Haeger, August
Lotzes Kritik der
Herbart i sehen Metaphysik
und Psychologie
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Lotzes Kritik
der
Herbartischen Metaphysik und Psychologie.
Inaugural - Dissertation
der
hohen philosophischen Fakultät der Universität
Greifswald
zur
Erlangung der Doktorwürde
vorgelegt
und liebst den beigefügten Thesen
Dienstag den 15. September 1891
Vormittags 9.^ Uhr
öffentlich verteidigt
von
August Haeger
aus Wildenhagen in Pommern.
Opponenten:
Herr Drd. Dibbelt,
Herr cand. phil. Panzer.
Herr stud. phil. Gippe.
Gkeifswald.
Druck von F. W. Kunike.
Dein Andenken
meiner Eltern
geweiht.
b
MY//3
.Lange Zeit wurde Lotze von vielen Philosophen als
Herbartianer bezeichnet, und trotz Lotzes dagegen erhobenen
Protestes werden wir dieser Bezeichnung nicht jede Berech-
tigung absprechen können. Denn wie ja Lotze selbst gerade
dort *), wo er seine Zugehörigkeit zur herbartischen Schule be-
streitet, nicht jede Verwandtschaft seiner Ansichten mit denen
jener Schule leugnet , so zeigen wirklich bei näherer Ver-
gleichung die Systeme beider Männer in vielen wichtigen
Punkten eine mehr als zufällige Aehnlichkeit, ja Gleichheit,
so dass der Gedanke einer Abhängigkeit des Jüngeren von
dem Aelteren nicht völlig abzuweisen sein dürfte.
Allerdings wurde Lotze durch seine Beschäftigung mit
der Herbartischen Philosophie nicht zur bedingungslosen
Beistimmung, sondern vielfach zum Widerspruch gegen die-
selbe geradoj in der Behandlung der Hauptprobleme ge-
führt , und wenn er überhaupt noch als Herbartianer zu
bezeichnen sein sollte, so gehört er jedenfalls nicht zu den
eigentlichen „Janern", sondern es ist seiner Behauptung bei-
zupflichten, der Sinn seiner Ansichten werde nie verstanden
werden, so lange man ihnen als Motiv eine Zustimmung zu
den herbartischen Principien unterschiebe, die vollkommen
das Entgegengesetzte dessen seien, was er verteidigen möchte.
Im Vordergründe des Interesses stand bei beiden Phi-
losophen die Lehre vom Seienden überhaupt, die Metaphysik,
und die Lehre von demjenigen besonderen Seienden, das
1) Streitschr. p. 5.
— 2 —
wir Seele nennen. Diesen beiden Wissenschaften haben sie
den bei weitem grösseren Teil ihrer Arbeit gewidmet, und in
ihnen erkennen wir daher auch am deutlichsten das wissen-
schaftliche Verhältniss beider Männer zu einander: bei grosser
Verwandtschaft, ja Abhängigkeit Lotzes von Herbart doch
einen entschiedenen Gegensatz in der Lösung einzelner Pro-
bleme, eine polemisirendc Kritik und in vielen Punkten eine
unzweifelhafte Berichtigung Herbartischer Aufstellungen durch
Lotze ]).
Herbart geht aus von unserem Bewusstseinsinhalt als dem
uns auf Grund des Wahrnehmens Gegebenen. Er läugnet)1
aber die Realität dieses Gegebenen, da die Dinge oder „Sachen'',
Complexionen von Einfachen der Empfindung seien , und
dieses Einfache der Empfindung niemand für real halte , wie
es schon die Sprache durch Adjektive ausdrücke. Da also
von dem Gegebenen das „Seinu geleugnet werden müsse,
könne es nur als Schein bezeichnet werden. Wo aber Schein
sei — und dieser Schein als Schein sei wirklich — da
sei notwendig etwas vorauszusetzen, welches erscheine und
aus dem das Scheinen abzuleiten sei, folglich: „Soviel Schein,
soviel Hindeutung auf das Sein."
1) Von den Schriften der beiden Philosophen sind in dieser Unter-
suchung besonders folgende berücksichtigt:
von Herbart
1. Hauptpunkte der Metaphysik 1808. Werke Hartenstein III.
2. Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie 1813. „Einl."
3. De attentionis mensura etc. 1822 kl. S. II.
4. Lehrbuch der Psychologie 1816. Werke V „Lehrb."
5. Psychologie als Wissenschaft u. s. w. 1824. Werke V. VI.;
„Psych."
6. Allgemeine Metaphysik 1828;29. Werke HJ. IV.
von Lotze
1. Medicinische Psychologie 1852.
2. Mikrokosmus I. 1856.
3. Streitschriften 1. Heft. 1857.
4. Metaphysik 1879.
5. Seele und Seelenleben 1846 kl. S. II 1 ff.
1) Hauptpunkte p. 13. Einl. § 118. 132. Metaph. § 169 ff. § 197 ff.
- 3 —
Wenn nach dem. Vorstehenden „scheinen" heisst: unserni
Bewusstsein auf Grund der Wahrnehmung gegeben sein —
was heisst dann „sein"? Herbart lehrt1): Erklären, dass A
sei, heisst erklären, es solle bei dem einfachen Setzen von
A sein Bewenden haben. — Aber haben wir mit dieser
Erläuterung eine leicht verständliche Erklärung des Begriffs
„Seiiv erhalten? Wohl kaum! Was bedeutet denn zunächst
das Wort „setzen"? Lotze nimmt an dem Ausdruck Anstoss-)
und bemerkt, dass Position oder Setzung als erläuternder
Ausdruck für das reine Sein in einer Weite der Bedeutung
gebraucht werde, durch die er zu einem unvollkommenen
Gedanken würde. Während die Worte durch Erinnerung an
ihre eigentliche Bedeutung versinnlichend wirken sollten,
würde doch ausdrücklich wieder verneint, worauf ihre eigent-
liche Bedeutung beruhe. Dadurch würden sie unklar und
zweideutig. Setzung und Position verlangten nicht nur die
Angabe dessen, was gesetzt würde, sondern auch die Angabe
des Orts, wohin es gesetzt würde, und dadurch würde man,
um der Setzung, dem reinen Sein, den Sinn zu geben, durch
den sie sich von der Nichtsetzung, dem reinen Nichtsein,
unterschiede, zur Annahme von Verhältnissen zurückgewiesen,
die ja Herbart dem Seienden abspricht.
Gegen diesen Tadel in der Form, wie er von Lotze er-
hoben und begründet wird, ist Herbart ohne Zweifel zu ver-
teidigen. Nie hat derselbe die Ausdrücke Position und Setzung
um der versinnlichenden Kraft willen gewählt, die in ihnen
liege ; jedenfalls hat ihm der Gedanke an einen Ort, an den
der betreffende Gegenstand zu setzen sei, sehr fern gelegen,
und es wird daran auch niemand so leicht denken , der mit
dem Herbartischen Systeme vertraut ist und aus Herbarts
Worten das herauszulesen sich bemüht, was derselbe hinein-
gelegt hat. Freilich leistet die von Herbart dem Worte
1) Hauptpunkte § 1.
2) Metaph. p. 37.
— 4 —
„setzen" beigelegte Bedeutung nichts zur Erläuterung des
Begriffs „sein", vielmehr erhält es selbst erst durch denselben
seine Erklärung. „Setzen" ist bei Herbart offenbar dasselbe
wie: für seiend halten. Einen andern Sinn kann doch die
Setzung der Schatten, Träume, Täuschungen aller Art nicht
haben , welche später zurückgenommen wird , nachdem eben
jene Schatten, Träume, Täuschungen als nicht-seiend erkannt
sind i). Ueberhaupt zeigt sich hier gleich am Eingange der
Grundfehler des ganzen Systems. Das Seiende, welches
doch nach Herbart etwas ganz anderes ist als das Scheinende
d. i. unser auf Grund des Wahrnehmens vorhandener Be-
wusstseinsinhalt, dieses Seiende will er erkennen und be-
stimmen, und gleich der erste Schritt führt ihn auf die Schein-
welt zurück. Denn nicht nur dreht er sich bei der Erklärung
des Begriffes „sein", wie gezeigt, im Cirkel, sondern er rät
auch, die Setzung des „Seienden" nach dem Vorbilde der mit
jeder Wahrnehmung geschehenden Setzung zu vollziehen *).
„Fragt man uns: wie sollen wir es machen, etwas als seiend
zu setzen, so antworten wir: setzt es so, wie ihr gewohnt
seid, die Dinge in der Sinnenwelt dann zu setzen, wenn ihr
sie seht oder betastet, oder deren Ton Geschmack sinnlich
wahrnehmt."
Also auch die sinnlichen Wahrnehmungen, sogar Schatten
und Träume werden ursprünglich gesetzt, und Herbart meint
also nicht, mit dem Ausdruck „Setzung" das von Lotze so-
genannte „reine" Sein oder das der Scheinwelt entgegen-
gesetzte An-sich-Seiende bezeichnet zu haben. Dieses wird
erst ausgedrückt durch die „absolute", „nicht zurücknehm-
bare" Position. Denn auf dem Attribut „einfach" liegt in
janer oben angeführten Definition der Nachdruck. Vieles wird
gesetzt, dessen Setzung wieder zurückgenommen wird, das
1) Herb. Met. § 202.
2) Met. § 201.
— 5 —
demnach als nicht-seiend erkannt wird. Durch den Ausdruck
„A ist" soll die Frage, ob die Setzung des A wieder zurück-
zunehmen sei, verneinend beantwortet werden. Der Begriff
des Sein auf einen Gegenstand bezogen, bezeichnet also nach
Herbart1) nichts als das Bekenntniss, dass wir eine in An-
sehung desselben unnötige Frage aufgeworfen haben : neni-
lich die Frage, ob es bei dem Setzen des Gegenstandes sein
Bewenden haben solle, oder ob die Setzung desselben gleich
der Setzung der Traumerscheinungen u. s. w. zurückzu-
nehmen sei.
Die weitere Polemik Lotzes am angegebenen Orte gegen
die der „einfachen" Setzung etwa untergeschobene Bedeutung
der „schlechthinnigen Setzung, die von jeder Beziehung ab-
sehe, als gegen eine sich selbst widersprechende Abstraktion,
hat ihren Grund darin , dass Herbart das „Seiende" als be-
ziehungslos bestimmt, Lotze dagegen als die einzige Be-
stimmtheit desselben das mit anderen Seienden in Beziehung
d. i. in Wechselwirkung-Stehen anerkennt 2). Da es sich hier
nur um den Sinn handelt, den wir mit dem als Prädikat auf
einen Gegenstand bezogenen Begriff des „Seins" verbinden,
nicht um die Bestimmtheiten, die diesem Gegenstande, dem
Seienden also, zukommen müssen, so kann die angegebene
Differenz der beiden Lehren nicht hier besprochen werden,
sondern gehört in die Erörterung über die Bestimmtheiten
des Seienden.
Auch was Lotze gegen die Auffassung der Setzung als
Bejahung sagt , und gegen das Missverständniss , als werde
durch die Bejahung, wenn sie auf kein bestimmtes Prädikat
gerichtet, sondern schlechthin ausgeübt werde, dies allgemeine
und reine Sein (Seiende?) erzeugt, das allem bestimmten
Sein (Seienden?) zu Grunde liege, während doch die Be-
1) Met. § 202.
2) L. Met. p. 160.
jahung das Prädikat nicht hervorbringe , auf das sie falle,
sondern ebenso gut das Nichtsein als das Sein der Dinge
behaupten könne — trifft Herbart nicht; der bei der einfachen
Position durchaus nicht an Bejahung dachte, wie oben aus-
einander gesetzt ist. Auch der Vorwurf, dass Position als
Benennung einer Handlung zu dem Irrtum veranlasse, als
würde durch dieselbe das Sein (Seiende?) erzeugt, richtet
sich nur gegen eine falsche Auslegung der Herbartischen
Worte, nicht gegen diesen selbst.
Wenn sich so gezeigt hat, dassdie Einwürfe Lotzes gegen
die Herbartische Definition des Begriffs „sein" nichts ge-
leistet haben; dass Lotze nur falsche Auslegungen derselben
zurückgewiesen, nicht Herbarts eigene Meinung widerlegt hat,
so erhebt sich für uns die Frage: Wo liegt denn der Fehler
in Herbarts Gedankengang, da ja doch seine Definition des
Seins , auch wie er sie verstanden wissen will , missglückt
ist. Denn mit der Setzung befinden wir uns, wie oben ge-
zeigt, noch durchaus in der Welt des „Scheins", und auch
die „einfache'', „absolutg" Position hebt uns aus derselben
nicht heraus, wenn er sie gegenüberstellt der wieder zurück-
zunehmenden Setzung der Träume, Täuschungen u. s. w.,
und wenn nach ihm „die absolute Position auch in jeder
Empfindung ist, ohne dass man es merkt" *).
Und doch meint Herbart unzweifelhaft durch jene De-
finition uns aus der Sphäre des „Scheinenden" in die des
„an sich Seienden" erhoben zu haben, wie aus seiner dua-
listischen „Schein"- und „Seins" -Welt gegenüber stellenden
Weltauffassung sich notwendig ergiebt, und nicht nur die
ursprüngliche Setzung der Träume u. s. w., sondern auch
die aller Dinge, die uns durch Wahrnehmung gegeben wer-
den, muss nach seiner Ansicht wieder zurückgenommen, die
1) Met. § 204.
-- 7 -
wahrgenommenen Dinge also müssen als „scheinende" be-
zeichnet werden.
Kehren wir daher, da Herbart sich so schnell in eine
Sackgasse verrannt hat , aus der ihn nur eine Inconsequenz
und Verletzung seiner Grundanschauung herausführte, und
da er schon beim ersten Versuch, in das Gebiet des „Seins"
zu gelangen, in das des „Scheins" zurückgefallen ist, noch
einmal zu seinem Ausgangspunkte zurück, um die Fehler in
seinem Gedankengange zu entdecken.
In den „Hauptpunkten der Metaphysik" begründet Herbart
seinen Dualismus einzig durch die Nichtrealität der Sinnes-
wahrnehmung, die allgemein anerkannt sei und die er selbst
daher gar nicht erst beweist. Ausführlicher ist er in der
„Einleitung" ') und in der „Metaphysik" 2). In der Einleitung,
auf welche sich die Metaphysik mehrfach als Voraussetzung
beruft (z. B. § 168) sagt er: Das Was der Dinge wird uns
durch die Sinne nicht bekannt". Denn erstlich: die sämt-
lichen , in der Wahrnehmung gegebenen Eigenschaften sind
relativ (folgt Begründung dieser Behauptung) ; zweitens : die
Mehrheit der Eigenschaften verträgt sich nicht mit der Ein-
heit des Gegenstandes. Wer auf die Frage: was ist dies
Ding? antworten will, der antwortet durch die Summe seiner
Kennzeichen, nach der Formel: dies Ding ist a und b und
e und d und e. Die Rede sei aber von Einem gewesen,
nicht von Vielem; darum sei die Antwort ungereimt und
das „Was" des Dinges durch dieselbe nicht bestimmt u. s. w.
Die Relativität der wahrgenommenen Sinnesqualitäten
also im Verein mit dem Widerspruch , den das Eine Ding
mit seinen mehreren Merkmalen in sich birgt, und mit den
vielen sonstigen Widersprüchen im Gegebenen3), besonders
1) Einl. § 118 ff.
2) Met. § 165 ff. § 167. 169. 182.
3) Einl. § 119.
— 8 -
in den Begriffen der Veränderung, des Grundes und der
Folge, des Stetigen, des Ich, veranlassen Herbart dazu, unsere
ganze Vorstellungswelt als ,, Schein" zu bezeichnen und sie
in Gegensatz zu einer „Seins"-Welt zu stellen.
Hier klafft offenbar eine grosse Lücke. Denn Relativität
der Sinneswahrnehmung ist doch etwas ganz anderes als Nicht-
sein derselben (das bedeutet „Schein" in der dualistischen
Gegenüberstellung). Sind die Sinnesqualitäten in der Wahr-
nehmung abhängig von allerhand äusseren Umständen und
von der Beschaffenheit der Sinnesorgane des Wahrnehmenden
— : gut, so gehört diese Relativität mit zu ihren Bestimmt-
heiten; sie als Schein zu bezeichnen, hätten wir nur dann
ein Recht, wenn uns andere Eigenschaften des jedesmal in
Frage kommenden Dinges bekannt wären, die keiner solchen
Abhängigkeit von begleitenden Umständen und keinem Wechsel
unterworfen wären. Und was die Widersprüche anbetrifft,
die Herbart in gewissen Begriffen findet, so findet er die-
selben nur deshalb , weil er das Gegebene nicht nimmt, wie
es sich bietet, und nicht durch Analyse desselben seine Be-
stimmtheiten zu erkennen sucht, sondern mit vorgefassten
Begriffen an die gegebenen Begriffe herantritt, wo denn die
letzteren mit den ersteren nicht übereinstimmen, da diese
nicht rechtmässig auf Grund des Gegebenen gebildet sind.
Die angeblichen Widersprüche können nicht alle hier einzeln
besprochen werden, aber mit welchem Rechte fordert z. B.
Herbart von dem Einen Dinge Einfachheit d. i. Bestimmt-
heit durch Ein Kennzeichen? Das Eine Ding, wie es uns ge-
geben ist und wie es allgemein aufgefasst wird, giebt uns
zu einer solchen Forderung keine Berechtigung.
Die Leichtigkeit , mit der Herbart auf Grund jener an-
geblichen Widersprüche den Sprung aus der gegebenen Welt
als einer ,.Schein"-Welt in eine „Seins"-Welt wagt, zeigt,
dass er schon vorher das uns Gegebene als ,,nicht-seiend"
als Schein auffasste , worauf denn der Ergänzungsbegriff des
— 9 —
„Seienden" sich von selbst einstellte. Auch bei Herbart ist
wie bei allen Dualisten dieser Art die Beobachtung zu machen,
dass sie, anstatt in ihren Urteilen über die Welt die Quelle
der Widersprüche zu entdecken und dieselben nach der Welt
umzubilden, sie leichter die Identität von Welt und Seiendem
verneinen 5).
Der Ursprung dieser falschen Gegenüberstellung der
unserem Bewusstsein gegebenen Welt als blosen Scheins zu
einer wahrhaft „seienden" Welt , liegt offenbar in der That-
sache, dass von dem gesamten Bewusst-Seienden und Ge-
gebenen Träume Sinnestäuschungen aller Art, Phantasiegebilde
u. s. w. in Gegensatz traten zu dem durch allgemeine Cau-
salverknüpfung Charakterisierten , worauf man dann ganz
richtig jenes als scheinend, dieses als seiend bezeichnete.
Dieser richtigen Unterscheidung aber von Seiendem und
Scheinendem innerhalb des gesamten Bewusst-Seienden schob
man bald auf Grund der Veränderung und der Relativität
der Sinnesqualitäten die andere unter, als deren erstes Glied
die uns auf Grund des Wahrnehmens gegebene AVeit unter
dem Namen einer „Schein"- oder „Erscheinungs"-Welt fun-
gierte, während als zweites Glied eine Ideenwelt oder „an
sich seiende" Welt gesetzt wurde , die von uns nie durch
Wahrnehmung zu erfassen, sondern entweder nur durch Be-
griffe oder, nach andern Philosophen, überhaupt nicht zu er-
kennen sei. Da wir nun aber die Begriffe ebenfalls nur auf
Grund des Wahrnehmens haben, nemlich Wahrgenommenes
oder Vorgestelltes als begriffenes d. i. unterschieden von und
verglichen mit anderem Wahrgenommenen oder Vorgestell-
ten2), so ist diese angebliche Seinswelt überhaupt nicht zu
erkennen, folglich, da sie nie Bewusstseinsinhalt werden
1) vgl. Rehmke. Die Welt als Wahrnehmung und Begriff p. 134.
2) Rehmke p. 107 f.
— 10 —
kann, der Begriff dieser Seinswelt als ein falsch gebildeter,
als ein Hirngespinnst zu bezeichnen ').
Daher kann , wenn ein Gegensatz zwischen Sein und
Scheinen überhaupt festzustellen ist, dies nicht im Sinne
Herbarts und der Dualisten geschehen, sondern nur in der
Weise, worauf Herbart durch seine Bemerkung von der unzurück-
nehmbaren Setzung des Seienden im Gegensatz zu dem zu-
rückzunehmenden Setzen der Träume u. s. w. hätte geführt
werden müssen , dass auf der einen Seite als Schein die
Träume, Sinnestäuschungen, Bewusstseinsgebilde krankhaften
oder willkürlich-subjectiven Ursprungs zu stehen kommen, auf
der andern Seite! als Seiendes dasjenige, was sich in durch-
gängiger Causalverknüpfung mit der übrigen „Weltu und in
widerspruchslosem Zusammenhang mit dem übrigen auf Grund
des Wahrnehmens Bewusst-Seiendeni zeigt, so dass als Kenn-
zeichen des Seienden im Unterschiede vom Scheinenden diese
seine Causalverknüpfung zu bezeichnen ist.
Es könnte scheinen, als unterscheide auch Lotze das
Seiende und das Nicht-Seiende oder Scheinende nach demselben
Kriterium , welches wir soeben angegeben haben , wenn er
behauptet: *) in Beziehungen zu stehen sei die Bedeutung des
Seins der Dinge und diese Beziehungen seien nichts anderes
als die unmittelbaren Wechselwirkungen , welche die Dinge
unablässig austauschten. Aber demgegenüber ist zu bemer-
ken , dass Lotze , wie sich im weiteren Verlaufe der Unter-
suchung zeigen wird, ganz auf dem dualistischen Standpunkte
steht, dass ihm Seiendes und Scheinendes nicht Gegensätze
innerhalb des Gegebenen sind, sondern dass ihm das Letztere
mit Schein zusammenfällt, und dass daher jenes in Beziehung
Stehen sich nicht mit Causalverknüpfung decken kann, die ja
nur statthat in der uns gegebenen Welt
1) vgl. Kant. Träume eines Geistersehers (Kirchmann) p. 58. Anm.
2) Met. Vom Sein der Dinge p. 27 ff. und Abschloss p. 160 ff.
— 11 —
Daraus, dass Lotze mit seiner Auffassung des uns Ge-
gebenen als einer Scheinwelt, in diesem principalsten aller
Principien, sich auf demselben Irrwege befindet wie Herbart,
daraus erklärt es sich auch, dass er bei der Polemik gegen
die Herbartische Definition des „Seins" immer daneben traf
und nicht die Wurzel aller Missverständnisse in der unbe-
gründeten Gegenüberstellung von „Scheine-Welt und „Seins"-
Welt fand.
Nachdem Herbart den abstrakten Begriff des Seins er-
örtert und die Bedeutung desselben nach seiner Meinung
festgestellt und genügend erläutert hat, erhebt sich die Frage
nach dem , was ist. Denn nicht wird Herbart durch den
Dualismus dahin geführt, rücksichtlich seines „Seienden" alle
Erkenntniss zu verneinen, was er folgerichtig thun niusste1;,
sondern er glaubt auf dem Wege begriffsmässigen Denkens
das Seiende erfassen und bestimmen zu können. Obwohl
nemlich die „Dinge au sich" nur vermöge einer Reihe von
Schlüssen aus dem Gegebenen (welches bekanntlich nur
Schein ist) behauptet werden *). und demnach diese Schlüsse
nur Produkte des Denkens, mithin jene „Dinge an sich" nur
Gedankendinge sind, glaubt Herbart doch durch und in jenen
Schlüssen Erkenntniss des Seienden zu gewinnen. Denn „die
Gültigkeit und reale Bedeutung dessen, was wir in einem
notwendigen Denken über das Seiende festsetzen , kann gar
nicht bezweifelt werden, weil der Zweifel nichts anderes ist als
ein Versuch, sich dem notwendigen Denken zu entziehen. Wir
sind in unsern Begriffen völlig eingeschlossen: und gerade
weil wir es sind, entscheiden Begriffe über die reale Natur
der Dinge."
Wenn die Begriffe eine solche Bedeutung für Herbart
und für jeden denkenden Menschen haben , wenn wir über
1) vgl. Eehmke p. 79.
2) Einl. § 136.
— 12 -
dieselben nicht hinauskönnen, so fragen wir, was sind die Be-
griffe, woher haben wir und woher hat Herbart dieselben?
Auf diese Weise werden wir die von Herbart ihnen beige-
legte "Wichtigkeit und ßefugniss bestätigen können oder sie
ihnen absprechen müssen.
Ich brauche nun nicht auf neuere Auseinandersetzungen ])
zu verweisen, um die etwaige Ansicht abzuwehren, dass Be-
griffe eingeboren oder auf irgend eine andere Art unabhängig
vom Wahrnehmen und Vorstellen in uns entstehen und von
uns gehabt werden könnten. Herbart selbst erkennt den
Ursprung der Begriffe in dem Wahrnehmungsgegebenen an, da
sie ihm „Vorstellungen" oder ,,reproducirte Vorstellungen"'
sind: „Unsere sämtlichen Vorstellungen sind Begriffe in Hin-
sicht dessen , was durch sie vorgestellt wird. Demnach
existieren die Begriffe als solche nur in unserer Abstraktion ;
sie sind in Wirklichkeit eben so wenig eine besondere Art
von Vorstellungen als der Verstand ein besonderes Vermögen
ist" 2). „Das Wort Begriff, indem es das Begriffene bezeich-
net, gebietet zu abstrahieren von der Art und Weise, wie
wir den Gedanken empfangen, producieren oder reproducieren
mögen" 3). Die ursprüngliche Produktion der Gedanken (hier
offenbar = Vorstellungen) aber geschieht bekanntlich nach
Herbart durch die Selbsterhaltung der Seele gegen erfahrene
Störungen in der Form von Vorstellungen. „Die Selbst-
erhaltungen der Seele sind Vorstellungen und zwar einfache
Vorstellungen"4). Diese einfachen Vorstellungen sind, wie
sich aus der unten zu besprechenden Psychologie ergiebt,
Sinneswahrnehmungen und zwar einfache nur qualitativ be-
1) Kehmke. Der Begriff a. a. 0. p. 107. Schuppe. Erkenntniss-
theoretische Logik §34.: Urteil, Begriff und Schluss ; § 4ö. das Gegebene
und die Denkarbeit.
2) Lehrb. § 179.
3) Einl. § 34.
4) Lehrb. § 155.
— 13 —
stimmte. — Was die allgemeinen Begriffe anbetrifft, so
sind diese der langsam allmähliche Erfolg des fortgehenden
Denkens und Urteilens1), also ebenfalls auf Wahrnehmen
und Vorstellen basiert.
Dieser von Herbart selbst eingestandenen Thatsache ge-
mäss werden wir sehen , dass auch die von Herbart zwecks
Erkenntniss und Bestimmung des „Seienden" verwerteten
Begriffe die Kennzeichen ihres Ursprungs aus der von uns
wahrgenommenen und vorgestellten ,,Scheinu-Welt in sich
tragen , und dass also , da aus einem Begriffe nur das abge-
leitet werden kann, was in ihm begriffen und gedacht ist,
die vermeintliche „Seins"-Welt eine mehr oder minder rich-
tige oder vielmehr falsche Construktion aus Merkmalen ist,
die der ,, Schein"- Welt entnommen sind; ein Phantasiegebilde
oder mit Kant zu reden ein Hirngespinnst.
Dasjenige nun was ist, das Seiende das dem Schei-
nenden zu Grunde liegt, ist uns unbekannt. „Denn wir
sagen zwar, dass es ist, aber wir bekennen, nicht zu
wissen, was es ist. Das Unbekannte ist die Qualität" 2). —
Aus welchem Grunde und mit welchem Rechte wird hier die
Qualität als das, von dem das Sein ausgesagt wird, behauptet?
Den Grund sehen wir im folgenden Paragraphen 3) : „Die Em-
pfindung ist noch immer nötig, um dasjenige, was für real
gehalten wird, vom blos Gedachten, dem Gedankendinge zu
unterscheiden". Aber, so müssen wir einwerfen, diese Unter-
scheidung zwischen blos Gedachtem, dem Gedankendinge und
dem, was für real gehalten wird, auf Grund der Empfindung-
(empfundener, besser wahrgenommener Sinnesqualität) hat
doch nur statt in der sogenannten „Schein"-Welt. Wir sehen
also wohl den Grund ein, der Herbart zu seiner oben ange-
1) Lehrb. § 189.
2) Met. § 200.
3) § 201. p. 74.
— 14 —
führten Behauptung bestimmt hat. nemlich die Unmöglichkeit,
das Seiende und das Nicht-Seiende anders als durch die
Merkmale zu unterscheiden, welche das uns Gegebene auf-
weisst; dagegen ist eine Berechtigung zur Verwertung dieser
Merkmale für die „Seinsl'-Welt, die ja der uns gegebenen
ganz „inkommensurabel" ist, gar nicht vorhanden. Ueberdies
ist auch innerhalb des uns Gegebenen die Bestimmung des
Realen im Unterschiede vom blos Gedachten nur durch die
Empfindung nicht ausreichend. Das Reale muss ausser der
qualitativen auch räumliche und zeitliche Bestimmtheit zeigen
und ausserdem als im allgemeinen Causalzusammenhange
stehend sich erweisen. Von diesen Bestimmtheiten des Sei-
enden im Gegebenen verwendet Herbart zur Bestimmung
seines Seienden zunächst nur die Qualität, doch findet sich,
wie wir sehen werden , auch von den übrigen ein Gegen-
stück in der „Seins"-Welt desselben: der intelligible Raum,
die Unveränderlichkeit (Zeitlosigkeit) und die Störung und
die Selbsterhaltung (Causalverknüpfung).
Auch beim zweiten Schritte also , bei der Bestimmung
dessen was ist, wie vorher schon bei der Erläuterung des
Begriffs ,,sein", fällt Herbart zurück in die „nichtseiende-'
Welt, und es ist bezeichnend für die Bemühungen des Dualis-
mus, dass Lotze gerade dieses Zurückgreifen auf die uns
gegebene Welt, um die uns nicht gegebene zu bestimmen,
als eine verdienstliche That Herbarts preist *). Da die sinn-
liche Empfindung die einzige Quelle sei, welche uns nicht
nur die Wirklichkeit eines Seins verbürge, sondern auch
durch die Mannigfaltigkeit ihrer unterscheidbaren gleichartigen
und ungleichartigen Erscheinungen überhaupt der Vorstellung
eines Was, das von einem andern Was sich unterscheide,
ihren Ursprung und Klarheit gebe, so sei der Versuch un-
vermeidlich, das gesuchte Was der Dinge soweit diesem
1) Met. p. 47.
— 15 —
sinnlichen Inhalt analog zu denken, als die gleichzeitige Auf-
gabe zulasse, alles zu vermeiden, wodurch die sinnliche
Empfindung zum Ausdruck dieses Wesens unzureichend ge-
wesen wäre. Diesen Versuch habe mit Entschiedenheit zuerst die
Ontologie Herbarts gemacht. — Allerdings muss Lotze nach
seitenlangen Erörterungen, die er dieser These Herbarts von
der Qualität des „Seienden" widmet, zugestehen , dass damit
nichts gewonnen sei, dass Herbart uns mit dieser ,, Qualität"
gewissermassen betrüge, indem wir damit etwas zu haben
glaubten, was wir doch in Wirklichkeit nicht hätten. Denn
Qualität, in dem von Herbart gebrauchten Sinne, heisse nur
Bestimmtheit überhaupt. Es sei damit keine besondere Be-
stimmung gegeben, sondern jeder habe die Freiheit, sich
darunter alles Mögliche und Unmögliche vorzustellen. Trotz
dieser richtigen Ausstellungen wird leider Lotze durch seinen
falschen Begriff des Seins verhindert, das Richtige, das in
diesem misslungenen Versuch liegt, und welches sich gerade
in dem Misslingen desselben kundthut , herauszufinden und
sich von den vergeblichen Bemühungen abzuwenden. Denn
wer einmal erkannt hat, dass wegen der, qualitativen Be-
stimmtheit des gegebenen Wirklichen dasjenige , was für
seiend , für wirklich gehalten werden soll , qualitative Be-
stimmtheit aufweisen muss , der musste ohne jene falsche
Voraussetzung eines Seienden, das etwas ganz anderes wäre
als das uns Gegebene, notwendig dahin kommen , die Quali-
täten oder vielmehr die Bestimmtheiten überhaupt aufzu-
suchen, die das als seiend Gegebene hat, und danach an
Jegliches, welches mit dem Anspruch als seiend zu gelten
auftritt, jene gefundenen Bestimmungen des Seienden als
Massstab anzulegen.
Nachdem Herbart das Seiende seinem Inhalt nach be-
stimmt hat, sucht er die formalen Bestimmtheiten desselben
mit Hülfe jener Erläuterung des Begriffs „sein" zu gewinnen.
„AVenn wir die absolute Position festhalten wollen", sagt er,
— 16 —
„müssen wir uns vor ihren Gegenteilen, den Negationen und
Relationen hüten" '). Denn beide würden die absolute Setzung
aufheben. Das Seiende ist also erstens positiv; zweitens
relationslos, sich selbst genügend. Hieraus ergebe sich not-
wendig, dass es auch einfach sei. „Denn gesetzt die Qua-
lität sei mehrfach', so enthält sie zum wenigsten zwei Be-
stimmungen, A und B, und es liegt in der Voraussetzung,
gegen die wir streiten, dass diese zwei sich schlechterdings
nicht auf Eine — welche sonst die wahre Qualität sein würde
— zurückführen lassen. So ist demnach A ungenügend ohne
B; und B ungenügend ohne A. Hier liegt der doppelte
Fehler der Xegation und der Relation am Tage" 2).
Aus der Einfachheit des Seienden folgert Herbart un-
mittelbar, „dass dem Seienden weder räumliche noch zeit-
liche Bestimmungen zukommen können" 3). Durch die letztere
Bestimmtheit ist es zugleich als unveränderlich bezeichnet,
was er an einer anderen Stelle noch ausdrücklich hervorhebt.
„Für das Seiende giebt es gar keinen Wechsel und das wirk-
liche Geschehen ist demnach für das wahre Reale so gut als
völlig nicht geschehen". Das wirkliche Geschehen aber ist
Uebersetzung des Was der Wesen in eine andere und andere
Sprache, in andre gleichbedeutende Ausdrücke 4). Das wirk-
liche Geschehen nemlich besteht in der Veränderung der
„Schein"-Welt, welche in ihren verschiedenen Zuständen ver-
schiedene Uebersetzung des unveränderlichen Seienden sein soll.
Hier ist nun der Prüfstein, an dem die von Herbart
getroffene Bestimmung des Seienden die Probe ihrer Richtig-
keit zu bestehen hat, ob nemlich aus dem Seienden, sowie
es Herbart bestimmt hat, sich das Gegebene mit der Ver-
änderung seiner Bestimmtheiten widerspruchslos ableiten lässt.
1) Met. § 205 f.
2) Met. § 207.
3) Einl. § 137.
4) Einl. § 153.
— 17 —
Han sieht die Schwierigkeit, in die Herbart angesichts
dieser Aufgabe gerät. Sein methodologischer Grundsatz heisst:
Wie viel Schein, soviel Hindeutung auf das Sein. Nun sind
in der Scheinwelt Veränderungen gegeben, es , .scheinen"
also Veränderungen. Demnach müssten obigem Grundsatz
zufolge auch für das Seiende Veränderungen erschlossen
werden. Aber das Seiende ist ja von Herbart als unverän-
derlich bestimmt worden. Somit scheinen wir hier vor einem
unlösbaren Knoten zu stehen ; und derselbe ist wirklich und
bleibt auch unlösbar, wenn die beiden Begriffe, aus denen
er geschlungen ist. das „Sein" und „Scheinen" in der Be-
deutung, in welcher sie von Herbart und allen Dualisten
gefasst werden, im Gegensatz zu einander erhalten bleiben
sollen.
Herbart sucht das Problem durch seine Theorie von den
Störungen und Selbsterhaltungen der Seienden oder Realen
zu lösen : „In dem Zusammen der realen Wesen muss
etwas geschehen, wodurch, wenn nicht unmittelbar, so doch
mittelbar, diejenige Mannigfaltigkeit entsteht, welche sich
unsern Augen als ein Vieles der Eigenschaften eines Dinges
darstellt" *). „Die Probleme von der Veränderung und den
mehreren Eigenschaften werden aufgelöst durch die Theorie
von den Störungen und Selbsterhaltungen der Wesen. Nem-
lich von dem an sich unerkennbaren einfachen Was der
Wesen lässt sich so viel bestimmen, dass dasselbe nicht blos
bei verschiedenen verschieden sei, sondern dass es auch con-
träre Gegenstände bilde. Diese Gegensätze sind nun an sich
nicht reale Prädikate der Wesen; daher muss noch eine for-
male Bedingung, das Zusammen mehrerer Wesen hinzukom-
men, damit die Gegensätze einen realen Erfolg haben können.
Der Erfolg ist Leiden und Thätigkeit zugleich, ohne Ueber-
gang irgend einer Kraft aus dem Einen in das Andere. Die
1) Met, § 224.
— 18 —
Wesen erhalten sich selbst, jedes in seinem eigenen Innern,
und nach seiner eigenen Qualität, gegen die Störung, welche
erfolgen würde, wenn das Entgegengesetzte der mehreren
sich aufheben könnte. Die Störung gleicht also einem Drucke,
die Selbsterhaltung einem Widerstände" *).
Es verhält sich aber mit diesen Störungen und Selbst-
erhaltungen folgendem] assen. Die einfachen nicht blos von
einander verschiedenen, sondern auch entgegengesetzten
Wesen A und B, deren einfache Qualitäten, zusammengefasst,
eine blose Summe ergeben, aus der nichts weiteres wird,
lassen sich vermöge der zufälligen Ansichten als solche be-
trachten, die in einander greifen. Wenn auf diese Weise
A = a-J-ß-f y und B = m-j-n — Y zusammengefasst würden,
so ergebe sich a-j-ß-f-ni-j-n, da das Entgegengesetzte sich
aufhebe. Dies geschehe aber nur im denkenden Zusammen-
fassen der aufgelösten Begriffe. In Wirklichkeit könnten die
Gegensätze sich nicht aulheben, da sie nicht für sich be-
stehende Teile der Wesen seien, sondern in den einfachen
Wesen, unlösbar von denselben, enthalten. Es könne also
nur entweder gar nichts geschehen oder es müssten sich die
beiden Wesen gegenseitig ganz aufheben. Das Erstere ist
unmöglich in dem Zusammen entgegengesetzter Wesen.
Das Letztere sei ebenfalls unmöglich; denn sollte es möglich
sein, so niüsste entweder von den beiden Wesen eins positiv
und das andere die Negation dieser Position, folglich das
Letztere kein Wesen sein; oder aber es müssten beide nur
gegenseitige Verneinungen sein, also keins ursprünglich
positiv, was von realen Wesen zu behaupten ungereimt sein
würde 2). Der Erfolg ist also : die in wirksamen Gegensatz
getretenen Wesen heben sich .weder ganz noch zum Teil auf.
Sie bleiben trotz des wirksam gewordenen Gegensatzes bo-
1) Einl. § 152.
2) Met. § 234.
— 19 —
bestehen. „A erhält sich als A und B erhält sich als B".
Die Wirkung des Gegensatzes nennt Herbart ., Störung", das
Bestehen trotz der Wirkung „Selbsterhaltung"w. Dies ist das
„wirkliche Geschehen, das für das Reale so gut als völlig
nicht geschehen" ist ').
Veranlasst wird die Störung und Selbsterhaltung der
Realen durch ihr Zusammen. Darunter versteht Herbart die
Causalverknüpfung der Seienden im intelligiblen Raum 2),
entsprechend der Causalverknüpfung der „scheinenden" Dinge
im scheinenden Raum: „A und B sind zusammen, heisst:
sie sind im Causalverhältniss" 3).
Ursprünglich sind die Wesen nach Herbarts Annahme,
wie oben gezeigt, beziehungslos. Auch dass sie überhaupt
in ein Zusammen geraten, liegt nicht in ihnen begründet,
sondern ist „zufällig". „Die Wesen, wie sie sind, können
so gut zusammen als nicht zusammen sein". „Es folgt aus
dem blosen Was der Wesen noch nicht, dass sie für einander
sein werden. Es folgt auch ebensowenig das Gegenteil".
„Es giebt kein Schicksal. Sollte es ein solches geben, so
müsste man es in dem zufälligen Umstände suchen, dass
die Wesen zusammen sind" 5).
Die verschiedenen Störungen und Selbsterhaltungen nun,
die dadurch zu Stande kommen, dass die Realen unterein-
ander in wechselnde Zusammen treten, sind das was der
,, Schein" -Welt zu Grunde liegt; und zwar baut unsere Schein-
welt sich auf den verschiedenen Selbsterhaltungen unserer
Seele auf. Während uns nemlich unbekannt bleibt, worin
die Selbsterhaltungen der anderen Realen bestehen, kennen
wir die Selbsterhaltungen desjenigen Realen, das wir Seele
1) Einl. § 152.
2) Met. § 244.
3) Met. § 246.
4) Hauptpunkte § 5.
5) Met. § 237.
— 20 —
nennen. Es sind dies unsere Sinneswahrnehmungen, nach
Herbartischer Bezeichnung „Vorstellungen^ oder ,, Empfin-
dungen''. Trotzdem nun aber die Selbsterhaltungen der
übrigen Realen uns unbekannt bleiben , soll uns doch die
Eigentümlichkeit derselben d. i. ihre Unterschiedenheit gegen
einander bemerkbar werden. Denn obwohl für das Gebiet
des Seienden kein Unterschied in den Selbsterhaltungen der
Realen ist, zeigt sich ein Unterschied der Selbsterhaltungen
eines Realen A gegen B und gegen C für das Gebiet des
Geschehens und dieser Unterschied wird für die Seele , die
als Reales selbst in die verschiedenen Relationen verwickelt
wird, bemerkbar. „Gesetzt, ein Beobachter stehe auf einem
solchen Standpunkte, dass er die einfache Qualität nicht er-
kennt, wohl aber in die verschiedenen Relationen des A
gegen B C D u. s. w selbst verwickelt wird, so bleibt ihm
nur das Eigentümliche der einzelnen Selbsterhaltungen, nicht
die beständige Gleichheit ihres Ursprungs und ihres Resul-
tates bemerkbar. Dies ist der Standpunkt des Menschen,
dessen verschiedene Empfindungen nichts anderes sind, als
die verschiedenen Selbsterhaltungen der Seele, die sich selbst
nicht sieht und nichts davon weiss , dass sie in allen ihren
Empfindungen sich selbst gleich ist; und vollends nichts
davon, dass ihre Zustände abhängen vom Geschehen in zu-
sammentreffenden Wesen ausser ihr, deren eigene Selbst-
erhaltungen ihr auf keine Weise bekannt werden können1, J)-
So meint Herbart alles wohl bestellt und erklärt zu haben.
Aber schon die zuletzt ausgeschriebenen Sätze, welche die
Ueberleitung zur empirischen Psychologie bilden , zeigen
durch die Verbindung der widersprechendsten Aussagen von
Ein und demselben, dass die beabsichtigte Welterklärung
schwerlich gelungen sein dürfte. Denn, wie kann die Seele
das Eigentümliche der einzelnen Selbsterhaltungen eines
1) Met. § 236.
— 21 —
Wesens gegen verschiedene andere bemerken, wenn ihm die
Selbsterhaltungen der andern Realen auf keine Weise be-
kannt werden können ? Die eigenen Selbsterhaltungen , die
Vorstellungen , sind doch die Selbsterhaltungen der Seele
gegen die Störungen durch die Realen, nicht durch die Selbst-
erhaltungen derselben. Dass Herbart die Erklärung des Ge-
gebenen wirklich nicht gelungen ist, werden wir in Folgen-
dem an der Hand Lotzes sehen.
Dieser bestreitet neinlich die Richtigkeit der Bestimmung
des ,, Seienden", wie sie Herbart gegeben hat, und seiner
Ableitung des Weltgeschehens aus dem so bestimmten Seienden,
und errichtet selbst auf dem Fundament der Herbartischen
Annahme vieler Realen ein neues System der Welterklärung.
Herbart bestimmte bekanntlich das Seiende als positiv,
einfach, beziehungslos und unveränderlich.
Keine Einwendungen macht Lotze gegen die Bestimmung
des Seienden als eines „positiven", und es lassen sich da-
gegen auch wohl kaum welche erheben. Denn obgleich die
antike Atomistik auch das Nichts für „seiend" erklärte ]), so
war ihr doch im Grunde diese Negation ein positiv Seiendes,
negiert nur in seinem Gegensatz zum Vollen. — Widerspruch
dagegen erhebt Lotze gegen die drei andern Bestimmungen.
Mit Unrecht, sagt er 2), habe die Speculation, Einheit des
Wesens im Wechsel suchend, diese Einheit in einer Ein-
fachheit zu finden geglaubt, die ihrer Natur nach unfähig sei,
„Einheit" zu sein oder das Beharrliche im Wesen eines Ver-
änderlichen auszumachen. Denn das Einfache, wenn es sich
ändere, ändere sich völlig und es bleibe bei dem Uebergange
von a zu b nichts übrig, worauf das Wesen sich als auf den
gleichbleibenden Kern im Wechsel zurückziehen könne.
Diese Widerlegung der Einfachheit des Realen gründet
1) [j.r, [jiaXXov to Skv rt to [xrfizv etvai Plut. adv. Kolotem.
2) Met. p. 52.
_. 22
sich, wie man sieht, auf die Voraussetzung, dass das Reale,
nicht wie Herbart behauptet, unveränderlich, sondern ver-
änderlich sei, und steht und fällt daher mit Lotzes Wider-
legung der Unveränderlichkeit des Realen, die wir an letzter
Stelle geben. Aber unabhängig von dieser lässt sich Her-
barts indirekter Beweis für die Einfachheit des Seienden
(s. oben S. 16) als falsch erweisen. Denn wenn das Seiende
vielfach ist oder richtiger: vielfach bestimmt ist, so kann den
einzelnen Bestimmtheiten nicht dasselbe Sein zugesprochen
werden wie demjenigen, dessen Bestimmtheiten sie sind.
Wenn wir z. B. ein Seiendes A mit den Bstimmtheiten a ß
y ö haben , so können wir freilich mit eben soviel Recht
sagen a ist und ß ist u. s. w., als A ist; aber A ist heisst:
A ist ein Ding, dagegen oc ist: x ist Bestimmtheit eines Dinges.
Auch ist „hinter diesem Vielen nicht das Eine zu suchen",
dem das Sein zugeschrieben werde, sondern das Viele in
seinem Zusammen oder vielmehr das Zusammen des Vielen
bildet die Einheit, die wir durch Ein Hauptwort bezeichnen,
die aber nicht identisch ist mit Einfachheit der Bestimmtheit
(Qualität). Es ist daher die „Absurdität^ des Gegenteils der
Herbartischen Behauptung nicht bewiesen.
Die von Herbart behauptete Beziehungslosigkeit wider-
legt Lotze in der Weise, dass er zeigt, wie Herbarts eigene
Erklärung des Weltgeschehens dabei unmöglich sei. Da nem-
lich Herbart die Veränderungen des Scheinenden durch die
Theorie der Störungen und Selbsterhaltungen der Realen er-
klärt, die verschiedenen Störungen und Selbsterhaltungen
aber aus den verschiedenen Zusammen d. h. Beziehungen
der Realen unter einander resultieren, so entsteht die Frage,
wie diese Beziehungen zu Stande gekommen sind. ,,Wie
kann das beziehungslos Seiende in Beziehungen treten ?"
Niemals könne, sagt Lotze1), etwas in Beziehungen treten,
1) Met. p. 42.
— 23 —
das vorher in keinen gestanden. Denn nicht in Beziehungen
überhaupt könne ein Reales a treten, sondern in jedem Augen-
blick nur in die Beziehung m gegen ein bestimmtes Element
b, und es müsse ein Grund für die "Verwirklichung des m
und die Xichtverwirklichung jeder andern Beziehung vor-
handen sein '). Da aber a gleichgültig gegen jede Beziehung
sei, also in a nicht der Grund liegen könne, so müsse er in
einer früheren Beziehung 1 gesucht werden. Also könne von
dem Seienden nicht Beziehungslosigkeit behauptet werden.
Diese Lotzesche Widerlegung ist unangreifbar , wenn die
Verwirklichung der Zusammen im Einzelnen überhaupt „be-
gründet" ist. Nun scheint aber Herbart jede Begründung
des Zustandekommens eines bestimmten Zusammen mit Aus-
schluss aller andern ausdrücklich abgewiesen zu haben. Denn
das Zusammen der Realen ist ja nach ihm ein „zufälliges".
Jedenfalls will er es nicht begründet wissen durch die Xatur
des Realen oder durch frühere Beziehungen desselben, welche
Art Begründung wir in der „Schein"- Welt vorfinden. Yon
diesem Standpunkt aus betrachtet ist jegliches Zusammen der
Realen ein zufälliges. Aber ganz unbegründet ist es trotz-
dem nicht. Vielmehr lassen sich mehrere Stellen dafür an-
führen, dass Herbart diese Lücke, welche seine Metaphysik
in der Welterklärung bestehen liess, in der Religionsphilo-
sophie ausfüllte:
„Der strenge Realismus, welcher und soweit er hier dar-
gestellt wurde , lässt für vorstellende Wesen keine besseren
Erscheinungen erwarten , als welche das bunteste Gemisch
von Störungen aller Art, die den mannigfaltigsten ursprüng-
lichen und abgeleiteten Geschwindigkeiten gemäss auf solche
(sc. vorstellende) Wesen zusammen treffen möchten, in ihnen
1) Zu berichtigen ist hier, dass nach üerbart ein Eeales zu mehreren
andern zugleich in Beziehung treten kann , da ja die Seele mehrere
Wahrnehmungen zugleich hat, die Wahrnehmungen aber Selbsterhal-
tungen des Seelen-Eealen sind.
— 24 —
würde hervorbringen können. Höchstens Zeichen von Gleich-
förmigkeit ähnlicher Erfolge unter ähnlichen Umständen. Und
wenn schon Spuren von Leben und von der Fähigkeit, orga-
nisirt zu werden, doch nichts von künstlich zusammenge-
setztem Bau, vor allen Dingen nichts Festes im allgemeinen
Kaum: da jedes eigentlich seinen eigenen Raum haben würde.
„Was daraus, dass es anders aussieht im Reiche der
Organisation und am Himmelsgewölbe, zunächst zu schliessen
ist, das hat der gemeine Verstand schon längst geschlossen,
und die edelsten Gemüter haben es in sich befestigt" ').
„Die Naturbetrachtung drängt dazu, Zweckmässigkeit der
Naturgegenstände anzuerkennen" . . . „Der Begriff der Zweck-
mässigkeit nun (gerade so verstanden, wie wir ihn bei jedem
Kunstwerke und bei jeder vernünftigen Rede gebrauchen 2))
setzt Wahl voraus , also einen Wählenden , einen Künstler.
Wenn der Künstler die Wesen zusammenfügt und trennt,
folglich sie zu bestimmten Selbsterhaltungen bringt, andere
aber abhält, so ist er dadurch Schöpfer der Substanz, und
im Grossen Schöpfer der Natur 3).
So schliesst Herbart die Lücke, welche in seiner Meta-
physik klafft, durch eine kosmologisch-teleologische Theologie.
Wenn daher Windelband behauptet4), der Gottesbegriff spiele
in Herbarts theoretischer Philosophie keine Rolle und erscheine
bei ihm nur als Objekt eines ethischen Bedürfnisses, so trifft
nach Vorstehendem diese Bemerkung nicht die Wahrheit und
ist dahin zu berichtigen, dass Herbart Abstand genommen
hat, diesen vun seiner Metaphysik notwendig geforderten Be-
griff in derselben zu behandeln. Hinsichtlich dieses Begriffs
1) Hptpkte. § 14.
2) In dieser Auffassung der Naturgegenstände liegt eine petitio prin-
cipe vor. Es ist daher der darauf gebaute Schluss wie jeder teleologische
Beweis für das Dasein Gottes ein Trugschluss.
3) Aphorismen zur Religionsphilusophie. kl. S. III. p. 170 f.
4) Geschichte der neueren Philos. II. 375.
— 25 —
neinlich sah er ein, was ihm bei seinen sonstigen Bemühungen,
das „Seiende" zu erkennen und zu bestimmen, entging, dass
alle Versuche, dasjenige, was uns nicht gegeben ist und nicht
gegeben werden kann, das unserem Bewusst-Seienden ent-
gegengestellte Ansichseiende , zu bestimmen, doch immer
wieder ihre Zuflucht nehmen müssen zu dieser „Schein"-
Welt, und dass alle Prädikate des „Seienden" aus der uns
gegebenen Welt hergenommen sind. Denn alle Wesensbe-
stimmungen Gottes, bemerkte er1), liefen auf Anthropomor-
phismus hinaus und seien deshalb falsch. „Das Anstössige
der Künstelei, solchen Theorien, die nur für Gegenstände
unserer menschlichen Nachforschung erfunden waren, eine
Ausdehnung zu geben, bei der sie auch im Unendlichen
noch passen sollen, ist ebenso unerträglich widerlich, als an-
dererseits klar ist, dass dennoch alle Systeme, worin Glauben
und Wissen vermengt wird , auf ähnliche Abwege geraten
müssen. Ein Geist ist für uns allemal ein Analogon des
menschlichen Geistes; ein Wesen, von dem Naturwirkungen
ausgehen , begaben wir unvermeidlich mit einem Causalver-
hältniss , worin die Begriffe von Grund und Folge , da sie
nicht blos eine logische, sondern auch eine reale Bedeutung
annehmen sollen, sich den Wirkungen anpassen, die wir vor
Augen sehen".
Wenn wir nun diesen Gottesbegriff Herbarts zur Er-
gänzung seiner Metaphysik heranziehen, so ist die Beziehungs-
losigkeit seiner Realen durch Lotze nicht widerlegt. Doch
ist sie zu widerlegen einmal durch den Hinweis , dass die
Annahme eines „Schöpfers" seitens Herbart auf einem Trug-
schluss beruhe, indem er nemlich die Naturgegenstände zweck-
mässig nenne, eine Benennung, die voraussetze, dass ein
denkendes Wesen zuerst einen Zweck der Naturgegen stände
gesetzt und dann die Naturgegenstände diesem Zweck ent-
2) kl. Sehr. III. 172.
— 26 —
sprechend eingerichtet habe, — dass also Herbart das zu Be-
Aveisende schon als Beweismittel verwende : worauf dann die
Erörterungen Lotzes in ihr Recht treten würden; zweitens
auch durch den Beweis, dass Herbarts Deduction der Be-
ziehungslosigkeit der Realen falsch ist. Herbart meint nem-
lich, dass die Relation eines Gegenstandes das „Sein" dessen
aufhebe. Dies ist nur dann richtig, wenn schon vorher als
seiend nur das anerkannt wird, was aller Beziehungen ent-
behrt. Nun ergiebt aber die denkende, unterscheidende und
vergleichende, Betrachtung des uns Gegebenen, dass gerade
die Beziehungen eines Dinges d. i. seine Verknüpfung in
den Causalzusammenhang der Welt es uns als seiend charak-
terisieren im Gegensatz zu den scheinenden Dingen, den
Träumen, Täuschungen und dem blos Gedachten, dem diese
Causalverknüpfung mangelt. Daher ist Herbarts Schluss aus
dem Begriff des „Sein" auf Beziehungslosigkeit falsch, viel-
mehr steht das Seiende in Beziehungen.
Wie Herbart schon den ersten Anfang des Geschehens,
das Zusammen der Realen infolge seiner eigentümlichen un-
richtigen Bestimmung derselben unerklärt lassen musste, so
seheitert er auch — und dieser Misserfolg beweist , dass er
mit Unrecht das „Seiende" als unveränderlich bestimmt hat
— an den Begriffen der Störung und Selbsterhaltung, die eine
Folge jenes Zusammen sein und den Grund für die Verände-
rung des uns Gegebenen bilden sollen.
Die Realen sollen ja bekanntlich in dem Zusammen d. i.
in dem Causalverhältniss, in das sie gelangt sind, sich trotz
des gegenseitigen wirksam gewesenen Gegensatzes erhalten,
völlig das bleiben, was sie vor dem Zusammenhang waren.
Dieses Sicherhalten aber soll verschieden sein gegen ver-
schiedene Reale, und diese Verschiedenheit der Selbsterhal-
tungen ist es, welche die Mannigfaltigkeit und die Verände-
rungen in dem uns Gegebenen begründet. Nun könnte man
wohl, sagtLotze1), die innere Veränderlichkeit der Realen
aus der Aussenwelt entfernen, so dass mit der Störung und
Selbsterhaltung wirklich, wie Herbart will, gar nichts ge-
schähe, und die Veränderung der Aussenwelt auf Verschie-
denheiten der gegenseitigen Beziehungen der Elemente der-
selben zurückführen, aber dies sei nicht mehr möglich bei
demjenigen Realen, dessen Selbsterhaltungen die verschiede-
nen Sinneswahrnehmungen, Empfindungen, oder wie Herbart
mit allgemeinerer Beziehung sagt, Vorstellungen sind.
Diese -Selbsterhaltungen der Seele nemlich, bald Licht-
empfindungen, bald das Hören eines Tones, jetzt Wahrneh-
mung eines Geschmacks und dann der Wärme, seien offenbar
nicht mehr einfache Fortdauer dos unzerstörbaren Wesens
der Seele. In ihrer Art und Form sich richtend nach Art
und Form der drohenden Störung seien sie Leistungen und
Thätigkeiten oder Rückwirkungen der Seele, die nicht einem
unveränderlichen, sondern nur einem veränderlichen Wesen
möglich seien. Denn nicht eine blos drohende, sondern nur
eine wirksam gewesene Störung könne den Grund der be-
stimmten Rückwirkungen enthalten, die in jedem Augenblick
mit Ausschluss vieler der Seele gleich möglicher erfolge. Um
der Störung a durch die Selbsterhaltung a und der Störung
b durch die Selbsterhaltung ß zu begegnen, müsse die Seele
verschieden durch dieselben gestört sein, sie müsse in beiden
Fällen verschieden gelitten haben und dieses verschiedene
Leiden sei nicht denkbar ohne eine verschiedenartige Ver-
änderung des Leidenden und könne nicht ersetzt werden durch
blose Veränderung der Relationen der an sich unveränderten
Seele zu anderen Realen. Denn dann sei immer wieder ein
Beobachter vorausgesetzt, für den diese Veränderung der Re-
lation den Schein der Veränderung der Seele selbst liefere.
Die Schwierigkeit erneuere sich also bei diesem Beobachter
1) Met. p. 58 ff.
— 28 —
(natürlich einen Realen), welcher die Veränderlichkeit (Affi-
cierbarkeit) selbst besitzen müsse, um Veränderungen des
Vorstellens zu erleiden.
Gegen diese Erörterung Lotzes lässt sich wohl nichts
einwenden , und wie sich vorher die Beziehungslosigkeit als
eine falsche Bestimmung des „Seienden" erwies, weil das
Zusammen beziehungsloser Realen nicht zu begreifen war, so
nun auch die TJn Veränderlichkeit . weil jedenfalls dasjenige
Seiende, das wir Seele nennen, sich veränderlich zeigt.
Wir sind nunmehr, was Lotzes Kritik der Herbartischen
Metaphysik betrifft, zum Abschluss gelangt. Wir fanden,
dass beide Philosophen Vertreter des Dualismus seien, welcher
der uns gegebenen Welt als einer „Schein"-Welt eine uns
nicht gegebene als „Seins"-Welt gegenüberstellt. Deshalb
mussten wir die Lotzesche Kritik des Herbartischen Seins-
begriffes als eine unzulängliche bezeichnen und auf die Aus-
einandersetzungen von Rehnike und Schuppe zurückgehen,
um das „Seiende" als identisch mit dem Bowusst-Seienden
nachzuweisen. Während sodann Herbart das „Seiende" als
ein einfaches , beziehungsloses und unveränderliches be-
stimmte , mussten wir Lotze beistimmend behaupten , dass
eine Ableitung der Mannigfaltigkeit und der Veränderung des
Gegebenen aus einem so bestimmten Seienden nicht möglich
sei , und dass daher das Seiende weder einfach noch be-
ziehungslos noch unveränderlich sein könne.
Wie bestimmt denn nun aber Lotze das Seiende und wie
besteht Lotzes Metaphysik vor der Kritik.
Es könnte scheinen, als genüge der Hinweis darauf, dass
Lotzes Metaphysik ebenso wie die Herbartische von falschen
Voraussetzungen ausgehe, um sein ganzes System kurzer
Hand abzuweisen. Doch das Ansehen, welches der Name
Lotzes seit langem mit Recht in der philosophischen Welt
geniesst, hat auch seinen metaphysischen Ansichten und ins-
— 29 —
besondere seinem „Idealismus" so viel Anhänger gewonnen1),
dass eine eingehende Prüfung dieser Ansichten und ihrer
Begründung wohl am Platze ist, zumal Lotzes Ansicht über
die Entstehung und Unsterblichkeit der Seele sich haupt-
sächlich auf seine Metaphysik gründet.
Lotze acceptiert zunächst den Herbartischen Begriff der
vielen Realen oder Seienden , gestaltet ihn aber wesentlich
um und giebt ihn schliesslich ganz auf. um seinen monisti-
schen Idealismus an dessen Stelle zu setzen.
Soll nemlich, so etwa ist der Gang seiner Erörterung,
die Veränderung des uns Gegebenen, der „Schein"-Welt,
nach der Formel : „so viel Schein , so viel Hindeutung auf
das Sein" in dem „Seienden" begründet sein, so muss not-
wendigerweise auch die „Seins"-vVelt Veränderungen auf-
weisen, müssen auch die ,, Seiendem' sich verändern! Da
ferner in der „Schein"-Welt die Veränderung durch Gesetze
beherrscht wird , so muss auch die Veränderung der „Sei-
enden" bestimmten Gesetzen unterworfen sein : 2) „"Weder
finden wir in der Erfahrung ein schrankenloses Entstehen
von Allem aus Allem, noch , wenn wir es fänden , würde es
seiner Natur nach ein Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung oder Princip einer Erklärung werden können."
Als ein Grundgesetz der Veränderungen des Gegebenen
nun beobachten wir einen gewissen allgemeinen Zusammen-
hang zwischen den Veränderungen verschiedener Dinge 3),
1) Ich führe hier nur die Schlussworte Falckenbergs in seiner „Ge-
schichte der neueren Philosophie" an p. 471: „Das bedeutendste unter
den nachhegelschen Systemen, das Lotzesche, beweist, dass der natur-
wissenschaftliche Geist einer Versöhnung mit idealistischen Ueberzeu-
gungen über die höchsten Fragen nicht widerstrebt, die Achtung, die e3
allenthalben geniesst , dass ein starkes Verlangen in der angegebenen
Eichtung vorhanden ist.*'
•_': Met. § 40.
3) Met. p. 95.
- 30 —
einen gegenseitigen Einfluss verschiedener Entwickellingen ')
aufeinander'*. Aus dieser Wechselwirkung zwischen den
„Schehv-Dingen ergiebt sich nach der allgemeinen Regel:
..soviel Schein soviel Hindeutung auf das Sein" das Be-
stehen einer Wechselwirkung auch der „seienden"' Dinge,
durch welche auf Grund der Veränderung eines A in a auch
eine Veränderung des B in b erfolgt.
Diese "Wechselwirkung aber kann nicht irgend wann
zwischen bis dahin einander ganz gleichgültigen Dingen ent-
standen sein; denn es nicht einzusehen, aufweiche Weise
und aus welchem Grunde an Stelle der gegenseitigen Gleich-
gültigkeit der „Seienden" mit einem Male ihre Wechsel-
beziehung getreten sei, sondern sie niuss immer und unab-
lässig bestanden haben. Es würde aber die Wechselwirkung
zwischen den einzelnen Seienden auf einem transeunten
Wirken beruhen, und dieses transeunte Wirken wieder macht
Lotze ganz besondere Schwierigkeit: er findet es unbegreif-
lich. Um die Schwierigkeit zu beseitigen, setzt er an Stelle
der vielen „Seienden" ein „Einziges wahrhaft Seiendes", wo-
durch an Stelle der Wechselwirkung und des unbegreiflichen
transeunten Wirkens ein immanentes trete.
Da es unmöglich wäre, erklärt Lotze 2), anzugeben, worin
der Uebergang aus Teilnamlosigkeit zu metaphysischem Zu-
sammen bestehe, und es ein beständiger Widerspruch bliebe,
dass Dinge, die einander nichts angehen, dennoch einander
so angehen sollen, dass eines um das andere sich kümmern
und sich in seinen eigenen Zuständen nach denen des andern
richten müsse, so müsse das Vorurteil von der Existenz
vieler Seienden aufgegeben werden: es könne nicht eine Viel-
heit von einander unabhängiger Dinge geben, sondern alle
1) Entwickelung soll wohl heisaen: Reihe der auf einander folgenden
Zustände eines Dinges, oder : ein Ding in seinen successiven verschiedenen
Zuständen.
2) Met. p. 137.
— 31 —
Elemente, zwischen denen eine Wechselwirkung möglich sein
solle, müssten als Teile eines einzigen wahrhaft Seienden
betrachtet werden; der anfängliche Pluralismus unserer Welt-
ansicht habe einem Monismus zu weichen, durch welchen das
stets unbegreifliche trauseunte Wirken in ein immanentes
übergehe. „Denn den geheimnissvollen Zusammenhang, dass
nemlich die Wirklichkeit eines Zustandes die Bedingung der
Verwirklichung eines andern ist, geben wir zu, so lange der-
selbe innerhalb der Einheit eines und desselben Wesens nur
dessen eigene Entwicklung erzeugt; undenkbar erscheint
uns nur, wie das, was einem Wesen A begegnet, Grund zur
Veränderung eines andern Wesens B sein könne" ').
Lotze sieht sich also zur Annahme eines Einzigen Sei-
enden entgegen der Hindeutung, welche die vielfache „Schein"-
Welt giebt, im letzten Grunde nur deshalb veranlasst, weil
ihm das transeunte Wirken „unbegreiflich" und „undenkbar"
ist und weil wir dagegen das immanente Wirken „zugeben".
Denn wohlgemerkt , begreiflich ist es ihm ebenso wenig als
das transeunte. „Das immanente Wirken, welches innerhalb
eines und desselben Wesens Zustand aus Zustand entwickelt,
betrachten wir als eine Thatsache, welche keine weitere An-
strengung des Denkens herausfordert. Dass auch dieses Wirken
in der Art seines Zustandekommens uns völlig unbegreiflich
bleibt, wissen wir dabei sehr wohl; denn wie ein Zustand x
eines Dinges a es anfange, um in demselben a einen Folge-
zustand x- hervorzubringen, verstehen wir nicht im Minde-
sten besser, als wie dasselbe a' es beginne, um in einem
andern Wesen b die Folge ß' zu erzeugen; nur die Einheit
des Wesens, in welchem jetzt dieser unbegreifliche Vorgang
verläuft, lässt es uns überflüssig erscheinen, nach Bedingungen
seiner Möglichkeit zu fragen. — Zustände desselben Subjekts,
meinen wir, müssen notwendig auf einander Einfluss haben ;
1) Met. p. 136.
— a2 —
und in der Tbat, wenn wir diesem Grundgedanken nicht
folgen wollten, bliebe uns keine Hoffnung, Mittel der Er-
klärung für irgend welcbe Ereignisse zu finden" J).
Wenn nun aber das immanente AVirken ebenso unbe-
greiflich ist als das transeunte — wie soll jenes ein besseres
Phncip der Erklärung werden als dieses? — Es kann als
Erklärungsprincip für compliciertere Ereignisse angesehen
werden, wenn wir es als ursprüngliche, nicht weiter zu er-
klärende Thatsache annehmen. Aber den gleichen Anspruch
auf solche Geltung hat offenbar das transeunte Wirken.
Warum erkennt Lotze nicht auch dieses als ursprüngliche
Thatsache an, ohne „nach Bedingungen seiner Möglichkeit
zu fragen"?-) Schärft er doch oft genug3) ein, die Meta-
physik habe nicht die Wirklichkeit zu machen, sondern sie
anzuerkennen, die innere Ordnung des Gegebenen zu er-
forschen, nicht das Gegebene abzuleiten von dem, was eben
nicht gegeben sei.
Wir werden demnach mit Fug behaupten können, dass
für Lotze kein zwingender Grund vorlag, die gegebene resp.
erschlossene A'ielheit der Seienden , die durch trauseunte
AVechselwirkung sich mit einander verknüpft zeigte, durch
die Annahme eines Einzigen Seienden zu ersetzen; und dass
letztere Annahme in dem Begriff des immanenten Wirkens
kein besseres Erklärungsprincip hat, als die gegebene Viel-
heit in dem gegebenen Begriff des transeunten AATirkens.
Uebrigens leistet Lotze selbst mit der Annahme des Ein-
zigen wahrhaft Seienden und des immanenten AVirkens als
Erklärungsprincips für die Veränderungen des Gegebenen
nichts weiter, als dass er die AVechselwirkung der Elemente
ausdrücklich, wenn auch auf- einem Umwege und unter an-
1) Met. p. 97.
2) ebendas.
o) vgl. Met. p. 163.
— 33 —
derem Xamen anerkennt. Verfolgen wir seine Erklärung des
Weltgeschehens ]).
M die Einzige wahrhaft seiende Substanz.
A, B und R die eiuzelnen Dinge, in welche sich für
unsere Beobachtung die Einheit des Seienden auseinander-
legt. Dann ist M = ABR. "Wenn nun A aus irgend einem
Grunde in a übergegangen sei, so müsse, um die Gleichung
zu erhalten auch B in b und R in R' übergehen , und zwar
müsse dies in demselben Augenblick geschehen , wo die
Aenderung des A in a erfolgte. Denn die Aenderung des
A in a sei eine Veränderung des M in seinem Zustande und
daher miisste sich alles, was zu M gehöre, mit A zugleich
verändern. — Aber dieses Resultat erreichen wir leichter
direkt durch den gegebenen Begriff der allgemeinen Wechsel-
wirkung in der gegebenen Vielheit der Dinge, in Folge deren
jede Veränderung eines Elements oder eines Elementen-
komplexes ganz bestimmte Veränderungen der übrigen Ele-
mente und Elementenkomplexe zur Folge haben. So erklärt
sich auch ganz einfach bei der gegebenen Verschiedenheit
der einzelnen Elemente und Elementenkomplexe (Dinge), dass
,,hier und jetzt dies, dort und ein andermal jenes" geschehen
muss. Lotze aber wird durch die Annahme des Einzigen
wahrhaft Seienden und des immanenten Wirkens noch über
diese seine Annahme hinausgetrieben — oder hat er diese
Annahme nur gemacht, um mittels derselben zu einem ihm
vorher feststehenden Ziele zu gelangen? — Denn damit bei
der von ihm angenommenen Ordnung der „Seins" -Welt ,,den
Gesetzen gemäss hier und jetzt dies , dort und einandermal
jenes geschehe, muss die veränderliche Weltlage in jedem
Augenblick sich in den Elementen abbilden, die zu gemein-
schaftlicher Erzeugung wirken sollen". 2) Da nemlich ein
1) Met. p. 138.
2) Met. p. 453.
— 34 —
Element sich nur verändert, wenn sich der Gesamtzustand
des Einzigen wahrhaft Seienden (des Absoluten) verändert,
und die Art der Veränderung jedes Elements abhängig ist
von der Art der Veränderung des Absoluten, so niuss in
jedem Element immer der Gesamtzustand des Ganzen (Ab-
soluten) „sich spiegeln"', oder wie Lotze an anderen Stellen
sagt: in jedem Augenblicke muss das Absolute in jedem
Elemente gegenwärtig sein.
Damit spricht er nun etwas aus, wogegen offenbar die
Beschaffenheit des Gegebenen streitet. Die Gesamtheit dieses
uns gegebenen Seienden nemiich kann in seiner räumlichen
Bestimmtheit nicht in dem räumlich bestimmten Element des
Seienden zugegen sein. Solches meint auch Lotze nicht.
Mcht als ein räumlich Bestimmtes fasst er die Gesamtheit,
das Absolute, sondern als ein geistiges Wesen, und ein sol-
sches hat allerdings als jeder Raumbestimmtheit entbehrend
keine Ausdehnung und kann im kleinsten räumlichen Ele-
mente „gegenwärtig'' sein.
Diese Lotzesche Bestimmung aber des Absoluten als eines
Geistes scheint mir durchaus auf "Willkür zu beruhen, nicht
durch die Konsequenz seiner Ueberlegungen gefordert , son-
dern vorher als Ziel derselben festgestellt zu sein.
Er nähert sich diesem Ziele allmählich. Zunächst be-
zeichnet er das Einzige wahrhaft Seiende als ein „Wesen"1),
bei welchem Begriff wir an ein lebendes, wahrnehmendes,
strebendes Seiende denken. Dann bekennt er offen seine
Ueberzeugung, dass das Absolute ein geistiges Wesen sei,
ohne jedoch vorläufig seine Gründe anzuführen. Die „Mo-
nisten", sagt er2), hätten nicht die blose Form des Lebens
und der Thätigkeit dem Einen absoluten Wesen zugeschrieben,
sondern auch die Fähigkeit den Wert beider und das Glück,
1) Met. p. 138 u. 454.
2) Met. p. 164.
— 35 —
das der Mensch im Genüsse derselben empfinde, zu empfinden
d. i. die Geistigkeit hätten sie in vorzüglicher Herrlichkeit
dem Absoluten zuzueignen gesucht. Nach den Ergebnissen,
die seine Erörterungen bisher gehabt, dürfe er sich noch
nicht zu dieser Ansicht bekennen *), doch sei er derselben
Ueberzeugung wie jene Monisten. ,,Die Gründe, die uns
bisher leiteten, haben uns nur die Annahme eines imma-
nenten, wenn auch blinden "Wirkens nötig gemacht, durch
welches jeder neue Zustand des Seienden die erzeugende
Veranlassung eines zweiten ihm folgenden ist. Ich verhehle
nun meine Ueberzeugung nicht, dass dennoch der Glaube an
die Lebendigkeit des Weltgrundes Recht hat, aber ich muss
die Rechtfertigung hierüber noch verschieben". Nichtsdesto-
weniger verwendet er im Folgenden den Begriff des absoluten
Geistes, als habe er die Richtigkeit der Annahme desselben
bereits bewiesen. Wo wir diesen Beweis zu suchen haben,
ergiebt sich aus den Worten : 2) ,,an einer andern Stelle haben
wir Veranlassung auf diese Fragen (über Mechanismus und
teleologischen Idealismus) zurückzukommen , da neinlich, wo
innerhalb der Natur die Erscheinungen der lebenden Wesen
uns mit besonderer Dringlichkeit den Gedanken einer den
Lauf der Dinge beherrschenden Zweckmässigkeit oder eines
idealen Ganzen nahe legen wird, das den realen Teilen und
ihrer Verbindung vorangehe". Gemeint ist der Abschnitt:
„die Formen des Naturlaufs".
Hier bemerkt Lotze bei Besprechung der organischen
Bildungen etwa Folgendes:3) Um den Zusammenhang der
Lebenserscheinungen zu verstehen , werde allerdings die
mechanistische Betrachtungsweise gefordert, und diese reiche
damit aus, in dem organischen Körper eine bestimmt ange-
1) p. 165.
2) Met. p. 178.
3) Met. p. 447. vgl. „Leben und Lebenskraft." kl. S. I 139 ff.
3*
— 36 -
ordnete Verbindung von Elementen zu sehen, die auf Grund
dieser ihrer eigentümlichen Yerknüpfungsweise im Stande
seien, durch ihre allgemeingesetzlichen Wechselwirkungen
und unter dem Einflüsse des äusseren Naturlaufs einen Kreis-
lauf von Entwickelungen zu durchlaufen und in beschränkter
Ausdehnung die Regelmässigkeit derselben gegen zufällige
Störungen zu verteidigen. Doch dürfe dieser mechanistischen
Auffassungsweise nicht das letzte Wort gelassen werden.
Warum nicht? — „Sie wird doch niemals den überwältigen-
den Eindruck auslöschen, den die Zweckmässigkeit der orga-
nischen Bildung auf jedes unbefangene Gemüt macht, und
sie wird nie davon überzeugen , dass diese wunderbare Tat-
sache der Nachforschung nach einer besondeni Ursache un-
würdig sei" a).
Die Ursache dieser Zweckmässigkeit aber kann natürlich
nur eine „zweckmässig wirkende Macht sein, die das Leben
gestaltet", und die zweckmässig wirkende Macht wieder muss
als ein Geist gedacht werden , der das zweckmässig Einge-
richtete als Gegenstand seines vorstellenden und wollenden
Bewusstseins gehabt hat. So dient der überwältigende Ein-
druck der Zweckmässigkeit der organischen Bildung auf un-
befangene Gemüter Lotze zum Beweise für die Geistigkeit
des Absoluten, des Einzigen wahrhaft Seienden 2).
Aber ist denn die organische Bildung wirklich zweck-
mässig? und sind die Gemüter, auf welche diese behauptete
Zweckmässigkeit den überwältigenden Eindruck macht, dass
sie ein höheres zwecksetzendes Wesen annehmen — sind
diese Gemüter wirklich unbefangen"? Beides möchte ich be-
streiten.
Ich will die Frage über ' die Zweckmässigkeit der orga-
nischen Bildung nicht ausführlich erörtern. Nur das will
1) Met. p. 447
2) Met. p. 448.
— 37 —
ich bemerken: um entscheiden zu können, ob die organische
Bildung zwekmässig sei , müssten wir wissen , welches der
Zweck derselben sei; die Aufwerfung dieser Frage aber geht
schon von der Voraussetzung aus , dass ihnen irgend ein
Zweck gesetzt sei, selbstverständlich von einem zwecksetzen-
den "Wesen. So bewegt sich der Beweis aus der Zweck-
mässigkeit für die Geistigkeit des "Weltgrundes im Cirkel.
Was ferner die Unbefangenheit jener Gemüter anbetrifft,
von denen Lotze spricht, so kann man mit Fug behaupten, dass
seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, in unserer Kulturwelt kein
unbefangenes Gemüt über die Entstehung und Ordnung der
AVeit nachgedacht hat. Denn nicht nur seit das aus der Ver-
bindung der griechischen Philosophie mit dem judäischen
Monotheismus hervorgegangene Christentum über Europa
„herrscht", sondern schon lange vorher, waren alle, welche
überhaupt dazu kamen, über solche Fragen nachzudenken,
in gewissen Erziehungsbegriffen oder in anthropomorphisti-
scher Beschränkheit befangen. Und welchen Eindruck auch
die "Welt auf so ,, unbefangene" Gemüter macht, den der
Zweckmässigkeit oder der Unzweckmässigkeit — sie schliessen
auf jeden Fall daraus auf eine höhere zwecksetzende Macht.
Ein wahrhaft unbefangenes Gemüt wird Krankheiten der orga-
nischen Bildungen auf unzweckmässige Einrichtung derselben
zurückführen; und doch kenne ich Fälle, wo „unbefangene"
Gemüter aus eigener und der Angehörigen Krankheiten
„merkten, dass oben Einer regiere".
Uebrigens gesteht Lotze selbst ein *) , dass „nichts hier
mit völliger Ueberzeugungskraft gegen diejenigen einzuwen-
den ist, welche dies ganze zusammengefasste Wirken des
"Weltgrundes, seine ganze innere Bewegung, aus der alle
diese Ereignisse (Bildungen und Veränderungen organischer
"Wesen) hervorgehen würden, doch wieder als eine blose
1) Met. p. 456.
Thatsache ansehen mögen, als eine Richtung, die nun eben
der Weltlauf von Ewigkeit nimmt, ohne dass in ihm etwas
dem ähnliches vorhanden wäre, was wir als Wahl oder Be-
wusstsein eines Zieles verstehen".
So ist es also nichts mit dem Beweise für die Geistig-
keit des Absoluten aus der Zweckmässigkeit der organischen
Bildungen. Aber Lotze kann auch auf ihn verzichten. Denn
ganz unabhängig von dem Eindruck der Zweckmässigkeit der
organischen Bildung behauptet er notgedrungen zur Annahme
eines unendlichen Wesens, welches „eingreife"1), welches
„befehle" 2), welches „Absichten" 3) habe, eines geistigen (vor-
stellenden und wollenden) Wesens also, gekommen zu sein:4)
„Gar nicht mit besonderer Rücksicht auf den zu vermitteln-
den Gegensatz zwischen Lebendigem und Unlebendigem,
sagt er, sondern aus viel weiter reichenden und allgemeineren
Gründen habe ich von Anfang an die Denkbarkeit eines
Weltlaufs bestritten, in welchem eine Vielheit selbständiger
Bestandteile nur nachträglich durch allgemeine Gesetze ihres
Verhaltens zur gemeinschaftlichen Erzeugung von Wirkungen
verbunden sein konnte" — „als notwendige Voraussetzung
jedes besonderen Wirkens, jeder Veränderung eines Elementes
ergab sich die Vorstellung eines unablässigen und allgemeinen
sympathetischen Rapports", d. h. eines ewigen und allge-
meinen Kausalzusammenhangs. Dieser unablässige und all-
1) Met. p. 454. Nicht damit diese oder jene bevorzugte und be-
sonders vornehme Art der Ereignisse möglich werde, bedurfte es daher
des Eingreifens jenes unendlichen Wesens, das wir als den Grund
aller Dinge betrachten, sondern jede ärmlichste Wirkung eines einzelnen
Elements auf das andere ist nur eine immanente Lebendigkeit dieses
Einen und fordert, um zu geschehen, seine beständige Mitwirkung nicht
minder als jene.
2) ebenda: hier wie dort war nur dieses ewig Eine thätig, und der
Unterschied liegt in dem, was es befahl etc.
3) ebenda : nicht aus dem Leeren bringt das Absolute hier dies dort
jenes hervor, nur weil es dem Sinne dessen entsprochen hätte, was in
seiner Absicht liegt.
4) Met. p 453.
- 39 —
gemeine sympathetische Rapport sei aber nur denkbar unter
der völligen Wesenseinheit dessen, was zunächst uns als eine
Vielheit selbständiger Anfangspunkte des Wirkens erscheine :
„Es kann nicht eine Vielheit von einander unabhängiger
Dinge geben , sondern alle Elemente , zwischen denen eine
Wechselwirkung möglich sein soll, müssen als Teile eines
einzigen wahrhaft Seienden betrachtet werden; der anfäng-
liche Pluralismus unserer Weltansicht hat einem Zionismus
zu weichen, durch welchen das stets unbegreifliche transeunte
Wirken in ein immanentes übergeht" '). — Lotze greift hier-
mit auf seine Erörterungen „die Einheit der Dinge" zurück,
die wir oben *) besprochen haben. Aber dort wie hier be-
hauptet er nur die Einheit aller Seienden , deren Beweis
übrigens wir nicht stichhaltig fanden. Gar nicht einmal ver-
sucht aber ist ein Beweis für die Geistigkeit dieses Einen,
vielmehr dort ausdrücklich auf später verschoben, als vorläufig
noch nicht zu erbringen. Der Beweis aber aus der Zweck-
mässigkeit der organischen Bildung, auf den verwiesen wurde,
zerrann in nichts und so ergiebt sich die Thatsache, dass
Lotzes Ausdrücke von dem „Eingreifen" des absoluten Wesens,
von seinen „Absichten" und „Befehlen" ganz ungerechtfertigt
sind, und dass seine Ueberzeugung von der Geistigkeit des
Absoluten nicht so wie er behauptet, auf rein theoretischen
Gründen als vielmehr auf religiösen Bedürfnissen beruhen3).
Denn wenn die Annahme der Geistigkeit des Absoluten nur
1) Met. p. 454.
2) p. 30 ff.
3) Met. p. 458. „Eben dies will ich hier ausdrücklich hinzufügen,
dass ich zwar altfränkisch genug bin, für die religiösen Bedürfnisse, die
hier rege werden, empfänglich zu sein, dass aber nicht auf ihnen, son-
dern auf blos theoretischen Gründen die Ansichten beruhen, die ich hier
verfochten habe ; gar kein Weltlauf, weder ein harmonischer noch ein
unharmonischer ist mir ohne die Voraussetzung jener Einheit begreif-
lich." Hier spricht L. wieder nur von Einheit, nicht von Geistigkeit
des Absoluten.
— 40 —
durch theoretische Gründe veranlasst wäre, so müsste sie doch
eine merkbare Lücke in seinem System ausfüllen. Das ist
aber nicht der Fall. Das zwecksetzende Absolute leistet nichts,
was nicht auch durch die allgemeine Kausalverknüpfung der
Seienden geleistet würde. Lotze selbst sieht sich zu dem
Geständniss genötigt: *) „Das Absolute ist kein hexendes
Princip; nicht aus dem Leeren bringt es hier dies dort jenes
hervor, nur weil es dem Sinne dessen entsprochen hätte, was
in seiner Absicht liegt; sondern allem besondern Wirken
legt es eine breite gesetzliche Oekonomie des Wirkens unter".
Damit wären wir ja wieder dorthin zurückgelangt, wo Lotze
vorher zum Einen persönlichen Wesen abgesprungen war,
zur allgemeinen Kausal Verknüpfung; denn etwas anderes be-
sagt doch die ,, breite gesetzliche Oekonomie des Wirkens"
nicht. „So geschieht es , dass jede organische Entwicklung
Schritt für Schritt aus den Gegenwirkungen zu geschehen scheint,
die den verbundenen Elementen ihre constanto Natur zur
Notwendigkeit gemacht hat". Dieses „scheint" hat offenbar
denselben Sinn wie das „Schein" in „Schein"-Welt und wir
können Lotzes Worte so umdeuten: in der uns gegebenen
und wahrnehmbaren Welt geschieht jede organische Ent-
wickelung Schritt für Schritt aus den Gegenwirkungen , die
den verbundenen Elementen ihre constante Natur zur Not-
wendigkeit gemacht hat, so dass wir uns nirgends der mecha-
nistischen Auffassung des Zustandekommens auch der organi-
schen Gebilde entschlagen können.
Einen Beweis der Geistigkeit des Absoluten könnte man
vielleicht auch in der Behauptung Lotzes finden, dass das-
jenige, was „sein", d. h. nach Lotzes Begriff „sich im Wechsel
seiner Zustände selbst erhalten" solle, geistiger Art sein
müsse 2). Denn nur in der Empfindung, die den empfundenen
2) Met. p. 455, vgl. 178.
1) Met. p. 184.
— 41 —
Inhalt zugleich als etwas für sich von uns abstösst und ihn
zugleich als den unsern offenbart, würde uns klar, was da-
mit gemeint sei, dass wir irgend ein a als Zustand eines
Wesens A fassen; nur dadurch, dass unsere beziehende Auf-
merksamkeit Vergangenes und Gegenwärtiges in der Er-
innerung zusammenfasse , zugleich aber die Vorstellung des
beständigen Ich entstehe, dem sie beide angehören, werde
uns klar, was es heisse und dass es möglich sei, Ein Wesen
im Wechsel vieler Zustände zu sein; und dadurch, dass wir
uns als solche Einheiten erscheinen könnten, seien wir Ein-
heiten. Daraus schliesst nun Lotze weiter: J) „Wenn es
Dinge geben soll mit den Eigenschaften, die wir von ihnen
verlangten , so müssen sie mehr als Dinge sein ; nur durch
Teilnahme an diesem Charakter der geistigen Natur, können
sie jene allgemeinen Forderungen der Dingheit erfüllen",
d. i. die Dinge müssen beseelt sein Denn „sein" heisst
nunmehr nach Lotze: sich als ein Wesen im Wechsel vieler
Zustände erscheinen können. Wenn nun dieser Lotzesche
Begriff des Seins richtig wäre , so wäre es auch die Folge-
rung daraus, die Behauptung der Geistigkeit aller Seienden
und folgerichtig auch des Einzigen allumfassenden Seienden.
Aber die Lotzesche Bestimmung des Begriffs „sein" geht wie
die Herbartische von der Voraussetzung aus, dass alles uns
Gegebene nicht „seiend" ist, muss daher, weil diese Voraus-
setzung unbegründet ist, falsch sein und mit ihr auch die
Folgerung daraus über die Natur des „Seienden". So kann
die Geistigkeit des Absoluten auch aus dem Begriff des „Sei-
enden" nicht bewiesen werden.
Nachdem wir aber so lange den Bemühungen Lotzes für
den teleologischen Idealismus nachgegangen sind, wollen wir
uns auch die Freude gönnen, zu sehen, welche Krone denn
schliesslich das Gebäude dieses Idealismus ziert. Welches
1) p. 186.
— 42 --
Verständniss des "Weltgeschehens behauptet er zu schaffen?
— „Niemals, sagt Lotze , werden wir vermögen, den vollen
Sinn jener Idee M anzugeben, welche wir für die belebende
Seele der Weltbildung hielten. ... Es bleibt ein unaus-
führbares Ideal des Denkens, jene höchste Idee zu verfolgen
etc." *) — „Da wir die Idee nicht kennen , die in der Welt
nach ihrer Verwirklichung ringt, so können wir auch nur der
Erfahrung die Erkenotniss der allgemein sich wiederholenden
Wirkungsweisen der Dinge entlehnen". -)
Für die Erkenntniss der Wirkungsweisen der Dinge sind
wir also doch wieder auf die Erfahrung und in das Reich
des Scheins verwiesen. Hoffentlich giebt uns Lotze wenig-
stens Kenntniss von dem Reiche der Ideen und seiner Ord-
nung ohne Rücksicht auf die Welt des Scheins. Aber auch
hier heisst es : sich bescheiden.
Lotze behauptet als wahrhaft Seiendes nur das Eine Ab-
solute, und betrachtet die vielen einzelnen Seienden oder
Elemente als Modificationen eines und desselben absoluten
Wesens 3). Aber die Art , wie sie Modificationen desselben
sein sollen, vermag er nicht allgemein klar zu machen. Nur
ein subjectives Bild entwirft er davon. ,,Ich denke mir,
sagt er 4), unter jenem absoluten Wesen nicht eine unendliche
Qualität eines gleichartigen Realen , die ihrer Natur nach
fähig in unzählbare homogene Teile zu zerfallen, nur secundär
durch die Mannigfaltigkeit möglicher Kombinationen dieser
Teile der Grund zu einer Verschiedenheit des Weltinhalts
werden könnte; ich denke mir unter ihm eine lebendige
Idee, deren Sinn an sich jeder quantitativen Messung un-
zugänglich, nicht in eine Vielheit gleicher Teilgedanken zer-
fällt, sondern in ein vielfach, verschlungenes Gewebe ver-
1) Met. p. 179.
2) Met, p. 395.
3) Met. p. 381.
4) Met. p. 381.
— 4:3 —
schiedener sich gliedert: von diesen erwirbt jeder für sich
selbst und für die Elemente , aus denen er besteht , gemäss
dem Werte für das Ganze auch verhältnissmässige Grössen-
bestimmungeir'. Ich habe mich des Oefteren bemüht, diese
Gedanken Lotzes nachzudenken und habe es auch jetzt wieder
versucht, jetzt wie früher mit negativem Erfolge. Schon die
„lebendige Idee", vielmehr noch ihr Yerhältniss zu den Teil-
ideen scheint mir ein Ungedanke, dem ich kein Verständnis*
abzugewinnen vermag.
Hiermit wäre auch die Lotzesche Metaphysik erledigt
und wir wenden uns nunmehr zur Psychologie.
Herbart bestimmt die Seele als dasjenige, in seinem ein-
fachen Was übrigens uns völlig unbekannte ]), Reale, dessen
Selbsterhaltungen Vorstellungen seien 2). Nur durch die Vor-
stellungsthätigkeit also und durch das, was mit ihr verknüpft
ist, unterscheidet sich das Seelen-Reale von dem übrigen
Realen. Nun kennen wir direkt nur die Selbsterhaltungen
unseres eigenen Seelen-Realen, nemlich unsere Vorstellungen.
Dass auch die übrigen Menschen Vorstellungen haben, dass
also auch mit ihrem Leibe ein Seelen-Reales zusammen und
causalverknüpft sei, erfahren wir indirekt durch ihre Aussagen
und erschliessen es aus den bewussten oder unbewussten
Veränderungen ihres Leibes. Aus ebensolchen Anzeichen
schliessen wir auch, dass die Thiere ebenfalls Vorstellungen
haben, und dass demnach mit den Thierleibern vorstellende
Reale verbunden seien. Was hindert uns nun, um hier die
Frage nach dem Unterschiede der Seele von oder ihrer
Gleichheit mit dem übrigen Seienden zu erörtern — was
hindert uns, dasselbe von den Pflanzen, ja von den unor-
ganischen Gebilden anzunehmen? Wir kennen ja direkt
nur unsere eigenen Selbsterhaltungen. Diese nennen wir
1) Lekrb § 153.
2) Lehrb. § 155.
— 44 —
Vorstellungen von denjenigen Seienden, gegen die wir uns
erhalten. Diese Seienden „erseheinen" uns immer als Kaum-
dinge. "Warum sollen nun blos unsere Selbsterhaltungen
und die der Thier-Seelen-Realen Vorstellungen sein? es
können ja auch alle andern .Realen eben solche Vorstellungen
als Selbsterhaltungen haben, also Seelen sein, so dass z. B. ein
Reales, das wir als Stein vorstellen, als Selbsterhaltung gegen
uns auch irgend eine Vorstellung hätte. Es ist demnach
durch die Grundsätze der Herbartischen Metaphysik und Psy-
chologie durchaus nicht ausgeschlossen, dass alle Realen Vor-
stellungen als Selbsterhaltungen haben d. h. Seelen seien,
und zu dieser Behauptung ist ja, wie wir gesehen haben, die
Lotzesche Metaphysik fortgeschritten.
Aber auch gegen die entgegengesetzte Auslegung, dass
die Seele als ein Räumliches zu fassen sei, hat Herbart seine
Lehre nicht hinreichend geschützt. Zwar sagt er1), ,,die
Seele ist nicht irgend wo", und will ihr überhaupt „keine
wahrhaft räumliche Beschaffenheit" zugestehen. Aber was
bedeuten die Ausdrücke „das Zusammen der Realen", die
..Durchdringung" derselben, ja auch die „Störung" anderes,
als dass Herbart die Realen sich räumlich vorgestellt oder
wenigstens der räumlichen Auffassung derselben Vorschub
geleistet hat? "Wenn er auch gleich hinterher sagt: die Realen
sollen keine räumlichen Bestimmtheiten haben, und der Raum,
in dem sie zusammen seien, sei ein „intelligibler" Raum, so
ist doch damit nichts gebessert. Entweder ist intelligibler
Raum dasselbe, was wir im Gegebenen als Raum und Raum-
bestimmtheit bezeichnen, oder ist überhaupt nichts d.h. wir
können ihn uns nicht vorstellen.
So ist die Frage, ob und. wie die Seele sich von den
übrigen Seienden unterscheide, speciell ob die Seelen als eine
Art aller Seienden qualitativ anders bestimmt seien als die
1) Lehrb. § 150.
— 45 —
andere Art der in räumlicher Bestimmtheit uns erscheinenden
Seienden , von Herbart durchaus nicht genügend beantwortet
worden. Seine Worte lassen sogar dass Missverständniss zu,
das Seelen-Reale als ein räumlich bestimmtes aufzufassen.
Lotze bestimmt, wie wir sahen, alle Seienden als Geister oder
Seelen und kann daher natürlich keinen Artunterschied der-
selben angeben.
Er bestimmt aber den Begriff der Seele folgendermassen :
die Seele ist eine Substanz d. i. ein Seiendes, das zu leiden
und zu wirken fähig ist l). "Während sodann Herbart die
Qualität des Seelen-Realen für unerkennbar erklärte und es
nur durch die Beschaffenheit seiner Selbsterhaltungen als ein
vorstellendes Reale bestimmte , behauptet Lotze, die Qualität
der Seelensubstanz d. i. ihre Bestimmtheiten seien uns wohl
bekannt, und zwar sei die Seele eine vorstellende fühlende
wollende Substanz: 2) Wenn nemlich das gesuchte Was eines
Dinges erstens nach dem frage, wodurch dieses Ding sich von
andern unterscheide; zweitens nach dem, wodurch es ein
Ding sei wie andere, so müsse es völlig unbegreiflich schei-
nen , wie man nach dem Was eines Wesens fragen und es
doch noch in etwas Anderem suchen könne, als in dem, was
dieses Wesen sei und thue, und wie man nach seinem Sein
fragen und wieder dies anderswo suchen könne, als in seinem
eigenen Thun und Treiben; wie man also glauben könne
die Seele noch nicht zu kennen, wenn man alle ihre Thaten
kenne, aber die elastische Kugel noch nicht, an der nach
einem Gleichnisse Kants diese ihre Natur befestigt sei ; oder
wie man ihre lebendige Wirklichkeit nicht in ihrem Handeln,
im Vorstellen Fühlen Streben finden, sondern in einem namen-
losen Sein suchen könnte, an welchem diese konkreten Formen,
des Benehmens, die aus ihm nicht fliessen würden, doch auf
1) Met. p. 482 u. 486.
2) Met. p. 485|86.
- 46 —
nie aufzuklärende Weise participierten. ,.Jede Seele ist das,
als was sie sich giebt: in bestimmten Vorstellungen Gefühlen
und Strebungen lebende Einheit*'.
Diese Lotzesche Bestimmung des Begriffs ,. Seele" können
wir zur unsrigen machen; mir müssen wir, da uns die Seelen
nicht die einzige Art des Seienden darstellen, um sie von
dem übrigen Seienden zu unterscheiden, hinzufügen, das?
die Seele weder irgend eine qualitative noch räumliche Be-
stimmtheit hat, und dass sie die Vorstellungen Gefühle und
Wollungen als ihre Bestimmtheiten hat. während das Raum-
ding aus dem Zusammen von räumlichen und qualitativen
Bestimmtheiten besteht, ohne dass zu diesen ein Subjekt
hinzukomme, welche diese Bestimmtheiten als die Seinigen
habe.
Xach Herbart ist die Seele als ein Reales unentstanden
und unvergänglich. Seinen Glauben an eine Fortdauer der
Seele nacn dem Tode und seine Ansicht über die Art dieser
Fortdauer spricht er im ., Lehrbuch" § 247 aus: ..dass die
spätere Verarbeitung tumultuarisch angehäufter Vorstellungen
ganz anders nach dem Tode, als während des Treibens in
der sinnlichen Mitte der irdischen Dinge ausfallen müsse,
leuchtet unmittelbar ein. Auch der Traum kann damit gar
keine Aehnlichkeit haben. Denn die Sinne zwar werden
durch den Schlaf verschlossen, aber ebenderselbe drückt auf
die Vorstellungen, so dass die Gesetze ihres Zusammenhanges
nur teilweise wirken, woraus eben die Zerrbilder des Traumes
entstehen. Nach dem Tode aber, frei vom Leibe, muss die
Seele vollkommener wachen als jemals im Leben". — Xach
diesen Worten scheint Herbart sich die Sache etwa so zu
denken: So wie die Seele in das Zusammen, in die Causal-
verknüpfungmit andern Realen, ..zufällig" eingetreten ist, so
tritt sie auch wieder aus demselben heraus, und da das Seelen-
Reale nun keine Störungen mehr erleidet, keine neuen Vor-
stellungen mehr hat, so hat es jetzt Zeit, die früheren Vor
— 47 —
Stellungen zu „verarbeiten". Dieser Glaube an die Unsterb-
lichkeit der Seele liegt ganz in der Consequenz der meta-
physischen Annahme Herbarts. „Ein Pluralismus, sagt Letze *),
der die Ordnung der AVeit aus einer Mehrheit nachträglich
durch Gesetze verbundener und gegen einander völlig selb-
ständiger Elemente entstehbar glaubt, kommt natürlich ciarauf,
Unzerstörbarkeit und Unveränderlichkeit in die ursprüngliche
Natur dieser Elemente hineinzudenken; wünscht er dann die
Seele nicht als einen hinfälligen Xebeneffekt an die Con-
stellationen dieser beständigen Atome zu knüpfen, so bleibt
ihm nur übrig, auch sie unter die Anzahl so ewiger Wesen-
heiten aufzunehmen ; nun kann die Seele auf dies vorwelt-
liche Substanzenrecht pochen und gewiss sein , dass ihr in
jedem Weltlauf, wie er auch sein mag, weder Ursprung noch
Untergang zugemutet werden darf.
Eine solche Ueberzeugung von der Unentstandenheit
und Unvergänglichkelt der Seele vermag Lotze nicht, sich
zu eigen zu machen. Schon in der „Medizinischen Psycho-
logie" 2) trägt er kein Bedenken „den abenteuerlichen Ge-
danken einer unendlichen Präexistenz der Seelen , unter
welcher Form er auch auftreten mag", ebenso sehr zurück-
zuweisen, „als die notwendige unendliche Fortdauer aller
(einschl. der Tierseelen)", und demgegenüber zu behaupten,
„dass ein Werden und Vergehen der Seelen im Allgemeinen
stattfinden muss". Auch in der „Metaphysik" bleibt ihm die
unendliche Präexistenz der Seele vor diesem uns bekannten
irdischen Leben, ebenso wie die Unsterblichkeit jeder thieri-
schen Seele eine „unwahrscheinliche Seltsamkeit" 3).
Die Gründe für die Unwahrscheinlichkeit dieser Seltsam-
keit scheint Lotze allerdings der Erfahrung entnommen zu
1) Met, p. 486.
2) p. 163.
3) Met. p. 487.
haben, doch gesteht er dies nicht offen zu; denn nach seiner
Darstellung ist es nicht das zu notwendigen Ergebnissen
über diesen Gegenstand gelangende erfahrungsmässige Denken,
sondern teils sind es gemütliche und sittliche Bedürfnisse,
teils seine metaphysischen Grundsätze, die ihm eine solche
Selbständigkeit der Seele unmöglich erscheinen lassen;
„Abgesehen von aller Unwahrscheinlichkeit des Hergangs (der
Verbindung ewig präexistierender Seelen mit den Keimen
der thierischen Geschöpfe)" erscheint Lotze diese Theorie
schon darum unglaublich, „weil sie ganz die sittliche und
innige Bedeutung des Verhältnisses zwischen Eltern und
Kindern durch die Annahme einer nur körperlichen Seite der
Generation vernichtet''1); und „alles Einzelne kann nur so
lange dasein und nur soviel und solches wirken oder leiden,
als die höchste Idee ihm, sofern es eines und gerade dieses
ihrer Momente ist, zulässt oder überträgt". 2) Hiermit stimmt
die „Mataphysik" überein:3) „Aller dieser Gedanken (von
der unendlichen Präexistenz der Seelen wie von der Un-
sterblichkeit aller auch der tierischen Seelen) hat sich unsere
monistische Auffassung längst entschlagen; die Ordnung der
Welt.Dasein undWirkungsfähigkeit jegliches Dinges hat sie ganz
und rückhaltslos in die Hand des einen unendlichen Wesens
gestellt, auf dem die Möglichkeit aller "Wechselwirkungen
allein beruhte, und nirgends hat sie eine Vorwelt begriff-
licher Notwendigkeit anerkannt, aus welcher die Dinge An-
spruch auf andere Schicksale herleiten könnten, als diejenigen,
welche ihnen der Sinn des Ganzen zu seinem Dienste be-
stimmt".
Lotze fasst hier ganz unmittelbar das Verhältniss der
Seele zum Absoluten wie das eines Geschaffenen zu seinem
1) Med. Psych, p. 161.
2) Med. Ps. p. 164.
3) Met. p. 487.
— 49 —
Schöpfer. Daraus folgt nun , da uns die Erfahrung nichts
darüber lehrt, ob die Seelen nach dem Tode des Leibes fort-
dauern oder nicht, und da wir die Absichten des Absoluten
nicht kennen, die es etwa mit den Seelen hat: dass es uns
nach Lotze unmöglich ist über die thatsächliche Unsterblich-
keit der Seelen etwas zu entscheiden. Wir vermögen nicht
zu sagen, ob das Absolute den Seelen eine ewige Dauer zu-
gestehen will oder nicht, ob allen oder nur einzelnen:1)
„Aus der Metaphysik scheidet die Frage nach der Unsterb-
lichkeit der Seele aus. Kein anderer Grundsatz steht uns
ausser der allgemeinen idealistischen Ueberzeugung zu Ge-
bote: fortdauern werde jedes Geschaffene, dessen Fortdauern
zu dem Sinne der Welt gehört und so lange sie zu ihm ge-
hört; vergehen werde Alles, dessen Wirklichkeit nur in einer
vorübergehenden Phase des Weltlaufs seine berechtigte Stelle
hatte. Dass dieser Grundsatz keine weitere Anwendung in
menschlichen Händen gestatte, bedarf kaum der Erwähnung;
wir kennen sicher die Verdienste nicht, die dem einen Wesen
Anspruch auf ewiges Bestehen erwerben können , noch die
Mängel, die ihn andern versagen".
Ewas weiter zu Gunsten der Unsterblichkeit der mensch-
lichen Seele ging Lotze in der „Medizinischen Psychologie." ')
„Ist in der Entwicklung eines geistigen Lebens ein Inhalt
realisirt worden von so hohem Werte, dass er in dem Ganzen
der Welt unverlierbar erhalten zu werden verdient, so werden
wir glauben können, dass er erhalten wird; ist nichts in der
Seele zu Stande gekommen, was eine individuelle Fortdauer
erheischte, so dürfen wir glauben, dass sie zu Grunde geht.
Man wird geneigt sein, diese allgemeine Vorstellung so an-
zuwenden, dass aus ihr die Sterblichkeit der Tierseelen, die
Unsterblichkeit aller menschlichen hervorginge".
1) Met. p. 487.
2) Med Ps. p. 1C4.
— 50 —
Mehr und Sichereres als über die Un Vergänglichkeit der
Seele glaubt Lotze über ihre Entstehung sagen zu können.
Die Seele entsteht nicht als ein direktes Produkt physischer
Processe, denn es lasse sich nicht denken, wie durch die-
selbe ndie materiellen Elemente als Nebenerfolg die Entstehung
eines ganz anders gearteten Seienden haben könnten J), son-
dern die Seele wird nach Lotze vom Absoluten erschaffen
oder erzeugt. 8) Aber nicht durch eine freie Nachschaffung
der Seele lässt Lotze die Beseelung des werdenden Leibes
zu Stande kommen, weil eine solche Annahme nicht minder
als die Lehre von der Präexistenz nur eine körperliche Seite
der Generation übrig lassen und ihre Bedeutung für unser
sittliches Gefühl wesentlich verändern würde. 3) Lotze nimmt
vielmehr an, dass die Entstehung des Keimes eines Organis-
mus derartig auf das Absolute zurückwirke, dass dieses eine
bestimmte Seele aus sich erzeuge. Nicht so aber sei dies zu
verstehen, als ob der sich bildende Keim in die Ferne zu
wirken habe, um aus irgend einer entlegenen Gegend des
Himmels sich seine Beseelung zu erbitten, und die Seele
habe nicht nötig, einen langen und beschwerlichen "Weg etwa
aus dem unräumlichen Sein herkommend zurückzulegen, um
in den Mittelpunkt des Keimes zu gelangen, denn das Un-
räumliche sei jedem Punkte des Raumes gleich nahe. Wo
also immer eine physische Organisationsbewegung sich ent-
zünde, da sei zugleich das beseelende Princip gegenwärtig.4)
Entkleiden wir die Lotzesche Darlegung ihrer mythischen
Ornamente, so ist ihr Sinn folgender: Zugleich und zusammen
mit dem Keim eines Organismus entsteht auch , wenn man
so sagen darf, der Keim einer mit diesem Organismus ver-
1) Med. Pä. p. 165.
2) Met. p. 488.
3) Med. Ps. p. 164]65.
4) Med. Ps. p. 168. vgl. Met.
— 51 —
bundenen und mit ihm — wie Lotze an anderer Stelle zeigt ')
— in Causalverknüpfung stehenden Seele d. h. ein Bewusst-
seinssubjekt, welches in gleicherweise, wie der entstehende
leibliche Organismus von den Leibern seiner Erzeuger, so
von den Seelen derselben verwandschaftlich abhängig ist.
Behalten wir diese Thatsache für eine spätere Stelle im
Gedächtniss und prüfen wir hier zunächst die Gründe, durch
welche Lotze bestimmt wurde, die Unentstandenheit der Seele
d. i. ihre ewige ursprüngliche Existenz zu bestreiten.
Mit dem Anspruch eines rein theoretischen Beweises
tritt die Behauptung Lotzes auf, dass sich die ewige Existenz
der Seele, ein Fürsichsein derselben, nicht vertrage mit den
•Grundsätzen seiner monistischen Auffassungsweise und daher
nicht möglich sei. Nun glaube ich aber nachgewiesen zu
haben , dass der Lotzesche Monismus auf keine "Weise sich
aus den gegebenen Toraussetzungen denknotwendig ergiebt.
Folglich ist dieser Beweis gegen die Präexistenz der Seelen
nichtig.
Der andere Grund, welcher Lotze diese Theorie wie auch
die einer „freien" Nachschaffung der Seele in den Keim des
Organismus hinein unglaublich erscheinen Hess, war der,
dass sie die sittliche und innige Bedeutung des Verhältnisses
zwischen Eltern und Kindern durch die Annahme einer nur
körperlichen Seite der Generation vernichten würde. Dieser
Grund ist offenbar vom Gefühl hergenommen und darum
ganz ungeeignet, eine theoretische Frage zu entscheiden. Ob
uns diese oder jene Thatsache angenehm oder unangenehm
ist, ob sie sittliche Verhältnisse stört oder fördert, das ent-
scheidet, wie die tägliche Erfahrung lehrt, nichts über ihre
"Wirklichkeit. Uebrigens würde das Gefühl, wenn die Seelen
bekanntermassen präexistirten , und wir von unsern Eltern
1) Im Abschnitt: „die leibliche Begründung geistiger Thätigkeit'
Met. p. 574 ff. besonders § S07 p. GOO ff.
4*
— 52 —
nur als leibliche Organismen erzeugt wären, sich bei dieser
Thatsache beruhigen, und das Verhältniss zwischen Eltern
und Kindern würde wohl in den einzelnen konkreten Fällen
ebenso verschieden sein wie jetzt.
So bleibt nur noch der Grund übrig, den Lotze gar nicht
ausdrücklich als Grund anführt, sondern nur als Thatsache
anerkennt, indem er die Seele von dem Absoluten auf eine
Anregung des leiblichen Keimes diesem „entsprechend",
also indirekt entsprechend dem Leibe und abhängig von dem
Leibe der Eltern , nachschaffen lässt. Das ist die Thatsache,
die er in der „Med. Psych." J) erwähnt und anerkennt, dass,
wie der Leib des Kindes eine verwandtschaftliche Abhängig-
keit von dem Leibe der Eltern zeigt, so auch in der Seele
des Kindes die geistigen Thätigkeiten des Vaters und der
Mutter, ihre Neigungen, ihre Talente, die ursprünglichen
Richtungen ihrer Phantasie sich wiederzeigen. Wenn nun
solche „Familienähnlichkeit" zwischen der Seele der Kinder
und der Seele der Eltern statthat, und wenn, wie auch Lotze
implicite als Thatsache anerkennt (s. oben S. 50) zugleich mit
dem Keim des Leibes der „Keim" der Seele entsteht, so ist
doch die nächste Folgerung, dass wie der leibliche Keim so
auch der Seelenkeim direkt durch den Akt der Zeugung ent-
steht, und dass die Lösung des Samens vom Manne ein
Analogon zu der Thatsache sei , dass Stücke zerschnittener
niederer Tiere z. B. der Polypen sich zu vollständigen individuell
beseelten Wesen ausbilden 2). Die Aehnlichkeit der Seele
des Kindes mit der Seele der Mutter würde dann dadurch
erklärt werden müssen, dass ja der neue Organismus zunächst
ein Teilorganismus der Mutter ist und gerade während des
ersten schnellsten Wachstums ganz von dem Mutterleibe er-
nährt wird, und dass die Seele mit dem Leibe auch in der
1) Med. Ps. p. 161.
2) Med. Ps. p. 168.
— 53 —
Beziehung im engsten Causalzusammenhang steht, dass so-
wohl intellektuelle wie Charaktereigenschaften der Seele von
der Beschaffenheit und der Ernährungsart des Leibes in hohem
Grade abhängig sind.
Bezüglich der Entstehung der Seele also stimmen wir
Lotze zwar darin bei, dass die Seele zugleich mit dem Keim
des Organismus entstanden sei, aber nicht in der Ansicht
über die Art, wie sie entstanden sei. Was nun die Fort-
dauer der Seele nach dem Tode des Leibes betrifft, so be-
daure ich, ihm in keinem Punkte beistimmen zu können, da
ich der Meinung bin, wir vermögen über die Möglichkeit
dieser Fortdauer ein negatives Urteil zu fällen.
Erstens nemlich spricht die Thatsache , dass noch nie-
mand die Existenz einer Seele, deren Leib gestorben war,
erfährungsmässig hat beweisen können, dafür, dass mit dem
Tode des Leibes auch der Tod der Seele eintritt. Zweitens
müssen wir nach dem Erfahrungssatze, dass jedes besondere
Seiende, das entstanden ist, auch vergeht, aus der Entstehung
des individuellen Bewusstseins-Subjekts auf ein Vergehen
desselben schliessen. Drittens führt uns die Entwickelung
der Seele zu demselben Schlüsse. Ihre Kralt und Lebendig-
keit steigt von den niedrigsten Graden analog der Entwicke-
lung des Leibes bis zu einer gewissen Höhe, um dann ebenso
wieder zu sinken. Bei alten leibesschwachen Personen ge-
wahrt man eine merkwürdige Geistesschwäche, Mangel an
Gedächtniss und überhaupt an Zusammenhang des Denkens.
Der Inhalt des Bewusstseins verringert sich, bei langsamen
Todesarten des Leibes geht dem eigentlichen Tode eine län-
gere Zeit fast ganz bewusstlosen Lebens vorher, wobei auch
solche Fälle vorkommen, dass nach längerem (in einem mir
bekannten Falle 2 Tage langen) bewusstlosen Leben wieder
eine Kräftigung des Bewusstseins-Subjekts zugleich mit der
des Körpers eintrat. Diejenige Ansicht, welche die Seele
den Körper verlassen und ein Sonderleben weiter führen
— 54 -
ässt, kann diese Thatsachen gar nicht erklären, oder sie
müsste behaupten , dass nach und nach Teile der Seele sich
von dem Leibe trennen und „im Jenseits" wieder zusammen-
finden. — Viertens aber spricht gegen die Unsterblichkeit der
Seele ihr eigentümliches Zusammen mit dem Leibe. Solange
wir uns oder unsere Seele als Bewusstseins-Subjekt kennen,
ist unser Bewusstseinsleben durchaus abhängig von unserem
Körper und seinen Sinnesorganen Nur durch fortwährende
neue Zufuhr von "Wahrnehmungen und Gemuinernpfindungen
wird unser Denken in Fluss erhalten, werden frühere Wahr-
nehmungen reproduciert u. s. w., wie ja auch Wahrnehmungen
und Gemeinempfindungen die ersten Objekte des Bewusst-
seins bildeten. Wie sollte denn nun die von ihrem Leibe
getrennte Seele neue Wahrnehmungen erhalten, durch welche
die früheren reproduciert und ein vergleichendes Denken
veranlasst würde? Und wie könnte eine Seele, ein denken-
des Seiendes, noch sein, wenn sie nicht mehr denkt.
Diese vorgetragenen Gründe bestimmen mich zu dem
Schlüsse, dass mit dem Tode des Leibes auch die Seele auf-
hört, als solche' zu existieren. Aber wie hört sie auf? Das
ist jetzt die schwierige Frage. Sie kann doch nicht spurlos
ins Nichts verschwinden, denn sie ist ja nicht aus dem Nichts
entstanden. Sie entstand zugleich mit dem leiblichen Keim,
indem sich beseelter Same vom beseelten Leibe des Mannes
ablöste. Wie ist nun der Vorgang beim Tode ? Man sollte
meinen, wie der Leib mit dem Tode nicht verschwunden ist,
sondern nur der organische Zusammenhang der Bestandteile
desselben aufgehoben, so könnte auch die Seele nicht spurlos
verschwinden , sondern ein der Zersetzung des Leibes ana-
loger Vorgang müsste sich hier vollziehen. Die Consequenz
hiervon wäre allerdings, dass alle oder wenigstens mehrere
Atome des gestorbenen Leibes ihre besondere Seele hätten,
und dass diese vorher, sowie die Körperatome durch ihr Zu-
sammenwirken den Organismus bildeten, so ihrerseits das
— 55 —
Bewusstseins-Subjekt , das mit jenem Organismus zusammen
war, zu Stande gebracht hätten.
Uebrigens liegt diese Ansicht, so ungeheuerlich sie auch
klingen mag, durchaus nicht so weit ab vom Wege vernünf-
tiger Ueberlegung. Lotze selbst bekämpft die Ansicht von
der Beseeltheit der Atome nur deswegen , weil ihm die Ein-
heit des Bewusstseins dagegen zu streiten scheint.
In der Erörterung über den „metaphysischen Begriff der
Seele" lesen wir : *) „Die Unvergleichbarkeit der physischen
und der psychischen Vorgänge macht es nur unvermeidlich,
für jede der beiden Gruppen ihren besondern Erklärungs-
grund festzuhalten. Aber es würde ein Ueberschuss der Be-
hauptung sein, die beiden so zu sondernden Principien seien
notwendig an zwei verschiedene Sorten von Substanzen ver-
teilt. Nichts hindert vorläufig die andere Annahme, jedes
Element der Wiklichkeit vereinige in sich die beiden Ur-
eigenschaften, aus deren einer geistiges Leben entspringen
könne, während die andere die Bedingung der Erscheinung
als Materie enthalte. So stände nicht ein eigentümliches Ge-
schlecht von Seelen ohne jede physische "Wirksamkeit einer
völlig selbstlosen Gattung materieller Elemente gegenüber,
sondern auch in den letzteren könne sich, in mannigfaltigen
Abstufungen, ein inneres Leben regen, unserer Beobachtung
freilich stets entzogen und auch nicht erraten , so lange für
uns verständliche Formen der Aeusserung ihm abgehen.
Welcher Grund es sei, der diese beiden Attribute in dem
Seienden vereinige, würde diese Ansicht mit demselben
Rechte völlig dahingestellt lassen, mit dem auch die unsere
sich nur auf eine thatsächliche Verknüpfung zweier Reihen
von unvergleichbaren Vorgängen berufen konnte *). Es scheint
mir, dass jede Vorstellungsweise, die sich selbst Materialismus
1) Met. p. 475 § 240.
2) vgl. § 239.
— 56 —
nennt, zuletzt auf dieser Annahme beruht, oder bei einigem
Nachdenken auf sie zurückkommen muss ; die Materie , aus
welcher sie die geistigen Erscheinungen abzuleiten denkt, ist
ihr von Haus aus heimlich etwas Besseres, als sie von aussen
angesehen, zu sein scheint. So kommt es, dass es für eine
wohlgestellte Aufgabe gelten kann, aus den Gegenwirkungen
der psychischen Regungen der körperlichen Elemente das
geistige Leben eines Organismus ebenso abzuleiten, wie als
eine Resultante aus dem Zusammenfluss ikrer physischen
Kräfte das leibliche Leben desselben entsteht. So lange wir
nun auf äusserliche Beobachtung eines fremden Seelenlebens
beschränkt wären, wüsste ich nicht, was man völlig Ent-
scheidendes dieser Annahme entgegenstellen könnte, nach
welcher jede psychische Aeusserung das letzte Ergebniss einer
uncentralisierten Vielheit von Komponenten wäre; aber die
innere Erfahrung bietet uns die Thatsache einer Einheit
des Bewusstseins als den dritten nicht zu überwältigenden
Grund dar, auf welchem allerdings die Ueberzeugung von der
Selbständigkeit eines Seelenwesens in einer sogleich auszu-
führenden Weise sicher beruhen kann".
Denn unabweisbar sei, so führt Lotze weiter aus1), die
Einheit des Bewusstseins. Jede Yergleichung zweier Vor-
stellungen, die damit ende, ihre Inhalte gleich oder ungleich
zu finden, setze die völlig unteilbare Einheit dessen voraus,
das diese Thätigkeit ausführe. Dasselbe müsse es gewesen
sein, das zuerst die Vorstellung des a fasste, dann die des
b, und das zugleich sich der Art und der Woite der Differenz
bewusst werde, die zwischen beiden bestehe. Allerdings!
Gewiss wird durch diese Thatsache die Einheit des Bewusst-
seins-Subjektes bewiesen, welches die beiden Vorstellungen
gehabt hat. Aber mit welchem Rechte nennt Lotze diese
Einheit eine „unteilbare"? Auch der Organismus ist ja Einer,
1) Met. p. 477.
— 57 -
und doch zerfällt er nach dem Tode in unzählige Atome.
Freilich was Lotze gegen diejenigen sagt, welche die Einheit
des Bewusstseins als eine resultierende Bewegung aus dem
•Zusammenwirken vieler Komponenten herleiten, muss jeder
billigen. Sowie immer die aus dem Zusammenwirken zweier
oder mehrerer Bewegungen resultirende Bewegung die Be-
wegung Eines Elements oder Elementenkomplexes ist, so
wäre immer Ein Bewusstseins-Subjekt nötig, in dem das Zu-
sammenwirken vieler Komponenten sich kombinierte. Aber
könnte nicht die Einheit des Bewusstseins-Subjektes ebenso
eine eigenartige Vereinigung vieler Bewusstseins-Subjekte
soin (die dann natürlich ihre Selbständigkeit in dieser Ver-
einigung einbüssten) wie die Einheit des Organismus eine
eigenartige Vereinigung vieler Körperelemente ist". — Ferner
aber, wenn unbestreitbar das Bewusstseins-Subjekt, welches
die Vorstellung a und die Vorstellung b hat und beide als seine
Vorstellungen mit einander vergleicht, Ein Bewusstseins-
Subjekt ist, wie steht es mit der Einheit des Bewusst-
seins-Subjektes eines Menschen , der im Schlafe geträumt,
gesprochen, Handlungen ausgeführt hat, deren er sich nach
dem Erwachen nicht als der Seinigen bewusst ist, auch nicht
bewusst wird, obwohl man ihn daran erinnert, ihm sagt, was
er gesprochen und gethan hat? Da scheint doch das Be-
wusstseins-Subjekt des Träumenden ein anderes zu sein als
das des "Wachenden. "Wie solche Vorgänge zu erklären
seien, darüber wage ich keine Behauptung, wie auch meine
Erklärung des Todes des Bewusstseins-Subjektes keinen An-
spruch darauf macht, das Richtige getroffen zu haben, aber
die „unteilbare" Einheit der Seele ist von Lotze nicht
bewiesen, und gar nicht in Angriff genommen sehe ich einen
Beweis für die „Selbständigkeit" der Seele d. i. iür eine
Existenz derselben ohne ihren Körper. Allerdings dürfte
dieser Beweis unmöglich sein. Bisher ist er jedenfalls noch
nicht geliefert. Denn alle Erzählungen einzelner angeblich
- 58 -
bevorzugter Menschen von gehabten Erscheinungen „abge-
schiedener Seelen-' werden wir mit Kant J) auf krankhafte
Zustände des Gehirns und der Nerven des Betreffenden, der
die Erscheinung hatte, zurückführen. So lange wir daher
unsere eigene Seele nur im Zusammen mit unserem Leibe
kennen und keine Seele sich uns als ohne Leib existierend
bewiesen hat. so lange werden wir die „Selbständigkeit" der
Seele anzweifeln müssen.
Bisher haben wir als Bestimmtheiten der Seele die Unräum-
liehkeit, die Einheitlichkeit und das Vorstellen Fühlen Wollen.
In der letzteren Bestimmtheit, dass nemlich die Seele vor-
stellt fühlt will, besteht ihr Wirken und Leiden, das wodurch
sie Substanz ist. Diese Wirkungen und Leiden der Seele
sind (und diese Bestimmtheit ist dem Begriffe der Seele hin-
zuzufügen) nach Lotze, dem wir hierin vollständig beistimmen,
festen Gesetzen unterworfen. „So lange psychiches Leben
in unzähligen Beispielen nach denselben allgemeinen Mustern
sich verwirklicht, und so lange in jeder einzelnen Seele die-
selben Vorgänge sich zu unzähligen Malen wiederholen, so
lange kann ein allgemeingesetzlicher Zusammenhang nicht
in Abrede gestellt werden, nach welchem auch hier gleiche
Bedingungen gleiche Erfolge und gleiche Veränderungen jener
auch gleiche Veränderungen dieser nach sich ziehen". 2)
Noch eine andere Bestimmtheit fügt Lotze mit Recht dem
Begriff der Seele hinzu, dass sie nemlich in Wechselwirkung
mit ihrem Leibe steht a), und dass das Wirken der Seele auf
die sogenannte Aussenwelt sowie ihr Leiden von derselben
an die Vermittlung durch „ihren" Leib gebunden ist.
Die Möglichkeit eines nicht an die Vermittelung des
Leibes gebundenen Kapports der Seelen unter einander will
Lotze zwar nicht bestreiten , behauptet sie aber auch nicht,
1) Träume eines Geistersehers (Kirclmianu) p. 88 ff.
2) Met. p. 491.
3) ebendas.
• — 59 —
sondern nimmt einen skeptischen Standpunkt ein ]). Wir
müssen nach unserer Ansicht über das notwendige Zusammen
der Seele mit einem Leibe folgerichtig jene Möglichkeit durch-
aus bestreiten.
Es ist demnach die Seele ein immaterielles einheitliches
Seiendes, welches Vorstellungen Gefühle Wollungen hat, deren
Veränderungen sich nach bestimmten Gesetzen vollziehen;
ein Seiendes, welches in notwendigem Zusammen und in
Wechselwirkung nur mit Eiuem Körper steht, durch dessen
Vermittlung sie Wirkungen von der übrigen Welt erfährt
und auf dieselbo ausübt, welcher Körper deswegen „ihr" Leib
genannt wird.
In der „empirischen" Psychologie, zu welcher wir nun-
mehr übergehen, finden wir Lotze wiederum als Gegner
Herbarts. Allerdings giebt Lotze zu2), dass Herbart, wie
auch heute noch allgemein anerkannt wird, hier unstreitige
Verdienste habe; doch findet er vielfach Veranlassung, gegen
die Uebertreibung und falsche Durchführung einer an sich
berechtigten Forderung seitens Herbart Widerspruch zu er-
heben.
Vor Herbart glaubte die Wolffische und weitergebildete
Wolffische Psvchologie, genug zur Erklärung der psychischen
Erscheinungen geleistet zu habon , wenn sie dieselben nach
den zu Tage getretenen Unterschiedenheiten einteilte, be-
nannte und für jede der so gewonnenen Klassen ein Seelen-
vermögen als die diese bestimmten seelischen Erscheinungen
ausübende Kraft annahm. So unterschied man Vorstellungs-,
Gefühls- und Begehrungsvermögen, mit welcher Einteilung
sich die in obere und niedere Seelenvermögen kreuzte. Im
Vorstellungsvermögen hatte man sodann als Unterarten die
Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtniss, Verstand, Urteils-
1) Med. Psych, p. 83.
2) Met. p. 535.
— 60 —
kraft, Vernunft. Im Gefüblsvermögen die sinnlichen Gefühle
der Lust und Unlust, die ästhetischen und die moralischen
Gefühle nebst den entsprechenden Vermögen. Im Begehrungs-
vermögen die sinnlichen Begierden und Triebe, das verstän-
dige und vernünftige Wollen u. s. av. ')
Angesichts solcher Erklärungsart der psychischen Er-
scheinungen wies Herbart darauf hin, dass durch diese Hy-
postasirung oberster Gattungsbegriffe derselben für ihre Er-
kenntniss gar nichts gewonnen sei, dass diese Seelenvermögen
bei der Erklärung der speciellen Unterschiede der einzelnen
Erscheinungen den Dienst versagten, dass durch sie die
Thatsachen des Seelenlebens auseinander gerissen würden,
und so das einheitliche Band verschwinde, durch welches sie
doch erfahrungsgemäss alle verbunden seien ; ja dass es den
Anschein gewinne, als seien diese Vermögen in einem bellum
omnium contra omnes begriffen. Wo bleibe da die Einheit
der Seele? Und die Zahl der angenommenen Vermögen ver-
grössere sich ohne Unterlass und verdränge diese Einheit
immer weiter. „Unseres Wissens hat die bisherige, auch die
neuere und neueste Psychologie, durchaus nichts anderes
geleistet, als immer neue, vergrösserte, schärfer gezeichnete
Spaltungen und Gegensätze unter den vermeinten Seelen-
kräften".2)
Dieser immer wachsenden Verirrung will Herbart ein
Ende machen, indem er alle sogenannten Seelenvermögen
verneint und die Mannigfaltigkeit des psychischen Geschehens
auf Ein Ursprüngliches zurückführt. Für ursprünglich aber
hält Herbart nur die einfache Vorstellung d. i. Wahrnehmung
einer Sinnesqualität. „Die Selbsterhaltungen der Seele sind
Vorstellungen, und zwar einfache Vorstellungen, weil der Akt
der Selbsterhaltung einfach ist wie das Wesen, das sich er-
1) Lehrb. § 55 f.
2) Psych. I p. 217.
— 61 —
hält". ') — .."Man fasse den Satz (von den einander wider-
stehenden Vorstellungen) so einfach als möglich" und denke
nicht an ,. zusammengesetzte Vorstellungen, nicht an solche,
die irgend ein Ding mit mehreren Merkmalen, oder etwas
Zeitliches und Räumliches bezeichnen, sondern an ganz ein-
fache: rot, blau, sauer, süss". 2) Diese einfachen Vorstellungen
sind einander entweder entgegengesetzt, wie immer alle
Qualitäten desselben Qualitätskreises z. B. rot und blau,
sauer und süss, oder nicht entgegengesetzt, wie die Quali-
täten verschiedener Qualitätskreise z. B. rot und süss )3.
Letztere complicieren sich, die entgegesetzten hemmen ein-
ander, worauf ihre zurückbleibenden Reste mit einander ver-
schmelzen. Komplexionen sind z. B. die Dinge mit mehreren
Merkmalen. Unter den Verschmelzungen merkwürdig sind
einerseits diejenigen , welche ein ästhetisches Verhältniss in
sich fassen, andererseits diejenigen, welche Reihenfolgen
bilden, worin die Reihenformen ihren Ursprung haben.
Von diesen Reihenformen sind die wichtigsten, uns hier
am meisten interessierenden Raum und Zeit.
"Warum die räumliche Bestimmtheit nicht ebenso ur-
sprünglicher Bewusstseinsinhalt sein könne wie die qualita-
tive, beweist Herbart folgendermassen : 4) „Die ursprüngliche
Auffassung des Auges kann nicht räumlich sein. Denn die
Wahrnehmungen aller farbigen Stellen fallen in die Einheit
der Seele zusammen , und hierbei geht von dem Oben und
Unten, Rechts und Links u. s. w., welches auf der Netzhaut
stattfand, jede Spur verloren. Dasselbe gilt vom Tasten mit
der Zunge und den Händen". Natürlich auch von den übrigen
Arten des "Wahrnehmen s.
Die Raumanschauung entsteht nun nach Herbart auf
1} Lehrb. § 155.
2) Lehrb. § 10.
3) Lehrt). § 22.
4) Lehrb. § 173. vgl. Psych. § 111.
— 62 —
folgende "Weise: infolge der Hemmung entgegengesetzter
Vorstellungen und der Verschmelzung der zurückgebliebenen
Reste derselben habe ich eine Reihe gebildet, etwa a b c d.
Dieselbe wird immer in derselben Ordnung reproduciert werden
nach den für die Reproduktion gültigen Gesetzen. Wenn
nun in der sinnlichen Wahrnehmung sich dieselbe Reihe
oder vielmehr dass statt derselben zu denkende Kontinuum
nach allen möglichen Versetzungen abändern könnte (wie in
acbd.adbc u. s. w) so würde jedesmal aus der wahrge-
nommenen Reihe auch eine neue Reproduktionsfolge ent-
stehen: dadurch aber würden sich die Gesetze für die Re-
produktion dergestalt verwickeln, dass keine merkliche Ordnung
mehr übrig bleibe. Wenn dagegen die sinnliche Wahrneh-
mung zwar bc in cb und abcd in deba verkehre, niemals
aber das Zwischen für irgend eine Vorstellung und ihre be-
nachbarten ändere, und die Reihe der Wahrnehmungen bald
hier bald dort beginnen könne, die Reihe also ohne be-
stimmten Anfangspunkt sei, so ergebe das hieraus entsprin-
gende Reproduktionsgesetz ein räumliches Vorstellen *).
Habe aber die Reihe keinen Anfangspunkt und laufe die
Wahrnehmungsfolge ohne Umkehrung stets nach einer Rich-
tung, so könne auch die Reproduktion nur diese Eine Rich-
tung nehmen. Werde nun, während die Wahrnehmung bei
d sei, zugleich a reproduciert, so laufe von da die Reihe a
b c d ab. Die nämliche Reihe aber werde von d nach einem
andern Gesetz im Bewusstsein festgehalten (insofern nemlich
d mit c b a in abgestufter Stärke verschmolzen ist). Auf
diese Weise entstehe das Vorstellen des Zeitlichen *).
Lotze bestreitet, dass auf diese Weise das Entstehen der
Raumanschauung erklärt sei 8). „Die Anschauung des Rau-
1) Lehrb. § 169. Psychol. § 1 11.
2) Lehrb. § 171.
3) Met. p. 536 und p. 236 ff.
— 63 —
mes mit der Mannigfaltigkeit ihrer inneren Verhältnisse steht
uns als ein gegebener Gegenstand innerer Erfahrung gegen-
über, den wir, wenn er uns so nicht gegeben -wäre, aus einer
logischen Verknüpfung unräumlicher ja selbst räumlicher
Elemente niemals würden machen können". ')
Aus diesen Worten der Metaphysik möchte man schliessen,
dass Lotze die räumlichen Bestimmtheiten für ebenso ur-
sprünglich wie die. qualitativen und mit diesen zugleich in
ein und demselben Bewusstseinsakt durch die Sinneswahr-
nehmung gegeben ansehe. Dies ist aber nicht der Fall.
Lotze hält es mit Herbart für notwendig 2) , anzunehmen,
dass auch dann, wenn wirklich die äussern Dinge in einer
räumlichen Ordnung befindlich seien, ihre Einflüsse auf uns
doch zunächst nur eine Mannigfaltigkeit von an sich un-
räumlichen „einfachen" Empfindungen hervorrufen könnten,
und dass die wahrgenommene räumliche Anordnung dieser
Empfindungen gänzlich von Neuem durch die Seele rekon-
struirt werden müsse. Als falsch jedoch bezeichnet Lotze
die Herbartische Deduktion des Raumes, dass neinlich die
,, Wiedererzeugung" des Raumes auf Grund der abgestuften
Verschmelzungen der Vorstellungen erfolge. Schon gegen die-
jenige Behauptung Herbarts erhebt Lotze Einspruch, dass
das ruhende Auge keinen Raum sehe 3), sondern dass nur das
sich bin- und herbewegende ihn erzeuge. In jedem Augen-
blicke, sagt Lotze, übersehe auch das ruhende Auge sogleich
ein ausgedehntes Sehfeld und finde in ihm die Gegenstände
in ihren respektiven Lagen, ohne dass es der mindesten Be-
wegung bedürfe, um etwa den Totaleffekt der äusseren Reize,
der in einer intensiven unräumlichen Vorstellung bestände,
1) Met, p. 242.
2) Seele und Seelenleben kl. S. II p. 57 ff. vgl. Med. Ps. § 16 p. ISO
ursprünglich ist „die einfache Empfindung d. i. das bewusste Empfinden
einer einfachen Sinnesqualität".
3) Herb. Psych, II § 1 11. p. 120. Lehrb. § 173.
— 64 —
durch jeno abgestufte Verschmelzungen und ihre Summation
zu rekonstruieren. Herbarts Behauptung daher, dass durch
die erste unmittelbare Wahrnehmung nur Sinnesqualitäten
ohne räumliche Bestimmtheit gegeben seien, durch das Auge
z. B. nur einzelne Punkte , fusse auf keiner Erfahrung x).
Und selbst, wenn sie der Wahrheit entspräche, so würde
doch durch die Herbartische Theorie die räumliche Anschauung1
nicht erklärt werden. Denn auch in anderen Reihen z. B.
in der Tonreihe der Skala zeigten sich dieselben Verhält-
nisse, die abgestuften Verschmelzungen und die Möglichkeit
der Umkehrung, ohne dass die einzelnen Ton Vorstellungen
sich zu einem Raumgebilde vereinigten. Vielmehr werde
man die Raumanschauung als eine neue und eigentümliche
Form der Auffassung ansehen müssen, die aus dem Wesen
der Seele als eine Rückwirkung derselben gegen ihre eigenen
Zustände zu einer bestimmten Mannigfaltigkeit der Eindrücke
hinzukomme, aber nicht von selbst aus dieser Mannigfaltig-
keit hervorgehe2).
Mit dieser Behauptung und dem durch sie notwendig
werdenden Versuch einer Raumdeduktion stellt sich Lotze
in Gegensatz zu sich selbst. Denn einerseits nimmt er die
räumlichen Bestimmtheiten als ursprüngliches d. i. nicht
weiter erklärbares Seelengegebenes an, wie sich ausser der oben
(S. 6263) angezogenen Stelle noch aus einigen andern erhärten
lässt; so giebt er Met. p. 231 zu, dass die Frage worauf es
beruhe, dass die Seele die mannigfaltigen Eindrücke, welche
sie von den Dingen empfange, und welche zunächst nur
unräumliche Zustände ihres eigenen Leidens sein könnten,
überhaupt unter der Form eines räumlichen Nebeneinander
anzusehen genötigt sei, ebenso unbeantwortbar sei als die
andere, wodurch es geschehe, dass die Seele die Einwirkungen,
1) kl. S. II p. 58.
2) Met. p. 536.
— 65 —
welche sie durch Licht und Schallschwingungen unter der
Vermittelung der Sinne erfahre, in der Form von Leuchten
und Klingen zum Bewusstsein bringe; und in ..Seele und
Seelenleben" erklärt er1), dass alles, was die bestimmte
Lokalisation der Empfindungen bedinge, eine „Geschichte sei,
die vor dem Bewusstsein sich ereigne gleich demjenigen,
wodurch die Empfindung, das "Wahrnehmen der Qualität be-
dingt sei", wodurch doch unzweideutig die Lokalisation der
qualitativen Bestimmtheiten als ursprüngliches Bewusstseins-
Gegebenes gleich den Qualitäten bezeichnet ist. — Andrer-
seits aber erkennt Lotze 2) nur die einfache Empfindung als
ursprünglich an. erklärt damit die räumlichen Bestimmtheiten
für secundäres Bewusstseins-Gegebenes , das als Rück-
wirkung der Seele gegen ihre eigenen Zustände zu einer
bestimmten Mannigfaltigkeit der Eindrücke hinzukomme (s.
oben S. 64), und unternimmt in Konsequenz dieser letzteren
Behauptungen den Versuch zu erklären, auf welche Art die
Raumbestimmtheit zu den „Empfindungen" hinzutrete.
Metaphysische Voraussetzug ist: Die Raumanschauung
ist subjektiv. Die Raumbestimmtheiten sind nur Schein,
sind nur eine LTebertragung der Wirkungen der absoluten
Idee und der Wechselwirkungen der Teilgedanken, nach
Lotze's Worten: „jener wahren intelligiblen Verhältnisse der
Dinge" 3) in die Zeichen unserer Bewusstseins-"Welt. „Die
Redensart (dass ein Element an einem Punkte des Raumes
sei) hat keinen Sinn für die Vorstellung vcn einem wirklichen
Räume , zu dem die Dinge in Verhältniss träten ; sie sind
nicht erst an einem Orte und wirken demgemäss , sondern
nach der Art und dem Masse ihrer schon geschehenden
Wechselwirkungen nehmen sie in der Raumanschauung eines
1) kl. S. II p. 61.
2) s. oben S. 63 mit Anm. 2.
3) Met. p 544.
— 66 —
Bewusstseins — versteht sieh mit allen Bestimmtheiten des
Räumlichen — die Orte ein, an denen sie sich uns ursprüng-
lich zu befinden scheinen''. *)
"Wie kommt nun diese subjektive Raumanschauung zu
Stande? Lotze behauptet: 2) in dem Augenblick, wo die durch
Sinnesreize veranlassten Erregungen der Nerven durch ent-
sprechende Sinnesqualitäten in der Seele ausgelöst werden,
müssen alle jene geometrischen Relationen, die zwischen den
ankommenden Sinnesreizen und den durch sie veranlassten
Nervenerregungen bestehen, völlig zu Grunde gehen, da der
Einheitspunkt der Seele ihrer Entfaltung keinen Platz mehr
biete.
Diese Behauptung Lotzes hätte nur dann Sinn, wenn
entweder die Seele ein Raumpunkt wäre, in dem natürlich
geometrische Relationen keinen Platz haben würden; oder
wenn bei der ..Auslösung" der Xervenerregungen die quali-
tative Bestimmtheit jedes Raumatomes selbständig, getrennt
von denen der übrigen , von denen zu gleicher Zeit Reize
die Sinnesorgane getroffen haben und durch diese weiter-
geleitet in Bewusst-Seiendes ausgelöst sind, zum Bewusstsein
kämen . und in der Seele diese vielen selbständigen quali-
tativen Bestimmtheiten vorläufig aufbewahrt würden zu nach-
träglicher Verbindung in räumlichen Verhältnissen. Da
neinlich die Seele als un räumliches Wesen kein Rechts oder
Links, Oben oder Unten u. s. w. haben kann und also den
qualitativen Bestimmtheiten keinen Platz anweisen könnte,
so müssten alle angekommenen Qualitäten ohne Raumunter-
scheidung derselben gehabt werden. Und ..aus diesem völlig
unräumlichen Beisammensein, in welchem die einzelnen nur
durch ihren qualitativen Inhalt sich unterscheiden , ähnlich
den gleichzeitigen Tönen eines Akkordes, die gesondert zu-
1) Met. p. 384.
2) Met. p. 547.
- 67 —
gleich und doch nicht räumlich neben einander gehört wer-
den, aus diesem Beisammensein müsste die Seele völlig von
neuem das zu Grunde gegangene Bild wieder erzeugen, und
mithin im Stande sein, jedem einzelnen Eindruck die relative
Lage anzuweisen die er in diesem Bilde neben den übrigen
einzunehmen hat". ])
Nun aber ist weder der erste der gesetzten Fälle wirk-
lich noch der zweite, vielmehr erkennt Lotze selbst durch
seine Deduktion des Raumes indirekt und unbewusst die Er-
fahrungstatsache an , dass keine qualitative Bestimmtheit
ohne räumliche, sondern immer beide zusammen wahrge-
nommen werden.
Denn wie erzeugt die Seele aus dem völlig unräumlichen
Beisammensein, in welchem die einzelnen „Eindrücke" d. h.
qualitativen Besimmtheiten nur durch ihren qualitativen In-
halt sich unterscheiden , von Neuem das zugrundegegangene
Bild? Soll diese Neuerung nicht eine willkürliche Schöpfung
der Seele, sondern eine Wiedergabe des zugrundegegangenen
Raumbildes sein , so muss die neuerzeugende Seele dieses
kennen oder aus irgend welchen Anzeichen erschliessen
können. Das sagt sich auch Lotze und, wie bei einer trans-
portierten Sammlung die den einzelnen Stücken aufgeklebten
Nummern als Merkzeichen benutzt werden, um allen Stücken
dieselbe Stelle zu geben, die sie früher in der Sammlung
einnahmen , so werden , meint Lotze 2) , auch die einzelnen
qualitativen Bestimmtheiten ein Merkzeichen für die Seele
enthalten , nach dem ihnen ein Platz anzuweisen sei. Lotze
nimmt daher an, dass gleiche Sinnesreize in verschiedenen
Nervenfasern einen verschiedenen Nebeneindruck erzeugen,
der sich mit dem von der Qualität des Reizes abhängigen
Haupteindruck in der Weise einer Association d. i. so ver-
1) Met. p. 547.
2) Met. p. 548.
5*
— 68 —
bindet, dass keiner von beiden die eigentümliche Natur und
Färbung des andern stört. "Worauf nun diese Verschieden-
heit des Nebeneindrucks beruhe, könne dahin gestellt bleiben.
Diese Nebeneindrücke nennt Lotze Lokalzeichen , und nach
diesen Lokalzeichen soll die Seele die räumliche Anordnung
der qualitativen Bestimmtheiten treffen. ,, Bezeichnen wir mit
A B^C drei verschiedenartige Reize, mit p qr drei verschieden-
artige Stellen eines Sinnesorgans, mit :: x p die drei specifi-
schen Xebeneindrücke , welche jene Stellen an die durch
ABC veranlassten Hauptempfindungen knüpfen, so würde
die Verschiedenheit jener angeknüpften Lokalzeichen - •/. o
der Leitfaden sein , nach welchem die auf p q r fallenden
Empfindungen in unserer Raumanschauung dislocirt werden
können (nicht müssen?)". *)
Damit kehrt denn glücklicherweise Lotze, freilich ohne
es zu merken, zu der natürlichen durch die Erfahrung ge-
botenen Annahme zurück, die er ja auch selbst an einigen
Stellen ausgesprochen hat, dass nemlich die räumlichen Be-
stimmtheiten ebenso ursprünglich seien als die qualitativen
Bestimmtheiten. Denn die Lokalzeichen müssen doch der
Seele bewusst sein, wenn sie danach die räumliche Anord-
nung der Qualitäten treffen soll; und Sinnesqualitäten, die
von dem Bewusstsein als mit Lokalzeichen verbundeu vor-
gestellt werden, nun die sind eben räumlich bestimmt. Frei-
lich sollen die Lokalzeichen nur qualitativ verschieden , also
überhaupt nur „qualitativ" sein 2). Aber dem ist zu ent-
gegnen, dass wir durch unsere innere Erfahrung keinen Be-
wusstseinsakt kennen, durch den Qualitäten, welche zunächst
ohne räumliche Bestimmtheiten wahrgenommen waren, auf
Grund einer mit der Hauptqualität associierten Qualität räum-
lich geordnet würden, sondern in der ursprünglichen Wahr-
1) Met. p. 550.
2) Met. p. 571 § 290.
— 69 —
nehmung hat jede Sinnesqualität sogleich mit sich verbunden
ein eigentliches ,,Lokalu-Zeichen d. i. räumliche Bestimmtheit.
Soll aber etwa der Vorgang der Neuerzeugung des Raumes
ein unbewusster sein, so erhalten wir den Begriff des unbe-
wussten Bewusstseins , der eine contradictio in adjecto ent-
hält und deshalb wissenschaftlich nicht zu verwerten ist.
Alle Schwierigkeiten, die man bisher bei der Erklärung
der Kaumanschauung gefunden hat, verschwinden, wenn wir
die Raumbestimmtheiten als in der ursprünglichen Wahr-
nehmung mitgegeben annehmen, wie die Erfahrung sie zeigt *),
so dass uns als ursprünglichstes Erkenntniss-Element in der
Sinnenwahrnehmung ein Zusammen von mindestens qualita-
tiven und räumlichen Bestimmtheiten gegeben wäre. Zweifel-
haft scheint mir nemlich, ob mit jenen zugleich auch die
zeitliche Bestimmtheit, wie von mehreren Psychologen an-
genommen wird 2), schon in der Wahrnehmung gegeben sei.
Denn zeitlich bestimmt heisst uns doch ein Gegebenes nur
dann, wenn wir es zu einem Früher oder Später, mindestens
aber zu Einem von diesen beiden in Gegensatz gestellt haben.
Es muss also das Bewusstsein, wenn es eine Vorstellung
oder allgemeiner gesprochen ein Bewusstseins-Gegebenes
zeitlich bestimmt, mit diesem zusammen mindestens noch
ein Bewusstseins-Gegebenes haben, zu dem es sie als einem
Früher oder Später in Gegensatz stellt. Dies scheint mir
aber bei dem unmittelbaren Eindruck nicht der Fall zu sein.
Nicht bei jeder Wahrnehmung bin ich mir bewusst, dass ich
sie später oder früher als eine andere habe. Dies Bewusst-
sein tritt erst hinzu, wenn ich sie mit wenigstens einer Vor-
stellung zusammen habe und beide in Beziehung setze. Auch
beim „Vorstellen", dem Reproducieren früherer Wahrneh-
1) vgl. Schuppe § 48 ff. die Unterscheidung der Bestandteile des
Gegebenen.
2) vgl. Schuppe § 48 p. 165 ff.
— 70 —
mungen kann ich der zeitlichen Bestimmtheit einer Vorstellung
unbewusst bleiben , wiewohl seltener als der zeitlichen Be-
stimmtheit einer "Wahrnehmung. Zeitlich fixiert habe ich
auch die Vorstellung erst, wenn ich sie mit einer oder mehreren
anderen Vorstellungen (oder "Wahrnehmungen) zugleich im
Bewusstsein habe. Daher scheint mir der Kern in der Her-
bartischen Erklärung der Zeitvorstellung richtig zu sein, dass
nemlich unser Ich die zeitliche Bestimmtheit nicht einem
einzelnen Gegebenen beilegt, sondern erst nachdem es mit
anderem Gegebenen verschmolzen (ihm associiert) und mit
ihm in Beziehung gesetzt ist.
Etwas Aehnliches wird auch Lotze, der übrigens auf die
Herbartische Deduktion nicht Bezug nimmt, und dessen Er-
örterung über den Zeitbegriff als hauptsächlich metaphysi-
schen Inhalts nicht in den Rahmen unserer Betrachtung fällt,
gemeint haben, wenn er sagt !), „sobald wir irgend eine Zeit-
bestimmung vorstellen oder aussprechen z. B. a sei früher
als b, so kann hier nicht blos b auf a in unserem Bewusst-
sein gefolgt sein, sondern damit die Vergleichung beider und
das Resultat , a sei früher als b, entstehen konnte, war ein
Moment ganz unentbehrlich , in welchem unser Vorstellen
zeitlos auf einmal das Bild des a sowie das des b und zu-
gleich den Gedanken des Verhältnisses zwischen beiden in
Einem, ganz unteilbaren Akte vereinigte, so dass die ein-
zelnen Teile dieses vereinigten Inhaltes eben erst für dies
auf sie gerichtete Vorstellen die Form eines Früheren oder
Späteren, also zeitliche Formen überhaupt annahmen-'.
Bisher handelte es sich in dem empirisch-psychologischen
Teil unserer Betrachtung um die Entstehungsart der quali-
tativ, räumlich und zeitlich bestimmten "Wahrnehmung "Wir
fanden, dass Herbart als ursprüngliches Bewusstseins-Gegebenes
nur die einfachen Sinnesqualitäten anerkannte und die Vor-
1) Grundzüge der Metaphysik p. 62.
— 71 —
Stellung des räumlich und zeitlich bestimmten Dinges mit
mehreren Merkmalen durch eine Komplexion von Qualitäten
verschiedener Qualitätskreise und durch Verschmelzungen
(Associationen) von Qualitäten derselben Qualitätskreise ent-
standen sein Hess; dass auch Lotze trotz seines richtigen
Ansatzes nicht dahin gelangte, die räumliche Bestimmtheit
als ebenso ursprünglich wie die qualitative zu erkennen, als
mit dieser zugleich gegeben also, wie wir auf Grund der Er-
fahrung feststellten, während wir zugestehen mussten , dass
die zeitliche Bestimmtheit als secundäres Bewusstseins-Ge-
gebenes zu der qualitativ und räumlich bestimmten Ding-
vorstellung hinzukomme.
Die weiteren Bewusstseinserscheinungen, die wir unter
den Gattungsnamen der Gefühle und Wollungen zusammen-
fassen, führt Herbart insgesamt auf die Wechselwirkung der
Vorstellungen , auf ihre gegenseitige Hemmung *) und ihr
Streben sich gegen die Hemmung zu erhalten resp. wieder-
herzustellen *), zurück. „Fühlen und Begehreu, sagt er, sind
zunächst Zustände der Vorstellungen";3) und zwar sollen
Gefühle und Begierden auf folgende AVeise entstehen : wenn
eine Komplexion a-f-oc d. h. etwa die Vorstellung eines Dinges
mit mehreren Merkmalen reproduciert werde vermittelst einer
neuen Wahrnehmung, die dem a also dem Einen Merkmal
jener Vorstellung gleichartig sei, im Bewusstsein aber eine
andere den übrigen Merkmalen a „entgegengesetzte" Vor-
stellung ß antreffe, durch die sie gehemmt werde, so werde
diese Vorstellung, zugleich hervorgetrieben und zurückge-
halten, der „Sitz" eines unangenehmen Gefühls, und dieses
Gefühl könne in Begierde übergehen (nach dem durch diese
Vorstellung vorgestellten Objekte), wofern die Hemmung durch
1) vgl. oben S. 61.
2) Lehrb. § 11.
3) Lehrb. § 33.
— 72 —
die entgegengesetzten Vorstellungen (i schwächer sei als die
Kraft, mit welcher die Vorstellung hervortrete 5j. Umgekehrt
werde eine Vorstellung Sitz eines Luftgefühls, wenn ihr Her-
vortreten durch mehrere Ursachen begünstigt werde.
Danach hätten wir Gefühle der Lust und Unlust nur als
Eegleit- oder Folgeerscheinungen begünstigter bzw. erschwerter
Keproduktion der Vorstellungen. Begehren aber entstände
nur auf Grund eines Unlustgefühls , wie dies Herbart auch
nicht nur in dem „Lehrbuch" sondern noch in der ,,Psycho-
logie" annimmt:-) „Die einfache Begierde ist nichts anderes
als eine Vorstellung, die wider eine Hemmung aufstrebt.
Hiebei wird aber vorausgesetzt, dass noch irgend eine andere
Kraft im Spiele sei; weil sonst auf die Hemmung ein Sinken
erfolgen müsste. Natürlich ist diese Kraft eine das Hervor-
treten der gegen die Hemmung anstrebenden Vorstellung
begünstigende andere Vorstellung. Der Druck und Gegen-
druck aber versuchen nach Obigem ein unangenehmes Ge-
fühl und dieses Gefühl soll eben , sofern die Reproduktion
mit Hülfe der „andern Kraft" trotz der Hemmung wirklich
erfolgt, in Begierde übergehen.
Diese Herbartische Erklärung der Bewusstseins-Erschei-
nungen Fühlen und Wollen erachtet Lotze nicht als eine
richtige. Schon gegen Herbarts grundlegende Behauptung,
dass entgegengesetzte Vorstellungen nach dem Mass ihrer
Stärke und ihres Gegensatzes einander hemmen, erhebt er
Einwendungen3). Entweder, sagt er4), könne man die Be-
griffe des Gegensatzes und der veränderlichen Stärke auf den
Inhalt anzuwenden suchen, auf den die vorstellende oder
1) Lenrb. § 36.
2) § 150.
3) „Seele und Seelenleben" unter dem Abschnitt „Vom Verlaufe der
Vorstellungen" kl. S. II 100 ff und Met. „die Empfindungen und der
Vorstellungsverlauf" p. 519 ff.
4) Met. p. 519.
- 73 —
empfindende Thätigkeit sich richtet, oder auf diese Thätigkeit
selbst. Xun könne er zunächst in der inneren Beobachtung
nichts finden, das eine Hemmung der Vorstellung nach
Massgabe ihres Inhalts bezeugte. Freilich eine gleichzeitige
Empfindung entgegengesetzter Inhalte durch dasselbe Xerven-
element halte er für unmöglich; aber das sei nicht richtig,
dass die Vorstellung des Positiven und der Bejahung die des
Xegativen und der Verneinung vorzugsweise verdrängte; im
Gegenteil würde jede Möglichkeit einer Vergleichung des
Entgegengesetzten die Xichthemmung beider Vergleichungs-
glieder einschliessen. — Wendeten wir aber den Gegensatz
auf die vorstellende Thätigkeit an , so sei freilich selbstver-
ständlich, dass zwei Akte dieser Vorstellungsthätigkeit, sofern
sie in Bezug auf das Wirken entgegengesetzt seien, einander
aufheben würden; aber dieser Satz sei zugleich ganz frucht-
los; denn wir hätten gar kein Recht zu der Voraussetzung,
die Vorstellung zweier entgegengesetzter Inhalte beruhten
auf einem Gegensatze der vorstellenden Thätigkeiten in Bezug
auf ihre Wirkungsweise. — Wir wüssten also gar nicht, wo
wir solche Gegensätze von mechanischem Werte hernehmen
sollten.
Ich meine, Lotze hat in diesem Punkte die Herbartische
Theorie nicht richtig verstanden. Herbart lässt gar keinen
Raum zu der Vermutung, der die Hemmung veranlassende
Gegensatz könnte in der vorstellenden Thätigkeit liegen, wie
es Lotze auffasst. Die einfachen Vorstellungen rot und blau,
sauer und süss sind einander entgegengesetzt J) , und die
einander entgegengesetzten Inhalte der Vorstellungen hemmen
das Vorstellen derselben. Sofern nun freilich der Inhalt nicht
dasein kann, ohne vorgestellt zu werden, so sind rücksicht-
lich ihres Inhalts auch die Vorstellungs-Thätigkeiten ent-
1) Lehrb. § 10.
— 74 —
gegengesetzt, aber nicht „in Bezug auf ihre Wirkungsweise",
denn diese ist immer die des Yorstellens.
"Wenn aber Lotze in der innern Beobachtung nichts
finden kann, das eine Hemmung entgegengesetzter Ver-
stellungen nach Massgabe ihres Inhaltsgegensatzes bezeuge,
so liegt der Grund darin , dass er den Begriff des Gegen-
satzes anders fasst als Herbart. Lotze versteht unter Gegen-
satz offenbar Bejahung und Verneinung desselben Merkmals
in Bezug auf zwei Begriffe. Das muss man aus seinen
Worten schliessen: „ich wüsste nicht, dass die Vorstellung
des Positiven und der Bejahung die des Negativen und der
Verneinung vorzugsweise verdrängte; im Gegenteil würde
jede Möglichkeit einer Vergleichung des Entgegengesetzten
die Xichthemmung beider Vergleichungsglieder einschliessen"
Herbart fasst Gegensatz der Vorstellungen als Verschieden-
heit derselben innerhalb desselben Qualitätskreises J) ; als ent-
gegengesetzte Vorstellungen werden angeführt : rot blau, sauer
süss und als nicht entgegengesetzte 2) Ton und Farbe , also
Qualitäten, die nicht demselben Qualitätskreise angehören.
Trotzdem wir aber somit den Einwürfen Lotzes nicht
beipflichten können, so vermögen wir doch auch Herbart
nicht beizustimmen. Denn die Erfahrung lehrt unwiderleg-
lich, dass „entgegengesetzte Vorstellungen" z. B. mehrere
verschiedene Farben zu gleicher Zeit mit derselben Klarheit
oder gar noch deutlicher wahrgenommen werden können als
Eine allein wahrgenommene. Die Behauptung Herbarts kann
also nicht richtig sein. Andrerseits steht doch wieder fest,
dass wenn man mehrere "Wahrnehmungen oder Wahrneh-
mungen und Vorstellungen zugleich hat, diese nicht mit der-
selben Klarheit bewusst sind, als wenn das Bewusstsein sie
allein hat. Demnach wird der Fehler Herbarts darin liegen,
1) vgl. Lehrb. § 10.
2) § 22.
— 75 —
dass er den Begriff der „Vorstellung" nicht richtig gefasst
hat. Er fasst die Vorstellung d. i. nach ihm das ursprüng-
lichste wahrgenommene oder reproducierte Erkenntniss-Element
als nur qualitative Bestimmtheit, während es uns doch un-
möglich ist, eine qualitative Bestimmtheit ohne räumliche
Bestimmtheit zu haben. Was nun von diesen qualitativ und
räumlich, im Zusammen mit andern auch zeitlich, bestimmten
Wahrnehmungs- und Vorstellungseinheiten mit Recht be-
hauptet werden kann, dass sie sich nemlich gegenseitig hem-
men, hat Herbart auf seine „einfachen Vorstellungen" über-
tragen, die das Bewusstsein überhaupt nicht als Fürsich-
gegebenes kennt.
Die Berichtigung, welche hiermit die Theorie der Hem-
mungen erfahren hat, fordert auch eine andere Bestimmung
des Gegensatzes, der die Hemmung veranlasst. Ohne ins
Einzelne zu gehen, können wir allgemein behaupten, dass
Vorstellungen die sich in der Erfahrung gewöhnlich zusammen
bieten, einander weniger hemmen, also weniger entgegen-
gesetzt sind, als solche, welche ganz verschiedenen Gebieten
angehörend durch Zufall oder durch die "Willkür des Vor-
stellenden in Eine Moment- Vorstellung zusammengefasst
werden.
Was die Stärke der Vorstellungen anbetrifft, von der ja
nach Herbart nächst dem Grade des Gegensatzes hauptsäch-
lich abhängt, wie viel die einzelnen Vorstellungen unter der
gegenseitigen Hemmung leiden, indem sie im umgekehrten
Verhältniss ihrer Stärke gehemmt werden, so bemängelt Lotze
schon den Begriff der Veränderlichkeit der Stärke der Vor-
stellungen. „Gleiche Bedenken (wie der Begriff des Gegen-
satzes), sagt Lotze J), erweckt mir der Begriff veränderlicher
Stärke der Vorstellungen. Für Empfindungen eines eben
einwirkenden Sinnenreizes hat es mir gleichgültig geschienen,
1) Met. p. 520.
— 76 —
diese Unterscheidung zu machen: das Hören des stärkeren
Klanges oder das Sehen des helleren Lichtes ist allemal zu-
gleich eine grössere Thätigkeit, Erregung und Affektion und
es ist nicht möglich , den lauten Donner als lauten dennoch
schwach, oder das hellere Licht als helleres weniger stark
zu empfinden als ein trüberes". Verschieden allerdings sei
die Stärke der Vorstellung (reproducierter AVahrnehmu ng) von
der Stärke der ursprünglichen Sinneswahrnehmung, und die
Vorstellungen könnten in allen Gradabstufungen vorgestellt
werden, deren ihr Inhalt fähig sei. Aber nicht sei es mög-
lich, dass die auf den Inhalt gerichtete Vorstellungsthätigkeit
dieselben Grössenveränderungen erfahre. Denselben Ton von
bestimmter Höhe und Stärke könnten wir nicht noch mehr
oder weniger vorstellen. Der Versuch, es zu thun, schiebe
eine Veränderung des Inhalts unter. Der Begriff einer ver-
änderlichen Stärke auf Vorstellungen bezogen treffe nur ihren
Inhalt, nicht die seelische Thätigkeit, auf welche die begin-
nende mechanische Theorie ihn jedenfalls mit anzuwenden
gedachte.
' Die letzten Worte zeigen , dass Lotze hier gegen eine
Auffassung des Begriffs der veränderlichen Stärke der Vor-
stellungen polemisirt, die er selbst nicht Herbart zuzuschreiben
wagt. Natürlich kann die Veränderlichkeit der Stärke einer
Vorstellung nur auf ihren Inhalt nicht auf die seelische Thätig-
keit des Vorstellens bezogen werden : der Inhalt ist es , der
unter der Hemmung leidet. So habe ich Herbart verstanden
und ich kann in seinen Schriften keinen Anhalt für die Be-
hauptung finden , dass er seinen Begriff der veränderlichen
Stärke „jedenfalls" auf die seelische Thätigkeit des Vor-
stellens mit anzuwenden gedacht habe. Ein ganz klares
Zeugniss dafür, dass nach Herbarts Ansicht die Stärke oder
was ihm dasselbe bedeutet: Die Helligkeit des Vorstellungs-
inhalts unter der Hemmung zu leiden habe, lesen wir in der
— 77 —
Abhandlung De attentionis mensura etc. 7) ,.jacturam fieri
scimus non a robore notionum nunquam deminuto, sed ab
imaginis animo obversantis claritate". Und dass lässt sich
doch auch wohl nicht bestreiten , dass der Inhalt der Wahr-
nehmungen und Vorstellungen wirklich in veränderlicher
Klarheit und Deutlichkeit gehabt wird, und dass dies sehr
häufig davon abhängt, ob eine Wahrnehmung resp. Vor-
stellung allein oder mit einer resp. mehreren andern zugleich
im Bewusstsein ist. Dass aber der laute Donner als lauter
dennoch schwach, oder das hellere Licht als helleres weniger
stark empfunden würde als ein trüberes, das hat Herbart nie
behauptet; sondern seine Meinung ist, wie das dem unbe-
fangenen Leser des „ Lehrbuchs" und der „Psychologie" so-
gleich einleuchtet, dass wenn das Bewusstsein mehr als eine
Vorstellung (gleichviel ob ursprünglich oder reproduciert)
hat, dass dann dieselben weniger hell und klar wahrgenommen
bezw. vorgestellt werden, als wenn das Bewusstsein nur Eine
von ihnen hätte; und dies wird, wie oben bemerkt, durch
die Erfahrung bestätigt.
Hier mussten wir also Herbart gegen die Angriffe Lotzes
verteidigen. Wenn dann aber jener die Hemmung und Ver-
drängung einzelner Vorstellungen aus dem Bewusstsein und das
Sichbehaupten anderer in demselben, damit den höheren und
niedrigeren Grad unserer Aufmerksamkeit auf verschiedene
Vorstellungen in erster Linie abhängig sein lässt von ihrer
Stärke, so bemerkt Lotze mit Recht2), dass erfahrungsgemäss
nicht jederzeit die Vorstellung des stärkeren Inhalts die des
schwächeren überwinde, dass vielmehr das Gegenteil sehr oft
beobachtet werde. Es müsse also ausser der Stärke des
Vorstellungsiuhalts noch einen andern Faktor geben, von
dem dieser Erfolg abhänge. Nun kennt allerdings Herbart
1) kl. S. II. p. 369.
2) Met. p. 523.
— 78 —
als einen solchen andern Faktor die Unterstützung, welche
eine aufstrebende Vorstellung gegen eine hemmende durch
eine Association erhält. Aber denjenigen Faktor, den Lotze
meint, hat Herbart nicht gewürdigt: das Interesse, das sich
an den Vorstellungsinhalt knüpft, worunter Lotze, dem all-
gemeinen Sprachgebrauch folgend, dass mit jedem sinnlichen
Eindruck und seiner Reproduktion verknüpfte Lustgefühl
versteht. Besonders aber findet Lotze mit Hecht dies an der
Herbartischen Lehre von der Aufmerksamkeit zu tadeln, dass
sie behaupte , wo wir sagen , unsere Aufmerksamkeit habe
sich auf die Vorstellung b gerichtet, sei nichts geschehen,
als dass b durch eigene anwachsende Stärke sich im Be-
wusstsein über die übrigen Vorstellungen erhoben habe, dass
also die Aufmerksamkeit gewissermassen eine Eigenschaft
sei, zu der die Vorstellungen die Subjekte wären, während
die richtige Ansicht die Aufmerksamkeit als eine von der
Seele ausgeübte Thätigkeit ansehe, deren Objekte die Vor-
stellungen seien.
Der Gegensatz Lotzes gegen Herbart in der Lehre über
die Aufmerksamkeit, indem jener dieselbe als einen Zustand
und eine Thätigkeit der Seele, dieser als einen Zustand und
eine Thätigkeit der Vorstellungen, auf die wir aufmerksam
sind, ansieht, kehrt wieder bei der Erklärung der Gefühle
und der "Willenserscheinungen. Schon darin unterscheiden
sie sich von einander, dass Herbart die Gefühle der Lust
und Unlust, wie wir sahen, als Begleiterscheinungen eigen-
artiger Vorstellungsreproduktionen, also durchaus als sekun-
däres Bewusstseins-Gegebenes ansah, während Lotze dieselben
für ursprünglich mit jeder "Wahrnehmung und Vorstellung
verbunden hält,' insofern sie als eine Veränderung des bis-
herigen Zustandes der Seele dieselbe fördern oder hemmen.
„Ich kann mir nicht denken, dass irgend ein sinnlicher Ein-
druck ursprünglich völlig gleichgültig geschehen könnte ; jeder,
als eine Veränderung des eben xorhandenen Zustandes, scheint
— 79 —
mir ein Element der Lust oder Unlust erzeugen zu müssen,
je nachdem er eine Ausübung möglicher Funktionen inner-
halb der Grenzen veranlasst, in denen diese Ausübung den
Bedingungen der Wohlfahrt und Fortdauer des Ganzen ent-
spricht, oder Veränderungen erzeugt, die nach Form oder
Grösse diesen Bedingungen widersprechen". J)
Diese allgemeine Erwägung Lotzes wird durch die Er-
fahrung bestätigt. Denn ob wir auch oft meinen, es sei uns
diese oder jene Wahrnehmung durchaus gleichgültig: bei ge-
nauerer Aufmerksamkeit entdecken wir doch, dass ein Gefühl
der Lust oder Unlust, wenn auch noch so klein, oder beiderlei
Gefühle zugleich mit der , gleichgültigen" Wahrnehmung ver-
bunden sind.
Viel wichtiger und principieller aber als dieser ist der
andere Unterschied , der in den Lehren beider Philosophen
rücksichtlich der Gefühle zu constatieren ist. Nach Herbart
haben die Gefühle der Lust und Unlust ihren „Sitz" in den
Vorstellungen , welche durch andere Vorstellungen zugleich
emporgehoben und gehemmt, zwischen den helfenden und
hemmenden also „geklemmt" 2) werden. Nach Lotze aber
haben die Gefühle der Lust und Unlust ihre Ursache in der
eigentümlichen Reaktion der Seele, welche eben durch diese
Bestimmtheiten , die sie den Wahrnehmungen und Vorstel-
lungen beilegt, anzeigt, in welchen Zustand sie durch die
Vorstellungen bezw. Wahrnehmungen versetzt wird. „Dass
an Vorstellungen Gefühle sich knüpfen, geht nie aus der
Natur der Vorstellungen oder aus irgend einer Complication
derselben hervor; sie entstehen vielmehr, sofern die Tor-
stellungen zurückwirkend auf das Ganze der Seele in diesem
ein eigentümliches Vermögen des Gefühls antreffen, dem die
1) Met. p. 524.
2) Lehrb. § 36.
— 80 —
neuen Erscheinungen der Lust oder Unlust abzugewinnen
sind'', i)
So setzt Lotze die Seele wieder in ihre Rechte ein , die
ihr Herbart genommen hatte. Denn das ist der Grundfehler
von Herbarts empirischer Psychologie : sie beschreibt ein
Seelenleben ohne Seele. „Wenn überhaupt, sagt Lotze 2),
die Seele (nach der Herbartischen Psychologie) einmal thätig
gewesen ist, so ist sie es nach ihr doch nur einmal gewesen;
gegen die Reize, die von aussen kommen, hat sie durch Er-
zeugung der einfachen Empfindungen sich behauptet; aber
von da an ist sie passiv geworden und lässt ihre inneren
Zustände thatlos sich über den Kopf wachsen. Alles was
weiter in ihr geschieht , die Bildung ihrer Begriffe (versteht
sich: Allgemeinbegriffe vgl. ,,Lehrb." § 180 und 189) die
Entwickelung ihrer verschiedenen Vermögen, die Festsetzung
der Grundsätze, nach denen sie handelt: alles dies sind die
mechanischen Resultate der Gegenwirkungen, und niemals
zeigt sich die Seele ,' der Boden , auf dem dies geschieht,
vulkanisch und reizbar genug, um mit neuen Rückwirkungen
in das Spiel der Zustände einzugreifen und ihnen Wendungen
zu geben, die nicht analytisch aus ihnen allein schon nach
allgemeinen Gesetzen ihrer "Wechselwirkungen hervorgingen".
Demgegenüber betont Lotze mit Recht, dass die Seele
„nirgends der blose Umfassungsraum für das Getreibe der
inneren Zustände sei, sondern der lebendige Boden, welcher
durch jede augenblickliche Schöpfung, die auf ihm gewachsen
ist, zugleich neue Bedingungen zur Hervorbringung höherer
in sich erzeugt hat". 3) Und diese Thatsache, dass die Seele
simultan und successiv so vielfache Aeusserungen ihres
"Wesens hervortreibt, spricht durchaus nicht gegen ihre Ein-
1) Med. Psych, p. 150.
2) Met. p. 535.
3) Met. p. 538.
— 81 —
heit, denn diese beweist sich jeden Augenblick dadurch, dass
die Seele alle diese Aeussemngen als Ihr Bewusst-Sei-
endes hat.
Ganz ungenügend und falsch ist endlich die Herbartische
Theorie der Willenserscheinungen. Das Begehren entsteht
nemlich nach Herbart direkt nur auf Grund eines Unlust-
gefühls. Die einfache Begierde ist eine Vorstellung, welche
durch eine Wahrnehmung oder Vorstellung reproduciort und
über die Schwelle des Bewusstseins gehoben, durch eine an-
dere gehemmt und zurückgetrieben wird (wodurch sie „Sitz"
eines Unlustgefiihls wird s. oben S. 72) doch so, dass die
Hemmung schwächer ist als die reproducierende Kraft, und
die reproducierte Vorstellung die Hemmung überwindet
(wodurch das Gefühl der Unlust in Begierde übergeht) 3).
Man sieht, es handelt sich nur um eigenartige Reproduktion
von Vorstellungen, wonach also kein Gegenstand bei seiner
ersten Wahrnehmung Gegenstand des Begehrens werden
könnte. Wie nun aber, selbst diese Beschränkung zugegeben,
von dieser gegen eine Hemmung durchgesetzten Reproduktion
einer Vorstellung die Brücke zu der den Gegenstand der
Vorstellung verwirklichenden Handlung zu schlagen sei (in
welche doch erfahruugsgemäss jede Wollung ausläuft, wenn
nicht die Handlung durch hindernde Umstände unmöglich
gemacht wird), ist nicht abzusehen, und Herbart hat es gar
nicht versucht. Vielmehr setzt er einfach in den aus der
„gemeinen Erfahrung" für sein „a priori" gewonnenes Re-
sultat angezogenen Beispielen an Stelle der erschwerten Re-
produktion eine erschwerte Handlung, welche „in dem Mass
ihrer Schwierigkeit dahin wirke , dass wir uns anstrengen
und immer stärker anstrengen", wie bei der erschwerten
Reproduktion immer mehr von den mit der zu reproducieren-
1) s. oben S. 72 und Lehrb. § 33.
— 82 —
den verschmolzenen Vorstellungen , zur Hülfe kommen 1).
Wie wir aber dazu kommen , eine Handlung überhaupt zu
beginnen, erklärt Herbart nicht und kann er nicht erklären,
da ja mit der vollendeten Reproduktion auch das Wollen
vollendet sein muss und es ausser dieser Reproduktion kein
Ziel hat.
Lotze teilt die Willenserscheinungen ein in Triebe und
eigentliche Wollungen. Voraussetzung für das Auftreten
beider ist das Vorhandensein von Vorstellungen und mit
diesen verknüpften Gefühlen sowie die Erfahrung , dass und
wie weit Vorstellungen mit bestimmten Gefühlen der Lust
oder Unlust zu erlangen resp. zu beseitigen seien. „Drei
Momente, sagt er2), finden wir zu unterscheiden, die in ihrer
Gesamtheit den Trieb bilden. Den Anfang des Ganzen bilden
stets einzelne körperliche oder geistige Ereignisse, Thätig-
keiten z. B. der Nerven, die durch mancherlei Reize aufge-
regt worden , die aus irgend einem Grunde in Bewegung
geraten. Geschähen alle diese Ereignisse in einer lediglich
intelligenten Seele, so würden sie zwar auch in ihr eine Un-
ermesslichkeit von folgen hervorbringen, aber sie würden
ihr doch stets nur das ganz gleichgiltige Schauspiel eines
bunten Wechsels von Erscheinungen gewähren , ohne dass
die Seele sich selbst durch einen Zug dieses Geschehens
gehoben getriebeu oder gehemmt empfände. Aber da alle
diese Geschichten sich in einer Seele ereignen , Avelche die
Grösse, die Lebendigkeit, die harmonische oder widerstreitende
Kombination ihrer Thätigkeiten und Zustände zugleich als
Lust und Unlust fühlt, so begleitet jede einigermassen kraft-
volle von diesen Veränderungen ihres Innern auch ein deut-
liches Gefühl eines eigentümlichen qualitativen Leidens oder
Wohlseins. Und hiermit würde der Vorgang enden, wenn
1) Psych. II § 150 p. 350.
2) Med. Psych, p. 2y7.
— 83 —
umgekehrt die Seele nur fühlte und keine Vorstellungen be-
sässe, die ihr eine Erfahrung möglich machen. Im Bewusst-
sein ist das erste Ereigniss, von dem der Trieb ausgeht,
stets nur ein Gefühl einer eigentümlichen Lage, in welche
unser Wesen versetzt ist; in dieser Lage aber würden wir
verharren und, wenn sie schmerzhaft ist, zu Grunde gehen
müssen, ohne einen Ausweg aus ihr zu finden, wenn nicht
Erfahrungen uns gelehrt hätten, welches Heilmittel für sie
vorhanden ist, oder in welchen zufriedenstellenden Ausgang
sie übergeführt werden kann. Sobald diese Vorstellungen
eines erreichbaren Zieles in der Erinnerung auftauchen , er-
scheint die geschehende Bewegung als auf dieses Ziel gerichtet
und sich ihm annähernd, die gehemmte als von ihm zurück-
gehalten, und das Gefühl einer Lage hat sich nun in das
angenehme oder unangenehme Gefühl einer Bewegung ver-
wandelt, welche uns einem wohlthuenden oder schmerzlichen
Endpunkte zufährt". — Von solchen Trieben würden wir
ohne Zweifel im Leben am häufigsten zu unseren Handlungen
gedrängt, und nur selten äusserten wir einen wirklichen Willen,
indem wir der Bewegung unserer Zustände uns nicht nur
hingäben, sondern sie adoptierten oder einer geschehenden
eigenmächtig entgegenwirkten. Der Akt des Wollens sei
übrigens nicht zu schildern, noch zu erläutern, sondern könne
als eine Grunderscheinung des geistigen Lebens nur erlebt
werden ').
Indem ich Lotze vollkommen darin beistimme, dass das
Wollen eine Grunderscheinung des seelischen Lebens ist,
verschieden von Vorstellen und Fühlen , und zu seiner Vor-
aussetzung das Vorhandensein von Vorstellungen und be-
stimmten mit diesen verbundenen Gefühlen im Bewusstsein
zur Voraussetzung hat, sowie eine Erfahrung von der Mög-
lichkeit und den Mitteln, diese Vorstellungen zu ändern,
1) Med. Ps. p. 300.
— 84 —
kann ich dagegen eine Scheidung der Willenserscheinungen
in Triebe und eigentliche Wollungen , wie sie Lotze vor-
nimmt, nicht als richtig anerkennen.
Im Triebe soll, sobald die Vorstellung eines erreichbaren
Zieles d. h. der Verwirklichung einer lusterregenden oder
Beseitigung einer unlusterregenden Wahrnehmung oder Vor-
stellung in der Erinnerung aufgetaucht ist, die geschehende
Bewegung als auf dieses Ziel gerichtet und sich ihm an-
nähernd, die gehemmte als von ihm zurückgehalten erschei-
nen. Also die betreffende Bewegung geschah schon auf ein Ziel
hin resp. wurde schon von einem Ziele zurückgehalten, bevor
noch die Erinnerung lehrte, dass diese geschehende resp.
gehemmte Bewegung etwas zur Folge haben würde, was dem
vorstellenden und fühlenden Subjekt ein Lustgefühl verur-
sachen oder ein Unlustgefühl beseitigen musste. Jene Be-
wegung resp. jene Hemmung einer Bewegung war also völlig
unbewusst; denn eine Handlung, bei welcher sich der Han-
delnde keines Erfolges derselben bewusst ist und die er nicht
um ihres Erfolges willen thut, muss so bezeichnet und, falls
der Handelnde sich in einem zurechnungsfähigen Zustande
befindet, zu den Reflexbewegungen gerechnet werden. Dann
aber ist eine solche Handlung gar nicht mehr als von einer
Willenserscheinung veranlasst anzusehen , sondern höchstens
von dem Augenblick an, wo der Handelnde sich des Erfolges
dieser bisher reflectorischen Bewegung bewusst wird und nun
denselben „will". Von diesem Augenblicke an aber unter-
scheidet sich die betreffende Handlung in nichts von den
eigentlich gewollten und „Trieb", als ihre Veranlassung an-
gesehen, würde ein anderes Wort sein, keine andere Bedeu-
tung haben als „Wille". Ich halte es daher für notwendig,
jede Handlung und Bewegung auch von Tieren, ', sofern sie
nicht Reflexbewegung ist, als eine „gewollte" zu bezeichnen,
welche eine oder mehrere mit Gefühlen der Lust oder Unlust
verknüpfte Vorstellungen zur Voraussetzung habe.
- 85 -
Wir sind hiermit am Ende auch des psychologischen
Teiles unserer Untersuchung, deren Ergebniss wir kurz zu-
sammenfassen:
Herbart bezeichnete die Seele als ein Reales, Lotze als
Substanz; nach H. war die Seele unentstanden und unver-
gänglich, nach L. entstanden und wahrscheinlich unvergäng-
lich ; H. bestimmte die Seele als ein Reales , dessen Selbst-
erhaltungen Vorstellungen seien, dessen Qualität im Uebrigen
aber unbekannt sei, nach L. hat die Seele Vorstellungen,
Gefühle und Strebungen und das eben sind ihre Bestimmt-
heiten ; nach beiden Philosophen ist die Seele ein einfaches
Wesen. In der empirischen Psychologie leitet sodann Herbart
die qualitativ-ränmlich-zeitlich bestimmten Wahrnehmungen
und Vorstellungen sowie nachher die Gefühle und Willens-
erscheinungen aus den Wechselwirkungen der einfachen Vor-
stellungen (Sinnesqualitäten) ab, Lotze hält ebenfalls für ur-
sprünglich gegeben nur die einfachen Sinnesqualitäten, aber
die räumliche Bestimmtheit resultiert ihm nicht aus logischen
Verhältnissen der einfachen Qualitäten, sondern wird von der
Seele zu den qualitativen Bestimmtheiten hinzugefügt, da-
gegen ist die zeitliche Vorstellung ihm wie Herbart eine Folge
logischer Verhältnisse der Wahrnehmungen und Vorstellungen.
Die Gefühle sind nach L. ursprünglich mit jeder Wahrneh-
mung und Vorstellung verbunden und sind Zustände der
Seele, nicht wie bei H. der Vorstellungen; die Willens-
erscheinungen sind secundäre Grunderscheinungen des Seelen-
lebens, nicht Folgeerscheinungen eigenartiger Vorstellungs-
reproduktionen, wie Herbart lehrte, und haben Vorstellungen
und mit diesen verknüpfe Gefühle der Lust und Unlust sowie
eine gewisse Erfahrung zur Voraussetzung.
Wir konnten in der Psychologie Lotze öfter beistimmen
als in der Metaphysik. Seiner Bestimmung des Begriffs
Seele brauchten wir nur, zur Unterscheidung der Seele von
dem übrigen Seienden, die negative Bestimmtheit der Un-
— 86 —
räumlichkeit hinzuzufügen. Mehrfach mussten wir ihm bei
der Erörterung der Entstehung und Vergänglichkeit der
Seele entgegentreten; ebenso in seiner Polemik gegen die
Herbartische Theorie der Hemmungen und der veränderlichen
Stärke der Vorstellungen sowie in seiner Deduktion der
Raumanschauung ; beistimmen aber konnten wir ihm in seiner
Kritik der Herbartischen Lehre von der Aufmerksamkeit, den
Gefühlen und den Willenserscheinungen, wenn wir ihm auch
nicht in allen Einzelheiten zu folgen vermochten.
87 —
Lebenslauf.
August Friedrich Christian Haeger, evangelischer
Confession, bin geboren am 14. December 1859 in Wildenhagen
Kr. Cammin in Pommern. Ich besuchte bis in mein vierzehntes
Jahr die Dorfschule, darauf ein Jahr lang die Privatschule eines
älteren Kandidaten der Theologie und von Ostern 1874 bis Ostern
1880 das Gymnasium zu Greifenberg i./Pom. Mit dem Zeuguiss
der Keife entlassen bezog ich die Universität Beilin, wo ich bis
Ostern 1884 klassische Philologie, deutsche Litteratur und Geschichte
studierte und Vorlesungen folgender Herren Professoren hörte :
Breslau, Diels, Geiger, Hübner, Kiepert, Kirch-
hoff, Ködiger, Scherer, Tobler, v. Treitschke,
Vahlen, Zell er.
Im Juni 1886 bestand ich das Examen pro facultate docendi,
absolvierte von Michaelis 1886 bis Michaelis 1887 mein Probejahr
am Königl. Domgymnasium zu Colberg, wo ich auch den folgenden
Winter noch als freiwilliger wissenschaftlicher Hülfslehrer verblieb.
Ostern 1888 ging ich auf die Universität Greifswald, um meine
philologischen und philosophischen Studien fortzusetzen. Hier hörte
ich während vier Semester Vorlesungen folgender Herren Professoren
und Dozenten:
Kiessling, Maass, Marx, Preuner, Kehmke,
Schultze, Schuppe, Susemihl;
war Mitglied des klassisch-philologischen Seminars unter Leitung der
Herren Professoren Kiessling, Maass, Marx und nahm Teil an
den archaeologischen Uebungen des Herrn Prof. Preuner und an
den philosophischen der Herren Professoren Kehmke und Schuppe.
Im December 1890 bestand ich eine Erweiterungsprüfung und
bin seit dem 15. Januar d. Js. vertretungsweise als wissenschaft-
licher Hülfslehrer am Königl. Gymnasium zu Greifenberg i./Pom.
beschäftigt. i
Zum Schlüsse spreche ich allen Herren Dozenten, die mich in
Vorlesungen und Uebungen belehrt haben, meinen tiefgefühlten Dank
aus, vor allen aber meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr.
Rehmke, der mir in wahrhaft väterlicher Weise zur Seite gestan-
den und meine Studien in die rechten Bahnen gelenkt hat.
— 88
Thesen,
i.
Ein Beweis aus der Geschichte, dass Bildung nicht bei-
trage zur Hebung der Sittlichkeit, dass vielmehr das Gegenteil
der Fall sei, ist nicht zu erbringen.
IL
Jede wissenschaftliche Ethik niuss die Gefühle der Lust
und der Unlust als die Triobfedern alles menschlichen Han-
delns zu Grunde legen.
III.
Eine Vereinigung des idealistischen Monismus mit wissen-
schaftlicher Betrachtung des Seienden (vgl. Falckenberg, Gesch.
d. Neuer. Philos. p. 471) ist nicht möglich.
IV.
Aeneidis libri singuli a Vergilio ut epyllia quodammodo
propria et ex se apta composita sunt.
V.
Virgilii Aeneidis libro I delenda sunt verba:
vs. 477 Inno cervixque comaeque trahuntur
478 per terram et versa pulvis inscribitur hasta.
VI.
Lucret. de rer. nat. II 875 contra Lachmannum resti-
tuendum est: vertunt se fluvii in frondes.
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B Haeger, August
304.9 Lotzes Kritik der
M4H3 Herbartischen Metaphysik und
Psychologie
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