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NEGA TIVE
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A UTHOR :
LUDWIG , ZIEHEN
TITLE:
L. R. FARNELL, THE
CULTS OF THE GREEK
PLACE:
BERLIN
DATE:
1911
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
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Master Negative #
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BY fiPPLIED IMAGE, INC.
Gröttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften
173. Jahrgang
Nr.n
19U
Februar
v-
4
o-
I n halt
S. Sudhaus, Der Aufbau der plautinischen Cantica. Von Friedrich
X^l^' * 65-104
l/L.K Farn eil, The cults of the Greek states. Von Ludwig Ziehen. 105-119
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg
Jahrg. XXV. Von H. Augener ' ng^iso
Carolusü. Clark, Ammiani Marcellini libri XI V— XXV. Von Friedrich
^^^^: • \ , : 142-134
Charles PI es ent, Le Culex, Etüde sur PAlexandrinisme latin. -
Ders., Le Culex. Edition crit. et explic. Von i^^tcdncÄ ieo. . . 135—136
f.
Berlin 1911
Weidmannsche Buchhandlung
SW. Zimmerstraße 94.
Farneil, The cults of the Greek states
105
L. R. Farnell, The cults of the Greek states. Vol. IH— IV. Oxford
1907, Clarendon Press. Xir,393 u. VIII, 454 S.
Den beiden ersten Bänden des großen Famellschen Werkes über
die griechischen Kulte, die 1896 erschienen, sind erst nach langer
Pause der dritte und der vierte gefolgt^), deren Besprechung mir hier
obliegt. Da jene ersten Bände seiner Zeit hier nicht angezeigt und auch,
soweit ich sehe, bei uns in Deutschland nicht so bekannt wurden, wie
sie es eigentlich verdienten, empfiehlt es sich wohl ein kurzes Wort
über die äußere Anlage des Werkes vorauszuschicken, zumal der von
Farnell gewählte Titel leicht falsche Vorstellungen erweckt. Denn
nach dem Titel > cults of the Greek states« könnte man erwarten,
daß Farnell seinem Werke eine geographische Einteilung zu Grunde
lege und nach einander die Kulte der einzelnen Staaten behandle.
Dies ist aber keineswegs der Fall, vielmehr hält sich F. durchaus an
die in den früheren > Mythologien« übliche Einteilung und gliedert
also den Stoff nach den Hauptgottheiten. So hat er in den beiden
ersten Bänden Zeus und Hera, Athene, Artemis und Aphrodite behandelt,
im dritten jetzt Demeter, Kore-Persephone, Hades und die verwandten
Gottheiten, im vierten Poseidon und Apollon. Die praktischen Vorzüge
dieser Einteilung liegen auf der Hand, so daß sie keiner Rechtferti-
gung bedarf. Damit will ich aber nicht sagen, daß jene andere An-
ordnung, richtig verstanden und durchgeführt, nicht auch berechtigt
sei. Im Gegenteil, mir scheint die geographisch-historische Bearbeitung
der griechischen Religion, die von dem Boden der einzelnen Land-
schaft und Stadt ausgeht und uns vor allem die Wandlungen zeigt,
die hier seit ältester Zeit vor sich gegangen sind — womöglich unter
Beifügung religionsgeschichtlicher Karten! — , ein dringendes Be-
dürfnis unserer Wissenschaft zu sein. Freilich ist es die Frage, ob heute
schon die Zeit dafür gekommen ist und nicht eine Reihe von Vor-
arbeiten nötig sind, durch die wenigstens die Grundlinien einer rich-
tigen Auffassung und Behandlung sicher gestellt werden. Das zeigt
gerade Farnells Werk, das nach dieser Seite hin meiner Ueberzeugung
nach an schweren, prinzipiellen Irrtümern leidet, so daß es nur gut
ist, daß er nicht darauf seine ganze Behandlung aufgebaut, sondern
die herkömmliche Einteilung nach Hauptgottheiten beibehalten hat.
Doch unterscheidet er sich von einem Werke wie Preller-Roberts
Griechischer Mythologie einmal dadurch, daß er die bildliche Ueber-
lieferung ausführlicher — in besonderen Kapiteln — behandelt und
verwertet sowie das Verständnis durch meist gute. Abbildungen unter-
1) Inzwischen ist auch der V. Bd., der Schlußband, erschienen, der hier
aber nicht mehr berücksichtigt werden konnte.
106
Gott. gel. Anz. 1911. Nr. 2
stützt. Wichtiger noch ist Folgendes: Preller-Robert gibt in seiner
Darstellung die Resultate der Forschung, nicht die Forschung selbst,
und nur in den Anmerkungen wird kurz auf gegnerische Ansichten
Rücksicht genommen; Famell dagegen führt uns im Text selbst in
die wissenschaftliche Debatte ein und setzt sich hier mit den ver-
schiedenen Ansichten auseinander, ein Verfahren, das mir, so wie
heute die Dinge stehen, den Vorzug zu verdienen scheint. Dagegen
sind wiederum die in Betracht kommenden Zeugnisse nicht etwa unter
dem Text zitiert, sondern alle am Schluß jedes Abschnittes vereinigt.
Dies Verfahren, das soviel ich weiß besonders in Amerika beliebt ist,
hat den großen Vorzug, daß man auf den Abdruck des Wortlautes
der Zeugnisse nicht zu verzichten braucht und dadurch dem Benutzer
viel Zeit erspart, ohne deshalb — die andere Klippe — die Ueber-
sichtlichkeit der Darstellung selbst durch den Umfang der An-
merkungen zu beeinträchtigen. Doch sollte man, meine ich, zu
Gunsten solcher Stellen, deren Wortlaut für die Auseinandersetzung
von besonderer Wichtigkeit ist, eine Ausnahme machen und sie auch
vorne im Urtext abdrucken.
Und nun zu dem Inhalt, der ebenfalls in einer Hinsicht für viele
eine Ueberraschung bedeuten dürfte. Das Buch Farnells ist ein Werk
der englischen Schule; England aber ist heute der Hauptsitz der
sogen, anthropologischen Methode; von dort hat sie ihren Ausgang
genommen und dort hat sie gerade auch in den Jahren, die zwischen
dem Erscheinen der beiden ersten und der beiden neuen Bände
liegen, Jhre konsequenteste und — wenn man vielleicht von Salomon
Reinach absieht — extremste Vertretung gefunden. So lag, we-
nigstens für den, der die früheren Arbeiten Farnells nicht verfolgt
hatte, die .Erwartung nahe, daß das Werk uns eine systematische
Bearbeitung der Religion und des Kultus der Griechen von diesem
anthropologisch-ethnologischen Standpunkte aus bringen werde. Dem
ist nun — glücklicher Weise — nicht so: Famell hat sich gar
keinem »Standpunkt« und keiner Theorie verschrieben, weder dem
Animismus noch dem Totemismus noch dem Fetischismus, und darin
sehe ich — um dies gleich hier vorwegzunehmen ~ den Hauptvorzug
des ^Werkes. Kein vernünftiger Mensch wird heute mehr die Bedeu-
tung ^der anthropologischen Methode im allgemeinen wie im beson-
deren auch ihren Wert für das Gebiet der antiken Religionsgeschichte
bestreiten. Aber ebenso sicher ist, daß sie gerade hier in dem letzten
Jahrzehnt zu argen Uebertreibungen und vorschnellen Uebertragungen
und Gleichsetzungen geführt hat, denen gegenüber man versucht ist
nicht mehr von Methode sondern von Mode zu sprechen. Es ist be-
zeichnend, daß in jüngster Zeit es gerade Vertreter der Ethnologie
Farneil, The cults of the Greek states
lOT
selbst waren, die vor diesen Mißgriffen warnten 0. Famell steht nun
nicht etwa wie Gruppe der neuen Methode prinzipiell ablehnend
gegenüber, er ignoriert auch nicht die darauf beruhenden Erklärungen
griechischer Riten, aber er tritt unbefangen an die Probleme heran,
geleitet nicht von der Vorliebe für eine Theorie, sondern von einer nüch-
ternen, methodischen Kritik der antiken Ueberlieferung selbst. Zu
diesem »methodisch« aber rechne ich vor allem eines: F. bleibt
— eben in Folge seiner Unbefangenheit — vor dem Fehler bewahrt,
dem alle die, die darauf aus sind, für eine bestimme Theorie nach
Beweisen zu suchen, so leicht verfallen, daß sie nämlich ein einzelnes
Zeugnis herausgreifen und ihm einen übertriebenen Wert beilegen,
statt es im Rahmen der gesamten Ueberlieferung zu betrachten und
zu bewerten. Diese Prüfung nun, die Farneil vornimmt, fällt zwar
nicht immer, aber doch in der Mehrzahl der Fälle ungünstig für die
kühnen »anthropologischen« Erklärungen und Hypothesen aus, zu Un-
gunsten vor allem der Annahme eines griechischen Totemismus.
Darüber seien zunächst einige Worte gestattet.
Der Totemismus ist gewiß ein äußerst wichtiges und interessantes,
aber auch ein sehr schwieriges Problem, das mit der vordiingenden
Forschung sogar nur noch verwickelter geworden ist. Denn es stellt
sich heraus, daß der Totemismus bei den einzelnen Völkern, bei
denen er überhaupt heute vorkommt, starke Abweichungen aufweist,
daß z. B. nicht nur der Totemismus der Australneger ganz verschieden
ist von dem der Nordamerikaner, sondem auch innerhalb der Austral-
neger sich wiederum wesentlich verschiedene Arten von Totemismus
finden, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen 2). Zur Zeit
scheint also eine einfache und scharfe, dabei allseitig erschöpfende
Definition des Totemismus nicht möglich. Um so dringender aber ist
es notwendig, soll der Begriff nicht jeden wissenschaftlichen Wert
verlieren, wenigstens die wenigen Züge, die als gemeinsame Eigen-
tümlichkeiten gesichert sind, im Auge zu behalten und die Unter-
schiede gegenüber anderen sich in gewisser Hinsicht damit berühren-
den Erscheinungen nicht zu verwischen. Vor allem ist so unbedingt
Totemismus und Tierkult auseinander zu halten. Daß in Griechen-
land einmal auch Tierkult geherrscht, in dem Sinne, daß man ge-
wisse Tiere als Inkarnation einer Gottheit auffaßte, wird heute wohl
1) Besonders beherzigenswert sind die Ausführungen von M'Lennan in dem
zweiten, aus s. Nachlaß herausgegebenen Bande seiner Studies in Ancient History
Chap. 2, auf die ich hier nachdrücklich aufmerksam mache, auch die Ethnologen.
Vgl. jetzt auch A. von Gennep, Rdligions, Moeurs et Legendes, Ileme Serie, S.
34 ff. u. 68 ff.
2) A. V. Gennep a.'a. 0. S. 13.
108
Gott. gel. Anz. 1911. Nr. 2
Farnell, The cults of the Greek states
109
meist zugestanden, und ich möchte darin sogar noch weiter gehen als
Famell, aber mit diesem Tierkult ist noch keineswegs die Existenz
des Totemismus gegeben. Von diesem kann erst dann die Rede sein,
wenn drei Eigentümlichkeiten dazukommen, einmal der Glaube an
eine Blutsverwandtschaft des betreffenden Stammes mit dem be-
treffenden Tiere, sodann daß das Totemtier tabu ist und endlich daß
der betreffende Stamm sich nach dem Totemtiere nennt ^). Untersucht
man darauf hin die angeblichen Beispiele von griechischem Totem-
ismus, so wird man Famell durchaus zugeben müssen, daß sie jeder
sicheren Grundlage entbehren. Wenn z. B. Frazer den bekannten
Kult der pferdeköpfigen Demeter von Phigalia als ursprünglich tote-
mistisch erklären wollte, so ist allerdings einstiger Tierkult durchaus
wahrschemlich — die Erklärung Farnells, der den Pferdekopf dem
Einfluß des Poseidon Inmog zuschreibt, scheint mir recht künstlich
— , aber von jenen spezifisch totemistischen Zügen findet sich in der
üeberiieferung über Phigalia keine Spur, nicht einmal der ent-
sprechende Tabu-Ritus, der sich doch, wenn auch abgeschwächt, leicht
hätte erhalten können. Auch in dem Kult des ApoUon Lykeios, wo
doch die üeberiieferung verhältnismäßig reichlich fließt, fehlen jene
Züge, wie F. mit Recht feststellt, durchaus 2). In anderen Fällen
aber, wo F. selbst die Möglichkeit einer totemistischen Grundlage
eher anzuerkennen geneigt wäre, wie z. B. beim ApoUon Smintheus,
handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um vorgriechische Kulte,
so daß damit für die hellenistische Religion jedenfalls nichts Sicheres
gewonnen würde. Meiner Ansicht nach ist übrigens auch beim Smin-
theus der Totemismus sehr zweifelhaft: dieser Mäusegott scheint mir
unmöglich getrennt werden zu können von dem Fliegenabwehrer, dem
MoiaYpoc und den verwandten Gestalten; wenn man aber diese ge-
meinsam betrachtet, scheint mir doch eine einfachere Erklärungs-
weise, wie sie Usener, Götternamen S. 260f., stillschweigend voraus-
setzt, viel näher zu liegen.
Nun gibt es aber dieser > philologischen« Behandlung des Problems
gegenüber einen prinzipiell-theoretischen Einwand, auf den Famell
freilich nicht eingegangen ist, wie überhaupt wohl die prinzipielle
Erörterung bei ihm ein wenig zu kurz gekommen ist, der mir
aber so wichtig erscheint, daß ich hier doch kurz zu ihm Stellung
nehmen möchte. Man wird nämlich entgegnen: das Versagen der
üeberiieferung könne in diesem Falle nichts beweisen, weil eine
totemistische Vergangenheit der Griechen a priori anzunehmen sei,
1) Gennep a. a. 0. S. 55 ff.
2) Vgl. dazu übrigens jetzt vor aUem auch die wichtigen Bemerkungen
Gruppes (Griech. Mythol. S. 918), die F. noch nicht kannte.
da gemäß den Voraussetzungen der anthropologischen Methode der
Totemismus eine Stufe gewesen ist, die jedes Volk einmal betreten
haben muß. Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand wahr-
scheinlich manchem befremdlich und sein Ziel verfehlend, denn man
kann ja sehr wohl die prinzipielle Voraussetzung der anthropolo-
gischen Methode, d. h. die Annahme einer gleichen religiösen Veran-
lagung der Menschen für richtig halten und deshalb doch annehmen,
daß die Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende
sich außerordentlich verschieden gestaltet hat und deshalb eine ge-
meinsame Totemismus-Stufe keineswegs a priori gefolgert werden darf.
Wenn trotzdem viele, wenn nicht die meisten Anhänger der totem-
istischen Theorie diese Folgerung ziehen^), so wirkt m. E. bewußt
oder unbewußt eine andere Annahme mit, daß nämlich die heutigen
totemistischen Völker dem gemeinsamen Ausgangspunkt der Entwick-
lung ganz nahe stünden, daß sie eine ganz frühe, jugendliche Epoche
der Menschheit repräsentierten, gewissermaßen ihre Kindheitsstufe, auf
der sich die Entwicklung noch nicht so stark differenziert haben
konnte, dessen Eigentümlichkeiten also allen Zweigen mehr oder
minder gemeinsam gewesen sein müßten. Aber gerade in dieser An-
nahme der Jugendlichkeit der sog. primitiven oder Naturvölker scheint
mir ein ganz verhängnisvoller Fehler zu liegen, den wohl die von
England eingeführte, sonst ja sehr brauchbare Bezeichnung >primitiv<
begünstigt. Daß unsere heutigen Naturvölker >jugendlich< sind, ist
eine ganz unbewiesene und unbeweisbare Annahme. Sie sind genau
so alt wie wir; ihre Entwicklung hat sie nicht denselben Weg wie
uns, nicht zu der alle höhere Zivilisation und Kultur bedingenden
Kenntnis und Beherrschung der Natur geführt, aber eine Entwicklung
haben sie auch gehabt, die sie bisweilen — von unserem Gesichts-
punkt aus — gar nicht aufwärts, sondern abwärts geführt haben
mag, also ganz wohl mit dem Worte > Entartung« bezeichnet werden
kann. Auch mit dem Begriff >Entartung< freilich und dem Verhalten
mancher Forscher dazu hat es eine eigene Bewandtnis, die ich mir
überhaupt nur aus historischen Gründen erklären kann. Als nämlich
Tylor u. a. zuerst die anthropologisch-ethnologische Methode begrün-
deten, da hatten sie ihre Gesamtauffassung von der menschlichen Ent-
wicklung vor allem gegen eine streng kirchliche Auffassung zu ver-
treten^) — man denke an englische Verhältnisse — , die auf Grund
1) Nicht trifft dies für Gennep zu, der, wie ich zu meiner Genugtuung sehe,
ganz ähnlich über diese Frage urteilt wie ich.
2) Höchst bezeichnend ist die Art, in der ein Mann wie Jevons, sonst einer
der radikalsten Vertreter der anthropologischen Methode, sich mit dieser Auf-
fassung abfinden zu müssen glaubt, s. seine Introduction to the history of reli-
gion S. 4 ff.
110
Gott. gel. Anz. 1911. Nr. 2
der Bibel den Urzustand der Menschen als vollkommen ansah, vor
allem ja gerade in religiöser Hinsicht, und deshalb die Zustände
der sog. Naturvölker durchweg und prinzipiell als > Entartung < auf-
faßte. Wenn Tylor und seine Anhänger gegen diese Entartungstheorie
protestierten, so hatten sie vollkommen Recht, aber nun wirkt offen-
bar die Erinnerung an diese alte Kampfesstellung heute noch bei
manchen nach und läßt sie, sowie jemand von einer Entartung der
Naturvölker spricht, sofort wieder Front dagegen machen, auch wenn
das Wort in ganz anderem Sinne wie einst gebraucht wird. Uebrigens
bedarf es für die uns hier beschäftigende Frage des Begriffes >Ent-
artung« keineswegs, hier handelt es sich nur darum, dem Vorurteil
zu begegnen, als seien Völker wie die Indianer und Australneger be-
sonders jugendlich, und Folgerungen, die aus dieser hinfälligen Prä-
misse zu Gunsten eines griechischen Totemismus gezogen werden, ab-
zulehnen. So läßt sich also jene Auffassung von der gleichen reli-
giösen Veranlagung der Menschen mit den Ergebnissen der > philolo-
gischen < Behandlung wohl vereinigen, was ich kurz so ausdrücken
möchte: die Keime des Totemismus sind auch in der griechischen
Religion vorhanden gewesen, aber unter dem Einfluß der besonderen
griechischen Verhältnisse sind sie entweder gar nicht zur Entwicklung
gekommen oder wenigstens bald verkümmert und abgestorben.
Neben dem Totemismus und z. T. im Zusammenhang mit ihm spielt
in der modernen Religionswissenschaft das >sakramentalec Mahl
eine besonders große Rolle, und in der Tat ist das der Begriff, dessen
Bedeutung für das Verständnis auch der antiken Religionen heute
wohl allgemein zugegeben wird. Auch Farneil wendet den Begriff
wiederholt an, warnt aber andrerseits mit Recht vor Uebertreibungen,
die auch hier Vertreter der > anthropologischen« Methode begehen.
Mit am wichtigsten ist in dieser Hinsicht die von Jevons vorge-
tragene*) Erklärung der eleusinischen Mysterien: ganz erfüllt näm-
lich von der bekannten Theorie von Robertson Smith über das Opfer,
das ursprünglich keine Gabe oder Tribut, sondern ein heiliges Mahl
gewesen sei, wobei die Teilnehmer durch den Genuß der göttlichen
Substanz des Opfertieres mit der Gottheit ein Fleisch und Blut
wurden, meint Jevons, daß in den Mysterien, den öffentlichen wie
den privaten, eben dieser alte Charakter des Opfers sich erhalten
habe oder in Verbindung mit der religiösen Bewegung des VI. Jahr-
hunderts neu zur Geltung gekommen sei. Farnell ist auf diese Hypo-
these, soweit sie das Mysterienwesen im allgemeinen betrifft, nicht
eingegangen — meiner Ansicht nach schwebt sie völlig in der Luft —
und hat sich darauf beschränkt festzustellen, daß jedenfalls die Ueber-
1) Introduction S. 327 tf.
Farnell, The cults of tbe Greek states
111
lieferung über die eleusinischen Mysterien nicht damit in Einklang
steht. Allerdings heißt es in dem bekannten a6v^ir][ia der eleusini-
schen Mysten Ittiov töv xoxfewva, worauf sich Jevons beruft, aber ganz
abgesehen davon, daß vom >Essen« — und das sollte doch das wich-
tigste sein — nicht die Rede ist, so liegt hier ein besonders deutliches
Beispiel für den oben erwähnten methodischen Fehler vor, nämlich
einen einzelnen Zug der Ueberlieferung isoliert zu betrachten. Ueber-
blickt man sie im ganzen, so ergibt sich ein anderes Bild: Im De-
meterhymnus, der als älteste Quelle und, wie F. ganz mit Recht be-
tont, als eine Art von Propagandadichtung besondere Bedeutung be-
ansprucht, ist mit keiner Silbe diese besondere Art und Heiligkeit
gerade des Opfers angedeutet, geschweige denn erwähnt; vielmehr
wenn auf etwas Nachdruck gelegt wird, ist es schon hier wie in den
bekannten Zeugnissen von Pindar und Sophokles^) das >Schauen< und,
worauf F. ebenfalls mit Recht hinweist, die oberste Klasse der Mysten
hieß nicht Tcapaattot oder ähnlich sondern iTcöTCTat. Das Schauen also,
nicht das Speisen hat, soweit wir überhaupt die Mysterienfeier zurück-
verfolgen können, die entscheidende Rolle gespielt. Freilich, auf die
Frage, was eigentlich Gegenstand des Schauens war, darauf vermag
auch Farnell keine genauere und sicherere Antwort zu geben als die
bisherigen Forscher; ja er hält unser Wissen sogar für geringer, als
ein Teil von diesen behauptet. Daß unter den Spwjisva der eleusini-
schen Weihenacht dramatische Darstellungen^), vor allem die n&^ri
der Demeter zu verstehen seien, das ist ja wohl sicher und wird auch
von Farnell nicht angezweifelt; die Schwierigkeiten beginnen, sowie
wir versuchen über diesen allgemeinen Begriff hinauszukommen und
Einzelheiten zu erkennen. Neuere und gerade auch deutsche Forscher
1) Früher hatte ich vermutet, daß der Wortlaut der Pindar- und Sophokles-
steUe durch den des Hymnus beeinflußt sei. Dem hat 'Wendland widersprochen
(Berl. Phil. Wochenschr. 1900, 306) und ihre üebereinstimmung durch das Zurück-
gehen auf die liturgische Formel zu deuten gesucht, mit großer Wahrscheinlich-
keit, wie ich gern zugebe. Aber um so größer ist dann die Bedeutung der Stellen.
2) Ich füge hinzu: in historischer Zeit, in deren Verlauf sich dieses Brama
wohl immer mehr entwickelt und — vor aUem technisch — verfeinert hat. Des-
halb scheint es mir schon bedenklich, aus Schilderungen der christlichen Autoren
auf das V. und IV. Jahrh. vor Christus zu schließen. Wie nun gar die Sache im
VII. Jahrhundert war, entzieht sich durchaus einer sichern Kenntnis. Farnell
scheidet (p. 182 f.) von dem 6pa(jLa {xuatixdv das aus dem Wort Upocpa'vxr]? ja unbe-
dingt zu erschließende lepd «pafveiv: soUte sich nicht vielmehr eben daraus das
Späfxa entwickelt haben, das lepd «pa^veiv also auch später noch ein Teil des 8p5|xa
gewesen sein?
3) Zuletzt Kern, Eleusinische Beiträge, Halle 1909 S. 8 f., der die Hypothese
wohl am besten vertreten hat, Famells Ausführungen aber nicht kannte. Vgl.
auch meine Besprech. Berl. phil. Wchschr. 1910, 1074 f.
112
Gott. gel. Anz. 1911. Nr. 2
Farneil, The ci\lts of the Greek states
113
1
li
haben bekanntlich durch eine Kombination gewisser bildlicher Dar-
stellungen mit der berühmten Hippolytstelle (Ref. omn. haer. V8
p. 164 Schneidewin-Duncker) 6 tspo^avTY]<; voxtöc Iv 'EXsocjtvt
ßo<^ xal xsxpaYs 'k^'^tüV Ispöv Itsxe irötvta xoöpov Bpt[jLa> Bpi[i.öv
zu erweisen gesucht, daß eine der Hauptszenen der Weihenacht die
Geburt des lakchos- oder des Plutosknaben war, den die Mysterien-
sprache Bptjiöc nenne. Dieser Hypothese steht Farneil sehr skeptisch
gegenüber und hat ausführlich seine Bedenken dagegen begründet,
Bedenken, die ich in der Tat für berechtigt halte und auch hier der
Beachtung dringend empfehle. Doch das sind schließlich Einzelheiten,
bei denen es sich nicht um einen prinzipiellen Gegensatz handelt.
Dagegen für die wichtigere Frage, welche Vorstellung wir uns von
dem allgemeinen Charakter und Eindruck der eleusinischen Weihe-
nacht machen sollen, dafür ist der prinzipielle Standpunkt Farnells,
von dem hier zunächst die Rede war, wieder von großer Wichtigkeit.
Denn mit Entschiedenheit wendet er sich gegen den Gedanken, als
könne etwa die Beobachtung indianischer oder australischer Bräuche
uns dem Verständnis der eleusinischen 5p(0[isva und der damit ver-
bundenen religiösen Gefühle und Vorstellungen näher bringen; dann
seien mittelalterliche Passionsspiele noch eher dazu geeignet, >and if,
after a careful review of the evidence, we wish to gain for our own
imagination a warm and vital perception of the emotions inspired by
the Eleusinian spectacle, we probably should do better to consult
some Christian experiences than the folk-lore of Australia, though we
will welcome any new light from this or any other quarter of the
World, when it comes< (p. 129) — Worte, die mir den Nagel auf den
Kopf zu treffen scheinen, vorausgesetzt, daß es uns auf die eleusini-
schen Mysterien der historischen Zeit ankommt, auf die es uns doch
in diesem Fall allein ankommen kann. Daß, wenn ich irgend welche
agrarischen Urmysterien des U. Jahrtausends v. Chr. konstruiere,
diese freilich australischen oder indianischen Bräuchen näher stehen
als den christlich-mittelalterlichen, ist klar, aber diese hypothetischen
Urmysterien haben dann mit der besonderen eleusinischen Gestaltung
nichts mehr zu tun und kommen höchstens für das Verständnis des
Ursprungs der Mysterien im allgemeinen in Betracht.
Um so weniger kann ich mich nun aber einverstanden" erklären
mit der Stellungnahme Farnells gegenüber einer andern, besonders
durch Useners Sondergötter bekannt gewordenen Theorie, daß näm-
lich in den Beinamen der großen olympischen Götter sehr oft früher
selbständige Gottheiten stecken, die aus irgend einem Grunde^) von
1) Für üsener ist der Hauptgrund der, daß die begrifflich durchsichtigen
Namen den nicht oder nicht mehr durchsichtigen und deshalb zur Personifikation
jenen absorbiert wurden. Famell gibt wohl theoretisch die Möglichkeit
dieser Erklärung zu, aber in praxi verhält er sich fast immer ab-
lehnend dagegen. Um zu sehen, wie weit er darin geht, genügt
eigentlich ein Beispiel: bekanntlich wurde in Epidaurus und andern
Orten mit Asklepios zusammen ein Apollon Maleates verehrt; an-
drerseits besitzen wir aus dem Asklepieion im Piraeus eine Ur-
kunde, in der Apollon und Maleates getrennt erscheinen und jeder
sein besonderes Opfer erhält ^). Daraus ist bisher wohl von allen, die
überhaupt der Frage näher getreten sind, die einfache und, wie ich
freilich meine, notwendige Folgerung gezogen worden, daß Apollon
und Maleates ursprünglich verschiedene Gottheiten waren, die dann
an den meisten Orten ineinander verschmolzen. Farneil will nicht
einmal diese Urkunde gelten lassen und sucht ihr Zeugnis durch eine
überaus künstliche Argumentation, von der fast jedes Glied morsch
und brüchig ist, zu entkräften. Ich erwähne nur, daß er schließlich,
um das, was nun doch einmal auf dem Steine steht, zu erklären, sich
zu folgender Hypothese genötigt sieht: der Priester, der den Stein
gesetzt und zuerst das Ritual des Voropfers > vermutet < habe*), der
habe auch vermutet, daß Maleates eine von Apollon verschiedene
Persönlichkeit sei. Die Erklärung beruht auf einer falschen Interpre-
tation des Wortes IS-^ixdiaato, was hier nicht > vermutet«, sondern nur
»abgebildet« (nämlich iv zcd^ 0T7]Xat<;) bedeuten kann, aber ganz ab-
gesehen davon — wie kann man denken, daß bald nach 400 v. Chr.,
wo doch der überlieferte Kult noch in voller Blüte stand, der Priester
eine solche > Vermutung« als bindendes Gesetz auf Stein im Heilig-
tum hätte aufstellen dürfen?
Wenn Farneil in dieser Weise einer Urkunde der besten Zeit
gegenüber verfährt, dann ist es kein Wunder, daß er in den Fällen,
wo es an einem solchen Zeugnis fehlt, erst recht nichts von einem
>Sondergott« wissen will, nichts von einem Htcötoc oder Kdpvo<;, einer
MsXatva oder Asa;cotva. Selbst da, wo die Annahme eines solchen
Sondergottes die einfachste und fast von selbst sich aufdrängende
Lösung bietet, sträubt er sich dagegen, wie z. B. bei der athenischen
Demeter XXöy]. Richtig fühlt Farnell, daß wir es bei dem Namen
XXöY] mit dem Produkt einer rein animistischen, präanthropomorphen
— also doch uralten — Eeligionsepoche zu tun haben, und vergleicht
mit Recht den bekannten Zeus Kspaovö(;. Ebenso ist er sich wohl
geeigneteren sich unterordnen ; aber ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger scheinen
mir historisch-politische Gründe zu sein: wie die Stämme, so verschmelzen ihre
Götter.
1) Leg. sacr. n. 18 xaxd xocSe 7rpo&6ea&af MaXeaTYjt Tcdirava Tp^a* 'A7t(JX>vü)vi
Tcdirava xpfa xtX.
2) Z. 12 ff. der Inschrift: EuduSr^fio? 'EXeuafvio? Upeus 'AixXtjttio') xd; axi^Xa;
dv^drjxe xd; Trpd; xoT; ß(j)[jLoT?, h aU xd TtOTrava TrpÄxo« d$T)ixaaaxo, 3 X9h '^po^e'J^*!«
OÖU. gol. Anz. 1911. Nr. 2 8
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öött. gel. Anz. 1911. Nr. 2
Farneil, The cults of the Greek states
115
II
ili
bewußt, daß Demeter in Athen nicht ursprünglich zu Hause ist. Aber
statt nun daraus, gestützt zumal auf das von ihm selbst zitierte
Zeugnis des marathonischen Kalenders, wo der XXötq, nicht der Atj-
(lYjtpt XXöTQ geopfert wird ^), die Folgerung zu ziehen, daß diese XXötj
eine uralte, längst vor Demeter verehrte selbständige Göttin war,
zieht Farnell die Vermutung vor, daß der Kult der Demeter XXöt]
nachträglich von Eleusis aus verbreitet sei (III S. 33).
Es ist schließlich nur folgerichtig, daß dann Farnell auch solche
göttliche Gestalten, die in der Ueberlieferung wohl als selbständig,
aber als wesensgleich mit einer der Hauptgottheiten erscheinen, erst
aus diesen entwickelt glaubt. Ein bezeichnendes Beispiel dafür bietet
die eleusinische Adstpä, über die Pherekydes die interessante Nach-
richt aufbewahrt hat, daß sie als Feindin der Demeter gelte: Stav
^ap düstat aoT-^, oo irapsottv i^ t*^? ATf]|iY]Tpo<; i^psta xal oh^k iwv tsdo-
li^vwv Ysoso^at aotYjv ootov (cf. Serv. ad Aen. IV 58). Daraus hat
V. Prott in seinem bekannten Aufsatz über den tepö? vöjioc der Eleu-
sinien (MAJ. XXIV, 241 ff.) geschlossen, daß in diesem Verhältnis das
Ergebnis eines Götterkampfes vorliegt, durch den Adstpa aus ihrer
ehemals herrschenden Stellung als Königin der Unterwelt verdrängt
wurde — eine Erklärung, die, wie man auch über die Einzelheiten
denken mag, doch das wesentliche der Frage m. E. richtig gelöst hat.
Daß Farnell anderer Ansicht ist, brauche ich dem Leser kaum mehr
zu sagen: von einem Götterkampf will er nichts wissen und möchte
in AAstpa ebenso wie in dem vielbehandelten Paar Sb6<; und Osa das
Produkt einer späteren Entwicklung, spätere Gestaltungen sehen, die
sich nach der festen Einrichtung der Mysterien, nach der Fixierung
der persönlichen Gottheiten Demeter und Persephone vom öffent-
lichen Kult abgezweigt hätten. Deutlicher kann sich kaum zeigen, zu
welch tiefgreifenden Folgerungen die Abneigung Farnells gegen die
Annahme von Sondergöttern führt, aber zugleich auch m. E. zu welch
schweren Irrtümern. Gewiß mag man im einzelnen Fall schwanken
und soll nicht hinter jedem Beinamen gleich eine einst selbständige
Gottheit suchen, aber das scheint mir doch sicher, daß wir im Prinzip
es mit einem besonders wichtigen und fruchtbaren Gedanken zu tun
haben und daß wer wie Farnell sich dagegen ablehnend verhält, sich
selbst eines der wichtigsten Mittel zum Verständnis der ältesten
griechischen Religionsgeschichte beraubt, vor allem insofern es sich
um ihren Zusammenhang mit der Stammesgeschichte handelt. In der
Tat befriedigt nach dieser Seite hin Farnells Darstellung wenig, die
Aufgabe, die Kulte der Hauptgottheiten, wie sie sich in historischer
Zeit darstellen, als das Produkt meist mehrmaliger Stammesverschie-
bungen und Stammesverschmelzungen zu verstehen und die einzelnen
1) V. Prott, Fasti n. 26 Z. 49.
dementsprechenden Schichten zu sondern, ist von ihm überhaupt nur
selten versucht, noch seltener gelöst.
Freilich wirkt darauf noch ein anderer Umstand ungünstig ein.
Farnell operiert nämlich viel mit solchen Stämmen wie den Minyern
und Dryopern. Nun bin ich weit davon entfernt, etwa mit Beloch
die Minyer für rein sagenhafte Gebilde zu halten und stimme Farnell
durchaus zu, wenn er daran festhält, daß wirklich einmal ein Volk
dieses Namens existiert hat; aber diese Existenz ist doch so unbe-
stimmt und schattenhaft, daß es sehr gewagt ist, auf dieser schwan-
kenden Grundlage ein religionsgeschichtliches Gebäude zu errichten.
Selbst mit dem loniernamen muß man vorsichtig sein — das beweist
gerade Farnell selbst, der über die Urheimat der lonier eine recht
kühne Hypothese aufstellt. Veranlassung bietet dazu das Kapitel über
Poseidon, das mir überhaupt das schwächste der beiden Bände zu
sein scheint. Die Heimat des Poseidonkultes — so argumentiert
Farnell — ist bei den Minyern in Thessalien und Böotien zu suchen ;
aber auch für die lonier ist ja Poseidon die gemeinsame Stammes-
gottheit, Minyer und lonier müssen also einmal nahe beieinander
gesessen haben ; das kann nur in Böotien gewesen sein, und der ent-
scheidende Beweis dafür sei der Beiname jenes panionischen Poseidon,
nämlich 'EXtxwvtoc. Denn die einfachste etymologische Erwägung lehre,
daß dieser Beiname nicht, wie heute noch meist (?) angenommen werde,
von der Stadt *EXtx7] in Achaia abzuleiten sei, sondern von dem Namen
'EXixwv wie Mapa^wvtoc von Mapa^tov; Poseidon 'EXixwvtoc sei also
der Poseidon des Berges Helikon, hier, wo sie mit den Minyern in
Berührung traten, der Ursitz der lonier. Was zunächst die Herleitung
des Beinamens "EXtxcovtoc betrifft, so ist sie keineswegs neu: sie ist
schon von antiken Gelehrten wie z. B. Aristarch vorgebracht ^) und
auch von Neueren wie Gruppe nur in umgekehrter Richtung vertreten
worden, allein sie muß, wie zuletzt Nilsson mit Recht hervorgehoben
hat, starken Zweifel erregen, da von einem Poseidonkult auf dem
Helikon sich keine Spur erhalten hat^), während sich doch sonst ge-
rade in Böotien die ältesten Kulte gut erhalten haben. Um trotzdem
den ionischen Poseidon von dort herzuleiten, müssen also doch schon
schwerwiegende Gründe vorliegen, aber einen solchen kann ich in
1) Et. Magn. 547 ^EXixwviov tov IloaetSwva el'prjxev dTTO ^EXixiSvos, w; 'Apfaxapj^os
ßouXeTat xtX.
2) Einen nicht ausreichenden Ersatz dafür bildet die von F. beigebrachte
''Ittttou xpTjVTj auf dem Helikon, die der Sage nach Pegasos geschlagen hat, und der
Vers des Hom. Hymn. an Poseidon, den tt'Jvtiov, o; d' 'EXixÄva xal cipe^a; l^^et
Aiya«. Daß später, vor allem in der Sage, der Helikon mit dem Poseidon TiXtxwvio?
in Verbindung gebracht wurde, ist nicht wunderbar, das Gegenteil wäre vielmehr
wunderbar. Sagen wandern leicht von Ort zu Ort und beweisen für sich allein
noch nicht die Existenz eines Kultes.
8*
116
Gott. gel. Anz. 1911. Nr. 2
jener etymologischen Feststellung nicht erkennen. Diese ist gewiß
an sich richtig, jedoch — um zunächst auf dem Boden der von Farnell
angewandten geographischen Herleitung zu bleiben — hat es einen
'EXtxcüv nur in Böotien gegeben? Faraell selbst zitiert in dem Anhang
das Zeugnis über den attischen Helikon^), und so mag es noch an
manchen Orten, vielleicht auch in jenem Helike, eine Oertlichkeit
dieses Namens gegeben haben. Nun scheint es mir aber überhaupt
nicht angängig, in jedem Falle, wo der Beiname eines Gottes einem
Ortsnamen gleich oder ähnlich ist, ohne weiteres jenen von diesem
abzuleiten. Es gibt natürlich manche Fälle, in denen diese Erklärung
richtig ist, aber viele andere, und ich glaube fast die Mehrzahl, liegen
verwickelter, als es beim ersten Blick den Anschein hat. Ich erinnere
z. B. an ApoUon MaXsdTY]<;. Soll man den Beinamen etwa von dem
Kap Malea ableiten, wie in der Tat es Farnell tut? In stillschweigen-
der Abwehr solcher Erklärungsversuche habe ich in meinen Leges
sacrae n. 18 S. 72 zusammengestellt, wie viele andere Namen noch
mit demselben Stamm gebildet sind. Deshalb braucht nun aber auch
das Umgekehrte nicht stets richtig, d. h. der Ort nach dem Gott ge-
nannt zu sein, wie das offenbar Gruppe für die meisten dieser Fälle
voraussetzt und auch z. B. beim Helikon annimmt. Es gibt eine dritte
Möglichkeit, daß ein und derselbe Begriff zur Bildung des Gottes-
wie des Ortsnamens verwandt ist. Bei "EXixy], 'EXtxwv, "EXixcovtoc
könnte sie z. B. wohl vorliegen, wenn die von Fick und Solmsen ^)
vorgeschlagene Ableitung von (0)2X1x7] = salix > Weide« richtig sein
sollte. Uebrigens zwingt auch die von Gruppe vorgeschlagene, freilich
sonst nicht gerade wahrscheinliche Herleitung von >iXt£< >Rind< und
die Erklärung des Gottes als Helik[aJon(ios) = Stiergott an sich
keineswegs zu der Annahme, daß der Ortsname erst sekundär, in
Anlehnung an den Gottesnamen entstanden ist. Auch hier könnte
jene dritte Möglichkeit vorliegen. Aber was nun auch die richtige
Erklärung von 'EXtxwvtoc sein mag, jedenfalls kann die von Farnell
vorgeschlagene keinen Anspruch auf irgendwelche Sicherheit machen
und eignet sich sehr wenig dazu, um weiter darauf zu bauen. Farnell
aber hat nicht nur seine Ansicht von der Urheimat der lonier darauf
begründet, die ja auch historisch klaren Bedenken unterliegt^), son-
dern ist auch sonst in der Behandlung des Poseidonkultes dadurch
beeinflußt. Wenigstens schreibe ich es dem zu, wenn der peloponne-
sische Poseidonkult bei Farnell etwas zu kurz kommt und in seiner
1) Bekk., Anecd. Graec. I p. 326 : xd^ U oy%o^ iraXai ovofxa tojto), 8« vuv
Aypa xaXetToi, 'EXixwv, xal 1^ ^a^^ctpa toü IloaeiSuivo« xou *EXtxü)v(ou in' otxpou.
2) Rhein. Mus. LIII S. 147.
3) Ich hetone, daß der bekannte Aufsatz von Kretschmer über lonier und
Achäer (Glotta I S. 9 ff.), mit dem sich jeder, der über diese Fragen schreibt, aus-
e inandersetzen muß, Farnell noch nicht bekannt war.
Farnell, The cults of the Greek states
117
Bedeutung m. E. nicht genug gewürdigt wird. Und sollte mit der
Ansicht von dem minyisch-ionischen Ursprung des Poseidonkultes es
nicht auch zusammenhängen, wenn Farnell sich so lebhaft gegen die
>chthonische< Natur des Gottes wendet?^) Mit dem Wort chthonisch
wird heute ja vielleicht zu viel und oft unvorsichtig operiert, aber
gerade der Poseidon mancher Orte läßt sich m. E. ganz gut damit
charakterisieren — ich erinnere nur an Phigalia, wo er neben der
MeXaiva steht — , und die Stelle bei Dionys. Hai. II 31, auf die sich
Farnell als ein Zeugnis beruft, daß Poseidon nie mit chthonischen
Riten verehrt sei, besagt in Wirklichkeit keineswegs so viel, sondern
leugnet nur eine besondere Eigentümlichkeit, nämlich den unter-
irdischen a(pavT3<; ß^l^oc, für den Kult dieses Gottes.
Soviel über die prinzipiellen Gesichtspunkte, die für die Dar-
stellung Farnells und ihre Beurteilung in Betracht kommen. Es
gibt aber natürlich eine Fülle von Einzelfragen, vor allem auf dem
Gebiete der eigentlichen Sakralaltertümer, deren Lösung davon unab-
hängig ist, und wo es nur oder fast nur auf richtige Interpretation
und Divination ankommt. Nun können bei einem solchen Werke wie
dem Farnellschen nicht alle Dinge gleichmäßig behandelt sein, und
ganz naturgemäß macht sich bemerkbar, daß F. sich mit der einen
Frage spezieller und eindringender als mit der andern beschäftigt
hat. Aber nachdrücklich möchte ich betonen, daß es kaum einen
wichtigeren Abschnitt in diesen beiden Bänden gibt, der nicht auch
nach dieser Richtung hin Förderung und Anregung gewährt. Ich will
wenigstens einige Beispiele anführen und nenne zunächst aus dem
Demeter-Kore-Band den Abschnitt über die Thesmophorien : nicht daß
Farnell nun die verwickelten Probleme, die mit diesem Fest und
seinem Namen verknüpft sind, sicher gelöst hätte, aber seine ruhige,
methodische Erörterung wirkt klärend und — wenn ich so sagen
darf — aufräumend ; z. B. scheint mir der Versuch, die Bedeutung
von ^eo(xö(; hier durch das bekannte homerische Xsx-cpoio TcaXatoö ^-sa-
(löv txovTo zu erklären und den Kult mit der Institution der Ehe in
Verbindung zu bringen, durch Farnell endgültig widerlegt und er-
ledigt zu sein. Er selbst erklärt übrigens ^so[io^öpoc als the bringer
of treasure or riches, wofür er außer dem schon von Nilsson ange-
führten Anakreonzeugnis (fr. 58 Bergk *) noch zwei freilich nicht ganz
sichere inschriftliche Belege (Collitz GGDI1154 und Cauer Del. ^295
Z. 65) beibringt. — Aus dem Abschnitt über die eleusinischen My-
sterien habe ich oben schon (S. 111 f.) die wichtigen Ausführungen über
die Weihenacht und das 8pa[xa (jLoauxöv erwähnt; hier verweise ich
noch auf das, was F. über das Verhältnis des Dionysoskultes zu den
1) Auch daß F. die chthonische Bedeutung des Pferdes nirgends anerkennt,
hängt, fürchte ich, damit zusammen.
118
GOtt. gel. Anz. 1911. Nr. 2
Mysterien, über ihre angebliche Herkunft aus Aegypten und über die
irpöppYjotc zu Beginn des Festes sagt. In den beiden letzten Punkten
berühren sich Farnells Ausführungen z. T. nahe mit dem, was ich
selbst einst dargelegt habe; jedoch wenn F. geneigt scheint, auf
Grund der bekannten Aristophanesverse (Frösche 356 flf.) anzunehmen,
daß schon um 400 v. Chr. die moralische Reinheit zwar nicht ge-
prüft, aber ihre Notwendigkeit feierlich proklamiert wurde, so möchte
ich doch zur Vorsicht mahnen und wiederholen, woran ich in meinen
Leges sacrae erinnert habe (zu n. 148 p. 364), daß nämlich die Lesart
^vwii-fl xa^apsost nicht durchaus sicher ist, Plutarch statt dessen viel-
mehr YXwaa-^ las. Natürlich liegt die Lesart YvwfjL-o näher, aber eben
deshalb wäre ihr späteres Eindringen auch sehr begreiflich, und un-
möglich scheint mir y^^öoo-o keineswegs; vergleichen ließe sich viel-
leicht, wie ich hier nachtragen möchte, der Vers des Rheaepigramms
aus Phaistos: Ädvtsg soosßss? xe xal euY>^(ö^<t>ot Tüdpid' dc^vot (GGDI
5112).
Während dann das Poseidonkapitel, wie schon oben erwähnt,
weniger befriedigt, bietet wieder der Abschnitt über ApoUon, wo F.
in zwei Kapiteln gesondert die einzelnen Kulte und dann das Ritual
behandelt, des Guten und Anregenden viel. Auch in der Behandlung
mancher religions- und stammesgeschichtlicher Probleme ist Farneil
hier glücklicher. Die Kulttatsachen und die Ueberlieferung selbst
wie die über Delphi reden bei diesem Gotte eben doch eine so ein-
dringliche Sprache, daß oft auch Farnell nicht anders kann als in
ApoUon den späteren Eindringling zu erkennen und damit sich erst
den Weg zum richtigen Verständnis öffnet. Aus dem den Kulten ge-
widmeten Kapitel hebe ich hervor seine Bemerkungen über die Hyper-
boreer, wo er sich durchaus auf Seiten der Ahrensschen Etymologie
(oTüspßspstot = oTcsp^sp^tat) stellt, über Apollon Aöxsioc, den »Wolfs-
gott«, und seine Beziehungen zu Lykien, über Apollon UoLzpC^oq in
Athen, vor allem aber den Abschnitt über das delphische Orakel mit
den vortrefflichen Ausführungen über die delphische Mantik, die Rolle
der Pythia und der ^'Oatot, den religiösen und politischen Einfluß, den
Delphi auf Griechenland ausübte. Im einzelnen kann man auch hier
abweichender Ansicht sein, z. B. zweifle ich sehr, ob er mit Recht
gegenüber Rohde den Einfluß des Dionysoskultes auf das Empor-
kommen der Ekstase in der delphischen Mantik leugnet. Aber abge-
sehen davon, daß andrerseits gerade hier Farnell auch Einzelfragen
erfolgreich behandelt ^), als Ganzes genommen gehört dieser Abschnitt
1) So hat das für die Auffassung der TrpofAavxefa entscheidende Zeugnis schon
Farnell, wie ich im Nachtrag zu meinem Bericht über Sakralaltertümer S. 76 noch
bemerken konnte, gefunden (IV S. 214). Opp^s Aufsatz über »the Chasm at
Delphic hat er erst nachträglich kennen gelernt, aber die kurzen Bemerkungen
Farnell, The cults of the Greek states
119
zum Besten, was in letzter Zeit zusammenhängend über Delphi ge-
schrieben worden ist.
In dem Kapitel über das Apolloritual endlich beweist Farnell,
wie sehr er doch bereit ist, die sicheren Ergebnisse und Erkenntnis-
fortschritte, die wir der sog. >anthropologischen< Methode verdanken,
sich zu eigen zu machen. Z. B. steht er in der Auffassung solcher
Feste wie der öapYTiJXtä, SisTcxT^pia u. ä. durchaus auf dem Boden der
modernen Anschauung, daß wir es hier mit Vegetations- und Sühne-
riten einer früheren, primitiven Religionsschicht zu tun haben, die
erst später in dem Apollokult aufgegangen sind. So zeigt gerade
dieses Kapitel noch einmal deutlich das, worin m. E. die Stärke des
Farnellschen Werkes liegt, und was ich zum Schluß hier zusammen-
fassend charakterisieren möchte als die Verbindung anthropologischer
und philologischer Wissenschaft — ich gestehe offen, daß ich dabei,
so wie die Dinge heute liegen, den Nachdruck auf diese letztere
lege, da ohne sie wohl geistreiche und interessante Hypothesen, aber
nie positive und sichere Fortschritte der Erkenntnis erzielt werden
können.
Frankfurt am Main Ludwig Ziehen
Mitteilungen aus dem Naturhistorischen Museum in Hamburg
XXV. Jahrgang (2. Beiheft zum Jahrbuch der Hamburgischen Wissenschaftlichen
Anstalten. XXV. 1907). Hamburg: L. Gräfe & Sillem i. Komm. 1908. 291 S.
Lex. 8». M. 8,50.
1) Syngnathiden-Studien. I. Variation und Modifikation bei Siphonostoma
typhle L. Von Georg Duncker. Mit 20 Tabellen, 3 Tafeln und 4 Figuren im
Text. p. 1—115.
Die vorstehend genannte Arbeit von Dr. Duncker ist eine Unter-
suchung der individuellen und lokalen Variationen von Siphonostoma
typhle L., eines an fast allen europäischen Küsten häufigen kleinen
Fisches aus der Familie der Lophobranchier, und hat sich als haupt-
sächlichstes Ziel gesetzt das Studium der Beziehungen zwischen Be-
stimmungswerten und Korrelationskoeffizienten homologer Merkmale
bei den verschiedenen Lokalformen einer und derselben Art. Der
Autor stellt für später gleichartige Untersuchungen in Aussicht, welche
sich auf andere Siphonostomaarten und Vertreter anderer Gattungen
der Lophobranchier erstrecken soll.
Die Arbeit Dunckers, welche einerseits biologisch-morphologische,
andererseits biostatistische Untersuchungsergebnisse liefert, ist folgen-
dermaßen eingeteilt:
S. 181 Anm. a zeigen doch, daß er auch hier sich der für die Frage entscheiden-
den Momente wohl bewußt ist; zu vergleichen ist freilich hier noch das, was ich
im Jahresbericht S. 34 ff. eingehender auseinandersetzen konnte.