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Full text of "Logische Studien: Ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik und der ..."

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LOGISCHE STUDIEN. 






LOGISCHE STUDIEN. 



£IN BEITRAG 

ZUR NEUBEGRÜNDUNG DER FORMALEN LOGIK 

UND DER ERKENNTNISSTHEORIE 



VON 



FRIEDRICH ALBERT LANGE. 



ISERLOHN. 
VERLAG VON J. BAEDEKER 

1877. ^ 



VORWORT. 



JVlit der Herausgabe des vorliegenden Werkes erfülle ich 
einen Auftrag, den der verewigte Verfaffer mir anvertraut hat. 

Die Schrift ift druckfertig von dem Verfaffer mir übergeben 
worden. In feinem Nachlaffe fand fich ein Zettel, auf welchem 
die nachftehende Inhaltsangabe des zweiten Theils verzeichnet 
war, den er nicht mehr bearbeiten follte. 

II, Theil. 

VII. Zur Pfychologie des Denkens. 
Vin. Grammatik u. Logik. 
IX. Die Induction. 

X. Die numerifche Methode und das Gefetz der gr. Zahlen. 
XI. Die hiflor. krit. Methode. 

Xn. Idee einer vergleichenden Methodologie der Wiffenfchaft. ^ 
Eventueller Anhang: 
lieber Wahlen und Abflimmung. 

Ich habe bereits an anderem Orte berichtet, dafs diefes Frag- 
ment drei Wochen vor des Verfaffers Tode vollendet worden 
ift. Es ift jedoch vor der Bearbeitung der zweiten Auflage feiner 
»Gefchichte des Materialismusa begonnen worden, und die Grund- 
züge deffelben find als die langfam gereifte Frucht früh entworfener 
Gedanken anzufehen, welche die ganze Lebensarbeit des Mannes 
durchzogen haben. Es wird daher den Freunden feines Haupt- 



VI 

Werkes der ficherfte Rathgeber werden in Fragen, welche an die 
fyftematifchen Anflehten des hiftorifchen Kritikers ergehen. Zugleich 
aber wird es unter den fachgenöffifchen Beftrebungen zur Reform 
der Logik einen Platz behaupten, würdig des Namens, den 
Friedrich Albert Lange hinterlaffen hat 

Marburg, im December 1876. 

H. Cohen. 



INHALT. 



I. Formale Logik und Erkenntnisslehre «... i 

IL Die Modalität der Urtheile 30 

III. Das particulare Urtheil und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile . 55 

IV. Die Syllogiftik 74 

V. Das disjunctive Urtheil und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre . 99 

VI. Raum, Zeit und Zahl 127 






I. 

Formale Logik nnd Erkenntnisslehre« 

jVlan wird mit der Frage der Berechtigung einer ftreng for- 
malen Logik gegenüber der Logik als Erkenntnifstheorie*) nie in's 
Reine kommen, fo lange man beide einander fchlechthin gegeri- 
überftellt und ihren Werth für die Gefammtaufgabe der Philofophie 
vergleicht, als hätte man lediglich zwifchen beiden zu wählen. 
Vielmehr handelt es fich darum, beide Aufgaben in ihrer Eigen- 
thümlichkeit zu erfaffen und dabei wird die Frage in den Vorder- 
grund treten: Hat die Wiffenfchaft von dem Verfuch einer abge- 
fonderten Behandlung der rein formalen Elemente der Logik eine 
wefentliche Förderung zu erwarten oder nicht? Fällt die Antwort 
auf diefe Frage bejahend aus, fo ift damit über die Zweckmäfsig- 
keit einer andern Behandlung der Logik noch nichts entfchieden, 
fowie anderfeits der Nachweis der Zweckmäfsigkeit eiii6r Logik als 
Erkenntnifstheorie auf die hier geftellte Frage keinen Einflufs üben 
kann, fo lange man rein auf dem Boden der theoretifchen Forfchung 
bleibt und didaktifche Rückfichten bei Seite läfst. 

Allerdings ifl die Aufgabe einer flreng formalen Logik unzer- 
trennlich von einer Kritik der überlieferten Logik, in welcher 



*) Wir nehmen hier mit Rücklicht auf Trendelenburg und Ueberweg den Aus- 
druck »Erkenntnifstheorie« im Sinne einer Lehre von der menfchlichen Erkenntnils, 
welche fich auf Logik, Metaphyfik und Pfychologie ilützt, und alfo kein flreng ein- 
heitliches Princip hat. Es wird fich fpäter zeigen, dafs diefe WiiTenfchaft aufzulöfen 
ifl in die (Kantifche) rein apriori verfahrende Auffuchung der Poflulate, welche 
das Erkennen vorausfetzt, und in die pfychologifche Lehre vom Erkennen, wel- 
che empirifcher Natur ift. Beide Zweige der WiiTenfchaft fetzen eine genaue Unter- 
fuchnng der logifchen Formen voraus. 

Lange, Logische Studien. 1 



2 Formale Logik 

feit Ariftoteles die rein logifchen Elemente mit Grammatifchem 
und Metaphyfifchem fo eng verbunden find, dafs fich auch die bis- 
herigen Verfuche einer rein formalen Logik von diefer Verbindung 
nicht haben befreien können. Eine Zerfetzung der überlieferten 
Logik würde afo die unmittelbare Folge und zum Theil auch die 
Vorbedingung der Aufftellung einer rein formalen Logik fein ; denn, 
die Wirklichkeit einer folchen vorausgefetzt, müfste ihre erfte Auf- 
gabe darin beliehen, das Nichtlogifche in dem überlieferten Stoff 
der Logik nachzuweifen, damit es auf feine wahren Quellen zurück- 
geführt und in feiner eigenthümlichen Natur erkannt werden könne. 
Eine folche Zerfetzung wäre aber keineswegs einer definitiven Son- 
derung gleich zu achten, denn abgefehen davon, dafs auch auf dem 
neuen Böden eine parallele Behandlung des Logifchen, Gramma- 
tifchen und Metaphyfifchen in der Erkenntnifslehre fruchtbar fein 
könnte, läfst fich nicht beftreiten, dafs eine befonnene und umfich- 
tige Behandlung der Logik als Erkenntnifslehre auch ihrerfeits fiir 
die Erkenntnifs des rein Logifchen und feiner Beziehungen zur 
Grammatik und Metaphyfik förderlich fein und den Procefs einer 
principiellen Sonderung des Verfchiedenartigen durch die Beobach- 
tung feiner Wechfelbeziehungen und feines Ineinandergreifens 
wefentlich erleichtem kann. 

In diefer Beziehung dürfte z. B. Ueb er wegs Behandlung der 
Logik dem Problem einer rein formalen Logik förderlicher fein, als 
die Bemühungen der KantTchen Schule, eine rein formale Logik 
aufzuftellen, ohne die ariftotelifche Ueberlieferung einer gründlichen 
Kritik zu unterwerfen; denn während wir bei Ueberweg einerfeits 
die rein formalen Beftandtheile der Logik mit ungewöhnlichem 
Scharffinn und formaler als bei den meiden Formaliften behandelt 
finden, fehen wir unmittelbar daneben eine fo weit gehende Iden- 
tificirung des Grammatifchen und des Logifchen und einen fo ge- 
wagten Uebergang in das Metaphyfifche durch eine fiftnreiche 
aber lückenhafte und undurchführbare Entfprechungstheorie, dafs 
man unwillkürlich zu tief gehenden Vergleichungen zwifchen den 
apodiktifchen und den problematifchen Elementen eines folchen 
Syftems geführt wird. Zugleich zeigt fich leicht, dafs eben in 
jener Identificirung des Grammatifchen und Logifchen eine Haupt- 
quelle alles Streitigen und alfo trotz aller verfuchten »Be weife« 
nicht wahrhaft Apodiktifchen liegt, und da anderfeits die fchon 
von Trendelenburg mit Recht hervorgehobene Stammverwandt- 



fc * *■ • • •• 

• • • •• • • • 

• • * • • 

• • • • 



und Erkenntnifslehre. ^ 

fchaft der Grammatik und Logik in ihrem hiftorifchen Auftreten 
über jeden Zweifel erhaben ift, fo wird man leicht zu dem Gedan- 
ken geleitet, dafs fchon in den allererften Anfängen der Logik, 
grade durch ihre Verwandtfchaft mit der Theorie der menfchlichen 
Sprache, eine ftarke Beimifchung eines Factors enthalten ift, 
welcher feiner Natur nach keiner apodiktifchen Behandlung fähig 
ift, und welcher daher auch eine reine und allenthalben zweifelfreie 
Durchführung des Logifchen nach Art des Mathematifchen von 
vorn herein unmöglich macht Damit aber werden wir veranlafst, 
das Meffer der Kritik weit tiefer anzufetzeh, als es Kant und 
feine Nachfolger, die Herbartfche Schule bei allen ihren Ver- 
dienften nicht ausgenommen, gethan haben/ — Ganz gleich ver- 
hält es fich mit den metaphyfifchen Beftandtheilen der Logik, 
doch werden wir fpäter fehen, wie beide Beimifchungen der gleichen 
Quelle entftammen: der naiven Verwechslung von Wort, Begriff 
und Sache, von welcher fich Ariftoteles bei allen Anftrengungen 
feiner grofsen Geifteskraft nicht völlig loszuringen vermochte. 

Ob die Aufgabe der Herftellung einer ftreng formalen Logik 
zufammenfällt mit der Ausfcheidung des wahrhaft Apodiktifchen 
aus dem überlieferten Stoff der Logik, wird von manchen Seiten 
bezweifelt werden, allein nicht jeder hierauf bezügliche Zweifel 
darf auf Widerlegung Anfpruch machen, und andre Einwendungen 
wieder giebt es, die deshalb auf fich beruhen mögen, weil es im 
Grunde gleichgültig ift, ob das Ergebnifs einer übrigens richtig 
geführten Unterfuchung der urfprünglichen Vermuthung entfpricht, 
oder nicht. 

Vor allen Dingen mag bemerkt werden, dafs wir als das 
wahrhaft Apodiktifche in einer Wiffenfchaft nicht Alles gelten laffen, 
was fich auf vorgebliche »Beweifea ftützt, fondern nur dasjenige, 
welches Jedermann, der den Sinn der betreffenden Behauptungen 
verftanden hat, auch wirklich zugeben mufs und zugiebt ; das alfo, 
worüber kein Streit mehr fein kann. Hier mufs nun ein für 
allemal der Anfpruch der Metaphyfiker, ohne jeden Unterfchied 
der Richtung und Schule definitiv abgewiefen werden, dafs es fich 
mit ihren Deductionen ebenfo verhalte, dafs der Widerfpruch 
andrer Schulen nur auf Mangel an Verftändnifs, wo nicht. gar auf 
Mangel an gjjtfem Willen beruhe, dafs nur die Schwierigkeit und 
Tieffmnigkeit der Sache die fofortige allgemeine Zuftimmung un- 
möglich mache, oder gar, dafs man fich erft ein in fechs dicken 

1* 



4 Fonnale Logik 

Bänden niedergelegtes Syftem ganz und gar muffe zu eigen ge- 
macht haben, um alsdann, vom Ganzen zum Einzelnen zurückkeh- 
rendy die Bündigkeit jedes Schluffes bewundernd anerkennen zu 
können. Solche Anfprüche verkennen die Natur des Apodiktifchen 
ganz und gar. Auch in der Mathematik giebt es Gebiete, über 
welche Niemand mitreden kann, der fich nicht durch jahrelanges 
Studium darauf vorbereitet hat; aber es redet auch wirklich kein 
Unberufener darüber mit; noch viel weniger fällt es Jemanden ein, 
das mühfame Studium durch Schöpfung einer eigenen Mathematik 
nach ganz andern Grundfatzen fich zu erfparen. Der Grund ift, 
wie auf der Hand liegt, der Einblick in die Unmöglichkeit einer 
andern Mathematik, welchen Jeder fchon bei der Behandlung der 
erften Elemente gewinnt, und das Zutrauen in die Confequenz ihrer 
Methode und die Sicherheit ihres Fortganges vom Einfachen zum 
Zufammengefetzten. Dergleichen vermag keine Metaphyfik zu 
bieten, die KantTche Vernunftkritik nicht ausgenommen, wiewohl 
diefe unter billiger Verurtheilung aller bisherigen Metaphyfik einen 
vermeintlich ebenfo fichem als neuen Weg zur Entdeckung allge- 
meiner Vernunftwahrheiten einfchlägt. Es fehlt hier überall fchon 
den erften Sätzen, von denen aus weiter gefchloffen wird, jene Evi- 
denz, welche dem wahrhaft Apodiktifchen eigen ift, und der kri- 
tifche Widerfpruch des einen Metaphyfikers gegen den andern ift 
vollkommen genügend, um uns zu zeigen, dafs bei keinem von 
beiden fich wahrhaft nothwendige Annahmen und zwingende Schlufs- 
folgerungen finden. 

Wir ftellen hiermit fo wenig den Werth, der Metaphyfik über- 
haupt, als den einer fpeziellen Kritik der metaphyfifchen Syfteme 
in Abrede, aber wir behaupten, dafs der etwaige Werth eines 
metaphyfifchen Syftems nicht in feiner vermeintlich zwingenden 
Deduction liegt, und dafs die philofophifche Kritik ihre wahre 
Aufgabe nicht darin hat, zu zeigen, dafs die fämmtlichen Syfteme 
unhaltbar fmd, fondern wie fie zu ihren Irrthümem kommen und 
wo die fchwächften Punkte liegen. Dabei wird die pofitive Kritik, 
gleich der Gefchichte der Philofophie, zugleich die Aufgabe haben, 
die wahre Bedeutung eines Syftems für den Culturfortfchritt nach- 
zuweifen. Diefe Bedeutung hat noch nie ein befonnener Kritiker 
in der unwiderleglichen Richtigkeit eines Syftems gefunden, 
fo unermüdlich auch die Metaphyfiker wieder einer nach dem andern 
den Anfpruch auf folche Unwiderleglichkeit erheben. 



und Erkenntnifslehre. 5 

Wie fehr die Metaphyfiker felbft ein Gefühl davon haben, dafs 
die wahre Bedeutung ihrer Producte nicht in der apodiktifchen 
Gültigkeit der Lehrfätze liegt, zeigt der eigenthümliche Umftand, 
dafs die Anhänger gefchloffener Syfteme, ungeachtet des fchroffften 
Widerfpruchs ihrer Lehren, doch mehr miteinander fympathifiren, 
als mit den Indifferenten und Skeptikern. Die gleiche Erfcheinung, 
wie bei den orthodoxen Anhängern eines Religionsbekenntniffes. 
Hier fpricht fich deutlich aus, dafs die gefchloffene Form der 
Weltanfchauung an fich das Gefchätzte und die Sicherheit der 
Deduction nur Aufsenwerk ift; mit einem Worte, dafs man fich 
nicht auf theoretifchem Boden befindet, wie fehr auch der 
Schein hiefür fprechen möchte. Wir haben es hier nicht damit 
zu thun, das Streben nach einer gefchloffenen Weltanfchauung 
überhaupt zu würdigen; es handelt fich nur darum, zu zeigen, 
dafs es in der Metaphyfik das herrfchende ifl, und dafs ihm 
gegenüber die Sicherheit der Ableitung der Lehren nur eine fecun- 
däre, wenn auch wichtig erachtete Rolle fpielt 

Nun aber ift grade durch Ariftoteles der Anfpruch aufgekom- 
men und bis heute unter den Metaphyfikern noch keineswegs er- 
lofchen, dafs nur das aus Principien abgeleitete »apodiktifche« 
WifTen ein wahres Wiffen fei, und unter dem apodiktifchen WifTen 
verfteht man in diefem Falle keineswegs nur jenes Wiffen, welches 
fo bewiefen ift, dafs kein gefund organifirtes menfchliches Hirn 
daran zweifeln kann, fondem, kurz gefagt, das Wiffen vomphilo- 
fophifchen Syftem aus. »Wiffenfchafto ift nach dem Sprachge- 
brauph diefer Kreife nur die UmfafTung des Erkannten mittelft 
der Deduction aus Principien; der Empiriker hat kein wirkliches 
WifTen; er liefert nur den Stoff dazu; erft wenn diefer Stoff nach 
den Grundfätzen des Syftems geordnet und gegliedert ift, entfteht 
wirkliches Wiffen und Wiffenfchaft 

Während diefer Anfpruch bei Ariftoteles noch naiv erfcheinen 
konnte und auf einer offenbaren Verwechslung des metaphyfifchen 
Beweifes mit dem wirklich zwingenden Beweife beruhte, geht die 
neuere deutfche Philofophie noch einen kühnen Schritt weiter. 
Würde nämlich die Identität der philofophifchen Deduction mit dem 
zwingenden Beweis verfahren, wie wir es in der Mathematik am 
reinften vor uns haben, wirklich feftgehalten, fo könnte jeder 
Philofoph offenbar nur fich felbft und feinen unbedingt gläubigen 
Schülern wirkliches Wiffen und Wiffenfchaft zufchreiben; denn 



6 Formale Logik 

einem andern Syftem, deffen Schlufsfolgerungen er als unrichtig 
anfleht, vermöchte er doch nimmermehr apodiktifche Erkenntnifs 
zuzufchreiben, da ja das falfch Bewiefene gar nicht bewiefen ift. 
Diefe Confequenz aber wird nicht gezogen und darin zeigt fleh 
eine Umgeftaltung der Begriffe von Wiffen, Wiffenfchaft, Beweis 
und Deduction, deren Tragweite eine fehr ernfte ift. Der Hege- 
lianer fchreibt zwar dem Herbartianer ein unvoUkommneres Wiffen 
zu als fleh felbft, und umgekehrt; aber keiner nimmt Anftand, 
das Wiffen des Andern gegenüber dem des Empirikers als ein 
höheres und wenigftens als eine Annäherung an das allein wahre 
Wiffen anzuerkennen. Es zeigt fleh alfo, dafs hier von der Bün- 
digkeit des Beweifes ganz abgefehen und fchon die blofse Dar- 
ftellung in Form der Deduction aus dem Ganzen eines Syftems 
heraus als »apodiktifches« Wiffen anerkannt wird. 

Was wir hier hervorgehoben, darf keineswegs mit dem ferne- 
ren Anfpruch einzelner neueren Syfteme, felbft das Pofitive und 
Thatfächliche aus der blofsen Formel hervorgehen zu laffen, ver- 
wechfelt werden. Wir bleiben bei dem ungleich befonneren Stand- 
punkt des Ariftoteles ftehn, der nicht nur die Principien felbft, 
aus. denen wir fchliefsen muffen, aus der Induction hervorgehen 
läfst, . fondern auch allenthalben die ausgedehntefte empirifche 
Kenntnifs des Thatfächlichen als Vorausfetzung des philofophifchen 
Erkenntnifsprözeffes fordert Auch von diefem Standpunkt aus ift 
der Anfpruch, dafs erft der philofophifche Erkenntnifsprozefs das 
»Wiffen« nach gewöhnlichem Sprachgebrauch zu wahrem Wiffen 
mache, ein koloffaler: zumal, wenn eben der blofse Verfuch einer 
apodiktifchen Darftellung, wie wir gefehen haben, an Stelle des 
wirklichen Beweifes anerkannt wird. Nach diefer Forderung der 
Metapbyfiker hat Faraday kein Wiffen über den Magnetismus, 
Meynert kein Wiffen vom Bau des Gehirns; Helmholtz' Lehre 
von den Tonempfindungen oder feine phyfiologifche Optik find nicht 
Wiffenfchaft, weil nicht aus dem q)V(Tei ngoragov deducirt, fondem aus 
Experimenten aufgebaut; höchftens diejenigen Theile, welche fich 
fchon ganz und voUftändig aus mathematifchen Principien deduci- 
ren laffen, könnten vielleicht «Wiffenfchaft« heifsen; allein die hier 
vorliegende wirkliche Deduction ift eben doch noch keine De- 
duction aus den höchften (metaphyfifchen) Principien. Von hifto- 
rifcher Wiffenfchaft, von Philologie als Wiffenfchaft kann vol- 
lends gar keine Rede fein j wenn aber dann ein Profeffor der Phi- 



und Erkenntnifslehre. 7 

lofophie kommt und die dürftigen Bruchftücke, welche er bei den 
Forfchern gelernt hat, an den Faden eines Syftems reiht und 
fcheinbar apodiktifch aus metaphyfichen Principien ableitet, dann 
ift dies »Wiffenfchaft« und »wiffenfchaftliche Behandlung«, und 
zwar eingeftandner Mafsen ohne allen Anfpruch auf unbedingte 
Beweiskraft der Schlüffe. In diefer Beziehung hackt eine Krähe 
der andern die Augen nicht aus. Ein folches »Wiffena gilt als 
»apodiktifcha aus dem einfachen Grunde, weil es Theil einer ge- 
fchloffenen Weltanfchauung ift, die fich auf metaphyfifche Principien 
gründet und in ihrem Entwicklungsgang unter mehr oder weniger 
Willkürlichkeiten und Beweisfetilern die äufsere Form der Deduction 
beobachtet. 

Wir haben an andrer Stelle zu zeigen verfucht, dafs die Phi- 
lofophie diefen Anfpruch an apodiktifche Geltung ihrer Conftructionen 
aufgeben kann, ohne irgend etwas von ihrem wahren Werthe zu 
verlieren ; ebenfo wie die Religion ihren Anfpruch an ^ufsere 
Wahrheit aufgeben follte, um ihren idealen Inhalt in freier und 
wandelbarer Form zu behaupten. Hier haben wir mit diefen 
Fragen nichts zu fchaffen, und felbft die Bemerkung über die 
Verwirrung, welche man mit jenen Anfprüchen im Begriff der 
Wiffenfchaft und des wiffenfchaftlichen Verfahrens angerichtet hat, 
berührt uns nur infofern, als es gut fein mag, fchon hier darauf 
hinzuweifen, dafs auch dasjenige, was die Forfcher und Ent- 
decker wiffenfchaftliches Verfahren nennen, Anfpruch auf einge- 
hendfte Berückfichtigung in der Erkenntnifsthebrie erheben darf. 
Unfer eigentlicher Zweck ift hier nur, jedem anderweitigen Sprach- 
gebrauch gegenüber mit voller Schärfe dasjenige hinzuftellen, was 
wir das Apodiktifche in der Logik nennen. Wir verftehn da- 
runter diejenigen Lehren, welche fich, gleich den Lehrf ätzen der 
Mathematik, in abfolut zwingender Weife entwickeln laffen, und 
welche durch den Beweis ihrer Wahrheit auch wirklich bewie- 
fen und alfo ein für allemal dem Streit der Schulen und dem 
individuellen Belieben entrückt find. 

Dafs die ariftotelifche Logik folche Lehren enthält, wird wohl 
Niemand beftreiten; aber auch die Thatfache, dafs vorzugsweife 
diefe den Stoff der »formalen Logika bilden, dürfte fchwerlich 
ftark angefochten werden. Damit ift aber noch lange nicht ge- 
fagt, dafs die formale Logik das Problem gelöft habe, das Apo- 
diktifche in der überlieferten Logik rein auszufcheiden und da- 



g Formale Logik 

mit zugleich den Grund feinfer Denknothwendigkeit blofs zu legen. 
Dies Problem darf nur ausgefprochen werden, um die Berechtigung 
eines Löfungsverfuches ganz unabhängig von dem bisherigen Streit 
zwifchen formaler Logik und Erkenntnifstheorie klar zu machen. 
Die blofse Thatfache des Vorhandenfeins zwingender Wahr- 
heiten ift eine fo wichtige, dafs jede Spur derfelben forgfältig ver- 
folgte werden mufs. Eine Unterlaffung diefer Unterfuchung wegen 
des geringen Werthes der formalen Logik oder wegen ihrer Un- 
zulänglichkeit als Theorie des menfchlichen Denkens müfste von 
diefem Standpunkte aus zunächfl fchon als Verwechslung theore- 
tifcher und praktifcher Zwecke zurückgewiefen werden. Ein folcher 
Einwand wäre etwa fo anzufehen, wie wenn ein Chemiker fich 
weigern wollte, einen zufammengefetzten Körper zu analyfiren, weil 
derfelbe in feinem zufammengefetzten Beftande höchft werthvoU 
fei, während die einzelnen Beftandtheile vorausfichtlich gar keinen 
Werth hätten. 

Denken wir uns fonach alle auf diefem Boden erwachfenen 
Einwände gegen unfer Unternehmen befeitigt, fo bleiben nur noch 
zwei einigermafsen beachtenswerthe Bedenken von fehr verfchie- 
denem Charakter übrig. Man kann nämlich vom Standpunkt der 
unbedingten Ariftoteliker aus behaupten, dafs in der Analytik des 
Ariftoteles, von kleineren Verftöfsen abgefihen. Alles apodiktifche 
Geltung habe; ja, dafs fogar das metaphyfifch-logifche Princip des 
Ariftoteles, fuche man es nun in der Entwicklungslehre von der 
Sivafiig und der it^yeia oder in der Lehre vom »fchöpferifchen Be- 
griff a, auch den wahren Grund der Apodikticität der einzelnen 
Lehren enthalte. Diefem Einwand ift nun aber theils fchon in 
demjenigen begegnet, was wir oben über apodiktifche Metaphyfik 
überhaupt bemerkt haben, theils werden wir fpäter reichliche Ge- 
legenheit haben, die totale Unhaltbarkeit folcher Anfprüche im 
Einzelnen kennen zu lernen. Der andere Einwand könnte nun 
umgekehrt im Namen des Urhebers der »formalen Logik« im 
modernen Sinne erhoben werden. Man könnte fagen, die Löfung 
des von uns aufgeftellten Problems fei fehr einfach; fie liege in 
der von Kant aufgeftellten Behauptung, dafs die Lehrfätze der 
Logik fämmtlich analytifcher Art feien und auf dem Satz des 
Widerfpruchs beruhen. Diefe Behauptung verdient eine einge- 
hende Prüfung. 

Bekanntlich erklärte Kant die mathematifchen Urtheile für 



und Erkenntnifslehre. 9 

insgelammt fynthetifch, wie ihm denn die Mathematik als Haupt- 
beweis dafür galt, dafs es Urtheile gebe, welche fynthetifch aber 
gleichwohl mit dem Bewufstfein der Nothwendigkeit verbunden 
und alfo, wie Kant folgert, nicht empirifch feien« Diefe Behaup- 
tung ^ar neu ; denn bis dahin herrichte die Anficht vor, dafs auch 
die mathematifchen Urtheile analytifch feien und auf dem Satz des 
Widerfpruchs beruhen. Diefe Anficht findet bis auf den heutigen 
Tag energifche Vertheidiger, denen Kant felbft im Grunde durch 
feine Behauptung von der rein analytifchen Natur der formalen 
Logik die Waffen in die Hand gegeben hat * Es läfst fich in der 
That zeigen, dafs die Natur aller mit Nothwendigkeit gel- 
tender Urtheile im Wefentlichen ein und diefelbe ifl und 
daraus folgt, dafs fie entweder alle anal3rtifch, oder alle fynthetifch 
find, oder dafs diefe Eintheilung im Kantifchen Sinne der Aus- 
fchliefslichkeit überhaupt nicht richtig ifL 

In der That ifl das letztere der Fall, und der Grundfehler 
fcheint in der unberechtigten fcharfcn Trennung von Sinnlichkeit 
und Verfland zu beruhen, mit welcher Kant ja auch fchon in der 
Lehre von der Synthefis und ihren verfchiednen Arten in's Gedränge 
kommt, da fich zeigt, dafs »Anfchauung« irgend eines Gegcnflan- 
des überhaupt fchon nicht ohne Mitwirkung der Spontaneität zu 
Stande kommen kann. Umgekehrt giebt es auch in den abfbac- 
teflen Gegenfländen kein Denken ohne Anfchauung. 

Die mathematifchen Sätze foUen durch Synthefis a priori 
mittelfl der Anfchauung des Raumes zu Stande kommen. Wir 
wollen zu zeigen verfuchen, dafs dies auch bei den logifchen 
Lehrfätzen der Fall ifl, und dafs in dem nämlichen Anfchauungs- 
bilde, mit welchem wir diefelben begleiten, für uns das eigentlich 
Ueberzeugende liegt. 

Wählen wir zunächfl einen Fall, bei welchem die Ableitung 
aus dem blofsen Satze des Widerfpruchs recht evident fcheint: 
die Umkehrung des allgemein verneinenden Urtheils! Arifloteles 

fagt: (Anal. pr. I, 2.) ^El fitfievl läv B xo A vnaQxei, ovde tav A 
ovdsft V9iap{ei xo B, El ^af^ Tiri, olov t^ F, ov* aXri&ig hmai to ixffiwl 

Tup B TO A imaQXBiv. to f'ag F twv B il iartv." Hier haben wir alfo 
den reinen Beweis durch den Satz des Widerfpruches. Gleichwohl 
haben wir auch den HülfsbegrifT r, welcher in dem zu beweifen- 
den Satze nicht vorhanden war. Die Einfuhrung deffelben kann 
keinen andern Zweck haben, als den der Veranfcbaulichung 



10 Formale Logik 

irgend eines beliebigen Theiles der B, Diefe Veranfchaulichung voll- 
ziehen wir in der Vorftellung an einem räumlichen Bilde, und wir 
werden Ipäter hinlänglich fehen, dafs die den Raumvorftellungen 
eigene unendliche Variabilität der eigentliche Grund dafür ift, dafs 
wir hier, ganz wie in den Figuren der Geometrie, das Einzelne 
fofort als ein Allgemeines gelten laflen. 

Wir wollen an dies Beifpiel zunächft noch einige nützliche 
Bemerkungen anknüpfen, bevor wir tiefer in die Unterfuchung 
eintreten. Zunächft fehen wir, dafs Ariftoteles, deffen Logik doch 
fonft in fo eminentem Sinne gegenüber der modern -nominaliftifchen, 
befonders in England heimifchen Logik des Umfangs als eine Lo- 
gik des Inhalts bezeichnet werden kann, beim eigentlichen Beweife 
feiner Sätze es doch nicht verfchmäht, fich auf den Umfang der 
Begriffe zu ftützen. Die ganze Art, wie das r eingeführt und 
nachher in Erinnerung gebracht wird, dafs es zu den -ö gehöre, 
fcheint fogar darauf hinzudeuten, dafs im mündlichen Lehrvor- 
trage fchon damals fmnliche Veranfchaulichungsmittel nicht ver- 
fchmäht wurden ; worunter natürlich , nicht grade die angeblich 
vom Rektor Weife (1708) erfundenen Kreife als Symbole der 
BegrifTsfphäre verftanden fein mülTen. Ludwig Vives wendet in 
feiner Schrift de cenfura veri Dreiecke an, um das Schema der 
Subfumtion durch eineh Mittelbegriff zu veranfchaulichen. Im 
Druck erfcheinen flatt der im Text genannten Dreiecke nur 
Winkel; die dritte Seite fehlt Wiewohl dies wahrfcheinlich nur 
die typographifche Bequemlichkeit mit fich gebracht hat, fo ficht 
man doch, dafs auch diefe Darftellungsweife dem Bedürfnifs der 
Veranfchaulichung fchon genügt *) Wenn wir diefe Unterftützung 
der Phantafie zu Anfang des 16. Jahrhunderts finden und die 
fchlichte Art ihrer Einfiihrung bemerken, fo werden wir fie kaum 
für eine Erfindung des fcharffinnigen Spaniers halten, fondem eher 
für eine Schultradition. Was Ariftoteles betrifft, fo kann man die 
Reductionsweife der zweiten und dritten Figur nicht als Beweis 
dafür gelten laffen, dafs man zu feiner Zeit diefe fo nahe liegende 
Veranfchaulichung nicht gekannt habe. Diefe Reductionsweife hatte 
für die Auffaffung des Ariftoteles principielle Bedeutung, da nach 
ihm nur die erfte Figur vollkommene SchlüfTe lieferte. Es ift da- 
her keineswegs anzunehmen, dafs Ariftoteles, wenn er die fchema- 

*) De cenfura veri, 1. II. — Vivis opera ed. Valent. t. III, p. 171. — 



und Erkenntüifslehre. \\ 

tifche Darfteilung gekannt hätte, fich derfelben bedient haben 
würde, um die Schlüffe der zweiten und dritten Figur direct zu 
begründen. Jedenfalls war Ariftoteles weit entfernt davon, in der 
Anwendung einer folchen Veranfchaulichung die Beweiskraft feiner 
Sätze zu finden; was natürlich nicht hindert, dafs eben doch auch 
bei ihm und feinen Schülern die Anwendung des räumlichen Bildes, 
fei es in der blofsen Phantafie, fei «s mit fmnlicher Unterftützung, 
die eigentliche Quelle des Bewufstfeins der Allgemeinheit und Noth- 
wendigkeit der aufgeftellten Sätze war. 

Hieran mag fich nun ferner die Bemerkung fchliefsen,, dafs 
das Verhältnifs der Inhärenz, welches die ganze ariftotelifche 
Analytik beherrfcht, in den Be weifen der logifchen Lehren durchr 
aus keine Rolle fpielt. Zwar geht Ariftoteles in feiner Syllogiftik, 
entgegen dem modernen Gebrauch, ftets vom Prädicatsbegriff aus 
und ftellt die Frage nicht in Beziehung auf das Enthaltenfein der 
Gegenftände des Subjectsbegriffs in der Sphäre des Prädicatsbe- 
griffs, fondern in Beziehung auf die Gültigkeit der Anwendung des 
Prädicatsbegriffes als Prädicat für das Subject Während wir uns 
im verfmnlichenden Bilde beim Normalfchlufs der Subfumtion 
gleichfam die Prädicatsfphäre ruhend denken und in der Phan- 
tafie die Sphären des Mittelbegriffs und des Subjectsbegriffs an diefe 
heranbringen, um fo das Verhältnifs des Schlufsurtheils zu finden, 
fcheint in dem ariftotelifchen ,,to o xainj^ogeliai, xai« tov ß** eher das Bild 
der umgekehrten Bewegung zu liegen. Sieht man aber genauer 
zu, fo liegt das eigentlich beweifende Moment bei Ariftoteles ganz 
wie in der neueren Logik in den Umfangsverhältniffen der Begriffs- 
fphären, denke man fich nun diefe an jene herangebracht, oder 
umgekehrt. In dem ebenfalls ariftotelifchen Ausdruck „to a wtoqxbi 
nanl Tq> ß" kann man fich die Bewegung der Sphären umgekehrt 
denken und dies entfpricht im Grunde der metaphyfifchen An- 
fchauung des Ariftoteles noch beffer, da er ja die Gattung im 
Verhältnifs zu Art und Individuum als das Stoffliche auffafst, welches 
durch die Differenz erft zur Actualität des wirklichen Dinges er- 
hoben wird. Jedes wahre Prädicat aber ift ihm Gattung gegenüber 
dem Subject, wie die Reflexionen über das Sein im Subject 
und das Ausgefagtwerden vom Subject (Cat. 5) beweifen, wo 
das Urtheil »der Körper ift weifs« nur dem Namen nach als kate- 
gorifch anerkannt wird; dem Begriff nach könne »weifs« niemals 
vom Körper als Prädicat ausgefagt werden, weil nämlich der Körper 



12 Formale Logik 

nicht Farbe, fondern eine Subftanz ift. Man darf diefe Unterfchei- 
düng wohl trotz der bekannten Zweifel an der Aechtheit der 
»Kategorien« für acht ariftotelifch halten ; denn wenn Anal. poft. I- 
22 das Urtheil, »das Holz ift weifs« grade umgekehrt als Bei- 
fpiel eines wirklich kategorifchen genannt wird, fo ift dies aus dem 
dort in Rede ftehenden Gegenfatz zu erklären gegen das Urtheil: 
diefes Weifse ift Holz, welches Ariftoteles begreiflicher Weife noch 
weit weniger als Ausdruck eines wahren Prädicatsverhältnifles kann 
gelten laflen, da das Holz keine Kategorie ift, unter die man das 
Weifse bringen kann. Aus dem gleichen Grunde wird (Cat 5) 
gelehrt, dafs die Einzelfubftanzen niemals wahrhaft als Prädicat 
ausgefagt werden können. 

Freilich fteht diefer Auffaffung des Ariftoteles, wonach jedes 
wahre Prädicat dem Subject gegenüber relativ Gattung fein muffe, 
auch die andre ergänzend zur Seite, dafs jedes Prädicat eine dem 
Subject inhärirende Qualität bezeichne. Der Gattungsbegriff 
felbft wird bei Ariftoteles zur Qualität; denn wiewohl er lehrt, 
dafs im Menfchen nicht ein Thier, im Baum nicht eine Pflanze fei, 
fo fafst er doch ausdrücklich (Cat 2, b, 16 und 17) die Ausfage 
der Art von der Subftanz und der Gattung von der Art als Aus- 
fage einer Eigenfchaft, fo dafs in diefer Hinficht der Unterfchied 
zwifchen einem Merkmalbegriff als Prädicat und einem: prädicativen 
Namen blofs darin befteht, dafs das erftere eine Qualität fchlecht- 
hin, das letztere aber eine qualitative Subftanz oder eine die Sub- 
ftanz betreffende Qualität bezeichnet. Diefe das Inhärenzverhältnifs 
hervorkehrende Anfchauung widerfpricht der obiger^ nicht; vielmehr 
bilden beide zufammen erft den voUftändigen Ausdruck der Art, 
wie fich Ariftoteles das Verhältnifs von Prädicat und Subject im 
Urtheil dachte. Das Prädicat ift relativ Gattung (d. h. bez. Art 
gegenüber dem Individuum); grade als Gattung aber fpricht es 
das Haften einer Eigenfchaft im Subjecte aus. 

Von allen diefen Speculationen über das Inhärenzverhältnifs 
geht nun aber in die Demonftration der apodiktifch geltenden 
Lehrfätze rein gar nichts über. Zwar werden mitunter auch in 
rein technifchen Abfchnitten Ausdrücke gebraucht, welche aus 
der metaphyfifchen Anfchauung des Ariftoteles fliefsen, allein man 
kann fich leicht davon überzeugen, dafs diefelben mit dem nervus 
probandi nicht das mindefte zu thun haben. Umgekehrt ift 
es ohne Zweifel die Demonftration gewefen, welche Ariftoteles 



und Erkenntnifslehre. 13 

veranlafst hat, gleich im Eingang der Analytik die ogoi nach der 
Gröfse zu unterfcheiden und Ausdrücke zu gebrauchen, welche 
das Bild der einander umfaffenden Sphären ganz deutlich vor die 
Augen rufen, wie Anal. pr. I, 4: „rbv «rj^oroy cV öilcp eimt t^ /i«r^ 
xal tov (iiaov iv 0^^ t^ TigfijTOi" (worin Ueberweg, Logik 3. Aufl., 
p. III den Anlafs für die Darftellung der Vorftellungsverhältniffe 
durch Kreife findet; eine Darftellung, die in der That, von der 
Kreisform des Raumbildes natürlich abgefehen, in der gefammten 
Technik der ariftotelifchen Logik ihre Begründung hat) und ebendas : 



Gov oy." 



So voUftändig tritt in der Technik der Syllogiffik die Specu- 
lation über das innere Verhältnifs von Subject und Prädicat zurück, 
dafs Ariftoteles jene Bedenken, ob ein Merkmalbegriff Subject, ob 
er wahres und eigentliches Prädicat fein könne, ob ein Individual- 
begriff Prädicat fein könne, u. f. w. voUftändig bei Seite fetzt 
Die Entwicklung der Regel erfolgt in durchaus formaler Weife 
an blofsen Buchftaben; nachher werden dem Lefer drei Begriffe 
hingeworfen, an denen er die Sache probiren mag. Unter diefen 
Begriffen finden fich fubftantivifche und adjektivifche ohne Unter- 
fchied, fo dafs man bei der Ausfuhrung fehr häufig auf Sätze ge- 
räth, wie »Einiges Weifse ift Thier,a »Kein Unbefeeltes ift Pferd,« 
u. f. w., die Ariftoteles von feinem erkenntnifstheoretifchen Stand- 
punkt aus hätte fem halten muffen. Ebenfo findet fich in der Lehre 
von der Umkehrung der Urtheile nirgend eine Einfchränkung 
oder Ausnahme vorgefehen hinfichtlich folcher Urtheile, deren 
Subectsbegriflf feiner inneren Natur nach nicht wahrhaft Prädicat 
fein kann oder umgekehrt. Die Regeln werden überall, und ohne 
Zweifel mit Recht, da die beweifende Veranfchaulichung auf kei- 
nerlei Ausnahmen fuhrt, in voller Allgemeinheit ausgefprochen. 
Eben deshalb /aber vermag Ariftoteles in den fpeculativen Betrach- 
tungen der Analytik feine Anflehten nicht fchroff durchzuführen, weil 
fonft zahlreiche Widerfprüche zwifchen der logifchen Technik und 
der logifch-metaphyfifchen Erkenntnifstheorie entftehen würden. 
Er hilft fich daher in folchen Phallen überall mit ziemlich dürf- 
tigem Flickwerk: eigentliche und uneigentliche Redeweife, Sprach- 
gebrauch, der dem inneren Verhältnifs nicht ganz entfpricht, dem 
Wort nach, aber nicht dem Begriff nach und dergleichen Aus- 
kunflsmittel muffen die Kluft zwifchen Technik und Erkenntnifs- 



]^4 Formale Logik - 

theorie verdecken; die Technik felbft aber gilt überall, foweit es 
fich um das Verhältnifs von Subject oder Prädicat handelt, ohne 
Unterfchied für die eigentliche oder uneigentliche, begriffsmäfsige 
oder blofs übliche Redeweife. 

Dafs Ariftoteles fich hier durch die Natur feiner eignen Tech- 
nik gezwungen fühlte, liegt klar auf der Hand; denn die Schei- 
dung zwifchen Technik und metaphyfifcher Betrachtungsweife liegt 
durchaus nicht in feiner Abficht. Dies fehen wir namentlich aus 
feiner Lehre von der Wahrheit oder Unwahrheit der Urtheile über 
Zukünftiges und aus feiner Theorie der Möglichkeit. Hier, wo 
der logifche Zwang nicht fo evident war, fcheut er fich keineswegs, 
\ die metaphyfifchen Betrachtungen, und zwar in fehr verderblicher 
Weife, in die Technik hineinwirken zu laßen. 

Es ifl übrigens auch leicht zu zeigen, dafs die Bedenken der 
ariftotelifchen Erkenntnifstheorie gegenüber den Sätzen mit Merk- 
malbegriffen oder mit Eigennamen durchweg auf Täufchung be- 
ruhen. 

Was die Sätze betrifft, wie »Jenes Weifse iftSokrates«, »Das 
Herankommende ift Kallias«, fo hat fchon W. Schuppe (Die ariftot. 
Kategorieen, Berlin 1871, S. 12.) mit Recht bemerkt, dafs fich 
Ariftoteles hier durch die Sprache habe täufchen laffen. Zwar 
kann die Stelle Anal. poft. I, 22, wo von dem Satz »Jenes Weifse 
ift Holz« die Rede ift, zeigen, dafs Ariftoteles wohl einfah, dafs 
hier eigentlich nicht das Weifse, fondern das Etwas, welches 
weifs ift, Subject fei; allein auch an jener Stelle beruht das wei- 
ter folgende Bedenken, hier ein wahrhaft kategorifches Verhält- 
nifs anzunehmen, lediglich auf der Unfähigkeit, diefe ungewohnte 
Auffaffungsweife fcharf feftzuhalten, und auf der unüberwindlichen 
Neigung, auch das unbekannte Etwas, weil es einmal Subject im 
Satze ift, auch als ein bleibendes Subftrat mit wechfelnden Eigen- 
fchaften aufzufaffen. Daher redet Ariftoteles hier von einem Et- 
was, welches zufallig weifs ift und läfst diefem zufällig weifsen 
Etwas den femern Zufall zuftofsen, Holz zu fein; eine Auffaffung, 
in welcher alfo der ganz unbeftimmte Ausdruck für einen jetzt 
eben wahrgenommenen Gegenftand als beharrliches Ding betrach- 
tet wird. 

In dem Satze »Jenes Weifse ift Sokrates« liegt daffelbe Ver- 
hältnifs vor; nur dafs noch die Schwierigkeit hinzukommt, einen 
Eigennamen, und zwar bezogen auf eine beftimmte Perfon, als 



und Erkenntnifslehre. ]^5 

Prädicat gefetzt zu fehen. Diefe Schwierigkeit mufste vom arifto- 
telifchen Standpunkt betrachtet als fehr bedeutend erfcheinen; 
eine »erfte Subftanz«, ein wirkliches, concretes Ding, wie diefer 
Menfch da, kann ja nicht Gattung, gefchweige Eigen fchaft eines 
andern Gegenftandes fein! Betrachtet man die Sache ohne das 
ariftotelifche Vorurtheil, fo ift fie freilich fehr einfach. Der Begriff 
des Individuums ift allerdings der Oberbegriff für alle wechfelnden 
Erfcheinungen diefes Individuums, alfo auch gegenüber den einzel- 
nen Momenten feines Dafeins und feiner Erfcheinung relativ immer 
noch ein Gattungsbegriff, ein Begriff, welcher noch eine unendliche 
Fülle von einzelnen Gegenftänden unter fich begreift, die gar wohl 
auch noch der Gruppirung nach untergeordneten Claffen fähig find. 
Das Subject, nichts weniger als ein beharrliches Ding, fondem ledig- 
lich der Ausdruck eines momentan wahrgenommenen Gegenftandes, 
ift trotz der Unbeftimmtheit diefes Gegenftandes weit individueller 
als der Begriff des Individuums. Ein folcher Satz hat fo wenig Ab- 
normes an fich, dafs er vielmehr die urfprünglichfte Form aller 
und jeder Synthefis von Subject und Prädicat darfteilt, die man 
freilich nicht in metaphyfifchen Syftemen, fondern in den Kinder- 
ftuben fuchen mufs, wo man die Erkenntnifs in ihrer Entwicklung 
und die Sprache in ihrem Werden belaufchen kann. Die früheften ' 
Sätze, welche das Kind fpricht, find folche, wie »Da — Mama!« 
»Da — Tiktak« u. £ w., wobei das Subject ftets einen Gegenfland 
der augenblicklichen Wahrnehmung überhaupt bezeichnet und das 
Prädicat die nähere Beftimmung dazu in einer fubftantivifchen 
Form giebt, welche die noch ungefchiedne Einheit von Eigenna- 
men und Gattungsnamen enthält. 

Was den Uebergang von Merknlalbegriffen in das Subject 
betrifft, fo läfst fich hier eine fehr einfache aber folgenreiche Be- 
merkung an die Bedenken des Ariftoteles anknüpfen. Welches 
Recht hatte Ariftoteles überhaupt, den Satz »Das Holz ift weifs« 
umzukehren in »Einiges Weifse ift Holz«? Wenn das Merkmal 
weifs zwar »im Holze ift« aber nicht von demfelben »ausgefagt 
wird«, d. h. nicht etwas bezeichnet, das, fich zu Holz als relativ 
Gattung verhält, fo hätte gar keine Umkehrung möglich fein fol- 
len. Rein im Sinne der Inhärenz gefafst, hätte diefelbe lauten 
muffen: Weifse Farbe ift bisweilen Holz, d. h. findet fich biswei- 
len am Holze. Indem nun aber Ariftoteles ftatt deffen die Sätze 
mit adjectivifchem Prädicat, ohne alle Rückficht auf feine eigne 



16 Formale Logik 

Theorie, in der Umkehrung ganz wie die wirklich kategorifchen, 
d. h. den Gattungsbegriff prädicirenden Sätze behandelte, aner- 
kannte er im Grunde im technifchen Theil feiner Logik, was er 
in der logifch-metaphyfifcheo Theorie verwarf, dafs nämlich die 
adjectivifchen Prädicate rein logifch genommen auch Gattungen 
bedeuten, oder vorfichtiger ausgedrückt, dafs fie, um einer ftreng- 
logifchen Behandlung fähig zu werden, fo aufgefafst wer- 
den muffen, als bedeuteten fie Gattungen, d. h. »weifsa = »weifse 
Gegenftände« ; »das Holz ift weifs« = »das Holz ift ein weifser 
Gegenftanda. Nun erft heifst die Umkehrung mit Recht »Einiges 
Weifse ift Holz«, und natürlich . nicht in dem Sinne »Einiges (als 
beharrende Subftanz gedacht) welches (in diefem Falle grade) weifs 
ift, ift Holz«, fondern in dem fehr natürlichen, der Analogie durch- 
aus fich fügenden Sinne: »Ein Theil der weifsen Gegenftände ift 
Holz.« 

Bekanntlich ftreitet man bis auf den heutigen Tag noch da- 
rüber, ob die adjectivifchen Prädicate in der Logik als Bezeich- 
nung der entfprechenden Gegenftände, als fubftantivifch, aufzu- 
faffen feien, oder nicht. Diefer Streit wird in der Hauptfache 
richtig gelöft durch die Bemerkung Ueberwegs (Logik, 3. Aufl. 
S. 229, S 84.), dafs die Subftantivirung des Prädicatsbegriffes die 
»ftillfchweigende Vorausfetzung« der ariftotelifchen Lehre von der 
Umkehrung der Urtheile bilde. Nur ift hinzuzufügen, dafs fie zu- 
gleich die Vorausfetzung der gefammten logifchen Technik 
des Ariftoteles bildet, und wenn ferner bemerkt wird, Ariftoteles 
habe die »innere Berechtigung« diefes Verfahrens nicht erörtert, 
fo bemht diefe Bemerkung dann freilich auf einem Irrthum. Für 
Ariftoteles beftand diefe »innere Berechtigung« gar nicht Seine 
logifch -metaphyfifche Theorie fteht in diefem Punkte mit der 
Technik, wie wir eben gezeigt haben, im Widerfpruch; diefer 
Widerfpruch aber ift Ariftoteles ebenfo wenig klar zum Bewufst- 
fein gekommen, wie der Begriff der von ihm felbft doch vorge- 
nommenen »Subftantivirung« des Prädicats. Er fah fich zu der 
letzteren einfach durch die treibende Confequeriz feiner Technik 
fbrtgeriffen. 

Es ift daher auch durchaus nicht etwa eine Ergänzung des 
Afiftoteles, fondern ein dem ariftotelifchen Standpunkt durchaus 
fremdartiger Gedanke, wenn Ueberweg (§ 84) den fehlenden Nach- 
weis der »inneren Berechtigung« der Converfion mit der Bemerkung 



und Erkenntnifslehre. 17 

nachzuholen verfucht, dafs diefe innere Berechtigung nur dann 
vorhanden fei, wenn der Prädicatsbegriff »fich zur Subftantivirung 
eignet«, d. h. wenn »nicht nur die Thätigkeiten oder Eigenfchaf- 
ten, welche der Prädicatsbegriff bezeichnet, unter einander wef ent- 
lich verwandt find, fondern auch die Gefammtheit der Gegenftände 
oder Subftanzen, welchen diefelben zukommen, wefentlich gleich- 
artig ift, oder eine Claffe oder Gattung« (Ueberw. verweift hier 
auf S 58 feines Werkes) »bildet« 

Mit diefem Mafsftabe gemeffen wären die meiften hierher ge- 
hörigen Beifpiele, welche Ariftoteles felbft giebt, falfch und die 
Lehre von der Umkehrung der Urtheile würde nicht mehr mit 
Allgemeinheit und Nothwendigkeit gelten, fondem den erheblich- 
ften Ausnahmen unterliegen. Die Regel als folche beftünde gar 
nicht mehr; der formale und rein logifche Grund für die Gül- 
tigkeit des umgekehrten Urtheils fiele gänzlich weg und die Rich- 
tigkeit des neuen Urtheils würde lediglich auf fachlichen Betrach- 
tungen beruhen, welche mit der Logik im überlieferten Sinne fo 
wenig zu fchaffen haben, wie mit jener acht ariftotelifchen Ana- 
lytik, auf welche die Schule der Erkenntnifstheoretiker fo gerne 
gegenüber der modernen formalen Logik zu verweifen pflegt. 
Was Ariftoteles nur auf wenigen, freilich äufserft wichtigen Punkten 
wagt: die ftreng formale Confequenz feiner analytifchen Technik 
durch metaphyfifche Betrachtungen zu durchbrechen, das treibt die 
pfeudo-ariftotelifche Erkenntnifstheorie der Gegenwart fo weit, dafs 
alles Apodiktifche in der Logik darunter verflüchtigt wird. Auf 
diefe Weife ift dann freilich Einheit in die Logik gebracht. Bei 
Ariftoteles ift allerdings Technifches und Metaphyfifches in der 
Entwicklung und Darftellung allenthalben miteinander vermengt 
und verflochten, dagegen im Princip fo ftreng gefchieden, dafs man 
der blofsen Abficht nach fchwerlich einen radicaleren Formaliften 
finden könnte, als Ariftoteles in dei:^ analytifchen Technik. Diefe 
Confequenz allein hat feinen Lehren einen für alle Zeiten bleibenden 
und vom Urtheil über die ariftotelifche Metaphyfik unabhängigen 
Werth gegeben. Dafs die modernen Freunde der ariftotelifchen 
Metaphyfik, zumal wenn fie in diefer den »bleibenden Grund« aller 
Philofophie entdeckt zu haben glauben und diefe Metaphyfik felbft 
für »apodiktifches Wiffen« halten, für den hier nachgewiefenen 
Unterfchied zwifchen der wahrhaft apodiktifchen Technik und der 
auf beftändiger Verwechslung von Wort, Begriff und Sache ruhen- 

Lange, Logische Studien, 2 



18 Formale Logik 

den Metaphyfik keinen Sinn haben, ift fehr natürlich; um fo nach- 
drücklicher mufs zur Wahrung der hiftorifchen Thatfache wie des 
unverfälfchten Wefens der Logik bei jeder Gelegenheit darauf hin- 
gewiefen werden. 

Wie nahe übrigens Ueberweg in Folge feines ungemeinen 
Scharfßnns, feinem eigenen erkenntnifstheoretifchen Vorurtheil zum 
Trotz, an die richtige Auffaffung der logifchen Technik ftreifte, 
zeigt eine zum gleichen Paragraphen (84) gehörige Anmerkung, 
welche fpeciell gegen die geringfchätzige Art gerichtet ift, in der 
Hoppe (Logik, Paderborn 1868) von dem »Denken nach dem 
Schema« redet im Gegenfatz zu einem angeblichen Denken nach 
dem Begriff. Hier fagt Ueberweg wörtlich: »Mit gleichem Recht 
könnte man die mathematifch-mechanifche Betrachtung als einfeitig 
und willkürlich fchelten, wenn fie unterfucht, was aus gewiffen ein- 
fachen Vorausfetzungen folge und dabei von anderen Datis abfieht, 
von denen jene in der Wirklichkeit nicht abgefondert vorzukommen 
pflegen, wenn fie z, B. die Bahn und die Stelle des Falls eines 
irgendwie geworfenen Körpers nur auf Grund der Gravitation und 
der Beharrung berechnet, ohne den Miteinflufs des Luftwiderftandes 
zu erwägen, fo dafs anfcheinend die concrete Anfchauung das Re- 
fultat genauer zu beftimmen und über die Rechnung zu triumphiren 
vermag ; wollte aber die mathematifche Mechanik jenes abftractive 
Verfahren nicht üben, fo würde fie die Bewegungsgefetze über- 
haupt nicht zu erkennen vermögen und die Wiffenfchaft würde 
aufgehoben fein.« Es folgt die in der That fchlagende Anwen- 
dung auf die Logik. Wer in ähnlicher Weife das abftracte Ver- 
fahren der Logik von der Realität aus corrigiren will, »hebt durch 
diefes Verfahren nicht eine falfche Logik zu Gunften einer befleren, 
fondern die Möglichkeit einer methodifch fortfchreitenden logifchen 
Erkenntnifs der Denkgefetze felbft auf.« 

Man kann fich fchwerlich richtiger ausdrücken, aber die 
Schneide der gleichen Logik trifft auch Ueberwegs Unterfcheidung 
zwifchen »geeigneten« und »ungeeigneten« Fällen der Subftantivi- 
rung; denn das Kriterium des Paffenden wird hier nicht aus dem 
»abftractiven« Verfahren der logifchen Technik, fondem aus der 
Betrachtung der Objecte genommen. Die logifche Technik gilt 
aber für geeignete und ungeeignete Fälle, wie ein Satz der Stereo- 
metrie oder der analytifchen Geometrie gilt, einerlei ob ent- 
fprechende Körper und Flächen oder Linien in der Natur vor- 



und Erketintnifslelire. 19 

kommen oder nicht. So gilt auch die logifche Regel unfehlbar 
für eine fubftantivifche Bezeichnung von Gegenftänden, welche mit 
Rückficht auf ihre Verwandtfchaft oder Aehnlichkeit in der Natur 
der Dinge oder wegen einer gemeinfamen Subftanzialität nie Jemand 
fo zufammenfaffen würde. Die weiteren Erwägungen gehören alfo 
erft in die angewandte Logik, und fo wird es mit der ganzen 
Rückficht auf die Objecte fein, in welcher Ueberwegs erkenntnifs- 
theoretifcher Standpunkt den Fortfehritt fucht, während doch da- 
mit die eigentliche Bafis aller Logik aufgehoben wird. — Was 
insbefondere noch die Subftantivirung der Prädicate betrifft, fo läfst 
fich leicht zeigen, dafs es zwifchen »geeigneten« und »ungeeig- 
neten« Fällen nirgend eine fcharfe Grenze giebt. Nach Ueberwegs 
Kriterium, welches in der Verweifung auf den von der Gattung, 
Art, Klaffe u. f. w. handelnden Paragraphen enthalten ift, wären 
die von Ariftoteles felbft herrührenden Beifpiele faft alle falfch, 
denn Niemand wird z. B. behaupten, dafs »weifse Gegenftände« in 
den »wefentlichen Eigenfchaften« übereinftimmen und daher (nach 
Ueberweg, 3. Aufl. S. 126, § 58) eine »Gattung« bilden. Der lo- 
gifchen Technik genügt es zur Subftantivirung vollkommen, dafs 
fie in einer einzigen Eigenfchaft, auf die es gerade ankommt, 
übereinftimmen und damit find die Lehrfötze apodiktifch gültig. 
Wie richtig die Logik darin verfährt, mag übrigens auch noch der 
Umftand zeigen, dafs es im wiffenfchaftlichen Gebrauch, hinficht- 
lich der »weifsen Gegenftände« z. B., wenn es fich um optifche 
Fragen handelt, ftets fachlich begründete Eintheilungen geben 
kann, welche mit der gewöhnlichen und natürlichen, auf die ge- 
fammte Erfcheinungsform gebauten Eintheilung gar nichts zu 
thun haben, und wo etwa eine Grenze folcher fpeciell motivirten 
Zufammenfaffungen liegt, vermögen wir a priori gar nicht zu be- 
ftimmen. Uns will es fcheinen, als ob Alles, was überhaupt Prä- 
dicat fein kann, in irgend welchem Zufammenhang einmal trotz 
der gröfsten Ungleichheit der Gegenftände, zu denen es gehört, 
auch mit fachlichem Sinn fubftantivirt werden könne ; jedenfalls ift 
aber von diefer Betrachtung die Richtigkeit des ariftotelifchen Ver- 
fahrens unabhängig, indem fie fich trotz des ariftotelifchen »Objec- 
tlvismus« eben nicht auf eine Erwägung der Natur der Dinge 
flützt, fondem auf die Anfchauung des Verhältniffes von Begriffen 
überhaupt. 

Wir haben fonach gefehen, dafs der technifche Theil der 

2* 



20 Formale Logik 

ariftotelifchen Logik unabhängig dafleht von den erkenntnifs- 
theoretifchen Speculationen ; ja, dafs er mit diefen auf mehreren 
Punkten in einen dürftig verhüllten Widerfpruch tritt, wobei jedoch 
die Lehrfätze der Technik ihr Recht mit zwingender Nothwendig- 
keit behaupten. Wir haben ferner vorläufig wahrfcheinlich gemacht, 
was weiterhin ftreng bewiefen werden föU, dafs eben diefe zwin- 
gende Nothwendigkeit, mit welcher die technifchen Lehrfätze der 
Logik (d. h. die rein technifchen, von den mit Speculation ge- 
mifchten wird fattfam die Rede fein) ihr Recht behaupten, keines- 
wegs eine Folge der blofs analytifchen*Natur diefer Sätze, fondem 
vielmehr eine Folge der mit der Demonftration verbundenen An- 
fchauung, alfo eines fynthetifchen Elementes ift. Die »Veran- 
fchaulichung« , das fo geringfchätzig betrachtete blofs didaktifche 
Hülfsmittel, foU fich alfo als blofse Leitung und beftimmtere Aus- 
führung der Anfchauung herausftellen, welche letztere der wahre 
Quell der Apodikticität wäre. 

^ Wir find oben von einem Beifpiel (Umkehrung des allgemein 
verneinenden Urtbeils) ausgegangen, indem wir zeigten, dafs der 
betreffende Lehrfatz zwar durch den Satz des Widerfpruchs be- 
wiefen wird, dafs aber der Beweis nicht ohne Hülfe der Anfchau- 
ung zu Stande kommt. Wir wollen diefem Beifpiel zunächil zwei 
andere zur Seite fetzen, um die Rolle, welche einerfeits der Satz 
des Widerfpruchs, anderfeits die Anfchauung fpielt, nach verfchied- 
nen Seiten klar zu machen. 

Bekanntlich beweifl Arifloteles die Modi Baroco und Bocardo, 
nach feinem Syflem der Zurückführung auf die erfle Figur, apago- 
gifch, während man ihre Bündigkeit mittelfl der Anfchauung auch 
direct erweifen kann. Der Satz des Widerfpruchs tritt hier in der 
ariflotelifchen Deduction ganz rein auf: Wenn ^ allem v zukommt, 
einigem I aber nicht zukommt, fo mufs nothwendig auch v einigem 
I nicht zukommen; denn käme es allem I zu, fo müfste, da auch 
{k allem v zukommt, nothwendig (nach dem Modus Barbara) auch 
^ allem 5 zukommen, was dem gegebenen Unterfatz widerfpricht 
Alfo mufs die Vorausfetzung »Alle I find vn falfch und das contra- 
dictorifche Gegentheil »Mindeftens einige I find nicht y« richtig 
fein. — Wie man fieht, beruht der Schlufs auf der Lehre von! 
contradictorifchen Gegenfatz der Urtheile und auf der Gültigkeit 
des erflen Modus der erflen Figur. Von diefen Vorausfetzungen 
aus wird der Beweis lediglich nach dem Satze des Widerfpruchs 



und Erkenntnifslehre. 21 

bewerkftelligt, und es fcheint, dafs ekie Veranfchaulichung durch 
Raumbilder der Begriffsfphären hier überhaupt nicht nöthig ift, um 
den Beweis als zwingend erfcheinen zu laffen. Es genügt die 
blofse Vorftellung der Buchftaben mit dem nicht einmal in actuellen 
Vorftellungen entwickelten, fondern fummarifchen Bewufstfein deffen, 
was fie bedeuten, nebft der Erinnerung an das, was bereits be- 
wiefen ift. Der Schlufs ift, wenn man fo verfährt, gleichfam ein 
blinder, wie der Schlufs einer Rechenmafchine, die aus gegebenen 
Bedingungen das Facit giebt, oder auch, wie die Erzielung eines 
Refultates durch menfchliches Rechnen, wenn daffelbe auf Grund 
der Einübung bekannter Methoden rein mechanifch vorgenommen 
wird. Es ift zwar richtig, dafs unfer Geift fich bei neuen Lehr- 
ßitzen, welche einer ausgedehnten Anwendung fähig find, nicht 
leicht mit diefem blinden Verfahren begnügt, dafs trotz des Zwin- 
genden in folchen Schlüffen ein Mifsbehagen, wo nicht gar Mifs- 
trauen übrig bleibt, fo lange wir nicht doch auch hier die An- 
schauung zu Hülfe nehmen ; allein diefe pfychologifche Erfgheinung 
ändert nichts an der Thatfache, dafs ein zwingender Schlufs in 
diefem Falle wenigftens ohne directe Mitwirkung der Anfchauung 
zu Stande kommt Von der indirecten Mitwirkung der Anfchauung 
zu folchen Schlüffen wird gleich die Rede fein. 

Nun laffen fich aber auch Folgerungen aufweifen, bei denen 
umgekehrt, der Satz des Widerfpruchs zwar zur ferneren Erläu- 
terung und voUftändigeren Ueberzeugung zu Hülfe genommen wer- 
den kann, bei denen aber offenbar die ganze Beweiskraft in der 
Anfchauung allein beruht und die Erörterung nach dem Satze des 
Widerfpruchs überflüffig ift. Von diefer Art ift der Beweis für 
den erften Modus der erften Figur. Hier giebt Ariftoteles nur die 
Thatfache und die als Beifpiel dienenden Begriffe, aber keinen 
eigentlichen Beweis. Gerade dies abgekürzte Verfahren, welches 
Ariftoteles in den meiften Fällen einfchlägt, darf als Zeugnifs da- 
für angefehen werden, dafs im Lehrvortrag der ariftotelifchen Lo- 
gik auf die Kraft der Anfchauung, wenn auch ohne eine bewufste 
Theorie ihrer Beweiskraft, thatfächlich abgeftellt wurde. Der Geift 
fieht hier unmittelbar, wie die weitere aber minder beftimmte 
Sphäre « dem Mittelbegriff ß zu Grunde liegt Wenn nun diefer 
wieder dem ganzen jr zu Grunde liegt,, dergeftalt, dafs 7^ nur zu 
der Wefensbeftimmtheit von ß noch eine neue unterfcheidende Be- 
ftimmtheit mit hinzubringt, fo fieht man, wenn man das erftere 



22 Formale Logik 

Bild im Geifte feftgehalten hat, unmittelbar, wie auch 2^ ganz auf 
der durch die Sphäre a dargeftellten allgemeinften Wefensbeftimmt- 
heit ruhen mufs. Dafs es nothwendig und in allen Fällen fo 
fei, wird wieder durch die Anfchauung der Variabilität des 
Raumbildes zum Bewufstfein gebracht. Man fieht, dafs die Figur, 
die man fich im Geifte macht, innerhalb der Schranken der Vor- 
ausfetzung unendlich vieler Variationen fähig ift, In welchen ftets 
unverändert ein entfprechendes Bild der Vorausfetzung ift und 
ebenfo unverändert den Schlufs darftellt Wie von diefer in der 
Anfchauimg doch immer nur annähernd gegebenen Unendlichkeit 
und AUfeitigkeit der Darftellung der Sprung auf das Bewufstfein 
abfoluter Nothwendigkeit erfolgt, brauchen wir hier nicht zu er- 
örtern. Es genügt, wenn gezeigt wird, dafs der Vorgang voU- 
ftändig derfelbe ift, wie wenn in der Geometrie ein Satz an einer 
concreten Figur bewiefen wird und wir gleichwohl die Ueberzeu- 
gung gewinnen, dafs der Satz allgemein, d. h. für jede beliebige 
den Bedingungen entfprechende Figur, gültig ift. — Der Satz des 
Widerfpruchs wird in diefem Falle nur noch zugezogen, um uns 
die Grenzen, innerhalb welcher wir die Figur variabel zu denken 
haben, durch hypothetifche Annahme ihrer Ueberfchreitung 
deutlicher zum Bewufstfein zu bringen; allein auch hierbei mufs 
die Anfchauung mitwirken. 

Bei diefem Anlafs können wir doch eine Bemerkung über die 
ariftotelifchen Beifpiele nicht unterdrücken. Dafs diefe ohne alle 
Rückficht auf den Sinn der Schlüffe, ohne alle Beziehung zur Er- 
kenntnifstheorie aufgerafften Termini, wie Menfch, Thier, Pferd, 
weifs, fchwarz, Schnee, Rabe, Schwan, Stein u. f. w, in rein for- 
maliftifchem Sinne verwendet werden und fonach einen neuen Be- 
leg geben für die formale Tendenz des eigentlich technifchen Theils 
der ariftotelifchen Logik, bedarf keines Nachweifes ; wohl aber ift 
es an der Zeit, darauf hinzuweifen, dafs die Wahl folcher nichts- 
fagenden Beifpiele vom Standpunkte der Technik einen Vorzug 
hat, der um fo wichtiger ift, je weniger noch der Beweis mittelft 
der Anfchauung an Sphärenbildern entwickelt ift 

Unfre Logiker fuchen gegenwärtig etwas darin, ihre Lehr- 
bücher mit möglichft finnreichen Beifpielen für die Technik der 
logifchen Regeln auszuftatten. Dadurch wird nicht nur die Regel 
mit Beifpielen belegt, fondern gleichzeitig auch für den Nutzen 
der Logik argumentirt, der bekanntlich, was die überlieferten 



• und Erkenntnifslehre. 23 

Kunftregeln der Deduction betrifft, ftark angefochten wird. Dies 
Verfahren ift nicht nur zu billigen, fondem man foUte eher noch 
einen Schritt weiter gehen und ausdrücklich nur folche Beifpiele 
wählen, welche in der Gefchichte der Wiffenfchaften eine Rolle 
gefpielt und alfo ihren Nutzen unmittelbar bewährt haben. Man 
beachte aber wohl, dafs die Beifpiele, je mehr fie in diefem Sinne 
gewählt fmd, defto weniger gefchickt find, den Beweis zu er- 
fetzen, indem man im Einzelnen fofort das Allgemeine erkennt. 
Das alte triviale Beifpiel »Alle Menfchen find fterblich; Cajus ift 
ein Menfch: alfo ift Cajus fterblicA« hat in der Gefchichte der 
Wiffenfchaften keine Rolle gefpielt, wenn nicTit eben die Rolle des 
abgehetzten Schulbeifpiels für einen Subfumtionsfchlufs. Beifpiele 
diefer Art find fehr leicht dem Vorwurf ausgefetzt, den man oft 
unbillig verallgemeinert hat, dafs man mittelft des Syllogismus 
nichts finde, was man nicht vorher gewufst Dafür haben fie aber 
auf der andern Seite in rein formaler Hinficht grade durch ihre 
Leere den Vortheil völliger Durchfichtigkeit Man fieht hier gleich, 
dafs man im Grunde nichts in Händen hat, als den gleichfam 
fchwach colorirten Umrifs von Begriffen überhaupt Während 
bei den inhaltreichen Beifpielen das Bewufstfein zu ftark von der 
Sache ergriffen wird, um mitten in der Ueberzeugung noch den 
formalen Grund der Ueberzeugung rein zu erfaffen, läfst das nichts- 
fagende Schulbeifpiel unmittelbar aas Schema der Subfumtion 
erkennen und bewirkt daher weit leichter und fchlagender die 
Ueberzeugung, dafs es fich nicht nur in diefem Falle fo verhalte, 
fondem dafs es mit Begriffen überhaupt, wähle man, welche man 
wolle, ebenfo fein werde, fobald fie fich hinfichtlich ihrer Ueber- 
und Unterordnung ebenfo verhalten. Mit einem Wort : das nichts- 
fagende Schulbeifpiel erfüllt annähernd diefelbe Aufgabe, wie die 
geometrifche Figyr und wie die Sphärenzeichnung in der Technik 
der Logiker. Es wird gebraucht mit dem Zweck, am Einzelnen 
das Allgemeine zu zeigen, und diefer Zweck wird offenbar da- 
durch erreicht, dafs man fich, von keinen Betrachtungen über den 
fpeciellen Sinn des Beifpiels geftört, irgend ein, wenn auch noch 
fo unvoUkommnes Bild von der Summe der Gegenftände entwirft, 
welche mit dem Begriff bezeichnet find. Die abftractefte Form 
folcher Bilder ift das Sphärenbild felbft. Man denke fich nun im 
mündlichen Lehrvortrag diefe zweckmäfsig inhaltsleeren Beifpiele 
mit einigen flüchtigen Strichen im Sande des Bodens oder auch 



24 Formale Logik ^ 

nur mit einer veranfchaulichenden Handbewegung begleitet und 
man hat im Beifpiel felbft das Princip unfrer Sphärenvergleichung. 
Sonach dient das moderne Beifpiel einem ganz anderen Zweck als 
das antike, und mit Recht,' denn eben weil wir die Sphärenver- 
gleichung confequent anwenden, bedürfen wir der nichtsfagenden 
Beifpiele nicht mehr und können in der Sammlung gewählter Bei- 
fpiele eine höhere Aufgabe zu löfen fuchen. 

Man vergleiche hiezu die Bemerkung Ueberwegs (Logik 3. Aufl. 
S. 297, 8 107), dafs Ariftoteles einen gewiffen Beweis »nur im 
Einzelnen an Beifpielena geführt habe, den erft neuere Logiker 
»in allgemeinerer Weife auf die SphärenverhältnifTea gegründet 
hätten. Man wird fehen, dafs der Unterfchied des Verfahrens 
nicht fo grofs ift, wie es fcheinen könnte. In beiden Fällen wird 
der Beweis eben auf Anfchauung gegründet, indem das concrete 
Anfchauungsbild, an welchem man demonftrirt, mit dem Bewufst- 
fein feiner Variabilität die Ueberzeugung von der Allgemeingültig- 
keit des Behaupteten hervorbringt. — Diefe Bemerkung dürfte ge- 
eignet fein, auf den Gebrauch von Beifpielen in der WifTenfchaft 
überhaupt einiges Licht zu werfen, doch dürfen wir diefen Faden 
hier nicht weiter verfolgen. 

Vergleichen wir nunmehr die oben aufgeftellten Beifpiele, fo 
finden wir leicht, dafs da, wo die Anfchauung das wahrhaft Mafs- 
gebende ift, wie beim Beweife des erften Modus der erften Figur, 
ein wirklich neuer Begriff der Synthefis des Syllogismus zu Grunde 
liegt, der Begriff der Subfumtion eines Falles unter die Regel, 
einer Art unter die Gattung* Diefe Vermittlung des « und /- durch 
das eingefchaltete ß ftellt in der That einen Grundfatz dar, der 
nachher feine mannigfaltigfte Anwendung findet, der aber felbft 
nicht aus anderen Sätzen abgeleitet werden kann ; denn dafs a von 
ß ausgefagt wird und ß von 7' enthält noch nichts von einer Be- 
ziehung zwifchen « und ^, fo lange ich nicht durch die Anfchauung 
die Regel diefer Vermittlung erkenne. 

Diefe Anfchauung fehlen in dem apagogifchen Beweife des 
Modus Baroco überflüfTig. Hier wird nur eine Anwendung von 
fchon feftftehenden Regeln gemacht, und wenn diefelben nur, an 
irgend ein Zeichen für die Termini angeknüpft, im Gedächtnifs 
haften, fo bedarf es keines Zurückfehreitens auf räumliche Bilder 
der Begriffsfphären. Da nun aber doch das Erfchloffene felbft 
wieder Regel ift, und zwar eine im Modus Barbara keineswegs 



und Erkenntnifslehre. 25 

fchon offen vorliegende Regel, fo hätten wir alfo hier wenigftens 
den von Kant vorgefehenen Fall einer Erweiterung der Logik auf 
rein analytifchem Wege durch den Satz des Widerfpruchs. Frei- 
lich nur eine Erweiterung! Bevor wir weiter gehn, mag alfo im- 
merhin darauf verwiefen werden, dafs Erweiterungen ganz analoger 
Art fich auch in der Mathematik in grofser Anzahl vorfinden. 
Sollen gleichwohl die eigentlich mathematifchen Sätze insgefammt 
fynthetifch fein, fo könnte man ganz in gleicher Weife einen fol- 
chen Kern fynthetifcher Sätze auch in der Logik ausfcheiden; 
auf alle Fälle wäre zwifchen der formalen Logik und der Mathe- 
matik nicht jene ungeheure Kluft, welche Kant zwifchen ihnen 
gefetzt hat, fondern vielmehr die auffallendfte Uebereinflimmung. 

Wir gehen aber weiter und wollen zunächft noch einen Blick 
auf das zuerft gegebene Beifpiel werfen, in welchem Anfchauung 
und Demonftration aus dem Satze des Widerfpruchs anfcheinend 
gleichberechtigt Hand in Hand gehen: beim Beweife für die Um- 
kehrbarkeit des allgemein verneinenden Urtheils. Zunächfl: ift hier 
zu bemerken, dafe fich hier, wenn man die ariftotelifche Beweis- 
führung ganz bei Seite läfst, wie übrigens auch beim Beweife für 
Baroco und Bocardo, mittelft der Sphärenbilder das zu Erweifende 
ohne Beziehung auf den Satz des Widerfpruchs mit gröfster Evi- 
denz darthun läfst Das Bild zweier völlig getrennter Sphären 
zeigt fo klar, dafs hier im Verhalten der einen zur andern kein 
Unterfchied ift, dafs man die allgemeine Umkehrbarkeit eines fol- 
chen Urtheils mit Ueberzeugung vor Augen hat, fobald überhaupt 
nur erklärt ift, was die Sphären bedeuten foUen.*) Umgekehrt 
aber kann man hier keineswegs den Satz des Widerfpruchs, wie 
beim Beweife für Bocardo, gleichfam rein mechanifch wirken laffen. 
Den ariftotelifchen Hülfsbegriff für . irgend einen Theil von ß kann 
man allerdings der Form nach erfparen, aber nicht der Sache nach. 
Sobald gefagt wird: denn wenn irgend einem Theile von ß das « 



*) Im folgenden Kapitel wird gezeigt werden, dafs der Satz des Widerfpruchs 
gleichwohl auch hier, wie überall, mitwirkt, wenn die Nothwendigkeit, d. h. 
die unbedingt ausnahmslofe Allgemeinheit der gewonnenen Regel zum Bewufstfein 
gebracht werden foU. Da aber der Satz des Widerfpruchs, wie gleich unten gezeigt 
wird, als logifches Normalgefetz felbft wieder auf Anfchauung ruht, während er als 
pfychologifches Naturgefetz das Wefen unfrer Anfchauung beflimmt, fo kann über- 
haupt das Entweder — Oder in Beziehung auf die Wirkung der Anfchauung und des 
Gefetzes des Widerfpruchs (lets nur einen relativen Sinn haben. 



26 Formale Logik 

zukäme, fo mufs fchon ein folcher Theil vorgeftellt werden, der 
bisher als folcher nicht gegeben war. Ich mufs den Verfuch 
machen, ob irgend einem folchen Theile das « zukommen könne, 
und diefen Verfuch kann ich nur in der Phantafie anftellen. Wir 
können hieraus entnehmen, dafs die Anfchauung in der That nicht 
nur in diefem Falle die wefentliche Grundlage des Beweifes ift, 
fondem dafs fie überhaupt ftets unentbehrlich fein wird, wenn mit 
den Begriffen, um bündig fchliefsen zu können, noch irgend eine, 
den Hülfsconftructionen der Geometrie vergleichbare, Operation, 
wie Theilung, Deckung u. f w. vorgenommen werden mufs. 

Solche Operationen an der Sphäre der einzelnen Begriffe finden 
fich nun aber im apagogifchen Beweife für den Modus Baroco 
nicht. Sobald die Annahme des contradictorifchen Gegentheils im 
Schlufsfatze gemacht ift, wird mit den fertigen Urtheilen nach 
einem bereits bewiefenen Schema operirt und es ergiebt fich aus 
der Combination von Oberfatz und Schlufsfatz eine Folgerung, die 
man rein dem Gedächtnifs entnehmen kann und von der man 
ebenfo durch blofse Anwendung von bereits Erwiefenem fieht, dafs 
fie mit der zweiten Prämiffe im Widerfpfuch fleht und alfo nicht 
ftatthaft ift. Weil die einzelnen Begriffe in beftimmter Synthefis 
bleiben und nicht mit ihnen, fondern nur mit dem ganzen Urtheil 
operirt wird, fo bedarf man auch nicht der Phantafiebilder von der 
Sphäre diefer Begriffe. In diefer Hinficht konnten wir alfo oben 
bemerken, dafs hier der Schlufs gleichfam ein blinder fei, wie bei 
der Rechenmafchine. Ganz blind, d. h. anfchauungslos ift eine 
Operation des Denkens wohl niemals, denn die Erinnerung an das 
bereits gelernte und eingeübte Verfahren knüpft fich doch immer 
an die finnliche Vorftellung der Zeichen, mit denen die Begriffe 
(beim Rechnen die Gröfsen) und die Operationen fymbolifirt wer- 
den, und beim ganz mechanifchen Verfahren, wie es namentlich 
beim Rechnen fehr häufig vorkommt, ift wohl im Grunde das Be- 
wufstfein lediglich von der Anfchauung diefer Zeichen erfüllt, wäh- 
rend die fogenannte Verftandesfunction des Combinirens und 
Schliefsens durch einen erworbenen Mechanismus vor fich geht, 
wie die Combination der Muskelbewegungen beim Gehen, Tanzen 
u. f.- w. — Dazu kommt, dafs auch bei der Auffindung des 
apagogifchen Weges jedenfalls Denken und Anfchauung Hand 
in Hand gehen; es gehört ein »Blicka dazu, wie beim Auffinden 
der geometrifchen Hülfsconftruction, um die Möglichkeit des Be- 



und Erkenntnifslehre. 27 

weifes auf diefem Umwege zu entdecken; jedoch wird, wie bemerkt, 
das Sphärenbild als folches hier nicht zu Hülfe genommen und 
fomit fcheint die Nothwendigkeit einer Anfchauung desfelben fich 
in der That auf diejenigen Sätze zu befchränken, in welchen auf 
den Umfang (wenn auch der Ausdrucksweife nach auf den Inhalt) 
der einzelnen Begriffe zurückgegangen werden mufs, um den Be- 
weis zu führen. Dies wird aber bei allen fundamentalen Ope- 
rationen des Schliefsens der Fäll fein; denn in der That ift keine 
Art und Weife abzufehen, wie aus gegebenen Urtheilen ein neues, 
von diefen verfchiedenes gewonnen werden foU, als entweder durch 
Reflexion über das Verhältnifs der gegebenen Begriffe — und da- 
bei wird allemal die Anfchauung der Begriffsfphäre zu Hülfe ge- 
nommen — oder durch Anwendung bereits vorher bewiefener 
Regeln. 

Beruht nicht aber fchliefslich auch der Satz des Wider- 
fpruchs felbft auf räumlicher Anfchauung? — Wir muffen 
hier wohl zufehen, in welchem Sinne wir diefe Frage bejahen oder 
verneinen. Der Satz des Widerfpruchs ift der Punkt, in welchem 
fich die Naturgefetze des Denkens mit den Normalgefetzen 
berühren. Jene pfychologifchen Bedingungen unfrer Vorftellungs- 
bildung, welche durch ihre unabänderliche Thätigkeit im natür- 
lichen, von keiner Regel geleiteten Denken fowohl Wahrheit als 
Irrthum in ewig fprudelnder Fülle hervorbringen, werden ergänzt, 
befchränkt und in ihrer Wirkung zu einem beftimmten Ziele ge- 
leitet durch die Thatfache, dafs wir Entgegengefetztes in unferm 
Denken nicht vereinigen können, fobald es gleichfam zur Deckung 
gebracht wird. Der menfchliche Geift nimmt die gröfsten Wider- 
fprüche in fich auf, fo lange er das Entgegengefetzte in verfchiedne 
Gedankenkreife einhegen und fo auseinanderhalten kann; allein 
wenn diefelbe Ausfage fich unmittelbar mit ihrem Gegentheil auf 
denfelben Gegenftand bezieht, fo hört diefe Fähigkeit der Ver- 
einigung auf; es entfteht völlige Unficherheit, oder eine der beiden 
Behauptungen mufs weichen. Pfychologifch kann freilich diefe 
Vernichtung des Widerfprechenden vorübergehend fein, infofern 
die unmittelbare Deckung der Widerfprüche vorübergehend ift. 
Was in verfchiednen Denkgebieten tief eingewurzelt ift, kann nicht 
fo ohne Weiteres zerftört werden, wenn man durch blofse Fol- 
gerungen zeigt, dafs es widerfprechend ift. Auf dem Punkte frei- 
lich, wo man die Confequenzen des einen und des andern Satzes 



28 Formale Logik 

unmittelbar zur Deckung bringt, bleibt die Wirkung nicht aus, 
allein fie fchlägt nicht immer durch die ganze Reihe der Folgerun- 
gen hindurch bis in den Sitz der urfprünglichen Widerfprüche. 
Zweifel an der Bündigkeit der Schlufsreihe, an der Identität des 
Gegenftandes der Folgerung fchützen den Irrthum häufig; aber 
auch wenn er für den Augenblick zerftört wird, bildet er fich aus 
dem gewohnten Kreife der Vorftellungsverbindungen wieder neu 
und behauptet fich, wenn er nicht endlich durch wiederholte Schläge 
zum Weichen gebracht wird. 

Trotz diefer Zähigkeit des Irrthums mufs gleichwohl das pfy- 
chologifche Gefetz der Unvereinbarkeit unmittelbarer Widerfprüche 
im Denken mit der Zeit eine grofse Wirkung ausüben. Es ift die 
fcharfe Schneide, mittelft welcher im Fortgang der Erfahrung all- 
mählig die unhaltbaren Vorftellungsverbindungen vernichtet werden, 
während die beffer haltbaren fortdauern. Es ift das vernichtende 
Princip im natürlichen Fortfehritt des menfchlichen Denkens, wel- 
ches, gleich dem Fortfehritt der Organismen, darauf beruht, dafs 
immer neue Verbindungen von Vorftellungen erzeugt werden, von 
denen beftändig die grofse Maffe wieder vernichtet wird, während 
die befferen überleben und weiter wirken. 

Diefes pfychologifche Gefetz des Widerfpruches bedarf 
natürlich zu feinem Beftande und zu feiner Wirkfamkeit keiner 
Anfchauung. Es ift unmittelbar durch unfre Organifation gegeben 
und wirkt vor jeder Erfahrung als Bedingung aller Erfahrung. 
Seine Wirkfamkeit ift eine objective und es braucht nicht erft zum 
Bewufstfein gebracht zu werden, um thätig zu fein. 

Sollen wir nun aber daffelbe Gefetz als Grundlage der Logik 
aufraffen, foUen wir es als Normalgefetz alles Denkens anerken- 
nen, wie es als Naturgefetz auch ohne unfre Anerkennung wirk- 
fam ift; dann allerdings bedürfen wir hier fo gut, wie bei allen 
andern Axiomen der typifchen Anfchauung, um uns zu überzeugen. 
Dafs das Ganze gröfser ift als der Theil, dafs Gleiches zu Glei- 
chem hinzugefügt Gleiches giebt, fehen wir und deshalb glauben 
wir es. Jedes beliebige Beifpiel fchliefst die Allgemeinheit in fich, 
weil wir es fofort beweglich fehen und die Ueberzeugung gewin- 
nen, dafs es in jeder denkbaren Veränderung von Form und 
Grofse des Angefchauten fich gleich verhalten werde. Ebenfo 
aber fehen wir an einem Raumbilde irgend welcher Art, fei es in 
einem concreten Falle, fei es in einem blofsen Linienfchema, dafs 



und Erkenntnifslehre. 29 

ich nicht daffelbe von demfelben Gegenftande bejahen und ver- 
neinen kann. Das einzelne Bild wird fofort typifch, allein ohne 
Bild überhaupt bleibt mir die Formel leer und ich gewinne weder 
die Ueberzeugung von ihrer unbedingten Gültigkeit, noch auch 
nur wirkliche Einficht in ihren Sinn. 



IL 



Die Modalität der ürtheile. 



Zwei der fcharffinnigften Männer, die je gelebt haben, Lorenzo 
Valla und Ludwig Vives verwarfen die ariftotelifch-fcholaftifche 
Lehre von der Modalität der Ürtheile gänzlich, indem fie behaup- 
teten, dafs die Ausdrücke der Möglichkeit oder Nothwendigkeit 
eines Seins oder Gefchehens kein anderes logifches Verhältnifs 
begründen, als beliebige andre Ausdrücke, von denen man das Sein 
abhängig machen, oder durch die man es näher beftimmen kann, 

Valla, welcher dazu neigt, beftändig die logifche Betrachtung 
in die grammatifche und rhetorifche übergehen zu laffen, will nicht 
nur Ausdrücke wie facile^ dif fidle y certum und incertum^ fondern 
auch confuetuniy utile ^ jucundum^ decortmi nebft dem Gegentheil 
diefer Wörter mit dem Nothwendigen und Möglichen gleich Hellen.*) 
Wenn man den Satz aufftelle: Es ift ehrenhaft, dafs ein Bürger 
für fein Vaterland kämpfe, fo fei diefer Satz unter keiner jener 
Modalitäten der Logiker enthalten. Wir würden diefen Satz nach 
neuerer Anfchauung vielleicht unbedenklich für einen affertorifchen 
erklären, allein wir werden bald fehen, dafs eine genauere Analyfe 
des Affertorifchen hier doch Bedenken erwecken mufs. Theilt man 
femer die Ürtheile mit Ariftoteles ein in folche des Statt findens, 
des nothwendig, und des möglich Stattfindens, fo ift der Satz 
Valla's nirgend unterzubringen. Aber mufs denn auch jeder gram- 
matifche Satz fich unter eine rein logifche Urtheilsform ohne Wei- 
teres einordnen laffen? 



*) Läurentti Vallae dialecticae 1. 11, c, 39. 
Jodocus Badius Ascenfius, 1509. — 



Ich benütze die Aasgabe von 



Die Modalität der Urthieile. 31 

Vives beginnt fofort mit der Behauptung, dafs die Urtheile der 
Modalität nur eine grammatifche, keine logifche Frage darbieten, 
wie denn überhaupt Ariftoteles in Emi^ngelung einer befonderen 
Wiffenfchaft der Grammatik viele grammatifche Fragen in der Logik 
mit behandelt habe. Es handle fich im Wefentlichen nur um die 
Erörterung der Bedeutung der Ausdrücke nothwendig, möglich, 
zufallig. Entweder verlegt Ariftoteles die Modi in die Dinge; 
dann ift jedes Adverbium in gleicher Weife ein Modus, und ebenfo 
die Verba ufu venu, Jolet, congruit und ähnliche, bei denen fich 
auch die gleiche Schwierigkeit wegen der Stellung der Negation 
erheben läfst, wie bei den Ausdrücken der Nothwendigkeit und 
Möglichkeit Oder Ariftoteles verlegt die Modalität in die Aus- 
fage als folche: dann find eine Reihe ähnlicher Ausdrücke der 
Gewifsheit, Glaubwürdigkeit, Wahrfcheinlichkeit u. f. w. gleichbe- 
rechtigt, welche auch fchon Buridan und andere Scholaftiker in die 
Lehre von der Modalität hineingezogen haben. Vives > fcheint zu 
der erfteren Alternative hinzuneigen, denn er wiederholt noch ein- 
mal: Nifi forte Arifloteles pronunciata Jpectavit ex rebus , non ex 
nobis. Sed certe in his non plus erat, quod ejfet ex dialectica pe- 
tendum, quam in aliis, quibus adverbia inferuntur*) 

Beide Männer fehlen darin, dafs fie den Zufammenhang diefer 
Lehre mit der ariftotelifchen Metaphyfik nicht beachten; denn 
nur diefe giebt den SchlüfTel dazu, warum gerade Möglichkeit, 
Stattfinden und nothwendig Stattfinden bei Ariftoteles eine folche 
Rolle fpielen. Vives würde übrigens, auch wenn er deffen gedacht 
hätte, bei feinem Verwerfungsurtheil geblieben fein, wie fich fchon 
aus feiner Kritik der ariftotelifchen Metaphyfik ergiebt Valla, der 
die wichtige Frage gar nicht beachtete, ob die Modi auf die Dinge 
oder auf unfre Auffaffung derfelben zu beziehen feien, würde fich 
grade von hier aus gewifs auch gegen Ariftoteles gewandt haben, 
denn ihm ift die fubjective Bedeutung von Möglichkeit und Noth- 
wendigkeit in den Urtheilen der Modalität aufser Zweifel. In einer 
befiändig von rhetorifchen Seitenblicken getrübten, aber logifch 
febr fcharfen Erörterung leitet er Möglichkeit und Nothwendigkeit 
aus einem Schlu fsverfahren ab. Ift der Oberfatz meines 
Schluffes allgemein gültig, fo ergiebt fich im Schlufsfatze die Noth- 



*) De- caufis corruptarum artimn, 1. III, c. 2. — Vivis opera, ed. Valent t. VI, 
p. Ii6 u. f. — 



32 I>ie Modalität 

wendigkeit; gilt der Oberfatz nur theilweife oder meiftens, fo ergiebt 
fich ein Urtheil der Möglichkeit, und diefe Möglichkeit kann ftets 
als eine nach verfchiedenen Graden abgeftufte Wahrfcheinlich- 
keit betrachtet werden. Mit diefen Erörterungen greift Valla feinem 
Jahrhundert weit voraus und Hellt die Frage auf einen ganz neuen 
Boden. Indem er nach Zertrümmerung der ariftotelifchen Lehre 
von der Modalität fcheinbar nur feinen Sieg weiter verfolgt, ent- 
hüllt er die Grundzüge einer Theorie, welche der Modalität eine 
neue, wenn auch nicht für die formale Logik, fo doch für die Er- 
kenntnifstheorie wichtige Bedeutung verleiht. In der That werden 
wir die Frage, wenn wir zur definitiven Entfcheidung gelangen, faft 
auf demfelben Punkte wieder aufzunehmen haben, auf welchen 
Valla fie durch feine Zugrundelegung des Schluffes gebracht hat. 
Die rein grammatifche Auffaffung der Modalität ift theils ver- 
anlafst durch die Beftrebungen der fpäteren Scholaftiker, Gramma- 
tik und Logik zu identificiren, oder vielmehr die Sprache zu einem 
ftrengen Ausdruck des rein Logifchen zu geftalten, theils aber ift 
fie durch Ariftoteles felbft veranlafst; namentlich durch das 12. Ca- 
pitel de interpretatione ^ auf welches auch Vives mit feiner Kritik 
direct Bezug nimmt. Hier begegnet dem Ariftoteles ein gar felt- 
fames und für uns fehr auffallendes Mifsverftändnifs, welches wir 
übrigens als ein Zeugnifs dafür auffaffen dürfen, wie grofse Geiftes- 
arbeit eß gekoftet hat, bis man über die einfachften und uns ganz 
felbftverftändlich fcheinenden Satzverhältniffe im Klaren war. Indem 
er nämlich unterfuchen will, welches die Negation eines Urtheils 
der Möglichkeit oder der Nothwendigkeit fei, ftöfst er auf den Aus- 
druck 5w«Toy ä.vai in dem Sinne von »möglich zu fein«; er verwech- 
felt aber diefen Fall, in welchem der Infinitiv elyai von iwaxov ab- 
hängt, mit derjenigen Conflruction, in welcher ely«* der Infinitiv der 
Copula ift und ^vthv iwni in dem einfachen Sinne von »möglich 
fein« zufammen das Prädicat bildet*) Statt zu fagen, Ariftoteles 



*) So erklärt vollkommen richtig Waitz, Organon .1, 359. Prantl I, 177, 
Anm. 280, fpricht zwar von einem unerklärlichen Irrthum, den Waitz begangen habe, 
allein feine eigene Erklärung läuft auf dalTelbe hinaus. Man habe an Sätze zu den- 
ken, wie wf&i^vmo^ dt^raro? ear» dixcMo? kwai. In diefen Sätzen gehört aber offen- 
bar die Negation zu itsxi und nicht zu dt^yarof, ganz wie in ot^vQ^qiano^ Xivtioq i<rr^. 
Läfst man nun das iarl des regierenden Prädicates weg, fo verbindet fich eben Sv- 
varoq mit dUouoq twcu ganz in dem von Waitz angegebenen Abhängigkeitsverhält- 
nilfe, und nur in diefem Falle gehört die Negation zu dwaxoq. 



der Urtheüe. 33 

verwechsle diefe beiden Fälle, ift es freilich hiftorifch richtiger 
und zugleich billiger, wenn man fagt, er ftöfst hier auf den Unter- 
fchied derfelben, kommt aber über die Verfchiedenheit des gramma- 
tifchen Verhältniffes nicht in's Klare, Er macht die Entdeckung, 
dafs bei (hvatov elyat im Sinne von »möglich zu fein« die Negation 
nicht, wie z. B. bei levxog ehai, zur Copula gehöre, fondem dafs fie 
zu dwaTov geftellt werden muffe. In diefem Unterfchiede nun findet 
er eine Befonderheit der Sätze mit einem Modus, und es ift daher 
begreiflich, dafs feine fpäteren Kritiker, ganz wie die unberufenen 
Fortbildner feines Gedankens, den Begriff der Modalität auf alle 
diejenigen Fälle ausdehnten, in welchen das »Sein« von einem an- 
dern Begriffe abhängig gemacht wird. Im Extrem finden wir dies 
bei Lorenzo Valla, der fein ^honeflum efl pro patria pugnaren mit 
den Modalitätsfätzen gleich ftellt Die fpäteren Scholaftiker dagegen 
wurden, wie wir aus Vives entnehmen, dadurch in engem Schranken 
gehalten, dafs fie das Wefen der Modalitätsurtheile in dem Ver- 
hältnifs des Subjectes zu dem Inhalt der Ausfage fanden. Das 
war zwar nicht ariftotelifch, aber es war ein Schritt über Ariftoteles 
hinaus zu derjenigen Auffaffung des Modalitätsverhältniffes, welche 
durch Kant die herrfchende geworden ift. 

Man hat neuerdings diejenigen Urtheile, in welchen eine »reale« 
Möglichkeit oder Noth wendigkeit ausgefprochen wird, als affer- 
torifche bezeichnet und die Modalität des Problematifchen und 
des Apodiktifchen auf diejenigen Fälle befchränkt, in welchen ein 
Zweifel oder eine auf Beweis gegründete Ueberzeugung ausgedrückt 
wird. Diefe ganze Auffaffungsweife ift Ariftoteles fremd. Wie er 
fogar die Negation in die Dinge verlegte, fo ift ihm auch der be- 
gründete Zweifel ftets identifch mit einer in der Sache felbft lie- 
genden Unentfchiedenheit. Aber felbft der metaphyfifche Unter- 
fchied zwifchen der Unentfchiedenheit auf dem Gebiete des 
Zufalls und der Unfertigkeit auf dem Gebiete des organifchen 
Werdens fällt für die logifche Technik bei Seite. 

In diefer ariftotelifchen Auffaffung der Modalität macht fich 
nicht nur der Grundfehler des ganzen ariftotelifchen Syftems gel- 
tend, welcher in der Verlegung fubjectiver Elemente in die Dinge 
befteht; es ift auch noch ein andrer Zug der ariftotelifchen Meta- 
phyfik dabei zu beachten, der fehr wefentlich auf die Geftaltung 
der ganzen Logik, felbft in ihren fprmalften Theilen, eingewirkt 
hat Wir können nämlich nach modemer Anfchauung die reale 

Lange, Logische Stadien. 3 



34 Die ModaUtät 

Möglichkeit ganz ruhig als das Vorhandenfein gewiffer Kräfte oder 
Bedingungen bezeichnen, aus denen die Sache unter Umftänden 
hervorgehen wird. Soll ein derartiger Satz, wie z. B. Ueberweg 
confequent behauptet, ein affertorifcher fein, fo bezieht fich unfere 
Ausfage direct auf diefe Kräfte oder Bedingungen, und die Sache, 
welche werden foU, fchliefst fich als eine eventuelle Folge daran 
an. Es ift uns auch ganz geläufig, eine neue Erfcheinung auf eine 
Summe von Bedingungen zurückzuführen, deren voUfländiges Zu- 
fammentreflfen das Ergebnifs mit NothwendigkeiL herbeiführt, wäh- 
rend das theilweife Vorhandenfein nur eine gewiffe Wahrfcheinlich- 
keit des Ereigniffes mit fich bringt Diefe ganze Betrachtungsweife 
flützt fich aber, bewufst oder unbewufst, fchon auf die moderne 
naturwiffenfchaflliche Weltanfchauung, welche jedes Ereignifs aus 
dem Zufammenwirken unabänderlicher Naturkräfte hervorgehen 
läfst. Diefe Kräfte beflehen unabhängig für fich; ja fie erfcheinen 
uns im Getriebe des grofsen Ganzen als das eigentlich Wefentliche, 
als der »ruhende Pol in der Erfcheinungen Flucht«. Ganz anders 
bei Arifloteles! Ihm hat die »Möglichkeit« nur Sinn, als die unvoU- 
kommne Vorflufe des Wirklichen. Jede Möglichkeit ifl daher fchon 
concret und individuell zu faffen als ein unfertiges Sein eines be- 
fümmten Dinges. Daher kann auch der geiflige Blick auf der 
Möglichkeit nicht ausruhen. Sie ifl für fich betrachtet nichts; nur 
in ihrer Beziehung zum vollendeten Dinge hat fie überhaupt eine 
Bedeutung. Es giebt da keine Summe von Naturkräften, von wel- 
chen ein Theil vorhanden ifl, ein andrer Theil fehlt Was der 
Möglichkeit fehlt, ifl nichts als reine Unbeflimmtheit und Unfertig- 
keit Der in den Dingen fich verwirklichende Begriff hat die 
Materie noch nicht durchdrungen; daher die blofse Möglichkeit 

Allerdings ifl das Mögliche bei Arifloteles auch ein relativ 
Wirkliches; die mögliche Bildfäule z. B. ein wirklicher Marmorblock. 
Wenn jedoch von dem letzteren ausgefagt wird, dafs er die Mög- 
lichkeit hat, Bildfäule zu werden, fo fchwindet jene relative Wirk- 
lichkeit ganz aus dem Kreife der Betrachtung und von einer affer- 
torifchen Behauptung in Beziehung auf den Marmorblock kann 
keine Rede mehr fein. Er ifl jetzt für unfer Urtheil die unfertige 
Bildfäule, und die Erkenntnifs diefer unfertigen Bildfäule ifl iden- 
tifch mit dem Zweifel, ob eine folche werden wird oder nicht 

Das unwandelbare Ausgehen vom Begriff in feiner Vollendung 
führt, wie wir fpäter fehen werden, auch zu der Lehre vom parti- 



der Urtheac 35 

cularen Urtheil. Es gäbe nicht zwei Arten von Urtheilen, wenn 
der Bruchtheil eines gedachten Ganzen felbft zum unmittelbaren 
Gegenftande der Ausfage gemacht würde. Aber diefer Bruchtheil 
hat wiederum ^keine Bedeutung für fich. Das Ganze bleibt das 
logifche Subject und der befchränkende Zufatz wird daher auch 
nur zu einer Modification der Ausfage. Darauf beruht die ganze 
Exiflenz des particularen Urtheils, deffen Zufammenhang mit dem 
Möglichkeitsurtheil fchon oft erfafst, aber noch niemals allfeitig in's 
Klare geftellt worden ifi 

Wer alfo lehrt, dafs die reale Möglichkeit durch einen affer- 
torifchen Satz bezeichnet wird, der hat den ariftotelifchen Boden 
verlaffen und den Boden der modernen Weltanfchauung betreten; 
ob aber mit hinlänglicher Confequenz? — Sobald man die Erfchei* 
nungen aus der Sunune ihrer Bedingungen hervorgehen läfst und 
dabei diefe Bedingungen als für fich beftehende Kräfte oder Eigen- 
fchaften gewilTer Dinge auffafst, hört flreng genommen auch die 
reale Möglichkeit auf. Sie ift nur ein letzter Reft der ariftotelifchen 
Teleologie. Sie verlegt in die gegebenen und real vorhandenen 
Dinge und Kräfte eine Beziehung zu einem eventuellen Producte, 
welche nur in unferem Geifte vorhanden ifl 

Trendeleiiburg hat dies vollftändig anerkannt, wenn er fagt: 
»Aus dem Samen kann ein Baum, aus dem Ei ein Thier werden. 
Es ift kein leeres Spiel des Gedankens. Die Möglichkeit liegt 
gleichfam finnlich vor Augen. Aber für fich bleibt der Same Same 
und das Ei ein Ei. Der Gedanke greift vor und fafst diefe vor- 
handenen Bedingungen mit den noch nicht vorhandenen in eine 
thätige Einheit zufammen und fpricht nun die Möglichkeit aus. So \ 

ift das Mögliche eine eigenthümliche Doppelbildung. Die dafeienden 
Bedingungen werden durch die gedachten ergänzt. Da dies aber 
nur im Denken gefchehen kann, fo ift das Mögliche zunächft auch 
nur ein gedachtes.«*) 

Bei diefem »zunächft« foUte es fein Bewenden haben; denn 
wenn nur das Denken den Begriff der Möglichkeit vollziehen kann, 
fo kann diefe Thatfache durch Drehen und Wenden der Begriffe 
nicht mehr aufgehoben werden. Es ift daher nur Schein, wenn 
Trendelenburg fpäter zwifchen Kant und Hegel eine mittlere, die 
Einfeitigkeit beider aufhebende Stellung einnehmen will. Hegel, 



*) Logifche Unterf., 3. Aufl., II. S. 189. 



36 - I>ie Modalitat 

welcher die Begriffe der Möglichkeit und Nothwendigkeit objectiv 
nimmt, wird von Trendelenburg fcharf und treffend widerlegt; es 
wird gezeigt, dafs feine fcheinbar objective Ableitung diefer Begriffe 
in der That nur durch ein ftillfchweigendes Hineintragen des fub- 
jectiven Elementes zu Stande kommt Gegen Kant aber wird nur 
erinnert, dafs die Möglichkeit auf einen Theil der Bedingungen, die 
Nothwendigkeit auf das Ganze derfelben »zurückweife«. Es wird 
weiter gar nichts damit gewonnen, wenn hinzugefugt wird, dafs die 
Erkenntnifs durch diefe lebendige Beziehung auf den Grund der 
Sache vermehrt worden fei und dafs grade hierin aller Reichthum 
und alle Tiefe der Erkenntnifs befchloffen fei. Die ganze Grund- 
lage diefer gepriefenen Förderung unfrer Erkenntnifs bleibt doch 
immer nur das »Zurückweifen« der Möglichkeit auf einen Theil der 
Bedingungen. Trendelenburg liebt es, die Begriffe zu perfonificiren. 
Sie »fuchen« und »wollen«, fie »fpringen hervor«, fie »fteigen« oder 
»ruhen«, ohne dafs immer gleich klar wäre, was diefe Bilder be- 
zeichnen foUen. Das »Zurückweifen« der Möglichkeit ift verfländ- 
lich. Es kann wohl nur heifsen, dafs eine genaue Betrachtung 
diefes Begriffes darauf führt, nicht nur die rein formale Seite in's 
Auge zu faffen, fondem auch die Entftehung deffelben, und dafs 
man dann auf jenen Theil der Bedingungen aufmerkfam wird, wel- 
cher einerfeits reale Bedeutung hat, anderfeits aber die Bildung 
des Möglichkeitsbegriffes veranlafst Ift das aber eine Widerlegung 
Kants? Diefer hält fich an die logifche Seite der Sache; Tren- 
delenburg verlangt, dafs er auch die pfychologifche in Betracht 
ziehe, weil dadurch erft alle Tiefe der Erkenntnifs erfchloffen werde. 
Ift es aber bei einer Unterfuchung über das Wefen diefer Begriffe 
nothwendig, gleich auf diefe Tiefen der Erkenntnifs Rückficht zu 
nehmen? Werden fie fich etwa auf ewig verfchliefsen, wenn bei 
einer logifchen Unterfuchung zunächft auch nur das logifche 
Wefen der Sache in's Auge gefafst wird? 

Trendelenburg freilich redet nicht von der pfychologifchen 
Seite der Sache im Gegenfatz zur logifchen, fondem von der ob- 
jectiven im Gegenfatz zur fubjectiven. Als Gegner einer blofs for- 
malen Logik will er auch hier in der Entwicklung der modalen 
Kategorieen die objective und die fubjective Seite zufammengefafst 
hs^ben, um das wahrhaft Logifche zu erreichen. Was aber ift denn 
eigentlich das Objective in der Sache? Jener Complex von Be- 
dingungen, von welchem Trendelenburg felbft fagt: »Für fich bleibt 



der Uitheile. 37 

der Same Same und das Ei ein Ei«. Objectiv aber bleiben Samen 
und Ei doch wohl nur fo lange, als wir fie eben »für iich« be- 
trachten. Sobald der »Gedanke vorgreift«, beginnt das fubjective 
Element, und nur durch diefes wird der Same zur Möglichkeit des 
Baumes, das Ei zur Mc^lichkeit des Thieres. Diefen ganz klaren 
Sachverhalt hat Trendelenburg an der g^en Kant gerichteten 
Stelle verdunkelt durch die Rücldichtnahme auf die Entftehung 
des Möglichkeitsbegriffes, d. h. auf einen pfychologifchen Pro- 
cefs. Kann nun aber die Thatfache, dafs ich durch den Anblick 
des Samenkorns veranlafst werde, an den Baum zu denken, 
irgend ein neues Moment in das objective Wefen des Samenkorns 
hineinbringen? 

Einfacher geht Ueberweg zu Werke, wenn er behauptet, die 
objective und reale Möglichkeit beruhe darauf, »dafs unter den 
Momenten, von denen die Verwirklichung abhängt, nicht blos fub- 
jectiv durch unfer Wiffen um die einen und Nichtwiffen um die 
anderen, fondem auch objectiv durch die Natur der Sache eine 
wefentliche Scheidung begründet ift. Die Gefammtheit diefer Um- 
flände nämlich oder die Gefammturfache zerlegt fleh in der Regel 
in den (inneren) Grund und die (äufseren) Bedingimgen, wie z. B. 
die Gefammturfache des Wachsthums einer Pflanze in die orga- 
nifchen Kräfte, die dem Samen innewohnen, als den (inneren) Grund, 
und die chemifchen imd phyflkalifchen Kräfte des Bodens, der Luft 
und des Lichtes als die (äufseren) Bedingungen. Wo nun der 
Grund allein gegeben ift, oder die Bedingungen allein, da befteht 
eine reale oder objective Mc^glichkeit; wo beides zufammen, eine 
reale oder objective Nothwendigkeit Ip der Eichel liegt in diefem 
Sinne die objective oder reale Möglichkeit der Entftehung eines 
Eichbaums.« (Logik, 3. Aufl. S. 167; vgl 4. AufL S. 172). — 

Wir fehen einftweilen davon ab, dafs fowohl Ueberweg als 
Trendelenburg eine wichtige Art der Möglichkeit ganz aufser Acht 
gelaffen haben. Auch das mag einftweilen nur erwähnt werden, 
dafs der Fall, in welchem fleh die Gefammturfache nach Ueber- 
wegs Annahme zerlegen läfst, fchwerlich die Regel bildet Es 
handelt fleh für uns zunächft nur um die Frage: fmd wir berech- 
tigt, eine folche Grruppe von Bedingungen, wie fle z. B. im Samen- 
korn enthalten ift, als objective Möglichkeit des Baumes zu be- 
zeichnen? 

Darüber, dafs es in der Natur folche Gruppen von Stoffen und 



38 I^ie Modalität 

Kräften giebt, welche uns zur Bildung eines Möglichkeitsbegriffes 
veranl äffen, kann ja von vom herein kein Zweifel fein. Schon 
die blofse Erfahrung, dafs Bäume aus Samenkörnern hervorgehn, 
kann ohne alle Analyfe der Bedingungen dazu fuhren. Es ift dies 
ein pfychologifcher Procefs, bei welchem an der anthropomorphen 
Grundlage, wie überhaupt bei der urfprünglichen Bedeutung der 
Begriffe des Könnens, der Kraft, des Zwanges und der Nothwen- 
digkeit, nicht zu zweifeln ift. Befeitigt man nun diefen Anthropo- 
morphismus, der mit der Entftehung des Möglichkeitsbegriffes fo 
eng verbunden ift; was bleibt übrig? Was fagen wir überhaupt 
damit, wenn wir erklären, das Samenkorn fei die Möglichkeit des 
Baumes? Soll es weiter nichts heifsen, als dafs erfährungsmäfsig 
Bäume aus Samenkörnern hervorgehn, oder dafs im Samenkorn ein 
Theil der Bedingungen zur Entftehung eines Baumes vereinigt ift, 
dann läuft der Streit um die Möglichkeit auf einen reinen Wort- 
ftreit hinaus. Man kann dann diefen Begriff entbehren. 
Wenn man ihn beibehalten will, fo gefchieht es aus fprachlichen 
Zweckmäfsigkeitsgründen. Bei jeder genauen Analyfe eines Falles 
von Möglichkeit wird man aber unzweifelhaft auf die entfprechende 
Wirklichkeit zurückgehen muffen. Ein folcher Begriff der Möglich- 
keit ift fchwerlich geeignet, als Kategorie ,zu gelten. Von der 
Eigenthümlichkeit des Problematifchen enthält er nichts mehr, und 
er kann auch nicht einmal mehr im Sinne der Ueberweg'fchen 
Entfprechungstheorie als reales Gegenftück zu der fubjectiveh Un- 
gewifsheit verwandt werden. 

Man wird vergeblich bei Ueberweg oder auch bei Trendelen- 
burg eine vollkommen klare Antwort auf diefe Frage fuchen; alfo 
muffen wir uns wieder an Ariftoteles wenden, deffen Anficht ja 
doch derjenigen Trendelenburgs und Ueberwegs zu Grunde liegt 
Hier finden wir Auskunft Es liegt allerdings in dem Samenkorn 
etwas mehr, als diefe beftimmte Verbindung von Stoffen und Kräf- 
ten, welche wir nach modemer Anfchauung darin finden. Es ift 
der potenzielle Baum. Das Problematifche aber ift die in dem 
Samenkom liegende Ungewifsheit, ob es ein Baum werden will, 
oder nicht Diefe ariftotelifchen Begriffe mufs man nehmen, wie 
fie gegeben find und mufs fich dabei ftets des vollen Gegenfatzes 
feiner Weltanfchauung gegen unfre naturwiffenfchaftlichen Begriffe 
bewufst bleiben. Man verdirbt die ariftotelifchen Begriffe in der 
Wurzel, fobald man fie durch Uebertragung in modeme.An- 



der Urtheilc. 39 

fchauungen vermeintlich klar zu ftellen fucht So kann man z. B. 
nicht die reale Ungewifsheit, ob ein Baum werden foU oder nicht, 
dadurch erklären, dafs ja eben nur ein Theil der Bedingungen im 
Samenkorn vereinigt fei, während die andern noch fehlen. Diefe 
Auffafliingsweife ift vollkommen mit der naturwiffenfchaftlichen 
Anficht von der Nothwendigkeit alles Gefchehens nach feften Ge- 
fetzen vereinbar; die ariftotelifche Auffaffung dagegen fteht mit 
diefer Anficht im fchroffften Widerfpruch. Bei der Art, wie Ueber- 
weg fich die Sache zurecht legt, ift und bleibt die Ungewifsheit 
blofs im Subject, und was ihr in der Objectivität entfpricht, ift 
nicht Ungewifsheit, fondem ein beftimmter Sachverhalt, deffen Ver- 
gleichung mit dem gedachten fpäteren Zuftande des Dinges in uns 
die Ungewifsheit hervorruft. 

Um die Natur des Problematifchen in den Dingen, wie Arifto- 
teles fie fafst, vollkommen klar einzufehen und zugleich ihre abfo- 
lute Unvereinbarkeit mit der naturwiffenfchaftlichen Auffaffung der 
Dinge zu erkennen, mufs man vor allen Dingen feine Lehre vom 
zukünftig Möglichen, wie fie im lO. Cap. de interpr, nieder- 
gelegt ift^ wohl in's Auge faffen. Hier wird ausdrücklich gelehrt, 
dafs von zwei entgegengefetzten Behauptungen über Zukünftiges 
nicht nothwendig die eine oder die andre wahr fein muffe, weil in 
der Sache felbft noch eine Unentfchiedenheit liege. Diefe Unent- 
fchiedenheit in den Dingen felbft kann aber nicht etwa auf das 
momentane Fehlen gewiffer Bedingungen im modernen Sinne zurück- 
geführt werden; denn nach naturwiffenfchaftlicher Anfchauung find 
die Umftände, welche im geeigneten Augenblick das Ereignifs her- 
beiführen werden oder nicht, fchon vorhanden; ihre Entwicklung 
bis zum Punkte der Entfcheidung ift 'von ftrenger Nothwendigkeit 
geleitet und alle Ungewifsheit liegt nur in dem beobachtenden Sub- 
jecte, welches zur Zeit nicht alle Bedingungen überfieht. Es wäre 
gewifs ein reines Verfteckenfpielen, wenn man hier behaupten wollte, 
auch nach modemer Anfchauung fei hier eine reale Ungewifsheit 
anzunehmen, weil eben nur eine reale Gruppe von Bedingungen 
vorliegt, welche zur Bildung eines gewiffen Urtheils nicht ausreicht. 
Man mufs hier den Muth der Entfcheidung haben, entweder Noth- 
wendigkeit alles Gefchehens anzunehmen, oder nicht Im erfteren 
Falle ift durchaus keine reale Ungewifsheit vorhanden, fondern nur 
ein realer Zuftand der Dinge, welcher in uns pfychologifch den 
Zuftand der Ungewifsheit hervorruft. Im letzteren Falle, welcher 



40 I>ie ModaUtät 

allein der Anficht des Ariftoteles entfpricht, mufs man die ftrenge 
Confequenz der naturwiffenfchaftlichen Weltanfchauung offen ver- 
werfen. Dann, und nur dann wird voUftändig klar, was mit der 
realen Ungewifsheit gemeint ift, und genau daffelbe gilt von der 
realen Möglichkeit Die Identität beider Fälle bedarf keines be- 
fonderen Nachweifes. 

Die ariftotelifche Philofophie mufste die Lehre von der Mög- 
lichkeit und Nothwendigkeit mit in die formale Logik hineinziehen, 
eben weil fie mehr geben will, als blofs formale Logik. Sollte ein 
Band der Einheit beliehen zwifchen Logik und Metaphj^ik, fo 
mufsten fich fo fundamentale Begriffe, wie diejenigen der Möglich- 
keit und Nothwendigkeit auch in der gewöhnlichen Technik be- 
währen und anderfeits mufste die formale Technik nothwendig fo 
weit entwickelt werden, dafs fie diefe Begriffe in ihrem Einfluffe 
auf die erften Elemente des Beweifes mit umfafste. Uns, d. h. den- 
jenigen, welche an der unbedingten Herrfchaft der Caufalität und 
der Nothwendigkeit alles Gefchehens feilhalten, liegt es aus dem 
gleichen Grunde ob, diefe Begriffe fo zu analyfiren, dafs fie voU- 
ftändig auf Functionen affertorifcher Urtheile zurückgeführt 
werden. 

Wir beginnen mit der Nothwendigkeit. Wenn wir im Sinne 
der naturwiffenfchaftlichen Weltanfchauung von der ftrengen Noth- 
wendigkeit alles Gefchehens reden, fo fcheint es faft, als müfsten 
wir umgekehrt alles Affertorifche auf apodiktifche Form zurück- 
bringen; allein es ift leicht einzufehen, dafs dies bei dem einfachen 
Wahmehmungsurtheil, der erften Grundlage aller unfrer Erkenntnifs, 
nicht richtig wäre. Wenn wir fehen, wie ein Stein fich von der 
Felswand löft und herunterftürzt, fo können wir noch fo fehr über- 
zeugt fein, dafs diefer Vorgang ein nothwendiger war, dafs der 
Stein in Folge der Einwirkung von Naturkräften nach unwandel- 
baren Gefetzen genau in diefem Augenblick niederftürzen mufste; — 
was wir wahrnehmen, ift aber doch nicht diefe Nothwendigkeit, 
fondem das einfache Factum, deffen Ausdruck der affertorifche Satz 
ift. Umgekehrt läfst frch leicht einfehen, dafs im Begriff der Noth- 
wendigkeit jede Vorftellung von Zwang, von einer befonderen 
Macht, welche jeden Widerftand überwindet, auf einem tief gewur- 
zelten Anthropomorphismus beruht, deffen Befeitig^ung in unferm 
Vorftellungsleben und im Sprachgebrauch ebenfo fchwierig fein 
würde, als fie in der logifchen Analyfe leicht und einfach ift:. Die 



der Urtheilc. 41 

Nothwendigkeit des Gefchehens befagt weiter nichts, als feine All- 
gemeinheit innerhalb der Grenzen eines beftimmten Begriffs. 
Spreche ich diefe Allgemeinheit in Beziehung auf einen einzelnen 
Fall aus, welcher dem mafsgebenden Begriff untergeordnet ift, fo 
erhalte ich den Ausdruck der Nothwendigkeit diefes Falles. Daher 
gilt auch, wie fchon Lorenzo Valla einfah, jeder Satz, welcher 
durch Subfumtion unter einen allgemeinen Oberfatz gewonnen 
wurde, mit Nothwendigkeit, und es ift nur Sache des Sprachge- 
brauchs, ob man diefer Nothwendigkeit Ausdruck geben will, 
oder nicht. 

Der Zufammenhang der Nothwendigkeit eines Urtheils einer- 
seits mit der Allgemeinheit, anderfeits mit dem Schlufsverfahren 
ifl fchon fehr früh eingefehen und im Grunde von jeher anerkannt 
worden, ohne dafs man jedoch eine genauere Unterfuchung über 
diefen Zufammenhang angeftellt hätte. Sigwart hat den Kern der 
Sache kurz berührt, indem er den Satz aufftellt, dafs die Nothwen- 
digkeit jedes Einzelnen immer nur eine bedingte ift: »indem etwas 
für noth wendig erklärt wird, wird nicht feine Urfache, fondern fein 
Hervorgehen aus der vorhandenen Urfache für nöthwendig erklärt.«*) 
Das Einzelne ift nöthwendig fo oder anders, infofern es zu einem 
Allgemeinen von diefer Befchaffenheit gehört. Mit diefer Erkennt- 
nifs ift nöthwendig eine andre verbunden, dafs das apodiktifche 
Urtheil keineswegs höhere Gewifsheit hat, als das affertorifche: eine 
Erkenntnifs, durch welche ein grofses Stück von dem Gebäude der 
überlieferten formalen Logik umgeftürzt wird. Wir werden darauf 
zurückkommen, muffen aber zunächft das Band zwifchen dem All- 
gemeinen und Einzelnen vom Standpunkte der formalen Logik aus 
noch einer näheren Betrachtung unterwerfen. 

Sigwart lehrt (a. a. O. S. 221), das unbedingt allgemeine Ur- 
theil fei nur da gerechtfertigt, wo wir von der Erkenntnifs des 
Wefens der Sache ausgehen können, wo wir finden, dafs die Ver- 
bindung des Prädicates mit dem Subject fchon durch die Natur 
des Subjectes gegeben fei Die meiften Logiker ftehn auf dem- 
felben Standpunkte, der fchon durch die ariftotelifche Ueberlieferung 
begünftigt wird. Gleichwohl ift diefe Befchränkung zu verwerfen. 
Ein allgemeines Urtheil kann durch blofse voUftändige Aufzählung 



*) Sigwart, Logik i. Bd., die Lehre vom Urtheil, vom Begriff und vom Schlafs, 
Tübmgen 1873, S. 217. — 



42 ^ie Modalität 

der in ihm enthaltenen einzekien Fälle zu Stande gekommen fein, 
fo wird doch das Band, welches nunmehr den einzelnen Fall mit 
dem Allgemeinen verbindet, ein Band der Nothwendigkeit fein. 
Wenn ich mich erinnere, {ammtliche Läufe meines Revolvers ab- 
gefcholTen zu haben, fo kafin ich gegenüber dem Bedenken, ob 
etwa ein beftimmter einzelner noch geladen fei, in apodiktifcher 
Form fagen: er mufs entladen fein; denn ich habe fie alle, ohne 
Ausnahme entladen. Hiebei wird die Richtigkeit und Zuverläffig- 
keit meiner Erinnerung vorausgefetzt Entfteht Zweifel an diefer, 
fo kann man die Sache unterfuchen und erhält dann auf Grund 
diefer unmittelbaren Wahrnehmung den aifertorifchen Satz: der 
Lauf ift wirklich entladen. 

Im wiflenfchaftlichen Gebrauch kommen folche Sätze, die auf 
einer voUftändigen Ueberficht über den Umfang des übergeordneten 
Begriffes beruhen, verhältnifsmäfsig feiten vor; um fo häufiger und 
wichtiger dagegen fmd die Subfumtionen unter einem inductiv 
gewonnenen Oberfatz. Hier fehlt allerdings die von Sigwart poftu- 
Urte unbedingte Allgemeinheit des Urthdls und dem entfprechend 
ifl auch die Verbindung des Prädicates mit dem Subject keines- 
wegs durch innere Nothwendigkeit aus dem Subjectsbegriffe fchon 
vorausbeflimmt. Gleichwohl haben wir hier einen der wichtigflen, 
die ganze Gefchichte der neueren Wiffenfchaflen durchziehenden 
Fall der Nothwendigkeit vor uns; einen Fall, den die auf ariftote- 
lifcher Tradition beruhende Logik bisher gänzlich überfehen hat 
Jeder einzelne Fall, welcher unter den inductiven Oberfatz gehört, 
erhält mit Nothwendigkeit feine Beflimmung. Die hypothetifche 
Natur diefer Nothwendigkeit ifl hier deutlicher als fonfl, aber ihr 
Wefen ifl daffelbe. 

Jeder inductiv gewonnene Oberfatz foUte flreng genommen 
nur particulare Form haben und die Subfumtion eines gegebenen 
Falles unter denfelben würde dann, wie fchon Lorenzo Valla 
erkannte, nur zu einem Urtheile der Möglichkeit von einem be- 
flimmten Wahrfcheinlichkeitsgrade führen. Nimmt man die Sicher- 
heit der Subfumtion als eine abfolute an, fo hängt diefer Wahr- 
fcheinlichkeitsgrad fchlechthin ab von der Annäherung des inductiven 
Oberfatzes an die flrenge Allgemeingültigkeit. Es ifl nunmehr eine 
Thatfache der Erkenntnifstheorie, nicht der formalen Logik, dafs 
die grofse Mehrzahl unfrer allgemeinen Sätze inductiver Natur ifl, 
und dafs wir einen beflimmten, fehr hohen Wahrfcheinlichkeitsgrad 



der Urtheile. 43 

in die Gewtfsheit übergehien laffen, wie wir ftrenge Allgemeinheit 
überall auszufprechen pflegen, wo eine Anzahl von einzelnen Fällen 
fich fo verhält, dafs wir ein allgemeines Band für diefelben nach 
Analogie mit andern Naturgefetzen vorausfetzen müflen, wiewohl 
wir die Natur diefes Bandes noch nicht erkannt haben. Der induc- 
tive Procefs mit feiner Sammlung der Fälle, mit feiner Prüfung der 
negativen Inftanzen und allen fonftigen Vorfichtsmafsregeln erfetzt 
uns bis zu einem gewiflen Grade den directen Einblick in das 
Princip der Allgemeinheit; allein ftreng logifch genommen tritt er 
doch niemals an die Stelle der Erkenntnifs aus dem Wefen der 
Sache, fondem nur an die Stelle eines voUftändigen Ueberblicks 
über die Thatfachen, welche zum Umfange des Subjectsbegriffes 
gehören. Dies einmal zugegeben, tritt für die formale Logik fofort 
die Confequenz ein, dafs jeder einzelne Fall, der unter diefen Be- 
griff gehört, mit Nothwendigkeit das als allgemein geltende Prädi- 
cat erhält / 

Es giebt alfo eine Nothwendigkeit des Umfanges der * 
Begriffe, wie es eine Nothwendigkeit des Inhaltes giebt Die 
erftere ftützt fich auf die einfache Thatfache, dafs von allen unter den 
Subjectsbegriff gehörenden Gegeriftänden das Prädicat gilt; die letz- 
tere ftützt fich auf das Wefen des Subjectsbegriffes, welches nach 
einer Analyfe feines Inhaltes das Prädicat fchon in fich fchliefst 
Die ariftotelifche Schule in der Logik hat fich nur mit der Noth- 
wendigkeit letzterer Art befchäftigt; die empiriftifche Schule, 
wie fie am voUftändigften von Stuart Mill vertreten wird, hat es 
im Grunde nur mit der Nothwendigkeit erfterer Art zu thun, da 
nach ihr alle Erkenntniffe aus der Erfahrung ftammen, die uns nur 
allgemeine Sätze von inductiver Geltung darbietet. Selbft die ma- 
thematifchen Axiome find nach diefer Anficht nur Sätze von höcWler 
Wahrfcheinlichkeit, die für unfer Bewufstfein zur Gewifsheit wird. 
Indirect find daher auch alle deducirten Wahrheiten noch mit dem 
Zweifel behaftet, welcher den inductiven Grundlagen der Deduction 
anhaftet Der Streit der Meinungen über diefe Frage ift Sache der 
Erkenntnifstheorie. Die formale Logik aber hat bei der Analyfe 
des Nothwendigkeitsbegriffes beide Arten der Reduction des 
Apodiktifchen auf das Affertorifche in gleicher Weife zu berück- 
fichtigen. Der Satz S^ mufs P fein, heifst alfo entweder: S^ ift 
Pj weil und infofern von allen 5, und zwar S\ S^..., S^.,,. 5» er- 
kannt ift, dafs fie P find; oder: S^ ift /*, weil und infofem in dem 



44 I>ie ModaUtit 

Inhalte des übergeordneten Begriffes 5 fchon die Eigenfchaft P zu 
fein enthalten ift. Die erftere Art der Nothwendigkdt ift diejenige 
des Umfangs, die zweite diejenige des Inhaltes. Diefe Bezeich- 
nungen find wohl die paffendften vom Standpunkte der formalen 
Logik; vom Standpunkte der Erkenntnifstheorie könnte man fagen: 
Nothwendigkeit der Thatfache und Nothwendigkeit des Wefens. 

Sigwart a. a. O. S. 215 u. f. unterfcheidet ftatt deffen zwifchen 
innerer und äufserer Nothwendigkeit Diefe Unterfcheidung ift 
weder formal logifch, noch erkemitnifstheoretifch, fondem rein 
metaphyfifch, beziehungsweife naturphilofophifch. Sie trifft mit 
der unfrigen nur theilweife zufammen. Wasi Sigwart innere Noth- 
wendigkeit nennt, ift immer Nothwendigkeit des Inhaltes. Seine 
äufsere Nothwendigkeit dagegen umfafst Fälle von beiderlei Art 
und es fcheinen ihm dabei ebenfalls wefentlich Fälle der Noth- 
wendigkeit des Inhaltes vorgefchwebt zu haben. Die Nothwendig- 
keit aus blofser Induction kommt auch bei ihm nicht zu ihrem 
Rechte. 

Lotze, der übrigens, wie Sigwart, in der Lehre von der 
Modalität der Urtheile weit über die Schranken der fcholaftifchen 
Ueberlieferung hinausblickt, findet drei Formen der Beziehung 
zwifchen S und P, die zu nothwendigen Erkenntniffen fuhren: all- 
gemeine Urtheile, bei welchen das P im 5 fchon mitgedacht wird; 
femer hypothetifche und endlich disjunctive Urtheile.*) Bei 
den hypothetifchen entfpringe die Nothwendigkeit, wenn man zeigt, 
»dafs aus dem Hinzukommen einer Bedingung X zm S ein P ent- 
fpringt, das ohne diefe Bedingung nicht vorhanden fein würde; 
dies P gilt dann nothwendig von jedem 5, auf welches diefelbe 
Bedingung in derfelben Weife einwirkt Laffen wir das disjunctive 
Urtheil einft weilen bei Seite, fo zeigt fich, dafs Lotze in diefen 
beiden Fällen auch nur die Nothwendigkeit des Inhaltes im Auge 
gehabt hat Was die kategorifchen Urtheile betrifft, fo ift dies 
fchon klar aus dem, was wir oben bemerkten. Hinfichtlich der 
» hypothetifchen aber ift leicht zu fehen, dafs auch hier der gleiche 
Unterfchied flattfindet Wenn aus dem Zufammentreffen von 5 
und X das P entfpringt, fo mufs P erkennbar im Wefen die- 
fer Verbindung liegen ; wir haben alfo den Fall der Nothwendigkeit 



*) Lotze, Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Unterfuchen und vom Er- 
kennen. Leipzig 1874. S. 65. — 



der Urtbeile. 45 

des Inhaltes vor uns. Nun kann aber auch, ohne allen directen 
Einblick in das Wefen der Verbindung XS, rein empirifch feft- 
geftellt werden, dafs allemal, wenn XS zufammentreffen, fich auch 
P einfindet; alsdann gilt mit gleicher Nothwendigkeit für jeden 
einzelnen Fall, in welchem 5 zugleich X ift, das Prädicat P. Wir 
haben alfo hier die Nothwendigkeit des Umfangs vor uns. Es ift 
übrigens leicht zu fehen, dafs das logifche Band der Nothwendig- 
keit zwifchen dem allgemeinen Begriff und dem untergeordneten 
beim hypothetifchen Urtheile durchaus daffelbe ift, wie beim kate- 
gorifchen. Diefe Identität des rein logifchen Verhaltens zwifchen 
dem hypothetifchen und dem kategorifchen Urtheile findet aber 
nicht nur in diefem Falle ftatt, fondem überall, daher denn auch 
die Regeln fiir die Behandlung hypothetifcher Urtheile und Schlüffe 
überall an denfelben Raumbildern demonftrirt werden können, 
welche für kategorifche Urtheile und Schlüffe dienen. Von welcher 
Bedeutung dies für Logik und Erkenntnifstheorie ift, werden wir 
weiter unten noch fehen. 

Mit dem disjunctiven Urtheil, welches die Brücke bildet aus 
den Elementen der formalen Logik zu den höheren, erft in der 
Neuzeit entwickelten Gebieten, hat es feine befondre Bewandtnifs. 
Es kann nicht, wie die übrigen Urtheilsformen durch das einfache 
Raumbild zweier Sphären dargeftellt werden. Auch die Frage 
nach der Art der Nothwendigkeit ift hier keine ganz einfache. In 
der Regel wird man, um einer ftrengen Disjunction ficher zu fein, 
den Oberbegriff zu den disjuncten Prädicaten haben muffen, um 
aus der Natur deffelben durch ein divifives Urtheil die verfchied- 
nen coordinirten Prädicate mit Sicherheit abzuleiten. Die Entfchei- 
dung erfolgt dann für oder gegen eine Anzahl diefer Prädicate 
auf empirifchem Wege, worauf fich für den Reft derfelben das 
Nothwendigkeitsurtheil ergiebt. Daffelbe trägt hypothetifchen Cha- 
rakter fowohl in Beziehung auf die Richtigkeit der Disjunction, als 
auch auf die empirifche Entfcheidung ; da jedoch die letztere hier 
in den meiften Fällen nicht auf Induction, fondem auf unmittel- 
barer Wahrnehmung des einzelnen Falles beruht, fo kann die 
Nothwendigkeit gleichwohl eine vollkommen zwingende fein. So 
entnehme ich z. B. aus dem Wefen des Würfels die Disjunction, 
dafs, wenn derfelbe zur Ruhe kommt, nur eine feiner fechs Flächen 
nach oben liegen kann. In dem Falle eines Wurfes kann ich nun- 
mehr durch einfache Wahrnehmung erkennen und affertorifch be- 



46 I>ie Modalität 

haupten, dafs die mit der Zahl 4 bezeichnete Fläche nach oben 
liegt Alsdann weifs ich mit zwingender Nothwendigkeit, dafs 
weder die Fläche i, noch 2, noch 3, noch 5, noch 6 nach oben 
liegen kann. 

Lotze's Ableitung der überhaupt möglichen Entftehungsweifen 
eines Nothwendigkeitsurtheils ift übrigens auch unvollftändig, da 
aus jedem richtigen Schlufs, welchem Modus und welcher Figur er 
auch angehöre, der Schlufsfatz ftets mit Nothwendigkeit hervor- 
geht, wiewohl wir ihn bei affertorifchen Prämiffen auch in affer- 
torifcher Form aufzuftellen pflegen. Nehmen wir z. B. den Schlufs 
(Modus Ferio): »Kein in dunkeln Grotten lebendes Thier kann 
Gebrauch von Augen machen. Einige mit Augen verfehene Thiere 
leben in dunkeln Grotten. Alfo können einige mit Augen ver- 
fehene Thiere diefelben nicht gebrauchen«. Hier kann ich, fobald 
ich den formalen Zwang des Schlufsverfahrens hervorheben will, 
mit vollem Rechte beifügen: »Daraus ergiebt fich mit Nothwen- 
digkeit, dafs« u. f w. — Diefe formale Nothwendigkeit, welche 
jedem Schlufle als folchem beiwohnt, wird in der Regel nicht be- 
fonders ausgedrückt; in den Wörtchen »alfo«, "»ergon u. f. w. ift 
fie angedeutet Dafs fie, wie alle Nothwendigkeit, eine hypothe- 
tifche ift, verfteht fich von felbft Auf der Richtigkeit der Prä- 
miflen und der Correctheit des Schlufsverfahrens beruht die Rich- 
tigkeit des Ergebniffes. 

Worauf aber beruht nun eigentlich die Nothwendigkeit eines 
Urtheils? Wenn jede Vorftellung eines Zwanges ein Anthropomor- 
phismus ift und wenn die Nothwendigkeit mit der Allgemeinheit 
zufammenfällt; wie fteht es dann mit folchen Fällen, in denen der 
Schlufsfatz ein finguläres Urtfeeil ift? Die Antwort ift, wenn man 
auf der Oberfläche bleiben will, leicht gegeben. Die formale Noth- 
wendigkeit bedeutet in diefem Falle weiter nichts, als die Unfehl- 
barkeit des Schlufsverfahrens felbft, kraft welcher der Schlufs rich- 
tig ift, welches Individuum auch immer an die Stelle unfres Cajus 
oder Sempronitis trete, oder wo auch immer diefer fich befinden 
möge innerhalb der Schranken, welche der Mittelbegriff" ausfpricht 

Gehen wir etwas tiefer auf den Grund der Sache ein, prüfen 
wir das Wefen diefer Nothwendigkeit in erkenntnifstheoretifcher 
Hinficht, fo ftofsen wir auf einen bisher nicht hinlänglich beach- 
teten, durchaus rationellen Reft des Anthropomorphismus, den wir 
mit der Ueberfetzung von Nothwendigkeit in Allgemeinheit fchlecht- 



der Urtbeile. 47 

hin eliminirt hatten. Es ift dies die negative Grundlage der Noth- 
wendigkeit, das Nichtandersfeinkönnen. Wir werden darauf geführt, 
fobald wir die Nothwendigkeit auf die erkenntnifstheoretifche Grund- 
lage der Anfchauung in Verbindung mit dem Satze des Wider- 
fpruchs zurückfuhren. 

Auch ohne die Analyfe fo weit zu treiben, ift man fchon 
darauf gekommen, von den beiden Wechf elbegriffen der Nothwen- 
digkeit und der Unmöglichkeit den letzteren als den urfprünglichen 
zu erkennen. So fuhrt Drobifch (Logik S- $8) die Unmöglichkeit 
direct auf den Widerfpruch zurück, welcher fich bei einer verfuch- 
ten Verknüpfung von Prädicat und Subject ergiebt Die Noth- 
wendigkeit wird fodann als eine Folge der Unmöglichkeit des 
Gegentheils aufgefafst. »Dafs der Schlufsfatz noth wendig ift«, be- 
merkt Drobifch dazu, »erhellt erft, wenn man fich überzeugt, dafs 
nicht anders gefchloffen werden kann. Jede Nothwendigkeit führt 
einen gewiffen Zwang bei fich, der Icein felbflauferlegter, fondem 
ein anderswoher kommender ift Diefer Zwang ift der Widerfpruch, 
der diejenige »Noth« bereitet, aus der fich das Denken durch 
Setzen eines nicht Widerfprechenden rettet.« Es ift hier mehr als 
nöthig von dem Anthropomorphismus der Nothwendigkeit beibe- 
halten, allein als genetifche Erklärung der Entftehung von Begriff 
und Ausdruck kann die Bemerkung von Drobifch fphr wohl dienen. 
Das Wefentliche an der Sache ift die Vorausfetzung, dafs in Ge- 
danken, oder richtiger in der Anfchauung ein Verfuch gemacht 
wird, ob nicht durch Variation der Vorausfetzung ein andres Er- 
gebnifs zu erzielen fei, dafs aber jedes etwa angenommene andre 
Ergebnifs alsbald nach dem Gefetze des Widerfpruchs vernichtet 

wird. 

Am deutlichften wird die Sache wieder durch Anwendung der 

fchematifchen Raumbilder, welche in einfachfter Form dasjenige 
vertreten, was auf alle Fälle in irgend einer räumlich angefchauten 
Form vorgehen mufs, wenn die Ueberzeugung fich bildep foU. 
Wenn man die Sphäre M in die Sphäre P hineinzeichnet und fo- 
dann *S in M^ fo gehört zur vollen Ueberzeugung von der Noth- 
wendigkeit des Schluffes die Variation der Sphären in Lage und 
Gröfse, welche man mit Leichtigkeit in der Phantafie vornehmen 
kann. Man läfst die Sphäre M beliebig gröfser oder kleiner wer- 
den, fich verfchieben, in P herumrollen, und ebenfo wieder S in 
My und überzeugt fich dabei im Nu, dafs trotz der unendlichen 



48 Die Modalität 

Anzahl von Veränderungen es keine giebt, welche aus der Regel 
des SchlufTes heraustritt. Man fieht, dafs, wo immer ich ein 6* 
aus P irgendwie heraustreten laffe, es alsbald auch aus M heraus- 
tritt und alle diefe Annahmen werden fofort durch den Satz des 
Widerfpruches niedergefchlagen. Wir fehen alfo hier wieder, wie 
die räumliche Anfchauung, ganz wie in der Geometrie, die Aprio- 
rität und die Nothwendigkeit begründet Zugleich kann man hier 
unmittelbar fehen, wie das Naturgefetz des Widerfpruchs zum Nor- 
malgefetz wird. Die aus der Anfchauung Geh ergebende Unver- 
einbarkeit einer Ueberfchreitung von M mit der Einhaltung der 
Grenzen von M ift noch eine unmittelbare Wirkung des Natur- 
gefetzes. Dadurch dafs der Verfuch als t)^ifch genommen und 
aus der Allgemeinheit die Regel gebildet wird, ergiebt fich das 
Normalgefetz. Man kann alfo behaupten, dafs das logifche Nor- 
malgefetz des Widerfpruches aus der Anfghauung hervorgeht, wie 
das Naturgefetz der Unvereinbarkeit des Widerfprechenden aller 
Anfchauung zu Grunde liegt 

Das hier nachgewiefene Princip aller logifchen Sätze und Re- 
geln, die formale Nothwendigkeit des Apriorifchen, liegt nicht nur 
der Nothwendigkeit des Umfangs, fondem auch derjenigen des 
Inhalts zu Grunde; denn auch dasjenige Prädicat, welches aus dem 
Wefen des Subjectsbegriffes entnommen wird, Hellen wir uns als 
eine Kategorie von einem beilimmten Umfange vor, fobald wir 
auf die Anwendung der logifchen Technik übergehen. Weiterhin 
liegt aber diefe rein formale Nothwendigkeit auch ebenfo dem 
Möglichkeitsbegriff zu Grunde, fobald diefer durch eine logifche 
Operation gewonnen wird. Was wir fchlechthin möglich nennen, 
davon können wir, fobald die Möglichkeit aus logifchen Regeln 
fliefst, ebenfo gut fagen, es fei mit Nothwendigkeit möglich. 

Wie fteht es nun aber mit der Zurückführung diefer formalen 
Nothwendigkeit auf ein affertorifch auszudrückendes Verhältnifs? 
Ift fie undurchführbar und damit die Kategorie der Nothwendigkeit 
dennoch als eine abfolut unentbehrliche nachgewiefen ? Gewifs 
nicht Verfetzen wir uns nur wieder auf den Standpunkt des von 
Drobifch in die Erklärurig des Nothwendigen hineingezogenen 
Anthropomorphismus! Worin liegt hier der »Zwang« und die »Noth« 
des Nothwendigen? Wie wir gefehen haben, im Eingreifen der 
Negation gegenüber jedem Verfuche, in der Anfchauung die 
Schranke des gefetzten Begriffes zu überfchreiten. Diefes Ver- 



der Urtheile. 49 

fuchen, welches für die Bildung unfrer Ueberzeugung fo wefentlich 
ift, wird wie das Streben eines wollenden Wefens vorgeftellt Die 
Vorftellung möchte dem Satz entrinnen, aber an den Grenzen des 
Begriffs findet fie fich zurückgeflofsen. Was ifl hier das Wefent- 
liche für die Logik, wenn wir alle pfychologifchen Zuthaten weg- 
laffen? Nichts als die Thatfache der beftändigcn Aufhebung des 
Widerfprecheriden. Es ifl auf dem Boden der Anfchauung im 
Schema ein blofser Pleonasmus, wenn man fagt, dafs der Wider- 
fpruch nicht beftehen kann; als ob hinter dem Grunde des Noth- 
wendigen noch einmal eine Nothwendigkeit fleckte. Die Thatfache 
ifl, dafs er nicht befleht, dafs jedes Urtheil, welches die Grenze 
des Begriffs überfchreitet, fofort durch ein entgegengefetztes und 
fefter begründetes Urtheil aufgehoben wird. Diefe thatfächliche 
Aufhebung ift aber für die Logik der letzte Grund aller Regeln. 
Pfychologifch betrachtet kann man fie auch wieder als nothwendig 
bezeichnen, indem man fie als einen Specialfall eines allgemeineren 
Naturgefetzes anficht; damit aber hat die Logik nichts zu fchaffen, 
welche vielmehr hier mit fammt ihrem Gi^mdgefetze des Wider- 
fpruchs erft ihren Urfprung nimmt. 

Was nunmehr Zurückführung des Möglichen auf ein Ver- 
hältnif%der Wirklichkeit betrifft, fo können wir auch hier zunächft 
die Möglichkeit des Inhaltes, von welcher oben im Anfchluffe an 
die ariftotelifchen Ueberlieferungen ausfchliefslich die Rede war, 
ergänzen durch eine Möglichkeit des Um fang s. Die erftere be- 
ruht auf dem Vorhandenfein eines Theiles der Bedingungen des 
Prädicatsbegriffes, die letztere auf dem Vorkommen einiger Fälle, 
welche unter denfelben gehören. Der Gegenfatz der modernen 
Logik gegen die ariftotelifch-fcholaftifche tritt hier noch fchärfer 
hervor als bei der Nothwendigkeit, denn die Möglichkeit des Um- 
fanges ift in Verbindung mit den Methoden der rationellen Em- 
pirie zu dem grofsen Hebel der Entdeckung geworden, welcher 
fchon fo manche wiffenfchaftliche Wahrheit enthüllt hat und noch 
einer ungleich ausgedehnteren Anwendung fähig ift Als Grund- 
lage der Wahrfcheinlichkeitsrechnung und der ftatiflifchen Schlüffe 
bildet fie die ftärkfte Wurzel der höheren formalen Logik, welche 
das Alterthum und das Mittelalter nicht kannten, und deren con- 
fequenter Gebrauch uns nur um fo tiefere Blicke in das innere 
Wefen und den Caufalzufammenhang der Dinge thun läfst, je mehr 
anfcheinend von rein äufserlichen Daten ausgegangen wird. 

LaDge, Logische Stadien. 4 



50 I Die Modalität 

Lorenzo Valla lehrt, die Möglichkeit ergebe fich aus der Sub- 
fumtion eines Falles unter einen Oberfatz von nur particularer Gül- 
tigkeit. Als richtiger Vorläufer der modernen Weltanfchauung hat 
er dabei fofort den Fall der Möglichkeit des Umfangs, d. h. der 
rein empirifch feftgeftellten Möglichkeit herausgegriffen. Der Arifto- 
teliker leitet die Möglichkeit, dafs aus dem Samenkorne ein Baum 
werden kann, aus dem Vorhandenfein eines Theiles der erforder- 
lichen Bedingungen ab, was freilich auch noch nicht ftreng arifto- 
telifch ift, aber doch dem ariftotelifchen Gedankenkreife näher als 
die moderne empiriftifche Auffaffung. Nach diefer find wir einfach 
deshalb zu dem Urtheile berechtigt, dafs aus dem Samenkorn ein 
Baum werden kann, weil wir dies in der Erfahrung fchon fehr oft 
wahrgenommen haben. 

Es giebt jedoch Möglichkeitsurtheile, welche fich diefer rein 
erapiriftifchen Auffaffung nicht fügen; z. B. die Erde kann einmal 
in die Sonne ftürzen. Hier zeigt uns eine auf allgemeine Principien 
gegründete Rechnung die Möglichkeit der Annahme, während die 
Erfahrung uns gänzlich im Stich läfst. Die zu Grunde liegende 
Thatfache ift hier die, dafs man für einen abftract gefafsten, der 
Erde ähnlichen Körper unter gewiffen Vorausfetzungen den Sturz 
in die Sonne, d. h. ebenfalls in einen der Sonne ähnlich godachten 
Körper, als nothwendig berechnet hat. Für die wirkliche Erde 
und die wirkliche Sonne kommen noch zahllofe Umftande in Be- 
tracht, welche unmöglich in die Rechnung aufgenommen werden 
können; z. B. die Eventualität eines gemeinfamen Unterganges 
durch einen dritten Körper, bevor der Zufammenfturz eintritt, die- 
jenige einer Zertrümmerung der Erde durch Explofion, u. f. w. — 
Man kann nun aus diefem Nothwendigkeitsurtheil, welches fich auf 
den abftracten Körper bezieht, den Satz ableiten, d.afs ein Theil 
der Körper, welche diefen Bedingungen entfprechen, aufserdem 
aber auch noch beliebigen unbekannten Bedingungen unterliegen, 
in die Sonne ftürzen wird, weil a priori und nach Analogie aller 
Erfahrung anzunehmen ift, dafs die unbekannten oder in der Rech- 
nung fehlenden Umftande dem Ergebniffe ebenfo leicht günftig als 
ungünftig fein können. Alsdann ift auch diefer Fall der Möglich- 
keit auf die Subfumtion unter ein particulares Urtheil zurückgeführt. 

Aufser der Möglichkeit des Umfangs und derjenigen des In- 
halts, welche beide auf gewiffen pofitiven Erkenntniffen beruhen, 
kommt nun auch noch als dritte Art die rein formale Möglich- 



der Urtheile. 51 

keit in Betracht, welche nichts ift, als die Negation der Nothwen- 
digkeit des Gegentheils. Man kann hier den Ausdruck der fub- 
jectiven Ungewifsheit unterfcheiden von einem Urtheil über die 
objective Sachlage. Im erfteren Falle, in welchem Ueberweg allein 
das wahrhaft Problematifche erkennen würde, haben wir im Grunde 
nichts vor uns, als den Ausdruck einer pfychologifchen Thatfache, 
alfo bei der Zurückfuhrung auf die ftrenge logifche Form eine 
aiTertorifche Behauptung. Die feine und ausdrucksvolle Weife, in 
welcher die Sprache diefe Ungewifsheit blofs andeutet, ftatt fie 
zum Gegenftande einer directen Ausfage zu machen, geht die for- 
male Logik nichts an; wie es denn einer der gröfsten Fehler in 
der bei uns üblichen Behandlungsweife der Logik ift, dafs die 
Analyfe der Sprachformen beftändig mit der formalen Logik ver- 
mengt wird. Keines der beiden Gebiete^ wifTenfchaftlicher Forfchung 
kommt dabei zu feinem Rechte, während man nach ftrenger Aus- 
fcheidung alles formal Logifchen auch die logifche Analyfe der 
Sprache mit ungleich gröfserem Erfolg in die Hand nehmen könnte, 
als dies bei dem herrfchenden Vermengungsfyftem üblich ift. 

Wenn die rein formale Möglichkeit als Urtheil über die objec- 
tive Sachlage auftritt, fo kann fie gleichwohl nichts über die Dinge 
als folche fagen, fondem nur über die Dinge, fo weit fie uns zur 
Kenntnifs kommen. Es kann weiter nichts behauptet werden, als 
dafs in der Sachlage, fo weit fie uns vorliegt, kein genügendes 
Material zu einer Beweisführung vorliegt Auch das ift eine affer- 
torifche Behauptung, und auch hier liegt der Grund des Möglich- 
keitsbegriffes in uns felbft ; nicht in den Dingen. Die ariftotelifche 
Weltanfchauung vermag freilich auch diefe Ungewifsheit als einen 
Mangel der Selbftverwirklichung des Begriffs in die Dinge zu ver- 
legen ; die moderne Weltanfchauung wird von dem Grundfatze aus- 
gehen, dafs in den Dingen felbft völlige Entfchiedenheit herrfcht, 
während der Zweifel einzig in der UnvoUftändigkeit unfrer Einficht 
in den Caufalzufammenhang begründet liegt 

Schliefslich hätten wir noch in Erwägung zu ziehen, was unter 
der viel erwähnten Möglichkeit oder Nothwendigkeit des Wirk- 
lichen zu verftehen ift. Dem Wirklichen gegenüber können wir 
eine gröfsere Gewifsheit nicht erwarten und eine geringere nicht 
gebrauchen. Wir verlangen jedoch das Wirkliche, das uns in der 
unmittelbaren Wahrnehmung zunächft vereinzelt erfcheint, in einen 
Zufammenhang zu bringen, um es zu »verftehen«, d. h. es auf 

4* 



52 l^ie Modalität 

feine Bedingungen zurückfuhren zu können. Dies gefchieht am 
vollkommenften durch den Nachweis einer Notwendigkeit des 
Inhaltes. Wir fehen an einem Gegenftande eine Eigenfchaft her- 
vortreten; diefen Vorgang verliehen wir, wenn wir ihn als Special- 
fall eines Allgemeinen kennen lernen; wenn wir den Gegenftand 
unter einen Begriff fubfumiren können, welchem die betreffende 
Eigenfchaft feinem Wefen nach zukommt. — Die Nothwendigkeit 
des Umfangs reicht hier nicht aus, wiewohb der menfchliche Geifl 
von Natur fehr dazu geneigt ifl, fich bei . einem Ereigniffe zu be- 
ruhigen, fobald es feflfleht, dafs es zu einer ganzen Claffe von 
Erfcheinungen gehört, die alle denfelben Charakter tragen. — Ganz 
diefelbe' Tendenz hat nun aber die Frage nach der Möglichkeit 
des Wirklichen. Wenn z. B. Kant fragt: wie find fynthetifche 
Urtheile a priori möglich? fo zeigt uns die Antwort nicht nur wie 
fie möglich, fondem wie fie nothwendig find. Man fucht den 
Grund der Sache und drückt fich fo aus, als fuche man eine Kraft, 
welche fie hervorbringen kann, flatt eines Gefetzes, welches fie 
hervorbringen mufs. Auch in dem Falle, auf welchen Trendelen- 
burg (II, S. 192) befonderes Gewicht legt, in der Conftruction einer 
mathematifchen Figur, wird uns mehr als blofse Möglichkeit ge- 
geben. Hier ifl die Frage eigentlich: wie entfleht ein Ding, wel- 
ches der Definition entfpricht? Es wird alfo zunächfl nach der 
Möglichkeit deffen gefragt, was durch einen blofsen Begriff gedacht 
wird. Die Einführung der entfprechenden Anfchauung ifl die Ant- 
wort auf diefe Frage. Die Formel: wie kann die Ellipfe wirklich 
fein, geht aber infofem weiter, als fie auch die Kraft fucht, 
welche diefe Wirklichkeit hervorbringt Die Frage nach der Kraft 
ifl aber auch hier ein blofser Anthropomorphismus für die Frage 
nach dem Gefetz. Man nehme die ganze Lehre von den Kegel- 
fchnitten im Zufammenhange vor, und man fieht, dafs es EUipfen 
geben mufs und unter welchen Bedingungen fie mit Nothwendig- 
keit zu Stande kommen. 

Es giebt aber Fälle, in welchen in der That mit der Mög- 
lichkeit nur die Möglichkeit gemeint ifl, wie in den Naturerklärun- 
gen Epikurs, welche zunächfl nur den Zweck haben, zu zeigen, 
dafs die Sache ganz natürlich zu Stande kommen kann; ebenfo, 
und aus ähnlichen Urfachen, in den Wundererklärungen der Ratio- 
naliflen des vorigen Jahrhunderts. Hier hahdelt es fich um die 
Aufflellung eines Mittelbegriffes, welcher die Erfcheinung in den 



der Urtheile. 53 

Bereich des Natürlichen rückt. Das Urtheil aber, welches diefem 
Mittelbegriff die verfuchte Erklärung als Prädicat beilegt, bleibt 
ein particulares. So z. B. wenn ich für die Erklärung der Sonnen- 
finftemifs den Erfahrungsbegriff der Verdunkelung eines leuchtenden 
Körpers aufftelle und dann fchliefse : Einige Verdunkelungen leuch- 
tender Körper entliehen durch das Dazwifchentreten eines dunkeln 
Körpers. Die Sonnenfinftemifs ift eine folche Verdunkelung; alfo 
kann fie auf die angegebene Weife entftehen. Auch von hier aus 
kann man übrigens zur Nothwendigkeit vordringen, wenn man die 
Summe aller Möglichkeiten in einem disjunctiven Urtheil feftzu- 
flellen fucht Gefchieht dies rein empirifch, fo erhält man eine 
Nothwendigkeit des Umfangs; gefchieht es nach einem rationellen 
Eintheilungsprincip aus einem übergeordneten Begriff, fo entfteht 
Nothwendigkeit des Inhalts. 

Bekanntlich geftattet die Elafticität der Sprache, dafs das Un- 
gewiffe als thatfächlich, oder auch als nothwendig ausgedrückt 
wird. Mit diefen Variationen des Ausdrucks, die oft zu einem 
förmlichen Mifsbrauch der Sprache werden, hat die formale Logik 
nichts zu fchaffen. Das affertorifche Urtheil insbefondere kann 
nicht aufgefafst werden als Ausdruck einer beliebigen, grundlofen 
Behauptung, da die Logik rtiit folchen Behauptungen nichts zu 
fchaffen hat. Es ift der natürliche Ausdruck des Wirklichen, der 
Thatfache, und es hat daher feine vorzüglichfte und eigentliche 
Bedeutung als Ausdruck der unmittelbaren Wahrnehmung; dem- 
nächft als Ausdruck der als ficher angenommenen Ueberlieferung 
oder der inductiven Zufammenfaffung mehrerer Erfahrungen in 
einem allgemeinen Satze. Beide letztere Anwendungen find fchon 
nicht mehr vollkommen ftreng, allein nicht nur eine milde Praxis, 
fondem die Grundbedingungen unfres Denkens felbft bringen es 
mit fich, dafs hier eine Grenze geftattet wird, jenfeits welcher 
das fehr Wahrfcheinliche als ficher gefetzt wird. Auf alle Fälle 
ift der affertorifche Ausdruck der Ausdruck der gröfsten Gewifs- 
heit, welche wir haben; denn auf der unbedingten Gültigkeit der 
einzelnen finnlichen Wahrnehmung — fofem nur die Wahrnehmung 
nicht mit ihrer Deutung verwechfelt wird — beruht ja fchliefslich 
der ganze Bau der Erkenntnifs. Wenn aber dies feftfteht, fo kann 
man auch nicht länger die fcholaftifche Lehre von der höheren 
Gewifsheit des apodiktifchen Urtheils aufrecht erhalten, die fich 
ohnehin bei den Schlüffen aus Modalitätsurtheilen für eine nur 



54 



Die Modalität der Urtheilc. 



einigermafsen aufmerkfame Prüfung als durchaus unhaltbar ergiebt. 
Die ganze, weitreichende Anwendung, welche auf diefem Gebiete 
von der Regel gemacht wurde : conclufio fequitur partem debiliorem 
ift daher hinfällig. Wir werden diefen Punkt, fowie auch das Ver- 
hältnifs der Möglichkeit zur Wahrfcheinlichkeit in fpäteren Ab- 
fchnitten noch eingehend behandeln. 






III. 

Das partioalare ürtheil und die Lehre von der ümkehnmg 

der ürtheile. 



Die Aufftellung des particularen Urtheils neben dem allgemei- 
nen ift für die ariftotelifch-fcholaftifche Logik im guten, wie im 
fchlimmen Sinne entfcheidend gewefen. Viele Mängel und Un- 
klarheiten entfpringen aus diefer Quelle ; dagegen ift auch mit der 
Auffaflung des Urtheils, welche diefer Annahme zu Grunde liegt, 
ein grofser Vortheil für das wiffenfchaftliche Denken verbunden; 
ein Vortheil, den man freilich vom ariftotelifchen Standpunkte aus 
kaum recht würdigen kann : der enge Anfchlufs der logifchen For- 
men an den inductiven Gang der Gedanken. 

Es befl:eht offenbar keine zwingende Nothwendigkeit, ein par- 
ticulares Urtheil überhaupt aufzuftellen. Sobald man' fich eht- 
fchliefst, in dem Urtheil: »einige Menfchen find von fchwarzer 
Hautfarbe« als Subjectsbegriff nicht »Menfchen«, fondem »einige 
Menfchen« anzufehen, bezieht fich das Prädicat auf den ganzen 
Umfang des Subjectsbegriffes, und nichts hindert uns nunmehr, 
dies Urtheil ganz wie ein allgemeines zu behandeln. Man hat da- 
bei nur auf den genauen Sinn des Wörtchens »Einige« zu achten. 
Bedenken wir, was am SchlufTe des vorhergehenden Kapitels über 
das Wefen des afTertorifchen Urtheils gefagt wurde, und fragen 
wir uns, wie wir überhaupt zu Urtheilen kommen können, fo er- 
giebt fich, dafs das Wörtchen »Einige« ftets auf eine beftimmte 
Summe beobachteter Einzelfälle, oder auch auf einen beftimm- 
te n, durch ein befondres Merkmal gekennzeichneten Bruchtheil 
des früheren Subjectsbegriffes gehen foUte. Statt deffen ver- 



56 ^^ particulare Urtheil 

fleht man darunter in der Regel einen unbeftimmten Theil, 
der zum minderten einen einzigen Gegenftand des Hauptbegriffes*), 
zum höchften aber »vielleicht« den ganzen Umfang deffelben 
umfafst 

In der überlieferten Schullogik hat diefe Zweideutigkeit des 
Particularen die heillofefte Verwirrung angerichtet; namentlich feit 
man die ariftotelifch-fcholaftifche Logik des Inhaltes theilweife, 
aber ohne Cönfequenz, in eine Logik des Umfangs verwandelt hat. 
So ift z. B. die Lehre von der Oppofition der Urtheile nur dann 
richtig, wenn die Befchränkung als eine unbeftimmte gefafst wird. 
Der contradictorifche Gegenfatz des Urtheils von der Form A kann 
nur dann in der Form gefunden werden, wenn man letztere fo 
unbeftimmt fafst (»mindeftens einige«), dafs fie die Möglichkeit 
von E in fich fchliefst. Umgekeh|-t verhält es fich in der Lehre 
von der Subalternation der Urtheile. Es wäre eine rein unfm- 
nige Behauptung, aus dem Urtheil S a P folge die Richtigkeit von 
S t Pj wenn bei letzterem Urtheil nicht an einen beftimmt^n, 
wiewohl nicht näher bezeichneten Bruchtheil von 5 gedacht würde. 
Aus der voUftändigen Erkenntnifs, dafs alle Körper der Gravitation 
unterworfen find, kann ich nimmermehr die unvollftändige Erkennt- 
nifs ableiten, dafs mindeftens ein Theil der Körper Gewicht hat. 
Aus der Gewifsheit kann nimmermehr die Ungewifsheit folgen. 
Wohl aber kann ich behaupten, dafs jedem beliebigen, aber an 
fich beftimmten Theile der Körper daffelbe Prädicat zukommen 
muffe, welches dem Ganzen zukommt; z. B., wenn alle Körper 



*) Ein einziger Fall kann in Wirklichkeit nicht nur ausreichen, ein particulares 
Urtheil zu bilden, fondem auch durch . dalTelbe hindurch fofort den Schritt der In- 
duction zum Allgemeinen zu thun. Auf manchen Gebieten der Naturforfchung ifl 
das Vertrauen in die Gleichförmigkeit aller zu einer überfichtlichen Gruppe gehörigen 
Erfcheinungen fo grofs, dafs man fich diefes Inductivfchrittes kaum noch bewufst 
wird. So wird z. B., was man an einem einzigen Exemplar einer Thier- oder 
Pflanzenfpecies gefunden hat, unter Umfländen fofort als Eigenfchaft der Species aus- 
gefprochen. — Mit Unrecht hat man aber daraus entnommen, dafs das fogenannte 
fmguläre Urtheil bald die logifche Natur des allgemeinen, bald die des particularen 
Urtheils habe. Als finguläres Urtheil, z. 6. »die Marsbahn ifl eine Ellipfe«, hat es 
ftets die Eigenfc^aften des allgemeinen. Es mufs erft durch ausdrückliche Beziehung 
auf den Oberbegriif den inductiven Charakter annehmen, um particular zu werden 
und darf dann fchon wegen der eingefloffenen Unbeflimmtheit nicht mehr als fingulä- 
res Urtheil bezeichnet werden. Ein particulares Urtheil diefer Art wäre : »Mindeftens 
eine Planetenbahn, nämlich die des Mars, ifl eine Ellipfe«. 



und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 57 

fchwer find, fo mufs es nothwendig auch wahr fein, dafs alle Gafe 
fchwer find.*) 

Lotze hat mit vollem Recht darauf aufmerkfam gemacht 
(Logik, S. 95), dafs das "»dictum de omni et nullo*L nur richtig ift, 
fo weit man fich ftreng an die alte fcholaftifche Formel hält: 
"»Quidquid de omnibus valet^ valet etiam de quibusdam et de 
singultsu , und ^quidquid de nullo valet y nee de quibusdam valet, 
nee de singulisa. Was von »Allen« gilt, das gilt natürlich von 
jedem Einzelnen und alfo auch von jeder beliebigen Summe die- 
fer Einzelnen, infofern man darunter wieder nur die Einzelnen ver- 
fleht. Sagt man dagegen, aus dem Urtheil »alle Menfchen find 
fterblich« folge das Urtheil »mindeftens einige Menfchen find 
fterblich«, fo leitet man aus der Gewifsheit die Ungewifsheit ab, 
was offenbar widerfinnig ift. 

Man könnte hier noch einwenden, die Logik behaupte gar 
nicht, dafs das eine Urtheil aus dem andern erkenntnifs-theoretifch 
oder pfychologifch folge, fondern fie behaupte nur, wenn das eine 
(materiell und an fich) richtig fei, fo muffe auch das andre richtig 
fein. Wenn ich z. B. erkannt habe, dafs alle metaphyfifchen 
Syfteme falfch find, fo kann ich hieraus nach dem dictum de omni 
et nullo wohl fchliefsen, dafs alfo auch die nachkantifchen Syfteme 
falfch find. Ich kann nicht fchliefsen, dafs »mindeftens einige« 
falfch find, weil ich die Gewifsheit in Beziehung auf alle habe. 
Wenn aber ein Andrer zu der Erkenntnifs gelangt ift, dafs min- 
deftens einige metaphyfifche Syfteme falfch find, fo mufs ich die- 
fen Satz als richtig anerkennen, da er ja die Möglichkeit deffen, 
was ich felbft erkannt habe, als Specialfall in fich fchliefst Mit 
diefer Auskunft hat fich auch vermuthlich die Schullogik, fo weit 
man fich nicht ftreng an die Formel des dictum de omni et nullo 
hielt, geholfen, da die Unmöglichkeit vom Gewiffen auf das Un- 
gewiffe zu fchliefsen, fonft gar zu evident wäre. Allein grade 
diefe Betrachtungsweife fuhrt uns darauf zurück, dafs das particu- 
lare Urtheil in feiner Unbeftimmtheit überhaupt nicht der Ausdruck 
eines objectiven Sachverhaltes fein kann; dafs es ftets fb"eng ge- 
nommen eine Vermuthung in fich fchliefst und überhaupt in feiner 

*) Letzteres ift aach der Sinn des ariftotelifch-fcholaftifchen tk, quidam, 
aliquis, welches bis in die neuere Zeit hinein in der Regel mit dem Subjectsbegriff 
im Singular verbunden wird; z. B. »aliquod animal eft homo« in dem Sinne: 
irgend etwas, das Thier ift, ift Menfch. 



58 Das particulare Urtheil 

taftenden Unentfchiedenheit zunächft nur fubjective Geltung haben 
kann.*) Dafs grade hierin, fobald man die inductive Bedeutung 
des particularen Urtheils in Betracht zieht, ein befonderer Vorzug 
deffelben zu fuchen ift, geht die formale Logik zunächft gar nichts 
an. Es kann alfo auch von einer materiell und an fich beftehenden 
Richtigkeit des unbeftimmten particularen Urtheils gar keine Rede 
fein; höchftens kann man behaupten, dafs derjenige, welcher es 
aufftellt, fubjectiv Recht habe, d. h., dafs er fich auf dem rich- 
tigen Wege der Erkenntnifs befindet, da ja das unbeftimmte Ur- 
theil von der Erkenntnifs einzelner Fälle zur Erkenntnifs des All- 
gemeinen vorzudringen fucht. 

Wie das particulare Urtheil in der Lehre von der Umkehrung 
der Urtheile und in der Syllogiftik zu verftehen ift, werden wir 
weiter unten noch fehen. Zunächft kommen wir auf die Behaup- 
tung zurück, dafs es gar keiner Lehren und Regeln über das par- 
ticulare Urtheil bedürfte, fobald man fich entfchliefsen würde, als 
Subjectsbegriflf nicht das 5 der Logiker, fondern das »Einige Sn 
anzufehen, vorausgefetzt, dafs der Begriff des »Einigea in jedem 
Falle genau feftgeftellt wird. Man kann den Unterfchied, welcher 
oben berührt wurde, vergleichen mit dem Unterfchied in der Be- 
deutung des X der Mathematiker, je nachdem es entweder eine 
beftimmte oder unbeftimmte, oder aber eine variable Gröfse be- 
zeichnet Man kann nun offenbar ftatt x S ein beliebiges andres 
Zeichen, z. B. 2 in die Fotmel einfetzen, und mit diefer alle 
Operationen vornehmen, welche das allgemeine Urtheil zuläfst, um 
dann am Schluffe ftatt 2 wieder x S einzufetzen. Wird dabei x S 
ftets genau in demfelben Sinne genommen, fo kann nichts Unrich- 
tiges herauskommen. Bei einem Verfuch an Beifpielen hat man 
freilich beftändig auf die Mehrdeutigkeit des fprachlichen Ausdrucks 
zu achten. So umfafst ja z. B. fchon unfer allgemein bejahendes 
Urtheil, S a P, zwei Fälle. Denjenigen, in welchem die Sphäre 
von Sm. P enthalten ift, und denjenigen, in welchem beide Sphä- 
ren zufammenfallen ; alfo das eigentlich kategorifche und das iden- 
tifche Urtheil. Anfcheinend widerfinnige Ergebniffe werden fich 



*) Das einzige Objective darin ift die Negative, womit wieder die ariftotelifch- 
fcholaftifche Fällung gut übereinftimmt, während das moderne »Mindeftens einige« 
dem Charakter einer poütiven Behauptung über einen noch nicht voUftändig aufjge- 
fchloffenen Thatbeftand an fich trägt. 



und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 59 

ftets fo löfen, dafs der Widerfinn nicht auf das rein logifche Er- 
gebnifs fallt, fondem auf den fprachlichen Ausdruck. 

' Nimmt man das B^ifpiel: »einige Menfchen find Neger«; be- 
trachtet man »einige Menfchen« im Sinne von »ein beftimmter 
Theil der Menfchen« als SubjectsbegrifT, fo würde fich nach der 
Regel der Umkehrung. des allgemein bejahenden Urtheils der wider- 
fmnig fcheinende Satz ergeben : einige Neger find einige Menfchen. 
Dies Urtheil wäre nicht zu tadeln, wenn Neger auch fchwarze 
Thiere oder fchwarze Gegenftände überhaupt bezeichnen könnte; 
aber Neger find fchwarze Menfchen und das gegebene Urtheil ift 
daher ein identifches. Sagt man: ein beftimmter Theil der Men- 
fchen find die fchwarzen Menfchen, fo kann man umkehren in: 
»die fchwarzen Menfchen find ein beftimmter Theil der Menfchen« 
und man hat einen zwar nichtsfagenden, aber durchaus rich- 
tigen Satz. 

Wir wollen hier gleich bemerken, dafs man durchaus diefelbe 
Zweideutigkeit auch in der Umkehrung des gewöhnlichen allgemein 
bejahenden Urtheils antrifft Wenn man z. B. den Satz hat: Die 
Kreife find EUipfen, deren zwei Brennpunkte in einen zufammen- 
fallen, fo müfste man nach der Schulregel umkehren: »einige 
EUipfen, deren zwei Brennpunkte in einen zufammenfallen, find 
Kreife« ; ein offenbar unrichtiger Satz. Die Schullogik behauptet 
ihn gleichwohl als richtig mit den gleichen Auskunftsmitteln, welche 
wir oben kennen gelernt haben. »Einige« heifst »Mindeftens einige«, 
und das particulare Urtheil mufs doch richtig fein nach dem dictum 
de omni et nullo^ wenn das allgemeine richtig ift. Was von diefen 
Auskunftsmitteln zu halten ift, haben wir fchon oben gefehen.*) 

Nimmt man das kategorifche Beifpiel: einige Giftftoffe find 
organifche Körper, fo kann man nach gewöhnlicher Regel um- 
kehren in : einige organifche Körper find GiftftoffCv Die Umkehrung 
kann aber auch lauten: einige organifche Körper find einige Gift- 
ftoffe, d. h. find ein beftimmter Theil der Giftftoffe. Man erhält 



*] Natürlich läfst fich in einer auf geometrifche Anfchauung geftützten Logik 
des Umfangs das identifche Urtheil ebenfo gut als ein blofser Specialfall des kate- 
gorifchen falTen, wie in der Logik des Inhaltes, die fich, wie wir fpäter zeigen wer- 
den, aqch auf eine arithmetifche Anfchauung flützen kann. Die variabel gedachte 
Theilfphäre findet dann ihren Grenzfall in der Gleichheit mit der übergeordneten 
Sphäre. Die Unzweckmäfsigkeit diefes Verfahrens tritt jedoch bei der modernen 
Logik weit mehr hervor als bei der ariftotelifchen. 



60 ^^ particulare Urtheil 

jetzt ein identifches Urtheil aus dem kategorifchen. Diefe Art des ^ 
Verfahreps ift offenbar vom Standpunkte der rein formalen Logik 
fchärfer und unzweideutiger als die gewöhnliche, aber man wird 
auf den erften Blick fagen, fie ift auch unfruchtbarer. Grade 
jene Unbeftimmtheit des gewöhnlichen Verfahrens ift fein Vorzug. 
Es ift die inductiveBedeutung des particularen Urtheils, welche 
bei der Behandlung deffelben nach Art des Allgemeinen ver- 
loren geht. 

Für Ariftoteles war gewifs nicht diefe inductive Bedeutung 
des particularen Urtheils der Grund, warum er daffelbe einführte. 
Und doch berühren die entgegengefetzten Extreme in der Er- 
kenntnifstheorie fleh hier auf feltfame Weife. Aus der platonifchen 
Ideenlehre ftammte die Anficht des Ariftoteles, dafs die Welt ein 
Syftem fich verwirklichender Begriffe fei.*) Diefe Begriffe mufsten 
eine fefte, gefchloffene Form haben. Das Unbeftimmte als folches 
konnte nicht Begriff, noch Merkmal eines Begriffes fein. Es war 
daher auch der Metaphyfik des Ariftoteles fchnurftracks entgegen, 
ein folches Gebilde wie »einige Menfchen« .als einen felbftändigen 
Begriff gelten zu laffen. Diefe metaphyfifche Unmöglichkeit griff 
in die logifche Technik ein und indem »Menfch« als der allein 
berechtigte Begriff feftgehalten wurde, ergab fich mit Nothwendig- 
keit die Lehre vom particularen Urtheil mit allen ihren Vorzügen 
und Schwächen. 

Vergleichen wir nun mit diefem Standpunkte das Verfahren 
des modernen Empirikers! Diefer hat durchaus keinen Refpect 
vor den überlieferten Begriffen. Er rüttelt an allen, verfchiebt fie, 
erweitert fie; doch ruht fein Denken ftets in neuen Begriffen aus, 
welche zu dem Ergebniffe feiner Experimente und Beobachtungen 
beffer paffen, als die überlieferten. Freilich werden auch die neuen, 
felbftgefchaffenen Begriffe niemals als abfolut feft betrachtet. Es 
bleibt Alles im Fluffe, wie bei Ariftoteles Alles ftehn bleibt. Gleich- 
wohl ftreben alle Einzelwahrnehmungen beftändig zur allgemeinen 
Form des Begriffes. An die Stelle der feften Cläffe von Dingen 
treten zuletzt die feften Ge fetze des Werdens und Vergehens; 
diefe Gefetze, die in unferm Geifte begründet find, werden zu- 
gleich als wahre und wirkliche Grundlagen der Natur der Dinge 
betrachtet. Sie treten für die naturwiffenfchaftliche Weltanfchauung 



*) Vgl. Sigwart, Logik, I, S. 178. 



und die jLehre von der Umkehrung der Urtheile. Q\ 

an die Stelle der platonifchen Ideen, und fie gleichen diefen in fall 
ebenfo vielen Zügen, als fie fich von ihnen unterfcheiden. Wären 
diefe Gefetze nicht in der Natur der Dinge verwirklicht, fo gäbe 
es auch keine Naturerkenntnifs. Gäbe es keine zufammengehörige, 
unter gemeinfamem Gefetz flehende Gruppen von Dingen und 
Vorgängen, fo wäre die Induction ein nichtiges Spiel mit unbe- 
gründeten Sätzen. 

Selbft die extremllen Empiriften, welche den Zweck der 
Forfchung überhaupt nicht in den allgemeinen Sätzen, fondem im 
Uebergang von einer einzelnen Erkenntnifs zur andern erblicken, 
können nicht leugnen, dafs wenigflens pfychologifch der Gedanke 
des Allgemeinen die Brücke für diefen Fortfehritt bildet; und 
wenn Stuart Mill als gemeinfamen Oberfatz für jeden Inductions- 
fchlufs das Axiom von der Gleichförmigkeit der Natur aufflellt, fo 
ift dies Axiom nichts Andres als das alte platonifche Element in 
unfrer Gedankenbildung. Die Natur ift nicht abfolut gleichförmig, 
fondem je innerhalb beftimmter Grenzen für eine Gruppe von Er- 
fcheinungen. Diefe Grenzen vertreten den Begriff, das Allgemeine, 
die Einheit in der Vielheit der Erfcheinungen, und fo oft wir auch 
im Fortgang der Erkenntnifs die Form diefer Einheit verändern 
muffen, ihr Wefen bleibt, und fie bleibt der Leitftern aller Unter- 
fuchungen. Der grofse Fehler der platonifchen und ariftotelifchen 
Philofophie beftand nur darin, dafs man fich vom Zauber der 
Sprache täufchen liefs, d. h., dafs man diejenigen Combinationen 
der Erfcheinungen, welche fich dem kindlichen, noch von keiner 
WifTenfchaft geleiteten Menfchengeifte als einheitliche Gruppen auf- 
gedrängt hatten, als die wahren und für immer gegebenen be- 
trachtete. 

Das particulare Urtheil kann fich thatfächlich nur auf die Be- 
obachtung einzelner, beftimmter Fälle ftützen. Wenn diefe genau 
fo wiedergegeben werden, wie man fie gefunden hat, fo entfteht 
ein zufammengefetztes Urtheil mit mehreren Subjecten, aber mit 
allen Eigenfchaften des allgemeinen Urtheils. Im particularen Ur- 
theil wird diefe Beflimmtheit der Erkenntnifs geopfert und die 
Unbeflimmtheit, welche an die Stelle gefetzt wird, kann zunächft 
als Ausdruck der Vermuthung gelten, dafs es noch in andern Fäl- 
len ebenfo fein werde, wie in den gefundenen ; dahinter aber birgt 
fich das Suchen nach dem Allgemeinen. Dies gefuchte Allgemeine 
ift keineswegs immer der Subjectsbegriff felbft, fondem in den 



62 ^^ particulare Urtheil 

meiden Fällen eine fpecififche Differenz, ein durchfchlagendes 
Merkmal, durch welches fich aus dem gegebenen Gattungsbegriff 
eine wohlbegrenzte Species ausfcheideL Sehr häufig aber, und 
bei den wichtigflen Entdeckungen^ wird auch im Verfolg des in- 
ductiven Proceffes der gegebene Subjectsbegriff felbfl durch das 
Refultat der Forfchung verdrängt oder einer totalen Umbildung 
unterworfen. Die Auffindung des neuen Subjectsbegriffs ifl, wie 
jede Begriffsbildung, ein Act der pfychifchen Synthefis, vorbereitet 
durch den Verkehr des Geifles mit dem Gegenflande der For- 
fchung, aber an fich willkürlich, wagend und neuen Zerfetzungen 
und Umbildungen ausgefetzt 

Wiewohl die nähere Betrachtung diefes inductiven Proceffes 
keineswegs in die formale Logik gehört, fo ift es doch natürlich, 
eine Urtheilsform, welche in diefem Procefs allein ihre Berech- 
tigung hat, in die Technik hineinzuziehen, und fie hier ausfuhr- 
licher zu behandeln, als es ohne jene Beziehung gefchehen würde. 
Wir brauchen alfo auch das particulare Urtheil, ungeachtet feiner 
zahlreichen Zweideutigkeiten, nicht zu verwerfea Wir muffen es 
nur auf die flreng logifchen Formen zurückführen, die ihm zu 
Grunde liegen, und dazu dienen uns wieder die entfprechenden 
fchematifchen Raumbilder. Diefe zeigen fich auch hier als 
die wahre Richtfchnur des rein Logifchen, als das durchfchlagendfte 
Mittel, uns von' allen Zweideutigkeiten der Sprache zu befreien, 
und als der zwingendfle Beweis für jede durch fie dargeflellte 
Regel. Diefes Alles aber haftet den Raumbildern nicht zufällig 
an, fondern mit Noth wendigkeit ; weil die Raumvorflellung die ein- 
zige Grundlage aller a priori gültigen Sätze ift 

Während das allgemein bejahende Urtheil zwei Formen um- 
fafst, das identifche und das kategorifche, haben wir beim 
particularen aufser diefen beiden, welche ja ebenfalls unter der 
Vieldeutigkeit des Particularen begriffen fein können, noch zwei 
andere Begriffsverhältniffe zu berückfichtigen, welche durch ein 
Urtheil ausgedrückt werden können. Es fmd dies die Kreuzung 
der Begriffsfphären und die Umkehrung des kategorifchen 
Verhältniffes. 

In dem unzweifelhaften B^flehen diefer verfchiednen Begriffs- 
verhältniffe kann man übrigens auch vom Standpunkte der for- 
malen Logik eine wenigflens theilweife Rechtfertigung des particu- 
laren Urtheils finden. Sobald die Logik confequent vom eigent- 



und die Lehre von der Umkehnmg der Urtheile. 63 

liehen Kern ihrer ficheren Technik, d.h. eben von den Begriffs- 
verhältniffen ausgeht, mufs fich nothwendig das Bedürfnifs 
herausftellen, auch folche Begriffsverhältniffe, wie das der Kreuzung 
der Sphären und der Umkehrung des kategorifchen Verhältniffes 
in den Kreis der Unterfuchungen zu ziehen ; zunächft jedes einzeln ; 
fodann aber auch die Fälle, in welchen es zweifelhaft ift, ob das 
eine oder andre ftattfindet. Immerhin bleibt man dabei auf feile- 
rem Boden, als wenn man von der fchwankenden Sprachform 
ausgeht. Alles, was die Sprache überhaupt Logifches enthält und 
enthalten kann, mufs fich auf Begriffsverhältniffe zurückführen 
und aus diefen erklären laffen; der Reft bleibt rein pfychologisch 
zu erklären. 

Verfuchen wir nunmehr, unmittelbar von den einfachen Be- 
griffsverhältniffen ausgehend, die Lehre von der Umkehrung der 
Urtheile zu entwickeln, um fodann die Refultate mit denjenigen 
der überlieferten Logik zu vergleichen, fo muffen wir uns wohl 
gegenwärtig halten, dafs die einfachen und eindeutigen Ver- 
hältniffe, welche die fcholaftifche Logik gänzlich überfieht, nicht 
nur ihrer elementaren Bedeutung wegen, als Beftandtheile der fpä- 
ter folgenden Combinationen, Erörterung verdienen, fondern dafs 
fie auch fehr häufig in Wirklichkeit vorkommen können. Das 
fchlagendfte Beifpiel hiefür haben wir gleich zu Anfang bei den 
identifchen Urtheilen. Wenn man freilich für das Begriffsverhält- 
nifs der Identität keinen andern Ausdruck zu finden weifs, als den 
des gewöhnlichen allgemein bejahenden Urtheils, und wenn man 
nun feine Regel fchlechthin auf diefe Sprachform ftützt, ohne die 
fachlich begründete Kenntnifs des BegriffsverhältnifTes mit herbei- 
zuziehen, fo bleibt man in der Zweideutigkeit der Sprachform 
Hecken und die Ümkehrung ergiebt eben jenes »mindeftens einige«, 
welches fich rein auf die Sprachform ftützt und fo oft mit dem 
Sachverhalt in fchärfften Gegenfatz tritt. Es kann aber auch das 
Identitätsverhältnifs in der Sprachform irgendwie angedeutet fein, 
z. B. durch einen Zufatz zur Copula oder durch den beftimmten 
Artikel beim Prädicat. Alsdann ift über die reine Umkehrbarkeit 
kein Zweifel mehr. Hieher gehört aber vor allen Dingen eine der 
wichtigften Claffen von Urtheilen überhaupt: das mathematifche 
Urtheil, in welchem fich das Bedürfnifs auch durch das Gleich- 
heitszeichen ftatt der blofsen Copula feine befondre Sprache ge- 
fchaffen hat. 



ß4 ^^ particulare Urtheil 

Für die Logik der Begriffsverhältniffe ift übrigens der fprach- 
liche Ausdruck zunächft ganz gleichgültig und wir ftellen daher 
ak erfte Regel über die Umkehrung der Urtheile auf: 

Identifche Urtheile find fchlechthin umkehrbar. 

Aus der Umkehrung des kategorifchen Urtheils ergiebt fich 
nunmehr ein particulares, bei welchem alle Zweideutigkeit ausge- 
fchloffen ift. Aus »alle 5 fmd Pv. wird: »ein Theil der Pfmd So, 
in dem Sinne: ein beftimmter Theil und nur diefer Theil. Es 
mufs aber auch, wenn. das gegebene Begriffsverhältnifs fcharf zum 
Ausdruck kommen foU, aus dem Prädicat des umgekehrten Satzes 
alle Unbeftimmtheit fch winden. Der Ausdruck: »ein Theil der P 
ift 5a genügt daher noch nicht, weil hier 5 möglicher Weife dem 
Theile von P als Kategorie gegenüberftehen könnte. Es mufs 
gefagt werden: »ein Theil der P fmd die 5«, d. h. die fämmt- 
lichen S. Dies Urtheil ift nun offenbar auch wieder ein katego- 
rifches. Es fagt genau daifelbe, wie das urfprünglich gegebene 
und es ift einfach der Prädicatsbegriff an die Stelle des Subjectes 
gefetzt und umgekehrt Um fich jedoch zu überzeugen, dafe nicht 
blofs eine fprachliche Inverfion ftattgefunden hat, fohdern dafs in 
der That Subjects- und Prädicatsbegriff im logifchen Sinne ihre 
Stelle getaufcht haben, darf man nur das Urtheil in ein zufammen- 
gefetztes verwandeln: ein Theil der P fmd die S\ ein «mdrer die 
S" u. f. w. Aus diefem könnte dann das divifive Urtheil hervor- 
gehn : die P fmd theils S% theils 5" u. f. w. ; das logifche Ver- 
hältnifs zwifchen Subject und Prädicat ift in allen diefen Fällen 
wefentlich daffelbe. Wir können daher das Urtheil: »ein Theil 
der 5 fmd die P«. bezeichnen als das umgekehrte 4tategori- 
fche UrtheiL Hieraus ergiebt fich die zweite Regel: 

Das kategorifche Urtheil kann nur wieder in ein kate- 
gorifches umgekehrt werden, bei welchem der Subjects- 
begriff die Kategorie und die Befchränkung auf einen 
Theil derfelben ausdrückt, während das Prädicat die die- 
fem Theile entfprechende Claffe von Gegenftänden an- 
giebt 

Bei dem Begriffsverhältniffe der Kreuzung der Sphären ift 
die Zuläffigkeit der einfachen Umkehrung evident Wenn ein Theil 
der S mit einem Theile der Pzufammenfällt, fo zeigt der Augen- 
fchein, dafs auch von eben diefem Theile der P gefagt werden 
kann, er falle mit einem Theile der 5 zufammen. Wir können 



und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. g5 

diefe Urtheile als reciproc - particulare bezeichnen und die ent- 

fprechende Regel lautet: 

Reciproc-particulare Urtheile find fchlechthin umkehrbar. 

Die einzige Form des particularen Urtheils, welche noch übrig 
bleibt? fällt offenbar zufammen mit derjenigen, welche wir oben 
als das »umgekehrt kategorifche« Urtheil bezeichnet haben. Ebenfo 
ifl klar, dafs fich aus diefem durch Umkehrung das urfprüngliche 
kategorifche Urtheil wieder herftellen läfst, fobald eben über die 
wahre Natur des Begriffsverhältniffes kein Zweifel übrig bleibt. 
Es ergiebt fich alfo als letzte Regel für die Umkehrung der ein- 
fachen und befHmmten Begriffsverhältniffe : 

Aus dem umgekehrt kategorifchen Urtheil kann durch 
Umkehrung das direct kategorifche hergeflellt werden. 

Das BegrifTsverhältnifs der völligen Trennung, durch welches 
die Negation ausgedrückt wird : kein 5 ifl P, flellt fich auf den 
erften Blick als rein umkehrbar dar. Das allgemein verneinende 
Urtheil ift durchaus einfach und durchfichtig, und umfafst keinen 
Specialfall, wie das allgemein bejahende, der als ein befondres 
BegrifTsverhältnifs auszufcheiden wäre. Es ergiebt fich hieraus die 
Regfei : 

Das allgemein verneinende Urtheil ifl fchlechthin um- 
kehrbar. 

Ein befondres BegrifTsverhältnifs für das partiell verneinende 
Urtheil giebt es nicht Wo nur theil weife Verneinung ill, ifl auch 
theilweife Bejahung, und diefelben Raumbilder, an welchen fich 
die particulare Bejahung veranschaulichen läfst, dienen auch der 
particularen Verneinung. Infofern aber das »Mindeftens einige« 
des particularen Urtheils als Specialfall auch das kategorifche und 
das identifche Urtheil mit in fich fchliefst, tritt hier an die Stelle 
das allgemein verneinende. Als befondre Regel für die Umkehrung 
der beiden hier in Betracht kommenden Fälle kann man aufflellen: 

Das reciproc-particulare Urtheil, wenn verneinend 
genommen, ifl umkehrbar. 

Das umgekehrt kategorifche Urtheil, wenn verneinend 
genommen, ift nicht umkehrbar. 

Dafs das negativ particulare Urtheil der überlieferten Log^k 
nicht umkehrbar ift, ergiebt fich aus der Combination diefer bei- 
den Fälle. 

Es liefsen fich vielleicht noch andre BegrifTsverhältnifTe auf- 

Lange, Logische Stadien. 5 



QQ Das particulare Urtheil 

finden, wie z. B. dasjenige der Begrenzung oder Berührung, wel- 
ches bei einer geordneten Begriffsreihe zwifchen zwei unmittelbar 
benachbarten Begriffen ftattfinden würde oder auch bei dichoto- 
mifcher Eintheilung eines Begriffes zwifchen den beiden untergeord- 
neten. Die befondre Betrachtung derfelben ift aber unergiebig und 
zumal für die Analyfe der gewöhnlichen elementaren Technik über- 
flüffig. Was von diefer Art von Bedeutung ifl, wird bei der Be- 
fprechung des disjunctiven Urtheils zu erörtern fein. Wir haben 
alfo die ganze elementare logifche Technik abzuleiten aus folgenden 
fünf*) einfachen Begriffsverhältniffen. 

Identität 

kategorifches Verhältnifs 

umgekehrtes kategorifches Verhältnifs 

Begriffskreuzung 




VV CO Trennung. 



Das allgemein bejahende Urtheil erhalten wir durch die 
Combination der Fälle a und b, des identifchen und des katego- 
rifchen Urtheils. Weifs man nichts weiter, als dafs entweder das 
eine oder das andere diefer Begriffsverhältniffe flattfindet, fo kann 
man ein Urtheil, welches diefe beiden Fälle umfafst: die 5 find 
entweder identifch mit den P oder ein Theil derfelben, dahin 
umkehren, dafs entweder alle Poder ein Theil derfelben identifch 
find mit den 5. Bei diefer Art der Umkehrung ift die Erkennt- 
nifs, welche in dem allgemein bejahenden Urtheile liegt, möglichfl 
voUftändig erhalten worden. Man geräth dabei auf ein particulares 



•) Tweften, der in feiner Logik (Schleswig 1825) den Begriffsverhältniffen 
viele Aufmerkfamkeit fchenkt, unterfcheidet (S. 30) deren nur vier, indem er die 
oben unter b und c aufgeführten Verhältniffe als dasjenige der Unterordnung zu- 
fammenfafst. Es ifl aber offenbar ein grofser Unter fchied, ob das Subject dem Prä- 
dicate untergeordnet iil, oder umgekehrt. Unterfcheidet man diefe Fälle nicht als 
befondre Begriffsverhältniffe, fo wird fich eine Analyfe aller in der Logik vorkom- 
menden Combinationen derfelben fchwerlich durchführen laffen. 



• und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 67 

Urtheil, welches auch fo ausgedrückt werden kann : Mindeftens ein 
Theil der P find die 5*. Daffelbe ift jedoch von dem particularen 
Urtheile der fcholaftifchen Logik fehr verfchieden. Diefe begnügt 
(ich hier, ihrer ganzen Tendenz entsprechend, mit der Behauptur^, 
dafs wenigftens irgend einem P nun auch das Prädicat 5" zukom- 
men muffe; eine Behauptung, die fich zu der voUftändigen Wahr- 
heit, wie wir fie aus den Begriffsverhältniffen abgeleitet haben, 
grade fo verhält, wie ein durch Subalternation gewonnener Satz 
zu feinem übergeordneten. Zunächft erhält man anfcheinend aus 
den Begriffsverhältniffen fowohl das Tfe, aliquis der alten Logik, 
als auch das »Mindeftens einige« der modernen, wenn man be- 
denkt, dafs der beftimmte Theil der P, welcher 5 ift, zwar an 
(ich beftimmt, aber nicht, gegeben ift. Man kann ihn alfo variabel 
denken in allen Formen und Gröfsen innerhalb der Grenzen der 
Begriffsfphäre. Sodann mufs man auf die Einficht verzichten, dafs 
es alle 5 find (die ganze Species), von denen die Ausfage gilt, 
dafs fie mit »mindeftens einigen Pn zufammenfallen. Das identifche 
Urtheil mufs zum kategorifchen herabgeftimmt werden. Endlich 
fchliefst der fprachliche Ausdruck auch noch die Möglichkeit eines 
Verhältniffes der Begriffskreuzung in fich, welche in den gegebenen 
Begriffsverhältniffen gar nicht enthalten ift. 

Auf diefem Wege läfst fich die ^converfio per accidensu der 
fcholaftifchen Logik aus der ftrengften Analyfe der Begriffsverhält- 
niffe ableiten und mit dem Vorbehalt, den wir fchon bei der Sub- 
altemation machen mufsten, auch rechtfertigen. *) Dafs fie übrigens 



*) Lotze hat auf den Verlud an materieller Wahrheit aufmerkfam gemacht, 
der aus diefer Art der Umkehrung entfleht. Wenn man das Urtheil : alle Möpfe 
find Hunde umkehrt in : einige Hunde fmd Möpfe und nun diefes wieder umkehrt, 
fo erhält man die Ausfage: einige Möpfe fmd Hunde (Logik 105); ein Urtheil, 
"welches »formal richtig« nur in dem Sinne genannt werden kann, in welchem auch 
die directe Ableitung eines particularen Urtheils von dem übergeordneten allgemeinen 
richtig ift. Man mufs auf das dictum de omni et nuüo zurückgehn , um es richtig zu 
finden und dann heifst der Satz nichts Andres als : ein jeder beliebige Theil der 
Möpfe gehört zu den Hunden, weil fie eben alle Hunde fmd. — Trendelenburg, 
der aus diefem und den damit zufammenhängenden Mängeln einen Angriff gegen die 
formale Logik felbft herleitet, (Log. Unterf. 3. Aufl. S. 331 u. ff.) überfieht die ge- 
fchloffene Confequenz der ariftotelifchen Logik und beachtet nicht, dafs mit einem 
wirklichen Fehler in den logifchen Regeln fich ein fehr emftes Problem aufthun 
würde, welches nicht mit einigen abfchätzigen Bemerkungen über den Formalismus 
der logifchen Technik abzuthun ift. In der Zurückführung alles Apodiktifchen in 

5* 



33 ^^ particulare Urtheil * 

nicht auf diefem Umwege gewonnen wurde, ift klar und folgt auch 
fchon unmittelbar aus der Tendenz der ariftotelifchen Logik, welche 
(ich ausfchliefslich um die Frage bewegt, inwiefern ein Begriff von 
dfen Gegenftänden eines andern ausgefagt werden kann. Dabei 
werden grundfätzlich nur die zwei Fälle unterfchieden , wenn der 
Begriff fchlechthin von den Gegenfländen des andern gilt (das 
allgemeine und nothwendige kategorifche Verhältnifs) und wenn er 
denfelben wenigftens in irgend einem Falle zukommt (das zufällige 
kategorifche Verhältnifs, bei welchem die Möglichkeit, das ipdixBtr&ai, 
den metaphyfifchen Hintergrund bildet). Sobald man fich damit 
begnügt, ergiebt fich die converfio per accidens fehr leicht aus der 
unmittelbaren Betrachtung der Raumbilder. Man entnimmt den- 
felben nur nicht alles, was aus ihnen zu lefen wäre, fondem be- 
gnügt fich mit der unzweifelhaften Sicherheit der Minimal -Erkennt- 
nifs, deren man bedarf. 

Das particulare Urtheil umfafst die Möglichkeit fammtlicher 
Begriffsverhältniffe mit einziger Ausnahme desjenigen der Trennung. 
Es befagt alfo im Grunde nichts weiter, als die Negation der Ne- 
gation und läfst es völlig unentfchieden, welches der pofitiven Be- 
griffsverhältniffe obwalte. Daraus ergiebt fich die Regel der Um- 
kehrung mit Leichtigkeit. Denn wenn S entweder identifch ift 
mit P, oder ein Theil der P, oder umgekehrt P ein Theil der 5* 
oder endlich S die Sphäre von P kreuzt, fo ergiebt fich, dafs nun- 
mehr auch P entweder identifch ifl mit 5, oder 5 ein Theil der 
P, oder P ein Theil der 5, oder endlich dafs P die Sphäre von 
5 kreuzt Die Begriffsverhältniffe von der Form a und d find 
. direct umkehrbar, b und c taufchen ihre Stelle und fo find wieder 
die nämlichen vier Begriffsverhältniffe als möglich gegeben und 
nur die Negation ift ausgefchloffen. Es ergiebt fich alfo, dafs das 
particular bejahende Urtheil fchlechthin umkehrbar ift Daffelbe 
Refultat folgt ohne Analyfe der einzelnen Fälle unmittelbar aus 
der Anfchauung; denn wenn einige S P find, fo darf man fich 
diefe nur vergegenwärtigen, um überzeugt zu fein, dafs mindeftens 
diefe nämlichen P auch 5 find ; die Sphären mögen fich im Uebrigen 
geftalten wie fie wollen. Damit aber ift den Anforderungen des 
particularen Urtheils Genüge gefchehen. 



der Logik auf die reinen Begriffsverhältniffe und des Zweideutigen auf die Sprach- 
form ift das hier angedeutete Problem gelölt. 



und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 69 

Das allgemein verneinende Urtheil der fcholaftifchen Logik 
ift das einzige, welches keine Combinationen umfafst Es beruht 
auf einem einfachen Begriffsverhältniffe und die Umkehrbarkeit 
deffelben ift fchon oben gezeigt worden. 

Das befonders verneinende Urtheil fchliefst die beiden 
erften Begriffsverhältniffe aus und läfst die Möglichkeit der drei 
letzten zu. Von diefen find zwei umkehrbar, das dritte aber nicht. 
Im umgekehrt kategorifchen Urtheil: die 5 umfaffen die P, alfo 
find mindeftens einige 5 nicht /*, kann man aus der Umkehrung 
des Verhältniffes keinen negativen Satz in Beziehung auf P ent- 
nehmen. Wollte man aber das allgemein bejahende Urtheil: alle 
P find 5 als richtige Confequenz der Umkehrung in Anfpruch 
nehmen, fo käme man für das particular verneinende Urtheil doch 
auf kein Refultat. Das Gefammtergebnifs würde lauten : entweder 
alle P find 5, oder einige find nicht 5, oder keines ift S\ das 
heifst, alle Möglichkeiten find offen und eine beftimmte Behauptung 
über das Verhältnifs von P und 5" ift unmöglich. *) Diefes Offen- 
flehen, fämmtlicher Möglichkeiten ift, beiläufig gefagt, auch in der 
Syllogiftik die Form, unter welcher fich die Unzuläffigkeit eines 
Schluffes aus der Combination zweier Prämiffen kund giebt. 

Die Lehre von der Umkehrung der Urtheile ift in der arifto- 
telifchen Logik ein wefentliches und unentbehrliches Stück, da ein 
grofser Theil der Syllogiftik darauf ruht. Der Beweis für die Gül- 
tigkeit der Modi zweiter und dritter Figur wird hergeftellt durch 
Zurückfiihrung auf einen entfprechenden Modus der erften Figur 
und bei diefer Zurückfiihrung fpielt die Umkehrung der Urtheile 
eine fehr bedeutende Rolle. Die moderne Logik bedarf diefer 
künftlichen Mittel nicht mehr, da fie fich auf die Sphärenvergleichung 



*) So wenigilens verhält es fich für die überlieferte Logik, welche die Begriflfs- 
verhältniffe a und b im allgemein bejahenden Urtheil zufammenfafst und c im 
particularen Urtheil verfchwinden läfst. Für die Logik der BegrififsverhältnilTe fleht 
es anders. Man überzeugt fich leicht und man kann es auch unmittelbar aus der 
Betrachtung der Sphärenbilder entnehmen, dafs bei der Umkehrung des particular 
verneinenden Urtheils zwar die Verhältnifle b, d und e möglich find, dagegen a und 
c nicht. In der That kann ich aus dem Urtheil : Einige S find nicht P fchliefsen, 
dafs alfo P weder identifch mit S fein kann, noch ein Gattungsbegriff, welcher 5 
als Species umfafst. Diefe keineswegs ganz unbedeutenden Schlüffe läfst die ariflo- 
telifch-fcholaflifche Logik fallen, indem fie fich an den grammatifchen Satz hält, 
flatt an die BegriffsverhältnilTe. Die Möglichkeit von b, d und e genügt alfo hier, 
um den Schein völliger Unbeftimmtheit hervorzubringen. 



70 ^^s particulare Urtheil 

ftützt, aus welcher fich der Beweis für die Schlüffe zweiter und 
dritter Figur ganz ebenfo unmittelbar entnehmen läfst, als für die- 
jenigen der erften Figur. 

Die inductive Bedeutung kommt natürlich auch in erfter Linie 
dem unmittelbar aus den Thatfachen erwachfenden particularen 
Urtheile zu ; doch kann auch die Umkehrung deflelben im Verlaufe 
wiffenfchaftlicher Entdeckungen ihre Rolle fpielen. So könnte man 
z. B. fchliefsen: Einige fchutzlofe Thierfpecies erhalten fich durch 
»Mimicry«. Einige, und vielleicht alle Species, bei denen wir 
»Mimicry« finden, würden ohne diefe befonders fchutzlos fein. — 
Das particulare Urtheil, welches aus der Umkehrung des allgemein 
bejahenden hervorgeht, kann nur dann eine inductive Bedeutung 
annehmen, wenn es fich darum handelt, die Identität von Subjects- 
und Prädicatsbegriff nachzuweifen und alfo das kategorifche Urtheil 
in ein identifches umzuwandeln. 

Es wäre von grofsem Intereffe genau zu wiflen, wann und wie 
das inductive und durchaus dem modernen Geifte entfprechende 
»Einige« und »Mindeftens einige« ftatt des fcholaftifchen »Irgend 
ein« in die neueren Darftellungen der Logik eingedrungen ift. Der 
Gebrauch der modernen Sprachen ftatt des Lateinifchen dürfte 
daran betheiligt fein, doch finden wir bei dem fonft fo modern 
denkenden Verfaffer der ^Logique^ ou Hart de penfem in feiner 
Ueberficht der Syllogiftik confequent als Ausdruck des Particularen 
»/// av. angewendet, was noch im Wefentlichen der ariftotelifch- 
fcholaftifchen Auffaflung entfpricht; z. B. : II y a des mechans dans 
les plus grandes fortunes. Tous les mechans fönt miferables, II 
y a donc des miferables dans les plus grandes fortunes, — Die 
Engländer fcheinen ihr ^Somev,^ Einige, fchon fehr früh angewandt 
zu haben. In Deutfchland finden wir bei Wolff in den »Vernünf- 
tigen Gedanken von den Kräften des menfchlichen Verftandes« als 
Ausdruck des Particularen »Etliche«. Des nämlichen Ausdrucks 
bedient fich Lambert, wohl der bedeutendfte Logiker des vorigen 
Jahrhunderts ; Kant erfetzte ihn durch das gleichbedeutende »Einige«, 
welches auf diefe Autorität geftützt, feitdem das Feld behauptet 
hat Lambert erkannte auch fchon klar, dafs der Ausdruck 
»Etliche« nicht voUftändig genüge und zeigt (Organon I % 124), 
dafs man »Etliche« im Sinne von »Wenigftens etliche« nehmen 
muffe. 

Der Gebrauch von »Einige« oder »Etliche« zur Bezeichnung 



und die Lehre von der Umkehrimg der Urtheile. 71 

des Particularen hängt zufammen mit der Auffaffung des AUge- 
meinbegriflfs als eines coUectiven Ganzen, und diefe Auffaffung geht 
wieder Hand in Hand mit der Neigung zur Demonftration der Be- 
griffsverhältniffe an gefchloffenen, oder wenigftens eine beftimmte 
Raumgröfse darftellenden Figuren. Zwar haben wir angenommen, 
dafs räumliche Anfchauung unter allen Umftänden erforderlich ift, 
um die Ueberzeugung von der Allgemeingültigkeit der logifchen 
Formen zu bewirken und wir werden in einem fpäteren Abfchnitt 
diefen durchaus fundamentalen Satz noch vollftändiger durchführen. 
Es bleibt jedoch immerhin ein grofser UViterfchied, ob man fich 
blofs die Art, wie ein übergeordneter Begriff fich über den unter- 
geordheten erftreckt, in beliebigen Linien, Winkeln, oder auch ge- 
fchloffenen Figuren veranfchaulicht, oder ob man die Figuren 
gradezu als ; eine Darfteilung der Summe der unter dem Begriff 
enthaltenen Gegenftände betrachtet. So bedient fich z. B. Lambert 
in feinem Organon zwar blofser Linien zur Darfteilung des Umfangs 
der Begriffe; allein gleichwohl fteht er ganz auf dem modernen 
Standpunkte; da er die Linien ausdrücklich als eine Darftellung 
der Summe der Gegenftände des Begriffs betrachtet. Er denkt 
fich nur die nämlichen Gegenftände alle in eine gradlinige Reihe 
geordnet, welche man bei gefchloffenen Figuren fich fo vorftellt, 
als feien fie auf einer Ebene zufammengeftellt Wir werden weiter 
unten zeigen, dafs bei confequenter Entwicklung der modernen 
Logik, fobald die Gegenftände des Begriffs nicht nur als Summe 
gedacht, fondern auch numerifch behandelt werden, weder die 
graden Linien noch die jetzt allgemein üblichen Kreife die zweck- 
mäfsigften Formen der Veranfchaulichung find, fondem dafs man 
dafür der Rechtecke bedarf. 

Die Auffaffung des Begriffes als eines coUectiven Ganzen ftimmt 
vollftändig mit der inductiven und empirifchen Richtung der mo- 
dernen Wiffenfchaften überein, wie fie fich anderfeits an den No- 
minalismus des fpäteren Mittelalters anfchliefst; denn wenn der 
Begriff nichts mehr ift als die Zufammenfaffung einer Claffe von 
Gegenftänden, fo ift er auch nichts mehr als ein Wort Man kann 
das logifche Wort, infofem es durch eine Definition beftimmte 
Grenzen erhält, von den vieldeutigen Wörtern der unbearbeiteten 
Sprache unterfcheiden, aber damit wird ihm noch nicht jener höhere 
Rang verliehen, der nach platonifch-ariftotelifcher Ueberlieferung 
dem Allgemeinen gegenüber dem Befonderen und Einzelnen zu- 



72 ^^ particulare Urtheil 

• 

kommt. Hat das particulare Urtheil feine wahre und bleibende 
Bedeutung in der Anlage unfres Geiftes zur inductiven Erkenntnifs ; 
ift die Wahrnehmung der einzelnen Thatfache das Fundament 
unfrer Urtheilsbildung ; dann mufs auch der Allgemeinbegriff collec- 
tive Geltung haben, und damit ftürzt das ganze Syftem der Con- 
ftruction der Wiffenfchaften aus blofsen Begriffen. Die einzigen 
Wahrheiten, welche der Erfahrung zu ihrer Gültigkeit nicht be- 
dürfen und welche uns alfo Sätze a priori geben, find diejenigen, 
welche fich auf unmittelbare Anfchauung flützen. Diefe Anfchau- 
ung ifl der Erfahrung wSfensverwandt, allein wir erblicken in ihr 
weit deutlicher als in der Erfahrung das wahrhaft apriorifche Ele- 
ment aller Erkenntnifs : die fynthetifche Natur unfres eignen Gfeiftes. 
Anfcheinend redet im Apriori nur der Geifl ; in der Erfahrung nur 
die Dinge. In der That handelt es fich hier nur um einen rela- 
tiven Unterfchied, und die Erkenntniffe aus blofser Anfchauung 
geben den Schlüffel zu dem Räthfel diefes Zufammenwirkens. Es 
ifl daher fehr wohl möglich, den flrengflen Empirismus mit einer 
ungleich tieferen Auffaffung der Erfcheinungen zu verbinden, als 
fie den Empirikern der modernen, namentlich der englifchen Schule 
eigen zu fem pflegt. 

Intereffant ifl, mit welcher Schärfe Leibnitz den tief greifen- 
den Unterfchied der fcholaflifchen und der modernen Auffaffung 
des Begriffs in allen feinen Confequenzen erkannte. In feiner Ab- 
handlung "^de flilo philojophico NizoliifL *) erwähnt er als einen 
fchweren Irrthum des Nizolius, dafs das Allgemeine nichts fei als 
die Summe alles Einzelnen; wenn man alfo fage: omnis homo efl 
animalj fo bedeute das nichts weiter als: omnes homines Junt 
animalia, Leibnitz giebt zu, dafs letzteres materiell richtig fei, 
allein daraus folge noch nicht, dafs der Allgemeinbegriff ein totum 
collectivum fei; vielmehr fei er ein totum diflributivum: fei es, 
dafs du den Titius oder den Cajus u, f. w. nimmfl, fo wirft du 
immer finden, dafs er ein animal, oder dafs er ein empfindendes 
Wefen fei. Leibnitz fchliefst daran die Bemerkung, dafs diefer 
Irrthum ein ungemein folgenfchwerer fei ; denn wenn die Allgemein- 
begriffe nichts mehr feien, als Summirungen der einzelnen Gegen- 
flände, fo gebe es keine demonflrirte Wiffenfchaft mehr. 



*) Leibnitii opera philof. ed. Erdmann, p. 70. — 



und die Lehre von der Umkehrung der Urtheile. 73 

fondern nur noch Induction. "»Sed ea ratione^y fugt er bei, 
' ^prorftis evertuntur fcientiaey et Sceptici vicerea, 

Leibnitz hat ganz recht; nur dafs das Unglück nicht fo grofs 
ifl, als er es fleh denkt. Er hat noch nicht erkannt, dafs alle 
wahrhaft demonftrirten Wiffenfchaften auf der Anfchauung, und 
zwar auf der räumlichen Anfchauung beruhen, und dafs auf allen 
übrigen Gebieten die Empiriker, denn das find feine Skeptiker, mit 
Recht an die Stelle der demonftrirenden Metaphyfiker treten. Die 
Erkenntnifstheorie der Empiriker mag eine ungenügende und ober- 
flächliche fein ; ihre Methode aber ift die erfolgreiche und fie mufs 
auch von einer tieferen Erkenntnifstheorie beftätigt werden. 



IV. 

Die Syllogistik. 



Wenn es richtig ift, dafs die Anfchauung der Begriffsverhält- 
niffe in Raumbildern die eigentliche Grundlage aller logifchen Tech- 
nik bildet, fo mufs es auch möglich fein, die ganze Syllogiftik, 
gleich allen andern logifchen Sätzen aus der blofsen Combination 
der Begriffsverhältniffe abzuleiten. Man mufs alfo, indem man 
jedes Begriffsverhältnifs, welches in einem Urtheile vorkommen 
kann, mit jedem andern combinirt, fo dafs je ein Begriff, der 
MittelbegrifF, in den beiden combinirten Urtheilen identifch ift, alle 
überhaupt möglichen Verhältqiffe zwifchen den beiden andern ab- 
lefen können. Wir bedienen uns, um dies nachzuweifen, der im 
vorhergehenden Abfchnitte angenommenen Bezeichnung der Be- 
griffsverhältniffe mit den Buchftaben a, b^ Cy d und e. -^ Es fei 
beifpielsweife gegeben die Combination von e als Oberfatz (Ver- 
hältnifs zwifchen (? und ;-) und von d als Unterfatz (Verhältnifs 
zwifchen « und |5): 




fo fleht man mit Leichtigkeit, dafs zwifchen « und x die Verhält- 
niffe Cy d und e möglich find: 




die Verhältniffe a und b dagegen nicht; d. h. wir werden auf ein 
particular verneinendes Urtheil geführt. — Die griechifchen Buch- 



Die Syllo^iaik. 75 

ftaben zur Bezetehnung der einzelnen Begriffsfphären find hier in 
umgekehrter Ordnung genommen, wie bei Ariftoteles; « bedeutet 
alfo den terminus minor ^ y den terminus major. — In der nach*- 
ftehenden Tabelle find nunmehr die fammtlichen Combinationen 
je zweier Begriffsverhältniffe mit gemeinfamem Mittelbegriff durch- 
geführt. Das Refultat in Beziehung auf die möglichen Verhält- 
niffe von « und ;' ift nicht in Sphären ausgeführt, fondern einfach 
durch die Buchftaben ^, ^, r, d^ e angedeutet. 

Diefe Tabelle bietet uns gleich in den erften Schlüffen die 
Veranfchaulichung höchft wichtiger Grundfätze, für welche die ge- 
wöhnliche Logik keinen rechten Platz hat. Der erfte Schlufs zeigt 
uns, dafs zwei Begriffe, welche einem dritten gleich find, auch 
unter fich gleich fein muffen; die nächftfolgenden, fowohl in der 
Horizontal- als auch in der Verticalreihe fuhren das Princip der 
Subftitution von Gleichem für Gleiches durch alle möglichen Be- 
griffsverhältniffe durch. Die entfprechenden mathematifchen Sätze, 
welche fich auf Gröfsen befchränken, erfcheinen hier als Special- 
fall der logifchen, welche fich auf Gegenftände überhaupt beziehen. 
Auch die Schlüffe bb und cc fprechen in diefer reinen Form ein 
allgemeines Princip aus. Wenn ein Begriff einem zweiten unter- 
oder übergeordnet ift, und diefer wieder einem dritten, fo ift auch 
der erfte dem dritten unter- oder übergeordnet — Bei^^, ddwwA 
ee ergiebt fich aus der Combination der Prämiffen kein Schlufs, 
weil alle Begriffsverhältniffe zwifchen « und ;' als möglich erfchei- 
nen. In andern Fällen, z. B. bei eb und bei bd ergiebt fich noch 
ein Schlufs, wo nach der fcholaflifchen Logik keiner mehr gefun- 
den wurde. 

Es verfteht fich von felbft, dafs auch alle möglichen Com- 
binationen verfchiedner Begriffsverhältniffe gebildet werden können, 
fo gut wie diejenigen, welche die fcholaftifche Logik in der Sprach- 
form vorgebildet fand. Manche derfelben können ihre gute Be- 
deutung haben. So kommt z. B. die Combination »entweder b 
oder diL in der naturwiffenfchaftlichen Forfchung fehr häufig vor, 
wo die Möglichkeiten a und ^, welche das gewöhnliche particulare 
Urtheil mit ümfafst, von vorn herein ausgefchloffen find. Verbin- 
det man einen folchen Satz mit einer zweiten Prämiffe, z. B. mit 
einem Oberfatz von der Form by oder auch von der zufammen- 
gefetzten Form »entweder a oder ^«, fo erhält fich die gröfsere 
Beftimmtheit deffelben auch im Schlufsfatze. Wir wollen jedoch 



76 I>ie Syllogiftik, 

davon abfehen, diefe Schlufsformen hier weiter zu verfolgen und 
vor allen Dingen zeigen, wie fich die Formen der überlieferten 
Syllogiftik aus den einfachen Formen der Tabelle durch die bereits 
bekannten (Kombinationen der PrämiiTen ergeben. 

Barbara: Die Prämiffen haben beide die Form »entweder a 
oder bfL. Daraus ergeben fich für den Schlufsfatz die vier Mög- 
lichkeiten a^ by by b. Die ungleiche Häufigkeit von a und b ift 
vom Standpunkte der höheren Logik betrachtet, durchaus nicht 
gleichgültig. Wir wiffen zwar auch bei den Prämiffen nicht, was 
fich hinter der Formel »entweder a oder ^« für ein Verhältnifs 
relativer Häufigkeit bergen mag. Wohl aber fehen wir jetzt, dafs 
wenn man daffelbe als gleich annimmt, dafs alsdann im Schlufsfatz 
die relative Häufigkeit von a : b fich verhält wie 1:3; mit andern 
Worten: ifl die Wahrfcheinlichkeit fiir den Fall der Identität in 
den Prämiffen = ^/a, fo ifl fie im Schlufsfatze nur noch = ^\\, — 
Die überlieferte Syllogiflik aber kümmert fich um diefe Frage 
durchaus nicht In ihrem Sinne fagt: »entweder a:, oder ^, oder^, 
oder b^ nicht mehr als einfach »entweder ^? oder *«. Sobald man 
alfo abfieht von der relativen Häufigkeit der zwei Fälle, welche 
im allgemein bejahenden Urtheil zufammengefafst fmd, erhält man 
im Schlufsfatz auch die einfache Form des allgemein bejahenden 
Urtheils, wie in den Prämiffen ; d. h. man hat den modus "^ Barbara^ 
vor fich. 

Celarent: Hier ifl die Rechnung fehr einfach. Der Unter- 
fatz von der Form »entweder a oder bv. ergiebt fowohl im einen 
wie im andern Falle mit dem Oberfatz von der Form e einen 
Schlufsfatz wiederum von der Form e, — 

Darii: Hier fmd die Formen des Oberfatzes »entweder a 
oder ^« zu verbinden mit denen des Unterfatzes »entweder a oder 
b oder c oder ^/«. Dies ergiebt zunächfl für den Fall von a im 
Oberfatze die vier Möglichkeiten des Unterfatzes ä, bj Cy d; fodann 
für den Fall b im Oberfatze aus den Combinationen ab und bb 
beidemale b\ aus der Combination von c mit b die vier Möglich- 
keiten des particularen Urtheils a^ bj c und d\ aus der Combination 
von d mit b die beiden Möglichkeiten b und d; im Ganzen alfo : 
Ä, b^ b^ bj by Cy Cy dy d. Die relative Häufigkeit der einzelnen 
Formen ifl natürlich auch hier nicht ohne Bedeutung; abflrahirt 
man jedoch von derfelben, fo ergeben fich wieder einfach die vier 
Möglichkeiten des particular bejahenden Urtheils. 



Die Syllogiftik. 77 

Ferio: Der Oberfatz hat nur e\ der Unterfatz die vier andern 
Formen, ea giebt e\ eb giebt e\ ec giebt Y, d^ e und ed giebt 
Cy d^ c. Wir haben alfo für den Schlufsfatz die Möglichkeiten 
r, r, d, dy e^ e, e, e; d. h. unter Abftraction von der relativen 
Häufigkeit die drei Möglichkeiten des particular verneinenden 
Urtheils. 

Cefare'. Die Formen find in den Prämiffen . wie im Schlufs- 
fatze ganz diefelben wie für Celarent. 

Cameftres: Oberfatz a oder c\ Unterfatz nur <?; Schlufsfatz 
alfo e und wiederum e, — 

Feftino: Die Formen find diefelben wie bei Ferio. 

Baroco: Oberfatz a oder c {c tritt durch die Umftellung 
der termini an die Stelle von b)\ Unterfatz c^ d, e. — Aus der 
Verbindung des Unterfatzes mit der Form a im Oberfatze ergeben 
(ich für den Schlufsfatz zunächil die Formen c, rf, e; fodann aus 
c und c wieder c ; aus c und d x c^ dj e und endlich aus c und e : e. 
Wir haben alfo die. Möglichkeiten : Cy c^ c^ dj d, <f, ^, e und unter 
Abftraction von der relativen Häufigkeit c, d und e, alfo das par- 
ticular verneinende Urtheil. 

Darapti: Oberfatz a und b, Unterfatz a und c (in Folge der 
Umkehrung der zweiten Prämiffe) ; Combinationen : a, ä, by by Cy Cy d; 
alfo das particular bejahende Urtheil. 

Felapton: Oberfatz e\ Unterfatz a oder c, Schlufsfatz: Cydye^'ey 
alfo particular verneinend. 

Datifi: Diefelben Formen wie bei Darü. 

Difamis: Oberfatz üy by Cy d; Unterfatz ä, c; Schlufsfatz: 
ay tty by by Cy Cy Cy Cy Cy dy dy d'y ^Xfo d^s particulaT bcjahcnde Ur- 
theil. (Wir geben hier, wie oben bei Darapti u. ff., nur die ge- 
ordnete Summe der Möglichkeiten, da die Art, wie diefelbe zu 
Stande kommt, aus den früheren, ausführlicher behandelten Fällen 
hinlänglich erhellt.) 

Bocardo: Oberfatz Cydye; Unterfatz ä, ^ ; Schlufsfatz: CyCyCy 
dy dy ey Cy €] alfo das particular verneinende Urtheil. 

Ferifon: Diefelben Formen wie bei Ferio. 

Bamalip: Oberfatz a oder Cy Unterfatz ebenfo. Der Schlufs- 
fatz hat die Formen Uy Cy Cy c; ergiebt alfo nicht die fämmtlichen 
Möglichkeiten des particular bejahenden Urtheils, fondem fchlecht- 
hin die Formen des umgekehrt kategorifchen Urtheils. Dies 
aber ift ganz in der Ordnung, da der Schlufs auch in der That 



78 Die SyUogiftik. 

weiter nichts leiftet, ak dafs er die Schlufsweife von Barbara copirt 
und den Schlufsfatz fodann durch die converfio per accidens um- 
kehrt. Diefe aber fuhrt, wie wir im vorhergehenden Abfchnitt 
eingehend erörtert haben, nicht auf die fämmtlichen Möglichkeiten 
des particular bejahenden Urtheils, fondern nur auf ein umgekehrt 
kategorifches Urtheil, aus welchem man durch Verzicht auf einen 
Theil der Erkenntnifs zum particularen gelangt. Das hier gewon- 
nene Ergebnifs ift alfo nur eine glänzende Beftätigung der Con- 
fequenz und Richtigkeit der unmittelbar aus der Anfchauung ge- 
fchöpften Logik der Begriffsverhältniffe. 

Calemes: Wie Cameftres. 

Dimatis: Wie Disamis. 

Fefapo: Wie Felapton. 

Frefifon: Wie Ferio. 

Es ergiebt fich alfo hier die gefammte ariftotelifch-fcholaftifche 
SyUogiftik als ein Specialfall der SyUogiftik der Begriffsverhältniffe, 
in welcher die eigentliche Beweiskraft für die apodiktifch geltenden 
Regeln enthalten ift. Die Sphärenbilder für die-BegriffsverhältnifTe 
erfcheinen jetzt nicht mehr als blofs zufäUige Veranfchaulichungs- 
mittel, bei denen die Confequenz leicht an irgend einem Punkte 
aufhören könnte; fie find vielmehr die nothwendige Grundlage der 
logifchen Technik felbft, die nach keinem Punkte über den Kreis 
der räumlichen Anfchauung hinauskommt. 

Neuere Logiker greifen, nicht ohne Urfache, die ariftotelifche 
Lehre an, dafs der Satz: »der Menfch geht« gleichbedeutend fei 
mit: »der Menfch ift gehend«. Man hebt hervor, dafs der Satz, 
welcher die Handlung bezeichnet, gar kein kategorifches Urtheil 
fei und daher auch nur mit unnatürlichem Zwang in ein folches 
umgeflaltet würde. Dabei ift jedoch zu bemerken, dafs die ftreng 
logifche Technik fich genau fo weit erflreckt, als fich die Begriffs- 
verhältniffe erftrecken. Allen weiter gehenden Betrachtungen über 
die Natur folcher Sätze, wie: »der Menfch geht«, fehlt der apo- 
diktifche Charakter der logifchen Technik. Statt mit Ariftoteles 
zu fagen, der Satz, fei gleichbedeutend mit »der Menfch ift gehend« 
wird man richtiger fagen, er unterliege der logifchen Technik, 
in fo fern er mit letzterem gleichbedeutend fei. Nur was fich in 
die Form von Begriffsverhältniffen bringen läfst, unterliegt der 
ftreng logifchen Technik. Setzt man alfo »ift gehend« an die 
Stelle von »geht«, fo opfert man einen Theil des lebendigen In- 



Die Syllogiftik. 79 

haltes, welcher dem Zeitwort eigenthümlich ift. Dies Opfer ermög- 
licht die Anwendung der logifchen Regeln. Man wird es alfo 
allemal dann bringen dürfen und muffen, wenn es lediglich auf die 
logifche Seite des Inhalts ankommt. Ift dies nicht der Fall, fo ift 
dann jene Oppofition gegen die ariftoteUfche Gleichfetzung durchaus 
an der Stelle. Sobald man aber, dem vollen, lebendigen Inhalte 
des Zeitworts zu liebe, den Boden der reinen Begriffsverhältniffe 
verlaffen hat, befindet man fich auch nicht mehr auf dem Boden 
der formalen Logik, fondem der Sprachphilofophie. Diefe Sprach- 
philofophie kann freilich den Charakter eines Zweiges der ange- 
wandten Logik annehmen, aber dann wird auch innerhalb ihrer 
Sphäre ftets das eigentlich Logifche auf die Begriffsverhältniffe 
befchränkt bleiben. , 

Die eben gegebene Ableitung der fcholaftifchen modi aus der 
Ueberficht aller überhaupt möglichen Begriffsverhältniffe nimmt auf 
die veirfchiedenen Figuren keine Rückficht Allenthalben, wo der 
Schlufs fich durch canverfio fimplex in einer der Prämiffen auf 
einen fchon dagewefenen Schlufs zurückfuhren läfst, einerlei ob 
diefer der erften Figur angehöre oder nicht, ift das Sphärenbild 
das nämliche und die formale Technik giebt alfo für diefe Schlüffe 
nur eine einzige Form. Es wird jedoch dadurch weder die arifto- 
telifche Reductionsweife noch die Behauptung Kants von der Ueber- 
flüffigkeit und unnützen Spitzfindigkeit der verfchiednen Figuren 
begünftigt Allenthalben, wo die ariftotelifche Logik der converfio 
per accidensy der Umftellung der Prämiffen oder des Beweifes 
durch die Unmöglichkeit des Gegentheils bedarf, erhalten wir ver- 
fchiedne Raumbilder, und diejenigen für die fpäteren Figuren find 
ebenfo unmittelbar beweifend, als diejenigen für die erfte Figur. 
Die Frage nach dem Werthe der verfchiednen fyllogiftifchen Figu- 
ren geht daher offenbar über den Kreis der formalen Technik 
hinaus und gehört in das Gebiet der angewandten Logik. Lam- 
bert, der diefe Frage wohl am gründlichften behandelt hat, giebt 
allen vier Figuren der Scholaftiker eine felbftändige Bedeutung.*) 
Dem dictum de omni et nulloj welches die erfte Figur beherrfcht, 
ftellt er ein dictum de diverfoj de exemplo und de reciproco zur 
Seite und behauptet, dafs wir ganz naturgemäfs eine Reihe von 
Schlüffen in der zweiten, dritten oder vierten Figur vollziehen, bei 



*) Lambert, neues Organon, I. Leipz. 1764, IV. Hauptftück, JJ 229 — 233. — 



80 Die Syllogiftik. 

denen die Reduction auf die erfte Figur nur zu einer unnatürlichen, 
dem gewohnten Gang des Denkens zuwiderlaufenden Entftellung 
des Schluffes führen würde. Lambert hat dies auch für die zweite 
und dritte Figur fowohl durch treffende Beifpiele als auch durch 
eingehende Erörterung bewiefen. Zugleich bemerkt er aber fehr 
richtig, dafs der Unterfchied der Figuren nicht nur auf ihrer Form 
beruht, fondem fich auf die Sache felbft ausdehnt, indem wir jede 
da gebrauchen, wo fie natürlicher ift. Hieran könnte der Gegner 
der fyllogiftifchen Figuren anknüpfen und behaupten, diefe Natür- 
lichkeit fei blofse Sache des fprachlichen Ausdrucks; man muffe, 
um der Reinheit der Technik willen auf fie verzichten, grade fo 
wie man auf den natürlichen Ausdruck verzichtet, wenn man an 
die Stelle von »der Menfch gehta die Worte fetzt: »der Menfch 
ift gehend.a Der Einwand wäre begründet, wenn aus den Be- 
griffsverhältniffen nur die Schlüffe der erften Figur hervorgingen. 
Da dies aber nicht der Fall ift, fo behält Lambert Recht, aber 
die Frage überfchreitet den Kreis der formalen Logik. 

Um dies noch genauer zu fehen, dürfen wir nur den Modus 
Celarent näher betrachten. Nach dem dictum de omni et nullo 
aufgefafst, enthält diefer Modus im Oberfatz J/ ^ P eine allgemeine 
aber negative Regel in Beziehung auf das Verhältnifs von Mzw P, 
Im Unterfatze S a M folgt eine Subfumtion, ganz wie im Unter- 
fatz von Barbara^ und es ergiebt fich darauf der Schlufsfatz, S e P 
als Folge diefer Subfumtion. Was hindert uns aber, denfelben 
Schlufs fo aufzufaffen, dafs der Oberfatz fchlechthin eine Tren- 
nung der Sphären von M und P ausspricht, der jUnterfatz dage- 
gen eine Vereinigung der Sphäre von 5 mit M^ woraus fich 
nach dem "»dictum de diverfon die Verfchiedenheit von 5 und 
P ergiebt ? Celarent wäre alfo nach diefer Auffaffung auf Cefare 
zurückgeführt; grade lo, wie man fonft Cefare auf Celarent zurück- 
führt Die logifche Technik kann nichts dagegen einwendea 
Wenn man aber die Sache und ihren naturgemäfsen fprach- 
lichen Ausdruck in Betracht zieht, fo wird man, fowohl in den 
Schlüffen des täglichen Lebens, als auch in den Wiffenfchaften, 
Anlafs genug finden, die Figuren zu unterfcheiden. 

Man betrachte folgende Beifpiele ! »Kein Staat im Staate kann 
von einer weifen Regierung geduldet werden. Die moderne rö- 
mifche Hierarchie bildet einen Staat im Staate. Alfo kann fie 
von einer weifen Regierung nicht geduldet werden a. Hier haben 



Die SyUogiftik. 81 

wir in der Sache felbft die offenbare Subfumtion eines gegebenen 
Falles unter eine allgemeine Regel und daher als natürlichen Aus- 
druck des Gedankens einen Schlufs nach Celarent Wollte man 
ftatt deffen fetzen: »Nichts was von einer weifen Regierung gedul- 
det werden kann, ift Staat im Staate u. C w.a, fo erhielte man 
allerdings einen correcten Schlufs nach Cefare; aber wie wenig 
würde die Form diefes Schluffes zum Inhalte paffen I — In fol- 
gendem Schluffe dagegen ift die zweite Figur ganz das Natürliche: 
»Keine Gletfcheffpuren find älter als die Tertiärzeit. Sehr viele 
Alpenthäler fmd älter als die Tertiärzeit Alfo find mindeftens 
viele Thalbildungen nicht Gletfcherfpurena. Bei diefem Schluffe, 
deffen materielle Richtigkeit wir übrigens dahingeftellt fein laffen, 
ifi offenbar das Alter der Thalbildungen das Mittel, zu unterfchei- 
den, ob das Prädicat dem Subjecte zukomme oder nicht. Der 
Mittelbegriff enthält ein Kriterium; der ganze Schlufs ift ein 
Verfchiedenheitsfchlufs und er würde fich, auf die erfte Figur 
reducirt, fehr fonderbar ausnehmen : »Nichts, das älter ift als die 
Tertiärzeit, ift Gletfcherfpur u. f w.a 

Schluffe diefer Art, nach Cefare und Feftino find in den Na- 
turwiffenfchaften ungemein häufig und wenn es auch grade hier 
oft vorkommt, dafs der allgemein verneinende Oberfatz fpäter als 
nicht richtig erkannt wird, fo gehören fie doch zu den wichtjgften 
Mitteln wiffenfchaftlicher Unterfuchung. Wir muffen alfo nicht nur 
Schluffe der zweiten und dritten Figur zulaffen, fondern auch über 
den Werth derfelben gegenüber den Schlüffen der erften Figur 
ganz andre Anflehten faffen, als die überlieferten. So ift z. B. der 
Modus Baroco nach gewöhnlicher Auffaffungsweife einer der 
werthlofeften von allen, weil er nur particular verneinende Schlufs- 
fatze giebt. Und doch ift grade diefe Schlufsform der gewöhn- 
lichfte Weg zum Umfturz leerer Dogmen und eingewurzelter Vor- 
urtheile. Die Aufgabe der Widerlegung irrthümlicher allgemeiner 
Sätze ift aber eine ungemein wichtige. Die Natur des menfch- 
lichen Denkens bringt es mit fich, dafs beftändig durch Affociation 
der Vorftellungen und durch den natürlichen Gang zur Genera- 
lifation allgemeine Sätze in Maffe entftehen, von denen nur fehr 
wenige richtig fmd. Die Irrthümer befeftigen fich durch die Ge- 
wohnheit und muffen endlich mühfam durch entgegenftehende 
Beobachtungen ausgerottet werden, um befferen Vorftellungsver- 
bindungen Platz zu machen. Eine Schlufsweife aber, welche die- 

Lange, liOgiache . Stadien. 6 



82 Die Syllogiftik. 

fem wichtigen Läuterungsproceffe in formaler Hinficht zu Grunde 
li«gt, kann gewifs nicht als werthlos betrachtet werden. 

Gegen die dritte Figur hat Trendelenburg einen heftigen 
Angriff gerichtet (Log. Unterf 3. Aufl. II. S. 353 u. ff.), der aber 
fchlechthin auf die hinlänglich befprochenen Mängel des particula- 
ren Urtheils und feiner Entftehung durch Subaltemation und Um- 
kehrung hinausläuft. Dabei ift auch unbeachtet geblieben, dafs 
diefe Mängel erft durch den Gebrauch des modernen »Einige« zu 
eigentlichen Fehlem werden, während mit dem ariftotelifch-fcho- 
laftifchen »ifeo, ^aliquisv. wenigftens überall die Confequenz ge- 
wahrt bleibt Dafs fich bei einem Modus wie Darapti fehr häufig 
Fälle ergeben muffen, in welchen die materielle Wahrheit ftatt des 
particularen Urtheils ein allgemeines ergiebt, läfst fich von vorn- 
herein annehmen und wenn man mit Beifpielen diefer Art die for- 
male Logik zu erfchüttem glaubt, fo thäte man beffer, den Hebel 
gleich bei der Subaltemation der Urtheile einzufetzen. Hier darf man 
ja nur ftatt des fcholaftifchen aliquiSy welches distributiv zu verftehen 
ift und auf jeden aliquoten Theil bezogen werden kann, das moderne 
»einige« fetzen, zumal mit dem Nebengedanken »nur einige«, fo er- 
hält man lauter Unfinn. Alle Menfchen find fterblich. Einige Men- 
fchen find fterblich. Alle Quadrate haben vier rechte Winkel. — 
Einige (vielleicht gar nur einige!) Quadrate haben vier rechte Winkel. 
Alle Lafter find verabfcheuungswerth — Einige Lafter find verab- 
fcheuungswerth, u. f. w. — Was alfo an diefen Angriffen etwa berech- 
tigt ift, gehört gar nicht hieher, fondern ift gleich zu Anfang bei der 
Lehre vom particularen Urtheil abzumachen. Die Frage nach dem 
Werth der dritten Figur wird alfo dadurch gar nicht berührt Sie kann 
nur darauf gehen, ob es nicht Schlüffe in der Wiffenfchaft und im 
täglichen Leben giebt, welche fich naturgemäfs in diefer Form 
darftellen, und welche dabei einen wefentlichen Zweck erfiillen. 

Hier brauchte man denn nur dem Winke Lamberts zu folgen, 
der die dritte Figur als diejenige der Beifpiele und Ausnahmen 
betrachtet, um alsbald eine fehr ausgedehnte Anwendung derfelben 
wahrzunehmen. Man betrachte nur folgende Beifpiele, denen fich 
ähnliche in Maffe zur Seite ftellen liefsen: »Die Zettelbanken ver- 
folgen ausfchliefslich ihr Privatintereffe. Sie find vom Staate privi- 
legirt. Alfo giebt es Inftitute, welche vom Staate privilegirt fmd, 
die (gleichwohl) ausfchliefslich ihr Privatintereffe verfolgen«. »Die 
Handelskrifen find periodifch. Sie pflegen gleichwohl die Bethei- 



Die SyUogiftik. 83 

ligten zu überrafchen. Alfo giebt es Erfcheinungen, welche die 
Betheiligten überrafchen, wiewohl fie periodifch finda. »Kein 
Meteor flammt aus dem Bereich der Atmofphäre. Alle Meteore 
beliehen aus Stoffen, welche mit terreftrifchen identifch fmd. Es 
giebt alfo Stoffe, welche mit denen der Erde identifch fmd und 
gleichwohl nicht aus dem Bereich der Atmofphäre flammen (fon- 
dem aus dem Weltraum)«. 

Von ganz befonderer Wichtigkeit find aber die pofitiv fchliefsen- 
den Modi der dritten Figur bei der Vorbereitung eines Inductions- 
fchluffes. Man vergleiche z. B. folgende Schlüffe: »Die Erfchei- 
nungen ni, «2, nz ' ' . ftn find regelmäfsig mit dem Blitz verbunden. 
Eben diefelben Erfcheinungen zeigen fich im Kleinen beim elek- 
trifchen Funken. Alfo find viele Eigenfchaften des elektrifchen 
Funkens identifch mit denen des Blitzes«. (Angeflrebter Inductiv- 
fatz: der Blitz ifl ein elektrifcher Funke.) — »In den bituminöfen 
Schiefem von Igomay und Millary finden fich Batrachier vor. 
Diefe Schiefer gehören der paläozoifchen Formation an. Alfo 
kommen in der paläozoifchen Formation Batrachier vor«. (Worauf 
fofort nach Art der inductiven Wiffenfchaften einige andre, bisher 
als zweifelhaft geltende Fälle in demfelben Sinne, wie diefe fiebe- 
ren Beifpiele, gedeutet werden.) — »Viele Nordlichter flehen (nach 
Weyprecht) in unverkennbarem Zufammenhange mit der Witterung. 
Alle Nordlichter find Vorgänge in den höchflen und entfemteflen 
Theilen der Atmofphäre. Es giebt alfo Vorgänge in den 'entfem- 
teflen Theilen der Atmofphäre, welche mit der Witterung im Zu- 
fammenhange flehen«. »Alle Höhlenfunde der Diluvialzeit zeugen 
für einen Zufland grofser Rohheit des Diluvialmenfchen, Einige 
diefer Höhlenfunde enthalten wohlgebildete Schädel. Alfo find 
einige Fundftätten wohlgebildeter Menfchenfchädel zugleich Zeug- 
niffe grofser Rohheit der damaligen Menfchen« (Angeflrebter In- 
ductionsfchlufs : Der Menfch befafs fchon im Zuflande thierifcher 
Wildheit eine — den Affen weit übertreffende — wohlgebildete 
Schädelform). 

Es giebt hier aber auch vollkommen berechtigte und zwin- 
gende Schlüffe, welche man durch räumliche Anfchauung der Be- 
griffsverhältniffe fofort als richtig anerkennt, während die ariflo- 
telifch - fcholaflifche Logik fie für unzuläffig erklären mufs. So 
namentlich der Schlufs aus zwei particularen Prämiffen, der nicht 
immer, aber in einer beflimmten und genau zu bezeichnenden 

6* 



84 I>ie Syllogiftik. 

Gruppe von Fällen möglich ift. Ein Beifpiel fei : »Faft alle Jagd- 
hunde find fehr munter und lebenskräftig. Faft alle Jagdhunde 
find mit einem Bandwurm behaftet Alfo giebt es Thiere, welche 
mit einem Bandwurm behaftet und gleichwohl fehr munter und 
lebenskräftig fmd«. Das »faft alle« mufs nach den Regeln der 
überlieferten Logik fo gut wie »Viele«, »die Meiften«, »Einige« 
als Zeichen eines particularen Urtheils angefehen werden; macht 
alfo den Schlufs unzuläffig. In der Anfchauung an Begriffsfphären 
aber mag man die Sache drehen und wenden, wie man will; man 
wird finden, dafs der Schlufs zwingend und durchaus correct ift. 
Diefe Möglichkeit gleichfam in Diripti zu fchliefsen, beginnt fchon, 
fobald im Ober- und Unterfatz mehr als die Hälfte der Gegen- 
ftände des Subjectbegriffes mit dem Prädicat in Verbindung ge- 
bracht werden. 

Hinfichtlich der vierten Figur muffen wir übrigens dem faft 
allgemeinen Verwerfüngsurtheil zuftimmen, und auch Lamberts 
»Reciprocität« vermag uns nicht von der felbftändigen Bedeutung 
derfelben zu überzeugen. Diefe Reciprocität ift doch bei Lichte 
befehen nichts als das Princip der Umkehrung der Urtheile, und 
weiter leiftet auch die ganze Figur nichts; daher man z. B. in 
Bamalip, wie fchon oben gezeigt wurde, auch auf Grund der Be- 
griffsverhältniffe im Schlufsfatze nicht das eigentliche particulare 
Urtheil mit feinen vier Möglichkeiten erhält, foridem nur jene Ab- 
art, welche aus dor converßo per accidens entfteht Am eheften 
können noch diejenigen Modi Bedeutung in Anfpruch nehmen, 
welche keine Umkehrung des Schlufsfatzes vorausfetzen, alfo Fefapo 
und Frefifon. Ein gut gewähltes Beifpiel für den Schlufs in diefen 
beiden Figuren giebt Ueberweg, Logik, % 117. Man wird fich 
aber vergeblich bemühen, irgend eine wichtigere Function der 
wiffenfchaftlichen Forfchung aufzufinden, welche fich mit Vorliebe 
in diefer Schlufsweife bewegte. Dafs übrigens die Schlufsweife in 
der vierten Figur zuläflig ift, wo fie fich irgend natürlich ergiebt, 
verfteht fich von felbft. 

Mit der Frage nach dem wiffenfchaftlichen Werth der Figuren 
fteht aufs engfte die Behauptung der ariftotelifchen Logik im Zu- 
fammenhange, dafs derjenige Schlufs der voUkommenfte und allein 
dem Ideal des Vernunftfchlufles entfprechende fei, bei welchem 
der Mittelbegriff zugleich den Realgrund enthalte. Wir haben 
hier ein rechtes Stück Piatonismus vor uns. Wenn die oberften 



Die Syllogiftik. ' 85 

und allgemeinften Begriffe und Grundfätze zugleich die ficherften 
find und fich im Abfteigen des Begriffsfyftemes zum Einzelnen 
diefe Sicherheit nur abfchwächen kann, fo mufs jede Behauptung 
in dem Allgemeineren, aus dem fie fich herleiten läfst, ihre natür- 
liche Stütze finden. Beobachtung und Empirie gelten nichte. Die 
Stellung auf der Stufenleiter der Begriffe entfcheidet Alles und es 
kann danach kaum überhaupt einen Realgrund für etwas geben, 
der verfchieden wäre von dem inneren, logifch-metaphyfifchen 
Bande, welches das Begriffsfyftem verbindet und das ganze Syftem 
der Erkenntnifs an die Ideenwelt knüpft. 

Man darf hier von vom herein den fchroffften Gegenfatz in 
der modernen Logik erwarten, welche danach ftrebt. Alles auf den 
feilen Boden der Thatfache zurückzufuhren, von der unbedingt 
fichern einzelnen Wahrnehmung auszugehen und durch Combination 
der Wahrnehmungen zur Erkenntnifs des Allgemeinen, d. h. der 
Gefetze, vorzufchreiten. Ariftoteles blieb hier, wie in fo manchem 
andern Punkte, in der platonifchen Anfchauung (lecken, wiewohl 
er die Anfänge einer befferen Einficht befafs. Dafs feine Lehre 
von der Induction ihn nicht dazu bringen konnte, den Schlüffen 
der dritten Figur eine gröfsere Bedeutung beizulegen, folgt fchon 
aus der untergeordneten Stellung, welche er der Induction über- 
haupt in den Vorhöfen der eigentlichen Wiffenfchaft anwies. 

Ganz aus dem gleichen Grunde konnte Ariftoteles den fo un- 
gemein wichtigen Scjilüffen, bei welchen der Mittelbegriff nicht 
den Grund, fondern nur irgend ein Erkennungszeichen, ein Merk- 
mal, ein Beifpiel u. f. w. enthält, nicht gerecht werden. Und doch 
wird unfre Erkenntnifs mit Ausnahme der wenigen Wiffenfchaften, 
welche ftreng deductiv verfahren können, faft nur durch Schlüffe 
diefer Art erweitert und der gewöhnliche Gang ift der, dafs 
wir zuerft die Thatfache und erft nachher den Grund derfelben 
erfaffen. 

Es ili übrigens nicht ohne Intereffe, auch hier wieder zu fehen, 
wie wenig die ariftotelifche Technik fich um die Metaphyfik be- 
kümmert. Wiewohl Ariftoteles principiell die Metaphyfik über die 
Logik ftellt, fo bleibt doch die letztere von allen den zahlreichen 
Anforderungen der metaphyfifchen Erkenntnifstheorie faft unberührt. 
So fällt es Ariftoteles auch gar nicht ein, die zahlreichen Beifpiele, 
welche er feiner Syllogiftik einfügt, etwa fo zu wählen, dafs* wo 
möglich der Mittelbegriff den Grund enthält Die Schlüffe find Ja 



86 Die Syllogiftik. 

auch in formaler Hinficht perfect, ohne den minderten Einflufs 
jener metaphyfifchen Lehren, und, wie fchon früher hervorgehoben : 
die formale Vollkommenheit fällt am heften in die Augen an mög- 
lichft nichtsfagenden Beifpielen. • 

Uebrigens ift die Forderung, dafs der Mittelbegriff die Urfache 
enthalte, bei den neueren Ariftotelikem, welche die modernen 
Naturwiffenfchaften anerkennen und welche, wie Trendelenburg 
und namentlich Ueberweg, fchon zum Theil auf dem Boden der 
modernen Logik flehen, eine ungleich einfeitigere und verwerf- 
lichere als bei Ariftoteles felbft. Einmal nämlich bringen fie die 
metaphyfifche Forderung in die Technik hinein, während bei 
Ariftoteles die formalen Elemente der Logik unvermittelt und da- 
her unverfälfcht neben den metaphyfifchen ftehn bleiben; fodann 
aber fchiebt fich ihnen der moderne Begriff der Caufalität unter, 
den Ariftoteles gar nicht kannte. 

Für Ariftoteles ift z. B. folgender Syllogismus: »Jedes Thier 
erkennt mit Hülfe fmnlicher Wahrnehmungsbilder. Der Menfch ift 
ein Thier, alfo erkennt er mit Hülfe fmnlicher Wahrnehmungs- 
bilder a ein vollkommen, auch in Beziehung auf den MittelbegrifF 
den Forderungen der Erkenntnifstheorie entfprechender Vemunft- 
•fchlufs. Das »Thier- Sein« des Menfchen ift der vollgenügende 
Grund feines Erkennens durch finnliche Wahrnehmungsbilder. Eine 
blofse Abftraction wird noch mit voller Unbefangenheit zu einem 
wirkenden Gegenftande gemacht, was heutzutage wohl keinem 
gründlichen Denker einfallen würde, Diefe Abfb-action ift aber 
freilich ein Glied in dem grofsen, vom Allgemeinen zum Befondern 
niederfteigenden Begriffsfyfteme, und als folche vermag fie nicht 
nur die Urfache im engeren Sinne, fondern auch Wefen, Bedingung 
und Zweck auszudrücken, die ja mit der bewegenden Urfache zu- 
sammen die vier metaphyfifchen Urfachen bilden. 

Es hätte daher auch keines grofsen Streites darüber bedurft, 
ob Ariftoteles in feinem bekannten Ausfpruche to vh faq Smov lo 
(Aiaov die Urfache habe auf den Mittelbegriff oder den MittelbegrifF 
auf die Urfache zurückführen wollen.*) »Formala ift der Mittel- 



•) Vgl. die ausführliche Polemik Ueberwegs gegen Drobifch, Logik, ? loi. 
Die beiden feindlichen Stichwörter : Ariftoteles wolle »das Reale auf ein Formales 
zurückfuhren« oder vielmehr er wolle »das Formale durch die Beziehung auf das 
Reale vertiefen« find gewife beide nicht ariftotelifch. Sobald Ariftoteles im Fahr- 



Dk Syllogiftik, 87 

begriff nur für die logifche Technik j in der Metaphyfik ift er von 
vorn herein mit Leben und metaphyfifchem Inhalt begabt. Dafür 
mufs es aber auch der richtige und richtig geftellte Mittelbegriff 
fein, der im Ober- und Unterfatz kategorifche Urtheile ergiebt und 
fich fo zugleich als metaphyfifches Zwifchenglied in der grofsen 
Stufenreihe des Begriffsfyftems darfteilt. In diefem Sinne ift die 
Forderung, dafs der Mittelbegriff die Urfache enthalte, bei Arifto- 
teles nichts Anderes, als die Forderung eines ftreng deductiven 
Verfahrens überhaupt, welches uns ja ftets das diou kennen lehrt, 
während die Induction nur zu ort, zur Thatfache, führt. Sehr klar 
tritt diefe Lehre hervor an der Stelle Anal. poft. I. c. 13, wo unter 
Anderm das koftbare Beifpiel von der Kugelgeftalt des Mondes 
vorkommt Es war gewifs einer der gröfsten Triumphe der alten 
Naturwiffenfchaft, durch die Combination mathematifcher Kennt- 
niffe mit einem einfachen Schluffe die Kugelgeftalt des Mondes 
aus der Form der Lichtftreifen nachzuweifen, welche dem beleuch- 
teten Theile in gewiffen Zeitabfchnitten zuwachfen. Die Ent- 
deckung mufste in einer Schlufsform ausgefprochen werden, bei 
welcher diefe Zuwachsftreifen den Mittelbegriff bilden. . Ariftoteles 
aber ftellt, ohne diefe naturwiffenfchaftliche Bedeutung des Schluffes 
auch nur zu erwähnen, ihm ganz ruhig den vollkommeneren Schlufs 
entgegen, bei welchem die Kugelgeftalt des Mondes einfach vor- 
ausgefetzt wird: »Ein kugelförmiger Körper hat diefe Art von 
Lichtzuwachs. Der Mond ift kugelförmig. Alfo hat er diefe Art 
von Lichtzuwachs. « Jetzt enthält freilich der Mittelbegriff den 
Grund, aber diefe Schlufsweife hat in der Gefchichte der Wiffen- 
fchaften keine Rolle gefpielt 

Gegenwärtig können wir eine reiche Entwicklung der pofitiven 
Wiffenfchaften überblicken und den logifchen Faden ihres Fort- 
fchritts auffuchen. Fragt man nun aber, durch welche Art von 
Schlüffen die Wiffenfchaft am meiften gefördert worden ift, fo wird 
die Antwort fchwerlich zu Gunften jenes Mufterfchluffes ausfallen. 
Der Philologe fchliefst z. B. auf das Alter einer Handfchrift aus 
der Buchftabenform, d. h. von der Wirkung auf die Urfache, und 
nicht umgekehrt; der Naturforfcher auf das Zufammenleben des 

waffer feiner Metaphyfik ift, kümmert er fich um die dürre Technik gar nicht mehr 
und verfahrt mit ihren Beftandtheilen rein willkürlich. Metaphyfifch aber ift der 
Mittelbegriff von vom herein fchon als folcher etwas Reales : die Zwifchenftufe im 
lebendigen Begriffsfyftem zwifchen Subject und Prädicat. 



88 I>ie Syllogiftik. 

Menfchen und des Höhlenbären aus dem gemeinfamen geologifchen 
Vorkommen ihrer Knochen, oder auf den Luftdruck aus der Wir- 
kung deffelben auf das Barometer; der Mediziner aus den Sym- 
ptomen auf die Krankheit, aus feftgeftellten Wirkungen auf die 
Natur eines Heilmittels. Man wende nicht ein, dafs dies Inductions- 
fchlüffe feien, die nicht hieher gehören! zunächft wäre damit noch 
mehr zugegeben, als wir behaupten; der Inductionsfchlufs ift doch 
auch ein Schlufs, und zwar nach der ariftotelifchen Rangordnung 
einer der unvoUkommenften, die man fich denken kann und jeden- 
falls nicht ein Schlufs aus dem Realgrund als Mittelbegriff. Es 
läfst fich aber ein grofser Theil jener Schlüffe in der That, unbe- 
fchadet ihrer inductiven Tendenz, auf einen Syllogismus der erften 
Figur bringen, bei welchem niemals die Urfache Mittelbegriff ifl 
Dies ift aber auch ganz natürlich, da es fich ja in den pofitiven 
Wiffenfchaften in der Regel erft um Entdeckung des Caufal- 
zufammenhangs handelt. So läfst fleh z. B. der Schlufs Franklins, 
welcher zur Erfindung des Blitzableiters Veranlaflung gab, auf fol- 
genden Syllogismus bringen: »Gleichartige Wirkungen haben gleich- 
artige Urfachen. Blitz und elektrifcher Funke haben gleichartige 
Wirkungen. Alfo haben Blitz und elektrifcher Funke eine gleich- 
artige Urfache. Der Unterfatz mufste durch einen Inductionsfchlufs 
gewonnen werden; der Oberfatz wird als Axiom angenommen. 
Der Schlufsfatz fuhrt weiter zu dem Schlüffe, dafs der Blitz fich 
nur quantitativ von einem elektrifchen Funken unterfcheidet. Der 
Mittelbegriff des angeführten Syllogismus enthält nicht den Real- 
grund, warum Blitz und elektrifcher Funke eine gleichartige Ur- 
fache haben ; vielmehr wird durch einen Erkenntnifsgrund a pofteriori 
das ariftotelifche Prius, der Grund, erft erkannt So machte Volta 
den Schlufs : »Wenn verfchiedne Metalle mit einander in Berührung 
kommen, entfteht eine elektrifche Entladung. Die von Galvani 
beobachtete Zuckung des Frofchfchenkels wird bedingt durch 
gleichzeitige Berührung zweier Metalle; alfo findet bei jeder folchen 
Zuckung eine elektrifche Entladung ftatt« An dies Refultat des 
Syllogismus fchliefst fich alsdann unmittelbar der nur inductiv zu 
erreichende Satz, dafs die elektrifche Entladung Urfache der 
Zuckung ift und alfo auch umgekehrt jede folche Entladung in 
Folge der Berührung zweier Metalle im Frofchfchenkel, wenn fie 
demfelben zugeleitet wird, eine Zuckung hervorrufen mufs. — Der 
Schlufs Newton's, welchem wir das allgemeine Gravitationsgefetz 



Die Syllogiftik. 89 

verdanken, läfst fich auf folgenden Syllogismus bringen: »Eine 
Bewegung, welche genau dem Fallgefetz entfpricht, mu(s auf eine 
Kraft zurückgeführt werden, welche mit der terreftrifchen Schwer- 
kraft identifch ifti Die Bewegung des Mondes entfpricht genau 
dem Fallgefetz ; alfo mufs fie auf eine mit der terreftrifchen Schwer- 
kraft identifche Urfache zurückgeführt werden.« Die Erweiterung 
des Schlufsfatzes auf die übrigen Himmelskörper ergab fich fodann 
leicht oder war vielmehr * in dem Beifpiel des Mondes fchon 
antecipirt In beiden Fällen enthält der Mittelbegriflf den Erkennt- 
nifsgrund, aber nicht den Realgrund für die Statthaftigkeit des 
Schlufsfatzes; was das erftere betrifft, fo ift vielleicht nicht über- 
flüfTig zu erinnern, dafs nicht deshalb bei jeder galvanifchen 
Zuckung eine elektrifche Entladung flattfindet, weil fich die beiden 
Metalle berühren, fondem umgekehrt deshalb die Berührung der 
Metalle Zuckung hervorruft, weil diefelbe mit einer elektrifchen 
Entladung verbunden ift. 

Ein flüchtiger Blick auf die Gefchichte der WifTenfchaften 
zeigt, dafs es leicht wäre, folche Beifpiele maffenweife vorzubrin- 
gen, und für die wichtigften Errungenfchaften des menfchlichen 
Denkens. Dagegen wird es weit fchwieriger fein, Beifpiele zu fin- 
den, in welchen der Mittelbegriff den Realgrund enthält und welche 
dabei von dem Vorwurfe frei find, den man der ganzen Syllogiflik 
gemacht hat, dafs im Grunde nur etwas erfchloffen werde, was 
man vorher fchon wufste. Das gut gewählte Beifpiel bei Ueber- 
weg, Logik 3. Aufl. S. 262, § loi : »Was das Pendel verlängert, 
verlangfamt den Gang deffelben; Wärme verlängert das Pendel, 
alfo verlangfamt fie feinen Gang« entgeht diefem Vorwurf, weil 
der Oberfatz aus der Rechnung abgeleitet werden kann und alfo 
nicht nothwendig fchon ohne Vermittlung des Unterfatzes den 
Schlufsfatz als Specialfall in fich enthält Es foU auch nicht ge- 
leugnet werden, dafs Schlüffe diefer Art fowohl in der Wiffenfchaft 
als auch namentlich in der praktifchen Anwendung wiffenfchaft- 
licher S^tze eine bedeutende Rolle fpielen, allein diefe ift doch 
immer auf einzelne untergeordnete Erweiterungen unfrer Kenntniffe 
befchränkt, während diejenigen Schlüffe, welche uns durch Vermitt- 
lung eines blofsen Zufammentreffens erft auf die Entdeckung eines 
Caufalzufammenhangs führen, mit den eigentlichen Inductions- 
fchlüffen zufammen uns überall die Grundlagen liefern, auf denen 
die weitere Erkenntnifs aufgebaut wird. 



90 Die Syllogiftik. 

Die hypothetifch - deductiven Schlufsreihen liefern uns zwar 
auch, falls der Ausgangspunkt derfelben fchliefslich durch die Er- 
fahrung beftätigt wird, eine Erweiterung unfrer Einficht in den 
urfachlichen Zufammenhang der Dinge, allein einen blofs hypothe- 
tifch angenommenen Realgrund kann man fchwerlich als wirklichen i 
Realgrund im Sinne der »objectiviftifchen« Logik gelten laffen und 
da die ganze Theorie fchliefslich doch nur durch die Erfahrung 
fo viel Geltung erhält, dafs wir fie als objectiv richtig anfehen, fo 
ift der wahre Schlufs, durch welchen erft eine Uebereinftimmung 
des Gedachten mit der Wirklichkeit erfchloffen wird, .in allen fol- 
chen Fällen im Grunde nur folgender: »Eine formal confequente 
Theorie kann als objectiv richtig betrachtet werden, wenn fie von 
der Erfahrung beftätigt wird. Die Theorie, dafs u. f. w., wird von 
der Erfahrung beftätigt ; alfo kann fie als objectiv richtig betrachtet 
werden.« Die Beftätigung durch die Erfahrung ift aber gewifs 
nicht der Realgrund der Richtigkeit einer Theorie. 

Mathematifche SchlüflTe müfsten wohl, als vorzüglich voll- 
kommene Schlüffe, lammtlich durch den Realgrund erfolgen, wenn 
diefe Schlufsweife die allein wahrhaft wiflenfchaftliche wäre. Es 
ift aber nichts weniger der Fall als dies. Zunächft kann man die 
zahlreichen, oft ganzen Reihen von Folgerungen zu Grunde liegen- 
den Schlüffe apagogifcher Art ausfondem, welche fämmtlich 
andrer Natur find, denn einen negativen Realgrund kann es nicht 
geben; fodann alle diejenigen, welche fich auf eine Hülfscon- 
ftruction ftützen; denn es kann ja z. B. nicht der innere Grund 
dafür, dafs das Quadrat der Hypotenufe gleich der Summe der 
Quadrate der beiden Katheten ift, darin liegen, dafs bei Anwen- 
dung irgend einer der zahlreichen Hülfsconftructionen an den zer- 
fchnittenen Theilen diefer Quadrate die Richtigkeit der Behauptung 
fich nachweifen läfst 

Genau genommen kann es freilich in der reinen, Mathematik 
gar keinen Realgrund geben, weil es fich überall nur um Verhält- 
niffe unfrer Anfchauung handelt. Man kann jedoch im Si^ne unfrer 
logifchen Frage dasjenige Verhältnifs als Realgrund anfehen, aus 
welchem die andern, damit unzertrennbar zufammenhängenden, 
hervorgehen; fo z. B. beim Kreife die Eigenfchaft, dafs fämmt- 
liche Punkte der Peripherie vom Mittelpunkte gleich weit ent- 
fernt find. Aber auch fo wird man darauf gelangen, dafs auf- 
fallend viele Schlüffe, ja die Grundlegung ganzer Disciplinen, 



Die Syllogiaik. 9^ 

auf einer Schlufsweife beruhen, welche diefer Bedingung nicht ent- 
fpricht 

In Ueberwegs ausführlicher Deduction des ii. Euklidifchen 
Axioms (Logik, 3. Aufl. S. 305 u. ff. S iio) kann man z. B. 
den dritten Schlufs als einen Schlufs aus dem Grunde gelten laffen: 
»Gleiche Gröfsen können für einander fubftituirt werden. Die Win- 
kel TT G^ i7 und D H F find gleiche Gröfsen ; alfo können fie für 
einander fubftituirt werden.« Zwar ift »Gleichheita durchaus nichts 
in den Dingen. Es ift ein Verhältnifsbegriff unfrer Anfchauung, 
aber ein fundamentaler, aus welchem die Möglichkeit der vorzu- 
nehmenden Operation abzuleiten ift. Ganz anders verhält es fich 
aber mit dem Axiom, dafs zwei Gröfsen, welche einer Dritten 
gleich find, auch einander gleich fein muffen. Diefer Grundfatz, 
welchem Ueberweg im zehnten Schlufs den Mittelbegriff entnimmt, 
ift trotz feiner axiomatifchen Natur blofs ein Erkennungsmittel der 
Gleichheit zweier Gröfsen durch eine Operation in der Anfchauung, 
zu welcher uns zufällig eine dritte Gröfse dienen kann. Der innere 
Grund der Gleichheit der beiden erfteren kann aber unmöglich in 
diefer Beziehung zu einer dritten liegen. In Schlufs 14 gehört 
wenigftens das negative Merkmal zweier graden Linien, dafs fie 
nicht in ihrer ganzen Ausdehnung zufammenfallen, nicht dem 
Grunde an. In Schlufs 15 ift das apagogifche Verfahren ange- 
wandt; u. f. w, — 

In der Begründung der Differenzialrechnung wird mit 
graden Linien operirt, um die Eigenfchaften einer Curve zu be- 
ftimmen. Diefe Linien find ein Hülfsmittel unfrer Anfchauung, ein 
Erkennungszeichen, aber fie enthalten nicht den Grund, warum die 
Curve fich an einem gegebenen Punkte in beftimmter Richtung 

fortbewegt. Wenn man das bekannte Verhältnifs — ^ fich einem 

Grenzwerthe nähern läfst, indem die endliche Differenz in das 
Differenzial übergeht, fo kann man mit Recht behaupten, dafs der 
Differenzialquotient einen beftimmten Werth hat, aber diefer Werth 
ift indirect ermittelt, während er doch ohne Zweifel feinen Grund 
unmittelbar in der Befchaffenheit der Curve, oder in dem Verhält- 
niffe der Functionsänderung zum Zuwachs der Veränderlichen hat 
Wir fehen alfo, wie die ariftotelifche Erkenntnifslehre überall 
die Wichtigkeit der indirecten Erfaffung der Wahrheit verkennt 
Und doch ift diefe das grofse Mittel, durch welche wir unfre heu- 



92 Die SyUogUlik. 

tigen Wiffenfchaften gewonnen haben. Es ift daher kein Zufall, 
dafs faft alle grofsen Erfinder und Entdecker aus der Zeit der 
Begründung der modernen Wiffenfchaften fich ihres Gegenfatzes 
gegen Ariftoteles und die Scholaftik wohl bewufst waren. Diefer 
Gegenfatz dauert heutzutage noch fort und er verräth fich befon- 
ders in der Behandlung der Logik. Die Grundfätze der modernen 
Logik, welche mit dem Entwicklungsgange der pofitiven Wiffen- 
fchaften im Einklänge fleht, find überall eingedrungen, aber noch 
nirgend recht durchgedrungen. Die höheren Gebiete werden von 
Mathematikern und Naturforfchem, fowie von Statiftikem bearbeitet, 
welche fich meift wenig um den Zufammenhang ihrer Sätze mit 
den Elementen der Logik bekümmern. Es fehlt alfo das Band 
der Einheit zwifchen den wichtigften Gebieten der Methodologie 
und der logifchen Grundlagen aller Methoden. Wir werden im 
folgenden Abfchnitte verfuchen, dies Band herzuftellen. Für jetzt 
haben wir noch einige Bemerkungen zu machen über das Ver- 
hältnifs der Thatfache zur demonftrirten Nothwendigkeit und 
über die Modalität in der Syllogiftik. 

Wir haben fchon oben im zweiten Capitel gefehen^ dafs alle 
Nothwendigkeit nur eine bedingte ift (S. 41) und dafs das apodik- 
tifche Urtheil keineswegs eine höhere Gewifsheit ausdrückt als das 
affertorifche. Nichts kann gewiffer fein, als die einfache Thatfache, 
das Ergebnifs unmittelbarer Wahrnehmung. Für die Syllogiftik ift 
alfo die überlieferte Anwendung der Regel ^conclußo Jeqtdiur 
partem debilioremv. auf Schlüffe aus ürtheilen verfchiedner Moda- 
lität gänzlich zu verwerfen (S. 54). 

Man darf diefen Punkt nicht zu leicht nehmen. Auch hier 
fcbeiden fich zwei Weltanfchauungen, von denen die eine das 
menfchliche Denken in der Stufe der Kindheit beherrfcht hat, 
während die andre dem gereiften, zu ächter wiffenfchaftlicher Ein- 
ficht befähigten Denken zukommt. Die ganze ariftotelifch-fcho- 
laftifche Weltanfchauung beruht auf dem unbedingten Uebergewicht 
des AoT* über das on. So gerechtfertigt dies Uebergewicht fein 
würde, wenn wir überall der oberften Principien und des Grundes 
der Erfcheinungen völlig. gewife wären, fo hinfällig wird es, wenn 
wir fehen, wie das dLoxi, nur ein Spiel der Dialektik ift, wie die 
vermeintliche Deduction aus unbedingt gewiffen Principien nur zu 
willkürlichen Conftructionen und unhaltbaren metaphyfifchen Syfte- 
4aaen führt Aber felbft da, wo die Deduction aus allgemeinen 



Die Syllogiftik. 93 

Principien ihre höchfte wiffenfchaftliche Berechtigung hat, vermag 
fie nicht völlig den Nachweis der Thatfache zu erfetzen. Wir er- 
innern an das bekannte Beifpiel der. Entdeckung des Neptun. 
Nirgend ift die Deduction aus den einmal angenommenen Principien 
wohl ficherer, als in der Aftronomie. Gleichwohl würden die Rech- 
nungen Leverriers verhältnifsmäfsig geringe Bedeutung gehabt ha- 
ben, wenn man nicht gleich darauf den Neptun wirklich gefunden 
hätte. Die Beftätigung der Nothwendigkeit durch die Wirklichkeit 
war es, was die wiffenfchaftliche Welt in Bewegung fetzte. 

In der Syllogiftik hat die vermeintliche höhere Gewifsheit des 
Apodiktifchen gegenüber dem Affertorifchen zu einer Gedanken- 
lofigkeit fonder Gleichen geführt. Während Ariftoteles noch aus 
einem apodiktifchen Oberfatze und einem affertorifchen Unterfatze 
ganz richtig einen apodiktifchen Schlufsfatz hervorgehen läfst, 
wandten Theophraft und Eudemus, von dem Beftreben geleitet, 
die formale Logik nach allen Seiten abzurunden und confequent 
zu machen, auch hier die Regel an, conclußo Jequitur partem 
debiliorem^ und diefer Unfinn hat fich bis in die neuefte Zeit hinein 
forterhalten. Hier hätte fchon der gefunde Menfchenverftand Ein- 
fprache erheben und zu erneuter Unterfuchung veranlaffen muffen, 
da Schlüffe diefer Art im täglichen Leben wie in den Wiffen- 
fchaften ungemein häufig find. Man betrachte folgende, leicht 
aufgegriffene Beifpiele! 

»Ein regelmäfsig wiederkehrender Komet mufs eine elliptifche 
Bahn verfolgen. Der Enke'fche Komet ift ein regelmäfsig wieder- 
kehrender. Alfo mufs er eine elliptifche Bahn verfolgen.« 

»Ein rotirender Körper, welcher nicht abfolut ftarr ift und von 
einem andern angezogen wird , mufs nothwendig früher oder fpäter 
feine Umdrehungsbewegung verlieren. Die Erde ift ein folcher 
Körper; alfo mufs fie«, u. f. w. — 

»Waffer in communicirenden Röhren fteht nothwendig gleich 
hoch. Das Grundwaffer der Flufsthäler ift Waffer in communiciren- 
den Röhren. Alfo fteht es nothwendig überall gleich hoch.« 

»Ein in fich zerrütteter Staat mufs nothwendig früher oder 
fpäter äufseren Feinden erliegen. Polen war ein folcher Staat. 
Alfo mufste es«, u. f. w. - — 

»Erleichtenmg des Credits hebt nothwendig die Gewerbthätig- 
keit Gut geleitete Banken erleichtem den Credit Alfo muffen 
fie auch die Gewerbthätigkeit heben.« 



94 Die Syllogiftik. 

»Wer wohlfeiler verkauft als er einkauft, mufs Verlud erleiden. 
N N thut dies; alfo mufs er auch Verluft erleiden«. 

»Maffenvertilgung der Maikäfer mufs nothwendig auch eine 
Verminderung der Engerlinge herbeiführen. Die Mafsregeln der 
Regierung bringen eine Maffenvertilgung der Maikäfer hervor ; alfo 
muffen <ie auch« u. f. w. 

Befonders charakteriftifch ift, dafs der fonft fo behutfame 
Ueberweg, der fich in diefem Punkte noch arglos für Theophraft 
und Eudem entfcheidet, felbft in feiner Logik die durchaus richtige 
Schlufsweife anwendet. In feiner fchon oben erwähnten Deduction 
des II. Euklid'fchen Axioms hat der 6. Syllogismus folgenden 
Gang: »Zwei ungleiche Winkel. . . . muffen, u. f. w. Die Winkel 
BGH und KG ff find zwei Winkel diefer Art. Alfo muffen fie, 
u. f. w. — Die gleiche Schliefsweife wiederholt fich im 12. Syllo- 
gismus, fowie im 13. und 14. (wo die apodiktifche Bedeutung des 
Ausdrucks »kann nur« klar genug ift). — 

Man fleht übrigens auch leicht, dafs gerade in den mathe- 
matifchen Beifpielen die Berechtigung des apodiktifchen Schlufs- 
fatzes befonders evident ift. Es kommt Alles darauf an, dafs die 
apodiktifche Prämiffe auch wirklich Nothwendigkeit, die affertorifche 
thatfächliche Wirklichkeit ausdrücke. Ift das »Muffen« oder die 
»Nothwendigkeit«, wie es fo oft vorkommt, Ausdruck eines unvoll- 
kommenen Beweifes, wo nicht gar blofser Vermuthung, fo verlangt 
natürlich die Strenge des logifchen Verfahrens erft recht, dafs die- 
fer Ausdruck auf den Schlufsfatz übergehe. Die Bedingtheit des 
»Nothwendigen« kann, wenn man fich an den Sprachgebrauch und 
das alltägliche Denken hält, durch alle möglichen Zwifchenftufen 
bis zum Ausdruck der Ungewifsheit herabßnken. Grade in folchen 
Beifpielen begnügt fich aber das alltägliche Denken, welches ftets 
auf Abkürzung gerichtet ift und die Genauigkeit gern dafür fahren 
läfst, fehr häufig mit der affertorifchen Form des Schlufsfatzes, die 
dann im Grunde nicht für die apodiktifche, fondem für die proble- 
matifche fteht Die exacte Logik kann hierin nur einen neuen 
Antrieb finden, fich von der Sprachform zu befreien; denn wie 
fehr auch die letztere fich dem natürlichen und gewöhnlichen Den- 
ken anfchmiegt, fo ift es doch nicht Sache der Logik diefer Na- 
türlichkeit zu huldigen, fondem vielmehr zu fcheiden und klar zu 
ftellen, was wirklich logifch ift in den Gebilden der Sprache und 
was nicht. 



Die Syllogiftik. 95 

Eigenthümlich geftaltet fich die Sache, wenn die apodiktifche 
Prämiffe den Unterfatz bildet. Hier liefs Ariftoteles den Schlufs- 
fatz affertorifch werden, worin fich fein forgfältiges aber rein em- 
pirifches Verfahren verräth. Auch für uns werden die meiften 
ohne befondre Auswahl aufgegriffenen Beifpiele hier auf einen 
Schlufsfatz in affertorifcher Form führen, während doch das Princip 
zu verlangen fcheint, dafs jeder Ausdruck des Apodiktifchen wie 
des Problematifchen, welcher fich in den Prämiffen findet, auch 
auf den Schlufsfatz übergehe. 

Die Sache wird klar, wenn wir den Unterfchied von Ober- 
und Unterfatz bei den Subfumtionsfchlüflen, die wir hier zunächft 
in's Auge fallen, genau feftftellen. Der Oberfatz giebt die Regel; 
der Unterfatz die Thatfache, welche unter die Regel gebracht 
wird. Ift nun die Regel zwingend und die Thatfache wirklich 
unter diefelbe gehörend, fo ergiebt fich mit Leichtigkeit, dafs die- 
fer Zwang im Schlufsfatz feinen Ausdruck finden mufs. Die Be- 
dingtheit des Zwanges findet damit ebenfalls ihren Ausdruck. Hat 
nun aber der Oberfatz aflertorifche Form, während der Unterfatz 
apodiktifch ift, fo bezieh? fich der Zwang diefer Apodikticität gar 
nicht auf den eigentlichen Inhalt des Schlufsfatzes, fondern nur 
auf das Recht ihn zu bilden. Vernachläffigt man dies, fo kann 
dadurch ein ganz falfcher Schlufs entftehen, wenn man verfuchen 
will, den Ausdruck des Apodiktifchen in den Schlufsfatz überzu- 
führen. So namentlich bei blofs inductiv geltendem Oberfatze. 
Man könnte z. B. fchliefsen: »Alle Wirbelthiere befitzen ein vom 
Rückenmark gefondertes Gehirn. Der Amphioxus gehört erwie- 
fenermafsen zu den Wirbelthieren ; alfo befitzt er auch erwiefener- 
mafsen ein vom Rückenmark gefondertes Gehirn.« In diefem Falle 
ift der Schlufsfatz materiell falfch ; allein auch wenn er richtig wäre, 
dürfte nicht behauptet werden, dafs er erwiefen fei; weil eben der 
Oberfatz nicht als Ausdruck unzweifelhafter Wirklichkeit angefehen 
werden darf. Man kann folche inductiv gewonnenen Sätze als 
affertorifch gelten laffen, wie man ihren Inhalt als berechtigt gel- 
ten läfst; nämlich gleichfam proviforifch, in Anbetracht der Kürze 
des menfchlichen Lebens und der unabweisbaren Nothwendigkeit, 
fich gewöhnlich in unvollkommenen Denkformen zu bewegen. So- 
bald aber die Schärfe der Logik herausgefordert wird, kann fie 
folche Oberfatze nicht mehr als wirklich affertorifch gelten lafien. 

Ift der Oberfatz ein deducirter Satz, bei welchem jedoch der 



96 Die SyUogiftik. 

Ausdruck der Nothwendigkeit weggelaffen wurde, fo fchliefst fich 
der Unterfatz an diefe Deduction an, und wenigftens in dem Falle 
dafs die Art des Beweifes diefelbe ift, folgt im Schlufsfatz ein 
Nothwendigkeitsurtheil, einerlei ob man die Nothwendigkeit befon- 
ders hervorhebt oder nicht. Als Beifpiel diene: »Weltkörper ohne 
Atmofphäre haben kein organifches Leben. Der Mond ift, Wie 
man beweifen kann, ein Weltkörper ohne Atmofphäre. Alfo kann 
man auch beweifen, dafs er kein organifches Leben hat« So auch, 
wenn der Oberfatz axiomatifch ift: »Zwei Gröfsen, welche einer 
dritten gleich find, fmd auch unter fich gleich. Die Winkel « und 
ß müflen beide dem Winkel t' gleich fein. Alfo müflen fie auch 
unter fich gleich fein.« Ebenfo fteht es in den verhältnifsmäfsig 
feltenen Fällen, in welchen der Oberfatz eine unmittelbar wahr- 
genommene Thatfache enthält Z. B.: »Der Rhein treibt mit Eis. 
Das Waffer, welches wir dort fehen, mufs noth wendig der Rhein 
fein. Alfo mufs daffelbe mit Eis treiben.« »Der Congo mündet 
auf der Weftküfte Südafrikas. Livingftones »Luababa« mufs noth- 
wendig der (obere) Congo fein. Alfo mufs derfelbe an der Weft- 
küfte Südafrika's münden.« 

Unrichtig wäre dagegen folgender Schlufs: »Wer geftohlen 
hat, wird mit Zuchthaus beftraft. Es ift bewiefen, dafs N ge- 
ftohlen hat Alfo ift auch bewiefen, dafs er mit Zuchthaus beftraft 
wird.« Der Oberfatz kann hier als Rechtsregel ausnahmslofe Gel- 
tung beanfpruchen ; aber nicht als Ausdruck der Thatfache. Der 
Thäter kann z. B. entfliehen oder fterben, bevor er beftraft wird. 
Der Beweis kann fich daher über die Sphäre des Oberfatzes nicht 
mit erftrecken. Will man fich im Schlufsfatze mit der gleichen 
Art von Genauigkeit ausdrücken, fo kann man allerdings ohne er- 
heblichen Verftofs fagen: »Alfo wird iV mit Zuchthaus beftraft.« 
Dies gilt zumal dann, wenn es eine ausgemachte Sache ift, dafs 
der objective Beweis zur Beftrafung genügt Immerhin geht dabei 
ein Theil der Wahrheit verloren und voUftändiger würde der Schlufs- 
fatz lauten : »Alfo wird N auf Grund eines Beweifes mit Zuchthaus 
beftraft« Ebenfo geht ein Theil des Inhaltes verloren, wenn man 
aus zwei Prämiffen der Nothwendigkeit fchliefst : M mufs P fein ; 
5 mufs M fein ; alfo mufs auch 5 — P fein. Die vollftändige 
Folge würde lauten: alfo mufs auch 5 nothwendig P fein. Die 
beiden Ausdrücke der Nothwendigkeit befagen nicht daffelbe ; der 
eine geht auf die Nothwendigkeit der Behauptung und ftammt 



Die Syllogiftik. 97 

aus dem Unterfatz ; der andre trifft die Nothwendigkeit des In- 
haltes der Behauptung und ftammt aus dem Oberfatze. Die Weg- 
laffung des einen ift fchlechthin conventionell und kann das Princip 
nicht ftürzen, dafs jeder Ausdruck der Modalität, welcher in einer 
der beiden Prämiffen vorkommt, auch auf den Schlufsfatz über- 
gehen follte. 

Bei der Möglichkeit ftimmt diefe Forderung im Refultate, 
wenn auch nicht in der Begründung, überein mit der fcholaftifchen 
Regel conclufio Jeqüitur partem debiliorem ; fo lange nämlich die 
zweite Prämiffe ein affertorifches Urtheil ift. Ift diefelbe ein Noth- 
wendigkeitsurtheil^ fo greift in erfter Linie wieder die Regel Platz, 
dafs fowohl der Ausdruck des Problematifchen als auch derjenige 
des Apodiktifchen in den Schlufsfatz übergehen muffen. So in 
folgenden Beifpielen: »Ein Weltkörper, deffen Bahn die Erdbahn 
kreuzt, kann mit der Erde zufammenftofsen. Es ift erwiefen, dafs 
die Bahn des Biala'fchen Kometen die Erdbahn kreuzt. Alfo ift 
erwiefen, dafs der BialaTche Komet mit der Erde zufammenftofsen 
kann.« »Ein chemifch-phyfikalifches Gefetz, welches nur fchein- 
bare und durch befondre Umftände zu erklärende Ausnahmen zu- 
läfst, ift nothwendig in der Natur der Materie begründet. Das 
Gefetz von Dulong und Petit ift vielleicht ein folches. Alfo ift es 
auch vielleicht ein nothwendiger Ausflufs der Eigenfchaften der 
Materie, a 

. Ariftoteles, in deffen Syftem eine folche Verbindung von Mög- 
lichkeit und Nothwendigkeit nicht paffen will, nähert fich hier 
fchon der von feinen Nachfolgern aufgeftellten Regel. Er fchliefst 
z. B.: Alle M und nothwendig F; alle 5 können J/fein; alfo kön- 
nen alle »S — P fein.« Dabei fällt ein Ausdruck der Nothwendig- 
keit weg. VoUftändiger würde der Schlufs lauten: »Alfo ift es 
möglich, dafs alle 5 nothwendig P fmd.« — Durch feine Auf- 
faffung der Möglichkeit als einer Eigenfchaft der Dinge kommt 
Ariftoteles zu einigen Schlüffen, welche von feinem Standpunkt 
aus ganz richtig fmd, während fie nicht nur von feinen ftrengen 
formaliftifchen Nachfolgern verworfen wurden, fondem auch aus 
der modernen Logik unbedingt entfernt werden muffen. So fchliefst 
er z. B. (vgl. Prantl I, 288 u. ff.): »Noth wendigerweife ift kein 
B—A. Möglicherweife ift alles C — B. Alfo (affertorifch) ift 
kein C — A,a Die Richtigkeit diefes Schluffes kann allerdings nur 
apagogifch bewiefen werden. Er folgt nicht unmittelbar aus den 

Lange, Logische Studien. 7 



98 Die Syllogiftik. 

PrämifTen, fondern fetzt den Hülfsfatz voraus, dafs Möglichkeit 
und Nothwendigkeit des Gegentheils in den Dingen fich ausfchliefen. 
Ariftoteles fchliefst. fo: Gefetzt irgend ein C fei A, Dann wird 
diefer Satz combinirt mit dem umgekehrten Oberfatz: Nothwen- 
digerweife ift kein A — B, Nun ift A Mittelbegriff und man 
fchliefst (nach Ferio) : Nothwendiger Weife ift: einiges C nicht B. 
Dies aber widerfpricht der Behauptung, dafs alles C — B fein 
kann ; alfo ift das contradictorifche Gegentheil der gemachten Vor- 
ausfetzung richtig und kein C ift A, Diefer Schlufä wird unmög- 
lich, fobaldder Möglichkeitsbegriff flreng formal und fubjectiv 
gefafst wird. Vielleicht ifl alles C — B\ vielleicht aber auch nicht; 
vielleicht gar keines, vielleicht fogar nothwendig keines. 



• V. 

Das disjunctive IJrtheil and die Blemente der 
Wahrscheinlichkeitslehre. 



Wir haben gefehen, dafs es eine befondre Syllogiftik der Mo- 
dalität nicht geben kann, dafs vielmehr jeder Ausdruck der Mo- 
dalität, wie fchon Lorenzo Valla und Vives erkannten, fchlechthin 
wie ein andrer adverbialer Ausdruck zu behandeln ift; die Re- 
ductionen vorbehalten, welche die Bequemlichkeit der Sprache auf 
Koften der logifchen Genauigkeit vorzunehmen pflegt. — Auch 
das hypothetifche Urtheil bringt keine neuen Formen der lo- 
gifchen Technik mit fleh. Es ftimmt, wie namentlich Herbart ge- 
zeigt hat, in allen wefentlichen Punkten mit dem kategorifchen 
überein, und die hypothetifchen Schlüffe können an denfelben 
Raumbildern veranfchaulicht werden, wie die entfprechenden kate- 
gorifchen. Diefes Verhältnifs ifl von den neueren Logikern, ins- 
befondre auch von Drobifch und Ueberweg fo klar dargeftellt 
worden, dafs wir uns nicht weiter dabei aufzuhalten brauchen. 
Nur im Vorbei wege ein Wort über die Frage, ob etwa, wie Her- 
bart und feine Nachfolger wollen, jedes kategorifche Urtheil in 
der Logik nur als ein hypothetifches aufzufaffen fei, oder ob, wie 
die Erkenntnifstheoretiker wollen, der Satz A itt, B die Behaup- 
tung in fich fchliefse, dafs A exiftire. 

Diefe beiden Behauptungen flehen fich keineswegs rein contra- 
dictorifch gegenüber, und es mufs daher in jedem Falle zunächft 
der Gegenftand der Behauptung fcharf beftimmt werden. Vor 
allen Dingen ifl feilzuhalten, dafs die formale Logik mit ihren Be- 
griffsformen und Begriffsverhältniffen fich nur auf Gegenflände 
überhaupt bezieht, ohne irgend einen Zweifel daran, dafs einer 

7* 



100 Das disjunctive Urtheil 

diefer Formen auch Gegenftände entfprechen ; denn für die logifche 
Technik find das gedachte und durch Sphärenbilder veranfchau- 
lichte A und B, 'S und P u. f. w. felbft fchon Gegenftände. Info- 
fern alfo kann nicht behauptet werden, dafs der kategorifche Aus- 
druck A ift B und der hypothetifchc : »Wenn A ift, fo ift Bvi 
identifch feien. Der erftere behauptet fchlechthin die Unterordnung 
der ganzen Begriffsfphäre von A unter B, und diefe Behauptung 
ift und bleibt kategorifch. Man kann nicht die Exiftenz der blofs 
gedachten Begriffsfphäre von einer Bedingung abhängig machen. 
Für den Gedanken mit feiner Beziehung auf Gegenftände über- 
haupt ift die Sache damit endgültig abgefchloffen, dafs A dem B 
untergeordnet wird. Der Bedingungsfatz dagegen, wenn A ift, fo 
ift By bezieht fich naturgemäfs auf die einzelnen Gegenftände, oder 
auf die Fälle, in welchen mir A, und damit auch By gegeben wird : 
Wo immer, oder fo oft mir ein A vorkommt, wird auch B vor- 
handen fein. Hierauf führt die Genefis des hypothetifchen Urtheils 
aus dem temporalen und hierauf befchränkt fich auch die logifche 
Technik. Will man ftatt deffen den Zweifel einführen, ob dem A 
in der Wirklichkeit überhaupt etwas entfpreche, fo mufs man 
auch zuerft den Begriff diefer Wirklichkeit einführen, und damit 
verläfst man fchon den Boden der reinen Technik und begiebt 
fich auf das Gebiet der angewandten Logik. Wenn man vollends 
fragt, ob in Sätzen wie »Gott ift gerecht« die Exiftenz Gottes 
vorausgefetzt werde oder nicht, fo geht das die reine Logik gar 
nichts an, denn diefe hat es gar nicht mit dem Inhalt der Sätze 
zu thun, fondern allein mit der Form. Die Form ift in diefem 
Falle diejenige eines kategorifchen Satzes und diefe fetzt das Vor- 
handenfein ihrer Gegenftände (nicht die »Wirklichkeit« in irgend 
einem materiellen Sinne) voraus. Ob aber die Form in einem 
gegebenen Falle richtig angewandt ift, mag derjenige prüfen, wel- 
cher fie anwendet. Hier fteckt alfo noch ein Zweifel, der den 
Schein einer blofs hypothetifchen Geltung auf die logifche Form 
werfen kann, während er blofs ihrer Anwendung gebührt 

Mit dem disjunctiven Urtheil fteht es nun aber völlig anders 
als mit dem hypothetifchen. Zwar hat man daffelbe früher als 
eine blofse Nebenart des hypothetifchen behandelt, allein ohne alle 
Einficht in das Wefen der Sache. Neuere Logiker, namentlich 
Sigwart und Lotze haben hier tiefer gefehen. Sigwart lehrt 
ganz richtig (Logik I S 37)> ^^^^ ^^^ disjunctive Urtheil ftets ein 



f 

» 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 101 

einfaches Urtheil vorausfetzt, welches den Kreis der Möglich- 
keiten umfchliefst, und ein divifives, welches diefelben aufzählt. 
Die Lehre (§ 37. 10), dafs das disjunctive Urtheil fich auf zwei 
hypothetifche zurückführen laffe, erklärt er für richtig, allein es 
folge daraus nicht, dafs dem disjunctiven Urtheil neben dem hypo- 
thetifchen keine felbftändige Bedeutung zukomme. »Denn eine 
Verneinung als Grund einer Bejahung zu behaupten, ift nur mög- 
lich, wenn die Disjunction bereits feftfteht Nur wenn feftfteht, 
dafs das Licht entweder Materie oder Bewegung ift, kann das 
Urtheil ausgefprochen werden, Wenn das Licht nicht Materie ift, 
ift es Bewegung.« Die letztere Bemerkung ift wieder durchaus 
richtig; ob aber das disjunctive Urtheil fich wirklich »auf zwei 
hypothetifche Urtheile zurückfuhren« laffe, ift ernftlich in Frage zu 
ziehen. Jedenfalls ift dies nicht in dem Sinne wahr, in welchem 
fich z. B. das copulative Urtheil auf zwei einfache zurückführen 
läfst. Hier bleiben die verfchiedenen einfachen Urtheile, aus denen 
fich das copulative zufammenfetzt, unverändert. 

Ganz anders verhalten fich die beiden hypothetifchen Urtheile, 
aus denen man das disjunctive ableiten will. A ift entweder B 
oder C führt man zurück auf die Urtheile : »Wenn A nicht B ift, 
fo ift es C«, und »Wenn A — ^ ift, fo ift es nicht Ca, Von 
diefen beiden Urtheilen ift das erfte, für fich genommen, ganz 
wohl vereinbar mit dem Satze: »Wenn A — ^ ift, fo ift es eben- 
falls Ca, und er könnte alfo z. B. durch folgendes Sphärenbild 
dargeftellt werden: 




Der zweite Satz, für fich genommen, kann auf fehr verfchiedne 
Weife dargeftellt werden, z. B.: 




Sobald nun aber die beiden Sätze mit einander in Verbindung 
gebracht werden, fo dafs von ein und demfelben A, B und C 
zwei verfchiedne, einander näher beftimmende Ausfagen gemacht 
werden, entfteht erft die Form, welche dem disjunctiven Urtheile 
entfpricht, und die wir etwa durch folgendes Sphärenbild darftellen 
können : 




102 I^as disjunctive Urtheil 

Diefe Form ftellt noch kein disjunctives Urtheil dar, wohl 
aber ein divifives und der Gedanke der Eintheilung eines Ganzen 
in zwei Theile liegt dann auch der eigenthümlichen Verbindung 
jener zwei hypothetifchen Urtheile zu Grunde. Es find alfo genau 
genommen nicht die zwei hypothetifchen Urtheile als folche, denen 
das disjunctive entfpricht, fondern es ift die eigenthümliche Art 
ihrer Verbindung, in welcher in der That die Disjunction fchon 
vorausgefetzt ift. 

So bemerkt auch Lotze ganz richtig (Logik, S. 94) man 
pflege das disjunctive Urtheil mit dem copulativen und remotiven 
zufammenzuft eilen, aber mit Unrecht. »Trotz der äufserlichen 
Analogie der Form haben beide nicht den gleichen logifchen Werth 
mit dem disjunctiven. Das erfte ift nur eine Sammlung pofitiver; 
das andere eine Sammlung negativer Urtheile von gleichem Sub- 
ject und verfchiedenen Prädicaten; welche letztere in gar keine 
logifch wichtige Beziehung zu einander gefetzt werden. Das dis- 
junctive Urtheil allein drückt ein eigenthümliches Verhältnifs feiner 
verfchiedenen Glieder aus: es giebt feinem Subject gar kein Prä- 
dicat, fchreibt ihm aber die noth wendige Wahl zwifchen einer 
beftimmten Anzahl verfchiedener vor.a Lotze fuhrt dann weiterhin 
fowohl das dictum de omni et nulloy als auch den Satz vom aus- 
gefchloffenen Dritten auf das »disjunctive Grundgefetz« zurück: 
»Von jedem allgemeinen P, welches als Merkmal in dem AUge- 
meinbegrifF J/ enthalten ift, kommt jedem S, welches eine Art von 
M ift, eine feiner Modificationen p\ p\ p^ mit Ausfchlufs der 
Uebrigen als Prädicat zu; und von jedem allgemeinen P, welches 
aus dem Begriffe M ausgefchloffen ift, kommt jedem S, als einer 
Art von J/, weder die eine noch die andre feiner Modificationen 
/*, /2 oder p^ zu.a 

Unferm leitenden Gedanken folgend werden wir uns vor allen 
Dingen an der räumlichen Anfchauung über das Wefen des 
disjunctiven Urtheils zu orientiren fuchen. Lambert, der mit fei- 
nen Linien fonft die logifchen Verhältniffe fehr gut darzuftellen 
wufste, bemerkt, das disjunctive Urtheil laffe fleh nicht zeichnen, 
und zwar weil es nichts Pofitives fetzt (Organon I, S. 116). Dies 
ift nun aber nicht richtig ; vielmehr ift das disjunctive Urtheil ganz 
so pofitiv, wie das kategorifche, da ja in jedem disjunctiven auch 
ein kategorifches enthalten ift. Das Entweder — oder — oder bildet 
in diefer Urtheilsyt ftets einen feftgefchloffenen Kreis; die Zahl 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 



103 



der Glieder mag noch fo grofs, oder auch felbft unbeftimmt fein. 
Das Subject des Urtheils wird ftets dem Oberbegriff der coordinir- 
ten Prädicate mit aller Beftimmtheit untergeordnet, und nur die 
Wahl des beftimmten, in diefem Falle paffenden Prädicates bleibt 
offen. Daraus ergiebt fich die Möglichkeit, das disjunctive Urtheil 
durch zwei I^aumbilder darzuftellen, deren Synthefis erft das Ur- 
theil darfteilt; und zwar muffen diefe beiden Bilder offenbar den 
beiden Urtheilen entfprechen, von denen das disjunctive felbft die 
Synthefis ift: einem kategorifchen und einem divifiven. Da nun 
aber hier, namentlich im divifiven Urtheile ganz neue Verhältniffe 
auftreten, fo läfst uns die Zeichnung mittelft Sphären im Stich, 
und wir muffen uns nach einer zweckmäfsigeren umfehen, welche 
in bequemer Weife die Eintheilung eines Ganzen in feine Theile 
darftellt. Dies gefchieht am einfachften durch Rechtecke in fol- 
gender Weife: 

P P 



XS 



? 


^ 


Ps 

















Das erfte Bild zeigt uns ein kategorifches Urtheil, bei welchem P, 
wenn es nicht mit dem zweiten übereinftimmen müfste, ebenfowohl 
nach gewöhnlicher Weife durch einen Kreis dargeftellt werden 
könnte. Der Subjectsbegriff ift nicht durch einen Kreis oder ein 
Rechteck, fond^n durch ein Kreuzchen oder einen Punkt darzu- 
ftellen, um anzudeuten, dafs es nicht eine Art oder Gattung, fon- 
dern ein einzelner, beftimmter Gegenftand ift, welcher hier das 
Subject bildet. Das Kreuzchen wird an eine beliebige Stelle in 
den Raum des Prädicates eingezeichnet, mit dem Vorbehalt, dafs 
es irgendwo innerhalb deffelben hingehöre. Diefe Darftellung 
des Unbeftimmten dadurch, dafs man ein Beftimmtes mit dem 
Vorbehalt der Veränderlichkeit fetzt, haben wir ja auch fchon in 
den gewöhnlichen Raumbildern des kategorifchen Urtheils anzu- 
wenden, und es ift die Anfchauung einer Bewegung der einen 
Sphäre in der andern oder eines Punktes ini Rechteck, welche uns 
hier zu Hülfe kommt. Der Punkt S ift alfo in P beweglich zu 
denken. Er kann überall innerhalb diefes Raumes fein, da der 
Satz nichts weiter ausfagt, als dafs er überhaupt in den Raum, 
welcher den Umfang von P darftellt, hineingehört. Diefe Annahme 
der Verfchieblichkeit in der Anfchauung ift alfo hier nicht neu, wohl 
aber gewinnt fie beim disjunctiven Urtheil eine erhöhte Bedeutung, 



104 Das disjunctive Urtheil 

Das zweite Raumbild zeigt uns das Verhältnifs der Gattung 
P zu ihren Arten pu p^i, /s "• ^- w., wobei namentlich darauf Ge- 
wicht zu legen ift, dafs die Raumbilder der Arten fich unmittelbar 
aneinanderfchliefsen und in ihrer Gefammtheit die Gattung aus- 
machen. Man könnte dies, wenn man fo viel als möglich bei den 
beliebten Kreifen ftehen bleiben wollte, auch etwa in folgender 
Weife darftellen: 






/ 



allein man geräth mit diefer Zeichnungsweife in's Gedränge, fobald 
man dazu übergeht, die einzelnen Gattungen quantitativ und ver- 
gleichend zu betrachten und den Raum, welcher ihren Umfang 
darftellt, als commenfurabel anzunehmen oder auch hypothetifch 
gleich zu fetzen. Grade in diefen Annahmen aber liegt die To 
ungemein folgenreiche Fortentwicklung der modernen Logik aus 
dem Princip des disjunctiven Urtheils begründet. 

Bevor wir darauf eingehen, wollen wir noch eine Bemerkung 
machen über das Verhältnifs des disjunctiven Urtheils zu den hy- 
pothetifchen, welche man aus ihm entnehmen kann. Wenn es auch 
richtig ift, dafs das disjunctive Urtheil: A ift entweder B oder jC 
beftimmt wird durch die beiden hypothetifchen : Wenn A nicht B 
ift, fo ift es C'und: Wenn A — B ift, fo ift es nicht C\ fo er- 
fchöpfen doch diefe Urtheile keineswegs den Inhalt des disjuncti- 
ven. Vielmehr ift in gleicher Weife auch noch aus denfelben zu 
entnehmen: Wenn A nicht C ift, fo ift es B und: Wenn A — C 
ift, fo ift es nicht Ä Schon in dem einfachften Falle der blofsen 
Dichotomie laffen fich alfo dem disjunctiven Urtheile vier hypothe- 
tifche Urtheile entnehmen. Bei einer dreigliedrigen Eintheilung 
fteigt diefe Zahl auf 12 ; denn man darf Urtheile wie z.B.: Wenn 
A weder B noch D ift, fo ift es C nicht aufser Acht laffen. Sie 
fmd oft kleine aber wichtige Stationen auf dem fchrittweife an- 
fteigenden Wege der Forfchung. Wenn fie dies aber auch nicht 
wären, fo lägen fie doch im disjunctiven Urtheil begründet und 
alle möglichen Combinationen feiner Glieder mit Entweder -oder, 
fowie mit Weder -noch haben formal gleiche Berechtigung. Daraus 
aber ergeben fich, wenn man von den Urtheilen aus unvoUftändiger 
Disjunction noch abfieht, fchon bei vier Gliedern 28, bei fünf 60, 
bei fechs 124, bei fieben 252 u. f. w., und allgemein bei n Gliedern: 



und die Elemente der Wahrfcheinlicbkeitslehre. , 105 

2X f« + ^ ' ^'^ " ^^ + ^'(^-0 (^-^) . n-jn-i) {n'2) 2 \ 

\' I«2 I'2'3 I*2«3 («-l)/ 

Diefe Formel*) enthält, wie man fieht, die Summe der Com- 
binationen von n Gegenftänden zu je i, d. h.: Wenn -^, dann 
weder By noch C u. f. w.; Wenn B, dann weder Ay noch C u. f. w.; 
femer zu je 2 Gegenftänden: Wenn entweder A oder B, dann 
weder C, noch D, noch £" u. f. w. ; zu je 3 Gegenftänden : Wenn 
entweder A oder B oder C, dann weder D u. f. w. ; bis zu « - 1 
Gegenftänden: Wenn entweder A oder B u. f. w. dann nicht X, 
wenn X als letztes Glied der Disjunction angenommen wird. Die 
ganze Summe mufs fchliefslich mit 2 multiplicirt werden, weil jede 
Combination fowohl pofitiv als negativ vorkommt. 

Disjunctionen von einer ziemlich großen Zahl von Gliedern 
bieten fich naturgemäfs gar nicht feiten dar; fo bei den Flächen 
der regelmäfsigen Körper, unter denen der Würfel mit feinen fechs 
Flächen das beliebtefte Beifpiel und VeranfchauHchungsmittel in 
der Wahrfcheinlichkeitslehre geworden ift. Niemand wird hier den 
124 hypothetifchen Urtheilen, welche fich aus dem disjunctiven : 
vS ift entweder /i oder p^ . . ". . /e entnehmen laffen, die Priorität 
zuerkennen, und fo mag auch diefe Betrachtung dazu dienen, die 
Urfprünglichkeit und Originalität des disjunctiven Urtheils nach 
allen Seiten feftzuftellen. 

Eine fernere Bemerkung haben wir noch zu machen hinficht- 
lich des Gegenfatzes zwifchen den Gliedern des disjunctiven Ur- 
theils. Diefer Gegenfatz ift zwifchen je zwei Gruppen von Gliedern, 
welche zufammen den ganzen Umfang des Prädicatsbegriffes aus- 



*) Eine einfachere Formel, welche zu demfelben Ziele führt, ifl 2 X (2« — 2). 
Ueber die Begründung derfelben vgl. yacobi BemouUi ars conjectandi , Bafil. 17 13, 
p. 82 — 85. Dafs hier ftatt 2« — i gefetzt werden mufs 2« — 2, folgt aus der Weg- 
laflung der «ten Claffe der Combinationen, bei welcher lauter pofitive Glieder und 
kein negatives vorkommen würden, oder umgekehrt. Die Multiplication mit 2 er- 
giebt fich wieder daraus, dafs jeder pofitiven Combination auch eine negative ent- 
fpricht. — Man erhält übrigens eine noch ungleich gröfsere Zahl hypothetifcher 
Sätze, fobald man auch diejenigen" mit unvollftändiger Disjunction in Betracht 
zieht, wie z. B. : Wenn p\, dann nicht pi oder /*+i, wo /* ein beliebiges Glied 
in der Reihe von p\ bis /«, wenn n die Anzahl der Glieder ift, bezeichnet. Hier 
find die Sätze mit pofitivem Vorderfatz und negativem Nachfatz durchaus richtig und 
berechtigt; nicht aber umgekehrt, weil kein contradictorifcher Gegenfatz (f. weiter 
unten) vorhanden ift. Man kann höchftens fchliefsen: Wenn nicht /i , dann viel- 
leicht/*, ein Schlufs, der von geringem Werthe ift. 



106 ^^s disjunctive Urtheil 

machen, ftets ein contradictorifcher, da nicht nur die Beja- 
hung der einen Gruppe die Verneinung der andern, fondern auch 
die Verneinung der erfteren die Bejahung der letzteren in fich 
fchliefst. Allerdings ift dies nicht jener wüfte contradictorifche 
Gegenfatz von A und Non A, bei welchem, wenn A irgend einen 
beftimmten Begriff umfafst, unter Non A alle möglichen, auch die 
heterogenften Gegenftände gehören müfsten. Man könnte den con- 
tradictorifchen Gegenfatz letzterer Art als den abfoluten, den aus 
dem disjunctiven Urtheil erwachfenden als den relativen bezeich- 
nen, da er ja nur unter Beziehung auf den übergeordneten Gat- 
tungsbegriff feine Geltung hat. Es ift jedoch leicht zu zeigen und 
ift fchon von Lotze (Logik S. 96 u. ff.) hinlänglich gezeigt worden, 
dafs jenes abfolute Non A ein Unding ift, und dafs im Grunde zu 
jedem Gegenfatz ein übergeordneter Begriff gedacht werden mufs, 
aus deffen Eintheilung der Gegenfatz entfteht. Es ift auch ganz 
richtig und wird durch die Anfchauung des Raumbildes beftätig^, 
dafs im Princip des disjunctiven Urtheils das Gefetz des ausge- 
fchloffenen Dritten enthalten ift Das Dictum de omni et nullo^ 
welches Lotze ebenfalls erft hier finden will, liegt nach unferer 
Auffaffung fchon im kategorifchen Urtheil und mufs fich alfo aus 
dem disjunctiven eben deshalb entwickeln laffen, weil daffelbe ein 
kategorifches enthält. 

Zwifchen je zwei beliebigen Gliedern oder Gruppen von Glie- 
dern befteht das Verhältnifs der wechfelfeitigen Ausfchliefsung auch 
dann, wenn fie nicht zufammen die voUftändige Disjunctionsreihe 
ausmachen. Der Gegenfatz ift dann kein contradictorifcher mehr; 
es ift zwar unmöglich diefe beiden Glieder gleichzeitig dem Sub- 
jecte zuzufprechen, wohl aber kann man fie ihm beide abfprechen. 
Man kann hier fogar eine neue. Folge hypothetifcher Sätze (vgl. 
die vorhergehende Anmerkung) aufftellen, in der Form: Wenn ^1, 
dann nicht /2> oder: wenn entweder /i oder ■/2> dann weder ^3 
noch/4, allein diefe Sätze gelten nur pofitiv, und laffen fich nicht 
in die entfprechende Negation verwandeln, vorausgefetzt natürlich, 
dafs die Zahl der Glieder gröfser ift als p^, beziehungsweife p^, 
Diefe Art des Gegen fatzes kann man zweckmäfsig als den dis- 
junctiven bezeichnen. Zwar hat Herbart dafiir'die Bezeichnung 
conträr eingeführt und diefe Bezeichnungsweife hat auch aufser- 
halb feiner Schule hie und da Anklang gefunden, allein fie leidet 
an dem grofsen Fehler, dafs der Ausdruck »conträrer Gegenfatz« 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 107 

traditionell und nicht nur in der Logik, eine tief eingewurzelte 
andre Bedeutung hat, die fich nicht fo leicht völlig wird verdrän- 
gen laffen. Man verfteht darunter das ariftotelifche imvtiovj alfo 
Gegenfätze wie kalt und warm, fchwer und leicht, hell und dunkel. 
Mit diefer Art von Gegenfatz hat im Grunde die formale Logik 
gar nichts zu fchaffen, was Herbart verleitete, die Bedeutung des 
Ausdrucks fo zu modificiren, dafs er wieder einem wirklichen Ge- 
genfatz auf logifchem Gebiete entfprach. Allein, wenn der conträre 
Gegenfatz auch ftreng genommen nicht in die formale Logik ge- 
hört, fo ift er doch um fo wichtiger für die bequeme Bezeichnung 
der Erfcheinungen, welcher das tägliche Leben bedarf. , Die ftrenge 
Wiffenfchaft giebt einen beftimmten Temperaturgrad als wirklich 
vorhanden an und kümmert fich nicht darum, ob man diefen nun 
»kalt« oder warm finden wolle. Das tägliche Leben aber umfafst 
mit diefen beiden Ausdrücken und ihren Steigerungen oder Ein- 
fchränkungen die ganze Scala der gewöhnlich vorkommenden Tem- 
peraturen. Einen folchen Ausdruck umzuftempeln, blofs deshalb, 
weil er einmal in die Logik eingeführt ift, erfcheint unzweckmäfsig 
und man thäte daher beffer, den Ausdruck »conträrer Gegenfatz« 
ganz aus der Logik zu verbannen, wenn man ihn nicht für die 
einander gegenüberftehenden Endpunkte einer geordneten Be- 
griffsreihe verwenden will. 

Man kann nämlich fehr häufig die disjuncten Begriffe nach 
irgend einem Princip, wie z. B. Farben nach der Brechbarkeit der 
Strahlen, ordnen. Alsdann bilden die Endpunkte der Reihe einen 
Gegenfatz, welcher dem ariftotelifchen imniov entfpricht. Allein auch 
diefer Gegenfatz hat im Grunde keine logifche Bedeutung. Für die 
formale Logik ift es voUftändig gleichgültig, ob die zu ordnende 
Begriffsreihe nach einem materiellen Princip geordnet werden kann, 
wie bei den Farben, oder nach einem blofs formalen, wie bei den 
Flächen eines Würfels oder bei einer Anzahl von Kugeln, die in 
eine Urne gelegt werden. Es mag daher in der That am heften 
fein, den Begriff des conträren Gegenfatzes, welchen Ariftoteles, wie 
fo vieles andre Fremdartige, in die Logik hineingebracht hat, aus 
derfelben zu entfernen und ihn dem volksthümlichen Sprachge- 
brauch zu überlaffen, der feine conträren Begriffe, wie hell und 
dunkel, grofs und klein, kalt und warm u. f. w. nicht entbehren kann. 

Nirgendwo mehr als bei den disjunctiven Begriffen wird der 
Ausdruck »Möglichkeiten« angewandt und nirgend fcheint er 



108 I^^s disjunctive Urtheil 

beffer zu paffen und mehr Anfpruch auf eine befondere logifche 
Bedeutung zu haben. Gleichwohl findet Alles, was wir im zweiten 
Capitel über den Begriff der Möglichkeit gelehrt haben, auch hier 
feine unbeflreitbare Anwendung. Wenn man den Satz ausfpricht: 

6" ift entweder /i, oder /g» /«> und man bezeichnet alsdann 

^1 , /a pn als die verfchiednen Möglichkeiten für S, fo hat 

diefer Ausdruck durchaus keinen andern Sinn, als den, dafs diefe 
disjuncten Prädicate die verfchiednen Fälle bezeichnen, welche ein- 
treten können, wenn vS — P ifl: und P der Oberbegriff zu /i, p^ 
. ^ . . . pn- Diefes »Können« aber beruht auf keiner verborgnen Kraft 
in den Begriffen oder ihren Gegenfländen, fondern es ifl wieder 
der blofse Anthropomorphismus flatt des Ausdrucks der Wirklich- 
keit: die verfchiednen Fälle, welche vorhanden find, oder in welche 
der Hauptfall, deffen Eintreten bejaht worden ifl, fich zerlegen läfst. 
Wenn wir nun dazu übergehen, die höheren Gebiete der wif- 
fenfchaftlichen Logik, welche erfl die neueren Jahrhunderte hervor- 
gebracht haben, vor allen Dingen die Grundlagen der W^hr- 
fcheinlichkeitslehre aus dem disjunctiven Urtheile abzuleiten, 
fo foll damit keineswegs gefagt fein, dafs diefe Grundlage den 
erflen Entdeckern des neuen Gebietes klar im Bewufstfein gelegen 
habe. Noch weniger finden wir, dafs die Erfinder von unfern ein- 
fachen Raumbildern zur Entwicklung ihrer Sätze Gebrauch gemacht 
hätten. Sie wufsten jedoch klar genug, dafs es fich in den ihrer 
Betrachtung unterliegenden Fragen um ein Entweder — oder, um 
die richtige Abfchätzung coordinirter Möglichkeiten handelte, und 
fie hatten flatt der abflracten Linienzeichnungen, wie fie für die 
logifche Unterfuchung paffen, concretere Raumformen vor fich, 
durch deren Anfchauung fie fich leiten liefsen ; die Münze mit ihren 
beiden Flachfeiten, den Würfel, eine Urne mit einer Anzahl glei- 
cher Kugeln u. f. w. — Dafs aber die Anfchauung an folchen 
Raumbildern diefelben Dienfle thun mufs, und nur weniger einfach 
und allgemein ifl, als diejenige an unfern Linienzeichnungen bedarf 
kaum weiterer Erörterung. Auch mit der Anfchauung eines Wür- 
fels, wie mit derjenigen eines in fechs Felder getheilten Rechtecks, 
ifl die unmittelbare Ueberzeugung verbunden, dafs es in allen ana- 
logen Fällen durchaus ebenfo fein muffe, wie in dem vorliegenden, 
und damit ifl die Möglichkeit gegeben, der Anfchauung axioma- 
tifche, apriori gültige Sätze zu entnehmen, welche der ganzen 
weiteren Entwicklung zu Grunde liegen. 



und die Elemente der Wahrfcheinlicbkeitslehre. 109 

Betrachten wir das Raumbild, 



P = 



welches eine Eintheilung des Begriffes /* darfteilen foll, fo ift leicht 
zu zeigen, dafs die verfchiedne Ausdehnung der Felder px bis pr, 
die Bedeutung hat, dafs der Umfang der untergeordneten Begriffe 
im Verhältniffe diefer Ausdehnung verfchieden ift, oder was das- 
felbe fagen will, dafs die Häufigkeit, mit welcher man einen 
Fall der Clafffe p^ erwarten darf, fich zu derjenigen von p^ oder 
von /3 verhält, wie die Ausdehnung der betreffenden 
Felder. 

Wenn man nämlich in dem Satze: S ift entweder a oder b 
oder c den Umfang von a in zwei beliebige Theile theilt, welche 
ax und a^ heifsen foUen, fo kann man nunmehr behaupten: 5* ift 
entweder ax oder a^ oder b oder c. Die beiden eben erft vereinig- 
ten Glieder ax und a^ ftehen jetzt genau in demfelben disjunctiven 
Gegenfatze zu einander und zu den übrigen Gliedern der Disjunc- 
tion, wie vorher a. Auf diefe Weife kann man die Theilung von 
a und ebenfo von b und von c beliebig fortfetzen: man behält 
ftets eine voUftändige Disjunction und jedes einzelne Theilglied 
verhält fich zu den andern und zum Ganzen genau wie fich früher 
die gröfseren Glieder verhielten. Es ift dies auch ganz natürlich, 
da die Zufammenfaffung der Gegenftände in die Claffen ay b, c 
immer nur ein Hülfsmittel der Ordnung und ein Werk der Ab- 
ftraction ift. Genau genommen entfpricht nur je ein einzelner Fall, 
der unter ä oder b oder c enthalten ift, der Vorausfetzung. S ift 
a oder b oder Cy und zwar einerlei, ob letzteres Subftanz- oder 
Merkmalbegriffe oder Bezeichnungen eines Gefchehens find. Ein 
Menfch kann entweder Europäer oder Afiate oder Afrikaner oder 
Amerikaner oder Auftralier fein. Theilt man noch in Auftralier 
oder Polynefier, fo bleibt das Verhältnifs des disjunctiven Gegen- 
fatzes daffelbe. Es bleibt aber auch daffelbe, wenn man z. B. den 
Begriff »Europäer« in voUftändiger Eintheilung auflöft in: Englän- 
der, Deutfcher, Ruffe u. f. w^, während man an den andern Stellen 
die höheren Begriffe ftehen läfst. Man hat dann keine reine Coor- 
dination mehr, keine lobenswerthe Eintheilung, allein das Verhält- 
nifs des Gegen fatzes zwifchen je zwei beliebigen Gliedern, oder je 
efnem und der Summe aller übrigen, oder zwifchen zwei beliebigen 



/ 



110 ^^ disjunctive Urtheil 



^ 



Gruppen bleibt durchaus daffelbe. Man kann alfo auch ganz pa- 
radox gruppiren und z. B. die Aufftellung machen : Entweder Deut- 
fcher oder Engländer oder Amerikaner, und wenn Ja in Beziehung 
auf diefe Gruppe, dann Nein für die Summe aller übrigen Glieder. 
— In gleicher Weife kann man auch zwei oder mehr beliebige 
Glieder in eins zufammenziehen und für diefe Summe eine neue 
Gefammtbezeichnung in die Reihe eintreten laffen. In der fo ver- 
änderten Reihe wird das Verhältnifs der Glieder zu einander u^d 
zum Ganzen durchaus daffelbe fein, wie in der früheren. Will 
man z. B. von einem Subject S ausfagen, dafs es irgend eine 
Farbe habe, fo kann man die Farben zunächfl: eintheilen nach der 
gewöhnlichen Eintheilung des Spectrums in Roth, Orange, Gelb, 
Grün, Blau, Indigo und Violett, und alsdann behaupten, dafs 5 
entweder die eine oder die andere diefer fieben Farben haben 
muffe. Wenn man nun das Indigo mit dem Blau zufammenzieht 
und alfo nur fechs Farben unterfcheidet, fo bleibt das Verhältnifs 
der Disjunction durchaus daffelbe, nur dafs der Umfang von Blau, 
wenn man Indigo mit darunter begreift, um fo viel gröfser wird. 
Etwas anders ftellt fich die Sache beim Würfel und den 
ähnlichen Fällen dar, wo jede der vorhandenen Möglichkeiten nur 
einen einzigen Fall zu umfaffen fcheint und daher eine weitere 
Theilung der disjuncten Glieder nicht möglich ift. Man fieht je- 
doch zunächfl, dafs. die Summirung mehrerer Glieder genau in der- 
felben Weife ausführbar ift, wie bei den obigen Beifpielen. So 
kann man z. B. die Summe der mit einer ungraden Zahl bezeich- 
neten Fläche der Summe der übrigen entgegenftellen und man hat 
dann eine Disjunction in zwei Glieder ftatt in fechs. — * Aber auch 
die vereinzelte Fläche eines Würfels kann eine Summe von Gegen- 
ftänden oder Fällen bezeichnen. Sobald man nämlich bei fortge- 
fetztem Würfeln unter /i alle diejenigen Fälle verfteht, in welchen 
die mit / bezeichnete Fläche oben bleibt, unter /g diejenigen, in 
welchen die Fläche // oben bleibt, u. f. w. bis /^ für die Fläche VI, 
fo kann man das Raumbild aufftellen: 



Sx 



P = 



TM\pM\n\P6 



Wenn man nun unter S das Refultat eines beftimmten Wurfes 
verfteht, fo bedeutet das Raumbild nicht nur, dafs derfelbe eine 
der Flächen /, // u. f. w. nach oben bringen mufs, fondern auch, 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeilslehre. 111 • 

dafs der neue Wurf damit zu einer Claffe von Würfen gehört, die 
einen beftimmten Umfang hat. Diefer Umfang kommt durch eine 
Zeitfolge zu Stande, welche hier als räumliche Ausdehnung 
angefchaut wird. Dies gefchieht nach einem Princip, deffen All- 
gemeinheit wir in einem fpäteren Capitel zeigen werden. Der Um- 
fang der fechs Claffen von Würfen mufs aber in diefem Falle 
gleich grofs gefetzt werden, wiewohl dies der Wirklichkeit niemals 
völlig entfprechen wird. Sowohl conftante Urfachen, wie z. B. 
Ungenauigkeit in der Conftruction des Würfels, als auch die 
Schwankungen des Zufalls werden in einer beftimmten Anzahl von 
Würfen das Refultat ftets ungleich machen ; da es jedoch gänzlich 
unbekannt bleibt, in welchem Sinne diefe Ungleichheit ausfällt, fo 
kann man a priori^ aus der Anfchauung des Würfels, nur die völ- 
lige Gleichheit der fechs Umfangsgebiete annehmen. Anders wäre 
es freilich, wenn die Zahlen für /i, /a .... /e bei einem beftimm- 
ten Würfel empirifch ermittelt würden. In diefem Falle müfste 
die fich ergebende Ungleichheit der einzelnen Gebiete in das Raum- 
bild aufgenommen werden und wenn damit ftreng genommen auch 
nur das Ergebnifs der begrenzten, bei der Unterfuchung angewand- 
ten Zahl von Würfen bezeichnet werden kann, fo wird doch das 
Refultat auch auf unfre Erwartung für eine neue Reihe von Wür- 
fen Einflufs üben muffen. 

Hiermit haben wir nun aber fchon den Boden der Wahr- 
fcheinlichkeitslehre betreten. Die Möglichkeiten des disjuncti- 
ven Urtheils verwandeln fich in Wahrfcheinlichkeiten, fobald ihnen 
eine beftimmte GrÖfse beigelegt wird, welche abhängt von dem 
Verhältniffe des Umfangs der einzelnen Möglichkeit zur Summe 
aller Möglichkeiten. Da nun aber diefe Möglichkeiten nichts find 
als Summen der Fälle, in welchen fich der übergeordnete Begriff 
durch irgend einen der • untergeordneten verwirklicht, fo ift klar, 
dafs die Gefammtfumme derfelben der Gewifsheit gleichkommen 
mufs. Wenn es feft fleht, dafs 5 — P ift, und dafs /* = /! +/2 
+ . . . . /n, fo fteht es auch feft, dafs 5 entweder /i oder p^ .... 
oder /„ ift. Es ift dabei gleichgültig, ob die relative Gröfse von 
p\y p^ u. f. w. empirifch ermittelt ift, oder ob fie a priori feftfteht 
wie beim Würfel. Ebenfo ift es gleichgültig, ob es fich um die 
Wahrfcheinlichkeit eines Wirklichen, aber zur Zeit Unbekannten 
handelt, oder um die Wahrfcheinlichkeit eines Zukünftigen nach 
den bekannten Bedingungen feines Eintretens. Die einzelnen Mög- 



112 I^ d^jnnctiTe Urtkeil 

lichkeiten oder die Umfanggebiete der Specialfalle können, wie 
(ich aus der Betrachtung des Raumbildes 

P P P 

ergiebt, nur Bruchtheile des Ganzen fein, welches die Gewifsheit 
in fich fchliefst Welchen Werth man dem Ganzen heilten will, 
Ml natürlich im Wefentlichen gleichgültig, da es fich nur imi Ver- 
hältnilsgröfsen handelt Der Einfachhdt der Rechnung wegen hat 
man das Ganze der Disjunction, welches die Gewifsheit bedeutet, 
mit I bezeichnet, fo dafs alfo alle Wahrfcheinlichkeitsgröfsen als 
ächte Brüche erfcheinen. 

Der hiflorifche Gang bei der Entdeckung diefes neuen Ge- 
bietes der formalen Logik war freilich ein ganz andrer. Man be- 
gann nicht mit der logifchen Wahrfcheinlichkeitslehre, fondem mit 
der Rechnung, und auch hier nicht mit den allgemeinen Princi- 
pien, fondem mit Löfung beflimmter Probleme. Nicht die Logik, 
fondem das Spiel mit feinen Ausfichten auf Gewinn und Verlufl 
war das Intereffe, welches die erften Verfuche leitete; und als 
man begann, die Logik des Wahrfcheinlichen auszubilden, gefchah 
es nicht in Anknüpfung an die geläuterte ariftotelifche Logik, fon- 
dern in Oppofition gegen Alles, was man bisher Logik genannt 
hatte. Bekanntlich tritt diefe Oppofition bei Descartes fcharf her- 
vor, der das Kind mit dem Bade ausfchüttete, indem er einige 
Regeln zur Leitung des Verftandes an die Stelle der ganzen Logik 
fetzen will. Damit wird die Aufgabe der Erkenntnifstheorie mit 
der reinen Logik verwechfelt und eine nichts weniger als zwingende 
Annahme über die Natur der Wahrheit und der menfchlichen Er- 
kenntnifs tritt an die Stelle jener apriori gültigen Sätze, welche 
die unveräufserliche Grundlage jeder Logik bilden. Dafs diefe 
Sätze, gleich den Axiomen der Mathematik, auf Anfchauung 
ruhen, haben wir im Bisherigen nachzu weifen verfucht. Sie haben 
alfo von vornherein ein verwandtes Element mit den Principien der 
Wahrfcheinlichkeitsrechnung, welches jedoch erft ganz allmählig zu 
einer engeren Verbindung führte, und welches bei gründlicher 
Unterfuchung zu einer völligen Verfchmelzung führen mufs. Zu- 
nächft verfuchte freilich der Verfaffer der berühmten Logique ou 
Tart de penfer (Paris 1664) die Principien der eben erft von 
Pascal entdeckten Wiffenfchaft mit den Regeln Descartes' zu ver- 
fchmelzen und daraus eine Art von Methodologie herzuftellen, 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 113 

welche der geläuterten ariftotelifchen Logik angehängt wurde. Da- 
mit aber wurden zum Nachtheil der weiteren Entwicklung die 
mathematifchen Grundlagen verlaffen, in welchen ein der formalen 
Logik verwandtes apriorifches Element liegt. Grade die erften 
mathematifchen Principien der Wahrfcheinlichkeitsrechnung find zu- 
gleich logifcher Natur und wenn wir überhaupt zwifchen der Wahr- 
fcheinlichkeitsrechnung und der allgemeinen Wahrfcheinlichkeits- 
lehre unterfcheiiden, fo bezieht fich diefe Unterfcheidung nicht auf 
die Principien, fondern auf die weitere Ausführung. Die Rech- 
nung hat es mit der exacten Löfung beftimmter Probleme zu 
thun, die lo gif che Lehre unterfucht die Anwendbarkeit jener 
Principien im Allgemeinen und verfucht den Charakter uhd das 
logifche Wefen der mathematifchen Methoden aufzuweifen. 

Der erfte, der mit voller Klarheit und Schärfe die ausgedehnte 
Anwendbarkeit der Principien der Wahrfcheinlichkeitsrechnung auf 
Fragen verfchiedenfter Art erkannte, war Jakob Bernoulli. Er 
war es auch, der, anknüpfend an ein Capitel der ^Ar^ de penfertu 
die empirifche Ableitung der Wahrfcheinlichkeit zur Geltung 
brachte*), während in den Problemen der Glücksfpiele überall nur 
die apriori, durch die Bedingungen des Spiels feflftehenden Wahr- 
fcheinlichkeiten zur Geltung kamen. Indem er zugleich das »Ge- 
fetz der grofsen Zahlen« in einem beftimmten mathematifchen 
Sinne als richtig nachwies — ein Beweis, über den er nach feiner 
eigenen Angabe zwanzig Jahre lang nachgedacht hatte — wurde 
er der eigentliche Begründer der numerifchen Methode, deren 
ungemeine Leiftungsfähigkeit felbft in unfern Tagen noch bei wei- 
tem nicht hinlänglich erkannt ift. Eine echt philofophifche Leiftung 
find namentlich auch die Definitionen der Gewifsheit, Wahrfchein- 
lichkeit, Möglichkeit, Unmöglichkeit, Nothwendigkeit , der morali- 
fchen Gewifsheit, des Zufalls und des Glücks, welche er zu Anfang 
des vierten Theils feiner berühmten Ars conjectandi entwickelt. 
Sein Neffe Daniel Bernoulli ftellte zuerft das Gefetz auf, nach 
welchem die »moralifcl^e Hoffnung« von der mathematifchen ab- 
hängt: ein Gefetz,. deffen Uebereinftimmung mit dem pfychophy- 
fifchen Grundgefetz**) einen weiten Ausblick auf eine zukünftige 

'*) S. ars conjectandi, pars IV., p. 225, wo der »Auetor artis cogitandi« als 
magni acuminis et ingenii vir bezeichnet und auf Cap. 12 und die folgenden des 
letzten (IV.) Theiles der art de penser Bezug genommen wird. 

**) Vgl. hierüber Fechner, Pfychophyfik, Leipzig 1860. I. S. 236 u. ff. — 
Lange, Logische Stndicn. 8 



2J4 ^^ disjunctive Urtheil 

exacte Behandlung der pfychologifchen und focialen Wiffenfchaften 
eröffriet Aber erft Laplace unternahm es, in feinem »Philofo- 
phifchen Verfuch über die Wahrfcheinlichkeitena die einfach den 
Grundlagen der Rechnung, die nothwendigen Axiome der mathe- 
matifchen Disciplin, möglichft voUftändig aufzufuchen und unmittel- 
bar an diefe Rechnungsgrundfätze Betrachtungen über die allge- 
meine Bedeutung der Wahrfcheinlichkeit im Leben und in den 
Wiffenfchaften anzuftellen. 

Die erkenntnifstheoretifche Seite der neuen Wiffenfchaft 
blieb aber auch bei Laplace und feinen Nachfolgern bis auf die 
Gegenwart im Dunkeln. Man leitete die Axiome ab aus der Be- 
trachtung beftimmter Beifpiele, bei denen die Anfchauung an 
Münzen, Würfeln, Kugeln in einer Urne u. f. w. ihre Dienfte thut, 
ohne principiell gewürdigt zu werden. Poiffon freilich fpricht bei 
Gelegenheit des Beweifes für das Gefetz der grofsen Zahlen den 
Satz aus, dafs wir jedes beliebige Problem der Wahrfcheinlichkeits- 
rechnung uns zur Fixirung der Begriffe fo vorftellen können, als 
handle es fich um den Zug einer .weifsen Kugel aus einer Anzahl 
von Urnen, welche Kugeln verfchiedner Farbe enthalten. Allein 
auch in diefem, der Wahrheit nahe kommenden Satze ifl die All- 
gemeinheit und Nothwendigkeit deffen, was wir an der Anfchauung 
eines einfachen Raumbildes ermitteln, nicht ausgefprochen. 

Wir wollen nun veirfuchen, die einfachften Grundfätze der Wahr- 
fcheinlichkeitsrechnung aus dem disjunctiven Urtheile hervorgehen 
zu laffen und fie an dem Raumbilde für das divifive Urtheil zur 
Anwendung zu bringen. Ift das logifche Verhältnifs der Wahr- 
fcheinlichkeitsrechnung zum disjunctiven Urtheile wirklich das von 
uns angenommene, fo mufs fich das, was die Mathematiker her- 
kömmlicher Weife an Münzen, Würfeln und Kugeln in einer Urne 
demonflriren, an diefer einfachen Linienzeichnung ebenfowohl ver- 
anfchaulichen laffen. 

Wir erinnern daran, dafs wir das disjunctive Urtheil 5 ift ent- 
weder px oder p^ ..../„ durch die Cogibination zweier Raum- 
bilder veranfchaulichen, welche zwei Urtheile darftellen, deren 
Synthefis das disjunctive ift: zunächft das kategorifche Urtheil 
S— P: 



Ferner meine Schrift über die Arbeiterfrage, 3. Aufl. (Winterthur 1875.) S. 113 
u. ff. — Schaf fle, Bau und Leben des focialen Körpers, i. Bd. Tübingen 1875. 
S. HO u. ff. — 



und die Elemente der Walirfcheinlichkeitslehre. 



115 



Sx 



wobei »S gedacht werden mufs als irgendwo in P befindlich. Um 
diefe Unbeflimmtheit innerhalb der beftimmten Grenzen zu veran- 
fchaulichen, nehmen wir bekanntlich die Vorftellung der Bewegung 
des Punktes 6" durch den ganzen Raum von P zu Hülfe. Hier 
haben wir die Unbeflimmtheit noch durch eine Reihe von Punkten 
darzuftellen verfucht Mit diefem Urtheile verbindet fich nun das 
divifive: P= /i + 2>2 . . . + /«: 



^ 


Pz 












P-n 



In der Anfchauung der Phantafie, die fich leicht auch noch durch 
Zeichnung unterftützen liefse, kann man nun mit diefem letzteren 
Raumbilde ausreichen, indem man fich S durch den ganzen Raum 
von /i bis /n wandernd, aber nirgend Ruhe findend vorftellt. Be- 
deutet S die nach oben fallende Seite einer geworfenen Münze, 
fo haben wir das Raumbild eines nur zweigliederigen Entweder-oder, 

P 



f} 


^ 



wo P die Summe der flachen Seiten bedeutet, die an der Münze 
vorhanden find, /i die eine und /a die andre derfelben. Der Raum 
mufs zwifchen /i und p^ gleich getheilt . werden , da wir die Vor- 
ausfetzung machen, dafs beide Seiten gleich leicht nach oben fal- 
len. Das Verhältnifs von /i zu P ift i : 2, die Wahrfcheinlichkeit 
alfo, dafs diefe beflimmte Seite nach oben falle == Va- Ebenfo 
natürlich für /g. Unfer Raumbild hat dabei noch den Vorzug, 
dafs wir die Halbirung des Raumes von P unmittelbar vor uns 
fehen. Ebenfo verhält es fich im Falle des Würfels: 

. -^ : 



'^Ah\ I I \t'c 



Hier bezeichnet P wieder die Summe der Möglichkeiten. Dafs, 
wenn der Würfel geworfen wird, irgend eine feiner fechs Flächen 
fchliefslich oben bleibt, gilt als gewifs. Der Gefammtraum /i bis 
pn flellt alfo wieder die Einheit dar, die Wahrfcheinlichkeit oben 
zu bleiben ift für alle fechs Flächen gleich und für jede einzelne 

8* 



116 



Das disjunctive Unheil 



= ^/e- — Haben wir eine Urne mit zehn Kugeln, in welche ich grei- 
fen werde, um eine derfelben herauszuziehen, fo find zehn, eben- 
falls als gleich zu betrachtende Möglichkeiten vorhanden. 5 be- 
deutet die gezogene Kugel, pi, p^ .... /lo die einzelnen Kugeln, 
oder vielmehr die Wahrfcheinlichkeiten, dafs je eine beftimmte 
derfelben gezogen werde, und P die Summe diefer Wahrfchein- 
lichkeiten, 

l 



^ 


1i 
















^ 



Die Wahrfcheinlichkeit, eine einzelne, beftimmte Kugel zu ziehen, 
ift, wie man ficht */io; dafs man überhaupt eine beliebige ziehen 
werde, alfo die Summe der lo Möglichkeiten ift als gewifs zu be- 
trachten, wird alfo durch den Gefammtraum von P= i dargeftellt. 
Die Mathematiker pflegen gewöhnlich zur genaueren Veran- 
fchaulichung anzunehmen, dafs unter den lO Kugeln eine weifse 
und neun farbige oder fchwarze feien. Man fragt dann, wie grofs 
die Wahrfcheinlichkeit fei, die weifse Kugel zu ziehen, und die 
Antwort ift natürlich wieder Vio> da der Wahrfcheinlichkeitsraum 
für die weifse Kugel nach der Vorausfetzung weder gröfser noch 
kleiner fein kann, als für irgend eine der fchwarzen. Diefe An- 
nahme hat für manche Probleme ihre Vorzüge, hat aber auch den 
Nachtheil, dafs man dabei immer wieder erinnern mufs, dafs es 
fich mit der wetfsen Kugel um kein Haar anders verhalte, als mit 
einer beliebigen einzelnen fchwarzen Kugel. Denn da die Vor- 
ausfetzung ift, dafs der Ziehende die Farbe nicht unterfcheiden 
kann, fo ift der Fall für jede einzelne der lO Kugeln, die weifse 
inbegriffen, durchaus derfelbe. Die Annahme übrigens, dafs eine 
der Kugeln eine weifse fei, entfpricht mehr den Vorausfetzungen 
eines Spiels, bei welchem dann die neun fchwarzen Kugeln nicht 
mehr als einzelne in Betracht kommen, fondern collectiv gefafst 
werden. In der That ficht man leicht, dafs der Wahrfcheinlichkeit, 
die weifse Kugel zu ziehen, diejenige, irgend eine fchwarze zu 
ziehen, ergänzend gegenüberfteht, denn beide Fälle zufammen ent- 
fprechen der Gewifsheit, dafs ich überhaupt eine Kugel ziehen 
werde, fei fie nun weifs oder fchwarz. Gehen wir nun auf die 
Sätze zurück, welche wir oben über die Natur des disjunctiven 
Urtheils entwickelt haben, fo fehen wir leicht, dafs die Wahrfchein- 



und die Elemente der Wahrfclieinlichkeitslehre. ~ 117 

lichkeit, irgend eine der neun fchwarzen Kugeln, fei es, welche es 
wolle, zu ziehen, gleich ift der Summe der einzelnen Wahrfchein- 
lichkeiten für jede beftimmte fchwarze Kugel. Diefe Summe ift aber 
^/lo und diefe Wahrfcheinlichkeit fteht nun derjenigen von Vio für 
die weifse Kugel fo gegenüber, dafs beide zufammen die Gewifs- 
heit ausmachen und dafs «wifchen der einen und der andern diefer 
beiden Möglichkeiten ein contradictorifcher Gegenfatz ftattfindet. 
Ganz wie wir oben beim disjunctiven Urtheil fahen, können 
nun auch zum Zweck der Wahrfcheinlichkeitsrechnung die Mög- 
lichkeiten beliebig getrennt und verbunden werden und immer 
wird fich zwifchen je zwei Summen, welche zufammen dem einge- 
theilten Ganzen entfprechen, der contradictorifche Gegenfatz wieder 
herftellen.' Unterfuchen wir z. B. beim Würfel, 



Pi Pz P3 P4 Ps Pt 



wie grofs die Wahrfcheinlichkeit ift, dafs eine mit einer ungraden 
Zahl bezeichnete Fläche nach oben kommt, fo haben wir das Mafs 
der Wahrfcheinlichkeit für /i, /s und p^ zu addiren. Wir finden 
^6 oder 1/2. Hieraus ergiebt fich fchon ohne fpecielle Unterfuchung, 
dafs auch das Mafs der Wahrfcheinlichkeit des contradictorifchen 
Gegentheils V2 ift> ^- b. dafs fich die Wahrfcheinlichkeiten für den. 
Wurf einer ungraden und den einer graden Zahl gleich ftehen 
Ihre Summe ift wieder die Gewifsheit Will ich wiffen, wie grofs 
die Wahrfcheinlichkeit ift, entweder i öder 6 zu werfen, fo habe 
ich die beiden entfprechenden Umfangsgebiete zu addiren j ich er- 
halte alfo Ve oder Vs ^^^ für das contradictorifche Gegentheil 2/3. 
Wenn in einer Urne 12 Kugeln liegen, welche mit den Zahlen 
I, 2, 3 u. f. w. bezeichnet find, fo ift die Wahrfcheinlichkeit eine 
der fieben erflen zu ziehen, offenbar '^/i2; die des contradictorifchen 
Gegentheils ^/jg. Ganz die gleiche Theilung in die entgegtnftehen- 
den Wahrfcheinlichkeiten tritt natürlich ein, wenn die Urne fieben 
blaue und 5 rothe Kugeln ohne weitere Bezeichnung enthält und 
es fich nur darum handelt, im erften Zuge eine blaue Kugel zu 
ziehen. In den Glücksfpielen ftellt fich die Wahrfcheinlichkeit des 
contradictorifchen Gegentheils dar als die Wahrfcheinlichkeit des 
Verlierens gegenüber der des Gewinnens. Ebenfo wird bei Wetten 
das Verhältnifs der einander entgegenftehenden Wahrfcheinlichkeiten 
zur Beurtheilung der Ausfichten auf Gewinn und Verluft angewandt. 
Hieraus ergeben fich vortreffliche Beifpiele zur Veranfchaulichung 



1X8 ^^ disjimctive Urthdl 

der Principien. Die Anwendung als folche, und daher namentlich 
auch die fo ungemein wichtige Anwendimg diefer Principien im 
Leben und in der Wiffenfchaft gehört nicht in das Gebiet der 
reinen, fondem in das der angewandten Logik, wo fie mit der 
Theorie der Induction in die engfte Verbindung tritt 

Wir haben alfo bis jetzt folgende Sätze aus dem Wefen des 
disjunctiven Urtheils abgeleitet 

1. Das Mafs der Wahrfcheinlichkeit ift ein Bruch, deflen Nenner 
die Summe aller möglichen Fälle, und deffen Zähler die Summe 
derjenigen Fälle umfafst, in welchen der Gegenftand der Wahr- 
fcheinlichkeit ftattündet 

Wie wir oben gefehen haben, kann man die Glieder einer Dis- 
junction zufammenziehen und theilen, ohne das Wefen des dis- 
junctiven Urtheils anzutailen. Ebenfo ift ganz felbftverftändlich, 
dafs man die auf die Wahrfcheinlichkeit eines und deffelben Er- 
eigniffes bezogenen Brüche in freiefter Weife mathematifch behan- 
deln kann. 

2. Die Wahrfcheinlichkeit eines Ereigniffes und diejenige des 
contradictorifchen Gegentheils machen ftets zufammen die Gewifs- 
heit aus. 

Das contradictorifche Gegentheil kann dabei natürlich fowohl 
in einer Summe verfchiedner andrer Erdgniffe beftehen, als auch 
in einem einzigen, wie z. B. beim Werfen einer Münze. Wenn 
zwei einfache oder zufammengefetzte Ereigniffe fich fo verhalten, 
dafs die Mafse ihrer Wahrfcheinlichkeit zufammen die Gewifsheit 
ausmachen, d. h. dafs eins derfelben nothwendig eintreten mufs, 
fo ftehen fie auch in contradictorifchem Gegenfatze. 

Wir geben nun dazu über, die Wahrfcheinlichkeit des Zu- 
fammentreffens zweier von einander unabhängiger Ereigniffe zu 
unter fuchen. Die Ereigniffe S und 5* mögen die Disjunction haben: 



^/ ^ ^ 



Vi 7^ 



dann ift, Gleichheit der Felder vorausgefetzt, die Wahrfcheinlichkeit 
von /i = ^3 und diejenige von q^ = V2- Es fragt fich nun, wie grofs 
die Wahrfcheinlichkeit fei, dafs /i und ^i zufammentreffen. Offen- 
bar kann mit pi fowohl ^i als ^2 ^it gleicher Wahrfcheinlichkeit 
zufammentreffen. Ebenfo aber mit p^ und /s- Da nun unfre Fel- 
der nur eine relative Bedeutung haben und ihre abfolute Gröfse 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 



119 



gleichgültig ift, fo können wir diefen Sachverhalt in folgender 
Weife zur Anfchauung bringen: 



% % % % % % 



Sobald das veranfchaulichende Raumbild fertig ift, lefen wir 
aus demfelben ab, dafs es fechs verfchiedne Fälle giebt, unter 
denen* nur einer der Vorausfetzung eines Zufammentreffens von /i 
und q\ entfpricht. Die Wahrfcheinlichkeit deffelben ift alfo Ve- 
Dabei ift es natürlich völlig gleichgültig, ob wir q^ und q^ auf die 
p\i P^f Pz vertheilen, oder umgekehrt. Man fieht auch leicht, dafs, 
wie man auch den Fall variiren möge, ftets das Product der bei- 
den Wahrfcheinlichkeiten als Wahrfcheinlichkeit des Zufammen- 
treiSfens fich ergeben mufs. Wir wollen annehmen, die Wahrfchein- 
lichkeit eines Ereigniffes Xic\ Va; die eines andern, Yj V4» fo ergiebt 
fich zur Beurtheilung des Zufammentreffens folgendes Raumbild: 



/^ 



^ 



% 



% 



% 



\r 



1^ 



ff 



% 



% 



% 



\1 



1^ 



% 



% 



% 



% 



Wir wollen annehmen, die dem Ereigniffe günftigen Fälle feien /i, 
p% und ^1, ^2> ^3> fo lieft J^an von der Zeichnung ab, dafs fechs 
Fälle dem fraglichen Zufammentreffen günftig find, während die 
Gefammtzahl der Fälle 12 beträgt. Wir haben alfo wieder für 
das Zufammentreffen der Ereigniffe X und F das Product der 
Wahrfcheinlichkeiten der ifolirten Ereigniffe, ^/i2 oder Va- 

Bei diefem Satze ift die Anwendung auf Fälle des täglichen 
Lebens eine befonders reiche und mannigfaltige. Auch läfst fich 
hier befonders deutlich einfehen, wie die principielle Klarheit, 
welche die mathematifchen Fundamentälformeln mit fich bringen, 
auch da noch von gröfster Bedeutung i^in kann, wo eine genaue 
Rechnung mit denfelben entweder nicht möglich oder nicht von 
hinlänglichem Nutzen ift. Zwar gehören diefe Anwendungen ftreng 
genommen nicht in die formale Logik, allein es ift doch gut, fchon 
hier einen vorläufigen Einblick in die Wichtigkeit diefes Gebietes zu 
gewinnen. Dies gefchieht am beften durch die Wahl einiger Beifpiele. 

Wenn ein Rechner in einem Bankgefchäft die Wahrfcheinlich- 
keit hat, fich unter 2000 Rechnungen einmal zu irren, und ein 



120 I^^s disjunctive Urtheil 

zweiter Rechner einmal unter 5000, fo wird die Wahrfcheinlichkeit, 
dafs beide zugleich irren, wenn fie denfelben Cours eines Papieres 
berechnen, auf i : 10 Millionen herabgedrückt. Noch ungleich ge- 
ringer und kaum abzufchätzen ift die Wahrfcheinlichkeit, dafs beide 
zugleich in derfelben Weife irren und daher wieder übereinftimmen ; 
es fei denn, dafs hierfür eine conftante Urfache in der Natur der 
Rechnung läge. — Eine Fangvorrichtung zur Sicherung des Förder- 
korbes in einem Schachte mag fo befchaffen fein, dafs fie unter 
lodo Malen, wo fie in Anfpruch genommen wird, einmal zu ver- 
fagen droht. Kann man nun an dem gleichen Förderkorbe eine 
zweite Vorrichtung, unabhängig von der erften, anbringen, welche 
die gleiche relative Sicherheit gewährt, fo ift die Wahrfcheinlich- 
keit des gleichzeitigen Verfagens beider nur i : i Million. Freilich 
kommen grade hier gar zu leicht conftante und gemeinfame Ur- 
fachen vor, welche auf das gleichzeitige Verfagen beider Verfiche- 
rungen, hinwirken: Unordnung und Sorglofigkeit, welche die 
Mafchinen verkommen läfst. Damit aber werden natürlich die 
Vorausfetzungen, auf welchen die Rechnung beruhte, aufgehoben. 
— Die Wahrfcheinlichkeit, dafs zwei Schüler in ihren 'Arbeiten 
zufällig den gleichen grammatifchen Fehler machen, fei i ; 20. 
Kommt dann das gleiche Factum in gleicher Arbeit viermal vor, 
fo ift die Wahrfcheinlichkeit eines rein zufälligen Zufam^ientreffens 
i:20* oder i : 160000, in welchem Falle man meiftens die Wahr- 
fcheinlichkeit eines nicht zufälligen Zufammentreffens ungleich gröfser 
veranfchlagen wird. — Wenn man bei einer Nachricht, welche 
fich durch Tradition fortpflanzt, die Wahrfcheinlichkeit, dafs der 
erfte Zeuge ganz richtig berichtet habe, zu ^/lo veranfchlagt, und 
wenn man der Einfachheit wegen den folgenden Zeugen immer 
die gleiche Glaubwürdigkeit beimifst, fo ift die Wahrfcheinlichkeit, 
dafs der Bericht noch immer richtig fei, nach 20 Zeugen fchon 
auf (®/io)*^^ herabgefunken, eine Zahl, welche kleiner ift als ein 
Achtel.*) 



*) Hier hatLotze, der fonft in anerkennenswertber Weife die Logik des Wahr- 
fcheinlichen behandelt, den Sinn der Behauptung wohl nicht richtig aufgefafst, wenn 
er (Logik S. 421 u. f.) die ganze Aufftellung als willkürlich und unhaltbar nachzu- 
weifen fucht. Von einer arithmetifchen Abnahme der Glaubwürdigkeit der Zeugen 
kann hier gar keine Rede fein. Ueberhaupt werden die Zeugen ja für fich jeder als 
gleich glaubwürdig betrachtet. Auch findet keine Veränderung der Bedingungen 
des Falles ftatt. Es handelt fich einfach, wie beim dritten Laplace'fchen Satze über- 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 



121 



Für den Wu|jf mit zwei Würfeln ftellt fich uns folgendes Raum- 
bild dar: 



r 



^ 



"V 



^ 



V 



^ 



"NT 



'4 Y 



-I— r 



^ 



Denkt man fich die Seiten der Würfel mit den Zahlen von i 
bis 6 bezeichnet, fo bedeutet /i die Wahrfcheinlichkeit, dafs mit 
dem erften Würfel i geworfen werde, qi dafs . mit dem zweiten 
Würfel I geworfen werde, u. f. w. — Welchen Würfel man dabei 
als erftön oder zweiten betrachten wolle, ift natürlich total gleich- 
gültig. Die Gefammtzahl der Möglichkeiten ift, wie man fieht, 6^ 
oder 36, und die Wahrfcheinlichkeit mit beiden Würfeln zugleich 
I zu werfen, ift Yse» ^3- das Zufammentreffen von /i und ^1 nur 
ein einziges Mal vorkommt. Ebenfo verhält es fich mit dem Zufam- 
mentreffen von p2) ^2; Ps) ^3 u. f. w. Will man dagegen die fämmt- 
lichen Würfe, welche gleiche Augenzahl ergeben, unter einem ge- 
meinfamen Oberbegriff zufammenfaffen, fo hat man für diefen die 
einzelnen Wahrfcheinlichkeiten, welche unter diefen Oberbegriff 
fallen; zu addiren. Man nenne einen folchen Wurf mit gleichen 
Augen einen Pafch, foift die Wahrfcheinlichkeit feines Eintretens, 
wie man fieht, ^/ae oder Ve- — 

Das Zufammentreffen in unmittelbarer zeitlicher Succeffion 
wird unter dem gleichen Raumbilde angefchaut, wie das Zufam- 
mentreffen in räumlicher Ausbreitung. Wir haben daher auch für 
die Wahrfcheinlichkeit, mit einem einzigen Würfel zweimal nach- 
einander 6 zu werfen, den Werth */3ß, zweimal nacheinander über- 
haupt die gleiche Zahl Augen zu werfen Ve "• ^- w. — Die Wahr- 
fcheinlichkeit in zwei Würfen mindeftens einmal fechs zu werfen, 



haupt, UKi eine Combination der möglichen Fälle, die fofort ganz klar wird, wenn 
man auf das zu Grunde liegende disjunctive Urtheil zurückgeht: die Ausfagen des 
Zeugen find entweder wahr oder falfch, und zwar in je neun Fällen wahr und in 
einem falfch. Alfo ift die Wahrfcheinlichkeit, dafs er in die fem beftimmten 
Falle richtig ausfage, bei jedem einzelnen Zeugen = ^/lo; dafs dies aber 20 Mal 
nacheinander der Fall fei und nie die unrichtige Ausfage eintrete, hat die Wahr- 
fcheinlichkeit (^lio)^. Dafs fich diefe Rechnung nicht an die Stelle der hiftorifchen 
Kritik fetzen kann, ift durchaus felbftverftändlich. Sie ift aber fehr geeignet , derfel- 
ben in einem einzelnen beftimmten Punkte ihrer reichen Methodologie Licht zu geben. 



122 



Das disjunctive Urtheil 



n 



M 



läfst fich ebenfalls an unferm Raumbild miti^eichtigkeit ablefen. Wir 
finden unter /e ^echs günftige Combinationsfälle, die daraus ent- 
ftehen, dafs gleich im erften Wurf die Zahl 6 getroffen wird; da- 
neben bleibt dann noch je ein günfliger Fall, q^, unter /i bis /s 
für den zweiten Wurf. Wir erhalten alfo ii günftige Fälle und 
die gefuchte Wahrfcheinlichkeit ift "/gß. — Für die Wahrfcheinlich- 
keit aus einer Urne in drei aufeinander folgenden Zügen minde- 
ftens einmal eine beftimmte, z. B. blaue Kugel zu ziehen, wenn 
die Urne drei Kugeln, blau, roth und grün, enthält und die ge- 
zogene Kugel jedesmal wieder eingelegt wird, können wir folgen- 
des Raumbild aufllellen: 



1 


2 


3 


4 


2 


3 


4 


2 


3 


1 


2 


3 


i 


2 


J 


1 


2 


3 


1 


2 


3 


i 


2 


3 


1 


2 


3 


i 


2 


2 


1 


2 


3 


1 


2 


3 


i 


2 


3 



/, //, /// bedeuten den erften, zweiten, dritten Zug^; i, 2| 3 die 
drei Möglichkeiten, welche fich bei jedem Zuge ergeben. Es feien, 
in diefer Reihenfolge, i, 2,^3, blau, roth und grün! Dann bedeu- 
tet z. B. die Zahlenreihe für den zweiten Zug: 

1 = blau, wenn im erften Zuge ebenfalls blau gezogen wurde. 

2 = roth, wenn im erften Zuge blau gezogen wurde. 

3 = grün, 

1 = blau, ... - roth 

2 = roth, ----- 

u. f. w. 
Die Zahlenreihe ///; 

1 = blau, wenn im erften und zweiten Zuge ebenfalls blau ge- 

zogen wurde. 

2 = roth, wenn im erften und zweiten Zuge blau gezogen wurde. 

3 = grün, - - 

u. f. w. 

In der dritten Reihe haben die einzelnen Felder nur Vs ^^^ 
Ausdehnung von derjenigen der Felder erfter Reihe. Dafür kann 
man je ihrer neun wieder zufammenfaffen, die eine vollftändige 



j 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 123 

Disjunctionsreihe bilden. So z. B. wenn man fämmtliche mit i be- 
zeichnete Felder in der dritten Reihe zufammen fucht: 

i) blau wenn //blau und /blau 

2) - - - roth - - - 

3) - - - grün - - - 

4) - - - blau - - roth 

5) - - - roth - - - 

6) - - - grün - - 

7) - - - blau - - grün 

8) - - - roth - - - 

9) - - - grün - - - 

Diefe neun Fälle umfaffen die Summe aller Möglichkeiten, 
unter welchen blau im dritten Zuge überhaupt vorkommen kann, 
und die Summe diefer neun Felder mufs alfo, entfprechend der 
relativen Wahrfcheinlichkeit von blau, genau gleich grofs fein, wie 
die Summe der 3 mit i bezeichneten in der zweiten Reihe und 
wie das einzige mit i bezeichnete Feld in der erften Reihe. Es 
ift auch wieder ganz gleichgültig, ob man die erfte Reihe in 3 
und die letzte in 27 Felder theile oder umgekehrt. Das Bild der 
Wahrfcheinlichkeitsverhältriiffe bliebe daffelbe. Man mufs dann 
nur die Möglichkeit der Combinationen fchon beim erften Wurfe 
zum Voraus erwägen, während man bei der natürlicheren Folge 
der Reihen diefe Combinationen mit fammt ihrer Regel unter feinen 
Händen entftehen fieht. 

Während fo die Zufammenftellung der überhaupt möglichen 
Fälle fich von felbft ergiebt, mufs dagegen bei der Beftimmung 
der Summe der günftigen Fälle oft befondre Aufmerkfamkeit an- 
gewandt werden. So z. B. bei der Frage nach der Wahrfchein- 
lichkeit mit. 2 Würfeln 4 oder 7 zu werfen. Die erftere Mög- 
lichkeit fetzt . fich zufammen aus 1 + 3, 2 + 2 und 3 + 1, 
ift alfo = ^36 oder Y12; ^i^ andre aus 1+6, 2 + 5, 3+4, 
4+3> 5 + 2, 6-4-1, ift alfo = Vae oder Vc- Auch hiefiir kann 
das entfprechende Raumbild fiebere Anleitung geben. Das Nähere 
jedoch über diefe und manche andre zufammengefetztere Anwen- 
dung der fchon erörterten Grundfätze würde uns hier zu weit führen. 
Wir haben hinlänglich gezeigt, daTs auch folgender fehr wichtiger 
Grundfatz der Wahrfcheinlichkeitsrechnung mit allen feinen Confe- 
quenzen aus dem Wefen des disjunctiven Urtheils fliefst. 

3. Das Mafs der Wahrfcheinlichkeit|[fiir das räumliche oder zeit- 



124 



Das (iisjunctive Urtheil 



liehe Zufammentreffen zweier oder mehrerer von einander unab- 
hängiger zufälliger Ereigniffe ift das Product der Wahrfcheinlich- 
keiten der einzelnen Ereigniffe. 

Wenn man in einer Urne zwei weifse Kugeln und eine fchwarze 
hat, fo kann man auch annehmen, dafs zweimal gezogen werde, 
ohne dafs die gezogene Kugel, wie in den bisherigen Fällen, zu- 
rückgelegt wird. Fragt man nun, wie grofs in diefem Falle die 
Wahrfcheinlichkeit ift, zweimal nacheinander eine weifse Kugel zu 
ziehen, fo dafs die fchwarze allein übrig bleibt, fo find die Be- 
dingungen des zweiten Zuges durch den Erfolg des erften verändert. 
Wir können dies in folgendem Bilde darftellen: * 





/ 


z 


3 










/ 








// 


/ 


X 


3 



Anfangs ift im /. Zuge, wenn die Urne nur eine fchwarze und 
zwei weifse Kugeln enthält, die Wahrfcheinlichkeit eine weifse zu 
ziehen, unzweifelhaft 2/3. Nun aber ift für den zweiten Zug das 
Problem fo modificirt, dafs nicht mehr drei, fondern nur noch zwei 
Möglichkeiten vorhanden find. Diefe Veränderung ftellen wir da- 
durch dar, dafs wir eins der drei Felder in //. Reihe durchkreu:S!n, 
einerlei welches; es fei das mittlere. Wir haben nun hier nur 
noch zwei Möglichkeiten, und die Wahrfcheinlichkeit eine weifse 
Kugel zu ziehen, ift offenbar ^'2, <^a das vertilgte dritte Feld durch 
Ziehung der erften weifsen Kugel in Wegfall gekommen ift. Will 
man nun ftatt diefer einfachen Wahrfcheinlichkeiten für den erften 
und zweiten Zug fchon gleich von vorn herein wiffen, wie grofs 
die Wahrfcheinlichkeit ift, zweimal nacheinander die weifse. Kugel 
zu ziehen, fo darf man nur die beiden Möglichkeiten des zweiten 
Zuges auf die drei des erften projiciren: 



w 


w 


s 


w 1 s 


• 

w \ s 

« 1 _ 


w 1 ^ 

• 



und man ficht alsbald, dafs die gefuchte Wahrfcheinlichkeit Ve 
oder */3 ift. -— Man kann in diefem Falle auch annehmen, es fei 
unbekannt, was für eine Veränderung die Zurückführung der Wahr- 



und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre, 125 

fcheinlichkeit von 2/3 im erften Zuge auf V3 für das Schlufsrefultat 
herbeigeführt habe. Es mufs jedoch ein mit dem urfprünglichen 
Ereignifs zufammentreffendes gewefen fein, welches fähig war, die 
Wahrfcheinlichkeit deffelben auf die Hälfte zu reduciren. Wenn 
es z. B. feftfteht, dafs fiir eine gewiffe Ausfaat in der Regel zwei 
Drittel der Keime aufgehen; fo hat alfo jedes einzelne Saatkorn 
a priori die Wahrfcheinlichkeit von 2/3 aufzugehen. In einem 
beftimmten Falle nun ftelle es fich heraus, dafs nur 1/3 ^^^ Saat 
aufgegangen ift, alfo jedes Saatkorn die Wahrfcheinlichkeit von 
*/3 gehabt hat, aufzugehen. Man fchliefst daraus auf eine Ur- 
fache, welche die Hälfte der Keime vernichtet hat und unter 
deren alleinigem Einfluffe alfo die Wahrfcheinlichkeit des Auf- 
komnriens V2 gewefen wäre. Die Divifion der beobachteten Wahr- 
fcheinlichkeit durch die urfprünglich gegebene wird diefen Factor, 
der übrigens auch ein zufammengefetzter fein kann, nach der Seite 
der formalen Wahrfcheinlichkeit des Ereigniffes, welche er mit fich 
bringt, herausftellen. Man kann daher diefen Fall als eine Rück- 
operation des vorhergehenden betrachten. Aus diefen Erwägungen 
laffen fich zwei Sätze ableiten, die Laplace in etwas anderer 
Faffung als vierten und fünften Grundfatz der Wahrfcheinlichkeits- 
rechnung aufftellt. Sie find jedoch in der Anwendung mit Vorficht 
zu behandeln und es fragt fich noch, ob fie den Namen felbftän- 
diger Grundfätze verdienen und nicht vielmehr als blofse Anwen- 
dungen des vorhergehenden Grundfatzes zu betrachten find: 

4. Wenn ein Ereignifs A in einer gewiffen Anzahl von Fällen 
durch ein andres B hervorgebracht wird, fo ift die Wahrfcheinlich- 
keit von Ay gleich der Wahi'fcheinlichkeit von B multiplicirt mit 
der Wahrfcheinlichkeit (7'), mit welcher A von B hervorgebracht wird. 

5. Wenn man die Wahrfcheinlichkeit zweier, fich wie A und 
B verhaltender Ereignifle hat, kann man das Mafs der Abhängig- 
keit des Ereigniffes B von Ay die Wahrfcheinlichkeit y* dadurch 
finden, dafs man das Wahrfcheinlichkeitsmafs von B durch das- 
jenige von A dividirt. 

Will man bei der blofscn Modification der Wahrfcheinlichkeit 
durch einen Eingriff in die Bedingungen flehen bleiben, fo bietet 
fich hiefür folgendes einfache Raumbild dar: 

2 3'^' P \n 



126 ^^ disjunctive Urtheil und die Elemente der Wahrfcheinlichkeitslehre. 

Wir haben n Glieder, darunter / günftige. Nehme ich nun 
eins der letzteren und damit auch eins der erfteren hinweg, fo 

verwandelt fich die Wahrfcheinlichkeit, welche vorher — war, in 

n 
p — I 
' , d. h. fie wird etwas gröfser. Dies ift, in allgemeinerer Form, 

der Fall der Entnahme einer weifsen Kugel aus einer Urne, welche 
in der Gefammtzahl n^ p weifse enthält. Die Wahrfcheinlichkeit, 
in diefer Weife mehrmals nacheinander weifs zu ziehen, ift als- 
dann wieder das Product der einzelnen Wahrfcheinlichkeiten , alfo 

/ (/— I) . 
n \n—i) 

Die übrigen Grundfätze von Laplace, fo intereffant und wich- 
tig fie auch fein mögen, enthalten nirgend ein neues Formalprincip, 
fondern gehören in die angewandte Logik, und theil weife auf die 
pfychologifche Seite der Erkenntnifstheorie. Es genügt aber für 
unfern Zweck vollftändig, dafs die formalen und apriorifchen Grund- 
lagen der Wahrfcheinlichkeitsrechnung aus dem Wefen des dis- 
junctiven Urtheils hervorgehn, dafs fie ihre axiomatifche Kraft aus 
der Anfchauung ziehen, und dafs diefe Anfchauung am allgemein- 
ften und überzeugendften an denfelben einfachen linearen Raum- 
bildern gewonnen werden kann, welche auch zur Darftellung der 
Eigenthümlichkeiten des disjunctiven Urtheils dienen. 



VI. 

Baum 9 Zeit und Zahl. 



Die wichtigften Refultate, welche fich uns bisher ergeben 
haben, mögen etwa folgende fein : Die formale Logik hat als apo- 
diktifche Wiffenfchaft einen Werth, der von ihrer Nützlichkeit ganz 
unabhängig ift, da jedem Syftem a priori gültiger Wahrheiten die 
höchfte Beachtung zukommt. Eben deshalb mufs auch die formale 
Logik von den erkenntnifstheoretifchen Betrachtungen gefondert 
behandelt werden, da nur der reinen Technik der Begriffe jene, 
der Mathematik vergleichbare Apodikticität zukommt. Diefe be- 
ruht auf der räumlichen Anfchauung. — In die ariftotelifche 
Logik find mancherlei fremdartige Beftandtheile aus feiner meta- 
phyfifchen Erkenntnifstheorie eingedrungen, fo namentlich die Lehre 
von der Modalität der Urtheile, bei deren Prüfung fich zugleich 
herausftellt, dafs die Begriffe der Möglichkeit und der Nothwen- 
digkeit keine logifche Selbftändigkeit haben, fondern auf die Be- 
griffe des Allgemeinen und des Befondern zurückzuführen find. 
Die Stellung des affertorifchen Urtheils zwifchen dem problemati- 
fchen und apodiktifchen wurde als falfch erkannt, und dem affer- 
torifchen, fofern es Thatfachen ausfpricht, der höchfte Grad der 
Gewifsheit zuerkannt Bei der Betrachtung des particularen Urtheils 
trat uns mit befondrer Deutlichkeit der Unterfchied zwifchen der 
alten und der modernen Logik entgegen. Die erftere ift durch- 
weg Logik des Inhalts, die letztere Logik des Umfangs. Noch 
nirgend confequent durchgeführt, macht fie fich doch unter dem 
allgemeinen Einflufs der modernen Denkweife überall geltend. Sie 
fchliefst fich naturgemäfs an die höheren Gebiete der Logik an, 



128 Raum, Zeit und Zahl. 

welche erft in der Neuzeit entftanden find, und die Begründung 
der apodiktifchen Sätze auf die räumliche Anfchauung tritt in ihr 
deutlicher hervor als in der alten Logik. Eine ziemliche Anzahl 
yon Mifsverftändniffen und Fehlern ift aus der Vermengung beider 
Standpunkte entftanden. Die in neuerer Zeit üblich gewordene 
Darftellung der Begriffsverhältniffe durch Sphärenbilder fchwankt 
noch zwifchen Veranfchaulichung und Beweis. Einzelne Logiker 
nehmen die Sphärenbilder als beweifend an, ohne die Confequen- 
zen diefer Annahme hinlänglich zu beachten. Wenn die Sphären- 
bilder der Begriffsverhältniffe beweifend fein foUen, fo muffen fich 
auch aus der confequenten Entwicklung ihrer überhaupt möglichen 
Combinationen fämmtliche Regeln der Syllogiftik, fowie der Um- 
kehrung der Urtheile ergeben. Dies wird thatfächlich nachgewie- 
fen und damit der Begründung der logifchen Apodikticität auf 
räumliche Anfchauung eine neue Stütze gegeben. In der Syllogi- 
ftik wird die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen Anficht vom Werthe 
der verfchiednen Schlufsformen gezeigt und dargethan, dafs grade 
diejenigen Formen, welche ihrer Natur nach nicht diirch den Real- 
grund als Mittelbegriff fchliefsen, in den neueren Wiffenfchaften 
die gröfste Bedeutung erlangt haben. Endlich wurde gezeigt, dafs 
das disjunctive Urtheil fich von allen andern Urtlieilsformen 
unter fcheid et, und dafs es die Grundlage bildet für die höheren 
Gebiete der modernen Logik, insbefondere für die Wahrfcheinlich- 
keitsrechnung. Die fundamentalen Sätze derfelben liefsen fich aus 
dem Wefen des disjunctiven Urtheils ableiten und an einfachen 
linearen Raumbildern, identifch mit denjenigen für das disjunctive 
Urtheil, zur Anfcl^auung bringen und damit beweifen. 

Wir fehen, wie fich durch alle Neuerungen die Bedeutung des 
Raums und der räumlichen Anfchauung hindurchzieht. Zwar liegt 
das Raumbild auch der alten Logik zu Grunde, allein erft in der 
modernen, welche die Begriffsverhältniffe nach dem Umfang der 
Begriffe ordnet, und welche diefen Umfang als ein coUectives 
Ganze betrachtet, ficht man unmittelbar denZufammenhang zwi- 
fchen der Apriorität der Sätze und der räumlichen Anfchauung. 
Die collective Auffaffung des Begriffs, welche Leibnitz (f. oben 
S. 72. f.) als einen fo fchweren Fehler des Nizolius betrachtete, ift 
der modernen Logik wefentlich, und es haben alfo in ihr in der 
That, was Leibnitz fo fehr befürchtete, die Empiriker gefiegt. 
Zunächft freilich gilt diefer Sieg nur für die logifche Technik, und 






Raum, Zeit und ^aht. 129 

wenn es den Metaphyfikern beliebt, nach wie vor den Gemeinbe- 
g^riff als ein ^totum difiributivunnk aufzufaffen, fo haben fie fich 
nur darüber auszuweifen, dafs bei vorkommenden Schlüffen ihre 
Begriffe fich in formaler Hinficht genau fo verhalten, als feien fie 
CoUecti vbegriffe , denn nur für diefe ift die Apriorität der Begriffs- 
verhältniffe aus der räumlichen Anfchauung zu entnehmen. 

Für unfre erkenntnifstheoretifche Unterfuchung aber fteht es 
keineswegs feft, dafs die Empiriker gefiegt haben; handelt es fich 
doch eben um den Urfprung apriorifcher Elemente, die wir in der 
Logik wie in der Mathematik vorfinden. Allerdings ift jenes blitz- 
fchnelle Durchprobiren mannigfaltiger Variationen innerhalb des vom 
Begriff gegebenen Gefetzes der Erfahrung verwandt, allein es ift 
doch etwas ganz Andres als Erfahrung. Der ganze Vorgang 
bleibt in uns. Es bedarf keines erneuten, ja nicht einmal eines 
crften Anftofses von Aufsen, um die Wahrheit eines Satzes zu er- 
kennen. Immerhin aber ift fo viel richtig, dafs die apriorifchen 
Urtheile nicht fertig im Geifte liegen, fondern dafs fie, ganz wie 
die Erfahrungsurtheile, durch einen plötzlichen Act pfychifcher 
Synth efis gefchaffen worden. Sie find daher auch, ganz wie die 
Erfahrungsurtheile, wiewohl in ungleich geringerem Grade, dem 
Irrthum unterworfen; was ihrem Anfpruch auf Nothwendigkeit 
keinen Eintrag thut, fo lange der Irrthum nicht entdeckt und wi- 
derlegt wird.*) Soll man nun, bei diefer allerdings fchlagenden 



*) Vgl. Gefch. d. Materialismus. 2. Aufl. II. S. 20. u. f. — Wenn Göring 
in feinem verdienftlichen Verfuch einer Kritik der Vemunftkritik (Syftem der krit. Phi- 
lofophie II. Leipz. 1875. S. 153) bemerkt, es komme ihm mir gegenüber haupt- 
fächlich darauf an, zu beweifen, dafs man dem objectiven, wie dem fubjectiven 
Factor in der Erkenntnifs das gleiche Recht widerfahren laffen muffe, fo ift dem 
gegenüber zunächft der Sinn von »objectiv« und »fubjectiv« in's Klare zu ftellen. 
Man braucht diefe Ausdrücke jetzt oft wie »äufserlich« (im Sinne von an fich be- 
ftehenden Dingen) und »innerlich« d. h. aus dem empirifch erkannten eignen Leib 
und feinen pfychifchen Functionen ftammend. Auck wird »objectiv« als an fichr 
gewifs, »fubjectiv« als blofs individuell angefehen. Der urfprüngliche Gebrauch 
diefer Ausdrücke ift davon fehr verfchieden. Kant hat zur Umbildung, nicht auf 
dem Wege abfichtlich veränderter Nomenclatur, fondern durch Sinn und Inhalt feiner 
Philofophie felbft, den Anftofs gegeben und die Mifsverftändniffe feiner Nachfolger 
thaten das Weitere. Ygl. z. B. folgende Stelle in der Kritik der r. Vern. (Elementarl. 
II. Th., II. Abth., I. Buch, 2. Abfchn.), an welcher der Uebergang der Bedeutun- 
gen deutlich hervortritt. »Wenn man eine Idee nennt, fo fagt man dem Object 
nach (als von einem Gegenftande des reinen Verftandes) fehr viel, dem Sub- 
jecte nach aber (d. i. in Anfehung feiner Wirklichkeit unter empirifcher 
Lange, Logische Studien. 9 



130 Raum, Zeit und Zahl, 

Analogie den Vorgang in der Anfchauung aus demjenigen in der 
Erfahrung ableiten, oder umgekehrt, oder etwa beide aus einem 
gemeinfamen Princip? Erfteres fcheint unmöglich, da die Erfahrung 
felbft der Erklärung bedarf; vor allen Dingen hinfichtlich der 
Raumform und des Zufammenhangs in ihren Erfcheinungen. Die 
empiriftifche Raumlehre der Phyfiologen leiftet vortreffliche Dienfte 
zur Erklärung der Ausbildung und Vervollkommnung unfrer Raum- 
vorftellungen, aber den erften Urfprung derfelben vermag fie nicht 
zu erklären; den Raum felbft fetzt fie überall fchon voraus. Auch 
Lotze's berühmte Theorie der Localzeichen in den Empfindungen 
fetzt den Raum fchon im erften Anfange voraus; denn wie kann 
eine Empfindung Localzeichen fein, wenn nicht das Princip der 
Localifation und damit eine Raumvorftellung fchon gegeben wäre. 
Darin wird alfo Kant wohl Recht behalten: Die Vorftellung des 
Raumes kann »nicht aus den Verhältniffen der äufseren Erfchei- 
nung durch Erfahrung erborgt fein, fondern diefe äufsere Erfahrung 
ift nur durch gedachte Vorftellung allererft möglich«. Aber gilt 
nicht daffelbe auch für jene Anfchauung, aus welcher wir die 
Wahrheiten der Mathematik und der formalen Logik ableiten? 
Kant verfährt hier fehr kurz, indem er aus der Nothwendigkeit 
der Raumanfchauung ohne Weiteres die apodiktifche Gewifsheit 
aller geometrifchen Grundfätze ableitet. Wie diefe Apodikticität zu 
Stande komme, kümmert ihn weiter nicht. Es fcheint bei ihm 
der Gedanke zu Grunde zu liegen, dafs mit der Nothwendigkeit 
des Raumes auch die Nothwendigkeit feiner Eigenfchaften gege- 
ben fei, welche eben durch die Geometrie entwickelt werden. Man 
kann dies zugeben; gleichwohl bleibt die Entftehung der bewufs- 
ten Urtheile über die Eigenfchaften des Raumes an einen Pro- 
cefs gebunden, welcher demjenigen der Induction fehr nahe ver- 
wandt ift. Diefen Procefs bis auf das Innerfte zu verfolgen, ift 
ebenfo noth wendig, als die Eigenfchaften des Raumes mit der 
Natur unfres Geiftes in Verbindung zu bringen. Gehen wir alfo 
auf unfre obige Frage zurück, fo dürfte es wohl möglich fein, die 
fynthetifche Natur der Erfahrung aus derjenigen der Anfchauung 
abzuleiten, da ja in jeder Erfahrung Anfchauung enthalten fein 

Bedingung) eben darum fehr wenig, weil fie als der Begriff eines Maximum in 
concreto niemals congruent kann gegeben werden.« — So viel als eine allgemeine 
Erinnerung. Pas Weitere in Bezug auf Göring's Kritik mufs hier leider dahingeftellt 
bleiben. 



^aum, Zeit und Zahl. J31 

mufs. Beides aus einem gemeinfamen Princip abzuleiten, wird 
nicht wohl angehen, da die Anfchauung allenthalben, wenn auch 
ohne Bewufstfein des Subjectes, die allgemeinften Principien der 
Raumformen,, und damit indirect aller Erfcheinungen , hergiebt 
Infofern ift alfo Erfahrung abhängig von der Anfchauung, allein 
die Anfchauung felbft bedarf noch der weiteren Erklärung. 

Kant überhebt fich diefer Erklärung mit jenem kühnen Griff, 
welcher der ganzen Vemunftkritik ihr eigenthümliches Gepräge 
giebt: er poftulirt gegenüber der empirifchen Anfchauung die »reine 
Anfchauung«, umgeht damit den Boden der Pfychologie und macht 
die Erkenntnifstheorie zu einer rein metaphyfifchen Wiffenfchaft, 
welche ihre Lehren aus lauter Poftulaten deducirt. Die empirifche 
Anfchauung definirt Kant fogar in der Regel fo, dafs fie faft mit 
der Erfahrung zufammenfällt, indem er in beiden Fällen verlangt, 
dafs der Gegenftand äufserlich gegeben fei und unfre Sinnlichkeit 
errege. Aus zahlreichen andern Stellen und dem ganzen Zufam- 
menhang, in welchem von »Anfchauung« die Rede ift, geht jedoch 
hervor, dafs Kant unter Anfchauung auch die Vorftellung eines 
Gegenftand es in der Phantafie mit verfteht, und dies ift, fo 
lange man den pfychologifchen Boden nicht verläfst, von der ent- 
fcheidendften Bedeutung. Die Lehrfätze der Geometrie und die Grund- 
züge der formalen Logik erhalten ihre apriorifche Geltung aus- 
fchliefslich mit Hülfe der Phantafie, fei es nun, dafs eine Beweis* 
figur dabei benutzt werde, oder nicht. Denn die gezeichnete Figur 
ift ja in diefem Falle felbft Product der Phantafie und an ihre 
Modification in der Phantafie knüpft fich die Vorftellung der Noth- 
wendigkeit und Allgemeinheit der Regel. Dabei kommt es gar 
nicht darauf an, ob nicht etwa die Leiftungen der Phantafie erft 
durch äufsere Erfahrung möglich werden. Diefe offene Frage kann 
man ruhig zukünftigen pfychifchen Forfchungen überlaffen. Auf 
jeden Fall geht die Phantafie — fo namentlich in der Erforfchung 
mathematifcher Wahrheiten — weit über die Anregungen der Er- 
fahrung hinaus und verfolgt dabei ftreng die Richtfchnur unabän- 
derlicher Gefetze, welche in nichts Anderem als in der Natur unf- 
rer Raumvorftellung ihren Grund haben können, und welchen des- 
halb auch die gefammte Erfahrung apriori unterworfen fein mufs. 

Kant genügte diefe Ableitung des Apriori nicht, die übrigens 
ja auch nach unfrer Anficht noch durch eine Unterfuchung über 
das Wefen der Raumvorftellung ergänzt werden mufs. Er poftu- 

9* 



132 Ranm, Zeit und ZahK 

lirte die »reine Anfchauung«, wie er die reine Raumform poftulirte, 
während er doch fehr wohl wufste, dafs die empirifche Raumvor- 
ftellung niemals ohne die Vorftellüng eines ausgedehnten Gegen- 
ftandes fein kann. 

Was ift nun diefe reine Anfchauung? Streng genommen 
ift fie gar keine Anfchauung, fondern nur die im Gemüthe bereit 
liegende Form aller Anfchauung. Diefe »Forma kann nicht felbft 
wieder »angefchauta werden, weil dazu Empfindungsmaterial nöthig 
wäre; wenn man nicht ein befondres überfmnliches Anfchauungs- 
vermögen annehmen will. Kant ift hier andrer Anficht und will 
das Unvereinbare vereinigen. Er behauptet, wenn ich von der 
Vorftellüng eines Körpers alles abfondre, was fich irgend abfon- 
dern läfst, wie Theilbarkeit, Härte, Farbe u. f w.,.fo bleibe zuletzt 
noch übrig Ausdehnung und Geftalt, und diefe foUen nun zur 
reinen Anfchauung gehören, »die a priori, auch ohne einen wirk- 
lichen Gegenftand der Sinne oder Empfindung als eine blofse Form 
der Sinnlichkeit im Gemüthe ftattfindet«. — Aber kann ich mir 
wirklich Ausdehnung und Geftalt eines Körpers vorftellen ohne 
Umrifslinien ? Und find diefe ohne Empfindung, beziehungsweife 
in der Phantafie vorgeftellte Empfindung möglich? — Kant's Er- 
klärer Mellin (Wörterbuch u. »Anfchauung«) nimmt hier die 
Stadt Magdeburg als Beifpiel. Wenn ich fie mir wegdenke, fo 
bleibe doch noch der Raum übrig, den fie eingenommen und die 
Anfchauung diefes Raumes fei eine reine Anfchauung. Man darf 
hier wohl fragen : Wie ift denn diefer Raum in meiner Vorftellüng 
befchaffen? Sehe ich an der Stelle, wo Magdeburg ftand, Aecker 
und Wiefen, die ruhig dahinfliefsende Elbe in ungeftörtem Zufam- 
menhang, als ob hier nie eine Stadt geftanden? Oder fehe ich 
einen dunkeln Fleck von den Umriffen der Stadt Magdeburg ? Im 
erfteren Falle habe ich keine Anfchauung überhaupt mehr, auch 
nicht von der Raumform der Stadt Magdeburg, wiewohl der Raum, 
den fie eingenommen, in gewiffem Sinne noch da ift. Im letzteren 
Falle habe ich eine empirifche Anfchauung, denn der dunkle 
Fleck hat feine ihm entfprechende Empfindung, fo gut, wie vorhin 
das ausgeführte Bild der Stadt. Die Erfcheinungen, welche fich 
an den blinden Fleck auf der Netzhaut knüpfen, können vortreff- 
lich dienen, dies weiter zu illuftriren. — Die Sache wird um kein 
Haar anders, wenn man an die Stelle der Stadt Magdeburg die 
einfachften mathematifch begrenzten Körper fetzt, z. B. einen Würfel 



Raum, Zeit und Zahl. 133 

aus Elfenbein. Hier kann man auch den Stoff durch Abftraction 
wegfchaffen und die reine Form des Würfels übrig laffen: man 
wird fie doch iTie ohne Beimifchung von Empfindung »anfchauen« 
können, fo wenig man fich überhaupt auch die einfachfte geome- 
trifche Figur vorftellen kann, ohne dafs die Umrifslinien in der 
Phantafie eine etwas andre Färbung annehmen, als der Hintergrund. 
Damit ift aber bewiefen, was im Grunde fchon direct aus Kanfs 
Definition der Anfchauung folgt, dafs alle wirkliche Anfchauung 
auch empirifche Anfchauung, und dafs die reine An- 
fchauung gar keine Anfchauung ifl. 

Wir laffen hier dahingeftellt, wie diefe unabweisbare Zurecht- 
ftellung auf die transfcendentale Erörterung des Begriffs vom 
Räume zurückwirken mufs. Für uns bedürfte es einer reinen An- 
fchauung nicht mehr, da wir den Grund der Apriorität der mathe- 
matifchen Urtheile fchon in der empirifchen finden. Es bleibt 
jedoch Kanfs Poftulat beliehen, dafs es für das Zuftandekommen 
der empirifchen Anfchauung einen Grund im Subject geben muffe; 
dagegen kann nicht mehr behauptet werden, dafs diefer Factor 
die reine Form der Anfchauung im Gegenfatze zur Materie fei, 
welche der Empfindung angehöre. 

Wir haben gefehen, dafs bei allen Erkenntniffen apriori, welche 
fich auf die unmittelbare Anfchauung in der Phantafie ftützen , eine 
Regel, oder, was hier daffelbe ift, ein Begriff, leitend eintritt. Ohne 
diefen Begriff würde die Variation der Raumbilder ein leeres, nichts 
beweifendes Spiel fein. Und doch liegt die Beweiskraft in der 
Anfchauung; ja, der Begriff felbft wird durch die Anfchauung 
erft fixirt. Es ift daher anzunehmen, dafs im Wefen der An- 
fchauung ein objectiver Factor liege, welcher dem fubjectiven 
Apriori entfpricht und daffelbe beherrfcht. Hinter dem Ueberzeu- 
gungsgrunde, den wir in der empirifchen Anfchauung finden, läge 
alfo noch ein Realgrund , der zwar nicht »reine Anfchauung a, aber 
doch ebenfo wenig empirifche ift, der fich zur empirifchen verhält, 
wie die allgemeine Urfache zur einzelnen Wirkung, wie eine be- 
harrende und für die ganze Menfchheit gleich geltende Grundlage 
zu den aus ihr hervorgehenden und verhältnifsmäfsig fpät entwickel- 
ten bewufsten Erkenntniffen der einzelnen Menfchen. Man kann 
diefen Realgrund nicht deduciren, weil er kein Begriff, fondern 
nur eine wie immer geartete Urfache von Begriffen ift. 

Das Raumbild eines Gegenftandes, z. B. eines Dreiecks, wird 



134 Raum, Zeit und Zahl. 

alfo beftimmt durch den Begrifif des Gegenftandes ; diefer Begriff 
aber wird erft gegeben durch die betreffende Anfchauung. Die 
Art, wie fich hier Begriff und Anfchauung zu einander verhalten 
und namentlich die Variation des Raumbildes innerhalb der durch 
den Begriff gegebenen Regel entfpricht faft voUftändig demjenigen, 
was Kant das Schema und den Schematismus der Begriffe 
nennt. Diefe Lehre ift, wenn man vom transfcendentalen Gebrauch 
derfelben ganz abfieht, ebehfo richtig als bedeutungsvoll: eine wahre 
Entdeckung für Logik und Pfychologie zugleich. Noch lange nach 
Kant haben fich die Pfychologen vergeblich darüber den Kopf 
zerbrochen, wenn fie nicht gedankenlos über die Frage hinwegge- 
gangen, was das pfychologifche Wefen des Begriffs fein möge, da 
wir ja doch in unferem Vorftellungsleben nichts als einzelne An- 
fchauungen vorfinden. In Kant's Lehre vom Schematismus der 
Begriffe hatten fie die Löfung des Räthfels in der Hand. »Der 
Begriff vom Hunde«, fagt Kant fehr richtig, »bedeutet eine Regel, 
nach welcher meine Einbildungskraft die Geftalt eines vierfüfsigen 
Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige 
befondere Geftalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein 
jedes mögliche Bild, was ich in toncreto darftellen kann, einge- 
fchränkt zu fein.« Kant irrte nur darin, wenn er diefen Schema- 
tismus einfeitig dem Verftande zufchrieb, während er offenbar ein 
Werk der Phantafie ift, die in der Production einer Bilderreihe die 
Regel concret darftellt, welche in abftracter Darftellung, d. h. durch 
blofse Worte fixirt, dem Verftande zugefchrieben werden mag, fo 
weit man fich überhaupt der Lehre von den getrennten Seelen- 
vermögen bedienen will. In der That ift der Begriff der An- 
fchauung immanent; Verftand und Phantafie find bei der Pro- 
duction des Schemas ein und daffelbe. Das Schema ift nicht ein 
Bindemittel zwifchen Begriff und Anfchauung, fondern es ift die 
unmittelbare pfychologifche Erfcheinung des Begriffs. 

Die Sprache und die mathematifchen Zeichen ermöglichen uns, 
Begriffe ohne Anfchauung aufzuftellen, d. h. ohne unmittelbar ent- 
fprechende Anfchauung, denn in gewiffem Sinne giebt das Zeichen 
felbft, deffen wir uns zur Feftftellung folcher Begriffe bedienen, 
fchon eine Anfchauung und niemals kann diefe gänzlich fehlen. 
Anfchauungen ohne Begriff kann es nicht geben, da JQde An- 
fchauung fich dadurch von einer blofsen Empfindungsgruppe unter- 
fcheidet, dafs fie die Anfchauung von Etwas ift, von einem Ge^ 



Raum, Zeit und Zahl. 135 

genftande, deffen fprachliche Bezeichnung, wenn fie auch in den 
roheften Naturlauten beftände, einen Begriff bildet. 

' Der Begriff des Gegenftandes, welcher angefchaut wird, be- 
zeichnet zugleich die Einheit des Mannigfaltigen, welches in der 
Anfchauung verbunden ift; ob er aber auch, wie ein befondrer 
zur Anfchauung hinzutretender Factor diefe Einheit erfl fchafft, ift 
keineswegs fo ficher, wie Kant annimmt Diefer führt für die 
Verbindung des Mannigfaltigen zu einer Einheit in unferm Bewufst- 
fein den äufserft folgenreichen Begriff der Synth efis ein, läfst 
aber der Anfchauung für fich nur eine unvoUkommne und gleich- 
fam proviforifche Synthefis zukommen. Erft indem die Spontanei- 
tät des Verftandes zur Receptivität der Sinnlichkeit hinzutritt, alfo 
durch einen befondern vom Verftande ausgehenden Act wird die 
Synthefis des Mannigfaltigen in der Anfchauung fo vollzogen, dafs 
diefelbe fich im Bewufstfein behaupten kann. Diefe ganze An- 
nahme ift wieder unhaltbar, wie die gewaltfame Trennung von 
Verftand und Sinnlichkeit überhaupt. Es hilft nichts, wenn man 
bemerkt, dafs Kant diefe beiden Elemente der Erkenntnifs nur 
zum Zwecke der Unterfuchung getrennt habe. Die Trennung wird 
fo confequent durchgeführt und fo fehr als Thatfache behandelt, 
als hätte man ein pfychologifches Factum vor fich, was doch 
keineswegs der Fall ift. Die Synthefis dagegen, wenn man davon 
abfieht, dafs fie ein Act der Spontaneität des Verftandes fein foll, 
ift allerdings ebenfowohl eine pfychologifche Thatfache, als auch 
ein Poftulat der metaphyfifchen Erkenntnifstheorie. 

Die Synthefis ift die einzige pfychologifche Thatfache, welche 
keiner Zurückführung auf Phyfiologie oder auf Mechanik der Ge- 
hirnatome fähig ift und welche doch zu jedem Vorgange im Ge- 
hirn und Nervenfyftem hinzutreten mufs, um das mechanifche 
Factum zu einem pfychologifchen werden zu laffen. Man mufs 
fich freilich fehr wohl hüten, aus dem blofsen Worte eine Erkennt- 
nifs abzuleiten, die wir nicht haben. Wir wiffen weder, ob die 
Synthefis eine Thathandlung des Verftandes ift, wie Kant mit 
grofser Zu verficht annahm, noch wiffen wir, ob fie eine Lebens- 
äufserung einer »Seele« als eines vom Körper verfchiednen Sub- 
jectes ift, oder ob fie vom Mechanismus der Atome in einer für 
unfre Anfchauung unfafsbaren Weife abhängt. Wir haben an die- 
fem Ausdruck zunächft nicht viel mehr, als eine Fixirung der 
Thatfache, dafs fich in allen unfern Vorftellungen Einheit eines 



136 Raum, Zeit und Zahl. 

Mannigfaltigen findet, und dafs diefe Einheit irgendwie entftanden 
fein mufs. Kant nimmt es als eine Art von Axiom an, dafs oun- 
ter allen Vorftellungen die Verbindung die einzige ift, die nicht 
durch Objecte gegeben, fondern nur vom Subjecte felbft verrichtet 
werden kann, weil fie ein Actus feiner Selbftthätigkeit ift«. Es han- 
delt fich aber zunächft nicht um die Vorftellung, fondern um die 
That fache der Verbindung. Ift diefe einmal gegeben, fo ift 
durchaus nicht einzufehen, warum die Vorftellung der Verbindung 
nicht, gleich andern Vorftellungen, auf dem Wege der Erfahrung 
und der Abftraction in uns entftehen follte. Die Thatfache aber 
der Verbindung des Mannigfaltigen in der Empfindung zur Einheit 
einer Vorftellung kann ganz wohl ein Vorgang fein, durch welchen 
wir, als Subject, erft entftehen. Richtig ift dagegen, dafs fie 
von der fubjectiven Seite der pfychifchen Erfcheinungen nicht zu 
trennen ift; denn jeder Uebergang von unbewufsten Eindrücken zu 
wirklichem Bewufstfein kommt durch Synthefis zu Stande. 

Wenn fonach durch und mit der Synthefis erft ein Bewufst- 
fein und damit Subjectivität entfteht, fo mufs doch gleichzeitig 
auch ein Object gefchaffen werden, welches der Gegenftand des 
Bewüfstfeins wird. Dies Object erfcheint dem Bewufstfein als etwas 
Aeufseres und ihm gegenüber verdichtet fich die Subjectivität 
allmählig zur Vorftellung eines »Ich«, welches fich vom Object 
unter fcheidet , während doch diefes feinen ganzen und ausfchliefs- 
lichen . Inhalt ausmacht. Will man annehmen, dafs das Bewufst- 
fein Eigenfchaft eines befondern Wefens, eines Individuums fei, fo 
ift kein Zweifel, dafs das Object diefem Individuum fo gut ange- 
höre, wie die Subjectivität. Beides entfteht durch ein und denfelben 
Act der Synthefis. Kant lehrt ferner, dafs fämmtliche Vorftellungen, 
welche durch einen folchen Act der Synthefis entftehen, nothwen- 
dig zu einem und demfelben Bewufstfein gehören muffen, weil fie 
fonft auseinander fallen und gar nicht mir angehören würden. Ohne 
irgend etwas Andres über das Ich auszumachen, z. B. ob es Seele, 
ob Individuum, ob ein Modus nach der Philofophie Spinoza's, ftellt 
Kant das Eine unbedingt feft, dafs zur Möglichkeit eines dauern- 
den und zufammenhängenden Bewüfstfeins die Identität des Ich 
gehöre, zu welcher alle überhaupt möglichen Erfcheinungen zum 
Voraus in Beziehung ftehen muffen, um Gegenftand für dafielbe 
werden zu können. 

Auf die reine Apperception und die zahlreichen daran fich 



Raum, Zeit und Zahl. 137 

knüpfenden Fragen gehen wir hier nicht näher ein und flellen nur 
die Frage, ob die Verbindung aller Vorftellungen durch die Ein- 
heit der Synthefis wirklich auf der fubjectiven Seite der Erkcnnt- 
nifs und nicht vielmehr auf der objectiven zu Stande kommt ? Da 
die Ich-Vorftellung urfprünglich ganz leer ift und fpäter fich an 
die Vorftellung des eignen Leibes mit feinen Empfindungen und 
Gefühlen anlehnt, fo mufs die Einheit der Synthefis in den trans- 
fcendentalen Hintergrund des Lebens und der Wirklichkeit verfetzt 
werden, wo Niemand fie beobachten kann. Ganz anders, wenn 
man fie auf der objectiven Seite der Erkenntnifs fucht. Hier 
haben wir das Urbild aller Synthefis in der Raumvorftellung 
anfchaulich vor uns. Die Raumvorftellung ift ftets Vorftellung eines 
einheitlichen Ganzen mit gefonderten Theilen. Empfindung und 
Ausdehnung find in ihr unzertrennlich verbunden. Sie umfafst ftets 
den gefammten Inhalt unfrer Anfchauung; der Raum ift daher 
bald grofs, bald klein und doch immer ein und derfelbe. Man 
darf ihn nicht unendlich nennen, weil wir Unendliches gar nicht 
vorftellen. Auch hat unfre Raumanfchauung ftets eine beftimmte 
Form, wie beweglich auch die Grenzen fein mögen. Sobald man 
etwas jenfeit des Raumes vorftellen will, ift der Raum wieder da 
und fchliefst auch diefes ein, ohne deshalb unendlich zu werden. 
Aus diefer Eigenfchaft des Raumes, dafs er ftets gröfser ift, als 
die Summe der Ausdehnung aller angefchauten Gegenftände, wird 
die gedachte Unendlichkeit deffelben abgeleitet; welche in der 
Anfchauung nur als ein beftändiges Wachfen über jedes gegebene 
Ziel hinaus vorgeftellt werden kann. 

Der Raum ift fonach die anfchauliche Form meines Ich mit 
feinem wechfelnden Inhalt; denn aufserhalb des Raumes habe 
ich weder Anfchauungen noch Vorftellungen. Das Ich, welches 
fich durch Ideenaflbciation an die Erfcheinung des eigenen Leibes 
anknüpft, ift nicht das Ich der Erkenntnifs, das Subject zu allen 
Objecten, denn für dies abfolute Subject ift auch der eigne Leib, 
wie jeder Gegenftand der Anfchauung, Object und Aufsenwelt. 
Man hat aber den Gegenfatz zwifchen dem leibhaften Ich und ihm 
gegenüberftehenden äufseren Erfcheinungen in unklarer Weife auf 
das abfolute Ich, welches nur Subject und niemals Object fein 
kann, übertragen. Das leibhafte Ich fteht feiner Aufsenwelt fchroff 
gefchieden gegenüber, und diefe Scheidung ift eine der erften 
Grundlagen der Wirklichkeit, in welcher die Aufsenwelt fchlccht- 



138 Raum, Zeit und Zahl. 

hin ein Aeufseres ift und bleibt. Das leibhafte Ich hat fein Inneres 
mit beftimmtem und mannigfaltigem Inhalt. Die Stimmungen der 
Mattigkeit oder freudiger Erregung werden empfunden, als ob fie 
in der Bruft oder im Herzen ihren Sitz hätten. Hunger und Dürft, 
Schmerz und Luft, ja fogar die Spannkraft des eigenen Willens, 
die Anftrengung des Nachdenkens werden gefühlt und als innere 
Vorgänge dem Aeufseren entgegengefetzt. Alles dies gefchieht 
mit Recht, wenn auch unter zahllofen phyfiologifchen und pfycho- 
logifchen Mifsverftändniffen, fo lange es fich um das leibhafte Ich 
handelt, welches der Aufsenwelt — ftreng genommen müfste man 
fagen, der übrigen Aufsenwelt — gegenüberfteht. Sobald man 
aber das abfolute Ich ins Auge fafst, den fubjectiven Pol der Er- 
kenntnifs, das ewig fich felbft gleiche Etwas, deffen Gegenftand 
die Gegenftände find, fo fchwindet aller befondere Inhalt. Sein 
einziger Inhalt ift das grofse Ganze der Aufsenwelt felbft in ihrer 
räumlichen Erfcheinungsform. Will man auch hier dies als ein 
Aeufseres bezeichnen und daneben dem erkennenden Ich noch 
eine innere Erkenntnifs zufchreiben, fo geräth man auf das Gebiet 
gegenftandlofer Speculationen und willkürlicher Erfindungen. Selbft- 
erkenntnifs kann niemals etwas Andres fein als Erkenntnifs feiner 
Perfon, wie fie als leibhaftes Ich den übrigen Gegenftänden der 
Aufsenwelt handelnd und duldend gegenüberfteht Selbftbewufst- 
fein hat keinen Sinn, aufser dem eines Wiffens um feine eigne, als 
Object gleich allen andern Objecten erfcheinende Perfon. Das 
erkennende Ich ift nicht das erkannte. Jenes ift das bleibende 
Subject zu allen Objecten ; diefes ift felbft fchon Object und zwar 
von Haufe aus, nicht erft durch einen befondern Act der Selbft- 
erkenntnifs. Alle Wahrnehmung unfres »inneren Zuftandes« ift 
nur Wahrnehmung eines Theiles der Zuftände unfrer empirifchen 
Perfon und kann gar keinen Inhalt gewinnen, wenn fie fich nicht 
an körperliche Symptome hält. 

Es kann daher, was wir auch an einem andern Orte gezeigt 
haben, auch keinen »inneren Sinna geben. Gäbe es aber auch 
einen folchen, oder wollte man die Wahrnehmung des eignen Zu- 
ftandes blofs der Kürze oder der Ueberfichtlichkeit wegen fo be- 
zeichnen, ungeachtet es keine zwei Sinne, fondern nur zweierlei 
Functionen eines und deffelben Sinnes gäbe, fo würde es damit 
doch nicht gerechtfertigt fein, diefer nach Innen gewandten Wahr- 
nehmung die Zeit als Erfcheinungsform zuzufchreiben. Die empi- 



Raum, Zeit und Zahl. 139 

rifche Wahrnehmung unfres inneren Zullandes kann gar nicht in 
der blofsen Zeitform vollzogen werden. Wir finden immer eine 
Mehrheit von Empfindungen gleichzeitig vor, welche nur in Form 
eines Raumbildes zur Synthefis gelangen können. Die Volksfprache 
und die Dichter, welche diefe Empfindungen fo treu als möglich 
wiederzugeben fuchen, finden das Herz bald leicht, bald fchwer, 
bald hart, bald weich u. f. w. Der Dichter läfst feine Gefühle 
»durch das Labyrinth der Bruft« wandeln, oder »es fchweifen leife 
Schauer wetterleuchtend durch die Bruft«. Aber vielleicht foU im 
»reinen Denken« die Zeitform ausfchliefslich hervortreten ? Was ift 
dies reine Denken? Der nachdenkende Geometer hat feine Figu- 
ren im Sinn, der Baumeifter feine Pläne, der Feldherr feine Marfch- 
ordnung — überall Raumbilder. Am Ende bleibt uns nur der 
Metaphyfiker mit feinen Gedanken über nothw endige Undinge; 
allein auch diefer kann fich von den Raumbildern nicht losreifsen. 
Die Kategorien fogar fetzen, wenn fie empirifch gedacht werden 
foUen, überall das Vorhandenfein räumlich ausgedehnter Dinge 
voraus. Will man aber, um das reine Denken zu beobachten, 
fyftematifch Alles davon abfondern, was zur Empfindung und zur 
Raumform gehört, fo beachte man auch, dafs diefe Art" von 
»Denken« eine reine Abftraction ift. Sollte es etwa gelingen, fie 
mit irgend einer Formel in die reine Zeitform zu zwingen, fo ift 
damit nichts gewonnen, denn auf das wirkliche Denken, und 
alfo auch auf die Beobachtung unfres inneren Zuftandes^ erleidet 
eine folche Formel gar keine Anwendung. 

Kant felbft hat fehr wohl eingefehen, dafs der äufsere Sinn 
der erfte und urfprüngliche ift, und das wir innere Erfahrungen nicht 
vor den äufseren haben können. Er hat auch eingefehen, dafs 
alle unfre empirifchen Zeitvorftellungen fich an Raumvorftellungen 
anfchliefsen. Eine Linie bildet uns die Vorftellung vom Verlaufe 
der Zeit. Bewegungen im Raum geben uns Veranlaffung die Zeit 
zu meffen. Sollte man daraus nicht fchliefsen, dafs die Zeitvor- 
ftellung neben der Raumvorftellung überhaupt eine fecundäre ift? 
Dafs Kant gleichwohl die Zeit zu einer reinen Form der An- 
fchauung erhob, beruht hauptfächlich auf der Erwägung, dafs die un- 
mittelbar gegebenen Anfchauungen der Bewegung und Veränderung 
nicht ohne Empfindung zu Stande kommen können und alfo em- 
pirifch find, während fie offenbar die der Zeit als reine Anfchauung 
mit in fich fchliefsen. Wir haben oben gezeigt, dafs auch die 



140 Raum , Zeit und Zahl. 

Raumvorftellung niemals ohne Empfindung und dafs die reine An- 
fchauung gar keine Anfchauung ift. Es hindert uns alfo nichts, die 
unleugbar pfychologifch urfprüngliche Anfchauung der Bewegung der- 
jenigen des ruhenden Raumbildes zur Seite zu fetzen, und wenn es 
auch richtig ift, wie die Formeln der Mechanik zeigen, dafs die Be- 
wegung auf Elemente des Raumes und der Zeit zurückgeführt wer- 
den kann, daher die Zeit hier in der Rechnung als das Einfachere 
erfcheint, fo folgt daraus doch noch nicht, dafs fie Anfchauung oder 
eine Form der Anfchauung fei. Die Axiome der Mechanik werden 
daher auch fämmtlich aus der Anfchauung eines fich bewegenden 
Körpers und nicht aus irgend einer reinen Zeitvorftellung entnommen. 
Was Kant fonft noch (in der metaph. Erörterung 3) für die apriorifche 
Natur der Zeitvorftellung anführt, dafs aus ihr z. B. das Axiom fliefse, 
die Zeit habe nur eine Dimenfion, fo . ift dies angebliche Axiom 
nicht einmal unbeftritten, und der Satz, dafs verfchiedne Zeiten 
nicht zugleich, fondern nacheinander find, ift ein analytifcher. Es 
ift eben ohne die Anfchauung der Bewegung im Räume durchaus 
zu keinem die Zeitverhältniffe betreffenden Axiome zu gelangen. 

Mit der Zeit pflegt man die Zahl in engfte Verbindung zu 
bringen. Nach Kant ift eine transfcendentale Zeitbeftimmung im 
Allgemeinen die Vermittlung zwifchen der Kategorie und den Er- 
fcheinungen; das reine Schema der Quantität aber foU die Zahl 
fein, welche erklärt wird als »die Einheit der Synthefis des Man- 
nigfaltigen einer gleichartigen Anfchauung überhaupt, dadurch, dafs 
ich die Zeit felbft in der Apprehenfion der Anfchauung erzeuge«. 
Von einer folchen Erzeugung der Zeit (auch ohne gleichzeitige 
Raumvorftellung!) wiffen wir nichts. Empirifch betrachtet bildet 
fich die Zeitvorftellung neben und aus der Raumvorftellung ver- 
hältnifsmäfsig fpät, langfam und unficher; transfcendental betrach- 
tet müfste fich die Behauptung als ein nothwendiges Poftulat zur 
Erklärung der Erfahrung erweifen. Dies ift aber wiederum nicht 
der Fall, da wir Alles, was die Zeit hier leiften foU, weit einfacher 
und ficherer aus der Raumvorftellung ableiten. Schon Baumann 
hat gezeigt, dafs die Zahl weit beffer mit der Raumvorftellung als 
mit derjenigen der Zeit in Einklang ftehe. »Sie ift mit dem Raum 
^ufammen und überall in ihm, daher die Geometrie auch auf arith- 
metifche Ausdrücke gebracht wird.«*) Die älteften Ausdrücke für 

*) Bau mann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren 
Philofophie, II. Bd. Berlin 1869. S. 658 u. ff. 



Ramn, Zeit und Zahl. 141 

Zahlwörter bezeichnen, fo weit wir ihren Sinn kennen, überall Ge- 
genftände im Räume mit beftimmten Eigenfchaften, welche der 
Zahl entfprechen, fo z. B. Viereckiges der Zahl vier. Wir fehen 
daraus auch, dafs die Zahl urfprünglich nicht etwa durch fyftema- 
tifches Hinzufügen von Einem zu Einem u. f. w. entfteht, fondern 
dafs jede der kleineren, dem fpäter entfliehenden Syftem zu Grunde 
liegenden Zahlen durch einen befonderen Act der Synthefis der 
Anfchauungen gebildet wird, worauf dann erft fpäterhin die Bezie- 
hungen der Zahlen zueinander, die Möglichkeit des Addirens u. f. w. 
erkannt werden. 

Die algebraifchen Axiome beruhen, wie die geometrifchen, 
auf räumlicher Anfchauung, und da, wo die Mathematiker den 
Boden der Anfchauung verlaffen, wie beim Gebrauch der imaginä- 
ren Zahlen, dienen die Conventionellen Zeichen felbft dem Denken 
als fmn liehe Stütze. Das Recht diefer Operationen ftützt fich zu- 
nächfl: fchlechthin auf die Analogie mit den der Anfchauung zu- 
gänglichen Rechnungsformen und auf das Vertrauen, dafs eine mit 
abfoluter Confequenz durch das Sinnlofe hindurchgeführte Rech- 
nung jederzeit eine fiebere Rückkehr auf den Boden der Wirklich- 
keit geftatte, während fie zugleich erhebliche Vortheile in der Auf- 
ftellung fchnell zum Ziele führender Formeln darbietet. Das Ima- 
ginäre hat feine Rechtfertigung nicht in fich felbft, fondern in der 
Art, wie es fich für das Reelle verwenden läfst, und Baumann 
hebt (a. a. O.) ganz richtig hervor, dafs diefe Verwendung urfprüng- 
lich ein Experiment war, welches erft an feiner Uebereinftimmung 
mit der Wirklichkeit feine Rechtfertigung fand. Wichtige Gebiete 
der neueren Algebra find gradezu aus der Beobachtung von Raum- 
bildern hervorgegangen. So namentlich die Combinationslehre, 
auf deren Refultaten fo vieles Weitere ruht. Hier bilden die Buch- 
ftaben, welche in Reih und Glied geftellt werden, ganz unzweifel- 
haft die Vertretung von Gegenftänden überhaupt, und zwar von 
einzelnen, wie wir in der Logik die Summe beliebiger Gegen- 
ftände durch Kreife und Rechtecke dargeftellt haben. Es ift der 
Raumvorftellung eigen, dafs fich innerhalb der grofsen, allumfaf- 
fenden Synthefis des Mannigfaltigen mit Leichtigkeit und Sicherheit 
kleinere Einheiten der verfchiedenften Art ausfondern laffen. Der 
Raum ift daher das Urbild nicht nur der continuirlichen , fondern 
auch der discreten Gröfsen, und zu diefen gehört die Zahl, wäh- 
rend wir die Zeit kaum anders als Continuum denken können. 



142 Raum, Zeit und Zahl. 

Zu den Eigenfchaften des Raumes gehören ferner nicht nur die 
Verhältniffe, welche zwifchen den Linien und Flächen geometri- 
fcher Figuren ftattfinden, fondem nicht minder die Verhältniffe der 
Ordnung und Stellung discreter Gröfsen. Werden folche dis- 
crete Gröfsen als unter fich gleichartig betrachtet und durch einen 
neuen Act der Synthefis zufammengefafst, fo entfteht die Zahl als 
Summe. Werden aber mehrere Claifen discreter Gröfsen, welche 
unter fich verfchieden find, von denen aber eine jede eine Menge 
gleichartiger Gegenftände enthält, in Beziehung auf die Möglich- 
keit der Zufammenordnung diefer Gegenftände unterfucht, fo ent- 
fteht die Combinationslehre. Diefe wird von den Mathematikern 
unter Anderem auch der Wahrfcheinlichkeitsrechnung zu Grunde 
gelegt, deren Elemente wir oben aus den Raumbildern des dis- 
junctiven Urtheils ableiteten. In diefen ftecken ebenfalls die Ele- 
mente der Combinationslehre, aber auf geometrifche Weife darge- 
ftellt, während der gewöhnliche Weg der Mathematiker der arith- 
metifche ift. Erfterer befitzt den Vorzug gröfserer Anfchaulichkeit, 
letzterer den der gröfseren Einfachheit und Kürze. Im Uebrigen 
findet zwifchen beiden die vollftändigfte Analogie ftatt. 

Hier wäre denn auch ein Wort an der Stelle über die zahl- 
reichen Verfuche, die formale Logik in algebraifcher Form 
darzuftellen. Der Zug zum Abftracten, welcher die neueren Mathe- 
matiker bis in unfer Jahrhundert hinein einfeitig beherrfchte, mufste 
namentlich Mathematiker leicht dahin führen, auch die Probleme 
der Logik womöglich, gleich denen der Geometrie, in ein Rechen- 
exempel aufzulöfen. In diefem Sinne befchäftigten fich Leibnitz 
und Lambert und in unferm Jahrhundert befonders der englifche 
Mathematiker Boole mit der algebraifchen Darfteilung der Logik. 
Es mufs ohne Zweifel möglich fein, und Lambert hat dies fchon 
eingehend gezeigt, fich zur Demonftration der logifchen Lehrfätze 
gewiffer Zeichen von conventioneller Bedeutung zu bedienen, welche 
denen der Algebra ähnlich find , und mit denen nicht nur Begriffe 
und Begriffsverhältniffe, fondern auch gewiffe Operationen, wie 
Abftraction und Determination, ausgedrückt werden. Zwar werden 
die allgemeinften Grundwahrheiten der Logik auf diefem Wege 
niemals fo anfchaulich dargeftellt werden können, als durch die 
oben angewandten Figuren, denn wenn man z. B. beftimmt, dafs 
das Zeichen a eine gewiffe Claffe von Gegenftänden bedeuten foll, 
fo wird die Phantafie fich doch diefe Klaffe immer erft wie ein 



RäHii), Zeit und Zahl. 



143 



ausgedehntes aber beftimmt begrenztes Etwas zu veranfchaulichen 
fuchen. Dagegen hat die algebraifche Form den Vortheil, Ver- 
hältniffe und namentlich Operationen mit Leichtigkeit ausdrücken 
zu können, deren Darftellung in Linien theils unmöglich, theils 
aber fehr umftändlich und weitläufig fein würde. So wird z.B. 
Abftraction und Determination in vollkommen genügender Weife 
durch Weglaffung oder Hinzufügung eines Buchftaben 'dargeftellt, 
der ohne Bedenken ganz wie ein Coefficient behandelt werden 
kann, ohne dafs dadurch etwa das algebraifche Verhältnifs einer 
Multiplication vorgeftellt werden foll; denn auch für die Algebra 
ift die betreffende Bezeichnungsweife nur eine fymbolifche und con- 
ventionelle. Man fieht übrigens, wie durch diefe Leichtigkeit der 
Darftellung unter Verzicht auf gröfsere Anfchaulichkeit die alge- 
braifche Form fich vorzüglich für die Logik des Inhalts eignet, 
während die Logik des Urnfangs auch hier nach Raumbildern ver- 
langt. Man könnte diefelben etwa in folgender Weife geben: 
Der übergeordnete Begriff fei: 



B = 



Die Hinzufügung der differentia fpecifica zu B ift vom Stand- 
punkte der Logik des Umfangs nichts als die Ausfonderung eines 
Theiles von B (nicht Divifion, weil die Theile von fehr ungleichem 
Umfange find). Wir haben alfo: 



B 



*> 



+ X = 



B 



wo X die Summe der übrigen, i coordinirten Begriffe bedeutet. 
Es ift alfo ferner: 



^ + [^ + p +....= WTW 



B 



Diefe Raumbilder genügen, um das Verhältnifs der übergeord- 
neten und untergeordneten Begriffe und alfo die Refultate von 
Abftraction und Determination für den Standpunkt der modernen 
Logik befriedigend zu veranfchaulichen; denn um das Verhältnifs 
der Subftanz zu ihren Accidenzen, um das Problem der Inhärenz 
der Merkmale im Begriff kümmert fie fich wenig. Ihr ift einfach 
die Beftimmung des Oberbegriffs durch die Differenz eine neue 
Bezeichnung von Gegenftänden, beftimmter als die frühere und 
eben deshalb nur einen Theil des früheren Umfangs umfaffend ; wie 



144 Raum, Zeit und Zahl. 

z. B. eine Adreffe beftimmter ift, wenn fie nicht nur die Stadt, 
fondern auch die Strafse angiebt. 

Die Leichtigkeit der Bezeichnung von Begriffen und Operatio- 
nen in algebraifcher Form mufste natürlich den Gedanken nahe 
legen, den ganzen logifchen Inhalt der Sprache in diefen Formeln 
auszudrücken und damit eine "f* characteriflica univerjalisik, wie 
Leibnitz fich ausdrückte, eine Begriffsfp räche herzuftellen, die 
für den Unterrichteten ohne Rückficht auf die Verfchiedenheit der 
Sprachen und der Nationen verftändlich wäre. Leibnitz freilich, 
der diefen Gedanken mit fo grofser Vorliebe hegte, hat uns nur 
unbrauchbare Notizen und Fragmente hinterlaffen. Er war viel 
zu fehr Metaphyfiker, um den richtigen Ausgangspunkt finden zu 
können. Er wollte gleich auf eine Feftflellung der Stammbegriffe 
hinaus, aus denen die übrigen Begriffe nach beftimmten Methoden 
abgeleitet werden follten. So verfiel er in den Fehler des Ray- 
mundus LuUus, der mit feinen Tabellen und Apparaten für alle 
möglichen Combinationen der allgemeinften Begriffe eine fehr nütz- 
liche Arbeit verrichtet haben würde, wenn der Piatonismus in der 
Begriffslehre begründet wäre. Mit der Unmöglichkeit der plato- 
nifchen Lehre von der Stufenleiter der Begriffe werden diefe Be- 
mühungen zur nutzlofen Spielerei. Sollte eine Pafigraphie in alge- 
braifchen Formeln jemals zu Stande kommen — wovon die Mög- 
lichkeit durchaus nicht zu leugnen ift — fo wird man jedenfalls 
die Stammbegriffe, von denen man ausgeht, im Bereiche des Sinn- 
lichen und Anfchaulichen zu fuchen haben, und nicht in den höch- 
ften Abftractionen. — Aber auch bei der Befchränkung auf das 
formale Gebiet liegt hier ein Irrthum fehr nahe; die Meinung 
nämlich, man könne den ganzen Inhalt der Sprache in folchen 
Formeln ausdrücken. Lambert giebt fogar in einem feiner »Ver- 
fuche einer Zeichenkunft in der Vernunftlehre« eine förmliche 
Anleitung zur Uebertragung aller fprachlichen Ausdrücke in die 
logifche Zeichenfprache.*) Dafs es dabei zugeht, wie beim Bette 
des Prokruftes, verfteht fich. wohl von felbft, und doch hat dies 
Verfahren infofern feine Berechtigung, als dabei der rein logifche 
Hauptinhalt der Sätze herausgegriffen und an Symbole angeknüpft 
wird, welche keinerlei Zweideutigkeit zulaffen. Wenn ^Lambert 



*) Lamberl's logifche und philo fophifche Abhandlungen. 1. Bd. Berlin 1782. 
Vgl. insbefondre S. 163 u. ff. 



Raum, Zeit und Zahl. 145 

meint, mehr brauche man nicht, und der übrige Inhalt der Sprache 
habe weiter keinen Werth, fo hat er wiederum vom Standpunkte 
der reinen logifchen Analyfe Recht, aber diefer Standpunkt ift ein 
fehr einfeitiger. Die Sprache ift aufs innigfte mit dem gefammten 
Geiftesleben des Menfchen verflochten. Sie entfteht aus Reflex- 
Wirkungen der Anfchauung, unter dem Einflufle der Synthefis 
als eines fchaff*enden Actes unfres Geiftes. Die ungeordneten Laute, 
in welchen der Säugling nur fpielend feine Sprachwerkzeuge übt, 
treten plötzlich in Verbindung mit einer Regung der Apperception, 
und im erften »Da!a »Da!a, welches das Kind mit gleichzeitiger 
Fixirung eines auffallenden Gegenftandes ftammelt, liegt der Keim 
der ganzen Sprache. Ihren Grundcharakter verliert fie auch bei 
der höchften Ausbildung nicht. In ihr ift Stimmung, Gefühl, Ge- 
danke, Streben ftets eng verbunden und alle Analyfe vermag diefe 
Elemente nur annährend und unvollkommen zu trennen. Gilt dies 
auch am meiften von dem gefprochenen Wort in feiner Unmittel- 
barkeit, fo bleibt es doch auch der gefchriebenen Sprache eigen. 
An die Worte knüpfen fich die Vorftellungen und jedes Wort hat 
feine Gefchichte. Mag man daher immer behaupten, die Wörter 
feien conventionell, fo gilt dies doch nur in dem Sinne, dafs durch 
Anpaffung, Nachahmung und Autorität Ausdrücke von anfangs 
befchränkterem Geltungskreife allgemein und national werden, wäh- 
rend andere, gleich gut gewachfene, vom Schauplatze verfchwin- 
den; oder fo, dafs ein Wort von anfangs weiterer Bedeutung durch 
technifchen Gebrauch eine beftimmtere und engere Bedeutung er- 
hält. Dabei bleibt aber in unfern Vorftellungen die Gefchichte 
des Wortes, fein Zusammenhang mit dem ganzen Kreife thatfäch- 
licher Zuftände unter denen es entftanden ift, fort und fort wirk- 
fam. Es ift daher eine oberflächliche und unzulängliche Auffaffung 
der Sprache, wenn Boole {laws of thought /. 23) es als etwas 
rein zufälliges und bedeutungslofes anfleht, dafs z. B. der Römer 
denfelben Gegenftand mit ^^civitasn bezeichne, welchen der Eng- 
länder ^stateiL nenne. Wie oft find nicht folche Ausdrücke im 
Grunde rein unüberfetzbar, wiewohl der abftracte Begriff* der Sache 
fich bei beiden Nationen vorfindet. Das Wort, und ihm entfpre- 
chend die lebendige Vorftellung, enthalten eine ganze Welt von 
Theilvorftellungen, welche alle aus den thatfächlichen Zuftänden 
flicfsen. Ebenfo verhält es fich mit den Sätzen. Sie fuchen die 
Dinge gleichfam im Fluge zu ergreifen und enthalten in ihren 

Lange, Logische Studien. tO 



146 Raum, Zeit und Zahl. 

Adverbien, in den Modis ihrer Zeitwörter, ja in der Wortftellung 
und der Wahl der Ausdrücke eine folche Fülle von Nebenbezie- 
hungen, dafs diefe oft genug an Bedeutung den logifchen Kern 
des Satzes in feiner fchlichten Einfachheit überwiegen. Grade diefe 
Eigenfchaften aber, welche die Sprache fo wenig geeignet machen 
zu fcharfem Gedankenausdruck zu dienen, find für die allgemeine 
Entwicklung des Menfchengeiftes von der höchften Wichtigkeit 
Nicht nur Poefie und Rhetorik hängen daran, fondern auch die 
ganze Fruchtbarkeit des wiffenfchaftlichen Denkens. Die Sprache 
nöthigt uns, auf das natürliche Vorftellen zurückzugehen, welches 
mitten aus einem Gebiete reichfter Beziehungen nach allen Seiten 
hervorwächft. Zudem fcheint es eine Eigenthümlichkeit der Syn- 
thefis zu fein, dafs fie ftets aus dem Gefammtzuftande unfres Geiftes 
hervorgeht, daher -2. B. einfichtsvoUe Beobachter fchon bemerkt 
haben, dafs eine kräftige Phantafie eine fehr wefentliche Bedingung 
erfolgreichen wiffenfchaftlichen Denkens fei. Es handelt fich mit 
einem Worte um die Productivität des Geiftes, die an den freien 
Gebrauch der Sprache gebunden fcheint, während die exacte 
Logik eine nicht minder wichtige Rolle erfüllt, indem fie durch 
Aufhebung des Irrthums die Erweiterung unfrer Erkenntnifs 
indirect fördert. 

Auf zwei fehr verfchiedenen Wegen hat man verfucht, Sprache 
und Logik in Einklang zu bringen. Den erften grofsartigen Ver- 
fuch unternahmen die Logiker des fpäteren Mittelalters, mit denen 
im Princip die von Ueberweg nach dem Vorgange Becker's und 
Trendelenburg's eingefchlagene Richtung übereinftimmt Hier wird 
verfucht, Alles in der Sprache logifch zu analyfiren, und für jeden 
Cafus, jeden Modus, jedes Form wort, Hülfszeitwört u. f. w. eine 
exacte Formel zu finden, mit deren Hülfe diefe Modificationen der 
Rede in die logifche Analyfe aufgenommen werden können. Der 
andre Weg ift der eben befchriebene, welcher Alles in der Sprache 
als nutzlos und ftörend bei Seite wirft, was fich nicht in eine 
Gleichung zwifchen Subject und Prädicat bringen läfst. Diefer 
zweite Weg hat den Vortheil der Ausführbarkeit, während bei- 
den eine gleiche Verkennung des Wefens der Sprache zu Grunde 
liegt. Durch eine exacte Zeichenfprache fchafft fich der -Logiker 
ein neues, rein verftandesmäfsiges Mittel des Gedankenausdrucks. 
Daffelbe entbehrt aller Vorzüge der Sprache für das geiftige Leben 
überhaupt, ift aber auch frei von allen ihren Nachtheilen in Be- 



Raum, Zeit und Zahl. 147 

r 

Ziehung auf präcifes, von allen Zweideutigkeiten freies Urtheilen. 
Ihre Mittel find die kleinen, beweglichen, ftreng Conventionellen 
Raumbilder der Buchftaben und der Operationszeichen. Durch 
taSig und ^«crt? derfelben im Räume wird eine unabfehbare Fülle 
ftreng mit einander zufammenhängender Ausdrücke ermöglicht, 
und es ift eine Grundeigenfchaft unfrer Erkenntnifs, dafs jeder 
ftreng confequente Gebrauch folcher Zeichen durch alle Wand- 
lungen der Identitätsausdrücke hindurch wieder zu ftreng richtigen, 
direct oder indirect anwendbaren Formeln führt. Daher haben 
auch' diefe Bemühungen eine Zukunft. Wenn fchon bei fo viel 
Willkürlichem und zum Theil Sonderbaren, wie wir es z. B. bei 
Boole finden, dennoch alle Probleme der logifchen Technik nicht 
nur im Ganzen richtig, fondern auch in weit gröfserer Allgemein- 
heit und Strenge gelöft werden, als in unfern gewöhnlichen Hand- 
büchern, fo wird man fich der Einficht nicht verfchliefsen können, 
dafs durch Verbefferungen in den Grundlagen des Syftems allmäh- 
lig eine logifche Zeichenfprache gefchaffen werden kann, welche 
für den Zweck ftrenger Analyfe unfrer gewöhnlichen Wortlogik weit 
überlegen ift. 

So fehen wir alfo überall den Raum als Urfprung alles Aprio- 
rifchen. Die Raumvorftellung des Ausgedehnten und der Figur, 
der Ordnung und Stellung des Einzelnen in einem Ganzen zeigt 
uns eine unendliche Fülle von Eigenfchaften und Aequivalenten, 
die alle unter fich und mit gewiffen Grundwahrheiten aufs Strengfte 
zufammenhängen. Was fich, fei es auch nur durch Convention eile 
oder willkürliche Annahme , eng an diefe Elemente der Raumvor- 
ftellung anfchliefsen läfst, kann in der wiffenfchaftlichen Form der 
Nothwendigkeit entwickelt werden. Dahin gehören aber vor allen 
Dingen die Lehren der Logik von Gegenftänden überhaupt und 
die Lehre von Gröfsen und von Summen gleicher Einheiten, bei 
denen von Allem mit Ausnahme der mefsbaren und zählbaren Ver- 
hältniffe abgefehen wird. Dafs es fich mit den Zeitgröfsen ebenfo 
verhält, geht fchon daraus hervor, dafs die Zeit für uns nur eine 
aus dem Raumbilde der Bewegung auf einer Linie abgeleitete Vor- 
ftellung ift. 

Wir entnehmen hieraus, dafs den einfachen Grundlagen der 
Logik und der Mathematik nicht nur eine relative, fondern eine 
abfolute Nothwendigkeit beiwohnen muffe, wiewohl wir die- 
felben gleich allen andern Erkenntniffen auf inductivem Wege, und 



148 ' Kaum, Zeit und Zahl. 

nicht ohne die Möglichkeit vorübergehenden Irrthums, gewinnen. 
Da fie die ftrenge Richtigkeit aller Erkenntnifs überhaupt verbür- 
gen, fo muffen fie die Grundlage der Richtigkeit, der abfoluten 
Geltung felbll fein, und dies ift nicht anders möglich, als dadurch, 
dafs fie die Grundlage unferer intellectuellen Organifation find, 
dafs die Gefetzmäfsigkeit, welche wir an ihnen bewundern, aus 
uns felbft flammt; freilich nicht aus der Region unfres empirifchen 
Bewufsffeins, fondem aus der unbewufsten Grundlage unfer felbft, 
fammt allen Erfcheinungen, aus denen unfre Welt befteht. Das 
Apriori geht alfo für uns nicht aus dem Subject hervor, fondern 
aus dem Object, denn der Raum ift die Form aller Objecte, wie- 
wohl er aus uns felbft ftammL 

Es möchte hier fcheinen, als feien wir ganz auf dem Wege 
Fichte's, allein wir find nur auf dem Punkte angelangt, wo Fichte 
abirrte. Ein »Icha, welches das »Nichtich« fetzt, kennen wir nicht 
und können wir auch nicht poftuliren. Aber ebenfo wenig kennen 
wir ein »Ich«, welches fich felbft fetzt Das empirifche Ich ent- 
fteht durch eine Reihe nicht fehr fchwer zu verfolgender pfycho- 
logifcher Proceffe im engften Anfchluffe an die Vorftellung des 
eignen Körpers. Das transfcendentale Ich ift nichts andres als der 
völlig unbekannte Gegenpol der Objectivität in der Wahrnehmung. , 
Für diefes Ich ift das empirifche ebenfalls nur Object und alfo 
Erfcheinung. Aber Erfcheinung ift Alles, was wir überhaupt haben; 
darüber hinaus können wir nur vermuthen oder poftuliren. Die 
Welt der Erfcheinungen ift die Welt unfrer Wirklichkeit und nach 
Ausbildung des empirifchen Ich ift das Object in diefer Erfchei- 
nungswelt nicht mehr unfer eignes Wefen, fondern etwas Fremdes, 
Aeufseres, unferem empirifchen Ich* Gegenüberftehendes. So wird 
auch der Raum uns fcheinbar fremd und äufserlich, während wir 
doch in feinen Eigenfchaften die Norm unfrer Verftandesfunctionen 
fanden, der wir fubjectiven Urfprung zufchreiben mufsten, wegen 
der unbedingten Allgemeinheit und Nothwendigkeif ihrer Regeln. 

Aber die Raumvorftellung ift zugleich auch, wie wir ge- 
fehen haben, das Urbild aller Synthefi's. In ihr haben wir die 
Einheit des Mannigfaltigen anfchaulich vor uns. In ihr finden wir 
die Anfchauung zu den Begriffen des Zufammenhangs und der 
Trennung, der Aequivalenz und der Verhältniffe eines Ganzen zu 
feinen Theilen, eines Dinges zu feinen Eigenfchaften. Es ift daher 
nur eine noth wendige Schlufsfolgerung, wenn wir in der Raum vor- 



Raum, Zeit und Zahl. 149 

ftellung auch den Urfprung der Kategorien finden, da es ja ein 
reines, anfchauungslofes Denken ohnehin nicht giebt und nicht ge- 
ben kann. 

So zeigt fich uns die Raumvorftellung mit ihren für unfern 
Verftand conftitutiven Eigenfchaften als die bleibende und beflim- 
mende Urform unfres geiftigen Wefens, als das wahre objective 
Gegenbild unfres transfcendentalen Ich. Diefes letztere freilich wird 
uns dadurch um nichts bekannten Es bleibt das gänzlich unbe- 
ftimmte und unbeftimmbare X, von deffen Exiftenz wir nicht ein- 
mal pofitiv urtheilen können. Alle Erkenntnifs, fobald wir fie 
haben, ift fchon Object. Das Subject, der verborgene Strahlungs- 
punkt diefer fich um uns ausdehnenden Welt, ift nichts als eine 
nothwendige Vorausfetzung. Hier hat die dichtende Speculation 
einen weiten Tummelplatz. Es liegt nahe, das transfcendentale 
Ich, welches ja unferm Denken allgemein gültige Gefetze vor- 
fchreibt, als ein Allgemeines zu faffen, ähnlich wie die Averroiften 
den Nous, der als eiil und daffelbe Wefen in alle Menfchenfeelen 
eindringt. Von hier aus öffnet fich eine weite Bahn, die wir jedoch 
nicht betreten wollen. Es genüge gezeigt zu haben, dafs die Lo- 
gik nirgend fonft feften Boden findet, als in den Gefetzen, welche 
aus der Betrachtung des Raumes und der Bewegung im Räume 
hervorgehn. 



Draok von G. Grambadh In Leipsig. 



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alle Möglichkeiten 





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