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x^'^
LOGISCHE STUDIEN.
LOGISCHE STUDIEN.
£IN BEITRAG
ZUR NEUBEGRÜNDUNG DER FORMALEN LOGIK
UND DER ERKENNTNISSTHEORIE
VON
FRIEDRICH ALBERT LANGE.
ISERLOHN.
VERLAG VON J. BAEDEKER
1877. ^
VORWORT.
JVlit der Herausgabe des vorliegenden Werkes erfülle ich
einen Auftrag, den der verewigte Verfaffer mir anvertraut hat.
Die Schrift ift druckfertig von dem Verfaffer mir übergeben
worden. In feinem Nachlaffe fand fich ein Zettel, auf welchem
die nachftehende Inhaltsangabe des zweiten Theils verzeichnet
war, den er nicht mehr bearbeiten follte.
II, Theil.
VII. Zur Pfychologie des Denkens.
Vin. Grammatik u. Logik.
IX. Die Induction.
X. Die numerifche Methode und das Gefetz der gr. Zahlen.
XI. Die hiflor. krit. Methode.
Xn. Idee einer vergleichenden Methodologie der Wiffenfchaft. ^
Eventueller Anhang:
lieber Wahlen und Abflimmung.
Ich habe bereits an anderem Orte berichtet, dafs diefes Frag-
ment drei Wochen vor des Verfaffers Tode vollendet worden
ift. Es ift jedoch vor der Bearbeitung der zweiten Auflage feiner
»Gefchichte des Materialismusa begonnen worden, und die Grund-
züge deffelben find als die langfam gereifte Frucht früh entworfener
Gedanken anzufehen, welche die ganze Lebensarbeit des Mannes
durchzogen haben. Es wird daher den Freunden feines Haupt-
VI
Werkes der ficherfte Rathgeber werden in Fragen, welche an die
fyftematifchen Anflehten des hiftorifchen Kritikers ergehen. Zugleich
aber wird es unter den fachgenöffifchen Beftrebungen zur Reform
der Logik einen Platz behaupten, würdig des Namens, den
Friedrich Albert Lange hinterlaffen hat
Marburg, im December 1876.
H. Cohen.
INHALT.
I. Formale Logik und Erkenntnisslehre «... i
IL Die Modalität der Urtheile 30
III. Das particulare Urtheil und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile . 55
IV. Die Syllogiftik 74
V. Das disjunctive Urtheil und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre . 99
VI. Raum, Zeit und Zahl 127
I.
Formale Logik nnd Erkenntnisslehre«
jVlan wird mit der Frage der Berechtigung einer ftreng for-
malen Logik gegenüber der Logik als Erkenntnifstheorie*) nie in's
Reine kommen, fo lange man beide einander fchlechthin gegeri-
überftellt und ihren Werth für die Gefammtaufgabe der Philofophie
vergleicht, als hätte man lediglich zwifchen beiden zu wählen.
Vielmehr handelt es fich darum, beide Aufgaben in ihrer Eigen-
thümlichkeit zu erfaffen und dabei wird die Frage in den Vorder-
grund treten: Hat die Wiffenfchaft von dem Verfuch einer abge-
fonderten Behandlung der rein formalen Elemente der Logik eine
wefentliche Förderung zu erwarten oder nicht? Fällt die Antwort
auf diefe Frage bejahend aus, fo ift damit über die Zweckmäfsig-
keit einer andern Behandlung der Logik noch nichts entfchieden,
fowie anderfeits der Nachweis der Zweckmäfsigkeit eiii6r Logik als
Erkenntnifstheorie auf die hier geftellte Frage keinen Einflufs üben
kann, fo lange man rein auf dem Boden der theoretifchen Forfchung
bleibt und didaktifche Rückfichten bei Seite läfst.
Allerdings ifl die Aufgabe einer flreng formalen Logik unzer-
trennlich von einer Kritik der überlieferten Logik, in welcher
*) Wir nehmen hier mit Rücklicht auf Trendelenburg und Ueberweg den Aus-
druck »Erkenntnifstheorie« im Sinne einer Lehre von der menfchlichen Erkenntnils,
welche fich auf Logik, Metaphyfik und Pfychologie ilützt, und alfo kein flreng ein-
heitliches Princip hat. Es wird fich fpäter zeigen, dafs diefe WiiTenfchaft aufzulöfen
ifl in die (Kantifche) rein apriori verfahrende Auffuchung der Poflulate, welche
das Erkennen vorausfetzt, und in die pfychologifche Lehre vom Erkennen, wel-
che empirifcher Natur ift. Beide Zweige der WiiTenfchaft fetzen eine genaue Unter-
fuchnng der logifchen Formen voraus.
Lange, Logische Studien. 1
2 Formale Logik
feit Ariftoteles die rein logifchen Elemente mit Grammatifchem
und Metaphyfifchem fo eng verbunden find, dafs fich auch die bis-
herigen Verfuche einer rein formalen Logik von diefer Verbindung
nicht haben befreien können. Eine Zerfetzung der überlieferten
Logik würde afo die unmittelbare Folge und zum Theil auch die
Vorbedingung der Aufftellung einer rein formalen Logik fein ; denn,
die Wirklichkeit einer folchen vorausgefetzt, müfste ihre erfte Auf-
gabe darin beliehen, das Nichtlogifche in dem überlieferten Stoff
der Logik nachzuweifen, damit es auf feine wahren Quellen zurück-
geführt und in feiner eigenthümlichen Natur erkannt werden könne.
Eine folche Zerfetzung wäre aber keineswegs einer definitiven Son-
derung gleich zu achten, denn abgefehen davon, dafs auch auf dem
neuen Böden eine parallele Behandlung des Logifchen, Gramma-
tifchen und Metaphyfifchen in der Erkenntnifslehre fruchtbar fein
könnte, läfst fich nicht beftreiten, dafs eine befonnene und umfich-
tige Behandlung der Logik als Erkenntnifslehre auch ihrerfeits fiir
die Erkenntnifs des rein Logifchen und feiner Beziehungen zur
Grammatik und Metaphyfik förderlich fein und den Procefs einer
principiellen Sonderung des Verfchiedenartigen durch die Beobach-
tung feiner Wechfelbeziehungen und feines Ineinandergreifens
wefentlich erleichtem kann.
In diefer Beziehung dürfte z. B. Ueb er wegs Behandlung der
Logik dem Problem einer rein formalen Logik förderlicher fein, als
die Bemühungen der KantTchen Schule, eine rein formale Logik
aufzuftellen, ohne die ariftotelifche Ueberlieferung einer gründlichen
Kritik zu unterwerfen; denn während wir bei Ueberweg einerfeits
die rein formalen Beftandtheile der Logik mit ungewöhnlichem
Scharffinn und formaler als bei den meiden Formaliften behandelt
finden, fehen wir unmittelbar daneben eine fo weit gehende Iden-
tificirung des Grammatifchen und des Logifchen und einen fo ge-
wagten Uebergang in das Metaphyfifche durch eine fiftnreiche
aber lückenhafte und undurchführbare Entfprechungstheorie, dafs
man unwillkürlich zu tief gehenden Vergleichungen zwifchen den
apodiktifchen und den problematifchen Elementen eines folchen
Syftems geführt wird. Zugleich zeigt fich leicht, dafs eben in
jener Identificirung des Grammatifchen und Logifchen eine Haupt-
quelle alles Streitigen und alfo trotz aller verfuchten »Be weife«
nicht wahrhaft Apodiktifchen liegt, und da anderfeits die fchon
von Trendelenburg mit Recht hervorgehobene Stammverwandt-
fc * *■ • • ••
• • • •• • • •
• • * • •
• • • •
und Erkenntnifslehre. ^
fchaft der Grammatik und Logik in ihrem hiftorifchen Auftreten
über jeden Zweifel erhaben ift, fo wird man leicht zu dem Gedan-
ken geleitet, dafs fchon in den allererften Anfängen der Logik,
grade durch ihre Verwandtfchaft mit der Theorie der menfchlichen
Sprache, eine ftarke Beimifchung eines Factors enthalten ift,
welcher feiner Natur nach keiner apodiktifchen Behandlung fähig
ift, und welcher daher auch eine reine und allenthalben zweifelfreie
Durchführung des Logifchen nach Art des Mathematifchen von
vorn herein unmöglich macht Damit aber werden wir veranlafst,
das Meffer der Kritik weit tiefer anzufetzeh, als es Kant und
feine Nachfolger, die Herbartfche Schule bei allen ihren Ver-
dienften nicht ausgenommen, gethan haben/ — Ganz gleich ver-
hält es fich mit den metaphyfifchen Beftandtheilen der Logik,
doch werden wir fpäter fehen, wie beide Beimifchungen der gleichen
Quelle entftammen: der naiven Verwechslung von Wort, Begriff
und Sache, von welcher fich Ariftoteles bei allen Anftrengungen
feiner grofsen Geifteskraft nicht völlig loszuringen vermochte.
Ob die Aufgabe der Herftellung einer ftreng formalen Logik
zufammenfällt mit der Ausfcheidung des wahrhaft Apodiktifchen
aus dem überlieferten Stoff der Logik, wird von manchen Seiten
bezweifelt werden, allein nicht jeder hierauf bezügliche Zweifel
darf auf Widerlegung Anfpruch machen, und andre Einwendungen
wieder giebt es, die deshalb auf fich beruhen mögen, weil es im
Grunde gleichgültig ift, ob das Ergebnifs einer übrigens richtig
geführten Unterfuchung der urfprünglichen Vermuthung entfpricht,
oder nicht.
Vor allen Dingen mag bemerkt werden, dafs wir als das
wahrhaft Apodiktifche in einer Wiffenfchaft nicht Alles gelten laffen,
was fich auf vorgebliche »Beweifea ftützt, fondern nur dasjenige,
welches Jedermann, der den Sinn der betreffenden Behauptungen
verftanden hat, auch wirklich zugeben mufs und zugiebt ; das alfo,
worüber kein Streit mehr fein kann. Hier mufs nun ein für
allemal der Anfpruch der Metaphyfiker, ohne jeden Unterfchied
der Richtung und Schule definitiv abgewiefen werden, dafs es fich
mit ihren Deductionen ebenfo verhalte, dafs der Widerfpruch
andrer Schulen nur auf Mangel an Verftändnifs, wo nicht. gar auf
Mangel an gjjtfem Willen beruhe, dafs nur die Schwierigkeit und
Tieffmnigkeit der Sache die fofortige allgemeine Zuftimmung un-
möglich mache, oder gar, dafs man fich erft ein in fechs dicken
1*
4 Fonnale Logik
Bänden niedergelegtes Syftem ganz und gar muffe zu eigen ge-
macht haben, um alsdann, vom Ganzen zum Einzelnen zurückkeh-
rendy die Bündigkeit jedes Schluffes bewundernd anerkennen zu
können. Solche Anfprüche verkennen die Natur des Apodiktifchen
ganz und gar. Auch in der Mathematik giebt es Gebiete, über
welche Niemand mitreden kann, der fich nicht durch jahrelanges
Studium darauf vorbereitet hat; aber es redet auch wirklich kein
Unberufener darüber mit; noch viel weniger fällt es Jemanden ein,
das mühfame Studium durch Schöpfung einer eigenen Mathematik
nach ganz andern Grundfatzen fich zu erfparen. Der Grund ift,
wie auf der Hand liegt, der Einblick in die Unmöglichkeit einer
andern Mathematik, welchen Jeder fchon bei der Behandlung der
erften Elemente gewinnt, und das Zutrauen in die Confequenz ihrer
Methode und die Sicherheit ihres Fortganges vom Einfachen zum
Zufammengefetzten. Dergleichen vermag keine Metaphyfik zu
bieten, die KantTche Vernunftkritik nicht ausgenommen, wiewohl
diefe unter billiger Verurtheilung aller bisherigen Metaphyfik einen
vermeintlich ebenfo fichem als neuen Weg zur Entdeckung allge-
meiner Vernunftwahrheiten einfchlägt. Es fehlt hier überall fchon
den erften Sätzen, von denen aus weiter gefchloffen wird, jene Evi-
denz, welche dem wahrhaft Apodiktifchen eigen ift, und der kri-
tifche Widerfpruch des einen Metaphyfikers gegen den andern ift
vollkommen genügend, um uns zu zeigen, dafs bei keinem von
beiden fich wahrhaft nothwendige Annahmen und zwingende Schlufs-
folgerungen finden.
Wir ftellen hiermit fo wenig den Werth, der Metaphyfik über-
haupt, als den einer fpeziellen Kritik der metaphyfifchen Syfteme
in Abrede, aber wir behaupten, dafs der etwaige Werth eines
metaphyfifchen Syftems nicht in feiner vermeintlich zwingenden
Deduction liegt, und dafs die philofophifche Kritik ihre wahre
Aufgabe nicht darin hat, zu zeigen, dafs die fämmtlichen Syfteme
unhaltbar fmd, fondern wie fie zu ihren Irrthümem kommen und
wo die fchwächften Punkte liegen. Dabei wird die pofitive Kritik,
gleich der Gefchichte der Philofophie, zugleich die Aufgabe haben,
die wahre Bedeutung eines Syftems für den Culturfortfchritt nach-
zuweifen. Diefe Bedeutung hat noch nie ein befonnener Kritiker
in der unwiderleglichen Richtigkeit eines Syftems gefunden,
fo unermüdlich auch die Metaphyfiker wieder einer nach dem andern
den Anfpruch auf folche Unwiderleglichkeit erheben.
und Erkenntnifslehre. 5
Wie fehr die Metaphyfiker felbft ein Gefühl davon haben, dafs
die wahre Bedeutung ihrer Producte nicht in der apodiktifchen
Gültigkeit der Lehrfätze liegt, zeigt der eigenthümliche Umftand,
dafs die Anhänger gefchloffener Syfteme, ungeachtet des fchroffften
Widerfpruchs ihrer Lehren, doch mehr miteinander fympathifiren,
als mit den Indifferenten und Skeptikern. Die gleiche Erfcheinung,
wie bei den orthodoxen Anhängern eines Religionsbekenntniffes.
Hier fpricht fich deutlich aus, dafs die gefchloffene Form der
Weltanfchauung an fich das Gefchätzte und die Sicherheit der
Deduction nur Aufsenwerk ift; mit einem Worte, dafs man fich
nicht auf theoretifchem Boden befindet, wie fehr auch der
Schein hiefür fprechen möchte. Wir haben es hier nicht damit
zu thun, das Streben nach einer gefchloffenen Weltanfchauung
überhaupt zu würdigen; es handelt fich nur darum, zu zeigen,
dafs es in der Metaphyfik das herrfchende ifl, und dafs ihm
gegenüber die Sicherheit der Ableitung der Lehren nur eine fecun-
däre, wenn auch wichtig erachtete Rolle fpielt
Nun aber ift grade durch Ariftoteles der Anfpruch aufgekom-
men und bis heute unter den Metaphyfikern noch keineswegs er-
lofchen, dafs nur das aus Principien abgeleitete »apodiktifche«
WifTen ein wahres Wiffen fei, und unter dem apodiktifchen WifTen
verfteht man in diefem Falle keineswegs nur jenes Wiffen, welches
fo bewiefen ift, dafs kein gefund organifirtes menfchliches Hirn
daran zweifeln kann, fondem, kurz gefagt, das Wiffen vomphilo-
fophifchen Syftem aus. »Wiffenfchafto ift nach dem Sprachge-
brauph diefer Kreife nur die UmfafTung des Erkannten mittelft
der Deduction aus Principien; der Empiriker hat kein wirkliches
WifTen; er liefert nur den Stoff dazu; erft wenn diefer Stoff nach
den Grundfätzen des Syftems geordnet und gegliedert ift, entfteht
wirkliches Wiffen und Wiffenfchaft
Während diefer Anfpruch bei Ariftoteles noch naiv erfcheinen
konnte und auf einer offenbaren Verwechslung des metaphyfifchen
Beweifes mit dem wirklich zwingenden Beweife beruhte, geht die
neuere deutfche Philofophie noch einen kühnen Schritt weiter.
Würde nämlich die Identität der philofophifchen Deduction mit dem
zwingenden Beweis verfahren, wie wir es in der Mathematik am
reinften vor uns haben, wirklich feftgehalten, fo könnte jeder
Philofoph offenbar nur fich felbft und feinen unbedingt gläubigen
Schülern wirkliches Wiffen und Wiffenfchaft zufchreiben; denn
6 Formale Logik
einem andern Syftem, deffen Schlufsfolgerungen er als unrichtig
anfleht, vermöchte er doch nimmermehr apodiktifche Erkenntnifs
zuzufchreiben, da ja das falfch Bewiefene gar nicht bewiefen ift.
Diefe Confequenz aber wird nicht gezogen und darin zeigt fleh
eine Umgeftaltung der Begriffe von Wiffen, Wiffenfchaft, Beweis
und Deduction, deren Tragweite eine fehr ernfte ift. Der Hege-
lianer fchreibt zwar dem Herbartianer ein unvoUkommneres Wiffen
zu als fleh felbft, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anftand,
das Wiffen des Andern gegenüber dem des Empirikers als ein
höheres und wenigftens als eine Annäherung an das allein wahre
Wiffen anzuerkennen. Es zeigt fleh alfo, dafs hier von der Bün-
digkeit des Beweifes ganz abgefehen und fchon die blofse Dar-
ftellung in Form der Deduction aus dem Ganzen eines Syftems
heraus als »apodiktifches« Wiffen anerkannt wird.
Was wir hier hervorgehoben, darf keineswegs mit dem ferne-
ren Anfpruch einzelner neueren Syfteme, felbft das Pofitive und
Thatfächliche aus der blofsen Formel hervorgehen zu laffen, ver-
wechfelt werden. Wir bleiben bei dem ungleich befonneren Stand-
punkt des Ariftoteles ftehn, der nicht nur die Principien felbft,
aus. denen wir fchliefsen muffen, aus der Induction hervorgehen
läfst, . fondern auch allenthalben die ausgedehntefte empirifche
Kenntnifs des Thatfächlichen als Vorausfetzung des philofophifchen
Erkenntnifsprözeffes fordert Auch von diefem Standpunkt aus ift
der Anfpruch, dafs erft der philofophifche Erkenntnifsprozefs das
»Wiffen« nach gewöhnlichem Sprachgebrauch zu wahrem Wiffen
mache, ein koloffaler: zumal, wenn eben der blofse Verfuch einer
apodiktifchen Darftellung, wie wir gefehen haben, an Stelle des
wirklichen Beweifes anerkannt wird. Nach diefer Forderung der
Metapbyfiker hat Faraday kein Wiffen über den Magnetismus,
Meynert kein Wiffen vom Bau des Gehirns; Helmholtz' Lehre
von den Tonempfindungen oder feine phyfiologifche Optik find nicht
Wiffenfchaft, weil nicht aus dem q)V(Tei ngoragov deducirt, fondem aus
Experimenten aufgebaut; höchftens diejenigen Theile, welche fich
fchon ganz und voUftändig aus mathematifchen Principien deduci-
ren laffen, könnten vielleicht «Wiffenfchaft« heifsen; allein die hier
vorliegende wirkliche Deduction ift eben doch noch keine De-
duction aus den höchften (metaphyfifchen) Principien. Von hifto-
rifcher Wiffenfchaft, von Philologie als Wiffenfchaft kann vol-
lends gar keine Rede fein j wenn aber dann ein Profeffor der Phi-
und Erkenntnifslehre. 7
lofophie kommt und die dürftigen Bruchftücke, welche er bei den
Forfchern gelernt hat, an den Faden eines Syftems reiht und
fcheinbar apodiktifch aus metaphyfichen Principien ableitet, dann
ift dies »Wiffenfchaft« und »wiffenfchaftliche Behandlung«, und
zwar eingeftandner Mafsen ohne allen Anfpruch auf unbedingte
Beweiskraft der Schlüffe. In diefer Beziehung hackt eine Krähe
der andern die Augen nicht aus. Ein folches »Wiffena gilt als
»apodiktifcha aus dem einfachen Grunde, weil es Theil einer ge-
fchloffenen Weltanfchauung ift, die fich auf metaphyfifche Principien
gründet und in ihrem Entwicklungsgang unter mehr oder weniger
Willkürlichkeiten und Beweisfetilern die äufsere Form der Deduction
beobachtet.
Wir haben an andrer Stelle zu zeigen verfucht, dafs die Phi-
lofophie diefen Anfpruch an apodiktifche Geltung ihrer Conftructionen
aufgeben kann, ohne irgend etwas von ihrem wahren Werthe zu
verlieren ; ebenfo wie die Religion ihren Anfpruch an ^ufsere
Wahrheit aufgeben follte, um ihren idealen Inhalt in freier und
wandelbarer Form zu behaupten. Hier haben wir mit diefen
Fragen nichts zu fchaffen, und felbft die Bemerkung über die
Verwirrung, welche man mit jenen Anfprüchen im Begriff der
Wiffenfchaft und des wiffenfchaftlichen Verfahrens angerichtet hat,
berührt uns nur infofern, als es gut fein mag, fchon hier darauf
hinzuweifen, dafs auch dasjenige, was die Forfcher und Ent-
decker wiffenfchaftliches Verfahren nennen, Anfpruch auf einge-
hendfte Berückfichtigung in der Erkenntnifsthebrie erheben darf.
Unfer eigentlicher Zweck ift hier nur, jedem anderweitigen Sprach-
gebrauch gegenüber mit voller Schärfe dasjenige hinzuftellen, was
wir das Apodiktifche in der Logik nennen. Wir verftehn da-
runter diejenigen Lehren, welche fich, gleich den Lehrf ätzen der
Mathematik, in abfolut zwingender Weife entwickeln laffen, und
welche durch den Beweis ihrer Wahrheit auch wirklich bewie-
fen und alfo ein für allemal dem Streit der Schulen und dem
individuellen Belieben entrückt find.
Dafs die ariftotelifche Logik folche Lehren enthält, wird wohl
Niemand beftreiten; aber auch die Thatfache, dafs vorzugsweife
diefe den Stoff der »formalen Logika bilden, dürfte fchwerlich
ftark angefochten werden. Damit ift aber noch lange nicht ge-
fagt, dafs die formale Logik das Problem gelöft habe, das Apo-
diktifche in der überlieferten Logik rein auszufcheiden und da-
g Formale Logik
mit zugleich den Grund feinfer Denknothwendigkeit blofs zu legen.
Dies Problem darf nur ausgefprochen werden, um die Berechtigung
eines Löfungsverfuches ganz unabhängig von dem bisherigen Streit
zwifchen formaler Logik und Erkenntnifstheorie klar zu machen.
Die blofse Thatfache des Vorhandenfeins zwingender Wahr-
heiten ift eine fo wichtige, dafs jede Spur derfelben forgfältig ver-
folgte werden mufs. Eine Unterlaffung diefer Unterfuchung wegen
des geringen Werthes der formalen Logik oder wegen ihrer Un-
zulänglichkeit als Theorie des menfchlichen Denkens müfste von
diefem Standpunkte aus zunächfl fchon als Verwechslung theore-
tifcher und praktifcher Zwecke zurückgewiefen werden. Ein folcher
Einwand wäre etwa fo anzufehen, wie wenn ein Chemiker fich
weigern wollte, einen zufammengefetzten Körper zu analyfiren, weil
derfelbe in feinem zufammengefetzten Beftande höchft werthvoU
fei, während die einzelnen Beftandtheile vorausfichtlich gar keinen
Werth hätten.
Denken wir uns fonach alle auf diefem Boden erwachfenen
Einwände gegen unfer Unternehmen befeitigt, fo bleiben nur noch
zwei einigermafsen beachtenswerthe Bedenken von fehr verfchie-
denem Charakter übrig. Man kann nämlich vom Standpunkt der
unbedingten Ariftoteliker aus behaupten, dafs in der Analytik des
Ariftoteles, von kleineren Verftöfsen abgefihen. Alles apodiktifche
Geltung habe; ja, dafs fogar das metaphyfifch-logifche Princip des
Ariftoteles, fuche man es nun in der Entwicklungslehre von der
Sivafiig und der it^yeia oder in der Lehre vom »fchöpferifchen Be-
griff a, auch den wahren Grund der Apodikticität der einzelnen
Lehren enthalte. Diefem Einwand ift nun aber theils fchon in
demjenigen begegnet, was wir oben über apodiktifche Metaphyfik
überhaupt bemerkt haben, theils werden wir fpäter reichliche Ge-
legenheit haben, die totale Unhaltbarkeit folcher Anfprüche im
Einzelnen kennen zu lernen. Der andere Einwand könnte nun
umgekehrt im Namen des Urhebers der »formalen Logik« im
modernen Sinne erhoben werden. Man könnte fagen, die Löfung
des von uns aufgeftellten Problems fei fehr einfach; fie liege in
der von Kant aufgeftellten Behauptung, dafs die Lehrfätze der
Logik fämmtlich analytifcher Art feien und auf dem Satz des
Widerfpruchs beruhen. Diefe Behauptung verdient eine einge-
hende Prüfung.
Bekanntlich erklärte Kant die mathematifchen Urtheile für
und Erkenntnifslehre. 9
insgelammt fynthetifch, wie ihm denn die Mathematik als Haupt-
beweis dafür galt, dafs es Urtheile gebe, welche fynthetifch aber
gleichwohl mit dem Bewufstfein der Nothwendigkeit verbunden
und alfo, wie Kant folgert, nicht empirifch feien« Diefe Behaup-
tung ^ar neu ; denn bis dahin herrichte die Anficht vor, dafs auch
die mathematifchen Urtheile analytifch feien und auf dem Satz des
Widerfpruchs beruhen. Diefe Anficht findet bis auf den heutigen
Tag energifche Vertheidiger, denen Kant felbft im Grunde durch
feine Behauptung von der rein analytifchen Natur der formalen
Logik die Waffen in die Hand gegeben hat * Es läfst fich in der
That zeigen, dafs die Natur aller mit Nothwendigkeit gel-
tender Urtheile im Wefentlichen ein und diefelbe ifl und
daraus folgt, dafs fie entweder alle anal3rtifch, oder alle fynthetifch
find, oder dafs diefe Eintheilung im Kantifchen Sinne der Aus-
fchliefslichkeit überhaupt nicht richtig ifL
In der That ifl das letztere der Fall, und der Grundfehler
fcheint in der unberechtigten fcharfcn Trennung von Sinnlichkeit
und Verfland zu beruhen, mit welcher Kant ja auch fchon in der
Lehre von der Synthefis und ihren verfchiednen Arten in's Gedränge
kommt, da fich zeigt, dafs »Anfchauung« irgend eines Gegcnflan-
des überhaupt fchon nicht ohne Mitwirkung der Spontaneität zu
Stande kommen kann. Umgekehrt giebt es auch in den abfbac-
teflen Gegenfländen kein Denken ohne Anfchauung.
Die mathematifchen Sätze foUen durch Synthefis a priori
mittelfl der Anfchauung des Raumes zu Stande kommen. Wir
wollen zu zeigen verfuchen, dafs dies auch bei den logifchen
Lehrfätzen der Fall ifl, und dafs in dem nämlichen Anfchauungs-
bilde, mit welchem wir diefelben begleiten, für uns das eigentlich
Ueberzeugende liegt.
Wählen wir zunächfl einen Fall, bei welchem die Ableitung
aus dem blofsen Satze des Widerfpruchs recht evident fcheint:
die Umkehrung des allgemein verneinenden Urtheils! Arifloteles
fagt: (Anal. pr. I, 2.) ^El fitfievl läv B xo A vnaQxei, ovde tav A
ovdsft V9iap{ei xo B, El ^af^ Tiri, olov t^ F, ov* aXri&ig hmai to ixffiwl
Tup B TO A imaQXBiv. to f'ag F twv B il iartv." Hier haben wir alfo
den reinen Beweis durch den Satz des Widerfpruches. Gleichwohl
haben wir auch den HülfsbegrifT r, welcher in dem zu beweifen-
den Satze nicht vorhanden war. Die Einfuhrung deffelben kann
keinen andern Zweck haben, als den der Veranfcbaulichung
10 Formale Logik
irgend eines beliebigen Theiles der B, Diefe Veranfchaulichung voll-
ziehen wir in der Vorftellung an einem räumlichen Bilde, und wir
werden Ipäter hinlänglich fehen, dafs die den Raumvorftellungen
eigene unendliche Variabilität der eigentliche Grund dafür ift, dafs
wir hier, ganz wie in den Figuren der Geometrie, das Einzelne
fofort als ein Allgemeines gelten laflen.
Wir wollen an dies Beifpiel zunächft noch einige nützliche
Bemerkungen anknüpfen, bevor wir tiefer in die Unterfuchung
eintreten. Zunächft fehen wir, dafs Ariftoteles, deffen Logik doch
fonft in fo eminentem Sinne gegenüber der modern -nominaliftifchen,
befonders in England heimifchen Logik des Umfangs als eine Lo-
gik des Inhalts bezeichnet werden kann, beim eigentlichen Beweife
feiner Sätze es doch nicht verfchmäht, fich auf den Umfang der
Begriffe zu ftützen. Die ganze Art, wie das r eingeführt und
nachher in Erinnerung gebracht wird, dafs es zu den -ö gehöre,
fcheint fogar darauf hinzudeuten, dafs im mündlichen Lehrvor-
trage fchon damals fmnliche Veranfchaulichungsmittel nicht ver-
fchmäht wurden ; worunter natürlich , nicht grade die angeblich
vom Rektor Weife (1708) erfundenen Kreife als Symbole der
BegrifTsfphäre verftanden fein mülTen. Ludwig Vives wendet in
feiner Schrift de cenfura veri Dreiecke an, um das Schema der
Subfumtion durch eineh Mittelbegriff zu veranfchaulichen. Im
Druck erfcheinen flatt der im Text genannten Dreiecke nur
Winkel; die dritte Seite fehlt Wiewohl dies wahrfcheinlich nur
die typographifche Bequemlichkeit mit fich gebracht hat, fo ficht
man doch, dafs auch diefe Darftellungsweife dem Bedürfnifs der
Veranfchaulichung fchon genügt *) Wenn wir diefe Unterftützung
der Phantafie zu Anfang des 16. Jahrhunderts finden und die
fchlichte Art ihrer Einfiihrung bemerken, fo werden wir fie kaum
für eine Erfindung des fcharffinnigen Spaniers halten, fondem eher
für eine Schultradition. Was Ariftoteles betrifft, fo kann man die
Reductionsweife der zweiten und dritten Figur nicht als Beweis
dafür gelten laffen, dafs man zu feiner Zeit diefe fo nahe liegende
Veranfchaulichung nicht gekannt habe. Diefe Reductionsweife hatte
für die Auffaffung des Ariftoteles principielle Bedeutung, da nach
ihm nur die erfte Figur vollkommene SchlüfTe lieferte. Es ift da-
her keineswegs anzunehmen, dafs Ariftoteles, wenn er die fchema-
*) De cenfura veri, 1. II. — Vivis opera ed. Valent. t. III, p. 171. —
und Erkenntüifslehre. \\
tifche Darfteilung gekannt hätte, fich derfelben bedient haben
würde, um die Schlüffe der zweiten und dritten Figur direct zu
begründen. Jedenfalls war Ariftoteles weit entfernt davon, in der
Anwendung einer folchen Veranfchaulichung die Beweiskraft feiner
Sätze zu finden; was natürlich nicht hindert, dafs eben doch auch
bei ihm und feinen Schülern die Anwendung des räumlichen Bildes,
fei es in der blofsen Phantafie, fei «s mit fmnlicher Unterftützung,
die eigentliche Quelle des Bewufstfeins der Allgemeinheit und Noth-
wendigkeit der aufgeftellten Sätze war.
Hieran mag fich nun ferner die Bemerkung fchliefsen,, dafs
das Verhältnifs der Inhärenz, welches die ganze ariftotelifche
Analytik beherrfcht, in den Be weifen der logifchen Lehren durchr
aus keine Rolle fpielt. Zwar geht Ariftoteles in feiner Syllogiftik,
entgegen dem modernen Gebrauch, ftets vom Prädicatsbegriff aus
und ftellt die Frage nicht in Beziehung auf das Enthaltenfein der
Gegenftände des Subjectsbegriffs in der Sphäre des Prädicatsbe-
griffs, fondern in Beziehung auf die Gültigkeit der Anwendung des
Prädicatsbegriffes als Prädicat für das Subject Während wir uns
im verfmnlichenden Bilde beim Normalfchlufs der Subfumtion
gleichfam die Prädicatsfphäre ruhend denken und in der Phan-
tafie die Sphären des Mittelbegriffs und des Subjectsbegriffs an diefe
heranbringen, um fo das Verhältnifs des Schlufsurtheils zu finden,
fcheint in dem ariftotelifchen ,,to o xainj^ogeliai, xai« tov ß** eher das Bild
der umgekehrten Bewegung zu liegen. Sieht man aber genauer
zu, fo liegt das eigentlich beweifende Moment bei Ariftoteles ganz
wie in der neueren Logik in den Umfangsverhältniffen der Begriffs-
fphären, denke man fich nun diefe an jene herangebracht, oder
umgekehrt. In dem ebenfalls ariftotelifchen Ausdruck „to a wtoqxbi
nanl Tq> ß" kann man fich die Bewegung der Sphären umgekehrt
denken und dies entfpricht im Grunde der metaphyfifchen An-
fchauung des Ariftoteles noch beffer, da er ja die Gattung im
Verhältnifs zu Art und Individuum als das Stoffliche auffafst, welches
durch die Differenz erft zur Actualität des wirklichen Dinges er-
hoben wird. Jedes wahre Prädicat aber ift ihm Gattung gegenüber
dem Subject, wie die Reflexionen über das Sein im Subject
und das Ausgefagtwerden vom Subject (Cat. 5) beweifen, wo
das Urtheil »der Körper ift weifs« nur dem Namen nach als kate-
gorifch anerkannt wird; dem Begriff nach könne »weifs« niemals
vom Körper als Prädicat ausgefagt werden, weil nämlich der Körper
12 Formale Logik
nicht Farbe, fondern eine Subftanz ift. Man darf diefe Unterfchei-
düng wohl trotz der bekannten Zweifel an der Aechtheit der
»Kategorien« für acht ariftotelifch halten ; denn wenn Anal. poft. I-
22 das Urtheil, »das Holz ift weifs« grade umgekehrt als Bei-
fpiel eines wirklich kategorifchen genannt wird, fo ift dies aus dem
dort in Rede ftehenden Gegenfatz zu erklären gegen das Urtheil:
diefes Weifse ift Holz, welches Ariftoteles begreiflicher Weife noch
weit weniger als Ausdruck eines wahren Prädicatsverhältnifles kann
gelten laflen, da das Holz keine Kategorie ift, unter die man das
Weifse bringen kann. Aus dem gleichen Grunde wird (Cat 5)
gelehrt, dafs die Einzelfubftanzen niemals wahrhaft als Prädicat
ausgefagt werden können.
Freilich fteht diefer Auffaffung des Ariftoteles, wonach jedes
wahre Prädicat dem Subject gegenüber relativ Gattung fein muffe,
auch die andre ergänzend zur Seite, dafs jedes Prädicat eine dem
Subject inhärirende Qualität bezeichne. Der Gattungsbegriff
felbft wird bei Ariftoteles zur Qualität; denn wiewohl er lehrt,
dafs im Menfchen nicht ein Thier, im Baum nicht eine Pflanze fei,
fo fafst er doch ausdrücklich (Cat 2, b, 16 und 17) die Ausfage
der Art von der Subftanz und der Gattung von der Art als Aus-
fage einer Eigenfchaft, fo dafs in diefer Hinficht der Unterfchied
zwifchen einem Merkmalbegriff als Prädicat und einem: prädicativen
Namen blofs darin befteht, dafs das erftere eine Qualität fchlecht-
hin, das letztere aber eine qualitative Subftanz oder eine die Sub-
ftanz betreffende Qualität bezeichnet. Diefe das Inhärenzverhältnifs
hervorkehrende Anfchauung widerfpricht der obiger^ nicht; vielmehr
bilden beide zufammen erft den voUftändigen Ausdruck der Art,
wie fich Ariftoteles das Verhältnifs von Prädicat und Subject im
Urtheil dachte. Das Prädicat ift relativ Gattung (d. h. bez. Art
gegenüber dem Individuum); grade als Gattung aber fpricht es
das Haften einer Eigenfchaft im Subjecte aus.
Von allen diefen Speculationen über das Inhärenzverhältnifs
geht nun aber in die Demonftration der apodiktifch geltenden
Lehrfätze rein gar nichts über. Zwar werden mitunter auch in
rein technifchen Abfchnitten Ausdrücke gebraucht, welche aus
der metaphyfifchen Anfchauung des Ariftoteles fliefsen, allein man
kann fich leicht davon überzeugen, dafs diefelben mit dem nervus
probandi nicht das mindefte zu thun haben. Umgekehrt ift
es ohne Zweifel die Demonftration gewefen, welche Ariftoteles
und Erkenntnifslehre. 13
veranlafst hat, gleich im Eingang der Analytik die ogoi nach der
Gröfse zu unterfcheiden und Ausdrücke zu gebrauchen, welche
das Bild der einander umfaffenden Sphären ganz deutlich vor die
Augen rufen, wie Anal. pr. I, 4: „rbv «rj^oroy cV öilcp eimt t^ /i«r^
xal tov (iiaov iv 0^^ t^ TigfijTOi" (worin Ueberweg, Logik 3. Aufl.,
p. III den Anlafs für die Darftellung der Vorftellungsverhältniffe
durch Kreife findet; eine Darftellung, die in der That, von der
Kreisform des Raumbildes natürlich abgefehen, in der gefammten
Technik der ariftotelifchen Logik ihre Begründung hat) und ebendas :
Gov oy."
So voUftändig tritt in der Technik der Syllogiffik die Specu-
lation über das innere Verhältnifs von Subject und Prädicat zurück,
dafs Ariftoteles jene Bedenken, ob ein Merkmalbegriff Subject, ob
er wahres und eigentliches Prädicat fein könne, ob ein Individual-
begriff Prädicat fein könne, u. f. w. voUftändig bei Seite fetzt
Die Entwicklung der Regel erfolgt in durchaus formaler Weife
an blofsen Buchftaben; nachher werden dem Lefer drei Begriffe
hingeworfen, an denen er die Sache probiren mag. Unter diefen
Begriffen finden fich fubftantivifche und adjektivifche ohne Unter-
fchied, fo dafs man bei der Ausfuhrung fehr häufig auf Sätze ge-
räth, wie »Einiges Weifse ift Thier,a »Kein Unbefeeltes ift Pferd,«
u. f. w., die Ariftoteles von feinem erkenntnifstheoretifchen Stand-
punkt aus hätte fem halten muffen. Ebenfo findet fich in der Lehre
von der Umkehrung der Urtheile nirgend eine Einfchränkung
oder Ausnahme vorgefehen hinfichtlich folcher Urtheile, deren
Subectsbegriflf feiner inneren Natur nach nicht wahrhaft Prädicat
fein kann oder umgekehrt. Die Regeln werden überall, und ohne
Zweifel mit Recht, da die beweifende Veranfchaulichung auf kei-
nerlei Ausnahmen fuhrt, in voller Allgemeinheit ausgefprochen.
Eben deshalb /aber vermag Ariftoteles in den fpeculativen Betrach-
tungen der Analytik feine Anflehten nicht fchroff durchzuführen, weil
fonft zahlreiche Widerfprüche zwifchen der logifchen Technik und
der logifch-metaphyfifchen Erkenntnifstheorie entftehen würden.
Er hilft fich daher in folchen Phallen überall mit ziemlich dürf-
tigem Flickwerk: eigentliche und uneigentliche Redeweife, Sprach-
gebrauch, der dem inneren Verhältnifs nicht ganz entfpricht, dem
Wort nach, aber nicht dem Begriff nach und dergleichen Aus-
kunflsmittel muffen die Kluft zwifchen Technik und Erkenntnifs-
]^4 Formale Logik -
theorie verdecken; die Technik felbft aber gilt überall, foweit es
fich um das Verhältnifs von Subject oder Prädicat handelt, ohne
Unterfchied für die eigentliche oder uneigentliche, begriffsmäfsige
oder blofs übliche Redeweife.
Dafs Ariftoteles fich hier durch die Natur feiner eignen Tech-
nik gezwungen fühlte, liegt klar auf der Hand; denn die Schei-
dung zwifchen Technik und metaphyfifcher Betrachtungsweife liegt
durchaus nicht in feiner Abficht. Dies fehen wir namentlich aus
feiner Lehre von der Wahrheit oder Unwahrheit der Urtheile über
Zukünftiges und aus feiner Theorie der Möglichkeit. Hier, wo
der logifche Zwang nicht fo evident war, fcheut er fich keineswegs,
\ die metaphyfifchen Betrachtungen, und zwar in fehr verderblicher
Weife, in die Technik hineinwirken zu laßen.
Es ifl übrigens auch leicht zu zeigen, dafs die Bedenken der
ariftotelifchen Erkenntnifstheorie gegenüber den Sätzen mit Merk-
malbegriffen oder mit Eigennamen durchweg auf Täufchung be-
ruhen.
Was die Sätze betrifft, wie »Jenes Weifse iftSokrates«, »Das
Herankommende ift Kallias«, fo hat fchon W. Schuppe (Die ariftot.
Kategorieen, Berlin 1871, S. 12.) mit Recht bemerkt, dafs fich
Ariftoteles hier durch die Sprache habe täufchen laffen. Zwar
kann die Stelle Anal. poft. I, 22, wo von dem Satz »Jenes Weifse
ift Holz« die Rede ift, zeigen, dafs Ariftoteles wohl einfah, dafs
hier eigentlich nicht das Weifse, fondern das Etwas, welches
weifs ift, Subject fei; allein auch an jener Stelle beruht das wei-
ter folgende Bedenken, hier ein wahrhaft kategorifches Verhält-
nifs anzunehmen, lediglich auf der Unfähigkeit, diefe ungewohnte
Auffaffungsweife fcharf feftzuhalten, und auf der unüberwindlichen
Neigung, auch das unbekannte Etwas, weil es einmal Subject im
Satze ift, auch als ein bleibendes Subftrat mit wechfelnden Eigen-
fchaften aufzufaffen. Daher redet Ariftoteles hier von einem Et-
was, welches zufallig weifs ift und läfst diefem zufällig weifsen
Etwas den femern Zufall zuftofsen, Holz zu fein; eine Auffaffung,
in welcher alfo der ganz unbeftimmte Ausdruck für einen jetzt
eben wahrgenommenen Gegenftand als beharrliches Ding betrach-
tet wird.
In dem Satze »Jenes Weifse ift Sokrates« liegt daffelbe Ver-
hältnifs vor; nur dafs noch die Schwierigkeit hinzukommt, einen
Eigennamen, und zwar bezogen auf eine beftimmte Perfon, als
und Erkenntnifslehre. ]^5
Prädicat gefetzt zu fehen. Diefe Schwierigkeit mufste vom arifto-
telifchen Standpunkt betrachtet als fehr bedeutend erfcheinen;
eine »erfte Subftanz«, ein wirkliches, concretes Ding, wie diefer
Menfch da, kann ja nicht Gattung, gefchweige Eigen fchaft eines
andern Gegenftandes fein! Betrachtet man die Sache ohne das
ariftotelifche Vorurtheil, fo ift fie freilich fehr einfach. Der Begriff
des Individuums ift allerdings der Oberbegriff für alle wechfelnden
Erfcheinungen diefes Individuums, alfo auch gegenüber den einzel-
nen Momenten feines Dafeins und feiner Erfcheinung relativ immer
noch ein Gattungsbegriff, ein Begriff, welcher noch eine unendliche
Fülle von einzelnen Gegenftänden unter fich begreift, die gar wohl
auch noch der Gruppirung nach untergeordneten Claffen fähig find.
Das Subject, nichts weniger als ein beharrliches Ding, fondem ledig-
lich der Ausdruck eines momentan wahrgenommenen Gegenftandes,
ift trotz der Unbeftimmtheit diefes Gegenftandes weit individueller
als der Begriff des Individuums. Ein folcher Satz hat fo wenig Ab-
normes an fich, dafs er vielmehr die urfprünglichfte Form aller
und jeder Synthefis von Subject und Prädicat darfteilt, die man
freilich nicht in metaphyfifchen Syftemen, fondern in den Kinder-
ftuben fuchen mufs, wo man die Erkenntnifs in ihrer Entwicklung
und die Sprache in ihrem Werden belaufchen kann. Die früheften '
Sätze, welche das Kind fpricht, find folche, wie »Da — Mama!«
»Da — Tiktak« u. £ w., wobei das Subject ftets einen Gegenfland
der augenblicklichen Wahrnehmung überhaupt bezeichnet und das
Prädicat die nähere Beftimmung dazu in einer fubftantivifchen
Form giebt, welche die noch ungefchiedne Einheit von Eigenna-
men und Gattungsnamen enthält.
Was den Uebergang von Merknlalbegriffen in das Subject
betrifft, fo läfst fich hier eine fehr einfache aber folgenreiche Be-
merkung an die Bedenken des Ariftoteles anknüpfen. Welches
Recht hatte Ariftoteles überhaupt, den Satz »Das Holz ift weifs«
umzukehren in »Einiges Weifse ift Holz«? Wenn das Merkmal
weifs zwar »im Holze ift« aber nicht von demfelben »ausgefagt
wird«, d. h. nicht etwas bezeichnet, das, fich zu Holz als relativ
Gattung verhält, fo hätte gar keine Umkehrung möglich fein fol-
len. Rein im Sinne der Inhärenz gefafst, hätte diefelbe lauten
muffen: Weifse Farbe ift bisweilen Holz, d. h. findet fich biswei-
len am Holze. Indem nun aber Ariftoteles ftatt deffen die Sätze
mit adjectivifchem Prädicat, ohne alle Rückficht auf feine eigne
16 Formale Logik
Theorie, in der Umkehrung ganz wie die wirklich kategorifchen,
d. h. den Gattungsbegriff prädicirenden Sätze behandelte, aner-
kannte er im Grunde im technifchen Theil feiner Logik, was er
in der logifch-metaphyfifcheo Theorie verwarf, dafs nämlich die
adjectivifchen Prädicate rein logifch genommen auch Gattungen
bedeuten, oder vorfichtiger ausgedrückt, dafs fie, um einer ftreng-
logifchen Behandlung fähig zu werden, fo aufgefafst wer-
den muffen, als bedeuteten fie Gattungen, d. h. »weifsa = »weifse
Gegenftände« ; »das Holz ift weifs« = »das Holz ift ein weifser
Gegenftanda. Nun erft heifst die Umkehrung mit Recht »Einiges
Weifse ift Holz«, und natürlich . nicht in dem Sinne »Einiges (als
beharrende Subftanz gedacht) welches (in diefem Falle grade) weifs
ift, ift Holz«, fondern in dem fehr natürlichen, der Analogie durch-
aus fich fügenden Sinne: »Ein Theil der weifsen Gegenftände ift
Holz.«
Bekanntlich ftreitet man bis auf den heutigen Tag noch da-
rüber, ob die adjectivifchen Prädicate in der Logik als Bezeich-
nung der entfprechenden Gegenftände, als fubftantivifch, aufzu-
faffen feien, oder nicht. Diefer Streit wird in der Hauptfache
richtig gelöft durch die Bemerkung Ueberwegs (Logik, 3. Aufl.
S. 229, S 84.), dafs die Subftantivirung des Prädicatsbegriffes die
»ftillfchweigende Vorausfetzung« der ariftotelifchen Lehre von der
Umkehrung der Urtheile bilde. Nur ift hinzuzufügen, dafs fie zu-
gleich die Vorausfetzung der gefammten logifchen Technik
des Ariftoteles bildet, und wenn ferner bemerkt wird, Ariftoteles
habe die »innere Berechtigung« diefes Verfahrens nicht erörtert,
fo bemht diefe Bemerkung dann freilich auf einem Irrthum. Für
Ariftoteles beftand diefe »innere Berechtigung« gar nicht Seine
logifch -metaphyfifche Theorie fteht in diefem Punkte mit der
Technik, wie wir eben gezeigt haben, im Widerfpruch; diefer
Widerfpruch aber ift Ariftoteles ebenfo wenig klar zum Bewufst-
fein gekommen, wie der Begriff der von ihm felbft doch vorge-
nommenen »Subftantivirung« des Prädicats. Er fah fich zu der
letzteren einfach durch die treibende Confequeriz feiner Technik
fbrtgeriffen.
Es ift daher auch durchaus nicht etwa eine Ergänzung des
Afiftoteles, fondern ein dem ariftotelifchen Standpunkt durchaus
fremdartiger Gedanke, wenn Ueberweg (§ 84) den fehlenden Nach-
weis der »inneren Berechtigung« der Converfion mit der Bemerkung
und Erkenntnifslehre. 17
nachzuholen verfucht, dafs diefe innere Berechtigung nur dann
vorhanden fei, wenn der Prädicatsbegriff »fich zur Subftantivirung
eignet«, d. h. wenn »nicht nur die Thätigkeiten oder Eigenfchaf-
ten, welche der Prädicatsbegriff bezeichnet, unter einander wef ent-
lich verwandt find, fondern auch die Gefammtheit der Gegenftände
oder Subftanzen, welchen diefelben zukommen, wefentlich gleich-
artig ift, oder eine Claffe oder Gattung« (Ueberw. verweift hier
auf S 58 feines Werkes) »bildet«
Mit diefem Mafsftabe gemeffen wären die meiften hierher ge-
hörigen Beifpiele, welche Ariftoteles felbft giebt, falfch und die
Lehre von der Umkehrung der Urtheile würde nicht mehr mit
Allgemeinheit und Nothwendigkeit gelten, fondem den erheblich-
ften Ausnahmen unterliegen. Die Regel als folche beftünde gar
nicht mehr; der formale und rein logifche Grund für die Gül-
tigkeit des umgekehrten Urtheils fiele gänzlich weg und die Rich-
tigkeit des neuen Urtheils würde lediglich auf fachlichen Betrach-
tungen beruhen, welche mit der Logik im überlieferten Sinne fo
wenig zu fchaffen haben, wie mit jener acht ariftotelifchen Ana-
lytik, auf welche die Schule der Erkenntnifstheoretiker fo gerne
gegenüber der modernen formalen Logik zu verweifen pflegt.
Was Ariftoteles nur auf wenigen, freilich äufserft wichtigen Punkten
wagt: die ftreng formale Confequenz feiner analytifchen Technik
durch metaphyfifche Betrachtungen zu durchbrechen, das treibt die
pfeudo-ariftotelifche Erkenntnifstheorie der Gegenwart fo weit, dafs
alles Apodiktifche in der Logik darunter verflüchtigt wird. Auf
diefe Weife ift dann freilich Einheit in die Logik gebracht. Bei
Ariftoteles ift allerdings Technifches und Metaphyfifches in der
Entwicklung und Darftellung allenthalben miteinander vermengt
und verflochten, dagegen im Princip fo ftreng gefchieden, dafs man
der blofsen Abficht nach fchwerlich einen radicaleren Formaliften
finden könnte, als Ariftoteles in dei:^ analytifchen Technik. Diefe
Confequenz allein hat feinen Lehren einen für alle Zeiten bleibenden
und vom Urtheil über die ariftotelifche Metaphyfik unabhängigen
Werth gegeben. Dafs die modernen Freunde der ariftotelifchen
Metaphyfik, zumal wenn fie in diefer den »bleibenden Grund« aller
Philofophie entdeckt zu haben glauben und diefe Metaphyfik felbft
für »apodiktifches Wiffen« halten, für den hier nachgewiefenen
Unterfchied zwifchen der wahrhaft apodiktifchen Technik und der
auf beftändiger Verwechslung von Wort, Begriff und Sache ruhen-
Lange, Logische Studien, 2
18 Formale Logik
den Metaphyfik keinen Sinn haben, ift fehr natürlich; um fo nach-
drücklicher mufs zur Wahrung der hiftorifchen Thatfache wie des
unverfälfchten Wefens der Logik bei jeder Gelegenheit darauf hin-
gewiefen werden.
Wie nahe übrigens Ueberweg in Folge feines ungemeinen
Scharfßnns, feinem eigenen erkenntnifstheoretifchen Vorurtheil zum
Trotz, an die richtige Auffaffung der logifchen Technik ftreifte,
zeigt eine zum gleichen Paragraphen (84) gehörige Anmerkung,
welche fpeciell gegen die geringfchätzige Art gerichtet ift, in der
Hoppe (Logik, Paderborn 1868) von dem »Denken nach dem
Schema« redet im Gegenfatz zu einem angeblichen Denken nach
dem Begriff. Hier fagt Ueberweg wörtlich: »Mit gleichem Recht
könnte man die mathematifch-mechanifche Betrachtung als einfeitig
und willkürlich fchelten, wenn fie unterfucht, was aus gewiffen ein-
fachen Vorausfetzungen folge und dabei von anderen Datis abfieht,
von denen jene in der Wirklichkeit nicht abgefondert vorzukommen
pflegen, wenn fie z, B. die Bahn und die Stelle des Falls eines
irgendwie geworfenen Körpers nur auf Grund der Gravitation und
der Beharrung berechnet, ohne den Miteinflufs des Luftwiderftandes
zu erwägen, fo dafs anfcheinend die concrete Anfchauung das Re-
fultat genauer zu beftimmen und über die Rechnung zu triumphiren
vermag ; wollte aber die mathematifche Mechanik jenes abftractive
Verfahren nicht üben, fo würde fie die Bewegungsgefetze über-
haupt nicht zu erkennen vermögen und die Wiffenfchaft würde
aufgehoben fein.« Es folgt die in der That fchlagende Anwen-
dung auf die Logik. Wer in ähnlicher Weife das abftracte Ver-
fahren der Logik von der Realität aus corrigiren will, »hebt durch
diefes Verfahren nicht eine falfche Logik zu Gunften einer befleren,
fondern die Möglichkeit einer methodifch fortfchreitenden logifchen
Erkenntnifs der Denkgefetze felbft auf.«
Man kann fich fchwerlich richtiger ausdrücken, aber die
Schneide der gleichen Logik trifft auch Ueberwegs Unterfcheidung
zwifchen »geeigneten« und »ungeeigneten« Fällen der Subftantivi-
rung; denn das Kriterium des Paffenden wird hier nicht aus dem
»abftractiven« Verfahren der logifchen Technik, fondem aus der
Betrachtung der Objecte genommen. Die logifche Technik gilt
aber für geeignete und ungeeignete Fälle, wie ein Satz der Stereo-
metrie oder der analytifchen Geometrie gilt, einerlei ob ent-
fprechende Körper und Flächen oder Linien in der Natur vor-
und Erketintnifslelire. 19
kommen oder nicht. So gilt auch die logifche Regel unfehlbar
für eine fubftantivifche Bezeichnung von Gegenftänden, welche mit
Rückficht auf ihre Verwandtfchaft oder Aehnlichkeit in der Natur
der Dinge oder wegen einer gemeinfamen Subftanzialität nie Jemand
fo zufammenfaffen würde. Die weiteren Erwägungen gehören alfo
erft in die angewandte Logik, und fo wird es mit der ganzen
Rückficht auf die Objecte fein, in welcher Ueberwegs erkenntnifs-
theoretifcher Standpunkt den Fortfehritt fucht, während doch da-
mit die eigentliche Bafis aller Logik aufgehoben wird. — Was
insbefondere noch die Subftantivirung der Prädicate betrifft, fo läfst
fich leicht zeigen, dafs es zwifchen »geeigneten« und »ungeeig-
neten« Fällen nirgend eine fcharfe Grenze giebt. Nach Ueberwegs
Kriterium, welches in der Verweifung auf den von der Gattung,
Art, Klaffe u. f. w. handelnden Paragraphen enthalten ift, wären
die von Ariftoteles felbft herrührenden Beifpiele faft alle falfch,
denn Niemand wird z. B. behaupten, dafs »weifse Gegenftände« in
den »wefentlichen Eigenfchaften« übereinftimmen und daher (nach
Ueberweg, 3. Aufl. S. 126, § 58) eine »Gattung« bilden. Der lo-
gifchen Technik genügt es zur Subftantivirung vollkommen, dafs
fie in einer einzigen Eigenfchaft, auf die es gerade ankommt,
übereinftimmen und damit find die Lehrfötze apodiktifch gültig.
Wie richtig die Logik darin verfährt, mag übrigens auch noch der
Umftand zeigen, dafs es im wiffenfchaftlichen Gebrauch, hinficht-
lich der »weifsen Gegenftände« z. B., wenn es fich um optifche
Fragen handelt, ftets fachlich begründete Eintheilungen geben
kann, welche mit der gewöhnlichen und natürlichen, auf die ge-
fammte Erfcheinungsform gebauten Eintheilung gar nichts zu
thun haben, und wo etwa eine Grenze folcher fpeciell motivirten
Zufammenfaffungen liegt, vermögen wir a priori gar nicht zu be-
ftimmen. Uns will es fcheinen, als ob Alles, was überhaupt Prä-
dicat fein kann, in irgend welchem Zufammenhang einmal trotz
der gröfsten Ungleichheit der Gegenftände, zu denen es gehört,
auch mit fachlichem Sinn fubftantivirt werden könne ; jedenfalls ift
aber von diefer Betrachtung die Richtigkeit des ariftotelifchen Ver-
fahrens unabhängig, indem fie fich trotz des ariftotelifchen »Objec-
tlvismus« eben nicht auf eine Erwägung der Natur der Dinge
flützt, fondem auf die Anfchauung des Verhältniffes von Begriffen
überhaupt.
Wir haben fonach gefehen, dafs der technifche Theil der
2*
20 Formale Logik
ariftotelifchen Logik unabhängig dafleht von den erkenntnifs-
theoretifchen Speculationen ; ja, dafs er mit diefen auf mehreren
Punkten in einen dürftig verhüllten Widerfpruch tritt, wobei jedoch
die Lehrfätze der Technik ihr Recht mit zwingender Nothwendig-
keit behaupten. Wir haben ferner vorläufig wahrfcheinlich gemacht,
was weiterhin ftreng bewiefen werden föU, dafs eben diefe zwin-
gende Nothwendigkeit, mit welcher die technifchen Lehrfätze der
Logik (d. h. die rein technifchen, von den mit Speculation ge-
mifchten wird fattfam die Rede fein) ihr Recht behaupten, keines-
wegs eine Folge der blofs analytifchen*Natur diefer Sätze, fondem
vielmehr eine Folge der mit der Demonftration verbundenen An-
fchauung, alfo eines fynthetifchen Elementes ift. Die »Veran-
fchaulichung« , das fo geringfchätzig betrachtete blofs didaktifche
Hülfsmittel, foU fich alfo als blofse Leitung und beftimmtere Aus-
führung der Anfchauung herausftellen, welche letztere der wahre
Quell der Apodikticität wäre.
^ Wir find oben von einem Beifpiel (Umkehrung des allgemein
verneinenden Urtbeils) ausgegangen, indem wir zeigten, dafs der
betreffende Lehrfatz zwar durch den Satz des Widerfpruchs be-
wiefen wird, dafs aber der Beweis nicht ohne Hülfe der Anfchau-
ung zu Stande kommt. Wir wollen diefem Beifpiel zunächil zwei
andere zur Seite fetzen, um die Rolle, welche einerfeits der Satz
des Widerfpruchs, anderfeits die Anfchauung fpielt, nach verfchied-
nen Seiten klar zu machen.
Bekanntlich beweifl Arifloteles die Modi Baroco und Bocardo,
nach feinem Syflem der Zurückführung auf die erfle Figur, apago-
gifch, während man ihre Bündigkeit mittelfl der Anfchauung auch
direct erweifen kann. Der Satz des Widerfpruchs tritt hier in der
ariflotelifchen Deduction ganz rein auf: Wenn ^ allem v zukommt,
einigem I aber nicht zukommt, fo mufs nothwendig auch v einigem
I nicht zukommen; denn käme es allem I zu, fo müfste, da auch
{k allem v zukommt, nothwendig (nach dem Modus Barbara) auch
^ allem 5 zukommen, was dem gegebenen Unterfatz widerfpricht
Alfo mufs die Vorausfetzung »Alle I find vn falfch und das contra-
dictorifche Gegentheil »Mindeftens einige I find nicht y« richtig
fein. — Wie man fieht, beruht der Schlufs auf der Lehre von!
contradictorifchen Gegenfatz der Urtheile und auf der Gültigkeit
des erflen Modus der erflen Figur. Von diefen Vorausfetzungen
aus wird der Beweis lediglich nach dem Satze des Widerfpruchs
und Erkenntnifslehre. 21
bewerkftelligt, und es fcheint, dafs ekie Veranfchaulichung durch
Raumbilder der Begriffsfphären hier überhaupt nicht nöthig ift, um
den Beweis als zwingend erfcheinen zu laffen. Es genügt die
blofse Vorftellung der Buchftaben mit dem nicht einmal in actuellen
Vorftellungen entwickelten, fondern fummarifchen Bewufstfein deffen,
was fie bedeuten, nebft der Erinnerung an das, was bereits be-
wiefen ift. Der Schlufs ift, wenn man fo verfährt, gleichfam ein
blinder, wie der Schlufs einer Rechenmafchine, die aus gegebenen
Bedingungen das Facit giebt, oder auch, wie die Erzielung eines
Refultates durch menfchliches Rechnen, wenn daffelbe auf Grund
der Einübung bekannter Methoden rein mechanifch vorgenommen
wird. Es ift zwar richtig, dafs unfer Geift fich bei neuen Lehr-
ßitzen, welche einer ausgedehnten Anwendung fähig find, nicht
leicht mit diefem blinden Verfahren begnügt, dafs trotz des Zwin-
genden in folchen Schlüffen ein Mifsbehagen, wo nicht gar Mifs-
trauen übrig bleibt, fo lange wir nicht doch auch hier die An-
schauung zu Hülfe nehmen ; allein diefe pfychologifche Erfgheinung
ändert nichts an der Thatfache, dafs ein zwingender Schlufs in
diefem Falle wenigftens ohne directe Mitwirkung der Anfchauung
zu Stande kommt Von der indirecten Mitwirkung der Anfchauung
zu folchen Schlüffen wird gleich die Rede fein.
Nun laffen fich aber auch Folgerungen aufweifen, bei denen
umgekehrt, der Satz des Widerfpruchs zwar zur ferneren Erläu-
terung und voUftändigeren Ueberzeugung zu Hülfe genommen wer-
den kann, bei denen aber offenbar die ganze Beweiskraft in der
Anfchauung allein beruht und die Erörterung nach dem Satze des
Widerfpruchs überflüffig ift. Von diefer Art ift der Beweis für
den erften Modus der erften Figur. Hier giebt Ariftoteles nur die
Thatfache und die als Beifpiel dienenden Begriffe, aber keinen
eigentlichen Beweis. Gerade dies abgekürzte Verfahren, welches
Ariftoteles in den meiften Fällen einfchlägt, darf als Zeugnifs da-
für angefehen werden, dafs im Lehrvortrag der ariftotelifchen Lo-
gik auf die Kraft der Anfchauung, wenn auch ohne eine bewufste
Theorie ihrer Beweiskraft, thatfächlich abgeftellt wurde. Der Geift
fieht hier unmittelbar, wie die weitere aber minder beftimmte
Sphäre « dem Mittelbegriff ß zu Grunde liegt Wenn nun diefer
wieder dem ganzen jr zu Grunde liegt,, dergeftalt, dafs 7^ nur zu
der Wefensbeftimmtheit von ß noch eine neue unterfcheidende Be-
ftimmtheit mit hinzubringt, fo fieht man, wenn man das erftere
22 Formale Logik
Bild im Geifte feftgehalten hat, unmittelbar, wie auch 2^ ganz auf
der durch die Sphäre a dargeftellten allgemeinften Wefensbeftimmt-
heit ruhen mufs. Dafs es nothwendig und in allen Fällen fo
fei, wird wieder durch die Anfchauung der Variabilität des
Raumbildes zum Bewufstfein gebracht. Man fieht, dafs die Figur,
die man fich im Geifte macht, innerhalb der Schranken der Vor-
ausfetzung unendlich vieler Variationen fähig ift, In welchen ftets
unverändert ein entfprechendes Bild der Vorausfetzung ift und
ebenfo unverändert den Schlufs darftellt Wie von diefer in der
Anfchauimg doch immer nur annähernd gegebenen Unendlichkeit
und AUfeitigkeit der Darftellung der Sprung auf das Bewufstfein
abfoluter Nothwendigkeit erfolgt, brauchen wir hier nicht zu er-
örtern. Es genügt, wenn gezeigt wird, dafs der Vorgang voU-
ftändig derfelbe ift, wie wenn in der Geometrie ein Satz an einer
concreten Figur bewiefen wird und wir gleichwohl die Ueberzeu-
gung gewinnen, dafs der Satz allgemein, d. h. für jede beliebige
den Bedingungen entfprechende Figur, gültig ift. — Der Satz des
Widerfpruchs wird in diefem Falle nur noch zugezogen, um uns
die Grenzen, innerhalb welcher wir die Figur variabel zu denken
haben, durch hypothetifche Annahme ihrer Ueberfchreitung
deutlicher zum Bewufstfein zu bringen; allein auch hierbei mufs
die Anfchauung mitwirken.
Bei diefem Anlafs können wir doch eine Bemerkung über die
ariftotelifchen Beifpiele nicht unterdrücken. Dafs diefe ohne alle
Rückficht auf den Sinn der Schlüffe, ohne alle Beziehung zur Er-
kenntnifstheorie aufgerafften Termini, wie Menfch, Thier, Pferd,
weifs, fchwarz, Schnee, Rabe, Schwan, Stein u. f. w, in rein for-
maliftifchem Sinne verwendet werden und fonach einen neuen Be-
leg geben für die formale Tendenz des eigentlich technifchen Theils
der ariftotelifchen Logik, bedarf keines Nachweifes ; wohl aber ift
es an der Zeit, darauf hinzuweifen, dafs die Wahl folcher nichts-
fagenden Beifpiele vom Standpunkte der Technik einen Vorzug
hat, der um fo wichtiger ift, je weniger noch der Beweis mittelft
der Anfchauung an Sphärenbildern entwickelt ift
Unfre Logiker fuchen gegenwärtig etwas darin, ihre Lehr-
bücher mit möglichft finnreichen Beifpielen für die Technik der
logifchen Regeln auszuftatten. Dadurch wird nicht nur die Regel
mit Beifpielen belegt, fondern gleichzeitig auch für den Nutzen
der Logik argumentirt, der bekanntlich, was die überlieferten
• und Erkenntnifslehre. 23
Kunftregeln der Deduction betrifft, ftark angefochten wird. Dies
Verfahren ift nicht nur zu billigen, fondem man foUte eher noch
einen Schritt weiter gehen und ausdrücklich nur folche Beifpiele
wählen, welche in der Gefchichte der Wiffenfchaften eine Rolle
gefpielt und alfo ihren Nutzen unmittelbar bewährt haben. Man
beachte aber wohl, dafs die Beifpiele, je mehr fie in diefem Sinne
gewählt fmd, defto weniger gefchickt find, den Beweis zu er-
fetzen, indem man im Einzelnen fofort das Allgemeine erkennt.
Das alte triviale Beifpiel »Alle Menfchen find fterblich; Cajus ift
ein Menfch: alfo ift Cajus fterblicA« hat in der Gefchichte der
Wiffenfchaften keine Rolle gefpielt, wenn nicTit eben die Rolle des
abgehetzten Schulbeifpiels für einen Subfumtionsfchlufs. Beifpiele
diefer Art find fehr leicht dem Vorwurf ausgefetzt, den man oft
unbillig verallgemeinert hat, dafs man mittelft des Syllogismus
nichts finde, was man nicht vorher gewufst Dafür haben fie aber
auf der andern Seite in rein formaler Hinficht grade durch ihre
Leere den Vortheil völliger Durchfichtigkeit Man fieht hier gleich,
dafs man im Grunde nichts in Händen hat, als den gleichfam
fchwach colorirten Umrifs von Begriffen überhaupt Während
bei den inhaltreichen Beifpielen das Bewufstfein zu ftark von der
Sache ergriffen wird, um mitten in der Ueberzeugung noch den
formalen Grund der Ueberzeugung rein zu erfaffen, läfst das nichts-
fagende Schulbeifpiel unmittelbar aas Schema der Subfumtion
erkennen und bewirkt daher weit leichter und fchlagender die
Ueberzeugung, dafs es fich nicht nur in diefem Falle fo verhalte,
fondem dafs es mit Begriffen überhaupt, wähle man, welche man
wolle, ebenfo fein werde, fobald fie fich hinfichtlich ihrer Ueber-
und Unterordnung ebenfo verhalten. Mit einem Wort : das nichts-
fagende Schulbeifpiel erfüllt annähernd diefelbe Aufgabe, wie die
geometrifche Figyr und wie die Sphärenzeichnung in der Technik
der Logiker. Es wird gebraucht mit dem Zweck, am Einzelnen
das Allgemeine zu zeigen, und diefer Zweck wird offenbar da-
durch erreicht, dafs man fich, von keinen Betrachtungen über den
fpeciellen Sinn des Beifpiels geftört, irgend ein, wenn auch noch
fo unvoUkommnes Bild von der Summe der Gegenftände entwirft,
welche mit dem Begriff bezeichnet find. Die abftractefte Form
folcher Bilder ift das Sphärenbild felbft. Man denke fich nun im
mündlichen Lehrvortrag diefe zweckmäfsig inhaltsleeren Beifpiele
mit einigen flüchtigen Strichen im Sande des Bodens oder auch
24 Formale Logik ^
nur mit einer veranfchaulichenden Handbewegung begleitet und
man hat im Beifpiel felbft das Princip unfrer Sphärenvergleichung.
Sonach dient das moderne Beifpiel einem ganz anderen Zweck als
das antike, und mit Recht,' denn eben weil wir die Sphärenver-
gleichung confequent anwenden, bedürfen wir der nichtsfagenden
Beifpiele nicht mehr und können in der Sammlung gewählter Bei-
fpiele eine höhere Aufgabe zu löfen fuchen.
Man vergleiche hiezu die Bemerkung Ueberwegs (Logik 3. Aufl.
S. 297, 8 107), dafs Ariftoteles einen gewiffen Beweis »nur im
Einzelnen an Beifpielena geführt habe, den erft neuere Logiker
»in allgemeinerer Weife auf die SphärenverhältnifTea gegründet
hätten. Man wird fehen, dafs der Unterfchied des Verfahrens
nicht fo grofs ift, wie es fcheinen könnte. In beiden Fällen wird
der Beweis eben auf Anfchauung gegründet, indem das concrete
Anfchauungsbild, an welchem man demonftrirt, mit dem Bewufst-
fein feiner Variabilität die Ueberzeugung von der Allgemeingültig-
keit des Behaupteten hervorbringt. — Diefe Bemerkung dürfte ge-
eignet fein, auf den Gebrauch von Beifpielen in der WifTenfchaft
überhaupt einiges Licht zu werfen, doch dürfen wir diefen Faden
hier nicht weiter verfolgen.
Vergleichen wir nunmehr die oben aufgeftellten Beifpiele, fo
finden wir leicht, dafs da, wo die Anfchauung das wahrhaft Mafs-
gebende ift, wie beim Beweife des erften Modus der erften Figur,
ein wirklich neuer Begriff der Synthefis des Syllogismus zu Grunde
liegt, der Begriff der Subfumtion eines Falles unter die Regel,
einer Art unter die Gattung* Diefe Vermittlung des « und /- durch
das eingefchaltete ß ftellt in der That einen Grundfatz dar, der
nachher feine mannigfaltigfte Anwendung findet, der aber felbft
nicht aus anderen Sätzen abgeleitet werden kann ; denn dafs a von
ß ausgefagt wird und ß von 7' enthält noch nichts von einer Be-
ziehung zwifchen « und ^, fo lange ich nicht durch die Anfchauung
die Regel diefer Vermittlung erkenne.
Diefe Anfchauung fehlen in dem apagogifchen Beweife des
Modus Baroco überflüfTig. Hier wird nur eine Anwendung von
fchon feftftehenden Regeln gemacht, und wenn diefelben nur, an
irgend ein Zeichen für die Termini angeknüpft, im Gedächtnifs
haften, fo bedarf es keines Zurückfehreitens auf räumliche Bilder
der Begriffsfphären. Da nun aber doch das Erfchloffene felbft
wieder Regel ift, und zwar eine im Modus Barbara keineswegs
und Erkenntnifslehre. 25
fchon offen vorliegende Regel, fo hätten wir alfo hier wenigftens
den von Kant vorgefehenen Fall einer Erweiterung der Logik auf
rein analytifchem Wege durch den Satz des Widerfpruchs. Frei-
lich nur eine Erweiterung! Bevor wir weiter gehn, mag alfo im-
merhin darauf verwiefen werden, dafs Erweiterungen ganz analoger
Art fich auch in der Mathematik in grofser Anzahl vorfinden.
Sollen gleichwohl die eigentlich mathematifchen Sätze insgefammt
fynthetifch fein, fo könnte man ganz in gleicher Weife einen fol-
chen Kern fynthetifcher Sätze auch in der Logik ausfcheiden;
auf alle Fälle wäre zwifchen der formalen Logik und der Mathe-
matik nicht jene ungeheure Kluft, welche Kant zwifchen ihnen
gefetzt hat, fondern vielmehr die auffallendfte Uebereinflimmung.
Wir gehen aber weiter und wollen zunächft noch einen Blick
auf das zuerft gegebene Beifpiel werfen, in welchem Anfchauung
und Demonftration aus dem Satze des Widerfpruchs anfcheinend
gleichberechtigt Hand in Hand gehen: beim Beweife für die Um-
kehrbarkeit des allgemein verneinenden Urtheils. Zunächfl: ift hier
zu bemerken, dafe fich hier, wenn man die ariftotelifche Beweis-
führung ganz bei Seite läfst, wie übrigens auch beim Beweife für
Baroco und Bocardo, mittelft der Sphärenbilder das zu Erweifende
ohne Beziehung auf den Satz des Widerfpruchs mit gröfster Evi-
denz darthun läfst Das Bild zweier völlig getrennter Sphären
zeigt fo klar, dafs hier im Verhalten der einen zur andern kein
Unterfchied ift, dafs man die allgemeine Umkehrbarkeit eines fol-
chen Urtheils mit Ueberzeugung vor Augen hat, fobald überhaupt
nur erklärt ift, was die Sphären bedeuten foUen.*) Umgekehrt
aber kann man hier keineswegs den Satz des Widerfpruchs, wie
beim Beweife für Bocardo, gleichfam rein mechanifch wirken laffen.
Den ariftotelifchen Hülfsbegriff für . irgend einen Theil von ß kann
man allerdings der Form nach erfparen, aber nicht der Sache nach.
Sobald gefagt wird: denn wenn irgend einem Theile von ß das «
*) Im folgenden Kapitel wird gezeigt werden, dafs der Satz des Widerfpruchs
gleichwohl auch hier, wie überall, mitwirkt, wenn die Nothwendigkeit, d. h.
die unbedingt ausnahmslofe Allgemeinheit der gewonnenen Regel zum Bewufstfein
gebracht werden foU. Da aber der Satz des Widerfpruchs, wie gleich unten gezeigt
wird, als logifches Normalgefetz felbft wieder auf Anfchauung ruht, während er als
pfychologifches Naturgefetz das Wefen unfrer Anfchauung beflimmt, fo kann über-
haupt das Entweder — Oder in Beziehung auf die Wirkung der Anfchauung und des
Gefetzes des Widerfpruchs (lets nur einen relativen Sinn haben.
26 Formale Logik
zukäme, fo mufs fchon ein folcher Theil vorgeftellt werden, der
bisher als folcher nicht gegeben war. Ich mufs den Verfuch
machen, ob irgend einem folchen Theile das « zukommen könne,
und diefen Verfuch kann ich nur in der Phantafie anftellen. Wir
können hieraus entnehmen, dafs die Anfchauung in der That nicht
nur in diefem Falle die wefentliche Grundlage des Beweifes ift,
fondem dafs fie überhaupt ftets unentbehrlich fein wird, wenn mit
den Begriffen, um bündig fchliefsen zu können, noch irgend eine,
den Hülfsconftructionen der Geometrie vergleichbare, Operation,
wie Theilung, Deckung u. f w. vorgenommen werden mufs.
Solche Operationen an der Sphäre der einzelnen Begriffe finden
fich nun aber im apagogifchen Beweife für den Modus Baroco
nicht. Sobald die Annahme des contradictorifchen Gegentheils im
Schlufsfatze gemacht ift, wird mit den fertigen Urtheilen nach
einem bereits bewiefenen Schema operirt und es ergiebt fich aus
der Combination von Oberfatz und Schlufsfatz eine Folgerung, die
man rein dem Gedächtnifs entnehmen kann und von der man
ebenfo durch blofse Anwendung von bereits Erwiefenem fieht, dafs
fie mit der zweiten Prämiffe im Widerfpfuch fleht und alfo nicht
ftatthaft ift. Weil die einzelnen Begriffe in beftimmter Synthefis
bleiben und nicht mit ihnen, fondern nur mit dem ganzen Urtheil
operirt wird, fo bedarf man auch nicht der Phantafiebilder von der
Sphäre diefer Begriffe. In diefer Hinficht konnten wir alfo oben
bemerken, dafs hier der Schlufs gleichfam ein blinder fei, wie bei
der Rechenmafchine. Ganz blind, d. h. anfchauungslos ift eine
Operation des Denkens wohl niemals, denn die Erinnerung an das
bereits gelernte und eingeübte Verfahren knüpft fich doch immer
an die finnliche Vorftellung der Zeichen, mit denen die Begriffe
(beim Rechnen die Gröfsen) und die Operationen fymbolifirt wer-
den, und beim ganz mechanifchen Verfahren, wie es namentlich
beim Rechnen fehr häufig vorkommt, ift wohl im Grunde das Be-
wufstfein lediglich von der Anfchauung diefer Zeichen erfüllt, wäh-
rend die fogenannte Verftandesfunction des Combinirens und
Schliefsens durch einen erworbenen Mechanismus vor fich geht,
wie die Combination der Muskelbewegungen beim Gehen, Tanzen
u. f.- w. — Dazu kommt, dafs auch bei der Auffindung des
apagogifchen Weges jedenfalls Denken und Anfchauung Hand
in Hand gehen; es gehört ein »Blicka dazu, wie beim Auffinden
der geometrifchen Hülfsconftruction, um die Möglichkeit des Be-
und Erkenntnifslehre. 27
weifes auf diefem Umwege zu entdecken; jedoch wird, wie bemerkt,
das Sphärenbild als folches hier nicht zu Hülfe genommen und
fomit fcheint die Nothwendigkeit einer Anfchauung desfelben fich
in der That auf diejenigen Sätze zu befchränken, in welchen auf
den Umfang (wenn auch der Ausdrucksweife nach auf den Inhalt)
der einzelnen Begriffe zurückgegangen werden mufs, um den Be-
weis zu führen. Dies wird aber bei allen fundamentalen Ope-
rationen des Schliefsens der Fäll fein; denn in der That ift keine
Art und Weife abzufehen, wie aus gegebenen Urtheilen ein neues,
von diefen verfchiedenes gewonnen werden foU, als entweder durch
Reflexion über das Verhältnifs der gegebenen Begriffe — und da-
bei wird allemal die Anfchauung der Begriffsfphäre zu Hülfe ge-
nommen — oder durch Anwendung bereits vorher bewiefener
Regeln.
Beruht nicht aber fchliefslich auch der Satz des Wider-
fpruchs felbft auf räumlicher Anfchauung? — Wir muffen
hier wohl zufehen, in welchem Sinne wir diefe Frage bejahen oder
verneinen. Der Satz des Widerfpruchs ift der Punkt, in welchem
fich die Naturgefetze des Denkens mit den Normalgefetzen
berühren. Jene pfychologifchen Bedingungen unfrer Vorftellungs-
bildung, welche durch ihre unabänderliche Thätigkeit im natür-
lichen, von keiner Regel geleiteten Denken fowohl Wahrheit als
Irrthum in ewig fprudelnder Fülle hervorbringen, werden ergänzt,
befchränkt und in ihrer Wirkung zu einem beftimmten Ziele ge-
leitet durch die Thatfache, dafs wir Entgegengefetztes in unferm
Denken nicht vereinigen können, fobald es gleichfam zur Deckung
gebracht wird. Der menfchliche Geift nimmt die gröfsten Wider-
fprüche in fich auf, fo lange er das Entgegengefetzte in verfchiedne
Gedankenkreife einhegen und fo auseinanderhalten kann; allein
wenn diefelbe Ausfage fich unmittelbar mit ihrem Gegentheil auf
denfelben Gegenftand bezieht, fo hört diefe Fähigkeit der Ver-
einigung auf; es entfteht völlige Unficherheit, oder eine der beiden
Behauptungen mufs weichen. Pfychologifch kann freilich diefe
Vernichtung des Widerfprechenden vorübergehend fein, infofern
die unmittelbare Deckung der Widerfprüche vorübergehend ift.
Was in verfchiednen Denkgebieten tief eingewurzelt ift, kann nicht
fo ohne Weiteres zerftört werden, wenn man durch blofse Fol-
gerungen zeigt, dafs es widerfprechend ift. Auf dem Punkte frei-
lich, wo man die Confequenzen des einen und des andern Satzes
28 Formale Logik
unmittelbar zur Deckung bringt, bleibt die Wirkung nicht aus,
allein fie fchlägt nicht immer durch die ganze Reihe der Folgerun-
gen hindurch bis in den Sitz der urfprünglichen Widerfprüche.
Zweifel an der Bündigkeit der Schlufsreihe, an der Identität des
Gegenftandes der Folgerung fchützen den Irrthum häufig; aber
auch wenn er für den Augenblick zerftört wird, bildet er fich aus
dem gewohnten Kreife der Vorftellungsverbindungen wieder neu
und behauptet fich, wenn er nicht endlich durch wiederholte Schläge
zum Weichen gebracht wird.
Trotz diefer Zähigkeit des Irrthums mufs gleichwohl das pfy-
chologifche Gefetz der Unvereinbarkeit unmittelbarer Widerfprüche
im Denken mit der Zeit eine grofse Wirkung ausüben. Es ift die
fcharfe Schneide, mittelft welcher im Fortgang der Erfahrung all-
mählig die unhaltbaren Vorftellungsverbindungen vernichtet werden,
während die beffer haltbaren fortdauern. Es ift das vernichtende
Princip im natürlichen Fortfehritt des menfchlichen Denkens, wel-
ches, gleich dem Fortfehritt der Organismen, darauf beruht, dafs
immer neue Verbindungen von Vorftellungen erzeugt werden, von
denen beftändig die grofse Maffe wieder vernichtet wird, während
die befferen überleben und weiter wirken.
Diefes pfychologifche Gefetz des Widerfpruches bedarf
natürlich zu feinem Beftande und zu feiner Wirkfamkeit keiner
Anfchauung. Es ift unmittelbar durch unfre Organifation gegeben
und wirkt vor jeder Erfahrung als Bedingung aller Erfahrung.
Seine Wirkfamkeit ift eine objective und es braucht nicht erft zum
Bewufstfein gebracht zu werden, um thätig zu fein.
Sollen wir nun aber daffelbe Gefetz als Grundlage der Logik
aufraffen, foUen wir es als Normalgefetz alles Denkens anerken-
nen, wie es als Naturgefetz auch ohne unfre Anerkennung wirk-
fam ift; dann allerdings bedürfen wir hier fo gut, wie bei allen
andern Axiomen der typifchen Anfchauung, um uns zu überzeugen.
Dafs das Ganze gröfser ift als der Theil, dafs Gleiches zu Glei-
chem hinzugefügt Gleiches giebt, fehen wir und deshalb glauben
wir es. Jedes beliebige Beifpiel fchliefst die Allgemeinheit in fich,
weil wir es fofort beweglich fehen und die Ueberzeugung gewin-
nen, dafs es in jeder denkbaren Veränderung von Form und
Grofse des Angefchauten fich gleich verhalten werde. Ebenfo
aber fehen wir an einem Raumbilde irgend welcher Art, fei es in
einem concreten Falle, fei es in einem blofsen Linienfchema, dafs
und Erkenntnifslehre. 29
ich nicht daffelbe von demfelben Gegenftande bejahen und ver-
neinen kann. Das einzelne Bild wird fofort typifch, allein ohne
Bild überhaupt bleibt mir die Formel leer und ich gewinne weder
die Ueberzeugung von ihrer unbedingten Gültigkeit, noch auch
nur wirkliche Einficht in ihren Sinn.
IL
Die Modalität der ürtheile.
Zwei der fcharffinnigften Männer, die je gelebt haben, Lorenzo
Valla und Ludwig Vives verwarfen die ariftotelifch-fcholaftifche
Lehre von der Modalität der Ürtheile gänzlich, indem fie behaup-
teten, dafs die Ausdrücke der Möglichkeit oder Nothwendigkeit
eines Seins oder Gefchehens kein anderes logifches Verhältnifs
begründen, als beliebige andre Ausdrücke, von denen man das Sein
abhängig machen, oder durch die man es näher beftimmen kann,
Valla, welcher dazu neigt, beftändig die logifche Betrachtung
in die grammatifche und rhetorifche übergehen zu laffen, will nicht
nur Ausdrücke wie facile^ dif fidle y certum und incertum^ fondern
auch confuetuniy utile ^ jucundum^ decortmi nebft dem Gegentheil
diefer Wörter mit dem Nothwendigen und Möglichen gleich Hellen.*)
Wenn man den Satz aufftelle: Es ift ehrenhaft, dafs ein Bürger
für fein Vaterland kämpfe, fo fei diefer Satz unter keiner jener
Modalitäten der Logiker enthalten. Wir würden diefen Satz nach
neuerer Anfchauung vielleicht unbedenklich für einen affertorifchen
erklären, allein wir werden bald fehen, dafs eine genauere Analyfe
des Affertorifchen hier doch Bedenken erwecken mufs. Theilt man
femer die Ürtheile mit Ariftoteles ein in folche des Statt findens,
des nothwendig, und des möglich Stattfindens, fo ift der Satz
Valla's nirgend unterzubringen. Aber mufs denn auch jeder gram-
matifche Satz fich unter eine rein logifche Urtheilsform ohne Wei-
teres einordnen laffen?
*) Läurentti Vallae dialecticae 1. 11, c, 39.
Jodocus Badius Ascenfius, 1509. —
Ich benütze die Aasgabe von
Die Modalität der Urthieile. 31
Vives beginnt fofort mit der Behauptung, dafs die Urtheile der
Modalität nur eine grammatifche, keine logifche Frage darbieten,
wie denn überhaupt Ariftoteles in Emi^ngelung einer befonderen
Wiffenfchaft der Grammatik viele grammatifche Fragen in der Logik
mit behandelt habe. Es handle fich im Wefentlichen nur um die
Erörterung der Bedeutung der Ausdrücke nothwendig, möglich,
zufallig. Entweder verlegt Ariftoteles die Modi in die Dinge;
dann ift jedes Adverbium in gleicher Weife ein Modus, und ebenfo
die Verba ufu venu, Jolet, congruit und ähnliche, bei denen fich
auch die gleiche Schwierigkeit wegen der Stellung der Negation
erheben läfst, wie bei den Ausdrücken der Nothwendigkeit und
Möglichkeit Oder Ariftoteles verlegt die Modalität in die Aus-
fage als folche: dann find eine Reihe ähnlicher Ausdrücke der
Gewifsheit, Glaubwürdigkeit, Wahrfcheinlichkeit u. f. w. gleichbe-
rechtigt, welche auch fchon Buridan und andere Scholaftiker in die
Lehre von der Modalität hineingezogen haben. Vives > fcheint zu
der erfteren Alternative hinzuneigen, denn er wiederholt noch ein-
mal: Nifi forte Arifloteles pronunciata Jpectavit ex rebus , non ex
nobis. Sed certe in his non plus erat, quod ejfet ex dialectica pe-
tendum, quam in aliis, quibus adverbia inferuntur*)
Beide Männer fehlen darin, dafs fie den Zufammenhang diefer
Lehre mit der ariftotelifchen Metaphyfik nicht beachten; denn
nur diefe giebt den SchlüfTel dazu, warum gerade Möglichkeit,
Stattfinden und nothwendig Stattfinden bei Ariftoteles eine folche
Rolle fpielen. Vives würde übrigens, auch wenn er deffen gedacht
hätte, bei feinem Verwerfungsurtheil geblieben fein, wie fich fchon
aus feiner Kritik der ariftotelifchen Metaphyfik ergiebt Valla, der
die wichtige Frage gar nicht beachtete, ob die Modi auf die Dinge
oder auf unfre Auffaffung derfelben zu beziehen feien, würde fich
grade von hier aus gewifs auch gegen Ariftoteles gewandt haben,
denn ihm ift die fubjective Bedeutung von Möglichkeit und Noth-
wendigkeit in den Urtheilen der Modalität aufser Zweifel. In einer
befiändig von rhetorifchen Seitenblicken getrübten, aber logifch
febr fcharfen Erörterung leitet er Möglichkeit und Nothwendigkeit
aus einem Schlu fsverfahren ab. Ift der Oberfatz meines
Schluffes allgemein gültig, fo ergiebt fich im Schlufsfatze die Noth-
*) De- caufis corruptarum artimn, 1. III, c. 2. — Vivis opera, ed. Valent t. VI,
p. Ii6 u. f. —
32 I>ie Modalität
wendigkeit; gilt der Oberfatz nur theilweife oder meiftens, fo ergiebt
fich ein Urtheil der Möglichkeit, und diefe Möglichkeit kann ftets
als eine nach verfchiedenen Graden abgeftufte Wahrfcheinlich-
keit betrachtet werden. Mit diefen Erörterungen greift Valla feinem
Jahrhundert weit voraus und Hellt die Frage auf einen ganz neuen
Boden. Indem er nach Zertrümmerung der ariftotelifchen Lehre
von der Modalität fcheinbar nur feinen Sieg weiter verfolgt, ent-
hüllt er die Grundzüge einer Theorie, welche der Modalität eine
neue, wenn auch nicht für die formale Logik, fo doch für die Er-
kenntnifstheorie wichtige Bedeutung verleiht. In der That werden
wir die Frage, wenn wir zur definitiven Entfcheidung gelangen, faft
auf demfelben Punkte wieder aufzunehmen haben, auf welchen
Valla fie durch feine Zugrundelegung des Schluffes gebracht hat.
Die rein grammatifche Auffaffung der Modalität ift theils ver-
anlafst durch die Beftrebungen der fpäteren Scholaftiker, Gramma-
tik und Logik zu identificiren, oder vielmehr die Sprache zu einem
ftrengen Ausdruck des rein Logifchen zu geftalten, theils aber ift
fie durch Ariftoteles felbft veranlafst; namentlich durch das 12. Ca-
pitel de interpretatione ^ auf welches auch Vives mit feiner Kritik
direct Bezug nimmt. Hier begegnet dem Ariftoteles ein gar felt-
fames und für uns fehr auffallendes Mifsverftändnifs, welches wir
übrigens als ein Zeugnifs dafür auffaffen dürfen, wie grofse Geiftes-
arbeit eß gekoftet hat, bis man über die einfachften und uns ganz
felbftverftändlich fcheinenden Satzverhältniffe im Klaren war. Indem
er nämlich unterfuchen will, welches die Negation eines Urtheils
der Möglichkeit oder der Nothwendigkeit fei, ftöfst er auf den Aus-
druck 5w«Toy ä.vai in dem Sinne von »möglich zu fein«; er verwech-
felt aber diefen Fall, in welchem der Infinitiv elyai von iwaxov ab-
hängt, mit derjenigen Conflruction, in welcher ely«* der Infinitiv der
Copula ift und ^vthv iwni in dem einfachen Sinne von »möglich
fein« zufammen das Prädicat bildet*) Statt zu fagen, Ariftoteles
*) So erklärt vollkommen richtig Waitz, Organon .1, 359. Prantl I, 177,
Anm. 280, fpricht zwar von einem unerklärlichen Irrthum, den Waitz begangen habe,
allein feine eigene Erklärung läuft auf dalTelbe hinaus. Man habe an Sätze zu den-
ken, wie wf&i^vmo^ dt^raro? ear» dixcMo? kwai. In diefen Sätzen gehört aber offen-
bar die Negation zu itsxi und nicht zu dt^yarof, ganz wie in ot^vQ^qiano^ Xivtioq i<rr^.
Läfst man nun das iarl des regierenden Prädicates weg, fo verbindet fich eben Sv-
varoq mit dUouoq twcu ganz in dem von Waitz angegebenen Abhängigkeitsverhält-
nilfe, und nur in diefem Falle gehört die Negation zu dwaxoq.
der Urtheüe. 33
verwechsle diefe beiden Fälle, ift es freilich hiftorifch richtiger
und zugleich billiger, wenn man fagt, er ftöfst hier auf den Unter-
fchied derfelben, kommt aber über die Verfchiedenheit des gramma-
tifchen Verhältniffes nicht in's Klare, Er macht die Entdeckung,
dafs bei (hvatov elyat im Sinne von »möglich zu fein« die Negation
nicht, wie z. B. bei levxog ehai, zur Copula gehöre, fondem dafs fie
zu dwaTov geftellt werden muffe. In diefem Unterfchiede nun findet
er eine Befonderheit der Sätze mit einem Modus, und es ift daher
begreiflich, dafs feine fpäteren Kritiker, ganz wie die unberufenen
Fortbildner feines Gedankens, den Begriff der Modalität auf alle
diejenigen Fälle ausdehnten, in welchen das »Sein« von einem an-
dern Begriffe abhängig gemacht wird. Im Extrem finden wir dies
bei Lorenzo Valla, der fein ^honeflum efl pro patria pugnaren mit
den Modalitätsfätzen gleich ftellt Die fpäteren Scholaftiker dagegen
wurden, wie wir aus Vives entnehmen, dadurch in engem Schranken
gehalten, dafs fie das Wefen der Modalitätsurtheile in dem Ver-
hältnifs des Subjectes zu dem Inhalt der Ausfage fanden. Das
war zwar nicht ariftotelifch, aber es war ein Schritt über Ariftoteles
hinaus zu derjenigen Auffaffung des Modalitätsverhältniffes, welche
durch Kant die herrfchende geworden ift.
Man hat neuerdings diejenigen Urtheile, in welchen eine »reale«
Möglichkeit oder Noth wendigkeit ausgefprochen wird, als affer-
torifche bezeichnet und die Modalität des Problematifchen und
des Apodiktifchen auf diejenigen Fälle befchränkt, in welchen ein
Zweifel oder eine auf Beweis gegründete Ueberzeugung ausgedrückt
wird. Diefe ganze Auffaffungsweife ift Ariftoteles fremd. Wie er
fogar die Negation in die Dinge verlegte, fo ift ihm auch der be-
gründete Zweifel ftets identifch mit einer in der Sache felbft lie-
genden Unentfchiedenheit. Aber felbft der metaphyfifche Unter-
fchied zwifchen der Unentfchiedenheit auf dem Gebiete des
Zufalls und der Unfertigkeit auf dem Gebiete des organifchen
Werdens fällt für die logifche Technik bei Seite.
In diefer ariftotelifchen Auffaffung der Modalität macht fich
nicht nur der Grundfehler des ganzen ariftotelifchen Syftems gel-
tend, welcher in der Verlegung fubjectiver Elemente in die Dinge
befteht; es ift auch noch ein andrer Zug der ariftotelifchen Meta-
phyfik dabei zu beachten, der fehr wefentlich auf die Geftaltung
der ganzen Logik, felbft in ihren fprmalften Theilen, eingewirkt
hat Wir können nämlich nach modemer Anfchauung die reale
Lange, Logische Stadien. 3
34 Die ModaUtät
Möglichkeit ganz ruhig als das Vorhandenfein gewiffer Kräfte oder
Bedingungen bezeichnen, aus denen die Sache unter Umftänden
hervorgehen wird. Soll ein derartiger Satz, wie z. B. Ueberweg
confequent behauptet, ein affertorifcher fein, fo bezieht fich unfere
Ausfage direct auf diefe Kräfte oder Bedingungen, und die Sache,
welche werden foU, fchliefst fich als eine eventuelle Folge daran
an. Es ift uns auch ganz geläufig, eine neue Erfcheinung auf eine
Summe von Bedingungen zurückzuführen, deren voUfländiges Zu-
fammentreflfen das Ergebnifs mit NothwendigkeiL herbeiführt, wäh-
rend das theilweife Vorhandenfein nur eine gewiffe Wahrfcheinlich-
keit des Ereigniffes mit fich bringt Diefe ganze Betrachtungsweife
flützt fich aber, bewufst oder unbewufst, fchon auf die moderne
naturwiffenfchaflliche Weltanfchauung, welche jedes Ereignifs aus
dem Zufammenwirken unabänderlicher Naturkräfte hervorgehen
läfst. Diefe Kräfte beflehen unabhängig für fich; ja fie erfcheinen
uns im Getriebe des grofsen Ganzen als das eigentlich Wefentliche,
als der »ruhende Pol in der Erfcheinungen Flucht«. Ganz anders
bei Arifloteles! Ihm hat die »Möglichkeit« nur Sinn, als die unvoU-
kommne Vorflufe des Wirklichen. Jede Möglichkeit ifl daher fchon
concret und individuell zu faffen als ein unfertiges Sein eines be-
fümmten Dinges. Daher kann auch der geiflige Blick auf der
Möglichkeit nicht ausruhen. Sie ifl für fich betrachtet nichts; nur
in ihrer Beziehung zum vollendeten Dinge hat fie überhaupt eine
Bedeutung. Es giebt da keine Summe von Naturkräften, von wel-
chen ein Theil vorhanden ifl, ein andrer Theil fehlt Was der
Möglichkeit fehlt, ifl nichts als reine Unbeflimmtheit und Unfertig-
keit Der in den Dingen fich verwirklichende Begriff hat die
Materie noch nicht durchdrungen; daher die blofse Möglichkeit
Allerdings ifl das Mögliche bei Arifloteles auch ein relativ
Wirkliches; die mögliche Bildfäule z. B. ein wirklicher Marmorblock.
Wenn jedoch von dem letzteren ausgefagt wird, dafs er die Mög-
lichkeit hat, Bildfäule zu werden, fo fchwindet jene relative Wirk-
lichkeit ganz aus dem Kreife der Betrachtung und von einer affer-
torifchen Behauptung in Beziehung auf den Marmorblock kann
keine Rede mehr fein. Er ifl jetzt für unfer Urtheil die unfertige
Bildfäule, und die Erkenntnifs diefer unfertigen Bildfäule ifl iden-
tifch mit dem Zweifel, ob eine folche werden wird oder nicht
Das unwandelbare Ausgehen vom Begriff in feiner Vollendung
führt, wie wir fpäter fehen werden, auch zu der Lehre vom parti-
der Urtheac 35
cularen Urtheil. Es gäbe nicht zwei Arten von Urtheilen, wenn
der Bruchtheil eines gedachten Ganzen felbft zum unmittelbaren
Gegenftande der Ausfage gemacht würde. Aber diefer Bruchtheil
hat wiederum ^keine Bedeutung für fich. Das Ganze bleibt das
logifche Subject und der befchränkende Zufatz wird daher auch
nur zu einer Modification der Ausfage. Darauf beruht die ganze
Exiflenz des particularen Urtheils, deffen Zufammenhang mit dem
Möglichkeitsurtheil fchon oft erfafst, aber noch niemals allfeitig in's
Klare geftellt worden ifi
Wer alfo lehrt, dafs die reale Möglichkeit durch einen affer-
torifchen Satz bezeichnet wird, der hat den ariftotelifchen Boden
verlaffen und den Boden der modernen Weltanfchauung betreten;
ob aber mit hinlänglicher Confequenz? — Sobald man die Erfchei*
nungen aus der Sunune ihrer Bedingungen hervorgehen läfst und
dabei diefe Bedingungen als für fich beftehende Kräfte oder Eigen-
fchaften gewilTer Dinge auffafst, hört flreng genommen auch die
reale Möglichkeit auf. Sie ift nur ein letzter Reft der ariftotelifchen
Teleologie. Sie verlegt in die gegebenen und real vorhandenen
Dinge und Kräfte eine Beziehung zu einem eventuellen Producte,
welche nur in unferem Geifte vorhanden ifl
Trendeleiiburg hat dies vollftändig anerkannt, wenn er fagt:
»Aus dem Samen kann ein Baum, aus dem Ei ein Thier werden.
Es ift kein leeres Spiel des Gedankens. Die Möglichkeit liegt
gleichfam finnlich vor Augen. Aber für fich bleibt der Same Same
und das Ei ein Ei. Der Gedanke greift vor und fafst diefe vor-
handenen Bedingungen mit den noch nicht vorhandenen in eine
thätige Einheit zufammen und fpricht nun die Möglichkeit aus. So \
ift das Mögliche eine eigenthümliche Doppelbildung. Die dafeienden
Bedingungen werden durch die gedachten ergänzt. Da dies aber
nur im Denken gefchehen kann, fo ift das Mögliche zunächft auch
nur ein gedachtes.«*)
Bei diefem »zunächft« foUte es fein Bewenden haben; denn
wenn nur das Denken den Begriff der Möglichkeit vollziehen kann,
fo kann diefe Thatfache durch Drehen und Wenden der Begriffe
nicht mehr aufgehoben werden. Es ift daher nur Schein, wenn
Trendelenburg fpäter zwifchen Kant und Hegel eine mittlere, die
Einfeitigkeit beider aufhebende Stellung einnehmen will. Hegel,
*) Logifche Unterf., 3. Aufl., II. S. 189.
36 - I>ie Modalitat
welcher die Begriffe der Möglichkeit und Nothwendigkeit objectiv
nimmt, wird von Trendelenburg fcharf und treffend widerlegt; es
wird gezeigt, dafs feine fcheinbar objective Ableitung diefer Begriffe
in der That nur durch ein ftillfchweigendes Hineintragen des fub-
jectiven Elementes zu Stande kommt Gegen Kant aber wird nur
erinnert, dafs die Möglichkeit auf einen Theil der Bedingungen, die
Nothwendigkeit auf das Ganze derfelben »zurückweife«. Es wird
weiter gar nichts damit gewonnen, wenn hinzugefugt wird, dafs die
Erkenntnifs durch diefe lebendige Beziehung auf den Grund der
Sache vermehrt worden fei und dafs grade hierin aller Reichthum
und alle Tiefe der Erkenntnifs befchloffen fei. Die ganze Grund-
lage diefer gepriefenen Förderung unfrer Erkenntnifs bleibt doch
immer nur das »Zurückweifen« der Möglichkeit auf einen Theil der
Bedingungen. Trendelenburg liebt es, die Begriffe zu perfonificiren.
Sie »fuchen« und »wollen«, fie »fpringen hervor«, fie »fteigen« oder
»ruhen«, ohne dafs immer gleich klar wäre, was diefe Bilder be-
zeichnen foUen. Das »Zurückweifen« der Möglichkeit ift verfländ-
lich. Es kann wohl nur heifsen, dafs eine genaue Betrachtung
diefes Begriffes darauf führt, nicht nur die rein formale Seite in's
Auge zu faffen, fondem auch die Entftehung deffelben, und dafs
man dann auf jenen Theil der Bedingungen aufmerkfam wird, wel-
cher einerfeits reale Bedeutung hat, anderfeits aber die Bildung
des Möglichkeitsbegriffes veranlafst Ift das aber eine Widerlegung
Kants? Diefer hält fich an die logifche Seite der Sache; Tren-
delenburg verlangt, dafs er auch die pfychologifche in Betracht
ziehe, weil dadurch erft alle Tiefe der Erkenntnifs erfchloffen werde.
Ift es aber bei einer Unterfuchung über das Wefen diefer Begriffe
nothwendig, gleich auf diefe Tiefen der Erkenntnifs Rückficht zu
nehmen? Werden fie fich etwa auf ewig verfchliefsen, wenn bei
einer logifchen Unterfuchung zunächft auch nur das logifche
Wefen der Sache in's Auge gefafst wird?
Trendelenburg freilich redet nicht von der pfychologifchen
Seite der Sache im Gegenfatz zur logifchen, fondem von der ob-
jectiven im Gegenfatz zur fubjectiven. Als Gegner einer blofs for-
malen Logik will er auch hier in der Entwicklung der modalen
Kategorieen die objective und die fubjective Seite zufammengefafst
hs^ben, um das wahrhaft Logifche zu erreichen. Was aber ift denn
eigentlich das Objective in der Sache? Jener Complex von Be-
dingungen, von welchem Trendelenburg felbft fagt: »Für fich bleibt
der Uitheile. 37
der Same Same und das Ei ein Ei«. Objectiv aber bleiben Samen
und Ei doch wohl nur fo lange, als wir fie eben »für iich« be-
trachten. Sobald der »Gedanke vorgreift«, beginnt das fubjective
Element, und nur durch diefes wird der Same zur Möglichkeit des
Baumes, das Ei zur Mc^lichkeit des Thieres. Diefen ganz klaren
Sachverhalt hat Trendelenburg an der g^en Kant gerichteten
Stelle verdunkelt durch die Rücldichtnahme auf die Entftehung
des Möglichkeitsbegriffes, d. h. auf einen pfychologifchen Pro-
cefs. Kann nun aber die Thatfache, dafs ich durch den Anblick
des Samenkorns veranlafst werde, an den Baum zu denken,
irgend ein neues Moment in das objective Wefen des Samenkorns
hineinbringen?
Einfacher geht Ueberweg zu Werke, wenn er behauptet, die
objective und reale Möglichkeit beruhe darauf, »dafs unter den
Momenten, von denen die Verwirklichung abhängt, nicht blos fub-
jectiv durch unfer Wiffen um die einen und Nichtwiffen um die
anderen, fondem auch objectiv durch die Natur der Sache eine
wefentliche Scheidung begründet ift. Die Gefammtheit diefer Um-
flände nämlich oder die Gefammturfache zerlegt fleh in der Regel
in den (inneren) Grund und die (äufseren) Bedingimgen, wie z. B.
die Gefammturfache des Wachsthums einer Pflanze in die orga-
nifchen Kräfte, die dem Samen innewohnen, als den (inneren) Grund,
und die chemifchen imd phyflkalifchen Kräfte des Bodens, der Luft
und des Lichtes als die (äufseren) Bedingungen. Wo nun der
Grund allein gegeben ift, oder die Bedingungen allein, da befteht
eine reale oder objective Mc^glichkeit; wo beides zufammen, eine
reale oder objective Nothwendigkeit Ip der Eichel liegt in diefem
Sinne die objective oder reale Möglichkeit der Entftehung eines
Eichbaums.« (Logik, 3. Aufl. S. 167; vgl 4. AufL S. 172). —
Wir fehen einftweilen davon ab, dafs fowohl Ueberweg als
Trendelenburg eine wichtige Art der Möglichkeit ganz aufser Acht
gelaffen haben. Auch das mag einftweilen nur erwähnt werden,
dafs der Fall, in welchem fleh die Gefammturfache nach Ueber-
wegs Annahme zerlegen läfst, fchwerlich die Regel bildet Es
handelt fleh für uns zunächft nur um die Frage: fmd wir berech-
tigt, eine folche Grruppe von Bedingungen, wie fle z. B. im Samen-
korn enthalten ift, als objective Möglichkeit des Baumes zu be-
zeichnen?
Darüber, dafs es in der Natur folche Gruppen von Stoffen und
38 I^ie Modalität
Kräften giebt, welche uns zur Bildung eines Möglichkeitsbegriffes
veranl äffen, kann ja von vom herein kein Zweifel fein. Schon
die blofse Erfahrung, dafs Bäume aus Samenkörnern hervorgehn,
kann ohne alle Analyfe der Bedingungen dazu fuhren. Es ift dies
ein pfychologifcher Procefs, bei welchem an der anthropomorphen
Grundlage, wie überhaupt bei der urfprünglichen Bedeutung der
Begriffe des Könnens, der Kraft, des Zwanges und der Nothwen-
digkeit, nicht zu zweifeln ift. Befeitigt man nun diefen Anthropo-
morphismus, der mit der Entftehung des Möglichkeitsbegriffes fo
eng verbunden ift; was bleibt übrig? Was fagen wir überhaupt
damit, wenn wir erklären, das Samenkorn fei die Möglichkeit des
Baumes? Soll es weiter nichts heifsen, als dafs erfährungsmäfsig
Bäume aus Samenkörnern hervorgehn, oder dafs im Samenkorn ein
Theil der Bedingungen zur Entftehung eines Baumes vereinigt ift,
dann läuft der Streit um die Möglichkeit auf einen reinen Wort-
ftreit hinaus. Man kann dann diefen Begriff entbehren.
Wenn man ihn beibehalten will, fo gefchieht es aus fprachlichen
Zweckmäfsigkeitsgründen. Bei jeder genauen Analyfe eines Falles
von Möglichkeit wird man aber unzweifelhaft auf die entfprechende
Wirklichkeit zurückgehen muffen. Ein folcher Begriff der Möglich-
keit ift fchwerlich geeignet, als Kategorie ,zu gelten. Von der
Eigenthümlichkeit des Problematifchen enthält er nichts mehr, und
er kann auch nicht einmal mehr im Sinne der Ueberweg'fchen
Entfprechungstheorie als reales Gegenftück zu der fubjectiveh Un-
gewifsheit verwandt werden.
Man wird vergeblich bei Ueberweg oder auch bei Trendelen-
burg eine vollkommen klare Antwort auf diefe Frage fuchen; alfo
muffen wir uns wieder an Ariftoteles wenden, deffen Anficht ja
doch derjenigen Trendelenburgs und Ueberwegs zu Grunde liegt
Hier finden wir Auskunft Es liegt allerdings in dem Samenkorn
etwas mehr, als diefe beftimmte Verbindung von Stoffen und Kräf-
ten, welche wir nach modemer Anfchauung darin finden. Es ift
der potenzielle Baum. Das Problematifche aber ift die in dem
Samenkom liegende Ungewifsheit, ob es ein Baum werden will,
oder nicht Diefe ariftotelifchen Begriffe mufs man nehmen, wie
fie gegeben find und mufs fich dabei ftets des vollen Gegenfatzes
feiner Weltanfchauung gegen unfre naturwiffenfchaftlichen Begriffe
bewufst bleiben. Man verdirbt die ariftotelifchen Begriffe in der
Wurzel, fobald man fie durch Uebertragung in modeme.An-
der Urtheilc. 39
fchauungen vermeintlich klar zu ftellen fucht So kann man z. B.
nicht die reale Ungewifsheit, ob ein Baum werden foU oder nicht,
dadurch erklären, dafs ja eben nur ein Theil der Bedingungen im
Samenkorn vereinigt fei, während die andern noch fehlen. Diefe
Auffafliingsweife ift vollkommen mit der naturwiffenfchaftlichen
Anficht von der Nothwendigkeit alles Gefchehens nach feften Ge-
fetzen vereinbar; die ariftotelifche Auffaffung dagegen fteht mit
diefer Anficht im fchroffften Widerfpruch. Bei der Art, wie Ueber-
weg fich die Sache zurecht legt, ift und bleibt die Ungewifsheit
blofs im Subject, und was ihr in der Objectivität entfpricht, ift
nicht Ungewifsheit, fondem ein beftimmter Sachverhalt, deffen Ver-
gleichung mit dem gedachten fpäteren Zuftande des Dinges in uns
die Ungewifsheit hervorruft.
Um die Natur des Problematifchen in den Dingen, wie Arifto-
teles fie fafst, vollkommen klar einzufehen und zugleich ihre abfo-
lute Unvereinbarkeit mit der naturwiffenfchaftlichen Auffaffung der
Dinge zu erkennen, mufs man vor allen Dingen feine Lehre vom
zukünftig Möglichen, wie fie im lO. Cap. de interpr, nieder-
gelegt ift^ wohl in's Auge faffen. Hier wird ausdrücklich gelehrt,
dafs von zwei entgegengefetzten Behauptungen über Zukünftiges
nicht nothwendig die eine oder die andre wahr fein muffe, weil in
der Sache felbft noch eine Unentfchiedenheit liege. Diefe Unent-
fchiedenheit in den Dingen felbft kann aber nicht etwa auf das
momentane Fehlen gewiffer Bedingungen im modernen Sinne zurück-
geführt werden; denn nach naturwiffenfchaftlicher Anfchauung find
die Umftände, welche im geeigneten Augenblick das Ereignifs her-
beiführen werden oder nicht, fchon vorhanden; ihre Entwicklung
bis zum Punkte der Entfcheidung ift 'von ftrenger Nothwendigkeit
geleitet und alle Ungewifsheit liegt nur in dem beobachtenden Sub-
jecte, welches zur Zeit nicht alle Bedingungen überfieht. Es wäre
gewifs ein reines Verfteckenfpielen, wenn man hier behaupten wollte,
auch nach modemer Anfchauung fei hier eine reale Ungewifsheit
anzunehmen, weil eben nur eine reale Gruppe von Bedingungen
vorliegt, welche zur Bildung eines gewiffen Urtheils nicht ausreicht.
Man mufs hier den Muth der Entfcheidung haben, entweder Noth-
wendigkeit alles Gefchehens anzunehmen, oder nicht Im erfteren
Falle ift durchaus keine reale Ungewifsheit vorhanden, fondern nur
ein realer Zuftand der Dinge, welcher in uns pfychologifch den
Zuftand der Ungewifsheit hervorruft. Im letzteren Falle, welcher
40 I>ie ModaUtät
allein der Anficht des Ariftoteles entfpricht, mufs man die ftrenge
Confequenz der naturwiffenfchaftlichen Weltanfchauung offen ver-
werfen. Dann, und nur dann wird voUftändig klar, was mit der
realen Ungewifsheit gemeint ift, und genau daffelbe gilt von der
realen Möglichkeit Die Identität beider Fälle bedarf keines be-
fonderen Nachweifes.
Die ariftotelifche Philofophie mufste die Lehre von der Mög-
lichkeit und Nothwendigkeit mit in die formale Logik hineinziehen,
eben weil fie mehr geben will, als blofs formale Logik. Sollte ein
Band der Einheit beliehen zwifchen Logik und Metaphj^ik, fo
mufsten fich fo fundamentale Begriffe, wie diejenigen der Möglich-
keit und Nothwendigkeit auch in der gewöhnlichen Technik be-
währen und anderfeits mufste die formale Technik nothwendig fo
weit entwickelt werden, dafs fie diefe Begriffe in ihrem Einfluffe
auf die erften Elemente des Beweifes mit umfafste. Uns, d. h. den-
jenigen, welche an der unbedingten Herrfchaft der Caufalität und
der Nothwendigkeit alles Gefchehens feilhalten, liegt es aus dem
gleichen Grunde ob, diefe Begriffe fo zu analyfiren, dafs fie voU-
ftändig auf Functionen affertorifcher Urtheile zurückgeführt
werden.
Wir beginnen mit der Nothwendigkeit. Wenn wir im Sinne
der naturwiffenfchaftlichen Weltanfchauung von der ftrengen Noth-
wendigkeit alles Gefchehens reden, fo fcheint es faft, als müfsten
wir umgekehrt alles Affertorifche auf apodiktifche Form zurück-
bringen; allein es ift leicht einzufehen, dafs dies bei dem einfachen
Wahmehmungsurtheil, der erften Grundlage aller unfrer Erkenntnifs,
nicht richtig wäre. Wenn wir fehen, wie ein Stein fich von der
Felswand löft und herunterftürzt, fo können wir noch fo fehr über-
zeugt fein, dafs diefer Vorgang ein nothwendiger war, dafs der
Stein in Folge der Einwirkung von Naturkräften nach unwandel-
baren Gefetzen genau in diefem Augenblick niederftürzen mufste; —
was wir wahrnehmen, ift aber doch nicht diefe Nothwendigkeit,
fondem das einfache Factum, deffen Ausdruck der affertorifche Satz
ift. Umgekehrt läfst frch leicht einfehen, dafs im Begriff der Noth-
wendigkeit jede Vorftellung von Zwang, von einer befonderen
Macht, welche jeden Widerftand überwindet, auf einem tief gewur-
zelten Anthropomorphismus beruht, deffen Befeitig^ung in unferm
Vorftellungsleben und im Sprachgebrauch ebenfo fchwierig fein
würde, als fie in der logifchen Analyfe leicht und einfach ift:. Die
der Urtheilc. 41
Nothwendigkeit des Gefchehens befagt weiter nichts, als feine All-
gemeinheit innerhalb der Grenzen eines beftimmten Begriffs.
Spreche ich diefe Allgemeinheit in Beziehung auf einen einzelnen
Fall aus, welcher dem mafsgebenden Begriff untergeordnet ift, fo
erhalte ich den Ausdruck der Nothwendigkeit diefes Falles. Daher
gilt auch, wie fchon Lorenzo Valla einfah, jeder Satz, welcher
durch Subfumtion unter einen allgemeinen Oberfatz gewonnen
wurde, mit Nothwendigkeit, und es ift nur Sache des Sprachge-
brauchs, ob man diefer Nothwendigkeit Ausdruck geben will,
oder nicht.
Der Zufammenhang der Nothwendigkeit eines Urtheils einer-
seits mit der Allgemeinheit, anderfeits mit dem Schlufsverfahren
ifl fchon fehr früh eingefehen und im Grunde von jeher anerkannt
worden, ohne dafs man jedoch eine genauere Unterfuchung über
diefen Zufammenhang angeftellt hätte. Sigwart hat den Kern der
Sache kurz berührt, indem er den Satz aufftellt, dafs die Nothwen-
digkeit jedes Einzelnen immer nur eine bedingte ift: »indem etwas
für noth wendig erklärt wird, wird nicht feine Urfache, fondern fein
Hervorgehen aus der vorhandenen Urfache für nöthwendig erklärt.«*)
Das Einzelne ift nöthwendig fo oder anders, infofern es zu einem
Allgemeinen von diefer Befchaffenheit gehört. Mit diefer Erkennt-
nifs ift nöthwendig eine andre verbunden, dafs das apodiktifche
Urtheil keineswegs höhere Gewifsheit hat, als das affertorifche: eine
Erkenntnifs, durch welche ein grofses Stück von dem Gebäude der
überlieferten formalen Logik umgeftürzt wird. Wir werden darauf
zurückkommen, muffen aber zunächft das Band zwifchen dem All-
gemeinen und Einzelnen vom Standpunkte der formalen Logik aus
noch einer näheren Betrachtung unterwerfen.
Sigwart lehrt (a. a. O. S. 221), das unbedingt allgemeine Ur-
theil fei nur da gerechtfertigt, wo wir von der Erkenntnifs des
Wefens der Sache ausgehen können, wo wir finden, dafs die Ver-
bindung des Prädicates mit dem Subject fchon durch die Natur
des Subjectes gegeben fei Die meiften Logiker ftehn auf dem-
felben Standpunkte, der fchon durch die ariftotelifche Ueberlieferung
begünftigt wird. Gleichwohl ift diefe Befchränkung zu verwerfen.
Ein allgemeines Urtheil kann durch blofse voUftändige Aufzählung
*) Sigwart, Logik i. Bd., die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schlafs,
Tübmgen 1873, S. 217. —
42 ^ie Modalität
der in ihm enthaltenen einzekien Fälle zu Stande gekommen fein,
fo wird doch das Band, welches nunmehr den einzelnen Fall mit
dem Allgemeinen verbindet, ein Band der Nothwendigkeit fein.
Wenn ich mich erinnere, {ammtliche Läufe meines Revolvers ab-
gefcholTen zu haben, fo kafin ich gegenüber dem Bedenken, ob
etwa ein beftimmter einzelner noch geladen fei, in apodiktifcher
Form fagen: er mufs entladen fein; denn ich habe fie alle, ohne
Ausnahme entladen. Hiebei wird die Richtigkeit und Zuverläffig-
keit meiner Erinnerung vorausgefetzt Entfteht Zweifel an diefer,
fo kann man die Sache unterfuchen und erhält dann auf Grund
diefer unmittelbaren Wahrnehmung den aifertorifchen Satz: der
Lauf ift wirklich entladen.
Im wiflenfchaftlichen Gebrauch kommen folche Sätze, die auf
einer voUftändigen Ueberficht über den Umfang des übergeordneten
Begriffes beruhen, verhältnifsmäfsig feiten vor; um fo häufiger und
wichtiger dagegen fmd die Subfumtionen unter einem inductiv
gewonnenen Oberfatz. Hier fehlt allerdings die von Sigwart poftu-
Urte unbedingte Allgemeinheit des Urthdls und dem entfprechend
ifl auch die Verbindung des Prädicates mit dem Subject keines-
wegs durch innere Nothwendigkeit aus dem Subjectsbegriffe fchon
vorausbeflimmt. Gleichwohl haben wir hier einen der wichtigflen,
die ganze Gefchichte der neueren Wiffenfchaflen durchziehenden
Fall der Nothwendigkeit vor uns; einen Fall, den die auf ariftote-
lifcher Tradition beruhende Logik bisher gänzlich überfehen hat
Jeder einzelne Fall, welcher unter den inductiven Oberfatz gehört,
erhält mit Nothwendigkeit feine Beflimmung. Die hypothetifche
Natur diefer Nothwendigkeit ifl hier deutlicher als fonfl, aber ihr
Wefen ifl daffelbe.
Jeder inductiv gewonnene Oberfatz foUte flreng genommen
nur particulare Form haben und die Subfumtion eines gegebenen
Falles unter denfelben würde dann, wie fchon Lorenzo Valla
erkannte, nur zu einem Urtheile der Möglichkeit von einem be-
flimmten Wahrfcheinlichkeitsgrade führen. Nimmt man die Sicher-
heit der Subfumtion als eine abfolute an, fo hängt diefer Wahr-
fcheinlichkeitsgrad fchlechthin ab von der Annäherung des inductiven
Oberfatzes an die flrenge Allgemeingültigkeit. Es ifl nunmehr eine
Thatfache der Erkenntnifstheorie, nicht der formalen Logik, dafs
die grofse Mehrzahl unfrer allgemeinen Sätze inductiver Natur ifl,
und dafs wir einen beflimmten, fehr hohen Wahrfcheinlichkeitsgrad
der Urtheile. 43
in die Gewtfsheit übergehien laffen, wie wir ftrenge Allgemeinheit
überall auszufprechen pflegen, wo eine Anzahl von einzelnen Fällen
fich fo verhält, dafs wir ein allgemeines Band für diefelben nach
Analogie mit andern Naturgefetzen vorausfetzen müflen, wiewohl
wir die Natur diefes Bandes noch nicht erkannt haben. Der induc-
tive Procefs mit feiner Sammlung der Fälle, mit feiner Prüfung der
negativen Inftanzen und allen fonftigen Vorfichtsmafsregeln erfetzt
uns bis zu einem gewiflen Grade den directen Einblick in das
Princip der Allgemeinheit; allein ftreng logifch genommen tritt er
doch niemals an die Stelle der Erkenntnifs aus dem Wefen der
Sache, fondem nur an die Stelle eines voUftändigen Ueberblicks
über die Thatfachen, welche zum Umfange des Subjectsbegriffes
gehören. Dies einmal zugegeben, tritt für die formale Logik fofort
die Confequenz ein, dafs jeder einzelne Fall, der unter diefen Be-
griff gehört, mit Nothwendigkeit das als allgemein geltende Prädi-
cat erhält /
Es giebt alfo eine Nothwendigkeit des Umfanges der *
Begriffe, wie es eine Nothwendigkeit des Inhaltes giebt Die
erftere ftützt fich auf die einfache Thatfache, dafs von allen unter den
Subjectsbegriff gehörenden Gegeriftänden das Prädicat gilt; die letz-
tere ftützt fich auf das Wefen des Subjectsbegriffes, welches nach
einer Analyfe feines Inhaltes das Prädicat fchon in fich fchliefst
Die ariftotelifche Schule in der Logik hat fich nur mit der Noth-
wendigkeit letzterer Art befchäftigt; die empiriftifche Schule,
wie fie am voUftändigften von Stuart Mill vertreten wird, hat es
im Grunde nur mit der Nothwendigkeit erfterer Art zu thun, da
nach ihr alle Erkenntniffe aus der Erfahrung ftammen, die uns nur
allgemeine Sätze von inductiver Geltung darbietet. Selbft die ma-
thematifchen Axiome find nach diefer Anficht nur Sätze von höcWler
Wahrfcheinlichkeit, die für unfer Bewufstfein zur Gewifsheit wird.
Indirect find daher auch alle deducirten Wahrheiten noch mit dem
Zweifel behaftet, welcher den inductiven Grundlagen der Deduction
anhaftet Der Streit der Meinungen über diefe Frage ift Sache der
Erkenntnifstheorie. Die formale Logik aber hat bei der Analyfe
des Nothwendigkeitsbegriffes beide Arten der Reduction des
Apodiktifchen auf das Affertorifche in gleicher Weife zu berück-
fichtigen. Der Satz S^ mufs P fein, heifst alfo entweder: S^ ift
Pj weil und infofern von allen 5, und zwar S\ S^..., S^.,,. 5» er-
kannt ift, dafs fie P find; oder: S^ ift /*, weil und infofem in dem
44 I>ie ModaUtit
Inhalte des übergeordneten Begriffes 5 fchon die Eigenfchaft P zu
fein enthalten ift. Die erftere Art der Nothwendigkdt ift diejenige
des Umfangs, die zweite diejenige des Inhaltes. Diefe Bezeich-
nungen find wohl die paffendften vom Standpunkte der formalen
Logik; vom Standpunkte der Erkenntnifstheorie könnte man fagen:
Nothwendigkeit der Thatfache und Nothwendigkeit des Wefens.
Sigwart a. a. O. S. 215 u. f. unterfcheidet ftatt deffen zwifchen
innerer und äufserer Nothwendigkeit Diefe Unterfcheidung ift
weder formal logifch, noch erkemitnifstheoretifch, fondem rein
metaphyfifch, beziehungsweife naturphilofophifch. Sie trifft mit
der unfrigen nur theilweife zufammen. Wasi Sigwart innere Noth-
wendigkeit nennt, ift immer Nothwendigkeit des Inhaltes. Seine
äufsere Nothwendigkeit dagegen umfafst Fälle von beiderlei Art
und es fcheinen ihm dabei ebenfalls wefentlich Fälle der Noth-
wendigkeit des Inhaltes vorgefchwebt zu haben. Die Nothwendig-
keit aus blofser Induction kommt auch bei ihm nicht zu ihrem
Rechte.
Lotze, der übrigens, wie Sigwart, in der Lehre von der
Modalität der Urtheile weit über die Schranken der fcholaftifchen
Ueberlieferung hinausblickt, findet drei Formen der Beziehung
zwifchen S und P, die zu nothwendigen Erkenntniffen fuhren: all-
gemeine Urtheile, bei welchen das P im 5 fchon mitgedacht wird;
femer hypothetifche und endlich disjunctive Urtheile.*) Bei
den hypothetifchen entfpringe die Nothwendigkeit, wenn man zeigt,
»dafs aus dem Hinzukommen einer Bedingung X zm S ein P ent-
fpringt, das ohne diefe Bedingung nicht vorhanden fein würde;
dies P gilt dann nothwendig von jedem 5, auf welches diefelbe
Bedingung in derfelben Weife einwirkt Laffen wir das disjunctive
Urtheil einft weilen bei Seite, fo zeigt fich, dafs Lotze in diefen
beiden Fällen auch nur die Nothwendigkeit des Inhaltes im Auge
gehabt hat Was die kategorifchen Urtheile betrifft, fo ift dies
fchon klar aus dem, was wir oben bemerkten. Hinfichtlich der
» hypothetifchen aber ift leicht zu fehen, dafs auch hier der gleiche
Unterfchied flattfindet Wenn aus dem Zufammentreffen von 5
und X das P entfpringt, fo mufs P erkennbar im Wefen die-
fer Verbindung liegen ; wir haben alfo den Fall der Nothwendigkeit
*) Lotze, Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Unterfuchen und vom Er-
kennen. Leipzig 1874. S. 65. —
der Urtbeile. 45
des Inhaltes vor uns. Nun kann aber auch, ohne allen directen
Einblick in das Wefen der Verbindung XS, rein empirifch feft-
geftellt werden, dafs allemal, wenn XS zufammentreffen, fich auch
P einfindet; alsdann gilt mit gleicher Nothwendigkeit für jeden
einzelnen Fall, in welchem 5 zugleich X ift, das Prädicat P. Wir
haben alfo hier die Nothwendigkeit des Umfangs vor uns. Es ift
übrigens leicht zu fehen, dafs das logifche Band der Nothwendig-
keit zwifchen dem allgemeinen Begriff und dem untergeordneten
beim hypothetifchen Urtheile durchaus daffelbe ift, wie beim kate-
gorifchen. Diefe Identität des rein logifchen Verhaltens zwifchen
dem hypothetifchen und dem kategorifchen Urtheile findet aber
nicht nur in diefem Falle ftatt, fondem überall, daher denn auch
die Regeln fiir die Behandlung hypothetifcher Urtheile und Schlüffe
überall an denfelben Raumbildern demonftrirt werden können,
welche für kategorifche Urtheile und Schlüffe dienen. Von welcher
Bedeutung dies für Logik und Erkenntnifstheorie ift, werden wir
weiter unten noch fehen.
Mit dem disjunctiven Urtheil, welches die Brücke bildet aus
den Elementen der formalen Logik zu den höheren, erft in der
Neuzeit entwickelten Gebieten, hat es feine befondre Bewandtnifs.
Es kann nicht, wie die übrigen Urtheilsformen durch das einfache
Raumbild zweier Sphären dargeftellt werden. Auch die Frage
nach der Art der Nothwendigkeit ift hier keine ganz einfache. In
der Regel wird man, um einer ftrengen Disjunction ficher zu fein,
den Oberbegriff zu den disjuncten Prädicaten haben muffen, um
aus der Natur deffelben durch ein divifives Urtheil die verfchied-
nen coordinirten Prädicate mit Sicherheit abzuleiten. Die Entfchei-
dung erfolgt dann für oder gegen eine Anzahl diefer Prädicate
auf empirifchem Wege, worauf fich für den Reft derfelben das
Nothwendigkeitsurtheil ergiebt. Daffelbe trägt hypothetifchen Cha-
rakter fowohl in Beziehung auf die Richtigkeit der Disjunction, als
auch auf die empirifche Entfcheidung ; da jedoch die letztere hier
in den meiften Fällen nicht auf Induction, fondem auf unmittel-
barer Wahrnehmung des einzelnen Falles beruht, fo kann die
Nothwendigkeit gleichwohl eine vollkommen zwingende fein. So
entnehme ich z. B. aus dem Wefen des Würfels die Disjunction,
dafs, wenn derfelbe zur Ruhe kommt, nur eine feiner fechs Flächen
nach oben liegen kann. In dem Falle eines Wurfes kann ich nun-
mehr durch einfache Wahrnehmung erkennen und affertorifch be-
46 I>ie Modalität
haupten, dafs die mit der Zahl 4 bezeichnete Fläche nach oben
liegt Alsdann weifs ich mit zwingender Nothwendigkeit, dafs
weder die Fläche i, noch 2, noch 3, noch 5, noch 6 nach oben
liegen kann.
Lotze's Ableitung der überhaupt möglichen Entftehungsweifen
eines Nothwendigkeitsurtheils ift übrigens auch unvollftändig, da
aus jedem richtigen Schlufs, welchem Modus und welcher Figur er
auch angehöre, der Schlufsfatz ftets mit Nothwendigkeit hervor-
geht, wiewohl wir ihn bei affertorifchen Prämiffen auch in affer-
torifcher Form aufzuftellen pflegen. Nehmen wir z. B. den Schlufs
(Modus Ferio): »Kein in dunkeln Grotten lebendes Thier kann
Gebrauch von Augen machen. Einige mit Augen verfehene Thiere
leben in dunkeln Grotten. Alfo können einige mit Augen ver-
fehene Thiere diefelben nicht gebrauchen«. Hier kann ich, fobald
ich den formalen Zwang des Schlufsverfahrens hervorheben will,
mit vollem Rechte beifügen: »Daraus ergiebt fich mit Nothwen-
digkeit, dafs« u. f w. — Diefe formale Nothwendigkeit, welche
jedem Schlufle als folchem beiwohnt, wird in der Regel nicht be-
fonders ausgedrückt; in den Wörtchen »alfo«, "»ergon u. f. w. ift
fie angedeutet Dafs fie, wie alle Nothwendigkeit, eine hypothe-
tifche ift, verfteht fich von felbft Auf der Richtigkeit der Prä-
miflen und der Correctheit des Schlufsverfahrens beruht die Rich-
tigkeit des Ergebniffes.
Worauf aber beruht nun eigentlich die Nothwendigkeit eines
Urtheils? Wenn jede Vorftellung eines Zwanges ein Anthropomor-
phismus ift und wenn die Nothwendigkeit mit der Allgemeinheit
zufammenfällt; wie fteht es dann mit folchen Fällen, in denen der
Schlufsfatz ein finguläres Urtfeeil ift? Die Antwort ift, wenn man
auf der Oberfläche bleiben will, leicht gegeben. Die formale Noth-
wendigkeit bedeutet in diefem Falle weiter nichts, als die Unfehl-
barkeit des Schlufsverfahrens felbft, kraft welcher der Schlufs rich-
tig ift, welches Individuum auch immer an die Stelle unfres Cajus
oder Sempronitis trete, oder wo auch immer diefer fich befinden
möge innerhalb der Schranken, welche der Mittelbegriff" ausfpricht
Gehen wir etwas tiefer auf den Grund der Sache ein, prüfen
wir das Wefen diefer Nothwendigkeit in erkenntnifstheoretifcher
Hinficht, fo ftofsen wir auf einen bisher nicht hinlänglich beach-
teten, durchaus rationellen Reft des Anthropomorphismus, den wir
mit der Ueberfetzung von Nothwendigkeit in Allgemeinheit fchlecht-
der Urtbeile. 47
hin eliminirt hatten. Es ift dies die negative Grundlage der Noth-
wendigkeit, das Nichtandersfeinkönnen. Wir werden darauf geführt,
fobald wir die Nothwendigkeit auf die erkenntnifstheoretifche Grund-
lage der Anfchauung in Verbindung mit dem Satze des Wider-
fpruchs zurückfuhren.
Auch ohne die Analyfe fo weit zu treiben, ift man fchon
darauf gekommen, von den beiden Wechf elbegriffen der Nothwen-
digkeit und der Unmöglichkeit den letzteren als den urfprünglichen
zu erkennen. So fuhrt Drobifch (Logik S- $8) die Unmöglichkeit
direct auf den Widerfpruch zurück, welcher fich bei einer verfuch-
ten Verknüpfung von Prädicat und Subject ergiebt Die Noth-
wendigkeit wird fodann als eine Folge der Unmöglichkeit des
Gegentheils aufgefafst. »Dafs der Schlufsfatz noth wendig ift«, be-
merkt Drobifch dazu, »erhellt erft, wenn man fich überzeugt, dafs
nicht anders gefchloffen werden kann. Jede Nothwendigkeit führt
einen gewiffen Zwang bei fich, der Icein felbflauferlegter, fondem
ein anderswoher kommender ift Diefer Zwang ift der Widerfpruch,
der diejenige »Noth« bereitet, aus der fich das Denken durch
Setzen eines nicht Widerfprechenden rettet.« Es ift hier mehr als
nöthig von dem Anthropomorphismus der Nothwendigkeit beibe-
halten, allein als genetifche Erklärung der Entftehung von Begriff
und Ausdruck kann die Bemerkung von Drobifch fphr wohl dienen.
Das Wefentliche an der Sache ift die Vorausfetzung, dafs in Ge-
danken, oder richtiger in der Anfchauung ein Verfuch gemacht
wird, ob nicht durch Variation der Vorausfetzung ein andres Er-
gebnifs zu erzielen fei, dafs aber jedes etwa angenommene andre
Ergebnifs alsbald nach dem Gefetze des Widerfpruchs vernichtet
wird.
Am deutlichften wird die Sache wieder durch Anwendung der
fchematifchen Raumbilder, welche in einfachfter Form dasjenige
vertreten, was auf alle Fälle in irgend einer räumlich angefchauten
Form vorgehen mufs, wenn die Ueberzeugung fich bildep foU.
Wenn man die Sphäre M in die Sphäre P hineinzeichnet und fo-
dann *S in M^ fo gehört zur vollen Ueberzeugung von der Noth-
wendigkeit des Schluffes die Variation der Sphären in Lage und
Gröfse, welche man mit Leichtigkeit in der Phantafie vornehmen
kann. Man läfst die Sphäre M beliebig gröfser oder kleiner wer-
den, fich verfchieben, in P herumrollen, und ebenfo wieder S in
My und überzeugt fich dabei im Nu, dafs trotz der unendlichen
48 Die Modalität
Anzahl von Veränderungen es keine giebt, welche aus der Regel
des SchlufTes heraustritt. Man fieht, dafs, wo immer ich ein 6*
aus P irgendwie heraustreten laffe, es alsbald auch aus M heraus-
tritt und alle diefe Annahmen werden fofort durch den Satz des
Widerfpruches niedergefchlagen. Wir fehen alfo hier wieder, wie
die räumliche Anfchauung, ganz wie in der Geometrie, die Aprio-
rität und die Nothwendigkeit begründet Zugleich kann man hier
unmittelbar fehen, wie das Naturgefetz des Widerfpruchs zum Nor-
malgefetz wird. Die aus der Anfchauung Geh ergebende Unver-
einbarkeit einer Ueberfchreitung von M mit der Einhaltung der
Grenzen von M ift noch eine unmittelbare Wirkung des Natur-
gefetzes. Dadurch dafs der Verfuch als t)^ifch genommen und
aus der Allgemeinheit die Regel gebildet wird, ergiebt fich das
Normalgefetz. Man kann alfo behaupten, dafs das logifche Nor-
malgefetz des Widerfpruches aus der Anfghauung hervorgeht, wie
das Naturgefetz der Unvereinbarkeit des Widerfprechenden aller
Anfchauung zu Grunde liegt
Das hier nachgewiefene Princip aller logifchen Sätze und Re-
geln, die formale Nothwendigkeit des Apriorifchen, liegt nicht nur
der Nothwendigkeit des Umfangs, fondem auch derjenigen des
Inhalts zu Grunde; denn auch dasjenige Prädicat, welches aus dem
Wefen des Subjectsbegriffes entnommen wird, Hellen wir uns als
eine Kategorie von einem beilimmten Umfange vor, fobald wir
auf die Anwendung der logifchen Technik übergehen. Weiterhin
liegt aber diefe rein formale Nothwendigkeit auch ebenfo dem
Möglichkeitsbegriff zu Grunde, fobald diefer durch eine logifche
Operation gewonnen wird. Was wir fchlechthin möglich nennen,
davon können wir, fobald die Möglichkeit aus logifchen Regeln
fliefst, ebenfo gut fagen, es fei mit Nothwendigkeit möglich.
Wie fteht es nun aber mit der Zurückführung diefer formalen
Nothwendigkeit auf ein affertorifch auszudrückendes Verhältnifs?
Ift fie undurchführbar und damit die Kategorie der Nothwendigkeit
dennoch als eine abfolut unentbehrliche nachgewiefen ? Gewifs
nicht Verfetzen wir uns nur wieder auf den Standpunkt des von
Drobifch in die Erklärurig des Nothwendigen hineingezogenen
Anthropomorphismus! Worin liegt hier der »Zwang« und die »Noth«
des Nothwendigen? Wie wir gefehen haben, im Eingreifen der
Negation gegenüber jedem Verfuche, in der Anfchauung die
Schranke des gefetzten Begriffes zu überfchreiten. Diefes Ver-
der Urtheile. 49
fuchen, welches für die Bildung unfrer Ueberzeugung fo wefentlich
ift, wird wie das Streben eines wollenden Wefens vorgeftellt Die
Vorftellung möchte dem Satz entrinnen, aber an den Grenzen des
Begriffs findet fie fich zurückgeflofsen. Was ifl hier das Wefent-
liche für die Logik, wenn wir alle pfychologifchen Zuthaten weg-
laffen? Nichts als die Thatfache der beftändigcn Aufhebung des
Widerfprecheriden. Es ifl auf dem Boden der Anfchauung im
Schema ein blofser Pleonasmus, wenn man fagt, dafs der Wider-
fpruch nicht beftehen kann; als ob hinter dem Grunde des Noth-
wendigen noch einmal eine Nothwendigkeit fleckte. Die Thatfache
ifl, dafs er nicht befleht, dafs jedes Urtheil, welches die Grenze
des Begriffs überfchreitet, fofort durch ein entgegengefetztes und
fefter begründetes Urtheil aufgehoben wird. Diefe thatfächliche
Aufhebung ift aber für die Logik der letzte Grund aller Regeln.
Pfychologifch betrachtet kann man fie auch wieder als nothwendig
bezeichnen, indem man fie als einen Specialfall eines allgemeineren
Naturgefetzes anficht; damit aber hat die Logik nichts zu fchaffen,
welche vielmehr hier mit fammt ihrem Gi^mdgefetze des Wider-
fpruchs erft ihren Urfprung nimmt.
Was nunmehr Zurückführung des Möglichen auf ein Ver-
hältnif%der Wirklichkeit betrifft, fo können wir auch hier zunächft
die Möglichkeit des Inhaltes, von welcher oben im Anfchluffe an
die ariftotelifchen Ueberlieferungen ausfchliefslich die Rede war,
ergänzen durch eine Möglichkeit des Um fang s. Die erftere be-
ruht auf dem Vorhandenfein eines Theiles der Bedingungen des
Prädicatsbegriffes, die letztere auf dem Vorkommen einiger Fälle,
welche unter denfelben gehören. Der Gegenfatz der modernen
Logik gegen die ariftotelifch-fcholaftifche tritt hier noch fchärfer
hervor als bei der Nothwendigkeit, denn die Möglichkeit des Um-
fanges ift in Verbindung mit den Methoden der rationellen Em-
pirie zu dem grofsen Hebel der Entdeckung geworden, welcher
fchon fo manche wiffenfchaftliche Wahrheit enthüllt hat und noch
einer ungleich ausgedehnteren Anwendung fähig ift Als Grund-
lage der Wahrfcheinlichkeitsrechnung und der ftatiflifchen Schlüffe
bildet fie die ftärkfte Wurzel der höheren formalen Logik, welche
das Alterthum und das Mittelalter nicht kannten, und deren con-
fequenter Gebrauch uns nur um fo tiefere Blicke in das innere
Wefen und den Caufalzufammenhang der Dinge thun läfst, je mehr
anfcheinend von rein äufserlichen Daten ausgegangen wird.
LaDge, Logische Stadien. 4
50 I Die Modalität
Lorenzo Valla lehrt, die Möglichkeit ergebe fich aus der Sub-
fumtion eines Falles unter einen Oberfatz von nur particularer Gül-
tigkeit. Als richtiger Vorläufer der modernen Weltanfchauung hat
er dabei fofort den Fall der Möglichkeit des Umfangs, d. h. der
rein empirifch feftgeftellten Möglichkeit herausgegriffen. Der Arifto-
teliker leitet die Möglichkeit, dafs aus dem Samenkorne ein Baum
werden kann, aus dem Vorhandenfein eines Theiles der erforder-
lichen Bedingungen ab, was freilich auch noch nicht ftreng arifto-
telifch ift, aber doch dem ariftotelifchen Gedankenkreife näher als
die moderne empiriftifche Auffaffung. Nach diefer find wir einfach
deshalb zu dem Urtheile berechtigt, dafs aus dem Samenkorn ein
Baum werden kann, weil wir dies in der Erfahrung fchon fehr oft
wahrgenommen haben.
Es giebt jedoch Möglichkeitsurtheile, welche fich diefer rein
erapiriftifchen Auffaffung nicht fügen; z. B. die Erde kann einmal
in die Sonne ftürzen. Hier zeigt uns eine auf allgemeine Principien
gegründete Rechnung die Möglichkeit der Annahme, während die
Erfahrung uns gänzlich im Stich läfst. Die zu Grunde liegende
Thatfache ift hier die, dafs man für einen abftract gefafsten, der
Erde ähnlichen Körper unter gewiffen Vorausfetzungen den Sturz
in die Sonne, d. h. ebenfalls in einen der Sonne ähnlich godachten
Körper, als nothwendig berechnet hat. Für die wirkliche Erde
und die wirkliche Sonne kommen noch zahllofe Umftande in Be-
tracht, welche unmöglich in die Rechnung aufgenommen werden
können; z. B. die Eventualität eines gemeinfamen Unterganges
durch einen dritten Körper, bevor der Zufammenfturz eintritt, die-
jenige einer Zertrümmerung der Erde durch Explofion, u. f. w. —
Man kann nun aus diefem Nothwendigkeitsurtheil, welches fich auf
den abftracten Körper bezieht, den Satz ableiten, d.afs ein Theil
der Körper, welche diefen Bedingungen entfprechen, aufserdem
aber auch noch beliebigen unbekannten Bedingungen unterliegen,
in die Sonne ftürzen wird, weil a priori und nach Analogie aller
Erfahrung anzunehmen ift, dafs die unbekannten oder in der Rech-
nung fehlenden Umftande dem Ergebniffe ebenfo leicht günftig als
ungünftig fein können. Alsdann ift auch diefer Fall der Möglich-
keit auf die Subfumtion unter ein particulares Urtheil zurückgeführt.
Aufser der Möglichkeit des Umfangs und derjenigen des In-
halts, welche beide auf gewiffen pofitiven Erkenntniffen beruhen,
kommt nun auch noch als dritte Art die rein formale Möglich-
der Urtheile. 51
keit in Betracht, welche nichts ift, als die Negation der Nothwen-
digkeit des Gegentheils. Man kann hier den Ausdruck der fub-
jectiven Ungewifsheit unterfcheiden von einem Urtheil über die
objective Sachlage. Im erfteren Falle, in welchem Ueberweg allein
das wahrhaft Problematifche erkennen würde, haben wir im Grunde
nichts vor uns, als den Ausdruck einer pfychologifchen Thatfache,
alfo bei der Zurückfuhrung auf die ftrenge logifche Form eine
aiTertorifche Behauptung. Die feine und ausdrucksvolle Weife, in
welcher die Sprache diefe Ungewifsheit blofs andeutet, ftatt fie
zum Gegenftande einer directen Ausfage zu machen, geht die for-
male Logik nichts an; wie es denn einer der gröfsten Fehler in
der bei uns üblichen Behandlungsweife der Logik ift, dafs die
Analyfe der Sprachformen beftändig mit der formalen Logik ver-
mengt wird. Keines der beiden Gebiete^ wifTenfchaftlicher Forfchung
kommt dabei zu feinem Rechte, während man nach ftrenger Aus-
fcheidung alles formal Logifchen auch die logifche Analyfe der
Sprache mit ungleich gröfserem Erfolg in die Hand nehmen könnte,
als dies bei dem herrfchenden Vermengungsfyftem üblich ift.
Wenn die rein formale Möglichkeit als Urtheil über die objec-
tive Sachlage auftritt, fo kann fie gleichwohl nichts über die Dinge
als folche fagen, fondem nur über die Dinge, fo weit fie uns zur
Kenntnifs kommen. Es kann weiter nichts behauptet werden, als
dafs in der Sachlage, fo weit fie uns vorliegt, kein genügendes
Material zu einer Beweisführung vorliegt Auch das ift eine affer-
torifche Behauptung, und auch hier liegt der Grund des Möglich-
keitsbegriffes in uns felbft ; nicht in den Dingen. Die ariftotelifche
Weltanfchauung vermag freilich auch diefe Ungewifsheit als einen
Mangel der Selbftverwirklichung des Begriffs in die Dinge zu ver-
legen ; die moderne Weltanfchauung wird von dem Grundfatze aus-
gehen, dafs in den Dingen felbft völlige Entfchiedenheit herrfcht,
während der Zweifel einzig in der UnvoUftändigkeit unfrer Einficht
in den Caufalzufammenhang begründet liegt
Schliefslich hätten wir noch in Erwägung zu ziehen, was unter
der viel erwähnten Möglichkeit oder Nothwendigkeit des Wirk-
lichen zu verftehen ift. Dem Wirklichen gegenüber können wir
eine gröfsere Gewifsheit nicht erwarten und eine geringere nicht
gebrauchen. Wir verlangen jedoch das Wirkliche, das uns in der
unmittelbaren Wahrnehmung zunächft vereinzelt erfcheint, in einen
Zufammenhang zu bringen, um es zu »verftehen«, d. h. es auf
4*
52 l^ie Modalität
feine Bedingungen zurückfuhren zu können. Dies gefchieht am
vollkommenften durch den Nachweis einer Notwendigkeit des
Inhaltes. Wir fehen an einem Gegenftande eine Eigenfchaft her-
vortreten; diefen Vorgang verliehen wir, wenn wir ihn als Special-
fall eines Allgemeinen kennen lernen; wenn wir den Gegenftand
unter einen Begriff fubfumiren können, welchem die betreffende
Eigenfchaft feinem Wefen nach zukommt. — Die Nothwendigkeit
des Umfangs reicht hier nicht aus, wiewohb der menfchliche Geifl
von Natur fehr dazu geneigt ifl, fich bei . einem Ereigniffe zu be-
ruhigen, fobald es feflfleht, dafs es zu einer ganzen Claffe von
Erfcheinungen gehört, die alle denfelben Charakter tragen. — Ganz
diefelbe' Tendenz hat nun aber die Frage nach der Möglichkeit
des Wirklichen. Wenn z. B. Kant fragt: wie find fynthetifche
Urtheile a priori möglich? fo zeigt uns die Antwort nicht nur wie
fie möglich, fondem wie fie nothwendig find. Man fucht den
Grund der Sache und drückt fich fo aus, als fuche man eine Kraft,
welche fie hervorbringen kann, flatt eines Gefetzes, welches fie
hervorbringen mufs. Auch in dem Falle, auf welchen Trendelen-
burg (II, S. 192) befonderes Gewicht legt, in der Conftruction einer
mathematifchen Figur, wird uns mehr als blofse Möglichkeit ge-
geben. Hier ifl die Frage eigentlich: wie entfleht ein Ding, wel-
ches der Definition entfpricht? Es wird alfo zunächfl nach der
Möglichkeit deffen gefragt, was durch einen blofsen Begriff gedacht
wird. Die Einführung der entfprechenden Anfchauung ifl die Ant-
wort auf diefe Frage. Die Formel: wie kann die Ellipfe wirklich
fein, geht aber infofem weiter, als fie auch die Kraft fucht,
welche diefe Wirklichkeit hervorbringt Die Frage nach der Kraft
ifl aber auch hier ein blofser Anthropomorphismus für die Frage
nach dem Gefetz. Man nehme die ganze Lehre von den Kegel-
fchnitten im Zufammenhange vor, und man fieht, dafs es EUipfen
geben mufs und unter welchen Bedingungen fie mit Nothwendig-
keit zu Stande kommen.
Es giebt aber Fälle, in welchen in der That mit der Mög-
lichkeit nur die Möglichkeit gemeint ifl, wie in den Naturerklärun-
gen Epikurs, welche zunächfl nur den Zweck haben, zu zeigen,
dafs die Sache ganz natürlich zu Stande kommen kann; ebenfo,
und aus ähnlichen Urfachen, in den Wundererklärungen der Ratio-
naliflen des vorigen Jahrhunderts. Hier hahdelt es fich um die
Aufflellung eines Mittelbegriffes, welcher die Erfcheinung in den
der Urtheile. 53
Bereich des Natürlichen rückt. Das Urtheil aber, welches diefem
Mittelbegriff die verfuchte Erklärung als Prädicat beilegt, bleibt
ein particulares. So z. B. wenn ich für die Erklärung der Sonnen-
finftemifs den Erfahrungsbegriff der Verdunkelung eines leuchtenden
Körpers aufftelle und dann fchliefse : Einige Verdunkelungen leuch-
tender Körper entliehen durch das Dazwifchentreten eines dunkeln
Körpers. Die Sonnenfinftemifs ift eine folche Verdunkelung; alfo
kann fie auf die angegebene Weife entftehen. Auch von hier aus
kann man übrigens zur Nothwendigkeit vordringen, wenn man die
Summe aller Möglichkeiten in einem disjunctiven Urtheil feftzu-
flellen fucht Gefchieht dies rein empirifch, fo erhält man eine
Nothwendigkeit des Umfangs; gefchieht es nach einem rationellen
Eintheilungsprincip aus einem übergeordneten Begriff, fo entfteht
Nothwendigkeit des Inhalts.
Bekanntlich geftattet die Elafticität der Sprache, dafs das Un-
gewiffe als thatfächlich, oder auch als nothwendig ausgedrückt
wird. Mit diefen Variationen des Ausdrucks, die oft zu einem
förmlichen Mifsbrauch der Sprache werden, hat die formale Logik
nichts zu fchaffen. Das affertorifche Urtheil insbefondere kann
nicht aufgefafst werden als Ausdruck einer beliebigen, grundlofen
Behauptung, da die Logik rtiit folchen Behauptungen nichts zu
fchaffen hat. Es ift der natürliche Ausdruck des Wirklichen, der
Thatfache, und es hat daher feine vorzüglichfte und eigentliche
Bedeutung als Ausdruck der unmittelbaren Wahrnehmung; dem-
nächft als Ausdruck der als ficher angenommenen Ueberlieferung
oder der inductiven Zufammenfaffung mehrerer Erfahrungen in
einem allgemeinen Satze. Beide letztere Anwendungen find fchon
nicht mehr vollkommen ftreng, allein nicht nur eine milde Praxis,
fondem die Grundbedingungen unfres Denkens felbft bringen es
mit fich, dafs hier eine Grenze geftattet wird, jenfeits welcher
das fehr Wahrfcheinliche als ficher gefetzt wird. Auf alle Fälle
ift der affertorifche Ausdruck der Ausdruck der gröfsten Gewifs-
heit, welche wir haben; denn auf der unbedingten Gültigkeit der
einzelnen finnlichen Wahrnehmung — fofem nur die Wahrnehmung
nicht mit ihrer Deutung verwechfelt wird — beruht ja fchliefslich
der ganze Bau der Erkenntnifs. Wenn aber dies feftfteht, fo kann
man auch nicht länger die fcholaftifche Lehre von der höheren
Gewifsheit des apodiktifchen Urtheils aufrecht erhalten, die fich
ohnehin bei den Schlüffen aus Modalitätsurtheilen für eine nur
54
Die Modalität der Urtheilc.
einigermafsen aufmerkfame Prüfung als durchaus unhaltbar ergiebt.
Die ganze, weitreichende Anwendung, welche auf diefem Gebiete
von der Regel gemacht wurde : conclufio fequitur partem debiliorem
ift daher hinfällig. Wir werden diefen Punkt, fowie auch das Ver-
hältnifs der Möglichkeit zur Wahrfcheinlichkeit in fpäteren Ab-
fchnitten noch eingehend behandeln.
III.
Das partioalare ürtheil und die Lehre von der ümkehnmg
der ürtheile.
Die Aufftellung des particularen Urtheils neben dem allgemei-
nen ift für die ariftotelifch-fcholaftifche Logik im guten, wie im
fchlimmen Sinne entfcheidend gewefen. Viele Mängel und Un-
klarheiten entfpringen aus diefer Quelle ; dagegen ift auch mit der
Auffaflung des Urtheils, welche diefer Annahme zu Grunde liegt,
ein grofser Vortheil für das wiffenfchaftliche Denken verbunden;
ein Vortheil, den man freilich vom ariftotelifchen Standpunkte aus
kaum recht würdigen kann : der enge Anfchlufs der logifchen For-
men an den inductiven Gang der Gedanken.
Es befl:eht offenbar keine zwingende Nothwendigkeit, ein par-
ticulares Urtheil überhaupt aufzuftellen. Sobald man' fich eht-
fchliefst, in dem Urtheil: »einige Menfchen find von fchwarzer
Hautfarbe« als Subjectsbegriff nicht »Menfchen«, fondem »einige
Menfchen« anzufehen, bezieht fich das Prädicat auf den ganzen
Umfang des Subjectsbegriffes, und nichts hindert uns nunmehr,
dies Urtheil ganz wie ein allgemeines zu behandeln. Man hat da-
bei nur auf den genauen Sinn des Wörtchens »Einige« zu achten.
Bedenken wir, was am SchlufTe des vorhergehenden Kapitels über
das Wefen des afTertorifchen Urtheils gefagt wurde, und fragen
wir uns, wie wir überhaupt zu Urtheilen kommen können, fo er-
giebt fich, dafs das Wörtchen »Einige« ftets auf eine beftimmte
Summe beobachteter Einzelfälle, oder auch auf einen beftimm-
te n, durch ein befondres Merkmal gekennzeichneten Bruchtheil
des früheren Subjectsbegriffes gehen foUte. Statt deffen ver-
56 ^^ particulare Urtheil
fleht man darunter in der Regel einen unbeftimmten Theil,
der zum minderten einen einzigen Gegenftand des Hauptbegriffes*),
zum höchften aber »vielleicht« den ganzen Umfang deffelben
umfafst
In der überlieferten Schullogik hat diefe Zweideutigkeit des
Particularen die heillofefte Verwirrung angerichtet; namentlich feit
man die ariftotelifch-fcholaftifche Logik des Inhaltes theilweife,
aber ohne Cönfequenz, in eine Logik des Umfangs verwandelt hat.
So ift z. B. die Lehre von der Oppofition der Urtheile nur dann
richtig, wenn die Befchränkung als eine unbeftimmte gefafst wird.
Der contradictorifche Gegenfatz des Urtheils von der Form A kann
nur dann in der Form gefunden werden, wenn man letztere fo
unbeftimmt fafst (»mindeftens einige«), dafs fie die Möglichkeit
von E in fich fchliefst. Umgekeh|-t verhält es fich in der Lehre
von der Subalternation der Urtheile. Es wäre eine rein unfm-
nige Behauptung, aus dem Urtheil S a P folge die Richtigkeit von
S t Pj wenn bei letzterem Urtheil nicht an einen beftimmt^n,
wiewohl nicht näher bezeichneten Bruchtheil von 5 gedacht würde.
Aus der voUftändigen Erkenntnifs, dafs alle Körper der Gravitation
unterworfen find, kann ich nimmermehr die unvollftändige Erkennt-
nifs ableiten, dafs mindeftens ein Theil der Körper Gewicht hat.
Aus der Gewifsheit kann nimmermehr die Ungewifsheit folgen.
Wohl aber kann ich behaupten, dafs jedem beliebigen, aber an
fich beftimmten Theile der Körper daffelbe Prädicat zukommen
muffe, welches dem Ganzen zukommt; z. B., wenn alle Körper
*) Ein einziger Fall kann in Wirklichkeit nicht nur ausreichen, ein particulares
Urtheil zu bilden, fondem auch durch . dalTelbe hindurch fofort den Schritt der In-
duction zum Allgemeinen zu thun. Auf manchen Gebieten der Naturforfchung ifl
das Vertrauen in die Gleichförmigkeit aller zu einer überfichtlichen Gruppe gehörigen
Erfcheinungen fo grofs, dafs man fich diefes Inductivfchrittes kaum noch bewufst
wird. So wird z. B., was man an einem einzigen Exemplar einer Thier- oder
Pflanzenfpecies gefunden hat, unter Umfländen fofort als Eigenfchaft der Species aus-
gefprochen. — Mit Unrecht hat man aber daraus entnommen, dafs das fogenannte
fmguläre Urtheil bald die logifche Natur des allgemeinen, bald die des particularen
Urtheils habe. Als finguläres Urtheil, z. 6. »die Marsbahn ifl eine Ellipfe«, hat es
ftets die Eigenfc^aften des allgemeinen. Es mufs erft durch ausdrückliche Beziehung
auf den Oberbegriif den inductiven Charakter annehmen, um particular zu werden
und darf dann fchon wegen der eingefloffenen Unbeflimmtheit nicht mehr als fingulä-
res Urtheil bezeichnet werden. Ein particulares Urtheil diefer Art wäre : »Mindeftens
eine Planetenbahn, nämlich die des Mars, ifl eine Ellipfe«.
und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 57
fchwer find, fo mufs es nothwendig auch wahr fein, dafs alle Gafe
fchwer find.*)
Lotze hat mit vollem Recht darauf aufmerkfam gemacht
(Logik, S. 95), dafs das "»dictum de omni et nullo*L nur richtig ift,
fo weit man fich ftreng an die alte fcholaftifche Formel hält:
"»Quidquid de omnibus valet^ valet etiam de quibusdam et de
singultsu , und ^quidquid de nullo valet y nee de quibusdam valet,
nee de singulisa. Was von »Allen« gilt, das gilt natürlich von
jedem Einzelnen und alfo auch von jeder beliebigen Summe die-
fer Einzelnen, infofern man darunter wieder nur die Einzelnen ver-
fleht. Sagt man dagegen, aus dem Urtheil »alle Menfchen find
fterblich« folge das Urtheil »mindeftens einige Menfchen find
fterblich«, fo leitet man aus der Gewifsheit die Ungewifsheit ab,
was offenbar widerfinnig ift.
Man könnte hier noch einwenden, die Logik behaupte gar
nicht, dafs das eine Urtheil aus dem andern erkenntnifs-theoretifch
oder pfychologifch folge, fondern fie behaupte nur, wenn das eine
(materiell und an fich) richtig fei, fo muffe auch das andre richtig
fein. Wenn ich z. B. erkannt habe, dafs alle metaphyfifchen
Syfteme falfch find, fo kann ich hieraus nach dem dictum de omni
et nullo wohl fchliefsen, dafs alfo auch die nachkantifchen Syfteme
falfch find. Ich kann nicht fchliefsen, dafs »mindeftens einige«
falfch find, weil ich die Gewifsheit in Beziehung auf alle habe.
Wenn aber ein Andrer zu der Erkenntnifs gelangt ift, dafs min-
deftens einige metaphyfifche Syfteme falfch find, fo mufs ich die-
fen Satz als richtig anerkennen, da er ja die Möglichkeit deffen,
was ich felbft erkannt habe, als Specialfall in fich fchliefst Mit
diefer Auskunft hat fich auch vermuthlich die Schullogik, fo weit
man fich nicht ftreng an die Formel des dictum de omni et nullo
hielt, geholfen, da die Unmöglichkeit vom Gewiffen auf das Un-
gewiffe zu fchliefsen, fonft gar zu evident wäre. Allein grade
diefe Betrachtungsweife fuhrt uns darauf zurück, dafs das particu-
lare Urtheil in feiner Unbeftimmtheit überhaupt nicht der Ausdruck
eines objectiven Sachverhaltes fein kann; dafs es ftets fb"eng ge-
nommen eine Vermuthung in fich fchliefst und überhaupt in feiner
*) Letzteres ift aach der Sinn des ariftotelifch-fcholaftifchen tk, quidam,
aliquis, welches bis in die neuere Zeit hinein in der Regel mit dem Subjectsbegriff
im Singular verbunden wird; z. B. »aliquod animal eft homo« in dem Sinne:
irgend etwas, das Thier ift, ift Menfch.
58 Das particulare Urtheil
taftenden Unentfchiedenheit zunächft nur fubjective Geltung haben
kann.*) Dafs grade hierin, fobald man die inductive Bedeutung
des particularen Urtheils in Betracht zieht, ein befonderer Vorzug
deffelben zu fuchen ift, geht die formale Logik zunächft gar nichts
an. Es kann alfo auch von einer materiell und an fich beftehenden
Richtigkeit des unbeftimmten particularen Urtheils gar keine Rede
fein; höchftens kann man behaupten, dafs derjenige, welcher es
aufftellt, fubjectiv Recht habe, d. h., dafs er fich auf dem rich-
tigen Wege der Erkenntnifs befindet, da ja das unbeftimmte Ur-
theil von der Erkenntnifs einzelner Fälle zur Erkenntnifs des All-
gemeinen vorzudringen fucht.
Wie das particulare Urtheil in der Lehre von der Umkehrung
der Urtheile und in der Syllogiftik zu verftehen ift, werden wir
weiter unten noch fehen. Zunächft kommen wir auf die Behaup-
tung zurück, dafs es gar keiner Lehren und Regeln über das par-
ticulare Urtheil bedürfte, fobald man fich entfchliefsen würde, als
Subjectsbegriflf nicht das 5 der Logiker, fondern das »Einige Sn
anzufehen, vorausgefetzt, dafs der Begriff des »Einigea in jedem
Falle genau feftgeftellt wird. Man kann den Unterfchied, welcher
oben berührt wurde, vergleichen mit dem Unterfchied in der Be-
deutung des X der Mathematiker, je nachdem es entweder eine
beftimmte oder unbeftimmte, oder aber eine variable Gröfse be-
zeichnet Man kann nun offenbar ftatt x S ein beliebiges andres
Zeichen, z. B. 2 in die Fotmel einfetzen, und mit diefer alle
Operationen vornehmen, welche das allgemeine Urtheil zuläfst, um
dann am Schluffe ftatt 2 wieder x S einzufetzen. Wird dabei x S
ftets genau in demfelben Sinne genommen, fo kann nichts Unrich-
tiges herauskommen. Bei einem Verfuch an Beifpielen hat man
freilich beftändig auf die Mehrdeutigkeit des fprachlichen Ausdrucks
zu achten. So umfafst ja z. B. fchon unfer allgemein bejahendes
Urtheil, S a P, zwei Fälle. Denjenigen, in welchem die Sphäre
von Sm. P enthalten ift, und denjenigen, in welchem beide Sphä-
ren zufammenfallen ; alfo das eigentlich kategorifche und das iden-
tifche Urtheil. Anfcheinend widerfinnige Ergebniffe werden fich
*) Das einzige Objective darin ift die Negative, womit wieder die ariftotelifch-
fcholaftifche Fällung gut übereinftimmt, während das moderne »Mindeftens einige«
dem Charakter einer poütiven Behauptung über einen noch nicht voUftändig aufjge-
fchloffenen Thatbeftand an fich trägt.
und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 59
ftets fo löfen, dafs der Widerfinn nicht auf das rein logifche Er-
gebnifs fallt, fondem auf den fprachlichen Ausdruck.
' Nimmt man das B^ifpiel: »einige Menfchen find Neger«; be-
trachtet man »einige Menfchen« im Sinne von »ein beftimmter
Theil der Menfchen« als SubjectsbegrifT, fo würde fich nach der
Regel der Umkehrung. des allgemein bejahenden Urtheils der wider-
fmnig fcheinende Satz ergeben : einige Neger find einige Menfchen.
Dies Urtheil wäre nicht zu tadeln, wenn Neger auch fchwarze
Thiere oder fchwarze Gegenftände überhaupt bezeichnen könnte;
aber Neger find fchwarze Menfchen und das gegebene Urtheil ift
daher ein identifches. Sagt man: ein beftimmter Theil der Men-
fchen find die fchwarzen Menfchen, fo kann man umkehren in:
»die fchwarzen Menfchen find ein beftimmter Theil der Menfchen«
und man hat einen zwar nichtsfagenden, aber durchaus rich-
tigen Satz.
Wir wollen hier gleich bemerken, dafs man durchaus diefelbe
Zweideutigkeit auch in der Umkehrung des gewöhnlichen allgemein
bejahenden Urtheils antrifft Wenn man z. B. den Satz hat: Die
Kreife find EUipfen, deren zwei Brennpunkte in einen zufammen-
fallen, fo müfste man nach der Schulregel umkehren: »einige
EUipfen, deren zwei Brennpunkte in einen zufammenfallen, find
Kreife« ; ein offenbar unrichtiger Satz. Die Schullogik behauptet
ihn gleichwohl als richtig mit den gleichen Auskunftsmitteln, welche
wir oben kennen gelernt haben. »Einige« heifst »Mindeftens einige«,
und das particulare Urtheil mufs doch richtig fein nach dem dictum
de omni et nullo^ wenn das allgemeine richtig ift. Was von diefen
Auskunftsmitteln zu halten ift, haben wir fchon oben gefehen.*)
Nimmt man das kategorifche Beifpiel: einige Giftftoffe find
organifche Körper, fo kann man nach gewöhnlicher Regel um-
kehren in : einige organifche Körper find GiftftoffCv Die Umkehrung
kann aber auch lauten: einige organifche Körper find einige Gift-
ftoffe, d. h. find ein beftimmter Theil der Giftftoffe. Man erhält
*] Natürlich läfst fich in einer auf geometrifche Anfchauung geftützten Logik
des Umfangs das identifche Urtheil ebenfo gut als ein blofser Specialfall des kate-
gorifchen falTen, wie in der Logik des Inhaltes, die fich, wie wir fpäter zeigen wer-
den, aqch auf eine arithmetifche Anfchauung flützen kann. Die variabel gedachte
Theilfphäre findet dann ihren Grenzfall in der Gleichheit mit der übergeordneten
Sphäre. Die Unzweckmäfsigkeit diefes Verfahrens tritt jedoch bei der modernen
Logik weit mehr hervor als bei der ariftotelifchen.
60 ^^ particulare Urtheil
jetzt ein identifches Urtheil aus dem kategorifchen. Diefe Art des ^
Verfahreps ift offenbar vom Standpunkte der rein formalen Logik
fchärfer und unzweideutiger als die gewöhnliche, aber man wird
auf den erften Blick fagen, fie ift auch unfruchtbarer. Grade
jene Unbeftimmtheit des gewöhnlichen Verfahrens ift fein Vorzug.
Es ift die inductiveBedeutung des particularen Urtheils, welche
bei der Behandlung deffelben nach Art des Allgemeinen ver-
loren geht.
Für Ariftoteles war gewifs nicht diefe inductive Bedeutung
des particularen Urtheils der Grund, warum er daffelbe einführte.
Und doch berühren die entgegengefetzten Extreme in der Er-
kenntnifstheorie fleh hier auf feltfame Weife. Aus der platonifchen
Ideenlehre ftammte die Anficht des Ariftoteles, dafs die Welt ein
Syftem fich verwirklichender Begriffe fei.*) Diefe Begriffe mufsten
eine fefte, gefchloffene Form haben. Das Unbeftimmte als folches
konnte nicht Begriff, noch Merkmal eines Begriffes fein. Es war
daher auch der Metaphyfik des Ariftoteles fchnurftracks entgegen,
ein folches Gebilde wie »einige Menfchen« .als einen felbftändigen
Begriff gelten zu laffen. Diefe metaphyfifche Unmöglichkeit griff
in die logifche Technik ein und indem »Menfch« als der allein
berechtigte Begriff feftgehalten wurde, ergab fich mit Nothwendig-
keit die Lehre vom particularen Urtheil mit allen ihren Vorzügen
und Schwächen.
Vergleichen wir nun mit diefem Standpunkte das Verfahren
des modernen Empirikers! Diefer hat durchaus keinen Refpect
vor den überlieferten Begriffen. Er rüttelt an allen, verfchiebt fie,
erweitert fie; doch ruht fein Denken ftets in neuen Begriffen aus,
welche zu dem Ergebniffe feiner Experimente und Beobachtungen
beffer paffen, als die überlieferten. Freilich werden auch die neuen,
felbftgefchaffenen Begriffe niemals als abfolut feft betrachtet. Es
bleibt Alles im Fluffe, wie bei Ariftoteles Alles ftehn bleibt. Gleich-
wohl ftreben alle Einzelwahrnehmungen beftändig zur allgemeinen
Form des Begriffes. An die Stelle der feften Cläffe von Dingen
treten zuletzt die feften Ge fetze des Werdens und Vergehens;
diefe Gefetze, die in unferm Geifte begründet find, werden zu-
gleich als wahre und wirkliche Grundlagen der Natur der Dinge
betrachtet. Sie treten für die naturwiffenfchaftliche Weltanfchauung
*) Vgl. Sigwart, Logik, I, S. 178.
und die jLehre von der Umkehrung der Urtheile. Q\
an die Stelle der platonifchen Ideen, und fie gleichen diefen in fall
ebenfo vielen Zügen, als fie fich von ihnen unterfcheiden. Wären
diefe Gefetze nicht in der Natur der Dinge verwirklicht, fo gäbe
es auch keine Naturerkenntnifs. Gäbe es keine zufammengehörige,
unter gemeinfamem Gefetz flehende Gruppen von Dingen und
Vorgängen, fo wäre die Induction ein nichtiges Spiel mit unbe-
gründeten Sätzen.
Selbft die extremllen Empiriften, welche den Zweck der
Forfchung überhaupt nicht in den allgemeinen Sätzen, fondem im
Uebergang von einer einzelnen Erkenntnifs zur andern erblicken,
können nicht leugnen, dafs wenigflens pfychologifch der Gedanke
des Allgemeinen die Brücke für diefen Fortfehritt bildet; und
wenn Stuart Mill als gemeinfamen Oberfatz für jeden Inductions-
fchlufs das Axiom von der Gleichförmigkeit der Natur aufflellt, fo
ift dies Axiom nichts Andres als das alte platonifche Element in
unfrer Gedankenbildung. Die Natur ift nicht abfolut gleichförmig,
fondem je innerhalb beftimmter Grenzen für eine Gruppe von Er-
fcheinungen. Diefe Grenzen vertreten den Begriff, das Allgemeine,
die Einheit in der Vielheit der Erfcheinungen, und fo oft wir auch
im Fortgang der Erkenntnifs die Form diefer Einheit verändern
muffen, ihr Wefen bleibt, und fie bleibt der Leitftern aller Unter-
fuchungen. Der grofse Fehler der platonifchen und ariftotelifchen
Philofophie beftand nur darin, dafs man fich vom Zauber der
Sprache täufchen liefs, d. h., dafs man diejenigen Combinationen
der Erfcheinungen, welche fich dem kindlichen, noch von keiner
WifTenfchaft geleiteten Menfchengeifte als einheitliche Gruppen auf-
gedrängt hatten, als die wahren und für immer gegebenen be-
trachtete.
Das particulare Urtheil kann fich thatfächlich nur auf die Be-
obachtung einzelner, beftimmter Fälle ftützen. Wenn diefe genau
fo wiedergegeben werden, wie man fie gefunden hat, fo entfteht
ein zufammengefetztes Urtheil mit mehreren Subjecten, aber mit
allen Eigenfchaften des allgemeinen Urtheils. Im particularen Ur-
theil wird diefe Beflimmtheit der Erkenntnifs geopfert und die
Unbeflimmtheit, welche an die Stelle gefetzt wird, kann zunächft
als Ausdruck der Vermuthung gelten, dafs es noch in andern Fäl-
len ebenfo fein werde, wie in den gefundenen ; dahinter aber birgt
fich das Suchen nach dem Allgemeinen. Dies gefuchte Allgemeine
ift keineswegs immer der Subjectsbegriff felbft, fondem in den
62 ^^ particulare Urtheil
meiden Fällen eine fpecififche Differenz, ein durchfchlagendes
Merkmal, durch welches fich aus dem gegebenen Gattungsbegriff
eine wohlbegrenzte Species ausfcheideL Sehr häufig aber, und
bei den wichtigflen Entdeckungen^ wird auch im Verfolg des in-
ductiven Proceffes der gegebene Subjectsbegriff felbfl durch das
Refultat der Forfchung verdrängt oder einer totalen Umbildung
unterworfen. Die Auffindung des neuen Subjectsbegriffs ifl, wie
jede Begriffsbildung, ein Act der pfychifchen Synthefis, vorbereitet
durch den Verkehr des Geifles mit dem Gegenflande der For-
fchung, aber an fich willkürlich, wagend und neuen Zerfetzungen
und Umbildungen ausgefetzt
Wiewohl die nähere Betrachtung diefes inductiven Proceffes
keineswegs in die formale Logik gehört, fo ift es doch natürlich,
eine Urtheilsform, welche in diefem Procefs allein ihre Berech-
tigung hat, in die Technik hineinzuziehen, und fie hier ausfuhr-
licher zu behandeln, als es ohne jene Beziehung gefchehen würde.
Wir brauchen alfo auch das particulare Urtheil, ungeachtet feiner
zahlreichen Zweideutigkeiten, nicht zu verwerfea Wir muffen es
nur auf die flreng logifchen Formen zurückführen, die ihm zu
Grunde liegen, und dazu dienen uns wieder die entfprechenden
fchematifchen Raumbilder. Diefe zeigen fich auch hier als
die wahre Richtfchnur des rein Logifchen, als das durchfchlagendfte
Mittel, uns von' allen Zweideutigkeiten der Sprache zu befreien,
und als der zwingendfle Beweis für jede durch fie dargeflellte
Regel. Diefes Alles aber haftet den Raumbildern nicht zufällig
an, fondern mit Noth wendigkeit ; weil die Raumvorflellung die ein-
zige Grundlage aller a priori gültigen Sätze ift
Während das allgemein bejahende Urtheil zwei Formen um-
fafst, das identifche und das kategorifche, haben wir beim
particularen aufser diefen beiden, welche ja ebenfalls unter der
Vieldeutigkeit des Particularen begriffen fein können, noch zwei
andere Begriffsverhältniffe zu berückfichtigen, welche durch ein
Urtheil ausgedrückt werden können. Es fmd dies die Kreuzung
der Begriffsfphären und die Umkehrung des kategorifchen
Verhältniffes.
In dem unzweifelhaften B^flehen diefer verfchiednen Begriffs-
verhältniffe kann man übrigens auch vom Standpunkte der for-
malen Logik eine wenigflens theilweife Rechtfertigung des particu-
laren Urtheils finden. Sobald die Logik confequent vom eigent-
und die Lehre von der Umkehnmg der Urtheile. 63
liehen Kern ihrer ficheren Technik, d.h. eben von den Begriffs-
verhältniffen ausgeht, mufs fich nothwendig das Bedürfnifs
herausftellen, auch folche Begriffsverhältniffe, wie das der Kreuzung
der Sphären und der Umkehrung des kategorifchen Verhältniffes
in den Kreis der Unterfuchungen zu ziehen ; zunächft jedes einzeln ;
fodann aber auch die Fälle, in welchen es zweifelhaft ift, ob das
eine oder andre ftattfindet. Immerhin bleibt man dabei auf feile-
rem Boden, als wenn man von der fchwankenden Sprachform
ausgeht. Alles, was die Sprache überhaupt Logifches enthält und
enthalten kann, mufs fich auf Begriffsverhältniffe zurückführen
und aus diefen erklären laffen; der Reft bleibt rein pfychologisch
zu erklären.
Verfuchen wir nunmehr, unmittelbar von den einfachen Be-
griffsverhältniffen ausgehend, die Lehre von der Umkehrung der
Urtheile zu entwickeln, um fodann die Refultate mit denjenigen
der überlieferten Logik zu vergleichen, fo muffen wir uns wohl
gegenwärtig halten, dafs die einfachen und eindeutigen Ver-
hältniffe, welche die fcholaftifche Logik gänzlich überfieht, nicht
nur ihrer elementaren Bedeutung wegen, als Beftandtheile der fpä-
ter folgenden Combinationen, Erörterung verdienen, fondern dafs
fie auch fehr häufig in Wirklichkeit vorkommen können. Das
fchlagendfte Beifpiel hiefür haben wir gleich zu Anfang bei den
identifchen Urtheilen. Wenn man freilich für das Begriffsverhält-
nifs der Identität keinen andern Ausdruck zu finden weifs, als den
des gewöhnlichen allgemein bejahenden Urtheils, und wenn man
nun feine Regel fchlechthin auf diefe Sprachform ftützt, ohne die
fachlich begründete Kenntnifs des BegriffsverhältnifTes mit herbei-
zuziehen, fo bleibt man in der Zweideutigkeit der Sprachform
Hecken und die Ümkehrung ergiebt eben jenes »mindeftens einige«,
welches fich rein auf die Sprachform ftützt und fo oft mit dem
Sachverhalt in fchärfften Gegenfatz tritt. Es kann aber auch das
Identitätsverhältnifs in der Sprachform irgendwie angedeutet fein,
z. B. durch einen Zufatz zur Copula oder durch den beftimmten
Artikel beim Prädicat. Alsdann ift über die reine Umkehrbarkeit
kein Zweifel mehr. Hieher gehört aber vor allen Dingen eine der
wichtigften Claffen von Urtheilen überhaupt: das mathematifche
Urtheil, in welchem fich das Bedürfnifs auch durch das Gleich-
heitszeichen ftatt der blofsen Copula feine befondre Sprache ge-
fchaffen hat.
ß4 ^^ particulare Urtheil
Für die Logik der Begriffsverhältniffe ift übrigens der fprach-
liche Ausdruck zunächft ganz gleichgültig und wir ftellen daher
ak erfte Regel über die Umkehrung der Urtheile auf:
Identifche Urtheile find fchlechthin umkehrbar.
Aus der Umkehrung des kategorifchen Urtheils ergiebt fich
nunmehr ein particulares, bei welchem alle Zweideutigkeit ausge-
fchloffen ift. Aus »alle 5 fmd Pv. wird: »ein Theil der Pfmd So,
in dem Sinne: ein beftimmter Theil und nur diefer Theil. Es
mufs aber auch, wenn. das gegebene Begriffsverhältnifs fcharf zum
Ausdruck kommen foU, aus dem Prädicat des umgekehrten Satzes
alle Unbeftimmtheit fch winden. Der Ausdruck: »ein Theil der P
ift 5a genügt daher noch nicht, weil hier 5 möglicher Weife dem
Theile von P als Kategorie gegenüberftehen könnte. Es mufs
gefagt werden: »ein Theil der P fmd die 5«, d. h. die fämmt-
lichen S. Dies Urtheil ift nun offenbar auch wieder ein katego-
rifches. Es fagt genau daifelbe, wie das urfprünglich gegebene
und es ift einfach der Prädicatsbegriff an die Stelle des Subjectes
gefetzt und umgekehrt Um fich jedoch zu überzeugen, dafe nicht
blofs eine fprachliche Inverfion ftattgefunden hat, fohdern dafs in
der That Subjects- und Prädicatsbegriff im logifchen Sinne ihre
Stelle getaufcht haben, darf man nur das Urtheil in ein zufammen-
gefetztes verwandeln: ein Theil der P fmd die S\ ein «mdrer die
S" u. f. w. Aus diefem könnte dann das divifive Urtheil hervor-
gehn : die P fmd theils S% theils 5" u. f. w. ; das logifche Ver-
hältnifs zwifchen Subject und Prädicat ift in allen diefen Fällen
wefentlich daffelbe. Wir können daher das Urtheil: »ein Theil
der 5 fmd die P«. bezeichnen als das umgekehrte 4tategori-
fche UrtheiL Hieraus ergiebt fich die zweite Regel:
Das kategorifche Urtheil kann nur wieder in ein kate-
gorifches umgekehrt werden, bei welchem der Subjects-
begriff die Kategorie und die Befchränkung auf einen
Theil derfelben ausdrückt, während das Prädicat die die-
fem Theile entfprechende Claffe von Gegenftänden an-
giebt
Bei dem Begriffsverhältniffe der Kreuzung der Sphären ift
die Zuläffigkeit der einfachen Umkehrung evident Wenn ein Theil
der S mit einem Theile der Pzufammenfällt, fo zeigt der Augen-
fchein, dafs auch von eben diefem Theile der P gefagt werden
kann, er falle mit einem Theile der 5 zufammen. Wir können
und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. g5
diefe Urtheile als reciproc - particulare bezeichnen und die ent-
fprechende Regel lautet:
Reciproc-particulare Urtheile find fchlechthin umkehrbar.
Die einzige Form des particularen Urtheils, welche noch übrig
bleibt? fällt offenbar zufammen mit derjenigen, welche wir oben
als das »umgekehrt kategorifche« Urtheil bezeichnet haben. Ebenfo
ifl klar, dafs fich aus diefem durch Umkehrung das urfprüngliche
kategorifche Urtheil wieder herftellen läfst, fobald eben über die
wahre Natur des Begriffsverhältniffes kein Zweifel übrig bleibt.
Es ergiebt fich alfo als letzte Regel für die Umkehrung der ein-
fachen und befHmmten Begriffsverhältniffe :
Aus dem umgekehrt kategorifchen Urtheil kann durch
Umkehrung das direct kategorifche hergeflellt werden.
Das BegrifTsverhältnifs der völligen Trennung, durch welches
die Negation ausgedrückt wird : kein 5 ifl P, flellt fich auf den
erften Blick als rein umkehrbar dar. Das allgemein verneinende
Urtheil ift durchaus einfach und durchfichtig, und umfafst keinen
Specialfall, wie das allgemein bejahende, der als ein befondres
BegrifTsverhältnifs auszufcheiden wäre. Es ergiebt fich hieraus die
Regfei :
Das allgemein verneinende Urtheil ifl fchlechthin um-
kehrbar.
Ein befondres BegrifTsverhältnifs für das partiell verneinende
Urtheil giebt es nicht Wo nur theil weife Verneinung ill, ifl auch
theilweife Bejahung, und diefelben Raumbilder, an welchen fich
die particulare Bejahung veranschaulichen läfst, dienen auch der
particularen Verneinung. Infofern aber das »Mindeftens einige«
des particularen Urtheils als Specialfall auch das kategorifche und
das identifche Urtheil mit in fich fchliefst, tritt hier an die Stelle
das allgemein verneinende. Als befondre Regel für die Umkehrung
der beiden hier in Betracht kommenden Fälle kann man aufflellen:
Das reciproc-particulare Urtheil, wenn verneinend
genommen, ifl umkehrbar.
Das umgekehrt kategorifche Urtheil, wenn verneinend
genommen, ift nicht umkehrbar.
Dafs das negativ particulare Urtheil der überlieferten Log^k
nicht umkehrbar ift, ergiebt fich aus der Combination diefer bei-
den Fälle.
Es liefsen fich vielleicht noch andre BegrifTsverhältnifTe auf-
Lange, Logische Stadien. 5
QQ Das particulare Urtheil
finden, wie z. B. dasjenige der Begrenzung oder Berührung, wel-
ches bei einer geordneten Begriffsreihe zwifchen zwei unmittelbar
benachbarten Begriffen ftattfinden würde oder auch bei dichoto-
mifcher Eintheilung eines Begriffes zwifchen den beiden untergeord-
neten. Die befondre Betrachtung derfelben ift aber unergiebig und
zumal für die Analyfe der gewöhnlichen elementaren Technik über-
flüffig. Was von diefer Art von Bedeutung ifl, wird bei der Be-
fprechung des disjunctiven Urtheils zu erörtern fein. Wir haben
alfo die ganze elementare logifche Technik abzuleiten aus folgenden
fünf*) einfachen Begriffsverhältniffen.
Identität
kategorifches Verhältnifs
umgekehrtes kategorifches Verhältnifs
Begriffskreuzung
VV CO Trennung.
Das allgemein bejahende Urtheil erhalten wir durch die
Combination der Fälle a und b, des identifchen und des katego-
rifchen Urtheils. Weifs man nichts weiter, als dafs entweder das
eine oder das andere diefer Begriffsverhältniffe flattfindet, fo kann
man ein Urtheil, welches diefe beiden Fälle umfafst: die 5 find
entweder identifch mit den P oder ein Theil derfelben, dahin
umkehren, dafs entweder alle Poder ein Theil derfelben identifch
find mit den 5. Bei diefer Art der Umkehrung ift die Erkennt-
nifs, welche in dem allgemein bejahenden Urtheile liegt, möglichfl
voUftändig erhalten worden. Man geräth dabei auf ein particulares
•) Tweften, der in feiner Logik (Schleswig 1825) den Begriffsverhältniffen
viele Aufmerkfamkeit fchenkt, unterfcheidet (S. 30) deren nur vier, indem er die
oben unter b und c aufgeführten Verhältniffe als dasjenige der Unterordnung zu-
fammenfafst. Es ifl aber offenbar ein grofser Unter fchied, ob das Subject dem Prä-
dicate untergeordnet iil, oder umgekehrt. Unterfcheidet man diefe Fälle nicht als
befondre Begriffsverhältniffe, fo wird fich eine Analyfe aller in der Logik vorkom-
menden Combinationen derfelben fchwerlich durchführen laffen.
• und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 67
Urtheil, welches auch fo ausgedrückt werden kann : Mindeftens ein
Theil der P find die 5*. Daffelbe ift jedoch von dem particularen
Urtheile der fcholaftifchen Logik fehr verfchieden. Diefe begnügt
(ich hier, ihrer ganzen Tendenz entsprechend, mit der Behauptur^,
dafs wenigftens irgend einem P nun auch das Prädicat 5" zukom-
men muffe; eine Behauptung, die fich zu der voUftändigen Wahr-
heit, wie wir fie aus den Begriffsverhältniffen abgeleitet haben,
grade fo verhält, wie ein durch Subalternation gewonnener Satz
zu feinem übergeordneten. Zunächft erhält man anfcheinend aus
den Begriffsverhältniffen fowohl das Tfe, aliquis der alten Logik,
als auch das »Mindeftens einige« der modernen, wenn man be-
denkt, dafs der beftimmte Theil der P, welcher 5 ift, zwar an
(ich beftimmt, aber nicht, gegeben ift. Man kann ihn alfo variabel
denken in allen Formen und Gröfsen innerhalb der Grenzen der
Begriffsfphäre. Sodann mufs man auf die Einficht verzichten, dafs
es alle 5 find (die ganze Species), von denen die Ausfage gilt,
dafs fie mit »mindeftens einigen Pn zufammenfallen. Das identifche
Urtheil mufs zum kategorifchen herabgeftimmt werden. Endlich
fchliefst der fprachliche Ausdruck auch noch die Möglichkeit eines
Verhältniffes der Begriffskreuzung in fich, welche in den gegebenen
Begriffsverhältniffen gar nicht enthalten ift.
Auf diefem Wege läfst fich die ^converfio per accidensu der
fcholaftifchen Logik aus der ftrengften Analyfe der Begriffsverhält-
niffe ableiten und mit dem Vorbehalt, den wir fchon bei der Sub-
altemation machen mufsten, auch rechtfertigen. *) Dafs fie übrigens
*) Lotze hat auf den Verlud an materieller Wahrheit aufmerkfam gemacht,
der aus diefer Art der Umkehrung entfleht. Wenn man das Urtheil : alle Möpfe
find Hunde umkehrt in : einige Hunde fmd Möpfe und nun diefes wieder umkehrt,
fo erhält man die Ausfage: einige Möpfe fmd Hunde (Logik 105); ein Urtheil,
"welches »formal richtig« nur in dem Sinne genannt werden kann, in welchem auch
die directe Ableitung eines particularen Urtheils von dem übergeordneten allgemeinen
richtig ift. Man mufs auf das dictum de omni et nuüo zurückgehn , um es richtig zu
finden und dann heifst der Satz nichts Andres als : ein jeder beliebige Theil der
Möpfe gehört zu den Hunden, weil fie eben alle Hunde fmd. — Trendelenburg,
der aus diefem und den damit zufammenhängenden Mängeln einen Angriff gegen die
formale Logik felbft herleitet, (Log. Unterf. 3. Aufl. S. 331 u. ff.) überfieht die ge-
fchloffene Confequenz der ariftotelifchen Logik und beachtet nicht, dafs mit einem
wirklichen Fehler in den logifchen Regeln fich ein fehr emftes Problem aufthun
würde, welches nicht mit einigen abfchätzigen Bemerkungen über den Formalismus
der logifchen Technik abzuthun ift. In der Zurückführung alles Apodiktifchen in
5*
33 ^^ particulare Urtheil *
nicht auf diefem Umwege gewonnen wurde, ift klar und folgt auch
fchon unmittelbar aus der Tendenz der ariftotelifchen Logik, welche
(ich ausfchliefslich um die Frage bewegt, inwiefern ein Begriff von
dfen Gegenftänden eines andern ausgefagt werden kann. Dabei
werden grundfätzlich nur die zwei Fälle unterfchieden , wenn der
Begriff fchlechthin von den Gegenfländen des andern gilt (das
allgemeine und nothwendige kategorifche Verhältnifs) und wenn er
denfelben wenigftens in irgend einem Falle zukommt (das zufällige
kategorifche Verhältnifs, bei welchem die Möglichkeit, das ipdixBtr&ai,
den metaphyfifchen Hintergrund bildet). Sobald man fich damit
begnügt, ergiebt fich die converfio per accidens fehr leicht aus der
unmittelbaren Betrachtung der Raumbilder. Man entnimmt den-
felben nur nicht alles, was aus ihnen zu lefen wäre, fondem be-
gnügt fich mit der unzweifelhaften Sicherheit der Minimal -Erkennt-
nifs, deren man bedarf.
Das particulare Urtheil umfafst die Möglichkeit fammtlicher
Begriffsverhältniffe mit einziger Ausnahme desjenigen der Trennung.
Es befagt alfo im Grunde nichts weiter, als die Negation der Ne-
gation und läfst es völlig unentfchieden, welches der pofitiven Be-
griffsverhältniffe obwalte. Daraus ergiebt fich die Regel der Um-
kehrung mit Leichtigkeit. Denn wenn S entweder identifch ift
mit P, oder ein Theil der P, oder umgekehrt P ein Theil der 5*
oder endlich S die Sphäre von P kreuzt, fo ergiebt fich, dafs nun-
mehr auch P entweder identifch ifl mit 5, oder 5 ein Theil der
P, oder P ein Theil der 5, oder endlich dafs P die Sphäre von
5 kreuzt Die Begriffsverhältniffe von der Form a und d find
. direct umkehrbar, b und c taufchen ihre Stelle und fo find wieder
die nämlichen vier Begriffsverhältniffe als möglich gegeben und
nur die Negation ift ausgefchloffen. Es ergiebt fich alfo, dafs das
particular bejahende Urtheil fchlechthin umkehrbar ift Daffelbe
Refultat folgt ohne Analyfe der einzelnen Fälle unmittelbar aus
der Anfchauung; denn wenn einige S P find, fo darf man fich
diefe nur vergegenwärtigen, um überzeugt zu fein, dafs mindeftens
diefe nämlichen P auch 5 find ; die Sphären mögen fich im Uebrigen
geftalten wie fie wollen. Damit aber ift den Anforderungen des
particularen Urtheils Genüge gefchehen.
der Logik auf die reinen Begriffsverhältniffe und des Zweideutigen auf die Sprach-
form ift das hier angedeutete Problem gelölt.
und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 69
Das allgemein verneinende Urtheil der fcholaftifchen Logik
ift das einzige, welches keine Combinationen umfafst Es beruht
auf einem einfachen Begriffsverhältniffe und die Umkehrbarkeit
deffelben ift fchon oben gezeigt worden.
Das befonders verneinende Urtheil fchliefst die beiden
erften Begriffsverhältniffe aus und läfst die Möglichkeit der drei
letzten zu. Von diefen find zwei umkehrbar, das dritte aber nicht.
Im umgekehrt kategorifchen Urtheil: die 5 umfaffen die P, alfo
find mindeftens einige 5 nicht /*, kann man aus der Umkehrung
des Verhältniffes keinen negativen Satz in Beziehung auf P ent-
nehmen. Wollte man aber das allgemein bejahende Urtheil: alle
P find 5 als richtige Confequenz der Umkehrung in Anfpruch
nehmen, fo käme man für das particular verneinende Urtheil doch
auf kein Refultat. Das Gefammtergebnifs würde lauten : entweder
alle P find 5, oder einige find nicht 5, oder keines ift S\ das
heifst, alle Möglichkeiten find offen und eine beftimmte Behauptung
über das Verhältnifs von P und 5" ift unmöglich. *) Diefes Offen-
flehen, fämmtlicher Möglichkeiten ift, beiläufig gefagt, auch in der
Syllogiftik die Form, unter welcher fich die Unzuläffigkeit eines
Schluffes aus der Combination zweier Prämiffen kund giebt.
Die Lehre von der Umkehrung der Urtheile ift in der arifto-
telifchen Logik ein wefentliches und unentbehrliches Stück, da ein
grofser Theil der Syllogiftik darauf ruht. Der Beweis für die Gül-
tigkeit der Modi zweiter und dritter Figur wird hergeftellt durch
Zurückfiihrung auf einen entfprechenden Modus der erften Figur
und bei diefer Zurückfiihrung fpielt die Umkehrung der Urtheile
eine fehr bedeutende Rolle. Die moderne Logik bedarf diefer
künftlichen Mittel nicht mehr, da fie fich auf die Sphärenvergleichung
*) So wenigilens verhält es fich für die überlieferte Logik, welche die Begriflfs-
verhältniffe a und b im allgemein bejahenden Urtheil zufammenfafst und c im
particularen Urtheil verfchwinden läfst. Für die Logik der BegrififsverhältnilTe fleht
es anders. Man überzeugt fich leicht und man kann es auch unmittelbar aus der
Betrachtung der Sphärenbilder entnehmen, dafs bei der Umkehrung des particular
verneinenden Urtheils zwar die Verhältnifle b, d und e möglich find, dagegen a und
c nicht. In der That kann ich aus dem Urtheil : Einige S find nicht P fchliefsen,
dafs alfo P weder identifch mit S fein kann, noch ein Gattungsbegriff, welcher 5
als Species umfafst. Diefe keineswegs ganz unbedeutenden Schlüffe läfst die ariflo-
telifch-fcholaflifche Logik fallen, indem fie fich an den grammatifchen Satz hält,
flatt an die BegriffsverhältnilTe. Die Möglichkeit von b, d und e genügt alfo hier,
um den Schein völliger Unbeftimmtheit hervorzubringen.
70 ^^s particulare Urtheil
ftützt, aus welcher fich der Beweis für die Schlüffe zweiter und
dritter Figur ganz ebenfo unmittelbar entnehmen läfst, als für die-
jenigen der erften Figur.
Die inductive Bedeutung kommt natürlich auch in erfter Linie
dem unmittelbar aus den Thatfachen erwachfenden particularen
Urtheile zu ; doch kann auch die Umkehrung deflelben im Verlaufe
wiffenfchaftlicher Entdeckungen ihre Rolle fpielen. So könnte man
z. B. fchliefsen: Einige fchutzlofe Thierfpecies erhalten fich durch
»Mimicry«. Einige, und vielleicht alle Species, bei denen wir
»Mimicry« finden, würden ohne diefe befonders fchutzlos fein. —
Das particulare Urtheil, welches aus der Umkehrung des allgemein
bejahenden hervorgeht, kann nur dann eine inductive Bedeutung
annehmen, wenn es fich darum handelt, die Identität von Subjects-
und Prädicatsbegriff nachzuweifen und alfo das kategorifche Urtheil
in ein identifches umzuwandeln.
Es wäre von grofsem Intereffe genau zu wiflen, wann und wie
das inductive und durchaus dem modernen Geifte entfprechende
»Einige« und »Mindeftens einige« ftatt des fcholaftifchen »Irgend
ein« in die neueren Darftellungen der Logik eingedrungen ift. Der
Gebrauch der modernen Sprachen ftatt des Lateinifchen dürfte
daran betheiligt fein, doch finden wir bei dem fonft fo modern
denkenden Verfaffer der ^Logique^ ou Hart de penfem in feiner
Ueberficht der Syllogiftik confequent als Ausdruck des Particularen
»/// av. angewendet, was noch im Wefentlichen der ariftotelifch-
fcholaftifchen Auffaflung entfpricht; z. B. : II y a des mechans dans
les plus grandes fortunes. Tous les mechans fönt miferables, II
y a donc des miferables dans les plus grandes fortunes, — Die
Engländer fcheinen ihr ^Somev,^ Einige, fchon fehr früh angewandt
zu haben. In Deutfchland finden wir bei Wolff in den »Vernünf-
tigen Gedanken von den Kräften des menfchlichen Verftandes« als
Ausdruck des Particularen »Etliche«. Des nämlichen Ausdrucks
bedient fich Lambert, wohl der bedeutendfte Logiker des vorigen
Jahrhunderts ; Kant erfetzte ihn durch das gleichbedeutende »Einige«,
welches auf diefe Autorität geftützt, feitdem das Feld behauptet
hat Lambert erkannte auch fchon klar, dafs der Ausdruck
»Etliche« nicht voUftändig genüge und zeigt (Organon I % 124),
dafs man »Etliche« im Sinne von »Wenigftens etliche« nehmen
muffe.
Der Gebrauch von »Einige« oder »Etliche« zur Bezeichnung
und die Lehre von der Umkehrimg der Urtheile. 71
des Particularen hängt zufammen mit der Auffaffung des AUge-
meinbegriflfs als eines coUectiven Ganzen, und diefe Auffaffung geht
wieder Hand in Hand mit der Neigung zur Demonftration der Be-
griffsverhältniffe an gefchloffenen, oder wenigftens eine beftimmte
Raumgröfse darftellenden Figuren. Zwar haben wir angenommen,
dafs räumliche Anfchauung unter allen Umftänden erforderlich ift,
um die Ueberzeugung von der Allgemeingültigkeit der logifchen
Formen zu bewirken und wir werden in einem fpäteren Abfchnitt
diefen durchaus fundamentalen Satz noch vollftändiger durchführen.
Es bleibt jedoch immerhin ein grofser UViterfchied, ob man fich
blofs die Art, wie ein übergeordneter Begriff fich über den unter-
geordheten erftreckt, in beliebigen Linien, Winkeln, oder auch ge-
fchloffenen Figuren veranfchaulicht, oder ob man die Figuren
gradezu als ; eine Darfteilung der Summe der unter dem Begriff
enthaltenen Gegenftände betrachtet. So bedient fich z. B. Lambert
in feinem Organon zwar blofser Linien zur Darfteilung des Umfangs
der Begriffe; allein gleichwohl fteht er ganz auf dem modernen
Standpunkte; da er die Linien ausdrücklich als eine Darftellung
der Summe der Gegenftände des Begriffs betrachtet. Er denkt
fich nur die nämlichen Gegenftände alle in eine gradlinige Reihe
geordnet, welche man bei gefchloffenen Figuren fich fo vorftellt,
als feien fie auf einer Ebene zufammengeftellt Wir werden weiter
unten zeigen, dafs bei confequenter Entwicklung der modernen
Logik, fobald die Gegenftände des Begriffs nicht nur als Summe
gedacht, fondern auch numerifch behandelt werden, weder die
graden Linien noch die jetzt allgemein üblichen Kreife die zweck-
mäfsigften Formen der Veranfchaulichung find, fondem dafs man
dafür der Rechtecke bedarf.
Die Auffaffung des Begriffes als eines coUectiven Ganzen ftimmt
vollftändig mit der inductiven und empirifchen Richtung der mo-
dernen Wiffenfchaften überein, wie fie fich anderfeits an den No-
minalismus des fpäteren Mittelalters anfchliefst; denn wenn der
Begriff nichts mehr ift als die Zufammenfaffung einer Claffe von
Gegenftänden, fo ift er auch nichts mehr als ein Wort Man kann
das logifche Wort, infofem es durch eine Definition beftimmte
Grenzen erhält, von den vieldeutigen Wörtern der unbearbeiteten
Sprache unterfcheiden, aber damit wird ihm noch nicht jener höhere
Rang verliehen, der nach platonifch-ariftotelifcher Ueberlieferung
dem Allgemeinen gegenüber dem Befonderen und Einzelnen zu-
72 ^^ particulare Urtheil
•
kommt. Hat das particulare Urtheil feine wahre und bleibende
Bedeutung in der Anlage unfres Geiftes zur inductiven Erkenntnifs ;
ift die Wahrnehmung der einzelnen Thatfache das Fundament
unfrer Urtheilsbildung ; dann mufs auch der Allgemeinbegriff collec-
tive Geltung haben, und damit ftürzt das ganze Syftem der Con-
ftruction der Wiffenfchaften aus blofsen Begriffen. Die einzigen
Wahrheiten, welche der Erfahrung zu ihrer Gültigkeit nicht be-
dürfen und welche uns alfo Sätze a priori geben, find diejenigen,
welche fich auf unmittelbare Anfchauung flützen. Diefe Anfchau-
ung ifl der Erfahrung wSfensverwandt, allein wir erblicken in ihr
weit deutlicher als in der Erfahrung das wahrhaft apriorifche Ele-
ment aller Erkenntnifs : die fynthetifche Natur unfres eignen Gfeiftes.
Anfcheinend redet im Apriori nur der Geifl ; in der Erfahrung nur
die Dinge. In der That handelt es fich hier nur um einen rela-
tiven Unterfchied, und die Erkenntniffe aus blofser Anfchauung
geben den Schlüffel zu dem Räthfel diefes Zufammenwirkens. Es
ifl daher fehr wohl möglich, den flrengflen Empirismus mit einer
ungleich tieferen Auffaffung der Erfcheinungen zu verbinden, als
fie den Empirikern der modernen, namentlich der englifchen Schule
eigen zu fem pflegt.
Intereffant ifl, mit welcher Schärfe Leibnitz den tief greifen-
den Unterfchied der fcholaflifchen und der modernen Auffaffung
des Begriffs in allen feinen Confequenzen erkannte. In feiner Ab-
handlung "^de flilo philojophico NizoliifL *) erwähnt er als einen
fchweren Irrthum des Nizolius, dafs das Allgemeine nichts fei als
die Summe alles Einzelnen; wenn man alfo fage: omnis homo efl
animalj fo bedeute das nichts weiter als: omnes homines Junt
animalia, Leibnitz giebt zu, dafs letzteres materiell richtig fei,
allein daraus folge noch nicht, dafs der Allgemeinbegriff ein totum
collectivum fei; vielmehr fei er ein totum diflributivum: fei es,
dafs du den Titius oder den Cajus u, f. w. nimmfl, fo wirft du
immer finden, dafs er ein animal, oder dafs er ein empfindendes
Wefen fei. Leibnitz fchliefst daran die Bemerkung, dafs diefer
Irrthum ein ungemein folgenfchwerer fei ; denn wenn die Allgemein-
begriffe nichts mehr feien, als Summirungen der einzelnen Gegen-
flände, fo gebe es keine demonflrirte Wiffenfchaft mehr.
*) Leibnitii opera philof. ed. Erdmann, p. 70. —
und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 73
fondern nur noch Induction. "»Sed ea ratione^y fugt er bei,
' ^prorftis evertuntur fcientiaey et Sceptici vicerea,
Leibnitz hat ganz recht; nur dafs das Unglück nicht fo grofs
ifl, als er es fleh denkt. Er hat noch nicht erkannt, dafs alle
wahrhaft demonftrirten Wiffenfchaften auf der Anfchauung, und
zwar auf der räumlichen Anfchauung beruhen, und dafs auf allen
übrigen Gebieten die Empiriker, denn das find feine Skeptiker, mit
Recht an die Stelle der demonftrirenden Metaphyfiker treten. Die
Erkenntnifstheorie der Empiriker mag eine ungenügende und ober-
flächliche fein ; ihre Methode aber ift die erfolgreiche und fie mufs
auch von einer tieferen Erkenntnifstheorie beftätigt werden.
IV.
Die Syllogistik.
Wenn es richtig ift, dafs die Anfchauung der Begriffsverhält-
niffe in Raumbildern die eigentliche Grundlage aller logifchen Tech-
nik bildet, fo mufs es auch möglich fein, die ganze Syllogiftik,
gleich allen andern logifchen Sätzen aus der blofsen Combination
der Begriffsverhältniffe abzuleiten. Man mufs alfo, indem man
jedes Begriffsverhältnifs, welches in einem Urtheile vorkommen
kann, mit jedem andern combinirt, fo dafs je ein Begriff, der
MittelbegrifF, in den beiden combinirten Urtheilen identifch ift, alle
überhaupt möglichen Verhältqiffe zwifchen den beiden andern ab-
lefen können. Wir bedienen uns, um dies nachzuweifen, der im
vorhergehenden Abfchnitte angenommenen Bezeichnung der Be-
griffsverhältniffe mit den Buchftaben a, b^ Cy d und e. -^ Es fei
beifpielsweife gegeben die Combination von e als Oberfatz (Ver-
hältnifs zwifchen (? und ;-) und von d als Unterfatz (Verhältnifs
zwifchen « und |5):
fo fleht man mit Leichtigkeit, dafs zwifchen « und x die Verhält-
niffe Cy d und e möglich find:
die Verhältniffe a und b dagegen nicht; d. h. wir werden auf ein
particular verneinendes Urtheil geführt. — Die griechifchen Buch-
Die Syllo^iaik. 75
ftaben zur Bezetehnung der einzelnen Begriffsfphären find hier in
umgekehrter Ordnung genommen, wie bei Ariftoteles; « bedeutet
alfo den terminus minor ^ y den terminus major. — In der nach*-
ftehenden Tabelle find nunmehr die fammtlichen Combinationen
je zweier Begriffsverhältniffe mit gemeinfamem Mittelbegriff durch-
geführt. Das Refultat in Beziehung auf die möglichen Verhält-
niffe von « und ;' ift nicht in Sphären ausgeführt, fondern einfach
durch die Buchftaben ^, ^, r, d^ e angedeutet.
Diefe Tabelle bietet uns gleich in den erften Schlüffen die
Veranfchaulichung höchft wichtiger Grundfätze, für welche die ge-
wöhnliche Logik keinen rechten Platz hat. Der erfte Schlufs zeigt
uns, dafs zwei Begriffe, welche einem dritten gleich find, auch
unter fich gleich fein muffen; die nächftfolgenden, fowohl in der
Horizontal- als auch in der Verticalreihe fuhren das Princip der
Subftitution von Gleichem für Gleiches durch alle möglichen Be-
griffsverhältniffe durch. Die entfprechenden mathematifchen Sätze,
welche fich auf Gröfsen befchränken, erfcheinen hier als Special-
fall der logifchen, welche fich auf Gegenftände überhaupt beziehen.
Auch die Schlüffe bb und cc fprechen in diefer reinen Form ein
allgemeines Princip aus. Wenn ein Begriff einem zweiten unter-
oder übergeordnet ift, und diefer wieder einem dritten, fo ift auch
der erfte dem dritten unter- oder übergeordnet — Bei^^, ddwwA
ee ergiebt fich aus der Combination der Prämiffen kein Schlufs,
weil alle Begriffsverhältniffe zwifchen « und ;' als möglich erfchei-
nen. In andern Fällen, z. B. bei eb und bei bd ergiebt fich noch
ein Schlufs, wo nach der fcholaflifchen Logik keiner mehr gefun-
den wurde.
Es verfteht fich von felbft, dafs auch alle möglichen Com-
binationen verfchiedner Begriffsverhältniffe gebildet werden können,
fo gut wie diejenigen, welche die fcholaftifche Logik in der Sprach-
form vorgebildet fand. Manche derfelben können ihre gute Be-
deutung haben. So kommt z. B. die Combination »entweder b
oder diL in der naturwiffenfchaftlichen Forfchung fehr häufig vor,
wo die Möglichkeiten a und ^, welche das gewöhnliche particulare
Urtheil mit ümfafst, von vorn herein ausgefchloffen find. Verbin-
det man einen folchen Satz mit einer zweiten Prämiffe, z. B. mit
einem Oberfatz von der Form by oder auch von der zufammen-
gefetzten Form »entweder a oder ^«, fo erhält fich die gröfsere
Beftimmtheit deffelben auch im Schlufsfatze. Wir wollen jedoch
76 I>ie Syllogiftik,
davon abfehen, diefe Schlufsformen hier weiter zu verfolgen und
vor allen Dingen zeigen, wie fich die Formen der überlieferten
Syllogiftik aus den einfachen Formen der Tabelle durch die bereits
bekannten (Kombinationen der PrämiiTen ergeben.
Barbara: Die Prämiffen haben beide die Form »entweder a
oder bfL. Daraus ergeben fich für den Schlufsfatz die vier Mög-
lichkeiten a^ by by b. Die ungleiche Häufigkeit von a und b ift
vom Standpunkte der höheren Logik betrachtet, durchaus nicht
gleichgültig. Wir wiffen zwar auch bei den Prämiffen nicht, was
fich hinter der Formel »entweder a oder ^« für ein Verhältnifs
relativer Häufigkeit bergen mag. Wohl aber fehen wir jetzt, dafs
wenn man daffelbe als gleich annimmt, dafs alsdann im Schlufsfatz
die relative Häufigkeit von a : b fich verhält wie 1:3; mit andern
Worten: ifl die Wahrfcheinlichkeit fiir den Fall der Identität in
den Prämiffen = ^/a, fo ifl fie im Schlufsfatze nur noch = ^\\, —
Die überlieferte Syllogiflik aber kümmert fich um diefe Frage
durchaus nicht In ihrem Sinne fagt: »entweder a:, oder ^, oder^,
oder b^ nicht mehr als einfach »entweder ^? oder *«. Sobald man
alfo abfieht von der relativen Häufigkeit der zwei Fälle, welche
im allgemein bejahenden Urtheil zufammengefafst fmd, erhält man
im Schlufsfatz auch die einfache Form des allgemein bejahenden
Urtheils, wie in den Prämiffen ; d. h. man hat den modus "^ Barbara^
vor fich.
Celarent: Hier ifl die Rechnung fehr einfach. Der Unter-
fatz von der Form »entweder a oder bv. ergiebt fowohl im einen
wie im andern Falle mit dem Oberfatz von der Form e einen
Schlufsfatz wiederum von der Form e, —
Darii: Hier fmd die Formen des Oberfatzes »entweder a
oder ^« zu verbinden mit denen des Unterfatzes »entweder a oder
b oder c oder ^/«. Dies ergiebt zunächfl für den Fall von a im
Oberfatze die vier Möglichkeiten des Unterfatzes ä, bj Cy d; fodann
für den Fall b im Oberfatze aus den Combinationen ab und bb
beidemale b\ aus der Combination von c mit b die vier Möglich-
keiten des particularen Urtheils a^ bj c und d\ aus der Combination
von d mit b die beiden Möglichkeiten b und d; im Ganzen alfo :
Ä, b^ b^ bj by Cy Cy dy d. Die relative Häufigkeit der einzelnen
Formen ifl natürlich auch hier nicht ohne Bedeutung; abflrahirt
man jedoch von derfelben, fo ergeben fich wieder einfach die vier
Möglichkeiten des particular bejahenden Urtheils.
Die Syllogiftik. 77
Ferio: Der Oberfatz hat nur e\ der Unterfatz die vier andern
Formen, ea giebt e\ eb giebt e\ ec giebt Y, d^ e und ed giebt
Cy d^ c. Wir haben alfo für den Schlufsfatz die Möglichkeiten
r, r, d, dy e^ e, e, e; d. h. unter Abftraction von der relativen
Häufigkeit die drei Möglichkeiten des particular verneinenden
Urtheils.
Cefare'. Die Formen find in den Prämiffen . wie im Schlufs-
fatze ganz diefelben wie für Celarent.
Cameftres: Oberfatz a oder c\ Unterfatz nur <?; Schlufsfatz
alfo e und wiederum e, —
Feftino: Die Formen find diefelben wie bei Ferio.
Baroco: Oberfatz a oder c {c tritt durch die Umftellung
der termini an die Stelle von b)\ Unterfatz c^ d, e. — Aus der
Verbindung des Unterfatzes mit der Form a im Oberfatze ergeben
(ich für den Schlufsfatz zunächil die Formen c, rf, e; fodann aus
c und c wieder c ; aus c und d x c^ dj e und endlich aus c und e : e.
Wir haben alfo die. Möglichkeiten : Cy c^ c^ dj d, <f, ^, e und unter
Abftraction von der relativen Häufigkeit c, d und e, alfo das par-
ticular verneinende Urtheil.
Darapti: Oberfatz a und b, Unterfatz a und c (in Folge der
Umkehrung der zweiten Prämiffe) ; Combinationen : a, ä, by by Cy Cy d;
alfo das particular bejahende Urtheil.
Felapton: Oberfatz e\ Unterfatz a oder c, Schlufsfatz: Cydye^'ey
alfo particular verneinend.
Datifi: Diefelben Formen wie bei Darü.
Difamis: Oberfatz üy by Cy d; Unterfatz ä, c; Schlufsfatz:
ay tty by by Cy Cy Cy Cy Cy dy dy d'y ^Xfo d^s particulaT bcjahcnde Ur-
theil. (Wir geben hier, wie oben bei Darapti u. ff., nur die ge-
ordnete Summe der Möglichkeiten, da die Art, wie diefelbe zu
Stande kommt, aus den früheren, ausführlicher behandelten Fällen
hinlänglich erhellt.)
Bocardo: Oberfatz Cydye; Unterfatz ä, ^ ; Schlufsfatz: CyCyCy
dy dy ey Cy €] alfo das particular verneinende Urtheil.
Ferifon: Diefelben Formen wie bei Ferio.
Bamalip: Oberfatz a oder Cy Unterfatz ebenfo. Der Schlufs-
fatz hat die Formen Uy Cy Cy c; ergiebt alfo nicht die fämmtlichen
Möglichkeiten des particular bejahenden Urtheils, fondem fchlecht-
hin die Formen des umgekehrt kategorifchen Urtheils. Dies
aber ift ganz in der Ordnung, da der Schlufs auch in der That
78 Die SyUogiftik.
weiter nichts leiftet, ak dafs er die Schlufsweife von Barbara copirt
und den Schlufsfatz fodann durch die converfio per accidens um-
kehrt. Diefe aber fuhrt, wie wir im vorhergehenden Abfchnitt
eingehend erörtert haben, nicht auf die fämmtlichen Möglichkeiten
des particular bejahenden Urtheils, fondern nur auf ein umgekehrt
kategorifches Urtheil, aus welchem man durch Verzicht auf einen
Theil der Erkenntnifs zum particularen gelangt. Das hier gewon-
nene Ergebnifs ift alfo nur eine glänzende Beftätigung der Con-
fequenz und Richtigkeit der unmittelbar aus der Anfchauung ge-
fchöpften Logik der Begriffsverhältniffe.
Calemes: Wie Cameftres.
Dimatis: Wie Disamis.
Fefapo: Wie Felapton.
Frefifon: Wie Ferio.
Es ergiebt fich alfo hier die gefammte ariftotelifch-fcholaftifche
SyUogiftik als ein Specialfall der SyUogiftik der Begriffsverhältniffe,
in welcher die eigentliche Beweiskraft für die apodiktifch geltenden
Regeln enthalten ift. Die Sphärenbilder für die-BegriffsverhältnifTe
erfcheinen jetzt nicht mehr als blofs zufäUige Veranfchaulichungs-
mittel, bei denen die Confequenz leicht an irgend einem Punkte
aufhören könnte; fie find vielmehr die nothwendige Grundlage der
logifchen Technik felbft, die nach keinem Punkte über den Kreis
der räumlichen Anfchauung hinauskommt.
Neuere Logiker greifen, nicht ohne Urfache, die ariftotelifche
Lehre an, dafs der Satz: »der Menfch geht« gleichbedeutend fei
mit: »der Menfch ift gehend«. Man hebt hervor, dafs der Satz,
welcher die Handlung bezeichnet, gar kein kategorifches Urtheil
fei und daher auch nur mit unnatürlichem Zwang in ein folches
umgeflaltet würde. Dabei ift jedoch zu bemerken, dafs die ftreng
logifche Technik fich genau fo weit erflreckt, als fich die Begriffs-
verhältniffe erftrecken. Allen weiter gehenden Betrachtungen über
die Natur folcher Sätze, wie: »der Menfch geht«, fehlt der apo-
diktifche Charakter der logifchen Technik. Statt mit Ariftoteles
zu fagen, der Satz, fei gleichbedeutend mit »der Menfch ift gehend«
wird man richtiger fagen, er unterliege der logifchen Technik,
in fo fern er mit letzterem gleichbedeutend fei. Nur was fich in
die Form von Begriffsverhältniffen bringen läfst, unterliegt der
ftreng logifchen Technik. Setzt man alfo »ift gehend« an die
Stelle von »geht«, fo opfert man einen Theil des lebendigen In-
Die Syllogiftik. 79
haltes, welcher dem Zeitwort eigenthümlich ift. Dies Opfer ermög-
licht die Anwendung der logifchen Regeln. Man wird es alfo
allemal dann bringen dürfen und muffen, wenn es lediglich auf die
logifche Seite des Inhalts ankommt. Ift dies nicht der Fall, fo ift
dann jene Oppofition gegen die ariftoteUfche Gleichfetzung durchaus
an der Stelle. Sobald man aber, dem vollen, lebendigen Inhalte
des Zeitworts zu liebe, den Boden der reinen Begriffsverhältniffe
verlaffen hat, befindet man fich auch nicht mehr auf dem Boden
der formalen Logik, fondem der Sprachphilofophie. Diefe Sprach-
philofophie kann freilich den Charakter eines Zweiges der ange-
wandten Logik annehmen, aber dann wird auch innerhalb ihrer
Sphäre ftets das eigentlich Logifche auf die Begriffsverhältniffe
befchränkt bleiben. ,
Die eben gegebene Ableitung der fcholaftifchen modi aus der
Ueberficht aller überhaupt möglichen Begriffsverhältniffe nimmt auf
die veirfchiedenen Figuren keine Rückficht Allenthalben, wo der
Schlufs fich durch canverfio fimplex in einer der Prämiffen auf
einen fchon dagewefenen Schlufs zurückfuhren läfst, einerlei ob
diefer der erften Figur angehöre oder nicht, ift das Sphärenbild
das nämliche und die formale Technik giebt alfo für diefe Schlüffe
nur eine einzige Form. Es wird jedoch dadurch weder die arifto-
telifche Reductionsweife noch die Behauptung Kants von der Ueber-
flüffigkeit und unnützen Spitzfindigkeit der verfchiednen Figuren
begünftigt Allenthalben, wo die ariftotelifche Logik der converfio
per accidensy der Umftellung der Prämiffen oder des Beweifes
durch die Unmöglichkeit des Gegentheils bedarf, erhalten wir ver-
fchiedne Raumbilder, und diejenigen für die fpäteren Figuren find
ebenfo unmittelbar beweifend, als diejenigen für die erfte Figur.
Die Frage nach dem Werthe der verfchiednen fyllogiftifchen Figu-
ren geht daher offenbar über den Kreis der formalen Technik
hinaus und gehört in das Gebiet der angewandten Logik. Lam-
bert, der diefe Frage wohl am gründlichften behandelt hat, giebt
allen vier Figuren der Scholaftiker eine felbftändige Bedeutung.*)
Dem dictum de omni et nulloj welches die erfte Figur beherrfcht,
ftellt er ein dictum de diverfoj de exemplo und de reciproco zur
Seite und behauptet, dafs wir ganz naturgemäfs eine Reihe von
Schlüffen in der zweiten, dritten oder vierten Figur vollziehen, bei
*) Lambert, neues Organon, I. Leipz. 1764, IV. Hauptftück, JJ 229 — 233. —
80 Die Syllogiftik.
denen die Reduction auf die erfte Figur nur zu einer unnatürlichen,
dem gewohnten Gang des Denkens zuwiderlaufenden Entftellung
des Schluffes führen würde. Lambert hat dies auch für die zweite
und dritte Figur fowohl durch treffende Beifpiele als auch durch
eingehende Erörterung bewiefen. Zugleich bemerkt er aber fehr
richtig, dafs der Unterfchied der Figuren nicht nur auf ihrer Form
beruht, fondem fich auf die Sache felbft ausdehnt, indem wir jede
da gebrauchen, wo fie natürlicher ift. Hieran könnte der Gegner
der fyllogiftifchen Figuren anknüpfen und behaupten, diefe Natür-
lichkeit fei blofse Sache des fprachlichen Ausdrucks; man muffe,
um der Reinheit der Technik willen auf fie verzichten, grade fo
wie man auf den natürlichen Ausdruck verzichtet, wenn man an
die Stelle von »der Menfch gehta die Worte fetzt: »der Menfch
ift gehend.a Der Einwand wäre begründet, wenn aus den Be-
griffsverhältniffen nur die Schlüffe der erften Figur hervorgingen.
Da dies aber nicht der Fall ift, fo behält Lambert Recht, aber
die Frage überfchreitet den Kreis der formalen Logik.
Um dies noch genauer zu fehen, dürfen wir nur den Modus
Celarent näher betrachten. Nach dem dictum de omni et nullo
aufgefafst, enthält diefer Modus im Oberfatz J/ ^ P eine allgemeine
aber negative Regel in Beziehung auf das Verhältnifs von Mzw P,
Im Unterfatze S a M folgt eine Subfumtion, ganz wie im Unter-
fatz von Barbara^ und es ergiebt fich darauf der Schlufsfatz, S e P
als Folge diefer Subfumtion. Was hindert uns aber, denfelben
Schlufs fo aufzufaffen, dafs der Oberfatz fchlechthin eine Tren-
nung der Sphären von M und P ausspricht, der jUnterfatz dage-
gen eine Vereinigung der Sphäre von 5 mit M^ woraus fich
nach dem "»dictum de diverfon die Verfchiedenheit von 5 und
P ergiebt ? Celarent wäre alfo nach diefer Auffaffung auf Cefare
zurückgeführt; grade lo, wie man fonft Cefare auf Celarent zurück-
führt Die logifche Technik kann nichts dagegen einwendea
Wenn man aber die Sache und ihren naturgemäfsen fprach-
lichen Ausdruck in Betracht zieht, fo wird man, fowohl in den
Schlüffen des täglichen Lebens, als auch in den Wiffenfchaften,
Anlafs genug finden, die Figuren zu unterfcheiden.
Man betrachte folgende Beifpiele ! »Kein Staat im Staate kann
von einer weifen Regierung geduldet werden. Die moderne rö-
mifche Hierarchie bildet einen Staat im Staate. Alfo kann fie
von einer weifen Regierung nicht geduldet werden a. Hier haben
Die SyUogiftik. 81
wir in der Sache felbft die offenbare Subfumtion eines gegebenen
Falles unter eine allgemeine Regel und daher als natürlichen Aus-
druck des Gedankens einen Schlufs nach Celarent Wollte man
ftatt deffen fetzen: »Nichts was von einer weifen Regierung gedul-
det werden kann, ift Staat im Staate u. C w.a, fo erhielte man
allerdings einen correcten Schlufs nach Cefare; aber wie wenig
würde die Form diefes Schluffes zum Inhalte paffen I — In fol-
gendem Schluffe dagegen ift die zweite Figur ganz das Natürliche:
»Keine Gletfcheffpuren find älter als die Tertiärzeit. Sehr viele
Alpenthäler fmd älter als die Tertiärzeit Alfo find mindeftens
viele Thalbildungen nicht Gletfcherfpurena. Bei diefem Schluffe,
deffen materielle Richtigkeit wir übrigens dahingeftellt fein laffen,
ifi offenbar das Alter der Thalbildungen das Mittel, zu unterfchei-
den, ob das Prädicat dem Subjecte zukomme oder nicht. Der
Mittelbegriff enthält ein Kriterium; der ganze Schlufs ift ein
Verfchiedenheitsfchlufs und er würde fich, auf die erfte Figur
reducirt, fehr fonderbar ausnehmen : »Nichts, das älter ift als die
Tertiärzeit, ift Gletfcherfpur u. f w.a
Schluffe diefer Art, nach Cefare und Feftino find in den Na-
turwiffenfchaften ungemein häufig und wenn es auch grade hier
oft vorkommt, dafs der allgemein verneinende Oberfatz fpäter als
nicht richtig erkannt wird, fo gehören fie doch zu den wichtjgften
Mitteln wiffenfchaftlicher Unterfuchung. Wir muffen alfo nicht nur
Schluffe der zweiten und dritten Figur zulaffen, fondern auch über
den Werth derfelben gegenüber den Schlüffen der erften Figur
ganz andre Anflehten faffen, als die überlieferten. So ift z. B. der
Modus Baroco nach gewöhnlicher Auffaffungsweife einer der
werthlofeften von allen, weil er nur particular verneinende Schlufs-
fatze giebt. Und doch ift grade diefe Schlufsform der gewöhn-
lichfte Weg zum Umfturz leerer Dogmen und eingewurzelter Vor-
urtheile. Die Aufgabe der Widerlegung irrthümlicher allgemeiner
Sätze ift aber eine ungemein wichtige. Die Natur des menfch-
lichen Denkens bringt es mit fich, dafs beftändig durch Affociation
der Vorftellungen und durch den natürlichen Gang zur Genera-
lifation allgemeine Sätze in Maffe entftehen, von denen nur fehr
wenige richtig fmd. Die Irrthümer befeftigen fich durch die Ge-
wohnheit und muffen endlich mühfam durch entgegenftehende
Beobachtungen ausgerottet werden, um befferen Vorftellungsver-
bindungen Platz zu machen. Eine Schlufsweife aber, welche die-
Lange, liOgiache . Stadien. 6
82 Die Syllogiftik.
fem wichtigen Läuterungsproceffe in formaler Hinficht zu Grunde
li«gt, kann gewifs nicht als werthlos betrachtet werden.
Gegen die dritte Figur hat Trendelenburg einen heftigen
Angriff gerichtet (Log. Unterf 3. Aufl. II. S. 353 u. ff.), der aber
fchlechthin auf die hinlänglich befprochenen Mängel des particula-
ren Urtheils und feiner Entftehung durch Subaltemation und Um-
kehrung hinausläuft. Dabei ift auch unbeachtet geblieben, dafs
diefe Mängel erft durch den Gebrauch des modernen »Einige« zu
eigentlichen Fehlem werden, während mit dem ariftotelifch-fcho-
laftifchen »ifeo, ^aliquisv. wenigftens überall die Confequenz ge-
wahrt bleibt Dafs fich bei einem Modus wie Darapti fehr häufig
Fälle ergeben muffen, in welchen die materielle Wahrheit ftatt des
particularen Urtheils ein allgemeines ergiebt, läfst fich von vorn-
herein annehmen und wenn man mit Beifpielen diefer Art die for-
male Logik zu erfchüttem glaubt, fo thäte man beffer, den Hebel
gleich bei der Subaltemation der Urtheile einzufetzen. Hier darf man
ja nur ftatt des fcholaftifchen aliquiSy welches distributiv zu verftehen
ift und auf jeden aliquoten Theil bezogen werden kann, das moderne
»einige« fetzen, zumal mit dem Nebengedanken »nur einige«, fo er-
hält man lauter Unfinn. Alle Menfchen find fterblich. Einige Men-
fchen find fterblich. Alle Quadrate haben vier rechte Winkel. —
Einige (vielleicht gar nur einige!) Quadrate haben vier rechte Winkel.
Alle Lafter find verabfcheuungswerth — Einige Lafter find verab-
fcheuungswerth, u. f. w. — Was alfo an diefen Angriffen etwa berech-
tigt ift, gehört gar nicht hieher, fondern ift gleich zu Anfang bei der
Lehre vom particularen Urtheil abzumachen. Die Frage nach dem
Werth der dritten Figur wird alfo dadurch gar nicht berührt Sie kann
nur darauf gehen, ob es nicht Schlüffe in der Wiffenfchaft und im
täglichen Leben giebt, welche fich naturgemäfs in diefer Form
darftellen, und welche dabei einen wefentlichen Zweck erfiillen.
Hier brauchte man denn nur dem Winke Lamberts zu folgen,
der die dritte Figur als diejenige der Beifpiele und Ausnahmen
betrachtet, um alsbald eine fehr ausgedehnte Anwendung derfelben
wahrzunehmen. Man betrachte nur folgende Beifpiele, denen fich
ähnliche in Maffe zur Seite ftellen liefsen: »Die Zettelbanken ver-
folgen ausfchliefslich ihr Privatintereffe. Sie find vom Staate privi-
legirt. Alfo giebt es Inftitute, welche vom Staate privilegirt fmd,
die (gleichwohl) ausfchliefslich ihr Privatintereffe verfolgen«. »Die
Handelskrifen find periodifch. Sie pflegen gleichwohl die Bethei-
Die SyUogiftik. 83
ligten zu überrafchen. Alfo giebt es Erfcheinungen, welche die
Betheiligten überrafchen, wiewohl fie periodifch finda. »Kein
Meteor flammt aus dem Bereich der Atmofphäre. Alle Meteore
beliehen aus Stoffen, welche mit terreftrifchen identifch fmd. Es
giebt alfo Stoffe, welche mit denen der Erde identifch fmd und
gleichwohl nicht aus dem Bereich der Atmofphäre flammen (fon-
dem aus dem Weltraum)«.
Von ganz befonderer Wichtigkeit find aber die pofitiv fchliefsen-
den Modi der dritten Figur bei der Vorbereitung eines Inductions-
fchluffes. Man vergleiche z. B. folgende Schlüffe: »Die Erfchei-
nungen ni, «2, nz ' ' . ftn find regelmäfsig mit dem Blitz verbunden.
Eben diefelben Erfcheinungen zeigen fich im Kleinen beim elek-
trifchen Funken. Alfo find viele Eigenfchaften des elektrifchen
Funkens identifch mit denen des Blitzes«. (Angeflrebter Inductiv-
fatz: der Blitz ifl ein elektrifcher Funke.) — »In den bituminöfen
Schiefem von Igomay und Millary finden fich Batrachier vor.
Diefe Schiefer gehören der paläozoifchen Formation an. Alfo
kommen in der paläozoifchen Formation Batrachier vor«. (Worauf
fofort nach Art der inductiven Wiffenfchaften einige andre, bisher
als zweifelhaft geltende Fälle in demfelben Sinne, wie diefe fiebe-
ren Beifpiele, gedeutet werden.) — »Viele Nordlichter flehen (nach
Weyprecht) in unverkennbarem Zufammenhange mit der Witterung.
Alle Nordlichter find Vorgänge in den höchflen und entfemteflen
Theilen der Atmofphäre. Es giebt alfo Vorgänge in den 'entfem-
teflen Theilen der Atmofphäre, welche mit der Witterung im Zu-
fammenhange flehen«. »Alle Höhlenfunde der Diluvialzeit zeugen
für einen Zufland grofser Rohheit des Diluvialmenfchen, Einige
diefer Höhlenfunde enthalten wohlgebildete Schädel. Alfo find
einige Fundftätten wohlgebildeter Menfchenfchädel zugleich Zeug-
niffe grofser Rohheit der damaligen Menfchen« (Angeflrebter In-
ductionsfchlufs : Der Menfch befafs fchon im Zuflande thierifcher
Wildheit eine — den Affen weit übertreffende — wohlgebildete
Schädelform).
Es giebt hier aber auch vollkommen berechtigte und zwin-
gende Schlüffe, welche man durch räumliche Anfchauung der Be-
griffsverhältniffe fofort als richtig anerkennt, während die ariflo-
telifch - fcholaflifche Logik fie für unzuläffig erklären mufs. So
namentlich der Schlufs aus zwei particularen Prämiffen, der nicht
immer, aber in einer beflimmten und genau zu bezeichnenden
6*
84 I>ie Syllogiftik.
Gruppe von Fällen möglich ift. Ein Beifpiel fei : »Faft alle Jagd-
hunde find fehr munter und lebenskräftig. Faft alle Jagdhunde
find mit einem Bandwurm behaftet Alfo giebt es Thiere, welche
mit einem Bandwurm behaftet und gleichwohl fehr munter und
lebenskräftig fmd«. Das »faft alle« mufs nach den Regeln der
überlieferten Logik fo gut wie »Viele«, »die Meiften«, »Einige«
als Zeichen eines particularen Urtheils angefehen werden; macht
alfo den Schlufs unzuläffig. In der Anfchauung an Begriffsfphären
aber mag man die Sache drehen und wenden, wie man will; man
wird finden, dafs der Schlufs zwingend und durchaus correct ift.
Diefe Möglichkeit gleichfam in Diripti zu fchliefsen, beginnt fchon,
fobald im Ober- und Unterfatz mehr als die Hälfte der Gegen-
ftände des Subjectbegriffes mit dem Prädicat in Verbindung ge-
bracht werden.
Hinfichtlich der vierten Figur muffen wir übrigens dem faft
allgemeinen Verwerfüngsurtheil zuftimmen, und auch Lamberts
»Reciprocität« vermag uns nicht von der felbftändigen Bedeutung
derfelben zu überzeugen. Diefe Reciprocität ift doch bei Lichte
befehen nichts als das Princip der Umkehrung der Urtheile, und
weiter leiftet auch die ganze Figur nichts; daher man z. B. in
Bamalip, wie fchon oben gezeigt wurde, auch auf Grund der Be-
griffsverhältniffe im Schlufsfatze nicht das eigentliche particulare
Urtheil mit feinen vier Möglichkeiten erhält, foridem nur jene Ab-
art, welche aus dor converßo per accidens entfteht Am eheften
können noch diejenigen Modi Bedeutung in Anfpruch nehmen,
welche keine Umkehrung des Schlufsfatzes vorausfetzen, alfo Fefapo
und Frefifon. Ein gut gewähltes Beifpiel für den Schlufs in diefen
beiden Figuren giebt Ueberweg, Logik, % 117. Man wird fich
aber vergeblich bemühen, irgend eine wichtigere Function der
wiffenfchaftlichen Forfchung aufzufinden, welche fich mit Vorliebe
in diefer Schlufsweife bewegte. Dafs übrigens die Schlufsweife in
der vierten Figur zuläflig ift, wo fie fich irgend natürlich ergiebt,
verfteht fich von felbft.
Mit der Frage nach dem wiffenfchaftlichen Werth der Figuren
fteht aufs engfte die Behauptung der ariftotelifchen Logik im Zu-
fammenhange, dafs derjenige Schlufs der voUkommenfte und allein
dem Ideal des Vernunftfchlufles entfprechende fei, bei welchem
der Mittelbegriff zugleich den Realgrund enthalte. Wir haben
hier ein rechtes Stück Piatonismus vor uns. Wenn die oberften
Die Syllogiftik. ' 85
und allgemeinften Begriffe und Grundfätze zugleich die ficherften
find und fich im Abfteigen des Begriffsfyftemes zum Einzelnen
diefe Sicherheit nur abfchwächen kann, fo mufs jede Behauptung
in dem Allgemeineren, aus dem fie fich herleiten läfst, ihre natür-
liche Stütze finden. Beobachtung und Empirie gelten nichte. Die
Stellung auf der Stufenleiter der Begriffe entfcheidet Alles und es
kann danach kaum überhaupt einen Realgrund für etwas geben,
der verfchieden wäre von dem inneren, logifch-metaphyfifchen
Bande, welches das Begriffsfyftem verbindet und das ganze Syftem
der Erkenntnifs an die Ideenwelt knüpft.
Man darf hier von vom herein den fchroffften Gegenfatz in
der modernen Logik erwarten, welche danach ftrebt. Alles auf den
feilen Boden der Thatfache zurückzufuhren, von der unbedingt
fichern einzelnen Wahrnehmung auszugehen und durch Combination
der Wahrnehmungen zur Erkenntnifs des Allgemeinen, d. h. der
Gefetze, vorzufchreiten. Ariftoteles blieb hier, wie in fo manchem
andern Punkte, in der platonifchen Anfchauung (lecken, wiewohl
er die Anfänge einer befferen Einficht befafs. Dafs feine Lehre
von der Induction ihn nicht dazu bringen konnte, den Schlüffen
der dritten Figur eine gröfsere Bedeutung beizulegen, folgt fchon
aus der untergeordneten Stellung, welche er der Induction über-
haupt in den Vorhöfen der eigentlichen Wiffenfchaft anwies.
Ganz aus dem gleichen Grunde konnte Ariftoteles den fo un-
gemein wichtigen Scjilüffen, bei welchen der Mittelbegriff nicht
den Grund, fondern nur irgend ein Erkennungszeichen, ein Merk-
mal, ein Beifpiel u. f. w. enthält, nicht gerecht werden. Und doch
wird unfre Erkenntnifs mit Ausnahme der wenigen Wiffenfchaften,
welche ftreng deductiv verfahren können, faft nur durch Schlüffe
diefer Art erweitert und der gewöhnliche Gang ift der, dafs
wir zuerft die Thatfache und erft nachher den Grund derfelben
erfaffen.
Es ili übrigens nicht ohne Intereffe, auch hier wieder zu fehen,
wie wenig die ariftotelifche Technik fich um die Metaphyfik be-
kümmert. Wiewohl Ariftoteles principiell die Metaphyfik über die
Logik ftellt, fo bleibt doch die letztere von allen den zahlreichen
Anforderungen der metaphyfifchen Erkenntnifstheorie faft unberührt.
So fällt es Ariftoteles auch gar nicht ein, die zahlreichen Beifpiele,
welche er feiner Syllogiftik einfügt, etwa fo zu wählen, dafs* wo
möglich der Mittelbegriff den Grund enthält Die Schlüffe find Ja
86 Die Syllogiftik.
auch in formaler Hinficht perfect, ohne den minderten Einflufs
jener metaphyfifchen Lehren, und, wie fchon früher hervorgehoben :
die formale Vollkommenheit fällt am heften in die Augen an mög-
lichft nichtsfagenden Beifpielen. •
Uebrigens ift die Forderung, dafs der Mittelbegriff die Urfache
enthalte, bei den neueren Ariftotelikem, welche die modernen
Naturwiffenfchaften anerkennen und welche, wie Trendelenburg
und namentlich Ueberweg, fchon zum Theil auf dem Boden der
modernen Logik flehen, eine ungleich einfeitigere und verwerf-
lichere als bei Ariftoteles felbft. Einmal nämlich bringen fie die
metaphyfifche Forderung in die Technik hinein, während bei
Ariftoteles die formalen Elemente der Logik unvermittelt und da-
her unverfälfcht neben den metaphyfifchen ftehn bleiben; fodann
aber fchiebt fich ihnen der moderne Begriff der Caufalität unter,
den Ariftoteles gar nicht kannte.
Für Ariftoteles ift z. B. folgender Syllogismus: »Jedes Thier
erkennt mit Hülfe fmnlicher Wahrnehmungsbilder. Der Menfch ift
ein Thier, alfo erkennt er mit Hülfe fmnlicher Wahrnehmungs-
bilder a ein vollkommen, auch in Beziehung auf den MittelbegrifF
den Forderungen der Erkenntnifstheorie entfprechender Vemunft-
•fchlufs. Das »Thier- Sein« des Menfchen ift der vollgenügende
Grund feines Erkennens durch finnliche Wahrnehmungsbilder. Eine
blofse Abftraction wird noch mit voller Unbefangenheit zu einem
wirkenden Gegenftande gemacht, was heutzutage wohl keinem
gründlichen Denker einfallen würde, Diefe Abfb-action ift aber
freilich ein Glied in dem grofsen, vom Allgemeinen zum Befondern
niederfteigenden Begriffsfyfteme, und als folche vermag fie nicht
nur die Urfache im engeren Sinne, fondern auch Wefen, Bedingung
und Zweck auszudrücken, die ja mit der bewegenden Urfache zu-
sammen die vier metaphyfifchen Urfachen bilden.
Es hätte daher auch keines grofsen Streites darüber bedurft,
ob Ariftoteles in feinem bekannten Ausfpruche to vh faq Smov lo
(Aiaov die Urfache habe auf den Mittelbegriff oder den MittelbegrifF
auf die Urfache zurückführen wollen.*) »Formala ift der Mittel-
•) Vgl. die ausführliche Polemik Ueberwegs gegen Drobifch, Logik, ? loi.
Die beiden feindlichen Stichwörter : Ariftoteles wolle »das Reale auf ein Formales
zurückfuhren« oder vielmehr er wolle »das Formale durch die Beziehung auf das
Reale vertiefen« find gewife beide nicht ariftotelifch. Sobald Ariftoteles im Fahr-
Dk Syllogiftik, 87
begriff nur für die logifche Technik j in der Metaphyfik ift er von
vorn herein mit Leben und metaphyfifchem Inhalt begabt. Dafür
mufs es aber auch der richtige und richtig geftellte Mittelbegriff
fein, der im Ober- und Unterfatz kategorifche Urtheile ergiebt und
fich fo zugleich als metaphyfifches Zwifchenglied in der grofsen
Stufenreihe des Begriffsfyftems darfteilt. In diefem Sinne ift die
Forderung, dafs der Mittelbegriff die Urfache enthalte, bei Arifto-
teles nichts Anderes, als die Forderung eines ftreng deductiven
Verfahrens überhaupt, welches uns ja ftets das diou kennen lehrt,
während die Induction nur zu ort, zur Thatfache, führt. Sehr klar
tritt diefe Lehre hervor an der Stelle Anal. poft. I. c. 13, wo unter
Anderm das koftbare Beifpiel von der Kugelgeftalt des Mondes
vorkommt Es war gewifs einer der gröfsten Triumphe der alten
Naturwiffenfchaft, durch die Combination mathematifcher Kennt-
niffe mit einem einfachen Schluffe die Kugelgeftalt des Mondes
aus der Form der Lichtftreifen nachzuweifen, welche dem beleuch-
teten Theile in gewiffen Zeitabfchnitten zuwachfen. Die Ent-
deckung mufste in einer Schlufsform ausgefprochen werden, bei
welcher diefe Zuwachsftreifen den Mittelbegriff bilden. . Ariftoteles
aber ftellt, ohne diefe naturwiffenfchaftliche Bedeutung des Schluffes
auch nur zu erwähnen, ihm ganz ruhig den vollkommeneren Schlufs
entgegen, bei welchem die Kugelgeftalt des Mondes einfach vor-
ausgefetzt wird: »Ein kugelförmiger Körper hat diefe Art von
Lichtzuwachs. Der Mond ift kugelförmig. Alfo hat er diefe Art
von Lichtzuwachs. « Jetzt enthält freilich der Mittelbegriff den
Grund, aber diefe Schlufsweife hat in der Gefchichte der Wiffen-
fchaften keine Rolle gefpielt
Gegenwärtig können wir eine reiche Entwicklung der pofitiven
Wiffenfchaften überblicken und den logifchen Faden ihres Fort-
fchritts auffuchen. Fragt man nun aber, durch welche Art von
Schlüffen die Wiffenfchaft am meiften gefördert worden ift, fo wird
die Antwort fchwerlich zu Gunften jenes Mufterfchluffes ausfallen.
Der Philologe fchliefst z. B. auf das Alter einer Handfchrift aus
der Buchftabenform, d. h. von der Wirkung auf die Urfache, und
nicht umgekehrt; der Naturforfcher auf das Zufammenleben des
waffer feiner Metaphyfik ift, kümmert er fich um die dürre Technik gar nicht mehr
und verfahrt mit ihren Beftandtheilen rein willkürlich. Metaphyfifch aber ift der
Mittelbegriff von vom herein fchon als folcher etwas Reales : die Zwifchenftufe im
lebendigen Begriffsfyftem zwifchen Subject und Prädicat.
88 I>ie Syllogiftik.
Menfchen und des Höhlenbären aus dem gemeinfamen geologifchen
Vorkommen ihrer Knochen, oder auf den Luftdruck aus der Wir-
kung deffelben auf das Barometer; der Mediziner aus den Sym-
ptomen auf die Krankheit, aus feftgeftellten Wirkungen auf die
Natur eines Heilmittels. Man wende nicht ein, dafs dies Inductions-
fchlüffe feien, die nicht hieher gehören! zunächft wäre damit noch
mehr zugegeben, als wir behaupten; der Inductionsfchlufs ift doch
auch ein Schlufs, und zwar nach der ariftotelifchen Rangordnung
einer der unvoUkommenften, die man fich denken kann und jeden-
falls nicht ein Schlufs aus dem Realgrund als Mittelbegriff. Es
läfst fich aber ein grofser Theil jener Schlüffe in der That, unbe-
fchadet ihrer inductiven Tendenz, auf einen Syllogismus der erften
Figur bringen, bei welchem niemals die Urfache Mittelbegriff ifl
Dies ift aber auch ganz natürlich, da es fich ja in den pofitiven
Wiffenfchaften in der Regel erft um Entdeckung des Caufal-
zufammenhangs handelt. So läfst fleh z. B. der Schlufs Franklins,
welcher zur Erfindung des Blitzableiters Veranlaflung gab, auf fol-
genden Syllogismus bringen: »Gleichartige Wirkungen haben gleich-
artige Urfachen. Blitz und elektrifcher Funke haben gleichartige
Wirkungen. Alfo haben Blitz und elektrifcher Funke eine gleich-
artige Urfache. Der Unterfatz mufste durch einen Inductionsfchlufs
gewonnen werden; der Oberfatz wird als Axiom angenommen.
Der Schlufsfatz fuhrt weiter zu dem Schlüffe, dafs der Blitz fich
nur quantitativ von einem elektrifchen Funken unterfcheidet. Der
Mittelbegriff des angeführten Syllogismus enthält nicht den Real-
grund, warum Blitz und elektrifcher Funke eine gleichartige Ur-
fache haben ; vielmehr wird durch einen Erkenntnifsgrund a pofteriori
das ariftotelifche Prius, der Grund, erft erkannt So machte Volta
den Schlufs : »Wenn verfchiedne Metalle mit einander in Berührung
kommen, entfteht eine elektrifche Entladung. Die von Galvani
beobachtete Zuckung des Frofchfchenkels wird bedingt durch
gleichzeitige Berührung zweier Metalle; alfo findet bei jeder folchen
Zuckung eine elektrifche Entladung ftatt« An dies Refultat des
Syllogismus fchliefst fich alsdann unmittelbar der nur inductiv zu
erreichende Satz, dafs die elektrifche Entladung Urfache der
Zuckung ift und alfo auch umgekehrt jede folche Entladung in
Folge der Berührung zweier Metalle im Frofchfchenkel, wenn fie
demfelben zugeleitet wird, eine Zuckung hervorrufen mufs. — Der
Schlufs Newton's, welchem wir das allgemeine Gravitationsgefetz
Die Syllogiftik. 89
verdanken, läfst fich auf folgenden Syllogismus bringen: »Eine
Bewegung, welche genau dem Fallgefetz entfpricht, mu(s auf eine
Kraft zurückgeführt werden, welche mit der terreftrifchen Schwer-
kraft identifch ifti Die Bewegung des Mondes entfpricht genau
dem Fallgefetz ; alfo mufs fie auf eine mit der terreftrifchen Schwer-
kraft identifche Urfache zurückgeführt werden.« Die Erweiterung
des Schlufsfatzes auf die übrigen Himmelskörper ergab fich fodann
leicht oder war vielmehr * in dem Beifpiel des Mondes fchon
antecipirt In beiden Fällen enthält der Mittelbegriflf den Erkennt-
nifsgrund, aber nicht den Realgrund für die Statthaftigkeit des
Schlufsfatzes; was das erftere betrifft, fo ift vielleicht nicht über-
flüfTig zu erinnern, dafs nicht deshalb bei jeder galvanifchen
Zuckung eine elektrifche Entladung flattfindet, weil fich die beiden
Metalle berühren, fondem umgekehrt deshalb die Berührung der
Metalle Zuckung hervorruft, weil diefelbe mit einer elektrifchen
Entladung verbunden ift.
Ein flüchtiger Blick auf die Gefchichte der WifTenfchaften
zeigt, dafs es leicht wäre, folche Beifpiele maffenweife vorzubrin-
gen, und für die wichtigften Errungenfchaften des menfchlichen
Denkens. Dagegen wird es weit fchwieriger fein, Beifpiele zu fin-
den, in welchen der Mittelbegriff den Realgrund enthält und welche
dabei von dem Vorwurfe frei find, den man der ganzen Syllogiflik
gemacht hat, dafs im Grunde nur etwas erfchloffen werde, was
man vorher fchon wufste. Das gut gewählte Beifpiel bei Ueber-
weg, Logik 3. Aufl. S. 262, § loi : »Was das Pendel verlängert,
verlangfamt den Gang deffelben; Wärme verlängert das Pendel,
alfo verlangfamt fie feinen Gang« entgeht diefem Vorwurf, weil
der Oberfatz aus der Rechnung abgeleitet werden kann und alfo
nicht nothwendig fchon ohne Vermittlung des Unterfatzes den
Schlufsfatz als Specialfall in fich enthält Es foU auch nicht ge-
leugnet werden, dafs Schlüffe diefer Art fowohl in der Wiffenfchaft
als auch namentlich in der praktifchen Anwendung wiffenfchaft-
licher S^tze eine bedeutende Rolle fpielen, allein diefe ift doch
immer auf einzelne untergeordnete Erweiterungen unfrer Kenntniffe
befchränkt, während diejenigen Schlüffe, welche uns durch Vermitt-
lung eines blofsen Zufammentreffens erft auf die Entdeckung eines
Caufalzufammenhangs führen, mit den eigentlichen Inductions-
fchlüffen zufammen uns überall die Grundlagen liefern, auf denen
die weitere Erkenntnifs aufgebaut wird.
90 Die Syllogiftik.
Die hypothetifch - deductiven Schlufsreihen liefern uns zwar
auch, falls der Ausgangspunkt derfelben fchliefslich durch die Er-
fahrung beftätigt wird, eine Erweiterung unfrer Einficht in den
urfachlichen Zufammenhang der Dinge, allein einen blofs hypothe-
tifch angenommenen Realgrund kann man fchwerlich als wirklichen i
Realgrund im Sinne der »objectiviftifchen« Logik gelten laffen und
da die ganze Theorie fchliefslich doch nur durch die Erfahrung
fo viel Geltung erhält, dafs wir fie als objectiv richtig anfehen, fo
ift der wahre Schlufs, durch welchen erft eine Uebereinftimmung
des Gedachten mit der Wirklichkeit erfchloffen wird, .in allen fol-
chen Fällen im Grunde nur folgender: »Eine formal confequente
Theorie kann als objectiv richtig betrachtet werden, wenn fie von
der Erfahrung beftätigt wird. Die Theorie, dafs u. f. w., wird von
der Erfahrung beftätigt ; alfo kann fie als objectiv richtig betrachtet
werden.« Die Beftätigung durch die Erfahrung ift aber gewifs
nicht der Realgrund der Richtigkeit einer Theorie.
Mathematifche SchlüflTe müfsten wohl, als vorzüglich voll-
kommene Schlüffe, lammtlich durch den Realgrund erfolgen, wenn
diefe Schlufsweife die allein wahrhaft wiflenfchaftliche wäre. Es
ift aber nichts weniger der Fall als dies. Zunächft kann man die
zahlreichen, oft ganzen Reihen von Folgerungen zu Grunde liegen-
den Schlüffe apagogifcher Art ausfondem, welche fämmtlich
andrer Natur find, denn einen negativen Realgrund kann es nicht
geben; fodann alle diejenigen, welche fich auf eine Hülfscon-
ftruction ftützen; denn es kann ja z. B. nicht der innere Grund
dafür, dafs das Quadrat der Hypotenufe gleich der Summe der
Quadrate der beiden Katheten ift, darin liegen, dafs bei Anwen-
dung irgend einer der zahlreichen Hülfsconftructionen an den zer-
fchnittenen Theilen diefer Quadrate die Richtigkeit der Behauptung
fich nachweifen läfst
Genau genommen kann es freilich in der reinen, Mathematik
gar keinen Realgrund geben, weil es fich überall nur um Verhält-
niffe unfrer Anfchauung handelt. Man kann jedoch im Si^ne unfrer
logifchen Frage dasjenige Verhältnifs als Realgrund anfehen, aus
welchem die andern, damit unzertrennbar zufammenhängenden,
hervorgehen; fo z. B. beim Kreife die Eigenfchaft, dafs fämmt-
liche Punkte der Peripherie vom Mittelpunkte gleich weit ent-
fernt find. Aber auch fo wird man darauf gelangen, dafs auf-
fallend viele Schlüffe, ja die Grundlegung ganzer Disciplinen,
Die Syllogiaik. 9^
auf einer Schlufsweife beruhen, welche diefer Bedingung nicht ent-
fpricht
In Ueberwegs ausführlicher Deduction des ii. Euklidifchen
Axioms (Logik, 3. Aufl. S. 305 u. ff. S iio) kann man z. B.
den dritten Schlufs als einen Schlufs aus dem Grunde gelten laffen:
»Gleiche Gröfsen können für einander fubftituirt werden. Die Win-
kel TT G^ i7 und D H F find gleiche Gröfsen ; alfo können fie für
einander fubftituirt werden.« Zwar ift »Gleichheita durchaus nichts
in den Dingen. Es ift ein Verhältnifsbegriff unfrer Anfchauung,
aber ein fundamentaler, aus welchem die Möglichkeit der vorzu-
nehmenden Operation abzuleiten ift. Ganz anders verhält es fich
aber mit dem Axiom, dafs zwei Gröfsen, welche einer Dritten
gleich find, auch einander gleich fein muffen. Diefer Grundfatz,
welchem Ueberweg im zehnten Schlufs den Mittelbegriff entnimmt,
ift trotz feiner axiomatifchen Natur blofs ein Erkennungsmittel der
Gleichheit zweier Gröfsen durch eine Operation in der Anfchauung,
zu welcher uns zufällig eine dritte Gröfse dienen kann. Der innere
Grund der Gleichheit der beiden erfteren kann aber unmöglich in
diefer Beziehung zu einer dritten liegen. In Schlufs 14 gehört
wenigftens das negative Merkmal zweier graden Linien, dafs fie
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung zufammenfallen, nicht dem
Grunde an. In Schlufs 15 ift das apagogifche Verfahren ange-
wandt; u. f. w, —
In der Begründung der Differenzialrechnung wird mit
graden Linien operirt, um die Eigenfchaften einer Curve zu be-
ftimmen. Diefe Linien find ein Hülfsmittel unfrer Anfchauung, ein
Erkennungszeichen, aber fie enthalten nicht den Grund, warum die
Curve fich an einem gegebenen Punkte in beftimmter Richtung
fortbewegt. Wenn man das bekannte Verhältnifs — ^ fich einem
Grenzwerthe nähern läfst, indem die endliche Differenz in das
Differenzial übergeht, fo kann man mit Recht behaupten, dafs der
Differenzialquotient einen beftimmten Werth hat, aber diefer Werth
ift indirect ermittelt, während er doch ohne Zweifel feinen Grund
unmittelbar in der Befchaffenheit der Curve, oder in dem Verhält-
niffe der Functionsänderung zum Zuwachs der Veränderlichen hat
Wir fehen alfo, wie die ariftotelifche Erkenntnifslehre überall
die Wichtigkeit der indirecten Erfaffung der Wahrheit verkennt
Und doch ift diefe das grofse Mittel, durch welche wir unfre heu-
92 Die SyUogUlik.
tigen Wiffenfchaften gewonnen haben. Es ift daher kein Zufall,
dafs faft alle grofsen Erfinder und Entdecker aus der Zeit der
Begründung der modernen Wiffenfchaften fich ihres Gegenfatzes
gegen Ariftoteles und die Scholaftik wohl bewufst waren. Diefer
Gegenfatz dauert heutzutage noch fort und er verräth fich befon-
ders in der Behandlung der Logik. Die Grundfätze der modernen
Logik, welche mit dem Entwicklungsgange der pofitiven Wiffen-
fchaften im Einklänge fleht, find überall eingedrungen, aber noch
nirgend recht durchgedrungen. Die höheren Gebiete werden von
Mathematikern und Naturforfchem, fowie von Statiftikem bearbeitet,
welche fich meift wenig um den Zufammenhang ihrer Sätze mit
den Elementen der Logik bekümmern. Es fehlt alfo das Band
der Einheit zwifchen den wichtigften Gebieten der Methodologie
und der logifchen Grundlagen aller Methoden. Wir werden im
folgenden Abfchnitte verfuchen, dies Band herzuftellen. Für jetzt
haben wir noch einige Bemerkungen zu machen über das Ver-
hältnifs der Thatfache zur demonftrirten Nothwendigkeit und
über die Modalität in der Syllogiftik.
Wir haben fchon oben im zweiten Capitel gefehen^ dafs alle
Nothwendigkeit nur eine bedingte ift (S. 41) und dafs das apodik-
tifche Urtheil keineswegs eine höhere Gewifsheit ausdrückt als das
affertorifche. Nichts kann gewiffer fein, als die einfache Thatfache,
das Ergebnifs unmittelbarer Wahrnehmung. Für die Syllogiftik ift
alfo die überlieferte Anwendung der Regel ^conclußo Jeqtdiur
partem debilioremv. auf Schlüffe aus ürtheilen verfchiedner Moda-
lität gänzlich zu verwerfen (S. 54).
Man darf diefen Punkt nicht zu leicht nehmen. Auch hier
fcbeiden fich zwei Weltanfchauungen, von denen die eine das
menfchliche Denken in der Stufe der Kindheit beherrfcht hat,
während die andre dem gereiften, zu ächter wiffenfchaftlicher Ein-
ficht befähigten Denken zukommt. Die ganze ariftotelifch-fcho-
laftifche Weltanfchauung beruht auf dem unbedingten Uebergewicht
des AoT* über das on. So gerechtfertigt dies Uebergewicht fein
würde, wenn wir überall der oberften Principien und des Grundes
der Erfcheinungen völlig. gewife wären, fo hinfällig wird es, wenn
wir fehen, wie das dLoxi, nur ein Spiel der Dialektik ift, wie die
vermeintliche Deduction aus unbedingt gewiffen Principien nur zu
willkürlichen Conftructionen und unhaltbaren metaphyfifchen Syfte-
4aaen führt Aber felbft da, wo die Deduction aus allgemeinen
Die Syllogiftik. 93
Principien ihre höchfte wiffenfchaftliche Berechtigung hat, vermag
fie nicht völlig den Nachweis der Thatfache zu erfetzen. Wir er-
innern an das bekannte Beifpiel der. Entdeckung des Neptun.
Nirgend ift die Deduction aus den einmal angenommenen Principien
wohl ficherer, als in der Aftronomie. Gleichwohl würden die Rech-
nungen Leverriers verhältnifsmäfsig geringe Bedeutung gehabt ha-
ben, wenn man nicht gleich darauf den Neptun wirklich gefunden
hätte. Die Beftätigung der Nothwendigkeit durch die Wirklichkeit
war es, was die wiffenfchaftliche Welt in Bewegung fetzte.
In der Syllogiftik hat die vermeintliche höhere Gewifsheit des
Apodiktifchen gegenüber dem Affertorifchen zu einer Gedanken-
lofigkeit fonder Gleichen geführt. Während Ariftoteles noch aus
einem apodiktifchen Oberfatze und einem affertorifchen Unterfatze
ganz richtig einen apodiktifchen Schlufsfatz hervorgehen läfst,
wandten Theophraft und Eudemus, von dem Beftreben geleitet,
die formale Logik nach allen Seiten abzurunden und confequent
zu machen, auch hier die Regel an, conclußo Jequitur partem
debiliorem^ und diefer Unfinn hat fich bis in die neuefte Zeit hinein
forterhalten. Hier hätte fchon der gefunde Menfchenverftand Ein-
fprache erheben und zu erneuter Unterfuchung veranlaffen muffen,
da Schlüffe diefer Art im täglichen Leben wie in den Wiffen-
fchaften ungemein häufig find. Man betrachte folgende, leicht
aufgegriffene Beifpiele!
»Ein regelmäfsig wiederkehrender Komet mufs eine elliptifche
Bahn verfolgen. Der Enke'fche Komet ift ein regelmäfsig wieder-
kehrender. Alfo mufs er eine elliptifche Bahn verfolgen.«
»Ein rotirender Körper, welcher nicht abfolut ftarr ift und von
einem andern angezogen wird , mufs nothwendig früher oder fpäter
feine Umdrehungsbewegung verlieren. Die Erde ift ein folcher
Körper; alfo mufs fie«, u. f. w. —
»Waffer in communicirenden Röhren fteht nothwendig gleich
hoch. Das Grundwaffer der Flufsthäler ift Waffer in communiciren-
den Röhren. Alfo fteht es nothwendig überall gleich hoch.«
»Ein in fich zerrütteter Staat mufs nothwendig früher oder
fpäter äufseren Feinden erliegen. Polen war ein folcher Staat.
Alfo mufste es«, u. f. w. - —
»Erleichtenmg des Credits hebt nothwendig die Gewerbthätig-
keit Gut geleitete Banken erleichtem den Credit Alfo muffen
fie auch die Gewerbthätigkeit heben.«
94 Die Syllogiftik.
»Wer wohlfeiler verkauft als er einkauft, mufs Verlud erleiden.
N N thut dies; alfo mufs er auch Verluft erleiden«.
»Maffenvertilgung der Maikäfer mufs nothwendig auch eine
Verminderung der Engerlinge herbeiführen. Die Mafsregeln der
Regierung bringen eine Maffenvertilgung der Maikäfer hervor ; alfo
muffen <ie auch« u. f. w.
Befonders charakteriftifch ift, dafs der fonft fo behutfame
Ueberweg, der fich in diefem Punkte noch arglos für Theophraft
und Eudem entfcheidet, felbft in feiner Logik die durchaus richtige
Schlufsweife anwendet. In feiner fchon oben erwähnten Deduction
des II. Euklid'fchen Axioms hat der 6. Syllogismus folgenden
Gang: »Zwei ungleiche Winkel. . . . muffen, u. f. w. Die Winkel
BGH und KG ff find zwei Winkel diefer Art. Alfo muffen fie,
u. f. w. — Die gleiche Schliefsweife wiederholt fich im 12. Syllo-
gismus, fowie im 13. und 14. (wo die apodiktifche Bedeutung des
Ausdrucks »kann nur« klar genug ift). —
Man fleht übrigens auch leicht, dafs gerade in den mathe-
matifchen Beifpielen die Berechtigung des apodiktifchen Schlufs-
fatzes befonders evident ift. Es kommt Alles darauf an, dafs die
apodiktifche Prämiffe auch wirklich Nothwendigkeit, die affertorifche
thatfächliche Wirklichkeit ausdrücke. Ift das »Muffen« oder die
»Nothwendigkeit«, wie es fo oft vorkommt, Ausdruck eines unvoll-
kommenen Beweifes, wo nicht gar blofser Vermuthung, fo verlangt
natürlich die Strenge des logifchen Verfahrens erft recht, dafs die-
fer Ausdruck auf den Schlufsfatz übergehe. Die Bedingtheit des
»Nothwendigen« kann, wenn man fich an den Sprachgebrauch und
das alltägliche Denken hält, durch alle möglichen Zwifchenftufen
bis zum Ausdruck der Ungewifsheit herabßnken. Grade in folchen
Beifpielen begnügt fich aber das alltägliche Denken, welches ftets
auf Abkürzung gerichtet ift und die Genauigkeit gern dafür fahren
läfst, fehr häufig mit der affertorifchen Form des Schlufsfatzes, die
dann im Grunde nicht für die apodiktifche, fondem für die proble-
matifche fteht Die exacte Logik kann hierin nur einen neuen
Antrieb finden, fich von der Sprachform zu befreien; denn wie
fehr auch die letztere fich dem natürlichen und gewöhnlichen Den-
ken anfchmiegt, fo ift es doch nicht Sache der Logik diefer Na-
türlichkeit zu huldigen, fondem vielmehr zu fcheiden und klar zu
ftellen, was wirklich logifch ift in den Gebilden der Sprache und
was nicht.
Die Syllogiftik. 95
Eigenthümlich geftaltet fich die Sache, wenn die apodiktifche
Prämiffe den Unterfatz bildet. Hier liefs Ariftoteles den Schlufs-
fatz affertorifch werden, worin fich fein forgfältiges aber rein em-
pirifches Verfahren verräth. Auch für uns werden die meiften
ohne befondre Auswahl aufgegriffenen Beifpiele hier auf einen
Schlufsfatz in affertorifcher Form führen, während doch das Princip
zu verlangen fcheint, dafs jeder Ausdruck des Apodiktifchen wie
des Problematifchen, welcher fich in den Prämiffen findet, auch
auf den Schlufsfatz übergehe.
Die Sache wird klar, wenn wir den Unterfchied von Ober-
und Unterfatz bei den Subfumtionsfchlüflen, die wir hier zunächft
in's Auge fallen, genau feftftellen. Der Oberfatz giebt die Regel;
der Unterfatz die Thatfache, welche unter die Regel gebracht
wird. Ift nun die Regel zwingend und die Thatfache wirklich
unter diefelbe gehörend, fo ergiebt fich mit Leichtigkeit, dafs die-
fer Zwang im Schlufsfatz feinen Ausdruck finden mufs. Die Be-
dingtheit des Zwanges findet damit ebenfalls ihren Ausdruck. Hat
nun aber der Oberfatz aflertorifche Form, während der Unterfatz
apodiktifch ift, fo bezieh? fich der Zwang diefer Apodikticität gar
nicht auf den eigentlichen Inhalt des Schlufsfatzes, fondern nur
auf das Recht ihn zu bilden. Vernachläffigt man dies, fo kann
dadurch ein ganz falfcher Schlufs entftehen, wenn man verfuchen
will, den Ausdruck des Apodiktifchen in den Schlufsfatz überzu-
führen. So namentlich bei blofs inductiv geltendem Oberfatze.
Man könnte z. B. fchliefsen: »Alle Wirbelthiere befitzen ein vom
Rückenmark gefondertes Gehirn. Der Amphioxus gehört erwie-
fenermafsen zu den Wirbelthieren ; alfo befitzt er auch erwiefener-
mafsen ein vom Rückenmark gefondertes Gehirn.« In diefem Falle
ift der Schlufsfatz materiell falfch ; allein auch wenn er richtig wäre,
dürfte nicht behauptet werden, dafs er erwiefen fei; weil eben der
Oberfatz nicht als Ausdruck unzweifelhafter Wirklichkeit angefehen
werden darf. Man kann folche inductiv gewonnenen Sätze als
affertorifch gelten laffen, wie man ihren Inhalt als berechtigt gel-
ten läfst; nämlich gleichfam proviforifch, in Anbetracht der Kürze
des menfchlichen Lebens und der unabweisbaren Nothwendigkeit,
fich gewöhnlich in unvollkommenen Denkformen zu bewegen. So-
bald aber die Schärfe der Logik herausgefordert wird, kann fie
folche Oberfatze nicht mehr als wirklich affertorifch gelten lafien.
Ift der Oberfatz ein deducirter Satz, bei welchem jedoch der
96 Die SyUogiftik.
Ausdruck der Nothwendigkeit weggelaffen wurde, fo fchliefst fich
der Unterfatz an diefe Deduction an, und wenigftens in dem Falle
dafs die Art des Beweifes diefelbe ift, folgt im Schlufsfatz ein
Nothwendigkeitsurtheil, einerlei ob man die Nothwendigkeit befon-
ders hervorhebt oder nicht. Als Beifpiel diene: »Weltkörper ohne
Atmofphäre haben kein organifches Leben. Der Mond ift, Wie
man beweifen kann, ein Weltkörper ohne Atmofphäre. Alfo kann
man auch beweifen, dafs er kein organifches Leben hat« So auch,
wenn der Oberfatz axiomatifch ift: »Zwei Gröfsen, welche einer
dritten gleich find, fmd auch unter fich gleich. Die Winkel « und
ß müflen beide dem Winkel t' gleich fein. Alfo müflen fie auch
unter fich gleich fein.« Ebenfo fteht es in den verhältnifsmäfsig
feltenen Fällen, in welchen der Oberfatz eine unmittelbar wahr-
genommene Thatfache enthält Z. B.: »Der Rhein treibt mit Eis.
Das Waffer, welches wir dort fehen, mufs noth wendig der Rhein
fein. Alfo mufs daffelbe mit Eis treiben.« »Der Congo mündet
auf der Weftküfte Südafrikas. Livingftones »Luababa« mufs noth-
wendig der (obere) Congo fein. Alfo mufs derfelbe an der Weft-
küfte Südafrika's münden.«
Unrichtig wäre dagegen folgender Schlufs: »Wer geftohlen
hat, wird mit Zuchthaus beftraft. Es ift bewiefen, dafs N ge-
ftohlen hat Alfo ift auch bewiefen, dafs er mit Zuchthaus beftraft
wird.« Der Oberfatz kann hier als Rechtsregel ausnahmslofe Gel-
tung beanfpruchen ; aber nicht als Ausdruck der Thatfache. Der
Thäter kann z. B. entfliehen oder fterben, bevor er beftraft wird.
Der Beweis kann fich daher über die Sphäre des Oberfatzes nicht
mit erftrecken. Will man fich im Schlufsfatze mit der gleichen
Art von Genauigkeit ausdrücken, fo kann man allerdings ohne er-
heblichen Verftofs fagen: »Alfo wird iV mit Zuchthaus beftraft.«
Dies gilt zumal dann, wenn es eine ausgemachte Sache ift, dafs
der objective Beweis zur Beftrafung genügt Immerhin geht dabei
ein Theil der Wahrheit verloren und voUftändiger würde der Schlufs-
fatz lauten : »Alfo wird N auf Grund eines Beweifes mit Zuchthaus
beftraft« Ebenfo geht ein Theil des Inhaltes verloren, wenn man
aus zwei Prämiffen der Nothwendigkeit fchliefst : M mufs P fein ;
5 mufs M fein ; alfo mufs auch 5 — P fein. Die vollftändige
Folge würde lauten: alfo mufs auch 5 nothwendig P fein. Die
beiden Ausdrücke der Nothwendigkeit befagen nicht daffelbe ; der
eine geht auf die Nothwendigkeit der Behauptung und ftammt
Die Syllogiftik. 97
aus dem Unterfatz ; der andre trifft die Nothwendigkeit des In-
haltes der Behauptung und ftammt aus dem Oberfatze. Die Weg-
laffung des einen ift fchlechthin conventionell und kann das Princip
nicht ftürzen, dafs jeder Ausdruck der Modalität, welcher in einer
der beiden Prämiffen vorkommt, auch auf den Schlufsfatz über-
gehen follte.
Bei der Möglichkeit ftimmt diefe Forderung im Refultate,
wenn auch nicht in der Begründung, überein mit der fcholaftifchen
Regel conclufio Jeqüitur partem debiliorem ; fo lange nämlich die
zweite Prämiffe ein affertorifches Urtheil ift. Ift diefelbe ein Noth-
wendigkeitsurtheil^ fo greift in erfter Linie wieder die Regel Platz,
dafs fowohl der Ausdruck des Problematifchen als auch derjenige
des Apodiktifchen in den Schlufsfatz übergehen muffen. So in
folgenden Beifpielen: »Ein Weltkörper, deffen Bahn die Erdbahn
kreuzt, kann mit der Erde zufammenftofsen. Es ift erwiefen, dafs
die Bahn des Biala'fchen Kometen die Erdbahn kreuzt. Alfo ift
erwiefen, dafs der BialaTche Komet mit der Erde zufammenftofsen
kann.« »Ein chemifch-phyfikalifches Gefetz, welches nur fchein-
bare und durch befondre Umftände zu erklärende Ausnahmen zu-
läfst, ift nothwendig in der Natur der Materie begründet. Das
Gefetz von Dulong und Petit ift vielleicht ein folches. Alfo ift es
auch vielleicht ein nothwendiger Ausflufs der Eigenfchaften der
Materie, a
. Ariftoteles, in deffen Syftem eine folche Verbindung von Mög-
lichkeit und Nothwendigkeit nicht paffen will, nähert fich hier
fchon der von feinen Nachfolgern aufgeftellten Regel. Er fchliefst
z. B.: Alle M und nothwendig F; alle 5 können J/fein; alfo kön-
nen alle »S — P fein.« Dabei fällt ein Ausdruck der Nothwendig-
keit weg. VoUftändiger würde der Schlufs lauten: »Alfo ift es
möglich, dafs alle 5 nothwendig P fmd.« — Durch feine Auf-
faffung der Möglichkeit als einer Eigenfchaft der Dinge kommt
Ariftoteles zu einigen Schlüffen, welche von feinem Standpunkt
aus ganz richtig fmd, während fie nicht nur von feinen ftrengen
formaliftifchen Nachfolgern verworfen wurden, fondem auch aus
der modernen Logik unbedingt entfernt werden muffen. So fchliefst
er z. B. (vgl. Prantl I, 288 u. ff.): »Noth wendigerweife ift kein
B—A. Möglicherweife ift alles C — B. Alfo (affertorifch) ift
kein C — A,a Die Richtigkeit diefes Schluffes kann allerdings nur
apagogifch bewiefen werden. Er folgt nicht unmittelbar aus den
Lange, Logische Studien. 7
98 Die Syllogiftik.
PrämifTen, fondern fetzt den Hülfsfatz voraus, dafs Möglichkeit
und Nothwendigkeit des Gegentheils in den Dingen fich ausfchliefen.
Ariftoteles fchliefst. fo: Gefetzt irgend ein C fei A, Dann wird
diefer Satz combinirt mit dem umgekehrten Oberfatz: Nothwen-
digerweife ift kein A — B, Nun ift A Mittelbegriff und man
fchliefst (nach Ferio) : Nothwendiger Weife ift: einiges C nicht B.
Dies aber widerfpricht der Behauptung, dafs alles C — B fein
kann ; alfo ift das contradictorifche Gegentheil der gemachten Vor-
ausfetzung richtig und kein C ift A, Diefer Schlufä wird unmög-
lich, fobaldder Möglichkeitsbegriff flreng formal und fubjectiv
gefafst wird. Vielleicht ifl alles C — B\ vielleicht aber auch nicht;
vielleicht gar keines, vielleicht fogar nothwendig keines.
• V.
Das disjunctive IJrtheil and die Blemente der
Wahrscheinlichkeitslehre.
Wir haben gefehen, dafs es eine befondre Syllogiftik der Mo-
dalität nicht geben kann, dafs vielmehr jeder Ausdruck der Mo-
dalität, wie fchon Lorenzo Valla und Vives erkannten, fchlechthin
wie ein andrer adverbialer Ausdruck zu behandeln ift; die Re-
ductionen vorbehalten, welche die Bequemlichkeit der Sprache auf
Koften der logifchen Genauigkeit vorzunehmen pflegt. — Auch
das hypothetifche Urtheil bringt keine neuen Formen der lo-
gifchen Technik mit fleh. Es ftimmt, wie namentlich Herbart ge-
zeigt hat, in allen wefentlichen Punkten mit dem kategorifchen
überein, und die hypothetifchen Schlüffe können an denfelben
Raumbildern veranfchaulicht werden, wie die entfprechenden kate-
gorifchen. Diefes Verhältnifs ifl von den neueren Logikern, ins-
befondre auch von Drobifch und Ueberweg fo klar dargeftellt
worden, dafs wir uns nicht weiter dabei aufzuhalten brauchen.
Nur im Vorbei wege ein Wort über die Frage, ob etwa, wie Her-
bart und feine Nachfolger wollen, jedes kategorifche Urtheil in
der Logik nur als ein hypothetifches aufzufaffen fei, oder ob, wie
die Erkenntnifstheoretiker wollen, der Satz A itt, B die Behaup-
tung in fich fchliefse, dafs A exiftire.
Diefe beiden Behauptungen flehen fich keineswegs rein contra-
dictorifch gegenüber, und es mufs daher in jedem Falle zunächft
der Gegenftand der Behauptung fcharf beftimmt werden. Vor
allen Dingen ifl feilzuhalten, dafs die formale Logik mit ihren Be-
griffsformen und Begriffsverhältniffen fich nur auf Gegenflände
überhaupt bezieht, ohne irgend einen Zweifel daran, dafs einer
7*
100 Das disjunctive Urtheil
diefer Formen auch Gegenftände entfprechen ; denn für die logifche
Technik find das gedachte und durch Sphärenbilder veranfchau-
lichte A und B, 'S und P u. f. w. felbft fchon Gegenftände. Info-
fern alfo kann nicht behauptet werden, dafs der kategorifche Aus-
druck A ift B und der hypothetifchc : »Wenn A ift, fo ift Bvi
identifch feien. Der erftere behauptet fchlechthin die Unterordnung
der ganzen Begriffsfphäre von A unter B, und diefe Behauptung
ift und bleibt kategorifch. Man kann nicht die Exiftenz der blofs
gedachten Begriffsfphäre von einer Bedingung abhängig machen.
Für den Gedanken mit feiner Beziehung auf Gegenftände über-
haupt ift die Sache damit endgültig abgefchloffen, dafs A dem B
untergeordnet wird. Der Bedingungsfatz dagegen, wenn A ift, fo
ift By bezieht fich naturgemäfs auf die einzelnen Gegenftände, oder
auf die Fälle, in welchen mir A, und damit auch By gegeben wird :
Wo immer, oder fo oft mir ein A vorkommt, wird auch B vor-
handen fein. Hierauf führt die Genefis des hypothetifchen Urtheils
aus dem temporalen und hierauf befchränkt fich auch die logifche
Technik. Will man ftatt deffen den Zweifel einführen, ob dem A
in der Wirklichkeit überhaupt etwas entfpreche, fo mufs man
auch zuerft den Begriff diefer Wirklichkeit einführen, und damit
verläfst man fchon den Boden der reinen Technik und begiebt
fich auf das Gebiet der angewandten Logik. Wenn man vollends
fragt, ob in Sätzen wie »Gott ift gerecht« die Exiftenz Gottes
vorausgefetzt werde oder nicht, fo geht das die reine Logik gar
nichts an, denn diefe hat es gar nicht mit dem Inhalt der Sätze
zu thun, fondern allein mit der Form. Die Form ift in diefem
Falle diejenige eines kategorifchen Satzes und diefe fetzt das Vor-
handenfein ihrer Gegenftände (nicht die »Wirklichkeit« in irgend
einem materiellen Sinne) voraus. Ob aber die Form in einem
gegebenen Falle richtig angewandt ift, mag derjenige prüfen, wel-
cher fie anwendet. Hier fteckt alfo noch ein Zweifel, der den
Schein einer blofs hypothetifchen Geltung auf die logifche Form
werfen kann, während er blofs ihrer Anwendung gebührt
Mit dem disjunctiven Urtheil fteht es nun aber völlig anders
als mit dem hypothetifchen. Zwar hat man daffelbe früher als
eine blofse Nebenart des hypothetifchen behandelt, allein ohne alle
Einficht in das Wefen der Sache. Neuere Logiker, namentlich
Sigwart und Lotze haben hier tiefer gefehen. Sigwart lehrt
ganz richtig (Logik I S 37)> ^^^^ ^^^ disjunctive Urtheil ftets ein
f
»
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 101
einfaches Urtheil vorausfetzt, welches den Kreis der Möglich-
keiten umfchliefst, und ein divifives, welches diefelben aufzählt.
Die Lehre (§ 37. 10), dafs das disjunctive Urtheil fich auf zwei
hypothetifche zurückführen laffe, erklärt er für richtig, allein es
folge daraus nicht, dafs dem disjunctiven Urtheil neben dem hypo-
thetifchen keine felbftändige Bedeutung zukomme. »Denn eine
Verneinung als Grund einer Bejahung zu behaupten, ift nur mög-
lich, wenn die Disjunction bereits feftfteht Nur wenn feftfteht,
dafs das Licht entweder Materie oder Bewegung ift, kann das
Urtheil ausgefprochen werden, Wenn das Licht nicht Materie ift,
ift es Bewegung.« Die letztere Bemerkung ift wieder durchaus
richtig; ob aber das disjunctive Urtheil fich wirklich »auf zwei
hypothetifche Urtheile zurückfuhren« laffe, ift ernftlich in Frage zu
ziehen. Jedenfalls ift dies nicht in dem Sinne wahr, in welchem
fich z. B. das copulative Urtheil auf zwei einfache zurückführen
läfst. Hier bleiben die verfchiedenen einfachen Urtheile, aus denen
fich das copulative zufammenfetzt, unverändert.
Ganz anders verhalten fich die beiden hypothetifchen Urtheile,
aus denen man das disjunctive ableiten will. A ift entweder B
oder C führt man zurück auf die Urtheile : »Wenn A nicht B ift,
fo ift es C«, und »Wenn A — ^ ift, fo ift es nicht Ca, Von
diefen beiden Urtheilen ift das erfte, für fich genommen, ganz
wohl vereinbar mit dem Satze: »Wenn A — ^ ift, fo ift es eben-
falls Ca, und er könnte alfo z. B. durch folgendes Sphärenbild
dargeftellt werden:
Der zweite Satz, für fich genommen, kann auf fehr verfchiedne
Weife dargeftellt werden, z. B.:
Sobald nun aber die beiden Sätze mit einander in Verbindung
gebracht werden, fo dafs von ein und demfelben A, B und C
zwei verfchiedne, einander näher beftimmende Ausfagen gemacht
werden, entfteht erft die Form, welche dem disjunctiven Urtheile
entfpricht, und die wir etwa durch folgendes Sphärenbild darftellen
können :
102 I^as disjunctive Urtheil
Diefe Form ftellt noch kein disjunctives Urtheil dar, wohl
aber ein divifives und der Gedanke der Eintheilung eines Ganzen
in zwei Theile liegt dann auch der eigenthümlichen Verbindung
jener zwei hypothetifchen Urtheile zu Grunde. Es find alfo genau
genommen nicht die zwei hypothetifchen Urtheile als folche, denen
das disjunctive entfpricht, fondern es ift die eigenthümliche Art
ihrer Verbindung, in welcher in der That die Disjunction fchon
vorausgefetzt ift.
So bemerkt auch Lotze ganz richtig (Logik, S. 94) man
pflege das disjunctive Urtheil mit dem copulativen und remotiven
zufammenzuft eilen, aber mit Unrecht. »Trotz der äufserlichen
Analogie der Form haben beide nicht den gleichen logifchen Werth
mit dem disjunctiven. Das erfte ift nur eine Sammlung pofitiver;
das andere eine Sammlung negativer Urtheile von gleichem Sub-
ject und verfchiedenen Prädicaten; welche letztere in gar keine
logifch wichtige Beziehung zu einander gefetzt werden. Das dis-
junctive Urtheil allein drückt ein eigenthümliches Verhältnifs feiner
verfchiedenen Glieder aus: es giebt feinem Subject gar kein Prä-
dicat, fchreibt ihm aber die noth wendige Wahl zwifchen einer
beftimmten Anzahl verfchiedener vor.a Lotze fuhrt dann weiterhin
fowohl das dictum de omni et nulloy als auch den Satz vom aus-
gefchloffenen Dritten auf das »disjunctive Grundgefetz« zurück:
»Von jedem allgemeinen P, welches als Merkmal in dem AUge-
meinbegrifF J/ enthalten ift, kommt jedem S, welches eine Art von
M ift, eine feiner Modificationen p\ p\ p^ mit Ausfchlufs der
Uebrigen als Prädicat zu; und von jedem allgemeinen P, welches
aus dem Begriffe M ausgefchloffen ift, kommt jedem S, als einer
Art von J/, weder die eine noch die andre feiner Modificationen
/*, /2 oder p^ zu.a
Unferm leitenden Gedanken folgend werden wir uns vor allen
Dingen an der räumlichen Anfchauung über das Wefen des
disjunctiven Urtheils zu orientiren fuchen. Lambert, der mit fei-
nen Linien fonft die logifchen Verhältniffe fehr gut darzuftellen
wufste, bemerkt, das disjunctive Urtheil laffe fleh nicht zeichnen,
und zwar weil es nichts Pofitives fetzt (Organon I, S. 116). Dies
ift nun aber nicht richtig ; vielmehr ift das disjunctive Urtheil ganz
so pofitiv, wie das kategorifche, da ja in jedem disjunctiven auch
ein kategorifches enthalten ift. Das Entweder — oder — oder bildet
in diefer Urtheilsyt ftets einen feftgefchloffenen Kreis; die Zahl
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre.
103
der Glieder mag noch fo grofs, oder auch felbft unbeftimmt fein.
Das Subject des Urtheils wird ftets dem Oberbegriff der coordinir-
ten Prädicate mit aller Beftimmtheit untergeordnet, und nur die
Wahl des beftimmten, in diefem Falle paffenden Prädicates bleibt
offen. Daraus ergiebt fich die Möglichkeit, das disjunctive Urtheil
durch zwei I^aumbilder darzuftellen, deren Synthefis erft das Ur-
theil darfteilt; und zwar muffen diefe beiden Bilder offenbar den
beiden Urtheilen entfprechen, von denen das disjunctive felbft die
Synthefis ift: einem kategorifchen und einem divifiven. Da nun
aber hier, namentlich im divifiven Urtheile ganz neue Verhältniffe
auftreten, fo läfst uns die Zeichnung mittelft Sphären im Stich,
und wir muffen uns nach einer zweckmäfsigeren umfehen, welche
in bequemer Weife die Eintheilung eines Ganzen in feine Theile
darftellt. Dies gefchieht am einfachften durch Rechtecke in fol-
gender Weife:
P P
XS
?
^
Ps
Das erfte Bild zeigt uns ein kategorifches Urtheil, bei welchem P,
wenn es nicht mit dem zweiten übereinftimmen müfste, ebenfowohl
nach gewöhnlicher Weife durch einen Kreis dargeftellt werden
könnte. Der Subjectsbegriff ift nicht durch einen Kreis oder ein
Rechteck, fond^n durch ein Kreuzchen oder einen Punkt darzu-
ftellen, um anzudeuten, dafs es nicht eine Art oder Gattung, fon-
dern ein einzelner, beftimmter Gegenftand ift, welcher hier das
Subject bildet. Das Kreuzchen wird an eine beliebige Stelle in
den Raum des Prädicates eingezeichnet, mit dem Vorbehalt, dafs
es irgendwo innerhalb deffelben hingehöre. Diefe Darftellung
des Unbeftimmten dadurch, dafs man ein Beftimmtes mit dem
Vorbehalt der Veränderlichkeit fetzt, haben wir ja auch fchon in
den gewöhnlichen Raumbildern des kategorifchen Urtheils anzu-
wenden, und es ift die Anfchauung einer Bewegung der einen
Sphäre in der andern oder eines Punktes ini Rechteck, welche uns
hier zu Hülfe kommt. Der Punkt S ift alfo in P beweglich zu
denken. Er kann überall innerhalb diefes Raumes fein, da der
Satz nichts weiter ausfagt, als dafs er überhaupt in den Raum,
welcher den Umfang von P darftellt, hineingehört. Diefe Annahme
der Verfchieblichkeit in der Anfchauung ift alfo hier nicht neu, wohl
aber gewinnt fie beim disjunctiven Urtheil eine erhöhte Bedeutung,
104 Das disjunctive Urtheil
Das zweite Raumbild zeigt uns das Verhältnifs der Gattung
P zu ihren Arten pu p^i, /s "• ^- w., wobei namentlich darauf Ge-
wicht zu legen ift, dafs die Raumbilder der Arten fich unmittelbar
aneinanderfchliefsen und in ihrer Gefammtheit die Gattung aus-
machen. Man könnte dies, wenn man fo viel als möglich bei den
beliebten Kreifen ftehen bleiben wollte, auch etwa in folgender
Weife darftellen:
/
allein man geräth mit diefer Zeichnungsweife in's Gedränge, fobald
man dazu übergeht, die einzelnen Gattungen quantitativ und ver-
gleichend zu betrachten und den Raum, welcher ihren Umfang
darftellt, als commenfurabel anzunehmen oder auch hypothetifch
gleich zu fetzen. Grade in diefen Annahmen aber liegt die To
ungemein folgenreiche Fortentwicklung der modernen Logik aus
dem Princip des disjunctiven Urtheils begründet.
Bevor wir darauf eingehen, wollen wir noch eine Bemerkung
machen über das Verhältnifs des disjunctiven Urtheils zu den hy-
pothetifchen, welche man aus ihm entnehmen kann. Wenn es auch
richtig ift, dafs das disjunctive Urtheil: A ift entweder B oder jC
beftimmt wird durch die beiden hypothetifchen : Wenn A nicht B
ift, fo ift es C'und: Wenn A — B ift, fo ift es nicht C\ fo er-
fchöpfen doch diefe Urtheile keineswegs den Inhalt des disjuncti-
ven. Vielmehr ift in gleicher Weife auch noch aus denfelben zu
entnehmen: Wenn A nicht C ift, fo ift es B und: Wenn A — C
ift, fo ift es nicht Ä Schon in dem einfachften Falle der blofsen
Dichotomie laffen fich alfo dem disjunctiven Urtheile vier hypothe-
tifche Urtheile entnehmen. Bei einer dreigliedrigen Eintheilung
fteigt diefe Zahl auf 12 ; denn man darf Urtheile wie z.B.: Wenn
A weder B noch D ift, fo ift es C nicht aufser Acht laffen. Sie
fmd oft kleine aber wichtige Stationen auf dem fchrittweife an-
fteigenden Wege der Forfchung. Wenn fie dies aber auch nicht
wären, fo lägen fie doch im disjunctiven Urtheil begründet und
alle möglichen Combinationen feiner Glieder mit Entweder -oder,
fowie mit Weder -noch haben formal gleiche Berechtigung. Daraus
aber ergeben fich, wenn man von den Urtheilen aus unvoUftändiger
Disjunction noch abfieht, fchon bei vier Gliedern 28, bei fünf 60,
bei fechs 124, bei fieben 252 u. f. w., und allgemein bei n Gliedern:
und die Elemente der Wahrfcheinlicbkeitslehre. , 105
2X f« + ^ ' ^'^ " ^^ + ^'(^-0 (^-^) . n-jn-i) {n'2) 2 \
\' I«2 I'2'3 I*2«3 («-l)/
Diefe Formel*) enthält, wie man fieht, die Summe der Com-
binationen von n Gegenftänden zu je i, d. h.: Wenn -^, dann
weder By noch C u. f. w.; Wenn B, dann weder Ay noch C u. f. w.;
femer zu je 2 Gegenftänden: Wenn entweder A oder B, dann
weder C, noch D, noch £" u. f. w. ; zu je 3 Gegenftänden : Wenn
entweder A oder B oder C, dann weder D u. f. w. ; bis zu « - 1
Gegenftänden: Wenn entweder A oder B u. f. w. dann nicht X,
wenn X als letztes Glied der Disjunction angenommen wird. Die
ganze Summe mufs fchliefslich mit 2 multiplicirt werden, weil jede
Combination fowohl pofitiv als negativ vorkommt.
Disjunctionen von einer ziemlich großen Zahl von Gliedern
bieten fich naturgemäfs gar nicht feiten dar; fo bei den Flächen
der regelmäfsigen Körper, unter denen der Würfel mit feinen fechs
Flächen das beliebtefte Beifpiel und VeranfchauHchungsmittel in
der Wahrfcheinlichkeitslehre geworden ift. Niemand wird hier den
124 hypothetifchen Urtheilen, welche fich aus dem disjunctiven :
vS ift entweder /i oder p^ . . ". . /e entnehmen laffen, die Priorität
zuerkennen, und fo mag auch diefe Betrachtung dazu dienen, die
Urfprünglichkeit und Originalität des disjunctiven Urtheils nach
allen Seiten feftzuftellen.
Eine fernere Bemerkung haben wir noch zu machen hinficht-
lich des Gegenfatzes zwifchen den Gliedern des disjunctiven Ur-
theils. Diefer Gegenfatz ift zwifchen je zwei Gruppen von Gliedern,
welche zufammen den ganzen Umfang des Prädicatsbegriffes aus-
*) Eine einfachere Formel, welche zu demfelben Ziele führt, ifl 2 X (2« — 2).
Ueber die Begründung derfelben vgl. yacobi BemouUi ars conjectandi , Bafil. 17 13,
p. 82 — 85. Dafs hier ftatt 2« — i gefetzt werden mufs 2« — 2, folgt aus der Weg-
laflung der «ten Claffe der Combinationen, bei welcher lauter pofitive Glieder und
kein negatives vorkommen würden, oder umgekehrt. Die Multiplication mit 2 er-
giebt fich wieder daraus, dafs jeder pofitiven Combination auch eine negative ent-
fpricht. — Man erhält übrigens eine noch ungleich gröfsere Zahl hypothetifcher
Sätze, fobald man auch diejenigen" mit unvollftändiger Disjunction in Betracht
zieht, wie z. B. : Wenn p\, dann nicht pi oder /*+i, wo /* ein beliebiges Glied
in der Reihe von p\ bis /«, wenn n die Anzahl der Glieder ift, bezeichnet. Hier
find die Sätze mit pofitivem Vorderfatz und negativem Nachfatz durchaus richtig und
berechtigt; nicht aber umgekehrt, weil kein contradictorifcher Gegenfatz (f. weiter
unten) vorhanden ift. Man kann höchftens fchliefsen: Wenn nicht /i , dann viel-
leicht/*, ein Schlufs, der von geringem Werthe ift.
106 ^^s disjunctive Urtheil
machen, ftets ein contradictorifcher, da nicht nur die Beja-
hung der einen Gruppe die Verneinung der andern, fondern auch
die Verneinung der erfteren die Bejahung der letzteren in fich
fchliefst. Allerdings ift dies nicht jener wüfte contradictorifche
Gegenfatz von A und Non A, bei welchem, wenn A irgend einen
beftimmten Begriff umfafst, unter Non A alle möglichen, auch die
heterogenften Gegenftände gehören müfsten. Man könnte den con-
tradictorifchen Gegenfatz letzterer Art als den abfoluten, den aus
dem disjunctiven Urtheil erwachfenden als den relativen bezeich-
nen, da er ja nur unter Beziehung auf den übergeordneten Gat-
tungsbegriff feine Geltung hat. Es ift jedoch leicht zu zeigen und
ift fchon von Lotze (Logik S. 96 u. ff.) hinlänglich gezeigt worden,
dafs jenes abfolute Non A ein Unding ift, und dafs im Grunde zu
jedem Gegenfatz ein übergeordneter Begriff gedacht werden mufs,
aus deffen Eintheilung der Gegenfatz entfteht. Es ift auch ganz
richtig und wird durch die Anfchauung des Raumbildes beftätig^,
dafs im Princip des disjunctiven Urtheils das Gefetz des ausge-
fchloffenen Dritten enthalten ift Das Dictum de omni et nullo^
welches Lotze ebenfalls erft hier finden will, liegt nach unferer
Auffaffung fchon im kategorifchen Urtheil und mufs fich alfo aus
dem disjunctiven eben deshalb entwickeln laffen, weil daffelbe ein
kategorifches enthält.
Zwifchen je zwei beliebigen Gliedern oder Gruppen von Glie-
dern befteht das Verhältnifs der wechfelfeitigen Ausfchliefsung auch
dann, wenn fie nicht zufammen die voUftändige Disjunctionsreihe
ausmachen. Der Gegenfatz ift dann kein contradictorifcher mehr;
es ift zwar unmöglich diefe beiden Glieder gleichzeitig dem Sub-
jecte zuzufprechen, wohl aber kann man fie ihm beide abfprechen.
Man kann hier fogar eine neue. Folge hypothetifcher Sätze (vgl.
die vorhergehende Anmerkung) aufftellen, in der Form: Wenn ^1,
dann nicht /2> oder: wenn entweder /i oder ■/2> dann weder ^3
noch/4, allein diefe Sätze gelten nur pofitiv, und laffen fich nicht
in die entfprechende Negation verwandeln, vorausgefetzt natürlich,
dafs die Zahl der Glieder gröfser ift als p^, beziehungsweife p^,
Diefe Art des Gegen fatzes kann man zweckmäfsig als den dis-
junctiven bezeichnen. Zwar hat Herbart dafiir'die Bezeichnung
conträr eingeführt und diefe Bezeichnungsweife hat auch aufser-
halb feiner Schule hie und da Anklang gefunden, allein fie leidet
an dem grofsen Fehler, dafs der Ausdruck »conträrer Gegenfatz«
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 107
traditionell und nicht nur in der Logik, eine tief eingewurzelte
andre Bedeutung hat, die fich nicht fo leicht völlig wird verdrän-
gen laffen. Man verfteht darunter das ariftotelifche imvtiovj alfo
Gegenfätze wie kalt und warm, fchwer und leicht, hell und dunkel.
Mit diefer Art von Gegenfatz hat im Grunde die formale Logik
gar nichts zu fchaffen, was Herbart verleitete, die Bedeutung des
Ausdrucks fo zu modificiren, dafs er wieder einem wirklichen Ge-
genfatz auf logifchem Gebiete entfprach. Allein, wenn der conträre
Gegenfatz auch ftreng genommen nicht in die formale Logik ge-
hört, fo ift er doch um fo wichtiger für die bequeme Bezeichnung
der Erfcheinungen, welcher das tägliche Leben bedarf. , Die ftrenge
Wiffenfchaft giebt einen beftimmten Temperaturgrad als wirklich
vorhanden an und kümmert fich nicht darum, ob man diefen nun
»kalt« oder warm finden wolle. Das tägliche Leben aber umfafst
mit diefen beiden Ausdrücken und ihren Steigerungen oder Ein-
fchränkungen die ganze Scala der gewöhnlich vorkommenden Tem-
peraturen. Einen folchen Ausdruck umzuftempeln, blofs deshalb,
weil er einmal in die Logik eingeführt ift, erfcheint unzweckmäfsig
und man thäte daher beffer, den Ausdruck »conträrer Gegenfatz«
ganz aus der Logik zu verbannen, wenn man ihn nicht für die
einander gegenüberftehenden Endpunkte einer geordneten Be-
griffsreihe verwenden will.
Man kann nämlich fehr häufig die disjuncten Begriffe nach
irgend einem Princip, wie z. B. Farben nach der Brechbarkeit der
Strahlen, ordnen. Alsdann bilden die Endpunkte der Reihe einen
Gegenfatz, welcher dem ariftotelifchen imniov entfpricht. Allein auch
diefer Gegenfatz hat im Grunde keine logifche Bedeutung. Für die
formale Logik ift es voUftändig gleichgültig, ob die zu ordnende
Begriffsreihe nach einem materiellen Princip geordnet werden kann,
wie bei den Farben, oder nach einem blofs formalen, wie bei den
Flächen eines Würfels oder bei einer Anzahl von Kugeln, die in
eine Urne gelegt werden. Es mag daher in der That am heften
fein, den Begriff des conträren Gegenfatzes, welchen Ariftoteles, wie
fo vieles andre Fremdartige, in die Logik hineingebracht hat, aus
derfelben zu entfernen und ihn dem volksthümlichen Sprachge-
brauch zu überlaffen, der feine conträren Begriffe, wie hell und
dunkel, grofs und klein, kalt und warm u. f. w. nicht entbehren kann.
Nirgendwo mehr als bei den disjunctiven Begriffen wird der
Ausdruck »Möglichkeiten« angewandt und nirgend fcheint er
108 I^^s disjunctive Urtheil
beffer zu paffen und mehr Anfpruch auf eine befondere logifche
Bedeutung zu haben. Gleichwohl findet Alles, was wir im zweiten
Capitel über den Begriff der Möglichkeit gelehrt haben, auch hier
feine unbeflreitbare Anwendung. Wenn man den Satz ausfpricht:
6" ift entweder /i, oder /g» /«> und man bezeichnet alsdann
^1 , /a pn als die verfchiednen Möglichkeiten für S, fo hat
diefer Ausdruck durchaus keinen andern Sinn, als den, dafs diefe
disjuncten Prädicate die verfchiednen Fälle bezeichnen, welche ein-
treten können, wenn vS — P ifl: und P der Oberbegriff zu /i, p^
. ^ . . . pn- Diefes »Können« aber beruht auf keiner verborgnen Kraft
in den Begriffen oder ihren Gegenfländen, fondern es ifl wieder
der blofse Anthropomorphismus flatt des Ausdrucks der Wirklich-
keit: die verfchiednen Fälle, welche vorhanden find, oder in welche
der Hauptfall, deffen Eintreten bejaht worden ifl, fich zerlegen läfst.
Wenn wir nun dazu übergehen, die höheren Gebiete der wif-
fenfchaftlichen Logik, welche erfl die neueren Jahrhunderte hervor-
gebracht haben, vor allen Dingen die Grundlagen der W^hr-
fcheinlichkeitslehre aus dem disjunctiven Urtheile abzuleiten,
fo foll damit keineswegs gefagt fein, dafs diefe Grundlage den
erflen Entdeckern des neuen Gebietes klar im Bewufstfein gelegen
habe. Noch weniger finden wir, dafs die Erfinder von unfern ein-
fachen Raumbildern zur Entwicklung ihrer Sätze Gebrauch gemacht
hätten. Sie wufsten jedoch klar genug, dafs es fich in den ihrer
Betrachtung unterliegenden Fragen um ein Entweder — oder, um
die richtige Abfchätzung coordinirter Möglichkeiten handelte, und
fie hatten flatt der abflracten Linienzeichnungen, wie fie für die
logifche Unterfuchung paffen, concretere Raumformen vor fich,
durch deren Anfchauung fie fich leiten liefsen ; die Münze mit ihren
beiden Flachfeiten, den Würfel, eine Urne mit einer Anzahl glei-
cher Kugeln u. f. w. — Dafs aber die Anfchauung an folchen
Raumbildern diefelben Dienfle thun mufs, und nur weniger einfach
und allgemein ifl, als diejenige an unfern Linienzeichnungen bedarf
kaum weiterer Erörterung. Auch mit der Anfchauung eines Wür-
fels, wie mit derjenigen eines in fechs Felder getheilten Rechtecks,
ifl die unmittelbare Ueberzeugung verbunden, dafs es in allen ana-
logen Fällen durchaus ebenfo fein muffe, wie in dem vorliegenden,
und damit ifl die Möglichkeit gegeben, der Anfchauung axioma-
tifche, apriori gültige Sätze zu entnehmen, welche der ganzen
weiteren Entwicklung zu Grunde liegen.
und die Elemente der Wahrfcheinlicbkeitslehre. 109
Betrachten wir das Raumbild,
P =
welches eine Eintheilung des Begriffes /* darfteilen foll, fo ift leicht
zu zeigen, dafs die verfchiedne Ausdehnung der Felder px bis pr,
die Bedeutung hat, dafs der Umfang der untergeordneten Begriffe
im Verhältniffe diefer Ausdehnung verfchieden ift, oder was das-
felbe fagen will, dafs die Häufigkeit, mit welcher man einen
Fall der Clafffe p^ erwarten darf, fich zu derjenigen von p^ oder
von /3 verhält, wie die Ausdehnung der betreffenden
Felder.
Wenn man nämlich in dem Satze: S ift entweder a oder b
oder c den Umfang von a in zwei beliebige Theile theilt, welche
ax und a^ heifsen foUen, fo kann man nunmehr behaupten: 5* ift
entweder ax oder a^ oder b oder c. Die beiden eben erft vereinig-
ten Glieder ax und a^ ftehen jetzt genau in demfelben disjunctiven
Gegenfatze zu einander und zu den übrigen Gliedern der Disjunc-
tion, wie vorher a. Auf diefe Weife kann man die Theilung von
a und ebenfo von b und von c beliebig fortfetzen: man behält
ftets eine voUftändige Disjunction und jedes einzelne Theilglied
verhält fich zu den andern und zum Ganzen genau wie fich früher
die gröfseren Glieder verhielten. Es ift dies auch ganz natürlich,
da die Zufammenfaffung der Gegenftände in die Claffen ay b, c
immer nur ein Hülfsmittel der Ordnung und ein Werk der Ab-
ftraction ift. Genau genommen entfpricht nur je ein einzelner Fall,
der unter ä oder b oder c enthalten ift, der Vorausfetzung. S ift
a oder b oder Cy und zwar einerlei, ob letzteres Subftanz- oder
Merkmalbegriffe oder Bezeichnungen eines Gefchehens find. Ein
Menfch kann entweder Europäer oder Afiate oder Afrikaner oder
Amerikaner oder Auftralier fein. Theilt man noch in Auftralier
oder Polynefier, fo bleibt das Verhältnifs des disjunctiven Gegen-
fatzes daffelbe. Es bleibt aber auch daffelbe, wenn man z. B. den
Begriff »Europäer« in voUftändiger Eintheilung auflöft in: Englän-
der, Deutfcher, Ruffe u. f. w^, während man an den andern Stellen
die höheren Begriffe ftehen läfst. Man hat dann keine reine Coor-
dination mehr, keine lobenswerthe Eintheilung, allein das Verhält-
nifs des Gegen fatzes zwifchen je zwei beliebigen Gliedern, oder je
efnem und der Summe aller übrigen, oder zwifchen zwei beliebigen
/
110 ^^ disjunctive Urtheil
^
Gruppen bleibt durchaus daffelbe. Man kann alfo auch ganz pa-
radox gruppiren und z. B. die Aufftellung machen : Entweder Deut-
fcher oder Engländer oder Amerikaner, und wenn Ja in Beziehung
auf diefe Gruppe, dann Nein für die Summe aller übrigen Glieder.
— In gleicher Weife kann man auch zwei oder mehr beliebige
Glieder in eins zufammenziehen und für diefe Summe eine neue
Gefammtbezeichnung in die Reihe eintreten laffen. In der fo ver-
änderten Reihe wird das Verhältnifs der Glieder zu einander u^d
zum Ganzen durchaus daffelbe fein, wie in der früheren. Will
man z. B. von einem Subject S ausfagen, dafs es irgend eine
Farbe habe, fo kann man die Farben zunächfl: eintheilen nach der
gewöhnlichen Eintheilung des Spectrums in Roth, Orange, Gelb,
Grün, Blau, Indigo und Violett, und alsdann behaupten, dafs 5
entweder die eine oder die andere diefer fieben Farben haben
muffe. Wenn man nun das Indigo mit dem Blau zufammenzieht
und alfo nur fechs Farben unterfcheidet, fo bleibt das Verhältnifs
der Disjunction durchaus daffelbe, nur dafs der Umfang von Blau,
wenn man Indigo mit darunter begreift, um fo viel gröfser wird.
Etwas anders ftellt fich die Sache beim Würfel und den
ähnlichen Fällen dar, wo jede der vorhandenen Möglichkeiten nur
einen einzigen Fall zu umfaffen fcheint und daher eine weitere
Theilung der disjuncten Glieder nicht möglich ift. Man fieht je-
doch zunächfl, dafs. die Summirung mehrerer Glieder genau in der-
felben Weife ausführbar ift, wie bei den obigen Beifpielen. So
kann man z. B. die Summe der mit einer ungraden Zahl bezeich-
neten Fläche der Summe der übrigen entgegenftellen und man hat
dann eine Disjunction in zwei Glieder ftatt in fechs. — * Aber auch
die vereinzelte Fläche eines Würfels kann eine Summe von Gegen-
ftänden oder Fällen bezeichnen. Sobald man nämlich bei fortge-
fetztem Würfeln unter /i alle diejenigen Fälle verfteht, in welchen
die mit / bezeichnete Fläche oben bleibt, unter /g diejenigen, in
welchen die Fläche // oben bleibt, u. f. w. bis /^ für die Fläche VI,
fo kann man das Raumbild aufftellen:
Sx
P =
TM\pM\n\P6
Wenn man nun unter S das Refultat eines beftimmten Wurfes
verfteht, fo bedeutet das Raumbild nicht nur, dafs derfelbe eine
der Flächen /, // u. f. w. nach oben bringen mufs, fondern auch,
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeilslehre. 111 •
dafs der neue Wurf damit zu einer Claffe von Würfen gehört, die
einen beftimmten Umfang hat. Diefer Umfang kommt durch eine
Zeitfolge zu Stande, welche hier als räumliche Ausdehnung
angefchaut wird. Dies gefchieht nach einem Princip, deffen All-
gemeinheit wir in einem fpäteren Capitel zeigen werden. Der Um-
fang der fechs Claffen von Würfen mufs aber in diefem Falle
gleich grofs gefetzt werden, wiewohl dies der Wirklichkeit niemals
völlig entfprechen wird. Sowohl conftante Urfachen, wie z. B.
Ungenauigkeit in der Conftruction des Würfels, als auch die
Schwankungen des Zufalls werden in einer beftimmten Anzahl von
Würfen das Refultat ftets ungleich machen ; da es jedoch gänzlich
unbekannt bleibt, in welchem Sinne diefe Ungleichheit ausfällt, fo
kann man a priori^ aus der Anfchauung des Würfels, nur die völ-
lige Gleichheit der fechs Umfangsgebiete annehmen. Anders wäre
es freilich, wenn die Zahlen für /i, /a .... /e bei einem beftimm-
ten Würfel empirifch ermittelt würden. In diefem Falle müfste
die fich ergebende Ungleichheit der einzelnen Gebiete in das Raum-
bild aufgenommen werden und wenn damit ftreng genommen auch
nur das Ergebnifs der begrenzten, bei der Unterfuchung angewand-
ten Zahl von Würfen bezeichnet werden kann, fo wird doch das
Refultat auch auf unfre Erwartung für eine neue Reihe von Wür-
fen Einflufs üben muffen.
Hiermit haben wir nun aber fchon den Boden der Wahr-
fcheinlichkeitslehre betreten. Die Möglichkeiten des disjuncti-
ven Urtheils verwandeln fich in Wahrfcheinlichkeiten, fobald ihnen
eine beftimmte GrÖfse beigelegt wird, welche abhängt von dem
Verhältniffe des Umfangs der einzelnen Möglichkeit zur Summe
aller Möglichkeiten. Da nun aber diefe Möglichkeiten nichts find
als Summen der Fälle, in welchen fich der übergeordnete Begriff
durch irgend einen der • untergeordneten verwirklicht, fo ift klar,
dafs die Gefammtfumme derfelben der Gewifsheit gleichkommen
mufs. Wenn es feft fleht, dafs 5 — P ift, und dafs /* = /! +/2
+ . . . . /n, fo fteht es auch feft, dafs 5 entweder /i oder p^ ....
oder /„ ift. Es ift dabei gleichgültig, ob die relative Gröfse von
p\y p^ u. f. w. empirifch ermittelt ift, oder ob fie a priori feftfteht
wie beim Würfel. Ebenfo ift es gleichgültig, ob es fich um die
Wahrfcheinlichkeit eines Wirklichen, aber zur Zeit Unbekannten
handelt, oder um die Wahrfcheinlichkeit eines Zukünftigen nach
den bekannten Bedingungen feines Eintretens. Die einzelnen Mög-
112 I^ d^jnnctiTe Urtkeil
lichkeiten oder die Umfanggebiete der Specialfalle können, wie
(ich aus der Betrachtung des Raumbildes
P P P
ergiebt, nur Bruchtheile des Ganzen fein, welches die Gewifsheit
in fich fchliefst Welchen Werth man dem Ganzen heilten will,
Ml natürlich im Wefentlichen gleichgültig, da es fich nur imi Ver-
hältnilsgröfsen handelt Der Einfachhdt der Rechnung wegen hat
man das Ganze der Disjunction, welches die Gewifsheit bedeutet,
mit I bezeichnet, fo dafs alfo alle Wahrfcheinlichkeitsgröfsen als
ächte Brüche erfcheinen.
Der hiflorifche Gang bei der Entdeckung diefes neuen Ge-
bietes der formalen Logik war freilich ein ganz andrer. Man be-
gann nicht mit der logifchen Wahrfcheinlichkeitslehre, fondem mit
der Rechnung, und auch hier nicht mit den allgemeinen Princi-
pien, fondem mit Löfung beflimmter Probleme. Nicht die Logik,
fondem das Spiel mit feinen Ausfichten auf Gewinn und Verlufl
war das Intereffe, welches die erften Verfuche leitete; und als
man begann, die Logik des Wahrfcheinlichen auszubilden, gefchah
es nicht in Anknüpfung an die geläuterte ariftotelifche Logik, fon-
dern in Oppofition gegen Alles, was man bisher Logik genannt
hatte. Bekanntlich tritt diefe Oppofition bei Descartes fcharf her-
vor, der das Kind mit dem Bade ausfchüttete, indem er einige
Regeln zur Leitung des Verftandes an die Stelle der ganzen Logik
fetzen will. Damit wird die Aufgabe der Erkenntnifstheorie mit
der reinen Logik verwechfelt und eine nichts weniger als zwingende
Annahme über die Natur der Wahrheit und der menfchlichen Er-
kenntnifs tritt an die Stelle jener apriori gültigen Sätze, welche
die unveräufserliche Grundlage jeder Logik bilden. Dafs diefe
Sätze, gleich den Axiomen der Mathematik, auf Anfchauung
ruhen, haben wir im Bisherigen nachzu weifen verfucht. Sie haben
alfo von vornherein ein verwandtes Element mit den Principien der
Wahrfcheinlichkeitsrechnung, welches jedoch erft ganz allmählig zu
einer engeren Verbindung führte, und welches bei gründlicher
Unterfuchung zu einer völligen Verfchmelzung führen mufs. Zu-
nächft verfuchte freilich der Verfaffer der berühmten Logique ou
Tart de penfer (Paris 1664) die Principien der eben erft von
Pascal entdeckten Wiffenfchaft mit den Regeln Descartes' zu ver-
fchmelzen und daraus eine Art von Methodologie herzuftellen,
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 113
welche der geläuterten ariftotelifchen Logik angehängt wurde. Da-
mit aber wurden zum Nachtheil der weiteren Entwicklung die
mathematifchen Grundlagen verlaffen, in welchen ein der formalen
Logik verwandtes apriorifches Element liegt. Grade die erften
mathematifchen Principien der Wahrfcheinlichkeitsrechnung find zu-
gleich logifcher Natur und wenn wir überhaupt zwifchen der Wahr-
fcheinlichkeitsrechnung und der allgemeinen Wahrfcheinlichkeits-
lehre unterfcheiiden, fo bezieht fich diefe Unterfcheidung nicht auf
die Principien, fondern auf die weitere Ausführung. Die Rech-
nung hat es mit der exacten Löfung beftimmter Probleme zu
thun, die lo gif che Lehre unterfucht die Anwendbarkeit jener
Principien im Allgemeinen und verfucht den Charakter uhd das
logifche Wefen der mathematifchen Methoden aufzuweifen.
Der erfte, der mit voller Klarheit und Schärfe die ausgedehnte
Anwendbarkeit der Principien der Wahrfcheinlichkeitsrechnung auf
Fragen verfchiedenfter Art erkannte, war Jakob Bernoulli. Er
war es auch, der, anknüpfend an ein Capitel der ^Ar^ de penfertu
die empirifche Ableitung der Wahrfcheinlichkeit zur Geltung
brachte*), während in den Problemen der Glücksfpiele überall nur
die apriori, durch die Bedingungen des Spiels feflftehenden Wahr-
fcheinlichkeiten zur Geltung kamen. Indem er zugleich das »Ge-
fetz der grofsen Zahlen« in einem beftimmten mathematifchen
Sinne als richtig nachwies — ein Beweis, über den er nach feiner
eigenen Angabe zwanzig Jahre lang nachgedacht hatte — wurde
er der eigentliche Begründer der numerifchen Methode, deren
ungemeine Leiftungsfähigkeit felbft in unfern Tagen noch bei wei-
tem nicht hinlänglich erkannt ift. Eine echt philofophifche Leiftung
find namentlich auch die Definitionen der Gewifsheit, Wahrfchein-
lichkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit, Nothwendigkeit , der morali-
fchen Gewifsheit, des Zufalls und des Glücks, welche er zu Anfang
des vierten Theils feiner berühmten Ars conjectandi entwickelt.
Sein Neffe Daniel Bernoulli ftellte zuerft das Gefetz auf, nach
welchem die »moralifcl^e Hoffnung« von der mathematifchen ab-
hängt: ein Gefetz,. deffen Uebereinftimmung mit dem pfychophy-
fifchen Grundgefetz**) einen weiten Ausblick auf eine zukünftige
'*) S. ars conjectandi, pars IV., p. 225, wo der »Auetor artis cogitandi« als
magni acuminis et ingenii vir bezeichnet und auf Cap. 12 und die folgenden des
letzten (IV.) Theiles der art de penser Bezug genommen wird.
**) Vgl. hierüber Fechner, Pfychophyfik, Leipzig 1860. I. S. 236 u. ff. —
Lange, Logische Stndicn. 8
2J4 ^^ disjunctive Urtheil
exacte Behandlung der pfychologifchen und focialen Wiffenfchaften
eröffriet Aber erft Laplace unternahm es, in feinem »Philofo-
phifchen Verfuch über die Wahrfcheinlichkeitena die einfach den
Grundlagen der Rechnung, die nothwendigen Axiome der mathe-
matifchen Disciplin, möglichft voUftändig aufzufuchen und unmittel-
bar an diefe Rechnungsgrundfätze Betrachtungen über die allge-
meine Bedeutung der Wahrfcheinlichkeit im Leben und in den
Wiffenfchaften anzuftellen.
Die erkenntnifstheoretifche Seite der neuen Wiffenfchaft
blieb aber auch bei Laplace und feinen Nachfolgern bis auf die
Gegenwart im Dunkeln. Man leitete die Axiome ab aus der Be-
trachtung beftimmter Beifpiele, bei denen die Anfchauung an
Münzen, Würfeln, Kugeln in einer Urne u. f. w. ihre Dienfte thut,
ohne principiell gewürdigt zu werden. Poiffon freilich fpricht bei
Gelegenheit des Beweifes für das Gefetz der grofsen Zahlen den
Satz aus, dafs wir jedes beliebige Problem der Wahrfcheinlichkeits-
rechnung uns zur Fixirung der Begriffe fo vorftellen können, als
handle es fich um den Zug einer .weifsen Kugel aus einer Anzahl
von Urnen, welche Kugeln verfchiedner Farbe enthalten. Allein
auch in diefem, der Wahrheit nahe kommenden Satze ifl die All-
gemeinheit und Nothwendigkeit deffen, was wir an der Anfchauung
eines einfachen Raumbildes ermitteln, nicht ausgefprochen.
Wir wollen nun veirfuchen, die einfachften Grundfätze der Wahr-
fcheinlichkeitsrechnung aus dem disjunctiven Urtheile hervorgehen
zu laffen und fie an dem Raumbilde für das divifive Urtheil zur
Anwendung zu bringen. Ift das logifche Verhältnifs der Wahr-
fcheinlichkeitsrechnung zum disjunctiven Urtheile wirklich das von
uns angenommene, fo mufs fich das, was die Mathematiker her-
kömmlicher Weife an Münzen, Würfeln und Kugeln in einer Urne
demonflriren, an diefer einfachen Linienzeichnung ebenfowohl ver-
anfchaulichen laffen.
Wir erinnern daran, dafs wir das disjunctive Urtheil 5 ift ent-
weder px oder p^ ..../„ durch die Cogibination zweier Raum-
bilder veranfchaulichen, welche zwei Urtheile darftellen, deren
Synthefis das disjunctive ift: zunächft das kategorifche Urtheil
S— P:
Ferner meine Schrift über die Arbeiterfrage, 3. Aufl. (Winterthur 1875.) S. 113
u. ff. — Schaf fle, Bau und Leben des focialen Körpers, i. Bd. Tübingen 1875.
S. HO u. ff. —
und die Elemente der Walirfcheinlichkeitslehre.
115
Sx
wobei »S gedacht werden mufs als irgendwo in P befindlich. Um
diefe Unbeflimmtheit innerhalb der beftimmten Grenzen zu veran-
fchaulichen, nehmen wir bekanntlich die Vorftellung der Bewegung
des Punktes 6" durch den ganzen Raum von P zu Hülfe. Hier
haben wir die Unbeflimmtheit noch durch eine Reihe von Punkten
darzuftellen verfucht Mit diefem Urtheile verbindet fich nun das
divifive: P= /i + 2>2 . . . + /«:
^
Pz
P-n
In der Anfchauung der Phantafie, die fich leicht auch noch durch
Zeichnung unterftützen liefse, kann man nun mit diefem letzteren
Raumbilde ausreichen, indem man fich S durch den ganzen Raum
von /i bis /n wandernd, aber nirgend Ruhe findend vorftellt. Be-
deutet S die nach oben fallende Seite einer geworfenen Münze,
fo haben wir das Raumbild eines nur zweigliederigen Entweder-oder,
P
f}
^
wo P die Summe der flachen Seiten bedeutet, die an der Münze
vorhanden find, /i die eine und /a die andre derfelben. Der Raum
mufs zwifchen /i und p^ gleich getheilt . werden , da wir die Vor-
ausfetzung machen, dafs beide Seiten gleich leicht nach oben fal-
len. Das Verhältnifs von /i zu P ift i : 2, die Wahrfcheinlichkeit
alfo, dafs diefe beflimmte Seite nach oben falle == Va- Ebenfo
natürlich für /g. Unfer Raumbild hat dabei noch den Vorzug,
dafs wir die Halbirung des Raumes von P unmittelbar vor uns
fehen. Ebenfo verhält es fich im Falle des Würfels:
. -^ :
'^Ah\ I I \t'c
Hier bezeichnet P wieder die Summe der Möglichkeiten. Dafs,
wenn der Würfel geworfen wird, irgend eine feiner fechs Flächen
fchliefslich oben bleibt, gilt als gewifs. Der Gefammtraum /i bis
pn flellt alfo wieder die Einheit dar, die Wahrfcheinlichkeit oben
zu bleiben ift für alle fechs Flächen gleich und für jede einzelne
8*
116
Das disjunctive Unheil
= ^/e- — Haben wir eine Urne mit zehn Kugeln, in welche ich grei-
fen werde, um eine derfelben herauszuziehen, fo find zehn, eben-
falls als gleich zu betrachtende Möglichkeiten vorhanden. 5 be-
deutet die gezogene Kugel, pi, p^ .... /lo die einzelnen Kugeln,
oder vielmehr die Wahrfcheinlichkeiten, dafs je eine beftimmte
derfelben gezogen werde, und P die Summe diefer Wahrfchein-
lichkeiten,
l
^
1i
^
Die Wahrfcheinlichkeit, eine einzelne, beftimmte Kugel zu ziehen,
ift, wie man ficht */io; dafs man überhaupt eine beliebige ziehen
werde, alfo die Summe der lo Möglichkeiten ift als gewifs zu be-
trachten, wird alfo durch den Gefammtraum von P= i dargeftellt.
Die Mathematiker pflegen gewöhnlich zur genaueren Veran-
fchaulichung anzunehmen, dafs unter den lO Kugeln eine weifse
und neun farbige oder fchwarze feien. Man fragt dann, wie grofs
die Wahrfcheinlichkeit fei, die weifse Kugel zu ziehen, und die
Antwort ift natürlich wieder Vio> da der Wahrfcheinlichkeitsraum
für die weifse Kugel nach der Vorausfetzung weder gröfser noch
kleiner fein kann, als für irgend eine der fchwarzen. Diefe An-
nahme hat für manche Probleme ihre Vorzüge, hat aber auch den
Nachtheil, dafs man dabei immer wieder erinnern mufs, dafs es
fich mit der wetfsen Kugel um kein Haar anders verhalte, als mit
einer beliebigen einzelnen fchwarzen Kugel. Denn da die Vor-
ausfetzung ift, dafs der Ziehende die Farbe nicht unterfcheiden
kann, fo ift der Fall für jede einzelne der lO Kugeln, die weifse
inbegriffen, durchaus derfelbe. Die Annahme übrigens, dafs eine
der Kugeln eine weifse fei, entfpricht mehr den Vorausfetzungen
eines Spiels, bei welchem dann die neun fchwarzen Kugeln nicht
mehr als einzelne in Betracht kommen, fondern collectiv gefafst
werden. In der That ficht man leicht, dafs der Wahrfcheinlichkeit,
die weifse Kugel zu ziehen, diejenige, irgend eine fchwarze zu
ziehen, ergänzend gegenüberfteht, denn beide Fälle zufammen ent-
fprechen der Gewifsheit, dafs ich überhaupt eine Kugel ziehen
werde, fei fie nun weifs oder fchwarz. Gehen wir nun auf die
Sätze zurück, welche wir oben über die Natur des disjunctiven
Urtheils entwickelt haben, fo fehen wir leicht, dafs die Wahrfchein-
und die Elemente der Wahrfclieinlichkeitslehre. ~ 117
lichkeit, irgend eine der neun fchwarzen Kugeln, fei es, welche es
wolle, zu ziehen, gleich ift der Summe der einzelnen Wahrfchein-
lichkeiten für jede beftimmte fchwarze Kugel. Diefe Summe ift aber
^/lo und diefe Wahrfcheinlichkeit fteht nun derjenigen von Vio für
die weifse Kugel fo gegenüber, dafs beide zufammen die Gewifs-
heit ausmachen und dafs «wifchen der einen und der andern diefer
beiden Möglichkeiten ein contradictorifcher Gegenfatz ftattfindet.
Ganz wie wir oben beim disjunctiven Urtheil fahen, können
nun auch zum Zweck der Wahrfcheinlichkeitsrechnung die Mög-
lichkeiten beliebig getrennt und verbunden werden und immer
wird fich zwifchen je zwei Summen, welche zufammen dem einge-
theilten Ganzen entfprechen, der contradictorifche Gegenfatz wieder
herftellen.' Unterfuchen wir z. B. beim Würfel,
Pi Pz P3 P4 Ps Pt
wie grofs die Wahrfcheinlichkeit ift, dafs eine mit einer ungraden
Zahl bezeichnete Fläche nach oben kommt, fo haben wir das Mafs
der Wahrfcheinlichkeit für /i, /s und p^ zu addiren. Wir finden
^6 oder 1/2. Hieraus ergiebt fich fchon ohne fpecielle Unterfuchung,
dafs auch das Mafs der Wahrfcheinlichkeit des contradictorifchen
Gegentheils V2 ift> ^- b. dafs fich die Wahrfcheinlichkeiten für den.
Wurf einer ungraden und den einer graden Zahl gleich ftehen
Ihre Summe ift wieder die Gewifsheit Will ich wiffen, wie grofs
die Wahrfcheinlichkeit ift, entweder i öder 6 zu werfen, fo habe
ich die beiden entfprechenden Umfangsgebiete zu addiren j ich er-
halte alfo Ve oder Vs ^^^ für das contradictorifche Gegentheil 2/3.
Wenn in einer Urne 12 Kugeln liegen, welche mit den Zahlen
I, 2, 3 u. f. w. bezeichnet find, fo ift die Wahrfcheinlichkeit eine
der fieben erflen zu ziehen, offenbar '^/i2; die des contradictorifchen
Gegentheils ^/jg. Ganz die gleiche Theilung in die entgegtnftehen-
den Wahrfcheinlichkeiten tritt natürlich ein, wenn die Urne fieben
blaue und 5 rothe Kugeln ohne weitere Bezeichnung enthält und
es fich nur darum handelt, im erften Zuge eine blaue Kugel zu
ziehen. In den Glücksfpielen ftellt fich die Wahrfcheinlichkeit des
contradictorifchen Gegentheils dar als die Wahrfcheinlichkeit des
Verlierens gegenüber der des Gewinnens. Ebenfo wird bei Wetten
das Verhältnifs der einander entgegenftehenden Wahrfcheinlichkeiten
zur Beurtheilung der Ausfichten auf Gewinn und Verluft angewandt.
Hieraus ergeben fich vortreffliche Beifpiele zur Veranfchaulichung
1X8 ^^ disjimctive Urthdl
der Principien. Die Anwendung als folche, und daher namentlich
auch die fo ungemein wichtige Anwendimg diefer Principien im
Leben und in der Wiffenfchaft gehört nicht in das Gebiet der
reinen, fondem in das der angewandten Logik, wo fie mit der
Theorie der Induction in die engfte Verbindung tritt
Wir haben alfo bis jetzt folgende Sätze aus dem Wefen des
disjunctiven Urtheils abgeleitet
1. Das Mafs der Wahrfcheinlichkeit ift ein Bruch, deflen Nenner
die Summe aller möglichen Fälle, und deffen Zähler die Summe
derjenigen Fälle umfafst, in welchen der Gegenftand der Wahr-
fcheinlichkeit ftattündet
Wie wir oben gefehen haben, kann man die Glieder einer Dis-
junction zufammenziehen und theilen, ohne das Wefen des dis-
junctiven Urtheils anzutailen. Ebenfo ift ganz felbftverftändlich,
dafs man die auf die Wahrfcheinlichkeit eines und deffelben Er-
eigniffes bezogenen Brüche in freiefter Weife mathematifch behan-
deln kann.
2. Die Wahrfcheinlichkeit eines Ereigniffes und diejenige des
contradictorifchen Gegentheils machen ftets zufammen die Gewifs-
heit aus.
Das contradictorifche Gegentheil kann dabei natürlich fowohl
in einer Summe verfchiedner andrer Erdgniffe beftehen, als auch
in einem einzigen, wie z. B. beim Werfen einer Münze. Wenn
zwei einfache oder zufammengefetzte Ereigniffe fich fo verhalten,
dafs die Mafse ihrer Wahrfcheinlichkeit zufammen die Gewifsheit
ausmachen, d. h. dafs eins derfelben nothwendig eintreten mufs,
fo ftehen fie auch in contradictorifchem Gegenfatze.
Wir geben nun dazu über, die Wahrfcheinlichkeit des Zu-
fammentreffens zweier von einander unabhängiger Ereigniffe zu
unter fuchen. Die Ereigniffe S und 5* mögen die Disjunction haben:
^/ ^ ^
Vi 7^
dann ift, Gleichheit der Felder vorausgefetzt, die Wahrfcheinlichkeit
von /i = ^3 und diejenige von q^ = V2- Es fragt fich nun, wie grofs
die Wahrfcheinlichkeit fei, dafs /i und ^i zufammentreffen. Offen-
bar kann mit pi fowohl ^i als ^2 ^it gleicher Wahrfcheinlichkeit
zufammentreffen. Ebenfo aber mit p^ und /s- Da nun unfre Fel-
der nur eine relative Bedeutung haben und ihre abfolute Gröfse
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre.
119
gleichgültig ift, fo können wir diefen Sachverhalt in folgender
Weife zur Anfchauung bringen:
% % % % % %
Sobald das veranfchaulichende Raumbild fertig ift, lefen wir
aus demfelben ab, dafs es fechs verfchiedne Fälle giebt, unter
denen* nur einer der Vorausfetzung eines Zufammentreffens von /i
und q\ entfpricht. Die Wahrfcheinlichkeit deffelben ift alfo Ve-
Dabei ift es natürlich völlig gleichgültig, ob wir q^ und q^ auf die
p\i P^f Pz vertheilen, oder umgekehrt. Man fieht auch leicht, dafs,
wie man auch den Fall variiren möge, ftets das Product der bei-
den Wahrfcheinlichkeiten als Wahrfcheinlichkeit des Zufammen-
treiSfens fich ergeben mufs. Wir wollen annehmen, die Wahrfchein-
lichkeit eines Ereigniffes Xic\ Va; die eines andern, Yj V4» fo ergiebt
fich zur Beurtheilung des Zufammentreffens folgendes Raumbild:
/^
^
%
%
%
\r
1^
ff
%
%
%
\1
1^
%
%
%
%
Wir wollen annehmen, die dem Ereigniffe günftigen Fälle feien /i,
p% und ^1, ^2> ^3> fo lieft J^an von der Zeichnung ab, dafs fechs
Fälle dem fraglichen Zufammentreffen günftig find, während die
Gefammtzahl der Fälle 12 beträgt. Wir haben alfo wieder für
das Zufammentreffen der Ereigniffe X und F das Product der
Wahrfcheinlichkeiten der ifolirten Ereigniffe, ^/i2 oder Va-
Bei diefem Satze ift die Anwendung auf Fälle des täglichen
Lebens eine befonders reiche und mannigfaltige. Auch läfst fich
hier befonders deutlich einfehen, wie die principielle Klarheit,
welche die mathematifchen Fundamentälformeln mit fich bringen,
auch da noch von gröfster Bedeutung i^in kann, wo eine genaue
Rechnung mit denfelben entweder nicht möglich oder nicht von
hinlänglichem Nutzen ift. Zwar gehören diefe Anwendungen ftreng
genommen nicht in die formale Logik, allein es ift doch gut, fchon
hier einen vorläufigen Einblick in die Wichtigkeit diefes Gebietes zu
gewinnen. Dies gefchieht am beften durch die Wahl einiger Beifpiele.
Wenn ein Rechner in einem Bankgefchäft die Wahrfcheinlich-
keit hat, fich unter 2000 Rechnungen einmal zu irren, und ein
120 I^^s disjunctive Urtheil
zweiter Rechner einmal unter 5000, fo wird die Wahrfcheinlichkeit,
dafs beide zugleich irren, wenn fie denfelben Cours eines Papieres
berechnen, auf i : 10 Millionen herabgedrückt. Noch ungleich ge-
ringer und kaum abzufchätzen ift die Wahrfcheinlichkeit, dafs beide
zugleich in derfelben Weife irren und daher wieder übereinftimmen ;
es fei denn, dafs hierfür eine conftante Urfache in der Natur der
Rechnung läge. — Eine Fangvorrichtung zur Sicherung des Förder-
korbes in einem Schachte mag fo befchaffen fein, dafs fie unter
lodo Malen, wo fie in Anfpruch genommen wird, einmal zu ver-
fagen droht. Kann man nun an dem gleichen Förderkorbe eine
zweite Vorrichtung, unabhängig von der erften, anbringen, welche
die gleiche relative Sicherheit gewährt, fo ift die Wahrfcheinlich-
keit des gleichzeitigen Verfagens beider nur i : i Million. Freilich
kommen grade hier gar zu leicht conftante und gemeinfame Ur-
fachen vor, welche auf das gleichzeitige Verfagen beider Verfiche-
rungen, hinwirken: Unordnung und Sorglofigkeit, welche die
Mafchinen verkommen läfst. Damit aber werden natürlich die
Vorausfetzungen, auf welchen die Rechnung beruhte, aufgehoben.
— Die Wahrfcheinlichkeit, dafs zwei Schüler in ihren 'Arbeiten
zufällig den gleichen grammatifchen Fehler machen, fei i ; 20.
Kommt dann das gleiche Factum in gleicher Arbeit viermal vor,
fo ift die Wahrfcheinlichkeit eines rein zufälligen Zufam^ientreffens
i:20* oder i : 160000, in welchem Falle man meiftens die Wahr-
fcheinlichkeit eines nicht zufälligen Zufammentreffens ungleich gröfser
veranfchlagen wird. — Wenn man bei einer Nachricht, welche
fich durch Tradition fortpflanzt, die Wahrfcheinlichkeit, dafs der
erfte Zeuge ganz richtig berichtet habe, zu ^/lo veranfchlagt, und
wenn man der Einfachheit wegen den folgenden Zeugen immer
die gleiche Glaubwürdigkeit beimifst, fo ift die Wahrfcheinlichkeit,
dafs der Bericht noch immer richtig fei, nach 20 Zeugen fchon
auf (®/io)*^^ herabgefunken, eine Zahl, welche kleiner ift als ein
Achtel.*)
*) Hier hatLotze, der fonft in anerkennenswertber Weife die Logik des Wahr-
fcheinlichen behandelt, den Sinn der Behauptung wohl nicht richtig aufgefafst, wenn
er (Logik S. 421 u. f.) die ganze Aufftellung als willkürlich und unhaltbar nachzu-
weifen fucht. Von einer arithmetifchen Abnahme der Glaubwürdigkeit der Zeugen
kann hier gar keine Rede fein. Ueberhaupt werden die Zeugen ja für fich jeder als
gleich glaubwürdig betrachtet. Auch findet keine Veränderung der Bedingungen
des Falles ftatt. Es handelt fich einfach, wie beim dritten Laplace'fchen Satze über-
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre.
121
Für den Wu|jf mit zwei Würfeln ftellt fich uns folgendes Raum-
bild dar:
r
^
"V
^
V
^
"NT
'4 Y
-I— r
^
Denkt man fich die Seiten der Würfel mit den Zahlen von i
bis 6 bezeichnet, fo bedeutet /i die Wahrfcheinlichkeit, dafs mit
dem erften Würfel i geworfen werde, qi dafs . mit dem zweiten
Würfel I geworfen werde, u. f. w. — Welchen Würfel man dabei
als erftön oder zweiten betrachten wolle, ift natürlich total gleich-
gültig. Die Gefammtzahl der Möglichkeiten ift, wie man fieht, 6^
oder 36, und die Wahrfcheinlichkeit mit beiden Würfeln zugleich
I zu werfen, ift Yse» ^3- das Zufammentreffen von /i und ^1 nur
ein einziges Mal vorkommt. Ebenfo verhält es fich mit dem Zufam-
mentreffen von p2) ^2; Ps) ^3 u. f. w. Will man dagegen die fämmt-
lichen Würfe, welche gleiche Augenzahl ergeben, unter einem ge-
meinfamen Oberbegriff zufammenfaffen, fo hat man für diefen die
einzelnen Wahrfcheinlichkeiten, welche unter diefen Oberbegriff
fallen; zu addiren. Man nenne einen folchen Wurf mit gleichen
Augen einen Pafch, foift die Wahrfcheinlichkeit feines Eintretens,
wie man fieht, ^/ae oder Ve- —
Das Zufammentreffen in unmittelbarer zeitlicher Succeffion
wird unter dem gleichen Raumbilde angefchaut, wie das Zufam-
mentreffen in räumlicher Ausbreitung. Wir haben daher auch für
die Wahrfcheinlichkeit, mit einem einzigen Würfel zweimal nach-
einander 6 zu werfen, den Werth */3ß, zweimal nacheinander über-
haupt die gleiche Zahl Augen zu werfen Ve "• ^- w. — Die Wahr-
fcheinlichkeit in zwei Würfen mindeftens einmal fechs zu werfen,
haupt, UKi eine Combination der möglichen Fälle, die fofort ganz klar wird, wenn
man auf das zu Grunde liegende disjunctive Urtheil zurückgeht: die Ausfagen des
Zeugen find entweder wahr oder falfch, und zwar in je neun Fällen wahr und in
einem falfch. Alfo ift die Wahrfcheinlichkeit, dafs er in die fem beftimmten
Falle richtig ausfage, bei jedem einzelnen Zeugen = ^/lo; dafs dies aber 20 Mal
nacheinander der Fall fei und nie die unrichtige Ausfage eintrete, hat die Wahr-
fcheinlichkeit (^lio)^. Dafs fich diefe Rechnung nicht an die Stelle der hiftorifchen
Kritik fetzen kann, ift durchaus felbftverftändlich. Sie ift aber fehr geeignet , derfel-
ben in einem einzelnen beftimmten Punkte ihrer reichen Methodologie Licht zu geben.
122
Das disjunctive Urtheil
n
M
läfst fich ebenfalls an unferm Raumbild miti^eichtigkeit ablefen. Wir
finden unter /e ^echs günftige Combinationsfälle, die daraus ent-
ftehen, dafs gleich im erften Wurf die Zahl 6 getroffen wird; da-
neben bleibt dann noch je ein günfliger Fall, q^, unter /i bis /s
für den zweiten Wurf. Wir erhalten alfo ii günftige Fälle und
die gefuchte Wahrfcheinlichkeit ift "/gß. — Für die Wahrfcheinlich-
keit aus einer Urne in drei aufeinander folgenden Zügen minde-
ftens einmal eine beftimmte, z. B. blaue Kugel zu ziehen, wenn
die Urne drei Kugeln, blau, roth und grün, enthält und die ge-
zogene Kugel jedesmal wieder eingelegt wird, können wir folgen-
des Raumbild aufllellen:
1
2
3
4
2
3
4
2
3
1
2
3
i
2
J
1
2
3
1
2
3
i
2
3
1
2
3
i
2
2
1
2
3
1
2
3
i
2
3
/, //, /// bedeuten den erften, zweiten, dritten Zug^; i, 2| 3 die
drei Möglichkeiten, welche fich bei jedem Zuge ergeben. Es feien,
in diefer Reihenfolge, i, 2,^3, blau, roth und grün! Dann bedeu-
tet z. B. die Zahlenreihe für den zweiten Zug:
1 = blau, wenn im erften Zuge ebenfalls blau gezogen wurde.
2 = roth, wenn im erften Zuge blau gezogen wurde.
3 = grün,
1 = blau, ... - roth
2 = roth, -----
u. f. w.
Die Zahlenreihe ///;
1 = blau, wenn im erften und zweiten Zuge ebenfalls blau ge-
zogen wurde.
2 = roth, wenn im erften und zweiten Zuge blau gezogen wurde.
3 = grün, - -
u. f. w.
In der dritten Reihe haben die einzelnen Felder nur Vs ^^^
Ausdehnung von derjenigen der Felder erfter Reihe. Dafür kann
man je ihrer neun wieder zufammenfaffen, die eine vollftändige
j
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 123
Disjunctionsreihe bilden. So z. B. wenn man fämmtliche mit i be-
zeichnete Felder in der dritten Reihe zufammen fucht:
i) blau wenn //blau und /blau
2) - - - roth - - -
3) - - - grün - - -
4) - - - blau - - roth
5) - - - roth - - -
6) - - - grün - -
7) - - - blau - - grün
8) - - - roth - - -
9) - - - grün - - -
Diefe neun Fälle umfaffen die Summe aller Möglichkeiten,
unter welchen blau im dritten Zuge überhaupt vorkommen kann,
und die Summe diefer neun Felder mufs alfo, entfprechend der
relativen Wahrfcheinlichkeit von blau, genau gleich grofs fein, wie
die Summe der 3 mit i bezeichneten in der zweiten Reihe und
wie das einzige mit i bezeichnete Feld in der erften Reihe. Es
ift auch wieder ganz gleichgültig, ob man die erfte Reihe in 3
und die letzte in 27 Felder theile oder umgekehrt. Das Bild der
Wahrfcheinlichkeitsverhältriiffe bliebe daffelbe. Man mufs dann
nur die Möglichkeit der Combinationen fchon beim erften Wurfe
zum Voraus erwägen, während man bei der natürlicheren Folge
der Reihen diefe Combinationen mit fammt ihrer Regel unter feinen
Händen entftehen fieht.
Während fo die Zufammenftellung der überhaupt möglichen
Fälle fich von felbft ergiebt, mufs dagegen bei der Beftimmung
der Summe der günftigen Fälle oft befondre Aufmerkfamkeit an-
gewandt werden. So z. B. bei der Frage nach der Wahrfchein-
lichkeit mit. 2 Würfeln 4 oder 7 zu werfen. Die erftere Mög-
lichkeit fetzt . fich zufammen aus 1 + 3, 2 + 2 und 3 + 1,
ift alfo = ^36 oder Y12; ^i^ andre aus 1+6, 2 + 5, 3+4,
4+3> 5 + 2, 6-4-1, ift alfo = Vae oder Vc- Auch hiefiir kann
das entfprechende Raumbild fiebere Anleitung geben. Das Nähere
jedoch über diefe und manche andre zufammengefetztere Anwen-
dung der fchon erörterten Grundfätze würde uns hier zu weit führen.
Wir haben hinlänglich gezeigt, daTs auch folgender fehr wichtiger
Grundfatz der Wahrfcheinlichkeitsrechnung mit allen feinen Confe-
quenzen aus dem Wefen des disjunctiven Urtheils fliefst.
3. Das Mafs der Wahrfcheinlichkeit|[fiir das räumliche oder zeit-
124
Das (iisjunctive Urtheil
liehe Zufammentreffen zweier oder mehrerer von einander unab-
hängiger zufälliger Ereigniffe ift das Product der Wahrfcheinlich-
keiten der einzelnen Ereigniffe.
Wenn man in einer Urne zwei weifse Kugeln und eine fchwarze
hat, fo kann man auch annehmen, dafs zweimal gezogen werde,
ohne dafs die gezogene Kugel, wie in den bisherigen Fällen, zu-
rückgelegt wird. Fragt man nun, wie grofs in diefem Falle die
Wahrfcheinlichkeit ift, zweimal nacheinander eine weifse Kugel zu
ziehen, fo dafs die fchwarze allein übrig bleibt, fo find die Be-
dingungen des zweiten Zuges durch den Erfolg des erften verändert.
Wir können dies in folgendem Bilde darftellen: *
/
z
3
/
//
/
X
3
Anfangs ift im /. Zuge, wenn die Urne nur eine fchwarze und
zwei weifse Kugeln enthält, die Wahrfcheinlichkeit eine weifse zu
ziehen, unzweifelhaft 2/3. Nun aber ift für den zweiten Zug das
Problem fo modificirt, dafs nicht mehr drei, fondern nur noch zwei
Möglichkeiten vorhanden find. Diefe Veränderung ftellen wir da-
durch dar, dafs wir eins der drei Felder in //. Reihe durchkreu:S!n,
einerlei welches; es fei das mittlere. Wir haben nun hier nur
noch zwei Möglichkeiten, und die Wahrfcheinlichkeit eine weifse
Kugel zu ziehen, ift offenbar ^'2, <^a das vertilgte dritte Feld durch
Ziehung der erften weifsen Kugel in Wegfall gekommen ift. Will
man nun ftatt diefer einfachen Wahrfcheinlichkeiten für den erften
und zweiten Zug fchon gleich von vorn herein wiffen, wie grofs
die Wahrfcheinlichkeit ift, zweimal nacheinander die weifse. Kugel
zu ziehen, fo darf man nur die beiden Möglichkeiten des zweiten
Zuges auf die drei des erften projiciren:
w
w
s
w 1 s
•
w \ s
« 1 _
w 1 ^
•
und man ficht alsbald, dafs die gefuchte Wahrfcheinlichkeit Ve
oder */3 ift. -— Man kann in diefem Falle auch annehmen, es fei
unbekannt, was für eine Veränderung die Zurückführung der Wahr-
und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre, 125
fcheinlichkeit von 2/3 im erften Zuge auf V3 für das Schlufsrefultat
herbeigeführt habe. Es mufs jedoch ein mit dem urfprünglichen
Ereignifs zufammentreffendes gewefen fein, welches fähig war, die
Wahrfcheinlichkeit deffelben auf die Hälfte zu reduciren. Wenn
es z. B. feftfteht, dafs fiir eine gewiffe Ausfaat in der Regel zwei
Drittel der Keime aufgehen; fo hat alfo jedes einzelne Saatkorn
a priori die Wahrfcheinlichkeit von 2/3 aufzugehen. In einem
beftimmten Falle nun ftelle es fich heraus, dafs nur 1/3 ^^^ Saat
aufgegangen ift, alfo jedes Saatkorn die Wahrfcheinlichkeit von
*/3 gehabt hat, aufzugehen. Man fchliefst daraus auf eine Ur-
fache, welche die Hälfte der Keime vernichtet hat und unter
deren alleinigem Einfluffe alfo die Wahrfcheinlichkeit des Auf-
komnriens V2 gewefen wäre. Die Divifion der beobachteten Wahr-
fcheinlichkeit durch die urfprünglich gegebene wird diefen Factor,
der übrigens auch ein zufammengefetzter fein kann, nach der Seite
der formalen Wahrfcheinlichkeit des Ereigniffes, welche er mit fich
bringt, herausftellen. Man kann daher diefen Fall als eine Rück-
operation des vorhergehenden betrachten. Aus diefen Erwägungen
laffen fich zwei Sätze ableiten, die Laplace in etwas anderer
Faffung als vierten und fünften Grundfatz der Wahrfcheinlichkeits-
rechnung aufftellt. Sie find jedoch in der Anwendung mit Vorficht
zu behandeln und es fragt fich noch, ob fie den Namen felbftän-
diger Grundfätze verdienen und nicht vielmehr als blofse Anwen-
dungen des vorhergehenden Grundfatzes zu betrachten find:
4. Wenn ein Ereignifs A in einer gewiffen Anzahl von Fällen
durch ein andres B hervorgebracht wird, fo ift die Wahrfcheinlich-
keit von Ay gleich der Wahi'fcheinlichkeit von B multiplicirt mit
der Wahrfcheinlichkeit (7'), mit welcher A von B hervorgebracht wird.
5. Wenn man die Wahrfcheinlichkeit zweier, fich wie A und
B verhaltender Ereignifle hat, kann man das Mafs der Abhängig-
keit des Ereigniffes B von Ay die Wahrfcheinlichkeit y* dadurch
finden, dafs man das Wahrfcheinlichkeitsmafs von B durch das-
jenige von A dividirt.
Will man bei der blofscn Modification der Wahrfcheinlichkeit
durch einen Eingriff in die Bedingungen flehen bleiben, fo bietet
fich hiefür folgendes einfache Raumbild dar:
2 3'^' P \n
126 ^^ disjunctive Urtheil und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre.
Wir haben n Glieder, darunter / günftige. Nehme ich nun
eins der letzteren und damit auch eins der erfteren hinweg, fo
verwandelt fich die Wahrfcheinlichkeit, welche vorher — war, in
n
p — I
' , d. h. fie wird etwas gröfser. Dies ift, in allgemeinerer Form,
der Fall der Entnahme einer weifsen Kugel aus einer Urne, welche
in der Gefammtzahl n^ p weifse enthält. Die Wahrfcheinlichkeit,
in diefer Weife mehrmals nacheinander weifs zu ziehen, ift als-
dann wieder das Product der einzelnen Wahrfcheinlichkeiten , alfo
/ (/— I) .
n \n—i)
Die übrigen Grundfätze von Laplace, fo intereffant und wich-
tig fie auch fein mögen, enthalten nirgend ein neues Formalprincip,
fondern gehören in die angewandte Logik, und theil weife auf die
pfychologifche Seite der Erkenntnifstheorie. Es genügt aber für
unfern Zweck vollftändig, dafs die formalen und apriorifchen Grund-
lagen der Wahrfcheinlichkeitsrechnung aus dem Wefen des dis-
junctiven Urtheils hervorgehn, dafs fie ihre axiomatifche Kraft aus
der Anfchauung ziehen, und dafs diefe Anfchauung am allgemein-
ften und überzeugendften an denfelben einfachen linearen Raum-
bildern gewonnen werden kann, welche auch zur Darftellung der
Eigenthümlichkeiten des disjunctiven Urtheils dienen.
VI.
Baum 9 Zeit und Zahl.
Die wichtigften Refultate, welche fich uns bisher ergeben
haben, mögen etwa folgende fein : Die formale Logik hat als apo-
diktifche Wiffenfchaft einen Werth, der von ihrer Nützlichkeit ganz
unabhängig ift, da jedem Syftem a priori gültiger Wahrheiten die
höchfte Beachtung zukommt. Eben deshalb mufs auch die formale
Logik von den erkenntnifstheoretifchen Betrachtungen gefondert
behandelt werden, da nur der reinen Technik der Begriffe jene,
der Mathematik vergleichbare Apodikticität zukommt. Diefe be-
ruht auf der räumlichen Anfchauung. — In die ariftotelifche
Logik find mancherlei fremdartige Beftandtheile aus feiner meta-
phyfifchen Erkenntnifstheorie eingedrungen, fo namentlich die Lehre
von der Modalität der Urtheile, bei deren Prüfung fich zugleich
herausftellt, dafs die Begriffe der Möglichkeit und der Nothwen-
digkeit keine logifche Selbftändigkeit haben, fondern auf die Be-
griffe des Allgemeinen und des Befondern zurückzuführen find.
Die Stellung des affertorifchen Urtheils zwifchen dem problemati-
fchen und apodiktifchen wurde als falfch erkannt, und dem affer-
torifchen, fofern es Thatfachen ausfpricht, der höchfte Grad der
Gewifsheit zuerkannt Bei der Betrachtung des particularen Urtheils
trat uns mit befondrer Deutlichkeit der Unterfchied zwifchen der
alten und der modernen Logik entgegen. Die erftere ift durch-
weg Logik des Inhalts, die letztere Logik des Umfangs. Noch
nirgend confequent durchgeführt, macht fie fich doch unter dem
allgemeinen Einflufs der modernen Denkweife überall geltend. Sie
fchliefst fich naturgemäfs an die höheren Gebiete der Logik an,
128 Raum, Zeit und Zahl.
welche erft in der Neuzeit entftanden find, und die Begründung
der apodiktifchen Sätze auf die räumliche Anfchauung tritt in ihr
deutlicher hervor als in der alten Logik. Eine ziemliche Anzahl
yon Mifsverftändniffen und Fehlern ift aus der Vermengung beider
Standpunkte entftanden. Die in neuerer Zeit üblich gewordene
Darftellung der Begriffsverhältniffe durch Sphärenbilder fchwankt
noch zwifchen Veranfchaulichung und Beweis. Einzelne Logiker
nehmen die Sphärenbilder als beweifend an, ohne die Confequen-
zen diefer Annahme hinlänglich zu beachten. Wenn die Sphären-
bilder der Begriffsverhältniffe beweifend fein foUen, fo muffen fich
auch aus der confequenten Entwicklung ihrer überhaupt möglichen
Combinationen fämmtliche Regeln der Syllogiftik, fowie der Um-
kehrung der Urtheile ergeben. Dies wird thatfächlich nachgewie-
fen und damit der Begründung der logifchen Apodikticität auf
räumliche Anfchauung eine neue Stütze gegeben. In der Syllogi-
ftik wird die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen Anficht vom Werthe
der verfchiednen Schlufsformen gezeigt und dargethan, dafs grade
diejenigen Formen, welche ihrer Natur nach nicht diirch den Real-
grund als Mittelbegriff fchliefsen, in den neueren Wiffenfchaften
die gröfste Bedeutung erlangt haben. Endlich wurde gezeigt, dafs
das disjunctive Urtheil fich von allen andern Urtlieilsformen
unter fcheid et, und dafs es die Grundlage bildet für die höheren
Gebiete der modernen Logik, insbefondere für die Wahrfcheinlich-
keitsrechnung. Die fundamentalen Sätze derfelben liefsen fich aus
dem Wefen des disjunctiven Urtheils ableiten und an einfachen
linearen Raumbildern, identifch mit denjenigen für das disjunctive
Urtheil, zur Anfcl^auung bringen und damit beweifen.
Wir fehen, wie fich durch alle Neuerungen die Bedeutung des
Raums und der räumlichen Anfchauung hindurchzieht. Zwar liegt
das Raumbild auch der alten Logik zu Grunde, allein erft in der
modernen, welche die Begriffsverhältniffe nach dem Umfang der
Begriffe ordnet, und welche diefen Umfang als ein coUectives
Ganze betrachtet, ficht man unmittelbar denZufammenhang zwi-
fchen der Apriorität der Sätze und der räumlichen Anfchauung.
Die collective Auffaffung des Begriffs, welche Leibnitz (f. oben
S. 72. f.) als einen fo fchweren Fehler des Nizolius betrachtete, ift
der modernen Logik wefentlich, und es haben alfo in ihr in der
That, was Leibnitz fo fehr befürchtete, die Empiriker gefiegt.
Zunächft freilich gilt diefer Sieg nur für die logifche Technik, und
Raum, Zeit und ^aht. 129
wenn es den Metaphyfikern beliebt, nach wie vor den Gemeinbe-
g^riff als ein ^totum difiributivunnk aufzufaffen, fo haben fie fich
nur darüber auszuweifen, dafs bei vorkommenden Schlüffen ihre
Begriffe fich in formaler Hinficht genau fo verhalten, als feien fie
CoUecti vbegriffe , denn nur für diefe ift die Apriorität der Begriffs-
verhältniffe aus der räumlichen Anfchauung zu entnehmen.
Für unfre erkenntnifstheoretifche Unterfuchung aber fteht es
keineswegs feft, dafs die Empiriker gefiegt haben; handelt es fich
doch eben um den Urfprung apriorifcher Elemente, die wir in der
Logik wie in der Mathematik vorfinden. Allerdings ift jenes blitz-
fchnelle Durchprobiren mannigfaltiger Variationen innerhalb des vom
Begriff gegebenen Gefetzes der Erfahrung verwandt, allein es ift
doch etwas ganz Andres als Erfahrung. Der ganze Vorgang
bleibt in uns. Es bedarf keines erneuten, ja nicht einmal eines
crften Anftofses von Aufsen, um die Wahrheit eines Satzes zu er-
kennen. Immerhin aber ift fo viel richtig, dafs die apriorifchen
Urtheile nicht fertig im Geifte liegen, fondern dafs fie, ganz wie
die Erfahrungsurtheile, durch einen plötzlichen Act pfychifcher
Synth efis gefchaffen worden. Sie find daher auch, ganz wie die
Erfahrungsurtheile, wiewohl in ungleich geringerem Grade, dem
Irrthum unterworfen; was ihrem Anfpruch auf Nothwendigkeit
keinen Eintrag thut, fo lange der Irrthum nicht entdeckt und wi-
derlegt wird.*) Soll man nun, bei diefer allerdings fchlagenden
*) Vgl. Gefch. d. Materialismus. 2. Aufl. II. S. 20. u. f. — Wenn Göring
in feinem verdienftlichen Verfuch einer Kritik der Vemunftkritik (Syftem der krit. Phi-
lofophie II. Leipz. 1875. S. 153) bemerkt, es komme ihm mir gegenüber haupt-
fächlich darauf an, zu beweifen, dafs man dem objectiven, wie dem fubjectiven
Factor in der Erkenntnifs das gleiche Recht widerfahren laffen muffe, fo ift dem
gegenüber zunächft der Sinn von »objectiv« und »fubjectiv« in's Klare zu ftellen.
Man braucht diefe Ausdrücke jetzt oft wie »äufserlich« (im Sinne von an fich be-
ftehenden Dingen) und »innerlich« d. h. aus dem empirifch erkannten eignen Leib
und feinen pfychifchen Functionen ftammend. Auck wird »objectiv« als an fichr
gewifs, »fubjectiv« als blofs individuell angefehen. Der urfprüngliche Gebrauch
diefer Ausdrücke ift davon fehr verfchieden. Kant hat zur Umbildung, nicht auf
dem Wege abfichtlich veränderter Nomenclatur, fondern durch Sinn und Inhalt feiner
Philofophie felbft, den Anftofs gegeben und die Mifsverftändniffe feiner Nachfolger
thaten das Weitere. Ygl. z. B. folgende Stelle in der Kritik der r. Vern. (Elementarl.
II. Th., II. Abth., I. Buch, 2. Abfchn.), an welcher der Uebergang der Bedeutun-
gen deutlich hervortritt. »Wenn man eine Idee nennt, fo fagt man dem Object
nach (als von einem Gegenftande des reinen Verftandes) fehr viel, dem Sub-
jecte nach aber (d. i. in Anfehung feiner Wirklichkeit unter empirifcher
Lange, Logische Studien. 9
130 Raum, Zeit und Zahl,
Analogie den Vorgang in der Anfchauung aus demjenigen in der
Erfahrung ableiten, oder umgekehrt, oder etwa beide aus einem
gemeinfamen Princip? Erfteres fcheint unmöglich, da die Erfahrung
felbft der Erklärung bedarf; vor allen Dingen hinfichtlich der
Raumform und des Zufammenhangs in ihren Erfcheinungen. Die
empiriftifche Raumlehre der Phyfiologen leiftet vortreffliche Dienfte
zur Erklärung der Ausbildung und Vervollkommnung unfrer Raum-
vorftellungen, aber den erften Urfprung derfelben vermag fie nicht
zu erklären; den Raum felbft fetzt fie überall fchon voraus. Auch
Lotze's berühmte Theorie der Localzeichen in den Empfindungen
fetzt den Raum fchon im erften Anfange voraus; denn wie kann
eine Empfindung Localzeichen fein, wenn nicht das Princip der
Localifation und damit eine Raumvorftellung fchon gegeben wäre.
Darin wird alfo Kant wohl Recht behalten: Die Vorftellung des
Raumes kann »nicht aus den Verhältniffen der äufseren Erfchei-
nung durch Erfahrung erborgt fein, fondern diefe äufsere Erfahrung
ift nur durch gedachte Vorftellung allererft möglich«. Aber gilt
nicht daffelbe auch für jene Anfchauung, aus welcher wir die
Wahrheiten der Mathematik und der formalen Logik ableiten?
Kant verfährt hier fehr kurz, indem er aus der Nothwendigkeit
der Raumanfchauung ohne Weiteres die apodiktifche Gewifsheit
aller geometrifchen Grundfätze ableitet. Wie diefe Apodikticität zu
Stande komme, kümmert ihn weiter nicht. Es fcheint bei ihm
der Gedanke zu Grunde zu liegen, dafs mit der Nothwendigkeit
des Raumes auch die Nothwendigkeit feiner Eigenfchaften gege-
ben fei, welche eben durch die Geometrie entwickelt werden. Man
kann dies zugeben; gleichwohl bleibt die Entftehung der bewufs-
ten Urtheile über die Eigenfchaften des Raumes an einen Pro-
cefs gebunden, welcher demjenigen der Induction fehr nahe ver-
wandt ift. Diefen Procefs bis auf das Innerfte zu verfolgen, ift
ebenfo noth wendig, als die Eigenfchaften des Raumes mit der
Natur unfres Geiftes in Verbindung zu bringen. Gehen wir alfo
auf unfre obige Frage zurück, fo dürfte es wohl möglich fein, die
fynthetifche Natur der Erfahrung aus derjenigen der Anfchauung
abzuleiten, da ja in jeder Erfahrung Anfchauung enthalten fein
Bedingung) eben darum fehr wenig, weil fie als der Begriff eines Maximum in
concreto niemals congruent kann gegeben werden.« — So viel als eine allgemeine
Erinnerung. Pas Weitere in Bezug auf Göring's Kritik mufs hier leider dahingeftellt
bleiben.
^aum, Zeit und Zahl. J31
mufs. Beides aus einem gemeinfamen Princip abzuleiten, wird
nicht wohl angehen, da die Anfchauung allenthalben, wenn auch
ohne Bewufstfein des Subjectes, die allgemeinften Principien der
Raumformen,, und damit indirect aller Erfcheinungen , hergiebt
Infofern ift alfo Erfahrung abhängig von der Anfchauung, allein
die Anfchauung felbft bedarf noch der weiteren Erklärung.
Kant überhebt fich diefer Erklärung mit jenem kühnen Griff,
welcher der ganzen Vemunftkritik ihr eigenthümliches Gepräge
giebt: er poftulirt gegenüber der empirifchen Anfchauung die »reine
Anfchauung«, umgeht damit den Boden der Pfychologie und macht
die Erkenntnifstheorie zu einer rein metaphyfifchen Wiffenfchaft,
welche ihre Lehren aus lauter Poftulaten deducirt. Die empirifche
Anfchauung definirt Kant fogar in der Regel fo, dafs fie faft mit
der Erfahrung zufammenfällt, indem er in beiden Fällen verlangt,
dafs der Gegenftand äufserlich gegeben fei und unfre Sinnlichkeit
errege. Aus zahlreichen andern Stellen und dem ganzen Zufam-
menhang, in welchem von »Anfchauung« die Rede ift, geht jedoch
hervor, dafs Kant unter Anfchauung auch die Vorftellung eines
Gegenftand es in der Phantafie mit verfteht, und dies ift, fo
lange man den pfychologifchen Boden nicht verläfst, von der ent-
fcheidendften Bedeutung. Die Lehrfätze der Geometrie und die Grund-
züge der formalen Logik erhalten ihre apriorifche Geltung aus-
fchliefslich mit Hülfe der Phantafie, fei es nun, dafs eine Beweis*
figur dabei benutzt werde, oder nicht. Denn die gezeichnete Figur
ift ja in diefem Falle felbft Product der Phantafie und an ihre
Modification in der Phantafie knüpft fich die Vorftellung der Noth-
wendigkeit und Allgemeinheit der Regel. Dabei kommt es gar
nicht darauf an, ob nicht etwa die Leiftungen der Phantafie erft
durch äufsere Erfahrung möglich werden. Diefe offene Frage kann
man ruhig zukünftigen pfychifchen Forfchungen überlaffen. Auf
jeden Fall geht die Phantafie — fo namentlich in der Erforfchung
mathematifcher Wahrheiten — weit über die Anregungen der Er-
fahrung hinaus und verfolgt dabei ftreng die Richtfchnur unabän-
derlicher Gefetze, welche in nichts Anderem als in der Natur unf-
rer Raumvorftellung ihren Grund haben können, und welchen des-
halb auch die gefammte Erfahrung apriori unterworfen fein mufs.
Kant genügte diefe Ableitung des Apriori nicht, die übrigens
ja auch nach unfrer Anficht noch durch eine Unterfuchung über
das Wefen der Raumvorftellung ergänzt werden mufs. Er poftu-
9*
132 Ranm, Zeit und ZahK
lirte die »reine Anfchauung«, wie er die reine Raumform poftulirte,
während er doch fehr wohl wufste, dafs die empirifche Raumvor-
ftellung niemals ohne die Vorftellüng eines ausgedehnten Gegen-
ftandes fein kann.
Was ift nun diefe reine Anfchauung? Streng genommen
ift fie gar keine Anfchauung, fondern nur die im Gemüthe bereit
liegende Form aller Anfchauung. Diefe »Forma kann nicht felbft
wieder »angefchauta werden, weil dazu Empfindungsmaterial nöthig
wäre; wenn man nicht ein befondres überfmnliches Anfchauungs-
vermögen annehmen will. Kant ift hier andrer Anficht und will
das Unvereinbare vereinigen. Er behauptet, wenn ich von der
Vorftellüng eines Körpers alles abfondre, was fich irgend abfon-
dern läfst, wie Theilbarkeit, Härte, Farbe u. f w.,.fo bleibe zuletzt
noch übrig Ausdehnung und Geftalt, und diefe foUen nun zur
reinen Anfchauung gehören, »die a priori, auch ohne einen wirk-
lichen Gegenftand der Sinne oder Empfindung als eine blofse Form
der Sinnlichkeit im Gemüthe ftattfindet«. — Aber kann ich mir
wirklich Ausdehnung und Geftalt eines Körpers vorftellen ohne
Umrifslinien ? Und find diefe ohne Empfindung, beziehungsweife
in der Phantafie vorgeftellte Empfindung möglich? — Kant's Er-
klärer Mellin (Wörterbuch u. »Anfchauung«) nimmt hier die
Stadt Magdeburg als Beifpiel. Wenn ich fie mir wegdenke, fo
bleibe doch noch der Raum übrig, den fie eingenommen und die
Anfchauung diefes Raumes fei eine reine Anfchauung. Man darf
hier wohl fragen : Wie ift denn diefer Raum in meiner Vorftellüng
befchaffen? Sehe ich an der Stelle, wo Magdeburg ftand, Aecker
und Wiefen, die ruhig dahinfliefsende Elbe in ungeftörtem Zufam-
menhang, als ob hier nie eine Stadt geftanden? Oder fehe ich
einen dunkeln Fleck von den Umriffen der Stadt Magdeburg ? Im
erfteren Falle habe ich keine Anfchauung überhaupt mehr, auch
nicht von der Raumform der Stadt Magdeburg, wiewohl der Raum,
den fie eingenommen, in gewiffem Sinne noch da ift. Im letzteren
Falle habe ich eine empirifche Anfchauung, denn der dunkle
Fleck hat feine ihm entfprechende Empfindung, fo gut, wie vorhin
das ausgeführte Bild der Stadt. Die Erfcheinungen, welche fich
an den blinden Fleck auf der Netzhaut knüpfen, können vortreff-
lich dienen, dies weiter zu illuftriren. — Die Sache wird um kein
Haar anders, wenn man an die Stelle der Stadt Magdeburg die
einfachften mathematifch begrenzten Körper fetzt, z. B. einen Würfel
Raum, Zeit und Zahl. 133
aus Elfenbein. Hier kann man auch den Stoff durch Abftraction
wegfchaffen und die reine Form des Würfels übrig laffen: man
wird fie doch iTie ohne Beimifchung von Empfindung »anfchauen«
können, fo wenig man fich überhaupt auch die einfachfte geome-
trifche Figur vorftellen kann, ohne dafs die Umrifslinien in der
Phantafie eine etwas andre Färbung annehmen, als der Hintergrund.
Damit ift aber bewiefen, was im Grunde fchon direct aus Kanfs
Definition der Anfchauung folgt, dafs alle wirkliche Anfchauung
auch empirifche Anfchauung, und dafs die reine An-
fchauung gar keine Anfchauung ifl.
Wir laffen hier dahingeftellt, wie diefe unabweisbare Zurecht-
ftellung auf die transfcendentale Erörterung des Begriffs vom
Räume zurückwirken mufs. Für uns bedürfte es einer reinen An-
fchauung nicht mehr, da wir den Grund der Apriorität der mathe-
matifchen Urtheile fchon in der empirifchen finden. Es bleibt
jedoch Kanfs Poftulat beliehen, dafs es für das Zuftandekommen
der empirifchen Anfchauung einen Grund im Subject geben muffe;
dagegen kann nicht mehr behauptet werden, dafs diefer Factor
die reine Form der Anfchauung im Gegenfatze zur Materie fei,
welche der Empfindung angehöre.
Wir haben gefehen, dafs bei allen Erkenntniffen apriori, welche
fich auf die unmittelbare Anfchauung in der Phantafie ftützen , eine
Regel, oder, was hier daffelbe ift, ein Begriff, leitend eintritt. Ohne
diefen Begriff würde die Variation der Raumbilder ein leeres, nichts
beweifendes Spiel fein. Und doch liegt die Beweiskraft in der
Anfchauung; ja, der Begriff felbft wird durch die Anfchauung
erft fixirt. Es ift daher anzunehmen, dafs im Wefen der An-
fchauung ein objectiver Factor liege, welcher dem fubjectiven
Apriori entfpricht und daffelbe beherrfcht. Hinter dem Ueberzeu-
gungsgrunde, den wir in der empirifchen Anfchauung finden, läge
alfo noch ein Realgrund , der zwar nicht »reine Anfchauung a, aber
doch ebenfo wenig empirifche ift, der fich zur empirifchen verhält,
wie die allgemeine Urfache zur einzelnen Wirkung, wie eine be-
harrende und für die ganze Menfchheit gleich geltende Grundlage
zu den aus ihr hervorgehenden und verhältnifsmäfsig fpät entwickel-
ten bewufsten Erkenntniffen der einzelnen Menfchen. Man kann
diefen Realgrund nicht deduciren, weil er kein Begriff, fondern
nur eine wie immer geartete Urfache von Begriffen ift.
Das Raumbild eines Gegenftandes, z. B. eines Dreiecks, wird
134 Raum, Zeit und Zahl.
alfo beftimmt durch den Begrifif des Gegenftandes ; diefer Begriff
aber wird erft gegeben durch die betreffende Anfchauung. Die
Art, wie fich hier Begriff und Anfchauung zu einander verhalten
und namentlich die Variation des Raumbildes innerhalb der durch
den Begriff gegebenen Regel entfpricht faft voUftändig demjenigen,
was Kant das Schema und den Schematismus der Begriffe
nennt. Diefe Lehre ift, wenn man vom transfcendentalen Gebrauch
derfelben ganz abfieht, ebehfo richtig als bedeutungsvoll: eine wahre
Entdeckung für Logik und Pfychologie zugleich. Noch lange nach
Kant haben fich die Pfychologen vergeblich darüber den Kopf
zerbrochen, wenn fie nicht gedankenlos über die Frage hinwegge-
gangen, was das pfychologifche Wefen des Begriffs fein möge, da
wir ja doch in unferem Vorftellungsleben nichts als einzelne An-
fchauungen vorfinden. In Kant's Lehre vom Schematismus der
Begriffe hatten fie die Löfung des Räthfels in der Hand. »Der
Begriff vom Hunde«, fagt Kant fehr richtig, »bedeutet eine Regel,
nach welcher meine Einbildungskraft die Geftalt eines vierfüfsigen
Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige
befondere Geftalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein
jedes mögliche Bild, was ich in toncreto darftellen kann, einge-
fchränkt zu fein.« Kant irrte nur darin, wenn er diefen Schema-
tismus einfeitig dem Verftande zufchrieb, während er offenbar ein
Werk der Phantafie ift, die in der Production einer Bilderreihe die
Regel concret darftellt, welche in abftracter Darftellung, d. h. durch
blofse Worte fixirt, dem Verftande zugefchrieben werden mag, fo
weit man fich überhaupt der Lehre von den getrennten Seelen-
vermögen bedienen will. In der That ift der Begriff der An-
fchauung immanent; Verftand und Phantafie find bei der Pro-
duction des Schemas ein und daffelbe. Das Schema ift nicht ein
Bindemittel zwifchen Begriff und Anfchauung, fondern es ift die
unmittelbare pfychologifche Erfcheinung des Begriffs.
Die Sprache und die mathematifchen Zeichen ermöglichen uns,
Begriffe ohne Anfchauung aufzuftellen, d. h. ohne unmittelbar ent-
fprechende Anfchauung, denn in gewiffem Sinne giebt das Zeichen
felbft, deffen wir uns zur Feftftellung folcher Begriffe bedienen,
fchon eine Anfchauung und niemals kann diefe gänzlich fehlen.
Anfchauungen ohne Begriff kann es nicht geben, da JQde An-
fchauung fich dadurch von einer blofsen Empfindungsgruppe unter-
fcheidet, dafs fie die Anfchauung von Etwas ift, von einem Ge^
Raum, Zeit und Zahl. 135
genftande, deffen fprachliche Bezeichnung, wenn fie auch in den
roheften Naturlauten beftände, einen Begriff bildet.
' Der Begriff des Gegenftandes, welcher angefchaut wird, be-
zeichnet zugleich die Einheit des Mannigfaltigen, welches in der
Anfchauung verbunden ift; ob er aber auch, wie ein befondrer
zur Anfchauung hinzutretender Factor diefe Einheit erfl fchafft, ift
keineswegs fo ficher, wie Kant annimmt Diefer führt für die
Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit in unferm Bewufst-
fein den äufserft folgenreichen Begriff der Synth efis ein, läfst
aber der Anfchauung für fich nur eine unvoUkommne und gleich-
fam proviforifche Synthefis zukommen. Erft indem die Spontanei-
tät des Verftandes zur Receptivität der Sinnlichkeit hinzutritt, alfo
durch einen befondern vom Verftande ausgehenden Act wird die
Synthefis des Mannigfaltigen in der Anfchauung fo vollzogen, dafs
diefelbe fich im Bewufstfein behaupten kann. Diefe ganze An-
nahme ift wieder unhaltbar, wie die gewaltfame Trennung von
Verftand und Sinnlichkeit überhaupt. Es hilft nichts, wenn man
bemerkt, dafs Kant diefe beiden Elemente der Erkenntnifs nur
zum Zwecke der Unterfuchung getrennt habe. Die Trennung wird
fo confequent durchgeführt und fo fehr als Thatfache behandelt,
als hätte man ein pfychologifches Factum vor fich, was doch
keineswegs der Fall ift. Die Synthefis dagegen, wenn man davon
abfieht, dafs fie ein Act der Spontaneität des Verftandes fein foll,
ift allerdings ebenfowohl eine pfychologifche Thatfache, als auch
ein Poftulat der metaphyfifchen Erkenntnifstheorie.
Die Synthefis ift die einzige pfychologifche Thatfache, welche
keiner Zurückführung auf Phyfiologie oder auf Mechanik der Ge-
hirnatome fähig ift und welche doch zu jedem Vorgange im Ge-
hirn und Nervenfyftem hinzutreten mufs, um das mechanifche
Factum zu einem pfychologifchen werden zu laffen. Man mufs
fich freilich fehr wohl hüten, aus dem blofsen Worte eine Erkennt-
nifs abzuleiten, die wir nicht haben. Wir wiffen weder, ob die
Synthefis eine Thathandlung des Verftandes ift, wie Kant mit
grofser Zu verficht annahm, noch wiffen wir, ob fie eine Lebens-
äufserung einer »Seele« als eines vom Körper verfchiednen Sub-
jectes ift, oder ob fie vom Mechanismus der Atome in einer für
unfre Anfchauung unfafsbaren Weife abhängt. Wir haben an die-
fem Ausdruck zunächft nicht viel mehr, als eine Fixirung der
Thatfache, dafs fich in allen unfern Vorftellungen Einheit eines
136 Raum, Zeit und Zahl.
Mannigfaltigen findet, und dafs diefe Einheit irgendwie entftanden
fein mufs. Kant nimmt es als eine Art von Axiom an, dafs oun-
ter allen Vorftellungen die Verbindung die einzige ift, die nicht
durch Objecte gegeben, fondern nur vom Subjecte felbft verrichtet
werden kann, weil fie ein Actus feiner Selbftthätigkeit ift«. Es han-
delt fich aber zunächft nicht um die Vorftellung, fondern um die
That fache der Verbindung. Ift diefe einmal gegeben, fo ift
durchaus nicht einzufehen, warum die Vorftellung der Verbindung
nicht, gleich andern Vorftellungen, auf dem Wege der Erfahrung
und der Abftraction in uns entftehen follte. Die Thatfache aber
der Verbindung des Mannigfaltigen in der Empfindung zur Einheit
einer Vorftellung kann ganz wohl ein Vorgang fein, durch welchen
wir, als Subject, erft entftehen. Richtig ift dagegen, dafs fie
von der fubjectiven Seite der pfychifchen Erfcheinungen nicht zu
trennen ift; denn jeder Uebergang von unbewufsten Eindrücken zu
wirklichem Bewufstfein kommt durch Synthefis zu Stande.
Wenn fonach durch und mit der Synthefis erft ein Bewufst-
fein und damit Subjectivität entfteht, fo mufs doch gleichzeitig
auch ein Object gefchaffen werden, welches der Gegenftand des
Bewüfstfeins wird. Dies Object erfcheint dem Bewufstfein als etwas
Aeufseres und ihm gegenüber verdichtet fich die Subjectivität
allmählig zur Vorftellung eines »Ich«, welches fich vom Object
unter fcheidet , während doch diefes feinen ganzen und ausfchliefs-
lichen . Inhalt ausmacht. Will man annehmen, dafs das Bewufst-
fein Eigenfchaft eines befondern Wefens, eines Individuums fei, fo
ift kein Zweifel, dafs das Object diefem Individuum fo gut ange-
höre, wie die Subjectivität. Beides entfteht durch ein und denfelben
Act der Synthefis. Kant lehrt ferner, dafs fämmtliche Vorftellungen,
welche durch einen folchen Act der Synthefis entftehen, nothwen-
dig zu einem und demfelben Bewufstfein gehören muffen, weil fie
fonft auseinander fallen und gar nicht mir angehören würden. Ohne
irgend etwas Andres über das Ich auszumachen, z. B. ob es Seele,
ob Individuum, ob ein Modus nach der Philofophie Spinoza's, ftellt
Kant das Eine unbedingt feft, dafs zur Möglichkeit eines dauern-
den und zufammenhängenden Bewüfstfeins die Identität des Ich
gehöre, zu welcher alle überhaupt möglichen Erfcheinungen zum
Voraus in Beziehung ftehen muffen, um Gegenftand für dafielbe
werden zu können.
Auf die reine Apperception und die zahlreichen daran fich
Raum, Zeit und Zahl. 137
knüpfenden Fragen gehen wir hier nicht näher ein und flellen nur
die Frage, ob die Verbindung aller Vorftellungen durch die Ein-
heit der Synthefis wirklich auf der fubjectiven Seite der Erkcnnt-
nifs und nicht vielmehr auf der objectiven zu Stande kommt ? Da
die Ich-Vorftellung urfprünglich ganz leer ift und fpäter fich an
die Vorftellung des eignen Leibes mit feinen Empfindungen und
Gefühlen anlehnt, fo mufs die Einheit der Synthefis in den trans-
fcendentalen Hintergrund des Lebens und der Wirklichkeit verfetzt
werden, wo Niemand fie beobachten kann. Ganz anders, wenn
man fie auf der objectiven Seite der Erkenntnifs fucht. Hier
haben wir das Urbild aller Synthefis in der Raumvorftellung
anfchaulich vor uns. Die Raumvorftellung ift ftets Vorftellung eines
einheitlichen Ganzen mit gefonderten Theilen. Empfindung und
Ausdehnung find in ihr unzertrennlich verbunden. Sie umfafst ftets
den gefammten Inhalt unfrer Anfchauung; der Raum ift daher
bald grofs, bald klein und doch immer ein und derfelbe. Man
darf ihn nicht unendlich nennen, weil wir Unendliches gar nicht
vorftellen. Auch hat unfre Raumanfchauung ftets eine beftimmte
Form, wie beweglich auch die Grenzen fein mögen. Sobald man
etwas jenfeit des Raumes vorftellen will, ift der Raum wieder da
und fchliefst auch diefes ein, ohne deshalb unendlich zu werden.
Aus diefer Eigenfchaft des Raumes, dafs er ftets gröfser ift, als
die Summe der Ausdehnung aller angefchauten Gegenftände, wird
die gedachte Unendlichkeit deffelben abgeleitet; welche in der
Anfchauung nur als ein beftändiges Wachfen über jedes gegebene
Ziel hinaus vorgeftellt werden kann.
Der Raum ift fonach die anfchauliche Form meines Ich mit
feinem wechfelnden Inhalt; denn aufserhalb des Raumes habe
ich weder Anfchauungen noch Vorftellungen. Das Ich, welches
fich durch Ideenaflbciation an die Erfcheinung des eigenen Leibes
anknüpft, ift nicht das Ich der Erkenntnifs, das Subject zu allen
Objecten, denn für dies abfolute Subject ift auch der eigne Leib,
wie jeder Gegenftand der Anfchauung, Object und Aufsenwelt.
Man hat aber den Gegenfatz zwifchen dem leibhaften Ich und ihm
gegenüberftehenden äufseren Erfcheinungen in unklarer Weife auf
das abfolute Ich, welches nur Subject und niemals Object fein
kann, übertragen. Das leibhafte Ich fteht feiner Aufsenwelt fchroff
gefchieden gegenüber, und diefe Scheidung ift eine der erften
Grundlagen der Wirklichkeit, in welcher die Aufsenwelt fchlccht-
138 Raum, Zeit und Zahl.
hin ein Aeufseres ift und bleibt. Das leibhafte Ich hat fein Inneres
mit beftimmtem und mannigfaltigem Inhalt. Die Stimmungen der
Mattigkeit oder freudiger Erregung werden empfunden, als ob fie
in der Bruft oder im Herzen ihren Sitz hätten. Hunger und Dürft,
Schmerz und Luft, ja fogar die Spannkraft des eigenen Willens,
die Anftrengung des Nachdenkens werden gefühlt und als innere
Vorgänge dem Aeufseren entgegengefetzt. Alles dies gefchieht
mit Recht, wenn auch unter zahllofen phyfiologifchen und pfycho-
logifchen Mifsverftändniffen, fo lange es fich um das leibhafte Ich
handelt, welches der Aufsenwelt — ftreng genommen müfste man
fagen, der übrigen Aufsenwelt — gegenüberfteht. Sobald man
aber das abfolute Ich ins Auge fafst, den fubjectiven Pol der Er-
kenntnifs, das ewig fich felbft gleiche Etwas, deffen Gegenftand
die Gegenftände find, fo fchwindet aller befondere Inhalt. Sein
einziger Inhalt ift das grofse Ganze der Aufsenwelt felbft in ihrer
räumlichen Erfcheinungsform. Will man auch hier dies als ein
Aeufseres bezeichnen und daneben dem erkennenden Ich noch
eine innere Erkenntnifs zufchreiben, fo geräth man auf das Gebiet
gegenftandlofer Speculationen und willkürlicher Erfindungen. Selbft-
erkenntnifs kann niemals etwas Andres fein als Erkenntnifs feiner
Perfon, wie fie als leibhaftes Ich den übrigen Gegenftänden der
Aufsenwelt handelnd und duldend gegenüberfteht Selbftbewufst-
fein hat keinen Sinn, aufser dem eines Wiffens um feine eigne, als
Object gleich allen andern Objecten erfcheinende Perfon. Das
erkennende Ich ift nicht das erkannte. Jenes ift das bleibende
Subject zu allen Objecten ; diefes ift felbft fchon Object und zwar
von Haufe aus, nicht erft durch einen befondern Act der Selbft-
erkenntnifs. Alle Wahrnehmung unfres »inneren Zuftandes« ift
nur Wahrnehmung eines Theiles der Zuftände unfrer empirifchen
Perfon und kann gar keinen Inhalt gewinnen, wenn fie fich nicht
an körperliche Symptome hält.
Es kann daher, was wir auch an einem andern Orte gezeigt
haben, auch keinen »inneren Sinna geben. Gäbe es aber auch
einen folchen, oder wollte man die Wahrnehmung des eignen Zu-
ftandes blofs der Kürze oder der Ueberfichtlichkeit wegen fo be-
zeichnen, ungeachtet es keine zwei Sinne, fondern nur zweierlei
Functionen eines und deffelben Sinnes gäbe, fo würde es damit
doch nicht gerechtfertigt fein, diefer nach Innen gewandten Wahr-
nehmung die Zeit als Erfcheinungsform zuzufchreiben. Die empi-
Raum, Zeit und Zahl. 139
rifche Wahrnehmung unfres inneren Zullandes kann gar nicht in
der blofsen Zeitform vollzogen werden. Wir finden immer eine
Mehrheit von Empfindungen gleichzeitig vor, welche nur in Form
eines Raumbildes zur Synthefis gelangen können. Die Volksfprache
und die Dichter, welche diefe Empfindungen fo treu als möglich
wiederzugeben fuchen, finden das Herz bald leicht, bald fchwer,
bald hart, bald weich u. f. w. Der Dichter läfst feine Gefühle
»durch das Labyrinth der Bruft« wandeln, oder »es fchweifen leife
Schauer wetterleuchtend durch die Bruft«. Aber vielleicht foU im
»reinen Denken« die Zeitform ausfchliefslich hervortreten ? Was ift
dies reine Denken? Der nachdenkende Geometer hat feine Figu-
ren im Sinn, der Baumeifter feine Pläne, der Feldherr feine Marfch-
ordnung — überall Raumbilder. Am Ende bleibt uns nur der
Metaphyfiker mit feinen Gedanken über nothw endige Undinge;
allein auch diefer kann fich von den Raumbildern nicht losreifsen.
Die Kategorien fogar fetzen, wenn fie empirifch gedacht werden
foUen, überall das Vorhandenfein räumlich ausgedehnter Dinge
voraus. Will man aber, um das reine Denken zu beobachten,
fyftematifch Alles davon abfondern, was zur Empfindung und zur
Raumform gehört, fo beachte man auch, dafs diefe Art" von
»Denken« eine reine Abftraction ift. Sollte es etwa gelingen, fie
mit irgend einer Formel in die reine Zeitform zu zwingen, fo ift
damit nichts gewonnen, denn auf das wirkliche Denken, und
alfo auch auf die Beobachtung unfres inneren Zuftandes^ erleidet
eine folche Formel gar keine Anwendung.
Kant felbft hat fehr wohl eingefehen, dafs der äufsere Sinn
der erfte und urfprüngliche ift, und das wir innere Erfahrungen nicht
vor den äufseren haben können. Er hat auch eingefehen, dafs
alle unfre empirifchen Zeitvorftellungen fich an Raumvorftellungen
anfchliefsen. Eine Linie bildet uns die Vorftellung vom Verlaufe
der Zeit. Bewegungen im Raum geben uns Veranlaffung die Zeit
zu meffen. Sollte man daraus nicht fchliefsen, dafs die Zeitvor-
ftellung neben der Raumvorftellung überhaupt eine fecundäre ift?
Dafs Kant gleichwohl die Zeit zu einer reinen Form der An-
fchauung erhob, beruht hauptfächlich auf der Erwägung, dafs die un-
mittelbar gegebenen Anfchauungen der Bewegung und Veränderung
nicht ohne Empfindung zu Stande kommen können und alfo em-
pirifch find, während fie offenbar die der Zeit als reine Anfchauung
mit in fich fchliefsen. Wir haben oben gezeigt, dafs auch die
140 Raum , Zeit und Zahl.
Raumvorftellung niemals ohne Empfindung und dafs die reine An-
fchauung gar keine Anfchauung ift. Es hindert uns alfo nichts, die
unleugbar pfychologifch urfprüngliche Anfchauung der Bewegung der-
jenigen des ruhenden Raumbildes zur Seite zu fetzen, und wenn es
auch richtig ift, wie die Formeln der Mechanik zeigen, dafs die Be-
wegung auf Elemente des Raumes und der Zeit zurückgeführt wer-
den kann, daher die Zeit hier in der Rechnung als das Einfachere
erfcheint, fo folgt daraus doch noch nicht, dafs fie Anfchauung oder
eine Form der Anfchauung fei. Die Axiome der Mechanik werden
daher auch fämmtlich aus der Anfchauung eines fich bewegenden
Körpers und nicht aus irgend einer reinen Zeitvorftellung entnommen.
Was Kant fonft noch (in der metaph. Erörterung 3) für die apriorifche
Natur der Zeitvorftellung anführt, dafs aus ihr z. B. das Axiom fliefse,
die Zeit habe nur eine Dimenfion, fo . ift dies angebliche Axiom
nicht einmal unbeftritten, und der Satz, dafs verfchiedne Zeiten
nicht zugleich, fondern nacheinander find, ift ein analytifcher. Es
ift eben ohne die Anfchauung der Bewegung im Räume durchaus
zu keinem die Zeitverhältniffe betreffenden Axiome zu gelangen.
Mit der Zeit pflegt man die Zahl in engfte Verbindung zu
bringen. Nach Kant ift eine transfcendentale Zeitbeftimmung im
Allgemeinen die Vermittlung zwifchen der Kategorie und den Er-
fcheinungen; das reine Schema der Quantität aber foU die Zahl
fein, welche erklärt wird als »die Einheit der Synthefis des Man-
nigfaltigen einer gleichartigen Anfchauung überhaupt, dadurch, dafs
ich die Zeit felbft in der Apprehenfion der Anfchauung erzeuge«.
Von einer folchen Erzeugung der Zeit (auch ohne gleichzeitige
Raumvorftellung!) wiffen wir nichts. Empirifch betrachtet bildet
fich die Zeitvorftellung neben und aus der Raumvorftellung ver-
hältnifsmäfsig fpät, langfam und unficher; transfcendental betrach-
tet müfste fich die Behauptung als ein nothwendiges Poftulat zur
Erklärung der Erfahrung erweifen. Dies ift aber wiederum nicht
der Fall, da wir Alles, was die Zeit hier leiften foU, weit einfacher
und ficherer aus der Raumvorftellung ableiten. Schon Baumann
hat gezeigt, dafs die Zahl weit beffer mit der Raumvorftellung als
mit derjenigen der Zeit in Einklang ftehe. »Sie ift mit dem Raum
^ufammen und überall in ihm, daher die Geometrie auch auf arith-
metifche Ausdrücke gebracht wird.«*) Die älteften Ausdrücke für
*) Bau mann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren
Philofophie, II. Bd. Berlin 1869. S. 658 u. ff.
Ramn, Zeit und Zahl. 141
Zahlwörter bezeichnen, fo weit wir ihren Sinn kennen, überall Ge-
genftände im Räume mit beftimmten Eigenfchaften, welche der
Zahl entfprechen, fo z. B. Viereckiges der Zahl vier. Wir fehen
daraus auch, dafs die Zahl urfprünglich nicht etwa durch fyftema-
tifches Hinzufügen von Einem zu Einem u. f. w. entfteht, fondern
dafs jede der kleineren, dem fpäter entfliehenden Syftem zu Grunde
liegenden Zahlen durch einen befonderen Act der Synthefis der
Anfchauungen gebildet wird, worauf dann erft fpäterhin die Bezie-
hungen der Zahlen zueinander, die Möglichkeit des Addirens u. f. w.
erkannt werden.
Die algebraifchen Axiome beruhen, wie die geometrifchen,
auf räumlicher Anfchauung, und da, wo die Mathematiker den
Boden der Anfchauung verlaffen, wie beim Gebrauch der imaginä-
ren Zahlen, dienen die Conventionellen Zeichen felbft dem Denken
als fmn liehe Stütze. Das Recht diefer Operationen ftützt fich zu-
nächfl: fchlechthin auf die Analogie mit den der Anfchauung zu-
gänglichen Rechnungsformen und auf das Vertrauen, dafs eine mit
abfoluter Confequenz durch das Sinnlofe hindurchgeführte Rech-
nung jederzeit eine fiebere Rückkehr auf den Boden der Wirklich-
keit geftatte, während fie zugleich erhebliche Vortheile in der Auf-
ftellung fchnell zum Ziele führender Formeln darbietet. Das Ima-
ginäre hat feine Rechtfertigung nicht in fich felbft, fondern in der
Art, wie es fich für das Reelle verwenden läfst, und Baumann
hebt (a. a. O.) ganz richtig hervor, dafs diefe Verwendung urfprüng-
lich ein Experiment war, welches erft an feiner Uebereinftimmung
mit der Wirklichkeit feine Rechtfertigung fand. Wichtige Gebiete
der neueren Algebra find gradezu aus der Beobachtung von Raum-
bildern hervorgegangen. So namentlich die Combinationslehre,
auf deren Refultaten fo vieles Weitere ruht. Hier bilden die Buch-
ftaben, welche in Reih und Glied geftellt werden, ganz unzweifel-
haft die Vertretung von Gegenftänden überhaupt, und zwar von
einzelnen, wie wir in der Logik die Summe beliebiger Gegen-
ftände durch Kreife und Rechtecke dargeftellt haben. Es ift der
Raumvorftellung eigen, dafs fich innerhalb der grofsen, allumfaf-
fenden Synthefis des Mannigfaltigen mit Leichtigkeit und Sicherheit
kleinere Einheiten der verfchiedenften Art ausfondern laffen. Der
Raum ift daher das Urbild nicht nur der continuirlichen , fondern
auch der discreten Gröfsen, und zu diefen gehört die Zahl, wäh-
rend wir die Zeit kaum anders als Continuum denken können.
142 Raum, Zeit und Zahl.
Zu den Eigenfchaften des Raumes gehören ferner nicht nur die
Verhältniffe, welche zwifchen den Linien und Flächen geometri-
fcher Figuren ftattfinden, fondem nicht minder die Verhältniffe der
Ordnung und Stellung discreter Gröfsen. Werden folche dis-
crete Gröfsen als unter fich gleichartig betrachtet und durch einen
neuen Act der Synthefis zufammengefafst, fo entfteht die Zahl als
Summe. Werden aber mehrere Claifen discreter Gröfsen, welche
unter fich verfchieden find, von denen aber eine jede eine Menge
gleichartiger Gegenftände enthält, in Beziehung auf die Möglich-
keit der Zufammenordnung diefer Gegenftände unterfucht, fo ent-
fteht die Combinationslehre. Diefe wird von den Mathematikern
unter Anderem auch der Wahrfcheinlichkeitsrechnung zu Grunde
gelegt, deren Elemente wir oben aus den Raumbildern des dis-
junctiven Urtheils ableiteten. In diefen ftecken ebenfalls die Ele-
mente der Combinationslehre, aber auf geometrifche Weife darge-
ftellt, während der gewöhnliche Weg der Mathematiker der arith-
metifche ift. Erfterer befitzt den Vorzug gröfserer Anfchaulichkeit,
letzterer den der gröfseren Einfachheit und Kürze. Im Uebrigen
findet zwifchen beiden die vollftändigfte Analogie ftatt.
Hier wäre denn auch ein Wort an der Stelle über die zahl-
reichen Verfuche, die formale Logik in algebraifcher Form
darzuftellen. Der Zug zum Abftracten, welcher die neueren Mathe-
matiker bis in unfer Jahrhundert hinein einfeitig beherrfchte, mufste
namentlich Mathematiker leicht dahin führen, auch die Probleme
der Logik womöglich, gleich denen der Geometrie, in ein Rechen-
exempel aufzulöfen. In diefem Sinne befchäftigten fich Leibnitz
und Lambert und in unferm Jahrhundert befonders der englifche
Mathematiker Boole mit der algebraifchen Darfteilung der Logik.
Es mufs ohne Zweifel möglich fein, und Lambert hat dies fchon
eingehend gezeigt, fich zur Demonftration der logifchen Lehrfätze
gewiffer Zeichen von conventioneller Bedeutung zu bedienen, welche
denen der Algebra ähnlich find , und mit denen nicht nur Begriffe
und Begriffsverhältniffe, fondern auch gewiffe Operationen, wie
Abftraction und Determination, ausgedrückt werden. Zwar werden
die allgemeinften Grundwahrheiten der Logik auf diefem Wege
niemals fo anfchaulich dargeftellt werden können, als durch die
oben angewandten Figuren, denn wenn man z. B. beftimmt, dafs
das Zeichen a eine gewiffe Claffe von Gegenftänden bedeuten foll,
fo wird die Phantafie fich doch diefe Klaffe immer erft wie ein
RäHii), Zeit und Zahl.
143
ausgedehntes aber beftimmt begrenztes Etwas zu veranfchaulichen
fuchen. Dagegen hat die algebraifche Form den Vortheil, Ver-
hältniffe und namentlich Operationen mit Leichtigkeit ausdrücken
zu können, deren Darftellung in Linien theils unmöglich, theils
aber fehr umftändlich und weitläufig fein würde. So wird z.B.
Abftraction und Determination in vollkommen genügender Weife
durch Weglaffung oder Hinzufügung eines Buchftaben 'dargeftellt,
der ohne Bedenken ganz wie ein Coefficient behandelt werden
kann, ohne dafs dadurch etwa das algebraifche Verhältnifs einer
Multiplication vorgeftellt werden foll; denn auch für die Algebra
ift die betreffende Bezeichnungsweife nur eine fymbolifche und con-
ventionelle. Man fieht übrigens, wie durch diefe Leichtigkeit der
Darftellung unter Verzicht auf gröfsere Anfchaulichkeit die alge-
braifche Form fich vorzüglich für die Logik des Inhalts eignet,
während die Logik des Urnfangs auch hier nach Raumbildern ver-
langt. Man könnte diefelben etwa in folgender Weife geben:
Der übergeordnete Begriff fei:
B =
Die Hinzufügung der differentia fpecifica zu B ift vom Stand-
punkte der Logik des Umfangs nichts als die Ausfonderung eines
Theiles von B (nicht Divifion, weil die Theile von fehr ungleichem
Umfange find). Wir haben alfo:
B
*>
+ X =
B
wo X die Summe der übrigen, i coordinirten Begriffe bedeutet.
Es ift alfo ferner:
^ + [^ + p +....= WTW
B
Diefe Raumbilder genügen, um das Verhältnifs der übergeord-
neten und untergeordneten Begriffe und alfo die Refultate von
Abftraction und Determination für den Standpunkt der modernen
Logik befriedigend zu veranfchaulichen; denn um das Verhältnifs
der Subftanz zu ihren Accidenzen, um das Problem der Inhärenz
der Merkmale im Begriff kümmert fie fich wenig. Ihr ift einfach
die Beftimmung des Oberbegriffs durch die Differenz eine neue
Bezeichnung von Gegenftänden, beftimmter als die frühere und
eben deshalb nur einen Theil des früheren Umfangs umfaffend ; wie
144 Raum, Zeit und Zahl.
z. B. eine Adreffe beftimmter ift, wenn fie nicht nur die Stadt,
fondern auch die Strafse angiebt.
Die Leichtigkeit der Bezeichnung von Begriffen und Operatio-
nen in algebraifcher Form mufste natürlich den Gedanken nahe
legen, den ganzen logifchen Inhalt der Sprache in diefen Formeln
auszudrücken und damit eine "f* characteriflica univerjalisik, wie
Leibnitz fich ausdrückte, eine Begriffsfp räche herzuftellen, die
für den Unterrichteten ohne Rückficht auf die Verfchiedenheit der
Sprachen und der Nationen verftändlich wäre. Leibnitz freilich,
der diefen Gedanken mit fo grofser Vorliebe hegte, hat uns nur
unbrauchbare Notizen und Fragmente hinterlaffen. Er war viel
zu fehr Metaphyfiker, um den richtigen Ausgangspunkt finden zu
können. Er wollte gleich auf eine Feftflellung der Stammbegriffe
hinaus, aus denen die übrigen Begriffe nach beftimmten Methoden
abgeleitet werden follten. So verfiel er in den Fehler des Ray-
mundus LuUus, der mit feinen Tabellen und Apparaten für alle
möglichen Combinationen der allgemeinften Begriffe eine fehr nütz-
liche Arbeit verrichtet haben würde, wenn der Piatonismus in der
Begriffslehre begründet wäre. Mit der Unmöglichkeit der plato-
nifchen Lehre von der Stufenleiter der Begriffe werden diefe Be-
mühungen zur nutzlofen Spielerei. Sollte eine Pafigraphie in alge-
braifchen Formeln jemals zu Stande kommen — wovon die Mög-
lichkeit durchaus nicht zu leugnen ift — fo wird man jedenfalls
die Stammbegriffe, von denen man ausgeht, im Bereiche des Sinn-
lichen und Anfchaulichen zu fuchen haben, und nicht in den höch-
ften Abftractionen. — Aber auch bei der Befchränkung auf das
formale Gebiet liegt hier ein Irrthum fehr nahe; die Meinung
nämlich, man könne den ganzen Inhalt der Sprache in folchen
Formeln ausdrücken. Lambert giebt fogar in einem feiner »Ver-
fuche einer Zeichenkunft in der Vernunftlehre« eine förmliche
Anleitung zur Uebertragung aller fprachlichen Ausdrücke in die
logifche Zeichenfprache.*) Dafs es dabei zugeht, wie beim Bette
des Prokruftes, verfteht fich. wohl von felbft, und doch hat dies
Verfahren infofern feine Berechtigung, als dabei der rein logifche
Hauptinhalt der Sätze herausgegriffen und an Symbole angeknüpft
wird, welche keinerlei Zweideutigkeit zulaffen. Wenn ^Lambert
*) Lamberl's logifche und philo fophifche Abhandlungen. 1. Bd. Berlin 1782.
Vgl. insbefondre S. 163 u. ff.
Raum, Zeit und Zahl. 145
meint, mehr brauche man nicht, und der übrige Inhalt der Sprache
habe weiter keinen Werth, fo hat er wiederum vom Standpunkte
der reinen logifchen Analyfe Recht, aber diefer Standpunkt ift ein
fehr einfeitiger. Die Sprache ift aufs innigfte mit dem gefammten
Geiftesleben des Menfchen verflochten. Sie entfteht aus Reflex-
Wirkungen der Anfchauung, unter dem Einflufle der Synthefis
als eines fchaff*enden Actes unfres Geiftes. Die ungeordneten Laute,
in welchen der Säugling nur fpielend feine Sprachwerkzeuge übt,
treten plötzlich in Verbindung mit einer Regung der Apperception,
und im erften »Da!a »Da!a, welches das Kind mit gleichzeitiger
Fixirung eines auffallenden Gegenftandes ftammelt, liegt der Keim
der ganzen Sprache. Ihren Grundcharakter verliert fie auch bei
der höchften Ausbildung nicht. In ihr ift Stimmung, Gefühl, Ge-
danke, Streben ftets eng verbunden und alle Analyfe vermag diefe
Elemente nur annährend und unvollkommen zu trennen. Gilt dies
auch am meiften von dem gefprochenen Wort in feiner Unmittel-
barkeit, fo bleibt es doch auch der gefchriebenen Sprache eigen.
An die Worte knüpfen fich die Vorftellungen und jedes Wort hat
feine Gefchichte. Mag man daher immer behaupten, die Wörter
feien conventionell, fo gilt dies doch nur in dem Sinne, dafs durch
Anpaffung, Nachahmung und Autorität Ausdrücke von anfangs
befchränkterem Geltungskreife allgemein und national werden, wäh-
rend andere, gleich gut gewachfene, vom Schauplatze verfchwin-
den; oder fo, dafs ein Wort von anfangs weiterer Bedeutung durch
technifchen Gebrauch eine beftimmtere und engere Bedeutung er-
hält. Dabei bleibt aber in unfern Vorftellungen die Gefchichte
des Wortes, fein Zusammenhang mit dem ganzen Kreife thatfäch-
licher Zuftände unter denen es entftanden ift, fort und fort wirk-
fam. Es ift daher eine oberflächliche und unzulängliche Auffaffung
der Sprache, wenn Boole {laws of thought /. 23) es als etwas
rein zufälliges und bedeutungslofes anfleht, dafs z. B. der Römer
denfelben Gegenftand mit ^^civitasn bezeichne, welchen der Eng-
länder ^stateiL nenne. Wie oft find nicht folche Ausdrücke im
Grunde rein unüberfetzbar, wiewohl der abftracte Begriff* der Sache
fich bei beiden Nationen vorfindet. Das Wort, und ihm entfpre-
chend die lebendige Vorftellung, enthalten eine ganze Welt von
Theilvorftellungen, welche alle aus den thatfächlichen Zuftänden
flicfsen. Ebenfo verhält es fich mit den Sätzen. Sie fuchen die
Dinge gleichfam im Fluge zu ergreifen und enthalten in ihren
Lange, Logische Studien. tO
146 Raum, Zeit und Zahl.
Adverbien, in den Modis ihrer Zeitwörter, ja in der Wortftellung
und der Wahl der Ausdrücke eine folche Fülle von Nebenbezie-
hungen, dafs diefe oft genug an Bedeutung den logifchen Kern
des Satzes in feiner fchlichten Einfachheit überwiegen. Grade diefe
Eigenfchaften aber, welche die Sprache fo wenig geeignet machen
zu fcharfem Gedankenausdruck zu dienen, find für die allgemeine
Entwicklung des Menfchengeiftes von der höchften Wichtigkeit
Nicht nur Poefie und Rhetorik hängen daran, fondern auch die
ganze Fruchtbarkeit des wiffenfchaftlichen Denkens. Die Sprache
nöthigt uns, auf das natürliche Vorftellen zurückzugehen, welches
mitten aus einem Gebiete reichfter Beziehungen nach allen Seiten
hervorwächft. Zudem fcheint es eine Eigenthümlichkeit der Syn-
thefis zu fein, dafs fie ftets aus dem Gefammtzuftande unfres Geiftes
hervorgeht, daher -2. B. einfichtsvoUe Beobachter fchon bemerkt
haben, dafs eine kräftige Phantafie eine fehr wefentliche Bedingung
erfolgreichen wiffenfchaftlichen Denkens fei. Es handelt fich mit
einem Worte um die Productivität des Geiftes, die an den freien
Gebrauch der Sprache gebunden fcheint, während die exacte
Logik eine nicht minder wichtige Rolle erfüllt, indem fie durch
Aufhebung des Irrthums die Erweiterung unfrer Erkenntnifs
indirect fördert.
Auf zwei fehr verfchiedenen Wegen hat man verfucht, Sprache
und Logik in Einklang zu bringen. Den erften grofsartigen Ver-
fuch unternahmen die Logiker des fpäteren Mittelalters, mit denen
im Princip die von Ueberweg nach dem Vorgange Becker's und
Trendelenburg's eingefchlagene Richtung übereinftimmt Hier wird
verfucht, Alles in der Sprache logifch zu analyfiren, und für jeden
Cafus, jeden Modus, jedes Form wort, Hülfszeitwört u. f. w. eine
exacte Formel zu finden, mit deren Hülfe diefe Modificationen der
Rede in die logifche Analyfe aufgenommen werden können. Der
andre Weg ift der eben befchriebene, welcher Alles in der Sprache
als nutzlos und ftörend bei Seite wirft, was fich nicht in eine
Gleichung zwifchen Subject und Prädicat bringen läfst. Diefer
zweite Weg hat den Vortheil der Ausführbarkeit, während bei-
den eine gleiche Verkennung des Wefens der Sprache zu Grunde
liegt. Durch eine exacte Zeichenfprache fchafft fich der -Logiker
ein neues, rein verftandesmäfsiges Mittel des Gedankenausdrucks.
Daffelbe entbehrt aller Vorzüge der Sprache für das geiftige Leben
überhaupt, ift aber auch frei von allen ihren Nachtheilen in Be-
Raum, Zeit und Zahl. 147
r
Ziehung auf präcifes, von allen Zweideutigkeiten freies Urtheilen.
Ihre Mittel find die kleinen, beweglichen, ftreng Conventionellen
Raumbilder der Buchftaben und der Operationszeichen. Durch
taSig und ^«crt? derfelben im Räume wird eine unabfehbare Fülle
ftreng mit einander zufammenhängender Ausdrücke ermöglicht,
und es ift eine Grundeigenfchaft unfrer Erkenntnifs, dafs jeder
ftreng confequente Gebrauch folcher Zeichen durch alle Wand-
lungen der Identitätsausdrücke hindurch wieder zu ftreng richtigen,
direct oder indirect anwendbaren Formeln führt. Daher haben
auch' diefe Bemühungen eine Zukunft. Wenn fchon bei fo viel
Willkürlichem und zum Theil Sonderbaren, wie wir es z. B. bei
Boole finden, dennoch alle Probleme der logifchen Technik nicht
nur im Ganzen richtig, fondern auch in weit gröfserer Allgemein-
heit und Strenge gelöft werden, als in unfern gewöhnlichen Hand-
büchern, fo wird man fich der Einficht nicht verfchliefsen können,
dafs durch Verbefferungen in den Grundlagen des Syftems allmäh-
lig eine logifche Zeichenfprache gefchaffen werden kann, welche
für den Zweck ftrenger Analyfe unfrer gewöhnlichen Wortlogik weit
überlegen ift.
So fehen wir alfo überall den Raum als Urfprung alles Aprio-
rifchen. Die Raumvorftellung des Ausgedehnten und der Figur,
der Ordnung und Stellung des Einzelnen in einem Ganzen zeigt
uns eine unendliche Fülle von Eigenfchaften und Aequivalenten,
die alle unter fich und mit gewiffen Grundwahrheiten aufs Strengfte
zufammenhängen. Was fich, fei es auch nur durch Convention eile
oder willkürliche Annahme , eng an diefe Elemente der Raumvor-
ftellung anfchliefsen läfst, kann in der wiffenfchaftlichen Form der
Nothwendigkeit entwickelt werden. Dahin gehören aber vor allen
Dingen die Lehren der Logik von Gegenftänden überhaupt und
die Lehre von Gröfsen und von Summen gleicher Einheiten, bei
denen von Allem mit Ausnahme der mefsbaren und zählbaren Ver-
hältniffe abgefehen wird. Dafs es fich mit den Zeitgröfsen ebenfo
verhält, geht fchon daraus hervor, dafs die Zeit für uns nur eine
aus dem Raumbilde der Bewegung auf einer Linie abgeleitete Vor-
ftellung ift.
Wir entnehmen hieraus, dafs den einfachen Grundlagen der
Logik und der Mathematik nicht nur eine relative, fondern eine
abfolute Nothwendigkeit beiwohnen muffe, wiewohl wir die-
felben gleich allen andern Erkenntniffen auf inductivem Wege, und
148 ' Kaum, Zeit und Zahl.
nicht ohne die Möglichkeit vorübergehenden Irrthums, gewinnen.
Da fie die ftrenge Richtigkeit aller Erkenntnifs überhaupt verbür-
gen, fo muffen fie die Grundlage der Richtigkeit, der abfoluten
Geltung felbll fein, und dies ift nicht anders möglich, als dadurch,
dafs fie die Grundlage unferer intellectuellen Organifation find,
dafs die Gefetzmäfsigkeit, welche wir an ihnen bewundern, aus
uns felbft flammt; freilich nicht aus der Region unfres empirifchen
Bewufsffeins, fondem aus der unbewufsten Grundlage unfer felbft,
fammt allen Erfcheinungen, aus denen unfre Welt befteht. Das
Apriori geht alfo für uns nicht aus dem Subject hervor, fondern
aus dem Object, denn der Raum ift die Form aller Objecte, wie-
wohl er aus uns felbft ftammL
Es möchte hier fcheinen, als feien wir ganz auf dem Wege
Fichte's, allein wir find nur auf dem Punkte angelangt, wo Fichte
abirrte. Ein »Icha, welches das »Nichtich« fetzt, kennen wir nicht
und können wir auch nicht poftuliren. Aber ebenfo wenig kennen
wir ein »Ich«, welches fich felbft fetzt Das empirifche Ich ent-
fteht durch eine Reihe nicht fehr fchwer zu verfolgender pfycho-
logifcher Proceffe im engften Anfchluffe an die Vorftellung des
eignen Körpers. Das transfcendentale Ich ift nichts andres als der
völlig unbekannte Gegenpol der Objectivität in der Wahrnehmung. ,
Für diefes Ich ift das empirifche ebenfalls nur Object und alfo
Erfcheinung. Aber Erfcheinung ift Alles, was wir überhaupt haben;
darüber hinaus können wir nur vermuthen oder poftuliren. Die
Welt der Erfcheinungen ift die Welt unfrer Wirklichkeit und nach
Ausbildung des empirifchen Ich ift das Object in diefer Erfchei-
nungswelt nicht mehr unfer eignes Wefen, fondern etwas Fremdes,
Aeufseres, unferem empirifchen Ich* Gegenüberftehendes. So wird
auch der Raum uns fcheinbar fremd und äufserlich, während wir
doch in feinen Eigenfchaften die Norm unfrer Verftandesfunctionen
fanden, der wir fubjectiven Urfprung zufchreiben mufsten, wegen
der unbedingten Allgemeinheit und Nothwendigkeif ihrer Regeln.
Aber die Raumvorftellung ift zugleich auch, wie wir ge-
fehen haben, das Urbild aller Synthefi's. In ihr haben wir die
Einheit des Mannigfaltigen anfchaulich vor uns. In ihr finden wir
die Anfchauung zu den Begriffen des Zufammenhangs und der
Trennung, der Aequivalenz und der Verhältniffe eines Ganzen zu
feinen Theilen, eines Dinges zu feinen Eigenfchaften. Es ift daher
nur eine noth wendige Schlufsfolgerung, wenn wir in der Raum vor-
Raum, Zeit und Zahl. 149
ftellung auch den Urfprung der Kategorien finden, da es ja ein
reines, anfchauungslofes Denken ohnehin nicht giebt und nicht ge-
ben kann.
So zeigt fich uns die Raumvorftellung mit ihren für unfern
Verftand conftitutiven Eigenfchaften als die bleibende und beflim-
mende Urform unfres geiftigen Wefens, als das wahre objective
Gegenbild unfres transfcendentalen Ich. Diefes letztere freilich wird
uns dadurch um nichts bekannten Es bleibt das gänzlich unbe-
ftimmte und unbeftimmbare X, von deffen Exiftenz wir nicht ein-
mal pofitiv urtheilen können. Alle Erkenntnifs, fobald wir fie
haben, ift fchon Object. Das Subject, der verborgene Strahlungs-
punkt diefer fich um uns ausdehnenden Welt, ift nichts als eine
nothwendige Vorausfetzung. Hier hat die dichtende Speculation
einen weiten Tummelplatz. Es liegt nahe, das transfcendentale
Ich, welches ja unferm Denken allgemein gültige Gefetze vor-
fchreibt, als ein Allgemeines zu faffen, ähnlich wie die Averroiften
den Nous, der als eiil und daffelbe Wefen in alle Menfchenfeelen
eindringt. Von hier aus öffnet fich eine weite Bahn, die wir jedoch
nicht betreten wollen. Es genüge gezeigt zu haben, dafs die Lo-
gik nirgend fonft feften Boden findet, als in den Gefetzen, welche
aus der Betrachtung des Raumes und der Bewegung im Räume
hervorgehn.
Draok von G. Grambadh In Leipsig.
iPDBi-i'
nur b
nur b
Tafel zu de
entweder a oder b, e, d
nur.
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entweder b oder d
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entweder c oder i
entweder b oder d oder e
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gischen Studien.
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entweder c oder d
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alle Möglichkeiten
entweder b oder d oder e
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