Princip  gründen  will,  H  ^ 
während  die  nothwendigen  Wahrheiten  auf  dem  Princip  des 
Widerspruchs  ruhen,  und  dass  ihm  die  letzte  ratio  sufficiens 
immer  der  göttliche  Wille  ist,  so  ist  klar,  dass  diese  Unter- 
scheidung nichts  bedeutet,  und  das  Princip  von  Leibniz  nichts 
anderes  als  das  reale  Causalprincip  ist,  dass  die  Existenz  jedes 
wirklichen  Dings  und  die  Wirklichkeit  jedes  Vorgangs  eine 
Ursache  haben  müsse;  denn  die  Sätze,  welche  Thatsachen  aus- 
sprechen, begründen  ja  ihre  Wahrheit  auf  die  Wirklidikeit 
derselben,  ihre  Wahrheit  hängt  also  davon  ab,  dass  das  Aus- 
gesagte wirklich  ist,  dessen  Wirklichkeit  aber  von  der  zu- 
reichenden Ursache;  wenn  ich  also  den  realen  Grund  einer 
thatsächlichen  Wahrheit  angebe,  nenne  ich  die  Ursache,  welche 
das  Wirkliche  hervorgebracht  hat.     Ebendaraus  erhellt    aber 


alle  nicht  identischen  Sätze  erst  insofern  wahr  seien,  als  ihre  Noth- 
wendigkeit  syllogistisch  erwiesen  sei.  An  andern  Stellen  dagegen  hebt 
er  nur  die  metaphysische  Seite  hervor;  so  Theod.  44  (Erdm.  p.  515): 
.  .  .  l'autre  principe  est  celui  de  la  raison  d^terminante,  c'est  que  ja- 
mais  rien  n'arrive,  sans  qu'il-y-ait  une  cause  ou  du  moins  une  raison 
determinante,  c'est-ä-dire  quelquechose  qui  puisse  servir  k  rendre  raison 
a  priori,  pourquoi  cela  est  existant  plutot  que  non,  et  de  teile  plutot 
que  de  toute  autre  fa9on.  Ce  grand  principe  a  lieu  dans  tous  les  evene- 
ments.  .  .  Pr.  de  la  nature  et  de  la  Grace  §  7  (Erdm.  p.  716):  rien 
ne  se  fait  sans  raison  süffisante  cfr.  Trois.  ^crit  k  Mr.  Clarke  (Erdm. 
p.  751).  Im  fünften  Schreiben  an  Clarke  dagegen  §  125  (Erdm.  p. 
778)  erscheint  wieder  die  volle  Formel:  Ce  principe  est  celui  du  besoin 
d'une  raison  süffisante,  pour  qu'une  chose  existe,  qu'un  evönement  arrive, 
qu'une  verite  ait  lieu. 


24^8  h  6-    Möglichkeit  und'  Nothwendigkeit.  205. 206 

auch,  wie  wenig  Recht  man  hatte,  nun  daraus  ein  schlechthin 
allgemeines  logisches  Gesetz  zu  machen,  das  neben  dem  Ge- 
setze des  Widerspruchs  in  /ße^^eff  derselben  Sätze  gälte,  welche 
auch  unter  dem  Gesetze  des  Widerspruchs  stehen,  und  in  dem 
Leibniz' sehen  Satze  einen  logischen  Grund  zu  suchen,  der 
von  der  realen  Ursache  verschieden  wäre.  Das  ist  schon  durch 
die  wiederholte  Bemerkung  ausgeschlossen,  dass  uns  die  Ratio 
sufficiens  häufig  unbekannt  sein  könne.  Dies  gilt  ja  nur  von 
der  realen  Ursache ;  ein  logischer  Grund,  den  wir  nicht  kennen, 
ist  streng  genommen  ein  Widerspruch ;  denn  er  wird  erst  ein  ^ 
logischer  Grund  dadurch,  dass  wir  ihn  kennen.  Nur  wenn 
man  in  der  Fiction  lebt,  als  könnte  ein  Urtheil  wahr  sein, 
abgesehen  davon,  dass  irgend  eine  Intelligenz  dieses  Urtheil 
denkt,  kann  man  auch  den  Grund  als  irgendwo  im  Leeren  vor- 
handen annehmen. 

Wer  also  als  logisches  Gesetz  aufstellt:  Es  solle  nichts 
gedacht  werden  ohne  Grund,  meint  jedenfalls  etwas  ganz 
Anderes  als  Leibniz  gemeint  hat. 

3.  Unterscheidet  man  von  der  realen  Ursache  den  Grund 
des  Ürtheils,  von  demjenigen,  was  das  Dasein  und  Sosein  eines 
Seienden  nothwendig  macht,  dasjenige,  worauf  das  Urtheil  als 
Denkact  ruht:  so  kann  immer  noch  das  Wort  »Grund«  in  sehr 
verschiedenem  Sinn  genommen  werden. 

Von  einer  Seite  nemlich  fällt  jedes  Urtheil,  als  ein  wirk- 
liches, psychologisches  Ereigniss  in  einem  denkenden  Individuum 
genommen,  selbst  unter  den  Gesichtspunkt  eines  Seienden, 
und  es  kann  insofern  der  Begriff  des  Causalverhältnisses  und 
der  Grundsatz  darauf  angewendet  werden,  dass  jeder  Vorgang 
seine  zureichende  Ursache  haben  müsse.  Die  Ursache  eines 
Urtheilsacts  muss  zunächst  auf  psychologischem  Gebiete  ge- 
sucht werden,  sofern  ein  Urtheil  nur  möglich  ist,  w^o  gewisse 
Vorstellungen  dem  Bewusstsein  gegenwärtig  sind,  und  die 
psychologische  Ursache  eines  Ürtheils  ist  also  der  Gesammtbe- 
stand  desjenigen,  woraus  gerade  dieser  Urtheilsact  mit  Noth- 
wendigkeit hervorgieng;  principaliter  also  das  urtheilende 
Subject  selbst  mit  seinem  Denkvermögen,  und  den  Gesetzen, 
welche  dieses  Vermögen  in  seinen  Aeusserungen  beherrschen, 
weiterhin  die  bestimmten  Zustände  und  vorausgegangenen  Acte, 


206.  207  §  32.     Des  Gesetz  des  Grundes.  249 

aus  welchen  dieses  bestimmte  ürtheil  zu  Stande  kommt.     Zu 
diesen  gehört: 

a.  Dass  sowohl  die  Subjects  vor  Stellung  als  die  Prädicats- 
vorstellung  im  Bewusstsein  gegenwärtig  war  (und  diese  Ge- 
genwart im  Bewusstsein  weist  auf  weiter  zurückliegende 
Ursachen  hin,  die  als  causae  remotiores  des  Urtheils  gelten 
können,  und  unter  denen  der  von  einem  Interesse  geleitete 
Wille  einen  Gegenstand  zu  erkennen  und  über  denselben  nach- 
zudenken eine  der  wichtigsten  ist). 

b.  Dass  zwischen  Subjects-  und  Prädicatsvorstellung  eine 
Synthese  sich  einleitete,  sei  es  dass  vermöge  ihrer  Ueberein- 
stimmung  die  Denkthätigkeit  nach  den  ihr  einwohnenden  Ge- 
setzen sie  verknüpft ,  sei  es  dass  in  der  Art,  wie  sie  in's  Be- 
wusstsein treten,  ihre  Synthese  zugleich  aufgegeben  war  und 
zunächst  der  Gedanke  ihrer  möglichen  Verknüpfung  entstand. 

c.  Dass  im  letzteren  Falle  ein  Ereigniss  eintritt,  welches 
die  Entscheidung  in  bejahendem  oder  verneinendem  Sinne  her- 
beiführt und  damit  auch,  sofern  jedes  ürtheil  zugleich  das 
Bewusstsein  seiner  Gültigkeit  in  sich  schliesst,  die  factische 
Gewissheit  als  Gemüthszustand  psychologisch  erklärt. 

In  dieser  Hinsicht  .^ind  zunächst  unter  den  unmittel- 
baren Urtheilen  diejenigen,  welche  bloss  Vorgestelltes 
verknüpfen,  zu  unterscheiden  von  denen,  welche  das  Seiende 
treffen  wollen.  Während  dort  für  die  unmittelbaren  Urtheile 
das  Princip  der  Uebereinstimmung  (als  Ausdruck  eines  Be- 
wegungsgesetzes für  unser  Denken)  genügt,  um  sowohl  die 
Synthese  als  ihre  Gewissheit  zu  erklären,  gehen  diejenigen, 
welche  etwas  über  Seiendes  aussagen  wollen,  wie  z.  B.  die 
Wahrnehmungsurtheile  (es  blitzt  —  dieses  Eisen  ist  heiss), 
auf  compliciertere  Voraussetzungen  zurück.  Indem  ihre  Ver- 
anlassung eine  momentane  Empfindung  oder  ein  Complex  von 
Empfindungen  ist  (die  ihrerseits  auf  eine  Reihe  von  Ursachen 
zurückweist,  welche  mich  in  die  Lage  gebracht  haben,  eben  so 
sinnlich  afficiert  zu  werden),  fällt  unter  die  Ursachen  des  Ur- 
theils über  einen  factischen  Thatbestand  auch  der  Inbegriff 
all  der  psychologischen  Kräfte,  welche  aus  Empfindungen  die 
Vorstellungen  wirklicher  I)inge  mit  ihren  Eigenschaften  immer 
aufs  neue  erzeugen  und  in  jedem  einzelnen  Falle  die  Gewiss- 


250  I.  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  207.  208 

heit,  dass  wir  Seiendes  wahrnehmen  und  erkennen,  herbei- 
führen; das  Princip  der  Uebereinstimmnng  erklärt  nur,  wie 
wir  das  eben  Angeschaute  mit  einer  früheren  Vorstellung 
identificieren ,  niemals  aber  die  üeberzeugung  von  der  realen 
Wirklichkeit  der  Dinge  überhaupt,  noch  die  üeberzeugung, 
dass  wir  eben  jetzt  ein  thatsächlich  wahres  Urtheil  aussprechen. 
Während  also  für  die  bloss  erklärenden  Urtheile  mit  den 
Ursachen  des  Zustandekommens  und  Bewusstwerdens  der  Vor- 
stellungen und  dem  Princip  der  Uebereinstimmung  alles  er- 
schöpft ist,  fordern  die  andern  für  den  Glauben  an  die  Rea- 
lität der  Dinge  ihre  besonderen  Erklärungen.  Es  ist  leicht 
zu  sehen,  dass  hier  der  Kantische  Unterschied  zwischen  ana- 
lytischen und  synthetischen  Urtheilen  wiederkehrt,  und  die 
Bedeutung  der  Frage  erhellt,  wie  synthetische  Urtheile  (im 
Kantischen  Sinne)  möglich  sind;  und  ebenso,  dass  mit  der 
Anerkennung  der  factischen  Ursachen  der  Erzeugung  des 
Glaubens  an  die  Wirklichkeit  und  die  thatsächliche  Gültig- 
keit unserer  Wahrnehmungsurtheile  noch  nichts  über  das 
Recht  dieses  Glaubens  ausgemacht  ist;  denn  es  sind  ebenso 
factische  Ursachen,  welche  uns  allen  Sonne  und  Mond  beim 
Aufgang  "*  grösser  erscheinen  lassen  als  im  Meridian. 

Was  aber  die  vermittelten  Urtheile  betrifft:  so 
besteht  die  Vermittlung,  welche  die  Entscheidung  herbeiführt, 
nicht  nur  in  Voraussetzungen,  welche  sich  selbst  in  Form  von 
Urtheilen  aussprechen  lassen,  wie  die  Obersätze  von  eigent- 
lichen Schlüssen,  sondern  ebenso  in  unbewussten  Gewohnheiten 
der  Combination  und  in  der  Macht  von  Autoritäten,  welche 
in  nicht  analysierbaren  Eindrücken  wurzelt. 

In  der  Gesammtheit  der  psychologischen  Beding- 
ungen kann  nun  unterschieden  werden:  1.  die  Veran- 
lassung, welche  überhaupt  Subject  und  Prädicat  ins  Be- 
wusstsein  bringt,  bei  vermittelten  Urtheilen  also  die  Frage 
erzeugt;  2.  der  Grund  der  Entscheidung,  auf  welchen 
hin  das  Urtheil  vollzogen  und  die  subjective  Synthesis  als 
objectiv  gültig  ausgesprochen  wird,  der  also  zugleich  der 
Grund  der  subjectiven  Gewissheit  des  Urtheils  ist.  Von  der 
Veranlassung,  welche  dem  Inhalt  des  Gedachten  gegenüber 
zufällig   sein    und    ganz    von  aussen  herantreten  kann,  hängt 


208.209  §  32.     Das  Gesetz  des  Grundes.  251 

der  "Wechsel  der  Objecte  unseres  ürtheilens  ab;  der  Grund 
der  Entscheidung  aber  führt  immer  zuletzt  auf  eine  gesetz- 
mässig  wirkende  psychische  Kraft  zurück,  und  ein  einzelnes 
psychologisches  Ereigniss  kann  immer  nur  insofern  als  Grund 
genannt  werden,  als  es  vermöge  eines  constanten  Zusammen- 
hangs das  Urtheil  herbeiführt.  So  ist  im  unmittelbaren  ana- 
lytischen Urtheil  die  Subjectsvorstellung  der  Grund  der  Bei- 
legung des  Prädicats,  aber  nur  sofern  vermöge  des  Princips 
der  Uebereinstimmung  die  Gegenwart  übereinstimmender  Sub- 
jecte  und  Prädicate  ihre  Synthese  nothwendig  herbeiführt. 

5.  Von  diesem  psychologischen  Grunde  der 
Gewi  SS  h  ei  t  gilt  das  Gesetz:  Es  wird  kein  Urtheil 
vollzogen  ohne  Grund,  d.  h.  ohne  dass  das  Bewusst- 
sein  seiner  Gültigkeit  irgendwie  erzeugt  worden  wäre;  es  wird 
also  auch  kein  Satz  ohne  Verletzung  der  Wahrhaftigkeit  aus- 
gesprochen, der  nicht  vom  Bewusstsein  der  Gültigkeit  des 
Urtheils  begleitet  ist.  Das  liegt  im  Wesen  des  Urtheils  selbst, 
sofern  es  die  Gültigkeit  einer  Synthese  behauptet,  und  darin, 
dass  ein  rein  willkürlicher  Act,  ein  sie  volo,  sie  jubeo,  das 
Bewusstsein  der  Gültigkeit  nicht  zu  erzeugen  vermöchte,  in 
dem  ja  eben  liegt,  dass  die  Synthese  nicht  willkürlich  sei. 
Es  ist  aber  damit  nicht  gesagt,  dass  der  Grund  immer  ein 
bewusster  sei,  sobald  das  Urtheil  ausgesprochen  ist. 

6.  Wenn  nun  aber  jedes  Urtheil,  das  in  seinem  vollen 
Sinne  ausgesprochen  und  verstanden  wird,  behauptet  noth- 
w endig  zu  sein :  so  meint  es  nicht  diese  psychologische 
Not  hwendigkeit,  sondern  es  meint  die  objective 
Wahrheit;  und  der  Grund  seiner  Gewissheit,  dessen  Vor- 
handensein implicite  mitbehauptet  wird,  ist  nicht  dieser  in- 
dividuelle, sondern  ein  allgemeingültiger,  der  für  Jeden  das 
Urtheil  nothwendig  machen  soll,  und  der  nur  in  dem  Vor- 
gestellten als  solchen  liegen  kann,  weil  nur  dieses,  nicht  die 
individuelle  Stimmung  u.  s.  w.  ein  für  alle  Gemeinsames  sein 
kann.  Dieser  allein  ist  der  logische  Grund,  der  Grund 
der  Wahrheit  im  Unterschiede  vom  Grunde  der  Gewissheit. 
Aller  Irrthum  und  Streit  beruht  zuletzt  auf  der  Differenz  des 
psychologischen  Grundes  der  Gewissheit  vom  Grunde  der  Wahr- 
heit;   auf  der  Möglichkeit,  dass  der  momentane  Glaube  irren 


252  I,  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  209.  210 

und  das  augenblickliche  Gefühl  der  Gewissheit  täuschen  könne. 
In  dieser  Hinsicht  gilt  das  Gesetz,  dass  kein  Satz  wahr 
sei  ohne  Grund;  aber  ebendarum  fällt  die  Untersuchung, 
was  ein  logischer  Grund  sei,  und  unter  welchen  Bedingungen 
ein  Satz  mit  Recht  behauptet  werde,  ausserhalb  unserer  jetzi- 
gen Aufgabe.  Die  Analyse  des  Urtheils  hatte  nur  zu  con- 
statieren,  dass  im  Sinne  jeder  Aussage  liegt,  dass  sie  einen 
logischen  Grund  haben  wolle;  und  dass  darin  zugleich  die 
Aufgabe  liegt,  sich  des  Grundes  bewusst  zu  werden. 

7«  Eine  Unterscheidung  ist  übrigens  schon  hier  zu  machen, 
welche  sich  auf  die  Thatsache  bezieht,  dass  wir  im  Denken 
immer  schon  an  unwillkürlich  und  reflexionslos  Entstandenes 
anknüpfen.  Eine  absolute  Nothwendigkeit  käme  nem- 
lich  nur  denjenigen  Urtheilen  zu,  welche  jedes  urtheilsfähige 
Wesen  als  solches  aus  sich  selbst  entwickeln  müsste,  in  der 
Weise,  dass  sowohl  die  darin  verknüpften  Vorstellungen  als 
ihre  Verknüpfung  unfehlbar  sich  einstellten,  wie  es  also  jede 
Theorie  voraussetzen  muss,  die  auf  angeborene  Ideen  im  alten 
und  ursprünglichen  Sinn  und  angeborene  Wahrheiten  zurück- 
geht. Der  Grund  dieser  Urtheile  ist  die  Vernunft  selbst,  und 
in  Beziehung  auf  sie  könnte  es  keine  Differenz  zwischen 
logischem  und  psychologischem  Grunde  geben.  Andern  Ur- 
theilen kommt  aber  nur  hypothetische  Nothwendig- 
keit zu,  d.  h.  es  ist  logisch  nothwendig,  sie  zu  behaupten, 
vorausgesetzt  dass  anderes  in  unserem  Bewusstsein  vorange- 
gangen ist.  Soweit  es  also  von  äusseren  Bedingungen  abhängt, 
welche  Vorstellungen  in  einem  Subject  entstehen,  und  welche 
sich  im  Denken  begegnen,  ist  wohl  das  Urtheil  A  ist  B  noth- 
wendig, sobald  A  und  B  im  Bewusstsein  sind  und  überein- 
stimmen ;  aber  dass  es  überhaupt  gedacht  werde,  ist  nicht  all- 
gemein und  absolut  nothwendig.  Nur  sofern  wir  ein  idea- 
les Denken  fingieren,  das  alle  Wahrheit  umfasst,  ist  die 
logische  Nothwendigkeit  zugleich  eine  reale,  die  wirkliches 
Denken  hervorbringt;  für  den  Einzelnen,  dessen  Denken  wollen 
auf  jenes  Ideal  gerichtet  ist,  ist  sie  eine  moralische,  durch 
sein  Können  bedingte. 

Während  man  nun  von  einer  Seite  nur  das  als  Grund  im 
vollen  und  wahren  Sinne  könnte  gelten  lassen,  was  selbst  noth- 


210  §  32.    Das  Gesetz  des  Grundes.  253 

wendig  zu  denken  ist,  so  lässt  sich  andererseits  jede  factische 
Voraussetzung  als  Grund  ansehen,  sofern  angenommen  wird, 
dass  aus  ihr  mit  logischer  Nothwendigkeit  ein  weiteres  Urtheil 
hervorgeht.  Ja  man  kann  noch  einen  Schritt  weiter  gehen, 
und  ein  Verhältniss  von  Grund  und  Folge  zwischen  Sätzen 
aufstellen,  die  nur  als  Hypothesen  gedacht  werden,  in  Beziehung 
auf  welche  also  nicht  einmal  die  psychologische  Gewissheit 
vorhanden  ist.  Eine  Hypothese  ist  Grund  in  Beziehung  auf 
eine  andere  Hypothese  heisst  dann :  wenn  die  erstere  als  wahr 
angenommen  wird,  muss  auch  die  letztere  als  wahr  angenommen 
werden.  Dort  bedeutet  also  Grund  dasjenige,  was,  sobald  es 
wirklich  mit  Bewusstsein  gedacht  wird,  ein  Urtheil  zu 
vollziehen  nöthigt;  hier  bedeutet  Grund  die  Hypothese,  die, 
sobald  sie  als  gültig  angenommen  wird,  eine  weitere  Hypo- 
these als  gültig  zu  erklären  zwingt. 

Von  dem  Grunde  in  diesem  letzteren  Sinne 
gilt  das  Gesetz,  das  Aristoteles  *)  formuliert  hatte ,  und  das 
später  nur  als  Princip  der  hypothetischen  Schlüsse  eine  Stelle 
fand:  Mit  dem  Grunde  ist  die  Folge  gesetzt,  mit 
der  Folge  der  Grund  aufgehoben.  Diese  Formel  drückt 
nichts  als  das  Wesen  und  den  Sinn  der  logischen  Nothwendig- 
keit aus,  in  ähnlicher  Weise  wie  der  Satz  des  Widerspruchs 
das  Wesen  der  Verneinung;  er  sagt,  wenn  der  Satz  A  als 
Grund  von  B  anerkannt  ist,  so  muss  mit  der  Bejahung  von  A 
auch  B  bejaht,  mit  der  Verneinung  von  B  auch  A  verneint 
werden.  Dieses  Gesetz  allein  verdient  eine  Stelle  neben  dem 
Satze  des  Widerspruchs,  weil  es  ebenso  eine  fundamentale  Be- 
wegungsform unseres  Denkens,  das  Fortschreiten  nach  noth- 
wendigen  Zusammenhängen  trifft;  aber  ebenso  unentschieden 
lässt,  ob  Grund  oder  Folge  wahr  sei,  wie  der  Satz  des  Wider- 
spruchs unentschieden  lässt,  welche  der  entgegenstehenden  Be- 
hauptungen gelte. 

8.  Die  reale  Causalität  darf  mit  dem  logischen  Ver- 
hältniss von  Grund  und  Folge  in  keiner  Weise  vermengt  wer- 


*)  Aristot.  Anal.  pr.  II,  4.  57  b  1 :  "Oxav  Söo  lyr^  ofjxto  upög  oXk-rika. 
woTS  O-axdp&u  övxos  dg  dcvdcYXYjg  slvat  0-dxspov,  xoinou  jxyj  ovxo?;  [i^v  ouSs  O-dxspov 
loxat,  Svxog  5'  oijx  dvdyx')']  sTvat  •9-dxspov. 


254  I.  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  211 

den;  denn  der  Satz,  dass  jedes  Ding  oder  jede  Veränderung 
ihre  Ursache  habe,  verhält  sich  in  Beziehung  auf  die  logische 
Nothwendigkeit  unserer  ürtheile  nicht  anders  als  jeder  andere 
allgemeine  Satz,  der  uns  als  Grund  für  weitere  Behauptungen 
dient,  oder  uns  erlaubt,  mit  logischer  Nothwendigkeit  von 
einem  Satz  auf  einen  andern  zu  schliessen.  Wenn  wir  den 
Ausdruck  »Grund«  auch  von  realer  Causalität  brauchen  und 
sagen,  die  Anziehungskraft  der  Erde  sei  der  Grund  des  Fallens 
der  Körper,  so  ist  damit  zunächst  nur  ausgesprochen,  dass 
realiter  das  eine  das  andere  hervorbringe.  Sofern  aber  das 
erkannte  Causalverhältniss  uns  befähigt  und  nöthigt,  aus  dem 
Stattfinden  der  Ursache  auch  das  Stattfinden  der  Wirkung 
abzuleiten,  ist  jene  Erkenntniss  ein  logischer  Grund,  und  die 
Annahme  des  Causalverhältnisses  der  einzige  Weg,  von  der 
Wahrheit  einer  Thatsache  auf  die  Wahrheit  einer  andern, 
davon  verschiedenen  Thatsache  zu  kommen;  die  Sätze  also, 
welche  Causalverhältnisse  aussprechen ,  spielen  eine  grosse 
Rolle  unter  unsern  logischen  Gründen,  allein  bei  weitem  nicht 
jeder  logische  Grund  ruht  auf  einem  Causalverhältniss,  und 
noch  weniger  ist  die  Richtung,  in  welcher  unsere  ürtheile 
von  einander  abhängen,  irgendwie  dieselbe,  in  welcher  die 
reale  Causalität  wirkt;  vielmehr  bleibt  die  Unterscheidung 
des  Erkenntnissgrundes  und  des  Kealgrundes  bestehen,  und 
findet  Anwendung,  so  oft  aus  der  Wirkung  die  Ursache  er- 
kannt wird. 

9.  Von  dem  logischen  Grunde  unterscheiden  sich  zuletzt 
die  Wahrscheinlichkeitsgründe,  welche  unter  ver- 
schiedenen Hypothesen,  deren  keine  wir  zu  behaupten  den  zu- 
reichenden Grund  haben,  der  einen  vor  der  andern  den  Vor- 
zug geben,  indem  sie  die  Erwartung,  dass  die  eine  gültig  sei 
und  als  solche  sich  erweisen  werde,  lebhafter  machen.  Sie 
haben  darum  zunächst  theils  nur  psychologischen  Werth, 
theils  sind  sie  von  practischer  Bedeutung,  wo  es  aus  practi- 
schen  Gründen  nothwendig  ist,  auch  aufs  Ungewisse  zu  ent- 
scheiden; welche  Bedeutung  ihnen  in  dem  Werden  unserer 
Erkenntniss  zukommt,  kann  erst  im  dritten  Theile  unter- 
sucht werden. 


212  §  33.    Die  reale  Noth wendigkeit.  255 

II.    Möglich   und   nothwendig   als   Prädicate   in    wirklichen 

ürtheilen. 

§  33. 

Nothwendig  in  objectivem  Sinne  ist  immer  zu- 
letzt ein  Prädicat  des  in  einem  Urtheil  Ausge- 
sprochenen; nothwendig  ist  entweder,  dass  ein  Ding  sei, 
oder  dass  es  bestimmte  Eigenschaften  habe,  Thätigkeiten  aus- 
übe, in  bestimmten  Relationen  stehe.  Diese  Noth  wendigkeit 
ist  entweder  eine  innere  des  Wesens,  oder  eine 
äussere  der  Causalität;  immer  aber  eine  hypothe- 
tische. Erkennbar  ist  sie  nur  in  der  Form  allge- 
meiner Regeln,  unter  denen  das  Einzelne  steht;  umge- 
kehrt wollen  die  unbedingt  allgemeinen  Urt heile 
diese  Nothwendigkeit  ausdrück  en. 

1.  Während  das  assertorische  ürtheil  kein  wesentlicher, 
in  ihm  selbst  gelegener  TJnterschied  vom  apodictischen  trennt, 
ist  die  Behauptung,  dass  etwas  sein  muss,  oder  geschehen 
muss,  ihrem  Inhalte  nach  verschieden  von  der,  dass  es  ist  oder 
geschieht,  sobald  unsere  Behauptungen  über  das  Gebiet  unserer 
Vorstellungen  hinaus  auf  das  Seiende  reichen  und  eine  reale 
Nothwendigkeit  treffen  wollen.  So  lange  allerdings  in  bloss 
erklärenden  ürtheilen  das  »Müssen«  und  »Noth wendig- 
sein« erscheint,  wie  dass  alle  Körper  nothwendig  ausgedehnt 
sind  und  eine  Wirkung  eine  Ursache  haben  muss,  ist  die  in 
unsern  festen  Wortbedeutungen  liegende  logische  Noth- 
wendigkeit gemeint,  mit  einer  Subjects Vorstellung  eine 
Prädicatsvorstellung  zu  verknüpfen,  und  diese  also  von  allem 
zu  prädicieren,  worauf  jene  angewendet  wird,  und  das  ürtheil 
»die  Körper  sind  ausgedehnt«  sagt  nichts  anderes  als  »die 
Körper  müssen  ausgedehnt  sein«  ;  das  letztere  ruft  nur  aus- 
drücklich dem,  der  sie  etwa  vergessen  wollte,  die  Wortbedeutung 
ins  Gedächtniss. 

Wenn  aber  von  Seiendem  als  solchem  die  Rede  ist,  da 
wollen  unsere  Behauptungen  über  seine  Nothwendigkeit  etwas 


256  I.  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  213 

treffen,  was  das  Seiende  selbst,  nicht  bloss  unser  Urtbeil 
bindet,  und  nothwendig  ist  ein  inhaltsvolles  Prädicat,  das 
ebenso  bestimmt  bejaht  oder  verneint  wird,  wie  alle  übrigen 
Prädicate  wirklicher  XJrtheile. 

Zwar  von  den  Dingen  als  solchen  kann  Nothwen- 
digkeit im  eigentlichen  Sinne  nicht  als  Prädicat  gebraucht 
werden ;  es  ist  kein  Eigenschaftswort.  Wendungen  wie :  Gott 
ist  ein  nothw endiges  Wesen,  die  Welt  ist  nicht  nothwendig, 
sind  kein  adäquater  Ausdruck  des  Gedankens:  was  gemeint 
ist,  das  ist,  dass  Gott  nothwendig  existiert.  So  gewiss  5£t 
oder  oportet  einen  Satz  verlangt,  und  müssen  ein  sog.  Hülfs- 
verbum  ist,  so  gewiss  kann  immer  nur  das  in  einem  Satz 
Ausgesprochene,  die  Existenz  eines  Dings,  sein  Haben  einer 
Eigenschaft,  sein  Entfalten  einer  Thätigkeit  als  nothwendig 
prädiciert  werden ;  und  nur  den  Abstractis,  welche  einen  Satz 
vertreten,  kann  nothwendig  als  Prädicat  beigelegt  werden :  die 
Existenz  Gottes  ist  nothwendig.  (Die  Nothwendigkeit  des 
Urtheils  macht  keine  Ausnahme ;  es  ist  nothwendig,  dass  ich 
und  dass  jeder  Denkende  dies  urtheilt.) 

Damit  stellt  sich  eine  neue  Classe  von  Aussagen  ein,  in 
denen  als  Subject  das  in  einem  Urtheil  Ausgesagte 
(nicht  das  Urtheil  selbst,  wie  bei  den  Prädicaten  wahr,  falsch, 
glaublich,  logisch  nothwendig)  auftritt.  Von  realer  Noth- 
wendigkeit kann  also  nur  insofern  geredet  werden,  als  der 
Synthese  des  urtheils  eine  reale  Einheit,  des  Dings  mit  seiner 
Eigenschaft  und  seiner  Thätigkeit,  entspricht. 

2.  Was  ist  es,  was  an  ein  Gedachtes  die  Existenz,  an 
ein  bestimmtes  existierendes  Subject  eine  Eigenschaft  oder 
Thätigkeit,  oder  verschiedene  in  einer  Relation  zusammejj 
bindet?  Sehen  wir  von  der  Nothwendigkeit  der  Existenz  zu- 
nächst ab,  so  suchen  wir,  das  Sein  bestimmter  Dinge  voraus- 
gesetzt, ihr  So  sein  und  ihr  Verhalten,  das  uns  zunächst  als 
ein  bloss  wirkliches,  factisches  erscheint,  zugleich  als  ein  noth- 
wendiges  einzusehen,  und  es  so  erst  zu  begreifen  und  mit  dem 
Denken  zu  durchdringen.  Der  subjectiven  Nothwendigkeit 
unseres  an  das  Thatsächliche  im  Erkennen  gebundenen  Ur- 
theilens  soll  die  Nothwendigkeit  der  Sache  zu  Grunde  liegen. 
Wir    untersuchen    hier     zunächst   weder   den    Ursprung    des 


214  §  33.    Die  reale  Noth wendigkeit.  257 

Strebens,  ein  solches  Band  der  Nothwendigkeit  in  der  Welt 
zu  finden,  und  über  die  Erkenntniss,  dass  etwas  ist  und  ge- 
schieht, hinaus  die  Einsicht  zu  verlangen,  dass  es  so  sein  müsse, 
noch  das  metaphysische  Recht  dieser  Voraussetzung;  genug, 
dass  dieses  Streben  da  ist  und  unser  populäres  wie  unser 
wissenschaftliches  Denken  beherrscht,  und  dass  uns  daraus  die 
Aufgabe  erwächst,  den  Sinn  desselben  festzustellen. 

Hier  ist  zunächst  zu  unterscheiden  zwischen  der  Voraus- 
setzung die  überhaupt  unser  Denken  leitet,  dass  Noth  wendig- 
keit in  der  Welt  sei,  und  dem  Grunde  der  Behauptung,  dass 
dieses  und  jenes  Bestimmte  nothwendig  sei.  Erkennbar 
ist  die  Nothwendigkeit  nur  da,  wo  dieselbe  Stetigkeit  der 
Verknüpfung  im  Sein  stattfindet,  welche  auf  logischem  Gre- 
biete  (§  31,8)  die  Verknüpfung  der  Gedanken  beherrscht,  wo 
also  der  einzelne  Fall  in  derselben  Weise  aus  seinen  Voraus- 
setzungen mit  unfehlbarer  Sicherheit  hervorgeht,  wie  das  TJr- 
theil  aus  seinen  Voraussetzungen  immer  in  derselben  Weise 
sich  wiederholt,  wo  eine  vollkommene  Congruenz  realer  und 
logischer  Nothwendigkeit  möglich  ist.  Nur  indem  wir  auf 
eine  solche  Stetigkeit  treffen,  finden  wir  den  Grund  der 
Nothwendigkeit,  dass  etwas  sei ;  was  im  Realen  Grund 
sein  soll,  muss  dieselbe  Stetigkeit  und  allgemeine  Gültigkeit 
an  sich  tragen,  welche  dem  logischen  Grunde  zukommt,  dem 
einzelnen  Falle  gegenüber  ein  Allgemeines,  dem  zeitlichen 
Wechsel  gegenüber  ein  Stetiges  sein.  Etwas  als  nothwendig 
erkennen,  heisst  immer  es  als  Folge  von  etwas  erkennen,  das 
stetig  und  allgemein  gilt.  Das  rein  Individuelle,  Unvergleich- 
bare als  solches  vermögen  wir  darum  als  nothwendig  nicht 
einzusehen,  wenn  wir  auch  an  seine  Nothwendigkeit  glauben. 

3.  Die  Nothwendigkeit,  welche  ein  Prädicat  an  ein  Sub- 
ject  bindet,  fassen  wir  theils  als  eine  innere,  theils  als  eine 
äussere  auf;  und  der  Unterschied  erinnert  an  den  der  ana- 
lytischen und  synthetischen  Urtheile.  Wo  ein  Subject  für  sich 
ausreicht,  seine  Bestimmungen  nothwendig  zu  machen,  fassen 
wir  die  Nothwendigkeit  als  eine  innere;  wo  anderes  hinzu- 
kommen muss,  um  eine  Bestimmung  zu  erzeugen ,  als  äussere. 

Es  ist  uns  eine  innere  Nothwendigkeit,  dass  der  Geist 
selbstbewusst  ist  und  denkt;  es  ist  eine  äussere,  dass  der  ge- 

S ig  wart,  Logik.    I.    2.  Auilage.  17 


258  I.  6-    Möglichkeit  nnd   Noth wendigkeit.  215 

stossene  Körper  sich  bewegt.  Dort  folgt  aus  dem  Subjecte, 
sofern  es  nur  da  ist,  für  sich  die  Eigenschaft  und  das  Thun; 
hier  erst,  sofern  ein  anderes  ist. 

4.  Wo  wir  von  innerer  Nothwendigkeit  reden: 
da  setzen  wir  die  Einheit  des  Dinges  der  Vielheit  seiner  Eigen- 
schaften und  Thätigkeiten  gegenüber,  und  betrachten  jene  als 
den  beharrlichen,  von  den  Unterschieden  der  Zeit  nicht  berühr- 
ten Grund,  der  diese  Eigenschaft  oder  Thätigkeit  constant  oder 
in  bestimmtem  Wechsel  nothwendig  macht.  Die  Einheit  des 
Dings,  sofern  sie  für  sich  die  Nothwendigkeit  gewisser  Eigen- 
schaften enthält,  heisst  das  Wesen  (die  Natur)  des  Dings, 
und  wesentlich  ist  ihm  alles  das,  was  aus  seinem  Wesen 
für  sich  hervorgeht.  In  keiner  philosophischen  Conception  ist 
diesem  Gedanken  ein  grösserer  Spielraum  gegeben  worden, 
als  in  der  Leibniz'schen  Lehre,  dass  es  nur  innere  Nothwendig- 
keit gibt,  und  die  Reihe  der  Thätigkeiten  jeder  einzelnen  Mo- 
nade rein  aus  ihrem  eigenen  Inneren  entstammt;  hier  ist  das 
Wesen  der  einzelnen  Individuen  der  einzige  Grund  der  Noth- 
wendigkeit, und  ihr  ganzer  Verlauf  nur  die  Entfaltung  dieses 
Wesens.  Erkennbar  ist  das  Wesen  theils  in  unveränderlichen 
Eigenschaften,  und  beharrlichen  Thätigkeiten  --  theils  in  dem 
Gesetze  der  Entwicklung,  das  den  Hervorgang  einer  Thätig- 
keit aus  der  andern  vorschreibt. 

In  dieser  Vorstellung  eines  beharrlichen  Grundes,  der  die 
Aeusserungen  eines  Dings  regiert,  vollendet  sich  genau  be- 
trachtet nur  der  Gedanke  eines  Dings,  das  als  mit  sich 
identisch  veränderliche  Eigenschaften  haben  und  wechselnde 
Thätigkeiten  üben  soll.  So  wie  wir  nemlich  die  volle  Iden- 
tität des  Dinges  festhalten  wollen,  muss  sie  in  einem  Punkte 
gesucht  werden,  der  hinter  der  jeweiligen  Wirklichkeit  liegt; 
in  dieser  treffen  wir  den  Wechsel,  und  da  die  Eigenschaften 
dem  Dinge  nicht  äusserlich  sind,  vielmehr  dasselbe,  was  es  ist, 
eben  durch  seine  Eigenschaften  ist,  droht  die  Identität  dem 
Dinge  selbst  zu  entschwinden,  wenn  nicht  ein  im  Wechsel 
beharrliches,  den  Wechsel  selbst  hervorbringendes  derselben 
Halt  gibt ;  und  ebenso  vermag  unser  Denken  die  vorausgesetzte 
Einheit  und  Identität  eines  Dings  nur  in  sich  darzustellen, 
wenn  ein  und  derselbe  Vorstellungsgehalt,  immer  in  derselben 


216  §  33.    Die  reale  Nothwendigkeit.  259 

Weise  gedacht,  als  Gegenbild  des  mit  sich  identisch  real  Exi- 
stierenden gelten  kann. 

Derselbe  Gedanke  eines  Wesens  der  Dinge  als  des  be- 
harrlichen zeitlosen  Grundes  ihrer  jeweiligen  zeitlichen  Wirk- 
Kchkeit  gibt  auch  unseren  zunächst  subjectiven  Allgemeinvor- 
stellungen ein  objectives  Recht.  Die  Zusammenfassung  räumlich 
und  zeitlich  verschiedener  Dinge  unter  Einer  allgemeineren 
Vorstellung,  und  ihre  Bezeichnung  mit  demselben  Worte  ist 
nur  dann  nicht  ein  willkürliches  und  bloss  von  subjectiver 
Laune  oder  beliebigen  Zweckmässigkeitsrücksichten  geleitetes 
Thun,  wenn  dem  Vielen  neben  der  für  unsere  AufPassung  er- 
scheinenden Aehnlichkeit  ein  wirklich  Gemeinschaftliches,  in 
allen  Identisches  zukommt.  Dieses  kann  aber  nur  hinter  der 
unterscheidbaren  und  individuellen  Erscheinung  des  Einzelnen 
darin  liegen,  dass  ein  gemeinschaftliches  Wesen  die  Ueberein- 
stimmung  in  den  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  nothwendig 
macht,  und  die  Differenzen  als  von  aussen  herzukommende, 
nicht  im  Wesen  gegründete,   accidentelle  angesehen  werden. 

5.  Der  in  n  er en  Nothwendigkeit  steht  die  äussere, 
dem  Hervorgehen  aus  dem  Wesen  das  Bestimmtsein  durch  die 
Umstände  gegenüber.  Jedes  Einzelne  ist  so,  weil  ein  anderes 
so  ist,  jede  Veränderung  eines  einzelnen  Dings  geschieht,  weil 
eine  bestimmte  Veränderung  eines  anderen  Dings  stattgefunden 
hat;  die  Dinge  haben  die  Kraft,  sich  ihr  Verhalten  gegen- 
seitig vorzuschreiben;  der  Zusammenhang  der  Welt  besteht 
in  dieser  von  einem  auf  das  andere  übergehenden  Nothwendig- 
keit, welche  die  causale  in  dem  engeren  Sinne  ist,  der  unter 
causa  nur  die  causa  transiens  versteht.  Die  Erkenntniss,  dass 
etwas  aus  äusserer  Nothwendigkeit  so  ist,  wie  es  ist,  so  ge- 
schieht, wie  es  geschieht,  setzt  sich  immer  aus  zwei  Elemen- 
ten zusammen :  dem  allgemeinen  Gesetz,  und  dem  bestimmten 
Datum,  auf  welches  dieses  Gesetz  anwendbar  ist.  Es  ist  noth- 
wendig, dass  sich  die  Planeten  in  Ellipsen  um  die  Sonne  be- 
wegen: diese  Erkenntniss  ruht  einerseits  auf  der  Erkenntniss 
der  allgemeinen  Principien  der  Mechanik,  und  andrerseits  auf 
der  Erkenntniss  der  faciischen  Masse  der  Sonne  und  der  Pla- 
neten und  des  Verhältnisses  zwischen  Tangentialgeschwindig- 
keit    und  Attraction;    ein    anderes  Verhältniss    würde    andere 

17  ♦ 


260  h  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  217 

Bahnen  hervorbringen.  Dieses  rein  factische  Element  vermögen 
wir  nicht  zu  entfernen,  und  darum  drückt  sich  die  Erkennt- 
niss  der  Nothwendigkeit  als  solcher  in  bloss  hypothetischen 
Formen  aus,  welche  sagen,  dass,  wenn  dies  und  jenes  eintrete, 
ein  anderes  nothwendig  eintrete.  Dass  das  erste  eintritt,  ist 
wieder  aus  anderen  Ursachen  nothwendig ;  aber  indem  wir  es 
erklären,  kommen  wir  auf  ein  weiteres  Factisches,  und  so  in 
infinit  um. 

Die  Nothwendigkeit  jedes  Einzelnen  ist  also  immer  nur 
eine  bedingte  Nothwendigkeit,  eine  dvayxT]  i^  ötco- 
^iaeo)^;  indem  etwas  für  nothwendig  erklärt  wird,  wird  nicht 
seine  Ursache,  sondern  sein  Hervorgehen  aus  der  vorhandenen 
Ursache  für  nothwendig  erklärt*). 

(>.  Der  hypothetischen  Nothwendigkeit  des  Seienden  aus 
dem  Wesen  und  der  Ursache  scheint  die  Nothwendigkeit 
aus  dem  Zwecke  gegenüberzustehen.  Der  Mensch  muss 
athmen,  damit  er  lebe;  man  muss  zum  Kriege  gerüstet  sein 
um  den  Frieden  zu  erhalten.  Allein  bei  näherer  Betrachtung 
zerlegt  sich  diese  teleologische  Nothwendigkeit  in  die  logische 
und  die  der  Ursache.  Der  Zweck  ist  etwas  Wirkliches,  das 
eine  Nothwendigkeit  begründen  kann,  nur  als  Gedanke  eines 
wirklichen,  denkenden  und  wollenden  Wesens;  er  ist  ein  als 
zukünftig  Gedachtes  und  Gewolltes,  dessen  Realisierung  erfolgen 
soll,  aber,  gemäss  der  Causalordnung  der  Natur,  die  jeden 
bestimmten  Erfolg  mit  bestimmten  Ursachen  verknüpft,  nur 
durch  Vermittlung  bestimmter  Ursachen  erfolgen  kann;  wer 
also  den  Zweck  will,  muss  auch  die  Mittel  wollen,  das  voraus- 
gesetzte Wollen  eines  bestimmten  Zwecks  macht  das  Wollen 
bestimmter  Mittel  nothwendig.  Der  Zusammenhang  zwischen 
dem  Gedanken  des  Zwecks  und  dem  Gedanken  der 
Mittel  als  Objecte  unseres  Wollens  ist  ein  logischer,  aber  die 
Nothwendigkeit  des  Denkens  ruht  auf  der  erkannten  causalen 
Nothwendigkeit  des  Seins.  Dass  der  Zweck  gewollt  werde,  ist 
das  Vorausgesetzte,  Factische,  auf  der  andern  Seite  ist  als 
factisch  vorausgesetzt  der  Bestand  der  wirksamen  Ursachen, 
die   nicht  willkürlich   geändert  und  gemehrt  werden    können; 

*)  Die  vollständige  Erörterung  dieser  Begriffe  wird  im  dritten  Theile 
gegeben  werden. 


218  §  33.    Die  reale  Nothwendigkeit.  261 

aus  ihrer  Erkenntniss  geht  mit  logischer  Nothwendigkeit  her- 
vor, was  Mittel  für  einen  bestimmten  Zweck  sei,  und  darum 
gewollt  werden  muss,  sobald  der  Zweck  gewollt  wird.  Indem 
aber  unsere  Naturbetrachtung  auch  da,  wo  von  keinem  Wollen 
eines  bestimmten  denkenden  Subjects  und  seiner  Ausführung 
die  Rede  ist,  den  Erfolg  unter  den  Gesichtspunkt  des  Zwecks 
stellt,  weil  sich  ihr  so  ein  Einheitspunkt  für  die  Verknüpfung 
verschiedener  Ursachen  darbietet,  ergibt  sich  der  Schein  einer 
besonderen  Art  von  Nothwendigkeit,  welche  von  der  causalen 
oder  logischen  verschieden  wäre.  Der  Mensch  muss  athmen, 
damit  er  lebe  —  drückt  aber  zuletzt  nichts  anderes  als  die 
Einsicht  aus ,  dass  die  Naturordnung  an  den  Stillstand  des 
Athmens  unabänderlich  den  Tod  geknüpft  hat,  und  dass  das 
Athmen  durch  keine  vorhandene  Einrichtung  ersetzt  zu  werden 
vermag;  wo  das  Leben  als  Zweck  gewollt  würde,  müsste  auch 
das  Athmen  als  Mittel  gewollt  werden. 

Wo  der  Gedanke  frei  schöpferisch  aufträte:  da  wäre  er 
kein  Zweck,  der  der  Mittel  zu  seiner  Verwirklichung  bedarf, 
sondern  einfach  Ursache,  welche  aus  ihrer  Kraft  ein  Reales 
hervorbrächte ;  auch  dann  gäbe  es  keine  teleologische  Noth- 
wendigkeit. 

Dieselben  Gesichtspunkte  finden  auf  das  Anwendung,  was 
man  moralische  Nothwendigkeit  genannt  hat. 
Sofern  es  für  ein  vernünftiges  und  wollendes  Wesen  Normen 
gibt,  deren  Gültigkeit  es  für  sich  als  oberste  Regeln  seines 
Wollens  anerkennen  muss  und  wodurch  es  sich  verpflichtet 
fühlt:  insoweit  ist  die  Anerkennung  einer  solchen  Verpflich- 
tung eine  Nothwendigkeit  des  Wesens,  welche  als 
mit  der  Natur  des  vernünftigen  Subjects  gegeben  angesehen 
wird ;  werden  diese  Normen  wirklich  gewollt,  und  als  höchster 
Zweck  gesetzt,  so  ist  es  logisch  noth wendig,  ihre  An- 
wendung im  Einzelnen  zu  machen,  und  die  Verpflichtung  auf 
die  einzelnen  Fälle  zu  übertragen.  Die  Verpflichtung  selbst 
aber  unter  den  Gesichtspunkt  der  Nothwendigkeit  zu  stellen, 
weil  sie  ein  Gefühl  der  Nöthigung  bei  sich  führt,  verwirrt 
die  Begriff'e  und  verhüllt  die  Kluft,  welche  zwischen  der  An- 
erkennung der  Verpflichtung  und  dem  wirklichen  Wollen 
besteht. 


262  1.  6«     Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  219 

7,  Wenn  die  Nothwendigkeit  die  Existenz  selbst 
treffen  soll:  da  begreifen  wir  aus  dem  Gesichtspunkte  der 
äusseren  Causalität  leicht,  dass  das  Dasein  eines  Einzelnen 
als  nothwendig  behauptet  werde,  wenn  eine  schöpferische 
Macht  vorausgesetzt  ist,  welche  es  nach  blinder  Nothwendig- 
keit oder  um  eines  factischen  Zweckes  willen  schafft.  Wer 
die  Welt  zur  Selbstoffenbarung  Gottes  nothwendig  erklärt, 
und  daraus  ihr  Dasein  begreift,  der  leitet  das  Dasein  der  Welt 
aus  einer  höheren  Ursache  ab ,  und  setzt  es  damit  bedingt 
nothwendig. 

Wo  aber  etwas  an  sich  selbst  nothwendig  exi- 
stieren soll,  wie  wenn  im  ontologischen  Beweise  zum  Wesen 
Gottes  die  Existenz  gehört,  und  aus  ihm  als  nothwendig  be- 
griffen werden  soll  —  wo  also  die  Nothwendigkeit  aus  einer 
hypothetischen  eine  absolute  werden  will,  —  da  verlässt  uns 
das  Licht ,  das  aus  der  Erfahrung  unseres  eigenen  Selbstbe- 
wusstseins  auf  den  Gedanken  der  Nothwendigkeit  gefallen 
war,  und  diese  immer  nur  als  ein  Band  gezeigt  hatte,  das 
Unterscheidbares ,  sei  es  im  Denken ,  sei  es  im  Sein ,  zusam- 
menhält; das  Band  reisst  ab,  sobald  das  Seiende  damit  an 
einem  blossen  Begriff  aufgehängt  werden  soll,  der  doch  kei- 
nes Denkenden  Begriff  wäre,  und  es  hat  nichts  mehr  zu  ver- 
knüpfen, wenn  ein  schon  Seiendes  sich  selbst  nun  überflüssiger 
Weise  noch  überdem  auch  nothwendig  seiend  machen  soll, 
während  doch  dieser  Nothwendigkeit  das  Sein  immer  schon 
vorausgesetzt  ist.  So  gut  aller  logischen  Nothwendigkeit  doch 
zuletzt  ein  seiendes  denkendes  Subject,  dessen  Natur  es  ist,  so 
zu  denken,  vorausgesetzt  werden  muss,  so  lange  wir  verständ- 
lich reden  wollen ,  so  gut  muss  aller  Nothwendigkeit  des 
Seins  ein  letztes  und  einfach  Seiendes  vorausgesetzt  sein.  Wenn 
die  Unruhe  des  Warum-Fragens  meint  auch  das  erste  Glied 
noch  als  ein  nothwendiges  haben  zu  müssen ,  und  sich  mit 
Antworten  abfindet,  Gott  sei  causa  sui ,  er  habe  den  Grund 
seines  Seins  in  sich  selbst,  so  täuscht  sie  sich  mit  Worten, 
und    stellt    unvollziehbare    Formeln     auf  *) ;    Formeln ,    deren 


*)  Vergl.  die  Kritik  Arnauld's  gegen  Cartesins  in  den  Objectiones 
quartae. 


220  §  33.    Die  reale  Notliwendigkeit.  263 

imaginärer  Werth  nirgends  deutlicher  erhellt ,  als  wo  wirk- 
licher Ernst  damit  gemacht  und  die  metaphysische  Mythologie 
von  dem  von  Gott  selbst  verschiedenen  Grunde  erdichtet  wird. 
Irgendwo  muss  beim  einfachen  Sein  stehen  geblieben  werden ; 
die  Betrachtung  der  Welt,  welche  über  den  Kreis  der  endlichen 
Ursachen  nicht  hinausgehen  will,  muss  den  ganzen  Complex 
einander  gegenseitig  bedingender  Wesen  für  einfach  Daseiendes 
erklären,  bei  dem  die  Frage  nach  der  Nothwendigkeit  aufhört ; 
wer  die  Welt  als  nothwendig  begreifen  will ,  führt  sie  auf 
Gott  zurück,  aber  um  so  gewisser  hört  hier  jede  Unterschei- 
dung des  Nothwendig-seins  von  dem  Sein  schlechthin  auf. 

8.  Die  mathematische  Nothwendigkeit  gilt 
häufig  als  der  vollkommenste  Typus  dessen ,  was  wir  als 
Nothwendigkeit  bezeichnen.  »Auf  dieselbe  Weise,  wie  aus  der 
Natur  des  Dreiecks  folgt,  dass  seine  Winkel  gleich  zwei  Rechten 
sind«  ,  ist  Spinoza's  stehendes  Beispiel  für  die  reale  Noth- 
wendigkeit des  Hervorgehens  einer  Wirkung  aus  ihrer  Ursache. 
Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  das  Wesen  der  mathematischen 
Erkenntniss  zu  untersuchen  ,  und  die  Frage  zu  entscheiden, 
ob  ihre  Nothwendigkeit  eine  logische  oder  reale  ist;  allein 
soviel  ist  nach  dem  Bisherigen  einleuchtend ,  dass  in  dem 
Wesen  der  mathematischen  Objecte  allerdings  jene  Constanz 
und  Stetigkeit  von  Hause  aus  liegt,  vermöge  der  sie  immer 
in  derselben  Weise  gegenwärtig  sind  ,  und  darum  jedes  Ein- 
zelne die  Bedeutung  eines  Allgemeinen  hat,  weil  es  in  wirk- 
licher Anschauung  in  derselben  Weise  wiederholt  werden  kann ; 
während  bei  den  realen  Objecten  wir  das,  worin  sie  constant 
sind,  erst  suchen  und  aus  den  zufälligen  und  wechselnden  Ver- 
bindungen lösen  müssen.  Der  Raum  und  die  Vielheit ,  und 
unsere  Raumanschauung  und  unser  Zählen  sind  allerdings  zu- 
letzt ein  Gegebenes,  aber  so  dass  wir  der  absoluten  Unver- 
änderlichkeit  dieser  Elemente  gewiss  sind. 

9.  Was  nun  unsere  allgemeinen  ürt heile  treffen 
wollen,  ist  nichts  anderes  als  diese  objective  Nothwen- 
digkeit, dass  mit  dem  Subjecte  bestimmte  Eigenschaften 
verknüpft  sind,  oder  mit  bestimmten  Eigenschaften,  Thätigkeiten 
und  Relationen  andere  Eigenschaften,  Thätigkeiten  und  Rela- 
tionen   im   Zusammenhange   stehen,     und    nur   wo    wir    von 


204  ^  ^'   Möglichkeit  und  Noth wendigkeit.  221 

dieser  Nothwendigkeit  überzeugt  sind ,  ist  das  unbedingt  all- 
gemeine ürtheil  gerechtfertigt.  Alle  Materie  ist  schwer  — 
was  Materie  ist ,  ist  nothwendig .  schwer  —  es  gehört  zum 
Wesen  der  Materie  schwer  zu  sein  —  sind  gleichgeltende 
Urtheile;  die  Verbindung  des  Prädicats  mit  dem  Snbjecte  ist 
durch  die  Natur  des  Subjects  nothwendig,  mit  dem  Dasein 
des  Subjects  ist  auch  sein  Prädicat  realiter  Eins  mit  ihm. 
Jeder  geworfene  Körper  beschreibt  eine  Parabel  —  ein  ge- 
worfener Körper  beschreibt  nothwendig  eine  Parabel ,  will 
wiederum  dasselbe  sagen;  es  ist  die  causale  Nothwendigkeit 
der  nach  festen  Gesetzen  wirksamen  Kräfte,  welche  allein  das 
allgemeine  ürtheil  trägt. 

Wo  ein  solches  "ürtheil  verneint  wird :  da  wird  die  Noth- 
wendigkeit verneint,  und  gesagt,  das  Subject  könne  auch  ohne 
das  Prädicat  sein ;  was  die  traditionelle  Lehre  durch  das  par- 
ticuläre  ürtheil  —  Einige  Materie  ist  nicht  schwer  —  aus- 
drückt. 

10.  Wo  allgemeine  urtheile  die  wesentlichen  Prädicate 
der  Dinge  ausdrücken ,  treffen  sie  mit  den  erklärenden 
ürth eilen  zusammen,  und  es  begegnet  sich  die  logische  Noth- 
wendigkeit des  ürtheils  mit  der  im  ürtheil  ausgesprochenen 
Nothwendigkeit  der  Sache.  Denn  indem  das  erklärende  ür- 
theil, während  es  den  Gehalt  einer  Vorstellung  angibt ,  doch 
zugleich  auf  die  Dinge  hinaussieht,  die  dieser  Vorstellung  ent- 
sprechen, gewinnt  es  reale  Bedeutung,  sobald  in  die  Vorstel- 
lung das  Beharrliche  und  unveränderliche  aufgenommen  ist, 
was  mit  dem  Dasein  eines  bestimmten  Subjects  oder  bestimmter 
Subjecte  nothwendig  gegeben  ist,  die  Vorstellung  also  dem 
Wesen  der  Dinge  entspricht.  Das  erklärende  ürtheil: 
Wasser  ist  flüssig,  drückt  nur  den  Gehalt  der  Vorstellung 
eines  Dings  aus,  das  in  bestimmten  zufälligen  Zuständen  auf- 
gefasst  worden  ist ;  aber  es  trifft  das  Wesen  des  Stofi*es, 
den  wir  Wasser  nennen,  nicht,  weil  der  feste  und  der  dampf- 
förmige Zustand  ebenso  an  ihm  vorkommen,  das  Flüssigsein 
nicht  zu  seinem  Wesen  gehört ;  das  ürtheil :  Wasser  ist  Ver- 
bindung von  Sauerstofi"  und  Wasserstoff,  ist  zugleich  erklärend 
und  Ausdruck  des  Wesens.  Das  Bestreben,  beides  vollkommen 
in  Einklang  zu  bringen,  beherrscht  die  Aufgabe  der  Definition. 


222  §  84.    Die  Möglichkeit.  265 

§  34. 

Möglich  im  vollen  realen  Sinne  ist  nur  das ,  was  als 
Aeusserung  freier  Subjecte  dem  Gebiete  der  Noth- 
wendigkeit  entrückt  ist.  Wo  im  Gebiete  desNothwen- 
digen  von  Möglichkeit  die  Rede  ist,  da  kann  es  nur  ge- 
schehen, indem  entweder  die  Dinge  in  Gedanken  dem 
zeitlichen  Verlaufe  ihrer  wirklichen  Existenz 
entrückt  und  damit  von  den  Bedingungen  ihres  wirklichen 
Seins  isoliert  werden,  um  die  Prädicate,  die  ihnen  wirklich  nur 
im  Zusammensein  zukommen,  doch  als  in  ihrem  bleibenden 
Wesen  begründet  darzustellen ,  oder  indem  ein  Theil  der 
Bedingungen  isoliert  betrachtet  wird ,  von 
welchen  die  Wirklichkeit  des  in  einem  Satze  ausgesagten  ab 
hängt.  Findet  im  letzteren  Fall  ein  Nichtwissen  der 
Bedingungen  statt,  so  geht  das  Urtheil  über  eine  objective 
Möglichkeit  in  die  subjective  Möglichkeit  einer 
Vermuthung  und  damit  in  den  Ausdruck  der  üngewiss- 
heit  über. 

Das  Urtheil :  Es  ist  möglich  dass  A  B  sei,  steht  in  c  o  n- 
tradictorischem  Gegensatz  zu  dem  Urtheil :  Es  ist 
nothwendig  dass  A  nicht  B  sei. 

1.  Indem  wir  den  vieldeutigen  Ausdruck  »Möglich«  unter- 
suchen ,  unterscheiden  wir  zunächst  die  Möglichkeit  des  So- 
seins,  welche  von  einem  Subjecte  ausgesagt  wird,  von  der 
Möglichkeit  seines  Daseins.  Jene  spricht  sich  in  den  Sätzen 
aus:  A  ist  möglicherweise  B,  A  kann  B  sein;  diese  in  den 
Sätzen :  A  ist  möglich  ;  A  kann  sein.  Die  ersteren  Urtheile 
können  wiederum  theils  von  Einzelnem  als  solchem  ausgesagt 
werden,  so  dass  ihre  Subjecte  bestimmte  Dinge  (Eigenschaften, 
Thätigkeiten,  Relationen  bestimmter  Dinge)  sind ,  theils  von 
allgemein  gedachten  Subjecten. 

2.  Wird  von  einem  Einzelnen  ein  Können  ausgesagt : 
so  hat  diese  Aussage  ihre  ursprüngliche  Stelle  und  ihre  volle 
Bedeutung  unter  der  Voraussetzung   freier  S  ubj  ecte,    die 


26(3  Ii  6-   Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  228 

als  solche  Macht  haben,  Verschiedenes  zu  thun,  bei  denen  diese 
Macht  aber  nur  ausgeübt  wird  auf  Geheiss  des  Willens  und 
auf  Grund  einer  Wahl,  etwas  zu  thun  oder  nicht  zu  thun,  so 
oder  anders  zu  thun. 

Der  Gedanke  verschiedener  Thätigkeiten  geht  voran, 
welche  der  Wille  allein  ausreicht  zu  verwirklichen ;  welche 
er  verwirklichen  werde,  hängt  von  einer  Entscheidung  ab, 
die  weder  von  aussen  nothwendig,  noch  eine  nothwendige 
Folge  früherer  Thätigkeit  ist.  Dieser  Freiheit  steht  einerseits 
gegenüber  das  Nicht-können,  wenn  dem  Willen  die  reale 
Causalität  fehlt,  das  Gedachte  zu  verwirklichen;  andrerseits 
das  Müssen,  wo  die  Wahl  abgeschnitten  ist,  und  die  Noth- 
wendigkeit die  Bahn  des  Thuns  vorschreibt.  Das  Nicht-kÖnnen 
ist  aber  genauer  betrachtet  nur  eine  andere  Form  des  Müssens, 
das  Unterlassen-müssen. 

3.  Das  Verhalten  eines  freien  Subjects  zu  den  Thätigkeiten 
zwischen  welchen  es  eine  Wahl  hat,  zeigt  eine  in  die  Augen 
springende  Aehnlichkeit  mit  dem  Verhalten  des  urtheilenden 
Subjects  zu  verschiedenen  Hypothesen,  deren  keine  es  noth- 
wendig zu  bejahen  oder  zu  verneinen  findet.  Hier  wie  dort 
der  in  Gedanken  entworfene  Act,  dessen  wirkliche  Vollziehung 
noch  nicht  stattgefunden  hat;  dort  wie  hier  die  Frage:  was 
soll  ich  thun?  Aber  während  das  Bejahen  oder  Verneinen 
erst  eintreten  kann,  wo  die  Nothwendigkeit  sich  zeigt,  und 
dadurch  dem  Gebiete  des  freien  Thuns  entrückt  ist,  ist  es  in 
diesem  die  undeterminierte  und  willkürliche  That,  einen  der 
Gedanken  zu  verwirklichen  und  damit  dem  anderen  die  Wirk- 
lichkeit zu  versagen.  Es  handelt  sich  nicht  um  die  meta- 
physische Wahrheit  dieser  Ansicht,  sondern  um  die  Voraus- 
setzungen, welche  den  Gedanken  des  Möglichen  in  diesem 
Gebiete  bestimmen.  Während  dort  die  verschiedenen  Hypo- 
thesen nicht  zu  wirklichen  Urtheilen  werden  können,  und,  so 
lange  die  Wahl  besteht,  das  Urtheil  unmöglich  ist,  liegt  hier 
im  Willen  die  Kraft  der  Verwirklichung,  welche  sich  zu  allen 
gleich  verhält,  und  sie  ebendamit  als  realiter  möglich  er- 
scheinen lässt.  So  sprechen  wir  von  der  realen  Möglichkeit 
eines  Entwurfs,  eines  Plans,  wenn  wir  uns  überzeugt  haben, 
dass    alle  Bedingungen    seiner  Verwirklichung  in  unserer  Ge- 


224  §  34.     Die  Möglichkeit.  267 

walt  sind,  und  seine  Verwirklichung  nur  noch  von  dem  Wol- 
len abhängt. 

Darum  ist  der  wahre  Gegensatz  des  realiter  Nothwen- 
digen  allein  das  aus  Freiheit  hervorgehende;  diesem  allein 
kommt  es  zu  nicht  nothwendig  zu  sein.  Nicht  umsonst  ver- 
knüpft die  Sprache  in  dem  Stamme  des  Möglichen  das  Wollen 
mit  dem  Können. 

4.  Die  Vorstellung  des  Möglichen  dehnt  aber  ihren  Be- 
reich aus  auch  auf  das  Unfreie.  ,Denn  auch  für  dieses  gibt  es 
eine  Betrachtungsweise,  die  es  dem  Freien  vergleichbar  macht. 
Auch  das  unfreie  Ding  ist  in  verschiedener  Weise  thatig, 
sofern  es  veränderlich  ist,  und  die  Nothwendigkeit  ihm  nicht 
zu  allen  Zeiten  dasselbe  zu  sein  und  zu  thun  vorschreibt. 
Wenn  w  i  r  in  seine  Zukunft  sehen,  so  liegt  eine  Manigfaltig- 
keit  verschiedener  Prädicate  vor  uns,  welche  den  Gedanken 
einer  Wahl  zwischen  denselben  erwecken.  Die  Sonne  wird 
abwechselnd  scheinen  und  von  Wolken  verhüllt  sein,  der  Bach 
wird  frieren,  und  ein  andermal  vertrocknen ;  unser  die  Zukunft 
vorbildendes  Denken  schwankt  hin  und  her  zwischen  verschie- 
denen Prädicaten.  Freilich,  welche  dieser  Prädicate  in  einem 
bestimmten  Zeitpunkt  wirklich  eintreten  werden,  hängt  nicht 
von  der  Selbstentscheidung  des  Dings  ab,  sondern  ist  durch 
Nothwendigkeit  bestimmt;  entweder  bloss  durch  die  Noth- 
wendigkeit seines  eigenen  Wesens,  das  eine  bestimmte  Ent- 
wicklung durch  verschiedene  Stadien  hindurch  vorschreibt,  und 
dann  muss  es  alles  das  werden,  was  es  werden  kann,  und  es 
ist  nur  der  Unterschied  der  Zeit,  der  nöthigt,  das  Künftige 
nicht  als  ein  Seiendes,  sondern  als  ein  bloss  der  Möglichkeit 
nach  gesetztes  zu  bezeichnen  —  oder  durch  die  gemeinsame 
Nothwendigkeit  des  Wesens  und  der  Umstände;  und  indem 
wir  die  manigfaltigen  Combinationen  der  Umstände  und  ihren 
wechselnden  Verlauf  nicht  kennen,  oder  von  ihnen  absehend, 
das  zeitlich  Succedierende  in  Gedanken  zusammenfassend  neben- 
einanderstellen, steht  es  uns  gegenüber  wie  ein  freies  Wesen, 
dessen  künftige  Entscheidungen  wir  nicht  kennen,  so  dass 
seine  wirklichen  Zustände  uns  wie  Ausflüsse  seiner  Willkür 
und  Laune  entgegentreten. 

Die  erstere  Betrachtungsweise  gilt  vom  Ganzen  der  Welt, 


268  ^.  6-    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  225 

soweit  wir  sie  unabhängig  von  der  Freiheit  denken;  in  ihr 
liegt  der  gesammte  Grund  zu  allem,  was  in  Zukunft  sein  und 
geschehen  wird,  was  aber  noch  nicht  wirklich  ist.  Dies  ist 
die  volle  Möglichkeit,  die  potentia  im  prägnanten  Sinn. 

Die  zweite  Betrachtungsweise  gilt  von  dem  Einzelnen, 
das  im  Zusammenhang  der  Welt  steht,  und  dessen  Wesens- 
entfaltung durch  Umstände  bestimmt  und  auch  von  Umständen 
gehindert  ist;  sofern  es  den  partiellen  Grund  dessen  enthält, 
was  sein  wird,  kommt  ihm  die  blosse  Möglichkeit  der  künf- 
tigen Zustände  zu.  So  kommt  dem  Samen  die  Möglichkeit 
zu.  Pflanze  zu  werden. 

Die  vollkommen  objective  und  reale  Bedeutung  hat  dieses 
»Können«  übrigens  nur  da,  wo  wir  sicher  sind,  dass  unter 
bestimmten  Umständen  das  Prädicat  wirklich  eintreten  wird, 
weil  von  der  Natur  des  Subjects  der  Umkreis  von  Prädicaten 
abhängt,  welche  es  unter  verschiedenen  Umständen  annehmen 
wird;  wir  entnehmen  im  Allgemeinen  der  Erfahrung  der  Ver- 
gangenheit unsere  Erkenntniss  dessen,  was  ein  Ding  unter 
verschiedenen  Umständen  sein  kann,  aber  wir  meinen  eine 
sichere  Erkenntniss  auszusprechen,  wenn  wir  sagen,  dass  der 
Mond  verfinstert  werden  kann. 

^Besonders  deutlich  wird  dieser  Sinn  des  Könnens,  wo 
wir  von  unsern  Subjecten  im  Allgemeinen  reden.  Wasser 
kann  frieren  und  verdunsten  —  Eisen  kann  geschmolzen  wer- 
den —  Kochsalz  ist  in  Wasser  löslich  u.  s.  w.  —  enthalten 
vollkommen  bestimmte  und  positive  Aussagen,  die  meinen  eine 
Eigenschaft  dieser  Subjecte  zu  treffen ;  ja  es  gibt  gar  keinen 
andern  Weg,  die  veränderlichen  Eigenschaften  auf  eine  allge- 
meine Weise  auszusagen,  ohne  dass  über  das  Subject  hinaus 
auf  die  Bedingungen  und  Ursachen  gegangen  wird,  welche  die 
wechselnden  Zustände  bestimmen.  Indem  ich  die  Vorstellung 
eines  Dings  is<5liere  und  von  den  Bedingungen  der  Existenz, 
unter  denen  das  Wirkliche  immer  steht,  in  Gedanken  loslöse 
und  für  sich  festhalte,  bleiben  ihm  zunächst  nur  die  Eigen- 
schaften, welche  sich  nicht  von  ihm  lostrennen  lassen,  weil 
sie  wesentlich  sind ;  aber  indem  der  Gedanke  den  Umkreis  der 
Veränderungen  durchläuft,  welche  unter  wechselnden  Verhält- 
nissen eintreten  werden  und  müssen  und  sie  nur  auf  das  all- 


226  §  34.     Die  Möglichkeit.  269 

gemein  gedachte  Ding  bezieht,  verlegt  er  durch  Ausdrücke, 
welche  ein  Können,  Vermögen,  Fähigkeit  u.  s.  w.  bezeichnen, 
einen  beharrlichen  Grund  auch  des  Wechselnden  in  das  Sub- 
ject ;  nur  dass  dieser  Grund  für  sich  nicht  ausreicht,  die  Wirk- 
lichkeit herbeizuführen,  sondern  seine  Ergänzung  von  den 
Umständen  erwarten  muss.  Je  mehr  aber  sich  alle  erkenn- 
baren Eigenschaften  der  Dinge  in  Relationen  zu  andern  auf- 
lösen, desto  mehr  vermögen  wir  ihre  unveränderliche  Beschaffen- 
heit nur  durch  das  auszudrücken,  was  sie  unter  wechselnden 
Umständen  sein  können. 

Ganz  analog  sind  die  Möglichkeitsurtheile,  welche  die 
Zulässigkeit  weiterer  Determinationen  an  einer  allgemeinen 
Vorstellung  aussprechen.  Was  dort  in  die  zeitliche  Reihe 
einander  folgender  Zustände  auseinandergeht,  spaltet  sich  hier 
in  die  Vielheit  der  Vorstellungen,  die  ein  gemeinschaftliches 
Element  enthalten,  das  aber,  um  einem  bestimmten  Dinge 
congruent  zu  sein  oder  überhaupt  als  einzelnes  vorgestellt 
werden  zu  können,  weiterer  Bestimmung  bedarf.  Ein  Dreieck 
kann  spitzwinklich,  rechtwinklich,  stumpfwinklich  sein.  Mit 
den  Bestimmungen,  welche  ich  bei  dem  Worte  Dreieck  denke, 
ist  noch  keine  anschauliche  Figur  gegeben;  um  eine  solche 
vorzustellen,  gehört  ein  bestimmtes  Verhältniss  der  Seiten  und 
Winkel  dazu,  und  indem  ich  die  verschiedenen  Bestimmungen 
construierend  versuche  oder  aus  der  Erinnerung  mir  vergegen- 
wärtige, legt  mir  die  allgemeine  Vorstellung  die  Wahl  ver- 
schiedener näherer  Bestimmungen  vor.  Mit  den  Eigenschaften 
eines  Thieres,  welche  den  Inhalt  der  Vorstellung  Pferd  aus- 
machen, ist  eine  bestimmte  Farbe  nicht  nothwendig  verbunden. 
Das  Pferd  kann  schwarz,  weiss,  braun  u.  s.  w.  sein.  Sofern 
es  sich  bloss  um  den  Gehalt  meiner  Vorstellung  handelt,  sind 
diese  Urtheile  vollkommen  bestimmte  Aussagen  über  die 
Manigfaltigkeit  der  Unterschiede ;  sofern  sie  von  der  Natur  des 
Seienden  reden  wollen,  drücken  sie  ebenso  eine  reale  Möglich- 
keit aus,  welche  mit  der  Organisation  eines  bestimmten  Thiers 
den  Wechsel  der  Farbe  verknüpft;  erst  auf  ein  bestimmtes 
Einzelnes  angewendet,  geht  das  Urtheil  in  die  problematische 
Bedeutung  des  Nichtwissens  über ;  wovon  ich  bloss  weiss,  dass 
es  ein  Pferd  ist,  von  dem  kann  ich  nicht  behaupten,    dass  es 


0 
270  ^  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  227 

schwarz,  weiss  u.  s.  w.  ist;  wovon  ich  bloss  weiss,  dass  es 
ein  Dreieck  ist,  von  dem  weiss  ich  nicht,  ob  es  rechtwinklich 
ist  oder  nicht. 

Dieses  Urtheil:  A  kann  B  sein  n.  s.  w.  ist,  wo  es  sich 
nm  allgemein  vorgestellte  Snbjecte  handelt,  der  adäquate  Aus- 
druck des  sog.  particulären  Urtheils. 

6.  Es  ist  mit  dem  Sinne  der  bisher  betrachteten  Urtheile, 
auch  wenn  sie  Einzelnes  treffen,  gegeben,  dass  sie  unbedingt 
gültig  sein  wollen  und  nicht  auf  einen  bestimmten  Zeitpunkt 
ihre  Gültigkeit  einschränken.  Einen  anderen  Sinn  gewinnt 
die  Möglichkeit  und  das  Können,  wo  vom  einzelnen  Fall  die 
Rede  ist,  und  ausgesagt  wird,  was  heute  und  hier  sein  und 
geschehen  kann.  Wenn  gesagt  wird:  es  kann  heute  Nacht 
frieren  —  der  Kranke  kann  gerettet  werden  —  die  Antwort 
kann  heute  eintreffen  u.  s.  f.  —  so  überlegt  unser  Denken 
die  Zukunft  nicht,  indem  es  sein  Subject  isoliert,  sondern  im 
Gegentheil,  indem  es  die  eben  gegenwärtigen  Umstände  über- 
sieht, und  aus  ihnen  heraus  den  Erfolg  vorauszuberechnen 
unternimmt.  Aber  der  Mangel  der  Kenntniss,  sei's  aller  Um- 
stände, sei's  der  genauen  Gesetze,  nach  denen  sie  wirken,  ver- 
bietet diese  sichere  Voraussagung ;  und  die  [Jrtheile  haben  nur 
den  Sinn :  der  Kranke  wird  gerettet  werden,  wenn  das  richtige 
Heilverfahren  angewendet  wird ,  wenn  keine  unerwartete 
Störung  eintritt  u.  s.  w.  Ein  Theil  der  Bedingungen  also, 
von  denen  der  thatsächliche  Erfolg  abhängt,  ist  bekannt  und 
liegt  dem  Urtheil  zu  Grunde;  und  indem  der  Kreis  der  be- 
kannten und  gewissen  gegen  die  unbekannten  und  ungewissen 
abgeschätzt  wird,  beginnt  die  Berechnung  der  Wahrscheinlich- 
keit dessen,  was  wir  als  möglich  bezeichnen.  Aber  möglich 
ist  es  für  uns  doch  bloss  wegen  unseres  Nichtwissens;  und 
eben  damit  führen  diese  Urtheile  doch  ganz  unvermerkt  hin- 
über zu  denen,  welche  bloss  die  subjective  Unmöglichkeit 
einer  Entscheidung  aussagen ;  indem  es  scheint,  als  beschäf- 
tigen sie  sich  mit  den  Dingen,  beschäftigen  sie  sich  in  der 
That  nur  mit  dem  Mass  unserer  Erkenntniss  der  Dinge,  und 
sind  der  Ausdruck  der  Resignation  unseres  beschränkten 
Wissens.  Das  wird  ganz  deutlich  da,  wo  genau  in  denselben 
Ausdrücken  die  Möglichkeit  von  dem  schon  Bestehenden   und 


228  §  34.     Die  Möglichkeit.  271 

Vergangenen  ausgesagt  wird.  Wenn  der  Historiker  aus  zer- 
streuten oder  widersprechenden  Nadirichten  ein  Factum  auf- 
klären, oder  der  Richter,  der  einen  Augenschein  aufniaimt, 
aus  den  Spuren  der  That  den  genauen  Hergang  erforschen 
will,  da  bieten  sich  verschiedene  Combinationen ,  die  möglich 
sind;  es  kann  so,  kann  aber  auch  so  gegangen  sein.  Dieses 
Können  ist  der  Ausdruck  subjectiver  ünentschiedenheit ;  und 
seine  Bedeutung  liegt  in  der  Abweisung  einer  entscheidenden 
Feststellung  in  entgegengesetztem  Sinn.  Wenn  der  iAnge- 
klagte  trotz  gravierenden  Judicien  unschuldig  sein  kann :  so 
heisst  das  nur  soviel,  dass  die  Judicien  nicht  ausreichen,  die 
Schuld  zu  beweisen;  dass  das  Urtheil:  er  ist  schuldig,  nicht 
nothwendig,  also  auch  nicht  möglich  ist ;  aber  von  einem 
Können  im  objectiven  Sinne  ist  nicht  die  Rede,  da  objectiv 
schon  absolut  entschieden  ist,  ob  die  Bejahung  oder  die  Ver- 
neinung gilt. 

Nur  ist  die  Behauptung,  das  und  das  sei  möglich,  um 
so  leerer  und  wohlfeiler,  je  grösser  der  Umfang  unserer  Ün- 
kenntniss  ist,  je  weniger  positive  Gründe  wir  anzugeben  haben, 
welche  das  Vermuthete  hervorbringen.  Wenn  man  sagt,  eine 
spontane  Zeugung  sei  möglich :  so  ist  das  insofern  richtig,  als 
wir  nicht  beweisen  können,  dass  sie  unmöglich  ist;  aber  in 
der  uns  bekannten  Naturordnung  sprechen  alle  Gründe  da- 
gegen, und  jene  Möglichkeit  liegt  nur  in  den  dunklen  Räumen, 
in  welche  unser  Wissen  noch  nicht  vorgedrungen  ist. 

7,  Bloss  auf  diesem  subjectiven  Gebiete  gilt,  dass  mög- 
lich sei,  was  keinen  Widerspruch  enthalte,  beziehungsweise 
auf  keinen  Widerspruch  fübre.  Da  jede  als  möglich  ange- 
nommene Hypothesis  sofort  vernichtet  wird,  wenn  sie  mit 
einem  anerkannt  gültigen  Satze  in  Widerspruch  tritt :  so  kann 
sie  nur  solange  als  Annahme  bestehen,  als  kein  Widerspruch 
gegen  eine  gültige  Wahrheit  erkannt,  d.  h.  ihr  Gegentheil 
nicht  erwiesen  ist.  Mit  dem  was  realiter  stattfinden  kanu, 
hat  aber  diese  Widerspruchslosigkeit  gar  nichts  zu  thun. 

8.  Dennoch  hat  man  versucht,  die  Widerspruchslosigkeit 
auch  in  anderem  Sinne  zum  Kriterium  der  M()glichkeit  zu 
machen  —  da  vor  allem,  wo  es  sich  nicht  um  die  Möglich- 
keit   des  So  und  So  seins,    sondern    um    die  Möglichkeit   des 


272  I.  6.    Möglichkeit  und  Nothwendigkeit.  229 

Seins  überhaupt  handelt.  In  diesem  Sinne  hat  vor  al lern  Leib- 
niz  das  Mögliche  gefasst ;  es  ist  dasjenige,  was  denkbar  (con- 
cevable)  ist,  weil  es  keinen  Widerspruch  enthält;  in  diesem 
Sinne  hat  er  den  Nachweis  der  Möglichkeit  Gottes  verlangt, 
ehe  man  sein  Dasein  beweise.  Allein  diese  Bestimnmng  ist 
eine  vollkommen  leere,  weil  erst  festgestellt  werden  müsste, 
was  sich,  als  Bestimmung  eines  und  desselben  Dings  gedacht, 
widerspricht  und  was  nicht  (§  22.  S.  128  ff.);  und  Leibniz 
muss  ausserdem  dieser  abstracten  Bestimmung  ihre  Beziehung 
zur  Realität  erst  dadurch  sichern,  dass  er  den  Satz  postuliert 
alles  Mögliche  verlange  die  Existenz,  und  existiere  also,  wenn 
nichts  sie  verhindere*).  Gegen  diesen  forcierten  Uebergang 
aus  dem  bloss  Denkbaren  zu  dem,  von  dem  die  Möglichkeit 
soll  behauptet  werden  können ,  dass  es  sei ,  richtet  sich  die 
Kritik  Kant's  (Postulate  des  empir.  Denkens  überhaupt),  welche 
den  Begriff  des  Möglichen  durch  die  Beziehung  auf  die  for- 
malen Bedingungen  der  Erfahrung  einschränkt.  Allein  auch 
Kant  lässt  dem  Begriffe  noch  zu  grossen  Spielraum  ,  sofern 
er  ihn  doch  in  demselben  Sinne  wie  Leibniz  als  Prädicat 
von  Dingen  brauchen  will.  Dem  gegenüber  ist  auch  hier 
festzustellen,  dass  immer  nur  von  dem  im  ürtheil  ausgespro- 
chenen die  Möglichkeit  behauptet  werden  kann,  alle  Möglich- 
keit damit  so  gut  wie  alle  Nothwendigkeit  eine  hypothetische 
ist,  welche  bereits  ein  Seiendes  voraussetzt.  Wenn  es  mög- 
lich sein  soll,  dass  etwas  sei:  so  hat  diese  Behauptung,  wenn 
sie  reale  Gültigkeit  beansprucht,  nur  dann  Sinn,  wenn  sie 
eine  Kraft  aufweist ,  das  Ding  hervorzubringen ,  und  zeigt, 
dass  die  bestehende  Weltordnung  keine  unbedingte  Einsprache 
dagegen  erhebt.  Dadurch  allein  scheidet  sich  das  mögliche 
Ding  von  der  möglichen  Vorstellung  oder  dem  'möglichen 
Begriffe.     Eine  absolute  Möglichkeit  hebt  sich  selbst  auf. 

9.  In  einem  besonderen  Verhältnisse  steht  das  Mögliche 
zur  Negatio  n. 

Es  erscheint  als  selbstverständlich,  dass  mit  der  Möglich- 
keit, dass  A  B  sei,  zugleich  auch  die  Möglichkeit  behauptet 
werde,  dass  A  nicht  B  sei;    denn   eben  dadurch  steht  ja   das 


*)  De  verit.  primit.  Erdm.  p.  99.  vgl.  Princ.  phil.  §  45.  Erdm.  p.  708. 


230  §  34.     Die  Möglichkeit.  273 

bloss  Mögliche  dem  Nothwendigen  gegenüber ,  dass  es  auch 
nicht  eintreten  kann.  Allein  wenn  man  näher  zusieht,  so  er- 
leidet der  Satz,  dass  jedem  A  potest  esse  B  ein  gleich  gültiger 
Satz  A  potest  non  esse  B  zur  Seite  trete ,  wesentliche  Ein- 
schränkungen, wenn  man  sich  im  Gebiete  sinnvoller  Aussagen 
und  nicht  leerer  Formeln  bewegen  will. 

Wo  nemlich  von  dem  Veränderlichen,  Entwicklungsfähigen 
und  von  aussen  Bestinambaren  das  zusammenfassende  Denken 
seine  verschiedenen  Phasen  als  möglich  prädiciert,  hat  die  Be- 
hauptung, welche  auch  die  Verneinung  für  möglich  erklärt, 
keinen  Sinn ,  oder  ihre  Gegenüberstellung  alteriert  den  Sinn 
des  ursprünglichen  Satzes.  Kochsalz  kann  in  Wasser  gelöst 
werden,  will  eine  Eigenschaft  des  Kochsalzes  aussagen ;  was 
soll  daneben  der  Satz  heissen :  Es  ist  möglich,  dass  Kochsalz 
nicht  in  Wasser  gelöst  werde?  Ein  Paar  Mäuse  kann  in 
wenigen  Jahren  Millionen  von  Nachkommen  haben,  will  das 
Mass  der  Vermehrungsfähigkeit  und  damit  ein  organisches 
Gesetz  aussprechen ;  was  soll  dagegen  der  Satz,  dass  das  Paar 
auch  diese  Millionen  Nachkommen  nicht  haben  könne?  Wo 
die  positive  Behauptung  ausdrücklich  ihr  Subject  isoliert  von 
den  wechselnden  Bedingungen,  hat  es  keinen  Sinn,  nun  diese 
gegen  sie  zu  kehren  ,  und  mit  einemmale  den  Standpunkt  in 
der  Manigfaltigkeit  des  wirklichen  Geschehens  zu  nehmen. 

Wo  jedoch  vom  einzelnen  Falle  die  Rede  ist,  in  zeit- 
lich gültigen  Urtheilen,  tritt  mit  gleichem  Sinne  die  Möglich- 
keit des  Nichtseins  zur  Seite.  Die  Antwort  kann  noch  heute 
eintreffen,  sie  kann  aber  auch  erst  morgen  oder  gar  nicht  ein- 
treffen ;  es  kann  heute  Nacht  frieren,  es  kann  aber  auch  der 
Frost  ausbleiben.  Worauf  sich  die  Verneinung  gründet,  ist 
die  Voraussetzung ,  dass  neben  den  bekannten  Verhältnissen, 
welche  den  Erfolg  herbeiführen  würden,  auch  andere  da  sein 
können,  die  ihn  aufheben  oder  verhindern,  Saumseligkeit  des 
Schreibers  oder  der  Beförderung  im  ersten  Falle,  das  Eintreten 
einer  wärmeren  Luftströmung  im  zweiten.  Dieses  Verliält- 
niss  zwischen  Ursachen,  welche  einen  Erfolg  herbeiführen,  und 
Ursachen,  welche  ihn  aufheben  und  verhindern,  ist  vorausge- 
setzt, wo  Möglichkeit  des  Seins  und  Nichtseins  wie  gleichbe- 
rechtigte Sätze  gegeneinander    treten.     Der  Grund    davon    ist 

Big  wart,   Logik.  1.    2.  Auflage.  18 


274  I.  6-     Möglichkeit  und  Noth  wendigkeit.  231 

aber  nur  unsere  ünkenntniss  darüber,  ob  die  begünstigenden 
oder  die  verhindernden  Ursachen  wirklich  vorhanden  und  wirk- 
sam sind. 

Dasselbe  findet  statt ,  wo  ein  Gattungsbegriff  zu  aus- 
schliessenden  speciellen  Bestimmungen  in  Beziehung  gesetzt 
wird  :  Ein  Dreieck  kann  gleichseitig  sein  und  nicht  gleichseitig 
sein  —  wenn  ich  nur  weiss,  dass  es  ein  Dreieck  ist,  habe 
ich  keinen  Grund  die  Gleichseitigkeit  zu  bejahen  oder  zu  ver- 
neinen; der  allgemeine  Begriff  lässt  beide  Möglichkeiten  offen. 

10.  Die  Verneinung  der  Möglichkeit  aber  führt  auf  die 
Nothwendigkeit,  die  Verneinung  der  Nothwendigkeit  auf  die 
Möglichkeit. 

a.  Es  ist  möglich,  dass  A  B  sei,  widerspricht  dem 

Es  ist  nicht  möglich,  dass  A  B  sei ,    und  dies  ist  gleich 
Es  ist  nothwendig,  dass  A  nicht  B  sei. 

b.  Es  ist  nothwendig,  dass  A  B  sei,  widerspricht  dem 

Es  ist  nicht  nothwendig,  dass  A  B  sei,  und  dies  ist  gleich 

Es  ist  möglich,  dass  A  nicht  B  sei. 
So   entsteht    die   doppelte    Antiphasis ,    welche   der   doppelten 
Antiphasis    des    allgemein    bejahenden  und   particulär    vernei- 
nenden ,    und  des  allgemein    verneinenden    und   particulär  be- 
jahenden Urtheils  parallel  geht. 

Allein  wie  dort  ist  genau  darauf  zu  achten,  dass  die  Formeln 
in  demselben  Sinn  interpretiert  werden ,  wenn  nicht  Wider- 
sinniges folgen  soll. 

Sie  gelten,  wenn  möglich  und  nothwendig  in  subjectivem 
Sinne  von  einer  Hypothese  gebraucht  werden  ;  sie  gelten  ebenso, 
wenn  nothwendig  und  möglich  gleichmässig  von  der  Wesens- 
nothwendigkeit  der  einen  und  der  realen  Möglichkeit  anderer 
unter  sich  entgegengesetzter  Bestimmungen  gebraucht  werden ; 
sie  gelten  endlich ,  wenn  im  zeitlich  gültigen  Urtheil  die 
Möglichkeit  und  Nothwendigkeit  im  einzelnen  Falle  ausge- 
sprochen wird. 

11.  Sehen  wir  auf  die  ganze  Reihe  der  Erörterungen  zurück, 
zu  welchen  uns  die  Begriffe  des  Möglichen  und  Nothwendigen 
führten :  so  hat  sich  uns  die  Urtheil sfunction  darin  in  dop- 
pelter Weise  weiter  entfaltet.  Einerseits  haben  sich  durch 
das    vermittelte   Urtheilen    die    Stadien    der   Urtheilsbildung, 


232  §  34.    Die  Möglichkeit.  275 

welche  das  unmittelbare  Urtheil  mit  Einem  Schritte  durchmisst, 
bestimmt  von  einander  abgesetzt;  der  blosse  Versuch  eines 
Urtheils,  die  Frage  ist.  aufgetreten,  und  hat  zur  Reflexion  über 
das  Verhältniss  des  urtheilenden  Subjects  zu  dieser  Frage  ge- 
führt, und  durch  den  Gegensatz  der  Frage  und  Entscheidung  ist 
der  innerste  und  wesentlichste  Sinn  alles  Urtheilens,  die  Noth- 
wendigkeit,  ans  Licht  gezogen  worden.  Andererseits  hat  das 
Urtheilen  dadurch  einen  Schritt  weiter  gemacht,  dass  an  die 
Stelle  einzelner  einfacher  Subjecte  oder  einer  Anzahl  von 
solchen  das  im  Urtheil  selbst  Ausgesprochene,  die  reale  Ein- 
heit von  Subject  und  Prädicat  Gegenstand  neuer  Prädicate, 
zunächst  des  Nothwendigen  und  Möglichen  wurde,  und  sich 
damit  neue  Kategorieen  offenbarten,  welche  insofern  über  den 
zuerst  gefundenen  stehen,  als  sie  diese  zu  ihrer  Grundlage 
haben  und  unter  sich  in  Beziehung  setzen ,  und  ebendarum 
nicht  nur  das  Einzelne ,  sondern  auch  seinen  Zusammenhang 
erkennbar  machen ;  und  damit  der  blossen  Verneinung ,  die 
sich  ebenso  auf  eine  urtheilsmässige  Synthese  bezieht,  ein 
positives  Gegenstück  gegenüberstellen. 

Erkennen  wir  so  als  den  Weg  des  Denkens ,  von  dem 
blossen  Versuch,  der  Hypothese,  dem  Möglichen ,  zum  Noth- 
wendigen vorzudringen :  so  gewinnen  damit  auch  die  bestimm- 
teren Formen  ihre  natürliche  Bedeutung,  welche  dem  ein  be- 
stimmtes Prädicat  von  einem  Subjecte  aussagenden  oder  ver- 
neinenden Urtheil  beigeordnet  zu  werden  pflegen,  das  hypo- 
thetische und  disjunctive  Urtheil.  Jenes  ist  der  reine  Ausdruck 
der  Nothwendigkeit ,  dieses  der  erschöpfende  Ausdruck  sich 
ausschliessender  Möglichkeiten.  Jenes  setzt  Mögliches  in  noth- 
wendigen Zusammenhang,  und  schränkt  von  dieser  Seite  das 
Gebiet  der  Möglichkeit  durch  die  Nothwendigkeit  ein;  dieses 
bereitet  den  Weg,  durch  die  Verneinung  bestimmter  Möglich- 
keiten die  Nothwendigkeit  der  einen  zu  erreichen. 


18* 


Siebenter  Abschnitt. 

Das  liypothetische  und  das  disjunctiye  Urtheil. 

Die  Gewohnheit  der  neueren  Logik,  die  Urtheile  nach 
dem  Gesichtspunkt  der  sog.  Relation  in  kategorische 
(A  ist  B,  A  ist  nicht  B),  h^^pothetische  (Wenn  A  ist, 
ist  B)  und  disjunctive(A  ist  entweder  B  oder  C)  einzu- 
theilen ,  ist  weder  ursprünglich ,  noch  lässt  sie  sich  als  er- 
schöpfende Eintheilung  der  Urtheilsformen  irgendwie  begrün- 
den *).  Sieht  man  auf  den  Gehalt  der  Behauptung,  so  sind  kate- 
gorische und  hypothetische,  hypothetische  und  disjunctive  Sätze 
vielfach  nur  grammatisch  verschiedene  Ausdrücke  desselben 
Gedankens ;  hält  man  sich  aber  an  den  sprachlichen  Ausdruck, 
so  können  hypothetische  und  disjunctive  Urtheilsformen  schon 
darum  keine  coordinierten  Arten  der  Urtheilsform  überhaupt 
sein,  weil  sie  die  kategorische  Urtheilsform  in  sich  schliessen ; 
und  gründet  man  den  Unterschied  auf  das  letztere,  und  stellt 
den  einfachen  Urtheilen  die  zusammengesetzten  gegenüber, 
welche  sprachlich  als  Satzverbindungen  erscheinen  :  so  stehen 
dem  hypothetischen  und  disjunctiven  Urtheile  noch  eine  Reihe 
anderer  Satzverbindungen  zur  Seite,  von  denen  dann  nicht  ein- 
zusehen ist,    mit    welchem  Rechte    die  Logik  sie  ausschliesst. 

In  der  That  hat  lange  Zeit ,  nach  dem  Vorgang  der 
Stoiker,  die  Logik  dem  einfachen,  in  Einem  Satze  ausgedrückten 
Urtheil  das  zusammengesetzte  gegenübergestellt;  und  diese 
zumal  seit  Kant  verschollene  Tradition  ist  in  neuerer  Zeit 
z.  B.  von  Ueberweg  wieder  aufgenommen  worden. 

Es   lässt   sich  für   eine  Untersuchung ,    welche   zunächst 

*)  Vergl.  zum  Folgenden  mein  Programm :  Beiträge  zur  Lehre  vom 
hypothetischen  Urtheil  (Tübingen,  Lauppj  1870- 


234         §  35.     Satzverbindungen  und  ihre  logische  Bedeutung.        277 

das  wirkliche  Urtheilen  analysieren  will,  und  darum  den  sprach- 
lichen Ausdruck  als  nächstes  Untersuchungsobject  vorfindet, 
nicht  umgehen ,  zuerst  jene  ältere  Gewohnheit  wieder  aufzu- 
nehmen ;  um  so  weniger,  da  eine  Menge  von  Miss  Verständnissen 
hinsichtlich  des  hypothetischen  Urtheils  besonders  aus  der 
mangelhaften  Besinnung  über  die  logische  Bedeutung  der  sprach- 
lichen Formen  hervorgegangen  sind. 

I.    Die  verscMedenen  Arten   von  Satzverbindungen  und  ihre 
logische  Bedeutung. 

§  35. 

Wenn  Redeweisen  auftreten,  in  welchen  durch  Partikeln, 
Conjunctionen  und  Relativa  verschiedene 
Sätze  verknüpft  werden,  so  geschieht  es  entweder 
so,  dass  vollständige  Sätze,  die  für  sich  verständlich 
ein  bestimmtes  Urtheil  aussprechen,  in  eine  Beziehung  zu  ein- 
ander gesetzt  werden ,  oder  so ,  dass  ein  Satz  ein  inte- 
grierender Bestandtheil  eines  andernSatzes 
wird. 

In  jenem  Falle  ist  die  Beziehung  eine  bloss  sprach- 
liche, wie  bei  den  Relativsätzen,  oder  sie  drückt  ein  s  u  b- 
jectives  und  individuelles  Verhältniss  aus, 
in  welchem  für  den  Redenden  die  Aussagen  stehen,  oder  sie 
hat  den  Werth  eines  eigenenUrtheils,  dessen  Prä- 
dicat  entweder  das  logische  Verhältniss  der  durch 
die  Sätze  ausgedrückten  Synthesen,  oder  das  Verhält- 
nissdes  in  den  Sätzen  Ausgesprochenen  (der 
Zustände,  Vorgänge  u.  s.  w. ,  welche  durch  die  Sätze  ausge- 
drückt werden)  angibt. 

In  diesem  Falle  wird  entweder  über  das  grammatisch  ab- 
hängige Urtheil  selbst  eine  Aussage  gemacht ,  vermittelst 
modaler  Relationsprädicate ,  oder  über  das  in  demUr- 
theile  Ausgedrückte. 


278  '»  "^^    ^*s  hypothetische  und  disjunctive  ürtheil.  235 

1.  Die  einfachste  und  am  leichtesten  analysierbare  Art 
der  Satzverbindungen  ist  diejenige ,  bei  welcher  zwei  Sätze, 
deren  jeder  für  sich  verständlich  ein  selbstständiges  und  für 
sich  gültiges  Urtheil  ausdrückt,  noch  ausserdem  in  eine  Be- 
ziehung zu  einander  gesetzt  werden,  durch  welche  mehr  aus- 
gedrückt werden  soll ,  als  durch  das  einfache  Aussagen  des 
einen  Satzes  nach  dem  andern.  Das  sprachliche  Mittel  diese 
Beziehung  herzustellen  sind  die  Partikeln :  und  es  handelt  sich 
um  die  Bedeutung  dieser. 

a.  Dass  die  Partikel  »und«,  wie  alle  ihr  gleich werthigen 
Ausdrücke,  nichts  zu  leisten  vermag,  als  zu  sagen  dass  der 
Redende  jetzt  eben  beide  Urtheile^  in  seinem  Bewusstsein  zu- 
sammenfasst,  haben  wir  schon  oben  (S.  166)  gesehen;  und 
da  dieses  subjective  Factum  schon  durch  die  Thatsache  con- 
statiert  ist ,  dass  derselbe  beide  Satze  ausspricht ,  so  kommt 
an  und  für  sich  diesen  bloss  anreihenden  Partikeln  eine  ob- 
jective  Bedeutung  nicht  zu,  wenn  sie  auch  die  Function  über- 
nehmen können,  eine  entsprechende  Folge  in  dem  dargestellten 
Objecte  anzudeuten  (also  z.  B.  die  Zeitfolge  in  der  Erzählung) ; 
sie  haben  also  nicht  den  Werth  eines  Urtheils. 

b.  Auch  die  Adversativpartikeln  vermögen  nicht 
als  Zeichen  einer  bestimmten  objectiven  Aussage  zu  gelten. 
In  der  Wechselrede  kehren  sie  sich  allerdings  häufig  gegen 
einen  ausgesprochenen  Satz ,  um  ihm  eine  Einwendung ,  Be- 
schränkung oder  Widerlegung  entgegenzustellen ;  aber  es 
kommt  ihnen  doch  nicht  die  Kraft  zu,  ihn  zu  verneinen,  denn 
ebenso  oft  weisen  sie  nur  ab,  was  durch  irgend  eine  Combination 
aus  jenem  gefolgert  oder  vermuthet  werden  könnte.  In  der 
Rede  eines  Einzigen  aber  gebraucht,  haben  sie  einerseits  die- 
selbe Function,  einem  etwa  Erwarteten  entgegenzutreten,  andrer- 
seits führen  sie  nur  irgendwie  Contrastierendes  oder  Uner- 
Avartetes  ein,  einen  bejahenden  Satz  nach  einem  verneinenden 
oder  umgekehrt,  ein  unerwartetes  Prädicat. 

Während  also  die  Verneinung  eine  bestimmt  ausgespro- 
chene Behauptung  aufhebt,  wenden  sich  die  Adversativpar- 
tikeln häufig  zuvorkommend  gegen  verschwiegene  und  bloss 
als  möglich  vorausgesetzte  Combinationen,  und  die  Verneinung, 


236        §  35.    Satzverbindungen  und  ihre  logische  Bedeutung.         279 

die  sie  aussprechen,    ist  darum  keine  bestimmte,  die  sich  in 
einem  eigenen  Urtheil  fixieren  Hesse. 

c.  Anders  ist  es  mit  den  sog.  Causalpar tikeln 
und  Folgepartikeln.  Denn  diese  behaupten,  wo  sie  das 
logische  Verhältniss  der  Urtheile  angeben,  dass  das  eine 
ürtheil  vom  andern  logischer  Grund ,  beziehungsweise  Folge 
sei;  wo  sie  aber  das  Verhältniss  des  im  Urtheile  Au s- 
gesprochenen  treffen  wollen,  dass  das  im  einen  Ur- 
theil Behauptete  der  reale  Grund,  beziehungsweise  die  reale 
Folge  des  im  andern  Urtheile  Behaupteten  sei.  Sie  stellen 
also  das  Verhältniss  eines  logisch  oder  real  nothwendigen  Zu- 
sammenhangs her,  und  sind  insofern  einem  eigenen  bestimmten 
Urtheile  äquivalent.  Es  wird  kalt ,  denn  das  Thermometer 
fällt  —  es  wird  kalt,  darum  fällt  das  Thermometer  —  sind 
je  drei  vollständige  Urtheile :  Es  wird  kalt  —  das  Thermo- 
meter fällt  —  jenes  Urtheil  ist  aus  diesem  erschlossen;  es 
wird  kalt  —  das  Thermometer  fällt  —  jene  Veränderung  ist 
die  Ursache  dieser  Veränderung. 

d.  An  die  Causalpartikeln,  welche  eine  reale  Nothwendig- 
keit  aussagen,  schliessen  sich  alle  die  Bestimmungen ,  welche 
die  realen  Verhältnisse  der  in  den  Sätzen  ausgespro- 
chenen Zustände,  Ereignisse  u.  s.  f.  ausdrücken;  so  nament- 
lich die  Zeitverhältnisse  des  Erzählten,  Gleichzeitigkeit,  Folge 
u.  s.  f.  und  die  Ortsverhältnisse.  Auch  diese  vertreten  be- 
stimmte Relationsurtheile  und  sind  durch  solche  ausdrückbar. 

e.  Unter  dem  Namen  der  exponibeln  Urtheile  hat 
die  frühere  Logik  solche  aufgeführt ,  welche,  scheinbar  eine 
einzige  Aussage  darstellend  ^  in  der  That  mehrere  Urtheile 
enthalten.  Dahin  gehören  vor  allem  diejenigen  mit  restrin- 
gierenden Wörtern  —  nur,  allein  u.  s.  w.  Nur  der  Weise 
ist  glücklich  —  sagt  einmal,  dass  der  Weise  glücklich  ist, 
und  dann,  dass  wer  nicht  weise  ist,  nicht  glücklich  ist,  oder 
dass  alle  Glücklichen  Weise  sind. 

2,  Die  Grammatik  unterscheidet  Verbindungen  coordi- 
nierter  und  subordinierter  Sätze ;  allein  dieser  Unter- 
schied trifft  in  dieser  Allgemeinheit  keine  wesentliche  Differenz 
des  Gedankens ;  denn  obgleich  die  grammatische  Form  zu 
bedeuten  scheint,  dass  es  dem  Redenden  um    die  Behauptung 


280  1»  '^'     ^^**  hypothefciache  und  disjunctive  ürtheil.  237 

des  Hauptsatzes  zu  thun  sei,  und  die  abhängigen  Sätze  nur 
um  dieses  willen  angeführt  werden,  nicht  um  sie  jetzt  aufzu- 
stellen, sondern  nur  um  an  sie  als  schon  geltende  zu  erinnern : 
so  hat  doch  die  lebendige  Sprache  diesen  Unterschied  coordi- 
nierter  und  subordinierter  Sätze  nicht  streng  festgehalten,  son- 
dern braucht  die  Conjunctionen  in  demselben  Sinne  wie  die 
coordinierenden  Partikeln,  höchstens  mit  einem  leichten  Unter- 
schiede in  der  subjectiven  Betonung  der  einzelnen  (ilieder, 
dem  aber  eine  objective  Bedeutung  für  das  Ausgesagte  selbst 
nicht  zukommt.  Dasselbe  Verhältniss,  das  die  Partikel  »denn« 
bezeichnet,  drückt  ebenso  ein  »weil«  aus ;  dasselbe  Verhältniss, 
das  durch  »zugleich«  seinen  Ausdruck  findet,  kann  ein  »wäh- 
rend« kundgeben. 

So  ist  insbesondere  die  Bedeutung  der  relativen  Ver- 
bindung eine  manigfaltig  abgestufte.  Wo  die  Relativa  an 
ein  schon  für  sich  bestimmtes  Wort  sich  anschliessen,  da  ist 
die  Bedingung  ihrer  Anwendbarkeit  nur,  dass  über  einen  Be- 
standtheil  einer  Aussage  eine  weitere  Aussage  gemacht  werden 
könne,  wobei  das  Relativ,  indem  es  die  ausdrückliche  Wieder- 
holung des  bestimmt  bezeichnenden  Wortes  erspart ,  diese 
Identität  noch  deutlicher  herausspringen  lässt,  als  es  durch 
die  Nebeneinanderstellung  geschehen  würde ;  aber  die  beiden 
Aussagen,  welche  so  das  Relativ  aneinanderreiht,  stehen  in 
den  verschiedensten  Verhältnissen.  Die  entschiedenste  Unter- 
ordnung findet  statt,  wo  der  Relativsatz  nur  dazu  dient,  ein 
Element  des  Hauptsatzes  noch  durch  Erinnerung  an  Bekanntes 
kenntlicher  zu  machen  und  also  der  Aussage,  die  er  einführt, 
ein  selbstständiger  Werth  gar  nicht  zukommt,  sie  vielmehr 
einem  attributiven  Adjectiv  oder  einer  Apposition  u.  dgl.  äqui- 
valent ist ;  eine  vollkommene  Gleichstellung,  wo  der  Relativ- 
satz eine  selbstständige  und  neue  Behauptung  (am  häufigsten 
im  Lateinischen)  einführt.  Ein  eigenes  Urtheil  zu  vertreten 
kommt  aber  dabei  dem  Reiativum  nicht  zu;  alles  was  ausge- 
sagt wird,  wird  in  den  beiden  Sätzen  gesagt,  die  es  verknüpft ; 
seine  Function  ist  nur  die  sprachliche,  die  Identität  der  sprach- 
lichen Bezeichnung  festzustellen.  A,  welches  B  ist,  ist  C  sagt 
nicht  mehr  als  A  ist  B  und  A  ist  C  ;  es  lässt  nur  keinen  Zweifel, 
dass  das  A  des  einen  Satzes  dasselbe  A  sei,  wie  das  des  andern. 


\ 


238         §  35.     Satzverbindungen  und  ihre  logische  Bedeutung.         281 

Eine  ganz  andere  Function  nehmen  die  Relativsätze  da 
an ,  wo  durch  sie  überhaupt  erst  ein  für  sich  unbestimmtes 
Element  des  Satzes  bestimmt  wird,  sie  also  als  Theil  der 
Subjects-  oder  Prädicatsbezeichnung  auftreten,  eine  allgemeinere 
Bezeichnung  auf  ein  bestimmtes  Gebiet  einschränken,  —  wo 
sie  also  determinierend  sind.  Der  Satz :  diejenigen  Men- 
schen, welche  in  kalten  Klimaten  leben ,  bedürfen  reichlicher 
Nahrung,  gibt  erst  durch  den  Relativsatz  das  Subject  an,  ähn- 
lich wie  in  andern  Fällen  ein  determinierendes  Adjectiv  — 
die  elastischen  Körper  werfen  den  Stoss  zurück  u.  s.  w.  So 
kann  die  einfache  Bezeichnung  durch  ein  bestimmteres  Wort 
vermittelst  des  Relativs  umschrieben  werden :  diejenigen  Paralle- 
logramme, welche  rechtwinklich  und  gleichseitig  sind,  ist  so- 
viel als  die  Quadrate. 

Daran  schliessen  sich  die  unbestimmten  Relative 
(wer  und  was,  dcszic,  av,  quisquis)  die  nichts  vermögen  als  zu 
sagen,  dass  die  Subjecte,  von  denen  das  eine  Prädicat  gilt, 
auch  das  andere  haben ,  so  dass  der  Ausdruck  damit  einem 
allgemeinen  Urtheile  äquivalent  wird,  und  zwar  sowohl  in  em- 
pirischer als  in  unbedingter  Allgemeinheit  gemeint  sein  kann ; 
wie  umgekehrt  jedes  allgemeine  Urtheil  sich  in  solcher  Form 
ausdrücken  lässt.  Der  Mensch  ist  sterblich  —  alle  Menschen 
sind  sterblich  —  was  ein  Mensch  ist,  ist  sterblich  —  meinen 
alle  schlechterdings  dasselbe,  die  nothwendige  Zusammenge- 
hörigkeit des  Menschseins  mit  dem  Sterblichsein ;  nur  dass  die 
Form  »was  ein  Mensch  ist,  ist  sterblich«  die  Benennung, 
welche  in  dem  »alle  Menschen«  als  vollzogen  gedacht  ist,  erst 
vor  unsern  Augen  vollzieht,  und  im  Zusammenhang  damit  es 
unbestimmt  lässt ,  welches  Einzelne  und  ob  ein  Einzelnes  so 
benannt  werden  könne;  während  die  Formel  »alle  Menschen« 
das  Vorhandensein  ihrer  Subjecte  zwar  nicht  behauptet,  aber 
doch  der  gewöhnlichen  Redeweise  nach  voraussetzt. 

Ganz  ähnliche  Bewandtniss  hat  es  mit  wenn  und  w  o  als 
Zeit-  und  Ortsrelativen.  Die  deutsche  Sprache  hat  den  Gebrauch 
des  »Wenn«  von  einem  bestimmten  einzelnen  Zeitpunkte  der 
Vergangenheit  verloren ,  welchen  die  englische  noch  sich  er- 
halten hat ;  indem  sie  es  zunächst  von  der  Zukunft  gebraucht, 
haftet  ihm  vielfach  eine  gewisse  Unbestimmtheit  und  die  Un- 


282  I»  7.    Das  hypothetische  und  disjunctive  ürtheil.  239 

Sicherheit  des  wirklichen  Eintretens  des  Zukünftigen  —  wenn 
auch  oft  nur  wie  ein  leichter  Schatten  —  an,  ohne  dass  es  doch 
etwas  anderes  ausdrücken  wollte,  als  dass  zu  derselben  Zeit, 
zu  der  das  eine  geschieht ,  auch  das  andere  geschehen  wird. 
(Wenn  es  zwölf  Uhr  schlägt,  beginnt  das  neue  Jahr ;  wenn 
der  Krieg  beendigt  sein  wird,  werden  wir  zurückkehren).  Dieses 
temporale  Wenn  ist  daran  zu  erkennen,  dass  im  Nachsatz  ein 
temporales  »dann«  gesetzt  werden  kann.  Wo  es  als  allgemeines 
Relativ  (jedesmal  wenn,  so  oft  als)  steht,  meint  es  wiederum 
direct  nichts  als  die  Allgemeinheit  des  Zugleichseins  zweier 
Zustände  oder  Ereignisse,  mag  diese  nun  rein  empirisch  als 
Ausdruck  einer  ausnahmslosen  Wahrnehmung,  oder  schlechthin 
allgemein  ausgesprochen  werden.  (Wenn  die  Dämmerung 
eintritt,  beginnen  die  Fledermäuse  ihren  Flug).  Sofern  aber 
das  gleichzeitige  Eintreten  zweier  Ereignisse  in  der  Zukunft 
oder  das  unbedingt  allgemeine  Zugleichstattfinden  derselben 
nur  behauptet  werden  kann  ,  wenn  sie  irgendwie  noth wendig 
zusammenhängen,  dehnt  die  ursprüngliche  Zeitpartikel  ihre  Be- 
deutung auf  diesen  noth  wendigen  Zusammenhang  aus,  und 
wird  so  zur  Bedingungsconjunction  im  hypothetischen  ürtheil, 
wovon  später.  Denselben  Process  macht  das  allgemeine  »wo« 
durch. 

3.  Von  den  bisherigen  Verbindungen  sind  die  andern 
zu  unterscheiden,  in  welchen  einSatz  als  solcherBe- 
standtheil  eines  anderen  Satzes,  sei  es  als  Sub- 
ject,  sei  es  als  Relationspunkt  (Object)  wird  ;  und  zwar  erscheint 
der  Satz  entweder  als  Vertreter  des  Urtheils,  sofern  es  sub- 
jectiv  gedacht  oder  ausgesprochen  wird,  oder  als  Vertreter  des 
im  ürtheil  Ausgedrückten ;  und  dieses  kann  wiederum  theils 
als  ein  bloss  Gedachtes  und  Angenommenes ,  theils  als  ein 
objectiv  und  thatsächlich  Gültiges  erscheinen. 

a.  Behauptungen,  deren  Bestandtheile  Sätze  sind,  sind 
diejenigen,  in  welchen  modale  Relationsprädicate  sich 
auf  ürtheile  beziehen.  Die  Behauptungen ,  dass  ein  ürtheil 
wahr,  falsch,  glaublich,  zweifelhaft,  möglich,  nothwendig  sei; 
die  Behauptungen,  dass  ich  etwas  glaube,  verwerfe,  bestreite, 
bezweifle  —  beziehen  sich  alle  auf  eine  durch  einen  Satz  aus- 
gedrückte Hypothesis,  der  ihre  Beziehung    auf  mein  Denken 


240        §  35.     Satzverbindungen  und  ihre  logische  Bedeutung.         283 

oder  auf  das  Denken  Aller  gegeben  wird.  In  dieselbe  Classe 
gehören  alle  Finalsätze;  wenn  ich  etwas  thue,  damit  etwas 
geschehe,  so  ist  der  Zweck  zunächst  als  mein  Gedanke  hin- 
gestellt ,  und  die  Behauptung  trifft  das  Verhältniss  eines  in 
ürtheilsform  vorgestellten  Erfolgs  zu  meinem  Denken  und 
dem  davon  abhängigen  Wollen. 

Da  jedem  Urtheil  als  solchem  bestimmte  modale  Relationen 
nothwendig  zukommen ,  so  lassen  sie  sich  auch  immer  von 
ihm  aussagen ;  das  Urtheil  A  ist  B  ist  wahr ,  oder  ist  noth- 
wendig, sagt  nicht  mehr,  als  die  einfache  Behauptung  A  ist 
B  ;  ich  behaupte,  ich  weiss,  ich  bin  gewiss,  dass  A  B  ist,  bebt 
auch  nur  ausdrücklich  hervor,  was  in  der  einfachen  Behaup- 
tung A  ist  B  durch  ihre  Aufstellung  schon  liegt;  nur  ver- 
wandelt jede  derartige  Wendung  den  Satz  A  ist  B  in  den 
Ausdruck  eines  bloss  gedachten  (Jrtheils ,  einer  Hypothesis, 
und  verlegt  den  Vollzug  des  Urtheils  in  das  modale  Prädicat. 

b.  Die  Behauptungen,  deren  Bestandtheile  die  in  Satzform 
ausgedrückten  Zustände  oder  Ereignisse  sind ,  unterscheiden 
sich  nur  durch  die  sprachliche  Wendung  von  denjenigen,  welche 
adjectivische  oder  Verbalabstracta  unter  ihren  Elementen  haben. 
Ob  ich  sage:  die  grössere  Warme  des  Sommers  ist  von  dem 
höheren  Stande  der  Sonne  abhängig,  oder  ob  ich  sage,  dass 
der  Sommer  wärmer  ist  hängt  davon  ab,  dass  die  Sonne  höher 
steht  —  der  Gedanke  ist  beidemal  derselbe ;  die  Voraussetzung 
dieser  Aussage  ist  nur,  dass  von  dem,  was  ursprünglich  das 
Urtheil  auszudrücken  die  Aufgabe  hat,  neue  Prädicate  ausgesagt 
werden  können  (vergl.  §  13.  S.  96.  97). 

4,  Aus  dieser  kurzen  Uebersicht,  die  übrigens  auf  Voll- 
ständigkeit keinen  Anspruch  macht ,  mag  doch  soviel  abge- 
nommen werden,  dass  die  raanigfaltigen  grammatischen  Formen 
der  Satzverbindung  keine  neuen  Arten  der  Urtheilsfunction 
begründen,  welche  nicht  auch  in  einfachen  Urtheilen  vorkämen 
und  durch  solche  ausdrückbar  wären  ;  dass  der  Sinn  derselben 
sich  immer  durch  Prädicate  ausdrücken  lässt ,  welche  in  ein- 
fachen Aussagen  vorkommen;  und  die  logische  Theorie  hat 
darum  vollkommen  Recht  gehabt,  die  localen,  temporalen  u.  s.  w. 
Satzverbindungen  der  Grammatik  zu  überlassen ,  welche  den 
sprachlichen  Ausdruck  des  Gedankens  betrachtet.   Der  Ausdruck 


284  I>  7.     Das  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  241 

»zusammengesetzte  Urtheile«  ist  ganz  falsch  und  unglücklich ; 
was  aus  Urthoilen  zusammengesetzt  ist ,  ist  eine  Verbindung 
von  ürtheilen,  aber  diese  Verbindung  ist  darum  nicht  selbst 
wieder  ein  Urtheil ;  wo  aber  Sätze  Bestandtheile  eines  Urtheils 
sind,  sind  sie  als  solche  keine  Urtheile,  d.  h.  sie  werden  nicht 
eben  jetzt  als  Aussagen  vollzogen,  sondern  sie  gehen  entweder 
als  Hypothesen  oder  als  schon  fertige  Resultate  des  ürtheilens 
und  damit  als  Zeichen  des  ira^  Urtheil  Ausgedrückten  in  neue 
Urtheile  ein. 

5.  Wenn  die  logische  Tradition  aus  allen  Satzverbin- 
dungen nur  das  sog.  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil 
ausgesondert  hat :  so  ist  sie  von  dem  richtigen  Gefühl  geleitet 
gewesen,  dass  es  in  allen  anderen  Fällen  sich  um  die  ver- 
schiedenartigsten bestimmten  Behauptungen,  um  Zuweisung 
bestimmter  Prädicate  an  bestimmte  Subjecte  handelt ;  hier 
aber  um  solche  Aussagen  über  Hypothesen,  welche  für  den 
letzten  Zweck  alles  Denkens,  aus  dem  Subjectiven  zum  Objec- 
tiven,  aus  dem  Möglichen  zum  Nothwendigen  zu  kommen, 
direct  wichtig,  und  darum  von  ganz  universaler  Bedeutung 
für  alle  Arten  von  Aussagen  sind;  so  gewiss  überall  da,  wo 
nicht  mit  Einem  Schlage  ein  bestimmtes  Urtheil  fertig  ist, 
sondern  erst  durch  den  Versuch  die  Wahrheit  gewonnen  werden 
soll ,  die  Reflexion  über  den  Werth  und  die  Bedeutung  der 
Hypothesen  nothwendig  wird.  Das  hypothetische  und  disjunctive 
Urtheil  treten  so  der  Verneinung  zur  Seite,  welche  ebenso 
ein  Urtheil  über  ein  versuchtes  Urtheil  ist,  und  treffen  das 
Stadium  des  Denkens,  das  zwischen  Frage  und  Entscheidung 
liegt. 

n.    Das  hypothetische  Urtheil. 

§  36. 
Das  hypothetische  Urtheil  behauptet,  dass  zwei  Hypo- 
thesen in  dem  Verhältniss  von  Grund  und  Folge 
stehen;  sein  Prädicatist  »nothwendige  Folge  sein.« 
Wenn  A  gilt,  so  gilt  B,  heisst  also :  B  ist  nothwendige  Folge 
von  A. 


242  §  36.     Das  hypothetische  Urtheil.  285 

1.  Der  gewöhnliche  Ausdruck  des  hypothetisclien  Ur- 
theils,  an  welchem  sein  Sinn  und  seine  Bedeutung  am  schärf- 
sten hervortritt,  ist  eine  Satzverbindung  von  der  Form :  wenn 
A  B  ist,  so  ist  C  D ;  oder  kürzer,  indem  A  und  B  als  Zeichen 
von  Sätzen  genommen  werden:  wenn  A  gilt,  so  gilt  B;  wo- 
bei »wenn«  nicht  in  seiner  temporalen  Bedeutung,  sondern  in 
der  conditionalen,  gleichbedeutend  mit  el  und  si  steht. 

2.  Die  Grammatik  pflegt  solche  Sätze  als  Bedingungs- 
sätze zu  bezeichnen,  indem  sie  von  der  scheinbar  zunächst 
liegenden  Auffassung  ausgeht,  dass  es  sich  um  die  Gültig- 
keit des  Nachsatzes  handle.  Diese  kann  nicht  schlecht- 
weg behauptet  werden ,  sondern  wird  nur  unter  der  Voraus- 
setzung behauptet,  dass  auch  der  Vordersatz  gelte ;  das  Ganze 
wäre  also  eine  bedingte  Behauptung  des  Nachsatzes, 
also  eine  Aussage  über  das  Subject  des  Nachsatzes  *).  Allein 
da  der  Nachsatz  nicht  behauptet  werden  will ,  ehe  man  des 
Vordersatzes  sicher  ist,  da  in  Beziehung  auf  beide  also  ein 
Conditionalsatz  Ausdruck  der  Ungewissheit  ist,  beide,  wie  man 
sich  ausdrückt ,  problematisch  gesetzt  werden ,  oder  wie 
wir  sagen,  blosse  Hypothesen  ausdrücken:  so  scheint  in  der 
That,  so  lange  man  auf  die  beiden  Sätze  sieht,  gar  kein  Ur- 
theil im  eigentlichen  Sinne  vorzuliegen,  d.  h.  keine  Aussage, 
welche  als  wahr  und  nothwendig  behauptet  wird ;  um  so 
weniger,  da  es  Bedingungssätze  gibt,  welche  mit  dem  ausge- 
sprochenen Bewusstsein  der  Falschheit  von  Vorder-  und  Nach- 
satz hingestellt  sind  (Si  tacuisses,  philosophus  mansisses). 

3.  Allein  es  liegt  doch,  wie  zuerst  die  Stoiker **)  be- 
stimmt erkannt  haben,  eine  Behauptung  in  einer  solchen  Satz- 
verbindung, welche  ein  Urtheil  im  eigentlichen  Sinne 
ist ;  die  Behauptung  nemlich ,  dass  zwischen  Vorder-  und 
Nachsatz  das  Verhältniss  von  Grund  und  Folge  (S.  253) 
bestehe,  die  Annahme  des  Vordersatzes  die  Annahme  des 
Nachsatzes  nothwendig  mache;  dass  mit  der  Gültigkeit  des 
Vordersatzes  die  des  Nachsatzes  unab weislich  verknüpft  sei. 
Dieses  Verhältniss  der  nothwendigen  Folge  ist  das 

*)  So  hat  Wolff  in  seiner  Logik  das  hypothetische  Urtheil  bestimmt. 
S.  mein  oben  erwähntes  Programm  S.  28  ff. 
*♦)  S.  mein  Programm  S.   12. 


286  U  7.     Das  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  ?.43 

eigentliche  Prädicat  des  hypothetischen  Urtheils*) ;  Vorder- 
und  Nachsatz  sind  die  beiden  Beziehimgspunkte ,  welche  in 
dieses  Verhältniss  gesetzt  werden.  Für  die  Behauptung  dieses 
nothwendigen  Zusammenhangs  kommt  es  dann  weiter  gar 
nicht  darauf  an ,  wie  es  mit  der  Gültigkeit  des  Vordersatzes 
bestellt  ist,  und  was  ich  etwa  über  seine  Wahrheit,  Wahr- 
scheinlichkeit, UnWahrscheinlichkeit,  Falschheit  für  Nebenge- 
danken habe;  so  wenig  als  es  in  dem  einfachen  Urtheile  über 
Gedachtes  darauf  ankommt,  ob  ich  das  Gedachte  als  existierend, 
als  möglicherweise  existierend,  oder  als  blosse  Fiction  betrachte. 
So  erklärt  es  sich,  dass  die  Urtheile  mit  »Wenn«  bald  bloss 
Ausdruck  der  Ungewissheit ,  bald  bloss  Ausdruck  der  Folge 
zwischen  Wirklichem  zu  sein  scheinen**). 


*)  J.  St.  Mill,  Logik  I.  Buch,  4  .Cap.  §  3. 

**)  Mit  dieser  Erkenntniss,  dass  das  hypothetische  Urtheil  den  Nach- 
satz als  not  h  wendige  Folge  des  Vordersatzes  behaupte,  scheint 
die  geläufige  Bezeichnung  desselben  in  Logik  und  Grammatik  im 
Widerspruch  zu  stehen,  welche  den  Vordersatz  als  Voraussetzung 
oder  Bedingung  des  Nachsatzes  angibt.  Versteht  man  nemlich  unter 
Bedingung  nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  die  conditio 
sine  qua  non,  dasjenige,  was  erst  erfüllt  sein  muss,  ehe  ein  anderes 
eintritt  oder  gültig  wird:  so  scheint  damit  angedeutet  zu  sein,  dass 
mit  dem  Vordersatz  der  Nachsatz  aufgehoben  sei  und  nicht  mehr  gelte, 
wenn  der  Vordersatz  nicht  gilt.  Eben  das  wird  aber  durch  die  noth- 
wendige  Folge  nicht  gefordert;  die  Eolge  kann  da  sein,  auch  wenn  der 
Grund  nicht  gilt,  so  lange  dieser  kein  ausschliessender  ist ,  und  es  ist 
ja  übereinstimmende  Lehre,  dass  mit  der  Ungültigkeit  des  Vordersatzes 
der  Nachsatz  nicht  aufgehoben  werde  (wenn  ein  Dreieck  gleichseitig 
ist,  ist  es  spitzwinklich,  behauptet  nicht,  dass  die  Gleichseitigkeit  Be- 
dingung der  Spitzwink lichkeit  sei,  so  dass  ein  Dreieck,  das  nicht  gleich- 
seitig wäre,  nicht  spitzwinklich  sein  könnte).  Andrerseits  genügt,  was 
blosse  Bedingung  ist,  darum  noch  nicht,  die  Sache  herbeizuführen; 
auch  wenn  man  Bedingung  in  dem  Sinne  eines  integrierenden  Theils 
der  vollen  Ursache  fasst,  bezeichnet  sie  oben  nur  einen  Theil;  im  hy- 
poth.  Urtheil  soll  aber  der  Vordersatz  den  Nachsatz  nicht  bloss  mit 
bedingen,  sondern  für  sich  nothwendig  machen.  Der  Widerspruch  löst 
sich,  wenn  wir  die  subjectiven  Bedingungen  der  Aussage  von  dem  In- 
halt des  Ausgesagten  unterscheiden.  Die  subjective  Bedingung  der 
Behauptung  des  Nachsatzes  ist  die  Gewissheit  desselben;  und  das  Ur- 
theil sagt  aus,  dass  in  dem  Zusammenhange  des  Denkens,  in  dem  ich 
eben  stehe,  die  Gewissheit  des  Nachsatzes  von  der  des  Vordersatzes 
abhängig  ist;  nur  sofern  der  Vordersatz  gilt,   will  und  kann  ich 


243  §  36.     Das  hypothetische  Urtheil.  287 

Dieselbe  Noth wendigkeit ,    welche  das  hypothetische  Ur- 
theil in  Beziehung    auf  bloss    angenommene  Sätze   behauptet, 


über  das  Subject  des  Nachsatzes  etwas  behaupten;  wenn  der  Vorder- 
satz nicht  gilt,  will  i  ch  nichts  behaupten  ;  wenn  die  Bedingung  nicht 
erfüllt  ist,  stehe  ich  für  nichts  —  z.  B.  wenn  du  schnell  läufst,  holst 
du  ihn  ein.  Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  dass  objectiv  das  schnell 
Laufen  als  Conditio  sine  qua  non  des  tCinholens  behauptet  wäre;  denn 
der  andere  kann  stehen  bleiben  u.  s.  f.;  auf  der  andern  Seite  aber 
muss  ich  der  nothwendigen  Folge  des  Nachsatzes  aus  dem  Vordersatze 
gewiss  sein ,  um  den  Nachsatz  unter  der  Bedingung  des  Vordersatzes 
zu  verbürgen. 

Bergmann  (Reine  Logik  I  §  19.  S.  202  ff.)  bestimmt  das  Wesen 
des  hypothetischen  Urtheils  dahin,  dass  es  die  Entscheidung  über  die 
Thesis  von  der  Entscheidung  über  die  Hypothesis  abhängig  mache,  und 
unterscheidet  einen  doppelten  Sinn  desselben,  je  nachdem  es  (wie  Woltf 
lehrt)  nur  eine  relative  Entscheidung,  eine  Entscheidung  unter  Vorbe- 
halt anzeigen,  oder  den  Zusammenhang  zwischen  der  Geltung  der  Hy- 
pothesis und  der  Geltung  der  Thesis  betonen  wolle.  Als  Beispiele  für 
den  ersteren  Sinn  werden  angeführt  die  Sätze :  Morgen  werde  ich  dich 
besuchen,  wenn  es  gutes  Wetter  ist;  Rom  warde  zuerst  von  Königen 
regiert,  wenn  Livius  als  Gewährsmann  gelten  kann;  eine  vollständige 
allgemeine  Theorie  der  Gleichungen  wird  nie  gefunden  werden,  wenn 
anders  die  Erfolge  der  bisherigen  Versuche  einer  solchen  auf  die  künf- 
tigen schliessen  lassen. 

Kein  Zweifel,  dass  hier  der  Urtheilende  vor  allem  hervorheben  will, 
dass  die  Thesis  nicht  unbedingt,  sondern  nur  unter  Vorbehalt  der 
Richtigkeit  der  Hypothesis  aufgestellt  werde.  Aber  es  fragt  sich  ,  ob 
damit  der  Satz  hinfällig  werde,  dass  in  jedem  hypothetischen  Urtheile 
der  nothwendige  Zusammenhang  zwischen  der  Geltung  der  Hypothesis 
und  der  Geltung  der  Thesis  behauptet  werde,  und  dass  es  nur  darum 
ein  Urtheil  genannt  zu  werden  verdiene,  und  dass  die  sprüchliche 
W^endung  wenn  —  so  diesen  Zusammenhang  behaupte.  (Dass  es,  wie 
Bergmann  mir  S.  204  und  208  zuschreibt,  »dem  Urtheilenden  nur  um 
den  Zusammenhang  der  Hypothesis  und  der  Thesis  zu  thun  sei«  und 
dass  »wenn  A  gilt,  gilt  B«,  ein  inadäquater  Ausdruck  sei  für:  »B 
ist  nothwendige  Folge  von  A«,  habe  ich  nirgends  gesagt).  Für  die  beiden 
letzten  Beispiele  ist  die  Behauptung  des  Zusammenhangs  ohne  weiteres 
evident:  Wenn  Livius  als  Gewährsmann  gelten  kann,  so  ist  wahr,  was 
er  erzählt;  er  erzählt  aber  dass  Rom  zuerst  von  Königen  regiert  wurde, 
also  wurde  dann  wirklich  Rom  zuerst  von  Königen  regiert  —  die  Wahr- 
heit der  Thesis  folgt  mit  logischer  Nothwendigkeit  aus  der  Wahrheit  der 
Hypothesis.  Fbenso  in  dem  letzten  Heispiel :  Wenn  der  Schluss  ans  den 
bisherigen  Erfolgen  auf  künftige  berechtigt  ist,  so  muss  aus  dem  that- 
sächlichen  bisherigen  Misslingen  auf  ein  künftiges  Misslingen  geschlossen 


288  I»  7.    Das  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  244 

behauptet  die  sog.  causale  Verbindung  von  Sätzen  in  Be- 
ziehung auf  gültige  Urtheile :  Weil  A  gilt,  gilt  B,  und  zwar 
in  der  doppelten  Richtung  des  Erkenntnissgrundes  und  des 
Realgrundes.  (Weil  das  Thermometer  steigt,  wird  es  wärmer ; 
weil  es  wärmer  wird,  steigt  das  Thermometer.) 

4.    Ob  die  Urtheile,  welche  als  Grund  und  Folge  hinge- 
stellt   werden ,    bejahende    oder   verneinende,   allgemeine   oder 


werden;  wiederum  die  logische  Nothwendigkeit  der  Consequenz.  Einen 
scheinbareren  Einwand  enthält  das  erste  Beispiel:  Morgen  werde  ich 
dich  besuchen ,  wenn  es  schönes  Wetter  ist.  Hier  scheint  in  der  That 
nur  eine  bedingte  Aussage  vorzuliegen,  und  der  nothwendige  Zusammen- 
hang zu  fehlen ;  wie  kann  das  schöne  Wetter  den  Besuch  zur  noth- 
wendigen  Folge  haben  ?  Aber  auch  dieses  Beispiel  begründet,  genauer 
angesehen,  keine  Ausnahme.  Was  es  ausdrückt,  ist  ein  Wollen,  ein  jetzt 
schon  gefasster  Entschluss,  zugleich  ein  gegebenes  Versprechen,  Dieser 
Entsehluss  ist  selbst,  als  solcher,  nicht  bedingt;  durch  mein  Versprechen 
bin  ich  jetzt  schon  gebunden;  denn  was  mein  Wille  enthält,  ist  eben 
die  Abhängigkeit  einer  Handlung  von  dem  Eintreten  einer  bestimmten 
Thatsache,  der  Inhalt  meines  jetzigen  WoUens  ist  eben  der ,  dass  mit 
der  Voraussetzung  auch  die  Folge  wirklich  eintreten  soll,  ich  stifte 
durch  meinen  Willen  einen  Zusammenhang,  und  vermöge  dieses  jetzt 
gewollten  Zusammenhangs  behaupte  ich,  dass  die  Ausführung  eintreten 
wird,  sobald  die  Voraussetzung  da  ist ;  diese  Aussage  gründet  sich  auf 
mein  Wollen,  das  sich  nicht  widersprechen  kann.  Dasselbe  findet  bei 
allen  Versprechungen,  Drohungen,  vertragsmässig  für  bestimmte  Fälle 
eingegangenen  Verpflichtungen  statt:  ich  bestimme  durch  meinen 
Willen,  dass  ein  künftiges  Wollen  unfehlbare  Folge  der  eingetretenen 
Bedingung  sein  soll.  Auch  hier  ist  also,  was  ich  behaupte,  der  Zu- 
sammenhang zwischen  Voraussetzung  und  Folge  (vergl.  die  Ausfüh- 
rungen in  dem  mir  eben  noch  zukommenden  V/erke  von  Enneccerus : 
Rechtsgeschäft,  Bedingung  und  Anfangstermin  1888,  S.  16.  175  ff.); 
nur  ist  dieser  Zusammenhang,  eben  als  gewollter,  verschieden  von 
einem  unabhängig  von  meinem  Wollen  bestehenden  realen  Zusammen- 
hang, den  eine  rein  theoretische  Aussage  meint.  A's  solche  wäre  der 
Satz:  wenn  es  gutes  Wetter  ist,  werde  ich  dich  morgen  besuchen,  falsch, 
da  kein  objectiv  nothwendiger  Zusammenhang  besteht,  wie  in  dem 
Satze ;  Wenn  es  gutes  Wetter  ist,  werden  diese  Knospen  sich  morgen 
öffnen;  er  kann  objectiv  nur  gelten,  weil  vorausgesetzt  ist,  dass  mein 
Wille  die  Macht  liat,  den  gewollten  Zusammenhang  zu  verwirklichen, 
und  dass  er  constant  bleibt,  ich  also  meinem  Versprechen  nicht  untreu 
werde.  Es  bleibt  also  dabei,  dass  jede  Aussage  mit  einem  conditionalen 
Wenn  —  so  nur  insofern  ein  Urtheil  ist,  als  sie  einen  nothwendigen 
Zusammenhang  ausspricht. 


244  §  35.    Das  hypothetische  Urtheil.  289 

einzelne,  erzählende  oder  erklärende  sind,  ändert  an  dem  Wesen 
der  Behauptung  selbstverständlich  gar  nichts,  und  die  Versuche 
an  dem  hypothetischen  Urtheile  Unterschiede  der  Quantität 
u.  s.  f.  aufzustellen,  beruhen  auf  der  Verwechslung  hypothe- 
tischer Urtheile  mit  Aussagen  über  blosse  Zeitrelationen  oder 
über  ein  sonstiges  bloss  factisches  gelegentliches  Zusanoimen- 
treffen. 

Die  Urtheile:  Jedesmal  wenn  es  zwölf  Uhr  schlägt, 
sterben  einige  Menschen,  und  ähnliche  wird  Niemand  als  hy- 
pothetische gelten  lassen.  Besonders  deutlich  ist  die  Verwechs- 
lung an  den  Urtheilen,  die  man  hat  zu  particulären  hypothe- 
tischen machen  wollen :  Meistens  wenn  es  schönes  Wetter  ist, 
steht  das  Barometer  hoch;  denn  wo  der  Zusammenhang  nicht 
ausnahmslos  stattfindet,  kann  er  kein  nothwendiger  sein ;  ein 
solches  Urtheil  kann  immer  nur  das  empirische  oder  sonst 
zufällige  Zusammentreffen  in  einer  relativ  grösseren  oder 
kleineren  Anzahl  von  Fällen  ausdrücken.  Zuweilen,  wenn  ein 
Dreieck  rechtwinklich  ist,  hat  es  zwei  gleiche  Winkel ,  sagt 
weiter  nichts,  als  dass  das  Rechtwinklichsein  dann  und  wann 
mit  der  Gleichheit  der  beiden  andern  Winkel  zusammen  vor- 
komme und  sie  nicht  ausschliesse :  das  Wenn  —  zuweilen  ver- 
bindet nicht  Grund  und  Folge,  sondern  zusammentreffende 
Eigenschaften  oder  Vorgänge  an  denselben  oder  verschiedenen 
Dingen,  das  als  nur  thatsächlich  behauptet,  über  dessen  Grund 
nichts  ausgesagt  wird.  (Vergl.  mein  Programm  S.  45  und 
Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Phil.  V,  1  S.  109  if.) 

5.  Seit  Kant  hauptsächlich  hat  man  das  hypothetische 
Urtheil  dem  kategorischen  als  eine  coordinierte  besondere  Art 
des  Urtheils  gegenübergestellt,  welche  sich  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  logischen  Function  scheide;  im  kategorischen 
Urtheil  seien  die  Vorstellungen  einander  untergeordnet  als 
Prädicat  dem  Subject,  im  hypothetischen  als  Folge  dem  Grund«. 
(Krit.  d.  r.  V.  §  9,  ?>.  Hart.  S.  106.)  Die  Consequen/,  welche 
in  den  hypothetischen  Urtheilen  gedacht  wird,  entspricht  dann 
der  Copula  in  den  kategorischen ;  sie  ist  dasjenige,  was  den 
verschiedenen  Vorstellungen  Einheit  gibt.  So  entspricht  dann 
der  logischen  Function  des  hypothetischen  Urtheils  die  Ka- 
tegorie der  Causalität. 

Sigwart,  Logik.    I.    2.  Auflage.  19 


290  !•  '^-     1^8.8  hypothetische  und  diajunctive  ürtheil.  245 

Allein  die  ganze  Eintheilung  ist  undurchsichtig  und  schon 
darum  unbrauchbar,  weil  die  Vorstellungen,  die  sich  wie  Sub- 
ject  und  Prädicat  verhalten,  nach  Kantischem  Sprachgebrauch 
Begriffe,  die  Vorstellungen,  die  sich  wie  Grund  und  Folge 
verhalten,  ürtheile  sind.  Kants  Unterscheidung  gab  dann 
Veranlassung  zu  einer  weiteren  Lehre ,  die  er  jedoch  nicht 
selbst  aufgestellt  hat,  dass  nemlich  die  kategorischen  ürtheile 
Ausdruck  des  Verhältnisses  der  Inhärenz,  die  hypothetischen 
Ausdruck  des  Verhältnisses  der  Causalitat  seien ;  allein  diese 
Lehre  ist  gänzlich  unhaltbar ,  wenn  man  die  Ausdrücke  ka- 
tegorisch und  hypothetisch  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  nimmt; 
das  Urtheil:  Gott  ist  Ursache  der  Welt,  ist  gewiss  ein 
kategorisches  im  gewöhnlichen  Sinne  und  drückt  doch  ein 
Causalitätsverhältniss  aus;  das  Urtheil:  wenn  die  Seele  ma- 
teriell ist,  so  ist  sie  ausgedehnt,  ist  ein  hypothetisches  und 
bewegt  sich  doch  in  lauter  Inhärenzverhältnissen.  Unter- 
scheidet man  aber,  abgesehen  von  der  sprachlichen  Form,  Be- 
schaffenheits-  und  Beziehungsurtheile  (wie  z.  B.  Drobisch), 
so  ist  diese  Eintheilung  gerechtfertigt,  wenn  es  sich  um  den 
Sinn  bestimmter  Aussagen  handelt ;  aber  das  ächte  hypothe- 
tische Urtheil  ist  in  dieser  Eintheilung  gar  nicht  befasst,  und 
kann  nur  gewaltsam  unter  die  Beziehungsurtheile  subsumiert 
werden,  welche  reale  Relationen  zwischen  Dingen  aussagen. 

6.  Je  nach  der  Art  der  Aussagen,  welche  das  hypothe- 
tische Urtheil  in  das  Verhältniss  von  Grund  und  Folge  setzt, 
unterscheidet  sich  der  bestimmtere  Sinn  desselben.  Wo  zwei 
Sätze,  die  für  sich  unbedingte  Gültigkeit  ausdrücken 
würden,  durch  Wenn  —  so  verbunden  werden,  da  ist  die  Be- 
hauptung einfach  die,  dass,  wer  den  einen  annehme,  auch  den 
andern  annehmen  müsse.  Wenn  die  Seele  körperlich  ist,  ist 
sie  ausgedehnt  —  Wenn  die  Seele  einfach  ist,  so  ist  sie  un- 
zerstörbar —  Wenn  Gott  allmächtig  und  gütig  ist,  ist  die 
Welt  vollkommen  —  setzt  die  Wahrheit  des  Nachsatzes  als 
notbwendige  Folge  der  Wahrheit  des  Vordersatzes,  und  sagt, 
wer  den  einen  annehme,  müsse  auch  den  andern  annehmen. 
Was  dabei  der  Grund  d  e  r  N  o  t  h  w  e  n  d  i  g  k  e  i  t  ist ,  tritt 
im  hypothetischen  ürtheile  nicht  heraus ;  ob  es  die  einfachen 
Verhältnisse  der   Vorstellungen    sind    (körperlich    und    ausge- 


246  §  36.     Das  hypothetische  ürtheil.  291 

dehnt),  vermöge  der  die  Prädicierung  mit  der  einen  die  Prä- 
dicierung  mit  der  andern  nach  sich  zieht;  ob  es  Annahmen 
über  die  Natur  der  Dinge  sind,  wie  dass  das  Einfache  un- 
zerstörbar ist,  oder  Annahmen  über  die  nothwendige  Wirkungs- 
weise bestimmter  Ursachen,  wie  in  dem  letzten  Beispiele,  sagt 
das  hypothetische  Urtheil  nicht;  und  es  lassen  sich  in  dieser 
Hinsicht  ürtheile  unterscheiden,  welche  analytisch  und 
welche  .synthetisch  sind.  Ist  nemlich  in  dem  ersten  Satze 
der  zweite  so  enthalten,  dass  er  vermöge  der  allgemein  an- 
erkannten Bedeutung  der  Wörter  daraus  hervorgeht,  so  ist 
das  Urtheil  ein  analytisches ;  bedarf  es  aber  der  Vermittlung 
des  Zusammenhangs  durch  einen  sonst  vorausgesetzten  Grund 
der  Noth wendigkeit,  so  ist  es  ein  synthetisches;  ein  Unter- 
schied, der  übrigens  erst  später  (bei  der  Lehre  von  den  Schlüssen) 
genauer  fixiert  werden  kann.  Gleicher  Art  sind  die  Fälle, 
wo  von  der  allgemeinen  Regel  auf  den  einzelnen  Fall  über- 
gegangen wird:  Wenn  auf  Mord  Todesstrafe  steht,  so  ist 
dieser  Mörder  mit  dem  Tode  zu  bestrafen ;  sie  drücken  die 
logische  Nothwendigkeit  aus,  mit  der  in  der  allgemeinen  Regel 
der  einzelne  Fall  enthalten  ist. 

7.  Wenn  V  ord  ersatz  und  Nachsatz  Einzelnes 
betreffen  und  zeitlich  gültige  Aussagen  sind,  so  sind  zwei 
Fälle  zu  unterscheiden:  entweder  ist  auch  hier  die  zweite 
Synthese  in  der  ersten  eingeschlossen,  und  folgt  aus  ihr, 
kraft  der  Bedeutung  der  Prädicate,  die  ganz  allgemein  mit- 
einander verknüpft  sind  (wenn  dieser  Mensch  betrunken  ist, 
ist  er  unzurechnungsfähig) ;  oder  die  Consequenz  geht  ver- 
möge bestimmter  Gesetze  aus  der  besonderen  Beschaffenheit 
des  vorliegenden  Falls  und  seiner  Umstände  hervor,  so  dass 
auch  die  Nothwendigkeit  des  Zusammenhangs,  dessen  Beding- 
ungen der  Vordersatz  nicht  angibt,  eben  für  diesen  Fall  gilt: 
Wenn  der  Himmel  sich  aufhellt,  friert  es  heute  Nacht  —  wo 
die  bestehende  Temperatur  u.  s.  f.  vorausgesetzt  ist.  Die  Con- 
sequenz ruht  auf  den  Gesetzen  der  Wärmestrahlung  ;  aber 
diese  bringen  nur  unter  der  gegebenen  schon  niederen  Tem- 
peratur u.  s.  w.  den  Erfolg  hervor. 

8-  Eine  eigcnthümliche  Anwendung  findet  das  hypothe- 
tische   Urtheil ,    wenn    es    nicht   Sätze    mit    bestimmten    Sub- 

19* 


292  I.  7.    Das  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  247 

jecten  verknüpft,  sondern  die  Subjecte  selbst  unbe- 
stimmt gelassen  sind  —  sei  es  dass  sie  absolut  unbe- 
stimmt sind  und  durch  »etwas«  u.  dgl.  bezeichnet  werden,  sei 
es  dass  sie  wenigstens  theilweise  unbestimmt,  d.  h.  nur  durch 
ein  allgemeines  Wort  bezeichnet  sind.  Wenn  etwas  körper- 
lich ist,  ist  es  ausgedehnt;  wenn  einer  gerecht  ist,  gibt  er 
jedem  das  Seinige;  wenn  ein  Dreieck  gleichseitig  ist,  ist  es 
gleichwinklich  u.  s.  f.  Jetzt  ist  nicht  nur  die  Gültigkeit 
einer  bestimmten  Aussage  in  suspenso  gelassen,  um  nur  ihre 
nothwendige  Folge  anzugeben,  sondern  es  bleibt  unentschieden, 
ob  und  wo  überhaupt  sich  zu  den  Prädicaten  ein  Subject 
findet;  aber  von  jedem  Subject,  an  welchem  sich  das  eine 
Prädicat  findet,  wird  behauptet,  dass  sich  an  ihm  auch  das 
andere  finden  muss.  Diesen  Urtheilen  ist  es  darum  wesent- 
lich, im  Vorder-  und  Nachsatz  wenigstens  dem  Sinne  nach 
dasselbe  Subject  zu  haben  ^^Wenn  ein  Dreieck  gleiche  Winkel 
hat,  sind  seine  Seiten  gleich,  zeigt  allerdings  grammatisch 
ein  anderes  Subject,  aber  dieses  weist  durch  sein  Possessiv- 
pronomen auf  das  zurück,  worüber  zaletzt  eine  Aussage  ge- 
macht wird). 

Sie  sind  deshalb  völlig  gleichwerthig  den  allgem  einen 
Relativsätzen:  Wer  gerecht  ist,  gibt  jedem  das  Seinige 
u.  s.  f. ;  jedes  Dreieck,  welches  gleichseitig  ist,^  ist  auch  gleich- 
winklich.  Wenn  diese  durch  ihr  Relativ  die  Identität  dessen 
behaupten,  dem  das  eine  und  dem  das  andere  Prädicat  zu- 
kommt, so  vermögen  sie  das  doch  nur,  weil  das  zweite  Prä- 
dicat mit  dem  ersten  noth wendig  verknüpft  ist ;  in  der 
ausnahmslosen  Identität  dessen ,  dem  das  eine  und  dem  das 
andere  Prädicat  zukommt,  manifestiert  sich  diese  Noth  wen- 
digkeit. 

Der  Gang  des  Denkens,  welchen  diese  Ausdrucksweisen 
voraussetzen,  ist  klar;  sie  bewegen  sich  in  dem  Gebiete  des 
Bestimmens  des  Einzelnen,  dessen  Vorhandensein  vorläufig 
vorausgesetzt  wird;  mit  dem  bestimmten  Prädicate  des  Vor- 
dersatzes im  Bewusstsein  wird  auf  das  Viele  hinausgesehen, 
und  erwartet,  dass  irgendwo  das  Prädicat  anwendbar  sei,  um 
zu  behaupten,  dass  dann  auch  das  andere  nothwendig  damit 
verknüpft  werden  müsse. 


248  §  36.    Das  hypothetische  Urtheil.  293 

9.  Damit  sagen  diese  Urtheile  schlecliterdings  nichts  an- 
deres, als  die  unbedingt  al  Igemeinen  kategorischen 
Urtheile.  »Alle  Körper  sind  ausgedehnt«  meint  ja  auch  nicht 
eine  begrenzte  und  bestimmte  Anzahl ,  sondern  sagt :  Was 
ein  Körper  ist,  ist  ausgedehnt ,  oder  wenn  etwas  ein  Körper 
ist,  ist  es  ausgedehnt;  in  der  Bezeichnung  der  Subjecte,  von 
denen  etwas  ausgesagt  wird,  versteckt  sich  der  Vordersatz  des 
hypothetischen  Urtheils.  Der  brave  Mann  denkt  an  sich  selbst 
zuletzt  —  ist  darum  ebensogut  ein  hypothetisches  Urtheil  als 
jedes,  das  sein  Subject  nur  mit  einem  »Ein«  einführt,  in  dem 
Sinne,  dass  es  unbestimmt  bleiben  soll,  ob  und  wo  sich  dieses 
Subject  findet,  und  nicht  bloss  ein  bestimmtes  Subject  un- 
genau bezeichnet  ist  (der  Unterschied  wird  deutlich  an  den 
Beispielen:  Ein  Kaiser  muss  stehend  sterben  —  Ein  Kaiser 
war  Stoiker). 

Damit  erledigt  sich  der  vielverhandelte  Streit  über  das 
Verhältniss  des  hypothetischen  und  kategorischen  Urtheils. 
Alle  unbedingt  allgemeinen  kategorischen  Urtheile  sind  völlig 
gleichbedeutend  mit  hypothetischen,  weil  sie  (nach  §  27  S.  212  ff.) 
gar  nichts  anderes  aussagen,  als  die  nothwendige  Zusammen- 
gehörigkeit des  Prädicats  mit  dem  Subject,  wonach  aus  der 
Prädicierung  eines  Einzelnen  mit  dem  Subject  die  mit  dem 
Prädicat  noth wendig  folgt ;  und  sofern  dem  »Alle«  die  Zwei- 
deutigkeit anhaftet,  bald  ein  empirisches,  bald  ein  unbedingt 
allgemeines  Urtheil  einzuführen,  ist  die  hypothetische  Form 
der  strengere  und  adäquatere  Ausdruck.  Alle  Urtheile  da- 
gegen, in  welchen  bestimmten  einzelnen  Subject en  bestimmte 
Prädicate  zugewiesen  werden,  widerstehen  selbstverständlich 
der  Umwandlung  in  die  hypothetische  Form ;  andrerseits 
greift  die  Bedeutung  und  Anwendbarkeit  des  hypothetischen 
Urtheils  über  dasjenige  hinaus ,  was  in  kategorischer  Form 
ohne  Zwang  ausgesprochen  werden  kann. 

10.  Anders,  wenn  von  einem  unbestimmt  bezeichneten 
Subject  veränderliche  Eigenschaften,  Thätig- 
keiten,  Relationen  im  Vordersatze  ausgesagt  werden. 
Wenn  Wasser  unter  0  Grad  erkältet  wird,  wird  es  fest;  wenn 
ein  Körper  unter  dem  Einfluss  eines  Stosses  und  einer  im 
umgekehrten    Verhältniss  des  Quadrats   der    Entfernung   wir- 


294  h  7.     Das  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  249 

kenden  Kraft  sich  bewegt,  beschreibt  er  einen  Kegelschnitt; 
wenn  die  Strahlen  einer  Lichtquelle  senkrecht  auffallen,  ist 
die  Beleuchtung  die  stärkste  u.  s.  f.  Da  es  sich  hier  ebenso 
um  wiederholte  Fälle  an  demselben  Subject,  wie  um  Fälle  an 
verschiedenen  Subjecten  handeln  kann ,  so  ist  der  Ausdruck 
in  einem  allgemeinen  kategorischen  Urtheil  inadäquat;  soll 
die  Noth wendigkeit  durch  die  unbedingte  Allgemeinheit  aus- 
gedrückt werden,  so  bieten  sich  die  allgemeinen  Relativsätze 
Jedesmal  wenn,  so  oft  als ;  und  es  geht  daraus  hervor,  dass 
jetzt  auch  dem  hypothetischen  Urtheil  eine  Zeitbeziehung  an- 
haftet, da  Veränderliches  nur  in  einer  bestimmten  Zeit  ein- 
treten kann,  und  die  Gültigkeit  des  Vordersatzes  zu  einer  be- 
stimmten Zeit  auch  der  Gültigkeit  des  Nachsatzes  eine  be- 
stimmte Zeit  anweist  —  dieselbe  oder  eine  unmittelbar  folgende 
oder  vorangehende.  Diese  Urtheile  sind  es,  die  der  Natur  der 
Sache  nach  auf  Causalitätsverhältnissen  ruhen,  sobald  ihre 
Subjecte  unter  den  realen  Dingen  zu  suchen  sind,  denn  nur 
durch  Causalzusammenhang  kann  der  Eintritt  der  Veränderung 
eines  Dings  den  Eintritt  einer  zweiten  Veränderung  desselben 
oder  eines  andern  Dings  nach  sich  ziehen. 

11.  Zu  den  hypothetischen  Sätzen  mit  unbestimmten 
Subjecten  gehören  auch  alle  Gleichungen  der  analytischen 
Geometrie  und  Mechanik  mit  Veränderlichen.  Die  Unbestimmt- 
heit des  Werthes  der  Veränderlichen  verhindert,  dass  die 
Gleichung  der  Parabel  y^  =  px  eine  Gleichung  im  gewöhn- 
lichen Sinne,  d.  h.  das  Urtheil  bedeute,  dass  zwei  Zahlen 
oder  Linien  oder  Figuren  einander  gleich  sind ;  sie  behauptet : 
wenn  die  Abscisse  irgend  einen  bestimmten  Werth  hat,  so  hat 
die  ihr  zugehörige  Ordinate  den  durch  die  arithmetische  Re- 
lation mit  der  Constanten  bestimmten  Werth.  Ebenso  sind 
alle  algebraischen  Formeln  mit  allgemeinen  Zeichen  in  hypo- 
thetische Urtheile  zu  übersetzen,  wie  a  (b    4-    c)  ^  ab  4-  bc. 

12.  Unter  den  hypothetischen  Urtheilen  mit 
verneinenden  Gliedern  stellt  die  Form:  wenn  A  gilt, 
gilt  B  nicht,  die  Verneinung  eines  Satzes  als  nothwendige 
Folge  einer  Bejahung  hin,  und  setzt  also  die  Hypothesen  A 
und  B  als  unverträglich.  Diese  Unverträglichkeit  ruht 
theils  auf  der   Unverträglichkeit   bestimmter    Prädicate,    oder 


250  §  36.     Das  hypothetische  Urtheil.  295 

auf  den  realen  Verhältnissen  der  hindernden  oder  vernichten- 
den Ursache.  Dieses  Verhältniss  ist  immer  ein  gegensei- 
tiges; wenn  aus  der  Bejahung  von  A  die  Verneinung  von 
B  noth wendig  folgt,  so  folgt  (nach  dem  Gesetze  des  Grundes 
und  der  Folge)  aus  der  Bejahung  (der  Aufhebung  der  Ver- 
neinung) von  B  nothwendig  die  Verneinung  von  A;  mögen 
nun  A  und  B  allgemeine  und  unbedingt  gültige  Urtheile, 
oder  zeitlich  gültige  Urtheile  über  Einzelnes  vorstellen  oder 
unbestimmte  Subjecte  haben.  (Wenn  der  Himmel  bewölkt  ist, 
fällt  kein  Thau;  wenn  Thau  fällt,  ist  der  Himmel  nicht  be- 
wölkt.) Einem  solchen  hypothetischen  Urtheil  entspricht  ein 
allgemein  verneinendes  kategorisches ;  der  Satz :  Kein  recht- 
winkliches  Dreieck  ist  gleichseitig,  sagt  dasselbe,  wie :  Wenn 
ein  Dreieck  rechtwinklich  ist,  ist  es  nicht  gleichseitig;  die 
Verneinung  des  Prädicats  gleichseitig  wird  als  nothwendige 
Folge  der  Bestimmung  rechtwinklich  behauptet*). 

Wenn  eine  Verneinung  als  nothwendige  Folge 
einer  andern  Verneinung  auftritt  (Wenn  A  nicht  gilt, 
gilt  B  nicht),  so  kann  dieses  Verhältniss  nur  darauf  ruhen, 
dass  die  entsprechenden  Bejahungen  in  nothwendigem  Zusam- 
menhange stehen.  Denn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann 
die  Verneinung  der  einen  die  Verneinung  der  andern  zur 
Folge  haben.  Die  Ungültigkeit  von  A  ist  nur  dann  ein  un- 
trüglicher Grund  der  Ungültigkeit  von  B,  wenn  A  nothwen- 
dige Folge  von  B  ist.    Wenn  der  Himmel  nicht  hell  ist,  fällt 


*)  Die  Schwierigkeit,  welche  Twesten  (Logik  S  64)  gegen  die  An- 
sicht erhoben  hat,  das  hypothetische  Urtheil  mit  verneinendem  Nach- 
satz sei  bejahend,  ist  leicht  zu  heben.  Wenn  das  kategorische  Urtheil, 
sagt  er,  »kein  gleichseitiges  Dreieck  ist  rechtwinklich«  verneinend  ist, 
wie  sollte  denn  das  correspondierende  hypothetische:  Wenn  ein  Dreieck 
gleichseitig  ist,  ist  es  nicht  rechtwinklich,  nur  bejahend  sein  können  ? 
Freilich  nicht,  wenn  das  hypothetische  Urtheil  eine  Behauptung  über 
das  gleichseitige  Dreieck,  und  nicht  über  die  Nothwendigkeit  einer 
Folge  wäre;  aber  warum  soll  man  nicht  bejahen  können,  dass  ein  ver- 
neinender Satz  nothwendig  folge?  Die  Möglichkeit  der  unbedingten 
Verneinung  »kein  A  ist  B«  ruht  ja  eben  darauf,  dass  erkannt  wird, 
die  Bestimmungen,  die  in  A  gedacht  werden,  machen  nothwendig  B 
zu  verneinen ;  und  diesen  Sinn  einer  allgemeinen  Verneinung  drückt 
das  hypothetiHche  Urtheil    durch  Bejahung  dieser  Nothwendigkeit  aus. 


296  i>  7.    Das  hypothetische  und  disjunctive  ürtheil.  251 

kein  Thau,  kann  ich  nur  sagen,  wenn  ich  sicher  bin,  dass 
wenn  Thau  fällt ,  der  Himmel  hell  sein  muss ;  wenn  ein 
Dreieck  nicht  gleichseitig  ist,  ist  es  nicht  gleich  winklich,  nur 
dann ,  wenn  jedes  gleichwinkliche  Dreieck  gleichseitig  ist. 
Nach  dem  Grundsatze,  dass  mit  der  Folge  der  Grund  aufge- 
hoben ist,  der  den  Sinn  der  nothwendigen  Folge  enthält,  welche 
das  hypothetische  Urtheil  behauptet,  ergibt  sich  immer  aus: 
Wenn  A  gilt,  gilt  B,  auch  das  andere:  Wenn  ß  nicht  gilt, 
gilt  A  nicht. 

Wenn  eine  Bejahung  als  Folge  einer  Vernei- 
nung erscheint :  wenn  A  nicht  gilt,  gilt  B,  so  liegt  diesem 
ürtheil  immer  unmittelbar  oder  mittelbar  die  Einsicht  zu 
Grunde,  dass  von  verschiedenen  sich  ausschliessenden  mög- 
lichen Hypothesen  noth wendig  eine  gültig  ist,  d.  h.  die  Ein- 
sicht, welche  sich  im  disjunctiven  Urtheile  ausspricht ;  es  ist 
aber  falsch,  dass  das  Urtheil:  Wenn  A  nicht  gilt,  gilt  B 
bereits  dem  disjunctiven  Entweder  gilt  A  oder  B  äquivalent 
sei  *). 

13.  Die  Verneinung  eines  hypothetischen  Ur- 
theil s  kann  allein  in  der  Aufhebung  des  Prädicats  bestehen, 
das  es  aussagt,  d.  h.  der  nothwendigen  Folge.  Der  Satz :  B 
ist  nicht  nothwendige  Folge  des  Satzes  A,  d.  h.  wenn  A  gilt, 
gilt  dämm  nicht  B  (wenn  auch  A  gilt,  gilt  doch  nicht  B) 
ist  der  contradictorische  Gegensatz  des  Urtheils :  Wenn  A 
gilt,  so  gilt  B  **) ;  wie  umgekehrt  die  Verneinung  der  Behaup- 
tung, Wenn  A  gilt,  so  folgt  nicht,  dass  B  gilt,  auf  das  Ur- 
theil führt:    Wenn  A  gilt,  gilt  B. 


*)  S.  mein  Programm  S.  54  ff.  Wenn  der  Mondmittelpunkt  nicht 
in  der  Ebene  der  Ekliptik  ist,  bildet  er  mit  den  Mittelpunkten  der 
Sonne  und  Erde  ein  Dreieck,  heisst  nicht  soviel  als:  Entweder  ist  der 
Mondmittelpunkt  in  der  Ebene  der  Ekliptik,  oder  er  bildet  mit  den 
beiden  andern  Mittelpunkten  ein  Dreieck;  denn  er  kann  auch  ein 
Dreieck  bilden,  wenn  er  in  der  Ebene  der  Ekliptik  ist,  aber  der  Knoten 
nicht  in  die  Gerade  fällt,  welche  durch  die  Mittelpunkte  der  Sonne  und 
Erde  geht. 

**)  Damit  ist  den  sogenannten  Concessivsätzen  ihre  logische 
Stelle  angewiesen ;  ihre  Bedeutung  liegt  darin,  dass  sie  eine  unmittel- 
bare oder  mittelbare  Consequenz,  die  aus  dem  Vordersatz  {gezogen 
werden  könnte,  abweisen. 


252  §  36.    Das  hypothetische  Urtheil.  297 

1 4.  Hypothetische  Urtheile  von  der  Form :  Wenn  A  gilt 
und  B  gilt  und  C  gilt,  gilt  D,  dürfen  nicht  als  copulative 
hypothetische  Urtheile  bezeichnet  werden;  denn  es  wird  nicht 
von  verschiedenen  Relationen  ausgesagt,  dass  sie  noth wendige 
Folgen  seien,  wie  in  dem  Urtheile:  Sowohl  wenn  A  ist,  als 
wenn  B  ist,  als  wenn  C  ist,  ist  D.  Nur  dieses  Urtheil  ist 
copulativ;  jenes  gibt  nur  einen  Grund,  der  bloss  aus  einer 
Mehrheit-  von  Voraussetzungen  besteht,  und  kann  darum  nicht 
in  eine  Mehrheit  von  hypothetischen  Urtheilen  aufgelöst  werden. 

15.  Nur  wenn  auf  die  Bedeutung  der  Möglichkeit 
gesehen  wird,  welche  auf  den  partiellen  Grund  zurückgeht 
(§  34,  S.  270),  kann  mit  jedem  Theil  des  Grundes  die  Mög- 
lichkeit der  Folge  verknüpft  werden.  Wenn  der  Mond  in 
Conjunction  oder  Opposition  steht,  und  zugleich  der  Knoten 
der  Mondsbahn  der  Verbindungslinie  von  Sonne  und  Erde 
nahe  ist,  entstehen  Finsternisse  —  kann  in  die  zwei  Urtheile 
entwickelt  werden;  Wenn  der  Mond  in  Conjunction  oder 
Opposition  steht ,  können  Finsternisse  eintreten ;  wenn  der 
Knoten  der  Mondsbahn  der  Verbindungslinie  von  Sonne  und 
Erde  nahe  ist,  können  Finsternisse  entstehen.  Dasselbe  Können 
tritt  ein,  wenn  der  Vordersatz  die  Ungültigkeit  eines  Ur- 
theils  ausdrückt,  das  den  Nachsatz  aufheben  würde:  Wenn 
die  Wärmestrahlung  der  Sonne  nicht  abnimmt,  kann  das  or- 
ganische Leben  der  Erde  unbegrenzt  fortdauern. 


IIL   Das  disjunctive  Urtheil. 

§  37. 

Das  disjunctive  Urt  hei  1  behauptet,  dass  von  einer 
bestimmten  Anzahl  sich  au  sschlies  sender  Hypo- 
thesen eine  nothwendig  wahr  ist.  Wo  es  nicht,  als 
Satz  vom  ausgeschlossenen  Dritten  ,  die  beiden  Glieder  einer 
Antiphasis  betrifft,  setzt  es  immer  ein  einfaches  Ur- 
theil voraus,  das  den  verschiedenen  Hypothesen 
zu   Grunde   liegt,   und  dessen  Inhalt  den  Kreis   der  Mög- 


298  Ii  "^^    I^ö'S  hypothetische  und  disjunctive  ürtheil.  253 

lichkeiten  bestimmt  und  einschränkt;  am  häufigsten  so,  dass 
entweder  das  Subject  oder  das  Prädicat  eine  geschlossene 
Reihe  sich  ausschliessender  näherer  Bestimmungen  zulässt, 
welche   aufzuzählen    Aufgabe   des    divisiven  Urtheils   ist. 

1.  Wenn  eine  Hypothese  A  ist  B  ungewiss  ist:  so  ist 
der  nächste  Ausdruck  davon,  dass  weder  ihre  Bejahung  noch 
ihre  Verneinung  vollzogen  werden  kann;  ich  stehe  vor  einer 
unentschiedenen  Wahl.  Aber  ich  weiss,  dass  wenn  die  Be- 
jahung wahr  ist,  die  Verneinung  falsch  ist  und  umgekehrt ; 
und  dass,  wenn  die  Bejahung  falsch  ist,  die  Verneinung  wahr 
ist  und  umgekehrt. 

Eine  solche  Wahl  zwischen  verschiedenen  Hypothesen 
kann  nun  aber  nicht  bloss  stattfinden  zwischen  Bejahung  und 
Verneinung.  In  Beziehung  auf  dasselbe  Subject  können  ver- 
schiedene Hypothesen  möglich  sein  —  A  ist  vielleicht  B, 
vielleicht  C,  vielleicht  D  u.  s.  f.  So  lange  die  Prädicate  B, 
C,  D  gegen  einander  gleichgültig  sind,  treten  diese  Hypo- 
thesen in  keine  weitere  Beziehung  zu  einander  (so  kann  ich 
mir  von  der  Königin  Semiramis  sagen,  sie  war  vielleicht 
hochgew^achsen,  schwarzäugig  u.  s.  f.) ;  führt  eines  das  andere 
noth wendig  mit  sich,  so  entsteht  das  hypothetische  ürtheil; 
sind  sie  aber  unverträglich,  so  schliesst  die  Annahme 
eines  Prädicats  die  der  übrigen  aus,  und  ich  stehe  also  vor 
unvereinbaren  Sätzen,  deren  jeder  für  sich  eine  mögliche  Hy- 
pothese ist. 

Es  ist  die  Function  der  Partikel  oder,  solche  unver- 
einbare Hypothesen,  die  gleich  ungewiss  sind,  zu  verknüpfen  ; 
und  zwar  nicht  bloss  Prädicate  eines  und  desselben  Subjects, 
sondern  überhaupt  Annahmen,  die  sich  —  aus  irgend  einem 
Grunde  —  ausschliessen,  deren  Verhältniss  also  in  einem  hy- 
pothetischen Urtheile  ausgesprochen  werden  kann,  das  die 
Bejahung  der  einen  Annahme  mit  der  Verneinung  der  an- 
deren verknüpft.  Die  Partikel  »oder«  enthält  also  die  beiden 
Behauptungen,  dass  die  Sätze  ungewiss  sind,  und  dass  sie 
sich  ausschliessen.  A  ist  B  oder  C,  heisst:  A  ist  vielleicht  B, 
vielleicht  C  ;  wenn  es  B  ist,  ist  es  nicht  C,  wenn  es  C  ist, 
ist  es  nicht  B. 


254  §  37.     Das  disjunctive  Urtheil.  299 

2.  Eine  ähnliche  Nebeneinanderstellung  ergibt  sich  aus 
den  Urtheilen,  die  eine  Möglichkeit  aussagen.  Die  Ur- 
theile:  Wasser  kann  flüssig,  fest,  gasförmig  sein;  der  Mensch 
kann  wachen  und  schlafen,  drücken  sich,  auf  einen  und  den- 
selben beliebigen  Zeitpunkt  bezogen,  auch  in  der  Form  aus: 
Wasser  ist  flüssig  oder  fest  oder  gasförmig;  der  Mensch 
schläft  oder  wacht.  Und  ebenso  tritt  das  »oder«  ein,  wo  eine 
unbestimmtere  Vorstellung  noch  weitere  Determinationen  zu- 
lässt;  das  Dreieck  ist  eben  oder  sphärisch  u.  s.  w. ;  eine  ebene 
geradlinige  Figur  ist  dreieckig  oder  viereckig  oder  fünfeckig 
u.  s.  w.  Mit  der  blossen  Bezeichnung  eines  Dings  durch  das 
unbestimmtere  Wort  ist  noch  Raum  für  bestimmtere,  sich 
ausschliessende  Prädicate;  wovon  ich  nur  weiss  und  sage, 
dass  es  ein  Dreieck  ist,  dem  können  noch  verschiedene,  unter- 

^einander  unverträgliche  Bestimmungen  zukommen. 

3.  Wird  nun  von  einer  Reihe  solcher  Hypothesen  be- 
hauptet, dass  eine  derselben  nothwendig  wahr,  mit  den  aufge- 
zählten also  alle  subjectiv  oder  objectiv  möglichen,  sich  aus- 
schliessenden  Prädicate  erschöpft  seien :  so  ist  damit  das  dis- 
junctive Urtheil  gegeben:  Entweder  gilt  A  ist  B, 
oder  A  ist  C;  A  ist  entweder  B  oder  C  oder  D.  Die 
Behauptung  des  disjunctiven  Urtheils  ist  also  auf  die  noth- 
wendige  Gültigkeit  einer  aus  einer  bestimmten  Anzahl  von 
möglichen  unvereinbaren  Hypothesen  gerichtet. 

4.  Den  einfachsten  Fall  eines  disjunctiven  Urtheils  bildet 
die  Antiphasis  selbst,  sofern  von  ihr  das  Gesetz  des 
ausgeschlossenen  Dritten  gilt ;  von  den  beiden  Sätzen  A  ist  B 
und  A  ist  nicht  B  ist  nothwendig  der  eine  wahr,  der  andere 
falsch.  Allein  eben  weil  diese  Disjunction  so  selbstverständ- 
lich ist,  hat  sie  nur  beschränkten  Werth  (s.  o.  §  25  S.  202); 
die  werth  vollen  Disjunctionen  sind  diejenigen ,  welche  die 
Wahl  unter  positiven  Urtheilen  mit  bestimmten  Prädicaten 
einschränken. 

5.  Unter  diesen  sind  die  nächstliegenden  diejenigen,  welche 
die  beschränkte  Anzahl  von  näheren  sich  ansschliessenden  Be- 
stimmungen aussprechen,  die  eine  allgemeinere  Vorstellung 
zulässt.  Eine  Linie  ist  entweder  gerade  oder  krumm;  ein 
Dreieck  entweder  rechtwinklich  oder  schiefwinklich  ;  ein  Mensch 


300  I>  *?•    1^2,8  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.  255 

entweder  männlich  oder  weiblich ;  Wasser  ist  entweder  flüssig 
oder  fest  oder  gasförmig.  Das  »Können«,  das  die  einzelnen 
Glieder  voraussetzen,  gilt  im  Sinne  von  §  34,  5  S.  2ö8  und 
2(39 ;  die  Bedeutung  der  Disjunction  ist ,  dass  dasjenige ,  wo- 
von ich  bloss  weiss,  dass  es  unter  die  allgemeine  Vorstellung 
A  fällt,  noch  irgend  einen  der  an  A  möglichen  Unterschiede 
haben  muss;  sie  erhellt  am  besten  in  dem  hypothetischen 
Ausdruck,  der  den  Sinn  jener  Disjunctionen  vollständig  an- 
gibt :  Wenn  etwas  eine  Linie  ist,  ist  es  entweder  eine  krumme 
oder  eine  gerade  Linie.  Vorausgesetzt  ist  also  ein  Urtheil, 
das  einem  Subjecte  ein  allgemeineres  Prädicat  zuweist ,  und 
die  Kenntniss  einer  geschlossenen  Reihe  ausschliessender  Unter- 
schiede, welche  an  diesem  möglich  sind. 

6.  Denkt  man  sich  die  Gesammtheit  der  einzelnen  Sub- 
jecte, welche  unter  A  fallen  können,  und  damit  die  Unter- 
schiede wirklich  gesetzt:  so  lässt  sich  dasselbe  Verhältniss 
in  dem  sogenannten  divisiven  Urtheile  ausdrücken :  die 
Linien  sind  theils  gerade,  theils  krumm ;  die  Menschen  theils 
männlich  theils  weiblich;  und  dem  entspricht  in  Beziehung 
auf  die  Veränderungen  desselben  Dings,  wenn  der  ganze  Um- 
kreis als  durchlaufen  vorausgesetzt  wird,  die  Form:  Wasser 
ist  bald  flüssig,  bald  fest,  bald  gasförmig.  Dabei  findet  hin- 
sichtlich des  Verhältnisses  des  divisiven  und  disjunctiven  Ur- 
theils  der  Unterschied  statt,  dass,  wo  bloss  von  der  Erfahrung 
ausgegangen  wird ,  das  divisive  Urtheil  das  disjunctive  be- 
gründet ;  da  thatsächlich  die  Gesammtheit  der  Menschen 
in  männliche  und  weibliche  Individuen  zerfällt,  wird  geschlossen, 
dass  ein  Drittes  immÖglich  sei,  und  darauf  das  disjunctive 
Urtheil:  Jeder  Mensch  ist  entweder  Mann  oder  Weib,  gegründet ; 
während  in  der  Mathematik  z.  B.  das  disjunctive  Urtheil  vor- 
angeht: Ein  Dreieck  ist  entweder  rechtwinklich  oder  spitz- 
winklich  oder  stumpfwinklich  —  und  daraus  erst  die  Sicher- 
heit der  vollständigen  Aufzählung  der  Arten  des  Dreiecks 
folgt ;  ebenso  vorangeht :  Eine  Ebene,  die  einen  geraden  Kegel 
schneidet ,  schneidet  ihn  entweder  parallel  zur  Grundfläche, 
oder  nicht  parallel,  und  dann  entweder  alle  Seitenlinien,  oder 
nicht  alle  Seitenlinien  ,  und  im  letzteren  Fall  entweder  parallel 
zu  einer  Seitenlinie  oder  nicht  parallel  —  und  aus  der  Erkennt- 


256  §  37.     Das  disjunctive  TJrtheil.  301 

niss,  dass  damit  alle  Möglichkeiten  erschöpft  sind,  geht  erst  die 
Division  hervor:  die  Kegelschnitte  sind  theils  Kreise  theils 
Ellipsen  theils  Parabeln  theils  Hyperbeln.  Sprachlich  kleidet  sich 
das  divisive  Urtheil  wohl  auch  in  die  Form  eines  copulativen  : 
Kreis,  Ellipse,  Parabel  und  Hyperbel  sind  die  Kegelschnitte 
—  wobei  der  Artikel  die  Identität  der  Umfange  anzeigt. 

7.  Das  Bedürfniss ,  die  Vollständigkeit  der  Aufzählung 
bestimmter  auszudrücken  als  es  durch  das  theils  —  theils 
geschieht,  hat  dazu  geführt,  auch  das  divisive  Urtheil  in  die 
Form  eines  disjunctiven  zu  kleiden :  Alle  Linien  sind  entweder 
gerade  oder  krumm ;  die  Menschen  entweder  weiblich  oder 
männlich.  Diese  Ausdrucksweise  führt  aber  eine  Zweideutig- 
keit mit  sich;  denn  die  Urtheile,  zwischen  denen  Disjunction 
gesetzt  wird,  sind  nicht :  Alle  Linien  sind  gerade,  alle  Linien 
sind  krumm  —  wie  das  Urtheil :  Die  Menschen  stammen  ent- 
weder von  einem  Paare  oder  von  verschiedenen  ab,  die  zwei 
Sätze  disjungiert:  Die  Menschen  stammen  von  einem  Paare, 
und  die  Menschen  stammen  von  verschiedenen  Paaren  ab. 
Die  Disjunction  gilt  vielmehr  nur  von  jeder  einzelnen 
Linie;  und  auch  hier  ist  also  die  hypothetische  Form  der  un- 
zweideutige Ausdruck :  Was  eine  Linie  ist,  ist  entweder  gerade 
oder  krumm. 

8.  Yon  diesen  Disjunctionen,  deren  Glieder  die  näheren 
Bestimmungen  des  Subjects  sind,  und  die  sich  also  auf 
divisive  Urtheile  zurückführen  lassen,  welche  den  Subjectsbe- 
griff  in  seine  Arten  theilen,  sind  die  anderen  verschieden, 
welche  ein  Prädicat  eines  bestimmten  Subjects  in  seine 
Unterschiede  entwickeln*).  Wird  gesagt  dass  die  Planeten 
entweder  selbstleuchtend  sind  oder  ihr  Licht  von  der  Sonne 
empfangen :  so  heisst  das  nicht,  dass  mit  dem  Planetsein  diese 
beiden  Möglichkeiten  gegeben  sind,    und    die  Planeten    theils 


*)  Die  Lehre  Trendelenbiirf^'s,  d;iRs  das  disjunctive  Urtheil  den  Um- 
fang des  Subjectsbegriffs  angebe,  trifft  nur  diejenigen  disjunctiven  Ur- 
theile, welche  auf  ('inor  Division  des  Subjectsbegriffs  fussen;  sie  ist  nicht 
anwendbar,  wo  die  Disjunctiou  veränderliche  Zustand«!  trifft,  und  nicht 
in  demselben  Sinne,  wo  ein  Prildicatsbegriff'  es  ist,  dessen  nujg liehe  Be- 
stimmungen entwickelt  werden.     Vergl.  mein   Programm  S.  CO.  Ol. 


302  ^»  '^'    ^^^  hypothetische  und  disjunctive  Urtheil.       256. 257 

selbstleuclitend,  tlieils  von  der  Sonne  beleuchtet  sind ;  vielmehr 
ist  das  bestimmte  Urtheil  vorausgesetzt ;  die  Planeten  leuchten, 
und  es  fragt  sich  um  die  nähere  Beschaffenheit  dieses  Leuchtens, 
imd  die  Möglichkeit,  es  unter  den  gegebenen  Umständen  zu 
erklären.  Sagt  man :  die  Welt  ist  entweder  von  Ewigkeit 
oder  geworden  ,  und  entweder  durch  eine  freie  Ursache  oder 
durch  blinde  Nothwendigkeit  geworden :  so  ist  dort  vorausge- 
setzt :  die  Welt  ist  da ,  und  es  handelt  sich  um  die  Dauer 
dieses  Daseins,  hier:  die  Welt  ist  geworden,  und  zwar  aus 
einer  Ursache,  und  es  handelt  sich  um  die  verschiedenen 
Arten  von  Ursachen.  Sagt  man :  er  ist  entweder  ein  Heuchler 
oder  ein  Wahnsinniger  —  so  ist  vorausgesetzt,  er  benimmt 
sich  unvernünftig ,  und  die  Frage  ist  nach  der  Quelle  dieses 
Benehmens.  Ob  die  näheren  Bestimmungen  des  Prädicats  in 
ihm  selbst  nach  seiner  Bedeutung  liegen ,  oder  ob  sie  aus  der 
Ueberlegung  der  concreten  Möglichkeiten  des  einzelnen  Falls 
gewonnen    sind,    macht    einen  weiteren  Unterschied  aus. 

9.  Urtheile  wie :  »entweder  wird  das  Böse  bestraft,  oder 
es  gibt  keine  göttliche  Gerechtigkeit«  führen  auf  hypothetische 
Urtheile  als  ihren  Grund  zurück,  und  ruhen  auf  dem  Satze, 
dass  mit  der  Folge  der  Grund  aufgehoben  ist,  zusammen  mit 
dem  Satze  des  ausgeschlossenen  Dritten.  Wenn  es  eine  gött- 
liche Gerechtigkeit  gibt,  wird  das  Böse  bestraft  —  Entweder 
wird  das  Böse  bestraft  oder  nicht  —  im  letzteren  Falle  ist 
die  Voraussetzung  aufgehoben. 

10.  Die  Lehre ,  dass  das  disjunctive  Urtheil  A  ist  ent- 
weder B  oder  C  sich  auf  zwei  hypothetische  Wenn  A  nicht 
B  ist,  ist  es  C,  und  Wenn  A  B  ist,  ist  es  nicht  C,  zurück- 
führen lasse ,  ist  selbstverständlich  richtig ;  allein  es  folgt 
daraus  nicht,  dass  dem  disjunctiven  Urtheil  neben  dem  hypo- 
thetischen keine  selbstständige  Bedeutung  zukomme.  Denn 
eine  Verneinung  als  Grund  einer  Bejahung  zu  behaupten,  ist 
nur  möglich ,  w^enn  die  Disjunction  bereits  feststeht.  Nur 
wenn  feststeht,  dass  das  Licht  entweder  Materie  oder  Bewe- 
gung ist,  kann  das  Urtheil  ausgesprochen  werden :  Wenn  das 
Licht  nicht  Materie  ist,  ist  es  Bewegung. 

11.  Es  geht  aus  dem  Wesen  der  Behauptung,  welche  das 
disjunctive  Urtheil  enthält,   hervor,  dass  die  Sätze :  A  ist  ent- 


258  §  38.     Ergebnisse.  303 

weder  B  oder  C,  A    kann    entweder  B  oder  C  sein ,    und  A 
muss  entweder  B  oder  C  sein,    vollkommen    dasselbe  sagen. 

§  38. 

Ergebnisse. 

Die  Urtheilsfunction  ist  überall  insofern  die- 
selbe, als  sie  kategorische  Aussage  eines  Prädicats  von  einem 
Subject  ist.  Die  Unterschiede,  die  an  ihr  heraustreten, 
hängen  theils  davon  ab,  ob  die  Synthese  des  Prädicats 
mit  dem  Subjecte  einfach  ist,  wie  bei  dem  Benen- 
nungsurtheil,  oder  m  ehrfach,  wie  bei  den  Urtheilen,  welche 
auf  den  Kategorieen  der  Eigenschaft ,  Thätigkeit ,  Relation 
ruhen,  theils  davon,  ob"/^das  Subj  ect  einesUrtheils  eine 
einheitliche  Vorstellung,  oder  ob  es  selbst  wieder 
eine  urtheilsmässige  Synthese  oder  eine  Verknüpf- 
ung von  solchen  ist,  von  der  die  Prädicate  falsch,  möglich, 
nothwendig  u.  s.  w.  ausgesagt  werden. 

Die  gewöhnlich  aufgestellten  Unterschiede  der  Urtheile 
sind  Unterschiede  ihrer  Prädicate  und  Subjecte, 
und  nicht  Unterschiede  der  Urtheilsfunction;  während  die- 
selbe Classe,  die  der  kategorischen  Urtheile,  die 
wirklichen  Verschiedenheiten  der  Urtheilsfunction  in  sich  ver- 
einigt. 

Um  so  mehr  tritt  die  Bedeutung  der  Prädicate  her- 
vor, welche  allem  Urtheilen  vorausgesetzt  sind ,  und  welche 
als  immer  dieselben  in  den  wechselnden  Subjecten  des  Ur- 
theilens  wiederzuerkennen  das  gemeinsame  Wesen  alles  Ur- 
theilens  ist. 

1.  Die  bisherige  Untersuchung  hat  gezeigt,  dass  die  her- 
gebrachte und  durch  Kant  hauptsächlich  sanctionierte  Ein- 
theilung  der  Urtheile  mangelhaft  ist. 

Die  Basis  und  Voraussetzung  alles  Urtheileus  ist  das 
unmittelbare  einfache  ijositive  Urtheil ,    als    die  mit  dem   Be- 


304  I.  §  38.    Ergebnisse.  258. 259 

wusstsein  objectiver  Gültigkeit  vollzogene  Synthese  eines  Sub- 
jects  und  eines  Prädicats.  Der  Sinn  dieser  Synthese  und  ihrer 
objectiven  Gültigkeit  richtet  sich  nach  der  Beschaffenheit  der 
Vorstellungen ,  welche  im  Urtheil  verknüpft  werden  ;  sie  ist 
einfach  bei  der  blossen  Benennung ;  mehrfach ,  wo  die  Kate- 
gorieen  der  Eigenschaft ,  Thätigkeit ,  Relation  ihr  zu  Grunde 
liegen.  Immer  ist  die  Erkenntniss  der  Uebereinstiramung  einer 
schon  bekannten  Vorstellung  mit  einem  Elemente  des  Subjects 
im  ürtheile  vollzogen,  und  es  ist,  der  ursprünglichen  Bedeu- 
tung von  Erkennen  entsprechend,  jedes  Urtheil  das  Erkennen 
und  Wiedererkennen  eines  schon  Bekannten  in  dem  Subject; 
aber  daraus  folgt  nicht,  dass  jedes  Urtheil  n  u  r  in  dieser  Er- 
kenntniss bestehe,  nur  eine  Subsumtion  ausspreche;  das  Be- 
wusstsein  der  Einheit  der  Eigenschaft  und  Thätigkeit  mit 
einem  Ding,  das  Bewusstsein  des  Verhältnisses  zweier  Dinge 
ist  in  einem  Theile  der  Ürtheile  ebenso  unentbehrlich,  und 
nur  durch  die  Unterscheidung  verschiedener  Elemente  in  der  Ein- 
heit des  Vorgestellten  und  ihre  Synthese  ist  die  Subsumtion  in 
den  Eigenschafts-,  Thätigkeits-  und  Relationsurt heilen  möglich. 

Auch  diejenigen  ürtheile,  deren  Prädicate  Zahlbestim- 
mungen sind,  zeigen  keine  wesentlich  verschiedene  Urtheils- 
function.  Denn  dass,  um  ein  Zahlprädicat  auszusprechen, 
andere  Ürtheile  vorangegangen  sein  müssen,  macht  keine 
eigenthümliche  Bestimmung  aus;  jedes  Urtheil  über  Einzelnes, 
welches  mit  dem  Subjectsworte  dieses  benennt ,  setzt  ebenso 
ein  vorangegangenes  Urtheil  voraus;  es  ist  nur  die  Eigen- 
thümlichkeit  der  Zahlprädicate,  welche  die  Art  der  vorausge- 
gangenen Operationen  bestimmt,  wie  die  Eigenthümlichkeit 
anderer  Relationsprädicate  andere  vorausgehende  Operationen 
nöthig  macht  ~  z.  B.  Gleichheit  und  Ungleichheit  das  Mes- 
sen ;  die  eben  jetzt  gefundene  Zahl  wird  mit  einer  bekannten 
Zahl  gleichgesetzt. 

2.  Nun  führt  aber  der  Gang  unseres  über  das  unmittel- 
bar Gegebene  hinausgreifenden  Denkens  dazu  ,  dass  die  Vor- 
stellung eines  Urtheils,  das  vollzogen  werden  könnte,  sich 
scheidet  von  seinem  wirklichen  Vollzug;  und  dass  in  Beziehung 
auf  ein  vorgestelltes  Urtheil,  oder  die  Verhältnisse  vorgestellter 
ürtheile,  neue  ürtheile  eintreten. 


259.260  §  38.    Ergebnisse.  305 

Dem  Urtheil,  das  in  der  Behauptung  selbst  liegt,  dass 
die  dadarch  ausgedrückte  Synthese  noth wendig  oder  wahr  sei, 
tritt  die  Behauptung  entgegen,  dass  sie  falsch  sei,  in  der  Ver- 
neinung ;  und  neben  die  bejahende  oder  verneinende  Entschei- 
dung tritt  einerseits  das  Urtheil,  dass  eine  Hypothese  möglich, 
d.  h.  dass  weder  sie  zu  bejahen  noch  zu  verneinen,  subjectiv 
nothwendig  sei,  andererseits  dass  sie  nothwendige  Folge  einer 
andern  Hypothese,  dass  unter  einer  Anzahl  bestimmter  Hypo- 
thesen eine  nothwendig  wahr  sei. 

Alle  ^diese  Urtheile  sind  insofern  den  einfachen  Urtheilen 
gleichartig,  als  sie  einfache  modale  Prädicate  über  ein  Subject 
aussagen;  sie  sind  also  nicht  durch  die  Art  der  Synthese, 
sondern  nur  durch  die  Beschaffenheit  ihrer  Subjecte  und  Prä- 
dicate eigenthümlich ;  aber  da  diese  Subjecte  ein  wesentliches 
Element  der  Urtheilsfunction  selbst  sind ,  und  die  Prädicate 
eben  diejenige  Beschaffenheit  derselben  betreffen,  welche  ihre 
Beziehung  auf  den  letzten  Zweck  alles  ernsthaften  Denkens 
ausdrückt,  sind  sie  in  eminentem  Sinne  logische  Urtheile,  und 
keine  Urtheilsfunction  überhaupt  kann  sich  mit  Bewusstsein 
vollziehen,  ohne  sich  über  das  Verhältniss  der  zunächst  sub- 
jectiven  Combination  von  Subject  und  Prädicat  zu  diesen  Be- 
stimmungen Rechenschaft  zu  geben.  Damit  ist  es  gerecht- 
fertigt ,  das  verneinende ,  hypothetische ,  disjunctive  Urtheil 
besonders  zu  betrachten,  nicht  als  ob  sie  b  es  on  dere  Art  en 
des  Urtheils  wären,  sondern  weil  sie  Urtheile  über  Hy- 
pothesen sind,  die  ihren  logischen  Werth  und  ihre  logische 
Bedeutung  betreffen. 

Es  gibt  also  in  der  That  nur  einerlei  Urtheilen,  die  kate- 
gorische Aussage  eines  Prädicats  von  einem  Subjecte;  wenn 
man  überhaupt  Form  imd  Inhalt  beim  Urtheil  unterscheiden 
will,  so  kann  unter  Form  des  Urtheils  nur  diejenige  Thätig- 
keitsweise  unseres  Denkens  verstanden  werden ,  durch  welche 
ein  Urtheil  als  solches  zu  Stande  kommt,  und  diese  ist  ihrem 
Wesen  nach  überall  dieselbe.  Was  gewöhnlich  als  Verschieden- 
heit der  Urtheilsf  o  r  m  e  n  aufgeführt  wird,  ist  eine  Verschieden- 
heit des  Inhalts,  und  hängt  von  der  Beschaffenheit  der 
Subjecte  und  Prädicate  ab ;  je  nachdem  diese  verschieden  ist, 
modificiert  sich  allerdings  theils  die  dem  Urtheil  vorausgehende 

Sigwart,  Logik.    1.    2.  Auflage.  20 


306  I-  §  38.     Ergebnisse.  260 

Bewegung  des  Denkens,  theils  der  Sinn  der  Prädication,  d.  h. 
der  Einheit  zwischen  Subject  und  Prädicat,  welche  in  allem 
Urtheilen  gedacht  wird.  Die  traditionelle  Lehre  von  den  ver- 
schiedenen Urtheilsf  ormen  (die  zum  Theil  durch  die  Ge- 
wohnheit vor  allem  den  sprachlichen  Ausdruck  zu  beachten 
entstanden  ist),  verliert  den  einheitlichen  Begriff,  um  dessen 
willen  allein  alle   als  ürtheile   bezeichnet   werden    können. 

Die  Voraussetzung  alles  Urtheilens  ist  also  in  erster  Linie 
das  Vorhandensein  einer  Reihe  von  Prädicatsvorstellungen, 
welche  in  den  Subjecten  wieder  erkannt  werden  können,  und 
weiterhin  die  Vorstellung  der  verschiedenen  Arten  der  Synthese 
zwischen  Prädicaten  und  Subjecten,  welche,  durch  die  Natur 
der  Subjecte  und  Prädicate  bestimmt,  den  Sinn  der  einfachen 
Aussage  des  Prädicats  vom  Subjecte  ausmachen. 

Will  man  die  danach  sich  ergebenden  Arten  der  im 
ürtheil  vollzogenen  Synthese  dennoch  als  Urtheilsformen 
bezeichnen,  so  ist  das  zuletzt  Sache  des  Sprachgebrauchs ;  nur 
darf  damit  nicht,  wie  es  besonders  in  der  Unterscheidung  des 
bejahenden  und  verneinenden  Urtheils  als  entgegengesetzter 
Urtheilsformen  regelmässig  geschah,  der  Gedanke  ausgedrückt 
werden ,  dass  eine  Mehrheit  ursprünglich  verschiedener  und 
coordinierter  Denkacte  durch  den  Namen  Urtheil  bezeichnet 
werde.  Sonst  fehlt  dem  Worte  der  einheitliche  Begriff,  und 
es  ist  blosses  Homonym. 


Zweiter,  normatiyer  Theil. 


Die  logische  Vollkommenlieit  der  TJrtheile  und 

ihre  Bedingungen,    bestimmte  Begriffe    und 

gültige  Schlüsse. 


20' 


( 


§  39. 

Soll  der  Zweck,  zu  gewissen  und  allgemeingültigen  Sätzen 
zu  gelangen,  durch  den  Vollzug  der  Urtheilsfunction  wirklich 
erreicht  werden,  so  ist  dazu  vor  allem  nöthig ,  dass  die  G  e- 
wissheit  des  einzelnen  ürtheils  eine  unver- 
änderliche und  mit  demBewusstsein  seiner 
Allgemeingültigkeit  verknüpft  sei.  Dies  ist  nur 
möglich,  wenn  erstens  der  XJrth eilende  sich  des  logischen 
Grundes  seines  ürtheils  bewusst  ist,  und  wenn 
zweitens  die  Elemente  des  Ürtheils  selbst  vollkommen  be- 
stimmt und  constant,  und  von  allen  in  derselben  Weise  ge- 
dacht sind. 

Die  letztere  Forderung  verlangt,  dass  die  Elemente  un- 
serer Urtheile,  zunächst  ihre Prädicate,  logisch  vollkom- 
mene Begriffe  seien ;  die  erstere,  dass  die  Urtheile  selbst 
nach  allgemeingültigen  und  noth wendigen  Gesetzen  des  Den- 
kens begründet  seien. 

1.  Wir  haben  im  ersten  Theile  das  Dgiiken.  aufgenom- 
men, wie  wir  es  thatsächlich  vorfinden,  und  die  Function  des 
Urtheilens  analysiert,  in  welcher  es  sich  überall  bewegt ,  wo 
es  den  Zweck  der  Wahrheit  und  Allgemeingültigkeit  erreichen 
will.  Wir  haben  versacht,  Sinn  und  Bedeutung  des  ürtheils 
nach  allen  Beziehungen  aufzuzeigen,  und  als  ein  wesentliches 
Element  jeder  Behauptung  den  Anspruch  gefunden ,  wahr, 
d.  h.  nothwendig  und  darum  für  alleDenkenden 
gültig  zu  sein. 

Es  handelt  sich  jetzt  darum  diesen  Anspruch  zu  prüfen, 
und  die  Bedingungen  zji  untersuchen,  unter  denen  unser  ür- 


^5 


310  11«    Einleitung.  2ü4 

theilen  seinem  Zweck  entspricht;  unter  denen  die  momen- 
tane Gewissheit,  ohne  welche  kein  Urtheil  wirklich  vollzogen 
werden  kann,  keine  Täuschung  in  sich  schliesst,  vielmehr  der 
Ausdruck  objectiver  Noth wendigkeit  ist ;  und  unter  denen 
die  Allgemeingültigkeit  des  individuellen  Urtheilsactes  ver- 
bürgt ist. 

2.  Zur  Vollkommenheit  eines  ürtheils  gehört  in  erster 
Linie,  dass  es  für  den  Urtheil  enden  fest  stehe  und 
als  dasselbe  sich  stets  wiederholen  lasse ,  sobald  zu  denselben 
Subjecten  und  Prädicaten  zurückgekehrt  wird ,  ^^aas  mithin 
auch  seine  Gewissheit  eine  unveränderliche  sei. 
Wenn  dieselbe  Synthese  demselben  zu  verschiedenen  Zeiten 
das  einemal  gewiss,  das  anderemal  ungewiss  wäre;  wenn  die 
Verknüpfung  derselben  Subjecte  und  Prädicate  nicht  in  dem- 
selben Sinne  gälte,  soweit  sich  dasselbe  einheitliche  Bewusst- 
sein  erstreckt;  wenn  ich  für  möglich  hielte,  dass  ich  von 
denselben  Voraussetzungen  aus  in  der  Zukunft  vielleicht  anders 
urtheilte,  als  jetzt :  dann  könnte  ein  solcher  Urtheilsact  unmög- 
lich seinen  Zweck  erreicht  haben,  in  welchem  von  selbst  das 
Beruhen  in  der  unumstösslichen  Gültigkeit  des  ürtheils  liegt. 

Die  Gewissheit  aber ,  dass  es  bei  einem  Urtheile  bleibt, 
dass  die  Synthese  unwiderruflich  ist,  dass  ich  immer  dasselbe 
sagen  werde  —  diese  Gewissheit  kann  nur  dann  vorhanden 
sein,  wenn  erkannt  ist,  dass  die  Gewissheit  nicht  auf  momen- 
tanen und  mit  der  Zeit  wechselnden  psychologischen 
Motiven  ruht,  sondern  auf  etwas,  was  jedesmal, 
wenn  ich  denke,  unabänderlich  dasselbe  und  von 
allem  Wechsel  unberührt  ist ;  und  dies  ist  einerseits  mein 
Selbstbewusstsein  selbst,  die  Gewissheit  Ich  bin  und 
denke ,  die  Gewissheit  Ich  bin  Ich,  derselbe ,  der  jetzt  denkt 
und  früher  gedacht  hat,  der  dieses  und  jenes  denkt ;  und  ander- 
seits das,  worüber  ich  urtheile,  das  Gedachte  selbst  nach 
seinem  gleichbleibenden,  von  mir  in  sei  n  er  Iden- 
tität anerkannten  Inhalt,  der  ganz  unabhängig  von 
den  individuellen  Zuständen  der  Denkenden  ist. 

Die  Gewissheit,  dass  Ich  bin  und  denke,  ist  die  absolut 
letzte  und  fundamentale ,  die  Bedingung  alles  Denkens  und 
aller  Gewissheit  überhaupt;  hier  kann  nur  von  der  unmittel- 


265  §  39.    Die  Bedingungen  vollkommener  Urtheile.  311 

baren  Evidenz  die  Rede  sein ,  man  kann  nicht  einmal  sagen, 
dass  dieser  Gedanke  nothw^endig  ist,  sondern  er  ist  vor  aller 
Nothvi^endigkeit.  Und  ebenso  unmittelbar  und  evident  ist 
die  Gev^issheit  des  Bewusstseins ,  dass  ich  dieses  und  dieses 
denke ;  sie  ist  mit  meinem  Selbstbewusstsein  unauflöslich  ver- 
flochten, das  eine  mit  dem  anderen  gegeben. 

Gibt  es  nun  eine  Nothwendigkeit ,  mit  der  ich ,  sobald 
ich  etwas  mit  Bewusstsein  vorstelle ,  nun  auch  so  und  nicht 
anders  darüber  urtheilen  muss;  kann  ich  zum  Bewusstsein 
gelangen,  dass  ich,  so  gewiss  ich  derselbe  bin,  dieses  Subject 
und  dieses  Prädicat  gerade  so  verknüpfen  muss,  lediglich  weil 
ich  eben  dies  denke :  so  ruht  die  Gewissheit  jedes  bestimmten 
Urtheils  auf  der  Einsicht  in  diese  Nothwendigkeit;  ich  bin 
mir  damit  seines  logischen  Grundes  bewusst,  und  damit 
ist  das  Urtheil  mit  meinem  Selbstbewusstsein  selbst  verknüpft, 
ich  weiss,  dass  ich  es  so  gewiss  immer  als  dasselbe  wieder- 
holen muss,  als  ich  selbst  derselbe  bin. 

Die  erste  Forderung  lautet  also :  Damit  einUrtheil 
vollkommen  sei,  muss  d  e  r  ü  r  t  h  ei  1  e  n  d  e  sich 
des  logischen  Grundes  desselben  bewusst  sein. 

8.  Unter  welchen  Bedingungen  lässt  sich  zu  diesem  Be- 
wusstsein gelangen? 

Wenn  ein  meinem  Bewusstsein  gegenwärtiges  A  als  der 
Grund  gelten  soll,  der  ein  Urtheil  B  logisch  nothwendig 
macht:  so  ruht  die  Nothwendigkeit  auf  einem  constanten 
Gesetz,  vermöge  dessen  immer  und  ausnahmslos  B  aus  A 
folgt,  und  nur  in  soweit  ist  sie  eine  erkennbare;  dass  aber 
A  gegenwärtig  ist,  ist  ein  r  e  i  n  F  a  c  t  i  s  c  h  e  s,  das  vorhanden 
sein  muss ,  damit  die  Nothwendigkeit  wirksam  werde.  Das 
Bewusstsein  des  Grundes  zerfällt  also  in  das  Bewusstsein 
des  Gesetzes,  vermöge  dessen  B  aus  seinen 
Voraussetz ungenfolgt,  und  in  das  Bewusstsein 
dieser  Voraussetzungen. 

Sind  diese  Voraussetzungen  selbst  keine 
Urtheile,  sondern  anders  geartete  Objecte  meines  Bewusst- 
seins, über  die  es  nur  das  einfache  Wissen  gibt,  dass  ich  sie 
eben  jetzt  vorstelle ,  Sinnesempfindungen ,  reproducierte  Vor- 
stellungen aller  Art,  dem  Bewusstsein  gegenwärtige  Begriffe: 


(1. 


312  II.    Einleitung.  266 

so  sind  wir  mit  der  logischen  Nothwendigkeit  bereits  bei 
einem  Letzten  angelangt,  das  als  ein  rein  Thatsächliches 
zu  betrachten  ist,  und  bei  dem  nur  gefragt  werden  kann,  was 
nun  mit  Nothwendigkeit  daraus  hervorgeht.  Das  Urtheil, 
dass  der  Kreis  gleiche  Halbmesser  habe,  beruht  auf  dem  Be- 
grifi*  des  Kreises ;  dieser  Begriff,  oder  die  Anschauung  aus  der 
er  entsteht ,  ist ' aber  /.uletzt  ein  Factisches,  und  keine 
allgemeine  logische  Nothwendigkeit  kann  aufgezeigt  werden, 
dass  dieses  geometrische  Gebilde  überhaupt  in  meineai  Bewusst- 
sein  erscheine,  sei  es  mit  Hülfe  der  Anschauung  äusserer  Ob- 
jecte,  sei  es  auf  dem  Wege  erfindender  Construction.  Jedes 
Wahrneb mungsurtheil  hat  unter  seinen  Voraussetzungen  das 
unmittelbare  Bewusstsein  einer  Sinnesempfindung;  dieses  ist 
ein  rein  Thatsächliches,  und  es  kann  wohl  gefragt  werden, 
ob  diese  Sinnesempfindung  unter  normalen  Bedingungen  zu 
Stande  gekommen  sei  und  darum  ein  Urtheil  über  ein  Seiendes 
zulasse,  d.  h.  es  kann  gefragt  werden,  was  mit  allgemein- 
gültiger Nothwendigkeit  aus  dem  einfachen  Factum  einer  sub- 
jectiven  Empfindung  folge ,  aber  dass  die  Sinnesempfindung 
da  ist,  kann  niemals  Gegenstand  einer  logischen  Nothwendig- 
keit, sondern  nur  des  unmittelbaren  Bewusstseins  einer  ein- 
fachen Thatsache  sein. 

Sind  dagegen  die  Voraussetzungen  selbst  wie- 
der Urtheile:  so  zerlegt  sich  das  Bewusstsein  der  Noth- 
wendigkeit einerseits  in  das  Bewusstsein  der  Gesetze 
nach  denen  aus  Urtheilen  andere  Urtheile 
folgen  (d.  h.  der  Regeln  der  Folgerung),  andererseits  in  das 
Bewusstsein  der  Gültigkeit  derVoraussetz- 
u  n  g  e  n.  Auf  diese  finden  aber  wieder  dieselben  Forderungen 
Anwendung,  dass  man  sich  des  Grundes  dieser  Urtheile  be- 
wusst  sein  müsse ;  und  nur  diejenigen  Urtheile  sind  davon 
ausgeschlossen,  deren  evidente  Gewissheit  als  eine  ebenso  un- 
mittelbar thatsächliche  angesehen  werden  müsste,  als  das  Ich 
denke  oder  das  Dasein  bestimmter  Vorstellungen ,  und  bei 
denen  eine  Analyse  ihrer  Gewissheit  durch  ein  Bewusstwerden 
ihrer  Nothwendigkeit  nicht  mehr  möglich  ist ;  und  ebenso  Ur- 
theile, deren  Inhalt  die  fundamentalen  Gesetze  aller  Nothwendig- 
keit bilden ,    nach    denen  alles  nothwendig  ist ,  und  deren 


1 


267  §  39.    Die  Bedingungen  vollkommener  Urtheile.  313 

Gültigkeit  darum  nur  anerkannt,  nicht  aber  aus  einem  andern 
als  nothwendig  eingesehen  werden  kann ;  die  so  gewiss  sind, 
als  der  Satz  »Ich  bin«  selbst,  oder  von  denen  gezeigt  werden 
kann,  dass  ihre  Gewissheit  eben  mit  der  Gewissheit  dieses 
Satzes  nothwendig  gegeben  ist. 

Die  ganze  Möglichkeit  einer  Logik,  welche  Normalgesetze 
für  das  Denken  aufstellen  will ,  ruht  demnach  auf  der  Mög- 
lichkeit, sich  solcher  letzter  Gesetze  bewusst  zu  werden ,  und 
sie  als  etwas  absolut  Gewisses  und  Evidentes  zu  entdecken. 
Als  ihre  Aufgabe  ergibt  sich  jetzt  aber,  nicht  das  unerschöpf- 
liche Thatsächliche  und  Individuelle  zu  verfolgen,  das  im 
Einzelnen  die  factischen  Voraussetzungen  unserer  ürtheile 
ausmacht,  sondern  eben  jene  Gesetze  darzulegen,  nach  welchen 
bestimmte  Vorstellungen  ürtheile,  bestimmte  ürtheile  andere 
ürtheile  logisch  nothwendig  machen  und  ihre  Gewissheit  be- 
gründen, und  dazu  gehört,  was  wir  schon  in  der  Einleitung 
§  3  als  Postulat  aufgestellt  haben ,  dass  wir  nemlich  die 
Fähigkeit  haben,  objectiv  nothwendiges  Denken  zu  unterschei- 
den an  der  Evidenz,  durch  die  es  sich  ankündigt,  und  durch 
Analyse  der  Bedingungen  dieser  Evidenz  jene  allgemeinen 
Gesetze  aufzustellen.  Ob  jenes  Postulat  gegründet  ist,  kann 
nur  die  Ausführung  rechtfertigen. 

4.  Die  unveränderliche  Gültigkeit  und  feste  Gewissheit 
eines  ürtheils  hat  aber  noch  weiter  zurückliegende  Beding- 
ungen, welche  im  Laufe  des  natürlichen  Denkens  nicht  erfüllt 
sind,  nemlich  die  Con stanz  und  völlige  Bestimmtheit 
der  Vorstellungen,  welche  durch  die  Subjects-  und  Prä- 
dicatswÖrter  bezeichnet  sind.  Das  Bewusstsein  der  Identität 
eines  ürtheils  haftet  zunächst  an  seinem  sprachlichen  Aus- 
druck, daran,  dass  i  n  W  o  r  t  e  n  dasselbe  von  demselben  aus- 
gesagt wird,  und  dieser  sprachliche  Ausdruck  ist  für  das  Prädicat 
immer,  für  das  Subject  wenigstens  in  den  erklärenden  und 
allgemeinen  ürtheilen  vorausgesetzt.  Wenn  nicht  jedem  Worte 
immer  genau  dieselbe  Bedeutung  entspricht  und  diese 
also  vollkoiTimen  bestimmt  und  fixiert  ist,  so  ist  keine  Mög- 
lichkeit, bei  der  Wiederholung  desselben  Satzes  der  Wieder- 
holung desselben  ürth ei  Is  gewiss  zu  sein,  und  der  Sinn  des 
ürtheils  selbst  wird  schwankend.    Die  Gefahr,  dass  diese  Ver- 


314  n.    Einleitung.  268 

wirrung  eintrete,  ist  um  so  grösser,  da  (nach  §  7,  8  S.  51) 
durch  das  fortschreitende  Urtheilen  selbst  die  Prädicats Vor- 
stellungen sich  verschieben,  und  unser  gewöhnliches  Urtheilen 
häufig  durch  die  blosse  unbestimmte  Aehnlichkeit  eines  Neuen 
mit  einem  Bekannten  geleitet  wird.  Als  die  Marcomannen 
die  Löwen,  welche  Marc  Aurel  gegen  sie  losliess ,  für  Hunde 
ansahen  und  sie  ohne  umstände  todtschlugen ,  so  meinte  ihr 
ürtheil  »dies  sind  Hunde«  zunächst  nur,  dass  die  Löwen  von 
den  ihnen  bekannten  Thieren  den  Hunden  am  ähnlichsten 
sehen ;  aber  zugleich  veränderte  sich  ihnen  die  allgemeine 
Vorstellung  des  Hundes  und  die  Bedeutung  des  Wortes,  in 
welche  ein  neues  Bild  aufgenommen  wurde. 

Ebenso  ist  die  Allgemeingültigkeit  der  ürtheile 
zwar  durch  ihre  Nothwendigkeit  verbürgt,  aber  eben  nur  so, 
dass ,  wer  von  denselben  Voraussetzungen  ausgeht ,  dieselbe 
Synthese  vollziehen  muss.  Wären  aber  die  letzten  Voraus- 
setzungen, die  Vorstellungs-Elemente  zwischen  denen  die  Syn- 
these stattfindet,  durchweg  individuell  verschieden  und  in- 
commensurabel ,  so  dass  bei  demselben  Worte  jeder  wieder 
etwas  anderes,  wenn  auch  noch  so  wenig  Verschiedenes  dächte : 
so  könnte  die  Allgemeingültigkeit  der  ürtheile  niemals  factisch 
eintreten,  sondern  höchstens  annäherungsweise  erreicht  werden ; 
und  die  durch  die  Sprache  angestrebte  Gemeinschaft  des  Denkens, 
welche  Bedingung  seiner  höheren  Entwicklung,  und  insbe- 
sondere aller  Wissenschaft  ist,  würde  niemals  völlig  realisiert. 

Nun  ist ,  nach  den  Ausführungen  des  §  7 ,  in  dem  na- 
türlichen Gange  unseres  Denkens  weder  die  Constanz  und 
völlige  Bestimmtheit  der  individuellen  Vorstellungen ,  noch 
die  Uebereinstimmung  derselben  in  den  verschiedenen  Indi- 
viduen und  ihre  gemeinsame  sprachliche  Bezeichnung  erreicht ; 
vielmehr  ist  gerade  durch  die  Gesetze,  welche  die  natürliche 
Bildung  der  Vorstellungen  beherrschen,  sowohl  ihre  Verän- 
derlichkeit in  dem  Einzelnen,  als  ihre  Differenz  in  Verschie- 
denen notb wendig  gesetzt;  und  damit  auch  die  Unsicherheit 
der  sprachlichen  Bezeichnung. 

Ehe  also  von  der  vollkommenen  logischen  Gewissheit 
eines  Urtheils  und  seiner  unabänderlichen  Gültigkeit  die  Rede 
sein  kann,    muss  erst  feststehen,  dass,   was  als  dasselbe  Ur- 


269  §  39.     Die  Bedingungen  vollkommener  TJrtheile.  315 

theil  erscheint,  weil  es  sprachlich  gleich  lautet,  auch  wirklich 
dasselbe  Urtheil  ist,  in  welchem  dasselbe  von  demselben  aus- 
gesagt wird ;  und  ehe  von  der  Allgemeingültigkeit  eines  be- 
stimmten Urtheils,  in  concreto  also  von  seiner  Verständlich- 
keit und  Ueberzeugungskraft  für  jeden  Andern  die  Rede  sein 
kann,  muss  feststehen,  dass  es  gemeinschaftliche  und  in  allen 
übereinstimmende  Vorstellungen  enthält.  Der  ideale  Zustand 
des  vollkommenen  Denkens  schliesst  die  natürliche  Anarchie 
vollkommen  aus;  und  die  Logik,  welche  die  Normalgesetze 
des  vollkommenen  Denkens  aufstellen  will,  muss  vor  allem  die 
Forderungen  bestimmen,  welche  an  die  Vorstellungen 
selbst  alsVoraussetzungen  des  Urtheils  zu  stellen  sind. 
5.  Daraus  ergeben  sich  zwei  Hauptaufgaben  unseres 
Theils. 

a.  Die  Bedingung  der  Möglichkeit  vollkommener 
TJrtheile  ist  durchgängige  Constanz,  vollkommene 
Bestimmtheit,  allgemeine  Uebereinstimmung 
und  unzweideutige  sprachliche  Bezeichnung  der 
Vorstellungen,  welche  als  Prädicate  beziehungsweise  als  Sub- 
jecte  in  das  Urtheil  eingehen.  Eine  Vorstellung,  welche  diese 
Forderungen  erfüllt,  nennen  wir  Begriff  im  logischen 
Sinne  des  Wortes.  Ein  erster  Abschnitt  hat  also  die 
Forderungen  zu  untersuchen,  welche  darin  enthalten  sind,  dass 
unsere  Vorstellungen  Begriffe  sein  sollen. 

b.  Die  Bedingung  der  logischen  Nothwendigkeit 
und  Allgemeingültigkeit  der  Urtheile  ist,  dass  sie  b e- 
gründet  sind.  Eine  zweite  Untersuchung  hat  die  Regeln 
aufzustellen,  nach  denen  ein  Urtheil  mit  Nothwendigkeit  aus 
seinen  Voraussetzungen  hervorgeht. 

In  dem  einen  Abschnitt  derselben  sind  die  Gesetze  zu 
untersuchen,  nach  welchen  unmittelbare  Urtheile  be- 
gründet sind  durch  die  Vorstellungen,  welche  in  sie  eingehen  ; 
in  dem  andern  die  Gesetze,  nach  welchen  vermittelte  Ur- 
theile durch  andere  Urtheile  begründet  sind. 


Erster  Abschnitt. 
Der  Begriff. 

§  40. 

Der  Begriff  im  logischen  Sinne  unterscheidet 
sich  von  der  im  natürlichen  Laufe  des  Denkens  gewordenen 
und  durch  ein  Wort  bezeichneten  allgemeinen  Vorstellung  durch 
seine  Constanz,  durchgängige  feste  Bestimmtheit  und  die 
Sicherheit  und  Allgemeingültigkeit  seiner  Wortbezeichnung; 
er  unterscheidet  sich  von  dem  Begriff  im  metaphysi- 
schen Sinne  als  dem  adäquat  gedachten  Wesen  eines  Ob- 
jects  dadurch,  dass  er  nur  die  vollkommene  Fixierung  unserer 
Prädicatsvorstellungen  zur  Aufgabe  hat,  und  diese  Aufgabe 
direct  davon  unabhängig  ist,  ob  er  einem  realen  Objecte  über- 
haupt, oder  ob  er  ihm  adäquat  entspricht.  Die  Bestimmung 
der  Allgemeinheit  ist  ihm  mit  jeder  Vorstellung  als  solcher 
gemeinsam;  das  unterscheidende  Wesen  des  Begriffs  ist  viel- 
mehr die  festeBegrenzung  und  sichereUnter Schei- 
dung gegenüber  von  allen  übrigen,  und  das  Ziel  aller  Be- 
griffsbildung im  logischen  Sinne  eine  für  alle  Denkenden 
gleiche  Ordnung  ihres  manigf  altigen  Vorstel- 
lungsgehalts; und  damit  die  allseitige  planmässige  Vollen- 
dung dessen,  was  die  Sprache  überall  schon  ohne  bewusste 
Absicht  begonnen  hat. 

1.  Wenn  von  »Begriffen«  die  Rede  ist ,  so  ist  ein  drei- 
facher Sinn  zu  unterscheiden ,  in  welchem  das  Wort  genom- 
men wird.     Einerseits  bezeichnet  es  ein  natürliches   psy- 


271  §  40.    Wesen  des  logischen  Begriffs.  317 

chologisches  Erzeugniss,  und  ist  das  einfache  innere 
Correlat  des  Wortes  wie  es  im  gewöhnlichen  natürlichen 
Sprechen  gebraucht  wird ;  es  ist  die  Vorstellung  auf  der  Stufe, 
auf  der  sie  ein  innerer  Besitz  geworden  ist,  dadurch  die  §  7 
erläuterte  Allgemeinheit  gewonnen  hat,  die  jeder  Vorstellung 
als  solcher  zukommt,  und  nun  fähig  ist  als  Element,  insbe- 
sondere als  Prädicat  des  ürtheils  verwendet  zu  werden.  Dass 
diese  Vorstellungen  individuell  different  und  im  Werden  be- 
griffen sind,  dass  sie  im  einzelnen  Individuum  selbst  sich  um- 
bilden und  also  dasselbe  Wort  selbst  für  denselben  nicht  immer 
gleiche  Bedeutung  hat,  haben  wir  oben  gesehen;  und  es  ist 
genau  genommen  eine  Fiction,  welche  das  Individuelle  ver- 
nachlässigt, wenn  man  von  den  Begriffen  redet,  welche  die 
im    gewöhnlichen    Sprechen   gebrauchten   Wörter   bezeichnen. 

2.  Dieser  empirischen  Bedeutung  steht  eine  ideale 
gegenüber ,  wonach  der  Begriff  den  Zielpunkt  unseres 
Erkenntnissstrebens  insofern  bezeichnet,  als  in  ihm  ein 
adäquates  Abbild  des  Wesens  der  Dinge  gesucht,  und  gefor- 
dert wird,  dass,  wer  den  Begriff  einer  Sache  habe,  sie  dadurch 
in  ihrem  innersten  Kern^  durchschaue,  sie  begreife,  d.  h. 
ihre  einzelnen  Bestimmungen  als  nothwendige  Folge  ihres 
einheitlichen  Wesens  in  ihrem  Zusammenhange  einsehe.  So 
wäre  die  Physiologie  vollendet,  wenn  sie  den  Begriff  des  Le- 
bens, die  Chemie  und  Physik,  wenn  sie  den  Begriff  der  Ma- 
terie, die  Psychologie,  wenn  sie  den  Begriff'  des  Geistes  in 
diesem  Sinne  besässe;  und  unser  ganzes  Erkennen  hätte  von 
dieser  Seite  sein  Ziel  erreicht,  wenn  ein  System  von  Begriffen 
aufgestellt  wäre,  in  welchem  das  Seiende  ohne  Rest  nach 
seiner  Wahrheit  enthalten  wäre.  Wollen  wir  uns  ein  abso- 
lutes, göttliches  Erkennen  denken  :  so  bestimmen  wir  es  da- 
hin, dass  in  der  absoluten  Intelligenz  Begriff  und  Sein  Eins 
sei.  In  diesem  Sinne  redet  man  wohl  von  der  Wahrheit 
unserer  Begriffe ;  sie  sind  wahr,  wenn  sie  in  sich  der  er- 
schöpfende Ausdruck  des  Wesens  der  Dinge  sind.  Der  wahre 
Gottesbegriff  wäre  derjenige,  der  in  seinen  Bestimmungen  das 
reale  Wesen  Gottes  nach  allen  Seiten  als  ein  Gedachtes  enthielte. 

3.  Zwischen  jener  empirischen  und  dieser  metaphysischen 
Bedeutung  des  Worts  liegt  die  logische,    welche  uns   hier 


318  n,  1.    Der  BegriflP.  272 

allein  beschäftigt,  und  welche  durch  die  logische  Forderung 
bestimmt  ist,  dass  unsere  Urtheile  gewiss  und  allgemeingültig 
seien.  Dadurch  ist  zunächst  nur  die  durchgängige  Festig- 
keit und  Bestimmtheit  unserer  Vorstellungen  und  ihre 
Uebereinstimmung  in  allen  gefordert,  die  sich  desselben 
Bezeichnungssystemes  bedienen;  in  welcher  Beziehung  das 
Gedachte  zum  Seienden  steht,  ob  ihm  absolut  congruent 
oder  nicht ,  ist  direct  wenigstens  durch  diese  Aufgabe  noch 
nicht  bestimmt.  Ja  wir  müssen,  da  unsere  Erkenntniss  überall 
im  Werden  begriffen  ist,  voraussetzen,  dass  in  jedem  gegebenen 
Zeitpunkt  in  unseren  Vorstellungen  weniger  gesetzt  ist ,  als 
im  Seienden;  unsere  Vorstellungen  im  besten  Falle  überein- 
stimmende, aber  nicht  erschöpfende  Darstellungen  des  Seienden 
sind.  Wäre  die  Allgemeingültigkeit  unserer  Urtheile  davon 
abhängig,  dass  ihre  Elemente  vollkommene  Begriffe  im  meta- 
physischen Sinne  sind,  und  wäre  die  individuelle  Differenz  und 
Unbestimmtheit  der  Vorstellungen  nicht  früher  zu  beseitigen, 
als  ihre  Inadäqnatheit  mit  dem  Seienden :  so  wäre  dem  Ziel 
der  Erkenntniss  nicht  einmal  in  allmählichem  Fortschritt  der 
Wissenschaft  näher  zu  kommen,  denn  Wissenschaft  setzt  überall 
übereinstimmende  Begriffsbildung  voraus.  Wir  müssen  also 
die  formale  Brauchbarkeit  der  Begriffe  zum  Zweck  des 
Urtheilens  von  der  metaphysischen  Adäquatheit  noth- 
wendig  unterscheiden,  und  wenigstens  die  Möglichkeit  voraus- 
setzen, dass  jene  früher  zu  erreichen  sei,  als  diese. 

4.  Von  dem  Gesichtspunkt  der  logischen  Vollendung  des 
Begriffs  ist  endlich  der  der  Zweckmässigkeit  der  Begriffs- 
bildung zu  trennen,  der  im  Zusammenhang  mit  den  Aufgaben 
der  Classification  eines  bestimmten  Gebiets  von  gegebenen 
Objecten  (Dingen,  Handlungen,  Verbrechen  u.  s.  w.)  steht. 
Ein  Begriff  kann  vollkommen  bestimmt  und  insofern  logisch 
vollkommen  und  doch  einem  andern  gegenüber  weniger  ge- 
eignet sein,  den  Bedürfnissen  der  Wissenschaft  zu  dienen, 
welche  darauf  ausgeht,  mit  Hülfe  der  Begriffe  und  ihrer  Be- 
zeichnungen die  grösstmögliche  Einfachheit  und  Abkürzung 
unseres  Wissens  zu  erreichen  und  darum  die  Frage  stellt : 
Wie  müssen  die  Begriffe  gebildet  werden,  um  die  werthvollsten 
Vind  umfassendsten  allgemeinen  Urtheile  in  einfachstem  Aus- 


273  §  40.    Wesen  des  logisclien  ßegrifiPs.  319 

druck  möglicli  zu  machen?  Dieser  Gesichtspunkt  wird  der 
leitende  in  der  Methodenlehre,  welche  von  den  durch  die 
Natur  der  Bedingungen  unseres  Erkennens  gegebenen  Auf- 
gaben ausgeht. 

Dagegen  entsteht  allerdings,  wenn  die  Aufgabe  der  lo- 
gischen Vollkommenheit  unserer  Urtheile  wirklich  erfüllt  wer- 
den soll,  die  Forderung,  dass  die  logisch  vollkommenen  Be- 
griffe immer  soweit  reichen,  um  Alles,  was  Gegenstand  unserer 
Urtheile  wird,  mit  ihrer  Hülfe  ausdrücken  und  bestimmen  zu 
können ;  da  unser  Urtheilen  nicht  bloss  Bekanntes  wiederholt, 
sondern  immer  Neues  und  Neues  ergreift,  so  ist  extensiv 
die  Möglichkeit  vollkommener  Urtheile  dadurch  bedingt,  dass 
durch  begriffliche  Peststellung  des  ganzen  menschlichen  Vor- 
stellungsmaterials für  alles  die  Begriffe  bereit  seien,  durch 
welche  unsere  Erkenntniss  ausdrückbar  ist,  oder  dass  sie  we- 
nigstens aus  den  schon  begrifflich  fixierten  Elementen  sicher 
hergestellt  werden  -  können ;  ähnlich  wie  das  Ideal  eines  allge- 
meinen Alphabets  die  übereinstimmende  Bezeichnung  aller 
dem  menschlichen  Sprachorgane  möglichen  unterscheidbaren 
einfachen  Laute  in  sich  schliesst.  In  diesem  Sinne  hat  Leibniz 
in  der  Idee  der  Characteristica  universalis  dem  Ziel  aller  lo- 
gischen Begriffsbildung  einen  vollkommen  zutreffenden  Ausdruck 
gegeben  *). 

5.  Man  pflegt  als  die  wesentliche  Bestimmung  des  Be- 
griffs die  Allgemeinheit  aufzustellen**);  und  lehrt  im  Zu- 


*)  Vergl.  Trendelenburg:  Ueber  Leibnizens  Entwurf  einer  allge- 
meinen Charakteristik.  Histor.  Beitr.  zur  Philos.  III,  S.  1  ff.  Cartesius 
Ep.  I,  111,  wo  er  einen  ähnlichen  Gedanken  entwickelt:  Ejusmodi 
linguae  inventio  a  vera  Philosophia  pendet.  Absque  illa  enim  impos- 
sibile  est  omnes  hominum  cogitationes  enumerare,  aut  ordine  digerere ; 
imo  neque  illas  distinguere,  ita  ut  perspicuae  sint  et  simplices.  .  .  Et 
si  quis  clare  explicuisset,  quales  sint  ideae  illae  simplices,  quae  in  ho- 
minum imaginatione  versantur,  et  ex  quibus  componitur  quiciquid  illi 
cogitant,  essetque  hoc  per  Universum  orbem  receptum,  anderem  demum 
sperare  linguam  aliquam  universalem  etc. 

**)  So  Kant  in  der  transsc.  Aesthetik  ^2,  4 :  Man  muss  einen  jeden 
Begriff  als  eine  Vorstellung  denken,  die  in  einer  unendlichen  Menge 
von  verschiedenen  möglichen  Vorstellungen  (als  ihr  gemeinschaftliches 
Merkmal)  enthalten  ist,  mithin  diese  unter  sich  enthält. 


320  n,  1.    Der  Begriff.  274 

sammenhange  damit,  dass  die  Begriffe  durch  Abstraction 
gewonnen  werden,  d.  h.  durch  einen  Process,  in  welchem  die 
gemeinschaftlichen  Merkmale  einzelner  Objecte  von  den  sie 
unterscheidenden  gesondert,  und  jene  zur  Einheit  zusammen- 
gefasst  werden.  Aber  diese  Ansicht  vergisst  dass ,  um  ein 
vorgestelltes  Object  in  seine  einzelnen  Merkmale  aufzulösen, 
schon  Urtheile  nothwendig  sind,  deren  Prädicate  allgemeine 
Vorstellungen  (nach  gewöhnlicher  Redeweise  Begriffe)  sein 
müssen;  und  dass  diese  Begriffe  zuletzt  irgendwie  anders 
als  durch  solche  Abstraction  gewonnen  sein  müssen  ,  da  sie 
den  Process  dieser  Abstraction  erst  möglich  machen.  Sie  ver- 
gisst ferner,  dass  bei  diesem  Process  vorausgesetzt  wird,  dass 
der  Kreis  der  zu  vergleichenden  Objecte  irgend- 
wie bestimmt  sei,  und  sie  setzt  stillschweigend  ein  Motiv 
voraus  gerade  diesen  Kreis  zusammenzufassen  und  das  Gemein- 
schaftliche zu  suchen.  Dieses  Motiv  kann ,  wenn  nicht  abso- 
lute Willkür  herrschen  soll*),  zuletzt  nur -das  sein,  dass  jene 
Objecte  zum  Voraus  als  ähnlich  erkannt  werden,  weil  sie  alle 
einen  bestimmten  Inhalt  gemeinsam  haben,  d.  h.,  dass  bereits 

*)  Es  ist  consequent,  wenn  Drobisch  (Logik  3.  Aufl.  §  18.  S,  20) 
diese  Willkür  ausdrücklich  zulässt.  »Es  ist  an  sich  völlig  willkürlich ^ 
welche  Objecte  wir  miteinander  vergleichen  wollen ;  man  kann  einen 
Himbeerstrauch  mit  einem  Brombeerstrauch,  aber  auch  mit  einem  Feder- 
messer oder  einer  Schildkröte  vergleichen.  Wenn  dann  aber  als  Beispiel 
solcher  »gesuchter  Vergleichungen«  das  Linnä'sche  System  angeführt 
wird,  das  sehr  verschiedene  Pflanzen  in  einer  Classe  vereinige,  so  ist 
übersehen,  dass  die  Begriffe,  welche  die  Linne'schen  Classen  bestimmen, 
nicht  auf  diesem  einfachen  und  directen  Wege  der  Vergleichung  ent- 
standen sind.  Denn  dieser  hebt  nur  das  Gemeinsame  beliebig  zu- 
sammengenommener Objecte  hervor,  die  Linnd'schen  Classen  aber  sind 
im  Gegentheil  aus  dem  Bestreben  hervorgegangen  einfache  Unter- 
scheidungsmerkmale zu  finden,  durch  welche  die  unabsehbare 
Manigfaltigkeit  der  Pflanzen  in  bestimmte  Gruppen  eingetheilt  werden 
könnte;  das  erste  war  die  Einsicht,  dass  die  Pflanzen  sich  durch  die 
Zahl  der  Staubfäden  u.  s.  w.  unterscheiden,  und  dann  erst  die 
Methode ,  die  darin  übereinstimmenden  zusammenzufassen.  Eine  Ver- 
gleichung im  weiteren  Sinne  lag  natürlich  auch  jener  Unterscheidung 
zu  Grunde;  aber  sie  war  zuerst  darauf  gerichtet,  Unterschiede  und 
nicht  allen  verglichenen  Objecten  Gemeinsames  zu  finden.  (Die  beiden 
letzten  Sätze  mit  Rücksicht  auf  die  Gegenbemerkungen  von  Drobisch, 
5.  Aufl.  S.  21.) 


275  §  40.     Wesen  des  logischen  Begriffs.  321 

eine  allgemeine  Vorstellung  da  ist,  mit  Hülfe  welcher  diese 
Objecte  aus  der  Gesammtheit  aller  ausgeschieden  werden.  Die 
ganze  Lehre  von  der  Begrifisbiidung  durch  Vergleichung  und 
Abstraction  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn,  wie  es  häufig 
geschieht,  die  Aufgabe  vorliegt,  das  Gremeinschaftliche 
derthatsächlich  durch  denallgemeinen  Sprach- 
gebrauch mit  demselben  Worte  bezeichneten 
Dinge  anzugeben,  um  daraus  die  factische  Bedeutung  des  Worts 
sich  deutlich  zu  machen.  Wenn  verlangt  wird  ,  den  Begriff 
des  Thiers,  des  Gases,  des  Diebstahls  u.  s.  av.  anzugeben  ,  da 
kann  man  versucht  sein,  so  zu  verfahren,  dass  man  die  gemein- 
schaftlichen Merkmale  aller  der  Dinge,  welche  übereinstimmend 
Thiere,  aller  der  Körper,  welche  Gase,  aller  der  Handlungen, 
welche  Diebstahl  genannt  werden,  aufsucht  *).  Ob  es  gelingt ; 
ob  diese  Anweisung  zur  Begriffsbildung  ausführbar  ist,  das  ist 


*)  Dies  ist  im  Wesentlichen  auch  das  Verfahren  der  socratischen 
Begriffsbestimmung,  welche  immer  davon  ausgeht,  dass  den  geläufigen 
Wortbedeutungen  bestimmte  Begriffe  entsprechen,  und  ihr  Verfahren 
nun  so  einrichtet,  dass  durch  Vergleichung  einzelner  Beispiele  von 
Solchem,  was  mit  dem  Worte  benannt  wird,  und  durch  Gegenüber- 
stellung von  Anderem,  was  mit  dem  Worte  nicht  benannt  wird,  die 
Erklärung  gefunden  wird.  Der  Unterschied  ist  nur,  dass  Socrates  nicht 
darauf  ausgeht,  alles  Einzelne  durchzugehen,  sondern  an  einzelnen  Bei- 
spielen sich  genügen  lässt.  Von  diesem  socratischen  Verfahren,  das 
immer  voraussetzt,  dass  den  Wörtern  der  Sprache  Begriffe  entsprechen 
müssen,  ist  im  Grunde  die  Lehre  vom  Begriff  bis  auf  den  heutigen  Tag 
abhängig  gewesen  ;  von  ihm  stammt  die  Gewohnheit ,  den  Begriff  im 
psychologischen  und  den  Begriff'  im  logischen  Sinne  nicht  zu  unter- 
scheiden. Das  Bedürfniss  jenes  Verfahrens  und  seine  Bedeutung  ruht 
zuletzt  darauf,  dass  in  jeder  durch  Tradition  erlernten  Sprache  zuerst 
feststeht,  welche  concreten  Dinge  und  Vorgänge  traditionell  mit  einem 
gewissen  Worte  benannt  werden,  und  gemäss  der  Entstehung  des  Ver- 
ständnisses der  Wörter  sich  zunächst  die  Vorstellung  einer  Keihe  von 
einzelnen  Objecten  mit  dem  Worte  verknüpft,  ehe  die  allgemeine  Wort- 
bedeutung als  solche  zum  Bewusstsein  kommt.  Die  Antwort  des  Theätet 
auf  die  Frage:  Was  ist  iniozYiiiy^  ?  ~  es  ist  die  Mathematik  u.  s.  w.  ist 
in  dieser  Hinsicht  typisch.;  Kinder  und  wissenschaftlich  ungeschulte 
Leute  werden  immer  mit  dem  Beispiel,  statt  mit  der  Definition  ant- 
worten ;  das  socratische  Verfahren  dient  zunächst  dazu,  auf  die  Wort- 
bedeutung als  solche  zu  führen,  welche  den  einzelnen  Benennungen  zu 
Grunde  liegt. 

Sig wart,  Logik.    I.    2.  Auflage.  21 


322  n,  1.    Der  Begriff.  276 

eine  andere  Frage ;  sie  Hesse  sich  hören,  wenn  man  voraussetzen 
könnte,  dass  es  nirgends  zweifelhaft  ist,  was  man  Thier,  Gas, 
Diebstahl  zu  nennen  habe ,  —  d.  h.  wenn  man  den  Begriff, 
den  man  sucht,  in  Wahrheit  schon  hat.  Einen  Begriff  so 
durch  Abstraction  bilden  wollen,  heisst  also  die  Brille  suchen, 
die  man   auf   der  Nase  trägt,   mit  Hülfe    eben   dieser  Brille. 

6.  Das  Wahre,  was  dieser  Lehre  zu  Grunde  liegt,  ist 
hinsichtlich  der  Allgemeinheit  des  Begriffs  zunächst  das,  dass 
die  logischen  Begriffe  die  natürlich  entstandenen  Vorstellungen 
meist  nicht  zu  ersetzen,  nur  zu  vollenden  haben.  Die  Natur 
unseres  Vorstellens  selbst  vermögen  wir  nicht  zu  ändern  und 
die  natürlichen  Bildungen  sind  immer  die  Voraussetzung  der 
kunstgerecht  gebildeten  Begriffe.  Nun  haftet  jeder  Vorstel- 
lung, sofern  sie  von  der  ursprünglichen  Einzelanschauung 
oder  einzelnen  Function  losgerissen  und  als  ein  reproducier- 
bares  Object  in  unsern  inneren  Besitz  übergegangen  ist,  die 
Allgemeinheit  vermöge  ihrer  Natur  an  ;  und  diese  Natur  ver- 
mag keine  Willkür  aufzuheben.  Nur  dass  diese  Allgemeinheit 
vorhanden  ist  unabhängig  davon,  ob  eine  Vorstellung  sich  aus 
Einer  Anschauung  oder  aus  vielen  gleichen  oder  verschiedenen 
gebildet  hat  (§  7) ,  und  nur  das  sagen  will ,  dass ,  wie  sich 
Kant  vorsichtig  ausdrückt,  eine  Vorstellung  in  unendlich  vielen 
möglichen  Vorstellungen  enthalten  ist ;  ob  in  vielen  wirk- 
lichen, ist  der  Natur  der  Vorstellung  und  des  Begriffs  gegen- 
über gleichgültig;  und  ebenso  gleichgültig,  ob  sie  aus  vielen 
oder  einer  einzigen  entstanden  ist. 

Die  Betonung  der  Allgemeinheit  des  Begriffs  hat  aber 
darin  noch  eine  weitere  Berechtigung,  dass  sie  die  vollkom- 
mene Losreissung  der  Bedeutung  eines  Wortes  von  den  ein- 
zelnen Anschauungen  fordert,  um  den  Sinn  des  Urtheils  rein 
und  bestimmt  zu  erhalten ,  und  an  die  Stelle  einer  vagen 
Vergleichung  ein  Urtheil  zu  setzen,  das  wirklich  eine  Einheit 
von  Subject  und  Prädicat  ausspricht.  Wer  zum  erstenmal 
eine  Palme  sieht  und  sie  »Baum«  nennt,  wird  zunächst  von 
der  Aehnlichkeit  ihres  Gesaramtanblicks  mit  den  Tannen  und 
Buchen  u.  s.  w.  geleitet ,  welche  er  kennt ,  und  deren  Bilder 
ihm  bei  dem  Worte  »Baum«  vorschweben,  ohne  dass  er  sich 
Rechenschaft  darüber  gegeben  hätte,  worin  die  Aehnlichkeit 


277  §  40.    "Wesen  des  logischen  Begriffs.  323 

besteht ;  das  Urtheil :  Die  Palme  ist  ein  Baum ,  ist  nur  dann 
als  ein  eigentliches  ürtheil  im  strengen  Sinne  gerechtfertigt, 
wenn  unter  »Baum«  nichts  weiter  verstanden  wird,  als  was  der 
Palme  mit  Tannen,  Buchen  u.  s.  w.  gemeinschaftlich  ist ;  nur 
dann  ist  das  Urtheil  nicht  bloss  in  dem  uneigentlichen  Sinne 
genommen :  die  Palme  ist  einem  Baum  ähnlich,  sondern  in 
dem  eigentlichen:  was  ich  unter  »Baimi«  denke,  finde  ich 
ganz  in  der  Palme  wieder.  Dazu  ist  allerdings  nöthig,  mit 
Bewusstsein  das  Gemeinsame  alles  dessen,  was  ich  Baum  nenne, 
auszusondern ;  aber  das  Hauptinteresse  dabei  ist  nicht,  zu  dem* 
Einzelnen  ein  Allgemeines  zu  finden ,  sondern  nur  das  schon 
unbestimmt  und  mit  dem  Einzelnen  vermischt  gedachte  All- 
gemeine sicher  zu  fixieren  und  scharf  abzugrenzen  und  so  dem 
Urtheil  seinen  bestimmten  Sinn  zu  geben,  damit  zugleich  den 
Process  zu  vollenden ,  der  sich  unbewusst  immer  einleitet. 
Denn  schon  durch  unwillkürlich  wirkende  psychologische  Ge- 
setze entstehen  einerseits  aus  manigfaltigen  ähnlichen  Anschau- 
ungen Gesammtbilder,  in  welchen  die  Differenzen  der  einzelnen 
Bilder  untergegangen  sind ,  verschiebbare  Schemate ,  welche 
unsern  Wörtern  entsprechen;  es  findet  also  allerdings  ein 
Verlust  des  Unterschiedenen  und  ein  Festhalten  des  Gemein- 
samen statt ,  nur  nicht  vollständig ,  weil  nicht  auf  Grund 
bewusster  Vergleichung  und  Unterscheidung  der  einzelnen 
Merkmale ;  eben  diese  hat  eine  bewusste  Vergleichung  nach- 
zuholen (§7,  11  S.  55  f.).  Ebenso  ist  richtig,  dass  mit  der  un- 
willkürlichen Bildung  unserer  Vorstellungen  das  eintritt,  was 
allein  Abstraction  heissen  sollte,  die  trennende  Abstrac- 
tion,  vermöge  der  das  in  der  Anschauung  ungetheilte  Ganze 
in  Ding,  Eigenschaft  und  Thätigkeit  zerlegt,  und  die  aus  dieser 
Einheit  losgerissenen,  abstracten  Vorstellungen  gebildet  werden, 
welche  allein  möglich  machen.  Verschiedenes  zu  vergleichen, 
und  nach  der  einen  Seite  gleich,  nach  der  andern  verschieden 
zu  finden,  weil  sie  allein  die  Prädicate  zu  den  Urtheilen  lie- 
fern, in  welchen  die  bewusste  Vergleichung  und  Unterschei- 
dung sich  vollzieht;  und  ebenso  ist  richtig,  dass  eine  unter 
diesen  Voraussetzungen  vollzogene  Vergleichung  von  Objecten, 
die  theilweise  übereinstimmen,  die  mehr  oder  weniger  zufällige 
Veranlassung   zur  Bildung    neuer  Begriffe   werden  kann, 

21* 


Sä4  n,  1.    Der  Begriff.  278 

Wäre  im  Kreise  der  sichtbaren  Gegenstände  dieselbe  Farbe 
und  Form  immer  vereinigt,  so  würden  wir  weit  schwerer  dazu 
kommen,  die  Vorstellung  der  Farbe  für  sich  und  die  der  Form 
für  sich  zu  bilden,  d.  h.  aus  dem  gegebenen  Ganzen  zu  ab- 
strahieren ;  aber  eine  bewusste  Vergleichung  der  verschiedenen 
rothen  Dinge  nach  ihrer  Farbe  ist  nur  möglich ,  wenn  jene 
Abstraction  schon  vollzogen  ist,  oder  wenigstens  zugleich  mit 
jener  Abstraction.  Die  Vergleichung  des  Pferdes,  des  Hundes, 
der  Eidechse  mag  zufällig  einmal  darauf  führen,  den  Begriff 
des  vierfüssigen  Thieres  zu  bilden  ,  wenn  gerade  die  Ueber- 
einstimmung  der  vier  Füsse  auffällt  (viel  sicherer  freilich 
führt  die  Unterscheidung  darauf,  welcher  der  Unter- 
schied der  Vierfüsser  von  Menschen  und  Vögeln,  Käfern  und 
Fliegen  einerseits,  Schlangen  und  Schnecken  andrerseits  zum 
Bewusstsein  kommt)  und  in  ähnlicher  Weise  entstehen  eine 
Menge  von  Verallgemeinerungen.  Aber  weder  sind  diese  Pro- 
cesse ,  in  dieser  Weise  vollzogen ,  absichtliche  und  kunst- 
mässige,  noch  ist  ihr  Product  ein  solches  ,  das  den  logischen 
Bedürfnissen  schon  entspricht.  Denn  den  Merkmalen,  welche 
bei  der  Vergleichung  übereinstimmend  gefunden  werden,  haftet 
noch  immer,  wenn  sie  in  dieser  zufälligen  Weise  aufgegriffen 
werden ,  die  natürliche  Unbestimmtheit  und  Unbegrenztheit 
an,  welche  Folge  der  Expansivkraft  unserer  Vorstellungen 
und  ihres  Bestrebens  Aehnliches  an  sich  anzuschliessen  und 
unter  dieselbe  Bezeichnung  zu  stellen  ist;  und  der  ganze 
Process  schwebt  in  der  Luft ,  solange  nicht  die  Merkmale 
selbst,  welche  Prädicate  der  Vergleichungsurtheile  sind,  voll- 
kommen bestimmt  und  übereinstimmend  fixiert  sind.  Es  ist 
einer  der  Hauptmängel  der  gewöhnlichen  Lehre  vom  Begriff, 
dass  sie  verfährt  als  wären  die  Merkmale  von  selbst  gegeben 
und  in  Beziehung  auf  sie  gar  kein  weiteres  Verfahren  nöthig ; 
während  die  ungeheure  Schwierigkeit,  aus  dem  natürlichen 
Zustand,  in  welchem  jeder  seine  eigene  Sprache  spricht,  her- 
auszukommen, viel  weniger  in  den  Processen  der  Vergleichung 
selbst  als  in  der  Aufstellung  genauer  und  übereinstimmender 
Massstäbe  der  Vergleichung,  d.  h.  in  der  begrifflichen  Fixierung 
dessen  besteht,  was  als  Merkmal  verwendet  werden  soll. 

7.     Was  den  logisch   vollkommenen  Begriff  von  der  na- 


279  §  40.    Wesen  des  logisclaeii  Begriffs.  325 

türlich  gewordenen  VorsteMung,  welche  dem  gewöhnlichen 
Reden  zu  Grunde  liegt,  unterscheidet,  ist,  dass  der  natürlichen 
Expansivkraft  der  Yorstellungsbildung  eine  negative,  begren- 
zende, Form  und  Consistenz  gebende  Thätigkeit  gegenüber- 
getreten ist.  Sehen  wir  von  der  Forderung  übereinstimmender 
Vorstellungen  in  Allen  zunächst  ab  :  so  besteht  das  Wesentliche 
des  Begriffs  in  der  Constanz  und  allseitigenUnter- 
scheidung  eines  mit  einem  bestimmten  Worte  bezeichneten 
Vorstellungsgehalts. 

Die  Constanz  setzt  voraus,  dass  mit  Bewusstsein  ein 
bestimmter  Vorstellungsgehalt  mit  seiner  zugehörigen  sprach- 
lichen Bezeichnung  fixiert  worden  ist,  um  ihn  immer  als  den- 
selben mit  dem  Bewusstsein  seiner  strengen  Identität  reprodu- 
cieren  zu  können ;  die  allseitige  Unterscheidung 
ist  bedingt  durch  eine  vollständige  üebersicht  zunächst  über 
die  am  meisten  ähnlichen  und  der  Verwechslung  am  leichtesten 
ausgesetzten  Objecte,  weiterhin  über  das  Gesammtgebiet  des 
Vorstellbaren  überhaupt,  und  ruht  ebenso  auf  bewussten  Acten, 
durch  welche  die  Unterschiede  der  Vorstellungen  A,  B,  C,  D 
u.  s.  w.  zum  Bewusstsein  gebracht  und  der  Abstand  derselben 
von  einander  ebenso  festgehalten  wird,  wie  die  Bestimmtheit 
der  einzelnen.  Durch  diesen  letzteren  Act  wird  jenes  Fixieren 
unterstützt  und  vollendet*),  indem  die  Identität  desselben  In- 


*}  Die  Meinung,  als  ob  erst  durch  die  Unterscheidung  eine  Vor- 
stellung eine  bestimmte  werde,  vergisst,  dass  das  Unterscheiden  selbst 
nur  möglich  ist  zwischen  schon  vorhandenen  verschiedenen  Vorstel- 
lungen, und  dass  die  Unterscheidung  also  den  unterschiedenen  Gehalt 
nicht  erzeugt.  Wenn  z.  B.  Ulrici  (Compendium  der  Logik  2.  Afl.  S.  60) 
sagt :  >Nur  weil  Roth  eben  als  Roth  zugleich  nicht  Blau,  nicht  Gelb  u.  s.  w. 
ist,  nur  darum  ist  es  diese  bestimmte  Farbe,  die  wir  roth  nennen  — 
ohne  den  Unterschied  von  Blau  u.  s.  w.  wäre  es  ohne  alle  Bestimmt- 
heit, nur  Farbe  —  überhaupt,  ein  schlechthin  Unbestimmtes,  von  dem 
wir  nichts  wissen  würden,  weil,  wie  gezeigt,  die  Farbe  als  Farbe  nur 
durch  die  Unterschiedenheit  der  Farben  uns  zum  Bewusstsein  kommtc 
—  80  kann  ich  dieser  Ausführung  nicht  zustimmen.  Die  Empfindung 
des  Roth  —  genauer  eines  bestimmten  Roth  —  ist  etwas  vollkommen 
Positives  mit  eigen thümlichem  Inhalt,  es  wäre  dieses,  wenn  auch  we- 
niger als  die  von  allen  normalen  Augen  wahrgenommenen  Farben 
daneben  empfunden  würden ;  und  es  hindert  bei  Keinem  die  Bestimmt- 
heit seiner   Farbenempfindungen,    dass    er  vielleicht   eine  Menge    von 


326  n,  I.    Der  Begritt.  280 

halts  durch  die  Verneinung  des  ifeidern  erst  zum  ausdrück- 
lichen ßewusstsein  kommt;  zugleich  wird  durch  Abstufung 
der  Unterschiede  eine  Ordnung  der  Vorstellungen 
möglich. 

8.  Wäre,  was  wir  als  einheitliche  Vorstellung  zu  be- 
trachten und  zu  behandeln  im  Laufe  unseres  Denkens  Veran- 
lassung haben,  und  was  als  Bestandtheil  in  unsere  Urtheile 
einzugehen  bestimmt  ist ,  einfach  durch  einen  untheilbaren 
Vorstellungsact,  sei  es  der  Anschauung,  sei  es  des  beziehenden 
Denkens,  herzustellen;  und  wäre,  was  überhaupt  Gegenstand 
unseres  Vorstellens  werden  kann,  eine  leicht  übersehbare  ab- 
geschlossene Vielheit  solcher  einfacher  Objecte,  die  durch  scharfe 
Unterschiede  so  getrennt  wären,  dass  uns  beim  Uebergang 
vom  einen  zum  andern  der  Schritt,  den  wir  vollziehen,  so  leicht 
und  sicher  zum  Bewusstsein  käme,  wie  der  Uebergang  von 
eins  zu  zwei,  von  zwei  zu  drei:  so  wäre  das  logische  Geschäft 
der  Begriffsbildung  mit  den  angegebenen  Functionen  und  der 
übereinstimmenden  Benennung  erschöpft;  es  bedürfte  nur  der 
Kraft  des  Gedächtnisses,  welche  die  einmal  gewonnene  Ueber- 
sicht  festhielte.  Wäre  unsere  Vorstellungswelt  z.  B.  auf  die 
12  einfachen  Töne  einer  Octave  beschränkt,  so  wäre  mit  dem 
Merken  jedes  einzelnen  Tones  und  seiner  sicheren  Unterschei- 
dung von  den  übrigen,  die  vor  jeder  Verwechslung  schützte, 
alles  geleistet,  wodurch  unsere  Vorstellungen  zu  begrifflicher 
Bestimmtheit  erhoben  würden;  und  wir  hätten  mit  den  Vor- 
stellungen der  einzelnen  Töne  und  dem  Bewusstsein  ihrer 
Unterschiede  das  ganze  Material  unserer  Begriffe  in  fester 
Ordnung  gegeben. 

Allein  weder  die  eine  noch  die  andere  Voraussetzung  trifft 


Farben  niemals  zu  Gesicht  bekommt.  Nur  die  Manigfaltigkeit  fiele 
weg  und  damit  der  ßeichthum  seiner  Vorstellungen ;  für  den,  der  nur 
Roth  empfände,  wäre  allerdings  Roth  soviel  als  Farbe  überhaupt,  aber 
damit  wäre  nur  gesagt,  dass  die  Vorstellung  Farbe  keine  Manigfaltig- 
keit unterscheidbarer  Qualitäten  unter  sich  begriffe,  nicht  dass  sie  ein 
schlechthin  Unbestimmtes  wäre.  Die  Bedingungen,  unter  denen  wir 
eine  Vielheit  von  Empfindungen  im  Bewusstsein  festhalten  können,  sind 
nicht  die  Bedingungen  für  die  Bestimmtheit  der  einzelnen;  vielmehr 
ist  diese  die  Voraussetzung  von  jenem.    Vergl.  Lotze,  Logik  2,  Afl.  g.  26 


281         §  41.    Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        327 

zu.  Die  erste  nicht;  denn  was  wir  als  einheitliche  Vorstel- 
lung behandeln  und  mit  Einem  Worte  bezeichnen,  ist  in  der 
Regel  in  eine  Mehrheit  unterscheidbarer  Elemente 
auflösbar  und  zeigt  sich  als  ein  zusammengesetztes  Pro- 
duct  aus  einfacheren  für  sich  festhaltbaren  Vorstellungen; 
und  dadurch  ist  einerseits  das  Festhalten  erschwert,  denn 
zum  Festhalten  einer  zusammengesetzten  Vorstellung  gehört 
das  Festhalten  sowohl  der  einzelnen  Elemente  als  der  Art 
ihrer  Zusammensetzung ,  andrerseits  sind  der  Unterschei- 
dung bestimmtere  und  schwierigere  Aufgaben  gestellt,  sofern 
nämlich  das  Zusammengesetzte  in  einigen  seiner  Elemente  mit 
anderem  gleich,  in  einigen  davon  verschieden  sein  kann.  Will 
ich  z.  B.  die  Vorstellung  des  Pferdes  mit  Bewusstsein  fest- 
halten, so  ist  das  nur  möglich  durch  ein  inneres  Nachzeichnen, 
in  welchem  ich  Stück  für  Stück  die  Bestandtheile  der  Gestalt 
in  bestimmter  Ordnung  zusammenfüge;  will  ich  sie  unter- 
scheiden, so  ist  sie  mit  der  Vorstellung  des  Esels  in  den  meisten 
Stücken  übereinstimmend,  nur  in  einigen  sicher  unterschieden. 
Auch  die  zweite  Voraussetzung  trifft  nicht  zu;  denn 
überall  treffen  wir  in  dem ,  was  sich  in  unserer  Erinnerung 
angesammelt  hat,  auf  Reihen  unmerklicher  Unterschiede,  durch 
welche  jene  scharfen  Absätze  verwischt  werden ,  die  das  Be- 
streben unsere  Vorstellungen  bestimmt  zu  fixieren  sucht ;  und 
diese  Continuität  trifft  sowohl  die  einfacheren  Elemente  unserer 
Vorstellungen,  als  die  zusammengesetzteren  Gebilde.  Im  Ge- 
biete der  Farben  geht  durch  unmerkliche  Abstufungen  roth 
durch  violet  in  blau ,  durch  orange  in  gelb ,  durch  rosa  in 
weiss,  durch  rothbraun  in  braun  über;  im  Gebiete  der  Raum- 
grössen  und  der  Formen  findet  ein  ähnliches  Continuum  statt, 
und  es  entsteht  dadurch  eine  unbegrenzte  Manigfaltigkeit  kaum 
unterscheid  barer  Objecte,  welche  es  unmöglich  macht,  alle 
gesondert  zu  fixieren  und  in  ihren  Unterschieden  festzuhalten. 
Ebenso  ist  es  mit  den  anschaulichen  Dingen  selbst ;  überall 
schieben  sich  zwischen  das  zuerst  Unterschiedene  Mittelglieder 
ein,  je  weiter  unsere  Kenntniss  sich  ausdehnt :  zwischen  Schnee 
und  Hagel,  zwischen  Baum  und  Strauch,  zwischen  Pferd  und 
Esel,  zwischen  Neger  und  Europäer. 


y 


328  II.  1-    Der  Begriff.  282 

§  41. 

Da  ein  grosser  Theil  unserer  Vorstellungen  zusammen- 
gesetzt, d.  h.  durch  unterscheidbare  Acte  geworden  ist,  kann 
die  Fixierung  ihres  Gehaltes  nur  durch  eine  bewusste 
FixierungihrerElemente  (Merkmale,  Theilvorstellungen) 
und  der  Art  ihrer  Synthese  vollzogen  werden.  Jede  be- 
griffliche Bestimmung  des  Gehalts  einer  Vorstellung  setzt 
also  vor  allem  eine  Analyse  in  einfache,  nicht  weiter  zer- 
legbare Elemente  voraus,  welche  zugleich  die  Form  ihrer 
Synthese  festzustellen  hat. 

Diese  Analyse  könnte  vollständig  nur  aufGrund  einer 
erschöpfenden  Einsicht  in  die  Bildungsgesetze 
unserer  Vorstellungen  gewonnen  werden,  welche  allein 
zugleich  die  üebereinstimmung  dieser  Elemente  in 
allen  Denkenden  zu  sichern  vermöchte.  Sie  kann  aber  niemals 
auf  lauter  isolierte  Elemente  als  Producte  von  Func- 
tionen kommen,  welche  von  einander  unabhängig  wären,  son- 
dern nur  auf  ein  System  zusammengehöriger  und 
aufeinander  bezogenerFunctionen,  welche  zugleich 
verschiedene  Formen  der  Synthese  des  Manigfaltigen  enthalten. 
Die  Functionen ,  durch  welche  wir  die  logischen  Kate- 
g  o  r  i  e  e  n  (Einheit,  Identität,  Unterschied)  denken,  verknüpfen 
sich  mit  den  Anschauungsformen  des  Raums  und 
der  Zeit,  beide  zusammen  im  Gebiete  dessen,  was  wir  als 
seiend  denken ,  mit  den  realen  Kategorieen  (Ding, 
Eigenschaft,  Thätigkeit,  Relation),  und  alle  wieder  mit  dem 
anschaulich  geg  eb  enen  Inhalt  unserer  unmittel- 
baren sinnlichen  oder  inneren  Auffassung.  Eine 
begriffliche  Vollendung  unserer  Vorstellungen  setzt  ein  voll- 
ständiges System  dieser  Elemente  voraus. 

Sofern  im  Gebiete  des  anschaulich  Gegebenen  eine  un- 
begrenzte Manig faltigkeit   von  Vorstellungen  vorliegt, 


283         §  41.    Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        329 

welche  durch  unmerkliche  Unterschiede  getrennt  sind, 
muss  sich  die  begriffliche  Fixierung  auf  Feststellung  be- 
stimmter Grenzen  in  dem  allmählichen  Flusse 
der  Unterschiede  beschränken. 

1,  Die  Forderung,  welche  aus  der  ersten  der  §  40,  8 
angeführten  Thatsachen,  aus  der  Zusammengesetztheit 
der  Vor  stel  lungsobj  ecte  hervorgeht,  ist  der  traditio- 
nellen Lehre  vom  Begriffe  geläufig.  Sie  lehrt  das  in  einer 
einheitlichen ,  durch  Ein  Wort  bezeichneten  Vorstellung  Ge- 
dachte durch  Merkmale  bestimmen,  einen  Begriff  in  seine 
Theilvorstelluugen  oder  Theilbegriffe  zerlegen. 
Diese  werden  in  dem  Begriffe  gedacht  und  bilden  seinen  In- 
halt. So  werden  in  dem  Begriffe  Gold  die  Merkmale  schwer, 
gelb,  glänzend ,  metallisch  u.  s.  f. ,  in  dem  Begriffe  Quadrat 
die  Merkmale  begrenzte  vierseitige  gleichseitige  rechtwinkliche 
ebene  Fläche,  in  dem  Begriffe  Mord  die  rechtswidrige  vorsätz- 
liche mit  Ueberlegung  ausgeführte  Tödtung  eines  Menschen 
gedacht;  der  Inbegriff  dieser  Merkmale  bildet  den  Inhalt  der 
Begriffe  Gold ,  Quadrat ,  Mord ;  und  man  stellt  wohl  diesen 
Inhalt  als  die  Summe  oder  das  Product  der  einzelnen  Merk- 
male dar.  Mit  dieser  Zerlegung  in  Merkmale  hält  man  ge- 
wöhnlich auch  die  weitere  Aufgabe  der  Unterscheidung 
schon  für  erfüllt;  denn  die  Merkmale  sollen  eben  das  sein, 
wodurch  verschiedene  Vorstellungen  sich  unterscheiden*). 

Dabei  wird  in  der  Regel  durch  die  Beispiele  selbst  die 
Frage,  woher  denn  die  Möglichkeit  komme,  verschiedene  Merk- 
male in  dem  Ganzen  einer  Vorstellung  zu  unterscheiden,  be- 
reits als  erledigt  betrachtet;  und  ebenso  ist  schon  wiederholt 
—  am  eingehendsten  von  Trendelenburg  —  der  Mangel  einer 
näheren  Bestimmung  darüber  hervorgehoben  worden,  in  wel- 
chem Verhältniss  denn  die  Merkmale  zu  einander  stehen ,  ob 
sie  alle  gleichartig,  und  wenn  nicht,  in  welcher  Weise  sie 
verschieden,  ob  sie  gegeneinander  gleichgültig,  oder  von  ein- 
ander   abhängig    seien;    in    welchem   Verhältniss   endlich    die 


*)  So  z.  B.  Ueberweg  §  49  S.  103:  Merkmal  eines  Objects  ist  alles 
dasjenige  an  demselben ,  wodurch  es  sich  von  andern  Objecten  unter' 
scheidet. 


330  11»  1-    Der  Begriff.  284 

Theilbegriffe  zum  Ganzen  stehen.  Denn  die  Bezeichnung  der- 
selben alsTheilbegriffe  oder  Theilvorstellungen, 
die  von  räumlichen  oder  zeitlichen  Verhältnissen  hergenommen 
ist,  kann  doch  nur  bildlich  sein,  die  Theilvorstellungen  sollen 
ja  nicht  etwa  Vorstellungen  der  Theile  eines  Ganzen  sein, 
(wie  von  Kopf,  Hals,  Rumpf  u.  s.  w.  als  der  Theile  eines 
Thiers)  die  zur  Vorstellung  des  Ganzen  im  selben  Verhältniss 
stünden,  wie  die  Theile  zum  Ganzen,  sondern  Bestandtheile  der 
Vorstellung,  wie  die  einzelnen  Eigenschaften  eines  Dings  u.  s.  w. 

2.  Die  Möglichkeit,  eine  gegebene  Vorstellung  in  Theile 
oder  Merkmale  zu  zerlegen,  kann  zuletzt  nur  darin  begründet 
sein  ,  dass  diese  Vorstellung  aus  verschiedenen  Ele- 
menten durch  unterscheidbare  Functionen  geworden 
ist.  Wäre  sie  ursprünglich  ein  Einfaches,  wäre  nicht  um  sie 
zu  erzeugen  Eins,  Zwei,  Drei  nÖthig :  so  hätte  die  Zerlegung 
weder  eine  Fuge,  in  welche  sie  einsetzen  könnte,  noch  ein 
Recht ;  sie  wäre  im  besten  Fall  eine  gewaltsame  Zertrümmerung. 

In  der  That  sind  nun  die  Vorstellungen,  an  welche  man 
bei  diesen  Sätzen  zunächst  zu  denken  pflegt,  die  Vorstellungen 
der  anschaulichen  Dinge,  durch  eine  unbewusst  vollzogene 
Synthese  entstanden.  Sie  treten  unsrem  Bewusstsein  als  fer- 
tige Ganze  gegenüber;  aber  die  psychologische  Analyse  weiss 
mit  überzeugender  Sicherheit  die  Processe  nachzuweisen,  durch 
welche  aus  einzelnen  Elementen  erst  das  Ganze  wird.  Nicht 
mit  Einem  Schlag,  durch  eine  Art  zauberhafter  Uebertragung 
oder  auf  dem  mechanischen  Weg  einer  psychischen  Photo- 
graphie dringt  das  Bild  des  Apfels  durch  die  Thore  unserer 
Sinne  auf  die  Tafel,  auf  der  unsere  Vorstellungen  gemalt  sind ; 
die  Analyse  der  Sinneswahrnehmung  weist  nach,  wie  die  Em- 
pfindung einer  Farbe  mit  den  den  Umrissen  nachgehenden 
Bewegungen  des  Auges,  wie  eine  perspectivische  Ansicht  mit 
andern,  diese  mit  den  einzelnen  ,  innerlich  zusammengefassten 
und  zum  stereometrischen  Bilde  gestalteten  Tastempfindungen 
der  Hand  sich  verknüpfen  müssen,  wie  eine  psychische  Func- 
tion die  Empfindungen  zur  Vorstellung  eines  äusseren  Gegen- 
standes gestalten  und  eine  andere  ihm  seinen  Ort  im  Räume 
anweisen  muss;  wie  die  Vorstellung  dieses  sichtbaren  und 
greifbaren  Dings  durch  Geruchs-  und  Geschmacksempfindungen 


285         §  41.     Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        331 

sich  bereichert,  deren  Beziehung  anf  den  sichtbaren  und  ge- 
tasteten Gegenstand  wieder  eigenthümliche  Functionen  der 
Combination  der  Eindrücke  verschiedener  Sinnesgebiete  vor- 
aussetzt; und  wie  endlich  durch  theilweise  Wiederholung 
solcher  Eindrücke  und  ihre  fortwährende  Ergänzung  durch 
die  reproducierende  Vorstellung ,  endlich  durch  ihre  Associa- 
tion mit  einem  Worte  es  uns  geläufig  wird,  beim  Wort  Apfel 
eine  Art  von  Abbreviatur  jener  Processe  so  rasch  und  sicher 
innerlich  zu  wiederholen,  dass  das  Resultat  fertig  vor  unserem 
inneren  Auge  steht,  ohne  dass  wir  uns  seiner  Bildung  bewusst 
geworden. 

Dasselbe ,  was  von  den  Vorstellungen  der  Dinge  gilt, 
findet  auch  auf  Eigenschafts-,  Thätigkeits-,  Rela- 
tion s  Vorstellungen  Anwendung.  Gleichseitig  ist  eine  zu- 
sammengesetzte Vorstellung,  denn  sie  setzt  zunächst  die  Auf- 
fassung der  einzelnen  Seiten  voraus  —  und  um  eine  Linie 
als  Seite  zu  erkennen  ,  ist  eine  Relationsvorstellung  nöthig 
—  ferner  ein  Messen  derselben  und  das  Urtheil  dass  sie  gleich 
sind;  die  Vorstellung  der  Bewegung,  der  einfachsten  Thätig- 
keit,  bedarf  ebenso  zu  ihrem  Werden  der  Auffassung  ver- 
schiedener Oerter  und  des  Uebergangs  vom  einen  zum  andern ; 
die  Vorstellung  des  Mords,  eine  Relationsvorstellung,  schliesst 
ausser  den  Beziehungspunkten  derselben,  des  Mörders  und  des 
Gemordeten,  eine  ganze  Reihe  von  Bestimmungen  ein,  die 
bewusste  und  überlegte  Absicht  des  Einen,  seine  Handlung, 
ihren  Effect,  der  in  der  Vernichtung  des  Lebens  des  Andern 
besteht  —  sie  ist  also  nur  durch  eine  Reihe  von  Acten  mög- 
lich, welche  das  Ganze  erst  erzeugen.  In  doppeltem  Masse  gilt 
dies  von  solchen  Vorstellungen,  in  denen  eine  Mehrheit  von 
selbständigen  Objecten  durch  eine  oder  mehrere  Relationen 
verknüpft  gedacht  wird,  den  sog.  Collectivbegriffen  im  weitesten 
Sinn,  Volk,  Familie  u.  s.  w. 

4.  Soweit  die  Zusammensetzung  reicht,  soweit  kann  auch 
die  Fixierung  einer  Vorstellung  nur  so  vor  sich  gehen, 
dass  die  bewusste  Aufmerksamkeit  sich  auf  die  einzelnen  Ele- 
mente und  die  Art  ihrer  Synthese  richtet.  Die  Voraussetzung 
jeder  Begriffsbildung  ist  also  einerseits  die  Analyse  in 
einfache,  nicht  weiter  zerlegbare  Elemente, 


332  11,  1.    Der  Begriff.  286 

und  andrerseits  diereconstruierendeSyntheseaus 
diesen  Elementen;  wobei  immerhin  die  F  o  r  m  der 
Synthese  wieder  selbst  in  weiterem  Sinn  ein  Element  des 
Begriffs  und  ein  Merkmal  desselben  genannt  werden  kann, 
und  im  folgenden  genannt  werden  wird. 

Der  Begriff  verhält  sich  demnach  zur  natürlich  entstan- 
denen Vorstellung  wie  die  bewusste  Construction  eines  Objects 
zu  seiner  unbewussten  und  unwillkürlichen  Bildung,  und  setzt 
die  Fähigkeit  voraus,  sich  den  Process  der  Bildung  der  Vor- 
stellung nach  allen  seinen  Seiten  zum  Bewusstsein  zu  bringen. 
Dies  geschieht  durch  Urtheile,  welche  die  einzelnen  Merk- 
male als  Prädicate  dem  Object  beilegen;  der  Begriff  setzt 
also  diese  Prädicate,  d.  h.  die  Vorstellungen  der  Merkmale 
schon  voraus,  diese  müssen  selbst  begrifflich  bestimmt  sein, 
wenn  es  die  zusammengesetzte  Vorstellung  sein  soll.  Dies 
führt  also  zur  Forderung  einer  Reihe  von  einfachen 
Merkmalen,  d.  h.  nicht  weiter  analysierbaren  und  doch 
vollkommen  bestimmt  fixierten  und  unterschiedenen  Vorstel- 
lungselementen. 

5.  Nun  soll  aber  der  Begriff  noch  die  weitere  Forderung 
erfüllen,  allgemein  gültigen  Urtheilen  zu  dienen,  d.  h. 
alle  diejenigen ,  welche  in  der  Gemeinschaft  des  Denkens 
stehen,  sollen  dieselben  Vorstellungen  mit  densel- 
ben Wörtern  verbinden,  sie  darum  auch  auf  dieselbe  Weise 
analysieren  und  auf  dieselben  einfachen  Merkmale  zurück- 
führen können.  Eine  Mittheilung  eines  zusammengesetzten 
Begriffs  ist  möglich  durch  Angabe  seiner  Elemente  und  der 
Art  ihrer  Synthese  ;  die  Elemente  aber  müssen  in  jedem  gleich 
sein,  und  in  gleichem  Sinne  combiniert  werden,  wenn  es  über- 
einstimmende Begriffe  geben  soll.  Dies  setzt  also  einen  Grund- 
stock von  Vorstellungen  voraus,  welche  nach  durchaus  über- 
einstimmenden Gesetzen  in  allen  gebildet  werden ,  und  wir 
haben  die  Sicherheit  übereinstimmender  Begriffe  nur  in  dem 
Masse,  als  wir  der  übereinstimmenden  Gesetzmässigkeit  in 
der  Bildung  unserer  Vorstellungen  sicher  sind.  Die  Vollen- 
dung der  Begriffsbildung  hängt  also  von  der  vollendeten 
Einsicht  in  dieProcesse  derBildung  unserer 
Vorstellungen,  und  von  der  dadurch  gegebenen  Möglich- 


287  §  4L    Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        333 

keit  ab,  jeden  zur  Vorstellung  desselben  zu  veranlassen. 
Könnten  wir  annehmen,  dass  alle  unsere  Vorstellungselemente 
jedem  in  derselben  Weise  angeboren  sind,  wie  es  eine  frühere 
Erkenntnisstheorie  wenigstens  in  Betreif  eines  Theiles  unserer 
Begriffe  annahm;  oder  könnten  wir  annehmen,  dass  dieselbe 
uns  gegebene  Welt  dasselbe  System  von  Vorstellungen  mit 
derselben  mechanischen  Sicherheit  erzeugte,  wie  gleich  starke 
Erschütterung  gleich  gespannter  Saiten  denselben  Ton :  so 
wäre  die  Voraussetzung  der  traditionellen  Lehre,  dass  die 
Merkmale  der  Begriffe  sich  so  zu  sagen  von  selbst  darbieten, 
zu  rechtfertigen;  in  dem  Masse  aber,  als  der  Bildungsprocess 
unserer  Vorstellungen  verwickelter,  von  äusseren  Bedingungen, 
die  nothwendig  individuell  verschieden  sind,  und  inneren  Ge- 
setzen zugleich  abhängiger  ist,  wird  die  Erkenntniss  und  Her- 
stellung der  Bedingungen  schwieriger,  unter  denen  vollkom- 
men übereinstimmende  Vorstellungen  von  allen  gebildet  wer- 
den, und  ebenso  die  Erkenntniss ,  was  von  dem ,  was  wir  in 
allen  schon  vorfinden,  übereinstimmend  ist  und  was  different. 
Die  oft  grosse  Schwierigkeit  sich  zu  überzeugen,  ob  Zwei 
unter  demselben  Worte  genau  dasselbe  verstehen,  beruht  auf 
der  Schwierigkeit,  solche  Vorstellungen  zu  finden,  welche  in 
allen  in  gleicher  Weise  vorhanden  und  übereinstimmend  be- 
zeichnet sind. 

6.  Da  wir  nur  die  Bedingungen  einer  idealen  Vollkom- 
menheit der  logischen  Begriffsbildung  aufstellen ,  können  wir 
es  nicht  zu  unserer  Aufgabe  rechnen,  eine  vollendete  Theorie 
der  Bildung  unserer  Vorstellungen  aufzustellen.  Eine  solche 
gehört  zu  den  Aufgaben  der  Zukunft*).  Aber  aus  dem  was 
wir  in  dieser  Hinsicht  als  Resultat  der  bisherigen  Forschungen 
annehmen  dürfen ,  geht  doch  schon  soviel  hervor ,  dass  die 
Aufgabe,  eine  gegebene  Vorstellung  in  einfache  Merkmale, 
die  von  allen  übereinstimmend  gedacht  werden  ,  aufzulösen, 
eine  weit  verwickeitere  ist,  als  es  die  Formeln  vernmthen 
lassen,  die  sagen  ein  Begriff  A  enthalte  die  Merkmale  a  b  c  d, 
und  diese  seien  seine  Theilvorstellungen ;    als    ob  A  eine  Art 


*)  Wir  treffen  darin  mit  den  Ansichten  zusammen,  welche  K.  Zcller 
in  seiner  Berliner  Antrittsrede  ausgesprochen  hat. 


334  n,  1.     Der  Begriff.  288 

mechanischer  oder  chemischer  Zusammensetzung  aus  bekann- 
ten differenten,  isolierten,  und  gleich werthigen  Bestandtheilen 
wäre,  wie  die  Silbe  nach  dem  Beispiele  des  Theätet  eine  Zu- 
sammensetzung aus  Buchstaben. 

7.  Die  Frage  ist  zunächst,  ob  wir  denn  überhaupt  solche 
einfache  Vorstellungen  als  isolierte  Elemente  voraussetzen 
können,  welche  wie  die  Buchstaben  eines  Alphabets  jeder  für 
sich  aussprechbar  und  festhaltbar  wären.  Wir  sind  oben  von 
der  Fiction  ausgegangen,  dass  unsere  ganze  Vorstellungswelt 
aus  12  Tönen  bestünde,  und  dass  mit  dem  Fixieren,  Unter- 
scheiden und  Benennen  derselben  das  ganze  Geschäft  der 
Begriffsbestimmung  erschöpft  wäre ;  den  mancherlei  Zusammen- 
klängen würden  dann  etwa  die  zusammengesetzten  Vorstel- 
lungen entsprechen.  Aber  es  war  auch  das  eine  Fiction,  dass 
die  Vorstellung  eines  einfachen  Tons  nun  ein  wirklich  Ein- 
faches, Homogenes  und  Unauflösbares  sei,  in  welchem  sich 
nichts  mehr  unterscheiden  lasse.  Indem  wir  einen  bestimmten 
Ton  als  solchen  vorstellen ,  können  wir  das  nur ,  indem  wir 
ihn  als  einen,  mit  sich  identischen  ,  von  anderen  mehreren 
unterschiedenen  denken ;  nur  so  ist  er  überhaupt  Gegenstand 
unseres  Bewusstseins ,  das  ohne  eine  Vielheit  unterschiedener 
Objecte  gar  nicht  denkbar  ist;  indem  wir  also  den  Ton  A 
denken ,  ist  darin  die  Vorstellung  der  Einheit  und  der 
Identität  mit  sich ,  ebenso  des  Unterschieds  von 
anderen  und  damit  die  Vorstellung  einer  Mehrheit  dieser 
anderen  unabtrennbar  mitgesetzt,  und  dies  weist  auf  Functionen 
zurück,  durch  welche  wir  etwas  als  Eins,  mit  sich  identisch, 
von  andern  unterschieden  setzen,  und  damit  zugleich  die  Viel- 
heit im  Unterschiede  von  der  Einheit  und  in  ihrem  Verhält- 
nisse zu  ihr  denken.  Indem  wir  also  zum  Bewusstsein  bringen, 
was  wir  vorstellen  indem  wir  A  vorstellen,  finden  wir  ausser.  \ 
dem  hörbaren  Tonbild  auch  diese  Bestimmungen  in  der  Vor- 
stellung von  A,  und  sie  erweist  sich  dadurch  bereits,  so  wie 
sie  unserem  Bewusstsein  gegenwärtig  ist,  als  ein  complexes 
Product  *). 

Wollten  wir  nun  aber  jene  Bestimmungen,  Einheit,  Iden- 

*)  Vergl.  Lotze,  Logik  2.  Afl.  S.  26. 


289        §  41.    Die  Analyse  der  BegriflFe  in  einfache  Elemente.        335 

tität,  Unterschiedenlieit  einerseits,  das  sinnliche  Tonbild  an- 
dererseits als  die  gesuchten  letzten  und  isolierten  Elemente 
ansehen:  so  zeigt  sich,  dass  Einheit,  Identität,  ünterschieden- 
heit,  rein  für  sich  gedacht,  vollkommen  unvollziehbar  sind. 
Nicht  nur  lässt  sich  Identität  nicht  ohne  Einheit  und  Ne- 
gation des  Unterschieds  denken,  so  dass  diese  Bestimmungen 
ineinanderhängen ,  sondern  sie  tragen  auch  immer  den  Ge- 
danken .  von  Etwas  in  sich,  dessen  Einheit,  Identität,  Un- 
terschiedenheit  gedacht  wird ;  ja ,  sobald  wir  diese  Bestim- 
mungen selbst  jede  für  sich  denken  wollen ,  wiederholt  sich 
an  ihnen  selbst  dasselbe,  dass,  indem  wir  diese  Begriffe  fest- 
halten wollen,  wir  das  nur  thun,  indem  wir  sie  selbst  wieder 
unter  den  Bestimmungen  der  Einheit,  Identität,  Unterschie- 
denheit  denken  müssen,  unsere  Analyse  also  nie  auf  das 
schlechthin  Einfache  kommt,  sofern  sie  gewisse  Elemente 
findet,  die  in  jedem,  auch  dem  Einfachsten,  schon,  dadurch 
mitgegeben  sind ,  dass  es  überhaupt  gedacht  wird  und  dass 
etwas  von  ihm  geurtheilt  werden  soll ;  die  also  nothwendige 
und  immer  wiederkehrende  Producte  der  unterscheidbaren 
Functionen  selbst  sind ,  durch  welche  wir  ein  Vorgestelltes 
festhalten  und  als  Subject  oder  Prädicat  eines  Urtheils  ver- 
werthen  können.  Statt  der  gesuchten  isolierten  Buchstaben 
also  treffen  wir  auf  einen  Complex  unter  sich  zusammenhän- 
gender und  sich  gegenseitig  bedingender  Functionen,  deren 
Thätigkeit  in  diesen  formalen  logischen  Kategorieen 
zu  Tage  tritt,  wie  wir  sie  in  der  Kürze  nennen  können  ;  deren  , 
Verhältniss  zu  allen  Denkobjecten  dasselbe  ,  und  dadurch  be- 
stimmt ist,  dass  sie  Bedingungen  sind,  unter  denen  allein 
etwas  mit  Bewusstsein  in  der  Vorstellung  festgehalten  werden 
kann  *). 

*)  Wir  rechnen  zu  diesen  formalen  Kategorieen,  welche  die  Be- 
dingungen sind,  dass  überhaupt  etwas  im  Denken  festgehalten  werde, 
auch  die  Z  a  h  1  in  dem  Sinn,  dass  die  Grundfunction  alles  Zählens,  das 
Setzen  und  Unterscheiden  von  Einheiten  und  das  Bewusstsein  des  Fort- 
gangs von  einer  Feinheit  zur  zweiten,  von  dieser  zur  dritten  ,  und  die 
Einheit  des  Bewusstseins  dieser  Reihe  von  Schritten,  mit  diesen  allge- 
meinsten Bedingungen  des  Denkens  gegeben  ist.  Wenn  die  weitere 
Entwicklung  des  Zählens  und  die  complicierteren  Operationen  der  Rech- 
nung auch  erst  durch  die  Verhältnisse  der  anschaulichen  Dinge  in  Raum 


336  TI,  1.     Der  Begriff.  290 

8,  Aber  unser  vorausgesetzter  Ton  birgt  noch  weiteres 
in  sich;  weder  der  einzelne  Ton  noch  eine  Mehrheit  von 
Tönen  kann  vorgestellt  werden  anders  als  in  der  Zeit,  wie 
eine  Farbe  nicht  anders  vorgestellt  werden  kann  als  im  R  a  u  m  ; 
bringen  wir  uns  also  zum  Bewusstsein ,  was  wir  vorstellen, 
indem  wir  den  Ton  A  vorstellen,  so  finden  wir  die  Vorstel- 
lung der  Zeit  mit  darin.  Und  es  wiederholt  sich  dasselbe: 
wenn  wir  nun  meinten,  die  Zeit  als  ein  einfaches  nicht  wei- 
ter analysierbares  Element  ausscheiden  zu  können,  so  zeigt 
sich,  dass  wir  Zeit  schlechthin  isoliert  gar  nicht  vorzustellen 
vermögen,  ohne  dass  wir  zugleich  etwas  und  zwar  Ver- 
schiedenes und  Vieles  in  der  Zeit  mitvorstellen,  und 
ebensowenig  den  Raum ,  ohne  an  Verschiedenes  zu  denken 
was  im  Raum  ist;  auch  hier  versagt  also  die  Natur  unserer 
Vorstellungen  dem  Bestreben  das  schlechthin  Einfache  und 
Isolierte  zu  finden  seine  Erfüllung;  wir  treffen  zwar  unter- 
scheidbare, aber  immer  einander  fordernde  Elemente.  Femer 
ist  das  Verhältniss,  in  welchem  Zeit  und  Raum  zu  ihrem  an- 
schaulichen Inhalt  stehen,  zugleich  ein  wesentlich  anderes, 
als  das  in  welchem  Identität  u.  s.  w.  zu  ihren  Objecten  stehen ; 
damit  haben  wir  grundverschiedene  Synth  es  en  dessen, 
was  wir  innerhalb  eines  Vorgestellten  unterscheiden  können; 
ein  Unterschied,  den  wir  mit  Kant's  Ausdruck  dadurch  an- 
deuten, dass  wir  Raum  und  Zeit  als  Anschauungsformen 
den  formalen  Kategorieen  gegenüberstellen. 

9.  Bewegt  sich  die  Begriffsbestimmung  im  Gebiete  dessen, 
was  wir  als  seiend  vorstellen,  und  sofern  wir  es  als  (wirk- 
lich oder  möglicherweise)  seiend  vorstellen:  so  ergeben  sich 
dabei    wieder    andere    Elemente.      Da    wir    alles    Seiende   als 

und  Zeit  veranlasst  werden,  und  insbesondere  die  Brüche  die  Theilbar- 
keit  eines  Ganzen  voraussetzen,  die  nur  in  räumlichem  oder  zeitlichem 
Gebiet  ursprünglich  gegeben  ist,  so  folgt  daraus  nicht,  dass  die  Zahl 
überhaupt  von  Bedingungen  der  Anschauung  abhängig  sei.  Zur  Zeit 
steht  das  Zählen  in  keinem  andern  Verhältniss,  als  alle  unsere  Thätig- 
keiten  überhaupt,  dass  nemlich  eine  Reihe  derselben  nur  in  der  Zeit 
vollzogen  werden  kann;  es  ist  aber  gar  nicht  wesentlich,  dass  die  Zeit 
beim  Zählen  zum  Bewusstsein  komme;  die  Vorstellung  der  Zeit  ist 
ebenso  von  der  Vorstellung  der  Zahl,  einer  Vielheit  unterscheidbarer 
Momente  abhängig.     Vgl.  §  6,  3,  b  S.  40. 


291         §  41.    Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        337 

Ding  mit  Eigenschaften  und  Thätigkeiten 
vorstellen  und  kein  einzelnes  Seiendes  ohne  alle  Beziehung 
zu  anderem  Seienden,  zum  mindesten  zu  uns  selbst,  sofern  es 
unser  Object  ist,  vorzustellen  vermögen :  so  liegt  in  allem  dem, 
was  wir  als  seiend  oder  sein  könnend  vorstellen,  dieser  Kreis 
zusammengehöriger  Bestimmungen  mit,  der  sich  ebenso  wenig 
in  isolierte  Merkmale  auflösen  lässt,  und  der  eine  dritte  Art 
der  Synthese  des  Unterschiedenen ,  die  des  Dings  mit 
seinen  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  in  sich  schliesst.  Wir 
nennen  diese  Elemente  die  realen  Kategorieen. 

Die  traditionelle  Logik  pflegt  zu  ihren  Beispielen  in  der 
Regel  die  Begrifi*e  von  Dingen  zu  wählen  und  als  Merk- 
male dieser  Begriffe  erscheinen  dann  ihre  Eigenschaften  (als 
Merkmale  des  Begriffs  »Gold«  schwer,  gelb,  glänzend  u.  s.  f.) ; 
eben  damit  aber  ist  eine  ganz  bestimmte  Art  derSyn- 
these  dieser  Merkmale,  nemlich  die  der  Eigenschaften  in 
einem  Ding  gesetzt ;  diese  hat  einen  wesentlich  anderen  Sinn 
als  die  Synthese  der  Merkmale  eines  zusammengesetzten  Eigen- 
schafts- oder  Thätigkeitsbegriffs,  und  wieder  einen  andern  als 
die  Synthese  von  einzelnen  Dingen  zu  einem  Ganzen  ver- 
mittelst bestimmter  Relationen,  welche  sie  verknüpfen;  und 
es  kann  nur  verwirren,  wenn  unterschiedslos  Alles,  dreiseitige 
Figur  ,  dunkles  Roth ,  rotierende  Bewegung ,  gelber  Körper, 
von  einer  Schale  umgebener  Kern  u,  s.  w.  durch  dieselbe 
Formel  A  -^  a  b  c  d  ausgedrückt  wird,  als  wäre  diese  Neben- 
einanderstellung der  Ausdruck  einer  immer  gleichen  Verknüpf- 
ungsweise. 

Sind  diese  realen  Kategorieen  unzweifelhaft  Elemente 
unserer  Vorstellungen  des  Seienden ,  so  versteht  sich  auch 
von  selbst,  dass,  wo  es  sich  um  begriffliche  Feststellung  han- 
delt, erst  diese  Kategorieen  selbst  begrifflich 
fixiert  und  aus  der  unsicheren  und  schwankenden  Anwendung 
der  populären,  durch  die  Wortforraen  geleiteten  Unterschiede 
von  Ding,  Eigenschaft  und  Thätigkeit  zu  voller  Klarheit  her- 
ausgearbeitet sein  müssen.  Jede  Begriffsbestimmung  im  Ge- 
biete des  Seienden  setzt  also  eine  anerkannte  Theorie  über 
das  Wesen  dieser  Kategorieen  voraus,  ist  nur  insoweit  logisch 
vollendet,  als  diese  es  ist,  und  kann  nur  soweit  gelten  als  sie 

Slgwart,  Logik.     I.     2.  Auflage.  22 


33Ö  tl,  1.    Der  BegritF.  29^ 

angenommen  ist;  und  die  Möglichkeit  einer  solchen  Theorie 
selbst  ruht  auf  der  Möglichkeit,  übereinstimmende  Begriffe 
der  Kategorieen  selbst  mit  Sicherheit  zu  erzeugen,  also  durch 
Analyse  unserer  Denkprocesse  dasjenige  zum  Bewusstsein  zu 
bringen,  was  mit  gesetzmässiger  Nothwendigkeit  von  allen  ge- 
dacht wird,  sofern  sie  etwas  als  ein  Seiendes  denken. 

10.  Die  Allgemeinheit  der  bisher  betrachteten  Ele- 
mente unserer  Vorstellungen  beruht  zuletzt  darauf,  dass  sie 
auf  Functionen  zurückgehen,  welche  sich  in  Beziehung  auf 
den  verschiedensten  gedachten  oder  anschaulichen  Gehalt  immer 
in  derselben  Weise  wiederholen.  Die  Art  unserer  räumlichen 
und  zeitlichen  Vorstellungen  ist  dieselbe ,  was  auch  die  ein- 
zelnen Objecte  sein  mögen ,  welche  wir  in  Raum  und  Zeit 
vorstellen  ;  die  Zurückführung  des  sinnlich  Gegebenen  auf 
Dinge  mit  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  ist  derselbe  Pro- 
cess,  wie  manigf altig  auch  unsere  Sinne  afficiert  und  die  ein- 
zelnen Affectionen  unter  sich  combiniert  sein  mögen.  Die 
Möglichkeit,  ein  abgeschlossenes  System  dieser  Elemente  auf- 
zustellen, hängt  davon  ab,  ob  sie,  wie  Kant  voraussetzt,  voll- 
kommen a  priori  gegeben  sind,  als  im  Gemüthe  bereit  liegende 
Formen ,  welche  also  eine  vollständige  Analyse  entdecken 
könnte;  oder  ob  von  der  Art  und  Weise  unserer  sinnlichen 
Affectionen  selbst  es  abhängt,  welche  formalen  Elemente  sich 
entwickeln.  Dort  tritt  ein  schon  fest  organisiertes ,  ein  für 
allemal  fertiges  System  den  zeitlich  allmählich  eintretenden 
sinnlichen  Reizen  entgegen ;  hier  würden  die  Kategorieen  ein 
Product  einer  Entwicklung  sein,  welche  durch  die  besondere 
Art  und  Reihenfolge  unserer  Sinnesempfindungen  mitbestimmt 
würde.  Es  genügt  an  diese  Möglichkeiten  zu  erinnern,  um 
zu  zeigen,  dass  die  endliche  Festsetzung  dieser  Elemente  von 
der  definitiven  Einsicht  in  die  Genesis  unserer  Vorstellungen 
selbst  abhängig  ist. 

11.  Diesen  Elementen  unserer  Vorstellungen  stehen  die 
durch  unmittelbare  Empfindung  oder  innere 
Wahrnehmung  anschaulich  gegebenen  gegen- 
über. In  den  einzelnen  Farben,  Tönen,  Gerüchen  u.  s.  w.  haben 
wir  ohne  Zweifel  vom  subjectiven ,  psychologischen  Gesichts- 
punkt aus  etwas  einfaches  und  letztes,  wahrhaft  elementares; 


Ö9ä         §  41.    t)ie  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.        33Ö 

ebenso  in  dem  unmittelbaren  Bewusstsein  innerer  Vorgänge, 
der  Lust,  des  Schmerzes,  des  Begehrens  u.  s.  w.  Das  Weiss 
dieses  Papieres,  das  Schwarz  dieser  Buchstaben  lässt  sich  nicbt 
weiter  analysieren  ;  es  ist  mit  einem  Schlage  durch  die  Affection 
unserer  Organe  gegeben.  Es  wiederholt  sich  in  den  verschie- 
densten Combinationen  und  räumlichen  Formen,  aber  immer 
als  dasselbe ,  nicht  weiter  aufzulösende.  Hier  also  scheinen 
wir  mit  Leichtigkeit  elementare  Merkmale  aufstellen  zu  können, 
die  zwar  nie  isoliert  —  die  F.arbe  nie  ohne  den  Raum  u.  s.  w. 
—  vorgestellt  werden  können ,  die  aber  wenigstens  leicht  in 
ihrem  Unterschiede  von  der  Form  und  in  ihrem  Unterschiede 
von  einander  —  Gerüche  von  Farben,  Farben  von  Tönen  u.  s.  w. 
festgehalten  werden  können.  Wenn  irgendwo ,  so  haben  wir 
hier  etwas,  was  nur  genannt  aber  nicht  erklärt  werden  kann, 
ein  Analogon  der  Buchstaben  des  Alphabets.  Und  wäre  fest- 
zustellen, dass  aus  diesen  durch  unmittelbare  Anschauung  ge- 
gebenen Elementen,  aus  den  Anschauungsformen ,  den  realen 
und  formalen  Kategorieen  die  Gesammtheit  unserer  Vorstel- 
lungen sich  bildete ,  so  wäre  damit  der  Kreis  der  ursprüng- 
lichen Merkmale  umschrieben. 

Allein  hier  tritt  die  andere  der  Schwierigkeiten  ein ,  die 
wir  §  40 ,  8  hervorgehoben.  Jede  bestimmte  Empfindung, 
jedes  einzelne  Schmerzgefühl  ist  etwas  Einfaches,  Elementares ; 
aber  die  Menge  dieser  unterscheidbaren  einfachen  Empfind- 
ungen ist  eine  unendliche ;  es  ist  schlechterdings  unmöglich,  alle 
einzelnen  wahrnehmbaren  Abstufungen  der  Helligkeit  ,  der 
Wärme  u.  s.  w. ,  deren  jede  als  ein  einfach  Gegebenes  uns 
zum  Bewusstsein  kommt,  im  Gedächtniss  zu  fixieren  und  im 
Unterschiede  von  allen  andern  festzuhalten;  keine  Mittel  der 
Sprache  würden  ausreichen,  dieser  unendlichen  Manigfaltigkeit 
gerecht  zu  werden.  Die  Sprache  hilft  sich  eben  dadurch,  dass 
Aehnliches  durch  unmerkliche  Unterschiede  zusammenhängt, 
und  bezeichnet  mit  demselben  Wort  eine  ganze  Reihe  anein- 
andergrenzender  Abschattungen.  Aber  Aehnlichkeit  ist  an 
und  für  sich  selbst  etwas  Unbestinmites,  zur  begrifflichen  Fixie- 
rung Untaugliches,  das  einen  Unterschied  setzt  ohne  seine 
Grösse  anzugeben.  Will  man  hier  zu  begrifi^licher  Bestimmt- 
heit gelangen ,   so  gibt  es  keinen  andern  Weg ,    als    von   der 

22* 


340  ^h  1-    I^er  Begriff.  9M 

Uebersicht  über  die  ganze  durch  verschwin- 
dende Unterschiede  gebil  dete  Reihe  auszu  gehen 
und  in  diesem  Continuum  Grenzen  zu  ziehen,  zwischen  welchen 
eine  bestimmte  Bezeichnung  gelten  soll :  damit  tritt  ein ,  was 
wir  oben  §7  die  Allgemeinheit  des  Wortes  im  Unter- 
schiede von  der  Allgemeinheit  der  Vorstellung  ge- 
nannt haben.  Die  Bezeichnungen  der  Farben  z.  B.  sind  so 
lange  begrifflich  nicht  fixiert,  als  nicht  die  ganze  Reihe  aller 
Farbennüancen  hergestellt  und  nun  bestimmt  ist,  innerhalb 
welcher  Grenzen  die  Bezeichnung  roth ,  grün  u.  s.  w.  gelten 
soll.  Von  den  Mitteln ,  welche  wir  haben  diese  Fixierung 
vorzunehmen,  kann  erst  im  dritten  Theile  die  Rede  sein ;  hier 
genügt  es  festzustellen,  dass  roth  nicht  im  selben  Sinn  ein 
Allgemeines  zu  purpurroth ,  scharlachroth  u.  s.  w.  ist,  wie 
ausgedehnt  ein  Allgemeines  zu  den  verschiedenen  Körpern  ist; 
denn  in  purpurroth ,  scharlachroth  u.  s.  w.  wird  nicht  d  a  s- 
selbeRoth  in  verschiedenen  Combinationen  gedacht,  jede 
Empfindung  ist  etwas  durchaus  einfaches,  und  kann  nicht  in 
ein  allen  gleiches  Element  und  ein  differentes  aufgelöst  werden*). 

*)  Vergl.  Werner  Luthe,  Beiträge  zur  Logik  S.  2:  Aus  einem  be- 
stimmten Koth  kann  nicht  das  allem  Both  Gemeinsame  ausgeschieden 
werden.  Die  Ausführungen  von  Lotze  (Logik  2  Afl.  S,  27  ff.)  wider- 
sprechen dem  Obigen  nur  scheinbar.  Er  sagt  zwar  zuerst  (S.  28  oben) 
dass  in  einer  Mehrheit  verschiedener  Eindrücke  sich  etwas  Gemeinsames 
vorfinde,  das  von  ihren  Unterschieden  getrennt  denkbar  sei,  das  (S.  29) 
in  den  einzelnen  Gliedern  der  Reihe  (hellblau,  dunkelblau  u.  s.  w.)  mit 
eigenthümlichen  Unterschieden  behaftet  sei;  aber  er  erkennt  an,  dass 
das  allgemeine  Blau  sich  nicht  in  derselben  Weise  verdeutlichen  lasse,  wie 
die  Elemente  anderer  Begriffe  ,  die  wir  aus  bekannten  Einzeln  Vorstel- 
lungen zusammensetzen,  und  fügt  hinzu,  dass  das  Enthaltensein  eines 
Gemeinsamen  sich  nur  empfinden,  fühlen,  erleben  lasse,  dass 
das  Gemeinsame  nicht  den  Inhalt  einer  dritten  Vorstellung  bilde, 
welche  von  gleicher  Art  und  Ordmmg  mit  den  verglichenen  wäre, 
dass  es  in  keiner  Anschauung  für  sich  zu  fassen  sei. 

Damit  ist  dasselbe  gesagt,  was  oben  ausgedrückt  werden  sollte; 
und  es  wird  darum  richtiger  sein,  überhaupt  nicht  von  einem  Gemein- 
samen zu  reden,  sondern  nur  von  dem  unanal jsierbaren  Eindruck 
der  Aehnlichkeit,  der  in  sehr  verschiedenen  Abstufungen  vor- 
handen ist ,  und  nach  dem  wir  die  einfachen  Empfindungen  in  Reihen 
nach  abnehmender  Aehnlichkeit  ordnen,  um  innerhalb  derselben  die 
Grenzen   zu  ziehen;  bis  zu  welchen  eine  bestimmte  Bezeichnung  (roth, 


294.295  §  41.    Die  Analyse  der  Begriffe  in  einfache  Elemente.       341 

Daraus  ergibt  sich  aucli  die  Natur  derBedeutung 
solcher  Wörter  wieFarbe,  Ton,  Geruch  u.  s.  w. 
Nach  der  gewöhnlichen  Theorie  sollte,  da  Farbe  das  Allge- 
meine zu  roth,  blau,  gelb  u.  s.  w.  ist,  auch  der  Begriff  der 
Farbe  ein  Element  der  Begriffe  roth  u.  s.  w.  sein ;  allein 
roth,  blau,  gelb  sind  einfach;  was  Farbe  ist,  kann  man  nur 
damit  sagen,  dass  man  die  einzelnen  Farben  aufzählt.  Wenn 
das  Wort  »Farbe«  noch  daneben  einen  begrifflich  bestimm- 
ten Sinn  haben  soll,  so  kann  es  nur  dadurch  geschehen,  dass 
es,  indem  es  eine  ganze  Reihe  von  Vorstellungen  zusammen- 
fasst,  diese  zugleich  als  von  andern  abgegrenzt  darstellt,  welche 
unvergleichbar  sind ,  wie  die  Töne  und  Gerüche ;  soll  aber 
das  Gemeinschaftliche  ausgedrückt  werden,  so  ist  dies 
nur  möglich  vermittelst  einer  Relation,  welche  nicht  direct 
den  Yorstellungsgehalt  bezeichnet,  sondern  eine  gemeinschaft- 
liche Beziehung,  durch  die  sich  roth,  blau,  gelb  u.  s.  w.  von 
andern  einfachen  Empfindungen  unterscheiden,  die  Beziehung 
auf  das  Sehen  und  das  Auge.  Anders  als  durch  solche  Re- 
lationen lässt  sich  nichts  Gemeinschaftliches  aufstellen ;  aber 
diese  Relationen  sind  nicht  Elemente  der  Vorstellungen  selbst. 
Dieser  Unterschied  von  Wörtern ,  welche  blosse  Gemein- 
namen einfacher  Merkmale  sind,  von  solchen, 
welche  wirklich  einfache  Vor  Stellungselemente 
bezeichnen,  ist  durchaus  festzuhalten,  wenn  nicht  die  Lehre 
von  den  Merkmalen  und  die  damit  zusammenhängende  von 
der  Ueber-  und  Unterordnung  der  Begriffe  in  Verwirrung 
gerathen  soll.  Immerhin  können  auch  jene  Gemeinnamen  als 
Zeichen  von  Merkmalen  gelten,  sofern  sie  auf  ein  gemeinschaft- 
liches, das  der  übereinstimmenden  Beziehung  zu  Grunde  liegt, 
hinweisen. 

Intensität  aber  der  Empfindung  und  ihre  Unterschiede 
sind  wahrhaft  allgemeine  Begriffe ;  denn  sie  gehen  auf  eine 
die  Empfindung  begleitende  Gefühlserregung  zurück,  deren 
Wechsel    bei  verschiedenen  objectiven  Elementen  derselbe  ist. 

gelb  etc.)  gelten  soll.     Anders  ist  es  bei   den  Intensitätsunterschieden 
z.  B.    der   Wärme,    der   Töne    von    derselben    Höhe;    hier    ist  das   Ge- 
meinsame vorstellbar,  weil  die  Unterschiede  auf  der  Erregung  des  Öe- 
fiüjls  beruhen  und    nicht  Unterschiede    des    vorgestellten  Inhalts   sind. 


342  Hl  1-    Der  Begriflf.  295 

12.  Dasselbe  aber  was  wir  von  den  sinnlichen  Quali- 
täten ausgeführt  haben,  scheint  auch  von  den  Formen  und 
Bewegungen  zu  gelten,  die  ebenso  als  etwas  unmittelbar 
Anschauliches  erscheinen ;  auch  hier  unendliche  Mani^faltig- 
keit  und  unmerkliche  Abstufungen ;  auch  hier  scheint  das 
einzelne  sinnlich  Anschauliche  das  Ursprüngliche  zu  sein,  und 
das  Allgemeine  (Form,  Bewegung)  nur  eine  Allgemeinheit  des 
Wortes  zu  besitzen.  Allein  es  scheint  nur  so.  Denn  die  Vor- 
stellung einer  bestimmten  Form  —  eines  Dreiecks,  Vierecks, 
Kreises  —  ist  keineswegs  etwas  so  unmittelbar  mit  Einem 
Schlage  Gegebenes ,  wie  die  Empfindung  eines  Schalls  oder 
eines  Geruchs;  die  Auffassung  der  Form  erfordert  eine  Be- 
wegung des  Blicks  oder  der  Hand,  und  diese  in  sich  zurück- 
kehrende Bewegung,  durch  welche  ein  Körper  im  Räume  auf 
bestimmte  Weise  abgegrenzt  wird,  ist  in  der  That,  als  dieses 
Thun,  bei  jeder  Auffassung  einer  Form  nach  einer  Seite  das- 
selbe, nach  der  andern  in  ihrem  Verlaufe  verschieden  modi- 
ficiert.  Ebenso  ist  bei  der  Vorstellung  der  objectiven  Be- 
wegung der  Process,  durch  den  sie  wahrgenommen  wird,  das 
Vergleichen  zweier  Oerter  und  die  Erkenntniss  ihrer  Ver- 
schiedenheit und  die  Vorstellung  des  stetigen  Uebergangs 
vom  einen  zum  andern  dasselbe ;  aber  Bahn,  Geschwindigkeit 
u.  s.  f.  modificiert  sich.  Bewegung ,  Form  sind  wahrhaft 
allgemeine  Begriffe ,  Farbe  und  Ton  (als  Ausdruck  des  un- 
mittelbar Gegebenen,  nicht  im  physicalischen  Sinne)  allge- 
meine Wörter  oder  Gemeinnamen  ;  darum  kann,  was  Bewegung 
sei,  an  Einem  Beispiel  aufgezeigt  werden,  was  Farbe  sei,  nicht. 
Es  begreift  sich  daraus  zugleich,  wie  jede  Theorie,  welche 
von  den  Sinnesempfindungen  als  den  allein  ursprünglich  ge- 
gebenen Elementen  unserer  Vorstellungen  ausgeht,  geneigt 
sein  muss,  alles  Allgemeine  nur  als  Gemeinnamen  zu  fassen, 
und  diese  Betrachtungsweise  auch  auf  alle  Dinge  ausdehnt, 
sobald  sie  diese  als  sinnlich  gegeben  ansieht,  und  die  Processe 
der  Bildung  ihrer  Vorstellungen  ignoriert.  Sensualismus  und 
Nominalismus  gehen  immer  zusammen. 


297   §42.    Ueber- und  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  Begriffe.  343 

§42. 

Auf  Grund  der  Analyse  der  Objecte  in  ihre  letzten  Ele- 
mente entstehen  —  und  zwar  ebenso  leicht  aus  der  Analyse 
eines  einzigen  Objects  wie  aus  der  Vergleichung  der  Analyse 
verschiedener  —  Reihen  vonBegriffen,  in  weichen 
jedes  folgende  Glied  durch  ein  weiteres  unter- 
scheidendes Merkmal  determiniert  ist,  und  da- 
durch ,  dem  vorangehenden  gegenüber ,  einen  reicheren 
Inhalt  hat.  Der  weniger  determinierte  'ärmere  Begriff,  der 
in  dem  folgenden  mitgedacht  ist,  heisst  der  übergeordnete, 
höhere  oder  Gattungsbegriff,  der  mehr  determinierte, 
reichere  der  untergeordnete,  niedere,  Artbegriff; 
ihr  Verhältniss  das  der  Subordination. 

Das  Verhältniss  der  Subordination  besteht  übrigens  nur 
zwischen  Begriffen  derselben  Kategorie,  weil 
diese  den  Sinn  der  Synthese  ihrer  Merkmale  bestimmt  und  sie 
dadurch  allein  vergleichbar  macht. 

Der  umfang  eines  Begriffs  ist  die  G  e  s  a  m  m  t  h  e  i  t 
der  ihm  untergeordneten  niederen  Begriffe; 
er  ist  innerhalb  derselben  Sabordinationsreihe  um  so  grosser, 
je  kleiner  der  Inhalt  und  umgekehrt.  Von  dem  logischen 
Umfang  einesBegriffs  ist  der  empirischeUm- 
f  a  n  g  desselben,  und  von  diesem  der  Umfang  des  Namens 
zu  unterscheiden. 

Von  wesentlichen  und  unwesentlichen  Merk- 
malen kann  nur  in  Beziehung  auf  die  Objecte  einem  gegebe- 
nen Begriff  gegenüber  die  Rede  sein. 

1,  Setzen  wir  das  wichtigste  Geschäft  aller  Begriffsbe- 
stimmung, die  Uebersicht  über  die  Merkmale  nach  ihren  ver- 
schiedenen Classen,  durch  eine  vollendete  und  allgemeingültige 
Theorie  der  Bildung  unserer  Vorstellungen  als  vollzogen  vor- 
aus; setzen  wir  voraus,  es  sei  dadurch  klar,  welche  Merkmale 
andere    voraussetzen   und  von    ihnen    abhängig   sind    (wie  die 


344  II»  1.    Der  Begriflf.  297 

Farbe  von  der  ausgedehnten  Fläche),  was  ebenso  in  der  Regel 
vernachlässigt  wird  ;  welche  Wörter  bestimmte  Vorstellungsele- 
mente bezeichnen,  welche  blosse  Gemeinnamen  sind  ;  so  fragt 
sich  weiter,  wie  sich  unsere  Begriffswelt  unter  dieser  Voraus- 
setzung gestalten  muss. 

Da  alle  begriffliche  Vollendung  immer  an  ein  schon  ge- 
gebenes Material  von  Vorstellungen  anknüpft ,  und  zunächst 
die  Aufgabe  hat  diese  zu  reconstruieren  und  zu  bestimmen  ; 
da  ferner  unsere  immer  schon  vorhandenen,  kunstlos  und  re- 
flexionslos entstandenen  Vorstellungen  an  Einzelnes  sich  an- 
schliessen,  und  Urtheile,  in  denen  das  Einzelne  durch  Prädi- 
cate  bestimmt  werden  soll,  fortwährend  zur  Aufgabe  unseres 
Urtheilens  gehören,  so  können  wir  die  weiteren  Verhältnisse 
unserer  Begriffe  am  leichtesten  deutlich  machen ,  wenn  wir 
von  der  Aufgabe  ausgehen  ,  irgend  eine  gegebene ,  zunächst 
aus  einem  Einzelnen  herrührende  Vorstellung  begrifflich  zu 
bestimmen. 

2.  Soll  die  von  irgend  einem  einzelnen  Dinge  gewonnene 
Vorstellung  festgehalten,  d.  h.  sicher  dem  Gedächtniss  über- 
liefert und  in  der  Reproduction  als  dieselbe  wiedier  erkannt 
werden :  so  reicht  die  bloss  unwillkürliche  Function  der  Re- 
production, die  einfach  das  Bild  als  Ganzes  wiederholt  —  die 
z.  B.  im  Traume  absichtslos  thätig  ist  und  die  beim  Beginne 
unseres  Urtheilens  den  einfachen  Benennungsurtheilen  zu  Grunde 
zu  liegen  pflegt  —  nicht  aus,  weil  sie  nicht  in  ihren  einzelnen 
Elementen  eine  bewusste  ist,  und  also  mit  ihr  das  Bewusstsein 
der  Identität  nicht  nothwendig  verknüpft,  und  sie  darum  vor 
Verwechslungen  nicht  geschützt  ist.  Um  ihre  genau  identische 
Wiederholung  zu  sichern,  bedarf  es  vor  allem  der  Zerlegung 
in  die  einzelnen  Elemente ,  welche  ihrerseits  die  Bedingung 
der  U  n  terscheidung  desDinges  von  allen  andern 
ist.  Diese  Zerlegung  vollzieht  sich  durch  Zurückgehen  auf 
lauter  einfache,  vollkommen  bestimmte  Merkmale,  und  hat 
insbesondere  die  Fixierung  der  fliessenden  Unterschiede  z.  B. 
der  Farbe  durch  übereinstimmende  Bezeichnung ,  der  Grösse 
durch  ein  festes  Mass  u.  s.  w.  zur  Voraussetzung. 

Das  Resultat  eines  solchen  Versuchs  ist  eine  in  einem 
conjunctiven    Urtheil    vollzogene   Beschreibung.     So    be- 


298     §  42.    lieber-  u.  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  Begriffe.    345 

schreibe  icli  die  vor  mir  liegende  Oblate,  wenn  icli  etwa  sage : 
sie  ist  ein  scheibenförmiges,  kreisrundes,  2  Centim.  im  Durch- 
messer haltendes ,  1  Millim.  dickes ,  rothes  ,  leichtes ,  glattes 
Ding,  indem  ich  alle  Prädicate  angebe,  welche  ich  mit  Hülfe 
meiner  verschiedenen  Sinne  wahrnehme,  und  sie  mit  Bewusst- 
sein  wieder  zu  einem  Ganzen  zusammensetze,  wobei  durch  die 
Kategorie  des  Dings  die  Bedeutung  der  ganzen  Synthese 
angegeben  wird,  und  zugleich  die  Abhängigkeit  der  Merk- 
male roth,  glatt  u.  s.  w.  von  den  räumlichen  Merkmalen 
durch  die  Natur  dieser  Merkmale  selbst  bestimmt  ist.  Wer 
eine  solche  Beschreibung  hört,  wird  damit  aufgefordert,  nun 
die  Synthese,  welche  in  der  Anschauung  selbst  sich  unwill- 
kürlich vollziehen  und  nur  in  ihrem  Gesammtresultat  zum 
Bewusstsein  kommen  würde.  Schritt  für  Schritt  zu  vollziehen, 
und  es  wird  ihm  zugemuthet,  dass  ihm  nun  aus  der  Be- 
schreibung dieselbe  Vorstellung  entstehe ,  die  ich  habe ;  vor- 
ausgesetzt natürlich,  dass  er  sich  unter  den  einzelnen  Merk- 
malen genau  dasselbe  denkt. 

Aber  es  zeigt  sich  sofort,  dass,  indem  ich  auf  diese  Weise 
etwas  beschreibe,  ich  schon  etwas  Anderes  zu  Stande  gebracht 
habe,  als  ich  beabsichtigte ;  die  Beschreibung  ist  in  der  Regel 
doch  dem  einzelnen  Bilde  nicht  äquivalent  und  kann  die  An- 
schauung selbst  nicht  ersetzen.  Ich  habe  in  den  Worten : 
»ein  kreisrundes  rothes,  glattes  etc.  Ding«  eine  Formel  in 
allgemeinen  Ausdrücken  aufgestellt,  welche  für  den ,  der  sie 
hört,  wie  ein  ßäthsel  klingt ,  das  er  zu  errathen  hat ,  eine 
Aufgabe  für  seine  Einbildungskraft,  sich  ein  Ding  anschau- 
lich vorzustellen ,  das  den  Bedingungen  der  Aufgabe  genügt. 
Mit  jedem  weiteren  Merkmal  ist  zwar  meine  Vorstellung  von 
anderen  unterschieden ,  welche  die  übrigen  Merkmale  noch 
mit  ihr  gemein  haben  ;  dabei  bleibt  aber  wegen  der  Natur 
der  Prädicate  noch  individuelle  Freiheit,  diese  Vorstellung  so 
oder  so  zu  gestalten ;  denn  Prädicate  wie  roth  ,  leicht ,  glatt 
u.  s.  w.  lassen,  auch  wenn  sie  genau  abgegrenzt  sind  (leicht 
z.  B.  specifisch  leichter  als  Wasser  heissen  sollte  u.  dgl.), 
noch  eine  Reihe  bestimmterer  Unterschiede  zu,  zwischen  denen 
er  wählen  muss,  um  ein  anschauliches  Bild  zu  gewinnen.  Die 
Beschreibung  gibt  ein  Signalement ,    das  nicht  bloss  auf  eine 


346  II,  1.    Der  Begriff.  299 

unbestimmte  Anzahl  vollkommen  gleicher,  sondern  noch  auf 
eine  Reihe  unterscheidbarer  Dinge  passt;  eine  Formel  also, 
der  nicht  bloss  numerische,  sondern  generelle  All- 
gemeinheit zukommt. 

Weiter  zeigt  sich,  dass  diese  Allgemeinheit  nicht  bloss 
F'olge  der  Weite  einzelner  Bestimmungen  wie  roth  u.  s.  w. 
ist,  sondern  dass  die  angegebenen  Merkmale  häufig  nicht  alles 
erschöpfen,  was  die  direct  wahrnehmbaren  oder  erschliessbaren 
Eigenschaften  meines  Objects  ausmacht;  jene  Formel  würde 
auf  ein  rundes  Stück  Pappe  oder  eine  rothe  Spielmarke  eben- 
sogut passen,  weil  sie  das  Material  und  die  davon  abhängigen 
Eigenschaften  nicht  angibt.  In  diesem  Falle  handelt  es  sich 
um  eine  leicht  zu  corrigierende  Unvollständigkeit  der  Beschrei- 
bung ;  aber  dasselbe  kann  eintreten ,  wo  für  unsere  jetzige 
Kenntniss  verborgene  und  uns  gar  nicht  erkennbare  Differenzen 
vorhanden  sind.  Die  exacteste  Beschreibung  der  Keimzelle 
eines  Säugethiers  würde  ohne  Weiteres  auf  die  Keimzellen 
vieler  anderen  passen,  obgleich  wir  voraussetzen  müssen,  dass 
verborgene  Differenzen  da  sind ,  die  sich  in  der  Entwicklung 
offenbaren  *) ;  und  keine  Beschreibung  irgend  eines  realen 
Dinos  überhaupt  kann  darauf  Anspruch  machen ,  eine  so  er- 
schöpfende zu  sein ,  dass  sie  nicht  möglicherweise  in  allen 
Stücken  auf  ein  davon  noch  durch  unbekannte  Unterschiede 
Verschiedenes  passte. 

Somit  haben  wir  in  einer  solchen  auf  Merkmale  redu- 
cierten  Formel  nicht  den  vollen  Ausdruck  eines  Dings,  son- 
dern zunächst  ein  subjectives  Gebilde,  das  unsere  aus 
der  Anschauung  eines  Dings  erwachsene  Vorstellung  ausdrückt, 
soweit  wir  sie  in  übereinstimmend  fixierten  Merkmalen  fest- 
halten können ;  eine  Regel  der  Vorstellungsbildung,  der  ge- 
nügt werden  soll,  aber  in  verschiedener  Weise  genügt  werden 
kann ;  deren  Allgemeinheit  theils  von  der  Weite  der  einzelnen 
Merkmale,  theils  von  der  Möglichkeit  abhängig  ist,  noch 
weitere  differente  Merkmale  zu  den  gegebenen  hinzuzufügen. 
Ob   die  geläufige  Sprache  für  eine  solche  Vorstellung  ein  be- 

*)  Von  der  dadurch  entstehenden  Nothwendigkeit,  Merkmale,  welche 
auf  Relationen  beruhen,  zur  Begriffsbestimmung  heranzuziehen,  wird  im 
dritten  Theile  die  Rede  sein. 


300      §  42.    Ueber-  u.  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  Begriffe.     347 

sonderes  Wort  habe,  ist  zunächst  gleichgültig;  wenn  es  der 
Mühe  werth  wäre,  würde  eines  dafür  geschaffen  werden  können. 

Wäre  unsere  Beschreibung  weniger  vollständig ,  wäre 
z.  B.  die  Angabe  der  Grösse  weggelassen :  so  wäre  ein  Unter- 
schied vernachlässigt,  durch  den  sich  dieses  Object  von  an- 
deren grösseren  und  kleineren  unterscheidet,  und  die  Formel 
würde  auf  viel  mehr  unterschiedene  Objecte  anwendbar  sein, 
indem  wir  noch  alle  möglichen  Grössen  ergänzen  können; 
wäre  sie  bestimmter,  z.  B.  statt  »roth«  rosenroth  gesetzt :  so 
würden  eine  Reihe  vorher  darunter  befasster  unterscheidbarer 
Objecte  ausgeschlossen  werden ;  immer  aber  hätten  wir  eine 
Formel,  welche  eine  Synthesis  von  Merkmalen  ausdrückt,  zu 
denen  noch  andere  hinzukommen  können ;  die  derjenige ,  der 
sie  hört,  in  manigf altiger  Weise  ergänzen  kann. 

3.  Auf  diese  Weise  kann  schon  von  der  Analyse  der 
Vorstellung  eines  einzigen  Objects  aus  eine  Reihe  von 
Formeln  entstehen,  welche  successiv  mehr  und  mehr  Merk- 
male enthalten  ;  durch  jedes  Merkmal  wird  das ,  was  vorge- 
stellt werden  soll,  vollständiger  bestimmt,  durch  jedes  weitere 
Merkmal  werden  Objecte  ausgeschlossen,  aufweiche  die  früheren 
für  sich  noch  zutrafen.  Von  jeder  dieser  Formeln  kommt  man 
auf  die  vorangehende,  indem  man  ein  Merkmal  weglässt,  auf 
die  folgende,  indem  man  eines  hinzufügt.  Je  weniger  Merk- 
male zusammengefasst  sind,  von  desto  mehreren  unterschiedenen 
Objecten  kann  die  Formel  prädiciert  werden,  wenn  man  die 
möglichen  Unterschiede  wirklich  setzt;  je  mehr,  von  desto 
wenigeren.  Die  Formeln  verhalten  sich  wie  allgemeinere 
und  speciellere  Begriffe.  Auch  der  speciellste  ist  noch 
allgemein,  sofern  seine  Merkmale  noch  eine  gewisse  Weite 
zulassen ;  nur  wenn  alle  Merkmale  vollkommen  bestimmt 
wären ,  käme  dem  Begriff  bloss  noch  numerische  Allgemein- 
heit zu  (z.  B.  ein  Cubus  aus  reinem  Golde  von  1  Centim. 
Seite  ist  eine  vollkommen  bestimmte  Vorstellung). 

Dies  wird  so  ausgedrückt,  dass  man  von  einem  gegebenen 
Begriff  zu  einem  allgemeineren  aufsteige  durch  A  b  s  t  r  a  c  t  i  o  n, 
d.  h.  Weglassung  von  Merkmalen,  zu  einem  specielleren  herab- 
steige durch  Determination,  d.  h.  Hinzufügung  von  Merk- 
malen ;    die  Abstraction    vermindert    den  Inhalt, 


348  n,  1.    Der  Begiiflf.  301 

aber  erweitertden  Umfang,  die  Determination  ver- 
mehrt den  Inhalt,  aber  verengert  den  Umfang. 
Inhalt  und  Umfang  stehen  in  umgekehrtemVer- 
hältniss.  Der  allgemeinere  Begriff  heisst  der  höhere, 
weitere;  der  specielle  der  niedere,  engere;  ihr  Ver- 
hältniss  heisst  das  der  Subordination. 

Dasselbe  ergibt  sich,  wenn  wir  nicht  von  einem  einzelnen 
Objecte  ausgiengen,  sondern  von  verschiedenen,  und  die  Auf- 
gabe gestellt  wäre,  anzugeben,  welche  Merkmale  verschiedenen 
Objecten  gemeinschaftlich  sind.  Je  mehrere  verschiedene  zu- 
sammengefasst  werden  sollen,  desto  wenigere  Merkmale  wer- 
den ihnen  gemeinsam  sein,  desto  inhaltsloser  wird  der  Begriff*; 
je  wenigere,  desto  inhaltsreicher. 

■1.  In  diesen  Sätzen,  so  einfach  und  selbstverständlich 
sie  erscheinen,  verstecken  sich  doch  einige  gewöhnlich  nicht 
genügend  beachtete  Fragen  und  Schwierigkeiten ,  theils  hin- 
sichtlich der  Processe  der  Abstraction  und  Determination,  theils 
hinsichtlich    des    Verhältnisses    zwischen  Inhalt   und  Umfang. 

Zunächst  ist  das  Weglassen  und  Hinzufügen  von 
Merkmalen  nichts  so  Willkürliches  und  Beliebiges ,  als  es 
nach  diesen  Sätzen  scheint.  Unter  den  Merkmalen  ist  inamer 
eins  dasjenige,  welches  die  Art  der  Synthese  bestimmt, 
indem  es  die  Kategorie  angibt;  würde  man  versuchen  dieses 
wegzulassen,  so  verlören  die  übrigen  Merkmale  ihren  Halt, 
und  der  Sinn  ihrer  Synthese  würde  unsicher.  Ueber-  und 
untergeordnet  können  nur  Be  g  r  if  fe  innerhalb  derselben 
Kategorie  sein ;  und  es  verwirrt,  wenn  etwa  roth  der  über- 
geordnete Begriff  zu  Rose  oder  vernünftig  der  übergeordnete 
Begriff  zu  Mensch  oder  vorsätzlich  der  übergeordnete  Begriff 
zu  Mord  sein  soll. 

Ferner  sind  die  Merkmale  nicht  alle  unabhängig  von 
einander,  sondern  setzen  einander  theilweise  voraus.  Es  hülfe 
nichts,  das  Merkmal  ausgedehnt  wegzulassen  und  roth  beizube- 
halten; dieses  setzt  jenes  voraus.  Somit  ist  der  Gang  der  verallge- 
meinernden Abstraction  innerhalb  gewisser  Grenzen  vorgezeichnet. 

Ebenso  der  der  Determination.  Selbstverständlich  ist 
zunächst,  dass  diese  nicht  unvereinbare  Merkmale  herzubringen 
darf,  ohne  dem  Widerspruch  zu  verfallen;  aber  wodurch  soll 


302     §  42.  lieber-  u.  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  Begriffe.     349 

die  Determination  bestimmt  werden  ?  Hier  ist  auf  einen  dop- 
pelten Grund  der  Determination  hinzuweisen.  So- 
fern nemlich  die  gegebene  Begriffsformel  Merkmale  ent- 
hält, die  noch  ihrer  eigenen  Natur  nach  eine 
Reihe  von  Unterschieden  zulassen  — wie  roth  eine 
Reihe  von  Schattierungen,  kreisrund  alle  möglichen  Grössen 
des  Durchmessers  u.  s.  w.  —  bietet  sich  hier  für  die  Deter- 
mination, die  Setzung  irgend  eines  dieser  Unterschiede,  und 
sie  rechtfertigt  sich  aus  dem  gegebenen  Begriffe  selbst.  Aber 
schon  hier  ist  zu  achten ,  ob  nicht  andere  Merkmale  einen 
Theil  der  so  möglichen  Merkmale  ausschliessen  und  die  De- 
termination einschränken.  Der  Begriff  einer  von  drei  Geraden 
begrenzten  ebenen  Figur  enthält  nichts  über  die  Grösse  der 
Figur,  noch  die  Grösse  der  Geraden  und  ihr  Verhältniss  zu 
einander;  mit  dem  Begriff  der  Geraden  ist  irgend  eine  Grösse 
nothwendig  gegeben,  welche,  bleibt  der  Determination  vor- 
behalten ;  aber  ich  kann  nun  nicht  beliebig  für  jede  Gerade 
eine  Determination  vollziehen ,  sondern  bin  durch  das  Gesetz 
eingeschränkt,  dass  zwei  Seiten  zusammen  grösser  sind  als 
die  dritte;  dieses  Gesetz  ist  mir  durch  die  übrigen  Merkmale 
und  die  Art  der  geforderten  Synthese  derselben  vorgeschrie- 
ben. Die  Determination  kann  also  nicht  aus  einem  Merkmale 
für  sich,  sondern  nur  aus  dem  ganzen  Complex  hervorgehen. 
Neben  dieser  Determination  läuft  aber  eine  andere  her, 
welche  unabhängige  neue  Merkmale  hinzufügt ,  ohne 
dass  diese  in  den  gegebenen  einen  Anknüpfungspunkt  haben. 
Wird  z.  B.  die  Materie  bestimmt  als  die  ausgedehnte  und 
schwere  Substanz ,  so  vermögen  wir  die  specifischen  Eigen- 
schaften der  einzelnen  Stoffe  auf  dem  Standpunkte  unserer 
jetzigen  Kenntniss  in  keiner  Weise  als  Modificationen  der 
Ausdehnung  und  Schwere  zu  betrachten.  In  solchen  Fällen 
zeigt  es  sich  nun  aber,  dass  die  Determination  durch  die  rein 
empirische  Kenntniss  dessen  bestimmt  ist,  was  unter 
den  Begriff'  der  Materie  fällt;  wir  fügen  die  Merkmale  hinzu, 
welche  wir  erfahrungsmässig  mit  den  allgemeineren  vereinigt 
finden.  Diese  Determination  kiumte  durch  den  Gehalt  unserer 
Vorstellungen  erst  geleitet  sein,  wenn  wir  eine  absolut  voll- 
kommene Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge  hätten. 


ä&O  '       ",  1.    Der  Begriff.  äo3 

5.  Diese  doppelte  Weise  der  Determination  macht  un- 
sicher, was  unter  dem  Umfang  eines  Begriflfe  zu  verstehen 
sei.  Gehen  wir  vom  logischen  Gesiclitspunkt  aus,  der  zunächst 
begrifflich  bestimmte  Prädicate  fordert,  und  darum  nur  die 
Vorstellungen  im  Auge  hat,  mit  denen  wir  an  die  wirklichen 
Dinge  herantreten:  so  kann  consequenterweise  das  V  e  r h ä  1 1- 
niss  der  Unterordnung  immer  nur  zwischen  Be- 
griffen stattfinden,  und  die  Allgemeinheit  des  Begriffs  be- 
steht darin ,  dass  er  in  einer  Menge  begrifflich ,  d.  h.  durch 
ihren  Inhalt,  durch  differente  Merkmale  unterschiedener  Vor- 
stellungen gedacht  wird.  Die  bloss  numerische  Allgemeinheit, 
vermöge  der  dieselbe  Vorstellung  in  einer  unbestimmten  Menge 
einzelner  angeschauter  Dinge  wiedergefunden  wird,  ist  für  das 
Wesen  des  Begriffs  völlig  gleichgültig ;  es  ist  ein  und  derselbe 
Begriff,  der  in  allen  Exemplaren  gedacht  wird,  und  sein  Wesen 
verändert  sich  nicht,  ob  er  von  einem  oder  von  hundert  Dingen 
prädiciert  werden  kann. 

Darum  kann  der  Begriffs-Ümfang  niemals  nach  der 
empirischen  Anzahl  gleicher  Dinge  bemessen 
werden,  welche  unter  einen  Begriff  fallen,  sobald 
—  gegen  das  Principium  identitatis  indiscernibilium  —  die 
Möglichkeit  anerkannt  ist,  dass  es  für  unsere  Erkenntniss 
Objecte  gibt,  die  sich  nicht  mehr  durch  ihre  Eigenschaften, 
sondern  nur  noch  durch  verschiedenen  Ort  oder  verschiedene 
Zeit  unterscheiden.  Dem  gegenüber  ist  festzuhalten,  dass 
ein  Begriff,  der  sich  nicht  weiter  determinieren 
lässt,  keinen  Umfang  mehr  hat ;  er  repräsentiert  die 
Grenze  der  Beschränkung  des  Umfangs,  den  Punkt;  wenn 
auch  das  ihm  entsprechende  in  Millionen  Exemplaren  empi- 
risch vorhanden  sein  mag.  Eine  gusseiserne  Kugel  von  10 
Centim.  Durchmesser  ist,  alles  Gusseisen  als  gleich  vorausge- 
setzt, ein  solcher  Begriff. 

Nur  sofern  es  Merkmale  gibt,  deren  begriffliche  Fixierung 
immer  nur  in  einer  Begrenzung  eines  Continuums  unmerklich 
kleiner  Unterschiede  bestehen  kann ,  hat  auch  die  unterste 
begrifflich  fixierte  Formel  noch  einen  Umfang,  nur  dass  er 
sich  nicht  mehr  in  discrete  Begriffe  zerlegen  lässt. 

Die  Frage  nach  den  Individualbe  griff  en  nimmt  an 


'       Ö04    §  42,    lieber-  ii.  Unterordnung,  Inlialt  u.  Umfang  der  Begrift'e.     351 

dieser  SchAvierigkeit  Theil.  Ein  Individualbegriff  kann  nie- 
mals bloss  deshalb  ein  solcher  heissen,  weil  zufällig  in  der 
empirischen  Wirklichkeit  bloss  ein  Ding  existiert ,  das  ihm 
entspricht,  sowenig  als  es  die  logische  Natur  des  Begriffs 
afficiert,  wenn  gar  kein  ihm  entsprechendes  Object  gegeben 
wäre.  Individualbegriff  kann  nur  der  heissen,  durch  dessen 
Merkmale  schon  die  Einzigkeit  eines  ihm  ent- 
sprechenden Objects  gegeben  ist;  so  ist  der  Mittel- 
punkt der  Welt  in  diesem  Sinne  ein  Individualbegriff.  Die 
Frage  dagegen,  ob  alle  Individuen,  welche  factisch  unter  einen 
gegebenen  Begriff  fallen,  noch  anders  als  räumlich  und  zeit- 
lich unterscheidbar  seien,  und  ob  ein  Begriff  kleinsten  Um- 
fangs  nur  Ein  oder  ob  er  mehrere  Einzeldinge  unter  sich 
befassen  könne,  geht  die  logische  Betrachtung  nichts  an,  son- 
dern gehört  in  die  reale  Wissenschaft. 

Ebendarum  ist  es  auch  rein  zufällig,  wenn  die  Zahl  der 
unter  zwei  inhaltlich  verschiedene  Begriffe  fallenden  Dinge 
dieselbe  ist ,  und  sie  dürfen  darum  gleichgeltende  oder 
Wechselvorstellungen  nicht  als  Begriffe  heissen, 
sondern  nur  insofern  ,  als  sie  ,  als  N  a  m  e  n  gebraucht ,  für 
unsere  Kenntniss  dieselben  Dinge  bezeichnen.  In  der  That 
sind  sie  verschieden  und  haben  logisch  betrachtet  verschiedenen 
Umfang.  Das  zweifüssige  ungeiiederte  Thier  ist  ein  anderer 
Begriff,  als  der  Begriff  des  Menschen ;  nur  als  N  a  m  e  n  ge- 
braucht, bezeichnen  sie  dieselben  Wesen.  Vom  logischen  Um- 
fang des  Begriffs  ist  also  der  empirische  Umfang  des 
Namens  zu  scheiden. 

Höchstens  kann  man  darüber  im  Zweifel  sein,  ob  die 
Begriffe  »gleichseitiges  Dreieck«  und  »gleich winkliches  Dreieck« 
identisch  oder  verschieden  sind.  Sie  sind  in  der  Formel  ver- 
schieden; da  aber  das  Merkmal  gleichseitig,  zusammen  mit 
den  in  dem  Worte  Dreieck  zusammengefassten  Merkmalen 
das  Merkmal  gl  eich  winklich  mit  Nothwendigkeit  enthält  und 
umgekehrt,  so  haben  sie  absolut  denselben  Werth;  und  nur  wo 
man  am  sprachlichen  Ausdruck  hängt,  kann  man  sie  für  ver- 
schieden erklären.  Dann  müssen  aber  auch  gleichseitiges  Recht- 
eck und   rechtwinklicher  Rhombus  verschiedene  Begriffe  sein. 

Direct   vergleichbar  sind  ferner  nur    die  Umfange  unter- 


352  ^l  1-    Der  Begriff.  305 

und  übergeordneter  Begriffe;  die  Umfange  von  Begriffen,  die 
von  einander  unabhängig  sind,  lassen  sich  nicht  vergleichen, 
ausser  sofern  jeder  Begriff,  der  noch  viele  Determinationen 
zulässt,  im  Allgemeinen  ein  weiter,  jeder  der  nur  noch  we- 
nige zulässt,  im  Allgemeinen  ein  enger  heissen  kann ;  ein  be- 
stimmtes allgemeines  Mass  der  Umfange  aber  kann  es  nicht 
geben. 

Weiter  ist  zwischen  dem  logischen  Umfang  und 
dem  empirischen  Umfang  eines  Begriffs  zu  unter- 
scheiden. Den  logischen  Umfang  constituieren  alle  die  Be- 
griffe, welche  durch  die  weitere  Determination  seiner  Merk- 
male gewonnen  werden,  die  mit  diesen  selbst  gegeben  ist. 
Wo  aber  die  Determination  bloss  durch  unsere  Kenntniss  der 
factisch  vorhandenen  Dinge  geleitet  wird,  eine  Reihe  an  sich 
möglicher  Determinationen  und  Combinationen  von  Merkmalen 
gar  nicht  ausgeführt  wird,  weil  wir  keine  empirische  Veran- 
lassung dazu  haben  da  kann  auch  nur  von  einem  empi- 
rischen Umfang  geredet  werden,  weil  wir  weder  die  Noth- 
wendigkeit  einsehen,  gerade  diese,  noch  die  Noth wendigkeit, 
nur  diese  Determinationen  vorzunehmen.  Niemand  vermag 
aus  dem  Begriffe  des  Metalls  abzuleiten,  dass  es  soviele,  und 
dass  es  nur  soviele  verschiedene  Metalle  gibt;  aber  es  wäre 
ein  völlig  leeres  Geschäft,  alle  möglichen  verschiedenen  Com- 
binationen von  Merkmalen  zu  versuchen ;  der  Umfang  des 
Begriffs  Metall  wird  für  uns  durch  die  Begriffe  der  bekannten 
Metalle  constituiert.  Ebendarum  ist  aber  der  empirische  Um- 
fang eines  Begriffs  niemals  für  abgeschlossen  zu  halten. 

6.  Auf  das  Verhältniss  der  über-  und  untergeordneten 
Begriffe  pflegt  mau  auch  den  Ausdruck  Gattung  und  Art, 
Genus  und  Species  anzuwenden;  jeder  Begriff  ist  dem 
niederen  gegenüber  Genus,  dem  höheren  gegenüber  Species. 
Es  gilt  von  diesen  Terminis  ebenso,  dass  sie  nur  innerhalb 
derselben  Kategorie  bestimmten  Sinn  haben;  roth  ist  kein 
Gattungsbegriff  zu  Rose,  sondern  nur  zu  den  verschiedenen 
Abschattungen  von  roth.  Die  höchsten  Gattungen,  die  Tcpwia 
yivTj  sind  darum  die  Kategorieen ;  ihr  Gemeinschaftliches  ist 
zuletzt  wieder  nur  die  Relation,  ein  Denkobject  zu  sein.  Hält 
man  an  jener  Bestimmung  nicht  fest,  so  gäbe  es  soviel  höchste 


306    §  42.    Ueber-  u.  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  Begriffe.     353 

Gattungen,  als  es  von  einander  unabhängige  Merkmale  irgend- 
welcher Art  gibt. 

Vom  Grattungsbegriff  ist  die  Gattung  im  con- 
creten  Sinne,  die  Gesammtheit  der  unter  einen  Gattungs- 
begriff fallenden  Dinge,  vom  Gattungsbegriff  Mensch  die 
menschliche  Gattung  selbstverständlich  zu  unterscheiden. 

7.  Von  einem  und  d  emselben  B  egr  iff  k  ann  zu 
verschiedenen  höheren  Begriffen  aufgestiegen  wer- 
den, wenn  er  verschiedene  von  einander  unabhängige  Merk- 
male enthält.  Vom  Begriffe  des  Quadrats  kann  zu  dem  des 
gleichseitigen  Vierecks,  dem  des  gleichwinklichen  Vierecks, 
dem  der  regulären  Figur  aufgestiegen  werden,  je  nachdem 
eines  der  Merkmale  gleichwinklich,  gleichseitig,  vierseitig,  die 
alle  von  einander  unabhängig  sind,  wegfällt ;  alle  die  höheren 
Begriffe  verhalten  sich  gleichmässig  als  Gattungsbegriffe  zu 
dem  des  Quadrats.  Dem  entspricht,  dass  ebenso  die  Deter- 
mination in  verschiedener  Ordnung  erfolgen  kann, 
je  nachdem  das  eine  oder  das  andere  aus  einer  Zahl  unab- 
hängiger Merkmale  zuerst  gesetzt  wird.  Von  dem  Begriffe 
der  geradlinigen  ebenen  Figur  aus  kann  fortgeschritten  wer- 
den in  der  Ordnung  figura  plana  rectilinea  quadrilatera  — 
fig.  pl.  r.  quadrilatera  aequilatera  —  fig.  pl.  r.  quadrilatera 
aequilatera  aequiangula;  ebenso  aber  auch  in  dieser  Ordnung: 
Figura  plana  rectil.  aequiangula  —  fig.  pl.  r.  aequiangula 
aequilatera  —  fig.  pl.  r.  aequiangula  aequilatera  quadrilatera 
etc.  Jeder  Begriff,  der  von  einander  unabhängige  Merkmale 
enthält,  kann  also  in  verschiedenen  Reihen  einander 
subordinierter  Begriffe  liegen,  und  es  bedürfte  der 
arithmetischen  Combinationsrechnung ,  um  alle  Möglichkeiten 
zu  erschöpfen. 

Es  gibt  also  k e i n e  durch  die  Natur  der  Begriffe 
mit  Nothwendigkeit  gegebene  Anordnung  der 
Subordinationsfolge,  keine  feste  Rangstufenordnung, 
in  welche  sich  alle  logisch  möglichen  und  berechtigten  Be- 
griffe in  einerlei  Weise  einreihen  Hessen;  gerade  darum,  weil 
die  Begriffe  in  unserem  Sinne  subjective  Gebilde  sind,  Formeln, 
die  zunächst  nur  den  Zweck  haben,  unsere  Vorstellungen  zu 
fixieren  und  zu  allgemeinverständlichen  und  eindeutigen   Prä- 

Sigw  art  ,   Logik.  1.  2.  Auflage.  ^^0 


3^4  11,  1.     Der  Begriff.  307 

dicaten  zu  stempeln,  kommt  ihnen  auch  die  Beweglichkeit  und 
Freiheit  manigfaltiger  Combination  zu  *). 

8.  Diese  ursprünglichste  Function  der  Begriffe,  als  Prä- 
dicate  in  unsern  manigfaltigen  ürtheilen  zu  dienen,  lässt 
es  als  keine  Unvollkommenheit  derselben  erscheinen,  dass  sie 
in  der  Regel  ärmer  an  Bestimmungen  sind  als  die  concreten 
und  völlig  bestimmten  Subjecte,  von  denen  sie  prädiciert  werden, 
und  dass  ihnen  mehr  oder  weniger  fehlt,  wenn  sie  nun  mit  der 
anschaulichen  Wirklichkeit  der  einzelnen  Dinge,  Vorgänge 
u.  s.  w.  verglichen  werden.  Es  schadet  dem  Werthe  des  Be- 
griffs »Obst«  nicht,  dass  kein  Mensch  Obst  überhaupt  essen 
kann,  sondern  nur  Aepfel  oder  Birnen  u.  s.  w.,  und  zwar  von 
einer  ganz  bestimmten  Sorte,  und  jedes  Exemplar  von  indi- 
vidueller Form  und  Grösse;  und  es  schadet  dem  Werthe  des 
Begriffs  Uhr  ebensowenig,  dass  Niemand  eine  Uhr  überhaupt 
haben  kann,  sondern  nur  eine  Pendeluhr  oder  Spiraluhr  etc. 
Diese  Differenz  zwischen  dem  Begriff  und  dem  Seienden  ist 
mit  seinem  Zweck  und  seiner  Function  nothwendig  gegeben. 
Es  ist  darum  eine  den  obersten  und  allgemeinen  Zweck  der 
Begriffsbildung  verkennende  Forderung,  wenn  nun  die  logische 
Theorie  den  vermeintlichen  Mangel  wieder  dadurch  gut  machen 
will,  dass  sie  behauptet  oder  fordert,  dass  der  Begriff  eines 
Dinges  die  wesentlichen  Merkmale  desselben  enthalte 
—  womit  dasjenige,  was  der  Begriff  noch  unbestimmt  lässt, 
als  unwesentlich,  als  accidentell  hingestellt  wird.  Abgesehen 
davon,    dass    wir  eine  durchdringende  Kenntniss  der    ganzen 


*)  Die  Vorstellung  einer  Anordnung  der  Begriffe,  in  der  von  Einer 
Spitze  —  dem  Begriffe  des  5v  oder  des  Etwas  aus  —  als  dem  allge- 
meinsten Begriffe  sich  die  specielleren  in  immer  grösserer  Zahl  aus- 
breiten, ist  nach  allen  Seiten  schief;  sie  setzt  voraus,  dass  die  Zahl  der 
höheren  Gattungsbegriffe  viel  kleiner  sein  müsse,  als  die  der  specielle- 
ren ;  wenn  man  aber  die  Begriffe  als  Combinationen  aus  einer  be- 
grenzten Anzahl  von  Merkmalen  betrachtet,  so  hängt  es  ganz  von  ihren 
Verhältnissen  ab,  ob  die  Combinationen  grösserer  oder  geringerer  All- 
gemeinheit zahlreicher  sind.  Nur  auf  dem  Grunde  einer  Metaphysik, 
welche  dem  höheren  Begriffe  die  reale  Bedeutung  beilegt,  hervor- 
bringende Ursache  der  niederen  zu  sein,  ergibt  sich  die  Nothwendigkeit 
einer  festen  Anordnung ,  und  damit  zugleich  jenes  Bild  einer  Begrift's- 
pyramide, 


308    §42.   Ueber- u.  Unterordnung,  Inhalt  u.  Umfang  der  BegriflFe.      355 

Welt  haben  müssten,  um  zu  wissen,  was  denn  wesentliche 
Merkmale  der  Dinge  seien  und  was  nicht,  so  führt  diese  Be- 
hauptung, sobald  man  sie  mit  der  lieber-  und  Unterordnung 
der  Begriffe  zusammennimmt,  nothwendig  zu  der  pantheisti- 
schen  Consequenz,  dass  aller  Dinge  Wesen  nur  Eines,  und 
alle  Unterschiede  nur  accidentelle ,  zuletzt  nur  in  der  subjec- 
tiven  Vorstellungsweise  gegründet  seien.  Denn  da  keine  ab- 
solute und  feste  Grenze  besteht  zwischen  den  Unterschieden, 
welche  die  begriffliche  Fixierung  vernachlässigen  muss,  um  die 
Begriffsspaltung  nicht  ins  Unübersehbare  zu  treiben,  und 
denen,  die  eben  noch  ihre  begriffliche  Fixierung  und  Formu- 
lierung finden  —  so  sind  mit  demselben  Rechte,  mit  welchem 
die  bloss  individuellen  Unterschiede  der  unter  einen  niedersten 
Begriff  fallenden  Dinge  bloss  accidentell  sind,  auch  die  Unter- 
schiede der  letzten  Species  gegenüber  dem  Genus  accidentell; 
und  da  sich  zuletzt  immer  ein  höheres  Genus  zu  seinen  Spe- 
cies verhält  wie  der  speciellste  Begriff  zu  den  noch  unter- 
scheidbaren Individuen,  so  kann  nur  der  höchste  Begriff  das 
eigentliche  Wesen  ausdrücken.  Dies  ist  in  der  That  die 
Genesis  der  Spinozischen  Lehre ,  dass  es  nur  eine  Substanz 
gebe,  und  alle  Unterschiede  blosse  Modificationen  dieses  Einen 
seien. 

Der  Unterschied  wesentlicher  und  unwesentlicher  Merk- 
male hat  seine  Bedeutung  und  sein  Recht  zuerst  im  Gebiete 
der  Zweckbegriffe.  Wo  es  sich  darum  handelt  ,  irgend 
einen  Zweck  durch  reale  Mittel  zu  erreichen,  pflegen  diese 
ihrer  natürlichen  Beschaffenheit  nach  noch  eine  Reihe  von  Eisren- 
Schäften  zu  haben,  welche  nicht  gewollt  und  darum  durch 
den  Zweckbegriff  nicht  bestimmt  sind;  sie  sind  demselben 
gegenüber  accidentell.  Das  Bedürfniss  des  Schutzes  gegen 
die  Kälte  erzeugt  den  Zweckbegriff  einer  den  Wärmeverlust 
verhindernden  Umhüllung,  damit  ist  von  dem  Stoffe,  der 
diesem  Zwecke  dienen  soll,  verlangt,  dass  er  ein  schlechter 
Wärmeleiter  und  biegsam  sei.  Jeder  erreichbare  Stoff  hat 
aber  ausser  der  Eigenschaft,  ein  schlechter  Wärmeleiter  und 
biegsam  zu  sein,  noch  viele  andere  Eigenschaften;  die  letz- 
teren thun  zur  Erfüllung  des  Zwecks  nichts;  dem  Begriffe 
des  Kleides    gegenüber  sind    sie    accidentell.     Ebenso   ist    der 

23* 


356  n,  1.    Der  Begriff.  309 

Begriff  der  Uhr  ursprünglich  ein  Zweckbegriff  —  der  Begriff 
eines  Apparates ,  welcher  die  Zeit  durch  räumliche  Verände- 
rungen misst ;  für  den  Begriff  der  Uhr  ist  es  accidentell,  wie 
sie  construiert  ist,  wenn  sie  nur  ihren  Zweck  erfüllt.  Hier 
geht  also  in  der  That  der  subjective  Begriff  mit  seinen  Merk- 
malen der  Realität  voran;  dass  nicht  bloss  die  Bestimmungen 
verwirklicht  werden  können,  welche  er  in  sich  schliesst,  hängt 
von  der  Natur  der  Dinge  ab,  welche  als  Mittel  verwendet 
werden  müssen ;  mit  der  Mannigfaltigkeit  der  Mittel  besondert 
er  sich.  Nur  wo  die  Natur  selbst  unter  den  Begriff  des 
Zwecks  gestellt  und  so  betrachtet  wird,  als  wolle  sie  gewisse 
Ideen  oder  Formen  verwirklichen,  die  in  ähnlicher  Unbestimmt- 
heit und  Variabilität  gedacht  werden,  wie  der  Mensch  seine 
Zwecke  denkt,  hat  es  einen  Sinn ,  wesentliche  und  unwesent- 
liche Merkmale  in  der  Vorstellung  eines  existierenden  Dings 
zu  unterscheiden.  Kommt  es  der  Natur  darauf  an,  bloss  die 
Form,  den  Bau  und  die  Organisation  des  Pferdes  zu  schaffen, 
und  ist  für  ihren  Zweck  die  Farbe  gleichgültig:  so  gilt  diese 
als  unwesentliches  Merkmal,  das  nur  da  ist,  weil  das  Pferd 
doch  irgend  eine  Farbe  haben  muss.  Die  Veränderlichkeit 
solcher  Merkmale  bei  sonst  ähnlichen  Individuen  gilt  dann 
als  Zeichen  ihrer  Gleichgültigkeit;  während  doch,  naturwissen- 
schaftlich betrachtet,  die  weisse  Farbe  des  Schimmels  und  die 
schwarze  des  Rappen  ebenso  nothwendig  aus  der  Constitution 
der  einzelnen  Individuen  folgt,  wie  der  Bau  ihres  Skeletts  und 
ihrer  Muskeln. 

Der  Unterschied  des  Wesentlichen  und  Unwesentlichen 
liegt  also  zuletzt  immer  da,  wo  mit  einem  schon  gege- 
benen Begriffe  eine  darunter  befasste  Vorstellung  ver- 
glichen, und  die  Realisierung  des  Begriffs  in  ihr  gesucht  und 
betrachtet  wird.  Wenn  das  Straf  recht  gewisse  Begriffe  von 
Verbrechen  aufstellt ,  Mord ,  Todtschlag  u.  s.  f. :  so  sucht  in 
den  einzelnen  concreten  Handlungen  der  Richter  die  Merk- 
male, welche  das  Gesetz  bestimmt;  diese  sind  für  die  Sub- 
sumtion und  die  Ausmessung  der  Strafe  wesentlich,  die  in- 
dividuellen Umstände  der  That,  die  nicht  vorgesehen  sind, 
sind  unwesentlich.  Es  ist  wesentlich ,  ob  einer  vorsätzlich 
oder  un vorsätzlich,  mit  oder  ohne  Ueberlegung    einen  andern 


310  §  42.    Wesentliche  und  unwesentliche  Merkmale.  357 

getödtet  hat;  es  ist  unwesentlich,  ob  mit  einer  Kugel  oder 
einem  conischen  Geschoss. 

Derselbe  Gesichtspunkt  kehrt  wieder,  wenn  die  Aufgabe 
gestellt  ist,  die  Bedeutung  eines  gebräuchlichen  Wortes  begriff- 
lich zu  fixieren;  unwesentlich  ist  jetzt,  was  nicht  zu  der  all- 
gemeinen Bedeutung  gehört,  sondern  nur  den  bestimmteren, 
darunter  befassten  Dingen  oder  specielleren  Vorstellungen  an- 
gehört. In  diesem  Sinne  ist  es  für  den  Begriff  des  Hauses 
unwesentlich,  ob  es  mit  Ziegeln  oder  Stroh  gedeckt  ist,  wesent- 
lich aber,  dass  es  überhaupt  ein  Dach  hat;  in  der  thatsäch- 
lichen  Bedeutung  des  Wortes  »Haus«  ist  das  Bedecktsein 
eingeschlossen,  das  bestimmte  Material  aber  nicht. 

9.  Von  dieser  logischen  Betrachtung  des  Unterschiedes 
wesentlicher  und  unwesentlicher  Merkmale  eines  Dinges  ist 
scharf  zu  unterscheiden  die  Frage,  was  zum  realen  Wesen 
eines  Dinges  gehört,  ihm  wesentlich  ist  oder  nicht  (vergl.  §.  33, 
4  S.  258).  Wenn  die  Forderung  gestellt  wird,  die  Begriffe 
der  Dinge  so  zu  bilden,  dass  sie  das  Wesen  der  Dinge  aus- 
drücken, d.  h.  diejenigen  Bestimmungen,  die  ihnen  an  und 
für  sich  zukommen  und  rein  aus  ihrem  Wesen  hervorgehen: 
dann  sollen  die  Merkmale  eines  Begriffs  die  wesentlichen  Be- 
stimmungen der  Dinge  enthalten,  und  es  sollen  also  unter 
denselben  Begriff'  alle  Dinge  fallen,  deren  Wesen  dasselbe  ist. 
Es  ist  aber  klar,  dass  diese  Forderung  nur  durch  die  infimae 
species  erfüllt  werden  kann,  wenn  man  nicht  in  die  pan- 
theistische  Richtung  gerathen  will,  also  für  alle  höheren  Be- 
griffe keinen  Sinn  mehr  hat;  und  es  ist  ebenso  klar,  dass 
diese  Wesensbegriff'e,  wenn  sie  überhaupt  erreichbar  sind,  nur 
ein  kleiner  Theil  der  Begriffe  sein  können,  deren  wir  über- 
haupt bedürfen.  Denn  für  die  Erkenntniss  handelt  es  sich 
nicht  bloss  darum ,  das  unveränderlich  sich  gleichbleibende 
Wesen,  sondern  auch  die  manigfaltige  Aeusserung,  Erschei- 
nung und  Wirkung  dieses  Wesens  zu  erkennen ;  und  auch 
dazu  bedarf  es  der  Urtheile,  deren  Prädicate  Begriffe  sind. 

Von  einer  Seite  ist  allerdings  ein  Unterschied  zwischen 
den  beharrlichen  und  bleibenden,  und  den  veränderlichen  und 
wechselnden  Eigenschaften  oder  Zuständen  eines  Dinges  ,  der 
Unterschied ,    den    z.  B.  Cartesius    durch    die    Distinction    der 


358  II,  1.    Der  Begriff.  311 

attributa  und  der  modi  bezeichnen  wollte ;  da  der  Begriff  eine 
constante  Vorstellung  sein  muss,  der  Begrijff  eines  Dinges  ein 
in  der  Zeit  Beharrliches  meint,  so  kann  im  Begriff  des  Dings 
nur  liegen,  was  ihm  bleibend  zukommt.  Dem  Begriff  des 
Dings  gegenüber  ist  also  das  Veränderliche  unwesentlich,  aber 
nur  weil  es  nicht  in  den  Begriff  aufgenommen  werden  kann, 
nicht  weil  es  keine  Beziehung  zum  realen  Wesen  des  Dings 
hätte ;  denn  dieses  expliciert  sich  eben  in  den  Veränderungen, 
und  wir  sind  darum  genöthigt,  den  bleibenden  Grund  des 
Veränderlichen  als  Vermögen,  Kraft  u.  s.  w.  in  den  Begriff 
des  Dinges  aufzunehmen,  wenn  wir  sein  reales  Wesen  aus- 
drücken wollen. 

10.  Von  dem  Unterschiede  der  wesentlichen  und  un- 
wesentlichen Merkmale,  der  in  Beziehung  auf  den  Begriff  als 
solchen  keinen  Sinn  hat,  ist  der  andere  der  fundamen- 
talen und  abgeleiteten  Merkmale  wohl  zu  unter- 
scheiden. Wenn  aus  einer  Combination  elementarer  Merk- 
male andere  Prädicate  mit  Nothwendigkeit  hervorgehen,  so 
heissen  die  ersteren  fundamental ,  die  zweiten  abgeleitet  *). 
Es  ist  eine  fundamentale  Eigenschaft  des  Rechteckes,  parallele 
Seiten  und  rechte  Winkel,  eine  abgeleitete  gleiche  Diagonalen 
zu  haben;  ein  fundamentales  Merkmal  der  ungeraden  Zahl 
durch  zwei  getheilt  den  Rest  Eins  zu  lassen ,  ein  abgeleitetes 
durch  gerade  Zahlen  nicht  theilbar  zu  sein  u.  s.  f.  Aber 
auch  hier  ist  die  Vermischung  des  Logischen  und  Metaphy- 
sischen abzuweisen ;  es  darf  den  fundamentalen  Merkmalen 
nicht  die  Bedeutung  beigelegt  werden,  dass  sie  das  reale 
Wesen  eines  Dings  constituieren  —  darüber  wissen  wir  in 
vielen  Fällen  nichts,  —  sondern  nur,  dass  sie  nach  der  Art, 
wie  wir  die  Abhängigkeit  der  Merkmale  von  einander  er- 
kennen, den  Begriff  als  eine  bestimmte  Vorstellung  consti- 
tuieren. 

11.  Es  geht   aus   unserer  Lehre    von   der  Negation  her- 


*)  Abgeleitete  Merkmale  sind  etwas  anderes  als  abhängige.  Ab- 
hängig ist  ein  Merkmal,  das  nur  unter  Voraussetzung  anderer  gedacht 
werden  kann ,  wie  die  Farbe  unter  Voraussetzung  der  Ausdehnung; 
abgeleitet ,  wenn  es  zugleich  nothwendige  Folge  anderer  Merk- 
male ist. 


312  §  43.    Die  Eintheilung  der  Begriffe.  359 

vor,  dass  negative  Bestimmungen  niemals  ursprüng- 
liche Elemente  an  der  Vorstellung  sein  und  darum  Merkmale 
im  eigentlichen  Sinne  nicht  werden  können.  Jede  negative 
Bestimmung  setzt  ein  verneinendes  Urtheil  voraus,  und  das 
Subject  dieses  Urtheils  muss  vor  der  Verneinung  bestimmt 
gedacht  werden  können,  um  die  Verneinung  zu  begründen. 
Inwiefern  negative  Bestimmungen  dennoch  zur  Ordnung 
der  Begriffe  noth wendig  werden  können,  wird  sich  im 
Folgenden  ergeben, 

§  43. 

Von  dem  Unterschiede  der  einfachen  Merkmale  und 
dem  davon  abhängigen  der  zusammengesetzten  Begriffe  ist 
die  Verschiedenheit  dessen,  worin  der  Begriff  gedacht 
wird,  zu  unterscheiden.  Verschiedene  Begriffe,  die  in  dem- 
selben Objecte  gedacht,  also  von  demselben  prädiciert  werden 
können,  heissen  vereinbare,  und  sind  in  der  Regel  sich 
kreuzende  Begriffe;  verschiedene  Begriffe,  die  unver- 
einbar sind,  können  nur  in  Verschiedenem  gedacht  werden, 
ihre  Umfange  seh  Hessen  sich  aus. 

Auf  der  Determination  eines  Gattungsbegriffs  durch  un- 
vereinbare Merkmale  beruht  die  Differenziierung  desselben  in 
disjunct  CO  ordinierte  Begriffe,  auf  der  Vollständig- 
keit der  Aufstellung  der  disjunct  coordinierten  Begriffe  die 
Eintheilung  oder  Division. 

Die  Eintheilung  geschieht  entweder  durch  innere 
Entwicklung  schon  gegebener  Merkmale  oder 
durch  H  i  n  z  u  n  a  hm  e  neuer;  im  letzteren  Fall  zuweilen 
durch  negative  Bestimmungen.  Die  Eintheilung  recht- 
fertigt die  Aufnahme  negativer  Merkmale  von  der  Form  nonB 
in  einen  Begriff,  nicht  aber  nonB  als  selbstständigen  Begriff. 

Der  Unterschied  des  sog.  c  ontradictorischen  und 
contra ren  Gegensatzes  fällt  richtig  verstanden  mit  dem 


360  "»  ^-    I^er  BegriflF.  313 

Unterschied  einer  zweigliedrigen  oder  mehrgliedrigen  Einthei- 
lung  zusammen. 

Die  Vollständigkeit  der  Eintheilungsglieder 
ist  entweder  eine  bloss  empirische  oder  eine  logische. 

1.  Mit  der  Vielheit  unterschiedener  Merkmale 
ist  noth wendig  gegeben,  dass  ihr  Unterschied  sich  durch 
die  Verneinung  ausspreche,  welche  sagt,  dass  A  nicht  B, 
nicht  C  u.  s.  w.  ist  (§  21,  1.  §  22,  6).  Es  gehört  zur  Voll- 
endung der  begrifflichen  Bestimmtheit,  dass  diese  Verneinung 
immer  klar  und  selbstverständlich  sei,  und  nicht  durch  die 
Unbestimmtheit  der  gewöhnlichen  Sprache  da  schwankend 
werde,  wo  es  sich  um  allmähliche  Uebergänge  handelt. 

Dasselbe  gilt  von  allen  zusammengesetzten  Be-- 
griffen,  welche  nicht  absolut  identisch,  d.  h.  gleichbedeu- 
tende Synthesen  derselben  Merkmale  sind;  sie  sind  ihrem  In- 
halte nach  durch  die  Verschiedenheit  der  Merkmale  nothwen- 
dig  verschieden,  und  diese  Verschiedenheit  wird  ebenso  durch 
die  Verneinung  der  Identität  ausgedrückt,  welche  sagt,  dass 
A  nicht  dasselbe  sei  was  B,  und  nichts  anderes  als  die  feste 
und  unverrückbare  Regel  zu  bestätigen  hat,  nach  der  die  ver- 
schiedenen Wörter  Verschiedenes  bedeuten,  und  die,  wo  es 
sich  bloss  um  den  Inhalt  der  durch  verschiedene  Wörter  be- 
zeichneten Begriffe  handelt,  selbst  dann  gilt,  wenn  das  Prä- 
dicat  einen  dem  Subject  übergeordneten  Begriff  bezeichnet: 
Quadrat  ist  nicht  Parallelogramm. 

Man  hat  wohl  ein  Maximum  der  Verschiedenheit  aufge- 
stellt, indem  man  von  unvergleichbaren  (disparaten) 
Begriffen  sprach,  die  gar  kein  Merkmal  gemein  haben 
(wie  Verstand  und  Tisch,  wozu  also  die  verschiedenen  ein- 
fachen Merkmale  selbst  gehören,  wie  roth  und  süss),  im  Unter- 
schiede von  den  vergleichbaren,  welche  ein  oder  mehrere 
Merkmale  gemeinschaftlich  haben  (also  nach  gemeiner  Lehre 
unter  einem  und  demselben  höheren  Begriffe  stehen)  und  sich 
nur  durch  die  übrigen  unterscheiden.  Aber  dieser  Unterschied 
ist  ein  relativer;  denn  absolut  unvergleichbar  ist  gar 
nichts,  sofern  allem  überhaupt  Gedachten  wenigstens  die  for- 
malen logischen  Bestimmungen  zukommen.      Sieht   man   aber 


314  §  43.    Die  Eintheilung  der  Begriffe.  361 

von  diesen  ab,  so  ist  die  einschneidendste  Verschiedenheit  der 
Begriffe  diejenige ,  welche  einen  verschiedenen  Sinn  der  Syn- 
these ihrer  Merkmale  bestimmt,  die  Verschiedenheit  der  Ka- 
tegorieen ;  und  insofern  hätte  man  Recht ,  Begriffe ,  welche 
verschiedenen  Kategorieen  angehören,  als  grundverschie- 
den, (wie  Mensch  und  Tugend ,  Mensch  und  Bewegung), 
solche,  welche  innerhalb  derselben  Kategorie  stehen,  als  un- 
tergeordnet verschieden  zu  bezeichnen.  Dann  können 
aber  grundverschiedene  Begriffe  doch  viele  Merkmale  nur  in 
verschiedenem  Sinne  gemein  haben,  wie  Eisen  und  metallisch, 
Mensch  und  lebendig ,  ohne  dass  sie  darum  im  gewöhnlichen 
Sinne  unter  einem  gemeinschaftlichen  höheren  Begriff  stün- 
den, weil  die  Subordination  nur  innerhalb  derselben  Kategorie 
einen  Sinn  hat. 

2.  Von  der  Verschiedenheit  der  Begriffe  selbst 
ihrem  Inhalte  nach  ist  wohl  zu  unterscheiden  die  Verschie- 
denheit dessen,  worin  sie  gedacht  werden,  und 
wovon  sie  also  prädiciert  werden  können.  Die  Möglichkeit 
zusammengesetzter  Begriffe  ist  allein  dadurch  gegeben,  dass 
verschiedene  Merkmale  als  Bestimmungen  einer  und  derselben 
Vorstellung  gedacht  werden  können ,  mag  die  Form  ihrer 
Synthese  sein  welche  sie  will ;  und  insbesondere  ist  die  Vor- 
stellung der  unabsehbaren  Menge  unterschiedener  Dinge  da- 
durch bedingt,  dass  verschiedene  Eigenschaften  als  Bestim- 
mungen desselben  Dings  vereinigt  gedacht  werden  können. 
Jeder  Begriff,  der  noch  weitere  Determinationen  durch  ver- 
schiedene Merkmale  zulässt,  wird,  sobald  diese  gesetzt  sind, 
in  verschiedenen  Begriffen  mitgedacht;  umgekehrt  kann  eine 
Reihe  von  verschiedenen  höheren  Begriffen  in  demselben  nie- 
deren mitgesetzt  sein. 

Merkmale,  welche  in  demselben  Begriff  sich  vereinigen 
lassen,  und  Begriffe,  welche  als  Bestandtheile  desselben  Be- 
griffes gedacht  werden  können,  heissen  vereinbar.  Ver- 
schiedene Gattungsbegriffe  insbesondere,  welclie  eine  und  die- 
selbe Species  unter  sich  haben,  heissen  sich  kreuzende 
Begriffe,  sofern  sie  wenigstens  einen  Theil  ihres  Umfaugs 
gemeinschaftlich  haben ,  also  die  bildlich  (etwa  als  Kreise) 
vorgestellten  Grenzen    ihres   Umfangs    sich    kreuzen    und    ein 


362  II.  !•    I^eJ^  Begriff.  315 

allen  gemeinschaftliches  Stück  einschliessen.  So  kreuzen  sich 
Viereck  und  reguläre  Figur  im  Quadrat.  Es  ist  klar,  dass 
der  Begriff,  in  welchem  zwei  höhere  sich  kreuzen,  dadurch 
entsteht,  dass  die  Merkmale,  in  welchen  sie  verschieden  sind, 
combiniert  werden ,  und  gegenseitig  als  Determination  auf- 
treten. Zwei  Begriffe  abc  und  abg  kreuzen  sich  in  dem 
Begriffe  abcg,  der  als  Determination  von  abc  durch  g,  oder 
als  Determination  von  abg  durch  c  betrachtet  werden  kann. 

3.  Den  vereinbaren  Merkmalen  stehen  gegenüber  die 
unvereinbaren  oder  unverträglichen  (vergl.  §  22, 
8—13  S.  172  ff.),  die  nicht  in  demselben  Begriffe  zusammen- 
gedacht werden  können,  sondern  sich,  als  Bestimmungen  des- 
selben gedacht,  gegenseitig  ausschliessen.  Ein  Merkmal,  das 
mit  allen  andern  unverträglich  wäre,  gibt  es  nicht;  mit  den 
formalen  logischen  Bestimmungen  wenigstens  müssen  alle  ver- 
träglich sein;  die  Unverträglichkeit  selbst  aber,  wo  sie  eine 
logische  ist,  ist  mit  der  Natur  unserer  Vorstellungen  gegeben 
(vergl.  §  22 ,  8  S.  172  f.). 

4.  Auf  diesem  Verhältnisse  nun,  dass  Merkmale  mit  den- 
/          selbeiL_anderjL  vereinbar,   unter   sich    aber   unvereinbar  sind, 

ruht  die  Differenziierung  der  Begriffe  und  specieller 
die  vollständige  Entwicklung  (Eintheilung)  *) 
derselben. 

Wird  ein  Begriff  A  durch  zwei  unvereinbare  Merkmale 
b   und   c   determiniert :   so   heissen    b   und    c   artbildende 


*)  Es  ist  eine  Unbequemlichkeit  der  herrschenden  logischen  Ter- 
minologie ,  dass  zwei  so  verschiedene  Processe  wie  die  Analyse  eines 
Begriffs  in  seine  Merkmale  nnd  die  Entwicklung  entgegengesetzter  Be- 
griffe aus  einem  höheren  durch  Ausdrücke  bezeichnet  werden,  die  vom 
T heilen  hergenommen  sind,  und  das  einemal  das  Theilen  des  Inhalts 
in  seine  Elemente,  das  anderemal  das  Theilen  des  Umfangs  in  sich 
ausschliessende  Umfange  verstanden  werden  soll.  Dadurch  entsteht  das 
Irrationelle,  dass  durch  die  Theilung  eines  Begriffs  nicht  Theile  des 
Begriffs  gewonnen  werden,  sondern  Begriffe,  in  deren  jedem  der  ganze 
getheilte  Begriff  als  Theil  ist.  Geht  man  consequent  vom  Inhalt  der 
Begriffe  aus,  so  kann  es  sich  nur  um  eine  Entwicklung  der  in  demselben 
angelegten  Unterschiede  handeln;  der  terminus  Eintheilung  oder  Divi- 
sion (bei  Arist.  Statpsat^)  passt  vielmehr  auf  die  Gesammtheit  der  Einzel- 
objecte,  welche  unter  den  Begriff  fallen ;  diese  wird  als  das  Ganze  be- 
trachtet, das  in  verschiedene  Gruppen  zu  zerlegen  ist. 


315. 316  §  43.     Die  Eintheilung  der  Begriffe.  363 

Unterschiede  (differentiae  specificae)  und  die  so  entstan- 
denen Begriife  selbst  sind  unverträglich,  d.  h.  sie  können  nicht 
als  Bestandtheile  desselben  niedern  Begriffs  gedacht ,  also 
nicht  von  demselben  prädiciert  werden  (kein  Ab  ist  Ac,  kein 
Ac  ist  Ab) ;  ihre  Umfange  sind  daher  absolut  geschieden, 
und  alle  weiter  aus  ihnen  entwickelten  specielleren  Begriffe  sind 
ebenso  unverträglich ;  während  jeder  dieser  Umfange  ein  Theil 
des  Umfangs  des  höheren  Begriffs  ist  (rechtwinkliches  und 
spitzwinkliches  Viereck,  rothe  und  gelbe  Rose  u.  s.  w.)  Solche 
Begriffe  heissen  disjuncte,  und  sofern  sie  in  demselben 
Subordinationsverhältniss  zu  einem  gemeinschaftlichen  höheren 
Begriffe  stehen,  disjunct- coordinierte  Begriffe. 

Lässt  ein  Begriff  A  nur  eine  beschränkte  Anzahl 
sich  ausschliessender  Determinationen  bcd  zu,  so  entsteht 
eine  Reihe  disjuncter  Begriffe,  deren  Umfang  den  Um- 
fang des  Begriffs  A  erschöpft,  sofern  wenn  A  in  die 
Gesanamtheit  der  von  ihm  aus  noch  möglichen  Unterschiede 
entwickelt  wird ,  jeder  niedere  Begriff  mit  einem  oder  dem 
anderen  jener  Merkmale  gedacht  werden  muss.  Der  Begriff 
A  heisst  e  i  n  g  e  t  h  e  il  t  :n  die  Begriffe  Ab ,  Ac,  Ad ;  diese 
die  Glieder  der  Eintheilung. 

Die  Eintheilung  selbst  stellt  sich  dar  in  einem  divisi- 
V  e  n  Urtheile :  A  ist  theils  Ab ,  theils  Ac ,  theils  Ad  ;  von 
jedem  einzelnen,  das  unter  A  fällt,  gilt  das  disjunctive 
Urtheil,  dass  es  entweder  Ab  oder  Ac  oder  Ad  sei  (s.  §  37,  6.  7). 

5,  Die  Voraussetzung  j  eder  Differenziierung 
ist,  dass  ein  Begriff*  noch  in  einem  oder  mehreren  seiner  Merk- 
male unbestimmt  sei  und  weitere  sich  ausschliessende  Unter- 
schiede zulasse ,  oder  dass  die  Synthese  seiner  Merkmale  un- 
vollständig sei  und  für  weitere  Merkmale  Raum  gebe;  die 
Voraussetzung  jeder  Eintheilung ,  dass  die  Gesammtheit  der 
möglichen  Determinationen  eine  beschränkte  und  erschöpfend 
bekannte  sei.  Der  Begriff  der  geradlinigen  ebenen  Figur  ist 
nach  verschiedenen  Seiten  unbestimmt,  sowohl  nach  der  Zahl 
der  Seiten,  als  nach  der  Grösse  derselben,  und  zwar  sowohl  der 
relativen  als  der  absoluten  Grösse,  ebenso  nach  der  relativen 
Grösse  der  Winkel  (die  absolute  Grösse  derselben  ist  kein  völlig 
unabhängiges  Merkmal ,    sondern    innerhalb  gewisser  Grenzen 


364  n,  1.    Der  BegriflF.  316.317 

von  der  Seitenzahl  abhängig) ;  je  nachdem  an  der  einen  oder 
andern  noch  offenen  Seite  die  Determinationen  gesetzt  werden, 
wird  der  Begriff  nach  verschiedenen  Richtungen  in  seine  Un- 
terschiede entwickelt.  Ebenso  ist  der  Begriff  der  Flüssigkeit 
noch  unbestimmt  hinsichtlich  der  Durchsichtigkeit  oder  Re- 
flexionsfähigkeit des  Lichtes ,  hinsichtlich  des  Geruchs ,  Ge- 
schmacks u.  s.  f.  Geruch,  Geschmack,  Farbe  sind  keine  Un- 
terschiede eines  der  Merkmale,  welche  den  Begriff*  der  Flüs- 
sigkeit constituieren ,  aber  sie  können  zu  den  übrigen  Merk- 
malen hinzutreten,  da  ihre  allgemeine  Möglichkeit  durch  die 
Merkmale  des  Begriffs  Flüssigkeit  gegeben  ist. 

Nur  die  erste  Form  der  Differenziierung  kann  genau 
genommen  Entwicklung  genannt  werden.  Wenn  dasjenige 
Merkmal,  an  welchem  die  Unterschiede  heraustreten,  der 
Theilungsgrund  (fundamentum  divisionis)  heisst :  so  ist 
hier  der  Theilungsgrund  in  dem  gegebenen  Be- 
griffe selbst,  und  liegt  darin,  dass  ein  Merkmal  sich  aus- 
schliessende  Unterschiede  noch  in  sich  befasst.  So  entwickelt 
sich  der  Begriff  der  Linie  in  den  der  geraden  und  krummen ; 
mit  der  Entstehung  der  Vorstellung  der  Linie  ist  eine  Be- 
wegung gegeben,  und  diese  kann  nicht  gedacht  werden  ohne 
Richtung;  die  mit  sich  gleichbleibende  Richtung  ist  die  ge- 
rade, die  sich  stetig  ändernde  Richtung  ist  die  krumme  Linie. 
Der  Begriff  der  krummen  Linie  entwickelt  sich  in  die  Unter- 
schiede der  geschlossenen,  in  sich  zurückkehrenden,  und  der 
ins  Unendliche  verlaufenden;  denn  mit  der  stetigen  Richtungs- 
änderung ist  die  Möglichkeit  zu  beiden  Fällen  gegeben  u.  s.  w. 

Die  zweite  Form  der  Differenziierung  bringt  die 
Determinationen  von  aussen  heran;  der  Theilungsgrund  ist 
zunächst  nur  die  unbestimmte  Möglichkeit  eines 
weiteren,  von  den  bisherigen  unabhängigen  Merkmals,  oder 
verschiedener  unvereinbarer  Merkmale;  er  tritt  an  den  Be- 
griff heran  nur  in  Form  einer  Frage,  ob  wohl  mit  Ab  noch 
weitere  Merkmale  vereinbar  sind ;  die  Determination  könnte 
eine  synthetische  heissen.  Mit  dem  Begriffe  der  Flüssigkeit, 
der  nur  Merkmale  enthält,  die  sich  auf  Gesichts-  und  Tast- 
empfindungen gründen,  ist  die  blosse  Möglichkeit  des  Ge- 
schmacks und  der  Geschmacksunterschiede  gegeben ;  sie  kom- 


318  §  43.     Die  Eintheilung  der  Begriffe.  365 

men  als  neue  Elemente  hinzu.  Auf  diesem  Boden  entsteht 
dann  die  Möglichkeit  negativer  Unterscheidungs- 
merkmale, die  eine  blosse  Privation  ausdrücken.  Wir  thei- 
len  den  Begriff  des  organischen  Wesens  in  das  empfindende 
und  das  nichtempfindende ,  die  Blumen  etwa  in  riechende 
und  geruchlose,  die  Flüssigkeiten  in  farblose  und  gefärbte; 
das  Fehlen  eines  Merkmals,  das  mit  den  übrigen  Merk- 
malen vereinbar  aber  nicht  nothwendig  verknüpft  ist ,  be- 
gründet hier  einen  Artunterschied.  Die  negative  Formel  tritt 
in  diesen  Fällen  aus  ihrer  Unbestimmtheit  heraus ,  indem  sie 
an  der  durch  den  allgemeineren  Begriff  gesetzten  und  in  einer 
seiner  Arten  verwirklichten  Möglichkeit  des  positiven  Merk- 
mals ihren  Inhalt  hat;  und  sie  hat  keine  selbstständige  Func- 
tion, um  den  Inhalt  auszudrücken,  sondern  dient  nur  als  Ord- 
nungszeichen, um  den  Unterschied  zu  markieren. 

Von  diesen  privativen  Merkmalen  als  Mitteln  der 
Differenziierung  sind  diejenigen  genau  zu  unterscheiden,  bei 
denen  der  negative  Ausdruck  von  Merkmalen  nur  eine  Um- 
schreibung von  positiven,  innerhalb  desselben  allge- 
meineren Merkmals  liegenden  Unterschieden  ist.  Theile  ich 
die  Linien  in  gerade  und  nichtgerade,  die  Menschen  in  weisse 
und  nicht  weisse  u.  s.  f.,  so  hat  der  negative  Ausdruck  einen 
bestimmten  positiven  Sinn ,  indem  er  diejenigen  Merkmale 
meint,  welche  von  dem  negierten  Unterschiede  auf  der  Ba- 
sis desselben  Eintheilungsgrundes  ausgeschlossen 
sind.  Die  Verneinung  der  möglichen  Bestimmung  ist  auf  ein 
ganz  bestimmtes  Gebiet  eingeschränkt,  und  setzt  darum  ein 
Positives;  es  liegt  ihr  eine  Disjunction  zu  Grunde  (gerade  oder 
krumm,  weiss  oder  farbig,  resp.  weiss  oder  gelb  oder  roth 
oder  braun  oder  schwarz).  Die  Verneinung  eines  Disjunctions- 
glieds  enthält  die  Setzung  der  anderen. 

Diese  negative  Formel  findet  doppelte  Anwendung: 
einmal,  um  in  Einem  Ausdruck  eine  längere  Reihe  von 
coordinierten  disjuncten  Gliedern  zusammenzufassen,  weil  sie 
in  irgend  einer  weiteren  Hinsicht  gleich  sind  und  von  dem 
dadurch  ausgeschlossenen  Begriffe  sich  unterscheiden.  Wenn 
die  Menschen  in  weisse  und  farbi  ge  d.  b.  hier  nicht  weisse 
eingetheilt  werden,  so  hat  das  einen  Sinn,  wenn  den  farbigen 


366  II»  I-    Der  Begrifi.  318.  319 

gemeinsam  die  Fähigkeit  zu  höherer  Cultur  fehlt,  welche  den 
weissen  zukommt;  denn  sonst  ist,  bloss  die  Farbe  betrachtet, 
der  Unterschied  von  schwarz  und  roth,  roth  und  gelb  ebenso 
gross  als  der  von  gelb  und  weiss,  und  es  bestünde  kein  Grund, 
diese  Reihe  gleichgeltender  Unterschiede  bloss  durch  die  Ne- 
gation des  Einen  auszudrücken. 

Die  zweite  Anwendung  findet  da  statt ,  wo  unter 
einer  endlosen  Reihe  von  möglichen  Unterschieden  einer  be- 
stimmt begrifflich  fixierbar  ist,  die  andern  wegen  der  endlosen 
Menge  der  Unterschiede  nicht  oder  weniger  leicht,  und  ihre 
begriffliche  Fixierung  eben  nur  so  vollzogen  werden  kann, 
dass  sie  gegen  den  Einen  abgegrenzt  werden;  so  ist  es  mit 
den  regulären  und  nicht  regulären  Figuren;  jede  der  letzteren 
hat  an  und  für  sich  ein  bestimmtes  Verhältniss  ihrer  Seiten 
und  Winkel;  aber  dem  einfachen  Merkmale  der  Gleichseitigkeit 
und  Gleichwinklichkeit  steht  eine  unendliche  Reihe  anderer 
Verhältnisse  gegenüber ,  deren  keines  auf  einen  so  einfachen 
Ausdruck  gebracht  werden  kann,  und  die  einzeln  zu  bestimmen 
absolut  unmöglich  ist. 

6.  Dadurch  ergibt  sich  nun  im  Gebiete  der  Begriffs- 
eintheilung  der  Werth  und  die  Bedeutung  der  ne- 
gativen Ausdrücke,  denen  wir  oben  (§22,  11  S.  176  f.) 
jede  Berechtigung  absprechen  mussten,  sobald  sie  isoliert  und 
unabhängig  von  dieser  Aufgabe  als  selbstständige  Zeichen 
von  Vorstellungen  auftreten  wollten;  und  es  ergibt  sich  zu- 
gleich ,  in  welchem  Sinne  der  Unterschied  der  sog.  con- 
trären  und  contradic torischen  Gegensätze  be- 
rechtigt ist.  Beschränkt  man  den  Ausdruck  »Gegensatz«  auf 
das  Verhältniss  disjunct-coordinierter  Begriffe ,  so  stehen  .  in 
contradictorischem  Gegensatz  die  disjuncten  Glieder 
einer  zweigliedrigen  Eintheilung,  in  contra  rem 
die  disjuncten  Glied  er  einer  mehrgliedrigen.  Dort 
lässt  sich  immer  ein  Glied  durch  die  blosse  Negation  des  das 
andere  constituierenden  Unterschieds  vollkommen  bestimmt 
und  unzweideutig  bezeichnen;  hier  nicht.  Dort  ist,  wenn  Ab 
und  Ac  die  disjuncten  Glieder  sind,  Ab  soviel  als  A  nonc  und 
Ac  soviel  als  A  nonb;  hier,  wenn  Ab,  Ac,  Ad  die  Glieder  sind, 
ist  Ac  zwar  in  der  Formel  A  nonb  begriffen,  diese  selbst  aber 


320  §  43.     Die  Eintheilung  der  Begriffe.  ^67 

umfasst  sowohl  Ac  als  Ad,  und  es  ist  also  auszudrücken  durch 
A  nonb  c. 

7.  Wo  die  Anzahl  von  Unterschieden  ihrer  Na- 
tur nach  unbeschränkt  ist,  kann  von  einer  Eintheilung 
im  eigentlichen  Sinne  nicht  die  Rede  sein,  sondern  nur  von 
Entwicklung  eines  höheren  Begriffs  in  eine  un- 
endliche Reihe  disjuncter  niederer  Begriffe.  So 
entwickelt  sich  der  Begriff  des  Vielecks  in  die  Arten  des  Drei- 
ecks, Vierecks,  Fünfecks  u.  s.  f.  in  infinitum. 

8,  Das  letztere  Beispiel  macht  zugleich  auf  einen  wei- 
teren Punkt  aufmerksam.  Wenn  ein  Merkmal,  für  sich  ge- 
dacht, eine  Reihe  von  disjuncten  Unterschieden  an  sich  hat, 
wie  das  Merkmal  der  Vielheit  die  Zahlen ,  das  Merkmal  der 
Farbe  die  einzelnen  Farben  u.  s.  f.,  so  hängt  es  von  der  Natur 
der  übrigen  Merkmale  des  Begriffs  ab,  ob  die  ganze  Reihe 
dieser  Unterschiede  mit  demselben  vereinbar  ist,  oder  nur  ein 
Theil  derselben.  Während  für  den  Begriff  des  sphärischen 
Vielecks  alle  Zahlen  als  disjuncte  Merkmale  eintreten,  ist 
durch  die  Merkmale  der  geradlinigen  ebenen  Figur  die  Zahl  2, 
und  sind  durch  die  Merkmale  des  von  Ebenen  begrenzten 
Körpers  die  Zahlen  2  und  3  ausgeschlossen. 

Besondere  Bedeutung  gewinnt  diese  Auswahl  unter  den 
an  sich  in  einem  Merkmal  enthaltenen  Unterschieden,  wo  der 
Process  der  Eintheilung  nicht  in  der  Weise  der  Entwicklung 
des  Inhalts  eines  gegebenen  Begriffs  sich  vollzieht  und  so  den 
logischen  Umfang  desselben  umschreibt,  sondern  von 
dem  empirischen  Umfang  desselben  ausgeht,  und 
also  die  Aufgabe  entsteht,  einen  Begriff  so  zu  theilen,  dass 
alle  Unterschiede  zugleich  empirisch  vorhanden  sind.  Mit 
der  Thatsache,  dass  der  menschliche  Körper  nicht  durchsich- 
tig ist,  ist  gegeben,  dass  er  irgend  eine  Farbe  zeigt;  und 
würde  bloss  von  diesem  Merkmal  aus  der  Begriff  entwickelt, 
so  würden  alle  Farben  als  Theilungsglieder  eintreten  müssen; 
an  sich  ist,  von  jenem  Merkmal  aus,  die  Aufstellung  einer 
Species  blauer  und  grüner  Menschen  ebenso  gefordert,  als  der 
der  weissen  und  schwarzen.  In  der  Wirklichkeit  fehlt  eine 
Reihe  von  Farben ;  und  wenn  man  den  B<?griff  Mensch  nach 
dem  Eintheilungsgrunde  der  Farbe  theilt,  setzt  man  nur  die 


368  n,  1.    Der  Begriff.  320.321 

Farben,  welche  wirklich  vorkommen,  und  betrachtet  die  Thei- 
lung  als  durch  diese  wirklich  vorkommenden  Unterschiede 
vollkommen  erschöpft. 

Es  ist  aber  klar,  dass  diese  Beschränkung  im  Allgemeinen 
zweierlei  vollkommen  verschiedene  Aufgaben  vermischt :  die 
Aufgabe,  eine  gegebene  Menge  von  Einzelwesen  zu  classificie- 
ren,  die  wir  später  genauer  betrachten  werden,  und  die  Auf- 
gabe, ein  System  von  Begriffen  herzustellen,  das  für  die  Er- 
kenntniss  des  Einzelnen  vermittelst  logisch  vollkommen  be- 
stimmter Prädicate  dienen  soll.  Wäre  es  rein  zufällig,  dass 
im  Umkreis  unserer  Erfahrung  nur  ein  Theil  der  Farben 
wirklich  als  Hautfarbe  des  Menschen  vorkommt,  so  wäre  die 
sog.  Eintheilung  der  Menschen  nicht  eine  Theilung  des  Be- 
griffs, sondern  bloss  eine  Classification  der  wirklich  gegebenen 
Menschen,  es  Hesse  sich  aber  nie  feststellen,  dass  der  Begriff 
damit  erschöpfend  getheilt  wäre;  es  wäre  eine  blosse  Auf- 
zählung disjuncter  Arten,  wie  die  Chemie  ihre  Metalle  auf- 
zählt, ohne  sagen  zu  wollen,  dass  nicht  noch  neue  entdeckt 
werden  können. 

Nur  wenn  die  Thatsache,  dass  keine  anderen  Hautfarben 
vorkommen,  als  ein  Zeichen  dafür  angesehen  werden  kann, 
dass  durch  die  übrigen  Merkmale  des  Menschen  blaue  oder 
grüne  Hautfarbe  ausgeschlossen  ist,  könnte  die  empi- 
rische Classification  der  Menschen  zugleich  als  erschöpfende 
Eintheilung  des  Begriffs  des  Menschen  gelten.  Es  hängt 
mit  der  Vernachlässigung  der  Betrachtung  des  Begriffs  von 
seinem  Inhalte  aus ,  und  mit  der  allerdings  populäreren  und 
anschaulicheren  Weise,  immer  von  dem  empirischen  Umfang 
auszugehen ,  zusammen ,  dass  vielfach  an  die  Stelle  der  Be- 
griffsein theilung  die  blosse  Classification  des  Gegebenen  gesetzt, 
und  so  der  logische  Umfang  mit  dem  empirischen  verwechselt 
wurde.  Dem  gegenüber  ist  festzuhalten ,  dass  die  Thatsache, 
dass  die  Umfange  einer  Reihe  von  Theilungsgliedern  dem 
empirischen  Umfang  des  getheilten  Begriffs  gleich  sind,  nie- 
mals die  logische  Vollständigkeit  der  Theilung  verbürgt. 

9.  Die  durchgeführte  Division,  lässt  einen  bis  jetzt  nicht 
hervorgehobenen  Unterschied  der  Merkmale  heraustreten :  den 
der  notae  communes  von  den  notae  propriae.     Ein  Theil  der 


322  §  43.     Die  Eintheilung  der  Begriffe.  369 

Merkmale  nemlich  kann  einer  grossen  Menge  sonst  verschie- 
dener Begriffe  gemeinsam  sein,  während  es  andere  gibt,  welche 
nur  unter  Voraussetzung  einer  bestimmten  Combination  an- 
derer Merkmale  möglich  sind,  und  demgemäss  einen  bestimm- 
ten Begriff  von  allen  höheren  oder  coordinierten  unterscheiden. 
So  ist  das  Merkmal  »lauter  ebene  rechte  Winkel  haben«  nur 
beim  Viereck  möglich;  es  ist  eine  nota  propria  des  recht- 
wink liehen  Vierecks.  Eine  solche  nota  propria  kann  aber 
immerhin  noch  einem  Gattungsbegriffe  zukommen ;  Merkmale, 
welche  nur  einer  infima  species  zukommen ,  sind  dann  speci- 
fische  notae  propriae.  Insoweit  als  es  solche  Merkmale  gibt, 
ist  durch  sie  ein  Begriff  von  allen  andern  unterschieden;  in 
sofern  heissen  sie  charakteristische  Merkmale. 

10.  Derselbe  Begriff  kann  nach  verschiedenen  Ein- 
theilungsgründen  getheilt  werden ,  und  da  die  so 
entstandenen  Begriffe  im  Allgemeinen  sich  kreuzende  sein 
werden ,  so  wird  gesagt ,  dass  solche  Eintheilungen  sich 
kreuzen.  So  kreuzt  sich  die  Eintheilung  der  Parallelo- 
gramme in  rechtwinkliche  und  schief  winkliche  mit  der  in 
gleichseitige  und  ungleichseitige,  die  Eintheilung  der  Pflanzen 
in  Phanerogamen  und  Kryptogamen  mit  der  in  Land-  und 
Wasserpflanzen  u.  s.  f.  Solche  combinierte  Theilungsgründe  sind 
ein  Mittel ,  einen  Begriff  mit  Einem  Schlage  in  eine  Reihe 
von  solchen  zu  zerfallen,  die  nicht  unmittelbar  untergeordnet 
sind*);  die  Zahl  der  Theilungsglieder,  die  aus  mehreren  von 
einander  unabhängigen  Eintheilungen,  die  jede  für  sich  a,  b,  c 
u.  s.  w.  Glieder  ergeben  würde,  hervorgeht,  ist  gleich  dem 
Producte  dieser  Zahlen. 

IL  Denken  wir  uns  einerseits  die  einfachsten  möglichen 
Combinationen  von  Merkmalen  hergestellt,  die  als  selbstständige 
und  isolierte  Begriffe  gedacht  werden  können,  und  diese  wie- 
der nach  allen  Seiten,  nach  allen  Theilungsgründen  durch 
Divisionen  entfaltet  bis  in  die  speciellsten  Begriffe  herab  :  so 
wäre  dadurch  eine  geordnete  Uebersicht  aller  für  unser 
Vorstellen    möglichen    Begriffe    gegeben ,    in    welchen    sowohl 


*)  Von  der  so^.  Subdivision  besonders  zn  handeln  besteht  gar  kein 
Grund,  da  der  Process  absolut  derselbe  ist,  ob  ein  höherer  oder  nie- 
derer Gattungsbegriff  getheilt  wird. 

S ig  wart,  Logik.    I.    2.  Auflage.  24 


870  n,  1.    Der  Begriff.  322.323 

ihre  Subordinationsverhältnisse  als  ihre  Unterschiede  nach 
allen  Seiten  bestimmt  wären,  und  von  jedem  einzelnen  Be- 
griffe sofort  klar  wäre,  in  welchem  Verhältniss  der  Unter- 
ordnung und  des  Gegensatzes  er  zu  allen  übrigen  steht;  dann 
wäre  das  logische  Ideal  vollkommener  Analyse  des  Inhalts 
und  allseitiger  Unterscheidung  erreicht,  damit  zugleich  ein 
System  von  Prädicaten  für  alle  einzelnen  Objecte  und  das 
Mittel  ihrer  Zusammenfassung  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen gegeben.  Denn  jedes  Object  würde  dann  zwar  nur 
unter  einem  speciellsten  Begriffe  stehen,  und  damit  von  allen 
geschieden  sein,  die  nicht  in  allen  Merkmalen  mit  ihm  über- 
einstimmen, aber  nach  verschiedenen  Seiten  unter  verschie- 
dene Reihen  höherer  Begriffe  subsumiert  werden  können. 

§  44. 

Eine  Definition  ist  ein  Urtheil,  in  welchem  die  Be- 
deutung eines  einen  Begriff  bezeichnenden  Wor- 
tes angegeben  wird,  sei  es  durch  einen  Ausdruck,  der 
diesen  Begriff  in  seine  Merkmale  zerlegt  zeigt,  wodurch  also 
der  Inhalt  des  Begriffs  vollständig  dargelegt  wird, 
sei  es  durch  Angabe  der  nächsthöheren  Gattung  und 
des  artbildenden  Unterschieds,  wodurch  seine  Stel- 
lung im  geordneten  Systeme  der  Begriffe  angegeben  wird. 

Jede  logisch  e  D  efin  ition  ist  eine  Nominal- 
definition: die  Forderung  einer  Realdefinition 
beruht  auf  der  Vermischung  der  metaphysischen  und 
der  logischen  Aufgaben. 

Definitionen  sind  analytisch  oder  erklär end,  wenn 
sie  einen  schon  gebildeten,  durch  einen  bekannten  Terminus 
bezeichneten  Begriff  darlegen';  synthetisch  oder  bestim- 
mend, wenn  sie  dazu  dienen,  einen  neuen  Begriff*  durch 
eine  Synthese  bestimmter  Merkmale  aufzustellen  und  einen 
Terminus  für  denselben  einzuführen. 

Von   der    eigentlichen  Definition    ist   die  A  ufsuc  hung 


324  §  44.    Die  Definition.  371 

der  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  zu  Grunde 
liegenden  Begriffe  zu  unterscheiden. 

1.  Gesetzt,  das  eben  aufgestellte  logische  Ideal  wäre  er- 
reicht ,  und  es  wäre  ferner  für  jeden  dieser  Begriffe  seine 
sprachliche  Bezeichnung  unzweideutig  festge- 
stellt, so  würde  die  Au  f  gäbe,  denlnhalt  einesBe- 
griffs  anzugeben,  nur  durch  eine  Wiederholung  der  Ana- 
lyse und  Synthese  gelost  werden,  durch  die  er  erst  als  Be- 
griff gebildet  wurde,  und  es  würde  sich  nur  darum  handeln, 
sich  jeden  Augenblick  die  Bedeutung  eines  solchen  Wortes 
klar  machen  zu  können ,  indem  man  die  elementaren  Merk- 
male expliciert,  welche  den  durch  das  Wort  bezeichneten 
Begriff  constituieren ,  und  sich  seine  Stellung  nach  Subordi- 
nation und  Disjunction  zu  vergegenwärtigen.  Das  erste  ge- 
schieht in  einer  Formel,  welche  die  einzelnen  elementaren 
Merkmale  angibt,  und  durch  ihre  Synthese  den  Begriff  ent- 
stehen lässt ;  das  zweite  durch  eine  Formel,  welche  das  Genus 
proximum  und  die  Differentia  specifica  nennt,  d.  h.  den  Be- 
griff als  Glied  einer  Division  angibt.  (Sofern  derselbe  Begriff 
verschiedene  Genera  haben  kann  und  die  Ordnung  der  De- 
termination in  verschiedener  Weise  möglich  ist,  können  in 
der  zweiten  Hinsicht  verschiedene  Formeln  entstehen ;  das  Qua- 
drat ist  vierseitige  reguläre  Figur,  gleichseitiges  Rechteck 
u.  s.  w.,  Formeln ,  deren  Verschiedenheit  nur  scheinbar  ist 
und  sich  aufhebt,  sobald  die  Analyse  fortgesetzt  und  auch  diese 
höheren  Begriffe  in  ihre  Merkmale  zerlegt  werden.) 

Nennt  man  die  Angabe  aller  Merkmale  eines  Begriffs  oder 
des  Genus  proximum  und  der  Differentia  specifica  Defini- 
tion, so  ist  klar ,  dass  es  sich  darin  nicht  um  eine  B  e- 
griff  ser  klärung,  sondern,  sofern  etwas  erklärt  wird,  nur 
um  eine  Worterklärung  handeln  kann.  Eine  Vorstellung 
ist  nur  dann  ein  Begriff*,  wenn  sie  klar  ist,  d.  h.  wenn  was 
darin  gedacht  wird ,  vollkommen  bewusst  ist ,  die  Definition 
ist  also  der  Begriff  selbst,  nicht  etwas  vom  Begriff  Verschie- 
denes; das  Wort  allein,  das  dem  Hegriffe  gegenüber  äusser- 
lich  und  zufällig  ist,  und  in  Einem  Laut  den  Reich thiini  des 
Gedachten  verbirgt,    und    in  der  That ,    wie  x    und  y  in  der 

24* 


372  n,  1.    Der  Begriff.  324.  325 

Algebra,  vielfach  nur  als  Zeichen  gebraucht  wird,  dessen  Be- 
deutung nicht  bei  jedem  Schritte  gegenwärtig  ist ;  das  Wort, 
das  durch  seine  äussere  Form  weder  sein  Verhältniss  zu  den 
Wörtern  für  übergeordnete,  noch  für  nebengeordnete  Begriflfe 
an  der  Stime  trägt,  wie  eine  chemische  Formel  die  Zusam- 
mensetzung aus  den  Elementen,  bedarf  einer  Erklärung,  einer 
immer  erneuerten  Erinnerung  an  seinen  Gehalt;  es  bedarf 
derselben  insbesondere ,  wenn  es  aus  der  populären  Sprache 
mit  ihren  fliessenden  Grenzen  aufgenommen  ist,  und  aus  einem 
schwankenden  und  zweideutigen  ein  constantes  unzweideutiges 
Begriffszeichen  geworden  ist  oder  werden  soll.  Wäre  das 
Leibniz'sche  Ideal  einer  Characteristica  universalis  ausgeführt, 
so  würde  das  Zeichen  jedes  Begriffs,  mit  dem  er  selbst  im 
Denken  unlösbar  verbunden  ist,  zugleich  seine  Definition  sein, 
und  sein  Verhältniss  zu  allen  andern  erkennen  lassen. 

Definition  in  diesem  Sinne  kann  also  niemals  etwas  an- 
deres als  eine  Nominaldefinition  sein,  welche  die  Be- 
deutung eines  Wortes  angibt,  und  die  nur  in  dem  Sinne  eine 
Realdefinition*)    sein  muss ,    dass  sie   den  Inhalt   des 


*)  Will  man  an  eine  Definition  noch  in  anderem  Sinne  die  For- 
derung stellen,  Realdefinition  zu  sein:  so  verwirrt  man  die  wissen- 
schaftlichen Aufgaben.  Die  Frage,  ob  einem  logisch  vollkommen  be- 
stimmten Begriffe  ein  wirkliches  Object  entspreche,  ist  erst  lösbar,  wenn 
man  den  Begriff  hat,  und  das  Gegebene  darunter  subsumiei^en  kann; 
die  Frage,  ob  die  Merkmale  eines  Begriffs  das  Wesen  der  darunter 
fallenden  Dinge  angeben,  oder  ob  dadurch  diese  Dinge  aus  ihren  re- 
alen Ursachen  begriffen  seien,  ist  erst  lösbar  nach  vollkommener  Er- 
kenntniss  der  Objecte;  diese  Erkenntnis«  selbst  kann  aber  nicht  eine 
Definition  genannt  werden.  Das  gilt  auch  von  dem  Beispiel  Lotzes 
(Logik  2.  Afl,  S.  202) :  »Nennen  wir  die  Seele  das  Subject  des  Bewusst- 
seins,  des  Vorstellens,  Fühlens  und  Wollens,  so  kann  dies  schicklich 
eine  nominale  Definition  genannt  werden  —  erst  eine  Ansicht,  welche 
bewiese,  dass  entweder  nur  ein  übersinnliches  und  untheilbares  Wesen 
oder  nur  ein  verbundenes  System  materieller  Elemente  den  Träger  des 
Bewusstseins  und  seiner  manigfachen  Erscheinungen  bilden  könne, 
würde  die  reale  Definition  der  Seele  festgestellt  haben.«  Die  Erkennt- 
niss  ,  welcher  Art  von  Wesen  die  zunächst  in  dem  Begriff"  der  Seele 
gedachte  Bestimmung,  Subject  des  Bewusstseins  zu  sein,  zukomme,  ist 
keine  Definition,  sondern  die  Feststellung  der  Abhängigkeit  der  zuerst 
gedachten  Merkmale  von  anderen,  die  noch  nicht  in  den  Begriff  aufge- 
nommen waren;  ist  diese  Abhängigkeit  erkannt,  so  ist  der  Begriff  be- 


325  §  44.    Die  Definition,  373 

dabei  Gedachten  analysiert  und  vom  Inhalt  anderer  Begriffe 
scheidet ;  denn  bloss  sprachliche  Erklärungen,  wie  Logik  heisst 
Denklehre,  Demokratie  heisst  Volksherrschaft,  oder  Erklärung 
sprachlicher  Abkürzungen,  wie  eine  Gerade  ist  eine  gerade 
Linie,  nennt  Niemand  Definitionen  (vgl.  §  5,  3.  S.  27). 

Eine  Definition  ist  also  ein  Urtheil,  in  welchem  die 
Bedeutung  eines  einen  Begriff  vertretenden  Worts  gleichge- 
setzt wird  der  Bedeutung  eines  zusammengesetzten  Ausdrucks, 
der  die  einzelnen  Merkmale  des  Begriffs  und  die  Art  ihrer 
Synthese  durch  die  einzelnen  den  Ausdruck  bildenden  Wörter 
und  die  Art  ihrer  grammatischen  Beziehung  angibt;  eine 
Gleichung  zwischen  zwei  Zeichen  desselben  Begriffs ,  die  sich 
ebendarum  auch  umkehren  lässt.  Es  geht  daraus  von  selbst 
hervor,  dass,  was  unter  das  eine  Wort,  auch  unter  den  an- 
deren Ausdruck  fällt,  d.  h.  dass  die  Umfange  von  Subject  und 
Prädicat  schlechthin  dieselben  sind.  Das  Dasein  oder  die 
reale  Möglichkeit  eines  dem  Begriff  entsprechenden  Seienden 
kann    von    der    Definition   wohl    vorausgesetzt,    von    ihr    als 


reichert,  wir  verstehen  jetzt  unter  »Seele«  ein  immaterielles  untheil- 
bares  Wesen,  das  Subject  des  Bewusstseins  ist;  aber  diese  Definition 
ist  jetzt  in  demselben  Sinne  Nominaldefinition,  und  in  demselben  Sinne 
Realdefinition,  wie  die  erste;  auch  jetzt  machen  wir,  nur  vollständiger, 
»die  Bedingungen  namhaft,  welche  irgend  ein  Reales  erfüllen  muss, 
um  Anspruch  auf  den  Namen  einer  Seele  zu  machen«.  Die  beiden  Be- 
griife  bezeichnen  nur  zwei  Stadien  auf  dem  Wege  zum  Ziele  der  Er- 
kenntniss ;  weitere  Forschung  würde  uns  lehren,  in  welchem  Verhältniss 
die  unter  diesen  bereicherten  Begriff  fallenden  Wesen  ihrer  Natur  nach 
zu  andern  Wesen  stehen  müssen  u.  s,  f ;  dadurch  würden  sich  noch  reichere 
Definitionen  ergeben.  Alle  Erkenntniss  setzt,  um  ihr  Object  eindeutig 
zu  bestimmen,  eine  Definition  des  dafür  gebrauchten  Wortes  voraus; 
findet  sie  mit  den  so  festgestellten  Merkmalen  andere  nothwendig  ver- 
bunden, so  werden  diese  in  die  Definition  mit  aufgenommen,  um  mit 
diesem  bereicherten  Begriff  ebenso  zu  verfahren.  Die  Forderung  der 
Realdefinition  durch  die  wesentlichen  Merkmale  geht  durchweg  auf  die 
aristotelisclie  Forderung  zurück,  dass  der  Begrifi'  das  Wesen  des  Dings 
im  Sinne  seiner  Metaphysik  angeben  solle.  Nachdem  wir  die  aristote- 
lische Metaphysik  längst  hinter  uns  haben,  und  uns  in  den  meisten 
Gebieten  bescheiden,  das  xi  ioxi  im  aristotelischen  Sinne  zu  erkennen, 
wäre  es  Zeit  dass  auch  die  Logik  den  Begriff  der  sog.  Uealdefinition 
fallen  Hesse.  Sie  hat  für  uns  in  der  Logik  keinen  Sinn  mehr;  sie 
repräsentiert  nur  ein  einseitiges  Ideal  der  Erkenntniss. 


374  II.  1.    Der  Begriff.  326 

solcher  aber  niemals  behauptet  werden;  die  Definition  ist  ein 
erklärendes  ürtheil  im  Sinne  des  §  16. 

Daraus  fliesst  zunächst  die  Forderung,  in  dem  definie- 
renden Ausdruck  (detiniens)  nicht  das  Wort  zu  wiederholen, 
das  definiert  werden  soll  (das  definiendum),  nicht  idem  per 
idem  vermittelst  einer  Tautologie  zu  definieren,  denn  damit 
würde  die  Forderung  der  Analyse  nicht  erfüllt,  welche  immer 
das  in  einem  Wort  einheitlich  gedachte  in  seine,  nothwendig 
verschieden  bezeichneten,  Elemente  zerlegen  muss.  Daraus 
fliesst  die  Opposition  dagegen,  auch  nur  ein  Wort  desselben 
Stammes  in  dem  definiens  zu  wiederholen  (z.  B.  Freiheit  ist 
das  Vermögen  frei  zu  handeln),  die  übrigens  nur  dann  be- 
rechtigt ist,  wenn  das  etymologische  Verhältniss  beider  Wör- 
ter unzweideutig  ist ,  und  beide  genau  in  demselben  Sinne 
genommen  werden  (z.  B.  Röthe  ist  die  Eigenschaft  roth  zu 
sein),  während  die  obige  Erklärung  der  Freiheit  darum  be- 
reits als  Definition  gelten  kann,  weil  durch  den  Ausdruck 
»frei  handeln«  die  Bedeutung  von  »frei«  eingeschränkt  wird, 
und  nicht  jede  Eigenschaft  frei  zu  sein,  wie  z.  B.  frei  von 
Schmerzen  u.  s.  w.  Freiheit  heissen  soll ;  in  solchen  Fällen 
wird  zunächst  die  Bedeutung  der  Ableitungssilbe  definiert; 
und  dies  ist  so  wenig  zu  tadeln,  als  wenn  bei  einem  zusam- 
mengesetzten Wort  nur  der  eine  Bestandtheil  erklärt  wird 
(z.  B.  Lebenskraft  ist  der  innere  Grund  des  Lebens). 

Aus  dem  Wesen  der  geforderten  Analyse  folgt  ferner, 
dass  zu  einfacheren  Elementen  zurückgegangen  werden  muss, 
und  eine  richtige  Definition  keinen  C  i  r  k  e  1  beschreiben  kann, 
so  dass  sie  unter  den  angegebenen  Elementen  das  definiendum 
selbst  wieder  autführte. 

Dagegen  ist  die  Forderung  definitio  ne  fiat  per  negatio- 
nem  nicht  unbedingt  richtig;  allerdings  ist  mit  dem,  was  ein 
Begriff  nicht  ist,  nicht  gesagt  was  er  ist;  allein  da  die  Unter- 
scheidung eines  Begriffs  von  coordinierten  Begriffen  oft  nur 
in  der  Privation  eines  Merkmals  besteht,  und  die  Definition 
eben  diese  Aufgabe  der  Unterscheidung  in  sich  begreift,  so 
lassen    sich   negative  Bestimmungen    nicht  überall  vermeiden. 

Dass    eine    Angabe    der  Arten    eines   Begriffs    keine  De- 


327  §  44.    Die  Definition.  375 

finition  ist,  ergibt  sich  von  selbst  daraus,  dass  die  Arten  den 
Begriff  enthalten,  also  ein  Cirkel  herauskäme. 

Die  Forderung  der  Präcision  der  Definition  verbietet 
Merkmale  anzugeben ,  die  in  andern  schon  enthalten  oder 
nothwendig  mit  ihnen  gegeben  sind  (abgeleitete  Merkmale) ; 
in  der  Definition  des  Parallelogramms  z.  B.  ausser  der  Pa- 
rallelität der  gegenüberliegenden  Seiten  auch  noch  ihre  Gleich- 
heit; übrigens  ist  eine  sog.  abundante  Definition  nicht 
fehlerhaft,  und  auf  Gebieten,  vro  man  des  Zusammenhangs 
ddr  Merkmale  nicht  absolut  sicher  ist,  ist  sie  vorzuziehen. 

Für  die  Bezeichnungen  der  letzten  Elemente 
gibt  es  keinerlei  Definition ,  sondern  diese  müssen  als  un- 
mittelbar von  allen  in  gleicher  Weise  verständlich  voraus- 
gesetzt werden ;  sie  können  nur  genannt,  nicht  erklärt  wer- 
den; wer  sie  noch  nicht  kennt,  dem  können  sie  höchstens 
gezeigt  werden ,  dadurch  dass  man  die  Vorstellung  durch 
Herstellung  ihrer  Bedingungen  in  ihm  erweckt,  wie  das  bei 
Farben,  Gerüchen,  Geschmäcken  unter  Voraussetzung  der  glei- 
chen Organisation  möglich  ist.  Ein  Analogon  der  Definition 
findet  nur  da  statt,  wo  eine  Reihe  von  Merkmalen  gemein- 
schaftlichen Namen  hat,  und  durch  die  Angabe  desselben  an 
die  übrigen  in  derselben  Reihe  stehenden  erinnert  wird  — 
wie  wenn  gesagt  würde,  roth  ist  eine  Farbe ;  hier  kann  etwas 
angegeben  werden,  was  dem  genus  proximum  entspricht,  die 
differentia  specifica  aber  nicht ;  höchstens  könnte  diese  in  ne- 
gativer Weise  ersetzt  werden,  durch  Verneinung  aller  übrigen 
Unterschiede. 

Muss  die  Begriffsbildung  zuletzt  auf  die  Gesetze  unserer 
einfachen  Vorstellungsfunctionen  und  der  Formen  ihrer  Syn- 
these zurückgehen:  so  ist  die  vollendete  Definition  diejenige, 
welche  die  Vorstellung  ihres  Objects  aus  ihren  Elementen 
entstehen  lassen  kann;  nur  ihr  kommt  der  Name  einer  ge- 
netischen Definition  zu. 

3.  Kann  eine  durchgängige  übereinstimmende  Analyse 
unserer  Vorstellungen  in  vollkommen  bestimmte,  überein- 
stimmend fixierte  und  bezeichnete  Elemente  nicht  vorausge- 
setzt werden:  so  ist  kein  Begriff  im  logischen  Sinne  vorhan- 
den und  damit  jede  Aufgabe  einer  Definition  im  Allgemeinen 


376  II,  1.    Der  Begriff.  327.  328 

unlösbar;  so  unlösbar  als  die  Aufgabe  aus  einer  Gleichung 
mit  lauter  Unbekannten  eine  derselben  zu  bestimmen ;  jede 
Definition  setzt  eine  wissenschaftliche  Terminologie  voraus. 

So  lange  eine  solche  nicht  vorhanden  ist,  kann  eine  De- 
finition nur  insoweit  gelingen ,  als  es  möglich  ist,  schon  in 
der  gewöhnlichen  Sprache  Ausdrücke  aufzufinden,  welche  un- 
zweideutig sind  und  praktisch  wenigstens  dazu  dienen  kön- 
nen ,  die  wirklich  vorkommenden  Objecte  unzweifelhaft  zu 
subsumieren.  In  diesem  Falle  befindet  sich  z.  B.  die  Rechts- 
wissenschaft in  ihrer  Anwendung  auf  die  Verhältnisse  des 
täglichen  Lebens. 

4.  Für  denjenigen,  dem  wohl  die  Elemente  der  Begriffe 
bekannt  wären,  der  aber  nicht  alle  daraus  zu  bildenden  Be- 
griffe selbst  schon  gebildet  und  die  Bedeutung  ihrer  Bezeich- 
nungen nicht  vollständig  gelernt  hätte,  hat  die  Definition,  die 
er  hört,  die  Bedeutung,  eine  Anleitung  zur  Begriffsbildung 
und  zugleich  eine  Interpretation  eines  unverstandenen  Worts 
zu  sein. 

Da  ferner  nach  §  40,  4  zum  logischen  Ideal  nur  gehört, 
dass  alle  Elemente  und  alle  Combinationsforraen  begrifflich 
festgestellt  sind,  so  kann  die  Bildung  zusammengesetzter  Be- 
griffe eine  immer  fortschreitende  sein,  um  so  mehr,  da  im 
Gebiete  des  Realen  es  ein  völlig  müssiges  Geschäft  wäre,  alle 
Begriffscombinationen  zu  versuchen,  so  lange  wir  in  die  Gründe 
der  realen  Vereinbarkeit  oder  Unvereinbarkeit  der  einzelnen 
Merkmale  und  Merkmalscombinationen  keine  Einsicht  haben, 
und  die  Veranlassung  fehlt  bestimmte  Combinationen  herzu- 
stellen ;  und  damit  ergibt  sich  also  das  Bedürfniss  neue  Be- 
griffe zu  bilden  und  neue  Wörter  für  dieselben  auszuprägen, 
welchen  ihre  begrifflich  fixierte  Bedeutung  erst  gegeben  w^er- 
den  muss. 

Stellen  jene  ersten  Definitionen  analytische  Gleich- 
ungen dar ,  in  denen  der  Werth  eines  Worts  durch  eine 
gleichgeltende  Formel  ausgedrückt  wird :  so  sind  die  Gleich- 
ungen, durch  welche  erst  Ausdrücke  für  neue  Begriffe  be- 
stimmt werden ,  Bestimmungsgleichungen,  in  denen 
einem  Zeichen  durch  Gleichsetzung  mit  einem  aus  bekannten 
Elementen    bestehenden  Ausdruck    erst   sein  Werth   verliehen 


329  §  44.    Die  Definition.  377 

wird.  Wer  zum  erstenmal  den  mathematischen  Begriff  der 
Function  bildete ,  gab  diesem  Wort  seine  Bedeutung  durch 
eine  Formel ,  die ,  äusserlich  einer  Nominaldefinition  gleich, 
der  Sache  nach  von  ihr  verschieden  ist.  Die  Definitionen 
der  Wörter  für  schon  gebildete  Begrifie  sind  analytische, 
die  Definitionen ,  Vielehe  den  Terminus  für  einen  neuen  Be- 
griff einführen,  synthetische  genannt  worden  *). 

5.  Von  diesen  beiden  Arten  der  Definitionen  sind  weiter- 
hin die  Worterklärungen  zu  unterscheiden,  die  sich  zur  Auf- 
gabe setzen ,  bloss  den  factischen  Sprachgebrauch 
festzustellen ,  und  die  zunächst  bloss  Versuche  sind ,  diesen 
factischen  Sprachgebrauch  zu  rechtfertigen  und  zu  begründen, 
indem  gezeigt  wird,  dass  ihm  ein  bestimmter  Begriff  zu  Grunde 
liege ,  der  in  allen  mit  dem  Worte  benannten  Objecten  und 
in  keinem  anderen  gedacht  werde,  und  so  der  Gesichtspunkt 
nachgewiesen  wird,  von  dem  aus  die  Sprache  eine  Reihe  von 
Gegenständen  unter  gleiche  Benennung  stellt  (§  40,  5  Anm.). 
Wenn  sie  gelingen ,  so  sind  sie  eine  Erzählung  darüber, 
welche  Bedeutung  factisch  einem  bestimmten  Worte  allgemein 
zukomme.  Nur  auf  diese  Art  von  Worterklärungen  bezieht  sich 
ursprünglich  die  Warnung,  eine  Definition  soll  nicht  zu  eng 
und  nicht  zu  weit  sein,  d.  h.  ihre  Merkmale  sollen  kein 
Object  ausschliessen ,  das  die  Sprache  noch  mit  dem  Worte 
benennt,  und  kein  Object  einschliessen ,  das  die  Sprache  mit 
einem  anderen  benennt.  Es  bedarf  aber  keiner  Ausführung, 
einmal  dass  eine  Definition  überhaupt  nur  unter  Voraussetzung 
begrifflich  bestimmter  Merkmale  möglich  ist,  und  dann,  dass 
sich  eine  Menge  von  Wörtern  in  diesem  Sinne  gar  nicht  de- 
finieren lassen,  theils  weil  sie  ihre  Bezeichnungen  willkürlich 
ausdehnen  und  erst  ihre  verschiedenen  Bedeutungen  unter- 
schieden werden  müssten,  theils  weil  sie  nur  zur  Bezeichnung 


*)  Drobisch  §  117  f.  bemerkt  mit  Recht,  dass  in  den  synthetischen 
Definitionen  das  definiendum  eigentlich  die  Stelle  des  Prädicats  ver- 
trete, und  dieses  Prädicat  nur  das  Wort  als  Name  sei.  Die  Definitionen 
an  der  Spitze  von  Spinoza's  Ethik  geben  sich  schon  durcli  die  Formel : 
Per  substantiam  intelligo  id,  quod  etc.  als  Definitionen  der  zweiten  Art, 
als  Einführung  von  einfiichen  Wortbezeichnungen  für  bestimmte  Begrifie 
zu  erkennen. 


378  11,1.    Der  Begriff.  329.330 

bestimmter  gegebener  individueller  Erscheinungen  gebräuch- 
lich sind,  und  eine  Ausdehnung  derselben  auf  andere,  obgleich 
sie  in  den  gemeinschaftlichen  Merkmalen  übereinstimmen,  erst 
der  Legitimation  des  Sprachgebrauches  bedarf.  Der  grösste 
Scharfsinn  wird  keine  einfache  Definition  des  Wortes  »Volk« 
ausfindig  machen  können ,  wenn  er  den  Sprachgebrauch  an- 
geben will;  Wörter  wie  Kirche,  Theocratie,  Cäsareopapismus 
sind  keine  Zeichen  von  Begrifi'en,  sondern  Bezeichnungen  be- 
stimmter historischer  Erscheinungen  nach  hervorstechenden 
Zügen,  also  Namen  von  Einzelnem;  über  ihren  Begriff  wird 
man  immer  streiten  können. 

Auf  diesem  Gebiet  gewinnt  auch  die  Forderung,  in  einem 
Begrifi*  die  wesentlichen  Merkmale  zu  vereinigen,  einen 
Sinn ,  wenn  nemlich  von  der  Aufgabe  ausgegangen  wird,  aus 
den  vom  Sprachgebrauche  gleich  benannten  Objecten  heraus 
den  Begriff  zu  finden  (vgl.  §  42,  8);  denn  jetzt  ist  allerdings 
die  Aufgabe,  den  Begriff  so  zu  bestimmen,  dass  er  den  Grund 
der  Benennung  enthält ,  und  dass  nur  diejenigen  Merk- 
male aufgenommen  werden,  welche  die  Sprache  bei  der  Be- 
nennung leiten,  und  von  denen  es  abhängt,  ob  Neues  mit  dem- 
selben Namen  benannt  werden  wird  oder  nicht.  Geht  man  von 
dem  empirischen  Umfange  des  Namens  Mensch  aus:  so  muss 
nach  den  Regeln  der  Abstraction  das  Merkmal  »ungeschwänzt« 
nothwendig  aufgenommen  werden ,  denn  es  ist  ein  gemein- 
schaftliches Merkmal  der  bekannten  Menschen ;  aber  sobald 
wir  gewiss  sind,  dass,  die  vollkommene  Aehnlichkeit  in  allem 
Uebrigen  vorausgesetzt,  ein  äusseres  Hervortreten  der  Schwanz- 
rudimente, welche  der  Mensch  hat,  uns  nicht  abhalten  würde, 
die  Träger  dieses  Gliedes  immer  noch  Menschen  zu  nennen, 
erscheint  das  »ungeschwänzt«  nicht  als  Merkmal  des  Begriffs 
Mensch ,  und  darf  in  die  Definition  nicht  aufgenommen  wer- 
den, da  es  für  die  Subsumtion  des  Einzelnen  unter  diesen  Be- 
griff gleichgültig  ist.  Was  aber  in  diesem  Sinne  wesentlich 
ist,  was  gleichgültig,  hängt  durchaus  von  den  Gesichtspunkten 
ab,  nach  denen  die  Sprache  bei  der  Gruppierung  der  Objecte 
verfährt;  in  einer  Hinsicht  kann  ein  Merkmal  gleichgültig 
sein,  das  in  einer  andern  wesentlich  ist. 

Von   der  Aufgabe ,    aus    dem   factischen   Sprachgebrauch 


330  §  44.     Die  Definition.  379 

die  thatsäcliliche  Bedeutung  eines  Wortes  festzu- 
stellen, unterscheidet  sich  die  Aufgabe,  einem  schwanken- 
den Sprachgebrauch  gegenüber  anzugeben,  in  welchem 
Sinne  gegebene  Wörter  innerhalb  einer  bestimmten  wissen- 
schaftlichen Darstellung,  eines  Gesetzes  u.  s.  w.  gebraucht 
werden  sollen.  Hiezu  kann,  wenn  der  allgemeine  Begriff,  unter 
den  sie  fallen,  als  gegeben  und  bekannt  vorausgesetzt  wird, 
jede  Bestimmung  dienen,  welche  die  beabsichtigte  Anwendung 
des  Wortes  sicher  und  unzweideutig  begrenzt,  auch  wenn  sie 
nur  abgeleitete  und  accidentelle  Unterscheidungszeichen  ver- 
wendet. Ein  extremes  Beispiel  hiefür  ist  §  1  des  deutschen 
Strafgesetzbuches,  der  Verbrechen,  Vergehen  und  Uebertre- 
tungen  nach  dem  Strafmass  unterscheidet,  mit  dem  die  Hand- 
lungen bedroht  sind ;  als  Definition  im  gewöhnlichen  Sinne 
genommen  wäre  das  ein  logisches  Monstrum;  als  blosse  Be- 
grenzung der  beabsichtigten  Anwendung  von  Terminis ,  bei 
denen  die  allgemeine  Bedeutung  einer  strafbaren  Gesetzes  Ver- 
letzung als  bekannt  vorausgesetzt  ist,  lässt  es  sich  rechtfer- 
tigen*). Es  ist  ein  ähnlicher  Fall,  wie  wenn  bestimmt  wird, 
die  warme  Zone  sei  die  zwischen  den  Wendekreisen  u.  s.  w. 
6.  Handelt  es  sich  nur  darum ,  gegebene  Ob jecte 
so  zu  bezeichnen,  dass  sie  von  allen  andersartigen  sicher  un- 
terschieden werden  können :  so  ist  nicht  nothwendig,  den  ganzen 
Inhalt  des  Begriffs  anzugeben ,  sondern  es  genügt  an  einer 
Formel ,  welche  ihre  charakteristischen  Eigen- 
schaften nennt,  und  die  wir  als  diagnostische  De- 
finition bezeichnen  können.  Die  chemischen  Reactionen, 
welche  bestimmten  Stoffen  eigenthümlich  sind,  sind  ein  Bei- 
spiel solcher  Merkmale,  welche  die  Angabe  des  vollständigen 
Begriffsinhalts  überflüssig  machen ,  wo  es  sich  nur  darum 
handelt,  gegebene  Erscheinungen  richtig  zu  subsumieren  und 
von  anderen  zu  unterscheiden.  Die  Eigenschaft  Stärke  blau 
zu  färben  ist  dem  Jod  charakteristisch ,  darum  genügt  der 
Nachweis  dieser  Eigenschaft  um  die  Gegenwart  von  Jod  zu 
constatieren ;  ich  habe  damit  ein  Mittel,  das  was  Jod  ist  von 
allen  andersartigen  Elementen  zu  unterscheiden  ;    aber  nur  in 

*)  Vergl.  die  Ausführungen    von  G.  Rüraelin ,  Juristisclie  Begriö's- 
bildung  1878  S.  22  ff. 


380  H,  1.    Der  Begriff.  330 

dieser  Hinsicht  vertritt  dieses  Merkmal  den  ganzen  Begriff, 
seine  Bedeutung  liegt  darin ,  durch  seine  Anwesenheit  auch 
die  Anwesenheit  der  übrigen  Merkmale  zu  erweisen ,  die  den 
Begriff  des  Jod  constituieren.  Aehnliche  charakteristische  Merk- 
male abgeleiteter  Art  sind  die  Spectrallinien  der  einzelnen 
Stoffe. 

Nach  einer  Seite  allerdings  ist,  wie  schon  Kant  in  der 
Methodenlehre  ausgeführt  hat ,  gegenüber  den  Producten  der 
Natur  keine  erschöpfende  Definition  möglich ;  unsere  Formeln 
müssen  sich  begnügen,  eine  Auswahl  solcher  Merkmale  her- 
zustellen, welche  die  zunächst  erkennbaren  Eigenschaften  so- 
weit angibt,  dass  eine  sichere  Unterscheidung  möglich  wird; 
darum  sind  alle  Definitionen,  welche  wir  hier  aufstellen  kön- 
nen ,  insofern  diagnostische  Definitionen ,  als  sie  nicht  alle 
Merkmale  aufzuzählen  vermögen,  welche  dem  Gegenstand  zu- 
kommen, auch  nicht  alle,  welche  unsere  Kenntniss  des  Gegen- 
stands ausmachen  *).    Aber  es  bleibt  ein  Unterschied  zwischen 


*)  Es  zeigt  sich  dabei  nur  von  einer  besonderen  Seite  die  Natur 
der  Begriffe  in  ihrem  Verhältniss  zu  dem  concret  Existierenden.  Wir 
haben  bis  jetzt  nicht  ausdrücklich  der  Schwierigkeit  gedacht,  die 
neuestens  wiederum  besonders  von  Volkelt  (ICrfahrung  und  Denken  S.  842  ff.) 
in  eingehender  und  scharfsinniger  Weise  hervorgehoben  worden  ist,  ob 
denn  das  Allgemeine  als  solches  überhaupt  denkbar,  Object  eines  wirk- 
lichen Vorstellens  sei,  ob  es  nicht  nach  Berkeley  vielmehr  nur  Einzel- 
anschauungen gebe,  das  Allgemeine  nur  durch  das  Wort  vertreten  werde. 
Mit  Berufung  auf  Lotze  (Logik  2.  Afl.  S.  40  ff.)  führt  Volkelt  aus,  dass 
das  Allgemeine  sich  nicht  durch  einfache  Hinweglassung  der  unter- 
scheidenden Merkmale  gewinnen  lasse.  »Oder  ist  nicht  der  Gedanke 
eines  Dreiecks,  das  weder  gleichseitig  noch  ungleichseitig,  weder  spitz- 
noch  recht-  noch  stumpfwinklich  ist,  geradezu  ein  üngedanke«  ?  Darum 
kcftine  das  Allgemeine  nur  mit  Beziehung  auf  die  unbestimmte  Totalität 
des  Einzelnen  gedacht  werden;  zum  Begriff  gehöre  der  Nebengedanke,  dass 
das  Allgemeine  nur  durch  die  unterscheidenden  Merkmale,  nur  im  Ein- 
zelnen und  als  Einzelnes  ein  denkbares  Ktwas  werde.  Daraus  folge,  dass 
die  Forderung,  die  im  Begriffe  enthalten  ist,  nur  in  einem  Bewusstsein 
verwirklicht  sein  könnte,  das,  indem  es  das  Allgemeine  dächte,  in  dem- 
selben ungetheilten  Acte  zugleich  die  dazu  gehörige  Anschauung  vollzöge, 
und  zwar  als  ein  unendliches,  absolutes ,  zeitloses  Denken.  In  diesen 
Ausführungen  ist  unzweifelhaft  richtig,  dass  als  das  Ideal  unseres  Denkens 
ein  solches  allumfassendes  Bewusstsein  vor  uns  steht ,  dem  das  ganze 
Begriffssystem  mit  allen  seinen  Besonderungen,  wie  seine  Verwirklichung 


330  §  44.    Die  Definition.  B81 

den  Formeln ,  welche  nur  der  mögliclist  leichten  Diagnose 
dienen,  und  denen,  welche  zugleich  den  Inhalt  eines  Begriffs 
repräsentieren  wollen;  diese  werden  wenigstens  einige  der 
fundamentalen  Bestimmungen  geben,  und  das  durch  Angabe 
des  genus  proximum  erreichen;  für  sie  gilt:  definitio  ne  fiat 
per  accidens;  jene  können  sich  mit  zufälligen  und  äusserlichen 
Unterscheidungszeichen  begnügen,  denn  sie  wollen  nicht  Merk- 
male der  Begriffe  sein,  sondern  Merkmale  der  Objecte,  welche 
unter  bestimmte  Begriffe  zu  subsumieren  sind. 


in  den  concreten  Erscheinungen  gegenwärtig  wäre ;  allein  es  ist  zugleich 
der  Gesichtspunkt  zurückgetreten,  der  jene  Schwierigkeit  hebt,  und  auch  für 
unser  thatsächliches  Denken  den  allgemeinen  Begriffen  als  solchen  ihre 
Bedeutung  gibt :  dass  nemlich  die  Begriffe,  welche  die  Logik  fordert, 
in  erster  Linie  die  Bedeutung  haben,  als  Prädicate  zu  fungieren, 
und  nicht  direct  Repräsentanten  des  Seienden  als  solchen  zu  sein,  das 
natürlich  immer  ein  Einzelnes  ,  Concretes,  Bestimmtes  sein  muss.  Der 
Gedanke  »eines  Dreiecks«,  das  weder  gleichseitig  noch  ungleichseitig, 
weder  rechtwinklich  noch  schiefwinklich  ist,  ist  freilich  ein  üngedanke : 
wenn  ich,  was  ich  bei  Dreieck  denke,  als  ein  einzelnes  anschaulich  Gegebenes 
vorstellen  soll,  muss  ich  die  Determination  vollziehen  und  darf  sie  nicht 
negieren.  Soll  ich  aber  von  einer  Figur  nicht  eben  nur  behaupten  können, 
dass  sie  ein  Dreieck  sei,  ohne  mich  um  ihre  Grösse  und  nähere  Gestalt  zu 
bekümmern  ?  Alles  Urtheilen,  wie  alle  Begriffsbildung,  beruht  auf  der 
Fähigkeit  der  Analyse,  welche  einzelne  Seiten  hervorhebt;  Dreieckig 
sein  ist  doch  ein  vollkommen  bestimmtes,  für  sich  verständliches  P  r  ä- 
dicat,  so  gewiss  ich  eine  klare  Vorstellung  davon  habe,  was  eine  Ecke 
und  was  die  Zahl  drei  ist.  Und  hätte  ich  wirklich  kein  subjectives 
Correlat  zu  diesem  allgemeinen  Wort  Ecke?  Nicht  allerdings,  wenn 
ich  mir  fertige  Anschauungen  vergegenwärtige;  wohl  aber,  wenn  ich 
auf  das  Verfahren  achte ,  durch  das  mir  die  Anschauung  einer  Ecke 
entsteht,  die  plötzliche  Aenderung  der  Richtung,  die  ich  in  der  Bewegung 
des  Blicks  unmittelbar  empfinde,  ob  sie  gross  oder  klein  ist.  Und  hätte 
ich  keine  Vorstellung  der  Zahl  drei,  wenn  ich  mir  dabei  nicht  ganz 
bestimmte  Gegenstände  denke?  Genügt  es  nicht,  mir  des  Verfahrens, 
drei  zu  zählen,  bewusst  zu  sein,  das  ich  auf  alles  beliebige  anwenden 
kann?  Die  Begrifl'sformeln  haben  nicht  die  Aufgabe,  die  Anschauung 
des  Einzelnen  zu  ersetzen,  sondern  nur  ihre  logische  Analyse  möglich 
zu  machen;  es  liegt  ihnen  nur  zu  Grund,  dass  jedes  PJinzelne  sich 
durch  allgemeine  Prädicate  ausdrücken  lasse. 


Zweiter  Abschnitt. 

Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile. 

Als  unmittelbare  Urtheile,  d.  h.  als  solche,  welche 
nichts  als  die  in  ihnen  verknüpften  Vorstellungen  der  Sub- 
jecte  und  Prädicate  selbst  voraussetzen,  um  mit  dem  Bewusst- 
sein  objectiver  Gültigkeit  vollzogen  zu  werden  (§  18,  1),  treten 
uns  zunächst  theils  die  bloss  erklärendenUrtheile 
gegenüber,  welche  in  ihrem  Prädicate  nur  aussagen,  was  in 
der  durch  das  Subjectswort  bezeichneten  Vorstellung  als  sol- 
cher gedacht  wird,  theils  die  auf  unmittelbarer  An- 
schauung ruhenden  Urtheile  über  Einzelnes,  in 
welchen  ausgesagt  wird,  was  einer  gegebenen  Einzelvorstel- 
lung als  Prädicat  zukommt.  Unter  den  letzteren  scheiden  sich 
die  Aussagen  über  uns  selbst,  und  Wahrnehmung  s- 
urtheile  über  Aeusseres. 

§  45. 

Die  Wahrheit  derjenigen  Urtheile,  welche  bloss  über 
die  Verhältnisse  unserer  festges  teilten  Begriffe 
etwas  aussagen,  gründet  sich  auf  das  Pr  i  ncip  derUeber- 
e  i  n  s  ti  m  m  u  n  g  ,  und  sofern  in  d«n  Begriffs  Verhältnissen  auch 
die  Unvereinbarkeit  gewisser  Merkmale  und  Begriffe  festge- 
stellt ist,  auf  das  Princip  des  Wide||spruchs. 

1.  Die  durchgängige  Bestimmtheit  der  Vorstellungen, 
welche  dem  Urth eilen  immer  schon  vorausgesetzt  sind,  haben 
wir  als  Bedingung  davon  erkannt,    dass  von  seiner  Wahrheit 


332  §  45.     Die  Wahrheit  der  TJrtheile  über  Begriffe.  383 

oder  Falschheit  überhaupt  in  eindeutigem  Sinne  geredet  wer- 
den könne.  Die  erklärenden  TJrtheile  (§  16)  betreffen  nur 
Vorstellungen,  welche  schon  als  gemeinschaftlich  vorhanden 
vorausgesetzt  werden.  Sind  diese  Begriffe  im  logischen 
Sinne,  so  geben  diese  Urtheile  nur  die  Verhältnisse  der  be- 
reits fixierten  Begriffe  an,  und  wiederholen  was  bei  der  Fest- 
setzung derselben  in  Eins  gesetzt  und  unterschieden  wor- 
den ist. 

2.  Die  positiven  Urtheile,  welche  Definitionen  ent- 
halten, die  Urtheile,  welche  die  Merkmale  eines  Begriffs  von 
diesem  aussagen,  die  Urtheile,  welche  einen  höheren  Begriff 
von  einem  niederen  prädicieren,  sind  durch  den  gegebenen  In- 
balt  von  Subject  und  Prädicat  nothwendig  wahr.  Die  f ac- 
tische Voraussetzung  (§  39,  3)  derselben  ist,  dass  die 
Subjects-  und  Frädicatsbegriffe  wirklich,  und  zwar  immer 
und  von  allen  in  derselben  Weise  gedacht  werden;  das  Ge- 
setz aber,  das  unter  dieser  Voraussetzung  das  Urtheil  noth- 
wendig macht,  ist  kein  anderes  als  das  Gesetz  derUeber- 
einstimmung  (§  14),  das  jetzt  erst,  wo  die  Constanz  der 
einzelnen  Vorstellungen  rieht  bloss  für  den  Moment  des  Ur- 
theilens  (§  14,  4  S.  102),  sondern  für  die  ganze  Dauer  unseres 
Bewusstseins  gesichert  ist,  seine  Anwendung  nicht  bloss  als 
Naturgesetz,  sondern  auch  als  Normalgesetz  unseres 
Denkens  finden  kann,  und  zugleich,  wegen  der  Gleichheit 
der  Begriffe  in  allen,  die  A 1 1  g  e  m  e  i  n  g  ü  1 1  i  g  k  e  i  t  d  e  r  U  r- 
theile  verbürgt. 

Der  Unterschied ,  ob  das  Princip  der  Uebereinstimmung 
als  Naturgesetz  oder  als  Normalgesetz  betrachtet  wird,  liegt 
also  nicht  in  seiner  eigenen  Natur ,  sondern  in  den  Voraus- 
setzungen auf  die  es  angewendet  wird;  im  ersten  Fall  wird 
es  angewendet  auf  das  eben  dem  Bewusstsein  Gegenwärtige; 
im  zweiten  auf  den  idealen  Zustand  einer  durchgängigen  un- 
veränderlichen Gegenwart  des  gesammten  geordneten  Vor- 
stellungsinhalts für  Ein  Bewusstsein ,  der  empirisch  niemals 
vollständig  erfüllt  sein  kann.  Und  das  letztere  allein  ist  es, 
was  als  Princip  der  Identität  mit  der  Forderung  einer 
normativen  Geltung  auftreten  kaim,  dass  A  ^  A  sei, 
d.  h.  in  jedem  Denkacto  die  begriffliclicn  Elemente  stets  die- 


384  II,  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  33S 

selben  seien  und  als  dieselben  gewusst  werden  (in  praxi  mit 
jedem  Wort  stets  genau  derselbe  Sinn  verbunden  werde).  Die 
Möglichkeit  der  Erfüllung  dieser  Forderung  hängt  von  der 
Fähigkeit  ab ,  mit  zweifelloser  Sicherheit  der  von  allem  zeit- 
lichen Wechsel  unabTiängigen  Constanz  der  Vorstellungen  be- 
wusst  zu  werden  und  so  zu  denken ,  als  ob  für  ein  zeitloses 
Anschauen  die  ganze  Welt  der  Begriffe  in  unveränderlicher 
Klarheit  vor  uns  stünde.  Aber  das  Princip  der  Identität,  so 
gefasst,  ist  nicht  Princip  unseres  Urtheilens,  in  welchem  nicht 
dasselbe,  sondern  Unterschiedenes  eins  gesetzt  wird. 

'i.  Wollte  man  fragen,  worauf  denn  die  Gültig- 
keit des  Princips  der  Uebereinstimmung  selbst 
beruhe:  so  können  wir  nur  auf  das  Bewusstsein  zurück- 
gehen, dass  das  Einssetzen  von  Uebereinstimmendem  etwas 
absolut  Evidentes  ist;  dass  wir,  indem  wir  darauf  reflectieren, 
was  wir  im  [Jrtheilen  thun,  dieses  Thuns  als  eines  durchaus 
Constanten  bewusst  werden;  dass  wir  ebenso,  wie  wir  fähig 
sind,  der  Identität  unseres  Ich  in  allen  zeitlich  verschiedenen 
Acten,  vergangenen  wie  zukünftigen,  gewiss  zu  sein,  und  in 
Einem  Act  die  unveränderliche  Wiederholung  desselben  »Ich 
bin«  durch  eine  unbegrenzte  Reihe  von  Momenten  vorzustellen, 
und  fähig  sind  unseren  Vorstellungsinhalt  mit  Bewusstsein 
als  denselben  festzuhalten,  auch  fähig  sind ,  gewiss  zu  sein, 
dass,  so  gewiss  wir  dieselben  sind,  wir  stets  in  derselben  Weise 
im  Urtheilen  verfahren  werden.  Jedes  Bewusstsein  einer 
Nothwendigkeit  ruht  zuletzt  auf  der  unmittelbaren  Gewissheit 
der  Unveränderlichkeit  unseres  Thuns.  Will  man  darum 
sagen,  dass  es  zuletzt  doch  eine  innere  Erfahrung  sei,  welche 
uns  diese  Gewissheit  gebe,  so  ist  dagegen  nichts  einzuwenden; 
nur  ist  dann  von  der  Erfahrung  der  einzelnen  Momente  un- 
seres veränderlichen  Vorstell ens  die  Erfahrung  zu  unterschei- 
den, welche  in  dem  einzelnen  Thun  zugleich  sicher  ist ,  dass 
es  nicht  von  den  momentanen  und  wechselnden  Bedingungen 
des  einzelnen  Moments  abhängig  ist,  sondern  in  allen  wech- 
selnden Momenten  doch  dasselbe  sein  wird.  Diese  unmittel- 
bare Sicherheit  gibt  uns  die  unmittelbare  und  nicht  weiter 
zu  analysierende  Anschauung  der  Nothwendigkeit,  welche  wohl 
Gegenstand    einer  Erfahrung ,    d.  h.  eines    unmittelbaren ,   in 


834  §  45.     Die  Wahrheit  der  Ürtheile  über  Begriffe.  385 

einem  bestimmten  Zeitpunkt  aufgehenden  Bewusstseins ,    aber 
nicht  bloss  Resultat  einer  Summe  von  Erfahrungen  ist*). 

4.  Ebenso  einfach  folgt  aus  den  festgestellten  Begriffs- 
verhältnissen dieNothwendigkeit  aller  verneinenden 
ürtheile,  vrelche  verschiedene  Begriffe  als  Ganze  unter- 
scheiden ,  und  —  nach  dem  Princip  des  Widerspruchs  (§  23. 
S.  182  ff.)  —  der  verneinenden  Ürtheile ,  welche  von  einem 
Begriffe  unvereinbare  Merkmale  oder  unvereinbare  Begriffe 
negieren  ,  oder ,  was  gleichbedeutend  ist ,  die  noth wendige 
Falschheit  der  ürtheile ,  welche  die  Beilegung  eines  Prä- 
dicats,  das  dem  Subjectbegriff  widerspricht  (die  contradictio 
in  adjecto),  vollziehen  wollen.  In  den  festgestellten  Begriffs- 
verhältnissen liegt  die  Unvereinbarkeit  gewisser  Merkmale  als 
ein  unveränderliches  Verhältniss  mit,  d.  h.  die  Npthwendigkeit 
b  zu  verneinen,  wenn  a  bejaht  ist;  einem  Begriff,  der  a  ent- 
hält, b  zusprechen,  heisst  also  sagen,  dasselbe  ist  a  und  ist 
nicht  a. 

5.  Wiederum  tritt  das  Princip  des  Widerspruchs  in  kei- 
nem andern  Sinne  als  Normalgesetz  auf,  als  in  welchem  es  ein 
Naturgesetz  war  und  einfach  die  Bedeutung  der  Verneinung 
feststellte;  aber  während  es  als  Naturgesetz  nur  sagt,  dass  es 
unmöglich  ist,  mit  Bewusstsein  in  irgend  einem  Moment  zu 
sagen  A  ist  b  und  A  ist  nicht  b,  wird  es  jetzt  als  Normal- 
gesetz auf  den  gesammten  Umkreis  constanter  Begriffe  ange- 
wendet, über  welchen  sich  die  Einheit  des  Bewusstseins  über- 
haupt erstreckt;  unter  dieser  Voraussetzung  begründet  es  das 
gewöhnlich  sogenannte  Principium  Contradictionis ,  das  jetzt 
aber  kein  Seitenstück  zum  Princip  der  Identität  (im  Sinne  der 
Formel  A  ist  A)  bildet ,  sondern  dieses ,  d.  h.  die  absolute 
Constanz  der  Begriffe  selbst  wieder  als  erfüllt  voraussetzt. 

*)  Insofern  kann  ich  den  Ausführungen  von  Baumann  (Philosophie 
als  Orientierung  über  die  Welt,  S.  296  ff.)  über  die  mathematische 
Nothwendigkeit  nicht  vollkommen  beistimmen.  Mit  der  blossen  Erfah- 
rung der  Constanz  des  Vorstellens  in  verschiedenen  Wiederholungen 
ist  noch  keine  Nothwendigkeit  gesetzt ;  die  Wirklichkeit  einer  That- 
sache  kann  nicht  den  Gedanken  der  Möglichkeit  des  Andersseins  aus- 
schliessen;  das  vermag  nur  das  Bewusstsein,  dass  diese  Thatsache,  sowie 
sie  jetzt  wirklich  ist,  immer  wirklich  sein  wird,  d.  h.  das  Bewusstsein 
ihrer  Nothwendigkeit. 

Big  wart,   Logik.  I,     2.  Auflage.  25 


386  n,  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  tJrtheile.  335 

Und  wiederum  ruht  die  absolute  Gültigkeit  des  Princips  des 
Widerspruchs  und  in  Folge  davon  der  Sätze,  welche  eine  con- 
tradictio  in  adjecto  verneinen,  auf  dem  unmittelbaren  Bewusst- 
sein,  dass  wir  immer  dasselbe  thun  und  thun  werden,  wenn 
wir  verneinen,  so  gewiss  wir  dieselben  sind*). 

6.  Aus  den  feststehenden  Begriäs Verhältnissen  ergibt  sich 
femer  die  Gültigkeit  der  MÖglichkeitsurtheile,  welche 
einem  noch  nicht  determinierten  Begriff  die  Möglichkeit  zu- 
sprechen, die  mit  ihm  vereinbaren  Determinationen  anzunehmen 
(§  34,  5  S.  269)  und  der  Disjunctionen,  welche  auf  einer 
Division  fussen. 

Sofern  vorausgesetzt  wird,  dass  ein  Begriff  eine  Mehrheit 
von  Arten  unter  sich  enthält,  oder  auf  eine  Vielheit  von 
Einzeldingen  ^anwendbar  ist,  also  von  Verschiedenem  prädi- 
ciert  werden  kann ,  folgt  auch  aus  den  Begriffsverhältnissen 
unmittelbar  die  hypothetische  Noth  w  endigkei  t  das- 
jenige, was  unter  einen  Begriff  fällt,  mit  den  Prädicaten  dieses 
Begriffs  zu  prädicieren.  Gilt  von  den  Begriffen  A  ist  B ,  so 
gilt  auch:  Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  B,  oder  alle  A  sind 
B.  Mit  Recht  sind  derlei  Urtheile  immer  als  analytische 
betrachtet  worden,  welche  durch  das  Princip  der  Uebereinstim- 
mung  gewiss  seien.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  ver- 
neinenden; gilt  von  den  Begriffen:  B  ist  mit  A  unvereinbar, 
so  gilt  ebenso :  wenn  etwas  A  ist ,  so  ist  es  nicht  B ,  oder 
kein  A  ist  B. 

7.  In  all  diesen  Urtheilen  haben  wir,  die  feststehenden 
Begriffe  vorausgesetzt,  nur  abzulesen,  was  wir  in  die  Begriffe 
hineingelegt  haben;  wir  bewegen  uns  ganz  im  Gebiete  unserer 

*)  Wenn  J.  St.  Mill  (Schluss  des  zweiten  Buchs)  den  Satz  des 
Widerspruchs  als  eine  unserer  ersten  und  geläufigsten  Generalisationen 
aus  der  Erfahrung  betrachtet  und  seine  Bedeutung  darin  findet ,  dass 
Glaube  und  Unglaube  zwei  verschiedene  Geisteszustände  sind,  die  ein- 
ander ausschliessen,  was  wir  aus  der  einfachsten  Beobachtung  unseres 
eigenen  Geistes  erkennen,  so  kann  ich  dem  in  gewisser  Weise  zustim- 
men ;  das  Räthsel  Hegt  fben  dann  darin,  woher  wir  denn  wissen,  dass 
sie  nicht  bloss  verschieden  sind,  sondern  dass  sie  sich  ausschliessen? 
Wenn  aus  einer  leichten  Beobachtung  die  Sicherheit  folgen  soll,  dass 
sie  sich  ausschliessen,  so  muss  eben  die  Nothwendigkeit  davon 
selbst  unmittelbar  zum  Bewusstsein  kommen. 


336  §  45.     Die  Wahrheit  der  Urtheile  über  Begriffe.  387 

festen  Vorstellungen,  und  für  Niemand,  der  genau  dieselben 
Vorstellungen  hat,  können  diese  Urtheile  irgendwie  zweifelhaft 
sein.  Sie  sind  ebendarum  von  jeder  Zeit  unabhängig,  unbe- 
dingt gültig;  sind  nach  Leibniz  ewige  und  noth wendige  Wahr- 
heiten; sie  sagen  aber  ebendarum  direct  niemals,  dass  etwas 
sei,  noch  reden  sie  von  bestimmten  einzelnen,  noch  von  seienden 
Objecten.  Ein  Existentialurtheil  kann  niemals  ein 
analytisches  im  Kantischen  Sinne  sein;  denn  es  handelt  sich, 
wie  Kant  unwiderleglich  nachgewiesen  hat,  beim  Existential- 
urtheil darum,  dass  ein  dem  Begriff  entsprechendes  existiert; 
das  Subject  des  Existentialurtheils  ist  zunächst  ohne  Existenz 
gedacht,  aber  gerade  so  wie  es  gedacht  wird,  soll  es  auch 
existieren.  Der  Grund,  etwas  als  existierend  zu  setzen,  kann 
also  niemals  in  demjenigen  Vorstellen  liegen ,  durch  welches 
der  Inhalt  einer  Vorstellung  gedacht  wird ,  im  begrifflichen 
Denken;  sondern  es  muss,  wenn  es  überhaupt  einen  gibt,  ein 
im  Bewusstsein  Gegenwärtiges  sein ,  das  vom  begrifflichen 
Denken  verschieden  ist. 

8.  So  leicht  nun  aber  unter  Voraussetzung  eines  vollen- 
deten Begriffssystems  die  Wahrheit  der  begrifflichen  Urtheile 
eingesehen  werden  kann,  so  wenig  ist  dadurch  die  eigentliche 
Function  der  Begriffe  erschöpft.  Die  Begriff surth eile  haben 
den  Werth,  die  Begriffe  selbst  immer  neu  zu  beleben  und 
gegenwärtig  zu  erhalten,  die  Abbreviatur  des  Worts  in  ihren 
Inhalt  auseinanderzulegen;  aber  zuletzt  liegt  doch  aller  Werth 
und  alle  Bedeutung  eines  Begriffssystems  darin ,  angewandt 
zu  werden,  und,  indem  es  zur  Prädicierung  verwendet  wird, 
zur  Erkenn tniss  desjenigen  zu  dienen  ,  was  in  dem  Begriffs- 
system als  solchem  noch  nicht  enthalten  ist.  Das  Begriffssystem 
ist  das  Organ  aller  Erkenntniss,  aber  nicht  diese  selbst;  der 
Apparat  mit  dem  wir  arbeiten,  aber  nicht  das  Product.  Der 
menschliche  Geist  wäre  zu  ewiger  Sterilität  verurtheilt,  wenn 
er  sich,  wie  im  Hintergrunde  die  Schullogik  meint,  immer  in 
dem  umtreiben  sollte,  was  er  schon  weiss,  und  nur  die  Urtheile 
wiederholen  sollte,  durch  die  er  seine  Begriffe  fixiert  hat;  sein 
Fortschritt  besteht  darin ,  immer  Neues  und  Neues  mit  den 
schon  festgestellten  Hegriffen  oder  neuen  daraus  gebihleten  zu 
bewältigen.     Auch  mit  der  idealen   Vollendung  eines  überein- 

25* 


388  IIi  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  337 

stimmenden  Begriffssystems  ist  die  Aufgabe  noch  nicht  fertig, 
sowenig  als  ein  Lexicon  die  Literatur  eines  Volks  ist.  Der 
Fortschritt  des  Denkens  und  Forschens  erzeugt  neue  Anschau- 
ungen und  Vorstellungen;  und  die  Hauptaufgabe  ist,  der  Ge- 
setze bewusst  zu  werden ,  nach  denen  das  fortwährend  neu 
sich  vollziehende  Urtheile  n  Anspruch  auf  Wahrheit 
und  Allgemeingültigkeit  hat. 

9,  Dieser  Fortschritt  im  Denken  und  Wissen  geht  zu- 
nächst von  den  einzelnen  Individuen  aus ,  in  denen 
Urtheile  neu  entstehen  und  von  denen  aus  sie  durch  Mitthei- 
lung sich  verbreiten.  Ihre  Bedingung  ist ,  da  die  Prädicate 
immer  als  bereits  gegeben  vorausgesetzt  werden  müssen,  die 
Entstehung  neuer  Subjectsvorstellungen.  Sofern 
diese  nur  neue  begriffliche  Schöpfungen  sind,  welche 
durch  bestimmende  Definition  en  (§48,  2)  eingeführt 
werden,  fällt  ihre  Gültigkeit  unter  die  obigen  Gesetze;  sie 
dienen  ja  zuletzt  nur  dazu,  eine  neue  Abbreviatur  herzustellen 
und  einen  Terminus  einzuführen,  und  was  über  sie  geurtheilt 
wird,  ist  sofort  wieder  blosse  Begriffserklärung. 

Anders,  wenn  die  neu  entstehenden  Subjectsvorstellungen 
einzelne  sind.  Den  Unterschied  der  Vorstellung  von  Ein- 
zelnem gegenüber  dem  Vorstellen  des  begrifflichen  Inhalts 
müssen  wir  zunächst  als  einen  gegebenen  und  Jedem  bekann- 
ten voraussetzen  (§  7.  S.  45  ff.);  wenn  er  durch  den  Unter- 
schied von  Anschauung  und  Begriff  ausgedrückt  wird, 
so  wird  eben  auch  vorausgesetzt,  dass  dieser  Unterschied  un- 
mittelbar verständlich  sei;  wir  können  ihn  höchstens  nach 
abgeleiteten  und  äusseren  Merkmalen  dahin  bestimmen ,  dass 
das  begrifflich  Vorgestellte  ein  rein  inneres ,  nach  unserem 
freien  Belieben  wiederholbares  und  dann  immer  in  derselben 
Weise  gegenwärtiges ,  von  nichts  als  der  inneren  Kraft  un- 
seres Denkens  abhängiges  sei,  das  Angeschaute  dagegen  uns 
in  einem  bestimmten  Momente  gegeben  sei  und  seine  Vor- 
stellung von  Bedingungen  abhänge ,  welche  es  in  eine  Be- 
ziehung zu  uns  den  Vorstellenden  setzen ,  die  von  der  inneren 
Kraft  des  Denkens  unabhängig  sei ,  vielmehr  den  allgemein 
ausdrück  baren  Inhalt  in  einem  einzelnen  Object  zu  setzen 
verlange. 


338  §  45.    Die  Wahrheit  der  ürtheile  über  Begriffe.  389 

Wäre  nun  ein  Einzelnes  mit  dem  Bewusstsein  vorgestellt, 
dass  es  zwar  ein  mir  anschaulicli  Gegebenes,  seine  Vorstellung 
aber  mir  individuell  angehörig,  von  anderen  gar  nicht 
oder  nur  zufällig  zu  gewinnen  sei,  wie  ein  Traumbild  oder 
eine  Vision,  der  nur  ich  theilhaftig  werde ,  oder  eine  innere 
Schöpfung  der  künstlerischen  Phantasie,  welche  von  der  Will- 
kür des  Denkens  unabhängig  mir  als  ein  eben  jetzt  gegen- 
wärtiges Einzelobject  gegenübersteht:  so  ist  zwar  durch  das 
Princip  der  Uebereinstimmung  garantiert,  dass  ich  dieses 
Object,  soweit  ich  es  mit  Bewusstsein  vorstelle  und  festhalte, 
richtig ,  d.  h.  so  beschreiben  würde ,  wie  es  seinem  Inhalt 
entsprechend  ist,  aber  es  besteht  kein  Interesse  weiter  nach 
der  Begründung  dieser  ürtheile  zu  fragen,  da  sie  durchaus 
individuell  und  unübertragbar  sind,  von  dem  also,  der  die  An- 
schauung nicht  hat,  nur  auf  Autorität  geglaubt  werden. 

Wären  aber  die  Vorstellungen  solche ,  welche  sich  in 
allen  übereinstimmend  er  zeugen  k  Önnen  und  unter 
bestimmten  Bedingungen  übereinstimmend  erzeugen 
müssen,  so  dass  sie  ihrer  Natur  nach  gemeinschaftliche 
Objecte  für  alle  werden  können,  so  besteht  auch  das  Interesse, 
dass,  was  darüber  geurtheilt  wird,  als  allgemeingültig  erkannt 
werde.  Dieses  ist  z.  B.  der  Fall  mit  den  Gebilden  der  Geo- 
metrie, sofern  die  Raumvorstellung  als  eine  in  allen  gleiche 
und  die  Elemente  der  Geometrie  als  gegebene  Anschauungen 
vorausgesetzt  werden*);    vor   allem    aber  ist    es    der  Fall  mit 


*)  Die  geometrischen  Constructionen  nehmen  insofern  eine  eigen- 
thümliche  Stelle  ein,  als  in  ihnen  nach  einer  Seite  hin  der  Unterschied 
zwischen  einzelnem  Bild  und  Begriff  sich  aufhebt.  Sofern  sie  nemlich 
als  innere,  bloss  von  unserer  construierenden  Thätigkeit  abhängige 
Gebilde  betrachtet  werden ,  die  zwar  im  Augenblick  als  einzelne  an- 
geschaut, aber  beliebig  in  derselben  Weise  so  wiederholt  werden  kön- 
nen, dass  ihre  Identität  lediglich  an  der  Identität  des  Vorgestellten 
haftet ,  kommt  ihnen  die  Allgemeinheit  der  Vorstellung  und  des  Be- 
griffs zu :  das  Einzelne  als  solches  ist  ein  Allgemeines.  Sofern  aber 
vorausgesetzt  wird,  dass  die  Elemente  derselben  allen  in  gleicher  Weise 
gegeben  sind,  und  dass  sie  durch  äussere  Anschauung  jedem  aufge- 
drungen werden  können,  sind  sie  wegen  der  Selbigkeit  für  Alle  dem 
angeschauten  Seienden  verwandt,  und  man  kann  in  gewissem  Sinne 
von  einem  objectiven  Sein  derselben  reden.     (Jm  nicht  zu  wiederholen, 


390  n,  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  339 

dem,  was  wir  als  existierend  betrachten.  Alles, 
was  wir  als  seiend  setzen ,  ist  ebendamit  ein  einzelnes 
Ding  oder  eine  Bestimmung  an  einem  Einzelnen.  Es  liegt 
ferner  im  Begriffe  des  Seins,  dass  das  Seiende  ein  von  der 
individuellen  Vorstellung  unabhängiges  und  für  alle  selbiges 
ist.  Hat  es  aber  seine  Existenz  nicht  durch  das  Denken, 
sondern  vor  demselben ,  so  ist  eine  verschiedene  Be- 
ziehung des  Seienden  zu  verschiedenen  Vorstel- 
lenden nicht  ausgeschlossen ;  es  kann  von  dem  einen  vor- 
gestellt, von  dem  andern  nicht  vorgestellt  werden,  von  dem 
einen  vollständig,  von  dem  andern  unvollständig;  da  der  Grund, 
es  zu  setzen,  nicht  in  dem  für  alle  gemeinschaftlichen  begriff- 
lichen Denken  liegt,  so  kann  er  in  Bewusstseinsdaten  liegen, 
die  für  die  Einzelnen  verschieden  sind.  Andererseits  kann 
über  das  Seiende  nur  dann  wahr  geurtheilt  werden ,  wenn 
alle  übereinstimmen,  da  es  ein  für  alle  Erkennenden  Selbiges 
ist.  Eben  darin  liegt  das  Bedürfniss,  sich  darüber  gewiss  zu 
werden,  worin  die  Nothwendigkeit  unserer  ür- 
theile über  Seiendes  beruht. 

Wo  etwas  als  seiend  gesetzt  oder  vorausgesetzt  wird, 
lässt  sich  im  Allgemeinen  unterscheiden  die  Vorstellung  des 
Einzelnen  als  Subject,  und  das  ürtheil  ,  dass  es  sei*);  mag 
nun  das  letztere  bloss  wie  gewöhnlich  mitverstanden,  oder  in 
einem  Existentialurtheil  ausdrücklich  ausgesprochen  sein. 

§  46. 

Unter  den  unmittelbaren  Urtheilen  über  Seiendes  stehen 

in  erster  Linie  diejenigen,  welche  das  unmittelbareBe- 

wusstsein  unseres  eigenen  Thuns,    wie  es  in  jedem 

Momente  unseres  wachen  Lebens  vorhanden  ist,  aussagen.    Ihre 


behalten  wir  uns  die    genauere  Untersuchung    der  darauf  bezüglichen 
ürtheile  für  den  dritten  Theil  vor. 

*)  Das  »Seiende«  überhaupt  kann  nicht  als  wahrer  Gattungsbegriff 
zu  dem  einzelnen  Seienden  betrachtet  werden  ;  es  ist  begrifflich  be- 
trachtet nur  ein  gemeinschaftlicher  Name,  Denn  da  »Sein«  für  uns  ein 
Relationsprädicat  ist,  kann  es  kein  gemeinschaftliches  Merkmal  sein; 
es  müsste  denn  gezeigt  werden,  dass  dieses  Prädicat  in  einer  dem  Be- 
griffe alles  Seienden  gemeinsamen  Bestimmung  wurzle. 


340  §  46.     Die  Wahrheit  der  Aussagen  über  uns  selbst.         391 

Gewissheit  ist  eine  nicht  weiter  zu  analysierende.  Sie  schliessen 
nicht  nur  die  Gewissheit  des  Urtheils  »Ich  bin«, 
sondern  auch  die  Gewissheit  der  Realität  der  Einheit 
von  Substanz  und  Action  ein. 

Sofern  ihnen  die  Zeit  anhaftet,  setzen  sie  eine  all- 
gemeine Nothwendigkeit  unsere  einzelnen  Ac- 
tionen  als  in  eine  r  Zeitreihe  verlaufend  vorzu- 
stellen, und  allgemeingültige  Regeln,  jedem  Mo- 
ment seinen  Ort  in  dieser  Zeitreihe  anzuweisen, 
voraus. 

1.  Die  ürtheile:  Ich  empfinde  Schmerz;  ich  sehe  Licht; 
ich  will  das  und  das  —  sind  so  absolut  gewiss,  und  ihre 
Gültigkeit  so  selbstverständlich,  dass  es  scheint  als  böten  sie 
einer  logischen  Untersuchung  nach  ihrer  Berechtigung  und 
dem  Grunde  ihrer  Nothwendigkeit  gar  keine  Handhabe.  In 
der  That  vermag ,  die  Klarheit  des  ßewusstseins  und  die 
Deutlichkeit  und  vollkommene  Entwicklung  der  Prädicats- 
begriffe  vorausgesetzt ,  kein  Mensch  an  ihrer  unmittelbaren 
Wahrheit  zu  zweifeln,  und  Niemand  schreibt  sich  das  Recht 
zu ,  die  Aussagen  eines  andern ,  die  Wahrhaftigkeit  seiner 
Rede  vorausgesetzt,  zu  verdächtigen,  ob  ihm  auch  zu  glauben 
sei,  was  er  über  sich  aussage.  So  scheint  zunächst  nur  ihr 
Unterschied  von  den  Begriffsurthei  len  festzu- 
stellen. 

2.  Dieser  ist  in  der  That  ein  durchgreifender.  Die  Be- 
griffsurtheile  haben  Subjecte,  welche  als  von  allen  in  gleicher 
Weise  gedacht  angenommen  werden;  das  Urtheil  »Ich  sehe« 
hat  ein  Subject,  das  in  der  Weise,  wie  ich  es  vorstelle,  von 
keinem  andern  vorgestellt  werden  kann;  in  dem  BegrifFsurtheil 
wird  der  Inhalt  des  Subjects  expliciert,  der  in  immer  gleicher 
Weise  in  ihm  gedacht  wird ;  was  der  Inhalt  dessen  sei ,  was 
ich  mit  »Ich«  bezeichne,  lässt  sich  gar  niemals  erschöpfend 
angeben,  es  ist  uns  auf  eine  mit  allen  andern  Objecten  unseres 
Denkens  völlig  unvergleichliche  Weise  gegeben.  Das  Begriffs- 
urtheil  sagt:  Wenn  ich  A  denke ,  denke  ich  es  noth wendig 
mit  der  Bestimmung  B ;  bei  dem  Urtheil  des  Selbstbewusstseins 


392  lJi  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  341 

gibt  es  kein  Wenn ,  das  Subject  wird  schlechtweg  gedacht, 
wenn  überhaupt  etwas  gedacht  wird,  und  dass  es  gedacht  wird, 
ist  die  schlechthin  factische  Voraussetzung  für  alles  andere 
Denken;  das  Begriffsurtheii  sagt  über  die  Existenz  seiner  Ob- 
jecte  nichts,  das  Urtheil  Ich  sehe  schliesst  aber  das  Urtheil 
Ich  bin  allezeit  ein;  bei  jedem  Begriff  kann  gefragt  werden, 
ob  das  existiert,  was  er  enthält;  ob  Ich  existiere,  kann  nicht 
gefragt  werden;  die  Merkmale  des  Begriffs  sind  unveränder- 
lich, die  Prädicate  des  Ich  sind,  mit  Ausnahme  des  Ich  selbst, 
von  Moment  zu  Moment  veränderlich;  und  jedem  Urtheil 
kommt  doch,  indem  es  vollzogen  wird,  eine  unmittelbar  ge- 
wisse Wahrheit  zu,  die  nur  anerkannt,  nicht  auf  ihre  Gründe 
geprüft  werden  kann.  Das  Princip  der  Uebereinstimmung 
garantiert  wohl,  dass  der  allgemeine  Begriff  des  Prädicats  mit 
dem  in  der  unmittelbaren  Anschauung  gegebenen  Thun  über- 
einstimme; allein  es  vermag  nicht  die  Behauptung  zu  garan- 
tieren ,  weder  dass  das  Subject  eben  diese  Action  vollzieht, 
noch  die  darin  eingeschlossene,  dass  es  existiert*). 

3.  Müssen  wir  die  Aussagen  jedes  Selbstbewusstseins  als 
etwas  anerkennen ,  über  dessen  Gewissheit  nicht  auf  etwas 
anderes,  von  dena  sie  abhienge,  zurückgegangen  werden  kann, 
so  handelt  es  sich  nur  darum,  zu  constatieren ,  wieviel  damit 
anerkannt  ist. 

Zunächst,  dass  es  in  Beziehung  auf  dieses  Subject  nicht 
möglich  ist ,  jene  Trennung  auszuführen  zwischen  dem  bloss 
Vorgestellten  und  dem  Sein  desselben  ;  und  dass  das  Urtheil 
»Ich  bin«  also  nicht  wie  alle  andern  Existentialurtheile  ein  Ich 
als  bloss  Vorgestelltes  zum  Subject  hat,  dem  das  Sein  zuge- 
sprochen würde,  sondern  dass  Subject  und  Prädicat  unauflöslich 
zusammengehören . 

Ferner  ,  dass  mit  der  unmittelbaren  Gewissheit  der  Aus- 

*)  Kant's  Lehre,  dass  die  Aussagen  des  inneren  Sinnes  wegen  der 
Subjectivität  der  Zeitform  sich  nur  auf  Erscheinungen  beziehen,  afficiert 
den  logischen  Charakter  der  Urtheile  nicht ,  sondern  nur  die  meta- 
physische Bedeutung  derselben,  und  den  Sinn  der  Realität,  welche  da- 
mit ausgesprochen  ist.  Ihre  unmittelbare  Gewissheit  als  Urtheile  ist 
unter  der  Kantischen  Voraussetzung  ebenso  unanfechtbar  als  unter 
irgend  einer  andern. 


342  §  46.     Die  Wahrheit  der  Aussagen  über  uns  selbst.  393 

sagen  des  Selbstbewusstseins  wenigstens  auf  diesem  Punkte 
die  Realität  der  Synthese  von  Substanz,  und  Action  gegeben 
ist;  und  sofern  die  Actionen  auf  Eigenschaften  zurückbezogen 
werden,  auch  die  Realität  der  Synthese  zwischen  Substanz 
und  Eigenschaft. 

Endlich,  dass  die  fundamentalste  Gewissheit  hinsichtlich 
,  eines  Seins  gerade  ein  Urtheil  betrifft,  das  in  derselben  Weise 
von  keinem  andern  wiederholt  werden  kann  und  auf  einen 
durchaus  individuellen  Act  zurückgeht;  denn  die  Vorstellung, 
die  ein  anderer  von.  mir  hat,  ist  verschieclen  von  der,  die 
ich  von  mir  habe;  sie  betrifft  dasselbe  Subject,  aber  nicht 
auf  dieselbe  Weise;  das  Setzen  eines  Seins  ist  also,  wo  es  am 
ursprünglichsten  geschieht,  ein  individueller  und  von  individu- 
ellen Bedingungen  abhängiger  Act.  Jedes  Urtheil  über  ein 
anderes  Ich  ist  noth wendig  ein  vermitteltes,  sowohl  die  An- 
erkennung seines  Seins,  als  der  Glaube  an  seine  Aussage. 

4.  Nun  kommt  aber  diese  unmittelbare  Gewissheit  immer 
bloss  dem  augenblicklichen  Selbstbewusstsein, 
dem  Urtheil  zu,  welches  das  eben  jetzt  gegenwärtige  ausspricht; 
und  das  Urtheil  ist  also  nur  für  einen  bestimmten 
Zeitpunkt  wahr.  Es  liegt  in  der  Art  und  Weise ,  wie 
wir  das  Bewusstsein  unserer  einzelnen  Zustände  haben,  schon 
die  Vorstellung  der  Zeit  mitgesetzt,  denn  wir  haben  das  Be- 
wusstsein des  einzelnen  Actes  nie  ohne  die  Erinnerung  an 
der  Zeit  nach  vorangehende,  und  in  dem  Bewusstsein  unserer 
selbst  ist  das  Bewusstsein  eines  in  der  Zeit  identischen  Selbst 
immer  mit  enthalten.  Sofern  es  sich  nun  bloss  darum  han- 
delt, dass  in  jedem  Augeriblick  auch  unser  Dasein  in  früherer 
Zeit,  und  damit  unsere  Existenz  überhaupt  als  eine  dauernde 
vorgestellt  wird,  so  ist  auch  darin  unmittelbare  Gewissheit 
gesetzt;  in  dem  Ich  bin  liegt  mit  ebenso  unanfechtbarer 
Sicherheit  auch  Ich  war  früher.  Allein  weiter  erstreckt  sich 
genau  genommen  die  Sicherheit  nicht.  Einerseits  ist ,  sowie 
es  sich  um  das  Einzelne  der  Erinnerung  handelt ,  wohl  die 
Aussage  gewiss ,  dass  ich  jetzt  glaube ,  das  und  das  früher 
gethan  zu  haben;  aber  dieser  Glaube  selbst  kann  nicht  auf 
dieselbe  Sicherheit  Anspruch  machen.  Indem  er  aus  der 
Realität   einer  jetzt    gegenwärtigen    Erinnerung    die    Realität 


394  II»  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  343 

eines  früheren  realen  Geschehens  ableitet ,  wäre  er  nur  be- 
rechtigt, wenn  ein  absolut  noth wendiges  Gesetz  bestünde, 
wonach ,  was  ich  jetzt  glaube  früher  gethan  zu  haben ,  ich 
auch  unter  allen  Umständen  überzeugt  bleiben  müsste,  früher 
wirklich  gethan  zu  haben,  d.  h. ,  wenn  es  keine  Erkenntniss 
einer  Täuschung  in  der  Erinnerung  gibt.  Nun  gilt  uns 
allerdings  ein  Theil  unserer  Erinnerungen,  zumal  an  das 
Nächstvergangene,  für  absolut  sicher;  aber  ebenso  sicher  ist, 
dass  ausnahmsweise  wenigstens  diese  Erinnerung  täuscht,  und 
dass  kein  sicheres  Kriterium  besteht,  ,die  unfehlbaren  Erin- 
nerungen von  den  fehlbaren  zu  scheiden ,  und  es  ist  zuletzt 
nur  der  bewusste,  nach  allen  Seiten  continuier- 
liche  und  übereinstimmende  Zusammenhang,  in 
welchen  wir  unsere  Erinnerungen  zu  setzen  vermögen ,  der 
uns  die  Garantie  ihrer  Wahrheit  und  Zuverlässigkeit  gibt. 
Das  Urtheil  also,  dass  ich  einen  bestimmten  Act  früher  wirk- 
lich vollzogen  habe,  weil  ich  glaube  mich  dessen  zu  erinnern, 
kann  nicht  als  ein  unmittelbar  sicheres  angesehen  wer- 
den: es  ist  ein  vermitteltes  Urtheil,  sofern  es  aus  einer  gegen- 
wärtigen Vorstellung  die  Realität  eines  ihr  entsprechenden 
früheren  Thuns  behauptet,  und  eine  unmittelbar  gewisse  und 
absolut  sichere  Regel  für  dieses  Urtheilen  gibt  es  nicht*). 


■')  Vergl.  die  treffliche  Schrift  von  W.  Windelband  »Ueber  die  Ge- 
wissheit der  Erkenntniss«,  die  in  so  vielen  Punkten  mit  den  hier  auf- 
gestellten Sätzen  übereinstimmt,  dass  ich  sie  mit  wenigen  Ausnahmen 
fast  Wort  für  Wort  unterschreiben  könnte.  Er  sagt  (S.  87  ff.)  über  die 
obige  Frage,  woher  die  Gewissheit  davon  komme,  dass  eine  Vorstellung 
eine  Erinnerung  sei,  dass  zuletzt  nur  ein  deutliches  Gefühl,  welches 
die  Vorstellung  begleitet,  uns  snge,  dass  sie  schon  einmal  vorgestellt 
sei;  das  Gefühl  aber  beruhe  zuletzt  darauf,  dass  sich  mit  dieser  Vor- 
stellung die  Nebenvorstellung  einer  Verbindung  und  Beziehung  derselben 
zum  Ich  associiert  habe,  und  diese  Nebenvorstellung  nun  mit  herauf- 
steige und  als  Gefühl  der  Erinnerung  ins  Bewusstsein  trete;  daraus 
erkläre  sich,  dass  wir  Vorstellungen  zum  zweitenmal  haben  können, 
ohne  sie  als  Erinnerungen  zu  wissen,  wenn  nemlich  ihre  Verbindung 
mit  dem  vorstellenden  Ich  nicht  zum  deutlichen  Bewusstsein  kam. 
Diese  Auseinandersetzung  trifft  soweit  zu,  dass  ein  eigenthümliches  Ge- 
fühl uns  in  der  Regel  das  schon  Bekannte  von  Unbekanntem  unter- 
scheidet;  allein  Gewissheit  vermag  dieses  Gefühl  erst  zu  geben,  wenn 
sich  aus  ihm  der    erkannte  Zusammenhang   der  einzelnen  Vorstellung 


344  §  46.     Die  Wahrheit  der  Aussagen  über  uns  selbst.  395 

Auf  diesem  Gebiete  liegen  allerdings  auch  die  psycho- 
logischen Schwierigkeiten,  der  Constanz  unserer  Begriffe  sicher 
und  damit  gewiss  zu  sein,  dass  das  logische  Ideal  erfüllt  ist; 
denn  sofern  sich  unser  Denken  in  zeitlich  geschiedenen  Acten 
vollzieht,  afficiert  die  Unsicherheit  der  Erinnerung  auch  das 
Bewusstsein,  dass  dasselbe,  was  ich  jetzt  denke ,  das  ist,  was 
ich  schon  früher  gedacht  habe.  Jenes  Ideal  ist  darum  nur 
annähernd  zu  erreichen,  und  bedarf  nicht  bloss  unablässiger 
Uebung,  sondern  auch  äusserer  Hülfsmittel,  unter  denen  die 
Schrift  obenansteht,  deren  Bedeutung  so  gross  ist,  dass 
man  sagen  kann,  erst  mit  der  Schrift  sei  Wissenschaft  möglich. 

5.  Nach  der  andern  Seite  handelt  es  sich  darum,  dass 
durch  jedes  Urtheil  über  ein  gegenwärtiges  Thun,  insofern 
als  dieses  dadurch  in  eine  Zeitreihe  gestellt  wird,  ihm  zugleich 
seine  Gültigkeit  für  einen  einzelnen  Zeitpunkt  bestimmt  ist, 
und  dass  dieses  »Jetzt«  einen  integrierenden  Theil  des  Urtheils 
bildet;  schon  darum,  weil,  auf  einen  anderen  Zeitpunkt  be- 
zogen, die  Gültigkeit  dieses  Urtheils  von  andern  aufgehoben 
würde.  Soll  also  ein  Urtheil,  das  so  den  Zeitpunkt  seiner 
Gültigkeit  eiuschliesst ,  ein  objectiv  gültiges  sein ,  so 
setzt  dies  nicht  bloss  voraus,  dass  es  eine  allgemeineNoth- 
wendigkeit  gebe,  unsere  einzelnen  Bewusstseinsmomente 
übereinstimmend  als  in  einer  Zeitreihe  verlaufend  vorzustellen, 
dass  es  also  eine  für  alle  selbige  Zeit  gebe;  sondern, 
wenn  ein  solches  Urtheil  auf  Allgemeingültigkeit  Anspruch 
macht,  muss  es  auch  allgemeine  Regeln  geben,  aus  denen  die 

mit  anderem  und  damit  seine  Anknüpfung  an  den  gegenwärtigen  Mo- 
ment herstellen  lässt.     Ich  kann,  wenn  ich  eine  Person  sehe,   mit  der 
gröösten  Stärke  das  Gefühl  empfinden,  das  Bekanntes  von  Unbekanntem 
zn  unterscheiden  pflegt,  vollkommene  Gewissheit  habe  ich  erst,   wenn 
ich  mich  der  Umstände  erinnere,    unter    denen  ich  sie  früher  gesehen 
und  sie  so  in  den  mir  stets  gegenwärtigen  Kreis  dessen,  was  mein  Selbst 
bewusstsein    ausmacht ,    hereingezogen   habe.     Darin    besteht  jene  B  e 
Ziehung  auf  das   Ich,  auf  welche  Windelband  mit  Recht  Gewichl 
legt;  sie  ist  keine  Beziehung   auf  die   abstracte  Feinheit    des  Selbstl 
wusstseins,  sondern  auf  das  empirische  Ich,  und   nur  das  fortwährende 
Durchlaufen    und    übereinstimmende  Verknüpfen    einer  Reihe   von  Mo 
menten  meines  früheren  Lebens  macht  das  Wissen  im  Gebiete  der  Er 
innerung  aus. 


396  If»  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  345 

Nothweiidigkeit  hervorgeht,  der  Wahrheit  jedes  Urtheils  ihre 
bestimmte  Zeit  anzuweisen.  Damit  mein  Urtheil  gültig 
sei  und  allgemein  anerkannt  werde,  muss  also  der  Zeitpunkt, 
für  den  es  gültig  ist,  auf  eine  allgemeingültige 
Weise  bestimmt  werden  können. 

Es  genügt  also  nicht,  dass  die  Zeit  überhaupt,  wie 
Kant  lehrt,  eine  nothwendige  Vorstellung  ist;  son- 
dern es  wird  ebenso  die  Fixierung  eines  für  alle  glei- 
chen Zeitpunkts  in  einer  objectiven  Zeit  und  ein  ge- 
meinschaftliches Zeitmass  erfordert ,  nach  welchem  jeder 
einzelnen  Thatsachedes  Bewusstseins  ihre  Stelle  angewiesen  wird. 

Die  Frage,  wie  diese  Regeln  zu  finden  seien,  lässt  sich 
nicht  durch  Zurückgehen  auf  unmittelbar  Gewisses  erledigen, 
da  sie  auf  eine  Vergleichung  des  mir  unmittelbar  Gewissen 
mit  den  Zeitvorstellungen  anderer  zurückführt;  ihre  Unter- 
suchung ist  ein  Problem  für  unsern  dritten  Theil. 

§47. 

Die  unmittelbaren  ürtheile  über  Seiendes  ausser 
uns  sind  dieWahrnehmungsurtheile.  Sie  schliessen 
(in  dem  Sinne,  in  dem  sie  gewöhnlich  ausgesprochen  werden) 
die  Behauptung  der  Existenz  ihres  Subjects  ein. 
Da  die  Wahrnehmung  zunächst  subjectiv  gewiss  ist 
(nach  §  46),  als  Aussage,  dass  ich  eben  jetzt  die  Vorstellung 
eines  bestimmten  Seienden  habe :  so  ist  die  B  e  d  i  n  g  u  ng  der 
objectiven  Gültigkeit  eines  Wahrnehmungsur- 
theils,  dass  die  No thwendigkei t  dieses  Subjective 
überhaupt  auf  ein  existierendes  Ding  zu  beziehen, 
und  dass  ebenso  allgemeine  Gesetze  feststehen ,  wonach 
das  in  einer  Wahrnehmungsvorstellung  gesetzte 
noth wendig  als  reales  Prädicat  eines  Seienden 
gedeutet  wird;  also  insbesondere  Gesetze ,  nach  denen 
meine  räumlichen  Anschauungen  zu  räumlichen 
Bestimmungen  derObjecte,  meine  Beziehung  von  | 
Eigenschaften  und  Veränderungen  auf  ein  Ding 


346  §  47.     Die  Wahrheit  der   Wahrnehmiingsürtheüe.  397 

zu  realen  Eigenschaften  und  Thätigkeiten  von 
Substanzen,  meine  Vorstellung  seiner  Relationen  zu 
realen  Relationen  umgedeutet  werden. 

1.  Ebenso  unmittelbar  gewiss  als  die  Aussagen  des  un- 
mittelbaren Selbstbewusstseins  erscheinen  dem  natürlichen 
Denken  die  Wahrnehniungsurtheile,  durch  welche  wir 
Aussagen  über  ein  uns  unmittelbar  Gegenwärtiges  ausser  uns 
machen. 

Diese  Wahrnehmungsurtheile  schliessen  zunächst  das  Be- 
wusstsein  ein,  dass  ich  eben  jetzt  eine  mir  gegenwärtige  Vor- 
stellung eines  Einzelnen  habe,  welche  die  eigenthümlichen 
nicht  weiter  zu  beschreibenden  Charaktere  hat,  wodurch  sich 
die  Wahrnehmung  von  der  Erinnerung  und  der  bloss  inneren 
Vorstellung  überhaupt  unterscheidet.  Das  Vorhandensein  fester 
Begriffe  und  ihrer  Bezeichnungen  erlaubt  jetzt,  den  Inhalt  des 
so  Gegebenen  auf  allgemeingültige  Weise  auszudrücken,  theils 
indem  er  als  Ganzes  (den  Benennungsurtheilen  entsprechend) 
unter  einen  Gattungsbegriff  subsumiert*)  wird,  theils  indem 
seine  einzelnen  Elemente  analysiert  und  die  ihnen  entsprechenden 
Prädicate  ausgesagt  werden.  Sofern  die  letzteren  einfach 
sind,  bleibt  auch  jetzt  das  Urtheil  ein  vollständig  unmittel- 
bares; ein  Element  der  Wahrnehmungs Vorstellung  wird  als 
übereinstimmend  mit  einem  begrifflich  fixierten  Merkmal  er- 
kannt (was  ich  sehe  ist  roth**)  u.  s.  w.).  Sofern  es  sich  aber 
um  Subsumtion  unter  zusammengesetzte  Begriffe 
handelt,  tritt  jetzt  an  die  Stelle  der  unmittelbaren  Benennung, 
die  Ganzes  mit  Ganzem  Eins  setzt,  die  Noth wendigkeit  der 
I  Vergleichung  der  einzelnen  Merkmale  der  Wahr- 
nehmungsvorstellung mit  den  Merkmalen  des  Be- 
griffs, und  damit  wird  die  Subsumtion  eine  vermittelte,  indem 
sie  aus  einer  Reihe  von  Einzelurtheilen  hervorgeht.  (S.  u.  über 
den  Subsumtionsschluss  g  56). 


*)  Ueber  den  Terminus  Subsumtion  vergl.  §  8,  6  Note. 

**)  Sofern  eine  Schwierigkeit  besteht,  die  begrifflichen  Grenzen 
fliessender  Unterschiede  in  der  blossen  inneren  Reproduction  der  Be- 
griffe festzuhjülen,  kann  iillerdings  schon  die  objective  Gültigkeit  eines 
solchen  ürtheils  von  weiteren  Processen  (Messung  u.  s.  f.)  abhängig  sein. 


398  n,  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  347 

2.  So  lange  nun  ein  Wahrnehniungsurtheil  nur  sagen 
wollte ,  dass  was  ich  jetzt  eben  sinnlich  vorstelle  roth ,  süss 
u.  s.  w.  sei,  so  würde  auch  hier  durch  das  Princip  der  Ueber- 
einstimmung  garantiert,  dass  das  Urtheil  nothwendig  ist,  und 
von  jedem,  der  dieselbe  Vorstellung  hätte,  auf  dieselbe  Weise 
vollzogen  werden  müsste. 

Aber  ein  solches  Urtheil  will  nicht  bloss  Vorstellungen 
vergleichen ;  sondern  es  bezieht  eine  Vorstellung  auf  einen 
einzelnen  als  existierend  gedachten  Gegenstand ,  und  es  sagt 
von  diesem  bestimmten  ein  Prädicat  aus  als  ihm  ob- 
jectiv  zukommend.  Soll  das  Urtheil  wahr  sein :  so  muss  nicht 
bloss  die  Uebereinstimmung  der  Einzelvorstellung  mit  der  all- 
gemeinen begründet  sein ,  sondern  es  muss  ebenso  be- 
gründet sein,  was  das  gewöhnliche  Urtheilen  als  selbst- 
verständlich voraussetzt,  dass  diese  Einzelvorstellung  sich  auf 
einen  bestimmten  seienden  Gegenstand  bezieht,  und  dass  dieser 
Gegenstand  die  Prädicate  hat,  welche  ich  ihm  beilege;  und 
dies  ist  nur  möglich,  wenn  ein  Gesetz  besteht,  wonach  mit 
unfehlbarer  und  allgemeingültiger  Nothwendigkeit  su  bjec- 
tive  und  individuelle  Affectionen  und  Vor- 
stellungen auf  objective  Gegenstände  bezogen 
werden.  Nun  beweist  zwar  die  factische  Allgemeinheit  der 
Ueberzeugung  ,  dass  unsern  Empfindungen  reale  Gegenstände 
entsprechen,  das  Vorhandensein  einer  psychologischen 
Nöthigung,  das  Empfundene  als  real  zu  setzen ;  ebenso 
beweist  aber  auch  die  Thatsache  vielfacher  sog.  Sinnen  täusch - 
ungen ,  und  ebenso  die  Difierenz  der  Aussagen  verschiedener 
Beobachter  desselben  Gegenstands,  dass  diese  allgemeine  Nöthi- 
gung  nicht  in  jedem  einzelnen  Falle  durchgängige  Ueber- 
einstimmung garantiert ,  dass  also  auch  hier  ein  Unter- 
schied des  factisch  nach  psychologischen  Gesetzen  Eintreten- 
den von  dem  allgemein  Gültigen  stattfinden  kann  und  vielfach 
stattfindet,  und  dass  von  einer  zureichenden  Begründung  solcher 
Ürtheile  erst  die  Rede  sein  kann,  wenn  die  subjectiven  Diffe- 
renzen eliminiert  werden  können  ;  dies  aber  ist  nur  möglich, 
wenn  wir  uns  allgemeiner  Gesetze,  nach  welchen 
wir  die  subjective  Empfindung  mitNothwen- 
digkeit    auf    objective  Realität  beziehen,   be-  ,j 


348  §  47.    Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurfcheile.  399 

wusst  zu  werden  und  jeden  Fall  daran  zu  messen  vermögen; 
erst  dann  lässt  sich  von  dem  ürtheil :  ich  bin  sicher  das  und 
das  gesehen  und  wahrgenommen  zu  haben ,  zu  dem  Urtheil 
fortgehen :  das  und  das  ist  da,  ist  geschehen. 

3.  Sobald  erkannt  ist,  dass  wir  es  in  den  Wahrneh- 
mungen zunächst  mit  subjectiven  Ereignissen  zu  thun  haben, 
dass  nur  die  Gegenwart  der  Vorstellung  das  unmittelbar 
Gegebene,  ihre  Beziehung  auf  ein  Ding  ausser  uns  aber  ein 
zweiter  Schritt  ist,  der  allerdings  meist  unbewusst  vollzogen 
wird,  bedarf  jedes  Urtheil  über  äussere  Existenz  zunächst  yier 
Begründung  durch  ein  Gesetz,  wonach  überhaupt  —  wenig- 
stens unter  gewissen  Bedingungen  —  die  Vorstellung  noth- 
wendig  aufeinen  äusseren  exis  tierenden  Gegen- 
stand  zu  beziehen  ist.  Der  Skepticismus  läugnet,  dass  eine 
solche  Nothwendigkeit  vorhanden ,  oder  wenigstens  dass  sie 
erkennbar  sei ;  der  subjective  Idealismus  behauptet  eine  solche 
Nothwendigkeit,  aber  er  gibt  ihr  nur  die  Bedeutung,  dass  das 
Wahrgenommene  nothwendig  als  realer  Gegenstand  ausser  uns 
vorgestellt  werde;  aber  dieses  Setzen  einer  äusseren  Existenz 
ist  ihm  selbst  ein  blosser  Act  des  Vorstellens,  und  wir  kom- 
men also  in  ein  zweites  Stadium  des  Vorstellens  durch  diese 
Nothwendigkeit,  aber  nicht  zu  einer  von  uns  unabhängigen 
Existenz  ;  die  W^irklichkeit,  welche  wir  behaupten,  ist  nur  eine 
Wirklichkeit  von  Erscheinungen,  nicht  von  Dingen,  welche 
von  uns  unabhängig  wären. 

Es  ist  hier  nicht  unsere  Aufgabe,  diese  Streitfragen  zu 
lösen ;  es  genügt  zu  constatieren ,  dass  die  unmittelbare  Ge- 
wissheit unserer  Wahrnehraungsurtheile  nicht  auf  einer  ab- 
soluten Nothwendigkeit  beruht,  ehe  ein  allgemeines  Gesetz 
gezeigt  ist,  nacli  welchem  das  Factum  der  Wahrnehmuno' 
die  Anerkennung  der  Existenz  eines  äusseren  Gegenstands 
nothwendig  macht. 

Für  die  logische  Betrachtungsweise  ist  es  übrigens  voll- 
kommen gleichgültig,  ob  dieses  Gesetz  in  dem  Sinne  aufge- 
zeigt werden  kann ,  dass  daraus  die  wirkliche  Existenz  der 
äusseren  Dinge  gewiss  wird  —  also  in  realistischem  Sinne, 
oder  in  dem  idoalisti schon,  dass  es  nur  die  Vorstellung  realer 
Gegenstände  auf  Grund  der  Wahrnehnmng  nothwendig  macht  j 


400  II.  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Ürtheile.  349 

der  logische  Charakter  der  so  entstandenen  Ürtheile,  ihre  Noth- 
wendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  wäre  dieselbe,  nur  der 
Sinn  des  Prädicats  Sein  (im  empirischen  Sinne)  würde  modi- 
ficiert.  Nur  die  skeptische  Behauptung  der  Unmöglichkeit, 
zu  nothwendigen  ürtheilen  zu  gelangen,  würde  sie  von  der 
logischen  Betrachtung  ausschliessen. 

Ein  solches  allgemeines  Gesetz  kann  nun  in  keinem  Falle 
so  lauten,  dass,  wenn  ich  etwas  wahrnehme,  nun  auch  etwas 
existiert,  was  der  nach  psychologischen  Gesetzen  daraus  ent- 
stehenden Einzelvorstellung  entspricht.  Im  Gegentheil  ist  immer 
wieder  von  den  verschiedensten  Seiten  sogar  die  Möglichkeit, 
aufgestellt  worden,  an  der  Existenz  der  gesammten  äusseren 
Welt  zu  zweifeln,  und  verfochten  worden,  dass  der  psycho- 
logischen Nöthigung,  eine  solche  anzunehmen ,  keine  logische 
Nothwendigkeit  entspreche,  durch  die  jener  Zweifel  entkräftet 
werden  könnte*);  wenn  es  also  doch  Mittel  und  Wege  gibt, 
zur  Ueberzeugung  äusserer  Realität  zu  gelangen ,  so  können 
sie  sich  nicht  an  die  einfache  Thatsache  der  Wahrnehmung, 
sondern  sie  müssten  sich  an  die  bestimmte  Beschaffenheit  der 
Wahrnehmungen  halten. 

4.  Gesetzt  nun  aber,  es  gebe  Grundsätze,  welche  die  Be- 
ziehung der  Wahrnehmungsbilder  auf  real  Seiendes  noth wendig 
machen ,  so  handelt  es  sich  weiter  um  die  Bedingungen 
ihrer  Anwendbarkeit;  die  Frage  ist ,  unter  welchen 
Voraussetzungen  das  individuelle  Factum  der  Wahrnehmung 
ein  objectiv  gültiges  ürtheil  trägt.  Die  individuellen  Diffe- 
renzen ,  welche  in  den  Wahrnehmungsurtheilen  heraustreten, 
zeigen  zur  Genüge,  dass  nicht  unter  allen  Umständen  ein 
Wahrnehmungsurtheil  objectiv  gültig  werden  kann,  denn  sie 
führen  auf  Widersprechendes. 

Die  individuellen  Differenzen  können  nun  im  Allgemeinen 
einen  doppelten  Grund  haben.  Entweder  liegt  die  Diffe- 
renz schon  im  erstenAnfang  desProcesses,  in  den 
factischen  Voraussetzungen,  von  denen  die  Bildung 
der  Subjectsvorstellung   und   das  Urtheil  darüber  ausgeht,    in 


*)  Vergl.  die  Ausführung  dieses  Satzes  in  den  ersten  Capiteln  von 
jpaumann's  Philosophie  als  Orientierung  über  die  Welt. 


350  §  47.     Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurtheile.  401 

der  Affection  unserer  Sinnesorgane  oder  genauer  in  der  Art, 
wie  wir  derselben  in  der  Empfindung  bewusst  werden;  oder 
sie  liegt  erst  in  den  weiteren  Processen,  die  wir  im 
gewöhnlichen  Denken  unbewusst  vollziehen,  die  aber  doch 
stattfinden  und  sich,  hauptsächlich  durch  die  sog.  Sinnes- 
täuschungen ,  als  ein  Analog on  von  Schlüssen  nach- 
weisen lassen. 

5.  In  erster  Hinsicht  liegt  die  Voraussetzung  der 
Sicherheit,  mit  der  wir  unsere  Empfindungen  der  Farbe,  der 
Temperatur  u.  s.  f.  den  Gegenständen  als  ihre  Eigenschaften 
beilegen,  in  der  Ueberzeugung,  dass  ein  constanterZusam- 
menhang  zwisch  en  dem  vor  ausgese  tzten  Obj  ect 
und  ans  in  dem  Sinne  vorhanden  sei ,  dass  dieselbe  Eigen- 
schaft des  Objects  unabänderlich  zu  jeder  Zeit  in  jedem  Sub- 
jecte  derselben  Empfindung  entspreche.  Wenn  noch  Bacon 
fest  glaubte ,  dass  die  Keller  im  Sommer  kälter  seien  als  im 
Winter,  so  setzte  er  seine  Temperaturempfindung  als  con- 
stanten  und  untrüglichen  Massstab  für  die  Beschafi'enheit  des 
Objects  ;  was  kalt  empfunden  wird,  ist  kalt,  und  ebenso  kalt 
als  es  erscheint.  Der  Widerspruch,  auf  den  diese  Voraus- 
setzung führt,  dass  sie  zwingt  dasselbe  zu  bejahen  und  zu 
verneinen,  hat  schon  frühe  dieses  sinnliche  ürtheilen  in  Miss- 
credit  gebracht;  seit  den  ersten  Anfängen  der  griechischen 
Philosophie  war  die  Sinneswahrnehmung  zum  Theil  wenigstens 
wegen  ihrer  subjectiven  Veränderlichkeit  und  individuellen  Diffe- 
renz vom  Gebiete  des  eigentlichen  Wissens  ausgeschlossen,  bis 
man  seit  Bacon  sich  wieder  darauf  besann ,  dass  schliess- 
lich der  grösste  Theil  unseres  Wissens  doch  auf  dieser  Basis 
stehe  und  es  nur  auf  die  Kunst  ankomme,  das  Instrument 
richtig  zu  gebrauchen.  Aber  die  Vernachlässigung  der  Be- 
dingungen der  Gültigkeit  dieser  Urtheile  geht  durch  die  pla- 
tonisch -  aristotelische  Logik  bis  auf  den  heutigen  Tag  hin- 
durch; im  Begriff  glaubte  man  mehr  als  genügenden  Ersatz 
für  die  unzuverlässige  Wahrnehmung  zu  haben  ,  bis  K  a  n  t 
vollends  zum  Bewusstsein  brachte,  dass  man  mit  dem  blossen 
Begriffs  wissen  sich  ewig  auf  dem  Absätze  dreht,  ohne  je  das 
Object  zu  erreichen.  Jede  Logik  ist  aber  unvollständig,  wenn 
sie  nach  den  Bedingungen  der  Gültigkeit  dieser  Urtheile  nicht 

Sigwart,  Logik,     I,     2.  Auflage,  26 


402  I^  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Ürtheile.  351 

fragt;  denn  sie  geben  auch  der  BegrifiPsbildung  ihr  Interesse 
und  ihre  Richtung. 

G.  Ein  Wahrnehmungsurtheil  kann  also  nur  insofern 
Anspruch  auf  Allgemeingültigkeit  machen ,  als  die  Sinnes- 
affection ,  auf  der  es  ruht ,  Ausdruck  eines  constanten  Ver- 
hältnisses zwischen  dem  vorausgesetzten  Object  und  Subject, 
die  Empfindung  das  untrügliche  Zeichen  einer  objectiven  Qua- 
lität ist,  und  nur  insoweit  als  eine  Gewissheit  über  dieses 
constante  Verhältniss,  also  über  die  absolut  gleicheOr- 
ganisation  und  E  mpf  in  du  ngsthätigkei  t  aller  zu 
erreichen  oder  die  Differenzen  sicher  zu  corrigieren  sind.  Der 
dritte  Theil  wird  zu  untersuchen  haben,  auf  welchen  Wegen 
wir  dazu  gelangen,  eine  Basis  herzustellen,  die  wenigstens 
praktisch  dieser  Forderung  einer  absoluten  Gleichheit  oder 
Reducierbarkeit  der  Affectionen,  in  Folge  der  jeder  den  an- 
dern ohne  Differenz  vertreten  kann,  entspricht. 

7.  Mit  den  Wahrnehmungen  des  Gesichts  und  Tast- 
sinnes ist  die  Vorstellung  der  Räumlichkeit  des  Wahrge- 
nommenen unauflöslich  verknüpft;  wir  stellen  das  Wahrge- 
nommene als  ein  räumlich  Ausgedehntes  von  bestimmter  Form 
und  Grösse  vor ,  und  weisen  ihm  seinen  Ort  im  Raum  an. 
Wir  haben  darin  wieder  zunächst  unsereVorstellung, 
und  der  Ort,  den  wir  den  Dingen  anweisen,  ist  zunächst  auf 
unsern  eigenen  Körper  als  Ausgangspunkt  der  Ortsbestimmung 
bezogen.  Man  kann  darüber  streiten ,  wieviel  von  unsern 
räumlichen  Vorstellungen  schlechthin  ursprünglich ,  mit  der 
Empfindung  selbst  in  Einem  untrennbaren  Acte  gegeben  sei ; 
dass  ein  Theil  unserer  räumlichen  Vorstellungen,  wie  die  Vor- 
stellung der  körperlichen  Form  der  Objecte,  ihrer  Entfernung 
von  uns  und  von  einander  nicht  einfach  gegeben,  sondern  Re- 
sultat von  Combinationen  ist,  welche  wir  allerdings  meist  un- 
bewusst  vollziehen,  lässt  sich  evident  beweisen. 

Nun  ist  zunächst  soviel  klar,  dass  um  ein  objectiv  gültiges 
Urtheil  nicht  über  meine  Vorstellung,  sondern  über  ein  räum- 
lich Seiendes  und  Existierendes  von  bestimmter  Ausdehnung 
und  Form  abzugeben  ,  die  Gewissheit  da  sein  muss,  dass  die 
Vorstellung  des  Raumes  überhaupt  eine  für  alle  gleiche,  und 
dass  es  nothwendig  ist,  die  Empfindungen  in  einer  bestimmten 


352  §  47.     Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurtheile.  40B 

Art  räumlich  zu  deuten ;  denn  nur  dann  geht  aus  meiner  Em- 
pfindimg das  Urtheil  über  objective  Räumlichkeit  mit  objectiver 
Nothwendigkeit  hervor,  und  kann  der  räumliche  Gegenstand  für 
alle  derselbe  sein.  Die  Voraussetzung  also,  dass  die  Vorstel- 
lung des  Raumes  in  allen  dieselbe,  und  dass  sie  nicht  eine  will- 
kürliche oder  sonst  variable,  sondern  schlechthin  bestimmte  ist, 
dass  alle  in  der  Vorstellung  des  Raumes  nach  derselben  Weise 
verfahren  müssen,  ist  eine  Bedingung  objectiv  gültiger  Wahr- 
nehmungsurtheile ;  und  ihre  Gewissheit  ist  nur  insoweit  mög- 
lich ,  als  die  Gesetze  dieser  Raumvorstellung  erkannt  sind. 
Es  handelt  sich  dabei  nicht  bloss  um  die  Möglichkeit  der 
reinen  Geometrie  als  Wissenschaft ;  in  der  geometrischen 
Vorstellung  des  Raumes  hat  jeder  seinen  eigenen  Raum, 
und  die  verschiedenen  Räume  sind  nur  congruent  oder  we- 
nigstens ähnlich;  es  ist  gleichgültig,  wo  in  diesem  Räume 
von  jedem  seine  Linien  gezogen  und  seine  Figuren  construiert 
werden.  Die  geometrischen  Figuren  haben  keinen  Ort  im 
Raum.  Anders  wenn  es  sich  darum  handelt ,  etwas  als  i  n 
dem  für  alle  selbigen  objectiven  Räume  existie- 
rend zu  setzen ;  mit  jedem  Urtheil  dies  ist  hier,  dies  ist  dort 
behaupte  ich  etwas ,  was  für  alle  gültig  sein ,  den  Ort  eines 
Objects  so  bestimmen  soll,  dass  es  von  allen  als  an  demselben 
Orte  des  Raumes  befindlich  anerkannt  werde,  und  dass  alle 
räumlichen  Relationen  desselben  für  alle  übereinstimmen.  Die 
Thatsache,  dass  in  unserer  nächsten  Umgebung  unsere  kunst- 
los erworbene  Praxis  in  den  meisten  Fällen  geübt  genug  ist, 
um  ohne  merklichen  Fehler  durchzukommen,  und  auch  die 
räumlichen  Vorstellungen  anderer,  die  sie  aus  ihrem  Orte 
haben  müssen,  zu  construieren ,  erspart  der  strengen  Theorie 
durchaus  nicht,  die  Bedingungen  und  Normalgesetze 
einer  objectiv  gültigen  Form-  und  Ortsbestim- 
mung des  Einzelnen  zu  suchen.  Die  Astronomie  ist  der 
beste  Beweis  dafür,  von  wie  vielen  Voraussetzungen  Urtheile 
über  die  Lage  der  Himmelskörper  abhängig  sind,  welche  auf 
objective  Gültigkeit  Anspruch  machen,  und  wie  diese  Urtheile 
nur  dann  gültig  sind,  wenn  jene  Voraussetzungen  als  durch- 
aus gewisse  und  nothwendige  erkannt  sind.  Sie  hegreifen  in 
sich    aber    nicht   bloss    die    allgemeinen    Sätze    der  Geomutne, 

26* 


404  I^»    2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  353 

sondern  daneben  auch  Sätze  über  die  Beziehung  der  Sinnes- 
empfindung auf  einen  bestimmten  Ort,  welche  ihrerseits  auf 
optischen  Gesetzen,  der  geradlinigen  Bewegung  der  Lichtstrahlen 
in  gleichartigen,  ihrer  Ablenkung  in  ungleichartigen  Medien 
u.  dgl.  beruhen.  Wie  wir  zur  Erkenntniss  dieser  Voraussetz- 
ungen gelangen,  ist  hier  nicht  auszumachen;  nur  soviel  ist 
klar,  dass  sie  zuletzt  auf  unmittelbar  Gewisses,  dessen  Noth- 
wendigkeit  eine  ursprüngliche  ist,  zurückgehen  müssen,  wenn 
das  einzelne  Urtheil  objectiv  gültig  sein  soll. 

8.  Dasselbe  ist  es  mit  der  Bewegung.  Die  unmittel- 
bar wahrgenommene  Bewegung  setzt  einmal,  um  zu  einem 
gültigen  ürtheile  zu  führen,  eine  nach  nothwendigen  Gesetzen 
vollzogene  Ortsbestimmung  voraus;  ausserdem  aber,  da  alle  Be- 
wegung, sofern  sie  wahrgenommen  werden  kann,  nur  relativ,  d.  h. 
die  gegenseitige  Lageveränderung  sichtbarer  Objecte  ist, 
unsere  ürtheile  aber  objectiv  sagen  wollen,  dass  A  sich  gegen 
B  bewegt,  bedarf  es  allgemeiner  Gesetze,  um  die  relative 
Lageveränderung  auf  die  wirkliche  Bewegung ,  die  Verände- 
rung des  Ortes  im  Räume  zu  deuten,  und  auszumachen,  was  als 
ruhend,  was  als  bewegt  betrachtet  werden  muss.  Auch  hier  liefert 
die  Geschichte  der  Astronomie  den  Beweis,  dass  objectiv  gültige 
ürtheile  über  Bewegung  nur  unter  Voraussetzung  allgemeiner 
Grundsätze  zu  gewinnen  sind,  nach  denen  die  subjective  Wahr- 
nehmung der  Bewegung  auf  wirkliche  Bewegung  bezogen,  die 
subjective  Erscheinung  auf  ein  objectives  Geschehen  gedeutet 
wird;  und  die  Schwierigkeiten,  die  Begriffe  der  relativen  und 
absoluten  Bewegung  zu  scheiden,  beweisen  zur  Genüge,  welche 
Arbeit  die  Auffindung  der  letzten  Grundsätze  kostet. 

9.  Wichtiger  noch  ist  die  Beziehung  d  e  r  E  m  p  f  i  n- 
dungen  auf  bestimmte  Dinge  selbst.  Die  allgemeine 
Form  zwar,  das  gegebene  Material  der  Empfindungen  auf 
beharrliche  Dinge  zu  beziehen,  ist  mit  der  unaustilgbaren 
Natur  unseres  Denkens  gegeben,  und  wir  können  uns  diesem 
psychologischen  Zwange  nicht  entschlagen ,  auch  wenn  wir 
wollten;  aber  ebendarum,  weil  der  Gedanke  eines  Dings  nicht 
mit  der  Affection  selbst  schon  da  ist,  lässt  sich  auch  eine 
Verschiedenheit  des  Processes  denken.  Zwar  wo  es  sich  um 
ruhende,    dauernde    Erscheinungen    handelt ,    tritt 


-/ 


354  §  47.     Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurtheile.  405 

diese  Differenz  kaum  zu  Tage;  das  für  unsere  Auffassung 
unveränderliche,  am  selben  Orte  des  Raums  verbleibende,  fest 
abgegrenzte  wird  ohne  Weiteres  als  dasselbe  Ding  überein- 
stimmend aufgefasst;  die  Voraussetzung,  dass  an  demselben 
Punkte  des  Raumes  nicht  zwei  Dinge  sein  können,  ist  ebenso 
factisch  allgemein,  so  dass  sie  überall  zu  Grunde  liegt ;  auch  die 
blosse  räumliche  Bewegung  vermag  diese  Beziehung  noch  nicht 
unsicher  zu  machen,  wenn  sie  continuierlich  beobachtet  wird. 
Sobald  aber  Verän  derung  der  Form,  der  Grosse, 
der  sinnli  eben  Qu  alitäten  eintritt,  erscheinen  die  Pro- 
bleme, in  welcher  Weise  die  successiven  Stadien  der  Verän- 
derung auf  die  vorausgesetzte  Substanz  bezogen  werden  sollen, 
und  die  Noth  wendigkeit  übereinstimmender  Grund- 
satz e,  nach  denen  sich  das  Urtheilen  des  Einzelnen  richten 
muss ,  wenn  es  nicht  bloss  seine  Auffassung  aussprechen 
sondern  objectiv  gültig  sein  will.  Wenn  eine  Quecksilbersäule 
sich  ausdehnt  oder  zusammenzieht,  so  beschreiben  wir  die 
Reihenfolge  unserer  Wahrnehmungen  in  dem  Satze:  dies  wird 
kleiner,  dies  wird  grösser;  mit  denselben  Worten  beschreiben 
wir  das  Wachsthum  des  Krystalls  in  seiner  Mutterlauge  oder 
die  Verminderung  eines  Stückes  Eis  an  der  Luft;  unsere  Sätze 
scheinen  zu  sagen,  dass  in  beiden  Fällen  ein  bestimmtes  Ding, 
und  zwar  dasselbe  Ding  sein  Volumen  verändert.  Für  den 
Physiker  sind  die  beiden  Sätze  verschieden;  im  ersten  Fall 
ist  es  in  der  That  für  ihn  dasselbe  Subject,  das  jetzt 
grösseren,  jetzt  geringeren  Raum  einnimmt;  im  zweiten  Fall 
ist  der  vergrösserte  Krystall ,  das  halbverdunstete  Eis  nicht 
mehr  dasselbe  Ding  wie  vorher,  sondern  zu  dem  ursprüng- 
lichen ist  Neues  hinzugetreten,  oder  vom  ursprünglichen  Ding 
ein  Theil  hinweggekommen.  Für  die  kindliche  Auffassung 
verschwindet  das  Wasser,  wenn  es  verdunstet,  das  Holz, 
wenn  es  verbrennt;  für  die  physicalische  bleibt  dasselbe 
Ding,  nur  in  anderer  Form;  derselbe  Satz:  dieses  Wasser  ver- 
dunstet, hat  für  die  eine  Auffassung  einen  ganz  anderen  Sinn 
als  für  die  andere.  Kant  hat  den  Grundsatz  von  der 
Beharrlichkeit  der  Substanz  unter  die  apriorischen 
Grundsätze  unseres  Verstandes  aufgenoiunien.  Er  ist  es  nicht 
in  dem  Sinne,  dass  durch  eine  natu  r  li  che  N  oth  wendig- 


406  li»  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  355 

keit  unserer  Verstandesthätigkeit  alle  Beziehung  von  Empfin- 
dungen auf  Gegenstände  sich  durch  diesen  Grundsatz  leiten 
Hesse,  sonst  hätten  in  keiner  Sprache  die  Wörter  sich  bilden 
und  auf  Dinge  angewendet  werden  können ,  die  Entstehen, 
Vergehen,  Wachsen,  Abnehmen  u.  s.  f.  bedeuten.  Als  Be- 
dingung einer  über  einstimmenden  Erfahrung  nur 
ist  ein  Grundsatz  nothwendig,  der  bestimmt,  nach  welcher 
Regel  /um  Accidens  die  Substanz  hinzugedacht  werden  soll: 
der  Grundsatz  aber  in  der  Form,  wie  Kant  ihn  meint,  ist  erst 
möglich,  wenn  festgestellt  ist,  dass  das  Gewicht  das  Mass  des 
Quantums  der  Substanz  sein  soll,  er  ist  ein  spätes  Resultat 
der  Wissenschaft.  Das  Wahre  an  Kant's  Lehre  ist  nur,  dass 
es  kein  übereinstimmendes  und  nothwendiges  Urtheilen  über 
Einzelnes  gibt,  wenn  nicht  ein  solcher  Grundsatz  vorhanden 
ist;  nur  in  diesem  Sinne  zunächst  ist  er  nothwendig,  —  noth- 
wendig, wenn  es  Erfahrungswissenschaft  geben  soll.  Ob  er 
nothwendig  angenommen  werden  muss,  weil  er  a  priori  im 
gewöhnlichen  Sinne,  von  aller  Erfahrung  unabhängig ,  durch 
sich  selbst  einleuchtend  ist,  oder  weil  die  gegebene  Erfahrung 
nur  vermittelst  dieses  Grundsatzes  in  durchgängige  Ueberein- 
stimmung  gebracht  werden  kann,  ist  eine  andere  Frage. 

10.  Nur  ein  specieller  Fall  der  Schwierigkeit,  den  Be- 
griff des  Dings  als  des  in  der  Zeit  mit  sich  identischen  im 
Einzelnen  anzuwenden,  ist  die  Schwierigkeit,  die  reale  Iden- 
tität desselben  Dings  auf  Grund  zeitlich  auseinanderliegender 
Wahrnehmungen  zu  constatieren ;  auch  hier  bedarf  es  be- 
stimmter Regeln,  auf  denen  diese  Behauptung  ruhen  muss. 

11.  Die  bisherige  Analyse  schon  hat  gezeigt,  von  wie 
ganz  anderen  und  complicierteren  Bedingungen  die  Gültigkeit 
jedes  Urtheils  über  das  einzelne  Seiende  abhängt,  als  die  Gültig- 
keit der  bloss  analytischen  ürtheile,  die  auf  übereinstimmender 
Begriffsbildung  ruhen;  sie  hat  ferner  gezeigt,  dass  die  Forde- 
rung vollkommen  gültiger  Urth  eile  die  natürliche 
Unmittelbarkeit  der  erzählenden  ürtheile  auf- 
löst, und  sie  zwingt ,  vermittelte  zu  werden ,  um  wahr 
und  ihrer  Wahrheit  gewiss  zu  sein. 

Vom  Standpunkte  der  Bedingungen  der 
Wissenschaft  also,  im  unterschiede  von  dem  der  psycho- 


356  §  47.     Die  Wahrheit  der  Wahrnehmungsurtheile.  407 

logischen  Genesis  der  ürtheile,  hat  Kant  doch  wieder  ein  Recht 
gehabt,  bloss  die  Begriffsurth  eile  al  s  analytische, 
alle  übrigen  als  synthetische  zu  betrachten,  und 
nach  den  Principien  ihrer  Synthesis  a  priori  als  Bedingungen 
ihrer  objectiven  Gültigkeit  zu  fragen. 

12,  Noch  deutlicher  als  bei  dem  Zurückgehen  von  der 
Erscheinung  auf  die  Substanz  zeigt  sich  die  Nothwendigkeit 
leitender  Grundsätze  bei  den  Urtheilen  der  Causalität. 

Unserem  gewöhnlichen  Urtheilen  ist  die  Anwendung  der 
Vorstellung  des  Wirkens  so  geläufig ,  und  sie  ist  in  den 
einfacheren  und  alltäglichen  Fällen  so  reflexionslos  von  uns 
angeeignet,  dass  die  Ürtheile,  welche  sagen,  dass  ein  Schlag 
eine  Fensterscheibe  zertrümmert  hat  und  dass  Trinken  den 
Durst  stillt,  als  unmittelbare  vollzogen  werden,  weil  in  den 
transitiven  Verben  wir  die  darin  liegende  Vorstellung  des 
Wirkens  unbewusst  uns  aneignen ;  die  gegebene  Relation  von 
Vorgängen  wird  ohne  Weiteres  mit  den  Verben  und  Adjec- 
tiven  ausgedrückt,  welche  den  Gedanken  einer  Wirkung  ein- 
schliessen,  und  wir  glauben  darum  diese  Wirkung  ebenso 
direct  aufzufassen,  wie  Veränderung  oder  Bewegung.  Allein 
wenn  wir  die  einzelnen  Verba,  welche  ein  Wirken  ausdrücken, 
auf  bestimmte  Begriffe  gebracht  denken:  so  enthalten  sie 
theils  Elemente,  welche  sinnlich  anschaulicher  Natur  sind, 
eine  Bewegung  des  einen  Dings ,  eine  darauf  folgende  Ver- 
änderung des  andern;  ausserdem  aber  ein  Element,  das  nicht 
anschaulich  ist,  nemlich  eben  die  Causal-Relation  selbst,  in  der 
liegt,  dass  das  zeitlich  folgende  wirklich  von  dem  andern  her- 
vorgebracht, nicht  aus  dem  Subject,  an  dem  es  geschieht,  selbst 
hervorgegangen,  sondern  von  der  Ursache  ihm  angethan  wor- 
den sei.  Die  Auffassung  des  wahrnehmbaren  Geschehens  ist 
nach  ihrer  objectiven  Gültigkeit  an  den  früheren  Voraussetz- 
ungen zu  messen;  die  Aussage,  dass  ein  Theil  desselben  Wirkung 
eines  andern  sei,  bedarf  eines  weiteren  Grundsatzes,  wonach 
auf  objectiv  gültige  und  nothwendige  Weise  ein  wahrnehm- 
bares Geschehen  als  ein  Fall  eines  Causalverhältnisses  erkannt 
wird;  nur  dadurch  erhält  ein  Causalurtheil  über  Einzelnes 
objective  Gültigkeit.  Denn  noch  viel  deutlicher  als  beim  Sub- 
stanzbegriff  tritt  hier  heraus,  dass  wohl  in  der  menschlichen 


408  n,  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  357 

Natur  und  den  Eutwicklungsgesetzen  unseres  Denkens  uoth- 
wendig  gegeben  ist,  dass  die  Ereignisse  in  Causalzusammen- 
hang  gebracht  werden  und  das  Bedürfniss  das  eine  als  Folge 
des  anderen  anzusehen  sich  unabweisbar  einstellt;  aber  dass 
dadurch  weit  difierente  Anwendungen  dieses  allgemeinen  Princips, 
weit  difFerente  Beziehungen  des  Einzelnen  auf  Causalzusamraen- 
hänge  nicht  ausgeschlossen  sind.  Es  ist  das  natürliche 
Causalitätsbedürfniss  gewesen,  was  die  Menschen  trieb, 
die  Ursachen  der  Ereignisse  in  der  Macht  von  Dämonen  oder 
in  der  Stellung  der  Gestirne  zu  suchen;  aber  jeder  derartige 
Satz  hat  nur  dann  objective  Gültigkeit,  es  ist  überhaupt 
nur  dann  möglich,  im  Einzelnen  einen  Causalzu- 
sammenhang  zu  behaupten,  wenn  es  eine  feste  und 
noth  wen  dige  Re  gel  gibt,  nach  welcher  Ereignisse 
auf  Ursachen  bezogen  werden  und  ausgemacht  werden 
kann,  was  die  Ursache  eines  bestimmten  Ereignisses  ist.  Eine 
solche  Regel  war  es  wiederum,  welche  Kant  in  seinem  apri- 
orischen Grundsatz  suchte ;  eine  Bedingung  wissenschaftlicher  Er- 
fahrung und  objectiv  gültiger  Causalurtheile,  die  eine  bestimmte 
Art  der  Verknüpfung  des  subjectiv  gegebenen  Manigfaltigen, 
eine  bestimmte  Deutung  des  empirisch  zusammen  Gegebenen 
noth  wendig,  aus  einem  Wahrnehmungsurtheil  (nach  Kant's 
Unterscheidung)  ein  Erfahrungsurtheil  macht  *).  Wieder  glaubt 
er  in  dem  synthetischen  Grundsatz  a  priori,  dass  alles  was 
geschieht,  etwas  voraussetzt,  worauf  es  nach  einer  Regel  folgt, 
diese  letzte  Bedingung  objectiver  Urtheile  aufgezeigt  und  zu- 
gleich in  ihrer  Apriorität  den  Grund  ihrer  Nothwendigkeit 
dargethan  zu  haben ;  aber  wiederum  ist  die  Frage ,  ob  dieser 
Grundsatz  in  dieser  Form  als  ein  nothwendiger  und  apriorischer 

*)  Sein  bekanntes  Beispiel  (Proleg,  §  20)  ist  das  Urtheil:  »Wenn 
die  Sonne  den  Stein  bescheint,  wird  er  warm.«  Dieses  Urtheil  ist  ein 
blosses  Wahrnehmungsurtheil,  und  enthält  keine  Nothwendigkeit,  ich 
mag  dieses  noch  so  oft  und  andere  auch  noch  so  oft  wahrgenommen 
haben;  die  Wahrnehmungen  finden  sich  nur  gewöhnlich  so  verbunden. 
Sage  ich  aber  :  die  Sonne  erwärmt  den  Stein ,  so  kommt  über  die 
Wahrnehmung  noch  der  Verstandesbegriff  der  Ursache  hinzu ,  der  mit 
dem  Begriff  des  Sonnenscheins  den  der  Wärme  nothwendig  ver- 
knüpft, und  das  synthetische  Urtheil  wird  nothwendig  allgemeingültig, 
folglich  objectiv  und  aus  einer  Wahrnehmung  in  Erfahrung  verwandelt. 


358  §  48.    Axiome  und  Postulate.  409 

anzuerkennen  sei,  oder  ob  er  bloss  deswegen  nothwendig  an- 
zunehmen ist,  weil  nur  unter  seiner  Voraussetzung  die  gegebene 
Erfahrung  widerspruchslos  zu  gestalten  ist;  es  fragt  sich 
ausserdem  noch  weiter,  ob  er  in  dieser  Form  ausreichend  und 
überhaupt  geeignet  ist,  die  Basis  für  die  Objectivität  unserer 
Causalurtheile  abzugeben.  Soviel  aber  ist  sicher:  nur  in  dem 
Masse,  als  es  eine  feste  Regel  gibt,  Wahrnehmungen  auf 
Causalverhältnisse  zu  beziehen,  kann  auch  im  einzelnen  Falle 
behauptet  werden,  dass  eine  Erscheinung  B  die  Wirkung  einer 
andern  A  sei,  und  daraus  folgt,  dass  jedes  einzelne  Causalur- 
theil  nur  durch  Zurückführung  auf  den  allgemeinen  Grundsatz 
sich  begründen,  d.  h.  dass  es  ein  erschlossenes ,  synthetisches 
sein  muss.  Wenn  man  bedenkt,  wie  schwierig  oft  die  Ent- 
scheidung ist,  was  denn  die  Ursache  eines  bestimmten  Vor- 
gangs sei,  so  wird  mau  der  Behauptung,  dass  es  schlechter- 
dings kein  Causalurtheil  gebe ,  über  dessen  Nothwendigkeit 
man  unmittelbar  gewiss  sein  könne,    um  so   eher  zustimmen. 

§  48. 

Die  letzten  und  höchsten  allgemeinen  Regeln  neben  dem 
Princip  der  Uebereinstimmung,  von  denen  die  Begründung 
aller  andern  Sätze  abhängt,  sind  theils  Axiome  der  Be- 
griffsbildung,  theils  Postulate  hinsichtlich  des 
Seienden.  Die  Voraussetzungen,  welche  auf  Grund  dieser 
Postulate  gemacht  werden,  stehen  unter  dem  Gesetze  des 
Widerspruchs  als  ihrer  obersten  Norm. 

1.  Aus  diesen  Erörterungen  geht  jedenfalls  soviel  hervor, 
dass  die  rein  empiristische  Ansicht,  welche  die  einzelnen  That- 
sachen  der  Wahrnehmung  in  ihrer  Bedeutung  als  objective 
Aussagen  für  das  unmittelbar  Gewisse  und  das  Fundament 
aller  andern  Sätze  nimmt,  eine  Wissenschaft,  die  in  allgemein- 
gültigen Sätzen  bestünde,  nicht  zu  begründen  vermag.  Da 
die  Thatsachen  der  Wahrnehmung  individuell  sind,  so  ist, 
was  der  Einzelne  auf  sie  hin  behau])tet,  zunächst  imr  für  ihn 
gültig,  und  es  kann  über  diese  Gültigkeit  nicht  hinausge- 
gangen werden,  wenn  es  keine  Regel  gibt,  nach  der  aus  dem 


410  n,  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  359 

subjectiveu  Factum  ein  für  alle  gültiger  Satz  folgt;  die  noth- 
wendige  Consequenz  jeder  Ansicht,  welche  die  Wahrnehmungs- 
thatsachen  im  gewöhnlichen  Sinne  für  das  letzte  Gewisse  er- 
klärt, ist  entweder  die  skeptische  Hume's ,  welche  verbietet, 
über  die  subjectiven  Impressionen  überhaupt  zu  einer  Behaup- 
tung über  ein  Sein  hinauszugehen,  oder,  wenn  dieses  Hinaus- 
gehen und  die  Behauptung,  dass  etwas  sei,  gestattet  wird, 
so  folgt  der  Satz  des  Protagoras,  dass  für  jeden  das  sei,  was 
ihm  scheine ;  in  jedem  Falle  die  Unmöglichkeit  einer  für  alle 
gültigen  Wahrheit.  Wenn  einzelne  empiristische  Theorieen 
wie  die  Mills  doch  auf  diesem  Boden  eine  Wissenschaft  bauen 
wollen,  so  geschieht  es  auf  dem  Wege  der  Erschleichung  all- 
gemeingültiger Voraussetzungen,  theils  so,  dass  als  selbstver- 
ständlich angenommen  wird,  dass  die  Wahrnehmungsurtheile 
übereinstimmend  sind  und  ein  objectives  Sein  aussagen  und 
wirkliche  Erkenntniss  gewähren,  theils  so,  dass  die  Schlüsse 
aus  diesen  Wahrnehm  ungsurtheilen  als  etwas  Selbstverständ- 
liches hingestellt  werden,  während  sie  ohne  eine  allgemein- 
gültige Voraussetzung  keinerlei  Berechtigung  haben*). 

2.  Dem  gegenüber  glauben  wir  nachgewiesen  zu  haben, 
dass  ein  nothwendiges  und  allgemeingültiges  Urtheilen  über 
Seiendes  auf  Grund  der  Wahrnehmung  nur  unter  der  Be- 
dingung möglich  ist,  dass  die  Nothwendigkeit  der  einzelnen 
ürtheile  auf  allgemeinen  Grundsätzen  ruht.  Diese  müssten 
zuletzt  irt^endwie  unmittelbar  gewiss  sein,  und  können  ihre 
Gewissheit  nicht  aus  einer  Erfahrung  ableiten,  die  erst  durch 
sie  in  Form  wahrer  ürtheile  möglich  ist.  Es  entsteht  also 
die  Frage ,  ob  es  unmittelbar  gewisse  Sätze  dieser 
Art  gibt.  Was  sie  aussagen  müssten,  wäre  die  Nothwendig- 
keit der  Processe,  durch  welche  wir  aus  den  fundamentalen 
subjectiven  Thatsachen  der  unmittelbaren  Empfindung  die 
Vorstellung  einer  in  Raum  und  Zeit  existierenden  Welt  ein- 
zelner Dinge,  der  Realität  ihrer  Eigenschaften  und  Actionen, 
sowie  ihrer  manigfaltigen  Relationen  gewinnen;  und  ihre 
allgemeine  Formel    müsste    sein ,    aus    den   Bedingungen    des 


*)  Die  Prüfung  der  Mill'schen  Theorie  im  Einzelnen   behalten  wir 
uns  für  die  Untersuchung  des  Inductionsverfahrens  vor. 


360  §  48.    Axiome  und  Postulate.  411 

Einzelvorstellens  die  Aussage  über  ein  Seia  von  Gegenständen, 
ans  Aussagen  über  das  bestimmte  Sein  dieser  Gegenstände 
andere  Aussagen  als  notbwendig  hinzustellen. 

Wenn  nach  ihnen  daraus,  dass  ich  bestimmte  räumliche 
Anschauungen  habe,  abzuleiten  wäre,  dass  ein  Raum,  wie  ich 
ihn  vorstelle,  objectiv  existiert ;  wenn  aus  der  Thatsache,  dass 
ich  an  einem  bestimmten  Orte  dieses  Raums  eine  Lichtem- 
pfindung habe,  folgte,  dass  an  diesem  Orte  ein  leuchtender 
Gegenstand  existiert,  nach  dem  Grundsatz,  dass  zu  einer  em- 
pfundenen Qualität  eine  Substanz  gehört ,  der  sie  inhäriert ; 
wenn  aus  der  Thatsache,  dass  ein  Ding  ist  oder  sich  ver- 
ändert, sich  ableiten  liesse,  dass  ein  anderes  Ding  ist  und  sich 
verändert,  und  die  Nothwendigkeit  jener  Sätze  so  einleuch- 
tend wäre,  als  der  Satz  des  Widerspruchs  —  dann  wäre  eine 
leichte  und  nahe  liegende  Begründung  auch  für  die  Wahr- 
nehmungsurtheile  gewonnen.  Denn  da  das  subjective  Factum, 
dass  ich  jetzt  dies  oder  jenes  vorstelle,  als  ein  unmittelbar 
gewisses  anerkannt  werden  muss,  so  wäre  damit  die  factische 
Voraussetzung  da ,  aus  der  nach  jenen  Gesetzen  die  Noth- 
wendigkeit  der  ürtheile  übar  das  Seiende  folgt. 

Diese  Sätze  müssten  a  priori  gewiss  sein,  in  dein 
Sinne,  dass  wir  in  ihnen  nur  einer  constanten  und  unabweis- 
lichen  Function  unseres  Denkens  bewusst  würden  und  sicher 
wären,  dass  so  gewiss  wir  selbst  sind,  wir  auch  so  urtheilen 
müssen ;  und  sie  giengen  nicht  aus  von  dem  Inhalte  des  Vor- 
gestellten, wie  er  im  Begriffe  sich  ausdrücken  lässt,  sondern 
würden  dem  vorgestellten  Inhalt  ein  Prädicat  beilegen ,  das 
nicht  aus  ihm  selbst,  sondern  nur  aus  der  jeweiligen  Art,  wie 
er  vorgestellt  wird,  aus  dem  specifischen  Charakter  der  Wahr- 
nehmung abgeleitet  wäre ;  sie  würden  insofern  synthetische 
ürtheile  begründen. 

Daraus  erhellt  auch  von  dieser  Seite  die  durchgreifende 
Wichtigkeit  der  Kantischen  Frage:  Wie  sind  synthetische 
ürtheile  apriori  möglich?  denn  es  zeigt  sich,  wie  an  ihr 
die  Möglichkeit  hängt,  aus  dem  immer  neu  entstehenden  indi- 
viduellen Vorstellen  heraus  zu  allgemein  gültigen  Sätzen  und 
ebenso  aus  dem  subjectiven  Vorstellen  heraus  zu  urtheilen 
über  ein  Seiendes  zu  gelangen. 


412  II.  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  ürtheile.  361 

3.  Dass  es  solche  Sätze  gibt,  wird  überall  da  anerkannt, 
wo  gelehrt  wird,  dass  es  Axiome  gebe,  von  welchen  unsere 
Erkenntniss  des  Seienden  abhänge.  Denn  wo  man  nach  dem 
Vorgange  des  Aristoteles*)  Axiome  von  Definitionen 
und  den  daraus  folgenden  analytischen  Urtheilen  einerseits, 
von  Postulaten  andererseits  unterscheidet ,  versteht  man 
darunter  Sätze,  deren  Wahrheit  und  Gewissheit  unmittelbar 
einleuchtend,  deren  Gegentheil  zu  denken  eben  darum  unmög- 
lich ist,  ohne  dass  sie  darum  blosse  BegrifiPserklärungen  wären, 
und  die  also  die  letzten  Voraussetzungen  bilden,  auf  welche 
alle  Begründung  zurückgehen  muss.  Und  zwar  gehört  der 
Name  der  Axiome  nicht  den  unmittelbar  gewissen  Einzel- 
urtheilen,  z.  B.  den  Aussagen  des  unmittelbaren  Selbstbe- 
wusstseins ,  sondern  allgemeinen  Sätzen,  welche  eine 
weithin  anwendbare  Nothwendigkeit  ausdrücken ;  wie  denn 
Aristoteles  ausser  dem  schlechthin  obersten  und  allgemeinsten 
Axiom ,  dem  Princip  des  Widerspruchs ,  für  jeden  Kreis  des 
Wissens  besondere  Axiome  kennt,  z.  B.  die  mathematischen 
u.  s.  w.  Postulate  dagegen  sind  Sätze,  welche  weder  weiter 
zu  begründen  und  abzuleiten,  noch  als  unmittelbar  und  noth- 

*)  Unter  dem,  was  als  nicht  mehr  weiter  zu  begründendes  in  unser 
Wissen  eingeht,  unterscheidet  Aristoteles  in  der  Hauptstelle  Anal.  post. 
1,  2  und  10  dgCtoiJia  (&px>3  '»jv  dvdyxYj  sx^^^  "^^"^  öxtoöv  [xaO-Yjoojisvov  —  8 
dvccYxv]  efvat  dt'  auxö  xal  Soxslv  dvdyxyj)  und  ■9-^aic  (^v  jxy]  Ioti  5sTgai, 
|jLy;5'  di.v&yy.ri  systv  xöv  liaO-yjaojisvöv  xi) ;  die  %-iaig  unterscheidet  er  in  uu6^eotc, 
welche  sagt,  dass  etwas  ist  oder  nicht  ist,  und  öpio\ib<;,  welcher  nur  das 
»Was«,  nicht  das  *Das8«  angibt.  Eine  utzo^bciq  aber,  welche  gegen  die 
Voraussetzungen  des  Lernenden  aufgestellt  wird,  ist  aTxrjiJLa. 

Der  letztere  Terminus  hat  keine  feste  Bedeutung  gewinnen  können. 
Der  neuere  Gebrauch  des  Wortes  Postulat  ist  durch  Kant  —  aber 
wiederum  nicht  sicher  —  bestimmt  worden,  der  sich  in  der  Kritik  d.  r.  V, 
auf  den  Sprachgebrauch  der  Mathematiker  beruft:  Postulat  heisst  der 
practischeSatz,  der  nichts  als  die  Synthesis  enthält,  wodurch  wir 
einen  Gegenstand  uns  zuerst  geben  und  dessen  Begriff  erzeugen;  danach 
nennt  er  die  Grundsätze  der  Modalität  Postulate,  weil  sie  die  Art  an- 
zeigen, wie  der  Begriff  von  Dingen  mit  der  P]rkenntnisskraft  verbunden 
wird.  In  der  Kritik  der  practischen  Vernunft  aber  ist  Postulat  ein 
theoretischer,  als  solcher  aber  nicht  erweislicher  Satz,  sofern  er 
einem  a  priori  unbedingt  geltenden  practischen  Gesetze  unzertrennlich 
anhängt.  Diese  Discrepanz  findet  sich  auch  in  Kants  Logik  wieder. 
Wir  erweitern  im  Obigen  die  zweite  Definition. 


36{?  §  48.     Axiome  und  Postulate.  413 

wendig  gewiss  anzunehmen  möglich  ist,  deren  Gewissheit  aber 
doch ,  nur  aus  andern  Gründen  als  der  logischen  Noth  wen- 
digkeit, also  aus  allgemeinen  psychologischen  Motiven  ange- 
nommen wird. 

Ohne  dass  wir  untersuchen  wollten,  ob,  was  zu  verschie- 
denen Zeiten  als  Axiom  gegolten  hat,  auch  diese  Benennung 
wirklich  verdient  —  denn  das  könnte  nur  durch  ein  Eingehen 
auf  die  besonderen  Kreise  der  Vorstellung  erreicht  werden, 
welches  der  allgemeinen  Logik  fern  liegt  —  kann  wenigstens 
auf  Grund  der  bisherigen  Untersuchungen  ein  wichtiger  Unter- 
schied hinsichtlich  der  Bedeutung  solcher  Sätze  aufgestellt 
werden.  Es  zeigt  sich  nemlich,  dass  ein  wesentlicher  Unter- 
schied besteht,  der  in  der  Regel  nicht  beachtet  worden  ist, 
obgleich  Kant  eine  richtige  Andeutung  in  dieser  Hinsicht  ge- 
geben hat*);  wir  meinen  den  Unterschied  zwischen  Axiomen 
der  Begriffsbil  düng  und  Axiomen  derErkenntniss 
eines  einzelnen  Seienden. 

Wir  hatten  die  Möglichkeit  einer  logisch  vollkommenen 
Begriffsbildung  von  dem  Nachweis  nothwendiger  Gesetze  in 
unserem  Vorstellen  überhaupt  abhängig  gemacht;  so  gewiss 
logisch  vollkommene  Begriffe  kein  fertiges  Product  sind,  son- 
dern erst  durch  eine  bewusste  Synthese  gewonnen  werden 
müssen,  so  gewiss  muss  diese  Synthese  unter  Regeln  stehen, 
deren  Noth  wendigkeit  uns  einleuchtend  ist,  die  aber  zunächst 
nur  die  Form  unserer  Begriffe  und  die  Beziehung  ihrer 
Elemente  zu  einander,  nicht  aber  die  Behauptung  des  Daseins 
eines  Einzelnen  begründen.  So  ist  der  Satz,  dass  wir  keine 
reale  Eigenschaft  zu  denken  vermögen  ohne  Voraussetzung 
eines  Dings  dem  sie  anhaftet,  eine  Regel,  welche  die  Bildung 
unserer  Vorstellungen  und  das  Verhältniss  ihrer  Elemente  be- 
stimmt. 

Ebenso  gehören  zu  den  Axiomen  der  Begriffsbildung  alle 
Sätze  über  die  Un  Vereinbarkeit  gewisser  Merkmale; 
es  ist  mit  der  festen  Natur  unseres  Vorstellen«  gegeben,  dass 
gewisse  Bestimmungen    nicht   in  Einer  Vorstellung    vereinigt 


*)  In  dem  Unterschiede  des  mathematischen  und  dynamischen  Ge- 
brauchs der  Synthesis  der  reinen  Verstandesbegrilfe. 


414  11.  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  363 

werden  können,  (wovon  wesentlich  zu  unterscheiden  die  Sätze 
über  Unvereinbarkeit,  die  nur  empirisch  erschlossen  sind, 
wie  z.  B.  gasförmigen  Zustands  und  grosser  specifischer  Schwere 
u.  s.  w.)  und  diese  Unm(")glichkeit  kann  uns  nur  auf  die- 
selbe Weise  gewiss  werden,  wie  das  Princip  der  Ueberein- 
stimmung. 

Unter  diese  Axiome  derBegri  f  f  s  b  i  1  d  u  n  g  gehören 
ferner  die  mathematischen  Axiome  (sofern  was  so  ge- 
nannt wird  nicht  ein  bloss  analytischer  Satz  ist,  wie  der 
Grundsatz:  Zwei  Grössen,  welche  derselben  dritten  gleich  sind, 
sind  einander  selbst  gleich,  aus  dem  Begriff  der  Gleichheit 
analytisch  folgt) :  denn  sofern  alle  geometrischen  Gebilde  den 
Raum  voraussetzen  und  von  der  Natur  unserer  Raumvorstel- 
lung beherrscht  sind,  drücken  jene  Axiome  nichts  anderes  aus,  als 
die  Art  der  Synthese,  welche  durch  unsere  Raumvorstellung 
nothwendig  gemacht  wird.  Das  Axiom ,  dass  zwei  gerade 
Linien  keinen  Raum  einschliessen,  ruht  auf  den  festen  Regeln 
unserer  Raumvorstellung. 

Von  gewisser  Seite  können  alle  diese  Axiome  wieder  als 
analytische  Sätze  behandelt  werden,  wenn  man  darauf 
achtet ,  dass  sie  zwar  nicht  aus  den  Begriffen  der  gramma- 
tischen Subjecte  abgeleitet ,  wohl  aber  mit  der  Natur  der 
Vorstellungen  gegeben  sind,  welche  diesen  Subjecten  voraus- 
gesetzt sind  (§  18,  5  S.  138  ff.);  und  den  Schein  eines  synthe- 
tischen Charakters  enthalten  sie  nur  dadurch,  dass  sie  Re- 
lation s urtheile  sind ,  also  allerdings  eine  Synthesis  in 
der  Vorstellung  vorangehen  muss,  welche  die  Relation  über- 
haupt herstellt.  Sie  ruhen  darauf,  dass  die  verschiedenen 
Elemente  anserer  Vorstellungen  nicht  unabhängig  von  ein- 
ander sind. 

Es  gibt  solche  Axiome  auch  hinsichtlich  dessen ,  was 
wir  als  seiend  vorstellen,  wenn  es  sich  nemlich  nur  um  den 
Begriff  des  Seins  und  nicht  um  die  Behauptung  handelt, 
dass  dieses  oder  jenes  einzelne  sei.  Das  Axiom  Spinozas  Omnia 
quae  sunt,  vel  in  se  vel  in  alio  sunt,  ist  ein  solches  Axiom, 
das  darauf  zurückgeht,  dass  wir  als  seiend  nur  Substanzen 
mit  Accidentien  denken  können. 

Aber  diese  Axiome    wollen  nicht   ein  Urtheil  begründen, 


364  §  48.    Axiome  und  Postulate.  415 

dass  dieses  oder  jenes  einzelne  sei;  das  letztere  z.  B. 
lässt  vollkommen  unentschieden,  auf  was  der  Begriff  des 
für  sich  Seins  und  des  an  einem  andern  Seins  angewendet 
werden  soll.  Unsere  ürtheile  über  das  einzelne  Seiende  aber 
bedürfen  eben  solcher  Axiome,  welche  die  Behauptung  be- 
gründen, dass  ein  bestimmtes  Einzelnes  darum  als  seiend  ge- 
dacht werden  müsse,  weil  wir  es  auf  bestimmte  Weise  vor- 
stellen oder  weil  ein  anderes  Einzelnes  sei  oder  gewesen  sei; 
und  darin  eben  liegt  ihr  verschiedener  Charakter.  So  sagt 
z.  B.  das  Axiom  der  Causalität  in  der  Form  des  Trägheits- 
gesetzes nichts  aus  über  die  nothwendige  Vorstellung  der 
Bewegung,  sondern  es  sagt,  dass  wenn  ein  bestimmter  Kör- 
per sich  wirklich  in  diesem  Augenblicke  bewegt,  er  sich  im 
nächsten  in  derselben  Richtung  und  mit  derselben  Geschwindig- 
keit weiter  bewegen  wird,  dass  wenn  er  seine  Bewegung  ändert, 
ein  anderer  Körper  da  ist,  der  auf  ihn  eingewirkt  hat.  Ihre 
allgemeine  Formel  ist  also  theils:  Wenn  ich  etwas  Einzelnes 
unter  bestimmten  Bedingungen  wahrnehme,  so  ist  es;  theils: 
wenn  etwas  Einzelnes  ist,  so  ist  ein  anderes.  Sie  regeln  also 
den  Process,  meine  Vorstell  angen  des  Einzelnen  zur  Realität 
umzudeuten. 

Die  Nothwendigkeit  jener  Axiome  kann  durch  blosses 
Achten  auf  das,  was  wir  im  Vorstellen  stetig  thun,  zum  Be- 
wusstsein  gebracht  werden;  die  Nothwendigkeit  dieser  lässt 
sich  eben  darum ,  weil  sie  das  Seiende  betreffen ,  nicht  ohne 
Weiteres  aus  der  Nothwendigkeit  unseres  Vorstellens  ableiten; 
ausser  sofern  man  als  oberstes  Axiom  die  ü  eher  ein  Stimmung 
unseres  Vorstellens  mit  dem  Sein  annähme. 

4.  Die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt  unwiderleglich, 
dass  der  Glaube,  die  ürtheile,  dass  etwas  Bestimmtes  sei  und 
so  sei,  auf  einfache  und  unmittelbar  geAvisse  Axiome  gründen, 
und  aus  ihnen  alles  Einzelne  als  nothwendige  Folge  ableiten 
zu  können,  sich  immer  wieder  als  eine  Täuschung  erwies. 
Weder  der  Satz  Non  datur  vacuum  noch  das  Axiom,  dass  ein 
Ding  nur  wirken  könne  wo  es  sei,  weder  die  Behauptung, 
dass  nur  Gleichartiges  auf  Gleichartiges  wirke,  noch  die  dass 
die  Wirkung  nur  fortdaucM-o  wenn  auch  die  Ursache  fortdauere, 
haben  sich  als  solche  behaupten  können,    und   das  Kriterium 


416  n,  2.     Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Ürtheile.  365 

des  Nicht  anders  denken  könnens  ist  immer  wieder 
von  der  psychologischen  Unmöglichkeit  in  Folge  der  Gewohn- 
heit ,  statt  von  der  logischen  Noth wendigkeit  verstanden 
worden  *). 

Auch  Kant's  grossartiger  Versuch,  die  synthetischen  ür- 
theile a  priori  aufzuzeigen,  welche  aller  Erfahrung  zu  Grunde 
liegen,  hat  im  Grunde  nur  gezeigt ,  dass  solche  synthetische 
ürtheile  a  priori  gelten  müssen,  wenn  Erfahrung  als  Wissen- 
schaft möglich  sein  soll;  er  ist  von  der  Annahme  ausgegangen, 
dass  Erfahrungserkenntniss  bestehe ,  und  hat  rückwärts  die 
Bedingungen  derselben  gesucht,  von  dem  Grundsatz  aus,  dass 
alle  Erkenntnisse  sich  müssen  in  Einem  Bewusstsein  vereinigen 
lassen.  Aber  weder  seine  Ableitung  der  Kategorieen  aus  den 
Urtheilsformen  der  von  ihm  ergänzten  traditionellen  Logik, 
noch  die  auf  dieser  Basis  gewonnenen  synthetischen  Grund- 
sätze und  ihre  Beweise  haben  die  üeberzeugung  hervorzubringen 
vermocht,  dass  wir  es  hier  mit  absolut  nothwendigen  und 
selbstverständlichen  Sätzen  zu  thun  haben ,  deren  Gegentheil 
zu  denken  unmöglich  ist ,  und  die  a  priori  in  unserem  Ver- 
stände liegen ;  und  auf  der  andern  Seite  hat  der  Beweis,  dass 
unsere  wirklich  eintretenden  Empfindungen  sich  den  Kategorieen 
und  apriorischen  Grundsätzen  fügen  müssen,  der  Fragen  genug 
übrig  gelassen. 

Schopenhauer  hat  die  weitläufige  Festung  der  zwölf  Ka- 
tegorieen geräumt,  um  die  Citadelle  der  Causalität  um  so 
fester  zu  behaupten;  allein  so  lehrreich  seine  Vereinfachung 
Kant's  ist,  so  wenig  kann  sie  als  ein  Ersatz  für  die  Kanti- 
schen reinen  Verstandesformen  und  synthetischen  Sätze  a 
priori  gelten.  Denn  soll  dadurch  auch  nur  psych  ol  ogisch 
der  Process  erklärt  werden  ,  durch  den  überhaupt  jedes  Indi- 
viduum genöthigt  ist,  seine  räumlichen  Anschauungen  zu  ob- 
jecti vieren  und  als  einen  Gegenstand  ausser  sich  vorzustellen, 
so  ist  das  Princip  der  Causalität  hiezu  unzureichend;  denn 
es  kann  daraus  wohl  abgeleitet  werden ,  dass  ich  irgend 
etwas  von  mir  Verschiedenes  als  Ursache  meiner  Sinnesaffec- 
tionen  annehmen  muss ,    weil   ich  mir  nicht  bewusst  bin ,    sie 


')  Vgl.  Mill's  Logik  2.  Buch  7.  Capitel  und  5.  Buch.  3.  Cap. 


366  §  48.     Axiome  und  Postulate.  417 

selbst  hervorgebraclit  zu  haben ,  aber  es  folgt  daraus  nicht 
von  selbst ,  weder  dass  diese  Ursache  noth wendig  im  Räume 
ist,  noch  dass  speciell  das  Angeschaute  selbst,  als  ein  Exi- 
stierendes gedacht,  die  Ursache  ist.  Der  wissenschaftlichen 
Reflexion  allerdings  auf  unsere  Sinneswahrnehmungen,  die  von 
vornherein  von  der  Voraussetzung  ausgeht ,  dass  sie  von  den 
Objecten  ausser  uns  hervorgerufen  werden,  bestätigt  sich  diese 
Voraussetzung  dadurch ,  dass  sie  die  Sinnesempfindungen  so 
zu  erklären  vermag,  und  darum  hat  diese  Theorie  Schopen- 
hauers den  Beifall  z.  B.  von  Helmholtz  gefunden;  aber  sie  ist 
einleuchtend  eben  nur  dann ,  wenn  das  Dasein  der  Objecte 
schon  in  der  Stille  vorausgesetzt  ist,  dessen  Annahme  sie 
erklären  soll.  Sobald  man  sich  aber  klar  gemacht  hat,  dass 
in  dem  allgemeinen  Causalitätsprincip  niemals  liegt ,  wie  be- 
schaffen die  Ursache  einer  gegebenen  Wirkung  sein  müsse, 
fehlt  jede  Möglichkeit  nach  demselben  auf  das  Dasein  einer 
bestimmten  Ursache  zu  schliessen. 

Als  Princip  objectiver  Wahrheit  gedacht,  hat 
aber  der  Satz  in  diesem  Sinne  noch  viel  bedenklichere  Mängel. 
Denn  auch  gesetzt ,  er  könnte  als  allgemeines  Axiom  gelten, 
das  durch  sich  selbst  gewiss  Aväre,  so  ist  er  für  den  Schluss 
auf  äussere  Objecte  nur  anwendbar ,  wenn  zugleich  der  Satz : 
Ich  bin  mir  nicht  bewusst ,  meine  Aifectionen  selbst  hervor- 
gebracht zu  haben,  beweist,  dass  ich  in  der  That  nicht  ihre 
Ursache  bin;  er  setzt  also  für  seine  Anwendbarkeit  das  Axiom 
voraus,  dass  ich  nur  die  Ursache  dessen  bin,  was  ich  mit  Be- 
wusstsein  hervorbringe;  ein  Axiom,  dessen  apriorische  Gültig- 
keit Niemand  behaupten  wird;  und  ebenso  könnte  er  ein  Princip 
objectiver  Wahrheit  nur  sein ,  wenn  er  gewährleistete ,  dass 
alles,  was  auf  diese  Weise  individuell  objectiviert  wird,  eo 
ipso  auch  gültig  wäre.  Ist  er  ein  N  a  turgese  tz  unseres 
Vorstellens:  so  sind  noch  die  Bedingungen  zu  entdecken,  unter 
denen  er  ein  Normalgesetz  werden  kann*). 


*)  Ich  kann  Windel  band  (a.  a.  0.  S.  76)  zustimmen,  dass  es 
eine  oberste  Regel  des  Erkennen«  —  d.  h.  genauer  unseres  Erkenntniss- 
streben s  —  sei,  nach  welcher  zu  jeder  Erscheinung  eine  Ursache 
gesucht  werde;  nur  reicht  diese  Kegel  nicht  aus,  um  nun  für  jede 
Erscheinung  den  zureichenden  Grund  aufzuweisen.    Und  eine  solche 

Sigwart,    Logik.  I.  2.  Auflage.  27 


418  n,  2.    Die  Wahrheit  der  unmittelbaren  Ürtbeile.  867 

Auch  das  Princip  der  Causalität  also  reicht  nicht  aus, 
um  daraus  mit  Nothwendigkeit  zu  behaupten,  dass  dies  und 
jenes  Einzelne,  meiner  Wahrnehniungs Vorstellung  entsprechende 
ist,  und  so  ist,  wie  ich  es  mir  vorstelle;  denn  es  sagt  für  sich 
über  die  Art  der  Ursache  gar  nichts. 

Lässt  sich  also  nicht  annehmen,  dass  die  allgemeinen 
Sätze,  welche  die  objective  Gültigkeit  unserer  Wahrnehmungs- 
urtheile  garantieren ,  als  einfache  selbstverständliche  Wahr- 
heiten zu  Tage  liegen,  in  einer  Form ,  welche  ohne  Weiteres 
die  Beziehung  der  Wahrnehmungen  auf  ein  Seiendes,  und  be- 
stimmter Wahrnehmungen  auf  ein  bestimmtes  Seiendes  a  priori 
gewiss  machte:  so  bleibt  noch  die  andere  Möglichkeit  übrig, 
das  Dasein  einer  äusseren ,  für  alle  selbigen  Welt  als  ein 
Postulat  unseres  Wissens-  und  Brkenntnisstriebes  anzuer- 
kennen ,  an  dessen  Wahrheit  zu  glauben  wir  trotz  der  Ein- 
sicht, dass  sie  nicht  selbstverständlich  ist,  uns  nicht  verwehren 
können*).     Dieses    Postulat   zugegeben,    entsteht    die  Frage: 


Regel  wäre  nothwendig,  um  die  Wahrheit  unserer  Wahrnehmungsur- 
theile  zu  begründen.  Vergl.  die  Kritik  dieser  Causalitätstheorie  in  dem 
Werke  von  Spir,  Denken  und  Wirklichkeit  S.   121  flF. 

*)  Im  Wesentlichen  auf  dasselbe  scheint  mir  auch  Baumanns 
Begründung  des  Realismus  (Philosophie  als  Orientierung  über  die  Welt 
S.  248  tf.)  hinauszukommen. 

Die  mit  musterhafter  Klarheit  und  Umsicht  geführte  Untersuchung 
Zeliers  »über  die  Gründe  unseres  Glaubens  an  die  Realität  der 
Aussenwelt«  (Vorträge  und  Abhandlungen,  dritte  Sammlung  S.  225  ff.) 
führt  sachlich  auf  dasselbe  Resultat,  obgleich  sie  (S.  256  ff)  die  An- 
nahme, dass  ich  selbst  das  einzige  reale  Wesen  sei,  das  existiere,  durch 
eine  Widerlegung  zu  beseitigen  unternimmt,  der  sie  die  Bedeutung 
eines  Beweises  beilegt.  Denn  der  Beweis  wird  doch  nur  daraus 
geführt,  dass  der  Inhalt  unseres  Bewusstseins  unerklärlich  wäre 
unter  jener  Voraussetzung;  er  setzt  also  die  Nothwendigkeit  der  Er- 
klärung, und  zwar  der  causalen  Erklärung  voraus.  Diese  Nothwendig- 
keit ist  aber  zunächst  eine  subjective,  eine  Nothwendigkeit  des  Strebens. 
Dass  das  Bedürfniss  des  ErkJärens  und  Begreifens  die  üeberzeugung 
von  der  Realität  einer  Aussenwelt  rechtfertige,  gilt  doch  nur  in  dem 
Sinne  eines  Postulats;  ein  Axiom,  dass  nichts  Unbegreifliches  exi- 
stieren könne,  wird  um  so  weniger  angenommen  werden  können,  als  die 
vollständige  Begreiflichkeit  des  Gegebenen  immer  nur  eine  Aufgabe  ist, 
die  wir  nie  vollständig  zu  lösen  vermögen.  So  vollständig  ich  also  den 
Ausfüiirungen  zustimme,  dass  die  Annahme,  unsere  Vorstellungen  seien 


i 


368  §  48.    Axiome  und  Postulate.  419 

Welche  allgemeinen  Voraussetzungen  werden 
durch  dieNatur  unser  er  Wahr  nehmungen  gefor- 
dert, um  ihre  Beziehung  auf  ein  Seiendes  ausser 
uns  möglich  zu  machen,  und  die  daraus  hervorgehenden 
Urtheile  in  durchgängige  Uebereinstimmung  zu  bringen  ? 
Diese  Voraussetzungen  zu  entdecken,  ist  dann  nicht  der  Aus- 
gangspunkt, sondern  das  Ziel  der  Wissenschaft;  der  Leit- 
faden dabei  aber  ist  zuletzt  ein  Grundsatz,  der  dem  logischen 
Princip  des  Widerspruches  täuschend  ähnlich  sieht,  in  Wahr- 
heit vielmehr  aber  nur  eine  bestimmte  Anwendung  desselben 
ist,  das  Princip :Es  ist  unmöglich,  dass  dasselbezu- 
gleich  sei  und  nicht  sei,  zugleichBsei  undnicht 
B  sei.  Der  Satz  des  Widerspruchs  als  Naturgesetz  un- 
seres Denkens  sagt,  dass  es  unmöglich  ist,  mit  Bewusstsein 
denselben  Satz  zugleich  zu  bejahen  und  zu  verneinen.  Wenn 
dann  unter  Voraussetzung  eines  festen  Begriffssystems,  das 
einem  idealen  Bewusstsein  immer  in  derselben  Weise  gegen- 
wärtig und  für  alle  Denkenden  dasselbe  ist,  alle  begrifflichen 
Urtheile  durch  das  Princip  der  Uebereinstimmung  feststehen: 
so  folgt  aus  dem  Princip  des  Widerspruchs  auch  die  Falsch- 
heit aller  ihnen  widersprechenden  Urtheile ,  mögen  sie  nun 
directe  Negationen,  oder  Urtheile  sein,  die  unvereinbare  Merk- 
male beilegen.  Wenn  ich  in  diesem  Sinne  sage:  dasselbe 
kann  nicht  zugleich  B  und  nicht  B  sein;  so  ist  unter  »das- 
selbe« derselbe  Begriff,  der  feste  Inhalt  meiner  Vorstel- 
lung verstanden. 

Betrifft  aber  unser  Urtheilen  Seiendes,  so  ist  nach  dem- 
selben Princip  zunächst  unmöglich  zu  denken,  dass  dasselbe 
zugleich  sei  und  nicht  sei:  würde  also  aus  den  Vor- 
aussetzungen, die  wir  in  Betreff  des  Seienden  gemacht  haben, 
von  der  einen  Seite  folgen,  dass  ein  einzeln  Vorgestelltes  ist. 


nur  Producte  den  bewussten  Subjects,  unhaltbar  ist,  so  kann  ich  der 
letzten  Voraussetzung,  auf  der  unsere  Ueberzeugang  von  der  Realität 
einer  Aussenwelt  ruht,  doch  nur  den  Charakter  eines  Postulats  beilegen; 
aus  diesem  aber  folgt  auch  für  mich  die  Aufgabe  die  S.  263  formuliert 
wird:  Die  Ursache  derjenigen  Bewusstseinserscheinungen,  die  wir  Wahr- 
nehmungen nennen,  soll  in  einer  den  'l'hatsachen  entsprechenden  Weise 
bestimmt  werden. 

27* 


420  II.  2.     Wahrheit  der  unmittelbaren  Urtheile.  369 

von  der  andern  ,  dass  dasselbe  einzeln  Vorbestellte  nicbt  ist, 
so  können  diese  beiden  Sätze  nicht  zusanimenbestehen ,  und 
in  den  Voraussetzungen  muss  etwas  falsch  sein.  Und  ebenso 
ist  es  unmöglich  zu  denken,  dass  dasselbe  einzelne  A  zugleich 
B  sei  und  nicht  B  sei. 

Und  da  im  Begriff  des  Seins  liegt,  dass  es  für  alle  Den- 
kenden dasselbe  ist,  also  Aller  wahre  Urtheile  über  das- 
selbe übereinstimmen  müssen,  so  folgt,  dass  auch  wenn  Ver- 
schiedene auf  Grund  ihrer  Wahrnehmungen  zu  Entgegen- 
gesetztem kämen,  ihre  Urtheile  nicht  zugleich  von  einem  und 
demselben  Seienden  wahr  sein  könnten.  Allerdings  liegt  dem 
zuletzt  unser  Begriff  des  Seins  zu  Grunde,  über  den  wir 
nicht  hinaus  können;  aber  eine  andere  Wissenschaft  als  die, 
welche  sagt,  dass,  was  wir  als  seiend  denken  wollen,  wir  noth- 
wendig  so  oder  so  denken  müssen ,  gibt  es  überhaupt  nicht. 
Wo  die  Möglichkeit  vorausgesetzt  würde,  dass  das  Seiende  an 
sich  den  W  iderspruch  ertragen  könnte,  der  nur  unserem  Denken 
widerstrebe,  da  wäre  ebendamit  jedes  Streben  dasselbe  zu  er- 
kennen vergeblich. 

Wir  hoffen  in  unserem  dritten  Theile  zu  zeigen,  wie  aus 
der  Natur  der  Aufgaben,  wie  der  Bedingungen  unserer  Er- 
kenntniss  mit  Noth wendigkeit  der  Process  des  Erfahrungs- 
wissens hervorgeht,  den  die  Geschichte  der  wirklichen  Entwick- 
lung der  Wissenschaft  aufzeigt,  dass  nemlich  die  ganze  Arbeit 
darin  bestanden  habe,  dem  Postulate  dass  etwas  sei  gemäss 
auf  Grund  unserer  Wahrnehmung  ein  Seiendes  zu  setzen,  und 
die  Voraussetzungen,  die  wir  hinsichtlich  desselben  machen, 
so  zu  bestimmen,  dass  unsere  Aussagen  darüber  widerspruchs- 
los sind;  die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt  einen  fort- 
währenden Process  der  Umbildung  und  Berichtigung  der  Vor- 
stellungen des  Seienden,  der  jedesmal  in  ein  neues  Stadium 
tritt,  wenn  die  bisherigen  Voraussetzungen  auf  Widersprüche 
führen;  und  es  gibt  keine  andere  Bestätigung  unseres  Glau- 
bens, dass  etwas  Bestimmtes  sei,  als  die  durchgängige  Ueber- 
einstimmung  aller  unserer  auf  das  Seiende  bezüglichen  Ur- 
theile, die  Rückkehr  des  Kreises  in  sich  selbst.  Alle  allge- 
meinen Sätze,  welche  wir  in  Betreff  des  Seienden  annehmen, 
müssen    schliesslich  so    beschaffen  sein,    dass    aus   ihnen    das 


369.370  §  48.    Axiome  und  Postulate.  421 

unmittelbar  Gewisse,  das  subjective  Factum  der  Wahrneh- 
mung wieder  als  nothwendige  Folge  hervorgeht,  wie  es  Aus- 
gangspunkt des  ganzen  Processes  gewesen  war.  Auf  diesem 
Wege  hat  sich  die  unmittelbare  Voraussetzung ,  von  der  wir 
immer  ausgehen ,  dass  die  sinnlichen  Qualitäten  unmittelbar 
Eigenschaften  des  Seienden  sind,  berichtigt;  ihre  Annahme 
hat  auf  Widersprechendes  geführt;  auf  diesem  Wege  sind  die 
physicalichen  Axiome,  der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit  der 
Substanz  u.  s.  w.  gefunden.  Diesen  Weg  hat  auch  Kant  in 
den  Antinomieen  eingeschlagen,  um  zu  zeigen,  dass  Raum  und 
Zeit  nur  subjective  Anschauungsformen  und  alles  in  ihnen 
gesetzte  nur  Erscheinung  sei ;  die  Annahme ,  dass  sie  im  ge- 
wöhnlichen Sinne  real  seien,  führt  nach  ihm  auf  Widersprüche. 
In  diesen  Process,  eine  Erfahrungserkenntniss  zu  gestalten, 
geht  das  Princip  der  Causalität  wenigstens  in  der  Form,  in 
der  es  allein  anwendbar  ist,  nemlich  als  das  Postulat  ein, 
dass  das  Seiende  als  nothwendig  erkennbar ,  d.  h.  nach 
allgemein  gültigen  Gesetzen  bestimmt  sei.  Denn 
auch  die  festeste  Ueberzeugung,  dass  alles  seine  Ursache  hat, 
würde  uns  niemals  dazu  führen  können,  ein  Einzelnes  mit 
Gewissheit  als  seiend  zu  setzen,  wenn  die  Ursachen  beliebig 
wirkten*). 


*)  Die  allseitige  Erörterung  des  Causalitätsprincips  verschieben  wir, 
um  nicht  zu  wiederholen,  auf  den  dritten  Theil. 


Dritter  Abschnitt. 

Die  Begründung  der  yermittelten  Urtheile  durch 
die  Kegeln  des  Schlusses. 

Nachdem  der  vorangehende  Abschnitt  gezeigt  hat ,  dass 
die  Urtheile ,  welche  wir  vom  natürlichen  Denken  ausgehend 
für  unmittelbare  halten  mussten,  doch,  sofern  ein  Grund  ihrer 
Gewissheit  verlangt  werden  muss,  sich  bereits  müssen  als 
nothwendige  Folgen  eines  allgemeinen  Gesetzes  darstellen 
lassen,  die  analytischen  als  Folgen  des  Grundsatzes  der  üeber- 
einstimmung,  die  Wahrnehmungs urtheile  als  Folgen  der  Ge- 
setze, nach  welchen  wir  aus  subjectiven  Affectionen  die  Ueber- 
zeugung  realer  Dinge  gewinnen:  so  stellt  sich,  da  jene  allge- 
meinen Regeln  nur  in  Form  von  Urtheilen  zum  Bewusstsein 
kommen  können,  der  vorige  Abschnitt  zu  einem  grossen  Theil 
unter  diesen,  und  es  sind  zuletzt  nur  die  höchsten  und  letzten 
Gesetze,  sowie  die  unmittelbaren  Aussagen  des  Selbstbewusst- 
seins  als  keiner  Zurückführung  fähig  ausgeschlossen*). 

§  49. 
Die  allgemeinste  Formel  der  Ableitung  eines  ürtheils 
aus  anderen  ist  der  hypothetische  Schluss,  der  ent- 
weder (als  sog.  gemischterhypothetischerSchluss) 
die  einfache  Anwendung  des  Satzes  ist,  dass  mitdemGrunde 
die  Folge  bejaht,  mit  der  Folge  der  Grund  auf- 
gehoben   ist,    oder  (als   sog.  reiner   hypothetischer 


*)  Ueber  das  Verhältniss  von  ürtheil  und  Schluss  vergl.  die  vielfach 
zutretfenden  Ausführungen  Schuppes,  Erk.  Logik  S.  124  iF. 


372  §  49.     Der  hypothetische  Schluss.  423 

S  c  h  1  u  s  s)  auf  dem  Satze  ruht,  dassdieFolgederFolge 
Folge  des  Grundes  ist. 

1,  Ein  Folgern  oder  Schliessen  im  psychologischen 
Sinne  findet  überall  da  statt ,  wo  wir  zu  dem  Glauben  an 
die  Wahrheit  eines  Urtheils  nicht  unmittelbar  durch  die  in 
ihm  /erknüpften  Subjects-  und  Prädicatsvorstellungen,  sondern 
durca  den-  Glauben  an  die  Wahrheit  eines  oder  mehrerer  an- 
derer Urtheile  bestimmt  werden.  Der  Motive,  welche  psycho- 
logisch diesen  Glauben  herbeiführen,  sind  mancherlei  (§  19,  3.  4 
S.  144  f.)  und  es  geschieht  häufig,  dass  die  Vermittelung,  welche 
die  Gewissheit  eines  Urtheils  aus  der  Gewissheit  eines  andern 
ableitet,  nicht  einmal  deutlich  zum  Bewusstsein  kommt;  denn 
sie  beruht  häufig  auf  Gewohnheiten  der  Association  und  Ver- 
knüpfung, die  factisch  bestimmte  Regeln  befolgen,  ohne  dass 
wir  uns  derselben  ausdrücklich  bewusst  werden.  Jede  Erwartung 
eines  zukünftigen  Ereignisses  beruht  auf  einer  über  das  Ge- 
gebene hinausgehenden  Folgerung;  aber  wenn  wir  erwarten, 
dass  ein  losgelassener  Körper  zu  Boden  fällt,  dass  Essen  den 
Hunger  stillt,  oder  unsere  Rede  von  dem  Hörenden  verstanden 
wird ,  ist  uns  nicht  jedesmal  der  Grund  unserer  Erwartung, 
der  in  früheren  Erfahrungen  liegt,  ausdrücklich  im  Bewusst- 
sein in  Form  eines  allgemeinen  Satzes  gegenwärtig;  von  der 
Gewissheit  des  gegebenen  Vorgangs  gehen  wir  ohne  bewusste 
Vermittlung  zu  der  Gewissheit  über,  dass  der  zukünftige  ein- 
treten werde. 

Die  logische  Theorie  hat  nun  aber  zu  fragen,  unter 
welchen  Bedingungen  das  Schliessen  gültig  ist;  d.  h.  da 
jeder  Schluss  den  Glauben  enthält,  dass  ein  Urtheil  (die  Con- 
clusion,  der  Schlusssatz)  wahr  sei,  weil  ein  oder  mehrere  andere 
Urtheile  (die  Prämissen)  wahr  seien,  hat  sie  die  logische  Noth- 
wendigkeit  dieses  Glaubens  zu  untersuchen,  dass  die  Conclusion 
durch  die  Prämissen  begründet  sei. 

2.  Die  Frage  nach  der  Begründung  eines  Urtheils  durch 
andere  lässt  sich  nun  von  einem  doppelten  Gesichtspunkte 
ansehen.  Entweder  wird  von  einem  gegebenen  Urtheil  aus- 
gegangen, das  als  gültig  angenommen  ist,  und  gefragt,  welche 
weiteren  Urtheile  kann  dieses  begründen;    oder    es    wird    von 


424  II.  '^-    Die  Hegeln  des  Schlusses.  372.373 

einer  Frage  ausgegangen ,  dem  Versuch  eines  vermitbelten 
Urtheils,  und  es  wird  gefragt:  In  welcher  Weise  und  unter 
welchen  Bedingungen  ist  dieses  Urtheil  begründet?  was  muss 
gewiss  sein,  damit  es  gültig  sei? 

3.  Wenn  ein  gültiges  Urtheil  A  gegeben  ist,  so  ist  so- 
viel klar,  dass  es  ein  davon  verschiedenes  Urtheil  X  nur  iann 
sicher  begründen  kann,  wenn  der  unbedingt  und  allgemein 
gültige  Satz  besteht:  Wenn  A  gilt,  so  gilt  X;  denn  dieses 
hypothetische  Urtheil  drückt  ja  eben  gar  nichts  anderes  tus, 
als  dass  X  nothwendige  Folge  von  A  sei,  und  wer  A  annehme, 
auch  X  annehmen  müsse.  Ohne  eine  solche  Regel  aber  gibt 
es  kein  logisches  Recht  einer  Folgerung;  sobald  A  gelien 
könnte,  ohne  dass  X  gilt ,  dürfte  die  Gewissheit  von  diesem 
nicht  auf  die  Gewissheit  von  jenem  gegründet  werden.  Jede 
objective  Gültigkeit  eines  Schlusses  von  A  auf  X  ist  also  von 
der  Gültigkeit  dieser  hypothetischen  Regel  abhängig. 

Darum   ist    das    allgemeinste    logische  Schema   alles    und 
jedes  Folgerns  der  sog.  gemischte  hypothetische  Schluss*): 
A  gilt  Wenn  A  gilt,  so  gilt  X 

Wenn  A  gilt,  so  gilt  X  A  gilt 

also  gilt  X  also  gilt  X. 

Die  Ordnung  der  Prämissen  ist  von  der  jeweiligen  Be- 
wegung des  Denkens  abhängig ;  denn  wenn  die  Gültigkeit  des 
Urtheils  A  den  factischen  Bestandtheil  des  Grundes  repräsen- 
tiert, die  Voraussetzung  aus  der  geschlossen  wird,  das 
hypothetische  Urtheil  aber  das  Gesetz,  das  die  Nothwendigkeit 
enthält,  die  Regel  nach  der  geschlossen  wird,  so  kann  im 
wirklichen  Verlaufe  des  Denkens  ebensogut  das  eine  wie  das 
andere  das  erste  sein.  Die  logische  Terminologie  pflegt  aber 
überall  die  Regel  nach  der  geschlossen  wird,  den  Obersatz, 
die  Voraussetzung  aus  der  geschlossen  wird,  den  Untersatz 
(die  Assumtion)  zu  nennen. 


*)  Vergl.  Kants  Logik  (Hartenst.  1,  S.  453  §  57):  *Das  allgemeine 
Princip,  worauf  die  Gültigkeit  alles  Schliessens  durch  die  Vernunft 
beruht,  lässt  sich  in  folgender  Formel  bestimmt  ausdrücken:  Was 
unter  der  Bedingung  einer  Regel  steht,  das  steht  auch 
unter  der  Regel  selbst«.  Dieser  Satz  enthält  eben  die  Auffassung 
vom  Wesen  des  Schlusses,  welche  im  folgenden  durchgeführt  ist. 


374  §  49.     Der  hypothetische  Schluss.  425 

i.  Ist  A  zuerst  gegenwärtig:  so  schliesst  sich  die  Frage 
an:  Gibt  es  ein  Urtheil  Wenn  A  gilt,  so  gilt  ein  anderes  X? 
Ist  dagegen  die  Regel  zuerst  gegenwärtig ,  so  ist  die  Frage : 
Findet  die  Regel  Anwendung?  Gilt  A,    und   darum  auch  X? 

Bei  dem  letzteren  Gang  ist  nun  aber  ein  Doppeltes  mög- 
lich: Die  Anwendung  ergibt  sich,  wenn  A  gilt  d.  h.  als  ge- 
wiss erkannt  ist;  sie  ergibt  sich  aber  auch,  wenn  X  nicht 
gilt,  nach  dem  Gesetze,  dass  mit  der  Folge  der  Grund  auf- 
gehoben ist. 

So  ist  der  weitere  Schluss  möglich: 

Wenn  A  gilt,  so  gilt  X 

X  gilt  nicht 

also  gilt  A  nicht. 

5.  Auf  diese  beiden  Formen ,  die  man  als  den  modus 
ponens  und  modus  toUens  des  gemischten  hypothetischen 
Schlusses  anzuführen  pflegt,  müssen  sich  alle  Arten  der  Ab- 
leitung einer  einfachen  Aussage  zurückführen  lassen*);  so 
gewiss  unter  dieser  Ableitung  nur  das  verstanden  werden 
kann ,    dass  ein  Urtheil    aus  anderen  noth  wendig    hervorgehe. 

Es  lässt  sich  also  feststellen:  die  Gültigkeit  eines  Urtheils 
kann  niemals  aus  einem  einzigen  Urtheil  abgeleitet 
werden,  sondern  es  sind  immer  wenigstens  zweiPrämissen 
nothwendig. 

Ein  Urtheil  kann  aus  andern  nur  unter  der  Bedingung 
abgeleitet  werden,  dass  eine  der  Prämissen  ein  unbe- 
dingt gültiges  Urtheil  ist,  das  einen  nothwen- 
digen  Zusammenhang  ausspricht. 

Dieses  ist  der  eigentliche  Träger  des  Fortgangs  von  einer 
Gewissheit  zur  andern,  auf  Grund  des  Gesetzes,  dass  mit  dem 
(hypothetischen)  Grunde  die  Folge  bejaht,  mit  der  Folge  der 
Grund  aufgehoben  ist**). 

*)  Insofern  aus  dem  Urtheil :  Wenn  A  gilt,  so  gilt  X  jederzeit  das 
andere  abgeleitet  werden  kann:  Wenn  X  nicht  gilt,  so  gilt  A  nicht, 
lässt  sich  auch  der  sog.  modus  tollens  auf  den  modus  ponens  zurück- 
führen. 

**)  Das  obige  Schema  des  hypothetischen  Schlusses  erweist  sich 
als  die  natürliche  und  allgemeine  Formel  des  Schliessens  auch  dadurch, 
dass  es  in  den  sprachlichen  Wendungen,  in  welchen  wir  unsere  Folge- 
rungen  auszusprechen  pflegen,  überall  erkennbar  ist;  die  Verbindungs- 


426  11»  3.     Die  Kejfeln  dea  Schlusses.  375 

6.     Das  hypothetische  Urtheil ,  das  eine  Folgerung    ver- 
mittelt,   kann   selbst  wieder  ein  abgeleitetes  und    vermitteltes 
sein ;  und  zwar  lässt  sich  der  Satz,  dass  X  noth wendige  Folge 
von  A  sei,    dann    als    nothwendig    erkennen,    wenn  X  Folge 
einer  Folge  von  A  ist.     Wenn  also  gälte 
Wenn  A  gilt,  so  gilt  M 
Wenn  M  gilt,  so  gilt  X,  so  folgt 
Wenn  A  gilt,  so  gilt  X. 
Das  Princip,  welches  diesem  Schlüsse  zu  Grunde  liegt,  ist 
mit  dem  Begriff  der  Folge  selbst   gegeben ;   es    lässt   sich   so 
formulieren:  die  Folge  der  Folge  ist  Folge  des  Grundes*). 
Dies  ist  der    sog.  reine   hypothetische  Schluss; 

weisen  mit  da  —  weil  —  deshalb  —  denn  u.  s.  w.  sind  nur  sprachliche 
Abkürzungen  jenes  Schemas,  indem  diese  Partikeln  die  doppelte  Be- 
deutung haben,  die  Gültigkeit  des  begründenden  wie  des  begründeten 
Satzes,  und  das  Verhältniss  der  Begründung,  die  Noth  wendigkeit  der 
Consequenz  auszusprechen;  durch  das  letztere  weisen  sie  auf  ein  hypo- 
thetisches Urtheil  zurück. 

*)  Die  Regel  aber,  dass  mit  der  Folge  der  Grund  aufgehoben  ist, 
lässt  sich  in  doppelter  Weise  verwenden: 
1.    Wenn  A  gilt,  gilt  B 

Wenn  C  gilt,  gilt  B  nicht 
Wenn  A  gilt,  gilt  C  nicht 
Wenn  C  gilt,  gilt  A  nicht 
d.  h.  zwei  Voraussetzungen,     welche    widersprechende    Folgen    haben, 
heben  sich  gegenseitig  auf. 

II.    Wenn  A  gilt,  gilt  B 

Wenn  A  nicht  gilt,  gilt  C 
Wenn  C  nicht  gilt,  so  gilt  ß 
Wenn  B  nicht  gilt,  so  gilt  C 
d.  h.  die  Folge  einer  Bejahung  und  die  Folge  der  Verneinung  schliessen 
sich  aus.    Diese  beiden  Formeln  aber  lassen  sich  auf  die  obigen  zurück- 
führen.    Denn  statt  des  Untersatzes  in  I.  kann  gesetzt  werden : 
Wenn  B  gilt,  gilt  C  nicht ;  und  wir  erhalten 
Wenn  A  gilt,  gilt  B 
Wenn  B  gilt,  gilt  C  nicht 

Wenn  A  gilt,  gilt  C  nicht  —  also  den  einfachen  Fort- 
schritt von  Folge  zu  Folge. 

Ebenso  in  II.  lässt  sich  für  den  Obersatz  setzen : 
Wenn  B  nicht  gilt,  gilt  A  nicht 
Wenn  A  nicht  gilt,  gilt  C 
Wenn  B  nicht  gilt,  so  gilt  C. 


876       §  50.     Der  hypoth.  Schluss  vermittelst  einer  Einsetzung.      427 

auch  bei  ihm  erhellt  die  Nothwendigkeit  wenigstens  zweier 
Prämissen.  Was  aber  von  zwei  Gliedern  gilt,  gilt  ebenso 
ins  Unbegrenzte;  mit  dem  Grunde  ist  jede  Folge  der  Folge 
gesetzt  und  so  entsteht  die  Möglichkeit  einer  ganzen  Reihe 
von  Folgerungen  ,  welche  den  ersten  Grund  mit  der  letzten 
Folge  zusammenzuschliessen  gestatten.  Dies  ist  der  hypothe- 
tische Kettenschluss,  der  zweierlei  Anordnung  der  Prä- 
missen zulässt: 

I.    Wenn  A  gilt  so  gilt  B  IL    Wenn  C  gilt  so  gilt  D 

Wenn  B  gilt  so  gilt  C  Wenn  B  gilt  so  gilt  C 

Wenn  C  gilt  so  gilt  D  Wenn  A  gilt  so  gilt  B 

Wenn  A  gilt  so  gilt  D  Wenn  A  gilt  so  gilt  D. 

Die  Ordnung  der  Prämissen  geht  im  ersten  Fall  zu  wei- 
tern und  weiteren  Folgen  herab  (episyllogistisch),  im 
zweiten  Fall  zu  weiter  zurückliegenden  Gründen  zurück  (p  r  o- 
syllogis  ti  seh). 

§  £0. 

Während  bei  dem  gemischten  hypothetischen  Schlüsse  die 
hypothetische  Regel  nur  ein  bestimmtes  Urtheil  von  einem 
bestimmten  andern  abzuleiten  gestattet ,  wird  eine  hypothe- 
tische Regel  auf  unbestimmt  viele  Urtheile  anwend- 
bar ,  wenn  die  Folge  sich  nur  daran  knüpft ,  dass  ein  be- 
stimmtesPrädicat  irgend  einem  beliebigen  Subjecte  bei- 
gelegt wird.  In  diesem  Falle  findet  eine  Einsetzung  eines 
bestimmten  Subjects  (npoolri^ic,)  im  Untersatze  statt,  um  den 
Schluss  herbeizuführen. 

i.  Wenn  es  sich  nur  darum  handelte,  in  einer  allgemeinen 
Formel  die  wesentlichen  Bedingungen  darzustellen  ,  die  alles 
Schliessen  eben  dadurch  erfüllen  muss,  dass  es  die  Gültigkeit 
eines  Urtheils  aus  der  Gültigkeit  eines  andern  ableitet,  so 
wäre  die  logische  Theorie  des  Schliessens  bereits  zu  Ende. 

Allein  diese  Formel  des  hypothetischen  Schlusses  leidet 
an  einem  Mangel,  der  ihren  Werth  wesentlich  beeinträchtigt, 
dass  nemlich ,  wenn  nur  nach  ihr  geschlossen  werden  könnte, 
für  jede  Ableitung  eines  einfachen  Urtheils  aus  einem  andern 


428  n»  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  377 

eine  besondere  Regel  nothwendig  wäre,  wir  also  ebensoviele 
Regeln  als  Fälle  der  Anwendung  hätten;  für  jede  Ableitung 
eines  hypothetischen  Urtheils  aber  sogar  zwei  weitere  erfor- 
dert würden;  dass  ferner,  um  irgend  einen  Schluss  zu  machen, 
alles  schon  fertig  gedacht  sein  müsste,  was  den  Fortgang  von 
einem  Urtheil  zum  andern  möglich  macht,  und  somit  ein 
wirklicher  Fortschritt  im  Urtheilen,  ein  wahrhaft  synthe- 
tisches Urtheilen  nicht  möglich  wäre.  Alles,  was  im  Process 
unseres  Denkens  wahrhaft  werthvoll  ist,  den  Fortgang  zu 
neuen  urtheilen ,  setzt  der  hypothetische  Schluss  in  der  ein- 
fachsten oben  aufgestellten  Form  immer  als  im  Wesentlichen 
schon  geschehen  voraus;  denn  gerade  die  Erkenntniss,  dass 
ein  Urtheil  von  einem  andern  nothwendig  abhängt,  ist  das- 
jenige, was  wir  zunächst  suchen. 

2.  Eine  weitere  Entwicklung  der  Theorie  des  Schliessens 
muss  also  an  die  Frage  anknüpfen,  was  es  denn  sei, 
worin  jene  Noth wendigkeit  des  Zus  ammenhangs 
zwischen  A  und  X  beruhe?  und  ob  es  kein  anderes 
Mittel  gebe ,  zu  einem  hypothetischen  Urtheil  zu  gelangen, 
als  den  reinen  hypothetischen  Schluss,  der  immer  wieder  hy- 
pothetische Urtheile  voraussetzt?  Ob  also  alle  einzelnen  Zu- 
sammenhänge dieser  Art  als  ein  Letztes  betrachtet  werden 
können,  das  keiner  weiteren  Analyse  mehr  fähig  ist,  oder  ob 
es  möglich  sei,  auf  wenigere  Gesetze  die  Nothwendigkeit  zu- 
rückzuführen ? 

In  vielen  Fällen  ist  allerdings  ein  solcher  Zusammenhang, 
den  ein  hypothetisches  Urtheil  zwischen  einem  ganz  bestimmten 
Vordersatz  und  einem  ganz  bestimmten  Nachsatz  ausspricht, 
ein  Letztes,  und  die  Consequenz  unmittelbar  gegeben.  Jeder 
Vorsatz,  den  ich  für  eine  bestimmte  Eventualität  fasse,  jedes 
Versprechen,  das  ich  für  einen  gewissen  FaU  gebe,  jeder  Ver- 
trag, den  ich  schliesse,  schafft  ein  durch  meinen  Willen  gültiges 
hypothetisches  Urtheil,  und  die  Ausführung  des  Vorsatzes,  die 
Erfüllung  des  Versprechens  oder  des  Vertrages  geht  auf  einen 
solchen  einfachen  hypothetischen  Schluss  zurück:  Wenn  A  ist, 
so  soll  B  sein,  A  ist,  also  soll  B  sein.  Der  Zusammenhang 
ist  durch  meinen  Willen  gesetzt,  und  ist  gültig  durch  meinen 
thatsächlichen  Willen ;  die  Nothwendigkeit,  die  darin  gegründet 


378       §  50.     Der  hypoth.  8chlnss  vermittelst  einer  Einsetzung.       429 

ist,  lässt  keine  weitere  Analyse  zu ;  es  ist  direct  die  Abhängig- 
keit eines  bestimmten  ürtheils  von  einem  anderen  bestimmt. 
(Vergl.  oben  §  36  S.  288  Note). 

3.  Allein  ebenso  kann  das  Gesetz,  nach  welchem  X  aus 
A  hervorgeht,  noch  ein  anderes  sein,  als  das  Urtheil:  Wenn 
A  gilt,  so  gilt  X.  Spinoza  schliesst  Eth.  I,  11:  Wenn  irgend 
etwas  existiert,  so  existiert  ein  absolut  unendliches  Wesen; 
nun  existiere  jedenfalls  ich;  also  existiert  ein  absolut  unend- 
liches Wesen,  d.  h.  Gott.  Allgemein  ausgedrückt:  Aus  dem 
Urtheil  A  ist  B  (Ich  existiere)  folgt  das  Urtheil  C  ist  D  (Gott 
existiert)  nicht  bloss  dann,  wenn  feststeht:  wenn  A  B  ist,  so 
ist  C  D,  sondern  auch  dann,  wenn  feststeht:  wenn  irgend  etwas 
B  ist ,  so  ist  C  D ;  wenn  also  das  abgeleitete  Urtheil  mit 
Nothwendigkeit  folgt,  sobald  das  Prädicat  irgend  einem  Sub- 
jecte  zukommt,  wenn  es  nicht  bloss  Folge  der  Pradicierung 
eines  bestimmten  Subjects,  sondern  Folge  jeder  Pradicierung 
eines  beliebigen  Subjects  mit  diesem  Pradicate  ist. 

4.  Ein  solches  Gesetz  begreift  vermöge  seiner  Allgemein- 
heit eine  unbestimmte  Menge  einzelner  Fälle  unter 
sich;  und  die  Allgemeinheit  beruht  darauf,  dass  die  Folge 
nur  von  dem  Prädicat,  nicht  von  dem  bestimmten  Subject 
abhängt,  dem  dieses  Prädicat  ertheilt  wird. 

Neben  der  Ableitung,  welche  der  hypothetische  Schluss 
ausspricht,  findet  also  hier  noch  eine  Einsetzung  eines 
bestimmten  Subjects  für  den  unbestimmten  Träger  des  Prä- 
dicats,  oder  dasjenige  statt,  was  die  Aristoteliker  ein  Tzp6aXri(\)ic, 
nannten*).  Dadurch  dass  dasselbe  Prädicat  einer  unbe- 
stimmten Menge  von  einzelnen  Subjecten  zugetheilt  werden 
kann,  gilt  die  Folge  für  jedes  einzelne  Urtheil,  in  welchem 
diese  Zutheilung  wirklich  stattfindet.  Und  dies  ist  nach  §  31,  8 
S.  243  und  §  33,  2  S.  257  d  ie  einzige  F  orm,  in  welcher 
die  Nothwendigkeit  als  solche  erkennbar  ist. 

5.    Wäre  das  hypothetische  Urtheil  ein  solches,  das  ein 


*)  In  dem  Schlüsse: 

xaO-'  ou  xb  B  xaxa  xonxou  xb  A 
B  xaxd  xo5  T 

A  xaxa  xou  F  ist  der  Untorsatz  die  rtp'iaXYjcj^tf;     Verl.  Pranil 
1,  376  tt".  und  mein  Programm  S.  ü. 


430  ^l  3-    ^^e  Regeln  des  Schlusses.  379 

Prädicat  von  einem  andern  Pr'adicat  desselben 
Subjects  abhängig  macht,  von  der  Form:  Wenn  etwas  A 
ist,  so  ist  dasselbe  auch  B:  so  würde  es  jetzt  nicht  bloss 
eine  Manigfaltigkeit  von  Voraussetzungen  für  dieselbePolge 
begreifen,  sondern  eine  gleiche  Manigfaltigkeit  von  Folgen  in 
sich  fassen ;  die  Einsetzung  des  bestimmten  Subjects  fände  so- 
wohl im  Vordersatz  als  im  Nachsatz  statt. 

Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  Bi 

C  ist  A 

also  ist  C  B 
Dieser  Schluss  ist  kein  einfacher  hypothetischer  mehr, 
sondern  er  ist  dadurch  vermittelt,  dass  im  Untersatz  ein  be- 
stimmtes Subject  genannt  ist,  an  dem  die  Prädicierung  zutrifft, 
für  welche  zuerst  nur  ein  mögliches  Subject  überhaupt  vor- 
ausgesetzt war.  Das  hypothetische  Urtheil  begreift  in  seiner 
Formel  die  einzelnen  Urtheile:  Wenn  C  A  ist,  so  ist  C  B; 
wenn  D  A  ist,  so  ist  D  B  u.  s.  f. ;  es  macht  also  eine  un- 
bestimmte Menge  einzelner  Folgen  nothwendig.  Zu  der  Noth- 
wendigkeit,  welche  der  Obersatz  ausspricht,  tritt  seine  allge- 
meine Anwendbarkeit;    die  Regel   ist  ein  Gesetz    geworden. 

6.  Aehnliches  gilt  von  hypothetischen  ürtheilen,  welche 
nicht  an  einfache  Prädicierungen ,  sondern  an  Verhältnisse 
von  Relationen  weitere  Folgen  knüpfen,  deren  Ausdruck  eben- 
darum verwickelter  wird.  Wenn  zwei  Grössen  derselben  dritten 
gleich  sind,  sind  sie  unter  sich  selbst  gleich  ,  behauptet  ein 
Verhältniss  von  Relationen  für  alle  beliebigen  Objecte,  welche 
unter  diese  Relationen  fallen;  schliesse  ich  daraus  A  ^  B, 
C  =  B,  also  A  =  C,  so  habe  ich  wiederum  in  die  allgemeine 
Formel  die  bestimmten  Grössen  A,  B,  C  eingesetzt,  von  denen 
das  Relationsprädicat  der  Gleichheit  gilt;  die  Assumtion  sagt 
nicht,  dass  überhaupt  zwei  Grössen  derselben  dritten  gleich 
sind,  sondern  dass  diese  bestimmten,  A  und  C,  derselben  dritten 
B  gleich  sind.  Die  Einsetzung  muss  sich  in  diesem  Falle  in 
einer  Mehrheit  von  einzelnen  ürtheilen  vollziehen,  welche  zu- 
sammen erst  die  Anwendung  des  Vordersatzes  enthalten. 

7.  Der  Satz,  dass  eine  der  Prämissen  einen  nothwendigen 
Zusammenhang  aussprechen  müsse,  scheint  durch  eine  Menge 
Beispiele  aus  der  gewöhnlichen,  auch  wissenschaftlichen  Praxis 


379        §  50.    Der  hypoth.  Schluss  vermittelst  einer  Einsetzung.      431 

widerlegt  zu  werden*).  Ich  schliesse:  A  ist  der  Vater  von 
B,  B  der  Vater  von  C,  also  A  der  Gross vater  von  C ;  Breslau  liegt 
in  Schlesien,  Schlesien  in  Preussen,  also  liegt  Breslau  in  Preussen ; 
A  =  B,  B  =  C,  also  A=C;  A>B,  B>  C,also  A  >  C;  A  ist 
rechts  von  B,  B  rechts  von  C,  also  A  rechts  von  C  u.  s.  f. 
Allein  es  ist  nur  ein  Schein,  dass  diese  Prämissen  für  sich 
den  Schlusssatz  begründen,  und  dass  ein  allgemeiner  Obersatz 
fehle.  Kein  Zweifel,  dass  wir  mit  grÖsster  Sicherheit  in  diesen 
Fällen  schliessen,  ohne  eines  allgemeinen  Obersatzes  bewusst 
zu  sein  oder  ihn  ausdrücklich  zu  formulieren,  im  letzten  Bei- 
spiel den  Satz:  Wenn  A  rechts  von  B  und  B  rechts  von  C, 
so  ist  nothwendig  A  rechts  von  C;  aber  wäre  der  Schluss 
gültig,  wenn  nicht  dieser  Obersatz  wahr  wäre,  oder  der  all- 
gemeinere: Was  rechts  von  einem  zweiten  liegt,  welches  selbst 
rechts  von  einem  dritten  ist,  liegt  auch  rechts  von  diesem 
dritten?  Die  unmittelbare  Anschaulichkeit  der  räumlichen 
Verhältnisse  oder  der  Grössenverhältnisse  und  die  unausgesetzte 
Gewohnheit  ihre  Beziehungen  zu  denken  erspart  allerdings 
die  Nothwendigkeit,  die  Gesetze  unter  denen  sie  stehen,  jedes- 
mal in  Worten  zu  formulieren ;  nichtsdestoweniger  trägt  nur 
die  Gültigkeit  des  nothwendigen  Zusammenhangs 
der  verschiedenen  Verhältnisse  die  Folgerung,  wie 
ja  die  Mathematik  den  Grundsatz:  zwei  Grössen,  die  derselben 
dritten  gleich  sind,  sind  unter  sich  selbst  gleich,  ausdrücklich 
voranstellt.  Es  handelt  sich  in  der  logischen  Untersuchung 
überall  nicht  um  das,  was  im  wirklichen  Folgern  ausdrücklich 
gedacht  und  mit  Bewusstsein  hervorgehoben  wird ,  sondern 
um  das,  was  gelten  muss,  wenn  ein  Schluss  gültig  sein  ,  die 
Conclusion  aus  den  Prämissen  mit  Nothwendigkeit  folgen  soll. 
Die  Sätze  A  -  B ,  B  -  C  bilden  in  der  That  nicht  die  ein- 
zigen Prämissen  des  Schlusses;  sie  enthalten  nur  die  Assum- 
tion,  die  jetzt  in  zwei  Gliedern  besteht;  der  Fortgang  von 
ihnen  zu  dem  Schlusssatz  A  ^-  C  beruht  auf  der  Einsicht  in 
die  Nothwendigkeit,  dass,  wenn  A  ^  B  und  B  -^  C,  dann 
auch  A  -^  C. 


*)  Vergl.  die  Aiisführungon  von  F.  H.  Bradley  in  seinem  durch 
Originalität  hervorrngenden  und  durch  vielfach  treffende  Kritik  lehr- 
reichen Werke  The  principles  of  Logic,  London   l^Ho  S.  2X7. 


/ 


432  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  379 

Die  Beispiele  zeigen  aber  die  Wichtigkeit  der  soeben  (6.) 
hervorgehobenen  Classe  von  Zusammenhängen,  und  die  Häufig- 
keit der  Schlüsse  aus  Obersätzen,  welche  sagen,  dass  zwei 
Relationen ,  in  denen  ein  Object  zu  zwei  andern  steht ,  eine 
dritte  zwischen  diesen  letzteren  noth wendig  machen ;  und  viele 
der  Obersätze,  die  zuletzt  allem  Schliessen  zu  Grunde  liegen, 
werden  darum  die  Form  von  hypothetischen  Urtheilen  an- 
nehmen, deren  Vordersatz  zweigliedrig  ist,  indem  er  eine 
doppelte  Relation  enthält.  Auch  das  Princip,  auf  das  hin 
Identität  erschlossen  wird,  gehört  hieher;  auch  Identität  ist 
ja  eine  Relation  zwischen  Gedachtem;  A  identisch  mit  B,  B 
identisch  mit  C  ergibt  A  identisch  mit  C  nur  dadurch ,  dass 
vermöge  des  Begriffs  der  Identität  aus  den  beiden  ersten 
Identitäten  die  dritte  folgt,  also  das  Gesetz  gilt:  Was  mit 
demselben  dritten  identisch  ist,  ist  unter  sich  identisch. 

Ebenso  beruht  das  Recht,  in  jedem  Urtheil  Subject-  oder 
Prädicatswort  durch  einen  gleichgeltenden  Ausdruck  zu  er- 
setzen —  mag  es  sich  um  verschiedene  Bezeichnungen  eines 
und  desselben  Individuums ,  oder  um  verschiedene  Ausdrücke 
für  Begriffe  handeln  —  auf  der  Einsicht,  dass  von  demselben 
dasselbe  bejaht  und  verneint  werden  muss*). 

8.  Die  geistige  Operation,  die  wir  bei  solchem  Schliessen 
wirklich  vollziehen,  bietet  Unterschiede  dar,  welche  zu  ver- 
schiedenen Auffassungen  des  Schlusses  überhaupt  geführt  haben. 
Von  einer  Seite  wird  darauf  hingewiesen,  dass  der  eigentliche 
Vorgang  im  Schliessen  in  einer  Synthese  verschiedener  Ele- 
mente bestehe,  und  dass  der  Schlusssatz  nur  diese  Synthese 
analysiere,  und  insofern  ein  unmittelbares  Urtheil  sei.  Wenn 
ich  schliesse:  A  links  von  B,  B  links  von  C,  also  A  links 
von  C,  so  gibt  mir  die  Zusammenfassung  der  beiden  Prämissen 
bereits  die  drei  Punkte  A,  B,  C  in  dieser  bestimmten  Lage, 
aus  der  unmittelbar  erhellt,  dass  A  links    von  C  liegt.     Das 


*)  Nur    um    eine    solche    Ersetzung    eines  Ausdrucks    durch    einen 
andern  handelt  es  sich  direct  in  solchen  Beispielen  wie  : 
Aristoteles  war  der  Philosoph  von  Stagira 
Aristoteles  war  der  Erzieher  Alexanders,  also  etc., 
die  nur  durch  irgend    welche  Nebengedanken   eine  Bedeutung  erhalten 
können,  die  sie  über  das  Niveau  leerer  Wortspielerei  erhebt. 


379       §  50.     Der  hypoth.  Schluss  vermittelst  einer  Einsetzung.       433 

Wesen  des  Schlnssprocesses  ist  also  die  Combination  verschie- 
dener Elemente  zu  einem  Ganzen ,  eine  Construction ,  welche 
dasjenige  bereits  fertig  gibt,  was  der  Schlusssatz  ausspricht*). 
Ebenso,  wenn  wir  ein  Individuum  S  haben,  das  einen  Com- 
plex  greifbarer  und  sichtbarer  Merkmale  M  hat,  in  diesem 
Complex  eine  wahrnehmbare  Eigenschaft  P,  so  ist  S  und  M 
und  P  wie  das  Bild  eines  einzigen  Dinges  vor  uns.  Die  Er- 
kenntniss,  dass  P  an  und  in  dem  S  ist,  ist  ebenso  klar  und 
zwar  aus  demselben  Grunde  evident,  wie  dass  M  ihm  zukommt 
oder  P  dem  M  zukommt.  Die  Prämissen  stellen  eine  Ver- 
bindung her,  welche,  nachdem  sie  erschaut  ist,  die  Zusammen- 
gehörigkeit der  im  Schlusssatz  verknüpften  Elemente  unmittel- 
bar erkennen  lässt**).  Nach  der  entgegengesetzten  Auffassung 
müsste  das  Schliessen  darin  bestehen ,  dass  durch  die  Ver- 
gleichung  der  beiden  Prämissen  die  Nothwendigkeit  erkannt 
würde,  dem  Subjecte  S  ein  Prädicat  P  beizulegen,  und  auf 
Grund  dieser  eingesehenen  Nothwendigkeit  erst  würde  der 
Gedanke  der  Einheit  S  P  wirklich  vollzogen;  der  Schliessende 
verhielte  sich  gerade  wie  einer,  der  das  Urtheil  SP  von 
einem  Zweiten  hörte;  in  den  beiden  Prämissen  bekommt  er 
die  Vorstellungen  zunächst  getrennt,  welche  er  nun  zu  einem 
Ganzen  zu  vereinigen  aufgefordert  ist.  Mit  andern  Worten: 
nach  der  ersten  Auffassung  fällt  das  eigentliche  Schliessen 
vor  die  Formulierung  des  Schlusssatzes ,  dieser  spricht  nur 
analytisch  die  gewonnene  Erkenntniss  aus;  nach  der  zweiten 
erzeugt  es  zunächst  die  Einsicht,  dass  das  Prädicat  P  dem  Subjecte 
S  beigelegt  werden  müsse,  und  auf  diesem  synthetischen  Wege 
entsteht  der  Gedanke  der  Einheit  SP.  Diesen  letzteren  Weg 
hat  die  gewöhnliche  Betrachtung  der  Syllogismen  um  so  ge- 
wisser im  Auge,  je  bestimmter  sie  durch  ihre  Schlussregeln 
und  Schlussfiguren  das  Schliessen  mechanisieren,  und  in  eine 
Art  von  Rechnen  verwandeln  will.  Bei  einer  algebraischen 
Rechnung  operiere  ich  nur  mit  den  Zeichen;  erst  am  Schlüsse 
interpretiere  ich  die  so  gewonnene  Gleichung,  indem  ich  mir 
nun  das  bezeichnete  wieder  vergegenwärtige,  und  ich  habe  das 
Resultat  nicht  vor  dem  Schlusssatz,  sondern  durch  den  Schluss- 


*)  vergl.  Bradley,  Principles  of  Logic  S.  235. 
*♦)  Schuppe,  Erk.  Logik  S.  260. 

8  i  g  w  ar  t ,  Logik.    I.    2.  Auflage.  2ö 


434  H»  3.     Die  Regeln  des  Schlusses.  379 

satz.  Aber  auch  wo  es  sich  nicht  bloss  darum  handelt,  dass 
eine  Schlussoperation  zuerst  nur  in  Worten  oder  Zeichen  ge- 
macht und  dann  das  Hesultat  verstanden  wird,  hängt  es  von 
der  Beschaffenheit  dessen  woraus,  und  dessen  was  geschlossen 
wird  ab,  ob  sich  die  Prämissen  sofort  zu  Einem  Ganzen  zu- 
sammenfügen, das  dann  nur  analytisch  ausgesprochen  würde. 
Wo  es  sich  um  eine  negative  Prämisse  handelt,  ist  jene 
Synthese  schon  durch  das  Wesen  der  Negation  ausgeschlossen; 
aber  auch  bei  positiven  Prämissen  wird  sich  die  Ansicht 
Bradleys  nicht  durchführen  \  lassen ,  sobald  es  sich  um  Rela- 
tionen handelt,  welche  nicht  Gegenstand  so  unmittelbar  evi- 
denter Anschauung  sind ,  wie  die  einfachen  räumlichen  Ver- 
hältnisse, von  denen  er  ausgeht,  oder  um  Prädicate,  die  nicht 
zu  dem  immer  gegenwärtigen  Inhalt  des  Mittelbegriffs  gehören. 
•  Jedenfalls  aber  betrifft  der  hervorgehobene  Unterschied  in 
dem  Schlussverfahren  nur  den  psychologischen  Hergang;  die 
Frage,  ob  der  Schlusssatz  aus  den  Prämissen  nothwendig  folgt, 
wird  dadurch  nicht  afficiert.  Denn  wo  wirklich  jene  Synthese 
stattfindet,  die  der  Schlusssatz  nur  analytisch  ausspricht,  da  ist 
sie  nur  dann  nothwendig  und  eindeutig  bestimmt,  wenn  ein 
Gesetz  da  ist ,  welches  diese  Synthese  vorschreibt  und  jede 
andere  unmöglich  macht;  A  links  von  B,  B  links  von  C  bringt 
eben  nur  darum  die  Synthese  A — B — C  zu  Stande,  weil  das  Ge- 
setz der  räumlichen  Verhältnisse  sie  vorschreibt.  Ob  im  einzelnen 
Falle  dieses  Gesetz  ohne  ausdrückliches  Bewusstsein  nur  in 
der  Synthese  befolgt  wird,  oder  ob  es  als  bewusster  Grund 
die  Synthese  leitet,  ist  für  die  Abhängigkeit  der  Wahrheit 
des  Schlusssatzes  von  der  Wahrheit  der  Prämissen  gleichgültig. 

§  51. 

Die  allgemeine  hypothetische  Regel  selbst,  nach  der  ge- 
schlossen wird ,  hat  synthetischen  Charakter,  wenn  sie 
nicht  in  dem  begründenden  Urtheile  oder  seinen  Elementen 
schon  eingeschlossen  ist,  sondern  zu  demselben  als  ein  Neues 
hinzutritt.  Solche  Regeln  sind  theils  die  Axiome,  welche 
Relationen  verknüpfen,  theils  allgemeine  Sätze ,  welche  durch 


1 


380  §  51.     Verschiedene  Quellen  hypoth.  Obersätze.  435 

einen  Indnctionsschluss  aus  der  Erfahrung  gewonnen  sind, 
theils  Gesetze,  die  einen  von  dem  Wollen  festgestellten  Zu- 
sammenhang aussprechen. 

Andere  hypothetische  Regeln  sind  mit  dem  begründenden 
Urtheile  selbst  schon  gegeben  und  können  aus  demselben 
analytisch  entwickelt  werden,  und  zwar  entweder  aus  der 
Form  desselben ,  sofern  der  Urtheilsact  selbst  unter  allge- 
meinen logischen  Gesetzen  steht,  oder  aus  dem  Inhalt  der 
Begriffe,  die  seine  Elemente  bilden,  sofern  diese  allgemeine 
Urtheile  einschliessen. 

1.  Hypothetische  Sätze,  welche  im  Sinne  des  vorigen 
Paragraphen  einen  allgemeinen  Zusammenhang  aussagen,  können 
aus  sehr  verschiedenen  Quellen  stammen. 

Zuerst  begegnen  uns  allgemeine  Sätze,  welche  eine  un- 
mittelbar einleuchtende  Nothwendigkeit  hinsichtlich  der  Re- 
lationen bestimmter  Objecte  unserer  Vorstellung  aussagen 
(synthetische  Urtheile  a  priori  im  Sinne  Kants) ;  dahin  gehören 
vor  allen  die  mathematischen  Axiome,  welche  den  Zusammen- 
hang von  Relationen  der  Zahl,  des  Raumes  oder  der  Zeit  aus- 
drücken. 

Andere  allgemeine  Zusammenhänge  können  geglaubt 
werden  auf  Grund  einer  beständigen  und  ausnahmslosen  Er- 
fahrung. Wie  es  möglich  ist,  von  einzelnen  Wahrnehmungen 
aus  auf  Urtheile  von  allgemeiner  unbedingter  Gültigkeit  zu 
kommen,  werden  wir  im  dritten  Theile  zu  untersuchen  haben; 
genug,  dass  nach  allgemeiner  Ueberzeugung  eine  Menge  noth- 
wendiger  Zusammenhänge  aus  der  Erfahrung  zu  entnehmen 
sind.  Dass  ein  Körper  sich  ausdehnt,  wenn  er  erwärmt  wird, 
dass  weisses  Licht,  wenn  es  durch  ein  brechendes  Medium  hin- 
durchgeht, zerlegt  wird  u.  s.  f.,  sind  solche  Gesetze;  wenn  die 
Voraussetzung  in  irgend  einem  Falle  zutrifft,  schliessen  wir 
mit  Sicherheit,  dass  in  demselben  Falle  auch  die  im  Gesetze 
genannte  Folge  eintreten  müsse;  und  die  letzte  Basis  dieser 
Sicherheit  sind  einfache  Thatsachen  der  Wahrnehmung,  welche 
den  einen  Vorgang  mit  dem  andern  verknüpft  zeigen. 

In  weitem  Umfang   ferner  bewegt    sich    unser  Schliessen 

28* 


436  H.  3.     Die  Regeln  des  Schlusses.  380 

in  der  Anwendung  allgemeiner  Gesetze,  welche  unserem  Wollen 
entspringen  und  bestimmt  sind,  unser  Wollen  zu  regeln.  In- 
dem wir  für  unsere  Handlungsweise  uns  eine  allgemeine  Norm 
vorschreiben,  bestimmen  wir  durch  unsern  Willen  einen  all- 
gemeingültigen Zusammenhang  zwischen  bestinmiten  Beding- 
ungen und  bestimmten  Handlungsweisen ;  aus  dem  Wollen  des 
allgemeinen  Gesetzes  geht  mit  logischer  Nothwendigkeit  das 
Wollen  der  einzelnen  Handlungen  hervor,  die  das  Gesetz  vor- 
schreibt, und  dieser  logische  Zusammenhang  gilt,  sofern  unser 
Wollen  constant  und  mit  sich  einstimmig  ist,  und  gilt  für 
Jeden ,  der  sich  das  Wollen  der  allgemeinen  Regel  aneignet. 
Jedes  Strafgesetzbuch,  das  auf  Raub  Zuchthaus,  auf  Mord 
Todesstrafe  setzt,  stellt  eine  Reihe  solcher  hypothetischer  ür- 
theile  auf,  in  denen  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Begehen 
des  Verbrechens  und  der  folgenden  Strafe  ganz  allgemein 
festgestellt  ist;  und  diese  Festsetzungen  gewinnen  selbst  die 
Bedeutung  theoretischer  Sätze,  sofern  sie  die  allgemeine  Ver- 
pflichtung für  den  Richter  aussagen,  dem  Gesetze  gemäss  zu 
entscheiden. 

Stelle  ich  in  der  analytischen  Geometrie  eine  beliebige 
Formel  auf,  wie  y^  =  px,  so  bestimme  ich  dadurch  die  Con- 
struction  einer  Curve ;  für  jeden  Werth  der  Abscisse  bestimme 
ich  durch  die  Formel  den  zugehörigen  Werth  der  Ordinate; 
diese  Beziehung  zwischen  x  und  y,  welche  den  Sinn  eines 
hypothetischen  Urtheils  hat,  kann  ganz  beliebig,  zu  freier 
Construction  eines  räumlichen  Gebildes  gewählt  sein;  insofern 
ist  eine  solche  Formel  einer  positiven  Festsetzung  vergleichbar. 

In  diesen  Fällen  kommt  zu  dem  Urtheile  A,  aus  dem 
geschlossen  wird ,  ein  allgemeines  Gesetz  hinzu ,  das  in  ihm 
selbst  noch  nicht  mitgedacht,  noch  nicht  analytisch  in  ihm 
enthalten  ist. 

2.  Anders,  wenn  es  Zusammenhänge  gäbe,  welche  darin 
schon  eingeschlossen  sind,  dass  ein  bestimmtes  Urtheil  voll- 
zogen oder  gedacht  wäre;  Regeln,  die  man  aus  diesem  Ur- 
theile selbst  entnehmen  könnte,  und  die  auf  Grund  allgemein 
nothwendiger  Gesetze  sagten,  dass ,  wenn  dieses  Urtheil  gilt, 
auch  ein  anderes  gelten  müsse,  die  herbeigezogen  werden 
können,  ohne  dass  man  etwas  ausserhalb  Liegendes  zu  Hülfe  nimmt. 


381     §  52.     Die  Polgerungen  nach  formalen  logischen  Gesetzen.     437 

Wie  kann  in  der  Thatsache,  dass  das  ürtheil  A  ist  B 
gilt,  etwas  weiteres  gefunden  werden?  Auf  doppelte  Weise. 
Theils  dadurch,  dass  in  dem  ürtheil  A  ist  B,  ganz  abgesehen 
von  der  Bedeutung  von  A  und  B,  nur  die  bestimmte  Form 
der  Synthese  beider  Elemente  noch  andere  Formen 
urtheilsmässiger  Verknüpfung  möglich  und  nothwendig  macht; 
dass  es  also  Gesetze  gibt,  unter  denen  alles  Urtheilen  über- 
haupt steht,  und  nach  denen  aus  jedem  beliebigen  Ürtheil 
noch  andere  Urtheile  mit  denselben  Elementen  hervorgehen. 
Theils  aber  dadurch,  dass  in  der  Prädicierung  des  Subjects  A 
mit  dem  Prädicat  B  noch  andere  Urtheile  vermöge  der 
bestimmtenBedeutung  vonAundB,  die  sie  in  diesem 
Urtheile  haben,  eingeschlossen  sind.  Dort  würden  die  Regeln 
formelle,  bier  materielle  sein. 

§  52. 

Auf  dem  allgemeinen  Wesen  des  Urtheils  selbst,  welches  bei 
jedem  Inhalte  dasselbe  ist,  beruhen  die  sogenannten  unmit- 
telbaren Folgerungen,  welche  nur  Umformungen 
eines  gegebenen  Urtheils  selbst  sind.  Als  solche 
pflegen  aufgezählt  zu  werden  die  Folgerungen  der  Oppo- 
sition, der  Veränderung  der  Relation,  der  Aequi- 
pollenz,  der  S  ubal  tern  ati  on,  der  modalen  Conse- 
quenz,    der  Conversion    und   der  Contraposition. 

1.  Die  nächstliegenden  Folgerungen,  welche  lediglich  aus 
dem  Sinne  des  Urtheilens  selbst  abgeleitet  werden  können, 
pflegen  in  der  Regel  gar  nicht  aufgeführt  zu  werden.  Das 
Ürtheil  A  ist  B  schliesst  das  Ürtheil  ein:  Es  ist  wahr,  dass 
A  B  ist,  und  es  ist  nothwendig  zu  behaupten,  A  ist  B ;  eben- 
so: A  und  B  sind  vereinbar. 

2.  Daran  schliesst  sich  die  Folgerung  der  Opposi  tion 
d.  h.  aus  der  Wahrheit  eines  Urtheils  auf  die  Falschheit  des 
contradictorischen  Gegentheiles,  und  umgekehrt  aus  der  Falsch- 
heit eines  Urtheiles  auf  die  Wahrheit  seines  contradictorischen 
Gegentheils;  die  Basis  dieser  Folgerung  ist  der  Satz  des 
Widerspruchs  und  der  doppelten  Verneinung,  der  einfach  sagt, 


438  n,  3.     Die  Regeln  des  Schlusses.  382 

die  Urtheile  A  ist  nicht  B,  und  Es  ist  falsch,  dass  A  B  ist, 
die  Urtheile  A  ist  B  und  Es  ist  falsch ,  dass  A  nicht  B  ist, 
sind  gleichbedeutend.  Ebenso  in  Beziehung  auf  hypothetische 
Urtheile.  Wird  das  Urtheil  Wenn  A  gilt,  so  gilt  B  ver- 
neint, so  heisst  das  soviel  als:  Wenn  auch  A  gilt,  so  gilt 
darum  nicht  B;  ist  dieses  falsch,  so  ist  jenes  wahr. 

3.  Wenn  das  unbedingt  allgemeine  Urtheil  Alle 
A  sind  B  in  das  hypothetische  verwandelt  wird:  Wenn 
etwas  A  ist,  ist  es  B,  so  macht  dieser  Ausdruck  die  Noth- 
wendigkeit  zum  Prädicat,  die  in  dem  unbedingt  allgemeinen 
Urtheil  der  Grund  der  Allgemeinheit  ist;  umgekehrt  drückt 
das  unbedingt  allgemeine,  das  an  die  Stelle  des  hypothetischen 
tritt,  die  Allgemeinheit  als  Folge  der  Nothwendigkeit  aus. 
Ebenso,  wenn  ein  disjunctives  Urtheil  in  hypothetische  zerlegt, 
oder  mehrere  hypothetische  (wenn  A  nicht  B  ist,  so  ist  es  C, 
wenn  A  nicht  C  ist,  so  ist  es  B)  in  ein  disjunctives  (A  ist  ent- 
weder B  oder  C)  zusammengezogen  werden,  so  wird  der  Sinn 
der  sprachlichen  Formen  in  verschiedener  Weise  ausgedrückt. 

4.  Weiter  pflegt  aufgeführt  zu  werden: 

a)  Die  Folgerung  der  Aequipollenz.  Aus  einem  Ur- 
theil A  ist  B  soll  folgen  A  ist  nicht  nonB;  eine  Folgerung, 
welche  wegen  der  Unbestimmtheit  des  nonB  werthlos  ist.  (Der 
Schluss  :  Schnee  ist  weiss,  also  nicht  roth,  kann  nicht  als  bloss 
formaler  betrachtet  werden;  denn  er  setzt  ein  Urtheil  »was 
weiss  ist,  ist  nicht  roth«  voraus,  das  den  Inhalt  der  Prädicate 
betrifft.) 

b)  Die  Folgerung  nach  der  Subalternation,  wonach 
aus  dem  Urtheil  alle  A  sind  B  (oder  nicht  B)  folgen  soll, 
einige  A  sind  B  (oder  nicht  B),  aus  der  Falschheit  des  Ur- 
theils  einige  A  sind  B  (nicht  B)  die  Falschheit  des  Urtheils 
alle  A  sind  B  (nicht  B).  Da  aber  in  den  allgemeinen  Ur- 
theilen  »Alle«  das  eigentliche  Prädicat  ist,  so  ist  diese  Fol- 
gerung von  dem  Inhalt  des  Prädicats  abhängig,  und  ist  nur 
ein  specieller  Fall  der  Regel,  dass  die  kleinere  Zahl  in  der 
grösseren  enthalten  ist;  nach  derselben  Regel  ist  zu  schliessen, 
dass,  wo  drei  sind,  auch  zwei  sind  u.  s.  w.;  es  kann  sich 
also  hier  nicht  um  eine  formale  Umformung  aus  dem  Wesen 
des  Urtheilsacts,  sondern  nur  um  einen  Schluss  aus  der  Bedeu- 


383     §  52.    Die  Folgerungen  nach  formalen  logischen  Gesetzen.    439 

tung  des  Pradicats  handeln.  Mit  demselben  Recht  müsste  es 
als  unmittelbare  Folgerung  gelten,  dass  wo  das  Ganze,  auch 
der  Theil  ist  u.  s.  f. 

c)  Die  Folgerung  nach  der  sog.  modalen  Consequenz 
will  aus  der  Nothwendigkeit  die  Wirklichkeit  und  Möglich- 
keit, aus  der  Wirklichkeit  die  Möglichkeit  ableiten,  ebenso 
aus  der  Verneinung  der  Möglichkeit  die  Verneinung  der 
Wirklichkeit  und  Nothwendigkeit ,  aus  der  Verneinung  der 
Wirklichkeit  die  der  Nothwendigkeit.  Was  den  ürtheilsact 
selbst  betrifft,  so  fallen  Nothwendigkeit,  Wirklichkeit  und 
Möglichkeit  zusammen;  werden  aber  diese  Wörter  als  reale 
Prädicate  gebraucht,  so  ist  die  Folgerung  von  ihrem  Inhalt 
abhängig,  gehört  also  nicht  hieher. 

5.  Die  grösste  Rolle  unter  den  unmittelbaren  Folgerungen 
hat  seit  Aristoteles  die  Conversion  der  Urtheile  ge- 
spielt, durch  welche  aus  einem  Urtheil  A  ist  B  ein  neues 
entstehen  soll,  dessen  Subject  B,  dessen  Prädicat  A  ist.  Man 
lehrt 

das  allgemein  bejahende  Urtheil  Alle  A  sind  B  ergibt 
durch  Conversion  Einige  B  sind  A  (conversio  per  accidens, 
mit  veränderter  Quantität), 

das  allgemein  verneinende  Kein  A  ist  B  ergibt  Kein  B 
ist  A  (conversio  simplex,  mit  unveränderter  Quantität), 

das  particulär  bejahende  Urtheil  Einige  A  sind  B  gibt 
Einige  B  sind  A  (conv.  simplex) , 

das  particulär  verneinende  Einige  A  sind  nicht  B  lässt 
keine  Conversion  zu. 

Soll  diese  Conversion  zunächst  der  bejahenden  Urtheile 
einen  Sinn  haben ,  so  setzt  sie  Urtheile  voraus ,  in  welchen 
das  Prädicat  der  Gattungsbegriff  des  Subjects  ist,  beide  der- 
selben Kategorie  angehören,  und  in  demselben  Sinne  also  das 
Prädicat  Subject  werden  kann,  in  welchem  das  Subject  es 
war;  Urtheile  ferner  über  einzelne  Subjecte,  die  also  zwanglos 
so  aufgefasst  werden  können,  dass  die  genannten  Subjecte 
unter  die  mit  dem  Prädicatswort  bezeichneten  Gegenstände 
gerechnet  werden  können ;  Urtheile  also  wie  alle  Tannen  sind 
Bäume ,  keine  Lerche  ist  eine  Tanne  u.  s.  f. ;  wobei  sich  aus 
dem  Abzählen  die  Richtigkeit  der  Conversion  ergibt. 


440  III  ^-    ^ie  Regeln  de»  Schlusses.  384 

Sind  diese  Bedingungen  nicht  erfüllt,  so  erscheint  die 
Conversion  gewaltsam,  und  der  Sinn  des  ürtheiles  verändert. 
Wenn  ich  sage  alle  Planeten  bewegen  sich  in  Ellipsen ,  so 
liegt  diesem  Urtheil  die  Kategorie  der  Action  zu  Grunde; 
mache  ich  daraus  :  Einiges  in  Ellipsen  sich  bewegende  sind 
Planeten,  so  habe  ich  nicht  das  Prädicat  zum  Subject  gemacht, 
sondern  erst  ein  neues  Subject  aufgestellt,  indem  ich  den 
Begriff  des  Dinges  mit  dem  Prädicat  verband,  und  damit 
einen  unnatürlichen  Begriff  geschaffen,  da  es  widersinnig  ist 
einen  Substanzbegriff  durch  ein  zeitliches  Geschehen  zu  deter- 
minieren ;  und  ich  habe  ein  Subsumtionsurtheil  statt  eines  Ur- 
theils  der  Action.  Der  Uebergang  von  einem  Urtheil  zum 
andern  ist  also  in  der  That  von  der  Bedeutung  der  Termini 
nicht  unabhängig. 

Der  wirklich  bedeutsame  Sinn,  den  eine  solche  Conver- 
sion hat,  ist  nun  einmal  auszusagen,  dass  das  Prädicat  mit 
dem  Subjecte  vereinbar  ist,  und  dann  dem  allgemeinen 
Urtheil  gegenüber  anzudeuten,  dass  daraus,  dass  A  noth- 
wendig  als  B  gedacht  werden  muss,  nicht  folgt,  dass  B  aus- 
schliesslich dem  A  zukommt.  Diese  letztere  Cautel  ist  das  wich- 
tigere; sie  trifft  zusammen  mit  der  Regel,  dass  aus  der  Folge 
nicht  auf  den  Grund  geschlossen  werden  dürfe.  Auf  das 
hypothetische  Urtheil  angewendet,  ergibt  sich  also:  das  Ur- 
theil, wenn  A  gilt,  so  gilt  B ,  darf  nicht  einfach  umgekehrt 
werden,  so  dass  auch  gälte:  Wenn  B  gilt,  so  gilt  A;  es  folgt 
nur  (der  Particularität  des  convertierten  kategorischen  Urtheils 
entsprechend)  wenn  B  gilt,  kann  A  gelten. 

Anders  steht  es  mit  der  Conversion  des  allgemein 
verneinenden  Urtheils.  Sie  drückt  aus,  dass  die  Aus- 
schliessung zweier  Begriffe  immer  eine  gegenseitige  ist;  dass, 
wenn  ein  Subject  A  ein  Prädicat  B  ausschliesst ,  dasjenige, 
dem  dieses  Prädicat  zukommt,  jedenfalls  nicht  A  ist.  Oder 
auf  die  hypothetische  Formel  reduciert,  welche  die  Unbequem- 
lichkeit der  Substantivierung  von  adjectivischen  und  Verbal- 
prädicaten  vermeidet: 

Aus:  Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  nicht  B  folgt: 
Wenn   etwas  B  ist,  so  ist  es  nicht  A. 


384     §  52.     Die  Folgerungen  nach  formalen  logischen  Gesetzen.     441 

Mit  der  Folge,  der  Verneinung  des  Prädicats,  muss  auch 
die  Benennung  durch  den  Subjectsbegriff  aufgehoben  werden. 
6.  Der  Conversion  steht  die  Contraposition  zur  Seite, 
welche  aus  dem  Urtheil  A  ist  B  dadurch  ein  neues  bildet, 
dass  sie  das  sog.  contradictorische  Gegentheil  des  Prädicats 
zum  Subject,  das  Subject  zum  Pradicat  macht,  und  die  Qua- 
lität verändert,  d.  h.  Bejahung  in  Verneinung  und  umgekehrt 
verwandelt.     Danach  soll  sich  ergeben 

aus  Alle  A  sind  B  Kein  nonB  ist  A, 

aus  Kein  A  ist  B  Einiges  nonB  ist  A, 

aus  Einiges  A  ist  B  nichts 

aus  Einiges  A  ist  nicht  B  Einiges  nonB  ist  A. 

Wir  überlassen  dem  Leser  die  Beweise  irgendwo  nachzu- 
lesen, wenn  er  sie  nicht  selbst  suchen  will:  es  bedarf  keiner 
Ausführung,  dass  in  dieser  Gestalt  wir  es  mit  einer  künst- 
lichen Verrenkung  zu  thun  haben,  die  den  guten  Sinn,  der 
diesen  Sätzen  zu  Grunde  liegt ,  durch  das  untractable  nonB 
und  die  Gewaltsamkeiten  der  Subjectivierung  von  Prädicatsbe- 
griffen  verhüllt,  und  Sätze  schafft,  wie  Kein  nicht-gleiche- 
Diagonalen-habendes  ist  ein  Rechteck. 

Der  ganze  Sinn  der  Contraposition  wird  sofort  deutlich, 
wenn  wir  vermittelst  der  h3^pothetischen  Form  als  Pradicat 
lassen  was  Pradicat  ist,  und  statt  Alle  A  sind  B  setzen 
Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  B.  Daraus  folgt 
Wenn  etwas  nicht  B  ist ,  so  ist  es  nicht  A :  und  diese 
Contraposition  tritt  damit  der  Conversion  der  verneinenden 
Urtheile  zur  Seite,  welche  aus: 

Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  nicht  B,  folgert 
Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  nicht  A. 
l    Diese  beiden  Fälle  sog.  reiner  Conversion    und  Contraposi- 
tion haben  guten  Sinn  und  sind  werthvoll;  sie  drücken  nach 
allen  Seiten  aus,  was  mit  der  Behauptung  gesagt   ist,   einem 
Subject    komme   ein  Pradicat   nothwendig   zu    oder  nicht   zu. 
Die  übrigen  Fälle,  welche  nur  particuläre  Urtheile  er- 
geben, zeigen  eben  dadurch  an,  dass  keine  bestimmte  Folge- 
rung möglich,  sondern  nur  die  Unvereinbarkeit  oder  nothwen- 
dige  Zusammengehörigkeit  von  Begriffen  negiert  ist. 
Wenn  gilt  Kein  A  ist  B,  d.  h. 


442  n,  3.    Die  Begeln  des  Schlusses.  386 

Wenn  etwas  A  ist,  so  ist  es  nicht  B, 
so  ist  daraus,  dass  etwas    nicht   B  ist,    nicht  nothwendig  zu 
schliessen,  dass  es  A  sei,  wohl  aber  ist  möglich,  dass  es  A  sei. 

7.  Man  kann  die  Lehre  von  den  unmittelbaren  Folge- 
rungen auch  noch  auf  das  disjunctive  Urtheil  ausdehnen.  Wenn 
A  entweder  B  oder  C,  so  ist  falsch,  dass  es  sowohl  B  als  C, 
und  falsch  dass  es  weder  B  noch  C  ist;  wenn  es  falsch  ist, 
dass  A  entweder  B  oder  C,  so  kann  A  sowohl  B  als  C,  oder 
A  weder  B  noch  C,  oder  A  entweder  B  oder  C  oder  D  sein; 
auch  hier  folgt  der  Schluss  ganz  unabhängig  von  den  bestimmten 
Elementen  des  Urtheils  aus  dem  blossen  Sinne  der  Disjunction. 

8.  Endlich  können,  wenn  man  den  Begriff  der  unmittel- 
baren Folgerung  über  die  hergebrachte  Sphäre  ausdehnt,  auch 
noch  alle  die  Operationen  hiehergezogen  werden,  durch  welche 
wir  eine  Mehrheit  einzelner  Urtheile  zu  conjunctiven  und 
copulativen  zusammenfassen.  Aus  A  ist  B  und  A  ist  C  folgt 
A  ist  sowohl  B  als  C,  aus  A  ist  nicht  B  und  A  ist  nicht  C 
folgt  A  ist  weder  B  noch  C ;  das  conjunctive  Urtheil  drückt 
nur  sprachlich  die  Thatsache  aus,  die  in  dem  Bewusstsein  der 
Gültigkeit  beider  Urtheile  enthalten  ist;  materiell  ist  nichts 
Neues  gesagt,  nur  die  Verknüpfung,  die  thatsächlich  schon 
vorhanden  war,  zum  ausdrücklichen  Bewusstsein  gebracht.  In 
der  Bewegung  unseres  Denkens,  das  die  einzelnen  Erkenntnisse 
ordnet  und  verknüpft,  kommt  diesen  Operationen  eine  hervor- 
ragende Bedeutung  zu,  und  darum  verdienen  sie  hier  ihre 
Stelle  zu  finden. 

9.  Der  Werth  dieser  ganzen  Lehre  von  den  sog.  unmit- 
telbaren Folgerungen  besteht,  nach  MilFs  richtiger  Bemerkung, 
darin,  dass  sie  dasselbe  Urtheil  in  verschiedenen  sprachlichen 
Wendungen  und  Ausdrucksweisen  erkennen  lassen ;  die  Urtheile, 
die  so  aus  einander  gefolgert  werden,  sind  theils  einfache  Um- 
formungen einer  bestimmten  Aussage,  die  dieselbe  in  eine  im 
Zusammenhang  bequeme  Form  zu  bringen  erlauben ,  theils 
stellen  sie  besondere  Seiten  derselben,  welche  im  sprachlichen 
Ausdruck  nicht  besonders  betont  sind  ,  heraus ,  theils  dienen 
sie  als  V  o  r  s  i  c  h  t  s  m  a  s  s  r  e  g  e  1  n ,  damit  nicht  ein  Urtheil 
mit  einem  ähnlichen  verwechselt  und  mehr  darin  gefunden 
werde,  als  darin  liegt. 


386.  387  §  53.     Die  Schlüsse  aus  Begrififsverhältnissen.  443 

§  53. 

Aus  einem  gegebenen  einfachen  Urtlieile  lassen  sich  auf 
Grund  des  Inhalts  seiner  Elemente  andere  ableiten 
nach  Regeln,  welche  theils  aus  der  Analyse  des  Prädi- 
cats  begriffs,  theils  -durch  das  Zurückgehen  auf  den 
Umfang  des  Su  bj  ect  sb  egrif  fs  zu  gewinnen  sind. 

1.  Gilt  ein  Urtheil  A  ist  B ,  so  ist  offenbar  alles  das, 
was  in  B  seinem  begrifflichen  Gehalte  nach  mit- 
gedacht wird,  eben  damit  von  A  behauptet ,  dass  B  von 
A  behauptet  wird;  und  ebenso  alles  das,  was  von  B  seinem 
begrifflichen  Gehalte  nach  ausgeschlossen  ist,  von  A  eben 
damit  ausgeschlossen,  dass  B  von  A  behauptet  wird. 

Enthalte  B  die  Begriffsmerkmale  c,  d,  e;  oder  die  abge- 
leiteten Bestimmungen  f,  g,  h;  schliesse  es  die  Merkmale  m, 
n,  o,  die  Begriffe  P,  Q,  R  u.  s.  f.  aus:  so  ist  c,  d,  e,  f,  g,  h, 
von  A  ebendarum  zu  bejahen,  m,  n,  o,  P,  Q,  R  von  A  eben- 
darum zu  verneinen,  weil  B  von  A  bejaht  wird. 

Diese  begrifflichen  Verhältnisse  sprechen  sich  einfach  aus 
in  den  ürtheilen: 

Wenn  etwas  B  ist,  so  ist  es  c,  d,  e  u.  s.  w. 
Wenn  etwas  B  ist,  so  ist  es  nicht  m,  nicht  n,  nicht  P,  u.  s.  w. 
und  damit,  durch  Analyse  des  Begriffs  B  und  durch  Aufzäh- 
lung des  mit  ihm  Unverträglichen  erhalten  wir  die  Regel, 
um  von  A  ist  B  zu  einem  andern  Urtheile  überzugehen,  nach 
dem  Grundsatz  Nota  notae  est  nota  rei,  repugnans  notae  re- 
imgnat  rei.     Es  gelten  also  die  Schlüsse : 

1.  Wenn  etwas  B  ist,  so  ist  es  c,  d,  e 
__    A.  ist  B 

Also  A  ist  c,  d,  e 

2.  Wenn  etwas  B  ist,  so  ist  es  nicht  P,  Q,  R 
A  Jst  B 

Also  nicht  P,  Q,  R. 
Es  ist  klar,  dass  diese  Schlüsse  gültig  sind,  mag  nun  A 
sein  was  es  will,  ein  Einzelnes  oder  ein  Begriff,  mag  der  Sinn 
in  welchem  das  Prädicat  B  ihm  zugesprochen  wird ,  sein 
welcher  er  will;  was  in  B  begrifflich  mitgedacht  wird,  wird 
mit  ihm  prädiciert,  was  von  ihm  ausgeschlossen  ist,    ist  mit 


444  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  387. 388 

seiner  Prädication  negiert ;  die  neuen  Urtheile  sind  nothwendige 
Folgen  der  Prädication  durch  B. 

Es  ist  ebenso  klar,  dass  wenn  A  ein  bestimmtes 
einzelnes  Subject  ist,  es  gar  keinen  andern  Weg  gibt,  über 
das  Urtheil  A  ist  B  ohne  Zuhüifenahme  weiterer  Sätze  zu 
einem  andern  hinauszukommen. 

2.  Wäre  das  Urtheil  AistB  ein  erklärendes  oder 
ein  unbedingt  allgemeines,  in  welchem  also  die  Be- 
zeichnung des  Subjects  nicht  als  Name  von  bestimmtem  Ein- 
zelnem, sondern  als  Begriffszeichen  verwendet  ist,  so  dass  A 
ist  B  selbst  die  Bedeutung  hätte:  Wenn  etwas  A  ist,  so  ist 
es  B:  so  lässt  sich  über  das  Urtheil  A  ist  B  auch  dadurch 
zu  einem  anderen  gelangen,  dass  B  nun  allem  dem  zu- 
gesprochen wird,  wovon  A  prädiciert  wird,  oder 
was  unter  A  enthalten  ist,  das  Urtheilen  also  auf  die 
einzelnen  Arten  von  A  oder  die  unter  A  befassten  Individuen 
zurückgeht,  wobei  A  ist  B  den  Obersatz  gibt. 
Wenn  etwas  A  ist  so  ist  es  B 
X,  Y,  Z  sind  A 

also  X,  Y,  Z  sind  B. 

Während  also  dort  der  Inhalt  des  ursprünglichen 
Prädicats  expliciert  und  zu  einzelnen  Bestimmungen 
oder  abgeleiteten  Prädicaten  fortgegangen  wird,  wird  im  zweiten 
Fall  der  Umfang  des  ursprünglichen  Subjects 
specialisiert,  und  das  Prädicat  den  unter  dem  ursprüng- 
lichen Subjectsbegriff  befassten  Subjecten  zugesprochen;  nach 
der  Regel  (dem  sog.  Dictum  de  omni)  Quidquid  valet  de 
Omnibus,  valet  etiam  de  singulis,  die  mit  Beziehung  darauf 
aufgestellt  ist,  dass  die  Formel 

Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  B,  in  der  Regel  als  sog.  all- 
gemeines Urtheil 

Alle  A  sind  B  erscheint*). 

*)  Dass  das  sog.  Dictum  de  omni  eine  Consequenz  des  Grundsatzes 
ist :  »Nota  notae  est  nota  rei«  hat  Kant  in  seiner  Schrift  von  der  falschen 
Spitzfindigkeit  der  vier  syllogist.  Figuren  kurz  und  klar  nachgewiesen. 
Das  Einzelne  nemlich  fällt  ja  eben  nur  dadurch  unter  einen  Begriff, 
dass  es  diesen  als  Merkmal  an  sich  hat.  Damit  sind  nicht,  wie  B.  Erd- 
mann (Philos.  Aufsätze   zu  E.  Zellers  Jubiläum   S.  202)   entgegenhält, 


388. 389         §  53.     Die  Schlüsse  aus  Begriffsverhältnissen.  445 

Auch  der  letzteren  Richtung  stellt  sich  die  Negation 
zur  Seite.  Wenn  nemlich  statt  des  bejahenden  Urtheils  das 
verneinende  vorausgienge,  A  ist  nicht  N,  im  Sinne  von  Was 
A  ist,  ist  nicht  N  —  so  gilt  dieselbe  Verneinung  von  allem 
was  A  ist. 

Was  A  ist,  ist  nicht  N 

X,  Y,  Z  sind  A 


X,  Y,  Z  sind  nicht  N. 
(Dictum  de  nuUo). 

3.  Vergleichen  wir  die  beiden  Fälle  der  Analyse  des 
Prädicats  und  der  Specialisierung  des  Subjects ,  so  zeigt  sich, 
dass  sie  trotz  ihres  Unterschieds  doch  auf  dieselbe  Formel 
führen : 

Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  B  (ist  es  nicht  N) 

S  ist  A 

S  ist  B  (S  ist  nicht  N). 
Der  Unterschied  liegt  nur  im  Sinne  der  Pradication, 
vor  allem  des  Untersatzes;  ist  darin  ein  Subject  unter  seine 
Gattung  gestellt,  und  das  Prädicat  desselben  also  im  selben 
Sinne  geeignet,  Subjectsbegriff  zu  werden ,  so  haben  wir  die 
Specialisierung  des  Umfangs  als  die  Tendenz  des  Schlusses;  im, 
andern  Fall  die  Explication  des  Inhalts.  Im  ersten  Fall  ist 
der  Ausdruck  des  Obersatzes  (der  Regel)  in  einem  allgemeinen 
Urtheile  natürlich;  im  zweiten  nicht.  Dort  ist  der  Obersatz, 
hier  der  Untersatz  das  Erste  (§  49,  3). 

In  dem  Schlüsse:  alle  Menschen  sind  sterblich,  Cajus  ist 
ein  Mensch  ,  also  ist  Cajus  sterblich ,  gehe  ich  von  meinem 
ursprünglichen  Satz  in  den  Umfang  des  Subjectsbegriffs ;  in 
dem  Schlüsse: 

Cajus  hat  Fieber, 
Wer  Fieber  hat,  ist  krank 
Also  ist  Cajus  krank, 
gehe  ich  von  meinem  ursprünglichen  Prädicat  »Fieber  haben« 
zu  der  darin  mitgedachten  weiteren  Bestimmung  krank ;  Fieber 


beide  Formeln  gleichgesetzt,  sondern  die  erste  als  die  ursprüng- 
liche primäre,  die  zweite  als  die  abgeleitete  und  secundäre  unter- 
schieden. 


446  tt.  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  389.  390 

haben  ist  kein  Gattungsbegriff  zu  einzelnen  Individuen;  und 
der  Schlnss  der  ein  allgemeines  Urtheil  in  gewöhnlicher  Form 
zum  Obersatze  machte: 

All«  Fiebernden  sind  Kranke 

Cajus  ist  ein  Fiebernder 

Also  ein  Kranker 
ist  zwar  änsserlich  dem  obigen  gleichlautend;    aber  der  Aus- 
druck des  Obersatzes  ist  gezwungen,  und  der  Untersatz  scheint 
eine  Subsumtion  unter   einen  Gattungsbegriff  aussprechen  zu 
wollen,  während  er  doch  einen  zeitlichen  Zustand  bezeichnet. 

4.  Es  ist  klar,  dass  dieses  Explicieren  des  Inhalts  und 
Specialisieren  des  Umfangs  ganz  in  derselben  Weise  auch  auf 
die  verwickeiteren  Relationsurtheile  anwendbar  ist, 
in  welche  ein  derartiges  Prädicat  oder  Subject  eingeht ,  auch 
dann,  wenn  vielleicht  die  sprachliche  Form  die  betreffenden 
Bestimmungen  grammatisch  nicht  einmal  als  Subject  oder 
Prädicat  hinstellt. 

Der  Schluss:  Die  Schwerkraft  ertheilt  allen  Körpern  die- 
selbe Geschwindigkeit ,  also  fallen  ein  Stück  Blei  und  eine 
Feder  (im  luftleeren  Raum)  gleich  schnell  —  löst  sich  in  eine 
doppelte  Folgerung  auf;  einerseits  in  eine  Entwicklung  des 
Prädicats  in  seine  Folgen,  andrerseits  in  eine  Specialisierung 
des  Terminus  »alle  Körper«,  der,  obgleich  nicht  grammatisches 
Subject,  doch  dasjenige  bezeichnet,  worüber  im  Grunde  die 
Aussage  gemacht  ist.  Es  wäre  überflüssig  durch  gewaltsame 
Umformung  erst  diesen  Terminus  auch  grammatisch  zum 
Subject  zu  machen;  das  Recht  der  Einsetzung  der  Species 
für  das  Genus  ist  aus  demselben  Grunde  klar ,  wie  wenn  der 
Obersatz  hiesse  Alle  A  sind  B,  und  es  bedarf  also  keines  be- 
sonderen Substitutionsprincips  neben  dem  Dictum  de 
omni,  um  derartige  Schlüsse  zu  rechtfertigen;  der  Unterschied 
liegt  nur  in  der  grammatischen  Form  der  Sätze. 

5.  Würde  von  einem  ve  rn  einen  d  en  Urt  heile  aus- 
gegangen: so  gälte  nicht,  dass  alles  das,  was  in  dem  ver- 
neinten Prädicat  nothwendig  mitgedacht  wird, 
auch  mit  verneint  wird.  Wenn  ich  verneine,  dass  diese  Figur 
ein  Quadrat  ist:  so  verneine  ich  damit  nicht,  dass  sie  recht- 
winklich  oder  ein  Viereck  ist,  sondern  ich  verneine   nur   den 


390.  391  §  53.     Die  Schlüsse  aus  BegriiFsverhältmssen.  447 

Inbegriff  aller  Merkmale;  ein  Schluss  aus  der  b  1  o  s  s  e  n  A n  a- 
lyse  des  verneinten  Präd  icat  s  ist  also  nicht  möglich; 
es  gilt  nicht:  Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  c,  d 
A  ist  nicht  B 
also  nicht  c,  d 
Es  gälte  ebensowenig,  dass,  was  von  dem  verneinten  Prä- 
dicate  ausgeschlossen  ist,    nun    zu   bejahen    wäre; 
daraus,  dass  etwas  nicht  roth  ist,  folgt  nicht,  dass  es  schwarz 
ist.     Es  gilt  also  nicht 

Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  nicht  C 
A  ist  nicht  B 
also  C. 
Die  Unzulässigkeit  erhellt    daraus,    dass    die  Verneinung 
des  Grundes  die  Verneinung  der  Folge  nicht  nothwendig  macht. 
Gehen  wir  andrerseits  in  den  Umfang  zurück:  so  folgt 
aus  A  ist  nicht  B  ebensowenig ,   dass  nun ,    was  nicht  A  ist, 
B  wäre;  es  folgt  aus  dem  vorigen  Grunde  nicht 
Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  nicht  B 
C  ist  nicht  A 
also  B. 
Wenn  dagegen  Urtheile  da  sind,  welche  Voraussetz- 
ungen   ausdrücken,    die    das    verneinte    Prädicat    zur    Folge 
haben ,    oder    Urtheile ,    welche    den    Umfang    desselben 
special isieren  —  so  ergeben  sich  die  folgenden  Schlüsse 

A  ist  nicht  B  A  ist  nicht  B 

Wenn  etwas  C  ist,  ist  es  B  C,  D,  E  ist  B 

A  ist  nicht~C  "A  ist  nicht  C,  D,  E 

welche  sich  als  Anwendungen  der  Regel,  dass  mit  der  Folge 
der  Grund  aufgehoben  ist,  in  dem  folgenden  Schema  darstellen 
lassen 

Was  A  ist,  ist  B         —  ^   ist  nicht  N 

C  ist  nicht  B C  ist  N 

C  ist  nicht  A  C  ist  nicht  Ä 

(>.  Dies  sind  die  einzig  möglichen  Weisen ,  durch  die 
gegeben  en  Begriffsverhültnisse  über  ein  einfaches 
Urtheil  zu  einem  andern  bestimmten  Urtheil  hinaus  zu  kom- 
men: sie  alle  beruhen  auf  den  beiden  Grundsätzen,  dass,  was 
in  e i n e m  B  e g  r  i  f  f  a  1  s  s  e  i  n  I  n  h  a  1 1  g  e  d  a  c  h  t  w  i  r  d, 


448  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  391.  392 

von  all  dem  bejaht  werden  muss,  wovon  der  Be- 
griff bejaht  wird,  also  auch  von  allen  Arten  des  Be- 
griffs und  von  allen  Individuen,  die  unter  ihn  fallen ;  und  was 
von  einem  Begriff  ausgeschlossen  ist,  von  allem 
ausgeschlossen  ist,  worin  dieser  Begriff  m  itge- 
dacht  wird,  also  von  seinem  ganzen  Umfang;  und  es  ist 
aus  der  Darstellung  klar,  wie  sich  darin  der  Modus  ponens 
und  der  Modus  tollens  des  hypothetischen  Schlusses  zeigt. 

7.  Auf  dasselbe  Resultat  gelangt  man  von  dem  andern 
Ausgangspunkt  (§  49,  2)  aus,  wenn  nämlich  gefragt  wird, 
ob  eine  irgendwie  entstandene  Synthese  A  ist  B  begründet 
sei  oder  nicht?  Wenn  diese  Frage  nicht  sofort  gelöst  wer- 
den kann  dadurch,  dass  B  als  in  A  enthalten  erkannt  wird, 
und  dadurch  A  ist  B  als  analytisches  Urtheil  sich  ausweist, 
wenn  es  also  einer  Vermittlung  bedarf,  um  die  Gewissheit 
herbeizuführen,  dass  A  B  ist:  so  kann  diese  Vermittlung, 
wenn  nicht  anderswoher  Sätze  herbeigezogen  werden  sollen, 
wieder  nur  darin  bestehen,  dass  ein  Prädicat  X,  aus  welchem 
B  noth wendig  folgt,  in  A  entdeckt  werden  kann ;  so  dass  also 
die  beiden  Sätze  gelten:  Wenn  etwas  X  ist,  ist  es  B,  und  A 
ist  X.  Denn  dann  lässt  sich  schliessen  A  ist  B.  Ob  dabei 
X  ein  Gattungsbegriff  zu  A  ist,  dem  B  zukommt,  oder  ob  es 
eine  andere  prädicative  Bestimmung  ist,  zu  deren  Inhalt  B 
gehört,  macht  keinen  wesentlichen  Unterschied;  es  hängt  da- 
von nur  der  Sinn  des  Untersatzes  A  ist  X  ab. 

Die  verneinendeEntscheidung  der  Frage  erfolgt 
ebenso,  sobald  sich  eine  Bestimmung  Y  in  A  entdecken  lässfc, 
von  der  gilt:  Wenn  etwas  Y  ist,  ist  es  nicht  B.  Dann  er- 
folgt der  Schluss : 

Wenn  etwas   Y  ist,  ist  es  nicht  B 

A  ist  Y 
Also  ist  A  nicht  B. 
Diese  beiden  Schemata  stellen  den  kürzesten  und  einfachsten 
Weg  dar,  wie  zur  Entscheidung  über  eine  aufgegebene  Syn- 
thesis  gelangt  werden  könne;  und  sie  stellen  die  einzigen 
Wege  dar,  wenn  vorausgesetzt  wird,  dass  aus  den  besteh- 
enden Begriffsverhältnissen  alle  nothwendigen  Zu- 
sammenhänge abgeleitet,  zuletzt  also  auf  analytische  Urtheile 


8Ö2,  3Ö3  §  53.    Die  Schlüsse  aus  feegriffsverhältnissen.  44^ 

zurückgeführt  werden  müssen.  Darauf  beruht  die  Bedeutung 
des  Mittelbegriffes  für  den  Schluss ;  er  ist  dasjenige, 
was  die  Beilegung  des  Prädicats  B  an  das  Subject  A ,  be- 
ziehungsweise die  Verneinung  desselben  vermittelt,  indem  er 
einerseits  Prädicat  von  A,  andererseits  Subject  eines  allge- 
meinen bejahenden  oder  verneinenden  Urtheils  mit  dem  Prä- 
dicate  B  ist*). 

Die  Verneinung  der  Hypothese  A  ist  B  kann  aber  auch, 
auf  eine  mehr  vermittelte  Weise  erfolgen :  wenn  nämlich  nicht 
unmittelbar  das  Urtheil  vorliegt:  wenn  etwas  Y  ist,  ist  es 
nicht  B,  sondern  zu  dem  Urtheil  A  ist  Y  ein  zweites  hinzu- 
träte: was  B  ist,  ist  nicht  Y;  oder  aber  bekannt  wäre:  was 
B  ist,  ist  Z,  und  A  ist  nicht  Z.     Dann  entstünde 

Was  B  ist,  ist  nicht  Y  Was  B  ist,  ist  Z 

A  ist  Y  A  ist  nicht  Z 

Also  A  ist  nicht  B  Also  A  ist  nicht  B. 

(Im  Grunde  kommt  die  erste  dieser  Formeln  auf  die  vor- 
angehende negative  zurück;  denn  aus:  Was  B  ist,  ist  nicht 
Y,  folgt  auch:  Was  Y  ist,  ist  nicht  B.) 

Diese  Vermittlungsweise  geht  auf  den  Grundsatz  zurück, 
dass,  wenn  ein  Prädicat  von  einem  Subjecte  bejaht,  von  dem 
andern  Subjecte  verneint  wird,  diese  Subjecte  nicht  vereinbar 
sein  können;  sie  wird  naturgemäss  da  an  die  Stelle  der  vor- 
angehenden treten,  wenn  B  ein  substantivischer  Begriff,  Y 
und  Z  aber  Prädicatsbestimmungen  sind,  die  ihrer  Natur  nach, 
nicht  geeignet  sind,  Subjecte  zu  werden.  Wenn  z.  B.  gefragt 
wird,  ob  dieser  Stein  ein  Diamant  ist:  so  weiss  ich,  dass  der 
Diamant  keine  Doppelbrechung  zeigt;  ich  schliesse: 

Was  ein  Diamant  ist,  zeigt  keine  Doppelbrechung 

Dieser  Stein  zeigt  Doppelbrechung 
Also  ist  er  kein  Diamant. 
Diese  Weise  ist  naturgemässer,   als  zu  sagen:   Alles  Doppel- 
brechung zeigende  ist  nicht  Diamant. 

Somit  führt  die  Aufsuchung  der  verschiedenen  möglichen 
Vermittlungen ,    durch  welche  sich  über  eine  gegebene 


:  *)  Vgl.  Kant,    von    der    falschen  Spitzfindigkeit  der  syllogist.  Fi- 

guren §  1. 

S  ig  wart  ,    Logik.  1.  2,  Auflage.  29 


450  11»  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  393.394 

Frage  entscheiden  lässt,  genau  auf  dasselbe  Resultat; 
und  die  obigen  Schlussformen  des  Modus  ponens  und  tollens 
in  ihren  verschiedenen  Bedeutungen  erweisen  sich  also  als 
diejenigen  nach  denen  geschlossen  werden  muss,  wenn  der 
Schluss  auf  den  einfachen  analytischen  Begriffs- 
verhältnissen und  Begriffsgegensätzen  beruhen  soll. 

§  54. 
Die  aus  der  aristotelischen  Theorie  hervorge- 
wachsene traditionelle  Lehre  von  den  kategori- 
schen Syllogismen  ruht  auf  der  Voraussetzung  des  vo- 
rigen §,  dass  die  feststehenden  Begriffsverhält- 
nisse den  Schlüssen  zu  Grunde  liegen.  Ihre  Figuren 
und  Modi,  deren  Unterscheidung  von  dem  Interesse  der 
aristotelischen  Syllogistik  aus  berechtigt  war,  sind  von 
ih  re  m  S  t  andpu  nk  t  aus  überflüssige  Specia- 
lisierungen  ,  welche  sich  einfach  in  die  allgera feineren 
Formeln  des  vorigen  §  auflösen. 

1.  Von  der  Voraussetzung  feststehender  Begriffsverhält- 
nisse ist  denn  auch  die  aristotelische  Syllogistik 
und  die  von  ihr  abhängige  traditionelle  Lehre  ausgegangen. 
Indem  Aristoteles  ein  objectives  Begriffssystem  voraussetzt, 
das  sich  in  der  realen  Welt  verwirklicht,  so  dass  der  Begriff 
überall  ails  das  das  Wesen  der  Dinge  constituierende  und  als 
die  Ursache  ihrer  einzelnen  Bestimmungen  erscheint,  stellen 
sich  ihm  alle  Ui;;tlieile,  die  ein  wahres  Wissen  enthalten,  als 
Ausdruck  der  nothwendigen  Begriffsverhältnisse  dar,  und  der 
Syllogismus  ist  dazu  da ,  die  ganze  Macht  und  Tragweite 
jedes  einzelnen  Begriffs  der  Erkenntniss  zu  offenbaren,  indem 
er  die  einzelnen  Urtheile  verknüpft  und  durch  die  begriffliche 
Einheit  voneinander  abhängig  macht;  und  der  sprachliche 
Ausdruck  dieser  Begriffs  Verhältnisse  ergibt  sich  daraus,  dass 
sie  immer  zugleich  als  Wesen  des  einzelnen  Seienden  erschei- 
nen ,  dieses  also  in  seiner  begrifflichen  Bestimmtheit  das 
eigentliche  Subject  des  Urtheilens  ist,  das  Verhältniss  der 
Begriffe   also  in  dem  allgemeinen    oder    particulären  bejahen- 


395    §  54.   Die  Bedeutung  der  aristoteliscliea  f*iguren  und  Modi.    451 

den  oder  verneinenden  Urtheile  zu  Tage  tritt.  Die  traditio- 
nelle Logik  hat  dagegen  ein  subjectives  Begriffs  Sy- 
stem, das  nicht  erst  in  der  Erkenntniss  zu  suchen,  sondern 
als  Voraussetzung  gegeben  ist,  zu  Grunde  gelegt. 

2.  Das  fundamentale  Verhältniss  ist  nun  das  der 
über-  und  untergeordneten  Begriffe.  Jeder  Be- 
griff hat  .als  sein  natürliches  Prädicat  den  ihm  zunächst  über- 
geordneten ;  sind  also  A,  B,  T  drei  Begriffe,  die  einander  sub- 
ordiniert sind ,  so  spricht  sich  ihr  Verhältniss  in  den  beiden 
Sätzen  aus :  A  xaia  Tiaviö?  xoö  B,  B  xaxa  navzb^  xou  T  ;  und 
daraus  ergibt  sich  durch  den  Syllogismus  A  xaxa  Tcavxö^ 
xoö  r.  Darauf  beruht  die  Terminologie,  welche  B  den  iKi(3oq 
öpOQ  (terminus  medius)  A  und  T  die  beiden  axpa,  und  zwar 
A  das  [letQoy  axpov  (terminus  major),  T  das  sXaxxov  dcxpov 
(terminus  minor)  nennt;  woran  sich  schliesst,  dass  der  erste 
Satz,  der  den  obersten  Begriff  (das  Prädicat  des  Schlusssatzes) 
vom  Mittelbegriff  prädiciert,  die  propositio  major  oder  Ober- 
satz genannt  wurde,  der  zweite,  der  den  Mittelbegriff  vom 
untersten  (dem  Subjecte  des  Schlusssatzes)  prädiciert,  die  pro- 
positio minor  oder  Untersatz;  das  Resultat  des  Syllogismus 
ist  die  conclusio,  der  Schlusssatz. 

So  ist,  wenn  wir  die  gewohnten  Bezeichnungen  P  für  den 
Oberbegriff,  M  für  den  Mittelbegriff,    S  für  den  Unterbegriff 
anwenden,  der  Schluss,  der  das  Wesen  des  Schliessens  am  di- 
rectesten  und  unmittelbarsten  zeigt,  der  bekannte 
Ä  Omne  M  est  P 

(^  Omne  S  est  M 

Ä  ~  lErgong]DQne~S~TsirR 

3.  Indem  nun  Aristoteles  zunächst  den  Unterschied  der 
verneinenden  und  bejahenden  Urtheile  heranzieht, 
zeigt  er,  dass  auch  wenn  der  Obersatz  verneinend  ist,  ein 
Schluss  mit  negativem  Schlusssatz  möglich  ist : 

^      Kein  M  ist  P 
/i      Alles  S  ist  M 
£'     also  Kein  S  ist  P. 
Dagegen    wenn    der    Obersatz   bejahend    wäre,    aber   der 
Untersatz  verneinend,  so  entsteht  kein  Schluss,    »denn  es  er- 
gibt sich  nichts  Noth wendiges  daraus,  dass  jenes  gilt.«     Wenn 

29* 


462  M,  3.   Die  ftegeln  (^es  Schlusses.  3Ö5 

P  allem  M,  dieses  aber  keinem  S  zukommt,  so  kann  P  noch 
allem  S  zukommen  oder  auch  nicht  zukommen  (lebendes  Wesen 
—  Mensch  —  Pferd;  lebendes  Wesen  —  Mensch  —  Stein). 
Ebensowenig  entsteht  ein  Schluss,  wenn  beide  Prämissen  ver- 
neinend sind. 

Nimmt  man  den  Unterschied  der  allgemeinen  und 
particul'aren  ürtheile  hinzu,  so  ergibt  sich  durch  ähnliche 
Ueberlegungen,  dass  der  Obersatz  nicht  particulär  sein  kann, 
wohl  aber  der  Untersatz  ein  bejahendes  particuläres  Urtheil 
sein  darf. 

Man  schliesst  nemlich  dann 

A    Alles  M  ist  P  £  Kein  M  ist  P, 

I    Einiges  S  ist  M  J    Einiges  S  ist  M 

J  also  Einiges  S  ist  P  ö  Einiges  S  ist  nicht  P. 

Dies  sind  die  4  xpoTcotodermodi  des  Syllogismus, 
die  sich  aus  zwei  Prämissen  ergeben,  deren  erste  den  Mittel- 
begriff zum  Subject ,  deren  zweite  ihn  zum  Prädicat  hat ;  es 
sind  die  4vollkommenenSchlüsse  (auXXoyca^iot  teXecol), 
in  denen  die  4  Arten  des  Urtheils  aus  den  den  Mittelbegriff 
in  der  angegebenen  Weise  enthaltenden  Prämissen  abgeleitet 
werden. 

4,  Nun  kann  aber  der  Mittelbegriff  auch  in  beiden 
Prämissen  Prädicat ,  oder  in  beiden  Prämissen  Subject  sein ; 
jenes  ist  die  zweite,  dieses  die  dritte  Figur  (Seutepov 
und  TpcTov  ax'yjpia).  Unter  dieser  Voraussetzung  sind  folgende 
Schlüsse  möglich 

In  der  zweiten  Figur: 

1.  Modus  2.  Modus 

Kein  P  ist  M  Alles  P  ist  M 

Alles  S  ist  M  Kein  S  ist  M 


Kein  S  ist  P  Kein  S  ist  P 

3.  Modus  4.  Modus 

Kein  P  ist  M  Alles  P  ist  M 

Einiges  S  ist  M  Einiges  S  ist  nicht  M 

Einiges  S  ist  nicht  P          Einiges  S  ist  nicht  P. 


396    §  54.    Die  Bedeutung  der  aristotelischen  Figuren  und  Modi.    453 

In  der  dritten  Figur: 

1.  Modus  2.  Modus  3.  Modus 

Alles  M  ist  P         Kein  M  ist  P        Einiges  M  ist  P 
Alles  M  ist  S        Alles  M  ist  S        Alles  M  ist  S 
Einiges  S  ist  P     Einiges  S  ist  nicht  P   Einiges  S  ist  P 
4.  Modus  5.  Modus  6.  Modus 

Alles  M  ist  P     Einiges  M  ist  niclit  P    Kein  M  ist  P 
Einiges  M  ist  S       Alles  M  ist  S  Einiges  M  ist_S 

Einiges  S  ist  P    Einiges  S  ist  niclit  P  Einiges  S  ist  nicht  P. 
Die  Schlüsse    dieser   beiden  Figuren   erkennt   Aristoteles 
nicht  als  TiXeioi  an,  und  reduciert  sie  durch  Umkehrung  der 
Crtheile  oder  durch  indirecte  Beweise   auf  die  erste  Figur. 

In  ähnlicher  Weise  hat  Aristoteles  dann  die  verschie- 
denen Schlüsse  aus  Prämissen  untersucht,  welche  Urtheile  der 
Nothwendigkeit  und  Möglichkeit  sind. 

5,  Diese  aristotelische  Syllogistik  hat  sich  trotz  manig- 
facher  Angriffe  als  der  eigentliche  Kern  aller  scholastischen 
Logik  immer  wieder  behauptet,  trotzdem  dass  ihr  ursprüng- 
licher Sinn  und  die  Bedeutung ,  die  sie  bei  Aristoteles  hat, 
meist  verloren  gegangen  ist.  Dies  zeigt  sich  nicht  nur  an  der 
Einführung  der  sog.  vierten  Figur*),  sondern  vor  allem  daran, 
dass  man ,  statt  die  Nothwendigkeit  der  begriff- 
lichen   Verhältnisse   als   den    eigentlichen  Kern    des 


*)  Man  entdeckte,  dass  unter  den  möglichen  Stellungen  des  Mittel- 
begriffs Aristoteles  eine  übersehen,   nemlich   diejenige,   in  welcher  er 
Prädicat  des  Obersatzes  und  Subject  des  Untersatzes  ist;  und  man  fand, 
dass    unter  dieser  Voraussetzung   noch  folgende  5  Modi  möglich  sind: 
1.  Modus.  2.  Modus.  3.  Modus. 

Alle  P  sind  M  Alle  P  sind  M  Einiges  P  ist  M 

Alle  M  sind  S  ___Kein  M  ist  S  ^11^^^^^^^^ 

"Einrge"S~8rnd~P"      ~~Kein  S  ist  P  Einiges  S  ist  P. 

4.  Modus  5.  Modus 

Kein  P  ist  M  Kein  P  ist  M 

Alles  M  ist  S  Einiges  M  ist  S 

Einiges  S  ist' nicht  P  Einiges  S  ist  nicht  P. 

Es  bedarf  keines  Beweises,  dass  die  ganze  Grundvoraussetzung  der  ari- 
stotelischen Theorie  vergessen  sein  musste,  ehe  man  den  Begriffen  diese 
ihrer  Natur  widerstrebende  Stellung  zumuthete,  und  dass  nur  aus  der 
Betrachtung  der  äusserlichsten  Form  das  Bediirfniss  einer  Ergänzung 
der  aristotelischen  Lehre  hervorgehen  konnte. 


454  W»  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.     ^.  397 

Schliessens  zu  erkennen,  sich  gewöhnte  in  den  Prämissen  nur 
Aussagen  über  die  Umfangs Verhältnisse  der  Be- 
griffe zu  sehen,  und  darum  die  Beweiskraft  derselben  in 
erster  Linie  in  dem  Verhältniss  der  Zahlausdrücke 
suchte,  als  ob  es  sich  darum  handelte,  in  einer  gegebenen 
Menge  von  Dingen  ein  bestimmtes  oder  eine  Anzahl  von  be- 
stimmten vorzufinden  und  das  Hauptgeschäft  beim  Schliessen 
wäre,  sich  alle  unter  einen  Begriff  fallenden  Objecte  zumal 
vorzustellen  und  nun  nachzusehen,  was  sich  unter  diesen  findet 
und  was  nicht.  Damit  hängt  die  beliebt  gewordene  Mode  zu- 
sammen ,  die  Gültigkeit  der  einzelnen  Schlussfiguren  durch  eine 
rein  anschauliche  Vergleich ung  der  Sphären  der  einzelnen  Be- 
griffe zu  beweisen,  als  ob  es  sich  in  allen  Urtheilen  darum 
handelte,  das  Subject  in  die  Sphäre  des  Prädicatbe- 
griffs  hineinzustellen,  als  einen  Theil  einer  grösseren  Menge 
gleichnamiger  Objecte  aufzuweisen,  und  nicht  darum,  zu  sagen 
was  es  ist  und  was  es  thut;  wozu  die  gewöhnliche  gedanken- 
lose Handhabung  des  particulären  Urtheils  wesentlich  beige- 
tragen hat.  So  fand  man  in  der  Syllogistik  zuletzt  eine  Art 
von  Rechenmaschine,  an  der  man  ohne  sich  weiter  zu  besinnen 
an  den  äusseren  Formen,  der  Stellung  von  Subject  und  Prä- 
dicat  alles  ablesen  könne,  sobald  man  sich  die  Mühe  gäbe, 
die  19  Modi  mit  Hülfe  der  Versus  memoriales  gut  im  Ge- 
dächtniss  zu  behalten  und  an  einer  Reihe  nichtssagender  Bei- 
spiele einzuüben. 

6.  Lassen  wir  zunächst  die  Voraussetzungen  der  Lehre 
bestehen:  so  ist  vor  allem  einleuchtend,  dass  in  der  ersten 
Figur  der  Unterschied  des  dritten  und  ersten ,  des  vierten 
und  zweiten  Modus  ein  rein  nebensächlicher  ist ;  der  Umstand, 
dass  der  Untersatz  in  dem  dritten  und  vierten  Modus  parti- 
culär  ist,  ändert  an  dem  Gang  des  Denkens  schlechter- 
dings nichts;  da  unter  den  »Einigen  S«  des  Untersatzes  und 
des  Schlusssatzes  doch  immer  dieselben  gemeint  sein  müssen, 
und  da  ihnen  das  Prädicat  doch  vermöge  einer  ihnen  gemein- 
sam zukommenden  begrifflichen  Bestimmtheit  beigelegt  wird, 
so  ist  der  Sinn  des  Schlusses  schlechterdings  derselbe.  Der 
Unterschied  liegt  in  dem  Werthe  des  Resultates  hin- 
sichtlich der  Bestimmung   des  Begriffs  S,    aber  nicht  in  der 


398    §  54.    Die  Bedeutung  der  aristotelischen  Figuren  und  Modi.    455 

Operation  des  Schliessens;  und  nur  voii  diesem  Gesichtspunkt 
aus  hat  Aristoteles,  der  überhaupt  immer  den  Schlusssatz  im 
Auge  hat,  sie  unterschieden.  Sieht  man  bloss  auf  die  Form 
der  Ableitung ,  so  haben  wir  streng  genommen  nur  zwei 
verschiedene  Schlussweisen: 

Alle  M  sind  P  Kein  M  ist  P 

Alle,  einige,  ein  S  sind  M  AUie,  einige,  ein  S  sind  M 


Alle,  einige,  ein  S  sind  P  Alle,   einige,   ein   S   sind 

nicht  P. 
Dort  wird  durch  den  Mittelbegriff  zu  dem  Subjecte,  dem  er 
zukommt,  ein  Prädicat  herzugebracht,  hier  eines  von  dem- 
selben ausgeschlossen. 

Die  Modi  der  zweiten  Figur  reducieren  sich  ebenso 
zunächst  auf  zwei  Schlussweisen:  Wenn  in  irgend  einem  Sub- 
jecte S  ein  Prädicat  M  gedacht  wird,  das  von  einem  andern 
Begriff  P  ausgeschlossen  ist,  so  ist  dieser  selbst  von  dem 
Subjecte  ausgeschlossen ;  und  wenn  von  einem  Subjecte  ein 
Begriff  M  ausgeschlossen  ist,  der  einen  anderen  P  unter  sich 
begreift,  so  ist  P  von  dem  Subjecte  ausgeschlossen;  ob 
dieses  S  allgemein  oder  particulär  ausgedrückt  ist,  ist  gleich- 
gültig.    Wir  haben  also: 

Kein  P  ist  M  Alles  P  ist  M 

Alle,  einige,  ein  S  sind  M         Alle,  einige,  ein  S  sind  nicht  M 
Alle,  einige,  ein  S  sind  nicht  P   Alle,  einige,  ein  S  sind  nicht  P. 

Reducieren  wir  nun  aber  die  unentbehrliche  Regel,  nach 
der  geschlossen  wird,  auf  ihren  entsprechendsten  Ausdruck, 
so  lautet  sie  für  die  erste  Figur: 

Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  A  (1.  u.  3.  Modus) 
Wenn  etwas  B  ist,   ist  es  nicht  X  (2.  u.  4.  Modus), 
Als  Assumtion  erscheint: 

bestimmte  Subjecte  C  sind  B  — 
als  Folge:  Also  sind  sie  A,  also  sind  sie  nicht  X. 

Dieselben  Regeln  müssen  aber  auch  der  zweiten 
Figur  zu  Grunde  liegen;  denn  es  gibt  keine  andere  Folge  aus 
den  einfachen  Begriffsverhältnissen ;  nur  wird  jetzt  daraus 
geschlossen,  dass  die  Folge  nicht  eintritt, 
also  aus  dem  Nichtgelten  der  Folge  auf  das  Nichtgelten  des 
Grundes. 


456  II>  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  899 

Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  A 

Nun  ist  C  (alles  C,  einiges  C)  nicht  A 
also  auch  nicht  B  (2.  und  4.  Modus). 
Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  nicht  X 
Nun  ist  C  (alles  C,  einiges  C)  X 
also  nicht  B  (1.  und  3.  Modus). 
Der  Zusammenhang  wie  der  Unterschied  der  ersten  und  zweiten 
Figur  erhellt    also  einfach  daraus ,    dass  dort  aus  der  Gültig- 
keit des  Grundes   auf  die  Gültigkeit   einer    (bejahenden   oder 
verneinenden)  Folge,  hier  aus  der  Ungültigkeit  der  (bejahen- 
den oder  verneinenden)  Folge  auf  die  Ungültigkeit  des  Grun- 
des geschlossen  wird*),   und  somit  stimmen  die  beiden  ersten 
Figuren  des  Aristoteles  genau  mit  dem  überein,  was  wir  oben 
in  §  53  gefunden. 

Somit  lassen  sich  die  sämmtlichen  Modi  der  ersten  und 
zweiten  Figur  in  einer  einzigen  Formel  darstellen ,  aus 
der  zugleich  die  Gründe  des  &hliessens  wie  ihre  unterschiede 
erhellen : 

Obersatz : 
Wenn  etwas  B  ist,  ist  es  A  —  ist  es  nicht  X. 

Untersatz  und  Schlusssatz  der  1.  Figur ; 

C  (alles,  einiges,  ein  C)  ist  B 
also  C  (alles,  einiges,  ein  C)  ist  A  —  ist  nicht  X. 

Untersatz  und  Schlusssatz  der  2.  Figur : 

C  (alles,  einiges,  ein  C)  ist  nicht  A  —  ist  X 
also  C  (alles,  einiges,  ein  C)  ist  nicht  B. 


*)  Damit  lösen  sich  auch  solche  Schwierigkeiten,  wie  die,  dass 
gegen  die  Regel  des  Aristoteles  aus  zwei  negativen  Prämissen  doch  ein 
Schluss  folgen  könne;  nemlich  so:  Was  nicht  M  ist,  ist  nicht  P 

S  ist  nicht  M,  woraus  folge 

S  ist  nicht  P. 
Der  Schluss  ist  unzweifelhaft  richtig;  aber  falsch  ist,  dass  er  aus  zwei 
negativen  Prämissen  im  aristot,  Sinne  folge;  denn  der  Satz  was  nicht 
M  ist,  ist  nicht  P  ist  bloss  dem  Ausdruck  nach  verneinend,  in  der  That 
gleichbedeutend  mit  Alle  P  sind  M;  der  Zusammenhang  der  Vernei- 
nungen ruht  auf  dem  positiven  Verhältniss  der  Prädicate.  Nur  die 
Gewohnheit  ganz  äusserlicher  Betrachtungsweise  kann  an  solchen  Dingen 
Anstoss  nehmen. 


400     §  54.    Die  Bedeutung  der  aristotelischen  Figuren  und  Modi.      457 

7.  Die  particulären  Urtheile  der  dritten  Figur  haben 
eine  wesentlich  andere  Bedeutung  als  die  particulären  Urtheile 
der  beiden  ersten.  Bei  diesen  steht  der  particulär  genommene 
Terminus  schon  ursprünglich  als  Suhject,  und  die  Particulari- 
tät  ist  Nebensache,  vielleicht  bloss  sprachlicher  Ausdruck;  es 
sind  dieselben  Subjecte,  welche  im  Untersatz  und  Schlusssatz 
erscheinen.  Dort  aher  erscheint  der  particuläre  Ausdruck  erst 
im  Schlusssatz  als  Suhject,  und  dadurch  haftet  ihm  die  ganze 
Unbestimmtheit  des  Particulären  an;  er  ist  nur  einem  Mög- 
lichkeitsurtheil  äquivalent ;  von  einer  nothwendigen 
Folge  im  gewöhnlichen  Sinne  kann  in  der  dritten  Figur  gar 
nicht  die  Rede  sein.  Dass  zwei  Prädicate  demselben 
Subjecte  zukommen,  ist  im  ersten,  dritten  und  vierten 
Modus  gleichmässig  das  Wesentliche;  denn  in  den  beiden 
letzteren  trägt  nur  der  Theil  von  allen  M,  welcher  mit  einigen 
M  identisch  ist,  die  Last  der  Folgerung.  Daraus  folgt  aber 
einfach,  dass  die  beiden  Prädicate  vereinbar  sind, 
d.  h.  sich  nicht  ausschliessen.  Dass  ein  P r ä d i c a t 
Pan  einem  Subjecte  fehlt,  von  welchem  das  andere  S 
gilt,  ist  ebenso  das  Gemeinschaftliche  des  2.,  5.  und  6.  Modus; 
und  daraus  folgt,  dass  sie  nicht  nothwendig  zusam- 
mengehören. Streng  genommen  also  ist  die  Regel,  nach 
der  geschlossen  wird,  und  welche  die  Ableitung  des  Schluss- 
satzes aus  den  Prämissen  begründet,  gar  nicht  in  diesen  selbst 
ausgedrückt ;  der  verschwiegene  Obersatz  zu  den  bejahenden 
Modis  ist:  Wenn  zwei  Prädicate  demselben  Suhject  zukom- 
men, sind  sie  vereinbar,  schliessen  sie  sich  nicht  nothwendig 
aus ;  die  beiden  Prämissen  bilden  zusammen  die  Assumtion 
zu  dem  verschwiegenen  Obersatz.  Ebenso  ist  der  Obersatz  zu 
den  Modis  mit  negativer  Conclusion:  Wenn  von  zwei  Prädi- 
caten  eines  an  einem  Subjecte  fehlt,  dem  das  andere  zukommt, 
so  gehören  sie  nicht  nothwendig  zusammen ;  die  beiden  Prä- 
missen bilden  wieder  zusammen  die  Assumtion  zu  diesem  Obersatz. 

Was  also  erschlossen  wird,  ist  die  bestimmte  Vernein- 
ung einerNothwendigkeit,  einerseits  der  nothwendigen 
Ausschliessung,  andrerseits  des  nothwendigen  Zusammenge- 
hörens;  und  die  Schwäche  der  dritten  Figur  ist  eben,  dass  sie 
keine  Nothwendigkeit  begründen,  sondern  nur  eine  solche  ver- 


458  'I.  3.    Die  Regeln  des  Schlusges.  400 

neinen  kann ,   was   sich   in   der  Particularitat  der  Conclusion 
ausdrückt. 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  können  auch,  wie  Lotze  (S.  113) 
ausführt,  zwei  negative  Prämissen  einen  ähnlichen  Schluss  auf 
die  Verneinung  einer  Noth wendigkeit  ergeben.  Wenn  nemhch 
M  nicht  P  und  M  nicht  S  ist,  so  folgt  daraus,  dass  nicht  noth- 
wendig  aus  der  Verneinung  von  P  auf  die  Bejahung  von  S 
und  aus  der  Verneinung  von  S  auf  die  Bejahung  von  P  ge- 
schlossen werden  dürfe ;  was  nicht  P  ist,  ist  darum  nicht  noth- 
wendig  S  und  umgekehrt ;  was  verneint  wird,  ist  also  der  Zu- 
sammenhang den  das  disjunctive  Urtheil  ausspräche :  M  ist 
entweder  P  oder  S.  Denn  die  beiden  Prämissen  lassen  sich  in 
dem  Urtheil  vereinigen :  M  ist  weder  S  noch  P,  und  dieses  ver- 
neint die  Disjunction :  M  ist  entweder  S  oder  P.  Warum  Ari- 
stoteles diese  Fälle  ausgeschlossen  hat,  erhellt  daraus,  dass  sich 
ihr  Ergebniss  in  keiner  der  Arten  des  Urtheils  aussprechen 
lässt,  auf  die  er  sein  Augenmerk  richtet;  denn  nach  dem  ge- 
wöhnlichen Schema  wäre  der  Schlusssatz  zu  formulieren :  Einiges 
nicht  —  S  ist  nicht  P ;  womit  über  das  Verhältniss  der  Begriffe 
S  und  P  gar  nichts  ausgesagt  ist,  weder  ob  sie  sich  ganz  oder 
theilweise  ausschliessen  noch  ob  sie  ganz  oder  theilweise  in- 
einander sind ;  so  dass  die  Regel :  Ex  mere  negativis  nihil  se- 
quitur  in  ihrem  ursprünglichen  Sinne  unangefochten  bleibt, 
wenn  auch  derjenige,  der  meint  alles  müsse  entweder  X  oder 
Y  sein,  durch  ein  Beispiel  widerlegt  werden  kann,  in  welchem 
ein  Z  weder  X  noch  Y  ist*). 


*)  Viel  weiter  dehnt  Schuppe  (Erkenntnissth.  Logik  S.  128  flF.)  den 
Kreis  der  Schlüsse  aus,  welche  aus  den  von  Aristoteles  verworfenen 
Combinationen  der  Prämissen  gezogen  werden  können. 

Schon  wenn  die  beiden  Prämissen  a  nicht  b  und  b  nicht  c  einfache 
Unterscheidung  aussprechen,  stellen  sie  fest,  dass  a  und  c  in  dem  einen 
Punkte,  dass  sie  nicht  b  sind,  zusammentreffen,  was  eine  unter  Um- 
ständen höchst  wichtige  Entdeckung  sei,  welche  die  sonst  verschiedenen 
a  und  c  verbinde.  Allein  diese  Entdeckung  wird  doch  in  dem  Satze 
ausgedrückt:  Weder  a  noch  c  sind  b,  der  nur  die  beiden  Prämissen 
vereinigt  wiederholt;  und  Schuppe  erkennt  denn  auch  für  diesen  Fall 
den  Satz  an:  Ex  mere  negativis  nihil  sequitur. 

Bei  Zusammengehörigkeitsurtheilen  sei  aber  dieser  Satz  offenbar 
falsch.  Zuerst  wird  dafür  das  S.  456  erledigte  Beispiel  eines  Schlusses 
angeführt,  dessen  Obersatz  lautet:  Was  nicht  M  ist,  ist  nicht  P. 


400  §  55.   Der  Werth  des  Syllogismus.  459 

§  55. 
Wenn  die  kategorischen  Syllogismen  als  Obersätze  ana- 
lytische Begriff  s-Urtheile  voraussetzen,  so  können  sie 

Aus  kein  M  ist  P  und  S  ist  nicht  M  schliessen  wir,  das  P  dem  S 
jedenfalls  nicht  um  des  M  willen  abgesprochen  werden  kann,  »das  ist 
unter  Umständen  ein  sehr  wichtiges  Resultat,  wenn  wir  unklare  Vor- 
stellungen .  bekämpfen  ,  welche,  ohne  es  auszusprechen ,  das  P  dem  S 
doch  um  einer  Aehnlichkeit  mit  M  willen  absprechen  und  kann  zu  der 
Anerkennung  von  SP  führen.«  Schuppe  unterlässt  seine  Sätze  durch 
Beispiele  zu  illustrieren;  um  die  Prüfung  seiner  Sätze  zu  erleichtern, 
nehmen  wir  eines,  das  zu  den  obigen  Worten  passt:  kein  Fisch  hat 
warmes  Blut  —  der  Wal  ist  kein  Fisch  —  daraus  sollen  wir  schliessen, 
dass  dem  Wal  die  Warmblütigkeit  jedenfalls  nicht  wegen  seiner  Aehn- 
lichkeit mit  den  Fischen  abgesprochen  werden  dürfe.  Aber  schliessen 
wir  das  in  der  That  aus  beiden  Prämissen?  Wer  in  Gefahr  ist, 
aus  der  Fischähnlichkeit  des  Wals  auf  seine  Kaltblütigkeit  zu  schliessen, 
den  verhindert  daran  doch  zunächst  nur  der  Untersatz,  und  nicht 
beide  Prämissen  zusammen.    Haben  wir  nemlich 

Was  ein  Fisch  ist,  ist  nicht  warmblütig 
Der  Wal  ist  kein  Fisch, 
80  verhindert  eben  nur  der  Untersatz  die  Möglichkeit  der  Subsumtion ; 
einen  Schluss  überhaupt  aber  verbietet  die  Kegel,  dass  aus  dem  Nicht- 
stattfinden  der  Hypothesis  nicht  auf  das  Nichtstattfinden  der  Thesis 
geschlossen  werden  dürfe.  Schuppe  sagt  also  mit  andern  Worten  nur 
dasselbe,  dass  bei  so  beschafienen  Prämissen  kein  Schluss  gezogen  werden 
kann.  Denn  ob  nun  P  dem  S  zukommt  oder  nicht,  ist  aus  diesen 
Prämissen  schlechterdings  nicht  aaszumachen. 

»Aus  kein  P  ist  M  und  S  ist  nicht  M«  (ich  ändere  die  Zeichen,  die 
Schuppe  hier  verwechselt  hat)  »schliessen  wir  ähnlich,  dass  durchaus 
nicht  um  eines  (in  unklarer  Weise)  an  S  gedachten  M  willen  S  nicht 
P  zu  sein  brauche,  dass  also  von  dieser  Seite  her  die  Möglichkeit  des 
SP  aufrecht  erhalten  werden  müsse«.  Wieder  wird  der  drohende  falsche 
Schluss  nur  durch  den  Untersatz :  S  nicht  M  verhindert ;  S  ist  M  würde 
allerdings  ergeben,  dass  S  nicht  P  ist;  wenn  aber  S  nicht  M,  so  folgt 
eben  nichts  bestimmtes,  weder  dass  S  P  noch  dass  S  nicht  P  ist. 

M  ist  nicht  P,  M  aber  auch  nicht  S  beweist ,  dass  S  und  P  zusam- 
men fehlen  kann  (Lotzes  oben  erwähnter  Schluss). 

Ex  mere  particularibus  nihil  sequitur  sei  ebenso  zweifelhaft.  »Nur 
einige  aber  jedenfalls  einige  M  sind  P,  und  ebenso  nur  einige,  aber 
jedenfalls  einige  S  sind  M  macht,  wenn  noch  nicht  bekannt  ist,  welche 
M  P  und  welche  S  M  sind,  jedenfalls  im  einzelnen  Falle  die  Möglichkeit, 
dass  ein  SP  sei,  sicher«  —  eine  sichere  Möglichkeit  (im  Unter- 
schiede von  einer  ganz  vagen,  nur  auf  vollHtändigera  Nichtwissen  ge- 
gründeten) scheint  aber  doch  nur  da  gefunden  werden  zu  können,  wo 


460  II'  3*    ^^  Regeln  des  Schlusses.  400 

die  Aufgabe,    das  immer   neu   entstehende  Denken  zu 
begründen ,    nicht  erfüllen ,    sondern    sind  darauf   beschränkt, 


erkannt  ist  dass  S  und  P  sich  nicht  aussschliessen ;  folgt  aber  aus: 
»einige  Menschen  sind  blind  und  einige  sehende  Wesen  sind  Menschen« 
im  einzelnen  Falle  die  sichere  Möglichkeit,  dass  ein  sehendes  Wesen 
blind  ist?  —  »und  führt  ganz  allgemein  zu  der  oft  ebenso  werthvollen 
Krkenntniss,  dass  1.  P  zu  den  specifischen  oder  individuellen  Differ- 
enzen der  M  gehört  oder  von  ihnen  abhängt,  von  dem  begrifflichen 
Inhalt  von  M  aber  weder  gefordert  noch  ausgeschlossen  ist,  2.,  dass  M 
ebenso  zu  den  specifischen  oder  individuellen  Differenzen  der  S  gehört, 
von  dem  begrifflichen  Inhalt  S  aber  weder  gefordert  noch  ausgeschlossen 
ist,  und  dass  3.,  wenn  S  sich  mit  oder  ohne  P  zeigt,  dies  mit  der 
An-  oder  Abwesenheit  von  M  an  ihm  in  keinem  Zusammenhange  steht«. 
Allein  die  Sätze  1  und  2  sind  nicht  aus  beiden  Prämissen  zusammen 
erschlossen,  sondern  stellen  nur  eine  Interpretation  je  einer  Prämisse 
dar ;  allerdings  besteht  diese,  wenn  ihr  die  obige  Form  gegeben  wird : 
Nur  einige,  jedenfalls  aber  einige  M  sind  P  (wie  Schuppe  selbst  nachher 
hervorhebt)  aus  zwei  Urtheilen :  Einige  M  sind  P,  einige  M  sind  nicht 
P,  und  nur  aus  diesen  beiden  Sätzen  zusammen  folgt,  das  P  von  dem 
begrifflichen  M  weder  gefordert  noch  ausgeschlossen  ist;  die  zwei  Ur- 
theile  bilden  die  Assumtion  zu  dem  Obersatz:  Was  mit  dem  Prädicat 
M  das  einemal  verbunden  ist,  das  anderemal  nicht,  ist  von  demselben 
weder  gefordert  noch  ausgeschlossen  —  es  gilt  nach  der  bekannten 
Regel  weder  Alle  M  sind  P  noch  kein  M  ist  P. 

Der  dritte  der  obigen  Sätze  aber,  derjenige  der  allein  aus  beiden 
Prämissen  erschlossen  wird,  ist  falsch.  Nehmen  wir  z.  B.  für  einige 
M  sind  P  und  einige  S  sind  M :  Einige  reguläre  Figuren  sind  recht- 
winklich,  einige  Vierecke  sind  reguläre  Figuren,  so  kann  doch  nicht 
gesagt  werden,  dass  wenn  das  Viereck  sich  mit  oder  ohne  Rechtwink- 
lichkeit  zeigt,  das  mit  der  An-  oder  Abwesenheit  der  regulären  Eigen- 
schaft in  keinem  Zusammenhang  steht;  denn  das  reguläre  Viereck  ist 
nothwendig  rechtwinklich.  Ebenso :  Einige  Krystalle  sind  doppelbrechend, 
einige  Mineralien  sind  Krystalle  —  daraus  soll  folgen,  dass  wenn  sich 
an  einem  Mineral  Doppelbrechung  zeigt,  das  mit  der  An-  oder  Ab- 
wesenheit des  Krystallseins  in  keinem  Zusammenhange  steht? 

»Einige  M  sind  P,  einige  M  sind  S  (S.  133)  knüpft  die  Prädicate 
P  und  S  an  die  einigen  M  jedenfalls  nicht  um  der  Eigenschaft  M 
willen,  sonst  müssten  sie  allen  M  zukommen,  sondern  an  specifische 
oder  individuelle  Differenzen  unter  den  M,  und  so  ist  der  Schluss  sicher, 
dass  in  allen  einzelnen  M  durch  den  Charakter  M  die  Eigenschaften 
P  und  S  weder  gefordert  noch  ausgeschlossen  sind«.  Doch  nur  unter 
der  Voraussetzung,  dass  zugleich  gilt :  Einige  M  sind  nicht  P ,  einige 
M  sind  nicht  S ;  also  folgern  wir  wie  oben  zuerst  aus  dem  ersten  Prä- 
misseupaar  (MiP,  MoP)  dass  P,  aus  dem  andern  (MiS,  MoS)  dass  S  von 


4öÖ  §  S5.  Der  Wertii  des  Syllogismus.  461 

die  feststehenden  Begriff s Verhältnisse  bei  jeder 
Anwendung  gegenwärtig  zu  erhalten.    Eine  höhere 


M  weder  gefordert  noch  ausgeschlossen  ist;  und  dann  summieren  wir 
beides  in  dem  ürtheil:  P  und  S  sind  durch  den  Charakter  M  weder 
gefordert  noch  ausgeschlossen.  Das  ist  aber  kein  Verfahren,  durch  das 
vermittelst  der  Elimination  von  M  ein  bestimmtes  Verhältniss 
zwischen  S  und  P  gewonnen  würde;  dieses  kann  vielmehr  aus  jenen 
Prämissen  überhaupt  nicht,  auch  nur  negativ,  bestimmt  werden. 

»Aus  alle  M  sind  P,  kein  S  ist  M  ergibt  sich,  dass  wenn  S  oder 
ein  S  P  ist,  es  dies  jedenfalls  nicht  durch  Vermittlung  von  M  ist«  — 
dass  S  nicht  durch  Vermittlung  von  M  irgend  ein  anderes  Prädicat 
haben  kann,  dies  zu  wissen  genügt,  dass  S  nicht  M  ist. 

»Grundfalsch  ist  die  Behauptung,  dass  in  der  Form  PM  und  SM 
nicht  beide  Prämissen  affirmativ  sein  könnten«  (S.  137).  Hier  sei 
partielle  Identität  —  zuweilen  könne  sie  den  Rang  der  Ver- 
wandtschaft in  Anspruch  nehmen  —  sicher  erschlossen.  Je  nach  der 
Beschaffenheit  des  M  könne  diese  partielle  Identität  ein  ebenso  werth- 
voUes  Ergebniss  sein,  als  die  in  der  zweiten  Figur  sonst  erschlossene 
partielle  Verschiedenheit.  lieber  den  Terminus  »partielle  Identität«  ist 
oben  S.  106  gesprochen  worden;  lässt  man  ihn  gelten,  so  ist  schliesslich 
alles  partiell  identisch,  der  Schluss  also  werthlos.  Wenn  aber  von  der 
Beschaffenheit  von  M  abhängt,  ob  er  einen  Werth  hat,  so  ist  das  werth- 
volle  Urtheil:  Sowohl  P  als  S  sind  M;  eine  einfache  Summierung,  die 
den  Mittelbegriff'  nicht  eliminiert.  Dass  diese  Erkenntniss,  als  Vorbe- 
reitung zu  Operationen  der  Classification ,  einen  Werth  haben  kann, 
bestreite  ich  natürlich  nicht;  nur  lässt  sie  sich  nicht  als  Schluss  be- 
zeichnen, wenn  man  nicht  jede  Zusammenfassung  von  zwei  IJrtheilen  zu 
einem  copulativen  oder  conjunctiven  Satze  als  Schluss  bezeichnen  will. 

Dasselbe  gilt  gegen  Wundt,  der  (Logik  I  S.  324)  einen  Vergleich- 
ungsscbluss  aufstellt,  der  theils  Uebereinstimmungs- ,  theils  Unter- 
scheidungsschluss  sei.  Der  erste  laute:  A  hat  das  Merkmal  M,  B  hat 
das  Merkmal  M,  also  haben  A  und  B  ein  übereinstimmendes  Merkmal; 
der  zweite  laute :  A  hat  das  Merkmal  M,  B  hat  nicht  das  Merkmal  M,  also 
haben  A  und  B  ein  unterscheidendes  Merkmal.  Worauf  beruht  denn  aber 
das  »also«  des  ersten  Schlusses?  Offenbar  auf  dem  Obersatz:  wenn  zwei 
Objecte  oder  Begriffe  dasselbe  Merkmal  haben,  haben  sie  ein  übereinstim- 
mendes Merkmal  —  eine  leere  Tautologie,  aus  der  über  das  weitere  Ver- 
hältniss  der  verglichenen  Objecte  oder  Begriffe,  ob  sie  identisch  oder  ent- 
gegengesetzt oder  was  sonst  sind,  gar  nichts  zu  entnehmen  ist.  Das  »also» 
des  zweiten  Schlusses  setzt,  nach  Wundt's  Formulierung,  auch  nur  den 
Obersatz  voraus:  Wenn  von  zwei  Objecten  das  eine  ein  Merkmal  hat 
das  dem  andern  nicht  zukommt,  so  haben  sie  ein  unterscheidendes 
Merkmal.  Das  wäre  nun  an  und  für  sich  freilich  sehr  wenig  erschlossen, 
weil  es  nicht  mehr  sagen  würde,  als  die  beiden  Prämissen   in  anderer 


462  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  400 

Bedeutung  gewinnen  die  kategorischen  Syllogismen  nur,  wenn 
sie   entweder,    wie   bei  Aristoteles,    in   den  Dienst    der 


Form  auch  sagen.  Aber  daraus,  dass  zwei  Objecte  ein  unterscheidendes 
Merkmal  haben,  folgt  nun  das  Weitere,  dass  sie  als  Ganze  verschieden 
sind,  dass  sie  nicht  identisch  sein  können ,  dass  ,  wenn  es  sich  um  Be- 
griffe handelt,  sie  nicht  von  einander  in  irgend  einem  Sinne  prädiciert 
werden  können ;  ihr  Verhältniss  ist  also  wenigstens  negativ  bestimmt ; 
und  dieses  Resultat  ist  so  gewiss  ein  wichtiges,  als  die  Erkenntnis»  der 
Verschiedenheit  und  des  Gegensatzes  eine  der  fundamentalen  Functionen 
unseres  Denkens  ist.  Es  handelt  sich  nicht,  wie  Schuppe  zuerst  die 
Sache  darstellt,  nur- um  die  »partielle  Verschiedenheit« ,  wie  dort 
um  die  »partielle  Identität« ;  aus  der  partiellen  Identität  folgt  nichts,  aus 
der  »partiellen  Verschiedenheit«  aber  folgt  (S.  138),  dass  S  und  P  als  Ganze 
nicht  identisch  sind,  dass  sie  nicht  von  demselben  und  nicht  von  einander 
prädiciert  werden  können.  Allerdings  nur  unter  der  Voraussetzung, 
dass  eine  der  Prämissen  eine  Nothwendigkeit  enthält,  und  nicht 
bloss  zufällige  Zustände  nebeneinandergestellt  werden.  Daraus,  dass 
der  gestern  in  meinem  Zimmer  stehende  Öfen  warm  war,  der  heute  darin 
stehende  kalt  ist,  folgt  freilich  nicht ,  dass  der  zweite  Ofen  nicht  der- 
selbe war  wie  der  erste;  ein  Schluss  lässt  sich  nur  ziehen  wenn  der 
Obersatz  sagt,  dass  von  einem  Subjecte  ein  Prädicat  nothwendig  bejaht 
oder  verneint  werden  müsse ,  die  Abwesenheit  oder  Anwesenheit  dieses 
Prädicats  also  das  Subject  selbst  aufhebe.  —  Nach  dem  Ausgeführten 
ist  also  Aristoteles  vollkommen  im  Recht ,  wenn  er  in  der  zweiten 
Figur  nur  ein  negatives  Resultat  als  wirkliches  Ergebniss  anerkennt, 
von  zwei  positiven  Prämissen  aber  sagt:  Oü%  laxat  auXXoytaiiög. 

Kann  ich  also  diese  Kritik  der  überlieferten  Lehre  nicht  als  be- 
rechtigt anerkennen,  so  ist  doch  in  den  Ausführungen  Schuppes  der 
richtige  Gedanke  betont,  dass  wenn  aus  zwei  Prämissen  Schlüsse  gezogen 
werden,  der  Schlusssatz  häufig  nicht  aus  den  Prämissen  für  sich,  sondern 
vielmehr  aus  einem  Obersatz  gezogen  werde,  durch  den  erst  der  Inhalt 
einer  Prämisse  mit  dem  Inhalt  der  andern  zusammen  ein  Ergebniss  lie- 
fere. Nun  ist  zu  unterscheiden  zwischen  zwei  Fällen :  Entweder  ist  eine 
der  Prämissen  selbst  ein  hypothetisches  Urtheil,  dann  bedarf  es  bloss 
des  allgemeinen  Princips,  dass  mit  dem  Grunde  die  Folge  gesetzt,  mit 
der  Folge  der  Grand  aufgehoben  sei;  oder  es  ist  zu  den  beiden  Prä- 
missen ein  speciellerer  Grundsatz  nöthig,  als  dessen  Assumtion  sie  er- 
scheinen, und  aus  dem  sie  nach  dem  allgemeinen  Schlussprincip  die 
Conclusion  ergeben.  Die  Schlüsse  der  ersten  und  zweiten  Figur  gehören 
sofern  sie  einen  allgemeinen  Obersatz  fordern,  zu  der  ersten,  die  Schlüsse 
der  dritten  Figur  zu  der  zweiten  Classe. 

Wenn  B.  Er d mann  (Philos.  Aufsätze  zum  Doctorjubiläum  E.  Zellers 
S.  201)  behauptet,  dass  sich  vermittelst  definitorischer  Urtheile  allge- 
mein bejahende  Schlusssätze  in  der  zweiten  und  dritten  Figur  erzielen 


4Ö1  §  55.     Öer  Werth  des  Syllogismus.  46B 

Begriffsbildung  gestellt,  oder  wenn  ihre  Ober-. 
Sätze  nicht  blosse  Begriff surtheil  e,  sondern  syn- 
thetische Sätze  im  Kantischen  Sinne  sind. 

1.  Der  Werth  des  syllogistischen  Verfahrens  überhaupt 
wird  in  Frage  gestellt,  sobald  wir  dasselbe  mit  der  traditio- 
nellen Logik  als  begründet  auf  ein  fertiges  und  nach  allen 
Seiten  geschlossenes  System  von  Begriffen  und  darauf  beruh- 
enden analytischen  ürtheilen  ansehen,  und  nicht  etwa  als  ein 
Mittel,  erst  zur  Bildung  von  Begriffen  durch  eine  so- 
cratische  eTraYwyy]  zu  gelangen. 

Sind  nemlich  in  dem  normalen  Syllogismus  drei  B  e- 
griffe  S,  M,  P  einander  einfach  übergeordnet,  so  liegt  der 
Schlusssatz  S  ist  P  in  den  vorausgesetzten  Begriffsverhältnissen 
ebenso  direct  enthalten,  als  der  Untersatz  S  ist  M  oder  der 
Obersatz  M  ist  P;  P  ist  ein  Theil  des  Inhalts  des  Begriffs 
S,  wie  überhaupt  jedes  Merkmal  und  jede  Combination  von 
Merknialen  desselben;  stellt  aber  S  ein  einzelnes  Ding  vor, 
so  muss,  um  seiner  Unterordnung  unter  M  gewiss  zu  sein, 
die  ganze  Reihe  seiner  Merkmale  durchgegangen  werden, 
(§  47,  1.  S.  397)  also  auch  diejenigen,  welche  P  constituieren; 
man  kann  vielmehr  erst  sagen ,  dass  SM  ist ,  wenn  man 
schon  weiss ,  dass  es  P  ist.  Der  Satz :  Das  Quadrat  ist  ein 
Viereck,  gibt  gewiss  nicht  ein  entfernteres  Prädicat  als  der 
Satz :  Das  Quadrat  ist  ein  Parallelogramm ,  und  es  bedarf 
durchaus  nicht  des  Schlusses :  Das  Quadrat  ist  ein  Parallelo- 
gramm,  also  ein  Viereck;  der  Satz:  diese  Figur  ist  ein  Pa- 
rallelogramm, schliesst  den  Satz:  Diese  Figur  ist  ein  Viereck 
als  Voraussetzung  mit  ein :  eine  bestimmte  Figur  kann  nicht 
eher  als  Parallelogramm  erkannt  werden ,  ehe  man  weiss, 
dass  sie  ein  Viereck  ist;  der  Schluss :  sie  ist  ein  Parallelo- 
gramm also  ein  Viereck,  ist  also  nicht  bloss  überflüssig  wie 
vorhin,    sondern  verkehrt.     Fragt  man  sich  ferner,    was  man 


lassen ,  z.  B,  alle  Sängethiere  besitzen  Milchdrüsen,  alle  Wale  besitzen 
Milchdrüsen,  also  sind  alle  Wale  Säugethiere,  so  übersieht  er,  dass 
der  Obersatz  diesen  definitorischen  Charakter  verschweigt,  aus  dem 
was  er  sagt  aber  der  Schlusssatz  nicht  folgt.  Es  müsste  stehen :  N  u  r 
die  Säugethiere  besitzen  MilchdritHen,  d.  h.  was  Milchdrüsen  hat,  ist 
ein  Säugethier;  dann  aber  haben  wir  die  1.  Figur. 


464  II,  3.     Die  Hegeln  cles  Schlusses.  402 

durch  solches  Aufsteigen  zu  immer  höheren  und  höheren  Be- 
griffen gewinnt,  so  geht  man,  den  eigentlichen  Zwecken  des 
Erkennens  durch  das  ürtheil  gegenüber,  einen  Krebsgang ;  die 
Prädicate  werden  immer  ärmer,  inhaltsloser,  man  weiss  immer 
weniger  von  den  Subjecten,  man  verliert  auf  dem  Wege  statt 
zu  gewinnen.  Wenn  ich  weiss,  dass  ein  Quadrat  ein  Parallelo- 
gramm ist,  so  weiss  ich  weit  mehr,  als  wenn  ich  mir  eine 
Leiter  von  Schlüssen  aufbaue ,  die  mich  schliesslich  belehren, 
dass  es  ein  Räumliches  oder  ein  Theilbares  oder  zuletzt  ein 
irgendwie  Seiendes  sei;  an  dem  letzteren  Prädicate  müssten 
consequenterweise  alle  Schlüsse  ankommen,  die  stufenweise  die 
Begriffspyramide  hinaufklettern. 

2.  Der  Charakter  der  Syllogistik,  wie  sie  in  der  tradi- 
tionellen Lehre  aufgefasst  und  dargestellt  wird,  erhellt  am 
deutlichsten  daraus,  dass  man  mit  Erfolg  die  Theorie  durch- 
führen konnte,  es  handle  sich  eigentlich  im  syllogistischeri 
Schliessen  nur  um  die  Substitution  eines  Terminus 
für  einen  andern.  In  einem  gegebenen  Urtheile,  sagt  Beneke*), 
setzen  wir  an  die  Stelle  des  einen  seiner  Bestandtheile  einen 
andern ,  und  zwar  auf  Veranlassung  eines  zweiten  Urtheils, 
welches  ein  Verhältniss  angibt  zwischen  dem  früheren  und 
dem  neuen  Bestandtheile.  Die  Substitution  kann  eintreten, 
wenn  der  neue  Besfcandtheil  in  keiner  Weise  über  den  alten 
hinaussteht.  Dies  tritt  ein,  entweder  wenn  das  Substituierte 
dasselbe  ist,  nur  in  einem  andern  Ausdrucke ,  oder  ein 
Theil  dessen,  welchem  es  substituiert  wird.  Li  dem 
Schlüsse :  Einige  Vierecke  sind  nicht  Parallelogramme,  alle 
Rhomben  sind  Parallelogramme,  also  sind  einige  Vierecke 
nicht  Rhomben  —  habe  ich  für  Parallelogramme  Rhomben 
substituiert,  also  einen  Theil ;  in  dem  Schlüsse :  einige  Parallelo- 
gramme sind  schiefwinklich,  alle  Parallelogramme  sind  Vier- 
ecke, folglich  sind  einige  Vierecke  schiefwinklich  —  habe  ich 

*)  System  der  Logik  I,  S.  217.  Vergl.  Ueberweg  Logik  §  120. 
Diese  Substitution  ist  etwas  anderes,  als  was  wir  oben  §  50  Einsetzung 
oder  upögXyjcjjtg  genannt  haben.  Bei  dieser  handelt  es  sich  an  die  leere 
Stelle  eines  Subjects  ein  bestimmtes  Subject  zu  setzen,  dem  ein  Prädicat 
zukommt;  bei  jener  darum,  für  einen  bestimmten  Begriff  einen  anderen; 
in  ihm  enthaltenen  zu  setzen. 


4Ö3  §  55.    Der  Werth  des  Syllogismus.  465 

für  dasselbe  Subject  (einige  Parallelogramme)  einen  andern 
Ausdruck  (einige  Vierecke)  substituiert.  Im  ersten  Fall  ist 
der  neue  Bestandtheil  (Rhomben)  einTheil  des  Umfangs 
des  früheren  (Parallelogramme);  im  zweiten  ist  das  Substi- 
tuierte (Viereck)  einTheil  des  Inhalts  des  früheren 
(Parallelogramm)  und  erlaubt  also  dasselbe  in  einem  anderen 
Ausdruck  für  das  Denken  zu  bezeichnen. 

Nachdem  dann  Beneke  aus  dieser  Theorie  die  verschie- 
denen möglichen  Schlüsse  abgeleitet,  kommt  er  zu  dem  Re- 
sultat, dass  durch  alle  in  dieser  Weise  ausgeführten  Schlüsse 
unser  Denken  in  keiner  Art  erweitert  oder  bereichert  wird. 
Der  Theil  muss  doch  im  Ganzen  enthalten  sein;  und  wenn 
ich  an  die  Stelle  des  letzteren  den  ersteren  setze,  so  gewinne 
ich  nichts  an  Vorstellungsmaterial,  sondern  verliere  eher. 

In  den  Schlüssen  mit  negativem  Resultat  allein  findet 
insofern  ein  Hinausgehen  statt,  als  in  einem  Begriffe  nicht 
alles  mögliche  was  er  nicht  ist  mitgedacht  wird,  durch  die 
Syllogismen  also  eine  weitere  Reihe  von  Unterscheidungen 
herbeigeführt  werden.  Allein  da  wir  jeden  Begriff  als  solchen 
nur  haben,  sofern  er  Glied  eines  Systems  und  von  seinen  coor- 
dinierten  disjungiert  ist :  so  sind  die  nächsten  und  wichtigsten 
Negationen  allerdings  in  dem  Begriffe  selbst  schon  mitge- 
dacht, und  es  hat  keinen  Werth  mehr  alle  weiteren  und  ent- 
legeneren Verneinungen  herbeizuziehen.  Weiss  ich  dass  der 
Mensch  ein  animalisches  Wesen  ist,  so  ist  er  damit  von  den 
übrigen  Wesen  geschieden,  die  ihm  zunächst  stehen;  dass 
er  kein  Metall,  keine  geometrische  Figur  ist,  braucht  kein 
Syllogismus  zu  versichern. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  kann  also  der  Syllogis- 
mus höchstens  dazu  dienen,  dem,  der  mit  seinen  Wörtern 
keine  bestimmten  Begriffe  verbindet,  die  Tragweite  einer  Be- 
hauptung zu  Gemüth  zu  führen ,  indem  er  an  das  erinnert 
wird ,  was  seine  Prädicate  eigentlich  sagen ;  er  wäre  eine 
Anleitung,  sich  jede  Behauptung  fortwährend  auseinanderzu- 
legen, indem  man  sich  erinnert,  was  darin  eingeschlossen  ist; 
also  ein  Interpretationsverfahren  für  den,  der  einen  Satz  nicht 
versteht,  nicht  ein  Mittel  des  Fortschritts  für  den  der  ihn 
versteht;    ein    didactisches    Hilfsmittel    oder    eine    polemischti 

Sigwart,  Logik.   I.    2.  Auflage.  30 


466  n,  3.     Die  Regeln  des  Schlusses.  404 

Waffe,  kein  Organon  des  Wissens.  Die  Forderung  also,  dass 
im  Syllogismus  alles  nach  dem  sog.  Princip  der  Identität  ver- 
laufe, die  namentlich  Leibniz  betont,  zerstört  allen  Werth  des 
Syllogismus. 

3.  Von  einer  andern  Seite  hat  J.  St.  M  i  1 1  *)  die  Bedeu- 
tung des  Syllogismus  oder  genauer  der  Form  bekämpft,  in 
welcher  der  Syllogismus  gewöhnlich  sich  darstellt.  In  dem 
Schlüsse 

Alle  Menschen  sind  sterblich 

Socrates  ist  ein  Mensch 

also  ist  Socrates  sterblich 
scheint  der  Schlusssatz  aus  dem  Obersatz  abgeleitet  zu  sein ; 
in  der  That  aber  setzt  der  Obersatz  den  Schluss- 
satz schon  voraus,  denn  um  zu  wissen,  dass  alle  Men- 
schen sterblich  sind,  muss  ich  bereits  wissen,  dass  Socrates 
sterblich  ist;  so  lange  dieser  Satz  noch  ungewiss  wäre,  wäre 
auch  der  Satz  ungewiss,  dass  alle  Menschen  sterblich  sind**). 
Jeder  derartige  Schluss  enthält  also  eine  petitio  principii,  er 
setzt  schon  voraus,  was  er  beweisen  will.  Die  Ausflucht,  dass 
ja  der  Schlusssatz  doch  nicht  explicite  und  direct  in  den  Prä- 
missen behauptet  sei,  löst  die  Schwierigkeit  nicht;  es  kann 
allerdings  nicht  verlangt  werden ,  dass  man  bei  jedem  allge- 
meinen Satz  an  alle  einzelne  Fälle  denkt,  aber  mit  dem  all- 
gemeinen Satz  behauptet  man  seine  Gültigkeit  für  alle  ein- 
zelnen Fälle,  und  diese  Behauptung  ist  nur  begründet,  wenn 
man  erst  aller  einzelnen  Fälle  gewiss  ist. 

Ist  darum  der  Syllogismus  absolut  nutzlos  und  leer? 
Dieser  Folgerung  sucht  Mill  durch  eine  Unterscheidung  aus- 
zuweichen. Der  eigentliche  Grund,  auf  den  hin  ich  behaupte, 
dass  irgend  ein  jetzt  lebender  Mensch  sterblich  sei,  kann  nicht 


*)  System  der  deductiven  und  inductiven  Logik.  2.  Buch.  3.  Cap. 
§  2.     üebers.  von  Gomperz  I,  S.  188  ff. 

**)  Ebenso  setzt,  nach  der  auf  begriffliche  Subsumtionsurtheile  voll- 
kommen zutreffenden  Ausführung  Lotzes  (Logik  2.  Afl.  S.  122) ,  der 
Untersatz  die  Conclusion  voraus;  denn  wo  bliebe  die  Wahrheit  des 
Untersatzes,  dass  Socrates  ein  Mensch  ist,  wenn  es  noch  zweifelhaft 
wäre  ,  ob  er  ausser  andern  Eigenschaften  des  Menschen  auch  die  der 
Sterblichkeit  hat,  die  der  Obersatz  als  allgemeines  Merkmal  jedes 
Menschen  aufführt? 


405  §  55.    Der  Wertli  des  Syllogismus.  46? 

der  allgemeine  Satz  sein:  alle  Menschen  sind  sterblich;  denn 
dieser  setzt  ja  zu  seiner  Gültigkeit  voraus,  dass  ich  irgendwie 
weiss,  dass  auch  die  jetzt  lebenden  sterblich  sind.  Der  Grund 
ist  die  bisherige  Erfahrung  einer  Reihe  von  einzelnen  Fällen; 
aus  dem  Tode  einer  Reihe  von  Menschen  schliessen  wir,  dass 
auch  die  jetzt  Lebenden  sterben  werden.  Wir  schliessen  also 
in  der  That  von  einzelnen  Fällen  auf  andere 
einzelne  Falle;  und  der  allgemeine  Satz  scheint  voll- 
kommen überflüssig,  ein  Hindurchgehen  durch  ihn  ein  Um- 
weg zu  sein. 

Und  doch  kommt  ihm  eine  Bedeutung  zu.  Aus  den  uns 
bekannten  einzelnen  Fällen  können  wir  offenbar  nur  dann 
mit  Sicherheit  auf  einen  neuen  Fall  schliessen,  wenn  diese 
beobachteten  Fälle  genügend  sind  auch  den  allgemeinen  Satz 
zu  begründen.  Dieser  ist  eine  abgekürzte  Formel  für  das, 
was  wir  uns  berechtigt  halten,  aus  unseren  von  der  Erfah- 
rung gelieferten  Zeugnissen  zu  schliessen ;  die  eigentliche  Fol- 
gerung ist  also  mit  dem  allgemeinen  Satz  zu  Ende ;  was 
folgt,  ist  nur  eine  Interpretation  einer  Notiz,  die 
wir  uns  gemacht  haben,  um  uns  einzuprägen,  dass  unsere 
Erfahrung  uns  berechtigt ,  auf  weitere  Fälle  zu  schliessen. 
Wir  können  diese  einzelnen  Fälle  vergessen  haben,  und  nur 
noch  wissen,  dass  sie  den  allgemeinen  Satz  begründeten ;  dann 
halten  wir  uns  an  diesen  und  interpretieren  ihn;  wir  schlies- 
sen nicht  aus,  wohl  aber  nach  dieser  Abbreviatur  der  Re- 
sultate unserer  Erfahrung.  Eine  Interpretation  ist  ebenso  die 
Anwendung  eines  Gesetzes  oder  einer  auf  Autorität  geglaub- 
ten allgemeinen  Regel;  wir  interpretieren,  was  der  Gesetz- 
geber oder  die  Autorität  sagen  wollte. 

Das  Hindurchgehen  durch  den  allgemeinen  Satz,  das  dem 
natürlichen  Schliessen  ursprünglich  fremd  ist,  dient  somit 
wesentlich  zur  Sicherung  unseres  Verfahrens.  Denn 
die  Erfahrung  ,  welche  den  Schluss  auf  einen  Fall  recht- 
fertigt,  muss  der  Art  sein,  dass  sie  genügend  ist  den 
allgemeinen  Satz  zu  tragen;  und  es  ist  von  höchstem 
Werth ,  sich  dessen  bewusst  zu  werden ,  um  voreilige  und 
mangelhaft  begründete  Folgerungen  zu  vermeiden,  weil  dies 
nöthigt,  die  Zulänglichkeit  der  Erfahrung  genauer  abzuwägen, 

30» 


46d  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  406 

und  zugleich  etwaige  widersprechende  Erfahrungen  uns  vor 
Augen  bringt,  welche  dem  versuchten  allgemeinen  Urtheil 
entgegenstehen. 

Diese  Einwürfe  Mills  sind  darum  höchst  lehrreich,  weil 
sie,  indem  sie  eine  Blosse  in  der  gewöhnlichen  ßehandlungs- 
weise  des  Syllogismus  aufdecken,  doch  seine  wahre  und  funda- 
mentale Bedeutung  wider  Willen  bestätigen.  Die  Blosse,  die 
sie  aufdecken,  liegt  in  dem  Sinne,  in  welchem  das  Alle  A 
sind  B  gewöhnlich  verstanden  wird,  in  dem  Sinne,  dass  es 
sich  damit  bloss  um  eine  Summierung  von  Einzelurtheilen  in 
einem  abgekürzten  Ausdruck,  um  ein  Durchzählen  der  einzel- 
nen Fälle  handle.  In  diesem  Falle  ist  selbstverständlich,  dass 
die  Gewissheit  der  Summe  von  der  Gewissheit  der  einzelnen 
Summanden  abhängt.  Aber  der  Sinn  des  allgemeinen  Ober- 
satzes ist  nicht  die  Behauptung  dieser  Allgemeinheit 
der  Zahl,  sondern  die  Behauptung  der  N  oth  wendigkeit 
mit  dem  Subjecte  das  Prädicat  zu  verknüpfen.  Diese  Noth- 
wendigkeit  kann  auch  durch  die  vollständige  Summierung  nie- 
mals erreicht,  überhaupt  nicht  direct  empirisch  erkannt  wer- 
den. Es  ist  die  Hauptaufgabe  einer  Theorie  der  Induction  zu 
untersuchen,  unter  welchen  Bedingungen  aus  einzelnen  Er- 
fahrungen auf  ein  ihnen  zu  Grunde  liegendes  nothwendiges 
Gesetz  geschlossen  werden  kann,  und  wir  hoffen  zu  zeigen, 
dass  ein  solcher  Schluss  immer  nur  unter  Voraussetzung  un- 
bedingt gültiger  Grundsätze  möglich  ist.  Insofern  ist  die 
Behauptung  Mill's,  dass  der  allgemeine  Obersatz  zuletzt  aus 
einzelnen  Datis  erschlossen,  und  diese  die  eigentlichen  Beweis- 
gründe für  Urtheile  sind,  welche  Empirisches  betreffen,  voll- 
kommen richtig,  falsch  aber,  dass  er  für  den  Schluss  ent- 
behrlich sei ;  denn  nur  indem  jene  einzelnen  Data  die  Not  h- 
wendigkeit  beweisen ,  beweisen  sie  für  irgend  einen  an- 
dern Fall.  Jene  Behauptung  beruht  auf  einer  Verwechslung 
der  Beschreibung  des  psychologischen  Processes 
der  Folgerung  mit  der  logischen  Gesetzgebung 
für  dieselbe;  es  ist  kein  Zweifel,  dass  man  vielfach  von  Ein- 
zelnem auf  Einzelnes  schliesst,  die  Frage  aber  ist,  ob  man 
so  schliessen  darf;  und  darüber  entscheidet  die  Gül- 
tigkeit des   allgemeinen  Satzes,  die  nicht  bloss,  wie 


407  §  55.    Der  Werth  des  Syllogisrnua.  4$9 

Mill  es  darstellt,  eine  collaterale  Sicherheit  gewährt,  son- 
dern allein  den  Schluss  legitim  macht.  Denn  wenn  Mill  selbst 
zugesteht,  dass  der  Schluss  von  einigen  Fällen  auf  einen  neuen 
nur  dann  gerechtfertigt  sei ,  wenn  zugleich  der  allgemeine 
Satz  daraus  hervorgehe:  so  ist  die  Wahrheit  des  all- 
gemeinen Obersatzes  die  Bedingung  der  Wahr- 
heit der  Conclusion,  und  darum  diese  doch  von  jener 
abhängig,  und  ohne  jene  nicht  bewiesen. 

Nichts  anderes  aber  ist  es ,  was  die  aristotelische  Syllo- 
gistik  behauptet,  als  dass  nur  in  den  von  ihr  aufgestellten 
Formen,  nur  unter  der  Bedingung  eines  allgemeinen  Ober- 
satzes ein  genügender  und  wissenschaftlich  gültiger  Schluss 
möglich  sei.  Dass  man  zu  den  allgemeinen  Obersätzen  durch 
Induction  komme ,  lehrt  auch  Aristoteles ;  nur  ist  allerdings 
seine  Induction  nicht  auf  den  rein  empiristischen  Boden  der 
Sammlung  von  Thatsachen  gegründet,  der  überhaupt  jede 
Logik  im  Princip  unmöglich  macht,  weil  auf  ihm  keine  Noth- 
wendigkeit  erwächst,  sondern  auf  der  Voraussetzung  der  Herr- 
schaft der  begrifflichen  Nothwendigkeit  in  den  einzelnen  Er- 
scheinungen, aus  denen  sie  also  auch  muss  erkannt  werden 
können. 

Die  absolute  Gültigkeit  der  syllogistischen  Regeln  für 
jeden  Fall,  in  welchem  ein  Urtheil  aus  anderen  mit  zweifel- 
loser Sicherheit  abgeleitet  werden  soll,  bleibt  also  auch  durch 
diesen  Angriff  unangefochten;  der  Schein  der  Werthlosigkeit 
der  syllogistischen  Lehren  hängt  nur  daran ,  dass  man  als 
Basis  des  Syllogismus  durchaus  das  sog.  Princip  der  Iden- 
tität, als  Prämissen  also  lauter  analytische  Sätze  haben  wollte. 

4.  Bei  Aristoteles  ist  davon  nicht  die  Rede.  Für  ihn  ist 
vielmehr  der  Syllogismus  das  Mittel,  erst  zu  dem  zu  gelangen, 
was  die  Schulsyllogistik  schon  vorauszusetzen  pflegt,  zur  De- 
finition; seine  Prämissen  sind  in  der  Hauptsache  empirische 
Urtheile  über  das  Gegebene ,  und  der  Syllogismus  ist  das 
Mittel  diese  Erkenntnisse  so  zu  ordnen ,  dass  ihre  Abhängig- 
keit von  einander  zu  Tage  tritt,  und  damit  die  reale  Abhängig- 
keit der  im  Sein  verwirklichten  begrifflichen  Bestimmungen^ 
das  wahre  Causalitätsverhältniss  erkannt,  und  damit  die  Auf- 
stellung  einer  das  Wesen  erschöpfenden,  die  den  Begriffsver- 


470  II*  3.    Die  Begeln  des  Schlusses.  408 

hältnissen  entsprechende  Abhängigkeit  der  speciellen  Bestim- 
mungen von  den  allgemeinen  ausdrückenden  Definition  mög- 
lich werde.  Darum  soll  der  Mittelbegriff  der  Ursache  ent- 
sprechen ,  darum  die  Prämissen  so  gewählt  und  geordnet 
werden,  dass  die  reale  Abhängigkeit  der  Dinge  darin  zu 
Tage  tritt. 

Diese  Anwendung  des  Syllogismus  ist  allerdings  mit  der 
aristotelischen  Metaphysik  auf's  Engste  verknüpft;  aber  die 
logischen  Gesetze  sind  nicht  an  diese  specielle  Anwendung 
gebunden;  nur  die  bestimmte  Art  ihrer  Formulierung  hängt 
von  diesem  Zweck  ab.  Die  traditionelle  Logik  hat  jenen 
Zweck  vergessen,  die  davon  abhängige  Formulierung,  die  sich 
in  der  ausschliesslich  kategorischen  Fassung,  vor  allem  in  der 
Gleichstellung  des  particulären  Urtheils  mit  dem  allgemeinen 
zeigt,  beibehalten;  kein  Wunder,  wenn  mit  den  veränderten 
wissenschaftlichen  Aufgaben  das  logische  Formelbuch  nicht 
mehr  stimmen  will. 

5.  Man  pflegt,  um  jede  Einsprache  gegen  den  Werth  der 
Syllogistik  niederzuschlagen,  auf  die  M  a  t  h  ema  t  ik  hin- 
zuweisen ,  welche  ja  durchweg  sich  des  Syllogismus  bediene, 
und  eben  dieser  Form  ihre  wissenschaftliche  Sicherheit  ver- 
danke. Mit  vollem  Recht,  wenn  es  sich  darum  handelt  zu 
zeigen,  dass  alle  mathematischen  Sätze  mit  Ausnahme  der 
Axiome  und  Definitionen  durch  Syllogismen,  jedenfalls  nach 
denselben  Principien ,  welche  die  syllogistischen  Formen  be- 
stimmen ,  erwiesen  werden ;  mit  Unrecht ,  wenn  man  den 
grossen  Unterschied  übersieht,  der  zwischen  den  mathematischen 
Schlüssen  und  der  Musterschablone  der  Schullogik  mit  ihren 
analytischen  Urtheilen  besteht.  Findet  man  in  der  Geometrie 
Schlüsse  wie  die :  das  Quadrat  ist  ein  Parallelogramm  ,  also 
ein  Viereck ,  der  Kreis  ist  eine  Kurve  zweiten  Grades ,  also 
ein  Kegelschnitt  u.  s.  w.  ?  Handelt  es  sich  irgendwo  um  diese 
einfältigen  Subsumtionen  ?  Alles  das  ist  mit  der  Definition  der 
einzelnen  Objecte  abgemacht,  und  der  Syllogismus  ist  nicht 
dazu  da ,  sie  zu  wiederholen ;  die  Geometrie  aber  entwickelt 
die  Gesetze  der  Relationen,  welche  zwischen  den  ein- 
zelnen Objecten,  den  Linien,  Winkeln  u.  s.  w.  unter  bestimm- 
ten Voraussetzungen   eintreten,  ihrer  Gleichheit,  Ungleichheit 


409  §  55.    Der  Werth  des  Syllogismus.  471 

u.  s.  f.  Diese  Relationen  sind  vom  Standpunkte  des  Be- 
griffs au  s  äusserlich  hinzukommende  Prädicate; 
sie  sind  in  der  Definition  nicht  enthalten  und  können  aus 
ihr  nicht  abgelesen  werden ;  sie  entstehen  erst,  wenn  die  ein- 
zelnen Objecte  in  räumliche  Beziehung  gesetzt  werden.  Im 
Begriff,  d.  h.  in  der  Definition  des  Dreiecks  liegt  schlechter- 
dings nichts  davon ,  dass  seine  Winkel  gleich  zwei  Rechten 
sind;  denn  die  Vorstellung  von  zwei  Rechten  ist  der  Vor- 
stellung des  Dreiecks  äusserlich  ;  das  Urtheil  beruht  erstlich 
auf  einer  Addition  der  Winkel,  und  zweitens  auf  einer  Ver- 
gleichung  mit  zwei  Nebenwinkeln,  also  auch  Relationen,  welche 
erst  hergestellt  werden  müssen.  Im  Begriff  des  rechtwink- 
lichen  Dreiecks  liegt  nicht ,  dass  das  Quadrat  seiner  Hypo- 
tenuse gleich  der  Summe  der  Quadrate  der  Katheten  sei ;  denn 
im  Begriffe  des  Dreiecks  denke  ich  nichts  mehr  und  nichts 
weniger  als  eine  von  drei  sich*schneidenden  Geraden  begrenzte 
ebene  Fläche,  und  es  ist  darin  keine  Nothwendigkeit ,  Qua- 
drate über  den  Seiten  zu  errichten  und  diese  zu  vergleichen ; 
erst  wenn  ich  dies  durch  erfindende  Construction  gethan  habe, 
kann  ich  die  Beziehungen  dieser  Quadrate  zu  einander  untersuchen. 
Die  Geometrie  geht  also  überall  über  die  bloss  be- 
grifflichen Urtheile  hinaus,  um  ihre  Sätze  zu  ge- 
winnen ,  und  sie  leitet  aus  dem  in  der  Definition  Gegebenen 
mit  Hülfe  irgendwoher  hinzugenommener  gesetzmässiger 
Beziehungen  Prädicate  ab,  welche  nicht  in  der  Definition 
liegen.  Darum  können  aber  ihre  Obersätze  im  Allgemeinen 
nicht  als  Subsumtionsurtheile  auf gefasst  werden ,  und 
es  ist  blosser  Schein,  wenn  man  meint,  ihre  Syllogismen  seien 
in  der  Regel  nach  der  Schulform  Barbara  gemacht;  der  Schluss 
z.  B.  den  üeberweg*)  als  Beispiel  dieser  Figur  anführt:  Alle 
Dreiecke  mit  beziehlich  gleichen  Seitenverhältnissen  sind 
Dreiecke  mit  beziehlich  gleichen  Winkeln  —  alle  Dreiecke 
mit  beziehlich  gleichen  Winkeln  sind  ähnliche  Figuren  — 
also  sind  alle  Dreiecke  mit  beziehlich  gleichen  Seitenverhält- 
nissen   ähnliche  Figuren    —    dieser  Schluss    sieht   genau   aus 

*)  System  der  Logik  3.  Afl.  S.  804.  5.  Afl.  S.  360.  Ein  ähnliches 
Beispiel  bei  Wundt  ,  Logik  1  S.  297  ,  vgl.  meine  »LogiHchen  Fragen« 
Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Phil.  IV,  S.  478. 


472  Ih  3.    Die  Begeln  des  Schlusses.  409.410 

wie  der :  Alle  Neger  sind  Menschen ,  alle  Menschen  sind 
sterblich,  also  sind  alle  Neger  sterblich ;  in  Wahrheit  ist  er 
himmelweit  davon  verschieden.  Denn  es  gibt  keinen  Species- 
begriff  eines  Dreiecks ,  der  durch  die  Diiferentia,  »beziehlich 
gleiche  Seitenverhältnisse«  gebildet  wäre,  noch  einen  allgemei- 
nen Begriff  ähnliche  Figur,  dem  jener  durch  den  Mittelbegriff- 
»Dreieck  mit  beziehlich  gleichen  Winkeln«  untergeordnet 
würde ;  nicht  an  dieser  Subordination  läuft  der  Schluss  fort, 
sondern  an  lauter  Relationsverhältnissen,  die  im  Be- 
griff des  Dreiecks  gar  nicht  liegen.  Wenn  zwei  oder  mehrere 
Dreiecke  gegeben  sind ,  deren  Seiten  einander  proportional 
sind ,  so  folgt  daraus ,  dass  auch  die  andere  Relation ,  die 
Gleichheit  ihrer  Winkel  stattfindet;  und  da  Gleichheit  der 
Winkel  bei  Dreiecken  die  Aehnlichkeit  derselben  einschliesst, 
so  folgt,  dass  mit  der  Relation  der  Proportionalität  der  Seiten 
auch  die  der  Aehnlichkeit  gegeben  ist.  Nur  durch  eine  grobe 
Ungenauigkeit  des  Ausdrucks  können  diese  Sätze  die  Form 
eines  Satzes  über  »alle  Dreiecke«  von  einer  bestimmten  Be- 
schaffenheit annehmen ,  als  ob  das  Prädicat  von  jedem  ein- 
zelnen Dreiecke  gelten  könnte.  Correct  ausgedrückt  lautet 
der  Schluss : 

Wenn  zwei    oder    mehrere  Dreiecke   proportionale  Seiten 
haben,  haben  sie  gleiche  Winkel, 
Wenn  zwei  oder  mehrere  Dreiecke  gleiche  Winkel  haben, 

sind  sie  ähnlich 
Also,  wenn  zwei  oder  mehrere  Dreiecke  proportionale 
Seiten  haben,  sind  sie  ähnlich. 
Es  ist  klar,  dass  die  Sätze  naturgemäss  gar  nicht  anders  als 
hypothetisch  ausgedrückt  werden  können,  wenn  sie  sagen 
wollen ,  dass  eine  Relation  zwischen  verschiedenen  Dingen 
eine  andere  nothwendig  mache. 

Nicht  umsonst  ist  das  Hauptgesetz,  das  die  mathema- 
tischen Schlüsse  leitet,  der  Grundsatz,  dass  zwei  Grössen,  die 
derselben  dritten  gleich  sind,  unter  sich  gleich  sind,  d.  h.  ein 
Satz  über  den  nothwendigen  Zusammenhang  von  Relationen, 
und  nicht  umsonst  ist  das  Mittel  des  Fortschritts  häufig  die 
Substitution  einer  Grösse  für  eine  andere  gleiche  Grösse; 
lauter    Processe ,    welche   in    den    gewöhnlichen    Formen    des 


411  §  55.    Der  Werth  des  Syllogismus.  473 

Syllogismus  keinen  Raum  haben,  immer  aber  sich  mit  Hülfe 
jener  allgemeinen  Gesetze  streng  syllogistisch  darstellen  lassen. 

6.  Was  von  der  Geometrie  gilt,  gilt  ebenso  von  andern 
Wissensgebieten.  Was  erst  festgestellt  und  erschlossen  werden 
muss,  ist  dasjenige,  was  im  Begriffe  noch  nicht  liegt, 
was  nicht  analytisch  gegeben  ist,  und  dies  sind  einerseits  die 
Relationen,  andererseits  ist  es  alles  das ,  was  von  dem 
veränderlichen  und  wechselnden  Geschehen  ab- 
hängt, also  insbesondere  alle  Causalverhältnisse.  Das  Schliessen 
des  Richters  bewegt  sich  nicht  in  den  Subordinationen  der 
einzelnen  Vergehen ;  wenn  der  vorliegende  Fall  subsumiert  ist 
und  als  Mord  erkannt,  tritt  statt  des  analytischen  Schlusses: 
also  Verbrechen  also  Gesetzesverletzung  u.  s.  w.  der  Schluss 
ein,  der  durch  die  synthetische  Regel  des  Gesetzes 
geboten  ist,  —  also  mit  dem  Tode  zu  bestrafen.  Die  Todes- 
strafe ist  nicht  analytisch  im  Begriffe  des  Mordes  enthalten, 
sondern  durch  den  Willen  des  Gesetzgebers  synthetisch  mit 
dem  einzelnen  Fall  des  Verbrechens  verknüpft.  Wenn  der 
Arzt  eine  Krankheit  als  Typhus  diagnosticiert  hat,  so  schliesst 
er  nicht:  also  Infectionskrankheit  u.  s.  w.,  sondern  er  schliesst: 
also  diese  und  diese  Behandlung;  die  Mittel,  welche  dem  Ty- 
phus entgegenwirken  ,  sind  nicht  analytisch  im  Begriffe  des 
Typhus  enthalten ,  sondern  synthetisch  durch  die  Regeln 
der  Erfahrung  gefordert.  Wenn  der  Physiker  weiss,  dass 
ein  Körper  4  Secunden  lang  gefallen  ist ,  so  hülfe  es  ihm 
nichts,  den  Begriff  des  Falls  zu  analysieren;  wenn  er  aber  in 
die  Formel  s=  ^agt^  den  bestimmten  Werth  einsetzt,  so  weiss 
er,  dass  die  Fallhöhe  15.  16  Fuss  ist. 

Dadurch  gewinnt  Kants  Lehre  ihre  Bedeutung  auch  von 
dieser  Seite;  seine  Frage:  wie  sind  synthetische  Urtheile  a 
priori ,  d.  h.  unbedingt  und  allgemein  gültige  synthetische 
Urtheile  möglich ,  ist  die  Lebensfrage  auch  für  den  Syllogis- 
mus, der  ohne  sie  zu  einem  völlig  leeren  Thun  wird. 

7.  Daraus  erhellt  die  Bedeutung  aller  derjenigen  allge- 
meinen Sätze  für  das  Schliessen,  welche  sich  auf  nothwendige 
Verhältnisse  von  Relationen  beziehen,  und  vermittelst  welcher 
Relatioiisurtheile  gewonnen  werden  können;  der  Sätze,  dass 
zwei  Begriffe   oder  Objecte,    die  mit  einem   dritten  identisch, 


474  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  411.  412 

auch  unter  sich  identisch  sind  ;  dass  zwei  Grössen ,  die  der- 
selben dritten  gleich  sind ,  auch  unter  sich  gleich  sind ;  dass 
Gleiches  zu  Gleichem  addiert  Gleiches  gibt  u.  s.  w. ;  der  Sätze 
ferner,  welche  die  räumlichen  Beziehungen  regeln.  Ob  man 
diese  Grundsätze  selbst  für  analytisch  —  weil  aus  dem  Be- 
griff der  Identität,  der  Gleichheit  u.  s.  w.  folgend  —  erklärt, 
oder  für  synthetische  ürtheile  a  priori,  ist  schliesslich  von 
untergeordneter  Bedeutung;  es  kommt  vor  allem  darauf  an, 
dass  sie ,  weil  sie  Relationen  betreffen,  ein  Hinausgehen  über 
die  bloss  analytischen  ürtheile  möglich  machen  ,  welche  die 
Tradition  allein  ins  Auge  zu  fassen  pflegt. 

8.  Daraus  folgt  aber,  dass  die  kategorischen  Schulsyllo- 
gismen viel  zu  eng  und  unbequem  sind,  um  allgemein  und  leicht 
anwendbare  Formeln  darzustellen.  Sie  sind  der  natürliche  Aus- 
druck eben  für  Subsumtionsurtheile  und  ürtheile,  welche  ein- 
fache Prädicate  eines  Subjects  aussagen ;  sie  werden  unbequem, 
sobald  es  sich  um  verwickeitere  Relationsverhältnisse,  um  die 
Abhängigkeit  eines  Prädicats  von  mehreren  Voraussetzungen 
u.  s.  w.  handelt;  hier  tritt  die  hyp  othetische  Form  mit 
folgender  npoaXri^ic,  als  die  naturgemässe  Ausdrucks- 
weise ein;  und  da  diese  zugleich  alle  allgemeinen  kategori- 
schen ürtheile  unter  sich  begreift,  so  ist  sie  die  naturgemäss 
gegebene  Formel ,  um  so  mehr  da  sie  die  Nothwendigkeit 
anstatt  der  Allgemeinheit  als  die  eigentliche  Basis  des  Schlusses 
heraustreten  lässt.  Es  bedarf  nur  eines  Blicks  in  das  nächste 
beste  mathematische  oder  physikalische  Lehrbuch,  um  sich  zu 
überzeugen,  dass  weitaus  die  meisten  Sätze,  welche  als  Ober- 
sätze weiterhin  verwendet  werden,  nicht  die  Form  allgemeiner 
kategorischer  ürtheile  haben,  sondern  ausdrücklich  oder  dem 
Wesen  nach  hypothetische  sind.  Denn  Sätze  wie:  Zwei 
Kreise,  die  einander  schneiden,  haben  keinen  gemeinschaft- 
lichen Mittelpunkt,  sind  ihrer  Natur  nach  hypothetische;  der 
Relativsatz  gibt  die  Bedingung  an,  unter  der  das  Prädicat 
verneint  wird,  und  ebenso  sind  die  obersten  Axiome  dem 
Wesen  nach  hypothetische  ürtheile.  Der  Satz :  »Zwei  gerade 
Linien  schliessen  keinen  Raum  ein«  meint:  Wo  und  wie 
ich  auch  zwei  gerade  Linien  ziehen  mag ,  so  schliessen  sie 
zusammen  keinen  Raum  ein ;  er  behauptet  nicht  etwas  von 


412  §  55.    Der  Werth  des  Syllogismus.  475 

zwei  geraden  Linien,  in  dem  Sinne  damit  eine  gemeinschaft- 
liche Eigenschaft  u.  dergl.  anzugeben.  Der  Satz:  Alles  was 
geschieht  hat  eine  Ursache ,  setzt  schon  durch  das  Prädicat 
des  Vordersatzes  voraus ,  dass  etwas  wirklich  geschieht ; 
er  entwickelt  nicht  den  ßegriif  des  Geschehens ,  sondern  er 
gibt  den  Zusammenhang  jedes  einzelnen  Geschehens  mit  einem 
andern  Seienden.  Dasselbe  gilt  von  den  Formeln  der  analy- 
tischen Mechanik  und  ähnlichen;  sie  sind  hypothetische  Ur- 
theile,  und  die  Schlüsse  nach  ihnen  geschehen  durch  Ein- 
setzung bestimmter  Werthe  für  die  allgemeinen  Zeichen*). 


*)  Ich  halte  es  für  überflüssig,  wenn  unter  den  Schlussformen,  wie 
z,  ß.  bei  Wundt  (Logik  I,  S.  291),  ein  besonderer  Identi tat sschluss  auf- 
tritt, weiterhin  ein  Gleichungsschluss.  Mit  demselben  Rechte 
müsste  auch  der  Schluss  a  ]>b,  b^c,  also  a^  c  eine  besondere 
Stelle  und  einen  besonderen  Namen  haben.  Was  diese  Schlussweisen 
charakterisiert,  ist  nicht  die  Art  des  Schliessens,  sondern  der  bestimmte 
Obersatz  der  sie  möglich  macht,  der  allerdings  häufig,  weil  selbstver- 
ständlich, nicht  ausdrücklich  formuliert  wird.  A  dasselbe  wie  B,  B 
dasselbe  wie  C,  also  A  dasselbe  wie  C  ist  nur  eine  Anwendung  eines 
Satzes,  der  das  bestimmte  Prädicat  der  Identität  betrifft.  Ihn  besonders 
hervorzuheben  kann  höchstens  dadurch  Veranlassung  gegeben  sein,  dass 
das  Urtheil  A  ist  B  in  ungenauer  Redeweise  häufig  eine  Identität 
meint,  ohne  es  ausdrücklich  zu  sagen. 

Im  Ganzen  scheint  mir,  dass  es  wenig  erspriesslich  ist,  die  Schluss- 
lehre noch  weiter  zu  specialisieren,  viel  richtiger  dagegen,  das  allen 
Schlussweisen  Gemeinsame  hervorzuheben,  und  nicht  Unterschiede  der 
Schluss  f  0  r  m  aufzustellen,  wo  der  ganze  Unterschied  in  dem  In  h  a  1 1  der 
den  Schluss  bestimmenden  Prämissen  liegt;  diese  zu  erschöpfen  ist 
unmöglich.  Wundt  versucht  allerdings  (Logik  I,  282)  eine  allgemeine 
Formel  für  alles  Schliessen  aufzustellen:  Wenn  verschiedene  Urfcheile 
durch  Begriffe,  die  ihnen  gemeinsam  angehören,  in  ein  Verhältniss  zu 
einander  gesetzt  sind  ,  so  stehen  auch  die  nicht  gemeinsamen  Begriffe 
solcher  Urtheile  in  einem  Verhältniss,  welches  in  einem  neuen  Urtheil 
seinen  Ausdruck  findet«.  Allein  abgesehen  von  der  Unbestimmtheit 
der  Formulierung  ist  der  Satz  falsch,  weil  er  zu  weit  ist;  denn  in  welchem 
Verhältniss  stehen  die  Begriffe  S  und  P,  wenn  S  nicht  M  und  M  P  ist? 
Auch  Lotze's  an  sich  völlig  berechtigte  Ausführung,  dnss  diejenigen 
Schlüsse  hauptsächlich  werthvoll  wären,  welche  nicht  bloss  ein  ganz 
allgemeines  P  dem  S  durch  Vermittlung  von  M  zusprächen,  sondern 
zeigten,  wie  die  besondere  Modification  des  M,  die  dem  S  zukommt,  auch 
eine  besondere  Ausprägung  des  P  nothwendig  mache,  führt  nicht  zu 
einer  besonderen  Schlussweise,   sondern   verlangt  im  Grunde  nur 


476  n,  3.   Die  Regeln  des  Schluiwes.  412.413 


§  56. 

Der  Syllogismus  aus  einem  conjunctiven  ürtheil  dient 
der  Subsumtion  des  Einzelnen  unter  die  fest- 
stehenden Begriffe  mittelst   der    Definition  derselben. 

Eine  besondere  Function  kommt  dem  Syllogismus  bei 
dem  Geschäft  zu,  das  Einzelne  unter  die  feststehenden  Be- 
griffe zu  subsumieren;  und  hier  nimmt  er,  dem  Zwecke  ent- 
sprechend, bestimmte  Formen  an. 

Um  zu  erkennen  ob  irgend  ein  Ding  A  unter  einen  Be- 
griff B  fällt,  ist  kein  anderer  Weg,  als  alle  Merkmale  von  B 
in  ihm  nachzuweisen;  zeigt  es  diese  obne  Ausnahme,  so  fällt 
es  unter  den  Begriff  B.  Was  also  hier  als  Mittelbegriff  er- 
scheint, ist  nicht  ein  einheitliches  Prädicat,  sondern  eine  Reihe 
von  Prädicaten ,  welche  in  einem  conjunctiven  Urtheil  ver- 
knüpft sind,  aber  eben  durch  ihre  Zusammengehörigkeit  doch 
die  Function  eines  einzigen  Begriffs  übernehmen. 

Um  zu  erkennen ,  dass  ein  Ding  A  unter  einen  Begriff 
B  nicht  gehört,  genügt  ein  einziges  Merkmal  das  dem  einen 
zukommt,  vom  andern  ausgeschlossen  ist;  durch  einen  Syllo- 
gismus der  zweiten  Figur  d.  h.  modo  tollente  wird  die  Sub- 
sumtion abgewiesen. 

So  entstehen  die  Formen,    deren  Obersatz  eine  Defini- 
tion ist :  P  ist  a,  b,  c,  oder  umgekehrt, 
Was  a,  b,  c  ist,  ist  P 
S  ist  a,  b,  c 
also  ist  S  P. 


andere  Obersätze,  als  die  gewöhnlich  im  kategorischen  Schlüsse 
betrachteten  ;  Obersätze,  welche  das  Gesetz  angeben,  nach  welchem  jede 
Modification  von  M  eine  Modification  von  P  nach  sich  zieht;  aus  diesen 
aber  wird  immer  nach  den  einfachen  Regeln  des  hypothetischen  Schlusses 
geschlossen  werden  müssen.  Ist  S  eine  Figur,  M  eine  Ellipse,  P  excent- 
risch,  so  gibt  s  =  »/a-  —  b- :  a  das  Gesetz  an,  nach  welchem  jede  Modifi- 
cation des  Verhältnisses  der  Axen  eine  Modification  der  Excentricität 
nach  sich  zieht;  die  (Gleichung  aber  ist  ihrem  Wesen  nach  ein  hypo- 
thetisches Urtheil ,  aus  dem  durch  Einsetzung  bestimmter  Werthe  ge- 
schlossen wird. 


414  §  56.     Der  Subsumtionsschluss.  477 

Die  der  Ausschliessung  dienende 
P  ist  a,  b,  c 
S  ist  nicht  a 
"S  Ist  nichf  F 
fällt  mit  den  Schlüssen  der  zweiten  Figur,  modo  tollente,  zu- 
sammen. 

§  57. 
Der  Schluss  aus  einem  divisiven  Urtheil,  den  ein- 
zelne Logiker  als  Inductionsschluss  aufgestellt  haben, 
führt  zu  keinem  unbedingt  allgemeinen  Urtheil,  wenn  die  Di- 
vision nur  eine  empirische  ist ;  ist  sie  eine  logische, 
so  ist  er  überflüssig,  wenn  er  nicht  etwa  als  Glied  einer  wei- 
teren Schlussreihe  auftritt. 

1.  Man  hat  versucht,  die  syllogistischen  Formen  auch 
durch  einen  sogenannten  Schluss  derlnduction  zu  er- 
weitern ,  der  mit  dem  vorangehenden  dadurch  Aehnlichkeit 
hat,  dass  ebenso  der  Mittelbegriff  nicht  als  etwas  Einfaches 
erscheint.  Wenn  nemlich  ein  Begriff  A  durch  eine  vollstän- 
dige Division  in  die  Species  M,  N,  0  getheilt  ist,  oder  wenn 
die  darunter  fallenden  Individuen  vollständig  aufgezählt  sind, 
und  allen  Species  beziehungsweise  Individuen  ein  gemein- 
schaftliches Prädicat  zukommt,  so  entsteht  der  Bchluss 

A  ist  theils  M,  theils  N,  theils  0 
Sowohl  M  als  N  als  0  sind  P 
also  A  ist  P 

2.  Allein  diese  Formel  birgt  eine  Zweideutigkeit,  die  aus 
unserer  obigen  Unterscheidung  des  empirischen  und  logiseben 
Umfangs  einleuchtend  ist. 

Betrachten  wir  zunächst  ein  Beispiel,  etwa  das  von  Apelt*) 
angeführte : 

Obersatz:  Das  Sonnensystem  besteht  aus  der  Sonne  und 

den  Planeten  Mercur,  Venus,  Erde,  Mars  u.  s.  w. 

Untersätze:  Mercur  bewegt   sich  von  West  nach   Ost 

um    die    Sonne,    Vonus    bewegt   sich  von 

West  nach  Ost  um  die  Sonne  u.  s.  w. 

*)  Theorie  der  Induction  S.  17. 


476  ^t  3.    t)ie  Regeln  des  Schlusses.  414 

Schlusssatz:  Alle  Planeten  bewegen  sich  von  West 
nach  Ost  um  die  Sonne. 

Hier  gibt  der  Obersatz  den  Umfang  des  Begriffs  Planet 
an,  der  Schlusssatz  bejaht  von  allen  Planeten  ein  Prädicat, 
das  nach  den  Untersätzen  allen  einzelnen  zukommt. 

Allein  was  ist  dadurch  gewonnen?  Kein  unbedingt 
allgemeines  Urtheil ,  das  dem  Begriff  Planet  mit  Noth- 
wendigkeit  die  rechtläufige  Bewegung  zuweist;  sondern  nur 
ein  empirisch  allgemeines  Urtheil,  das  im  Schlusssatz 
unter  einem  Namen  die  einzelnen  Subjecte  der  Untersätze 
zusammenfasst ,  nachdem  der  Obersatz  festgestellt ,  dass  die 
genannten  —  natürlich  für  unsere  jetzige  Kenntniss  —  alle 
Planeten  seien.  Das  Wort  Planet  fungiert  nicht  als  Zeichen 
eines  bestimmten  Begriffs ,  sondern  nur  als  Gemeinname  einer 
bestimmten  Anzahl  von  Einzeldingen;  darum  ist  ein 
Schluss,  der  ein  Urtheil  durch  andere  begründete,  nur  hin- 
sichtlich des  Rechts  der  Ersetzung  der  Eigennamen  durch  eine 
gemeinschaftliche  Bezeichnung  und  hinsichtlich  der  Ersetzung 
der  Summe  .der  Einzelnen  durch  den  Ausdruck  »Alle«  vor- 
handen*); aber  dass  nun  allem  was  Planet  ist,  die  recht- 
läufige Bewegung  nothwendig  zukommen  müsse ,  ist  in 
keiner  Weise  erwiesen.     Denn  ob  die  sämmtlichen  bekannten 


*)  Stellen  wir  alle  Prämissen  heraus,  so  lauten  sie 

Mercur,  Venus,  Erde  u.  s.  f.  bewegen  sich  von  West  nach  Ost  um 

die  Sonne 
Mercur,  Venus,  Erde  u.  s.  f.  sind  Planeten 
Also  bewegen   sich  so  und  so    viele  Planeten    von  VSTest  nach  Ost 

um  die  Sonne. 
Die  Zahl    dieser   Planeten   ist  der  Zahl  der  sämmtlichen  Planeten 

gleich 
Also  bewegen  sich  alle  Planeten  von  West  nach  Ost  um  die  Sonne. 
Die  Art  des  Schliessens  ist  keine  andere,  als  wenn  ich  aus 

Ml,  M2,  Ms,  haben  die  Eigenschaft  P, 

Ml,  M2,  Ms,  sind  drei  M,     schlösse 

also  haben  drei  M  die  Eigenschaft  P. 
Der  Schluss  auf  ein  empirisch  allgemeines  Urtheil  beruht  also  auf 
dem  Zählen,  auf  dem  Ausdruck  einer  gegebenen  Vielheit  durch   einen 
bestimmten  Zahlbegriff;  das  Recht  Mi,  M2,  Ms  durch  drei  M  zu  ersetzen, 
beruht  auf  der  Identität  der  Zahl.  Vergl.  oben  §  52,  4. 


415  §  57.    Schlüsse  aus  divisiven  Ürtheilen.  479 

Planeten  um  der  Eigenschaften  willen,  wegen  deren  sie  unter 
den  Begriff  des  Planeten  fallen,  oder  aus  irgend  einem  andern 
dem  gegenüber  zufälligen  Grunde  rechtläufig  sind,  vermag  das 
bloss  empirisch  zusammenfassende  Urtheil  nicht  zu  sagen. 
Sonst  müsste  auch  daraus ,  dass  alle  Könige  von  Preussen 
Friedrich  und  Wilhelm  heissen,  folgen,  dass  alle  Könige  von 
Preussen  nothwendig  so  heissen  müssen. 

3.  Ganz  dasselbe  findet  'statt,  wenn  statt  der  Indivi- 
duen die  empirisch  bekannten  Species  eines  Genus  genannt 
werden.  Zu  einer  Zeit,  wo  bloss  die  alten  Metalle  bekannt 
waren,  galt  der  Schluss: 

Die  Metalle  sind  Gold,  Silber,  Eisen  u.  s.  w. 
Gold,  Silber,  Eisen  u.  s.  w.  sind  schwerer  als  Wasser 
Also  alle  Metalle  sind  schwerer  als  Wasser. 
Unter  »allen  Metallen«  sind  die  bekannten  und  wegen  gemein- 
samer Eigenschaften  so  genannten    verstanden;    aber  es  folgt 
nicht,    dass  diese  gemeinsamen  Eigenschaften    ein  specifisches 
Gewicht  nöthig  machen,  das  grösser  als  das  des  Wassers  wäre ; 
die  Entdeckung  des  Kaliums  hat  diesen  Satz  widerlegt. 

Einen  solchen  Schluss  einen  Inductionsschluss  zu  nennen, 
ist  grundfalsch ;  denn  das  Wesen  des  Indactionsschlusses 
besteht  eben  darin,  von  empirischen  Datis  auf  ein  unbe- 
dingt allgemeines  Urtheil  überzugehen.  Dazu  müsste 
aber  nachgewiesen  sein,  dass  diejenigen  Eigenschaften,  welche 
die  c^emeinschaft liehe  Benennung  begründen,  auch  das  weitere 
Prädicat  nothwendig  machen. 

4.  Ginge  aber  ein  solches  Urtheil  von  einer  logischen 
Division  aus,  welche  die  absolute  Vollständigkeit  aller  mög- 
lichen Theilungsglieder  garantierte,  so  wäre  der  Schluss  ein 
überflüssiger  Umweg.  Denn  wenn  alle  Species  eines  Genus 
nothwendig  dasselbe  Prädicat  haben ,  so  muss  dieses  in  dem 
gegründet  sein,  was  allen  gemeinschaftlich  ist,  d.  h.  in  ihrem 
Gattungsbegriff,  und  es  muss  schon  als  aus  diesem  folgend 
erkannt  werden  können. 

Die  Parallelogramme   sind  theils  Quadrate,    theils  Ob- 
longen, theils  Rhomben,  theils  Rhomboiden, 
Quadrate ,    Oblongen ,     Rhomben ,    Rhomboiden    haben 
Diagonalen,  die  sich  gegenseitig  halbieren, 


480  n,  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  416 

Also   haben   alle  Parallelogramme  Diagonalen,  welche 
sich  gegenseitig  halbieren 
wäre  ein  solcher  Schluss,  der  einen  überflüssigen  Umweg  zeigt ; 
denn  aus  den  Bestimmungen ,    welche  den  Begriff  des  Paral- 
lelogramms constituieren,  lässt  sich  bereits  das  Prädicat  ableiten. 

Doch  gibt  es  Fälle,  in  denen  die  Erkenntniss  eines  all- 
gemeinen Satzes  durch  eine  solche  vollständige  Aufzählung 
des  Besonderen  naturgemäss  hindurchgeht.  Der  Beweis,  dass 
der  Centriwinkel  im  Kreise  das  Doppelte  des  mit  ihm  auf 
gleichem  Bogen  stehenden  Peripheriewinkels  ist,  geht  davon 
aus,  dass  die  Spitze  des  Peripheriewinkels  entweder  auf  der 
Verlängerung  eines  der  Schenkel  des  Centri winkeis ,  oder  in- 
nerhalb von  dessen  Scheitelwinkel,  oder  ausserhalb  desselben 
liegt ;  in  allen  drei  Fällen  lässt  sich  zeigen,  dass  der  Centri- 
winkel das  Doppelte  des  Peripheriewinkels  ist;  also  gilt  all- 
gemein, dass,  wenn  ein  Centriwinkel  und  ein  Peripheriewinkel 
auf  demselben  Bogen  stehen ,  jener  das  Doppelte  von  diesem 
ist.  Der  Beweis  wird  auch  hier  aus  den  gemeinschaftlichen 
Voraussetzungen  geführt ;  aber  sie  subsumieren  sich  unter 
verschiedene  Obersätze ,  und  die  Wahrheit  des  Untersatzes 
wird  durch  verschiedene  Vermittlungen  erkannt.  Es  ist  aber 
klar,  dass  dieser  Fall  nur  bei  erschlossenen  Untersätzen,  nie 
bei  unmittelbar  gewissen  eintreten  kann. 

4.    In  anderer  Weise   scheint  ein  Divisionsurtheil  in  der 
zweiten  Figur  einen  Schluss  zu  begründen.     Gilt  nämlich 
A  ist  theils  B  theils  C  theils  D 
S  ist  weder  B  noch  C  noch  D 
so  folgt:  S  ist  nicht  A. 

Was  unter  keine  der  sämmtlichen  Species  eines  Genus 
fällt,  fällt  auch  nicht  unter  das  Genus.  Es  gilt  aber  hier 
wieder  dasselbe:  Ist  die  Division  eine  empirische,  so  ist 
der  Schluss  ungültig,  denn  der  empirische  Umfang  garantiert 
nicht,  dass  die  generellen  Merkmale  sich  nicht  ausserhalb  der 
bekannten  Species  finden ;  ist  sie  eine  logische ,  so  muss  das 
Merkmal,  das  S  von  allen  Species  ausschliesst,  mit  dem  Genus 
unvereinbar  sein,  und  es  bedarf  des  Umwegs  nicht. 


417  §  58.     Der  disjunctive  Schluss.  481 

§  58. 
Der   sog.   disjunctive    Schluss    beruht    auf  keinem 
eigenthümlichen  Princip,    und    es   ist  insofern  nicht   gerecht- 
fertigt ihn  als  besondere  Schlussweise  aufzustellen. 

I.  Neben  den  hypothetischen  und  kategorischen  Schlüssen 
hat  die  traditionelle  Logik  auch  die  disjunctivenSchlüsse 
aufgestellt ,  deren  Obersatz  ein  disjunctives  Urtheil  ist,  und 
deren  Consequenz  eben  auf  dem  in  der  Disjunction  ausgespro- 
chenen Verhältnisse  ihrer  Glieder  ruht.  Gilt  nämlich  in  einer 
zweigliedrigen  Disjunction  A  ist  entweder  B  oder  C ,  so 
schliesst  die  Beilegung  eines  P^^ädicats  das  andere  aus ,  die 
Verneinung  eines  Prädicats  aber  fordert  die  Bejahung  des 
andern.     So  entsteht 

I.  der  Modus  ponendo  tollens: 
A  ist  entweder  B  oder  C 
Nun  ist  A  B  (resp.  C) 
Also  ist  A  nicht  C  (resp.  nicht  B). 

II.  der  Modus  toUendo  ponens : 

A  ist  entweder  B  oder  C 
Nun  ist  A  nicht  B  (nicht  C) 
Also  ist  A  C  ^resp.  B). 
Für  eine  mehrgliedrige  Disjunction  führt  der  erste  Modus 
zu  einem    conjunctiven   verneinenden  Urtheile;    der  zweite  zu 
einem  einfach  bejahenden  nur  dann,  wenn  der  Untersatz  alle 
Glieder  bis  auf  eines  in  einem  conjunctiven  Urtheil  verneint; 
in   allen    anderen   Fällen    ergibt   sich    nur    die   Beschränkung 
der  Disjunction  auf  wenigere  Glieder. 

I.         A  ist  entweder  B  oder  C  oder  D 
A  ist  B 


also  weder  C  noch  D. 

II. 

a)  A  ist  entweder  B  oder  C  oder  D 

A  ist  weder  B  noch  C 

also  D. 

b)  A  ist  entweder  B  oder  C  oder  D 

A  ist  nicht  B 

also  entweder  C  oder  D. 

Sigwart,  Logik.    I.     2.  Auflage.  31 


48Ö  II»  3.    Die  Regeln  des  Schlusses.  418 

Die  allgemeinste  Formel  des  disjnnctiven  Schlusses  ist 
übrigens  nicht  diejenige,  welche  die  oben  formulierten  Ober- 
sätze zeigt;  diese  ist  nur  ein  besonderer  Fall  des  Obersatzes 
Entweder  gilt  das  Urtheil  B  oder  das  Urtheil  C; 
B  gilt,  also  nicht  C 
B  gilt  nicht,  also  C  u.  s.  w. 
2.  Ein  Grund ,  hierin  eine  besondere  Schlussform  nach 
einem  eigenthümlichen  Princip  zu  suchen,  besteht  nicht ;  denn 
das  disjunctive  Urtheil  sagt  ja  nur  einmal,  dass  seine  Glie- 
der sich  ausschliessen ,  also  die  Bejahung  des  einen  die  Ver- 
neinung der  übrigen  nothwendig  macht;  d.  h.  der  modus  po- 
nendo  toUens  ist  ein  Schluss  aus  dem  hypothetischen  Urtheile, 
das  in  der  Disjunction  liegt:  Wenn  A  B  ist,  ist  es  nicht  C 
(weder  C  noch  D);  zumzweiten,  dass  die  Verneinung  aller 
Glieder  bis  auf  eines  dieses  zu  bejahen  nothwendig  macht, 
d.  h.  der  Modus  tollendo  ponens  ist  ein  Schluss  aus  dem 
hypothetischen  Urtheile:  Wenn  A  nicht  B  ist,  so  ist  es  C 
(wenn  es  weder  B  noch  D  —  bei  mehrgliedriger  Disjunction). 
Das  Princip,  nach  dem  geschlossen  wird,  ist  also  durchaus 
das  des  hypothetischen  Schlusses.  Die  Wichtigkeit  des  dis- 
junctiven  Urtheils  beruht  eben  darin ,  dass  es  diese  doppelte 
Nothwendigkeit  ausspricht ;  der  Unterschied  des  disjunctiven 
Schlusses  vom  hypothetischen  aber  ist  nur  in  der  grammati- 
schen Form  begründet. 

3,     In     der     wirklichen    Anwendung    des    disjunctiven 
Schliessens  erscheinen  als  Obersätze   häufig,    wenigstens   dem 
Sinne  nach,  hypothetische  Urtheile  mit  disjunctivem  Nachsatz, 
aus  denen  vermittelst  einer  izpoaXri^ic,  geschlossen  wird: 
Wenn  etwas  A  ist,  ist  es  entweder  B  oder  C 
S  ist  A,  imd  zwar  B 

also  nicht  C 
S  ist  A,  aber  nicht  B 
also  C. 
Sie  dienen  der  fortschreitenden  Subsumtion  eines  Objects  unter 
immer  bestimmtere  Begriffe. 

4.  Der  Schlussform  §  57  ,  4  ist  dann  der  Schluss  ver- 
wandt, der  aus  der  Verneinung  aller  Disjunctionsglieder  ihre 
gemeinschaftliche  Voraussetzung  verneint: 


418.419    §  59.     Verhältmss  der  Conclusion  zu  den  Prämissen.        483 

Wenn  A  gilt,  so  gilt  entweder  B  oder  C 
Nun  gilt  weder  B  noch  C 
also  auch  nicht  A. 
Oder  mit  Hülfe  einer  TzpoaXri^ic, : 

Wenn  etwas  P  ist,  ist  es  entweder  M  oder  N 
S  ist  weder  M  noch  N 
also  ist  S  nicht  P 
in  kategorischer  Form:  A  ist  entweder  B  oder  C 

S  ist  weder  B  noch  C 


also  ist  S  nicht  A. 

Dies  ist  das  sogenannte  Dilemma,  Trilemma  u.  s.  f.  Auch 
hier  ruht  der  Schluss  auf  dem  allgemeinen  Grundsatz,  dass 
mit  der  Folge  der  Grund  aufgehoben  ist ;  nur  dass  die  Folge 
hier  nicht  als  ein  einfaches  erscheint,  sondern  als  eine  be- 
stimmte Zahl  sich  ausschliessender  Möglichkeiten. 

§  59. 

Die  Regeln  des  Schlusses  gelten  ebenso  auch  dann,  wenn 
die  Prämissen  nicht  als  gültige  Urtheile,  sondern  nur  als  an- 
genommene Hypothesen  aufgestellt  sind.  Sie  begründen  dann 
ein  hypothetisches  Urtheil,  welches  die  Conclusion  als 
nothwendige  Folge  der  Prämissen  darstellt. 

Auf  das  Verhältniss  der  Wahrheit  der  Conclusion  zu  der 
Wahrheit  der  Prämissen  finden  damit  die  Sätze  Anwendung, 
dass  mit  dem  Grunde  die  Folge  gesetzt,  mit  der  Folge  der 
Grund  aufgehoben  ist ;  ebenso  dass  mit  der  Aufhebung  des 
Grundes  nicht  nothwendig  die  Folge  aufgehoben,  mit  der  Be- 
jahung der  Folge  nicht  nothwendig  die  Bejahung  des  Grundes 
verknüpft  ist. 

1.  Es  hat  kein  Interesse,  die  verschiedenen  Combinatio- 
nen,  welche  durch  sprachliche  Abkürzungen  oder  durch  das 
Eingehen  copulativer ,  coujunctiver  und  disjunctiver  Sätze  in 
die  Schlüsse  sich  herstellen  lassen ,  im  Einzelnen  zu  unter- 
suchen. Was  den  Schluss  vermittelt,  ist  überall  dasselbe :  seine 
Grundbedingung   ist   ein  Obersatz,    der  in  irgend  einer  Form 


464  il.  3.     Die  Regeln  des  Schlusses.  4ld. 

eine  nothwendige  Folge  einschliesst ,  und  zwingt  einen 
Satz  zu  behaupten  für  den  Fall,  dass  ein  anderer  gilt.  Hiezu 
kommt  der  Untersatz,  der  den  Fall  zeigt,  auf  welchen  der 
Übersatz  anzuwenden  ist;  entweder  direct,  wie  im  gemischten 
hypothetischen  Schluss;  oder  so,  dass  eine  allgemeine  Regel 
auf  einen  darunter  befassten  speciellen  Fall  angewendet  wird, 
vermittelst  eines  Urtheils,  welches  zeigt,  dass  auf  ein  bestimmtes 
Subject  die  allgemeine  Regel  des  Obersatzes  anwendbar  ist. 
Wir  unterlassen  darum  auch  hier  die  Untersuchung  der  soge- 
nannten Kettenschlüsse,  die  nur  wiederholte  Anwendungen  der 
Schlussregeln  in  sprachlicher  Abkürzung  sind. 

2.  Die  Behauptung,  welche  in  jedem  Schlüsse  liegt,  dass 
die  Gültigkeit  der  Conclusion  aus  der  Gültigkeit  der  Prä- 
missen folgt,  ist  für  den  Fall,  dass  die  Schlussregeln  einge- 
halten sind,  auch  dann  gültig,  wenn  die  Prämissen  nur  hy- 
pothetisch  angenommen  wurden.  Der  einfache  hypothetische 
Schluss  geht  dann  in  seinen  Obersatz  zurück;  die  übrigen, 
welche  mehr  als  die  einfache  Assumtion  des  Vordersatzes  ent- 
halten, lassen  sich  in  hypothetischen  Urtheilen  darstellen  von 
der  Form  Wenn  A  gilt  und  B  gilt,  so  gilt  C  (wenn  alle 
Menschen  sterblich  und  Cajus  ein  Mensch  ist,  so  ist  Cajus 
sterblich) ;  Urtheilen ,  welche  nur  das  Moment  der  Conse- 
quenz  abgesehen  von  der  Gültigkeit  der  Prämissen  hervor- 
heben. Die  meisten  hypothetischen  Urtheile  ruhen  in  der 
That  auf  solchen  syllogistischen  Verhältnissen;  wird  die  eine 
Prämisse  als  selbstverständlich  nicht  besonders  ausgedrückt^ 
so  erscheinen  sie  als  hypothetische  Urtheile  mit  einfachem 
Vordersatz*). 

3.     Daraus  folgt,  dass  sich  auf  das  Verhältniss  der  Con- 


*)  Vergl.  mein  Programm  S.  40  und  die  dort  angeführten  Beispiele. 
Die  Noth wendigkeit  die  das  hypothetische  ürtheil  ausspricht:  Wenn 
Cajus  ein  Mensch  ist,  so  ist  er  sterblich,  ruht  auf  dem  verschwiegenen 
Satze,  dass  alle  Menschen  sterblich  sind;  das  ürtheil:  Wenn  die  Erde 
sich  um  die  Sonne  bewegt ,  so  haben  die  Fixsterne  eine  jährliche  Pa- 
rallaxe, setzt  eine  ganze  Reihe  von  Schlüssen  voraus,  deren  übrige 
Prämissen  als  geometrisch  absolut  gewisse  Sätze  vorausgesetzt  werden 
und  am  hypothetischen  Charakter  keinen  Theil  haben.  Aber  neben 
diesen  hypothetischen  Urtheilen  gibt  es  auch  andere,  deren  Nothwen- 
digkeit  eine  unmittelbar  erkannte  ist. 


420  §  59.     Verhältniss  der  Conclusion  zu  den  Prämissen.  485 

clusion  zu  den  Prämissen ,  wenn  man  sie  alle  nur  als  Hypo- 
thesen betrachtet,  die  Sätze  über  das  Verhältniss  von  Grund 
und  Folge  anwenden  lassen. 

Es  gilt  also  nicht  nur ,  dass  wenn  die  Prämissen  wahr 
sind,  die  Conclusion  nothwendig  wahr  ist,  sondern  auch,  dass 
wenn  die  Conclusion  falsch  ist ,  damit  der  Grand ,  aus  dem 
sie  nothwendig  folgt,  falsch  sein  muss.  Sofern  aber  dieser 
Grund  in  zwei  Prämissen  liegt ,  folgt  aus  der  Falschheit  der 
Conclusion  nur  die  Falschheit  wenigstens  einer  Prämisse  — 
sei  es  des  Ober-  oder  Untersatzes. 

Es  folgt  aber  nicht,  dass,  wenn  die  Prämissen  falsch 
sind,  auch  die  Conclusion  falsch  sein  muss;  und  es  folgt  nicht, 
dass,  wenn  die  Conclusion  wahr  ist,  auch  die  Prämissen  wahr 
sein  müssen.  Vielmehr  kann  aus  falschen  Prämissen  mit 
syllogistischer  Nothwendigkeit  eine  wahre  Conclusion  her- 
vorgehen. 

Es  folgt  darum  insbesondere  nicht,  dass,  wenn  eine  Prä- 
misse und  die  Conclusion  wahr  ist,  darum  auch  die  andere 
Prämisse  wahr  sein  müsse;  und  es  darf  also,  wenn  ein  als 
wahr  bekannter  Satz  sich  als  syllogistische  Folge  zweier  Sätze 
darstellen  lässt,  von  denen  der  eine  ebenso  als  wahr  bekannt 
ist,  daraus  nicht  geschlossen  werden,  dass  darum  auch  der 
andere  wahr  sei.  ' 


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