Full text of "Logik"
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Logik
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LOGIK
von
Dr. Christoph Sigwart
o. ö. Professor der Philosophie au der Universität Tttbingen.
Erster Band.
Die Lehre Tom ürtheil, vom Begriff und vom Schluss.
Zweite durchgesehene und erweiterte Auflage.
Freiburg i. B. 1889.
Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr,
(Paul Siebeck).
Pyuck yo» H. Laupp jr. in Tftbingen,
Vorwort zur ersten Auflage.
Dem folgenden Versuche, die Logik unter dem Gesichts-
punkte der Methodenlehre zu gestalten, und sie dadurch in
lebendige Beziehung zu den wissenschaftlichen Aufgaben der
Gegenwart zu setzen , muss ich überlassen , sich durch die
Ausführung zu rechtfertigen, zu der dieser erste Band, in
möglich engem Anschluss an die überlieferte Gestalt der
Wissenschaft, die Vorbereitung und Grundlegung enthält. Nur
eine Bitte habe ich voranzuschicken, nemlich die, dass man
mir die Sparsamkeit zu Gute halten möge, mit der ich frühere
und gleichzeitige Behandlungsweisen im Ganzen und Ansichten
im Einzelnen ausdrücklich berücksichtigt habe. In einer so
ausserordentlich viel bearbeiteten Disciplin schien es mir nicht
bloss eine ausserliche üeberbürdung des Werkes zu sein,
wenn ich zustimmend oder bestreitend überall auch nur die
wichtigsten der bisher aufgestellten Lehren anführen wollte;
ich hätte auch fürchten müssen, dass der durch meine Fassung
der Aufgabe vorgezeichnete Gang der Untersuchung und Dar-
stellung verhüllt und verwirrt werde, wenn ich mir zur Regel
gemacht hätte, Aufstellungen , die vielfach aus ganz anderen
Voraussetzungen hervorgegangen sind, überall zu discutieren.
yi Vorwort.
'as 7.nr ■
So glaubte ich mich auf das beschränken zu sollen , was zur
genauen Darlegung und Rechtfertigung meiner eigenen Sätze
unentbehrlich schien. Dass ich ältere und neuere Arbeiten
in ziemlichem Umfange benützt habe, brauche ich kaum zu
sagen. Drei der Männer, deren Werke ich am meisten vor
mir gehabt habe , und denen ich meinen Dank hier auszu-
sprechen gedachte, Trendelenburg, Ueberweg, Mill, sind
während des Entwurfs und der Ausarbeitung dieses Buchs
gestorben; ausserdem muss ich besonders der Förderung ge-
denken, welche ich Prantl's grossartigem Werke verdanke.
Juli 1873.
Vorwort zur zweiten Auflage.
In den fünfzehn Jahren, die seit dem ersten Erscheinen
dieses Buches verflossen sind, ist die logische Litteratur durch
eine stattliche Reihe werthvoller Arbeiten bereichert worden.
Von demselben Gedanken aus, der auch diesen Versuch leitete, die
Logik, statt auf eine unfruchtbar gewordene Tradition, auf eine
neue Untersuchung des wirklichen Denkens nach seinen psycholo-
gischen Grundlagen wie nach seiner Bedeutung für die Erkennt-
niss und seiner Bethätigung in den wissenschaftlichen Methoden
zu begründen, sind die grossen Werke von Lotze, Schuppe,
Wundt, Bradley — um nur die hervorragendsten zu nennen —
ausgegangen; über einzelne Hauptfragen der Logik haben
speciellere Untersuchungen, unter denen Windelbands Arbeiten
über das negative Urtheil, Meinongs Behandlung der Relations-
begriffe, Volkelts scharfsinnige und originelle Ausführungen
sich mit meiner Auffassung am nächsten berühren, willkommenes
Licht verbreitet.
Vorwort. Yll
Für micli ergab sich daraus die Aufgabe, an den Sätzen der
Mitarbeiter die eigenen Aufstellungen aufs neue zu prüfen,
manches, was zu Missverständnissen Anlass geben konnte, ge-
nauer zu fassen, anderes zu ergänzen und weiter auszuführen,
oder gegen abweichende Auffassungen sicher zu stellen. Aber
aus den Gründen, die ich schon im ersten Vorwort angeführt,
musste ich darauf verzichten in ausgedehnterem Masse die Ueber-
legungen, die mich zum Festhalten meiner Sätze bestimmten,
dem Werke einzuverleiben, oder die kritischen Bemerkungen,
deren ich mich reichlich zu erfreuen hatte, alle einzeln zu er-
wähnen; wo sie wirklich treffen, was ich gesagt, habe ich sie
dankbar benützt; wo sie nur auf Missverständnissen beruhten,
glaubte ich den Leser nicht durch eine unfruchtbare Discussion
ermüden zu dürfen. Ebenso musste ich, auch wo ich den
Ausführungen anderer zustimmte, mir doch versagen, in
grösserem umfang das Werk durch die Aufnahme von Unter-
suchungen zu bereichern, die seinem ursprünglichen Plane
fernlagen; bei der Unerschöpflichkeit des Gegenstandes ist
Vollständigkeit doch nicht erreichbar, und ich wollte lieber
den Schein der Vollständigkeit der Ausführung, als die Ueber-
sichtlichkeit des Planes opfern.
Wann eine zweite Auflage des zweiten Bandes wird folgen
können, vermag ich heute noch nicht zu bestimmen ; inzwischen
ist durch Wiederholung der Seitenzahlen der ersten Auflage
in dem vorliegenden Bande dafür Sorge getragen, dass der
zweite Band nebst seinem Register ohne Hinderniss mit ihm
zusammen gebraucht werden kann.
Tübingen, October 1888.
Der Verfasser.
Inhaltsübersicht.
Seite
Einleitung
§ 1. Aufgabe der Logik 1 ^
§ 2. Grenzen der Aufgabe 1 10
§ 3. Postulat der Logik I 15
§ 4. Eintheilung der Logik \JL6
J^ // Erster, analytischer Theil. Das Wesen und die Voraussetzungen
des Urtheilens 23
§ 5. Der Satz als Ausdruck des Urtheils. Subject und Prädicat 25
Erster Abschnitt. Die Vorstellungen als Elemente des Ur-
theils und ihr Verhältniss zu den Wörtern .... 30
§ 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten .... 30
§ 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort .... 45
§ 8. Nothwendigkeit des Worts für das Prädicat ... 60
Zweiter Abschnitt. Die einfachen ürtheile 63
I. Die erzählenden ürtheile 63
§ 9. Die Benennungsurtheile 63
§ 10. Eigenschafts- und Thätigkeitsurtheile 70
§ 11. Impersonalien und verwandte Urtheilsformen ... 72
§ 12. Relationsurtheile. Existenti aisätze ..80
§ 13. ürtheile über Abstracta 95
§ 14. Die objective Gültigkeit des Urtheils und das Princip
der Identität 98
§ 15. Die Zeitbeziehung der erzählenden ürtheile . . . 111
II. § 16. Die erklärenden ürtheile 112
III. § 17. Der sprachliche Ausdruck des Urtheilsaots .... 117
Dritter Abschnitt. Die Entstehung der ürtheile. Der Unter-
schied analytischer und synthetischer ürtheile . . 128
§ 18. Unmittelbare und vermittelte, analytische und syn-
thetische ürtheile 128
§ 19. Der Process des synthetischen Urtheilens .... 142
Vierter Abschnitt. Die Verneinung 150
§ 20. Die Verneinung als Aufhebung eines Urtheils . . . 150
§ 21. Die verschiedenen Arten verneinender ürtheile . . 161
X Inhaltsübersicht.
8«li6
§ 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung 167
§ 23. Der Satz des Widerspruchs 182
§ 24. Der Satz der doppelten Verneinung 194
§ 25. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten 196
Fünfter Abschnitt. Die pluralen Urtheile 205
1. Positive, plurale Urtheile 205
§ 26. Positive copulative und plurale Urtheile .... 205
§ 27. Das allgemeine bejahende Urtheil 209
§ 28. Das particuläre bejahende Urtheil 216
II. § 29. Verneinende plurale Urtheile 221
III. § 30. Die Verneinung der pluralen Urtheile 224
Sechster Abschnitt. Möglichkeit und Nothwendigkeit . . 229
I. Die sogenannten Unterschiede der Modalität ..... 229
§ 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität . . . 229
§ 32. Das Gesetz des Grundes 245
II. Möglich und nothwendig als Prädicate in wirklichen Ur-
theilen 255
§ 33. Die reale Nothwendigkeit 255
§ 34. Die Möglichkeit 265
Siebenter Abschnitt. Das hypothetische und das disj unctive
Urtheil 276
I. § 35. Die verschiedenen Arten von Satzverbindungen und
ihre logische Bedeutung 277
II. § 36. Das hypothetische Urtheil 284
III. § 37. Das disjunctive Urtheil 297
Ergebnisse. §38 803
Zweiter, normativer Theil. Die logische Vollkommenheit der
Urtheile und ihre Bedingungen, bestimmte Begriffe
und gültige Schlüsse 309
§ 39. Die Bedingungen vollkommener Urtheile .... 309
Erster Abschnitt. Der Begriff 316
§ 40. Wesen des logischen Begriffs 316
§ 41. Die Analyse des Begriffs in einfache Elemente . . 328
§ 42. Ueber- und Unterordnung, Inhalt und Umfang der
Begriffe 343
§ 43. Die Eintheilung der Begriffe 359
§ 44. Die Definition 370
Zweiter Abschnitt. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile 382
§ 45. Die Wahrheit der Urtheile über Begriffe .... 382
§ 46. Die Wahrheit der Aussagen über uns selbst . . . 390
§ 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurtheile .... 396
§ 48. Axiome und Postulate ,.,.,....,. 409
Inhaltsübersicht. XI
Seite
Dritter Abschnitt. Die Begründung der vermittelten Urtheile
durch die Regeln des Schlusses ........ 422
§ 49. Der hypothetische Schluss 422
§ 50. Der hypothetische Schluss vermittelst einer Einsetzung 427
§ 51. Verschiedene Quellen hypothetischer Obersätze . . 434
§ 52. Die Folgerungen nach formalen logischen Gesetzen 437
§ 53. Die Schlüsse aus BegriflFs Verhältnissen 443
§ 54. Die Bedeutung der aristotelischen Figuren und Modi 450
§ 55. Der Werth des Syllogismus 459
§ 56. Der Subsumtionsschluss 476
§ 57. Der Schluss aus divisiven Urtheilen 477
§ 58. Der disjunctive Schluss 481
§ 59. Das Verhältniss der Wahrheit der Conclusion zur
Wahrheit der Prämissen 483
•
Berichtigung.
S. 289, 15 V. u. für »dast lies: deren ZusammentreflFen.
Einleitung.
§■ 1.
Von der Thatsache aus, dass ein wesentlicher Theil un-
seres Denkens den Zweck verfolgt, zu Sätzen zu gelangen,
welche gewiss und allgemeingültig sind, und dass dieser
Zweck durch, die natürliche Entwicklung des Denkens häufig
verfehlt wird, entsteht die Aufgabe sich über die Bedingungen
zu besinnen, unter welchen jener Zweck erreicht werden kann,
und danach die Regeln zu bestimmen, durch deren Befolgung
er erreicht wird. Wäre diese Aufgabe gelöst, so würden wir
im Besitze einer Kunst lehre des Denkens sein, welche An-
leitung gäbe zu gewissen und allgemeingültigen Sätzen zu ge-
langen. Diese Kunstlehre nennen wir Logik.
1 . Zu bestimmen , was Denken überhaupt ist , wie es
sich von den übrigen geistigen Thätigkeiten unterscheidet,
in welchen Beziehungen es zu denselben steht, und welche
Arten es etwa hat, ist zunächst Sache der Psychologie. Nun
können wir uns zwar auf keine allgemein anerkannte Psycho-
logie beziehen ; es genügt aber für unsere vorläufige Unter-
suchung schon die Erinnerung an den Sprachgebranch. Dieser
bezeichnet durch Denken im weitesten Sinne jedenfalls eine
Vorstellungsthätigkeit, d. h. eine Solche, in welcher -j \J
an sich weder die innere subjective Erregung liegt , die wir
als Gefühl bezeichnen, noch eine unmittelbare Wirkung auf
uns selbst oder auf anderes hervorgebracht wird, wie im Wollen
und Handeln, deren Bedeutung vielmehr darin aufgeht, dass
etwas dem Bewusstsein als Gegenstand gegenwärtig ist. Im ^N^.^
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 1
2 Einleitung. 1. Aufl. S. 2
Unterschiede von der Wahrnehmung und Anschauung aber,
welche eine unmittelbare Beziehung auf ein der subjectiven
Thätigkeit unabhängig von ihr gegebenes Object ausdrücken,
bezeichnet Denken eine rein innere Lebendigkeit des
Vorstellens, die eben darum als ein spontanes, aus der Kraft
des Subjects allein hervorgehendes Thun erscheint; und ihre
Producte, die Gedanken, unterscheiden sich darum als bloss
subjektive ideelle Gebilde von den Objekten, welche Wahr-
nehmung und Anschauung als real sich gegenüberstellen. In
diesem Sinne nennt die Sprache sowohl die Erinnerung — an
etwas denken — als die Einbildung — sich etwas denken —
ebensogut ein Denken, wie das Nachdenken und Ueberdenken.
Wo aber, wie in der Erkenntniss der äusseren Welt, Wahr-
nehmung und Denken sich auf dasselbe Object beziehen, unter-
scheiden wir ebenso die spontane Aufsuchung, Verknüpfung
und Verarbeitung der der Wahrnehmung unmittelbar gege-
benen Elemente als den dem Denken angehörigen Factor von
dem unmittelbaren Gegebensein derselben.
2. Verstehen wir zunächst unter Denken alles, was der
Sprachgebrauch darunter versteht : so ist sicher, dass mit der
Entwicklung des bewussten Lebens Denken nothwendig und
unwillkürlich entsteht, und dass der Einzelne, wenn er
anfängt auf sein inneres Thun zu reflectiren, sich immer schon
in manigfaltigem Denken begriffen findet, ohne dass er vom
Beginne des Denkens und seinem Hervorwachsen aus ein-
facheren und früheren Thätigkeiten eine unmittelbare Kennt-
niss haben könnte. Nur durch eine schwierige psychologische
Analyse des immer schon in Bewegung begriffenen Denkens
vermögen wir auf seine einzelnen Factoren und hervorbringen-
den Kräfte zurückzuschliessen, und uns eine Vorstellung über
die Gesetze seines unbewussten Werdens zu bilden.
Die unwillkürliche Gedankenerzeugung geht ferner unser
ganzes Leben hindurch fort; es ist schlechterdings unmöglich,
im bewussten wachen Zustande die innere Lebendigkeit zu
hemmen, welche durch die manigfaltigsten Anlässe angeregt
fortwährend Vorstellungen an Vorstellungen reiht, sie in immer
neuen Verbindungen verknüpft und so ohne unsere Absicht
eine innere Welt von Gedanken uns gegenwärtig erhält.
3 § 1. Aufgabe der Logik. 3
3. Allein über diesem unwillkürlichen Denken erhebt
sich ein willkürliches Thun, ein Denkenwollen, das
von bestimmten Interessen und Zwecken geleitet den zuerst
unwillkürlichen Lauf der Gedanken zu regeln und auf be-
stimmte Ziele zu richten sucht, unter dem unwillkürlich ent-
stehenden auswählend , dieses fallen lassend , jenes durch Auf-
merksamkeit festhaltend und entwickelnd, Gedanken suchend
und verfolgend. Wir können die Frage, ob es überhaupt eine
directe willkürliche Gedankenerzeug ang gebe, oder ob wir nur
indirect die Bedingungen herstellen können, unter denen die
unwillkürliche Gedankenerzeugung das Gewünschte herbeiführt,
auf sich beruhen lassen, da das Resultat im Wesentlichen
dasselbe ist: die unter dem Einflüsse des Wollens geschehene
Entstehung von Gedanken die ein bestimmtes Interesse be-
friedigen *).
Dieses Interesse ist aber ein zweifaches. Von einer
Seite steht die willkürliche Thätigkeit, die wir imserem Denken
zuwenden, unter dem allgemeinen Gesetze, dass das Angenehme
gesucht, das Unangenehme gemieden wird. Nun kann uns
das Denken in doppeltem Sinne unter den Gesichtspunkt des
Angenehmen fallen : einmal sofern jede naturgemässe Thätig-
keit ein Gefühl der Befriedigung innerhalb gewisser Schranken
ihrer Intensität gibt; dann sofern der manigfache Inhalt un-
seres Denkens ans angenehm oder unangenehm berührt.
Achten wir allein hierauf: so findet sich in uns eine
Neigung, theils überhaupt unser Denken anzuregen und an-
regen zu lassen, um der langen Weile zu entgehen und uns Unter-
haltung zu verschaffen, theils es in der Richtung zu leiten
dass uns das Gedachte angenehm ist. Indem wir bei ange-
nehmen Erinnerungen verweilen und sie zu beleben suchen,
indem wir Projecte machen und Luftschlösser bauen, indem
wir widerwärtige Erinnerungen zu verscheuchen oder Furcht
und Angst zu zerstreuen streben, ist der Einfluss der Willkür
auf unser Denken durch diese Motive bestimmt.
*) Vgl. Windelband Ueber Denken und Nachdenken (Präludien
S. 176 ff.) dessen Ausführungen im Einzelnen sehr viel Richtiges und
Treffendes enthalten, wenn auch das Verhältniss , in das er »unbe-
wusstes« und bewusstes Wollen setzt, mir nicht richtig bestimmt er-
scheint.
1*
4 Einleitnng. 4
Die Befriedigung die dabei entsteht, hat einen durchaus
individuellen Charakter ; das einzelne Subject bezieht
sich dabei nur auf sich selbst, seine besondere Natur und Lage,
und darum ist hier die individuelle Verschiedenheit des Denkens
die Regel, und Niemand kann sie aufheben wollen.
4. Dieses Interesse sich durch Denken unmittelbar an-
genehm zu afficieren ist aber das untergeordnete; die dem
Umfange wie dem Werthe nach bedeutendere Masse der mensch-
lichen DenkthUtigkeit verfolgt ernstere Zwecke.
Zunächst nimmt das Bedürfniss und die Noth des
Lebens das Denken in seinen Dienst, und setzt ihm Zwecke
die mit Bewusstsein aufgefasst und verfolgt werden. Un-
sere Existenz und unser Wohlsein hängt von bewusstem Han-
deln, von zweckmässiger Einwirkung auf die Dinge um uns
ab. Dieses Handeln gelingt nicht mit müheloser instinctiver
Sicherheit, sondern ist bedingt durch aufmerksame und nach-
denkende Beobachtung der Natur der Dinge und ihrer Ver-
hältnisse zu uns, und durch luanigfaltige Berechnung und Ueber-
legung in welcher Weise sie als Mittel zur Befriedigung un-
serer Bedürfnisse dienen können. Das menschliche Denken
erreicht seinen Zweck, die Sicherung unseres Wohls, nur dann,
wenn es auf Grund der Kenntniss der Dinge die Zukunft
richtig vorbildet, das voraussehende Vorstellen also mit dem
wirklichen Verlaufe übereinstimmt, der durch unsere Eingriffe
mit bedingt ist.
Nach richtiger Erkenntniss der Dinge und ihres Ver-
haltens verlangt aber, auch über das practische Bedürfniss
hinaus, der überall lebendige Wissenstrieb; rein um des
Erkennens willen soll unser Denken sich anstrengen die Natur
der Dinge zu erforschen, und in der Gesammtheit unseres
subjectiven Wissens ein getreues und vollständiges Bild der
objectiven Welt entwerfen. Die Befriedigung des Erkenntniss-
triebes schliesst also jene Ziele des praktischen Denkens mit
ein; Erkenntniss des Seienden ist der unmittelbare
Zweck der unser Denken in Bewegung setzt und seine Rich-
tung bestimmt.
5. Allein mit diesem Interesse des Wissenstriebs sind
die Zwecke unseres Denkens keineswegs erschöpft. Gleiche
5 § 1. Aufgabe der Logik. 5
Anstrengung muthen wir ihm in einer Richtung zu, die nicht
unter den Begriff der Erkenntniss des Seienden gebracht werden
kann. Wir stehen thatsächlich unter der Herrschaft bestimmter
Gesetze, nach denen wir den W e r t h der menschlichen
Handkingen beurtheilen und denen wir uns in unserem Wollen
und Thun unterwerfen wollen. Es ist für unsere Untersuchung
gleichgültig, woher diese Gesetze stammen und was das Motiv
ist, dass wir sie als für uns gültig anerkennen; genug, dass
wir fortwährend beflissen sind, die Regeln des Anstandes, der
Sitte, des Rechts, der Pflicht zu beobachten, und in jedem
Augenblicke aufgefordert sind uns die Frage zu beantworten,
was wir thun und wie wir handeln sollen, um mit den für
uns geltenden Grundsätzen in Uebereinstinimung zu bleiben,
unsere Ehre und unser Gewissen rein zu erhalten. Nicht ein
reeller Erfolg, der uns die Uebereinstimmung unserer Berech-
nung mit der Natur der Dinge verbürgte , belehrt uns , ob
unser Denken seinen Zweck erreicht hat oder nicht; der Er-
folg selbst der beabsichtigt wird, besteht in lauter Gedanken ;
der wirkliche Erfolg sind ebenso die Gedanken die verklagen
oder entschuldigen, die Anerkennung oder Nichtanerkennung
der Angemessenheit des einzelnen Handelns an die allgemeine
Regel von Seiten anderer und unser selbst.
6. Fassen wir die letztere Sphäre, die den wichtigsten
Theil unseres practischen Denkens sowie unserer Beurtheilung
der practischen Verhältnisse ausmacht, ins Auge: so haben
wir vor dem Forum unseres eigenen Gewissens kein anderes
Merkmal, ob das unser Handeln leitende Denken seinen Zweck
erreicht hat oder nicht, als das innere Bewusstsein der Noth-
wendigkeit unseres Denkens, die Gewissheit,
dass aus der allgemeinen Regel die bestimmte Handlungs-
weise unabweislich folgt, die Evidenz, bei der wir uns be-
ruhigen , dass es im gegebenen Falle recht und gut war so
zu handeln, weil die allgemeinen Principien des Rechts und
der Sittlichkeit es so forderten. Ebenso haben wir keine
äussere Bestätigung dass wir unseren Zweck erreicht, als die
Zustimmung anderer, welche von denselben Voraussetzungen
aus dieselben Folgerungen für nothwendig erklären.
Wenn wir von Not h wendigkeit unseres Denkens
Q Einleitung. 6
reden : so ist der Sinn derselben zunächst vor einer Verwechs-
lung zu schützen. Psychologisch betrachtet mag man alles
was der Einzelne denkt ftir nothwendige, d. h. gesetzm'assig
aus den jeweiligen Voraussetzungen erfolgende Thätigkeit an-
sehen ; dass gerade dies und nichts anderes gedacht wird,
ist nothwendige Folge des Vorstellungskreises, der Gemüths-
stimmung, des Charakters, der augenblicklichen Anregung,
welche das einzelne Individuum erfährt. Allein neben dieser
Nothwendigkeit der psychologischen Causalität steht eine an-
dere , die rein in dem Inhalt und (legen stand des
Denkens selbst wurzelt, die also nicht in den veränderlichen
subjectiven individuellen Zuständen, sondern in der Natur der
Objecto begründet ist, welche gedacht werden, und insofern
o b j e c t i V heissen mag. •
Kommt nun hier unser Denken im Bewusstsein seiner
objectiven Nothwendigkeit und Allgemeingültig-
keit zur h'uhe, so sind es genau betrachtet dieselben
Merkmale, welche den Zweck unseres Denkens ausdrücken
wo es der Erkenntniss des Seienden dienen will. Auch hier
können wir mit Sicherheit das Ziel , dem unser absichtliches
Denken zustrebt, nicht anders bestimmen als so , dass unser
Denken darauf ausgehe in dem Bewusstsein seiner Nothwen-
digkeit und Allgemeingültigkeit zu beruhen.
Eine psychologische Nothwendigkeit treibt allerdings den
unbefangenen Menschen dazu , seine Empfindungen und die
darauf sich beziehenden Gedanken zu objecti vieren, und sich
eine Welt vorzustellen der er ein von seinen subjectiven Thä-
tigkeiten unabhängiges Dasein zuschreibt ; und indem sein
Erkenntnisstrieb sich regt, setzt er sich ohne Weiteres den
Zweck diese objective Welt zu erkennen , seine Gedanken so
zu bilden dass sie mit dem Seienden übereinstimmen. Allein
ob dieser Zweck erreichbar sei, ist streitig ; die kritische Be-
hauptung, dass alle unsere Erkenntniss zunächst und unmittel-
bar nur für uns etwas sei, in einem System von Vorstellungen
bestehe, ist unwiderlegbar; dass diesem Vorgestellten ein mit
ihm übereinstimmendes Sein entspreche, ist entweder bloss ein
blinder Glaube; oder, wenn es eine Gewissheit darüber geben
kann die den Zweifel aufhebt, so beruht sie auf einer W^ider-
7 § 1. Aufgabe der Logik. 7
legung des Zweifels, auf dem Nachweise dass er unmöglich
ist, also einerseits darauf, dass die Annahme eines Seienden
uns in keine Widersprüche verwickelt , die wir nicht denken
könnten, andererseits darauf, dass die Beschaffenheit unserer
Vorstellungen uns zwingt ein solches Sein anzunehmen ; beides
geht also auf eine Nothwendigkeit in unserem Denken zurück.
Es kann zu den sichersten Ergebnissen der Analyse unserer
Erkenntniss gerechnet werden, dass jede Annahme einer ausser
uns existierenden Welt eine durch Denken vermittelte, aus
den subjectiven Thatsachen der Empfindung durch unbewusste
Denkprocesse erst ^irgendwie abgeleitete ist ; es gibt also ausser-
halb des Denkens kein Mittel sich zu vergewissern ob wir
den Zweck das Seiende zu erkennen wirklich erreicht haben;
die Möglichkeit, unsere Erkenntniss mit den Dingen zu ver-
gleichen wie sie abgesehen von unserer Erkenntniss existieren,
ist uns für alle Ewigkeit verschlossen ; wir müssen uns schlech-
terdings auch im besten Falle mit der widerspruchslosen
Uebereinstimmung der Gedanken begnügen die ein Seiendes
voraussetzen, wie wir im Gebiete unseres äusseren Handelns
uns vollständig damit begnügen, dass unsere Vorstellungen
und unsere Bewegungen nebst ihren Erfolgen unter sich und
ebenso mit den Vorstellungen anderer durchaus übereinstimmen.
Gibt es also ein erkennbares Sein : so ist eine Erkennt-
niss desselben nur dadurch möglich, dass eine gesetzmässige
Beziehung zwischen dem Sein und unserem subjectiven Thun
besteht, vermöge der dasjenige was wir auf Grund des in
unserem Bewusstsein Gegebenen nothwendig denken
müssen, auch dem Seienden entspricht, und die Gewissheit
unserer Erkenntniss ruht überall auf der Einsicht in die Noth-
wendigkeit unserer Denkprocesse. Ferner : Gibt es ein er-
kennbares Sein ausser uns : so ist es dasselbe für alle denkenden
und erkennenden Subjecte, und jeder der das Seiende erkennt
muss in Beziehung auf denselben Gegenstand dasselbe denken,
ein Denken also, welches das Seiende erkennen soll, ist noth-
wendig ein allgemeingültiges Denken.
Läugnet man dagegen die Möglichkeit etwas zu erkennen
wie es an sich ist; ist das Seiende nur einer der Gedanken
die wir producieren: so gilt doch das, dass wir eben denjenigen
g Einleitung. 8
Vorstellungen die Objectivität beilegen, die wir mit dem Be-
wusstsein der Nothwendigkeit producieren, und dass, sobald
wir etwas als seiend setzen, wir eben damit behaupten, dass
alle andern, wenn auch nur hypothetisch angenommen, den-
kenden Wesen von derselben Natur wie wir es mit derselben
Nothwendigkeit producieren iiiüssten.
Wir können also ohne Weiteres behaupten : Wenn wir
nichts als nothwendiges und allgemeingültiges Denken pro-
ducieren, so ist die Erkenntniss des Seienden mit darunter
begriffen ; und wenn wir mit dem Zwecke der Erkenntniss
denken, so wollen wir unmittelbar nur nothwendiges und all-
gemeingültiges Denken vollziehen. Dieser Begriff ist auch
derjenige der das Wesen der »W a h r h e i t« erschöpft. Wenn
wir von mathematischen, thatsächlichen, sittlichen Wahrheiten
sprechen: so ist der geraemsame Charakter dessen was wir
wahr nennen , dass es ein nothwendig und allgemeingültig
Gedachtes sei.
7. Indem wir die Aufgabe, welche das von der Logik
zu betrachtende Denken sich setzt, so fassen, weichen wir
einmal den Schwierigkeiten aus, welche jede Logik drücken
die sich als Erkenntnisslehre ankündigt, dass sie nemlich erst
nachweisen muss ob und inwiefern überhaupt Erkenntniss
möglich sei, und damit nicht nur auf das bestrittene Gebiet
der Metaphysik hinübergeht , sondern, indem sie beweist und
widerlegt, bereits eine Nothwendigkeit und Allgemeingültig-
keit des Denkens voraussetzt, aus der erst die üeberzeugung
von der Objectivität des Denkens hervorgehen soll; ebenso
aber entgehen wir der Einseitigkeit , in welche die erkennt-
niss-theoretische Logik in der Regel verfallt, dass sie nemlich
nur dasjenige Denken berücksichtigt , welches der Erkennt-
niss des rein Theoretischen dient, das andere aber vergisst,
welches unser Handeln leiten soll. Und doch sind die geistigen
Thätigkeiten in beiden Fällen ganz dieselben ihrem Wesen
nach, und die Zwecke fallen unter denselben Gesichtspunkt.
8. Fassen wir nun alles dasjenige Denken zusammen,
welches den gemeinsamen Zweck verfolgt, seiner Nothwendig-
keit gewiss und allgemeingültig zu werden : so lässt sich auch
seine psychologische Abgrenzung vervollständigen. Alles
9 § 1. Aufgabe der Logik. 9
Denken, das unter diesen Gesichtspunkt fällt, vollendet sich
in U r t h e i 1 e n , die als Sätze innerlich oder äusserlich
ausgesprochen werden. In Uitheilen endigt jede practische
Ueberlegung über Zwecke und Mittel, in Urtheilen besteht
jede Erkenntniss, in Urtheilen schliesst sich jede üeberzeugung
ab. Alle andern Functionen kommen nur in Betracht als
Bedingungen und Vorbereitungen des Urtheils. Das ürtheil
kann ferner nur insofern Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung sein als es sich im Satze ausspricht ; nur vermittelst
des Satzes kann es gemeinsames Object der Betrachtung sein,
und nur als Satz kann es allgemeingültig werden wollen.
9. Nun lehren die Thatsachen des Irrthuras und
des Streites, dass unser wirkliches Denken in den Urtheilen
die es erzeugt seinen Zweck häufig verfehlt ; dass diese Ur-
theile theils von den einzelnen Denkenden selbst wieder auf-
gehoben werden, indem die Üeberzeugung eintritt, dass sie
ungültig sind d. h. dass nothwendig anders geurtheilt werden
muss, theils dass die Urtheile von andern Denkenden nicht
anerkannt werden, indem diese ihre Noth wendigkeit bestrei-
ten, sie für blosse Meinung und Vermuthung erklären, oder
ihre Möglichkeit läugnen , sofern über denselben Gegenstand
nothwendig anders geurtheilt werden müsse.
Darin, dass das wirklich entstehende Denken seinen Zweck
verfehlen kann und wirklich verfehlt, liegt das Bedürfniss
einer Disciplin, welche den Irrthum und den Streit vermeiden
und das Denken so vollziehen lehrt, dass die daraus hervor-
gehenden Urtheile wahr, d. h. nothwendig, und gewiss, d. h.
vom Bewusstsein ihrer Nothwendigkeit begleitet, und eben-
darum allgemeingültig seien.
Die Beziehung auf diesen Zweck scheidet die logische
Betrachtung des Denkens von der psychologischen.
Dieser ist es um die Erkenntniss des wirklichen Denkens zu
thun, und sie sucht demgemäss die Gesetze , nach denen ein
bestimmter Gedanke unter bestimmten Bedingungen gerade
so und nicht anders eintritt, sie setzt sich zur Aufgabe, jedes
wirkliche Denken aus den allgemeinen Gesetzen der geistigen
Thätigkeit und den jeweiligen Voraussetzungen des indivi-
duellen Falles zu begreifen — in gleicherweise also das irr-
10 Einleitung. 10
thüraliche und streitige, wie das wahre und allgemein aner-
kannte Denken. Der Gegensatz von wahr und falsch hat
ebensowenig eine Stelle in ihr, wie der Gegensatz von gut
und böse im menschlichen Handeln ein psychologischer ist.
Die logische Betrachtung dagegen setzt das Wahrdenken-
wollen voraus, und hat nur für diejenigen einen Sinn, welche
sich dieses Wollens bewusst sind und nur für dasjenige Ge-
biet des Denkens, welches von demselben beherrscht wird.
Indem sie, von diesem Zwecke ausgehend, die Bedingungen
untersucht unter denen er erreicht wird, will sie einerseits
die Kriterien des wahren Denkens aufstellen, die aus der
Forderung der Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit fliessen,
andererseits die Anweisung geben die Denkoperationen
so einzurichten, dass der Zweck erreicht wird. So ist die
Logik nach einer Seite eine kritische Disciplin gegenüber dem
schon vollzogenen Denken , auf der andern Seite eine Kunst-
lehre. Da aber die Kritik einen Werth nur hat sofern sie
ein Mittel ist den Zweck zu erreichen: so ist die oberste
Aufgabe der Logik und diejenige die ihr eigentliches Wesen
ausmacht, Kunstlehre zu sein.
§•2.
Die Logik als Kunstlehre des Denkens kann nicht unter-
nehmen Anweisung zu geben, wie von einem gegebenen Zeit-
punkte an lauter absolut wahres Denken erzeugt werden
soll. Sie muss sich darauf beschränken zu zeigen, theils welche
allgemeinen Forderungen vermöge der Natur unseres
Denkens jeder Satz erfüllen muss, damit er nothwendig und
allgemeingültig sein könne, theils unter welchen Bedingungen
und nach welchen Regeln von gegebenen Voraussetzungen
aus auf nothwendige und allgemeingültige Weise fortgeschritten
werden kann, indem sie darauf verzichtet über die Nothwen-
digkeit und Allgemeingültigkeit der jeweiligen Voraussetzungen
zu entscheiden. Die Befolgung ihrer Regeln verbürgt dem-
nach nicht nothwendig materiale Wahrheit der Resultate,
11 § 2. Grenzen der Aufgabe. 11
sondern nur die formale Richtigkeit des Verfahrens. In
diesem Sinne ist unsere Kunstlehre nothwendig formale
Logik.
1. Wenn für irgend eine menschliche Thätigkeit eine
Kunstlehre aufgestellt wird, welche den Anspruch macht den
Erfolg der Thätigkeit zu sichern für welche sie Regeln gibt :
so wird dabei vorausgesetzt, dass diese Thätigkeit eine voll-
komm en freie und willkürliche sei; und darin liegt
einmal, dass ich die Bedingungen meiner Thätigkeit jederzeit
in meiner Gewalt habe sobald ich nur will , und dann , dass
das Bewusstsein des Zweckes und der für seine Erreichung
gültigen Regeln genüge, um jede einzelne Operation diesen
Regeln gemäss zweckmässig zu vollziehen. Sollte also der
Zweclc noth wendiges und allgemeingültiges Denken zu erzeugen
und vermittelst desselben die Wahrheit zu erkennen mit
Hülfe einer Kunstlehre gesichert werden: so wäre vorausge-
setzt, dass wir alle Bedingungen für dasselbe in unserer Ge-
walt hätten, und dass wir von einem bestimmten Zeitpnnkt
an vollkommen frei unser Denken beherrschen könnten um
es den Regeln gemäss zu vollziehen.
In diesem Sinne hat Cartesius seine Methodus recte
utendi ratione et veritatem in scientiis investigandi entworfen;
sie sollte bewirken, dass mit Einemmale aller Möglichkeit
eines Irrthums ein Ende gemacht, aller Zweifel ausgeschlossen
und eine Reihe von Gedanken hergestellt werde, die, von
einem nothwendig wahren und gewissen Satze ausgehend, in
untrüglicher Weise fortschreitend, lauter absolut wahre Sätze
enthielte. Seine Voraussetzung war, dass, wenn auch nicht
das Haben von Vorstellungen, doch das Urtheilen ein voll-
kommen freier und willkürlicher Act sei, sofern wir uns der
Zustimmung zu jedem Satze enthalten können, den wir nicht
mit voller Ueberzeugung als wahr und gewiss erkennen ; dass
es darum möglich sei durch einen radicalen Zweifel sich aller
und jeder Voraussetzungen zu entschlagen, welche die Gefahr
eines Irrthums in sich schliessen, und die Thätigkeit des
Denkens vollkommen von neuem zu beginnen; und ebenso
nahm er an, dass die Hauptbedingungen dieser Thätigkeit,
12 Einleitung. 12
Begriffe und Grundsätze, uns angeboren, also von nichts als
unserem Selbstbewusstsein abhängig seien.
Wäre nun die letzte Annahme auch ebenso sicher als
sie bestritten ist, so würde höchstens im Gebiete apriorischen
Wissens die Methode rein anwendbar sein ; und nur für die-
jenigen, welche den Entschlnss fassen und ausführen könnten,
sich aller Voraussetzungen zu entschlagen. Es ist aber schlech-
terdings unmöglich die Continuität zwischen dem früheren
und dem jetzigen Denken willkürlich abzubrechen und ganz
ab ovo zu beginnen ; wie das willkürliche Denken in dem un-
willkürlichen Erzeugen von Gedanken wurzelt und aus ihm
fortwährend Nahrung zieht, so hätten wir ohne den Vorrath
immer schon vorhandener Gedanken, und die Sprache, welche
denselben repräsentiert, gar nicht die Mittel von der Stelle
zu kommen ; und das eigene Beispiel des Cartesius zeigt, dass
dem besten Vorsatze zum Trotz eine Menge von früheren
Elementen in die neu begonnene Reihe eindringt. Ebenso-
wenig ist es richtig , dass wir uns willkürlich jedes Urtheils
enthalten können, wenn es auch nicht in unserer Wahl stehe
die Vorstellungen auf die es sich bezieht zu haben oder nicht
zu haben. Denn theils sind die Voraussetzungen die wir mit-
bringen Urtheile, welche andere Urtheile unausweichlich nach
sich ziehen ; theils sind mit der Natur der Vorstellungen die
wir haben die Urtheile über ihre Verhältnisse schon bestimmt,
und es ist nicht von unserer Willkür abhängig, ob wir be-
jahen oder verneinen wollen.
Es kann also schlechterdings keine Methode geben das
Denken von vorne anzufangen, sondern immer nur eine Me-
thode es von schon vorhandenen Voraussetzungen aus fortzu-
setzen, die, selbst wenn sie als ungewiss anerkannt würden,
doch den Ausgangspunkt unseres ferneren Denkens abgeben
müssten.
2. Die Noth wendigkeit einer Einschränkung der Logik
auf Regelung des Fortschritts im Denken gilt insbesondere
in Bezug auf dasjenige Denken, welches die empirische Er-
kenntniss der Welt anstrebt. Die Voraussetzungen dieser Er-
kenntniss sind richtige Wahrnehmungen, und ihr zweckmäs-
siger Vollzug hängt nicht allein von dem dieselben beglei-
13 § 2. Grenzen der Aufgabe. |3
tenden Denken, sondern ebenso von den Bedingungen der
sinnlichen Empfindung und dem Verhältniss unserer Sinne
zu den Objecten ab. Die Kunst richtiger Beobachtung ist
nur zum Theil mit der Kunst richtig zu denken gegeben, zum
Theil beruht sie auf der Schärfe und üebung der Sinnesorgane,
auf mechanischer Geschicklichkeit, auf der Kunst das Object
und unsere Sinnesorgane in die günstigsten Verhältnisse zu
bringen und die Beobachtungsfeh i er zu eliminieren; sie muss
sich in ihren verschiedenen Hülfsmitteln nach der manigf al-
tigen Natur der Gegenstände richten, von denen jede Classe
ihre besondere Technik verlangt. Wollten wir im Gebiete
der empirischen Erkenntniss unser Denken und Urtheilen sus-
pendieren, bis wir von absolut gewissen und nothwendigen
Voraussetzungen ausgehen könnten: so wäre eine empirische
Wissenschaft gar nicht möglich, und es bliebe nichts übrig
als mit der Gültigkeit und Genauigkeit unserer Wahrnehmungen
nicht bloss die Realität der sinnlichen Welt überhaupt, son-
dern auch die Möglichkeit allgemeingültiger Gesetze der Phä-
nomene in suspenso zu lassen.
Die Geschichte der Entwicklung unseres Wissens zeigt
ferner, dass häufig nur auf dem Umwege eines Ausgangs von
irrthümlichen und ungewissen Voraussetzungen aus die Wahr-
heit gefunden worden ist; und der Gang der wissenschaft-
lichen Forschung bringt es fortwährend mit sich, dass Streit
geschlichtet wird durch Verfolgung falscher Sätze in ihre
Consequenzen. Jeder apagogische Beweis ist ein Beispiel dieses
Verfahrens.
Ein weites Gebiet unseres Allgemeingültigkeit anstreben-
den Denkens ist endlich an Voraussetzungen gebunden, die
ihre Gültigkeit von einem Wollen ableiten und in diesem Sinn
rein positiv sind. Es hiesse die ganze practische Jurisprudenz
von der logischen Betrachtung ausschliessen, wenn an der
Forderung festgehalten würde, dass die Logik die materiale
Wahrheit aller Sätze begründen müsse.
ii. Was also eine Kunstlehre des zweckmässigen Denkens
allein ausführen und also auch allein sich vorsetzen kann, ist
die Anleitung, von gegebenen Voraussetzungen im Denken
so fortzuschreiten, dass jeder fernere Schritt mit dem Bewusst-
14 Einleitung. Ul
sein der Noth wendigkeit und Allgemeingültigkeit verbunden
sei. Sie lehrt nicht w a s zu denken sei, sonst müsste sie der
Inbegriff aller Wissenschaft sein, sie lehrt nur, dass wenn
etwas s o gedacht wird, ein anderes s o gedacht werden rauss ;
mag nun das Gegebene, der Vorrath von irgendwie entstandenen
Vorstellungen, einzelnen Beobachtungen, allgemeinen Sätzen,
im Uebrigen beschaffen sein wie er will.
Es versteht sich dabei, dass wir unter »Fortschreiten«
ein Vorwärtsgehen in jeder Richtung, vom Grund zu den
Folgen wie von der Folge zum Grund, vom Allgemeinen zum
Besonderen wie umgekehrt begreifen, so dass die Kunstlehre
auf alle Probleme sich muss anwenden lassen die überhaupt
unserem Denken gestellt sind.
4. In diesem Sinne, dass wir um der Allgemeinheit und
practischen Ausführbarkeit unserer Aufgabe willen nicht da-
rauf ausgehen können , ein voraussetzungslos von vom an-
fangendes Denken zu fingieren, und dass wir nicht die Gültig-
keit der jedesmaligen Voraussetzungen, von denen das wirk-
liche Denken ausgeht, sondern nur die Correctheit des Fort-
schrittes von gegebenen Voraussetzungen in die logische Unter-
suchung aufzunehmen haben, verstehen wir es, dass die Logik
eine formale Wissenschaft sei. Nicht aber wollen wir in
dem Sinne die Logik für formal erklären , dass sie den ver-
geblichen Versuch machen soll, das Denken überhaupt als
eine bloss formale Thätigkeit aufzufassen , welche getrennt
von jedem Inhalte betrachtet werden könnte und den Unter-
schieden des Inhalts gegenüber gleichgültig wäre, noch in
dem Sinne, dass die logische Untersuchung von der allge-
meinen Beschaffenheit des Inhalts und der Voraussetzungen
des wirklichen Denkens ganz absehen und sie ignorieren sollte.
Gerade desshalb , weil wir kein rein aus sich selbst im einzelnen
Individuum anfangendes Denken, sondern nur ein Denken unter
den allgemeinen Verhältnissen und Bedingungen und mit den
allgemeinen Zwecken des menschlichen Denkens kennen, kann
weder von der bestimmten Art , wie unser Denken von der
Sinnesempfindung Stoff und Inhalt erhält und ihn zu Vor-
stellungen von Dingen, Eigenschaften , Thätigkeiten u. s. w.
gestaltet, noch von seiner historischen Bedingtheit durch die
15 § 3. Postulat der Logik. 15
menschliche Gesellschaft abgesehen werden, sondern es wird
[nur abgesehen von der besonderen Beschaffenheit des jeweiligen
Ausgangspunktes einer Reihe von Denkprocessen.
§. 3.
Die Möglichkeit, die Kriterien und Regeln des nothwen-
fdigen und allgemeingültigen Fortschritts im Denken aufzu-
Istellen, beruht auf der Fähigkeit objectiv nothwen-
fdiges Denken von nicht nothwendigem zu unter-
scheiden, und diese Fähigkeit manifestiert sich in dem
unmittelbaren Bewusstsein der Evidenz, welches
nothwendiges Denken begleitet. Die Erfahrung dieses Be-
wusstseins und der Glaube an seine Zuverlässigkeit ist ein
Postulat, über welches nicht zurückgegangen werden kann.
1. Wenn wir uns fragen, ob und wie es möglich sei
die Aufgabe in dem Sinn in dem wir sie gestellt haben zu
lösen: so concentriert sich diese Frage in der Schwierigkeit
ein sicheres Kennzeichen anzugeben an welchem sich objectiv
nothwendiges und allgemeingültiges Urtheilen unterscheiden
lasse von individuell differentem und damit, im obigen Sinne,
den Zweck verfehlendem. Und hier gibt es zuletzt keine an-
dere Antwort als Berufung auf die subjectiv erfahrene Noth-
wendigkeit, auf das innere Gefühl der Evidenz, das einen
Theil unseres Denkens begleitet , auf das Bewusstsein , dass
wir von gegebenen Voraussetzungen aus nicht anders denken
können als wir denken. Der Glaube an das Recht dieses
Gefühls und seine Zuverlässigkeit ist der letzte Ankergrund
aller Gewissheit überhaupt ; wer dieses nicht anerkennt , für
den gibt es keine Wissenschaft sondern nur zufälliges Meinen.
2. Die Sicherheit der Allgemeingültigkeit unseres Denkens
beruht in letzter Instanz auf dem Bewusstsein der Nothwen-
digkeit und nicht umgekehrt; indem wir eine allen gemein-
same Vernunft voraussetzen, sind wir überzeugt, dass was wir
mit dem Bewusstsein unausweichlicher Nothwendigkeit denken,
auch von andern so gedacht werde; und die empirische Be-
stätigung durch die factische Üebereinstimumug aller vermag
16 Einleitung. 16
wohl unsere Voraussetzung zu erhärten, dass andere unter
demselben sie bindenden Gesetze stehen, aber das unmittelbare
Gefühl der Noth wendigkeit weder zu ersetzen noch viel we-
niger zu erzeugen. Die Uebereinstimmung der Erfahrung mit
unserer Berechnung aber, und die Gewohnheit auf welche sich
die Empiristen berufen, afficiert wiederum nur die Gültigkeit
unserer Voraussetzungen von denen wir ausgehen, vermag aber
den specifischen Charakter der Denknothwendigkeit weder
hervorzubringen noch zu alterieren. So dass wir hier vor dem
fundamentalen Factum stehen auf dem jedes logische Gebäude
erbaut sein muss; und keine Logik kann anders verfahren,
als dass sie sich der Bedingungen bewusst wird unter denen
dieses subjective Gefühl von Nothwendigkeit eintritt, und die-
selben auf ihren allgemeinen Ausdruck bringt. Will man
sagen, dann sei die Logik eine empirische Wissenschaft, so
ist das in demselben Sinne richtig, in welchem auch die Ma-
thematik eine empirische Wissenschaft ist ; auch sie geht von
inneren Thatsachen aus, und der Nothwendigkeit die ihnen
anhaftet. Was aber beide von der bloss empirischen Wissen-
schaft unterscheidet, ist eben dass sie in ihren Thatsachen
die Nothwendigkeit finden, welche der zufälligen Erfahrung
mangelt, und diese zur Basis der Gewissheit ihrer Sätze machen.
§• 4.
Mit der gestellten Aufgabe ist der Gang der Untersuchung
gegeben. Zuerst ist das Wesen der Function zu betrach-
ten, für welche die Regeln gesucht werden sollen; dann sind
die Bedingungen und Gesetze ihres normalen Voll-
zugs aufzustellen; endlich die Regeln des Verfahrens zu
suchen, durch welches von dem unvollkommenen Zustande des
natürlichen Denkens aus auf Grund der gegebenen Voraussetz-
ungen und Hülfsmittel der vollkommene erreicht werden kann.
Somit zerfällt unsere Untersuchung in einen analytischen,
einen gesetzgebenden und einen technischen Theil.
1, Wenn — wie oben S. 9 festgestellt wurde — diejenige
Thätigkeit in welcher unser absichtliches Denken seinen Zweck
17 § 4. Eintheilung der Logik. 17
erreicht, das ü r t h e i 1 e n ist : so ist noth wendig der erste
Schritt, dass die Function, um deren richtigen Vollzug es
sich handelt, in ihrer Natur richtig verstanden, und die in
derselben liegenden Voraussetzungen erkannt werden. Um so
mehr, da dieselbe Form des Urtheils dem zweckmässigen, all-
gemeingültigen, und dem seinen Zweck verfehlenden Denken
gemeinschaftlich ist. Wahrheit und Irrthum, Gewissheit und
Zweifel, Uebereinstimmung und Streit treten nur insoweit her-
vor, als das Denken die Gestalt von Urtheilen annimmt, und
in urtheilen sich abschliessen will oder abgeschlossen hat.
Es ist also dieselbe Function , die hier richtig , dort falsch
vollzogen wird ; und es lassen sich erst dann Regeln geben
sie richtig zu vollziehen, wenn erkannt ist, worin sie besteht.
Diese Erkenntniss ist nur durch eine Analyse unseres wirk-
lichen TJrtheilens, durch Besinnung auf das zu gewinnen, was
wir thun wenn wir urtheilen, welche anderen Functionen etwa
dem Urtheilen vorausgesetzt sind, auf welche Weise aus ihnen
das Urtheilen sich bildet, und welche allgemeinen Principien
diesen Bildungsprocess von Natur beherrschen. Es muss dabei
vorausgesetzt werden, dass vorläufig bekannt sei, welche Denk-
acte unter die Bezeichnung des Urtheils fallen; und es genügt
zunächst, sich an die Sprache zu halten, und als nächstes Ob-
ject dieser Untersuchung alle diejenigen Sätze auszusondern,
die eine Aussage enthalten, welche den Anspruch macht wahr
zu sein und von andern als gültig anerkannt und geglaubt zu
werden.
Von den Sätzen, welche die Grammatik aufführt , stellen
wir also alle diejenigen vorläufig bei Seite , welche , wie Im-
perative und Optative *), ein individuelles und un übertragbares
*) Der Imperativ schliesst allerdings auch eine Behauptung ein,
nemlich die, dass der Redende die von ihm geforderte Handlung jetzt
eben will, der Optativ, dass er das Ausgesprochene wünscht. Diese
Behauptung liegt aber in der Thatsache des Redens, nicht in
dem Inhalt des Ausgesprochenen ; ebenso enthält ja auch jeder Aus-
sagesatz von der Form A ist B bloss durch die Thatsache des Redens
die Behauptung, dass der Redende das denkt und glaubt was er sagt.
Diese Behauptungen über den subjectiven Zustand des Redenden, welche
in der Thatsache seines Redens liegen und unter Voraussetzung seiner
Wahrhaftigkeit gültig sind, begleiten in gleicher Weise alles Reden,
Öiji^waTt, Logik. I. 2. Auflage, 2
18 Einleitung. 17
Moment enthalten , und ebenso alle , die zwar auf eine Be-
hauptung hinweisen, aber dieselbe nicht als wahr aufstellen,
und können also keinen Unterschied der verschiedenen Sätze begründen.
Der Imperativ: Schweige! drückt natürlich aus: Ich will, dass du
schweigst; aber er beabsichtigt direct nicht diese Thatsache raitzu-
theilen, sondern den Willen des Angeredeten zu bestimmen, er verlangt
nicht Glauben an seine Wahrheit, sondern Gehorsam. Unübertragbar
nenne ich das darin liegende Moment, weil der Angeredete nicht in
demselben Sinne den Willensact des Befehlenden wiederholt, wie er,
indem er einer Aussage glaubt, den Gedanken des Redenden in sich
aufnimmt.
An dieser nächsten und gewöhnlichen Bedeutung des Imperativs
als Ausdruck eines bestimmten individuellen Wollens wird nichts We-
sentliches geändert, wenn er als Form eines allgemeinen Gesetzes auf-
tritt. Indem der Gesetzgeber den Staatsbürgern oder den Religions-
genossen mit einem Imperativ gegenübertritt, verhält er sich zu ihnen
wie der Einzelne zu dem Einzelnen ; er spricht nicht, um eine Wahr-
heit mitzutheilen die geglaubt, sondern am ein Gebot zu verkündigen
das befolgt werden soll; ob der Befehlende als wirkliches Individuum
oder als CoUectivum auftritt, ob das vorausgesetzte Motiv des Gehor-
sams Unterwerfung unter persönliche Autorität oder unpersönliche
Staatsordnung ist — der Inhalt des Ausgesprochenen ist nicht die Mit-
theilung einer Wahrheit, sondern die Aufforderung das eine zu thun,
das andere zu lassen.
Auch die Form »du sollst«, in der solche Gebote, wie im Decalog,
auftreten, drückt zunächst nichts anderes aus. Sollen ist das Correlat
von Wollen; wer den Befehl des Herrn dem Diener überbringt, sagt
ihm: du sollst das und das thun; in »du sollst« liegt also zunächst
nichts anderes als im einfachen Imperativ, die Eröffnung eines Gebots
an den Angeredeten, den ich von dem Willen eines anderen, sei's ein
Dritter oder auch ich selbst, abhängig denke.
Aber nun liegt allerdings in diesem »du sollst« eine Zweideutig-
keit, die in dem einfachen Imperativ nicht liegt. Denn »Sollen« hat
auch die Bedeutung eines eigentlichen Prädicats in einer Aussage, die
wahr sein will; es bedeutet verpflichtet sein, gebunden sein — ein
modales Prädicat (s. u. § 6, 3, d), welches ein bestehendes Verhältniss
des subjectiven individuellen Wollens zu einer gebietenden Macht oder
einer objectiven Norm ausspricht. Der ursprüngliche Imperativ ist jetzt
in die Bedeutung des Prädicats gewandert, welche das verpflichtende
Verhältniss eines Gebots zu einem Willen an den es sich wendet ein-
schliesst; und die Behauptung, dass ich verpflichtet bin, kann — auf
Grund einer vorausgesetzten rechtlichen oder moralischen Ordnung,
wahr oder falsch sein. Aebnliche Zweideutigkeit liegt in »dürfen«.
Du darfst — ist zunächst der Ausdruck der augenblicklichen Erlaubniss,
17 § 4. Eintheilung der Logik. 19
wie die Fragesätze oder diejenigen, welche nur eine Vermu-
thung oder eine subjective Ansicht ausdrücken; in wieweit
die letzteren als Vorbereitung des Urtheils in Betracht kom-
men, kann erst die spätere Untersuchung» lehren.
Alle wirklichen Aussage- oder Behauptungssätze aber sind
Gegenstand unserer Untersuchung, mögen sie betreffen was
sie wollen. Wir schliessen uns damit der Auffassung des Ari-
stoteles *). an , und verwerfen die Unterscheidung eines soge-
nannten logischen Urtheils von anderen Behauptungen, wonach
nur etwa die Subsumtion eines Einzelnen unter sein Allge-
meines in der Logik zu betrachten wäre, blosse Mittheilungen
von Thatsachen aber ausserhalb derselben fielen. Denn auch
diese Sätze wollen wahr sein und machen Anspruch geglaubt
zu werden , auch in Beziehung auf sie findet Trrthum und
durch die ich den Willen eines anderen freigebe, auf eine Bestimmung
seines Thuns und Lassens, auf eine Hinderung seines Wollens ver-
zichte; die Aussage, die es enthält, ist nur das subjective Factum, dass
ich nicht den Willen habe zu verbieten; der eigentliche Zweck des
Satzes ist ein practischer; insofern ist »du darfst« mit einem Impe-
rativ verwandt. Andererseits kann »dürfen« ebenso Prädicat einer
wirklichen Behauptung sein, welche aussagt, dass einer Handlung kein
Verbot einer Autorität entgegenstehe, dass sie nach der bestehenden
Ordnung erlaubt sei.
Schliesslich geht dieselbe Zweideutigkeit auch über auf Sätze, welche
die grammatische Form einer einfachen Aussage zeigen. Der Para-
graph des Strafgesetzbuchs: Wer das und das thut, wird so und so
bestraft — will nicht mittheilen, was wirklich geschieht, wie die For-
mel eines Naturgesetzes, sondern eine Vorschrift geben; derselbe Satz
enthält aber eine wirkliche Aussage, wenn das Gesetz in seiner Wirk^
samkeit geschildert wird ; er sagt jetzt, was innerhalb eines bestimmten
Staates regelmässig geschieht. Vrgl. hiezu Zitelmann, Irrthum und Rechts-
gesciiäft S. 222 ff. Bierling, zur Kritik der juristischen Grundbegriffe 11, 259 ff.
Die blosse grammatische Form ist also kein untrügliches Zeichen,
dass wir es mit einer Behauptung zu thun haben. Eine Behauptung
ist nur ein solcher Satz, der seinem Sinne nach wahr sein will, und für
den die Frage gestellt werden kann, ob er wahr oder falsch ist.
*) Aristoteles nennt beständig als das Merkmal, welches das ür-
theil, die dTiocpavotg, von anderen Redeformen unterscheidet, nur das,
dass ihm das Wahr- oder Falschsein zukommt. De inter|)r. 4. {Xöyoc)
ctTcocpavTtxög ou uas, aXX' ^v (p zb dXyj-ö-sustv yj ^'söSea'^'at uk(x{jx^i. Kbenso
De anima III, 6.
2*
20 Einleitung. 18
Streit statt , und darum fordern sie ebensogut wie die Sub-
sumtionsurtheile auf, die Bedingungen ihrer Gültigkeit zu
untersuchen *). Nur wo die scholastische Ansicht vom Wesen
der Wissenschaft herrschte , dass nur die Definition wissen-
schaftlichen Werth habe, könnte man die Logik auf Subsum-
tionsurtheile beschränken wollen; wo aber das Bewusstsein
lebendig ist, dass für einen grossen Theil unseres Wissens
einzelne Thatsachen die Basis und der Prüfstein sind, gehören
auch die Urtheile, welche Thatsachen aussprechen, unter die
logische Betrachtung.
Es liegt ferner in der Anlage unserer Untersuchung,
dass wir die Analyse des Urtheils da aufnehmen , wo es sich
ohne Reflexion kunstlos im natürlichen Verlaufe des Denkens
bildet.
2. Ist die Untersuchung dessen, was im Urtheilen geschieht,
beendigt, so lässt sich dann erst fragen, welches die Anforde-
rungen sind, welche an ein vollkommenes, dem Zwecke nach
allen Seiten entsprechendes Urtheilen gestellt werden müssen,
und damit ein Ideal aufstellen, mit dem unser Denken über-
einstimmen will und soll. Indem wir nemlich von der Forde-
*) Gegen ülrici, Comp, der Logik 2. Afl. § 72. S. 266. 267.
H e g e 1 , der das Urtheil als das Bestimmen des Begriffs durch sich
selbst bezeichnet, sagt zuerst (Logik, Werke IV. 69j: »Ein Satz hat
zwar im grammatischen Sinne Subject und Prädicat, ist aber darum
noch kein ürtheil. Zu Letzterem gehört, dass das Prädicat sich zum
Subject nach dem Verhältniss von Begriff'sbestimmangen , also als ein
Allgemeines zu einem Besonderen oder Einzelnen verhalte. Aristoteles
ist im 73. Jahre seines Alters, in dem 4. Jahre der 115. Olympiade
gestorben, ist ein blosser Satz, kein Urtheil«. Er fügt aber bezeich-
nender Weise hinzu: *Es wäre von Letzterem nur dann etwas darin,
wenn einer der Umstände, die Zeit des Todes oder das Alter jenes
Philosophen in Zweifel gestellt gewesen, aus irgend einem Grunde
aber die angegebenen Zahlen behauptet würden .... So ist die Nach-
richt: mein Freund N. ist gestorben, ein Satz; und wäre nur dann ein
Urtheil, wenn die Frage wäre, ob er wirklich todt, oder nur scheintodt
wäre«. Somit ist auch nach Hegel jeder Satz doch ein ürtheil , s o-
fern man nach s ei n e r W a h r h e i t fragen und Gründe
dafür verlangen kann. Vergl. auch die Bemerkungen Fr.
Kern's (die deutsche Satzlehre, 1S83 S. 1 ff.) die nur irrthümlich
gegen die Logik, statt gegen eine einseitige logische Theorie gerichtet sind.
19 § 4. Eintheilung der Logik. 21
rung ausgehen, dass unser Denken notliwendig und allgemein-
gültig sei , und diese Forderung an die nach allen ihren
Bedingungen und Factoren erkannte Function des Urtheils
halten, ergeben sich daraus bestimmte Normen, welchen das
Urtheilen genügen muss, und ebendamit bestimmte Kriterien
zur Unterscheidung des vollkommenen und unvollkommenen
Urtheilens, Diese Normen concentrieren sich, soweit die logische
Betrachtung in unserem Sinne sie verfolgen kann , in zwei
Punkten : erstens, dass die Elemente des Urtheils durchgängig
bestimmt , d. h. begrifflich fixiert sind ; und zweitens , dass
der Urtheilsact selbst auf nothwendige Weise aus seinen Vor-
aussetzungen hervorgehe. Damit fällt in diesen Theil die
Lehre von den Begriffen und Schlüssen als Inbegriff norma-
tiver Gesetze für die Bildung vollkommener ürtheile.
3. Da nun aber mit der Erkenntniss, wie beschaffen ein
ideal vollkommenes Denken sein muss, nicht von selbst auch
schon die Möglichkeit gegeben ist , diesen idealen Zustand
wirklich zu erreichen, noch die Kenntniss des Weges der zum
Ziele führt : so bedarf es der Besinnung darüber, wie aus dem
uns gegebenen Zustande heraus, mit den Mitteln die uns von
Natur zu Gebote stehen , und unter den Bedingungen , unter
denen unser menschliches Denken steht, die logische Voll-
kommenheit erreichbar sei; es handelt sich also um die Me-
thoden, zu richtigen Begriffen und brauchbaren Voraus-
setzungen von Urtheilen und Schlüssen zu gelangen. Dies ist
das Gebiet der Kunstlehre im engeren Sinn , der eigentlich
technischen Anweisung, zu welcher die beiden vorangehenden
Theile die noth wendigen Vorbereitungen sind. In ihr hat
als wichtigster Theil die Theorie der Induction ihre
Stelle, als die Lehre von der Methode aus einzelnen Wahr-
nehmungen Begriffe und allgemeine Sätze zu gewinnen.
4. Durch diese Fassung der Aufgabe und Anordnung
der Untersuchung glauben wir die verschiedenen Gesichtspunkte
zu vereinigen , welche in der Bearbeitung der Logik heraus-
getreten sind, und jedem sein Recht widerfahren zu lassen.
Denn wenn man einerseits der Logik zuwies, die Naturformen
und Naturgesetze des Denkens aufzustellen, denen es notli-
wendig folge, so erkennen wir die Nothwendigkeit an, solche
22 Einleitung. 20
Naturgesetze, unter denen alles Urtheilen überhaupt steht, auf-
zustellen, und die Principien zu finden, unter denen es als be-
wusste Function von dieser bestimmten Art noth wendig stehen
muss ; aber wir läugnen dass damit die Aufgabe der Logik erfüllt
sei, weil diese nicht eine Physik sondern eine Ethik des Den-
kens sein will; wenn man sie andererseits als Lehre von den
Normen des menschlichen Denkens oder Erkennens definiert hat,
so erkennen wir an, dass ihr dieser normative Character we-
sentlich ist ; aber wir läugnen dass diese Normen erkannt werden
können anders als auf Grundlage des Studiums der natürlichen
Kräfte und Functionsformen , welche durch jene Normen ge-
regelt werden sollen, und wir läugnen ebenso, dass ein blosser
Codex von Normalgesetzen für sich schon fruchtbar sei und
genüge den Zweck, um dessen willen es überhaupt eine Logik
aufzustellen lohnt, zu erreichen. Vielmehr halten wir es für
nöthig dasjenige, was meist nur anhangsweise abgehandelt
wird, zum eigentlichen, letzten und Hauptziel unserer Wissen-
schaft zu machen , nemlich die Methodenlehre. Indem diese
zu ihrem Hauptgegenstande das Werden der Wissenschaft aus
den natürlich gegebenen Voraussetzungen des Wissens haben
muss, hoffen wir auch denjenigen gerecht zu werden, welche,
um der Leerheit und Abstractheit der formalen Schullogik zu
entgehen , ihr die Aufgabe der Erkenntnisstheorie zuweisen,
nur dass wir allerdings alle Fragen über die metaphysische
Bedeutung der Denkprocesse ausschliessen und uns rein inner-
halb des vorgeschriebenen Rahmens halten, innerhalb dessen
wir das Denken als subjective Function betrachten, und die
Anforderungen an dasselbe nicht auf eine Erkenntniss des
Seienden ausdehnen, sondern auf das Gebiet der Nothwendig-
keit und Allgemeingültigkeit beschränken, in welchen Charac-
teren auch der Sprachgebrauch immer und überall das unter-
scheidende Wesen des Logischen sieht.
Erster analytischer Theil.
Das Wesen und die Voraussetzungen
des Urtheilens.
^1
§5.
Der Satz , in welchem etwas von etwas ausgesagt wird,
ist der sprachliche Ausdruck des Urtheils. Dieses ist ur-
sprünglich ein lebendiger Denkact, der jedenfalls vor-
aussetzt, dass zwei unterschiedene Vorstellungen
dem Urtheilenden gegenwärtig sind, indem das Urtheil voll-
zogen und ausgesprochen wird, die Subjects- und die
Prädicatsvorstellung, die sich vorerst nur äusserlich
so unterscheiden lassen, dass das Subject dasjenige ist, wovon
etwas ausgesagt wird , das Prädicat dasjenige , was ausge-
sagt wird.
1. Was uns als Urtheil entgegentritt in Form eines
ausgesprochenen Behauptungssatzes, erscheint zunächst als
ein fertiges Ganzes, als ein abgeschlossenes Resultat der
Denkthätigkeit, das als solches im Gedächtniss wiederholbar,
in neue Combinationen einzugehen fähig, durch Mittheilung
an andere übertragbar, in der Schrift für alle Zeit fixierbar
ist. Aber dieses objective Dasein und diese selbstständige
Existenz, vermöge der wir zu sagen pflegen, dass das Urtheil
aussage, verknüpfe, trenne, ist blosser Schein, und diese
Redensarten sind Tropen ; so wie wir eigentlich reden wollen,
hat das Urtheil als solches seine wirkliche Existenz nur im
lebendigen Urtheilen, in demjenigen Acte eines denkenden
Individuums, der sich in einem bestimmten Momente innerlich
vollzieht, und jedes Fortbestehen des Urtheils als lebendigen
Vorgangs im Denken ist nur dadurch möglich, dass dieser
Act immer und immer wieder mit dem Bewusstsein seiner
Identität wiederholt wird. Das objective Dasein kommt nie
dem Urtheile selbst, sondern nur seinem sinnlichen Zeichen,
26 I. Wesen und Voraussetzungen des TJrtheilens. 24
dem gesprochenen oder geschriebenen Satze zu, der, äusserlich
für andere gegenwärtig und erkennbar, beurkundet, dass ein
bestimmter Denkact im lebendigen Denken vollzogen worden ist.
Der Satz als dieses äusserliche Zeichen lässt sich nun
aber von zwei Seiten betrachten, die von Anfang an genau
zu scheiden wichtig ist: einerseits weist er auf seine Quelle
zurück, auf die inneren Vorgänge in demjenigen, der ihn
ausspricht und darin seine Gedanken offenbart; andrerseits
wendet er sich an den Hörenden und will verstanden werden;
der Hörende ist aufgefordert, die äusseren Zeichen zu inter-
pretieren und daraus den Gedanken zu construieren, den der
Redende ausgedrückt hat. Die Functionen dessen, der ge-
sprochene Worte versteht, sind aber nicht dieselben, wie die
Functionen dessen, der spricht; wenn auch, das vollkommene
Verstehen vorausgesetzt, das letzte Resultat im Geiste des
Hörenden übereinstimmen muss mit dem, wovon der Sprechende
ausgieng. Drücke ich eine von mir gemachte Wahrnehmung
in den Worten aus : das Schloss brennt, so ist mein Ausgangs-
punkt das Bild des brennenden Schlosses; in diesem erkenne
ich die bekannte Gestalt des Gebäudes und die aus demselben
schlagenden Flammen ; indem ich diese beiden Elemente zuerst
unterscheide und dann im Satze vereinige, beschreibe ich, was
ich sah. Wer meinen Satz hört, muss erst die für ihn durch
die beiden Wörter erweckten bisher getrennten Vorstellungen
vereinigen; und erst dadurch hat er am Schlüsse die Vor-
stellung, von der der Sprechende ausgegangen war.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Grammatik
und Hermeneutik, welche von den gesprochenen oder geschrie-
benen Worten ausgeht, geneigt ist, sich überwiegend auf den
Standpunkt des Hörenden zu stellen, und diejenigen Functionen
in's Auge zu fassen, welche bei dem Verstehen wirksam sind,
und sie in der Ordnung zu betrachten, in der sie der Hörende
vollzieht; für die psychologische Analyse aber, welche das
Wesen des urtheilenden Denkens untersuchen will, kommt
in erster Linie die andere Seite, das Thun des Sprechenden
in Betracht; um so mehr, da nicht alles Denken, das sich in
Worte kleidet, nothwendig die Tendenz zur Mittheilung an
andere hat.
24. 25 § 5. Der Satz als Ausdruck des Urtheils. Subject und Prädicat. 27
Das Wesen des Urtheils untersuchen heisst also für uns
den D e n k a c t betrachten, den wir vollziehen, wenn wir im
lebendigen Urtheilen begriffen sind, und dem wir in Worten
dann Ausdruck geben; und da jede (innere oder ausgesprochene)
Wiederholung eines Urtheils seine erstmalige Erzeugung vor-
aussetzt, so sind wir an diejenigen Fälle gewiesen, in denen
wir denkend ein Urtheil neu erzeugen und ihm seinen sprach-
lichen Ausdruck schaffen (wie es z. B. immer geschieht, wenn
wir eine neue Beobachtung aussprechen).
2. Das was vorgeht, indem ich ein Urtheil bilde und
ausspreche, kann zunächst äusserlich so bezeichnet werden,
dass ich etwas von etwas aussage*). Es sind jedenfalls zwei
Elemente da; das eine ist das, was ausgesagt wird, xö xaxyjyo-
pou{X£vov, das Prädicat, das andere das, wovon ausgesagt wird
oder auf welches etwas hingesagt wird, t6 6ti;ox£C{X£Vov, das
Subject. Damit ist aber nur eine äusserliche, von dem Sprechen
hergenommene Bezeichnung gegeben ; Aussagen ist eine Thätig-
keit der Sprachorgane, und es fragt sich, was innerlich in
unserem Denken vorgeht, wenn wir »etwas von etwas aus-
sagen.«
3, Gehen wir von dem gesprochenen Satze aus: so ist
vor allem ein Unterschied zu machen. Es gibt Sätze, in denen
als Subject oder Prädicat nur die Wörter als solche
gemeint sind, als diese bestimmten Lautcomplexe ; sei es, dass
über sie bloss sprachliche Bemerkungen, ganz abgesehen von
ihrer Bedeutung, gemacht werden ' (Samiel ist ein hebräisches
Wort , contra ist eine Präposition) , sei es , dass der Satz die
Bedeutung eines bestimmten Wortes oder Namens betrifft
(Oxyd ist eine Verbindung mit Sauerstoff, Alexandros ist ein
anderer Name für Paris, Jagsthausen ist ein Dorf und Schloss
an der Jagst). Scheiden wir diese, die bloss sprachlichen und
hermeneutischen Aussagen zunächst aus, so bleiben uns als
Gegenstand der Untersuchung diejenigen Sätze, in denen die
Wörter als Zeichen von Vorstellungen auf-
treten und vorausgesetzt wird, dass sowohl der Sprechende
*) XöYOg xaxa^axtxöc ^ dTco^axtxög xtvög xaxa xtvög. Aristoteles Anal,
pr. I, 1; Die Ansicht, dass nicht jedes Urtheil zwei Elemente habe,
wird später (§. 12) besprochen werden.
28 !• Wesen und Voraussetzungen des ürtheilens.
1
Ewar II
als der Hörende sie versteht, d. h. eine bestimmte und zwar
dieselbe Vorstellung mit ihnen verbindet; in denen also die
Aussage nicht die Wörter selbst, sondern das durch die Wörter
bezeichnete Vorgestellte betrifft.
4. In diesem Falle müssen beide Elemente, Subject und
Prädicat, wenn die Aussage Sinn haben soll, etwas meinem
Bewusstsein Gegenwärtiges, eben jetzt Vorge-
stelltes sein. Die Subjectsvorstellung erscheint für
die erste und allgemeinste Auffassung als dasjenige, was mir
zuerst gegenwärtig ist; jedes beliebige Object, das ich im
Bewusstsein für sich festhalten kann, ist an und für sich
fähig, Subject eines ürtheils zu werden, sei's eine unmittelbare
Anschauung von Einzelnem, sei's eine abstracte Vorstellung,
sei's ein Ding, ein Geschehen etc. Zu ihr tritt als zweites
in unserem Bewusstsein die Prädicatsvorstellung. Ihr
ist es wesentlich, dass sie dem schon bekannten und durch
verstandene Wörter bezeichneten Gebiete unserer Vorstellungen
angehört, dass sie also eine durch frühere Acte in's Bewusst-
sein aufgenommene, mit dem Worte verknüpfte, mit ihm
festgehaltene und reproducierbare, von allen andern Vor-
stellungen unterschiedene ist. Um zu sagen: dies ist blau,
dies ist roth, muss ich die Vorstellungen blau, roth u. s. f.
schon von früher her kennen und eben jetzt als bekannte
mit dem Worte reproducieren ; und Urtheilen ist erst von da
an möglich, wo eine Anzahl solcher festgehaltener und unter-
schiedener Vorstellungen leicht in's Bewusstsein tritt. Das
bewusste Urtheilen setzt also voraus, dass diese Vorstellungen
schon gebildet sind.
Nun ist allerdings in dem Process, durch den sie sich
bilden, bereits ein Denken enthalten; mag man die Functionen,
durch welche wir zur Vorstellung bestimmter Gegenstände
und überhaupt zu Vorstellungen gelangen, die wir als Prä-
dicate verwenden können, im Einzelnen sich denken wie man
will, so ist unzweifelhaft dabei ein Unterscheiden verschiedener
Empfindungen, ein Zusammenfassen einer Manigfaltigkeit zu
einem Ganzen, ein Beziehen dieses Ganzen als Einheit auf
seinen manigialtigen Inhalt, ein Festhalten des so gewonnenen
Products nÖthig — lauter Acte die wir nur in Analogie mit
26 § 5. Der Satz als Ausdruck des TJrtheils. Subject und Prädicat. 29
bewussten , urtheilsartigen Denkacten uns vorzustellen ver-
mögen. Aber diese Thätigkeit, durch welche uns bestimmte
von einander unterschiedene und für sich festhaltbare Vor-
stellungen entstehen, fällt vor unser bewusstes nnd absicht-
liches Denken und folgt unbewussten Gesetzen ; wenn wir
anfangen uns zu besinnen, sind nur die Resultate dieser Pro-
cesse in Form von fertigen benannten Vorstellungen im Be-
wusstsein, und die Processe selbst müssen theils ursprünglich
durch eine psychologische Nothwendigkeit geleitet worden
sein, da sie von allen Menschen im Wesentlichen überein-
stimmend vollzogen werden, theils sind sie so eingeübt und
zur mechanischen Fertigkeit ausgebildet, dass sie auch inner-
halb des bewussten Lebens mit unbewusster Sicherheit vor
sich gehen. Andererseits ist die ursprüngliche Entstehung
und die erste Aneignung der Sprache ebenso schon voraus-
gesetzt, da sich das bewusste und willkürliche Denken fast
ausnahmslos mit Hülfe derselben vollzieht. Es fällt also zu-
nächst ausserhalb unserer Aufgabe, dasjenige Denken zu be-
trachten, durch welches Vorstellungen zuerst entstehen, und
ebenso, die Entstehung der Sprache überhaupt und die An-
eignung derselben von Seite des Einzelnen zu untersuchen,
wenn auch vielleicht die fortschreitende Analyse diese Fragen
berühren muss ; wohl aber ist es nöthig, das Gebiet der Vor-
stellungen zu übersehen, welche als Elemente, sei es als Sub-
ject oder als Prädicat , in unsere Urtheile einzugehen ver-
mögen, und das Verhältniss des innerlich Vorgestellten zu
seinem sprachlichen Ausdruck zu bestimmen.
Erster Abschnitt.
Die Vorstellungen als Elemente des Urtheils und
ihr Verhältniss zu den Wörtern.
§ 6.
'Was wir vorstellen und was als Subject oder Pr'ädicat
oder Theil des Subjects und Prädicats in unsere ürtheile
einzugehen vermag, sind :
I. Dinge, ihre Eigenschaften und Thätig
keiten, mit deren Modilicationen;
IL Relationen der Dinge, ihrer Eigenschaften
und Thätigkeiten , und zwar theils räumliche und zeit
liehe, theils logische, theils causale, theils modale.
1
1. Die Sprache selbst scheint durch ihre Unterscheidung
der verschiedenen Wortgattungen den Leitfaden zu geben
zur Aufsuchung der verschiedenen Arten des Vorgestellten ;
ein Leitfaden den Aristoteles bei der Aufstellung der Kate-
gorien als der obersten Gattungen des Vorgestellten und
Seienden jedenfalls mit benützt hat. Allein dieser Leitfaden
ist nicht untrüglich. Denn es ist das Eigenthüm liehe der
Sprachbildung, dass ihre verschiedenen Formen im Verlaufe
der Entwicklung verschiedene Functionen annehmen ; nicht für
jede neue Art von Vorstellung wird eine besondere Form aus-
geprägt, sondern wie im organischen Gebiete morphologisch '
gleichwerthige Organe doch physiologisch wesentlich verschie-
dene Verrichtungen besorgen können, so ist es auch mit den
Wortgattungen des Substantivs, Verbs, Adjectivs u. s. w.
Die Unterschiede der Wortgattungen sind nicht nothwendig
28 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 31
congruent den Unterschieden der Bedeutungen, so, dass sich
an diesen äusseren Charakteren alles ablesen liesse-^^ der Ver- ^^
such lässt sich nicht umgehen, immer die Andeutungen der
Sprache im Auge, doch aus der Natur des Vorgestellten heraus
eine üebersicht zu gewinnen, und daraus erst zu erkennen,
inwieweit die Unterschiede der Sprachformen den inneren
Unterschieden ihres Inhalts gefolgt sind.
2. Als der allgemeinste menschliche Besitz, dessen Ent-
stehung wir auch ohne Sprache in jedem Individuum auf
dieselbe Weise möglich denken müssen, wenn er auch factisch
in^der Regel schon unter Mitwirkung der Sprache entsteht,
tritt uns der Kreis von Vorstellungen entgegen, deren Ge-
sammtheit die Welt des Seienden ausmacht, zu der neben
der Vorstellung unser selbst die Vorstellung unserer gesamm-
ten erfahrungsmässig erkannten Umgebung und weiterhin
die Vorstellung alles dessen gehört, was in derselben Weise
existierend gedacht wird, wie wir selbst und die Gegenstände
unserer unmittelbaren Wahrnehmung.
Den Grundstock dieser Welt bilden die Vorstellungen
einzelner Dinge, welche durch die concreten Substantiva
sprachlich bezeichnet werden. Diese Dinge stellen wir vor
als Eigenschaften an sich tragend, welche in Adjectiven
ihren Ausdruck finden, und im Verfluss der Zeit Thätig-
keiten aus sich entwickelnd und in Zustände gerathend,
welche sich in Verben aussprechen*), x,
Diese Trennung der Vorstellungen der Dinge von denen
*) Es beeinträchtigt die Allgemeinheit des Processes, durch welchen
sinnliche Atfectionen auf Dinge bezogen werden, nicht, dass diese Be-
ziehung im Einzelnen schwankend und die Auffassung des Dinges, das
in einer bestimmten Erscheinung wahrgenommen wird, wechselnd sein
kann. Nacht, Schatten, Regenbogen, Wind u. s. w. sind ursprünglich
Dinge im vollen Sinn des Worts, concrete Einzelwesen; erst die wissen-
i^chaftliche Reflexion entkleidet sie dieser Festigkeit, und lässt sie als
blosse Wirkungen bestimmter Verhältnisse von Dingen erkennen. Wir
vermeiden darum auch den Ausdruck »Substanz« in diesem Zusammen-
hang, weil er bereits an eine wissenschaftliche Reflexion und eine Kritik
'lur unmittelbar auf natürlichem Wege entstehenden Vorstellungen
'rinnert. Nicht alles, was das gewöhnliche Bewusstsein unbefangen,
von den Analogieen seiner üenkprocesse geleitet, als Ding aufl'asst,
32 I, !• Die Vorstellungen als Elemente des Ürtheils. 29
der Eigenschaften die ihnen inhäriercn und der Thätigkeiten
in denen sie begriffen sind, zusammen mit der Nothwendi^»-
keit, sie fortwährend aufeinander zu beziehen und jeden für
sich denkbaren und festhaltbaren Gegenstand als Einheit
eines Dings mit seinen Eigenschaften und Thätigkeiten zu
betrachten , gilt uns hier als ein Grundf actum unseres Vor-
stellens, weil sie unserem bewussten und von der Reflexion
leitbaren ürtheilen immer schon vorausgesetzt ist , wie auch
die sprachliche Unterscheidung der Wortformen in allen ent-
wickelteren Sprachen — und nur innerhalb dieser können
wir eine Logik aufstellen wollen — dem Aussprechen des
Ürtheils immer zu Grunde liegt. Es sind zwar dieselben
Eindrücke, welche uns die Vorstellung des Leuchtens und die
des leuchtenden Gegenstands, die Vorstellung der Härte und
Kälte und die des harten und kalten Dings geben ; aber wir
können für unser bewusstes Denken uns nicht mehr auf den
«
ist darum Substanz im strengen Sinne und hält der bewussten An-
wendung dieser Kategorie Stand.
Die schwierige Frage, ob der heutigen Verbalform, in allen ihren
Anwendungen überhaupt ein bestimmter einheitlicher gemeinsamer
Begriff zu Grunde liegt, und welcher es ist, dürfen wir hier unerörtert
lassen. Dass in der ursprünglichen Scheidung von Nomen und Verbum
diesem der Ausdruck eines in der Zeit vor sich gehenden Thuns (im
weitesten Sinne) zufällt , und der Gedanke einer von dem Ding aus-
gehenden, aus ihm entspringenden Bewegung und Veränderung, die
weiterhin auf andere Dinge wirksam übergreifen kann, den ersten Kern
der Vorstellungsgruppe bildet, zu deren Bezeichnung das Verbum ver-
wendet wird, scheint mir unzweifelhaft. Je lebendiger die L^hantasie
ursprünglich die Dinge denkt, desto gewisser erscheinen auch dauernde
Zustände, wie Liegen, Stehen, Bleiben als ein »sich halten«, »sich ver-
halten« als ein actives, gleichsam gewolltes Verharren und Zurück-
halten einer Veränderung, oder wenigstens, wie in dem griechischen
Soxyjxa, xd^rjjjiat zu Tage tritt, als Folge eines Thuns. Es scheint mir
also richtiger, den Begriff" des Thuns als den ursprünglichen hinzustellen
und den des Zustands ihm zu subordinieren, als das Verhältniss, wie
z. B. Wundt thut, umzukehren. Dass für unsere jetzige Autfasaungsweise
viele Verba den Werth adjectivischer Prädicate zu haben scheinen,
ändert an der ursprünglichen Unterscheidung nichts ; dasselbe Verhalten
eines Dings kann einerseits als ruhende Eigenschaft, andrerseits als fort-
gehende Bethätigung des Dings aufgefasst werden, wie ruhig und ru-
hen, ruber und rubeo, still und schweigen u. s. f.
29. 30 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 33
Standpunkt zurückschrauben , auf dem die Trennung noch
nicht geschehen war, so wenig als wir in den Wurzeln reden
können aus denen die Verbal- und Nominalformen hervorge-
wachsen sind. Die Bedeutung der Wortformen des Substantivs,
Verbs und Adjectivs ist keine andere, als dass sie in ihrem
Unterschied eben auf jene Einheit hinweisen ; jedes Verbum
weist auf ein Subject, jedes Adjectiv auf ein Substantiv hin,
und erst wenn sie ihre Ergänzung gefunden haben, kommt
das Denken in einem relativ abgeschlossenen Acte zur Ruhe,
und hat ein für sich als selbstständig vorstellbares Ganze er-
reicht. Dem Substantiv kommt es dabei zu, überwiegend die
Einheit zu bezeichnen, welche aber immer in ihre Elemente
sich zu entfalten drängt; das Adjectiv und Verb stellen diese
Elemente für sich heraus, aber so wie sie immer zur Einheit
zurückstreben. Wo also die Objecte unseres Vorstellens in
Redewendungen bezeichnet werden, welche sich in den Formen
der Substantiva, Adjectiva, Verba bewegen, da ist das nach
den Kategorieen des Dings, der Eigenschaft und der Thätig-
keit unterscheidende und verknüpfende Denken wirksam ge-
wesen, und unsere xlusdrucksweise steht unter der Herrschaft
der Gewohnheit , allen Inhalt unter diese Kategorieen zu
bringen ; höchstens in einigen onomatopoetischen Wörtern,
wie patsch, plumps, können wir einen Eindruck auf der Stufe
wiedergeben, auf der sich jenes Denken desselben noch nicht
bemächtigt hat.
c) Der Gegensatz von Verb und Substantiv ist sachlich
und sprachlich der ursprünglichere. Wenn es wahr wäre, dass
die Urbedeutungen der Wurzeln verbaler Natur, und Vorgänge,
Veränderungen , Bewegungen das Erste gewesen wären was
bezeichnet wurde, so bewiese dies zunächst nur, dass die
lebendige Bewegung und Thätigkeit den stärkeren Reiz aus-
geübt und leichter den begleitenden Laut erregt hätte , nicht
dass die Vorstellung des Thuns überhaupt früher gewesen
wäre als die des Thätigen.- Denn die Grundanschauung, die
aller Vorstellung von Thätigkeit ausser uns zu Grunde liegt,
die Bewegung, kann nicht wahrgenommen werden, ohne das
Bewegte und seinen Hintergrund zu fixieren, und eine Ver-
gleichung anzustellen welche festgehaltene und ruhende Bilder
Sigwart , Logik. I. 2. Auflage. 3
34 J. 1- Die Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 30. 31
voraussetzt*); gerade in der Bewegung ist die Identität des
Thätigen in seiner Thätigkeit wie der Unterschied des beharr-
lichen Dinges von dem zeitlichen Geschehen am leichtesten zu
erfassen ; schwerer im Werden und Verschwinden, in der Ver-
änderung der Eigenschaften. Denn die Eigenschaft, die das
Adjectiv ausdrückt, ist da wo es rein sinnliche Bedeutung
hat, wie z. B. in der Farbe, gar nicht von der Vorstellung
des Gegenstands gesondert, beharrlich wie dieser; was wir von
dem Dinge wahrnehmen ist eben seine Eigenschaft. Erst in der
Vielheit der Eigenschaften, vermöge welcher dieselbe Eigenschaft
an Verschiedenem in verschiedenen Combinationen sich zeigen
kann, und in der Veränderlichkeit der Eigenschaften an demselben
continuierlich angeschauten Ding liegt das Motiv sie für sich
loszulösen und zu einem für sich Vorstellbaren zu machen ;
erst in der Wiederholung des Thuns das Motiv, seinen blei-
benden Grund in einem Adjectiv auszusprechen. Daraus er-
geben sich die zwei Classen der Adjectiva, diejenigen, welche
dem Nominalcharakter , und diejenigen , welche dem Verbal-
charakter näher liegen.
d) Während die Vorstellungen des Dings, der Eigenschaft
und Thätigkeit an einander gebunden sind , ein Thun immer
das Thun von Etwas, eine Eigenschaft die Eigenschaft von
Etwas sein muss, das als ein Ding vorgestellt wird, und um-
gekehrt ein Ding immer mit bestimmter Eigenschaft und Thä-
tigkeit vorgestellt werden muss: so liegt doch in der Unter-^
Scheidung die Möglichkeit, eine Eigenschaft oder Thätigkeit
für sich festzuhalten, und von der Beziehung auf ein bestimm-
tes Ding in Gedanken loszulösen. So vorgestellt werden sie
abstract gedacht, d. h. in künstlicher Isolierung der Ein-
heit fernegehalten, der sie ihrer Natur nach zustreben. In
dieser Abstraction liegt neben der Losreissung von der Ein-
heit mit bestimmten Dingen zugleich die Erhebung in die
Allgemeinheit, d. h. die Möglichkeit sie auf beliebig
vieles Einzelne zu beziehen und darin wiederzufinden ; und
beide Processe, die Auflösung eines bestimmten Vorstellungs-
ganzen in die unterschiedenen Elemente von Eigenschaften und
*) üebereinstimmend Steinthal, Abriss der Sprachwiss. I. 396 ffi
32 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 35
Thätigkeiten, und die Bildung abstracter und allgemeiner Vor-
stellungen von diesen bedingen sich gegenseitig, oder sind
vielmehr ein und derselbe Process, dessen Resultat nur von
verschiedenen Seiten erscheint. Indem ich die Anschauung
eines Steins mir zum Bewusstsein bringe als eines runden
weissen u. s. w. Dings, sind zugleich die Vorstellungen der
runden Form, der weissen Farbe u. s. w. aus diesem bestimm-
ten Verband losgelöst in mir, und eben darum fähig in jeden
beliebigen andern einzugehen und in jedem andern wiederer-
kannt zu werden.
e) Indem mit der Unterscheidung der Eigenschaften und
Thätigkeiten von den Dingen dieselbe Eigenschaft und dieselbe
Thätigkeit in verschiedenen Dingen vorgestellt wird , ist zu-
gleich die Basis dafür gegeben, die gleichartigen Thätigkeiten
und Eigenschaften verschiedener Dinge unter sich zu verglei-
chen und ihre Unterschiede zum Bewusstsein zu bringen, die
theils als verschiedene Grade, theils als verschiedene Weisen
gedacht werden; und wie die Dinge durch ihre Thätigkeiten
und Eigenschaften sich unterscheiden, so die ähnlichen Thätig-
keiten und Eigenschaften der einzelnen Dinge nach Graden
und Weisen, die wir zusammenfassend Modificationen
nennen mögen. Damit ist eine neue Unterscheidung und eine
neue Einheit gegeben, die sich sprachlich in der Beziehung
der Adverbia zu den Adjectiven und Verben ausdrückt. Es
ist wiederum mit der Wortform des Adverbs gegeben, dass
es sich als ein unselbstständiges Element ankündigt und die
Einheit mit einer Eigenschafts- oder Thätigkeitsvorstellung
fordert; nur an einer solchen, als ihre genauere Bestimmung
gedacht, hat es seinen verständlichen Sinn.
f) Sofern die abstracten Vorstellungen für sich festge-
halten werden und als Anknüpfungspunkte von anderen Vor-
stellungen auftreten können , verleiht ihnen die Sprache sub-
stantivische Form , indem sie die S u b s t a n t i v a a b s t r a c t a
bildet, deren Bedeutung Vorstellungen von Eigenschaften und
Thätigkeiten sind. Die Analogie der Sprachform weist ihnen
damit eine Vergleichbarkeit mit den Dingen insofern zu , als
sie zu Adjectiven und Verben in ähnlicher Weise in l^eziehung
treten sollen, wie die concreten Substantiva. Allein sie sind
3*
30 T, 1. Die Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 3
darum nicht Dinge, und die Einheit, welche zwischen ihnen
und ihren adjectivisch oder verbal ausgedrückten Bestimmungen
besteht, ist nicht die der Inhärenz oder Action, durch welche
sie selbst als Abstracta rückwärts auf ihre Träger hinweisen.
Vielmehr kann es nur — wo nicht Relationen hereintreten —
die ßesonderung eines Gemeinsamen, die Modification der
Eigenschaft oder Thätigkeit sein, welche in analoger Weise
mit ihr zusammengedacht und auf sie bezogen wird, wie die
Eigenschaft auf das Ding; und das Gemeinschaftliche beider
Verhältnisse ist zunächst nur das, dass sie eine Eins-Setzung
in dem Sinne gestatten, dass in der substantivischen Vorstel-
lung ihre näheren Bestimmtheiten und die unterscheidenden
Merkmale , die sie dem vergleichenden Denken darbietet , zu-
gleich für sich zum Bewusstsein gebracht und in Einheit mit
ihr gehalten werden. (Der Ball ist rund — der Ball bewegt
sich — die Bewegung ist schnell — die Schnelligkeit wächst
u. s. f.)
Das Gemeinschaftliche der bisher betrachteten Vorstel-
lungen der Dinge, ihrer Eigenschaften und Thätigkeiten ist,
dass sie ein unmittelbar anschauliches Element haben, das der
Function eines oder mehrerer unserer Sinne oder der inneren
Wahrnehmung seine Bestimmtheit verdankt. Dieser anschau-
liche Gehalt ist für sich niemals das Ganze der Vorstellung;
er ist vom Denken ergriffen und geformt, als Vorstellung der
Eigenschaft oder Thätigkeit eines Dinges festgehalten und auf
dieses als beharrliche Einheit bezogen ; und diese Einheit liegt
in dem Vorgestellten ebenso mit , wie das sinnlich anschau-
liche Element ; aber während jene Kategorieen des Dinges, der
Eigenschaft und Thätigkeit überall dieselben sind, macht das
Product sinnlicher Anschauung oder einer dieselbe nachbil-
denden Imagination den eigentlichen Kern der Vorstellung aus
und gibt ihr den unterscheidenden Inhalt.
3. Dadurch unterscheiden sich diese Vorstellungen der
Dinge mit ihren Eigenschaften und Thätigkeiten von der zweiten
Hauptclasse, den Relationsvorstellungen. Diese setzen
einerseits die Vorstellung von Dingen immer schon voraus,
und haben andrerseits einen Gehalt der immer erst durch eine
beziehende Thätigkeit erzeugt ist und in Folge dessen von
34 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 37
Hause aus eine Allgemeinheit an sich hat, vermöge der die
entsprechenden Wörter niemals für sich die Vorstellung eines
Einzelnen zu erwecken vermögen.
a) Die Relationen, welche am frühesten und leichtesten
aufgefasst werden , weil sie implicite schon in unserer An-
schauung der Dinge und ihrer Thätigkeiten mitliegen , sind
die des Orts und der Zeit. Rechts und links ^ oben und
unten, vor und nachher sind Vorstellungen, die ihren Ursprung
als bewusst gesonderte Bestandtheile unserer Vorstellungswelt
nur einer subjectiven Thätigkeit verdanken, welche zwischen
den schon in räumlicher und zeitlicher Ausbreitung ange-
schauten Dingen hin und her geht; ihr Gehalt besteht in dem
Bewusstsein der Bestimmtheit dieser den Raum und die Zeit
durchlaufenden Thätigkeit, ist also von den jeweiligen be-
stimmten Beziehungspunkten von Hause aus unabhängig. In-
dem wir die Dinge als räumlich ausgedehnt und zeitlich dauernd
vorstellen, ihre Vielheit in räumlicher und zeitlicher Ordnung
ausgebreitet vor uns haben, ist in diesem Vorstellen aller-
dings schon die ganze Menge dieser Beziehungen implicite
enthalten; sie sind aber nicht für sich zum Bewusstsein ge-
kommen. Damit dass wir ein räumliches Object vorstellen,
das ein rechts und links, ein oben und unten hat, dass unsere
den Raum durchlaufende Anschauung in diesen verschiedenen
Richtungen hin und her geht, um ein räumliches Gebilde als
Einheit festhalten zu können, ist noch nicht gegeben, dass wir
uns des Hin und Hergehens selbst und seiner unterschiedenen
Richtungen bewusst sind; zunächst ist nur das Resultat, die
bestimmte Gestalt und ihre Lage zu andern in unserem Be-
wusstsein. Erst wenn uns die Thätigkeit des Hin- und Her-
gehens selbst zum Bewusstsein kommt, wenn wir eine Rich-
tung von der andern, die weiter fortschreitende Bewegung des
Blicks oder der Hand von der kürzeren unterscheiden und sie
fixieren, entsteht uns der Gehalt jener Beziehungswörter, die
eben darum, weil sie eine zu dem unmittelbar gegebenen Stoff
hinzukommende spontane Bewegung der Vorstellung voraus-
setzen , auch von jeder bestimmten sinnlichen Affection sich
loslösen und so eine ganz eigene Art von Allgemeinheit haben.
»Bewegung« können wir uns immer zuletzt nur vorstellen als
38 Ii 1- Die Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 34. 35
Bewegung von Etwas, wenn es auch noch so blass als sinn-
liches Bild gedacht wird; »Richtung« aber setzt nur unser
eigenes Linienziehen im Räume voraus und das Bewusstsein
seiner Unterschiede. Der sprachliche Ausdruck dieser Rela-
tionen sind die Orts- und Zeitadverbien, die, wo sie dazu ver-
wendet werden , die Relationen bestimmter Objecte als mit
diesen zusammen vorgestellt auszudrücken, zu Präpositionen
oder Casussuffixen werden oder als Präfixe u. s. w. mit den
Adjectiven und Verben verschmelzen, während in andern Wör-
tern (folgen, fallen u. s. w.) eine räumliche oder zeitliche Re-
lation mit der Bedeutung des Wortes verschmolzen ist und
keinen gesonderten Ausdruck findet.
Auf räumliche Verhältnisse geht ursprünglich auch die
Relation des Ganzen und der Theile zurück. Es liegt in
der Entstehung unserer Anschauungen, dass, was wir als ein
einheitliches Ding auffassen, durch eine begrenzende Unter-
scheidung aus der weiteren Umgebung losgelöst ist , die der
unmittelbaren Empfindung zugleich mit ihm gegeben war; so
entstehen uns die Bilder der Menschen und Thiere in Folge
ihrer freien Bew^eglichkeit, die sie von dem Hintergrunde zu
unterscheiden zwingt, so fassen wir den Baum, den Stein als
Einheit auf, indem ihre Form die allseitige Umgrenzung und
Unterscheidung begünstigt. Aber indem sich innerhalb der
zuerst so gewonnenen Einheit neue Unterschiede zeigen, neue
Grenzen sich ziehen lassen, entstehen untergeordnete räum-
liche Einheiten innerhalb des ersten Umrisses ; die Glieder des
menschlichen und thierischen Leibes setzen sich vermöge ihrer
relativ freien Beweglichkeit als solche Einheiten heraus; das
Blatt löst sich selbst vom Baume los , die Zerschlagung des
Steines vollzieht eine Trennung zwischen den einzelnen Stücken
für die Anschauung, der die vorangehende Form noch gegen-
wärtig war. Damit nun , dass wir so ein Ganzes zerlegen,
entsteht zunächst nur eine Mehrheit neuer Einheiten , neuer
Dinge für uns, die wir abgrenzen; damit, dass wir die Vor-
stellung des Kopfes neben der des ganzen Leibes, des Fingers
neben der der ganzen Hand haben , ist der Kopf noch nicht
als Tlieil des Leibes, der Finger noch nicht als Theil der
Hand vorgestellt, wenn auch durch unmittelbare weiter ge-
36 §. 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 39
hende Anschauung oder Reproduction zu dem Kopf der Leib
dem er angehört, zu dem Finger die Hand ergänzend vorge-
stellt wird; erst indem wir uns des Verhältnisses der unter-
geordneten Einheit zu der höheren bewusst werden, das Zer-
legte wieder zusammensetzen und beide Processe aufeinander
beziehen, erscheint der Kopf als Theil des Leibes, der Finger
als Theil der Hand; und mit der Vorstellung der Dinge, die
wir, wie die Glieder des Leibes, immer nur als Theile, niemals
als isolierte Ganze wahrnehmen, verknüpft sich allerdings neben
dem anschaulichen Bilde die Vorstellung der Relation, der
Angehörigkeit an ein Ganzes, (Kopf, Arm, Glied u. s. w.)
während es anderen Objecten zufällig ist, ob sie als Theile
oder als selbstständige Ganze vorgestellt werden (Blume als
Ganzes, Blüthe als Theil).
Diese Relationsvorstellung ist sodann die Voraussetzung
aller Vorstellung von Grösse. A ist B gegenüber gross,
wenn B ein Theil von A ist oder (durch Aneinander oder
Uebereinanderleoen u. s. f.) als Theil von A angesehen werden
kann; alles Vergleichen von Grössen und alles eigentliche
Messen beruht auf nichts anderem , als auf der Beobachtung
oder der Herstellung eines Verhältnisses von Theilen zu einem
Ganzen , und der Grundsatz , dass das Ganze grösser ist als
der Theil, enthält genau genommen eine Interpretation der
Vorstellung «gross». (Erst in zweiter Linie, nemlich wenn
wir die Gewohnheit eines bestimmten Massstabes gewonnen
haben, können gross, hoch u. s. w. den Schein absoluter Prä-
dicate, den Schein von Eigenschaften annehmen.)
Weiterhin bleibt dann die Vorstellung des Ganzen als
Dinges mit Eigenschaften und Thätigkeiten nicht gleichgültig
gegen die Vorstellung der Theile ; diese stehen nicht bloss in
ihrem äusserlichen Aneinander da, sind nicht bloss in dem
Ganzen als dem umfassenden Rahmen ; es verknüpft sich viel-
mehr damit eine causale Relation — das Ganze umfasst die
Theile, hält sie zusammen, hat sie. Davon weiter unten.
Dieselbe Unterscheidung ist im Gebiete der Zeit zu voll-
ziehen. Das Wort zerfällt in Silben , die Melodie in einzelne
Absätze ; auch hier entwickeln sich die Vorstellungen der Zeit-
40 1» !• I^ie Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 36. 87
grossen, des länger und kürzer, in dem Masse als die Zeitrela-
tionen für sich zum ßewusstsein koQimen.
b) Gehen diese Gruppen von Vorstellungen zurück auf die
beziehende Thätigkeit, die sich in Kaum und Zeit bewegt, und
haben sie ihren Inhalt an dem anschaulichen Bewusstsein des
Durchlaufens von Raum und Zeit , so können sie sich doch
nicht vollziehen, ohne dass zugleich Functionen des beziehenden
Denkens mitwirken, und andere Relationsvorstellungen als
Resultate des Unterscheidens und Vergleichens ent-
stehen. Die Vorstellung des Unterschieds ist nichts Ge-
gebenes ; damit dass mehrere unterschiedene Objecte im Bewusst-
sein sind, ist wohl das Unterscheiden vorausgesetzt; aber zunächst
kommt nur das Resultat dieser Function zum Bewusstsein, das
in dem Nebeneinander mehrerer Objecte, deren jedes für sich
festgehalten wird, besteht. Die Vorstellung des Unterschieds
aber, der Gleichheit oder Verschiedenheit, entwickelt sich erst,
wenn das Unterscheiden mit Bewusstsein vollzogen und auf
diese Thätigkeit reflectiert wird ; die Vorstellung der Identität
setzt nicht bloss voraus, dass dasselbe Object längere Zeit oder
wiederholt gegenwärtig war, sondern sie entsteht erst durch
Negation des inhaltlichen Unterschieds zweier oder mehrerer,
zeitlich aufeinanderfolgender Vorstellungen und hat ihren
Inhalt an dieser Thätigkeit ; sie kann einem Objecte nur zu-
gesprochen werden, sofern es die Bedingungen und den Grund
zu dieser Thätigkeit darbietet. Unterschied, Identität, Gleich-
heit sind niemals als blosse Abstractionen zu begreifen von
dem anschaulichen Inhalte, der immer nur sich selbst zu geben
vermag, sie sind bewusst gewordene Denkprocesse und haben
an diesen ihren Inhalt. Aus solchen Denkprocessen entspringen
die Zahlen, indem Gleiches räumlich oder zeitlich unter-
schieden wird und die Thätigkeit der unterscheid baren Wie-
derholung derselben Anschauung als solche zum Bewusstsein
kommt, jeder Schritt der Wiederholung im Gedächtniss be-
halten und mit jedem die Reihe der vorangegangenen zu einer
neuen Einheit zusammengefasst wird. Die Vorstellung der
Zahl drei ist ja nicht damit gegeben , dass ich drei Dinge
sehe, und diese einen andern Eindruck machen als zwei und
eines. Dass die Verschiedenheit dabei die der Zahl ist, er-
38 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 41
kenne ich erst indem ich zähle, d. h. den Act des Fortschrei-
tens von einer Einheit zur andern mit Bewusstsein vollziehe.
c) Die dritte Hauptclasse der Relationen sind die cau-
sa 1 e n , welche sämmtlich die Vorstellung des Wirkens
(des auf ein anderes bezogenen Thuns) zu ihrem unendlich
manigf altig modificierten Gehalte haben (Verba transitiva).
So wenig der Causalbegriff nach seinem Ursprünge hier er-
klärt oder auch nur genauer bestimmt werden soll , was wir
einem späteren Zusammenhange vorbehalten, muss ihm doch
seine Stelle in der Gesammtheit unserer Vorstellungen angewiesen
werden ; und dies ist insofern nicht ganz leicht, als durch den
engen Zusammenhang des Wirkens mit dem Thun die Auf-
fassung des Wirkens als einer Relation auch das Thun in die-
selbe Betrachtung mit hineinzureissen und demgemäss auch das
Verhältniss des Thätigen zu seinem Thun als blosse Relation
hinzustellen droht, wonach das Thun eines Subjects als etwas
ihm gegenüber Zweites , als ein selbstständiges von ihm Er-
zeugtes erschiene ; und die Betrachtung des Verhältnisses eines
Dings zu seinem wechselnden Thun unter dem Gesichtspunkt
einer Relation scheint um so näher zu liegen, als ja ohne eine
zusammenfassende Synthesis die Identität eines Dings in seinen
Veränderungen gar nicht festzuhalten ist, und diese in der That
von ihm unterschieden werden müssen. Die Unmöglichkeit eine
feste Grenze zu ziehen scheint noch in doppelter Hinsicht eine
Bestätigung zu finden. Wenn der Mensch geht, so bewegt er
seine Beine ; dasselbe, was von einer Seite als blosses Thun dar-
gestellt wird, erscheint von der andern als Wirkung, auf seine
Glieder, die etwas relativ Selbstständiges sind ; und ebenso in
allen Fällen, wo wir schwanken können, was wir als einheitliches
Ding festhalten, was wir als Complex verschiedener Dinge be-
trachten sollen ; selbst das ruhende Verhältniss des Ganzen zu
den Theilen erscheint als ein Wirken, das vom Ganzen gegen die
Theile oder von diesen gegen jenes ausgeübt wird ; das Ganze hat,
d. h. hält die Theile, bindet sie durch ein Wirken zur Ein-
heit zusammen, die Theile »bilden« das Ganze. Wird ferner
darauf gesehen, dass, was wir gewöhnlich als Eigenschaft auf-
fassen, wie Farbe, Geruch u. s. w. , der fortschreitenden Er-
kenntniss sich in eine Wirkung auf unsere Sinnesorgane auf-
42 I» 1- Die Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 38.39
gelöst hat, so hat der Satz, dass auch Wirken und Eigen-
schaft ineinander übergehen, dass die Substanz in ihren Eigen-
schaften causal sei, viel für sich, und Inhärenz und Causalität
sind dann nur verschiedene Betrachtungsweisen eines und des-
selben Verhältnisses.
Allein alle diese Betrachtungen heben doch bloss die Schwie-
rigkeit hervor zu entscheiden, auf was die Bestimmungen der
Eigenschaft, des Thuns, des Wirkens mit objectiver Gültigkeit
angewendet werden können, ohne dass darum der Unterschied
der Begriffe Eigenschaft , Thun , Wirken als unterschie-
dener Elemente in unserer Vorstellung aufgehoben
wäre. Wenn erkannt wird, dass, was wir erst als eine einem
Ding inhärierende Eigenschaft angesehen haben, wie die Farbe,
dem Dinge nicht inhäriert, sondern seine Wirkung auf unsere
Sinnlichkeit ist: so wirkt es doch vermöge einer Eigenschaft
die jetzt nur nicht sinnlich direct erkennbar ist , sondern er-
schlossen werden muss, vermöge der Structur seiner Ober-
fläche und seiner Kraft Lichtwellen theils zurückzuwerfen theils
zu absorbieren ; und um wirken zu können , muss es vor
allem thätig sein, an sich selbst eine Veränderung seines
Zustands, eine Bewegung oder dergl. vornehmen. Es bleibt
bestehen , dass wir , um ein bestimmtes Ding zu denken , es
mit Eigenschaften denken müssen, die ihm inhärieren, die sein
unterschiedenes Wesen ausmachen und von ihm, wie es an
sich ist, prädiciert werden können. Ebenso ist es mit dem
Thun. Wenn nicht alles in ein Chaos zusammenstürzen soll,
in welchem wir keine festen Unterschiede mehr zu erkennen
vermögen, so müssen wir die Welt als eine Vielheit von ein-
zelnen individuellen Dingen denken, deren jedes seine Bestimmt-
heit hat, und thätig ist, indem es in der Zeit diese Bestimmt-
heit behauptet, oder wechselt und ändert, sich bewegt, wächst etc.
Dass es in diesem Thun einerseits von anderen Dingen be-
stimmt wird, die wirken, andererseits auf andere Dinge wirkt,
und ihr Thun bestimmt, ist eine davon verschiedene Betrach-
tung ; das Wirken kann gar nicht ausgesagt werden , ohne
dass es vom Thun unterschieden wird. Es ist der Gegensatz
der causa immanens und der causa transiens. Was aus der
ersteren hervorgeht, ist von der Vorstellung des Subjects un-
40 § 6. Die obersten Gattungen des Vorgestellten. 43
trennbar, eine Seinsweise desselben; was aus der zweiten her-
vorgeht , kann nur durch sein Verhältniss zu einem zweiten
gedacht werden. Somit ist der Unterschied nicht aufzuheben,
dass die Vorstellung des Wirkens zu den Relationsvorstellungen
zwischen verschiedenen Dingen gehört, während die des Thuns
einen integrierenden Bestandtheil der Vorstellung des einzelnen
Dinges für sich ausmacht, und ihr nur die Relationen des
Raums und der Zeit anhängen ohne die überhaupt nichts
Einzelnes gedacht werden kann. Darum ist auch die Vor-
stellung des Wirkens niemals anschaulich ; der Uebergang der
Causalität von einem Ding aufs andere ist immer hinzugedacht
und ein Product des zwischen ihnen verknüpfenden Denkens ;
anschaulich ist nur das Thun selbst, die Veränderung der in
Relation tretenden Dinge.
Auf die Manigfaltigkeit des sprachlichen Ausdrucks dieser
Relation können wir nur kurz hinweisen. Ihre nächste und
eigentlichste Bezeichnung findet sie in den transitiven Verben;
indem diese aber aus beharrlichem Grunde hervorgehend ge-
dacht werden, entwickeln sich die Adjectiva, welche ein Ding
als einer Wirkung fähig, zu derselben bereit, sie stetig übend
bezeichnen, und indem die Vorstellung des Wirkens mit dem
Ding selbst zusammengedacht und dieses von der Wirkung
benannt wird , entstehen die zahlreichen Substantiva , welche
die Dinge nur nach einer causalen Relation bezeichnen. Hier
ergibt sich leicht eine Incongruenz der substantivischen Form,
die das Dauernde und für sich Seiende andeutet, mit der Zu-
fälligkeit und dem Wechsel der Relation , und die Möglich-
keit von Verwechslungen dessen was bloss von der Relation,
und dessen was von dem Dinge gilt. Dies findet auf den
Ausdruck Ursache selbst Anwendung ; einerseits ist etwas Ur-
sache nur sofern es wirkt , und in dem Moment in welchem
es wirkt; andererseits bezeichnen wir mit Ursache ein Ding,
das dauernde Existenz hat. Sagt man nun: wo keine Wir-
kung ist, ist auch keine Ursache, so ist dies vollkommen
richtig in Beziehung auf die Relation; aber es wird unrichtig,
sobald es auf die Dinge ausgedehnt wird, welche unter Um-
ständen Ursache werden könnten oder in anderer Hinsicht
Ursachen sind. Dasselbe ist es — im Gebiete einer andern
44 Ii 1. Die Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 40
Relation — mit dem berühmten Satze: ohne Subject kein
Object; denn wenn ich beim Worte Object bloss an die Rela-
tion denke, nach der etwas nur insofern als Object bezeichnet
werden kann als es wirklich vorgestellt wird, so ist der Satz
eine Binsenwahrheit ; bezeichne ich aber mit Object alles, was
ausser mir oder gar nur als ein von meinem Denken Ver-
schiedenes existiert und nenne es Object, weil es unter Um-
ständen fähig ist vorgestellt zu werden : so folgt aus dem
Fehlen des Subjects und dem Aufhören der Relation nicht
das Verschwinden aller Dinge die ich vorher vorgestellt habe;
sonst müsste auch ich selbst verschwinden , sobald ich ein-
schlafe. Ich habe geschlafen — sagen wir ganz unbefangen ; aber
Ich bezeichnet doch ein Subject das seiner selbst bewusst
ist; das Bewusstsein verschwindet im Schlaf, also kann Ich
nicht schlafen, wenn ich mit Ich eben das Subject bezeichne,
sofern es seiner selbst bewusst ist ; und nach der Theorie :
ohne Subject kein Object, müsste ich im Schlafe aufhören zu
sein. »Ein Reiter zu Fuss« ist ein lächerlicher Widerspruch,
wenn ich mit »Reiter« den Mann bloss bezeichnen will, so
lange er zu Pferde sitzt; bezeichne ich aber damit den Mann,
der in der Reiterei dient, so ist es eine ganz selbstverständ-
liche Sache , dass er auch zu Fuss geht. Der Satz : »kein
Object ohne Subject« ist in demselben Sinne wahr, wie der
Satz: Ein Reiter kann nicht zu Fuss gehn.
d) Mit keiner andern Relation vergleichbar ist diejenige,
in welcher die Objecte unseres subjectiven Thuns,
unseres Anschauens und Denkens wie unseres Begehrens und
Wollens zu uns selbst, als dem Subjecte geistiger Thätigkeit
stehen. Das Gedachte oder Gewollte als solches, als bestimmter
Inhalt, enthält alle Kategorieen die wir bisher betrachtet ; es
ist Ding, Eigenschaft, Thätigkeit, Wirkung u. s. w. ; aber unter
welche Kategorie gehört sehen, hören, anschauen, denken,
wollen, wenn wir diese Functionen in Beziehung auf ihre Ob-
jecte und nicht bloss als Thätigkeitsäusserungen des Subjects
betrachten? Gehört sehen, hören, vorstellen unter die causalen
Relationen ? Sie sind weder ein blosses Thun , denn sie sind
auf ein von dem thätigen Subject Verschiedenes bezogen; sie
sind aber auch kein Wirken, denn sie erzeugen weder ein
41 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 45
Ding noch verändern sie es. Nur dasjenige, was wie die freien
Bildungen der Phantasie von vornherein nur als Gedachtes
gilt, kann unter den Gesichtspunkt der causalen Relation des
Hervorbringens und Schaffens fallen, sofern wir auch einen
Gedanken, ein Traumbild u. s. w. als ein »Ding« anzusehen
berechtigt sind; was wir aber als irgendwie seiend denken,
das ist nicht von unserem Denken hervorgebracht, und es ge-
schieht ihm realiter nichts damit dass es gedacht wird; und
doch soll es ein Object unseres Denkens sein und in Beziehung
dazu stehen. Nennen wir diese Classe von Relationen mit
einer Erweiterung des kantischen Sprachgebrauchs die mo-
dalen: so fallen darunter alle Beziehungen, in welche wir
Objecte zu uns setzen, sofern wir sie vorstellen, und als vor-
gestellte begehren, wünschen, in ihrem Werthe für uns beur-
theilen; also nicht bloss alle die Verba, welche eine auf Ob-
jecte bezogene ideelle Thätigkeit ausdrücken, sondern ebenso
die Adjectiva und Adverbia, welche wie wahr und falsch das
Verhältniss meiner Vorstellung zu dem Ding auf welches sie
sich bezieht, oder wie schön und gut eine Beziehung des In-
halts einer Vorstellung zu einem Massstabe der Werthschätz-
ung ausdrücken , und darum nur wo dieser Massstab absolut
feststeht indirect Ausdruck für eine Eigenschaft werden kön-
nen, die dem Ding als solchem zukommt; endlich Substantiva
wie Zeichen, Zweck etc.
§7.
Alles Vorgestellte wird entweder vorgestellt als einzeln
existierend (als einzelnes Ding oder als Eigenschaft, Thä-
tigkeit, Relation einzelner Dinge) beziehungsweise unter den
Bedingungen der Einzel existenz (wie die Producte der Bilder
schaffenden Phantasie) , oder es wird abgesehen von den
Bedingungen seiner Einzelexistenz vorgestellt
und insoweit allgemein, als das Vorgestellte, wie es rein
innerlich gegenwärtig ist, in einer beliebigen Menge von ein-
zelnen Dingen oder Fällen existierend gedacht werden kann.
Der Ausdruck für diesen innerlich gegenwärtigen Gehalt des
Vorgestellten ist das Wort als solches.
46 I. 1- Die Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 42
Die Wörter aber, wie sie als Ausdruck des natürlichen
individuellen Denkens aus der vorhandenen Sprache angeeignet
und verwendet werden, haben individuell differente
und in vielfacher Umbildung begriffene Bedeu-
tungen; vermöge dieser Umbildung hat die Allgemeinheit, ;
welche ihrer Bedeutung zukommt , verschiedenen Sinn.
1. Welche Vorstellungen in einem urtheilenden Subjecte
dem Urtheilen selbst voransgelien, wird im allgemeinen durch
ihre sprachliche Bezeichnung angedeutet. Nun ist zwar mit
dem Zwecke der Sprache gegeben, dass jeder unter demselben
Worte dasselbe denkt; allein im wirklichen Leben ist dieser
Zweck durchaus nicht vollständig erreicht, vielmehr bedeuten
die Wörter Verschiedenen Verschiedenes, und demselben Ver- '
schied enes zu verschiedenen Zeiten*). Es darf also niemals,
wenn wir das wirkliche Urtheilen analysieren wollen, ohne
Weiteres von einer allgemeingültigen Bedeutung eines Wortes
ausgegangen, sondern das Wort darf immer nur als Zeichen
der eben in dem urtheilenden Individuum gegenwärtigen Vor-
stellung angesehen werden.
2, Nun ist das Verhältniss der sprachlichen Ausdrücke^
zu den durch sie bezeichneten Vorstellungen ein verschiedenes.
Ein Theil der Wörter (wie Nomina und Verba) ist mit einem
bestimmten Vorstellungsgehalt verbunden, der ihre Bedeutung
ausmacht wae sie für das Individuum gilt, ein anderer Theil
— wie Pronomina und Demonstrativa — bezeichnet für sich
durch den blossen Wortlaut nichts bestimmtes, sondern dient
nur dazu eine Beziehung zu dem denkenden und sprechenden
Subjecte (oder zu dem eben von ihm Gesprochenen) auszu-
drücken , und vermag also erst wenn diese Beziehung durch
die Anschauung selbst bekannt ist, Zeichen einer bestimmten
Vorstellung zu werden. Ich und du , dieses und jenes , hier
und dort, drücken durch ihren Wortlaut nicht die Vorstellung
einer bestimmten Person , eines bestimmten Etwas , eines be-
stimmten Orts u. s. w. aus, obgleich sie dazu verwendet werden,
ein bestimmtes Etwas, einen bestimmten Ort zu bezeichnen ; in
*) Vgl. Paul, Principieu der Sprachgeschichte. 2. Aufl. S, 83.
43 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 47
verschiedenen Fällen, von Verschiedenen gebraucht, bezeichnen
sie ganz Verschiedenes, und was sie bezeichnen wird erst an-
derswoher ergänzt.
3. Die für sich bedeutungsvollen Wörter aber sind alle,
sofern sie verstanden werden, zunächst und unmittelbar nur
Zeichen von Vorstellungen die innerlich gegenwärtig, aus der
Erinnerung reproducierbar sind. Mag ein Wort ein Eigen-
name sein oder etwas ganz Allgemeines bezeichnen: immer
ist es erst dann fähig gebraucht zu werden, wenn es die Macht
erlangt hat, durch seinen blossen Laut ohne Hülfe einer ge-
genwärtigen Anschauung einen bestimmten Vorstellungsgehalt
ins Bewasstsein zu rufen. Umgekehrt ist was wir vorstellen
nur dann unser sicherer und fester Besitz, der im Denken
verwerthet werden kann , wenn wir das bezeichnende Wort
dazu haben; wir empfinden das Fehlen des Wortes zu einer
Vorstellung immer als einen Mangel und als ein Hinderniss,
das uns erschwert sie in ihrer Eigenthümlichkeit und Ge-
schiedenheit von andern festzuhalten , sicher zu reproducieren
und vor Verwechslung zu bewahren. Es ist mit dem Gange
unserer geistigen Entwicklung, die sich einmal thatsächlich
nur mit Hülfe der Sprache und unter ihrem mächtigen Ein-
flüsse vollzieht , von selbst gegeben , dass jeder von uns er-
worbene und innerlich angeeignete Vorstellungsinhalt sein be-
zeichnendes Wort sucht; darum bemühen wir uns vor allem
die Namen zu wissen, und begnügen uns auf die Frage: was
ist das? mit der Angabe eines neuen und nie gehörten Na-
mens, indem wir uns leicht der Täuschung hingeben als sei
mit dem Lernen der Namen eine Bereicherung unserer Er-
kenntniss der Dinge gegeben , während wir doch damit , dass
wir wissen, dass diese Pflanze Aristolochia und jene Clematis
heisst, direct gar nichts gewinnen ; wohl aber haben wir ein
Mittel gewonnen leichter auf diese Dinge zurückzukommen,
sie in unserer Erinnerung zu befestigen und später unsere
ii]rkenntniss zu erweitern. So ist auch jeder Fortschritt des
Wissens von einer Veränderung und Erweiterung der wissen-
schaftlichen Terminologie begleitet.
4. Besinnen wir uns nun auf die Natur der Vorstellungen,
welche unsere Wörter beijleiten: so ist vor allem daran zu
48 Ti 1- I^ie Vorstellungen als Elemente des Urtheils.
erinnern , dass wir es hier mit demjenigen Denken zu thurf"
haben, das sich im natürlichen Verlaufe der geistigen Ent-
wicklung in den einzelnen Individuen vollzieht ; und was sich
hier für den Einzelnen mit einem und demselben Worte ver-
knüpft, macht eine Reihe von Entwicklungsstufen durch, über
die uns direct weder die Sprachforschung, welche nur den all-
gemeingültigen Sinn des Worts feststellen will, noch die ge-
wöhnliche Auffassung des Worts in der Logik Aufschluss
geben kann.
f 5. Die Wörter gelten gewöhnlich als Zeichen von B e-
; griffen. Allein dass sie einen Begriff im logischen Sinn
darstellen, wie er ein Kunstproduct einer bewussten Bearbei-
tung unserer Vorstellungen ist, in der seine Merkmale ana-
lysiert und in der Definition fixiert werden, ist ein idealer
Zustand, den zu erreichen eben die Logik helfen soll ; factisch
sind die meisten unserer Wörter nur in der Annäherung an
diesen Zustand begriffen, und gehen wir an den Anfang un-
seres Urtheilens zurück, wie es mit der ersten Aneignung der
einfachsten Sprachelemente beginnt, so kann es nur verwir-
ren , wenn das unter dem Wort Gedachte ohne Weiteres als
Begriff bezeichnet wird, man mtisste denn den Ausdruck »Be-
griff«, wie flerbart thut, in einem viel weiteren als dem ge-
wöhnlichen Sinne nehmen.
i^. Nun scheint ein doppeltes Verhältniss hiebei unter-
scheidbar. Ein Theil unserer Vorstellungen, nemlich die auf
unmittelbarer Anschauung beruhenden, bilden sich bis zu einem
gewissen Punkte unabhängig von der Sprache , und diese in
jedem Einzelnen selbstständig sich entwickelnden Vorstellungen
sind die Bedingung, unter der überhaupt erst das Sprechen
möglich ist, das also von dieser Seite zu einem fertigen Ge-
bilde erst hinzukommt. Ein anderer Theil aber, z. B. das
ganze Gebiet des Unsinnlichen, wird durch die Tradition in
uns erweckt, und die Bildung dieser Vorstellungen ist ver-
anlasst und bestimmt durch den Gedankenkreis der Gesell-
schaft, wie er in der gehörten Sprache sich ausdrückt; das
Wort geht voran und erst allmählich erfüllt es sich mit einer
reicheren und bestimmteren Bedeutung in dem Masse als der
ßinzeine sich in das Denken der Gesammtheit hineinlebt. Aber
45 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 49
der Gegensatz ist nur scheinbar; denn jedes Verstandniss eines
Worts muss an Selbsterzeugtes anknüpfen, und der indivi-
duelle Gehalt desselben besteht eben aus den Elementen, welche
der Einzelne wirklich mit Bewusstsein erfasst und festgehalten
hat. Auch die unmittelbare sinnliche Anschauung des Kindes
wird frühe schon von der Sprache geleitet, und umgekehrt
sind die Termini der höchsten Abstraction nur dann mehr
als leere Laute , wenn ihr Inhalt selbstständig durch Denken
nacherzeugt ist ; es ist immer eine Entdeckung , wenn die
TJebereinstimmung eines selbsterzeugten Gedankens mit der in
dem Sprachgebrauch geltenden Bedeutung eines Worts erkannt
wird; und alles Erklären der Wörter muss darauf ausgehen,
die Bedingungen herzustellen, unter denen nach den psycho-
logischen Gesetzen die ihnen entsprechenden Vorstellungen er-
zeugt werden müssen. Der wahre Unterschied besteht nur
darin, dass in der natürlichen Entwicklung die sinnlichen Vor-
stellungen vorangehen und auf ziemlich übereinstimmende
Weise sich bilden ; während mit der Zunahme der Menge von
Voraussetzungen, welche die höheren und abstracteren Vorstel-
lungen erfordern, auch die Manigfaltigkeit der Wege wächst,
auf denen sie gebildet werden, und damit die individuelle
Verschiedenheit der Producte schwerer darzulegen ist. Der
allgemeine Gang aber, in dem Vorstellung und Wort für den
Einzelnen sich vermählen, ist im Wesentlichen derselbe ; das
Wort knüpft an einen in irgend einem Moment zum ersten -
male selbsterzeugten Gehalt an , und durchläuft eine Reihe
von Entwicklungen , in denen dieser Gehalt sich bereichert
und modificiert.
7. Wenn wir ins Auge fassen, wie das Kind die —
fast ausschliesslich sinnlichen — Vorstellungen erwirbt, die
zu seinen ersten Wörtern gehören und seine ersten Urtheile
möglich machen: so geschieht das immer von der einzelnen
Anschauung eines Dings oder eines Vorgangs aus , die ihm
benannt wird ; an einzelnen Fällen geht das erste A^erständ-
niss der Wörter auf. Je weniger aber seine Auffassung geübt
und durch einen Reichthum schon vorhandener Vorstellungen
vorbereitet ist, desto weniger kann das Anschauuiigsbild, das
in die Erinnerung eingeht und später mit dem Worte repro-
S i g w a r t , Logik. 1. 2. Auflage. i
50 !• 1* ^i^ Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 46
duciert wird, ein getreues und erschöpfendes Abbild des sinn-
lich gegenwärtigen Dinges selbst sein, und alles das enthalten,
was an dem Objecte wahrgenommen werden könnte; auch
was der Erwachsene in der Regel von einem ihm gegen-
wärtigen Objecte wirklich sieht und in seine Anschauung und
weiterhin seine Erinnerung aufnimmt, bleibt, wenn er nicht
ein geübter Beobachter ist, weit hinter dem Objecte selbst
zurück; um so mehr kann, was beim Beginn des Sprechen-
lernens von dem einzelnen gesehenen Objecte haften bleibt,
nur ein rohes und verwaschenes Abbild des Dinges sein, in
welchem nur die hervorstechendsten Züge, wie in einer rohen
Zeichnung, erscheinen; so dass wir meist gar nicht wissen
können, welches Bild jetzt das Kind eigentlich mit dem ge-
hörten Worte verknüpfte. Tritt eine ähnliche Anschauung ein
wie diejenige, die es wirklich behalten hat: so sind die Be-
dingungen gar nicht gegeben, unter denen eine Differenz des
früheren und des jetzigen Objectes wahrgenommen werden
könnte, die Verschmelzung erfolgt unmittelbar, und spricht
sich darin aus, dass das Neue mit dem gelernten Namen be-
nannt wird. Die Gewohnheit der Kinder, auch entfernt Aehn-
liches, wenn es nur in den sicher aufgefassten Zügen, oder
auch nur in einem oder dem andern übereinstimmt, mit dem-
selben Namen zu belegen, ermöglicht ihre Kunst mit wenigen
Wörtern hauszuhalten; daraus erklärt sich einerseits der oft
überraschende Witz der kindlichen Sprache, andrerseits die
zahllosen Verwechslungen, die ihnen nach unserer Meinung
begegnen. Der Fortschritt, den sie machen, besteht nicht
darin dass sie Neues unter schon bekannte Vorstellungen
subsumieren, sondern darin dass sie vollständiger auffassen
und genauer unterscheiden lernen*).
8. Für unser individuelles Denken knüpft sich also am
/ Anfange seiner Entwicklung die Bedeutung jedes Wortes an
eine einzelne Anschauung , um so mehr , als zwischen einer
Einzelvorstellung und einer allgemeinen gar kein Unterschied
besteht. Das Erinnerungsbild, das von einer ersten unvoll-
*) Vgl. die treffenden Bemerkungen Steinthals, Abriss der Sprach-
wissenschaft 1, S. 148 ff. 401 ff. und Paul, Princ. d. Sprachgeschichte
2. Aufl., S. 75 ff-.
47 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 51
kommenen Auffassung eines Objects zurückbleibt, haftet ja
nicht wie ein fester Abdruck in der Seele; seine Reproduction
ist eine neue Thätigkeit, und wo wir von Bildern und Vor-
stellungen sprechen, wie von festen Dingen, die im Schachte
des Gredächtnisses ruhen, sollten wir eigentlich von erworbenen
und erlernten Gewohnheiten und Fertigkeiten des Vorstellens
reden , die nicht ausschliessen , dass bei jeder Reproduction
leichtere oder eingreifendere Veränderungen der Thätigkeit
und damit ihres Products stattfinden. Wie oft machen wir
die Erfahrung , wenn wir einen bekannten Gegenstand , ein
Haus oder eine Landschaft u. s. w. nach längerer Zeit wieder
sehen, dass er ganz anders aussieht, als wir ihn in der Er-
innerung gehabt haben. Diese Unsicherheit des Erinnerungs-
bildes , und das allgemeine Gesetz , das Beneke passend das
der Anziehung des Gleichartigen genannt hat, genügen, um
es mit einer Reihe von neuen Bildern zu vereinigen , und
ihm so die Function einer allgemeinen Vorstellung zu geben.
Der Process des fortwährenden Benennens neuer Dinge —
um zunächst bei den Substantiven stehen zu bleiben — be-
festigt einerseits die hervorragenden und gemeinschaftlichen
Züge, und erhält andererseits doch das Bild flüssig und ver-
schiebbar, so dass bald dieser bald jener Zug desselben in
den Vordergrund treten und neue Associationen bestimmen
kann. Darum haben im natürlichen Verlauf des Denkens alle
Wörter ein Bestreben ihr Gebiet zu erweitern; ihre Grenzen
sind unbestimmt und immer bereit sich für neue verwandte
Vorstellungen zu öffnen; und diese Erweiterung wird fort-
während dadurch begünstigt , dass an neuen Gegenständen
immer dasjenige am leichtesten beachtet und aufgefasst wird,
was mit einem schon eingeübten Schema übereinstimmt; wir
legen so zu sagen unsere fertigen Bilder immer über die
Dinge her und verhüllen uns dadurch das Neue und Unter-
scheidende an ihnen.
Diesem Process geht nun aber ein anderer zur Seite.
Mit der zunehmenden Uebung der Auffassung werden nicht
bloss die frappantesten Züge, sonderu auch die weniger her-
vorstechenden beachtet; damit werden die liildcr bestimmter
und inhaltsreicher, und in demselben Masse beschränkt sich
4*
52 I» 1- Die Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 48
einerseits das Gebiet ihrer Anwendung auf Neues, vermehrt
sich andrerseits ihre Zahl und die Fähigkeit sie zu unter-
scheiden. Diese Unterscheidung aber vergleicht Ganzes mit
Ganzem; sie geht nicht so vor sich, dass man zuerst sich
Rechenschaft gäbe, worin der* Unterschied im Einzelnen be-
steht, und die übereinstimmenden und differenten Merkmale
mit Bewusstsein sonderte; wir unterscheiden fortwährend ganz
sicher unbekannte Personen von bekannten , ohne uns zum
Bewusstsein zu bringen, worin sie sich denn eigentlich
unterscheiden ; es ist ein nicht analysierter Gesammteindruck,
von der Unmittelbarkeit eines Gefühls, der uns das Bekannte
als solches anerkennen und von dem Unbekannten urtheilen
lässt, dass es nichts Bekanntes sei.
Weniger die Häufigkeit der Beobachtung, als das Inte-
resse des Menschen bestimmt seine Aufmerksamkeit und die
Genauigkeit seiner Auffassung. Die Bilder dessen was ihn
erfreut oder schreckt, was mit seinen Bedürfnissen und Trieben
im Zusammenhang steht, prägen sich mit allen Einzelnheiten
dem Gedächtnisse ein; was ihm gleichgültig ist, nimmt er
sich nicht die Mühe genau aufzufassen, und so lässt es nur
einen verwaschenen Eindruck der hervorstechendsten Züge
zurück, der in weitester Ausdehnung sich mit Aehnlichem
verschmelzen kann.
So erklärt es sich, wie nebeneinander bestimmtere und
inhaltsreichere Bilder, und unbestimmtere, leichter verschieb-
bare ihn erfüllen und sich mit seinen Wörtern verknüpfen.
Er benennt etwa das Huhn das ihm Eier legt, den Sperling
der ihn in seinem Garten ärgert, den Storch der auf seinem
Dache nistet; alles Weitere ist Vogel, und er bekümmert
sich um die Unterschiede der einzelnen Arten nicht, hat aber
ebensowenig das Bewusstsein, dass die Vorstellung »Vogel«
in ihrer Unbestimmtheit auch die speciell bekannten Arten
unter sich begreift; »es ist kein Vogel, es ist ein Huhn«
kann man nicht bloss Kinder sagen hören. Das unbestimmtere
und ärmere Bild , das nur von den Hauptzügen der Gestalt
und des Fluges hergenommen ist, genügt wo kein Interesse
ist, die Dinge zu unterscheiden ; es dehnt sich auf ,den flie-
genden Käfer und den Schmetterling aus.
49 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort; 53
Die Geschichte der Sprache zeigt eine ganz ähnliche
Entwicklung. Ihre Wurzeln haben eine sehr allgemeine
Bedeutung; nicht weil von Hause aus durch einen umfassen-
den Abstractionsprocess gleich das Allgemeinste fixiert wor-
den wäre, sondern weil wenig unterschieden und nur leicht %/
auifassbare, besonders hervorstechende Erscheinungen behalten
und benannt worden sind. Die einzelnen Dinge werden meist
nach irgend einer dieser Erscheinungen benannt, der Fluss
vom Gehen, der Hahn vom Krähen u. s. w. Indem dann ver-
schiedene Seiten an ihnen aufgefasst, und sie nur nach diesen
benannt werden, entstehen die zahlreichen Synonyma, welche
sie in verschiedene Reihen gleichartiger Erscheinungen stellen ;
im Verlaufe der Sprachentwicklung erst tritt weitergehende
Specialisierung durch Ableitung und Verwendung ursprüng-
licher Synonyme für verschiedene specielle Classen von Dingen
und Vorgängen ein, aber das Allgemeinere besteht neben dem
Specielleren fort. Ganz entgegen der gemeinen Lehre von der j
Bildung der allgemeinen Vorstellungen ist im Individuum wie
in der Sprache das Allgemeine früher als das Specielle, so
gewiss die unvollständigere und unbestimmtere Vorstellung
früher ist als die vollständige, die eine weitergehende Unter-
scheidung voraussetzt.
Ein ähnlicher Process vollzieht sich hinsichtlich der Vor-
stellungen der Eigenschaften und Thätigkeiten. Auch hier
sind die ursprünglichen Auffassungen allgemeinster Art, und
betreffen nur die grossen leicht unterscheidbaren Züge. Mit
wenigen und unsicher geschiedenen Vorstellungen der Farben
sehen wir das Kind wie die Sprache beginnen; erst allmäh-
lich übt sich der Blick zu unterscheiden , was früher ohne
Weiteres als ähnlich gesetzt wurde; die geläufigsten Formen
der Bewegung werden aufgefasst, und ohne Weiteres auf alles
Aehnliche übertragen ; die manigfaltigen Unterschiede finden
erst später ihre Beachtung und Bezeichnung. Wie vielerlei
Bewegungen muss ein Wort wie gehen oder laufen bezeichnen !
*). Dürfen wir voraussetzen, dass auf diesem Wege die
mit einem Worte verbundene Vorstellung aus der Anschauung
eines einzelnen Gegenstandes ursprünglich entsteht , dessen
unvollkommenes und verschiebbares Bild die erste B(?deutung
54 I> 1- ^ic Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 50
des Wortes ausmacht, so ergibt sich daraus auch, in welchem
Sinn einer solchen mit dem Worte verbundenen Vorstellung
Allgemeinheit zukommt.
Die Fähigkeit irgend einer Vorstellung, eine allgemeine,
d. h. auf eine beliebige Vielheit von Einzelvorstellungen anwend-
bare zu werden, ist schon mit ihrer Natur als reproducierbare
Vorstellung gegeben, und durchaus nicht davon abhängig, dass
sie von einer Vielheit solcher Einzelvorstellungen schon er-
zeugt worden ist. Sobald sie sich von der ursprünglichen
Anschauung und ihren räumlichen und zeitlichen Verbin-
dungen losgerissen hat und ein inneres Bild geworden ist,
das frei reproduciert werden kann , hat sie auch die Fähig-
keit mit einer Reihe neuer Anschauungen oder Vorstellungen
zu verschmelzen, und als Prädicat derselben in einem Urtheile
aufzutreten. Sehen wir nur auf den Gehalt der Vorstellung,
so kommt diese Art von Allgemeinheit nicht blos den Bildern
der Sonne , des Mondes u. s, w. , sondern auch den Bildern
bestimmter Personen ohne weiteres zu ; so oft die Sonne am
Himmel aufgeht oder der Mond sichtbar wird, ist eine neue
Einzelanschauung da , welche mit der von früher zurückge-
bliebenen Vorstellung in Eins gesetzt wird; die Erkenntniss
der materiellen Identität aller dieser Sonnen und Monde
ist etwas Späteres, und gar nichts nothwendiges, wo die Con-
tinuität der Anschauung fehlt; ebenso wird das Spiegelbild
einer Person oder ihr Porträt ohne weiteres mit dem Erinne-
rungsbilde identificiert , und wieder ist die Erkenntniss, dass
das blosse Bilder seien, und der Name eigentlich nur Einem
zukomme , ein Zweites das erst hinzutritt , und den begon-
nenen Versuch die Vorstellung als eine im vollen Sinn all-
gemeine zu behandeln wieder aufhebt ; es ist für die Vorstel-
lung selbst zufällig, dass sie keine wahrhaft allgemeine wird.
Nicht in der besonderen Natur dessen was vorgestellt
wird , noch in seinem Ursprung also liegt es , ob es im
gewöhnlichen Sinne allgemein wird oder nicht, sondern darin,
dass die Vorstellung wirklich auf eine Vielheit von Einzel-
anschauungen, die als Abbild einer realen Vielheit von Dingen
gelten, angewendet wird, und dass diese Vielheit als solche
51 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 55
zum Bewusstsein kommt, dass der Singularis einen P 1 u -
r a 1 i s erhält.
10. Diese Vielheit ist zuerst eine bloss numerische.
Indem in der Anschauung gleichzeitig oder successiv eine
Reihe gleicher oder ununterscheidbar ähnlicher Dinge sich dar-
bietet, wird nicht bloss jedes einzelne mit dem Erinnerungs-
bilde identificiert, sondern die Gleichheit des Inhalts der Vor-
stellung bringt das Bedürfniss des Z ä h 1 e n s hervor, durch das
die äussere, räumliche oder zeitliche Unterschiedenheit ver-
mittelt wird mit der Gleichheit des Bildes. Erst damit tritt
der Gegensatz der Einzigkeit und der Vielheit heraus.
11. Nicht diese numerische Allgemeinheit jedoch wird
in der Regel gemeint, wenn davon die Rede ist, dass die
Wörter allgemeine Bedeutung haben , sondern darin soll die
Allgemeinheit bestehen, dass sie verschiedene, ihrem In- *^
halte nach unterscheidbare und wirklich unterschiedene Ob-
jecte unter sich befassen. So soll die Vorstellung .Baum
das Allgemeine zu Eichen, Buchen, Tannen u. s. w. sein, die
Vorstellung Farbe das Allgemeine zu roth, blau, grün u. s. w.
Hier ist nun aber genau zu scheiden zwischen der All-
gemeinheit der Vorstellung und der Allgemein-
heit des Wortes. Bleiben wir in dem Gebiete stehen, in
welchem die wirkliche individuelle Bedeutung der Wörter aus
Einzelanschauungen stammt: so ist die Fähigkeit einer Vor-
stellung, auf nicht bloss räumlich und zeitlich, sondern inhalt-
lich Verschiedenes angewendet zu werden, zunächst mit ihrer
Unbestimmtheit gegeben. Wie es für ein sichtbares
Ding eine endlose Zahl von Stufen äusserer Abbildung gibt,
von den paar Strichen mit denen die Schuljungen Pferde und
Männer auf ihre Hefte malen bis zur vollendeten Photographie :
so gibt es eine analoge Stufenreihe von Vorstellungen, die
nacheinander möglicherweise von demselben Object in immer
zunehmender Bestimmtheit abgenommen werden, und neben-
einander fortbestehen können. Je unbestimmter, desto leichter
die Anwendung. So lange nun aber die Differenz der einzelnen
Objekte, auf welche immer aufs Neue ein einmal entstandenes
Bild angewendet wird , nicht zum Bewusstsein kommt , ver-
hält sich eine solche Vorstellung nicht anders als die Vor-
56 I, 1. Die Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 52
Stellung der Sonne oder eine Vorstellung von bloss nume-
rischer Allgemeinheit. Wenn mit dem Worte Gras nur ein
paar zusammenstehende grüne, schmale und zugespitzte Blätter
reproduciert werden, die DiflPerenzen der einzelnen Gräser gar
nicht beachtet sind, so finden wir überall eine Menge Gras,
eines ist Gras wie das andere. Sobald aber die einzelnen
Auffassungen bestimmter und die Unterschiede der Dinge, die
auf den ersten Anblick mit einer gegebenen Vorstellung
zusammenfallen, beachtet werden , so tritt ein doppeltes ein :
der gemeinschaftliche Name bleibt, und es bilden sich zugleich
die Namen für die bestimmteren Vorstellungen. Die bestimm-
teren Vorstellungen aber verdrängen im Laufe der Zeit die
unbestimmtere ; diese kann in ihrer Verschwommenheit gar
nicht mehr lebendig gemacht werden; der Botaniker hat
keine bildliche Vorstellung mehr , die dem Worte Gras oder
Baum entspräche, sondern es entsteht jetzt, wie der Wett-
streit im Sehfelde zwischen verschiedenen Bildern die beiden
Augen geboten werden, ein Wettstreit der verschiedenen be-
stimmteren Formen , die eine ungeübtere Auffassung gleich
setzen konnte. Damit ist gemeinschaftlich nur das Wort
geblieben. Das Wort hat eine allgemeine Bedeutung, sofern
^s Verschiedenes zusammenfasst, und eine Reihe unterscheid-
barer Bilder nach dem was in ihnen allen ähnlich ist, be-
zeichnet. Erst jetzt ist das Bedürfniss da, sich klar zu ma-
chen, was denn das Gemeinschaftliche neben dem Unterschie-
denen sei, d. h. den Begriff im gewöhnlichen Sinne des Wortes
durch Abstraction zu bilden.
Derselbe Process wiederholt sich mit den bestimmteren
Vorstellungen. In dem Masse als die Auffassung schärfer
und das Gedächtniss für kleine Unterschiede treuer wird, lost
sich auch hier das ursprünglich einheitliche Bild in eine
Reihe differenter auf. Die Sprache vermag aber mit ihren
Ableitungen , Zusammensetzungen , Attributivbestimmungen
u. s. w. dieser Specialisierung nicht zu folgen , und ebenso-
wenig vermag das Gedächtniss alles in gleicher Weise fest-
zuhalten, die Einbildungskraft alle Bilder in gleicher Weise
zu beleben. So bleibt schliesslich jedem Worte ein Kreis
von unterscheidbaren Vorstellungen, die durch dasselbe be-
53 § 7. Die allgemeine Vorstellung und das Wort. 57
zeichnet werden können ; dieselben verhalten sich aber nicht
gleich, sondern ein bestimmteres Bild bleibt vorzugsweise mit
ihm verknüpft, als Mittelpunkt der Gruppe, um welchen sich
die andern anschliessen. Der Bewohner einer Nadelholzland-
schaft verbindet mit »Baum« zunächst das Bild der Tanne
oder Föhre ; die übrigen Formen , die er etwa kennt , stehen
verblasst und im Hintergrunde. Mit dem Worte roth ver-
bindet sich zunächst ein besonders auffallender und von allen
andern leicht unterscheidbarer Eindruck; in dem Masse als
es auf weitere und weitere Abstufungen der Farbe angewendet
wird, hört es auf etwas bestimmtes zu bezeichnen ; bald diese
bald jene Abschattung wird mit dem Hören des Worts zu-
nächst reproduciert, aber so, dass eine Reihe von andern als
gleich möglich sich darbietet , und durchlaufen wird ; das
Wort ist allgemein geworden, indem es die bestimmte Bedeu- K
tung verloren hat, und eine, zunächst nicht bestimmt abge-
grenzte Reihe von Schattierungen reproduciert. Jede derselben ist
eine allgemeine Vorstellung, sofern sie wieder auf eineManig-
faltigkeit einzelner Anschauungen anwendbar ist; ihre Be-
zeichnung (blutroth, kirschroth u. s. w.) erinnert aber wieder
an den ursprünglichen Process , durch den die Wörter ihre
Bedeutungen von Einzelanschauungen ableiten.
12. Von diesem natürlichen Gange der Beziehungen
zwischen Wort und Vorstellung *ist ein anderer Process wesent-
lich zu unterscheiden , der dadurch bedingt ist, dass die Be-
nennung fortwährend unter dem Einfluss einer schon vorhan-
denen Sprache stattfindet, und der vorhandene Sprachgebrauch
die Combinationen , die von selbst entstehen würden, kreuzt,
andere , die nicht von selbst entstehen würden , aufdrängt.
Anzugeben, was das Gemeinschaftliche aller Dinge ist, welche
die Sprache mit demselben Wort bezeichnet, ist ein ganz an-
deres Geschäft, als anzugeben, was ein bestimmtes Individuum
unter eine gegebene Vorstellung bringt und mit ihr ähnlich
setzt; für das individuelle Denken gibt es eine Menge blosser
Homonymen, bei denen die innere Aehnlichkeit der Vorstellung
gar nicht zum Bewusstsein kommt, welche ursprünglich die
gleiche Benennung hervorgebracht hatte, und ebenso werden
eine Menge von Aehnlichkeiten *der Dinge erst durch die
58 I> ^' ^i^ Vorstellungen als Elemente des ürtheils. 54
Sprache zum Bewusstsein gebracht, auf welche das sich selbst
überlassene Vergleichen eines Einzelnen niemals gekommen
wäre. Andrerseits verbietet und zerstört der Sprachgebrauch
eine Menge von Aehnlichkeiten und drängt Unterscheidungen
auf, welche das individuelle Denken nicht gefunden hätte.
Während nun im letzteren Falle die Vorstellung gezwungen
wird bestimmter zu werden, lässt sich im ersteren gar nicht
ausmachen , wie viele unter sich zusammenhangslose Vorstel-
lungen einem und demselben Wort entsprechen mögen. Die
sprachliche Etymologie geht mit Recht darauf aus, auch die
entlegensten Combinationen zu versuchen ; ihre Aufgabe ist
aber eine total andere als die, den wirklichen Process des
Denkens in den einzelnen Individuen sich zu vergegenwärtigen.
Für das einzelne Individuum wird die Bedeutung eines
Worts nicht durch die Etymologie, sondern durch die Vor-
stellung der Objekte bestimmt, auf welche der Sprachgebrauch
es anwendet. Niemand von uns denkt vor geschichtlicher Be-
lehrung daran, dass der Hahn am Fasse, der Hahn am Ge-
wehr und der Hahn im Hühnerhof ein gemeinschaftliches
Element haben könnten, das die Bezeichnung mit demselben
Worte vermittelt hätte; die drei Bedeutungen sind für uns
vollkommen zusammenhangslos, die Wörter blosse Homonyme
geworden. Ebenso ist in den meisten Ausdrücken für geistige
Thätigkeiten der ursprüngliche Sinn der Wörter, mit denen
wir sie bezeichnen, für uns vollkommen entschwunden; in
Wörtern wie Begriff, ürtheil, Schluss empfindet Niemand mehr
einen bildlichen, metaphorischen Ausdruck.
13. Sind die Wörter im lebendigen Gebrauche nur Zei-
chen eines bestimmten Vorstellungsinhalts, der von der gegen-
wärtigen Anschauung losgerissen ein selbstständiges Dasein
in der Fähigkeit gewonnen hat, beliebig innerlich reprodu-
ciert zu werden, so folgt daraus, dass sie für sich, durch ihren
blossen Laut, niemals die Fähigkeit haben , das Einzelne als
solches zu bezeichnen, wie es ^er Anschauung gegenwärtig
ist. Vielmehr bedarf es besonderer Hülfsmittel, wie eines Pos-
sessivs, Demonstrativs oder der hinweisenden Gebärde, damit
das allgemeine Wort von einem bestimmten einzelnen Objekt
verstanden werde, oder es muss vorausgesetzt werden können,
54 § 7. Die allgemeine Vorstellung- und das Wort. 59
dass auch unansgesprochen die Beziehung auf ein bestimmtes
Einzelnes vom Hörenden richtig vollzogen werde; immer aber
kann ein Einzelnes nur darum mittels des Wortes bezeichnet
werden, weil seine Uebereinstimmung mit der allgemeinen .
Vorstellung, welche das Wort ausdrückt, erkannt ist; ich
kann das mir vorliegende Ding nur darum als dieses Buch
oder mein Buch bezeichnen, weil die allgemeine Bedeutung des
Wortes »Buch« darauf anwendbar ist*).
Nun bezeichnet allerdings ein Theil der Wörter einzelne
Dinge als solche, entweder, weil das der Vorstellung entspre-
chende Ding thatsächlich nur einmal in der Welt vorhanden
ist, wie Sonne und Mond, Himmel und Erde, oder weil durch
ausdrückliche Uebereinkunft dem Einzelnen als solchem ein
Name gegeben wurde mit der Absicht, es dadurch von allen
anderen ähnlichen Objecten zu unterscheiden, wie es bei den
Eigennamen der Personen, Städte, Berge u. s. f. der Fall ist.
W^o die Bedeutung dieser Namen noch erkennbar ist, geht
sie auf allgemeine Wörter zurück, wie Montblanc, Neustadt,
Erlenbach u. s. w., aber diese Bedeutung, welche die Namen-
gebung erklärt, ist meist vergessen, und die Vorstellung, welche
die für sich jetzt bedeutungslosen Namen erwecken , ist nur
die eines bestimmten einzelnen Objects. Aber auch so können
sie als verstandene Wörter nur fungieren , wenn die An-
schauung dieses Objects in die 'Erinnerung aufgenommen wor-
den ist ; der augenblicklichen Anschauung der Person , des
Berges u. s. w. steht die Bedeutung des Namens doch noch
ähnlich gegenüber , wie das allgemeine Wort dem einzelnen
Ding; um auf das jetzt sinnlich Gegenwärtige angewendet zu
werden, bedarf es immer noch der Erkenntniss der Identität
der gegenwärtigen Anschauung mit dem innerlich Vorgestell-
ten. Was den Eigennamen von dem allgemeinen Wort unter-
scheidet , ist nur das begleitende Bewusstsein , dass das ihm
entsprechende Wirkliche ein Einziges, und realiter immer das-
selbe sei.
*) In dieser Beziehung ist Milla Auseinandersetzung (liOgik I.Buch
2. Cap.) durchaus oberflächlich, wenn er die Adjectiva weis«, schwer*^
oder gar das Demonstrativ »dies« als Namen von Dingen bezeichnet.
Vgl. auch Paul, Princ. d. Sprachg. 2. Aufl. ö. 06 fl'.
50 I* !• nie Vorstellungen als Elemente des Urtheils. 56
Dieselbe Function, nur auf ein Einziges anwendbar zu
sein , haben endlich auch gewisse Relationswörter von allge-
meinem Gehalt, in deren Bedeutung aber die Beziehung auf
ein einziges Object eingeschlossen ist; so alle ächten Su-
perlative, die Ordinalzahlen u. s. w. Sofern aus dem jedes-
maligen Zusammenhange erst sich ergibt, was verglichen und
was gezählt wird, sind sie den Demonstrativen verwandt, die
ihr bestimmtes Object auch nur durch eine Relation aus-
drücken. Der erste Januar 1871 ist ein einziger Tag; ein
bestimmter aber nur unter Voraussetzung einer ganz be-
stimmten Zählung; für den russischen Kalender ein anderer
als für den unsrigen ; und die Bedeutung des Ausdrucks be-
ruht wieder auf der Vorstellung einer zunächst bloss gedach-
ten Reihe von Jahren und Tagen.
§. 8.
Vermöge ihrer eigenthümlichen Function sind die Wör-
ter der für die Vollendung des Urtheils unentbehrliche
Ausdruck der Prädicatsvorstellung, während der
Subjectsvorstellung, wo sie nicht selbst ein allgemein
Vorgestelltes ist, der sprachliche Ausdruck fehlen
k ann.
1. Aus den obigen Aasführungen über das Wesen der
Wörter folgt zunächst, dass genau zu unterscheiden ist, ob
ein Wort nur den von ihm unmittelbar bezeichneten Vor-
stellungsgehalt bedeutet, oder ob es dazu verwendet wird,
ein bestimmtes Einzelnes zu bezeichnen, das als solches durch
die Wortbedeutung noch nicht angezeigt ist , sondern nur
dieselbe in sich darstellt, und also mit dem Worte benannt
werden kann.
Darauf beruht das wesentlich verschiedene Verhältniss
der Wortbezeichnung zum Subject und Prädicat eines Urtheils.
Wo iiemlich eine Aussage nicht den Gehalt des Subjects-
wortes als solchen trifft , wie z. B. eine Definition, sondern
ein bestimmtes Einzelnes, da ist es durchaus nicht nothwen-
dig , dass die Subjectsvorstellung durch ein bedeutungsvolles
Wort bezeichnet werde oder bezeichnet werden könne. Es
55 § 8. Nothwendigkeit des Worts für das Prädicat. ßX
kann sprachlich ein blosses Demonstrativ erscheinen — dies
ist Eis, dies ist roth, das fällt; es kann dieses Demonstrativ
durch eine blosse Gebärde ersetzt, es kann ohne all das auch
bloss das Prädicat ausgesprochen werden , ohne dass darum
der innere Vorgang aufhörte, ein Urtheil zu sein, in welchem
etwas von etwas ausgesagt wird.
Dies tritt am klarsten heraus bei den Urtheilen, mit
welchen das Urtheilen des Menschen überhaupt beginnt , in
denen bestimmte sinnlich anschauliche Gegenstände wieder
erkannt und benannt werden. Wenn das Kind die Thiere
in seinem Bilderbuche benennt, indem es mit dem Finger
hinweisend ihre Namen ausspricht, urtheilt es; ebenso sind
Ausrufe, welche ein überraschender Anblick hervortreibt, —
der Vater ! Feuer ! die Kraniche des Ibycus ! vollgültige ür-
theile ; nur der sprachliche Ausdruck , nicht der innere Vor-
gang ist unvollständig*).
*) Herbart, Psychologie S. W IV. 169: Der Anblick geht voran,
die Vorstellung, die er unmittelbar gibt, weckt die frühere Vorstellung
welche mit jener verschmilzt ; die unmittelbare Wahrnehmung gibt
das Subject, die Verschmelzung ist das, was die Copula zu bezeichnen
hätte, die frühere, erwachende und mit jener ersten verschmelzende
Vorstellung nimmt die Stelle des Prädicats ein.
Paul (a. a. 0. S. 104) nimmt Sätze an, in denen sowohl für den
Sprechenden als den Hörenden das Ausgesprochene Subject, die Situa-
tion Prädicat ist. »Es sieht z. H. Jemand, dass ein Kind in Gefahr
kommt, so ruft er wohl der Person, welcher die Bewachung desselben
anvertraut ist, nur zu »das Kind«. Hiemit ist nur der Gegenstand
angezeigt, auf den die Aufmerksamkeit hingelenkt werden soll, also
das logische Subject, das Prädicat ergibt sich für die angeredete Per-
son aus dem, was sie sieht, wenn sie dieser Lenkung der Aufmerksam-
keit Folge leistet«. Allein hier ist, glaube ich, zweierlei zu unterschei-
den. Der Ausruf ist der Absicht nach ein Imperativ, keine Aus-
sage, und kann nur so verstanden werden; denn das von dem Rufenden
wirklich gefällte Urtheil »das Kind ist in Gefahr« kommt in den
Worten des Ausrufs gar nicht zur Geltung, höchstens in dem ängst-
lichen Tone desselben; aber es »soll die Aufmerksamkeit auf den ge-
nannten Gegenstand hingelenkt werden«. In dieser Absicht wird er
einfach genannt ; der volle Ausdruck des (»edankens würde also lau-
ten : Achte auf das Kind. Ks ist ein ähnlicher Unterschied, wie zwi-
schen dem Alarmruf »Feuer« und dem Commiindo »Feuer«. Jener ist
ein Urtheil , und Feuer ist Prädicat , dieser ist ein Imperativ — gebt
Feuer; Feuer ist für den zu ergänzenden Imperativ Object, nicht Sab-
62 h ^' I^i© Vorstellungen als Elemente des ürtheils.
1
56 1
2. Dagegen ist es dem Urtheile wesentlich sich im A u s-
sprechen des Prädicats zu vollenden. Es kann zwar
Fälle geben , in welchen z. B. ein bestimmtes Object wieder
erkannt wird , für welches uns das bezeichnende Wort fehlt,
und darum der innere Vorgang nicht ausgesprochen werden
kann ; aber wir betrachten eben darum denselben als mangel-
haft, als eine unreife Geburt, und als vollendetes Urtheil nur
das , in welchem das Prädicat mit der Wortbezeichnung er-
scheint. Und zwar ist es dem Prädicat wesentlich, dass die
zugehörige Vorstellung eben die Bedeutung des Wortes
ist, der mit dem Worte verbundene Vorstellungsgehalt als
solcher , der in unser Eigenthum übergegangen ist ; gleich-
gültig, ob diese Vorstellung eine allgemeine im gewöhnlichen
Sinn, oder die Vorstellung eines einzigen ist. »Dieser ist So- '
crates« ist so gut ein Urtheil als »Socrates ist ein Mensch«;
»der heutige Tag ist der 1. Januar 1871« so gut als »der heu-
tige Tag ist kalt«, obgleich weder »Socrates« noch »der 1. Ja-
nuar 1871« ihrem Inhalt nach allgemeine Vorstellungen sind*).
Es genügt, dass sie überhaupt Vorstellungen sind, die auf
Veranlassung des gesprochenen Worts und mit diesem repro-
duciert werden können.
ject, ebenso aber auch das »Kind« im obigen Beispiel. Mit dem blossen
Ausrufe »das Kind« kann ich Niemanden etwas anderes als Gegen-
stand meines und seines Glaubens und Fürwabrhal-
t ens mittheilen, als dass das von mir Gesehene oder Gemeinte das Kind
ist ; dann ist aber das Wort Prädicat. Ebenso wenn ich au.srufe : der
Schurke — ein Daniel, ein zweiter Daniel — so liegt darin das Urtheil,
dass der Gemeinte ein Schurke, ein zweiter Daniel ist ; und dieses be-
gründet die Entrüstung oder die Freude, welche sich im Tone des Aus-
rufs kund gibt.
*) Wenn Volkelt (Erfahrung und Denken S. 319) ausführt, in Sätzen
wie dies ist mein Vater, dies ist der Mond, meine das Prädicat die ge-
meinsamen Merkmale dessen, was ich als meinen Vater u. s. w. be-
zeichne, also nicht das Individuum als solches, so ist allerdings das
Verhältniss eines als Prädicat gebrauchten Eigennamens zu seinem
Subject (nach S. 09) ein ähnliches, wie das einer allgemeinen Vorstel-
lung zu dem darunter befassten, sofern (zumal bei veränderlichen Dingen)
der Eigenname nicht einen momentanen Zustand, sondern das in allen
Zuständen Identische meint, das weniger genau auch als Gemein-
sames bezeichnet werden kann; aber daraus folgt nicht, dass nicht das
Individuum als solches gemeint sei.
Zweiter Abschnitt.
Die einfachen Urtheile.
Wir verstellen unter » e i n f a c h e m TJ r t h e i 1 « ein solches,
in welchem das Subject als eine einheitliche, keine Vielheit
selbstständiger Objecte in sich befassende Vorstelhmg betrachtet
werden kann (also ein Singularis ist) , und von diesem eine
in Einem Acte vollendete Aussage gemacht wird. Unter den
einfachen TJrtheilen in diesem Sinne sind zwei Classen genau
zu unterscheiden : diejenigen in denen als Subject ein als ein-
zeln existierend Vorgestelltes auftritt (dies ist weiss), — er-
zählende Urtheile — und diejenigen, deren Subjectsvor-
stellung in der allgemeinen Bedeutung eines Worts besteht,
ohne dass damit von einem bestimmten Einzelnen etwas aus-
gesagt würde (Blut ist roth) — erklärende Urtheile.
I. Die erzählen den Urtheile.
§ 9.
Das einfachste und elementarste Urtheilen ist dasjenige, das
sich in dem Benennen einzelner Gegenstände der
Anschauung vollzieht. Die Subjectsvorstellung ist ein un-
mittelbar Gegebenes , in der Anschauung als Einheit aufge-
fasstes ; die Prädicatsvorstellung eine innerlich mit dem zuge-
hörigen Worte reproducierte Vorstellung; der Act des Urthei-
lens besteht zunächst darin , dass beides mitBewusst-
sein in Eins gesetzt wird (auvli-satg voy^lJLaxwv ü^mp sv
ÖVTWV, Aristot. de anima III, C. 430 a 27).
64 I. 2. Das einfache Urtheil. 58
1. Der innere Vorgang, der einem Satze wie »dies ist
Socrates — dies ist Schnee — dies ist Blut«, oder den sprach-
lich abgekürzten Rufen: »Feuer«, der »Storch« u. s. w. ent-
spricht, wo sie als Ausdruck unmittelbaren Erkennens auftre-
ten, ist einfach zu deuten, üer gegenwärtige Anblick erweckt
eine von früher her vorhandene mit dem Worte verbundene Vor-
stellung, und beide werden in Eins gesetzt. Das eben ange-
schaute ist seinem Inhalte nach Eins mit dem was ich in
meiner Vorstellung habe, ich bin mir dieser Einheit bewusst,
und dieses ßewusstsein ist es, welches ich im Satze aus-
spreche. Damit unterscheidet sich das Urtheil von ver-
wandten Vorgängen. Einmal von demjenigen, den man als un-
bewusste Verschmelzung bezeichnet — es soll hier nicht un-
tersucht werden , ob der Ausdruck treffend und ein wirk-
licher Vorgang damit richtig beschrieben ist — wo das
neue Bild ohne weiteres mit den älteren Vorstellungen so
sich verbinden soll, dass das Product dieser Verbindung nur
wieder dieselbe , höchstens lebhaftere Vorstellung wäre , die
schon früher da war, wo also jedes Unterscheiden und Aus-
einanderhalten des Neuen und Alten, des Gegenwärtigen und
Erinnerten fehlen würde. Dem gegenüber macht Herbart
mit Recht geltend, dass nur wo solche Verschmelzung aufge-
halten, beide Vorstellungen in der Schwebe sind , ein Urtheil
als bewusster Act möglich ist , und dass dieser Charakter
darum am vschärfsten hervortritt , wo eine Frage oder ein
Zweifel dazwischenkam ; während allerdings gewöhnlich die
Aufmerksamkeit von der Gegenwart vorzugsweise in Anspruch
genommen ist, und, zumal beim blossen Ausruf, der das Er-
kennen begleitet , nur der Laut verräth , dass die schon er-
worbene Vorstellung wirksam geworden ist*).
*) Stumpf Tonpsychologie Bd. I. S. 5 will von den oben beschrie-'
benen Benennungsurtheilen, bei denen das gegebene Object mit frühe-
ren bereits bekannten verglichen und mit dem Namen derselben be-
nannt werde, noch gewohnheits massige Urtheile unterschei-
den ; denn vielfach werde rein gewohnheitsmässig durch eine
gesehene, gehörte Erscheinung auch der entsprechende Name und mit
demselben zugleich das Urtheil >x ist roth, x ist der Ton a« im ße-
wusstsein reproduciert; »wobei also das früher wahrgenommene Object
gar nicht ins Bewusstsein kommt, geschweige denn mit dem
59 § 9. Benennungsurtheile. 65
Zum zweiten scheidet sich das Urtheil von der blossen
unwillkürlichen Reproduction eines früheren Bildes, das neben
das erste zu stehen käme, ohne mit ihm in Eins gesetzt zu
werden. Dies wäre der Fall, wo mir bei einem Feuer z. B. wohl
frühere Wahrnehmungen einfielen, aber in ihrer Einzelnheit
festgehalten nur eine Reihe ähnlicher Bilder böten, weil mit
jedem die unterscheidenden Nebenumstände mit reproduciert
würden, welche das Zusammengehen zur Einheit hindern. Nur wo
ein solches Hinderniss nicht eintritt, weil entweder alle Nebenum-
stände gleich oder der Inhalt der Vorstellung schon isoliert und
zur Allgemeinheit erhoben ist, kann die Vereinigung eintreten.
2. Wo dieses einfachste und unmittelbarste Urtheilen, das
Erkennen im ursprünglichen Sinne stattfindet , werden
beide Vorstellungen als ungetheilte, nicht mit Bewusstsein in
einzelne Elemente aufgelöste Ganze vorausgesetzt. Dadurch
unterscheidet sich die unmittelbare Ineinssetzung von dem
andern Falle, in welchem eine Reihe dazwischenliegender
Denkaete erst nöthig ist um Subject und Prädicat in Eins
gegenwärtigen verglichen wird». Ich vermag jedoch einen zureichen-
den Grund zu dieser Unterscheidung nicht zu finden. Einerseits han-
delt es sich in der Regel bei den Benennungsurtheilen , wie ich sie
fasse, gar nicht darum, dass ein gegenwärtiges Object mit früheren
Objecten in dem Sinne verglichen würde, daßs diese als gesonderte
einzelne vorgestellt und der Name derselben auf das neue übertragen
würde; sondern was von dem gegenwärtigen Objecte reproduciert wird, ist
nur die allgemeine mit dem Worte verknüpfte Vorstellung, und es be-
darf keiner ausdrücklichen Vergleichung, um ihrer Coincidenz mit dem
Gegenwärtigen bewusst zu werden. Andererseits ist es offenbar zu viel
gesagt, dass das früher wahrgenommene »gar nicht ins Bewusstsein
komme« — wie sollte sonst ein Erkennen stattfinden? Richtig ist nur,
dass es nicht nothwendig gesondert zum deutlichen Bewusstsein ge-
langt; der Process geht so rasch vor sich, dass ich nicht das Bewusst-
sein seiner einzelnen Schritte habe; wenn ich einem Bekannten be-
gegne, verblasst das Erinnerungsbild, das ich nöthig habe, um ihn zu
erkennen, gegenüber dem gegenwärtigen Anblick, aber es muss im Be-
wusstsein wirksam geworden sein. So dass es unmöglich wird, eine
Grenze zwischen den gewohnheitsmässigen und den nicht gewohnheits-
mässigen Urtheilen zu ziehen; zuzugeben ist nur, dass der im Wesent-
lichen überall gleiche Process da rascher vollzogen wird , wo wir es
mit bekannten und geläufigen, oft angewendeten Vorstellungen zu thun
haben.
S i gw a X t , Logik. I. 2. Auflage. 5
66 1» 2. Das einfache Urtheil. 59
zu setzen. Bezeichnet »Schnee« oder »Blut« einen natur-
wissenschaftlichen Begriff, dessen unterscheidende Merkmale
im Gedächtniss gegenwärtig sind , so wird nicht auf den
ersten Anblick geurtheilt, sondern es findet eine Untersuchung
des Objects nach seinen verschiedenen Eigenschaften statt,
um sich zu vergewissern, ob auch alle Merkmale des Begriffs
auf dasselbe passen , und erst auf Grund eines Schluss-
verfahrens wird das Object unter den Begriff gestellt, d. h.
ihm der ganze Complex von Eigenschaften zugesprochen, der
in dem Terminus Schnee oder Blut allgemeingültig fixiert
ist. Dieses Urtheil also ist ein vielfach vermitteltes; es
wiederholt sich in ihm mehrmals, was bei der Coincidenz
zweier Bilder auf einmal , durch einen nicht analysierbaren
Act, der ein Bild mit dem andern zusammenbringt, stattfindet.
Zwischen diesen beiden Endpunkten liegt eine ganze Stufen-
reihe von Vorstellungen , die sich mit den Prädicatswörtem
verbinden können, und dem entsprechend eine Stufenfolge
von Vermittlungen des Urtheils. Immer aber sagt dieses aus,
dass die Vorstellung des Prädicats mit der des Subjects so
übereinstimme, dass das Prädicat als Ganzes mit dem Subject
eins sei.
Man könnte auch in den häufigen Fällen ein Schlussver-
fahren sehen wollen, in denen die Prädicats Vorstellung mehr
enthält, als die erste Anschauung, welche das Urtheil hervor-
treibt, bieten kann. Sieht das Kind einen Apfel und benennt
ihn , so enthält die Prädicatsvorstellung die Essbarkeit und
den Geschmack des Apfels u. s. w. mit; und wenn geur-
theilt wird : dies ist ein Apfel , so könnte darin ein Schluss
aus dem Gesichtsbilde auf das Vorhandensein der übrigen
Eigenschaften gesucht werden. Allein die Association der
übrigen Eigenschaften mit dem Gesichtsbilde ist schon von
früheren Erfahrungen her eine so feste geworden, dass eine
bewusste Unterscheidung des blossen Gesichtsbildes von den
ül5rigen Eigenschaften gar nicht stattfindet; das Gesichtsbild
erweckt sofort die Erinnerung an die übrigen Eigenschaften,
und erst mit dieser bereicherten Anschauung tritt die Prädi-
catsvorstellung zusammen. Das Kind schliesst nicht: dies sieht
aus wie ein Apfel, also kann man es essen ; sondern mit dem
60 § 9. Benennungsurtheile. 67
Anblick erwacht die Lust, und beides zusammen reproduciert
die Vorstellung »Apfel« und führt die Benennung herbei.
Es bleibt also auch in solchen Fällen die einfache Coincidenz
der gegenwärtigen Anschauung und der erinnerten Vorstel-
lung, und sie sind von denjenigen zu unterscheiden, wo uns
erst über dem Namen nachträglich weitere Eigenschaften ein-
fallen.
3. Die vollkommene Coincidenz eines gegenwärtigen und
eines reproducierten Bildes findet nicht nur da statt, wo es
sich um das Wiedererkennen eines und desselben Gegenstandes
als solchen handelt, also zu dem Urtheil, welches die Vorstel-
lungen gleichsetzt, noch das Bewusstsein der realen Identität
der Dinge hinzuzutreten vermag, das an und für sich in dem
Urtheil noch nicht enthalten ist (vgl. S. 50); sondern sie
tritt auch überall da ein, wo ein Bewusstsein der Diifferenz
zwischen Subjects- und Prädicatsvorstellung sich nicht geltend
macht , also an dem Gegenstande eben das aufgefasst und
mit Bewusstsein angeschaut wird, was mit der Prädicatsvor-
stellung sich deckt. Dies wird überall da der Fall sein, wo
einzelne gleichartige Erscheinungen nur bei besonderer Auf-
merksamkeit zu unterscheiden wären (dies ist Schnee — dies
ist ein Schaf — dies ist eine Pappel u. s. w.) oder wo die
Auffassung eines Gegenstands durch die schon vorhandene
Vorstellung bestimmt ist, das was von ihm zum Bewusstsein
kommt in der Prädicatsvorstellung sich erschöpft — wobei
die Prädicatsvorstellung selbst nicht absolut starr ist, sondern
unbewusst häufig durch das eben gegenwärtige Subject ver-
schoben wird.
4. An diese • Fälle schliessen sich andere an , in denen
zwar die Differenz im Bewusstsein ist, aber nicht zu einem
ausdrücklichen Urtheile führt. Das sind theils die Urtheile,
die sich mit einer Vergleichung, einer Aehnlichkeit begnügen
und die häufig — wie bei phantasievoller oder witziger Ver-
gleichung — ganz die äussere Form der Benennungsurtheile
annehmen, wie auch die meisten Metaphern der Sprache auf
diesem Processe beruhen ; theils die Urtheile , in denen die
Subjectsvorstellung reicher und bestimmter ist als die Prä-
dicatsvorstellung, aber nur dasjenige in derselben heraustritt,
68 I. 1- Das einfache Urtheil. 61
was sich mit der Pradicatsvorstellung deckt; solche nemlich,
in denen das Prädicat eine unbestimmtere und allgemeinere
Vorstellung ist , mit dem Bewusstsein , dass sie das Subject
nicht erschöpft. Dies ist besonders deutlich da, wo ich von
einem Gegenstande den specielleren Namen der Vorstellung,
die sich mit ihm deckt, nicht kenne, und darum genöthigt bin,
mich mit dem allgemeineren zu begnügen (dies ist ein Vogel,
ein Baum, eine Flüssigkeit) oder wo der speciellere Name mir
nicht so geläufig ist, als der viel häufiger verwendete allge-
meine; denn an und für sich verknüpft sich im natürlichen
Verlaufe des Denkens mit jedem Bilde am leichtesten die ihm
ähnlichste und bestimmteste Pradicatsvorstellung. Das Inte-
resse , unter möglichst allgemeine Vorstellungen zu subsu-
mieren , gehört erst dem wissenschaftlichen Denken an ; das
gewöhnliche Denken, das sich mit dem Einzelnen beschäftigt,
pflegt sich an die concretesten Vorstellungen zu halten, die
ihm zu Gebote stehen. (Logisch betrachtet, müssen Vorstel-
lungen , welche sprachlich durch attributive nähere Bestim-
mung eines Substantivs ausgedrückt werden , wie schwarzes
Pferd, rundes Blatt u. s. w. , ebenso als einheitliche gelten,
wie diejenigen die zu bezeichnen Ein Wort genügt. Wenn
sie als Prädicate auftreten, so ist die Zusammenfassung in
Ein Ganzes fertig.)
5. Während nun der Natur der Sache nach überall zu-
erst der einheitliche Inhalt der Vorstellungen in Be-
tracht kommt , wenn benannt wird , so ist die Pradicatsvor-
stellung im weiteren Verlaufe des Oenkens überall da mit
der Vorstellung einer Vielheit verbunden, wo entweder
die numerische Allgemeinheit vieler der Erinnerung vor-
schwebender Individuen, oder die Reihe abgestufter Vorstel-
lungen eintritt, welche die Bedeutung eines Wortes ausmachen.
Wo ein Wort ein scharf abgegrenztes individuelles Bild be-
zeichnet, entstehen mit ihm zugleich eine Reihe individueller
Bilder, denen sich der neue Gegenstand als ein weiteres an-
reiht (dies spricht sich im Deutschen in der Form »das ist ein
Baum« u. s. w. aus); wo seine Bedeutung diese individuelle
Bestimmtheit nicht hat, tritt die Allgemeinheit des Prädicats
darin zu Tage, dass neben der eben besonders hervortretenden
62 § 9. Benennungsurtheile. 69
Vorstellung die benachbarten ins Bewusstsein treten (dies ist
Papier, dies ist Wein u. s. f., wobei mit Papier, Wein, eine
grössere ode? kleinere Reihe abgestufter Differenzen durch-
laufen wird). Insofern ist die Bemerkung Herbarts (Einl.
S. W. I, 92) richtig , dass der Begriff, welcher zum Prädicate
diene, als solcher allemal in beschränktem Sinne gedacht
werde, nemlich nur insofern er an das bestimmte Subject
kann angeknüpft werden ; von den vielerlei Vorstellungen, die
das W^ort zusammenfasst, tritt eine vorzugsweise heraus, welche
sich mit dem Subjecte deckt.
6, Diese Benennungsurtheile *) sind überall da schon vor-
ausgegangen , wo das bestimmte Object , über welches geur-
theilt wird, nicht bloss durch ein Demonstrativ, sondern durch
ein bedeutungsvolles Wort bezeichnet wird. Diese Blume ist
eine Rose — schliesst ein doppeltes Benennungsurtheil in sich :
erst die Benennung durch das unbestimmtere Blume, welche
vorangegangen und deren Resultat nur in dem sprachlichen
Ausdruck des Subjects niedergelegt ist; dann die genauere
Benennung, welche den Inhalt des Urtheils selbst ausmacht.
7. Die Gewohnheit , Eigenschaften und Vorgänge auf
Dinge zu beziehen, ist so stark, dass Benennungsurtheile in
Beziehung auf jene, bei denen nicht zugleich ein Urtheil der
Eigenschaft oder Thätigkeit ausgesprochen würde, verhältniss-
*) Ich wähle diesen Ausdruck, um eine gemeinschaftliche Bezeich-
nung für die Aussagen zu haben, welche sonst theils als Subsumtions-
urtheile (wo das Prädicat eine allgemeinere Vorstellung ist) theils als
Identitätsurtheile ^wo das Prädicat dem Subject vollkommen congruent
ist) aufgeführt werden. Zwischen beiden besteht in den einfachsten
Fällen keine bestimmte Grenze; und der Vorgang, das Bewusstsein
der Einheit des Gegebenen als Ganzen mit einer von früher bekannten
Vorstellung, ist in beiden Fällen im Wesentlichen derselbe. Wenn
Schuppe (Erk. Logik S. 375 ff.) in seinen sachlich eingehenden und zu-
treffenden Ausführungen denselben als reine Identificierung be-
zeichnet, so möchte ich diesen Ausdruck doch vermeiden, da es sich meist
nicht um absolute Identität der Prädicats Vorstellung mit der Subjects-
vorstellung handelt; ebenso vermeide ich auch den Ausdruck Subsum-
tion, der, wenn er in strengem Sinne angewendet werden soll, nicht
die mit den populären Wörtern verbundene Allgemeinvorstellung, son-
dern einen logisch fixierten Gattungsbegriff voraussetzt, unter den ein
Einzelnes oder ein apeciellerer Begriff gestellt wird.
70 I. 2. Das einfache Urtheil.
I
weise selten vorkommen. Doch vermögen wir, so gut wir
Abstracta bilden, mit unserem ,das' und ,dies' auch bloss die
Eigenschaft oder Thätigkeit als solche zu bezeichnen. Das
ist nicht Gehen, sondern Rennen — das ist dunkelblau, nicht
schwarz — meint nicht Dinge, sondern die Farbe, die Thä-
tigkeit für sich ; obgleich die Tendenz immer vorhanden ist,
von der Eigenschaft oder Thätigkeit zu dem zugehörigen
Dinge weiter zu gehen. Vergl. § 11.
§. 10.
Wo das Prädicat eines Urtheils über ein bestimmtes
einzelnes Ding ein Verb oder A d j e c t i v ist , enthält das
Urtheil eine doppelte Synthese: 1. Diejenige Synthese,
welche in der Subjectsvorstellung selbst die Einheit des
Dings und seiner Thätigkeit, des Dinges und
seiner Eigenschaft setzt; 2. Diejenige Synthese,
welche die am Subject vorgestellte Thätigkeit od er
Eigenschaft mit der durch das Prädicatswort bezeichneten
Thätigkeit oder Eigenschaft in Eins setzt, d. h. mit dem
Prädicats Worte benennt.
1. So oft wir ein Urtheil aussprechen wie: diese Wolke
ist roth — der Ofen ist heiss — das Eisen glüht — das
Pferd läuft — , drücken wir einmal die Einheit eines Subjects
mit seiner Thätigkeit oder Eigenschaft aus, welche durch die
Wortformen angedeutet ist, und dann benennen wir die wahr-
genommene Eigenschaft oder Thätigkeit, indem wir sie mit
der allgemeinen Vorstellung roth, heiss, glühen, laufen. Eins
setzen. Was der Wahrnehmung gegeben ist, ist die rothe
Wolke, der heisse Ofen , das glühende Eisen , das laufende
Pferd; das zunächst ungeschiedene Ganze unserer Wahrneh-
mung zerlegen wir aber, indem wir von der Vorstellung des Sub-
j ects die Eigenschaft und Thätigkeit aussondernd unterscheiden.
Dass das Gesehene eine Wolke ist, haben wir an der Form
und am Ort erkannt; und diese Erkenntniss drückt sich in
der Bezeichnung durch das bestimmte Subjects wort Wolke
aus; ihre jetzige Farbe fällt uns auf und löst sich darum
63 § 10. Eigenschafts- und Thätigkeitsurtheile. 71
leicht aus dem Ganzen los. Diese Farbe ist es dann, die
wir mit roth benennen, und der Wolke als ibre Eigenschaft
zusprechen. Was dort läuft erkennen wir als ein Pferd; es
ist -uns in der Bewegung des Laufens gegeben , aber wir un-
terscheiden diesen Vorgang von dem Subjecte, das wir sonst
auch stehend kennen ; und diese bestimmte Bewegung ist es,
die wir als Laufen ausdrücken. In dem Gesammtbilde haben
wir also zwei Bestandtheile unterschieden, das Ding und seine
Thätigkeit ; in jedem derselben finden wir eine bekannte Vor-
stellung wieder; indem wir diese beiden Elemente in unserer
Aussage vereinigen, drücken wir eben das Gesehene aus, als
Einheit eines Dings mit seiner Eigenschaft oder Thätigkeit. Die
Voraussetzung des Urtheils ist also eine Analyse ; das Urtheil
selbst vollzieht die Synthese der verschiedenen Elemente*).
Durch diese doppelte Synthese unterscheiden sich die Ur-
theile, welche Eigenschaften und Thätigkeiten aussagen, von
den einfachen Benennungsurtheilen ; in diesen wird das Sub-
ject aJs ungetheiltes Ganzes mit dem Prädicat Eins gesetzt.
In Beziehung auf das Verhältniss der Allgemeinheit der
Prädicatsvorstellung zu dem correspondierenden Elemente der
Subjects Vorstellung gilt dasselbe, was von den Vorstellungen
der Dinge beziehungsweise der Allgemeinheit der Substantiva
gesagt wurde; von der vollständigen Deckung beider für das
Bewusstsein des Urtheilenden (z. B. bei scharf charakterisier-
ten Farben — diese Flechte ist schwefelgelb) gibt es eine
Stufenreihe von Verhältnissen bis zu den Fällen, in denen
das Prädicatswort wegen seiner Unbestimmtheit die Eigen-
schaft oder Thätigkeit des Subjects nicht nach ihrer Be-
stimmtheit zu bezeichnen vermag, sondern erst durch unter-
scheidende Determination vermittelst der Adverbia etc. zur
Congruenz mit der dem Sabject anhaftenden Vorstellung ge-
bracht werden könnte.
2. Die Auffassung des Paragraphen tritt der Ansicht
gegenüber, welche auch solche Urtheile unter den Begriff
einer einfachen Subsumtion des Subjects unter
das allgemeinere Prädicat zwängen will. Aber das Prä-
*) Vgl. Wundt, Logik I, 13G ff. und meine Ausführungen, Viertel-
jahrsschr. für wiss. Fhiloj. 1880, IV, 458 tf.
72 Ii 2. Das einfache Urtheil. 64
dicat, das eine Eigenschaft ausdrückt, ist immer nur das
Allgemeine zu der Eigenschaft des Subjects, nicht
zu diesem selbst ; das Prädicat das eine Thätigkeit aus-
drückt, nur das Allgemeine zu seiner Thätigkeit;
Eigenschaft und Thätigkeit müssen am Subject unterschieden
sein, wenn sie mit einem adjectivischen oder verbalen Prädi-
cate belegt werden sollen. Die einfache Benennung ist die
Antwort auf die Frage: was ist dies? Damit aber mit einem
Adjectiv oder Verb geantwortet werden könne, muss gefragt
werden wie beschaffen ist dies ? was thut dies ? Die Unter-
scheidung des Thuns und der Eigenschaft von dem Ding ist
also dem Urtheile schon vorausgesetzt.
§ 11.
Die Bewegung des Denkens in den Urtheilen, welche die
Eigenschaft oder Action eines Dinges ausdrücken, geht t h e i 1 s
so vor sich, dass das Ding (das grammatische Subject), theils
so, dass die Eigenschaft oder Thätigkeit (das gram-
matische Prädicat) zuerst im Bewusstsein gegenwärtig ist. In
jenem Falle wird die Eigenschaft oder Thätigkeit zuerst als
Bestandtheil einer gegebenen Gesammtvorstellung unterschie-
den und dann benannt, in diesem zuerst die Eigenschaft oder
Thätigkeit für sich wahrgenommen und benannt und dann
auf ein Ding bezogen.
Der letztere Act — die Beziehung auf ein Ding — un-
terbleibt unter bestimmten Bedingungen ; daraus erklären sich
die sogenannten Impersonalien.
Im eigentlichen und strengen Sinn impersonale Sätze sind
übrigens nur diejenigen, bei welchen der Gedanke an ein
Dingsubject ausgeschlossen ist, nicht diejenigen, die
ein Dingsubject zwar meinen, dasselbe aber nur unbestimmt
und bloss andeutend ausdrücken *).
*) Vergl. zu diesem § F. Miklosich, Subjectlose Sätze, 2. Aufl. Wien
1883, W. Schuppe in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach-
wissensch. Bd. XVI, 3. 1886, meine Abhandlung: die Impersonalien,
Freiburg 1888, und Steinthals Recension z, f. Völkerps. XVIIl, 170.
65 § 11- Impersonalien und verwandte Urtheilsformen. 73
1. Wenn die Aussage, welche einem Ding eine Eigen-
schaft oder Thätigkeit zuspricht, von der unmittelbaren Wahr-
nehmung ausgeht, so ist ein Doppeltes möglich : entweder
die Wahrnehmung gibt mir von Anfang an das Ding mit
seiner Action, seinem Zustand, seiner Eigenschaft, so dass ich
diese Gesammtvorstellung analysiere und daraus mein Urtheil
bilde — das Blatt ist welk , das Eisen glüht , der Ballon
steigt; oder die Wahrnehmung gibt mir zuerst nur dasjenige
Element, welches durch das Adjectiv oder Verb ausgedrückt
wird, eine Farbe, ein Leuchten, eine Bewegung, und erst her-
nach , durch einen zweiten Act , erkenne ich das bestimmte
Subject der Eigenschaft oder Thätigkeit , und vermag es zu
nennen ; da läuft — ein Hase, dort fliegt — ein welkes Blatt,
dort glänzt — der Rhein u. s. f.
Im letzteren Falle wird von den beiden Synthesen, welche
in diesen ürtheilen enthalten sind, zuerst diejenige vollzogen,
welche die gegebene Erscheinung des Leuchtens, Glänzens, der
Bewegung u. s. f. benennt, und erst als zweites tritt die
Beziehung der Eigenschaft oder Action auf das zugehörige
Ding hinzu. In solchen Fällen wird auch die Sprache natur-
gemäss mit demjenigen beginnen, was zuerst im Bewusstsein
gegenwärtig ist, mit dem Adjectiv oder Verb; die Gewohn-
heit des Hebräischen, das Prädicat voranzustellen, ist der un-
mittelbare Ausdruck eines überwiegend in sinnlicher Wahrneh-
mung sich bewegenden Denkens, und in dem Masse , als die
einzelnen Sprachen unmittelbarer und ungekünstelter Ausdruck
der lebendigen Bewegung der Vorstellungen geblieben sind,
haben sie sich auch die Freiheit bewahrt, bald mit dem Prä-
dicat bald mit dem Subject zu beginnen; am weitesten von
dieser ursprünglichen Lebendigkeit hat sich das Französische
entfernt, das die Wortstellung einseitig nach der Kategorie
der Wörter bestimmt *).
*) Man könnte die Ansicht durchführen wollen, dass dasjenige, was
zuerst ins Bewusstsein tritt, immer als das logische Subject betrachtet
werden müsse, weil es der gegebene Anknüpfungspunkt für ein weiteres
Element sei. Allein es wäre doch misslich , allein auf die zufällige
Priorität in der individuellen Folge der einzelnen Elemente des Ur-
theils den Unterschied von 8iibject und Prädicat z\i gründen, statt auf
den Inhalt der Vorstellungen selbst. In dem Verhältniss der Vorstel-
74 I» 2. Das einfache ürtheil. 65
2. Die beiden Acte, die Benennung einer wahrgenom-
menen Eigenschaft oder Thätigkeit, und die Beziehung der-
selben auf das zugehörige Ding, treten noch weiter und deut-
licher auseinander , wo in die unmittelbare Wahrnehmung
überhaupt nur ein Eindruck fällt, der nach sonstiger Analogie
durch ein Verb oder Adjectiv bezeichnet wird, und das zuge-
hörige Ding nur durch Association auf Grund früherer Erfah-
rung hinzugedacht wird. Dies findet besonders bei Gehörs-
und Geruchsempfindungen statt. Dass ich Klingen oder Rie-
chen von einem sichtbaren und tastbaren Ding aussagen kann,
ist ja überhaupt zuletzt nur durch eine Combination möglich,
durch welche die Empfindung des Ohrs oder der Nase auf
dasselbe Object bezogen wird, das sich zugleich meinem Auge
und meiner tastenden Hand kund gibt ; diese Combination,
deren Zustandekommen wir hier nicht weiter untersuchen, ist
aber in den gewöhnlichen Fällen so eingeübt, wir kennen,
wie beim Schreien und Sprechen, dem Klopfen eines Hammers,
dem Stampfen des Fusses u. s. f. die sichtbaren Zeichen der
Hervorbringung des Lautes so genau, dass wir unmittelbar
das Tönen als Thätigkeit bestimmter sichtbarer Dinge wahr-
zunehmen glauben. Wo aber ein Schall unser Ohr trifft,
ohne dass wir das ihn erzeugende Ding sehen können, darauss
dieses hinzugedacht werden; unser Urtheil erscheint nicht
als Folge der Analyse eines gegebenen Complexes, wie wenn
lungen, die wir mit Verben und Adjectiven einerseits, mit Substantiven
andrerseits bezeichnen , liegt mit Nothwendigkeit der Gedanke, dass
das in der Verbalform ausgedrückte objectiv das vom Substantiv be-
zeichnete zu seiner Grundlage und Voraussetzung habe; was wir als
Bewegung u. s. f. auffassen, denken wir von vornherein nach sonstiger
Analogie als etwas Unselbstständiges, das ein Ding voraussetzt und die
Beziehung auf ein solches fordert ; in der Wahl der ad jecti vischen oder
verbalen Form liegt schon die Hinweisung auf ein Subject einge-
schlossen, als dessen Bestimmungen Verb und Adjectiv zu denken sind.
Die Grammatik hat darum Recht, das Substantiv als Subject auch
dann festzuhalten, wenn in der psychologischen Reihenfolge der Ver-
balbegriff zuerst zum bestimmten Bewusstsein kommt; es widerspricht
den Grundvoraussetzungen unseres Denkens, ein Ding von einer Eigen-
schaft oder Thätigkeit zu prädicieren. Inwiefern diese Regel schein-
bare Ausnahmen erleidet, wird später zur Sprache kommen.
65 § 11« Impersonalien und verwandte ürtheilsformen. 75
ich sage : das Blatt ist gelb, sondern als Folge einer Synthese,
die zu dem allein gegebenen Laut erst den Gedanken des zu-
gehörigen Dings hinzubringt. In sehr vielen Fällen ist diese
Association eine vollkommen leichte und sichere, und wir sind
ihrer kaum bewusst ; höre ich meinen Hund vor der Thüre
bellen , so ist mit dem gehörten Laute auch sofort die be-
kannte Vorstellung des Hundes da, ich stelle ihn in der Thä-
tigkeit des Bellens vor, und mein Urtheil »der Hund bellt«
kann selbst als Analyse dieser durch Association ergänzten
Vorstellung des bellenden Hundes betrachtet v^erden. Anders
aber , wenn die Association nicht sicher ist, wenn ich unge-
wohnte oder mangelhaft charakterisierte Laute höre, wie den
Schrei eines unbekannten Thieres im Walde; nun tritt die
Frage dazwischen, was schreit ? und ich vermag kein bestimm-
tes Bild zu ergänzen. Dass der Laut von einem Ding ausgeht,
ist nach sonstiger Analogie sicher; aber ich kann keine be-
stimmte Vorstellung gewinnen, die Synthese, die den Laut auf
ein Ding bezieht , bleibt unvollendet , und das letztere kann
nur mit einem ganz unbestimmten , Etwas' bezeichnet werden.
Es hängt damit zusammen, dass die gehörten Laute uns
leicht wie selbstständige Objecte erscheinen , indem von den
sie erzeugenden Dingen abstrahiert wird; indem sie in der
Zeit kürzer oder länger dauern und sich abgrenzen, werden sie
als abgeschlossene Erscheinungen aufgefasst, und Substantive
wie Donnerschlag, Schuss, Pfiff, Ruf u. s. f. sind in der Schwebe
zwischen den Abstr actis, die auf ein Ding hinweisen, und den
concreten Substantiven, die selbstständige Objecte bezeichnen,
und von denen ihrerseits wieder Verba prädiciert werden —
ein Ruf ertönt u. s. f., wobei die Beziehung auf den Rufen-
den unterbleibt. Dasselbe findet auch im Gebiete anderer
Sinne statt; Kälte und Wärme sind einerseits Bezeichnungen
der Eigenschaft eines Dings, andrerseits erscheinen sie wie
selbstständige Wesen, bei denen die Frage nach dem Subjecte,
dem sie zukommen, im Hintergrunde bleibt. Auch in diesen
Fällen wird also die Synthese, welche zu jeder zunächst ad-
jectivisch oder verbal ausdrückbaren Sinnesempfindung ein
Ding hinzudenkt , gar nicht oder wenigstens nicht ausdrück-
lich vollzogen.
76 - 1, 2. Das einfache Urtheil.
3. Die Einsicht, dass in allen Sätzen, welche Actionenj
oder Eigenschaften einem Dingsubjecte beilegen, eine doppelte
Synthese stattfindet, bietet auch den Schlüssel zu der rich-
tigen Lösung der schwierigen und vielverhandelten Frage nach
der logischen Natur der sogenannten Impersonalien oder
genauer der im personalen Sätze.
Unter den Aussagen, welche ein Prädicat — ein einfaches
Verbum oder das mit einem Adjectiv oder Substantiv verbun-
dene Verbum Sein — ohne ein ausdrücklich und bestimmt
bezeichnetes Subject enthalten, sind vor allem zwei Classen
zu unterscheiden, die ächten und die nur scheinbaren
Impersonalien. Aechte Impersonalien sind nur solche,
bei denen der Gedanke an ein Ding, dem das Prädicat zu-
käme, ganz wegfällt und die Frage nach einem solchen gar
keinen Sinn hat ; ihnen stehen diejenigen Redewendungen ge-
genüber, die zwar ein Dingsubject nicht nennen, aber ein
solches wenigstens meinen, wenn es auch nur unbestimmt vor-
gestellt und nur durch das Pronomen des Neutrums, bezieh-
ungsweise die Flexionsendung bezeichnet wird. Mich hungert,
mich dürstet, lässt die Frage gar nicht zu, was mich hungert
oder dürstet, ebensowenig als zu pudet oder poenitet ein Sub-
stantiv als Subject ergänzt werden kann. Sage ich aber: es
fängt an, jetzt geht's los , es ist aus , es ist zu Ende , so
meine ich immer etwas bestimmtes, eine erwartete oder im
Gange befindliche Reihe von Ereignissen, ein Schauspiel, eine
Musikaufführung, einen Kampf oder dergl., und von dem Hö-
renden wird vorausgesetzt, dass seine Aufmerksamkeit auf das-
selbe gerichtet ist, dass also eine genauere Bezeichnung nicht
nöthig ist. »Es« ist also wirkliches Pronomen, das nur der
Kürze wegen gewählt wird, weil die ausdrückliche Bezeich-
nung des Gemeinten überflüssig, oder auch wegen der Be-
schaffenheit des Gemeinten zu umständlich ist. Ebenso wenn
ich sage: es ist draussen glatt, staubig, nass u. s. w., meine
ich die Wege; wegen der unbestimmten Ausdehnung dessen,
was glatt oder nass ist , wäre es schwierig ein bestimmtes
Subject in Worten zu nennen , andererseits sind durch die
Natur der Prädicate schon die Subjecte, denen sie zukommen,
64 § !!• Impersonalien und verwandte Urtbeilsformeli. 77
hinlänglich bestimmt angedeutet ; es ist schattig, es ist voll,
kann nur einen Raum, es thaut nur Schnee und Eis meinen.
Allerdings findet ein unmerklicher Uebergang von der
einen Classe zur andern statt, und der blossen grammatischen
Form lässt sich nicht ansehen , ob das Pronomen »es« oder
die Personalendung der alten Sprachen noch ein Dingsubject
andeutet von dem das Prädicat gilt, oder nicht ; derselbe sprach-
liche Ausdruck kann bald den einen bald den andern Sinn
haben. Daraus erklärt sich, dass die beiden Classen von so-
genannten Impersonalien, die*doch an den Enden der Reihe
bestimmt unterschieden sind, vielfach vermischt wurden, und
dass man glaubte, für alle impersonalen Wendungen ein Sub-
ject im Sinne eines Dings finden zu müssen, dem das Prädi-
cat als seine Eigenschaft oder Thätigkeit zukäme, und als
solches Subject zuletzt nur die unbestimmt vorgestellte Tota-
lität des Seienden überhaupt finden konnte, an die doch Nie-
mand denkt, wenn er eine einzelne Wahrnehmung erzählt.
Wo acht impersonale Sätze dazu dienen , etwas auszu-
drücken , was der unmittelbaren äusseren Wahrnehmung
zugänglich ist — es donnert, es wetterleuchtet, da ist der
Ausgangspunkt ein einfacher sinnlicher Eindruck, zu dem weder
die Wahrnehmung selbst noch die Erinnerung ein zugehöriges
Subject gibt , wie es der Fall wäre , wenn ich eine Rakete
steigen sähe oder einen Wagen über das Pflaster rasseln hörte;
an den allein gegebenen Gehöreindruck , die Gesichtserschei-
nung , knüpft sich als nächster Act die Benennung, die
Einssetzung des Gegenwärtigen mit einer bekannten Vorstel-
lung. Diese Benennung könnte mittels flexionsloser onoma-
topoietischer Wörter geschehen, welche eben nur die Beson-
derheit des Eindrucks widergeben, und ebenso durch Substan-
tive (das ist Donner, das ist Wetterleuchten), welche in ihrer
Schwebe zwischen Concretum und Abstractum unentschieden
lassen, in welcher Richtung das Denken den Vorgang weiter-
hin auffassen will. Die Sprache bietet aber nach sonstiger
Analogie für den zeitlichen Vorgang Verba, und die gegen-
wärtige Wahrnehmung wird mittels der gewohnten Flexion aus-
gedrückt — mit um so mehr Recht, als die Personalendung der
dritten Person gewiss ursprünglich ein Demonstrativ war, und
7Ö I, 2. Bas einfache tJrtheil. 64
donnert soviel ist als »Donnern das«. Ein hinzutretendes Sub-
stantiv würde das so Angedeutete interpretieren und näher
als das donnernde Ding bestimmen ; ist aber diese Beziehung,
auf welche das Verb hinweist, nicht wirklich auszuführen, so
bleibt als Subject der Aussage nur der Eindruck selbst, und
die Endung kann allein auf den gegenwärtigen Eindruck selbst
hinweisen. Die Andeutung eines Dingsubjects, die in dem Pro-
nomen der neueren Sprachen liegt, ist dann leere gewohn-
heits massige Form ; man kann nicht fragen : was wetter-
leuchtet, und antworten »es« im Sinne eines wenn auch unbe-
stimmt vorstellbaren Dings; das Impersonale reicht nicht weiter,
als die eben gegenwärtige Erscheinung zu benennen ; das Sub-
ject ist nichts als die einzelne Lichterscheinung selbst.
Ganz deutlich wird diese Beschränkung dann, wenn das
zugehörige Ding, das leuchtet oder tönt, ganz wohl bekannt
ist, aber als selbstverständlich keinen Ausdruck in der Sprache
findet, weil das uns Wichtige nur das unmittelbar Gesehene
oder Gehörte ist. Es läutet, es pfeift, es klopft sagen wir,
wenn gar nicht zweifelhaft ist, von welcherlei Ursache die
Laute kommen. Das Wichtige aber ist das gehörte Zeichen
selbst und seine Bedeutung; wer es gibt, soll gar nicht ausge-
drückt werden. Ebenso legt »es brennt« Gewicht darauf,
dass ein Feuer ausgebrochen ist ; dass etwas brennt, ist selbst-
verständlich, aber nicht dieses Brennende ist das verschwiegene
Subject des Verbums, sondern nur der wahrgenommene Brand
selbst.
Unzweifelhaft ist vollends diese Beschränkung der Aus-
sage auf den wahrgenommenen oder empfundenen Zustand bei
den zahlreichen Impersonalien, welche subjective Gefühlszu-
stände ausdrücken. Mich hungert, dürstet, mir ist heiss, mir
schwindelt, ekelt, graut u. s. w. lassen schlechterdings keine
Beziehung dieser Verba auf ein Subject zu, dessen Thätig-
keit sie wären; was gegeben ist, besteht allein in dem gegen-
wärtigen Gefühl selbst, das in sich keine Hindeutung auf ein
dasselbe erregendes Ding enthält.
Nach anderer Seite erscheinen Aussagen, die eine wahr-
genommene Thätigkeit ohne ausdrückliche Beziehung auf das
Thätige ausdrücken, in der passiven Form: es wird gespielt,
65 §. 11. Impersonalien und verwandte Ürtheilsformen, 7Ö
u. s. f. ; ancli hier findet nur eine Benennung des eben wahr-
genommenen Vorgangs statt, ohne dass zu der Bezeichnung
des Subjects fortgeschritten würde, an dem er stattfindet.
Für weitere Beispiele darf ich auf meine oben erwähnte Ab-
handlung verweisen.
Diese Trennung der benennenden Synthese von der an-
dern, welche die benannte Erscheinung einem Dingsubjecte zu-
weist, ist schon durch die Unterscheidung der Wortformen des
Substantivs, Adjectivs und Verbs vorbereitet und nahe gelegt;
so gut wir abstracte Substantiva aus Verben und Adjectiven
bilden, die das als ein selbstst'ändig denkbares hinstellen, was
gewöhnlich nur als abhängig von einem Ding erscheint, so
gut die gleichfalls unpersönlichen Infinitive : ich höre sprechen,
läuten u. s. w. verständlich sind, so gut ist eine Aussage
möglich, deren logisches Subject nur das gegenwärtig wahr-
genommene Geschehen, der gegenwärtig wahrgenommene Zu-
stand ist.
»Subjectlos«- sind diese Sätze nur in dem engeren Sinne,
dass ein Dingsubject fehlt; aber sie bilden keine Ausnahme
von der allgemeinen Natur des Satzes, der ein ürtheil aus-
spricht ; sie enthalten die Synthese einer allgemeinen bekannten
Vorstellung mit einer gegenwärtigen Erscheinung, und diese
ist es, welche das Subject bildet, und welche von der Perso-
nalendung mit ihrem ursprünglich demonstrativen Sinne ge-
meint ist.
Eben darum aber, weil sie ein Gregenwärtiges benennen,
enthalten solche Sätze allerdings implicite zugleich die Aus-
sage der Wirklichkeit des benannten Vorgangs, weil das ein-
zelne Wahrgenommene unmittelbar zugleich als ein Wirkliches
vorausgesetzt wird. Darum sind sie aber nicht Existential-
urtheile im gewöhnlichen Sinn; denn »es rauscht« wil) nicht
von dem Rauschen das Prädicat Wirklichsein, sondern von
einem Wirklichen das Prädicat Rauschen aussagen ; die Be-
nennung des gegenwärtigen Eindrucks ist der fundamentale
Act, ohne welchen der Satz als Ausdruck gegenwärtiger Wahr-
nehmung gar nicht entstehen könnte. Wer sagt »es blitzt,
es rauscht«, muss das Leuchten am Himmel gesehen und als
Blitzen erkannt, muss eine Gehörempfindung gehabt und sie
80 1» 2. Das einfache Urtheil.
als Rauschen benannt haben ; er sagt aber auch direct nicht
mehr, als dass das Gesehene Blitzen, das Gehörte Rauschen
sei. Für den Hörenden allerdings vollzieht sich derselbe Pro-
cess, der bei einem Existentialurtheil stattfindet ; er erhält zu-
erst durch das Wort die allgemeine Vorstellung des Blitzens,
durch die Flexionsforra desselben die Aufforderung, sich das
Blitzen als ein einzelnes, gegenwärtiges vorzustellen ; er muss
sich zu dem allgemeinen Wort die entsprechende einzelne Er-
scheinung hinzudenken; insofern ist die von dem fertigen
Satze ausgehende, grammatisch erklärende Betrachtung berech-
tigt, diese Seite hervorzuheben, wonach das Urtheil die Wirk-
lichkeit des Blitzens behaupte. Die Behauptung der Existenz
tritt auch für den Sprechenden in den von der ursprünglichen
Form abgeleiteten Sätzen in den Vordergrund, in welchen aus
der Erinnerung oder fremder Mittheilung berichtet wird, ebenso
im Futurum und in allgemeinen Sätzen — in den Alpen regnet
es häufig meint: findet Regnen häufig statt; die üoppelseitigkeit
der ursprünglichen Form ermöglicht diese Verwendung.
§. 12.
Die Urtheile, welche eine Relation von einem bestimm-
ten einzelnen Ding aussagen, enthalten eine mehrfache
Synthese. An die Stelle der Einheit von Ding und Eigen-
schaft oder Thätigkeit, welche den § 10 betrachteten Urthei-
len zu Grunde liegt, tritt diejenige Verknüpfung, welche durch
die Relationsvorstellung selbst hergestellt wird. Jede
Relationsvorstellung setzt mindestens zwei als selbstständig
gedachte Beziehungspunkte voraus, und fasst sie, während sie
jedem für sich äusserlich bleibt, durch einen Act des beziehen-
den Denkens zusammen. In dem Urtheil, das eine bestimmte
Relation von gegebenen Dingen aussagt, wird also theils die
gegebene Relation durch eine allgemeine Relationsvorstellung
benannt, und zugleich die von dieser geforderten Beziehungs-
punkte mit bestimmten Objecten Eins gesetzt.
Die Existentialurt heile fallen ihrem logischen Cha-
67 § 12. Eelationsurtheile. 81
rakter nach unter den Gesichtspunkt der Eelationsurtheile;
sie drücken in erster Linie die Beziehung aus, in der ein vor-
gestelltes Olj^ect zu mir als zugleich vorstellendem und an-
schauendem Subject steht, greifen aber durch den Sinn ihres
Prädicats über die blosse Beziehung hinaus.
1 . Die Urtheile, welche Relationen aussagen (A ist gleich
B, verschieden von B , grösser als B , rechts von B , links
von B, früher, später als B u. s. f.) enthalten eine Synthese
anderer Art, als die Aussagen, welche Eigenschaften oder Thätig-
keiten einem Subjecte beilegen. Denn ihre Prädicate bleiben
der Subjectsvorstellung äusserlich, und können in keine innere
Einheit mit derselben gesetzt werden. Keines derselben kommt
ja dem Subjecte zu, wie es für sich als dieses einzelne, be-
stimmte gedacht wird; an der Vorstellung des Subjects selbst
wird nichts geändert, ob sie dem Subjecte zu oder abgesprochen
werden ; ob die Sonne zu meiner Rechten oder Linken steht, ob
sie sichtbar oder unsichtbar ist, es ist genau dieselbe Sonne,
die ich meine; an der Vorstellung der Sonne selbst wird durch
die verschiedenen Prädicate gar nichts geändert, wie wenn ich
sage: die Sonne ist blass, die Sonne ist blutroth, die Sonne
bewegt sich , die Sonne steht still. Während die bisher be-
trachteten Prädicate, mögen sie Prädicate von Benennungs-
urtheilen oder Eigenschaften und Thätigkeiten sein, zum Be-
stände der Subjectsvorstellung gehören, muss ich, um ein Re-
lationsprädicat auszusagen, über die Vorstellung des Subjects
hinausgehen, dasselbe zu anderem erst in Beziehung setzen
und mir der bestimmten Art dieser Beziehung bewusst werden.
Denn das Eigenthümliche der Relations Vorstellungen be-
steht eben darin, dass sie mindestens zweiObjecte voraus-
setzen, die zunächst getrennt von einander und selbstständig
gegeneinander gedacht werden, und deren Vorstellung fertig ge-
gegeben sein muss, ehe eine Relation von ihnen ausgesagt
wird. Die Einheit, welche die Elemente der Relationsurtheile
zusammenbindet, ist also von ganz anderer Art, als die Ein-
heit der Bestandtheile eines einzelnen, für sich denkbaren Ob-
jects ; sie ist nur in der Relations Vorstellung selbst enthalten ;
Öigwart, Logik, i. 2. Auflage. V
82 I, 2. Das einfache Urtheil. 67
in dieser also liegt der Grund der eigenthümlichen Synthese,
welche uns hier entgegentritt.
Aus diesem Verhältniss der Relationsvorstellungen zu den
von ihnen vorausgesetzten Beziehungspunkten geht femer her-
vor, dass jede Relation zwischen zwei Objecten A und B in
doppelter Weise aufgefasst und ausgedrückt werden kann, je
nachdem man von A zu B, oder von B zu A geht. Die Be-
ziehung ist immer eine gegenseitige; die Relationen un-
terscheiden sich aber darin , dass sie entweder in der einen
wie in der andern Richtung gleich, oder dass sie entge-
gengesetzt sind — A neben B, B neben A, A gleich B,
B gleich A ; oder A auf B , B unter A , A grösser als B,
B kleiner als A. Es hängt von dem Gange unseres die Re-
lation knüpfenden Denkens ab , in welcher Weise eine ge-
gebene Beziehung aufgefasst und ausgedrückt wird; jedes Re-
lation surth eil schliesst also vermöge seiner Natur ein zweites
gleichwerthiges ein, jeder Relationsbegriff hat seinen Correlat-
begriff.
2. Gehen wir dem psychologischen Grunde der durch die
Relationen hergestellten Synthese nach, so ist er bei den un-
mittelbar anschaulichen räumlichen Beziehungen am leich-
testen klar zu machen. Es liegt in der Natur unserer Vor-
stellung räumlicher Dinge, dass sie uns immer nur zusammen
mit ihrer Umgebung wahrnehmbar werden, aus der wir sie
als einzelne aussondern müssen; in der Anschauung selbst,
vor aller bewussten Reflexion verknüpfen wir die einzelnen
Theile des uns umgebenden Wahrnehmbaren zu einem Raum-
bild, und so erscheint uns alles Einzelne in einem grösseren
räumlichen Ganzen befasst. Wir vermögen den einzelnen
Gegenstand, diesen Baum, dieses Haus, für unsere Aufmerk-
samkeit zu isolieren; die Beweglichkeit einer grossen Anzahl
einzelner Dinge begünstigt diese Isolierung , welche sie uns
losgelöst von jeder bestimmten Umgebung vorstellen lässt;
aber wo wir sie auch wahrnehmen mögen, immer stehen sie
zwischen anderen in demselben conti nuirlichen Räume. So-
bald wir über die Anschauung des einzelnen Dings hinaus-
gehen, sind andere schon in bestimmter Lage da; und indem
wir die Richtungen dieses Hinausgehens und Zusammenfassens,
67 § 12. Relationsurtheile. 83
die ursprünglich alle auf unsern eigenen Standpunkt bezogen
sind, von einander unterscheiden und uns zum Bewusstsein
bringen, — rechts und links, vor und hinter, über und unter
— haben wir das complexe Bild, das sich uns darstellt, ana-
lysiert und durch allgemeine Relationsbegriffe ausgedrückt,
welche die bestimmte Art der Einheit darstellen, in der das
räumliche Ganze seine Bestandtheile enthält.
Sage ich : das Haus ist an der Strasse , so ist der Aus-
gangspunkt meines Urtheils ein Gesammtbild des Hauses mit
seiner Umgebung; ich achte zuerst auf das Gebäude und be-
nenne es als Haus; ich gehe mit dem Blicke weiter und achte
auf seine Nachbarschaft, ich benenne was ich hier sehe, als
Strasse; und das Verhältniss, in dem die beiden Bestandtheile
meines Bildes stehen, ist das des unmittelbaren Aneinander-
grenzens, ich bezeichne es durch die Präposition »an«, in der
diese Art von räumlichem Zusammensein benannt ist. Ebenso
setzen: der Storch ist im Neste, der Himd ist unter dem
Tisch , dieselbe Analyse eines gegebenen Gesammtbildes in
seine Bestandtheile und die Art ihres räumlichen Zusammen-
seins voraus; dasjenige, was die Vereinigung zu einem Ganzen
ausdrückt, was den Hörer auffordert, die ihm gebotenen Be-
standtheile in bestimmter Weise zu vereinigen, ist die Präpo-
sition, welche die Relations Vorstellung enthält und auf das
Gegebene anwendet. Wir haben also, damit das Urtheil aus-
gesprochen werden könne, eine dreifache Benennung der ein-
zelnen Bestandtheile; und ausserdem die Einheit, welche der
in dem Relationswort ausgesprochene Gedanke enthält. Eine
dieser Benennungen ist dem Urtheil vorangegangen, und er-
scheint in der Bezeichnung des Subjects ; die andern Synthesen
werden durch das Urtheil selbst ausgedrückt.
3. Diese verschiedenen Synthesen können sich nun in
manigfaltiger Weise verflechten und in verschiedener Ord-
nung vollzogen werden; hauptsächlich darum, weil sich mit
jedem Object nach den (Gewohnheiten unseres Vorstellens der
Gedanke der möglichen Relationen in denen es stehen kann
verknüpft. Sind mir zwei Gegenstände A und B nebeneinan-
der gegeben, so kann ich zunächst A ins Auge fassen ; jeder
Gegenstand aber steht in räumlicher Nachbarschaft zu andern,
84 I» 2. Das einfache Urtheil. 68
die Vorstellung von etwas was neben ihm ist, stellt sich ein,
und ich bestimme nun diesen zweiten Beziehungspunkt; um-
gekehrt kann ich von B ausgehen, mit diesem zunächst die
Relation verknüpfen, und dann dem zweiten Punkt A als Sub-
ject diese Relation beilegen ; endlich kann ich beide zusammen
ins Auge fassen und ihr Verhältniss bestimmen. A neben B,
neben B A, A und B nebeneinander, drücken diesen verschie-
denen Gang aus.
Am deutlichsten zeigt sich dies in den räumlichen Re-
lationen, die von mir als Beziehungspunkt ausgehen. Ein
Urtheil wie »Socrates ist hier« geht von einer Anschauung
aus, die mich und Socrates in demselben Räume begreift.
Nun ist mit jeder anschaulichen Vorstellung eines Raumes
mein eigener Ort und ein denselben umgebender Raum ge-
setzt; diese mich stets begleitende, durch »hier« ausgedrückte
Vorstellung tritt also zu der jetzt gegebenen Anschauung,
und wird mit ihr Eins. Der mich umgebende Raum aber
fordert etwas was darin ist ; er ist die allgemeine Möglichkeit
eines Zweiten, und dieses Zweite ist jetzt Socrates; Socrates
füllt die leere Stelle des »hier« aus. Darum ist die natürliche
Form der Beschreibung solcher Verhältnisse, in denen mein
eigener Ort als Beziehungspunkt zunächst im Bewusstsein ist,
die Vora nstellung der Ortsbezeichnung. (Rechts
ist A, links B, vorn C, hinten D.)
Umgekehrt kann übrigens auch zunächst eines der Ob-
jecte ins Auge gefasst werden — es wird als Socrates er-
kannt. Aber mit dieser Vorstellung kann sich sofort wie mit
der jedes räumlichen Dings die einer Umgebung, der Nach-
barschaft anderer Dinge verknüpfen ; Socrates ist irgendwo —
und diese unbestimmte Beziehung wird jetzt mit der bestimm-
ten in Eins gesetzt, der ihn umgebende Raum mit meinem
Raum, mit »hier«. Auch in diesem Falle also ist ein Urtheil,
wie »Socrates ist hier«, insofern auf doppeltem Wege möglich,
als es einerseits als Antwort auf die Frage: »Wer ist hier«,
andrerseits auf die Frage: »Wo ist Socrates« gelten kann.
Eine Menge von Prädicaten , die zunächst Zustände und
Bewegungen ausdrücken, bieten Anknüpfungspuncte für Re-
lationsbestimmungen, welche sie genauer determinieren. Der
69 § 12. Relationsurtheile. Gleichungen. 85
Hund steht, sitzt, liegt, bezeichnet zunächst verschiedene Hal-
tungen seines Körpers, die nur auf ihn selbst bezogen werden ;
aber die Verba selbst deuten hinaus auf die Unterlagen oder
den bestimmten Ort, und die Relationsvorstellung verknüpft
sich als nähere Bestimmung mit dem Prädicat. Andere Verba
wie folgen, fallen, haben in ihrer Bedeutung schon die Re-
lation zu einem andern ; in solchen Aussagen verknüpft sich
also mit der Relation noch die Synthese von Ding und Zu-
stand oder Thätigkeit.
Was von den räumlichen Relationen gilt, lässt sich ebenso
auf die zeitlichen anwenden. Auch hier liegt es in der Na-
tur unserer Auffassung, dass uns jedes einzelne Object in zeit-
lichem Zusammen mit andern erscheint, und als Glied einer
zeitlichen Reihe, der andere zeitliche Reihen parallel gehen.
4. Weniger anschaulich sind die Relations Vorstellungen
die durch gleich, verschieden, ähnlich u. s. w. bezeichnet wer-
den. Denn die Beziehung ist hier nicht mit der Anschauung
selbst schon gegeben, sondern erst durch unser vergleichendes
Denken gesetzt, das beliebig nach den verschiedensten Rich-
tungen hinausgehen kann, um eines gegen das andere zu hal-
ten. Zwei gleiche oder verschiedene Dinge bilden nicht schon
unabhängig von meiner Reflexion ein einheitliches Ganzes, das
sich in seine Bestandtheile auflösen liesse; die Einheit, in
welche sie das Relationsurtheil setzt, entspringt dem Bewusst-
sein von Denkthätigkeiten , welche sich auf den Inhalt des
Vorgestellten selbst beziehen. Die unmittelbare Evidenz, mit
welcher in den einfachsten Fällen Gleichheit, Verschiedenheit,
Aehnlichkeit von uns aufgefasst und erkannt werden , lässt
leicht diese Bestimmungen wie etwas sinnlich Gegebenes er-
scheinen und die eigenthümlichen Functionen übersehen, durch
die sie uns zum Bewusstsein kommen, und die immer eine
Mehrheit gegebener Objecte, die nach ihrer Beschaffenheit
verglichen werden, schon voraussetzen. Denn auch hier sind
die Relationsvorstellungen für sich genommen vollkommen
leer; zu sagen A ist gleich, A ist verschieden, wäre sinnlos;
nur zusammen mit einem bestimmten Beziehungspunkt Icönnen
gleich und verschieden wirkliche Prädicate werden.
Darum können auch die mathematischen Gleich-
80 I, 2. Das einfache ürtheil. 69. 70
ungen nicht ursprünglich, nach der Formel »A und B sind
gleich«, als ürtheile aufgefasst werden, welche über zwei Sub-
jecte dasselbe Prädicat aussagen, wie »A und B sind 10 Puss
lang« ; denn sie können nicht in zwei Urtheile zerlegt werden
A ist gleich und B ist gleich. Geht man von beiden 8ub-
jecten aus, so ist der vollständige Ausdruck: A und B sind
einander gleich; und darin liegen die zwei ürtheile A ist
gleich ß, B ist gleich A ; die eigentlichen Prädicate sind also
gleich B, gleich A.
Wiederum liegt es in der Natur eines mathematischen
Objects, dass die Frage, was ihm gleich ist, sich von selbst
daran heftet, und es über sich hinaus seine Beziehung streckt,
um durch sie ein zweites zu erreichen; ebenso drängen sich
die Vergleichungen mit dem Grösseren und Kleineren überall
auf; je nachdem die eine oder die andere Grösse zuerst ins Auge
gefasst wird, entsteht dann A > B oder B C A.
5. Schwierig sind wegen der engen Beziehung zwischen
»Thun« und »Wirken« die causalen Relationen zu ana-
lysieren, die sich in Sätzen mit transitiven Verben und ihrem
Objecte ausdrücken. Gehen wir wieder von einer bestimmten
Anschauung aus, die das ürtheil erzählen soll, z. B. eines
Stiers der einen Baum stösst; so ist, was mit der Vorstellung
des Subjects unmittelbar in irgend einem Momente gegeben
ist, sein Thun, das als bestimmte Form der Bewegung für
sich vorgestellt werden kann; Stossen, Schlagen, Schleudern,
Greifen u. s. w. enthalten die Vorstellung bestimmter Bewe-
gungsformen, die ganz abgesehen von einem bestimmten Ob-
jecte gedacht und so rein auf das Subject als dessen Thun
bezogen werden können. Aber das ürtheil: der Stier stösst,
erschöpft das Bild noch nicht vollständig, in welchem der
Stier nicht ohne den Baum ist ; was geschieht, muss irgend-
wie als Relation zwischen beiden ausgedrückt werden. Dies
kann von einer Seite so geschehen , dass nur die allgemeine
Form der Bewegung durch ihre Richtung determiniert wird,
in ähnlichem Sinn, in welchem es durch Adverbien der Rich-
tung geschehen könnte (der Stier stÖsst gegen den Baum —
locale Bedeutung der Casus und Präpositionen). Soweit ent-
hält also das ürtheil keine andere Relation als diejenige, welche
71 § 12. Relationsurtheile. Passiva. 87
durch die räumliche Natur der Bewegung, in der das Thun
besteht, gefordert wird, wenn sie als eine im einzelnen Fall
bestimmte ausgedrückt werden soll; die Angabe eines be-
stimmten Gregenstands dient nur zur näheren Bestimmung der
Prädicatsvorstellung , diese selbst ist darum noch kein reines
Relation sprädicat, sondern enthält nur ein durch eine Rela-
tionsvorstellung ergänztes Thun.
Wird aber auf den Erfolg gesehen, welchen das Object
durch die Thätigkeit des Subjects erfährt, die Erschütterung
und Quetschung des Baumes, so tritt insofern die causale
Relation ein ; dieser Erfolg gehört nicht mehr zum Thun
des Subjects für sich, sondern zu dem was am Object vor-
geht, das bewirkte als solches ist ausserhalb des bewirkenden.
Jetzt wird in der allgemeinen Vorstellung , welche »Stossen«
bezeichnet, nicht mehr bloss die Form der Bewegung gedacht,
welche ein Subject verlangt, sondern eine Bewegung die einen
erschütternden oder zermalmenden Erfolg an einem andern hat.
Indem der Vorgang mit der Vorstellung des Stossens in
diesem Sinne übereinstimmend gesetzt wird, wird auch ge-
fordert, dass die Vorstellung sich durch Beziehung auf ein
bestimmtes Object näher bestimme, und damit haben wir
die beiden ersten Synthesen; die Beziehung auf das Subject
ist die dritte.
Handelt es sich um Verba die ihrer Natur nach eine
Wirkung, ein Hervorbringen, Vernichten, Zerstören u. s. w.
bedeuten, so ist in der Wortbedeutung selbst die causale Re-
lation gesetzt, sie ist das Allgemeine zu den bestimmten Wirk-
ungen auf einzelne verschiedene Objecte, und fordert ein Etwas
das hervorgebracht oder zerstört wird. Bewirken und Etwas
bewirken ist gleichbedeutend; bestimmter oder unbestimmter
ist mit dem Verb selbst die Vorstellung eines Objects ver-
bunden, das durch die im Verb ausgedrückte Thätigkeit affi-
ciert wird und mit welchem von einer Seite das bestimmte
Object in Eins gesetzt wird; in der Wortbedeutung liegt ferner
die Vorstellung des zweiten Beziehungspunktes, des Ausgangs
der Wirkung, und mit diesem wird das Subject identisch ge-
setzt. Ich esse, ich esse etwas, ich esse Speise sind vollkom-
men gleichbedeutend; mit der Bedeutung des Verbums sind
§8 I, 2. Das einfache ürtheil.
seine zwei Beziehungspunkte gegeben, sie mögen genannt sei
oder nicht. Das Eigenthümliche ist nur umgekehrt, dass jetzt
in der Vorstellung des Wirkens die des Thuns eingeschlossen,
und mit den Synthesen, welche die Relation herbeiführt, auch
die Synthese in der Kategorie der Action als eine mitgedachte
und begleitende vollzogen wird. Die möglichen Reihenfolgen,
in denen diese Synthesen vollzogen werden, sind wiederum an
den Fragen zu veranschaulichen : Wer bewirkt B ? Was bewirkt
A? Was thut A?
0. Die Natur dieses Relationsverhältnisses spricht sich
in der Wechselbeziehung der activen und passiven
Formen aus, durch welche derselbe Vorgang ausgedrückt
werden kann. Sage ich »der Stein wird geworfen« : so ist
der Vorgang am Stein nicht so ausgedrückt, wie er zunächst
als Thun des Steins erscheint (der Stein fliegt) ; an die Stelle
dieser nächsten und unmittelbaren Aussage tritt die entferntere
Relation, welche dieses Thun als Wirkung eines andern be-
zeichnet und in deren Vorstellung das Woher dieser Wirkung
unbestimmt oder bestimmt mitgedacht wird. Die Prädicats-
vorstellnngen, welche durch passive Verba bezeichnet werden,
können also nicht unter dieselbe Form der Einssetzung sub-
sumiert werden, welcher die Kategorie der Action zu Grunde
liegt, sondern sind durchweg Relationsprädicate , obwohl in
ihnen eine Action, die sich lediglich auf das Subject bezieht,
mit eingeschlossen ist.
Unter unendlich manigfachen Formen und Verkleidungen
des sprachlichen Ausdrucks verstecken sich allerdings häufig
diese einfachen unterschiedenen Grund Verhältnisse ; die Wort-
formen der Sprache congruieren , ihrer geläufigen Bedeutung
nach, durchaus nicht immer mit den Unterschieden der Vor-
stellung; »leiden« selbst ist ein Activum, bei dem
wir meist vergessen, dass es als solches das Subject in der
Thätigkeit des Ertragens oder Schmerzempfindens darstellt,
und das uns in der Regel, als Gegensatz zum Wirken, nur
die Relation zu einem andern Wirkenden bedeutet.
7. Unter den Gesichtspunkt der Relation, und zwar der
modalen , fällt auch , wiewohl mit eigenthümlicher Stellung,
bzt 1
72 § 12. Relationsurtheile. Existentialsätze. 89
das Prädicat »Sein« in den sogenannten Existential-
sätzen.
Darüber kann zunächst kein Zweifel sein , dass diese
Sätze ihrer äusseren Form nach vollkommen denselben Bau
aufweisen, wie alle andern Sätze, deren Prädicat ein beliebiges
Verbum ist ; von dem durch das Subjectswort Bezeichneten und
bei dem Subjectswort Gedachten wird das Sein ausgesagt, es
wird zwischen dem Subject und dem allgemeinen Begriffe des
Seins eine bestimmte Einheit hergestellt; es wird also in
ihnen so gut eine Synthese unterscheidbarer Gedanken voll-
zogen, wie in jedem andern Urtheil; wie auch die Frage:
Existiert A? gar nicht anders verstanden werden kann, als
dass sie den Zweifel ausdrückt, ob von dem gedachten A die
wirkliche Existenz behauptet, d^r Gedanke der Existenz in
Wahrheit damit verbunden werden könne*).
*) Brentano (Psychologie vom empirischen Standpunkte Bd. I. 1874
S. 266 ff.) bestreitet die gewöhnliche Lehre, dass in jedem Urtheil
eine Verbindung oder Trennung zweier Elemente stattfinde. Das We-
sentliche des Urtheilens sei Anerkennung oder Verwerfung , die sich
auf den Gegenstand einer Vorstellung richten; Anerkennung und Ver-
werfung sei eine ganz andere Beziehung des Bewusstseins zu einem
Gegenstand, als Vorstellen. Anerkennen und Verwerfen aber betreffe
theils Verbindungen von Vorstellungen , theils einzelne Gegenstände.
In dem Satze »A ist«, sei nicht die Verbindung eines Merkmals Exi-
stenz mit A , sondern A selbst sei der Gegenstand , den wir aner-
kennen.
Dass das ürtheilen nicht bloss in einem subjectiven Verknüpfen
von Vorstellungen besteht, ist unzweifelhaft richtig und wird unten
§ 14 näher dargelegt werden; dass es aber ein ürtheilen gebe, das
überhaupt keine Verknüpfung von Vorstellungen enthält, dass neben
den zweigliedrigen ürtheilen auch eingliedrige stehen, und dass diese
eingliedrigen ürtheile eben die Existentialurtheile seien, kann ich nicht
zugeben. Denn stelle ich einen »Gegenstand« A vor , so ist er für
mein Bewusstsein zunächst als vorgestellter, gedacliter vorhanden; er
steht zunächst in dieser Beziehung zu mir, Object meines Vorstellen»
zu sein. Insofern kann ich ihn nicht verwerfen, da ich ihn wirklich
vorstelle ; und wollte ich ihn anerkennen, so könnte ich eben nur an-
erkennen, dass ich ihn wirklich vorstelle; aber diese .Anerkennung'
wäre nicht die Behauptung, dass er existiert; denn es handelt sich ja
eben darum, ob er ausserdem, dass ich ilin vorstelle, noch die weitere
Bedeutung hat, dass er einen Theil der mich umgebenden wirklichen
90» 1, 2. Das einfache Urtheil. 73
Auch der Sinn des Prädicats kann, wenn wir von seiner
populären Bedeutung ausgehen, wie sie vor aller kritischen
philosophischen Reflexion vorhanden ist, keinem Zweifel unter-
liegen, wenn auch der Begriff des Seins nicht definiert und
aus andern Begriffen abgeleitet werden, sondern nur durch
seinen Gegensatz hervorgehoben werden kann. Das »Sein«
steht dem bloss Vorgestellten, Gedachten, Eingebildeten gegen-
über; was »ist«, das ist nicht bloss von meiner Denkthätig-
keit erzeugt, sondern unabhängig von derselben, bleibt das-
selbe, ob ich es im Augenblick vorstelle oder nicht, dem
kommt das Sein in demselben Sinne zu, wie mir selbst, es
steht mir dem Vorstellenden, als etwas von meinem Vorstellen
Unabhängiges gegenüber, das nicht von mir gemacht, sondern
in seinem unabhängigen Dasein nur anerkannt wird. Aber
obgleich diese Unabhängigkeit des Seienden von mir zunächst
gemeint ist, liegt doch, offener oder versteckter, zugleich eine
Beziehung zu mir, dem das Seiende denkenden, und realiter
von ihm afficier baren Subject eingeschlossen.
Ebenso vergeblich, als der Versuch das Selbstbewusstsein
aus dem Unbewussten zu erklären, ist auch der Versuch den
Gedanken des Seins auf irgend eine Weise abzuleiten. Er
Welt bildet, von mir wahrgenommen werden kann, Wirkungen auf
mich und anderes ausüben kann. Diesen letzteren Gedanken muss ich
mit der blossen Vorstellung verknüpfen, wenn ich seine Existenz be-
haupten will. Beginne ich einen Satz: der Thurm zu Babel — so sind
diese Worte zunächst ein Zeichen, dass ich die Vorstellung des Thurmes
zu Babel habe, wie sie durch die Erzählung der Grenesis erweckt ist,
und dem Hörer entsteht eben diese innere Vorstellung ; diese Vorstellung
ist einfach da, und kann als solche weder verworfen werden, noch be-
darf sie irgend einer Anerkennung; nun fragt sich aber, welche Bedeu-
tung diese Vorstellung hat. Vollende ich den Satz : der Thurm zu Babel
existiert, so behaupte ich, über die blosse Vorstellung hinausgehend,
dass das durch die Worte bezeichnete an irgend einem Orte wahr-
nehmbar sei; sage ich: existiert nicht, so habe ich nicht die Vorstell-
ung des Thurmes zu Babel verworfen, sondern den Gedanken, dass
diese Vorstellung die eines sichtbaren und greifbaren Dings sei. Was
ich also anerkenne oder verwerfe, ist der Gedanke, dass die gegebene
Vorstellung die eines wirklichen Dings sei, also eine Verknüpfung.
Vergl. zu der ganzen Frage meine Schrift »die Impersonalien« S. 50 ff.
73 §. 12. Relationsurtheile. Existentialsätze. 9^1?
ist in dem Selbstbewusstsein- ursprünglich mit enthalten , er
wird mitgedacht , so oft wir Ich sagen , ohne dass wir ihn
ausdrücklich hervorheben ; und ebenso ursprünglich haftet er
an den Objecten unseres Anschauens und Denkens ; denn wir
finden in unserem Bewusstsein uns selbst niemals ohne eine
uns umgebende Welt von Objecten, die ebenso sind, wie wir
selbst; wir haben uns selbst nur zusammen mit anderem was
ist, und im Gegensatz zu anderen Dingen, die nicht wir
selbst sind.
Die Vorstellung des Seins aus dieser ursprünglichen Ver-
bindung mit dem Bewusstsein unserer selbst und der uns ge-
genüberstehenden Objecte loszulösen , und das Sein von uns
selbst und der Welt ausser uns ausdrücklich zu behaupten,
ist zunächst gar kein Anlass vorhanden, weil der Gredanke,
dass ich selbst nicht sein könnte, oder die gesammte Welt
ausser mir nicht wäre, gar nicht entsteht ; zu versichern »Ich
bin«, was weder ich noch sonst Jemand bezweifelt, ist voll-
kommen überflüssig ; erst eine fortgeschrittene Reflexion kann
dazu kommen, sich der Wahrheit des eigenen Seins ausdrück-
lich bewusst zu werden ; zuerst ist in dem unmittelbaren Be-
wusstsein meiner selbst auch mein Sein ungeschieden mit ent-
halten; es kommt nur darauf an, in welchem Zustande oder
welcher Thätigkeit ich mich finde.
Was für mich selbst dieses unmittelbare Selbstbewusst-
sein leistet, das leistet den äussern Dingen gegenüber die un-
mittelbare sinnliche Wahrnehmung ; wenn wir reflectierend uns
besinnen, auf welche Veranlassung hin wir das Sein der ein-
zelnen äusseren Dinge annehmen, so ist es die sinnliche Em-
pfindung ; was wir tasten und sehen, das ist da, wir verbinden
mit »Sein«, wenn wir uns den Gedanken näher verdeutlichen,
das Wahrgenommenwerden und Wahrgenommen werdenkönnen,
die Fähigkeit einer Wirkung auf die Sinnesorgane eines em-
pfindenden Subjects ; aber das Wahrgenommenwerden ist nicht
das Sein selbst, sondern nur Zeichen und Folge desselben;
denn mit dem Wahrgenommenwerden fangt das Sein nicht
erst an, noch hört es auf, wenn das Wahrgenommen werden
aufhört; das Wahrnehmbare muss sein, um wahrgenommen
werden zu können. Die Wahrnebmung eines Dings ist nur
92 I» 2. Das einfache ürtheil. 73
der directeste und imwiderleglichste Beweis dafür, dass es
existiert.
Wo wir unsinnlichen oder übersinnlichen Dingen das Sein
beilegen, wie es im ontologischen Beweise für das Dasein
Gottes oder im Begriffe des Dings an sich geschieht, haben
wir es immer schwer die Reste der den Gedanken des Seins
in der sinnlichen Welt begleitenden räumlichen Vorstellungen
los zu werden; wir reden vom »Dasein« Gottes; und wenn
wir uns diesen Gedanken beleben wollen, bleibt uns nur die
Wirkung auf eine wahrnehmbare Welt, und in ihr und durch
sie die Wirkung auf uns, wodurch das Unsinnliche sich offen-
bart und zu erkennen gibt; aber auch dieses Wirken ist nicht
der Ursprung des Gedankens »Sein«, sondern nur eine Folge
desselben, und damit der Erkenntnissgrund dafür, dass das
Wirkende ist.
Daraus erhellt die eigenthümliche Schwierigkeit, die dieser
Begriff des Seins mit sich führt ; einerseits ist, um ihn über-
haupt aussprechen zu können , eine Relation zu mir , dem
Denkenden vorausgesetzt ; das Object ist von mir vorgestellt,
weil es in irgend eine Beziehung zu mir getreten ist; dass es
sei, ist mein Gedanke ; aber durch diesen Gedanken selbst wird
die blosse Relativität wieder aufgehoben, und behauptet, dass
das Seiende auch sei abgesehen von seiner Beziehung zu mir und
einem andern denkenden Wesen, dass das Sein nicht in dieser
Relation aufgehe, als Gegenstand meines Bewusstseins gedacht
zu werden; die Herbart'sche Formel der absoluten Position
drängt in ihrem Doppelsinn diese beiden Gesichtspunkte zu-
sammen, ohne die Schwierigkeit lösen zu können; aber sie
hat das Verdienst wenigstens klar gemacht zu haben, was
unser natürliches Denken, unbekümmert um die Schwierig-
keiten, wirklich meint, wenn es das Sein prädiciert.
Von diesem gewöhnlichen, noch nicht kritisch angefoch-
tenen Sinne haben wir auszugehen, wenn wir die Existen-
tialurtheile analysierend verstehen wollen ; und es erhebt sich
also die Frage, was denn gedacht wird, wenn gesagt wird A
existiert, und in welchem Sinne die Einheit von Subject und
Prädicat behauptet wird.
Um diese Frage zu lösen, müssen wir uns erst klar
74 § 12. Belationsurtheile. Existentialsätze. 93
machen, unter welcher Voraussetzung denn überhaupt das
ürtheil entsteht »A existiert« , wo es im gewöhnlichen Ver-
lauf unseres Denkens als ürtheil über ein Einzelnes auftritt.
Die Voraussetzung ist offenbar, dass an der Existenz des Sub-
jects gezweifelt worden ist, oder gezweifelt werden kann ; und
dies ist nur möglich, wenn das Subjectswort zunächst etwas
nur Vorgestelltes, in Form der Erinnerung oder auf
Grrund der Mittheilung anderer in meinem Bewusstsein er-
scheinendes bedeutet. Von dem was mir unmittelbar gegen-
wärtig ist, kann ich nicht fragen, ob es existiert ; mit der Art,
wie es von mir angeschaut wird, ist auch die Gewissheit seiner
Existenz gegeben. Aber die Erfahrung des Vergehens und
Verschwindens von Dingen , die ich früher an bestimmten
Orten gesehen, und die Erfahrung der Täuschung durch andere
belehrt mich, dass nicht alles, was ich innerlich vorstelle, auch
in der wirklichen Wahrnehmung gefunden wird ; sie zwingt
mich, zwischen der Anschauung des Gegenwärtigen und der
blossen Vorstellung zu unterscheiden, der keine gegenwärtige
Anschauung entspricht. Habe ich etwas verloren, ist was ich
früher besass oder kannte, nicht mehr zu finden, so habe ich
zwar das Bild des Dings in der Erinnerung, aber die gegen-
wärtige Anschauung fehlt ; es ist nicht da, ist nicht vorhan-
den, ist nicht zu finden. Was jetzt als Subjectsvorstellung in
meinem Bewusstsein ist, ist nur das vorgestellte Ding, zu dem
Iich die entsprechende Wahrnehmung suche ; nur in Beziehung
I auf dieses ist die Frage nach seiner Existenz möglich; und
'f die Frage bedeutet, ob was ich vorstelle noch einen Bestand-
theil der wahrnehmbaren Welt bildet.
Jedes Existentialurtheil macht also das Subjectswort zum
Zeichen von etwas, was bloss vorgestellt ist, eben dadurch,
dass es den Gedanken seiner Existenz von ihm trennt, um sie
erst ausdrücklich ihm zuzusprechen. Das letztere geschieht,
sobald ich das Vermisste gefunden, d. h. die correspondierende
Wahrnehmung gemacht habe, oder durch irgend welche Schlüsse,
durch Mittheilung anderer u. dgl. mich überzeugt habe, dass
es noch irgendwo wahrnehmbar ist. Alle Existentialurtheile
im Gebiete der empirischen Welt beruhen also auf dem Unter-
schiede der blossen inneren (Erinnerungs- oder Phantasie-)
Ö4 I» 2. Das einfache Urtheil. 74
Vorstellung von der gegenwärtigen WahrnehmuAg, und was
sie behaupten, ist die Identität des Wahrgenommenen mit dem
bloss Vorgestellten, das als Subject genannt ist.
Das ist besonders deutlich dann , wenn die Vorstellung
des Gegenstands, dessen Existenz in Frage kommt, nur durch
Mittheilung anderer in mir entstanden ist. Diese erzeugen die
Vorstellung eines Hercules oder Theseus, des Thurms zu Babel
oder des Magnetbergs; die Frage ist, ob sie existiert haben,
die mit den Wörtern verbundenen Vorstellungen also Vor-
stellungen wirklicher Wesen oder blosse Phantasiegebilde sind,
ob die Berichte auf Wahrnehmung oder Fiction beruhen.
Eben darum ist auch klar, was Kant hauptsächlich her-
vorhebt, dass durch das Prädicat Sein zum Inhalt der
Vorstellung als solcher schlechterdings nichts hinzu-
kommt ; ob ich sage A ist, oder A ist nicht , beidemal denke
ich unter A genau dasselbe; der Sinn der Aussage selbst ver-
langt, dass in der wirklichen Welt nicht mehr und nicht we-
niger vorhanden sei, als eben das von mir gedachte A. >Sein«
bildet also keinen Bestandtheil der Subjectsvorstellung , kein
»reales Prädicat« wie Kant sagt; es drückt nur das Verhält-
niss des gedachten A zu meinem Erkenntnissvermögen aus.
Die Synthese also , welche das Existentialurtheil zunächst im
empirischen Gebiete enthält, ist die Identität eines vorgestellten
und eines angeschauten Objects ; seine Möglichkeit beruht da-
rauf, dass ich desselben Inhalts in zweierlei Form bewusst
werden kann, in Form der blossen Vorstellung und in Form
der Anschauung ; mit dem angeschauten Object ist der Ge-
danke des Seins unmittelbar verbunden.
Insofern kehren die Existentialurtheile den Process der
Benennungsurt heile um. Bei diesen ist ein anschauliches, also
von vornherein als wirklich gedachtes Object gegeben; zu
ihm tritt eine von früher bekannte Vorstellung, und die Ueber-
einstimmung beider wird in dem Benennungsurtheile ausge-
sprochen. Beim Existentialurtheil geht die blosse Vorstellung
voran; von ihr wird gesagt, dass sie mit einem anschaubaren
einzelnen Object übereinstimme.
Indem aber zunächst dieses Verhältniss ausgedrückt wird,
die Uebereinstimmung des vorgestellten Dings mit einer mÖg-
74 §. 12. Relationsurtheile. Existentialsätze. ^5
liehen Wahrnehmung, greift doch der Sinn des Prädicats
»Existieren« weiter; was existiert, steht nicht bloss in dieser
Beziehung zu mir, sondern zu allem andern Seienden, nimmt
zwischen anderen Objecten seinen Raum ein, existiert zu be-
stimmter Zeit nach und vor andern Dingen, steht in Causal-
verhältnissen zu der übrigen Welt ; darauf hin kann auch von
dem Wahrnehmbaren eine bloss erschlossene Existenz be-
hauptet werden. (Wenn Herbart in dem Begriffe des Seins
die völlige Unbedingtheit und Beziehungslosigkeit findet, so
hat Lotze gegen ihn mit Recht hervorgehoben , dass wir in
dem Begriff des Seins gerade ein in Beziehung stehen mit-
denken).
Von diesem Gesichtspunkt aus ist jedem einzelnen Exi-
stentialurtheil der mich immer begleitende Gedanke einer mich
umgebenden wirklichen Welt vorausgesetzt, es füllt nur eine
Stelle in dieser Gesammtheit des Seienden durch ein bestimmtes
Subject aus. Dass etwas ausser mir sei, ist immer voraus-
gesetzt; die Frage ist ob das von mir Gedachte unter dem
Gegebenen sich finde, oder aber, ob ein Wirkliches unter einen
bestimmten Begriff falle.
Diese letztere Richtung unseres Denkens führt zu den-
jenigen Aussagen, welche den Ausdruck des Seins voranstellen
und dadurch den Impersonalien verwandt werden , theilweise
auch ausser lieh die Form impersonaler Sätze annehmen —
eaxi, there is, es gibt — diese Wendungen weisen zuerst auf
ein Existierendes hin, das ist, da ist, von der gegebenen Welt
dargeboten wird , um es nachher bestimmt zu bezeichnen.
Diese Form des Existentialsatzes ist dann die natürliche, wenn
es sich nicht darum handelt, ob ein Ding, das als bestimmtes
einzelnes gedacht wird — etwa weil es von früherer Zeit her
mir bekannt war — vorhanden ist, sondern ob ein Ding exi-
stiert, das unter einen gegebenen Begriff fällt, nur als »ein A«
bezeichnet werden kann *).
*) Vgl. meine Impersonalien S. 65 ff.
06 U 2. Das einfache Urtheil. 75
§ 13.
Diejenigen ürtheile über Einzelnes, deren Subjecte
Abstracta, deren Pradicate adjectivisch oder
verbal sind, können nicht auf die Kategorieen des Dings
und der Eigenschaft oder Thätigkeit zurückgeführt werden.
Es liegt ihnen vielmehr als erste Synthese theils die Ein-
heit der Eigenschaft oder Thätigkeit mit ihrer
Modification, theils die Betrachtungsweise zu Grunde,
welche einem Dinge nur vermöge einer bestimmten
Eigenschaft, Thätigkeit oder Relation ein Prä-
dicat beilegt.
1. Die nächstliegende und einem wenig entwickelten
Denken natürliche Auffassung wahrgenommener Vorgänge ist
die Beziehung derselben auf die concreten Dinge und der Aus-
druck alles dessen was ist und geschieht als Eigenschaft,
Thätigkeit, Verhältniss des Einzelnen ; Homer hat nur wenige
Sätze, deren Subjecte nicht einzelne Personen oder Dinge sind.
Erst das Bedürfniss des genauer unterscheidenden und in
weiterem umfange vergleichenden Denkens kann veranlassen,
Eigenschaften, Thätigkeiten oder Verhältnisse des Einzelnen
für sich zum Gegenstande einer Aussage zu machen ; und es
geschieht vor allem in zwei Richtungen, theils in der Absicht
einen Vorgang oder eine Eigenschaft unterscheidend genauer
zu bestimmen, oder eine causale Relation auf ein bestimmtes
Element eines Dinges zu beziehen.
2. In Urtheilen wie : dieses Roth ist lebhaft , der Gang
dieses Thiers ist hüpfend u. s. w. ist das Eigenschafts- oder
Thätigkeitsurtheil schon vorausgesetzt, welches das Gegebene
in ein Ding und seine Bestimmungen zerlegt; die Synthesis
des Urtheils besteht einerseits in der Synthesis der Eigenschaft
oder Thätigkeit mit ihrer Modification, andrerseits der Benen-
nung dieser (vgl. § 6, 2, d — f S. 34 ff.).
3. Wenn eine Eigenschaft oder eine Thätigkeit Subject
einer causalen Relation wird : so setzt dies voraus , dass die
allgemeine Vorstellung des Wirkenden, welche sich zunächst
75 § 13. Urtheile über Abstracta. 97
an ein Ding knüpft, das Ursache ist, in Folge von Vergleichung
näher dahin bestimmt wird, dass ein Ding nur wirkt vermöge
einer seiner Eigenschaften, oder wirkt sofern es in einer be-
stimmten Thätigkeit begriffen ist. Wenn wir sagen, dass die
Reibung erhitze und das Gewicht drückend sei, so ist das
eigentliche Subject, das zu den Verben gehört, der in Reibung
begriffene Körper, das schwere Ding; nur dieses ist fähig, als
eigentliches Subject eines Wirkens zu gelten. Aber unser ver-
gleichendes Denken unterscheidet an dem Körper dasjenige,
vermöge dessen er die Wirkung ausübt, und drückt es durch
ein Abstractum aus, weil auf diesem Wege der Vorgang schon
als Ausdruck eines allgemeinen Gesetzes hingestellt wird.
4. In demselben Sinne können auch Relationsvorstel-
lungen — Entfernung, Unterschied u. s. w. — als Subjecte
von Adjectiven oder Verben auftreten, die eine Wirkung aus-
drücken. Wenn die Entfernung zweier Körper ihre Anziehung
vermindert, so ist durch den Wortlaut der Veränderung einer
räumlichen Relation ein Wirken zugeschrieben, wie einer sub-
stantiellen Ursache. Allein es bedarf keines Beweises', dass
hier nur, was wir auf Grund allgemeiner Gesetze, welche mit
der Thatsache des Wirkens auch die Bedingungen seiner Mo-
dification enthalten, als nothwendige Folge des veränderten
Abstands erkennen, durch eine abgekürzte Redeweise als die
Wirkung dieser Veränderung selbst hingestellt wird. In je
höheren Abstractionen sich unser Denken und Wissen bewegt,
desto incongruenter werden ihm die ursprünglichen Bedeu-
tungen der Wörter und der Constructionen ; ohne dass wir es
fühlen, kürzt vorzugsweise mit Hülfe ihrer Abstracta die
Sprache ab und lässt unausgesprochen , was sich nach den
Gewohnheiten unseres Denkens von selbst versteht ; sie schiebt
den einfachen Ausdrucksformen die verwickelten Verhältnisse
wissenschaftlicher Gesetze unter, die das Einzelne von einer
Reihe von Bedingungen abhängig machen, und damit die
wirkende Ursache selbst in den Hintergrund stellen gegen die
wechselnden Umstände unter denen sie wirkt; die ursprüng-
liche Vorstellung des Wirkens vergeistigt sich zu der gesetz-
mässigen Abhängigkeit verschiedener Bewegmigen, deren adä-
quater Ausdruck nur die mathematische Formel ist, welche
S i g w a r t , Logik. 1. 2. Auflage. 7
gg I, 2. Das einfache Urtheil. 77*
aber in Worten nur mit Hülfe von Personificationen und Me-
taphern dargestellt wird, die wir gar nicht mehr als solche
empfinden.
§ 14.
Mit der In-Einssetzung verschiedener Vorstellungen ist
das Wesen des ürtheils noch nicht erschöpft ; es liegt zugleich
in jedem vollendeten Urtheil als solchem das Bewusstsein
der objectiven Gültigkeit dies er In-Einssetzung.
Die objective Gültigkeit aber beruht nicht unmittelbar
etwa darauf, dass die subjective Verknüpfung den Verhält-
nissen des entsprechenden Seienden entspricht , sondern auf
der Noth wen dig keit der In-Einssetzung.
Diese Nothwendigkeit wurzelt in dem Princip der
Uebereinstimmu ng, welches zugleich dieConstanz
der Vorstellungen zur Voraussetzung hat ; diese logischen
Principien vermögen aber die reale Identität der Dinge
nicht zu gewährleisten.
1. Alle die Definitionen des ürtheils, welche dasselbe
auf die bloss subjective Verknüpfung von Vorstel-
lungen oder Begriffen beschränken , übersehen , dass
der Sinn einer Behauptung niemals ist, bloss dieses subjective
Factum zu constatieren, dass ich im Augenblick diese Ver-
knüpfung vollziehe; vielmehr macht das Urtheil durch seine
Form Anspruch darauf , dass diese Verknüpfung die Sache
betrefi'e, und dass sie ebendarum von jedem andern anerkannt
werde. Dadurch scheidet sich das Urtheil von den bloss
subjectiven Conibinationen geistreicher und witziger Ver-
gleichung , welche die äussere Form des Satzes annehmen,
ohne im Sinne des Ürtheils eine objectiv gültige Behauptung
aufstellen zu wollen ; und ebenso von den blossen Vermu-
thungen, Meinungen, Wahrscheinlichkeiten*).
*) Von dieser Seite richtif;^ definiert
Urtheil ist das Bewusstsein über die objective Gültigkeit einer subjec-
tiven Verbindung von Vorstellungen.
§ 14. Die objective Gültigkeit des Urtheils u. das Princip d. Identität. 99
2. Die objective Gültigkeit aber hat mehrfacben
Sinn. Zunächst ist eine wörth'che, nominale Gültigkeit von
einer sachlichen, realen zu unterscheiden. Wenn ich be-
haupte »dies ist roth« , so kann zunächst in Anspruch ge-
nommen werden, ob ich das roth nenne , was alle Welt roth
nennt ; die Objectivität, die meinem Urtheile bestritten wird,
bezieht sich auf den Sprachgebrauch, der dem subjectiven Be-
lieben als eine objective Norm , als ein allgemeines Gesetz
gegenübersteht. Aller Wortstreit dreht sich um die Frage
dieser Gültigkeit ; er ist möglich theils dadurch dass die
subjectiven und individuellen Bedeutungen der Wörter ver-
schieden sind von dem was allgemein anerkannt ist , theils
dadurch dass der allgemeine Sprachgebrauch selbst nicht fest
bestimmt und die Grenzen der einzelnen Wörter schwankend
sind.
3. Ist aber die nominale Richtigkeit vorhanden, die in
jedem Urtheile, sofern es gesprochen wird und verstanden sein
will, implicite mitbehauptet wird *) ; verbindet der Sprechende
*) Gegen die Ansicht, dass in jedem Urtheil die Richtigkeit der
"Wortbezeichnung impHcite mitbehauptet werde, hat Marty (Viertel-
jahrsschr. für wiss. Phil. 1884 VTIl, 1 S. 85) bemerkt: »Der Glaube,
dass alle Welt dasjenige Schnee nennt , was ich so nenne , ist aller-
dings Voraussetzung dafür, dass ich in redlicher Absicht den Satz
äussere: dies ist Schnee. Allein man kann nicht sagen, dass dieses
sprachliche ürtheil implicite mitbehauptet sei.« Wenn ich
aber Jemand sage: das ist carmoisinroth, und er entgegnet mir: Nein,
das ist scharlachroth , will er damit sagen , dass ich mich über die
Farbe selbst täusche, und eine andere Farbe sehe, als die der Gegen-
stand wirklich hat, und nicht vielmehr, dass ich nur in der Bezeich-
nung irre, dass ich das carmoisinroth nenne, was nach dem allgemei-
nen Sprachgebrauch scharlachroth heisst? Also war in dem ürtheil:
das ist carmoisinroth , auch mitbehauptet , dass ich die Farbe nicht
bloss richtig sehe, sondern auch richtig bezeichne, denn nur dagegen
richtete sich das ,Nein'. Marty fügt dann hinzu, dass, während ich
den fraglichen Satz ausspreche, das sprachliche Urtheil (die Ueberein-
stimmung meines Sprachgebrauchs mit dem allgemeinen) in gar keiner
Weise in meinem Bewusstsein gegenwärtig zu sein brauche. »Genug,
dass es früher einmal da war , und sich auf Grund seiner zu-
versichtlichen Annahme die Sprechgewohnheit gebildet hat,
die nun für sich allein wirksam sein kann«. Also liegt nach Marty
selbst in meinem ürtheil eine zuversichtliche Annahme einge-
7*
100 h 2. Das einfache Urtheil. 78. 79
mit seinen Wörtern dieselben Vorstellungen die jeder damit
verbindet: so handelt es sich jetzt darum, dass die Verbin-
dung der Vorstellungen als eine objectiv gültige, der
ausgesprochene Satz als wahr behauptet, und damit der An-
spruch erhoben wird, dass er geglaubt und von Jedem in Be-
ziehung auf denselben Gegenstand dasselbe Urtheil vollzogen
werde.
Den Sinn dieser sachlichen Gültigkeit festzustellen ist
nicht so einfach, als es da scheinen möchte, wo gesagt wird,
es müsse zwischen den entsprechenden objectiven Elementen
dieselbe Verbindung bestehen wie zwischen den Elementen
des Urtheils, oder das Gedachte müsse stattfinden. Denn es
ist das Eigenthümliche unseres im Urtheil sich bewegenden
Denkens, dass seine Processe dem Seienden, das sie treffen
wollen , incongruent sind. Bleiben wir bei den bisher
betrachteten Urtheilen stehen , die einzelnen Dingen Eigen-
schaften und Thätigkeiten beilegen oder sie mit einem Appel-
lativum benennen: so ist zunächst der Prädicatsvorstellung
als solcher , die ihrer Natur nach allgemein ist und direct
nichts Einzelnes, als einzeln seiend Vorgestelltes meint, nichts
Seiendes in demselben Sinne congruent wie der Subjectsvor-
stellung, und alle Wörter (mit Ausnahme der Eigennamen)
sind unmittelbar Zeichen von Vorstellungen die wohl aus An-
schauungen des Seienden gebildet sind, aber dieses nicht als
Einzelnes darstellen wie es im gegebenen Einzelfalle existiert.
Damit hängt ein zweites zusammen. Das Urtheil setzt die
Trennung von Subject und Prädicat in Gedanken voraus; es
vollzieht sich in der Erkenntniss der Einheit zweier Vorstel-
lungselemente, die vorher ein gesondertes Dasein für unser
Bewusstsein hatten. Im Seienden, das wir durch unser Urtheil
treffen wollen, besteht diese Trennung nicht; das Ding exi-
stiert nur mit seiner Eigenschaft, diese nur mit dem Ding,
beide bilden eine ungeschiedene Einheit; ebenso existiert ein
Körper nur als ruhend oder bewegt, sein Zustand ist realiter
nicht von ihm zu trennen. Das Allgemeine und Einzelne, das
schlössen, die mir nur nicht jedesmal ausdrücklich zum Bewusstsein
kommen muss. Was heisst denn das aber anders, als dass es implicite
mitbehauptet sei?
§ 14. Die objective Gültigkeit des ürtheils u. das Princip d. Identität. 101
Prädicat und das Subject finden also in ihrer vorangehenden
Trennung und dem Acte ihrer Vereinigung schlechterdings
kein Gegenstück im Seienden, und man kann darum nicht
sagen, dass die Verknüpfung der Elemente des ürtheils einer
Verknüpfung analoger objectiver Elemente entspreche. Nur
indem die subjective Trennung von Subject und Prädicat durch
den ürtheilsact selbst wieder aufgehoben und dadurch die Ein-
heit beider gedacht wird, kehren wir zum Seienden zurück,
das ungeschieden Eins bleibt und nie eine reale Trennung
durchmacht, die ein Gegenbild der blossen Unterscheidung
wäre; der distinctio rationis hat keine distinctio realis ent-
sprochen.
Ist es also das charakteristische Wesen des Urtheilens, eine
Function von bloss subjectiver Form zu sein, so muss auch seine
objective Gültigkeit einen andern Sinn als den der Uebereinstim-
mung der ürtheils Verbindung mit einer objectiven Verbindung
haben, einen Sinn, der nur mit Berücksichtigung der eigen-
thümlichen Natur unserer Prädicatsvorstellungen verstanden
werden kann.
4. Bleiben wir bei den einfachsten, den blossen Benen-
nungsurth eilen stehen, wie sie, unvermittelt durch Subsumtions-
schlüsse, die unmittelbare Coincidenz von Bildern aussprechen :
so gehört, die nominale Bichtigkeit vorausgesetzt, zu der Gül-
tigkeit eines solchen ürtheils, wie wir sie im gewöhnlichen Leben
verstehen , dass erstens Anschauung und Vorstellung sich
decken, was ein rein inneres Verhältniss ist , und dann, dass
das subjective Anschauungsbild , welches Abbild eines objec-
tiven Dings sein will, diesem wirklich entspricht, d. h. dass
dasselbe subjective Bild vorhanden ist , das nach den allge-
meinen Gesetzen unserer sinnlichen Anschauung bei Jedem
durch denselben Gegenstand geweckt Averden müsste. Das
Urtheil : »dies ist Schnee« ist objectiv gültig , wenn das Ge-
sehene mit der von allen durch »Schnee« bezeichneten Vor-
stellung sich deckt, und wenn es von einem normalen Auge
deutlich gesehen wird. Die objective Gültigkeit reduciert sich
also darauf, dass sowohl der Process der Bildung der Anschau-
ung als der ürtheilsact auf allgemeingültige Weise vollzogen
sind. Ein Streit kann sich nun, bei üebereiustimmung über
102 I. 2. Das einfache ürtheil. 80. 81
1
die Bedeutung des Pradicats , nur darauf beziehen , ob , wer
das ürtheil »dies ist Schnee« ausspricht, richtig, d. h. so wie
alle andern, und ob er unter den Bedingungen des richtigen
Erkennens sieht ; dies ist aber im Einzelnen eine rein indivi-
duelle quaestio facti, die nach keiner allgemeinen Regel ent-
schieden werden kann ; die allgemeine Frage aber, woher wir
das Recht nehmen, unsere Vorstellungen auf wirkliche Gegen-
stände zu beziehen und dem Wahrgenommenen ein von uns
unabhängiges Sein beizulegen , gehört einem andern Gebiete
als dem logischen an; die subjectiven Functionen, die im Ur-
theile thätig sind , bleiben ganz dieselben , ob die dem ge-
wöhnlichen Denken zu Grunde liegende Voraussetzung , dass
wir ein Seiendes erkennen, in realistischem Sinne bejaht oder
in idealistischem Sinne so umgedeutet wird, dass Sein nur ein
nothwendig und von allen in derselben Weise Vorgestelltes
bezeichnet.
TJeber die metaphysische Gültigkeit, die wir unsern Vor-
stellungen beilegen, hat unsere Logik zunächst nichts zu ent-
scheiden ; sie untersucht das Denken als subjective Function,
und kann also über die Bedeutung des Anschauungsbildes nichts
ausmachen.
Dass nun aber, wenn eine Anschauung und eine Prädicats-
vorstellung da ist, in dem inneren Acte des Eins-
setzens Verschiedenes möglich wäre, und der
Eine gleiche Vorstellungen nicht gleich setzte,
der Andere verschiedene gleich, das gilt uns un-
möglich, weil wir in uns selbst die unmittelbare Gewissheit
über die Nothwendigkeit unseres Einssetzens und die Un-
möglichkeit des Gegentheils haben, also jeden, bei dem wir ein
anderes Resultat voraussetzten , von der Gemeinschaft des
Denkens ausschliessen müssten. Mit andern Worten : das
ürtheil ist uns darum objectiv gültig , weil es nothwen-
dig ist üebe rein stimmendes in Eins zu setzen*).
*) Ein Vertreter einer objectiven Logik könnte einwenden , das
ürtheil »dies ist Schnee« wolle doch über die Natur und Beschaffen-
heit eines Dings etwas aussagen, und bei seiner objectiven Gültigkeit
komme es darauf an , ob dies wirklich Schnee ist oder nicht. Das
würde an die Frage eines klugen Kritikers erinnern : Woher wissen
§ 14. Die objective Gültigkeit des Urtheils u. das Princip d. Identität.103
5. Man konnte versucht sein, in dem eben gefundenen
Grundsatze dasjenige wiederzufinden, was in der überlieferten
denn die Astronomen, dass der Stern, den sie Uranus nennen, aucb
wirklich der Uranus ist? Vorausgesetzt, was die Bedingung des
Gebrauchs der Wörter überhaupt ist, dass in irgend einem Stadium
unserer Kenntniss »Schnee« nach allgemeiner Uebereinstimmung etwas
bestimmtes bezeichne, und dass unsere Benennungen in einem Gebiete
sich bewegen , wo wir vor Verwechslungen geschützt sind , weil die
Unterschiede des Gegebenen nicht zahlreicher sind als die der benannten
Vorstellungen, so mögen wir die Behauptung dass dies wirklich Schnee
ist , drehen und wenden wie wir wollen , ihre objective Gültigkeit
kommt auf die obigen Momente hinaus. Legte ich, statt einer sinnlich
hinlänglich charakterisierten Vorstellung wie oben, einen strengen Be-
griff mit genau festgestellten Merkmalen zu Grunde, dann hiesse die
Behauptung dies ist Schnee: dies hat alle Merkmale des Schnees, ist
weiss, besteht aus Krystallen die unter Winkeln von 60° aneinander-
liegen, wird bei 0 Grad zu Wasser u. s. f., aber ich käme doch nicht weiter
mit der objectiven Gültigkeit , als zu der Behauptung 1. dass ich im
Augenblick richtig wahrnehme, meine Sinne mich nicht täuschen und
mir andere Eindrücke geben, als derselbe Gegenstand sonst mir und
andern gibt ; 2. Die Elemente dieses Bildes, die ich unterscheide, stimmen
einzeln vollkommen zusammen mit den Vorstellungen von weiss, Kry-
stallen, schmelzen u. s. w , die ich innerlich als festen Besitz habe und
wie alle andern durch diese Wörter bezeichne, und also stimmt das
Gesammtbild vollkommen mit dem was ich unter dem Worte Schnee
zu denken gewohnt bin; und ich bin ferner sicher, erstlich dass ich
nicht vergessen habe was weiss u. s. w. heisst, und zweitens dass ich
nicht ein angeschautes Blau oder Roth mit meiner Vorstellung von Weiss
identificiere ; dass ich vielmehr nothwendig das Gesehene und das
Vorgesiellte Eins setzen muss. Eine andere objective Wahrheit und
subjective Gewissheit dieses Satzes gibt es nicht und kann es nicht
geben, so lange das Allgemeine als solches nur in meinem Kopfe, und
realiter nur das Einzelne existiert.
Wollte man sagen, der Satz »dies ist Schnee« heisse, das Gegen-
wärtige ist gleich oder ähnlich anderem Einzelnem , was ich früher
wahrgenommen, und diese reale Gleichheit existierender Dinge ist der
Inhalt meines Urtheils : so liegt dies allerdings indirect mit darin ;
aber nur sofern diese einzelnen Dinge gleichfalls als Schnee behauptet
werden; das Urtheil hätte sich nur vervielfältigt.
Aber, wird man fragen, ist denn aller Irrthum in diesem Gebiet
nur sprachlicher Fehler der Bezeichnung oder falsche Wahrnehmung,
nicht auch falsche Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine,
HO dass also doch in der Synthese beider Vorstellungen Ungleiches
gleich gesetzt würde V Allerdings findet das statt, sot'orn unsere fest-
104 I- 2. Das einfache Urtheil. 81
Logik das Princip der Identität genannt wird. Denn
dieses soll ja den (Jrtheilen , welche einem Subjecte ein Prä-
dicat beilegen, ihre Gültigkeit begründen und darum ein Grund-
gesetz unseres Denkens sein*).
Leider ist aber, das Wort Identität im Laufe der Zeit
sehr vieldeutig geworden, und das sogenannte Gesetz der Iden-
tität in sehr verschiedenem Sinne angewendet worden.
Einmal sollte es, nach der Formel A ist A , behaupten,
dass jedes Denkobject mit sich selbst identisch sei , eben als
dieses und als kein anderes gedacht werden müsse ;
dann sollte es , als Princip aller bejahenden Urtheile,
aussprechen, dass Subject und Prädicat im Verhältniss der
Identität stehen müssen, damit das Urtheil möglich oder gül-
tig wäre, (je nachdem es als Naturgesetz aufgestellt wurde,
nach welchem immer gedacht wird , oder als N o r m a 1 g e-
setz, nach welchem gedacht werden soll, und dann als Kri-
terium der gültigen Urtheile) ;
1
gewordenen und sicher unterschiedenen und benannten Vorstellungen
in keinem Stadium unseres Urtheilens ausreichen, um der Manigfaltig-
keit des Einzelnen zu genügen. Tä (xsv yo'P övöiiaxa usTiepavxat, xai x6
Tcov Xöywv TiX-^O-og, xä 5s Ttpayiiaxa xov dptd-|j,öv dcTistpd laxtv. (Arist. de
soph. el. 1.) Ein vollständiges System sicher unterschiedener und un-
zweideutig bezeichneter Prädicatsvorstellungen herzustellen, welche je-
den Irrthum der Subsumtion unmöglich machen, ist die schwere Auf-
gabe der Wissenschaft ; so lange dieses Ideal nicht im Ganzen und von
jedem Einzelnen erreicht ist, wird es immer Einzelvorstellungen geben,
welche die mit ihnen übereinstimmende allgemeine unter den uns be-
kannten und geläufigen nicht finden , und welche , da ein unmittel-
bares In-Einssetzen nicht möglich ist, durch Schlüsse ihre Benenn-
ung suchen. Sind diese voreilig und dehnen sie nach blosser Analogie
die Benennungen aus, so ist der Irrthum da; aber er ist in erster
Linie ein nominaler, indem er nach einer Seite der Begriffsbildung
vorgreift wo sie nicht folgt, und er widerlegt das obige Princip nicht,
das nur unter der Voraussetzung und für das Gebiet gilt, wo das
Allgemeine zu dem Einzelnen schon gebildet ist. Nur für dieses Ge-
biet ist auch die volle Gewissheit möglich; wo blosse Schlüsse der ge-
wöhnlichen Art das Prädicat vermitteln , kann wohl mit Worten be-
hauptet, aber die Gewissheit der Nothwendigkeit des Urtheilsacts nicht
erreicht werden.
*) Vergl. zu dem Folgenden meine Ausführungen Viertel jahrsschr.
für wiss. Philos, IV, S. 482 ff.
§ 14. Die objective Gültigkeit des Urtheils u. das Princip d. Identität. 105
endlich ist ihm auch noch die metaphysische Bedeutung
beigelegt worden , dass es sage : jedes Seiende sei mit sich
schlechthin identisch, und das Sein könne also nur dem schlecht-
hin mit sich Identischen, also dem Unveränderlichen, keinerlei
Vielheit in sich enthaltenden beigelegt werden.
Versuchen wir zunächst die Bedeutung des Terminus
Identität festzustellen , wie sie seiner Etynjologie gemäss die
ursprüngliche und ausserhalb dieses Capitels der Logik auch
allgemein gebräuchliche ist, so sagt derselbe, dass w^as wir zu
verschiedenen Zeiten , oder unter verschiedenen Namen , oder
in verschiedenen Zusammenhängen vorstellen, doch nicht zweier-
lei, sondern eines und dasselbe sei, das nur zweimal vorgestellt
werde ; denn auf ein schlechthin einfaches , einmaliges Vor-
stellen lässt sich der Terminus gar nicht anwenden; er for-
dert, wie jeder Relationsbegriff, zwei Beziehungspunkte ; auch
um etwas sich schlechthin Gleichbleibendes als mit sich iden-
tisch zu erkennen, muss ich mir bewusst sein, dass ich es in
verschiedenen Momenten vorstelle, und den Inhalt dieses wie-
derholten Vorstellens vergleichen.
Dass das zweimal Vorgestellte das sei be sei, wird nun in
doppeltem Sinne gesagt : theils im Sinne einer realen, theils
im Sinne einer logischen Identität. Eine reale Identität
wird ausgesagt, wenn zwei Vorstellungen, zwei Wahrnehm-
ungen, zwei Berichte, zwei Namen oder sonstige Bezeichnungen
auf dieselbe Person , dasselbe Ding , denselben Vorgang be-
zogen werden. So behaupte ich , dass der Tragiker Seneca
mit dem Philosophen Seneca identisch ist, dass der in Olym-
pia gefundene Hermes identisch ist mit der Statue des Praxi-
teles von der Pausanias berichtet, dass die Sonnenfinsterniss
des Thaies dieselbe ist , welche nach astronomischer Berech-
nung am 25. Mai 585 stattfand , dass der mir heute begeg-
nende derselbe ist, den ich vor Jahren da und da gesehen
habe. Diese reale Identität schliesst die Verschiedenheit der
Objecte zu verschiedener Zeit nicht aus ; derselbe Baum ist
jetzt kahl, den ich früher belaubt gesehen, derselbe Mann ein
Greis, den ich in seiner Jugend gekannt. Wo es sich aber
nicht um die Beziehung unserer Vorstellungen auf einzelne
Dinge oder Vorgänge in Raum und Zeit handelt , muss die
106 I» 2. Das einfache Urtheü. 82
Identität eine logische sein, d. h. den Inhalt derVor-
stellung als solcher betreffen; es wird gesagt, dass
was ich zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedener Veran-
lassung vorstelle , nichts Verschiedenes , sondern inhaltlich
schlechthin dasselbe sei; so bezeichnen verschiedene Wörter
oder Ausdrücke denselben Begriff, verschiedene Formeln
dieselbe Zahl. Sofern wir dann Eigenschaften verschie-
dener Dinge abstrahierend nur nach ihrem Inhalte vergleichen,
können wir auch noch sagen, die Farbe eines Stoffes sei die-
selbe wie die eines andern , die Länge eines Stabes d i e-
selbe wie die eines zweiten ; die Stoffe und Stäbe sind aber
darum nicht identisch, sondern nur in bestimmter Be-
ziehung gleich. Ebenso reden wir in der Diplomatie von
identischen Noten, wenn der Wortlaut, der jetzt abgesehen
von der Vielheit der Schriftstücke nur seinem Inhalte nach
betrachtet wird, derselbe ist.
Soweit reicht die Anwendbarkeit des Wortes Identität, wenn
ihm sein ursprünglicher Sinn und überhaupt ein bestimmter
Sinn gewahrt bleiben soll. Es geht daraus hervor, dass Iden-
tität entweder ganz stattfindet oder gar nicht; dass Identität
keine Grade haben kann, und die Ausdrücke »partielle Iden-
tität, relative Identität«, wenn sie Arten oder Grade der Iden-
tität bezeichnen sollen, eine contradictio in adjecto enthalten.
Man kann von einer identitas partium (z. B. von Theilen Eu-
ropas und Theilen des russischen Reichs) aber nicht einer
identitas partialis reden.
Kehren wir zu unserem Princip der Identität zurück: so
drückt die Formel A ist A in ihrem ersten Sinne allerdings
eine not h wendige Voraussetzung alles Denkens und
Urtheilens aus; alles Denken und Urtheilen ist nur möglich,
wenn die einzelnen Vorstellungsobjecte festgehalten , als die-
selben reproduciert und wiedererkannt werden können , da
zwischen fortwährend Schwankendem und Zerfliessendem keine
bestimmte Beziehung hergestellt werden könnte. Es handelt
sich also um die Constanz unserer einzelnen Vorstellungs-
inhalte als Bedingung alles Denkens. Sofern diese Constanz
immer schon in bestimmtem Umfang verwirklicht ist, kann
von einem Princip der Constanz in dem Sinne gesprochen
§ 14. Die objective Gültigkeit des Urtheils u. das Princip d. Identität. 107
werden, dass es eine fundamentale Thatsache aus-
spricht; sofern sie als Bedingung alles wahren ürtheilens er-
kannt wird , enthält die Formel A = A zugleich eine For-
derung, der überall genügt sein muss, wenn unser Denken
vollkommen sein soll.
Allein dieses Princip , das nur die Stetigkeit jeder Vor-
stellung für sich betrifft, kann nicht zugleich die Vereinigung
von Subject und Prädicat im Urtheile begründen wollen.
Denn Urtheile , die nur die Identität eines Denkobjects mit
sich selbst aussprechen wollten, sind völlig leer ; dass ein Kreis
ein Kreis , und diese Hand diese Hand sei , fällt Niemanden
ein zu behaupten; und Sätze, welche scheinbar doch der For-
mel A ist A entsprechen, meinen unter dem Subjectswort und
dem Prädicatswort in Wirklichkeit Verschiedenes. »Kinder
sind Kinder« meint unter dem Subjectswort nur das Merkmal
des kindlichen Alters , unter dem Prädicatswort die übrigen
damit verknüpften Eigenschaften ; »Krieg ist Krieg« sagt, dass
wenn einmal der Zustand des Kriegs eingetreten ist, man sich
nicht wundern dürfe , dass auch alle gewöhnlich damit ver-
knüpften Folgen sich einstellen; das Prädicat fügt also neue
Bestimmungen zu der Bedeutung hinzu, in welcher das Sub-
ject zuerst genommen wurde.
Bei den einfachen Benennungsurtheilen aber lasst sich
von strenger logischer Identität dessen, was bei dem Sub-
jectswort und dem Prädicatswort vorgestellt wird, nicht reden ;
urtheile ich über Einzelnes, so ist die Prädicats Vorstellung in
der Regel eine unbestimmtere, sie erschöpft nicht die ganze
Besonderheit der Subjectsvorstellung, man kann nur von Ue b e r-
einstimmung beider reden; was ich bei dem Prädicats-
worte denke, finde ich in meiner Subjectsvorstellung wieder;
das Einzelne gleicht dem allgemeinen Bilde, das in meiner
Vorstellung ist. Was also diesen Urtheilen zu Grunde liegt,
wird richtiger Princip der TJebereinstimmung ge-
nannt; es sagt die Nothwendigkeit aus, dass was als Subject
und Prädicat verbunden wird, in seinem Vorstell angsgehalte
übereinstimmen muss, dass das Bewusstsein dieser Ueberein-
stimmung in dem Urtheile ausgedrückt wird; und es enthält
zugleich, dass kein Denkender darüber sich täuschen kann,
108 1» 2. Das einfache ürtheil. 83
ob Vorstellungen, die er als Subject und Prädicat gegenwär-
tig hat, und sofern er sie gegenwärtig hat, übereinstimmen.
So behauptet es die unmittelbare und unfehlbare Sicherheit
des Bewusstseins der Uebereinstimmung zugleich als eine fun-
damentale psychologische Thatsache und als noth wendige Vor-
aussetzung des Urtheilens.
Ist das Prädicat eines Benennungsurtheils ein Nomen
proprium oder überhaupt ein sprachlicher Ausdruck, der
durch seinen Wortlaut die Vorstellung eines einzelnen existie-
renden Dings als solchen erweckt und als Zeichen desselben
gebraucht wird, (dies ist Socrates, diese Uhr ist die meinige)
und ruht das Urtheil auf einem unmittelbaren Erkennen , so
ist auch hier die Uebereinstimmung der beiden Vorstel-
lungen, der Anschauung und des Erinnerungsbildes, die Vor-
aussetzung, ohne dass dabei die absolute Identität des
Vorstellungsinhaltes noth wendig wäre — ich erkenne ja einen
Bekannten auch in einem neuen Kleide, oder wenn er bleicher
aussieht als sonst — aber zu dieser Uebereinstimmung gesellt
sich das Bewusstsein der realen Identität dieses Sub-
jects mit dem einzelnen Dinge, das durch das Prädicat be-
zeichnet wird. Diese reale Identität des Dinges,
das zwei zu verschiedenen Zeiten entstandenen Vorstellungen
desselben entspricht, ist wiederum etwas von der Ueberein-
stimmung und der Constanz der Vorstellungen gründlich
Verschiedenes ; sie betrifft eine Bestimmung des Seins
gegenüber demVorgestelltwerden; es kann immer-
hin auch in dieser Hinsicht ein Princip aufgestellt werden,
dass nemlich im Begriffe des einzelnen Dinges selbst
einerseits die Einzigkeit und andrerseits diese Identität mit
sich selbst liege, die allein der Vorstellung der Dauer und
Beharrlichkeit der Dinge einen Sinn gibt , dass also die An-
nahme mit sich identischer Dinge in dem Begriffe des Dings
selbst enthalten sei. Damit ist aber noch nicht etwa nach
der Formel : jedes Ding ist was es ist , das eleatische und
das Herbart'sche Princip der absoluten Unterschiedslosigkeit
oder der Identität und Un Veränderlichkeit des Was ausge-
sprochen ; im Gegentheil meint unsere Ueberzeugung von der
realen Identität der einzelnen Dinge mit sich ihre Beharr-
§ 14. Die objective Gültigkeit des TJrtheils ii. das Princip d. Identität. lOÖ
lichkeit im Wechsel des Thuns, ihre Fortdauer unter ver-
schiedener Erscheinung ; wir beziehen fortwährend inhaltlich
zum Theil verschiedene Vorstellungen auf ein und dasselbe
Ding.
Das ürtheil : dies ist Socrates sagt : der Gegenwärtige ist
mit dem bestimmten von früher her bekannten Einzelnen, der
Socrates genannt wird, realiter identisch; und die Behauptung
ist auch hier wiederum deshalb auf die objective Gültigkeit
dieser Identität gerichtet, weil sie von dem Bewusstsein der
N o t h we n d i g k e i t begleitet ist , die beiden Vorstellungen
auf ein und dasselbe Ding zu beziehen. Denn wenn die ob-
jective Gültigkeit in Anspruch genommen würde: so würde
damit behauptet, das als Subject gemeinte und das als Prädi-
cat gemeinte Ding können zwei verschiedene Dinge sein, oder
seien zwei verschiedene Dinge, und die Nothwendigkeit sie als
eines zu setzen sei nicht vorhanden. Nur genügt zum Erweise
der Nothwendigkeit, zwei Vorstellungen auf ein einziges reales
Ding zu beziehen, das Gesetz der Uebereinstimmung unter
unsern Vorstellungen nicht , das bloss die Uebereinstimmung
ihres Inhalts gewährleistet ; hier treten vielmehr Voraus-
setzungen über die Natur des Seienden und die Kennzeichen
realer Identität ein, welche nicht mit der Function des Ur-
theilens selbst gegeben sind. So die Voraussetzung, dass in
gewissen Gebieten alle Individuen sich sicher unterscheiden
lassen und es keine zwei so gleiche Gegenstände gebe, dass
wir sie auch bei genauer Betrachtung verwechseln könnten —
darauf beruht z. B. die Ueberzeugung von der Identität der
uns bekannten Personen; wo die Sicherheit unserer Erinne-
rung der äusseren Gestalt zweifelhaft ist, gehen wir auf die
Identität des Bewusstseins und die individuelle Verschieden-
heit und Einzigkeit seines Inhalts zurück, wie Penelope, wenn
sie Odysseus prüft ob er um die Herstellung des Ehebettes
weiss; in Betreff der äusseren Dinge aber sind es zuletzt
räumliche Bestimmungen und der Grundsatz der Undurchdring-
lichkeit, durch welche wir ihre Identität feststellen. Erst aus
solchen aus der Kenntniss der Natur der Dinge flicssonden
Voraussetzungen ergibt sich die Nothwendigkeit , an reale
Identität zu glauben. An solche erst durch anderweite Ueber-
110 I, 2. Das einfache Urtheil. $4.
legungen vermittelte Aussagen über reale Identität schliessä
sich auch die ürtheile an , welche die Coincidenz eines be-
stimmten Subjects mit einem bestimmten Gliede einer Reihe
oder einem sonst durch ein Relationspr'ädicat bestimmten Ein-
zelnen ausdrücken — Augustus ist der erste der Cäsaren,
Aristoteles ist der Lehrer Alexanders u. s. w.
8. Was die objective Gültigkeit der Ürtheile betrifft,
welche Eigenschaften und Thätigkeiten aussagen : so gilt von
ihnen vermöge der doppelten darin vollzogenen Synthesis von
einer Seite alles, was in Beziehung auf die Benennung gesagt
ist ; die an dem Subjecte vorgestellte Eigenschaft oder Thätig-
keit muss mit der allgemeinen Prädicatsvorstellung überein-
stimmen. Andrerseits kann ihre objective Gültigkeit nur
unter der Voraussetzung behauptet werden, dass die Einheit
von Ding und Eigenschaft , von Ding und Thätigkeit über-
haupt ein reales Verhältniss ist, dass wir also ein Ding durch
seine Eigenschaften zu erkennen und einen Wechsel in unserer
Vorstellung als seine Veränderung anzuschauen vermögen.
Dieses Verhältniss des Dings zu seinen Eigenschaften und
Thätigkeiten ist ebenso schon unter den Begriff der Identi-
tät gestellt worden; aber auch hier hat man dem Terminus
eine Elasticität zugemuthet die ihm nicht zukommt. Iden-
tisch ist nur das Ding mit sich als der dauernde Träger
seiner Eigenschaften, als das in der Thätigkeit Eins mit sich
bleibende Subject , aber es ist nicht identisch mit seinen
Eigenschaften noch mit seinen Thätigkeiten, es ist nicht
diese selbst, der Zinnober ist nicht mit seiner Röthe, und
die Sonne nicht mit ihrem Leuchten identisch; und das
Princip , das die ürtheile: der Zinnober ist roth, die Sonne
leuchtet, legitimieren soll, kann nicht Princip der Identität
heissen. Als ein allgemeines Denkgesetz, das zugleich eine
fundamentale Thatsache ausdrückt, kann nur das aufgestellt
werden, dass wir alles Seiende vermittelst dieser Kategorieen
der Inhärenz und Action allein zu unterscheiden, festzuhalten
und zu erkennen vermögen; und dass das Sein eines jeden
Dings zugleich das Sein seiner Eigenschaften und seiner
Thätigkeiten ist.
Ist aber dieses vorausgesetzt, und behauptet unser Urtheilen
86 § 14. Die obj. Gültigkeit d. Urtheils u. das Princip d. Identität, ll 1
das Seiende zu treffen: so kann dies zuletzt auch hier nur
soviel heissen, dass das Seiende, worüber wir urtheilen, diese
bestimmte Bewegung unseres Denkens, diese Eigenschaft von
ihm zu unterscheiden und wieder Eins mit ihm zu setzen,
nothw endig macht.
9. Sofern mit unsern allgemeinen Vorstellungen der Dinge,
welche wir als Prädicate von Benennungsurtheilen verwenden,
bei jeder weiteren Entwicklung des Denkens auch die Eigen-
schafts - und Thätigkeitsurtheile mit reproduciert werden,
deren Subjecte sie gewesen sind, und »Schnee« z. B. nicht ein
unaufgelöstes Bild, sondern ein weisses, lockeres, kaltes, vom
Himmel gefallenes etc. Ding bedeutet , der allgemeine
Name also Inbegriff von Eigenschaften geworden
ist, rückt das Inhärenz- und Actionsverh'altniss implicite auch
in die Benennungsurtheile herein , sofern es zu der dem Be-
wusstsein gegenwärtigen Bedeutung des Worts gehört. Tritt
die reale Identität von Dingen hinzu, welche unter verschie-
dene Vorstellungen fallen (Wasser, Eis, Dampf — Knabe, Mann,
Greis) , so kann ein Substantiv auch nur zur Bezeichnung
eines Complexes von Eigenschaften dienen, die einen zeitlichen
Zustand eines Subjects von bestimmter Art ausdrücken.
§15.
Da alles einzelnSeiende uns inderZeit gegeben
ist, eine bestimmte Stelle in der Zeit einnimmt, als eine Zeit-
I länge hindurch dauernd, und in dieser Zeit wechselnde Thätig-
keiten entfaltend und seine Eigenschaften möglicherweise
verändernd angeschaut wird : so haftet noth wendig allen
unsern Urtheilen über Dasein , Eigenschaften, Thätig-
keiten und Relationen einzelner Dinge die Beziehung zur
Zeit an, und jedes derartige Urtheil kann nur für eine
bestimmte Zeit gelten wollen.
1. Während der Satz von Thatigkeiten selbstver-
ständlich ist, scheint schon einem Theile der E i g e n s c h a f t s-
prädicate die Beziehung zur Zeit zu fehlen , sofern sie
als imveränderlich , mit dem Dasein des Subjects selbst ge-
112 1, 2. Das einfache ürtheil. 87
geben angesehen werden. Allein der allgemeinen Möglichkeit
gegenüber, dass trotz der Identität des Subjects die Eigen-
schaften wechseln, kann dieses Verhältniss nur ausnahms-
weise stattfinden , und ist in der blossen Form des Urtheils
nicht enthalten , sondern höchstens in Neben beziehungen,
welche an der Bedeutung der Prädicate hängen, oder in diesen
selbst (unveränderlich u. s. w.). Nur die Benennung mit
dem Nomen proprium schliesst die Beziehung auf die Zeit
aus, und gilt, der Natur des Prädicats nach, für das Subject
unangesehen von Zeitunterschieden ; die übrigen Benennungs-
urtheile aber lassen die Beschränkung ihrer Gültigkeit auf
eine bestimmte Zeit insoweit zu, als die Benennung Prädi-
cierung von Eigenschaften und Actionen in den Vordergrund
stellt (s. Ende des vorigen § 14), dasselbe also nacheinander
verschieden benannt werden kann.
2. Damit ist es dem erzählenden ürtheil wesentlich,
dass es nur dann vollständig ausgedrückt ist, wenn es zu-
gleich die Zeit mit angibt, für welche die Einheit von Subject
und Prädicat objectiv gültig ist; es muss im Präsens, Prä-
teritum oder Futurum ausgesprochen sein; und es ist
einer der Massstäbe der logischen Vollkommenheit der Sprachen,
wie weit sie im Stande sind, zugleich mit der Prädicierung
das Zeitverhältniss auszudrücken. Nur dem unzusammen-
hängenden Denken des Kindes, das dem jeweiligen Gegenstand
ganz hingegeben ist, wird alles Gegenwart, was ihm eben
vorschwebt ; mit der Klarheit des Selbstbewusstseins und seiner
ordnenden Kraft wächst auch die Fähigkeit der Unterscheidung
der Zeiten.
II. Die erklärenden Ürthelle.
§. 16.
Wesentlich verschieden von den bis jetzt betrachteten,
über Einzelnes aussagenden Ürtheil en sind solche, deren Sub-
ject in der Bedeutung des Subjectsworts besteht,
und in denen von der bestimmten Existenz einzelner, durch
87 § 16. Die erklärenden Urtheile. 113
das Subjectswort benennbarer Dinge nicht die Rede ist, wenn
sie auch häufig durch die Natur des Vorgestellten selbst oder
in Folge des Ursprungs der Vorstellung vorausgesetzt ist.
Ihre objective Gültigkeit ist von der Zeit unabhängig.
Indem sie den Inhalt einer allgemeinen Vorstellung erklären,
können sie i n d i r e c t in Beziehung auf das Seiende eine
Regel ausdrücken wollen.
1. Blut ist roth und Schnee ist weiss, — solche ürtheile
reden nicht von diesem oder jenem Einzelnen und drücken
keine eben gegenwärtige Wahrnehmung aus. Indem das Sub-
jectswort absolut gesetzt ist, kann es nichts ausdrücken als
was seine Bedeutung ausmacht; diese Bedeutung ist ein von
der Vorstellung des einzeln Existierenden losgerissener Vor-
stellungsgehalt von unbestimmter Allgemeinheit, von welchem
man in dieser Unbestimmtheit nicht sagen kann dass er exi-
stiert. Die Behauptung »Blut ist roth« kann darum auch nur
über diesen Vorstellungsgehalt etwas aussagen, und sie meint
nichts anderes, als dass mit dem Subjecte das Prädicat zu-
sammen gedacht werde. Welcher Art die Einheit von Subject
und Prädicat ist, hängt von der Natur der verknüpften Vor-
stellungen ab. Gehören beide derselben Kategorie an, so wird
die einfache Coincidenz der Vorstellungen ausgesprochen ; von
dem was als concretes Ding vorgestellt wird, werden Eigen-
schaften und Thätigkeiten ausgesagt, die mit der Vorstellung
des Dings selbst gegeben sind.
In demselben Sinne gebrauchen wir den Artikel, beson-
ders wo die Subjectsvorstellung die eines Dings von indivi-
dueller Form ist: der Mensch ist zweifüssig.
Erklärend sind aber auch die Ürtheile, die mittels des sog.
unbestimmten Artikels scheinbar von einem einzelnen Indivi-
duum, einem einzelnen Zustand u. s. f. etwas aussagen : eine
Tanne ist eine Conifere, ein Scharlach ist mit hohem Fieber
verbunden u. s. w. ; denn sie meinen nichts bestimmtes Ein-
zelnes, sondern wollen sagen : was eine Tanne ist , ist eine
Conifere; und diese Behauptung kann nur auf dem Verhält-
niss der allgemeinen Vorstellungen Tanne und Conifere, nicht
auf der Erkenntniss des Einzelnen ruhen.
Sigwart , Logik. I. 2. Auflage. ö
114 I, 2. Das einfache Urtheil.
2. Die objective Gültigkeit dieser Urtheile betrii
unmittelbar nur das Gebiet des Vorstellens, und es kann
ihnen nichts anderes ausgesprochen werden, als dass, wo dt
Subject — die nominale Richtigkeit vorausgesetzt — gedacht
werde, es mit dem Prädicate gedacht werde; dass das, was
ich und alle Welt unter »Blut« vorstellt, als roth vorgestellt
wird; und erst abgeleiteter Weise, wenn von der Allgemein-
heit des Worts auf darunter befassbare wirkliche Dinge zu-
rückgegangen wird, trifft das Urtheil auch das Sein dieser
Dinge, und spricht in Beziehung auf sie die Regel aus, dass
wo ein Ding sei, das unter die Benennung des Subjects falle,
ihm auch das Prädicat zukomme.
Wenn man meint, solche urtheile von vorn herein als
durch Induction aus der Erfahrung gewonnene allgemeine
Urtheile ansehen zu können, deren Subject das Einzelne, nur
in unbestimmter Vielheit gedacht, sei: so vergisst man, dass
zu einer solchen Induction vor allem gehört, dass man einen
Massstab habe, nach welchem man die einzelnen Dinge mit
demselben Worte benennt und damit in ein gemeinsames Ur-
theil zusammenzufassen vermag. Dieser Massstab kann aber
nur in der Bedeutung der Wörter liegen, mit welcher wir
an die Benennung herantreten; diese muss schon vorher eine
Festigkeit gewonnen haben, ehe von Inductionsurtheilen die
Rede sein kann. Es ist vollkommen richtig, dass unter dem
Eindrucke fortschreitender Erfahrung, die immer Neues unter
die schon vorhandenen Vorstellungen aufzunehmen veranlasst,
diese sich umbilden, und dass es im Allgemeinen zufällig ist,
wo die gewöhnliche Vorstellungsweise Halt macht und die
Grenzen ihrer Wörter zieht. (Das Wort Blut z. B. dessen
Bedeutung sich zunächst aus der Anschauung des mensch-
lichen, Säugethier- und Vogelbluts gebildet und daraus die
rothe Farbe in seinen Inhalt aufgenommen haben kann, wie
es im populären Sprachgebrauch wirklich der Fall ist, konnte
auf den weisslichen Saft anderer Thiere ausgedehnt werden,
aber erst nachdem es seine ursprüngliche Bedeutung erweitert
hätte.) Allein das Urtheilen des Einzelnen muss auf irgend
einem Stadium ihrer Bildung die Wortbedeutungen voraus-
setzen; sind sie auf einem solchen festgehalten, so gehen sie
8Ö § 16. Die erklärenden Urtheile. 115
mit ihrer festen Bedeutung der Benennung und damit der
Möglichkeit Erfahrungsurtheile aus Induction auszusprechen
voran; bedeutet also »Blut« die Flüssigkeit die in den Adern
der Säugethiere und Vögel ist, so gehört »roth« zu seiner
Bedeutung, und in dieser Festigkeit genommen kann es dann
nicht zur Benennung anders gefärbter Flüssigkeiten verwen-
det werden.
Ehe also ein Urtheil ausgesprochen werden kann, das
den Sinn eines viele Fälle zusammenfassenden Erfahrungs-
urtheils hat — wovon später — , muss ein einfaches Urtheil
vorangehen, dessen Aufgabe es ist, den Inhalt der einheit-
lichen Vorstellung, welche ein bestimmtes Wort bezeichnet,
zu explicieren ; und die allgemeine Regel die darin liegen kann,
ist in erster Linie eine Regel der Benennung, welche verbietet
etwas, was nicht roth ist , Blut zu nennen ; das Inductions-
urtheil hat erst seine Stelle, wo an dem so gemeinschaftlich
bezeichneten eine neue gemeinschaftliche Eigenschaft entdeckt
wird; wenn gesagt wird, mit den Eigenschaften, welche den
Inhalt der Subjects Vorstellung A ausmachen, ist ausnahmslos
B verknüpft, ohne dass B schon vorher in A mitgedacht ge-
wesen wäre.
Nur sofern in der substantivischen Benennung die Vor-
stellung eines dauernden und beharrlichen Dings
und damit zugleich die Möglichkeit veränderlicher
Eigenschaften liegt, kann in einem solchen Urtheil auch
eine Aussage über eine die Dinge selbst betreffende Regel
liegen, nemlich dass den Dingen, welche einmal unter die Be-
zeichnung fallen, das Prädicat immer und stetig zukomme,
mit ihren übrigen Eigenschaften unveränderlich verknüpft
sei. Auf diese Unveränderlichkeit der rothen Farbe
dessen, was unter den existierenden Dingen mit »Blut« zu
bezeichnen ist, richtet sich eigentlich das Urtheil, wo es auf
die Realität hinausgreift.
3. Eine eigenthümliche Stellung nehmen übrigens dabei
die Verba ein. Nur wo von einer continuierlichen , mit der
Existenz der in der Subjects Vorstellung befassten Dinge gleich -
dauernden Thätigkeit die Rede ist, kann genau genommen
ein Verb Prädicat eines allgemeinen Subjects werden (die
8*
116 I, 2. Das einfache Urtheil.
Flamme leuchtet, der Wind weht u. s. f.); wo dagegen das
Verb eine wechselnde, zeitweise beginnende und aufhörende
Thätigkeit ausdrückt, kann es nur durch einen Tropus als
Prädicat erscheinen (das Schaf blockt, das Pferd wiehert u.
s. w.) und der eigentliche Ausdruck könnte nur ein Vermögen
oder eine Gewohnheit, d. h. eine Eigenschaft bezeichnen, aus
der die Thätigkeit hervorgehen kann, nicht die wirkliche Thä-
tigkeit selbst.
4. Stellen wir diese Classe von Urth eilen den zuerst be-
trachteten gegenüber: so springt vor allem in die Augen,
dass ihre Gültigkeit nicht davon abhängig ist, dass hier oder
dort, jetzt oder ein andermal ein der Subjectsvorstellung ent-
sprechendes Ding existiert; dass sie also auch für keine be-
stimmte Zeit gültig sind , vielmehr unbedingte Gültig-
keit gerade darum beanspruchen, weil sie sich bloss auf
Vorgestelltes beziehen. Ihnen gegenüber sind alle bloss
erzählenden Urtheile zeitlich gültige.
5. Damit tritt ein charakteristischer Unterschied in der
Bedeutung des Präsens ein, mit welchem die unbedingt
gültigen Urtheile ebensowohl ausgesprochen werden , als die-
jenigen unter den zeitlich gültigen , welche sich auf die Ge-
genwart beziehen. Was wir als ein gegebenes einzeln exi-
stierendes Ding vorstellen, dem haben wir ebendamit in der all-
umfassenden für alle gleichen Zeit seine Stelle angewiesen ;
es steht seinem Dasein nach zwischen andern Dingen , die
gleichzeitig, vor ihm, nach ihm sind, seiner Beschaffenheit
nach , die unser Urtheil trifft , ebenso in einem bestimmten
Zeitpunkt, und hat eben dadurch seine bestimmte Zeitbe-
ziehung zum Moment des Urtheilens.
Haben wir aber als Subject eines Urtheils die Vor-
stellung , welche die Bedeutung des Worts ausmacht , so
ist diese aus dem zeitlichen Complexe losgerissen, und steht,
dem Wechsel der Zeit entrückt , in einer fortwährenden
inneren Gegenwart vor uns , bei der es keinen Unter-
schied von gestern und heute gibt , wobei vielmehr das Be-
wusstsein der Constanz unseres Vorstellens bei jeder Wieder-
holung alle Zeitunterschiede zwischen den einzelnen Momenten
des lebendigen Vorstellens wieder vernichtet. Als ein so
91 § 17. Der sprachliche Ausdruck des ürtheilsacts. 117
Gedachtes hat das Subject Prädicate die ihm unabhängig von
der Zeit zukommen, die ihm zukommen so oft es vorgestellt
wird. Derselbe Satz : der Himmel ist blau, der den Zustand
des gegenwärtigen Moments bezeichnet, und so als erzählendes
Urtheil ein wirkliches Präsens ist , kann auch den ganz ver-
schiedenen Sinn haben , dass der Himmel , so wie ich ihn
überhaupt vorstelle , wie er festes Object meiner Gedanken
ist, immer als blau gedacht wird ; und jetzt steht dem Präsens
kein Präteritum noch Futurum gegenüber ; die Gültigkeit des
Urtheils wird nicht gemessen an der Wahrnehmung des
Objects in einem bestimmten momentanen Zustand , sondern
an der Constanz des Vor Stellungsinhalts , den ich ein für
allemal mit einem Worte verbinden will, eine Constanz, welche
Bedingung meines Redens und Denkens überhaupt ist.
III. Der sprachliche Ausdruck des ürtheilsactes.
§ 17.
Der sprachliche Ausdruck der im Urtheil sich voll-
ziehenden In-Einssetzung von Subject und Prädicat ist in den
entwickelten Sprachen die F lexionsfor m des Verbs, die
übrigens selbst aus einer ursprünglichen blossen Nebeneinander-
stellung erwachsen ist. Auch wo das Verbum »Sein« als
Bindemittel eines substantivischen oder adjecti vischen Prädi-
cats mit dem Subjecte erscheint, vollzieht sich der Urtheils-
act nur durch die Verbalendung, und das Verbum
»Sein« bildet einen Bestandtheil des Prädicats.
1. Weniger entwickelte Sprachen und auch entwickelte
in einfacheren Fällen begnügen sich für den Ausdruck der
In-Einssetzung im Sinne des Urtheils mit der blossen Neben-
einanderstellung der beiden Wörter, welche Subject und Prä-
dicat ausdrücken, und diese Nebeneinanderstellung hat nicht
bloss anzudeuten, dass die entsprechenden Vorstellungen vom
Sprechenden eben jetzt in Eins gesetzt werden , sondern auch
die objective Gültigkeit des Urtheils auszusprechen ; die Be-
tonung allein kann die Behauptung von der Frage oder
113 I, 2. Das einfache ürtheil. 92
andern Verknüpfungsweisen wie der attributiven unterscheiden,
welche die schon hergestellte und fertige Einheit zweier Vor-
stellungen ausdrückt. Wo dagegen die Entwicklung der
Sprachformen allen logischen Unterschieden gefolgt ist , hat
für die verbalen Prädicate die Personalendung (welche das
pronominale Aequivalent des Subjects mit dem Verbalstamm
unmittelbar verschmilzt und damit an diesem die Congruenz
von Person und Numerus resp. Genus herstellt) die Bedeutung,
die urtheilsmässige Verknüpfung von Subject und Prädicat
zu bezeichnen , und der Indicativ , /.usammen mit der die
Aussage von der Frage unterscheidenden Betonung und Wort-
stellung , die Kraft sie als objectiv gültige zu behaupten ;
während das Tempus angibt , für welche Zeit das ürtheil
gültig sein solle.
In der Personalendung des Indicativs und also nur in
dieser lie,L>t, was die Logiker mit dem Ausdruck Copula be-
zeichnen wollen, dasjenige Element der Sprache, welches eine
Verbindung von Wörtern zum Satze und zum Ausdruck einer
Aussage zu machen vermag. Dabei ist der Sinn der durch
die Flexionsendung ausgedrückten Einheit von Subject und
Prädicat verschieden je nach der Beschaffenheit der vereinigten
Vorstellungen.
2, Wenn in Urtheilen, deren Prädicat durch ein Adjectiv
oder Substantiv ausgedrückt wird , nicht durch einfache
Nebeneinanderstellung (6 jasv ßto? ßpaxü?, i] Be tsxvt^ fxaxpTfj)
das Ürtheil vollzogen, sondern das Verbum Sein zu Hülfe
genommen wird , so ist dieses nicht vermittelst seiner B e-
d e u t u n g das den Vollzug des Urtheils ausdrückende Ele-
ment, sondern die Urtheilsfunction liegt nur in der Flexions-
form desselben. Das Verbum Sein ist aber das Mittel dem
Prädicate die Verbalform zu geben , und die Möglichkeit zu
erreichen, dass es die Endung annimmt, die es äusserlich
erkennbar in das prädicative Verhältniss zu einem Subjecte
setzt. In dem ürtheil »Zinnober ist roth« fügt das Verbum
Sein dem Sinne nach nichts hinzu, was nicht schon in »roth«
seiner Wortgattung nach läge, sofern es doch als Adjectiv
die Hinweisung auf ein Substantiv enthält, dessen Eigen-
schaft es ist; »rothsein« sagt nicht mehr als »roth«, »Rothes«
93 § 17. Der sprachliclie Ausdruck des ürtheilsacts. 119
und »Rothseiendes« als Concreta, Rothsein und Röthe als
Abstracta sind schlechterdings dasselbe ; es wird nur ausdrück-
lich angedeutet, dass »roth« nicht für sich abstract gedacht,
sondern von einem bestimmten Subjecte prädiciert werden soll.
Das Wort »Sein« ist also allerdings ein Mittel, dem Worte
roth diese bestimmte Verwendung äusserlich zu erleichtern,
und — dem bloss attributiven Verhältniss gegenüber, das
die Nebeneinanderstellung bedeuten könnte, — es als ein
Prädicat anzukündigen , aber es ist damit bloss der An-
knüpfungspunkt für die Copula, nicht diese selbst; es macht
nicht das Urtheil, sondern es bereitet dasselbe nur vor. Noch
deutlicher tritt diese Function von »Sein« , den Sinn zu be-
zeichnen , in welchem ein Wort gebraucht werden soll , bei
den Substantiven heraus , welche nicht wie die Adjectiva in
ihrer Form schon die Beziehung auf ein Anderes an sich
tragen , aber doch ihrer Bedeutung nach von Hause aus die
Function eines Prädicats erfüllen können, so gewiss ihre Be-
deutung eine allgemeine ist, und erst durch ein Benennungs-
urtheil einem bestimmten einzelnen Dinge zugeeignet wird.
»Mensch« ist nicht der Name eines bestimmten Individuums,
wiewohl die Vorstellung individueller Gestalt in seiner Be-
deutung eingeschlossen ist; es ist überhaupt kein Name,
sondern das Zeichen eines bestimmten Vorstellungsgehalts.
Demonstrativ oder Artikel machen das Wort erst zum Namen
bestimmter Menschen; »Sein« dagegen macht es zum Prädi-
cat, und es muss immer erst Prädicat gewesen sein , ehe es
Name wird. So ist auch Mensch, als allgemeine Vorstellung,
die erst ihre Beziehung auf ein bestimmtes Individuum er-
wartet, und Menschsein dem Sinne nach dasselbe, das Ver-
bum dient nur die Function als Prädicat äusserlich anzu-
kündigen, die sonst durch Stellung und Betonung allein an-
gekündigt werden könnte. Es kommt ihm also die Function
eines sprachlichen Formelements zu; aber es ist nicht das-
jenige Formelement, welches den Urtheilsact ausdrückt und
den Namen der Copula verdient.
3. Wie kommt es aber, dass gerade das Verbum Sein
verwendet wird, und welcher Zusammenhang besteht zwischen
der Bedeutung, welche »Sein« als selbstständiges Verbum
120 I. 2. Das einfache ürtheil. 94
hat, wo es für sich allein als Prädicat auftritt, und dieser
Function in der Verbindung mit Adjectiven und Substantiven ?
J. St. Mill macht im vierten Capitel des ersten Buches
seiner Logik auf die Zweideutigkeit aufmerksam , welche in
dem Worte Sein liege, sofern es da, wo es als sogenannte Copula
gebraucht werde, durchaus nicht aussagen wolle, dass das Sub-
ject existiere , sondern nur das Verhältniss der Prädication
bezeichne; ein Satz wie: ein Centaur ist eine Erfindung der
Poeten, hebe ja direct die Behauptung auf, dass ein Centaur
ist; und er verwundert sich, dass diese Zweideutigkeit, ob-
gleich sie in den neueren so gut wie in den alten Sprachen
bestehe , von fast allen Schriftstellern übersehen worden sei.
Mill hat Herbart so wenig als andere deutsche Philo-
sophen beachtet. Herbart hat (Einl. in die Phil. § 53) nach
dem Vorgang Fichte's *) mit gewohnter Schärfe hervorge-
hoben , das Urtheil A ist B , und ebenso die Frage : Ist A
wohl B? enthalte keineswegs die gewöhnlich hinzugedachte,
aber ganz fremdartige Behauptung , dass A sei ; denn von A
für sich allein, und von seinem Dasein, seiner Gültigkeit sei
gar keine Rede.
Diese Bemerkung ist unzweifelhaft richtig und hätte
nie bestritten werden sollen**). Nirgends hat ein Urtheil
*) Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Erster Theil § 1,
eine Stelle, an die ich durch Bergmann (Reine Logik I. S. 235) erin-
nert worden bin.
**) Es wird eingewendet (vgl. Ueberweg S. 162) : Sätze wie Gott ist
gerecht, die Seele ist unsterblich, wahre Freunde sind zu schätzen, invol-
vieren allerdings die Behauptung, dass es einen Gott, dass es eine Seele,
dass es wahre Freunde gebe; diese Voraussetzung liegein dem Indicativ;
wer die Vorraussetzung nicht annehmen wolle , müsste jenen Sätzen
die Clausein beifügen wodurch sie zu hypothetischen werden : falls es
einen Gott etc. gibt. Nur wenn der Zusammenhang des Ganzen (wie in
einem Roman) oder der bekannte Sinn eines Wortes (wie Zeus, Sphinx,
Chimäreetc.) auf eine bloss fingierte Wirklichkeit oder eine blosse Namen-
P'rklärung hinweise, sei eine derartige Clausel entbehrlich. In dieser Ein-
wendung ist soviel richtig, dass von denjenigen, die solche Urtheile aus-
sprechen oder hören, die Realität der Subjecte in der Regel vorausgesetzt
wird, weil sonst im Zusammenhange gar kein Motiv wäre sie auszu-
sprechen; aber dies ist etwas gänzlich anderes, als dass das Urtheil selbst,
wie es für sich lautet, die Behauptung der Realität des Subjects involviere,
95 § ^7. Der sprachliche Ausdruck des Urtheilsacts. 12l
von der Form A ist B dadurch , dass Subject und Prädicat
durch »ist« verknüpft sind, die Kraft, das Urtheil »A existiert«
d. h. dass diese durch den Wortlaut des ürtheils, insbesondere durch den
Indicativ, nothwendig mit behauptet werde. Wäre dies der Fall, so wäre
es nicht begreiflich wie eine Ausnahme stattfinden könnte; denn hat der
Indicativ des kategorischen ürtheils mit »ist« die Kraft die Realität
des Subjects zu behaupten, so muss er sie immer und überall haben.
Die Ausnahmen die Ueberweg zulässt, beweisen selbst, dass es nicht
von der Form des ürtheils, sondern von Nebenvorstellungen, die sich an
die Bedeutung der Subjectswörter knüpfen, die aber im ürtheil nicht
ausgesprochen sind, abhängt, ob die Voraussetzung ihrer Existenz »in
der Regel« angenommen wird oder nicht, und welchen Sinn soll über-
haupt die Behauptung der Existenz haben, wo das Subject nicht wie
in dem Satze Gott ist gerecht , oder wahre Freunde sind zu schätzen,
individuelle Wesen als solche bezeichnet, sondern wo es allgemein ge-
setzt ist? Wenn ich sage »Schnee ist weiss«, in welchem Sinne invol-
viert dieses ürtheil die Behauptung, dass Schnee existiert? Nicht in
dem Sinne jedenfalls, den das Präsens des Indicativs anzeigt, wo es
von einzeln existierenden bestimmten Dingen gebraucht wird , dass
eben jetzt Schnee existiere. Denn das ürtheil Schnee ist weiss gilt
Sommer und Winter gleich ; und ebensowenig wird damit gesagt sein
sollen, dass immer Schnee existiert. Soll aber damit behauptet werden,
dass irgendwo und irgendwann solche Körper, wie ich sie unter dem
Worte Schnee vorstelle , wirklich existiert haben, so wäre wieder nur
die Existenz bestimmten Schnees gemeint, die allein behauptet werden
kann, nicht aber von Schnee überhaupt gesagt, dass er existiere. Das
ürtheil Schnee ist weiss gilt aber von Schnee überhaupt, nicht von
diesem und jenem.
Nun ist allerdings mit der Vorstellung, die wir mit »Schnee« ver-
binden , immer die Erinnerung an wirklich wahrgenommenen Schnee
verknüpft, und darum, wegen der Art, wie ich zu der Bedeutung des
Wortes gekommen bin, wird vorausgesetzt, dass es sich um etwas Existie-
rendes handle. Nehme ich aber das vollkommen gleichwerthige ürtheil
' »der Pegasus ist geflügelt« : so ist die Vorstellung von Flügeln ebenso
sicher mit der Vorstellung verknüpft , die ich mit dem Wort Pegasus
verbinde, als die der weissen Farbe mit iSchnee; aber ich habe noch
keinen existierenden Pegasus gesehen, weiss vielmehr, dass er ein Ge-
schöpf der Phantasie ist , und darum wird die Existenz des Pegasus
nicht vorausgesetzt. Das ürtheil selbst aber sagt mir weder, dass Pe-
gasus existiere, noch dass er nicht existiere, sondern nur wie beschaffen
die Vorstellung sei, die ich mit dem Worte verknüpfe. Nehme ich das
ürtheil: die Aeste der Hyperbel sind unendlich, so ist dieses Urtheil
unzweifelhaft gültig , obwohl von der Existenz der Aeste dieser oder
je»er einzelnen Hyperbel gar nicht die Hede sein kann; die unend-
X22 I> ^* ^^^ einfache Urtheil.
einzuschliessen und iiiitzubehaupten ; in vollkommen gleicher
Weise fungiert dieses »ist«, ob von existierenden oder nicht-
lichen Aeste der Hyperbel existieren genau so, wie alle Suhjecte meiner
Urtheile existieren, als Objecte meines Denkens, die ich als überein-
stimmend von allen gedacht voraussetze.
Vorsichtiger hat W. Jordan in seiner Abhandlung ȟber die
Zweideutigkeit der Copula bei Stuart Mill« (Stuttgarter Gymnasial-
programm 1870) diese Frage behandelt. Er sagt zwar S. 13: »Das
»Ist« schliesst durchaus den Begriff der Existenz ein«; aber er gibt
diesem Begriff der Existenz ein viel weiteres Gebiet als Ueberweg,
wenn er S. 14 sagt: »Wo immer das. denkende Subject etwas unab-
hängig von diesem seinem Denkact Vorhandenes annimmt , sei es in
der körperlichen oder geistigen Welt, da wird die Logik den Gebrauch
des Ist anerkennen.« Fassen wir diese Erklärung beim Wort: so ist
allerdings in jedem Urtheilsact , sofern er das Subject des Urtheils
schon vorraussetzt und nicht hervorbringt, etwas von diesem Denk-
acte unabhängig Vorhandenes — nemlich eben die durch das Subjects-
wort bezeichnete Vorstellung anerkannt; und wenn es bei dieser Reali-
tät des Vorgestelltwerdens, die sobald das Urtheil in der Sprache sich
ausdrückt, überdem als eine gemeinsame in mehreren Individuen vor-
ausgesetzt wird, sein Bewenden hätte, so wäre die Frage erledigt, und
das Ist stünde überall mit Recht, sobald das Subjectswort und damit
das Urtheil überhaupt einen Sinn hat; es hätte aber ebendarum mit
der Behauptung der wirklichen Existenz des unter dem Subjectswort
gedachten im gewöhnlichen Sinne von Existieren gar nichts mehr
zu thun.
Das soll nun aber doch nicht gesagt sein ; und Jordan versucht —
gegen Herbart und Mill ~ dem »Ist« seine Bedeutung realer Existenz zu
retten. Einerseits indem die Wirklichkeit, die gemeint ist, der Prädi-
catsbestimmung , aber nicht der Subjectsbestimmung zukomme. In
Sätzen wie Selbsthilfe ist verboten, Masshalten ist schwer, sei aller-
dings die Existenz der SubjectsvoMßtellung dahingestellt, im Prädicat
dagegen sei auf etwas wirklich Existierendes hingewiesen, das Ganze
ein versteckter Existentialsatz : Es gibt Gesetze oder Gründe, welche
die Selbsthilfe verbieten, Umstände, welche das Masshalten erschweren.
Allein ist einmal diese Umschreibung zugelassen, so ist zuletzt auch
der Satz »ein viereckiger Cirkel ist undenkbar« ein Existentialsatz : Es
gibt logische Gesetze, welche den viereckigen Cirkel unmöglich machen.
Nur ist damit der ganze Boden des Streites verlassen, der davon aus-
gieng; ob die Wirklichkeit des Subjects behauptet werde. Dass in
jeder Behauptung, eben weil sie objectiv sein will, die Anerkennung
von objectiven »Gründen« und »Gesetzen« liegt, läugnen wir keines-
wegs ; aber wir läugnen , dass darum die Existenz eines der Subjects-
yorsteliung entsprechenden Dings, resp. Attributs oder Vorgangs be-
I
97 § 17. Der sprachliche Ausdruck des TJrtheilsacts. 123
existierenden Dingen, ob von einzeln vorgestellten oder all-
gemein gedachten Subjecten (denen als allgemeinen die Einzel-
I
hauptet werde. Die andere Distinction Jordans , welche auf das Bei-
spiel Mills vom Centaiiren angewendet wird , ist zutreffender. Wenn
der Satz aufgestellt wird: der Centaur ist eine Erfindung der Poeten,
so nähert sich dieser einer Definition. Unter den Definitionen hebt
nun Jordan eine besondere Classe, die »berichtigenden« hervor, weche
die im Subject gesetzte Vorstellung aufheben und durch eine andere
ersetzen. " Der Satz sagt : der Centaur in dem vom Wort angedeuteten
Sinne eines wirklichen Wesens existiert nicht, sondern die Vorstellung
des Centauren ist eine Fiction. Es ist keine Frage, dass es eine Menge
derartiger Prädicate gibt, welche das Subjectswort, das gewohnheits-
mässig als Bezeichnung eines existierenden Dings genommen werden
konnte , zum Zeichen eines bloss vorgestellten Wesens herabsetzen.
Nur ist nicht zu vergessen, dass unter diesen Prädicaten das Verbum
Sein = Existieren oben an steht : wenn ich von einem Subjecte aus-
drücklich behaupte, dass es existiere, so gilt mir das Subjectswort als
Zeichen einer Vorstellung, und mein Prädicat behauptet, dass dieser
ein wirkliches Ding entspricht.
Neuerdings hat Fr. Kern (die deutsche Satzlehre S. 64 ff.)
wieder entschieden die Ansicht vertreten, dass die Bedeutung des
Wortes ,8ein* immer dieselbe sei, und sich gegen die Unterscheidung
zweier Bedeutungen desselben erklärt. »In den Sätzen »hölzernes Eisen
ist ein Unding« »Ein viereckiger Kreis ist ein Widerspruch« wird die
Existenz des hölzernen Eisens, des viereckigen Kreises mit genau der-
selben Klarheit und Nachdrücklichkeit behauptet , wie in dem Satze
»der Knabe ist im Garten« die Existenz des Knaben. Während aber
. . der Knabe auch ausserhalb meines Denkens existiert . . so existiert
jenes Eisen und dieser Kreis nur in meiner Vorstellung, und zwar mit
der von mir erkannten und ausgesprochenen Eigenschaft, ein Unding
oder ein Widerspruch zu sein, also in einer von mir unabhängigen
Wirklichkeit unmöglich anzutreffen.«
Mit der Distinction aber, dass das eine Subject ausser mir in Wirk-
lichkeit , das andere nur in meiner Vorstellung existiere , ist ja die
Zweideutigkeit des Wortes unmittelbar zugegeben ; denn steht es allein,
im Sinne von »existieren« , so behauptet es , dass das Subject eben
nicht nur in meiner Vorstellung existiere, sondern unabhängig von
derselben; der Satz: Gott existiert - aber nur in meiner Vorstellung,
hebt ja durch den Beisatz den Sinn direct wieder auf, in dem »Gott
existiert« nothwendig zuerst verstanden werden musste. Aber es ist
nicht einmal wahr, dass ein viereckiger Kreis in meiner Vorstel-
lung exibtiert; denn wer vermöchte sich einen solchen zu denken?
Widersprechendes ist nicht bloss in der von mir unabliäni^igeii Wirk-
lichkeit, sondern auch in meinen Gedanken unmöglich; das Prädicat;
124 h 2. Das einfache ürtheil. 97
existenz nicht zukommen kann), ob von Prädicaten die Rede ist,
die einem Existierenden zukommen können oder von solchen,
welche durch ihre Bedeutung die Existenz aufheben; es hat
keine andere Function, als das Prädicat für die Verwendung
im Urtheil formell tauglich zu machen und ihm die Annahme
der Personalendung zu gestatten. In welchem Sinne Subject
und Prädicat Eins gesetzt werden, und ob die Existenz des
Subjects vorausgesetzt, unentschieden gelassen oder aufgehoben
ist , darüber entscheidet einzig und allein die Beschaffenheit
der Subjects- und Prädicatsvorstellungen. Das Quadrat ist
ein reguläres Viereck meint logische Identität; dies ist meine
Uhr reale Identität ; das Gold ist Metall eine Subsumtion
unter eine allgemeinere Vorstellung; das Gold ist gelb die
Einheit von Ding und Eigenschaft; A ist von B eine Meile
entfernt eine Relation ; die Bewegung ist langsam die Einheit
eines Allgemeinen mit seiner näheren Determination u. s. f.
»Socrates ist krank« setzt die Existenz des Subjects voraus,
weil Socrates der Name eines als existierend gedachten Indi-
viduums, und krank ein in bestimmter Zeit wirklich gedachter
Zustand ist; »der Pegasus ist geflügelt« lässt die Existenz des
Pegasus für denjenigen unentschieden , der nicht weiss ob er
es mit dem Namen eines wirklichen oder eines bloss fingierten
Wesens zu thun hat; »der Pegasus ist eine mythologische
Fiction« hebt die Existenz des Subjects auf; nirgends aber
»ist ein Widerspruch« sagt vielmehr, dass ich bei den Worten »Vier-
eckiger Kreis« nicht denken kann, was sie verlangen; es hebt auch die
Existenz in Gedanken auf.
Wenn dann S. 74 das Beispiel angeführt wird, dass einem Zweif-
ler gegenüber mit Betonung gesagt wird : A i s t der Thäter, und dieses
betonte i s t nun die Existenz des A als Thäters nachdrücklich hervor-
heben .«olle, so ist klar, dass die Existenz von A gar nicht angefochten
war, also auch kein Grund vorliegt, sie nachdrücklich hervorzuheben;
bestritten war nicht die Existenz des A, sondern sein Thätersein, das
Recht von dem unbestritten existierenden A das Prädicat Thäter aus-
zusagen. Sonst mfisste ja der Satz »A ist nicht der Thäter« nicht
bloss die Qualität des Thäterseins , sondern die Existenz des A auf-
heben wollen. Ueber die ICinwendungen Bergmanns (a.a.O. S. 235 ff.)
vgl. Vierteljahrsschrift für wiss. Philos. V, 113 ff.
98 § 17. Der sprachliche Ausdruck des Urtheilsacts. l25
ist darüber anderswo etwas abzunehmen als aus der Bedeutung
der Wörter, sei es der Subjects- oder Prädicatswörter.
4. In Beziehung auf die Prädicate können dabei zwei
Classen derselben unterschieden werden.
Alle modalen Relationsprädicate nemlich, welche
ein Verhältniss zu meinem Erkennen ausdrücken , haben (mit
Ausnahme der sinnlichen , wie sichtbar , fühlbar u. s. w.)
durch ihre Bedeutung selbst die Kraft, das Subjectswort zum
Zeichen eines bloss Vorgestellten, abgesehen von der wirklichen
Existenz zu machen, mögen sie seine Existenz bejahen, verneinen
oder unentschieden lassen. Von was ich die Prädicate wahr,
falsch, glaublich, unglaublich, Thatsache, Erfindung, möglich,
unmöglich u. s. w. gebrauche, das ist ebendamit'als ein nur
Vorgestelltes bezeichnet , über dessen Verhältniss zu mir und
meinem subjectiven Denken eben das Prädicat Auskunft geben
soll. Die Sätze : Teils Apfelschuss ist eine Thatsache , der
trojanische Krieg ist ein geschichtlicher Vorgang, Atome sind
wirklich existierende Körper u. s. w. wären schlechterdings
unmöglich, wenn das ,ist' und ,sind' für sich schon die Exi-
stenz des Subjects auszusagen die Kraft hätte.
Zu den modalen Relationsprädicaten gehört aber das ab-
solut gesetzte Verbum Sein — Existieren selbst ; indem es die
Existenz des Subjects ausdrücklich behauptet, entscheidet es
erst die Frage, ob das unter dem Subjectswort zunächst bloss
Vorgestellte auch wirklich sei. Vergl. oben § 12, 7 S. 93.
Bei den andern Präd icaten aber kommt alles darauf
an, über was und in welchem Sinn geurtheilt wird , und dies
lässt sich dem Urtheil an der blossen äusseren Form und
der Verwendung des »Ist« nicht ansehen. Ist das Subjects-
wort allgemein gesetzt und nicht als Name eines oder mehrerer
bestimmter Dinge eingeführt: so kann auch das vermittelst
des Verbums Sein gebildete Prädicat nichts als den Inhalt
dieser Subjectsvorstellung angeben und von einer Existenz
des Subjects ist gar keine Rede. Ob ich sage Gold ist gelb
oder Atome sind untheill)ar - gelb sein und unthcilbar sein
kommen demjenigen zu, was ich unter dem Subjectswort vor-
stelle, die Sätze behaupten aber nicht das Sein oin/(4ner Dinge.
Ob das Subjectswort auf solche anwendbar ist, niiiss anders-
126 I. 2. Das einfache Urtheil.
woher bekannt sein. Tritt aber das Subjectswort von vorn-
herein als Bezeichnung einzelner existierender Dinge auf:
dieses Stück Gold ist gelb , dieses Pferd ist schwarz : dann
ist allerdings die Existenz vorausgesetzt , aber nicht durch
»ist«, sondern durch »dieses«.
5. Dann betrifft aber die »Zweideutigkeit der Copula«
nicht bloss das Verbum Sein, sondern alle Pr'ädicate, welche
an sich reale Zustände und Eigenschaften bezeichnen können,
sofern sie das einemal aussagen wollen, was im einzelnen
Falle wirklich stattfindet, das anderemal, was zu dem vorge-
stellten Subject als seine Eigenschaft oder Thätigkeit gehört,
und zweideutig ist streng genommen nur das Präsens,
sofern es bald die empirische zeitliche Gegenwart, bald die
allgemeine Noth wendigkeit des Denkens ausdrückt. Der Satz:
Grosse Seelen verzeihen Beleidigungen, behauptet weder dass
grosse Seelen existieren, was doch die Voraussetzung des wirk-
lichen Verzeihens ist, noch dass einige grosse Seelen eben jetzt
Beleidigungen verzeihen; sondern er sagt nur, dass wenn einer
eine grosse Seele ist, er Beleidigungen verzeihen rauss. Der
Satz aber »Socrates spricht« behauptet die Existenz des So-
crates so gut als der Satz »Socrates ist krank« : weil Socrates
ein einzelnes existierendes Individuum als solches bezeichnet,
kann von ihm nur eben sofern er existiert geredet werden,
und was ihm an Handlungen oder Eigenschaften zugeschrieben
wird, schliesst seine Existenz immer mit ein*).
6. Wie kommt nun aber das Verbum »Sein«, der Aus-
druck wirklicher Existenz, überhaupt dazu eine formelle Func-
tion zu übernehmen, in der es seine Bedeutung aufgibt, ja
derselben zu widersprechen scheint?
Denn nicht das ist das Merkwürdige, dass die Zweideu-
tigkeit in dieser Beziehung so wenig bemerkt worden ist,
sondern dass sie in allen uns geläufigen Sprachen in voller
Uebereinstinmiung sich findet. Die Erklärung ist nicht schwer.
V^ie üeberweg (S. 162) richtig hervorhebt und wir oben
I
*) Die Theorie, welche das Urtheil »A spricht«, um die unver-
meidliche Copula »ist« zu haben, in »A ist sprechend« verwandelt,
kann wohl als antiquiert gelten.
100 § 17. Der sprachliche Ausdruck des Urtheilsacts. 127
(S. 91) betont haben, ist die Voraussetzung, dass die Dinge
von denen wir reden existieren, in der Regel selbstverständ-
lich, und bedarf keiner ausdrücklicben Versicherung; es in-
teressiert uns nicht, dass die Dinge sind, sondern was und
wie sie sind. Wenn es nun darauf ankommt, die Prädication
nicht bloss durch Nebeneinanderstellung auszudrücken , son-
dern dem Prädicate Verbalform zu geben, bietet ^ich das Ver-
bum Sein' eben wegen seiner Allgemeinheit und Inhaltslosig-
keit von selbst; es ist zunächst immer vorausgesetzt, aber
damit man wisse was man zu wissen wünscht , bedarf es der
näheren Bestimmung des Dieses seins und So seins; wie die
Behauptung der Existenz durch das Hier sein und Jetzt sein
näher bestimmt wird. Das Prädicat roth, das der Wortform
nach schon etwas an einem andern Seiendes bezeichnet, tritt
jetzt als Modification des Seins auf, Roth sein, u. s. w.
Wie nun das Präsens einerseits die empirische sinnliche
Gegenwart ausdrückt , andrerseits die zeitlose Gegenwart in
Gedanken bezeichnet, so erweitert sich auch die Bedeutung
des Seins in dieser Verbindung; das Verhältniss der Eigen-
schaft ist an dem gedachten Ding dasselbe wie an dem in
seiner Existenz sinnlich wahrnehmbaren; wie die Voraus-
setzung des Seins früher bloss mitverstanden war , so kann
jetzt von ihr abgesehen werden ; als Gegenstände meiner Vor-
stellung verändern die Dinge sich nicht; ihr Sein kann auf-
hören, ihr Dieses sein und So sein bleibt, sofern ich sie in
Gedanken festhalte.
Ein Rest der ursprünglichen Bedeutung, und der wich-
tigste , ist aber trotzdem dem Verbum geblieben. In dem
Verbum Sein liegt ursprünglich die reale Existenz. Was exi-
stiert, gilt unabhängig von meinem Denken und gilt für alle.
Diese Objectivität der Verbindung, die mein Urtheil ausspricht,
ist ein wesentlicher Factor des Urtheils selbst; sie, nicht die
Existenz des Subjects wird mitbehauptet; und eben für sie
ist Sein ein ganz passendes Ausdrucksmittel. Es verstärkt
durch seine erweiterte Grundbedeutung , was an sich schon
die Plexionsform zu sagen fähig ist — die Behauptung der
Objectivität und Allgemeingültigkeit des Urtheils.
Dritter Abschnitt.
Die Entstehung der TJrtheile und der Unterschied
analytischer und synthetischer Urtheile.
§ 18.
Unmittelbare Urtlieile sind diejenigen , welche nur
die in ihnen verknüpften Vorstellungen voraussetzen, um sie
als Subject und Prädicat mit dem Bewusstsein der Gültigkeit
zu vereinigen; mittelbare oder vermit t el t e diejenigen,
welche hiezu noch einer weiteren Voraussetzung bedürfen.
Kants Unterscheidung analytischer und syntheti-
scher Urtheile betriift nur das Verhältniss des Prädicats zu
dem durch das Subjectswort bezeichneten, als gegeben ange-
nommenen Begriffe. Sie wird von Kant nicht angewendet
auf diejenigen Urtheile, in denen das Subject eine einzelne
anschauliche Vorstellung ist. Alle Relationsurtheile
ferner müssen vom kantischen Gesichtspunkte als synthe-
tische betrachtet werden, auch wenn sie auf einer Analyse
einer gegebenen Gesammtvorstellung beruhen.
1. Wenn wir, nach Analyse der Functionen, in denen
sich das einfache Urtheil vollzieht, nach der Entstehung des
Urtheils fragen, so betrifft diese Frage nicht die Entstehung
der Vorstellungen , welche das Urtheil verknüpft, weder der
Subjects- noch der Prädicats Vorstellung; diese setzen wir
vielmehr , wo wir bloss von der Analyse des thatsächlichen
Urtheilens reden , als gegeben voraus ; sondern die Frage
betrifft nur die Genesis des Urtheilsactes selbst und
102 § 18. Analytische und synthetische TTrtheile. 129
zwar nach seinen beiden Seiten , der Verknüpfung von Sub-
ject und Pr'ädicat zur Einheit und dem Bewusstsein ihrer
objectiven Gültigkeit.
Diese Genesis kann eine unmittelbare oder mittel-
bare sein. Unmittelbar ist sie, wenn das Urtheil nichts
als die in ihm verknüpften Vorstellungen des Subjects und
Prädicats selbst voraussetzt, um mit dem Bewusstsein objectiver
Gültigkeit vollzogen zu werden ; mittelbar, wenn erst
durch das Hinzutreten anderer Voraussetzungen dieser Voll-
zug möglich wird, sei es dass die Auf einanderbezieh-
ung vonSubject und Prädicat überhaupt mit dem Ge-
danken ihrer urtheilsmässigen Einheit erst einer Vermittlung
bedarf, oder dass wenigstens das Bewusstsein ihrer ob-
jectiven Gültigkeit anderswoher gewonnen werden muss.
Nennen wir vorläufig Grund desUrtheils dasjenige,
was die Einssetzung von Subject und Prädicat herbeiführt:
so ist das unmittelbare Urtheil dasjenige, dessen Grund in
den verknüpften Vorstellungen selbst , für sich , liegt ; das
mittelbare dasjenige, dessen Grund in ihnen nur zusammen
mit anderen liegt; und zwar kann die Vermittlung entweder
Subject und Prädicat überhaupt erst in Beziehung setzen,
indem sie die Frage herbeiführt ob A B sei, oder darüber
hinaus zugleich die Entscheidung der Frage geben, und die
Gewissheit der Gültigkeit des Urtheils A ist B verbürgen.
Soll der Grund nur in den durch das Urtheil verknüpf-
ten Vorstellungen selbst liegen: so muss nach dem Obigen
das Verhältniss derselben ein solches sein, dass die im Urtheil
ausgedrückte Einheit unmittelbar erkannt werden kann. Bei
einem Ben ennungsurtheil bin ich mir ohne weitere
Vermittlung der Coincidenz der gegenwärtigen und der repro-
ducierten , durch das Prädicatswort bezeichneten Vorstellung
bewusst ; sage ich : das ist eine Tanne , so finde ich in der
gegenwärtigen Anschauung eben das, was mit der allgemeinen
Vorstellung der Tanne übereinstimmt. In den unmittelbaren
Eigenschafts- und Thätigkeitsurtheilen ist die dem Prädicat ent-
sprechende Vorstellung ein Bestandtheil der Subjects vor Stel-
lung; indem ich diese zerlegend ein bestimmtes Element, z. B.
die Farbe, hervorhebe , erkenne ich sie übereinstimmend mit
Sigwart, Logik, I. 2. Auflage, 0
130 I. 3. Entstehung der ürtheile. 102.
einer bekannten Farbe ; wiederum habe ich nichts als die gege^^
bene Gesamtvorstellung des Subjects nöthig, um in ihr den dem
Prädicat entsprechenden Bestandtheil zu entdecken.
Bei den Relationsurtheilen kann allerdings nicht eine
Zerlegung der Subjectsvorstellung fürsich das mit
dem Prädicat übereinstimmende Element ergeben; ich mag die
Vorstellung der vor mir stehenden Lampe drehen und wenden,
wie ich will, ich kann in ihr nicht finden, dass sie links vom
Schreibzeug steht. Aber gegeben ist mir jetzt eine zwei Ob-
jecte und ihr Verhaltniss enthaltende Gesamtanschauung ; in-
dem ich diese in ihre Elemente zerlege, gewinne ich das ürtheil,
zu dem nichts erfordert wird, als die in ihm verknüpften Vor-
stellungen; die gegebene Gesamtvorstellung ist der Grund zu
der Behauptung : die Lampe steht links vom Schreibzeug.
Alle unmittelbaren ürtheile sind also noth wendig ana-
lytisch, wenn analytische ürtheile solche sind, welche
nur die Elemente wieder vereinigen, die durch Analyse einer
gegebenen Vorstellung gewonnen waren ; in welchen entwe-
der, wie in den Benennungs-, Eigenschafts- und Thätigkeits-
urtheilen , der Inhalt des Pradicats schon im Subjecte mit
vorgestellt ist, oder, wie bei den Relationsurtheilen, Subject
und Prädicat mit ihrer Beziehung nur die Bestandtheile einer
gegebenen complexen Vorstellun g darstellen. Synthetisch
aber müssten dann die g e f o 1 g e r t e n sein, und diejenigen
welche sonst eines ausserhalb der gegebenen Vorstellungen
liegenden Grundes bedürfen , um die Synthese des ürtheils
herbeizuführen.
2. Dass alle unmittelbaren ürtheile in diesem Sinne ana-
lytisch sind, widerspricht dem Wesen des ürtheils, eine auv-
•8-eaLc; vorjptaxwv zu sein , durchaus nicht. Denn die Analyse
oder Zerlegung ist nur die Vorher eitungdesürt heil s-
acts, nicht dieser selbst; der ürtheilsact stellt vielmehr die
Einheit der unterschiedenen Elemente her (vergl. § 8, 1).
3. Die Termini analytisch und synthetisch in dem eben
bezeichneten Sinne ohne Weiteres zu verwenden, widerräth je-
doch der durch Kant eingeführte Sprachgebrauch. Denn die
obige Unterscheidung unmittelbarer und vermittelter ürtheile
steht auf wesentlich anderem Boden als die K a n t i s c h e ün-
104 § 18. Analytische und synthetische Urtheile. 131
terscheidung der analytischen und synthetischen
Urtheile, sofern es für jene rein auf die jeweilige Genesis des
Urtheils in dem urtheilenden Subjecte ankommt, ob ein Ur-
theil unmittelbar oder mittelbar, durch Zerlegung oder Zu-
sammenfügung entstanden ist; eine Genesis die man aus dem
sprachlichen Ausdruck des Urtheils in der Regel nicht abzu-
nehmen vermag; wahrend Kant sich zunächst an die Vor-
aussetzung bestimmter begrifflicher Bedeutung der als Subjecte
auftretenden Wörter hält. '
»In allen Urtheilen, sagt er in der bekannten Stelle der
Kr. d. r. V. (1. Afl. S. 6. 2. Afl. Einl. lY.) , worinnen das
Verhältniss eines Subi'ects zum Prädicat gedacht wird , ist
dieses Verhältniss auf zweierlei Art möglich. Entweder das
Prädicat B gehört zum Subject A als etwas, was in diesem
Begriffe A (versteckter Weise) enthalten ist; oder B liegt
ganz ausser dem Begriff A , ob es zwar mit demselben in
Verknüpfung steht. Im ersten Falle nenne ich das Urtheil
analytisch, in dem andern synthetisch. Analytische Urtheile
(die bejahenden) sind also diejenigen , in welchen die Ver-
knüpfung des Prädicats mit dem Subjecte durch Identität, die-
jenigen aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität ge-
dacht wird, sollen synthetische heissen. Die ersteren könnte
man auch Erläuterungs-, die andern Erweiterungsurtheile heis-
sen, weil jene durch das Prädicat nichts zum Begriff des Sub-
jects hinzuthun, sondern diesen nur durch Zergliederung in
seine Theilbegriffe zerfallen , die in selbigem schon (obgleich
verworren) gedacht waren ; da hingegen die letzteren zu dem
Begiffe des Subjects ein Prädicat hinzuthun, welches in jenem
gar nicht gedacht war , und durch keine Zergliederung des-
selben hätte können herausgezogen werden«. Folgt das Bei-
spiel der beiden Sätze : alle Körper sind ausgedehnt, und aJle
Körper sind schwer. Um zu jenem Urtheile zu gelangen, darf
ich »jenen Begriff (des Körpers) nur zergliedern, d. i. desMa-
nigfaltigen, welches ich jederzeit in ihm denke, nur bewusst
werden, um dieses Prädicat darin anzutreffen. Dagegen, wenn
ich sage: alle Körper sind schwer, so ist das Prädicat etwas
ganz anderes, als das , was ich in dem blossen Begriff eines
Körpers überhaupt denke.«
132 I» 3. Entstehung der Urtheile. 104
Ebendarum, fügen die Prolegomena § 2, 6 an, sind auch
alle analytischen Sätze Urtheile a priori, wenn gleich ihre Be-
griffe empirisch sind, z. B. Gold ist ein gelbes Metall; denn
um dieses zu wissen, brauche ich keiner weiteren Erfahrung
ausser meinem Begriff vom Golde, der enthielte, dass dieser
Körper gelb und Metall sei; denn dieses macht eben meinen
Begriff aus.
>Erfahrungsurtheile, als solche, fährt Kant in der zweiten
Aufl. fort, sind insgesammt synthetisch. Denn es wäre unge-
reimt, ein analytisches Urtheil auf Erfahruntr zu gründen,
weil ich aus meinem Begriffe gar nicht herausgehen darf,
um das Urtheil abzufassen, und also kein Zeugniss der Er-
fahrung dazu nöthig habe. Dass ein Körper ausgedehnt sei,
ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsur-
theil. Denn , ehe ich zur Erfahrung gehe , habe ich alle
Bedingungen zu meinem Urtheile schon in dem Begriffe, aus
welchem ich das Prädicat nach dem Satze des Widerspruchs
nur herausziehen , und dadurch zugleich der Noth wendigkeit
des Urtheils bewusst werden kann , welche mir Erfahrung
nicht einmal lehren würde. Dagegen ob ich schon in dem
Begriff eines Körpers überhaupt das Prädicat der Schwere
gar nicht einschliesse, so bezeichnet jener doch einen Gegen-
stand der Erfahrung durch einen Theil derselben, zu welchem
ich also noch andere Theile eben derselben Erfahrung, als
zu dem ersteren gehörig, hinzufügen kann. Ich kann den
Begriff des Körpers vorher analytisch durch die Merkmale der
Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc., die
alle in diesem Begriffe gedacht werden, erkennen. Nun er-
weitere ich aber meine Erkenntniss , und indem ich auf die
Erfahrung zurücksehe, von welcher ich diesen Begriff des Kör-
pers abgezogen hatte, so finde ich mit obigen Merkmalen auch
die Schwere jederzeit verknüpft, und füge also diese als Prä-
dicat zu jenem Begriffe synthetisch hinzu. Es ist also die
Erfahrung , worauf sich die Möglichkeit der Synthesis des
Prädicats der Schwere mit dem Begriffe des Körpers gründet,
weil beide Begriffe, ob zwar einer nicht in dem andern ent-
halten ist, dennoch als Theile eines Ganzen, nemlich der Er-
fahrung, die selbst eine synthetische Verbindung der Anschau-
105 § 18. Analytische und synthetische TJrtheile. 133
ungen ist, zu einander, wiewohl nur zufälliger Weise, ge-
hören«.
Wir haben diese Stellen ausführlich mitgetheilt , weil es
von Werth ist, der Voraussetzungen bewusst zu werden, auf
denen diese Unterscheidung ruht. Zuerst hat Kant — nach der
herkömmlichen Auffassung des ürtheils — lediglich den Begriff
im Auge , der durch das Subjectswort bezeichnet wird , und
der seine Bedeutung constituiert ; die Frage ist, ob das Prädi-
cat eines der Merkmale sei, welche ich in dem Begriffe des
Subjects »obgleich verworren« denke, oder ob es in diesem
Begriffe, wie ich ihn eben denke, noch nicht enthalten ist.
Auch bei dem particulären Urtheil »Einige Körper sind schwer«,
das die Prolegomena statt des allgemeinen ürtheils der Kr. d.
r. V. als Beispiel gebrauchen, handelt es sich nur darum, dass
das Prädicat schwer »in dem allgemeinen Begriffe von Körper
nicht wirklich gedacht wird. « Kant setzt dabei in den von ihm
gewählten Beispielen voraus, dass der Begriff aus der Erfah-
rung abgezogen sei, aber nur einen Theil der Erfahrung von
diesem Gegenstande ausmache, oder, wie er sich in der ersten
Aufl. ausdrückt, die vollständige Erfahrung durch einen Theil
derselben bezeichne. Darin liegt zweierlei: einmal dass der
Begriff durch ein Abstractionsverfahren gebildet, seine Merk-
male also (als gemeinschaftliche Merkmale des Verschiedenen
von dem er abstrahiert worden) schon fixiert worden seien;
und dann, dass es sich nicht um den erschöpfenden Begriff
eines Gegenstandes der Erfahrung handle, der sein gesammtes
Wesen ausdrückt , sondern um ein rein subjectives Gebilde,
in welchem aus Ursachen, die dem Wesen des Dinges gegen-
über zufällig sind, ein Theil der Merkmale, die der bestimmten
Classe von Dingen wirklich zukommen, zusammengefasst und
zur Bezeichnung dieser Classe von Dingen verwendet worden
ist. Nur auf Grund einer eben factisch allgemeingeltenden
oder als allgemein geltend vorausgesetzten Bedeutung des Wor-
tes Körper also kann man sagen, das Urtheil, alle Körper sind
ausgedehnt, sei analytisch, das andere synthetisch.
Dass Kant dabei es hinsichtlich der empirischen Begriffe als
zufällig betrachtet, welche Merkmale zur Constituierung eines
solchen Begriffs verwendet werden, geht aus den Ausführungen
134 i» 3. Kntstehung der Urtheile. 106
der Methodenlehre (S. 721 ff. der ersten Ausgabe) unzweifelhaft
hervor. Dort wird gezeigt, dass es im empirischen Gebiete Defini-
tionen in strengem Sinne gar nicht gebe, da sich alle Merk-
male, welche dem Gegenstande, z. B. Gold oder Wasser zu-
kommen, niemals erschöpfen, die Forderung der Ausführlich-
keit einer Definition also nicht erfüllen lasse; wir fassen in
unseren Begriffen nur so viele Merkmale zusammen, als zur
Unterscheidung der Gegenstände hinreichend sind; es ist nie-
mals sicher, ob man unter dem Worte, das denselben Gegen-
stand bezeichnet, nicht einmal mehr, das anderemal weniger
Merkmale desselben denke; die angeblichen Definitionen sind
nur Wortbestimmungen, Nominaldefinitionen. Damit
stimmen auch die §§ 90 — 106 der Kant'schen Logik überein.
Wenn Kant also das Urtheil : »alle Körper sind ausge-
dehnt« für analytisch, »alle Körper sind schwer« für synthe-
tisch erklärt, so kann er nur eine f actisch allgemein geltende
Nominaldefinition voraussetzen. Dagegen richtet sich zunächst
die Kritik Schleiermachers, in der er (Dial. § 308 S. 264 vgl.
S. 563) den Unterschied der analytischen und synthetischen
Urtheile für nur relativ erklärt, weil der Begriff immer
nur werdend sei. Das^^elbe Urtheil (Eis schmilzt) kann ein
analytisches sein, wenn das Entstehen und Vergehen durch be-
stimmte Temperaturverhältnisse schon in den Begriff des Eises
aufgenommen war , und ein synthetisches, wenn noch nicht ;
die Differenz sagt also nur einen verschiedenen Zustand der
ßegriffsbildung aus. Auf das Kantische Beispiel angewandt:
Ehe ich die Erfahrung mache, die mich zu dem Satze berech-
tigt: alle Körper sind schwer, habe ich den Begriff p; des Kör-
pers nur durch die Merkmale der Ausdehnung u. s. w. ge-
bildet; nachdem ich sie aber gemacht habe, kann und muss
ich das Merkmal der Schwere mit in den Begriff des Körpers
aufnehmen, um die vollständige Erfahrung auszudrücken, und
mein Urtheil alle Körper sind schwer ist nun ein analytisches ;
ich könnte jetzt mit diesem Begriffe zu weiterer Erfahrung
schreiten, z. B. sagen alle Körper sind electrisch, alle Körper
sind warm. Wäre mein Begriff der Ausdruck einer vollstän-
digen Erkenn tniss , was freilich erst bei der Vollendung des
107 § 18. Analytische und synthetische IJrtheile. 135
Wissens überhaupt möglich wäre, so wären alle ürtheile der
Art analytisch.
Diese Kritik ist nach Kants eigenen Ausführungen voll-
kommen berechtigt. Ob ein Urtheil über empirische Gegen-
stände analytisch ist oder nicht , kann niemals entschieden
werden, wenn ich nicht den Sinn kenne, welchen der Urthei-
lende mit seinem Subjectsworte verbindet, den Inbegriff der
Merkmale, die er auf diesem bestimmten Stadium der Begriffs-
bildung darin zusammen gefasst hat. Der Fortschritt aber von
einer Bedeutung des Worts zur andern entsteht ihm durch
ein synthetisches Urtheil. Dieses Urtheil ist, was nicht über-
sehen werden darf, das Resultat eines Inductionsschlusses,
denn nur dieser vermag ein allgemeines aus der Erfahrung ge-
zogenes Urtheil zu begründen; es ist aber ebendarum (wie die
Methodenlehre S. 721 ausdrücklich betont) kein nothwendiges
und apodictisches. Diese Unsicherheit fällt weg bei den ma-
thematischen Begriffen, aber nur darum, weil sie vorsätzlich
gemacht sind, und eine willkürliche Synth es is enthal-
ten (a. a. 0. S. 729).
Sollte ein Urtheil an und für sich als analytisch
betrachtet werden müssen: so wäre offenbar vorausgesetzt,
dass keine subjectiven Differenzen zwischen den Begriffen
wären, welche Verschiedene mit demselben Worte verbinden
können; unter der Voraussetzung also vollkommen fester und
abgeschlossener Bedeutung der Wörter kann es Ürtheile geben,
die sicher analytisch sind ; sie sind in diesem Fall mit der an-
erkannten Bedeutung des Wortes gegeben. Das Kantische Bei-
spiel ist streng richtig, wenn vorausgesetzt ist, dass mit dem
Worte Körper immer Jedermann das Merkmal ausgedehnt,
Niemand je das Merkmal schwer verbindet.
Es ist aber ebenso klar, dass damit schliesslich jedes
Motiv wegfällt, das mich vernünftigerweise bestimmen könnte
solche Ürtheile auszusprechen, da sie lauter Binsenwahrheiten
sind, die niemanden etwas sagen. Wer wird sich in Urtheilen
herumtreiben, wie alle Dreiecke sind dreieckig, alle Vierecke
sind viereckig? Ein in diesem Sinne analytisches Urtheil
kann immer nur für den ausgesprochen werden, der in Ge-
fahr ist die Bedeutung eines Wortes zu vergessen, die Merk-
136 I» 3. Entstehung der ürtheile. 107. 108
male des Begriffs nur »verworren« zu denken, es über seine
Sphäre auszudehnen u. s. w. , d. h. für denjenigen für den
es streng genommen schon nicht mehr analytisch ist; denn
so lange er selbst die Merkmale nur verworren denkt, kann
er es nicht einmal vollziehen ; und so führen die analy-
tischen ürtheile in diesem Sinne von selbst zu denjenigen
hinüber, welche die unverstandene Bedeutung eines Worts dem
Unkundigen angeben , die mit ihrer Behauptung nicht mehr
das Gedachte, sondern nur die Wörter treffen. Sie sind streng
analytisch für den der der Sprache mächtig ist ; der aber,
der sie erst lernt, vollzieht synthetische ürtheile, nur so dass
er nicht auf Grund seines eigenen Wissens urtheilt, sondern
auf Grund eines Glaubens an die Aussage des Andern.
4. Mit dieser Ausführung sowohl bei Kant als bei Schleier-
macher ist nun aber noch nicht gesagt, wie es denn mit den
Urtheilen steht, die unter die Voraussetzung deswegen nicht
fallen, weil ihre Subjecte gar nicht Begriffe sind, und weil
aus der sprachlichen Bezeichnung gar nicht bestimmt werden
kann, welche Vorstellung der ürtheilende hat, darum nicht,
weil nicht über den Inhalt der durch das Subjectswort be-
zeichneten Vorstellung in ihrer Allgemeinheit etwas ausgesagt
wird, sondern über ein concretes Ding, das wohl unter den
allgemeinen Begriff fällt, aber als einzelnes und concretes durch
das Subjectswort nicht vollkommen bezeichnet werden kann *).
Der Art aber sind alle wirklichen und ursprünglichen Erfah-
rungsurtheile. Wir machen unsere Erfahrung an Einzelnem,
die Synthesis in dem synthetischen ürtheil »alle Körper sind
schwer« ist durch ürtheile bedingt, deren Subjecte bestimmte
Körper sind , in letzter Instanz durch die einzelne Wahrneh-
mung und Beobachtung. Vergegenwärtigen wir uns nun den
Vorgang, der irgend einem Wahrnehraungsurtheil zu Grunde
liegt, z. B. diese Rose ist gelb, diese Flüssigkeit ist sauer u.
s. f. : so scheint hier, wenn wir auf die Wörter und ihre Be-
deutung sehen, ganz evident eine Synthesis vorhanden zu sein ;
denn in dem Begriff der Rose liegt es nicht gelb zu sein, im
Begriff der Flüssigkeit liegt es nicht sauer zu sein; und in
*) Vergl. Trendelenburg Log. Unters. 2. Auö. II, 241. 3. Afl. 265.
109 §. 18. Analytische und synthetische Urtheile. 137
der Bedeutung von »diese«, was eine blosse Relation ausdrückt,
liegt auch nichts woraus etwas abzunehmen wäre. Allein um
die Bedeutung der immer allgemeinen Wörter
handelt es sich auch gar nicht; »diese Rose« ist die
Bezeichnung eines concreten Dings, das nur sehr unvollkommen
in seiner concreten Einzelnheit durch das Wort bezeichnet
werden kann, das »diese« hat nur die Function durch das
Demonstrativ dem der gegenwärtig ist die Anschauung vorzu-
fiähren, die durch Wörter gar nicht ausdrückbar ist; und dieses
.anschauliche Ding ist das Subject meines Urtheils , von dem
ich aussage dass es gelb sei.
Ich könnte mich begnügen zu sagen : dies ist gelb ; das
Subject von dem ich urtheile wäre dasselbe, nur in der Sprache
noch unbestimmter ausgedrückt. Wenn ich sage : diese Rose
ist gelb , so liegt darin eigentlich ein doppeltes Urtheil ; zu-
erst ein Benennungsurtheil : dies ist eine Rose ; mit diesem
Benennungsurtheil habe ich meine concrete Vorstellung unter
ein allgemeines Bild subsumiert, ihrer ganzen Form, ihrem
Bau u. s. w. nach fällt mir die concrete Anschauung mit dem
allgemeinen Bilde zusammen. Aber dieses Benennungsurtheil
wird nur nebenher gefällt; es erscheint nicht als solches,
sondern nur in seinem Resultate, dem Subjectswort mit welchem
ich dieses Ding bezeichne.
Das vorliegende Urtheil selbst aber sagt aus, dass dies,
was ich eine Rose nenne, gelb ist. Auf Grund wovon? Nicht
auf Grund einer Synthesis zwischen »Rose« und »gelb«,
sondern auf Grund einer Analyse meiner Anschauung , in
der mit Form und Bau auch die gelbe Farbe in ungeschiedener
Einheit enthalten ist. Ein Element meiner Anschauung ist
identisch mit dem was ich gelb nenne, und dieses prädiciere
ich denn von dem Ganzen in meinem Eigenschaftsurtheil.
Oder genauer, wenn wir den Process von Anfang be-
schreiben : in meiner Anschauung habe ich zunächst die Elemente
beachtet, wonach sie mit dem allgemeinen Bild der Rose zu-
sammenfällt, daher die Benennung des Subjects; ich habe ein
weiteres Element darin beachtet, das mit der Benennung noch
nicht ausgedrückt ist ; daher das Urtheil.
Das Verhältniss der »Begriffe« Rose und gelb kommt
138 I. 3. Entstehung der Urtheile. 109. 110
allerdings dabei in Betracht. Wäre »gelb« in »Rose« analytisch
enthalten, wie »weiss« in Schnee oder »kalt« in Eis, so hätte
ich in der Regel kein Motiv es ausdrücklich zu behaupten;
mit der Benennung »Rose« wäre auch dies schon ausgedrückt
gewesen; da dem nicht so ist, muss ich, um meine Anschauung
vollständig zu beschreiben , zu der Bezeichnung »Rose« das
Prädicat gelb noch hinzufügen; und derjenige der etwa in
einer Beschreibung mein Urtheil hört, vollzieht eine Synth esis,
indem er zu dem Bild, das ihm das Wort Rose erweckt, die
besondere Bestimmtheit der Farbe hinzufügt. Ich aber, der
Urtheilende, habe bloss meine Subjectsvorstellung analysiert.
Aber das andere Beispiel: diese Flüssigkeit ist sauer?
findet nicht hier eine Synthesis statt? Allerdings, aber vor
dem Urtheil, nicht durch das Urtheil. Das Beispiel unter-
scheidet sich von dem vorangehenden dadurch, dass verschie-
dene Sinne concurrieren. Ob etwas Flüssigkeit ist oder nicht,
pflege ich durch das Auge zu unterscheiden. Das vorausge-
setzte Benennungsurtheil bewegt sich also in lauter Gesichts-
vorstellungen. Nun bringe ich die Flüssigkeit auf die Zunge
und entdecke ihren sauren Geschmack ; und ich spreche meine
Wahrnehmung in dem Urtheile aus : diese Flüssigkeit ist
sauer. Um das Urthei! aussprechen zu können, muss ich
schon meine Geschmacksempfindung auf dasselbe Object be-
zogen haben , das mir durch das Gesicht bekannt war ; ich
muss gewiss sein, dass was meine Zunge berührt dasselbe ist
was ich vorher im Glase gesehen ; sonst habe ich für das
Prädicat »Sauer« kein Subject und kann nicht urtheilen, kann
nicht das Prädicat Sauer auf das Subject Flüssigkeit beziehen
und diese Beziehung in einem Eigenschaftsurtheil aussprechen.
Mein Urtheil analysiert also eine Combination, welche den
Wahrnehmungsprocess ausmacht ; aber die Function der Be-
ziehung der Geschmacksempfindung auf ihr Object ist eine
andere, als die Function des Urtheils. Jene lautet, im Urtheil
ausgedrückt : Was sauer schmeckt ist dasselbe was ich vorher
als Blüssigkeit gesehen; diese lautet: Diese Flüssigkeit hat
die Eigenschaft sauer zu sein. Ich muss das Sauersein an
ihr und in ihr erkannt haben, ehe ich es prädicieren kann.
5. Genauer zugesehen ist nun, um auf das Kantische
111 §. 18. Analytische und synthetische Urtheile. 139
Beispiel zurückzukommen, doch ein zureichender, wenn auch
von Kant selbst nirgends angedeuteter Grund vorhanden , der
es rechtfertigt, wenn er das Urtheil »alle Körper sind schwer«
für synthetischi erklärt. Nur liegt der Grund nicht in dem
Begriffe »Körper«, sondern in dem Wesen des Prädicats.
Schwer ist ja, genau betrachtet, einRelationsprädicat;
es betrifft nicht, was ein Körper für sich als isolierbarer Gegen-
stand meiner Anschauung und meines Denkens ist, sondern
was er im Yerhältniss zu andern Körpern ist. Das Urtheil
»alle Körper sind ausgedehnt« gilt in ganz gleicher Weise
von jedem einzelnen, wenn ich ihn auch allein in der Welt
dächte ; das Urtheil »alle Körper sind schwer« drückt eine Be-
ziehung jedes einzelnen zu allen andern aus, und kann also in dem
»Begriff eines Körpers überhaupt« noch nicht enthalten sein.
Ist dies, wie ich glaube, neben der geschichtlichen Nach-
wirkung der alten Cartesianischen Definition von Körper der
verborgene Grund zu der scheinbar unmotivierten Distinction
Kants , so fällt daraus auch ein Licht auf seine synthe-
tischen Urtheile a priori: denn die Beispiele , die
er von solchen gibt, sind alle Relations urtheile. Dass
7 + 5= 12 sei, ist ein Relationsurtheil über die Zahlen, die
durch 7+5 und durch 12 dargestellt sind ; das Urtheil be-
hauptet ihre Gleichheit. Das Prädicat »B gleich« kann
selbstverständlich niemals in dem Subjecte A für sich enthalten
und mitgedacht sein und durch Analyse desselben entdeckt
werden, weil ausser der Vorstellung von A auch die von B
nöthig ist, um es überhaupt zu denken ; und es ist vollkommen
richtig, dass in dem Ausdruck 7+5 die Gleichheit mit 12
noch nicht analytisch enthalten, sondern erst durch wirkliches
Addieren, durch Fortgehen zu einer Zahl, die um 5 grösser ist
als 7 entdeckt wird ; das Urtheil ist überhaupt erst möglich,
wenn die Addition vollzogen und zw^ei vergleichbare Zahlaus-
drücke damit gegeben sind ; dann aber ist es analytisch,
sofern die Anschauung der gleichen Zahl Einheiten , die auf
die eine wie auf die andere Weise gewonnen wird, den Grund
des Urtheils abgibt. Nicht im Urtheilen selbst wird das Hin-
ausgehen über die Vorstellung 7 f 5 vollzogen , sondern in
dem was dem Urtheil vorangeht und die Vergleichung erst
140 I' 3. Entstehung der Urtheile. 112
möglich macht ; sobald diese möglich ist, ist das ürtheil blosse
Analyse der gegebenen Relation. Aehnlich ist's mit Kants
geometrischem Beispiel, dass die gerade Linie der kürzeste
Weg zwischen zwei Punkten sei. »Der kürzeste Weg« ist
ebenso ein Relationsprädicat, das in der Vorstellung
der geraden Linie für sich noch nicht liegen kann; es setzt
Vergleichung mit anderen Linien voraus. Aber die Vor-
stellung der geraden Linie ist in der Anschauung niemals
möglich ohne den Raum, in dem sie gezogen ist und der die
Möglichkeit anderer Linien neben ihr enthält; und die Ge-
sammtanschauung, welche die Gerade zwischen anderen dieselben
Punkte verbindenden Linien darbietet, ist dasjenige, was dem
Urtheil zu Grunde liegt, und was in demselben analysiert wird.
Somit sind auch diese synthetischen Urtheile a priori , sofern
sie unmittelbar sind, in Wahrheit analytisch, weil es sich darin
gar nicht um eine Explication des Begriffs handelt, der durch
das Subjectswort für sich ausgedrückt ist, sondern um ein com-
plexes Object, das durch das Subjectswort zwar zu einem Theile
bezeichnet wird, ausser dem Subject des Urtheils aber noch an-
deres enthält. In demjenigen, was nicht durch das Subjectswort
bezeichnet ist, liegt der Grund des Urtheils.
Ueber den Grundsatz der Causalität werden wir später
reden müssen.
6. Die Kantische Unterscheidung der Urtheile in analy-
tische und synthetische trifft im Gebiete der empirischen Begriffe
Urtheile mit ganz verschiedenen Subjecten,
und damit auch einen verschiedenen Grund der Gültigkeit der-
selben. Seine analytischen Urtheile sind solche, in denen ganz
ohne Rücksicht auf das in der Anschauung v(>rgestellte Seiende
nur der Inhalt eines irgendwie in einem Worte fixierten
Begriffes expliciert wird; seine synthetischen Urtheile
setzen die Anschauung voraus und die synthetische Verbindung
der Anschauungen in der Erfahrung ; ihre Subjecte sind Dinge,
welche unter das Wort fallen, aber nur unvollständig durch
das Wort bezeichnet werden ; jene sind erklärend, diese erzählend.
Haben wir uns aber überzeugt, dass auch in den Wahr-
nehmungsurtheilen eine Analysis stattfindet, nur nicht des
Begriffs, sondern der Anschauung, die allerdings durch eine
113 § 18. Analytische und synthetische Ürtheile. l4l
Synthesis, nur nicht durch eine im Urtheil vollzogene, sondern
diesem vorausgehende Synthesis zu Stande kam : so ist danach
auch die Kantische Behauptung zu prüfen, dass in den ana-
lytischen Urtheilen die Verknüpfung von Subject und Prä-
dicat durch Identität , in den synthetischen nicht durch
Identität gedacht werde. Lassen wir den Terminus Iden-
tität, den wir oben (S. 107 ff.) als unpassend nachgewiesen,
für jetzt gelten : so ist nicht abzusehen, wie irgend ein (be-
jahendes) Urtheil ohne Identität, d. h. ohne das Bewusstsein
der Einheit von Subject und Prädicat ausgesprochen werden
könne. Auch das Wahrnehmungsurtheil setzt sein Prädicat
in dasselbe Verhältniss zu seinem Subjecte, wie das begriff-
liche Urtheil ; und dass keine Identität gedacht werde im Er-
fahrungsurtheil, gilt nur, wenn man nicht auf das eigentliche
Subject des Erfahr ungsurtheils sieht, sondern auf die Bedeu-
tung des Worts mit dem es bezeichnet wird , oder den Be-
griff der Identität auf das Gebiet der blossen Begriffe be-
schränkt, was willkürlich ist.
Insofern aber hat Kant Recht, als ein verschiedener Grund
der Gültigkeit seiner analytischen und seiner synthetischen
Ürtheile a posteriori da ist. Jene setzen nichts voraus als
die Gewohnheit mit einem Worte bestimmte Vorstellungen zu
verbinden, sie bedürfen also nur der Constanz der Vor-
stellungen und der Uebereins t i mmung im Sprach-
gebrauch, um immer wieder aufs Neue vollzogen zu wer-
den; bei diesen ist der letzte Grund der Gültigkeit eine in-
dividuelle T hat Sache der Anschauung, die sich als
solche gar nicht zum Gemeingut machen lässt. Die Noth wen-
digkeit jener Ürtheile ist begründet in dem irgendwoher ent-
standenen Bestände unserer allgemeinen Vorstellungen; die
Nothwendigkeit dieser in den Gesetzen, nach denen wir die
Vorstellungen des Einzelnen mit dem Bewusstsein ihrer ob-
jectiven Realität bilden. Und hier kehrt auch der Unterschied
in der Bedeutung des Urtheils wieder, dessen Erkenntniss sich
an die Zweideutigkeit der Copula knüpfte ; in den Urtheilen,
die Kant analytische nennt, ist vom Sein ihrer Subjecte gar
nicht die Rede ; in denen, die er synthetische nennt, bezeichnet
das Subjectswort »Gegenstände einer möglichen Erfahrung«.
142 1. 3 Entstehung der Urthcile. 113. 114
§. 19.
Soll ein Urtheil zu Stande kommen, in welchem mit der
Subjectsvorstellung nicht unmittelbar die Prädicatsvor-
stellung als Eins erkannt wird: so bedarf es einer Ver-
mittlung, sowohl um die B ezieh ung eines ausserhalb
des Subjects liegenden Prädicats auf dieses her-
beizuführen, als um diese Beziehung als ein Eins-
sein im Sinne des Urtheils erkennen und desselben
gewiss werden zu lassen.
1. Das nächste und geläufigste Beispiel eines vermittel-
ten, ein Prädicat zu einem gedachten Subject erst hinzufügen-
den und in dasselbe aufnehmenden Urtheilens ist der Denk-
act desjenigen , der ein Urtheil , das er selbst zu vollziehen
weder Veranlassung noch Grund hat, von einem andern hört.
Alles wirkliche Lernen ist vermitteltes Urtheilen. Die socra-
tische Maieutik freilich, welche von dem Satze ausgeht, dass
es kein Lernen, sondern blosse Erinnerung gibt, begnügt sich
dadurch , dass sie Subjects- und Prädicatsvorstellungen ver-
mittelst der Frage überhaupt ins Bewusstsein ruft, die blossen
Materialien zu liefern, die Urtheile aber den Gefragten selbst
vollziehen zu lassen, und so die üeberzeugung von ihrer Gül-
tigkeit auf seine eigene Einsicht zu gründen; und wäre sie
vollkommen durchgeführt, so würde allerdings alles Urtheilen,
das sie hervorruft, unmittelbares, die Prädicate in den Subjec-
ten selbst findendes, analytisches Urtheilen sein, und der fra-
gende Maieute träte nur in die Rolle der psychologischen Re-
productionsgesetze, welche gerade die zum Prädicat geeignete
Vorstellung dem Subjecte zuführen , damit sie von der fort-
während lebendigen Lust zu urtheilen ergriffen werde.
Allein zu diesem Process haben Lehrende und Lernende
selten Zeit ; alles Lernen beginnt vielmehr mit der Tradi-
tion, bei der der Lernende die ihm vorgesprochenen Urtheile
aufnimmt und nachbildet; und eben sofern er lernt, nimmt
er auf Veranlassung des gehörten Satzes in ein Subject, dessen
Vorstellung ihm das Subjectswort erweckt, ein Prädicat auf,
115 § 19. Der Process des vermittelten Ürtheiiens. l43
hinsicMicli dessen das Subject noch unbestimmt gewesen
war. Wer lernt, dass Eis gefrorenes Wasser ist, für den ist
»Eis« in der Anschauung gegeben, aber seine Entstehungs-
weise unbekannt, und keinerlei Beziehung zu »Wasser« in
seiner Anschauung enthalten ; wer lernt , dass die Erde sich
bewegt, für den tritt zu der Vorstellung der Erde die ihr
völlig neue Bestimmung der Bewegung, und er ist aufgefor-
dert, Subject und Prädicat in eine Einheit zu setzen, die ganz
gegen seine Gewohnheiten geht. Erst wenn er das Gehörte
verstanden, d. h. die verlangte Synthese wirklich vollzogen
hat, hat er als Resultat seines Denkactes gewonnen, was der
Lehrende als Ausgangspunkt hatte, die Einheit von Subject
und Prädicat in dem durch ihre Kategorie bestimmten Sinne —
insoweit freilich noch mit einer individuellen Differenz zwischen
Lehrendem und Lernendem, als die Wörter einerseits in ihrer
Bedeutung nicht absolut fixiert und für beide gleich werthig
sind, andrerseits selbst dann bei der Anwendung auf Einzelnes
noch eine grössere oder geringere Breite der Wahl zwischen
den einzelnen Abstufungen der Bedeutung gestatten würden.
In dem Masse als der Einzelne unwissend ist, und mit
seinen Wörtern erst arme , auf unvollständiger Kenntniss
ruhende Vorstellungen verbindet, ist er auf solches synthe-
tisches Urtheilen angewiesen, durch das ihm allmählich die
Wörter gehaltreicher werden, indem er immer mehrere einzelne
Bestimmungen mit ihnen verknüpfen lernt. Unter »Löwe«
denkt das Kind zunächst nur an die äussere sichtbare Form,
die ihm sein Bilderbuch zeigt ; aus Erzählungen und Schilde-
rungen aber bereichert sich ihm die Vorstellung durch alle
Eigenschaften und Gewohnheiten des Thieres; der Zoologe
hat die erfüllte Vorstellung.
Je vollkommener das Wissen und je reicher damit die Be-
deutungen der W^örter, desto weniger Raum mehr bleibt für
solche Synthesen, in denen etwas hinzugelernt wird ; und zuletzt
uiüsste sich das synthetische Urtheilen auf dasjenige Gebiet
beschränken, was niemals Gegenstand der Bezeichnung durch
das Wort sein kann, auf das einzelne Factum für jeden der es
nicht selbst beobachtet, auf die einzelnen Veränderungen und
Relationen, die allein in zeitlich gültigen Urtheilen ausdrück-
144 ^ 3. Entstehung der Urtheile. 116
bar sind. Alle Urtheile, welche die Bedeutung des Worts,
die allgemeine Vorstellung des Gegenstands betreffen können,
sind dann analytisch. (In diesem Sinn hat Schleiermacher
dem eigentlichen , synthetischen Urtheile das Gebiet der ein-
zelnen Thatsachen zugewiesen. Dialektik § 155. S. 88. 405.)
2. Wo es sich um Lernen durch Tradition handelt,
ist der Grund der Gewissheit des Urtheils für den Lernenden
bloss die Autorität des Lehrenden ; die objective Gültigkeit
wird im Vertrauen auf das Wissen und die Wahrhaftigkeit
des Lehrenden angenommen, ihm geglaubt. Da alle erzählen-
den Urtheile für den Hörenden nothwendig synthetisch sind, so
sind es auch diese, die ihrer Natur nach sich an den Glauben
der Hörenden wenden und diesen verlangen; und es gibt
neben der eigenen Wahrnehmung (und dem was etwa daraus
gefolgert wird) kein Wissen um Einzelnes anders als auf dem
Wege des Glaubens, der in diesem Falle der historische
Glaube ist.
3. Ein ganz ähnlicher Process , wie durch das Lehren
und Erzählen, das zu einer noch bestimmbaren Subjectsvor-
stellung Prädicate herzubringt und dieselben mit ihr in Eins
zu setzen auffordert , wird auch durch das innere Spiel
unsererVorstellungen eingeleitet, welches durch die
Gesetze der associierenden Reproduction und die Thätigkeit
der von Analogieen geleiteten Einbildungskraft bestimmt wird.
Wenn durch Wahrnehmung oder Erinnerung irgend ein Ob-
ject ins Bewusstsein tritt, so werden von ihm nicht bloss die
Prädicate herbeigerufen, welche mit seinem gegenwärtigen und
vorgestellten Inhalte übereinstimmen und zu unmittelbaren
Urtheilen führen, sondern Erinnerung, Association, Analogie
bringen auch noch andere Vorstellungen herbei , welche als
Prädicate mit dem Subjecte sich zu vereinigen streben , ohne
dass sie in seiner eben gegenwärtigen Vorstellung schon
enthalten wären. Von einer Seite kann schon der S. 66
besprochene alltägliche Fall hieb er gezogen werden, dass die
Gesichtsbilder der einzelnen Objecte die Erinnerung an ihre
übrigen Eigenschaften herbeirufen, und diese sofort als Prä-
dicate ihnen zugetheilt werden. (Dies ist eine Traube —
dies ist süss — dies ist ein Stein — hart u. s. w.) Während
116. 117 § 19. t)er Process ^es vermittelten Frtheilens. 145
sich aber liier mit absoluter Sicherheit die Association so voll-
zieht, dass das Urtheil schon die ergänzte Vorstellung trifft
(s. 0.) : so schliessen sich daran mit unmerklichen Abstufungen
Fälle, in denen die Verschmelzung nicht sofort eintritt, viel-
mehr die herbeigerufene Vorstellung — mit Herbart zu reden
— in der Schwebe bleibt, und nur die Erwartungeines
U r t h e i 1 s herbeiführt. Dies tritt am deutlichsten da ein,
wo verschiedene einander ausschliessende Vorstellungen herbei-
gezogen werden und ein Wettstreit entsteht; so wenn ich eine
menschliche Gestalt von Ferne sehe, die mir zugleich das Bild
von A und das von B erweckt, bald diesem bald jenem zu
gleichen scheint.
Auf solchen Associationen beruhen insbesondere alle Ur-
theile, die in die Zukunft hinausgreifen; sie können nie-
mals aus der Analyse der Gegenwart hervorgehen, sondern
sind durch irgendwelche Folgerungen vermittelt. Der Schnee
wird schmelzen — das kann ich ihm nicht ansehen, sondern
aus früherer Erfahrung denke ich zu der gegenwärtigen An-
schauung ein Prädicat hinzu, das in dieser noch nicht ent-
halten ist.
4. Die allgemeine Neigung zu urtheilen und Neues mit
schon Bekanntem zu verknüpfen ist so stark , dass , wo eine
Hemmung nicht stattfindet, dieselben Processe, welche das
Prädicat herbeibringen, sehr leicht auch das Urtheil entstehen
lassen, d. h. den Glauben an die objective Gültigkeit der auf-
gegebenen Synthese herbeiführen. Je ungeschulter das Denken
ist, desto unvorsichtiger ; desto weniger ist die Differenz zwischen
rein subjectiven und psychologischen Combinationen und ob-
jectiv gültigen bekannt; desto leichter wird geglaubt, was
einem einfällt, zumal wenn es die mächtige Hülfe eines Wunsches
oder einer Neigung findet. Die Erinnerung an einen oder
wenige Fälle, in denen einem Subject A ein Prädicat B zukam,
ist in der Regel genügend, jedem Subjecte, das auf den ersten
Anblick A ähnlich ist, das Prädicat B zuzusprechen; und es
ist oft kaum ein Bewusstsein vorhanden von dem Processe
des Folgerns, durch welchen die Synthese des Urtheils zu
Stande kommt. Diese Leichtgläubigkeit des natürlichen Denkens,
die Quelle einer Menge von Täuschungen, voreiligen Annahmen,
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. IQ
146 1. 3. Entstehung der Urtheile. 117. 118
abergläubischen Meinungen, ist zugleich die unentbehrliche
Bedingung, unter der wir allein Erfahrungen machen und
über das Gegebene hinausgehen lernen. Wie es mit der Ver-
allgemeinerung der Vorstellungen gieng , dass wir dieselbe
nicht zu lernen, sondern vielmehr zu hemmen, und das Unter-
scheiden zu üben haben , so geht es auch mit dem über das
Gegebene hinausgreifenden Urtheilen ; unsere natürlichen Nei-
gungen gehen immer dahin, uns eine Menge von Prädicaten
zuzuführen und ihre Beilegung zu vollziehen, was wir lernen
müssen ist Vorsicht und Zweifel, Unterscheidung des Gültigen
und des Ungültigen , Besinnung darüber, welche dieser Syn-
thesen objectiv nothwendig, welche nur durch unsere natür-
lichen Gewohnheiten aufgedrungen sind.
5. Wo in Folge einer stärkeren Hemmung das über das
Gegebene hinausgreifende Urtheil sich nicht vollenden kann,
entsteht die Frage in doppelter Richtung. Einmal wird
zu einer gegebenen Vorstellung eine nach sonstiger Analogie
geforderte Ergänzung gesucht, die uns von keiner zweifel-
losen Association geboten wird; so wenn ich zu einem neuen
und unbekannten Object keine mit ihm übereinstimmende Vor-
stellung aus früherer Erinnerung gegenwärtig habe — was ist das ?
oder zu einer gegebenen Eigenschaft oder Thätigkeit das Subject
suche — wer spricht ? was glänzt dort ? oder wenn ich unge-
wiss bin, welche weiteren Eigenschaften oder Thätigkeiten als
die wahrgenommenen einem Dinge zukommen — wie schmeckt
das? In einer zweiten Reihe von Fällen ist zwar durch
die Association diese Ergänzung herbeigeführt, aber die Ge-
wissheit ihrer Gültigkeit fehlt; das Urtheil ist zwar in Ge-
danken fertig vorgebildet aber nicht vollzogen ; und so entsteht
die Frage, welche die Entscheidung über die Gültigkeit einer
bestimmten Prädicierung sucht — Ist A wohl B?
6. ■ Sowohl jene auf Ergänzung als diese auf Bestätigung
gerichtete Frage setzt psychologisch das einfache und unmittel-
bare, mit dem Bewusstsein seiner Gültigkeit untrennbar ver-
bundene Urtheil voraus. Ich kann nur das suchen, wovon ich
wenigstens eine allgemeine und unbestimmte Vorstellung habe ;
nur die Erfahrung vollständiger Synthesen kann mir das Ver-
langen erzeugen, eine unvollständige Vorstellung durch ein
118 § lÖ. Der Process des vermittelten Urtheilens. 147
weiteres Element zu ergänzen ; ich muss die Gewohnheit haben,
sinnliche Empfindungen auf bestimmte Dinge zu beziehen, ehe
ich dazu kommen kann , zu einer Empfindung , die mir ohne
eine sichere Beziehung gegeben ist, das zugehörige Ding zu
suchen.
Ebenso sucht die auf Ja oder Nein gestellte Frage eine Gewiss-
heit, deren Erfahrung in unmittelbaren Urtheilen vorangegangen
sein muss, um gesucht werden zu können ; indem sie sucht,
schliesst sie den Gedanken der Gewissheit schon ein , die in
anderen Fällen mit der Prädicierung verknüpft war.
In den einfachen und unmittelbaren Urtheilen — das ist
ein Baum , das ist roth , Schnee ist weiss , Kohle ist schwarz
u. s. f. ist mit der Synthese des Subjects und Prädicats die
Gewissheit ihrer Gültigkeit untrennbar gegeben; ich kann
nicht fragen ob Kohle schwarz oder Schnee weiss , ob der
Gegenstand vor mir roth oder ein Baum sei. Sobald die beiden
Vorstellungen überhaupt in meinem Bewusstsein sind, ist auch
das Bewusstsein der Nothwendigkeit ihrer Synthese da.
Erst wenn über das Gegebene hinausgegangen, wenn ein
in der gegenwärtigen Subjects Vorstellung noch nicht enthaltenes
Element mit ihr verknüpft werden soll, vermögen sich die
beiden Elemente, welche im unmittelbaren Urtheile vereinigt
sind, die einfache oder mehrfache Synthese zwischen Subject
und Prädicat, und das Bewusstsein ihrer Nothwendigkeit und
objectiven Gültigkeit zu trennen ; nur im Gebiete der vermittelten
Urtheilsbildung kann die Frage entstehen: Ist A wohl B?
Daraus folgt, dass man nicht ganz allgemein, wie z. B.
Bergmann*) thut, psychologisch von einer »qualitätslosen
Prädicierung« von einer blossen »Vorstellung« in der Subject
und Prädicat zusammengedacht sind^ als erstem Stadium der
Urtheilsbildung ausgehen, und erst durch eine hinzukommende
»kritische Reflexion« auf ihre Gültigkeit das Urtheil sich vol-
lenden lassen kann; denn in den einfachsten Fällen ist beides
*) Reine Logik 1879 S. 42. 169 , vergl. Schuppe's Einwendungen
dagegen Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. III, 484 und meine Ausfüh-
rungen, Vierteljahrsschr. für wiss. Phil. V, 1 S. 97 und Bergmanns
P^widerung ebenda V, 3 S. 370. Ueber Brentanos Auflassung meine
Impersonalien S. 58.
10*
148 l 3. Entstehung der Urtheile. 118
nicht getrennt, und was der Sinn einer Pr'ädicierung überhaupt
sei, lässt sich gar nicht darstellen, wenn nicht von der objectiv
gültigen Prädicierung ausgegangen wird, wie sie in dem un-
mittelbaren positiven Urtheile A ist B stattfindet.
Alle ähnlichen Theorien übersehen die fundamentale
Wichtigkeit des Unterschiedes zwischen unmittelbaren und
vermittelten Urtheilen, der in der Logik keine geringere Be-
deutung hat, als der Unterschied analytischer und synthetischer
Urtheile in der Transscendentalphilosophie.
7. In der Frage : »Ist A wohl B« sind alle Elemente in
demselben Sinne genommen und verknüpft, wie im Urtheile;
sie drückt die Erwartung einer Synthese zwischen A und B,
und zwar einer gültigen Synthese, nicht bloss einer willkürlichen
Combination aus ; das Urtheil ist fertig concipiert, aber es bedarf
noch des Siegels der Bestätigung; denn die Gev^dssheit der
Gültigkeit fehlt. Dieses Entwerfen und Versuchen von Ur-
theilen, die über das Gegebene und die darin begründeten
unmittelbaren Urtheile hinausgehen , stellt die lebendige Be-
wegung, den Fortschritt des Denkens, das erfinderische Thun
im Gebiete des Urtheil s dar; man kann geradezu sagen, Fragen
sei Denken. Zweifel, Vermuthung und Erwartung sind nur
bestimmte Variationen desselben Zustandes, unterschieden durch
den Grad, in welchem das ßewusstsein des mangelnden Grundes
zum Vollzug des Urtheils lebendig ist, gleich in Beziehung
auf die Bedeutung der Synthesis zwischen Subject und Prädicat.
8, Die Entscheidung einer Frage kann erfolgen
theils durch Verdeutlichung und Vervollständigung der Sub-
jectsvorstellung selbst; wenn diese die Anschauung eines ein-
zelnen Objects ist, durch genauere Auffassung und Beobachtung,
welche vorher nicht beachtetes entdeckt — so wenn ich beim
Anblick eines weissen Pulvers frage, ob das wohl süss ist,
und es auf die Zunge bringe, so habe ich die Wahrnehmung
vervollständigt, meine Antwort ist dann ein analytisches Urtheil
aus der neuen Wahrnehmung heraus; ist meine Subjectsvor-
stellung nicht anschaulich gegeben , so kann Besinnen eine
vollständigere Erinnerung herbeiführen und ebenso ein ana-
lytisches Urtheil möglich machen. Gelingen aber diese Ver-
suche nicht : so bleibt kein anderer Weg zur Entscheidung zu
1
119 §. 19. Der Process des vermittelten Urtheilens. 149
gelangen, als das Aufsuchen von Vermittlungen, welche die Ge-
wissheit der versuchten Synthese herbeiführen können ; und die
Vermittlung, welche die gesprochene Frage zunächst anzurufen
bestimmt ist, ist die Belehrung durch einen andern.
9. Führen weder Verdeutlichung oder Ergänzung der Sub-
jectsvorstellung, noch vermittelnde Vorstellungen einen Grund
für die versuchte Synthesis herbei, der sie erlaubte als Urtheil
zu vollziehen: so bleibt entweder die Frage unentschieden
stehen, ohne dass es zu einem Bewusstsein über objective Gültig-
keit kommt , oder es entspringt die Verneinung daraus,
dass die Subjects Vorstellung unmittelbar oder mittelbar die
Prädicatsvorstellung abweist.
Indem wir den ersteren Fall, das missbräuchlich sogenannte
problematische Urtheil, einer späteren Untersuchung
vorbehalten, wenden wir uns zur Verneinung.
Vierter Abschnitt.
Die Verneinung.
§ 20.
Die Verneinung richtet sich immer gegen den
Versuch einerSynthesis, und setzt also eine irgendwie
von aussen herangekommene oder innerlich entstandene Zu-
muthung, Subject und Prä die at zu verknüpfen,
voraus. Object einer Verneinung ist immer ein vollzogenes
oderversuchtesUrtheil, und das verneinende Urtheil kann
also nicht als eine dem positiven ürtheil gleichberechtigte und
gleich ursprüngliche Species des Urtheils betrachtet werden.
1. Wenn nach dem Vorgange des Aristoteles eine Reihe
von Logikern das Urtheil von vornherein als ein entweder be-
jahendes oder verneinendes bestimmen, und diese doppelte Rich-
tung des Urtheilens in die Definition aufnehmen : so ist daran
soviel richtig, dass diefertigenUrtheilein bejahende und
verneinende erschöpfend getheilt werden können, und dass, wo
überhaupt geurtheilt wird, es nur in der einen oder andern
Richtung geschehen kann, dass einem Subjecte ein Prädicat
zu- oder abgesprochen wird. Sollte aber damit gesagt werden,
dass Bejahung und Verneinung gleich ursprüngliche und von
einander völlig unabhängige Formen des Urtheilens seien, so
wäre diese Ansicht falsch ; denn das verneinende Urtheil setzt
für seine Entstehung den Versuch oder wenigstens den Ge-
danken einer Bejahung d. h. der positiven Beilegung eines Prä-
dicats voraus, und hat einen Sinn nur indem es einer solchen
widerspricht oder sie aufhebt. Oder vielmehr, das Ursprung-
120 § 20. Die Verneinung als Aufhebung eines Urtheils. 151
liehe Urtheil darf gar nicht das bejahende genannt werden,
sondern wird besser als das positive bezeichnet ; denn nur dem
verneinenden Urtheil gegenüber und sofern sie die Möglichkeit
einer Verneinung abweist, heisst die einfache Aussage A ist
B eine Bejahung; es gehört aber nicht zu den Bedingungen
des Urtheils A ist B, dass an die Möglichkeit einer Vernei-
nung gedacht oder eine Frage aufgeworfen worden wäre, die
durch Ja oder Nein zu entscheiden ist*).
2. Dass die Verneinung nur einen Sinn gegenüber einer
versuchten positiven Behauptung hat, ergibt sich sofort, wenn
man überlegt, dass von jedem Subject nur eine endliche Anzahl
von Prädicaten bejaht, eine unabsehliche Menge von Prädicaten
verneint werden kann. Allein alle Verneinungen, die an sich
möglich und wahr wären, zu vollziehen fällt Niemanden ein,
weil nicht das geringste Motiv dazu vorliegen kann ; denn da-
mit es einen Sinn hätte zu sagen: dieser Stein liest nicht,
schreibt nicht, singt nicht, dichtet nicht, die Gerechtigkeit ist
nicht blau, nicht grün, nicht fünfeckig, rotiert nicht u. s. f.
müsste Gefahr sein, dass Jemand dem Stein oder der Gerechtig-
keit diese Prädicate beilegen wollte.
Die Verneinung hat keinen andern Sinn , als die subjec-
tive und individuell zufällige Bewegung des Denkens, die in
ihren Einfällen, Fragen, Vermuthungen, irrthümlichen Behaup-
tungen über das objectiv Gültige hinausgreift, in die ihr durch
die Natur der gegebenen Vorstellungen gesteckten Schranken
zu weisen. Indem so ihre Voraussetzung ein subjectiv willkür-
liches und zufälliges Denken ist, das unbegrenzte Gebiet des
Falschen, das eben in der Abweichung des individuellen
Denkens vom objectiv nothwendigen und allgemeingültigen
besteht , haftet auch ihrer Entstehung diese individuelle Zu-
fälligkeit an ; und es kann niemals allgemein und erschöpfend
gesagt werden, was von einem Subjecte zu verneinen noth-
wendig ist**).
*) Vergl. Beneke, System der Logik 1, 140 f.
*♦) Kant Kr. d. r. V. Methodenlehre 1. Afl. S. 709 (eine Stelle
auf die Windelband Strassb. Abh. S. 169 hinweist) sagt: In Ansehung
des Inhalts unserer Erkenntniss überhaupt haben die verneinenden
Sätze das eigenthümliche Geschäft, lediglich den Irrthum abzuhalten,
152 I» 4. Die Verneinung. 121
3. Was »nicht« heisse, und was die Verneinung meine,
lässt sich nicht weiter definieren noch beschreiben; es lässt
sich nur an das, was jeder dabei thut, erinnern. Wohl aber
kann unrichtigen und künstelnden Auffassungen gegenüber
der wahre Sinn des Satzes A ist nicht B verdeutlicht werden.
Zunächst werden Subject und Prädicat, jedes für sich
genommen, im verneinenden Satze ganz in derselben Weise
gedacht wie im positiven; die Wörter stellen dasselbe vor.
Wenn ich sage, Schnee ist nicht schwarz — so bedeutet
Schnee dasselbe wie in dem Urtheil Schnee ist weiss, und
schwarz dasselbe wie in dem ürtheil Kohle ist schwarz; an
ihnen tritt zunächst keine Wirkung der Verneinung heraus,
sie haben ihren gewohnten Gehalt. Die von Aristoteles (de
interpr. 2 und 3) angeregte Frage, ob es ein övojjia aopiaxov
(oöx äv%'piünoc,) und ein ffjjxa aopiaxov (ou xa^vet) gebe, das
als Subject oder Prädicat eines Urtheils auftreten könnte,
betrifft das Wesen des verneinenden Urtheils gar nicht, son-
dern nur die Beschaffenheit der Subjecte und Prädicate, die
in einem Urtheil überhaupt verwendbar sind, und einander
zu- oder abgesprochen werden können. Eine natürliche und
ursprüngliche Vorstellung kann durch den Ausdruck nonA
oder nonB keinenfalls bezeichnet werden, es wäre aber
immerhin möglich, dass diese Ausdrücke abkürzende Hülfs-
formeln wären, unter denen sich bestimmte Subjecte oder
wenigstens Prädicate denken Hessen. Dann aber fungieren
sie als Zeichen von solchen, und, wo überhaupt eine Entschei-
dung möglich ist, werden solchen Subjecten irgendwelche
Prädicate, oder solche Prädicate irgend welchen Subjecten zu-
oder abgesprochen; das Urtheil nonA ist B und das Urtheil
A oder nonA ist nonB bejahen, die Urtheile nonA ist nicht
B, und A oder nonA ist nicht nonB verneinen. Dies hat
Aristoteles vollkommen richtig aufgestellt; er versucht zwar
(De interpr. 10) alle möglichen Combinationen mit unbe-
grenzten Subjecten und Prädicaten, aber er macht keine be-
sondere Art von Urtheilen aus denen, in welchen ein Sub-
daher auch negative Sätze, welche eine falsche Erkenntniss abhalten
sollen, wo doch niemals ein Irrthum möglich ist, zwar sehr wahr, aber
doch leer .... und ebendarum oft lächerlich sind.
122 § 20. Die Verneinung als Aufhebung eines ürtheils. 153
ject oder Pradicat von der Form nonA vorkommt. Wenn
Kant (Kr. d. r. V. § 9) dagegen dem bejahenden und ver-
neinenden Urtheile das unendliche *) oder limitierende als
drittes zur Seite stellt, (die Seele ist nicht-sterblich, soviel
als gehört in die unendliche Sphäre, die übrig bleibt, wenn
ich das Sterbliche aussondere) so geht er von einer Ansicht
des ürtheils aus, welche wir später noch werden bekämpfen
müssen, als sei dabei das Wesentliche, ein Subject in die
Sphäre eines Begriffs zu stellen, und er vermag dadurch einen
Unterschied zwischen den Sätzen: die Seele ist nicht sterb-
lich, und : die Seele ist nicht-sterblich, herauszubringen ; allein
er gewinnt damit kein drittes zum positiven und negativen
Urtheil, sondern muss selbst einräumen, dass in der allge-
meinen Logik kein Grund sei, ein Urtheil von der Form A
ist non-B, in welchem ein bloss verneinendes Pradicat dem A
beigelegt wird, für etwas anderes als eine bejahende Aussage
zu halten.
4. Den Versuchen gegenüber, alle verneinenden Urtheile
so aufzufassen, als ob ein Pradicat non-B einem Subjecte zu-
gesprochen werde, ist die überwiegende Tradition die, dass
die Verneinung die Copula afficiere; und man spricht daher
von bejahender oder verneinender Qualität der Copula. An
dieser Lehre ist soviel richtig, dass die Verneinung nicht in
den Elementen des Ürtheils ist, sondern nur in der Art und
Weise wie sie auf einander bezogen werden. Falsch aber ist,
einer bejahenden Copula eine verneinende gegenüberzustellen.
Versteht man unter Copula den Ausdruck desjenigen Denk-
acts, durch welchen im Urtheil ein Pradicat auf ein Subject
als mit ihm congruierend, als Eigenschaft oder Thätigkeit be-
zogen wird, so ist damit eine Einssetzung ausgesprochen; und
es kann keine Art der Einssetzung sein, Subject und Pradicat
auseinanderzuhalten und es gar nicht zur Einheit kommen zu
lassen; ein Band, welches trennt, ist ein Unsinn. Vielmehr
hat im verneinenden wie im bejahenden Urtheil die eigen t-
*) Der Name rührt von einer ungeschickten Uebersetzung und
Anwendung des dcöptoxoc, das Aristoteles nicht vom Urtheil, sondern von
seineA Bestandtheilen gebraucht hatte, cfr. Trendelenburg Eiern. Log.
Ar. § 5.
154 I» 4. Die Verneinung. 123
liehe Copula (sprachlich die Verbalendung) genau den-
selben Sinn: die urtheilsmässige positive Beziehung von
Subject und Prädicat, ein Hinsagen des Prädicats auf das
Subject auszudrücken, den Gedanken zu erwecken,
dass das Prädicat dem Subjecte zukomme;
denn eben dieser Gedanke, den ja auch die Frage ent-
hält, vsrird für falsch erklärt, eben diesem Versuch wehrt die
Negation. Die Copula ist nicht der Träger,
sondern das Object der Verneinung; es gibt
keine verneinende, sondern nur eine verneinte Copula.
In dem einfachen positiven Urtheile können also zunächst
drei Elemente unterschieden werden, Subject, Prädicat und
der Gedanke ihrer Einheit (in dem bestimmten Sinn der
durch die Kategorien bedingten Synthese), der der Gegenstand
der Gewissheit ist, die sich im positiven Urtheile ausspricht;
im verneinenden Urtheile sind dieselben drei Elemente in dem-
selben Sinne vorhanden, aber als viertes tritt (auch sprach-
lich) die Negation hinzu, welche dem Versuche wehrt, jene
Synthese als eine gültige zu vollziehen, dem ganzen Satze
A ist B ihr Nein! entgegenhält; und das Object der Gewiss-
heit, durch die auch der verneinende Satz eine Behauptung
enthält, ist jetzt eben dieses Nein. Das Urtheil A ist nicht B
bedeutet soviel als : Es ist falsch, es darf nicht geglaubt wer-
den, dass A B ist; die Verneinung ist also unmittelbar und
direct ein Urtheil über ein versuchtes oder vollzogenes positives
Urtheil, erst indirect ein Urtheil über das Subject dieses Ur-
theils*).
*) Der oben aufgestellten Auffassung der Negation und ihres Ver-
hältnisses zu der positiven Behauptung, dass einem Subjecte S ein Prä-
dicat P zukomme, treten nach verschiedenen Richtungen die Ausfüh-
rungen von Lotze, Brentano, Bergmann, Windelband (in den Strass-
burger Abhandlungen 1884 S. 167 ff.) gegenüber, die alle darin überein-
stimmen, dass sie Bejahung und Verneinung coordinieren, und lehren,
zu dem zunächst unentschiedenen Gedanken, der P von S prädiciert,
trete ein entgegengesetzes Verhalten, das diesen Gedanken entweder
für gültig oder für ungültig erkläre. Während Lotze nun (2. Afl.
S. 61) den Gedanken der Beziehung von P und S als den Kern des
Urtheils ansieht, und die Bejahung oder Verneinung dieses Gedankens
als zwei entgegengesetzte Nebenurtheile darstellt, die jenem Gedanken-
123 § 20. Die Verneinung als Aufhebung eines Urtheils. 155
5. Würde die Negation durch eine verneinende Copula
vollzogen, also das »Ist nicht« im Urtheile A ist nicht B als
Inhalt das Prädicat der Gültigkeit oder Ungültigkeit geben, finden die
anderen Logiker das Wesen des Urtheils umgekehrt in dieser Entschei-
dung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, und bezeichnen das, worüber
entschieden wird, noch nicht als Urtheil, sondern als Vorstellungsver-
bindung oder, wie Bergmann, einfach als Vorstellung.
Diese scharfe Trennung des Actes der Bejahung und Verneinung
von dem Gegenstande, der bejaht oder verneint wird, wird dadurch
motiviert, dass in Bejahung oder Verneinung eine wesentlich andere
Function des Geistes in Thätigkeit trete, als in dem blossen Vorstellen
von Objecten oder Verbindungen von Objecten, eine Function, die dem
practischen Verhalten näher verwandt sei, als dem Vorstellen von Ob-
jecten.
Nachdem Brentano (Psychologie I S. 266 ff.) diesen Gegensatz zuerst
entschieden aufgestellt hatte, folgt ihm Bergmann (Reine Logik 1, S. 46),
indem er das Urtheilen ein kritisches Verhalten gegen eine Vorstellung,
eine Reflexion auf ihre Geltung nennt, und hinzufügt: Das Entscheiden
über die Geltung einer Vorstellung, also das im Urtheilen zum blossen
Vorstellen Hinzukommende, ist gar kein lediglich theoretisches Verhal-
ten, keine blosse Function der Intelligenz, sofern diese dem Wollen
entgegengesetzt wird, es ist eine Aeusserung der Seele, an welcher ihre
practische Natur, das Begehrungsvermögen betheiligt ist.
Dieselbe Grundanschauung vertritt Windelband, und da seine Aus-
führungen die eingehendsten und am sorgfältigsten begründeten sind,
wird es genügen, mich mit seinen Gründen auseinanderzusetzen, indem
ich gegenüber von Bergmann und Brentano auf Vierteljschr. f. wiss. Phil.
V, 97 ff. und meine Impersonalien S. 58 ff. verweise. Windelband un-
terscheidet (Präludien S. 28 ff.) Urtheile und Beurtheilungen.
In den ersteren werde die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungs-
inhalte, in den letzteren ein Verhältniss des beurtheilenden Bewusst-
seins zu dem vorgestellten Gegenstande ausgesprochen. In einem Ur-
theil wird jedesmal ausgesprochen, dass eine bestimmte Vorstellung
(das Subject des Urtheils) in einer nach den verschiedenen Urtheilsfor-
men verschiedenen Beziehung zu einer bestimmten anderen Vorstellung
(dem Prädicat des Urtheils) gedacht werde. In einer Beurtheilung
dagegen wird einem Gegenstande, der als vollständig vorgestellt, resp,
erkannt vorausgesetzt wird (dem Subject des Beurtheilungssatzes) das
Beurtheilungsprädicat hinzugefügt, durch welches die Erkenntniss des
betreffenden Subjects in keiner Weise erweitert, wohl aber das Gefühl
der Billigung oder der Missbilligung ausgedrückt wird , mit
welchem sich das beurtheilende Bewusstsein zu dem vorgestellten Gegen-
stande verhält (ein Ding ist weiss — ein Ding ist angenehm oder un-
angenehm, ein Begriff ist wahr oder falsch, eine Handlung ist gut oder
156 Ii 4- D>© Verneinung. 123
Ausdruck eines einfachen Denkacts betrachtet werden müssen:
so müssten consequenter Weise diejenigen Logiker, welche
schlecht, eine Landschaft ist schön oder hässlich u. s. w.). Alle diese
Prfldicationen der Beurtheilung haben wieder nur in soweit Sinn, als der
vorgestellte Gegenstand daraufhin geprüft wird, ob er einem Zwecke,
nach welchem ihn das beurtheilende Bewusstsein auffasst, entspricht
oder nicht entspricht ; die Beurtheilungsprädicate enthalten eine Be-
ziehung auf ein zwecksetzendes Bewusstsein.
Dies findet insbesondere auf den Zweck der Erkenntnis Anwendung.
Soweit unser Denken auf Erkenntniss, d. h. auf Wahrheit gerichtet
ist, unterliegen alle unsere Urtheile sofort einer Beurtheilung, welche
entweder die Giltigkeit oder die Ungiltigkeit der im Urtheil vollzo-
genen Vorstellungs Verbindung ausspricht. Das rein theoretische Urtheil
ist eigentlich nur in dem sog. problematischen Urtheil gegeben, in
welchem nur eine gewisse Vorstellungsverbindung vollzogen, aber über
ihren Wahrheitswerth nichts ausgesprochen wird. Sobald ein Urtheil
bejaht oder verneint wird, hat sich mit der theoretischen Function
auch diejenige einer Beurtheilung unter dem Gesichtspunkte der Wahr-
heit vollzogen . . . alle Sätze der Erkenntniss sind Vorstellungsver-
bindungen, über deren Wahrheitswerth durch die Affirmation oder
Negation entschieden worden ist.
Jede Beurtheilung, fährt S. 34 fort, ist die Reaction eines wol-
lenden und fühl enden Individuums gegen einen bestimmten
Vorstellungsgehalt. — Die Gesichtspunkte der Beurtheilung aber sind
durch die Gegensätze angenehm und unangenehm, wahr und falsch,
gut und böse, schön und hässlich ausgedrückt. Das erste Paar ist in-
dividuell; den andern liegt der Anspruch auf allgemeine Geltung zu
Grunde. Und in Uebereinstimmung damit sagen nun die »Beiträge
zur Lehre vom negativen Urtheil« (Strassburger Abh. S. 170), die Ver-
neinung sei ein practisches Urtheil, eine Beurtheil ung, der Aus-
druck nicht bloss einer Beziehung von Vorstellungen, sondern eines
missbilligenden Verhaltens des Bewusstseins zu dem Ver-
suche einer solchen ; darin bestehe die Verwerfung. Eben darum will
Windelband nicht mit Brentano das Urtheilen als eine besondere
Classe der Seelenthätigkeiten zwischen das theoretische Vorstellen und
die practischen Bethätigungen in Liebe und Hass stellen; er ordnet
vielmehr die logische Werthbeurtheilung von Vorstellungen der prac-
tischen Seite des Seelenlebens ein ; der Wahrheitswerth ist den übrigen
Werthen zu coordinieren.
Diesen Ausführungen , so viel Richtiges sie enthalten , kann ich
nicht nach allen Seiten zustimmen. Dass die Logik als solche, als
kritische und normative Wissenschaft von einem Zwecke, dem Zwecke
der Wahrheit ausgeht, dass sie das Wahrdenkenwollen voraussetzt,
und jedes wirkliche Urtheil an diesem letzten Zwecke misst, dass sie
123 § 20. Die Verneinung als AufhelDung eines Ürtteils. l57
dem »Ist« des bejahenden Urtheils die Kraft zuschreiben, die
Existenz des Subjects zu behaupten, nun im verneinenden dem
zu unterscheiden sucht, welche Denkoperationen diesem Zwecke ent-
sprechen, welche ihm widersprechen, habe ich in der Einleitung § 1 — 4
selbst betont; die logische Betrachtung im Unterschied von der psy-
chologischen ruht einzig und allein auf dem Bewusstsein des Zwecks;
und ich stimme auch den weiteren Consequenzen bei , welche die Prä-
ludien S. 43 ziehen, dass die Logik von einem Ideal eines normalen
Bewusstseins ausgeht (vergl. unten §32,7 und Bd. IL §61. 62). Allein
daraus folgt nicht einmal für den Logiker , dass im einzelnen Falle
sein Bejahen oder Verneinen selbst ein practisches Verhalten
sei, weil es an dem allgemeinen Zwecke der Wahrheit die einzelne
Vorstellungs Verbindung misst, und dass es eine Reaction des Gefühls
oder Willens sei und nicht eine theoretische Thätigkeit. Wenn ich
den Zweck habe, mich gesund zu erhalten, so habe ich mir freilich
diesen Zweck durch mein Wollen auf Grund eines Gefühls gesetzt;
und wenn ich darum eine schädliche Gewohnheit aufgebe, oder die Auf-
forderung zu einem Excess ablehne: so ist in dem Aufgeben einer Ge-
wohnheit oder in dem Abweisen der Aufforderung allerdings mein Wille
thätig, der um des Zweckes willen mein Verhalten bestimmt; mein
Nein ist ein practisches »Ich will nicht«. Aber dieser Wille ruht doch
auf der rein theoretischen Erkenntniss, dass jene Gewohnheit schäd-
lich, diese Aufforderung gefährlich ist ; hiebei ist mein Wille und mein
Gefühl direct gar nicht betheiligt, denn was für meine Gesundheit
zweckmässig oder unzweckmässig ist, hängt von der erfahrungsmässig
erkannten Natur der Dinge , nicht von meinem Wollen oder Gefühl
ab. Ebensowenig ist darum, weil ich die Wahrheit erkennen will, auch
die Beurtheilung eines Satzes selbst ein Willensact. Der Unterschied
zwischen einem rein objectiven Urtheil und einer »Beurtheilung« in Be-
ziehung auf einen Zweck ist hinsichtlich des Inhalts wichtig genug;
aber jede solche Beurtheilung selbst ist doch auch wieder ein Urtheil,
das wahr oder falsch sein kann, nur ein Urtheil über eine Beziehung
des Objects zu mir und meinem Zweck, nicht ein Urtheil über das
Object an sich; jene Beziehung aber besteht einfach, und wird aner-
kannt, aber nicht gebilligt oder missbilligt. »Sonnenschein ist mir
angenehm« ist freilich eine Beurtheilung des Sonnenscheines im Ver-
hältniss zu meinem Gefühl; aber diese Beurtheilung selbst, die der Satz
ausspricht, ist nicht ein Gefühl noch ein Wollen, sondern die einfache
Anerkennung der Thatsache, dass Sonnenschein mir dieses Gefühl er-
weckt. Die Reaction des fühlenden Menschen ist das Behagen der
Wärme; der Satz, in dem er das ausspricht, ist eine Function seines
Denkens. Aus den Erfahrungen entgegengesetzter Gefühle hat er die
allgemeinen Begriffe des Angenehmen und Unangenehmen gebildet,
die nicht selbst Gefühle sind, und mittels dieser Begriffe drückt er
158 I, 4. Die Verneinung. 123
»Ist nicht« die Bedeutung geben, die Existenz des Subjects
aufzuheben. Das ist aber schlechterdings nicht der Fall,
das thatsächliche Verhältniss aus, das zwischen ihm und gewissen
Dingen besteht. Dasselbe ist es mit gut und böse, schön und häss-
lich ; die Urtheile, in denen sie prädiciert werden, sind nur durch die
Beschaffenheit der Prädicate, nicht durch die Function des ürtheilens
selbst verschieden ; die Prädicate drücken ein Verhältniss eines Ob-
jects zu mir, zu meinem Willen und Gefühl aus, das ich im einzelnen
Falle wiederfinde.
Bei den Prädicaten wahr und falsch aber ist nicht einmal eine so
directe Beziehung zu Willen und Gefühl vorhanden, wie bei den ihnen
von Windelband coordinierten Paaren ; denn wahr und falsch als all-
gemeine Begriffe bezeichnen gar kein Verhältniss zu der practischen
Seite unseres Lebens; es hängt weder von unserem Gefühl noch von
unserem Wollen ab, was wahr und falsch ist, wie es davon abhängt,
was schön und was gut ist. Denn wahr und falsch sind ja nicht Prä-
dicate von irgend welchen vorgestellten oder gedachten Gegenständen,
sofern sie in irgend einem Verhältniss zu mir stehen ; wahr und falsch
sind auch nicht, wie Windelband nicht ganz genau sagt, Prädicate von
Begriffen , sondern Prädicate von Urtheilen , die wir vollziehen ; sie
betreffen, wie ein andermal richtiger gesagt vdrd, Vorstellungsverbind-
ungen, aber nicht in dem Sinne, dass schon verbundene Vorstellungen,
also fertige Vorstellungsverbindungen, wie grüner Baum oder schwarzes
Pferd für wahr oder falsch erklärt würden, sondern dass der Act des
Verbindens selbst, durch den das Bewusstsein der Einheit entsteht,
unter diesen Gegensatz fällt. Was also durch die Prädicate wahr und
falsch beurtheilt wird, sind nicht Vorstellungen irgend welcher Objecte,
sondern die urtheilende Thätigkeit selbst.
Nun ist es vollkommen richtig, dass wo diese Prädicate wirklich
auftreten, und die Frage entsteht, ob ein versuchtes oder vollzogenes
ürtheil wahr oder falsch ist, ein klar gedachter oder wenigstens dunkel
angestrebter Zweck zu Grunde liegt, der Zweck des Erkennens
— denn wo es sich um willkürliche Fielion und blosses Spiel mit Ge-
danken handelt, hat der Gegensatz keine Stelle ~ und dass wir aus
diesem Zwecke den Massstab abnehmen, an dem wir die von uns ent-
worfenen oder von andern aufgestellten Behauptungen messen, die eine
dem Zweck entsprechend, die andere ihm widersprechend erklären.
Man kann darin wohl auch ein Billigen und Missbilligen im weiteren
Sinne finden, sofern je klarer der Zweck gedacht und je lebhafter er
angestrebt wird, desto gewisser die Uebereinstimmung eines gegebenen
Urtheils mit dem Zweck ein angenehmes, die Nichtübereinstimmung
ein unangenehmes Gefühl erwecken wird (im engeren und strengeren
Sinn freilich würde Billigen und Missbilligen sich nur auf ein Thun
erstrecken können, das als willkürlich betrachtet wird ; wir missbilligen
123 § 20. Die Verneinung als Aufhebung eines Üriheils. ^^Cf
sondern das Urtheil »A ist nicht B« setzt im Allgemeinen in
allen den Fällen die Existenz von A voraus, in welchen das
den Irrthum, wenn er eine Schuld, Folge von Unachtsamkeit u. dgl.
ist). Aber dieses Billigen und Miss billigen hat doch zu seiner Voraus-
setzung, dass zuerst rein objectiv das Verhältniss eines versuchten oder
vollzogenen Urtheils zur Norm der Wahrheit erkannt worden ist;
wir missbilligen das Falsche, weil es falsch ist, aber es ist nicht da-
rum falsch, weil wir es missbilligen ; die theoretische Erkenntniss, dass
ein ürtheil wahr oder falsch ist, kann erst ein Gefühl begründen, ebenso
wie die Erkenntniss der Zweckmässigkeit eines Mittels vorangehen
muss, ehe wir es wählen.
Von dem logischen Standpunkte, der jedes ürtheil an dem Zwecke
der Wahrheit misst, erstreckt sich nun aber die Frage nach der Wahr-
heit oder Falschheit ebenso auf Bejahungen wie auf Verneinungen;
wir erklären ebenso Verneinungen für wahr oder falsch, und darum
schon kann der Gegensatz des Billigens und Missbilligens nicht ohne
Weiteres mit dem der bejahenden und verneinenden Urtheile sich
decken, und es lässt sich aus jenem kein Grund für die Coordination
von Bejahung und Verneinung ableiten.
Die logische Beurtheilung nach dem Zweck findet also in der That
sowohl positive als verneinende Urtheile schon vor; und darum ist
von dieser logischen Betrachtung, die vom Zwecke ausgehend die wirk-
lich vorkommenden Bewegungen des Denkens beurtheilt, die psycho-
logische Untersuchung zu unterscheiden , welche fragt was
in unserem wirklichen Denken vorgeht, wo im Verlaufe desselben die
Verneinung entspringt , und wie denn überhaupt jener allgemeine
Zweckgedanke der Wahrheit entstehen kann, der der Billigung oder
Missbilligung zu Grunde liegt. Und hier ist meine Ansicht, der Win-
delband selbst in den wesentlichen Punkten zustimmt, kurz die fol-
gende: Ich gehe aus von den einfachsten unmittelbaren Urtheilsacten
die in der Anschauung wurzeln, bei denen die Verknüpfung der Vorstel-
lungen und die Gewissheit ihrer Gültigkeit auf eine völlig unreflec-
tierte Weise zugleich gegeben sind, und bei denen auch von einem
irgendwie bewussten Zwecke noch nicht die Rede sein kann; Urtheils-
acten, die wir vollkommen absichtslos mit der Sicherheit eines natur-
nothwendigen Processes vollziehen — das Erkennen der Gegenstände
unserer Umgebung, das Urtheil dass dieses hier und jenes dort ist,
u. s. w. — bei denen unmittelbare Evidenz unsere Schritte begleitet.
Würden wir nach psychologischen Gesetzen keine andern Vorstellungs-
verknüpfungen vollziehen und vollziehen können, so käme uns gar
nicht in den Sinn nach Wahrheit oder Falschheit zu fragen. Nun
greift jedoch unser Denken über das Gegebene hinaus; vermittelt durch
p]rinnerungen und Associationen entstehen Urtheile, die zunächst ebenso
mit dem Gedanken gebildet werden, dass sie das Wirkliche ausdrücken,
löO t 4. Die Verneinung. 123
XJrtheil, »A ist B« sie voraussetzen würde, d. h. wo die Be-
deutung der Wörter sie einschliesst ; an und für sich aber
z. B. wenn wir das Bekannte am bekannten Orte zu finden erwarten,
oder von einer Blume voraussetzen dass sie riecht. Aber nun ist ein
Theil des so Vermutheten mit dem unmittelbar Gewissen im Wider-
streit: wir werden uns, wenn wir das Erwartete nicht finden, des
Unterschieds zwischen dem bloss Vorgestellten und dem Wirklichen
bewusst; dasjenige, dessen wir unmittelbar gewiss sind, ist ein an-
deres, als das, was wir anticipierend geurtheilt haben; und jetzt tritt
die Negation ein, welche die Vermuthung aufhebt, und ihr die Gültig-
keit abspricht. Damit tritt ein neues Verhalten ein, sofern die sub-
jective Combination von dem Bewusstsein der Gewissheit getrennt
wird ; es wird die subjective Combination mit einer gewissen verglichen
und ihr Unterschied von dieser erkannt ; daraus entspringt der Begriff
der Ungültigkeit. Aber dieses Verhalten ist eben nur möglich unter
Voraussetzung nicht bloss der subjectiven Combination, sondern auch
der Neigung, dieselbe für gültig zu halten; die Verneinung ist, wie
Fichte sagt, dem Gehalte nach bedingt, nur der Form nach unbedingt,
so gewiss der Begriff des Unterschieds (den Schuppe mit vollem Recht
in seiner Bedeutung für die Negation hervorhebt) zwar die Vorstellung
der unterscheidbaren Objecto voraussetzt, aber mit dieser Vorstellung
noch nicht gegeben ist, und als allgemeiner Begriff nur durch Reflexion
auf einzelne Unterscheidungen entsteht. So hängt in doppelter Weise
die Negation von dem positiven Urtheile ab: sie setzt als Object ein
solches voraus, das mit der Erwartung seiner Gültigkeit gedacht wurde,
und weist eine versuchte Behauptung ab; und der Grund dieser Ab-
weisung ist ursprünglich wieder etwas Positives — ein gegebenes Ob-
ject, dessen Unterschied von meiner Vorstellung erkannt wird — verum
sui index et falsi. Erst indem wir diese Erfahrungen machen , kann
auch der bewusste Zweck der Wahrheit entstehen ; wir können den
W e r t h der Wahrheit nicht empfinden, wenn wir nicht durch ihren
Gegensatz darauf aufmerksam geworden sind; aber wir müssen einer-
seits die unmittelbare Evidenz der unmittelbaren Urtheile, andrerseits
den Unterschied der subjectiven Combinationen von dem unmittelbar
Gewissen erfahren haben , ehe wir den Begriff der Wahrheit bilden
konnten.
Dieses Verhältniss, wonach die Verneinung nicht gleich ursprüng-
lich ist, wie das positive Urtheil, sondern dieses, sowohl nach der Seite
der Synthese von Subject und Prädicat als nach der Seite der Gewiss-
heit derselben voraussetzt, spiegelt sich in der Sprache deutlich wieder.
Wäre die Ansicht richtig, dass Bejahung und Verneinung zwei gleich
ursprüngliche Verhaltungsweisen zu einer zunächst problematischen
Synthese S P wären, so wäre doch zu verwundern, was Bergmann
und Windelband ausdrücklich anerkennen , dass die Bejahung meist
123. 1Ö4 § 20. Die Verneinung als Aufhebung eines TTrtheils. 161
wird über Existenz oder Nichtexistenz durch das ver-
neinende Urtheil so wenig etwas behauptet als durch das be-
jahende. »Socrates ist nicht krank« setzt zunächst die Exi-
stenz des Socrates voraus, weil nur unter dieser Voraussetzung
von seinem Kranksein die Rede sein kann; sofern damit aber
überhaupt nur für falsch erklärt wird, dass Socrates krank ist,
ist diese Voraussetzung allerdings keine so bestimmte, wie
bei dem bejahenden Urtheile Socrates ist krank; denn dieses
kann auch verneint werden, weil Socrates todt ist. (Weiteres
s. u. § 25.)
§. 21.
Die Verneinung folgt den verschiedenen Formen
des positiven Urtheil s, und hat ihren Gegenstand an
den verschiedenen Beziehungen zwischen Subject und Prädicat,
welche den verschiedenen Sinn der Einheit beider ausmachen ;
sie ist darum vieldeutig, wo das Urtheil eine mehr-
keinen besonderen sprachlichen Ausdruck findet , wohl aber die Ver-
neinung; nur dann erscheint ein ^ jjlyjv, ein fürwahr u. dgl. wenn einer
drohenden Verneinung entgegengetreten werden soll.
Dass bei fortgesetzter Reflexion mit den Prädicaten gültig und
ungültig ins Endlose fortgegangen werden könnte, wie Windelband
(Strassb. Abb. S. 170) hervorhebt, ist vollkommen richtig: A ist B —
es ist wahr, dass A B ist — es ist wahr, dass A ist B ein wahrer
Satz ist u. s. f. ; A ist nicht B — es ist wahr , dass A nicht B ist —
es ist falsch, dass A ist nicht B ein falscher Satz — falsch, dass A
ist B ein wahrer Satz ist u. s. f. ; aber das begründet keinen Kinwand
gegen unsere Auffassung , bestätigt im Gegentheil, dass »der Satz ist
wahr, der Satz ist falsch« nichts von einem beliebigen Urtheil anders
als durch sein Prädicat Verschiedenes ist. Dieselbe endlose Reflexion
findet hinsichtlich unseres Selbstbewusstseins statt: qui seit, eo ipso seit
se scire . . et sie in infiriitum (Spin. Eth II, 21. Seh.) ~ freilich nur der
abstracten Möglichkeit nach; denn in Wirklichkeit ist irgend einmal
eine Gewissheit vorhanden, die von dem Inhalt auf den sie sich bezieht
nicht mehr durch Reflexion getrennt und besonders hervorgeho))en wer-
den kann; und so beweist der Einwand, was er widerlegen will, dass es
kein Urtheilen gibt ohne dass jenes unmittelbare Urtheilen zu Grunde
läge, bei dem sich nicht mehr Vorstellungsverbindung und »Billigung«
oder »Bestätigung« trennen lässt.
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 11
162 I. 4. Die Verneinung. 124. 125
fache Synthese enthält. Direct vermag sie nichts
Seiendes auszudrücken, weder Eigenschaft, noch Thätigkeit,
noch Relation.
1. Wenn die Verneinung eine versuchte Behauptung ab-
weist, so folgt sie damit all den verschiedenen Arten von
Aussagen und erklärt eben das für falsch, was diese behaupten.
Dem Urtheil, das zwei Vorstellungen als Ganze zusammen-
fallen lassen will, hält die Verneinung den Unterschied
entgegen. Affen sind nicht Menschen — Roth ist nicht Blau
— Freiheit ist nicht Zügellosigkeit wehren einer drohenden
Verwechslung oder bewussten Aufhebung der festen Unter-
schiede der Objecte. Dieses verneinende Urtheilen hebt durch
einen ausdrücklichen Act ins Bewusstsein, was unbewusst
schon in der Bildung unserer Vorstellungen und ihrer sprach-
lichen Bezeichnung enthalten war, die Unterscheidung ver-
schiedenen Vorstellungsinhaltes, durch welche wir, indem sie
immer auf dieselbe Weise vollzogen wird, eine feste Vielheit
von Vorstellungen gewinnen, der die Vielheit und der Unter-
schied der sprachlichen Bezeichnung entspricht. Dieses Unter-
scheiden, durch das unsere Vorstellungen erst werden, muss
immer schon vorangegangen sein, ehe es vom verneinenden
Urtheil zum Bewusstsein gebracht und bestätigt wird.
Dem Eigenschaftsurtheil gegenüber verhindert die Ver-
neinung, dass zwischen einem Subjecte und einer ihm zuge-
mutheten Eigenschaft das Verhältniss der Inhärenz gesetzt
werde. Das Inhärenzverhäitniss an und für sich liegt auch
dem verneinenden Urtheil zu Grunde ; durch den Satz Blei ist
nicht elastisch wird nicht verneint, dass das Subject überhaupt
eine Einheit von Ding und Eigenschaft sei; allein die in der
Aussage nicht ausgedrückte Eigenschaft, welche das Subject
wirklich hat, ist nicht diejenige, von der die Rede ist und die
etwa an ihm vermuthet wurde; die Eigenschaft, die »elastisch«
bezeichnet, kann ich an dem Subjecte Blei nicht finden; die
wirklichen Eigenschaften des Bleies sind andere, als Elasticität.
So ist auch hier zuletzt der feste Unterschied gewisser
Eigenschafts Vorstellungen dasjenige, was die Verneinung be-
125 g 21. Die verschiedenen Arten verneinender Urtheile. 163
tont. Dasselbe gilt von den Urtheilen, deren Prädicate Thätig-
keiten sind.
2. Je nachdem nun, im Sinn des § 11, die Bevregung des
Denkens von der Eigenschaft oder Thätigkeit zu dem Dinge,
an welchem sie ist, oder umgekehrt geht, modificiert sich
auch — sprachlich durch Stellung oder Betonung ausgedrückt
— die Richtung, welche die Verneinung nimmt, indem sie
entweder darauf Gewicht legt, dass ein gegebenes, als fest be-
trachtetes Ding eine Eigenschaft oder Thätigkeit nicht habe,
die in Frage kommt, oder das betont, dass es nicht dieses
Ding sei, welchem eine gegebene Eigenschaft oder Thätig-
keit zukomme. Das Urtheil Ich habe gerufen ist sowohl dann
falsch, wenn überhaupt nicht gerufen worden ist, als dann,
wenn zwar ein Ruf gehört w^urde, aber ein Anderer ihn laut
werden Hess. Im ersten Fall ist die Wirklichkeit des Prä-
dicats verneint, im zweiten Fall die Beziehung desselben auf
das Subject; dann pflegt dieses betont, oder die Negation ihm
vorangesetzt zu werden. (Ich habe nicht gerufen, — nicht
ich habe gerufen). Zuletzt kann die Verneinung meinen, dass
weder das Prädicat, noch das Subject gefunden werde. Von
der gewöhnlichen Auffassung der Negation aus ist der Satz:
das Feuer brennt nicht, eine Contradictio in adjecto; wie kann
von dem Subject Feuer das Prädicat brennen negiert werden?
Und doch sprechen wir ihn ganz unbefangen aus, wenn wir
etwa im Ofen nachsehen; wir erwarten das brennende Feuer
zu finden, die Negation sagt: es ist falsch, dass das Feuer
brennt, und dieser Satz ist richtig, wenn überhaupt kein Feuer
da ist. Dies trifft insbesondere bei der Verneinung der Imper-
sonalien zu: »Es donnert nicht« meint entweder, dass die
Benennung falsch, das Gehörte kein Donnern sei, oder es hebt
die durch das Prädicat gemeinte Erscheinung selbst auf —
die Verneinung greift auch auf die vorausgesetzte Wirklich-
keit des Subjects über.
3. Aehnliche Modificationen treten bei den R elations-
urtheilen ein. Sofern nemlich hier die Synthese des posi-
tiven Urtheils eine dreifache ist, erhellt aus dem einfachen
Verneinen des Relationsurtheils noch nicht, gegen welche Seite
der Behauptung die Verneinung sich in erster Linie richtet^
11*
154 1, 4. Die Verneimifig. 125. 126
und was als der Ausj^angspunkt gelten soll, den der Verneinende
im Auge hat. Ist das Urtheil »A geht nach Hause« falsch,
so kann entweder bloss die Richtung des Gehens, oder die Art
der Bewegung (wenn er reitet oder fährt), oder das Weggehen
überhaupt verneint oder endlich das bestritten werden , dass
A es ist, der nach Hause geht. Alle diese Bedeutungen kann
der Satz haben : A geht nicht nach Hause. Diese Vieldeutig-
keit der Negation , der wieder höchstens durch die Betonung
begegnet werden kann , ist ein neuer Beweis dafür , dass sie
gar keine andere Kraft hat, als das positive ürtheil als Ganzes
für falsch zu erklären, für sich aber keine bestimmte Bezieh-
ung herzustellen vermag. Bei den causalen Relationen, welche
durch transitive Verba ausgedrückt werden, richtet sich die
Negation entweder bloss gegen das bestimmte Object der Thätig-
keit, während diese selbst stattfindet, oder gegen die Thätigkeit
selbst, oder gegen das Subject, dem die Thätigkeit zugeschrieben
wird — ich habe diesen Satz nicht geschrieben kann entweder
die ganze Thatsache läugnen, dass der fragliche Satz geschrieben
worden sei, oder diesen Satz, oder ich betonen. »Ich habe
nichts geschrieben« läugnet das Schreiben überhaupt durch
Verneinung jeder möglichen Art seiner Objecte ; ich trinke
keinen Wein verneint nur eine bestimmte Art des Objecis.
4. Wo ein unbedingt gültiges Urtheil verneint wird, kann
die Verneinung ebenso nur für falsch erklären , was das un-
bedingt gültige ürtheil sagt, dass nemlich in der Subjects-
vorstellung als solchen, wie sie die Bedeutung des Subjects-
worts ausmacht, das Prädicat enthalten sei (die Pflanze em-
pfindet nicht — das Licht ist kein Stoff). In wiefern solche
Verneinungen zweideutig sein können , (z. B. das Dreieck ist
nicht gleichseitig) wird unten § 25 erörtert werden.
Dem zeitlich gültigen Urtheile gegenüber trifft die Ver-
neinung nur die Gültigkeit für den behaupteten Zeitpunkt,
und vermag darum nicht zu sagen , wie es ausserhalb dieses
Zeitpunktes um das Subject bestellt war. Wenn das ürtheil
»diese ühr geht nicht« das zeitlich gültige ürtheil »diese
Uhr geht« für falsch erklärt , so ist damit eben gesagt, dass
sie jetzt nicht geht; ob sie sonst geht oder nicht, ist durch
diese Verneinung noch nicht entschieden.
127 § 21. Die verschiedenen Arten verneinender Urtheile. 165
5. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Verneinung
der Armuth des blossen Aufhebens zu entkleiden und ihr die
Fähigkeit zu verleihen, direct eine inhaltsvolle Aussage zu
machen, so dass, was das verneinende Urtheil behauptet, als
ein Selbstständiges und für sich Gültiges dem gegenüberstünde,
was die Bejahung aussagt , und eben damit Verneinung und
Bejahung ebenbürtige Formen der Aussage wären.
Aristoteles selbst hat hiezu in gewisser Weise das Bei-
spiel gegeben, wenn er (besonders Metaph. 6, 10 1051 b 1 ff.)
Bejahung und Verneinung einer Vereinigung (Guy^elaO-aL) und
Trennung (biiQpfia^ai) entsprechen lässt, und damit dem Ver-
hältniss des Prädicats zum Subjecte zunächst im bejahenden
ürtheil die Bedeutung gibt, ein Zusammengesetztes (aus Sub-
stanz und Accidens) auszudrücken. Wir haben schon oben
(§ 14 S. 100 f.) diese Betrachtungsweise für unmöglich erklärt,
da das Prädicat des Urtheils niemals als ein Seiendes, und
am wenigsten als ein von dem Subjecte getrennt zu denkendes
Seiendes aufgefasst werden kann ; es hat keinen Sinn zu sagen,
im Seienden sei »commensurabel« immer von der Diagonale
des Quadrats getrennt; die Trennung wie die Vereinigung
gehört nur dem Denken an. Aus demselben Grunde aber kann
auch die Verneinung keiner Trennung entsprechen. Zu-
nächst würde , was im Object , realiter , getrennt wäre , gar
keine Beziehung auf einander haben, und es wäre nicht zu er-
klären, wie sich das Getrennte in Einem Denkacte zusammen-
finden sollte; weiterhin aber lässt sich auch hier von dem
Prädicate, das immer nur ein Vorgestelltes bedeuten kann,
gar nicht sagen, dass es irgendwo vorhanden sei, um mit dem
Subjecte sich zu vereinigen oder von ihm getrennt zu bleiben.
Nur unter den Nachwirkungen der platonischen Ideenlehre
kann der Satz, »der Mensch ist weiss«, als Ausdruck einer Ver-
einigung der Substanz Mensch mit der Idee des Weissen ge-
fasst werden, weil dieser eine selbstständige Existenz zukommt;
nur unter diesen Nachwirkungen kann das Verhältniss eines
Dinges zu einem mit ihm unvereinbaren Prädicate als ein »für
immer Getrenntsein« bezeichnet werden *).
*) Ueber die Mängel der aristoteliscben Tlieoric in dieser Hinsicht
166 I, 4. Die Verneinung. 127. 128
Von anderer Seite ist der bekannte Satz Spinoza's De-
terminatio est neyatio als Ausdruck einer Ansicht verwendet
worden, welche die Negation in das Wesen der Dinge selbst
zu verlegen und damit das verneinende Urtheil als ursprüng-
lichen Ausdruck ihrer Erkenntniss hinzustellen unternimmt.
Trendelenburg hat mit Recht auf Thomas Campanella als
einen der entschiedensten Vertreter der Meinung hingewiesen,
dass alle Dinge aus Ja und Nein, Sein und Nichtsein bestehen,
jedes dieses Bestimmte nur dadurch sei, dass es ein anderes
nicht sei. Der Mensch ist, das ist seine Bejahung; aber er
ist Mensch nur dadurch, dass er nicht Stein, nicht Lowe, nicht
Esel ist, er ist also zugleich Sein und Nichtsein. In demselben
Sinne spricht Spinoza sein Determinatio negatio est; eine Figur
ist determiniert, sofern sie der übrige Raum nicht ist, und sie
kann also nur mit Hülfe der Negation gedacht werden, als eine
Beschränkung , d. h. Negation des Unendlichen. Allein in
diesen Ansichten steckt überall die Verwechslung der Vernei-
nung selbst, als einer Function unseres Denkens, mit dem vor-
ausgesetzten objectiven Grunde dieser Verneinung, der in sich
geschlossenen Individualität und Einzigkeit jedes unter den
vielen realen Dingen. Was sie nicht sind, gehört niemals zu
ihrem Sein und Wesen; es ist nur von dem vergleichenden
Denken von aussen an sie herangebracht ; und es handelt sich
nur darum, zu erkennen , warum wir dieser subjectiven Um-
wege bedürfen, um die Welt des Realen zu erkennen, in der
kein Gegenbild unseres verneinenden Denkens existiert. Dass die
HegeFsche Logik nur durch fortwährende Verwechslung der
Verneinung im Denken mit den realen Verhältnissen im Sein,
welche wir durch blosse Verneinung nur unvollkommen aus-
drücken, den Schein erzwingt, als ob die Negation eine reale
Macht und das Wesen der Dinge selbst sei , müsste fast bei
jedem Schritte derselben nachgewiesen werden, wenn es nicht
— zumal seit Trendelenburg's eindringender Kritik — als zu-
gestanden gelten könnte.
siehe die vollkommen zutreffenden Bemerkungen von Prantl, Ge-
schichte der Logik I. 118. 144 f. Aristoteles erkennt sonst ausdrücklich
an, dass die Verneinung nur dem Gebiete des Denkens angehöre. Me-
taph. VI, 4.
129 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 167
§22.
Wenn der Versuch, einem Subjecte ein Prädicat beizu-
legen, durch die Verneinung abgewiesen wird: so liegt der
Grund hiezu entweder darin, dass an demSubjecte das
fragliche Prädicat (oder, bei gewissen Relationsur theilen,
das Sübject zu dem Prädicate) fehlt, oder dass das Sub-
ject, beziehungsweise ein Element desselben, mit dem
Prädicate unverträglich ist. Die blosse Aussage der
Verneinung deutet nicht an, ob das eine oder andere stattfinde.
Ebenso wenig vermag die Verneinung diejenigen Verhält-
nisse der Vorstellungen, vermöge deren sie unverträglich sind
(den sog. contradictorischenundconträrenGegen-
satz), zu erklären oder auch nur vollständig zum Ausdruck
zu bringen.
1. Wenn ein verneinendes ürtheil nicht ein erschlossenes,
die Verneinung also nicht durch Zwischenglieder vermittelt
ist, so haben wir, um eine Verneinung auszusprechen , nichts
als das gegebene Subject und das ihm zugemuthete Prädicat.
In dem gegebenen Verhältniss der Subjectsvorstellung zur
Prädicatsvorstellung muss also der Grund liegen, das Prädicat
abzuweisen.
Dies ist auf zweierlei Weise möglich. Entweder fehlt
das Prädicat in meiner Subjectsvorstellung (resp. ein Element
in der durch ein Relationsurtheil gedachten Gesammtvorstel-
lung), oder es wird durch die Subjectsvorstellung
(resp. die gegen wärtige Gesammtvorstellung) ausgeschlossen;
der Verneinung liegt entweder ein Mangel (aiepyjac^, privatio)
oder ein Gegensatz (evavTioxyj^, oppositio) zu Grunde.
2. Ist die Subjectsvorstellung ein concretes Einzelnes, ein
Gegenstand der Anschauung , das versuchte positive Urtheil
ein zeitlich gültiges, das in demselben Sinne, in dem es gelten
soll, auch aufgehoben wird ; so ruht das verneinende Urtheil
auf dem Bewusstsein, dass ich in meiner Subjectsvorstellung
das Prädicat nicht finde , auf der unmittelbaren Erkenutniss
168 I» 4. Die Verneinung. 129. 130
der Differenz des Subjects, wie es ist, von einem andern denk-
baren Dinge, welches das Prädicat an sich hätte, auf dem
Bewusstsein also der Armuth seiner Bestimmungen. Diese
Uhr geht nicht, diese Blume riecht nicht, der Kranke rührt
sich nicht, die Sonne wärmt heute nicht — alle diese Urtheile
gehen daraus hervor , dass ich der Differenz des Ge<^ ebenen
von dem bloss Vorgestellten bewusst bin , dieser Uhr von
einer gehenden Uhr, dieser Blume von einer riechenden Blume ;
denn dass ich mit der reicheren Vorstellung an das Gegebene
herantrete, bringt ja erst mein Urtheil hervor. Handelt es
sich um Relationsprädicate (Socrates ist nicht hier), so ist
wiederum der Complex von Dingen, den das versuchte Urtheil
ausdrückt (Socrates und ich in demselben Räume), verschieden
von dem Complex, der meiner Anschauung gegeben ist (in
demselben Räume, in dem ich bin, fehlt Socrates).
Der Mangel wird um so auffälliger, je leichter die voll-
ständigere Vorstellung zur Vergleichung bereit, je gewöhnter
sie ist, je enger das veriiiisste Prädicat zum ganzen Complexe
zu gehören scheint; und das Fehlen wird zum Mangel im
engeren Sinn, zum Fehlen von etwas, was da sein sollte, wo
eine Zweckbeziehung oder ein ästhetisches Gesetz die Voll-
ständigkeit der Prädicate fordert; aber diese Beziehungen,
welche Urtheil en wie er sieht nicht, er hört nicht, er will
nicht zur Einsicht kommen, der Satz hat keinen Sinn, die
unwillige Färbung der Enttäuschung geben , haben logisch
doch bloss den Werth , die Aufmerksamkeit für den Mangel
zu schärfen und den Massstal) der Vergleichung um so le-
bendiger zu erhalten ; eine besondere Schattierung der Ver-
neinung als solcher begründen sie nicht.
o. Dasselbe Fehlen eines Prädicats findet auch
bei allgemeinen Vorstellungen statt; das verneinende Urtheil
kann darauf ruhen, dass das Prädicat in dem, was die Bedeu-
tung des Subjectsworts ausmacht, nicht mitgedacht wird: die
Pflanze empfindet nicht, Wasser hat keinen Geschmack u. s. w.
Die Vergleichung mit sonst Verwandtem, der Pflanze mit den
thierischen Organismen, des Wassers üüt andern Flüssigkeiten
liegt dem privativen Urtheil /u Grunde; was an dem Subjecte
seiner sonstigen Beschaflenheit nach sein könnte, ist nicht daran.
131 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 169
4. Derselbe Grund einer Verneinung wäre da vorhanden,
wo einer Vorstellung von höherer Allgemeinheit Prädicate
beigelegt werden sollen , welche nur einzelnen darunter be-
fassten bestimmteren Vorstellungen zukommen. In der allge-
meinen Vorstellung des Dreiecks liegt weder, dass es eben,
noch dass es sphärisch, in der des ebenen Dreiecks weder, dass
es rechtwinklich, noch dass es spitzwinklich ist; in der Vor-
stellung des Menschen überhaupt liegt nicht, dass er schwarz
oder weiss, schlichthaarig oder wollhaarig ist , in der allge-
meinen Vorstellung der Bewegung nicht, dass sie fortschreitend,
noch dass sie rotierend ist. Allein wir vermögen nun doch
nicht diese blosse Unbestimmtheit der subjectiven Allgemein-
vorstellung durch die einfache Negation jener Prädicate auszu-
drücken ; das Dreieck ist nicht sphärisch, ist nicht rechtwinklich,
der Mensch ist nicht schwarz, die Bewegung ist nicht rotierend,
würde in dem ganz anderen Sinne verstanden werden, dass
an allen Objecten, welche unter die Bezeichnung fallen, das
Prädicat fehlt. So mächtig ist die Gewohnheit, von den all-
gemeinen Vorstellungen gleich auf die concretesten und be-
stimmtesten überzugehen, in denen jene enthalten sind , dass
der an sich ganz richtige Satz, das Dreieck sei nicht recht-
winklich , missverstanden würde , und den Ausdruck fordert,
das Dreieck sei nicht nothwendig rechtwinklich oder nicht
alle Dreiecke seien rechtwinklich. Vgl. unten § 25.
5, Der Negation, welche auf dem privativen Verhältniss
und damit auf einer einfachen Differenz ruht, steht die
andere gegenüber, welche daraus entspringt, dass ein Element
der Subjectsvorstellung die Prädicatsvorstellung zurückstösst;
so dass auch der bei der Privation begleitende Gedanke, das
Subject könnte das Prädicat wohl an sich haben, abgewiesen
wird. (Dasselbe findet bei Relationsvorstellungen statt ; A ist
links von B ist entweder darum falsch , weil A überhaupt
nicht in der Nähe von B ist, oder weil es rechts von H
steht, diese Relation die andere versuchte abweist.) Wir sind
damit auf die Untersuchung derjenigen Verhältnisse der Vor-
stellungen untereinander geführt, vermöge der sie sich , als
Prädicate eines und desselben Subjects , ausschliessen
können.
170 I. 4. Die Verneinung. 131. 132
0. Handelt es sich um ein Benennungsurtheil,
in welchem Subject und Prädicat als Ganzes mit Ganzem in
Eins gesetzt werden soll, so ist das ausschliessende Verhält-
niss verschiedener Vorstellungen gegeben durch die feste
Bestimmtheit und U n t e r s ch i e d e n h e i t des
Vorgestellten, und zwar innerhalb der verschiedenen
Kategorieen, welche allem Urtheilen vorausgesetzt ist, da sie
Bedingung der Continiiit'ät und Uebereinstimmimg des Bewusst-
seins selbst ist. Socrates ist nicht Kriton , Holz ist nicht
Eisen, roth ist nicht blau, sehen ist nicht hören, rechts ist
nicht links — solche Urtheile beruhen auf der Thatsache,
dass wir eine Vielheit sicher unterschiedener und vor jeder
Verwechslung und Vertauschung geschützter Vorstellungen
haben , und sie können nur an diese immer gegenwärtigen
Unterschiede erinnern (§ 21, 1). Und zwar ist die Erkennt-
niss, dass zwei Vorstellungen sich unterscheiden, im Allge-
meinen früher als die Erkenntniss, wie sie sich unterscheiden ;
denn um anzugeben, w i e sie sich unterscheiden, muss ich doch
zuletzt auf Elemente zurückkommen, von denen ich einfach
weiss, dass sie verschieden sind. Ich unterscheide ganz sicher
meinen Freund A von meinem Freund B, ehe ich mir Rechen-
schaft gebe, wodurch sie verschieden sind ; und wenn ich mir
darüber Rechenschaft gäbe, und mir zum Bewusstsein brächte,
dass der eine blond, der andere schwarz, der eine von runden
und vollen, der andere von mageren und eckigen Formen ist :
so würde der Unterschied von blond und schwarz, von rund
und eckig, mager und voll übrig bleiben, und hier kann ich
doch zuletzt nur noch sagen, dass, nicht mehr wie sie sich
unterscheiden.
Wie wir nun (§ 14. S. 102 £F.) als Voraussetzung der Mög-
lichkeit des bejahenden Urtheils einPrincip derUeber-
einstimmung aufstellen mussten , vermöge dessen die
Gleichheit des Vorgestellten unfehlbar gewiss erkannt wird,
und wie alle Möglichkeit eines bejahenden Urtheils gewiss zu
sein darauf ruht: so liegt der Verneinung in diesem Sinne
ebenso zu Grunde, dass verschiedeneVorstellungen
unmittelbar und unfehlbar aisverschiedene
erkannt werden, und ein Irrthum darüber , ob zwei im
133 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 171
Bewusstsein gegenwärtige Vorstellungen verschieden sind oder
nicht, unmöglich ist. Wäre die Formel »A ist nicht nonA«
nicht missbraucht worden, um alles Mögliche zu bezeichnen,
so könnten wir sie in dem Smne anwenden, dass sie ausdrückte :
A ist von allen anderen Vorstellungen verschieden; jedes Ge-
dachte ist dieses und kein anderes ; und es wäre damit ebenso
ein Gesetz unseres unterscheidenden Verneinens, wie eine funda-
mentale psychologische Thatsache ausgesprochen.
Sollte man sich dagegen auf die Thatsache berufen, dass
wir doch vieles verwechseln und dadurch irren : so ist zu ant-
worten , einmal , dass Verwechslungen in Beziehung auf die
Dinge stattfinden, weil die augenblicklichen Vorstellungen
die Unterschiede derselben nicht wiederholen, so wenn ich bei
oberflächlicher Betrachtung eine künstliche Blume für eine
natürliche halte — hier besteht zwischen meinen Vorstellimgen
die Differenz nicht, die bei vollständiger Auffassung bestehen
würde ; zweitens , dass Verwechslungen stattfinden in Folge
mangelhafter Reproduction und Constanz
der Vorstellungen, indem im Laufe der Zeit eine der andern
sich unterschiebt. So kann ich einen Fremden als alten Be-
kannten begrüssen, weil sich das Bild des Bekannten mir
verwischt, und unter dem Eindruck des gegenwärtigen An-
blicks verschoben reproduciert hat. Damit ist aber nicht ge-
sagt, dass es möglich sei, zwei im Bewusstsein gegenwärtige,
während eines Urtheilsactes unverrückt festgehaltene Vorstel-
lungen , die verschieden sind , als nicht verschieden zu setzen.
Vielmehr ruht alle Einheit und Klarheit unseres Selbstbe-
wusstseins auf dieser Macht der Verneinung, das Viele, das uns
gegenwärtig ist, vor dem Verschwimmen zu bewahren und aus-
einanderzuhalten, und ebenso ruht alle Möglichkeit der Gültig-
keit eines Urtheils sicher zu sein, und damit die Möglichkeit
des Urtheilens darauf, dass ein unmittelbares Bewusstsein
der Verschiedenheit in vollkommen sicherer Weise möglich sei.
Wo wir dies nicht voraussetzen könnten — wie etwa in der
Narrheit — da wäre die Gemeinschaft des Denkens aufgehoben.
7. Schwieriger wird die Untersuchung der Bedingungen
der Verneinung , wo die Urtheile Eigenschaftsurtheile sind.
Denn da dasselbe Ding verschiedene Eigenschaften, und ver-
f
172 I. 4. Die Verneinung. 133. 134
schiedene Dinge dieselben Eigenschaften haben können, so ist
mit der einfachen Verschiedenheit der Eigenschaftsvorstel-
lungen noch kein Grund gegeben , von dem Dinge A die Ei-
genschaft ß zu verneinen , weil es die davon verschiedene Ei-
genschaft a hat, oder von B die Eigenschaft a zu verneinen,
weil A sie hat, wie ein Grund vorhanden ist zu sagen, A ist
nicht B, a ist nicht ß. Die Frage ist : Unter welchen Vor-
aussetzungen können wir von einem Ding A sagen , dass die
Eigenschaft ß mit ihm unvereinbar sei? Offenbar nur dann,
wenn eine der Eigenschaften von A zur Eigenschaft ß in dem
Verhältnisse steht, dass sie nicht zusammen demselben Sub-
jecte zukommen können. So schliesst eine bestimmte Farbe
einer Oberfläche, z. B. weiss, alle anderen Farben aus ; daraus,
dass Schnee weiss ist, kann ich sofort alle andern Farben von
ihm verneinen ; daraus , dass eine Linie gerade ist , kann ich
das Prädicat krumm von ihr verneinen u. s. f. Dasselbe gilt
von verbalen und Relationsprädicaten ; Sitzen schliesst Stehen,
Stehen schliesst Gehen , rechts schliesst links, gleich schliesst
grösser und kleiner gegenseitig aus ; von was das eine gilt, von
dem muss das andere verneint werden.
8« Wie der Ausdruck Identität , so ist der Ausdruck
»Gegensatz« und »entgegengesetzt« fast unbrauchbar
geworden durch den verschiedenen Sinn, den man ihm gegeben
hat , und die häufig unklare Stellung dessen , was man als
Gegensatz bezeichnete , zur Verneinung einerseits , zur Ver-
schiedenheit andrerseits. Mit dem Widerspruch der Ur-
theile ist der Widerstreit der einzelnen Vorstellungen
unter demselben Namen vermengt, und in Betreff der Bezeich-
nung der specielleren Verhältnisse widerstreitender Vorstellungen
ist geradezu babylonische Sprachverwirrung. Versuchen wir
aus der Natur der Sache die Unterscheidungen zu gestalten.
Die blosse Verschiedenheit der Vorstellungen,
welche Bedingung alles Denkens ist , kann kein vernünftiger
Grund bestehen als Widerstreit oder Gegensatz zu bezeichnen.
Wie die verschiedensten Dinge im Räume friedlich nebenein-
ander sind , in den verschiedensten Eigenschaften , ohne sich
zu stören, die bunte Erscheinung der Welt, in den verschieden-
sten Thätigkeiten ihren unaufhörlichen Wechsel darstellen , so
135 § 22. JPrivation nnd Gegensatz als Grund der Verneinung. 17B
wohnt die unabsehbare Manigfaltigkeit des Vorgestellten , je-
des einzeln betrachtet, zwar geschieden, aber ohne Streit in
unseren Gedanken ; die unterscheidende Verneinung genügt,
jeder ihr Recht werden zu lassen. Die Vorstellungen von
Mensch und Löwe sind an sich so wenig im Streit , wie die
von schwarz und roth oder schwarz und weiss. Streit kann
ja überhaupt erst entstehen, wo zwei auf dasselbe Anspruch
machen ; und so kann ein Verhältniss des Streites unter Vor-
stellungen erst eintreten, wo sie sich als versuchte Prä-
dicate eines und desselben Subjects begegnen;
also bloss auf dem Gebiete des subjectiven, ins Falsche hin-
übergreifenden Denkens, da in Wahrheit jedes Subject im
unbestrittenen Besitz Eines Prädicates ist. Und hier findet
zwischen den Gliedern bestimmter kleinerer oder grösserer
Gruppen von Vorstellungen das Verhältniss statt, dass sie,
als Prädicate desselben Subjects versucht , sich abstossen und
ausschliessen ; und zwar nicht etwa wegen der besonderen
Beschaffenheit eines einzelnen Subjects, sondern wegen ihres
eigenen Gehalts. Wir nennen sie mit einer gangbaren Be-
zeichnung unverträglich, da incomprädicabel, was
die Sache am genauesten ausdrücken würde , zu ungewohnt
klingt. Ursprünglich findet dieses Verhältniss zwischen Eigen-
schafts-, Thätigkeits- und Relationsvorstellungen, abgeleiteter
Weise auch zwischen Vorstellungen von Dingen statt , sofern
diese als Prädicate von Benennungs- und Subsumtionsurtheilen
auftreten. Denn zwei substantivische Vorstellungen wider-
sprechen sich, sofern sie unvereinbare Bestimmungen ent-
halten *).
9. Welche Vorstellungen unverträglich sind, lässt sich
aus keinen allgemeinen Regeln ableiten, sondern ist mit der
factischen Natur der Vorstellungsinhalte und ihrer Verhältnisse
zueinander gegeben. Es Hesse sich eine Einrichtung unseres
Gesichtssinnes denken, bei der wir dieselbe Fläche in verschie-
denen Farben leuchten sähen, wie sie ja Licht verschiedener
Brechbarkeit aussendet , gerade wie wir in einem Klang ver-
*) Tdc ävavxCa (XXXYjXa ob 8exi|xeva untersucht in lelirreiclier Weise
Plato im Phsßdon, Cap. 52. 103 D ff.
174 l 4. Die Verneinung. 135. 136
schiedene ObertÖne , in einem Accord die einzelnen Klänge
unterscheiden ; es ist rein factisch, dass die Farben als Pr'ädicate
derselben Lichtquelle unverträglich sind , die verschiedenen
Töne als Prädicate derselben Tonquelle nicht, und ebensowenig
die Druck- und Ternperaturempfindungen des Tastsinns, die
in den verschiedensten Combinationen (kalt und hart, kalt und
weich u. s. f.) auf dasselbe Subject bezogen werden können.
Wohl aber lässt sich im Allgemeinen sagen, in Betreff
welcher Vorstellungen ihre Unverträglichkeit am häufigsten
zum Bewusstsein kommen, welche am leichtesten in wirklichen
Streit gerathen werden. Offenbar diejenigen , die am leich-
testen nebeneinander als Prädicate versucht werden können,
weil sie unter sich am gleichartigsten und verwandtesten sind,
gleichartigen und ähnlichen Subjecten zukommen; diejenigen,
welche sich eben wegen dieser Verwandtschaft zugleich als
die specielleren Bestimmungen und Modificationen eines All-
gemeineren darstellen. Darum ist die Unverträglichkeit ver-
schiedener unter derselben allgemeineren Vorstellung zusam-
mengefasster Bestimmungen wie der Farben, der Qualitäten
des Tastsinns, der Formen, der Zahlen u. s. f. die geläufigste,
diejenige, die uns sofort einleuchtet, weil wir am häufigsten
Gelegenheit hatten uns derselben bewusst zu werden. An die
Unverträglichkeit von Mensch und Känguruh, von schmelzen
und fliegen denkt Niemand , weil der Fall nie eintreten wird
zu fragen, ob irgend ein Wesen Mensch oder Känguruh sei,
irgend ein Ding zerschmelze oder fliege ; die Unverträglichkeit
von schwarz und weiss, von jung und alt, von stehen und liegen
stösst uns jeden Augenblick auf, weil die Fälle zahllos sind,
in denen die Frage sich nahe legt , ob etwas schwarz oder
weiss, eine Person jung oder alt sei, ob etwas stehe oder
liege. Daraus entsteht die Täuschung, als ob es sich zwischen
den Unterschieden einer allgemeineren Vorstellung um ein
specifisches Verhältniss der Unverträglichkeit handle, das ihnen
ganz abgesehen vom Urtheilen zukomme, als ob schwarz und
weiss, krumm und gerade als Söhne desselben Vaters eine
ganz besondere Feindschaft gegeneinander hätten.
10. Die Unverträglichkeit hat keine Grade; und sofern
es sich bloss um den Grund der Verneinung handelt, steht
136 § 22i Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. l75
schwarz und unsichtbar in keinem andern Verhältnisse als
schwarz und blau, und schwarz und blau in keinem anderen
als schwarz und weiss. Es knüpfen sich aber an die Ver-
hältnisse, auf denen die Unverträglichkeit beruht, andere an,
welche bloss die Grösse des Unterschieds betreffen, und
leicht mit jenen vermischt werden, die gewöhnlich soge-
nannten Gregensätze. Schwarz und weiss sind in ganz
anderem- Sinne entgegengesetzt als schwarz und blau; der
Unterschied beider Verhältnisse ruht auf dem Abstände
gleichartiger Vorstellungen, der allmählich wächst
und endlich ein Maximum erreicht. So setzen wir Tag und
Nacht, Maus und Elephant, Tropfen und Meer einander ent-
gegen. Der schroffe Uebergang von einem Extrem zum an-
dern scheidet sich für unser Gefühl scharf von dem Ueber-
gang zum nächstähnlichen , besonders in den Gebieten , wo
stetige Uebergänge die näherliegenden Unterschiede verknüpfen ;
und zumal wo der Gefühlseindruck selbst ein entgegengesetzter
ist, wohlthuend und gefällig auf der einen, schmerzlich und
missfallend auf der andern Seite, schärft dieser Gefühlswerth
den Eindruck der Grösse des objectiven Unterschieds. So
stehen sich Licht und Finsterniss , gut und böse , schön und
hässlich, Lust und Schmerz selbst gegenüber; und es bedarf
keiner Erläuterung, wie die Gleichartigkeit und Zusammen-
fassbarkeit unter eine gemeinschaftliche höhere Vorstellung
hier durchweg vorausgesetzt ist. Aber wir würden vorziehen,
dieses Verhältniss Contrast zu nennen , um es nicht mit
dem der Unverträglichkeit zu vermischen. Dass das Wachsen
der Unterschiede in einer solchen Reihe nebengeordneter Vor-
stellungen und die Stellung der Extreme uns in räumlichem
Bilde erscheint, hat schon Aristoteles bemerkt und Trendelen-
burg mit feinem Sinne dargelegt *) ; aber auch das räumliche
Entgegen , das geometrisch ein Maximum des Unterschieds
der Richtung darstellt und physicalisch durch Druck und
Gegendruck, Wirkung und Gegenwirkung Bedeutung gewinnt.
•) Trendelenburg, Logische Unters. Xll. 2. Afl. IT, 151. 3. Afl. 171.
vergl. El. log. Arist. zu § 10. Arist. Cat. 6. 6 a 12 und die Stellen bei
Waitz zu Cat. IIb, 34.
176 l 4. Die Verneinung. 137. 138
und das an unserem eigenen Wollen eine ähnliche Resonanz
findet wie der Contrast an unserem Gefühl, zeichnet sich, wie
der Contrast, unter dem vielen Unverträglichen nur durch
Züge aus, welche direct keine besondere Beziehung zur Ver-
neinung haben.
11. Dies zeigt sich am deutlichsten an den Versuchen,
die Verhältnisse , die man als Gegensatz bezeichnete , vermit-
telst der Negation zu begreifen oder wenigstens auszudrücken.
Aus der Verneinung einer Vorstellung sollte der Gegensatz
ursprünglich hervorgehen, indem einem A ein nonA zur Seite
trete. Man unterschied mit Herbeiziehung eines Terminus,
der ursprünglich für zwei sich entgegenstehende Urtheile ge-
schaffen war (s. unten § 23), contradictorisch und con-
tra r entgegengesetzte Vorstellungen. Die contradic-
torisch entgegengesetzten, lehrt man, verhalten sich wie A und
nonA, so dass die eine Vorstellung nur die Verneinung des
Inhalts der anderen enthält ; die conträr entgegengesetzten so,
dass eine zwar die andere aufhebt, ausserdem aber noch eine
positive Bestimmung enthält. Gleich und nicht gleich, weiss
und nicht weiss gelten als Beispiele von contradictorischen,
weiss und schwarz, gut und böse als Beispiele von conträren
Gegensätzen.
Um das Recht dieser Lehre zu prüfen , muss zunächst
festgestellt sein, dass alle Verneinung nur einen Sinn hat im
Gebiete des Urtheils. Jede Verneinung ist die verneinende
Antwort auf eine Frage, und verbietet eine Prädicierung ;
Nein und nicht haben ihre Stelle nur gegenüber einem Satze
oder in einem Satze. Die Formel nonA, wenn A ein beliebig
Vorgestelltes bezeichnet, hat wörtlich genommen gar keinen
Sinn ; eine Vorstellung, die nur die reine Verneinung des In-
halts einer andern Vorstellung wäre, gibt es gar nicht. Soll
Verneinung soviel sein als A u f h e b u n g : so kann allerdings
eine Vorstellung — Mensch, Himmel, blau, grün — da sein
oder nicht da sein , mit Bewusstsein vorgestellt werden oder
gar nicht vorgestellt werden und insofern »aufgehoben« sein;
aber dass Mensch nicht vorgestellt wird, ist dann nicht selbst
eine Vorstellung*), und den Sinn, dass oOx av^pWTco? bedeute
*) ouS^v Y«? ^vSdxsxat vostv n^j voouvxa §v. Arist. Met. F 49. 100 b 610.
138 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 177
es werde »Mensch« nicht vorgestellt, kann die Formel schon
desv^egen nicht haben, weil um sie zu verstehen »Mensch«
vorgestellt werden muss, die Formel also ebenso ihren Zweck
verfehlte, wieKant's Denkzettel »Lampe muss vergessen werden.«
Sollte nonA alles dasjenige bezeichnen , was nicht vor-
gestellt wird , wenn A — rein seinem Inhalte nach — vor-
gestellt wird, dessen Vorstellung also mit der Vorstellung A
nicht unmittelbar gegeben ist: so hören A und nonA auf un-
verträgliche Bestimmungen zu bezeichnen , und es ist nicht
wahr, dass sie sich ausschliessen. Wenn ich »weiss« vorstelle,
so habe ich gar nichts als die Farbe vor mir; ist nonA alles
was nicht diese Farbe ist, so gehört dazu auch rund, vier-
eckig, schwer, in Schwefelsäure löslich; alles das ist »nicht
weiss«, d. h. etwas anderes als »weiss«; aber diese Prädicate
sind mit weiss durchaus nicht unverträglich , und bilden kei-
nen Gegensatz im gewöhnlichen Sinne ; man müsste erst von
»weiss« zurückgehen auf alle weissen Dinge, und dann diese
von der gesammten Welt abziehen ; aber wo bedeutet das Wort
»weiss« ohne Weiteres alle weissen Dinge?
Soll es sich aber um eine eigentliche Verneinung
handeln, so muss das Vorgestellte von etwas verneint wer-
den, also — ausdrücklich oder stillschweigend — in ein Ur-
theil eingehen. Dies ist auch wirklich die Meinung; nonA
soll dasjenige bezeichnen, was nicht A ist, wovon A verneint
werden muss. Es setzt also ein verneinendes Urtheil, oder
eine Reihe verneinender Urtheile über ungenannte Subjecte
voraus, die erst auf Grund d ieser Vernein ungen und
sehr indirect als das bezeichnet werden können, was nicht A
ist. Soll also unter nonA irgend etwas vorgestellt werden,
so müssen diese Subjecte irgendwoher kommen, durch die
blosse Forderung A zu verneinen sind sie noch nicht da; ich
muss alles Mögliche in Gedanken durchgehen, um A von ihm
zu verneinen ; dieses Positive wäre der Inhalt, der durch nonA
bezeichnet würde. Aber es ist ein un vollen dbares Geschäft,
auch wenn es einen Sinn hätte ; und sehr mit Recht hat
darum Aristoteles diesen Ausdruck ein övopia ocopiazoy genannt *).
*) Vergl. über dieses nonA auch Prantl, Geschichte der Logik I, 144.
Lotze, Logik 2 Afl. S. 61 f.
Sigwar t, Logik. 1. 2. Auflage. 12
178 I, 4. Die Verneinung^. 139. 140
Fragen wir Kant's Logik: so zeigt nonA als Pr'ädicat
an, dass ein Subject unter der Sphäre eines Prädicats nicht
enthalten sei, sondern dass es ausser der Sphäre desselben in
der unendlichen Sphäre irgendwo liege; der Satz: die Seele
ist nicht-sterblich, setzt die Seele in den unbeschränkten Um-
fang der nichtsterbenden Wesen , die von dem ganzen Um-
fange möglicher Wesen übrig bleiben, wenn ich das Sterb-
liche insgesammt wegnehme. Damit scheint ein einfaches
Recept gegeben, um sich zu verdeutlichen was unter nonA
gehört. Allein es ist nur da anwendbar, wo es sich um Prä-
dicate handelt, die als Bezeichnung von Einzelwesen genommen
werden können; hier kann ich die Welt als eine unendliche
Zahl von solchen betrachten, von der ich die Zahl der A ab-
ziehe. Was ist aber mit den Begriffen anzufangen, die ab-
stracter Natur sind und deren Umfang niemals eine Anzahl
von Wesen bedeuten kann? Ist A = sterblich, und theile
ich den Umfang möglicher Wesen in sterbliche und nicht
sterbliche, wo hat die Tugend, die Gerechtigkeit, das Gesetz,
die Ordnung, die Entfernung ihren Sitz? Sie sind weder
sterbliche Wiesen, noch nicht-sterbliche Wesen, weil sie gar
keine Wesen sind ; sie sind Eigenschaften und Relationen von
Wesen, die sowohl sterblichen als nichtsterblichen Wesen zu-
kommen können. Will man sie deshalb nicht unter nonA
rechnen, weil sie einem sterblichen Wesen zukommen können
— so darf man sie auch nicht unter A begreifen, und wir
erhalten gegen die Voraussetzung ein Mittelreich zwischen
A und nonA. Ist A Mensch: so scheint es leicht, die Men-
schen aus der Welt heraus bei Seite zu stellen ; was übrig
bleibt, Sonne Mond und Sterne, Mineralien , Pflanzen , Thiere
ist Nicht-Mensch; aber wohin gehört schwarz, grün, weich,
hart, als Eigenschaftsbegriffe gedacht? zu A oder nonA? Die
so gemeinte Theilung der möglichen Wesen in A und nonA
vergisst ganz , dass es verschiedene Kategorieen
gibt ; dass jeder Begriff theils zu solchen gleicher Kategorie
im Verhältniss steht, theils zu solchen verschiedener Kategorie ;
und dass die Linien, die sie scheiden, sich in wunderlichster
Weise kreuzen.
Gesetzt aber auch es wäre ausführbar, unter allem was
141 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 179
niclit A ist, irgend etwas fassbares zu denken, das zu prä-
dicieren einen Sinn hätte — woran läge es zuletzt, dass ich
von all dem , was nonA bedeuten kann , A verneinen muss ?
Nicht darin , dass es nonA ist , denn das wird nur auf in-
directe und abgeleitete Weise von ihm gesagt, sondern in
dem was es ist, und was hindert, A von ihm zu prädicie-
ren. Der Gegensatz, der durch nonA ausgedrückt und ver-
ständlich gemacht werden sollte, ist vielmehr die Voraus-
setzung des nonA, und dieses bloss ein abgeleitetes Zeichen
desselben, nicht sein Wesen und Grund.
Dieselbe Unbestimmtheit, in der sich der contradictorische
Gegensatz auflöst , haftet auch dem conträren nach der
gewöhnlichen Lehre an. Soll einer Vorstellung A alles con-
trär entgegengesetzt sein, was durch die Formel nonA + B
ausdrückbar ist : so träten roth und tugendhaft, schwarz und
unsterblich in conträren Gegensatz — ganz abgesehen von
den wunderlichen Verwirrungen , die entstünden , wenn man
A und B aus verschiedenen Kategorien nähme, was durch
die Formel nicht ausgeschlossen ist ; denn sie bezeichnet alles
unter nonA befasste, und nicht bloss negativ, sondern direct
bezeichnete ; so kommt grasgrün und Algebra, gefühlvoll und
Ellipse in conträren Gegensatz. Man verzeihe die Beispiele ;
aber die Gedankenlosigkeit der von einer Logik zur andern
sich fortschleppenden Formeln kann nicht anders deutlich ge-
macht werden.
12. Die Einsicht, dass man nur da verneinen kann, wo
eine vernünftige Möglichkeit zu fragen, beziehungsweise zu be-
jahen erfindlich ist , hat Andere dazu geführt , sowohl jenes
ins Blaue hinausgeschleuderte nonA, als die gewöhnliche Er-
klärung des conträren Gegensatzes durch nonA 4- B fallen zu
lassen, und den contradictorischen wie den conträren Gegen-
satz nur da zu suchen, wo eine allgemeinere Vorstellung sich
durch Unterschiede weiter bestimmt, die sich ausschliessen,
wie die Linie durch die Unterschiede der Richtung zur ge-
raden oder krummen, das Verhalten eines Körpers im Raum
zu Ruhe oder Bewegung. Der contradictorische Gegensatz
wird nun da gefunden, wo nur zwei Bestimmungen einander
gegenüberstehen, also mit der Verneinung der einen die an-
12*
180 I» 4- Die Verneinung. 141.142
dere bestimmt gemeint sein mnss — eine Linie, die nicht ge-
rade ist muss krumm sein; der conträre Gegensatz da, wo
mehrere Bestimmungen gleichmässig eintreten, wie bei den
Farben. Damit ist unter diesen Namen des Contradictorischen
und Conträren die Unterscheidung wieder eingeführt, die
Aristoteles (Categ. 10. 11 b 33) zwischen Entgegengesetztem
macht, das kein Mittleres habe, wie gerade und ungerade bei
den (ganzen) Zahlen , Krankheit und Gesundheit bei einem
lebenden Wesen , und Entgegengesetztem , das ein Mittleres
habe, wie schwarz und weiss *).
Ist diese Wendung der Lehre rationeller, weil sie we-
nigstens in der allgemeineren Vorstellung ein Subject für die
Negation gibt: so birgt sie dafür eine andere Gefahr, nem-
lich dass man glauben könnte, nun doch durch blosse Ne-
gation Entgegengesetztes , also Positives zu erzeugen , indem
an dem Allgemeineren die Bestimmungen a und non a gesetzt
werden. Aber das Allgemeinere ist nicht vor seinen Bestim-
mungen, sondern mit diesen zugleich; es gibt nicht erst eine
Linie überhaupt , die sich entscheiden könnte , gerade oder
nicht gerade zu sein ; sondern in der Natur des Raumes , in
welchem die Linie ist, liegt es, dass in ihm sowohl gerade
als krumme Linien möglich sind. So hängt es überhaupt
von der Natur der Objecte, welche wir in einer allgemeineren
Vorstellung zusammenfassen, ab, welche Bestimmungen sie
. an sich gestatten , ob neben einem Prädicate , das wir als
*) Man ist dann noch weiter auch dazu fortgegangen, den Namen
des conträren Gegensatzes auf die am weitesten von einander abstehen-
den Glieder einer Reihe solcher Unterschiede zu beschränken, unter
den Farben also nur schwarz und weiss als conträren Gegensatz anzu-
nehmen, roth und gelb aber nur als disjunct , nicht als conträr. Dies
geschah, übereinstimmend mit der aristotelischen Bestimmung (Categ.
6. 6 a 17 und sonst, s. die Stellen bei Waitz Org. I, p. 309) , dass die
^vavxta xä rcXslatov dXXigXtov SteaTYjxöxa xöiv sv xcp aüxq) ysvst seien , von
Trendelenburg in den Log. Unters. Cap. XII, und nach seinem
Vorgang von Dro bisch, Logik 3. Afl. § 24. S. 27 und Ueberweg,
Logik 3. Afl. § 53, S. 108 f. Damit aber tritt (nach den Ausführungen
S. 180) ein ganz neuer Gesichtspunkt, der der Vergleichung der Ab-
stände des Vorgestellten herein , der uns hier , wo wir bloss von den
Gründen der Negation handeln, nichts angeht.
143 § 22. Privation und Gegensatz als Grund der Verneinung. 181
möglich erkennen, auch noch ein anderes zulässig ist, und
es hängt ebenso von der Natur der Objecte ab , wie gross
der Kreis solcher nebeneinander möglicher Bestimmungen ist.
Auch so kann die Negation und die vermittelst ihrer gebil-
dete Formel nur für uns interpretieren, was in der Natur der
Vorstellungen liegt , aber diese Natur nicht erst bestimmen.
Vielmehr bleibt die Unverträglichkeit gewisser Vorstellungen
für unsere jetzige Betrachtung ein factisches Verhältniss, und
die Logik ist auch, genau betrachtet, nirgends über eine Be-
schreibung desselben hinausgekommen; die Bedeutung des
Verfahrens aber, durch a und non a Unterschiede an einem
Allgemeineren zum Ausdruck zu bringen, kann erst in der
Lehre vom Begriff erörtert werden.
13. In Einem Falle scheint jedoch die Entstehung eines
Gegensatzes durch Negation unabweisbar : nemlich da , wo
das eine Glied wirklich bloss negative Bedeutung hat. Ge-
rade und krumm sind zwei verschiedene Anschauungen , jede
in sich bestimmt und positiv; bei Ruhe und Bewegung kann
man wenigstens streiten, ob das eine bloss Negation des an-
dern sei *) , und dabei das eine wie das andere als positiv
nehmen; aber blind, taub, unglücklich, unverständig, unver-
nünftig, sprachlos, gefühllos und wie die zahllosen un- und
-los sonst lauten ? Lässt sich das Verhältniss von sehend
und blind anders ausdrücken , als dass blind soviel sei als
nichtsehend, die einfache Privation des Sehens, und haben
wir also nicht hier einen Gegensatz, welcher durch Vernei-
nung entstanden ist, und dessen eines Glied gar nichts als ein
Nichtsein bedeutet ? hat nicht also doch die Sprache , indem
sie die Negation mit dem Prädicate verschmolz, das nonA der
logischen Theorie zum Voraus legitimiert?
Dann müsste es vollständig gleichbedeutend sein, ob ich
das eine Glied des Gegensatzes negiere, oder das andere be-
jahe ; ob ich sage, dies sieht nicht, oder dies ist blind ; A ist
nicht glücklich, oder A ist unglücklich. Es bedarf keines
Beweises, dass dem nicht so ist. Wenn nur das Urtheil falsch
ist, dass A sieht — und mehr sagt »A sieht nicht« niemals
*) Die Ruhe ist nicht ein blosses Nichts, sagt Spinoza (Tract. de
Deo II, 19) und baut darauf seine ganze Physik.
182 I, 4. Die Verneinung. 143. 144
durch seinen Wortlaut — so ist nicht ausgesprochen warum
er nicht sieht ; blind aber bezeichnet einen bestimmten Zu-
stand des Subjects, eine organische Veränderung des Seh-
apparats, in Folge deren das Sehen nicht stattfindet. Wer
also das Sehen verneint, bejaht darum nicht das Blindsein,
wie es sein müsste, wenn diese sog. privativen Prädicate wirk-
lich nichts als den Ausdruck einer Verneinung enthielten.
Auch hier also reicht die Verneinung nicht aus, um den Ge-
gensatz zu erklären; und nur darum, weil unsere Ver-
neinungen fast immer auf solchen Gegensätzen
ruhen, erweckt die Verneinung nach psycholo-
gischen G esetzen zuerst die Vors tellung des Ge-
gensatzes, und die Sprache, welche die psychologischen
Kräfte benutzt, und jedem Worte eine engere Bedeutung, als
seine Etymologie mit sich bringt, zu geben die souveräne
Macht hat, kann diese Gewohnheit verwerthen, um Gegensätze
durch Negationen zu bezeichnen ; aber sie meint immer mehr,
als sie sagt, und der logischen Analyse kommt zu, zu unter-
scheiden , was die Verneinung an und für sich nothwendig
und was sie nur vermöge einer Association gewöhnlich, auf
Grund der bekannten Verhältnisse der Prädicate, bedeutet.
§ 23.
Der Satz des Widerspruchs bezieht sich auf das
Verhältniss eines positi ven Urtheils zu seiner
Verneinung, und drückt Wesen und Bedeutung der
Verneinung aus, indem er sagt, dass die beiden Urtheile,
A ist B und A ist nicht B, nicht zugleich wahr sein können.
Er sagt damit etwas wesentlich anderes als das ge-
wöhnlich sogenannte Principium contradictionis (A ist nicht
nonA) , welches das Verhältniss eines Prädicats zu
seinem Subjecte betrifft, und verbietet, dass das Prädicat
dem Subjecte entgegengesetzt sei.
Das Verhältniss eines positiven Urtheils zu seiner Ver-
neinung (abgeleiteterweise auch das Paar in diesem Verhält-
niss stehender Urtheile) heisst avTLcpaatg, Contradictio ; sie sind
145 § 23. Der Satz des Widerspruchs. JgS
sich contradictorisch entgegengesetzt (dvTtcpaTtXü)?
dvTixeta'O'at, contradictorie oppositum esse).
1. Aehnliche Verwirrung, wie über Identität und Gegen-
satz, besteht hj^s^htüßh des sogenannten Principium contra-
dictionis, Aristoteles formuliert es in der bekannten Stelle*)
so: »Es ist unmöglich, dass dasselbe demselben
in derselben Beziehung zugleich zukomme und
nicht zukomme... Dies ist der allergewisseste Grund-
satz . . . denn es ist unmöglich, dass irgend Jemand annehme,
dasselbe sei und sei nicht, (wie einige meinen, dass Heraklit
es sage ; denn es ist nicht nöthig, dass einer das wirklich an-
*) Metaph, T, 3. 1005 b 19: Tö ydp aöxo &[ia undpxstv ts y,ai [xr]
ÖTtdpxetv aSOvaxov xcp aöxtp y.cd xaxdc x6 ccuzb (xal 6aa dXXa 7rpogSt,optaa{|X£'8-'
dv, laxd) TcpogStoptotidva upog xdg Xoytxdg Suoxspetag), aöxYj Sv] naawv ioxi
ßeßatoxdxY] xwv dp^wv . . . dSövaxov ydp övxtvoöv xauxöv U7i;oXa|jißdvetv slvat
xal [iTj stvat, xa'ö-dTiep xtvsg o'iovxat Xsysiv 'HpdxXeixov * oux laxt ydp dvay-
xatov, dxig Asyst, xaöxa xal UTcoXajjtßdvstv. el d^ jiyj ^vSe^exat &|jLa uudpxstv
x^ aöxq) xdvavxCa (ixpogSwüpiaO-o) d' :^|Jilv xal xaÖTKj xf; upoxdasi xd sloö'ö'öxa)
Ivavxla 8' §axl So^a dö^yj yj x-^g dvxtcpdascos, cpavepöv öxt dSövaxov djxa ötio-
Xajißdvstv xöv auxöv slvat, xal |jlyj slvat xb aöxö • dji-a ydp dv Ix^^ "^^C Ivav-
xias Sögag 6 Stecl^suojjtivoc Tiepl xouxou. Atö udvxss oE duoSstxvövxsg sig xau-
xyjv dvdyouotv loxdxvjv Sö^av qjöast ydp dpx"*^ xal xwv dXXoDV d^twijtdxcüv
aöxYj Tcdvxwv. 4. 1006 b33: oux dpa Ivd^xstat djxa dXvjO-sg stvai slustv xö
auxö dv'ö-pcoTiov slvat xal {xtj sTvat dV'O-pWTiov (vergl. dazu Metaph. B, 2
996 b 31 : Xdyco §s dTcoSstxxtxdg xdg xotvdg Sö^agj §| wv duavxsg Sstxvö-
aatv , olov 8xi itdv dvayxaiov >) cpdvat -i^ drcocpavat, xal &bbyccxoy djia slvai
xal |jLYj slvat). Wenn Aristoteles im obigen Zusammenhange den Satz
verwendet, dass Entgegengesetztes (ävavxla) nicht demselben zugleich
zukommen könne, und ihn als Beweisgrund dafür zu verwenden scheint,
dass derselbe nicht annehmen könne, dass dasselbe zugleich sei und
nicht sei, so darf das natürlich nicht so verstanden werden, als ob da-
mit ein höherer oder vom Satze des Widerspruchs unabhängiger Grund-
satz aufgestellt würde; das widerlegt Aristoteles nicht nur im selben
Zusammenhang, sondern kommt auch später (Metaph. IV, 6. 1011 b 15)
darauf zurück: InslS' dSuvaxov xijv dvxlcpaatv dXyjd-susaO-at d|i,a xaxd xoö
auxoö , cpavepöv 5xi oö5ä xdvavxia dp,a UTidpxstv ivSsxetat x(p auxqj, erklärt
also umgekehrt diesen von jenem abhängig. Der obige Beweis ist viel-
mehr nur ein ai> XXoytaiiög Ig oTTo^doscog im aristotelischen Sinn, d. h.
eine argumentatio ex concessis, die nachweisen will, dass der Satz:
Niemand kann annehmen, dass demselben dasselbe zukomme und nicht
zukomme, in dem anerkannten Satze : demselben kann nicht Entgegen-
gesetztes zukommen, liegt.
184 I. 4. Die Verneinung. 145. 146
1
nimmt, was er sagt). . . Jedermann , der einen Beweis führt,
führt ihn deshalb auf diesen Satz als letzten zurück; denn er
ist von Natur das Princip auch für alle andern Axiome«.
Damit ist also gesagt: der Satz A ist B, und der Satz
A ist nicht B, können nicht zugleich wahr sein; wer den
Satz A ist nicht B behauptet, muss den Satz A ist B für falsch
erklären ; und wer den Satz A ist B behauptet , erklärt den^-—
Satz A ist nicht B für falsch.
2. Damit ist nichts als eine Declaration über die
Bedeutung der Verneinung gegeben, die Wesen und
Sinn derselben in einem Satze darlegt, der übrigens selbst
nicht ohne die Verneinung ausgesprochen werden kann, und
darum nur den Werth hat, demjenigen, der die Negation
gebraucht, sein eigenes Thun zum Bewusstsein zu bringen.
Wer mit »nicht« denselben Sinn verbindet, den alle damit
verbinden, der kann wohl mit Worten zugleich sagen A ist
B und A ist nicht B, er kann es aber nicht glauben und im
Ernste behaupten ; oder er kann wohl mit Worten den Schein
erwecken , als ob beides zugleich wahr sei , aber nur , indem
er die Wörter in verschiedenem Sinne gebraucht oder von
verschiedenen Zeiten spricht. Darum verwahrt Aristoteles
seinen Satz so vorsichtig durch die Bestimmungen »zugleich«
und »in derselben Hinsicht«.
So gewiss die Verneinung nur in einer über das Seiende
hin ausgreifenden Bewegung unseres Denkens wurzelt, welche
auch das Unvereinbare an einander versucht, so gewiss kann
Aristoteles mit seinem Princip unmittelbar nur die Natur
unseres Denkens treffen wollen. Dahin weist die Begründung:
Es ist unmöglich , dass irgend Jemand annehme, dass das-
selbe zugleich sei und nicht sei ; dahin weist die weitere Aus- f
führung (Metaph. IV, 4), dass diejenigen, die sagen, es sei
möglich , dass dasselbe sei und nicht sei , und es sei möglich
das zu glauben , die Möglichkeit des Denkens und Sich-ver-
ständigens überhaupt aufheben; denn dieses beruht darauf,
dass jedes Wort etwas Bestimmtes bedeutet, und der Redende
bei dieser Bedeutung stehen bleibt, und sie nicht wieder auf-
hebt*). 1\)
'*) j[ergl. Prantl, Gesch. der Logik 1, 131 ff. 134: Immer wird über-
147 § 23. Der Satz des Widerspruchs. 185
3. Ist dies der Sinn, in welchem Aristoteles sein Princip
des Widerspruchs gemeint hat, so erhellt auch, was die po-
sitive Kehrseite desselben sein muss: nemlich der Satz, dass
Jeder, der mit Bewusstsein etwas behauptet, eben das be-
hauptet, was er behauptet, dass seine Rede einen festen Sinn
haben muss, weil er sonst in der That nichts sagte, wenn
sich ihm, während er denkt und spricht, ein anderer Sinn ^
unterschöbe ; es muss gelten : was ich geschrieben , das habe
ich geschrieben, was ich sage, das sage ich. Es ist aber klar,
dass damit nur eine Ergänzung zu dem gemeint sein kann,
was wir oben Constanz der Vorstellungen genannt
haben ; es ist die E i n d e u t i g^k_je i t^ des Urtheilsacts.
Wollte man dem aristotelischen Grundsatz als seine positive
Kehrseite ein Princip der Identität gegenüberstellen, so musste
diese Eindeutigkeit des Urtheilsacts seinen Inhalt bilden. Allein
erst aus der Abweisung, des zugleich Bejahens und Verneinens
kommt diese Eindeutigkeit zum Bewusstsein, und sagt nichts,
was nicht der Satz des Widerspruchs auch sagte. Es ist also
einstimmend mit dem subjectiven Ursprünge, welchen das menschliche
ürtheilen hat , erst an das im subjectiven Reden und Annehmen be-
stehende Verhältniss der gleiche Grundsatz betreffs der Objectivität an-
geknüpft. Allerdings scheint die Fassung ; es ist unmöglich, dass das-
selbe zugleich sei und nicht sei, darauf hinzudeuten, dass es sich zu-
gleich und sogar in erster Linie um einen metaphysischen, erst in
zweiter um einen logischen Grundsatz handle (wie z. B. üeberweg § 77.
S. 198 ff. annimmt, indem er die Aussprüche des Aristoteles in solche
scheidet, welche den metaphysischen, und solche, welche den logischen
Grundsatz aussprechen). Allein eine solche Trennung von Metaphysik
und Logik kann niemals im Sinne des Aristoteles gelegen haben, schon
darum nicht, weil er das wahre Urtheil immer als Ausdruck eines Seins
fasst, und das laxtv der Prädication häufig geradezu als ein Sein schlecht-
hin bezeichnet; seinem ausdrücklichen Ausspruch gegenüber aber (Me-
taph, VI, 4), dass das Wahre und Falsche nicht in den Sachen, sondern
in Gedanken sei, kann ein Satz, der von zwei Behauptungen eine für
falsch erklärt, immer in erster Linie nur das Thun des Denkens in der
ab'^^eoii und Siafpeatg treffen: dass dasselbe nicht zugleich ist und
nicht ist, dasselbe demselben (objectiv) nicht zugleich zukommt und
nicht zukommt, ergibt sich von selbst, weil vermöge des aristotelischen
Begriffes der Wahrheit auch der logische Grundsatz sonst gar keine
Geltung hätte. Beide Ausdrucksweisen, die subjective und die objective,
sagen für Aristoteles zuletzt genau dasselbe. Vgl. Zeller Phil. d.Gr. 11,2,174,
A
186 I, 4. Die Verneinung. 147. 148
vollkommen naturgemäss, dass Aristoteles den Satz des Wider-
spruchs allein als Princip heraushebt, und seine positive Kehr-
seite nur gelegentlich zum Ausdruck bringt *), jyie auch lange
Zeit unter dem Principium identitatis der aristotelisclie Satz
des Widerspruchs verstanden wurde.
4. Was die spätere Logik, insbesondere Leibniz mid
Kant*), als Principium contradictionis in der Formel A ist
*) Was Trendelenburg, Elem. log. Arist. § 9 aus Anal. pr. I, 32.
47 a 8 anführt : Ast uav xö dXyjS-feg aÖTÖ laux^ öjjLoXoyooiievov elvat TtAvT-Q, ist
der späteren Lehre zu lieb herbeigezogen, und hat im Zusammenhange
nicht diese principielle Bedeutung; diese kann man nur den Ausfüh-
rungen Metaph. VI, 4 ff, beilegen, und das dort enthaltene formuliert
Prantl, Gesch. der Logik I, 131, richtig dahin, dass jede Annahme be-
treffs eines u7tdpxov(ich würde nur gesetzt haben öudpxstv) in sich fest-
stehe, was wiederum zuletzt nur unter Voraussetzung der begrifflichen
Festigkeit der Wortbezeichnungen möglich ist. Baumann, der neuer-
dings (Philosophie als Orientierung über die Welt S. 373 ff.) sich be-
müht hat, den ächten aristotelischen Sinn der logischen Grundsätze
wieder zu Ehren zu bringen, verwischt doch die Bedeutung des Ge-
setzes , wenn er es auf den bloss factischen Thatbestand , dass etwas
vorgestellt oder gedacht worden ist, bezieht (»Es drückt nichts aus, als
dass die Thatsache des Vorstellens stattgefunden hat in der Weise, wie
wir sie vollzogen haben«) , und es bloss als einen speciellen Fall des
factum infectum fieri nequit hinstellt; denn nicht darauf kommt es an ,
in einem hintenher kommenden Urtheile die Thatsache festzustellen,
dass etwas gedacht worden ist; dieses nachfolgende Urtheil selbst
steht ja unter der Regel, dass es etwas bestimmtes meint, nemlich eben
das Stattgefundenhaben dieses und keines andern Denkacts. Es handelt
sich vielmehr darum, wie jeder Urtheilsact stattgefunden hat, nemlich
so, dass darin eine bestimmte, einzige Meinung liegt, dass, wer irgend
etwas behauptet, es nur in einem Sinne behaupten, und in demselben
Acte nicht zugleich das Gegentheil meinen kann.
*) Wann zum erstenmale als Principium identitatis nicht der ari-
stotelische Satz (wie das ganze Mittelalter hindurch, laut Prantl's Be-
legstellen), sondern die Formel A est A oder Ens est Ens bezeichnet
wurde , und im Zusammenhange damit auch das Principium contra-
dictionis (und das Princ. exclusi tertii) seine veränderte Bedeutung er-
hielt, gestehe ich nicht zu wissen. Bei Leibniz lässt sich der üeber-
gang der einen Fassung in die andern deutlich sehen. In den Nouveaux
Essais IV, 2 (l^rdm, p. 838. 339) wird als Princip der Identität A est
A, chaque chose est ce qu'elle est genannt, als Princip des Widerspruchs
aber : üne proposition est ou vraie ou fausse. Darin sollen zwei Sätze
liegen: 1. que le vrai et le faux ne sont point compatibles dans une
148. 149 § 23. Der Satz des Widerspruchs. 187
nicht nonA aufgestellt hat, ist nach Sinn und Anwendung
von dem aristotelischen Satze durchaus verschieden. Der Satz
des Aristoteles betrifft das Verhältniss eines bejahenden und
eines verneinenden Urtheils, bei ihm widerspricht ein Urtheil
dem andern; der spätere Satz betrifft Verhältniss von Sub-
ject und Prädicat in einem einzigen XJrtheile, das Prädicat
widerspricht dem, Subject. Aristoteles erklärt das eine Ur-
theil für falsch, wenn ein anderes wahr ist; die Späteren er-
klären ein ürtheil für sich und absolut für falsch, weil das
Prädicat dem Subjecte widerspricht. Die Späteren wollen ein
Princip, aus dem die Wahrheit gewisser Sätze J^X- sich er-
kannt werden könne; aus dem aristotelischen Satze folgt
unmittelbar keines einzigen Satzes Wahrheit oder Falschheit,
sondern nur die Unmöglichkeit, Bejahung und Verneinung zu-
gleich für wahr zu halten.
So ist denn K a n t's Polemik gegen Aristoteles ein Schlag
in die Luft. Bei ihm lautet der Grundsatz (Kritik der r.
Vern. Hart. S. 166 fl'.) : »Keinem Dinge kommt ein Prä-
dicat zu, welches ihm widerspricht.« Er ist ein allgemeines,
obzwar bloss negatives Criterium aller Wahrheit; er gilt von
allen Erkenntnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts, und
m^me proposition, ou qu'une proposition ne saurait etre vraie et fausse
a la fois ; 2. qne l'oppose ou la negation du vrai et du faux ne sont
pas compatibles, ou qu'il n'y a point de milieu entre le vrai et le faux,
ou bien il ne se peut pas qu'une proposition soit ni vraie ni fausse.
Soweit schliesst sich Leibniz hier wie Theod. 1 , 44 im Wesenthchen
an Aristoteles an; von den Beispielen aber, die er anführt, ist das
erste: ce qui est A ne saurait etre nonAj und man sieht wie aus
diesem, das noch die zwei Urtheile, »dasselbe ist A und ist nicht-A«
erkennen lässt, doch schon, durch das nonA, zur Hälfte die Formel A
ist nicht nonA geworden ist. Diese erscheint dann wirklich Nouveaux
Essais I, § 18 (Erdm. p. 211) neben der andern Formel: il est im-
possible qu'une chose soit et ne soit pas en mOme temps. In den Princ.
phil. dagegen (§ 31) gibt er als Inhalt des Principium contradictionis
an, dass wir kraft desselben für falsch erklären, was einen Widerspruch
enthalte, und für wahr, was dem Widersprechenden oder Falschen ent-
gegengesetzt sei. Hier ist also die contradictio im Prädicate; endlich
wird § 3-5 gesagt, dass das Gegentheil der identischen Sätze einen
ausdrücklichen Widerspruch enthalte, womit sich Ä ist A und A ist
nonA als noth wendig wahr und nothwendig falsch gegenübersteheii.
188 If 4. Die Verneinung. 149. 150
sagt , dass der Widerspruch sie gänzlich vernichte ; er ver-
bürgt zwar im Allgemeinen noch nicht die Wahrheit eines
Satzes, denn ein Urtheil kann, auch wenn es von innerem
Widerspruche frei ist, dennoch falsch oder grundlos sein;
man kann aber doch von demselben auch einen positiven Ge-
brauch machen, um Wahrheit zu erkennen. Denn wenn das
Urtheil analytisch ist, es mag nun v^neinend oder be-
jahend sein, so muss dessen Wahrheit jederzeit nach dem
Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden.
Denn von dem, was in der Erkenntniss des Objects schon
als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel jeder-
zeit richtig verneint, der Begriff selber aber nothwendig ^^on
ihm bejaht werden müssen, darum weil das Gegentheil des-
selben dem Objecte wi3efsprechen würde.
Von hjer aus veiurtheilt dann Kant die Formel: Es ist
unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei ; sie enthalte
nemlich eine Synthesis, welche aus Unvorsichtigkeit und ganz
unnöthigerweise in ihr gemischt worden. Der Satz sei durch
die Bedingung der Zeit afficiert , und sage gleichsam :
Ein Ding A, welches etwas = B ist, kann nicht zu gleicher
Zeit nonB sein ; aber es kann gar wohl beides (B sowohl als
nonB) nach einander sein. »Nun muss der Satz des Wider-
spruchs, als ein bloss logischer Grundsatz, seine Aussprüche
gar nicht auf Zeitverhältnisse einschränken, daher ist eine
solche Formel der Absicht desselben ganz zuwider.« Der
Missverstand komme bloss daher, dass man von synthetischen
Sätzen ausgehe; in dem einen sei ein Prädicat (z. B. unge-
lehrt) mit dem Subject (Mensch) synthetisch verbunden , und
da entstehe ein Widerspruch, wenn man zu gleicher Zeit dem
Subject ein entgegengesetztes Prädicat (gelehrt) zutheile; der
Widerspruch finde aber statt zwischen dem einen Prädicat
und dem andern, nicht zwischen dem Prädicat und dem Sub-
ject. _Sage_man aber: kein ungelehrter Mensch ist gelehrt,
so erhelle der verneinende Satz aus dem Princip des Wider-
spruchs , ohne dass die Bedingung »zugleich« hinzukommen
dürfe. In demselben Sinne führt auch die Logik Kants das
Princip des Widerspruchs auf.
Es bedarf keiner langen Ausführung , dass Kant von
150. 151 § 23. Der Satz des Widerspruchs. 189
etwas ganz anderem redet, als der ursprüngliclie Satz des
Widerspruchs meinte. Wie Leibniz die Wahrheiten in noth- |
wendige und thatsächliche theilte, und für jede beider Classen \
ein besonderes Princip ihrer Wahrheit aufisteilte, für die noth- ;
wendigen, die alle zuletzt sog. identische Sätze sind, das Princip
des Widerspruchs , für die thatsächlichen das Princip des zu-
reichenden Grundes, so verfährt Kant mit seinen beiden Classen
der analytischen und synthetischen Urtheile ; er sucht ein ^
Princip für die Wahrheit analytischer Urtheile. Nun haben
es analytische Urtheile immer bloss mit Subjecten zu thun,
die Begriffe sind, und sagen was in diesen als Begriffen —
damit ganz unabhängig von der Zeit — gedacht_wirdj das
Prädicat eines analytischen Urtheils ist immer schon in dem
Begriffe, der sein Subject bildet, enthalten. Das Princip des
Widerspruchs im Kantischen Sinne sagt nun : keinem Be-
griffe darf ein Prädicat bei^elegt^ werden, das ihm wider-
spricht. Sofern dann auch andere Urtheile ihr Subject mit
Hülfe eines Begriffs ausdrücken (dieser Mensch ist gelehrt,
enthält schon \ die Erkenntniss des Objects durch den Begriff
Mensch), findet der Satz auf sie Anwendung, dass sie sich
selbst vernichten würden, wenn sie dem Subject ein Prädicat
beilegen wollten , das dem Begriffe , unter den es gestellt ist,
widerspricht. Was es heisse, einem Begriffe widersprechen,
und ob auf diesen Widerspruch ein allgemeines logisches
Princip gegründet werden könne, soll nachher untersucht
werden ; vorerst ist deutlich, dass nach diesen Voraussetzungen
Kant allerdings ganz Recht hatte , die Zeitbestimmung aus
seinem Princip auszuschliessen ; allein wenn er die aristote-
lische Formel darum des ^Missyerstandes beschuldigt, weil sie
ihr »Zugleich« aufnimmt, so kommt dies nur aus seinem
eigenen Missverstande, dass nemlich Aristoteles dasselbe sagen
wolle wie er; denn Aristoteles will allerdings, zwar nicht den
Widerspruch zwischen zwei Prädicaten, aber den Widerspruch
zwischen Bejahung und Verneinung desselben Prädicats_verbieten.
5. Man fragt nun billig: wie ist es doch möglich, dass
zwei so verschiedene Sätze, wie der aristotelische und der
Kantische, meist als dasselbe Grundgesetz des menschlichen
Denkens angesehen werden, und besteht denn kein Zusammen-
190 l 4. Die Verneinung. 151. 152
hang zwischen ihnen? Allerdings. Das gewohnliche Princip
des Widerspruchs will eine Regel geben , nach welcher die
Gültigkeit verneinender Urtheile geprüft werden kann. Von
der Einsicht aus , dass eine Verneinung meist darauf ruht,
dass das Subject das Prädicat ausschliesst, und in dem Wahne,
dieses Verhältniss der Unverträglichkeit ruhe rückwärts wieder
auf der Verneinung, ^llen die allgemein gültigen Vernei-
nungen auf Widerspruch reduciert werden. Allein die Formel
dreht sich eben darum im Kreise.
Was kann es doch heissen: ein Prädicat B widerspricht
einem Subjecte A ? Ein Satz, der ein Prädicat B einem Sub-
jecte A beilegt, schliesst einen Widerspruch ein ? Es gibt
keinen andern Weg , auf dem ein Widerspruch zu Stande
kommen kann , als so , dass das Urtheil , das dieses Prädicat
B einernTSuBjecte A beilegt , einem andern (wenn auch nicht
ausdrücklich aufgestellten, so doch vorausgesetzten) Urtheile
widerspricht , welches dieses Prädicat B dem Subjecte A ab-
spricht; und indem das leztere Urtheil (A ist nicht
B) als selbstverständlich oder als andersw oh er
bekannt angenommen wird, hebt allerdings der Wider-
spruch das erste Urtheil auf, und zwar nach dem Satze des
Aristoteles , dass nicht beide zugleich wahr sein können.
Warum ist der Satz in Kant's Beispiel »Ein ungelehrter
Mensch ist gelehrt« ein Widerspruch? Weil das Prädicat
gelehrt einem Subjecte zugesprochen wird, von welchem durch
das Urtheil, das implicite in seiner Bezeichnung mit dem Sub-
jects Worte »ungelehrter Mensch« liegt, behauptet war, es sei
nicht gelehrt; es lässt sich also zurückführen auf die zwei
Urtheile X ist gelehrt, und derselbe X ist nicht gelehrt. Diese
zwei Urtheile werden von dem Satze behauptet,
und darum enthält er einen Widerspruch, und darum ist er
falsch, d. h. es ist falsch, dass derselbe gelehrt und nicht ge-
lehrt sei ; und wenn es wahr ist, dass er nicht gelehrt ist, ist
es falsch, dass er gelehrt ist.
Ein Widerspruch kann also nur insofern zu Stande kom-
men, als im Subjecte schon implicite ein Urtheil ausgesprochen
ist. Dies trifft bei den analytischen Sätzen , welche Kant im
Auge hat, und bei den Sätzen, welche die Schullogik allein
152. 153 § 23. Der Satz des Widerspruchs. 191
zu betrachten pflegt, allerdings zu. Kant's analytische Satze
sind, wie wir oben gesehen haben, nur möglich unter Vor-
aussetzung von Begriffen, die übereinstimmend fixiert sind,
d. h. unter Voraussetzung allgemeingültiger Urtheile über die
Bedeutung von Wörtern , welche sagen , Körper heisst soviel
als ausgedehntes Ding; die mit dem Worte »Körper« bezeich-
nete Vorstellung enthält die Vorstellung »Ausdehnung«. Sage
ich: alle Körper sind ausgedehnt: so heisst das also: Alles
was ich Körper nenne, muss ich auch ausgedehnt nennen; in
der Bezeichnung irgend eines X mit Körper ist das ürtheil
enthalten : X ist ausgedehnt. Sage ich nun : ein Körper ist
nicht ausgedehnt , oder auch : dieser Körper ist nicht ausge-
dehnt, — so habe ich den Widerspruch: dies ist ausgedehnt,
und dies ist nicht ausgedehnt; und da es absolut feststeht,
dass was Körper ist, ausgedehnt ist, so ist noth wendig das
Entgegengesetzte falsch.
Soweit steht sich Bejahung und Verneinung gegenüber,
A ist B und A ist nicht B. Allein jetzt Jrejtßn statt der
widersprechenden Sätze die contradictorisclT^entgegengesetz-
ten Prädicate B und nonB ein, und der Widerspruch der
Bejahung und Verneinung wird auf die beiden Bejahungen
A ist B und A ist nonB übertragen; wenn »A ist B« wahr,
ist »A ist nonB« falsch.
Unter diesen Voraussetzungen allein kann ein
Widerspruch eines Prädicats mit dem Subjecte stattfinden;
und nur unter dieser Voraussetzung, dass die Begriff sbil-
dung infallibel und die Wort b eze ich n u ng ab-
solut fest ist, und dass, wo es sich um Einzelnes handelt,
die Subsumtion des Einzelnen unter den Begriff
ebenso infallibel ist, kann aus dem Widerspruch des
Prädicats mit dem Subjectsbegriff die Falschheit eines Satzes
erkannt werden. Nun ist allerdings, so lange es sich bloss
um die subjectiven Gebilde handelt, die Kant seinen analyti-
schen Urtheilen zu Grunde legt (s. oben S. 133), die Möglich-
keit nicht zu bestreiten, einen Begriff mit Leichtigkeit zu
machen und einzelne Merkmale in ihm zu vereinigen, zu sagen
Körper ist ausgedehntes Ding ; jetzt ist das ürtheil die Körper
sind ausgedehnt soviel _als das Ausgedehnte ist ausgedehnt;
192 I, 4. Die Verneinung. 153. 1
ich habe nur , wie Hobbes aufstellt , Gleichungen zwischen
Wortbedeutungen, die willkürlich gemacht sind , es ist schon
eine Erschleichung, wenn ich sage: alle Körper sind aus-
gedehnt ; denndamit setze ich unter der Hand voraus , dass
mein Begriff sich auf mögliche Dinge anwenden lasse, und
dass ich in jedem einzelnen Fall diese Anwendung sicher
machen könne; nur so hat das »alle« einen Sinn; davon
vollends, dass ich über das, was ich Körper nenne, mehr
sagte, als was schon in der Benennung liegt, ist gar keine
Rede; alle Sätze werden identische, d. h. sinnlose und leere.
Gerade daran knüpft nun aber die Formel A ist nicS
nonA als Ausdruck des Principium contradictionis an. Indem
sie voraussetzt, dass alle wahren Urtheile sich müssen auf A
ist A zurückführen lassen , und dass wir daran , an dem fer-
tigen Begriffssysteme, in dem sich allein unser Denken und
Erkennen bewege, den absoluten Massstab der Wahrheit haben,
bringt sie den Widerspruch eines Prädicats mit seinem Sub-
ject auf diese Formel. Diese leidet nun zunächst an ihrem
dopiaxov nonA. Dieses könnte man zwar versuchen, wegzu-
erklären. Man kann , vom sog. Princip der Identität A ist
A ausgehend, den Satz aufstellen; Es ist falsch, dass A nicht
A ist, — darum nemlich, weil es dem wahren Satze A ist A
widerspricht — ; man kann dann, mit einer kleinen Ver-
renkung der Sprache , das^ in den Satz zusammenziehen : Non
[A non est A] ; dann ist immer das bestimmte A Subject,
und es wird verneint, dass von diesem A als Prädicat ver-
neint werden dürfe; ebenso hätte die Formel einen Sinn, wenn
man A als Zeichen eines Satzes nähme. So ists aber nicht
gemeint ; es wird nonA im Ernste eingeführt , der contradic-
torische Gegensatz von Begriffen statt der Contradiction von
Sätzen; und jetzt soll man nonA nicht von A bejahen dürfen.
Nun könnte man sich von gewissen Gesichtspunkten aus nonA
schon ^^eMlen lassen, und die Formel für theoretisch richtig
erkennen; nur dass sie in der Praxis unbrauchbar ist. Denn
so nackt , dass gesagt würde Gold ist Nicht-gold , grün ist
nicht-grün. Sein ist Nichtsein, tritt uns der Widerspruch
nicht leicht entgegen ; wir müssen ihn meist in seinen Ver-
hüllungen entdecken ; wenn nur so leicht festzustellen wäre,
54. l55 § 24. t)er Satz der doppelten Verneinung. 19^
welche Bestimmungen, wenn A gegeben ist, nun unter non-A
fallen, und deshalb A widersprechen!
Aber nun zeigt sich , dass das Principium contradictionis
recht wie ein Orakel uns rathlos lässt, wenn wir fragen, was
denn von A nicht behauptet werden dürfe. Denn zöge man I
sich darauf zurück, A als Begriff enthalte die Merkmale a, b, |
c, d, also dürfe ihm non a, non b, non c, non d nicht zuge- j
sprochen werden, so vervielfältigt sich nur die Noth des |
non A ; und bleibt man dabei stehen, - es dürfe a, b, c, d ^icht
verneint werden — nun, so ist das der aristotelische Grund-
satz, angewendet auf Urtheile, deren Gültigkeit schon Jiß-
kannt^ist.
Eine allgemeine Formel aber, nach der ohne weiteres
entschieden werden könnte, was einem Subjecte entgegengesetzt
ist , kann es schon darum für die Kant'sche Logik nicht ge- |
ben, weil unsere Begriffe, nach Kant's ausdrücklicher Lehre, |
das Wesen^ ihrer Gegenstände nur nach einem Theil der Er- I
fahrung von ihnen zu bezeichnen pflegen; daraus also, dass 1
etwas nicht in dem Begriffe enthalten ist, niemals ab- |
genommen werden kann, dass es der Sache nicht zukommt,
daraus , dass es dem Begriffe nicht widerspricht , nie folgt,
dass es der Sache nicht widerspricht. Es ist auch eine
Fiction, dass wir alle Verhältnisse der Begriffe nach Gegen-
satz und Ausschliessung kennen.
X P^^i'^iSL- ist allein der aristotelische Grundsatz ein oberstes, j
schlechthin unbedingtes und auf all unser ürtheilen anwend- |
bares Princip, weil er nur betrifft was wir kennen, die Function j
des Verneinens , und sich nicht bloss auf Urtheile bezieht, v
deren Subjecte Begriffe sind; weil er ferner, soweit wir die l
Verhältnisse des Gegensatzes und der Unverträglichkeit der
Begriffe überhaupt kennen , den Grund enthält , um dessen
willen es unmöglich ist, einem Begriff ein von ihm ausge-
schlossenes Prädicat beizulegen.
Das gewöhnliche Principium contradictionis kann aber
nur sagen: Ein Satz ist falsch, wenn sein Prädicat mit oAner
Bestimmung des Subjects unverträglich ist, und darum yerr
bieten , ein mit ihm unverträgliches Prädicat beizulegen ; er
setzt damit die Kenntniss dessen, was imverträglicli ist, schon
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 13
194 I, 4. Die Verneinung. 155. 156
voraus , und kann daher kein unbedingtes oberstes Princip sein,
das für sich zureichend wäre, die Falschheit eines Satzes (und
damit weiterhin nach dem Satz des ausgeschlossenen Dritten die
Wahrheit seines contradictorischen Gegentheils) zu begründen.
§ 24.
Das Wesen der Verneinung ist aber nur dann vollständig
erschöpft, wenn zu dem Satze des Widerspruchs der Satz hin-
zutritt, dass die Verneinung der Verneinung bejahe,
die Aufhebung einer Verneinung der Bejahung desselben Prä-
dicats von demselben Subjecte gleichkomme.
1. Es ist auffallend, dass der Satz Duplex negatio affir-
mat, den die Grammatik aus der Beobachtung häufig vor-
kommender Wendungen der Sprache abstrahiert hat, in der
Logik keine Stelle finden konnte; man hat ihn wohl als Con-
sequenz des Princips des ausgeschlossenen Dritten angesehen,
er ist aber vielmehr die unentbehrliche Brücke vom Satz des
Widerspruchs zum Princip des ausgeschlossenen Dritten. Der
Satz des Widerspruchs erklärt es für unmöglich, dass Be-
jahung und Verneinung zugleich wahr sei; er führt damit,
wenn die Bejahung gilt, auf die Ungültigkeit der Verneinung ;
er erklärt aber damit noch nicht , was es Jieisse , eine
Verneinung für falsch erklären. Nur_darum, weil
die Aufhebung der Verneinung die Bejahung
selbst ist, gibt es kein Mittleres zwischen Bejahung und
Verneinung.
Aristoteles hat sich diesen einfachen Zusammenhangjda^
durch verhüllt, dass er von Anfang an Bejahung und Ver-
neinung als durchaus parallele und gleichwerthige Formen
der Aussage fasste, und sich darum über das Wesen der Ne-
gation selbst keine genügende Rechenschaft gab , ja genau
genommen für die Verneinung einer Verneinung gar keine
Stelle Hess. Sobald aber erkannt ist, dass jede Negation schon
eine positive Synthese voraussetzt, und dass sie nur gegen diese
sich richten kann , um sie für ungültig zu erklären ; sobald
erkänüTTst, dass die Verneinung ein besonderer Act ist, in
welchem »nicht« den Werth eines Urtheils über ein
156. 157 § 25. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten. 195
(versuchtes oder vollzogenes) Urtheil hat: so erhellt auch
inwiefern die Verneinung einer Verneinung möglich ist. A
ist nicht B enthält ja die Behauptung , dass der Satz A ist
B falsch sei, dass dem A andere Bestimmungen als B, mit B
unvereinbare Bestimmungen zukommen^ dass es unmöglich ist,
B mit A zu vereinigen. Diese Behauptung, oder der Versuch
einer solchen, kann selbst wieder aufgehoben werden; es ist
falsch, dass A nicht B ist, sagt: es ist unmöglich den Satz
A ist B für falsch zu erklären, dem A ein anderes Prädicat
als B zuzuschreiben, die Vereinigung von A und B zu hindern ;
wenn die Einsprache gegen die Synthese A ist B unmöglich
ist, so muss diese Synthese gelten*).
2. Erst in dieser Eigenschaft der Verneinung, dass sie
gegen eine Verneinung gerichtet ein Positives behauptet, er-
hellt vollständig der durchaus subjective Character der ge-
sammten Bewegung des Denkens, welche sich im Gebiete der
Verneinung vollzieht. Es kann durch den Process der Ver-
neinung keine Wahrheit erzeugt und nichts geschaffen werden,
was nicht unabhängig von ihr bestünde ; wie die Voraus-
setzung ihrer GültigkeiFürj" ^ss eine bloss subjective und
individuelle Combination versucht werde, welche von der
festen Noth wendigkeit des Denkens abgewiesen wird, so ver-
schwindet sie, wo_ sie ohne Grund versucht wurde, spurlos,
und das wiederholte »nicht« zeigt nur den Ümweg'^an , den
das individuelle Denken genommen hat, um bei einer Wahr-
heit anzulangen, die zu gewinnen es dieses Umwegs nicht be-
durft hätte; denn woraus die Verneinung für falsch erklärt
wird, ist zuletzt immer ein Positives, und in diesem liegt der
Grund, der die Verneinung scheitern macht.
3. Doch ist dieser Umweg nicht völlig vergeblich. Wie
die Grammatik in ihrem Gebiete ^erkannt hat , wächst die
psychologische Festigkeit der Ueberzeugung durch
den ahgeschlagenen Angriff; die Bejahung, welche sich durch
•) Vergl. Bradley, The principles of Logic 1883 p. 149 ff., wo beson-
ders darauf zurückgegangen wird, dass jeder Verneinung eine positive
Erkenntniss zu Grunde liegen müsse; der einzige (»rund, auf den hin
A ist nicht B verneint werden kann, ist die Erkenntniss, dass AB ist;
diese ist also in der doppelten Verneinung eingeschlossen.
13*
196 ti 4. Die Verneinung. 167. 158
eine Verneinung durchgekämpft hat, scheint fester zu stehen
und gewisser zu sein. Diesen Gewinn kann sie davon tragen;
niemals aber den anderen, dass sie nun /mehr enthalte, als
zuvor, und eine innere Bereicherung erfanren habe. A ist B
sagt dasselbe, ob es direct erkannt oder aus der Verneinung
von A ist nicht B hervorgegangen ist — so lange A und
B dasselbe bedeuten, und nicht der blossen Verneinung
»A ist nicht B« die Bejahung eines positiven, B entgegen-
gesetzten Merkmals untergeschoben wurde. Denn dann aller-
dings wäre insofern ein Neues gewonnen , als A zu einem
weiteren Prädicate in Beziehung getreten wäre. Ist es falsch,
dass das Licht nicht eine Bewegung ist, so sagt der dadurch
gewonnene Satz kein Jota mehr, als der Satz: das Licht ist
eine Bewegung. Nur wenn dem ersten, auf Grund einer an-
derswoher bekannten Disjunction, der Satz sich untergeschoben
hätte: das Licht ist ein Stoff, so wäre durch dessen Ab-
weisung ein Neues hervorgebracht, eine Unterscheidung
zwischen »Licht« und »Stoff« ; aber dies ist nicht das Ver-
dienst der doppelten Verneinung.
§ 25.
Aus dem Satze des Widerspruchs und dem Satze der
doppelten Verneinung folgt von selbst, dass von zwei con-
tradictorisch entgegengesetzten Urtheilen das
eine noth wendig wahr ist, dass es also neben Bejahung
und Verneinung keine dritte Aussage gibt, neben der jene
beiden falsch wären. Dies ist der Satz vom ausge-
schlossenen Dritten, der demnach, wie die beiden voran-
gehenden, nur das Wesen und die Bedeutung der
Verneinung weiter zu entwickeln bestimmt ist.
Die gewöhnlicheFassung des Principium exclusi tertii
durch die Formel Omne A est aut B aut non B, wonach jedem
Subjecte von zwei contradictorisch entgegengesetzten Prädicaten
eines zukommt, ist ebenso von dem ursprünglichen und ächten
Satze des ausgeschlossenen Dritten verschieden, wie das gewöhn-
liche Principium contradictionis von dem Satze des Widerspruchs.
158.159 § 25. Der Satz des ausgeschlossene» Dritten, 197
l, Dass von den beiden Urtlieilen A ist B und A ist
nicht ß das eine notli wendig falsch ist, weil nicht beide zu-
gleich behauptet werden können, sagt der Satz des Wider-
spruchs, und fixiert damit den Sinn der Verneinung. Dass
aber das eine noth wendig wahr ist, ergibt sich sofort, weil
nicht beide zugleich verneint werden können.
Denn verneine ich A ist B , so behaupte ich eben damit A
ist nicht B; verneine ich aber A ist nicht B, so heisst das
wiederum nichts anderes als behaupten A ist B. Wollte ich
also zugleich verneinen, dass A B ist, und verneinen, dass A
nicht B ist: so würde ich mit jener Verneinung sagen A ist
nicht B, mit dieser A ist B, also in Widerspruch fallen. So-
mit bleibt zwischen Bejahung und Verneinung kein Mittleres
übrig, das eine Beziehung des Prädicats B auf das Subject A
enthalten könnte ; und jedes Urtheil, das B und A als Prädicat
und Subject in Verbindung setzen will, muss entweder B von
A bejahen oder B von A verneinen.
2» Aristoteles hat diesen Satz wiederholt aufgestellt,
und in der Hauptstelle (Metaph. IV, 7) einen Beweis des-
selben versucht, der aber eine petitio principii enthält ; sonst
stellt er ihn als selbstverständlich hin *). Seine ^^ogß^ Ver-
*) Arist. Metaph. T, 1011 b 23: 'AXXd ixyjv ou8s p-s-cagi) dvxtcp(£aeü)g
ivS^xsTat sTvat oö^iv, dXX"" äc^^dyy.ri % ^öl'^oli f^ dixocpdvat Sv xa^ö-' Ivög öxtoöv •
S^Xov 8s TcptoTOv [i^v 6pt,aa|jisvots xt xh dXTjO-^s %al cjjsöSog. tö {xsv ydp X^ystv
TÖ^öv jjiTj sTvat "i^ xb \yf\ öv sTvai c{jsu8og, xö bk x6 öv sTvai xal xö (jlyj öv [xy]
elvat dcXrj'9'Sg, waxs 6 X^ycov xomo stvat, ri p,Yj dXyj^soost y) cpsuosxai • dXX' ouxe
xö öv Xdysxai |j,y] etvat, y\ sTvat, oöxs x6 {xyj öv. Der Sinn dieser verschieden
erklärten Stelle ist : Zwischen den Gliedern der Antiphasis gibt es nichts
Mittleres, sondern man muss jedes von jedem entweder bejahen oder ver-
neinen. Das erhellt, wenn wir zuerst bestimmen was wahr und falsch ist.
Sagen, dass das Seiende nicht ist oder das Nichtseiende ist, ist falsch ; sa-
gen, dass das Seiende ist und das Nichtseiende nicht ist, ist wahr, so dass
wer sagt, das dies (d. h. irgend ein bestimmtes entweder Seiendes oder
Nichtseiendes) sei oder nicht sei, entweder wahr redet oder falsch. Aber
weder vom Seienden wird gesagt, dass es nicht sei oder sei, noch vom
Nichtseienden - in der vorausgesetzten mittleren Behauptung nemlich
zwischen Bejahung und Verneinung; denn würde eines dieser Urtheile
ausgesprochen, so wäre es eine Bejahung oder Verneinung und wahr
oder falsch ; das Mittlere aber könnte weder vom Seienden noch vom
Nichtseienden etwas aussagen, und darum auch weder wahr noch falsch
196 h ^' Die Verneinung. • 159. 160
wandtschaft mit dem Satze des Widerspruchs tritt darin her-
vor, dass schon Aristoteles Formeln aufstellt, die beide in
sich enthalten, und Leibniz beide ausdrücklich in der Formel :
Ein Satz ist entweder wahr oder falsch zusammenfasste *).
Aber in dem Entweder-Oder verschlingt sich in nur scheinbar
einfachem Ausdruck Mehrfaches, und verhüllt sich die Stel-
lung des Abgeleiteten zu dem~ Ursprünglichen ; darum ist es
naturgemässer , den öätz des ausgeschlossenen Dritten als ein
besonderes Corollarium zu den Sätzen stehen zu lassen, welche
die Bedeutung der Verneinung unmittelbar entwickeln ; falsch
aber, ihn als gleich unmittelbares Princip neben das des
Widerspruchs zu stellen, von dem er abhängt; um so mehr,
als ihm nicht dieselbe leichte und evidente Anwendbarkeit zu-
kommt, wie dem Fundamentalsatze.
3« Es ist eine Folge der Schwäche der blossen Ver-
neinung und ihrer Unfähigkeit, den Sinn zu sagen, in welchem
sie verneint, dass aus der Anwendung des Satzes vom aus-
geschlossenen Dritten sich Schwierigkeiten zu ergeben scheinen.
Die gewöhnlichen zwar, aus der Stetigkeit der Uebergänge
sein. Was aber weder wahr nocb falsch ist, ist gar keine Behauptung,
da es zum Wesen einer solchen gehört, wahr oder falsch zu sein {(boxe
ouxB dXYj^Eoast xig, oux' oüx d^TjO-soosi 1012 a 6). Aehnlich erklärt Ueber-
weg 3. Aufl. § 79. S. 216. Es ist klar, dass in der Definition des wahren
und falschen Urtheils und in der Eintheilung der Urtheile in bejahende
und verneinende schon vorausgesetzt ist, es gebe kein [jLsxagu, wenn
nur behauptet werden kann , dass das Seiende oder Nichtseiende ist,
oder dass es nicht ist ; als Beweis kann also die Ausführung nicht gelten,
sondern nur, wie auch der fernere Verlauf des Capitels, als Aufzeigung,
dass überall vorausgesetzt wird, es gebe kein Mittleres.
Caleg. 10. 13 a 37: "Oaa Ss wg xaxdcpaais %al duöcpaots dvxCxsixat ....
inl jjtovcov xoüxcüv dvayxaiov dcsl xö \xhw ötXvjO-sg xö Sä c};£ö8oc aöxtöv efvat
— wiederholt 13 b 27. 33.
Metaph. 1, 7. 1057 a 38: xöv d' dvxcx£i[jLevü)v dvxi,q;da£(i)g {isv oux loxt
{isxagu" 'coOio ydp ioxtv dvxicpaaig, dvxiO-eatg -^g öxcpoöv 0-dxspov |j,öptov Tidp-
eoxiv, oöx ix^^^'^i'^ oö^lv jjLsxago. K, 12. 1069 a3: dvxtcpdaswg oöSäv dvd
{idaov, gleichlautend Phys. ausc. V, 3, 227 a 9.
Analyt. post. I, 2. 72 a II wird sogar der ein Drittes ausschliessende
Gegensatz als die Basis angenommen, um zu erklären, was ein Urtheil
sei : dTtöcpavatg dvxtcpdaswg ÖTioxspovoöv p,öpt.ov, dvxtcpaaig Ss dvxt'9-saig ^c obY,
laxi jisxagij xa^S-' auxigv. Vergl. De interpr. 9. 18 a 28,
*) S. oben S. 148. Anm.
160. 161 §. 25. Der Sat? des ausgeschlossenen Dritten. 199
und der Vielseitigkeit der Subjecte hergenommenen, sind leicht
zu lösen; während die Sonne aufgeht, ist von den beiden
Sätzen »sie ist aufgegangen« und »sie ist nicht aufgegangen«
der eine oder andere wahr, je nachdem man »aufgegangen-
sein« von der Erhebung des oberen oder des unteren Randes
über den Horizont versteht. Sagt man: im Momente des
Todes sei es falsch zu sagen »er lebt« und falsch »er lebt nicht«
— so trifft auch das nicht, denn da »Leben« einen dauernden
Zustand ausdrückt, so gilt vom Sterbenden in articulo mortis
»er lebt nicht« ; und ähnlich in allen Fällen, wo es sich um
räumliche und zeitliche Grenzen handelt. Noch gröber sind die
Beispiele : es sei falsch ein Schachbrett ist schwarz, und falsch
es ist nicht schwarz; soll das Prädicat vom Ganzen gelten,
so ist die Verneinung wahr ; im andern Fall ist das Subject
nicht dasselbe*). Allein es erheben sich noch andere Bedenken. \\
Aristoteles schon hat die Frage erörtert , wie sich die
beiden Sätze : Socrates ist krank und Socrates ist nicht krank
verhalten, wenn Socrates nicht ist **), und ob auch dann einer
von beiden nothwendig wahr sei ; er entscheidet dahin , dass
in diesem Falle zwar die Sätze, die den realen Gegensatz aus-
sprechen, Socrates ist krank und Socrates ist gesund, beide
falsch wären , die blosse Negation aber , Socrates ist nicht
krank, sei auch in diesem Falle wahr, und rette die Allge-
meinheit des Grundsatzes. Vollkommen befriedigend zwar
scheint diese Entscheidung nicht; denn der Satz: »Socrates
ist nicht krank« wird ja doch gewöhnlich in dem Sinne ver-
standen, dass Socrates zwar lebt , aber nicht krank ist ; und
zwar darum, weil, wer die Frage: ist Socrates krank? über-
haupt mit Ja oder Nein beantwortet, nach der gewöhnlichen
Redeweise damit auf die Voraussetzung eingeht , unter der
allein die Frage möglich ist, und darum sich einer Zweideutig-
keit schuldig macht, wenn er von dem Gestorbenen sagt : Er
ist nicht krank. Man kann sich nun zwar darauf berufen, dass
wer eine solche Antwort zweideutig nennt, eben damit aner-
l-
*) Ueber diese und ähnliche Einwendungen vergl. Ueberweg § 78—80,
bes. S. 205 ff. Drobiscb, Logik § 60. S. 66.
*) Categ. 10. 13 a 27-b 35.
200 I, 4. Die Verneinung. 161. 162
kennt, dass der Wortlaut den anderen Sinn nicht ausschliesse,
und formell sei also die Wahrheit des Satzes unanfechtbar.
4. Man kann diese Rechtfertigung anerkennen, und daraus
doch die Lehre abstrahieren, dass im Gebiete zeitlich gül-
tiger ürtheile mit dem Frincip des ausgeschlossenen Drit-
ten nicht viel anzufangen sei. Denn nicht darum handelt es
sich ja, dass Socrates überhaupt nicht existiert (sonst müsste
von den beiden Urtheilen : der Pegasus ist geflügelt und der
Pegasus ist nicht geflügelt, das letztere wahr sein), sondern
die Voraussetzung ist die seiner Existenz, nur seiner Existenz
in einer früheren Zeit; und die Schwierigkeit betrifi't das
Präsens. Denn da zeitlich gültige Ürtheile nur für einen
b e s t imm ten Zeitpunkt ihre Bejahung meinen , bleibt es
unsicher, ob die Verneinung derselben nur diesen Zeitpunkt,
oder das Subject überhaupt in seiner ganzen Dau^ trifft; ob
also nur das Präsens oder Präteritum oder Futurum falsch
ist, oder das Prädicat überhaupt. Von den beiden Sätzen:
Er wird sterben — er wird nicht sterben, ist nothwendig
einer wahr, der andere falsch; ob aber »er wird nicht ster-
ben« darum wahr ist, weil er schon gestorben ist, oder darum,
weil er im Wetter gen Himmel fahren wird, wie Elia, sagt
der Satz nicht *). Wo man also vermittelst des Satzes vom
*} In der wunderlichen Ausnahme, welche Aristoteles (De interpr.
9. 18 a 27) hinsichtlich der Zukunft statuiert, indem er ausführt, wenn
der eine sage, es werde etwas sein, der andere es verneine, so gelte
nicht, dass der eine nothwendig die Wahrheit sage, weil sonst alles
Zukünftige nothwendig wäre und dem Ueberlegen kein Kaum mehr
bleibe, ist dem Stagiriten, wie auch Zeller (Gesch. d. griech. Phil. II, 2.
S. 157) anerkennt, ein Versehen begegnet, indem er die Behauptung,
dass nothwendig einer oder der andere Recht habe , mit der andern
Terwechselt, dass einer von beiden nothwendig Recht habe, d. h. darum
Re cht habe, weil, was er sage, nothwendig sei, oder nothwendig nicht
sei; während nur nothwendig ist, dass der faktische, wenn auch zu-
fällige Erfolg dem einen oder dem andern Recht gibt. Aristoteles
meint aber, die Behauptung, dass nothwendig einer Recht habe, setze
voraus, dass jetzt schon einer bestimmt Recht, der andere Unrecht
haben müsse, während doch die Behauptung des einen ebensowenig ge-
wiss sei als die des andern, und eigentlich weder laxat noch oux soxai
im Sinne eines Wissens gesagt werden könne. Es zeigt sich, wie er,
gewöhnt jede Aussage auf das Sein zu beziehen, kein Correlat für eine
162. 163 § 25. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten. 201
ausgeschlossenen Dritten bei der Wahrheit einer Bejahung
anlangen kann, da ist der Satz auch bei bloss zeitlichen
Urtheilen werthvoll , denn die Bejahungen sind eindeutig ; \ \
blosse Verneinungen aber zu gewinnen, ist nicht der Mühe ll
werth.
5. Besser ist es^ in Beziehung auf die unbedingt
gültigen Urth'elle bestellt. Denn da diese den Inhalt
der Subjectsvorstellung treffen, so scheint auch die Verneinung
eindeutig sein zu müssen. Von den beiden Urtheilen: die
Materie ist schwer und die Materie ist nicht schwer , der
Raum ist unendlich und der Raum ist nicht unendlich, scheint
sowohl Bejahung als Verneinung eindeutig. Allein hier tritt
eine Schwierigkeit anderer Art ein, welche schon oben (§ 22,
3. 4. S. 130) berührt worden ist, und die in der Allgemein-
heit der Subjecte wurzelt , welche das Urtheil zugleich auf
alles unter JIiii^n_^befasste bestimmtere Einzelne auszudehnen
fortwährend emiadt. Während nun die Prädicate bejahender
Urtheile selbstverständlich wie von der allgemeinen Vorstel-
lung so von den einzelnen Objecten gelten, die unter sie fallen,
kann nicht ebenso von ihnen verneint werden, was in der
allgemeinen nicht mitgedacht wird. In der allgemeinen Vor-
stellung des Dreiecks liegt es nicht , gleichseitig , in der all-
gemeinen Vorstellung des Menschen nicht, weiss zu sein ; aber
darum kann nicht von allen Dreiecken gleichseitig von allen
Menschen weiss verneint werden. Dadurch erhalten die ge-
genüberstehenden Urtheile : »Das Dreieck ist gleichseitig —
das Dreieck ist nicht gleichseitig« etwas Schiefes ; und wieder
wird die Negation zweideutig, indem sie jetzt nur die All-
gemeinheit aufheben und die Vereinbarkeit des Pradicats zu-
lassen soll. Hier ist die Lücke, in welche zunächst das di-
visive unS^^veiterhin das darauf gegründete disjunctive Urtheil
einzutreten haben , das eine um die Verträglichkeit verschie-
dener Prädicate mit der allgemeinen Vorstellung, das andere
um ihre Unverträglichkeit unter sich auszusprechen.
6. Die gewöhnliche Formel des "Principium exclusi tertii
liest den Satz, dass von zwei sich widersprechenden Urtheilen
Behauptung finden kann , welche Sein und Nichtsein unentschieden
lässt.
202 I. 4. Die Verneinung. 163. 164
eines nothwendig wahr sein müsse, (Entweder gilt: A ist B
odei- A ist nicht B) so , dass er lautet : Jedem denkbaren
Subject A muss eines von zwei contradictorisch entgegenge-
setzten Prädicaten zukommen (A ist entweder B oder nonB);
sie verlegt also die Negation an die Prädicate, und gewinnt
auf diese Weise streng genommen zwei bejahende ür-
t h e i 1 e , zwischen denen kein drittes möglich sei. Nachdem
die Wolff'sche Logik diesen üebergang gemacht, beutet ihn
Kant für seine Zwecke aus, indem er zeigt, wie der Grund-
satz, dass jedem Ding von allen möglichen Prädicaten, sofern
sie mit ihren Gegentheilen verglichen werden, eines zukom-
men müsse, über das bloss Logische hinausgehe, und, als
Grundsatz der durchgängigen Bestimmung , einen Inbegriff
aller Prädicate als die gesammte Möglichkeit voraussetze. Ob
nicht in diesem üebergang eine quaternio terminorum in dem
»alle« liege, sofern es das einemal von einer ganz unbestimm-
ten Allgemeinheit, das anderemal von einer bestimmten Zahl
gebraucht wird, kann hier unerörtert bleiben; er zeigt jeden-
falls den Sinn, in welchem Kant den Grundsatz auffasst, dass
es sich nemlich dabei darum handle , ein Subject zu allen
möglichen positiven und negativen Prädicaten in Beziehung
zu setzen , um zu sehen , durch welche es zu bestimmen sei ;
und der Satz »A ist entweder B oder nonB« , gibt also die
Anleitung, für B nacheinander alle denkbaren Prädicate zu
setzen. Nun ist aber , auch ganz abgesehen von der Berech-
tigung der Formel nonB, dies ein vollkommen leeres Geschäft,
da doch keine Bestimmung gewonnen wird, sondern immer
unentschieden bleibt, ob nun B oder nonB, X oder nonX
dem Subjecte zukomme; und wüssten wir auch zu entschei-
den, so würde für die grosse Mehrzahl solcher Prädicate keine
denkbare Combination die Möglichkeit herbeiführen, das Prä-
dicat bejahend zu versuchen und dadurch eine Verneinung
herauszufordern; in Betreff der Allgemeinbegriffe bliebe aber
dieselbe Noth bestehen, dass sowohl B als nonB mit ihnen
verträglich ist ; so dass also auch hieraus der Werth des Satzes
bedeutend sinkt.
7. In Wirklichkeit leitet der Satz des ausgeschlossenen
Dritten das Ansehen, in welchem er steht ^ vielmehr daraus
164. 165 §. 25. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten. 203
ab, dass er ein speciellerer Fall eines allerdings sehr wichtigen
und folgenreichen Verhältnisses ist, nemlich des disjunctiven.
Es ist mit der Natur unserer Vorstellungen gegeben, dass
wir sehr häufig im Stande sind , die Wahl unter verschie-
denen Behauptungen über dasselbe Subject auf wenige, oft
nur auf zwei zu beschränken ; dass wir , auf Grund unserer
Erkenntnisse und des bestimmten Inhalts unserer Subjecte und
Prädicate, zwei positive Behauptungen aufstellen kön-
nen, von denen wir wissen, dass sie sich insofern wie con-
tradictorisch entgegengesetze ürtheile verhalten, als sie nicht
beide zusammen wahr , aber auch nicht beide falsch sein
können ; und in diesem Falle gewinnen wir durch Verneinung
jedes Gliedes eine bestimmte, eindeutige Bejahung. Der Grund-
satz des ausgeschlossenen Dritten erweckt nun leicht den
Schein, als lasse sich auf die bequemste und wohlfeilste Weise
zu solchen fruchtbaren Disjunctionen gelangen; man dürfe
nur aussprechen , dass jeder Satz wahr oder falsch sei , so
habe man immer eine unanfechtbare Wahrheit und eine sichere
Basis für strenge Untersuchung. Allein es schiebt sich dann
unvermerkt der blossen Negation der Gegensatz der Prä-
dicate unter, und die negative Behauptung scheint mehr
zu sagen als sie wirklich sagt, indem sie von dem verstanden
wird, worauf sie allerdings in der Regel ruht, von der Wahr-
heit des Satzes mit entgegengesetztem Prädicat. Könnten
wir durch alle schwierigen Fragen hindurchkommen, indem
wir frischweg beginnen : Entweder ist es so oder so — was
noch eigentlicher trancher la question wäre, als was die Fran-
zosen so nennen - entweder ist er geistig gesund oder geistes-
krank , entweder ist die Zahl gerade oder ungerade , — dann
wäre freilich das Princip des ausgeschlossenen Dritten eine
unüberwindliche WafiPe ; aber es vermag als solches immer nur
die Negation in ihrer ärmsten , nichtssagendsten Rolle der
Bejahung entgegenzusetzen. Und so werthvoll für den Sinn
der Negation selbst die Einsicht ist, dass es nichts Mitt-
leres zwischen Bejahung und Verneinung gibt, so wenig ver-
dient dieser Satz die Würde eines besonderen Princips.
8. Auch der apagogische Beweis leitet seine Kraft
nur scheinbar von dem Grundsatze des ausi^eschlossenen Drit-
204 h 4. Die Verneinung. 165
ten ab ; er endet allerdings, indem er von der Falschheit einer
Verneinung auf eine Bejahung schliesst ; aber die Falschheit
dieser Verneinung konnte nur erwiesen werden, wenn an die
Stelle der rein negativen und damit unbestimmten Contra -
diction eine bestimmte trat, die auf einer Disjunction fusste,
und diese Disjunction war für sich allein genügend, den Be-
weis zu stützen*).
*) Die weitere Ausführung einem späteren Abschnitt vorbehaltend,
zeigen wir vorläufig wenigstens an einem Beispiel, dass der Satz des
ausgeschlossenen Dritten für den indirecten Beweis nicht nöthig ist.
Euclid I, 29 beweist die Gleichheit der Wechselwinkel an Parallelen.
Wären sie nicht gleich, so würde folgen, dass die inneren Winkel zu-
sammen kleiner als zwei Rechte, die Linien also, nach dem bekannten
Poatulate, nicht parallel wären. Der Widerspruch mit der Voraus-
setzung ergibt, dass es falsch ist, dass die Wechselwinkel nicht gleich
sind, wahr also dass sie gleich sind. In dieser Form ausgedrückt,
scheint der Beweis auf dem Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten zu
ruhen. Allein es scheint nur. Würde der Annahme »die Winkel sind
nicht gleiche nicht substituiert »ein Winkel ist grösser als der andere«,
so könnte der Beweis nicht fortschreiten ; die Voraussetzung, die sich
als unmöglich erweist, ist, dass ein Winkel grösser sei als der andere ;
und daraus dass diese falsch ist, ergibt sich die Wahrheit des
Demonstrandum. Worauf also der Beweis ruht, ist nicht, dass von den
Sätzen: die zwei Winkel sind gleich,
die zwei Winkel sind nicht gleich,
einer nothwendig wahr ist, sondern dass dies gilt von den Sätzen:
die zwei Winkel sind gleich,
der eine Winkel ist grösser als der andere.
Der disjunctive Satz schliesst die blosse Verneinung ein, aber nicht
umgekehrt; und auf jenem ruht der Beweis.
Fünfter Abschnitt.
Die pluralen Urtheile.
Wir verstellen unter pluralen Urtheilen solche, welche in
Einem Satze von einer Mehrzahl von Subjecten ein Prädicat
aussagen.
I. Positive plurale Urtheile.
§26.
Wenn einfache Urtheile dasselbe Prädicat an einer
Reihe von Subjecten wiederholen, und der Urtheilende
dem Bewusstsein dieser Uebereinstimmung dadurch Ausdruck
gibt, dass er sprachlich die Prädicierung in Einem Act in
Beziehung auf eine Mehrheit vollzieht, entstehen zunächst die
Urtheile von der Form A und B und C sind P (copula-
tive Urtheile.)
Fallen A und B und C unter dieselbe Benennung
N, welche sie als mehrereNzu zählen erlaubt oder auf-
fordert, so entsteht das plurale Urtheil im engern Sinn,
welches mit bestimmter oder unbestimmter Angabe der Zahl
auch die Mehrheit der Subjecte in einem sprachlichen Aus-
druck zusammenfasst. (Mehrere N sind P.)
1. Indem unsere Lust zu urtheilen sich befriedigt, wie
eben die psychologischen Veranlassungen ihr Stoff bieten,
entsteht zunächst eine Kette von Urtheilsacten, die nur dadurch
verknüpft sind, dass sie in dem urtheilenden Subjecte einander
206 I» 5. Die pluralen TJrtheile. 167
folgen , und von demselben Bewusstseiu umfasst sind , das
von einem zum andern übergeht, ohne die früheren Acte so-
fort zu verlieren. Die sprachliche Verknüpfung der Sätze
mit »Und«, die ursprünglichste und indifferenteste von allen,
sagt zunächst nichts anderes als diese subjective Thatsache des
Zusammenseins in Einem Bewusstsein aus, und es kommt ihr
darum keine objective Bedeutung zu; das Heterogenste kann
ebenso durch »Und« verknüpft werden, wie das Verwandteste.
Aber schon die psychologischen Gesetze bringen es mit sich,
dass leicht sich Urtheile aneinanderreihen, die entweder von
demselben Subjecte nacheinander verschiedene P r ä-
dicate aussagen oder dasselbe Prädicat von verschiedenen
Subjecten. Jene Urtheile, die das Verweilen der Aufmerk-
samkeit auf einer und derselben Subjectsvorstellung voraus-
setzen, fassen sich von selbst in die conjunctive Form
A ist B und C und D u. s. w. zusammen, welche nicht bloss
enthält, dass die Prädicate eins ums andere dem Subjecte zu-
kommen, sondern auch das Bewusstsein dieses Neben-
einander von verschiedenen Bestimmungen ausdrückt. Das
conjunctive Urtheil sagt insofern mehr, als seine einzelnen
Theilurtheile. Es ist aber keine Veranlassung, diese Form
hier ausführlicher zu betrachten ; sie wird erst wichtig , wo
sie, mit dem Bewusstsein logischer Forderungen, auf erzählende
Urtheile angewendet, der Beschreibung, auf erklärende,
der Definition dient.
2. Die Zusammenstellung von Urtheilen, welche das-
selbe Prädicat verschiedenen Subjecten zuschreiben,
setzt eine Aufmerksamkeit auf das Prädicat, den innerlich vor-
handenen allgemeinen Factor des Urtheils, und damit die
Thätigkeit des vergleichenden und beziehenden Denkens voraus,
das Einzelnes zusammenzufassen, das Uebereinstimmende in
Verschiedenem zu erkennen sucht; das Urtheil von der Form
A und B und C sind P liegt damit in derselben Richtung,
in der das Urtheilen überhaupt sich bewegt, mit Hülfe der
schon vorhandenen und festen Vorstellungen das Manig-
f altige und Neue sich anzueignen; und es stellt darum eine
höhere Entwicklung des Denkens gegenüber dem einfachen
Urtheil dar.
168 § 26. Positive und plurale Urtheile. 207
3. Der einfachste Fall, in dem eine Wiederholung von
Prädicaten eintritt, ist die Anschauung einer Mehrheit glei-
cher oder ähnlicher Dinge, welche mit demselben Worte
benannt werden, sei es dass sie, discret wahrgenommen, eine
räumliche oder zeitliche Reihe bilden, sei es dass sie als
sich besondernde Theile eines Ganzen, als Glieder einer Gruppe
erkannt werden. Die Wiederholung derselben Anschauung
und derselben Benennung kommt zum Bewusstsein in der
Unterscheidung der vielen A von einem A, sprachlich in
der Bildung des Pluralis. Wo das Interesse bloss darauf
gerichtet ist, was das Gesehene ist, da erfolgt ein Benen-
nungsurtheil im Plural (das sind Schafe, das sind Buchstaben) ;
aber jede Vielheit von Gleichartigem fordert weiterhin zum
Zählen und zum Vergleichen nach der Anzahl auf, und die
Antwort auf die Frage »Wie viele« erscheint in einem un-
bestimmten oder bestimmten Zahlausdruck. Je nachdem die
Benennung oder die Zahl vorangeht, ist in dem Urtheil »das
sind drei Schüsse« das Zahlwort oder das Nomen das eigent-
liche Prädicat, das der Sprechende betont.
4» So rasch und unbewusst in der Regel das Benennen
vor sich geht, so dass wir daraus keine besonderen Urtheile
bilden, und die Benennung nur in der Wortbezeichnung des
Subjects niederlegen, so schnell verläuft meistens auch die
Unterscheidung der Einheit und Mehrheit, das Zählen kleiner
Anzahlen und die Schätzung der verschiedenen Abstufungen
der Vielheit — wenige — einige — mehrere — viele u. s. w.
Wir machen daraus nur dann besondere Prädicate , wenn es
darauf ankommt wie viele es sind , oder wenn es gilt eine
zweifelhafte oder bestrittene Angabe festzustellen ; die Syn-
these des Urtheils ist dann zwischen der gegebenen, jetzt
gezählten Vielheit und der bestimmten oder unbestimmten
Zahlvorstellung*). Meist wird auch dies nur als Theil der
*) Die Logiker, welche in jedem Urtheile eine Subsumtion des Sub-
jects unter einen allgemeineren Prädicatsbegriff sehen, der dem Subject
als seine Gattung gegenübersteht , dürften in Verlegenheit kommen zu
sagen, wozu denn Drei oder Sieben oder Hundert das Allgemeine sei,
und welcher Umfang diesen Begriften zukomme? Gehört zum Umfang
von Drei alles in der Welt, woran ich eins, zwei, drei zählen kann?
208 t, 6. Die pluralen Urtheile. 168. 169
Bezeichnung des Subjects, als fertiges Resultat ausgedrückt,
und es handelt sich darum, was von den so und so vielen Sub-
jecten auszusagen ist.
5. Wenn auf diese Weise Urtheile entstehen wie Hagel-
körner fallen — Einige Sterne werden sichtbar — Viele Bäume
sind entwurzelt — Fünfzig Mann sind verwundet — welcher
Art ist die Urtheilsfunction ?
Am nächsten liegt die Auffassung, welche den Plural des
Verbs — also auch der Copula — als Zeichen einer
Mehrheit von [Jrtheilsacten ansieht, welche in ge-
meinschaftlichem Ausdruck summiert werden. Um zu sagen
Einige Sterne werden sichtbar, muss ich hier einen — dort
einen — dort wieder einen — gesehen haben; jedem Einzelnen
kommt das Prädicat zu; aber ich kenne ihre Namen nicht
oder will sie nicht nennen, statt zu sagen a Lyrse und a Cygni
und a Bootis werden sichtbar, bezeichne ich diese bestimmten
nur mit ihrem gemeinschaftlichen Namen ; ich meine aber
diese bestimmten Einzelnen. Allein dies ist die Ent-
stehung des pluralen Urtheils nur in einem Theil der Fälle;
im andern wird das Subject als eine Vielheit so zu sagen
mit Einem Blick wahrgenommen und erst von dieser Vielheit
das Prädicat ausgesagt; die Synthese ist also in der That
eine einfache. Dies zeigt sich besonders deutlich in Urtheilen,
in welchen das Prädicat dem Einzelnen gar nicht zukommen
kann. Zahllose Vogel beleben den Wald — die Bäume stehen
dicht gedrängt, sind keine Urtheile, die aus einer Summierung
von vielen Urtheilen entstanden wären.
Anders , wenn das Zahlwort das eigentliche Prädicat
ist. »Viele Menschen sind kurzsichtig« will mir nicht mit-
theilen , dass A und B und C u. s. f. kurzsichtig sind , und
Oder ist nicht vielmehr Drei eine vollkommen in sich bestimmte Vor-
stellung, bei der von Umfang gar keine Rede sein kann, da sie immer
schlechterdings dieselbe Zahl ist , so gut als der Process des Zählens
immer auf dieselbe Weise vollzogen wird ? Und wenn sie Prädicat ist,
ist sie wirklich Prädicat der Dinge, von denen sie ausgesagt wird, und
nicht vielmehr Prädicat ihrer Zahl, die bloss dadurch existiert,
dass ich jetzt eben gerade diese und keine anderen Dinge zusammen-
fassend zähle ?
169. 170 § 27. Allgemeine bejahende Urtheile. 209
meint auch gar nicht die bestimmten mit seiner Aussage;
sondern was mitgetheilt werden soll, ist die leidige Thatsache,
dass der Kurzsichtigen Viele sind — viele vergleichsweise,
im Verhältniss zur Gesammtzahl. Wenn der Gefechtsbericht
eintrifft, so versteht es sich von selbst, dass es Todte oder
wenigstens Verwundete gegeben hat; es handelt sich darum
wie viele; und die Fassung des Telegramms: Todt 10, ver-
wundet 50 ist logisch die correcteste.
Dass ebenso wie Dinge auch wiederholte Thätigkeiten
zu pluralen Urtheilen Veranlassung geben, bedarf keiner Aus-
führung.
Allerdings muss jeder solchen Zahlangabe eine Reihe
von Einzelurtheilen vorangehen — A ist kurzsichtig, ß ist
kurzsichtig u. s. f. , die Beobachtung muss an jedem Einzelnen
festgestellt sein , ehe ich sie zählen kann. Aber indem ich
sie zähle, sehe ich eben damit von allem ab , was sie unter-
scheidet , vergesse wer kurzsichtig ist , weiss bloss , dass ich
an Menschen meine Beobachtungen gemacht habe, halte nur
die bestimmte Zahl der Wiederholungen derselben Beobach-
tung an gleichartigen Individuen fest, und bestimme ihre re-
lative Grösse ; ich verfahre wie der Statistiker verfährt , der
nur seine Rubriken mit Zahlen füllt und dem es gleichgültig
ist , wer die gezählten Geborenen, Gestorbenen , Selbstmörder
u. s. w. sind ; die Frädicate seiner Urtheile sind ebenso die
Zahlen.
Es ist nöthig, diese selbstverständlichen Dinge hier aus-
führlicher darzulegen, um in die Unklarheiten der traditionellen
Lehre vom allgemeinen und particulären Urtheil einiges Licht
zu bringen.
§27.
Alle, womit das Subject des sogenannten allgemei-
nen Urtheils (Alle A sind B) verbunden ist , meint ur-
sprünglich eine bestimmte Zahl, und ein Urtheil mit Alle
setzt eine begrenzte Anzahl von zählbaren einzelnen Objecten
voraus. Alle A sind B kann darum in seiner ursprünglichen
Bedeutung nur in Beziehung auf bestimmtes Einzelnes
ti i gw a r t , Logik. I. 2. Auflage. 14
210 Ii ^- I^ie pluralen Ürtheile. 171
ausgesprochen werden. Dabei ist »Alle« logisch be-
trachtet Prädicat (die A, die B sind, sind alle A).
Von diesem empirisch allgemeinen ürtheil
ist genau zu unterscheiden das unbedingt allgemeine,
das dienothwendigeZusammengehörigkeitdes
Prädicats B mit der Subjectsvorstellung A auf inadäquate
Weise durch Zurückgehen auf die unbegrenzte Menge des
Einzelnen ausdrücken will. (Wenn etwas A ist, ist es noth-
wendig auch B).
1. »Alle« setzt nach seiner ursprünglichen Bedeutung
eine bestimmte Zahl voraus ; denn es drückt aus , dass zwei
bestimmte Zahlen einander gleich sind. Um ein Urtheil zu
fällen von der Form Alle A sind B, muss ich ein doppeltes
Zählen vornehmen ; erstlich die Dinge zählen die A sind, und
dann die A zählen die B sind; sind beide Zahlen crleich, so
drücke ich das in dem Satze aus : Alle A sind B (alle beide,
alle viere, alle nenne erinnern direct daran). Wenn »alle da
sind« — z. B. die eingeladenen Gäste : so weiss ich, wie viele
ich eingeladen, zähle die Anwesenden, und die gleiche Zahl
gibt mir »alle«; vermuthe ich, dass in einem Spiel eine Karte
fehlt, so zähle ich nach, und wenn die Zahl derer, die ich in
Händen habe, gleich der ist, welche zum Spiel gehören, so
sind »alle da«.
Es ist dabei nicht nöthig, dass die bestimmte Zahl aus-
drücklich bekannt und genannt ist, um ein Urtheil mit »alle«
auszusprechen. Wenn sich ein Saal entleert hat, und ich
sage: »es sind alle hinausgegangen«, so brauche ich ihre Zahl
nicht zu kennen ; es genügt, dass Keiner zurückgeblieben ist,
dass ich also in Gedanken die Reihe derer durchgehe, die da-
gewesen, und nun weiss, dass jeder Einzelne, der dagewesen,
auch hinausgegangen sein muss ; dass also das Prädicat a n
Keinem fehlt.
Durch diese doppelte Negation ist überhaupt
»Alle« immer hindurchgegangen. Es geht aus von der An-
nahme einer möglichen Differenz zwischen der einen und der
andern Zahl, also von der Frage : ob es keine Ausnahme gibt ?
17Ö § 27. Das allgetneine bejahende tFrtheil. 211
Alle negiert die Ausnahme; und auf welche Weise
ich mich nun versichern mag, dass keine Ausnahme stattfindet,
ob durch directes Abzählen oder nur so , dass ich Eins ums
andere vornehme und mich versichere, dass mir keines entgeht,
ich bin meines »Alle« gleich sicher. Darum ist die Formel
nemo non, nullus non u. s. f. eine ganz ursprüngliche, und
keine Umschreibung ; sie drückt vollkommen genau den Pro-
cess aus, welchen ich durchmache ; und »omnes« vielmehr ist
der secundäre Ausdruck.
2. Die eigentliche Behauptung richtet sich nun streng
genommen auf das Alle. Dieses ist, logischbetrach-
tet, dasPrädicat, wenn es auch grammatisch nicht als
solches erscheint. Der Satz lautet : diejenigen A, die B sind,
sind alle A. Dass es viele A gibt, ist in dem Plural impli-
ciert; dass es überhaupt A gibt, welche B sind, ist gleich-
falls implicite mitgevsetzt ; aber um was es zu thun ist, worauf
die Frage gestellt ist, welche von dem Urtheil beantwortet
werden soll, ist, ob die A , denen B zukommt , alle sind, ob
es keine Ausnahme gibt. (Wo es sich nicht von Dingen, die
im Räume nebeneinander gezählt werden, sondern von Zu-
ständen oder Thätigkeiten handelt, die in verschiedenen Zeit-
punkten stattfinden, gilt von »immer« und »jedesmal« dasselbe.)
3. Daraus ist klar, dass in einem Urtheil mit Alle es
sich dem Wortlaute nach ursprünglich um einzelneDinge
handelt; dass diese einzelnen Dinge in bestimmter, begrenzter,
zählbarer Anzahl vorhanden sein müssen, und dass nur unter
dieser Voraussetzung ein Urtheil mit »alle« der adäquate Aus-
druck meines Gedankens ist.
Mit andern Worten : Alle A sind B ist ursprünglich dem
Wortlaute nach nur Ausdruck einer empirischen, d. h.
durch factisches Zählen erreichbaren Allgemeinheit, und
kann nur in Beziehung auf Subjecte ausgesprochen werden,
die in bestimmter zählbarer Anzahl vorhanden sind, und von
denen einzeln das Prädicat behauptet wird ; es ist der Aus-
druck einer bestimmten, begrenzten Vergleichung der vor-
liegenden Fälle und es setzt voraus , dass ich von jedem ein-
zelnen erst des Urtheils gewiss bin , ehe ich es von allen
behaupten kann.
U*
212 l 5. Die pluralen Urtheile. 173
4. Wie verhalten sich nun dazu die Urtheile : Alle Men-
schen sind sterblich , alle Körper sind ausgedehnt u. s. w. ?
Ihr Sinn ist nicht, dass der Urtheilende alle Menschen oder
alle Körper einzeln durchgegangen und abgezählt habe; son-
dern dass , was auch ein Mensch , was auch ein Körper sei,
das Prädicat sterblich oder ausgedehnt habe.
Der Sinn aber, in welchem sie wirklich gelten, kann ein
doppelter sein. Entweder nemlich sind sie erklärende
Urtheile (analytische in Kant's Sinn), weil sie auf der an-
erkannten Bedeutung des Subjectsworts ruhen.
Alle Thiere empfinden — kann ich, ohne die einzelnen durch-
gezählt zu haben, dann mit vollkommener Gewissheit be-
haupten, wenn in meiner Vorstellung von Thier das Empfinden
enthalten ist, ich also etwas, was nicht empfände, eben des-
wegen gar nicht ein Thier nennen würde. In diesem Falle
ist der Ausdruck des Gedankens mit »Alle« secun-
där; er ist eine einfache Folge der Analyse der Vorstellung,
die ich mit dem Worte Thier verbinde; die Bedeutung des
Wortes bestimmt den Umfang, in dem es anwendbar ist, und
ich kann darum aus der Bedeutung voraussagen, dass in dem-
selben Umfang, in welchem die Benennung Thier gerecht-
fertigt ist, auch das Prädicat empfinden eintreten muss (s.
oben S. 114 f.). Weil das Thier empfindet, empfinden alle
Thiere. Der analytische Satz, der die Bedeutung der Wör-
ter, die sie in den Gedanken haben, ausdrückt, wird in die
gewohntere Sprache der erzählenden Urtheile über Einzelnes
übersetzt und dadurch anschaulicher, dass ich vom allgemeinen
Gedanken zu den Individuen fortgehe. Darum hat sich der
Ausdruck mit »Alle« auch da eingebürgert, wo er nicht ur-
sprünglich ist, wo die alles Einzelne durchgehende Erfahrung
nur anticipiert wird, auch da anticipiert wird, wo sieder
Natur der Sache nach unvoUendbar ist.
Im andern Falle ist das Prädicat in der Bedeutung des
Worts nicht analytisch enthalten. Das Wort »Mensch« z. B.
kann nur die bestimmte Gestalt des Leibes, das Leben , die
Sprachfähigkeit u. s. w. enthalten; eine bestimmte Lebens-
dauer ist nicht nothwendig darin eingeschlossen; es gibt für
Jeden eine Zeit, in welcher er Menschen sicher von allem
174 § 27. Das allgemeine bejahende Urtheil. 218
andern unterscheidet, und nie fragt, wie lange sie leben und
ob sie alle sterben. Das Urtheil alle Menschen sind sterblich
ist unter dieser Voraussetzung nicht analytisch. Es ist eben-
sowenig ein Erfahrungsurtheil in dem Sinne, dass »alle Men-
schen« nur diejenigen bezeichnete, die ich kenne und an denen
ich durch Erfahrung das Prädicat gefunden habe. Es ist aber
um so gewisser das Resultat eines Schi uss es, und zwar
entweder des Schlusses aus allen beobachteten Fällen auf
alle übrigen, deren Zahl eine unbestimmte und unabsehbare
ist; oder des Schlusses aus den im Worte mitverstan-
denen Bestimmungen auf andere, die nothwendig
damit verknüpft sind. Derjenige, der das Urtheil wirklich
bildet und nicht bloss nachspricht, kann es nur auf einen
solchen Schluss hin bilden.
Dem sprachlichen Ausdruck des Urtheils kann man es
durchaus nicht ansehen, in welchem Sinne es genommen werden
soll; ob im Sinne eines empirisch allgemeinen Urtheils, das
eine bestimmte Zahl von Subjecten voraussetzt, oder im Sinne
eines unbedingt allgemeinen Urtheils, und wenn dieses, ob
im Sinne eines analytischen oder eines synthetischen; die
gewöhnliche Lehre pflegt aber ohne Weiteres jedes Urtheil, das
mit »Alle« anfängt, als zu derselben Species gehörig zu betrachten.
5, Ist ein Urtheil mit »Alle« ein unbedingt allgemeines
Urtheil: so ist klar, dass darin von der wirklichen Existenz
der Subjecte direct gar nicht geredet wird, die von dem em-
pirischen, wenn es sich überhaupt auf reale Dinge bezieht,
allerdings vorausgesetzt wird; alle A sind B heisst dann nur:
Was A ist, ist B; oder Wenn etwas A ist, ist es B. Dass
etwas existierendes Einzelnes als ein A erkannt und mit dem
Namen A benannt werde, das ist zwar unbestimmt voraus-
gesetzt, wird aber in diesem Urtheil e gar nicht behauptet;
und eben darum ist der Pluralis und damit die ganze Aus-
drucksweise streng genommen inadäquat, eine ixexaßaatg eic,
äXko yevo.;, ein Rückfall aus dem Gebiete des freien und un-
abhängigen, in unsern festen Vorstellungen sich bewegenden
Denkens in die Gewohnheiten der Anschauung, die es mit Ein-
zelnem zu thun hat. Der adäquate Ausdruck ist schlechthin : A
ist B, der Mensch ist sterblich, das Quadrat ist gleichseitig u. s. w.
214 I» 5. Die pluralen ürtheile. 175
6. Die traditionelle Lehre pflegt in der Einführung des
allgemeinen Urtheils gar keine Schwierigkeit zu finden. Wenn
ein Prädicat B, pflegt man zu sagen, von dem ganzen um-
fang des SubjectsbegrifiFes A behauptet wird, so ist das Ur-
theil universal; wenn von einem Theile des Subjectsumfangs,
particular. Ist das Subjectswort ein Nomen proprium, oder
ein gleichwerthiger Ausdruck, so ist sein Umfang mit Einem
Individuum erschöpft; das Urtheil »Kallias ist reich« hat also
insofern den Charakter eines universalen.
In dieser einleuchtenden Lehre steckt doch, neben der
zweifelhaften Verwendung des Nomen proprium als Zeichen
eines Begriä's, eine Undeutlichkeit, deren Folgen überall wie-
derkehren. Während nemlich sonst gelehrt wird, der Umfang
eines Begriffs werde gebildet durch seine Artbegriffe, indem
durch die Unterschiede, welche er noch an sich zulässt, eine
Mehrheit bestimmterer allgemeiner Vorstel-
lungen gebildet werden können, pflegt im Capitel vom all-
gemeinen Urtheil ohne Weiteres angenommen zu werden, dass
der Umfang eines Begriffs aus einzelnen existierenden
Dingen besteht, und dass diesen Umfang zu übersehen,
festzustellen und zu erkennen gar keine Schwierigkeit macht,
— deshalb nicht, weil vorausgesetzt wird, dass unsere Be-
griffe bereits dem entsprechen, was sie leisten sollen, nemlich
der Ausdruck des Wesens der Dinge nach ihren festen Art-
unterschieden zu sein. Darum pflegt die Logik gar nicht zu
unterscheiden zwischen den Urtheilen, die nur auf dem Be-
griff, d. h. der Bedeutung des Subjectsworts fussen, und diese
erklärend zum Voraus jedem Ding, welches mit dem Subjects-
wort benannt werden, also »den Umfang des Begriffs« mit-
bilden wird, ein Prädicat beilegen, und denjenigen Urtheilen,
welche von allen bekannten, wegen gleicher Eigenschaf-
ten unter gleiche Benennung fallenden Dingen, etwa auf
Grund übereinstimmender Erfahrung, ein Prädicat aussagen;
und sie verhüllt damit das Wichtigste, nemlich den Uebergang
aus einem empirisch allgemeinen zu einem unbedingt
allgemeinen Ürtheile, die Begriffs- und Urtheilsbildung
aus der Erfahrung. »Alle Planeten bewegen sich von West
nach Ost um die Sonne« ist zunächst ein empirisch allge-
176 § 27. Das allgemeine bejahende Urtheil. 215
meines ürtheil ; wer es vor 1781 aussprach, meinte unter
allen Planeten alle sechs; wer zwischen 1781 und 1801,
rechnete den Uranus mit und verstand alle sieben darunter;
von 1807 bis 1845 meinte man alle elf; und heute meint
man ebenso alle 200 oder wieviele es inzwischen geworden
sind — immer aber nur alle bekannten, an deren jedem
einzelnen die rechtläufige Bewegung in seiner Bahn constatiert
ist. Der Satz sagt: Alle die Weltkörper, die ich Planeten
.nenne, haben die gemeinschaftliche Richtung der Bewegung
von West nach Ost; ich kenne keine Ausnahme. Hätte ich
nun aber, etwa auf Grund der Kant-Laplace'schen Hypothese,
die Nothwendigkeit erkannt, dass alle unsere Sonne in
Constanten Bahnen umkreisenden compacten Weltkörper die-
selbe Richtung der Bewegung haben müssen, weil innerhalb
des Raumes, in welchem es solche geben kann, keine rück-
läufige Bewegung möglich ist , so würde ich die Bewegung
von West nach Ost in die Bedeutung des Wortes Planet auf-
nehmen müssen — z. B. um sie von den Sternschnuppen zu
scheiden — und dann würde mein Urtheil : »Alle Planeten
bewegen sich von West nach Ost« ein analytisches im Kan-
tischen Sinne sein, und darum auch auf die ungezählten, erst
künftig oder gar nie zu entdeckenden gehen; es hiesse: Was
ein Planet genannt werden kann, bewegt sich von West nach
Ost; und es folgt daraus, dass, was sich rückläufig bewegte,
kein Planet wäre.
7. Die Schwierigkeit, das sog. singulare Urtheil in die-
selbe Eintheilung unterzubringen, welche allgemeine und par-
ticuläre ürtheile scheidet, erhellt nach dem Vorangehenden
leicht daraus, dass jenes mit diesen ganz unvergleichbar ist. Denn
bei dem allgemeinen und particulären Urtheil handelt es sich
um ein Prädicat, das eine absolute oder relative Zahlangabe
meint; ihr Genus sind nicht Urtheile überhaupt, sondern Ur-
theile, deren Prädicate Zahlvorstellungen sind. Bei dem sog.
singulären Urtheile handelt es sich aber darum, was einem
bestimmten einzelnen Subjecte zukommt und nicht zukommt,
und nicht darum, in welcher Anzahl die mit einem Prädicat
behafteten Subjecte vorhanden sind.
Man kann also erstlich nicht singulare, particuläre und
21 Ö I, 5. Die pluralen Urtheile. 177
allgemeine Urtheile als eine richtige erschöpfende Eintheilung
betrachten ; und es besteht zum zweiten kein Grund, aus par-
ticulären und allgemeinen Urtheilen besondere Arten des Ur-
theils überhaupt zu machen; denn so gut man aus den Ur-
theilen, deren Prädicat »alle« ist, in der gewöhnlichen Logik eine
besondere Art macht, müsste die Mathematik aus den Urtheilen,
deren Prädicat »gleich« oder »unendlich« ist, eine besondere
Art zu machen verlangen. Ebendarum ist es eine Gewalt-
thätigkeit der traditionellen Lehre, von jedem Urtheile den
Ausweis zu verlangen, ob es ein particuläres oder allgemeines
sei. Die singulären Urtheile über Einzelnes, Concretes, haben
sich müssen als allgemeine ansehen lassen, (obgleich, Avas ge-
wöhnlich singulär heisst, dreierlei ist: das individuelle —
Kallias ist reich; das Zahlurtheil - Ein Planet hat einen
Ring, das particuläre des folgenden § — es gibt einen Kome-
ten, der sich getheilt hat) ; die pluralen als particuläre, wenn
sie auch nicht von weitem an eine Vergleichung des Gegebenen
mit dem »ganzen Begriffsumfange« dachten ; und die einfachen
erklärenden Urtheile, selbst die Definitionen, waren ebenfalls
heimatlos, bis sie sich bequemten, zum Scheine allgemein zu
werden. Die Allheit spielt eine wichtige Rolle im mensch-
lichen Denken; zuletzt aber entlehnt sie ihre Wichtigkeit
doch von der Noth wendigkeit.
§. 28.
Das sogenannte particuläre Urtheil,als dessen all-
gemeine Formel »Einige A sind B« angegeben wird, ist als
empiris che s Urt heil über einzelne Dinge nur dann
von dem rein pluralen verschieden, wenn es dazu bestimmt
ist, entweder dem allgemeinen gegenüber eine Aus-
nahme zu constatieren oder ein allgemeines Ur-
theil vorzubereiten.
Wo das Subject nicht in empirischem Sinne ge-
nommen werden soll, ist es ein durchaus inadäquater
Ausdruck für den Gedanken, welchen es bezeichnen soll,
178 § 28. Das particuläre Urtheil. 217
und verwirrt den durchgreifenden Unterschied der empirischen
und der unbedingt gültigen Urtheile.
1. Dem allgemeinen Urtheil pflegt die traditionelle Logik,
im Anschluss an Aristoteles zwar, aber nicht in seinem Sinn,
ein particuläres gegenüberzustellen, dessen Formel sei »Einige
A sind B«. Dieses particuläre Urtheil, wie es gewöhnlich ge-
handhabt wird, gehört zu den unglücklichsten und unbequem-
sten Schöpfungen der Logik. Seinem Wortlaute nach völlig
unbestimmt, ist es dem Gedanken, den es ausdrücken soll, in
der Regel incongruent und verhüllt ihn. Man pflegt den
Unterschied des allgemeinen und particulären Urtheils zwar
durch die Erwägung einleuchtend zu machen, dass in jenem
der Subjectsbegriff nach seinem ganzen Umfange, in diesem
nur nach einem Theile seines ümfangs (ev \iipei) gesetzt
werde. Diese Unterscheidung triff't, die Beziehung des Üm-
fangs auf die Gesammtheit der einzelnen Individuen zugegeben,
da zu, wo vorausgesetzt ist, dass wir den ganzen Umfang
kennön, und darum auch alle Theile des Umfangs uns wirk-
lich gegeben sind; und für die Naturbetrachtung des Aristo-
teles, welche davon ausgeht, dass ein System von festen und
unveränderlichen Begriflen sich in den festen Formen der
Natur verwirklicht habe und fortwährend verwirkliche, und
dass unsere empirische Kenntniss diese Verwirklichung des
Begrifi^s nach allen seinen wesentlichen Unterschieden über-
sehe, war diese Unterscheidung des allgemeinen und des par-
ticulären Urtheils um so rationeller, als er sie in der That
nur in den Richtungen verwandte, in welchen sie berechtigt
ist. Wenn aber eine spätere Logik, die sich nur in Begriff's-
verhältnissen bewegt und von der realen Verwirklichung des
Begriffs ganz absieht, doch die aristotelische Unterscheidung
aufnimmt und seine Formeln, dazu noch in schlechter Ueber-
setzung, verwendet, so ergeben sich eine Menge von Unge-
reimtheiten, und die gewöhnliche Lehre ist vollkommen falsch,
wenn man sie nach dem gewöhnlichen Wortsinne versteht.
2. Der Plural der Formel »Einige A sind B«, mit
welcher das aristotelische uyl uTiapxetv, [it] Tcavxc bndpx^iy
übersetzt zu werden pflegt, hat nur einen Sinn, wenn er Ein-
zelne», Bestimmtes und darum Zählbares meint, also ein erzäh-
218 r. 5. Die pluralen ürtheile. 179
lendes Urtheil voraussetzt, das von wirklich Existierendem
handelt (wie denn auch Kant dem particulären Urtheil die
Kategorie der Vielheit entsprechen lässt); und er hat ebenso,
wenn das particuläre Urtheil dem allgemeinen gegenüberstehen
soll, nur einen Sinn, wenn vorausgesetzt wird, dass jeder
Theil eines Begriffs umfangs doch schon eine Mehrheit von
Individuen enthalte, während doch nicht abzusehen ist, warum
Ein Individuum nicht auch schon einen Theil des Begriffs-
umfangs bilden soll.
Das erste ist nun in allen Fällen richtig, wo einem
empirisch allgemeinen Urtheil ein particuläres gegenübersteht
— alle Planeten bewegen sich in Ellipsen, einige Planeten
haben Monde; wo es sich aber um abstracte Subjecte handelt,
deren Umfang nicht in einer Vielheit von Dingen besteht, lässt
uns die Formel im Stich : soll man sagen einige Tugenden sind
Gerechtigkeit oder einige Tugend ist Gerechtigkeit? einige
Liebe ist Affenliebe oder — aber da haben wir ja gar keinen
Plural. Ja schon in Fällen, wo das Zählen nicht widersinnig
ist, verrückt der Plural den Boden, auf dem das Urtheil steht.
Einige Parallelogramme haben gleiche Diagonalen, einige
Kegelschnitte sind Parabeln, nimmt sich vom Standpunkte der
Geometrie schon wunderlich aus, die ja ihre Constructionen
nicht in einer Vielheit von Exemplaren in der Welt verbreitet
denkt, um von ihnen zu sprechen wie von einigen Katzen,
die blaue Augen haben, und einigen Vierfüssern, die fliegen
können. Das allgemeine Urtheil, alle Parallelogramme werden
von der Diagonale in congruente Dreiecke zerlegt, alle Kegel-
schnitte sind Kurven zweiten Grades, lässt sich noch eher
hören, da Alle, in unbedingtem Sinn gebraucht, von selbst
über das empirisch Bekannte hinausgreift ; aber dieser Vortheil
kommt dem particulären nicht zu, das noth wendig den Ge-
danken in den Kreis des Einzelnen bannt. ""H xaxa [iipoq sie,
In der zweiten Hinsicht aber ist der übliche Pluralis
falsch und irreführend; »ein Mensch ist sündlos« ist ebensogut
ein particuläres Urtheil, wie »einige Menschen sind sündlos«
es wäre ; wie denn Aristoteles in seinem zlc, dv^pianoc, Xsuxög
den Singular mit eingeschlossen hat. Herbart (Einl. § 62)
180 § 28. Das particuläre Urtheil. 219
corrigiert in dieser Hinsicht die gewöhnliche Lehre vollkom-
men richtig.
3. Wenn ein Urtheil von der Form Ein A ist B oder
einige A sind B ein erzählendes, auf empirischem Gebiete er-
wachsenes ist: so scheint ihm keine andere Bedeutmig zuzu-
kommen, als ein bestimmtes Prädicat von einem oder mehreren
Subjecten auszusagen, die nur nicht einzeln genannt, sondern
unbestimmt durch ein allgemeines Wort bezeichnet sind; das
zweite scheint als plurales Urtheil keine andere Rolle spielen
zu können als eine Reihe von Einzelurtheilen, da die Zahlbe-
stimmung nicht betont ist.
Und doch ist in dem Urtheile »Einige Menschen ver-
wechseln roth und grün« noch etwas Anderes angedeutet, als
in dem copulativen Urtheile Hans und Peter und Paul ver-
wechseln roth und grün. Indem Hans und Peter und Paul
als »einige Menschen« bezeichnet werden, geht zwar die in-
dividuelle Bestimmtheit der Aussage verloren; aber durch die
Bezeichnung mit dem allgemeinen Namen werden sie zur Ge-
sammtheit der Menschen in eine Beziehung gesetzt, welche
zur Yergleichung auffordert, und das Urtheil meint und deutet
es durch die unbestimmte Bezeichnung der Subjecte an, dass
solche, die als Menschen allen anderen gleich sind, in dieser
Hinsicht von den anderen verschieden sind und etwas Beson-
deres an sich haben; dass es gegenüber der vorausgesetzten
Gleichheit der Farbenempfindung Unterschiede gibt.
Durch diese Absicht, Unterschiede und Ausnahmen
hervorzuheben, wird das plurale Urtheil zu einem particu-
läre n. Es ist aber klar, dass diese Absicht ebensogut durch
ein singuläres Urtheil erreicht wird, sobald sein Subject
nicht mit dem Nomen proprium, sondern mit dem allgemeinen
Namen bezeichnet wird. Es gibt einen Kometen, der sich in
zwei getheilt hat — ist bereits ein particuläres Urtheil in
diesem Sinne.
4. Die Tradition lehrt nun aber, dass das particuläre
Urtheil das allgemeine nicht auszuschliessen meine. Einige
A sind B wolle nicht sagen, dass nicht alle A B sind. Dies
ist ein neuer Beweis für die Vieldeutigkeit der Formel; denn
in der Regel soll allerdings eben dies gesagt werden, dass
220 I» 5. I>ie pluralen Urtheile. 181
einige A sich von den übrigen A unterscheiden. Allein jene
Bestimmung weist doch auf etwas Richtiges hin; nemlich
dass das plurale Urtheil ebenso auf dem Wege zu einem
allgemeinen liegen und dieses vorbereiten kann, wie es sich
gegen ein allgemeines als Ausnahme abzuschliessen vermag.
Wenn der scheinbaren Unbeweglichkeit des Fixsternhimmels
gegenüber erst an einigen Fixsternen die eigene Bewegung
nachgewiesen wird; wenn dem copulativen Urtheil »a Centauri
und 61 Cygni und Sirius haben eigene Bewegung« durch den
Ausdruck »Einige Fixsterne haben eigene Bewegung« nicht
die Bedeutung gegeben worden ist, dass darum diese drei
keine Fixsterne seien, sondern, indem man ihre Zugehörigkeit
zu den Fixsternen stehen lässt, die Bedeutung, dass dem alten
Glauben entgegen an einzelnen Bewegung wahrgenommen
werde, so wandte sich damit das Urtheil als Ausnahme gegen
den Satz: »Alle Fixsterne stehen absolut fest«; es war ein
particuläres, das einen Unterschied innerhalb der Fixsterne
ausdrücken wollte.
Wie nun aber die Zahl wuchs und die Beobachtungen
fortschritten, konnte dasselbe Urtheil: »Einige Fixsterne haben
eigene Bewegung« den anderen Sinn gewinnen: Von einigen
weiss man's gewiss, von allen ist es wahrscheinlich. Während
jenes Urtheil die fertige Erkenntniss voraussetzt, dass einigen
A ein Prädicat zukommt, das anderen fehlt, setzt dieses die
erst werdende Erkenntniss voraus, und die Parti cularität ist
nur eine provisorische.
5. Auf diesem Gebiete des Fortschritts der Erkenntniss
durch Erfahrung an Einzelnem pflegt sich aber die Schul-
logik gar nicht zu bewegen; ihre particulären Urtheile setzen
die festen Begriffsverhältnisse voraus und sind nur dazu be-
stimmt, sie abzulesen. Nun kommt sie aber mit der For-
derung , dass ihre Sätze sich müssen aus dem Princip der
Identität und des Widerspruchs als richtig einsehen lassen,
ins Gedränge. Einige Parallelogramme haben gleiche Diago-
nalen — woher kommt mir diese Erkenntniss? Aus dem
Begriffe des Parallelogramms nicht, denn dieser enthält nichts
von rechten Winkeln ; und wenn ich zu »Parallelogramm«
»einige« setze, so nehme ich damit einen Theil des Umfangs,
182 § 28. Das particuläre ÜrtheÜ. ^21
aber der Begriff ist nicht bestimmter geworden, und ich kann
bloss darauf hin vom Theil nichts aussagen, was nicht im
Begriffe läge. Kann damit aus einer blossen Erklärung kein
particuläres Urtheil hervorgehen, so muss aus dem, was die
Vorstellung des Parallelogramms enthält, die Möglichkeit
einer näheren Bestimmung sich ergeben, welche das Prädicat
mit sich führt, und neben der andere nähere Bestimmungen
möglich sind; oder diese Bestimmung muss in Gedanken ge-
setzt sein, um das Subject meines Urtheils zu constituieren ;
sie wird nur in der Bezeichnung des Subjects verschwiegen,
ich meine die rechtwinklichen Parallelogramme, ich bezeichne
sie aber bloss als einige Parallelogramme.
Der adäquate Ausdruck ist dann aber vielmehr: Das
Parallelogramm kann gleiche Diagonalen haben, und: Eine
Art des Parallelogramms hat gleiche Diagonalen.
Nun könnte man allerdings der Logik nicht verbieten,
ihre Formel »Einige A sind B« in dem Sinne beizubehalten,
dass »einige A« einen Theil der möglichen A bezeichnet,
wenn nicht die Gefahr nahe läge, dass unvermerkt statt der
möglichen immer wieder die wirklichen gesetzt werden, welche
der Plural zunächst andeutet.
IL Verneinende plurale ürtheile.
§ 29.
Ganz dieselben Bestimmungen gelten, wo von einer
Mehrheit von Subjecten ein und dasselbe Prä-
dicat verneint wird; insbesondere ist das Urtheil, welches
allgemein verneint, ebenso entweder empirisch
oder unbedingt allgemein.
1. Das copulative verneinende Urtheil *). Weder A noch
*) Von ihm ist wieder die conjunctive Verneinung verschie-
dener Prädicate von demselben Subjecte (A ist weder B noch C noch
D) zu unterscheiden, deren Bedeutung" wiederum erst später erhellen
kann. Ich halte es für einen überflüssigen und lästigen Luxus der
Terminologie, für die copulative Verneinung den Ausdruck reraotivea
U r th ei 1 zu gebrauchen.
222 I» 5. Die pluralen tTrtheile. 18S
B noch C sind P führt, wenn A und B und C unter eine
gemeinschaftliche Bezeichnung fallen, zu der pluralen Ver-
neinung Mehrere N sind nicht P, und an diese schliesst sich
wiederum die Aussage, welche die Zahl treffen will: der N,
die nicht P sind, sind viele, sind hundert. Das Verhältniss
dieser Aussagen zu der Verneinung über Einzelnes ist genau
dasselbe, was g 26 in Beziehung auf die positiven Urtheile
ausgeführt ist.
2. Das allgemein verneinende Urtheil : die A, die nicht
B sind, sind alle A — wird ursprünglich auf demselben Wege
des Durchgehens einer bestimmten Zahl gewonnen , wie das
allgemein bejahende Urtheil. Wenn ich von einer bestimmten
Anzahl von Bäumen einen um den andern darauf ansehe, ob
er Früchte trägt, wenn ich es von jedem Einzelnen bis auf
den letzten verneinen musß, dann entsteht mir die allgemeine
Verneinung, welche ganz bezeichnend die Sprache in den Aus-
druck kleidet : Keiner trägt Frucht *). Denn dieses Kein
lässt eben eins ums andere an mir vorübergehen ; nicht Einer,
ouo£ £?^, ne unus quidem ist, dem das versuchte Prädicat zu-
käme ; ein einziges A , das B wäre , Hesse es nicht zu dem
*) Keiner, Niemand, Nichts u. s. f. sind also nicht etwa negative
Subjecte wie das aristotelische oux äv^pwTtog ; ich behaupte nicht etwas
von Nichts, Niemand u. s. f.; wenn ich sage Niemand ist gut, denn
der alleinige Gott, so sind das Subject meines Urtheils die Menschen,
denen das Gutsein abgesprochen wird; und der Sinn ist: da ist keiner,
der gerecht sei, auch nicht einer ; wenn ich sage : es thut mir nichts
weh — so meine ich nicht , dass mir das Ding, Nichts genannt , wehe
thue, sondern, dass alles das , was mir etwa weh thun könnte , nicht
weh thut. Aber dass die Negation am Subject auftritt, ist darum höchst
ausdrucksvoll, weil ich mit meinem Prädicate so zu sagen vergeblich
herumgehe um ein Subject dazu zu finden. Dasselbe ist es, wo Niemand,
Nichts, kein, im Accusativ steht: Doch ich sehe Niemand gehn, sehe
Niemand kommen — grammatisch erscheint der kommende »Niemand«
als Object des Sehens; in der That wird das Sehen eines Kommenden
verneint. Ebenso fällt in dem Satze »ich höre nichts« nicht bloss das
Object, sondern auch das Hören selbst weg ; es ist falsch, dass ich etwas
höre. Daraus geht weiter hervor , dass Nichts (so gut wie Niemand)
nur im Satze einen Sinn hat ; und es ausserhalb des Satzes als selbst-
ständiges Zeichen eines Begriffs zu verwenden, wie in dem berühmten
Sein, Nichts und Werden geschieht, muss nothwendig zum blossen Wort-
spiel führen.
183. 184 I 29. Verneinende plurale Ürtkeile. S2S
allgemeinen Satze kommen. Daraus erklärt sich auch die
Vieldeutigkeit der Negation , und der verschiedene Sinn , den
ürtheile von der Form »kein A ist B« haben können. Einerseits
nemlich setzen sie das Vorhandensein einer Mehrheit von A
voraus, und wollen sagen, dass das Prädicat B an allen vor-
handenen A fehlt — kein Baum trägt Frucht; andrerseits
können sie (innerhalb des gemeinten räumlichen oder zeitlichen
Kreises) das Vorhandensein von Subjecten, denen das Prädicat
zukäme, selbst negieren wollen : kein Baum verstreuet Schatten,
kein Quell durchdringt den Sand — keines Mediceers Grüte lächelte
der deutschen Kunst. Wenn ich verneine, dass ein A existiert,
das B ist : so setzt das voraus, dass ich zu dem Prädicate B ein
Subject A suche, von dem es prädiciert werden kann. Ent-
weder finde ich nun zwar ein oder einige A, aber ohne das
Prädicat B ; oder ich finde überhaupt kein A , und das wird
der Fall sein, wenn das Prädicat B gar nicht fehlen könnte,
wenn ein A da wäre. (Vergl. »das Feuer brennt nicht« S. 163.)
Das TJrtheil kein A ist B verneint also unmittelbar, dass
ein A, das B ist, existiert; und erst in zweiter Linie und nur
dann, wenn das Prädicat B überhaupt an A fehlen kann, lässt
sich das so ausdrücken, dass die A, die nicht B sind, alle A sind.
3. Daraus geht wiederum hervor, dass diese Formel
Kein A ist B nur dann adäquat ist, wenn sie einzelne A im
Sinne hat, und als Resultat von Urtheilen über einzelne A
erscheint, also ein erzählendes ürtheil darstellt. Soll aber
ausgesprochen werden, dass durch die Subjectsvorstellung
das Prädicat ausgeschlossen sei, dass also , was auch
immer mit A benannt werden könne, ebendeswegen nicht B sei:
so ist der adäquate Ausdruck A ist nicht B, oder Es ist un-
möglich, dass A B sei ; und es ist nur die Gewohnheit, immer
auf das Concret-anschauliche zurückzugehen , welche das un-
bedingt verneinende Urtheil ebenso von den Einzelnen aus-
sprechen will, obgleich weder ihre Zahl, noch auch nur ihre
Existenz direct in Frage kommt, wie das allgemein bejahende.
Statt zu sagen : Kein Mensch vermag die Zukunft zu erkennen,
ist es richtiger zu sagen : der Mensch vermag die Zukunft
nicht zu erkennen. Denn mein Urtheil verneint nicht die
Existenz, sondern die Möglichkeit des Propheten. Deutlich
224 1, ß. Die pluralen Urtheile. 184. 185
wird dies, wo modale Prädicate die Existenz eines dem Sub-
jectswort entsprechenden Einzelnen in Frage stellen ; wir
sagen nicht Kein Gespenst existiert, kein Mord ist geboten,
sondern Gespenster existieren nicht , der Mord kann niemals
geboten sein.
III. Die Verneinung der pluralen Urtheile.
§ 30.
Wenn ein allgemeines Urtheil verneint wird,
so richtet sich die Verneinung gegen das was es eigentlich
aussagt, dass die Subjecte, denen das Prädicat zukommt oder
nicht zukommt, alle seien, welche unter das Subjectswort
fallen. Die Verneinung von Alle A sind B meint : d i e A
dieB sind, sind nicht alleA; und je nachdem das Ur-
theil als empirisches oder als unbedingt allgemeines gelten
wollte, ist auch seine Verneinung zu verstehen.
Die Verneinung des empirisch allgemeinen Ur-
t h e i 1 s sagt, dass eineAusnahme wirklich, die des
unbedingt allgemeinen aber nur , dass eine Ausnahme
möglich sei.
Die von Aristoteles aufgestellte, von der Logik immer
wiederholte Lehre , dass das allgemein bejahende
undparticulär verneinende, das allgemein
verneinende und particulär bejahende Ur-
theil sich c on t ra di et or i s ch entgegengesetzt
seien, führt auf Falsches, wenn der Unterschied der
empirischgültigen und der allgemeingül-
tigen Urtheile nicht beachtet wird.
1. Der eigentliche Charakter der bisher betrachteten
Urtheile erhellt am deutlichsten, wo sich die Verneinung gegen
sie richtet. Die Verneinung eines copulativen oder pluralen
Urtheils ist mehrdeutig, sofern entweder bloss der Plural, oder
185.186 § 30. Verneinung der pluralen Urtheile. 225
die Zusammengehörigkeit von Subject und Prädicat überhaupt
dasjenige sein kann, was falsch ist. Insbesondere vermag die
Verneinung eines negativen ürtheils auch hier auf keine be-
stimmte Behauptung zu führen ; wenn es falsch ist, dass weder
Petrus, noch der Magier Simon in Rom gewesen ist, so
weiss ich nicht, welcher von beiden, oder ob beide dort ge-
wesen sind ; wenn es falsch ist , dass mehrere Kometen Un-
glück gebracht haben, so weiss ich nicht, ob nur einer oder
gar keiner. Die Verneinung, welche sich gegen ein Zahl-
prädicat richtet, wird zunächst dieses bestreiten, aber es ist
unsicher, ob sie nicht weiter greift. Wenn es falsch ist, dass
10 Häuser abgebrannt sind, so sind entweder mehr oder weniger
oder gar keines abgebrannt.
2. Bestimmteren Werth hat nach der gewöhnlichen Lehre
die Verneinung eines allgemeinen — sei es bejahenden oder
verneinenden ürtheils.
Tritt eine Verneinung gegen ein bejahendes ürtheil mit
»Alle« auf, so hebt sie die Behauptung auf, welche eben auf
die ausnahmslose Vollständigkeit der Zahl gieng; die Allge-
meinheit ist negiert. Da das bejahende allg. ürtheil sagt:
Es gibt keine Ausnahme — so sagt seine Verneinung: Es
gibt eine Ausnahme. Wenn ich weiss, es ist falsch, dass alle
Raben schwarz sind: so gibt es wenigstens einen, der nicht
schwarz ist; ich kann also sagen: Ein Rabe ist nicht
schwarz.
Wendet sich die Verneinung gegen den Satz Kein A ist
B : so heisst der nach dem obigen soviel als : Ein A , das B
wäre, gibt es nicht ; dann muss also wahr sein, dass es ein A
gibt, das B ist. Ist es falsch, dass kein Rabe weiss ist —
so gibt es einen weissen Raben.
Aus dem Sinn des allgemeinen ürtheils folgt also direct,
indem der Satz des Widerspruchs und der doppelten Vernei-
nung auf Sätze mit dem Prädicat »alle« angewendet werden,
was Aristoteles (De interpr. 7, 17, b 16) lehrt: dvxtxeta^at
zamcpaatv aTiocpaaet avTLcpaTLXws tyjV zb xad-oXou ayjfiacvouaav
T(j) auxq) ÖTi o5 xai^oXou, olov Tzäc, avD-pWTCo? Xeux^g — ou izäc,
dv^-piüTzoc, Xexjxbc, ; ouoelq dy\hp(i)'!ioc, Xeuxbc, — eaxi Tic, äv^pionoq
Xeuxo^. Dies ist die vollkommen richtige Formel, welche noch
Sigwart, liogik. I. 2. Auflage. 15
226 I» 5. Die pluralen ürtheile. 186. 187
nicht durch die gedankenlose Gewohnheit, statt ou n&c, und
Tc^ den Plural einige zu setzen , falsch geworden ist*).
3. Richtig aber nur, solange man nicht von unbedingt
gültigen Urtheilen auf empirisch gültige und umgekehrt
übergeht.
Wendet sich die Verneinung gegen ein unbedingt allge-
meines Urtheil, welches durch die anschaulichere Allgemein-
heit bejahend die nothwendige Zusammengehörig-
keit von Subject und Prädicat, verneinend die nothwendige
*) Die gewöhnliche Lehre ist:
Contradictorisch entgegengesetzt sind : Alle A sind B
Einige A sind nicht B
Ebenso Kein A ist B
Einige A sind B.
Conträr (IvavxCw^) entgegengesetzt : Alle A sind B
Kein A ist B,
Diese können nicht beide wahr, wohl aber beide falsch sein.
Die ürtheile Einige A sind B — Einige A sind nicht B, von denen
Aristoteles (Anal. pr. II, 15. 63 b 27) ganz treffend sagt; xö xtvl
xq) ou xtvl xaxct xyjv Xd^tv dvxCxetxat, jxovov — weil gar nicht dasselbe
Subject vorhanden ist — hat die spätere Terminologie widersinnig
genug als subconträr bezeichnet; sie sollen beide wahr, aber nicht
beide falsch sein können. (Würde in den beiden Sätzen : Einige A
sind B , Einige A sind nicht B, dasselbe Subject vorausgesetzt,
das nur unbestimmt bezeichnet ist, so würden sie natürlich contradic-
torisch entgegengesetzt sein ; aber der Ausdruck lässt ja unentschieden
welche A gemeint sind).
Die Richtigkeit unserer obigen Darstellung, dass die Contradiction
des allgemeinen und besonderen TJrtheils von entgegengesetzter Qua-
lität die einfache Folge davon sei , dass als Prädicat alle betrachtet
werde, erhellt aus einer Schwierigkeit, in welche die gewöhnliche Lehre
zu führen scheint. Wenn ich nemlich die Sätze gegeneinander stelle:
Das Licht ist Materie — Das Licht ist nicht Materie --so sind sie con-
tradictorisch entgegengesetzt , und einer ist nothwendig wahr ; die
gleichbedeutenden Alles Licht ist Materie — Kein Licht ist Materie,
sollen nur conträr entgegengesetzt sein, und also beide falsch sein
können. Die Schwierigkeit löst sieb, sobald man darauf achtet, dass im
zweiten Paare ein ganz anderes Subject auftritt, das die Voraussetzung
in sich schliesst, es sei vom Licht nicht nach seiner Einheit, sondern von
den Unterschieden desselben die Rede; und daraus erhellt, dass der
Satz Alles Licht ist Materie doch ein inadäquater und nicht vollkommen
gleichbedeutender Ausdruck ist für: das Licht ist Materie.
187. 188 § 30. Verneinung der pluralen Ürtheile. 227
Ausschliessung des Pr'ädicats vom Subjecte behaupten
will : so kann sie nur verneinen, was gemeint ist, und sagen,
es sei dort nicht nothwendig, hier nicht unmöglich,
dass dem Subjecte das Prädicat zukomme. Aber dass einem
oder einigen wirklichen A das Prädicat B zukomme, oder nicht
zukomme, muss diese Verneinung nicht meinen, welche
es mit der Voraussetzung , dass einzelne Subjecte abgezählt
worden seien , gar nicht zu thun hat ; und die Anwendung
des contradictorischen Verhältnisses wäre jetzt ganz unzulässig.
Wenn es falsch wäre , dass alle Menschen Sünder sind , im
Sinne einer mit ihrer Natur gegebenen Sündhaftigkeit: so
wäre damit noch nicht gesagt, dass in Wirklichkeit einige
Menschen nicht Sünder sind; und das empirische Urtheil, alle
Menschen sind Sünder, konnte gelten, »dieweil sie alle gesündiget
haben«. Wenn es falsch wäre, dass kein Mensch vollkommen
böse ist, im Sinne der Verneinung einer Unmöglichkeit — so
wäre darum noch nicht wahr, dass einer oder einige in Wirk-
lichkeit es sind.
Umgekehrt kann die Verneinung eines empirisch gültigen
particulären Urtheils immer nur ein empirisch allgemeines,
niemals ein unbedingt cllgemeines begründen. Wenn es falsch
ist, dass es Lebendiges gibt, das nicht aus Lebendigem ent-
standen wäre, so ist der Satz Omne vivum ex vivo richtig in
dem Sinne, dass alles Lebendige, was wir kennen, wieder aus
Lebendigem entstanden ist ; ob aber daraus folgt , dass der
Satz eine absolute Noth wendigkeit ausspreche , ist eben noch
bestritten. Wenn es falsch ist, dass es Menschen gibt, welche
über 200 Jahre leben : so ist damit das Urtheil »Kein Mensch
lebt über 200 Jahre« noch nicht in dem Sinne motiviert, dass
es unmöglich wäre, Mensch zu sein und doch über 200 Jahre
alt zu werden.
Es ist das Charakteristische der Schlüsse der Erfahrungs-
wissenschaften, von empirisch gültigen auf unbedingt gültige
allgemeine Ürtheile überzugehen ; aber die Berechtigung dazu
liegt nicht in der Lehre von dem contradictorischen Gegensatz
der allgemeinen und particulären Ürtheile, noch in der Zwei-
deutigkeit des »Alle« ; und es ist die schwierige Aufgabe einer
Theorie der Induction, festzustellen, imter welchen Bedingungen
15*
228 I, 5. Die pluralen Urtheile. 188
von einem empirischen ürtheil auf ein allgemeingültiges über-
gegangen werden darf.
4. Was also Aristoteles und die traditionelle Logik mit
dem allgemeinen und particulären ürtheile wollten und weshalb
sie ihnen eine so grosse Bedeutung beilegten, war nicht das,
was sie eigentlich nach der gewöhnlichen Theorie sagen, dass
»dem ganzen Umfang oder einem Theil des Umfangs eines
Begriffs« ein Prädicat zukommt, sondern dass die Verknüpfung
des Prädicats mit dem Subjecte nothwendig oder möglich
sei. Das ganze Interesse der Ausnahmslosigkeit liegt in der
Hinweisung auf ein bindendes Gesetz ; das ganze Interesse der
Ausnahme darin, dass sie eine Mehrheit von Möglichkeiten zeigt.
Damit sind wir von selbst auf die genauere Untersuchung
des Nothwendigen und Möglichen in Beziehung auf das Ur-
theilen geführt.
Sechster Abschnitt.
Möglichkeit und Nothwendigkeit.
Der Behandlung der logischen Fragen, welche das Mög-
liche und Nothwendige betreffen, ist zur vorläufigen Orien-
tierung eine fundamentale Unterscheidung voranzuschicken:
Die Behauptung, dass ein Urtheil möglich oder nothwendig
sei, ist verschieden von der Behauptung, dass es möglich oder
nothwendig sei , dass einem Subjecte ein Prädicat zukomme.
Jene betrifft die subjective Möglichkeit oder Nothwendigkeit
des Urtheilens ; diese betrifft die objective Möglichkeit oder
Nothwendigkeit des im Urtheile Ausgesprochenen. Auf jene
geht die Kantische Unterscheidung der verschiedenen Mo-
dalität der Urtheile, wonach sie entweder problematische
oder assertorische oder apodictische sind ; auf diese
geht der aristotelische Satz: Ilaaa npozocaiq iaxtv 7) toö bndp-
(Anal. pr. I, 2. 24 b 31).
I. Die sogenannten Unterschiede der Modalität.
§ 31.
Das sogenannte problematische Urtheil (A kann
B sein im Sinne von A ist vielleicht B) kann insofern
nicht als Urtheil bezeichnet werden, als ihm das
Bewusstsein objectiver Gültigkeit fehlt, d.h. es
ist kein Urtheil über das durch das Subject des Satzes Bezeich-
nete. Es ist ein Urtheil nur, sofern es aussagt, dass der Redende
hinsichtlich der Frage, ob A wohl B ist, unentschieden sei.
230 1» ö- Möglichkeit und Noth wendigkeit. 190
Das sogenannte assertorische Urtheil (die einfache
Behauptung A ist B) ist von dem a p o d i c t i s c h e n (es ist
nothwendig zu behaupten, dass A B ist) nicht wesentlich
verschieden, sofern in jedem mit vollkommenem
Bewusstsein aus gesprochenen Urtheile dieNoth-
wendigkeit es auszusprechen raitbehauptet w^ird.
Die Urtheile unterscheiden sich allerdings hinsichtlich des
Weges, auf dem die Gewissheit erlangt wird, ob
unmittelbar oder mittelbar ; wollte man aber darauf den Unter-
schied des assertorischen und apodictischen [Jrtheils gründen,
so käme dem apodictischen die untergeordnete Stelle zu, weil
seine Gewissheit nur eine abgeleitete wäre.
1. Die unmittelbaren Urtheile, in welchen sich Subject
und Prädicat ohne weitere Vermittlung als einstimmig er-
weisen, bringen für sich die Unterschiede der bloss möglichen
und der nothwendigen Behauptung nicht zum Bewusstsein; 'Y'^
sie vollziehen sich gemäss dem Grundsatz der Uebereinstim-
mung mit unreflectierter Sicherheit, rl Vo aber das vermittelte
(synthetische) ürtheilen sich dadurch einleitet , dass , sei es
von aussen durch Frage und Behauptung Anderer, sei es von
innen durch psychologische Combinationen j Vorstellungen von
Synthesen bestimmter Subjecte mit bestimmten Prädicaten
sichbilden, die in der eben gegenwärtigen Subjectsvorstellung
noch nicht enthalten sindUund wo diese Synthesen mit dem Be-
wusstsein objectiver Gültigkeit zu vollziehen kein Grund vorliegt,
wo sich also die Vorstellung einer Synthese als Frage oder
JV-er^iuthung in der Schwebe hält, und die gewisse Entschei-
dung erst sucht, welche das^rädicat bestätigt oder abweist :
da wird ein Urtheil als möglich vorgestellt; was soviel
heisst, als dass weder es wirklich zu vollziehen, noch zu ver-
neinen für den Denkenden in diesem Momente nothwendig
ist. Nennen wir, um eine kurze Bezeichnung zu haben, das
bloss als möglich vorgestellte, noch nicht vollzogene Urtheil
A ist B die H y p o t h e s i s A ist B : so ist der reinste Aus-
druck dieses Stadiums zwischen Synthese und Urtheil d i e
Frage, die nur dann wahrhaftig ist, wenn sie ein Ja oder
/
191 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 231
Nein erst erwartet (denn wo sie nur um einen andern zu
versuchen von dem schon Entschiedenen gestellt wird, ist sie
keine eigentliche Frage, sondern ein Imperativ) ; während aber H (?
die Frage das Stadium der ersten Conception der Hypothese
ausdrückt, welche die Entscheidung sucht, so folgt ihr, wenn
sie diese weder im bejahenden noch im verneinenden Sinne
findet, das Bewusstsein der Unentschiedenheit, und dieses drückt
sich in den Formeln aus : A ist vielleicht B, A ist vielleicht
nicht B. (Die häufig gebrauchte Formel »A kann B sein« ist
zweideutig und irreführend; denn sie drückt sowohl das ob-
jective Können (SuvaaO-at) als das subjective Schwanken aus).
Diese Form der Aussage unterscheidet sich also von der Frage
nur dadurch , dass sie das Bewusstsein, die Frage nicht ent-
scheiden zu können , zum Ausdruck bringt; während in der
Frage der Wunsch nach Entscheidung liegt, bezeichnet sie die
Resignation, die in der üngewissheit verharren muss ; im We-
sentlichen ist beidemal dasselbe gedacht, eine Synthese ohne
Entscheidung über ihre Gültigkeit.
2. Diesen Ausdruck der üngewissheit pflegt man
ein problematisches Urtheil zu nennen, und ihm das
assertorische und apodictische als den Ausdruck ver-
schiedener Grade von Gewissheit entgegenzustellen*). Kant
selbst gibt zwar dem problematischen Urtheil eine etwas an-
dere Bedeutung. Die Modalität, sagt die Kritik d. r. V. § 9, .4
trägt nichts zum Inhalte des Urtheils bei, sondern geht nur
den Werth der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt / j\
an. Problematische IJrtheile sind solche, wo man das Be-
jahen oder Verneinen als bloss möglich (beliebig) annimmt.
Assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet
wird. Apodictische, in denen man es als n o t h w e n d i g
ansieht. Die beliebige Annahme des problematischen Urtheils
wird dann von Kant auf Urtheile ausgedehnt, die offenbar
falsch sind ; sie sind von problematischer Bedeutung , wenn
gedacht wird, dass Jemand einen solchen Satz etwa auf einen
Augenblick annehmen möge. In dieser Fassung des Begrifi's,
*) Vergl. z. B. Ueberweg, Logik 3. Aufl. i> 69 S. 164 ff. 5. Afl. S. 207.
Drobisch § 61. § 62.
232 !• 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 192
der das problematische ürtheil der aristotelischen ÖTi'SO'eat^ *)
gleichstellt, liegt demnach, dass jedes Urtheil problematisch
sei, sofern seine Gültigkeit nicht eben jetzt behauptet werde.
Allein es ist darin zweierlei zusammengefasst, was unterschieden
zu werden verdient; nemlich ob über die Gültigkeit eines
vorgestellten Urtheils deshalb nichts behauptet wird , weil
nichts behauptet werden kann, darum weil der Sprechende
noch zu keiner Entscheidung gelangt ist, oder deshalb, weil
über seine Gültigkeit nichts behauptet werden will, darum,
weil der Sprechende um irgend eines weiteren Zweckes willen
vorübergehend ein gültiges Urtheil wie ein ungültiges, ein
ungültiges wie ein gültiges, ein ungewisses wie ein gewisses
behandelt. Die Tradition hat sich hierin nicht an Kant ange-
schlossen, wie auch Kant's Logik (Einleitung IX) unter dem
problematischen Urtheil nur ein ungewisses Fürwahrhalten
versteht.
3. Die herkömmliche Bezeichnung des Satzes »A ist viel-
leicht B«, als problem atischen Urthei Is droht nun aber
den Begriff des Urtheils selbst zu zerstören, und mit allen
andern Lehren in Widerspruch zu gerathen. Denn gehört
zum Wesen des Urtheils , dass es eine Behauptung aufstellt,
welche Anspruch macht wahr zu sein und geglaubt zu wer-
den : so kann eine Aussage, die nichts behauptet und es frei
lässt, dass das Gegentheil wahr sei, keine Art des Urtheils
sein. Ist jedes Urtheil entweder Bejahung oder Verneinung
einer Frage: so kann die Aussage, welche die Frage weder
bejaht, noch verneint, kein Urtheil sein ; denn es ist keine
Art der Entscheidung, die Frage unentschieden zu lassen,
und keine Stufe der Gewissheit, ungewiss zu sein; und dem
Gesetz des Widerspruchs zum Trotz wäre A ist vielleicht B
und A ist vielleicht nicht B zugleich gültig.
♦) Für Aristoteles ist bnö^eoig ein Urtheil über Stattfinden oder
Nichtstattfinden, das nur angenommen wird, ohne dass es gewiss, oder
wenigstens ohne dass es als gewiss erwiesen wäre, und das im Gespräch
oder im Beweis nur verwendet werden kann, wenn es zugestanden wird.
Vgl. mein Programm: Beiträge zur Lehre vom hypothetischen Urtheile
(Tübingen, Laupp 1870) S. 2. Daraus möge sich auch der oben einge-
führte Gebrauch dieses Wortes rechtfertigen.
193 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 233
Als Urtheil über A gefasst, ist also das sogenannte pro-
blematische Urtheil kein XJrtbeil , sondern nur der Gedanke
an ein Urtbeil, der unvollendete Versuch eines Urtheils. Die
einzige wirkliche Aussage, welche durch die Formel A ist
vielleicht B gemacht wird , ist : Die Hypothesis A ist B ist
ungewiss. Zunächst und unmittelbar ist das nur ein Urtheil
über den Redenden selbst, über sein Verhältniss zu der Hypo-
thesis A ist B, die Formel sagt : ich weiss nicht, ob die Hypo-
thesis gilt öder nicht gilt , ich habe weder einen Grund sie
zu bejahen noch zu verneinen ; sie constatiert einen eben vor-
handenen Zustand meines Denkens, aber nichts was hinsicht-
lich des Subjects A objective Geltung hätte.
Nun könnte man der Formel eine weiter tragende Be-
deutung geben wollen durch die Ueberlegung , dass sie nicht
bloss meinen könnte: ich weiss nicht, ob A B ist, sondern
man weiss nicht ob A B ist , dass also die Ungewissheit
nicht bloss als individuelles Factum , sondern als dem Satze
überhaupt anhaftend bezeichnet würde. Allein abgesehen da-
von, dass der Wortlaut das nicht einschliesst, so würde auch
dann diese Aussage zu keinem Urtheil über A führen , das
dem positiven und negativen Urtheil coordiniert werden könnte;
sie würde auch dann nur eine Behauptung über ein subjectives
Verhalten aussprechen, nur nicht über ein individuelles, son-
dern über ein in dem gegenwärtigen Zustande des gesammten
Wissens, oder noch allgemeiner über ein in den Schranken der
menschlichen Intelligenz überhaupt begründetes subjectives
Verhalten. Es ist vollkommen richtig, dass wir hinsichtlich
vieler Fragen über die Constatierung der Unmöglichkeit der
Entscheidung nicht hinauskommen, und dass diese Erkenntniss
ihren Werth hat, wenn wir die menschliche Erkenntnissiähig-
keit an dem Ideal des Erkennens messen ; aber diese Erkennt-
niss constatiert immer nichts , was ein Urtheil über A wäre.
Für ein ideales Bewusstsein, für eine allwissende Intelligenz
ist der eine Satz wahr, der andere falsch; erst wenn wir des
einen oder andern gewiss sind , ist der Zweck des Denkens,
ein Urtheil von objectiver Gültigkeit erreicht; so lange das
nicht der Fall ist, bleibt die Hypothesis als unentschiedenes
Problem stehen, und es kann nur verwirren , wenn man den
234 I, ö- Möglichkeit und Noth wendigkeit. 193
Ausdruck der subjectiven üngewissheit und den Ausdruck der
Gewissheit der objectiven Gültigkeit eines Satzes unter den-
selben Begriff des Urtheils subsumiert. Darum ist auch die
einzig mögliche Verneinung des problematischen Urtheils, es
sei dem Urtheilenden nicht ungewiss ob A B sei, sondern die
Bejahung oder die Verneinung sei gewiss *).
•) Gegen die gegebene Auffassung ist das problematische Urtheil
nicht bloss von Wundt (Logik I, S. 197 , vergl. meine Entgegnung in
der Viertel jahrschr. für wiss. Phil. IV, 473 ff.) sondern auch von Windel-
band (Strassb. Abh. S. 185 tf.) in Schutz genommen vsrorden. Von seiner
S. 154 ff. besprochenen Auffassung aus sucht er zu zeigen, dass das proble-
matische Urtheil dem affirmativen und negativen als eine dritte Art
des »practischen Verhaltens« zu coordinieren sei, das sich in der Beur-
theilung einer gegebenen Vorstellungsverbindung ausspreche. »Auch
die Beurtheilung hat, wie alle Functionen des Billigens und Verwerfens,
die Möglichkeit einer graduellen Verschiedenheit«. Die Gradation der
Gewissheit trete in den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit
zu Tage; sie repräsentieren verschiedene Intensitäten des üeberzeu-
gungsgefühls, das sowohl negative als affirmative Sätze treffen könne.
»Diese verschiedenen Intensitäten der Wahrscheinlichkeit lassen sich
derartig auf einer Linie schematisiert denken, dass von den beiden End-
puncten völliger Gewissheit, auf der einen Seite der Bejahung, auf
der andern Seite der Verneinung, sie sich durch allmähliche Abschwäch-
ung einem Indifferenzpunkte nähern, auf welchem weder Bejahung noch
Verneinung vorhanden ist«. Dieser Nullpunkt sei nicht eindeutig; die In-
differenz zwischen positiver und negativer Reaction könne eine totale
oder eine kritische sein. Die totale Indifferenz finde einmal bei
allen denjenigen Vorstellungsverläufen statt, welche ohne jede Rück-
sicht auf ihren Wahrheitswerth von Statten gehen, dann bei der Frage,
die eine Vorstellungs verbindung ohne Entscheidung des Wahrheitswerthes,
aber mit dem Verlangen danach sei. Die Frage nun will W. nicht
(wie Lotze versucht) als Urtheilsart mit Affirmation und Negation coor-
dinieren, weil ihr jede Entscheidung über die Geltung des Gedachten
fehlt. Allein wenn die Betrachtung einer durch eine Frage vollzogenen
Vorstellungsverbindung zu der Einsicht führt , dass weder für die Be-
jahung noch für die Verneinung zureichende Gründe der Gewissheit
und auch nur der Wahrscheinlichkeit vorliegen, so entsteht das proble-
matische Urtheil, das bedeutet, dass über die Geltung der Vorstellungsver-
bindung A — B nichts ausgesagt werden solle. Das ist die ausdrückliche
Suspension der Beurtheilung, die kritische Indifferenz. Der darin lie-
gende bewusste Verzicht auf die Entscheidung, sagt W., sei eine voll-
ständige Entscheidung über die Stellung, welche der Urtheilende zu der
in Frage stehenden Vorstellungs Verbindung einnimmt, und darum das
193 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 235
Die Lehre, dass das sog. problematische Ur-
theil eine Art des Urtheils sei, ist also aufzu-
geben, sobald man in den Begriff des Urtheils die Behaup-
tung der Wahrheit der Aussage aufnimmt, und lehrt, ein
Urtheil müsse entweder wahr oder falsch sein.
problematische Urtheil in der Eintheilung nach der Qualität dem affir-
mativen und dem negativen zu coordinieren.
Ich erkenne natürlich die Richtigkeit dessen, was über den Sinn
des sog. problematischen Urtheils gesagt ist, und die treffende Unter-
scheidung der einfachÄi Frage von demselben , die ich oben im Texte
dankbar aufgenommen habe, vollständig an: aber ich muss daraus die
entgegengesetzte Consequenz ziehen. Stelle ich mich ganz auf den Stand-
punkt Windelbands, dass Bejahung und Verneinung gleicherweise eine
Beurtheilung einer Vorstellungsverbindung unter dem Gesichtspunkte
des Wahrheitswerthes seien, so vermag ich in einer Suspension der Be-
urtheilung nicht eine Art der Beurtheilung zu erkennen ; wenn über
die Geltung der Vorstellungsverbindung nichts ausgesagt werden soll,
so kann keine Beurtheilung vollzogen werden, und es bleibt nur die
Erkenntniss dieses subjectiven Factums übrig. Das Verhältniss der drei
»ürtheilsformen« kann keine Coordination sein. Entweder vermag
ich nicht zu entscheiden , oder ich vermag zu entscheiden ; entscheide
ich, so entscheide ich entweder bejahend oder verneinend. Coordiniert
sind also nur Bejahung und Verneinung als Richtungen der Entschei-
dung; sie stehen beide zusammen der Nichtentscheidung gegenüber;
das ist es, was ich ausdrücken wollte. Und wenn nur dann eine Er-
kenntniss der Sache vorhanden ist, wenn ich entweder bejahen oder
verneinen kann, so ist im entgegengesetzten Falle keine Erkenntniss
der Sache, sondern nur eine Erkenntniss meines subjectiven Unvermögens
gegeben ; also nur ein Urtheil über mich , nicht ein Urtheil über das
Subject des Satzes. Ich kann auch nicht zustimmen, dass es Grade der Ge-
wissheit gebe, weil Gewissheit ein Gefühl sei und alle Gefühle Intensi-
tätsunterschiede zeigen. Gewissheit, das Wort im strengen Sinne ge-
nommen, ist entweder da oder nicht da; was nicht absolut gewiss ist,
ist ungewiss. Die Gewissheit kündigt sich allerdings auf unmittelbare
Weise in unserem Bewusstsein an, es gibt ein Gefühl der Gewissheit,
ebenso wie sich die Ungewissheit , das Schwanken zwischen entgegen-
gesetzten Wahrscheinlichkeiten im Gefühl ankündigt ; aber entgegenge-
setzt sind sich nun nicht Gewissheit der Bejahung als ein Extrem,
Gewissheit der Verneinung als das andere, und dazwischen die Unge-
wissheit als Uebergang ; sondern entgegengesetzt sind Gewissheit und
Ungewissheit, und die Gewissheit ist gleicherweise bei Bejahung und
Verneinung vorhanden. Würde mit der Lehre, dass die Gewissheit Grade
habe, Ernst gemacht, so wäre der Unterschied von Meinen und Wissen
nur ein relativer. Grade hat nur die Hoffnung der Gewissheit.
236 T> 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 193
4. Nicht viel glücklicher ist die traditionelle Lehre in
ihrer Unterscheidung des assertorischen und a p o d i c-
tischen Urtheils. Wenn Kant sagt (Krit. d. r. V. § 9, 4.
Logik § 30) das assertorische Urtheil sei vom Bewusstsein der
Wirklichkeit des Urtheilens, das apodictische vom Bewusstsein
der Nothwendigkeit desselben begleitet, so handelt es sich beim
assertorischen Urtheil also nur darum, dass überhaupt in
Worten eine Behauptung ausgesprochen wird, auch wenn das
Bewusstsein der Nothwendigkeit des Urtheilens nicht dabei ist;
wie denn in der Einl. der Logik IX das assertorische Urtheil
als Ausdruck eines bloss subjectiven Glaubens auftritt, der
nur für mich gilt; wogegen was ich weiss, apodictisch gewiss,
d. h. allgemein und objectiv nothwendig für alle geltend sein
soll; gesetzt auch dass der Gegenstand selbst, auf den sich
dieses gewisse Fürwahrhalten bezieht, eine bloss empirische
Wahrheit wäre.
Nach dieser Unterscheidung würde auch das assertorische
Urtheil ausserhalb unserer Definition des Urtheils fallen, welche
es als wesentliches Merkmal desselben aufstellt, dass es objec-
tiv gültig sein wolle. Es gibt in der That in dieser Hinsicht
nur Einen Sinn des Urtheils, das eine wirkliche Behauptung
enthält — den, dass jeder dasselbe behaupten und glauben
muss, darum, weil es nothwendig ist, es zu glauben und zu
behaupten. Alle unsere Rede verlöre ihren Halt und würde
zu Kinderspiel oder Lüge, wenn, wer einen Satz aufstellt, nicht
zugleich damit sagen wollte, dass dessen Verneinung falsch sei,
und wer etwas damit Unverträgliches behaupte, irre; d. h.
wenn zwischen einem assertorischen und apodictischen Urtheil
der Unterschied wäre, dass dieses zwar nothwendig ist, jenes
aber nicht; dieses für jeden gilt, jenes aber nur für mich.
Wahrheit hat keinen Sinn, wenn sie nicht diese Nothwendigkeit
des subjectiven Thuns meint. Auch wo die bloss zeitliche
Aussage über das allerzufälligste Einzelne — dieses Eisen ist
heiss — vollzogen wird : da setzt sie voraus, dass es eben jetzt
nothwendig ist, so und nicht anders zu urtheilen; meine
Empfindung macht die Verknüpfung dieses Subjects mit diesem
Prädicate zu einer unabweislichen ; und gegen jeden Wider-
spruch würde ich festhalten, dass ich nichts anderes als eben
194 § 81. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 237
dies als den Ausdruck meiner Empfindung aussprechen könne,
sobald die Frage gestellt ist, ob dieses Eisen heiss sei oder nicht.
5. Damit fällt jeder wesentliche Unterschied des asser-
torischen und apodictischen Urtheils zusammen ; wenn ich sage
»das ist so«, so ist das nur dann ein vollkommen reifes ürtheil,
wenn es so viel heisst, als: ich muss nothwendig urtheüen^
dass das so ist; die ganze Gewissheit meiner Aussage ruht auf
der Voraussetzung dieser Nothwendigkeit.
Es bleibt nur übrig, theils dass der Grrund, auf welchem
die Nothwendigkeit ruht, verschieden ist, theils dass sie in ver-
schiedener Weise ins Bewusstsein tritt.
6. In ersterer Hinsicht lassen sich zunächst unmittelbare
und vermittelte Urtheile unterscheiden. Bei den unmittelbaren
(in specie analytischen) Urtheilen ist die Nothwendigkeit, das
Prädicat von dem Subjecte auszusagen (beziehungsweise zu ver-
neinen), auf das Prinzip der Uebereinstimmung (beziehungs-
weise des Unterschieds) gegründet; bei den mittelbaren ent-
weder auf Autorität oder auf Folgerung. Die unmittelbaren
Urtheile gehen dabei entweder auf ein individuelles Factum
(wie in der Wahrnehmung) zurück, auf das hin einem Subject
ein Prädicat zugesprochen wird ; oder auf die gemeinschaftlich
anerkannte Bedeutung eines Worts. Derselbe Unterschied
eines individuellen und eines Allen zugänglichen Grundes
scheidet unter den mittelbaren Urtheilen die auf Autorität
und die auf Folgerung zurückgehenden; denn dass einer für
mich Autorität ist, ist ein individueller Grund, der nur für
mich gilt, so lange nicht auf eine allgemeingültige Weise die
Glaubwürdigkeit festgestellt und bewiesen ist; die Folgerung
aber bindet mich nur, wenn sie (von denselben Voraussetz-
ungen aus) alle bindet.
So hat man denn z. B. unterschieden zwischen unmit-
telbarer (auf eigene oder fremde Wahrnehmung gegründeter)
Gewissheit, und vermittelter, auf Beweis gegründeter Ge-
wissheit — wobei nur die auf fremde Wahrnehmung gegründete
Gewissheit vielmehr zur vermittelten zu rechnen sein wird,
und die unmittelbare sich nicht bloss auf Wahrnehmungen
bezieht; und man hat auf jene das assertorische, auf diese,
seinem Wortlaute entsprechend, das apodictische Urtheil (Tipo-
238 I. 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 195. 196
zaaic, aTioSetxTixifj) bezogen. Dem bieten sich auch die her-
gebrachten Formeln dar : A ist B, und A muss B sein (»muss«
als Ausdruck des bloss Erschlossenen genommen, wie in dem
Satze: Es muss heute Nacht geregnet haben). Nur dass dann
die gewöhnliche Vorstellung aufgegeben werden muss, als ob
das apodictische Urtheil etwas Höheres bezeichne, als das
assertorische, und vom problematischen hinauf zum apodicti-
schen eine Steigerung der Gewissheit und damit des Werths
und der Würde der XJrtheile stattfinde; denn jede vermittelte
Gewissheit muss ja zuletzt auf unmittelbarer, jeder Beweis
auf Prämissen ruhen, die selbst keines Beweises bedürfen.
In komischem Widerspruch mit der Emphase, mit welcher
man von apodictischer Gewissheit zu reden pflegt, bezeichnet
im gewöhnlichen Leben das »apodictische« Urtheil »Es muss
so sein, es muss so gegangen sein« einen sehr bescheidenen
Grad von Zuversicht, weil man aus guten Gründen der Sicher-
heit der gewöhnlichen Schlüsse misstraut, und sich lieber an
das unmittelbar Wahrgenommene hält; aber auch den streng-
sten Beweis vorausgesetzt, kann das Erwiesene niemals einen
höheren Grad von Gewissheit ansprechen, als dasjenige, woraus
es erwiesen ist.
Andere Auffassungen scheinen vielmehr den Unterschied
von Sätzen, die schlechthin allgemein gelten, von denen,
welche von einer individuellen Bedingung abhängen, im Auge
zu haben, wenn z. B. der Charakter des Apodictischen in die
Vernunftnothwendigkeit gegenüber dem Thatsächlichen gesetzt
wird. So hat Leibniz die nothwendigen Wahrheiten von
den thatsächlichen unterschieden *). Die nothwendigen Wahr-
heiten sind diejenigen, deren Gegentheil einen Widerspruch
*) Leibn. Princ. phil. § 33 (Erdm. p. 707): II y a deux sortes de
verit^s, Celles de raisonnement et Celles de fait. Les veritös de raisonne-
ment sont necessaires et leur oppos^ est impossible, et celles de fait
sont contingentes et leur oppos^ est possible. Quand une veritö est
necessaire, on peut en trouver la raison par l'analyse , la r^solvant en
id^es et en vörites plus simples, jusqu'ä, ce qu'on vienne aux primitives ...
35 : ce sont les enontiations identiques, dont l'opposd contient une con-
tradiction expresse. Nouv. Ess. IV, § 1. Erdm. 340: Pour ce qui est
des veritds primitives de fait, ce sont les experiences immediates internes,
d'une immediation de sentiment. Vergl. De scientia universali Erdm. p. 83.
197 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 239
enthält; die thatsächlichen diejenigen, deren Gegentheil mög-
lich ist. Jene kommen zuletzt auf identische Sätze zurück ;
diese ruhen auf unmittelbarer Empfindung. In dieser Formu-
lierung tritt nicht heraus, dass die Subjecte, auf welche sich
die nothwendigen, und diejenigen, auf welche sich die thatsäch-
lichen Wahrheiten beziehen, verschieden sind. Die nothwen-
digen Vernunftwahrheiten stellen Gleichungen zwischen Be-
griffen dar, welche als ein fester und allgemeiner Besitz
vorausgesetzt werden; nur unter dieser Voraussetzung kann
ja (nach § 23. S. 190 f.) überhaupt von einem Satze gesagt
werden, dass er widersprechend, also sein Gegentheil noth-
wendig wahr sei; sie entsprechen den analytischen Urtheilen
Kant's. Die Subjecte der thatsächlichen Wahrheiten sind ein-
zeln existierende Dinge, und die thatsächlichen Wahr-
heiten sagen allerdings, sofern sie das Dasein und das ver-
änderliche Geschehen betreffen, etwas aus, was in dem Begriffe
des Dinges nicht liegt; denn es ist weder mit seinem Begriffe
gegeben, dass es existiert, noch dass es eine bestimmte zufällige
Beschaffenheit hat; sie verneinen, führt also keinen logischen
Widerspruch herbei, wie sagen, ein Dreieck sei nicht dreieckig.
Allein daraus, dass das Gegentheil einer thatsächlichen Wahr-
heit nicht a priori unmöglich ist, folgt nicht, dass es für
mich nicht nothwendig wäre, das Factum zu behaupten, nach-
dem es geschehen ist, und dass die entgegengesetzte Behaup-
tung für den möglich wäre, der das Factum kennt ; eine Wahr-
heit ist auch die thatsächliche Wahrheit nur darum, weil es
unmöglich ist, das Gegentheil zu behaupten — nur unmöglich
auf Grund einer individuellen Erfahrung, statt auf Grund der
festen Begriffe, von denen ich ausgehe. Und auch die Ver-
wandlung eines unmittelbaren Bewusstseins in einen Satz von
objectiver Gültigkeit setzt ja allgemeingültige Grundsätze
voraus, nach denen die Empfindung auf ein Sein und ein
Seiendes bezogen wird; somit ist auch in den thatsächlichen
Wahrheiten Vernunftwahrheit insofern enthalten, als nach all-
gemeinen Grundsätzen (z. B. dass jede Veränderung ein be-
harrliches Subject voraussetze, an dem sie geschieht) allein aus
einem individuellen Geschehen ein wahres Urtheil hervorgehen
kann. Auf der anderen Seite ist das Haben der allgemeinen
240 h 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 197. 198
Begriffe, auf denen die identischen Sätze ruhen, zuletzt ebenso
etwas Factisches, was da sein muss, ehe das Princip der Iden-
tität darauf angewandt werden kann, um ein nothwendiges
Urtheil zu erzeugen. Die Nothwendigkeit beider Arten von
Wahrheit ist also zuletzt eine hypothetische. Wenn ich
bestimmte Begriffe denke, muss ich das in ihnen Gedachte von
ihnen prädicieren; und wenn ich bestimmte Wahrnehmungen
habe, muss ich von den wahrgenommenen Subjecten das prä-
dicieren, was mich die Wahrnehmungen zu prädicieren nöthi-
gen *). Auch diese Unterscheidung löst sich also hinsichtlich
des Charakters der Nothwendigkeit auf und nur der Grund
der Nothwendigkeit ist verschieden, weil die Subjecte der Ur-
theil e verschieden sind.
*) Wollte man sich darauf berufen, dass ja die Sinne täuschen und
dass es möglich sei an dem Vorhandensein der ganzen realen Welt zu
zweifeln, nicht aber an dem Satze A=A : so ist das vollständig richtig,
hebt aber den Satz nicht auf, dass jedes Urtheil nur insofern wahr sei,
als es nothwendig ist. Denn vermöchten wir aus unsern factischen Em-
pfindungen deshalb, weil wir sie als rein zufällig, individuell verschieden
und gesetzlos wie Traumvisionen eintretend voraussetzen, keine Aussage
über ein Seiendes und überhaupt keine allgemeingültige Aussage zu
machen , so wäre überhaupt kein thatsächliches Urtheil über etwas
anders als unsere momentane Affection möglich; würden wir aber vor-
aussetzen, die Empfindungen seien zwar einer für alle gleichen Noth-
wendigkeit unterworfen, wir kennen aber diese Nothwendigkeit und
ihr Gesetz nicht, so wäre wiederum dasselbe — wir könnten kein Ur-
theil über ein ausser uns Seiendes vollziehen. In Beziehung auf die
Frage, was das Seiende, das wir empfinden, seinem letzten Wesen nach
ist, sind wir in der That in diesem Falle; ebendarum gibt es darüber
nur Vermuthung und Hypothese, aber keine ürtheile, die sich als wahr
ankündigen dürfen; soweit wir aber die Nothwendigkeit in den Pro-
cessen, durch welche wir aus Empfindungen Ürtheile bilden, zu kennen
überzeugt sind, soweit reicht auch das Gebiet des sicheren , von der
Ueberzeugung der Wahrheit begleiteten Urtheilens. Wir wissen, dass
wir jetzt diese, jetzt jene Farbe empfinden, dass wir sie an diesen Ort
des Raums verlegen, als Farbe dieses bestimmten erscheinenden Gegen-
standes ansehen müssen; ob dieser Gegenstand blosse Erscheinung, oder
ob er Erscheinung eines Seienden und eines wie beschaffenen Seienden
sei — darüber kann man streiten, und je nach den Voraussetzungen
darüber richtet sich der Sinn , in welchem ein thatsächliches Urtheil
wahr ist.
198. 199 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 241
7. Dass die Nothwendigkeit, ein Pradicat mit einem Sub-
jecte zu verbinden, in verschiedener Weise ins Be-
wusstsein tritt, ist nicbt zu bestreiten. Eine Menge von
unmittelbaren Urtheilen vollziehen wir mit unbefangener, un-
reflectierter Sicherheit, welche an die Möglichkeit des Irr-
thumes, des Andersseins gar nicht denkt; die absolute Ge-
wissheit, das reine Beruhen in unserem Denkacte ist von
demselben unzertrennlich; mit solchen Urtheilen beginnt all
unser Denken. Die Aussprüche unseres unmittelbaren Selbst-
bewusstseins, wie das unmittelbar Einleuchtende, sei es der
Anschauung oder des allgemeinen Urtheils, sind von keinem
Gefühle des Zwangs begleitet, wie ihn die behauptete Noth-
wendigkeit voraussetzen sollte, noch von dem Gedanken an
die Unmöglichkeit des Gegentheils; erst gegenüber dem Ver-
suche des Widerspruchs stellt sich dieses Bewusstsein ein.
Zur Gewissheit anderer Urtheile gelangen wir auf dem Wege
des Zwangs, indem uns alle andern Möglichkeiten abgeschnitten
werden; und hier tritt uns zugleich mit dem Urtheile seine
Nothwendigkeit in dem Bewusstsein dieses Zwangs entgegen.
Wenn man also Nothwendigkeit als Unmöglichkeit des Anders-
seins definiert, und darin das Wesen derselben sieht, so kann
man sagen, jene Urtheile seien vom Bewusstsein der Noth-
wendigkeit nicht begleitet, nur diese.
Allein jene unmittelbare Sicherheit und Gewissheit ist
vielmehr die ursprüngliche und ächte Form, in welcher die
Nothwendigkeit im Gebiete des Denkens erscheint; in ihr
zeigt sich die Form und Richtung, in welcher die volle le-
bendige Kraft des Denkens wirkt, und diese unmittelbare
Evidenz ist durch nichts anderes vollkommen zu ersetzen. Der
Versuch eines Widerspruchs kann wohl dazu dienen, das Vor-
handensein jener Sicherheit zu constatieren und das Mass der
Kraft zu messen, welche in einer Behauptung th'ätig ist; aber
die Einsicht, dass das Gegentheil unmöglich sei, setzt in der
Regel die Gültigkeit des ursprünglichen Satzes schon voraus;
dass A ist nicht B widersprechend sei, ist unmittelbar nur
dann klar, wenn fest steht, dass A B ist; die doppelte Ne-
gation erzeugt nicht den Satz, sondern umgeht ihn bloss, in-
dem sie ihn abscheidet von seinem Gegentheil ; aber sie ist
Sigwar t , Logik. 1. 2. Auflage. 16
242 1» 6« Möglichkeit und Nothwendigkeit. 199. 200
die Form, in welcher uns die Wahrheit zum ausdrücklichen
Bewusstsein kommt, indem wir uns von ihr entfernen und
wieder zu ihr zurückkehren. Wie die Identität erst durch die
Verneinung des Anderen, die Bejahung durch Verneinung der
Verneinung zum ausdrücklichen Bewusstsein kommt, so die
Nothwendigkeit durch die Unmöglichkeit des Andersseins. Aber
in den Gedanken, durch welche sie sich aufklärt, ist sie selbst
schon enthalten ; die Verneinung der Verneinung bestätigt nur
darum die Bejahung, weil dieser Process selbst in seinen ein-
zelnen Schritten unmittelbar gewiss ist. Jene unreflectierte
Nothwendigkeit ist das rein ursprüngliche, das in all unserem
Denken wirkt, und daher niemals in jedem Punkte ins Be-
wusstsein erhoben werden kann.
Wollte man assertorische und apodictische Urtheile so
scheiden, dass bei diesen ihre Nothwendigkeit zum ausdrück-
lichen Bewusstsein komme und darum auch im sprachlichen
Ausdrucke erscheine, bei jenen nur ungeschieden in dem Ur-
theilsacte selbst liege: so wäre damit eine wirklich statt-
findende Differenz getroffen, welche zwar nicht den Grad, aber
die Art der Gewissheit eines Satzes angeht; nur eine Differenz,
die ganz auf psychologischem Gebiete sich bewegt, und sagt
was, von individuellen Bedingungen abhängig, bei demselben
Urtheile bald so, bald anders eintreten kann, und eine Diffe-
renz, welche das gerade Gegentheil von dem bedeutet, was
die Ausdrücke sagen sollen. Denn die apodictische Form A
muss B sein erinnert an den Zweifel und die Denkbarkeit
des Gegentheils ; sie schreitet, vorsichtig sich umsehend, von A
zu B fort ; die assertorische geht geradeswegs auf ihr Ziel zu.
Gerade wo ein Urtheil ein erschlossenes ist, spricht die asser-
torische Form die festere Zuversicht aus als die apodictische,
welche gleichsam auffordert, den Beweis erst zu prüfen; und
jene ist also überall der natürlichere, weil directere Ausdruck
auch der sog. apodictischen Gewissheit; wie denn auch die
Logik die Schlusssätze der Syllogismen in assertorischer Form
auszusprechen pflegt.
Wollte man entgegenhalten, es werde thatsächlich viel
ins Blaue hinein behauptet, wo der Sprechende es nicht so
genau nehme mit der Nothwendigkeit seiner Aussage: so ist
200. 201 § 31. Die sogenannten Unterschiede der Modalität. 243
dies ebenso riclitig, als dass viel gelogen wird ; nur widerlegt
es den Satz nicht, dass derjenige Act, für den die ernsthafte
Aussage der adäquate Ausdruck ist, die Nothwendigkeit des
Urtheils mitbehaupte, und die Aussage von Jedem so ver-
standen werde. Sonst wäre die Rede gedankenlos, indem sie
Worte ohne Sinn gebrauchte, oder mit der Lüge behaftet, wenn
als gewiss hingestellt wird, was dem Redenden selbst nicht
gewiss ist. Dass im Streite der Interessen und Parteien in
diesem Sinne viel gelogen wird, geht die Logik nichts an, welche,
wie das Wahrdenken wollen, so auch das Wahrredenwollen vor-
aussetzt. Ebenso ist zuzugeben, dass dieses Wahrdenken- und
Wahrredenwollen erst allmählich ein bewusstes Wollen wird,
und zuerst nur als ein seiner Ziele unbewusster Trieb auftritt,
aber ehe dieses Bewusstsein klar ist, wissen die Redenden nicht
was sie thun; so lange ist das Urtheilen thatsächlich aber
nicht als freies und bewusstes vorhanden, und hat seine volle
Reife noch nicht gefunden.
8. Die Nothwendigkeit des Denkens, welche in der Gewiss-
heit des einzelnen Urtheilsacts sich manifestiert, erhält ihren
eigenthümlichen Charakter zuletzt von der Einheit des
Selbstbewusstseins. Indem jedes einzelne Urtheil mit
dem Bewusstsein der Identität des Subjects und des Prädicats
wie des Urtheilsacts wiederholbar ist, von denselben Voraus-
setzungen immer dieselbe Synthese sich vollzieht, und unser
Selbstbewusstsein nur mit dieser Constanz bestehen kann, er-
scheint unser urtheilendes Ich mit seiner constanten Thätigkeit
als ein allgemeines gegenüber den einzelnen Urtheilsacten, als
das Gleiche und Beharrliche, welches die verschiedenen zeitlich
getrennten Momente unseres Denkens verknüpft. Mit der Sicher-
heit der Bewegung des einzelnen Falls verknüpft sich das Be-
wusstsein der unveränderten Wiederholung, der Rückkehr zu
demselben; an dieser Stetigkeit, welche dem einzelnen Acte
gegenüber ein allgemeines Gesetz darstellt, kommt das Ur-
theilen ebenso als etwas der subjectiven Willkür und dem Anders-
machenkönnen entzogenes zum Bewusstsein, wie wenn es sich
dem Widerspruch gegenüber im einzelnen Acte behauptet. Diese
Identität und Beharrlichkeit unseres Thuns ist, weil Bedingung
unseres einheitlichen Bewusstseins überhaupt, auch das letzte
16 ♦
244 h 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 201.202
Fundament, auf das wir zurückgehen können; und so lange,
wie in dem imreifen Kindesalter, diese vollständige, zusammen-
fassende Besinnung nicht da ist, sind auch die psychologischen
Bedingungen des Urtheilens nur unvollständig entwickelt; und
dasselbe ist's im Traume, wo die allseitige Verknüpfung fehlt.
Somit ergibt sich, dass jeder einzelne Urtheilsact durch
den Sinn, in welchem er sich vollzieht, auf nothwendige und
allgemeingültige Gesetze zurückweist, — allgemeingültig so-
wohl für das einzelne Subject in seinen zeitlich verschiedenen
Momenten, als für die verschiedenen denkenden Subjecte, mit
denen wir in der Gemeinschaft des Denkens stehen, Gesetze,
welche zunächst unbewusst bleibend nur die Sicherheit des
Urtheils wirken, ins Bewusstsein erhoben, die fundamentale
Anschauung eines Nothwendigen geben.
9. Die Nothwendigkeit des Denkens, welche in der Ge-
wissheit des einzelnen Urtheilsacts und der Stetigkeit in seiner
Wiederholung ursprünglich zu Tage tritt, ist etwas durchaus
Positives, die unmittelbare Wirkungsweise der Intelligenz, die
Form unseres Selbstbewusstseins selbst, und, zum Bewusstsein
gebracht, eine unmittelbare Anschauung, so gut wie der Ge-
danke des Ich oder des Seins. Sie ist darum zugleich das
Mass der anderen Begriffe, der Möglichkeit und Unmöglichkeit.
Möglich ist im Gebiete des Urtheilens dasjenige, was weder
zu bejahen noch zu verneinen nothwendig ist ; der Einfall, der
Versuch, der sich nicht zum entscheidenden Urtheüe vollen-
den und nicht in die Einheit des Selbstbewusstseins, in das
feste Gefüge dessen, was ebenso gewiss ist, wie mein eigenes
Sein, aufgenommen werden kann. Die blosse Möglichkeit ist
eine Privation. Das Unmögliche dagegen ist in doppeltem
Sinn zu nehmen ; was unmöglich zu denken wäre, würde eben-
darum gar nicht gedacht, höchstens in Worten ausgesprochen;
den Worten »der Kreis ist viereckig« entspricht kein vollzieh-
barer Gedanke, und in demselben Sinn meint Aristoteles, es
sei unmöglich zu denken, dass dasselbe zugleich sei und nicht
sei; »denn es ist nicht nöthig, das, was man sagt, auch an-
zunehmen.« Diesem Unmöglichen steht das Mögliche gegen-
über, das nothwendig verneint werden muss, die Hypothesis,
die als solche vollziehbar ist, wenn man sie isoliert nimmt,
202. 203 § 31. Das Gesetz des Grundes. 245
welche zu behaupten aber mit einem gültigen Satze streiten
und so das Denken entzweien würde. Dieses Unmögliche hat
seine Stelle nur in dem Gebiete des vermittelten ürtheilens;
weil die Unvereinbarkeit des Prädicats mit dem Subject nicht
analytisch erkannt wird, kann seine Vereinbarkeit gedacht,
der Satz sogar vorübergehend angenommen werden, so lange
die entgegenstehende Wahrheit dem Bewusstsein entschwunden
ist; die durchgängige . Beziehung unserer Urtheile aufeinander
erst verneint das Mögliche. Nur in diesem Sinne trifft die
Leibniz'sche Unterscheidung zu, dass die Verneinung der noth-
wendigen Wahrheiten unmöglich, die der thatsächlichen
möglich sei. Man kann sie aufzustellen versuchen, aber das
Gegebene versagt ihnen die Bestätigung und zwingt sie zu
verneinen.
10, Aus dem Obigen geht nun hervor, dass eine wirk-
liche Bejahung oder Verneinung, d. h. ein mit dem Bewusst-
sein der Gültigkeit ausgesprochenes Urtheil nur für den
möglich ist, für den es nothwendig ist ; für das Urtheil selbst
fallen Möglichkeit und Nothwendigkeit vollkommen zusammen.
Eine Hypothesis dagegen ist möglich, wenn und solange
es nicht nothwendig, ^Iso unmöglich ist sie entweder zu be-
jahen oder zu verneinen. Sie ist — als Ausdruck eines sub-
jectiven Zustandes der Unentschiedenheit — allerdings in ge-
wissem Sinne ein Drittes zu Bejahung und Verneinung; aber
ebendarum kein Urtheil.
§ 32.
Das sog. Gesetz des Grundes ist in seiner ur-'
sprünglichen Fassung bei Leibniz kein logisches Gesetz,
sondern ein metaphysisches Axiom, das nur auf einen
Theil unserer Urtheile Bezug hat.
Sofern jedes Urtheil die Gewissheit seiner Gültigkeit vor-
aussetzt, kann der Satz aufgestellt werden, es werde kein
Urtheil ausgesprochen ohne einen psychologi-
schen Grund seiner Gewissheit; und sofern es nur
berechtigt, ist, wenn es logisch nothwendig ist, behauptet
246 I. 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 203. 204
jedes ürtheil einen logischen Grund zu haben,
der es für jeden Denkenden nothwendig macht. Es erhebt
aber damit nur einen Anspruch, dessen Recht zu untersuchen
eben Aufgabe der Logik ist.
Das Wesen der Nothwendigkeit im Denken
spricht der Satz aus, dass mit dem Grunde die Folge
nothwendig gesetzt, mit der Folge der Grund
aufgehoben sei. Dieser Satz vom Grund und der Folge
entspricht dem Satze des Widerspruchs als ein fundamentales
Functionsgesetz unseres Denkens.
1 . Die Ergebnisse dgs vorigen Paragraphen scheinen sich
ganz von selbst in dem Satze auszusprechen, dass nicht ge-
urtheilt werden koifne ohne Grund; denn unter
Grund versteht man ja eben dasjenige, was ein ürtheil noth-
wendig macht. So ergäbe sich aus der Analyse des ^iimes, W
in welchem ] jedes ürtheil überhaupt. I vollzogen und ausge-
sprochen wird, das vierte der sogenannten Denkge-
setze von selbst ; es spräche die ganz allgemeine Eigenschaft
alles ürtheilens überhaupt aus, dass im Glauben an die Gül-
tigkeit des Urtheils zugleich der Glaube an seine Nothwendig-
keit liegt.
2. Das Gesetz des Grundes ist übrigens in verschie-
denem Sinne verstanden worden, und hat darin das Schicksal
der anderen sog. Denkgesetze getheilt. Leibniz hat es
zuerst ausdrücklich als oberstes Princip neben dem Princip
des Widerspruchs aufgestellt, »unsere Schlüsse, sagt er*),
*) Princ. phil. 31 ff. Erdm. 707: Nos raisonnements sont fond^s
siir deux grands principes, celui de la Contradiction ... et celui de la
Eaison süffisante, en vertu duquel nous consid^rons qu'aucun fait ne
saurait se trouver vrai ou existant, aucune enontiation veritable , sans
qu'il-j-ait une raison süffisante ponrquoi il en soit ainsi et non pas
autrement, quoique ces raisons le plus souvent ne puissent point nous
etre connues. Dasselbe hatte Leibniz früher De scientia universali
('Erdm. p. 83) so formuliert; Omnie veritatis (quae immediata sive
identica non est) reddi posse rationem , hoc est , notionem praedicati
semper notioni sui subjecti vel expresse vel implicite inesse ; er hatte
darunter also ein rein logisches Princip verstanden, vermöge dessen
204.205 § 32. Das Gesetz des Grundes. 247
sind auf zwei grosse Principien gegründet, das des Wider-
spruchs . . . und das der ratio sufficiens, kraft dessen wir
annehmen, dass kein Factum wahr oder wirklich, kein Satz
wahr sei, ohne dass es einen zureichenden Grund gäbe, warum
es so sei und nicht anders, obgleich diese Gründe in den
meisten Fällen uns unbekannt sein können.« Es ist leicht, in
dieser Fassung die zwei Seiten zu unterscheiden, dass nemlich
theils von der wirklichen Existenz von realen Dingen und
Vorgängen, theils von der Wahrheit von Sätzen die Rede ist ;
allein sobald man sich erinnert, dass Leibniz nur die that-
sächlichen Wahrheiten, d. h. die Wahrheit der Sätze, welche
eine Thatsache aussagen , auf dieses Princip gründen will, H ^
während die nothwendigen Wahrheiten auf dem Princip des
Widerspruchs ruhen, und dass ihm die letzte ratio sufficiens
immer der göttliche Wille ist, so ist klar, dass diese Unter-
scheidung nichts bedeutet, und das Princip von Leibniz nichts
anderes als das reale Causalprincip ist, dass die Existenz jedes
wirklichen Dings und die Wirklichkeit jedes Vorgangs eine
Ursache haben müsse; denn die Sätze, welche Thatsachen aus-
sprechen, begründen ja ihre Wahrheit auf die Wirklidikeit
derselben, ihre Wahrheit hängt also davon ab, dass das Aus-
gesagte wirklich ist, dessen Wirklichkeit aber von der zu-
reichenden Ursache; wenn ich also den realen Grund einer
thatsächlichen Wahrheit angebe, nenne ich die Ursache, welche
das Wirkliche hervorgebracht hat. Ebendaraus erhellt aber
alle nicht identischen Sätze erst insofern wahr seien, als ihre Noth-
wendigkeit syllogistisch erwiesen sei. An andern Stellen dagegen hebt
er nur die metaphysische Seite hervor; so Theod. 44 (Erdm. p. 515):
. . . l'autre principe est celui de la raison d^terminante, c'est que ja-
mais rien n'arrive, sans qu'il-y-ait une cause ou du moins une raison
determinante, c'est-ä-dire quelquechose qui puisse servir k rendre raison
a priori, pourquoi cela est existant plutot que non, et de teile plutot
que de toute autre fa9on. Ce grand principe a lieu dans tous les evene-
ments. . . Pr. de la nature et de la Grace § 7 (Erdm. p. 716): rien
ne se fait sans raison süffisante cfr. Trois. ^crit k Mr. Clarke (Erdm.
p. 751). Im fünften Schreiben an Clarke dagegen § 125 (Erdm. p.
778) erscheint wieder die volle Formel: Ce principe est celui du besoin
d'une raison süffisante, pour qu'une chose existe, qu'un evönement arrive,
qu'une verite ait lieu.
24^8 h 6- Möglichkeit und' Nothwendigkeit. 205. 206
auch, wie wenig Recht man hatte, nun daraus ein schlechthin
allgemeines logisches Gesetz zu machen, das neben dem Ge-
setze des Widerspruchs in /ße^^eff derselben Sätze gälte, welche
auch unter dem Gesetze des Widerspruchs stehen, und in dem
Leibniz' sehen Satze einen logischen Grund zu suchen, der
von der realen Ursache verschieden wäre. Das ist schon durch
die wiederholte Bemerkung ausgeschlossen, dass uns die Ratio
sufficiens häufig unbekannt sein könne. Dies gilt ja nur von
der realen Ursache ; ein logischer Grund, den wir nicht kennen,
ist streng genommen ein Widerspruch ; denn er wird erst ein ^
logischer Grund dadurch, dass wir ihn kennen. Nur wenn
man in der Fiction lebt, als könnte ein Urtheil wahr sein,
abgesehen davon, dass irgend eine Intelligenz dieses Urtheil
denkt, kann man auch den Grund als irgendwo im Leeren vor-
handen annehmen.
Wer also als logisches Gesetz aufstellt: Es solle nichts
gedacht werden ohne Grund, meint jedenfalls etwas ganz
Anderes als Leibniz gemeint hat.
3. Unterscheidet man von der realen Ursache den Grund
des Ürtheils, von demjenigen, was das Dasein und Sosein eines
Seienden nothwendig macht, dasjenige, worauf das Urtheil als
Denkact ruht: so kann immer noch das Wort »Grund« in sehr
verschiedenem Sinn genommen werden.
Von einer Seite nemlich fällt jedes Urtheil, als ein wirk-
liches, psychologisches Ereigniss in einem denkenden Individuum
genommen, selbst unter den Gesichtspunkt eines Seienden,
und es kann insofern der Begriff des Causalverhältnisses und
der Grundsatz darauf angewendet werden, dass jeder Vorgang
seine zureichende Ursache haben müsse. Die Ursache eines
Urtheilsacts muss zunächst auf psychologischem Gebiete ge-
sucht werden, sofern ein Urtheil nur möglich ist, w^o gewisse
Vorstellungen dem Bewusstsein gegenwärtig sind, und die
psychologische Ursache eines Ürtheils ist also der Gesammtbe-
stand desjenigen, woraus gerade dieser Urtheilsact mit Noth-
wendigkeit hervorgieng; principaliter also das urtheilende
Subject selbst mit seinem Denkvermögen, und den Gesetzen,
welche dieses Vermögen in seinen Aeusserungen beherrschen,
weiterhin die bestimmten Zustände und vorausgegangenen Acte,
206. 207 § 32. Des Gesetz des Grundes. 249
aus welchen dieses bestimmte ürtheil zu Stande kommt. Zu
diesen gehört:
a. Dass sowohl die Subjects vor Stellung als die Prädicats-
vorstellung im Bewusstsein gegenwärtig war (und diese Ge-
genwart im Bewusstsein weist auf weiter zurückliegende
Ursachen hin, die als causae remotiores des Urtheils gelten
können, und unter denen der von einem Interesse geleitete
Wille einen Gegenstand zu erkennen und über denselben nach-
zudenken eine der wichtigsten ist).
b. Dass zwischen Subjects- und Prädicatsvorstellung eine
Synthese sich einleitete, sei es dass vermöge ihrer Ueberein-
stimmung die Denkthätigkeit nach den ihr einwohnenden Ge-
setzen sie verknüpft , sei es dass in der Art, wie sie in's Be-
wusstsein treten, ihre Synthese zugleich aufgegeben war und
zunächst der Gedanke ihrer möglichen Verknüpfung entstand.
c. Dass im letzteren Falle ein Ereigniss eintritt, welches
die Entscheidung in bejahendem oder verneinendem Sinne her-
beiführt und damit auch, sofern jedes ürtheil zugleich das
Bewusstsein seiner Gültigkeit in sich schliesst, die factische
Gewissheit als Gemüthszustand psychologisch erklärt.
In dieser Hinsicht .^ind zunächst unter den unmittel-
baren Urtheilen diejenigen, welche bloss Vorgestelltes
verknüpfen, zu unterscheiden von denen, welche das Seiende
treffen wollen. Während dort für die unmittelbaren Urtheile
das Princip der Uebereinstimmung (als Ausdruck eines Be-
wegungsgesetzes für unser Denken) genügt, um sowohl die
Synthese als ihre Gewissheit zu erklären, gehen diejenigen,
welche etwas über Seiendes aussagen wollen, wie z. B. die
Wahrnehmungsurtheile (es blitzt — dieses Eisen ist heiss),
auf compliciertere Voraussetzungen zurück. Indem ihre Ver-
anlassung eine momentane Empfindung oder ein Complex von
Empfindungen ist (die ihrerseits auf eine Reihe von Ursachen
zurückweist, welche mich in die Lage gebracht haben, eben so
sinnlich afficiert zu werden), fällt unter die Ursachen des Ur-
theils über einen factischen Thatbestand auch der Inbegriff
all der psychologischen Kräfte, welche aus Empfindungen die
Vorstellungen wirklicher I)inge mit ihren Eigenschaften immer
aufs neue erzeugen und in jedem einzelnen Falle die Gewiss-
250 I. 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 207. 208
heit, dass wir Seiendes wahrnehmen und erkennen, herbei-
führen; das Princip der Uebereinstimmnng erklärt nur, wie
wir das eben Angeschaute mit einer früheren Vorstellung
identificieren , niemals aber die üeberzeugung von der realen
Wirklichkeit der Dinge überhaupt, noch die üeberzeugung,
dass wir eben jetzt ein thatsächlich wahres Urtheil aussprechen.
Während also für die bloss erklärenden Urtheile mit den
Ursachen des Zustandekommens und Bewusstwerdens der Vor-
stellungen und dem Princip der Uebereinstimmung alles er-
schöpft ist, fordern die andern für den Glauben an die Rea-
lität der Dinge ihre besonderen Erklärungen. Es ist leicht
zu sehen, dass hier der Kantische Unterschied zwischen ana-
lytischen und synthetischen Urtheilen wiederkehrt, und die
Bedeutung der Frage erhellt, wie synthetische Urtheile (im
Kantischen Sinne) möglich sind; und ebenso, dass mit der
Anerkennung der factischen Ursachen der Erzeugung des
Glaubens an die Wirklichkeit und die thatsächliche Gültig-
keit unserer Wahrnehmungsurtheile noch nichts über das
Recht dieses Glaubens ausgemacht ist; denn es sind ebenso
factische Ursachen, welche uns allen Sonne und Mond beim
Aufgang "* grösser erscheinen lassen als im Meridian.
Was aber die vermittelten Urtheile betrifft: so
besteht die Vermittlung, welche die Entscheidung herbeiführt,
nicht nur in Voraussetzungen, welche sich selbst in Form von
Urtheilen aussprechen lassen, wie die Obersätze von eigent-
lichen Schlüssen, sondern ebenso in unbewussten Gewohnheiten
der Combination und in der Macht von Autoritäten, welche
in nicht analysierbaren Eindrücken wurzelt.
In der Gesammtheit der psychologischen Beding-
ungen kann nun unterschieden werden: 1. die Veran-
lassung, welche überhaupt Subject und Prädicat ins Be-
wusstsein bringt, bei vermittelten Urtheilen also die Frage
erzeugt; 2. der Grund der Entscheidung, auf welchen
hin das Urtheil vollzogen und die subjective Synthesis als
objectiv gültig ausgesprochen wird, der also zugleich der
Grund der subjectiven Gewissheit des Urtheils ist. Von der
Veranlassung, welche dem Inhalt des Gedachten gegenüber
zufällig sein und ganz von aussen herantreten kann, hängt
208.209 § 32. Das Gesetz des Grundes. 251
der "Wechsel der Objecte unseres ürtheilens ab; der Grund
der Entscheidung aber führt immer zuletzt auf eine gesetz-
mässig wirkende psychische Kraft zurück, und ein einzelnes
psychologisches Ereigniss kann immer nur insofern als Grund
genannt werden, als es vermöge eines constanten Zusammen-
hangs das Urtheil herbeiführt. So ist im unmittelbaren ana-
lytischen Urtheil die Subjectsvorstellung der Grund der Bei-
legung des Prädicats, aber nur sofern vermöge des Princips
der Uebereinstimmung die Gegenwart übereinstimmender Sub-
jecte und Prädicate ihre Synthese nothwendig herbeiführt.
5. Von diesem psychologischen Grunde der
Gewi SS h ei t gilt das Gesetz: Es wird kein Urtheil
vollzogen ohne Grund, d. h. ohne dass das Bewusst-
sein seiner Gültigkeit irgendwie erzeugt worden wäre; es wird
also auch kein Satz ohne Verletzung der Wahrhaftigkeit aus-
gesprochen, der nicht vom Bewusstsein der Gültigkeit des
Urtheils begleitet ist. Das liegt im Wesen des Urtheils selbst,
sofern es die Gültigkeit einer Synthese behauptet, und darin,
dass ein rein willkürlicher Act, ein sie volo, sie jubeo, das
Bewusstsein der Gültigkeit nicht zu erzeugen vermöchte, in
dem ja eben liegt, dass die Synthese nicht willkürlich sei.
Es ist aber damit nicht gesagt, dass der Grund immer ein
bewusster sei, sobald das Urtheil ausgesprochen ist.
6. Wenn nun aber jedes Urtheil, das in seinem vollen
Sinne ausgesprochen und verstanden wird, behauptet noth-
w endig zu sein : so meint es nicht diese psychologische
Not hwendigkeit, sondern es meint die objective
Wahrheit; und der Grund seiner Gewissheit, dessen Vor-
handensein implicite mitbehauptet wird, ist nicht dieser in-
dividuelle, sondern ein allgemeingültiger, der für Jeden das
Urtheil nothwendig machen soll, und der nur in dem Vor-
gestellten als solchen liegen kann, weil nur dieses, nicht die
individuelle Stimmung u. s. w. ein für alle Gemeinsames sein
kann. Dieser allein ist der logische Grund, der Grund
der Wahrheit im Unterschiede vom Grunde der Gewissheit.
Aller Irrthum und Streit beruht zuletzt auf der Differenz des
psychologischen Grundes der Gewissheit vom Grunde der Wahr-
heit; auf der Möglichkeit, dass der momentane Glaube irren
252 I, 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 209. 210
und das augenblickliche Gefühl der Gewissheit täuschen könne.
In dieser Hinsicht gilt das Gesetz, dass kein Satz wahr
sei ohne Grund; aber ebendarum fällt die Untersuchung,
was ein logischer Grund sei, und unter welchen Bedingungen
ein Satz mit Recht behauptet werde, ausserhalb unserer jetzi-
gen Aufgabe. Die Analyse des Urtheils hatte nur zu con-
statieren, dass im Sinne jeder Aussage liegt, dass sie einen
logischen Grund haben wolle; und dass darin zugleich die
Aufgabe liegt, sich des Grundes bewusst zu werden.
7« Eine Unterscheidung ist übrigens schon hier zu machen,
welche sich auf die Thatsache bezieht, dass wir im Denken
immer schon an unwillkürlich und reflexionslos Entstandenes
anknüpfen. Eine absolute Nothwendigkeit käme nem-
lich nur denjenigen Urtheilen zu, welche jedes urtheilsfähige
Wesen als solches aus sich selbst entwickeln müsste, in der
Weise, dass sowohl die darin verknüpften Vorstellungen als
ihre Verknüpfung unfehlbar sich einstellten, wie es also jede
Theorie voraussetzen muss, die auf angeborene Ideen im alten
und ursprünglichen Sinn und angeborene Wahrheiten zurück-
geht. Der Grund dieser Urtheile ist die Vernunft selbst, und
in Beziehung auf sie könnte es keine Differenz zwischen
logischem und psychologischem Grunde geben. Andern Ur-
theilen kommt aber nur hypothetische Nothwendig-
keit zu, d. h. es ist logisch nothwendig, sie zu behaupten,
vorausgesetzt dass anderes in unserem Bewusstsein vorange-
gangen ist. Soweit es also von äusseren Bedingungen abhängt,
welche Vorstellungen in einem Subject entstehen, und welche
sich im Denken begegnen, ist wohl das Urtheil A ist B noth-
wendig, sobald A und B im Bewusstsein sind und überein-
stimmen ; aber dass es überhaupt gedacht werde, ist nicht all-
gemein und absolut nothwendig. Nur sofern wir ein idea-
les Denken fingieren, das alle Wahrheit umfasst, ist die
logische Nothwendigkeit zugleich eine reale, die wirkliches
Denken hervorbringt; für den Einzelnen, dessen Denken wollen
auf jenes Ideal gerichtet ist, ist sie eine moralische, durch
sein Können bedingte.
Während man nun von einer Seite nur das als Grund im
vollen und wahren Sinne könnte gelten lassen, was selbst noth-
210 § 32. Das Gesetz des Grundes. 253
wendig zu denken ist, so lässt sich andererseits jede factische
Voraussetzung als Grund ansehen, sofern angenommen wird,
dass aus ihr mit logischer Nothwendigkeit ein weiteres Urtheil
hervorgeht. Ja man kann noch einen Schritt weiter gehen,
und ein Verhältniss von Grund und Folge zwischen Sätzen
aufstellen, die nur als Hypothesen gedacht werden, in Beziehung
auf welche also nicht einmal die psychologische Gewissheit
vorhanden ist. Eine Hypothese ist Grund in Beziehung auf
eine andere Hypothese heisst dann : wenn die erstere als wahr
angenommen wird, muss auch die letztere als wahr angenommen
werden. Dort bedeutet also Grund dasjenige, was, sobald es
wirklich mit Bewusstsein gedacht wird, ein Urtheil zu
vollziehen nöthigt; hier bedeutet Grund die Hypothese, die,
sobald sie als gültig angenommen wird, eine weitere Hypo-
these als gültig zu erklären zwingt.
Von dem Grunde in diesem letzteren Sinne
gilt das Gesetz, das Aristoteles *) formuliert hatte , und das
später nur als Princip der hypothetischen Schlüsse eine Stelle
fand: Mit dem Grunde ist die Folge gesetzt, mit
der Folge der Grund aufgehoben. Diese Formel drückt
nichts als das Wesen und den Sinn der logischen Nothwendig-
keit aus, in ähnlicher Weise wie der Satz des Widerspruchs
das Wesen der Verneinung; er sagt, wenn der Satz A als
Grund von B anerkannt ist, so muss mit der Bejahung von A
auch B bejaht, mit der Verneinung von B auch A verneint
werden. Dieses Gesetz allein verdient eine Stelle neben dem
Satze des Widerspruchs, weil es ebenso eine fundamentale Be-
wegungsform unseres Denkens, das Fortschreiten nach noth-
wendigen Zusammenhängen trifft; aber ebenso unentschieden
lässt, ob Grund oder Folge wahr sei, wie der Satz des Wider-
spruchs unentschieden lässt, welche der entgegenstehenden Be-
hauptungen gelte.
8. Die reale Causalität darf mit dem logischen Ver-
hältniss von Grund und Folge in keiner Weise vermengt wer-
*) Aristot. Anal. pr. II, 4. 57 b 1 : "Oxav Söo lyr^ ofjxto upög oXk-rika.
woTS O-axdp&u övxos dg dcvdcYXYjg slvat 0-dxspov, xoinou jxyj ovxo?; [i^v ouSs O-dxspov
loxat, Svxog 5' oijx dvdyx')'] sTvat •9-dxspov.
254 I. 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 211
den; denn der Satz, dass jedes Ding oder jede Veränderung
ihre Ursache habe, verhält sich in Beziehung auf die logische
Nothwendigkeit unserer ürtheile nicht anders als jeder andere
allgemeine Satz, der uns als Grund für weitere Behauptungen
dient, oder uns erlaubt, mit logischer Nothwendigkeit von
einem Satz auf einen andern zu schliessen. Wenn wir den
Ausdruck »Grund« auch von realer Causalität brauchen und
sagen, die Anziehungskraft der Erde sei der Grund des Fallens
der Körper, so ist damit zunächst nur ausgesprochen, dass
realiter das eine das andere hervorbringe. Sofern aber das
erkannte Causalverhältniss uns befähigt und nöthigt, aus dem
Stattfinden der Ursache auch das Stattfinden der Wirkung
abzuleiten, ist jene Erkenntniss ein logischer Grund, und die
Annahme des Causalverhältnisses der einzige Weg, von der
Wahrheit einer Thatsache auf die Wahrheit einer andern,
davon verschiedenen Thatsache zu kommen; die Sätze also,
welche Causalverhältnisse aussprechen , spielen eine grosse
Rolle unter unsern logischen Gründen, allein bei weitem nicht
jeder logische Grund ruht auf einem Causalverhältniss, und
noch weniger ist die Richtung, in welcher unsere ürtheile
von einander abhängen, irgendwie dieselbe, in welcher die
reale Causalität wirkt; vielmehr bleibt die Unterscheidung
des Erkenntnissgrundes und des Kealgrundes bestehen, und
findet Anwendung, so oft aus der Wirkung die Ursache er-
kannt wird.
9. Von dem logischen Grunde unterscheiden sich zuletzt
die Wahrscheinlichkeitsgründe, welche unter ver-
schiedenen Hypothesen, deren keine wir zu behaupten den zu-
reichenden Grund haben, der einen vor der andern den Vor-
zug geben, indem sie die Erwartung, dass die eine gültig sei
und als solche sich erweisen werde, lebhafter machen. Sie
haben darum zunächst theils nur psychologischen Werth,
theils sind sie von practischer Bedeutung, wo es aus practi-
schen Gründen nothwendig ist, auch aufs Ungewisse zu ent-
scheiden; welche Bedeutung ihnen in dem Werden unserer
Erkenntniss zukommt, kann erst im dritten Theile unter-
sucht werden.
212 § 33. Die reale Noth wendigkeit. 255
II. Möglich und nothwendig als Prädicate in wirklichen
ürtheilen.
§ 33.
Nothwendig in objectivem Sinne ist immer zu-
letzt ein Prädicat des in einem Urtheil Ausge-
sprochenen; nothwendig ist entweder, dass ein Ding sei,
oder dass es bestimmte Eigenschaften habe, Thätigkeiten aus-
übe, in bestimmten Relationen stehe. Diese Noth wendigkeit
ist entweder eine innere des Wesens, oder eine
äussere der Causalität; immer aber eine hypothe-
tische. Erkennbar ist sie nur in der Form allge-
meiner Regeln, unter denen das Einzelne steht; umge-
kehrt wollen die unbedingt allgemeinen Urt heile
diese Nothwendigkeit ausdrück en.
1. Während das assertorische ürtheil kein wesentlicher,
in ihm selbst gelegener TJnterschied vom apodictischen trennt,
ist die Behauptung, dass etwas sein muss, oder geschehen
muss, ihrem Inhalte nach verschieden von der, dass es ist oder
geschieht, sobald unsere Behauptungen über das Gebiet unserer
Vorstellungen hinaus auf das Seiende reichen und eine reale
Nothwendigkeit treffen wollen. So lange allerdings in bloss
erklärenden ürtheilen das »Müssen« und »Noth wendig-
sein« erscheint, wie dass alle Körper nothwendig ausgedehnt
sind und eine Wirkung eine Ursache haben muss, ist die in
unsern festen Wortbedeutungen liegende logische Noth-
wendigkeit gemeint, mit einer Subjects Vorstellung eine
Prädicatsvorstellung zu verknüpfen, und diese also von allem
zu prädicieren, worauf jene angewendet wird, und das ürtheil
»die Körper sind ausgedehnt« sagt nichts anderes als »die
Körper müssen ausgedehnt sein« ; das letztere ruft nur aus-
drücklich dem, der sie etwa vergessen wollte, die Wortbedeutung
ins Gedächtniss.
Wenn aber von Seiendem als solchem die Rede ist, da
wollen unsere Behauptungen über seine Nothwendigkeit etwas
256 I. 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 213
treffen, was das Seiende selbst, nicht bloss unser Urtbeil
bindet, und nothwendig ist ein inhaltsvolles Prädicat, das
ebenso bestimmt bejaht oder verneint wird, wie alle übrigen
Prädicate wirklicher XJrtheile.
Zwar von den Dingen als solchen kann Nothwen-
digkeit im eigentlichen Sinne nicht als Prädicat gebraucht
werden ; es ist kein Eigenschaftswort. Wendungen wie : Gott
ist ein nothw endiges Wesen, die Welt ist nicht nothwendig,
sind kein adäquater Ausdruck des Gedankens: was gemeint
ist, das ist, dass Gott nothwendig existiert. So gewiss 5£t
oder oportet einen Satz verlangt, und müssen ein sog. Hülfs-
verbum ist, so gewiss kann immer nur das in einem Satz
Ausgesprochene, die Existenz eines Dings, sein Haben einer
Eigenschaft, sein Entfalten einer Thätigkeit als nothwendig
prädiciert werden ; und nur den Abstractis, welche einen Satz
vertreten, kann nothwendig als Prädicat beigelegt werden : die
Existenz Gottes ist nothwendig. (Die Nothwendigkeit des
Urtheils macht keine Ausnahme ; es ist nothwendig, dass ich
und dass jeder Denkende dies urtheilt.)
Damit stellt sich eine neue Classe von Aussagen ein, in
denen als Subject das in einem Urtheil Ausgesagte
(nicht das Urtheil selbst, wie bei den Prädicaten wahr, falsch,
glaublich, logisch nothwendig) auftritt. Von realer Noth-
wendigkeit kann also nur insofern geredet werden, als der
Synthese des urtheils eine reale Einheit, des Dings mit seiner
Eigenschaft und seiner Thätigkeit, entspricht.
2. Was ist es, was an ein Gedachtes die Existenz, an
ein bestimmtes existierendes Subject eine Eigenschaft oder
Thätigkeit, oder verschiedene in einer Relation zusammejj
bindet? Sehen wir von der Nothwendigkeit der Existenz zu-
nächst ab, so suchen wir, das Sein bestimmter Dinge voraus-
gesetzt, ihr So sein und ihr Verhalten, das uns zunächst als
ein bloss wirkliches, factisches erscheint, zugleich als ein noth-
wendiges einzusehen, und es so erst zu begreifen und mit dem
Denken zu durchdringen. Der subjectiven Nothwendigkeit
unseres an das Thatsächliche im Erkennen gebundenen Ur-
theilens soll die Nothwendigkeit der Sache zu Grunde liegen.
Wir untersuchen hier zunächst weder den Ursprung des
214 § 33. Die reale Noth wendigkeit. 257
Strebens, ein solches Band der Nothwendigkeit in der Welt
zu finden, und über die Erkenntniss, dass etwas ist und ge-
schieht, hinaus die Einsicht zu verlangen, dass es so sein müsse,
noch das metaphysische Recht dieser Voraussetzung; genug,
dass dieses Streben da ist und unser populäres wie unser
wissenschaftliches Denken beherrscht, und dass uns daraus die
Aufgabe erwächst, den Sinn desselben festzustellen.
Hier ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Voraus-
setzung die überhaupt unser Denken leitet, dass Noth wendig-
keit in der Welt sei, und dem Grunde der Behauptung, dass
dieses und jenes Bestimmte nothwendig sei. Erkennbar
ist die Nothwendigkeit nur da, wo dieselbe Stetigkeit der
Verknüpfung im Sein stattfindet, welche auf logischem Gre-
biete (§ 31,8) die Verknüpfung der Gedanken beherrscht, wo
also der einzelne Fall in derselben Weise aus seinen Voraus-
setzungen mit unfehlbarer Sicherheit hervorgeht, wie das TJr-
theil aus seinen Voraussetzungen immer in derselben Weise
sich wiederholt, wo eine vollkommene Congruenz realer und
logischer Nothwendigkeit möglich ist. Nur indem wir auf
eine solche Stetigkeit treffen, finden wir den Grund der
Nothwendigkeit, dass etwas sei ; was im Realen Grund
sein soll, muss dieselbe Stetigkeit und allgemeine Gültigkeit
an sich tragen, welche dem logischen Grunde zukommt, dem
einzelnen Falle gegenüber ein Allgemeines, dem zeitlichen
Wechsel gegenüber ein Stetiges sein. Etwas als nothwendig
erkennen, heisst immer es als Folge von etwas erkennen, das
stetig und allgemein gilt. Das rein Individuelle, Unvergleich-
bare als solches vermögen wir darum als nothwendig nicht
einzusehen, wenn wir auch an seine Nothwendigkeit glauben.
3. Die Nothwendigkeit, welche ein Prädicat an ein Sub-
ject bindet, fassen wir theils als eine innere, theils als eine
äussere auf; und der Unterschied erinnert an den der ana-
lytischen und synthetischen Urtheile. Wo ein Subject für sich
ausreicht, seine Bestimmungen nothwendig zu machen, fassen
wir die Nothwendigkeit als eine innere; wo anderes hinzu-
kommen muss, um eine Bestimmung zu erzeugen , als äussere.
Es ist uns eine innere Nothwendigkeit, dass der Geist
selbstbewusst ist und denkt; es ist eine äussere, dass der ge-
S ig wart, Logik. I. 2. Auilage. 17
258 I. 6- Möglichkeit nnd Noth wendigkeit. 215
stossene Körper sich bewegt. Dort folgt aus dem Subjecte,
sofern es nur da ist, für sich die Eigenschaft und das Thun;
hier erst, sofern ein anderes ist.
4. Wo wir von innerer Nothwendigkeit reden:
da setzen wir die Einheit des Dinges der Vielheit seiner Eigen-
schaften und Thätigkeiten gegenüber, und betrachten jene als
den beharrlichen, von den Unterschieden der Zeit nicht berühr-
ten Grund, der diese Eigenschaft oder Thätigkeit constant oder
in bestimmtem Wechsel nothwendig macht. Die Einheit des
Dings, sofern sie für sich die Nothwendigkeit gewisser Eigen-
schaften enthält, heisst das Wesen (die Natur) des Dings,
und wesentlich ist ihm alles das, was aus seinem Wesen
für sich hervorgeht. In keiner philosophischen Conception ist
diesem Gedanken ein grösserer Spielraum gegeben worden,
als in der Leibniz'schen Lehre, dass es nur innere Nothwendig-
keit gibt, und die Reihe der Thätigkeiten jeder einzelnen Mo-
nade rein aus ihrem eigenen Inneren entstammt; hier ist das
Wesen der einzelnen Individuen der einzige Grund der Noth-
wendigkeit, und ihr ganzer Verlauf nur die Entfaltung dieses
Wesens. Erkennbar ist das Wesen theils in unveränderlichen
Eigenschaften, und beharrlichen Thätigkeiten -- theils in dem
Gesetze der Entwicklung, das den Hervorgang einer Thätig-
keit aus der andern vorschreibt.
In dieser Vorstellung eines beharrlichen Grundes, der die
Aeusserungen eines Dings regiert, vollendet sich genau be-
trachtet nur der Gedanke eines Dings, das als mit sich
identisch veränderliche Eigenschaften haben und wechselnde
Thätigkeiten üben soll. So wie wir nemlich die volle Iden-
tität des Dinges festhalten wollen, muss sie in einem Punkte
gesucht werden, der hinter der jeweiligen Wirklichkeit liegt;
in dieser treffen wir den Wechsel, und da die Eigenschaften
dem Dinge nicht äusserlich sind, vielmehr dasselbe, was es ist,
eben durch seine Eigenschaften ist, droht die Identität dem
Dinge selbst zu entschwinden, wenn nicht ein im Wechsel
beharrliches, den Wechsel selbst hervorbringendes derselben
Halt gibt ; und ebenso vermag unser Denken die vorausgesetzte
Einheit und Identität eines Dings nur in sich darzustellen,
wenn ein und derselbe Vorstellungsgehalt, immer in derselben
216 § 33. Die reale Nothwendigkeit. 259
Weise gedacht, als Gegenbild des mit sich identisch real Exi-
stierenden gelten kann.
Derselbe Gedanke eines Wesens der Dinge als des be-
harrlichen zeitlosen Grundes ihrer jeweiligen zeitlichen Wirk-
Kchkeit gibt auch unseren zunächst subjectiven Allgemeinvor-
stellungen ein objectives Recht. Die Zusammenfassung räumlich
und zeitlich verschiedener Dinge unter Einer allgemeineren
Vorstellung, und ihre Bezeichnung mit demselben Worte ist
nur dann nicht ein willkürliches und bloss von subjectiver
Laune oder beliebigen Zweckmässigkeitsrücksichten geleitetes
Thun, wenn dem Vielen neben der für unsere AufPassung er-
scheinenden Aehnlichkeit ein wirklich Gemeinschaftliches, in
allen Identisches zukommt. Dieses kann aber nur hinter der
unterscheidbaren und individuellen Erscheinung des Einzelnen
darin liegen, dass ein gemeinschaftliches Wesen die Ueberein-
stimmung in den Eigenschaften und Thätigkeiten nothwendig
macht, und die Differenzen als von aussen herzukommende,
nicht im Wesen gegründete, accidentelle angesehen werden.
5. Der in n er en Nothwendigkeit steht die äussere,
dem Hervorgehen aus dem Wesen das Bestimmtsein durch die
Umstände gegenüber. Jedes Einzelne ist so, weil ein anderes
so ist, jede Veränderung eines einzelnen Dings geschieht, weil
eine bestimmte Veränderung eines anderen Dings stattgefunden
hat; die Dinge haben die Kraft, sich ihr Verhalten gegen-
seitig vorzuschreiben; der Zusammenhang der Welt besteht
in dieser von einem auf das andere übergehenden Nothwendig-
keit, welche die causale in dem engeren Sinne ist, der unter
causa nur die causa transiens versteht. Die Erkenntniss, dass
etwas aus äusserer Nothwendigkeit so ist, wie es ist, so ge-
schieht, wie es geschieht, setzt sich immer aus zwei Elemen-
ten zusammen : dem allgemeinen Gesetz, und dem bestimmten
Datum, auf welches dieses Gesetz anwendbar ist. Es ist noth-
wendig, dass sich die Planeten in Ellipsen um die Sonne be-
wegen: diese Erkenntniss ruht einerseits auf der Erkenntniss
der allgemeinen Principien der Mechanik, und andrerseits auf
der Erkenntniss der faciischen Masse der Sonne und der Pla-
neten und des Verhältnisses zwischen Tangentialgeschwindig-
keit und Attraction; ein anderes Verhältniss würde andere
17 ♦
260 h 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 217
Bahnen hervorbringen. Dieses rein factische Element vermögen
wir nicht zu entfernen, und darum drückt sich die Erkennt-
niss der Nothwendigkeit als solcher in bloss hypothetischen
Formen aus, welche sagen, dass, wenn dies und jenes eintrete,
ein anderes nothwendig eintrete. Dass das erste eintritt, ist
wieder aus anderen Ursachen nothwendig ; aber indem wir es
erklären, kommen wir auf ein weiteres Factisches, und so in
infinit um.
Die Nothwendigkeit jedes Einzelnen ist also immer nur
eine bedingte Nothwendigkeit, eine dvayxT] i^ ötco-
^iaeo)^; indem etwas für nothwendig erklärt wird, wird nicht
seine Ursache, sondern sein Hervorgehen aus der vorhandenen
Ursache für nothwendig erklärt*).
(>. Der hypothetischen Nothwendigkeit des Seienden aus
dem Wesen und der Ursache scheint die Nothwendigkeit
aus dem Zwecke gegenüberzustehen. Der Mensch muss
athmen, damit er lebe; man muss zum Kriege gerüstet sein
um den Frieden zu erhalten. Allein bei näherer Betrachtung
zerlegt sich diese teleologische Nothwendigkeit in die logische
und die der Ursache. Der Zweck ist etwas Wirkliches, das
eine Nothwendigkeit begründen kann, nur als Gedanke eines
wirklichen, denkenden und wollenden Wesens; er ist ein als
zukünftig Gedachtes und Gewolltes, dessen Realisierung erfolgen
soll, aber, gemäss der Causalordnung der Natur, die jeden
bestimmten Erfolg mit bestimmten Ursachen verknüpft, nur
durch Vermittlung bestimmter Ursachen erfolgen kann; wer
also den Zweck will, muss auch die Mittel wollen, das voraus-
gesetzte Wollen eines bestimmten Zwecks macht das Wollen
bestimmter Mittel nothwendig. Der Zusammenhang zwischen
dem Gedanken des Zwecks und dem Gedanken der
Mittel als Objecte unseres Wollens ist ein logischer, aber die
Nothwendigkeit des Denkens ruht auf der erkannten causalen
Nothwendigkeit des Seins. Dass der Zweck gewollt werde, ist
das Vorausgesetzte, Factische, auf der andern Seite ist als
factisch vorausgesetzt der Bestand der wirksamen Ursachen,
die nicht willkürlich geändert und gemehrt werden können;
*) Die vollständige Erörterung dieser Begriffe wird im dritten Theile
gegeben werden.
218 § 33. Die reale Nothwendigkeit. 261
aus ihrer Erkenntniss geht mit logischer Nothwendigkeit her-
vor, was Mittel für einen bestimmten Zweck sei, und darum
gewollt werden muss, sobald der Zweck gewollt wird. Indem
aber unsere Naturbetrachtung auch da, wo von keinem Wollen
eines bestimmten denkenden Subjects und seiner Ausführung
die Rede ist, den Erfolg unter den Gesichtspunkt des Zwecks
stellt, weil sich ihr so ein Einheitspunkt für die Verknüpfung
verschiedener Ursachen darbietet, ergibt sich der Schein einer
besonderen Art von Nothwendigkeit, welche von der causalen
oder logischen verschieden wäre. Der Mensch muss athmen,
damit er lebe — drückt aber zuletzt nichts anderes als die
Einsicht aus , dass die Naturordnung an den Stillstand des
Athmens unabänderlich den Tod geknüpft hat, und dass das
Athmen durch keine vorhandene Einrichtung ersetzt zu werden
vermag; wo das Leben als Zweck gewollt würde, müsste auch
das Athmen als Mittel gewollt werden.
Wo der Gedanke frei schöpferisch aufträte: da wäre er
kein Zweck, der der Mittel zu seiner Verwirklichung bedarf,
sondern einfach Ursache, welche aus ihrer Kraft ein Reales
hervorbrächte ; auch dann gäbe es keine teleologische Noth-
wendigkeit.
Dieselben Gesichtspunkte finden auf das Anwendung, was
man moralische Nothwendigkeit genannt hat.
Sofern es für ein vernünftiges und wollendes Wesen Normen
gibt, deren Gültigkeit es für sich als oberste Regeln seines
Wollens anerkennen muss und wodurch es sich verpflichtet
fühlt: insoweit ist die Anerkennung einer solchen Verpflich-
tung eine Nothwendigkeit des Wesens, welche als
mit der Natur des vernünftigen Subjects gegeben angesehen
wird ; werden diese Normen wirklich gewollt, und als höchster
Zweck gesetzt, so ist es logisch noth wendig, ihre An-
wendung im Einzelnen zu machen, und die Verpflichtung auf
die einzelnen Fälle zu übertragen. Die Verpflichtung selbst
aber unter den Gesichtspunkt der Nothwendigkeit zu stellen,
weil sie ein Gefühl der Nöthigung bei sich führt, verwirrt
die Begriff'e und verhüllt die Kluft, welche zwischen der An-
erkennung der Verpflichtung und dem wirklichen Wollen
besteht.
262 1. 6« Möglichkeit und Nothwendigkeit. 219
7, Wenn die Nothwendigkeit die Existenz selbst
treffen soll: da begreifen wir aus dem Gesichtspunkte der
äusseren Causalität leicht, dass das Dasein eines Einzelnen
als nothwendig behauptet werde, wenn eine schöpferische
Macht vorausgesetzt ist, welche es nach blinder Nothwendig-
keit oder um eines factischen Zweckes willen schafft. Wer
die Welt zur Selbstoffenbarung Gottes nothwendig erklärt,
und daraus ihr Dasein begreift, der leitet das Dasein der Welt
aus einer höheren Ursache ab , und setzt es damit bedingt
nothwendig.
Wo aber etwas an sich selbst nothwendig exi-
stieren soll, wie wenn im ontologischen Beweise zum Wesen
Gottes die Existenz gehört, und aus ihm als nothwendig be-
griffen werden soll — wo also die Nothwendigkeit aus einer
hypothetischen eine absolute werden will, — da verlässt uns
das Licht , das aus der Erfahrung unseres eigenen Selbstbe-
wusstseins auf den Gedanken der Nothwendigkeit gefallen
war, und diese immer nur als ein Band gezeigt hatte, das
Unterscheidbares , sei es im Denken , sei es im Sein , zusam-
menhält; das Band reisst ab, sobald das Seiende damit an
einem blossen Begriff aufgehängt werden soll, der doch kei-
nes Denkenden Begriff wäre, und es hat nichts mehr zu ver-
knüpfen, wenn ein schon Seiendes sich selbst nun überflüssiger
Weise noch überdem auch nothwendig seiend machen soll,
während doch dieser Nothwendigkeit das Sein immer schon
vorausgesetzt ist. So gut aller logischen Nothwendigkeit doch
zuletzt ein seiendes denkendes Subject, dessen Natur es ist, so
zu denken, vorausgesetzt werden muss, so lange wir verständ-
lich reden wollen , so gut muss aller Nothwendigkeit des
Seins ein letztes und einfach Seiendes vorausgesetzt sein. Wenn
die Unruhe des Warum-Fragens meint auch das erste Glied
noch als ein nothwendiges haben zu müssen , und sich mit
Antworten abfindet, Gott sei causa sui , er habe den Grund
seines Seins in sich selbst, so täuscht sie sich mit Worten,
und stellt unvollziehbare Formeln auf *) ; Formeln , deren
*) Vergl. die Kritik Arnauld's gegen Cartesins in den Objectiones
quartae.
220 § 33. Die reale Notliwendigkeit. 263
imaginärer Werth nirgends deutlicher erhellt , als wo wirk-
licher Ernst damit gemacht und die metaphysische Mythologie
von dem von Gott selbst verschiedenen Grunde erdichtet wird.
Irgendwo muss beim einfachen Sein stehen geblieben werden ;
die Betrachtung der Welt, welche über den Kreis der endlichen
Ursachen nicht hinausgehen will, muss den ganzen Complex
einander gegenseitig bedingender Wesen für einfach Daseiendes
erklären, bei dem die Frage nach der Nothwendigkeit aufhört ;
wer die Welt als nothwendig begreifen will , führt sie auf
Gott zurück, aber um so gewisser hört hier jede Unterschei-
dung des Nothwendig-seins von dem Sein schlechthin auf.
8. Die mathematische Nothwendigkeit gilt
häufig als der vollkommenste Typus dessen , was wir als
Nothwendigkeit bezeichnen. »Auf dieselbe Weise, wie aus der
Natur des Dreiecks folgt, dass seine Winkel gleich zwei Rechten
sind« , ist Spinoza's stehendes Beispiel für die reale Noth-
wendigkeit des Hervorgehens einer Wirkung aus ihrer Ursache.
Es ist hier nicht der Ort, das Wesen der mathematischen
Erkenntniss zu untersuchen , und die Frage zu entscheiden,
ob ihre Nothwendigkeit eine logische oder reale ist; allein
soviel ist nach dem Bisherigen einleuchtend , dass in dem
Wesen der mathematischen Objecte allerdings jene Constanz
und Stetigkeit von Hause aus liegt, vermöge der sie immer
in derselben Weise gegenwärtig sind , und darum jedes Ein-
zelne die Bedeutung eines Allgemeinen hat, weil es in wirk-
licher Anschauung in derselben Weise wiederholt werden kann ;
während bei den realen Objecten wir das, worin sie constant
sind, erst suchen und aus den zufälligen und wechselnden Ver-
bindungen lösen müssen. Der Raum und die Vielheit , und
unsere Raumanschauung und unser Zählen sind allerdings zu-
letzt ein Gegebenes, aber so dass wir der absoluten Unver-
änderlichkeit dieser Elemente gewiss sind.
9. Was nun unsere allgemeinen ürt heile treffen
wollen, ist nichts anderes als diese objective Nothwen-
digkeit, dass mit dem Subjecte bestimmte Eigenschaften
verknüpft sind, oder mit bestimmten Eigenschaften, Thätigkeiten
und Relationen andere Eigenschaften, Thätigkeiten und Rela-
tionen im Zusammenhange stehen, und nur wo wir von
204 ^ ^' Möglichkeit und Noth wendigkeit. 221
dieser Nothwendigkeit überzeugt sind , ist das unbedingt all-
gemeine ürtheil gerechtfertigt. Alle Materie ist schwer —
was Materie ist , ist nothwendig . schwer — es gehört zum
Wesen der Materie schwer zu sein — sind gleichgeltende
Urtheile; die Verbindung des Prädicats mit dem Snbjecte ist
durch die Natur des Subjects nothwendig, mit dem Dasein
des Subjects ist auch sein Prädicat realiter Eins mit ihm.
Jeder geworfene Körper beschreibt eine Parabel — ein ge-
worfener Körper beschreibt nothwendig eine Parabel , will
wiederum dasselbe sagen; es ist die causale Nothwendigkeit
der nach festen Gesetzen wirksamen Kräfte, welche allein das
allgemeine ürtheil trägt.
Wo ein solches "ürtheil verneint wird : da wird die Noth-
wendigkeit verneint, und gesagt, das Subject könne auch ohne
das Prädicat sein ; was die traditionelle Lehre durch das par-
ticuläre ürtheil — Einige Materie ist nicht schwer — aus-
drückt.
10. Wo allgemeine urtheile die wesentlichen Prädicate
der Dinge ausdrücken , treffen sie mit den erklärenden
ürth eilen zusammen, und es begegnet sich die logische Noth-
wendigkeit des ürtheils mit der im ürtheil ausgesprochenen
Nothwendigkeit der Sache. Denn indem das erklärende ür-
theil, während es den Gehalt einer Vorstellung angibt , doch
zugleich auf die Dinge hinaussieht, die dieser Vorstellung ent-
sprechen, gewinnt es reale Bedeutung, sobald in die Vorstel-
lung das Beharrliche und unveränderliche aufgenommen ist,
was mit dem Dasein eines bestimmten Subjects oder bestimmter
Subjecte nothwendig gegeben ist, die Vorstellung also dem
Wesen der Dinge entspricht. Das erklärende ürtheil:
Wasser ist flüssig, drückt nur den Gehalt der Vorstellung
eines Dings aus, das in bestimmten zufälligen Zuständen auf-
gefasst worden ist ; aber es trifft das Wesen des Stofi*es,
den wir Wasser nennen, nicht, weil der feste und der dampf-
förmige Zustand ebenso an ihm vorkommen, das Flüssigsein
nicht zu seinem Wesen gehört ; das ürtheil : Wasser ist Ver-
bindung von Sauerstofi" und Wasserstoff, ist zugleich erklärend
und Ausdruck des Wesens. Das Bestreben, beides vollkommen
in Einklang zu bringen, beherrscht die Aufgabe der Definition.
222 § 84. Die Möglichkeit. 265
§ 34.
Möglich im vollen realen Sinne ist nur das , was als
Aeusserung freier Subjecte dem Gebiete der Noth-
wendigkeit entrückt ist. Wo im Gebiete desNothwen-
digen von Möglichkeit die Rede ist, da kann es nur ge-
schehen, indem entweder die Dinge in Gedanken dem
zeitlichen Verlaufe ihrer wirklichen Existenz
entrückt und damit von den Bedingungen ihres wirklichen
Seins isoliert werden, um die Prädicate, die ihnen wirklich nur
im Zusammensein zukommen, doch als in ihrem bleibenden
Wesen begründet darzustellen , oder indem ein Theil der
Bedingungen isoliert betrachtet wird , von
welchen die Wirklichkeit des in einem Satze ausgesagten ab
hängt. Findet im letzteren Fall ein Nichtwissen der
Bedingungen statt, so geht das Urtheil über eine objective
Möglichkeit in die subjective Möglichkeit einer
Vermuthung und damit in den Ausdruck der üngewiss-
heit über.
Das Urtheil : Es ist möglich dass A B sei, steht in c o n-
tradictorischem Gegensatz zu dem Urtheil : Es ist
nothwendig dass A nicht B sei.
1. Indem wir den vieldeutigen Ausdruck »Möglich« unter-
suchen , unterscheiden wir zunächst die Möglichkeit des So-
seins, welche von einem Subjecte ausgesagt wird, von der
Möglichkeit seines Daseins. Jene spricht sich in den Sätzen
aus: A ist möglicherweise B, A kann B sein; diese in den
Sätzen : A ist möglich ; A kann sein. Die ersteren Urtheile
können wiederum theils von Einzelnem als solchem ausgesagt
werden, so dass ihre Subjecte bestimmte Dinge (Eigenschaften,
Thätigkeiten, Relationen bestimmter Dinge) sind , theils von
allgemein gedachten Subjecten.
2. Wird von einem Einzelnen ein Können ausgesagt :
so hat diese Aussage ihre ursprüngliche Stelle und ihre volle
Bedeutung unter der Voraussetzung freier S ubj ecte, die
26(3 Ii 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 228
als solche Macht haben, Verschiedenes zu thun, bei denen diese
Macht aber nur ausgeübt wird auf Geheiss des Willens und
auf Grund einer Wahl, etwas zu thun oder nicht zu thun, so
oder anders zu thun.
Der Gedanke verschiedener Thätigkeiten geht voran,
welche der Wille allein ausreicht zu verwirklichen ; welche
er verwirklichen werde, hängt von einer Entscheidung ab,
die weder von aussen nothwendig, noch eine nothwendige
Folge früherer Thätigkeit ist. Dieser Freiheit steht einerseits
gegenüber das Nicht-können, wenn dem Willen die reale
Causalität fehlt, das Gedachte zu verwirklichen; andrerseits
das Müssen, wo die Wahl abgeschnitten ist, und die Noth-
wendigkeit die Bahn des Thuns vorschreibt. Das Nicht-kÖnnen
ist aber genauer betrachtet nur eine andere Form des Müssens,
das Unterlassen-müssen.
3. Das Verhalten eines freien Subjects zu den Thätigkeiten
zwischen welchen es eine Wahl hat, zeigt eine in die Augen
springende Aehnlichkeit mit dem Verhalten des urtheilenden
Subjects zu verschiedenen Hypothesen, deren keine es noth-
wendig zu bejahen oder zu verneinen findet. Hier wie dort
der in Gedanken entworfene Act, dessen wirkliche Vollziehung
noch nicht stattgefunden hat; dort wie hier die Frage: was
soll ich thun? Aber während das Bejahen oder Verneinen
erst eintreten kann, wo die Nothwendigkeit sich zeigt, und
dadurch dem Gebiete des freien Thuns entrückt ist, ist es in
diesem die undeterminierte und willkürliche That, einen der
Gedanken zu verwirklichen und damit dem anderen die Wirk-
lichkeit zu versagen. Es handelt sich nicht um die meta-
physische Wahrheit dieser Ansicht, sondern um die Voraus-
setzungen, welche den Gedanken des Möglichen in diesem
Gebiete bestimmen. Während dort die verschiedenen Hypo-
thesen nicht zu wirklichen Urtheilen werden können, und, so
lange die Wahl besteht, das Urtheil unmöglich ist, liegt hier
im Willen die Kraft der Verwirklichung, welche sich zu allen
gleich verhält, und sie ebendamit als realiter möglich er-
scheinen lässt. So sprechen wir von der realen Möglichkeit
eines Entwurfs, eines Plans, wenn wir uns überzeugt haben,
dass alle Bedingungen seiner Verwirklichung in unserer Ge-
224 § 34. Die Möglichkeit. 267
walt sind, und seine Verwirklichung nur noch von dem Wol-
len abhängt.
Darum ist der wahre Gegensatz des realiter Nothwen-
digen allein das aus Freiheit hervorgehende; diesem allein
kommt es zu nicht nothwendig zu sein. Nicht umsonst ver-
knüpft die Sprache in dem Stamme des Möglichen das Wollen
mit dem Können.
4. Die Vorstellung des Möglichen dehnt aber ihren Be-
reich aus auch auf das Unfreie. ,Denn auch für dieses gibt es
eine Betrachtungsweise, die es dem Freien vergleichbar macht.
Auch das unfreie Ding ist in verschiedener Weise thatig,
sofern es veränderlich ist, und die Nothwendigkeit ihm nicht
zu allen Zeiten dasselbe zu sein und zu thun vorschreibt.
Wenn w i r in seine Zukunft sehen, so liegt eine Manigfaltig-
keit verschiedener Prädicate vor uns, welche den Gedanken
einer Wahl zwischen denselben erwecken. Die Sonne wird
abwechselnd scheinen und von Wolken verhüllt sein, der Bach
wird frieren, und ein andermal vertrocknen ; unser die Zukunft
vorbildendes Denken schwankt hin und her zwischen verschie-
denen Prädicaten. Freilich, welche dieser Prädicate in einem
bestimmten Zeitpunkt wirklich eintreten werden, hängt nicht
von der Selbstentscheidung des Dings ab, sondern ist durch
Nothwendigkeit bestimmt; entweder bloss durch die Noth-
wendigkeit seines eigenen Wesens, das eine bestimmte Ent-
wicklung durch verschiedene Stadien hindurch vorschreibt, und
dann muss es alles das werden, was es werden kann, und es
ist nur der Unterschied der Zeit, der nöthigt, das Künftige
nicht als ein Seiendes, sondern als ein bloss der Möglichkeit
nach gesetztes zu bezeichnen — oder durch die gemeinsame
Nothwendigkeit des Wesens und der Umstände; und indem
wir die manigfaltigen Combinationen der Umstände und ihren
wechselnden Verlauf nicht kennen, oder von ihnen absehend,
das zeitlich Succedierende in Gedanken zusammenfassend neben-
einanderstellen, steht es uns gegenüber wie ein freies Wesen,
dessen künftige Entscheidungen wir nicht kennen, so dass
seine wirklichen Zustände uns wie Ausflüsse seiner Willkür
und Laune entgegentreten.
Die erstere Betrachtungsweise gilt vom Ganzen der Welt,
268 ^. 6- Möglichkeit und Nothwendigkeit. 225
soweit wir sie unabhängig von der Freiheit denken; in ihr
liegt der gesammte Grund zu allem, was in Zukunft sein und
geschehen wird, was aber noch nicht wirklich ist. Dies ist
die volle Möglichkeit, die potentia im prägnanten Sinn.
Die zweite Betrachtungsweise gilt von dem Einzelnen,
das im Zusammenhang der Welt steht, und dessen Wesens-
entfaltung durch Umstände bestimmt und auch von Umständen
gehindert ist; sofern es den partiellen Grund dessen enthält,
was sein wird, kommt ihm die blosse Möglichkeit der künf-
tigen Zustände zu. So kommt dem Samen die Möglichkeit
zu. Pflanze zu werden.
Die vollkommen objective und reale Bedeutung hat dieses
»Können« übrigens nur da, wo wir sicher sind, dass unter
bestimmten Umständen das Prädicat wirklich eintreten wird,
weil von der Natur des Subjects der Umkreis von Prädicaten
abhängt, welche es unter verschiedenen Umständen annehmen
wird; wir entnehmen im Allgemeinen der Erfahrung der Ver-
gangenheit unsere Erkenntniss dessen, was ein Ding unter
verschiedenen Umständen sein kann, aber wir meinen eine
sichere Erkenntniss auszusprechen, wenn wir sagen, dass der
Mond verfinstert werden kann.
^Besonders deutlich wird dieser Sinn des Könnens, wo
wir von unsern Subjecten im Allgemeinen reden. Wasser
kann frieren und verdunsten — Eisen kann geschmolzen wer-
den — Kochsalz ist in Wasser löslich u. s. w. — enthalten
vollkommen bestimmte und positive Aussagen, die meinen eine
Eigenschaft dieser Subjecte zu treffen ; ja es gibt gar keinen
andern Weg, die veränderlichen Eigenschaften auf eine allge-
meine Weise auszusagen, ohne dass über das Subject hinaus
auf die Bedingungen und Ursachen gegangen wird, welche die
wechselnden Zustände bestimmen. Indem ich die Vorstellung
eines Dings is<5liere und von den Bedingungen der Existenz,
unter denen das Wirkliche immer steht, in Gedanken loslöse
und für sich festhalte, bleiben ihm zunächst nur die Eigen-
schaften, welche sich nicht von ihm lostrennen lassen, weil
sie wesentlich sind ; aber indem der Gedanke den Umkreis der
Veränderungen durchläuft, welche unter wechselnden Verhält-
nissen eintreten werden und müssen und sie nur auf das all-
226 § 34. Die Möglichkeit. 269
gemein gedachte Ding bezieht, verlegt er durch Ausdrücke,
welche ein Können, Vermögen, Fähigkeit u. s. w. bezeichnen,
einen beharrlichen Grund auch des Wechselnden in das Sub-
ject ; nur dass dieser Grund für sich nicht ausreicht, die Wirk-
lichkeit herbeizuführen, sondern seine Ergänzung von den
Umständen erwarten muss. Je mehr aber sich alle erkenn-
baren Eigenschaften der Dinge in Relationen zu andern auf-
lösen, desto mehr vermögen wir ihre unveränderliche Beschaffen-
heit nur durch das auszudrücken, was sie unter wechselnden
Umständen sein können.
Ganz analog sind die Möglichkeitsurtheile, welche die
Zulässigkeit weiterer Determinationen an einer allgemeinen
Vorstellung aussprechen. Was dort in die zeitliche Reihe
einander folgender Zustände auseinandergeht, spaltet sich hier
in die Vielheit der Vorstellungen, die ein gemeinschaftliches
Element enthalten, das aber, um einem bestimmten Dinge
congruent zu sein oder überhaupt als einzelnes vorgestellt
werden zu können, weiterer Bestimmung bedarf. Ein Dreieck
kann spitzwinklich, rechtwinklich, stumpfwinklich sein. Mit
den Bestimmungen, welche ich bei dem Worte Dreieck denke,
ist noch keine anschauliche Figur gegeben; um eine solche
vorzustellen, gehört ein bestimmtes Verhältniss der Seiten und
Winkel dazu, und indem ich die verschiedenen Bestimmungen
construierend versuche oder aus der Erinnerung mir vergegen-
wärtige, legt mir die allgemeine Vorstellung die Wahl ver-
schiedener näherer Bestimmungen vor. Mit den Eigenschaften
eines Thieres, welche den Inhalt der Vorstellung Pferd aus-
machen, ist eine bestimmte Farbe nicht nothwendig verbunden.
Das Pferd kann schwarz, weiss, braun u. s. w. sein. Sofern
es sich bloss um den Gehalt meiner Vorstellung handelt, sind
diese Urtheile vollkommen bestimmte Aussagen über die
Manigfaltigkeit der Unterschiede ; sofern sie von der Natur des
Seienden reden wollen, drücken sie ebenso eine reale Möglich-
keit aus, welche mit der Organisation eines bestimmten Thiers
den Wechsel der Farbe verknüpft; erst auf ein bestimmtes
Einzelnes angewendet, geht das Urtheil in die problematische
Bedeutung des Nichtwissens über ; wovon ich bloss weiss, dass
es ein Pferd ist, von dem kann ich nicht behaupten, dass es
0
270 ^ 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 227
schwarz, weiss u. s. w. ist; wovon ich bloss weiss, dass es
ein Dreieck ist, von dem weiss ich nicht, ob es rechtwinklich
ist oder nicht.
Dieses Urtheil: A kann B sein n. s. w. ist, wo es sich
nm allgemein vorgestellte Snbjecte handelt, der adäquate Aus-
druck des sog. particulären Urtheils.
6. Es ist mit dem Sinne der bisher betrachteten Urtheile,
auch wenn sie Einzelnes treffen, gegeben, dass sie unbedingt
gültig sein wollen und nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt
ihre Gültigkeit einschränken. Einen anderen Sinn gewinnt
die Möglichkeit und das Können, wo vom einzelnen Fall die
Rede ist, und ausgesagt wird, was heute und hier sein und
geschehen kann. Wenn gesagt wird: es kann heute Nacht
frieren — der Kranke kann gerettet werden — die Antwort
kann heute eintreffen u. s. f. — so überlegt unser Denken
die Zukunft nicht, indem es sein Subject isoliert, sondern im
Gegentheil, indem es die eben gegenwärtigen Umstände über-
sieht, und aus ihnen heraus den Erfolg vorauszuberechnen
unternimmt. Aber der Mangel der Kenntniss, sei's aller Um-
stände, sei's der genauen Gesetze, nach denen sie wirken, ver-
bietet diese sichere Voraussagung ; und die [Jrtheile haben nur
den Sinn : der Kranke wird gerettet werden, wenn das richtige
Heilverfahren angewendet wird , wenn keine unerwartete
Störung eintritt u. s. w. Ein Theil der Bedingungen also,
von denen der thatsächliche Erfolg abhängt, ist bekannt und
liegt dem Urtheil zu Grunde; und indem der Kreis der be-
kannten und gewissen gegen die unbekannten und ungewissen
abgeschätzt wird, beginnt die Berechnung der Wahrscheinlich-
keit dessen, was wir als möglich bezeichnen. Aber möglich
ist es für uns doch bloss wegen unseres Nichtwissens; und
eben damit führen diese Urtheile doch ganz unvermerkt hin-
über zu denen, welche bloss die subjective Unmöglichkeit
einer Entscheidung aussagen ; indem es scheint, als beschäf-
tigen sie sich mit den Dingen, beschäftigen sie sich in der
That nur mit dem Mass unserer Erkenntniss der Dinge, und
sind der Ausdruck der Resignation unseres beschränkten
Wissens. Das wird ganz deutlich da, wo genau in denselben
Ausdrücken die Möglichkeit von dem schon Bestehenden und
228 § 34. Die Möglichkeit. 271
Vergangenen ausgesagt wird. Wenn der Historiker aus zer-
streuten oder widersprechenden Nadirichten ein Factum auf-
klären, oder der Richter, der einen Augenschein aufniaimt,
aus den Spuren der That den genauen Hergang erforschen
will, da bieten sich verschiedene Combinationen , die möglich
sind; es kann so, kann aber auch so gegangen sein. Dieses
Können ist der Ausdruck subjectiver ünentschiedenheit ; und
seine Bedeutung liegt in der Abweisung einer entscheidenden
Feststellung in entgegengesetztem Sinn. Wenn der iAnge-
klagte trotz gravierenden Judicien unschuldig sein kann : so
heisst das nur soviel, dass die Judicien nicht ausreichen, die
Schuld zu beweisen; dass das Urtheil: er ist schuldig, nicht
nothwendig, also auch nicht möglich ist ; aber von einem
Können im objectiven Sinne ist nicht die Rede, da objectiv
schon absolut entschieden ist, ob die Bejahung oder die Ver-
neinung gilt.
Nur ist die Behauptung, das und das sei möglich, um
so leerer und wohlfeiler, je grösser der Umfang unserer Ün-
kenntniss ist, je weniger positive Gründe wir anzugeben haben,
welche das Vermuthete hervorbringen. Wenn man sagt, eine
spontane Zeugung sei möglich : so ist das insofern richtig, als
wir nicht beweisen können, dass sie unmöglich ist; aber in
der uns bekannten Naturordnung sprechen alle Gründe da-
gegen, und jene Möglichkeit liegt nur in den dunklen Räumen,
in welche unser Wissen noch nicht vorgedrungen ist.
7, Bloss auf diesem subjectiven Gebiete gilt, dass mög-
lich sei, was keinen Widerspruch enthalte, beziehungsweise
auf keinen Widerspruch fübre. Da jede als möglich ange-
nommene Hypothesis sofort vernichtet wird, wenn sie mit
einem anerkannt gültigen Satze in Widerspruch tritt : so kann
sie nur solange als Annahme bestehen, als kein Widerspruch
gegen eine gültige Wahrheit erkannt, d. h. ihr Gegentheil
nicht erwiesen ist. Mit dem was realiter stattfinden kanu,
hat aber diese Widerspruchslosigkeit gar nichts zu thun.
8. Dennoch hat man versucht, die Widerspruchslosigkeit
auch in anderem Sinne zum Kriterium der M()glichkeit zu
machen — da vor allem, wo es sich nicht um die Möglich-
keit des So und So seins, sondern um die Möglichkeit des
272 I. 6. Möglichkeit und Nothwendigkeit. 229
Seins überhaupt handelt. In diesem Sinne hat vor al lern Leib-
niz das Mögliche gefasst ; es ist dasjenige, was denkbar (con-
cevable) ist, weil es keinen Widerspruch enthält; in diesem
Sinne hat er den Nachweis der Möglichkeit Gottes verlangt,
ehe man sein Dasein beweise. Allein diese Bestimnmng ist
eine vollkommen leere, weil erst festgestellt werden müsste,
was sich, als Bestimmung eines und desselben Dings gedacht,
widerspricht und was nicht (§ 22. S. 128 ff.); und Leibniz
muss ausserdem dieser abstracten Bestimmung ihre Beziehung
zur Realität erst dadurch sichern, dass er den Satz postuliert
alles Mögliche verlange die Existenz, und existiere also, wenn
nichts sie verhindere*). Gegen diesen forcierten Uebergang
aus dem bloss Denkbaren zu dem, von dem die Möglichkeit
soll behauptet werden können , dass es sei , richtet sich die
Kritik Kant's (Postulate des empir. Denkens überhaupt), welche
den Begriff des Möglichen durch die Beziehung auf die for-
malen Bedingungen der Erfahrung einschränkt. Allein auch
Kant lässt dem Begriffe noch zu grossen Spielraum , sofern
er ihn doch in demselben Sinne wie Leibniz als Prädicat
von Dingen brauchen will. Dem gegenüber ist auch hier
festzustellen, dass immer nur von dem im ürtheil ausgespro-
chenen die Möglichkeit behauptet werden kann, alle Möglich-
keit damit so gut wie alle Nothwendigkeit eine hypothetische
ist, welche bereits ein Seiendes voraussetzt. Wenn es mög-
lich sein soll, dass etwas sei: so hat diese Behauptung, wenn
sie reale Gültigkeit beansprucht, nur dann Sinn, wenn sie
eine Kraft aufweist , das Ding hervorzubringen , und zeigt,
dass die bestehende Weltordnung keine unbedingte Einsprache
dagegen erhebt. Dadurch allein scheidet sich das mögliche
Ding von der möglichen Vorstellung oder dem 'möglichen
Begriffe. Eine absolute Möglichkeit hebt sich selbst auf.
9. In einem besonderen Verhältnisse steht das Mögliche
zur Negatio n.
Es erscheint als selbstverständlich, dass mit der Möglich-
keit, dass A B sei, zugleich auch die Möglichkeit behauptet
werde, dass A nicht B sei; denn eben dadurch steht ja das
*) De verit. primit. Erdm. p. 99. vgl. Princ. phil. § 45. Erdm. p. 708.
230 § 34. Die Möglichkeit. 273
bloss Mögliche dem Nothwendigen gegenüber , dass es auch
nicht eintreten kann. Allein wenn man näher zusieht, so er-
leidet der Satz, dass jedem A potest esse B ein gleich gültiger
Satz A potest non esse B zur Seite trete , wesentliche Ein-
schränkungen, wenn man sich im Gebiete sinnvoller Aussagen
und nicht leerer Formeln bewegen will.
Wo nemlich von dem Veränderlichen, Entwicklungsfähigen
und von aussen Bestinambaren das zusammenfassende Denken
seine verschiedenen Phasen als möglich prädiciert, hat die Be-
hauptung, welche auch die Verneinung für möglich erklärt,
keinen Sinn , oder ihre Gegenüberstellung alteriert den Sinn
des ursprünglichen Satzes. Kochsalz kann in Wasser gelöst
werden, will eine Eigenschaft des Kochsalzes aussagen ; was
soll daneben der Satz heissen : Es ist möglich, dass Kochsalz
nicht in Wasser gelöst werde? Ein Paar Mäuse kann in
wenigen Jahren Millionen von Nachkommen haben, will das
Mass der Vermehrungsfähigkeit und damit ein organisches
Gesetz aussprechen ; was soll dagegen der Satz, dass das Paar
auch diese Millionen Nachkommen nicht haben könne? Wo
die positive Behauptung ausdrücklich ihr Subject isoliert von
den wechselnden Bedingungen, hat es keinen Sinn, nun diese
gegen sie zu kehren , und mit einemmale den Standpunkt in
der Manigfaltigkeit des wirklichen Geschehens zu nehmen.
Wo jedoch vom einzelnen Falle die Rede ist, in zeit-
lich gültigen Urtheilen, tritt mit gleichem Sinne die Möglich-
keit des Nichtseins zur Seite. Die Antwort kann noch heute
eintreffen, sie kann aber auch erst morgen oder gar nicht ein-
treffen ; es kann heute Nacht frieren, es kann aber auch der
Frost ausbleiben. Worauf sich die Verneinung gründet, ist
die Voraussetzung , dass neben den bekannten Verhältnissen,
welche den Erfolg herbeiführen würden, auch andere da sein
können, die ihn aufheben oder verhindern, Saumseligkeit des
Schreibers oder der Beförderung im ersten Falle, das Eintreten
einer wärmeren Luftströmung im zweiten. Dieses Verliält-
niss zwischen Ursachen, welche einen Erfolg herbeiführen, und
Ursachen, welche ihn aufheben und verhindern, ist vorausge-
setzt, wo Möglichkeit des Seins und Nichtseins wie gleichbe-
rechtigte Sätze gegeneinander treten. Der Grund davon ist
Big wart, Logik. 1. 2. Auflage. 18
274 I. 6- Möglichkeit und Noth wendigkeit. 231
aber nur unsere ünkenntniss darüber, ob die begünstigenden
oder die verhindernden Ursachen wirklich vorhanden und wirk-
sam sind.
Dasselbe findet statt , wo ein Gattungsbegriff zu aus-
schliessenden speciellen Bestimmungen in Beziehung gesetzt
wird : Ein Dreieck kann gleichseitig sein und nicht gleichseitig
sein — wenn ich nur weiss, dass es ein Dreieck ist, habe
ich keinen Grund die Gleichseitigkeit zu bejahen oder zu ver-
neinen; der allgemeine Begriff lässt beide Möglichkeiten offen.
10. Die Verneinung der Möglichkeit aber führt auf die
Nothwendigkeit, die Verneinung der Nothwendigkeit auf die
Möglichkeit.
a. Es ist möglich, dass A B sei, widerspricht dem
Es ist nicht möglich, dass A B sei , und dies ist gleich
Es ist nothwendig, dass A nicht B sei.
b. Es ist nothwendig, dass A B sei, widerspricht dem
Es ist nicht nothwendig, dass A B sei, und dies ist gleich
Es ist möglich, dass A nicht B sei.
So entsteht die doppelte Antiphasis , welche der doppelten
Antiphasis des allgemein bejahenden und particulär vernei-
nenden , und des allgemein verneinenden und particulär be-
jahenden Urtheils parallel geht.
Allein wie dort ist genau darauf zu achten, dass die Formeln
in demselben Sinn interpretiert werden , wenn nicht Wider-
sinniges folgen soll.
Sie gelten, wenn möglich und nothwendig in subjectivem
Sinne von einer Hypothese gebraucht werden ; sie gelten ebenso,
wenn nothwendig und möglich gleichmässig von der Wesens-
nothwendigkeit der einen und der realen Möglichkeit anderer
unter sich entgegengesetzter Bestimmungen gebraucht werden ;
sie gelten endlich , wenn im zeitlich gültigen Urtheil die
Möglichkeit und Nothwendigkeit im einzelnen Falle ausge-
sprochen wird.
11. Sehen wir auf die ganze Reihe der Erörterungen zurück,
zu welchen uns die Begriffe des Möglichen und Nothwendigen
führten : so hat sich uns die Urtheil sfunction darin in dop-
pelter Weise weiter entfaltet. Einerseits haben sich durch
das vermittelte Urtheilen die Stadien der Urtheilsbildung,
232 § 34. Die Möglichkeit. 275
welche das unmittelbare Urtheil mit Einem Schritte durchmisst,
bestimmt von einander abgesetzt; der blosse Versuch eines
Urtheils, die Frage ist. aufgetreten, und hat zur Reflexion über
das Verhältniss des urtheilenden Subjects zu dieser Frage ge-
führt, und durch den Gegensatz der Frage und Entscheidung ist
der innerste und wesentlichste Sinn alles Urtheilens, die Noth-
wendigkeit, ans Licht gezogen worden. Andererseits hat das
Urtheilen dadurch einen Schritt weiter gemacht, dass an die
Stelle einzelner einfacher Subjecte oder einer Anzahl von
solchen das im Urtheil selbst Ausgesprochene, die reale Ein-
heit von Subject und Prädicat Gegenstand neuer Prädicate,
zunächst des Nothwendigen und Möglichen wurde, und sich
damit neue Kategorieen offenbarten, welche insofern über den
zuerst gefundenen stehen, als sie diese zu ihrer Grundlage
haben und unter sich in Beziehung setzen , und ebendarum
nicht nur das Einzelne , sondern auch seinen Zusammenhang
erkennbar machen ; und damit der blossen Verneinung , die
sich ebenso auf eine urtheilsmässige Synthese bezieht, ein
positives Gegenstück gegenüberstellen.
Erkennen wir so als den Weg des Denkens , von dem
blossen Versuch, der Hypothese, dem Möglichen , zum Noth-
wendigen vorzudringen : so gewinnen damit auch die bestimm-
teren Formen ihre natürliche Bedeutung, welche dem ein be-
stimmtes Prädicat von einem Subjecte aussagenden oder ver-
neinenden Urtheil beigeordnet zu werden pflegen, das hypo-
thetische und disjunctive Urtheil. Jenes ist der reine Ausdruck
der Nothwendigkeit , dieses der erschöpfende Ausdruck sich
ausschliessender Möglichkeiten. Jenes setzt Mögliches in noth-
wendigen Zusammenhang, und schränkt von dieser Seite das
Gebiet der Möglichkeit durch die Nothwendigkeit ein; dieses
bereitet den Weg, durch die Verneinung bestimmter Möglich-
keiten die Nothwendigkeit der einen zu erreichen.
18*
Siebenter Abschnitt.
Das liypothetische und das disjunctiye Urtheil.
Die Gewohnheit der neueren Logik, die Urtheile nach
dem Gesichtspunkt der sog. Relation in kategorische
(A ist B, A ist nicht B), h^^pothetische (Wenn A ist,
ist B) und disjunctive(A ist entweder B oder C) einzu-
theilen , ist weder ursprünglich , noch lässt sie sich als er-
schöpfende Eintheilung der Urtheilsformen irgendwie begrün-
den *). Sieht man auf den Gehalt der Behauptung, so sind kate-
gorische und hypothetische, hypothetische und disjunctive Sätze
vielfach nur grammatisch verschiedene Ausdrücke desselben
Gedankens ; hält man sich aber an den sprachlichen Ausdruck,
so können hypothetische und disjunctive Urtheilsformen schon
darum keine coordinierten Arten der Urtheilsform überhaupt
sein, weil sie die kategorische Urtheilsform in sich schliessen ;
und gründet man den Unterschied auf das letztere, und stellt
den einfachen Urtheilen die zusammengesetzten gegenüber,
welche sprachlich als Satzverbindungen erscheinen : so stehen
dem hypothetischen und disjunctiven Urtheile noch eine Reihe
anderer Satzverbindungen zur Seite, von denen dann nicht ein-
zusehen ist, mit welchem Rechte die Logik sie ausschliesst.
In der That hat lange Zeit , nach dem Vorgang der
Stoiker, die Logik dem einfachen, in Einem Satze ausgedrückten
Urtheil das zusammengesetzte gegenübergestellt; und diese
zumal seit Kant verschollene Tradition ist in neuerer Zeit
z. B. von Ueberweg wieder aufgenommen worden.
Es lässt sich für eine Untersuchung , welche zunächst
*) Vergl. zum Folgenden mein Programm : Beiträge zur Lehre vom
hypothetischen Urtheil (Tübingen, Lauppj 1870-
234 § 35. Satzverbindungen und ihre logische Bedeutung. 277
das wirkliche Urtheilen analysieren will, und darum den sprach-
lichen Ausdruck als nächstes Untersuchungsobject vorfindet,
nicht umgehen , zuerst jene ältere Gewohnheit wieder aufzu-
nehmen ; um so weniger, da eine Menge von Miss Verständnissen
hinsichtlich des hypothetischen Urtheils besonders aus der
mangelhaften Besinnung über die logische Bedeutung der sprach-
lichen Formen hervorgegangen sind.
I. Die verscMedenen Arten von Satzverbindungen und ihre
logische Bedeutung.
§ 35.
Wenn Redeweisen auftreten, in welchen durch Partikeln,
Conjunctionen und Relativa verschiedene
Sätze verknüpft werden, so geschieht es entweder
so, dass vollständige Sätze, die für sich verständlich
ein bestimmtes Urtheil aussprechen, in eine Beziehung zu ein-
ander gesetzt werden , oder so , dass ein Satz ein inte-
grierender Bestandtheil eines andernSatzes
wird.
In jenem Falle ist die Beziehung eine bloss sprach-
liche, wie bei den Relativsätzen, oder sie drückt ein s u b-
jectives und individuelles Verhältniss aus,
in welchem für den Redenden die Aussagen stehen, oder sie
hat den Werth eines eigenenUrtheils, dessen Prä-
dicat entweder das logische Verhältniss der durch
die Sätze ausgedrückten Synthesen, oder das Verhält-
nissdes in den Sätzen Ausgesprochenen (der
Zustände, Vorgänge u. s. w. , welche durch die Sätze ausge-
drückt werden) angibt.
In diesem Falle wird entweder über das grammatisch ab-
hängige Urtheil selbst eine Aussage gemacht , vermittelst
modaler Relationsprädicate , oder über das in demUr-
theile Ausgedrückte.
278 '» "^^ ^*s hypothetische und disjunctive ürtheil. 235
1. Die einfachste und am leichtesten analysierbare Art
der Satzverbindungen ist diejenige , bei welcher zwei Sätze,
deren jeder für sich verständlich ein selbstständiges und für
sich gültiges Urtheil ausdrückt, noch ausserdem in eine Be-
ziehung zu einander gesetzt werden, durch welche mehr aus-
gedrückt werden soll , als durch das einfache Aussagen des
einen Satzes nach dem andern. Das sprachliche Mittel diese
Beziehung herzustellen sind die Partikeln : und es handelt sich
um die Bedeutung dieser.
a. Dass die Partikel »und«, wie alle ihr gleich werthigen
Ausdrücke, nichts zu leisten vermag, als zu sagen dass der
Redende jetzt eben beide Urtheile^ in seinem Bewusstsein zu-
sammenfasst, haben wir schon oben (S. 166) gesehen; und
da dieses subjective Factum schon durch die Thatsache con-
statiert ist , dass derselbe beide Satze ausspricht , so kommt
an und für sich diesen bloss anreihenden Partikeln eine ob-
jective Bedeutung nicht zu, wenn sie auch die Function über-
nehmen können, eine entsprechende Folge in dem dargestellten
Objecte anzudeuten (also z. B. die Zeitfolge in der Erzählung) ;
sie haben also nicht den Werth eines Urtheils.
b. Auch die Adversativpartikeln vermögen nicht
als Zeichen einer bestimmten objectiven Aussage zu gelten.
In der Wechselrede kehren sie sich allerdings häufig gegen
einen ausgesprochenen Satz , um ihm eine Einwendung , Be-
schränkung oder Widerlegung entgegenzustellen ; aber es
kommt ihnen doch nicht die Kraft zu, ihn zu verneinen, denn
ebenso oft weisen sie nur ab, was durch irgend eine Combination
aus jenem gefolgert oder vermuthet werden könnte. In der
Rede eines Einzigen aber gebraucht, haben sie einerseits die-
selbe Function, einem etwa Erwarteten entgegenzutreten, andrer-
seits führen sie nur irgendwie Contrastierendes oder Uner-
Avartetes ein, einen bejahenden Satz nach einem verneinenden
oder umgekehrt, ein unerwartetes Prädicat.
Während also die Verneinung eine bestimmt ausgespro-
chene Behauptung aufhebt, wenden sich die Adversativpar-
tikeln häufig zuvorkommend gegen verschwiegene und bloss
als möglich vorausgesetzte Combinationen, und die Verneinung,
236 § 35. Satzverbindungen und ihre logische Bedeutung. 279
die sie aussprechen, ist darum keine bestimmte, die sich in
einem eigenen Urtheil fixieren Hesse.
c. Anders ist es mit den sog. Causalpar tikeln
und Folgepartikeln. Denn diese behaupten, wo sie das
logische Verhältniss der Urtheile angeben, dass das eine
ürtheil vom andern logischer Grund , beziehungsweise Folge
sei; wo sie aber das Verhältniss des im Urtheile Au s-
gesprochenen treffen wollen, dass das im einen Ur-
theil Behauptete der reale Grund, beziehungsweise die reale
Folge des im andern Urtheile Behaupteten sei. Sie stellen
also das Verhältniss eines logisch oder real nothwendigen Zu-
sammenhangs her, und sind insofern einem eigenen bestimmten
Urtheile äquivalent. Es wird kalt , denn das Thermometer
fällt — es wird kalt, darum fällt das Thermometer — sind
je drei vollständige Urtheile : Es wird kalt — das Thermo-
meter fällt — jenes Urtheil ist aus diesem erschlossen; es
wird kalt — das Thermometer fällt — jene Veränderung ist
die Ursache dieser Veränderung.
d. An die Causalpartikeln, welche eine reale Nothwendig-
keit aussagen, schliessen sich alle die Bestimmungen , welche
die realen Verhältnisse der in den Sätzen ausgespro-
chenen Zustände, Ereignisse u. s. f. ausdrücken; so nament-
lich die Zeitverhältnisse des Erzählten, Gleichzeitigkeit, Folge
u. s. f. und die Ortsverhältnisse. Auch diese vertreten be-
stimmte Relationsurtheile und sind durch solche ausdrückbar.
e. Unter dem Namen der exponibeln Urtheile hat
die frühere Logik solche aufgeführt , welche, scheinbar eine
einzige Aussage darstellend ^ in der That mehrere Urtheile
enthalten. Dahin gehören vor allem diejenigen mit restrin-
gierenden Wörtern — nur, allein u. s. w. Nur der Weise
ist glücklich — sagt einmal, dass der Weise glücklich ist,
und dann, dass wer nicht weise ist, nicht glücklich ist, oder
dass alle Glücklichen Weise sind.
2, Die Grammatik unterscheidet Verbindungen coordi-
nierter und subordinierter Sätze ; allein dieser Unter-
schied trifft in dieser Allgemeinheit keine wesentliche Differenz
des Gedankens ; denn obgleich die grammatische Form zu
bedeuten scheint, dass es dem Redenden um die Behauptung
280 1» '^' ^^** hypothefciache und disjunctive ürtheil. 237
des Hauptsatzes zu thun sei, und die abhängigen Sätze nur
um dieses willen angeführt werden, nicht um sie jetzt aufzu-
stellen, sondern nur um an sie als schon geltende zu erinnern :
so hat doch die lebendige Sprache diesen Unterschied coordi-
nierter und subordinierter Sätze nicht streng festgehalten, son-
dern braucht die Conjunctionen in demselben Sinne wie die
coordinierenden Partikeln, höchstens mit einem leichten Unter-
schiede in der subjectiven Betonung der einzelnen (ilieder,
dem aber eine objective Bedeutung für das Ausgesagte selbst
nicht zukommt. Dasselbe Verhältniss, das die Partikel »denn«
bezeichnet, drückt ebenso ein »weil« aus ; dasselbe Verhältniss,
das durch »zugleich« seinen Ausdruck findet, kann ein »wäh-
rend« kundgeben.
So ist insbesondere die Bedeutung der relativen Ver-
bindung eine manigfaltig abgestufte. Wo die Relativa an
ein schon für sich bestimmtes Wort sich anschliessen, da ist
die Bedingung ihrer Anwendbarkeit nur, dass über einen Be-
standtheil einer Aussage eine weitere Aussage gemacht werden
könne, wobei das Relativ, indem es die ausdrückliche Wieder-
holung des bestimmt bezeichnenden Wortes erspart , diese
Identität noch deutlicher herausspringen lässt, als es durch
die Nebeneinanderstellung geschehen würde ; aber die beiden
Aussagen, welche so das Relativ aneinanderreiht, stehen in
den verschiedensten Verhältnissen. Die entschiedenste Unter-
ordnung findet statt, wo der Relativsatz nur dazu dient, ein
Element des Hauptsatzes noch durch Erinnerung an Bekanntes
kenntlicher zu machen und also der Aussage, die er einführt,
ein selbstständiger Werth gar nicht zukommt, sie vielmehr
einem attributiven Adjectiv oder einer Apposition u. dgl. äqui-
valent ist ; eine vollkommene Gleichstellung, wo der Relativ-
satz eine selbstständige und neue Behauptung (am häufigsten
im Lateinischen) einführt. Ein eigenes Urtheil zu vertreten
kommt aber dabei dem Reiativum nicht zu; alles was ausge-
sagt wird, wird in den beiden Sätzen gesagt, die es verknüpft ;
seine Function ist nur die sprachliche, die Identität der sprach-
lichen Bezeichnung festzustellen. A, welches B ist, ist C sagt
nicht mehr als A ist B und A ist C ; es lässt nur keinen Zweifel,
dass das A des einen Satzes dasselbe A sei, wie das des andern.
\
238 § 35. Satzverbindungen und ihre logische Bedeutung. 281
Eine ganz andere Function nehmen die Relativsätze da
an , wo durch sie überhaupt erst ein für sich unbestimmtes
Element des Satzes bestimmt wird, sie also als Theil der
Subjects- oder Prädicatsbezeichnung auftreten, eine allgemeinere
Bezeichnung auf ein bestimmtes Gebiet einschränken, — wo
sie also determinierend sind. Der Satz : diejenigen Men-
schen, welche in kalten Klimaten leben , bedürfen reichlicher
Nahrung, gibt erst durch den Relativsatz das Subject an, ähn-
lich wie in andern Fällen ein determinierendes Adjectiv —
die elastischen Körper werfen den Stoss zurück u. s. w. So
kann die einfache Bezeichnung durch ein bestimmteres Wort
vermittelst des Relativs umschrieben werden : diejenigen Paralle-
logramme, welche rechtwinklich und gleichseitig sind, ist so-
viel als die Quadrate.
Daran schliessen sich die unbestimmten Relative
(wer und was, dcszic, av, quisquis) die nichts vermögen als zu
sagen, dass die Subjecte, von denen das eine Prädicat gilt,
auch das andere haben , so dass der Ausdruck damit einem
allgemeinen Urtheile äquivalent wird, und zwar sowohl in em-
pirischer als in unbedingter Allgemeinheit gemeint sein kann ;
wie umgekehrt jedes allgemeine Urtheil sich in solcher Form
ausdrücken lässt. Der Mensch ist sterblich — alle Menschen
sind sterblich — was ein Mensch ist, ist sterblich — meinen
alle schlechterdings dasselbe, die nothwendige Zusammenge-
hörigkeit des Menschseins mit dem Sterblichsein ; nur dass die
Form »was ein Mensch ist, ist sterblich« die Benennung,
welche in dem »alle Menschen« als vollzogen gedacht ist, erst
vor unsern Augen vollzieht, und im Zusammenhang damit es
unbestimmt lässt , welches Einzelne und ob ein Einzelnes so
benannt werden könne; während die Formel »alle Menschen«
das Vorhandensein ihrer Subjecte zwar nicht behauptet, aber
doch der gewöhnlichen Redeweise nach voraussetzt.
Ganz ähnliche Bewandtniss hat es mit wenn und w o als
Zeit- und Ortsrelativen. Die deutsche Sprache hat den Gebrauch
des »Wenn« von einem bestimmten einzelnen Zeitpunkte der
Vergangenheit verloren , welchen die englische noch sich er-
halten hat ; indem sie es zunächst von der Zukunft gebraucht,
haftet ihm vielfach eine gewisse Unbestimmtheit und die Un-
282 I» 7. Das hypothetische und disjunctive ürtheil. 239
Sicherheit des wirklichen Eintretens des Zukünftigen — wenn
auch oft nur wie ein leichter Schatten — an, ohne dass es doch
etwas anderes ausdrücken wollte, als dass zu derselben Zeit,
zu der das eine geschieht , auch das andere geschehen wird.
(Wenn es zwölf Uhr schlägt, beginnt das neue Jahr ; wenn
der Krieg beendigt sein wird, werden wir zurückkehren). Dieses
temporale Wenn ist daran zu erkennen, dass im Nachsatz ein
temporales »dann« gesetzt werden kann. Wo es als allgemeines
Relativ (jedesmal wenn, so oft als) steht, meint es wiederum
direct nichts als die Allgemeinheit des Zugleichseins zweier
Zustände oder Ereignisse, mag diese nun rein empirisch als
Ausdruck einer ausnahmslosen Wahrnehmung, oder schlechthin
allgemein ausgesprochen werden. (Wenn die Dämmerung
eintritt, beginnen die Fledermäuse ihren Flug). Sofern aber
das gleichzeitige Eintreten zweier Ereignisse in der Zukunft
oder das unbedingt allgemeine Zugleichstattfinden derselben
nur behauptet werden kann , wenn sie irgendwie noth wendig
zusammenhängen, dehnt die ursprüngliche Zeitpartikel ihre Be-
deutung auf diesen noth wendigen Zusammenhang aus, und
wird so zur Bedingungsconjunction im hypothetischen ürtheil,
wovon später. Denselben Process macht das allgemeine »wo«
durch.
3. Von den bisherigen Verbindungen sind die andern
zu unterscheiden, in welchen einSatz als solcherBe-
standtheil eines anderen Satzes, sei es als Sub-
ject, sei es als Relationspunkt (Object) wird ; und zwar erscheint
der Satz entweder als Vertreter des Urtheils, sofern es sub-
jectiv gedacht oder ausgesprochen wird, oder als Vertreter des
im ürtheil Ausgedrückten ; und dieses kann wiederum theils
als ein bloss Gedachtes und Angenommenes , theils als ein
objectiv und thatsächlich Gültiges erscheinen.
a. Behauptungen, deren Bestandtheile Sätze sind, sind
diejenigen, in welchen modale Relationsprädicate sich
auf ürtheile beziehen. Die Behauptungen , dass ein ürtheil
wahr, falsch, glaublich, zweifelhaft, möglich, nothwendig sei;
die Behauptungen, dass ich etwas glaube, verwerfe, bestreite,
bezweifle — beziehen sich alle auf eine durch einen Satz aus-
gedrückte Hypothesis, der ihre Beziehung auf mein Denken
240 § 35. Satzverbindungen und ihre logische Bedeutung. 283
oder auf das Denken Aller gegeben wird. In dieselbe Classe
gehören alle Finalsätze; wenn ich etwas thue, damit etwas
geschehe, so ist der Zweck zunächst als mein Gedanke hin-
gestellt , und die Behauptung trifft das Verhältniss eines in
ürtheilsform vorgestellten Erfolgs zu meinem Denken und
dem davon abhängigen Wollen.
Da jedem Urtheil als solchem bestimmte modale Relationen
nothwendig zukommen , so lassen sie sich auch immer von
ihm aussagen ; das Urtheil A ist B ist wahr , oder ist noth-
wendig, sagt nicht mehr, als die einfache Behauptung A ist
B ; ich behaupte, ich weiss, ich bin gewiss, dass A B ist, bebt
auch nur ausdrücklich hervor, was in der einfachen Behaup-
tung A ist B durch ihre Aufstellung schon liegt; nur ver-
wandelt jede derartige Wendung den Satz A ist B in den
Ausdruck eines bloss gedachten (Jrtheils , einer Hypothesis,
und verlegt den Vollzug des Urtheils in das modale Prädicat.
b. Die Behauptungen, deren Bestandtheile die in Satzform
ausgedrückten Zustände oder Ereignisse sind , unterscheiden
sich nur durch die sprachliche Wendung von denjenigen, welche
adjectivische oder Verbalabstracta unter ihren Elementen haben.
Ob ich sage: die grössere Warme des Sommers ist von dem
höheren Stande der Sonne abhängig, oder ob ich sage, dass
der Sommer wärmer ist hängt davon ab, dass die Sonne höher
steht — der Gedanke ist beidemal derselbe ; die Voraussetzung
dieser Aussage ist nur, dass von dem, was ursprünglich das
Urtheil auszudrücken die Aufgabe hat, neue Prädicate ausgesagt
werden können (vergl. § 13. S. 96. 97).
4, Aus dieser kurzen Uebersicht, die übrigens auf Voll-
ständigkeit keinen Anspruch macht , mag doch soviel abge-
nommen werden, dass die raanigfaltigen grammatischen Formen
der Satzverbindung keine neuen Arten der Urtheilsfunction
begründen, welche nicht auch in einfachen Urtheilen vorkämen
und durch solche ausdrückbar wären ; dass der Sinn derselben
sich immer durch Prädicate ausdrücken lässt , welche in ein-
fachen Aussagen vorkommen; und die logische Theorie hat
darum vollkommen Recht gehabt, die localen, temporalen u. s. w.
Satzverbindungen der Grammatik zu überlassen , welche den
sprachlichen Ausdruck des Gedankens betrachtet. Der Ausdruck
284 I> 7. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. 241
»zusammengesetzte Urtheile« ist ganz falsch und unglücklich ;
was aus Urthoilen zusammengesetzt ist , ist eine Verbindung
von ürtheilen, aber diese Verbindung ist darum nicht selbst
wieder ein Urtheil ; wo aber Sätze Bestandtheile eines Urtheils
sind, sind sie als solche keine Urtheile, d. h. sie werden nicht
eben jetzt als Aussagen vollzogen, sondern sie gehen entweder
als Hypothesen oder als schon fertige Resultate des ürtheilens
und damit als Zeichen des ira^ Urtheil Ausgedrückten in neue
Urtheile ein.
5. Wenn die logische Tradition aus allen Satzverbin-
dungen nur das sog. hypothetische und disjunctive Urtheil
ausgesondert hat : so ist sie von dem richtigen Gefühl geleitet
gewesen, dass es in allen anderen Fällen sich um die ver-
schiedenartigsten bestimmten Behauptungen, um Zuweisung
bestimmter Prädicate an bestimmte Subjecte handelt ; hier
aber um solche Aussagen über Hypothesen, welche für den
letzten Zweck alles Denkens, aus dem Subjectiven zum Objec-
tiven, aus dem Möglichen zum Nothwendigen zu kommen,
direct wichtig, und darum von ganz universaler Bedeutung
für alle Arten von Aussagen sind; so gewiss überall da, wo
nicht mit Einem Schlage ein bestimmtes Urtheil fertig ist,
sondern erst durch den Versuch die Wahrheit gewonnen werden
soll , die Reflexion über den Werth und die Bedeutung der
Hypothesen nothwendig wird. Das hypothetische und disjunctive
Urtheil treten so der Verneinung zur Seite, welche ebenso
ein Urtheil über ein versuchtes Urtheil ist, und treffen das
Stadium des Denkens, das zwischen Frage und Entscheidung
liegt.
n. Das hypothetische Urtheil.
§ 36.
Das hypothetische Urtheil behauptet, dass zwei Hypo-
thesen in dem Verhältniss von Grund und Folge
stehen; sein Prädicatist »nothwendige Folge sein.«
Wenn A gilt, so gilt B, heisst also : B ist nothwendige Folge
von A.
242 § 36. Das hypothetische Urtheil. 285
1. Der gewöhnliche Ausdruck des hypothetisclien Ur-
theils, an welchem sein Sinn und seine Bedeutung am schärf-
sten hervortritt, ist eine Satzverbindung von der Form : wenn
A B ist, so ist C D ; oder kürzer, indem A und B als Zeichen
von Sätzen genommen werden: wenn A gilt, so gilt B; wo-
bei »wenn« nicht in seiner temporalen Bedeutung, sondern in
der conditionalen, gleichbedeutend mit el und si steht.
2. Die Grammatik pflegt solche Sätze als Bedingungs-
sätze zu bezeichnen, indem sie von der scheinbar zunächst
liegenden Auffassung ausgeht, dass es sich um die Gültig-
keit des Nachsatzes handle. Diese kann nicht schlecht-
weg behauptet werden , sondern wird nur unter der Voraus-
setzung behauptet, dass auch der Vordersatz gelte ; das Ganze
wäre also eine bedingte Behauptung des Nachsatzes,
also eine Aussage über das Subject des Nachsatzes *). Allein
da der Nachsatz nicht behauptet werden will , ehe man des
Vordersatzes sicher ist, da in Beziehung auf beide also ein
Conditionalsatz Ausdruck der Ungewissheit ist, beide, wie man
sich ausdrückt , problematisch gesetzt werden , oder wie
wir sagen, blosse Hypothesen ausdrücken: so scheint in der
That, so lange man auf die beiden Sätze sieht, gar kein Ur-
theil im eigentlichen Sinne vorzuliegen, d. h. keine Aussage,
welche als wahr und nothwendig behauptet wird ; um so
weniger, da es Bedingungssätze gibt, welche mit dem ausge-
sprochenen Bewusstsein der Falschheit von Vorder- und Nach-
satz hingestellt sind (Si tacuisses, philosophus mansisses).
3. Allein es liegt doch, wie zuerst die Stoiker **) be-
stimmt erkannt haben, eine Behauptung in einer solchen Satz-
verbindung, welche ein Urtheil im eigentlichen Sinne
ist ; die Behauptung nemlich , dass zwischen Vorder- und
Nachsatz das Verhältniss von Grund und Folge (S. 253)
bestehe, die Annahme des Vordersatzes die Annahme des
Nachsatzes nothwendig mache; dass mit der Gültigkeit des
Vordersatzes die des Nachsatzes unab weislich verknüpft sei.
Dieses Verhältniss der nothwendigen Folge ist das
*) So hat Wolff in seiner Logik das hypothetische Urtheil bestimmt.
S. mein oben erwähntes Programm S. 28 ff.
*♦) S. mein Programm S. 12.
286 U 7. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. ?.43
eigentliche Prädicat des hypothetischen Urtheils*) ; Vorder-
und Nachsatz sind die beiden Beziehimgspunkte , welche in
dieses Verhältniss gesetzt werden. Für die Behauptung dieses
nothwendigen Zusammenhangs kommt es dann weiter gar
nicht darauf an , wie es mit der Gültigkeit des Vordersatzes
bestellt ist, und was ich etwa über seine Wahrheit, Wahr-
scheinlichkeit, UnWahrscheinlichkeit, Falschheit für Nebenge-
danken habe; so wenig als es in dem einfachen Urtheile über
Gedachtes darauf ankommt, ob ich das Gedachte als existierend,
als möglicherweise existierend, oder als blosse Fiction betrachte.
So erklärt es sich, dass die Urtheile mit »Wenn« bald bloss
Ausdruck der Ungewissheit , bald bloss Ausdruck der Folge
zwischen Wirklichem zu sein scheinen**).
*) J. St. Mill, Logik I. Buch, 4 .Cap. § 3.
**) Mit dieser Erkenntniss, dass das hypothetische Urtheil den Nach-
satz als not h wendige Folge des Vordersatzes behaupte, scheint
die geläufige Bezeichnung desselben in Logik und Grammatik im
Widerspruch zu stehen, welche den Vordersatz als Voraussetzung
oder Bedingung des Nachsatzes angibt. Versteht man nemlich unter
Bedingung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die conditio
sine qua non, dasjenige, was erst erfüllt sein muss, ehe ein anderes
eintritt oder gültig wird: so scheint damit angedeutet zu sein, dass
mit dem Vordersatz der Nachsatz aufgehoben sei und nicht mehr gelte,
wenn der Vordersatz nicht gilt. Eben das wird aber durch die noth-
wendige Folge nicht gefordert; die Eolge kann da sein, auch wenn der
Grund nicht gilt, so lange dieser kein ausschliessender ist , und es ist
ja übereinstimmende Lehre, dass mit der Ungültigkeit des Vordersatzes
der Nachsatz nicht aufgehoben werde (wenn ein Dreieck gleichseitig
ist, ist es spitzwinklich, behauptet nicht, dass die Gleichseitigkeit Be-
dingung der Spitzwink lichkeit sei, so dass ein Dreieck, das nicht gleich-
seitig wäre, nicht spitzwinklich sein könnte). Andrerseits genügt, was
blosse Bedingung ist, darum noch nicht, die Sache herbeizuführen;
auch wenn man Bedingung in dem Sinne eines integrierenden Theils
der vollen Ursache fasst, bezeichnet sie oben nur einen Theil; im hy-
poth. Urtheil soll aber der Vordersatz den Nachsatz nicht bloss mit
bedingen, sondern für sich nothwendig machen. Der Widerspruch löst
sich, wenn wir die subjectiven Bedingungen der Aussage von dem In-
halt des Ausgesagten unterscheiden. Die subjective Bedingung der
Behauptung des Nachsatzes ist die Gewissheit desselben; und das Ur-
theil sagt aus, dass in dem Zusammenhange des Denkens, in dem ich
eben stehe, die Gewissheit des Nachsatzes von der des Vordersatzes
abhängig ist; nur sofern der Vordersatz gilt, will und kann ich
243 § 36. Das hypothetische Urtheil. 287
Dieselbe Noth wendigkeit , welche das hypothetische Ur-
theil in Beziehung auf bloss angenommene Sätze behauptet,
über das Subject des Nachsatzes etwas behaupten; wenn der Vorder-
satz nicht gilt, will i ch nichts behaupten ; wenn die Bedingung nicht
erfüllt ist, stehe ich für nichts — z. B. wenn du schnell läufst, holst
du ihn ein. Damit ist aber nicht gesagt, dass objectiv das schnell
Laufen als Conditio sine qua non des tCinholens behauptet wäre; denn
der andere kann stehen bleiben u. s. f.; auf der andern Seite aber
muss ich der nothwendigen Folge des Nachsatzes aus dem Vordersatze
gewiss sein , um den Nachsatz unter der Bedingung des Vordersatzes
zu verbürgen.
Bergmann (Reine Logik I § 19. S. 202 ff.) bestimmt das Wesen
des hypothetischen Urtheils dahin, dass es die Entscheidung über die
Thesis von der Entscheidung über die Hypothesis abhängig mache, und
unterscheidet einen doppelten Sinn desselben, je nachdem es (wie Woltf
lehrt) nur eine relative Entscheidung, eine Entscheidung unter Vorbe-
halt anzeigen, oder den Zusammenhang zwischen der Geltung der Hy-
pothesis und der Geltung der Thesis betonen wolle. Als Beispiele für
den ersteren Sinn werden angeführt die Sätze : Morgen werde ich dich
besuchen, wenn es gutes Wetter ist; Rom warde zuerst von Königen
regiert, wenn Livius als Gewährsmann gelten kann; eine vollständige
allgemeine Theorie der Gleichungen wird nie gefunden werden, wenn
anders die Erfolge der bisherigen Versuche einer solchen auf die künf-
tigen schliessen lassen.
Kein Zweifel, dass hier der Urtheilende vor allem hervorheben will,
dass die Thesis nicht unbedingt, sondern nur unter Vorbehalt der
Richtigkeit der Hypothesis aufgestellt werde. Aber es fragt sich , ob
damit der Satz hinfällig werde, dass in jedem hypothetischen Urtheile
der nothwendige Zusammenhang zwischen der Geltung der Hypothesis
und der Geltung der Thesis behauptet werde, und dass es nur darum
ein Urtheil genannt zu werden verdiene, und dass die sprüchliche
W^endung wenn — so diesen Zusammenhang behaupte. (Dass es, wie
Bergmann mir S. 204 und 208 zuschreibt, »dem Urtheilenden nur um
den Zusammenhang der Hypothesis und der Thesis zu thun sei« und
dass »wenn A gilt, gilt B«, ein inadäquater Ausdruck sei für: »B
ist nothwendige Folge von A«, habe ich nirgends gesagt). Für die beiden
letzten Beispiele ist die Behauptung des Zusammenhangs ohne weiteres
evident: Wenn Livius als Gewährsmann gelten kann, so ist wahr, was
er erzählt; er erzählt aber dass Rom zuerst von Königen regiert wurde,
also wurde dann wirklich Rom zuerst von Königen regiert — die Wahr-
heit der Thesis folgt mit logischer Nothwendigkeit aus der Wahrheit der
Hypothesis. Fbenso in dem letzten Heispiel : Wenn der Schluss ans den
bisherigen Erfolgen auf künftige berechtigt ist, so muss aus dem that-
sächlichen bisherigen Misslingen auf ein künftiges Misslingen geschlossen
288 I» 7. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. 244
behauptet die sog. causale Verbindung von Sätzen in Be-
ziehung auf gültige Urtheile : Weil A gilt, gilt B, und zwar
in der doppelten Richtung des Erkenntnissgrundes und des
Realgrundes. (Weil das Thermometer steigt, wird es wärmer ;
weil es wärmer wird, steigt das Thermometer.)
4. Ob die Urtheile, welche als Grund und Folge hinge-
stellt werden , bejahende oder verneinende, allgemeine oder
werden; wiederum die logische Nothwendigkeit der Consequenz. Einen
scheinbareren Einwand enthält das erste Beispiel: Morgen werde ich
dich besuchen , wenn es schönes Wetter ist. Hier scheint in der That
nur eine bedingte Aussage vorzuliegen, und der nothwendige Zusammen-
hang zu fehlen ; wie kann das schöne Wetter den Besuch zur noth-
wendigen Folge haben ? Aber auch dieses Beispiel begründet, genauer
angesehen, keine Ausnahme. Was es ausdrückt, ist ein Wollen, ein jetzt
schon gefasster Entschluss, zugleich ein gegebenes Versprechen, Dieser
Entsehluss ist selbst, als solcher, nicht bedingt; durch mein Versprechen
bin ich jetzt schon gebunden; denn was mein Wille enthält, ist eben
die Abhängigkeit einer Handlung von dem Eintreten einer bestimmten
Thatsache, der Inhalt meines jetzigen WoUens ist eben der , dass mit
der Voraussetzung auch die Folge wirklich eintreten soll, ich stifte
durch meinen Willen einen Zusammenhang, und vermöge dieses jetzt
gewollten Zusammenhangs behaupte ich, dass die Ausführung eintreten
wird, sobald die Voraussetzung da ist ; diese Aussage gründet sich auf
mein Wollen, das sich nicht widersprechen kann. Dasselbe findet bei
allen Versprechungen, Drohungen, vertragsmässig für bestimmte Fälle
eingegangenen Verpflichtungen statt: ich bestimme durch meinen
Willen, dass ein künftiges Wollen unfehlbare Folge der eingetretenen
Bedingung sein soll. Auch hier ist also, was ich behaupte, der Zu-
sammenhang zwischen Voraussetzung und Folge (vergl. die Ausfüh-
rungen in dem mir eben noch zukommenden V/erke von Enneccerus :
Rechtsgeschäft, Bedingung und Anfangstermin 1888, S. 16. 175 ff.);
nur ist dieser Zusammenhang, eben als gewollter, verschieden von
einem unabhängig von meinem Wollen bestehenden realen Zusammen-
hang, den eine rein theoretische Aussage meint. A's solche wäre der
Satz: wenn es gutes Wetter ist, werde ich dich morgen besuchen, falsch,
da kein objectiv nothwendiger Zusammenhang besteht, wie in dem
Satze ; Wenn es gutes Wetter ist, werden diese Knospen sich morgen
öffnen; er kann objectiv nur gelten, weil vorausgesetzt ist, dass mein
Wille die Macht liat, den gewollten Zusammenhang zu verwirklichen,
und dass er constant bleibt, ich also meinem Versprechen nicht untreu
werde. Es bleibt also dabei, dass jede Aussage mit einem conditionalen
Wenn — so nur insofern ein Urtheil ist, als sie einen nothwendigen
Zusammenhang ausspricht.
244 § 35. Das hypothetische Urtheil. 289
einzelne, erzählende oder erklärende sind, ändert an dem Wesen
der Behauptung selbstverständlich gar nichts, und die Versuche
an dem hypothetischen Urtheile Unterschiede der Quantität
u. s. f. aufzustellen, beruhen auf der Verwechslung hypothe-
tischer Urtheile mit Aussagen über blosse Zeitrelationen oder
über ein sonstiges bloss factisches gelegentliches Zusanoimen-
treffen.
Die Urtheile: Jedesmal wenn es zwölf Uhr schlägt,
sterben einige Menschen, und ähnliche wird Niemand als hy-
pothetische gelten lassen. Besonders deutlich ist die Verwechs-
lung an den Urtheilen, die man hat zu particulären hypothe-
tischen machen wollen : Meistens wenn es schönes Wetter ist,
steht das Barometer hoch; denn wo der Zusammenhang nicht
ausnahmslos stattfindet, kann er kein nothwendiger sein ; ein
solches Urtheil kann immer nur das empirische oder sonst
zufällige Zusammentreffen in einer relativ grösseren oder
kleineren Anzahl von Fällen ausdrücken. Zuweilen, wenn ein
Dreieck rechtwinklich ist, hat es zwei gleiche Winkel , sagt
weiter nichts, als dass das Rechtwinklichsein dann und wann
mit der Gleichheit der beiden andern Winkel zusammen vor-
komme und sie nicht ausschliesse : das Wenn — zuweilen ver-
bindet nicht Grund und Folge, sondern zusammentreffende
Eigenschaften oder Vorgänge an denselben oder verschiedenen
Dingen, das als nur thatsächlich behauptet, über dessen Grund
nichts ausgesagt wird. (Vergl. mein Programm S. 45 und
Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. V, 1 S. 109 if.)
5. Seit Kant hauptsächlich hat man das hypothetische
Urtheil dem kategorischen als eine coordinierte besondere Art
des Urtheils gegenübergestellt, welche sich durch die Ver-
schiedenheit der logischen Function scheide; im kategorischen
Urtheil seien die Vorstellungen einander untergeordnet als
Prädicat dem Subject, im hypothetischen als Folge dem Grund«.
(Krit. d. r. V. § 9, ?>. Hart. S. 106.) Die Consequen/, welche
in den hypothetischen Urtheilen gedacht wird, entspricht dann
der Copula in den kategorischen ; sie ist dasjenige, was den
verschiedenen Vorstellungen Einheit gibt. So entspricht dann
der logischen Function des hypothetischen Urtheils die Ka-
tegorie der Causalität.
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 19
290 !• '^- 1^8.8 hypothetische und diajunctive ürtheil. 245
Allein die ganze Eintheilung ist undurchsichtig und schon
darum unbrauchbar, weil die Vorstellungen, die sich wie Sub-
ject und Prädicat verhalten, nach Kantischem Sprachgebrauch
Begriffe, die Vorstellungen, die sich wie Grund und Folge
verhalten, ürtheile sind. Kants Unterscheidung gab dann
Veranlassung zu einer weiteren Lehre , die er jedoch nicht
selbst aufgestellt hat, dass nemlich die kategorischen ürtheile
Ausdruck des Verhältnisses der Inhärenz, die hypothetischen
Ausdruck des Verhältnisses der Causalitat seien ; allein diese
Lehre ist gänzlich unhaltbar , wenn man die Ausdrücke ka-
tegorisch und hypothetisch in dem gewöhnlichen Sinne nimmt;
das Urtheil: Gott ist Ursache der Welt, ist gewiss ein
kategorisches im gewöhnlichen Sinne und drückt doch ein
Causalitätsverhältniss aus; das Urtheil: wenn die Seele ma-
teriell ist, so ist sie ausgedehnt, ist ein hypothetisches und
bewegt sich doch in lauter Inhärenzverhältnissen. Unter-
scheidet man aber, abgesehen von der sprachlichen Form, Be-
schaffenheits- und Beziehungsurtheile (wie z. B. Drobisch),
so ist diese Eintheilung gerechtfertigt, wenn es sich um den
Sinn bestimmter Aussagen handelt ; aber das ächte hypothe-
tische Urtheil ist in dieser Eintheilung gar nicht befasst, und
kann nur gewaltsam unter die Beziehungsurtheile subsumiert
werden, welche reale Relationen zwischen Dingen aussagen.
6. Je nach der Art der Aussagen, welche das hypothe-
tische Urtheil in das Verhältniss von Grund und Folge setzt,
unterscheidet sich der bestimmtere Sinn desselben. Wo zwei
Sätze, die für sich unbedingte Gültigkeit ausdrücken
würden, durch Wenn — so verbunden werden, da ist die Be-
hauptung einfach die, dass, wer den einen annehme, auch den
andern annehmen müsse. Wenn die Seele körperlich ist, ist
sie ausgedehnt — Wenn die Seele einfach ist, so ist sie un-
zerstörbar — Wenn Gott allmächtig und gütig ist, ist die
Welt vollkommen — setzt die Wahrheit des Nachsatzes als
notbwendige Folge der Wahrheit des Vordersatzes, und sagt,
wer den einen annehme, müsse auch den andern annehmen.
Was dabei der Grund d e r N o t h w e n d i g k e i t ist , tritt
im hypothetischen ürtheile nicht heraus ; ob es die einfachen
Verhältnisse der Vorstellungen sind (körperlich und ausge-
246 § 36. Das hypothetische ürtheil. 291
dehnt), vermöge der die Prädicierung mit der einen die Prä-
dicierung mit der andern nach sich zieht; ob es Annahmen
über die Natur der Dinge sind, wie dass das Einfache un-
zerstörbar ist, oder Annahmen über die nothwendige Wirkungs-
weise bestimmter Ursachen, wie in dem letzten Beispiele, sagt
das hypothetische Urtheil nicht; und es lassen sich in dieser
Hinsicht ürtheile unterscheiden, welche analytisch und
welche .synthetisch sind. Ist nemlich in dem ersten Satze
der zweite so enthalten, dass er vermöge der allgemein an-
erkannten Bedeutung der Wörter daraus hervorgeht, so ist
das Urtheil ein analytisches ; bedarf es aber der Vermittlung
des Zusammenhangs durch einen sonst vorausgesetzten Grund
der Noth wendigkeit, so ist es ein synthetisches; ein Unter-
schied, der übrigens erst später (bei der Lehre von den Schlüssen)
genauer fixiert werden kann. Gleicher Art sind die Fälle,
wo von der allgemeinen Regel auf den einzelnen Fall über-
gegangen wird: Wenn auf Mord Todesstrafe steht, so ist
dieser Mörder mit dem Tode zu bestrafen ; sie drücken die
logische Nothwendigkeit aus, mit der in der allgemeinen Regel
der einzelne Fall enthalten ist.
7. Wenn V ord ersatz und Nachsatz Einzelnes
betreffen und zeitlich gültige Aussagen sind, so sind zwei
Fälle zu unterscheiden: entweder ist auch hier die zweite
Synthese in der ersten eingeschlossen, und folgt aus ihr,
kraft der Bedeutung der Prädicate, die ganz allgemein mit-
einander verknüpft sind (wenn dieser Mensch betrunken ist,
ist er unzurechnungsfähig) ; oder die Consequenz geht ver-
möge bestimmter Gesetze aus der besonderen Beschaffenheit
des vorliegenden Falls und seiner Umstände hervor, so dass
auch die Nothwendigkeit des Zusammenhangs, dessen Beding-
ungen der Vordersatz nicht angibt, eben für diesen Fall gilt:
Wenn der Himmel sich aufhellt, friert es heute Nacht — wo
die bestehende Temperatur u. s. f. vorausgesetzt ist. Die Con-
sequenz ruht auf den Gesetzen der Wärmestrahlung ; aber
diese bringen nur unter der gegebenen schon niederen Tem-
peratur u. s. w. den Erfolg hervor.
8- Eine eigcnthümliche Anwendung findet das hypothe-
tische Urtheil , wenn es nicht Sätze mit bestimmten Sub-
19*
292 I. 7. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. 247
jecten verknüpft, sondern die Subjecte selbst unbe-
stimmt gelassen sind — sei es dass sie absolut unbe-
stimmt sind und durch »etwas« u. dgl. bezeichnet werden, sei
es dass sie wenigstens theilweise unbestimmt, d. h. nur durch
ein allgemeines Wort bezeichnet sind. Wenn etwas körper-
lich ist, ist es ausgedehnt; wenn einer gerecht ist, gibt er
jedem das Seinige; wenn ein Dreieck gleichseitig ist, ist es
gleichwinklich u. s. f. Jetzt ist nicht nur die Gültigkeit
einer bestimmten Aussage in suspenso gelassen, um nur ihre
nothwendige Folge anzugeben, sondern es bleibt unentschieden,
ob und wo überhaupt sich zu den Prädicaten ein Subject
findet; aber von jedem Subject, an welchem sich das eine
Prädicat findet, wird behauptet, dass sich an ihm auch das
andere finden muss. Diesen Urtheilen ist es darum wesent-
lich, im Vorder- und Nachsatz wenigstens dem Sinne nach
dasselbe Subject zu haben ^^Wenn ein Dreieck gleiche Winkel
hat, sind seine Seiten gleich, zeigt allerdings grammatisch
ein anderes Subject, aber dieses weist durch sein Possessiv-
pronomen auf das zurück, worüber zaletzt eine Aussage ge-
macht wird).
Sie sind deshalb völlig gleichwerthig den allgem einen
Relativsätzen: Wer gerecht ist, gibt jedem das Seinige
u. s. f. ; jedes Dreieck, welches gleichseitig ist,^ ist auch gleich-
winklich. Wenn diese durch ihr Relativ die Identität dessen
behaupten, dem das eine und dem das andere Prädicat zu-
kommt, so vermögen sie das doch nur, weil das zweite Prä-
dicat mit dem ersten noth wendig verknüpft ist ; in der
ausnahmslosen Identität dessen , dem das eine und dem das
andere Prädicat zukommt, manifestiert sich diese Noth wen-
digkeit.
Der Gang des Denkens, welchen diese Ausdrucksweisen
voraussetzen, ist klar; sie bewegen sich in dem Gebiete des
Bestimmens des Einzelnen, dessen Vorhandensein vorläufig
vorausgesetzt wird; mit dem bestimmten Prädicate des Vor-
dersatzes im Bewusstsein wird auf das Viele hinausgesehen,
und erwartet, dass irgendwo das Prädicat anwendbar sei, um
zu behaupten, dass dann auch das andere nothwendig damit
verknüpft werden müsse.
248 § 36. Das hypothetische Urtheil. 293
9. Damit sagen diese Urtheile schlecliterdings nichts an-
deres, als die unbedingt al Igemeinen kategorischen
Urtheile. »Alle Körper sind ausgedehnt« meint ja auch nicht
eine begrenzte und bestimmte Anzahl , sondern sagt : Was
ein Körper ist, ist ausgedehnt , oder wenn etwas ein Körper
ist, ist es ausgedehnt; in der Bezeichnung der Subjecte, von
denen etwas ausgesagt wird, versteckt sich der Vordersatz des
hypothetischen Urtheils. Der brave Mann denkt an sich selbst
zuletzt — ist darum ebensogut ein hypothetisches Urtheil als
jedes, das sein Subject nur mit einem »Ein« einführt, in dem
Sinne, dass es unbestimmt bleiben soll, ob und wo sich dieses
Subject findet, und nicht bloss ein bestimmtes Subject un-
genau bezeichnet ist (der Unterschied wird deutlich an den
Beispielen: Ein Kaiser muss stehend sterben — Ein Kaiser
war Stoiker).
Damit erledigt sich der vielverhandelte Streit über das
Verhältniss des hypothetischen und kategorischen Urtheils.
Alle unbedingt allgemeinen kategorischen Urtheile sind völlig
gleichbedeutend mit hypothetischen, weil sie (nach § 27 S. 212 ff.)
gar nichts anderes aussagen, als die nothwendige Zusammen-
gehörigkeit des Prädicats mit dem Subject, wonach aus der
Prädicierung eines Einzelnen mit dem Subject die mit dem
Prädicat noth wendig folgt ; und sofern dem »Alle« die Zwei-
deutigkeit anhaftet, bald ein empirisches, bald ein unbedingt
allgemeines Urtheil einzuführen, ist die hypothetische Form
der strengere und adäquatere Ausdruck. Alle Urtheile da-
gegen, in welchen bestimmten einzelnen Subject en bestimmte
Prädicate zugewiesen werden, widerstehen selbstverständlich
der Umwandlung in die hypothetische Form ; andrerseits
greift die Bedeutung und Anwendbarkeit des hypothetischen
Urtheils über dasjenige hinaus , was in kategorischer Form
ohne Zwang ausgesprochen werden kann.
10. Anders, wenn von einem unbestimmt bezeichneten
Subject veränderliche Eigenschaften, Thätig-
keiten, Relationen im Vordersatze ausgesagt werden.
Wenn Wasser unter 0 Grad erkältet wird, wird es fest; wenn
ein Körper unter dem Einfluss eines Stosses und einer im
umgekehrten Verhältniss des Quadrats der Entfernung wir-
294 h 7. Das hypothetische und disjunctive Urtheil. 249
kenden Kraft sich bewegt, beschreibt er einen Kegelschnitt;
wenn die Strahlen einer Lichtquelle senkrecht auffallen, ist
die Beleuchtung die stärkste u. s. f. Da es sich hier ebenso
um wiederholte Fälle an demselben Subject, wie um Fälle an
verschiedenen Subjecten handeln kann , so ist der Ausdruck
in einem allgemeinen kategorischen Urtheil inadäquat; soll
die Noth wendigkeit durch die unbedingte Allgemeinheit aus-
gedrückt werden, so bieten sich die allgemeinen Relativsätze
Jedesmal wenn, so oft als ; und es geht daraus hervor, dass
jetzt auch dem hypothetischen Urtheil eine Zeitbeziehung an-
haftet, da Veränderliches nur in einer bestimmten Zeit ein-
treten kann, und die Gültigkeit des Vordersatzes zu einer be-
stimmten Zeit auch der Gültigkeit des Nachsatzes eine be-
stimmte Zeit anweist — dieselbe oder eine unmittelbar folgende
oder vorangehende. Diese Urtheile sind es, die der Natur der
Sache nach auf Causalitätsverhältnissen ruhen, sobald ihre
Subjecte unter den realen Dingen zu suchen sind, denn nur
durch Causalzusammenhang kann der Eintritt der Veränderung
eines Dings den Eintritt einer zweiten Veränderung desselben
oder eines andern Dings nach sich ziehen.
11. Zu den hypothetischen Sätzen mit unbestimmten
Subjecten gehören auch alle Gleichungen der analytischen
Geometrie und Mechanik mit Veränderlichen. Die Unbestimmt-
heit des Werthes der Veränderlichen verhindert, dass die
Gleichung der Parabel y^ = px eine Gleichung im gewöhn-
lichen Sinne, d. h. das Urtheil bedeute, dass zwei Zahlen
oder Linien oder Figuren einander gleich sind ; sie behauptet :
wenn die Abscisse irgend einen bestimmten Werth hat, so hat
die ihr zugehörige Ordinate den durch die arithmetische Re-
lation mit der Constanten bestimmten Werth. Ebenso sind
alle algebraischen Formeln mit allgemeinen Zeichen in hypo-
thetische Urtheile zu übersetzen, wie a (b 4- c) ^ ab 4- bc.
12. Unter den hypothetischen Urtheilen mit
verneinenden Gliedern stellt die Form: wenn A gilt,
gilt B nicht, die Verneinung eines Satzes als nothwendige
Folge einer Bejahung hin, und setzt also die Hypothesen A
und B als unverträglich. Diese Unverträglichkeit ruht
theils auf der Unverträglichkeit bestimmter Prädicate, oder
250 § 36. Das hypothetische Urtheil. 295
auf den realen Verhältnissen der hindernden oder vernichten-
den Ursache. Dieses Verhältniss ist immer ein gegensei-
tiges; wenn aus der Bejahung von A die Verneinung von
B noth wendig folgt, so folgt (nach dem Gesetze des Grundes
und der Folge) aus der Bejahung (der Aufhebung der Ver-
neinung) von B nothwendig die Verneinung von A; mögen
nun A und B allgemeine und unbedingt gültige Urtheile,
oder zeitlich gültige Urtheile über Einzelnes vorstellen oder
unbestimmte Subjecte haben. (Wenn der Himmel bewölkt ist,
fällt kein Thau; wenn Thau fällt, ist der Himmel nicht be-
wölkt.) Einem solchen hypothetischen Urtheil entspricht ein
allgemein verneinendes kategorisches ; der Satz : Kein recht-
winkliches Dreieck ist gleichseitig, sagt dasselbe, wie : Wenn
ein Dreieck rechtwinklich ist, ist es nicht gleichseitig; die
Verneinung des Prädicats gleichseitig wird als nothwendige
Folge der Bestimmung rechtwinklich behauptet*).
Wenn eine Verneinung als nothwendige Folge
einer andern Verneinung auftritt (Wenn A nicht gilt,
gilt B nicht), so kann dieses Verhältniss nur darauf ruhen,
dass die entsprechenden Bejahungen in nothwendigem Zusam-
menhange stehen. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann
die Verneinung der einen die Verneinung der andern zur
Folge haben. Die Ungültigkeit von A ist nur dann ein un-
trüglicher Grund der Ungültigkeit von B, wenn A nothwen-
dige Folge von B ist. Wenn der Himmel nicht hell ist, fällt
*) Die Schwierigkeit, welche Twesten (Logik S 64) gegen die An-
sicht erhoben hat, das hypothetische Urtheil mit verneinendem Nach-
satz sei bejahend, ist leicht zu heben. Wenn das kategorische Urtheil,
sagt er, »kein gleichseitiges Dreieck ist rechtwinklich« verneinend ist,
wie sollte denn das correspondierende hypothetische: Wenn ein Dreieck
gleichseitig ist, ist es nicht rechtwinklich, nur bejahend sein können ?
Freilich nicht, wenn das hypothetische Urtheil eine Behauptung über
das gleichseitige Dreieck, und nicht über die Nothwendigkeit einer
Folge wäre; aber warum soll man nicht bejahen können, dass ein ver-
neinender Satz nothwendig folge? Die Möglichkeit der unbedingten
Verneinung »kein A ist B« ruht ja eben darauf, dass erkannt wird,
die Bestimmungen, die in A gedacht werden, machen nothwendig B
zu verneinen ; und diesen Sinn einer allgemeinen Verneinung drückt
das hypothetiHche Urtheil durch Bejahung dieser Nothwendigkeit aus.
296 i> 7. Das hypothetische und disjunctive ürtheil. 251
kein Thau, kann ich nur sagen, wenn ich sicher bin, dass
wenn Thau fällt , der Himmel hell sein muss ; wenn ein
Dreieck nicht gleichseitig ist, ist es nicht gleich winklich, nur
dann , wenn jedes gleichwinkliche Dreieck gleichseitig ist.
Nach dem Grundsatze, dass mit der Folge der Grund aufge-
hoben ist, der den Sinn der nothwendigen Folge enthält, welche
das hypothetische Urtheil behauptet, ergibt sich immer aus:
Wenn A gilt, gilt B, auch das andere: Wenn ß nicht gilt,
gilt A nicht.
Wenn eine Bejahung als Folge einer Vernei-
nung erscheint : wenn A nicht gilt, gilt B, so liegt diesem
ürtheil immer unmittelbar oder mittelbar die Einsicht zu
Grunde, dass von verschiedenen sich ausschliessenden mög-
lichen Hypothesen noth wendig eine gültig ist, d. h. die Ein-
sicht, welche sich im disjunctiven Urtheile ausspricht ; es ist
aber falsch, dass das Urtheil: Wenn A nicht gilt, gilt B
bereits dem disjunctiven Entweder gilt A oder B äquivalent
sei *).
13. Die Verneinung eines hypothetischen Ur-
theil s kann allein in der Aufhebung des Prädicats bestehen,
das es aussagt, d. h. der nothwendigen Folge. Der Satz : B
ist nicht nothwendige Folge des Satzes A, d. h. wenn A gilt,
gilt dämm nicht B (wenn auch A gilt, gilt doch nicht B)
ist der contradictorische Gegensatz des Urtheils : Wenn A
gilt, so gilt B **) ; wie umgekehrt die Verneinung der Behaup-
tung, Wenn A gilt, so folgt nicht, dass B gilt, auf das Ur-
theil führt: Wenn A gilt, gilt B.
*) S. mein Programm S. 54 ff. Wenn der Mondmittelpunkt nicht
in der Ebene der Ekliptik ist, bildet er mit den Mittelpunkten der
Sonne und Erde ein Dreieck, heisst nicht soviel als: Entweder ist der
Mondmittelpunkt in der Ebene der Ekliptik, oder er bildet mit den
beiden andern Mittelpunkten ein Dreieck; denn er kann auch ein
Dreieck bilden, wenn er in der Ebene der Ekliptik ist, aber der Knoten
nicht in die Gerade fällt, welche durch die Mittelpunkte der Sonne und
Erde geht.
**) Damit ist den sogenannten Concessivsätzen ihre logische
Stelle angewiesen ; ihre Bedeutung liegt darin, dass sie eine unmittel-
bare oder mittelbare Consequenz, die aus dem Vordersatz {gezogen
werden könnte, abweisen.
252 § 36. Das hypothetische Urtheil. 297
1 4. Hypothetische Urtheile von der Form : Wenn A gilt
und B gilt und C gilt, gilt D, dürfen nicht als copulative
hypothetische Urtheile bezeichnet werden; denn es wird nicht
von verschiedenen Relationen ausgesagt, dass sie noth wendige
Folgen seien, wie in dem Urtheile: Sowohl wenn A ist, als
wenn B ist, als wenn C ist, ist D. Nur dieses Urtheil ist
copulativ; jenes gibt nur einen Grund, der bloss aus einer
Mehrheit- von Voraussetzungen besteht, und kann darum nicht
in eine Mehrheit von hypothetischen Urtheilen aufgelöst werden.
15. Nur wenn auf die Bedeutung der Möglichkeit
gesehen wird, welche auf den partiellen Grund zurückgeht
(§ 34, S. 270), kann mit jedem Theil des Grundes die Mög-
lichkeit der Folge verknüpft werden. Wenn der Mond in
Conjunction oder Opposition steht, und zugleich der Knoten
der Mondsbahn der Verbindungslinie von Sonne und Erde
nahe ist, entstehen Finsternisse — kann in die zwei Urtheile
entwickelt werden; Wenn der Mond in Conjunction oder
Opposition steht , können Finsternisse eintreten ; wenn der
Knoten der Mondsbahn der Verbindungslinie von Sonne und
Erde nahe ist, können Finsternisse entstehen. Dasselbe Können
tritt ein, wenn der Vordersatz die Ungültigkeit eines Ur-
theils ausdrückt, das den Nachsatz aufheben würde: Wenn
die Wärmestrahlung der Sonne nicht abnimmt, kann das or-
ganische Leben der Erde unbegrenzt fortdauern.
IIL Das disjunctive Urtheil.
§ 37.
Das disjunctive Urt hei 1 behauptet, dass von einer
bestimmten Anzahl sich au sschlies sender Hypo-
thesen eine nothwendig wahr ist. Wo es nicht, als
Satz vom ausgeschlossenen Dritten , die beiden Glieder einer
Antiphasis betrifft, setzt es immer ein einfaches Ur-
theil voraus, das den verschiedenen Hypothesen
zu Grunde liegt, und dessen Inhalt den Kreis der Mög-
298 Ii "^^ I^ö'S hypothetische und disjunctive ürtheil. 253
lichkeiten bestimmt und einschränkt; am häufigsten so, dass
entweder das Subject oder das Prädicat eine geschlossene
Reihe sich ausschliessender näherer Bestimmungen zulässt,
welche aufzuzählen Aufgabe des divisiven Urtheils ist.
1. Wenn eine Hypothese A ist B ungewiss ist: so ist
der nächste Ausdruck davon, dass weder ihre Bejahung noch
ihre Verneinung vollzogen werden kann; ich stehe vor einer
unentschiedenen Wahl. Aber ich weiss, dass wenn die Be-
jahung wahr ist, die Verneinung falsch ist und umgekehrt ;
und dass, wenn die Bejahung falsch ist, die Verneinung wahr
ist und umgekehrt.
Eine solche Wahl zwischen verschiedenen Hypothesen
kann nun aber nicht bloss stattfinden zwischen Bejahung und
Verneinung. In Beziehung auf dasselbe Subject können ver-
schiedene Hypothesen möglich sein — A ist vielleicht B,
vielleicht C, vielleicht D u. s. f. So lange die Prädicate B,
C, D gegen einander gleichgültig sind, treten diese Hypo-
thesen in keine weitere Beziehung zu einander (so kann ich
mir von der Königin Semiramis sagen, sie war vielleicht
hochgew^achsen, schwarzäugig u. s. f.) ; führt eines das andere
noth wendig mit sich, so entsteht das hypothetische ürtheil;
sind sie aber unverträglich, so schliesst die Annahme
eines Prädicats die der übrigen aus, und ich stehe also vor
unvereinbaren Sätzen, deren jeder für sich eine mögliche Hy-
pothese ist.
Es ist die Function der Partikel oder, solche unver-
einbare Hypothesen, die gleich ungewiss sind, zu verknüpfen ;
und zwar nicht bloss Prädicate eines und desselben Subjects,
sondern überhaupt Annahmen, die sich — aus irgend einem
Grunde — ausschliessen, deren Verhältniss also in einem hy-
pothetischen Urtheile ausgesprochen werden kann, das die
Bejahung der einen Annahme mit der Verneinung der an-
deren verknüpft. Die Partikel »oder« enthält also die beiden
Behauptungen, dass die Sätze ungewiss sind, und dass sie
sich ausschliessen. A ist B oder C, heisst: A ist vielleicht B,
vielleicht C ; wenn es B ist, ist es nicht C, wenn es C ist,
ist es nicht B.
254 § 37. Das disjunctive Urtheil. 299
2. Eine ähnliche Nebeneinanderstellung ergibt sich aus
den Urtheilen, die eine Möglichkeit aussagen. Die Ur-
theile: Wasser kann flüssig, fest, gasförmig sein; der Mensch
kann wachen und schlafen, drücken sich, auf einen und den-
selben beliebigen Zeitpunkt bezogen, auch in der Form aus:
Wasser ist flüssig oder fest oder gasförmig; der Mensch
schläft oder wacht. Und ebenso tritt das »oder« ein, wo eine
unbestimmtere Vorstellung noch weitere Determinationen zu-
lässt; das Dreieck ist eben oder sphärisch u. s. w. ; eine ebene
geradlinige Figur ist dreieckig oder viereckig oder fünfeckig
u. s. w. Mit der blossen Bezeichnung eines Dings durch das
unbestimmtere Wort ist noch Raum für bestimmtere, sich
ausschliessende Prädicate; wovon ich nur weiss und sage,
dass es ein Dreieck ist, dem können noch verschiedene, unter-
^einander unverträgliche Bestimmungen zukommen.
3. Wird nun von einer Reihe solcher Hypothesen be-
hauptet, dass eine derselben nothwendig wahr, mit den aufge-
zählten also alle subjectiv oder objectiv möglichen, sich aus-
schliessenden Prädicate erschöpft seien : so ist damit das dis-
junctive Urtheil gegeben: Entweder gilt A ist B,
oder A ist C; A ist entweder B oder C oder D. Die
Behauptung des disjunctiven Urtheils ist also auf die noth-
wendige Gültigkeit einer aus einer bestimmten Anzahl von
möglichen unvereinbaren Hypothesen gerichtet.
4. Den einfachsten Fall eines disjunctiven Urtheils bildet
die Antiphasis selbst, sofern von ihr das Gesetz des
ausgeschlossenen Dritten gilt ; von den beiden Sätzen A ist B
und A ist nicht B ist nothwendig der eine wahr, der andere
falsch. Allein eben weil diese Disjunction so selbstverständ-
lich ist, hat sie nur beschränkten Werth (s. o. § 25 S. 202);
die werth vollen Disjunctionen sind diejenigen , welche die
Wahl unter positiven Urtheilen mit bestimmten Prädicaten
einschränken.
5. Unter diesen sind die nächstliegenden diejenigen, welche
die beschränkte Anzahl von näheren sich ansschliessenden Be-
stimmungen aussprechen, die eine allgemeinere Vorstellung
zulässt. Eine Linie ist entweder gerade oder krumm; ein
Dreieck entweder rechtwinklich oder schiefwinklich ; ein Mensch
300 I> *?• 1^2,8 hypothetische und disjunctive Urtheil. 255
entweder männlich oder weiblich ; Wasser ist entweder flüssig
oder fest oder gasförmig. Das »Können«, das die einzelnen
Glieder voraussetzen, gilt im Sinne von § 34, 5 S. 2ö8 und
2(39 ; die Bedeutung der Disjunction ist , dass dasjenige , wo-
von ich bloss weiss, dass es unter die allgemeine Vorstellung
A fällt, noch irgend einen der an A möglichen Unterschiede
haben muss; sie erhellt am besten in dem hypothetischen
Ausdruck, der den Sinn jener Disjunctionen vollständig an-
gibt : Wenn etwas eine Linie ist, ist es entweder eine krumme
oder eine gerade Linie. Vorausgesetzt ist also ein Urtheil,
das einem Subjecte ein allgemeineres Prädicat zuweist , und
die Kenntniss einer geschlossenen Reihe ausschliessender Unter-
schiede, welche an diesem möglich sind.
6. Denkt man sich die Gesammtheit der einzelnen Sub-
jecte, welche unter A fallen können, und damit die Unter-
schiede wirklich gesetzt: so lässt sich dasselbe Verhältniss
in dem sogenannten divisiven Urtheile ausdrücken : die
Linien sind theils gerade, theils krumm ; die Menschen theils
männlich theils weiblich; und dem entspricht in Beziehung
auf die Veränderungen desselben Dings, wenn der ganze Um-
kreis als durchlaufen vorausgesetzt wird, die Form: Wasser
ist bald flüssig, bald fest, bald gasförmig. Dabei findet hin-
sichtlich des Verhältnisses des divisiven und disjunctiven Ur-
theils der Unterschied statt, dass, wo bloss von der Erfahrung
ausgegangen wird , das divisive Urtheil das disjunctive be-
gründet ; da thatsächlich die Gesammtheit der Menschen
in männliche und weibliche Individuen zerfällt, wird geschlossen,
dass ein Drittes immÖglich sei, und darauf das disjunctive
Urtheil: Jeder Mensch ist entweder Mann oder Weib, gegründet ;
während in der Mathematik z. B. das disjunctive Urtheil vor-
angeht: Ein Dreieck ist entweder rechtwinklich oder spitz-
winklich oder stumpfwinklich — und daraus erst die Sicher-
heit der vollständigen Aufzählung der Arten des Dreiecks
folgt ; ebenso vorangeht : Eine Ebene, die einen geraden Kegel
schneidet , schneidet ihn entweder parallel zur Grundfläche,
oder nicht parallel, und dann entweder alle Seitenlinien, oder
nicht alle Seitenlinien , und im letzteren Fall entweder parallel
zu einer Seitenlinie oder nicht parallel — und aus der Erkennt-
256 § 37. Das disjunctive TJrtheil. 301
niss, dass damit alle Möglichkeiten erschöpft sind, geht erst die
Division hervor: die Kegelschnitte sind theils Kreise theils
Ellipsen theils Parabeln theils Hyperbeln. Sprachlich kleidet sich
das divisive Urtheil wohl auch in die Form eines copulativen :
Kreis, Ellipse, Parabel und Hyperbel sind die Kegelschnitte
— wobei der Artikel die Identität der Umfange anzeigt.
7. Das Bedürfniss , die Vollständigkeit der Aufzählung
bestimmter auszudrücken als es durch das theils — theils
geschieht, hat dazu geführt, auch das divisive Urtheil in die
Form eines disjunctiven zu kleiden : Alle Linien sind entweder
gerade oder krumm ; die Menschen entweder weiblich oder
männlich. Diese Ausdrucksweise führt aber eine Zweideutig-
keit mit sich; denn die Urtheile, zwischen denen Disjunction
gesetzt wird, sind nicht : Alle Linien sind gerade, alle Linien
sind krumm — wie das Urtheil : Die Menschen stammen ent-
weder von einem Paare oder von verschiedenen ab, die zwei
Sätze disjungiert: Die Menschen stammen von einem Paare,
und die Menschen stammen von verschiedenen Paaren ab.
Die Disjunction gilt vielmehr nur von jeder einzelnen
Linie; und auch hier ist also die hypothetische Form der un-
zweideutige Ausdruck : Was eine Linie ist, ist entweder gerade
oder krumm.
8. Yon diesen Disjunctionen, deren Glieder die näheren
Bestimmungen des Subjects sind, und die sich also auf
divisive Urtheile zurückführen lassen, welche den Subjectsbe-
griff in seine Arten theilen, sind die anderen verschieden,
welche ein Prädicat eines bestimmten Subjects in seine
Unterschiede entwickeln*). Wird gesagt dass die Planeten
entweder selbstleuchtend sind oder ihr Licht von der Sonne
empfangen : so heisst das nicht, dass mit dem Planetsein diese
beiden Möglichkeiten gegeben sind, und die Planeten theils
*) Die Lehre Trendelenbiirf^'s, d;iRs das disjunctive Urtheil den Um-
fang des Subjectsbegriffs angebe, trifft nur diejenigen disjunctiven Ur-
theile, welche auf ('inor Division des Subjectsbegriffs fussen; sie ist nicht
anwendbar, wo die Disjunctiou veränderliche Zustand«! trifft, und nicht
in demselben Sinne, wo ein Prildicatsbegriff' es ist, dessen nujg liehe Be-
stimmungen entwickelt werden. Vergl. mein Programm S. CO. Ol.
302 ^» '^' ^^^ hypothetische und disjunctive Urtheil. 256. 257
selbstleuclitend, tlieils von der Sonne beleuchtet sind ; vielmehr
ist das bestimmte Urtheil vorausgesetzt ; die Planeten leuchten,
und es fragt sich um die nähere Beschaffenheit dieses Leuchtens,
imd die Möglichkeit, es unter den gegebenen Umständen zu
erklären. Sagt man : die Welt ist entweder von Ewigkeit
oder geworden , und entweder durch eine freie Ursache oder
durch blinde Nothwendigkeit geworden : so ist dort vorausge-
setzt : die Welt ist da , und es handelt sich um die Dauer
dieses Daseins, hier: die Welt ist geworden, und zwar aus
einer Ursache, und es handelt sich um die verschiedenen
Arten von Ursachen. Sagt man : er ist entweder ein Heuchler
oder ein Wahnsinniger — so ist vorausgesetzt, er benimmt
sich unvernünftig , und die Frage ist nach der Quelle dieses
Benehmens. Ob die näheren Bestimmungen des Prädicats in
ihm selbst nach seiner Bedeutung liegen , oder ob sie aus der
Ueberlegung der concreten Möglichkeiten des einzelnen Falls
gewonnen sind, macht einen weiteren Unterschied aus.
9. Urtheile wie : »entweder wird das Böse bestraft, oder
es gibt keine göttliche Gerechtigkeit« führen auf hypothetische
Urtheile als ihren Grund zurück, und ruhen auf dem Satze,
dass mit der Folge der Grund aufgehoben ist, zusammen mit
dem Satze des ausgeschlossenen Dritten. Wenn es eine gött-
liche Gerechtigkeit gibt, wird das Böse bestraft — Entweder
wird das Böse bestraft oder nicht — im letzteren Falle ist
die Voraussetzung aufgehoben.
10. Die Lehre , dass das disjunctive Urtheil A ist ent-
weder B oder C sich auf zwei hypothetische Wenn A nicht
B ist, ist es C, und Wenn A B ist, ist es nicht C, zurück-
führen lasse , ist selbstverständlich richtig ; allein es folgt
daraus nicht, dass dem disjunctiven Urtheil neben dem hypo-
thetischen keine selbstständige Bedeutung zukomme. Denn
eine Verneinung als Grund einer Bejahung zu behaupten, ist
nur möglich , w^enn die Disjunction bereits feststeht. Nur
wenn feststeht, dass das Licht entweder Materie oder Bewe-
gung ist, kann das Urtheil ausgesprochen werden : Wenn das
Licht nicht Materie ist, ist es Bewegung.
11. Es geht aus dem Wesen der Behauptung, welche das
disjunctive Urtheil enthält, hervor, dass die Sätze : A ist ent-
258 § 38. Ergebnisse. 303
weder B oder C, A kann entweder B oder C sein , und A
muss entweder B oder C sein, vollkommen dasselbe sagen.
§ 38.
Ergebnisse.
Die Urtheilsfunction ist überall insofern die-
selbe, als sie kategorische Aussage eines Prädicats von einem
Subject ist. Die Unterschiede, die an ihr heraustreten,
hängen theils davon ab, ob die Synthese des Prädicats
mit dem Subjecte einfach ist, wie bei dem Benen-
nungsurtheil, oder m ehrfach, wie bei den Urtheilen, welche
auf den Kategorieen der Eigenschaft , Thätigkeit , Relation
ruhen, theils davon, ob"/^das Subj ect einesUrtheils eine
einheitliche Vorstellung, oder ob es selbst wieder
eine urtheilsmässige Synthese oder eine Verknüpf-
ung von solchen ist, von der die Prädicate falsch, möglich,
nothwendig u. s. w. ausgesagt werden.
Die gewöhnlich aufgestellten Unterschiede der Urtheile
sind Unterschiede ihrer Prädicate und Subjecte,
und nicht Unterschiede der Urtheilsfunction; während die-
selbe Classe, die der kategorischen Urtheile, die
wirklichen Verschiedenheiten der Urtheilsfunction in sich ver-
einigt.
Um so mehr tritt die Bedeutung der Prädicate her-
vor, welche allem Urtheilen vorausgesetzt sind , und welche
als immer dieselben in den wechselnden Subjecten des Ur-
theilens wiederzuerkennen das gemeinsame Wesen alles Ur-
theilens ist.
1. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass die her-
gebrachte und durch Kant hauptsächlich sanctionierte Ein-
theilung der Urtheile mangelhaft ist.
Die Basis und Voraussetzung alles Urtheileus ist das
unmittelbare einfache ijositive Urtheil , als die mit dem Be-
304 I. § 38. Ergebnisse. 258. 259
wusstsein objectiver Gültigkeit vollzogene Synthese eines Sub-
jects und eines Prädicats. Der Sinn dieser Synthese und ihrer
objectiven Gültigkeit richtet sich nach der Beschaffenheit der
Vorstellungen , welche im Urtheil verknüpft werden ; sie ist
einfach bei der blossen Benennung ; mehrfach , wo die Kate-
gorieen der Eigenschaft , Thätigkeit , Relation ihr zu Grunde
liegen. Immer ist die Erkenntniss der Uebereinstiramung einer
schon bekannten Vorstellung mit einem Elemente des Subjects
im ürtheile vollzogen, und es ist, der ursprünglichen Bedeu-
tung von Erkennen entsprechend, jedes Urtheil das Erkennen
und Wiedererkennen eines schon Bekannten in dem Subject;
aber daraus folgt nicht, dass jedes Urtheil n u r in dieser Er-
kenntniss bestehe, nur eine Subsumtion ausspreche; das Be-
wusstsein der Einheit der Eigenschaft und Thätigkeit mit
einem Ding, das Bewusstsein des Verhältnisses zweier Dinge
ist in einem Theile der Ürtheile ebenso unentbehrlich, und
nur durch die Unterscheidung verschiedener Elemente in der Ein-
heit des Vorgestellten und ihre Synthese ist die Subsumtion in
den Eigenschafts-, Thätigkeits- und Relationsurt heilen möglich.
Auch diejenigen ürtheile, deren Prädicate Zahlbestim-
mungen sind, zeigen keine wesentlich verschiedene Urtheils-
function. Denn dass, um ein Zahlprädicat auszusprechen,
andere Ürtheile vorangegangen sein müssen, macht keine
eigenthümliche Bestimmung aus; jedes Urtheil über Einzelnes,
welches mit dem Subjectsworte dieses benennt , setzt ebenso
ein vorangegangenes Urtheil voraus; es ist nur die Eigen-
thümlichkeit der Zahlprädicate, welche die Art der vorausge-
gangenen Operationen bestimmt, wie die Eigenthümlichkeit
anderer Relationsprädicate andere vorausgehende Operationen
nöthig macht ~ z. B. Gleichheit und Ungleichheit das Mes-
sen ; die eben jetzt gefundene Zahl wird mit einer bekannten
Zahl gleichgesetzt.
2. Nun führt aber der Gang unseres über das unmittel-
bar Gegebene hinausgreifenden Denkens dazu , dass die Vor-
stellung eines Urtheils, das vollzogen werden könnte, sich
scheidet von seinem wirklichen Vollzug; und dass in Beziehung
auf ein vorgestelltes Urtheil, oder die Verhältnisse vorgestellter
ürtheile, neue ürtheile eintreten.
259.260 § 38. Ergebnisse. 305
Dem Urtheil, das in der Behauptung selbst liegt, dass
die dadarch ausgedrückte Synthese noth wendig oder wahr sei,
tritt die Behauptung entgegen, dass sie falsch sei, in der Ver-
neinung ; und neben die bejahende oder verneinende Entschei-
dung tritt einerseits das Urtheil, dass eine Hypothese möglich,
d. h. dass weder sie zu bejahen noch zu verneinen, subjectiv
nothwendig sei, andererseits dass sie nothwendige Folge einer
andern Hypothese, dass unter einer Anzahl bestimmter Hypo-
thesen eine nothwendig wahr sei.
Alle ^diese Urtheile sind insofern den einfachen Urtheilen
gleichartig, als sie einfache modale Prädicate über ein Subject
aussagen; sie sind also nicht durch die Art der Synthese,
sondern nur durch die Beschaffenheit ihrer Subjecte und Prä-
dicate eigenthümlich ; aber da diese Subjecte ein wesentliches
Element der Urtheilsfunction selbst sind , und die Prädicate
eben diejenige Beschaffenheit derselben betreffen, welche ihre
Beziehung auf den letzten Zweck alles ernsthaften Denkens
ausdrückt, sind sie in eminentem Sinne logische Urtheile, und
keine Urtheilsfunction überhaupt kann sich mit Bewusstsein
vollziehen, ohne sich über das Verhältniss der zunächst sub-
jectiven Combination von Subject und Prädicat zu diesen Be-
stimmungen Rechenschaft zu geben. Damit ist es gerecht-
fertigt , das verneinende , hypothetische , disjunctive Urtheil
besonders zu betrachten, nicht als ob sie b es on dere Art en
des Urtheils wären, sondern weil sie Urtheile über Hy-
pothesen sind, die ihren logischen Werth und ihre logische
Bedeutung betreffen.
Es gibt also in der That nur einerlei Urtheilen, die kate-
gorische Aussage eines Prädicats von einem Subjecte; wenn
man überhaupt Form imd Inhalt beim Urtheil unterscheiden
will, so kann unter Form des Urtheils nur diejenige Thätig-
keitsweise unseres Denkens verstanden werden , durch welche
ein Urtheil als solches zu Stande kommt, und diese ist ihrem
Wesen nach überall dieselbe. Was gewöhnlich als Verschieden-
heit der Urtheilsf o r m e n aufgeführt wird, ist eine Verschieden-
heit des Inhalts, und hängt von der Beschaffenheit der
Subjecte und Prädicate ab ; je nachdem diese verschieden ist,
modificiert sich allerdings theils die dem Urtheil vorausgehende
Sigwart, Logik. 1. 2. Auflage. 20
306 I- § 38. Ergebnisse. 260
Bewegung des Denkens, theils der Sinn der Prädication, d. h.
der Einheit zwischen Subject und Prädicat, welche in allem
Urtheilen gedacht wird. Die traditionelle Lehre von den ver-
schiedenen Urtheilsf ormen (die zum Theil durch die Ge-
wohnheit vor allem den sprachlichen Ausdruck zu beachten
entstanden ist), verliert den einheitlichen Begriff, um dessen
willen allein alle als ürtheile bezeichnet werden können.
Die Voraussetzung alles Urtheilens ist also in erster Linie
das Vorhandensein einer Reihe von Prädicatsvorstellungen,
welche in den Subjecten wieder erkannt werden können, und
weiterhin die Vorstellung der verschiedenen Arten der Synthese
zwischen Prädicaten und Subjecten, welche, durch die Natur
der Subjecte und Prädicate bestimmt, den Sinn der einfachen
Aussage des Prädicats vom Subjecte ausmachen.
Will man die danach sich ergebenden Arten der im
ürtheil vollzogenen Synthese dennoch als Urtheilsformen
bezeichnen, so ist das zuletzt Sache des Sprachgebrauchs ; nur
darf damit nicht, wie es besonders in der Unterscheidung des
bejahenden und verneinenden Urtheils als entgegengesetzter
Urtheilsformen regelmässig geschah, der Gedanke ausgedrückt
werden , dass eine Mehrheit ursprünglich verschiedener und
coordinierter Denkacte durch den Namen Urtheil bezeichnet
werde. Sonst fehlt dem Worte der einheitliche Begriff, und
es ist blosses Homonym.
Zweiter, normatiyer Theil.
Die logische Vollkommenlieit der TJrtheile und
ihre Bedingungen, bestimmte Begriffe und
gültige Schlüsse.
20'
(
§ 39.
Soll der Zweck, zu gewissen und allgemeingültigen Sätzen
zu gelangen, durch den Vollzug der Urtheilsfunction wirklich
erreicht werden, so ist dazu vor allem nöthig , dass die G e-
wissheit des einzelnen ürtheils eine unver-
änderliche und mit demBewusstsein seiner
Allgemeingültigkeit verknüpft sei. Dies ist nur
möglich, wenn erstens der XJrth eilende sich des logischen
Grundes seines ürtheils bewusst ist, und wenn
zweitens die Elemente des Ürtheils selbst vollkommen be-
stimmt und constant, und von allen in derselben Weise ge-
dacht sind.
Die letztere Forderung verlangt, dass die Elemente un-
serer Urtheile, zunächst ihre Prädicate, logisch vollkom-
mene Begriffe seien ; die erstere, dass die Urtheile selbst
nach allgemeingültigen und noth wendigen Gesetzen des Den-
kens begründet seien.
1. Wir haben im ersten Theile das Dgiiken. aufgenom-
men, wie wir es thatsächlich vorfinden, und die Function des
Urtheilens analysiert, in welcher es sich überall bewegt , wo
es den Zweck der Wahrheit und Allgemeingültigkeit erreichen
will. Wir haben versacht, Sinn und Bedeutung des ürtheils
nach allen Beziehungen aufzuzeigen, und als ein wesentliches
Element jeder Behauptung den Anspruch gefunden , wahr,
d. h. nothwendig und darum für alleDenkenden
gültig zu sein.
Es handelt sich jetzt darum diesen Anspruch zu prüfen,
und die Bedingungen zji untersuchen, unter denen unser ür-
^5
310 11« Einleitung. 2ü4
theilen seinem Zweck entspricht; unter denen die momen-
tane Gewissheit, ohne welche kein Urtheil wirklich vollzogen
werden kann, keine Täuschung in sich schliesst, vielmehr der
Ausdruck objectiver Noth wendigkeit ist ; und unter denen
die Allgemeingültigkeit des individuellen Urtheilsactes ver-
bürgt ist.
2. Zur Vollkommenheit eines ürtheils gehört in erster
Linie, dass es für den Urtheil enden fest stehe und
als dasselbe sich stets wiederholen lasse , sobald zu denselben
Subjecten und Prädicaten zurückgekehrt wird , ^^aas mithin
auch seine Gewissheit eine unveränderliche sei.
Wenn dieselbe Synthese demselben zu verschiedenen Zeiten
das einemal gewiss, das anderemal ungewiss wäre; wenn die
Verknüpfung derselben Subjecte und Prädicate nicht in dem-
selben Sinne gälte, soweit sich dasselbe einheitliche Bewusst-
sein erstreckt; wenn ich für möglich hielte, dass ich von
denselben Voraussetzungen aus in der Zukunft vielleicht anders
urtheilte, als jetzt : dann könnte ein solcher Urtheilsact unmög-
lich seinen Zweck erreicht haben, in welchem von selbst das
Beruhen in der unumstösslichen Gültigkeit des ürtheils liegt.
Die Gewissheit aber , dass es bei einem Urtheile bleibt,
dass die Synthese unwiderruflich ist, dass ich immer dasselbe
sagen werde — diese Gewissheit kann nur dann vorhanden
sein, wenn erkannt ist, dass die Gewissheit nicht auf momen-
tanen und mit der Zeit wechselnden psychologischen
Motiven ruht, sondern auf etwas, was jedesmal,
wenn ich denke, unabänderlich dasselbe und von
allem Wechsel unberührt ist ; und dies ist einerseits mein
Selbstbewusstsein selbst, die Gewissheit Ich bin und
denke , die Gewissheit Ich bin Ich, derselbe , der jetzt denkt
und früher gedacht hat, der dieses und jenes denkt ; und ander-
seits das, worüber ich urtheile, das Gedachte selbst nach
seinem gleichbleibenden, von mir in sei n er Iden-
tität anerkannten Inhalt, der ganz unabhängig von
den individuellen Zuständen der Denkenden ist.
Die Gewissheit, dass Ich bin und denke, ist die absolut
letzte und fundamentale , die Bedingung alles Denkens und
aller Gewissheit überhaupt; hier kann nur von der unmittel-
265 § 39. Die Bedingungen vollkommener Urtheile. 311
baren Evidenz die Rede sein , man kann nicht einmal sagen,
dass dieser Gedanke nothw^endig ist, sondern er ist vor aller
Nothvi^endigkeit. Und ebenso unmittelbar und evident ist
die Gev^issheit des Bewusstseins , dass ich dieses und dieses
denke ; sie ist mit meinem Selbstbewusstsein unauflöslich ver-
flochten, das eine mit dem anderen gegeben.
Gibt es nun eine Nothwendigkeit , mit der ich , sobald
ich etwas mit Bewusstsein vorstelle , nun auch so und nicht
anders darüber urtheilen muss; kann ich zum Bewusstsein
gelangen, dass ich, so gewiss ich derselbe bin, dieses Subject
und dieses Prädicat gerade so verknüpfen muss, lediglich weil
ich eben dies denke : so ruht die Gewissheit jedes bestimmten
Urtheils auf der Einsicht in diese Nothwendigkeit; ich bin
mir damit seines logischen Grundes bewusst, und damit
ist das Urtheil mit meinem Selbstbewusstsein selbst verknüpft,
ich weiss, dass ich es so gewiss immer als dasselbe wieder-
holen muss, als ich selbst derselbe bin.
Die erste Forderung lautet also : Damit einUrtheil
vollkommen sei, muss d e r ü r t h ei 1 e n d e sich
des logischen Grundes desselben bewusst sein.
8. Unter welchen Bedingungen lässt sich zu diesem Be-
wusstsein gelangen?
Wenn ein meinem Bewusstsein gegenwärtiges A als der
Grund gelten soll, der ein Urtheil B logisch nothwendig
macht: so ruht die Nothwendigkeit auf einem constanten
Gesetz, vermöge dessen immer und ausnahmslos B aus A
folgt, und nur in soweit ist sie eine erkennbare; dass aber
A gegenwärtig ist, ist ein r e i n F a c t i s c h e s, das vorhanden
sein muss , damit die Nothwendigkeit wirksam werde. Das
Bewusstsein des Grundes zerfällt also in das Bewusstsein
des Gesetzes, vermöge dessen B aus seinen
Voraussetz ungenfolgt, und in das Bewusstsein
dieser Voraussetzungen.
Sind diese Voraussetzungen selbst keine
Urtheile, sondern anders geartete Objecte meines Bewusst-
seins, über die es nur das einfache Wissen gibt, dass ich sie
eben jetzt vorstelle , Sinnesempfindungen , reproducierte Vor-
stellungen aller Art, dem Bewusstsein gegenwärtige Begriffe:
(1.
312 II. Einleitung. 266
so sind wir mit der logischen Nothwendigkeit bereits bei
einem Letzten angelangt, das als ein rein Thatsächliches
zu betrachten ist, und bei dem nur gefragt werden kann, was
nun mit Nothwendigkeit daraus hervorgeht. Das Urtheil,
dass der Kreis gleiche Halbmesser habe, beruht auf dem Be-
grifi* des Kreises ; dieser Begriff, oder die Anschauung aus der
er entsteht , ist ' aber /.uletzt ein Factisches, und keine
allgemeine logische Nothwendigkeit kann aufgezeigt werden,
dass dieses geometrische Gebilde überhaupt in meineai Bewusst-
sein erscheine, sei es mit Hülfe der Anschauung äusserer Ob-
jecte, sei es auf dem Wege erfindender Construction. Jedes
Wahrneb mungsurtheil hat unter seinen Voraussetzungen das
unmittelbare Bewusstsein einer Sinnesempfindung; dieses ist
ein rein Thatsächliches, und es kann wohl gefragt werden,
ob diese Sinnesempfindung unter normalen Bedingungen zu
Stande gekommen sei und darum ein Urtheil über ein Seiendes
zulasse, d. h. es kann gefragt werden, was mit allgemein-
gültiger Nothwendigkeit aus dem einfachen Factum einer sub-
jectiven Empfindung folge , aber dass die Sinnesempfindung
da ist, kann niemals Gegenstand einer logischen Nothwendig-
keit, sondern nur des unmittelbaren Bewusstseins einer ein-
fachen Thatsache sein.
Sind dagegen die Voraussetzungen selbst wie-
der Urtheile: so zerlegt sich das Bewusstsein der Noth-
wendigkeit einerseits in das Bewusstsein der Gesetze
nach denen aus Urtheilen andere Urtheile
folgen (d. h. der Regeln der Folgerung), andererseits in das
Bewusstsein der Gültigkeit derVoraussetz-
u n g e n. Auf diese finden aber wieder dieselben Forderungen
Anwendung, dass man sich des Grundes dieser Urtheile be-
wusst sein müsse ; und nur diejenigen Urtheile sind davon
ausgeschlossen, deren evidente Gewissheit als eine ebenso un-
mittelbar thatsächliche angesehen werden müsste, als das Ich
denke oder das Dasein bestimmter Vorstellungen , und bei
denen eine Analyse ihrer Gewissheit durch ein Bewusstwerden
ihrer Nothwendigkeit nicht mehr möglich ist ; und ebenso Ur-
theile, deren Inhalt die fundamentalen Gesetze aller Nothwendig-
keit bilden , nach denen alles nothwendig ist , und deren
1
267 § 39. Die Bedingungen vollkommener Urtheile. 313
Gültigkeit darum nur anerkannt, nicht aber aus einem andern
als nothwendig eingesehen werden kann ; die so gewiss sind,
als der Satz »Ich bin« selbst, oder von denen gezeigt werden
kann, dass ihre Gewissheit eben mit der Gewissheit dieses
Satzes nothwendig gegeben ist.
Die ganze Möglichkeit einer Logik, welche Normalgesetze
für das Denken aufstellen will , ruht demnach auf der Mög-
lichkeit, sich solcher letzter Gesetze bewusst zu werden , und
sie als etwas absolut Gewisses und Evidentes zu entdecken.
Als ihre Aufgabe ergibt sich jetzt aber, nicht das unerschöpf-
liche Thatsächliche und Individuelle zu verfolgen, das im
Einzelnen die factischen Voraussetzungen unserer ürtheile
ausmacht, sondern eben jene Gesetze darzulegen, nach welchen
bestimmte Vorstellungen ürtheile, bestimmte ürtheile andere
ürtheile logisch nothwendig machen und ihre Gewissheit be-
gründen, und dazu gehört, was wir schon in der Einleitung
§ 3 als Postulat aufgestellt haben , dass wir nemlich die
Fähigkeit haben, objectiv nothwendiges Denken zu unterschei-
den an der Evidenz, durch die es sich ankündigt, und durch
Analyse der Bedingungen dieser Evidenz jene allgemeinen
Gesetze aufzustellen. Ob jenes Postulat gegründet ist, kann
nur die Ausführung rechtfertigen.
4. Die unveränderliche Gültigkeit und feste Gewissheit
eines ürtheils hat aber noch weiter zurückliegende Beding-
ungen, welche im Laufe des natürlichen Denkens nicht erfüllt
sind, nemlich die Con stanz und völlige Bestimmtheit
der Vorstellungen, welche durch die Subjects- und Prä-
dicatswÖrter bezeichnet sind. Das Bewusstsein der Identität
eines ürtheils haftet zunächst an seinem sprachlichen Aus-
druck, daran, dass i n W o r t e n dasselbe von demselben aus-
gesagt wird, und dieser sprachliche Ausdruck ist für das Prädicat
immer, für das Subject wenigstens in den erklärenden und
allgemeinen ürtheilen vorausgesetzt. Wenn nicht jedem Worte
immer genau dieselbe Bedeutung entspricht und diese
also vollkoiTimen bestimmt und fixiert ist, so ist keine Mög-
lichkeit, bei der Wiederholung desselben Satzes der Wieder-
holung desselben ürth ei Is gewiss zu sein, und der Sinn des
ürtheils selbst wird schwankend. Die Gefahr, dass diese Ver-
314 n. Einleitung. 268
wirrung eintrete, ist um so grösser, da (nach § 7, 8 S. 51)
durch das fortschreitende Urtheilen selbst die Prädicats Vor-
stellungen sich verschieben, und unser gewöhnliches Urtheilen
häufig durch die blosse unbestimmte Aehnlichkeit eines Neuen
mit einem Bekannten geleitet wird. Als die Marcomannen
die Löwen, welche Marc Aurel gegen sie losliess , für Hunde
ansahen und sie ohne umstände todtschlugen , so meinte ihr
ürtheil »dies sind Hunde« zunächst nur, dass die Löwen von
den ihnen bekannten Thieren den Hunden am ähnlichsten
sehen ; aber zugleich veränderte sich ihnen die allgemeine
Vorstellung des Hundes und die Bedeutung des Wortes, in
welche ein neues Bild aufgenommen wurde.
Ebenso ist die Allgemeingültigkeit der ürtheile
zwar durch ihre Nothwendigkeit verbürgt, aber eben nur so,
dass , wer von denselben Voraussetzungen ausgeht , dieselbe
Synthese vollziehen muss. Wären aber die letzten Voraus-
setzungen, die Vorstellungs-Elemente zwischen denen die Syn-
these stattfindet, durchweg individuell verschieden und in-
commensurabel , so dass bei demselben Worte jeder wieder
etwas anderes, wenn auch noch so wenig Verschiedenes dächte :
so könnte die Allgemeingültigkeit der ürtheile niemals factisch
eintreten, sondern höchstens annäherungsweise erreicht werden ;
und die durch die Sprache angestrebte Gemeinschaft des Denkens,
welche Bedingung seiner höheren Entwicklung, und insbe-
sondere aller Wissenschaft ist, würde niemals völlig realisiert.
Nun ist , nach den Ausführungen des § 7 , in dem na-
türlichen Gange unseres Denkens weder die Constanz und
völlige Bestimmtheit der individuellen Vorstellungen , noch
die Uebereinstimmung derselben in den verschiedenen Indi-
viduen und ihre gemeinsame sprachliche Bezeichnung erreicht ;
vielmehr ist gerade durch die Gesetze, welche die natürliche
Bildung der Vorstellungen beherrschen, sowohl ihre Verän-
derlichkeit in dem Einzelnen, als ihre Differenz in Verschie-
denen notb wendig gesetzt; und damit auch die Unsicherheit
der sprachlichen Bezeichnung.
Ehe also von der vollkommenen logischen Gewissheit
eines Urtheils und seiner unabänderlichen Gültigkeit die Rede
sein kann, muss erst feststehen, dass, was als dasselbe Ur-
269 § 39. Die Bedingungen vollkommener TJrtheile. 315
theil erscheint, weil es sprachlich gleich lautet, auch wirklich
dasselbe Urtheil ist, in welchem dasselbe von demselben aus-
gesagt wird ; und ehe von der Allgemeingültigkeit eines be-
stimmten Urtheils, in concreto also von seiner Verständlich-
keit und Ueberzeugungskraft für jeden Andern die Rede sein
kann, muss feststehen, dass es gemeinschaftliche und in allen
übereinstimmende Vorstellungen enthält. Der ideale Zustand
des vollkommenen Denkens schliesst die natürliche Anarchie
vollkommen aus; und die Logik, welche die Normalgesetze
des vollkommenen Denkens aufstellen will, muss vor allem die
Forderungen bestimmen, welche an die Vorstellungen
selbst alsVoraussetzungen des Urtheils zu stellen sind.
5. Daraus ergeben sich zwei Hauptaufgaben unseres
Theils.
a. Die Bedingung der Möglichkeit vollkommener
TJrtheile ist durchgängige Constanz, vollkommene
Bestimmtheit, allgemeine Uebereinstimmung
und unzweideutige sprachliche Bezeichnung der
Vorstellungen, welche als Prädicate beziehungsweise als Sub-
jecte in das Urtheil eingehen. Eine Vorstellung, welche diese
Forderungen erfüllt, nennen wir Begriff im logischen
Sinne des Wortes. Ein erster Abschnitt hat also die
Forderungen zu untersuchen, welche darin enthalten sind, dass
unsere Vorstellungen Begriffe sein sollen.
b. Die Bedingung der logischen Nothwendigkeit
und Allgemeingültigkeit der Urtheile ist, dass sie b e-
gründet sind. Eine zweite Untersuchung hat die Regeln
aufzustellen, nach denen ein Urtheil mit Nothwendigkeit aus
seinen Voraussetzungen hervorgeht.
In dem einen Abschnitt derselben sind die Gesetze zu
untersuchen, nach welchen unmittelbare Urtheile be-
gründet sind durch die Vorstellungen, welche in sie eingehen ;
in dem andern die Gesetze, nach welchen vermittelte Ur-
theile durch andere Urtheile begründet sind.
Erster Abschnitt.
Der Begriff.
§ 40.
Der Begriff im logischen Sinne unterscheidet
sich von der im natürlichen Laufe des Denkens gewordenen
und durch ein Wort bezeichneten allgemeinen Vorstellung durch
seine Constanz, durchgängige feste Bestimmtheit und die
Sicherheit und Allgemeingültigkeit seiner Wortbezeichnung;
er unterscheidet sich von dem Begriff im metaphysi-
schen Sinne als dem adäquat gedachten Wesen eines Ob-
jects dadurch, dass er nur die vollkommene Fixierung unserer
Prädicatsvorstellungen zur Aufgabe hat, und diese Aufgabe
direct davon unabhängig ist, ob er einem realen Objecte über-
haupt, oder ob er ihm adäquat entspricht. Die Bestimmung
der Allgemeinheit ist ihm mit jeder Vorstellung als solcher
gemeinsam; das unterscheidende Wesen des Begriffs ist viel-
mehr die festeBegrenzung und sichereUnter Schei-
dung gegenüber von allen übrigen, und das Ziel aller Be-
griffsbildung im logischen Sinne eine für alle Denkenden
gleiche Ordnung ihres manigf altigen Vorstel-
lungsgehalts; und damit die allseitige planmässige Vollen-
dung dessen, was die Sprache überall schon ohne bewusste
Absicht begonnen hat.
1. Wenn von »Begriffen« die Rede ist , so ist ein drei-
facher Sinn zu unterscheiden , in welchem das Wort genom-
men wird. Einerseits bezeichnet es ein natürliches psy-
271 § 40. Wesen des logischen Begriffs. 317
chologisches Erzeugniss, und ist das einfache innere
Correlat des Wortes wie es im gewöhnlichen natürlichen
Sprechen gebraucht wird ; es ist die Vorstellung auf der Stufe,
auf der sie ein innerer Besitz geworden ist, dadurch die § 7
erläuterte Allgemeinheit gewonnen hat, die jeder Vorstellung
als solcher zukommt, und nun fähig ist als Element, insbe-
sondere als Prädicat des ürtheils verwendet zu werden. Dass
diese Vorstellungen individuell different und im Werden be-
griffen sind, dass sie im einzelnen Individuum selbst sich um-
bilden und also dasselbe Wort selbst für denselben nicht immer
gleiche Bedeutung hat, haben wir oben gesehen; und es ist
genau genommen eine Fiction, welche das Individuelle ver-
nachlässigt, wenn man von den Begriffen redet, welche die
im gewöhnlichen Sprechen gebrauchten Wörter bezeichnen.
2. Dieser empirischen Bedeutung steht eine ideale
gegenüber , wonach der Begriff den Zielpunkt unseres
Erkenntnissstrebens insofern bezeichnet, als in ihm ein
adäquates Abbild des Wesens der Dinge gesucht, und gefor-
dert wird, dass, wer den Begriff einer Sache habe, sie dadurch
in ihrem innersten Kern^ durchschaue, sie begreife, d. h.
ihre einzelnen Bestimmungen als nothwendige Folge ihres
einheitlichen Wesens in ihrem Zusammenhange einsehe. So
wäre die Physiologie vollendet, wenn sie den Begriff des Le-
bens, die Chemie und Physik, wenn sie den Begriff der Ma-
terie, die Psychologie, wenn sie den Begriff' des Geistes in
diesem Sinne besässe; und unser ganzes Erkennen hätte von
dieser Seite sein Ziel erreicht, wenn ein System von Begriffen
aufgestellt wäre, in welchem das Seiende ohne Rest nach
seiner Wahrheit enthalten wäre. Wollen wir uns ein abso-
lutes, göttliches Erkennen denken : so bestimmen wir es da-
hin, dass in der absoluten Intelligenz Begriff und Sein Eins
sei. In diesem Sinne redet man wohl von der Wahrheit
unserer Begriffe ; sie sind wahr, wenn sie in sich der er-
schöpfende Ausdruck des Wesens der Dinge sind. Der wahre
Gottesbegriff wäre derjenige, der in seinen Bestimmungen das
reale Wesen Gottes nach allen Seiten als ein Gedachtes enthielte.
3. Zwischen jener empirischen und dieser metaphysischen
Bedeutung des Worts liegt die logische, welche uns hier
318 n, 1. Der BegriflP. 272
allein beschäftigt, und welche durch die logische Forderung
bestimmt ist, dass unsere Urtheile gewiss und allgemeingültig
seien. Dadurch ist zunächst nur die durchgängige Festig-
keit und Bestimmtheit unserer Vorstellungen und ihre
Uebereinstimmung in allen gefordert, die sich desselben
Bezeichnungssystemes bedienen; in welcher Beziehung das
Gedachte zum Seienden steht, ob ihm absolut congruent
oder nicht , ist direct wenigstens durch diese Aufgabe noch
nicht bestimmt. Ja wir müssen, da unsere Erkenntniss überall
im Werden begriffen ist, voraussetzen, dass in jedem gegebenen
Zeitpunkt in unseren Vorstellungen weniger gesetzt ist , als
im Seienden; unsere Vorstellungen im besten Falle überein-
stimmende, aber nicht erschöpfende Darstellungen des Seienden
sind. Wäre die Allgemeingültigkeit unserer Urtheile davon
abhängig, dass ihre Elemente vollkommene Begriffe im meta-
physischen Sinne sind, und wäre die individuelle Differenz und
Unbestimmtheit der Vorstellungen nicht früher zu beseitigen,
als ihre Inadäqnatheit mit dem Seienden : so wäre dem Ziel
der Erkenntniss nicht einmal in allmählichem Fortschritt der
Wissenschaft näher zu kommen, denn Wissenschaft setzt überall
übereinstimmende Begriffsbildung voraus. Wir müssen also
die formale Brauchbarkeit der Begriffe zum Zweck des
Urtheilens von der metaphysischen Adäquatheit noth-
wendig unterscheiden, und wenigstens die Möglichkeit voraus-
setzen, dass jene früher zu erreichen sei, als diese.
4. Von dem Gesichtspunkt der logischen Vollendung des
Begriffs ist endlich der der Zweckmässigkeit der Begriffs-
bildung zu trennen, der im Zusammenhang mit den Aufgaben
der Classification eines bestimmten Gebiets von gegebenen
Objecten (Dingen, Handlungen, Verbrechen u. s. w.) steht.
Ein Begriff kann vollkommen bestimmt und insofern logisch
vollkommen und doch einem andern gegenüber weniger ge-
eignet sein, den Bedürfnissen der Wissenschaft zu dienen,
welche darauf ausgeht, mit Hülfe der Begriffe und ihrer Be-
zeichnungen die grösstmögliche Einfachheit und Abkürzung
unseres Wissens zu erreichen und darum die Frage stellt :
Wie müssen die Begriffe gebildet werden, um die werthvollsten
Vind umfassendsten allgemeinen Urtheile in einfachstem Aus-
273 § 40. Wesen des logisclien ßegrifiPs. 319
druck möglicli zu machen? Dieser Gesichtspunkt wird der
leitende in der Methodenlehre, welche von den durch die
Natur der Bedingungen unseres Erkennens gegebenen Auf-
gaben ausgeht.
Dagegen entsteht allerdings, wenn die Aufgabe der lo-
gischen Vollkommenheit unserer Urtheile wirklich erfüllt wer-
den soll, die Forderung, dass die logisch vollkommenen Be-
griffe immer soweit reichen, um Alles, was Gegenstand unserer
Urtheile wird, mit ihrer Hülfe ausdrücken und bestimmen zu
können ; da unser Urtheilen nicht bloss Bekanntes wiederholt,
sondern immer Neues und Neues ergreift, so ist extensiv
die Möglichkeit vollkommener Urtheile dadurch bedingt, dass
durch begriffliche Peststellung des ganzen menschlichen Vor-
stellungsmaterials für alles die Begriffe bereit seien, durch
welche unsere Erkenntniss ausdrückbar ist, oder dass sie we-
nigstens aus den schon begrifflich fixierten Elementen sicher
hergestellt werden - können ; ähnlich wie das Ideal eines allge-
meinen Alphabets die übereinstimmende Bezeichnung aller
dem menschlichen Sprachorgane möglichen unterscheidbaren
einfachen Laute in sich schliesst. In diesem Sinne hat Leibniz
in der Idee der Characteristica universalis dem Ziel aller lo-
gischen Begriffsbildung einen vollkommen zutreffenden Ausdruck
gegeben *).
5. Man pflegt als die wesentliche Bestimmung des Be-
griffs die Allgemeinheit aufzustellen**); und lehrt im Zu-
*) Vergl. Trendelenburg: Ueber Leibnizens Entwurf einer allge-
meinen Charakteristik. Histor. Beitr. zur Philos. III, S. 1 ff. Cartesius
Ep. I, 111, wo er einen ähnlichen Gedanken entwickelt: Ejusmodi
linguae inventio a vera Philosophia pendet. Absque illa enim impos-
sibile est omnes hominum cogitationes enumerare, aut ordine digerere ;
imo neque illas distinguere, ita ut perspicuae sint et simplices. . . Et
si quis clare explicuisset, quales sint ideae illae simplices, quae in ho-
minum imaginatione versantur, et ex quibus componitur quiciquid illi
cogitant, essetque hoc per Universum orbem receptum, anderem demum
sperare linguam aliquam universalem etc.
**) So Kant in der transsc. Aesthetik ^2, 4 : Man muss einen jeden
Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge
von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches
Merkmal) enthalten ist, mithin diese unter sich enthält.
320 n, 1. Der Begriff. 274
sammenhange damit, dass die Begriffe durch Abstraction
gewonnen werden, d. h. durch einen Process, in welchem die
gemeinschaftlichen Merkmale einzelner Objecte von den sie
unterscheidenden gesondert, und jene zur Einheit zusammen-
gefasst werden. Aber diese Ansicht vergisst dass , um ein
vorgestelltes Object in seine einzelnen Merkmale aufzulösen,
schon Urtheile nothwendig sind, deren Prädicate allgemeine
Vorstellungen (nach gewöhnlicher Redeweise Begriffe) sein
müssen; und dass diese Begriffe zuletzt irgendwie anders
als durch solche Abstraction gewonnen sein müssen , da sie
den Process dieser Abstraction erst möglich machen. Sie ver-
gisst ferner, dass bei diesem Process vorausgesetzt wird, dass
der Kreis der zu vergleichenden Objecte irgend-
wie bestimmt sei, und sie setzt stillschweigend ein Motiv
voraus gerade diesen Kreis zusammenzufassen und das Gemein-
schaftliche zu suchen. Dieses Motiv kann , wenn nicht abso-
lute Willkür herrschen soll*), zuletzt nur -das sein, dass jene
Objecte zum Voraus als ähnlich erkannt werden, weil sie alle
einen bestimmten Inhalt gemeinsam haben, d. h., dass bereits
*) Es ist consequent, wenn Drobisch (Logik 3. Aufl. § 18. S, 20)
diese Willkür ausdrücklich zulässt. »Es ist an sich völlig willkürlich ^
welche Objecte wir miteinander vergleichen wollen ; man kann einen
Himbeerstrauch mit einem Brombeerstrauch, aber auch mit einem Feder-
messer oder einer Schildkröte vergleichen. Wenn dann aber als Beispiel
solcher »gesuchter Vergleichungen« das Linnä'sche System angeführt
wird, das sehr verschiedene Pflanzen in einer Classe vereinige, so ist
übersehen, dass die Begriffe, welche die Linne'schen Classen bestimmen,
nicht auf diesem einfachen und directen Wege der Vergleichung ent-
standen sind. Denn dieser hebt nur das Gemeinsame beliebig zu-
sammengenommener Objecte hervor, die Linnd'schen Classen aber sind
im Gegentheil aus dem Bestreben hervorgegangen einfache Unter-
scheidungsmerkmale zu finden, durch welche die unabsehbare
Manigfaltigkeit der Pflanzen in bestimmte Gruppen eingetheilt werden
könnte; das erste war die Einsicht, dass die Pflanzen sich durch die
Zahl der Staubfäden u. s. w. unterscheiden, und dann erst die
Methode , die darin übereinstimmenden zusammenzufassen. Eine Ver-
gleichung im weiteren Sinne lag natürlich auch jener Unterscheidung
zu Grunde; aber sie war zuerst darauf gerichtet, Unterschiede und
nicht allen verglichenen Objecten Gemeinsames zu finden. (Die beiden
letzten Sätze mit Rücksicht auf die Gegenbemerkungen von Drobisch,
5. Aufl. S. 21.)
275 § 40. Wesen des logischen Begriffs. 321
eine allgemeine Vorstellung da ist, mit Hülfe welcher diese
Objecte aus der Gesammtheit aller ausgeschieden werden. Die
ganze Lehre von der Begrifisbiidung durch Vergleichung und
Abstraction hat nur dann einen Sinn, wenn, wie es häufig
geschieht, die Aufgabe vorliegt, das Gremeinschaftliche
derthatsächlich durch denallgemeinen Sprach-
gebrauch mit demselben Worte bezeichneten
Dinge anzugeben, um daraus die factische Bedeutung des Worts
sich deutlich zu machen. Wenn verlangt wird , den Begriff
des Thiers, des Gases, des Diebstahls u. s. av. anzugeben , da
kann man versucht sein, so zu verfahren, dass man die gemein-
schaftlichen Merkmale aller der Dinge, welche übereinstimmend
Thiere, aller der Körper, welche Gase, aller der Handlungen,
welche Diebstahl genannt werden, aufsucht *). Ob es gelingt ;
ob diese Anweisung zur Begriffsbildung ausführbar ist, das ist
*) Dies ist im Wesentlichen auch das Verfahren der socratischen
Begriffsbestimmung, welche immer davon ausgeht, dass den geläufigen
Wortbedeutungen bestimmte Begriffe entsprechen, und ihr Verfahren
nun so einrichtet, dass durch Vergleichung einzelner Beispiele von
Solchem, was mit dem Worte benannt wird, und durch Gegenüber-
stellung von Anderem, was mit dem Worte nicht benannt wird, die
Erklärung gefunden wird. Der Unterschied ist nur, dass Socrates nicht
darauf ausgeht, alles Einzelne durchzugehen, sondern an einzelnen Bei-
spielen sich genügen lässt. Von diesem socratischen Verfahren, das
immer voraussetzt, dass den Wörtern der Sprache Begriffe entsprechen
müssen, ist im Grunde die Lehre vom Begriff bis auf den heutigen Tag
abhängig gewesen ; von ihm stammt die Gewohnheit , den Begriff im
psychologischen und den Begriff' im logischen Sinne nicht zu unter-
scheiden. Das Bedürfniss jenes Verfahrens und seine Bedeutung ruht
zuletzt darauf, dass in jeder durch Tradition erlernten Sprache zuerst
feststeht, welche concreten Dinge und Vorgänge traditionell mit einem
gewissen Worte benannt werden, und gemäss der Entstehung des Ver-
ständnisses der Wörter sich zunächst die Vorstellung einer Keihe von
einzelnen Objecten mit dem Worte verknüpft, ehe die allgemeine Wort-
bedeutung als solche zum Bewusstsein kommt. Die Antwort des Theätet
auf die Frage: Was ist iniozYiiiy^ ? ~ es ist die Mathematik u. s. w. ist
in dieser Hinsicht typisch.; Kinder und wissenschaftlich ungeschulte
Leute werden immer mit dem Beispiel, statt mit der Definition ant-
worten ; das socratische Verfahren dient zunächst dazu, auf die Wort-
bedeutung als solche zu führen, welche den einzelnen Benennungen zu
Grunde liegt.
Sig wart, Logik. I. 2. Auflage. 21
322 n, 1. Der Begriff. 276
eine andere Frage ; sie Hesse sich hören, wenn man voraussetzen
könnte, dass es nirgends zweifelhaft ist, was man Thier, Gas,
Diebstahl zu nennen habe , — d. h. wenn man den Begriff,
den man sucht, in Wahrheit schon hat. Einen Begriff so
durch Abstraction bilden wollen, heisst also die Brille suchen,
die man auf der Nase trägt, mit Hülfe eben dieser Brille.
6. Das Wahre, was dieser Lehre zu Grunde liegt, ist
hinsichtlich der Allgemeinheit des Begriffs zunächst das, dass
die logischen Begriffe die natürlich entstandenen Vorstellungen
meist nicht zu ersetzen, nur zu vollenden haben. Die Natur
unseres Vorstellens selbst vermögen wir nicht zu ändern und
die natürlichen Bildungen sind immer die Voraussetzung der
kunstgerecht gebildeten Begriffe. Nun haftet jeder Vorstel-
lung, sofern sie von der ursprünglichen Einzelanschauung
oder einzelnen Function losgerissen und als ein reproducier-
bares Object in unsern inneren Besitz übergegangen ist, die
Allgemeinheit vermöge ihrer Natur an ; und diese Natur ver-
mag keine Willkür aufzuheben. Nur dass diese Allgemeinheit
vorhanden ist unabhängig davon, ob eine Vorstellung sich aus
Einer Anschauung oder aus vielen gleichen oder verschiedenen
gebildet hat (§ 7) , und nur das sagen will , dass , wie sich
Kant vorsichtig ausdrückt, eine Vorstellung in unendlich vielen
möglichen Vorstellungen enthalten ist ; ob in vielen wirk-
lichen, ist der Natur der Vorstellung und des Begriffs gegen-
über gleichgültig; und ebenso gleichgültig, ob sie aus vielen
oder einer einzigen entstanden ist.
Die Betonung der Allgemeinheit des Begriffs hat aber
darin noch eine weitere Berechtigung, dass sie die vollkom-
mene Losreissung der Bedeutung eines Wortes von den ein-
zelnen Anschauungen fordert, um den Sinn des Urtheils rein
und bestimmt zu erhalten , und an die Stelle einer vagen
Vergleichung ein Urtheil zu setzen, das wirklich eine Einheit
von Subject und Prädicat ausspricht. Wer zum erstenmal
eine Palme sieht und sie »Baum« nennt, wird zunächst von
der Aehnlichkeit ihres Gesaramtanblicks mit den Tannen und
Buchen u. s. w. geleitet , welche er kennt , und deren Bilder
ihm bei dem Worte »Baum« vorschweben, ohne dass er sich
Rechenschaft darüber gegeben hätte, worin die Aehnlichkeit
277 § 40. "Wesen des logischen Begriffs. 323
besteht ; das Urtheil : Die Palme ist ein Baum , ist nur dann
als ein eigentliches ürtheil im strengen Sinne gerechtfertigt,
wenn unter »Baum« nichts weiter verstanden wird, als was der
Palme mit Tannen, Buchen u. s. w. gemeinschaftlich ist ; nur
dann ist das Urtheil nicht bloss in dem uneigentlichen Sinne
genommen : die Palme ist einem Baum ähnlich, sondern in
dem eigentlichen: was ich unter »Baimi« denke, finde ich
ganz in der Palme wieder. Dazu ist allerdings nöthig, mit
Bewusstsein das Gemeinsame alles dessen, was ich Baum nenne,
auszusondern ; aber das Hauptinteresse dabei ist nicht, zu dem*
Einzelnen ein Allgemeines zu finden , sondern nur das schon
unbestimmt und mit dem Einzelnen vermischt gedachte All-
gemeine sicher zu fixieren und scharf abzugrenzen und so dem
Urtheil seinen bestimmten Sinn zu geben, damit zugleich den
Process zu vollenden , der sich unbewusst immer einleitet.
Denn schon durch unwillkürlich wirkende psychologische Ge-
setze entstehen einerseits aus manigfaltigen ähnlichen Anschau-
ungen Gesammtbilder, in welchen die Differenzen der einzelnen
Bilder untergegangen sind , verschiebbare Schemate , welche
unsern Wörtern entsprechen; es findet also allerdings ein
Verlust des Unterschiedenen und ein Festhalten des Gemein-
samen statt , nur nicht vollständig , weil nicht auf Grund
bewusster Vergleichung und Unterscheidung der einzelnen
Merkmale ; eben diese hat eine bewusste Vergleichung nach-
zuholen (§7, 11 S. 55 f.). Ebenso ist richtig, dass mit der un-
willkürlichen Bildung unserer Vorstellungen das eintritt, was
allein Abstraction heissen sollte, die trennende Abstrac-
tion, vermöge der das in der Anschauung ungetheilte Ganze
in Ding, Eigenschaft und Thätigkeit zerlegt, und die aus dieser
Einheit losgerissenen, abstracten Vorstellungen gebildet werden,
welche allein möglich machen. Verschiedenes zu vergleichen,
und nach der einen Seite gleich, nach der andern verschieden
zu finden, weil sie allein die Prädicate zu den Urtheilen lie-
fern, in welchen die bewusste Vergleichung und Unterschei-
dung sich vollzieht; und ebenso ist richtig, dass eine unter
diesen Voraussetzungen vollzogene Vergleichung von Objecten,
die theilweise übereinstimmen, die mehr oder weniger zufällige
Veranlassung zur Bildung neuer Begriffe werden kann,
21*
Sä4 n, 1. Der Begriff. 278
Wäre im Kreise der sichtbaren Gegenstände dieselbe Farbe
und Form immer vereinigt, so würden wir weit schwerer dazu
kommen, die Vorstellung der Farbe für sich und die der Form
für sich zu bilden, d. h. aus dem gegebenen Ganzen zu ab-
strahieren ; aber eine bewusste Vergleichung der verschiedenen
rothen Dinge nach ihrer Farbe ist nur möglich , wenn jene
Abstraction schon vollzogen ist, oder wenigstens zugleich mit
jener Abstraction. Die Vergleichung des Pferdes, des Hundes,
der Eidechse mag zufällig einmal darauf führen, den Begriff
des vierfüssigen Thieres zu bilden , wenn gerade die Ueber-
einstimmung der vier Füsse auffällt (viel sicherer freilich
führt die Unterscheidung darauf, welcher der Unter-
schied der Vierfüsser von Menschen und Vögeln, Käfern und
Fliegen einerseits, Schlangen und Schnecken andrerseits zum
Bewusstsein kommt) und in ähnlicher Weise entstehen eine
Menge von Verallgemeinerungen. Aber weder sind diese Pro-
cesse , in dieser Weise vollzogen , absichtliche und kunst-
mässige, noch ist ihr Product ein solches , das den logischen
Bedürfnissen schon entspricht. Denn den Merkmalen, welche
bei der Vergleichung übereinstimmend gefunden werden, haftet
noch immer, wenn sie in dieser zufälligen Weise aufgegriffen
werden , die natürliche Unbestimmtheit und Unbegrenztheit
an, welche Folge der Expansivkraft unserer Vorstellungen
und ihres Bestrebens Aehnliches an sich anzuschliessen und
unter dieselbe Bezeichnung zu stellen ist; und der ganze
Process schwebt in der Luft , solange nicht die Merkmale
selbst, welche Prädicate der Vergleichungsurtheile sind, voll-
kommen bestimmt und übereinstimmend fixiert sind. Es ist
einer der Hauptmängel der gewöhnlichen Lehre vom Begriff,
dass sie verfährt als wären die Merkmale von selbst gegeben
und in Beziehung auf sie gar kein weiteres Verfahren nöthig ;
während die ungeheure Schwierigkeit, aus dem natürlichen
Zustand, in welchem jeder seine eigene Sprache spricht, her-
auszukommen, viel weniger in den Processen der Vergleichung
selbst als in der Aufstellung genauer und übereinstimmender
Massstäbe der Vergleichung, d. h. in der begrifflichen Fixierung
dessen besteht, was als Merkmal verwendet werden soll.
7. Was den logisch vollkommenen Begriff von der na-
279 § 40. Wesen des logisclaeii Begriffs. 325
türlich gewordenen VorsteMung, welche dem gewöhnlichen
Reden zu Grunde liegt, unterscheidet, ist, dass der natürlichen
Expansivkraft der Yorstellungsbildung eine negative, begren-
zende, Form und Consistenz gebende Thätigkeit gegenüber-
getreten ist. Sehen wir von der Forderung übereinstimmender
Vorstellungen in Allen zunächst ab : so besteht das Wesentliche
des Begriffs in der Constanz und allseitigenUnter-
scheidung eines mit einem bestimmten Worte bezeichneten
Vorstellungsgehalts.
Die Constanz setzt voraus, dass mit Bewusstsein ein
bestimmter Vorstellungsgehalt mit seiner zugehörigen sprach-
lichen Bezeichnung fixiert worden ist, um ihn immer als den-
selben mit dem Bewusstsein seiner strengen Identität reprodu-
cieren zu können ; die allseitige Unterscheidung
ist bedingt durch eine vollständige üebersicht zunächst über
die am meisten ähnlichen und der Verwechslung am leichtesten
ausgesetzten Objecte, weiterhin über das Gesammtgebiet des
Vorstellbaren überhaupt, und ruht ebenso auf bewussten Acten,
durch welche die Unterschiede der Vorstellungen A, B, C, D
u. s. w. zum Bewusstsein gebracht und der Abstand derselben
von einander ebenso festgehalten wird, wie die Bestimmtheit
der einzelnen. Durch diesen letzteren Act wird jenes Fixieren
unterstützt und vollendet*), indem die Identität desselben In-
*} Die Meinung, als ob erst durch die Unterscheidung eine Vor-
stellung eine bestimmte werde, vergisst, dass das Unterscheiden selbst
nur möglich ist zwischen schon vorhandenen verschiedenen Vorstel-
lungen, und dass die Unterscheidung also den unterschiedenen Gehalt
nicht erzeugt. Wenn z. B. Ulrici (Compendium der Logik 2. Afl. S. 60)
sagt : >Nur weil Roth eben als Roth zugleich nicht Blau, nicht Gelb u. s. w.
ist, nur darum ist es diese bestimmte Farbe, die wir roth nennen —
ohne den Unterschied von Blau u. s. w. wäre es ohne alle Bestimmt-
heit, nur Farbe — überhaupt, ein schlechthin Unbestimmtes, von dem
wir nichts wissen würden, weil, wie gezeigt, die Farbe als Farbe nur
durch die Unterschiedenheit der Farben uns zum Bewusstsein kommtc
— 80 kann ich dieser Ausführung nicht zustimmen. Die Empfindung
des Roth — genauer eines bestimmten Roth — ist etwas vollkommen
Positives mit eigen thümlichem Inhalt, es wäre dieses, wenn auch we-
niger als die von allen normalen Augen wahrgenommenen Farben
daneben empfunden würden ; und es hindert bei Keinem die Bestimmt-
heit seiner Farbenempfindungen, dass er vielleicht eine Menge von
326 n, I. Der Begritt. 280
halts durch die Verneinung des ifeidern erst zum ausdrück-
lichen ßewusstsein kommt; zugleich wird durch Abstufung
der Unterschiede eine Ordnung der Vorstellungen
möglich.
8. Wäre, was wir als einheitliche Vorstellung zu be-
trachten und zu behandeln im Laufe unseres Denkens Veran-
lassung haben, und was als Bestandtheil in unsere Urtheile
einzugehen bestimmt ist , einfach durch einen untheilbaren
Vorstellungsact, sei es der Anschauung, sei es des beziehenden
Denkens, herzustellen; und wäre, was überhaupt Gegenstand
unseres Vorstellens werden kann, eine leicht übersehbare ab-
geschlossene Vielheit solcher einfacher Objecte, die durch scharfe
Unterschiede so getrennt wären, dass uns beim Uebergang
vom einen zum andern der Schritt, den wir vollziehen, so leicht
und sicher zum Bewusstsein käme, wie der Uebergang von
eins zu zwei, von zwei zu drei: so wäre das logische Geschäft
der Begriffsbildung mit den angegebenen Functionen und der
übereinstimmenden Benennung erschöpft; es bedürfte nur der
Kraft des Gedächtnisses, welche die einmal gewonnene Ueber-
sicht festhielte. Wäre unsere Vorstellungswelt z. B. auf die
12 einfachen Töne einer Octave beschränkt, so wäre mit dem
Merken jedes einzelnen Tones und seiner sicheren Unterschei-
dung von den übrigen, die vor jeder Verwechslung schützte,
alles geleistet, wodurch unsere Vorstellungen zu begrifflicher
Bestimmtheit erhoben würden; und wir hätten mit den Vor-
stellungen der einzelnen Töne und dem Bewusstsein ihrer
Unterschiede das ganze Material unserer Begriffe in fester
Ordnung gegeben.
Allein weder die eine noch die andere Voraussetzung trifft
Farben niemals zu Gesicht bekommt. Nur die Manigfaltigkeit fiele
weg und damit der ßeichthum seiner Vorstellungen ; für den, der nur
Roth empfände, wäre allerdings Roth soviel als Farbe überhaupt, aber
damit wäre nur gesagt, dass die Vorstellung Farbe keine Manigfaltig-
keit unterscheidbarer Qualitäten unter sich begriffe, nicht dass sie ein
schlechthin Unbestimmtes wäre. Die Bedingungen, unter denen wir
eine Vielheit von Empfindungen im Bewusstsein festhalten können, sind
nicht die Bedingungen für die Bestimmtheit der einzelnen; vielmehr
ist diese die Voraussetzung von jenem. Vergl. Lotze, Logik 2, Afl. g. 26
281 § 41. Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 327
zu. Die erste nicht; denn was wir als einheitliche Vorstel-
lung behandeln und mit Einem Worte bezeichnen, ist in der
Regel in eine Mehrheit unterscheidbarer Elemente
auflösbar und zeigt sich als ein zusammengesetztes Pro-
duct aus einfacheren für sich festhaltbaren Vorstellungen;
und dadurch ist einerseits das Festhalten erschwert, denn
zum Festhalten einer zusammengesetzten Vorstellung gehört
das Festhalten sowohl der einzelnen Elemente als der Art
ihrer Zusammensetzung , andrerseits sind der Unterschei-
dung bestimmtere und schwierigere Aufgaben gestellt, sofern
nämlich das Zusammengesetzte in einigen seiner Elemente mit
anderem gleich, in einigen davon verschieden sein kann. Will
ich z. B. die Vorstellung des Pferdes mit Bewusstsein fest-
halten, so ist das nur möglich durch ein inneres Nachzeichnen,
in welchem ich Stück für Stück die Bestandtheile der Gestalt
in bestimmter Ordnung zusammenfüge; will ich sie unter-
scheiden, so ist sie mit der Vorstellung des Esels in den meisten
Stücken übereinstimmend, nur in einigen sicher unterschieden.
Auch die zweite Voraussetzung trifft nicht zu; denn
überall treffen wir in dem , was sich in unserer Erinnerung
angesammelt hat, auf Reihen unmerklicher Unterschiede, durch
welche jene scharfen Absätze verwischt werden , die das Be-
streben unsere Vorstellungen bestimmt zu fixieren sucht ; und
diese Continuität trifft sowohl die einfacheren Elemente unserer
Vorstellungen, als die zusammengesetzteren Gebilde. Im Ge-
biete der Farben geht durch unmerkliche Abstufungen roth
durch violet in blau , durch orange in gelb , durch rosa in
weiss, durch rothbraun in braun über; im Gebiete der Raum-
grössen und der Formen findet ein ähnliches Continuum statt,
und es entsteht dadurch eine unbegrenzte Manigfaltigkeit kaum
unterscheid barer Objecte, welche es unmöglich macht, alle
gesondert zu fixieren und in ihren Unterschieden festzuhalten.
Ebenso ist es mit den anschaulichen Dingen selbst ; überall
schieben sich zwischen das zuerst Unterschiedene Mittelglieder
ein, je weiter unsere Kenntniss sich ausdehnt : zwischen Schnee
und Hagel, zwischen Baum und Strauch, zwischen Pferd und
Esel, zwischen Neger und Europäer.
y
328 II. 1- Der Begriff. 282
§ 41.
Da ein grosser Theil unserer Vorstellungen zusammen-
gesetzt, d. h. durch unterscheidbare Acte geworden ist, kann
die Fixierung ihres Gehaltes nur durch eine bewusste
FixierungihrerElemente (Merkmale, Theilvorstellungen)
und der Art ihrer Synthese vollzogen werden. Jede be-
griffliche Bestimmung des Gehalts einer Vorstellung setzt
also vor allem eine Analyse in einfache, nicht weiter zer-
legbare Elemente voraus, welche zugleich die Form ihrer
Synthese festzustellen hat.
Diese Analyse könnte vollständig nur aufGrund einer
erschöpfenden Einsicht in die Bildungsgesetze
unserer Vorstellungen gewonnen werden, welche allein
zugleich die üebereinstimmung dieser Elemente in
allen Denkenden zu sichern vermöchte. Sie kann aber niemals
auf lauter isolierte Elemente als Producte von Func-
tionen kommen, welche von einander unabhängig wären, son-
dern nur auf ein System zusammengehöriger und
aufeinander bezogenerFunctionen, welche zugleich
verschiedene Formen der Synthese des Manigfaltigen enthalten.
Die Functionen , durch welche wir die logischen Kate-
g o r i e e n (Einheit, Identität, Unterschied) denken, verknüpfen
sich mit den Anschauungsformen des Raums und
der Zeit, beide zusammen im Gebiete dessen, was wir als
seiend denken , mit den realen Kategorieen (Ding,
Eigenschaft, Thätigkeit, Relation), und alle wieder mit dem
anschaulich geg eb enen Inhalt unserer unmittel-
baren sinnlichen oder inneren Auffassung. Eine
begriffliche Vollendung unserer Vorstellungen setzt ein voll-
ständiges System dieser Elemente voraus.
Sofern im Gebiete des anschaulich Gegebenen eine un-
begrenzte Manig faltigkeit von Vorstellungen vorliegt,
283 § 41. Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 329
welche durch unmerkliche Unterschiede getrennt sind,
muss sich die begriffliche Fixierung auf Feststellung be-
stimmter Grenzen in dem allmählichen Flusse
der Unterschiede beschränken.
1, Die Forderung, welche aus der ersten der § 40, 8
angeführten Thatsachen, aus der Zusammengesetztheit
der Vor stel lungsobj ecte hervorgeht, ist der traditio-
nellen Lehre vom Begriffe geläufig. Sie lehrt das in einer
einheitlichen , durch Ein Wort bezeichneten Vorstellung Ge-
dachte durch Merkmale bestimmen, einen Begriff in seine
Theilvorstelluugen oder Theilbegriffe zerlegen.
Diese werden in dem Begriffe gedacht und bilden seinen In-
halt. So werden in dem Begriffe Gold die Merkmale schwer,
gelb, glänzend , metallisch u. s. f. , in dem Begriffe Quadrat
die Merkmale begrenzte vierseitige gleichseitige rechtwinkliche
ebene Fläche, in dem Begriffe Mord die rechtswidrige vorsätz-
liche mit Ueberlegung ausgeführte Tödtung eines Menschen
gedacht; der Inbegriff dieser Merkmale bildet den Inhalt der
Begriffe Gold , Quadrat , Mord ; und man stellt wohl diesen
Inhalt als die Summe oder das Product der einzelnen Merk-
male dar. Mit dieser Zerlegung in Merkmale hält man ge-
wöhnlich auch die weitere Aufgabe der Unterscheidung
schon für erfüllt; denn die Merkmale sollen eben das sein,
wodurch verschiedene Vorstellungen sich unterscheiden*).
Dabei wird in der Regel durch die Beispiele selbst die
Frage, woher denn die Möglichkeit komme, verschiedene Merk-
male in dem Ganzen einer Vorstellung zu unterscheiden, be-
reits als erledigt betrachtet; und ebenso ist schon wiederholt
— am eingehendsten von Trendelenburg — der Mangel einer
näheren Bestimmung darüber hervorgehoben worden, in wel-
chem Verhältniss denn die Merkmale zu einander stehen , ob
sie alle gleichartig, und wenn nicht, in welcher Weise sie
verschieden, ob sie gegeneinander gleichgültig, oder von ein-
ander abhängig seien; in welchem Verhältniss endlich die
*) So z. B. Ueberweg § 49 S. 103: Merkmal eines Objects ist alles
dasjenige an demselben , wodurch es sich von andern Objecten unter'
scheidet.
330 11» 1- Der Begriff. 284
Theilbegriffe zum Ganzen stehen. Denn die Bezeichnung der-
selben alsTheilbegriffe oder Theilvorstellungen,
die von räumlichen oder zeitlichen Verhältnissen hergenommen
ist, kann doch nur bildlich sein, die Theilvorstellungen sollen
ja nicht etwa Vorstellungen der Theile eines Ganzen sein,
(wie von Kopf, Hals, Rumpf u. s. w. als der Theile eines
Thiers) die zur Vorstellung des Ganzen im selben Verhältniss
stünden, wie die Theile zum Ganzen, sondern Bestandtheile der
Vorstellung, wie die einzelnen Eigenschaften eines Dings u. s. w.
2. Die Möglichkeit, eine gegebene Vorstellung in Theile
oder Merkmale zu zerlegen, kann zuletzt nur darin begründet
sein , dass diese Vorstellung aus verschiedenen Ele-
menten durch unterscheidbare Functionen geworden
ist. Wäre sie ursprünglich ein Einfaches, wäre nicht um sie
zu erzeugen Eins, Zwei, Drei nÖthig : so hätte die Zerlegung
weder eine Fuge, in welche sie einsetzen könnte, noch ein
Recht ; sie wäre im besten Fall eine gewaltsame Zertrümmerung.
In der That sind nun die Vorstellungen, an welche man
bei diesen Sätzen zunächst zu denken pflegt, die Vorstellungen
der anschaulichen Dinge, durch eine unbewusst vollzogene
Synthese entstanden. Sie treten unsrem Bewusstsein als fer-
tige Ganze gegenüber; aber die psychologische Analyse weiss
mit überzeugender Sicherheit die Processe nachzuweisen, durch
welche aus einzelnen Elementen erst das Ganze wird. Nicht
mit Einem Schlag, durch eine Art zauberhafter Uebertragung
oder auf dem mechanischen Weg einer psychischen Photo-
graphie dringt das Bild des Apfels durch die Thore unserer
Sinne auf die Tafel, auf der unsere Vorstellungen gemalt sind ;
die Analyse der Sinneswahrnehmung weist nach, wie die Em-
pfindung einer Farbe mit den den Umrissen nachgehenden
Bewegungen des Auges, wie eine perspectivische Ansicht mit
andern, diese mit den einzelnen , innerlich zusammengefassten
und zum stereometrischen Bilde gestalteten Tastempfindungen
der Hand sich verknüpfen müssen, wie eine psychische Func-
tion die Empfindungen zur Vorstellung eines äusseren Gegen-
standes gestalten und eine andere ihm seinen Ort im Räume
anweisen muss; wie die Vorstellung dieses sichtbaren und
greifbaren Dings durch Geruchs- und Geschmacksempfindungen
285 § 41. Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 331
sich bereichert, deren Beziehung anf den sichtbaren und ge-
tasteten Gegenstand wieder eigenthümliche Functionen der
Combination der Eindrücke verschiedener Sinnesgebiete vor-
aussetzt; und wie endlich durch theilweise Wiederholung
solcher Eindrücke und ihre fortwährende Ergänzung durch
die reproducierende Vorstellung , endlich durch ihre Associa-
tion mit einem Worte es uns geläufig wird, beim Wort Apfel
eine Art von Abbreviatur jener Processe so rasch und sicher
innerlich zu wiederholen, dass das Resultat fertig vor unserem
inneren Auge steht, ohne dass wir uns seiner Bildung bewusst
geworden.
Dasselbe , was von den Vorstellungen der Dinge gilt,
findet auch auf Eigenschafts-, Thätigkeits-, Rela-
tion s Vorstellungen Anwendung. Gleichseitig ist eine zu-
sammengesetzte Vorstellung, denn sie setzt zunächst die Auf-
fassung der einzelnen Seiten voraus — und um eine Linie
als Seite zu erkennen , ist eine Relationsvorstellung nöthig
— ferner ein Messen derselben und das Urtheil dass sie gleich
sind; die Vorstellung der Bewegung, der einfachsten Thätig-
keit, bedarf ebenso zu ihrem Werden der Auffassung ver-
schiedener Oerter und des Uebergangs vom einen zum andern ;
die Vorstellung des Mords, eine Relationsvorstellung, schliesst
ausser den Beziehungspunkten derselben, des Mörders und des
Gemordeten, eine ganze Reihe von Bestimmungen ein, die
bewusste und überlegte Absicht des Einen, seine Handlung,
ihren Effect, der in der Vernichtung des Lebens des Andern
besteht — sie ist also nur durch eine Reihe von Acten mög-
lich, welche das Ganze erst erzeugen. In doppeltem Masse gilt
dies von solchen Vorstellungen, in denen eine Mehrheit von
selbständigen Objecten durch eine oder mehrere Relationen
verknüpft gedacht wird, den sog. Collectivbegriffen im weitesten
Sinn, Volk, Familie u. s. w.
4. Soweit die Zusammensetzung reicht, soweit kann auch
die Fixierung einer Vorstellung nur so vor sich gehen,
dass die bewusste Aufmerksamkeit sich auf die einzelnen Ele-
mente und die Art ihrer Synthese richtet. Die Voraussetzung
jeder Begriffsbildung ist also einerseits die Analyse in
einfache, nicht weiter zerlegbare Elemente,
332 11, 1. Der Begriff. 286
und andrerseits diereconstruierendeSyntheseaus
diesen Elementen; wobei immerhin die F o r m der
Synthese wieder selbst in weiterem Sinn ein Element des
Begriffs und ein Merkmal desselben genannt werden kann,
und im folgenden genannt werden wird.
Der Begriff verhält sich demnach zur natürlich entstan-
denen Vorstellung wie die bewusste Construction eines Objects
zu seiner unbewussten und unwillkürlichen Bildung, und setzt
die Fähigkeit voraus, sich den Process der Bildung der Vor-
stellung nach allen seinen Seiten zum Bewusstsein zu bringen.
Dies geschieht durch Urtheile, welche die einzelnen Merk-
male als Prädicate dem Object beilegen; der Begriff setzt
also diese Prädicate, d. h. die Vorstellungen der Merkmale
schon voraus, diese müssen selbst begrifflich bestimmt sein,
wenn es die zusammengesetzte Vorstellung sein soll. Dies
führt also zur Forderung einer Reihe von einfachen
Merkmalen, d. h. nicht weiter analysierbaren und doch
vollkommen bestimmt fixierten und unterschiedenen Vorstel-
lungselementen.
5. Nun soll aber der Begriff noch die weitere Forderung
erfüllen, allgemein gültigen Urtheilen zu dienen, d. h.
alle diejenigen , welche in der Gemeinschaft des Denkens
stehen, sollen dieselben Vorstellungen mit densel-
ben Wörtern verbinden, sie darum auch auf dieselbe Weise
analysieren und auf dieselben einfachen Merkmale zurück-
führen können. Eine Mittheilung eines zusammengesetzten
Begriffs ist möglich durch Angabe seiner Elemente und der
Art ihrer Synthese ; die Elemente aber müssen in jedem gleich
sein, und in gleichem Sinne combiniert werden, wenn es über-
einstimmende Begriffe geben soll. Dies setzt also einen Grund-
stock von Vorstellungen voraus, welche nach durchaus über-
einstimmenden Gesetzen in allen gebildet werden , und wir
haben die Sicherheit übereinstimmender Begriffe nur in dem
Masse, als wir der übereinstimmenden Gesetzmässigkeit in
der Bildung unserer Vorstellungen sicher sind. Die Vollen-
dung der Begriffsbildung hängt also von der vollendeten
Einsicht in dieProcesse derBildung unserer
Vorstellungen, und von der dadurch gegebenen Möglich-
287 § 4L Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 333
keit ab, jeden zur Vorstellung desselben zu veranlassen.
Könnten wir annehmen, dass alle unsere Vorstellungselemente
jedem in derselben Weise angeboren sind, wie es eine frühere
Erkenntnisstheorie wenigstens in Betreif eines Theiles unserer
Begriffe annahm; oder könnten wir annehmen, dass dieselbe
uns gegebene Welt dasselbe System von Vorstellungen mit
derselben mechanischen Sicherheit erzeugte, wie gleich starke
Erschütterung gleich gespannter Saiten denselben Ton : so
wäre die Voraussetzung der traditionellen Lehre, dass die
Merkmale der Begriffe sich so zu sagen von selbst darbieten,
zu rechtfertigen; in dem Masse aber, als der Bildungsprocess
unserer Vorstellungen verwickelter, von äusseren Bedingungen,
die nothwendig individuell verschieden sind, und inneren Ge-
setzen zugleich abhängiger ist, wird die Erkenntniss und Her-
stellung der Bedingungen schwieriger, unter denen vollkom-
men übereinstimmende Vorstellungen von allen gebildet wer-
den, und ebenso die Erkenntniss , was von dem , was wir in
allen schon vorfinden, übereinstimmend ist und was different.
Die oft grosse Schwierigkeit sich zu überzeugen, ob Zwei
unter demselben Worte genau dasselbe verstehen, beruht auf
der Schwierigkeit, solche Vorstellungen zu finden, welche in
allen in gleicher Weise vorhanden und übereinstimmend be-
zeichnet sind.
6. Da wir nur die Bedingungen einer idealen Vollkom-
menheit der logischen Begriffsbildung aufstellen , können wir
es nicht zu unserer Aufgabe rechnen, eine vollendete Theorie
der Bildung unserer Vorstellungen aufzustellen. Eine solche
gehört zu den Aufgaben der Zukunft*). Aber aus dem was
wir in dieser Hinsicht als Resultat der bisherigen Forschungen
annehmen dürfen , geht doch schon soviel hervor , dass die
Aufgabe, eine gegebene Vorstellung in einfache Merkmale,
die von allen übereinstimmend gedacht werden , aufzulösen,
eine weit verwickeitere ist, als es die Formeln vernmthen
lassen, die sagen ein Begriff A enthalte die Merkmale a b c d,
und diese seien seine Theilvorstellungen ; als ob A eine Art
*) Wir treffen darin mit den Ansichten zusammen, welche K. Zcller
in seiner Berliner Antrittsrede ausgesprochen hat.
334 n, 1. Der Begriff. 288
mechanischer oder chemischer Zusammensetzung aus bekann-
ten differenten, isolierten, und gleich werthigen Bestandtheilen
wäre, wie die Silbe nach dem Beispiele des Theätet eine Zu-
sammensetzung aus Buchstaben.
7. Die Frage ist zunächst, ob wir denn überhaupt solche
einfache Vorstellungen als isolierte Elemente voraussetzen
können, welche wie die Buchstaben eines Alphabets jeder für
sich aussprechbar und festhaltbar wären. Wir sind oben von
der Fiction ausgegangen, dass unsere ganze Vorstellungswelt
aus 12 Tönen bestünde, und dass mit dem Fixieren, Unter-
scheiden und Benennen derselben das ganze Geschäft der
Begriffsbestimmung erschöpft wäre ; den mancherlei Zusammen-
klängen würden dann etwa die zusammengesetzten Vorstel-
lungen entsprechen. Aber es war auch das eine Fiction, dass
die Vorstellung eines einfachen Tons nun ein wirklich Ein-
faches, Homogenes und Unauflösbares sei, in welchem sich
nichts mehr unterscheiden lasse. Indem wir einen bestimmten
Ton als solchen vorstellen , können wir das nur , indem wir
ihn als einen, mit sich identischen , von anderen mehreren
unterschiedenen denken ; nur so ist er überhaupt Gegenstand
unseres Bewusstseins , das ohne eine Vielheit unterschiedener
Objecte gar nicht denkbar ist; indem wir also den Ton A
denken , ist darin die Vorstellung der Einheit und der
Identität mit sich , ebenso des Unterschieds von
anderen und damit die Vorstellung einer Mehrheit dieser
anderen unabtrennbar mitgesetzt, und dies weist auf Functionen
zurück, durch welche wir etwas als Eins, mit sich identisch,
von andern unterschieden setzen, und damit zugleich die Viel-
heit im Unterschiede von der Einheit und in ihrem Verhält-
nisse zu ihr denken. Indem wir also zum Bewusstsein bringen,
was wir vorstellen indem wir A vorstellen, finden wir ausser. \
dem hörbaren Tonbild auch diese Bestimmungen in der Vor-
stellung von A, und sie erweist sich dadurch bereits, so wie
sie unserem Bewusstsein gegenwärtig ist, als ein complexes
Product *).
Wollten wir nun aber jene Bestimmungen, Einheit, Iden-
*) Vergl. Lotze, Logik 2. Afl. S. 26.
289 § 41. Die Analyse der BegriflFe in einfache Elemente. 335
tität, Unterschiedenlieit einerseits, das sinnliche Tonbild an-
dererseits als die gesuchten letzten und isolierten Elemente
ansehen: so zeigt sich, dass Einheit, Identität, ünterschieden-
heit, rein für sich gedacht, vollkommen unvollziehbar sind.
Nicht nur lässt sich Identität nicht ohne Einheit und Ne-
gation des Unterschieds denken, so dass diese Bestimmungen
ineinanderhängen , sondern sie tragen auch immer den Ge-
danken . von Etwas in sich, dessen Einheit, Identität, Un-
terschiedenheit gedacht wird ; ja , sobald wir diese Bestim-
mungen selbst jede für sich denken wollen , wiederholt sich
an ihnen selbst dasselbe, dass, indem wir diese Begriffe fest-
halten wollen, wir das nur thun, indem wir sie selbst wieder
unter den Bestimmungen der Einheit, Identität, Unterschie-
denheit denken müssen, unsere Analyse also nie auf das
schlechthin Einfache kommt, sofern sie gewisse Elemente
findet, die in jedem, auch dem Einfachsten, schon, dadurch
mitgegeben sind , dass es überhaupt gedacht wird und dass
etwas von ihm geurtheilt werden soll ; die also nothwendige
und immer wiederkehrende Producte der unterscheidbaren
Functionen selbst sind , durch welche wir ein Vorgestelltes
festhalten und als Subject oder Prädicat eines Urtheils ver-
werthen können. Statt der gesuchten isolierten Buchstaben
also treffen wir auf einen Complex unter sich zusammenhän-
gender und sich gegenseitig bedingender Functionen, deren
Thätigkeit in diesen formalen logischen Kategorieen
zu Tage tritt, wie wir sie in der Kürze nennen können ; deren ,
Verhältniss zu allen Denkobjecten dasselbe , und dadurch be-
stimmt ist, dass sie Bedingungen sind, unter denen allein
etwas mit Bewusstsein in der Vorstellung festgehalten werden
kann *).
*) Wir rechnen zu diesen formalen Kategorieen, welche die Be-
dingungen sind, dass überhaupt etwas im Denken festgehalten werde,
auch die Z a h 1 in dem Sinn, dass die Grundfunction alles Zählens, das
Setzen und Unterscheiden von Einheiten und das Bewusstsein des Fort-
gangs von einer Feinheit zur zweiten, von dieser zur dritten , und die
Einheit des Bewusstseins dieser Reihe von Schritten, mit diesen allge-
meinsten Bedingungen des Denkens gegeben ist. Wenn die weitere
Entwicklung des Zählens und die complicierteren Operationen der Rech-
nung auch erst durch die Verhältnisse der anschaulichen Dinge in Raum
336 TI, 1. Der Begriff. 290
8, Aber unser vorausgesetzter Ton birgt noch weiteres
in sich; weder der einzelne Ton noch eine Mehrheit von
Tönen kann vorgestellt werden anders als in der Zeit, wie
eine Farbe nicht anders vorgestellt werden kann als im R a u m ;
bringen wir uns also zum Bewusstsein , was wir vorstellen,
indem wir den Ton A vorstellen, so finden wir die Vorstel-
lung der Zeit mit darin. Und es wiederholt sich dasselbe:
wenn wir nun meinten, die Zeit als ein einfaches nicht wei-
ter analysierbares Element ausscheiden zu können, so zeigt
sich, dass wir Zeit schlechthin isoliert gar nicht vorzustellen
vermögen, ohne dass wir zugleich etwas und zwar Ver-
schiedenes und Vieles in der Zeit mitvorstellen, und
ebensowenig den Raum , ohne an Verschiedenes zu denken
was im Raum ist; auch hier versagt also die Natur unserer
Vorstellungen dem Bestreben das schlechthin Einfache und
Isolierte zu finden seine Erfüllung; wir treffen zwar unter-
scheidbare, aber immer einander fordernde Elemente. Femer
ist das Verhältniss, in welchem Zeit und Raum zu ihrem an-
schaulichen Inhalt stehen, zugleich ein wesentlich anderes,
als das in welchem Identität u. s. w. zu ihren Objecten stehen ;
damit haben wir grundverschiedene Synth es en dessen,
was wir innerhalb eines Vorgestellten unterscheiden können;
ein Unterschied, den wir mit Kant's Ausdruck dadurch an-
deuten, dass wir Raum und Zeit als Anschauungsformen
den formalen Kategorieen gegenüberstellen.
9. Bewegt sich die Begriffsbestimmung im Gebiete dessen,
was wir als seiend vorstellen, und sofern wir es als (wirk-
lich oder möglicherweise) seiend vorstellen: so ergeben sich
dabei wieder andere Elemente. Da wir alles Seiende als
und Zeit veranlasst werden, und insbesondere die Brüche die Theilbar-
keit eines Ganzen voraussetzen, die nur in räumlichem oder zeitlichem
Gebiet ursprünglich gegeben ist, so folgt daraus nicht, dass die Zahl
überhaupt von Bedingungen der Anschauung abhängig sei. Zur Zeit
steht das Zählen in keinem andern Verhältniss, als alle unsere Thätig-
keiten überhaupt, dass nemlich eine Reihe derselben nur in der Zeit
vollzogen werden kann; es ist aber gar nicht wesentlich, dass die Zeit
beim Zählen zum Bewusstsein komme; die Vorstellung der Zeit ist
ebenso von der Vorstellung der Zahl, einer Vielheit unterscheidbarer
Momente abhängig. Vgl. § 6, 3, b S. 40.
291 § 41. Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 337
Ding mit Eigenschaften und Thätigkeiten
vorstellen und kein einzelnes Seiendes ohne alle Beziehung
zu anderem Seienden, zum mindesten zu uns selbst, sofern es
unser Object ist, vorzustellen vermögen : so liegt in allem dem,
was wir als seiend oder sein könnend vorstellen, dieser Kreis
zusammengehöriger Bestimmungen mit, der sich ebenso wenig
in isolierte Merkmale auflösen lässt, und der eine dritte Art
der Synthese des Unterschiedenen , die des Dings mit
seinen Eigenschaften und Thätigkeiten in sich schliesst. Wir
nennen diese Elemente die realen Kategorieen.
Die traditionelle Logik pflegt zu ihren Beispielen in der
Regel die Begrifi*e von Dingen zu wählen und als Merk-
male dieser Begriffe erscheinen dann ihre Eigenschaften (als
Merkmale des Begriffs »Gold« schwer, gelb, glänzend u. s. f.) ;
eben damit aber ist eine ganz bestimmte Art derSyn-
these dieser Merkmale, nemlich die der Eigenschaften in
einem Ding gesetzt ; diese hat einen wesentlich anderen Sinn
als die Synthese der Merkmale eines zusammengesetzten Eigen-
schafts- oder Thätigkeitsbegriffs, und wieder einen andern als
die Synthese von einzelnen Dingen zu einem Ganzen ver-
mittelst bestimmter Relationen, welche sie verknüpfen; und
es kann nur verwirren, wenn unterschiedslos Alles, dreiseitige
Figur , dunkles Roth , rotierende Bewegung , gelber Körper,
von einer Schale umgebener Kern u, s. w. durch dieselbe
Formel A -^ a b c d ausgedrückt wird, als wäre diese Neben-
einanderstellung der Ausdruck einer immer gleichen Verknüpf-
ungsweise.
Sind diese realen Kategorieen unzweifelhaft Elemente
unserer Vorstellungen des Seienden , so versteht sich auch
von selbst, dass, wo es sich um begriffliche Feststellung han-
delt, erst diese Kategorieen selbst begrifflich
fixiert und aus der unsicheren und schwankenden Anwendung
der populären, durch die Wortforraen geleiteten Unterschiede
von Ding, Eigenschaft und Thätigkeit zu voller Klarheit her-
ausgearbeitet sein müssen. Jede Begriffsbestimmung im Ge-
biete des Seienden setzt also eine anerkannte Theorie über
das Wesen dieser Kategorieen voraus, ist nur insoweit logisch
vollendet, als diese es ist, und kann nur soweit gelten als sie
Slgwart, Logik. I. 2. Auflage. 22
33Ö tl, 1. Der BegritF. 29^
angenommen ist; und die Möglichkeit einer solchen Theorie
selbst ruht auf der Möglichkeit, übereinstimmende Begriffe
der Kategorieen selbst mit Sicherheit zu erzeugen, also durch
Analyse unserer Denkprocesse dasjenige zum Bewusstsein zu
bringen, was mit gesetzmässiger Nothwendigkeit von allen ge-
dacht wird, sofern sie etwas als ein Seiendes denken.
10. Die Allgemeinheit der bisher betrachteten Ele-
mente unserer Vorstellungen beruht zuletzt darauf, dass sie
auf Functionen zurückgehen, welche sich in Beziehung auf
den verschiedensten gedachten oder anschaulichen Gehalt immer
in derselben Weise wiederholen. Die Art unserer räumlichen
und zeitlichen Vorstellungen ist dieselbe , was auch die ein-
zelnen Objecte sein mögen , welche wir in Raum und Zeit
vorstellen ; die Zurückführung des sinnlich Gegebenen auf
Dinge mit Eigenschaften und Thätigkeiten ist derselbe Pro-
cess, wie manigf altig auch unsere Sinne afficiert und die ein-
zelnen Affectionen unter sich combiniert sein mögen. Die
Möglichkeit, ein abgeschlossenes System dieser Elemente auf-
zustellen, hängt davon ab, ob sie, wie Kant voraussetzt, voll-
kommen a priori gegeben sind, als im Gemüthe bereit liegende
Formen , welche also eine vollständige Analyse entdecken
könnte; oder ob von der Art und Weise unserer sinnlichen
Affectionen selbst es abhängt, welche formalen Elemente sich
entwickeln. Dort tritt ein schon fest organisiertes , ein für
allemal fertiges System den zeitlich allmählich eintretenden
sinnlichen Reizen entgegen ; hier würden die Kategorieen ein
Product einer Entwicklung sein, welche durch die besondere
Art und Reihenfolge unserer Sinnesempfindungen mitbestimmt
würde. Es genügt an diese Möglichkeiten zu erinnern, um
zu zeigen, dass die endliche Festsetzung dieser Elemente von
der definitiven Einsicht in die Genesis unserer Vorstellungen
selbst abhängig ist.
11. Diesen Elementen unserer Vorstellungen stehen die
durch unmittelbare Empfindung oder innere
Wahrnehmung anschaulich gegebenen gegen-
über. In den einzelnen Farben, Tönen, Gerüchen u. s. w. haben
wir ohne Zweifel vom subjectiven , psychologischen Gesichts-
punkt aus etwas einfaches und letztes, wahrhaft elementares;
Ö9ä § 41. t)ie Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 33Ö
ebenso in dem unmittelbaren Bewusstsein innerer Vorgänge,
der Lust, des Schmerzes, des Begehrens u. s. w. Das Weiss
dieses Papieres, das Schwarz dieser Buchstaben lässt sich nicbt
weiter analysieren ; es ist mit einem Schlage durch die Affection
unserer Organe gegeben. Es wiederholt sich in den verschie-
densten Combinationen und räumlichen Formen, aber immer
als dasselbe , nicht weiter aufzulösende. Hier also scheinen
wir mit Leichtigkeit elementare Merkmale aufstellen zu können,
die zwar nie isoliert — die F.arbe nie ohne den Raum u. s. w.
— vorgestellt werden können , die aber wenigstens leicht in
ihrem Unterschiede von der Form und in ihrem Unterschiede
von einander — Gerüche von Farben, Farben von Tönen u. s. w.
festgehalten werden können. Wenn irgendwo , so haben wir
hier etwas, was nur genannt aber nicht erklärt werden kann,
ein Analogon der Buchstaben des Alphabets. Und wäre fest-
zustellen, dass aus diesen durch unmittelbare Anschauung ge-
gebenen Elementen, aus den Anschauungsformen , den realen
und formalen Kategorieen die Gesammtheit unserer Vorstel-
lungen sich bildete , so wäre damit der Kreis der ursprüng-
lichen Merkmale umschrieben.
Allein hier tritt die andere der Schwierigkeiten ein , die
wir § 40 , 8 hervorgehoben. Jede bestimmte Empfindung,
jedes einzelne Schmerzgefühl ist etwas Einfaches, Elementares ;
aber die Menge dieser unterscheidbaren einfachen Empfind-
ungen ist eine unendliche ; es ist schlechterdings unmöglich, alle
einzelnen wahrnehmbaren Abstufungen der Helligkeit , der
Wärme u. s. w. , deren jede als ein einfach Gegebenes uns
zum Bewusstsein kommt, im Gedächtniss zu fixieren und im
Unterschiede von allen andern festzuhalten; keine Mittel der
Sprache würden ausreichen, dieser unendlichen Manigfaltigkeit
gerecht zu werden. Die Sprache hilft sich eben dadurch, dass
Aehnliches durch unmerkliche Unterschiede zusammenhängt,
und bezeichnet mit demselben Wort eine ganze Reihe anein-
andergrenzender Abschattungen. Aber Aehnlichkeit ist an
und für sich selbst etwas Unbestinmites, zur begrifflichen Fixie-
rung Untaugliches, das einen Unterschied setzt ohne seine
Grösse anzugeben. Will man hier zu begrifi^licher Bestimmt-
heit gelangen , so gibt es keinen andern Weg , als von der
22*
340 ^h 1- I^er Begriff. 9M
Uebersicht über die ganze durch verschwin-
dende Unterschiede gebil dete Reihe auszu gehen
und in diesem Continuum Grenzen zu ziehen, zwischen welchen
eine bestimmte Bezeichnung gelten soll : damit tritt ein , was
wir oben §7 die Allgemeinheit des Wortes im Unter-
schiede von der Allgemeinheit der Vorstellung ge-
nannt haben. Die Bezeichnungen der Farben z. B. sind so
lange begrifflich nicht fixiert, als nicht die ganze Reihe aller
Farbennüancen hergestellt und nun bestimmt ist, innerhalb
welcher Grenzen die Bezeichnung roth , grün u. s. w. gelten
soll. Von den Mitteln , welche wir haben diese Fixierung
vorzunehmen, kann erst im dritten Theile die Rede sein ; hier
genügt es festzustellen, dass roth nicht im selben Sinn ein
Allgemeines zu purpurroth , scharlachroth u. s. w. ist, wie
ausgedehnt ein Allgemeines zu den verschiedenen Körpern ist;
denn in purpurroth , scharlachroth u. s. w. wird nicht d a s-
selbeRoth in verschiedenen Combinationen gedacht, jede
Empfindung ist etwas durchaus einfaches, und kann nicht in
ein allen gleiches Element und ein differentes aufgelöst werden*).
*) Vergl. Werner Luthe, Beiträge zur Logik S. 2: Aus einem be-
stimmten Koth kann nicht das allem Both Gemeinsame ausgeschieden
werden. Die Ausführungen von Lotze (Logik 2 Afl. S, 27 ff.) wider-
sprechen dem Obigen nur scheinbar. Er sagt zwar zuerst (S. 28 oben)
dass in einer Mehrheit verschiedener Eindrücke sich etwas Gemeinsames
vorfinde, das von ihren Unterschieden getrennt denkbar sei, das (S. 29)
in den einzelnen Gliedern der Reihe (hellblau, dunkelblau u. s. w.) mit
eigenthümlichen Unterschieden behaftet sei; aber er erkennt an, dass
das allgemeine Blau sich nicht in derselben Weise verdeutlichen lasse, wie
die Elemente anderer Begriffe , die wir aus bekannten Einzeln Vorstel-
lungen zusammensetzen, und fügt hinzu, dass das Enthaltensein eines
Gemeinsamen sich nur empfinden, fühlen, erleben lasse, dass
das Gemeinsame nicht den Inhalt einer dritten Vorstellung bilde,
welche von gleicher Art und Ordmmg mit den verglichenen wäre,
dass es in keiner Anschauung für sich zu fassen sei.
Damit ist dasselbe gesagt, was oben ausgedrückt werden sollte;
und es wird darum richtiger sein, überhaupt nicht von einem Gemein-
samen zu reden, sondern nur von dem unanal jsierbaren Eindruck
der Aehnlichkeit, der in sehr verschiedenen Abstufungen vor-
handen ist , und nach dem wir die einfachen Empfindungen in Reihen
nach abnehmender Aehnlichkeit ordnen, um innerhalb derselben die
Grenzen zu ziehen; bis zu welchen eine bestimmte Bezeichnung (roth,
294.295 § 41. Die Analyse der Begriffe in einfache Elemente. 341
Daraus ergibt sich aucli die Natur derBedeutung
solcher Wörter wieFarbe, Ton, Geruch u. s. w.
Nach der gewöhnlichen Theorie sollte, da Farbe das Allge-
meine zu roth, blau, gelb u. s. w. ist, auch der Begriff der
Farbe ein Element der Begriffe roth u. s. w. sein ; allein
roth, blau, gelb sind einfach; was Farbe ist, kann man nur
damit sagen, dass man die einzelnen Farben aufzählt. Wenn
das Wort »Farbe« noch daneben einen begrifflich bestimm-
ten Sinn haben soll, so kann es nur dadurch geschehen, dass
es, indem es eine ganze Reihe von Vorstellungen zusammen-
fasst, diese zugleich als von andern abgegrenzt darstellt, welche
unvergleichbar sind , wie die Töne und Gerüche ; soll aber
das Gemeinschaftliche ausgedrückt werden, so ist dies
nur möglich vermittelst einer Relation, welche nicht direct
den Yorstellungsgehalt bezeichnet, sondern eine gemeinschaft-
liche Beziehung, durch die sich roth, blau, gelb u. s. w. von
andern einfachen Empfindungen unterscheiden, die Beziehung
auf das Sehen und das Auge. Anders als durch solche Re-
lationen lässt sich nichts Gemeinschaftliches aufstellen ; aber
diese Relationen sind nicht Elemente der Vorstellungen selbst.
Dieser Unterschied von Wörtern , welche blosse Gemein-
namen einfacher Merkmale sind, von solchen,
welche wirklich einfache Vor Stellungselemente
bezeichnen, ist durchaus festzuhalten, wenn nicht die Lehre
von den Merkmalen und die damit zusammenhängende von
der Ueber- und Unterordnung der Begriffe in Verwirrung
gerathen soll. Immerhin können auch jene Gemeinnamen als
Zeichen von Merkmalen gelten, sofern sie auf ein gemeinschaft-
liches, das der übereinstimmenden Beziehung zu Grunde liegt,
hinweisen.
Intensität aber der Empfindung und ihre Unterschiede
sind wahrhaft allgemeine Begriffe ; denn sie gehen auf eine
die Empfindung begleitende Gefühlserregung zurück, deren
Wechsel bei verschiedenen objectiven Elementen derselbe ist.
gelb etc.) gelten soll. Anders ist es bei den Intensitätsunterschieden
z. B. der Wärme, der Töne von derselben Höhe; hier ist das Ge-
meinsame vorstellbar, weil die Unterschiede auf der Erregung des Öe-
fiüjls beruhen und nicht Unterschiede des vorgestellten Inhalts sind.
342 Hl 1- Der Begriflf. 295
12. Dasselbe aber was wir von den sinnlichen Quali-
täten ausgeführt haben, scheint auch von den Formen und
Bewegungen zu gelten, die ebenso als etwas unmittelbar
Anschauliches erscheinen ; auch hier unendliche Mani^faltig-
keit und unmerkliche Abstufungen ; auch hier scheint das
einzelne sinnlich Anschauliche das Ursprüngliche zu sein, und
das Allgemeine (Form, Bewegung) nur eine Allgemeinheit des
Wortes zu besitzen. Allein es scheint nur so. Denn die Vor-
stellung einer bestimmten Form — eines Dreiecks, Vierecks,
Kreises — ist keineswegs etwas so unmittelbar mit Einem
Schlage Gegebenes , wie die Empfindung eines Schalls oder
eines Geruchs; die Auffassung der Form erfordert eine Be-
wegung des Blicks oder der Hand, und diese in sich zurück-
kehrende Bewegung, durch welche ein Körper im Räume auf
bestimmte Weise abgegrenzt wird, ist in der That, als dieses
Thun, bei jeder Auffassung einer Form nach einer Seite das-
selbe, nach der andern in ihrem Verlaufe verschieden modi-
ficiert. Ebenso ist bei der Vorstellung der objectiven Be-
wegung der Process, durch den sie wahrgenommen wird, das
Vergleichen zweier Oerter und die Erkenntniss ihrer Ver-
schiedenheit und die Vorstellung des stetigen Uebergangs
vom einen zum andern dasselbe ; aber Bahn, Geschwindigkeit
u. s. f. modificiert sich. Bewegung , Form sind wahrhaft
allgemeine Begriffe , Farbe und Ton (als Ausdruck des un-
mittelbar Gegebenen, nicht im physicalischen Sinne) allge-
meine Wörter oder Gemeinnamen ; darum kann, was Bewegung
sei, an Einem Beispiel aufgezeigt werden, was Farbe sei, nicht.
Es begreift sich daraus zugleich, wie jede Theorie, welche
von den Sinnesempfindungen als den allein ursprünglich ge-
gebenen Elementen unserer Vorstellungen ausgeht, geneigt
sein muss, alles Allgemeine nur als Gemeinnamen zu fassen,
und diese Betrachtungsweise auch auf alle Dinge ausdehnt,
sobald sie diese als sinnlich gegeben ansieht, und die Processe
der Bildung ihrer Vorstellungen ignoriert. Sensualismus und
Nominalismus gehen immer zusammen.
297 §42. Ueber- und Unterordnung, Inhalt u. Umfang der Begriffe. 343
§42.
Auf Grund der Analyse der Objecte in ihre letzten Ele-
mente entstehen — und zwar ebenso leicht aus der Analyse
eines einzigen Objects wie aus der Vergleichung der Analyse
verschiedener — Reihen vonBegriffen, in weichen
jedes folgende Glied durch ein weiteres unter-
scheidendes Merkmal determiniert ist, und da-
durch , dem vorangehenden gegenüber , einen reicheren
Inhalt hat. Der weniger determinierte 'ärmere Begriff, der
in dem folgenden mitgedacht ist, heisst der übergeordnete,
höhere oder Gattungsbegriff, der mehr determinierte,
reichere der untergeordnete, niedere, Artbegriff;
ihr Verhältniss das der Subordination.
Das Verhältniss der Subordination besteht übrigens nur
zwischen Begriffen derselben Kategorie, weil
diese den Sinn der Synthese ihrer Merkmale bestimmt und sie
dadurch allein vergleichbar macht.
Der umfang eines Begriffs ist die G e s a m m t h e i t
der ihm untergeordneten niederen Begriffe;
er ist innerhalb derselben Sabordinationsreihe um so grosser,
je kleiner der Inhalt und umgekehrt. Von dem logischen
Umfang einesBegriffs ist der empirischeUm-
f a n g desselben, und von diesem der Umfang des Namens
zu unterscheiden.
Von wesentlichen und unwesentlichen Merk-
malen kann nur in Beziehung auf die Objecte einem gegebe-
nen Begriff gegenüber die Rede sein.
1, Setzen wir das wichtigste Geschäft aller Begriffsbe-
stimmung, die Uebersicht über die Merkmale nach ihren ver-
schiedenen Classen, durch eine vollendete und allgemeingültige
Theorie der Bildung unserer Vorstellungen als vollzogen vor-
aus; setzen wir voraus, es sei dadurch klar, welche Merkmale
andere voraussetzen und von ihnen abhängig sind (wie die
344 II» 1. Der Begriflf. 297
Farbe von der ausgedehnten Fläche), was ebenso in der Regel
vernachlässigt wird ; welche Wörter bestimmte Vorstellungsele-
mente bezeichnen, welche blosse Gemeinnamen sind ; so fragt
sich weiter, wie sich unsere Begriffswelt unter dieser Voraus-
setzung gestalten muss.
Da alle begriffliche Vollendung immer an ein schon ge-
gebenes Material von Vorstellungen anknüpft , und zunächst
die Aufgabe hat diese zu reconstruieren und zu bestimmen ;
da ferner unsere immer schon vorhandenen, kunstlos und re-
flexionslos entstandenen Vorstellungen an Einzelnes sich an-
schliessen, und Urtheile, in denen das Einzelne durch Prädi-
cate bestimmt werden soll, fortwährend zur Aufgabe unseres
Urtheilens gehören, so können wir die weiteren Verhältnisse
unserer Begriffe am leichtesten deutlich machen , wenn wir
von der Aufgabe ausgehen , irgend eine gegebene , zunächst
aus einem Einzelnen herrührende Vorstellung begrifflich zu
bestimmen.
2. Soll die von irgend einem einzelnen Dinge gewonnene
Vorstellung festgehalten, d. h. sicher dem Gedächtniss über-
liefert und in der Reproduction als dieselbe wiedier erkannt
werden : so reicht die bloss unwillkürliche Function der Re-
production, die einfach das Bild als Ganzes wiederholt — die
z. B. im Traume absichtslos thätig ist und die beim Beginne
unseres Urtheilens den einfachen Benennungsurtheilen zu Grunde
zu liegen pflegt — nicht aus, weil sie nicht in ihren einzelnen
Elementen eine bewusste ist, und also mit ihr das Bewusstsein
der Identität nicht nothwendig verknüpft, und sie darum vor
Verwechslungen nicht geschützt ist. Um ihre genau identische
Wiederholung zu sichern, bedarf es vor allem der Zerlegung
in die einzelnen Elemente , welche ihrerseits die Bedingung
der U n terscheidung desDinges von allen andern
ist. Diese Zerlegung vollzieht sich durch Zurückgehen auf
lauter einfache, vollkommen bestimmte Merkmale, und hat
insbesondere die Fixierung der fliessenden Unterschiede z. B.
der Farbe durch übereinstimmende Bezeichnung , der Grösse
durch ein festes Mass u. s. w. zur Voraussetzung.
Das Resultat eines solchen Versuchs ist eine in einem
conjunctiven Urtheil vollzogene Beschreibung. So be-
298 § 42. lieber- u. Unterordnung, Inhalt u. Umfang der Begriffe. 345
schreibe icli die vor mir liegende Oblate, wenn icli etwa sage :
sie ist ein scheibenförmiges, kreisrundes, 2 Centim. im Durch-
messer haltendes , 1 Millim. dickes , rothes , leichtes , glattes
Ding, indem ich alle Prädicate angebe, welche ich mit Hülfe
meiner verschiedenen Sinne wahrnehme, und sie mit Bewusst-
sein wieder zu einem Ganzen zusammensetze, wobei durch die
Kategorie des Dings die Bedeutung der ganzen Synthese
angegeben wird, und zugleich die Abhängigkeit der Merk-
male roth, glatt u. s. w. von den räumlichen Merkmalen
durch die Natur dieser Merkmale selbst bestimmt ist. Wer
eine solche Beschreibung hört, wird damit aufgefordert, nun
die Synthese, welche in der Anschauung selbst sich unwill-
kürlich vollziehen und nur in ihrem Gesammtresultat zum
Bewusstsein kommen würde. Schritt für Schritt zu vollziehen,
und es wird ihm zugemuthet, dass ihm nun aus der Be-
schreibung dieselbe Vorstellung entstehe , die ich habe ; vor-
ausgesetzt natürlich, dass er sich unter den einzelnen Merk-
malen genau dasselbe denkt.
Aber es zeigt sich sofort, dass, indem ich auf diese Weise
etwas beschreibe, ich schon etwas Anderes zu Stande gebracht
habe, als ich beabsichtigte ; die Beschreibung ist in der Regel
doch dem einzelnen Bilde nicht äquivalent und kann die An-
schauung selbst nicht ersetzen. Ich habe in den Worten :
»ein kreisrundes rothes, glattes etc. Ding« eine Formel in
allgemeinen Ausdrücken aufgestellt, welche für den , der sie
hört, wie ein ßäthsel klingt , das er zu errathen hat , eine
Aufgabe für seine Einbildungskraft, sich ein Ding anschau-
lich vorzustellen , das den Bedingungen der Aufgabe genügt.
Mit jedem weiteren Merkmal ist zwar meine Vorstellung von
anderen unterschieden , welche die übrigen Merkmale noch
mit ihr gemein haben ; dabei bleibt aber wegen der Natur
der Prädicate noch individuelle Freiheit, diese Vorstellung so
oder so zu gestalten ; denn Prädicate wie roth , leicht , glatt
u. s. w. lassen, auch wenn sie genau abgegrenzt sind (leicht
z. B. specifisch leichter als Wasser heissen sollte u. dgl.),
noch eine Reihe bestimmterer Unterschiede zu, zwischen denen
er wählen muss, um ein anschauliches Bild zu gewinnen. Die
Beschreibung gibt ein Signalement , das nicht bloss auf eine
346 II, 1. Der Begriff. 299
unbestimmte Anzahl vollkommen gleicher, sondern noch auf
eine Reihe unterscheidbarer Dinge passt; eine Formel also,
der nicht bloss numerische, sondern generelle All-
gemeinheit zukommt.
Weiter zeigt sich, dass diese Allgemeinheit nicht bloss
F'olge der Weite einzelner Bestimmungen wie roth u. s. w.
ist, sondern dass die angegebenen Merkmale häufig nicht alles
erschöpfen, was die direct wahrnehmbaren oder erschliessbaren
Eigenschaften meines Objects ausmacht; jene Formel würde
auf ein rundes Stück Pappe oder eine rothe Spielmarke eben-
sogut passen, weil sie das Material und die davon abhängigen
Eigenschaften nicht angibt. In diesem Falle handelt es sich
um eine leicht zu corrigierende Unvollständigkeit der Beschrei-
bung ; aber dasselbe kann eintreten , wo für unsere jetzige
Kenntniss verborgene und uns gar nicht erkennbare Differenzen
vorhanden sind. Die exacteste Beschreibung der Keimzelle
eines Säugethiers würde ohne Weiteres auf die Keimzellen
vieler anderen passen, obgleich wir voraussetzen müssen, dass
verborgene Differenzen da sind , die sich in der Entwicklung
offenbaren *) ; und keine Beschreibung irgend eines realen
Dinos überhaupt kann darauf Anspruch machen , eine so er-
schöpfende zu sein , dass sie nicht möglicherweise in allen
Stücken auf ein davon noch durch unbekannte Unterschiede
Verschiedenes passte.
Somit haben wir in einer solchen auf Merkmale redu-
cierten Formel nicht den vollen Ausdruck eines Dings, son-
dern zunächst ein subjectives Gebilde, das unsere aus
der Anschauung eines Dings erwachsene Vorstellung ausdrückt,
soweit wir sie in übereinstimmend fixierten Merkmalen fest-
halten können ; eine Regel der Vorstellungsbildung, der ge-
nügt werden soll, aber in verschiedener Weise genügt werden
kann ; deren Allgemeinheit theils von der Weite der einzelnen
Merkmale, theils von der Möglichkeit abhängig ist, noch
weitere differente Merkmale zu den gegebenen hinzuzufügen.
Ob die geläufige Sprache für eine solche Vorstellung ein be-
*) Von der dadurch entstehenden Nothwendigkeit, Merkmale, welche
auf Relationen beruhen, zur Begriffsbestimmung heranzuziehen, wird im
dritten Theile die Rede sein.
300 § 42. Ueber- u. Unterordnung, Inhalt u. Umfang der Begriffe. 347
sonderes Wort habe, ist zunächst gleichgültig; wenn es der
Mühe werth wäre, würde eines dafür geschaffen werden können.
Wäre unsere Beschreibung weniger vollständig , wäre
z. B. die Angabe der Grösse weggelassen : so wäre ein Unter-
schied vernachlässigt, durch den sich dieses Object von an-
deren grösseren und kleineren unterscheidet, und die Formel
würde auf viel mehr unterschiedene Objecte anwendbar sein,
indem wir noch alle möglichen Grössen ergänzen können;
wäre sie bestimmter, z. B. statt »roth« rosenroth gesetzt : so
würden eine Reihe vorher darunter befasster unterscheidbarer
Objecte ausgeschlossen werden ; immer aber hätten wir eine
Formel, welche eine Synthesis von Merkmalen ausdrückt, zu
denen noch andere hinzukommen können ; die derjenige , der
sie hört, in manigf altiger Weise ergänzen kann.
3. Auf diese Weise kann schon von der Analyse der
Vorstellung eines einzigen Objects aus eine Reihe von
Formeln entstehen, welche successiv mehr und mehr Merk-
male enthalten ; durch jedes Merkmal wird das , was vorge-
stellt werden soll, vollständiger bestimmt, durch jedes weitere
Merkmal werden Objecte ausgeschlossen, aufweiche die früheren
für sich noch zutrafen. Von jeder dieser Formeln kommt man
auf die vorangehende, indem man ein Merkmal weglässt, auf
die folgende, indem man eines hinzufügt. Je weniger Merk-
male zusammengefasst sind, von desto mehreren unterschiedenen
Objecten kann die Formel prädiciert werden, wenn man die
möglichen Unterschiede wirklich setzt; je mehr, von desto
wenigeren. Die Formeln verhalten sich wie allgemeinere
und speciellere Begriffe. Auch der speciellste ist noch
allgemein, sofern seine Merkmale noch eine gewisse Weite
zulassen ; nur wenn alle Merkmale vollkommen bestimmt
wären , käme dem Begriff bloss noch numerische Allgemein-
heit zu (z. B. ein Cubus aus reinem Golde von 1 Centim.
Seite ist eine vollkommen bestimmte Vorstellung).
Dies wird so ausgedrückt, dass man von einem gegebenen
Begriff zu einem allgemeineren aufsteige durch A b s t r a c t i o n,
d. h. Weglassung von Merkmalen, zu einem specielleren herab-
steige durch Determination, d. h. Hinzufügung von Merk-
malen ; die Abstraction vermindert den Inhalt,
348 n, 1. Der Begiiflf. 301
aber erweitertden Umfang, die Determination ver-
mehrt den Inhalt, aber verengert den Umfang.
Inhalt und Umfang stehen in umgekehrtemVer-
hältniss. Der allgemeinere Begriff heisst der höhere,
weitere; der specielle der niedere, engere; ihr Ver-
hältniss heisst das der Subordination.
Dasselbe ergibt sich, wenn wir nicht von einem einzelnen
Objecte ausgiengen, sondern von verschiedenen, und die Auf-
gabe gestellt wäre, anzugeben, welche Merkmale verschiedenen
Objecten gemeinschaftlich sind. Je mehrere verschiedene zu-
sammengefasst werden sollen, desto wenigere Merkmale wer-
den ihnen gemeinsam sein, desto inhaltsloser wird der Begriff*;
je wenigere, desto inhaltsreicher.
■1. In diesen Sätzen, so einfach und selbstverständlich
sie erscheinen, verstecken sich doch einige gewöhnlich nicht
genügend beachtete Fragen und Schwierigkeiten , theils hin-
sichtlich der Processe der Abstraction und Determination, theils
hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Inhalt und Umfang.
Zunächst ist das Weglassen und Hinzufügen von
Merkmalen nichts so Willkürliches und Beliebiges , als es
nach diesen Sätzen scheint. Unter den Merkmalen ist inamer
eins dasjenige, welches die Art der Synthese bestimmt,
indem es die Kategorie angibt; würde man versuchen dieses
wegzulassen, so verlören die übrigen Merkmale ihren Halt,
und der Sinn ihrer Synthese würde unsicher. Ueber- und
untergeordnet können nur Be g r if fe innerhalb derselben
Kategorie sein ; und es verwirrt, wenn etwa roth der über-
geordnete Begriff zu Rose oder vernünftig der übergeordnete
Begriff zu Mensch oder vorsätzlich der übergeordnete Begriff
zu Mord sein soll.
Ferner sind die Merkmale nicht alle unabhängig von
einander, sondern setzen einander theilweise voraus. Es hülfe
nichts, das Merkmal ausgedehnt wegzulassen und roth beizube-
halten; dieses setzt jenes voraus. Somit ist der Gang der verallge-
meinernden Abstraction innerhalb gewisser Grenzen vorgezeichnet.
Ebenso der der Determination. Selbstverständlich ist
zunächst, dass diese nicht unvereinbare Merkmale herzubringen
darf, ohne dem Widerspruch zu verfallen; aber wodurch soll
302 § 42. lieber- u. Unterordnung, Inhalt u. Umfang der Begriffe. 349
die Determination bestimmt werden ? Hier ist auf einen dop-
pelten Grund der Determination hinzuweisen. So-
fern nemlich die gegebene Begriffsformel Merkmale ent-
hält, die noch ihrer eigenen Natur nach eine
Reihe von Unterschieden zulassen — wie roth eine
Reihe von Schattierungen, kreisrund alle möglichen Grössen
des Durchmessers u. s. w. — bietet sich hier für die Deter-
mination, die Setzung irgend eines dieser Unterschiede, und
sie rechtfertigt sich aus dem gegebenen Begriffe selbst. Aber
schon hier ist zu achten , ob nicht andere Merkmale einen
Theil der so möglichen Merkmale ausschliessen und die De-
termination einschränken. Der Begriff einer von drei Geraden
begrenzten ebenen Figur enthält nichts über die Grösse der
Figur, noch die Grösse der Geraden und ihr Verhältniss zu
einander; mit dem Begriff der Geraden ist irgend eine Grösse
nothwendig gegeben, welche, bleibt der Determination vor-
behalten ; aber ich kann nun nicht beliebig für jede Gerade
eine Determination vollziehen , sondern bin durch das Gesetz
eingeschränkt, dass zwei Seiten zusammen grösser sind als
die dritte; dieses Gesetz ist mir durch die übrigen Merkmale
und die Art der geforderten Synthese derselben vorgeschrie-
ben. Die Determination kann also nicht aus einem Merkmale
für sich, sondern nur aus dem ganzen Complex hervorgehen.
Neben dieser Determination läuft aber eine andere her,
welche unabhängige neue Merkmale hinzufügt , ohne
dass diese in den gegebenen einen Anknüpfungspunkt haben.
Wird z. B. die Materie bestimmt als die ausgedehnte und
schwere Substanz , so vermögen wir die specifischen Eigen-
schaften der einzelnen Stoffe auf dem Standpunkte unserer
jetzigen Kenntniss in keiner Weise als Modificationen der
Ausdehnung und Schwere zu betrachten. In solchen Fällen
zeigt es sich nun aber, dass die Determination durch die rein
empirische Kenntniss dessen bestimmt ist, was unter
den Begriff' der Materie fällt; wir fügen die Merkmale hinzu,
welche wir erfahrungsmässig mit den allgemeineren vereinigt
finden. Diese Determination kiumte durch den Gehalt unserer
Vorstellungen erst geleitet sein, wenn wir eine absolut voll-
kommene Einsicht in das Wesen der Dinge hätten.
ä&O ' ", 1. Der Begriff. äo3
5. Diese doppelte Weise der Determination macht un-
sicher, was unter dem Umfang eines Begriflfe zu verstehen
sei. Gehen wir vom logischen Gesiclitspunkt aus, der zunächst
begrifflich bestimmte Prädicate fordert, und darum nur die
Vorstellungen im Auge hat, mit denen wir an die wirklichen
Dinge herantreten: so kann consequenterweise das V e r h ä 1 1-
niss der Unterordnung immer nur zwischen Be-
griffen stattfinden, und die Allgemeinheit des Begriffs be-
steht darin , dass er in einer Menge begrifflich , d. h. durch
ihren Inhalt, durch differente Merkmale unterschiedener Vor-
stellungen gedacht wird. Die bloss numerische Allgemeinheit,
vermöge der dieselbe Vorstellung in einer unbestimmten Menge
einzelner angeschauter Dinge wiedergefunden wird, ist für das
Wesen des Begriffs völlig gleichgültig ; es ist ein und derselbe
Begriff, der in allen Exemplaren gedacht wird, und sein Wesen
verändert sich nicht, ob er von einem oder von hundert Dingen
prädiciert werden kann.
Darum kann der Begriffs-Ümfang niemals nach der
empirischen Anzahl gleicher Dinge bemessen
werden, welche unter einen Begriff fallen, sobald
— gegen das Principium identitatis indiscernibilium — die
Möglichkeit anerkannt ist, dass es für unsere Erkenntniss
Objecte gibt, die sich nicht mehr durch ihre Eigenschaften,
sondern nur noch durch verschiedenen Ort oder verschiedene
Zeit unterscheiden. Dem gegenüber ist festzuhalten, dass
ein Begriff, der sich nicht weiter determinieren
lässt, keinen Umfang mehr hat ; er repräsentiert die
Grenze der Beschränkung des Umfangs, den Punkt; wenn
auch das ihm entsprechende in Millionen Exemplaren empi-
risch vorhanden sein mag. Eine gusseiserne Kugel von 10
Centim. Durchmesser ist, alles Gusseisen als gleich vorausge-
setzt, ein solcher Begriff.
Nur sofern es Merkmale gibt, deren begriffliche Fixierung
immer nur in einer Begrenzung eines Continuums unmerklich
kleiner Unterschiede bestehen kann , hat auch die unterste
begrifflich fixierte Formel noch einen Umfang, nur dass er
sich nicht mehr in discrete Begriffe zerlegen lässt.
Die Frage nach den Individualbe griff en nimmt an
' Ö04 § 42, lieber- ii. Unterordnung, Inlialt u. Umfang der Begrift'e. 351
dieser SchAvierigkeit Theil. Ein Individualbegriff kann nie-
mals bloss deshalb ein solcher heissen, weil zufällig in der
empirischen Wirklichkeit bloss ein Ding existiert , das ihm
entspricht, sowenig als es die logische Natur des Begriffs
afficiert, wenn gar kein ihm entsprechendes Object gegeben
wäre. Individualbegriff kann nur der heissen, durch dessen
Merkmale schon die Einzigkeit eines ihm ent-
sprechenden Objects gegeben ist; so ist der Mittel-
punkt der Welt in diesem Sinne ein Individualbegriff. Die
Frage dagegen, ob alle Individuen, welche factisch unter einen
gegebenen Begriff fallen, noch anders als räumlich und zeit-
lich unterscheidbar seien, und ob ein Begriff kleinsten Um-
fangs nur Ein oder ob er mehrere Einzeldinge unter sich
befassen könne, geht die logische Betrachtung nichts an, son-
dern gehört in die reale Wissenschaft.
Ebendarum ist es auch rein zufällig, wenn die Zahl der
unter zwei inhaltlich verschiedene Begriffe fallenden Dinge
dieselbe ist , und sie dürfen darum gleichgeltende oder
Wechselvorstellungen nicht als Begriffe heissen,
sondern nur insofern , als sie , als N a m e n gebraucht , für
unsere Kenntniss dieselben Dinge bezeichnen. In der That
sind sie verschieden und haben logisch betrachtet verschiedenen
Umfang. Das zweifüssige ungeiiederte Thier ist ein anderer
Begriff, als der Begriff des Menschen ; nur als N a m e n ge-
braucht, bezeichnen sie dieselben Wesen. Vom logischen Um-
fang des Begriffs ist also der empirische Umfang des
Namens zu scheiden.
Höchstens kann man darüber im Zweifel sein, ob die
Begriffe »gleichseitiges Dreieck« und »gleich winkliches Dreieck«
identisch oder verschieden sind. Sie sind in der Formel ver-
schieden; da aber das Merkmal gleichseitig, zusammen mit
den in dem Worte Dreieck zusammengefassten Merkmalen
das Merkmal gl eich winklich mit Nothwendigkeit enthält und
umgekehrt, so haben sie absolut denselben Werth; und nur wo
man am sprachlichen Ausdruck hängt, kann man sie für ver-
schieden erklären. Dann müssen aber auch gleichseitiges Recht-
eck und rechtwinklicher Rhombus verschiedene Begriffe sein.
Direct vergleichbar sind ferner nur die Umfange unter-
352 ^l 1- Der Begriff. 305
und übergeordneter Begriffe; die Umfange von Begriffen, die
von einander unabhängig sind, lassen sich nicht vergleichen,
ausser sofern jeder Begriff, der noch viele Determinationen
zulässt, im Allgemeinen ein weiter, jeder der nur noch we-
nige zulässt, im Allgemeinen ein enger heissen kann ; ein be-
stimmtes allgemeines Mass der Umfange aber kann es nicht
geben.
Weiter ist zwischen dem logischen Umfang und
dem empirischen Umfang eines Begriffs zu unter-
scheiden. Den logischen Umfang constituieren alle die Be-
griffe, welche durch die weitere Determination seiner Merk-
male gewonnen werden, die mit diesen selbst gegeben ist.
Wo aber die Determination bloss durch unsere Kenntniss der
factisch vorhandenen Dinge geleitet wird, eine Reihe an sich
möglicher Determinationen und Combinationen von Merkmalen
gar nicht ausgeführt wird, weil wir keine empirische Veran-
lassung dazu haben da kann auch nur von einem empi-
rischen Umfang geredet werden, weil wir weder die Noth-
wendigkeit einsehen, gerade diese, noch die Noth wendigkeit,
nur diese Determinationen vorzunehmen. Niemand vermag
aus dem Begriffe des Metalls abzuleiten, dass es soviele, und
dass es nur soviele verschiedene Metalle gibt; aber es wäre
ein völlig leeres Geschäft, alle möglichen verschiedenen Com-
binationen von Merkmalen zu versuchen ; der Umfang des
Begriffs Metall wird für uns durch die Begriffe der bekannten
Metalle constituiert. Ebendarum ist aber der empirische Um-
fang eines Begriffs niemals für abgeschlossen zu halten.
6. Auf das Verhältniss der über- und untergeordneten
Begriffe pflegt mau auch den Ausdruck Gattung und Art,
Genus und Species anzuwenden; jeder Begriff ist dem
niederen gegenüber Genus, dem höheren gegenüber Species.
Es gilt von diesen Terminis ebenso, dass sie nur innerhalb
derselben Kategorie bestimmten Sinn haben; roth ist kein
Gattungsbegriff zu Rose, sondern nur zu den verschiedenen
Abschattungen von roth. Die höchsten Gattungen, die Tcpwia
yivTj sind darum die Kategorieen ; ihr Gemeinschaftliches ist
zuletzt wieder nur die Relation, ein Denkobject zu sein. Hält
man an jener Bestimmung nicht fest, so gäbe es soviel höchste
306 § 42. Ueber- u. Unterordnung, Inhalt u. Umfang der Begriffe. 353
Gattungen, als es von einander unabhängige Merkmale irgend-
welcher Art gibt.
Vom Grattungsbegriff ist die Gattung im con-
creten Sinne, die Gesammtheit der unter einen Gattungs-
begriff fallenden Dinge, vom Gattungsbegriff Mensch die
menschliche Gattung selbstverständlich zu unterscheiden.
7. Von einem und d emselben B egr iff k ann zu
verschiedenen höheren Begriffen aufgestiegen wer-
den, wenn er verschiedene von einander unabhängige Merk-
male enthält. Vom Begriffe des Quadrats kann zu dem des
gleichseitigen Vierecks, dem des gleichwinklichen Vierecks,
dem der regulären Figur aufgestiegen werden, je nachdem
eines der Merkmale gleichwinklich, gleichseitig, vierseitig, die
alle von einander unabhängig sind, wegfällt ; alle die höheren
Begriffe verhalten sich gleichmässig als Gattungsbegriffe zu
dem des Quadrats. Dem entspricht, dass ebenso die Deter-
mination in verschiedener Ordnung erfolgen kann,
je nachdem das eine oder das andere aus einer Zahl unab-
hängiger Merkmale zuerst gesetzt wird. Von dem Begriffe
der geradlinigen ebenen Figur aus kann fortgeschritten wer-
den in der Ordnung figura plana rectilinea quadrilatera —
fig. pl. r. quadrilatera aequilatera — fig. pl. r. quadrilatera
aequilatera aequiangula; ebenso aber auch in dieser Ordnung:
Figura plana rectil. aequiangula — fig. pl. r. aequiangula
aequilatera — fig. pl. r. aequiangula aequilatera quadrilatera
etc. Jeder Begriff, der von einander unabhängige Merkmale
enthält, kann also in verschiedenen Reihen einander
subordinierter Begriffe liegen, und es bedürfte der
arithmetischen Combinationsrechnung , um alle Möglichkeiten
zu erschöpfen.
Es gibt also k e i n e durch die Natur der Begriffe
mit Nothwendigkeit gegebene Anordnung der
Subordinationsfolge, keine feste Rangstufenordnung,
in welche sich alle logisch möglichen und berechtigten Be-
griffe in einerlei Weise einreihen Hessen; gerade darum, weil
die Begriffe in unserem Sinne subjective Gebilde sind, Formeln,
die zunächst nur den Zweck haben, unsere Vorstellungen zu
fixieren und zu allgemeinverständlichen und eindeutigen Prä-
Sigw art , Logik. 1. 2. Auflage. ^^0
3^4 11, 1. Der Begriff. 307
dicaten zu stempeln, kommt ihnen auch die Beweglichkeit und
Freiheit manigfaltiger Combination zu *).
8. Diese ursprünglichste Function der Begriffe, als Prä-
dicate in unsern manigfaltigen ürtheilen zu dienen, lässt
es als keine Unvollkommenheit derselben erscheinen, dass sie
in der Regel ärmer an Bestimmungen sind als die concreten
und völlig bestimmten Subjecte, von denen sie prädiciert werden,
und dass ihnen mehr oder weniger fehlt, wenn sie nun mit der
anschaulichen Wirklichkeit der einzelnen Dinge, Vorgänge
u. s. w. verglichen werden. Es schadet dem Werthe des Be-
griffs »Obst« nicht, dass kein Mensch Obst überhaupt essen
kann, sondern nur Aepfel oder Birnen u. s. w., und zwar von
einer ganz bestimmten Sorte, und jedes Exemplar von indi-
vidueller Form und Grösse; und es schadet dem Werthe des
Begriffs Uhr ebensowenig, dass Niemand eine Uhr überhaupt
haben kann, sondern nur eine Pendeluhr oder Spiraluhr etc.
Diese Differenz zwischen dem Begriff und dem Seienden ist
mit seinem Zweck und seiner Function nothwendig gegeben.
Es ist darum eine den obersten und allgemeinen Zweck der
Begriffsbildung verkennende Forderung, wenn nun die logische
Theorie den vermeintlichen Mangel wieder dadurch gut machen
will, dass sie behauptet oder fordert, dass der Begriff eines
Dinges die wesentlichen Merkmale desselben enthalte
— womit dasjenige, was der Begriff noch unbestimmt lässt,
als unwesentlich, als accidentell hingestellt wird. Abgesehen
davon, dass wir eine durchdringende Kenntniss der ganzen
*) Die Vorstellung einer Anordnung der Begriffe, in der von Einer
Spitze — dem Begriffe des 5v oder des Etwas aus — als dem allge-
meinsten Begriffe sich die specielleren in immer grösserer Zahl aus-
breiten, ist nach allen Seiten schief; sie setzt voraus, dass die Zahl der
höheren Gattungsbegriffe viel kleiner sein müsse, als die der specielle-
ren ; wenn man aber die Begriffe als Combinationen aus einer be-
grenzten Anzahl von Merkmalen betrachtet, so hängt es ganz von ihren
Verhältnissen ab, ob die Combinationen grösserer oder geringerer All-
gemeinheit zahlreicher sind. Nur auf dem Grunde einer Metaphysik,
welche dem höheren Begriffe die reale Bedeutung beilegt, hervor-
bringende Ursache der niederen zu sein, ergibt sich die Nothwendigkeit
einer festen Anordnung , und damit zugleich jenes Bild einer Begrift's-
pyramide,
308 §42. Ueber- u. Unterordnung, Inhalt u. Umfang der BegriflFe. 355
Welt haben müssten, um zu wissen, was denn wesentliche
Merkmale der Dinge seien und was nicht, so führt diese Be-
hauptung, sobald man sie mit der lieber- und Unterordnung
der Begriffe zusammennimmt, nothwendig zu der pantheisti-
schen Consequenz, dass aller Dinge Wesen nur Eines, und
alle Unterschiede nur accidentelle , zuletzt nur in der subjec-
tiven Vorstellungsweise gegründet seien. Denn da keine ab-
solute und feste Grenze besteht zwischen den Unterschieden,
welche die begriffliche Fixierung vernachlässigen muss, um die
Begriffsspaltung nicht ins Unübersehbare zu treiben, und
denen, die eben noch ihre begriffliche Fixierung und Formu-
lierung finden — so sind mit demselben Rechte, mit welchem
die bloss individuellen Unterschiede der unter einen niedersten
Begriff fallenden Dinge bloss accidentell sind, auch die Unter-
schiede der letzten Species gegenüber dem Genus accidentell;
und da sich zuletzt immer ein höheres Genus zu seinen Spe-
cies verhält wie der speciellste Begriff zu den noch unter-
scheidbaren Individuen, so kann nur der höchste Begriff das
eigentliche Wesen ausdrücken. Dies ist in der That die
Genesis der Spinozischen Lehre , dass es nur eine Substanz
gebe, und alle Unterschiede blosse Modificationen dieses Einen
seien.
Der Unterschied wesentlicher und unwesentlicher Merk-
male hat seine Bedeutung und sein Recht zuerst im Gebiete
der Zweckbegriffe. Wo es sich darum handelt , irgend
einen Zweck durch reale Mittel zu erreichen, pflegen diese
ihrer natürlichen Beschaffenheit nach noch eine Reihe von Eisren-
Schäften zu haben, welche nicht gewollt und darum durch
den Zweckbegriff nicht bestimmt sind; sie sind demselben
gegenüber accidentell. Das Bedürfniss des Schutzes gegen
die Kälte erzeugt den Zweckbegriff einer den Wärmeverlust
verhindernden Umhüllung, damit ist von dem Stoffe, der
diesem Zwecke dienen soll, verlangt, dass er ein schlechter
Wärmeleiter und biegsam sei. Jeder erreichbare Stoff hat
aber ausser der Eigenschaft, ein schlechter Wärmeleiter und
biegsam zu sein, noch viele andere Eigenschaften; die letz-
teren thun zur Erfüllung des Zwecks nichts; dem Begriffe
des Kleides gegenüber sind sie accidentell. Ebenso ist der
23*
356 n, 1. Der Begriff. 309
Begriff der Uhr ursprünglich ein Zweckbegriff — der Begriff
eines Apparates , welcher die Zeit durch räumliche Verände-
rungen misst ; für den Begriff der Uhr ist es accidentell, wie
sie construiert ist, wenn sie nur ihren Zweck erfüllt. Hier
geht also in der That der subjective Begriff mit seinen Merk-
malen der Realität voran; dass nicht bloss die Bestimmungen
verwirklicht werden können, welche er in sich schliesst, hängt
von der Natur der Dinge ab, welche als Mittel verwendet
werden müssen ; mit der Mannigfaltigkeit der Mittel besondert
er sich. Nur wo die Natur selbst unter den Begriff des
Zwecks gestellt und so betrachtet wird, als wolle sie gewisse
Ideen oder Formen verwirklichen, die in ähnlicher Unbestimmt-
heit und Variabilität gedacht werden, wie der Mensch seine
Zwecke denkt, hat es einen Sinn , wesentliche und unwesent-
liche Merkmale in der Vorstellung eines existierenden Dings
zu unterscheiden. Kommt es der Natur darauf an, bloss die
Form, den Bau und die Organisation des Pferdes zu schaffen,
und ist für ihren Zweck die Farbe gleichgültig: so gilt diese
als unwesentliches Merkmal, das nur da ist, weil das Pferd
doch irgend eine Farbe haben muss. Die Veränderlichkeit
solcher Merkmale bei sonst ähnlichen Individuen gilt dann
als Zeichen ihrer Gleichgültigkeit; während doch, naturwissen-
schaftlich betrachtet, die weisse Farbe des Schimmels und die
schwarze des Rappen ebenso nothwendig aus der Constitution
der einzelnen Individuen folgt, wie der Bau ihres Skeletts und
ihrer Muskeln.
Der Unterschied des Wesentlichen und Unwesentlichen
liegt also zuletzt immer da, wo mit einem schon gege-
benen Begriffe eine darunter befasste Vorstellung ver-
glichen, und die Realisierung des Begriffs in ihr gesucht und
betrachtet wird. Wenn das Straf recht gewisse Begriffe von
Verbrechen aufstellt , Mord , Todtschlag u. s. f. : so sucht in
den einzelnen concreten Handlungen der Richter die Merk-
male, welche das Gesetz bestimmt; diese sind für die Sub-
sumtion und die Ausmessung der Strafe wesentlich, die in-
dividuellen Umstände der That, die nicht vorgesehen sind,
sind unwesentlich. Es ist wesentlich , ob einer vorsätzlich
oder un vorsätzlich, mit oder ohne Ueberlegung einen andern
310 § 42. Wesentliche und unwesentliche Merkmale. 357
getödtet hat; es ist unwesentlich, ob mit einer Kugel oder
einem conischen Geschoss.
Derselbe Gesichtspunkt kehrt wieder, wenn die Aufgabe
gestellt ist, die Bedeutung eines gebräuchlichen Wortes begriff-
lich zu fixieren; unwesentlich ist jetzt, was nicht zu der all-
gemeinen Bedeutung gehört, sondern nur den bestimmteren,
darunter befassten Dingen oder specielleren Vorstellungen an-
gehört. In diesem Sinne ist es für den Begriff des Hauses
unwesentlich, ob es mit Ziegeln oder Stroh gedeckt ist, wesent-
lich aber, dass es überhaupt ein Dach hat; in der thatsäch-
lichen Bedeutung des Wortes »Haus« ist das Bedecktsein
eingeschlossen, das bestimmte Material aber nicht.
9. Von dieser logischen Betrachtung des Unterschiedes
wesentlicher und unwesentlicher Merkmale eines Dinges ist
scharf zu unterscheiden die Frage, was zum realen Wesen
eines Dinges gehört, ihm wesentlich ist oder nicht (vergl. §. 33,
4 S. 258). Wenn die Forderung gestellt wird, die Begriffe
der Dinge so zu bilden, dass sie das Wesen der Dinge aus-
drücken, d. h. diejenigen Bestimmungen, die ihnen an und
für sich zukommen und rein aus ihrem Wesen hervorgehen:
dann sollen die Merkmale eines Begriffs die wesentlichen Be-
stimmungen der Dinge enthalten, und es sollen also unter
denselben Begriff' alle Dinge fallen, deren Wesen dasselbe ist.
Es ist aber klar, dass diese Forderung nur durch die infimae
species erfüllt werden kann, wenn man nicht in die pan-
theistische Richtung gerathen will, also für alle höheren Be-
griffe keinen Sinn mehr hat; und es ist ebenso klar, dass
diese Wesensbegriff'e, wenn sie überhaupt erreichbar sind, nur
ein kleiner Theil der Begriffe sein können, deren wir über-
haupt bedürfen. Denn für die Erkenntniss handelt es sich
nicht bloss darum , das unveränderlich sich gleichbleibende
Wesen, sondern auch die manigfaltige Aeusserung, Erschei-
nung und Wirkung dieses Wesens zu erkennen ; und auch
dazu bedarf es der Urtheile, deren Prädicate Begriffe sind.
Von einer Seite ist allerdings ein Unterschied zwischen
den beharrlichen und bleibenden, und den veränderlichen und
wechselnden Eigenschaften oder Zuständen eines Dinges , der
Unterschied , den z. B. Cartesius durch die Distinction der
358 II, 1. Der Begriff. 311
attributa und der modi bezeichnen wollte ; da der Begriff eine
constante Vorstellung sein muss, der Begrijff eines Dinges ein
in der Zeit Beharrliches meint, so kann im Begriff des Dings
nur liegen, was ihm bleibend zukommt. Dem Begriff des
Dings gegenüber ist also das Veränderliche unwesentlich, aber
nur weil es nicht in den Begriff aufgenommen werden kann,
nicht weil es keine Beziehung zum realen Wesen des Dings
hätte ; denn dieses expliciert sich eben in den Veränderungen,
und wir sind darum genöthigt, den bleibenden Grund des
Veränderlichen als Vermögen, Kraft u. s. w. in den Begriff
des Dinges aufzunehmen, wenn wir sein reales Wesen aus-
drücken wollen.
10. Von dem Unterschiede der wesentlichen und un-
wesentlichen Merkmale, der in Beziehung auf den Begriff als
solchen keinen Sinn hat, ist der andere der fundamen-
talen und abgeleiteten Merkmale wohl zu unter-
scheiden. Wenn aus einer Combination elementarer Merk-
male andere Prädicate mit Nothwendigkeit hervorgehen, so
heissen die ersteren fundamental , die zweiten abgeleitet *).
Es ist eine fundamentale Eigenschaft des Rechteckes, parallele
Seiten und rechte Winkel, eine abgeleitete gleiche Diagonalen
zu haben; ein fundamentales Merkmal der ungeraden Zahl
durch zwei getheilt den Rest Eins zu lassen , ein abgeleitetes
durch gerade Zahlen nicht theilbar zu sein u. s. f. Aber
auch hier ist die Vermischung des Logischen und Metaphy-
sischen abzuweisen ; es darf den fundamentalen Merkmalen
nicht die Bedeutung beigelegt werden, dass sie das reale
Wesen eines Dings constituieren — darüber wissen wir in
vielen Fällen nichts, — sondern nur, dass sie nach der Art,
wie wir die Abhängigkeit der Merkmale von einander er-
kennen, den Begriff als eine bestimmte Vorstellung consti-
tuieren.
11. Es geht aus unserer Lehre von der Negation her-
*) Abgeleitete Merkmale sind etwas anderes als abhängige. Ab-
hängig ist ein Merkmal, das nur unter Voraussetzung anderer gedacht
werden kann , wie die Farbe unter Voraussetzung der Ausdehnung;
abgeleitet , wenn es zugleich nothwendige Folge anderer Merk-
male ist.
312 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. 359
vor, dass negative Bestimmungen niemals ursprüng-
liche Elemente an der Vorstellung sein und darum Merkmale
im eigentlichen Sinne nicht werden können. Jede negative
Bestimmung setzt ein verneinendes Urtheil voraus, und das
Subject dieses Urtheils muss vor der Verneinung bestimmt
gedacht werden können, um die Verneinung zu begründen.
Inwiefern negative Bestimmungen dennoch zur Ordnung
der Begriffe noth wendig werden können, wird sich im
Folgenden ergeben,
§ 43.
Von dem Unterschiede der einfachen Merkmale und
dem davon abhängigen der zusammengesetzten Begriffe ist
die Verschiedenheit dessen, worin der Begriff gedacht
wird, zu unterscheiden. Verschiedene Begriffe, die in dem-
selben Objecte gedacht, also von demselben prädiciert werden
können, heissen vereinbare, und sind in der Regel sich
kreuzende Begriffe; verschiedene Begriffe, die unver-
einbar sind, können nur in Verschiedenem gedacht werden,
ihre Umfange seh Hessen sich aus.
Auf der Determination eines Gattungsbegriffs durch un-
vereinbare Merkmale beruht die Differenziierung desselben in
disjunct CO ordinierte Begriffe, auf der Vollständig-
keit der Aufstellung der disjunct coordinierten Begriffe die
Eintheilung oder Division.
Die Eintheilung geschieht entweder durch innere
Entwicklung schon gegebener Merkmale oder
durch H i n z u n a hm e neuer; im letzteren Fall zuweilen
durch negative Bestimmungen. Die Eintheilung recht-
fertigt die Aufnahme negativer Merkmale von der Form nonB
in einen Begriff, nicht aber nonB als selbstständigen Begriff.
Der Unterschied des sog. c ontradictorischen und
contra ren Gegensatzes fällt richtig verstanden mit dem
360 "» ^- I^er BegriflF. 313
Unterschied einer zweigliedrigen oder mehrgliedrigen Einthei-
lung zusammen.
Die Vollständigkeit der Eintheilungsglieder
ist entweder eine bloss empirische oder eine logische.
1. Mit der Vielheit unterschiedener Merkmale
ist noth wendig gegeben, dass ihr Unterschied sich durch
die Verneinung ausspreche, welche sagt, dass A nicht B,
nicht C u. s. w. ist (§ 21, 1. § 22, 6). Es gehört zur Voll-
endung der begrifflichen Bestimmtheit, dass diese Verneinung
immer klar und selbstverständlich sei, und nicht durch die
Unbestimmtheit der gewöhnlichen Sprache da schwankend
werde, wo es sich um allmähliche Uebergänge handelt.
Dasselbe gilt von allen zusammengesetzten Be--
griffen, welche nicht absolut identisch, d. h. gleichbedeu-
tende Synthesen derselben Merkmale sind; sie sind ihrem In-
halte nach durch die Verschiedenheit der Merkmale nothwen-
dig verschieden, und diese Verschiedenheit wird ebenso durch
die Verneinung der Identität ausgedrückt, welche sagt, dass
A nicht dasselbe sei was B, und nichts anderes als die feste
und unverrückbare Regel zu bestätigen hat, nach der die ver-
schiedenen Wörter Verschiedenes bedeuten, und die, wo es
sich bloss um den Inhalt der durch verschiedene Wörter be-
zeichneten Begriffe handelt, selbst dann gilt, wenn das Prä-
dicat einen dem Subject übergeordneten Begriff bezeichnet:
Quadrat ist nicht Parallelogramm.
Man hat wohl ein Maximum der Verschiedenheit aufge-
stellt, indem man von unvergleichbaren (disparaten)
Begriffen sprach, die gar kein Merkmal gemein haben
(wie Verstand und Tisch, wozu also die verschiedenen ein-
fachen Merkmale selbst gehören, wie roth und süss), im Unter-
schiede von den vergleichbaren, welche ein oder mehrere
Merkmale gemeinschaftlich haben (also nach gemeiner Lehre
unter einem und demselben höheren Begriffe stehen) und sich
nur durch die übrigen unterscheiden. Aber dieser Unterschied
ist ein relativer; denn absolut unvergleichbar ist gar
nichts, sofern allem überhaupt Gedachten wenigstens die for-
malen logischen Bestimmungen zukommen. Sieht man aber
314 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. 361
von diesen ab, so ist die einschneidendste Verschiedenheit der
Begriffe diejenige , welche einen verschiedenen Sinn der Syn-
these ihrer Merkmale bestimmt, die Verschiedenheit der Ka-
tegorieen ; und insofern hätte man Recht , Begriffe , welche
verschiedenen Kategorieen angehören, als grundverschie-
den, (wie Mensch und Tugend , Mensch und Bewegung),
solche, welche innerhalb derselben Kategorie stehen, als un-
tergeordnet verschieden zu bezeichnen. Dann können
aber grundverschiedene Begriffe doch viele Merkmale nur in
verschiedenem Sinne gemein haben, wie Eisen und metallisch,
Mensch und lebendig , ohne dass sie darum im gewöhnlichen
Sinne unter einem gemeinschaftlichen höheren Begriff stün-
den, weil die Subordination nur innerhalb derselben Kategorie
einen Sinn hat.
2. Von der Verschiedenheit der Begriffe selbst
ihrem Inhalte nach ist wohl zu unterscheiden die Verschie-
denheit dessen, worin sie gedacht werden, und
wovon sie also prädiciert werden können. Die Möglichkeit
zusammengesetzter Begriffe ist allein dadurch gegeben, dass
verschiedene Merkmale als Bestimmungen einer und derselben
Vorstellung gedacht werden können , mag die Form ihrer
Synthese sein welche sie will ; und insbesondere ist die Vor-
stellung der unabsehbaren Menge unterschiedener Dinge da-
durch bedingt, dass verschiedene Eigenschaften als Bestim-
mungen desselben Dings vereinigt gedacht werden können.
Jeder Begriff, der noch weitere Determinationen durch ver-
schiedene Merkmale zulässt, wird, sobald diese gesetzt sind,
in verschiedenen Begriffen mitgedacht; umgekehrt kann eine
Reihe von verschiedenen höheren Begriffen in demselben nie-
deren mitgesetzt sein.
Merkmale, welche in demselben Begriff sich vereinigen
lassen, und Begriffe, welche als Bestandtheile desselben Be-
griffes gedacht werden können, heissen vereinbar. Ver-
schiedene Gattungsbegriffe insbesondere, welclie eine und die-
selbe Species unter sich haben, heissen sich kreuzende
Begriffe, sofern sie wenigstens einen Theil ihres Umfaugs
gemeinschaftlich haben , also die bildlich (etwa als Kreise)
vorgestellten Grenzen ihres Umfangs sich kreuzen und ein
362 II. !• I^eJ^ Begriff. 315
allen gemeinschaftliches Stück einschliessen. So kreuzen sich
Viereck und reguläre Figur im Quadrat. Es ist klar, dass
der Begriff, in welchem zwei höhere sich kreuzen, dadurch
entsteht, dass die Merkmale, in welchen sie verschieden sind,
combiniert werden , und gegenseitig als Determination auf-
treten. Zwei Begriffe abc und abg kreuzen sich in dem
Begriffe abcg, der als Determination von abc durch g, oder
als Determination von abg durch c betrachtet werden kann.
3. Den vereinbaren Merkmalen stehen gegenüber die
unvereinbaren oder unverträglichen (vergl. § 22,
8—13 S. 172 ff.), die nicht in demselben Begriffe zusammen-
gedacht werden können, sondern sich, als Bestimmungen des-
selben gedacht, gegenseitig ausschliessen. Ein Merkmal, das
mit allen andern unverträglich wäre, gibt es nicht; mit den
formalen logischen Bestimmungen wenigstens müssen alle ver-
träglich sein; die Unverträglichkeit selbst aber, wo sie eine
logische ist, ist mit der Natur unserer Vorstellungen gegeben
(vergl. § 22 , 8 S. 172 f.).
4. Auf diesem Verhältnisse nun, dass Merkmale mit den-
/ selbeiL_anderjL vereinbar, unter sich aber unvereinbar sind,
ruht die Differenziierung der Begriffe und specieller
die vollständige Entwicklung (Eintheilung) *)
derselben.
Wird ein Begriff A durch zwei unvereinbare Merkmale
b und c determiniert : so heissen b und c artbildende
*) Es ist eine Unbequemlichkeit der herrschenden logischen Ter-
minologie , dass zwei so verschiedene Processe wie die Analyse eines
Begriffs in seine Merkmale nnd die Entwicklung entgegengesetzter Be-
griffe aus einem höheren durch Ausdrücke bezeichnet werden, die vom
T heilen hergenommen sind, und das einemal das Theilen des Inhalts
in seine Elemente, das anderemal das Theilen des Umfangs in sich
ausschliessende Umfange verstanden werden soll. Dadurch entsteht das
Irrationelle, dass durch die Theilung eines Begriffs nicht Theile des
Begriffs gewonnen werden, sondern Begriffe, in deren jedem der ganze
getheilte Begriff als Theil ist. Geht man consequent vom Inhalt der
Begriffe aus, so kann es sich nur um eine Entwicklung der in demselben
angelegten Unterschiede handeln; der terminus Eintheilung oder Divi-
sion (bei Arist. Statpsat^) passt vielmehr auf die Gesammtheit der Einzel-
objecte, welche unter den Begriff fallen ; diese wird als das Ganze be-
trachtet, das in verschiedene Gruppen zu zerlegen ist.
315. 316 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. 363
Unterschiede (differentiae specificae) und die so entstan-
denen Begriife selbst sind unverträglich, d. h. sie können nicht
als Bestandtheile desselben niedern Begriffs gedacht , also
nicht von demselben prädiciert werden (kein Ab ist Ac, kein
Ac ist Ab) ; ihre Umfange sind daher absolut geschieden,
und alle weiter aus ihnen entwickelten specielleren Begriffe sind
ebenso unverträglich ; während jeder dieser Umfange ein Theil
des Umfangs des höheren Begriffs ist (rechtwinkliches und
spitzwinkliches Viereck, rothe und gelbe Rose u. s. w.) Solche
Begriffe heissen disjuncte, und sofern sie in demselben
Subordinationsverhältniss zu einem gemeinschaftlichen höheren
Begriffe stehen, disjunct- coordinierte Begriffe.
Lässt ein Begriff A nur eine beschränkte Anzahl
sich ausschliessender Determinationen bcd zu, so entsteht
eine Reihe disjuncter Begriffe, deren Umfang den Um-
fang des Begriffs A erschöpft, sofern wenn A in die
Gesanamtheit der von ihm aus noch möglichen Unterschiede
entwickelt wird , jeder niedere Begriff mit einem oder dem
anderen jener Merkmale gedacht werden muss. Der Begriff
A heisst e i n g e t h e il t :n die Begriffe Ab , Ac, Ad ; diese
die Glieder der Eintheilung.
Die Eintheilung selbst stellt sich dar in einem divisi-
V e n Urtheile : A ist theils Ab , theils Ac , theils Ad ; von
jedem einzelnen, das unter A fällt, gilt das disjunctive
Urtheil, dass es entweder Ab oder Ac oder Ad sei (s. § 37, 6. 7).
5, Die Voraussetzung j eder Differenziierung
ist, dass ein Begriff* noch in einem oder mehreren seiner Merk-
male unbestimmt sei und weitere sich ausschliessende Unter-
schiede zulasse , oder dass die Synthese seiner Merkmale un-
vollständig sei und für weitere Merkmale Raum gebe; die
Voraussetzung jeder Eintheilung , dass die Gesammtheit der
möglichen Determinationen eine beschränkte und erschöpfend
bekannte sei. Der Begriff der geradlinigen ebenen Figur ist
nach verschiedenen Seiten unbestimmt, sowohl nach der Zahl
der Seiten, als nach der Grösse derselben, und zwar sowohl der
relativen als der absoluten Grösse, ebenso nach der relativen
Grösse der Winkel (die absolute Grösse derselben ist kein völlig
unabhängiges Merkmal , sondern innerhalb gewisser Grenzen
364 n, 1. Der BegriflF. 316.317
von der Seitenzahl abhängig) ; je nachdem an der einen oder
andern noch offenen Seite die Determinationen gesetzt werden,
wird der Begriff nach verschiedenen Richtungen in seine Un-
terschiede entwickelt. Ebenso ist der Begriff der Flüssigkeit
noch unbestimmt hinsichtlich der Durchsichtigkeit oder Re-
flexionsfähigkeit des Lichtes , hinsichtlich des Geruchs , Ge-
schmacks u. s. f. Geruch, Geschmack, Farbe sind keine Un-
terschiede eines der Merkmale, welche den Begriff* der Flüs-
sigkeit constituieren , aber sie können zu den übrigen Merk-
malen hinzutreten, da ihre allgemeine Möglichkeit durch die
Merkmale des Begriffs Flüssigkeit gegeben ist.
Nur die erste Form der Differenziierung kann genau
genommen Entwicklung genannt werden. Wenn dasjenige
Merkmal, an welchem die Unterschiede heraustreten, der
Theilungsgrund (fundamentum divisionis) heisst : so ist
hier der Theilungsgrund in dem gegebenen Be-
griffe selbst, und liegt darin, dass ein Merkmal sich aus-
schliessende Unterschiede noch in sich befasst. So entwickelt
sich der Begriff der Linie in den der geraden und krummen ;
mit der Entstehung der Vorstellung der Linie ist eine Be-
wegung gegeben, und diese kann nicht gedacht werden ohne
Richtung; die mit sich gleichbleibende Richtung ist die ge-
rade, die sich stetig ändernde Richtung ist die krumme Linie.
Der Begriff der krummen Linie entwickelt sich in die Unter-
schiede der geschlossenen, in sich zurückkehrenden, und der
ins Unendliche verlaufenden; denn mit der stetigen Richtungs-
änderung ist die Möglichkeit zu beiden Fällen gegeben u. s. w.
Die zweite Form der Differenziierung bringt die
Determinationen von aussen heran; der Theilungsgrund ist
zunächst nur die unbestimmte Möglichkeit eines
weiteren, von den bisherigen unabhängigen Merkmals, oder
verschiedener unvereinbarer Merkmale; er tritt an den Be-
griff heran nur in Form einer Frage, ob wohl mit Ab noch
weitere Merkmale vereinbar sind ; die Determination könnte
eine synthetische heissen. Mit dem Begriffe der Flüssigkeit,
der nur Merkmale enthält, die sich auf Gesichts- und Tast-
empfindungen gründen, ist die blosse Möglichkeit des Ge-
schmacks und der Geschmacksunterschiede gegeben ; sie kom-
318 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. 365
men als neue Elemente hinzu. Auf diesem Boden entsteht
dann die Möglichkeit negativer Unterscheidungs-
merkmale, die eine blosse Privation ausdrücken. Wir thei-
len den Begriff des organischen Wesens in das empfindende
und das nichtempfindende , die Blumen etwa in riechende
und geruchlose, die Flüssigkeiten in farblose und gefärbte;
das Fehlen eines Merkmals, das mit den übrigen Merk-
malen vereinbar aber nicht nothwendig verknüpft ist , be-
gründet hier einen Artunterschied. Die negative Formel tritt
in diesen Fällen aus ihrer Unbestimmtheit heraus , indem sie
an der durch den allgemeineren Begriff gesetzten und in einer
seiner Arten verwirklichten Möglichkeit des positiven Merk-
mals ihren Inhalt hat; und sie hat keine selbstständige Func-
tion, um den Inhalt auszudrücken, sondern dient nur als Ord-
nungszeichen, um den Unterschied zu markieren.
Von diesen privativen Merkmalen als Mitteln der
Differenziierung sind diejenigen genau zu unterscheiden, bei
denen der negative Ausdruck von Merkmalen nur eine Um-
schreibung von positiven, innerhalb desselben allge-
meineren Merkmals liegenden Unterschieden ist. Theile ich
die Linien in gerade und nichtgerade, die Menschen in weisse
und nicht weisse u. s. f., so hat der negative Ausdruck einen
bestimmten positiven Sinn , indem er diejenigen Merkmale
meint, welche von dem negierten Unterschiede auf der Ba-
sis desselben Eintheilungsgrundes ausgeschlossen
sind. Die Verneinung der möglichen Bestimmung ist auf ein
ganz bestimmtes Gebiet eingeschränkt, und setzt darum ein
Positives; es liegt ihr eine Disjunction zu Grunde (gerade oder
krumm, weiss oder farbig, resp. weiss oder gelb oder roth
oder braun oder schwarz). Die Verneinung eines Disjunctions-
glieds enthält die Setzung der anderen.
Diese negative Formel findet doppelte Anwendung:
einmal, um in Einem Ausdruck eine längere Reihe von
coordinierten disjuncten Gliedern zusammenzufassen, weil sie
in irgend einer weiteren Hinsicht gleich sind und von dem
dadurch ausgeschlossenen Begriffe sich unterscheiden. Wenn
die Menschen in weisse und farbi ge d. b. hier nicht weisse
eingetheilt werden, so hat das einen Sinn, wenn den farbigen
366 II» I- Der Begrifi. 318. 319
gemeinsam die Fähigkeit zu höherer Cultur fehlt, welche den
weissen zukommt; denn sonst ist, bloss die Farbe betrachtet,
der Unterschied von schwarz und roth, roth und gelb ebenso
gross als der von gelb und weiss, und es bestünde kein Grund,
diese Reihe gleichgeltender Unterschiede bloss durch die Ne-
gation des Einen auszudrücken.
Die zweite Anwendung findet da statt , wo unter
einer endlosen Reihe von möglichen Unterschieden einer be-
stimmt begrifflich fixierbar ist, die andern wegen der endlosen
Menge der Unterschiede nicht oder weniger leicht, und ihre
begriffliche Fixierung eben nur so vollzogen werden kann,
dass sie gegen den Einen abgegrenzt werden; so ist es mit
den regulären und nicht regulären Figuren; jede der letzteren
hat an und für sich ein bestimmtes Verhältniss ihrer Seiten
und Winkel; aber dem einfachen Merkmale der Gleichseitigkeit
und Gleichwinklichkeit steht eine unendliche Reihe anderer
Verhältnisse gegenüber , deren keines auf einen so einfachen
Ausdruck gebracht werden kann, und die einzeln zu bestimmen
absolut unmöglich ist.
6. Dadurch ergibt sich nun im Gebiete der Begriffs-
eintheilung der Werth und die Bedeutung der ne-
gativen Ausdrücke, denen wir oben (§22, 11 S. 176 f.)
jede Berechtigung absprechen mussten, sobald sie isoliert und
unabhängig von dieser Aufgabe als selbstständige Zeichen
von Vorstellungen auftreten wollten; und es ergibt sich zu-
gleich , in welchem Sinne der Unterschied der sog. con-
trären und contradic torischen Gegensätze be-
rechtigt ist. Beschränkt man den Ausdruck »Gegensatz« auf
das Verhältniss disjunct-coordinierter Begriffe , so stehen . in
contradictorischem Gegensatz die disjuncten Glieder
einer zweigliedrigen Eintheilung, in contra rem
die disjuncten Glied er einer mehrgliedrigen. Dort
lässt sich immer ein Glied durch die blosse Negation des das
andere constituierenden Unterschieds vollkommen bestimmt
und unzweideutig bezeichnen; hier nicht. Dort ist, wenn Ab
und Ac die disjuncten Glieder sind, Ab soviel als A nonc und
Ac soviel als A nonb; hier, wenn Ab, Ac, Ad die Glieder sind,
ist Ac zwar in der Formel A nonb begriffen, diese selbst aber
320 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. ^67
umfasst sowohl Ac als Ad, und es ist also auszudrücken durch
A nonb c.
7. Wo die Anzahl von Unterschieden ihrer Na-
tur nach unbeschränkt ist, kann von einer Eintheilung
im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein, sondern nur von
Entwicklung eines höheren Begriffs in eine un-
endliche Reihe disjuncter niederer Begriffe. So
entwickelt sich der Begriff des Vielecks in die Arten des Drei-
ecks, Vierecks, Fünfecks u. s. f. in infinitum.
8, Das letztere Beispiel macht zugleich auf einen wei-
teren Punkt aufmerksam. Wenn ein Merkmal, für sich ge-
dacht, eine Reihe von disjuncten Unterschieden an sich hat,
wie das Merkmal der Vielheit die Zahlen , das Merkmal der
Farbe die einzelnen Farben u. s. f., so hängt es von der Natur
der übrigen Merkmale des Begriffs ab, ob die ganze Reihe
dieser Unterschiede mit demselben vereinbar ist, oder nur ein
Theil derselben. Während für den Begriff des sphärischen
Vielecks alle Zahlen als disjuncte Merkmale eintreten, ist
durch die Merkmale der geradlinigen ebenen Figur die Zahl 2,
und sind durch die Merkmale des von Ebenen begrenzten
Körpers die Zahlen 2 und 3 ausgeschlossen.
Besondere Bedeutung gewinnt diese Auswahl unter den
an sich in einem Merkmal enthaltenen Unterschieden, wo der
Process der Eintheilung nicht in der Weise der Entwicklung
des Inhalts eines gegebenen Begriffs sich vollzieht und so den
logischen Umfang desselben umschreibt, sondern von
dem empirischen Umfang desselben ausgeht, und
also die Aufgabe entsteht, einen Begriff so zu theilen, dass
alle Unterschiede zugleich empirisch vorhanden sind. Mit
der Thatsache, dass der menschliche Körper nicht durchsich-
tig ist, ist gegeben, dass er irgend eine Farbe zeigt; und
würde bloss von diesem Merkmal aus der Begriff entwickelt,
so würden alle Farben als Theilungsglieder eintreten müssen;
an sich ist, von jenem Merkmal aus, die Aufstellung einer
Species blauer und grüner Menschen ebenso gefordert, als der
der weissen und schwarzen. In der Wirklichkeit fehlt eine
Reihe von Farben ; und wenn man den B<?griff Mensch nach
dem Eintheilungsgrunde der Farbe theilt, setzt man nur die
368 n, 1. Der Begriff. 320.321
Farben, welche wirklich vorkommen, und betrachtet die Thei-
lung als durch diese wirklich vorkommenden Unterschiede
vollkommen erschöpft.
Es ist aber klar, dass diese Beschränkung im Allgemeinen
zweierlei vollkommen verschiedene Aufgaben vermischt : die
Aufgabe, eine gegebene Menge von Einzelwesen zu classificie-
ren, die wir später genauer betrachten werden, und die Auf-
gabe, ein System von Begriffen herzustellen, das für die Er-
kenntniss des Einzelnen vermittelst logisch vollkommen be-
stimmter Prädicate dienen soll. Wäre es rein zufällig, dass
im Umkreis unserer Erfahrung nur ein Theil der Farben
wirklich als Hautfarbe des Menschen vorkommt, so wäre die
sog. Eintheilung der Menschen nicht eine Theilung des Be-
griffs, sondern bloss eine Classification der wirklich gegebenen
Menschen, es Hesse sich aber nie feststellen, dass der Begriff
damit erschöpfend getheilt wäre; es wäre eine blosse Auf-
zählung disjuncter Arten, wie die Chemie ihre Metalle auf-
zählt, ohne sagen zu wollen, dass nicht noch neue entdeckt
werden können.
Nur wenn die Thatsache, dass keine anderen Hautfarben
vorkommen, als ein Zeichen dafür angesehen werden kann,
dass durch die übrigen Merkmale des Menschen blaue oder
grüne Hautfarbe ausgeschlossen ist, könnte die empi-
rische Classification der Menschen zugleich als erschöpfende
Eintheilung des Begriffs des Menschen gelten. Es hängt
mit der Vernachlässigung der Betrachtung des Begriffs von
seinem Inhalte aus , und mit der allerdings populäreren und
anschaulicheren Weise, immer von dem empirischen Umfang
auszugehen , zusammen , dass vielfach an die Stelle der Be-
griffsein theilung die blosse Classification des Gegebenen gesetzt,
und so der logische Umfang mit dem empirischen verwechselt
wurde. Dem gegenüber ist festzuhalten , dass die Thatsache,
dass die Umfange einer Reihe von Theilungsgliedern dem
empirischen Umfang des getheilten Begriffs gleich sind, nie-
mals die logische Vollständigkeit der Theilung verbürgt.
9. Die durchgeführte Division, lässt einen bis jetzt nicht
hervorgehobenen Unterschied der Merkmale heraustreten : den
der notae communes von den notae propriae. Ein Theil der
322 § 43. Die Eintheilung der Begriffe. 369
Merkmale nemlich kann einer grossen Menge sonst verschie-
dener Begriffe gemeinsam sein, während es andere gibt, welche
nur unter Voraussetzung einer bestimmten Combination an-
derer Merkmale möglich sind, und demgemäss einen bestimm-
ten Begriff von allen höheren oder coordinierten unterscheiden.
So ist das Merkmal »lauter ebene rechte Winkel haben« nur
beim Viereck möglich; es ist eine nota propria des recht-
wink liehen Vierecks. Eine solche nota propria kann aber
immerhin noch einem Gattungsbegriffe zukommen ; Merkmale,
welche nur einer infima species zukommen , sind dann speci-
fische notae propriae. Insoweit als es solche Merkmale gibt,
ist durch sie ein Begriff von allen andern unterschieden; in
sofern heissen sie charakteristische Merkmale.
10. Derselbe Begriff kann nach verschiedenen Ein-
theilungsgründen getheilt werden , und da die so
entstandenen Begriffe im Allgemeinen sich kreuzende sein
werden , so wird gesagt , dass solche Eintheilungen sich
kreuzen. So kreuzt sich die Eintheilung der Parallelo-
gramme in rechtwinkliche und schief winkliche mit der in
gleichseitige und ungleichseitige, die Eintheilung der Pflanzen
in Phanerogamen und Kryptogamen mit der in Land- und
Wasserpflanzen u. s. f. Solche combinierte Theilungsgründe sind
ein Mittel , einen Begriff mit Einem Schlage in eine Reihe
von solchen zu zerfallen, die nicht unmittelbar untergeordnet
sind*); die Zahl der Theilungsglieder, die aus mehreren von
einander unabhängigen Eintheilungen, die jede für sich a, b, c
u. s. w. Glieder ergeben würde, hervorgeht, ist gleich dem
Producte dieser Zahlen.
IL Denken wir uns einerseits die einfachsten möglichen
Combinationen von Merkmalen hergestellt, die als selbstständige
und isolierte Begriffe gedacht werden können, und diese wie-
der nach allen Seiten, nach allen Theilungsgründen durch
Divisionen entfaltet bis in die speciellsten Begriffe herab : so
wäre dadurch eine geordnete Uebersicht aller für unser
Vorstellen möglichen Begriffe gegeben , in welchen sowohl
*) Von der so^. Subdivision besonders zn handeln besteht gar kein
Grund, da der Process absolut derselbe ist, ob ein höherer oder nie-
derer Gattungsbegriff getheilt wird.
S ig wart, Logik. I. 2. Auflage. 24
870 n, 1. Der Begriff. 322.323
ihre Subordinationsverhältnisse als ihre Unterschiede nach
allen Seiten bestimmt wären, und von jedem einzelnen Be-
griffe sofort klar wäre, in welchem Verhältniss der Unter-
ordnung und des Gegensatzes er zu allen übrigen steht; dann
wäre das logische Ideal vollkommener Analyse des Inhalts
und allseitiger Unterscheidung erreicht, damit zugleich ein
System von Prädicaten für alle einzelnen Objecte und das
Mittel ihrer Zusammenfassung nach den verschiedensten Rich-
tungen gegeben. Denn jedes Object würde dann zwar nur
unter einem speciellsten Begriffe stehen, und damit von allen
geschieden sein, die nicht in allen Merkmalen mit ihm über-
einstimmen, aber nach verschiedenen Seiten unter verschie-
dene Reihen höherer Begriffe subsumiert werden können.
§ 44.
Eine Definition ist ein Urtheil, in welchem die Be-
deutung eines einen Begriff bezeichnenden Wor-
tes angegeben wird, sei es durch einen Ausdruck, der
diesen Begriff in seine Merkmale zerlegt zeigt, wodurch also
der Inhalt des Begriffs vollständig dargelegt wird,
sei es durch Angabe der nächsthöheren Gattung und
des artbildenden Unterschieds, wodurch seine Stel-
lung im geordneten Systeme der Begriffe angegeben wird.
Jede logisch e D efin ition ist eine Nominal-
definition: die Forderung einer Realdefinition
beruht auf der Vermischung der metaphysischen und
der logischen Aufgaben.
Definitionen sind analytisch oder erklär end, wenn
sie einen schon gebildeten, durch einen bekannten Terminus
bezeichneten Begriff darlegen'; synthetisch oder bestim-
mend, wenn sie dazu dienen, einen neuen Begriff* durch
eine Synthese bestimmter Merkmale aufzustellen und einen
Terminus für denselben einzuführen.
Von der eigentlichen Definition ist die A ufsuc hung
324 § 44. Die Definition. 371
der dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu Grunde
liegenden Begriffe zu unterscheiden.
1. Gesetzt, das eben aufgestellte logische Ideal wäre er-
reicht , und es wäre ferner für jeden dieser Begriffe seine
sprachliche Bezeichnung unzweideutig festge-
stellt, so würde die Au f gäbe, denlnhalt einesBe-
griffs anzugeben, nur durch eine Wiederholung der Ana-
lyse und Synthese gelost werden, durch die er erst als Be-
griff gebildet wurde, und es würde sich nur darum handeln,
sich jeden Augenblick die Bedeutung eines solchen Wortes
klar machen zu können , indem man die elementaren Merk-
male expliciert, welche den durch das Wort bezeichneten
Begriff constituieren , und sich seine Stellung nach Subordi-
nation und Disjunction zu vergegenwärtigen. Das erste ge-
schieht in einer Formel, welche die einzelnen elementaren
Merkmale angibt, und durch ihre Synthese den Begriff ent-
stehen lässt ; das zweite durch eine Formel, welche das Genus
proximum und die Differentia specifica nennt, d. h. den Be-
griff als Glied einer Division angibt. (Sofern derselbe Begriff
verschiedene Genera haben kann und die Ordnung der De-
termination in verschiedener Weise möglich ist, können in
der zweiten Hinsicht verschiedene Formeln entstehen ; das Qua-
drat ist vierseitige reguläre Figur, gleichseitiges Rechteck
u. s. w., Formeln , deren Verschiedenheit nur scheinbar ist
und sich aufhebt, sobald die Analyse fortgesetzt und auch diese
höheren Begriffe in ihre Merkmale zerlegt werden.)
Nennt man die Angabe aller Merkmale eines Begriffs oder
des Genus proximum und der Differentia specifica Defini-
tion, so ist klar , dass es sich darin nicht um eine B e-
griff ser klärung, sondern, sofern etwas erklärt wird, nur
um eine Worterklärung handeln kann. Eine Vorstellung
ist nur dann ein Begriff*, wenn sie klar ist, d. h. wenn was
darin gedacht wird , vollkommen bewusst ist , die Definition
ist also der Begriff selbst, nicht etwas vom Begriff Verschie-
denes; das Wort allein, das dem Hegriffe gegenüber äusser-
lich und zufällig ist, und in Einem Laut den Reich thiini des
Gedachten verbirgt, und in der That , wie x und y in der
24*
372 n, 1. Der Begriff. 324. 325
Algebra, vielfach nur als Zeichen gebraucht wird, dessen Be-
deutung nicht bei jedem Schritte gegenwärtig ist ; das Wort,
das durch seine äussere Form weder sein Verhältniss zu den
Wörtern für übergeordnete, noch für nebengeordnete Begriflfe
an der Stime trägt, wie eine chemische Formel die Zusam-
mensetzung aus den Elementen, bedarf einer Erklärung, einer
immer erneuerten Erinnerung an seinen Gehalt; es bedarf
derselben insbesondere , wenn es aus der populären Sprache
mit ihren fliessenden Grenzen aufgenommen ist, und aus einem
schwankenden und zweideutigen ein constantes unzweideutiges
Begriffszeichen geworden ist oder werden soll. Wäre das
Leibniz'sche Ideal einer Characteristica universalis ausgeführt,
so würde das Zeichen jedes Begriffs, mit dem er selbst im
Denken unlösbar verbunden ist, zugleich seine Definition sein,
und sein Verhältniss zu allen andern erkennen lassen.
Definition in diesem Sinne kann also niemals etwas an-
deres als eine Nominaldefinition sein, welche die Be-
deutung eines Wortes angibt, und die nur in dem Sinne eine
Realdefinition*) sein muss , dass sie den Inhalt des
*) Will man an eine Definition noch in anderem Sinne die For-
derung stellen, Realdefinition zu sein: so verwirrt man die wissen-
schaftlichen Aufgaben. Die Frage, ob einem logisch vollkommen be-
stimmten Begriffe ein wirkliches Object entspreche, ist erst lösbar, wenn
man den Begriff hat, und das Gegebene darunter subsumiei^en kann;
die Frage, ob die Merkmale eines Begriffs das Wesen der darunter
fallenden Dinge angeben, oder ob dadurch diese Dinge aus ihren re-
alen Ursachen begriffen seien, ist erst lösbar nach vollkommener Er-
kenntniss der Objecte; diese Erkenntnis« selbst kann aber nicht eine
Definition genannt werden. Das gilt auch von dem Beispiel Lotzes
(Logik 2. Afl, S. 202) : »Nennen wir die Seele das Subject des Bewusst-
seins, des Vorstellens, Fühlens und Wollens, so kann dies schicklich
eine nominale Definition genannt werden — erst eine Ansicht, welche
bewiese, dass entweder nur ein übersinnliches und untheilbares Wesen
oder nur ein verbundenes System materieller Elemente den Träger des
Bewusstseins und seiner manigfachen Erscheinungen bilden könne,
würde die reale Definition der Seele festgestellt haben.« Die Erkennt-
niss , welcher Art von Wesen die zunächst in dem Begriff" der Seele
gedachte Bestimmung, Subject des Bewusstseins zu sein, zukomme, ist
keine Definition, sondern die Feststellung der Abhängigkeit der zuerst
gedachten Merkmale von anderen, die noch nicht in den Begriff aufge-
nommen waren; ist diese Abhängigkeit erkannt, so ist der Begriff be-
325 § 44. Die Definition, 373
dabei Gedachten analysiert und vom Inhalt anderer Begriffe
scheidet ; denn bloss sprachliche Erklärungen, wie Logik heisst
Denklehre, Demokratie heisst Volksherrschaft, oder Erklärung
sprachlicher Abkürzungen, wie eine Gerade ist eine gerade
Linie, nennt Niemand Definitionen (vgl. § 5, 3. S. 27).
Eine Definition ist also ein Urtheil, in welchem die
Bedeutung eines einen Begriff vertretenden Worts gleichge-
setzt wird der Bedeutung eines zusammengesetzten Ausdrucks,
der die einzelnen Merkmale des Begriffs und die Art ihrer
Synthese durch die einzelnen den Ausdruck bildenden Wörter
und die Art ihrer grammatischen Beziehung angibt; eine
Gleichung zwischen zwei Zeichen desselben Begriffs , die sich
ebendarum auch umkehren lässt. Es geht daraus von selbst
hervor, dass, was unter das eine Wort, auch unter den an-
deren Ausdruck fällt, d. h. dass die Umfange von Subject und
Prädicat schlechthin dieselben sind. Das Dasein oder die
reale Möglichkeit eines dem Begriff entsprechenden Seienden
kann von der Definition wohl vorausgesetzt, von ihr als
reichert, wir verstehen jetzt unter »Seele« ein immaterielles untheil-
bares Wesen, das Subject des Bewusstseins ist; aber diese Definition
ist jetzt in demselben Sinne Nominaldefinition, und in demselben Sinne
Realdefinition, wie die erste; auch jetzt machen wir, nur vollständiger,
»die Bedingungen namhaft, welche irgend ein Reales erfüllen muss,
um Anspruch auf den Namen einer Seele zu machen«. Die beiden Be-
griife bezeichnen nur zwei Stadien auf dem Wege zum Ziele der Er-
kenntniss ; weitere Forschung würde uns lehren, in welchem Verhältniss
die unter diesen bereicherten Begriff fallenden Wesen ihrer Natur nach
zu andern Wesen stehen müssen u. s, f ; dadurch würden sich noch reichere
Definitionen ergeben. Alle Erkenntniss setzt, um ihr Object eindeutig
zu bestimmen, eine Definition des dafür gebrauchten Wortes voraus;
findet sie mit den so festgestellten Merkmalen andere nothwendig ver-
bunden, so werden diese in die Definition mit aufgenommen, um mit
diesem bereicherten Begriff ebenso zu verfahren. Die Forderung der
Realdefinition durch die wesentlichen Merkmale geht durchweg auf die
aristotelisclie Forderung zurück, dass der Begrifi' das Wesen des Dings
im Sinne seiner Metaphysik angeben solle. Nachdem wir die aristote-
lische Metaphysik längst hinter uns haben, und uns in den meisten
Gebieten bescheiden, das xi ioxi im aristotelischen Sinne zu erkennen,
wäre es Zeit dass auch die Logik den Begriff der sog. Uealdefinition
fallen Hesse. Sie hat für uns in der Logik keinen Sinn mehr; sie
repräsentiert nur ein einseitiges Ideal der Erkenntniss.
374 II. 1. Der Begriff. 326
solcher aber niemals behauptet werden; die Definition ist ein
erklärendes ürtheil im Sinne des § 16.
Daraus fliesst zunächst die Forderung, in dem definie-
renden Ausdruck (detiniens) nicht das Wort zu wiederholen,
das definiert werden soll (das definiendum), nicht idem per
idem vermittelst einer Tautologie zu definieren, denn damit
würde die Forderung der Analyse nicht erfüllt, welche immer
das in einem Wort einheitlich gedachte in seine, nothwendig
verschieden bezeichneten, Elemente zerlegen muss. Daraus
fliesst die Opposition dagegen, auch nur ein Wort desselben
Stammes in dem definiens zu wiederholen (z. B. Freiheit ist
das Vermögen frei zu handeln), die übrigens nur dann be-
rechtigt ist, wenn das etymologische Verhältniss beider Wör-
ter unzweideutig ist , und beide genau in demselben Sinne
genommen werden (z. B. Röthe ist die Eigenschaft roth zu
sein), während die obige Erklärung der Freiheit darum be-
reits als Definition gelten kann, weil durch den Ausdruck
»frei handeln« die Bedeutung von »frei« eingeschränkt wird,
und nicht jede Eigenschaft frei zu sein, wie z. B. frei von
Schmerzen u. s. w. Freiheit heissen soll ; in solchen Fällen
wird zunächst die Bedeutung der Ableitungssilbe definiert;
und dies ist so wenig zu tadeln, als wenn bei einem zusam-
mengesetzten Wort nur der eine Bestandtheil erklärt wird
(z. B. Lebenskraft ist der innere Grund des Lebens).
Aus dem Wesen der geforderten Analyse folgt ferner,
dass zu einfacheren Elementen zurückgegangen werden muss,
und eine richtige Definition keinen C i r k e 1 beschreiben kann,
so dass sie unter den angegebenen Elementen das definiendum
selbst wieder autführte.
Dagegen ist die Forderung definitio ne fiat per negatio-
nem nicht unbedingt richtig; allerdings ist mit dem, was ein
Begriff nicht ist, nicht gesagt was er ist; allein da die Unter-
scheidung eines Begriffs von coordinierten Begriffen oft nur
in der Privation eines Merkmals besteht, und die Definition
eben diese Aufgabe der Unterscheidung in sich begreift, so
lassen sich negative Bestimmungen nicht überall vermeiden.
Dass eine Angabe der Arten eines Begriffs keine De-
327 § 44. Die Definition. 375
finition ist, ergibt sich von selbst daraus, dass die Arten den
Begriff enthalten, also ein Cirkel herauskäme.
Die Forderung der Präcision der Definition verbietet
Merkmale anzugeben , die in andern schon enthalten oder
nothwendig mit ihnen gegeben sind (abgeleitete Merkmale) ;
in der Definition des Parallelogramms z. B. ausser der Pa-
rallelität der gegenüberliegenden Seiten auch noch ihre Gleich-
heit; übrigens ist eine sog. abundante Definition nicht
fehlerhaft, und auf Gebieten, vro man des Zusammenhangs
ddr Merkmale nicht absolut sicher ist, ist sie vorzuziehen.
Für die Bezeichnungen der letzten Elemente
gibt es keinerlei Definition , sondern diese müssen als un-
mittelbar von allen in gleicher Weise verständlich voraus-
gesetzt werden ; sie können nur genannt, nicht erklärt wer-
den; wer sie noch nicht kennt, dem können sie höchstens
gezeigt werden , dadurch dass man die Vorstellung durch
Herstellung ihrer Bedingungen in ihm erweckt, wie das bei
Farben, Gerüchen, Geschmäcken unter Voraussetzung der glei-
chen Organisation möglich ist. Ein Analogon der Definition
findet nur da statt, wo eine Reihe von Merkmalen gemein-
schaftlichen Namen hat, und durch die Angabe desselben an
die übrigen in derselben Reihe stehenden erinnert wird —
wie wenn gesagt würde, roth ist eine Farbe ; hier kann etwas
angegeben werden, was dem genus proximum entspricht, die
differentia specifica aber nicht ; höchstens könnte diese in ne-
gativer Weise ersetzt werden, durch Verneinung aller übrigen
Unterschiede.
Muss die Begriffsbildung zuletzt auf die Gesetze unserer
einfachen Vorstellungsfunctionen und der Formen ihrer Syn-
these zurückgehen: so ist die vollendete Definition diejenige,
welche die Vorstellung ihres Objects aus ihren Elementen
entstehen lassen kann; nur ihr kommt der Name einer ge-
netischen Definition zu.
3. Kann eine durchgängige übereinstimmende Analyse
unserer Vorstellungen in vollkommen bestimmte, überein-
stimmend fixierte und bezeichnete Elemente nicht vorausge-
setzt werden: so ist kein Begriff im logischen Sinne vorhan-
den und damit jede Aufgabe einer Definition im Allgemeinen
376 II, 1. Der Begriff. 327. 328
unlösbar; so unlösbar als die Aufgabe aus einer Gleichung
mit lauter Unbekannten eine derselben zu bestimmen ; jede
Definition setzt eine wissenschaftliche Terminologie voraus.
So lange eine solche nicht vorhanden ist, kann eine De-
finition nur insoweit gelingen , als es möglich ist, schon in
der gewöhnlichen Sprache Ausdrücke aufzufinden, welche un-
zweideutig sind und praktisch wenigstens dazu dienen kön-
nen , die wirklich vorkommenden Objecte unzweifelhaft zu
subsumieren. In diesem Falle befindet sich z. B. die Rechts-
wissenschaft in ihrer Anwendung auf die Verhältnisse des
täglichen Lebens.
4. Für denjenigen, dem wohl die Elemente der Begriffe
bekannt wären, der aber nicht alle daraus zu bildenden Be-
griffe selbst schon gebildet und die Bedeutung ihrer Bezeich-
nungen nicht vollständig gelernt hätte, hat die Definition, die
er hört, die Bedeutung, eine Anleitung zur Begriffsbildung
und zugleich eine Interpretation eines unverstandenen Worts
zu sein.
Da ferner nach § 40, 4 zum logischen Ideal nur gehört,
dass alle Elemente und alle Combinationsforraen begrifflich
festgestellt sind, so kann die Bildung zusammengesetzter Be-
griffe eine immer fortschreitende sein, um so mehr, da im
Gebiete des Realen es ein völlig müssiges Geschäft wäre, alle
Begriffscombinationen zu versuchen, so lange wir in die Gründe
der realen Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der einzelnen
Merkmale und Merkmalscombinationen keine Einsicht haben,
und die Veranlassung fehlt bestimmte Combinationen herzu-
stellen ; und damit ergibt sich also das Bedürfniss neue Be-
griffe zu bilden und neue Wörter für dieselben auszuprägen,
welchen ihre begrifflich fixierte Bedeutung erst gegeben w^er-
den muss.
Stellen jene ersten Definitionen analytische Gleich-
ungen dar , in denen der Werth eines Worts durch eine
gleichgeltende Formel ausgedrückt wird : so sind die Gleich-
ungen, durch welche erst Ausdrücke für neue Begriffe be-
stimmt werden , Bestimmungsgleichungen, in denen
einem Zeichen durch Gleichsetzung mit einem aus bekannten
Elementen bestehenden Ausdruck erst sein Werth verliehen
329 § 44. Die Definition. 377
wird. Wer zum erstenmal den mathematischen Begriff der
Function bildete , gab diesem Wort seine Bedeutung durch
eine Formel , die , äusserlich einer Nominaldefinition gleich,
der Sache nach von ihr verschieden ist. Die Definitionen
der Wörter für schon gebildete Begrifie sind analytische,
die Definitionen , Vielehe den Terminus für einen neuen Be-
griff einführen, synthetische genannt worden *).
5. Von diesen beiden Arten der Definitionen sind weiter-
hin die Worterklärungen zu unterscheiden, die sich zur Auf-
gabe setzen , bloss den factischen Sprachgebrauch
festzustellen , und die zunächst bloss Versuche sind , diesen
factischen Sprachgebrauch zu rechtfertigen und zu begründen,
indem gezeigt wird, dass ihm ein bestimmter Begriff zu Grunde
liege , der in allen mit dem Worte benannten Objecten und
in keinem anderen gedacht werde, und so der Gesichtspunkt
nachgewiesen wird, von dem aus die Sprache eine Reihe von
Gegenständen unter gleiche Benennung stellt (§ 40, 5 Anm.).
Wenn sie gelingen , so sind sie eine Erzählung darüber,
welche Bedeutung factisch einem bestimmten Worte allgemein
zukomme. Nur auf diese Art von Worterklärungen bezieht sich
ursprünglich die Warnung, eine Definition soll nicht zu eng
und nicht zu weit sein, d. h. ihre Merkmale sollen kein
Object ausschliessen , das die Sprache noch mit dem Worte
benennt, und kein Object einschliessen , das die Sprache mit
einem anderen benennt. Es bedarf aber keiner Ausführung,
einmal dass eine Definition überhaupt nur unter Voraussetzung
begrifflich bestimmter Merkmale möglich ist, und dann, dass
sich eine Menge von Wörtern in diesem Sinne gar nicht de-
finieren lassen, theils weil sie ihre Bezeichnungen willkürlich
ausdehnen und erst ihre verschiedenen Bedeutungen unter-
schieden werden müssten, theils weil sie nur zur Bezeichnung
*) Drobisch § 117 f. bemerkt mit Recht, dass in den synthetischen
Definitionen das definiendum eigentlich die Stelle des Prädicats ver-
trete, und dieses Prädicat nur das Wort als Name sei. Die Definitionen
an der Spitze von Spinoza's Ethik geben sich schon durcli die Formel :
Per substantiam intelligo id, quod etc. als Definitionen der zweiten Art,
als Einführung von einfiichen Wortbezeichnungen für bestimmte Begrifie
zu erkennen.
378 11,1. Der Begriff. 329.330
bestimmter gegebener individueller Erscheinungen gebräuch-
lich sind, und eine Ausdehnung derselben auf andere, obgleich
sie in den gemeinschaftlichen Merkmalen übereinstimmen, erst
der Legitimation des Sprachgebrauches bedarf. Der grösste
Scharfsinn wird keine einfache Definition des Wortes »Volk«
ausfindig machen können , wenn er den Sprachgebrauch an-
geben will; Wörter wie Kirche, Theocratie, Cäsareopapismus
sind keine Zeichen von Begrifi'en, sondern Bezeichnungen be-
stimmter historischer Erscheinungen nach hervorstechenden
Zügen, also Namen von Einzelnem; über ihren Begriff wird
man immer streiten können.
Auf diesem Gebiet gewinnt auch die Forderung, in einem
Begrifi* die wesentlichen Merkmale zu vereinigen, einen
Sinn , wenn nemlich von der Aufgabe ausgegangen wird, aus
den vom Sprachgebrauche gleich benannten Objecten heraus
den Begriff zu finden (vgl. § 42, 8); denn jetzt ist allerdings
die Aufgabe, den Begriff so zu bestimmen, dass er den Grund
der Benennung enthält , und dass nur diejenigen Merk-
male aufgenommen werden, welche die Sprache bei der Be-
nennung leiten, und von denen es abhängt, ob Neues mit dem-
selben Namen benannt werden wird oder nicht. Geht man von
dem empirischen Umfange des Namens Mensch aus: so muss
nach den Regeln der Abstraction das Merkmal »ungeschwänzt«
nothwendig aufgenommen werden , denn es ist ein gemein-
schaftliches Merkmal der bekannten Menschen ; aber sobald
wir gewiss sind, dass, die vollkommene Aehnlichkeit in allem
Uebrigen vorausgesetzt, ein äusseres Hervortreten der Schwanz-
rudimente, welche der Mensch hat, uns nicht abhalten würde,
die Träger dieses Gliedes immer noch Menschen zu nennen,
erscheint das »ungeschwänzt« nicht als Merkmal des Begriffs
Mensch , und darf in die Definition nicht aufgenommen wer-
den, da es für die Subsumtion des Einzelnen unter diesen Be-
griff gleichgültig ist. Was aber in diesem Sinne wesentlich
ist, was gleichgültig, hängt durchaus von den Gesichtspunkten
ab, nach denen die Sprache bei der Gruppierung der Objecte
verfährt; in einer Hinsicht kann ein Merkmal gleichgültig
sein, das in einer andern wesentlich ist.
Von der Aufgabe , aus dem factischen Sprachgebrauch
330 § 44. Die Definition. 379
die thatsäcliliche Bedeutung eines Wortes festzu-
stellen, unterscheidet sich die Aufgabe, einem schwanken-
den Sprachgebrauch gegenüber anzugeben, in welchem
Sinne gegebene Wörter innerhalb einer bestimmten wissen-
schaftlichen Darstellung, eines Gesetzes u. s. w. gebraucht
werden sollen. Hiezu kann, wenn der allgemeine Begriff, unter
den sie fallen, als gegeben und bekannt vorausgesetzt wird,
jede Bestimmung dienen, welche die beabsichtigte Anwendung
des Wortes sicher und unzweideutig begrenzt, auch wenn sie
nur abgeleitete und accidentelle Unterscheidungszeichen ver-
wendet. Ein extremes Beispiel hiefür ist § 1 des deutschen
Strafgesetzbuches, der Verbrechen, Vergehen und Uebertre-
tungen nach dem Strafmass unterscheidet, mit dem die Hand-
lungen bedroht sind ; als Definition im gewöhnlichen Sinne
genommen wäre das ein logisches Monstrum; als blosse Be-
grenzung der beabsichtigten Anwendung von Terminis , bei
denen die allgemeine Bedeutung einer strafbaren Gesetzes Ver-
letzung als bekannt vorausgesetzt ist, lässt es sich rechtfer-
tigen*). Es ist ein ähnlicher Fall, wie wenn bestimmt wird,
die warme Zone sei die zwischen den Wendekreisen u. s. w.
6. Handelt es sich nur darum , gegebene Ob jecte
so zu bezeichnen, dass sie von allen andersartigen sicher un-
terschieden werden können : so ist nicht nothwendig, den ganzen
Inhalt des Begriffs anzugeben , sondern es genügt an einer
Formel , welche ihre charakteristischen Eigen-
schaften nennt, und die wir als diagnostische De-
finition bezeichnen können. Die chemischen Reactionen,
welche bestimmten Stoffen eigenthümlich sind, sind ein Bei-
spiel solcher Merkmale, welche die Angabe des vollständigen
Begriffsinhalts überflüssig machen , wo es sich nur darum
handelt, gegebene Erscheinungen richtig zu subsumieren und
von anderen zu unterscheiden. Die Eigenschaft Stärke blau
zu färben ist dem Jod charakteristisch , darum genügt der
Nachweis dieser Eigenschaft um die Gegenwart von Jod zu
constatieren ; ich habe damit ein Mittel, das was Jod ist von
allen andersartigen Elementen zu unterscheiden ; aber nur in
*) Vergl. die Ausführungen von G. Rüraelin , Juristisclie Begriö's-
bildung 1878 S. 22 ff.
380 H, 1. Der Begriff. 330
dieser Hinsicht vertritt dieses Merkmal den ganzen Begriff,
seine Bedeutung liegt darin , durch seine Anwesenheit auch
die Anwesenheit der übrigen Merkmale zu erweisen , die den
Begriff des Jod constituieren. Aehnliche charakteristische Merk-
male abgeleiteter Art sind die Spectrallinien der einzelnen
Stoffe.
Nach einer Seite allerdings ist, wie schon Kant in der
Methodenlehre ausgeführt hat , gegenüber den Producten der
Natur keine erschöpfende Definition möglich ; unsere Formeln
müssen sich begnügen, eine Auswahl solcher Merkmale her-
zustellen, welche die zunächst erkennbaren Eigenschaften so-
weit angibt, dass eine sichere Unterscheidung möglich wird;
darum sind alle Definitionen, welche wir hier aufstellen kön-
nen , insofern diagnostische Definitionen , als sie nicht alle
Merkmale aufzuzählen vermögen, welche dem Gegenstand zu-
kommen, auch nicht alle, welche unsere Kenntniss des Gegen-
stands ausmachen *). Aber es bleibt ein Unterschied zwischen
*) Es zeigt sich dabei nur von einer besonderen Seite die Natur
der Begriffe in ihrem Verhältniss zu dem concret Existierenden. Wir
haben bis jetzt nicht ausdrücklich der Schwierigkeit gedacht, die
neuestens wiederum besonders von Volkelt (ICrfahrung und Denken S. 842 ff.)
in eingehender und scharfsinniger Weise hervorgehoben worden ist, ob
denn das Allgemeine als solches überhaupt denkbar, Object eines wirk-
lichen Vorstellens sei, ob es nicht nach Berkeley vielmehr nur Einzel-
anschauungen gebe, das Allgemeine nur durch das Wort vertreten werde.
Mit Berufung auf Lotze (Logik 2. Afl. S. 40 ff.) führt Volkelt aus, dass
das Allgemeine sich nicht durch einfache Hinweglassung der unter-
scheidenden Merkmale gewinnen lasse. »Oder ist nicht der Gedanke
eines Dreiecks, das weder gleichseitig noch ungleichseitig, weder spitz-
noch recht- noch stumpfwinklich ist, geradezu ein üngedanke« ? Darum
kcftine das Allgemeine nur mit Beziehung auf die unbestimmte Totalität
des Einzelnen gedacht werden; zum Begriff gehöre der Nebengedanke, dass
das Allgemeine nur durch die unterscheidenden Merkmale, nur im Ein-
zelnen und als Einzelnes ein denkbares Ktwas werde. Daraus folge, dass
die Forderung, die im Begriffe enthalten ist, nur in einem Bewusstsein
verwirklicht sein könnte, das, indem es das Allgemeine dächte, in dem-
selben ungetheilten Acte zugleich die dazu gehörige Anschauung vollzöge,
und zwar als ein unendliches, absolutes , zeitloses Denken. In diesen
Ausführungen ist unzweifelhaft richtig, dass als das Ideal unseres Denkens
ein solches allumfassendes Bewusstsein vor uns steht , dem das ganze
Begriffssystem mit allen seinen Besonderungen, wie seine Verwirklichung
330 § 44. Die Definition. B81
den Formeln , welche nur der mögliclist leichten Diagnose
dienen, und denen, welche zugleich den Inhalt eines Begriffs
repräsentieren wollen; diese werden wenigstens einige der
fundamentalen Bestimmungen geben, und das durch Angabe
des genus proximum erreichen; für sie gilt: definitio ne fiat
per accidens; jene können sich mit zufälligen und äusserlichen
Unterscheidungszeichen begnügen, denn sie wollen nicht Merk-
male der Begriffe sein, sondern Merkmale der Objecte, welche
unter bestimmte Begriffe zu subsumieren sind.
in den concreten Erscheinungen gegenwärtig wäre ; allein es ist zugleich
der Gesichtspunkt zurückgetreten, der jene Schwierigkeit hebt, und auch für
unser thatsächliches Denken den allgemeinen Begriffen als solchen ihre
Bedeutung gibt : dass nemlich die Begriffe, welche die Logik fordert,
in erster Linie die Bedeutung haben, als Prädicate zu fungieren,
und nicht direct Repräsentanten des Seienden als solchen zu sein, das
natürlich immer ein Einzelnes , Concretes, Bestimmtes sein muss. Der
Gedanke »eines Dreiecks«, das weder gleichseitig noch ungleichseitig,
weder rechtwinklich noch schiefwinklich ist, ist freilich ein üngedanke :
wenn ich, was ich bei Dreieck denke, als ein einzelnes anschaulich Gegebenes
vorstellen soll, muss ich die Determination vollziehen und darf sie nicht
negieren. Soll ich aber von einer Figur nicht eben nur behaupten können,
dass sie ein Dreieck sei, ohne mich um ihre Grösse und nähere Gestalt zu
bekümmern ? Alles Urtheilen, wie alle Begriffsbildung, beruht auf der
Fähigkeit der Analyse, welche einzelne Seiten hervorhebt; Dreieckig
sein ist doch ein vollkommen bestimmtes, für sich verständliches P r ä-
dicat, so gewiss ich eine klare Vorstellung davon habe, was eine Ecke
und was die Zahl drei ist. Und hätte ich wirklich kein subjectives
Correlat zu diesem allgemeinen Wort Ecke? Nicht allerdings, wenn
ich mir fertige Anschauungen vergegenwärtige; wohl aber, wenn ich
auf das Verfahren achte , durch das mir die Anschauung einer Ecke
entsteht, die plötzliche Aenderung der Richtung, die ich in der Bewegung
des Blicks unmittelbar empfinde, ob sie gross oder klein ist. Und hätte
ich keine Vorstellung der Zahl drei, wenn ich mir dabei nicht ganz
bestimmte Gegenstände denke? Genügt es nicht, mir des Verfahrens,
drei zu zählen, bewusst zu sein, das ich auf alles beliebige anwenden
kann? Die Begrifl'sformeln haben nicht die Aufgabe, die Anschauung
des Einzelnen zu ersetzen, sondern nur ihre logische Analyse möglich
zu machen; es liegt ihnen nur zu Grund, dass jedes PJinzelne sich
durch allgemeine Prädicate ausdrücken lasse.
Zweiter Abschnitt.
Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile.
Als unmittelbare Urtheile, d. h. als solche, welche
nichts als die in ihnen verknüpften Vorstellungen der Sub-
jecte und Prädicate selbst voraussetzen, um mit dem Bewusst-
sein objectiver Gültigkeit vollzogen zu werden (§ 18, 1), treten
uns zunächst theils die bloss erklärendenUrtheile
gegenüber, welche in ihrem Prädicate nur aussagen, was in
der durch das Subjectswort bezeichneten Vorstellung als sol-
cher gedacht wird, theils die auf unmittelbarer An-
schauung ruhenden Urtheile über Einzelnes, in
welchen ausgesagt wird, was einer gegebenen Einzelvorstel-
lung als Prädicat zukommt. Unter den letzteren scheiden sich
die Aussagen über uns selbst, und Wahrnehmung s-
urtheile über Aeusseres.
§ 45.
Die Wahrheit derjenigen Urtheile, welche bloss über
die Verhältnisse unserer festges teilten Begriffe
etwas aussagen, gründet sich auf das Pr i ncip derUeber-
e i n s ti m m u n g , und sofern in d«n Begriffs Verhältnissen auch
die Unvereinbarkeit gewisser Merkmale und Begriffe festge-
stellt ist, auf das Princip des Wide||spruchs.
1. Die durchgängige Bestimmtheit der Vorstellungen,
welche dem Urth eilen immer schon vorausgesetzt sind, haben
wir als Bedingung davon erkannt, dass von seiner Wahrheit
332 § 45. Die Wahrheit der TJrtheile über Begriffe. 383
oder Falschheit überhaupt in eindeutigem Sinne geredet wer-
den könne. Die erklärenden TJrtheile (§ 16) betreffen nur
Vorstellungen, welche schon als gemeinschaftlich vorhanden
vorausgesetzt werden. Sind diese Begriffe im logischen
Sinne, so geben diese Urtheile nur die Verhältnisse der be-
reits fixierten Begriffe an, und wiederholen was bei der Fest-
setzung derselben in Eins gesetzt und unterschieden wor-
den ist.
2. Die positiven Urtheile, welche Definitionen ent-
halten, die Urtheile, welche die Merkmale eines Begriffs von
diesem aussagen, die Urtheile, welche einen höheren Begriff
von einem niederen prädicieren, sind durch den gegebenen In-
balt von Subject und Prädicat nothwendig wahr. Die f ac-
tische Voraussetzung (§ 39, 3) derselben ist, dass die
Subjects- und Frädicatsbegriffe wirklich, und zwar immer
und von allen in derselben Weise gedacht werden; das Ge-
setz aber, das unter dieser Voraussetzung das Urtheil noth-
wendig macht, ist kein anderes als das Gesetz derUeber-
einstimmung (§ 14), das jetzt erst, wo die Constanz der
einzelnen Vorstellungen rieht bloss für den Moment des Ur-
theilens (§ 14, 4 S. 102), sondern für die ganze Dauer unseres
Bewusstseins gesichert ist, seine Anwendung nicht bloss als
Naturgesetz, sondern auch als Normalgesetz unseres
Denkens finden kann, und zugleich, wegen der Gleichheit
der Begriffe in allen, die A 1 1 g e m e i n g ü 1 1 i g k e i t d e r U r-
theile verbürgt.
Der Unterschied , ob das Princip der Uebereinstimmung
als Naturgesetz oder als Normalgesetz betrachtet wird, liegt
also nicht in seiner eigenen Natur , sondern in den Voraus-
setzungen auf die es angewendet wird; im ersten Fall wird
es angewendet auf das eben dem Bewusstsein Gegenwärtige;
im zweiten auf den idealen Zustand einer durchgängigen un-
veränderlichen Gegenwart des gesammten geordneten Vor-
stellungsinhalts für Ein Bewusstsein , der empirisch niemals
vollständig erfüllt sein kann. Und das letztere allein ist es,
was als Princip der Identität mit der Forderung einer
normativen Geltung auftreten kaim, dass A ^ A sei,
d. h. in jedem Denkacto die begriffliclicn Elemente stets die-
384 II, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 33S
selben seien und als dieselben gewusst werden (in praxi mit
jedem Wort stets genau derselbe Sinn verbunden werde). Die
Möglichkeit der Erfüllung dieser Forderung hängt von der
Fähigkeit ab , mit zweifelloser Sicherheit der von allem zeit-
lichen Wechsel unabTiängigen Constanz der Vorstellungen be-
wusst zu werden und so zu denken , als ob für ein zeitloses
Anschauen die ganze Welt der Begriffe in unveränderlicher
Klarheit vor uns stünde. Aber das Princip der Identität, so
gefasst, ist nicht Princip unseres Urtheilens, in welchem nicht
dasselbe, sondern Unterschiedenes eins gesetzt wird.
'i. Wollte man fragen, worauf denn die Gültig-
keit des Princips der Uebereinstimmung selbst
beruhe: so können wir nur auf das Bewusstsein zurück-
gehen, dass das Einssetzen von Uebereinstimmendem etwas
absolut Evidentes ist; dass wir, indem wir darauf reflectieren,
was wir im [Jrtheilen thun, dieses Thuns als eines durchaus
Constanten bewusst werden; dass wir ebenso, wie wir fähig
sind, der Identität unseres Ich in allen zeitlich verschiedenen
Acten, vergangenen wie zukünftigen, gewiss zu sein, und in
Einem Act die unveränderliche Wiederholung desselben »Ich
bin« durch eine unbegrenzte Reihe von Momenten vorzustellen,
und fähig sind unseren Vorstellungsinhalt mit Bewusstsein
als denselben festzuhalten, auch fähig sind , gewiss zu sein,
dass, so gewiss wir dieselben sind, wir stets in derselben Weise
im Urtheilen verfahren werden. Jedes Bewusstsein einer
Nothwendigkeit ruht zuletzt auf der unmittelbaren Gewissheit
der Unveränderlichkeit unseres Thuns. Will man darum
sagen, dass es zuletzt doch eine innere Erfahrung sei, welche
uns diese Gewissheit gebe, so ist dagegen nichts einzuwenden;
nur ist dann von der Erfahrung der einzelnen Momente un-
seres veränderlichen Vorstell ens die Erfahrung zu unterschei-
den, welche in dem einzelnen Thun zugleich sicher ist , dass
es nicht von den momentanen und wechselnden Bedingungen
des einzelnen Moments abhängig ist, sondern in allen wech-
selnden Momenten doch dasselbe sein wird. Diese unmittel-
bare Sicherheit gibt uns die unmittelbare und nicht weiter
zu analysierende Anschauung der Nothwendigkeit, welche wohl
Gegenstand einer Erfahrung , d. h. eines unmittelbaren , in
834 § 45. Die Wahrheit der Ürtheile über Begriffe. 385
einem bestimmten Zeitpunkt aufgehenden Bewusstseins , aber
nicht bloss Resultat einer Summe von Erfahrungen ist*).
4. Ebenso einfach folgt aus den festgestellten Begriffs-
verhältnissen dieNothwendigkeit aller verneinenden
ürtheile, vrelche verschiedene Begriffe als Ganze unter-
scheiden , und — nach dem Princip des Widerspruchs (§ 23.
S. 182 ff.) — der verneinenden Ürtheile , welche von einem
Begriffe unvereinbare Merkmale oder unvereinbare Begriffe
negieren , oder , was gleichbedeutend ist , die noth wendige
Falschheit der ürtheile , welche die Beilegung eines Prä-
dicats, das dem Subjectbegriff widerspricht (die contradictio
in adjecto), vollziehen wollen. In den festgestellten Begriffs-
verhältnissen liegt die Unvereinbarkeit gewisser Merkmale als
ein unveränderliches Verhältniss mit, d. h. die Npthwendigkeit
b zu verneinen, wenn a bejaht ist; einem Begriff, der a ent-
hält, b zusprechen, heisst also sagen, dasselbe ist a und ist
nicht a.
5. Wiederum tritt das Princip des Widerspruchs in kei-
nem andern Sinne als Normalgesetz auf, als in welchem es ein
Naturgesetz war und einfach die Bedeutung der Verneinung
feststellte; aber während es als Naturgesetz nur sagt, dass es
unmöglich ist, mit Bewusstsein in irgend einem Moment zu
sagen A ist b und A ist nicht b, wird es jetzt als Normal-
gesetz auf den gesammten Umkreis constanter Begriffe ange-
wendet, über welchen sich die Einheit des Bewusstseins über-
haupt erstreckt; unter dieser Voraussetzung begründet es das
gewöhnlich sogenannte Principium Contradictionis , das jetzt
aber kein Seitenstück zum Princip der Identität (im Sinne der
Formel A ist A) bildet , sondern dieses , d. h. die absolute
Constanz der Begriffe selbst wieder als erfüllt voraussetzt.
*) Insofern kann ich den Ausführungen von Baumann (Philosophie
als Orientierung über die Welt, S. 296 ff.) über die mathematische
Nothwendigkeit nicht vollkommen beistimmen. Mit der blossen Erfah-
rung der Constanz des Vorstellens in verschiedenen Wiederholungen
ist noch keine Nothwendigkeit gesetzt ; die Wirklichkeit einer That-
sache kann nicht den Gedanken der Möglichkeit des Andersseins aus-
schliessen; das vermag nur das Bewusstsein, dass diese Thatsache, sowie
sie jetzt wirklich ist, immer wirklich sein wird, d. h. das Bewusstsein
ihrer Nothwendigkeit.
Big wart, Logik. I, 2. Auflage. 25
386 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren tJrtheile. 335
Und wiederum ruht die absolute Gültigkeit des Princips des
Widerspruchs und in Folge davon der Sätze, welche eine con-
tradictio in adjecto verneinen, auf dem unmittelbaren Bewusst-
sein, dass wir immer dasselbe thun und thun werden, wenn
wir verneinen, so gewiss wir dieselben sind*).
6. Aus den feststehenden Begriäs Verhältnissen ergibt sich
femer die Gültigkeit der MÖglichkeitsurtheile, welche
einem noch nicht determinierten Begriff die Möglichkeit zu-
sprechen, die mit ihm vereinbaren Determinationen anzunehmen
(§ 34, 5 S. 269) und der Disjunctionen, welche auf einer
Division fussen.
Sofern vorausgesetzt wird, dass ein Begriff eine Mehrheit
von Arten unter sich enthält, oder auf eine Vielheit von
Einzeldingen ^anwendbar ist, also von Verschiedenem prädi-
ciert werden kann , folgt auch aus den Begriffsverhältnissen
unmittelbar die hypothetische Noth w endigkei t das-
jenige, was unter einen Begriff fällt, mit den Prädicaten dieses
Begriffs zu prädicieren. Gilt von den Begriffen A ist B , so
gilt auch: Wenn etwas A ist, so ist es B, oder alle A sind
B. Mit Recht sind derlei Urtheile immer als analytische
betrachtet worden, welche durch das Princip der Uebereinstim-
mung gewiss seien. Aehnlich verhält es sich mit den ver-
neinenden; gilt von den Begriffen: B ist mit A unvereinbar,
so gilt ebenso : wenn etwas A ist , so ist es nicht B , oder
kein A ist B.
7. In all diesen Urtheilen haben wir, die feststehenden
Begriffe vorausgesetzt, nur abzulesen, was wir in die Begriffe
hineingelegt haben; wir bewegen uns ganz im Gebiete unserer
*) Wenn J. St. Mill (Schluss des zweiten Buchs) den Satz des
Widerspruchs als eine unserer ersten und geläufigsten Generalisationen
aus der Erfahrung betrachtet und seine Bedeutung darin findet , dass
Glaube und Unglaube zwei verschiedene Geisteszustände sind, die ein-
ander ausschliessen, was wir aus der einfachsten Beobachtung unseres
eigenen Geistes erkennen, so kann ich dem in gewisser Weise zustim-
men ; das Räthsel Hegt fben dann darin, woher wir denn wissen, dass
sie nicht bloss verschieden sind, sondern dass sie sich ausschliessen?
Wenn aus einer leichten Beobachtung die Sicherheit folgen soll, dass
sie sich ausschliessen, so muss eben die Nothwendigkeit davon
selbst unmittelbar zum Bewusstsein kommen.
336 § 45. Die Wahrheit der Urtheile über Begriffe. 387
festen Vorstellungen, und für Niemand, der genau dieselben
Vorstellungen hat, können diese Urtheile irgendwie zweifelhaft
sein. Sie sind ebendarum von jeder Zeit unabhängig, unbe-
dingt gültig; sind nach Leibniz ewige und noth wendige Wahr-
heiten; sie sagen aber ebendarum direct niemals, dass etwas
sei, noch reden sie von bestimmten einzelnen, noch von seienden
Objecten. Ein Existentialurtheil kann niemals ein
analytisches im Kantischen Sinne sein; denn es handelt sich,
wie Kant unwiderleglich nachgewiesen hat, beim Existential-
urtheil darum, dass ein dem Begriff entsprechendes existiert;
das Subject des Existentialurtheils ist zunächst ohne Existenz
gedacht, aber gerade so wie es gedacht wird, soll es auch
existieren. Der Grund, etwas als existierend zu setzen, kann
also niemals in demjenigen Vorstellen liegen , durch welches
der Inhalt einer Vorstellung gedacht wird , im begrifflichen
Denken; sondern es muss, wenn es überhaupt einen gibt, ein
im Bewusstsein Gegenwärtiges sein , das vom begrifflichen
Denken verschieden ist.
8. So leicht nun aber unter Voraussetzung eines vollen-
deten Begriffssystems die Wahrheit der begrifflichen Urtheile
eingesehen werden kann, so wenig ist dadurch die eigentliche
Function der Begriffe erschöpft. Die Begriff surth eile haben
den Werth, die Begriffe selbst immer neu zu beleben und
gegenwärtig zu erhalten, die Abbreviatur des Worts in ihren
Inhalt auseinanderzulegen; aber zuletzt liegt doch aller Werth
und alle Bedeutung eines Begriffssystems darin , angewandt
zu werden, und, indem es zur Prädicierung verwendet wird,
zur Erkenn tniss desjenigen zu dienen , was in dem Begriffs-
system als solchem noch nicht enthalten ist. Das Begriffssystem
ist das Organ aller Erkenntniss, aber nicht diese selbst; der
Apparat mit dem wir arbeiten, aber nicht das Product. Der
menschliche Geist wäre zu ewiger Sterilität verurtheilt, wenn
er sich, wie im Hintergrunde die Schullogik meint, immer in
dem umtreiben sollte, was er schon weiss, und nur die Urtheile
wiederholen sollte, durch die er seine Begriffe fixiert hat; sein
Fortschritt besteht darin , immer Neues und Neues mit den
schon festgestellten Hegriffen oder neuen daraus gebihleten zu
bewältigen. Auch mit der idealen Vollendung eines überein-
25*
388 IIi 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 337
stimmenden Begriffssystems ist die Aufgabe noch nicht fertig,
sowenig als ein Lexicon die Literatur eines Volks ist. Der
Fortschritt des Denkens und Forschens erzeugt neue Anschau-
ungen und Vorstellungen; und die Hauptaufgabe ist, der Ge-
setze bewusst zu werden , nach denen das fortwährend neu
sich vollziehende Urtheile n Anspruch auf Wahrheit
und Allgemeingültigkeit hat.
9, Dieser Fortschritt im Denken und Wissen geht zu-
nächst von den einzelnen Individuen aus , in denen
Urtheile neu entstehen und von denen aus sie durch Mitthei-
lung sich verbreiten. Ihre Bedingung ist , da die Prädicate
immer als bereits gegeben vorausgesetzt werden müssen, die
Entstehung neuer Subjectsvorstellungen. Sofern
diese nur neue begriffliche Schöpfungen sind, welche
durch bestimmende Definition en (§48, 2) eingeführt
werden, fällt ihre Gültigkeit unter die obigen Gesetze; sie
dienen ja zuletzt nur dazu, eine neue Abbreviatur herzustellen
und einen Terminus einzuführen, und was über sie geurtheilt
wird, ist sofort wieder blosse Begriffserklärung.
Anders, wenn die neu entstehenden Subjectsvorstellungen
einzelne sind. Den Unterschied der Vorstellung von Ein-
zelnem gegenüber dem Vorstellen des begrifflichen Inhalts
müssen wir zunächst als einen gegebenen und Jedem bekann-
ten voraussetzen (§ 7. S. 45 ff.); wenn er durch den Unter-
schied von Anschauung und Begriff ausgedrückt wird,
so wird eben auch vorausgesetzt, dass dieser Unterschied un-
mittelbar verständlich sei; wir können ihn höchstens nach
abgeleiteten und äusseren Merkmalen dahin bestimmen , dass
das begrifflich Vorgestellte ein rein inneres , nach unserem
freien Belieben wiederholbares und dann immer in derselben
Weise gegenwärtiges , von nichts als der inneren Kraft un-
seres Denkens abhängiges sei, das Angeschaute dagegen uns
in einem bestimmten Momente gegeben sei und seine Vor-
stellung von Bedingungen abhänge , welche es in eine Be-
ziehung zu uns den Vorstellenden setzen , die von der inneren
Kraft des Denkens unabhängig sei , vielmehr den allgemein
ausdrück baren Inhalt in einem einzelnen Object zu setzen
verlange.
338 § 45. Die Wahrheit der ürtheile über Begriffe. 389
Wäre nun ein Einzelnes mit dem Bewusstsein vorgestellt,
dass es zwar ein mir anschaulicli Gegebenes, seine Vorstellung
aber mir individuell angehörig, von anderen gar nicht
oder nur zufällig zu gewinnen sei, wie ein Traumbild oder
eine Vision, der nur ich theilhaftig werde , oder eine innere
Schöpfung der künstlerischen Phantasie, welche von der Will-
kür des Denkens unabhängig mir als ein eben jetzt gegen-
wärtiges Einzelobject gegenübersteht: so ist zwar durch das
Princip der Uebereinstimmung garantiert, dass ich dieses
Object, soweit ich es mit Bewusstsein vorstelle und festhalte,
richtig , d. h. so beschreiben würde , wie es seinem Inhalt
entsprechend ist, aber es besteht kein Interesse weiter nach
der Begründung dieser ürtheile zu fragen, da sie durchaus
individuell und unübertragbar sind, von dem also, der die An-
schauung nicht hat, nur auf Autorität geglaubt werden.
Wären aber die Vorstellungen solche , welche sich in
allen übereinstimmend er zeugen k Önnen und unter
bestimmten Bedingungen übereinstimmend erzeugen
müssen, so dass sie ihrer Natur nach gemeinschaftliche
Objecte für alle werden können, so besteht auch das Interesse,
dass, was darüber geurtheilt wird, als allgemeingültig erkannt
werde. Dieses ist z. B. der Fall mit den Gebilden der Geo-
metrie, sofern die Raumvorstellung als eine in allen gleiche
und die Elemente der Geometrie als gegebene Anschauungen
vorausgesetzt werden*); vor allem aber ist es der Fall mit
*) Die geometrischen Constructionen nehmen insofern eine eigen-
thümliche Stelle ein, als in ihnen nach einer Seite hin der Unterschied
zwischen einzelnem Bild und Begriff sich aufhebt. Sofern sie nemlich
als innere, bloss von unserer construierenden Thätigkeit abhängige
Gebilde betrachtet werden , die zwar im Augenblick als einzelne an-
geschaut, aber beliebig in derselben Weise so wiederholt werden kön-
nen, dass ihre Identität lediglich an der Identität des Vorgestellten
haftet , kommt ihnen die Allgemeinheit der Vorstellung und des Be-
griffs zu : das Einzelne als solches ist ein Allgemeines. Sofern aber
vorausgesetzt wird, dass die Elemente derselben allen in gleicher Weise
gegeben sind, und dass sie durch äussere Anschauung jedem aufge-
drungen werden können, sind sie wegen der Selbigkeit für Alle dem
angeschauten Seienden verwandt, und man kann in gewissem Sinne
von einem objectiven Sein derselben reden. (Jm nicht zu wiederholen,
390 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 339
dem, was wir als existierend betrachten. Alles,
was wir als seiend setzen , ist ebendamit ein einzelnes
Ding oder eine Bestimmung an einem Einzelnen. Es liegt
ferner im Begriffe des Seins, dass das Seiende ein von der
individuellen Vorstellung unabhängiges und für alle selbiges
ist. Hat es aber seine Existenz nicht durch das Denken,
sondern vor demselben , so ist eine verschiedene Be-
ziehung des Seienden zu verschiedenen Vorstel-
lenden nicht ausgeschlossen ; es kann von dem einen vor-
gestellt, von dem andern nicht vorgestellt werden, von dem
einen vollständig, von dem andern unvollständig; da der Grund,
es zu setzen, nicht in dem für alle gemeinschaftlichen begriff-
lichen Denken liegt, so kann er in Bewusstseinsdaten liegen,
die für die Einzelnen verschieden sind. Andererseits kann
über das Seiende nur dann wahr geurtheilt werden , wenn
alle übereinstimmen, da es ein für alle Erkennenden Selbiges
ist. Eben darin liegt das Bedürfniss, sich darüber gewiss zu
werden, worin die Nothwendigkeit unserer ür-
theile über Seiendes beruht.
Wo etwas als seiend gesetzt oder vorausgesetzt wird,
lässt sich im Allgemeinen unterscheiden die Vorstellung des
Einzelnen als Subject, und das ürtheil , dass es sei*); mag
nun das letztere bloss wie gewöhnlich mitverstanden, oder in
einem Existentialurtheil ausdrücklich ausgesprochen sein.
§ 46.
Unter den unmittelbaren Urtheilen über Seiendes stehen
in erster Linie diejenigen, welche das unmittelbareBe-
wusstsein unseres eigenen Thuns, wie es in jedem
Momente unseres wachen Lebens vorhanden ist, aussagen. Ihre
behalten wir uns die genauere Untersuchung der darauf bezüglichen
ürtheile für den dritten Theil vor.
*) Das »Seiende« überhaupt kann nicht als wahrer Gattungsbegriff
zu dem einzelnen Seienden betrachtet werden ; es ist begrifflich be-
trachtet nur ein gemeinschaftlicher Name, Denn da »Sein« für uns ein
Relationsprädicat ist, kann es kein gemeinschaftliches Merkmal sein;
es müsste denn gezeigt werden, dass dieses Prädicat in einer dem Be-
griffe alles Seienden gemeinsamen Bestimmung wurzle.
340 § 46. Die Wahrheit der Aussagen über uns selbst. 391
Gewissheit ist eine nicht weiter zu analysierende. Sie schliessen
nicht nur die Gewissheit des Urtheils »Ich bin«,
sondern auch die Gewissheit der Realität der Einheit
von Substanz und Action ein.
Sofern ihnen die Zeit anhaftet, setzen sie eine all-
gemeine Nothwendigkeit unsere einzelnen Ac-
tionen als in eine r Zeitreihe verlaufend vorzu-
stellen, und allgemeingültige Regeln, jedem Mo-
ment seinen Ort in dieser Zeitreihe anzuweisen,
voraus.
1. Die ürtheile: Ich empfinde Schmerz; ich sehe Licht;
ich will das und das — sind so absolut gewiss, und ihre
Gültigkeit so selbstverständlich, dass es scheint als böten sie
einer logischen Untersuchung nach ihrer Berechtigung und
dem Grunde ihrer Nothwendigkeit gar keine Handhabe. In
der That vermag , die Klarheit des ßewusstseins und die
Deutlichkeit und vollkommene Entwicklung der Prädicats-
begriffe vorausgesetzt , kein Mensch an ihrer unmittelbaren
Wahrheit zu zweifeln, und Niemand schreibt sich das Recht
zu , die Aussagen eines andern , die Wahrhaftigkeit seiner
Rede vorausgesetzt, zu verdächtigen, ob ihm auch zu glauben
sei, was er über sich aussage. So scheint zunächst nur ihr
Unterschied von den Begriffsurthei len festzu-
stellen.
2. Dieser ist in der That ein durchgreifender. Die Be-
griffsurtheile haben Subjecte, welche als von allen in gleicher
Weise gedacht angenommen werden; das Urtheil »Ich sehe«
hat ein Subject, das in der Weise, wie ich es vorstelle, von
keinem andern vorgestellt werden kann; in dem BegrifFsurtheil
wird der Inhalt des Subjects expliciert, der in immer gleicher
Weise in ihm gedacht wird ; was der Inhalt dessen sei , was
ich mit »Ich« bezeichne, lässt sich gar niemals erschöpfend
angeben, es ist uns auf eine mit allen andern Objecten unseres
Denkens völlig unvergleichliche Weise gegeben. Das Begriffs-
urtheil sagt: Wenn ich A denke , denke ich es noth wendig
mit der Bestimmung B ; bei dem Urtheil des Selbstbewusstseins
392 lJi 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 341
gibt es kein Wenn , das Subject wird schlechtweg gedacht,
wenn überhaupt etwas gedacht wird, und dass es gedacht wird,
ist die schlechthin factische Voraussetzung für alles andere
Denken; das Begriffsurtheii sagt über die Existenz seiner Ob-
jecte nichts, das Urtheil Ich sehe schliesst aber das Urtheil
Ich bin allezeit ein; bei jedem Begriff kann gefragt werden,
ob das existiert, was er enthält; ob Ich existiere, kann nicht
gefragt werden; die Merkmale des Begriffs sind unveränder-
lich, die Prädicate des Ich sind, mit Ausnahme des Ich selbst,
von Moment zu Moment veränderlich; und jedem Urtheil
kommt doch, indem es vollzogen wird, eine unmittelbar ge-
wisse Wahrheit zu, die nur anerkannt, nicht auf ihre Gründe
geprüft werden kann. Das Princip der Uebereinstimmung
garantiert wohl, dass der allgemeine Begriff des Prädicats mit
dem in der unmittelbaren Anschauung gegebenen Thun über-
einstimme; allein es vermag nicht die Behauptung zu garan-
tieren , weder dass das Subject eben diese Action vollzieht,
noch die darin eingeschlossene, dass es existiert*).
3. Müssen wir die Aussagen jedes Selbstbewusstseins als
etwas anerkennen , über dessen Gewissheit nicht auf etwas
anderes, von dena sie abhienge, zurückgegangen werden kann,
so handelt es sich nur darum, zu constatieren , wieviel damit
anerkannt ist.
Zunächst, dass es in Beziehung auf dieses Subject nicht
möglich ist , jene Trennung auszuführen zwischen dem bloss
Vorgestellten und dem Sein desselben ; und dass das Urtheil
»Ich bin« also nicht wie alle andern Existentialurtheile ein Ich
als bloss Vorgestelltes zum Subject hat, dem das Sein zuge-
sprochen würde, sondern dass Subject und Prädicat unauflöslich
zusammengehören .
Ferner , dass mit der unmittelbaren Gewissheit der Aus-
*) Kant's Lehre, dass die Aussagen des inneren Sinnes wegen der
Subjectivität der Zeitform sich nur auf Erscheinungen beziehen, afficiert
den logischen Charakter der Urtheile nicht , sondern nur die meta-
physische Bedeutung derselben, und den Sinn der Realität, welche da-
mit ausgesprochen ist. Ihre unmittelbare Gewissheit als Urtheile ist
unter der Kantischen Voraussetzung ebenso unanfechtbar als unter
irgend einer andern.
342 § 46. Die Wahrheit der Aussagen über uns selbst. 393
sagen des Selbstbewusstseins wenigstens auf diesem Punkte
die Realität der Synthese von Substanz, und Action gegeben
ist; und sofern die Actionen auf Eigenschaften zurückbezogen
werden, auch die Realität der Synthese zwischen Substanz
und Eigenschaft.
Endlich, dass die fundamentalste Gewissheit hinsichtlich
, eines Seins gerade ein Urtheil betrifft, das in derselben Weise
von keinem andern wiederholt werden kann und auf einen
durchaus individuellen Act zurückgeht; denn die Vorstellung,
die ein anderer von. mir hat, ist verschieclen von der, die
ich von mir habe; sie betrifft dasselbe Subject, aber nicht
auf dieselbe Weise; das Setzen eines Seins ist also, wo es am
ursprünglichsten geschieht, ein individueller und von individu-
ellen Bedingungen abhängiger Act. Jedes Urtheil über ein
anderes Ich ist noth wendig ein vermitteltes, sowohl die An-
erkennung seines Seins, als der Glaube an seine Aussage.
4. Nun kommt aber diese unmittelbare Gewissheit immer
bloss dem augenblicklichen Selbstbewusstsein,
dem Urtheil zu, welches das eben jetzt gegenwärtige ausspricht;
und das Urtheil ist also nur für einen bestimmten
Zeitpunkt wahr. Es liegt in der Art und Weise , wie
wir das Bewusstsein unserer einzelnen Zustände haben, schon
die Vorstellung der Zeit mitgesetzt, denn wir haben das Be-
wusstsein des einzelnen Actes nie ohne die Erinnerung an
der Zeit nach vorangehende, und in dem Bewusstsein unserer
selbst ist das Bewusstsein eines in der Zeit identischen Selbst
immer mit enthalten. Sofern es sich nun bloss darum han-
delt, dass in jedem Augeriblick auch unser Dasein in früherer
Zeit, und damit unsere Existenz überhaupt als eine dauernde
vorgestellt wird, so ist auch darin unmittelbare Gewissheit
gesetzt; in dem Ich bin liegt mit ebenso unanfechtbarer
Sicherheit auch Ich war früher. Allein weiter erstreckt sich
genau genommen die Sicherheit nicht. Einerseits ist , sowie
es sich um das Einzelne der Erinnerung handelt , wohl die
Aussage gewiss , dass ich jetzt glaube , das und das früher
gethan zu haben; aber dieser Glaube selbst kann nicht auf
dieselbe Sicherheit Anspruch machen. Indem er aus der
Realität einer jetzt gegenwärtigen Erinnerung die Realität
394 II» 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 343
eines früheren realen Geschehens ableitet , wäre er nur be-
rechtigt, wenn ein absolut noth wendiges Gesetz bestünde,
wonach , was ich jetzt glaube früher gethan zu haben , ich
auch unter allen Umständen überzeugt bleiben müsste, früher
wirklich gethan zu haben, d. h. , wenn es keine Erkenntniss
einer Täuschung in der Erinnerung gibt. Nun gilt uns
allerdings ein Theil unserer Erinnerungen, zumal an das
Nächstvergangene, für absolut sicher; aber ebenso sicher ist,
dass ausnahmsweise wenigstens diese Erinnerung täuscht, und
dass kein sicheres Kriterium besteht, ,die unfehlbaren Erin-
nerungen von den fehlbaren zu scheiden , und es ist zuletzt
nur der bewusste, nach allen Seiten continuier-
liche und übereinstimmende Zusammenhang, in
welchen wir unsere Erinnerungen zu setzen vermögen , der
uns die Garantie ihrer Wahrheit und Zuverlässigkeit gibt.
Das Urtheil also, dass ich einen bestimmten Act früher wirk-
lich vollzogen habe, weil ich glaube mich dessen zu erinnern,
kann nicht als ein unmittelbar sicheres angesehen wer-
den: es ist ein vermitteltes Urtheil, sofern es aus einer gegen-
wärtigen Vorstellung die Realität eines ihr entsprechenden
früheren Thuns behauptet, und eine unmittelbar gewisse und
absolut sichere Regel für dieses Urtheilen gibt es nicht*).
■') Vergl. die treffliche Schrift von W. Windelband »Ueber die Ge-
wissheit der Erkenntniss«, die in so vielen Punkten mit den hier auf-
gestellten Sätzen übereinstimmt, dass ich sie mit wenigen Ausnahmen
fast Wort für Wort unterschreiben könnte. Er sagt (S. 87 ff.) über die
obige Frage, woher die Gewissheit davon komme, dass eine Vorstellung
eine Erinnerung sei, dass zuletzt nur ein deutliches Gefühl, welches
die Vorstellung begleitet, uns snge, dass sie schon einmal vorgestellt
sei; das Gefühl aber beruhe zuletzt darauf, dass sich mit dieser Vor-
stellung die Nebenvorstellung einer Verbindung und Beziehung derselben
zum Ich associiert habe, und diese Nebenvorstellung nun mit herauf-
steige und als Gefühl der Erinnerung ins Bewusstsein trete; daraus
erkläre sich, dass wir Vorstellungen zum zweitenmal haben können,
ohne sie als Erinnerungen zu wissen, wenn nemlich ihre Verbindung
mit dem vorstellenden Ich nicht zum deutlichen Bewusstsein kam.
Diese Auseinandersetzung trifft soweit zu, dass ein eigenthümliches Ge-
fühl uns in der Regel das schon Bekannte von Unbekanntem unter-
scheidet; allein Gewissheit vermag dieses Gefühl erst zu geben, wenn
sich aus ihm der erkannte Zusammenhang der einzelnen Vorstellung
344 § 46. Die Wahrheit der Aussagen über uns selbst. 395
Auf diesem Gebiete liegen allerdings auch die psycho-
logischen Schwierigkeiten, der Constanz unserer Begriffe sicher
und damit gewiss zu sein, dass das logische Ideal erfüllt ist;
denn sofern sich unser Denken in zeitlich geschiedenen Acten
vollzieht, afficiert die Unsicherheit der Erinnerung auch das
Bewusstsein, dass dasselbe, was ich jetzt denke , das ist, was
ich schon früher gedacht habe. Jenes Ideal ist darum nur
annähernd zu erreichen, und bedarf nicht bloss unablässiger
Uebung, sondern auch äusserer Hülfsmittel, unter denen die
Schrift obenansteht, deren Bedeutung so gross ist, dass
man sagen kann, erst mit der Schrift sei Wissenschaft möglich.
5. Nach der andern Seite handelt es sich darum, dass
durch jedes Urtheil über ein gegenwärtiges Thun, insofern
als dieses dadurch in eine Zeitreihe gestellt wird, ihm zugleich
seine Gültigkeit für einen einzelnen Zeitpunkt bestimmt ist,
und dass dieses »Jetzt« einen integrierenden Theil des Urtheils
bildet; schon darum, weil, auf einen anderen Zeitpunkt be-
zogen, die Gültigkeit dieses Urtheils von andern aufgehoben
würde. Soll also ein Urtheil, das so den Zeitpunkt seiner
Gültigkeit eiuschliesst , ein objectiv gültiges sein , so
setzt dies nicht bloss voraus, dass es eine allgemeineNoth-
wendigkeit gebe, unsere einzelnen Bewusstseinsmomente
übereinstimmend als in einer Zeitreihe verlaufend vorzustellen,
dass es also eine für alle selbige Zeit gebe; sondern,
wenn ein solches Urtheil auf Allgemeingültigkeit Anspruch
macht, muss es auch allgemeine Regeln geben, aus denen die
mit anderem und damit seine Anknüpfung an den gegenwärtigen Mo-
ment herstellen lässt. Ich kann, wenn ich eine Person sehe, mit der
gröösten Stärke das Gefühl empfinden, das Bekanntes von Unbekanntem
zn unterscheiden pflegt, vollkommene Gewissheit habe ich erst, wenn
ich mich der Umstände erinnere, unter denen ich sie früher gesehen
und sie so in den mir stets gegenwärtigen Kreis dessen, was mein Selbst
bewusstsein ausmacht , hereingezogen habe. Darin besteht jene B e
Ziehung auf das Ich, auf welche Windelband mit Recht Gewichl
legt; sie ist keine Beziehung auf die abstracte Feinheit des Selbstl
wusstseins, sondern auf das empirische Ich, und nur das fortwährende
Durchlaufen und übereinstimmende Verknüpfen einer Reihe von Mo
menten meines früheren Lebens macht das Wissen im Gebiete der Er
innerung aus.
396 If» 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 345
Nothweiidigkeit hervorgeht, der Wahrheit jedes Urtheils ihre
bestimmte Zeit anzuweisen. Damit mein Urtheil gültig
sei und allgemein anerkannt werde, muss also der Zeitpunkt,
für den es gültig ist, auf eine allgemeingültige
Weise bestimmt werden können.
Es genügt also nicht, dass die Zeit überhaupt, wie
Kant lehrt, eine nothwendige Vorstellung ist; son-
dern es wird ebenso die Fixierung eines für alle glei-
chen Zeitpunkts in einer objectiven Zeit und ein ge-
meinschaftliches Zeitmass erfordert , nach welchem jeder
einzelnen Thatsachedes Bewusstseins ihre Stelle angewiesen wird.
Die Frage, wie diese Regeln zu finden seien, lässt sich
nicht durch Zurückgehen auf unmittelbar Gewisses erledigen,
da sie auf eine Vergleichung des mir unmittelbar Gewissen
mit den Zeitvorstellungen anderer zurückführt; ihre Unter-
suchung ist ein Problem für unsern dritten Theil.
§47.
Die unmittelbaren ürtheile über Seiendes ausser
uns sind dieWahrnehmungsurtheile. Sie schliessen
(in dem Sinne, in dem sie gewöhnlich ausgesprochen werden)
die Behauptung der Existenz ihres Subjects ein.
Da die Wahrnehmung zunächst subjectiv gewiss ist
(nach § 46), als Aussage, dass ich eben jetzt die Vorstellung
eines bestimmten Seienden habe : so ist die B e d i n g u ng der
objectiven Gültigkeit eines Wahrnehmungsur-
theils, dass die No thwendigkei t dieses Subjective
überhaupt auf ein existierendes Ding zu beziehen,
und dass ebenso allgemeine Gesetze feststehen , wonach
das in einer Wahrnehmungsvorstellung gesetzte
noth wendig als reales Prädicat eines Seienden
gedeutet wird; also insbesondere Gesetze , nach denen
meine räumlichen Anschauungen zu räumlichen
Bestimmungen derObjecte, meine Beziehung von |
Eigenschaften und Veränderungen auf ein Ding
346 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmiingsürtheüe. 397
zu realen Eigenschaften und Thätigkeiten von
Substanzen, meine Vorstellung seiner Relationen zu
realen Relationen umgedeutet werden.
1. Ebenso unmittelbar gewiss als die Aussagen des un-
mittelbaren Selbstbewusstseins erscheinen dem natürlichen
Denken die Wahrnehniungsurtheile, durch welche wir
Aussagen über ein uns unmittelbar Gegenwärtiges ausser uns
machen.
Diese Wahrnehmungsurtheile schliessen zunächst das Be-
wusstsein ein, dass ich eben jetzt eine mir gegenwärtige Vor-
stellung eines Einzelnen habe, welche die eigenthümlichen
nicht weiter zu beschreibenden Charaktere hat, wodurch sich
die Wahrnehmung von der Erinnerung und der bloss inneren
Vorstellung überhaupt unterscheidet. Das Vorhandensein fester
Begriffe und ihrer Bezeichnungen erlaubt jetzt, den Inhalt des
so Gegebenen auf allgemeingültige Weise auszudrücken, theils
indem er als Ganzes (den Benennungsurtheilen entsprechend)
unter einen Gattungsbegriff subsumiert*) wird, theils indem
seine einzelnen Elemente analysiert und die ihnen entsprechenden
Prädicate ausgesagt werden. Sofern die letzteren einfach
sind, bleibt auch jetzt das Urtheil ein vollständig unmittel-
bares; ein Element der Wahrnehmungs Vorstellung wird als
übereinstimmend mit einem begrifflich fixierten Merkmal er-
kannt (was ich sehe ist roth**) u. s. w.). Sofern es sich aber
um Subsumtion unter zusammengesetzte Begriffe
handelt, tritt jetzt an die Stelle der unmittelbaren Benennung,
die Ganzes mit Ganzem Eins setzt, die Noth wendigkeit der
I Vergleichung der einzelnen Merkmale der Wahr-
nehmungsvorstellung mit den Merkmalen des Be-
griffs, und damit wird die Subsumtion eine vermittelte, indem
sie aus einer Reihe von Einzelurtheilen hervorgeht. (S. u. über
den Subsumtionsschluss g 56).
*) Ueber den Terminus Subsumtion vergl. § 8, 6 Note.
**) Sofern eine Schwierigkeit besteht, die begrifflichen Grenzen
fliessender Unterschiede in der blossen inneren Reproduction der Be-
griffe festzuhjülen, kann iillerdings schon die objective Gültigkeit eines
solchen ürtheils von weiteren Processen (Messung u. s. f.) abhängig sein.
398 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 347
2. So lange nun ein Wahrnehniungsurtheil nur sagen
wollte , dass was ich jetzt eben sinnlich vorstelle roth , süss
u. s. w. sei, so würde auch hier durch das Princip der Ueber-
einstimmung garantiert, dass das Urtheil nothwendig ist, und
von jedem, der dieselbe Vorstellung hätte, auf dieselbe Weise
vollzogen werden müsste.
Aber ein solches Urtheil will nicht bloss Vorstellungen
vergleichen ; sondern es bezieht eine Vorstellung auf einen
einzelnen als existierend gedachten Gegenstand , und es sagt
von diesem bestimmten ein Prädicat aus als ihm ob-
jectiv zukommend. Soll das Urtheil wahr sein : so muss nicht
bloss die Uebereinstimmung der Einzelvorstellung mit der all-
gemeinen begründet sein , sondern es muss ebenso be-
gründet sein, was das gewöhnliche Urtheilen als selbst-
verständlich voraussetzt, dass diese Einzelvorstellung sich auf
einen bestimmten seienden Gegenstand bezieht, und dass dieser
Gegenstand die Prädicate hat, welche ich ihm beilege; und
dies ist nur möglich, wenn ein Gesetz besteht, wonach mit
unfehlbarer und allgemeingültiger Nothwendigkeit su bjec-
tive und individuelle Affectionen und Vor-
stellungen auf objective Gegenstände bezogen
werden. Nun beweist zwar die factische Allgemeinheit der
Ueberzeugung , dass unsern Empfindungen reale Gegenstände
entsprechen, das Vorhandensein einer psychologischen
Nöthigung, das Empfundene als real zu setzen ; ebenso
beweist aber auch die Thatsache vielfacher sog. Sinnen täusch -
ungen , und ebenso die Difierenz der Aussagen verschiedener
Beobachter desselben Gegenstands, dass diese allgemeine Nöthi-
gung nicht in jedem einzelnen Falle durchgängige Ueber-
einstimmung garantiert , dass also auch hier ein Unter-
schied des factisch nach psychologischen Gesetzen Eintreten-
den von dem allgemein Gültigen stattfinden kann und vielfach
stattfindet, und dass von einer zureichenden Begründung solcher
Ürtheile erst die Rede sein kann, wenn die subjectiven Diffe-
renzen eliminiert werden können ; dies aber ist nur möglich,
wenn wir uns allgemeiner Gesetze, nach welchen
wir die subjective Empfindung mitNothwen-
digkeit auf objective Realität beziehen, be- ,j
348 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurfcheile. 399
wusst zu werden und jeden Fall daran zu messen vermögen;
erst dann lässt sich von dem ürtheil : ich bin sicher das und
das gesehen und wahrgenommen zu haben , zu dem Urtheil
fortgehen : das und das ist da, ist geschehen.
3. Sobald erkannt ist, dass wir es in den Wahrneh-
mungen zunächst mit subjectiven Ereignissen zu thun haben,
dass nur die Gegenwart der Vorstellung das unmittelbar
Gegebene, ihre Beziehung auf ein Ding ausser uns aber ein
zweiter Schritt ist, der allerdings meist unbewusst vollzogen
wird, bedarf jedes Urtheil über äussere Existenz zunächst yier
Begründung durch ein Gesetz, wonach überhaupt — wenig-
stens unter gewissen Bedingungen — die Vorstellung noth-
wendig aufeinen äusseren exis tierenden Gegen-
stand zu beziehen ist. Der Skepticismus läugnet, dass eine
solche Nothwendigkeit vorhanden , oder wenigstens dass sie
erkennbar sei ; der subjective Idealismus behauptet eine solche
Nothwendigkeit, aber er gibt ihr nur die Bedeutung, dass das
Wahrgenommene nothwendig als realer Gegenstand ausser uns
vorgestellt werde; aber dieses Setzen einer äusseren Existenz
ist ihm selbst ein blosser Act des Vorstellens, und wir kom-
men also in ein zweites Stadium des Vorstellens durch diese
Nothwendigkeit, aber nicht zu einer von uns unabhängigen
Existenz ; die W^irklichkeit, welche wir behaupten, ist nur eine
Wirklichkeit von Erscheinungen, nicht von Dingen, welche
von uns unabhängig wären.
Es ist hier nicht unsere Aufgabe, diese Streitfragen zu
lösen ; es genügt zu constatieren , dass die unmittelbare Ge-
wissheit unserer Wahrnehraungsurtheile nicht auf einer ab-
soluten Nothwendigkeit beruht, ehe ein allgemeines Gesetz
gezeigt ist, nacli welchem das Factum der Wahrnehmuno'
die Anerkennung der Existenz eines äusseren Gegenstands
nothwendig macht.
Für die logische Betrachtungsweise ist es übrigens voll-
kommen gleichgültig, ob dieses Gesetz in dem Sinne aufge-
zeigt werden kann , dass daraus die wirkliche Existenz der
äusseren Dinge gewiss wird — also in realistischem Sinne,
oder in dem idoalisti schon, dass es nur die Vorstellung realer
Gegenstände auf Grund der Wahrnehnmng nothwendig macht j
400 II. 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Ürtheile. 349
der logische Charakter der so entstandenen Ürtheile, ihre Noth-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit wäre dieselbe, nur der
Sinn des Prädicats Sein (im empirischen Sinne) würde modi-
ficiert. Nur die skeptische Behauptung der Unmöglichkeit,
zu nothwendigen ürtheilen zu gelangen, würde sie von der
logischen Betrachtung ausschliessen.
Ein solches allgemeines Gesetz kann nun in keinem Falle
so lauten, dass, wenn ich etwas wahrnehme, nun auch etwas
existiert, was der nach psychologischen Gesetzen daraus ent-
stehenden Einzelvorstellung entspricht. Im Gegentheil ist immer
wieder von den verschiedensten Seiten sogar die Möglichkeit,
aufgestellt worden, an der Existenz der gesammten äusseren
Welt zu zweifeln, und verfochten worden, dass der psycho-
logischen Nöthigung, eine solche anzunehmen , keine logische
Nothwendigkeit entspreche, durch die jener Zweifel entkräftet
werden könnte*); wenn es also doch Mittel und Wege gibt,
zur Ueberzeugung äusserer Realität zu gelangen , so können
sie sich nicht an die einfache Thatsache der Wahrnehmung,
sondern sie müssten sich an die bestimmte Beschaffenheit der
Wahrnehmungen halten.
4. Gesetzt nun aber, es gebe Grundsätze, welche die Be-
ziehung der Wahrnehmungsbilder auf real Seiendes noth wendig
machen , so handelt es sich weiter um die Bedingungen
ihrer Anwendbarkeit; die Frage ist , unter welchen
Voraussetzungen das individuelle Factum der Wahrnehmung
ein objectiv gültiges ürtheil trägt. Die individuellen Diffe-
renzen , welche in den Wahrnehmungsurtheilen heraustreten,
zeigen zur Genüge, dass nicht unter allen Umständen ein
Wahrnehmungsurtheil objectiv gültig werden kann, denn sie
führen auf Widersprechendes.
Die individuellen Differenzen können nun im Allgemeinen
einen doppelten Grund haben. Entweder liegt die Diffe-
renz schon im erstenAnfang desProcesses, in den
factischen Voraussetzungen, von denen die Bildung
der Subjectsvorstellung und das Urtheil darüber ausgeht, in
*) Vergl. die Ausführung dieses Satzes in den ersten Capiteln von
jpaumann's Philosophie als Orientierung über die Welt.
350 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurtheile. 401
der Affection unserer Sinnesorgane oder genauer in der Art,
wie wir derselben in der Empfindung bewusst werden; oder
sie liegt erst in den weiteren Processen, die wir im
gewöhnlichen Denken unbewusst vollziehen, die aber doch
stattfinden und sich, hauptsächlich durch die sog. Sinnes-
täuschungen , als ein Analog on von Schlüssen nach-
weisen lassen.
5. In erster Hinsicht liegt die Voraussetzung der
Sicherheit, mit der wir unsere Empfindungen der Farbe, der
Temperatur u. s. f. den Gegenständen als ihre Eigenschaften
beilegen, in der Ueberzeugung, dass ein constanterZusam-
menhang zwisch en dem vor ausgese tzten Obj ect
und ans in dem Sinne vorhanden sei , dass dieselbe Eigen-
schaft des Objects unabänderlich zu jeder Zeit in jedem Sub-
jecte derselben Empfindung entspreche. Wenn noch Bacon
fest glaubte , dass die Keller im Sommer kälter seien als im
Winter, so setzte er seine Temperaturempfindung als con-
stanten und untrüglichen Massstab für die Beschafi'enheit des
Objects ; was kalt empfunden wird, ist kalt, und ebenso kalt
als es erscheint. Der Widerspruch, auf den diese Voraus-
setzung führt, dass sie zwingt dasselbe zu bejahen und zu
verneinen, hat schon frühe dieses sinnliche ürtheilen in Miss-
credit gebracht; seit den ersten Anfängen der griechischen
Philosophie war die Sinneswahrnehmung zum Theil wenigstens
wegen ihrer subjectiven Veränderlichkeit und individuellen Diffe-
renz vom Gebiete des eigentlichen Wissens ausgeschlossen, bis
man seit Bacon sich wieder darauf besann , dass schliess-
lich der grösste Theil unseres Wissens doch auf dieser Basis
stehe und es nur auf die Kunst ankomme, das Instrument
richtig zu gebrauchen. Aber die Vernachlässigung der Be-
dingungen der Gültigkeit dieser Urtheile geht durch die pla-
tonisch - aristotelische Logik bis auf den heutigen Tag hin-
durch; im Begriff glaubte man mehr als genügenden Ersatz
für die unzuverlässige Wahrnehmung zu haben , bis K a n t
vollends zum Bewusstsein brachte, dass man mit dem blossen
Begriffs wissen sich ewig auf dem Absätze dreht, ohne je das
Object zu erreichen. Jede Logik ist aber unvollständig, wenn
sie nach den Bedingungen der Gültigkeit dieser Urtheile nicht
Sigwart, Logik, I, 2. Auflage, 26
402 I^ 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Ürtheile. 351
fragt; denn sie geben auch der BegrifiPsbildung ihr Interesse
und ihre Richtung.
G. Ein Wahrnehmungsurtheil kann also nur insofern
Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen , als die Sinnes-
affection , auf der es ruht , Ausdruck eines constanten Ver-
hältnisses zwischen dem vorausgesetzten Object und Subject,
die Empfindung das untrügliche Zeichen einer objectiven Qua-
lität ist, und nur insoweit als eine Gewissheit über dieses
constante Verhältniss, also über die absolut gleicheOr-
ganisation und E mpf in du ngsthätigkei t aller zu
erreichen oder die Differenzen sicher zu corrigieren sind. Der
dritte Theil wird zu untersuchen haben, auf welchen Wegen
wir dazu gelangen, eine Basis herzustellen, die wenigstens
praktisch dieser Forderung einer absoluten Gleichheit oder
Reducierbarkeit der Affectionen, in Folge der jeder den an-
dern ohne Differenz vertreten kann, entspricht.
7. Mit den Wahrnehmungen des Gesichts und Tast-
sinnes ist die Vorstellung der Räumlichkeit des Wahrge-
nommenen unauflöslich verknüpft; wir stellen das Wahrge-
nommene als ein räumlich Ausgedehntes von bestimmter Form
und Grösse vor , und weisen ihm seinen Ort im Raum an.
Wir haben darin wieder zunächst unsereVorstellung,
und der Ort, den wir den Dingen anweisen, ist zunächst auf
unsern eigenen Körper als Ausgangspunkt der Ortsbestimmung
bezogen. Man kann darüber streiten , wieviel von unsern
räumlichen Vorstellungen schlechthin ursprünglich , mit der
Empfindung selbst in Einem untrennbaren Acte gegeben sei ;
dass ein Theil unserer räumlichen Vorstellungen, wie die Vor-
stellung der körperlichen Form der Objecte, ihrer Entfernung
von uns und von einander nicht einfach gegeben, sondern Re-
sultat von Combinationen ist, welche wir allerdings meist un-
bewusst vollziehen, lässt sich evident beweisen.
Nun ist zunächst soviel klar, dass um ein objectiv gültiges
Urtheil nicht über meine Vorstellung, sondern über ein räum-
lich Seiendes und Existierendes von bestimmter Ausdehnung
und Form abzugeben , die Gewissheit da sein muss, dass die
Vorstellung des Raumes überhaupt eine für alle gleiche, und
dass es nothwendig ist, die Empfindungen in einer bestimmten
352 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurtheile. 40B
Art räumlich zu deuten ; denn nur dann geht aus meiner Em-
pfindimg das Urtheil über objective Räumlichkeit mit objectiver
Nothwendigkeit hervor, und kann der räumliche Gegenstand für
alle derselbe sein. Die Voraussetzung also, dass die Vorstel-
lung des Raumes in allen dieselbe, und dass sie nicht eine will-
kürliche oder sonst variable, sondern schlechthin bestimmte ist,
dass alle in der Vorstellung des Raumes nach derselben Weise
verfahren müssen, ist eine Bedingung objectiv gültiger Wahr-
nehmungsurtheile ; und ihre Gewissheit ist nur insoweit mög-
lich , als die Gesetze dieser Raumvorstellung erkannt sind.
Es handelt sich dabei nicht bloss um die Möglichkeit der
reinen Geometrie als Wissenschaft ; in der geometrischen
Vorstellung des Raumes hat jeder seinen eigenen Raum,
und die verschiedenen Räume sind nur congruent oder we-
nigstens ähnlich; es ist gleichgültig, wo in diesem Räume
von jedem seine Linien gezogen und seine Figuren construiert
werden. Die geometrischen Figuren haben keinen Ort im
Raum. Anders wenn es sich darum handelt , etwas als i n
dem für alle selbigen objectiven Räume existie-
rend zu setzen ; mit jedem Urtheil dies ist hier, dies ist dort
behaupte ich etwas , was für alle gültig sein , den Ort eines
Objects so bestimmen soll, dass es von allen als an demselben
Orte des Raumes befindlich anerkannt werde, und dass alle
räumlichen Relationen desselben für alle übereinstimmen. Die
Thatsache, dass in unserer nächsten Umgebung unsere kunst-
los erworbene Praxis in den meisten Fällen geübt genug ist,
um ohne merklichen Fehler durchzukommen, und auch die
räumlichen Vorstellungen anderer, die sie aus ihrem Orte
haben müssen, zu construieren , erspart der strengen Theorie
durchaus nicht, die Bedingungen und Normalgesetze
einer objectiv gültigen Form- und Ortsbestim-
mung des Einzelnen zu suchen. Die Astronomie ist der
beste Beweis dafür, von wie vielen Voraussetzungen Urtheile
über die Lage der Himmelskörper abhängig sind, welche auf
objective Gültigkeit Anspruch machen, und wie diese Urtheile
nur dann gültig sind, wenn jene Voraussetzungen als durch-
aus gewisse und nothwendige erkannt sind. Sie hegreifen in
sich aber nicht bloss die allgemeinen Sätze der Geomutne,
26*
404 I^» 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 353
sondern daneben auch Sätze über die Beziehung der Sinnes-
empfindung auf einen bestimmten Ort, welche ihrerseits auf
optischen Gesetzen, der geradlinigen Bewegung der Lichtstrahlen
in gleichartigen, ihrer Ablenkung in ungleichartigen Medien
u. dgl. beruhen. Wie wir zur Erkenntniss dieser Voraussetz-
ungen gelangen, ist hier nicht auszumachen; nur soviel ist
klar, dass sie zuletzt auf unmittelbar Gewisses, dessen Noth-
wendigkeit eine ursprüngliche ist, zurückgehen müssen, wenn
das einzelne Urtheil objectiv gültig sein soll.
8. Dasselbe ist es mit der Bewegung. Die unmittel-
bar wahrgenommene Bewegung setzt einmal, um zu einem
gültigen ürtheile zu führen, eine nach nothwendigen Gesetzen
vollzogene Ortsbestimmung voraus; ausserdem aber, da alle Be-
wegung, sofern sie wahrgenommen werden kann, nur relativ, d. h.
die gegenseitige Lageveränderung sichtbarer Objecte ist,
unsere ürtheile aber objectiv sagen wollen, dass A sich gegen
B bewegt, bedarf es allgemeiner Gesetze, um die relative
Lageveränderung auf die wirkliche Bewegung , die Verände-
rung des Ortes im Räume zu deuten, und auszumachen, was als
ruhend, was als bewegt betrachtet werden muss. Auch hier liefert
die Geschichte der Astronomie den Beweis, dass objectiv gültige
ürtheile über Bewegung nur unter Voraussetzung allgemeiner
Grundsätze zu gewinnen sind, nach denen die subjective Wahr-
nehmung der Bewegung auf wirkliche Bewegung bezogen, die
subjective Erscheinung auf ein objectives Geschehen gedeutet
wird; und die Schwierigkeiten, die Begriffe der relativen und
absoluten Bewegung zu scheiden, beweisen zur Genüge, welche
Arbeit die Auffindung der letzten Grundsätze kostet.
9. Wichtiger noch ist die Beziehung d e r E m p f i n-
dungen auf bestimmte Dinge selbst. Die allgemeine
Form zwar, das gegebene Material der Empfindungen auf
beharrliche Dinge zu beziehen, ist mit der unaustilgbaren
Natur unseres Denkens gegeben, und wir können uns diesem
psychologischen Zwange nicht entschlagen , auch wenn wir
wollten; aber ebendarum, weil der Gedanke eines Dings nicht
mit der Affection selbst schon da ist, lässt sich auch eine
Verschiedenheit des Processes denken. Zwar wo es sich um
ruhende, dauernde Erscheinungen handelt , tritt
-/
354 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurtheile. 405
diese Differenz kaum zu Tage; das für unsere Auffassung
unveränderliche, am selben Orte des Raums verbleibende, fest
abgegrenzte wird ohne Weiteres als dasselbe Ding überein-
stimmend aufgefasst; die Voraussetzung, dass an demselben
Punkte des Raumes nicht zwei Dinge sein können, ist ebenso
factisch allgemein, so dass sie überall zu Grunde liegt ; auch die
blosse räumliche Bewegung vermag diese Beziehung noch nicht
unsicher zu machen, wenn sie continuierlich beobachtet wird.
Sobald aber Verän derung der Form, der Grosse,
der sinnli eben Qu alitäten eintritt, erscheinen die Pro-
bleme, in welcher Weise die successiven Stadien der Verän-
derung auf die vorausgesetzte Substanz bezogen werden sollen,
und die Noth wendigkeit übereinstimmender Grund-
satz e, nach denen sich das Urtheilen des Einzelnen richten
muss , wenn es nicht bloss seine Auffassung aussprechen
sondern objectiv gültig sein will. Wenn eine Quecksilbersäule
sich ausdehnt oder zusammenzieht, so beschreiben wir die
Reihenfolge unserer Wahrnehmungen in dem Satze: dies wird
kleiner, dies wird grösser; mit denselben Worten beschreiben
wir das Wachsthum des Krystalls in seiner Mutterlauge oder
die Verminderung eines Stückes Eis an der Luft; unsere Sätze
scheinen zu sagen, dass in beiden Fällen ein bestimmtes Ding,
und zwar dasselbe Ding sein Volumen verändert. Für den
Physiker sind die beiden Sätze verschieden; im ersten Fall
ist es in der That für ihn dasselbe Subject, das jetzt
grösseren, jetzt geringeren Raum einnimmt; im zweiten Fall
ist der vergrösserte Krystall , das halbverdunstete Eis nicht
mehr dasselbe Ding wie vorher, sondern zu dem ursprüng-
lichen ist Neues hinzugetreten, oder vom ursprünglichen Ding
ein Theil hinweggekommen. Für die kindliche Auffassung
verschwindet das Wasser, wenn es verdunstet, das Holz,
wenn es verbrennt; für die physicalische bleibt dasselbe
Ding, nur in anderer Form; derselbe Satz: dieses Wasser ver-
dunstet, hat für die eine Auffassung einen ganz anderen Sinn
als für die andere. Kant hat den Grundsatz von der
Beharrlichkeit der Substanz unter die apriorischen
Grundsätze unseres Verstandes aufgenoiunien. Er ist es nicht
in dem Sinne, dass durch eine natu r li che N oth wendig-
406 li» 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 355
keit unserer Verstandesthätigkeit alle Beziehung von Empfin-
dungen auf Gegenstände sich durch diesen Grundsatz leiten
Hesse, sonst hätten in keiner Sprache die Wörter sich bilden
und auf Dinge angewendet werden können , die Entstehen,
Vergehen, Wachsen, Abnehmen u. s. f. bedeuten. Als Be-
dingung einer über einstimmenden Erfahrung nur
ist ein Grundsatz nothwendig, der bestimmt, nach welcher
Regel /um Accidens die Substanz hinzugedacht werden soll:
der Grundsatz aber in der Form, wie Kant ihn meint, ist erst
möglich, wenn festgestellt ist, dass das Gewicht das Mass des
Quantums der Substanz sein soll, er ist ein spätes Resultat
der Wissenschaft. Das Wahre an Kant's Lehre ist nur, dass
es kein übereinstimmendes und nothwendiges Urtheilen über
Einzelnes gibt, wenn nicht ein solcher Grundsatz vorhanden
ist; nur in diesem Sinne zunächst ist er nothwendig, — noth-
wendig, wenn es Erfahrungswissenschaft geben soll. Ob er
nothwendig angenommen werden muss, weil er a priori im
gewöhnlichen Sinne, von aller Erfahrung unabhängig , durch
sich selbst einleuchtend ist, oder weil die gegebene Erfahrung
nur vermittelst dieses Grundsatzes in durchgängige Ueberein-
stimmung gebracht werden kann, ist eine andere Frage.
10. Nur ein specieller Fall der Schwierigkeit, den Be-
griff des Dings als des in der Zeit mit sich identischen im
Einzelnen anzuwenden, ist die Schwierigkeit, die reale Iden-
tität desselben Dings auf Grund zeitlich auseinanderliegender
Wahrnehmungen zu constatieren ; auch hier bedarf es be-
stimmter Regeln, auf denen diese Behauptung ruhen muss.
11. Die bisherige Analyse schon hat gezeigt, von wie
ganz anderen und complicierteren Bedingungen die Gültigkeit
jedes Urtheils über das einzelne Seiende abhängt, als die Gültig-
keit der bloss analytischen ürtheile, die auf übereinstimmender
Begriffsbildung ruhen; sie hat ferner gezeigt, dass die Forde-
rung vollkommen gültiger Urth eile die natürliche
Unmittelbarkeit der erzählenden ürtheile auf-
löst, und sie zwingt , vermittelte zu werden , um wahr
und ihrer Wahrheit gewiss zu sein.
Vom Standpunkte der Bedingungen der
Wissenschaft also, im unterschiede von dem der psycho-
356 § 47. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurtheile. 407
logischen Genesis der ürtheile, hat Kant doch wieder ein Recht
gehabt, bloss die Begriffsurth eile al s analytische,
alle übrigen als synthetische zu betrachten, und
nach den Principien ihrer Synthesis a priori als Bedingungen
ihrer objectiven Gültigkeit zu fragen.
12, Noch deutlicher als bei dem Zurückgehen von der
Erscheinung auf die Substanz zeigt sich die Nothwendigkeit
leitender Grundsätze bei den Urtheilen der Causalität.
Unserem gewöhnlichen Urtheilen ist die Anwendung der
Vorstellung des Wirkens so geläufig , und sie ist in den
einfacheren und alltäglichen Fällen so reflexionslos von uns
angeeignet, dass die Ürtheile, welche sagen, dass ein Schlag
eine Fensterscheibe zertrümmert hat und dass Trinken den
Durst stillt, als unmittelbare vollzogen werden, weil in den
transitiven Verben wir die darin liegende Vorstellung des
Wirkens unbewusst uns aneignen ; die gegebene Relation von
Vorgängen wird ohne Weiteres mit den Verben und Adjec-
tiven ausgedrückt, welche den Gedanken einer Wirkung ein-
schliessen, und wir glauben darum diese Wirkung ebenso
direct aufzufassen, wie Veränderung oder Bewegung. Allein
wenn wir die einzelnen Verba, welche ein Wirken ausdrücken,
auf bestimmte Begriffe gebracht denken: so enthalten sie
theils Elemente, welche sinnlich anschaulicher Natur sind,
eine Bewegung des einen Dings , eine darauf folgende Ver-
änderung des andern; ausserdem aber ein Element, das nicht
anschaulich ist, nemlich eben die Causal-Relation selbst, in der
liegt, dass das zeitlich folgende wirklich von dem andern her-
vorgebracht, nicht aus dem Subject, an dem es geschieht, selbst
hervorgegangen, sondern von der Ursache ihm angethan wor-
den sei. Die Auffassung des wahrnehmbaren Geschehens ist
nach ihrer objectiven Gültigkeit an den früheren Voraussetz-
ungen zu messen; die Aussage, dass ein Theil desselben Wirkung
eines andern sei, bedarf eines weiteren Grundsatzes, wonach
auf objectiv gültige und nothwendige Weise ein wahrnehm-
bares Geschehen als ein Fall eines Causalverhältnisses erkannt
wird; nur dadurch erhält ein Causalurtheil über Einzelnes
objective Gültigkeit. Denn noch viel deutlicher als beim Sub-
stanzbegriff tritt hier heraus, dass wohl in der menschlichen
408 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 357
Natur und den Eutwicklungsgesetzen unseres Denkens uoth-
wendig gegeben ist, dass die Ereignisse in Causalzusammen-
hang gebracht werden und das Bedürfniss das eine als Folge
des anderen anzusehen sich unabweisbar einstellt; aber dass
dadurch weit difierente Anwendungen dieses allgemeinen Princips,
weit difFerente Beziehungen des Einzelnen auf Causalzusamraen-
hänge nicht ausgeschlossen sind. Es ist das natürliche
Causalitätsbedürfniss gewesen, was die Menschen trieb,
die Ursachen der Ereignisse in der Macht von Dämonen oder
in der Stellung der Gestirne zu suchen; aber jeder derartige
Satz hat nur dann objective Gültigkeit, es ist überhaupt
nur dann möglich, im Einzelnen einen Causalzu-
sammenhang zu behaupten, wenn es eine feste und
noth wen dige Re gel gibt, nach welcher Ereignisse
auf Ursachen bezogen werden und ausgemacht werden
kann, was die Ursache eines bestimmten Ereignisses ist. Eine
solche Regel war es wiederum, welche Kant in seinem apri-
orischen Grundsatz suchte ; eine Bedingung wissenschaftlicher Er-
fahrung und objectiv gültiger Causalurtheile, die eine bestimmte
Art der Verknüpfung des subjectiv gegebenen Manigfaltigen,
eine bestimmte Deutung des empirisch zusammen Gegebenen
noth wendig, aus einem Wahrnehmungsurtheil (nach Kant's
Unterscheidung) ein Erfahrungsurtheil macht *). Wieder glaubt
er in dem synthetischen Grundsatz a priori, dass alles was
geschieht, etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt,
diese letzte Bedingung objectiver Urtheile aufgezeigt und zu-
gleich in ihrer Apriorität den Grund ihrer Nothwendigkeit
dargethan zu haben ; aber wiederum ist die Frage , ob dieser
Grundsatz in dieser Form als ein nothwendiger und apriorischer
*) Sein bekanntes Beispiel (Proleg, § 20) ist das Urtheil: »Wenn
die Sonne den Stein bescheint, wird er warm.« Dieses Urtheil ist ein
blosses Wahrnehmungsurtheil, und enthält keine Nothwendigkeit, ich
mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen
haben; die Wahrnehmungen finden sich nur gewöhnlich so verbunden.
Sage ich aber : die Sonne erwärmt den Stein , so kommt über die
Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu , der mit
dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme nothwendig ver-
knüpft, und das synthetische Urtheil wird nothwendig allgemeingültig,
folglich objectiv und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt.
358 § 48. Axiome und Postulate. 409
anzuerkennen sei, oder ob er bloss deswegen nothwendig an-
zunehmen ist, weil nur unter seiner Voraussetzung die gegebene
Erfahrung widerspruchslos zu gestalten ist; es fragt sich
ausserdem noch weiter, ob er in dieser Form ausreichend und
überhaupt geeignet ist, die Basis für die Objectivität unserer
Causalurtheile abzugeben. Soviel aber ist sicher: nur in dem
Masse, als es eine feste Regel gibt, Wahrnehmungen auf
Causalverhältnisse zu beziehen, kann auch im einzelnen Falle
behauptet werden, dass eine Erscheinung B die Wirkung einer
andern A sei, und daraus folgt, dass jedes einzelne Causalur-
theil nur durch Zurückführung auf den allgemeinen Grundsatz
sich begründen, d. h. dass es ein erschlossenes , synthetisches
sein muss. Wenn man bedenkt, wie schwierig oft die Ent-
scheidung ist, was denn die Ursache eines bestimmten Vor-
gangs sei, so wird mau der Behauptung, dass es schlechter-
dings kein Causalurtheil gebe , über dessen Nothwendigkeit
man unmittelbar gewiss sein könne, um so eher zustimmen.
§ 48.
Die letzten und höchsten allgemeinen Regeln neben dem
Princip der Uebereinstimmung, von denen die Begründung
aller andern Sätze abhängt, sind theils Axiome der Be-
griffsbildung, theils Postulate hinsichtlich des
Seienden. Die Voraussetzungen, welche auf Grund dieser
Postulate gemacht werden, stehen unter dem Gesetze des
Widerspruchs als ihrer obersten Norm.
1. Aus diesen Erörterungen geht jedenfalls soviel hervor,
dass die rein empiristische Ansicht, welche die einzelnen That-
sachen der Wahrnehmung in ihrer Bedeutung als objective
Aussagen für das unmittelbar Gewisse und das Fundament
aller andern Sätze nimmt, eine Wissenschaft, die in allgemein-
gültigen Sätzen bestünde, nicht zu begründen vermag. Da
die Thatsachen der Wahrnehmung individuell sind, so ist,
was der Einzelne auf sie hin behau])tet, zunächst imr für ihn
gültig, und es kann über diese Gültigkeit nicht hinausge-
gangen werden, wenn es keine Regel gibt, nach der aus dem
410 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 359
subjectiveu Factum ein für alle gültiger Satz folgt; die noth-
wendige Consequenz jeder Ansicht, welche die Wahrnehmungs-
thatsachen im gewöhnlichen Sinne für das letzte Gewisse er-
klärt, ist entweder die skeptische Hume's , welche verbietet,
über die subjectiven Impressionen überhaupt zu einer Behaup-
tung über ein Sein hinauszugehen, oder, wenn dieses Hinaus-
gehen und die Behauptung, dass etwas sei, gestattet wird,
so folgt der Satz des Protagoras, dass für jeden das sei, was
ihm scheine ; in jedem Falle die Unmöglichkeit einer für alle
gültigen Wahrheit. Wenn einzelne empiristische Theorieen
wie die Mills doch auf diesem Boden eine Wissenschaft bauen
wollen, so geschieht es auf dem Wege der Erschleichung all-
gemeingültiger Voraussetzungen, theils so, dass als selbstver-
ständlich angenommen wird, dass die Wahrnehmungsurtheile
übereinstimmend sind und ein objectives Sein aussagen und
wirkliche Erkenntniss gewähren, theils so, dass die Schlüsse
aus diesen Wahrnehm ungsurtheilen als etwas Selbstverständ-
liches hingestellt werden, während sie ohne eine allgemein-
gültige Voraussetzung keinerlei Berechtigung haben*).
2. Dem gegenüber glauben wir nachgewiesen zu haben,
dass ein nothwendiges und allgemeingültiges Urtheilen über
Seiendes auf Grund der Wahrnehmung nur unter der Be-
dingung möglich ist, dass die Nothwendigkeit der einzelnen
ürtheile auf allgemeinen Grundsätzen ruht. Diese müssten
zuletzt irt^endwie unmittelbar gewiss sein, und können ihre
Gewissheit nicht aus einer Erfahrung ableiten, die erst durch
sie in Form wahrer ürtheile möglich ist. Es entsteht also
die Frage , ob es unmittelbar gewisse Sätze dieser
Art gibt. Was sie aussagen müssten, wäre die Nothwendig-
keit der Processe, durch welche wir aus den fundamentalen
subjectiven Thatsachen der unmittelbaren Empfindung die
Vorstellung einer in Raum und Zeit existierenden Welt ein-
zelner Dinge, der Realität ihrer Eigenschaften und Actionen,
sowie ihrer manigfaltigen Relationen gewinnen; und ihre
allgemeine Formel müsste sein , aus den Bedingungen des
*) Die Prüfung der Mill'schen Theorie im Einzelnen behalten wir
uns für die Untersuchung des Inductionsverfahrens vor.
360 § 48. Axiome und Postulate. 411
Einzelvorstellens die Aussage über ein Seia von Gegenständen,
ans Aussagen über das bestimmte Sein dieser Gegenstände
andere Aussagen als notbwendig hinzustellen.
Wenn nach ihnen daraus, dass ich bestimmte räumliche
Anschauungen habe, abzuleiten wäre, dass ein Raum, wie ich
ihn vorstelle, objectiv existiert ; wenn aus der Thatsache, dass
ich an einem bestimmten Orte dieses Raums eine Lichtem-
pfindung habe, folgte, dass an diesem Orte ein leuchtender
Gegenstand existiert, nach dem Grundsatz, dass zu einer em-
pfundenen Qualität eine Substanz gehört , der sie inhäriert ;
wenn aus der Thatsache, dass ein Ding ist oder sich ver-
ändert, sich ableiten liesse, dass ein anderes Ding ist und sich
verändert, und die Nothwendigkeit jener Sätze so einleuch-
tend wäre, als der Satz des Widerspruchs — dann wäre eine
leichte und nahe liegende Begründung auch für die Wahr-
nehmungsurtheile gewonnen. Denn da das subjective Factum,
dass ich jetzt dies oder jenes vorstelle, als ein unmittelbar
gewisses anerkannt werden muss, so wäre damit die factische
Voraussetzung da , aus der nach jenen Gesetzen die Noth-
wendigkeit der ürtheile übar das Seiende folgt.
Diese Sätze müssten a priori gewiss sein, in dein
Sinne, dass wir in ihnen nur einer constanten und unabweis-
lichen Function unseres Denkens bewusst würden und sicher
wären, dass so gewiss wir selbst sind, wir auch so urtheilen
müssen ; und sie giengen nicht aus von dem Inhalte des Vor-
gestellten, wie er im Begriffe sich ausdrücken lässt, sondern
würden dem vorgestellten Inhalt ein Prädicat beilegen , das
nicht aus ihm selbst, sondern nur aus der jeweiligen Art, wie
er vorgestellt wird, aus dem specifischen Charakter der Wahr-
nehmung abgeleitet wäre ; sie würden insofern synthetische
ürtheile begründen.
Daraus erhellt auch von dieser Seite die durchgreifende
Wichtigkeit der Kantischen Frage: Wie sind synthetische
ürtheile apriori möglich? denn es zeigt sich, wie an ihr
die Möglichkeit hängt, aus dem immer neu entstehenden indi-
viduellen Vorstellen heraus zu allgemein gültigen Sätzen und
ebenso aus dem subjectiven Vorstellen heraus zu urtheilen
über ein Seiendes zu gelangen.
412 II. 2. Die Wahrheit der unmittelbaren ürtheile. 361
3. Dass es solche Sätze gibt, wird überall da anerkannt,
wo gelehrt wird, dass es Axiome gebe, von welchen unsere
Erkenntniss des Seienden abhänge. Denn wo man nach dem
Vorgange des Aristoteles*) Axiome von Definitionen
und den daraus folgenden analytischen Urtheilen einerseits,
von Postulaten andererseits unterscheidet , versteht man
darunter Sätze, deren Wahrheit und Gewissheit unmittelbar
einleuchtend, deren Gegentheil zu denken eben darum unmög-
lich ist, ohne dass sie darum blosse BegrifiPserklärungen wären,
und die also die letzten Voraussetzungen bilden, auf welche
alle Begründung zurückgehen muss. Und zwar gehört der
Name der Axiome nicht den unmittelbar gewissen Einzel-
urtheilen, z. B. den Aussagen des unmittelbaren Selbstbe-
wusstseins , sondern allgemeinen Sätzen, welche eine
weithin anwendbare Nothwendigkeit ausdrücken ; wie denn
Aristoteles ausser dem schlechthin obersten und allgemeinsten
Axiom , dem Princip des Widerspruchs , für jeden Kreis des
Wissens besondere Axiome kennt, z. B. die mathematischen
u. s. w. Postulate dagegen sind Sätze, welche weder weiter
zu begründen und abzuleiten, noch als unmittelbar und noth-
*) Unter dem, was als nicht mehr weiter zu begründendes in unser
Wissen eingeht, unterscheidet Aristoteles in der Hauptstelle Anal. post.
1, 2 und 10 dgCtoiJia (&px>3 '»jv dvdyxYj sx^^^ "^^"^ öxtoöv [xaO-Yjoojisvov — 8
dvccYxv] efvat dt' auxö xal Soxslv dvdyxyj) und ■9-^aic (^v jxy] Ioti 5sTgai,
|jLy;5' di.v&yy.ri systv xöv liaO-yjaojisvöv xi) ; die %-iaig unterscheidet er in uu6^eotc,
welche sagt, dass etwas ist oder nicht ist, und öpio\ib<;, welcher nur das
»Was«, nicht das *Das8« angibt. Eine utzo^bciq aber, welche gegen die
Voraussetzungen des Lernenden aufgestellt wird, ist aTxrjiJLa.
Der letztere Terminus hat keine feste Bedeutung gewinnen können.
Der neuere Gebrauch des Wortes Postulat ist durch Kant — aber
wiederum nicht sicher — bestimmt worden, der sich in der Kritik d. r. V,
auf den Sprachgebrauch der Mathematiker beruft: Postulat heisst der
practischeSatz, der nichts als die Synthesis enthält, wodurch wir
einen Gegenstand uns zuerst geben und dessen Begriff erzeugen; danach
nennt er die Grundsätze der Modalität Postulate, weil sie die Art an-
zeigen, wie der Begriff von Dingen mit der P]rkenntnisskraft verbunden
wird. In der Kritik der practischen Vernunft aber ist Postulat ein
theoretischer, als solcher aber nicht erweislicher Satz, sofern er
einem a priori unbedingt geltenden practischen Gesetze unzertrennlich
anhängt. Diese Discrepanz findet sich auch in Kants Logik wieder.
Wir erweitern im Obigen die zweite Definition.
36{? § 48. Axiome und Postulate. 413
wendig gewiss anzunehmen möglich ist, deren Gewissheit aber
doch , nur aus andern Gründen als der logischen Noth wen-
digkeit, also aus allgemeinen psychologischen Motiven ange-
nommen wird.
Ohne dass wir untersuchen wollten, ob, was zu verschie-
denen Zeiten als Axiom gegolten hat, auch diese Benennung
wirklich verdient — denn das könnte nur durch ein Eingehen
auf die besonderen Kreise der Vorstellung erreicht werden,
welches der allgemeinen Logik fern liegt — kann wenigstens
auf Grund der bisherigen Untersuchungen ein wichtiger Unter-
schied hinsichtlich der Bedeutung solcher Sätze aufgestellt
werden. Es zeigt sich nemlich, dass ein wesentlicher Unter-
schied besteht, der in der Regel nicht beachtet worden ist,
obgleich Kant eine richtige Andeutung in dieser Hinsicht ge-
geben hat*); wir meinen den Unterschied zwischen Axiomen
der Begriffsbil düng und Axiomen derErkenntniss
eines einzelnen Seienden.
Wir hatten die Möglichkeit einer logisch vollkommenen
Begriffsbildung von dem Nachweis nothwendiger Gesetze in
unserem Vorstellen überhaupt abhängig gemacht; so gewiss
logisch vollkommene Begriffe kein fertiges Product sind, son-
dern erst durch eine bewusste Synthese gewonnen werden
müssen, so gewiss muss diese Synthese unter Regeln stehen,
deren Noth wendigkeit uns einleuchtend ist, die aber zunächst
nur die Form unserer Begriffe und die Beziehung ihrer
Elemente zu einander, nicht aber die Behauptung des Daseins
eines Einzelnen begründen. So ist der Satz, dass wir keine
reale Eigenschaft zu denken vermögen ohne Voraussetzung
eines Dings dem sie anhaftet, eine Regel, welche die Bildung
unserer Vorstellungen und das Verhältniss ihrer Elemente be-
stimmt.
Ebenso gehören zu den Axiomen der Begriffsbildung alle
Sätze über die Un Vereinbarkeit gewisser Merkmale;
es ist mit der festen Natur unseres Vorstellen« gegeben, dass
gewisse Bestimmungen nicht in Einer Vorstellung vereinigt
*) In dem Unterschiede des mathematischen und dynamischen Ge-
brauchs der Synthesis der reinen Verstandesbegrilfe.
414 11. 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 363
werden können, (wovon wesentlich zu unterscheiden die Sätze
über Unvereinbarkeit, die nur empirisch erschlossen sind,
wie z. B. gasförmigen Zustands und grosser specifischer Schwere
u. s. w.) und diese Unm(")glichkeit kann uns nur auf die-
selbe Weise gewiss werden, wie das Princip der Ueberein-
stimmung.
Unter diese Axiome derBegri f f s b i 1 d u n g gehören
ferner die mathematischen Axiome (sofern was so ge-
nannt wird nicht ein bloss analytischer Satz ist, wie der
Grundsatz: Zwei Grössen, welche derselben dritten gleich sind,
sind einander selbst gleich, aus dem Begriff der Gleichheit
analytisch folgt) : denn sofern alle geometrischen Gebilde den
Raum voraussetzen und von der Natur unserer Raumvorstel-
lung beherrscht sind, drücken jene Axiome nichts anderes aus, als
die Art der Synthese, welche durch unsere Raumvorstellung
nothwendig gemacht wird. Das Axiom , dass zwei gerade
Linien keinen Raum einschliessen, ruht auf den festen Regeln
unserer Raumvorstellung.
Von gewisser Seite können alle diese Axiome wieder als
analytische Sätze behandelt werden, wenn man darauf
achtet , dass sie zwar nicht aus den Begriffen der gramma-
tischen Subjecte abgeleitet , wohl aber mit der Natur der
Vorstellungen gegeben sind, welche diesen Subjecten voraus-
gesetzt sind (§ 18, 5 S. 138 ff.); und den Schein eines synthe-
tischen Charakters enthalten sie nur dadurch, dass sie Re-
lation s urtheile sind , also allerdings eine Synthesis in
der Vorstellung vorangehen muss, welche die Relation über-
haupt herstellt. Sie ruhen darauf, dass die verschiedenen
Elemente anserer Vorstellungen nicht unabhängig von ein-
ander sind.
Es gibt solche Axiome auch hinsichtlich dessen , was
wir als seiend vorstellen, wenn es sich nemlich nur um den
Begriff des Seins und nicht um die Behauptung handelt,
dass dieses oder jenes einzelne sei. Das Axiom Spinozas Omnia
quae sunt, vel in se vel in alio sunt, ist ein solches Axiom,
das darauf zurückgeht, dass wir als seiend nur Substanzen
mit Accidentien denken können.
Aber diese Axiome wollen nicht ein Urtheil begründen,
364 § 48. Axiome und Postulate. 415
dass dieses oder jenes einzelne sei; das letztere z. B.
lässt vollkommen unentschieden, auf was der Begriff des
für sich Seins und des an einem andern Seins angewendet
werden soll. Unsere ürtheile über das einzelne Seiende aber
bedürfen eben solcher Axiome, welche die Behauptung be-
gründen, dass ein bestimmtes Einzelnes darum als seiend ge-
dacht werden müsse, weil wir es auf bestimmte Weise vor-
stellen oder weil ein anderes Einzelnes sei oder gewesen sei;
und darin eben liegt ihr verschiedener Charakter. So sagt
z. B. das Axiom der Causalität in der Form des Trägheits-
gesetzes nichts aus über die nothwendige Vorstellung der
Bewegung, sondern es sagt, dass wenn ein bestimmter Kör-
per sich wirklich in diesem Augenblicke bewegt, er sich im
nächsten in derselben Richtung und mit derselben Geschwindig-
keit weiter bewegen wird, dass wenn er seine Bewegung ändert,
ein anderer Körper da ist, der auf ihn eingewirkt hat. Ihre
allgemeine Formel ist also theils: Wenn ich etwas Einzelnes
unter bestimmten Bedingungen wahrnehme, so ist es; theils:
wenn etwas Einzelnes ist, so ist ein anderes. Sie regeln also
den Process, meine Vorstell angen des Einzelnen zur Realität
umzudeuten.
Die Nothwendigkeit jener Axiome kann durch blosses
Achten auf das, was wir im Vorstellen stetig thun, zum Be-
wusstsein gebracht werden; die Nothwendigkeit dieser lässt
sich eben darum , weil sie das Seiende betreffen , nicht ohne
Weiteres aus der Nothwendigkeit unseres Vorstellens ableiten;
ausser sofern man als oberstes Axiom die ü eher ein Stimmung
unseres Vorstellens mit dem Sein annähme.
4. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt unwiderleglich,
dass der Glaube, die ürtheile, dass etwas Bestimmtes sei und
so sei, auf einfache und unmittelbar geAvisse Axiome gründen,
und aus ihnen alles Einzelne als nothwendige Folge ableiten
zu können, sich immer wieder als eine Täuschung erwies.
Weder der Satz Non datur vacuum noch das Axiom, dass ein
Ding nur wirken könne wo es sei, weder die Behauptung,
dass nur Gleichartiges auf Gleichartiges wirke, noch die dass
die Wirkung nur fortdaucM-o wenn auch die Ursache fortdauere,
haben sich als solche behaupten können, und das Kriterium
416 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Ürtheile. 365
des Nicht anders denken könnens ist immer wieder
von der psychologischen Unmöglichkeit in Folge der Gewohn-
heit , statt von der logischen Noth wendigkeit verstanden
worden *).
Auch Kant's grossartiger Versuch, die synthetischen ür-
theile a priori aufzuzeigen, welche aller Erfahrung zu Grunde
liegen, hat im Grunde nur gezeigt , dass solche synthetische
ürtheile a priori gelten müssen, wenn Erfahrung als Wissen-
schaft möglich sein soll; er ist von der Annahme ausgegangen,
dass Erfahrungserkenntniss bestehe , und hat rückwärts die
Bedingungen derselben gesucht, von dem Grundsatz aus, dass
alle Erkenntnisse sich müssen in Einem Bewusstsein vereinigen
lassen. Aber weder seine Ableitung der Kategorieen aus den
Urtheilsformen der von ihm ergänzten traditionellen Logik,
noch die auf dieser Basis gewonnenen synthetischen Grund-
sätze und ihre Beweise haben die üeberzeugung hervorzubringen
vermocht, dass wir es hier mit absolut nothwendigen und
selbstverständlichen Sätzen zu thun haben , deren Gegentheil
zu denken unmöglich ist , und die a priori in unserem Ver-
stände liegen ; und auf der andern Seite hat der Beweis, dass
unsere wirklich eintretenden Empfindungen sich den Kategorieen
und apriorischen Grundsätzen fügen müssen, der Fragen genug
übrig gelassen.
Schopenhauer hat die weitläufige Festung der zwölf Ka-
tegorieen geräumt, um die Citadelle der Causalität um so
fester zu behaupten; allein so lehrreich seine Vereinfachung
Kant's ist, so wenig kann sie als ein Ersatz für die Kanti-
schen reinen Verstandesformen und synthetischen Sätze a
priori gelten. Denn soll dadurch auch nur psych ol ogisch
der Process erklärt werden , durch den überhaupt jedes Indi-
viduum genöthigt ist, seine räumlichen Anschauungen zu ob-
jecti vieren und als einen Gegenstand ausser sich vorzustellen,
so ist das Princip der Causalität hiezu unzureichend; denn
es kann daraus wohl abgeleitet werden , dass ich irgend
etwas von mir Verschiedenes als Ursache meiner Sinnesaffec-
tionen annehmen muss , weil ich mir nicht bewusst bin , sie
') Vgl. Mill's Logik 2. Buch 7. Capitel und 5. Buch. 3. Cap.
366 § 48. Axiome und Postulate. 417
selbst hervorgebraclit zu haben , aber es folgt daraus nicht
von selbst , weder dass diese Ursache noth wendig im Räume
ist, noch dass speciell das Angeschaute selbst, als ein Exi-
stierendes gedacht, die Ursache ist. Der wissenschaftlichen
Reflexion allerdings auf unsere Sinneswahrnehmungen, die von
vornherein von der Voraussetzung ausgeht , dass sie von den
Objecten ausser uns hervorgerufen werden, bestätigt sich diese
Voraussetzung dadurch , dass sie die Sinnesempfindungen so
zu erklären vermag, und darum hat diese Theorie Schopen-
hauers den Beifall z. B. von Helmholtz gefunden; aber sie ist
einleuchtend eben nur dann , wenn das Dasein der Objecte
schon in der Stille vorausgesetzt ist, dessen Annahme sie
erklären soll. Sobald man sich aber klar gemacht hat, dass
in dem allgemeinen Causalitätsprincip niemals liegt , wie be-
schaffen die Ursache einer gegebenen Wirkung sein müsse,
fehlt jede Möglichkeit nach demselben auf das Dasein einer
bestimmten Ursache zu schliessen.
Als Princip objectiver Wahrheit gedacht, hat
aber der Satz in diesem Sinne noch viel bedenklichere Mängel.
Denn auch gesetzt , er könnte als allgemeines Axiom gelten,
das durch sich selbst gewiss Aväre, so ist er für den Schluss
auf äussere Objecte nur anwendbar , wenn zugleich der Satz :
Ich bin mir nicht bewusst , meine Aifectionen selbst hervor-
gebracht zu haben, beweist, dass ich in der That nicht ihre
Ursache bin; er setzt also für seine Anwendbarkeit das Axiom
voraus, dass ich nur die Ursache dessen bin, was ich mit Be-
wusstsein hervorbringe; ein Axiom, dessen apriorische Gültig-
keit Niemand behaupten wird; und ebenso könnte er ein Princip
objectiver Wahrheit nur sein , wenn er gewährleistete , dass
alles, was auf diese Weise individuell objectiviert wird, eo
ipso auch gültig wäre. Ist er ein N a turgese tz unseres
Vorstellens: so sind noch die Bedingungen zu entdecken, unter
denen er ein Normalgesetz werden kann*).
*) Ich kann Windel band (a. a. 0. S. 76) zustimmen, dass es
eine oberste Regel des Erkennen« — d. h. genauer unseres Erkenntniss-
streben s — sei, nach welcher zu jeder Erscheinung eine Ursache
gesucht werde; nur reicht diese Kegel nicht aus, um nun für jede
Erscheinung den zureichenden Grund aufzuweisen. Und eine solche
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 27
418 n, 2. Die Wahrheit der unmittelbaren Ürtbeile. 867
Auch das Princip der Causalität also reicht nicht aus,
um daraus mit Nothwendigkeit zu behaupten, dass dies und
jenes Einzelne, meiner Wahrnehniungs Vorstellung entsprechende
ist, und so ist, wie ich es mir vorstelle; denn es sagt für sich
über die Art der Ursache gar nichts.
Lässt sich also nicht annehmen, dass die allgemeinen
Sätze, welche die objective Gültigkeit unserer Wahrnehmungs-
urtheile garantieren , als einfache selbstverständliche Wahr-
heiten zu Tage liegen, in einer Form , welche ohne Weiteres
die Beziehung der Wahrnehmungen auf ein Seiendes, und be-
stimmter Wahrnehmungen auf ein bestimmtes Seiendes a priori
gewiss machte: so bleibt noch die andere Möglichkeit übrig,
das Dasein einer äusseren , für alle selbigen Welt als ein
Postulat unseres Wissens- und Brkenntnisstriebes anzuer-
kennen , an dessen Wahrheit zu glauben wir trotz der Ein-
sicht, dass sie nicht selbstverständlich ist, uns nicht verwehren
können*). Dieses Postulat zugegeben, entsteht die Frage:
Regel wäre nothwendig, um die Wahrheit unserer Wahrnehmungsur-
theile zu begründen. Vergl. die Kritik dieser Causalitätstheorie in dem
Werke von Spir, Denken und Wirklichkeit S. 121 flF.
*) Im Wesentlichen auf dasselbe scheint mir auch Baumanns
Begründung des Realismus (Philosophie als Orientierung über die Welt
S. 248 tf.) hinauszukommen.
Die mit musterhafter Klarheit und Umsicht geführte Untersuchung
Zeliers »über die Gründe unseres Glaubens an die Realität der
Aussenwelt« (Vorträge und Abhandlungen, dritte Sammlung S. 225 ff.)
führt sachlich auf dasselbe Resultat, obgleich sie (S. 256 ff) die An-
nahme, dass ich selbst das einzige reale Wesen sei, das existiere, durch
eine Widerlegung zu beseitigen unternimmt, der sie die Bedeutung
eines Beweises beilegt. Denn der Beweis wird doch nur daraus
geführt, dass der Inhalt unseres Bewusstseins unerklärlich wäre
unter jener Voraussetzung; er setzt also die Nothwendigkeit der Er-
klärung, und zwar der causalen Erklärung voraus. Diese Nothwendig-
keit ist aber zunächst eine subjective, eine Nothwendigkeit des Strebens.
Dass das Bedürfniss des ErkJärens und Begreifens die üeberzeugung
von der Realität einer Aussenwelt rechtfertige, gilt doch nur in dem
Sinne eines Postulats; ein Axiom, dass nichts Unbegreifliches exi-
stieren könne, wird um so weniger angenommen werden können, als die
vollständige Begreiflichkeit des Gegebenen immer nur eine Aufgabe ist,
die wir nie vollständig zu lösen vermögen. So vollständig ich also den
Ausfüiirungen zustimme, dass die Annahme, unsere Vorstellungen seien
i
368 § 48. Axiome und Postulate. 419
Welche allgemeinen Voraussetzungen werden
durch dieNatur unser er Wahr nehmungen gefor-
dert, um ihre Beziehung auf ein Seiendes ausser
uns möglich zu machen, und die daraus hervorgehenden
Urtheile in durchgängige Uebereinstimmung zu bringen ?
Diese Voraussetzungen zu entdecken, ist dann nicht der Aus-
gangspunkt, sondern das Ziel der Wissenschaft; der Leit-
faden dabei aber ist zuletzt ein Grundsatz, der dem logischen
Princip des Widerspruches täuschend ähnlich sieht, in Wahr-
heit vielmehr aber nur eine bestimmte Anwendung desselben
ist, das Princip :Es ist unmöglich, dass dasselbezu-
gleich sei und nicht sei, zugleichBsei undnicht
B sei. Der Satz des Widerspruchs als Naturgesetz un-
seres Denkens sagt, dass es unmöglich ist, mit Bewusstsein
denselben Satz zugleich zu bejahen und zu verneinen. Wenn
dann unter Voraussetzung eines festen Begriffssystems, das
einem idealen Bewusstsein immer in derselben Weise gegen-
wärtig und für alle Denkenden dasselbe ist, alle begrifflichen
Urtheile durch das Princip der Uebereinstimmung feststehen:
so folgt aus dem Princip des Widerspruchs auch die Falsch-
heit aller ihnen widersprechenden Urtheile , mögen sie nun
directe Negationen, oder Urtheile sein, die unvereinbare Merk-
male beilegen. Wenn ich in diesem Sinne sage: dasselbe
kann nicht zugleich B und nicht B sein; so ist unter »das-
selbe« derselbe Begriff, der feste Inhalt meiner Vorstel-
lung verstanden.
Betrifft aber unser Urtheilen Seiendes, so ist nach dem-
selben Princip zunächst unmöglich zu denken, dass dasselbe
zugleich sei und nicht sei: würde also aus den Vor-
aussetzungen, die wir in Betreff des Seienden gemacht haben,
von der einen Seite folgen, dass ein einzeln Vorgestelltes ist.
nur Producte den bewussten Subjects, unhaltbar ist, so kann ich der
letzten Voraussetzung, auf der unsere Ueberzeugang von der Realität
einer Aussenwelt ruht, doch nur den Charakter eines Postulats beilegen;
aus diesem aber folgt auch für mich die Aufgabe die S. 263 formuliert
wird: Die Ursache derjenigen Bewusstseinserscheinungen, die wir Wahr-
nehmungen nennen, soll in einer den 'l'hatsachen entsprechenden Weise
bestimmt werden.
27*
420 II. 2. Wahrheit der unmittelbaren Urtheile. 369
von der andern , dass dasselbe einzeln Vorbestellte nicbt ist,
so können diese beiden Sätze nicht zusanimenbestehen , und
in den Voraussetzungen muss etwas falsch sein. Und ebenso
ist es unmöglich zu denken, dass dasselbe einzelne A zugleich
B sei und nicht B sei.
Und da im Begriff des Seins liegt, dass es für alle Den-
kenden dasselbe ist, also Aller wahre Urtheile über das-
selbe übereinstimmen müssen, so folgt, dass auch wenn Ver-
schiedene auf Grund ihrer Wahrnehmungen zu Entgegen-
gesetztem kämen, ihre Urtheile nicht zugleich von einem und
demselben Seienden wahr sein könnten. Allerdings liegt dem
zuletzt unser Begriff des Seins zu Grunde, über den wir
nicht hinaus können; aber eine andere Wissenschaft als die,
welche sagt, dass, was wir als seiend denken wollen, wir noth-
wendig so oder so denken müssen , gibt es überhaupt nicht.
Wo die Möglichkeit vorausgesetzt würde, dass das Seiende an
sich den W iderspruch ertragen könnte, der nur unserem Denken
widerstrebe, da wäre ebendamit jedes Streben dasselbe zu er-
kennen vergeblich.
Wir hoffen in unserem dritten Theile zu zeigen, wie aus
der Natur der Aufgaben, wie der Bedingungen unserer Er-
kenntniss mit Noth wendigkeit der Process des Erfahrungs-
wissens hervorgeht, den die Geschichte der wirklichen Entwick-
lung der Wissenschaft aufzeigt, dass nemlich die ganze Arbeit
darin bestanden habe, dem Postulate dass etwas sei gemäss
auf Grund unserer Wahrnehmung ein Seiendes zu setzen, und
die Voraussetzungen, die wir hinsichtlich desselben machen,
so zu bestimmen, dass unsere Aussagen darüber widerspruchs-
los sind; die Geschichte der Wissenschaft zeigt einen fort-
währenden Process der Umbildung und Berichtigung der Vor-
stellungen des Seienden, der jedesmal in ein neues Stadium
tritt, wenn die bisherigen Voraussetzungen auf Widersprüche
führen; und es gibt keine andere Bestätigung unseres Glau-
bens, dass etwas Bestimmtes sei, als die durchgängige Ueber-
einstimmung aller unserer auf das Seiende bezüglichen Ur-
theile, die Rückkehr des Kreises in sich selbst. Alle allge-
meinen Sätze, welche wir in Betreff des Seienden annehmen,
müssen schliesslich so beschaffen sein, dass aus ihnen das
369.370 § 48. Axiome und Postulate. 421
unmittelbar Gewisse, das subjective Factum der Wahrneh-
mung wieder als nothwendige Folge hervorgeht, wie es Aus-
gangspunkt des ganzen Processes gewesen war. Auf diesem
Wege hat sich die unmittelbare Voraussetzung , von der wir
immer ausgehen , dass die sinnlichen Qualitäten unmittelbar
Eigenschaften des Seienden sind, berichtigt; ihre Annahme
hat auf Widersprechendes geführt; auf diesem Wege sind die
physicalichen Axiome, der Grundsatz der Beharrlichkeit der
Substanz u. s. w. gefunden. Diesen Weg hat auch Kant in
den Antinomieen eingeschlagen, um zu zeigen, dass Raum und
Zeit nur subjective Anschauungsformen und alles in ihnen
gesetzte nur Erscheinung sei ; die Annahme , dass sie im ge-
wöhnlichen Sinne real seien, führt nach ihm auf Widersprüche.
In diesen Process, eine Erfahrungserkenntniss zu gestalten,
geht das Princip der Causalität wenigstens in der Form, in
der es allein anwendbar ist, nemlich als das Postulat ein,
dass das Seiende als nothwendig erkennbar , d. h. nach
allgemein gültigen Gesetzen bestimmt sei. Denn
auch die festeste Ueberzeugung, dass alles seine Ursache hat,
würde uns niemals dazu führen können, ein Einzelnes mit
Gewissheit als seiend zu setzen, wenn die Ursachen beliebig
wirkten*).
*) Die allseitige Erörterung des Causalitätsprincips verschieben wir,
um nicht zu wiederholen, auf den dritten Theil.
Dritter Abschnitt.
Die Begründung der yermittelten Urtheile durch
die Kegeln des Schlusses.
Nachdem der vorangehende Abschnitt gezeigt hat , dass
die Urtheile , welche wir vom natürlichen Denken ausgehend
für unmittelbare halten mussten, doch, sofern ein Grund ihrer
Gewissheit verlangt werden muss, sich bereits müssen als
nothwendige Folgen eines allgemeinen Gesetzes darstellen
lassen, die analytischen als Folgen des Grundsatzes der üeber-
einstimmung, die Wahrnehmungs urtheile als Folgen der Ge-
setze, nach welchen wir aus subjectiven Affectionen die Ueber-
zeugung realer Dinge gewinnen: so stellt sich, da jene allge-
meinen Regeln nur in Form von Urtheilen zum Bewusstsein
kommen können, der vorige Abschnitt zu einem grossen Theil
unter diesen, und es sind zuletzt nur die höchsten und letzten
Gesetze, sowie die unmittelbaren Aussagen des Selbstbewusst-
seins als keiner Zurückführung fähig ausgeschlossen*).
§ 49.
Die allgemeinste Formel der Ableitung eines ürtheils
aus anderen ist der hypothetische Schluss, der ent-
weder (als sog. gemischterhypothetischerSchluss)
die einfache Anwendung des Satzes ist, dass mitdemGrunde
die Folge bejaht, mit der Folge der Grund auf-
gehoben ist, oder (als sog. reiner hypothetischer
*) Ueber das Verhältniss von ürtheil und Schluss vergl. die vielfach
zutretfenden Ausführungen Schuppes, Erk. Logik S. 124 iF.
372 § 49. Der hypothetische Schluss. 423
S c h 1 u s s) auf dem Satze ruht, dassdieFolgederFolge
Folge des Grundes ist.
1, Ein Folgern oder Schliessen im psychologischen
Sinne findet überall da statt , wo wir zu dem Glauben an
die Wahrheit eines Urtheils nicht unmittelbar durch die in
ihm /erknüpften Subjects- und Prädicatsvorstellungen, sondern
durca den- Glauben an die Wahrheit eines oder mehrerer an-
derer Urtheile bestimmt werden. Der Motive, welche psycho-
logisch diesen Glauben herbeiführen, sind mancherlei (§ 19, 3. 4
S. 144 f.) und es geschieht häufig, dass die Vermittelung, welche
die Gewissheit eines Urtheils aus der Gewissheit eines andern
ableitet, nicht einmal deutlich zum Bewusstsein kommt; denn
sie beruht häufig auf Gewohnheiten der Association und Ver-
knüpfung, die factisch bestimmte Regeln befolgen, ohne dass
wir uns derselben ausdrücklich bewusst werden. Jede Erwartung
eines zukünftigen Ereignisses beruht auf einer über das Ge-
gebene hinausgehenden Folgerung; aber wenn wir erwarten,
dass ein losgelassener Körper zu Boden fällt, dass Essen den
Hunger stillt, oder unsere Rede von dem Hörenden verstanden
wird , ist uns nicht jedesmal der Grund unserer Erwartung,
der in früheren Erfahrungen liegt, ausdrücklich im Bewusst-
sein in Form eines allgemeinen Satzes gegenwärtig; von der
Gewissheit des gegebenen Vorgangs gehen wir ohne bewusste
Vermittlung zu der Gewissheit über, dass der zukünftige ein-
treten werde.
Die logische Theorie hat nun aber zu fragen, unter
welchen Bedingungen das Schliessen gültig ist; d. h. da
jeder Schluss den Glauben enthält, dass ein Urtheil (die Con-
clusion, der Schlusssatz) wahr sei, weil ein oder mehrere andere
Urtheile (die Prämissen) wahr seien, hat sie die logische Noth-
wendigkeit dieses Glaubens zu untersuchen, dass die Conclusion
durch die Prämissen begründet sei.
2. Die Frage nach der Begründung eines Urtheils durch
andere lässt sich nun von einem doppelten Gesichtspunkte
ansehen. Entweder wird von einem gegebenen Urtheil aus-
gegangen, das als gültig angenommen ist, und gefragt, welche
weiteren Urtheile kann dieses begründen; oder es wird von
424 II. '^- Die Hegeln des Schlusses. 372.373
einer Frage ausgegangen , dem Versuch eines vermitbelten
Urtheils, und es wird gefragt: In welcher Weise und unter
welchen Bedingungen ist dieses Urtheil begründet? was muss
gewiss sein, damit es gültig sei?
3. Wenn ein gültiges Urtheil A gegeben ist, so ist so-
viel klar, dass es ein davon verschiedenes Urtheil X nur iann
sicher begründen kann, wenn der unbedingt und allgemein
gültige Satz besteht: Wenn A gilt, so gilt X; denn dieses
hypothetische Urtheil drückt ja eben gar nichts anderes tus,
als dass X nothwendige Folge von A sei, und wer A annehme,
auch X annehmen müsse. Ohne eine solche Regel aber gibt
es kein logisches Recht einer Folgerung; sobald A gelien
könnte, ohne dass X gilt , dürfte die Gewissheit von diesem
nicht auf die Gewissheit von jenem gegründet werden. Jede
objective Gültigkeit eines Schlusses von A auf X ist also von
der Gültigkeit dieser hypothetischen Regel abhängig.
Darum ist das allgemeinste logische Schema alles und
jedes Folgerns der sog. gemischte hypothetische Schluss*):
A gilt Wenn A gilt, so gilt X
Wenn A gilt, so gilt X A gilt
also gilt X also gilt X.
Die Ordnung der Prämissen ist von der jeweiligen Be-
wegung des Denkens abhängig ; denn wenn die Gültigkeit des
Urtheils A den factischen Bestandtheil des Grundes repräsen-
tiert, die Voraussetzung aus der geschlossen wird, das
hypothetische Urtheil aber das Gesetz, das die Nothwendigkeit
enthält, die Regel nach der geschlossen wird, so kann im
wirklichen Verlaufe des Denkens ebensogut das eine wie das
andere das erste sein. Die logische Terminologie pflegt aber
überall die Regel nach der geschlossen wird, den Obersatz,
die Voraussetzung aus der geschlossen wird, den Untersatz
(die Assumtion) zu nennen.
*) Vergl. Kants Logik (Hartenst. 1, S. 453 § 57): *Das allgemeine
Princip, worauf die Gültigkeit alles Schliessens durch die Vernunft
beruht, lässt sich in folgender Formel bestimmt ausdrücken: Was
unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch
unter der Regel selbst«. Dieser Satz enthält eben die Auffassung
vom Wesen des Schlusses, welche im folgenden durchgeführt ist.
374 § 49. Der hypothetische Schluss. 425
i. Ist A zuerst gegenwärtig: so schliesst sich die Frage
an: Gibt es ein Urtheil Wenn A gilt, so gilt ein anderes X?
Ist dagegen die Regel zuerst gegenwärtig , so ist die Frage :
Findet die Regel Anwendung? Gilt A, und darum auch X?
Bei dem letzteren Gang ist nun aber ein Doppeltes mög-
lich: Die Anwendung ergibt sich, wenn A gilt d. h. als ge-
wiss erkannt ist; sie ergibt sich aber auch, wenn X nicht
gilt, nach dem Gesetze, dass mit der Folge der Grund auf-
gehoben ist.
So ist der weitere Schluss möglich:
Wenn A gilt, so gilt X
X gilt nicht
also gilt A nicht.
5. Auf diese beiden Formen , die man als den modus
ponens und modus toUens des gemischten hypothetischen
Schlusses anzuführen pflegt, müssen sich alle Arten der Ab-
leitung einer einfachen Aussage zurückführen lassen*); so
gewiss unter dieser Ableitung nur das verstanden werden
kann , dass ein Urtheil aus anderen noth wendig hervorgehe.
Es lässt sich also feststellen: die Gültigkeit eines Urtheils
kann niemals aus einem einzigen Urtheil abgeleitet
werden, sondern es sind immer wenigstens zweiPrämissen
nothwendig.
Ein Urtheil kann aus andern nur unter der Bedingung
abgeleitet werden, dass eine der Prämissen ein unbe-
dingt gültiges Urtheil ist, das einen nothwen-
digen Zusammenhang ausspricht.
Dieses ist der eigentliche Träger des Fortgangs von einer
Gewissheit zur andern, auf Grund des Gesetzes, dass mit dem
(hypothetischen) Grunde die Folge bejaht, mit der Folge der
Grund aufgehoben ist**).
*) Insofern aus dem Urtheil : Wenn A gilt, so gilt X jederzeit das
andere abgeleitet werden kann: Wenn X nicht gilt, so gilt A nicht,
lässt sich auch der sog. modus tollens auf den modus ponens zurück-
führen.
**) Das obige Schema des hypothetischen Schlusses erweist sich
als die natürliche und allgemeine Formel des Schliessens auch dadurch,
dass es in den sprachlichen Wendungen, in welchen wir unsere Folge-
rungen auszusprechen pflegen, überall erkennbar ist; die Verbindungs-
426 11» 3. Die Kejfeln dea Schlusses. 375
6. Das hypothetische Urtheil , das eine Folgerung ver-
mittelt, kann selbst wieder ein abgeleitetes und vermitteltes
sein ; und zwar lässt sich der Satz, dass X noth wendige Folge
von A sei, dann als nothwendig erkennen, wenn X Folge
einer Folge von A ist. Wenn also gälte
Wenn A gilt, so gilt M
Wenn M gilt, so gilt X, so folgt
Wenn A gilt, so gilt X.
Das Princip, welches diesem Schlüsse zu Grunde liegt, ist
mit dem Begriff der Folge selbst gegeben ; es lässt sich so
formulieren: die Folge der Folge ist Folge des Grundes*).
Dies ist der sog. reine hypothetische Schluss;
weisen mit da — weil — deshalb — denn u. s. w. sind nur sprachliche
Abkürzungen jenes Schemas, indem diese Partikeln die doppelte Be-
deutung haben, die Gültigkeit des begründenden wie des begründeten
Satzes, und das Verhältniss der Begründung, die Noth wendigkeit der
Consequenz auszusprechen; durch das letztere weisen sie auf ein hypo-
thetisches Urtheil zurück.
*) Die Regel aber, dass mit der Folge der Grund aufgehoben ist,
lässt sich in doppelter Weise verwenden:
1. Wenn A gilt, gilt B
Wenn C gilt, gilt B nicht
Wenn A gilt, gilt C nicht
Wenn C gilt, gilt A nicht
d. h. zwei Voraussetzungen, welche widersprechende Folgen haben,
heben sich gegenseitig auf.
II. Wenn A gilt, gilt B
Wenn A nicht gilt, gilt C
Wenn C nicht gilt, so gilt ß
Wenn B nicht gilt, so gilt C
d. h. die Folge einer Bejahung und die Folge der Verneinung schliessen
sich aus. Diese beiden Formeln aber lassen sich auf die obigen zurück-
führen. Denn statt des Untersatzes in I. kann gesetzt werden :
Wenn B gilt, gilt C nicht ; und wir erhalten
Wenn A gilt, gilt B
Wenn B gilt, gilt C nicht
Wenn A gilt, gilt C nicht — also den einfachen Fort-
schritt von Folge zu Folge.
Ebenso in II. lässt sich für den Obersatz setzen :
Wenn B nicht gilt, gilt A nicht
Wenn A nicht gilt, gilt C
Wenn B nicht gilt, so gilt C.
876 § 50. Der hypoth. Schluss vermittelst einer Einsetzung. 427
auch bei ihm erhellt die Nothwendigkeit wenigstens zweier
Prämissen. Was aber von zwei Gliedern gilt, gilt ebenso
ins Unbegrenzte; mit dem Grunde ist jede Folge der Folge
gesetzt und so entsteht die Möglichkeit einer ganzen Reihe
von Folgerungen , welche den ersten Grund mit der letzten
Folge zusammenzuschliessen gestatten. Dies ist der hypothe-
tische Kettenschluss, der zweierlei Anordnung der Prä-
missen zulässt:
I. Wenn A gilt so gilt B IL Wenn C gilt so gilt D
Wenn B gilt so gilt C Wenn B gilt so gilt C
Wenn C gilt so gilt D Wenn A gilt so gilt B
Wenn A gilt so gilt D Wenn A gilt so gilt D.
Die Ordnung der Prämissen geht im ersten Fall zu wei-
tern und weiteren Folgen herab (episyllogistisch), im
zweiten Fall zu weiter zurückliegenden Gründen zurück (p r o-
syllogis ti seh).
§ £0.
Während bei dem gemischten hypothetischen Schlüsse die
hypothetische Regel nur ein bestimmtes Urtheil von einem
bestimmten andern abzuleiten gestattet , wird eine hypothe-
tische Regel auf unbestimmt viele Urtheile anwend-
bar , wenn die Folge sich nur daran knüpft , dass ein be-
stimmtesPrädicat irgend einem beliebigen Subjecte bei-
gelegt wird. In diesem Falle findet eine Einsetzung eines
bestimmten Subjects (npoolri^ic,) im Untersatze statt, um den
Schluss herbeizuführen.
i. Wenn es sich nur darum handelte, in einer allgemeinen
Formel die wesentlichen Bedingungen darzustellen , die alles
Schliessen eben dadurch erfüllen muss, dass es die Gültigkeit
eines Urtheils aus der Gültigkeit eines andern ableitet, so
wäre die logische Theorie des Schliessens bereits zu Ende.
Allein diese Formel des hypothetischen Schlusses leidet
an einem Mangel, der ihren Werth wesentlich beeinträchtigt,
dass nemlich , wenn nur nach ihr geschlossen werden könnte,
für jede Ableitung eines einfachen Urtheils aus einem andern
428 n» 3. Die Regeln des Schlusses. 377
eine besondere Regel nothwendig wäre, wir also ebensoviele
Regeln als Fälle der Anwendung hätten; für jede Ableitung
eines hypothetischen Urtheils aber sogar zwei weitere erfor-
dert würden; dass ferner, um irgend einen Schluss zu machen,
alles schon fertig gedacht sein müsste, was den Fortgang von
einem Urtheil zum andern möglich macht, und somit ein
wirklicher Fortschritt im Urtheilen, ein wahrhaft synthe-
tisches Urtheilen nicht möglich wäre. Alles, was im Process
unseres Denkens wahrhaft werthvoll ist, den Fortgang zu
neuen urtheilen , setzt der hypothetische Schluss in der ein-
fachsten oben aufgestellten Form immer als im Wesentlichen
schon geschehen voraus; denn gerade die Erkenntniss, dass
ein Urtheil von einem andern nothwendig abhängt, ist das-
jenige, was wir zunächst suchen.
2. Eine weitere Entwicklung der Theorie des Schliessens
muss also an die Frage anknüpfen, was es denn sei,
worin jene Noth wendigkeit des Zus ammenhangs
zwischen A und X beruhe? und ob es kein anderes
Mittel gebe , zu einem hypothetischen Urtheil zu gelangen,
als den reinen hypothetischen Schluss, der immer wieder hy-
pothetische Urtheile voraussetzt? Ob also alle einzelnen Zu-
sammenhänge dieser Art als ein Letztes betrachtet werden
können, das keiner weiteren Analyse mehr fähig ist, oder ob
es möglich sei, auf wenigere Gesetze die Nothwendigkeit zu-
rückzuführen ?
In vielen Fällen ist allerdings ein solcher Zusammenhang,
den ein hypothetisches Urtheil zwischen einem ganz bestimmten
Vordersatz und einem ganz bestimmten Nachsatz ausspricht,
ein Letztes, und die Consequenz unmittelbar gegeben. Jeder
Vorsatz, den ich für eine bestimmte Eventualität fasse, jedes
Versprechen, das ich für einen gewissen FaU gebe, jeder Ver-
trag, den ich schliesse, schafft ein durch meinen Willen gültiges
hypothetisches Urtheil, und die Ausführung des Vorsatzes, die
Erfüllung des Versprechens oder des Vertrages geht auf einen
solchen einfachen hypothetischen Schluss zurück: Wenn A ist,
so soll B sein, A ist, also soll B sein. Der Zusammenhang
ist durch meinen Willen gesetzt, und ist gültig durch meinen
thatsächlichen Willen ; die Nothwendigkeit, die darin gegründet
378 § 50. Der hypoth. 8chlnss vermittelst einer Einsetzung. 429
ist, lässt keine weitere Analyse zu ; es ist direct die Abhängig-
keit eines bestimmten ürtheils von einem anderen bestimmt.
(Vergl. oben § 36 S. 288 Note).
3. Allein ebenso kann das Gesetz, nach welchem X aus
A hervorgeht, noch ein anderes sein, als das Urtheil: Wenn
A gilt, so gilt X. Spinoza schliesst Eth. I, 11: Wenn irgend
etwas existiert, so existiert ein absolut unendliches Wesen;
nun existiere jedenfalls ich; also existiert ein absolut unend-
liches Wesen, d. h. Gott. Allgemein ausgedrückt: Aus dem
Urtheil A ist B (Ich existiere) folgt das Urtheil C ist D (Gott
existiert) nicht bloss dann, wenn feststeht: wenn A B ist, so
ist C D, sondern auch dann, wenn feststeht: wenn irgend etwas
B ist , so ist C D ; wenn also das abgeleitete Urtheil mit
Nothwendigkeit folgt, sobald das Prädicat irgend einem Sub-
jecte zukommt, wenn es nicht bloss Folge der Pradicierung
eines bestimmten Subjects, sondern Folge jeder Pradicierung
eines beliebigen Subjects mit diesem Pradicate ist.
4. Ein solches Gesetz begreift vermöge seiner Allgemein-
heit eine unbestimmte Menge einzelner Fälle unter
sich; und die Allgemeinheit beruht darauf, dass die Folge
nur von dem Prädicat, nicht von dem bestimmten Subject
abhängt, dem dieses Prädicat ertheilt wird.
Neben der Ableitung, welche der hypothetische Schluss
ausspricht, findet also hier noch eine Einsetzung eines
bestimmten Subjects für den unbestimmten Träger des Prä-
dicats, oder dasjenige statt, was die Aristoteliker ein Tzp6aXri(\)ic,
nannten*). Dadurch dass dasselbe Prädicat einer unbe-
stimmten Menge von einzelnen Subjecten zugetheilt werden
kann, gilt die Folge für jedes einzelne Urtheil, in welchem
diese Zutheilung wirklich stattfindet. Und dies ist nach § 31, 8
S. 243 und § 33, 2 S. 257 d ie einzige F orm, in welcher
die Nothwendigkeit als solche erkennbar ist.
5. Wäre das hypothetische Urtheil ein solches, das ein
*) In dem Schlüsse:
xaO-' ou xb B xaxa xonxou xb A
B xaxd xo5 T
A xaxa xou F ist der Untorsatz die rtp'iaXYjcj^tf; Verl. Pranil
1, 376 tt". und mein Programm S. ü.
430 ^l 3- ^^e Regeln des Schlusses. 379
Prädicat von einem andern Pr'adicat desselben
Subjects abhängig macht, von der Form: Wenn etwas A
ist, so ist dasselbe auch B: so würde es jetzt nicht bloss
eine Manigfaltigkeit von Voraussetzungen für dieselbePolge
begreifen, sondern eine gleiche Manigfaltigkeit von Folgen in
sich fassen ; die Einsetzung des bestimmten Subjects fände so-
wohl im Vordersatz als im Nachsatz statt.
Wenn etwas A ist, so ist es Bi
C ist A
also ist C B
Dieser Schluss ist kein einfacher hypothetischer mehr,
sondern er ist dadurch vermittelt, dass im Untersatz ein be-
stimmtes Subject genannt ist, an dem die Prädicierung zutrifft,
für welche zuerst nur ein mögliches Subject überhaupt vor-
ausgesetzt war. Das hypothetische Urtheil begreift in seiner
Formel die einzelnen Urtheile: Wenn C A ist, so ist C B;
wenn D A ist, so ist D B u. s. f. ; es macht also eine un-
bestimmte Menge einzelner Folgen nothwendig. Zu der Noth-
wendigkeit, welche der Obersatz ausspricht, tritt seine allge-
meine Anwendbarkeit; die Regel ist ein Gesetz geworden.
6. Aehnliches gilt von hypothetischen ürtheilen, welche
nicht an einfache Prädicierungen , sondern an Verhältnisse
von Relationen weitere Folgen knüpfen, deren Ausdruck eben-
darum verwickelter wird. Wenn zwei Grössen derselben dritten
gleich sind, sind sie unter sich selbst gleich , behauptet ein
Verhältniss von Relationen für alle beliebigen Objecte, welche
unter diese Relationen fallen; schliesse ich daraus A ^ B,
C = B, also A = C, so habe ich wiederum in die allgemeine
Formel die bestimmten Grössen A, B, C eingesetzt, von denen
das Relationsprädicat der Gleichheit gilt; die Assumtion sagt
nicht, dass überhaupt zwei Grössen derselben dritten gleich
sind, sondern dass diese bestimmten, A und C, derselben dritten
B gleich sind. Die Einsetzung muss sich in diesem Falle in
einer Mehrheit von einzelnen ürtheilen vollziehen, welche zu-
sammen erst die Anwendung des Vordersatzes enthalten.
7. Der Satz, dass eine der Prämissen einen nothwendigen
Zusammenhang aussprechen müsse, scheint durch eine Menge
Beispiele aus der gewöhnlichen, auch wissenschaftlichen Praxis
379 § 50. Der hypoth. Schluss vermittelst einer Einsetzung. 431
widerlegt zu werden*). Ich schliesse: A ist der Vater von
B, B der Vater von C, also A der Gross vater von C ; Breslau liegt
in Schlesien, Schlesien in Preussen, also liegt Breslau in Preussen ;
A = B, B = C, also A=C; A>B, B> C,also A > C; A ist
rechts von B, B rechts von C, also A rechts von C u. s. f.
Allein es ist nur ein Schein, dass diese Prämissen für sich
den Schlusssatz begründen, und dass ein allgemeiner Obersatz
fehle. Kein Zweifel, dass wir mit grÖsster Sicherheit in diesen
Fällen schliessen, ohne eines allgemeinen Obersatzes bewusst
zu sein oder ihn ausdrücklich zu formulieren, im letzten Bei-
spiel den Satz: Wenn A rechts von B und B rechts von C,
so ist nothwendig A rechts von C; aber wäre der Schluss
gültig, wenn nicht dieser Obersatz wahr wäre, oder der all-
gemeinere: Was rechts von einem zweiten liegt, welches selbst
rechts von einem dritten ist, liegt auch rechts von diesem
dritten? Die unmittelbare Anschaulichkeit der räumlichen
Verhältnisse oder der Grössenverhältnisse und die unausgesetzte
Gewohnheit ihre Beziehungen zu denken erspart allerdings
die Nothwendigkeit, die Gesetze unter denen sie stehen, jedes-
mal in Worten zu formulieren ; nichtsdestoweniger trägt nur
die Gültigkeit des nothwendigen Zusammenhangs
der verschiedenen Verhältnisse die Folgerung, wie
ja die Mathematik den Grundsatz: zwei Grössen, die derselben
dritten gleich sind, sind unter sich selbst gleich, ausdrücklich
voranstellt. Es handelt sich in der logischen Untersuchung
überall nicht um das, was im wirklichen Folgern ausdrücklich
gedacht und mit Bewusstsein hervorgehoben wird , sondern
um das, was gelten muss, wenn ein Schluss gültig sein , die
Conclusion aus den Prämissen mit Nothwendigkeit folgen soll.
Die Sätze A - B , B - C bilden in der That nicht die ein-
zigen Prämissen des Schlusses; sie enthalten nur die Assum-
tion, die jetzt in zwei Gliedern besteht; der Fortgang von
ihnen zu dem Schlusssatz A ^- C beruht auf der Einsicht in
die Nothwendigkeit, dass, wenn A ^ B und B -^ C, dann
auch A -^ C.
*) Vergl. die Aiisführungon von F. H. Bradley in seinem durch
Originalität hervorrngenden und durch vielfach treffende Kritik lehr-
reichen Werke The principles of Logic, London l^Ho S. 2X7.
/
432 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 379
Die Beispiele zeigen aber die Wichtigkeit der soeben (6.)
hervorgehobenen Classe von Zusammenhängen, und die Häufig-
keit der Schlüsse aus Obersätzen, welche sagen, dass zwei
Relationen , in denen ein Object zu zwei andern steht , eine
dritte zwischen diesen letzteren noth wendig machen ; und viele
der Obersätze, die zuletzt allem Schliessen zu Grunde liegen,
werden darum die Form von hypothetischen Urtheilen an-
nehmen, deren Vordersatz zweigliedrig ist, indem er eine
doppelte Relation enthält. Auch das Princip, auf das hin
Identität erschlossen wird, gehört hieher; auch Identität ist
ja eine Relation zwischen Gedachtem; A identisch mit B, B
identisch mit C ergibt A identisch mit C nur dadurch , dass
vermöge des Begriffs der Identität aus den beiden ersten
Identitäten die dritte folgt, also das Gesetz gilt: Was mit
demselben dritten identisch ist, ist unter sich identisch.
Ebenso beruht das Recht, in jedem Urtheil Subject- oder
Prädicatswort durch einen gleichgeltenden Ausdruck zu er-
setzen — mag es sich um verschiedene Bezeichnungen eines
und desselben Individuums , oder um verschiedene Ausdrücke
für Begriffe handeln — auf der Einsicht, dass von demselben
dasselbe bejaht und verneint werden muss*).
8. Die geistige Operation, die wir bei solchem Schliessen
wirklich vollziehen, bietet Unterschiede dar, welche zu ver-
schiedenen Auffassungen des Schlusses überhaupt geführt haben.
Von einer Seite wird darauf hingewiesen, dass der eigentliche
Vorgang im Schliessen in einer Synthese verschiedener Ele-
mente bestehe, und dass der Schlusssatz nur diese Synthese
analysiere, und insofern ein unmittelbares Urtheil sei. Wenn
ich schliesse: A links von B, B links von C, also A links
von C, so gibt mir die Zusammenfassung der beiden Prämissen
bereits die drei Punkte A, B, C in dieser bestimmten Lage,
aus der unmittelbar erhellt, dass A links von C liegt. Das
*) Nur um eine solche Ersetzung eines Ausdrucks durch einen
andern handelt es sich direct in solchen Beispielen wie :
Aristoteles war der Philosoph von Stagira
Aristoteles war der Erzieher Alexanders, also etc.,
die nur durch irgend welche Nebengedanken eine Bedeutung erhalten
können, die sie über das Niveau leerer Wortspielerei erhebt.
379 § 50. Der hypoth. Schluss vermittelst einer Einsetzung. 433
Wesen des Schlnssprocesses ist also die Combination verschie-
dener Elemente zu einem Ganzen , eine Construction , welche
dasjenige bereits fertig gibt, was der Schlusssatz ausspricht*).
Ebenso, wenn wir ein Individuum S haben, das einen Com-
plex greifbarer und sichtbarer Merkmale M hat, in diesem
Complex eine wahrnehmbare Eigenschaft P, so ist S und M
und P wie das Bild eines einzigen Dinges vor uns. Die Er-
kenntniss, dass P an und in dem S ist, ist ebenso klar und
zwar aus demselben Grunde evident, wie dass M ihm zukommt
oder P dem M zukommt. Die Prämissen stellen eine Ver-
bindung her, welche, nachdem sie erschaut ist, die Zusammen-
gehörigkeit der im Schlusssatz verknüpften Elemente unmittel-
bar erkennen lässt**). Nach der entgegengesetzten Auffassung
müsste das Schliessen darin bestehen , dass durch die Ver-
gleichung der beiden Prämissen die Nothwendigkeit erkannt
würde, dem Subjecte S ein Prädicat P beizulegen, und auf
Grund dieser eingesehenen Nothwendigkeit erst würde der
Gedanke der Einheit S P wirklich vollzogen; der Schliessende
verhielte sich gerade wie einer, der das Urtheil SP von
einem Zweiten hörte; in den beiden Prämissen bekommt er
die Vorstellungen zunächst getrennt, welche er nun zu einem
Ganzen zu vereinigen aufgefordert ist. Mit andern Worten:
nach der ersten Auffassung fällt das eigentliche Schliessen
vor die Formulierung des Schlusssatzes , dieser spricht nur
analytisch die gewonnene Erkenntniss aus; nach der zweiten
erzeugt es zunächst die Einsicht, dass das Prädicat P dem Subjecte
S beigelegt werden müsse, und auf diesem synthetischen Wege
entsteht der Gedanke der Einheit SP. Diesen letzteren Weg
hat die gewöhnliche Betrachtung der Syllogismen um so ge-
wisser im Auge, je bestimmter sie durch ihre Schlussregeln
und Schlussfiguren das Schliessen mechanisieren, und in eine
Art von Rechnen verwandeln will. Bei einer algebraischen
Rechnung operiere ich nur mit den Zeichen; erst am Schlüsse
interpretiere ich die so gewonnene Gleichung, indem ich mir
nun das bezeichnete wieder vergegenwärtige, und ich habe das
Resultat nicht vor dem Schlusssatz, sondern durch den Schluss-
*) vergl. Bradley, Principles of Logic S. 235.
*♦) Schuppe, Erk. Logik S. 260.
8 i g w ar t , Logik. I. 2. Auflage. 2ö
434 H» 3. Die Regeln des Schlusses. 379
satz. Aber auch wo es sich nicht bloss darum handelt, dass
eine Schlussoperation zuerst nur in Worten oder Zeichen ge-
macht und dann das Hesultat verstanden wird, hängt es von
der Beschaffenheit dessen woraus, und dessen was geschlossen
wird ab, ob sich die Prämissen sofort zu Einem Ganzen zu-
sammenfügen, das dann nur analytisch ausgesprochen würde.
Wo es sich um eine negative Prämisse handelt, ist jene
Synthese schon durch das Wesen der Negation ausgeschlossen;
aber auch bei positiven Prämissen wird sich die Ansicht
Bradleys nicht durchführen \ lassen , sobald es sich um Rela-
tionen handelt, welche nicht Gegenstand so unmittelbar evi-
denter Anschauung sind , wie die einfachen räumlichen Ver-
hältnisse, von denen er ausgeht, oder um Prädicate, die nicht
zu dem immer gegenwärtigen Inhalt des Mittelbegriffs gehören.
• Jedenfalls aber betrifft der hervorgehobene Unterschied in
dem Schlussverfahren nur den psychologischen Hergang; die
Frage, ob der Schlusssatz aus den Prämissen nothwendig folgt,
wird dadurch nicht afficiert. Denn wo wirklich jene Synthese
stattfindet, die der Schlusssatz nur analytisch ausspricht, da ist
sie nur dann nothwendig und eindeutig bestimmt, wenn ein
Gesetz da ist , welches diese Synthese vorschreibt und jede
andere unmöglich macht; A links von B, B links von C bringt
eben nur darum die Synthese A — B — C zu Stande, weil das Ge-
setz der räumlichen Verhältnisse sie vorschreibt. Ob im einzelnen
Falle dieses Gesetz ohne ausdrückliches Bewusstsein nur in
der Synthese befolgt wird, oder ob es als bewusster Grund
die Synthese leitet, ist für die Abhängigkeit der Wahrheit
des Schlusssatzes von der Wahrheit der Prämissen gleichgültig.
§ 51.
Die allgemeine hypothetische Regel selbst, nach der ge-
schlossen wird , hat synthetischen Charakter, wenn sie
nicht in dem begründenden Urtheile oder seinen Elementen
schon eingeschlossen ist, sondern zu demselben als ein Neues
hinzutritt. Solche Regeln sind theils die Axiome, welche
Relationen verknüpfen, theils allgemeine Sätze , welche durch
1
380 § 51. Verschiedene Quellen hypoth. Obersätze. 435
einen Indnctionsschluss aus der Erfahrung gewonnen sind,
theils Gesetze, die einen von dem Wollen festgestellten Zu-
sammenhang aussprechen.
Andere hypothetische Regeln sind mit dem begründenden
Urtheile selbst schon gegeben und können aus demselben
analytisch entwickelt werden, und zwar entweder aus der
Form desselben , sofern der Urtheilsact selbst unter allge-
meinen logischen Gesetzen steht, oder aus dem Inhalt der
Begriffe, die seine Elemente bilden, sofern diese allgemeine
Urtheile einschliessen.
1. Hypothetische Sätze, welche im Sinne des vorigen
Paragraphen einen allgemeinen Zusammenhang aussagen, können
aus sehr verschiedenen Quellen stammen.
Zuerst begegnen uns allgemeine Sätze, welche eine un-
mittelbar einleuchtende Nothwendigkeit hinsichtlich der Re-
lationen bestimmter Objecte unserer Vorstellung aussagen
(synthetische Urtheile a priori im Sinne Kants) ; dahin gehören
vor allen die mathematischen Axiome, welche den Zusammen-
hang von Relationen der Zahl, des Raumes oder der Zeit aus-
drücken.
Andere allgemeine Zusammenhänge können geglaubt
werden auf Grund einer beständigen und ausnahmslosen Er-
fahrung. Wie es möglich ist, von einzelnen Wahrnehmungen
aus auf Urtheile von allgemeiner unbedingter Gültigkeit zu
kommen, werden wir im dritten Theile zu untersuchen haben;
genug, dass nach allgemeiner Ueberzeugung eine Menge noth-
wendiger Zusammenhänge aus der Erfahrung zu entnehmen
sind. Dass ein Körper sich ausdehnt, wenn er erwärmt wird,
dass weisses Licht, wenn es durch ein brechendes Medium hin-
durchgeht, zerlegt wird u. s. f., sind solche Gesetze; wenn die
Voraussetzung in irgend einem Falle zutrifft, schliessen wir
mit Sicherheit, dass in demselben Falle auch die im Gesetze
genannte Folge eintreten müsse; und die letzte Basis dieser
Sicherheit sind einfache Thatsachen der Wahrnehmung, welche
den einen Vorgang mit dem andern verknüpft zeigen.
In weitem Umfang ferner bewegt sich unser Schliessen
28*
436 H. 3. Die Regeln des Schlusses. 380
in der Anwendung allgemeiner Gesetze, welche unserem Wollen
entspringen und bestimmt sind, unser Wollen zu regeln. In-
dem wir für unsere Handlungsweise uns eine allgemeine Norm
vorschreiben, bestimmen wir durch unsern Willen einen all-
gemeingültigen Zusammenhang zwischen bestinmiten Beding-
ungen und bestimmten Handlungsweisen ; aus dem Wollen des
allgemeinen Gesetzes geht mit logischer Nothwendigkeit das
Wollen der einzelnen Handlungen hervor, die das Gesetz vor-
schreibt, und dieser logische Zusammenhang gilt, sofern unser
Wollen constant und mit sich einstimmig ist, und gilt für
Jeden , der sich das Wollen der allgemeinen Regel aneignet.
Jedes Strafgesetzbuch, das auf Raub Zuchthaus, auf Mord
Todesstrafe setzt, stellt eine Reihe solcher hypothetischer ür-
theile auf, in denen der Zusammenhang zwischen dem Begehen
des Verbrechens und der folgenden Strafe ganz allgemein
festgestellt ist; und diese Festsetzungen gewinnen selbst die
Bedeutung theoretischer Sätze, sofern sie die allgemeine Ver-
pflichtung für den Richter aussagen, dem Gesetze gemäss zu
entscheiden.
Stelle ich in der analytischen Geometrie eine beliebige
Formel auf, wie y^ = px, so bestimme ich dadurch die Con-
struction einer Curve ; für jeden Werth der Abscisse bestimme
ich durch die Formel den zugehörigen Werth der Ordinate;
diese Beziehung zwischen x und y, welche den Sinn eines
hypothetischen Urtheils hat, kann ganz beliebig, zu freier
Construction eines räumlichen Gebildes gewählt sein; insofern
ist eine solche Formel einer positiven Festsetzung vergleichbar.
In diesen Fällen kommt zu dem Urtheile A, aus dem
geschlossen wird , ein allgemeines Gesetz hinzu , das in ihm
selbst noch nicht mitgedacht, noch nicht analytisch in ihm
enthalten ist.
2. Anders, wenn es Zusammenhänge gäbe, welche darin
schon eingeschlossen sind, dass ein bestimmtes Urtheil voll-
zogen oder gedacht wäre; Regeln, die man aus diesem Ur-
theile selbst entnehmen könnte, und die auf Grund allgemein
nothwendiger Gesetze sagten, dass , wenn dieses Urtheil gilt,
auch ein anderes gelten müsse, die herbeigezogen werden
können, ohne dass man etwas ausserhalb Liegendes zu Hülfe nimmt.
381 § 52. Die Polgerungen nach formalen logischen Gesetzen. 437
Wie kann in der Thatsache, dass das ürtheil A ist B
gilt, etwas weiteres gefunden werden? Auf doppelte Weise.
Theils dadurch, dass in dem ürtheil A ist B, ganz abgesehen
von der Bedeutung von A und B, nur die bestimmte Form
der Synthese beider Elemente noch andere Formen
urtheilsmässiger Verknüpfung möglich und nothwendig macht;
dass es also Gesetze gibt, unter denen alles Urtheilen über-
haupt steht, und nach denen aus jedem beliebigen Ürtheil
noch andere Urtheile mit denselben Elementen hervorgehen.
Theils aber dadurch, dass in der Prädicierung des Subjects A
mit dem Prädicat B noch andere Urtheile vermöge der
bestimmtenBedeutung vonAundB, die sie in diesem
Urtheile haben, eingeschlossen sind. Dort würden die Regeln
formelle, bier materielle sein.
§ 52.
Auf dem allgemeinen Wesen des Urtheils selbst, welches bei
jedem Inhalte dasselbe ist, beruhen die sogenannten unmit-
telbaren Folgerungen, welche nur Umformungen
eines gegebenen Urtheils selbst sind. Als solche
pflegen aufgezählt zu werden die Folgerungen der Oppo-
sition, der Veränderung der Relation, der Aequi-
pollenz, der S ubal tern ati on, der modalen Conse-
quenz, der Conversion und der Contraposition.
1. Die nächstliegenden Folgerungen, welche lediglich aus
dem Sinne des Urtheilens selbst abgeleitet werden können,
pflegen in der Regel gar nicht aufgeführt zu werden. Das
Ürtheil A ist B schliesst das Ürtheil ein: Es ist wahr, dass
A B ist, und es ist nothwendig zu behaupten, A ist B ; eben-
so: A und B sind vereinbar.
2. Daran schliesst sich die Folgerung der Opposi tion
d. h. aus der Wahrheit eines Urtheils auf die Falschheit des
contradictorischen Gegentheiles, und umgekehrt aus der Falsch-
heit eines Urtheiles auf die Wahrheit seines contradictorischen
Gegentheils; die Basis dieser Folgerung ist der Satz des
Widerspruchs und der doppelten Verneinung, der einfach sagt,
438 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 382
die Urtheile A ist nicht B, und Es ist falsch, dass A B ist,
die Urtheile A ist B und Es ist falsch , dass A nicht B ist,
sind gleichbedeutend. Ebenso in Beziehung auf hypothetische
Urtheile. Wird das Urtheil Wenn A gilt, so gilt B ver-
neint, so heisst das soviel als: Wenn auch A gilt, so gilt
darum nicht B; ist dieses falsch, so ist jenes wahr.
3. Wenn das unbedingt allgemeine Urtheil Alle
A sind B in das hypothetische verwandelt wird: Wenn
etwas A ist, ist es B, so macht dieser Ausdruck die Noth-
wendigkeit zum Prädicat, die in dem unbedingt allgemeinen
Urtheil der Grund der Allgemeinheit ist; umgekehrt drückt
das unbedingt allgemeine, das an die Stelle des hypothetischen
tritt, die Allgemeinheit als Folge der Nothwendigkeit aus.
Ebenso, wenn ein disjunctives Urtheil in hypothetische zerlegt,
oder mehrere hypothetische (wenn A nicht B ist, so ist es C,
wenn A nicht C ist, so ist es B) in ein disjunctives (A ist ent-
weder B oder C) zusammengezogen werden, so wird der Sinn
der sprachlichen Formen in verschiedener Weise ausgedrückt.
4. Weiter pflegt aufgeführt zu werden:
a) Die Folgerung der Aequipollenz. Aus einem Ur-
theil A ist B soll folgen A ist nicht nonB; eine Folgerung,
welche wegen der Unbestimmtheit des nonB werthlos ist. (Der
Schluss : Schnee ist weiss, also nicht roth, kann nicht als bloss
formaler betrachtet werden; denn er setzt ein Urtheil »was
weiss ist, ist nicht roth« voraus, das den Inhalt der Prädicate
betrifft.)
b) Die Folgerung nach der Subalternation, wonach
aus dem Urtheil alle A sind B (oder nicht B) folgen soll,
einige A sind B (oder nicht B), aus der Falschheit des Ur-
theils einige A sind B (nicht B) die Falschheit des Urtheils
alle A sind B (nicht B). Da aber in den allgemeinen Ur-
theilen »Alle« das eigentliche Prädicat ist, so ist diese Fol-
gerung von dem Inhalt des Prädicats abhängig, und ist nur
ein specieller Fall der Regel, dass die kleinere Zahl in der
grösseren enthalten ist; nach derselben Regel ist zu schliessen,
dass, wo drei sind, auch zwei sind u. s. w.; es kann sich
also hier nicht um eine formale Umformung aus dem Wesen
des Urtheilsacts, sondern nur um einen Schluss aus der Bedeu-
383 § 52. Die Folgerungen nach formalen logischen Gesetzen. 439
tung des Pradicats handeln. Mit demselben Recht müsste es
als unmittelbare Folgerung gelten, dass wo das Ganze, auch
der Theil ist u. s. f.
c) Die Folgerung nach der sog. modalen Consequenz
will aus der Nothwendigkeit die Wirklichkeit und Möglich-
keit, aus der Wirklichkeit die Möglichkeit ableiten, ebenso
aus der Verneinung der Möglichkeit die Verneinung der
Wirklichkeit und Nothwendigkeit , aus der Verneinung der
Wirklichkeit die der Nothwendigkeit. Was den ürtheilsact
selbst betrifft, so fallen Nothwendigkeit, Wirklichkeit und
Möglichkeit zusammen; werden aber diese Wörter als reale
Prädicate gebraucht, so ist die Folgerung von ihrem Inhalt
abhängig, gehört also nicht hieher.
5. Die grösste Rolle unter den unmittelbaren Folgerungen
hat seit Aristoteles die Conversion der Urtheile ge-
spielt, durch welche aus einem Urtheil A ist B ein neues
entstehen soll, dessen Subject B, dessen Prädicat A ist. Man
lehrt
das allgemein bejahende Urtheil Alle A sind B ergibt
durch Conversion Einige B sind A (conversio per accidens,
mit veränderter Quantität),
das allgemein verneinende Kein A ist B ergibt Kein B
ist A (conversio simplex, mit unveränderter Quantität),
das particulär bejahende Urtheil Einige A sind B gibt
Einige B sind A (conv. simplex) ,
das particulär verneinende Einige A sind nicht B lässt
keine Conversion zu.
Soll diese Conversion zunächst der bejahenden Urtheile
einen Sinn haben , so setzt sie Urtheile voraus , in welchen
das Prädicat der Gattungsbegriff des Subjects ist, beide der-
selben Kategorie angehören, und in demselben Sinne also das
Prädicat Subject werden kann, in welchem das Subject es
war; Urtheile ferner über einzelne Subjecte, die also zwanglos
so aufgefasst werden können, dass die genannten Subjecte
unter die mit dem Prädicatswort bezeichneten Gegenstände
gerechnet werden können ; Urtheile also wie alle Tannen sind
Bäume , keine Lerche ist eine Tanne u. s. f. ; wobei sich aus
dem Abzählen die Richtigkeit der Conversion ergibt.
440 III ^- ^ie Regeln de» Schlusses. 384
Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so erscheint die
Conversion gewaltsam, und der Sinn des ürtheiles verändert.
Wenn ich sage alle Planeten bewegen sich in Ellipsen , so
liegt diesem Urtheil die Kategorie der Action zu Grunde;
mache ich daraus : Einiges in Ellipsen sich bewegende sind
Planeten, so habe ich nicht das Prädicat zum Subject gemacht,
sondern erst ein neues Subject aufgestellt, indem ich den
Begriff des Dinges mit dem Prädicat verband, und damit
einen unnatürlichen Begriff geschaffen, da es widersinnig ist
einen Substanzbegriff durch ein zeitliches Geschehen zu deter-
minieren ; und ich habe ein Subsumtionsurtheil statt eines Ur-
theils der Action. Der Uebergang von einem Urtheil zum
andern ist also in der That von der Bedeutung der Termini
nicht unabhängig.
Der wirklich bedeutsame Sinn, den eine solche Conver-
sion hat, ist nun einmal auszusagen, dass das Prädicat mit
dem Subjecte vereinbar ist, und dann dem allgemeinen
Urtheil gegenüber anzudeuten, dass daraus, dass A noth-
wendig als B gedacht werden muss, nicht folgt, dass B aus-
schliesslich dem A zukommt. Diese letztere Cautel ist das wich-
tigere; sie trifft zusammen mit der Regel, dass aus der Folge
nicht auf den Grund geschlossen werden dürfe. Auf das
hypothetische Urtheil angewendet, ergibt sich also: das Ur-
theil, wenn A gilt, so gilt B , darf nicht einfach umgekehrt
werden, so dass auch gälte: Wenn B gilt, so gilt A; es folgt
nur (der Particularität des convertierten kategorischen Urtheils
entsprechend) wenn B gilt, kann A gelten.
Anders steht es mit der Conversion des allgemein
verneinenden Urtheils. Sie drückt aus, dass die Aus-
schliessung zweier Begriffe immer eine gegenseitige ist; dass,
wenn ein Subject A ein Prädicat B ausschliesst , dasjenige,
dem dieses Prädicat zukommt, jedenfalls nicht A ist. Oder
auf die hypothetische Formel reduciert, welche die Unbequem-
lichkeit der Substantivierung von adjectivischen und Verbal-
prädicaten vermeidet:
Aus: Wenn etwas A ist, so ist es nicht B folgt:
Wenn etwas B ist, so ist es nicht A.
384 § 52. Die Folgerungen nach formalen logischen Gesetzen. 441
Mit der Folge, der Verneinung des Prädicats, muss auch
die Benennung durch den Subjectsbegriff aufgehoben werden.
6. Der Conversion steht die Contraposition zur Seite,
welche aus dem Urtheil A ist B dadurch ein neues bildet,
dass sie das sog. contradictorische Gegentheil des Prädicats
zum Subject, das Subject zum Pradicat macht, und die Qua-
lität verändert, d. h. Bejahung in Verneinung und umgekehrt
verwandelt. Danach soll sich ergeben
aus Alle A sind B Kein nonB ist A,
aus Kein A ist B Einiges nonB ist A,
aus Einiges A ist B nichts
aus Einiges A ist nicht B Einiges nonB ist A.
Wir überlassen dem Leser die Beweise irgendwo nachzu-
lesen, wenn er sie nicht selbst suchen will: es bedarf keiner
Ausführung, dass in dieser Gestalt wir es mit einer künst-
lichen Verrenkung zu thun haben, die den guten Sinn, der
diesen Sätzen zu Grunde liegt , durch das untractable nonB
und die Gewaltsamkeiten der Subjectivierung von Prädicatsbe-
griffen verhüllt, und Sätze schafft, wie Kein nicht-gleiche-
Diagonalen-habendes ist ein Rechteck.
Der ganze Sinn der Contraposition wird sofort deutlich,
wenn wir vermittelst der h3^pothetischen Form als Pradicat
lassen was Pradicat ist, und statt Alle A sind B setzen
Wenn etwas A ist, so ist es B. Daraus folgt
Wenn etwas nicht B ist , so ist es nicht A : und diese
Contraposition tritt damit der Conversion der verneinenden
Urtheile zur Seite, welche aus:
Wenn etwas A ist, so ist es nicht B, folgert
Wenn etwas B ist, ist es nicht A.
l Diese beiden Fälle sog. reiner Conversion und Contraposi-
tion haben guten Sinn und sind werthvoll; sie drücken nach
allen Seiten aus, was mit der Behauptung gesagt ist, einem
Subject komme ein Pradicat nothwendig zu oder nicht zu.
Die übrigen Fälle, welche nur particuläre Urtheile er-
geben, zeigen eben dadurch an, dass keine bestimmte Folge-
rung möglich, sondern nur die Unvereinbarkeit oder nothwen-
dige Zusammengehörigkeit von Begriffen negiert ist.
Wenn gilt Kein A ist B, d. h.
442 n, 3. Die Begeln des Schlusses. 386
Wenn etwas A ist, so ist es nicht B,
so ist daraus, dass etwas nicht B ist, nicht nothwendig zu
schliessen, dass es A sei, wohl aber ist möglich, dass es A sei.
7. Man kann die Lehre von den unmittelbaren Folge-
rungen auch noch auf das disjunctive Urtheil ausdehnen. Wenn
A entweder B oder C, so ist falsch, dass es sowohl B als C,
und falsch dass es weder B noch C ist; wenn es falsch ist,
dass A entweder B oder C, so kann A sowohl B als C, oder
A weder B noch C, oder A entweder B oder C oder D sein;
auch hier folgt der Schluss ganz unabhängig von den bestimmten
Elementen des Urtheils aus dem blossen Sinne der Disjunction.
8. Endlich können, wenn man den Begriff der unmittel-
baren Folgerung über die hergebrachte Sphäre ausdehnt, auch
noch alle die Operationen hiehergezogen werden, durch welche
wir eine Mehrheit einzelner Urtheile zu conjunctiven und
copulativen zusammenfassen. Aus A ist B und A ist C folgt
A ist sowohl B als C, aus A ist nicht B und A ist nicht C
folgt A ist weder B noch C ; das conjunctive Urtheil drückt
nur sprachlich die Thatsache aus, die in dem Bewusstsein der
Gültigkeit beider Urtheile enthalten ist; materiell ist nichts
Neues gesagt, nur die Verknüpfung, die thatsächlich schon
vorhanden war, zum ausdrücklichen Bewusstsein gebracht. In
der Bewegung unseres Denkens, das die einzelnen Erkenntnisse
ordnet und verknüpft, kommt diesen Operationen eine hervor-
ragende Bedeutung zu, und darum verdienen sie hier ihre
Stelle zu finden.
9. Der Werth dieser ganzen Lehre von den sog. unmit-
telbaren Folgerungen besteht, nach MilFs richtiger Bemerkung,
darin, dass sie dasselbe Urtheil in verschiedenen sprachlichen
Wendungen und Ausdrucksweisen erkennen lassen ; die Urtheile,
die so aus einander gefolgert werden, sind theils einfache Um-
formungen einer bestimmten Aussage, die dieselbe in eine im
Zusammenhang bequeme Form zu bringen erlauben , theils
stellen sie besondere Seiten derselben, welche im sprachlichen
Ausdruck nicht besonders betont sind , heraus , theils dienen
sie als V o r s i c h t s m a s s r e g e 1 n , damit nicht ein Urtheil
mit einem ähnlichen verwechselt und mehr darin gefunden
werde, als darin liegt.
386. 387 § 53. Die Schlüsse aus Begrififsverhältnissen. 443
§ 53.
Aus einem gegebenen einfachen Urtlieile lassen sich auf
Grund des Inhalts seiner Elemente andere ableiten
nach Regeln, welche theils aus der Analyse des Prädi-
cats begriffs, theils -durch das Zurückgehen auf den
Umfang des Su bj ect sb egrif fs zu gewinnen sind.
1. Gilt ein Urtheil A ist B , so ist offenbar alles das,
was in B seinem begrifflichen Gehalte nach mit-
gedacht wird, eben damit von A behauptet , dass B von
A behauptet wird; und ebenso alles das, was von B seinem
begrifflichen Gehalte nach ausgeschlossen ist, von A eben
damit ausgeschlossen, dass B von A behauptet wird.
Enthalte B die Begriffsmerkmale c, d, e; oder die abge-
leiteten Bestimmungen f, g, h; schliesse es die Merkmale m,
n, o, die Begriffe P, Q, R u. s. f. aus: so ist c, d, e, f, g, h,
von A ebendarum zu bejahen, m, n, o, P, Q, R von A eben-
darum zu verneinen, weil B von A bejaht wird.
Diese begrifflichen Verhältnisse sprechen sich einfach aus
in den ürtheilen:
Wenn etwas B ist, so ist es c, d, e u. s. w.
Wenn etwas B ist, so ist es nicht m, nicht n, nicht P, u. s. w.
und damit, durch Analyse des Begriffs B und durch Aufzäh-
lung des mit ihm Unverträglichen erhalten wir die Regel,
um von A ist B zu einem andern Urtheile überzugehen, nach
dem Grundsatz Nota notae est nota rei, repugnans notae re-
imgnat rei. Es gelten also die Schlüsse :
1. Wenn etwas B ist, so ist es c, d, e
__ A. ist B
Also A ist c, d, e
2. Wenn etwas B ist, so ist es nicht P, Q, R
A Jst B
Also nicht P, Q, R.
Es ist klar, dass diese Schlüsse gültig sind, mag nun A
sein was es will, ein Einzelnes oder ein Begriff, mag der Sinn
in welchem das Prädicat B ihm zugesprochen wird , sein
welcher er will; was in B begrifflich mitgedacht wird, wird
mit ihm prädiciert, was von ihm ausgeschlossen ist, ist mit
444 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 387. 388
seiner Prädication negiert ; die neuen Urtheile sind nothwendige
Folgen der Prädication durch B.
Es ist ebenso klar, dass wenn A ein bestimmtes
einzelnes Subject ist, es gar keinen andern Weg gibt, über
das Urtheil A ist B ohne Zuhüifenahme weiterer Sätze zu
einem andern hinauszukommen.
2. Wäre das Urtheil AistB ein erklärendes oder
ein unbedingt allgemeines, in welchem also die Be-
zeichnung des Subjects nicht als Name von bestimmtem Ein-
zelnem, sondern als Begriffszeichen verwendet ist, so dass A
ist B selbst die Bedeutung hätte: Wenn etwas A ist, so ist
es B: so lässt sich über das Urtheil A ist B auch dadurch
zu einem anderen gelangen, dass B nun allem dem zu-
gesprochen wird, wovon A prädiciert wird, oder
was unter A enthalten ist, das Urtheilen also auf die
einzelnen Arten von A oder die unter A befassten Individuen
zurückgeht, wobei A ist B den Obersatz gibt.
Wenn etwas A ist so ist es B
X, Y, Z sind A
also X, Y, Z sind B.
Während also dort der Inhalt des ursprünglichen
Prädicats expliciert und zu einzelnen Bestimmungen
oder abgeleiteten Prädicaten fortgegangen wird, wird im zweiten
Fall der Umfang des ursprünglichen Subjects
specialisiert, und das Prädicat den unter dem ursprüng-
lichen Subjectsbegriff befassten Subjecten zugesprochen; nach
der Regel (dem sog. Dictum de omni) Quidquid valet de
Omnibus, valet etiam de singulis, die mit Beziehung darauf
aufgestellt ist, dass die Formel
Wenn etwas A ist, ist es B, in der Regel als sog. all-
gemeines Urtheil
Alle A sind B erscheint*).
*) Dass das sog. Dictum de omni eine Consequenz des Grundsatzes
ist : »Nota notae est nota rei« hat Kant in seiner Schrift von der falschen
Spitzfindigkeit der vier syllogist. Figuren kurz und klar nachgewiesen.
Das Einzelne nemlich fällt ja eben nur dadurch unter einen Begriff,
dass es diesen als Merkmal an sich hat. Damit sind nicht, wie B. Erd-
mann (Philos. Aufsätze zu E. Zellers Jubiläum S. 202) entgegenhält,
388. 389 § 53. Die Schlüsse aus Begriffsverhältnissen. 445
Auch der letzteren Richtung stellt sich die Negation
zur Seite. Wenn nemlich statt des bejahenden Urtheils das
verneinende vorausgienge, A ist nicht N, im Sinne von Was
A ist, ist nicht N — so gilt dieselbe Verneinung von allem
was A ist.
Was A ist, ist nicht N
X, Y, Z sind A
X, Y, Z sind nicht N.
(Dictum de nuUo).
3. Vergleichen wir die beiden Fälle der Analyse des
Prädicats und der Specialisierung des Subjects , so zeigt sich,
dass sie trotz ihres Unterschieds doch auf dieselbe Formel
führen :
Wenn etwas A ist, ist es B (ist es nicht N)
S ist A
S ist B (S ist nicht N).
Der Unterschied liegt nur im Sinne der Pradication,
vor allem des Untersatzes; ist darin ein Subject unter seine
Gattung gestellt, und das Prädicat desselben also im selben
Sinne geeignet, Subjectsbegriff zu werden , so haben wir die
Specialisierung des Umfangs als die Tendenz des Schlusses; im,
andern Fall die Explication des Inhalts. Im ersten Fall ist
der Ausdruck des Obersatzes (der Regel) in einem allgemeinen
Urtheile natürlich; im zweiten nicht. Dort ist der Obersatz,
hier der Untersatz das Erste (§ 49, 3).
In dem Schlüsse: alle Menschen sind sterblich, Cajus ist
ein Mensch , also ist Cajus sterblich , gehe ich von meinem
ursprünglichen Satz in den Umfang des Subjectsbegriffs ; in
dem Schlüsse:
Cajus hat Fieber,
Wer Fieber hat, ist krank
Also ist Cajus krank,
gehe ich von meinem ursprünglichen Prädicat »Fieber haben«
zu der darin mitgedachten weiteren Bestimmung krank ; Fieber
beide Formeln gleichgesetzt, sondern die erste als die ursprüng-
liche primäre, die zweite als die abgeleitete und secundäre unter-
schieden.
446 tt. 3. Die Regeln des Schlusses. 389. 390
haben ist kein Gattungsbegriff zu einzelnen Individuen; und
der Schlnss der ein allgemeines Urtheil in gewöhnlicher Form
zum Obersatze machte:
All« Fiebernden sind Kranke
Cajus ist ein Fiebernder
Also ein Kranker
ist zwar änsserlich dem obigen gleichlautend; aber der Aus-
druck des Obersatzes ist gezwungen, und der Untersatz scheint
eine Subsumtion unter einen Gattungsbegriff aussprechen zu
wollen, während er doch einen zeitlichen Zustand bezeichnet.
4. Es ist klar, dass dieses Explicieren des Inhalts und
Specialisieren des Umfangs ganz in derselben Weise auch auf
die verwickeiteren Relationsurtheile anwendbar ist,
in welche ein derartiges Prädicat oder Subject eingeht , auch
dann, wenn vielleicht die sprachliche Form die betreffenden
Bestimmungen grammatisch nicht einmal als Subject oder
Prädicat hinstellt.
Der Schluss: Die Schwerkraft ertheilt allen Körpern die-
selbe Geschwindigkeit , also fallen ein Stück Blei und eine
Feder (im luftleeren Raum) gleich schnell — löst sich in eine
doppelte Folgerung auf; einerseits in eine Entwicklung des
Prädicats in seine Folgen, andrerseits in eine Specialisierung
des Terminus »alle Körper«, der, obgleich nicht grammatisches
Subject, doch dasjenige bezeichnet, worüber im Grunde die
Aussage gemacht ist. Es wäre überflüssig durch gewaltsame
Umformung erst diesen Terminus auch grammatisch zum
Subject zu machen; das Recht der Einsetzung der Species
für das Genus ist aus demselben Grunde klar , wie wenn der
Obersatz hiesse Alle A sind B, und es bedarf also keines be-
sonderen Substitutionsprincips neben dem Dictum de
omni, um derartige Schlüsse zu rechtfertigen; der Unterschied
liegt nur in der grammatischen Form der Sätze.
5. Würde von einem ve rn einen d en Urt heile aus-
gegangen: so gälte nicht, dass alles das, was in dem ver-
neinten Prädicat nothwendig mitgedacht wird,
auch mit verneint wird. Wenn ich verneine, dass diese Figur
ein Quadrat ist: so verneine ich damit nicht, dass sie recht-
winklich oder ein Viereck ist, sondern ich verneine nur den
390. 391 § 53. Die Schlüsse aus BegriiFsverhältmssen. 447
Inbegriff aller Merkmale; ein Schluss aus der b 1 o s s e n A n a-
lyse des verneinten Präd icat s ist also nicht möglich;
es gilt nicht: Wenn etwas B ist, ist es c, d
A ist nicht B
also nicht c, d
Es gälte ebensowenig, dass, was von dem verneinten Prä-
dicate ausgeschlossen ist, nun zu bejahen wäre;
daraus, dass etwas nicht roth ist, folgt nicht, dass es schwarz
ist. Es gilt also nicht
Wenn etwas B ist, ist es nicht C
A ist nicht B
also C.
Die Unzulässigkeit erhellt daraus, dass die Verneinung
des Grundes die Verneinung der Folge nicht nothwendig macht.
Gehen wir andrerseits in den Umfang zurück: so folgt
aus A ist nicht B ebensowenig , dass nun , was nicht A ist,
B wäre; es folgt aus dem vorigen Grunde nicht
Wenn etwas A ist, ist es nicht B
C ist nicht A
also B.
Wenn dagegen Urtheile da sind, welche Voraussetz-
ungen ausdrücken, die das verneinte Prädicat zur Folge
haben , oder Urtheile , welche den Umfang desselben
special isieren — so ergeben sich die folgenden Schlüsse
A ist nicht B A ist nicht B
Wenn etwas C ist, ist es B C, D, E ist B
A ist nicht~C "A ist nicht C, D, E
welche sich als Anwendungen der Regel, dass mit der Folge
der Grund aufgehoben ist, in dem folgenden Schema darstellen
lassen
Was A ist, ist B — ^ ist nicht N
C ist nicht B C ist N
C ist nicht A C ist nicht Ä
(>. Dies sind die einzig möglichen Weisen , durch die
gegeben en Begriffsverhültnisse über ein einfaches
Urtheil zu einem andern bestimmten Urtheil hinaus zu kom-
men: sie alle beruhen auf den beiden Grundsätzen, dass, was
in e i n e m B e g r i f f a 1 s s e i n I n h a 1 1 g e d a c h t w i r d,
448 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 391. 392
von all dem bejaht werden muss, wovon der Be-
griff bejaht wird, also auch von allen Arten des Be-
griffs und von allen Individuen, die unter ihn fallen ; und was
von einem Begriff ausgeschlossen ist, von allem
ausgeschlossen ist, worin dieser Begriff m itge-
dacht wird, also von seinem ganzen Umfang; und es ist
aus der Darstellung klar, wie sich darin der Modus ponens
und der Modus tollens des hypothetischen Schlusses zeigt.
7. Auf dasselbe Resultat gelangt man von dem andern
Ausgangspunkt (§ 49, 2) aus, wenn nämlich gefragt wird,
ob eine irgendwie entstandene Synthese A ist B begründet
sei oder nicht? Wenn diese Frage nicht sofort gelöst wer-
den kann dadurch, dass B als in A enthalten erkannt wird,
und dadurch A ist B als analytisches Urtheil sich ausweist,
wenn es also einer Vermittlung bedarf, um die Gewissheit
herbeizuführen, dass A B ist: so kann diese Vermittlung,
wenn nicht anderswoher Sätze herbeigezogen werden sollen,
wieder nur darin bestehen, dass ein Prädicat X, aus welchem
B noth wendig folgt, in A entdeckt werden kann ; so dass also
die beiden Sätze gelten: Wenn etwas X ist, ist es B, und A
ist X. Denn dann lässt sich schliessen A ist B. Ob dabei
X ein Gattungsbegriff zu A ist, dem B zukommt, oder ob es
eine andere prädicative Bestimmung ist, zu deren Inhalt B
gehört, macht keinen wesentlichen Unterschied; es hängt da-
von nur der Sinn des Untersatzes A ist X ab.
Die verneinendeEntscheidung der Frage erfolgt
ebenso, sobald sich eine Bestimmung Y in A entdecken lässfc,
von der gilt: Wenn etwas Y ist, ist es nicht B. Dann er-
folgt der Schluss :
Wenn etwas Y ist, ist es nicht B
A ist Y
Also ist A nicht B.
Diese beiden Schemata stellen den kürzesten und einfachsten
Weg dar, wie zur Entscheidung über eine aufgegebene Syn-
thesis gelangt werden könne; und sie stellen die einzigen
Wege dar, wenn vorausgesetzt wird, dass aus den besteh-
enden Begriffsverhältnissen alle nothwendigen Zu-
sammenhänge abgeleitet, zuletzt also auf analytische Urtheile
8Ö2, 3Ö3 § 53. Die Schlüsse aus feegriffsverhältnissen. 44^
zurückgeführt werden müssen. Darauf beruht die Bedeutung
des Mittelbegriffes für den Schluss ; er ist dasjenige,
was die Beilegung des Prädicats B an das Subject A , be-
ziehungsweise die Verneinung desselben vermittelt, indem er
einerseits Prädicat von A, andererseits Subject eines allge-
meinen bejahenden oder verneinenden Urtheils mit dem Prä-
dicate B ist*).
Die Verneinung der Hypothese A ist B kann aber auch,
auf eine mehr vermittelte Weise erfolgen : wenn nämlich nicht
unmittelbar das Urtheil vorliegt: wenn etwas Y ist, ist es
nicht B, sondern zu dem Urtheil A ist Y ein zweites hinzu-
träte: was B ist, ist nicht Y; oder aber bekannt wäre: was
B ist, ist Z, und A ist nicht Z. Dann entstünde
Was B ist, ist nicht Y Was B ist, ist Z
A ist Y A ist nicht Z
Also A ist nicht B Also A ist nicht B.
(Im Grunde kommt die erste dieser Formeln auf die vor-
angehende negative zurück; denn aus: Was B ist, ist nicht
Y, folgt auch: Was Y ist, ist nicht B.)
Diese Vermittlungsweise geht auf den Grundsatz zurück,
dass, wenn ein Prädicat von einem Subjecte bejaht, von dem
andern Subjecte verneint wird, diese Subjecte nicht vereinbar
sein können; sie wird naturgemäss da an die Stelle der vor-
angehenden treten, wenn B ein substantivischer Begriff, Y
und Z aber Prädicatsbestimmungen sind, die ihrer Natur nach,
nicht geeignet sind, Subjecte zu werden. Wenn z. B. gefragt
wird, ob dieser Stein ein Diamant ist: so weiss ich, dass der
Diamant keine Doppelbrechung zeigt; ich schliesse:
Was ein Diamant ist, zeigt keine Doppelbrechung
Dieser Stein zeigt Doppelbrechung
Also ist er kein Diamant.
Diese Weise ist naturgemässer, als zu sagen: Alles Doppel-
brechung zeigende ist nicht Diamant.
Somit führt die Aufsuchung der verschiedenen möglichen
Vermittlungen , durch welche sich über eine gegebene
: *) Vgl. Kant, von der falschen Spitzfindigkeit der syllogist. Fi-
guren § 1.
S ig wart , Logik. 1. 2, Auflage. 29
450 11» 3. Die Regeln des Schlusses. 393.394
Frage entscheiden lässt, genau auf dasselbe Resultat;
und die obigen Schlussformen des Modus ponens und tollens
in ihren verschiedenen Bedeutungen erweisen sich also als
diejenigen nach denen geschlossen werden muss, wenn der
Schluss auf den einfachen analytischen Begriffs-
verhältnissen und Begriffsgegensätzen beruhen soll.
§ 54.
Die aus der aristotelischen Theorie hervorge-
wachsene traditionelle Lehre von den kategori-
schen Syllogismen ruht auf der Voraussetzung des vo-
rigen §, dass die feststehenden Begriffsverhält-
nisse den Schlüssen zu Grunde liegen. Ihre Figuren
und Modi, deren Unterscheidung von dem Interesse der
aristotelischen Syllogistik aus berechtigt war, sind von
ih re m S t andpu nk t aus überflüssige Specia-
lisierungen , welche sich einfach in die allgera feineren
Formeln des vorigen § auflösen.
1. Von der Voraussetzung feststehender Begriffsverhält-
nisse ist denn auch die aristotelische Syllogistik
und die von ihr abhängige traditionelle Lehre ausgegangen.
Indem Aristoteles ein objectives Begriffssystem voraussetzt,
das sich in der realen Welt verwirklicht, so dass der Begriff
überall ails das das Wesen der Dinge constituierende und als
die Ursache ihrer einzelnen Bestimmungen erscheint, stellen
sich ihm alle Ui;;tlieile, die ein wahres Wissen enthalten, als
Ausdruck der nothwendigen Begriffsverhältnisse dar, und der
Syllogismus ist dazu da , die ganze Macht und Tragweite
jedes einzelnen Begriffs der Erkenntniss zu offenbaren, indem
er die einzelnen Urtheile verknüpft und durch die begriffliche
Einheit voneinander abhängig macht; und der sprachliche
Ausdruck dieser Begriffs Verhältnisse ergibt sich daraus, dass
sie immer zugleich als Wesen des einzelnen Seienden erschei-
nen , dieses also in seiner begrifflichen Bestimmtheit das
eigentliche Subject des Urtheilens ist, das Verhältniss der
Begriffe also in dem allgemeinen oder particulären bejahen-
395 § 54. Die Bedeutung der aristoteliscliea f*iguren und Modi. 451
den oder verneinenden Urtheile zu Tage tritt. Die traditio-
nelle Logik hat dagegen ein subjectives Begriffs Sy-
stem, das nicht erst in der Erkenntniss zu suchen, sondern
als Voraussetzung gegeben ist, zu Grunde gelegt.
2. Das fundamentale Verhältniss ist nun das der
über- und untergeordneten Begriffe. Jeder Be-
griff hat .als sein natürliches Prädicat den ihm zunächst über-
geordneten ; sind also A, B, T drei Begriffe, die einander sub-
ordiniert sind , so spricht sich ihr Verhältniss in den beiden
Sätzen aus : A xaia Tiaviö? xoö B, B xaxa navzb^ xou T ; und
daraus ergibt sich durch den Syllogismus A xaxa Tcavxö^
xoö r. Darauf beruht die Terminologie, welche B den iKi(3oq
öpOQ (terminus medius) A und T die beiden axpa, und zwar
A das [letQoy axpov (terminus major), T das sXaxxov dcxpov
(terminus minor) nennt; woran sich schliesst, dass der erste
Satz, der den obersten Begriff (das Prädicat des Schlusssatzes)
vom Mittelbegriff prädiciert, die propositio major oder Ober-
satz genannt wurde, der zweite, der den Mittelbegriff vom
untersten (dem Subjecte des Schlusssatzes) prädiciert, die pro-
positio minor oder Untersatz; das Resultat des Syllogismus
ist die conclusio, der Schlusssatz.
So ist, wenn wir die gewohnten Bezeichnungen P für den
Oberbegriff, M für den Mittelbegriff, S für den Unterbegriff
anwenden, der Schluss, der das Wesen des Schliessens am di-
rectesten und unmittelbarsten zeigt, der bekannte
Ä Omne M est P
(^ Omne S est M
Ä ~ lErgong]DQne~S~TsirR
3. Indem nun Aristoteles zunächst den Unterschied der
verneinenden und bejahenden Urtheile heranzieht,
zeigt er, dass auch wenn der Obersatz verneinend ist, ein
Schluss mit negativem Schlusssatz möglich ist :
^ Kein M ist P
/i Alles S ist M
£' also Kein S ist P.
Dagegen wenn der Obersatz bejahend wäre, aber der
Untersatz verneinend, so entsteht kein Schluss, »denn es er-
gibt sich nichts Noth wendiges daraus, dass jenes gilt.« Wenn
29*
462 M, 3. Die ftegeln (^es Schlusses. 3Ö5
P allem M, dieses aber keinem S zukommt, so kann P noch
allem S zukommen oder auch nicht zukommen (lebendes Wesen
— Mensch — Pferd; lebendes Wesen — Mensch — Stein).
Ebensowenig entsteht ein Schluss, wenn beide Prämissen ver-
neinend sind.
Nimmt man den Unterschied der allgemeinen und
particul'aren ürtheile hinzu, so ergibt sich durch ähnliche
Ueberlegungen, dass der Obersatz nicht particulär sein kann,
wohl aber der Untersatz ein bejahendes particuläres Urtheil
sein darf.
Man schliesst nemlich dann
A Alles M ist P £ Kein M ist P,
I Einiges S ist M J Einiges S ist M
J also Einiges S ist P ö Einiges S ist nicht P.
Dies sind die 4 xpoTcotodermodi des Syllogismus,
die sich aus zwei Prämissen ergeben, deren erste den Mittel-
begriff zum Subject , deren zweite ihn zum Prädicat hat ; es
sind die 4vollkommenenSchlüsse (auXXoyca^iot teXecol),
in denen die 4 Arten des Urtheils aus den den Mittelbegriff
in der angegebenen Weise enthaltenden Prämissen abgeleitet
werden.
4, Nun kann aber der Mittelbegriff auch in beiden
Prämissen Prädicat , oder in beiden Prämissen Subject sein ;
jenes ist die zweite, dieses die dritte Figur (Seutepov
und TpcTov ax'yjpia). Unter dieser Voraussetzung sind folgende
Schlüsse möglich
In der zweiten Figur:
1. Modus 2. Modus
Kein P ist M Alles P ist M
Alles S ist M Kein S ist M
Kein S ist P Kein S ist P
3. Modus 4. Modus
Kein P ist M Alles P ist M
Einiges S ist M Einiges S ist nicht M
Einiges S ist nicht P Einiges S ist nicht P.
396 § 54. Die Bedeutung der aristotelischen Figuren und Modi. 453
In der dritten Figur:
1. Modus 2. Modus 3. Modus
Alles M ist P Kein M ist P Einiges M ist P
Alles M ist S Alles M ist S Alles M ist S
Einiges S ist P Einiges S ist nicht P Einiges S ist P
4. Modus 5. Modus 6. Modus
Alles M ist P Einiges M ist niclit P Kein M ist P
Einiges M ist S Alles M ist S Einiges M ist_S
Einiges S ist P Einiges S ist niclit P Einiges S ist nicht P.
Die Schlüsse dieser beiden Figuren erkennt Aristoteles
nicht als TiXeioi an, und reduciert sie durch Umkehrung der
Crtheile oder durch indirecte Beweise auf die erste Figur.
In ähnlicher Weise hat Aristoteles dann die verschie-
denen Schlüsse aus Prämissen untersucht, welche Urtheile der
Nothwendigkeit und Möglichkeit sind.
5, Diese aristotelische Syllogistik hat sich trotz manig-
facher Angriffe als der eigentliche Kern aller scholastischen
Logik immer wieder behauptet, trotzdem dass ihr ursprüng-
licher Sinn und die Bedeutung , die sie bei Aristoteles hat,
meist verloren gegangen ist. Dies zeigt sich nicht nur an der
Einführung der sog. vierten Figur*), sondern vor allem daran,
dass man , statt die Nothwendigkeit der begriff-
lichen Verhältnisse als den eigentlichen Kern des
*) Man entdeckte, dass unter den möglichen Stellungen des Mittel-
begriffs Aristoteles eine übersehen, nemlich diejenige, in welcher er
Prädicat des Obersatzes und Subject des Untersatzes ist; und man fand,
dass unter dieser Voraussetzung noch folgende 5 Modi möglich sind:
1. Modus. 2. Modus. 3. Modus.
Alle P sind M Alle P sind M Einiges P ist M
Alle M sind S ___Kein M ist S ^11^^^^^^^^
"Einrge"S~8rnd~P" ~~Kein S ist P Einiges S ist P.
4. Modus 5. Modus
Kein P ist M Kein P ist M
Alles M ist S Einiges M ist S
Einiges S ist' nicht P Einiges S ist nicht P.
Es bedarf keines Beweises, dass die ganze Grundvoraussetzung der ari-
stotelischen Theorie vergessen sein musste, ehe man den Begriffen diese
ihrer Natur widerstrebende Stellung zumuthete, und dass nur aus der
Betrachtung der äusserlichsten Form das Bediirfniss einer Ergänzung
der aristotelischen Lehre hervorgehen konnte.
454 W» 3. Die Regeln des Schlusses. ^. 397
Schliessens zu erkennen, sich gewöhnte in den Prämissen nur
Aussagen über die Umfangs Verhältnisse der Be-
griffe zu sehen, und darum die Beweiskraft derselben in
erster Linie in dem Verhältniss der Zahlausdrücke
suchte, als ob es sich darum handelte, in einer gegebenen
Menge von Dingen ein bestimmtes oder eine Anzahl von be-
stimmten vorzufinden und das Hauptgeschäft beim Schliessen
wäre, sich alle unter einen Begriff fallenden Objecte zumal
vorzustellen und nun nachzusehen, was sich unter diesen findet
und was nicht. Damit hängt die beliebt gewordene Mode zu-
sammen , die Gültigkeit der einzelnen Schlussfiguren durch eine
rein anschauliche Vergleich ung der Sphären der einzelnen Be-
griffe zu beweisen, als ob es sich in allen Urtheilen darum
handelte, das Subject in die Sphäre des Prädicatbe-
griffs hineinzustellen, als einen Theil einer grösseren Menge
gleichnamiger Objecte aufzuweisen, und nicht darum, zu sagen
was es ist und was es thut; wozu die gewöhnliche gedanken-
lose Handhabung des particulären Urtheils wesentlich beige-
tragen hat. So fand man in der Syllogistik zuletzt eine Art
von Rechenmaschine, an der man ohne sich weiter zu besinnen
an den äusseren Formen, der Stellung von Subject und Prä-
dicat alles ablesen könne, sobald man sich die Mühe gäbe,
die 19 Modi mit Hülfe der Versus memoriales gut im Ge-
dächtniss zu behalten und an einer Reihe nichtssagender Bei-
spiele einzuüben.
6. Lassen wir zunächst die Voraussetzungen der Lehre
bestehen: so ist vor allem einleuchtend, dass in der ersten
Figur der Unterschied des dritten und ersten , des vierten
und zweiten Modus ein rein nebensächlicher ist ; der Umstand,
dass der Untersatz in dem dritten und vierten Modus parti-
culär ist, ändert an dem Gang des Denkens schlechter-
dings nichts; da unter den »Einigen S« des Untersatzes und
des Schlusssatzes doch immer dieselben gemeint sein müssen,
und da ihnen das Prädicat doch vermöge einer ihnen gemein-
sam zukommenden begrifflichen Bestimmtheit beigelegt wird,
so ist der Sinn des Schlusses schlechterdings derselbe. Der
Unterschied liegt in dem Werthe des Resultates hin-
sichtlich der Bestimmung des Begriffs S, aber nicht in der
398 § 54. Die Bedeutung der aristotelischen Figuren und Modi. 455
Operation des Schliessens; und nur voii diesem Gesichtspunkt
aus hat Aristoteles, der überhaupt immer den Schlusssatz im
Auge hat, sie unterschieden. Sieht man bloss auf die Form
der Ableitung , so haben wir streng genommen nur zwei
verschiedene Schlussweisen:
Alle M sind P Kein M ist P
Alle, einige, ein S sind M AUie, einige, ein S sind M
Alle, einige, ein S sind P Alle, einige, ein S sind
nicht P.
Dort wird durch den Mittelbegriff zu dem Subjecte, dem er
zukommt, ein Prädicat herzugebracht, hier eines von dem-
selben ausgeschlossen.
Die Modi der zweiten Figur reducieren sich ebenso
zunächst auf zwei Schlussweisen: Wenn in irgend einem Sub-
jecte S ein Prädicat M gedacht wird, das von einem andern
Begriff P ausgeschlossen ist, so ist dieser selbst von dem
Subjecte ausgeschlossen ; und wenn von einem Subjecte ein
Begriff M ausgeschlossen ist, der einen anderen P unter sich
begreift, so ist P von dem Subjecte ausgeschlossen; ob
dieses S allgemein oder particulär ausgedrückt ist, ist gleich-
gültig. Wir haben also:
Kein P ist M Alles P ist M
Alle, einige, ein S sind M Alle, einige, ein S sind nicht M
Alle, einige, ein S sind nicht P Alle, einige, ein S sind nicht P.
Reducieren wir nun aber die unentbehrliche Regel, nach
der geschlossen wird, auf ihren entsprechendsten Ausdruck,
so lautet sie für die erste Figur:
Wenn etwas B ist, ist es A (1. u. 3. Modus)
Wenn etwas B ist, ist es nicht X (2. u. 4. Modus),
Als Assumtion erscheint:
bestimmte Subjecte C sind B —
als Folge: Also sind sie A, also sind sie nicht X.
Dieselben Regeln müssen aber auch der zweiten
Figur zu Grunde liegen; denn es gibt keine andere Folge aus
den einfachen Begriffsverhältnissen ; nur wird jetzt daraus
geschlossen, dass die Folge nicht eintritt,
also aus dem Nichtgelten der Folge auf das Nichtgelten des
Grundes.
456 II> 3. Die Regeln des Schlusses. 899
Wenn etwas B ist, ist es A
Nun ist C (alles C, einiges C) nicht A
also auch nicht B (2. und 4. Modus).
Wenn etwas B ist, ist es nicht X
Nun ist C (alles C, einiges C) X
also nicht B (1. und 3. Modus).
Der Zusammenhang wie der Unterschied der ersten und zweiten
Figur erhellt also einfach daraus , dass dort aus der Gültig-
keit des Grundes auf die Gültigkeit einer (bejahenden oder
verneinenden) Folge, hier aus der Ungültigkeit der (bejahen-
den oder verneinenden) Folge auf die Ungültigkeit des Grun-
des geschlossen wird*), und somit stimmen die beiden ersten
Figuren des Aristoteles genau mit dem überein, was wir oben
in § 53 gefunden.
Somit lassen sich die sämmtlichen Modi der ersten und
zweiten Figur in einer einzigen Formel darstellen , aus
der zugleich die Gründe des &hliessens wie ihre unterschiede
erhellen :
Obersatz :
Wenn etwas B ist, ist es A — ist es nicht X.
Untersatz und Schlusssatz der 1. Figur ;
C (alles, einiges, ein C) ist B
also C (alles, einiges, ein C) ist A — ist nicht X.
Untersatz und Schlusssatz der 2. Figur :
C (alles, einiges, ein C) ist nicht A — ist X
also C (alles, einiges, ein C) ist nicht B.
*) Damit lösen sich auch solche Schwierigkeiten, wie die, dass
gegen die Regel des Aristoteles aus zwei negativen Prämissen doch ein
Schluss folgen könne; nemlich so: Was nicht M ist, ist nicht P
S ist nicht M, woraus folge
S ist nicht P.
Der Schluss ist unzweifelhaft richtig; aber falsch ist, dass er aus zwei
negativen Prämissen im aristot, Sinne folge; denn der Satz was nicht
M ist, ist nicht P ist bloss dem Ausdruck nach verneinend, in der That
gleichbedeutend mit Alle P sind M; der Zusammenhang der Vernei-
nungen ruht auf dem positiven Verhältniss der Prädicate. Nur die
Gewohnheit ganz äusserlicher Betrachtungsweise kann an solchen Dingen
Anstoss nehmen.
400 § 54. Die Bedeutung der aristotelischen Figuren und Modi. 457
7. Die particulären Urtheile der dritten Figur haben
eine wesentlich andere Bedeutung als die particulären Urtheile
der beiden ersten. Bei diesen steht der particulär genommene
Terminus schon ursprünglich als Suhject, und die Particulari-
tät ist Nebensache, vielleicht bloss sprachlicher Ausdruck; es
sind dieselben Subjecte, welche im Untersatz und Schlusssatz
erscheinen. Dort aher erscheint der particuläre Ausdruck erst
im Schlusssatz als Suhject, und dadurch haftet ihm die ganze
Unbestimmtheit des Particulären an; er ist nur einem Mög-
lichkeitsurtheil äquivalent ; von einer nothwendigen
Folge im gewöhnlichen Sinne kann in der dritten Figur gar
nicht die Rede sein. Dass zwei Prädicate demselben
Subjecte zukommen, ist im ersten, dritten und vierten
Modus gleichmässig das Wesentliche; denn in den beiden
letzteren trägt nur der Theil von allen M, welcher mit einigen
M identisch ist, die Last der Folgerung. Daraus folgt aber
einfach, dass die beiden Prädicate vereinbar sind,
d. h. sich nicht ausschliessen. Dass ein P r ä d i c a t
Pan einem Subjecte fehlt, von welchem das andere S
gilt, ist ebenso das Gemeinschaftliche des 2., 5. und 6. Modus;
und daraus folgt, dass sie nicht nothwendig zusam-
mengehören. Streng genommen also ist die Regel, nach
der geschlossen wird, und welche die Ableitung des Schluss-
satzes aus den Prämissen begründet, gar nicht in diesen selbst
ausgedrückt ; der verschwiegene Obersatz zu den bejahenden
Modis ist: Wenn zwei Prädicate demselben Suhject zukom-
men, sind sie vereinbar, schliessen sie sich nicht nothwendig
aus ; die beiden Prämissen bilden zusammen die Assumtion
zu dem verschwiegenen Obersatz. Ebenso ist der Obersatz zu
den Modis mit negativer Conclusion: Wenn von zwei Prädi-
caten eines an einem Subjecte fehlt, dem das andere zukommt,
so gehören sie nicht nothwendig zusammen ; die beiden Prä-
missen bilden wieder zusammen die Assumtion zu diesem Obersatz.
Was also erschlossen wird, ist die bestimmte Vernein-
ung einerNothwendigkeit, einerseits der nothwendigen
Ausschliessung, andrerseits des nothwendigen Zusammenge-
hörens; und die Schwäche der dritten Figur ist eben, dass sie
keine Nothwendigkeit begründen, sondern nur eine solche ver-
458 'I. 3. Die Regeln des Schlusges. 400
neinen kann , was sich in der Particularitat der Conclusion
ausdrückt.
Von diesem Gesichtspunkt aus können auch, wie Lotze (S. 113)
ausführt, zwei negative Prämissen einen ähnlichen Schluss auf
die Verneinung einer Noth wendigkeit ergeben. Wenn nemhch
M nicht P und M nicht S ist, so folgt daraus, dass nicht noth-
wendig aus der Verneinung von P auf die Bejahung von S
und aus der Verneinung von S auf die Bejahung von P ge-
schlossen werden dürfe ; was nicht P ist, ist darum nicht noth-
wendig S und umgekehrt ; was verneint wird, ist also der Zu-
sammenhang den das disjunctive Urtheil ausspräche : M ist
entweder P oder S. Denn die beiden Prämissen lassen sich in
dem Urtheil vereinigen : M ist weder S noch P, und dieses ver-
neint die Disjunction : M ist entweder S oder P. Warum Ari-
stoteles diese Fälle ausgeschlossen hat, erhellt daraus, dass sich
ihr Ergebniss in keiner der Arten des Urtheils aussprechen
lässt, auf die er sein Augenmerk richtet; denn nach dem ge-
wöhnlichen Schema wäre der Schlusssatz zu formulieren : Einiges
nicht — S ist nicht P ; womit über das Verhältniss der Begriffe
S und P gar nichts ausgesagt ist, weder ob sie sich ganz oder
theilweise ausschliessen noch ob sie ganz oder theilweise in-
einander sind ; so dass die Regel : Ex mere negativis nihil se-
quitur in ihrem ursprünglichen Sinne unangefochten bleibt,
wenn auch derjenige, der meint alles müsse entweder X oder
Y sein, durch ein Beispiel widerlegt werden kann, in welchem
ein Z weder X noch Y ist*).
*) Viel weiter dehnt Schuppe (Erkenntnissth. Logik S. 128 flF.) den
Kreis der Schlüsse aus, welche aus den von Aristoteles verworfenen
Combinationen der Prämissen gezogen werden können.
Schon wenn die beiden Prämissen a nicht b und b nicht c einfache
Unterscheidung aussprechen, stellen sie fest, dass a und c in dem einen
Punkte, dass sie nicht b sind, zusammentreffen, was eine unter Um-
ständen höchst wichtige Entdeckung sei, welche die sonst verschiedenen
a und c verbinde. Allein diese Entdeckung wird doch in dem Satze
ausgedrückt: Weder a noch c sind b, der nur die beiden Prämissen
vereinigt wiederholt; und Schuppe erkennt denn auch für diesen Fall
den Satz an: Ex mere negativis nihil sequitur.
Bei Zusammengehörigkeitsurtheilen sei aber dieser Satz offenbar
falsch. Zuerst wird dafür das S. 456 erledigte Beispiel eines Schlusses
angeführt, dessen Obersatz lautet: Was nicht M ist, ist nicht P.
400 § 55. Der Werth des Syllogismus. 459
§ 55.
Wenn die kategorischen Syllogismen als Obersätze ana-
lytische Begriff s-Urtheile voraussetzen, so können sie
Aus kein M ist P und S ist nicht M schliessen wir, das P dem S
jedenfalls nicht um des M willen abgesprochen werden kann, »das ist
unter Umständen ein sehr wichtiges Resultat, wenn wir unklare Vor-
stellungen . bekämpfen , welche, ohne es auszusprechen , das P dem S
doch um einer Aehnlichkeit mit M willen absprechen und kann zu der
Anerkennung von SP führen.« Schuppe unterlässt seine Sätze durch
Beispiele zu illustrieren; um die Prüfung seiner Sätze zu erleichtern,
nehmen wir eines, das zu den obigen Worten passt: kein Fisch hat
warmes Blut — der Wal ist kein Fisch — daraus sollen wir schliessen,
dass dem Wal die Warmblütigkeit jedenfalls nicht wegen seiner Aehn-
lichkeit mit den Fischen abgesprochen werden dürfe. Aber schliessen
wir das in der That aus beiden Prämissen? Wer in Gefahr ist,
aus der Fischähnlichkeit des Wals auf seine Kaltblütigkeit zu schliessen,
den verhindert daran doch zunächst nur der Untersatz, und nicht
beide Prämissen zusammen. Haben wir nemlich
Was ein Fisch ist, ist nicht warmblütig
Der Wal ist kein Fisch,
80 verhindert eben nur der Untersatz die Möglichkeit der Subsumtion ;
einen Schluss überhaupt aber verbietet die Kegel, dass aus dem Nicht-
stattfinden der Hypothesis nicht auf das Nichtstattfinden der Thesis
geschlossen werden dürfe. Schuppe sagt also mit andern Worten nur
dasselbe, dass bei so beschafienen Prämissen kein Schluss gezogen werden
kann. Denn ob nun P dem S zukommt oder nicht, ist aus diesen
Prämissen schlechterdings nicht aaszumachen.
»Aus kein P ist M und S ist nicht M« (ich ändere die Zeichen, die
Schuppe hier verwechselt hat) »schliessen wir ähnlich, dass durchaus
nicht um eines (in unklarer Weise) an S gedachten M willen S nicht
P zu sein brauche, dass also von dieser Seite her die Möglichkeit des
SP aufrecht erhalten werden müsse«. Wieder wird der drohende falsche
Schluss nur durch den Untersatz : S nicht M verhindert ; S ist M würde
allerdings ergeben, dass S nicht P ist; wenn aber S nicht M, so folgt
eben nichts bestimmtes, weder dass S P noch dass S nicht P ist.
M ist nicht P, M aber auch nicht S beweist , dass S und P zusam-
men fehlen kann (Lotzes oben erwähnter Schluss).
Ex mere particularibus nihil sequitur sei ebenso zweifelhaft. »Nur
einige aber jedenfalls einige M sind P, und ebenso nur einige, aber
jedenfalls einige S sind M macht, wenn noch nicht bekannt ist, welche
M P und welche S M sind, jedenfalls im einzelnen Falle die Möglichkeit,
dass ein SP sei, sicher« — eine sichere Möglichkeit (im Unter-
schiede von einer ganz vagen, nur auf vollHtändigera Nichtwissen ge-
gründeten) scheint aber doch nur da gefunden werden zu können, wo
460 II' 3* ^^ Regeln des Schlusses. 400
die Aufgabe, das immer neu entstehende Denken zu
begründen , nicht erfüllen , sondern sind darauf beschränkt,
erkannt ist dass S und P sich nicht aussschliessen ; folgt aber aus:
»einige Menschen sind blind und einige sehende Wesen sind Menschen«
im einzelnen Falle die sichere Möglichkeit, dass ein sehendes Wesen
blind ist? — »und führt ganz allgemein zu der oft ebenso werthvollen
Krkenntniss, dass 1. P zu den specifischen oder individuellen Differ-
enzen der M gehört oder von ihnen abhängt, von dem begrifflichen
Inhalt von M aber weder gefordert noch ausgeschlossen ist, 2., dass M
ebenso zu den specifischen oder individuellen Differenzen der S gehört,
von dem begrifflichen Inhalt S aber weder gefordert noch ausgeschlossen
ist, und dass 3., wenn S sich mit oder ohne P zeigt, dies mit der
An- oder Abwesenheit von M an ihm in keinem Zusammenhange steht«.
Allein die Sätze 1 und 2 sind nicht aus beiden Prämissen zusammen
erschlossen, sondern stellen nur eine Interpretation je einer Prämisse
dar ; allerdings besteht diese, wenn ihr die obige Form gegeben wird :
Nur einige, jedenfalls aber einige M sind P (wie Schuppe selbst nachher
hervorhebt) aus zwei Urtheilen : Einige M sind P, einige M sind nicht
P, und nur aus diesen beiden Sätzen zusammen folgt, das P von dem
begrifflichen M weder gefordert noch ausgeschlossen ist; die zwei Ur-
theile bilden die Assumtion zu dem Obersatz: Was mit dem Prädicat
M das einemal verbunden ist, das anderemal nicht, ist von demselben
weder gefordert noch ausgeschlossen — es gilt nach der bekannten
Regel weder Alle M sind P noch kein M ist P.
Der dritte der obigen Sätze aber, derjenige der allein aus beiden
Prämissen erschlossen wird, ist falsch. Nehmen wir z. B. für einige
M sind P und einige S sind M : Einige reguläre Figuren sind recht-
winklich, einige Vierecke sind reguläre Figuren, so kann doch nicht
gesagt werden, dass wenn das Viereck sich mit oder ohne Rechtwink-
lichkeit zeigt, das mit der An- oder Abwesenheit der regulären Eigen-
schaft in keinem Zusammenhang steht; denn das reguläre Viereck ist
nothwendig rechtwinklich. Ebenso : Einige Krystalle sind doppelbrechend,
einige Mineralien sind Krystalle — daraus soll folgen, dass wenn sich
an einem Mineral Doppelbrechung zeigt, das mit der An- oder Ab-
wesenheit des Krystallseins in keinem Zusammenhange steht?
»Einige M sind P, einige M sind S (S. 133) knüpft die Prädicate
P und S an die einigen M jedenfalls nicht um der Eigenschaft M
willen, sonst müssten sie allen M zukommen, sondern an specifische
oder individuelle Differenzen unter den M, und so ist der Schluss sicher,
dass in allen einzelnen M durch den Charakter M die Eigenschaften
P und S weder gefordert noch ausgeschlossen sind«. Doch nur unter
der Voraussetzung, dass zugleich gilt : Einige M sind nicht P , einige
M sind nicht S ; also folgern wir wie oben zuerst aus dem ersten Prä-
misseupaar (MiP, MoP) dass P, aus dem andern (MiS, MoS) dass S von
4öÖ § S5. Der Wertii des Syllogismus. 461
die feststehenden Begriff s Verhältnisse bei jeder
Anwendung gegenwärtig zu erhalten. Eine höhere
M weder gefordert noch ausgeschlossen ist; und dann summieren wir
beides in dem ürtheil: P und S sind durch den Charakter M weder
gefordert noch ausgeschlossen. Das ist aber kein Verfahren, durch das
vermittelst der Elimination von M ein bestimmtes Verhältniss
zwischen S und P gewonnen würde; dieses kann vielmehr aus jenen
Prämissen überhaupt nicht, auch nur negativ, bestimmt werden.
»Aus alle M sind P, kein S ist M ergibt sich, dass wenn S oder
ein S P ist, es dies jedenfalls nicht durch Vermittlung von M ist« —
dass S nicht durch Vermittlung von M irgend ein anderes Prädicat
haben kann, dies zu wissen genügt, dass S nicht M ist.
»Grundfalsch ist die Behauptung, dass in der Form PM und SM
nicht beide Prämissen affirmativ sein könnten« (S. 137). Hier sei
partielle Identität — zuweilen könne sie den Rang der Ver-
wandtschaft in Anspruch nehmen — sicher erschlossen. Je nach der
Beschaffenheit des M könne diese partielle Identität ein ebenso werth-
voUes Ergebniss sein, als die in der zweiten Figur sonst erschlossene
partielle Verschiedenheit. lieber den Terminus »partielle Identität« ist
oben S. 106 gesprochen worden; lässt man ihn gelten, so ist schliesslich
alles partiell identisch, der Schluss also werthlos. Wenn aber von der
Beschaffenheit von M abhängt, ob er einen Werth hat, so ist das werth-
volle Urtheil: Sowohl P als S sind M; eine einfache Summierung, die
den Mittelbegriff' nicht eliminiert. Dass diese Erkenntniss, als Vorbe-
reitung zu Operationen der Classification , einen Werth haben kann,
bestreite ich natürlich nicht; nur lässt sie sich nicht als Schluss be-
zeichnen, wenn man nicht jede Zusammenfassung von zwei IJrtheilen zu
einem copulativen oder conjunctiven Satze als Schluss bezeichnen will.
Dasselbe gilt gegen Wundt, der (Logik I S. 324) einen Vergleich-
ungsscbluss aufstellt, der theils Uebereinstimmungs- , theils Unter-
scheidungsschluss sei. Der erste laute: A hat das Merkmal M, B hat
das Merkmal M, also haben A und B ein übereinstimmendes Merkmal;
der zweite laute : A hat das Merkmal M, B hat nicht das Merkmal M, also
haben A und B ein unterscheidendes Merkmal. Worauf beruht denn aber
das »also« des ersten Schlusses? Offenbar auf dem Obersatz: wenn zwei
Objecte oder Begriffe dasselbe Merkmal haben, haben sie ein übereinstim-
mendes Merkmal — eine leere Tautologie, aus der über das weitere Ver-
hältniss der verglichenen Objecte oder Begriffe, ob sie identisch oder ent-
gegengesetzt oder was sonst sind, gar nichts zu entnehmen ist. Das »also»
des zweiten Schlusses setzt, nach Wundt's Formulierung, auch nur den
Obersatz voraus: Wenn von zwei Objecten das eine ein Merkmal hat
das dem andern nicht zukommt, so haben sie ein unterscheidendes
Merkmal. Das wäre nun an und für sich freilich sehr wenig erschlossen,
weil es nicht mehr sagen würde, als die beiden Prämissen in anderer
462 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 400
Bedeutung gewinnen die kategorischen Syllogismen nur, wenn
sie entweder, wie bei Aristoteles, in den Dienst der
Form auch sagen. Aber daraus, dass zwei Objecte ein unterscheidendes
Merkmal haben, folgt nun das Weitere, dass sie als Ganze verschieden
sind, dass sie nicht identisch sein können , dass , wenn es sich um Be-
griffe handelt, sie nicht von einander in irgend einem Sinne prädiciert
werden können ; ihr Verhältniss ist also wenigstens negativ bestimmt ;
und dieses Resultat ist so gewiss ein wichtiges, als die Erkenntnis» der
Verschiedenheit und des Gegensatzes eine der fundamentalen Functionen
unseres Denkens ist. Es handelt sich nicht, wie Schuppe zuerst die
Sache darstellt, nur- um die »partielle Verschiedenheit« , wie dort
um die »partielle Identität« ; aus der partiellen Identität folgt nichts, aus
der »partiellen Verschiedenheit« aber folgt (S. 138), dass S und P als Ganze
nicht identisch sind, dass sie nicht von demselben und nicht von einander
prädiciert werden können. Allerdings nur unter der Voraussetzung,
dass eine der Prämissen eine Nothwendigkeit enthält, und nicht
bloss zufällige Zustände nebeneinandergestellt werden. Daraus, dass
der gestern in meinem Zimmer stehende Öfen warm war, der heute darin
stehende kalt ist, folgt freilich nicht , dass der zweite Ofen nicht der-
selbe war wie der erste; ein Schluss lässt sich nur ziehen wenn der
Obersatz sagt, dass von einem Subjecte ein Prädicat nothwendig bejaht
oder verneint werden müsse , die Abwesenheit oder Anwesenheit dieses
Prädicats also das Subject selbst aufhebe. — Nach dem Ausgeführten
ist also Aristoteles vollkommen im Recht , wenn er in der zweiten
Figur nur ein negatives Resultat als wirkliches Ergebniss anerkennt,
von zwei positiven Prämissen aber sagt: Oü% laxat auXXoytaiiög.
Kann ich also diese Kritik der überlieferten Lehre nicht als be-
rechtigt anerkennen, so ist doch in den Ausführungen Schuppes der
richtige Gedanke betont, dass wenn aus zwei Prämissen Schlüsse gezogen
werden, der Schlusssatz häufig nicht aus den Prämissen für sich, sondern
vielmehr aus einem Obersatz gezogen werde, durch den erst der Inhalt
einer Prämisse mit dem Inhalt der andern zusammen ein Ergebniss lie-
fere. Nun ist zu unterscheiden zwischen zwei Fällen : Entweder ist eine
der Prämissen selbst ein hypothetisches Urtheil, dann bedarf es bloss
des allgemeinen Princips, dass mit dem Grunde die Folge gesetzt, mit
der Folge der Grand aufgehoben sei; oder es ist zu den beiden Prä-
missen ein speciellerer Grundsatz nöthig, als dessen Assumtion sie er-
scheinen, und aus dem sie nach dem allgemeinen Schlussprincip die
Conclusion ergeben. Die Schlüsse der ersten und zweiten Figur gehören
sofern sie einen allgemeinen Obersatz fordern, zu der ersten, die Schlüsse
der dritten Figur zu der zweiten Classe.
Wenn B. Er d mann (Philos. Aufsätze zum Doctorjubiläum E. Zellers
S. 201) behauptet, dass sich vermittelst definitorischer Urtheile allge-
mein bejahende Schlusssätze in der zweiten und dritten Figur erzielen
4Ö1 § 55. Öer Werth des Syllogismus. 46B
Begriffsbildung gestellt, oder wenn ihre Ober-.
Sätze nicht blosse Begriff surtheil e, sondern syn-
thetische Sätze im Kantischen Sinne sind.
1. Der Werth des syllogistischen Verfahrens überhaupt
wird in Frage gestellt, sobald wir dasselbe mit der traditio-
nellen Logik als begründet auf ein fertiges und nach allen
Seiten geschlossenes System von Begriffen und darauf beruh-
enden analytischen ürtheilen ansehen, und nicht etwa als ein
Mittel, erst zur Bildung von Begriffen durch eine so-
cratische eTraYwyy] zu gelangen.
Sind nemlich in dem normalen Syllogismus drei B e-
griffe S, M, P einander einfach übergeordnet, so liegt der
Schlusssatz S ist P in den vorausgesetzten Begriffsverhältnissen
ebenso direct enthalten, als der Untersatz S ist M oder der
Obersatz M ist P; P ist ein Theil des Inhalts des Begriffs
S, wie überhaupt jedes Merkmal und jede Combination von
Merknialen desselben; stellt aber S ein einzelnes Ding vor,
so muss, um seiner Unterordnung unter M gewiss zu sein,
die ganze Reihe seiner Merkmale durchgegangen werden,
(§ 47, 1. S. 397) also auch diejenigen, welche P constituieren;
man kann vielmehr erst sagen , dass SM ist , wenn man
schon weiss , dass es P ist. Der Satz : Das Quadrat ist ein
Viereck, gibt gewiss nicht ein entfernteres Prädicat als der
Satz : Das Quadrat ist ein Parallelogramm , und es bedarf
durchaus nicht des Schlusses : Das Quadrat ist ein Parallelo-
gramm, also ein Viereck; der Satz: diese Figur ist ein Pa-
rallelogramm, schliesst den Satz: Diese Figur ist ein Viereck
als Voraussetzung mit ein : eine bestimmte Figur kann nicht
eher als Parallelogramm erkannt werden , ehe man weiss,
dass sie ein Viereck ist; der Schluss : sie ist ein Parallelo-
gramm also ein Viereck, ist also nicht bloss überflüssig wie
vorhin, sondern verkehrt. Fragt man sich ferner, was man
lassen , z. B, alle Sängethiere besitzen Milchdrüsen, alle Wale besitzen
Milchdrüsen, also sind alle Wale Säugethiere, so übersieht er, dass
der Obersatz diesen definitorischen Charakter verschweigt, aus dem
was er sagt aber der Schlusssatz nicht folgt. Es müsste stehen : N u r
die Säugethiere besitzen MilchdritHen, d. h. was Milchdrüsen hat, ist
ein Säugethier; dann aber haben wir die 1. Figur.
464 II, 3. Die Hegeln cles Schlusses. 402
durch solches Aufsteigen zu immer höheren und höheren Be-
griffen gewinnt, so geht man, den eigentlichen Zwecken des
Erkennens durch das ürtheil gegenüber, einen Krebsgang ; die
Prädicate werden immer ärmer, inhaltsloser, man weiss immer
weniger von den Subjecten, man verliert auf dem Wege statt
zu gewinnen. Wenn ich weiss, dass ein Quadrat ein Parallelo-
gramm ist, so weiss ich weit mehr, als wenn ich mir eine
Leiter von Schlüssen aufbaue , die mich schliesslich belehren,
dass es ein Räumliches oder ein Theilbares oder zuletzt ein
irgendwie Seiendes sei; an dem letzteren Prädicate müssten
consequenterweise alle Schlüsse ankommen, die stufenweise die
Begriffspyramide hinaufklettern.
2. Der Charakter der Syllogistik, wie sie in der tradi-
tionellen Lehre aufgefasst und dargestellt wird, erhellt am
deutlichsten daraus, dass man mit Erfolg die Theorie durch-
führen konnte, es handle sich eigentlich im syllogistischeri
Schliessen nur um die Substitution eines Terminus
für einen andern. In einem gegebenen Urtheile, sagt Beneke*),
setzen wir an die Stelle des einen seiner Bestandtheile einen
andern , und zwar auf Veranlassung eines zweiten Urtheils,
welches ein Verhältniss angibt zwischen dem früheren und
dem neuen Bestandtheile. Die Substitution kann eintreten,
wenn der neue Besfcandtheil in keiner Weise über den alten
hinaussteht. Dies tritt ein, entweder wenn das Substituierte
dasselbe ist, nur in einem andern Ausdrucke , oder ein
Theil dessen, welchem es substituiert wird. Li dem
Schlüsse : Einige Vierecke sind nicht Parallelogramme, alle
Rhomben sind Parallelogramme, also sind einige Vierecke
nicht Rhomben — habe ich für Parallelogramme Rhomben
substituiert, also einen Theil ; in dem Schlüsse : einige Parallelo-
gramme sind schiefwinklich, alle Parallelogramme sind Vier-
ecke, folglich sind einige Vierecke schiefwinklich — habe ich
*) System der Logik I, S. 217. Vergl. Ueberweg Logik § 120.
Diese Substitution ist etwas anderes, als was wir oben § 50 Einsetzung
oder upögXyjcjjtg genannt haben. Bei dieser handelt es sich an die leere
Stelle eines Subjects ein bestimmtes Subject zu setzen, dem ein Prädicat
zukommt; bei jener darum, für einen bestimmten Begriff einen anderen;
in ihm enthaltenen zu setzen.
4Ö3 § 55. Der Werth des Syllogismus. 465
für dasselbe Subject (einige Parallelogramme) einen andern
Ausdruck (einige Vierecke) substituiert. Im ersten Fall ist
der neue Bestandtheil (Rhomben) einTheil des Umfangs
des früheren (Parallelogramme); im zweiten ist das Substi-
tuierte (Viereck) einTheil des Inhalts des früheren
(Parallelogramm) und erlaubt also dasselbe in einem anderen
Ausdruck für das Denken zu bezeichnen.
Nachdem dann Beneke aus dieser Theorie die verschie-
denen möglichen Schlüsse abgeleitet, kommt er zu dem Re-
sultat, dass durch alle in dieser Weise ausgeführten Schlüsse
unser Denken in keiner Art erweitert oder bereichert wird.
Der Theil muss doch im Ganzen enthalten sein; und wenn
ich an die Stelle des letzteren den ersteren setze, so gewinne
ich nichts an Vorstellungsmaterial, sondern verliere eher.
In den Schlüssen mit negativem Resultat allein findet
insofern ein Hinausgehen statt, als in einem Begriffe nicht
alles mögliche was er nicht ist mitgedacht wird, durch die
Syllogismen also eine weitere Reihe von Unterscheidungen
herbeigeführt werden. Allein da wir jeden Begriff als solchen
nur haben, sofern er Glied eines Systems und von seinen coor-
dinierten disjungiert ist : so sind die nächsten und wichtigsten
Negationen allerdings in dem Begriffe selbst schon mitge-
dacht, und es hat keinen Werth mehr alle weiteren und ent-
legeneren Verneinungen herbeizuziehen. Weiss ich dass der
Mensch ein animalisches Wesen ist, so ist er damit von den
übrigen Wesen geschieden, die ihm zunächst stehen; dass
er kein Metall, keine geometrische Figur ist, braucht kein
Syllogismus zu versichern.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann also der Syllogis-
mus höchstens dazu dienen, dem, der mit seinen Wörtern
keine bestimmten Begriffe verbindet, die Tragweite einer Be-
hauptung zu Gemüth zu führen , indem er an das erinnert
wird , was seine Prädicate eigentlich sagen ; er wäre eine
Anleitung, sich jede Behauptung fortwährend auseinanderzu-
legen, indem man sich erinnert, was darin eingeschlossen ist;
also ein Interpretationsverfahren für den, der einen Satz nicht
versteht, nicht ein Mittel des Fortschritts für den der ihn
versteht; ein didactisches Hilfsmittel oder eine polemischti
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 30
466 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 404
Waffe, kein Organon des Wissens. Die Forderung also, dass
im Syllogismus alles nach dem sog. Princip der Identität ver-
laufe, die namentlich Leibniz betont, zerstört allen Werth des
Syllogismus.
3. Von einer andern Seite hat J. St. M i 1 1 *) die Bedeu-
tung des Syllogismus oder genauer der Form bekämpft, in
welcher der Syllogismus gewöhnlich sich darstellt. In dem
Schlüsse
Alle Menschen sind sterblich
Socrates ist ein Mensch
also ist Socrates sterblich
scheint der Schlusssatz aus dem Obersatz abgeleitet zu sein ;
in der That aber setzt der Obersatz den Schluss-
satz schon voraus, denn um zu wissen, dass alle Men-
schen sterblich sind, muss ich bereits wissen, dass Socrates
sterblich ist; so lange dieser Satz noch ungewiss wäre, wäre
auch der Satz ungewiss, dass alle Menschen sterblich sind**).
Jeder derartige Schluss enthält also eine petitio principii, er
setzt schon voraus, was er beweisen will. Die Ausflucht, dass
ja der Schlusssatz doch nicht explicite und direct in den Prä-
missen behauptet sei, löst die Schwierigkeit nicht; es kann
allerdings nicht verlangt werden , dass man bei jedem allge-
meinen Satz an alle einzelne Fälle denkt, aber mit dem all-
gemeinen Satz behauptet man seine Gültigkeit für alle ein-
zelnen Fälle, und diese Behauptung ist nur begründet, wenn
man erst aller einzelnen Fälle gewiss ist.
Ist darum der Syllogismus absolut nutzlos und leer?
Dieser Folgerung sucht Mill durch eine Unterscheidung aus-
zuweichen. Der eigentliche Grund, auf den hin ich behaupte,
dass irgend ein jetzt lebender Mensch sterblich sei, kann nicht
*) System der deductiven und inductiven Logik. 2. Buch. 3. Cap.
§ 2. üebers. von Gomperz I, S. 188 ff.
**) Ebenso setzt, nach der auf begriffliche Subsumtionsurtheile voll-
kommen zutreffenden Ausführung Lotzes (Logik 2. Afl. S. 122) , der
Untersatz die Conclusion voraus; denn wo bliebe die Wahrheit des
Untersatzes, dass Socrates ein Mensch ist, wenn es noch zweifelhaft
wäre , ob er ausser andern Eigenschaften des Menschen auch die der
Sterblichkeit hat, die der Obersatz als allgemeines Merkmal jedes
Menschen aufführt?
405 § 55. Der Wertli des Syllogismus. 46?
der allgemeine Satz sein: alle Menschen sind sterblich; denn
dieser setzt ja zu seiner Gültigkeit voraus, dass ich irgendwie
weiss, dass auch die jetzt lebenden sterblich sind. Der Grund
ist die bisherige Erfahrung einer Reihe von einzelnen Fällen;
aus dem Tode einer Reihe von Menschen schliessen wir, dass
auch die jetzt Lebenden sterben werden. Wir schliessen also
in der That von einzelnen Fällen auf andere
einzelne Falle; und der allgemeine Satz scheint voll-
kommen überflüssig, ein Hindurchgehen durch ihn ein Um-
weg zu sein.
Und doch kommt ihm eine Bedeutung zu. Aus den uns
bekannten einzelnen Fällen können wir offenbar nur dann
mit Sicherheit auf einen neuen Fall schliessen, wenn diese
beobachteten Fälle genügend sind auch den allgemeinen Satz
zu begründen. Dieser ist eine abgekürzte Formel für das,
was wir uns berechtigt halten, aus unseren von der Erfah-
rung gelieferten Zeugnissen zu schliessen ; die eigentliche Fol-
gerung ist also mit dem allgemeinen Satz zu Ende ; was
folgt, ist nur eine Interpretation einer Notiz, die
wir uns gemacht haben, um uns einzuprägen, dass unsere
Erfahrung uns berechtigt , auf weitere Fälle zu schliessen.
Wir können diese einzelnen Fälle vergessen haben, und nur
noch wissen, dass sie den allgemeinen Satz begründeten ; dann
halten wir uns an diesen und interpretieren ihn; wir schlies-
sen nicht aus, wohl aber nach dieser Abbreviatur der Re-
sultate unserer Erfahrung. Eine Interpretation ist ebenso die
Anwendung eines Gesetzes oder einer auf Autorität geglaub-
ten allgemeinen Regel; wir interpretieren, was der Gesetz-
geber oder die Autorität sagen wollte.
Das Hindurchgehen durch den allgemeinen Satz, das dem
natürlichen Schliessen ursprünglich fremd ist, dient somit
wesentlich zur Sicherung unseres Verfahrens. Denn
die Erfahrung , welche den Schluss auf einen Fall recht-
fertigt, muss der Art sein, dass sie genügend ist den
allgemeinen Satz zu tragen; und es ist von höchstem
Werth , sich dessen bewusst zu werden , um voreilige und
mangelhaft begründete Folgerungen zu vermeiden, weil dies
nöthigt, die Zulänglichkeit der Erfahrung genauer abzuwägen,
30»
46d n, 3. Die Regeln des Schlusses. 406
und zugleich etwaige widersprechende Erfahrungen uns vor
Augen bringt, welche dem versuchten allgemeinen Urtheil
entgegenstehen.
Diese Einwürfe Mills sind darum höchst lehrreich, weil
sie, indem sie eine Blosse in der gewöhnlichen ßehandlungs-
weise des Syllogismus aufdecken, doch seine wahre und funda-
mentale Bedeutung wider Willen bestätigen. Die Blosse, die
sie aufdecken, liegt in dem Sinne, in welchem das Alle A
sind B gewöhnlich verstanden wird, in dem Sinne, dass es
sich damit bloss um eine Summierung von Einzelurtheilen in
einem abgekürzten Ausdruck, um ein Durchzählen der einzel-
nen Fälle handle. In diesem Falle ist selbstverständlich, dass
die Gewissheit der Summe von der Gewissheit der einzelnen
Summanden abhängt. Aber der Sinn des allgemeinen Ober-
satzes ist nicht die Behauptung dieser Allgemeinheit
der Zahl, sondern die Behauptung der N oth wendigkeit
mit dem Subjecte das Prädicat zu verknüpfen. Diese Noth-
wendigkeit kann auch durch die vollständige Summierung nie-
mals erreicht, überhaupt nicht direct empirisch erkannt wer-
den. Es ist die Hauptaufgabe einer Theorie der Induction zu
untersuchen, unter welchen Bedingungen aus einzelnen Er-
fahrungen auf ein ihnen zu Grunde liegendes nothwendiges
Gesetz geschlossen werden kann, und wir hoffen zu zeigen,
dass ein solcher Schluss immer nur unter Voraussetzung un-
bedingt gültiger Grundsätze möglich ist. Insofern ist die
Behauptung Mill's, dass der allgemeine Obersatz zuletzt aus
einzelnen Datis erschlossen, und diese die eigentlichen Beweis-
gründe für Urtheile sind, welche Empirisches betreffen, voll-
kommen richtig, falsch aber, dass er für den Schluss ent-
behrlich sei ; denn nur indem jene einzelnen Data die Not h-
wendigkeit beweisen , beweisen sie für irgend einen an-
dern Fall. Jene Behauptung beruht auf einer Verwechslung
der Beschreibung des psychologischen Processes
der Folgerung mit der logischen Gesetzgebung
für dieselbe; es ist kein Zweifel, dass man vielfach von Ein-
zelnem auf Einzelnes schliesst, die Frage aber ist, ob man
so schliessen darf; und darüber entscheidet die Gül-
tigkeit des allgemeinen Satzes, die nicht bloss, wie
407 § 55. Der Werth des Syllogisrnua. 4$9
Mill es darstellt, eine collaterale Sicherheit gewährt, son-
dern allein den Schluss legitim macht. Denn wenn Mill selbst
zugesteht, dass der Schluss von einigen Fällen auf einen neuen
nur dann gerechtfertigt sei , wenn zugleich der allgemeine
Satz daraus hervorgehe: so ist die Wahrheit des all-
gemeinen Obersatzes die Bedingung der Wahr-
heit der Conclusion, und darum diese doch von jener
abhängig, und ohne jene nicht bewiesen.
Nichts anderes aber ist es , was die aristotelische Syllo-
gistik behauptet, als dass nur in den von ihr aufgestellten
Formen, nur unter der Bedingung eines allgemeinen Ober-
satzes ein genügender und wissenschaftlich gültiger Schluss
möglich sei. Dass man zu den allgemeinen Obersätzen durch
Induction komme , lehrt auch Aristoteles ; nur ist allerdings
seine Induction nicht auf den rein empiristischen Boden der
Sammlung von Thatsachen gegründet, der überhaupt jede
Logik im Princip unmöglich macht, weil auf ihm keine Noth-
wendigkeit erwächst, sondern auf der Voraussetzung der Herr-
schaft der begrifflichen Nothwendigkeit in den einzelnen Er-
scheinungen, aus denen sie also auch muss erkannt werden
können.
Die absolute Gültigkeit der syllogistischen Regeln für
jeden Fall, in welchem ein Urtheil aus anderen mit zweifel-
loser Sicherheit abgeleitet werden soll, bleibt also auch durch
diesen Angriff unangefochten; der Schein der Werthlosigkeit
der syllogistischen Lehren hängt nur daran , dass man als
Basis des Syllogismus durchaus das sog. Princip der Iden-
tität, als Prämissen also lauter analytische Sätze haben wollte.
4. Bei Aristoteles ist davon nicht die Rede. Für ihn ist
vielmehr der Syllogismus das Mittel, erst zu dem zu gelangen,
was die Schulsyllogistik schon vorauszusetzen pflegt, zur De-
finition; seine Prämissen sind in der Hauptsache empirische
Urtheile über das Gegebene , und der Syllogismus ist das
Mittel diese Erkenntnisse so zu ordnen , dass ihre Abhängig-
keit von einander zu Tage tritt, und damit die reale Abhängig-
keit der im Sein verwirklichten begrifflichen Bestimmungen^
das wahre Causalitätsverhältniss erkannt, und damit die Auf-
stellung einer das Wesen erschöpfenden, die den Begriffsver-
470 II* 3. Die Begeln des Schlusses. 408
hältnissen entsprechende Abhängigkeit der speciellen Bestim-
mungen von den allgemeinen ausdrückenden Definition mög-
lich werde. Darum soll der Mittelbegriff der Ursache ent-
sprechen , darum die Prämissen so gewählt und geordnet
werden, dass die reale Abhängigkeit der Dinge darin zu
Tage tritt.
Diese Anwendung des Syllogismus ist allerdings mit der
aristotelischen Metaphysik auf's Engste verknüpft; aber die
logischen Gesetze sind nicht an diese specielle Anwendung
gebunden; nur die bestimmte Art ihrer Formulierung hängt
von diesem Zweck ab. Die traditionelle Logik hat jenen
Zweck vergessen, die davon abhängige Formulierung, die sich
in der ausschliesslich kategorischen Fassung, vor allem in der
Gleichstellung des particulären Urtheils mit dem allgemeinen
zeigt, beibehalten; kein Wunder, wenn mit den veränderten
wissenschaftlichen Aufgaben das logische Formelbuch nicht
mehr stimmen will.
5. Man pflegt, um jede Einsprache gegen den Werth der
Syllogistik niederzuschlagen, auf die M a t h ema t ik hin-
zuweisen , welche ja durchweg sich des Syllogismus bediene,
und eben dieser Form ihre wissenschaftliche Sicherheit ver-
danke. Mit vollem Recht, wenn es sich darum handelt zu
zeigen, dass alle mathematischen Sätze mit Ausnahme der
Axiome und Definitionen durch Syllogismen, jedenfalls nach
denselben Principien , welche die syllogistischen Formen be-
stimmen , erwiesen werden ; mit Unrecht , wenn man den
grossen Unterschied übersieht, der zwischen den mathematischen
Schlüssen und der Musterschablone der Schullogik mit ihren
analytischen Urtheilen besteht. Findet man in der Geometrie
Schlüsse wie die : das Quadrat ist ein Parallelogramm , also
ein Viereck , der Kreis ist eine Kurve zweiten Grades , also
ein Kegelschnitt u. s. w. ? Handelt es sich irgendwo um diese
einfältigen Subsumtionen ? Alles das ist mit der Definition der
einzelnen Objecte abgemacht, und der Syllogismus ist nicht
dazu da , sie zu wiederholen ; die Geometrie aber entwickelt
die Gesetze der Relationen, welche zwischen den ein-
zelnen Objecten, den Linien, Winkeln u. s. w. unter bestimm-
ten Voraussetzungen eintreten, ihrer Gleichheit, Ungleichheit
409 § 55. Der Werth des Syllogismus. 471
u. s. f. Diese Relationen sind vom Standpunkte des Be-
griffs au s äusserlich hinzukommende Prädicate;
sie sind in der Definition nicht enthalten und können aus
ihr nicht abgelesen werden ; sie entstehen erst, wenn die ein-
zelnen Objecte in räumliche Beziehung gesetzt werden. Im
Begriff, d. h. in der Definition des Dreiecks liegt schlechter-
dings nichts davon , dass seine Winkel gleich zwei Rechten
sind; denn die Vorstellung von zwei Rechten ist der Vor-
stellung des Dreiecks äusserlich ; das Urtheil beruht erstlich
auf einer Addition der Winkel, und zweitens auf einer Ver-
gleichung mit zwei Nebenwinkeln, also auch Relationen, welche
erst hergestellt werden müssen. Im Begriff des rechtwink-
lichen Dreiecks liegt nicht , dass das Quadrat seiner Hypo-
tenuse gleich der Summe der Quadrate der Katheten sei ; denn
im Begriffe des Dreiecks denke ich nichts mehr und nichts
weniger als eine von drei sich*schneidenden Geraden begrenzte
ebene Fläche, und es ist darin keine Nothwendigkeit , Qua-
drate über den Seiten zu errichten und diese zu vergleichen ;
erst wenn ich dies durch erfindende Construction gethan habe,
kann ich die Beziehungen dieser Quadrate zu einander untersuchen.
Die Geometrie geht also überall über die bloss be-
grifflichen Urtheile hinaus, um ihre Sätze zu ge-
winnen , und sie leitet aus dem in der Definition Gegebenen
mit Hülfe irgendwoher hinzugenommener gesetzmässiger
Beziehungen Prädicate ab, welche nicht in der Definition
liegen. Darum können aber ihre Obersätze im Allgemeinen
nicht als Subsumtionsurtheile auf gefasst werden , und
es ist blosser Schein, wenn man meint, ihre Syllogismen seien
in der Regel nach der Schulform Barbara gemacht; der Schluss
z. B. den üeberweg*) als Beispiel dieser Figur anführt: Alle
Dreiecke mit beziehlich gleichen Seitenverhältnissen sind
Dreiecke mit beziehlich gleichen Winkeln — alle Dreiecke
mit beziehlich gleichen Winkeln sind ähnliche Figuren —
also sind alle Dreiecke mit beziehlich gleichen Seitenverhält-
nissen ähnliche Figuren — dieser Schluss sieht genau aus
*) System der Logik 3. Afl. S. 804. 5. Afl. S. 360. Ein ähnliches
Beispiel bei Wundt , Logik 1 S. 297 , vgl. meine »LogiHchen Fragen«
Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil. IV, S. 478.
472 Ih 3. Die Begeln des Schlusses. 409.410
wie der : Alle Neger sind Menschen , alle Menschen sind
sterblich, also sind alle Neger sterblich ; in Wahrheit ist er
himmelweit davon verschieden. Denn es gibt keinen Species-
begriff eines Dreiecks , der durch die Diiferentia, »beziehlich
gleiche Seitenverhältnisse« gebildet wäre, noch einen allgemei-
nen Begriff ähnliche Figur, dem jener durch den Mittelbegriff-
»Dreieck mit beziehlich gleichen Winkeln« untergeordnet
würde ; nicht an dieser Subordination läuft der Schluss fort,
sondern an lauter Relationsverhältnissen, die im Be-
griff des Dreiecks gar nicht liegen. Wenn zwei oder mehrere
Dreiecke gegeben sind , deren Seiten einander proportional
sind , so folgt daraus , dass auch die andere Relation , die
Gleichheit ihrer Winkel stattfindet; und da Gleichheit der
Winkel bei Dreiecken die Aehnlichkeit derselben einschliesst,
so folgt, dass mit der Relation der Proportionalität der Seiten
auch die der Aehnlichkeit gegeben ist. Nur durch eine grobe
Ungenauigkeit des Ausdrucks können diese Sätze die Form
eines Satzes über »alle Dreiecke« von einer bestimmten Be-
schaffenheit annehmen , als ob das Prädicat von jedem ein-
zelnen Dreiecke gelten könnte. Correct ausgedrückt lautet
der Schluss :
Wenn zwei oder mehrere Dreiecke proportionale Seiten
haben, haben sie gleiche Winkel,
Wenn zwei oder mehrere Dreiecke gleiche Winkel haben,
sind sie ähnlich
Also, wenn zwei oder mehrere Dreiecke proportionale
Seiten haben, sind sie ähnlich.
Es ist klar, dass die Sätze naturgemäss gar nicht anders als
hypothetisch ausgedrückt werden können, wenn sie sagen
wollen , dass eine Relation zwischen verschiedenen Dingen
eine andere nothwendig mache.
Nicht umsonst ist das Hauptgesetz, das die mathema-
tischen Schlüsse leitet, der Grundsatz, dass zwei Grössen, die
derselben dritten gleich sind, unter sich gleich sind, d. h. ein
Satz über den nothwendigen Zusammenhang von Relationen,
und nicht umsonst ist das Mittel des Fortschritts häufig die
Substitution einer Grösse für eine andere gleiche Grösse;
lauter Processe , welche in den gewöhnlichen Formen des
411 § 55. Der Werth des Syllogismus. 473
Syllogismus keinen Raum haben, immer aber sich mit Hülfe
jener allgemeinen Gesetze streng syllogistisch darstellen lassen.
6. Was von der Geometrie gilt, gilt ebenso von andern
Wissensgebieten. Was erst festgestellt und erschlossen werden
muss, ist dasjenige, was im Begriffe noch nicht liegt,
was nicht analytisch gegeben ist, und dies sind einerseits die
Relationen, andererseits ist es alles das , was von dem
veränderlichen und wechselnden Geschehen ab-
hängt, also insbesondere alle Causalverhältnisse. Das Schliessen
des Richters bewegt sich nicht in den Subordinationen der
einzelnen Vergehen ; wenn der vorliegende Fall subsumiert ist
und als Mord erkannt, tritt statt des analytischen Schlusses:
also Verbrechen also Gesetzesverletzung u. s. w. der Schluss
ein, der durch die synthetische Regel des Gesetzes
geboten ist, — also mit dem Tode zu bestrafen. Die Todes-
strafe ist nicht analytisch im Begriffe des Mordes enthalten,
sondern durch den Willen des Gesetzgebers synthetisch mit
dem einzelnen Fall des Verbrechens verknüpft. Wenn der
Arzt eine Krankheit als Typhus diagnosticiert hat, so schliesst
er nicht: also Infectionskrankheit u. s. w., sondern er schliesst:
also diese und diese Behandlung; die Mittel, welche dem Ty-
phus entgegenwirken , sind nicht analytisch im Begriffe des
Typhus enthalten , sondern synthetisch durch die Regeln
der Erfahrung gefordert. Wenn der Physiker weiss, dass
ein Körper 4 Secunden lang gefallen ist , so hülfe es ihm
nichts, den Begriff des Falls zu analysieren; wenn er aber in
die Formel s= ^agt^ den bestimmten Werth einsetzt, so weiss
er, dass die Fallhöhe 15. 16 Fuss ist.
Dadurch gewinnt Kants Lehre ihre Bedeutung auch von
dieser Seite; seine Frage: wie sind synthetische Urtheile a
priori , d. h. unbedingt und allgemein gültige synthetische
Urtheile möglich , ist die Lebensfrage auch für den Syllogis-
mus, der ohne sie zu einem völlig leeren Thun wird.
7. Daraus erhellt die Bedeutung aller derjenigen allge-
meinen Sätze für das Schliessen, welche sich auf nothwendige
Verhältnisse von Relationen beziehen, und vermittelst welcher
Relatioiisurtheile gewonnen werden können; der Sätze, dass
zwei Begriffe oder Objecte, die mit einem dritten identisch,
474 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 411. 412
auch unter sich identisch sind ; dass zwei Grössen , die der-
selben dritten gleich sind , auch unter sich gleich sind ; dass
Gleiches zu Gleichem addiert Gleiches gibt u. s. w. ; der Sätze
ferner, welche die räumlichen Beziehungen regeln. Ob man
diese Grundsätze selbst für analytisch — weil aus dem Be-
griff der Identität, der Gleichheit u. s. w. folgend — erklärt,
oder für synthetische ürtheile a priori, ist schliesslich von
untergeordneter Bedeutung; es kommt vor allem darauf an,
dass sie , weil sie Relationen betreffen, ein Hinausgehen über
die bloss analytischen ürtheile möglich machen , welche die
Tradition allein ins Auge zu fassen pflegt.
8. Daraus folgt aber, dass die kategorischen Schulsyllo-
gismen viel zu eng und unbequem sind, um allgemein und leicht
anwendbare Formeln darzustellen. Sie sind der natürliche Aus-
druck eben für Subsumtionsurtheile und ürtheile, welche ein-
fache Prädicate eines Subjects aussagen ; sie werden unbequem,
sobald es sich um verwickeitere Relationsverhältnisse, um die
Abhängigkeit eines Prädicats von mehreren Voraussetzungen
u. s. w. handelt; hier tritt die hyp othetische Form mit
folgender npoaXri^ic, als die naturgemässe Ausdrucks-
weise ein; und da diese zugleich alle allgemeinen kategori-
schen ürtheile unter sich begreift, so ist sie die naturgemäss
gegebene Formel , um so mehr da sie die Nothwendigkeit
anstatt der Allgemeinheit als die eigentliche Basis des Schlusses
heraustreten lässt. Es bedarf nur eines Blicks in das nächste
beste mathematische oder physikalische Lehrbuch, um sich zu
überzeugen, dass weitaus die meisten Sätze, welche als Ober-
sätze weiterhin verwendet werden, nicht die Form allgemeiner
kategorischer ürtheile haben, sondern ausdrücklich oder dem
Wesen nach hypothetische sind. Denn Sätze wie: Zwei
Kreise, die einander schneiden, haben keinen gemeinschaft-
lichen Mittelpunkt, sind ihrer Natur nach hypothetische; der
Relativsatz gibt die Bedingung an, unter der das Prädicat
verneint wird, und ebenso sind die obersten Axiome dem
Wesen nach hypothetische ürtheile. Der Satz : »Zwei gerade
Linien schliessen keinen Raum ein« meint: Wo und wie
ich auch zwei gerade Linien ziehen mag , so schliessen sie
zusammen keinen Raum ein ; er behauptet nicht etwas von
412 § 55. Der Werth des Syllogismus. 475
zwei geraden Linien, in dem Sinne damit eine gemeinschaft-
liche Eigenschaft u. dergl. anzugeben. Der Satz: Alles was
geschieht hat eine Ursache , setzt schon durch das Prädicat
des Vordersatzes voraus , dass etwas wirklich geschieht ;
er entwickelt nicht den ßegriif des Geschehens , sondern er
gibt den Zusammenhang jedes einzelnen Geschehens mit einem
andern Seienden. Dasselbe gilt von den Formeln der analy-
tischen Mechanik und ähnlichen; sie sind hypothetische Ur-
theile, und die Schlüsse nach ihnen geschehen durch Ein-
setzung bestimmter Werthe für die allgemeinen Zeichen*).
*) Ich halte es für überflüssig, wenn unter den Schlussformen, wie
z, ß. bei Wundt (Logik I, S. 291), ein besonderer Identi tat sschluss auf-
tritt, weiterhin ein Gleichungsschluss. Mit demselben Rechte
müsste auch der Schluss a ]>b, b^c, also a^ c eine besondere
Stelle und einen besonderen Namen haben. Was diese Schlussweisen
charakterisiert, ist nicht die Art des Schliessens, sondern der bestimmte
Obersatz der sie möglich macht, der allerdings häufig, weil selbstver-
ständlich, nicht ausdrücklich formuliert wird. A dasselbe wie B, B
dasselbe wie C, also A dasselbe wie C ist nur eine Anwendung eines
Satzes, der das bestimmte Prädicat der Identität betrifft. Ihn besonders
hervorzuheben kann höchstens dadurch Veranlassung gegeben sein, dass
das Urtheil A ist B in ungenauer Redeweise häufig eine Identität
meint, ohne es ausdrücklich zu sagen.
Im Ganzen scheint mir, dass es wenig erspriesslich ist, die Schluss-
lehre noch weiter zu specialisieren, viel richtiger dagegen, das allen
Schlussweisen Gemeinsame hervorzuheben, und nicht Unterschiede der
Schluss f 0 r m aufzustellen, wo der ganze Unterschied in dem In h a 1 1 der
den Schluss bestimmenden Prämissen liegt; diese zu erschöpfen ist
unmöglich. Wundt versucht allerdings (Logik I, 282) eine allgemeine
Formel für alles Schliessen aufzustellen: Wenn verschiedene Urfcheile
durch Begriffe, die ihnen gemeinsam angehören, in ein Verhältniss zu
einander gesetzt sind , so stehen auch die nicht gemeinsamen Begriffe
solcher Urtheile in einem Verhältniss, welches in einem neuen Urtheil
seinen Ausdruck findet«. Allein abgesehen von der Unbestimmtheit
der Formulierung ist der Satz falsch, weil er zu weit ist; denn in welchem
Verhältniss stehen die Begriffe S und P, wenn S nicht M und M P ist?
Auch Lotze's an sich völlig berechtigte Ausführung, dnss diejenigen
Schlüsse hauptsächlich werthvoll wären, welche nicht bloss ein ganz
allgemeines P dem S durch Vermittlung von M zusprächen, sondern
zeigten, wie die besondere Modification des M, die dem S zukommt, auch
eine besondere Ausprägung des P nothwendig mache, führt nicht zu
einer besonderen Schlussweise, sondern verlangt im Grunde nur
476 n, 3. Die Regeln des Schluiwes. 412.413
§ 56.
Der Syllogismus aus einem conjunctiven ürtheil dient
der Subsumtion des Einzelnen unter die fest-
stehenden Begriffe mittelst der Definition derselben.
Eine besondere Function kommt dem Syllogismus bei
dem Geschäft zu, das Einzelne unter die feststehenden Be-
griffe zu subsumieren; und hier nimmt er, dem Zwecke ent-
sprechend, bestimmte Formen an.
Um zu erkennen ob irgend ein Ding A unter einen Be-
griff B fällt, ist kein anderer Weg, als alle Merkmale von B
in ihm nachzuweisen; zeigt es diese obne Ausnahme, so fällt
es unter den Begriff B. Was also hier als Mittelbegriff er-
scheint, ist nicht ein einheitliches Prädicat, sondern eine Reihe
von Prädicaten , welche in einem conjunctiven Urtheil ver-
knüpft sind, aber eben durch ihre Zusammengehörigkeit doch
die Function eines einzigen Begriffs übernehmen.
Um zu erkennen , dass ein Ding A unter einen Begriff
B nicht gehört, genügt ein einziges Merkmal das dem einen
zukommt, vom andern ausgeschlossen ist; durch einen Syllo-
gismus der zweiten Figur d. h. modo tollente wird die Sub-
sumtion abgewiesen.
So entstehen die Formen, deren Obersatz eine Defini-
tion ist : P ist a, b, c, oder umgekehrt,
Was a, b, c ist, ist P
S ist a, b, c
also ist S P.
andere Obersätze, als die gewöhnlich im kategorischen Schlüsse
betrachteten ; Obersätze, welche das Gesetz angeben, nach welchem jede
Modification von M eine Modification von P nach sich zieht; aus diesen
aber wird immer nach den einfachen Regeln des hypothetischen Schlusses
geschlossen werden müssen. Ist S eine Figur, M eine Ellipse, P excent-
risch, so gibt s = »/a- — b- : a das Gesetz an, nach welchem jede Modifi-
cation des Verhältnisses der Axen eine Modification der Excentricität
nach sich zieht; die (Gleichung aber ist ihrem Wesen nach ein hypo-
thetisches Urtheil , aus dem durch Einsetzung bestimmter Werthe ge-
schlossen wird.
414 § 56. Der Subsumtionsschluss. 477
Die der Ausschliessung dienende
P ist a, b, c
S ist nicht a
"S Ist nichf F
fällt mit den Schlüssen der zweiten Figur, modo tollente, zu-
sammen.
§ 57.
Der Schluss aus einem divisiven Urtheil, den ein-
zelne Logiker als Inductionsschluss aufgestellt haben,
führt zu keinem unbedingt allgemeinen Urtheil, wenn die Di-
vision nur eine empirische ist ; ist sie eine logische,
so ist er überflüssig, wenn er nicht etwa als Glied einer wei-
teren Schlussreihe auftritt.
1. Man hat versucht, die syllogistischen Formen auch
durch einen sogenannten Schluss derlnduction zu er-
weitern , der mit dem vorangehenden dadurch Aehnlichkeit
hat, dass ebenso der Mittelbegriff nicht als etwas Einfaches
erscheint. Wenn nemlich ein Begriff A durch eine vollstän-
dige Division in die Species M, N, 0 getheilt ist, oder wenn
die darunter fallenden Individuen vollständig aufgezählt sind,
und allen Species beziehungsweise Individuen ein gemein-
schaftliches Prädicat zukommt, so entsteht der Bchluss
A ist theils M, theils N, theils 0
Sowohl M als N als 0 sind P
also A ist P
2. Allein diese Formel birgt eine Zweideutigkeit, die aus
unserer obigen Unterscheidung des empirischen und logiseben
Umfangs einleuchtend ist.
Betrachten wir zunächst ein Beispiel, etwa das von Apelt*)
angeführte :
Obersatz: Das Sonnensystem besteht aus der Sonne und
den Planeten Mercur, Venus, Erde, Mars u. s. w.
Untersätze: Mercur bewegt sich von West nach Ost
um die Sonne, Vonus bewegt sich von
West nach Ost um die Sonne u. s. w.
*) Theorie der Induction S. 17.
476 ^t 3. t)ie Regeln des Schlusses. 414
Schlusssatz: Alle Planeten bewegen sich von West
nach Ost um die Sonne.
Hier gibt der Obersatz den Umfang des Begriffs Planet
an, der Schlusssatz bejaht von allen Planeten ein Prädicat,
das nach den Untersätzen allen einzelnen zukommt.
Allein was ist dadurch gewonnen? Kein unbedingt
allgemeines Urtheil , das dem Begriff Planet mit Noth-
wendigkeit die rechtläufige Bewegung zuweist; sondern nur
ein empirisch allgemeines Urtheil, das im Schlusssatz
unter einem Namen die einzelnen Subjecte der Untersätze
zusammenfasst , nachdem der Obersatz festgestellt , dass die
genannten — natürlich für unsere jetzige Kenntniss — alle
Planeten seien. Das Wort Planet fungiert nicht als Zeichen
eines bestimmten Begriffs , sondern nur als Gemeinname einer
bestimmten Anzahl von Einzeldingen; darum ist ein
Schluss, der ein Urtheil durch andere begründete, nur hin-
sichtlich des Rechts der Ersetzung der Eigennamen durch eine
gemeinschaftliche Bezeichnung und hinsichtlich der Ersetzung
der Summe .der Einzelnen durch den Ausdruck »Alle« vor-
handen*); aber dass nun allem was Planet ist, die recht-
läufige Bewegung nothwendig zukommen müsse , ist in
keiner Weise erwiesen. Denn ob die sämmtlichen bekannten
*) Stellen wir alle Prämissen heraus, so lauten sie
Mercur, Venus, Erde u. s. f. bewegen sich von West nach Ost um
die Sonne
Mercur, Venus, Erde u. s. f. sind Planeten
Also bewegen sich so und so viele Planeten von VSTest nach Ost
um die Sonne.
Die Zahl dieser Planeten ist der Zahl der sämmtlichen Planeten
gleich
Also bewegen sich alle Planeten von West nach Ost um die Sonne.
Die Art des Schliessens ist keine andere, als wenn ich aus
Ml, M2, Ms, haben die Eigenschaft P,
Ml, M2, Ms, sind drei M, schlösse
also haben drei M die Eigenschaft P.
Der Schluss auf ein empirisch allgemeines Urtheil beruht also auf
dem Zählen, auf dem Ausdruck einer gegebenen Vielheit durch einen
bestimmten Zahlbegriff; das Recht Mi, M2, Ms durch drei M zu ersetzen,
beruht auf der Identität der Zahl. Vergl. oben § 52, 4.
415 § 57. Schlüsse aus divisiven Ürtheilen. 479
Planeten um der Eigenschaften willen, wegen deren sie unter
den Begriff des Planeten fallen, oder aus irgend einem andern
dem gegenüber zufälligen Grunde rechtläufig sind, vermag das
bloss empirisch zusammenfassende Urtheil nicht zu sagen.
Sonst müsste auch daraus , dass alle Könige von Preussen
Friedrich und Wilhelm heissen, folgen, dass alle Könige von
Preussen nothwendig so heissen müssen.
3. Ganz dasselbe findet 'statt, wenn statt der Indivi-
duen die empirisch bekannten Species eines Genus genannt
werden. Zu einer Zeit, wo bloss die alten Metalle bekannt
waren, galt der Schluss:
Die Metalle sind Gold, Silber, Eisen u. s. w.
Gold, Silber, Eisen u. s. w. sind schwerer als Wasser
Also alle Metalle sind schwerer als Wasser.
Unter »allen Metallen« sind die bekannten und wegen gemein-
samer Eigenschaften so genannten verstanden; aber es folgt
nicht, dass diese gemeinsamen Eigenschaften ein specifisches
Gewicht nöthig machen, das grösser als das des Wassers wäre ;
die Entdeckung des Kaliums hat diesen Satz widerlegt.
Einen solchen Schluss einen Inductionsschluss zu nennen,
ist grundfalsch ; denn das Wesen des Indactionsschlusses
besteht eben darin, von empirischen Datis auf ein unbe-
dingt allgemeines Urtheil überzugehen. Dazu müsste
aber nachgewiesen sein, dass diejenigen Eigenschaften, welche
die c^emeinschaft liehe Benennung begründen, auch das weitere
Prädicat nothwendig machen.
4. Ginge aber ein solches Urtheil von einer logischen
Division aus, welche die absolute Vollständigkeit aller mög-
lichen Theilungsglieder garantierte, so wäre der Schluss ein
überflüssiger Umweg. Denn wenn alle Species eines Genus
nothwendig dasselbe Prädicat haben , so muss dieses in dem
gegründet sein, was allen gemeinschaftlich ist, d. h. in ihrem
Gattungsbegriff, und es muss schon als aus diesem folgend
erkannt werden können.
Die Parallelogramme sind theils Quadrate, theils Ob-
longen, theils Rhomben, theils Rhomboiden,
Quadrate , Oblongen , Rhomben , Rhomboiden haben
Diagonalen, die sich gegenseitig halbieren,
480 n, 3. Die Regeln des Schlusses. 416
Also haben alle Parallelogramme Diagonalen, welche
sich gegenseitig halbieren
wäre ein solcher Schluss, der einen überflüssigen Umweg zeigt ;
denn aus den Bestimmungen , welche den Begriff des Paral-
lelogramms constituieren, lässt sich bereits das Prädicat ableiten.
Doch gibt es Fälle, in denen die Erkenntniss eines all-
gemeinen Satzes durch eine solche vollständige Aufzählung
des Besonderen naturgemäss hindurchgeht. Der Beweis, dass
der Centriwinkel im Kreise das Doppelte des mit ihm auf
gleichem Bogen stehenden Peripheriewinkels ist, geht davon
aus, dass die Spitze des Peripheriewinkels entweder auf der
Verlängerung eines der Schenkel des Centri winkeis , oder in-
nerhalb von dessen Scheitelwinkel, oder ausserhalb desselben
liegt ; in allen drei Fällen lässt sich zeigen, dass der Centri-
winkel das Doppelte des Peripheriewinkels ist; also gilt all-
gemein, dass, wenn ein Centriwinkel und ein Peripheriewinkel
auf demselben Bogen stehen , jener das Doppelte von diesem
ist. Der Beweis wird auch hier aus den gemeinschaftlichen
Voraussetzungen geführt ; aber sie subsumieren sich unter
verschiedene Obersätze , und die Wahrheit des Untersatzes
wird durch verschiedene Vermittlungen erkannt. Es ist aber
klar, dass dieser Fall nur bei erschlossenen Untersätzen, nie
bei unmittelbar gewissen eintreten kann.
4. In anderer Weise scheint ein Divisionsurtheil in der
zweiten Figur einen Schluss zu begründen. Gilt nämlich
A ist theils B theils C theils D
S ist weder B noch C noch D
so folgt: S ist nicht A.
Was unter keine der sämmtlichen Species eines Genus
fällt, fällt auch nicht unter das Genus. Es gilt aber hier
wieder dasselbe: Ist die Division eine empirische, so ist
der Schluss ungültig, denn der empirische Umfang garantiert
nicht, dass die generellen Merkmale sich nicht ausserhalb der
bekannten Species finden ; ist sie eine logische , so muss das
Merkmal, das S von allen Species ausschliesst, mit dem Genus
unvereinbar sein, und es bedarf des Umwegs nicht.
417 § 58. Der disjunctive Schluss. 481
§ 58.
Der sog. disjunctive Schluss beruht auf keinem
eigenthümlichen Princip, und es ist insofern nicht gerecht-
fertigt ihn als besondere Schlussweise aufzustellen.
I. Neben den hypothetischen und kategorischen Schlüssen
hat die traditionelle Logik auch die disjunctivenSchlüsse
aufgestellt , deren Obersatz ein disjunctives Urtheil ist, und
deren Consequenz eben auf dem in der Disjunction ausgespro-
chenen Verhältnisse ihrer Glieder ruht. Gilt nämlich in einer
zweigliedrigen Disjunction A ist entweder B oder C , so
schliesst die Beilegung eines P^^ädicats das andere aus , die
Verneinung eines Prädicats aber fordert die Bejahung des
andern. So entsteht
I. der Modus ponendo tollens:
A ist entweder B oder C
Nun ist A B (resp. C)
Also ist A nicht C (resp. nicht B).
II. der Modus toUendo ponens :
A ist entweder B oder C
Nun ist A nicht B (nicht C)
Also ist A C ^resp. B).
Für eine mehrgliedrige Disjunction führt der erste Modus
zu einem conjunctiven verneinenden Urtheile; der zweite zu
einem einfach bejahenden nur dann, wenn der Untersatz alle
Glieder bis auf eines in einem conjunctiven Urtheil verneint;
in allen anderen Fällen ergibt sich nur die Beschränkung
der Disjunction auf wenigere Glieder.
I. A ist entweder B oder C oder D
A ist B
also weder C noch D.
II.
a) A ist entweder B oder C oder D
A ist weder B noch C
also D.
b) A ist entweder B oder C oder D
A ist nicht B
also entweder C oder D.
Sigwart, Logik. I. 2. Auflage. 31
48Ö II» 3. Die Regeln des Schlusses. 418
Die allgemeinste Formel des disjnnctiven Schlusses ist
übrigens nicht diejenige, welche die oben formulierten Ober-
sätze zeigt; diese ist nur ein besonderer Fall des Obersatzes
Entweder gilt das Urtheil B oder das Urtheil C;
B gilt, also nicht C
B gilt nicht, also C u. s. w.
2. Ein Grund , hierin eine besondere Schlussform nach
einem eigenthümlichen Princip zu suchen, besteht nicht ; denn
das disjunctive Urtheil sagt ja nur einmal, dass seine Glie-
der sich ausschliessen , also die Bejahung des einen die Ver-
neinung der übrigen nothwendig macht; d. h. der modus po-
nendo toUens ist ein Schluss aus dem hypothetischen Urtheile,
das in der Disjunction liegt: Wenn A B ist, ist es nicht C
(weder C noch D); zumzweiten, dass die Verneinung aller
Glieder bis auf eines dieses zu bejahen nothwendig macht,
d. h. der Modus tollendo ponens ist ein Schluss aus dem
hypothetischen Urtheile: Wenn A nicht B ist, so ist es C
(wenn es weder B noch D — bei mehrgliedriger Disjunction).
Das Princip, nach dem geschlossen wird, ist also durchaus
das des hypothetischen Schlusses. Die Wichtigkeit des dis-
junctiven Urtheils beruht eben darin , dass es diese doppelte
Nothwendigkeit ausspricht ; der Unterschied des disjunctiven
Schlusses vom hypothetischen aber ist nur in der grammati-
schen Form begründet.
3, In der wirklichen Anwendung des disjunctiven
Schliessens erscheinen als Obersätze häufig, wenigstens dem
Sinne nach, hypothetische Urtheile mit disjunctivem Nachsatz,
aus denen vermittelst einer izpoaXri^ic, geschlossen wird:
Wenn etwas A ist, ist es entweder B oder C
S ist A, imd zwar B
also nicht C
S ist A, aber nicht B
also C.
Sie dienen der fortschreitenden Subsumtion eines Objects unter
immer bestimmtere Begriffe.
4. Der Schlussform § 57 , 4 ist dann der Schluss ver-
wandt, der aus der Verneinung aller Disjunctionsglieder ihre
gemeinschaftliche Voraussetzung verneint:
418.419 § 59. Verhältmss der Conclusion zu den Prämissen. 483
Wenn A gilt, so gilt entweder B oder C
Nun gilt weder B noch C
also auch nicht A.
Oder mit Hülfe einer TzpoaXri^ic, :
Wenn etwas P ist, ist es entweder M oder N
S ist weder M noch N
also ist S nicht P
in kategorischer Form: A ist entweder B oder C
S ist weder B noch C
also ist S nicht A.
Dies ist das sogenannte Dilemma, Trilemma u. s. f. Auch
hier ruht der Schluss auf dem allgemeinen Grundsatz, dass
mit der Folge der Grund aufgehoben ist ; nur dass die Folge
hier nicht als ein einfaches erscheint, sondern als eine be-
stimmte Zahl sich ausschliessender Möglichkeiten.
§ 59.
Die Regeln des Schlusses gelten ebenso auch dann, wenn
die Prämissen nicht als gültige Urtheile, sondern nur als an-
genommene Hypothesen aufgestellt sind. Sie begründen dann
ein hypothetisches Urtheil, welches die Conclusion als
nothwendige Folge der Prämissen darstellt.
Auf das Verhältniss der Wahrheit der Conclusion zu der
Wahrheit der Prämissen finden damit die Sätze Anwendung,
dass mit dem Grunde die Folge gesetzt, mit der Folge der
Grund aufgehoben ist ; ebenso dass mit der Aufhebung des
Grundes nicht nothwendig die Folge aufgehoben, mit der Be-
jahung der Folge nicht nothwendig die Bejahung des Grundes
verknüpft ist.
1. Es hat kein Interesse, die verschiedenen Combinatio-
nen, welche durch sprachliche Abkürzungen oder durch das
Eingehen copulativer , coujunctiver und disjunctiver Sätze in
die Schlüsse sich herstellen lassen , im Einzelnen zu unter-
suchen. Was den Schluss vermittelt, ist überall dasselbe : seine
Grundbedingung ist ein Obersatz, der in irgend einer Form
464 il. 3. Die Regeln des Schlusses. 4ld.
eine nothwendige Folge einschliesst , und zwingt einen
Satz zu behaupten für den Fall, dass ein anderer gilt. Hiezu
kommt der Untersatz, der den Fall zeigt, auf welchen der
Übersatz anzuwenden ist; entweder direct, wie im gemischten
hypothetischen Schluss; oder so, dass eine allgemeine Regel
auf einen darunter befassten speciellen Fall angewendet wird,
vermittelst eines Urtheils, welches zeigt, dass auf ein bestimmtes
Subject die allgemeine Regel des Obersatzes anwendbar ist.
Wir unterlassen darum auch hier die Untersuchung der soge-
nannten Kettenschlüsse, die nur wiederholte Anwendungen der
Schlussregeln in sprachlicher Abkürzung sind.
2. Die Behauptung, welche in jedem Schlüsse liegt, dass
die Gültigkeit der Conclusion aus der Gültigkeit der Prä-
missen folgt, ist für den Fall, dass die Schlussregeln einge-
halten sind, auch dann gültig, wenn die Prämissen nur hy-
pothetisch angenommen wurden. Der einfache hypothetische
Schluss geht dann in seinen Obersatz zurück; die übrigen,
welche mehr als die einfache Assumtion des Vordersatzes ent-
halten, lassen sich in hypothetischen Urtheilen darstellen von
der Form Wenn A gilt und B gilt, so gilt C (wenn alle
Menschen sterblich und Cajus ein Mensch ist, so ist Cajus
sterblich) ; Urtheilen , welche nur das Moment der Conse-
quenz abgesehen von der Gültigkeit der Prämissen hervor-
heben. Die meisten hypothetischen Urtheile ruhen in der
That auf solchen syllogistischen Verhältnissen; wird die eine
Prämisse als selbstverständlich nicht besonders ausgedrückt^
so erscheinen sie als hypothetische Urtheile mit einfachem
Vordersatz*).
3. Daraus folgt, dass sich auf das Verhältniss der Con-
*) Vergl. mein Programm S. 40 und die dort angeführten Beispiele.
Die Noth wendigkeit die das hypothetische ürtheil ausspricht: Wenn
Cajus ein Mensch ist, so ist er sterblich, ruht auf dem verschwiegenen
Satze, dass alle Menschen sterblich sind; das ürtheil: Wenn die Erde
sich um die Sonne bewegt , so haben die Fixsterne eine jährliche Pa-
rallaxe, setzt eine ganze Reihe von Schlüssen voraus, deren übrige
Prämissen als geometrisch absolut gewisse Sätze vorausgesetzt werden
und am hypothetischen Charakter keinen Theil haben. Aber neben
diesen hypothetischen Urtheilen gibt es auch andere, deren Nothwen-
digkeit eine unmittelbar erkannte ist.
420 § 59. Verhältniss der Conclusion zu den Prämissen. 485
clusion zu den Prämissen , wenn man sie alle nur als Hypo-
thesen betrachtet, die Sätze über das Verhältniss von Grund
und Folge anwenden lassen.
Es gilt also nicht nur , dass wenn die Prämissen wahr
sind, die Conclusion nothwendig wahr ist, sondern auch, dass
wenn die Conclusion falsch ist , damit der Grand , aus dem
sie nothwendig folgt, falsch sein muss. Sofern aber dieser
Grund in zwei Prämissen liegt , folgt aus der Falschheit der
Conclusion nur die Falschheit wenigstens einer Prämisse —
sei es des Ober- oder Untersatzes.
Es folgt aber nicht, dass, wenn die Prämissen falsch
sind, auch die Conclusion falsch sein muss; und es folgt nicht,
dass, wenn die Conclusion wahr ist, auch die Prämissen wahr
sein müssen. Vielmehr kann aus falschen Prämissen mit
syllogistischer Nothwendigkeit eine wahre Conclusion her-
vorgehen.
Es folgt darum insbesondere nicht, dass, wenn eine Prä-
misse und die Conclusion wahr ist, darum auch die andere
Prämisse wahr sein müsse; und es darf also, wenn ein als
wahr bekannter Satz sich als syllogistische Folge zweier Sätze
darstellen lässt, von denen der eine ebenso als wahr bekannt
ist, daraus nicht geschlossen werden, dass darum auch der
andere wahr sei. '
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Sll^L/in\a o^^ . . i^^v ov I9QII
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