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Full text of "Lotzes Kritik der Herbartischen Metaphysik und Psychologie"

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Haeger,  August 

Lotzes  Kritik  der 
Herbart i sehen  Metaphysik 
und  Psychologie 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/lotzeskritikderhOOhaeg 


Lotzes  Kritik 

der 

Herbartischen  Metaphysik   und  Psychologie. 


Inaugural  -  Dissertation 

der 

hohen  philosophischen  Fakultät  der  Universität 
Greifswald 

zur 

Erlangung  der  Doktorwürde 

vorgelegt 
und  liebst  den  beigefügten  Thesen 

Dienstag   den    15.   September    1891 
Vormittags  9.^  Uhr 

öffentlich  verteidigt 
von 

August  Haeger 

aus  Wildenhagen  in  Pommern. 


Opponenten: 

Herr  Drd.  Dibbelt, 
Herr  cand.  phil.  Panzer. 
Herr  stud.  phil.  Gippe. 


Gkeifswald. 
Druck  von  F.  W.  Kunike. 


Dein  Andenken 


meiner    Eltern 


geweiht. 


b 


MY//3 


.Lange  Zeit  wurde  Lotze  von  vielen  Philosophen  als 
Herbartianer  bezeichnet,  und  trotz  Lotzes  dagegen  erhobenen 
Protestes  werden  wir  dieser  Bezeichnung  nicht  jede  Berech- 
tigung absprechen  können.  Denn  wie  ja  Lotze  selbst  gerade 
dort *),  wo  er  seine  Zugehörigkeit  zur  herbartischen  Schule  be- 
streitet, nicht  jede  Verwandtschaft  seiner  Ansichten  mit  denen 
jener  Schule  leugnet ,  so  zeigen  wirklich  bei  näherer  Ver- 
gleichung  die  Systeme  beider  Männer  in  vielen  wichtigen 
Punkten  eine  mehr  als  zufällige  Aehnlichkeit,  ja  Gleichheit, 
so  dass  der  Gedanke  einer  Abhängigkeit  des  Jüngeren  von 
dem  Aelteren  nicht  völlig  abzuweisen  sein  dürfte. 

Allerdings  wurde  Lotze  durch  seine  Beschäftigung  mit 
der  Herbartischen  Philosophie  nicht  zur  bedingungslosen 
Beistimmung,  sondern  vielfach  zum  Widerspruch  gegen  die- 
selbe geradoj  in  der  Behandlung  der  Hauptprobleme  ge- 
führt ,  und  wenn  er  überhaupt  noch  als  Herbartianer  zu 
bezeichnen  sein  sollte,  so  gehört  er  jedenfalls  nicht  zu  den 
eigentlichen  „Janern",  sondern  es  ist  seiner  Behauptung  bei- 
zupflichten, der  Sinn  seiner  Ansichten  werde  nie  verstanden 
werden,  so  lange  man  ihnen  als  Motiv  eine  Zustimmung  zu 
den  herbartischen  Principien  unterschiebe,  die  vollkommen 
das  Entgegengesetzte  dessen  seien,  was  er  verteidigen  möchte. 

Im  Vordergründe  des  Interesses  stand  bei  beiden  Phi- 
losophen die  Lehre  vom  Seienden  überhaupt,  die  Metaphysik, 
und  die  Lehre  von    demjenigen    besonderen    Seienden,    das 


1)  Streitschr.  p.  5. 


—     2     — 

wir  Seele  nennen.  Diesen  beiden  Wissenschaften  haben  sie 
den  bei  weitem  grösseren  Teil  ihrer  Arbeit  gewidmet,  und  in 
ihnen  erkennen  wir  daher  auch  am  deutlichsten  das  wissen- 
schaftliche Verhältniss  beider  Männer  zu  einander:  bei  grosser 
Verwandtschaft,  ja  Abhängigkeit  Lotzes  von  Herbart  doch 
einen  entschiedenen  Gegensatz  in  der  Lösung  einzelner  Pro- 
bleme, eine  polemisirendc  Kritik  und  in  vielen  Punkten  eine 
unzweifelhafte  Berichtigung  Herbartischer  Aufstellungen  durch 
Lotze  ]). 

Herbart  geht  aus  von  unserem  Bewusstseinsinhalt  als  dem 
uns  auf  Grund  des  Wahrnehmens  Gegebenen.  Er  läugnet)1 
aber  die  Realität  dieses  Gegebenen,  da  die  Dinge  oder  „Sachen'', 
Complexionen  von  Einfachen  der  Empfindung  seien ,  und 
dieses  Einfache  der  Empfindung  niemand  für  real  halte ,  wie 
es  schon  die  Sprache  durch  Adjektive  ausdrücke.  Da  also 
von  dem  Gegebenen  das  „Seinu  geleugnet  werden  müsse, 
könne  es  nur  als  Schein  bezeichnet  werden.  Wo  aber  Schein 
sei  —  und  dieser  Schein  als  Schein  sei  wirklich  —  da 
sei  notwendig  etwas  vorauszusetzen,  welches  erscheine  und 
aus  dem  das  Scheinen  abzuleiten  sei,  folglich:  „Soviel  Schein, 
soviel  Hindeutung  auf  das  Sein." 


1)  Von  den  Schriften  der  beiden  Philosophen  sind  in  dieser  Unter- 
suchung besonders  folgende  berücksichtigt: 
von  Herbart 

1.  Hauptpunkte  der  Metaphysik  1808.     Werke  Hartenstein  III. 

2.  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie  1813.  „Einl." 

3.  De  attentionis  mensura  etc.     1822  kl.  S.  II. 

4.  Lehrbuch  der  Psychologie  1816.     Werke  V  „Lehrb." 

5.  Psychologie   als  Wissenschaft   u.  s.  w.    1824.    Werke  V.  VI.; 
„Psych." 

6.  Allgemeine  Metaphysik  1828;29.      Werke  HJ.  IV. 
von  Lotze 

1.  Medicinische  Psychologie  1852. 

2.  Mikrokosmus  I.     1856. 

3.  Streitschriften  1.  Heft.     1857. 

4.  Metaphysik  1879. 

5.  Seele  und  Seelenleben  1846  kl.  S.  II  1  ff. 

1)  Hauptpunkte  p.  13.   Einl.  §  118.  132.    Metaph.  §  169  ff.  §  197  ff. 


-     3     — 

Wenn  nach  dem.  Vorstehenden  „scheinen"  heisst:  unserni 
Bewusstsein  auf  Grund  der  Wahrnehmung  gegeben  sein  — 
was  heisst  dann  „sein"?  Herbart  lehrt1):  Erklären,  dass  A 
sei,  heisst  erklären,  es  solle  bei  dem  einfachen  Setzen  von 
A  sein  Bewenden  haben.  —  Aber  haben  wir  mit  dieser 
Erläuterung  eine  leicht  verständliche  Erklärung  des  Begriffs 
„Seiiv  erhalten?  Wohl  kaum!  Was  bedeutet  denn  zunächst 
das  Wort  „setzen"?  Lotze  nimmt  an  dem  Ausdruck  Anstoss-) 
und  bemerkt,  dass  Position  oder  Setzung  als  erläuternder 
Ausdruck  für  das  reine  Sein  in  einer  Weite  der  Bedeutung 
gebraucht  werde,  durch  die  er  zu  einem  unvollkommenen 
Gedanken  würde.  Während  die  Worte  durch  Erinnerung  an 
ihre  eigentliche  Bedeutung  versinnlichend  wirken  sollten, 
würde  doch  ausdrücklich  wieder  verneint,  worauf  ihre  eigent- 
liche Bedeutung  beruhe.  Dadurch  würden  sie  unklar  und 
zweideutig.  Setzung  und  Position  verlangten  nicht  nur  die 
Angabe  dessen,  was  gesetzt  würde,  sondern  auch  die  Angabe 
des  Orts,  wohin  es  gesetzt  würde,  und  dadurch  würde  man, 
um  der  Setzung,  dem  reinen  Sein,  den  Sinn  zu  geben,  durch 
den  sie  sich  von  der  Nichtsetzung,  dem  reinen  Nichtsein, 
unterschiede,  zur  Annahme  von  Verhältnissen  zurückgewiesen, 
die  ja  Herbart  dem  Seienden  abspricht. 

Gegen  diesen  Tadel  in  der  Form,  wie  er  von  Lotze  er- 
hoben und  begründet  wird,  ist  Herbart  ohne  Zweifel  zu  ver- 
teidigen. Nie  hat  derselbe  die  Ausdrücke  Position  und  Setzung 
um  der  versinnlichenden  Kraft  willen  gewählt,  die  in  ihnen 
liege ;  jedenfalls  hat  ihm  der  Gedanke  an  einen  Ort,  an  den 
der  betreffende  Gegenstand  zu  setzen  sei,  sehr  fern  gelegen, 
und  es  wird  daran  auch  niemand  so  leicht  denken  ,  der  mit 
dem  Herbartischen  Systeme  vertraut  ist  und  aus  Herbarts 
Worten  das  herauszulesen  sich  bemüht,  was  derselbe  hinein- 
gelegt  hat.      Freilich    leistet   die    von    Herbart    dem    Worte 


1)  Hauptpunkte  §   1. 

2)  Metaph.  p.  37. 


—     4     — 

„setzen"  beigelegte  Bedeutung  nichts  zur  Erläuterung  des 
Begriffs  „sein",  vielmehr  erhält  es  selbst  erst  durch  denselben 
seine  Erklärung.  „Setzen"  ist  bei  Herbart  offenbar  dasselbe 
wie:  für  seiend  halten.  Einen  andern  Sinn  kann  doch  die 
Setzung  der  Schatten,  Träume,  Täuschungen  aller  Art  nicht 
haben ,  welche  später  zurückgenommen  wird ,  nachdem  eben 
jene  Schatten,  Träume,  Täuschungen  als  nicht-seiend  erkannt 
sind  i).  Ueberhaupt  zeigt  sich  hier  gleich  am  Eingange  der 
Grundfehler  des  ganzen  Systems.  Das  Seiende,  welches 
doch  nach  Herbart  etwas  ganz  anderes  ist  als  das  Scheinende 
d.  i.  unser  auf  Grund  des  Wahrnehmens  vorhandener  Be- 
wusstseinsinhalt,  dieses  Seiende  will  er  erkennen  und  be- 
stimmen, und  gleich  der  erste  Schritt  führt  ihn  auf  die  Schein- 
welt zurück.  Denn  nicht  nur  dreht  er  sich  bei  der  Erklärung 
des  Begriffes  „sein",  wie  gezeigt,  im  Cirkel,  sondern  er  rät 
auch,  die  Setzung  des  „Seienden"  nach  dem  Vorbilde  der  mit 
jeder  Wahrnehmung  geschehenden  Setzung  zu  vollziehen  *). 
„Fragt  man  uns:  wie  sollen  wir  es  machen,  etwas  als  seiend 
zu  setzen,  so  antworten  wir:  setzt  es  so,  wie  ihr  gewohnt 
seid,  die  Dinge  in  der  Sinnenwelt  dann  zu  setzen,  wenn  ihr 
sie  seht  oder  betastet,  oder  deren  Ton  Geschmack  sinnlich 
wahrnehmt." 

Also  auch  die  sinnlichen  Wahrnehmungen,  sogar  Schatten 
und  Träume  werden  ursprünglich  gesetzt,  und  Herbart  meint 
also  nicht,  mit  dem  Ausdruck  „Setzung"  das  von  Lotze  so- 
genannte „reine"  Sein  oder  das  der  Scheinwelt  entgegen- 
gesetzte An-sich-Seiende  bezeichnet  zu  haben.  Dieses  wird 
erst  ausgedrückt  durch  die  „absolute",  „nicht  zurücknehm- 
bare" Position.  Denn  auf  dem  Attribut  „einfach"  liegt  in 
janer  oben  angeführten  Definition  der  Nachdruck.  Vieles  wird 
gesetzt,  dessen  Setzung  wieder  zurückgenommen  wird,   das 


1)  Herb.  Met.  §  202. 

2)  Met.  §  201. 


—     5     — 

demnach  als  nicht-seiend  erkannt  wird.  Durch  den  Ausdruck 
„A  ist"  soll  die  Frage,  ob  die  Setzung  des  A  wieder  zurück- 
zunehmen sei,  verneinend  beantwortet  werden.  Der  Begriff 
des  Sein  auf  einen  Gegenstand  bezogen,  bezeichnet  also  nach 
Herbart1)  nichts  als  das  Bekenntniss,  dass  wir  eine  in  An- 
sehung desselben  unnötige  Frage  aufgeworfen  haben :  neni- 
lich  die  Frage,  ob  es  bei  dem  Setzen  des  Gegenstandes  sein 
Bewenden  haben  solle,  oder  ob  die  Setzung  desselben  gleich 
der  Setzung  der  Traumerscheinungen  u.  s.  w.  zurückzu- 
nehmen sei. 

Die  weitere  Polemik  Lotzes  am  angegebenen  Orte  gegen 
die  der  „einfachen"  Setzung  etwa  untergeschobene  Bedeutung 
der  „schlechthinnigen  Setzung,  die  von  jeder  Beziehung  ab- 
sehe, als  gegen  eine  sich  selbst  widersprechende  Abstraktion, 
hat  ihren  Grund  darin ,  dass  Herbart  das  „Seiende"  als  be- 
ziehungslos bestimmt,  Lotze  dagegen  als  die  einzige  Be- 
stimmtheit desselben  das  mit  anderen  Seienden  in  Beziehung 
d.  i.  in  Wechselwirkung-Stehen  anerkennt 2).  Da  es  sich  hier 
nur  um  den  Sinn  handelt,  den  wir  mit  dem  als  Prädikat  auf 
einen  Gegenstand  bezogenen  Begriff  des  „Seins"  verbinden, 
nicht  um  die  Bestimmtheiten,  die  diesem  Gegenstande,  dem 
Seienden  also,  zukommen  müssen,  so  kann  die  angegebene 
Differenz  der  beiden  Lehren  nicht  hier  besprochen  werden, 
sondern  gehört  in  die  Erörterung  über  die  Bestimmtheiten 
des  Seienden. 

Auch  was  Lotze  gegen  die  Auffassung  der  Setzung  als 
Bejahung  sagt ,  und  gegen  das  Missverständniss ,  als  werde 
durch  die  Bejahung,  wenn  sie  auf  kein  bestimmtes  Prädikat 
gerichtet,  sondern  schlechthin  ausgeübt  werde,  dies  allgemeine 
und  reine  Sein  (Seiende?)  erzeugt,  das  allem  bestimmten 
Sein  (Seienden?)  zu   Grunde  liege,    während   doch  die   Be- 


1)  Met.  §  202. 

2)  L.  Met.  p.  160. 


jahung  das  Prädikat  nicht  hervorbringe ,  auf  das  sie  falle, 
sondern  ebenso  gut  das  Nichtsein  als  das  Sein  der  Dinge 
behaupten  könne  —  trifft  Herbart  nicht;  der  bei  der  einfachen 
Position  durchaus  nicht  an  Bejahung  dachte,  wie  oben  aus- 
einander gesetzt  ist.  Auch  der  Vorwurf,  dass  Position  als 
Benennung  einer  Handlung  zu  dem  Irrtum  veranlasse,  als 
würde  durch  dieselbe  das  Sein  (Seiende?)  erzeugt,  richtet 
sich  nur  gegen  eine  falsche  Auslegung  der  Herbartischen 
Worte,  nicht  gegen  diesen  selbst. 

Wenn  sich  so  gezeigt  hat,  dassdie  Einwürfe  Lotzes  gegen 
die  Herbartische  Definition  des  Begriffs  „sein"  nichts  ge- 
leistet haben;  dass  Lotze  nur  falsche  Auslegungen  derselben 
zurückgewiesen,  nicht  Herbarts  eigene  Meinung  widerlegt  hat, 
so  erhebt  sich  für  uns  die  Frage:  Wo  liegt  denn  der  Fehler 
in  Herbarts  Gedankengang,  da  ja  doch  seine  Definition  des 
Seins ,  auch  wie  er  sie  verstanden  wissen  will ,  missglückt 
ist.  Denn  mit  der  Setzung  befinden  wir  uns,  wie  oben  ge- 
zeigt, noch  durchaus  in  der  Welt  des  „Scheins",  und  auch 
die  „einfache'',  „absolutg"  Position  hebt  uns  aus  derselben 
nicht  heraus,  wenn  er  sie  gegenüberstellt  der  wieder  zurück- 
zunehmenden Setzung  der  Träume,  Täuschungen  u.  s.  w., 
und  wenn  nach  ihm  „die  absolute  Position  auch  in  jeder 
Empfindung  ist,  ohne  dass  man  es  merkt"  *). 

Und  doch  meint  Herbart  unzweifelhaft  durch  jene  De- 
finition uns  aus  der  Sphäre  des  „Scheinenden"  in  die  des 
„an  sich  Seienden"  erhoben  zu  haben,  wie  aus  seiner  dua- 
listischen „Schein"-  und  „Seins" -Welt  gegenüber  stellenden 
Weltauffassung  sich  notwendig  ergiebt,  und  nicht  nur  die 
ursprüngliche  Setzung  der  Träume  u.  s.  w.,  sondern  auch 
die  aller  Dinge,  die  uns  durch  Wahrnehmung  gegeben  wer- 
den, muss  nach  seiner  Ansicht  wieder  zurückgenommen,  die 


1)  Met.  §  204. 


--     7      - 

wahrgenommenen  Dinge  also  müssen  als  „scheinende"  be- 
zeichnet werden. 

Kehren  wir  daher,  da  Herbart  sich  so  schnell  in  eine 
Sackgasse  verrannt  hat ,  aus  der  ihn  nur  eine  Inconsequenz 
und  Verletzung  seiner  Grundanschauung  herausführte,  und 
da  er  schon  beim  ersten  Versuch,  in  das  Gebiet  des  „Seins" 
zu  gelangen,  in  das  des  „Scheins"  zurückgefallen  ist,  noch 
einmal  zu  seinem  Ausgangspunkte  zurück,  um  die  Fehler  in 
seinem  Gedankengange  zu  entdecken. 

In  den  „Hauptpunkten  der  Metaphysik"  begründet  Herbart 
seinen  Dualismus  einzig  durch  die  Nichtrealität  der  Sinnes- 
wahrnehmung, die  allgemein  anerkannt  sei  und  die  er  selbst 
daher  gar  nicht  erst  beweist.  Ausführlicher  ist  er  in  der 
„Einleitung"  ')  und  in  der  „Metaphysik"  2).  In  der  Einleitung, 
auf  welche  sich  die  Metaphysik  mehrfach  als  Voraussetzung 
beruft  (z.  B.  §  168)  sagt  er:  Das  Was  der  Dinge  wird  uns 
durch  die  Sinne  nicht  bekannt".  Denn  erstlich:  die  sämt- 
lichen ,  in  der  Wahrnehmung  gegebenen  Eigenschaften  sind 
relativ  (folgt  Begründung  dieser  Behauptung) ;  zweitens :  die 
Mehrheit  der  Eigenschaften  verträgt  sich  nicht  mit  der  Ein- 
heit des  Gegenstandes.  Wer  auf  die  Frage:  was  ist  dies 
Ding?  antworten  will,  der  antwortet  durch  die  Summe  seiner 
Kennzeichen,  nach  der  Formel:  dies  Ding  ist  a  und  b  und 
e  und  d  und  e.  Die  Rede  sei  aber  von  Einem  gewesen, 
nicht  von  Vielem;  darum  sei  die  Antwort  ungereimt  und 
das  „Was"  des  Dinges  durch  dieselbe  nicht  bestimmt  u.  s.  w. 

Die  Relativität  der  wahrgenommenen  Sinnesqualitäten 
also  im  Verein  mit  dem  Widerspruch ,  den  das  Eine  Ding 
mit  seinen  mehreren  Merkmalen  in  sich  birgt,  und  mit  den 
vielen  sonstigen  Widersprüchen  im  Gegebenen3),    besonders 


1)  Einl.  §  118  ff. 

2)  Met.  §  165  ff.     §  167.  169.  182. 

3)  Einl.  §  119. 


—     8     - 

in  den  Begriffen  der  Veränderung,  des  Grundes  und  der 
Folge,  des  Stetigen,  des  Ich,  veranlassen  Herbart  dazu,  unsere 
ganze  Vorstellungswelt  als  ,, Schein"  zu  bezeichnen  und  sie 
in  Gegensatz  zu  einer  „Seins"-Welt  zu  stellen. 

Hier  klafft  offenbar  eine  grosse  Lücke.  Denn  Relativität 
der  Sinneswahrnehmung  ist  doch  etwas  ganz  anderes  als  Nicht- 
sein derselben  (das  bedeutet  „Schein"  in  der  dualistischen 
Gegenüberstellung).  Sind  die  Sinnesqualitäten  in  der  Wahr- 
nehmung abhängig  von  allerhand  äusseren  Umständen  und 
von  der  Beschaffenheit  der  Sinnesorgane  des  Wahrnehmenden 
—  :  gut,  so  gehört  diese  Relativität  mit  zu  ihren  Bestimmt- 
heiten; sie  als  Schein  zu  bezeichnen,  hätten  wir  nur  dann 
ein  Recht,  wenn  uns  andere  Eigenschaften  des  jedesmal  in 
Frage  kommenden  Dinges  bekannt  wären,  die  keiner  solchen 
Abhängigkeit  von  begleitenden  Umständen  und  keinem  Wechsel 
unterworfen  wären.  Und  was  die  Widersprüche  anbetrifft, 
die  Herbart  in  gewissen  Begriffen  findet,  so  findet  er  die- 
selben nur  deshalb ,  weil  er  das  Gegebene  nicht  nimmt,  wie 
es  sich  bietet,  und  nicht  durch  Analyse  desselben  seine  Be- 
stimmtheiten zu  erkennen  sucht,  sondern  mit  vorgefassten 
Begriffen  an  die  gegebenen  Begriffe  herantritt,  wo  denn  die 
letzteren  mit  den  ersteren  nicht  übereinstimmen,  da  diese 
nicht  rechtmässig  auf  Grund  des  Gegebenen  gebildet  sind. 
Die  angeblichen  Widersprüche  können  nicht  alle  hier  einzeln 
besprochen  werden,  aber  mit  welchem  Rechte  fordert  z.  B. 
Herbart  von  dem  Einen  Dinge  Einfachheit  d.  i.  Bestimmt- 
heit durch  Ein  Kennzeichen?  Das  Eine  Ding,  wie  es  uns  ge- 
geben ist  und  wie  es  allgemein  aufgefasst  wird,  giebt  uns 
zu  einer  solchen  Forderung  keine  Berechtigung. 

Die  Leichtigkeit ,  mit  der  Herbart  auf  Grund  jener  an- 
geblichen Widersprüche  den  Sprung  aus  der  gegebenen  Welt 
als  einer  ,.Schein"-Welt  in  eine  „Seins"-Welt  wagt,  zeigt, 
dass  er  schon  vorher  das  uns  Gegebene  als  ,,nicht-seiend" 
als  Schein  auffasste ,  worauf  denn  der  Ergänzungsbegriff  des 


—     9     — 

„Seienden"  sich  von  selbst  einstellte.  Auch  bei  Herbart  ist 
wie  bei  allen  Dualisten  dieser  Art  die  Beobachtung  zu  machen, 
dass  sie,  anstatt  in  ihren  Urteilen  über  die  Welt  die  Quelle 
der  Widersprüche  zu  entdecken  und  dieselben  nach  der  Welt 
umzubilden,  sie  leichter  die  Identität  von  Welt  und  Seiendem 
verneinen  5). 

Der  Ursprung  dieser  falschen  Gegenüberstellung  der 
unserem  Bewusstsein  gegebenen  Welt  als  blosen  Scheins  zu 
einer  wahrhaft  „seienden"  Welt ,  liegt  offenbar  in  der  That- 
sache,  dass  von  dem  gesamten  Bewusst-Seienden  und  Ge- 
gebenen Träume  Sinnestäuschungen  aller  Art,  Phantasiegebilde 
u.  s.  w.  in  Gegensatz  traten  zu  dem  durch  allgemeine  Cau- 
salverknüpfung  Charakterisierten ,  worauf  man  dann  ganz 
richtig  jenes  als  scheinend,  dieses  als  seiend  bezeichnete. 
Dieser  richtigen  Unterscheidung  aber  von  Seiendem  und 
Scheinendem  innerhalb  des  gesamten  Bewusst-Seienden  schob 
man  bald  auf  Grund  der  Veränderung  und  der  Relativität 
der  Sinnesqualitäten  die  andere  unter,  als  deren  erstes  Glied 
die  uns  auf  Grund  des  Wahrnehmens  gegebene  AVeit  unter 
dem  Namen  einer  „Schein"-  oder  „Erscheinungs"-Welt  fun- 
gierte, während  als  zweites  Glied  eine  Ideenwelt  oder  „an 
sich  seiende"  Welt  gesetzt  wurde ,  die  von  uns  nie  durch 
Wahrnehmung  zu  erfassen,  sondern  entweder  nur  durch  Be- 
griffe oder,  nach  andern  Philosophen,  überhaupt  nicht  zu  er- 
kennen sei.  Da  wir  nun  aber  die  Begriffe  ebenfalls  nur  auf 
Grund  des  Wahrnehmens  haben,  nemlich  Wahrgenommenes 
oder  Vorgestelltes  als  begriffenes  d.  i.  unterschieden  von  und 
verglichen  mit  anderem  Wahrgenommenen  oder  Vorgestell- 
ten2), so  ist  diese  angebliche  Seinswelt  überhaupt  nicht  zu 
erkennen,    folglich,    da   sie   nie    Bewusstseinsinhalt   werden 


1)  vgl.  Rehmke.    Die  Welt  als  Wahrnehmung  und  Begriff  p.  134. 

2)  Rehmke  p.  107  f. 


—     10     — 

kann,  der  Begriff  dieser  Seinswelt  als  ein  falsch  gebildeter, 
als  ein  Hirngespinnst  zu  bezeichnen '). 

Daher  kann ,  wenn  ein  Gegensatz  zwischen  Sein  und 
Scheinen  überhaupt  festzustellen  ist,  dies  nicht  im  Sinne 
Herbarts  und  der  Dualisten  geschehen,  sondern  nur  in  der 
Weise,  worauf  Herbart  durch  seine  Bemerkung  von  der  unzurück- 
nehmbaren  Setzung  des  Seienden  im  Gegensatz  zu  dem  zu- 
rückzunehmenden Setzen  der  Träume  u.  s.  w.  hätte  geführt 
werden  müssen ,  dass  auf  der  einen  Seite  als  Schein  die 
Träume,  Sinnestäuschungen,  Bewusstseinsgebilde  krankhaften 
oder  willkürlich-subjectiven  Ursprungs  zu  stehen  kommen,  auf 
der  andern  Seite! als  Seiendes  dasjenige,  was  sich  in  durch- 
gängiger Causalverknüpfung  mit  der  übrigen  „Weltu  und  in 
widerspruchslosem  Zusammenhang  mit  dem  übrigen  auf  Grund 
des  Wahrnehmens  Bewusst-Seiendeni  zeigt,  so  dass  als  Kenn- 
zeichen des  Seienden  im  Unterschiede  vom  Scheinenden  diese 
seine  Causalverknüpfung  zu  bezeichnen  ist. 

Es  könnte  scheinen,  als  unterscheide  auch  Lotze  das 
Seiende  und  das  Nicht-Seiende  oder  Scheinende  nach  demselben 
Kriterium ,  welches  wir  soeben  angegeben  haben ,  wenn  er 
behauptet:  *)  in  Beziehungen  zu  stehen  sei  die  Bedeutung  des 
Seins  der  Dinge  und  diese  Beziehungen  seien  nichts  anderes 
als  die  unmittelbaren  Wechselwirkungen ,  welche  die  Dinge 
unablässig  austauschten.  Aber  demgegenüber  ist  zu  bemer- 
ken ,  dass  Lotze ,  wie  sich  im  weiteren  Verlaufe  der  Unter- 
suchung zeigen  wird,  ganz  auf  dem  dualistischen  Standpunkte 
steht,  dass  ihm  Seiendes  und  Scheinendes  nicht  Gegensätze 
innerhalb  des  Gegebenen  sind,  sondern  dass  ihm  das  Letztere 
mit  Schein  zusammenfällt,  und  dass  daher  jenes  in  Beziehung 
Stehen  sich  nicht  mit  Causalverknüpfung  decken  kann,  die  ja 
nur  statthat  in  der  uns  gegebenen  Welt 


1)  vgl.  Kant.     Träume  eines  Geistersehers  (Kirchmann)  p.  58.  Anm. 

2)  Met.  Vom  Sein  der  Dinge  p.  27  ff.  und  Abschloss  p.  160  ff. 


—   11    — 

Daraus,  dass  Lotze  mit  seiner  Auffassung  des  uns  Ge- 
gebenen als  einer  Scheinwelt,  in  diesem  principalsten  aller 
Principien,  sich  auf  demselben  Irrwege  befindet  wie  Herbart, 
daraus  erklärt  es  sich  auch,  dass  er  bei  der  Polemik  gegen 
die  Herbartische  Definition  des  „Seins"  immer  daneben  traf 
und  nicht  die  Wurzel  aller  Missverständnisse  in  der  unbe- 
gründeten Gegenüberstellung  von  „Scheine-Welt  und  „Seins"- 
Welt  fand. 

Nachdem  Herbart  den  abstrakten  Begriff  des  Seins  er- 
örtert und  die  Bedeutung  desselben  nach  seiner  Meinung 
festgestellt  und  genügend  erläutert  hat,  erhebt  sich  die  Frage 
nach  dem  ,  was  ist.  Denn  nicht  wird  Herbart  durch  den 
Dualismus  dahin  geführt,  rücksichtlich  seines  „Seienden"  alle 
Erkenntniss  zu  verneinen,  was  er  folgerichtig  thun  niusste1;, 
sondern  er  glaubt  auf  dem  Wege  begriffsmässigen  Denkens 
das  Seiende  erfassen  und  bestimmen  zu  können.  Obwohl 
nemlich  die  „Dinge  au  sich"  nur  vermöge  einer  Reihe  von 
Schlüssen  aus  dem  Gegebenen  (welches  bekanntlich  nur 
Schein  ist)  behauptet  werden  *).  und  demnach  diese  Schlüsse 
nur  Produkte  des  Denkens,  mithin  jene  „Dinge  an  sich"  nur 
Gedankendinge  sind,  glaubt  Herbart  doch  durch  und  in  jenen 
Schlüssen  Erkenntniss  des  Seienden  zu  gewinnen.  Denn  „die 
Gültigkeit  und  reale  Bedeutung  dessen,  was  wir  in  einem 
notwendigen  Denken  über  das  Seiende  festsetzen ,  kann  gar 
nicht  bezweifelt  werden,  weil  der  Zweifel  nichts  anderes  ist  als 
ein  Versuch,  sich  dem  notwendigen  Denken  zu  entziehen.  Wir 
sind  in  unsern  Begriffen  völlig  eingeschlossen:  und  gerade 
weil  wir  es  sind,  entscheiden  Begriffe  über  die  reale  Natur 
der  Dinge." 

Wenn  die  Begriffe  eine  solche  Bedeutung  für  Herbart 
und  für  jeden  denkenden  Menschen  haben ,   wenn  wir  über 


1)  vgl.  Eehmke  p.  79. 

2)  Einl.  §  136. 


—     12      - 

dieselben  nicht  hinauskönnen,  so  fragen  wir,  was  sind  die  Be- 
griffe, woher  haben  wir  und  woher  hat  Herbart  dieselben? 
Auf  diese  Weise  werden  wir  die  von  Herbart  ihnen  beige- 
legte "Wichtigkeit  und  ßefugniss  bestätigen  können  oder  sie 
ihnen  absprechen  müssen. 

Ich  brauche  nun  nicht  auf  neuere  Auseinandersetzungen  ]) 
zu  verweisen,  um  die  etwaige  Ansicht  abzuwehren,  dass  Be- 
griffe eingeboren  oder  auf  irgend  eine  andere  Art  unabhängig 
vom  Wahrnehmen  und  Vorstellen  in  uns  entstehen  und  von 
uns  gehabt  werden  könnten.  Herbart  selbst  erkennt  den 
Ursprung  der  Begriffe  in  dem  Wahrnehmungsgegebenen  an,  da 
sie  ihm  „Vorstellungen"  oder  ,,reproducirte  Vorstellungen"' 
sind:  „Unsere  sämtlichen  Vorstellungen  sind  Begriffe  in  Hin- 
sicht dessen ,  was  durch  sie  vorgestellt  wird.  Demnach 
existieren  die  Begriffe  als  solche  nur  in  unserer  Abstraktion ; 
sie  sind  in  Wirklichkeit  eben  so  wenig  eine  besondere  Art 
von  Vorstellungen  als  der  Verstand  ein  besonderes  Vermögen 
ist"  2).  „Das  Wort  Begriff,  indem  es  das  Begriffene  bezeich- 
net, gebietet  zu  abstrahieren  von  der  Art  und  Weise,  wie 
wir  den  Gedanken  empfangen,  producieren  oder  reproducieren 
mögen"  3).  Die  ursprüngliche  Produktion  der  Gedanken  (hier 
offenbar  =  Vorstellungen)  aber  geschieht  bekanntlich  nach 
Herbart  durch  die  Selbsterhaltung  der  Seele  gegen  erfahrene 
Störungen  in  der  Form  von  Vorstellungen.  „Die  Selbst- 
erhaltungen der  Seele  sind  Vorstellungen  und  zwar  einfache 
Vorstellungen"4).  Diese  einfachen  Vorstellungen  sind,  wie 
sich  aus  der  unten  zu  besprechenden  Psychologie  ergiebt, 
Sinneswahrnehmungen  und  zwar    einfache  nur  qualitativ  be- 


1)  Kehmke.  Der  Begriff  a.  a.  0.  p.  107.  Schuppe.  Erkenntniss- 
theoretische  Logik  §34.:  Urteil,  Begriff  und  Schluss ;  §  4ö.  das  Gegebene 
und  die  Denkarbeit. 

2)  Lehrb.  §  179. 

3)  Einl.  §  34. 

4)  Lehrb.  §  155. 


—     13     — 

stimmte.  —  Was  die  allgemeinen  Begriffe  anbetrifft,  so 
sind  diese  der  langsam  allmähliche  Erfolg  des  fortgehenden 
Denkens  und  Urteilens1),  also  ebenfalls  auf  Wahrnehmen 
und  Vorstellen  basiert. 

Dieser  von  Herbart  selbst  eingestandenen  Thatsache  ge- 
mäss werden  wir  sehen  ,  dass  auch  die  von  Herbart  zwecks 
Erkenntniss  und  Bestimmung  des  „Seienden"  verwerteten 
Begriffe  die  Kennzeichen  ihres  Ursprungs  aus  der  von  uns 
wahrgenommenen  und  vorgestellten  ,,Scheinu-Welt  in  sich 
tragen ,  und  dass  also ,  da  aus  einem  Begriffe  nur  das  abge- 
leitet werden  kann,  was  in  ihm  begriffen  und  gedacht  ist, 
die  vermeintliche  „Seins"-Welt  eine  mehr  oder  minder  rich- 
tige oder  vielmehr  falsche  Construktion  aus  Merkmalen  ist, 
die  der  ,, Schein"- Welt  entnommen  sind;  ein  Phantasiegebilde 
oder  mit  Kant  zu  reden  ein  Hirngespinnst. 

Dasjenige  nun  was  ist,  das  Seiende  das  dem  Schei- 
nenden zu  Grunde  liegt,  ist  uns  unbekannt.  „Denn  wir 
sagen  zwar,  dass  es  ist,  aber  wir  bekennen,  nicht  zu 
wissen,  was  es  ist.  Das  Unbekannte  ist  die  Qualität"  2).  — 
Aus  welchem  Grunde  und  mit  welchem  Rechte  wird  hier  die 
Qualität  als  das,  von  dem  das  Sein  ausgesagt  wird,  behauptet? 
Den  Grund  sehen  wir  im  folgenden  Paragraphen  3) :  „Die  Em- 
pfindung ist  noch  immer  nötig,  um  dasjenige,  was  für  real 
gehalten  wird,  vom  blos  Gedachten,  dem  Gedankendinge  zu 
unterscheiden".  Aber,  so  müssen  wir  einwerfen,  diese  Unter- 
scheidung zwischen  blos  Gedachtem,  dem  Gedankendinge  und 
dem,  was  für  real  gehalten  wird,  auf  Grund  der  Empfindung- 
(empfundener,  besser  wahrgenommener  Sinnesqualität)  hat 
doch  nur  statt  in  der  sogenannten  „Schein"-Welt.  Wir  sehen 
also  wohl  den  Grund  ein,  der  Herbart  zu  seiner  oben  ange- 


1)  Lehrb.  §  189. 

2)  Met.  §  200. 

3)  §  201.  p.  74. 


—    14    — 

führten  Behauptung  bestimmt  hat.  nemlich  die  Unmöglichkeit, 
das    Seiende    und    das    Nicht-Seiende    anders   als    durch   die 
Merkmale  zu  unterscheiden,    welche    das  uns  Gegebene  auf- 
weisst;  dagegen  ist  eine  Berechtigung  zur  Verwertung  dieser 
Merkmale   für  die    „Seinsl'-Welt,    die  ja   der  uns  gegebenen 
ganz  „inkommensurabel"  ist,  gar  nicht  vorhanden.     Ueberdies 
ist  auch  innerhalb   des  uns   Gegebenen    die  Bestimmung  des 
Realen  im  Unterschiede   vom  blos  Gedachten    nur  durch  die 
Empfindung  nicht  ausreichend.     Das  Reale   muss  ausser  der 
qualitativen  auch  räumliche  und  zeitliche  Bestimmtheit  zeigen 
und    ausserdem    als    im    allgemeinen    Causalzusammenhange 
stehend  sich  erweisen.     Von  diesen  Bestimmtheiten  des  Sei- 
enden   im    Gegebenen    verwendet  Herbart    zur    Bestimmung 
seines  Seienden  zunächst  nur  die  Qualität,  doch  findet  sich, 
wie  wir  sehen  werden ,    auch  von  den    übrigen   ein    Gegen- 
stück in  der  „Seins"-Welt  desselben:    der   intelligible  Raum, 
die  Unveränderlichkeit    (Zeitlosigkeit)    und   die  Störung    und 
die  Selbsterhaltung  (Causalverknüpfung). 

Auch  beim  zweiten  Schritte  also ,  bei  der  Bestimmung 
dessen  was  ist,  wie  vorher  schon  bei  der  Erläuterung  des 
Begriffs  ,,sein",  fällt  Herbart  zurück  in  die  „nichtseiende-' 
Welt,  und  es  ist  bezeichnend  für  die  Bemühungen  des  Dualis- 
mus, dass  Lotze  gerade  dieses  Zurückgreifen  auf  die  uns 
gegebene  Welt,  um  die  uns  nicht  gegebene  zu  bestimmen, 
als  eine  verdienstliche  That  Herbarts  preist  *).  Da  die  sinn- 
liche Empfindung  die  einzige  Quelle  sei,  welche  uns  nicht 
nur  die  Wirklichkeit  eines  Seins  verbürge,  sondern  auch 
durch  die  Mannigfaltigkeit  ihrer  unterscheidbaren  gleichartigen 
und  ungleichartigen  Erscheinungen  überhaupt  der  Vorstellung 
eines  Was,  das  von  einem  andern  Was  sich  unterscheide, 
ihren  Ursprung  und  Klarheit  gebe,  so  sei  der  Versuch  un- 
vermeidlich,   das    gesuchte  Was    der   Dinge    soweit   diesem 

1)  Met.  p.  47. 


—    15     — 

sinnlichen  Inhalt  analog  zu  denken,  als  die  gleichzeitige  Auf- 
gabe zulasse,  alles  zu  vermeiden,  wodurch  die  sinnliche 
Empfindung  zum  Ausdruck  dieses  Wesens  unzureichend  ge- 
wesen wäre.  Diesen  Versuch  habe  mit  Entschiedenheit  zuerst  die 
Ontologie  Herbarts  gemacht.  —  Allerdings  muss  Lotze  nach 
seitenlangen  Erörterungen,  die  er  dieser  These  Herbarts  von 
der  Qualität  des  „Seienden"  widmet,  zugestehen ,  dass  damit 
nichts  gewonnen  sei,  dass  Herbart  uns  mit  dieser  ,, Qualität" 
gewissermassen  betrüge,  indem  wir  damit  etwas  zu  haben 
glaubten,  was  wir  doch  in  Wirklichkeit  nicht  hätten.  Denn 
Qualität,  in  dem  von  Herbart  gebrauchten  Sinne,  heisse  nur 
Bestimmtheit  überhaupt.  Es  sei  damit  keine  besondere  Be- 
stimmung gegeben,  sondern  jeder  habe  die  Freiheit,  sich 
darunter  alles  Mögliche  und  Unmögliche  vorzustellen.  Trotz 
dieser  richtigen  Ausstellungen  wird  leider  Lotze  durch  seinen 
falschen  Begriff  des  Seins  verhindert,  das  Richtige,  das  in 
diesem  misslungenen  Versuch  liegt,  und  welches  sich  gerade 
in  dem  Misslingen  desselben  kundthut ,  herauszufinden  und 
sich  von  den  vergeblichen  Bemühungen  abzuwenden.  Denn 
wer  einmal  erkannt  hat,  dass  wegen  der,  qualitativen  Be- 
stimmtheit des  gegebenen  Wirklichen  dasjenige ,  was  für 
seiend ,  für  wirklich  gehalten  werden  soll ,  qualitative  Be- 
stimmtheit aufweisen  muss ,  der  musste  ohne  jene  falsche 
Voraussetzung  eines  Seienden,  das  etwas  ganz  anderes  wäre 
als  das  uns  Gegebene,  notwendig  dahin  kommen ,  die  Quali- 
täten oder  vielmehr  die  Bestimmtheiten  überhaupt  aufzu- 
suchen, die  das  als  seiend  Gegebene  hat,  und  danach  an 
Jegliches,  welches  mit  dem  Anspruch  als  seiend  zu  gelten 
auftritt,  jene  gefundenen  Bestimmungen  des  Seienden  als 
Massstab  anzulegen. 

Nachdem  Herbart  das  Seiende  seinem  Inhalt  nach  be- 
stimmt hat,  sucht  er  die  formalen  Bestimmtheiten  desselben 
mit  Hülfe  jener  Erläuterung  des  Begriffs  „sein"  zu  gewinnen. 
„AVenn  wir  die  absolute  Position  festhalten  wollen",  sagt  er, 


—     16     — 

„müssen  wir  uns  vor  ihren  Gegenteilen,  den  Negationen  und 
Relationen  hüten" ').  Denn  beide  würden  die  absolute  Setzung 
aufheben.  Das  Seiende  ist  also  erstens  positiv;  zweitens 
relationslos,  sich  selbst  genügend.  Hieraus  ergebe  sich  not- 
wendig, dass  es  auch  einfach  sei.  „Denn  gesetzt  die  Qua- 
lität sei  mehrfach',  so  enthält  sie  zum  wenigsten  zwei  Be- 
stimmungen, A  und  B,  und  es  liegt  in  der  Voraussetzung, 
gegen  die  wir  streiten,  dass  diese  zwei  sich  schlechterdings 
nicht  auf  Eine  —  welche  sonst  die  wahre  Qualität  sein  würde 
—  zurückführen  lassen.  So  ist  demnach  A  ungenügend  ohne 
B;  und  B  ungenügend  ohne  A.  Hier  liegt  der  doppelte 
Fehler  der  Xegation  und  der  Relation  am  Tage"  2). 

Aus  der  Einfachheit  des  Seienden  folgert  Herbart  un- 
mittelbar, „dass  dem  Seienden  weder  räumliche  noch  zeit- 
liche Bestimmungen  zukommen  können"  3).  Durch  die  letztere 
Bestimmtheit  ist  es  zugleich  als  unveränderlich  bezeichnet, 
was  er  an  einer  anderen  Stelle  noch  ausdrücklich  hervorhebt. 
„Für  das  Seiende  giebt  es  gar  keinen  Wechsel  und  das  wirk- 
liche Geschehen  ist  demnach  für  das  wahre  Reale  so  gut  als 
völlig  nicht  geschehen".  Das  wirkliche  Geschehen  aber  ist 
Uebersetzung  des  Was  der  Wesen  in  eine  andere  und  andere 
Sprache,  in  andre  gleichbedeutende  Ausdrücke  4).  Das  wirk- 
liche Geschehen  nemlich  besteht  in  der  Veränderung  der 
„Schein"-Welt,  welche  in  ihren  verschiedenen  Zuständen  ver- 
schiedene Uebersetzung  des  unveränderlichen  Seienden  sein  soll. 

Hier  ist  nun  der  Prüfstein,  an  dem  die  von  Herbart 
getroffene  Bestimmung  des  Seienden  die  Probe  ihrer  Richtig- 
keit zu  bestehen  hat,  ob  nemlich  aus  dem  Seienden,  sowie 
es  Herbart  bestimmt  hat,  sich  das  Gegebene  mit  der  Ver- 
änderung seiner  Bestimmtheiten  widerspruchslos  ableiten  lässt. 


1)  Met.  §  205  f. 

2)  Met.  §  207. 

3)  Einl.  §  137. 

4)  Einl.  §  153. 


—     17     — 

Han  sieht  die  Schwierigkeit,  in  die  Herbart  angesichts 
dieser  Aufgabe  gerät.  Sein  methodologischer  Grundsatz  heisst: 
Wie  viel  Schein,  soviel  Hindeutung  auf  das  Sein.  Nun  sind 
in  der  Scheinwelt  Veränderungen  gegeben,  es  , .scheinen" 
also  Veränderungen.  Demnach  müssten  obigem  Grundsatz 
zufolge  auch  für  das  Seiende  Veränderungen  erschlossen 
werden.  Aber  das  Seiende  ist  ja  von  Herbart  als  unverän- 
derlich bestimmt  worden.  Somit  scheinen  wir  hier  vor  einem 
unlösbaren  Knoten  zu  stehen ;  und  derselbe  ist  wirklich  und 
bleibt  auch  unlösbar,  wenn  die  beiden  Begriffe,  aus  denen 
er  geschlungen  ist.  das  „Sein"  und  „Scheinen"  in  der  Be- 
deutung, in  welcher  sie  von  Herbart  und  allen  Dualisten 
gefasst  werden,  im  Gegensatz  zu  einander  erhalten  bleiben 
sollen. 

Herbart  sucht  das  Problem  durch  seine  Theorie  von  den 
Störungen  und  Selbsterhaltungen  der  Seienden  oder  Realen 
zu  lösen :  „In  dem  Zusammen  der  realen  Wesen  muss 
etwas  geschehen,  wodurch,  wenn  nicht  unmittelbar,  so  doch 
mittelbar,  diejenige  Mannigfaltigkeit  entsteht,  welche  sich 
unsern  Augen  als  ein  Vieles  der  Eigenschaften  eines  Dinges 
darstellt"  *).  „Die  Probleme  von  der  Veränderung  und  den 
mehreren  Eigenschaften  werden  aufgelöst  durch  die  Theorie 
von  den  Störungen  und  Selbsterhaltungen  der  Wesen.  Nem- 
lich  von  dem  an  sich  unerkennbaren  einfachen  Was  der 
Wesen  lässt  sich  so  viel  bestimmen,  dass  dasselbe  nicht  blos 
bei  verschiedenen  verschieden  sei,  sondern  dass  es  auch  con- 
träre  Gegenstände  bilde.  Diese  Gegensätze  sind  nun  an  sich 
nicht  reale  Prädikate  der  Wesen;  daher  muss  noch  eine  for- 
male Bedingung,  das  Zusammen  mehrerer  Wesen  hinzukom- 
men, damit  die  Gegensätze  einen  realen  Erfolg  haben  können. 
Der  Erfolg  ist  Leiden  und  Thätigkeit  zugleich,  ohne  Ueber- 
gang  irgend  einer  Kraft  aus  dem  Einen  in  das  Andere.     Die 

1)  Met,  §  224. 


—     18     — 

Wesen  erhalten  sich  selbst,  jedes  in  seinem  eigenen  Innern, 
und  nach  seiner  eigenen  Qualität,  gegen  die  Störung,  welche 
erfolgen  würde,  wenn  das  Entgegengesetzte  der  mehreren 
sich  aufheben  könnte.  Die  Störung  gleicht  also  einem  Drucke, 
die  Selbsterhaltung  einem  Widerstände"  *). 

Es  verhält  sich  aber  mit  diesen  Störungen  und  Selbst- 
erhaltungen folgendem] assen.  Die  einfachen  nicht  blos  von 
einander  verschiedenen,  sondern  auch  entgegengesetzten 
Wesen  A  und  B,  deren  einfache  Qualitäten,  zusammengefasst, 
eine  blose  Summe  ergeben,  aus  der  nichts  weiteres  wird, 
lassen  sich  vermöge  der  zufälligen  Ansichten  als  solche  be- 
trachten, die  in  einander  greifen.  Wenn  auf  diese  Weise 
A  =  a-J-ß-f  y  und  B  =  m-j-n  —  Y  zusammengefasst  würden, 
so  ergebe  sich  a-j-ß-f-ni-j-n,  da  das  Entgegengesetzte  sich 
aufhebe.  Dies  geschehe  aber  nur  im  denkenden  Zusammen- 
fassen der  aufgelösten  Begriffe.  In  Wirklichkeit  könnten  die 
Gegensätze  sich  nicht  aulheben,  da  sie  nicht  für  sich  be- 
stehende Teile  der  Wesen  seien,  sondern  in  den  einfachen 
Wesen,  unlösbar  von  denselben,  enthalten.  Es  könne  also 
nur  entweder  gar  nichts  geschehen  oder  es  müssten  sich  die 
beiden  Wesen  gegenseitig  ganz  aufheben.  Das  Erstere  ist 
unmöglich  in  dem  Zusammen  entgegengesetzter  Wesen. 
Das  Letztere  sei  ebenfalls  unmöglich;  denn  sollte  es  möglich 
sein,  so  niüsste  entweder  von  den  beiden  Wesen  eins  positiv 
und  das  andere  die  Negation  dieser  Position,  folglich  das 
Letztere  kein  Wesen  sein;  oder  aber  es  müssten  beide  nur 
gegenseitige  Verneinungen  sein,  also  keins  ursprünglich 
positiv,  was  von  realen  Wesen  zu  behaupten  ungereimt  sein 
würde  2).  Der  Erfolg  ist  also :  die  in  wirksamen  Gegensatz 
getretenen  Wesen  heben  sich  .weder  ganz  noch  zum  Teil  auf. 
Sie  bleiben  trotz    des    wirksam  gewordenen  Gegensatzes  bo- 


1)  Einl.  §  152. 

2)  Met.  §  234. 


—     19     — 

bestehen.  „A  erhält  sich  als  A  und  B  erhält  sich  als  B". 
Die  Wirkung  des  Gegensatzes  nennt  Herbart  ., Störung",  das 
Bestehen  trotz  der  Wirkung  „Selbsterhaltung"w.  Dies  ist  das 
„wirkliche  Geschehen,  das  für  das  Reale  so  gut  als  völlig 
nicht  geschehen"  ist '). 

Veranlasst  wird  die  Störung  und  Selbsterhaltung  der 
Realen  durch  ihr  Zusammen.  Darunter  versteht  Herbart  die 
Causalverknüpfung  der  Seienden  im  intelligiblen  Raum 2), 
entsprechend  der  Causalverknüpfung  der  „scheinenden"  Dinge 
im  scheinenden  Raum:  „A  und  B  sind  zusammen,  heisst: 
sie  sind  im  Causalverhältniss"  3). 

Ursprünglich  sind  die  Wesen  nach  Herbarts  Annahme, 
wie  oben  gezeigt,  beziehungslos.  Auch  dass  sie  überhaupt 
in  ein  Zusammen  geraten,  liegt  nicht  in  ihnen  begründet, 
sondern  ist  „zufällig".  „Die  Wesen,  wie  sie  sind,  können 
so  gut  zusammen  als  nicht  zusammen  sein".  „Es  folgt  aus 
dem  blosen  Was  der  Wesen  noch  nicht,  dass  sie  für  einander 
sein  werden.  Es  folgt  auch  ebensowenig  das  Gegenteil". 
„Es  giebt  kein  Schicksal.  Sollte  es  ein  solches  geben,  so 
müsste  man  es  in  dem  zufälligen  Umstände  suchen,  dass 
die  Wesen  zusammen  sind"  5). 

Die  verschiedenen  Störungen  und  Selbsterhaltungen  nun, 
die  dadurch  zu  Stande  kommen,  dass  die  Realen  unterein- 
ander in  wechselnde  Zusammen  treten,  sind  das  was  der 
,, Schein" -Welt  zu  Grunde  liegt;  und  zwar  baut  unsere  Schein- 
welt sich  auf  den  verschiedenen  Selbsterhaltungen  unserer 
Seele  auf.  Während  uns  nemlich  unbekannt  bleibt,  worin 
die  Selbsterhaltungen  der  anderen  Realen  bestehen,  kennen 
wir  die  Selbsterhaltungen  desjenigen  Realen,    das   wir  Seele 


1)  Einl.  §  152. 

2)  Met.  §  244. 

3)  Met.  §  246. 

4)  Hauptpunkte  §  5. 

5)  Met.  §  237. 


—     20     — 

nennen.     Es  sind  dies  unsere  Sinneswahrnehmungen,    nach 
Herbartischer    Bezeichnung    „Vorstellungen^    oder    ,, Empfin- 
dungen''.      Trotzdem    nun    aber    die    Selbsterhaltungen    der 
übrigen  Realen  uns    unbekannt   bleiben ,    soll  uns  doch  die 
Eigentümlichkeit  derselben  d.  i.  ihre  Unterschiedenheit  gegen 
einander    bemerkbar  werden.     Denn   obwohl   für   das  Gebiet 
des  Seienden  kein  Unterschied  in  den  Selbsterhaltungen  der 
Realen  ist,  zeigt  sich  ein  Unterschied  der  Selbsterhaltungen 
eines  Realen  A  gegen  B   und  gegen    C    für  das  Gebiet  des 
Geschehens   und    dieser  Unterschied  wird  für  die  Seele ,    die 
als  Reales  selbst  in  die  verschiedenen  Relationen  verwickelt 
wird,  bemerkbar.     „Gesetzt,  ein  Beobachter  stehe  auf  einem 
solchen  Standpunkte,  dass  er  die  einfache  Qualität   nicht  er- 
kennt,  wohl    aber    in    die   verschiedenen  Relationen    des    A 
gegen  B  C  D  u.  s.  w  selbst  verwickelt  wird,  so   bleibt  ihm 
nur  das  Eigentümliche  der  einzelnen  Selbsterhaltungen,  nicht 
die  beständige   Gleichheit  ihres  Ursprungs  und   ihres  Resul- 
tates  bemerkbar.     Dies    ist    der    Standpunkt    des    Menschen, 
dessen  verschiedene  Empfindungen    nichts  anderes  sind,    als 
die  verschiedenen  Selbsterhaltungen  der  Seele,  die  sich  selbst 
nicht  sieht  und  nichts  davon  weiss ,  dass  sie  in  allen    ihren 
Empfindungen    sich    selbst   gleich    ist;    und    vollends    nichts 
davon,   dass  ihre  Zustände  abhängen  vom  Geschehen  in  zu- 
sammentreffenden Wesen    ausser    ihr,    deren    eigene   Selbst- 
erhaltungen ihr  auf  keine  Weise  bekannt  werden  können1,  J)- 
So  meint  Herbart  alles  wohl  bestellt  und  erklärt  zu  haben. 
Aber    schon  die    zuletzt  ausgeschriebenen  Sätze,    welche  die 
Ueberleitung    zur    empirischen    Psychologie    bilden ,    zeigen 
durch  die  Verbindung  der  widersprechendsten  Aussagen  von 
Ein   und    demselben,    dass    die    beabsichtigte    Welterklärung 
schwerlich  gelungen  sein  dürfte.     Denn,  wie  kann  die  Seele 
das    Eigentümliche    der    einzelnen    Selbsterhaltungen    eines 

1)  Met.  §  236. 


—     21     — 

Wesens  gegen  verschiedene  andere  bemerken,  wenn  ihm  die 
Selbsterhaltungen  der  andern  Realen  auf  keine  Weise  be- 
kannt werden  können  ?  Die  eigenen  Selbsterhaltungen ,  die 
Vorstellungen ,  sind  doch  die  Selbsterhaltungen  der  Seele 
gegen  die  Störungen  durch  die  Realen,  nicht  durch  die  Selbst- 
erhaltungen derselben.  Dass  Herbart  die  Erklärung  des  Ge- 
gebenen wirklich  nicht  gelungen  ist,  werden  wir  in  Folgen- 
dem an  der  Hand  Lotzes  sehen. 

Dieser  bestreitet  neinlich  die  Richtigkeit  der  Bestimmung 
des  ,, Seienden",  wie  sie  Herbart  gegeben  hat,  und  seiner 
Ableitung  des  Weltgeschehens  aus  dem  so  bestimmten  Seienden, 
und  errichtet  selbst  auf  dem  Fundament  der  Herbartischen 
Annahme  vieler  Realen  ein  neues  System  der  Welterklärung. 

Herbart  bestimmte  bekanntlich  das  Seiende  als  positiv, 
einfach,  beziehungslos  und  unveränderlich. 

Keine  Einwendungen  macht  Lotze  gegen  die  Bestimmung 
des  Seienden  als  eines  „positiven",  und  es  lassen  sich  da- 
gegen auch  wohl  kaum  welche  erheben.  Denn  obgleich  die 
antike  Atomistik  auch  das  Nichts  für  „seiend"  erklärte  ]),  so 
war  ihr  doch  im  Grunde  diese  Negation  ein  positiv  Seiendes, 
negiert  nur  in  seinem  Gegensatz  zum  Vollen.  —  Widerspruch 
dagegen  erhebt  Lotze  gegen  die  drei  andern  Bestimmungen. 

Mit  Unrecht,  sagt  er  2),  habe  die  Speculation,  Einheit  des 
Wesens  im  Wechsel  suchend,  diese  Einheit  in  einer  Ein- 
fachheit zu  finden  geglaubt,  die  ihrer  Natur  nach  unfähig  sei, 
„Einheit"  zu  sein  oder  das  Beharrliche  im  Wesen  eines  Ver- 
änderlichen auszumachen.  Denn  das  Einfache,  wenn  es  sich 
ändere,  ändere  sich  völlig  und  es  bleibe  bei  dem  Uebergange 
von  a  zu  b  nichts  übrig,  worauf  das  Wesen  sich  als  auf  den 
gleichbleibenden  Kern  im  Wechsel  zurückziehen  könne. 

Diese  Widerlegung  der  Einfachheit  des  Realen  gründet 


1)  [j.r,  [jiaXXov  to  Skv  rt  to  [xrfizv  etvai  Plut.  adv.  Kolotem. 

2)  Met.  p.  52. 


_.     22 

sich,  wie  man  sieht,  auf  die  Voraussetzung,  dass  das  Reale, 
nicht  wie  Herbart  behauptet,  unveränderlich,  sondern  ver- 
änderlich sei,  und  steht  und  fällt  daher  mit  Lotzes  Wider- 
legung der  Unveränderlichkeit  des  Realen,  die  wir  an  letzter 
Stelle  geben.  Aber  unabhängig  von  dieser  lässt  sich  Her- 
barts indirekter  Beweis  für  die  Einfachheit  des  Seienden 
(s.  oben  S.  16)  als  falsch  erweisen.  Denn  wenn  das  Seiende 
vielfach  ist  oder  richtiger:  vielfach  bestimmt  ist,  so  kann  den 
einzelnen  Bestimmtheiten  nicht  dasselbe  Sein  zugesprochen 
werden  wie  demjenigen,  dessen  Bestimmtheiten  sie  sind. 
Wenn  wir  z.  B.  ein  Seiendes  A  mit  den  Bstimmtheiten  a  ß 
y  ö  haben ,  so  können  wir  freilich  mit  eben  soviel  Recht 
sagen  a  ist  und  ß  ist  u.  s.  w.,  als  A  ist;  aber  A  ist  heisst: 
A  ist  ein  Ding,  dagegen  oc  ist:  x  ist  Bestimmtheit  eines  Dinges. 
Auch  ist  „hinter  diesem  Vielen  nicht  das  Eine  zu  suchen", 
dem  das  Sein  zugeschrieben  werde,  sondern  das  Viele  in 
seinem  Zusammen  oder  vielmehr  das  Zusammen  des  Vielen 
bildet  die  Einheit,  die  wir  durch  Ein  Hauptwort  bezeichnen, 
die  aber  nicht  identisch  ist  mit  Einfachheit  der  Bestimmtheit 
(Qualität).  Es  ist  daher  die  „Absurdität^  des  Gegenteils  der 
Herbartischen  Behauptung  nicht  bewiesen. 

Die  von  Herbart  behauptete  Beziehungslosigkeit  wider- 
legt Lotze  in  der  Weise,  dass  er  zeigt,  wie  Herbarts  eigene 
Erklärung  des  Weltgeschehens  dabei  unmöglich  sei.  Da  nem- 
lich  Herbart  die  Veränderungen  des  Scheinenden  durch  die 
Theorie  der  Störungen  und  Selbsterhaltungen  der  Realen  er- 
klärt, die  verschiedenen  Störungen  und  Selbsterhaltungen 
aber  aus  den  verschiedenen  Zusammen  d.  h.  Beziehungen 
der  Realen  unter  einander  resultieren,  so  entsteht  die  Frage, 
wie  diese  Beziehungen  zu  Stande  gekommen  sind.  ,,Wie 
kann  das  beziehungslos  Seiende  in  Beziehungen  treten  ?" 
Niemals  könne,    sagt  Lotze1),  etwas  in  Beziehungen  treten, 

1)  Met.  p.  42. 


—     23     — 

das  vorher  in  keinen  gestanden.  Denn  nicht  in  Beziehungen 
überhaupt  könne  ein  Reales  a  treten,  sondern  in  jedem  Augen- 
blick nur  in  die  Beziehung  m  gegen  ein  bestimmtes  Element 
b,  und  es  müsse  ein  Grund  für  die  "Verwirklichung  des  m 
und  die  Xichtverwirklichung  jeder  andern  Beziehung  vor- 
handen sein  ').  Da  aber  a  gleichgültig  gegen  jede  Beziehung 
sei,  also  in  a  nicht  der  Grund  liegen  könne,  so  müsse  er  in 
einer  früheren  Beziehung  1  gesucht  werden.  Also  könne  von 
dem  Seienden  nicht  Beziehungslosigkeit  behauptet  werden. 

Diese  Lotzesche  Widerlegung  ist  unangreifbar ,  wenn  die 
Verwirklichung  der  Zusammen  im  Einzelnen  überhaupt  „be- 
gründet" ist.  Nun  scheint  aber  Herbart  jede  Begründung 
des  Zustandekommens  eines  bestimmten  Zusammen  mit  Aus- 
schluss aller  andern  ausdrücklich  abgewiesen  zu  haben.  Denn 
das  Zusammen  der  Realen  ist  ja  nach  ihm  ein  „zufälliges". 
Jedenfalls  will  er  es  nicht  begründet  wissen  durch  die  Xatur 
des  Realen  oder  durch  frühere  Beziehungen  desselben,  welche 
Art  Begründung  wir  in  der  „Schein"- Welt  vorfinden.  Yon 
diesem  Standpunkt  aus  betrachtet  ist  jegliches  Zusammen  der 
Realen  ein  zufälliges.  Aber  ganz  unbegründet  ist  es  trotz- 
dem nicht.  Vielmehr  lassen  sich  mehrere  Stellen  dafür  an- 
führen, dass  Herbart  diese  Lücke,  welche  seine  Metaphysik 
in  der  Welterklärung  bestehen  liess,  in  der  Religionsphilo- 
sophie ausfüllte: 

„Der  strenge  Realismus,  welcher  und  soweit  er  hier  dar- 
gestellt wurde ,  lässt  für  vorstellende  Wesen  keine  besseren 
Erscheinungen  erwarten ,  als  welche  das  bunteste  Gemisch 
von  Störungen  aller  Art,  die  den  mannigfaltigsten  ursprüng- 
lichen und  abgeleiteten  Geschwindigkeiten  gemäss  auf  solche 
(sc.  vorstellende)  Wesen  zusammen  treffen  möchten,  in  ihnen 


1)  Zu  berichtigen  ist  hier,  dass  nach  üerbart  ein  Eeales  zu  mehreren 
andern  zugleich  in  Beziehung  treten  kann ,  da  ja  die  Seele  mehrere 
Wahrnehmungen  zugleich  hat,  die  Wahrnehmungen  aber  Selbsterhal- 
tungen des  Seelen-Eealen  sind. 


—     24     — 

würde  hervorbringen  können.  Höchstens  Zeichen  von  Gleich- 
förmigkeit ähnlicher  Erfolge  unter  ähnlichen  Umständen.  Und 
wenn  schon  Spuren  von  Leben  und  von  der  Fähigkeit,  orga- 
nisirt  zu  werden,  doch  nichts  von  künstlich  zusammenge- 
setztem Bau,  vor  allen  Dingen  nichts  Festes  im  allgemeinen 
Kaum:  da  jedes  eigentlich  seinen  eigenen  Raum  haben  würde. 

„Was  daraus,  dass  es  anders  aussieht  im  Reiche  der 
Organisation  und  am  Himmelsgewölbe,  zunächst  zu  schliessen 
ist,  das  hat  der  gemeine  Verstand  schon  längst  geschlossen, 
und  die  edelsten  Gemüter  haben  es  in  sich  befestigt"  '). 

„Die  Naturbetrachtung  drängt  dazu,  Zweckmässigkeit  der 
Naturgegenstände  anzuerkennen"  .  .  .  „Der  Begriff  der  Zweck- 
mässigkeit nun  (gerade  so  verstanden,  wie  wir  ihn  bei  jedem 
Kunstwerke  und  bei  jeder  vernünftigen  Rede  gebrauchen  2)) 
setzt  Wahl  voraus ,  also  einen  Wählenden ,  einen  Künstler. 
Wenn  der  Künstler  die  Wesen  zusammenfügt  und  trennt, 
folglich  sie  zu  bestimmten  Selbsterhaltungen  bringt,  andere 
aber  abhält,  so  ist  er  dadurch  Schöpfer  der  Substanz,  und 
im  Grossen  Schöpfer  der  Natur  3). 

So  schliesst  Herbart  die  Lücke,  welche  in  seiner  Meta- 
physik klafft,  durch  eine  kosmologisch-teleologische  Theologie. 
Wenn  daher  Windelband  behauptet4),  der  Gottesbegriff  spiele 
in  Herbarts  theoretischer  Philosophie  keine  Rolle  und  erscheine 
bei  ihm  nur  als  Objekt  eines  ethischen  Bedürfnisses,  so  trifft 
nach  Vorstehendem  diese  Bemerkung  nicht  die  Wahrheit  und 
ist  dahin  zu  berichtigen,  dass  Herbart  Abstand  genommen 
hat,  diesen  vun  seiner  Metaphysik  notwendig  geforderten  Be- 
griff in  derselben  zu  behandeln.     Hinsichtlich  dieses  Begriffs 


1)  Hptpkte.  §  14. 

2)  In  dieser  Auffassung  der  Naturgegenstände  liegt  eine  petitio  prin- 
cipe vor.  Es  ist  daher  der  darauf  gebaute  Schluss  wie  jeder  teleologische 
Beweis  für  das  Dasein  Gottes  ein  Trugschluss. 

3)  Aphorismen  zur  Religionsphilusophie.  kl.  S.  III.  p.  170  f. 

4)  Geschichte  der  neueren  Philos.  II.  375. 


—     25     — 

neinlich  sah  er  ein,  was  ihm  bei  seinen  sonstigen  Bemühungen, 
das  „Seiende"  zu  erkennen  und  zu  bestimmen,  entging,  dass 
alle  Versuche,  dasjenige,  was  uns  nicht  gegeben  ist  und  nicht 
gegeben  werden  kann,  das  unserem  Bewusst-Seienden  ent- 
gegengestellte Ansichseiende ,  zu  bestimmen,  doch  immer 
wieder  ihre  Zuflucht  nehmen  müssen  zu  dieser  „Schein"- 
Welt,  und  dass  alle  Prädikate  des  „Seienden"  aus  der  uns 
gegebenen  Welt  hergenommen  sind.  Denn  alle  Wesensbe- 
stimmungen  Gottes,  bemerkte  er1),  liefen  auf  Anthropomor- 
phismus  hinaus  und  seien  deshalb  falsch.  „Das  Anstössige 
der  Künstelei,  solchen  Theorien,  die  nur  für  Gegenstände 
unserer  menschlichen  Nachforschung  erfunden  waren,  eine 
Ausdehnung  zu  geben,  bei  der  sie  auch  im  Unendlichen 
noch  passen  sollen,  ist  ebenso  unerträglich  widerlich,  als  an- 
dererseits klar  ist,  dass  dennoch  alle  Systeme,  worin  Glauben 
und  Wissen  vermengt  wird ,  auf  ähnliche  Abwege  geraten 
müssen.  Ein  Geist  ist  für  uns  allemal  ein  Analogon  des 
menschlichen  Geistes;  ein  Wesen,  von  dem  Naturwirkungen 
ausgehen ,  begaben  wir  unvermeidlich  mit  einem  Causalver- 
hältniss ,  worin  die  Begriffe  von  Grund  und  Folge ,  da  sie 
nicht  blos  eine  logische,  sondern  auch  eine  reale  Bedeutung 
annehmen  sollen,  sich  den  Wirkungen  anpassen,  die  wir  vor 
Augen  sehen". 

Wenn  wir  nun  diesen  Gottesbegriff  Herbarts  zur  Er- 
gänzung seiner  Metaphysik  heranziehen,  so  ist  die  Beziehungs- 
losigkeit  seiner  Realen  durch  Lotze  nicht  widerlegt.  Doch 
ist  sie  zu  widerlegen  einmal  durch  den  Hinweis ,  dass  die 
Annahme  eines  „Schöpfers"  seitens  Herbart  auf  einem  Trug- 
schluss  beruhe,  indem  er  nemlich  die  Naturgegenstände  zweck- 
mässig nenne,  eine  Benennung,  die  voraussetze,  dass  ein 
denkendes  Wesen  zuerst  einen  Zweck  der  Naturgegen stände 
gesetzt  und    dann  die  Naturgegenstände    diesem  Zweck  ent- 


2)  kl.  Sehr.  III.  172. 


—     26     — 

sprechend  eingerichtet  habe,  —  dass  also  Herbart  das  zu  Be- 
Aveisende  schon  als  Beweismittel  verwende :  worauf  dann  die 
Erörterungen  Lotzes  in  ihr  Recht  treten  würden;  zweitens 
auch  durch  den  Beweis,  dass  Herbarts  Deduction  der  Be- 
ziehungslosigkeit  der  Realen  falsch  ist.  Herbart  meint  nem- 
lich,  dass  die  Relation  eines  Gegenstandes  das  „Sein"  dessen 
aufhebe.  Dies  ist  nur  dann  richtig,  wenn  schon  vorher  als 
seiend  nur  das  anerkannt  wird,  was  aller  Beziehungen  ent- 
behrt. Nun  ergiebt  aber  die  denkende,  unterscheidende  und 
vergleichende,  Betrachtung  des  uns  Gegebenen,  dass  gerade 
die  Beziehungen  eines  Dinges  d.  i.  seine  Verknüpfung  in 
den  Causalzusammenhang  der  Welt  es  uns  als  seiend  charak- 
terisieren im  Gegensatz  zu  den  scheinenden  Dingen,  den 
Träumen,  Täuschungen  und  dem  blos  Gedachten,  dem  diese 
Causalverknüpfung  mangelt.  Daher  ist  Herbarts  Schluss  aus 
dem  Begriff  des  „Sein"  auf  Beziehungslosigkeit  falsch,  viel- 
mehr steht  das  Seiende  in  Beziehungen. 

Wie  Herbart  schon  den  ersten  Anfang  des  Geschehens, 
das  Zusammen  der  Realen  infolge  seiner  eigentümlichen  un- 
richtigen Bestimmung  derselben  unerklärt  lassen  musste,  so 
seheitert  er  auch  —  und  dieser  Misserfolg  beweist ,  dass  er 
mit  Unrecht  das  „Seiende"  als  unveränderlich  bestimmt  hat 
—  an  den  Begriffen  der  Störung  und  Selbsterhaltung,  die  eine 
Folge  jenes  Zusammen  sein  und  den  Grund  für  die  Verände- 
rung des  uns  Gegebenen  bilden  sollen. 

Die  Realen  sollen  ja  bekanntlich  in  dem  Zusammen  d.  i. 
in  dem  Causalverhältniss,  in  das  sie  gelangt  sind,  sich  trotz 
des  gegenseitigen  wirksam  gewesenen  Gegensatzes  erhalten, 
völlig  das  bleiben,  was  sie  vor  dem  Zusammenhang  waren. 
Dieses  Sicherhalten  aber  soll  verschieden  sein  gegen  ver- 
schiedene Reale,  und  diese  Verschiedenheit  der  Selbsterhal- 
tungen ist  es,  welche  die  Mannigfaltigkeit  und  die  Verände- 
rungen in  dem  uns  Gegebenen  begründet.     Nun  könnte  man 


wohl,  sagtLotze1),  die  innere  Veränderlichkeit  der  Realen 
aus  der  Aussenwelt  entfernen,  so  dass  mit  der  Störung  und 
Selbsterhaltung  wirklich,  wie  Herbart  will,  gar  nichts  ge- 
schähe, und  die  Veränderung  der  Aussenwelt  auf  Verschie- 
denheiten der  gegenseitigen  Beziehungen  der  Elemente  der- 
selben zurückführen,  aber  dies  sei  nicht  mehr  möglich  bei 
demjenigen  Realen,  dessen  Selbsterhaltungen  die  verschiede- 
nen Sinneswahrnehmungen,  Empfindungen,  oder  wie  Herbart 
mit  allgemeinerer  Beziehung  sagt,  Vorstellungen  sind. 

Diese -Selbsterhaltungen  der  Seele  nemlich,  bald  Licht- 
empfindungen, bald  das  Hören  eines  Tones,  jetzt  Wahrneh- 
mung eines  Geschmacks  und  dann  der  Wärme,  seien  offenbar 
nicht  mehr  einfache  Fortdauer  dos  unzerstörbaren  Wesens 
der  Seele.  In  ihrer  Art  und  Form  sich  richtend  nach  Art 
und  Form  der  drohenden  Störung  seien  sie  Leistungen  und 
Thätigkeiten  oder  Rückwirkungen  der  Seele,  die  nicht  einem 
unveränderlichen,  sondern  nur  einem  veränderlichen  Wesen 
möglich  seien.  Denn  nicht  eine  blos  drohende,  sondern  nur 
eine  wirksam  gewesene  Störung  könne  den  Grund  der  be- 
stimmten Rückwirkungen  enthalten,  die  in  jedem  Augenblick 
mit  Ausschluss  vieler  der  Seele  gleich  möglicher  erfolge.  Um 
der  Störung  a  durch  die  Selbsterhaltung  a  und  der  Störung 
b  durch  die  Selbsterhaltung  ß  zu  begegnen,  müsse  die  Seele 
verschieden  durch  dieselben  gestört  sein,  sie  müsse  in  beiden 
Fällen  verschieden  gelitten  haben  und  dieses  verschiedene 
Leiden  sei  nicht  denkbar  ohne  eine  verschiedenartige  Ver- 
änderung des  Leidenden  und  könne  nicht  ersetzt  werden  durch 
blose  Veränderung  der  Relationen  der  an  sich  unveränderten 
Seele  zu  anderen  Realen.  Denn  dann  sei  immer  wieder  ein 
Beobachter  vorausgesetzt,  für  den  diese  Veränderung  der  Re- 
lation den  Schein  der  Veränderung  der  Seele  selbst  liefere. 
Die  Schwierigkeit  erneuere    sich  also  bei  diesem  Beobachter 

1)  Met.  p.  58  ff. 


—     28     — 

(natürlich  einen  Realen),  welcher  die  Veränderlichkeit  (Affi- 
cierbarkeit)  selbst  besitzen  müsse,  um  Veränderungen  des 
Vorstellens  zu  erleiden. 

Gegen  diese  Erörterung  Lotzes  lässt  sich  wohl  nichts 
einwenden ,  und  wie  sich  vorher  die  Beziehungslosigkeit  als 
eine  falsche  Bestimmung  des  „Seienden"  erwies,  weil  das 
Zusammen  beziehungsloser  Realen  nicht  zu  begreifen  war,  so 
nun  auch  die  TJn Veränderlichkeit .  weil  jedenfalls  dasjenige 
Seiende,  das  wir  Seele  nennen,  sich  veränderlich  zeigt. 

Wir  sind  nunmehr,  was  Lotzes  Kritik  der  Herbartischen 
Metaphysik  betrifft,  zum  Abschluss  gelangt.  Wir  fanden, 
dass  beide  Philosophen  Vertreter  des  Dualismus  seien,  welcher 
der  uns  gegebenen  Welt  als  einer  „Schein"-Welt  eine  uns 
nicht  gegebene  als  „Seins"-Welt  gegenüberstellt.  Deshalb 
mussten  wir  die  Lotzesche  Kritik  des  Herbartischen  Seins- 
begriffes als  eine  unzulängliche  bezeichnen  und  auf  die  Aus- 
einandersetzungen von  Rehnike  und  Schuppe  zurückgehen, 
um  das  „Seiende"  als  identisch  mit  dem  Bowusst-Seienden 
nachzuweisen.  Während  sodann  Herbart  das  „Seiende"  als 
ein  einfaches ,  beziehungsloses  und  unveränderliches  be- 
stimmte ,  mussten  wir  Lotze  beistimmend  behaupten ,  dass 
eine  Ableitung  der  Mannigfaltigkeit  und  der  Veränderung  des 
Gegebenen  aus  einem  so  bestimmten  Seienden  nicht  möglich 
sei ,  und  dass  daher  das  Seiende  weder  einfach  noch  be- 
ziehungslos noch  unveränderlich  sein  könne. 

Wie  bestimmt  denn  nun  aber  Lotze  das  Seiende  und  wie 
besteht  Lotzes  Metaphysik  vor  der  Kritik. 

Es  könnte  scheinen,  als  genüge  der  Hinweis  darauf,  dass 
Lotzes  Metaphysik  ebenso  wie  die  Herbartische  von  falschen 
Voraussetzungen  ausgehe,  um  sein  ganzes  System  kurzer 
Hand  abzuweisen.  Doch  das  Ansehen,  welches  der  Name 
Lotzes  seit  langem  mit  Recht  in  der  philosophischen  Welt 
geniesst,  hat  auch  seinen  metaphysischen  Ansichten  und  ins- 


—     29     — 

besondere  seinem  „Idealismus"  so  viel  Anhänger  gewonnen1), 
dass  eine  eingehende  Prüfung  dieser  Ansichten  und  ihrer 
Begründung  wohl  am  Platze  ist,  zumal  Lotzes  Ansicht  über 
die  Entstehung  und  Unsterblichkeit  der  Seele  sich  haupt- 
sächlich auf  seine  Metaphysik  gründet. 

Lotze  acceptiert  zunächst  den  Herbartischen  Begriff  der 
vielen  Realen  oder  Seienden ,  gestaltet  ihn  aber  wesentlich 
um  und  giebt  ihn  schliesslich  ganz  auf.  um  seinen  monisti- 
schen Idealismus  an  dessen  Stelle  zu  setzen. 

Soll  nemlich,  so  etwa  ist  der  Gang  seiner  Erörterung, 
die  Veränderung  des  uns  Gegebenen,  der  „Schein"-Welt, 
nach  der  Formel :  „so  viel  Schein ,  so  viel  Hindeutung  auf 
das  Sein"  in  dem  „Seienden"  begründet  sein,  so  muss  not- 
wendigerweise auch  die  „Seins"-vVelt  Veränderungen  auf- 
weisen, müssen  auch  die  ,, Seiendem'  sich  verändern!  Da 
ferner  in  der  „Schein"-Welt  die  Veränderung  durch  Gesetze 
beherrscht  wird ,  so  muss  auch  die  Veränderung  der  „Sei- 
enden" bestimmten  Gesetzen  unterworfen  sein :  2)  „"Weder 
finden  wir  in  der  Erfahrung  ein  schrankenloses  Entstehen 
von  Allem  aus  Allem,  noch ,  wenn  wir  es  fänden ,  würde  es 
seiner  Natur  nach  ein  Gegenstand  wissenschaftlicher  Unter- 
suchung oder  Princip  einer  Erklärung  werden  können." 

Als  ein  Grundgesetz  der  Veränderungen  des  Gegebenen 
nun  beobachten  wir  einen  gewissen  allgemeinen  Zusammen- 
hang  zwischen    den  Veränderungen    verschiedener   Dinge 3), 


1)  Ich  führe  hier  nur  die  Schlussworte  Falckenbergs  in  seiner  „Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie"  an  p.  471:  „Das  bedeutendste  unter 
den  nachhegelschen  Systemen,  das  Lotzesche,  beweist,  dass  der  natur- 
wissenschaftliche Geist  einer  Versöhnung  mit  idealistischen  Ueberzeu- 
gungen  über  die  höchsten  Fragen  nicht  widerstrebt,  die  Achtung,  die  e3 
allenthalben  geniesst ,  dass  ein  starkes  Verlangen  in  der  angegebenen 
Eichtung  vorhanden  ist.*' 

•_':  Met.  §  40. 

3)  Met.  p.  95. 


-      30     — 

einen  gegenseitigen  Einfluss  verschiedener  Entwickellingen ') 
aufeinander'*.  Aus  dieser  Wechselwirkung  zwischen  den 
„Schehv-Dingen  ergiebt  sich  nach  der  allgemeinen  Regel: 
..soviel  Schein  soviel  Hindeutung  auf  das  Sein"  das  Be- 
stehen einer  Wechselwirkung  auch  der  „seienden"'  Dinge, 
durch  welche  auf  Grund  der  Veränderung  eines  A  in  a  auch 
eine  Veränderung  des  B  in  b  erfolgt. 

Diese  "Wechselwirkung  aber  kann  nicht  irgend  wann 
zwischen  bis  dahin  einander  ganz  gleichgültigen  Dingen  ent- 
standen sein;  denn  es  nicht  einzusehen,  aufweiche  Weise 
und  aus  welchem  Grunde  an  Stelle  der  gegenseitigen  Gleich- 
gültigkeit der  „Seienden"  mit  einem  Male  ihre  Wechsel- 
beziehung getreten  sei,  sondern  sie  niuss  immer  und  unab- 
lässig bestanden  haben.  Es  würde  aber  die  Wechselwirkung 
zwischen  den  einzelnen  Seienden  auf  einem  transeunten 
Wirken  beruhen,  und  dieses  transeunte  Wirken  wieder  macht 
Lotze  ganz  besondere  Schwierigkeit:  er  findet  es  unbegreif- 
lich. Um  die  Schwierigkeit  zu  beseitigen,  setzt  er  an  Stelle 
der  vielen  „Seienden"  ein  „Einziges  wahrhaft  Seiendes",  wo- 
durch an  Stelle  der  Wechselwirkung  und  des  unbegreiflichen 
transeunten  Wirkens  ein  immanentes  trete. 

Da  es  unmöglich  wäre,  erklärt  Lotze  2),  anzugeben,  worin 
der  Uebergang  aus  Teilnamlosigkeit  zu  metaphysischem  Zu- 
sammen bestehe,  und  es  ein  beständiger  Widerspruch  bliebe, 
dass  Dinge,  die  einander  nichts  angehen,  dennoch  einander 
so  angehen  sollen,  dass  eines  um  das  andere  sich  kümmern 
und  sich  in  seinen  eigenen  Zuständen  nach  denen  des  andern 
richten  müsse,  so  müsse  das  Vorurteil  von  der  Existenz 
vieler  Seienden  aufgegeben  werden:  es  könne  nicht  eine  Viel- 
heit von  einander  unabhängiger  Dinge   geben,  sondern  alle 


1)  Entwickelung  soll  wohl  heisaen:  Reihe  der  auf  einander  folgenden 
Zustände  eines  Dinges,  oder :  ein  Ding  in  seinen  successiven  verschiedenen 
Zuständen. 

2)  Met.  p.  137. 


—    31    — 

Elemente,  zwischen  denen  eine  Wechselwirkung  möglich  sein 
solle,  müssten  als  Teile  eines  einzigen  wahrhaft  Seienden 
betrachtet  werden;  der  anfängliche  Pluralismus  unserer  Welt- 
ansicht habe  einem  Monismus  zu  weichen,  durch  welchen  das 
stets  unbegreifliche  trauseunte  Wirken  in  ein  immanentes 
übergehe.  „Denn  den  geheimnissvollen  Zusammenhang,  dass 
nemlich  die  Wirklichkeit  eines  Zustandes  die  Bedingung  der 
Verwirklichung  eines  andern  ist,  geben  wir  zu,  so  lange  der- 
selbe innerhalb  der  Einheit  eines  und  desselben  Wesens  nur 
dessen  eigene  Entwicklung  erzeugt;  undenkbar  erscheint 
uns  nur,  wie  das,  was  einem  Wesen  A  begegnet,  Grund  zur 
Veränderung  eines  andern  Wesens  B  sein  könne"  '). 

Lotze  sieht  sich  also  zur  Annahme  eines  Einzigen  Sei- 
enden entgegen  der  Hindeutung,  welche  die  vielfache  „Schein"- 
Welt  giebt,  im  letzten  Grunde  nur  deshalb  veranlasst,  weil 
ihm  das  transeunte  Wirken  „unbegreiflich"  und  „undenkbar" 
ist  und  weil  wir  dagegen  das  immanente  Wirken  „zugeben". 
Denn  wohlgemerkt ,  begreiflich  ist  es  ihm  ebenso  wenig  als 
das  transeunte.  „Das  immanente  Wirken,  welches  innerhalb 
eines  und  desselben  Wesens  Zustand  aus  Zustand  entwickelt, 
betrachten  wir  als  eine  Thatsache,  welche  keine  weitere  An- 
strengung des  Denkens  herausfordert.  Dass  auch  dieses  Wirken 
in  der  Art  seines  Zustandekommens  uns  völlig  unbegreiflich 
bleibt,  wissen  wir  dabei  sehr  wohl;  denn  wie  ein  Zustand  x 
eines  Dinges  a  es  anfange,  um  in  demselben  a  einen  Folge- 
zustand x-  hervorzubringen,  verstehen  wir  nicht  im  Minde- 
sten besser,  als  wie  dasselbe  a'  es  beginne,  um  in  einem 
andern  Wesen  b  die  Folge  ß'  zu  erzeugen;  nur  die  Einheit 
des  Wesens,  in  welchem  jetzt  dieser  unbegreifliche  Vorgang 
verläuft,  lässt  es  uns  überflüssig  erscheinen,  nach  Bedingungen 
seiner  Möglichkeit  zu  fragen.  —  Zustände  desselben  Subjekts, 
meinen  wir,  müssen  notwendig  auf  einander  Einfluss  haben ; 

1)  Met.  p.  136. 


—   a2   — 

und  in  der  Tbat,  wenn  wir  diesem  Grundgedanken  nicht 
folgen  wollten,  bliebe  uns  keine  Hoffnung,  Mittel  der  Er- 
klärung für  irgend  welcbe  Ereignisse  zu  finden"  J). 

Wenn  nun  aber  das  immanente  AVirken  ebenso  unbe- 
greiflich ist  als  das  transeunte  —  wie  soll  jenes  ein  besseres 
Phncip  der  Erklärung  werden  als  dieses?  —  Es  kann  als 
Erklärungsprincip  für  compliciertere  Ereignisse  angesehen 
werden,  wenn  wir  es  als  ursprüngliche,  nicht  weiter  zu  er- 
klärende Thatsache  annehmen.  Aber  den  gleichen  Anspruch 
auf  solche  Geltung  hat  offenbar  das  transeunte  Wirken. 
Warum  erkennt  Lotze  nicht  auch  dieses  als  ursprüngliche 
Thatsache  an,  ohne  „nach  Bedingungen  seiner  Möglichkeit 
zu  fragen"?-)  Schärft  er  doch  oft  genug3)  ein,  die  Meta- 
physik habe  nicht  die  Wirklichkeit  zu  machen,  sondern  sie 
anzuerkennen,  die  innere  Ordnung  des  Gegebenen  zu  er- 
forschen, nicht  das  Gegebene  abzuleiten  von  dem,  was  eben 
nicht  gegeben  sei. 

Wir  werden  demnach  mit  Fug  behaupten  können,  dass 
für  Lotze  kein  zwingender  Grund  vorlag,  die  gegebene  resp. 
erschlossene  A'ielheit  der  Seienden ,  die  durch  trauseunte 
AVechselwirkung  sich  mit  einander  verknüpft  zeigte,  durch 
die  Annahme  eines  Einzigen  Seienden  zu  ersetzen;  und  dass 
letztere  Annahme  in  dem  Begriff  des  immanenten  Wirkens 
kein  besseres  Erklärungsprincip  hat,  als  die  gegebene  Viel- 
heit in  dem  gegebenen  Begriff  des  transeunten  AATirkens. 

Uebrigens  leistet  Lotze  selbst  mit  der  Annahme  des  Ein- 
zigen wahrhaft  Seienden  und  des  immanenten  AVirkens  als 
Erklärungsprincips  für  die  Veränderungen  des  Gegebenen 
nichts  weiter,  als  dass  er  die  AVechselwirkung  der  Elemente 
ausdrücklich,   wenn  auch  auf- einem  Umwege  und  unter  an- 


1)  Met.  p.  97. 

2)  ebendas. 

o)  vgl.  Met.  p.  163. 


—     33     — 

derem  Xamen  anerkennt.     Verfolgen  wir  seine  Erklärung  des 
Weltgeschehens  ]). 

M  die  Einzige  wahrhaft  seiende  Substanz. 
A,  B  und  R  die  eiuzelnen  Dinge,  in  welche  sich  für 
unsere  Beobachtung  die  Einheit  des  Seienden  auseinander- 
legt. Dann  ist  M  =  ABR.  "Wenn  nun  A  aus  irgend  einem 
Grunde  in  a  übergegangen  sei,  so  müsse,  um  die  Gleichung 
zu  erhalten  auch  B  in  b  und  R  in  R'  übergehen ,  und  zwar 
müsse  dies  in  demselben  Augenblick  geschehen ,  wo  die 
Aenderung  des  A  in  a  erfolgte.  Denn  die  Aenderung  des 
A  in  a  sei  eine  Veränderung  des  M  in  seinem  Zustande  und 
daher  miisste  sich  alles,  was  zu  M  gehöre,  mit  A  zugleich 
verändern.  —  Aber  dieses  Resultat  erreichen  wir  leichter 
direkt  durch  den  gegebenen  Begriff  der  allgemeinen  Wechsel- 
wirkung in  der  gegebenen  Vielheit  der  Dinge,  in  Folge  deren 
jede  Veränderung  eines  Elements  oder  eines  Elementen- 
komplexes ganz  bestimmte  Veränderungen  der  übrigen  Ele- 
mente und  Elementenkomplexe  zur  Folge  haben.  So  erklärt 
sich  auch  ganz  einfach  bei  der  gegebenen  Verschiedenheit 
der  einzelnen  Elemente  und  Elementenkomplexe  (Dinge),  dass 
,,hier  und  jetzt  dies,  dort  und  ein  andermal  jenes"  geschehen 
muss.  Lotze  aber  wird  durch  die  Annahme  des  Einzigen 
wahrhaft  Seienden  und  des  immanenten  Wirkens  noch  über 
diese  seine  Annahme  hinausgetrieben  —  oder  hat  er  diese 
Annahme  nur  gemacht,  um  mittels  derselben  zu  einem  ihm 
vorher  feststehenden  Ziele  zu  gelangen?  —  Denn  damit  bei 
der  von  ihm  angenommenen  Ordnung  der  „Seins" -Welt  ,,den 
Gesetzen  gemäss  hier  und  jetzt  dies ,  dort  und  einandermal 
jenes  geschehe,  muss  die  veränderliche  Weltlage  in  jedem 
Augenblick  sich  in  den  Elementen  abbilden,  die  zu  gemein- 
schaftlicher Erzeugung  wirken    sollen".  2)      Da    nemlich   ein 


1)  Met.  p.  138. 

2)  Met.  p.  453. 


—     34     — 

Element  sich  nur  verändert,  wenn  sich  der  Gesamtzustand 
des  Einzigen  wahrhaft  Seienden  (des  Absoluten)  verändert, 
und  die  Art  der  Veränderung  jedes  Elements  abhängig  ist 
von  der  Art  der  Veränderung  des  Absoluten,  so  niuss  in 
jedem  Element  immer  der  Gesamtzustand  des  Ganzen  (Ab- 
soluten) „sich  spiegeln"',  oder  wie  Lotze  an  anderen  Stellen 
sagt:  in  jedem  Augenblicke  muss  das  Absolute  in  jedem 
Elemente  gegenwärtig  sein. 

Damit  spricht  er  nun  etwas  aus,  wogegen  offenbar  die 
Beschaffenheit  des  Gegebenen  streitet.  Die  Gesamtheit  dieses 
uns  gegebenen  Seienden  nemiich  kann  in  seiner  räumlichen 
Bestimmtheit  nicht  in  dem  räumlich  bestimmten  Element  des 
Seienden  zugegen  sein.  Solches  meint  auch  Lotze  nicht. 
Mcht  als  ein  räumlich  Bestimmtes  fasst  er  die  Gesamtheit, 
das  Absolute,  sondern  als  ein  geistiges  Wesen,  und  ein  sol- 
sches  hat  allerdings  als  jeder  Raumbestimmtheit  entbehrend 
keine  Ausdehnung  und  kann  im  kleinsten  räumlichen  Ele- 
mente „gegenwärtig''  sein. 

Diese  Lotzesche  Bestimmung  aber  des  Absoluten  als  eines 
Geistes  scheint  mir  durchaus  auf  "Willkür  zu  beruhen,  nicht 
durch  die  Konsequenz  seiner  Ueberlegungen  gefordert ,  son- 
dern vorher  als  Ziel  derselben  festgestellt  zu  sein. 

Er  nähert  sich  diesem  Ziele  allmählich.  Zunächst  be- 
zeichnet er  das  Einzige  wahrhaft  Seiende  als  ein  „Wesen"1), 
bei  welchem  Begriff  wir  an  ein  lebendes,  wahrnehmendes, 
strebendes  Seiende  denken.  Dann  bekennt  er  offen  seine 
Ueberzeugung,  dass  das  Absolute  ein  geistiges  Wesen  sei, 
ohne  jedoch  vorläufig  seine  Gründe  anzuführen.  Die  „Mo- 
nisten", sagt  er2),  hätten  nicht  die  blose  Form  des  Lebens 
und  der  Thätigkeit  dem  Einen  absoluten  Wesen  zugeschrieben, 
sondern  auch  die  Fähigkeit  den  Wert  beider  und  das  Glück, 


1)  Met.  p.  138  u.  454. 

2)  Met.  p.  164. 


—     35     — 

das  der  Mensch  im  Genüsse  derselben  empfinde,  zu  empfinden 
d.  i.  die  Geistigkeit  hätten  sie  in  vorzüglicher  Herrlichkeit 
dem  Absoluten  zuzueignen  gesucht.  Nach  den  Ergebnissen, 
die  seine  Erörterungen  bisher  gehabt,  dürfe  er  sich  noch 
nicht  zu  dieser  Ansicht  bekennen  *),  doch  sei  er  derselben 
Ueberzeugung  wie  jene  Monisten.  ,,Die  Gründe,  die  uns 
bisher  leiteten,  haben  uns  nur  die  Annahme  eines  imma- 
nenten, wenn  auch  blinden  "Wirkens  nötig  gemacht,  durch 
welches  jeder  neue  Zustand  des  Seienden  die  erzeugende 
Veranlassung  eines  zweiten  ihm  folgenden  ist.  Ich  verhehle 
nun  meine  Ueberzeugung  nicht,  dass  dennoch  der  Glaube  an 
die  Lebendigkeit  des  Weltgrundes  Recht  hat,  aber  ich  muss 
die  Rechtfertigung  hierüber  noch  verschieben".  Nichtsdesto- 
weniger verwendet  er  im  Folgenden  den  Begriff  des  absoluten 
Geistes,  als  habe  er  die  Richtigkeit  der  Annahme  desselben 
bereits  bewiesen.  Wo  wir  diesen  Beweis  zu  suchen  haben, 
ergiebt  sich  aus  den  Worten : 2)  ,,an  einer  andern  Stelle  haben 
wir  Veranlassung  auf  diese  Fragen  (über  Mechanismus  und 
teleologischen  Idealismus)  zurückzukommen  ,  da  neinlich,  wo 
innerhalb  der  Natur  die  Erscheinungen  der  lebenden  Wesen 
uns  mit  besonderer  Dringlichkeit  den  Gedanken  einer  den 
Lauf  der  Dinge  beherrschenden  Zweckmässigkeit  oder  eines 
idealen  Ganzen  nahe  legen  wird,  das  den  realen  Teilen  und 
ihrer  Verbindung  vorangehe".  Gemeint  ist  der  Abschnitt: 
„die  Formen  des  Naturlaufs". 

Hier  bemerkt  Lotze  bei  Besprechung  der  organischen 
Bildungen  etwa  Folgendes:3)  Um  den  Zusammenhang  der 
Lebenserscheinungen  zu  verstehen ,  werde  allerdings  die 
mechanistische  Betrachtungsweise  gefordert,  und  diese  reiche 
damit  aus,  in  dem  organischen  Körper  eine  bestimmt  ange- 


1)  p.  165. 

2)  Met.  p.  178. 

3)  Met.  p.  447.     vgl.  „Leben  und  Lebenskraft."    kl.  S.  I  139  ff. 

3* 


—     36     - 

ordnete  Verbindung  von  Elementen  zu  sehen,  die  auf  Grund 
dieser  ihrer  eigentümlichen  Yerknüpfungsweise  im  Stande 
seien,  durch  ihre  allgemeingesetzlichen  Wechselwirkungen 
und  unter  dem  Einflüsse  des  äusseren  Naturlaufs  einen  Kreis- 
lauf von  Entwickelungen  zu  durchlaufen  und  in  beschränkter 
Ausdehnung  die  Regelmässigkeit  derselben  gegen  zufällige 
Störungen  zu  verteidigen.  Doch  dürfe  dieser  mechanistischen 
Auffassungsweise  nicht  das  letzte  Wort  gelassen  werden. 
Warum  nicht?  —  „Sie  wird  doch  niemals  den  überwältigen- 
den Eindruck  auslöschen,  den  die  Zweckmässigkeit  der  orga- 
nischen Bildung  auf  jedes  unbefangene  Gemüt  macht,  und 
sie  wird  nie  davon  überzeugen ,  dass  diese  wunderbare  Tat- 
sache der  Nachforschung  nach  einer  besondeni  Ursache  un- 
würdig sei"  a). 

Die  Ursache  dieser  Zweckmässigkeit  aber  kann  natürlich 
nur  eine  „zweckmässig  wirkende  Macht  sein,  die  das  Leben 
gestaltet",  und  die  zweckmässig  wirkende  Macht  wieder  muss 
als  ein  Geist  gedacht  werden ,  der  das  zweckmässig  Einge- 
richtete als  Gegenstand  seines  vorstellenden  und  wollenden 
Bewusstseins  gehabt  hat.  So  dient  der  überwältigende  Ein- 
druck der  Zweckmässigkeit  der  organischen  Bildung  auf  un- 
befangene Gemüter  Lotze  zum  Beweise  für  die  Geistigkeit 
des  Absoluten,  des  Einzigen  wahrhaft  Seienden  2). 

Aber  ist  denn  die  organische  Bildung  wirklich  zweck- 
mässig? und  sind  die  Gemüter,  auf  welche  diese  behauptete 
Zweckmässigkeit  den  überwältigenden  Eindruck  macht,  dass 
sie  ein  höheres  zwecksetzendes  Wesen  annehmen  —  sind 
diese  Gemüter  wirklich  unbefangen"?  Beides  möchte  ich  be- 
streiten. 

Ich  will  die  Frage  über '  die  Zweckmässigkeit  der  orga- 
nischen Bildung    nicht    ausführlich  erörtern.    Nur   das   will 


1)  Met.  p.  447 

2)  Met.  p.  448. 


—         37     — 

ich  bemerken:  um  entscheiden  zu  können,  ob  die  organische 
Bildung  zwekmässig  sei ,  müssten  wir  wissen ,  welches  der 
Zweck  derselben  sei;  die  Aufwerfung  dieser  Frage  aber  geht 
schon  von  der  Voraussetzung  aus ,  dass  ihnen  irgend  ein 
Zweck  gesetzt  sei,  selbstverständlich  von  einem  zwecksetzen- 
den "Wesen.  So  bewegt  sich  der  Beweis  aus  der  Zweck- 
mässigkeit für  die  Geistigkeit  des  "Weltgrundes  im  Cirkel. 

Was  ferner  die  Unbefangenheit  jener  Gemüter  anbetrifft, 
von  denen  Lotze  spricht,  so  kann  man  mit  Fug  behaupten,  dass 
seit  Jahrhunderten,  ja  Jahrtausenden,  in  unserer  Kulturwelt  kein 
unbefangenes  Gemüt  über  die  Entstehung  und  Ordnung  der 
AVeit  nachgedacht  hat.  Denn  nicht  nur  seit  das  aus  der  Ver- 
bindung der  griechischen  Philosophie  mit  dem  judäischen 
Monotheismus  hervorgegangene  Christentum  über  Europa 
„herrscht",  sondern  schon  lange  vorher,  waren  alle,  welche 
überhaupt  dazu  kamen,  über  solche  Fragen  nachzudenken, 
in  gewissen  Erziehungsbegriffen  oder  in  anthropomorphisti- 
scher  Beschränkheit  befangen.  Und  welchen  Eindruck  auch 
die  "Welt  auf  so  ,, unbefangene"  Gemüter  macht,  den  der 
Zweckmässigkeit  oder  der  Unzweckmässigkeit  —  sie  schliessen 
auf  jeden  Fall  daraus  auf  eine  höhere  zwecksetzende  Macht. 
Ein  wahrhaft  unbefangenes  Gemüt  wird  Krankheiten  der  orga- 
nischen Bildungen  auf  unzweckmässige  Einrichtung  derselben 
zurückführen;  und  doch  kenne  ich  Fälle,  wo  „unbefangene" 
Gemüter  aus  eigener  und  der  Angehörigen  Krankheiten 
„merkten,  dass  oben  Einer  regiere". 

Uebrigens  gesteht  Lotze  selbst  ein  *) ,  dass  „nichts  hier 
mit  völliger  Ueberzeugungskraft  gegen  diejenigen  einzuwen- 
den ist,  welche  dies  ganze  zusammengefasste  Wirken  des 
"Weltgrundes,  seine  ganze  innere  Bewegung,  aus  der  alle 
diese  Ereignisse  (Bildungen  und  Veränderungen  organischer 
"Wesen)  hervorgehen   würden,    doch    wieder    als    eine   blose 

1)  Met.  p.  456. 


Thatsache  ansehen  mögen,  als  eine  Richtung,  die  nun  eben 
der  Weltlauf  von  Ewigkeit  nimmt,  ohne  dass  in  ihm  etwas 
dem  ähnliches  vorhanden  wäre,  was  wir  als  Wahl  oder  Be- 
wusstsein  eines  Zieles  verstehen". 

So  ist  es  also  nichts  mit  dem  Beweise  für  die  Geistig- 
keit des  Absoluten  aus  der  Zweckmässigkeit  der  organischen 
Bildungen.  Aber  Lotze  kann  auch  auf  ihn  verzichten.  Denn 
ganz  unabhängig  von  dem  Eindruck  der  Zweckmässigkeit  der 
organischen  Bildung  behauptet  er  notgedrungen  zur  Annahme 
eines  unendlichen  Wesens,  welches  „eingreife"1),  welches 
„befehle"  2),  welches  „Absichten"  3)  habe,  eines  geistigen  (vor- 
stellenden und  wollenden)  Wesens  also,  gekommen  zu  sein:4) 
„Gar  nicht  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  zu  vermitteln- 
den Gegensatz  zwischen  Lebendigem  und  Unlebendigem, 
sagt  er,  sondern  aus  viel  weiter  reichenden  und  allgemeineren 
Gründen  habe  ich  von  Anfang  an  die  Denkbarkeit  eines 
Weltlaufs  bestritten,  in  welchem  eine  Vielheit  selbständiger 
Bestandteile  nur  nachträglich  durch  allgemeine  Gesetze  ihres 
Verhaltens  zur  gemeinschaftlichen  Erzeugung  von  Wirkungen 
verbunden  sein  konnte"  —  „als  notwendige  Voraussetzung 
jedes  besonderen  Wirkens,  jeder  Veränderung  eines  Elementes 
ergab  sich  die  Vorstellung  eines  unablässigen  und  allgemeinen 
sympathetischen  Rapports",  d.  h.  eines  ewigen  und  allge- 
meinen Kausalzusammenhangs.     Dieser  unablässige  und  all- 

1)  Met.  p.  454.  Nicht  damit  diese  oder  jene  bevorzugte  und  be- 
sonders vornehme  Art  der  Ereignisse  möglich  werde,  bedurfte  es  daher 
des  Eingreifens  jenes  unendlichen  Wesens,  das  wir  als  den  Grund 
aller  Dinge  betrachten,  sondern  jede  ärmlichste  Wirkung  eines  einzelnen 
Elements  auf  das  andere  ist  nur  eine  immanente  Lebendigkeit  dieses 
Einen  und  fordert,  um  zu  geschehen,  seine  beständige  Mitwirkung  nicht 
minder  als  jene. 

2)  ebenda:  hier  wie  dort  war  nur  dieses  ewig  Eine  thätig,  und  der 
Unterschied  liegt  in  dem,  was  es  befahl  etc. 

3)  ebenda :  nicht  aus  dem  Leeren  bringt  das  Absolute  hier  dies  dort 
jenes  hervor,  nur  weil  es  dem  Sinne  dessen  entsprochen  hätte,  was  in 
seiner  Absicht  liegt. 

4)  Met.  p   453. 


-     39     — 

gemeine  sympathetische  Rapport  sei  aber  nur  denkbar  unter 
der  völligen  Wesenseinheit  dessen,  was  zunächst  uns  als  eine 
Vielheit  selbständiger  Anfangspunkte  des  Wirkens  erscheine : 
„Es  kann  nicht  eine  Vielheit  von  einander  unabhängiger 
Dinge  geben ,  sondern  alle  Elemente ,  zwischen  denen  eine 
Wechselwirkung  möglich  sein  soll,  müssen  als  Teile  eines 
einzigen  wahrhaft  Seienden  betrachtet  werden;  der  anfäng- 
liche Pluralismus  unserer  Weltansicht  hat  einem  Zionismus 
zu  weichen,  durch  welchen  das  stets  unbegreifliche  transeunte 
Wirken  in  ein  immanentes  übergeht"  ').  —  Lotze  greift  hier- 
mit auf  seine  Erörterungen  „die  Einheit  der  Dinge"  zurück, 
die  wir  oben  *)  besprochen  haben.  Aber  dort  wie  hier  be- 
hauptet er  nur  die  Einheit  aller  Seienden ,  deren  Beweis 
übrigens  wir  nicht  stichhaltig  fanden.  Gar  nicht  einmal  ver- 
sucht aber  ist  ein  Beweis  für  die  Geistigkeit  dieses  Einen, 
vielmehr  dort  ausdrücklich  auf  später  verschoben,  als  vorläufig 
noch  nicht  zu  erbringen.  Der  Beweis  aber  aus  der  Zweck- 
mässigkeit der  organischen  Bildung,  auf  den  verwiesen  wurde, 
zerrann  in  nichts  und  so  ergiebt  sich  die  Thatsache,  dass 
Lotzes  Ausdrücke  von  dem  „Eingreifen"  des  absoluten  Wesens, 
von  seinen  „Absichten"  und  „Befehlen"  ganz  ungerechtfertigt 
sind,  und  dass  seine  Ueberzeugung  von  der  Geistigkeit  des 
Absoluten  nicht  so  wie  er  behauptet,  auf  rein  theoretischen 
Gründen  als  vielmehr  auf  religiösen  Bedürfnissen  beruhen3). 
Denn  wenn  die  Annahme  der  Geistigkeit  des  Absoluten  nur 


1)  Met.  p.  454. 

2)  p.  30  ff. 

3)  Met.  p.  458.  „Eben  dies  will  ich  hier  ausdrücklich  hinzufügen, 
dass  ich  zwar  altfränkisch  genug  bin,  für  die  religiösen  Bedürfnisse,  die 
hier  rege  werden,  empfänglich  zu  sein,  dass  aber  nicht  auf  ihnen,  son- 
dern auf  blos  theoretischen  Gründen  die  Ansichten  beruhen,  die  ich  hier 
verfochten  habe ;  gar  kein  Weltlauf,  weder  ein  harmonischer  noch  ein 
unharmonischer  ist  mir  ohne  die  Voraussetzung  jener  Einheit  begreif- 
lich." Hier  spricht  L.  wieder  nur  von  Einheit,  nicht  von  Geistigkeit 
des  Absoluten. 


—     40     — 

durch  theoretische  Gründe  veranlasst  wäre,  so  müsste  sie  doch 
eine  merkbare  Lücke  in  seinem  System  ausfüllen.  Das  ist 
aber  nicht  der  Fall.  Das  zwecksetzende  Absolute  leistet  nichts, 
was  nicht  auch  durch  die  allgemeine  Kausalverknüpfung  der 
Seienden  geleistet  würde.  Lotze  selbst  sieht  sich  zu  dem 
Geständniss  genötigt: *)  „Das  Absolute  ist  kein  hexendes 
Princip;  nicht  aus  dem  Leeren  bringt  es  hier  dies  dort  jenes 
hervor,  nur  weil  es  dem  Sinne  dessen  entsprochen  hätte,  was 
in  seiner  Absicht  liegt;  sondern  allem  besondern  Wirken 
legt  es  eine  breite  gesetzliche  Oekonomie  des  Wirkens  unter". 
Damit  wären  wir  ja  wieder  dorthin  zurückgelangt,  wo  Lotze 
vorher  zum  Einen  persönlichen  Wesen  abgesprungen  war, 
zur  allgemeinen  Kausal  Verknüpfung;  denn  etwas  anderes  be- 
sagt doch  die  ,, breite  gesetzliche  Oekonomie  des  Wirkens" 
nicht.  „So  geschieht  es ,  dass  jede  organische  Entwicklung 
Schritt  für  Schritt  aus  den  Gegenwirkungen  zu  geschehen  scheint, 
die  den  verbundenen  Elementen  ihre  constanto  Natur  zur 
Notwendigkeit  gemacht  hat".  Dieses  „scheint"  hat  offenbar 
denselben  Sinn  wie  das  „Schein"  in  „Schein"-Welt  und  wir 
können  Lotzes  Worte  so  umdeuten:  in  der  uns  gegebenen 
und  wahrnehmbaren  Welt  geschieht  jede  organische  Ent- 
wickelung  Schritt  für  Schritt  aus  den  Gegenwirkungen  ,  die 
den  verbundenen  Elementen  ihre  constante  Natur  zur  Not- 
wendigkeit gemacht  hat,  so  dass  wir  uns  nirgends  der  mecha- 
nistischen Auffassung  des  Zustandekommens  auch  der  organi- 
schen Gebilde  entschlagen  können. 

Einen  Beweis  der  Geistigkeit  des  Absoluten  könnte  man 
vielleicht  auch  in  der  Behauptung  Lotzes  finden,  dass  das- 
jenige, was  „sein",  d.  h.  nach  Lotzes  Begriff  „sich  im  Wechsel 
seiner  Zustände  selbst  erhalten"  solle,  geistiger  Art  sein 
müsse  2).     Denn  nur  in  der  Empfindung,  die  den  empfundenen 


2)  Met.  p.  455,  vgl.  178. 
1)  Met.  p.  184. 


—     41     — 

Inhalt  zugleich  als  etwas  für  sich  von  uns  abstösst  und  ihn 
zugleich  als  den  unsern  offenbart,  würde  uns  klar,  was  da- 
mit gemeint  sei,  dass  wir  irgend  ein  a  als  Zustand  eines 
Wesens  A  fassen;  nur  dadurch,  dass  unsere  beziehende  Auf- 
merksamkeit Vergangenes  und  Gegenwärtiges  in  der  Er- 
innerung zusammenfasse ,  zugleich  aber  die  Vorstellung  des 
beständigen  Ich  entstehe,  dem  sie  beide  angehören,  werde 
uns  klar,  was  es  heisse  und  dass  es  möglich  sei,  Ein  Wesen 
im  Wechsel  vieler  Zustände  zu  sein;  und  dadurch,  dass  wir 
uns  als  solche  Einheiten  erscheinen  könnten,  seien  wir  Ein- 
heiten. Daraus  schliesst  nun  Lotze  weiter: J)  „Wenn  es 
Dinge  geben  soll  mit  den  Eigenschaften,  die  wir  von  ihnen 
verlangten ,  so  müssen  sie  mehr  als  Dinge  sein ;  nur  durch 
Teilnahme  an  diesem  Charakter  der  geistigen  Natur,  können 
sie  jene  allgemeinen  Forderungen  der  Dingheit  erfüllen", 
d.  i.  die  Dinge  müssen  beseelt  sein  Denn  „sein"  heisst 
nunmehr  nach  Lotze:  sich  als  ein  Wesen  im  Wechsel  vieler 
Zustände  erscheinen  können.  Wenn  nun  dieser  Lotzesche 
Begriff  des  Seins  richtig  wäre ,  so  wäre  es  auch  die  Folge- 
rung daraus,  die  Behauptung  der  Geistigkeit  aller  Seienden 
und  folgerichtig  auch  des  Einzigen  allumfassenden  Seienden. 
Aber  die  Lotzesche  Bestimmung  des  Begriffs  „sein"  geht  wie 
die  Herbartische  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  alles  uns 
Gegebene  nicht  „seiend"  ist,  muss  daher,  weil  diese  Voraus- 
setzung unbegründet  ist,  falsch  sein  und  mit  ihr  auch  die 
Folgerung  daraus  über  die  Natur  des  „Seienden".  So  kann 
die  Geistigkeit  des  Absoluten  auch  aus  dem  Begriff  des  „Sei- 
enden" nicht  bewiesen  werden. 

Nachdem  wir  aber  so  lange  den  Bemühungen  Lotzes  für 
den  teleologischen  Idealismus  nachgegangen  sind,  wollen  wir 
uns  auch  die  Freude  gönnen,  zu  sehen,  welche  Krone  denn 
schliesslich    das    Gebäude  dieses    Idealismus  ziert.     Welches 

1)  p.  186. 


—     42     -- 

Verständniss  des  "Weltgeschehens  behauptet  er  zu  schaffen? 
—  „Niemals,  sagt  Lotze ,  werden  wir  vermögen,  den  vollen 
Sinn  jener  Idee  M  anzugeben,  welche  wir  für  die  belebende 
Seele  der  Weltbildung  hielten.  ...  Es  bleibt  ein  unaus- 
führbares Ideal  des  Denkens,  jene  höchste  Idee  zu  verfolgen 
etc."  *)  —  „Da  wir  die  Idee  nicht  kennen ,  die  in  der  Welt 
nach  ihrer  Verwirklichung  ringt,  so  können  wir  auch  nur  der 
Erfahrung  die  Erkenotniss  der  allgemein  sich  wiederholenden 
Wirkungsweisen  der  Dinge  entlehnen".  -) 

Für  die  Erkenntniss  der  Wirkungsweisen  der  Dinge  sind 
wir  also  doch  wieder  auf  die  Erfahrung  und  in  das  Reich 
des  Scheins  verwiesen.  Hoffentlich  giebt  uns  Lotze  wenig- 
stens Kenntniss  von  dem  Reiche  der  Ideen  und  seiner  Ord- 
nung ohne  Rücksicht  auf  die  Welt  des  Scheins.  Aber  auch 
hier  heisst  es :  sich  bescheiden. 

Lotze  behauptet  als  wahrhaft  Seiendes  nur  das  Eine  Ab- 
solute, und  betrachtet  die  vielen  einzelnen  Seienden  oder 
Elemente  als  Modificationen  eines  und  desselben  absoluten 
Wesens  3).  Aber  die  Art ,  wie  sie  Modificationen  desselben 
sein  sollen,  vermag  er  nicht  allgemein  klar  zu  machen.  Nur 
ein  subjectives  Bild  entwirft  er  davon.  ,,Ich  denke  mir, 
sagt  er  4),  unter  jenem  absoluten  Wesen  nicht  eine  unendliche 
Qualität  eines  gleichartigen  Realen ,  die  ihrer  Natur  nach 
fähig  in  unzählbare  homogene  Teile  zu  zerfallen,  nur  secundär 
durch  die  Mannigfaltigkeit  möglicher  Kombinationen  dieser 
Teile  der  Grund  zu  einer  Verschiedenheit  des  Weltinhalts 
werden  könnte;  ich  denke  mir  unter  ihm  eine  lebendige 
Idee,  deren  Sinn  an  sich  jeder  quantitativen  Messung  un- 
zugänglich, nicht  in  eine  Vielheit  gleicher  Teilgedanken  zer- 
fällt,   sondern   in    ein  vielfach,  verschlungenes  Gewebe  ver- 


1)  Met.  p.  179. 

2)  Met,  p.  395. 

3)  Met.  p.  381. 

4)  Met.  p.  381. 


—  4:3  — 

schiedener  sich  gliedert:  von  diesen  erwirbt  jeder  für  sich 
selbst  und  für  die  Elemente ,  aus  denen  er  besteht ,  gemäss 
dem  Werte  für  das  Ganze  auch  verhältnissmässige  Grössen- 
bestimmungeir'.  Ich  habe  mich  des  Oefteren  bemüht,  diese 
Gedanken  Lotzes  nachzudenken  und  habe  es  auch  jetzt  wieder 
versucht,  jetzt  wie  früher  mit  negativem  Erfolge.  Schon  die 
„lebendige  Idee",  vielmehr  noch  ihr  Yerhältniss  zu  den  Teil- 
ideen scheint  mir  ein  Ungedanke,  dem  ich  kein  Verständnis* 
abzugewinnen  vermag. 

Hiermit  wäre  auch  die  Lotzesche  Metaphysik  erledigt 
und  wir  wenden  uns  nunmehr  zur  Psychologie. 

Herbart  bestimmt  die  Seele  als  dasjenige,  in  seinem  ein- 
fachen Was  übrigens  uns  völlig  unbekannte  ]),  Reale,  dessen 
Selbsterhaltungen  Vorstellungen  seien  2).  Nur  durch  die  Vor- 
stellungsthätigkeit  also  und  durch  das,  was  mit  ihr  verknüpft 
ist,  unterscheidet  sich  das  Seelen-Reale  von  dem  übrigen 
Realen.  Nun  kennen  wir  direkt  nur  die  Selbsterhaltungen 
unseres  eigenen  Seelen-Realen,  nemlich  unsere  Vorstellungen. 
Dass  auch  die  übrigen  Menschen  Vorstellungen  haben,  dass 
also  auch  mit  ihrem  Leibe  ein  Seelen-Reales  zusammen  und 
causalverknüpft  sei,  erfahren  wir  indirekt  durch  ihre  Aussagen 
und  erschliessen  es  aus  den  bewussten  oder  unbewussten 
Veränderungen  ihres  Leibes.  Aus  ebensolchen  Anzeichen 
schliessen  wir  auch,  dass  die  Thiere  ebenfalls  Vorstellungen 
haben,  und  dass  demnach  mit  den  Thierleibern  vorstellende 
Reale  verbunden  seien.  Was  hindert  uns  nun,  um  hier  die 
Frage  nach  dem  Unterschiede  der  Seele  von  oder  ihrer 
Gleichheit  mit  dem  übrigen  Seienden  zu  erörtern  —  was 
hindert  uns,  dasselbe  von  den  Pflanzen,  ja  von  den  unor- 
ganischen Gebilden  anzunehmen?  Wir  kennen  ja  direkt 
nur    unsere    eigenen    Selbsterhaltungen.     Diese    nennen    wir 


1)  Lekrb    §  153. 

2)  Lehrb.  §  155. 


—     44     — 

Vorstellungen  von  denjenigen  Seienden,  gegen  die  wir  uns 
erhalten.  Diese  Seienden  „erseheinen"  uns  immer  als  Kaum- 
dinge. "Warum  sollen  nun  blos  unsere  Selbsterhaltungen 
und  die  der  Thier-Seelen-Realen  Vorstellungen  sein?  es 
können  ja  auch  alle  andern  .Realen  eben  solche  Vorstellungen 
als  Selbsterhaltungen  haben,  also  Seelen  sein,  so  dass  z.  B.  ein 
Reales,  das  wir  als  Stein  vorstellen,  als  Selbsterhaltung  gegen 
uns  auch  irgend  eine  Vorstellung  hätte.  Es  ist  demnach 
durch  die  Grundsätze  der  Herbartischen  Metaphysik  und  Psy- 
chologie durchaus  nicht  ausgeschlossen,  dass  alle  Realen  Vor- 
stellungen als  Selbsterhaltungen  haben  d.  h.  Seelen  seien, 
und  zu  dieser  Behauptung  ist  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
Lotzesche  Metaphysik  fortgeschritten. 

Aber  auch  gegen  die  entgegengesetzte  Auslegung,  dass 
die  Seele  als  ein  Räumliches  zu  fassen  sei,  hat  Herbart  seine 
Lehre  nicht  hinreichend  geschützt.  Zwar  sagt  er1),  ,,die 
Seele  ist  nicht  irgend  wo",  und  will  ihr  überhaupt  „keine 
wahrhaft  räumliche  Beschaffenheit"  zugestehen.  Aber  was 
bedeuten  die  Ausdrücke  „das  Zusammen  der  Realen",  die 
..Durchdringung"  derselben,  ja  auch  die  „Störung"  anderes, 
als  dass  Herbart  die  Realen  sich  räumlich  vorgestellt  oder 
wenigstens  der  räumlichen  Auffassung  derselben  Vorschub 
geleistet  hat?  "Wenn  er  auch  gleich  hinterher  sagt:  die  Realen 
sollen  keine  räumlichen  Bestimmtheiten  haben,  und  der  Raum, 
in  dem  sie  zusammen  seien,  sei  ein  „intelligibler"  Raum,  so 
ist  doch  damit  nichts  gebessert.  Entweder  ist  intelligibler 
Raum  dasselbe,  was  wir  im  Gegebenen  als  Raum  und  Raum- 
bestimmtheit bezeichnen,  oder  ist  überhaupt  nichts  d.h.  wir 
können  ihn  uns  nicht  vorstellen. 

So  ist  die  Frage,  ob  und.  wie  die  Seele  sich  von  den 
übrigen  Seienden  unterscheide,  speciell  ob  die  Seelen  als  eine 
Art  aller  Seienden  qualitativ  anders  bestimmt  seien  als  die 


1)  Lehrb.  §  150. 


—     45     — 

andere  Art  der  in  räumlicher  Bestimmtheit  uns  erscheinenden 
Seienden ,  von  Herbart  durchaus  nicht  genügend  beantwortet 
worden.  Seine  Worte  lassen  sogar  dass  Missverständniss  zu, 
das  Seelen-Reale  als  ein  räumlich  bestimmtes  aufzufassen. 
Lotze  bestimmt,  wie  wir  sahen,  alle  Seienden  als  Geister  oder 
Seelen  und  kann  daher  natürlich  keinen  Artunterschied  der- 
selben angeben. 

Er  bestimmt  aber  den  Begriff  der  Seele  folgendermassen  : 
die  Seele  ist  eine  Substanz  d.  i.  ein  Seiendes,  das  zu  leiden 
und  zu  wirken  fähig  ist l).  "Während  sodann  Herbart  die 
Qualität  des  Seelen-Realen  für  unerkennbar  erklärte  und  es 
nur  durch  die  Beschaffenheit  seiner  Selbsterhaltungen  als  ein 
vorstellendes  Reale  bestimmte ,  behauptet  Lotze,  die  Qualität 
der  Seelensubstanz  d.  i.  ihre  Bestimmtheiten  seien  uns  wohl 
bekannt,  und  zwar  sei  die  Seele  eine  vorstellende  fühlende 
wollende  Substanz:  2)  Wenn  nemlich  das  gesuchte  Was  eines 
Dinges  erstens  nach  dem  frage,  wodurch  dieses  Ding  sich  von 
andern  unterscheide;  zweitens  nach  dem,  wodurch  es  ein 
Ding  sei  wie  andere,  so  müsse  es  völlig  unbegreiflich  schei- 
nen ,  wie  man  nach  dem  Was  eines  Wesens  fragen  und  es 
doch  noch  in  etwas  Anderem  suchen  könne,  als  in  dem,  was 
dieses  Wesen  sei  und  thue,  und  wie  man  nach  seinem  Sein 
fragen  und  wieder  dies  anderswo  suchen  könne,  als  in  seinem 
eigenen  Thun  und  Treiben;  wie  man  also  glauben  könne 
die  Seele  noch  nicht  zu  kennen,  wenn  man  alle  ihre  Thaten 
kenne,  aber  die  elastische  Kugel  noch  nicht,  an  der  nach 
einem  Gleichnisse  Kants  diese  ihre  Natur  befestigt  sei ;  oder 
wie  man  ihre  lebendige  Wirklichkeit  nicht  in  ihrem  Handeln, 
im  Vorstellen  Fühlen  Streben  finden,  sondern  in  einem  namen- 
losen Sein  suchen  könnte,  an  welchem  diese  konkreten  Formen, 
des  Benehmens,  die  aus  ihm  nicht  fliessen  würden,  doch  auf 


1)  Met.  p.  482  u.  486. 

2)  Met.  p.  485|86. 


-     46     — 

nie  aufzuklärende  Weise  participierten.  ,.Jede  Seele  ist  das, 
als  was  sie  sich  giebt:  in  bestimmten  Vorstellungen  Gefühlen 
und  Strebungen  lebende  Einheit*'. 

Diese  Lotzesche  Bestimmung  des  Begriffs  ,. Seele"  können 
wir  zur  unsrigen  machen;  mir  müssen  wir,  da  uns  die  Seelen 
nicht  die  einzige  Art  des  Seienden  darstellen,  um  sie  von 
dem  übrigen  Seienden  zu  unterscheiden,  hinzufügen,  das? 
die  Seele  weder  irgend  eine  qualitative  noch  räumliche  Be- 
stimmtheit hat,  und  dass  sie  die  Vorstellungen  Gefühle  und 
Wollungen  als  ihre  Bestimmtheiten  hat.  während  das  Raum- 
ding aus  dem  Zusammen  von  räumlichen  und  qualitativen 
Bestimmtheiten  besteht,  ohne  dass  zu  diesen  ein  Subjekt 
hinzukomme,  welche  diese  Bestimmtheiten  als  die  Seinigen 
habe. 

Xach  Herbart  ist  die  Seele  als  ein  Reales  unentstanden 
und  unvergänglich.  Seinen  Glauben  an  eine  Fortdauer  der 
Seele  nacn  dem  Tode  und  seine  Ansicht  über  die  Art  dieser 
Fortdauer  spricht  er  im  ., Lehrbuch"  §  247  aus:  ..dass  die 
spätere  Verarbeitung  tumultuarisch  angehäufter  Vorstellungen 
ganz  anders  nach  dem  Tode,  als  während  des  Treibens  in 
der  sinnlichen  Mitte  der  irdischen  Dinge  ausfallen  müsse, 
leuchtet  unmittelbar  ein.  Auch  der  Traum  kann  damit  gar 
keine  Aehnlichkeit  haben.  Denn  die  Sinne  zwar  werden 
durch  den  Schlaf  verschlossen,  aber  ebenderselbe  drückt  auf 
die  Vorstellungen,  so  dass  die  Gesetze  ihres  Zusammenhanges 
nur  teilweise  wirken,  woraus  eben  die  Zerrbilder  des  Traumes 
entstehen.  Nach  dem  Tode  aber,  frei  vom  Leibe,  muss  die 
Seele  vollkommener  wachen  als  jemals  im  Leben".  —  Xach 
diesen  Worten  scheint  Herbart  sich  die  Sache  etwa  so  zu 
denken:  So  wie  die  Seele  in  das  Zusammen,  in  die  Causal- 
verknüpfungmit  andern  Realen,  ..zufällig"  eingetreten  ist,  so 
tritt  sie  auch  wieder  aus  demselben  heraus,  und  da  das  Seelen- 
Reale  nun  keine  Störungen  mehr  erleidet,  keine  neuen  Vor- 
stellungen mehr  hat,    so  hat  es  jetzt  Zeit,  die  früheren  Vor 


—     47     — 

Stellungen  zu  „verarbeiten".  Dieser  Glaube  an  die  Unsterb- 
lichkeit der  Seele  liegt  ganz  in  der  Consequenz  der  meta- 
physischen Annahme  Herbarts.  „Ein  Pluralismus,  sagt  Letze *), 
der  die  Ordnung  der  AVeit  aus  einer  Mehrheit  nachträglich 
durch  Gesetze  verbundener  und  gegen  einander  völlig  selb- 
ständiger Elemente  entstehbar  glaubt,  kommt  natürlich  ciarauf, 
Unzerstörbarkeit  und  Unveränderlichkeit  in  die  ursprüngliche 
Natur  dieser  Elemente  hineinzudenken;  wünscht  er  dann  die 
Seele  nicht  als  einen  hinfälligen  Xebeneffekt  an  die  Con- 
stellationen  dieser  beständigen  Atome  zu  knüpfen,  so  bleibt 
ihm  nur  übrig,  auch  sie  unter  die  Anzahl  so  ewiger  Wesen- 
heiten aufzunehmen  ;  nun  kann  die  Seele  auf  dies  vorwelt- 
liche Substanzenrecht  pochen  und  gewiss  sein ,  dass  ihr  in 
jedem  Weltlauf,  wie  er  auch  sein  mag,  weder  Ursprung  noch 
Untergang  zugemutet  werden  darf. 

Eine  solche  Ueberzeugung  von  der  Unentstandenheit 
und  Unvergänglichkelt  der  Seele  vermag  Lotze  nicht,  sich 
zu  eigen  zu  machen.  Schon  in  der  „Medizinischen  Psycho- 
logie" 2)  trägt  er  kein  Bedenken  „den  abenteuerlichen  Ge- 
danken einer  unendlichen  Präexistenz  der  Seelen ,  unter 
welcher  Form  er  auch  auftreten  mag",  ebenso  sehr  zurück- 
zuweisen, „als  die  notwendige  unendliche  Fortdauer  aller 
(einschl.  der  Tierseelen)",  und  demgegenüber  zu  behaupten, 
„dass  ein  Werden  und  Vergehen  der  Seelen  im  Allgemeinen 
stattfinden  muss".  Auch  in  der  „Metaphysik"  bleibt  ihm  die 
unendliche  Präexistenz  der  Seele  vor  diesem  uns  bekannten 
irdischen  Leben,  ebenso  wie  die  Unsterblichkeit  jeder  thieri- 
schen  Seele  eine  „unwahrscheinliche  Seltsamkeit"  3). 

Die  Gründe  für  die  Unwahrscheinlichkeit  dieser  Seltsam- 
keit scheint  Lotze    allerdings    der  Erfahrung  entnommen    zu 


1)  Met,  p.  486. 

2)  p.  163. 

3)  Met.  p.  487. 


haben,  doch  gesteht  er  dies  nicht  offen  zu;  denn  nach  seiner 
Darstellung  ist  es  nicht  das  zu  notwendigen  Ergebnissen 
über  diesen  Gegenstand  gelangende  erfahrungsmässige  Denken, 
sondern  teils  sind  es  gemütliche  und  sittliche  Bedürfnisse, 
teils  seine  metaphysischen  Grundsätze,  die  ihm  eine  solche 
Selbständigkeit  der  Seele  unmöglich  erscheinen  lassen; 
„Abgesehen  von  aller  Unwahrscheinlichkeit  des  Hergangs  (der 
Verbindung  ewig  präexistierender  Seelen  mit  den  Keimen 
der  thierischen  Geschöpfe)"  erscheint  Lotze  diese  Theorie 
schon  darum  unglaublich,  „weil  sie  ganz  die  sittliche  und 
innige  Bedeutung  des  Verhältnisses  zwischen  Eltern  und 
Kindern  durch  die  Annahme  einer  nur  körperlichen  Seite  der 
Generation  vernichtet''1);  und  „alles  Einzelne  kann  nur  so 
lange  dasein  und  nur  soviel  und  solches  wirken  oder  leiden, 
als  die  höchste  Idee  ihm,  sofern  es  eines  und  gerade  dieses 
ihrer  Momente  ist,  zulässt  oder  überträgt". 2)  Hiermit  stimmt 
die  „Mataphysik"  überein:3)  „Aller  dieser  Gedanken  (von 
der  unendlichen  Präexistenz  der  Seelen  wie  von  der  Un- 
sterblichkeit aller  auch  der  tierischen  Seelen)  hat  sich  unsere 
monistische  Auffassung  längst  entschlagen;  die  Ordnung  der 
Welt.Dasein  undWirkungsfähigkeit  jegliches  Dinges  hat  sie  ganz 
und  rückhaltslos  in  die  Hand  des  einen  unendlichen  Wesens 
gestellt,  auf  dem  die  Möglichkeit  aller  "Wechselwirkungen 
allein  beruhte,  und  nirgends  hat  sie  eine  Vorwelt  begriff- 
licher Notwendigkeit  anerkannt,  aus  welcher  die  Dinge  An- 
spruch auf  andere  Schicksale  herleiten  könnten,  als  diejenigen, 
welche  ihnen  der  Sinn  des  Ganzen  zu  seinem  Dienste  be- 
stimmt". 

Lotze   fasst   hier   ganz    unmittelbar    das  Verhältniss  der 
Seele  zum  Absoluten  wie  das  eines  Geschaffenen  zu  seinem 


1)  Med.  Psych,  p.  161. 

2)  Med.  Ps.  p.  164. 

3)  Met.  p.  487. 


—    49     — 

Schöpfer.  Daraus  folgt  nun ,  da  uns  die  Erfahrung  nichts 
darüber  lehrt,  ob  die  Seelen  nach  dem  Tode  des  Leibes  fort- 
dauern oder  nicht,  und  da  wir  die  Absichten  des  Absoluten 
nicht  kennen,  die  es  etwa  mit  den  Seelen  hat:  dass  es  uns 
nach  Lotze  unmöglich  ist  über  die  thatsächliche  Unsterblich- 
keit der  Seelen  etwas  zu  entscheiden.  Wir  vermögen  nicht 
zu  sagen,  ob  das  Absolute  den  Seelen  eine  ewige  Dauer  zu- 
gestehen will  oder  nicht,  ob  allen  oder  nur  einzelnen:1) 
„Aus  der  Metaphysik  scheidet  die  Frage  nach  der  Unsterb- 
lichkeit der  Seele  aus.  Kein  anderer  Grundsatz  steht  uns 
ausser  der  allgemeinen  idealistischen  Ueberzeugung  zu  Ge- 
bote: fortdauern  werde  jedes  Geschaffene,  dessen  Fortdauern 
zu  dem  Sinne  der  Welt  gehört  und  so  lange  sie  zu  ihm  ge- 
hört; vergehen  werde  Alles,  dessen  Wirklichkeit  nur  in  einer 
vorübergehenden  Phase  des  Weltlaufs  seine  berechtigte  Stelle 
hatte.  Dass  dieser  Grundsatz  keine  weitere  Anwendung  in 
menschlichen  Händen  gestatte,  bedarf  kaum  der  Erwähnung; 
wir  kennen  sicher  die  Verdienste  nicht,  die  dem  einen  Wesen 
Anspruch  auf  ewiges  Bestehen  erwerben  können ,  noch  die 
Mängel,  die  ihn  andern  versagen". 

Ewas  weiter  zu  Gunsten  der  Unsterblichkeit  der  mensch- 
lichen Seele  ging  Lotze  in  der  „Medizinischen  Psychologie." ') 
„Ist  in  der  Entwicklung  eines  geistigen  Lebens  ein  Inhalt 
realisirt  worden  von  so  hohem  Werte,  dass  er  in  dem  Ganzen 
der  Welt  unverlierbar  erhalten  zu  werden  verdient,  so  werden 
wir  glauben  können,  dass  er  erhalten  wird;  ist  nichts  in  der 
Seele  zu  Stande  gekommen,  was  eine  individuelle  Fortdauer 
erheischte,  so  dürfen  wir  glauben,  dass  sie  zu  Grunde  geht. 
Man  wird  geneigt  sein,  diese  allgemeine  Vorstellung  so  an- 
zuwenden, dass  aus  ihr  die  Sterblichkeit  der  Tierseelen,  die 
Unsterblichkeit  aller  menschlichen  hervorginge". 


1)  Met.  p.  487. 

2)  Med    Ps.  p.  1C4. 


—     50     — 

Mehr  und  Sichereres  als  über  die  Un Vergänglichkeit  der 
Seele  glaubt  Lotze  über  ihre  Entstehung  sagen  zu  können. 
Die  Seele  entsteht  nicht  als  ein  direktes  Produkt  physischer 
Processe,  denn  es  lasse  sich  nicht  denken,  wie  durch  die- 
selbe ndie  materiellen  Elemente  als  Nebenerfolg  die  Entstehung 
eines  ganz  anders  gearteten  Seienden  haben  könnten  J),  son- 
dern die  Seele  wird  nach  Lotze  vom  Absoluten  erschaffen 
oder  erzeugt.  8)  Aber  nicht  durch  eine  freie  Nachschaffung 
der  Seele  lässt  Lotze  die  Beseelung  des  werdenden  Leibes 
zu  Stande  kommen,  weil  eine  solche  Annahme  nicht  minder 
als  die  Lehre  von  der  Präexistenz  nur  eine  körperliche  Seite 
der  Generation  übrig  lassen  und  ihre  Bedeutung  für  unser 
sittliches  Gefühl  wesentlich  verändern  würde. 3)  Lotze  nimmt 
vielmehr  an,  dass  die  Entstehung  des  Keimes  eines  Organis- 
mus derartig  auf  das  Absolute  zurückwirke,  dass  dieses  eine 
bestimmte  Seele  aus  sich  erzeuge.  Nicht  so  aber  sei  dies  zu 
verstehen,  als  ob  der  sich  bildende  Keim  in  die  Ferne  zu 
wirken  habe,  um  aus  irgend  einer  entlegenen  Gegend  des 
Himmels  sich  seine  Beseelung  zu  erbitten,  und  die  Seele 
habe  nicht  nötig,  einen  langen  und  beschwerlichen  "Weg  etwa 
aus  dem  unräumlichen  Sein  herkommend  zurückzulegen,  um 
in  den  Mittelpunkt  des  Keimes  zu  gelangen,  denn  das  Un- 
räumliche sei  jedem  Punkte  des  Raumes  gleich  nahe.  Wo 
also  immer  eine  physische  Organisationsbewegung  sich  ent- 
zünde, da  sei  zugleich  das  beseelende  Princip  gegenwärtig.4) 

Entkleiden  wir  die  Lotzesche  Darlegung  ihrer  mythischen 
Ornamente,  so  ist  ihr  Sinn  folgender:  Zugleich  und  zusammen 
mit  dem  Keim  eines  Organismus  entsteht  auch ,  wenn  man 
so  sagen  darf,  der  Keim   einer  mit  diesem  Organismus  ver- 


1)  Med.  Pä.  p.  165. 

2)  Met.  p.  488. 

3)  Med.  Ps.  p.  164]65. 

4)  Med.  Ps.  p.  168.     vgl.  Met. 


—     51     — 

bundenen  und  mit  ihm  —  wie  Lotze  an  anderer  Stelle  zeigt ') 
—  in  Causalverknüpfung  stehenden  Seele  d.  h.  ein  Bewusst- 
seinssubjekt,  welches  in  gleicherweise,  wie  der  entstehende 
leibliche  Organismus  von  den  Leibern  seiner  Erzeuger,  so 
von  den  Seelen  derselben  verwandschaftlich  abhängig  ist. 

Behalten  wir  diese  Thatsache  für  eine  spätere  Stelle  im 
Gedächtniss  und  prüfen  wir  hier  zunächst  die  Gründe,  durch 
welche  Lotze  bestimmt  wurde,  die  Unentstandenheit  der  Seele 
d.  i.  ihre  ewige  ursprüngliche  Existenz  zu  bestreiten. 

Mit  dem  Anspruch  eines  rein  theoretischen  Beweises 
tritt  die  Behauptung  Lotzes  auf,  dass  sich  die  ewige  Existenz 
der  Seele,  ein  Fürsichsein  derselben,  nicht  vertrage  mit  den 
•Grundsätzen  seiner  monistischen  Auffassungsweise  und  daher 
nicht  möglich  sei.  Nun  glaube  ich  aber  nachgewiesen  zu 
haben  ,  dass  der  Lotzesche  Monismus  auf  keine  "Weise  sich 
aus  den  gegebenen  Toraussetzungen  denknotwendig  ergiebt. 
Folglich  ist  dieser  Beweis  gegen  die  Präexistenz  der  Seelen 
nichtig. 

Der  andere  Grund,  welcher  Lotze  diese  Theorie  wie  auch 
die  einer  „freien"  Nachschaffung  der  Seele  in  den  Keim  des 
Organismus  hinein  unglaublich  erscheinen  Hess,  war  der, 
dass  sie  die  sittliche  und  innige  Bedeutung  des  Verhältnisses 
zwischen  Eltern  und  Kindern  durch  die  Annahme  einer  nur 
körperlichen  Seite  der  Generation  vernichten  würde.  Dieser 
Grund  ist  offenbar  vom  Gefühl  hergenommen  und  darum 
ganz  ungeeignet,  eine  theoretische  Frage  zu  entscheiden.  Ob 
uns  diese  oder  jene  Thatsache  angenehm  oder  unangenehm 
ist,  ob  sie  sittliche  Verhältnisse  stört  oder  fördert,  das  ent- 
scheidet, wie  die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  nichts  über  ihre 
"Wirklichkeit.  Uebrigens  würde  das  Gefühl,  wenn  die  Seelen 
bekanntermassen    präexistirten ,    und   wir  von   unsern  Eltern 


1)  Im  Abschnitt:    „die  leibliche   Begründung  geistiger  Thätigkeit' 
Met.  p.  574  ff.  besonders  §  S07  p.  GOO  ff. 

4* 


—     52     — 

nur  als  leibliche  Organismen  erzeugt  wären,  sich  bei  dieser 
Thatsache  beruhigen,  und  das  Verhältniss  zwischen  Eltern 
und  Kindern  würde  wohl  in  den  einzelnen  konkreten  Fällen 
ebenso  verschieden  sein  wie  jetzt. 

So  bleibt  nur  noch  der  Grund  übrig,  den  Lotze  gar  nicht 
ausdrücklich  als  Grund  anführt,  sondern  nur  als  Thatsache 
anerkennt,  indem  er  die  Seele  von  dem  Absoluten  auf  eine 
Anregung  des  leiblichen  Keimes  diesem  „entsprechend", 
also  indirekt  entsprechend  dem  Leibe  und  abhängig  von  dem 
Leibe  der  Eltern ,  nachschaffen  lässt.  Das  ist  die  Thatsache, 
die  er  in  der  „Med.  Psych."  J)  erwähnt  und  anerkennt,  dass, 
wie  der  Leib  des  Kindes  eine  verwandtschaftliche  Abhängig- 
keit von  dem  Leibe  der  Eltern  zeigt,  so  auch  in  der  Seele 
des  Kindes  die  geistigen  Thätigkeiten  des  Vaters  und  der 
Mutter,  ihre  Neigungen,  ihre  Talente,  die  ursprünglichen 
Richtungen  ihrer  Phantasie  sich  wiederzeigen.  Wenn  nun 
solche  „Familienähnlichkeit"  zwischen  der  Seele  der  Kinder 
und  der  Seele  der  Eltern  statthat,  und  wenn,  wie  auch  Lotze 
implicite  als  Thatsache  anerkennt  (s.  oben  S.  50)  zugleich  mit 
dem  Keim  des  Leibes  der  „Keim"  der  Seele  entsteht,  so  ist 
doch  die  nächste  Folgerung,  dass  wie  der  leibliche  Keim  so 
auch  der  Seelenkeim  direkt  durch  den  Akt  der  Zeugung  ent- 
steht, und  dass  die  Lösung  des  Samens  vom  Manne  ein 
Analogon  zu  der  Thatsache  sei ,  dass  Stücke  zerschnittener 
niederer  Tiere  z.  B.  der  Polypen  sich  zu  vollständigen  individuell 
beseelten  Wesen  ausbilden  2).  Die  Aehnlichkeit  der  Seele 
des  Kindes  mit  der  Seele  der  Mutter  würde  dann  dadurch 
erklärt  werden  müssen,  dass  ja  der  neue  Organismus  zunächst 
ein  Teilorganismus  der  Mutter  ist  und  gerade  während  des 
ersten  schnellsten  Wachstums  ganz  von  dem  Mutterleibe  er- 
nährt wird,    und  dass  die   Seele  mit  dem  Leibe  auch  in  der 


1)  Med.  Ps.  p.  161. 

2)  Med.  Ps.  p.  168. 


—     53     — 

Beziehung  im  engsten  Causalzusammenhang  steht,  dass  so- 
wohl intellektuelle  wie  Charaktereigenschaften  der  Seele  von 
der  Beschaffenheit  und  der  Ernährungsart  des  Leibes  in  hohem 
Grade  abhängig  sind. 

Bezüglich  der  Entstehung  der  Seele  also  stimmen  wir 
Lotze  zwar  darin  bei,  dass  die  Seele  zugleich  mit  dem  Keim 
des  Organismus  entstanden  sei,  aber  nicht  in  der  Ansicht 
über  die  Art,  wie  sie  entstanden  sei.  Was  nun  die  Fort- 
dauer der  Seele  nach  dem  Tode  des  Leibes  betrifft,  so  be- 
daure  ich,  ihm  in  keinem  Punkte  beistimmen  zu  können,  da 
ich  der  Meinung  bin,  wir  vermögen  über  die  Möglichkeit 
dieser  Fortdauer  ein  negatives  Urteil  zu  fällen. 

Erstens  nemlich  spricht  die  Thatsache ,  dass  noch  nie- 
mand die  Existenz  einer  Seele,  deren  Leib  gestorben  war, 
erfährungsmässig  hat  beweisen  können,  dafür,  dass  mit  dem 
Tode  des  Leibes  auch  der  Tod  der  Seele  eintritt.  Zweitens 
müssen  wir  nach  dem  Erfahrungssatze,  dass  jedes  besondere 
Seiende,  das  entstanden  ist,  auch  vergeht,  aus  der  Entstehung 
des  individuellen  Bewusstseins-Subjekts  auf  ein  Vergehen 
desselben  schliessen.  Drittens  führt  uns  die  Entwickelung 
der  Seele  zu  demselben  Schlüsse.  Ihre  Kralt  und  Lebendig- 
keit steigt  von  den  niedrigsten  Graden  analog  der  Entwicke- 
lung des  Leibes  bis  zu  einer  gewissen  Höhe,  um  dann  ebenso 
wieder  zu  sinken.  Bei  alten  leibesschwachen  Personen  ge- 
wahrt man  eine  merkwürdige  Geistesschwäche,  Mangel  an 
Gedächtniss  und  überhaupt  an  Zusammenhang  des  Denkens. 
Der  Inhalt  des  Bewusstseins  verringert  sich,  bei  langsamen 
Todesarten  des  Leibes  geht  dem  eigentlichen  Tode  eine  län- 
gere Zeit  fast  ganz  bewusstlosen  Lebens  vorher,  wobei  auch 
solche  Fälle  vorkommen,  dass  nach  längerem  (in  einem  mir 
bekannten  Falle  2  Tage  langen)  bewusstlosen  Leben  wieder 
eine  Kräftigung  des  Bewusstseins-Subjekts  zugleich  mit  der 
des  Körpers  eintrat.  Diejenige  Ansicht,  welche  die  Seele 
den  Körper    verlassen    und    ein    Sonderleben    weiter   führen 


—     54      - 

ässt,  kann  diese  Thatsachen  gar  nicht  erklären,  oder  sie 
müsste  behaupten ,  dass  nach  und  nach  Teile  der  Seele  sich 
von  dem  Leibe  trennen  und  „im  Jenseits"  wieder  zusammen- 
finden. —  Viertens  aber  spricht  gegen  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  ihr  eigentümliches  Zusammen  mit  dem  Leibe.  Solange 
wir  uns  oder  unsere  Seele  als  Bewusstseins-Subjekt  kennen, 
ist  unser  Bewusstseinsleben  durchaus  abhängig  von  unserem 
Körper  und  seinen  Sinnesorganen  Nur  durch  fortwährende 
neue  Zufuhr  von  "Wahrnehmungen  und  Gemuinernpfindungen 
wird  unser  Denken  in  Fluss  erhalten,  werden  frühere  Wahr- 
nehmungen reproduciert  u.  s.  w.,  wie  ja  auch  Wahrnehmungen 
und  Gemeinempfindungen  die  ersten  Objekte  des  Bewusst- 
seins  bildeten.  Wie  sollte  denn  nun  die  von  ihrem  Leibe 
getrennte  Seele  neue  Wahrnehmungen  erhalten,  durch  welche 
die  früheren  reproduciert  und  ein  vergleichendes  Denken 
veranlasst  würde?  Und  wie  könnte  eine  Seele,  ein  denken- 
des Seiendes,  noch  sein,  wenn  sie  nicht  mehr  denkt. 

Diese  vorgetragenen  Gründe  bestimmen  mich  zu  dem 
Schlüsse,  dass  mit  dem  Tode  des  Leibes  auch  die  Seele  auf- 
hört, als  solche'  zu  existieren.  Aber  wie  hört  sie  auf?  Das 
ist  jetzt  die  schwierige  Frage.  Sie  kann  doch  nicht  spurlos 
ins  Nichts  verschwinden,  denn  sie  ist  ja  nicht  aus  dem  Nichts 
entstanden.  Sie  entstand  zugleich  mit  dem  leiblichen  Keim, 
indem  sich  beseelter  Same  vom  beseelten  Leibe  des  Mannes 
ablöste.  Wie  ist  nun  der  Vorgang  beim  Tode  ?  Man  sollte 
meinen,  wie  der  Leib  mit  dem  Tode  nicht  verschwunden  ist, 
sondern  nur  der  organische  Zusammenhang  der  Bestandteile 
desselben  aufgehoben,  so  könnte  auch  die  Seele  nicht  spurlos 
verschwinden ,  sondern  ein  der  Zersetzung  des  Leibes  ana- 
loger Vorgang  müsste  sich  hier  vollziehen.  Die  Consequenz 
hiervon  wäre  allerdings,  dass  alle  oder  wenigstens  mehrere 
Atome  des  gestorbenen  Leibes  ihre  besondere  Seele  hätten, 
und  dass  diese  vorher,  sowie  die  Körperatome  durch  ihr  Zu- 
sammenwirken   den  Organismus    bildeten,    so   ihrerseits  das 


—     55     — 

Bewusstseins-Subjekt ,  das  mit  jenem  Organismus  zusammen 
war,  zu  Stande  gebracht  hätten. 

Uebrigens  liegt  diese  Ansicht,  so  ungeheuerlich  sie  auch 
klingen  mag,  durchaus  nicht  so  weit  ab  vom  Wege  vernünf- 
tiger Ueberlegung.  Lotze  selbst  bekämpft  die  Ansicht  von 
der  Beseeltheit  der  Atome  nur  deswegen ,  weil  ihm  die  Ein- 
heit des  Bewusstseins  dagegen  zu  streiten  scheint. 

In  der  Erörterung  über  den  „metaphysischen  Begriff  der 
Seele"  lesen  wir : *)  „Die  Unvergleichbarkeit  der  physischen 
und  der  psychischen  Vorgänge  macht  es  nur  unvermeidlich, 
für  jede  der  beiden  Gruppen  ihren  besondern  Erklärungs- 
grund festzuhalten.  Aber  es  würde  ein  Ueberschuss  der  Be- 
hauptung sein,  die  beiden  so  zu  sondernden  Principien  seien 
notwendig  an  zwei  verschiedene  Sorten  von  Substanzen  ver- 
teilt. Nichts  hindert  vorläufig  die  andere  Annahme,  jedes 
Element  der  Wiklichkeit  vereinige  in  sich  die  beiden  Ur- 
eigenschaften,  aus  deren  einer  geistiges  Leben  entspringen 
könne,  während  die  andere  die  Bedingung  der  Erscheinung 
als  Materie  enthalte.  So  stände  nicht  ein  eigentümliches  Ge- 
schlecht von  Seelen  ohne  jede  physische  "Wirksamkeit  einer 
völlig  selbstlosen  Gattung  materieller  Elemente  gegenüber, 
sondern  auch  in  den  letzteren  könne  sich,  in  mannigfaltigen 
Abstufungen,  ein  inneres  Leben  regen,  unserer  Beobachtung 
freilich  stets  entzogen  und  auch  nicht  erraten ,  so  lange  für 
uns  verständliche  Formen  der  Aeusserung  ihm  abgehen. 
Welcher  Grund  es  sei,  der  diese  beiden  Attribute  in  dem 
Seienden  vereinige,  würde  diese  Ansicht  mit  demselben 
Rechte  völlig  dahingestellt  lassen,  mit  dem  auch  die  unsere 
sich  nur  auf  eine  thatsächliche  Verknüpfung  zweier  Reihen 
von  unvergleichbaren  Vorgängen  berufen  konnte  *).  Es  scheint 
mir,  dass  jede  Vorstellungsweise,  die  sich  selbst  Materialismus 


1)  Met.  p.  475  §  240. 

2)  vgl.  §  239. 


—     56     — 

nennt,  zuletzt  auf  dieser  Annahme  beruht,  oder  bei  einigem 
Nachdenken  auf  sie  zurückkommen  muss ;  die  Materie ,  aus 
welcher  sie  die  geistigen  Erscheinungen  abzuleiten  denkt,  ist 
ihr  von  Haus  aus  heimlich  etwas  Besseres,  als  sie  von  aussen 
angesehen,  zu  sein  scheint.  So  kommt  es,  dass  es  für  eine 
wohlgestellte  Aufgabe  gelten  kann,  aus  den  Gegenwirkungen 
der  psychischen  Regungen  der  körperlichen  Elemente  das 
geistige  Leben  eines  Organismus  ebenso  abzuleiten,  wie  als 
eine  Resultante  aus  dem  Zusammenfluss  ikrer  physischen 
Kräfte  das  leibliche  Leben  desselben  entsteht.  So  lange  wir 
nun  auf  äusserliche  Beobachtung  eines  fremden  Seelenlebens 
beschränkt  wären,  wüsste  ich  nicht,  was  man  völlig  Ent- 
scheidendes dieser  Annahme  entgegenstellen  könnte,  nach 
welcher  jede  psychische  Aeusserung  das  letzte  Ergebniss  einer 
uncentralisierten  Vielheit  von  Komponenten  wäre;  aber  die 
innere  Erfahrung  bietet  uns  die  Thatsache  einer  Einheit 
des  Bewusstseins  als  den  dritten  nicht  zu  überwältigenden 
Grund  dar,  auf  welchem  allerdings  die  Ueberzeugung  von  der 
Selbständigkeit  eines  Seelenwesens  in  einer  sogleich  auszu- 
führenden Weise  sicher  beruhen  kann". 

Denn  unabweisbar  sei,  so  führt  Lotze  weiter  aus1),  die 
Einheit  des  Bewusstseins.  Jede  Yergleichung  zweier  Vor- 
stellungen, die  damit  ende,  ihre  Inhalte  gleich  oder  ungleich 
zu  finden,  setze  die  völlig  unteilbare  Einheit  dessen  voraus, 
das  diese  Thätigkeit  ausführe.  Dasselbe  müsse  es  gewesen 
sein,  das  zuerst  die  Vorstellung  des  a  fasste,  dann  die  des 
b,  und  das  zugleich  sich  der  Art  und  der  Woite  der  Differenz 
bewusst  werde,  die  zwischen  beiden  bestehe.  Allerdings! 
Gewiss  wird  durch  diese  Thatsache  die  Einheit  des  Bewusst- 
seins-Subjektes  bewiesen,  welches  die  beiden  Vorstellungen 
gehabt  hat.  Aber  mit  welchem  Rechte  nennt  Lotze  diese 
Einheit  eine  „unteilbare"?  Auch  der  Organismus  ist  ja  Einer, 

1)  Met.  p.  477. 


—     57     - 

und  doch  zerfällt  er  nach  dem  Tode  in  unzählige  Atome. 
Freilich  was  Lotze  gegen  diejenigen  sagt,  welche  die  Einheit 
des  Bewusstseins  als  eine  resultierende  Bewegung  aus  dem 
•Zusammenwirken  vieler  Komponenten  herleiten,  muss  jeder 
billigen.  Sowie  immer  die  aus  dem  Zusammenwirken  zweier 
oder  mehrerer  Bewegungen  resultirende  Bewegung  die  Be- 
wegung Eines  Elements  oder  Elementenkomplexes  ist,  so 
wäre  immer  Ein  Bewusstseins-Subjekt  nötig,  in  dem  das  Zu- 
sammenwirken vieler  Komponenten  sich  kombinierte.  Aber 
könnte  nicht  die  Einheit  des  Bewusstseins-Subjektes  ebenso 
eine  eigenartige  Vereinigung  vieler  Bewusstseins-Subjekte 
soin  (die  dann  natürlich  ihre  Selbständigkeit  in  dieser  Ver- 
einigung einbüssten)  wie  die  Einheit  des  Organismus  eine 
eigenartige  Vereinigung  vieler  Körperelemente  ist".  —  Ferner 
aber,  wenn  unbestreitbar  das  Bewusstseins-Subjekt,  welches 
die  Vorstellung  a  und  die  Vorstellung  b  hat  und  beide  als  seine 
Vorstellungen  mit  einander  vergleicht,  Ein  Bewusstseins- 
Subjekt  ist,  wie  steht  es  mit  der  Einheit  des  Bewusst- 
seins-Subjektes  eines  Menschen ,  der  im  Schlafe  geträumt, 
gesprochen,  Handlungen  ausgeführt  hat,  deren  er  sich  nach 
dem  Erwachen  nicht  als  der  Seinigen  bewusst  ist,  auch  nicht 
bewusst  wird,  obwohl  man  ihn  daran  erinnert,  ihm  sagt,  was 
er  gesprochen  und  gethan  hat?  Da  scheint  doch  das  Be- 
wusstseins-Subjekt des  Träumenden  ein  anderes  zu  sein  als 
das  des  "Wachenden.  "Wie  solche  Vorgänge  zu  erklären 
seien,  darüber  wage  ich  keine  Behauptung,  wie  auch  meine 
Erklärung  des  Todes  des  Bewusstseins-Subjektes  keinen  An- 
spruch darauf  macht,  das  Richtige  getroffen  zu  haben,  aber 
die  „unteilbare"  Einheit  der  Seele  ist  von  Lotze  nicht 
bewiesen,  und  gar  nicht  in  Angriff  genommen  sehe  ich  einen 
Beweis  für  die  „Selbständigkeit"  der  Seele  d.  i.  iür  eine 
Existenz  derselben  ohne  ihren  Körper.  Allerdings  dürfte 
dieser  Beweis  unmöglich  sein.  Bisher  ist  er  jedenfalls  noch 
nicht  geliefert.     Denn   alle   Erzählungen   einzelner  angeblich 


-     58    - 

bevorzugter  Menschen  von  gehabten  Erscheinungen  „abge- 
schiedener Seelen-'  werden  wir  mit  Kant J)  auf  krankhafte 
Zustände  des  Gehirns  und  der  Nerven  des  Betreffenden,  der 
die  Erscheinung  hatte,  zurückführen.  So  lange  wir  daher 
unsere  eigene  Seele  nur  im  Zusammen  mit  unserem  Leibe 
kennen  und  keine  Seele  sich  uns  als  ohne  Leib  existierend 
bewiesen  hat.  so  lange  werden  wir  die  „Selbständigkeit"  der 
Seele  anzweifeln  müssen. 

Bisher  haben  wir  als  Bestimmtheiten  der  Seele  die  Unräum- 
liehkeit,  die  Einheitlichkeit  und  das  Vorstellen  Fühlen  Wollen. 
In  der  letzteren  Bestimmtheit,  dass  nemlich  die  Seele  vor- 
stellt fühlt  will,  besteht  ihr  Wirken  und  Leiden,  das  wodurch 
sie  Substanz  ist.  Diese  Wirkungen  und  Leiden  der  Seele 
sind  (und  diese  Bestimmtheit  ist  dem  Begriffe  der  Seele  hin- 
zuzufügen) nach  Lotze,  dem  wir  hierin  vollständig  beistimmen, 
festen  Gesetzen  unterworfen.  „So  lange  psychiches  Leben 
in  unzähligen  Beispielen  nach  denselben  allgemeinen  Mustern 
sich  verwirklicht,  und  so  lange  in  jeder  einzelnen  Seele  die- 
selben Vorgänge  sich  zu  unzähligen  Malen  wiederholen,  so 
lange  kann  ein  allgemeingesetzlicher  Zusammenhang  nicht 
in  Abrede  gestellt  werden,  nach  welchem  auch  hier  gleiche 
Bedingungen  gleiche  Erfolge  und  gleiche  Veränderungen  jener 
auch  gleiche  Veränderungen  dieser  nach  sich  ziehen". 2) 

Noch  eine  andere  Bestimmtheit  fügt  Lotze  mit  Recht  dem 
Begriff  der  Seele  hinzu,  dass  sie  nemlich  in  Wechselwirkung 
mit  ihrem  Leibe  steht a),  und  dass  das  Wirken  der  Seele  auf 
die  sogenannte  Aussenwelt  sowie  ihr  Leiden  von  derselben 
an  die  Vermittlung  durch  „ihren"  Leib  gebunden  ist. 

Die  Möglichkeit  eines  nicht  an  die  Vermittelung  des 
Leibes  gebundenen  Kapports  der  Seelen  unter  einander  will 
Lotze  zwar  nicht  bestreiten ,   behauptet  sie  aber  auch    nicht, 

1)  Träume  eines  Geistersehers  (Kirclmianu)  p.  88  ff. 

2)  Met.  p.  491. 

3)  ebendas. 


•  —     59     — 

sondern  nimmt  einen  skeptischen  Standpunkt  ein ]).  Wir 
müssen  nach  unserer  Ansicht  über  das  notwendige  Zusammen 
der  Seele  mit  einem  Leibe  folgerichtig  jene  Möglichkeit  durch- 
aus bestreiten. 

Es  ist  demnach  die  Seele  ein  immaterielles  einheitliches 
Seiendes,  welches  Vorstellungen  Gefühle  Wollungen  hat,  deren 
Veränderungen  sich  nach  bestimmten  Gesetzen  vollziehen; 
ein  Seiendes,  welches  in  notwendigem  Zusammen  und  in 
Wechselwirkung  nur  mit  Eiuem  Körper  steht,  durch  dessen 
Vermittlung  sie  Wirkungen  von  der  übrigen  Welt  erfährt 
und  auf  dieselbo  ausübt,  welcher  Körper  deswegen  „ihr"  Leib 
genannt  wird. 

In  der  „empirischen"  Psychologie,  zu  welcher  wir  nun- 
mehr übergehen,  finden  wir  Lotze  wiederum  als  Gegner 
Herbarts.  Allerdings  giebt  Lotze  zu2),  dass  Herbart,  wie 
auch  heute  noch  allgemein  anerkannt  wird,  hier  unstreitige 
Verdienste  habe;  doch  findet  er  vielfach  Veranlassung,  gegen 
die  Uebertreibung  und  falsche  Durchführung  einer  an  sich 
berechtigten  Forderung  seitens  Herbart  Widerspruch  zu  er- 
heben. 

Vor  Herbart  glaubte  die  Wolffische  und  weitergebildete 
Wolffische  Psvchologie,  genug  zur  Erklärung  der  psychischen 
Erscheinungen  geleistet  zu  habon ,  wenn  sie  dieselben  nach 
den  zu  Tage  getretenen  Unterschiedenheiten  einteilte,  be- 
nannte und  für  jede  der  so  gewonnenen  Klassen  ein  Seelen- 
vermögen als  die  diese  bestimmten  seelischen  Erscheinungen 
ausübende  Kraft  annahm.  So  unterschied  man  Vorstellungs-, 
Gefühls-  und  Begehrungsvermögen,  mit  welcher  Einteilung 
sich  die  in  obere  und  niedere  Seelenvermögen  kreuzte.  Im 
Vorstellungsvermögen  hatte  man  sodann  als  Unterarten  die 
Sinnlichkeit,  Einbildungskraft,  Gedächtniss,  Verstand,  Urteils- 


1)  Med.  Psych,  p.  83. 

2)  Met.  p.  535. 


—     60     — 

kraft,  Vernunft.  Im  Gefüblsvermögen  die  sinnlichen  Gefühle 
der  Lust  und  Unlust,  die  ästhetischen  und  die  moralischen 
Gefühle  nebst  den  entsprechenden  Vermögen.  Im  Begehrungs- 
vermögen die  sinnlichen  Begierden  und  Triebe,  das  verstän- 
dige und  vernünftige  Wollen  u.  s.  av.  ') 

Angesichts  solcher  Erklärungsart  der  psychischen  Er- 
scheinungen wies  Herbart  darauf  hin,  dass  durch  diese  Hy- 
postasirung  oberster  Gattungsbegriffe  derselben  für  ihre  Er- 
kenntniss  gar  nichts  gewonnen  sei,  dass  diese  Seelenvermögen 
bei  der  Erklärung  der  speciellen  Unterschiede  der  einzelnen 
Erscheinungen  den  Dienst  versagten,  dass  durch  sie  die 
Thatsachen  des  Seelenlebens  auseinander  gerissen  würden, 
und  so  das  einheitliche  Band  verschwinde,  durch  welches  sie 
doch  erfahrungsgemäss  alle  verbunden  seien ;  ja  dass  es  den 
Anschein  gewinne,  als  seien  diese  Vermögen  in  einem  bellum 
omnium  contra  omnes  begriffen.  Wo  bleibe  da  die  Einheit 
der  Seele?  Und  die  Zahl  der  angenommenen  Vermögen  ver- 
grössere sich  ohne  Unterlass  und  verdränge  diese  Einheit 
immer  weiter.  „Unseres  Wissens  hat  die  bisherige,  auch  die 
neuere  und  neueste  Psychologie,  durchaus  nichts  anderes 
geleistet,  als  immer  neue,  vergrösserte,  schärfer  gezeichnete 
Spaltungen  und  Gegensätze  unter  den  vermeinten  Seelen- 
kräften".2) 

Dieser  immer  wachsenden  Verirrung  will  Herbart  ein 
Ende  machen,  indem  er  alle  sogenannten  Seelenvermögen 
verneint  und  die  Mannigfaltigkeit  des  psychischen  Geschehens 
auf  Ein  Ursprüngliches  zurückführt.  Für  ursprünglich  aber 
hält  Herbart  nur  die  einfache  Vorstellung  d.  i.  Wahrnehmung 
einer  Sinnesqualität.  „Die  Selbsterhaltungen  der  Seele  sind 
Vorstellungen,  und  zwar  einfache  Vorstellungen,  weil  der  Akt 
der  Selbsterhaltung  einfach  ist  wie  das  Wesen,    das  sich  er- 


1)  Lehrb.  §  55  f. 

2)  Psych.  I  p.  217. 


—    61     — 

hält". ')  —  .."Man  fasse  den  Satz  (von  den  einander  wider- 
stehenden Vorstellungen)  so  einfach  als  möglich"  und  denke 
nicht  an  ,. zusammengesetzte  Vorstellungen,  nicht  an  solche, 
die  irgend  ein  Ding  mit  mehreren  Merkmalen,  oder  etwas 
Zeitliches  und  Räumliches  bezeichnen,  sondern  an  ganz  ein- 
fache: rot,  blau,  sauer,  süss". 2)  Diese  einfachen  Vorstellungen 
sind  einander  entweder  entgegengesetzt,  wie  immer  alle 
Qualitäten  desselben  Qualitätskreises  z.  B.  rot  und  blau, 
sauer  und  süss,  oder  nicht  entgegengesetzt,  wie  die  Quali- 
täten verschiedener  Qualitätskreise  z.  B.  rot  und  süss  )3. 
Letztere  complicieren  sich,  die  entgegesetzten  hemmen  ein- 
ander, worauf  ihre  zurückbleibenden  Reste  mit  einander  ver- 
schmelzen. Komplexionen  sind  z.  B.  die  Dinge  mit  mehreren 
Merkmalen.  Unter  den  Verschmelzungen  merkwürdig  sind 
einerseits  diejenigen ,  welche  ein  ästhetisches  Verhältniss  in 
sich  fassen,  andererseits  diejenigen,  welche  Reihenfolgen 
bilden,  worin  die  Reihenformen  ihren  Ursprung  haben. 

Von  diesen  Reihenformen  sind  die  wichtigsten,  uns  hier 
am  meisten  interessierenden  Raum  und  Zeit. 

"Warum  die  räumliche  Bestimmtheit  nicht  ebenso  ur- 
sprünglicher Bewusstseinsinhalt  sein  könne  wie  die  qualita- 
tive, beweist  Herbart  folgendermassen : 4)  „Die  ursprüngliche 
Auffassung  des  Auges  kann  nicht  räumlich  sein.  Denn  die 
Wahrnehmungen  aller  farbigen  Stellen  fallen  in  die  Einheit 
der  Seele  zusammen ,  und  hierbei  geht  von  dem  Oben  und 
Unten,  Rechts  und  Links  u.  s.  w.,  welches  auf  der  Netzhaut 
stattfand,  jede  Spur  verloren.  Dasselbe  gilt  vom  Tasten  mit 
der  Zunge  und  den  Händen".  Natürlich  auch  von  den  übrigen 
Arten  des  "Wahrnehmen s. 

Die    Raumanschauung    entsteht    nun    nach  Herbart    auf 


1}  Lehrb.  §  155. 

2)  Lehrb.  §  10. 

3)  Lehrt).  §  22. 

4)  Lehrb.  §  173.  vgl.  Psych.  §   111. 


—     62     — 

folgende  "Weise:  infolge  der  Hemmung  entgegengesetzter 
Vorstellungen  und  der  Verschmelzung  der  zurückgebliebenen 
Reste  derselben  habe  ich  eine  Reihe  gebildet,  etwa  a  b  c  d. 
Dieselbe  wird  immer  in  derselben  Ordnung  reproduciert  werden 
nach  den  für  die  Reproduktion  gültigen  Gesetzen.  Wenn 
nun  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  sich  dieselbe  Reihe 
oder  vielmehr  dass  statt  derselben  zu  denkende  Kontinuum 
nach  allen  möglichen  Versetzungen  abändern  könnte  (wie  in 
acbd.adbc  u.  s.  w)  so  würde  jedesmal  aus  der  wahrge- 
nommenen Reihe  auch  eine  neue  Reproduktionsfolge  ent- 
stehen: dadurch  aber  würden  sich  die  Gesetze  für  die  Re- 
produktion dergestalt  verwickeln,  dass  keine  merkliche  Ordnung 
mehr  übrig  bleibe.  Wenn  dagegen  die  sinnliche  Wahrneh- 
mung zwar  bc  in  cb  und  abcd  in  deba  verkehre,  niemals 
aber  das  Zwischen  für  irgend  eine  Vorstellung  und  ihre  be- 
nachbarten ändere,  und  die  Reihe  der  Wahrnehmungen  bald 
hier  bald  dort  beginnen  könne,  die  Reihe  also  ohne  be- 
stimmten Anfangspunkt  sei,  so  ergebe  das  hieraus  entsprin- 
gende Reproduktionsgesetz  ein  räumliches  Vorstellen  *). 

Habe  aber  die  Reihe  keinen  Anfangspunkt  und  laufe  die 
Wahrnehmungsfolge  ohne  Umkehrung  stets  nach  einer  Rich- 
tung, so  könne  auch  die  Reproduktion  nur  diese  Eine  Rich- 
tung nehmen.  Werde  nun,  während  die  Wahrnehmung  bei 
d  sei,  zugleich  a  reproduciert,  so  laufe  von  da  die  Reihe  a 
b  c  d  ab.  Die  nämliche  Reihe  aber  werde  von  d  nach  einem 
andern  Gesetz  im  Bewusstsein  festgehalten  (insofern  nemlich 
d  mit  c  b  a  in  abgestufter  Stärke  verschmolzen  ist).  Auf 
diese  Weise  entstehe  das  Vorstellen  des  Zeitlichen  *). 

Lotze  bestreitet,  dass  auf  diese  Weise  das  Entstehen  der 
Raumanschauung  erklärt  sei 8).     „Die  Anschauung  des  Rau- 


1)  Lehrb.  §  169.     Psychol.  §  1  11. 

2)  Lehrb.  §  171. 

3)  Met.  p.  536  und  p.  236  ff. 


—     63     — 

mes  mit  der  Mannigfaltigkeit  ihrer  inneren  Verhältnisse  steht 
uns  als  ein  gegebener  Gegenstand  innerer  Erfahrung  gegen- 
über, den  wir,  wenn  er  uns  so  nicht  gegeben  -wäre,  aus  einer 
logischen  Verknüpfung  unräumlicher  ja  selbst  räumlicher 
Elemente  niemals  würden  machen  können".  ') 

Aus  diesen  Worten  der  Metaphysik  möchte  man  schliessen, 
dass  Lotze  die  räumlichen  Bestimmtheiten  für  ebenso  ur- 
sprünglich wie  die.  qualitativen  und  mit  diesen  zugleich  in 
ein  und  demselben  Bewusstseinsakt  durch  die  Sinneswahr- 
nehmung gegeben  ansehe.  Dies  ist  aber  nicht  der  Fall. 
Lotze  hält  es  mit  Herbart  für  notwendig 2) ,  anzunehmen, 
dass  auch  dann,  wenn  wirklich  die  äussern  Dinge  in  einer 
räumlichen  Ordnung  befindlich  seien,  ihre  Einflüsse  auf  uns 
doch  zunächst  nur  eine  Mannigfaltigkeit  von  an  sich  un- 
räumlichen „einfachen"  Empfindungen  hervorrufen  könnten, 
und  dass  die  wahrgenommene  räumliche  Anordnung  dieser 
Empfindungen  gänzlich  von  Neuem  durch  die  Seele  rekon- 
struirt  werden  müsse.  Als  falsch  jedoch  bezeichnet  Lotze 
die  Herbartische  Deduktion  des  Raumes,  dass  neinlich  die 
,, Wiedererzeugung"  des  Raumes  auf  Grund  der  abgestuften 
Verschmelzungen  der  Vorstellungen  erfolge.  Schon  gegen  die- 
jenige Behauptung  Herbarts  erhebt  Lotze  Einspruch,  dass 
das  ruhende  Auge  keinen  Raum  sehe 3),  sondern  dass  nur  das 
sich  bin-  und  herbewegende  ihn  erzeuge.  In  jedem  Augen- 
blicke, sagt  Lotze,  übersehe  auch  das  ruhende  Auge  sogleich 
ein  ausgedehntes  Sehfeld  und  finde  in  ihm  die  Gegenstände 
in  ihren  respektiven  Lagen,  ohne  dass  es  der  mindesten  Be- 
wegung bedürfe,  um  etwa  den  Totaleffekt  der  äusseren  Reize, 
der  in  einer  intensiven   unräumlichen  Vorstellung   bestände, 


1)  Met,  p.  242. 

2)  Seele  und  Seelenleben  kl.  S.  II  p.  57  ff.  vgl.  Med.  Ps.  §  16  p.  ISO 
ursprünglich  ist  „die  einfache  Empfindung  d.  i.  das  bewusste  Empfinden 
einer  einfachen  Sinnesqualität". 

3)  Herb.  Psych,  II  §  1 11.  p.  120.  Lehrb.  §  173. 


—     64     — 

durch  jeno  abgestufte  Verschmelzungen  und  ihre  Summation 
zu  rekonstruieren.  Herbarts  Behauptung  daher,  dass  durch 
die  erste  unmittelbare  Wahrnehmung  nur  Sinnesqualitäten 
ohne  räumliche  Bestimmtheit  gegeben  seien,  durch  das  Auge 
z.  B.  nur  einzelne  Punkte  ,  fusse  auf  keiner  Erfahrung x). 
Und  selbst,  wenn  sie  der  Wahrheit  entspräche,  so  würde 
doch  durch  die  Herbartische  Theorie  die  räumliche  Anschauung1 
nicht  erklärt  werden.  Denn  auch  in  anderen  Reihen  z.  B. 
in  der  Tonreihe  der  Skala  zeigten  sich  dieselben  Verhält- 
nisse, die  abgestuften  Verschmelzungen  und  die  Möglichkeit 
der  Umkehrung,  ohne  dass  die  einzelnen  Ton  Vorstellungen 
sich  zu  einem  Raumgebilde  vereinigten.  Vielmehr  werde 
man  die  Raumanschauung  als  eine  neue  und  eigentümliche 
Form  der  Auffassung  ansehen  müssen,  die  aus  dem  Wesen 
der  Seele  als  eine  Rückwirkung  derselben  gegen  ihre  eigenen 
Zustände  zu  einer  bestimmten  Mannigfaltigkeit  der  Eindrücke 
hinzukomme,  aber  nicht  von  selbst  aus  dieser  Mannigfaltig- 
keit hervorgehe2). 

Mit  dieser  Behauptung  und  dem  durch  sie  notwendig 
werdenden  Versuch  einer  Raumdeduktion  stellt  sich  Lotze 
in  Gegensatz  zu  sich  selbst.  Denn  einerseits  nimmt  er  die 
räumlichen  Bestimmtheiten  als  ursprüngliches  d.  i.  nicht 
weiter  erklärbares  Seelengegebenes  an,  wie  sich  ausser  der  oben 
(S.  6263)  angezogenen  Stelle  noch  aus  einigen  andern  erhärten 
lässt;  so  giebt  er  Met.  p.  231  zu,  dass  die  Frage  worauf  es 
beruhe,  dass  die  Seele  die  mannigfaltigen  Eindrücke,  welche 
sie  von  den  Dingen  empfange,  und  welche  zunächst  nur 
unräumliche  Zustände  ihres  eigenen  Leidens  sein  könnten, 
überhaupt  unter  der  Form  eines  räumlichen  Nebeneinander 
anzusehen  genötigt  sei,  ebenso  unbeantwortbar  sei  als  die 
andere,  wodurch  es  geschehe,  dass  die  Seele  die  Einwirkungen, 


1)  kl.  S.  II  p.  58. 

2)  Met.  p.  536. 


—     65     — 

welche  sie  durch  Licht  und  Schallschwingungen  unter  der 
Vermittelung  der  Sinne  erfahre,  in  der  Form  von  Leuchten 
und  Klingen  zum  Bewusstsein  bringe;  und  in  ..Seele  und 
Seelenleben"  erklärt  er1),  dass  alles,  was  die  bestimmte 
Lokalisation  der  Empfindungen  bedinge,  eine  „Geschichte  sei, 
die  vor  dem  Bewusstsein  sich  ereigne  gleich  demjenigen, 
wodurch  die  Empfindung,  das  "Wahrnehmen  der  Qualität  be- 
dingt sei",  wodurch  doch  unzweideutig  die  Lokalisation  der 
qualitativen  Bestimmtheiten  als  ursprüngliches  Bewusstseins- 
Gegebenes  gleich  den  Qualitäten  bezeichnet  ist.  —  Andrer- 
seits aber  erkennt  Lotze  2)  nur  die  einfache  Empfindung  als 
ursprünglich  an.  erklärt  damit  die  räumlichen  Bestimmtheiten 
für  secundäres  Bewusstseins-Gegebenes  ,  das  als  Rück- 
wirkung der  Seele  gegen  ihre  eigenen  Zustände  zu  einer 
bestimmten  Mannigfaltigkeit  der  Eindrücke  hinzukomme  (s. 
oben  S.  64),  und  unternimmt  in  Konsequenz  dieser  letzteren 
Behauptungen  den  Versuch  zu  erklären,  auf  welche  Art  die 
Raumbestimmtheit  zu  den  „Empfindungen"  hinzutrete. 

Metaphysische  Voraussetzug  ist:  Die  Raumanschauung 
ist  subjektiv.  Die  Raumbestimmtheiten  sind  nur  Schein, 
sind  nur  eine  LTebertragung  der  Wirkungen  der  absoluten 
Idee  und  der  Wechselwirkungen  der  Teilgedanken,  nach 
Lotze's  Worten:  „jener  wahren  intelligiblen  Verhältnisse  der 
Dinge"  3)  in  die  Zeichen  unserer  Bewusstseins-"Welt.  „Die 
Redensart  (dass  ein  Element  an  einem  Punkte  des  Raumes 
sei)  hat  keinen  Sinn  für  die  Vorstellung  vcn  einem  wirklichen 
Räume ,  zu  dem  die  Dinge  in  Verhältniss  träten ;  sie  sind 
nicht  erst  an  einem  Orte  und  wirken  demgemäss ,  sondern 
nach  der  Art  und  dem  Masse  ihrer  schon  geschehenden 
Wechselwirkungen  nehmen  sie  in  der  Raumanschauung  eines 


1)  kl.  S.  II  p.  61. 

2)  s.  oben  S.  63  mit  Anm.  2. 

3)  Met.  p    544. 


—     66     — 

Bewusstseins  —  versteht  sieh  mit  allen  Bestimmtheiten  des 
Räumlichen  —  die  Orte  ein,  an  denen  sie  sich  uns  ursprüng- 
lich zu  befinden  scheinen''.  *) 

"Wie  kommt  nun  diese  subjektive  Raumanschauung  zu 
Stande?  Lotze  behauptet: 2)  in  dem  Augenblick,  wo  die  durch 
Sinnesreize  veranlassten  Erregungen  der  Nerven  durch  ent- 
sprechende Sinnesqualitäten  in  der  Seele  ausgelöst  werden, 
müssen  alle  jene  geometrischen  Relationen,  die  zwischen  den 
ankommenden  Sinnesreizen  und  den  durch  sie  veranlassten 
Nervenerregungen  bestehen,  völlig  zu  Grunde  gehen,  da  der 
Einheitspunkt  der  Seele  ihrer  Entfaltung  keinen  Platz  mehr 
biete. 

Diese  Behauptung  Lotzes  hätte  nur  dann  Sinn,  wenn 
entweder  die  Seele  ein  Raumpunkt  wäre,  in  dem  natürlich 
geometrische  Relationen  keinen  Platz  haben  würden;  oder 
wenn  bei  der  ..Auslösung"  der  Xervenerregungen  die  quali- 
tative Bestimmtheit  jedes  Raumatomes  selbständig,  getrennt 
von  denen  der  übrigen ,  von  denen  zu  gleicher  Zeit  Reize 
die  Sinnesorgane  getroffen  haben  und  durch  diese  weiter- 
geleitet in  Bewusst-Seiendes  ausgelöst  sind,  zum  Bewusstsein 
kämen .  und  in  der  Seele  diese  vielen  selbständigen  quali- 
tativen Bestimmtheiten  vorläufig  aufbewahrt  würden  zu  nach- 
träglicher Verbindung  in  räumlichen  Verhältnissen.  Da 
neinlich  die  Seele  als  un räumliches  Wesen  kein  Rechts  oder 
Links,  Oben  oder  Unten  u.  s.  w.  haben  kann  und  also  den 
qualitativen  Bestimmtheiten  keinen  Platz  anweisen  könnte, 
so  müssten  alle  angekommenen  Qualitäten  ohne  Raumunter- 
scheidung derselben  gehabt  werden.  Und  ..aus  diesem  völlig 
unräumlichen  Beisammensein,  in  welchem  die  einzelnen  nur 
durch  ihren  qualitativen  Inhalt  sich  unterscheiden ,  ähnlich 
den  gleichzeitigen  Tönen  eines  Akkordes,   die  gesondert  zu- 


1)  Met.  p.  384. 

2)  Met.  p.  547. 


-     67     — 

gleich  und  doch  nicht  räumlich  neben  einander  gehört  wer- 
den, aus  diesem  Beisammensein  müsste  die  Seele  völlig  von 
neuem  das  zu  Grunde  gegangene  Bild  wieder  erzeugen,  und 
mithin  im  Stande  sein,  jedem  einzelnen  Eindruck  die  relative 
Lage  anzuweisen  die  er  in  diesem  Bilde  neben  den  übrigen 
einzunehmen  hat". ]) 

Nun  aber  ist  weder  der  erste  der  gesetzten  Fälle  wirk- 
lich noch  der  zweite,  vielmehr  erkennt  Lotze  selbst  durch 
seine  Deduktion  des  Raumes  indirekt  und  unbewusst  die  Er- 
fahrungstatsache an ,  dass  keine  qualitative  Bestimmtheit 
ohne  räumliche,  sondern  immer  beide  zusammen  wahrge- 
nommen werden. 

Denn  wie  erzeugt  die  Seele  aus  dem  völlig  unräumlichen 
Beisammensein,  in  welchem  die  einzelnen  „Eindrücke"  d.  h. 
qualitativen  Besimmtheiten  nur  durch  ihren  qualitativen  In- 
halt sich  unterscheiden  ,  von  Neuem  das  zugrundegegangene 
Bild?  Soll  diese  Neuerung  nicht  eine  willkürliche  Schöpfung 
der  Seele,  sondern  eine  Wiedergabe  des  zugrundegegangenen 
Raumbildes  sein  ,  so  muss  die  neuerzeugende  Seele  dieses 
kennen  oder  aus  irgend  welchen  Anzeichen  erschliessen 
können.  Das  sagt  sich  auch  Lotze  und,  wie  bei  einer  trans- 
portierten Sammlung  die  den  einzelnen  Stücken  aufgeklebten 
Nummern  als  Merkzeichen  benutzt  werden,  um  allen  Stücken 
dieselbe  Stelle  zu  geben,  die  sie  früher  in  der  Sammlung 
einnahmen  ,  so  werden  ,  meint  Lotze  2) ,  auch  die  einzelnen 
qualitativen  Bestimmtheiten  ein  Merkzeichen  für  die  Seele 
enthalten ,  nach  dem  ihnen  ein  Platz  anzuweisen  sei.  Lotze 
nimmt  daher  an,  dass  gleiche  Sinnesreize  in  verschiedenen 
Nervenfasern  einen  verschiedenen  Nebeneindruck  erzeugen, 
der  sich  mit  dem  von  der  Qualität  des  Reizes  abhängigen 
Haupteindruck    in  der  Weise    einer  Association  d.  i.  so  ver- 


1)  Met.  p.  547. 

2)  Met.  p.  548. 

5* 


—     68     — 

bindet,  dass  keiner  von  beiden  die  eigentümliche  Natur  und 
Färbung  des  andern  stört.  "Worauf  nun  diese  Verschieden- 
heit des  Nebeneindrucks  beruhe,  könne  dahin  gestellt  bleiben. 
Diese  Nebeneindrücke  nennt  Lotze  Lokalzeichen ,  und  nach 
diesen  Lokalzeichen  soll  die  Seele  die  räumliche  Anordnung 
der  qualitativen  Bestimmtheiten  treffen.  ,, Bezeichnen  wir  mit 
A  B^C  drei  verschiedenartige  Reize,  mit  p  qr  drei  verschieden- 
artige Stellen  eines  Sinnesorgans,  mit  ::  x  p  die  drei  specifi- 
schen  Xebeneindrücke ,  welche  jene  Stellen  an  die  durch 
ABC  veranlassten  Hauptempfindungen  knüpfen,  so  würde 
die  Verschiedenheit  jener  angeknüpften  Lokalzeichen  -  •/.  o 
der  Leitfaden  sein ,  nach  welchem  die  auf  p  q  r  fallenden 
Empfindungen  in  unserer  Raumanschauung  dislocirt  werden 
können  (nicht  müssen?)".  *) 

Damit  kehrt  denn  glücklicherweise  Lotze,  freilich  ohne 
es  zu  merken,  zu  der  natürlichen  durch  die  Erfahrung  ge- 
botenen Annahme  zurück,  die  er  ja  auch  selbst  an  einigen 
Stellen  ausgesprochen  hat,  dass  nemlich  die  räumlichen  Be- 
stimmtheiten ebenso  ursprünglich  seien  als  die  qualitativen 
Bestimmtheiten.  Denn  die  Lokalzeichen  müssen  doch  der 
Seele  bewusst  sein,  wenn  sie  danach  die  räumliche  Anord- 
nung der  Qualitäten  treffen  soll;  und  Sinnesqualitäten,  die 
von  dem  Bewusstsein  als  mit  Lokalzeichen  verbundeu  vor- 
gestellt werden,  nun  die  sind  eben  räumlich  bestimmt.  Frei- 
lich sollen  die  Lokalzeichen  nur  qualitativ  verschieden ,  also 
überhaupt  nur  „qualitativ"  sein 2).  Aber  dem  ist  zu  ent- 
gegnen, dass  wir  durch  unsere  innere  Erfahrung  keinen  Be- 
wusstseinsakt  kennen,  durch  den  Qualitäten,  welche  zunächst 
ohne  räumliche  Bestimmtheiten  wahrgenommen  waren,  auf 
Grund  einer  mit  der  Hauptqualität  associierten  Qualität  räum- 
lich geordnet  würden,   sondern  in  der  ursprünglichen  Wahr- 


1)  Met.  p.  550. 

2)  Met.  p.  571  §  290. 


—     69     — 

nehmung  hat  jede  Sinnesqualität  sogleich  mit  sich  verbunden 
ein  eigentliches  ,,Lokalu-Zeichen  d.  i.  räumliche  Bestimmtheit. 
Soll  aber  etwa  der  Vorgang  der  Neuerzeugung  des  Raumes 
ein  unbewusster  sein,  so  erhalten  wir  den  Begriff  des  unbe- 
wussten  Bewusstseins  ,  der  eine  contradictio  in  adjecto  ent- 
hält und  deshalb  wissenschaftlich  nicht  zu  verwerten  ist. 

Alle  Schwierigkeiten,  die  man  bisher  bei  der  Erklärung 
der  Kaumanschauung  gefunden  hat,  verschwinden,  wenn  wir 
die  Raumbestimmtheiten  als  in  der  ursprünglichen  Wahr- 
nehmung mitgegeben  annehmen,  wie  die  Erfahrung  sie  zeigt *), 
so  dass  uns  als  ursprünglichstes  Erkenntniss-Element  in  der 
Sinnenwahrnehmung  ein  Zusammen  von  mindestens  qualita- 
tiven und  räumlichen  Bestimmtheiten  gegeben  wäre.  Zweifel- 
haft scheint  mir  nemlich,  ob  mit  jenen  zugleich  auch  die 
zeitliche  Bestimmtheit,  wie  von  mehreren  Psychologen  an- 
genommen wird 2),  schon  in  der  Wahrnehmung  gegeben  sei. 
Denn  zeitlich  bestimmt  heisst  uns  doch  ein  Gegebenes  nur 
dann,  wenn  wir  es  zu  einem  Früher  oder  Später,  mindestens 
aber  zu  Einem  von  diesen  beiden  in  Gegensatz  gestellt  haben. 
Es  muss  also  das  Bewusstsein,  wenn  es  eine  Vorstellung 
oder  allgemeiner  gesprochen  ein  Bewusstseins-Gegebenes 
zeitlich  bestimmt,  mit  diesem  zusammen  mindestens  noch 
ein  Bewusstseins-Gegebenes  haben,  zu  dem  es  sie  als  einem 
Früher  oder  Später  in  Gegensatz  stellt.  Dies  scheint  mir 
aber  bei  dem  unmittelbaren  Eindruck  nicht  der  Fall  zu  sein. 
Nicht  bei  jeder  Wahrnehmung  bin  ich  mir  bewusst,  dass  ich 
sie  später  oder  früher  als  eine  andere  habe.  Dies  Bewusst- 
sein tritt  erst  hinzu,  wenn  ich  sie  mit  wenigstens  einer  Vor- 
stellung zusammen  habe  und  beide  in  Beziehung  setze.  Auch 
beim    „Vorstellen",    dem   Reproducieren    früherer   Wahrneh- 


1)  vgl.  Schuppe   §  48  ff.  die  Unterscheidung   der  Bestandteile    des 
Gegebenen. 

2)  vgl.  Schuppe  §  48  p.  165  ff. 


—     70     — 

mungen  kann  ich  der  zeitlichen  Bestimmtheit  einer  Vorstellung 
unbewusst  bleiben ,  wiewohl  seltener  als  der  zeitlichen  Be- 
stimmtheit einer  "Wahrnehmung.  Zeitlich  fixiert  habe  ich 
auch  die  Vorstellung  erst,  wenn  ich  sie  mit  einer  oder  mehreren 
anderen  Vorstellungen  (oder  "Wahrnehmungen)  zugleich  im 
Bewusstsein  habe.  Daher  scheint  mir  der  Kern  in  der  Her- 
bartischen Erklärung  der  Zeitvorstellung  richtig  zu  sein,  dass 
nemlich  unser  Ich  die  zeitliche  Bestimmtheit  nicht  einem 
einzelnen  Gegebenen  beilegt,  sondern  erst  nachdem  es  mit 
anderem  Gegebenen  verschmolzen  (ihm  associiert)  und  mit 
ihm  in  Beziehung  gesetzt  ist. 

Etwas  Aehnliches  wird  auch  Lotze,  der  übrigens  auf  die 
Herbartische  Deduktion  nicht  Bezug  nimmt,  und  dessen  Er- 
örterung über  den  Zeitbegriff  als  hauptsächlich  metaphysi- 
schen Inhalts  nicht  in  den  Rahmen  unserer  Betrachtung  fällt, 
gemeint  haben,  wenn  er  sagt !),  „sobald  wir  irgend  eine  Zeit- 
bestimmung vorstellen  oder  aussprechen  z.  B.  a  sei  früher 
als  b,  so  kann  hier  nicht  blos  b  auf  a  in  unserem  Bewusst- 
sein gefolgt  sein,  sondern  damit  die  Vergleichung  beider  und 
das  Resultat ,  a  sei  früher  als  b,  entstehen  konnte,  war  ein 
Moment  ganz  unentbehrlich ,  in  welchem  unser  Vorstellen 
zeitlos  auf  einmal  das  Bild  des  a  sowie  das  des  b  und  zu- 
gleich den  Gedanken  des  Verhältnisses  zwischen  beiden  in 
Einem,  ganz  unteilbaren  Akte  vereinigte,  so  dass  die  ein- 
zelnen Teile  dieses  vereinigten  Inhaltes  eben  erst  für  dies 
auf  sie  gerichtete  Vorstellen  die  Form  eines  Früheren  oder 
Späteren,  also  zeitliche  Formen  überhaupt  annahmen-'. 

Bisher  handelte  es  sich  in  dem  empirisch-psychologischen 
Teil  unserer  Betrachtung  um  die  Entstehungsart  der  quali- 
tativ, räumlich  und  zeitlich  bestimmten  "Wahrnehmung  "Wir 
fanden,  dass  Herbart  als  ursprüngliches  Bewusstseins-Gegebenes 
nur  die  einfachen  Sinnesqualitäten  anerkannte  und  die  Vor- 


1)  Grundzüge  der  Metaphysik  p.  62. 


—     71     — 

Stellung  des  räumlich  und  zeitlich  bestimmten  Dinges  mit 
mehreren  Merkmalen  durch  eine  Komplexion  von  Qualitäten 
verschiedener  Qualitätskreise  und  durch  Verschmelzungen 
(Associationen)  von  Qualitäten  derselben  Qualitätskreise  ent- 
standen sein  Hess;  dass  auch  Lotze  trotz  seines  richtigen 
Ansatzes  nicht  dahin  gelangte,  die  räumliche  Bestimmtheit 
als  ebenso  ursprünglich  wie  die  qualitative  zu  erkennen,  als 
mit  dieser  zugleich  gegeben  also,  wie  wir  auf  Grund  der  Er- 
fahrung feststellten,  während  wir  zugestehen  mussten  ,  dass 
die  zeitliche  Bestimmtheit  als  secundäres  Bewusstseins-Ge- 
gebenes  zu  der  qualitativ  und  räumlich  bestimmten  Ding- 
vorstellung hinzukomme. 

Die  weiteren  Bewusstseinserscheinungen,  die  wir  unter 
den  Gattungsnamen  der  Gefühle  und  Wollungen  zusammen- 
fassen, führt  Herbart  insgesamt  auf  die  Wechselwirkung  der 
Vorstellungen ,  auf  ihre  gegenseitige  Hemmung *)  und  ihr 
Streben  sich  gegen  die  Hemmung  zu  erhalten  resp.  wieder- 
herzustellen *),  zurück.  „Fühlen  und  Begehreu,  sagt  er,  sind 
zunächst  Zustände  der  Vorstellungen";3)  und  zwar  sollen 
Gefühle  und  Begierden  auf  folgende  AVeise  entstehen :  wenn 
eine  Komplexion  a-f-oc  d.  h.  etwa  die  Vorstellung  eines  Dinges 
mit  mehreren  Merkmalen  reproduciert  werde  vermittelst  einer 
neuen  Wahrnehmung,  die  dem  a  also  dem  Einen  Merkmal 
jener  Vorstellung  gleichartig  sei,  im  Bewusstsein  aber  eine 
andere  den  übrigen  Merkmalen  a  „entgegengesetzte"  Vor- 
stellung ß  antreffe,  durch  die  sie  gehemmt  werde,  so  werde 
diese  Vorstellung,  zugleich  hervorgetrieben  und  zurückge- 
halten, der  „Sitz"  eines  unangenehmen  Gefühls,  und  dieses 
Gefühl  könne  in  Begierde  übergehen  (nach  dem  durch  diese 
Vorstellung  vorgestellten  Objekte),  wofern  die  Hemmung  durch 


1)  vgl.  oben  S.  61. 

2)  Lehrb.  §  11. 

3)  Lehrb.  §  33. 


—     72     — 

die  entgegengesetzten  Vorstellungen  (i  schwächer  sei  als  die 
Kraft,  mit  welcher  die  Vorstellung  hervortrete  5j.  Umgekehrt 
werde  eine  Vorstellung  Sitz  eines  Luftgefühls,  wenn  ihr  Her- 
vortreten durch  mehrere  Ursachen  begünstigt  werde. 

Danach  hätten  wir  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  nur  als 
Eegleit-  oder  Folgeerscheinungen  begünstigter  bzw.  erschwerter 
Keproduktion  der  Vorstellungen.  Begehren  aber  entstände 
nur  auf  Grund  eines  Unlustgefühls ,  wie  dies  Herbart  auch 
nicht  nur  in  dem  „Lehrbuch"  sondern  noch  in  der  ,,Psycho- 
logie"  annimmt:-)  „Die  einfache  Begierde  ist  nichts  anderes 
als  eine  Vorstellung,  die  wider  eine  Hemmung  aufstrebt. 
Hiebei  wird  aber  vorausgesetzt,  dass  noch  irgend  eine  andere 
Kraft  im  Spiele  sei;  weil  sonst  auf  die  Hemmung  ein  Sinken 
erfolgen  müsste.  Natürlich  ist  diese  Kraft  eine  das  Hervor- 
treten der  gegen  die  Hemmung  anstrebenden  Vorstellung 
begünstigende  andere  Vorstellung.  Der  Druck  und  Gegen- 
druck aber  versuchen  nach  Obigem  ein  unangenehmes  Ge- 
fühl und  dieses  Gefühl  soll  eben ,  sofern  die  Reproduktion 
mit  Hülfe  der  „andern  Kraft"  trotz  der  Hemmung  wirklich 
erfolgt,  in  Begierde  übergehen. 

Diese  Herbartische  Erklärung  der  Bewusstseins-Erschei- 
nungen  Fühlen  und  Wollen  erachtet  Lotze  nicht  als  eine 
richtige.  Schon  gegen  Herbarts  grundlegende  Behauptung, 
dass  entgegengesetzte  Vorstellungen  nach  dem  Mass  ihrer 
Stärke  und  ihres  Gegensatzes  einander  hemmen,  erhebt  er 
Einwendungen3).  Entweder,  sagt  er4),  könne  man  die  Be- 
griffe des  Gegensatzes  und  der  veränderlichen  Stärke  auf  den 
Inhalt  anzuwenden    suchen,    auf   den    die   vorstellende    oder 


1)  Lenrb.  §  36. 

2)  §  150. 

3)  „Seele  und  Seelenleben"  unter  dem  Abschnitt  „Vom  Verlaufe  der 
Vorstellungen"  kl.  S.  II  100  ff  und  Met.  „die  Empfindungen  und  der 
Vorstellungsverlauf"  p.  519  ff. 

4)  Met.  p.  519. 


-     73     — 

empfindende  Thätigkeit  sich  richtet,  oder  auf  diese  Thätigkeit 
selbst.  Xun  könne  er  zunächst  in  der  inneren  Beobachtung 
nichts  finden,  das  eine  Hemmung  der  Vorstellung  nach 
Massgabe  ihres  Inhalts  bezeugte.  Freilich  eine  gleichzeitige 
Empfindung  entgegengesetzter  Inhalte  durch  dasselbe  Xerven- 
element  halte  er  für  unmöglich;  aber  das  sei  nicht  richtig, 
dass  die  Vorstellung  des  Positiven  und  der  Bejahung  die  des 
Xegativen  und  der  Verneinung  vorzugsweise  verdrängte;  im 
Gegenteil  würde  jede  Möglichkeit  einer  Vergleichung  des 
Entgegengesetzten  die  Xichthemmung  beider  Vergleichungs- 
glieder einschliessen.  —  Wendeten  wir  aber  den  Gegensatz 
auf  die  vorstellende  Thätigkeit  an ,  so  sei  freilich  selbstver- 
ständlich, dass  zwei  Akte  dieser  Vorstellungsthätigkeit,  sofern 
sie  in  Bezug  auf  das  Wirken  entgegengesetzt  seien,  einander 
aufheben  würden;  aber  dieser  Satz  sei  zugleich  ganz  frucht- 
los; denn  wir  hätten  gar  kein  Recht  zu  der  Voraussetzung, 
die  Vorstellung  zweier  entgegengesetzter  Inhalte  beruhten 
auf  einem  Gegensatze  der  vorstellenden  Thätigkeiten  in  Bezug 
auf  ihre  Wirkungsweise.  —  Wir  wüssten  also  gar  nicht,  wo 
wir  solche  Gegensätze  von  mechanischem  Werte  hernehmen 
sollten. 

Ich  meine,  Lotze  hat  in  diesem  Punkte  die  Herbartische 
Theorie  nicht  richtig  verstanden.  Herbart  lässt  gar  keinen 
Raum  zu  der  Vermutung,  der  die  Hemmung  veranlassende 
Gegensatz  könnte  in  der  vorstellenden  Thätigkeit  liegen,  wie 
es  Lotze  auffasst.  Die  einfachen  Vorstellungen  rot  und  blau, 
sauer  und  süss  sind  einander  entgegengesetzt J) ,  und  die 
einander  entgegengesetzten  Inhalte  der  Vorstellungen  hemmen 
das  Vorstellen  derselben.  Sofern  nun  freilich  der  Inhalt  nicht 
dasein  kann,  ohne  vorgestellt  zu  werden,  so  sind  rücksicht- 
lich  ihres    Inhalts    auch    die    Vorstellungs-Thätigkeiten   ent- 


1)  Lehrb.  §  10. 


—     74     — 

gegengesetzt,  aber  nicht  „in  Bezug  auf  ihre  Wirkungsweise", 
denn  diese  ist  immer  die  des  Yorstellens. 

"Wenn  aber  Lotze  in  der  innern  Beobachtung  nichts 
finden  kann,  das  eine  Hemmung  entgegengesetzter  Ver- 
stellungen nach  Massgabe  ihres  Inhaltsgegensatzes  bezeuge, 
so  liegt  der  Grund  darin  ,  dass  er  den  Begriff  des  Gegen- 
satzes anders  fasst  als  Herbart.  Lotze  versteht  unter  Gegen- 
satz offenbar  Bejahung  und  Verneinung  desselben  Merkmals 
in  Bezug  auf  zwei  Begriffe.  Das  muss  man  aus  seinen 
Worten  schliessen:  „ich  wüsste  nicht,  dass  die  Vorstellung 
des  Positiven  und  der  Bejahung  die  des  Negativen  und  der 
Verneinung  vorzugsweise  verdrängte;  im  Gegenteil  würde 
jede  Möglichkeit  einer  Vergleichung  des  Entgegengesetzten 
die  Xichthemmung  beider  Vergleichungsglieder  einschliessen" 
Herbart  fasst  Gegensatz  der  Vorstellungen  als  Verschieden- 
heit derselben  innerhalb  desselben  Qualitätskreises J) ;  als  ent- 
gegengesetzte Vorstellungen  werden  angeführt :  rot  blau,  sauer 
süss  und  als  nicht  entgegengesetzte 2)  Ton  und  Farbe ,  also 
Qualitäten,  die  nicht  demselben  Qualitätskreise  angehören. 

Trotzdem  wir  aber  somit  den  Einwürfen  Lotzes  nicht 
beipflichten  können,  so  vermögen  wir  doch  auch  Herbart 
nicht  beizustimmen.  Denn  die  Erfahrung  lehrt  unwiderleg- 
lich, dass  „entgegengesetzte  Vorstellungen"  z.  B.  mehrere 
verschiedene  Farben  zu  gleicher  Zeit  mit  derselben  Klarheit 
oder  gar  noch  deutlicher  wahrgenommen  werden  können  als 
Eine  allein  wahrgenommene.  Die  Behauptung  Herbarts  kann 
also  nicht  richtig  sein.  Andrerseits  steht  doch  wieder  fest, 
dass  wenn  man  mehrere  "Wahrnehmungen  oder  Wahrneh- 
mungen und  Vorstellungen  zugleich  hat,  diese  nicht  mit  der- 
selben Klarheit  bewusst  sind,  als  wenn  das  Bewusstsein  sie 
allein  hat.     Demnach  wird  der  Fehler  Herbarts  darin  liegen, 


1)  vgl.  Lehrb.  §  10. 

2)  §  22. 


—     75     — 

dass  er  den  Begriff  der  „Vorstellung"  nicht  richtig  gefasst 
hat.  Er  fasst  die  Vorstellung  d.  i.  nach  ihm  das  ursprüng- 
lichste wahrgenommene  oder  reproducierte  Erkenntniss-Element 
als  nur  qualitative  Bestimmtheit,  während  es  uns  doch  un- 
möglich ist,  eine  qualitative  Bestimmtheit  ohne  räumliche 
Bestimmtheit  zu  haben.  Was  nun  von  diesen  qualitativ  und 
räumlich,  im  Zusammen  mit  andern  auch  zeitlich,  bestimmten 
Wahrnehmungs-  und  Vorstellungseinheiten  mit  Recht  be- 
hauptet werden  kann,  dass  sie  sich  nemlich  gegenseitig  hem- 
men, hat  Herbart  auf  seine  „einfachen  Vorstellungen"  über- 
tragen, die  das  Bewusstsein  überhaupt  nicht  als  Fürsich- 
gegebenes kennt. 

Die  Berichtigung,  welche  hiermit  die  Theorie  der  Hem- 
mungen erfahren  hat,  fordert  auch  eine  andere  Bestimmung 
des  Gegensatzes,  der  die  Hemmung  veranlasst.  Ohne  ins 
Einzelne  zu  gehen,  können  wir  allgemein  behaupten,  dass 
Vorstellungen  die  sich  in  der  Erfahrung  gewöhnlich  zusammen 
bieten,  einander  weniger  hemmen,  also  weniger  entgegen- 
gesetzt sind,  als  solche,  welche  ganz  verschiedenen  Gebieten 
angehörend  durch  Zufall  oder  durch  die  "Willkür  des  Vor- 
stellenden in  Eine  Moment- Vorstellung  zusammengefasst 
werden. 

Was  die  Stärke  der  Vorstellungen  anbetrifft,  von  der  ja 
nach  Herbart  nächst  dem  Grade  des  Gegensatzes  hauptsäch- 
lich abhängt,  wie  viel  die  einzelnen  Vorstellungen  unter  der 
gegenseitigen  Hemmung  leiden,  indem  sie  im  umgekehrten 
Verhältniss  ihrer  Stärke  gehemmt  werden,  so  bemängelt  Lotze 
schon  den  Begriff  der  Veränderlichkeit  der  Stärke  der  Vor- 
stellungen. „Gleiche  Bedenken  (wie  der  Begriff  des  Gegen- 
satzes), sagt  Lotze  J),  erweckt  mir  der  Begriff  veränderlicher 
Stärke  der  Vorstellungen.  Für  Empfindungen  eines  eben 
einwirkenden  Sinnenreizes  hat  es  mir  gleichgültig  geschienen, 

1)  Met.  p.  520. 


—     76     — 

diese  Unterscheidung  zu  machen:  das  Hören  des  stärkeren 
Klanges  oder  das  Sehen  des  helleren  Lichtes  ist  allemal  zu- 
gleich eine  grössere  Thätigkeit,  Erregung  und  Affektion  und 
es  ist  nicht  möglich ,  den  lauten  Donner  als  lauten  dennoch 
schwach,  oder  das  hellere  Licht  als  helleres  weniger  stark 
zu  empfinden  als  ein  trüberes".  Verschieden  allerdings  sei 
die  Stärke  der  Vorstellung  (reproducierter  AVahrnehmu ng)  von 
der  Stärke  der  ursprünglichen  Sinneswahrnehmung,  und  die 
Vorstellungen  könnten  in  allen  Gradabstufungen  vorgestellt 
werden,  deren  ihr  Inhalt  fähig  sei.  Aber  nicht  sei  es  mög- 
lich, dass  die  auf  den  Inhalt  gerichtete  Vorstellungsthätigkeit 
dieselben  Grössenveränderungen  erfahre.  Denselben  Ton  von 
bestimmter  Höhe  und  Stärke  könnten  wir  nicht  noch  mehr 
oder  weniger  vorstellen.  Der  Versuch,  es  zu  thun,  schiebe 
eine  Veränderung  des  Inhalts  unter.  Der  Begriff  einer  ver- 
änderlichen Stärke  auf  Vorstellungen  bezogen  treffe  nur  ihren 
Inhalt,  nicht  die  seelische  Thätigkeit,  auf  welche  die  begin- 
nende mechanische  Theorie  ihn  jedenfalls  mit  anzuwenden 
gedachte. 

'  Die  letzten  Worte  zeigen ,  dass  Lotze  hier  gegen  eine 
Auffassung  des  Begriffs  der  veränderlichen  Stärke  der  Vor- 
stellungen polemisirt,  die  er  selbst  nicht  Herbart  zuzuschreiben 
wagt.  Natürlich  kann  die  Veränderlichkeit  der  Stärke  einer 
Vorstellung  nur  auf  ihren  Inhalt  nicht  auf  die  seelische  Thätig- 
keit des  Vorstellens  bezogen  werden :  der  Inhalt  ist  es ,  der 
unter  der  Hemmung  leidet.  So  habe  ich  Herbart  verstanden 
und  ich  kann  in  seinen  Schriften  keinen  Anhalt  für  die  Be- 
hauptung finden ,  dass  er  seinen  Begriff  der  veränderlichen 
Stärke  „jedenfalls"  auf  die  seelische  Thätigkeit  des  Vor- 
stellens mit  anzuwenden  gedacht  habe.  Ein  ganz  klares 
Zeugniss  dafür,  dass  nach  Herbarts  Ansicht  die  Stärke  oder 
was  ihm  dasselbe  bedeutet:  Die  Helligkeit  des  Vorstellungs- 
inhalts unter  der  Hemmung  zu  leiden  habe,  lesen  wir  in  der 


—     77     — 

Abhandlung  De  attentionis  mensura  etc. 7)  ,.jacturam  fieri 
scimus  non  a  robore  notionum  nunquam  deminuto,  sed  ab 
imaginis  animo  obversantis  claritate".  Und  dass  lässt  sich 
doch  auch  wohl  nicht  bestreiten ,  dass  der  Inhalt  der  Wahr- 
nehmungen und  Vorstellungen  wirklich  in  veränderlicher 
Klarheit  und  Deutlichkeit  gehabt  wird,  und  dass  dies  sehr 
häufig  davon  abhängt,  ob  eine  Wahrnehmung  resp.  Vor- 
stellung allein  oder  mit  einer  resp.  mehreren  andern  zugleich 
im  Bewusstsein  ist.  Dass  aber  der  laute  Donner  als  lauter 
dennoch  schwach,  oder  das  hellere  Licht  als  helleres  weniger 
stark  empfunden  würde  als  ein  trüberes,  das  hat  Herbart  nie 
behauptet;  sondern  seine  Meinung  ist,  wie  das  dem  unbe- 
fangenen Leser  des  „ Lehrbuchs"  und  der  „Psychologie"  so- 
gleich einleuchtet,  dass  wenn  das  Bewusstsein  mehr  als  eine 
Vorstellung  (gleichviel  ob  ursprünglich  oder  reproduciert) 
hat,  dass  dann  dieselben  weniger  hell  und  klar  wahrgenommen 
bezw.  vorgestellt  werden,  als  wenn  das  Bewusstsein  nur  Eine 
von  ihnen  hätte;  und  dies  wird,  wie  oben  bemerkt,  durch 
die  Erfahrung  bestätigt. 

Hier  mussten  wir  also  Herbart  gegen  die  Angriffe  Lotzes 
verteidigen.  Wenn  dann  aber  jener  die  Hemmung  und  Ver- 
drängung einzelner  Vorstellungen  aus  dem  Bewusstsein  und  das 
Sichbehaupten  anderer  in  demselben,  damit  den  höheren  und 
niedrigeren  Grad  unserer  Aufmerksamkeit  auf  verschiedene 
Vorstellungen  in  erster  Linie  abhängig  sein  lässt  von  ihrer 
Stärke,  so  bemerkt  Lotze  mit  Recht2),  dass  erfahrungsgemäss 
nicht  jederzeit  die  Vorstellung  des  stärkeren  Inhalts  die  des 
schwächeren  überwinde,  dass  vielmehr  das  Gegenteil  sehr  oft 
beobachtet  werde.  Es  müsse  also  ausser  der  Stärke  des 
Vorstellungsiuhalts  noch  einen  andern  Faktor  geben,  von 
dem   dieser    Erfolg   abhänge.     Nun  kennt  allerdings  Herbart 


1)  kl.  S.  II.  p.  369. 

2)  Met.  p.  523. 


—     78     — 

als  einen  solchen  andern  Faktor  die  Unterstützung,  welche 
eine  aufstrebende  Vorstellung  gegen  eine  hemmende  durch 
eine  Association  erhält.  Aber  denjenigen  Faktor,  den  Lotze 
meint,  hat  Herbart  nicht  gewürdigt:  das  Interesse,  das  sich 
an  den  Vorstellungsinhalt  knüpft,  worunter  Lotze,  dem  all- 
gemeinen Sprachgebrauch  folgend,  dass  mit  jedem  sinnlichen 
Eindruck  und  seiner  Reproduktion  verknüpfte  Lustgefühl 
versteht.  Besonders  aber  findet  Lotze  mit  Hecht  dies  an  der 
Herbartischen  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit  zu  tadeln,  dass 
sie  behaupte ,  wo  wir  sagen ,  unsere  Aufmerksamkeit  habe 
sich  auf  die  Vorstellung  b  gerichtet,  sei  nichts  geschehen, 
als  dass  b  durch  eigene  anwachsende  Stärke  sich  im  Be- 
wusstsein  über  die  übrigen  Vorstellungen  erhoben  habe,  dass 
also  die  Aufmerksamkeit  gewissermassen  eine  Eigenschaft 
sei,  zu  der  die  Vorstellungen  die  Subjekte  wären,  während 
die  richtige  Ansicht  die  Aufmerksamkeit  als  eine  von  der 
Seele  ausgeübte  Thätigkeit  ansehe,  deren  Objekte  die  Vor- 
stellungen seien. 

Der  Gegensatz  Lotzes  gegen  Herbart  in  der  Lehre  über 
die  Aufmerksamkeit,  indem  jener  dieselbe  als  einen  Zustand 
und  eine  Thätigkeit  der  Seele,  dieser  als  einen  Zustand  und 
eine  Thätigkeit  der  Vorstellungen,  auf  die  wir  aufmerksam 
sind,  ansieht,  kehrt  wieder  bei  der  Erklärung  der  Gefühle 
und  der  "Willenserscheinungen.  Schon  darin  unterscheiden 
sie  sich  von  einander,  dass  Herbart  die  Gefühle  der  Lust 
und  Unlust,  wie  wir  sahen,  als  Begleiterscheinungen  eigen- 
artiger Vorstellungsreproduktionen,  also  durchaus  als  sekun- 
däres Bewusstseins-Gegebenes  ansah,  während  Lotze  dieselben 
für  ursprünglich  mit  jeder  "Wahrnehmung  und  Vorstellung 
verbunden  hält,'  insofern  sie  als  eine  Veränderung  des  bis- 
herigen Zustandes  der  Seele  dieselbe  fördern  oder  hemmen. 
„Ich  kann  mir  nicht  denken,  dass  irgend  ein  sinnlicher  Ein- 
druck ursprünglich  völlig  gleichgültig  geschehen  könnte ;  jeder, 
als  eine  Veränderung  des  eben  xorhandenen  Zustandes,  scheint 


—     79     — 

mir  ein  Element  der  Lust  oder  Unlust  erzeugen  zu  müssen, 
je  nachdem  er  eine  Ausübung  möglicher  Funktionen  inner- 
halb der  Grenzen  veranlasst,  in  denen  diese  Ausübung  den 
Bedingungen  der  Wohlfahrt  und  Fortdauer  des  Ganzen  ent- 
spricht, oder  Veränderungen  erzeugt,  die  nach  Form  oder 
Grösse  diesen  Bedingungen  widersprechen". J) 

Diese  allgemeine  Erwägung  Lotzes  wird  durch  die  Er- 
fahrung bestätigt.  Denn  ob  wir  auch  oft  meinen,  es  sei  uns 
diese  oder  jene  Wahrnehmung  durchaus  gleichgültig:  bei  ge- 
nauerer Aufmerksamkeit  entdecken  wir  doch,  dass  ein  Gefühl 
der  Lust  oder  Unlust,  wenn  auch  noch  so  klein,  oder  beiderlei 
Gefühle  zugleich  mit  der  , gleichgültigen"  Wahrnehmung  ver- 
bunden sind. 

Viel  wichtiger  und  principieller  aber  als  dieser  ist  der 
andere  Unterschied ,  der  in  den  Lehren  beider  Philosophen 
rücksichtlich  der  Gefühle  zu  constatieren  ist.  Nach  Herbart 
haben  die  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  ihren  „Sitz"  in  den 
Vorstellungen  ,  welche  durch  andere  Vorstellungen  zugleich 
emporgehoben  und  gehemmt,  zwischen  den  helfenden  und 
hemmenden  also  „geklemmt"  2)  werden.  Nach  Lotze  aber 
haben  die  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  ihre  Ursache  in  der 
eigentümlichen  Reaktion  der  Seele,  welche  eben  durch  diese 
Bestimmtheiten ,  die  sie  den  Wahrnehmungen  und  Vorstel- 
lungen beilegt,  anzeigt,  in  welchen  Zustand  sie  durch  die 
Vorstellungen  bezw.  Wahrnehmungen  versetzt  wird.  „Dass 
an  Vorstellungen  Gefühle  sich  knüpfen,  geht  nie  aus  der 
Natur  der  Vorstellungen  oder  aus  irgend  einer  Complication 
derselben  hervor;  sie  entstehen  vielmehr,  sofern  die  Tor- 
stellungen zurückwirkend  auf  das  Ganze  der  Seele  in  diesem 
ein  eigentümliches  Vermögen  des  Gefühls  antreffen,  dem  die 


1)  Met.  p.  524. 

2)  Lehrb.  §  36. 


—     80     — 

neuen  Erscheinungen  der  Lust  oder  Unlust  abzugewinnen 
sind'',  i) 

So  setzt  Lotze  die  Seele  wieder  in  ihre  Rechte  ein ,  die 
ihr  Herbart  genommen  hatte.  Denn  das  ist  der  Grundfehler 
von  Herbarts  empirischer  Psychologie :  sie  beschreibt  ein 
Seelenleben  ohne  Seele.  „Wenn  überhaupt,  sagt  Lotze 2), 
die  Seele  (nach  der  Herbartischen  Psychologie)  einmal  thätig 
gewesen  ist,  so  ist  sie  es  nach  ihr  doch  nur  einmal  gewesen; 
gegen  die  Reize,  die  von  aussen  kommen,  hat  sie  durch  Er- 
zeugung der  einfachen  Empfindungen  sich  behauptet;  aber 
von  da  an  ist  sie  passiv  geworden  und  lässt  ihre  inneren 
Zustände  thatlos  sich  über  den  Kopf  wachsen.  Alles  was 
weiter  in  ihr  geschieht ,  die  Bildung  ihrer  Begriffe  (versteht 
sich:  Allgemeinbegriffe  vgl.  ,,Lehrb."  §  180  und  189)  die 
Entwickelung  ihrer  verschiedenen  Vermögen,  die  Festsetzung 
der  Grundsätze,  nach  denen  sie  handelt:  alles  dies  sind  die 
mechanischen  Resultate  der  Gegenwirkungen,  und  niemals 
zeigt  sich  die  Seele ,'  der  Boden ,  auf  dem  dies  geschieht, 
vulkanisch  und  reizbar  genug,  um  mit  neuen  Rückwirkungen 
in  das  Spiel  der  Zustände  einzugreifen  und  ihnen  Wendungen 
zu  geben,  die  nicht  analytisch  aus  ihnen  allein  schon  nach 
allgemeinen  Gesetzen  ihrer  "Wechselwirkungen  hervorgingen". 

Demgegenüber  betont  Lotze  mit  Recht,  dass  die  Seele 
„nirgends  der  blose  Umfassungsraum  für  das  Getreibe  der 
inneren  Zustände  sei,  sondern  der  lebendige  Boden,  welcher 
durch  jede  augenblickliche  Schöpfung,  die  auf  ihm  gewachsen 
ist,  zugleich  neue  Bedingungen  zur  Hervorbringung  höherer 
in  sich  erzeugt  hat". 3)  Und  diese  Thatsache,  dass  die  Seele 
simultan  und  successiv  so  vielfache  Aeusserungen  ihres 
"Wesens  hervortreibt,  spricht  durchaus  nicht  gegen  ihre  Ein- 


1)  Med.  Psych,  p.  150. 

2)  Met.  p.  535. 

3)  Met.  p.  538. 


—    81     — 

heit,  denn  diese  beweist  sich  jeden  Augenblick  dadurch,  dass 
die  Seele  alle  diese  Aeussemngen  als  Ihr  Bewusst-Sei- 
endes  hat. 

Ganz  ungenügend  und  falsch  ist  endlich  die  Herbartische 
Theorie   der  Willenserscheinungen.     Das    Begehren    entsteht 
nemlich  nach  Herbart  direkt  nur    auf  Grund   eines  Unlust- 
gefühls.     Die  einfache  Begierde  ist  eine  Vorstellung,  welche 
durch  eine  Wahrnehmung  oder  Vorstellung  reproduciort   und 
über  die  Schwelle  des  Bewusstseins  gehoben,  durch  eine  an- 
dere gehemmt  und  zurückgetrieben  wird  (wodurch  sie  „Sitz" 
eines  Unlustgefiihls  wird  s.  oben  S.  72)  doch   so,   dass    die 
Hemmung  schwächer  ist  als  die  reproducierende  Kraft,   und 
die     reproducierte     Vorstellung    die    Hemmung    überwindet 
(wodurch   das  Gefühl    der   Unlust   in    Begierde    übergeht) 3). 
Man  sieht,  es  handelt  sich  nur  um  eigenartige  Reproduktion 
von  Vorstellungen,   wonach  also  kein  Gegenstand  bei  seiner 
ersten    Wahrnehmung    Gegenstand    des    Begehrens     werden 
könnte.     Wie  nun  aber,  selbst  diese  Beschränkung  zugegeben, 
von  dieser  gegen  eine  Hemmung  durchgesetzten  Reproduktion 
einer  Vorstellung    die    Brücke    zu    der   den  Gegenstand    der 
Vorstellung   verwirklichenden  Handlung  zu  schlagen  sei  (in 
welche  doch  erfahruugsgemäss  jede  Wollung  ausläuft,   wenn 
nicht   die  Handlung    durch    hindernde    Umstände    unmöglich 
gemacht  wird),  ist    nicht  abzusehen,  und  Herbart  hat  es  gar 
nicht  versucht.     Vielmehr    setzt   er   einfach   in   den   aus  der 
„gemeinen  Erfahrung"  für  sein    „a  priori"    gewonnenes  Re- 
sultat angezogenen  Beispielen  an  Stelle  der  erschwerten  Re- 
produktion eine  erschwerte  Handlung,  welche  „in  dem  Mass 
ihrer  Schwierigkeit  dahin   wirke ,    dass    wir   uns   anstrengen 
und    immer  stärker     anstrengen",    wie    bei  der  erschwerten 
Reproduktion  immer  mehr  von  den  mit  der  zu  reproducieren- 


1)  s.  oben  S.  72  und  Lehrb.  §  33. 


—     82     — 

den  verschmolzenen  Vorstellungen ,  zur  Hülfe  kommen 1). 
Wie  wir  aber  dazu  kommen ,  eine  Handlung  überhaupt  zu 
beginnen,  erklärt  Herbart  nicht  und  kann  er  nicht  erklären, 
da  ja  mit  der  vollendeten  Reproduktion  auch  das  Wollen 
vollendet  sein  muss  und  es  ausser  dieser  Reproduktion  kein 
Ziel  hat. 

Lotze  teilt  die  Willenserscheinungen  ein  in  Triebe  und 
eigentliche  Wollungen.  Voraussetzung  für  das  Auftreten 
beider  ist  das  Vorhandensein  von  Vorstellungen  und  mit 
diesen  verknüpften  Gefühlen  sowie  die  Erfahrung ,  dass  und 
wie  weit  Vorstellungen  mit  bestimmten  Gefühlen  der  Lust 
oder  Unlust  zu  erlangen  resp.  zu  beseitigen  seien.  „Drei 
Momente,  sagt  er2),  finden  wir  zu  unterscheiden,  die  in  ihrer 
Gesamtheit  den  Trieb  bilden.  Den  Anfang  des  Ganzen  bilden 
stets  einzelne  körperliche  oder  geistige  Ereignisse,  Thätig- 
keiten  z.  B.  der  Nerven,  die  durch  mancherlei  Reize  aufge- 
regt worden ,  die  aus  irgend  einem  Grunde  in  Bewegung 
geraten.  Geschähen  alle  diese  Ereignisse  in  einer  lediglich 
intelligenten  Seele,  so  würden  sie  zwar  auch  in  ihr  eine  Un- 
ermesslichkeit  von  folgen  hervorbringen,  aber  sie  würden 
ihr  doch  stets  nur  das  ganz  gleichgiltige  Schauspiel  eines 
bunten  Wechsels  von  Erscheinungen  gewähren ,  ohne  dass 
die  Seele  sich  selbst  durch  einen  Zug  dieses  Geschehens 
gehoben  getriebeu  oder  gehemmt  empfände.  Aber  da  alle 
diese  Geschichten  sich  in  einer  Seele  ereignen ,  Avelche  die 
Grösse,  die  Lebendigkeit,  die  harmonische  oder  widerstreitende 
Kombination  ihrer  Thätigkeiten  und  Zustände  zugleich  als 
Lust  und  Unlust  fühlt,  so  begleitet  jede  einigermassen  kraft- 
volle von  diesen  Veränderungen  ihres  Innern  auch  ein  deut- 
liches Gefühl  eines  eigentümlichen  qualitativen  Leidens  oder 
Wohlseins.     Und  hiermit  würde   der  Vorgang  enden,   wenn 


1)  Psych.  II  §  150  p.  350. 

2)  Med.  Psych,  p.  2y7. 


—     83     — 

umgekehrt  die  Seele  nur  fühlte  und  keine  Vorstellungen  be- 
sässe,  die  ihr  eine  Erfahrung  möglich  machen.  Im  Bewusst- 
sein  ist  das  erste  Ereigniss,  von  dem  der  Trieb  ausgeht, 
stets  nur  ein  Gefühl  einer  eigentümlichen  Lage,  in  welche 
unser  Wesen  versetzt  ist;  in  dieser  Lage  aber  würden  wir 
verharren  und,  wenn  sie  schmerzhaft  ist,  zu  Grunde  gehen 
müssen,  ohne  einen  Ausweg  aus  ihr  zu  finden,  wenn  nicht 
Erfahrungen  uns  gelehrt  hätten,  welches  Heilmittel  für  sie 
vorhanden  ist,  oder  in  welchen  zufriedenstellenden  Ausgang 
sie  übergeführt  werden  kann.  Sobald  diese  Vorstellungen 
eines  erreichbaren  Zieles  in  der  Erinnerung  auftauchen ,  er- 
scheint die  geschehende  Bewegung  als  auf  dieses  Ziel  gerichtet 
und  sich  ihm  annähernd,  die  gehemmte  als  von  ihm  zurück- 
gehalten, und  das  Gefühl  einer  Lage  hat  sich  nun  in  das 
angenehme  oder  unangenehme  Gefühl  einer  Bewegung  ver- 
wandelt, welche  uns  einem  wohlthuenden  oder  schmerzlichen 
Endpunkte  zufährt".  —  Von  solchen  Trieben  würden  wir 
ohne  Zweifel  im  Leben  am  häufigsten  zu  unseren  Handlungen 
gedrängt,  und  nur  selten  äusserten  wir  einen  wirklichen  Willen, 
indem  wir  der  Bewegung  unserer  Zustände  uns  nicht  nur 
hingäben,  sondern  sie  adoptierten  oder  einer  geschehenden 
eigenmächtig  entgegenwirkten.  Der  Akt  des  Wollens  sei 
übrigens  nicht  zu  schildern,  noch  zu  erläutern,  sondern  könne 
als  eine  Grunderscheinung  des  geistigen  Lebens  nur  erlebt 
werden '). 

Indem  ich  Lotze  vollkommen  darin  beistimme,  dass  das 
Wollen  eine  Grunderscheinung  des  seelischen  Lebens  ist, 
verschieden  von  Vorstellen  und  Fühlen ,  und  zu  seiner  Vor- 
aussetzung das  Vorhandensein  von  Vorstellungen  und  be- 
stimmten mit  diesen  verbundenen  Gefühlen  im  Bewusstsein 
zur  Voraussetzung  hat,  sowie  eine  Erfahrung  von  der  Mög- 
lichkeit  und    den    Mitteln,    diese   Vorstellungen    zu   ändern, 


1)  Med.  Ps.  p.  300. 


—     84     — 

kann  ich  dagegen  eine  Scheidung  der  Willenserscheinungen 
in  Triebe  und  eigentliche  Wollungen ,  wie  sie  Lotze  vor- 
nimmt, nicht  als  richtig  anerkennen. 

Im  Triebe  soll,  sobald  die  Vorstellung  eines  erreichbaren 
Zieles  d.  h.  der  Verwirklichung  einer  lusterregenden  oder 
Beseitigung  einer  unlusterregenden  Wahrnehmung  oder  Vor- 
stellung in  der  Erinnerung  aufgetaucht  ist,  die  geschehende 
Bewegung  als  auf  dieses  Ziel  gerichtet  und  sich  ihm  an- 
nähernd, die  gehemmte  als  von  ihm  zurückgehalten  erschei- 
nen. Also  die  betreffende  Bewegung  geschah  schon  auf  ein  Ziel 
hin  resp.  wurde  schon  von  einem  Ziele  zurückgehalten,  bevor 
noch  die  Erinnerung  lehrte,  dass  diese  geschehende  resp. 
gehemmte  Bewegung  etwas  zur  Folge  haben  würde,  was  dem 
vorstellenden  und  fühlenden  Subjekt  ein  Lustgefühl  verur- 
sachen oder  ein  Unlustgefühl  beseitigen  musste.  Jene  Be- 
wegung resp.  jene  Hemmung  einer  Bewegung  war  also  völlig 
unbewusst;  denn  eine  Handlung,  bei  welcher  sich  der  Han- 
delnde keines  Erfolges  derselben  bewusst  ist  und  die  er  nicht 
um  ihres  Erfolges  willen  thut,  muss  so  bezeichnet  und,  falls 
der  Handelnde  sich  in  einem  zurechnungsfähigen  Zustande 
befindet,  zu  den  Reflexbewegungen  gerechnet  werden.  Dann 
aber  ist  eine  solche  Handlung  gar  nicht  mehr  als  von  einer 
Willenserscheinung  veranlasst  anzusehen ,  sondern  höchstens 
von  dem  Augenblick  an,  wo  der  Handelnde  sich  des  Erfolges 
dieser  bisher  reflectorischen  Bewegung  bewusst  wird  und  nun 
denselben  „will".  Von  diesem  Augenblicke  an  aber  unter- 
scheidet sich  die  betreffende  Handlung  in  nichts  von  den 
eigentlich  gewollten  und  „Trieb",  als  ihre  Veranlassung  an- 
gesehen, würde  ein  anderes  Wort  sein,  keine  andere  Bedeu- 
tung haben  als  „Wille".  Ich  halte  es  daher  für  notwendig, 
jede  Handlung  und  Bewegung  auch  von  Tieren, ',  sofern  sie 
nicht  Reflexbewegung  ist,  als  eine  „gewollte"  zu  bezeichnen, 
welche  eine  oder  mehrere  mit  Gefühlen  der  Lust  oder  Unlust 
verknüpfte  Vorstellungen  zur  Voraussetzung  habe. 


-     85    - 

Wir  sind  hiermit  am  Ende  auch  des  psychologischen 
Teiles  unserer  Untersuchung,  deren  Ergebniss  wir  kurz  zu- 
sammenfassen: 

Herbart  bezeichnete  die  Seele  als  ein  Reales,  Lotze  als 
Substanz;  nach  H.  war  die  Seele  unentstanden  und  unver- 
gänglich, nach  L.  entstanden  und  wahrscheinlich  unvergäng- 
lich ;  H.  bestimmte  die  Seele  als  ein  Reales  ,  dessen  Selbst- 
erhaltungen Vorstellungen  seien,  dessen  Qualität  im  Uebrigen 
aber  unbekannt  sei,  nach  L.  hat  die  Seele  Vorstellungen, 
Gefühle  und  Strebungen  und  das  eben  sind  ihre  Bestimmt- 
heiten ;  nach  beiden  Philosophen  ist  die  Seele  ein  einfaches 
Wesen.  In  der  empirischen  Psychologie  leitet  sodann  Herbart 
die  qualitativ-ränmlich-zeitlich  bestimmten  Wahrnehmungen 
und  Vorstellungen  sowie  nachher  die  Gefühle  und  Willens- 
erscheinungen aus  den  Wechselwirkungen  der  einfachen  Vor- 
stellungen (Sinnesqualitäten)  ab,  Lotze  hält  ebenfalls  für  ur- 
sprünglich gegeben  nur  die  einfachen  Sinnesqualitäten,  aber 
die  räumliche  Bestimmtheit  resultiert  ihm  nicht  aus  logischen 
Verhältnissen  der  einfachen  Qualitäten,  sondern  wird  von  der 
Seele  zu  den  qualitativen  Bestimmtheiten  hinzugefügt,  da- 
gegen ist  die  zeitliche  Vorstellung  ihm  wie  Herbart  eine  Folge 
logischer  Verhältnisse  der  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen. 
Die  Gefühle  sind  nach  L.  ursprünglich  mit  jeder  Wahrneh- 
mung und  Vorstellung  verbunden  und  sind  Zustände  der 
Seele,  nicht  wie  bei  H.  der  Vorstellungen;  die  Willens- 
erscheinungen sind  secundäre  Grunderscheinungen  des  Seelen- 
lebens, nicht  Folgeerscheinungen  eigenartiger  Vorstellungs- 
reproduktionen, wie  Herbart  lehrte,  und  haben  Vorstellungen 
und  mit  diesen  verknüpfe  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  sowie 
eine  gewisse  Erfahrung  zur  Voraussetzung. 

Wir  konnten  in  der  Psychologie  Lotze  öfter  beistimmen 
als  in  der  Metaphysik.  Seiner  Bestimmung  des  Begriffs 
Seele  brauchten  wir  nur,  zur  Unterscheidung  der  Seele  von 
dem    übrigen  Seienden,   die  negative  Bestimmtheit   der  Un- 


—     86     — 

räumlichkeit  hinzuzufügen.  Mehrfach  mussten  wir  ihm  bei 
der  Erörterung  der  Entstehung  und  Vergänglichkeit  der 
Seele  entgegentreten;  ebenso  in  seiner  Polemik  gegen  die 
Herbartische  Theorie  der  Hemmungen  und  der  veränderlichen 
Stärke  der  Vorstellungen  sowie  in  seiner  Deduktion  der 
Raumanschauung ;  beistimmen  aber  konnten  wir  ihm  in  seiner 
Kritik  der  Herbartischen  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit,  den 
Gefühlen  und  den  Willenserscheinungen,  wenn  wir  ihm  auch 
nicht  in  allen  Einzelheiten  zu  folgen  vermochten. 


87     — 


Lebenslauf. 


August  Friedrich  Christian  Haeger,  evangelischer 
Confession,  bin  geboren  am  14.  December  1859  in  Wildenhagen 
Kr.  Cammin  in  Pommern.  Ich  besuchte  bis  in  mein  vierzehntes 
Jahr  die  Dorfschule,  darauf  ein  Jahr  lang  die  Privatschule  eines 
älteren  Kandidaten  der  Theologie  und  von  Ostern  1874  bis  Ostern 
1880  das  Gymnasium  zu  Greifenberg  i./Pom.  Mit  dem  Zeuguiss 
der  Keife  entlassen  bezog  ich  die  Universität  Beilin,  wo  ich  bis 
Ostern  1884  klassische  Philologie,  deutsche  Litteratur  und  Geschichte 
studierte  und  Vorlesungen  folgender  Herren  Professoren  hörte : 

Breslau,    Diels,   Geiger,    Hübner,  Kiepert,  Kirch- 
hoff,   Ködiger,    Scherer,     Tobler,     v.    Treitschke, 
Vahlen,  Zell  er. 
Im  Juni  1886  bestand    ich  das  Examen  pro  facultate  docendi, 
absolvierte  von  Michaelis  1886   bis  Michaelis  1887   mein  Probejahr 
am  Königl.  Domgymnasium  zu  Colberg,   wo  ich  auch  den  folgenden 
Winter   noch   als   freiwilliger  wissenschaftlicher  Hülfslehrer  verblieb. 
Ostern    1888   ging   ich   auf  die   Universität   Greifswald,    um    meine 
philologischen  und  philosophischen  Studien  fortzusetzen.     Hier  hörte 
ich  während  vier  Semester  Vorlesungen  folgender  Herren  Professoren 
und  Dozenten: 

Kiessling,  Maass,  Marx,  Preuner,  Kehmke, 
Schultze,  Schuppe,  Susemihl; 
war  Mitglied  des  klassisch-philologischen  Seminars  unter  Leitung  der 
Herren  Professoren  Kiessling,  Maass,  Marx  und  nahm  Teil  an 
den  archaeologischen  Uebungen  des  Herrn  Prof.  Preuner  und  an 
den  philosophischen  der  Herren  Professoren  Kehmke  und  Schuppe. 
Im  December  1890  bestand  ich  eine  Erweiterungsprüfung  und 
bin  seit  dem  15.  Januar  d.  Js.  vertretungsweise  als  wissenschaft- 
licher Hülfslehrer  am  Königl.  Gymnasium  zu  Greifenberg  i./Pom. 
beschäftigt.  i 

Zum  Schlüsse  spreche  ich  allen  Herren  Dozenten,  die  mich  in 
Vorlesungen  und  Uebungen  belehrt  haben,  meinen  tiefgefühlten  Dank 
aus,  vor  allen  aber  meinem  hochverehrten  Lehrer,  Herrn  Prof.  Dr. 
Rehmke,  der  mir  in  wahrhaft  väterlicher  Weise  zur  Seite  gestan- 
den und  meine  Studien  in  die  rechten  Bahnen  gelenkt  hat. 


—     88 


Thesen, 
i. 

Ein  Beweis  aus  der  Geschichte,  dass  Bildung  nicht  bei- 
trage zur  Hebung  der  Sittlichkeit,  dass  vielmehr  das  Gegenteil 
der  Fall  sei,  ist  nicht  zu  erbringen. 

IL 

Jede  wissenschaftliche  Ethik  niuss  die  Gefühle  der  Lust 
und  der  Unlust  als  die  Triobfedern  alles  menschlichen  Han- 
delns zu  Grunde  legen. 

III. 

Eine  Vereinigung  des  idealistischen  Monismus  mit  wissen- 
schaftlicher Betrachtung  des  Seienden  (vgl.  Falckenberg,  Gesch. 
d.  Neuer.  Philos.  p.  471)  ist  nicht  möglich. 

IV. 
Aeneidis  libri  singuli  a  Vergilio  ut  epyllia  quodammodo 
propria  et  ex  se  apta  composita  sunt. 

V. 

Virgilii  Aeneidis  libro  I  delenda  sunt  verba: 
vs.  477  Inno  cervixque  comaeque  trahuntur 

478     per  terram  et  versa  pulvis  inscribitur  hasta. 

VI. 

Lucret.  de  rer.  nat.  II  875  contra  Lachmannum  resti- 
tuendum  est:  vertunt  se  fluvii  in  frondes. 


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B  Haeger,   August 

304.9  Lotzes  Kritik  der 

M4H3         Herbartischen  Metaphysik  und 
Psychologie 


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